Das Soziale als kommunikativer Text: Eine postanthropologische Sozialphilosophie [1. Aufl.] 9783839421994

Das Buch bietet eine Konzeption der Sozialphilosophie, die in der Medialität das eigentlich Soziale erkennt. Damit stell

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German Pages 418 Year 2014

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Das Soziale als kommunikativer Text: Eine postanthropologische Sozialphilosophie [1. Aufl.]
 9783839421994

Table of contents :
Inhalt
Persönliches Vorwort
I. Grundlagen einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes
1. Einleitung: Das Normative und das Symbolische im Rahmen der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes
1.1 Vorbemerkung
1.2 Vorarbeiten zu einer Sozialphilosophie des Zwischen, des Medialen
1.3 Die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes
1.4 Die Ethik innerhalb der Dimension des Diskursiven des kommunikativen Textes
1.5 Das Denken des Politischen
II. Ethik und Noetik in der diskursiven Dimension
2. Der kommunikative Text und der Diskurs
3. Die Nähe und Immanenz des Diskurses und die Differenz und Distanz
3.1 Nähe und Distanz im sozialen Prozeß
4. Die zwei Richtungen der Differenz des Diskurses
4.1 Ethos und Gewißheit
4.2 Pflicht und Wissen
4.3 Beobachtungsbeobachtungen und Bewertungsbewertungen
4.4 Das Ungewußte und das Verfemte
5. Mehrdimensionale symbolisch-normative Relationen
5.1 Recht
5.2 Gute Taten
5.3 »Achtung«
5.4 Wissenschaft
5.5 Archiv
5.6 Bildung
5.7 Zukünftiges Wissen
5.8 Moral
5.9 Wohlwollen und Sympathie
5.10 Gute Sitten
5.11 Vertrauen
III. Die Kommunikation in der Sozialphilosphie des kommunikativen Textes
6. Isolierender Konsens
6.1 Ballspiele und Sprachspiele
6.2 Das Geld und die Psychoanalyse
7. Es spricht
8. Therapeutik des Diskurses
9. Normative Dialogisierung
10. Der Andere in der Sprache
11. Allgemeines zu Kommunikation
12. Entfremdung in der Sprache
13. Identität und so weiter
Schlußbemerkung
Literatur
Register

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Kurt Röttgers Das Soziale als kommunikativer Text

Sozialphilosophische Studien Herausgegeben von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers | Band 6

Editorial Die Reihe Sozialphilosophische Studien siedelt sich auf einem Problemfeld an, das durch das Soziale im weitesten Sinne markiert ist – auf einem offenen Feld, auf dem sich Überschneidungen und Konvergenzen, Konfliktzonen und Kritikpotenziale mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen begegnen. Sozialphilosophie, wie sie die Reihe vertritt, versteht sich demnach nicht als eine philosophische Disziplin unter anderen, sondern als Querschnittsprogramm. Wie »die Kultur« in den Kulturwissenschaften, so ist »das Soziale« ein Operator und kein Gegenstand: Das Soziale lässt sich nicht sagen, sondern es zeigt sich in seinen Vollzugsformen. Entsprechend werden in der Reihe sowohl grundlegende systematische Studien zu den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Sprechens über das Soziale als auch materiale Untersuchungen publiziert, an denen sich Erscheinungsweisen und Strukturformen des Sozialen ablesen lassen. Die Reihe wird herausgegeben von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers.

Kurt Röttgers (Prof. Dr.) lehrte Philosophie, insbesondere Praktische Philosophie, an der FernUniversität in Hagen. Er ist Ehrenmitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialphilosophie, Philosophie der Medialität sowie Französische Philosophie der Gegenwart.

Kurt Röttgers

Das Soziale als kommunikativer Text Eine postanthropologische Sozialphilosophie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Kurt Röttgers Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2199-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Persönliches Vorwort

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 I. Grundlagen einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes

1. Einleitung: Das Normative und das Symbolische im Rahmen der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes 1.1 Vorbemerkung 1.2 Vorarbeiten zu einer Sozialphilosophie des Zwischen, des Medialen 1.3 Die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes 1.4 Die Ethik innerhalb der Dimension des Diskursiven des kommunikativen Textes 1.5 Das Denken des Politischen

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 II. Ethik und Noetik in der diskursiven Dimension

2. Der kommunikative Text und der Diskurs 3. Die Nähe und Immanenz des Diskurses und die Differenz und Distanz 3.1 Nähe und Distanz im sozialen Prozeß 4. Die zwei Richtungen der Differenz des Diskurses 4.1 Ethos und Gewißheit 4.2 Pflicht und Wissen 4.3 Beobachtungsbeobachtungen und Bewertungsbewertungen 4.4 Das Ungewußte und das Verfemte 5.Mehrdimensionale symbolisch-normative Relationen 5.1 Recht 5.2 Gute Taten 5.3 »Achtung« 5.4 Wissenschaft 5.5 Archiv 5.6 Bildung 5.7 Zukünftiges Wissen 5.8 Moral 5.9 Wohlwollen und Sympathie 5.10Gute Sitten 5.11Vertrauen

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III. Die Kommunikation in der Sozialphilosphie des kommunikativen Textes

6. Isolierender Konsens 6.1 Ballspiele und Sprachspiele 6.2 Das Geld und die Psychoanalyse 7. Es spricht 8. Therapeutik des Diskurses 9. Normative Dialogisierung 10.Der Andere in der Sprache 11.Allgemeines zu Kommunikation 12.Entfremdung in der Sprache 13.Identität und so weiter

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Schlußbemerkung

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Literatur

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Register

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Persönliches Vorwort

Dieses ist der dritte und abschließende Teil meiner während mehr als 30 Jahren betriebenen Studien zur Sozialphilosophie des kommunikativen Textes. Der erste Teil – oder das, was ich heute als den ersten Teil ansehe und deklariere – behandelte die Zeitstruktur von Geschichten und erschien 1982; der zweite – und noch immer wußte ich nicht, daß ich eines Tages den (notwendigen) dritten Teil tatsächlich würde selbst schreiben müssen – war nach der temporalen nun gewidmet der sozialen Dimension des kommunikativen Textes. Erst nach Abschluß dieser im Jahre 2002 erschienenen Kategorien der Sozialphilosophie wurde mir deutlich, daß es nötig war, auch noch die dritte Dimension des kommunikativen Textes in einem eigenen Werk abzuhandeln. Denn seit sich die traditionelle philosophische Ethik eine sogenannte »angewandte Ethik« geschaffen hatte, schien es ihr und führte sie sich auf, als wäre die Ethik der philosophische Super-Diskurs, der im Prinzip auf alles, was nur irgendwie mit Menschen zu tun hätte, »angewendet« werden könne, ja sogar solle: die Ethik schrieb sich selbst ihre Vorschriftlichkeit vor. Solche ethische Durchdringlichkeit machte auch vor dem Sozialen nicht halt, im Gegenteil: Indem sich Sozialphilosophie in der Mehrzahl ihrer Exemplare als fundamental normative Disziplin gerierte, wurde sie zu einer Bewährungsinstanz des usurpierten Vorrangs der Ethik. Wie mit dem Begriff Ethik neuerdings Schindluder getrieben wird, zeigt beispielsweise die von der Bundesregierung anläßlich der Reaktorkatastrophe von Fukushima einberufene »Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung«. Nicht nur daß der Ethik hier durch Regierungsaufgabe eine Zielvorgabe (»für …«) gegeben wird, sondern auch die Zusammensetzung des Gremiums lassen alle Zweifel verschwinden, daß es hier eben überhaupt nicht um Ethik geht. In der 17köpfigen Kommission sitzt nur eine einzige professionelle Ethikerin, dann noch einige Personen, denen man eine besondere moralische Sensibilität unterstellen darf, aber das ist eben etwas anderes als eine Kompetenz für Ethik. Aber mehr als die Hälfte der Mitglieder hat professionell nichts mit Ethik oder Refle-

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xion von Moral zu tun, können also nicht als Experten für ethische Fragen angesehen werden, sind also Laien. So ist es kein Wunder, daß der Entertainer Pelzig den Ethik-Boom und die Tendenz zu Ethikkommissionen so kommentierte: »Ethik ist wie Religion, nur ohne Weihnachten.« Solcher Ethik-Schwemme war zu widersprechen. Beispielsweise ist es philosophisch trivial, Gewalt zu verwerfen und die Verwerfung ethisch zu rechtfertigen. Die eigentlichen sozialphilosophisch interessanten Fragen hinsichtlich der Gewalt beginnen erst jenseits dieser Trivialitäten. Und dieses sind im wesentlichen Fragen, die sich angemessen nur durch Analyse der Diskurse klären lassen, darunter auch solche der diskurs- und textanalytischen Darstellung der ethischen Reflexionen der moralischen Verurteilung der Gewalt, z.B. warum Gewalt verdammt, sogenannte Gegen-Gewalt, inklusive der vorbeugenden, aber gerechtfertigt wird. In den vorliegenden Untersuchungen erscheint daher Ethik als eine der beiden Richtungen der Diskurs-Analyse, die andere heißt Noetik, und weil diese der Ethik in ihrer Richtung entgegengesetzt ist, darf man sie auch kalauernd als NoEthics lesen. Der Diskurs als Zusammenhang von Ethik und Noetik erscheint innerhalb der Theorie des Kommunikativen Textes neben Zeit und Sozialem als dritte Dimension. Gemäß der unten näher auszuführenden Theorie des Dritten darf jede der drei Dimension auch in ihrer Beziehung auf die anderen beiden, z.B. als Beobachtung und Bewertung der beiden anderen in ihrem Zusammenhang, gedeutet werden. Der Zusammenhang der drei Dimensionen wird im ersten Kapitel, zugleich als Zusammenfassung der wesentlichen Resultate der ersten beiden Bücher zum Thema, geschildert. Hier aber möchte ich (jener, der im folgenden Text »ich« sagt) gemäß der Ankündigung eines »persönlichen Vorworts« etwas tun, was ich noch nie getan habe, was sich nicht schickt und was den Kernthesen meines Arbeitens widerspricht und was ich auch nie wieder tun werde, nämlich erzählen, auf welche Weise der Gedanke und das Konzept des kommunikativen Textes sich im Laufe von 35 Jahren herausgebildet und verfeinert hat. Der Anfang läßt sich – wie alle sogenannten Anfänge – nur als Anekdote (oder anderswo als Mythos) erzählen; denn Anfänge »gibt« es nicht, sie werden, nach einem Wort von Blumenberg, dazu ernannt. Als ich im Jahre 1971 Vorgespräche für mein Bochumer Rigorosum führte, da ging ich für das zweite Nebenfach »Allgemeine Sprachwissenschaft« zu Roland Harweg, der damals in Bochum der Linguist mit den höchsten intellektuellen Ambitionen und Ansprüchen war/dafür gehalten wurde. Er, den ich aus Lehrveranstaltungen gar nicht kannte, fragte mich gleich zu Beginn unseres Gesprächs, ob ich mich mit der Linguistik

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Hjelmslevs befaßt hätte; als ich verneinte, erwiderte er, daß ich, wenn ich mich von ihm prüfen lassen wolle, mit dieser Linguistik auseinandergesetzt haben müßte. Für diese Zumutung an den Doktoranden bin ich Harweg dauerhaft dankbar gewesen. Hjelmslev stellt in einer logisch-positivistisch inspirierten Weise eine umfassende Fortentwicklung des Strukturalismus von de Saussure dar. Der Saussuresche Chiasmus von Langue und Parole setzt sich in seinem System fort in der Korrelation von System und Prozeß. Und der sprachliche Prozeß heißt Text. Wegen der Allgemeinheit des Prozeßbegriffs hat der Text keine Grenzen, aber man kann (und muß) sowohl analytisch also auch in der Textpraxis Grenzen ziehen. In praktischer Hinsicht: Ab und zu muß man beim Reden Luft holen oder die anderen zu Wort kommen lassen, und schriftliche Texte haben ihre Umfangsbeschränkungen z.B. durch den Buchbinder. In analytischer Hinsicht muß man es deshalb tun, weil ein unendlicher Text keinem spezifischen Sprachsystem mehr korrespondieren könnte. Umgekehrt schwindet die Erklärungskraft einer äußerst präzisen Systembeschreibung, z.B. einer persönlichen Idiolekts zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt. Daß aber Sprachprozesse nur als Kommunikation ihre konkrete Wirklichkeit haben, wird bei Hjelmslev theoretisch vernachlässigt. Genau an dieser Stelle kam eine zweite Theoriekomponente ins Spiel. Im Interesse der Erarbeitung eines anspruchsvollen Ideologie-Begriffs inaugurierte Jürgen Frese in Bielefeld ein interdisziplinäres Forschungsprojekt unter dem Titel »Theoriebildung als Gruppenprozeß«. In ihm ging es darum, in kleinen theoriebildenden Gruppen vor allem des 19. Jahrhunderts die Parallelität und Wechselwirkungsprozesse der Theoriebildung und der Gruppenbildung zu studieren und herauszuarbeiten. Unter den »grauen Papieren« der Projektgruppe entstand auch die erste Formulierung des Konzepts des kommunikativen Textes mit dem Titel »Text als Grundkategorie einer Soziologie des Wissens“. Als Einzelstudie im Rahmen des Projekts wurde von mir die Gruppe der Frühromantiker untersucht; die einzigen Publikationen aus dieser Zeit bezogen sich auf die konkreten Studien zu dieser Gruppe, die programmatischen Papiere von damals blieben (zum Glück) unveröffentlicht. Zunächst aber wurde dann im Rahmen der Studien zur Habilitationsschrift der Begriff des kommunikativen Textes bezogen auf das Erzählen von Geschichten und die in diesem Text wirksamen Zeitstrukturen erarbeitet. In diesen Studien waren neben dem Strukturalismus die Analytische Philosophie der Geschichte (Narrativismus) und die Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (Husserl) wirkmächtig. Was ich damals nicht wußte und was sich erst im Nachhinein herausstellte, war, daß Paul Ricœur zur gleichen Zeit im gleichen Sinne arbeitete. Auch wenn seine Thesen vorsichtiger und zurückhaltender waren als

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meine, waren sie dafür desto umfangreicher; sie gingen jedoch insgesamt in die gleiche Richtung, was zur Folge hatte, daß Der kommunikative Text und die Zeitstruktur von Geschichten in der deutschen Philosophie zwar beachtet wurde, aber in gewissem Umfang rezipiert wurde die Schrift eigentlich nur in Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. In den folgenden 15 Jahren wurde dann das endgültige Konzept – neben vielen anderen Arbeiten – ausgearbeitet, das dem kommunikativen Text die drei Dimensionen möglicher Analyse zuschrieb: die Zeit, das Soziale und das Diskursive. Diese Dreiheit folgt aus der Tatsache, daß der Text (als Prozeß) zeitlich, (als Kommunikation) sozial und (als Sinn) diskursiv verfaßt ist, er ist immer in allen drei Dimensionen situiert, aber für die Analyse ist es möglich und sinnvoll, einzelne Dimensionen kontrolliert zu separieren und als solche darzustellen. In den Kategorien der Sozialphilosophie zeigte sich nun allerdings, daß das einfache Schema, das in der Temporalanalyse gewonnen worden war, nämlich der zwei Richtungen (Vergangenheit ļ Zukunft) und den zwei Modalitäten der Nähe und der Ferne (als Retention und als Reproduktion, bzw. Protention und Erwartung), die nicht unbedingt mehr, wie noch bei Husserl bewußtseinstheoretisch formuliert sein mußten, sondern konsequent als textualistisch verfaßt beschrieben werden konnten, in der Analyse des Sozialen nicht ausreichten. Wählte man hier Selbst und den Anderen als die zwei Richtungen mit den entsprechenden Modalitäten von Nähe und Ferne, so waren hier nicht nur, wie allerdings auch schon in den Temporalanalysen Iterationen (hier z.B. »vergangene Zukunft« oder auch »zukünftige Zukunft«) von zunehmender Wichtigkeit, sozial z.B. »der innere Andere« eines Selbst, sondern es erwies sich als unumgänglich, als zusätzliche Figurationen den Dritten und den Fremden einzuführen, Einzelheiten kann man im ersten Kapitel nachlesen. Nun stellte sich allerdings die Frage, ob diese strukturellen Eigentümlichkeiten nicht auch bereits bei den Zeitanalysen Berücksichtigung hätten finden müssen. Aber was ist denn das temporale Pendant jener Grenze, jenseits derer im Sozialen der Fremde haust? Und was ist das Dritte in der temporalen Dimension, das die reine Linearität des Zeitlichen bräche? Sowohl in der Temporalanalyse als auch in der des Sozialen wurde noch davon ausgegangen, die Sinnfrage nebenbei, en passant, abhandeln zu können, bzw. implizit schon abgehandelt zu haben. Das war natürlich eine nützliche Selbsttäuschung; Selbsttäuschung war es, weil die Dimensionalität des kommunikativen Textes immer schon die anderen Dimensionen im Hintergrund hat, was aber keineswegs heißen kann, daß ihre Einzelbehandlung, mit steten Seitenblicken, versteht sich, damit erübrigt wäre; nützlich war diese Selbsttäuschung,

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weil sie es ersparte, die normative (und die epistemische) Seite allzufrüh ins Spiel zu bringen. Jetzt aber sind Ethik und Noetik unausweichlich geworden. Eine konsequente Ausarbeitung einer solchen war allerdings nur möglich am Ende (nicht historisch verstanden) der Spätmoderne. Die Spätmoderne ist derjenige Zipfel der Moderne, an dem diese aufgehört hat, das zu sein, was sie ihrem Selbstverständnis nach immer war, nämlich progressiv und zukunftsfroh, und sich nunmehr darauf beschränkt, konservativ an die uneingelösten Versprechen der Moderne zu erinnern, sentimental die Korrosion der Moderne und ihrer Werte zu bedauern oder reaktionär die Rückkehr zu den (alten) »Werten« zu fordern. Die Postmoderne bringt den Mut auf, den inzwischen theoretisch und praktisch eingetretenen Veränderungen ins Auge zu sehen; dabei wird sie auch (»dekonstruktiv« sagt einer) der Schlagseite der Moderne ansichtig, die, was das Soziale betrifft, immer von der Fiktion ausging, die sie je nach Gusto das (autonome) Subjekt nannte, das Individuum (=Atom), den Einzelnen (vor allen anderen und zunächst ohne sie), die Person (ursprünglich nichts als eine Rolle oder Maske, im Personalismus dann jedoch zu etwas Substantiellem hochstilisiert), oder – the worst case – den »ganzen Menschen« gar (der immer mehr als ein Mensch, sc. als Objekt eines humanwissenschaftlichen Zugriffs sein wollte oder sollte), oder von allem dem ein bißchen und alles durcheinander. Diese Moderne, inklusive der Spätmoderne war niemals vom Sozialen ausgegangen, weil sie in welchen Resten von Substantialismus auch immer befangen war. Inzwischen jedoch könnten wir gelernt haben, vom Zwischen, vom Medium her zu denken. Ein solches schafft den Menschen nicht ab, ist nicht transhumanistisch, wie die selbsternannten Retter der Moderne argwöhnen, sondern es verweist ihn auf seinen Platz (Hybrid statt Hybris). Ein solches Denken schließt praktische Humanität nicht aus und ist nicht unmoralisch, sondern es erübrigt lediglich das imperiale gute Gewissen, das sich selbst als gut (mit immer zugestandenen kleinen Fehlern) weiß, den Anderen aber als böse, der er auch gut sein könnte, wenn er mit etwas Bemühung so wäre wie wir, d.h. vernünftig. Daher wird man auch von einer postanthropologischen Sozialphilosophie sprechen können, weil sie nicht mehr von dem Menschen ausgeht und ein Wissen über ihn als Bedingung von Sozialphilosophie postulieren muß. Auch die postmoderne Theorie des kommunikativen Textes wird asymmetrisch strukturiert sein, aber nicht mehr aufgrund eines Vorrangs des Subjekts (oder bei Lévinas des Anderen), sondern weil der kommunikative Text nur dann seine eigene Fortsetzung gewährleisten kann, wenn, solange einer redet, die anderen zuhören. Wenn alle reden und keiner mehr zuhört oder (unwahrscheinlicher) alle zuhören, aber niemand mehr etwas zu sagen hat, wäre der kommunikative Text am Ende und damit zugleich die Zeit, das Soziale und der Sinn.

I. Grundlagen einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes

1 Einleitung: Das Normative und das Symbolische im Rahmen der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes

Nachdem unsere Kategorien der Sozialphilosophie1 von einer normativen Fundierung der Sozialphilosophie abgesehen hatten, wie sie den meisten Ansätzen der Sozialphilosophie eignet, wenden wir uns jetzt der gleichwohl unbestrittenen Tatsache zu, daß das Soziale, begriffen unter dem Schema des kommunikativen Textes, neben der sozialen und der temporalen Dimension ebensosehr strukturiert ist durch die Dimension des Symbolischen und Normativen oder, wenn wir es im Hinblick auf den kommunikativen Text als den zentralen Prozeß auf einen einzigen Begriff bringen wollen, durch die Dimension des Diskursiven. Zuvor seien aber kurz die wesentlichen Leitlinien dieses Ansatzes einer Sozialphilosophie wiederholt.

1.1 V ORBEMERKUNG Normalerweise würde man erwarten, daß die Ethik den Rahmen für eine jede Sozialphilosophie abgibt, nicht umgekehrt. Um eine gesellschaftliche Organisation unseres Zusammenlebens kritisch darauf hin zu prüfen, ob dieses wohl eingerichtet ist und auf einer soliden Grundlage beruht, sollte man über einen normativen Rahmen verfügen, der traditionellerweise von der Ethik bereitgestellt wird. Aber die Festlegung der Sozialphilosophie auf Normativität, die damit

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Kurt Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg 2002.

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vollzogen wird, ist nicht selbstverständlich und bedarf einer historischen Erklärung. Die Sozialphilosophie und die Soziologie entstanden gleichzeitig in den 1890er Jahren als zwei parallele Ausdifferenzierungen aus der Praktischen Philosophie und hatten sich voneinander zu unterscheiden. Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie hat sich in ihrer Gründungsurkunde auf Werturteilsfreiheit verbindlich festgelegt. Seither wurden Wertfragen und normative Fragen, im Sinne der Soziologie also unwissenschaftliche Fragen, an die Sozialphilosophie delegiert. Die Sozialphilosophie hat im großen und ganzen diese Zuweisung akzeptiert, hatte sie doch dadurch eine unbezweifelte Existenzberechtigung neben der Soziologie. Der Sache nach aber ist die Normativität der Sozialphilosophie keineswegs selbstverständlich. Der Mitbegründer einer Sozialphilosophie Georg Simmel ist ein Beispiel für einen nicht-normativen Ansatz in der Sozialphilosophie.2 Nach ihm ist es Aufgabe der Sozialphilosophie durch philosophische Reflexion zur Klärung derjenigen Begriffe beizutragen, mit denen wir uns auf das Soziale beziehen. Eine solche Klärung ist nicht unbedingt und nicht in den Grundlagen bereits wertend oder normativ. Im Rahmen eines solchen Ansatzes einer Sozialphilosophie, der wir folgen werden, ist Ethik keine zwingende Voraussetzung oder der einzig mögliche Rahmen für die Sozialphilosophie, sondern möglicherweise sogar erst eine ihrer möglichen Folgerungen. Sozialphilosophien, die versuchen, vom Menschen auszugehen, halsen sich mehrere Probleme auf. Sie müßten zunächst klären, was dieser »Mensch« ist. Ist er Objekt oder gar Subjekt eines praktischen Humanismus, d.h. eine Zurechnungseinheit, und wer ist dann auf welcher Grundlage berechtigt, eine solche Zurechnung vorzunehmen, die heute allein noch mögliche, aber zirkuläre Antwort lautet: das ist der Mensch; oder ist der Mensch das, wofür die Humanmediziner oder gar die Biopolitiker zuständig erklärt worden sind, letztlich also der Mensch als ein durch einen bestimmten Genpool definierter Organismus, oder wollen wir unter einem Menschen das verstehen, was die philosophische Anthropologie vor 200 Jahren erfunden hat, sei er nun mit Gehlen als Mängelwesen, sei er mit Plessner als Exzentriker verstanden. Aber selbst angenommen, es gelänge in überzeugender Weise, die anthropologischen und humanistischen Vorannahmen zu klären, und selbst die moralische, ob der Mensch von seiner ersten oder zweiten Natur aus gut oder böse oder gemischt wie ein Schachbrett sei, bleibt doch immer noch unklar, wie aus einem so konstruierten Menschen (den

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Kurt Röttgers: Die ›Große Soziologie‹ und die ›große‹ Philosophie, in: Georg Simmels große »Soziologie«, hrsg. v. Hartmann Tyrell, Otthein Rammstedt u. Ingo Meyer. Bielefeld 2011, 69-81.

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so konstruierten Menschenbildern) Soziales oder gar eine ganze Gesellschaft hergeleitet werden kann. Im Grunde muß man eingestehen, daß, je mehr Einzel- und Tatsachenwissen wir über den Menschen als Organismus wissen, wir desto weniger wissen, was der Mensch als Mensch ist, so daß man vielleicht mit Plessner festhalten kann, der Mensch ist nicht, was er ist, sondern er ist über jede Bestimmtheit schon hinaus. Da hilft es nun gar nichts oder verschlimmert noch den Befund, wenn man auf das Leben als Grundlagenprozeß zurückgreifen wollte, wie es etwa Wilhelm Dilthey vorgeschlagen hat. Das Leben, sei es nun das individuelle Seelenleben oder sei es auch das soziale Leben, ist je schon ein vermitteltes und gibt uns nicht eine solche Unmittelbarkeit ab, daß sie zum Ausgangspunkt gewählt werden könnte. Das ist der Grund, warum wir im folgenden nicht von einer vermeintlichen Unmittelbarkeit irgendeiner Art ausgehen werden, sondern von der Vermitteltheit selbst, dem Medium, dem Zwischen, konkret vom kommunikativen Text, der uns trennt und verbindet. Anders gesprochen: wenn es also die Menschen gibt, und daran kann ja kein Zweifel sein, ist das allein noch kein hinreichender Grund, den Menschen als Ausgangspunkt einer Theoriebildung über das Soziale zu wählen.

1.2 V ORARBEITEN ZU EINER S OZIALPHILOSOPHIE DES Z WISCHEN , DES M EDIALEN Sozialphilosophie kann heute weder individualistisch noch kollektivistisch verfahren. Individualistisch-liberalistisch, kommt man, ausgehend vom Individuum, gar in seiner neuzeitlichen Version als eines grenzenlosen Egoisten, höchstens zu einer Staatskonstruktion, nicht aber zu einer Theorie der Gesellschaft, wie man an den Gesellschaftsvertragstheorien von Hobbes bis Rawls sehen kann. Kollektivistisch-holistisch findet man nicht mehr zurück zu einem verantwortungsbewußten Bürger, obwohl am Kollektivismus richtig war, daß er als Ausgangspunkt nicht ein Atomon (=Individuum) als das angebliche Element des Sozialen nahm. Einer Sozialphilosophie, die darauf verzichtet, von dem egoistischen, auf Selbsterhaltung, Selbstverwirklichung oder Selbstdurchsetzung bedachten Individuum auszugehen, ist es gleichwohl auch versagt, konträr dazu, von Kollektiven als sozialontologisch vorrangigen Einheiten auszugehen, mögen diese nun Staat, Nation, Leben des Volkes oder auch nur Gemeinschaft heißen. Der Sozialphilosophie muß es darauf ankommen, den Gesichtspunkt des Sozialen zu stärken gegenüber der Großen Politik, auch einer rechtsstaatlichen, erst recht aber einer, die sich globalisierend gegenüber der Wirtschaft selbst depotenziert

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hat. Man muß, um mit Derrida zu sprechen, den Begriff der Politik dekonstruieren, oder anders gesprochen man muß von Flexionen des Politischen ausgehen,3 oder noch anders gesprochen, man muß in der Nachfolge von Carl Schmitt den Begriff des Politischen dem der Politik vorordnen.4 Um zu erschließen, welche Konsequenz dieser beidseitige Verzicht auf Individualismus und Kollektivismus haben könnte, lohnt es sich, den aristotelischen Begriff des ]ZaRQ SROLWLNyQ (=animal sociale) wiederzuentdecken. Dieser Begriff meint ja nicht ein Partikulares, das sich entschließt, in der Polis zu leben (die individualistische Fehldeutung), er meint auch nicht, daß die Polis das eigentliche Leben sei, das dem Einzelnen erst seinen Sinn verleiht (die kollektivistische Fehldeutung). Er meint am ehesten etwas, das sich vielleicht als Mitdasein-zur-Polis wiedergeben ließe, soll heißen: mit anderen zusammen ist dieses Lebewesen der Praxis der Polis zugewandt. Der Sinn ist weder im Einzelnen, noch in der Polis beheimatet, sondern in der Praxis eines Zwischen. Aber zum Glück müssen wir damit nicht hier und jetzt oder mit einer Wiederbelebung des aristotelischen Gedankens beginnen; denn die Philosophie des 20. Jh. hat dieser Aufgabe einer Sozialphilosophie des Zwischen zugearbeitet. Eine solche Philosophie hat in mehreren Schritten Gestalt angenommen, von denen ich folgende ansprechen möchte: 1. Die Phänomenologie, bzw. Existentialontologie von Heidegger einerseits, Merleau-Ponty andererseits, 2. Anregungen von Maurice Blanchot, 3. die Kulturphilosophie Ernst Cassirers, 4. die relationistische Sozialphilosopie Georg Simmels, 5. die Radikalisierung der Sozio-Ontologie bei Jean-Luc Nancy, um schließlich das sozialphilosophische Konzept des kommunikativen Textes zu entwerfen und die Ethik in ihm zu situieren. 1.2.1 Heidegger und Merleau-Ponty In seinem Reden vom Mitdasein in § 26 von Sein und Zeit5 scheint Heidegger die Gedankenlinie des zoon politikon aufzunehmen. Für ihn sind die sozialen Anderen nicht »der ganze Rest der Übrigen außer mir«, weil Mitdasein nicht eine primäre Abgrenzung und Unterscheidung von den Anderen, eine Vereinzelung, bedeutet; ich bin nicht neben ihnen, sondern mitten »unter ihnen«. Das Inder-Welt-Sein des Daseins heißt daher immer auch: »Die Welt des Daseins ist

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Kurt Röttgers: Flexionen des Politischen, in: Das Politische und die Politik, hrsg. v.

4

Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Berlin 1963, 20ff.

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Martin Heidegger: Sein und Zeit. 8. Aufl. Tübingen 1957.

Thomas Bedorf, Kurt Röttgers. Berlin 2010, 38-67.

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Mitwelt.«6 Die Anderen begegnen nun nicht mehr als andere Humankörper (als »vorhandene Persondinge«7), zu denen ich per analogiam meines Selbstbewußtseins ebenfalls ein Bewußtsein hinzufingiere. Solches wären für Heidegger »theoretisch erdachte Erklärungen«8. Wenn Dasein wesentlich Mitdasein ist, dann ist die Beziehung zum immer schon erschlossenen Anderen nicht darin fundiert, daß ich ihn kennen, erkennen oder anerkennen müßte. Diese vorgängige Erschlossenheit faßt sich am besten in die doppeldeutige Formel zusammen: »Man kennt sich.« Dieses Sichselbst- und Einander-Kennen hat nicht die Form eines Wissens-über. Auch die sogenannte »Einfühlung« ist nicht Grundlage des existential-ontologischen Mitdaseins, sondern im Gegenteil durch es erst ermöglicht; denn die Einfühlung tut so, als müsse von einem zunächst einsamen Individuum eine Brücke zum Anderen über einen Abgrund der Verschlossenheit geschlagen werden. Daß nun diese Ansätze in § 26 von Sein und Zeit bei Heidegger nicht zu einer Sozialphilosophie des Zwischen geführt haben, hat damit zu tun, daß bei ihm diese Gedanken überlagert werden durch das Konzept der Jemeinigkeit des Vorlaufens zum Tode. In seinem Vortrag Der Begriff der Zeit, der 1924 vor der Marburger Theologenschaft gehalten worden ist, wird das noch deutlicher. Unter den sieben aufgeführten »Grundstrukturen des Daseins« wird hier bereits als zweiter Punkt erwähnt, daß das Dasein »Mit-einander-sein, mit Anderen sein: mit Anderen dieselbe Welt dahaben, einander Begegnen, miteinander sein in der Weise des Füreinander-seins.«9 Und in Punkt drei führt er das weiter aus, dieses Miteinandersein habe vor allem die Gestalt des Sprechens. Wir würden sagen: Selbst und Anderer sind sich gegeben nur in dem Text des Miteinandersprechens, dem kommunikativen Text. Selbst und Anderer sind nicht irgendwie schon vorhanden, bevor es noch sie verbindenden Text gäbe, und träten dann mit mitteilsamen Gedanken, einem Sprechen vor dem Sprechen, aufeinander zu, so wie das Inderweltsein nicht heißen kann: »Das menschliche Leben ist nicht irgendein Subjekt, das irgendein Kunststück machen muß, um in die Welt zu kommen.« Dasein ist vielmehr immer schon In-der-Welt-sein und ist immer schon im Sprechen ein Mit-einander-sein.

6

L. c., 118.

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L. c., 120.

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L. c., 119.

9

Martin Heidegger: Der Begriff der Zeit, hrsg. v. Hermann Tietjen. Tübingen 1989, 12

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Die Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty sucht einen anderen Ausweg aus den potentiell solipsistischen Aporien einer bewußtseinstheoretisch fundierten Intersubjektivitätstheorie, wie sie Husserl in der 5. der Cartesianischen Meditationen angegangen war. Bei ihm dient der Begriff der intercorporéité, der Zwischenleiblichkeit, dazu, die bewußtseinstheoretischen Beschränkungen zu überwinden. Der Begriff des Leibes, im Unterschied vom Körper-Objekt, dient hier dazu, jenes von Merleau-Ponty so genannte »être-au-monde« als Berührungskontakt zur Welt zu benennen. Die Zwischenleiblichkeit ist nun jene Berührung, in der sich Zur-Welt-Seiende zusammenfinden.10 Aber wie schon vor ihm Husserl zögert auch Merleau-Ponty, den entscheidenden Schritt zur Verabschiedung der Subjektzentrierung zu tun, indem in seiner Philosophie die »Intercorporéité« klarerweise die einzelnen individuellen Leiber voraussetzt; eine der »Corporéité« vorgängige »Intercorporéité« ist im Rahmen seiner Philosophie noch nicht denkbar. »Intercorporéité« kann zweitens auch deswegen kein Modell für eine Sozialphilosophie sein, weil sie Nähe voraussetzt, das ist aber für Kommunikation als dem Grundlagenprozeß des Sozialen ein Sonderfall, wie vor allem die heute durch Internet und soziale Netzwerke eröffneten Kommunikationsmöglichkeiten deutlich zeigen. Kommunikation und kommunikativer Text ist das, was sich zwischen den Körpern ereignet und diese berührt und dadurch sowohl in Nähe als auch in Distanz hält.11 Die sogenannte Zwischenleiblichkeit läßt sich als Konzept wohl nur historisch erklären als der Versuch, auf die Intersubjektivitätsproblematik eine andere als bewußtseinstheoretische Lösung zu artikulieren.12 1.2.2 Anregungen durch Maurice Blanchot Philosoph zu sein, so bemerkte Maurice Blanchot einmal, heiße seit Kants Zeiten, Professor zu sein, seine Gedanken auf dem Katheder oder wenigsten für das Katheder vor schweigenden Zuhörern zu entwickeln. Der Diskurs der Philosophie wird zum magistralen Diskurs. Das hat Folgen für das Denken, es hört auf,

10 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1986, 185ff. 11 Cf. Marie-Eve Morin: Jenseits der brüderlichen Gemeinschaft. Würzburg 2006, 209. 12 Cf. dazu auch erhellend Dieter Mersch: Negative Medialität, in: Journal Phänomenologie 23 (2005), 14-22, hier 20, der einen Begriff von Medialität entwirft, »der von einer differentiellen Prozessualität ausgeht« – dafür steht bei uns generell der Begriff des kommunikativen Textes.

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»une pensée voyageuse« zu sein.13 Das Denken vom Katheder aus ist für wenigstens 200 Jahre ein monologisches Denken gewesen. Gegenbeispiele fallen einem ein. De Sade und Gramsci denken vom Gefängnis aus, Georg Forster tatsächlich vom Reisen, und es gibt Nebenbei-Philosophen wie Kierkegaard, Nietzsche oder Wilhelm Schapp, und verhinderte Professoren wie Marx. Eine wichtige Anregung ergibt sich aus Blanchots Interpretation von Odysseus und den Sirenen. Die Odyssee erzählt, wie Odysseus die Sirenen dadurch besiegt, daß er ihrer Verführungskraft durch Anblick und Gesang dadurch zu trotzen versteht, daß er sich seinerseits machtvoll technisch desensibilisiert. Nichts anderes aber, so Blanchot, macht der homerische Text: er läßt Bild und Ton zum Text werden.14 Odysseus hat die Begegnung mit den Sirenen überlebt – im Text. Wenn man diesen Überschritt akzeptiert, ist der nächste Schritt naheliegend. Dann läßt sich nämlich sagen: der Text berichtet nur sich selber. Textreferenz ist Autoreferenz; der Text ist iterative Autopoiesis. Daher ist der Text – Blanchot sagt: das Buch – »die furchtbarste und schönste aller möglichen Welten, ein Buch, leider nur, nichts als ein Buch.« Was geschieht im Text, der sich zwischen uns entfaltet?15 Text, Kommunikation gibt es, gerade weil Gemeinsames fehlt. In der Großen Gemeinsamkeit des Pfingst-Ereignisses war eine Verständigung der religiös Ergriffenen nicht nur nicht nötig, sie war nicht einmal möglich. Die Bedingung der Möglichkeit der Kommunikation, also des kommunikativen Textes zwischen ihnen, ist die Unmöglichkeit der Einheit/Einigkeit der Kommunikationspartner. Weil wir uns uneins sind, reden wir miteinander. Und im Prozeß der Kommunikation, solange er andauert, wird der Dissens nicht ausgeräumt, oder minimiert; er wird befestigt, und deswegen reden wir weiter miteinander. Der Dissens ist zugleich der Nährboden für die Emergenz des Neuen. Der Andere öffnet dem Selbst die Augen, wie man sagt: er läßt ihn Neues erblicken. Aber Blanchot sagt darüber hinaus auch, daß die Unmittelbarkeit der menschlichen Beziehung schrecklich wäre.16 Die nackte oder reine menschliche Beziehung ohne vermittelndes Medium würde die Menschen sogar ohne Gefühle und ohne Erkenntnisse belassen; Kultur der

13 Maurice Blanchot: L’entretien infini. Paris 1969, 3. 14 Maurice Blanchot: Der Gesang der Sirenen. Frankfurt/M. 1988, 11ff.: »Die Begegnung mit dem Imaginären«; Kurt Röttgers: Menschliche Erfahrung: Gewalt begegnet dem Text des Erzählens (Alexander und Schehrezâd), in: Narrative Ethik, hrsg. v. Karen Joisten. Berlin 2007, 95-113. 15 M. Blanchot: L’entretien infini, 79. 16 L. c., 84.

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Gefühle und Erkenntnisse ist Kultur des Mediums, das uns auf Abstand hält und so die zwischenmenschlichen Beziehungen ermöglicht. Aber das Medium des kommunikativen Textes stellt nicht nur die soziale und die kognitive Distanz bereit, es ermöglicht auch die temporale différance. Blanchot bemüht den Mythos von Orpheus und Eurydike, um die heilsame Vermittlungsfunktion des Sprechens herauszustellen: solange Orpheus mit Eurydike bei ihrem Weg aus der Unterwelt spricht, ohne sie zu sehen, geht alles gut. Als er aber die Unmittelbarkeit des Anblicks begehrt, bricht das Unheil aus: die reine Unmittelbarkeit kollabiert zu Nichts. »Il faudrait donc dire que l’homme ainsi en face de l’homme n’a pas d’autre choix que de parler ou de tuer.«17 Das Zwischen-den-Menschen hat eine spezifische Bewegungsform, die ungeregelt, aber nicht regellos ist, soll heißen: es gibt keine Archè-bezogene Dominanzregel, aber sehr wohl rekurrente Anschlußformen, was man wohl nomadisch nennen darf, weil durch Bewegungsvollzüge bestimmt, aber nicht willkürlich. Auch Blanchot nennt das Trennnend-Verbindende das Zwischen (»entre«), welches nicht leer ist und nicht Nichts, sondern der Text, der eben kein substantielles Etwas, sondern der eigentümliche Prozeß der Relation. Dieser Prozeß kann kaum als »Intersubjektivität« bezeichnet werden, weil mit diesem Begriff die Subjekte immer schon vorausgesetzt wären, die sich dann zu einer Beziehung entschlössen. Einen anderen wichtigen Grundzug hat ebenfalls Blanchot herausgearbeitet, nämlich daß diese Beziehung im Zwischen eine asymmetrische ist, in der der Andere eben nicht derselbe ist. Wenn zweie kommunizieren, dann sprechen sie nicht zusammen, d.h. gleichzeitig, sondern wenn sie miteinander sprechen, dann wechseln sie ihre Positionen, die Asymmetrie der Relation im Zwischen oszilliert. Das bewirkt, daß der textuelle Prozeß in sich skandiert oder getaktet strukturiert ist. 1.2.3

Die Kulturphilosopie Ernst Cassirers

Anknüpfen kann eine Ontologie des Sozialen nicht nur bei Heidegger, sondern auch – freilich auf ganz andere Art – bei seinem Kontrahenten Ernst Cassirer. Mit ihm gehen wir vom primären Kommunikationsmedium Sprache aus. Sprache schafft im Raum, im Zwischen-Raum (dem »In-Zwischen«), des Miteinandersprechens, des kommunikativen Textes, wie wir sagen werden, Fakten durch Fiktionen. Die Kommunikationspartner können, unter dem Aspekt der Kommu-

17 L. c., 86.

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nikation gesehen, nicht als vorab existierende selbständige Wesenheiten oder Dinge begriffen werden, die sich dann entschlössen, eine zuvor bloß gemeinte Botschaft zu versprachlichen, um sie dann so zu kommunizieren.18 Auf diese Weise würden sie angeblich den Abgrund, der sie metaphysisch trennt wie die zwei Königskinder, durch eine Art Fernwirkung überwinden. Tatsächlich aber bestehen Kommunikationspartner nur insoweit in diesem sozialen Prozeß als sie sprechend miteinander sind, wir werden entsprechend von den Funktionspositionen im kommunikativen Text sprechen. Als Besondere sind sie allerdings durch einen Abstand (durch eine Differenz, die ihre Parallelität begründet) voneinander getrennt, aber im sozialen Prozeß des kommunikativen Textes sind sie doch auch zugleich miteinander verbunden, vielleicht darf man sogar sagen: vereint (vereint wie zwei Parallelen sich auf einer Darstellungsebene vereint geben). Cassirer sagt, daß diese Wechselbedingtheit der Kommunikationspartner den gemeinsam konstituierten Sinn einer Kultur ausmacht: »Es gibt nicht ein festes in sich geschlossenes Ich, das sich mit einem eben solchen Du in Verbindung setzt und gleichsam von außen in seine Sphäre einzudringen versucht.«19 Vielmehr besteht das gelingende Gespräch in Rede und Gegenrede, in dem die Kommunikationspartner erst zu dem finden, was sie sagen. Es gibt keinen Anfang vor dem Anfang, der den Anfang anzufangen veranlaßte, keine Quelle in oder vor der Quelle, die macht, daß die Quelle quillt. Jacques Derrida stellt fest: »Zuerst sind da die Quellen, die Quelle ist anders und Plural.«20 Auch nach Ute Guzzoni macht es keinen Sinn, nach dem Ursprung der Quelle zu suchen, sozusagen nach der Quelle hinter der Quelle, die die phänomenale Quelle transphänomenal speiste.21 Im Doppelprozeß von Rede und Gegenrede, d.h. im kommunikativen Text, baut sich nach Ernst Cassirer der Sinn der (gemeinsamen) Welt auf. Das, was dort entsteht, entstammt nicht separaten Köpfen, sondern bildet sich im Kom-

18 Lichtenberg fragte sich, wer der Blitz ist, der blitzt – analog zu »es blitzt« sollte man auch sagen »es denkt«, statt »ich denke«. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hrsg. v. Wolfgang Promies. 2. Aufl. München 1975, II, 412; Nietzsche fragte sich, wo der »Thäter« außerhalb einer »That« wäre, und Austin kritisierte die Vorstellung von Sprecherintentionen, vor und unabhängig von den Sprechakten. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausg., hrsg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München, Berlin, New York 1980, V, 279; X, 324, XIII, 258. 19 Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Darmstadt 1971, 50. 20 Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie. 2. Aufl. Wien 1999, 284. 21 Ute Guzzoni: Wasser. Berlin 2005, 87.

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munikationsprozeß in gemeinsamer Anstrengung heraus. Es ist die Sprache, die den Sprecher zum Sprecher (und den Hörer zum Hörer) macht, er war nicht Sprecher, bevor er zur Sprache griff und zu sprechen begann. »Beide [Ich und Du] können jetzt nicht mehr als selbständige Dinge oder Wesenheiten beschrieben werden, als für sich daseiende Objekte […] Das Ich wie das Du bestehen vielmehr nur insoweit, als sie ›füreinander‹ sind, als sie in einem funktionalen Verhältnis der Wechselbedingtheit stehen. […] Aber sobald wir nicht vom Ich und Du als zwei substantiell getrennten Wesenheiten ausgehen, sondern uns statt dessen in den Mittelpunkt jenes Wechselverkehrs versetzen, der sich zwischen ihnen in der Sprache oder in irgend22

einer anderen Kulturform vollzieht, so schwindet dieser Zweifel.«

»Das Denken des

einen Partners entzündet sich an dem des andern, und kraft dieser Wechselwirkung bauen sie beide, im Medium der Sprache, eine ›gemeinsame Welt‹ des Sinnes für sich auf. Wo 23

uns dieses Medium fehlt, da wird auch unser eigener Besitz unsicher und fragwürdig.«

Dazu paßt auch eine Bemerkung des frühen Walter Benjamin, der in seinem Aufsatz »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«24 gesagt hatte: »Es ist fundamental zu wissen, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache.« 1.2.4 Der Relationismus des Sozialen bei Georg Simmel Was Cassirer als »Wechselverkehr« oder sogar mit einem Simmelschen Terminus als »Wechselwirkung« bezeichnet, entspricht nun in der Tat in verblüffender Weise der relationistischen Philosophie des Sozialen bei Georg Simmel. In seiner Deutung wird das Zwischen ambivalent. Einerseits trennt die mediale Relation die Relata und hält sie auf Distanz, was dadurch bedingt ist, daß eine Differenz zwischen ihnen statuiert ist.25 Andererseits ist die Relation nicht nur das

22 L. c., 49ff. 23 Ernst Cassirer, l. c., 53f; cf. auch Hans Lipps: Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1959, 33, der A. v. Villers Redeweise von den »Zwischenmenschen« zustimmend zitiert, wo Cassirer von der gemeinsamen Welt des Sinns sprach. (Den Hinweis verdanke ich Volker Schürmann). 24 Walter Benjamin: Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen, in: ders.: Gesammelte Werke. Frankfurt/M. 2011, I, 206-220, hier 207. 25 Diese Differenz hatte die frühe spekulative Sozialphilosophie Simmels noch als Individualisierungszwang der Moderne interpretiert, heute in der Postmoderne wird man

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trennende Zwischen, sondern zugleich auch das verbindende Mit. Mit der Ambivalenz von Zwischen/Mit ist der soziale Wechselwirkungsprozeß nicht mehr angewiesen auf eine Verankerung des Sozialen in den Innenwelten von Individuen. Der Prozeß der Wechselwirkung ergibt sich allein aus der Konstellation. Die sogenannten Innenwelten sind schließlich auch nichts anderes als Relationen. Eine vorauszusetzende Einheit des Ich ist – für Simmel – ein Märchen. In seiner Philosophie des Geldes hat Simmel das in der Form der Wechselwirkung von Wertschätzungen analysiert. Wir verdanken Simmel allerdings noch einen zweiten, für jede Sozialphilosophie wichtigen Aspekt, nämlich die Figur des Dritten, bzw. die ternäre Struktur des Zwischen. Wir werden später darauf zurückkommen. 1.2.5 Die radikale Sozio-Ontologie bei Jean-Luc Nancy Ausgehend von Heideggers Analyse des Mitdaseins hat Jean-Luc Nancy eine Interpretation des Mit vorgelegt. Seine Sozio-Ontologie läßt die Intersubjektivitätsproblematik ganz hinter sich, indem er vorschlägt, den Individualismus substantieller Einheiten aufzugeben: »[…] erst das Individuum, dann die Gruppe, erst der eine, dann die anderen, erst das Rechtssubjekt, dann die wirklichen Beziehungen, erst eine ›individuelle Psychologie‹, dann eine ›kollektive Psychologie‹, und vor allem - wie man erstaunlicherweise immer 26

noch sagt, erst das ›Subjekt‹ dann die ›Intersubjektivität‹ […]«

Die ehemals sogenannte Intersubjektivität ist nichts anderes als das gemeinsame Auftauchen (»comparution«) in einem Drama, dessen alleiniger Autor keiner von beiden uns ist, noch weniger ein Transzendenter. Nancy behauptet nun, daß diese Gedanken eigentlich dazu hätten führen müssen, Sein und Zeit neu und ganz anders zu konzipieren. Und er selbst macht sich daran, den »Sinn von Sein« neu zu formulieren. Er erklärt das Problem der Ko-Existenz für das experimentum crucis jedes anstehenden, ich würde sagen: postmodernen Denkens. Anders

von solchen Substantialisierungen in den Relata absehen und mit Derrida oder mit Deleuze oder mit beiden abstrakter von einer Differenz im Ursprung sprechen wollen. Cf. Jean-Luc Nancy: Parallele Differenzen. Deleuze | und | Derrida, in: ders., René Scherer: Ouvertüren. Texte zu Gilles Deleuze. Zürich, Berlin 2008, 31-50. 26 Jean-Luc Nancy: Singulär plural sein. Berlin 2004, 76.

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gesagt, hätte Heideggers Kernfrage sein sollen, »wie mehrere Dasein zusammen das Da sein können.«27 Drei Antworten sind möglich: • •



Sie kommen zusammen vor, ihr Gemeinsames ist ein Konstrukt oder ein Projekt oder ein Kontrakt (so der moderne Mainstream-Individualismus); Sie bilden ein Kollektivsubjekt, ihr Gemeinsames ist von einer eigenen ontologischen Dignität (so der antimoderne Universalismus, aber auch gewissen Spielarten des Kommunitarismus); Sie durchkreuzen sich, berühren sich, vermischen sich – aber wie?

Die ersten beiden Spielarten scheiden nach Nancy aus, und ich glaube er hat Recht. Diese beiden Spielarten sind daran zu erkennen, daß sie das Grundproblem der Sozialphilosophie stets benennen als »das Individuum und die Gesellschaft« – oder schlimmer noch »das Individuum und die Gemeinschaft«. Nancys Grundfrage dagegen lautet: »Was geschieht zwischen uns?«28 Dieser Weg nimmt Kontiguität, nimmt Nähe und Distanz, nimmt Berührung, Ansteckung29, Anschluß und Verführung, nimmt Durchkreuzung und Eingriff als Schlüsselphänomene. Das Gewebe zwischen uns/mit uns ist kein eigener Gegenstand. Oder Nancy: »Das Sein ist zusammen, und es ist nicht ein Zusammen.«30 Also darf man eigentlich auch nicht von dem Mit sprechen, »sondern man sollte einfach ›mit‹ sagen […]«31 Wie dieses Gewebe, dieser kommunikative Text, zwischen uns analysiert werden kann, zeigt Nancy in seinem Buch mit dem programmatischen Titel Singulär plural sein. Dieses ist die Fundierung einer Heideggers Ontologie revidierenden pluralen Ontologie des Mit. Wie die deutsche Frühromantik – und der von Nancy aufgegriffene Terminus einer Logologie beweist seine Kenntnis von Novalis – kennt Nancy kein transzendentales Ich, sondern eine Transzendentalität des Wir. Wir sind der Sinn – ist eine öfters gebrauchte Formel, die nun weder heißen darf, daß jeder von uns allen Sinn ist, noch daß es ein transzendentes Wir gäbe, das jedem von uns den Sinn verleiht. Vielmehr ist es der zwischen uns stattfindende Prozeß, der den transzendentalen Charakter hat, Nancy haßt jenes Wort, aber man wird es wohl

27 L. c., 154. 28 L. c., 160. 29 Ansteckung, hrsg. v. Mirjam Schaub, Nicola Suthor u. Erika Fischer-Lichte. München 2005. 30 J.-L. Nancy: Singulär plural sein, 98. 31 L. c., 101.

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doch einmal verwenden dürfen: es ist der Kommunikationsprozeß, in dem in Nähe und Abstand zugleich eine Pluralität des Anfangs konstituiert ist. Ich sage bewußt konstituiert; denn erst mit dem Abstand – hier folgt Nancy offensichtlich dem Denken der Differenz (Heidegger, Adorno, Derrida) – mit dem Schritt aus Präsenz, tritt eine sinnermöglichende Verzweigung ein. Folglich erhält die Formel vom Sinn des Seins bei ihm die Gestalt: »Das Sein kann nur als Mit-einander-seiend sein, wobei es im Mit und als das Mit dieser singulär-pluralen KoExistenz zirkuliert.«32 Das Zwischen in den singulär-pluralen Vorkommnissen ist kein konsistentes Etwas. Nur in Morgensterns Gedicht Der Lattenzaun ist es möglich, den Zwischenraum zwischen den Latten herauszunehmen und daraus ein Haus zu bauen. Tatsächlich ist das Zwischen die Distanznahme und deren Resultat. Erst mit dieser »Verräumlichung« tritt Sinn auf, die reine kompakte Immanenz wäre ohne Sinn. Die in Abstand stehenden Singularitäten berühren sich, sie sind weder isoliert, entzweit, noch fallen sie in leerer Identität zusammen, noch bilden sie untereinander eine Kontinuität aus, noch interveniert die zauberhafte Berührung in ein schon vorab bestehendes Kontinuierliches hinein. Das Zwischen, oder sagen wir noch einmal, die Mitte ist kein Etwas, das in der Mitte dazwischen liegt. Die Kontiguität begründet Selbst und Anderes. Es sind nicht erst zwei Dasein, die dann in Berührung träten oder es auch vielleicht lieber hätten bleiben lassen können; sondern man muß sagen: Wo Berührung ist, sind ipso facto Zwei in Abstand und Nähe. Und das gilt selbstverständlich genau in der gleichen Weise für Prozesse der Selbstberührung. Alterität als Konsequenz der Kontiguität. Weil Nancy Heidegger aus der Perspektive des Mit neu schreibt, kennt seine plurale Ontologie eine Vielheit der Ursprünge der Welt in der Vernetzung von Kontiguität. Die Alterität des Anderen, das ist sein anderer Ursprung der Welt. Die Unvermeidlichkeit der Ko-Existenz ist zugleich der Beweis der Nichtexistenz eines Schöpfergottes, eines Gottes, der für sich allein vor aller Schöpfung schon existierte. Wenn ich von Distanznahme und Abständigkeit sprach, so darf dabei nicht an Entzweiung im Sinne des deutschen Idealismus gedacht werden. Entzweiung ist ein kritisch gemeinter Begriff, der vor dem Hintergrund von Einheit oder von Heil fungiert. Hier aber wird der Ursprung als von vornherein geteilter Ursprung gedacht. Diese Welt hat keinen Ursprung – oder mehrere. Aber nicht einen. Daher sagt Nancy lakonisch: »Der Ursprung ist ein Abstand.«33 Anders gesagt, Ursprung kommt stets im Plural vor. Der Kern der von Nancy ausgerufenen neuen

32 L. c., 21. 33 L. c., 40.

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Ontologie lautet: »Also nicht das Sein zuerst, dem dann ein Mit hinzugefügt wird, sondern das Mit im Zentrum des Seins.«34 Wenn er das ego sum, durch ein ego cum ersetzt, so hätte er auch mit Johann Plenge sagen können: cogito, ergo sumus. Sprechen wir von Selbst (»Das Selbst ist kein Ding«35) und Anderem als Funktionspositionalitäten im kommunikativen Text, so heißt es analog bei Nancy, daß weder vom Ich, noch von einem Subjekt die Rede sein kann, sondern von reiner Ipseität, als das »Unterschiedene einer Unterscheidung«.36 Von daher gibt es jenen transzendentalen Standpunkt nicht, von dem aus das Unterscheiden unterscheidungsfrei eingeführt werden könnte. Im Text zu sein heißt Unterscheidungen zu vollziehen. Jede Substantialisierung ist damit ausgeschlossen. »Wir: jedes Mal ein anderer, jedes Mal mit anderen.«37 Um alle Reminiszenzen an den Existentialismus, dem er doch verpflichtet ist, zu tilgen, ersetzt Nancy stellenweise den Begriff der Ko-Existenz durch den formaleren Begriff der KoIpseität.38 Ein solches Zwischen läßt sich konfiguriert denken auf verschiedene Weise. Die klassisch-moderne europäische Philosophie, darin anknüpfend an die altgriechische Obsession von Archè und Telos, glaubte, daß jeder Zwischenraum von der Archè, die Ursprung und Herrschaft zugleich ist, ursprungsfundierte Herrschaft, in einem Einheitspunkt konvergiert. Hierarchie als Antizipation, bzw. Stellvertretung des Heils; denn Ordnung konnte man sich nur als hierarchische Herrschaft denken.39 Nancy verabschiedet sich auch von allem ArchieDenken – das mag man ein an-archisches Denken nennen, weil es die freie Dissemination (Ausstreuung) eben nicht aus einer Brechung eines einzigen Prinzip zu einer Vielheit der Wirkungen ableitet, wie etwa Plotin. Die Welt, d.h. der Sinn der Welt beginnt immer wieder und nicht in einer einzigen Archè. Die Logik eines Ursprungs und seiner causae efficientes ist aufgegeben, ebenso jede Archäologie; vielmehr folgt die Vielfalt der Ursprünge einer Logik des singulär pluralen »Auftauchens«. An-archisches Denken strukturiert den Raum des präpositionalen oder wenn man an die ungarische Sprache denkt postpositionalen, d.h. relationalen Zwi-

34 L. c., 59. 35 Gerhard Gamm: Nicht nichts. Frankfurt/M. 2000, 218. 36 L. c., 62. 37 L. c., 65. 38 L. c., 76. 39 Niklas Luhmann: Soziologie der Moral, in: Theorietechnik und Moral, hrsg. v. Niklas Luhmann u. Stephan H. Pfürtner. Frankfurt/M. 1978, 8-116, hier 33.

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schen/Mit als ein Netz. In seinem Werk Le Sens du monde40 spricht Nancy geradezu von dem Netz der Welt als einer Pluralität von Singularitäten. Es dürfte schon klargeworden sein, daß die Sozio-Ontologie Nancys eine Instanz einer Philosophie radikaler Immanenz ist. Für sie ist der Sinn der Welt nicht etwas, das zur Welt hinzukäme, sondern die Welt, das ist das Netz, in dem der Sinn zirkuliert und das das Gesetz der Herrschaft, das Eine Prinzip, das die Welt erschuf und mit Sinn ausstattete und die Archè als vorgängigen Gründungsakt ersetzt. In diese Netzstruktur sind auch Individualität und Alterität eingelassen. Das Netz der Welt alteriert erst die Alterität und singularisiert die Pluralität zu Individualitäten. Nicht Ein Prinzip generiert durch Brechung die Vielheit, sondern Vielheit ist weltimmanent, bevor noch eine Archè hätte begründet werden können. Das Konzept der Sinn-Zirkulation ersetzt substantielle Einheiten durch Netz-Verknüpfungen. Der auf diese Weise sich ergebende Raum des Politischen (nicht der Großen Politik) ist ein Raum der eher die Struktur des Leibnizschen als des Newtonschen Raumes hat, d.h. die reine Relationen strukturiert ist, anstatt ein leerer Behälter zu sein. Die Vielfältigkeit des Zwischen bindet die Pole der Relationen des Netzes aneinander und bestimmt sie perspektivisch und jeweils temporär asymmetrisch als Selbst und Anderen. Die Abständigkeit nennt Nancy das Zwischen, die Bindung das Mit, ohne daß die damit erfolgte grammatische Substantialisierung der Präpositionen als ontologische Substantialisierung gelesen werden dürfte; selbst wenn wir diese Mitte als ein Wir bezeichnen, muß klar bleiben, daß dieses Wir weder eine Substanz noch ein Subjekt indiziert. Die Ereignisse in diesem Zwischenraum sind daher nicht als durch Prinzipien oder Ursachen hervorgerufen zu betrachten, sondern ereignen sich als singuläres Auftauchen (wie in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps). Die dramatisierende Frage, ob nicht der Mensch Verantwortung habe für das, was im Raum des Politischen geschieht, provoziert so eine trivial-nichtssagende Antwort, sei sie nun bejahend oder verneinend, sei sie normativ oder epistemisch gemeint. Denn »Menschen« kommen nur in Positionen im Netz der Beziehungen vor, in denen sie antworten und verantworten können, nicht als solche außerhalb oder vor aller Sozialität. In seiner neuesten Publikation Politique et au-delà41 bezeichnet Nancy den Begriff des »contrat social“ als einen heute obsoleten und wirkungslosen Begriff, der einer Tradition entstammt, die von Individuen ausgeht, die jeglicher Sozialität vorhergehen und dann in einen Vertrag eintreten. Aber auch den Begriff der

40 Jean-Luc Nancy: Le Sens du monde. Paris 1993, 80. 41 Jean-Luc Nancy: Politique et au-delà. Paris 2011.

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»volonté générale« nimmt er kritisch auseinander. Ursprünglich war dieser Begriff als Name für das Eine Allgemeine nichts anderes als die volonté divine; heute dagegen ist als einziger Sinn eines Wollens des Allgemeinen übriggeblieben der Geist des Kapitals.42 Die Allgemeinheit, sei es Gottes, sei es des Kapitals steht in einer Beziehung gegenseitiger Vorausgesetztheit zum singulären Begehren; und nur zusammen machen sie den Sinn aus, dessen Zirkulation die Humanität bildet. Das Konzept der Sinn-Zirkulation ersetzt substantielle Einheiten durch Netz-Verknüpfungen. Sinn-Zirkulation erscheint als Singularisierung. In diesem Sinn muß man sagen, daß das die Politik, die Große Politik, keinen Sinn mehr macht; denn diese war immer an Prinzipien orientiert, an der Archè, die zugleich Ursprung/Prinzip und Herrschaft bedeutet. Politik war immer an herrschaftsgarantierender Einheit und Allgemeinheit interessiert, zuletzt an Menschenrechten und ihrer homogenisierenden Rhetorik. Der Substantialisierung von Gemeinsamkeit zu Gemeinschaft mißtraut Nancy zutiefst. Zu diesem Zweck unterscheidet er Sinn als »sens en commun« vom »sens commun«. Aber diese Philosophie wendet sich nicht nur gegen die Einheit des Ursprungs, der Archè, sondern auch gegen die eines kollektiven Ziels, wie es Napoleon ausgesprochen hatte, als er formulierte: »Le destin, c’est la politique«. Der zielbezogenen Einheit, daß alles politisch sei (»tout est politique«) widerspricht Nancy mit der prägnanten Formel: »Non: tout doit être tout, c’est-à-dire multiple.« So attraktiv Nancys Ansatz für eine relationistische Sozialontologie sein mag, bleibt bei ihm doch ein entscheidendes Defizit, insofern er zwar jede Substantialisierung des präpositionalen Zwischen/Mit vermeidet, aber eben deswegen auch wenig in positiver Hinsicht über diese Mitte zu sagen weiß, so daß man analog zu einer Negativen Theologie hier von einer Negativen Ontologie sprechen könnte. Also kann man, mit dieser perspektivischen Unterscheidungsmöglichkeit ausgestattet, dem abstrakten Zwischen Nancys eine konkrete Form zuweisen, und das ist in meiner Version der kommunikative Text. In § 88 seiner Anthropologie hatte schon Kant43 mit der Idee der Mahlzeit als höchstem moralischphysischen Gut die »Intercorporéité« des bloßen Miteinander-Essens (er nannte

42 Cf. Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. 2. Aufl. Zürich 2011; Jacques Derrida: Marx' Gespenster. Überarb. Ausg. Frankfurt/M. 1996. 43 Immanuel Kant: Gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910ff., VII, 277ff.; cf. dazu Kurt Röttgers: Kritik der kulinarischen Vernunft. Bielefeld 2009.

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es »Abfütterung«) auf die Textualität des angesichts der gelungenen Mahlzeit gelingendem Gesprächs hin überschritten. Der kommunikative Text, der die Funktionspositionen von Selbst, Anderem und Drittem systematisch vorsieht, ist die konkrete Gestalt, von der her eine Ontologie des Sozialen entwickelt werden kann, die sowohl den Individualismus als auch den Kollektivismus der Moderne vermeidet und gleichwohl das Netz des Sozialen einer aussichtsreichen Analyseperspektive zuführt.

1.3 D IE S OZIALPHILOSOPHIE DES KOMMUNIKATIVEN T EXTES Jede Kommunikation ist medial, sie findet in der Mitte, im Zwischen statt – und es gibt keinen vernünftigen Grund, das zu bedauern oder hinter dieser Tatsache die kritische Folie einer direkten Kommunikation aufzubauen und jede reale Kommunikation am Maß dieser vermeintlich idealen Kommunikation zu messen. Mythisch wird die Idee einer solchermaßen idealen Kommunikation, wo angenommen wird, in Kommunikation gehe es darum, die inneren Unendlichkeiten zweier Individuen so in einen ungestörten Kommerz zueinander zu bringen, daß die Individuen füreinander effabile werden, eine Kommunikation ohne Medium, also eher eine Kommunion. Ein medialitätstheoretischer Ansatz muß sich zweimal zwei verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten stellen. Einerseits stellt sich die Alternative des Mediums als Mitte und als Mittel, andererseits die einer substantialistischen und einer relationistischen (funktionalistischen) Interpretationsalternative. Mit der ersten Entscheidung werden wir schnell fertig. Das Medium als Mittel zu begreifen, setzt eben doch wieder einen individualistischen (oder evtl. auch einen kollektivistischen) Ansatz voraus. Denn der Mittel-Begriff ist eingelassen in eine Handlungstheorie, die per se methodisch individualistisch ist (im Unterschied zu Theorien der Praxis, die das nicht notwendigerweise sind). Handeln, das tun Individuen oder aber Kollektive, wenn sie wie individuelle Akteure verstanden werden. Also bleibt in dieser Alternative nur die Option für eine Interpretation des Mediums als eine organisierende Mitte, von der aus zu bestimmen ist, was ein Individuum, was ein Subjekt, was eine Person, was ein Mensch sein kann. Die andere Entscheidungsalternative erfordert etwas mehr Überlegung. Zwar scheint es so, als könnten wir mit der Substanzalternative ebenso schnell fertigwerden, da ein substantielles Etwas, das die Bezugspole des Medialen modalisiert, so etwas wie eine Person sein müßte und wir dadurch doch wieder in eine individualistisch-handlungstheoretische Position zurückfielen. Aber ganz so ein-

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fach ist es nicht. Im Zwischen des sozialen Prozesses könnten sich ebensowohl Apparate, d.h. die Technik, befinden und – was schwerer wiegt – dort könnte auch der Ort der Figur des Boten sein, wie Sybille Krämer und zuvor Michel Serres44 sie herausgearbeitet haben. Der Bote ist »nicht Nichts« (Gamm), aber sein »Handeln« geschieht im Auftrag, er handelt gerade nicht wie die autonomen Handlungssubjekte der Moderne, sondern eher so wie Engel. Seine einzige »Handlung« ist das weisungsgemäße Überbringen der Botschaft. Weder für dieses »Handeln« noch für den Inhalt seiner Botschaft ist der Engel im Sinne der Ethik freier Handlungssubjekte verantwortlich. Erst wenn er von der Weisung abwiche, handelte er, und zwar vorwerfbar frei (im Sinne von Schellings Freiheitsbegriff). Aber andererseits überbringt sich die Botschaft nicht selbst, sie bedarf des Überbringers: der Engel ist notwendig (Cacciari).45 All das scheint für eine reduziert substantialistische Deutung des Mediums zu sprechen und so die Frage aufzuwerfen: Wer oder was ist ein Medium?46 Es könnte natürlich auch sein, daß der Bote (Engel) eine Fiktion ist, die nur deswegen notwendig ist, weil wir das Gähnende (Chaos, im Sinne von Hesiod) im Zwischen der Ordnungen nicht zu denken vermögen, so wie Michel Serres (in Umkehrung Kants) zwar einerseits sagt, daß Ordnung im Chaos der Welt die unwahrscheinlichste Ausnahme ist,47 aber er eben dieses von einer Ordnung aus denken muß. So wäre das In-Zwischen »nicht Nichts«, aber eben keine Substanz, sondern lediglich die wirksame Fiktion einer Substanz, also eine Schimäre. Prüfen wir also zunächst die andere Alternative, nämlich daß die organisierende Mitte, das Zwischen, eine Relation sei, denn vielleicht kann die Relation nicht nur die Relata (die Individuen/Subjekte/Personen/Menschen) erklären, sondern auch die Schimäre im Zwischenraum. Wir analysieren diese prozessuale Relation im Zwischen unter dem Begriff des kommunikativen Textes. Kommunikativer Text soll dieser Bereich deswe-

44 Michel Serres: Legende der Engel. Frankfurt/M. 1995; Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Frankfurt/M. 2008. 45 Massimo Cacciari: Der notwendige Engel. Klagenfurt 1987; cf. Kurt Röttgers: Teufel und Engel. Bielefeld 2005. 46 Kurt Röttgers: Wer oder was ist ein Medium?- Als: http://www.fernuni-hagen.de/ KSW/forschung/pdf/fk1_ksw_roettgers.pdf 47 Michel Serres: Hermes. Berlin 1991ff., IV, 8: »Das Rationale ist im strengen Sinne unwahrscheinlich. Gesetz, Regel, Ordnung, alles, was wir so bezeichnen, sind so unwahrscheinlich, daß sie an die Grenze dessen kommen, was eigentlich gar nicht sein kann.«

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gen heißen, weil er erstens syntagmatisch (prozessual) ist (im Unterschied zum Paradigma oder Sprachsystem), weil er zweitens tatsächlich sprachlich-diskursiv (kulturell, symbolisch … auch normativ) verfaßt ist48 und weil er drittens von Anfang an ein soziales Phänomen ist. Der kommunikative Text entfaltet sich also zugleich in den drei Dimensionen der Zeit, des Diskursiven (d.h. der Symbole und Normen) und des Sozialen. Die Dimension der Zeit, die wegweisend von Edmund Husserl und seiner Nachfolge von Yvonne Picard analysiert worden ist,49 zeigt sich – ausgehend und zentriert um eine Unmittelbarkeit der Gegenwart als Urimpression – in zwei Richtungen ausgezogen: Vergangenheit und Zukunft. In beiden Richtungen muß man, will man das Phänomen der Kontinuität der Zeit richtig verstehen, eine Nähe und eine Distanz unterscheiden, die sich in der Vergangenheit als Retention und Reproduktion darstellen. Bei Husserl ist die Grundlage dieser Unterscheidung eine unterschiedliche Intentionalität. Während Reproduktion die Wiedervergegenwärtigung einer vergangenen Gegenwart in einer aktuellen Gegenwart meint, ist die Retention an die gegenwärtige Wahrnehmungsintentionalität gebunden wie der Schweif eines Kometen an diesen. Nur aufgrund dieser Retention ist das Kontinuum des Hörens einer Melodie als einer Ganzheit erklärlich, die vergangenen Töne werden noch mitgehört mit dem gegenwärtigen Ton, so sagt Husserl. Jacques Derrida hat nun gezeigt,50 daß die Husserlsche Urimpression eine Illusion ist; den (Zeit-)Punkt der Unmittelbarkeit des Gegebenseins gibt es nicht. Die Fixierung auf einen Einheitspunkt der Urimpression ist sowohl unhaltbar als auch unnötig. Derrida setzt die Differenz als Grund an, die als différance zugleich den Aufschub, d.h. die Nichtidentität der Urimpression anzeigt. Für die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes ist diese Fortsetzung (Dekonstruktion) Husserls eine Perspektivenerweiterung, weil sie ja ohnehin nicht auf einer vermeintlichen Unmittelbarkeit aufruht, sondern von vornherein eine Theorie des Mediums, d.h. der Vermitteltheit ist.

48 In Abweichung von der Leibphänomenologie (etwa bei Merleau-Ponty als »Intercorporéité«), die Gerhart Gamm als »Nostalgismus der Leibphänomenologie« genannt hat, Gerhard Gamm: Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität. Berlin, Wien 2004, 23. 49 Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Den Haag 1966; Yvonne Picard: Le temps chez Husserl et chez Heidegger, in: Deucalion 1 (1946), 93124. 50 Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt/M. 1979, 142: »Denn die Ursprünglichkeit muß von der Spur her und nicht umgekehrt gedacht werden.«

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So wie aber Zeitlichkeit sich von Anfang an in die zwei Richtungen der Zukunft und der Vergangenheit entfaltet, von der Aktualität, d.h. Gegenwart des Textes aus gesehen, so stehen im Diskursiven sich die beiden Richtungen des Symbolischen, bzw. Epistemischen (bei Kant die Kritik der reinen Vernunft) und des Normativen (bei Kant die Kritik der praktischen Vernunft) gegenüber. Im Sozialen wollen wir diese zwei Pole der prozessualen Relation des Medialen nach der Innen/Außen-Differenz markieren. Das Selbst im kommunikativen Text ist mit seinem Anderen, seinem inneren Anderen und mit seinem äußeren Anderen konfrontiert, wobei das Selbst den Indifferenzpunkt bezeichnet, dem in der Zeitdimension die Gegenwart entspricht, unter Verzicht auf die Illusion der Unmittelbarkeit. So wie es aber die reine unmittelbare Gegenwart nicht gibt, so gibt es auch das reine unvermittelte Selbst nicht, das keinen Anderen und keine Seele hätte, das heißt, daß das Selbst nicht als Unmittelbarkeit gegeben ist, sondern nur im Ausdruck, der von ihm verschieden ist und der sich auf den inneren oder äußeren Anderen51 bezieht. Wir sprechen daher von den Funktionspositionen im Medialen des kommunikativen Textes. Aber es zeigt sich ferner, daß man nicht bei der (Doppel-)Polarität (Selbst und Innerer Anderer und Selbst und äußerer Anderer) verweilen können; denn dann würden wir die prekäre Struktur der Intersubjektivitätstheorien nie verlassen haben und keine Begriffe zum Verständnis des Sozialen in seiner Spezifizität bereitgestellt haben. Soziales ist eben keine Dyadenverkettung – erst recht natürlich nicht etwas Substantielles sui generis. So benötigen wir zuallererst die Kategorie des Dritten, der aber kein hierarchisch übergeordneter Dritter sein muß; erst ganz bestimmte Sozialorganisationen machen aus diesem Dritten eine Gründung, die als Archè zugleich Ursprung und Herrschaft ist. Der Neueinsatz einer Sozialphilosophie, die sowohl den Prozeßcharakter der Sozialen als auch seine Relationalität im Zwischen betont, verdankt sich Einsichten, daß sowohl eine intentional-teleologische als auch eine kausal-deterministi-

51 Zum Subjekt als Grenze zwischen einer Innenwelt und einer Außenwelt bei Wittgenstein und Merleau-Ponty s. Kathrin Stengel: Das Subjekt als Grenze. Berlin, New York 2003, 117ff., aber zuvor schon Novalis: Schriften, hrsg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. Darmstadt 1965, Bd. II, 418 f.: »Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen – ist er in jedem Puncte der Durchdringung.« Zur romantischen Psychologie, die sich am Paradigma der neuen, d.h. der elektromagnetisch und elektrochemisch inspirierten Naturwissenschaften orientiert, s. Kurt Röttgers: Romantische Psychologie, in: Psychologie und Geschichte 3 (1991), 24–64.

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sche Sicht sozialer Phänomene nicht länger überzeugt. Für den Übergangssinn des Prozesses heißt das, daß dieser Prozeß im Zwischen weder aus den Prinzipien des vorhergehenden »Zustands« noch aus denen den folgenden abgeleitet werden kann. Mit anderen Worten Prozessualität ist immanent und nicht von vorauszusetzenden Substanzen her bestimmt. Günter Abel, in seiner Interpretation der Philosophie der Wiederkehr bei Nietzsche, drückte das folgendermaßen aus: »Die Welt ›besteht‹ überhaupt nicht aus irgendetwas. Sie ist die sich in ihren strukturellen Konfigurationen fortwährend verschiebende Totalität, nicht die Einheit, sondern das Gesamt der mit- und gegeneinander wirkenden KräfteZentrierungen […] Deren Vollzüge sind die einzige Realität.«52 Verzichtet man von vornherein auf die Illusion einer Unmittelbarkeit, so wird man den kommunikativen Text strukturiert sehen durch die Funktionspositionen von Selbst und Anderem, wobei der Andere sowohl als innerer Anderer53 als auch als äußerer Anderer begegnen kann, daher Innen und Außen die beiden Richtungen markieren, die Vergangenheit und Zukunft in der temporalen Dimension entsprechen. Das aber heißt auch, daß das Selbst nicht als Unmittelbarkeit gegeben ist, sondern nur im Ausdruck, der von ihm verschieden ist und der sich auf den inneren oder äußeren Anderen bezieht. Aber in der Sozialanalyse zeigt sich dann auch, daß wir nicht bei der Struktur Selbst/Anderer stehen bleiben können; denn sonst würde die Begrenztheit der Intersubjektivitätstheorien nie verlassen werden können und keine Mittel gewonnen haben, die zum Verständnis von Gesellschaften beitragen könnten. Eine solche von der Mitte, dem In-Zwischen aus operierende Sozialphilosophie ist geeignet, die Fallstricke der Intersubjektivitätstheorien zu vermeiden, seien diese nun klassisch vertragstheoretisch oder seit Hegel anerkennungstheo-

52 Günter Abel: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr. Berlin, New York 1984, 4. Abel nimmt aus der Philosophie Nietzsches den Interpretationsbegriff als zentralen Begriff auf, so daß er sagen kann, alles Geschehen sei Interpretationsgeschehen. »Die Grenzen der Interpretation sind die Grenzen der Welt […] Welt, Wirklichkeit und Sinn sind nur in und als Interpretation.« (169; die enge Bindung von Welt- und Sinnbegriff begegnet dann auch bei Nancy, S. o.) Wir halten, in einer prinzipiell vergleichbaren Stellung den Textbegriff für geeigneter, weil er sich nicht an die Willen-zur-Macht-Metaphysik bindet. 53 G. Gamm: Nicht nichts, 268 stellt heraus, daß wir den Anderen immer schon »in uns« haben, wofür ihm Schuld und Scham Hinweise bieten. Cf. auch Jessica Benjamin: Der Schatten des Anderen. Frankfurt/M., Basel 2002, 129: der nicht akzeptable äußere Andere taucht im Inneren wieder auf.

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retisch formuliert worden. Die Theorien der Intersubjektivität waren der (gescheiterte) Versuch, die Theorien der Struktur des Subjekts, die von Descartes bis Kant und Husserl immer als Allgemeinheit gedacht wurde, mit den Theorien der Struktur von Individualität, die seit Leibniz und Goethe als innerlich begründet von unendlicher Verschiedenheit angenommen wurde, zu versöhnen. Wie kann die Allgemeinheit des Subjekts mit der Partikularität des Individuums vereinbar sein? Der großartigste Versuch einer Synthese liegt in der Hegelschen Philosophie vor. Die von ihm abschreibenden Anerkennungstheorien der Intersubjektivität in der Gegenwart, die glauben, die Synthese auch ohne den Hegelschen umgreifenden Begriff des objektiven Geistes vollziehen zu können, wollen das Allgemeine im Besonderen des Anderen (und im Selbst, insofern anerkannt durch den Anderen) wiederfinden. Würden diese Theorien funktionieren, dann würde sich die Mitte ganz in der Allgemeinheit der Identität auflösen. Und in der Tat sind die Anerkennungstheorien mit den Konsenstheorien verschwistert: Wären wir uns in der Allgemeinheit der Einen Vernunft einig, dann erübrigte sich jedes weitere Wort und Gerede. Konsenstheorien sind Feinde der Kommunikation; denn der kommunikative Text im Zwischen ermöglicht nicht nur Einverständnisse, sondern ebenso sehr Unverständnisse und Mißverständnisse. Und das ist gut so. Oder um mit Luhmann zu sprechen: Die Intersubjektivitätstheorien entstehen als »Tücke des Subjekts« (»Die Tücke des Subjekts – das ist seine Art, sich menschlich zu geben, sich als Mensch anbiedern zu können.«54) genau dadurch, daß am Subjekt als Konstituens des Sozialen festgehalten wird, statt auf Kommunikation zu setzen. Dem Grundirrtum, daß die soziale Welt sich aus Dyaden oder Dyadenverkettungen aufbaut, unterliegen Kontraktualismus und Anerkennungstheorie in gleicher Weise. Keine Gesellschaftsstruktur läßt sich aus lauter Zwischenmenschlichkeit aufgebaut denken. Erst die Figur des Dritten55, der mehr ist als bloß ein weiterer Anderer, konstituiert das Soziale. Er stört, er vermittelt, er verbindet, er trennt, er wird eingeschlossen, er wird ausgeschlossen. Auf jeden Fall begründet

54 Niklas Luhmann: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach den Menschen, in: Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?, hrsg. v. Peter. Fuchs u. Andreas Göbel. Frankfurt/M. 1994, 40-56, hier 43. 55 Michel Serres: Der Parasit. Frankfurt/M. 1981; Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt/M. 1992 (Georg-Simmel-Gesamtausgabe XI), 63-159, bes. 124ff.; K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie, 245-271; Thomas Bedorf: Dimensionen des Dritten. München 2003; Pascal Delhom: Der Dritte. München 2000.

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er eine weitere Ebene: Er beobachtet und beurteilt die Beziehung von Selbst und Anderem. Aber es gibt keinen Grund, nun voreilig den Egalitarismus (von Kontraktualismus und Anerkennungstheorie) zu verabschieden und sich einem hierarchischen Schema zu verschreiben. Denn der Dritte ist ebenso wenig substantiell festgelegt, wie Selbst und Anderer. Insofern wechselt auch die Position des Dritten.

1.4 D IE E THIK INNERHALB DER D IMENSION DES D ISKURSIVEN DES KOMMUNIKATIVEN T EXTES Entgegen Gerhard Gamm bin ich nicht der Ansicht, daß alle bisherigen Ethiken abgewirtschaftet hätten und daß das Ethische ganz neu erfunden werden müsse.56 Wenn er zu meinen scheint, daß die aristotelische Ethik eine Lebensweltethik sei, die auf in seiner Zeit gelebte moralische Ressourcen zurückgreifen könne, die ihrerseits durch eine kosmische Ordnung abgesichert sei, so verkennt er, daß diese Ethik ganz im Gegenteil der Versuch einer Antwort auf den Verfall dieser gelebten Moral und dieser Hintergrundordnung war. Aber genau das ist zugleich die Grundsituation aller Ethik: sie begründet nicht (überflüssigerweise) Normen, an denen sich ohnehin das Leben einer Gemeinschaft oder Gesellschaft ausrichtet, sondern sie unternimmt ihre Begründungsreflexion der Moral dort, wo in einem normativen Kontinuum z.B. der »guten Sitten« die Frage »Warum sollte ich?« auftaucht, wo also die normative Ressource verknappt wird. Das wiederum ist nichts krisenhaft Ungewöhnliches, sondern begegnet in nuce jedem Erzieher, wenn sein Zögling auf die normative Weisung »Das tut man nicht« zurückfragt »Und warum nicht?« und der Erzieher dann eine Begründung sucht oder versucht. Schon insofern wir in solchen Situationen tatsächlich mehr oder weniger gut begründet argumentieren, treiben wir Ethik, und Ethik hat sich in diesem Sinne keineswegs überlebt. Die Behauptung dagegen, die Unmittelbarkeit sittlicher Geltung sei die Grundlage jeder Normativität, folgt einem Fundamentalismus der Nähe, der dem vergleichbar wäre, alle Gesellschaftlichkeit auf Gemeinschaft zu gründen. Solcher Fundamentalismus hat zwangsläufig totalitäre Konsequenzen, wie er im Begriff der »Volksgemeinschaft« offen sichtbar geworden ist und auch in der

56 G. Gamm: Nicht nichts, 207. »Aber beide [die aristotelische und die kantische Ethik] verfehlen in ihren Grundbegriffen die Struktur der modernen Welt auf prinzipielle Weise.«

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Politik der »Brüderlichkeit«,57 wie er aber auch – vielleicht weniger offensichtlich – jeder Ethos-Ethik eignet. Nähe58 ist nur zu haben, wenn es auch Distanz gibt; die Bedingung der Möglichkeit von Unmittelbarkeit ist die Mit-Möglichkeit (Kompossibilität) von Vermittlung. Das Ziel einer solchen Anstrengung scheint klar: »Beginne ich nicht mehr zu existieren, damit der Tod niemanden mehr antrifft, wenn er kommt.«59 Diese poetisch formulierte Aussage benennt die Anstrengung eines jeden Textes und aller Kultur, nämlich daß unser Wissen nicht mit unseren Körpern stirbt. Damit das aber möglich wird, muß sich dieses Wissen in der Form des kommunikativen Textes ein Stück weit von unseren Körpern trennen, so daß wir/unser Text den Übergang ins Jenseits unserer Leiblichkeit vollzogen haben werden. Auf diesem Weg, der dem Hauptweg der Moderne entgegengesetzt ist, die auf extreme Individualisierung gesetzt hatte, so als wären die Individuen das, was nicht sterblich ist,60 auf diesem Weg der Vertextung zur Objektivität eines Wissens können Engel zur Leitfigur werden; denn im Raum zwischen den individualisierten Kör-

57 Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. Frankfurt/M. 2000; Kurt Röttgers: Fraternité und Solidarität in politischer Theorie und Praxis – Begriffsgeschichtliche Beobachtungen, in: Solidarität. Ein Prinzip des Rechts und der Ethik, hrsg. v. Hubertus Busche. Würzburg 2011, 19-53. 58 Zur Emphatisierung von Nähe als Interpretation der Philosophie Heideggers s. Emil Kettering: NÄHE. Pfullingen 1987; bei Heidegger selbst s. insbes. Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Frankfurt/M. 1985 (Gesamtausg. I, 12), 179ff. als »Bewohnen der Nähe«. Dagegen macht Lévinas zu Recht geltend, daß man auch in Nähe zweierlei unterscheiden müsse: die Nähe der Berührung und Liebkosung und die »Erfahrung der Nähe«: »Eine Liebkosung zeichnet sich in der Berührung ab, ohne daß diese Bedeutung in Erfahrung der Liebkosung umschlägt.« Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen, 278, daher bezeichnet er diese Nähe selbst als »Poesie« (280) Ob man daraus allerdings Implikationen für die Ethik oder gar die Politik ableiten kann, oder nicht vielmehr diese Nähe auf den Bereich des Erotischen und des ÄsthetischErotischen beschränkt bleibt, ist dann die strittige Frage. 59 L. c., 263. 60 Diese Paradoxie wird überdeutlich in einer romantischen Medizin und Psychologie, die einerseits von einer Körpernähe der »Seele« (Psychosomatik) spricht und sie dadurch vom »Geist« unterscheidet, die aber andererseits so christlich sein möchte, gerade diesem körpernahen Teil des Menschen Unsterblichkeit zuzusprechen, nicht aber dem körperfernen »Geist«. Gotthilf Heinrich Schubert: Geschichte der Seele. Stuttgart, Tübingen 1850.

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pern sind sie immer schon allgegenwärtig zu Hause. Heute sind dauerhafte Textspuren im Internet der unwiderlegliche Hinweis darauf, daß unsere Texte den Tod unserer Körper überleben werden. Wie sieht nun die Ethik im Rahmen der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes aus? Das Ethische erscheint dort, wo wir uns der dritten Dimension des kommunikativen Textes, dem Diskursiven, zuwenden, und zwar erscheint es als eine der beiden Richtungen in dieser Dimension.61 Der Diskurs ist entweder deskriptiv und theoretisch und begründet das Epistemische oder Noetische, oder er ist normativ und begründet das Ethische. Wenn wir auch in dieser Dimension die Unterscheidung von Nähe und Distanz anwenden, dann nennen wir ersteres das Kontinuum der im Lebensvollzug gelebten Moral, letzteres die Pflicht als dasjenige Normative, das durch die Reflexion hindurchgegangen ist und das die aus einer Fraglichkeit heraus wiederherzustellende Kontinuität des Normativen bedeutet. Ethik ist kein Selbstzweck und solange verzichtbar, wie Moral in Eindeutigkeit und Unbefragtheit gilt. Die Ethik tritt erst dann auf der Bühne des Textes auf, wenn moralische, normative Einstellungen fraglich geworden sind. Dann dient Ethik dazu, moralische Konflikte, die mit dem inneren oder dem äußeren Anderen auftreten, einer Lösbarkeit zuzuführen. Die ethische Reflexion kann aber sogar höchst problematisch werden, wenn sie als Konflikt-Prophylaxe aufzutreten versucht; Ethik, bevor noch Konflikte aufgetreten sind, kann auch zu Moral-Korrosion führen. Sie redet die Konflikte herbei, wo vielleicht bisher ein moralisches Einverständnis bestand. Sie tut dann so, als ob der Konflikt jederzeit eintreten könnte und man sich für ihn wappnen müsse. Das ist deswegen so, weil Ethik immer auch auf der Seite des moralisch Guten steht und für es Partei ergreift, bzw. sich in diese Position hineindefiniert.62 Die Asymmetrie, daß sich Ethik auf das moralisch Gute und nicht auf das Böse verpflichtet, ist vergleichbar den Asymmetrien im Temporalen, daß z.B. die Zukunft finalisiert auftritt, d.h. eine Zukunft die andere voraussetzt, und im

61 Wenn also Gerhard Gamm die Moral als das »eigentlich Ortlose, das Atopische« bestimmt und es mit der »exzentrischen leeren Mitte der Subjektivität« kommunizieren sieht, (G. Gamm: Nicht nichts, 269) dann kann das nur in dem Sinne gelten, daß sie keinen Ort bildet oder ist, so wie auch das Selbst kein »Ding« ist, aber nicht in dem Sinne, daß sie nicht als Richtung einer Dimension »ortend« wäre, d.h. den Raum des Textes strukturierend. 62 Luhmann, l. c., 42, nennt es »unverzeihlich« bei und seit Rousseau, daß die Quelle der Differenz von gut und böse selbst für gut ausgegeben wird; einen solchen theoriemoralischen Vorwurf dürfte Luhmann sich strenggenommen ebenfalls gar nicht leisten.

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Sozialen, daß die Gesellschaft bekanntere und unbekanntere Andere einbegreift, d.h. solche, die am Text im engeren und im weiteren Sinne partizipieren. Eine nicht-parteiliche Ethik, parteilich für das Gute, wie auch immer sie das verstehen mag, ist gar keine Ethik. Müssen wir die Notwendigkeit der Einführung des Dritten in der sozialen Dimension sehen und hatten wir die Frage einstweilen offen gelassen, wie denn der Dritte temporal ausgestaltet sein würde, so können wir hier im Diskursiven ziemlich eindeutig die dritte Position identifizieren. Ist alle Normativität nämlich an die Operation des Bewertens gebunden, so ist die dritte Position diejenige, von der aus Bewertungsbewertungen vollzogen werden. Aber genau so, wie in der sozialen Dimension der Dritte eine verschieden besetzbare, d.h. im Prinzip rotierende Funktionsposition ist, so ist auch im Diskursiven die Bewertungsbewertung nicht eine Bewertung höherer Dignität, die etwa in Richtung Heiligkeit oder auch nur Gerechtigkeit zeigte, sondern sie ist auch nur eine Bewertung wie jede andere. Den absoluten Dritten gibt es weder im Sozialen noch im Diskursiven. Die Bewertungsbewertung unterscheidet sich von einfachen Bewertungen, nur dadurch, daß die von der Bewertungsbewertung zum Gegenstand gewählten Handlungen/Züge im kommunikativen Text Bewertungshandlungen sind. Es ist wie in der Philosophie: Eine Philosophie, die eine andere Philosophie z.B. die Kantische zum Gegenstand hat, ist darum nicht schon eine Philosophie höherer Dignität als die Kantische, sondern nur eine, die sich philosophierend an sie anschließt.

1.5 D AS D ENKEN

DES

P OLITISCHEN

Die Sozialphilosophie als Rahmen für eine Ethik vorzusehen, bedeutet auch, das Politische anders denn als Große Politik zu denken. Wenn wir versuchen, das Politische unabhängig von der Großen Politik (der Staaten und der transstaatlichen Organisationen) zu denken, weil auch deren klassische Selbstverständigungs-Parolen wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Menschenrechte, nationale Souveränität, volonté générale, völkische Bestimmung, christlich-abendländische Wertegemeinschaft, Ruhm und Ehre des Vaterlandes ihren Glanz und motivierende Kraft verloren haben, dann müssen wir auf die Grundunterscheidungen zurückgehen, um das Politische neu zu (er)finden. Wie man auch dabei vorgehen mag, z.B. mit Hannah Arendt von einer durch Konsens begründeten Macht oder mit Carl Schmitt von der Unterscheidung von Freund und Feind als einem »Intensitätsgrad« des Sozialen oder mit Jean-Luc Nancy von einer SinnZirkulation im »Être-en-commun«, man wird jedenfalls auf den Begriff der Ar-

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chè verzichten müssen, der als Einheit des Ursprungs und einer präsozialen Gründung immer zugleich die Legitimation von Herrschaft der Einen über die Anderen beinhaltete. Archè-Vermeidung ist die Subversion des Mythos der Gründung. In den frühen Mythen waren diese Positionen von Personen besetzt: Jahwe oder Moses, Romulus und Remus. Ihnen zur Seite stehen alsbald mythische Gründungsakten: die zehn Gebote und die zwölf Tafeln, schließlich die Deklaration der Menschenrechte. Da das aber allzu fragil und labil ist, erfindet man die Hinterwelt, in der das alles abgesichert ist; das älteste Modell ist das der jüdischen Mystik, die eine Thora Gottes von der Thora Moses' unterscheidet, und letztere nur für eine Abschrift des Originals hält. Und so steht hinter den real deklarierten Menschenrechten die Idee der Rechte, die allen Menschen qua Menschsein zukommen sollen. Eine solche Vorstellung einer Inkarnation des Ideals in einem konkreten Sachverhalt kritisiert zu recht Derrida, wenn er Lévinas‘ Überzeugung von einer messianischen Berufung des Staates Israel in seinen späten Talmud-Vorlesungen schockierend findet. Aber solche Kontaminationen des Idealen und des Realen sind dann naheliegend, wenn man irgendeine Transzendenz zu dieser Welt zuläßt; denn schließlich will der Normativist nicht, daß sich das Ideal von der Verwirklichung fernhält. Wir werden im folgenden das Politische als eine Manifestation des Sozialen, mithin des kommunikativen Textes zu begreifen haben, und zwar eine, die den Dritten nicht kennen möchte und die den Fremden stets als Feind, nicht auch als Verführer behandelt wissen möchte. Das Politische ist mithin in zwei Richtungen auslegbar, als Große Politik der Staatlichkeit und Herrschaft einerseits, als Subversion im Rahmen komplexerer Sozialität andererseits, die den Dritten kennt und dem Fremden auch eine befreiende Faszination zutraut. In der Tat findet eine solche Subversion der Großen Politik längst statt, anders freilich als hier anvisiert. Es ist die Depotenzierung jeglicher Politik durch die neoliberalistische Logik der Kapitalmärkte. Die Ethik scheint in beiden Richtungen ihren jeweils wohl definierten Platz zu haben. Die Große Politik als Rahmen für Ethik sieht, nach dem naiv-liberalen Credo, daß alle Macht böse sei, vor, daß Politik durch Ethik »gezähmt« werden müsse, so glaubte man. Heute ist es die Ethik der Menschenrechte, wie sie vor allem von Amnesty International überzeugend artikuliert wird, wie sie aber auch längst zu einer rhetorischen Keule der »guten Staaten« gegen die Schurkenstaaten verkommen ist; die Große Politik bildet so einen verläßlichen Rahmen auch der Zähmung der Ethik und ihres Moralisierens. Denn das Politische gerade der Großen Politik läßt sich eben nicht auf der Basis von Moralität verstehen. Vielmehr benutzt und vernutzt eine bestimmte, heute um sich greifende Version der Großen Politik die Ethik für ihre Zwecke, z.B. um bestimmte andere Politiken zu

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Feinden der Menschheit zu erklären, die die Menschenrechte mißachten. Dieses ist eine Regression der heutigen Politik, die Differenzierung von Politischem, Moralischem, Ästhetischem und Ökonomischem rückgängig zu machen. Tatsächlich wird eine Moralisierung beim Politischen nie etwas ausrichten, weil jeder seine eigene Moralisierung dagegen setzen kann und es dann nur eine Frage erfolgreicher Rhetorik zweier Moralisierungen ist, wer eine beobachtende und bewertende Öffentlichkeit (den Dritten) für sich gewinnen kann. So kann die Moralisierung des Politischen, die wir ja z. Zt. allenthalben beobachten können, nur zweierlei Funktionen haben: erstens kann sie der eigenen Seite ein die Handlungsbereitschaft auch über sonstige Skrupel hinweg steigerndes gutes Gewissen verschaffen; zweitens kann sie sozusagen eine Option sein, die Position des Dritten zu besetzen oder zu beeinflussen, wenn der politische Konflikt beendet sein wird. So sammeln dann die Geheimdienste schon Material für ein Kriegsverbrechertribunal, das im Fall des Siegs der eigenen Seite durch Aburteilung der »Verbrecher« der anderen Seite nachträglich dem Unternehmen die moralische Legitimation verschafft. So aber wird das Ende der Kampfhandlungen kein Friede sein. Staaten müssen, wollen sie Frieden unter den Staaten halten oder ermöglichen, die religiösen und moralischen Fremdartigkeiten anderer hinnehmen und tolerieren; das wußte schon Kant.63 Wird aber der Feind moralisiert, dann muß er vernichtet werden und seine Moral ausgerottet; denn eine wirklich moralische Einstellung kennt keine Kompromisse zwischen dem Guten und dem Bösen. Der moralisierte Feind ist zugleich der Feind der Menschheit. Eine moralisierte Politik kann mit der Unmoral keinen Frieden schließen. Deswegen ist auch der sogenannte »War on terrorism« ein unbeendbarer Krieg, weil er seine Verfolgung bis in die Seelen derjenigen fortsetzen muß, die zwar momentan noch friedlich scheinen, in deren unmoralischen Seelen sich jedoch bereits eine Neigung zum Terrorismus eingenistet hat. Präventiv muß man auf deren Seelen oder ersatzweise ihre genetische Ausstattung zugreifen, um die Möglichkeit der Unmoral mit Stumpf und Stiel auszurotten. Die Antizipation der bloßen Möglichkeit, daß diese sogenannten Schläfer in einer noch unbekannten Zukunft zur Tat schreiten

63 Kants Argument im ersten Präliminarartikel seiner Schrift Zum ewigen Frieden geht dahin zu vermeiden, daß der Friede nichts anderes als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sei: I. Kant: Zum ewigen Frieden, in ders.: Gesammelte Schriften VIII, 343-385.

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könnten, zwingt die Moralisierten zu einer Strategie der »permanenten Intervention« und zu den sie begleitenden »kontingenten Moralisierungen«.64 Die andere Richtung der Auslegung des Politischen als Manifestationsform des Sozialen verschreibt sich einer Ethik des Pluralen. Sie nämlich bezweifelt, daß die Einheit am Ursprung (die Archè) oder die Einheit am Ziel oder gar beide zusammen Orientierungswert für das Soziale haben könnten oder sollten. Ihr ist der Wille zur Einheit als solcher verdächtig und sie betreibt daher eine Subversion der Archè. Das Archè-Denken kann die Pluralität nicht ertragen, es ist von der Obsession heimgesucht, alle Pluralität auf Einheit hin reduzieren zu müssen oder zu sollen. Wer aber die Position des Einen Ursprungs besetzt hat, der darf der Herrscher sein, lautet die Spielregel. Die Archisten machen in der Politik geltend, daß es keine Alternative gäbe, weil die Vernunft in uns allen eine und dieselbe sei oder weil die Sache einen Zwang ausübe; wenn das so wäre, dann könnte man zwar gerne Meinungen austauschen, aber anschließend müssen alle an einem Strang ziehen. Konsens und Einigkeit sind hier positiv besetzte Werte, sind herrschaftsstabilisierende Fiktionen des Politischen. Aber es sind Illusionen, da die archaischen/archèischen Einheitsdenker einer Hierarchie bedürfen.65 Nicht nur das Mittelalter dachte hierarchisch, auch die Spätmoderne lebt davon: über uns allen stehen die Menschenrechte, und das, weil »wir« (d.h. unser aller Einigkeit) uns dazu entschlossen haben, uns von ihnen beherrschen zu lassen. Weil das Politische den Dritten auszuschließen trachtet, ist es eine Komplexität entdifferenzierende Praxis des Sozialen. Es käme also darauf an, diese Reduzierung zwar nicht seinerseits auszuschließen, aber in seine Schranken zu verweisen und die Sensibilität für erweiternde sozialen Praxisformen, die das Politische unterwandern, zu eröffnen. Eine solche zugleich erweiternde und befreiende Praxis mag man vielleicht das Mikropolitische nennen und es mit Deleuze und Guattari als eine Deterritorialisierung der Politik und eine Reterritorialisierung im Sozialen bezeichnen.66

64 Zum Begriff der »permanenten Intervention« s. Gertrud Brücher: Postmoderner Terrorismus. Opladen 2004, 125; zum Begriff der »kontingenten Moralisierung« s. Kurt Röttgers: Kontingente Moralisierungen, in: Journal Phänomenologie 12 (1999), 1517. 65 Jean-Luc Marion unterscheidet streng eine Hierarchie des Mysteriums der Gemeinschaft der Heiligen von der politischen Hierarchie. Jean-Luc Marion: L’idole et la distance. Paris 1977, 217. Erstere, wenn es sie geben sollte, bleibt hier außer Betracht. 66 Cf. Gilles Deleuze / Félix Guattari: Tausend Plateaus. Berlin 1992, 239ff., sowie dies.: Was ist Philosophie? Frankfurt/M. 1996, 97ff.

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Entgegen der üblichen Skizzierung der Ethik als eines Rahmens für das Soziale und damit auch die Forderung einer im Kern normativen Sozialphilosophie haben wir hier den Rahmen umgekehrt und geschildert, an welchen Stellen einer nicht von Anfang an normativen Sozialphilosophie das Ethische und das Moralische überhaupt erst ins Spiel kommt. Es kommt ins Spiel als die eine Richtung der diskursiven Dimensionen des kommunikativen Textes als der konkreten Gestalt des Sozialen im Zwischen des sozialen Prozesses. Damit wird nicht bestritten, daß auch die Vorordnung des Ethischen vor dem Sozialen seinen Sinn haben könnte; aber es ist nicht die einzig legitime Perspektive der Konzeptualisierung des Sozialen. Man wird nicht umhin können, beide Perspektiven als gleichberechtigt und gleichursprünglich anzusehen, das Normative und das Deskriptive. Aber worauf man bestehen muß, wenn es auf das Verständnis des Sinns des Sozialen ankommt, ist den Hegemonie-Anspruch der Ethik zu bestreiten. Gleichwohl ist auch darauf zu bestehen, daß die Normativität immer ihren Platz im kommunikativen Text hat. Ein vergleichbarer Hegemonie-Anspruch im Temporalen wäre etwa der absolute Vorrang der Zukunft vor der Vergangenheit und im Sozialen der absolute Vorrang des äußeren Anderen vor dem inneren Anderen. Es gibt solche Theorien, wir kennen sie, aber sie überzeugen nicht. Moralische Kultur ist wichtig, aber das läßt sich nicht ethisch begründen, sondern nur sozialphilosophisch. Selbst Kant hat in seiner Anthropologie gesagt: »Der Purism [der Ethik nämlich, wie sie in der Kritik der praktischen Vernunft vorliegt] […] ohne gesellschaftliches Wohlleben« sei eine verzerrte Gestalt der Tugend.67 Oder um diesen Gedanken zeitgemäßer auszudrücken: Die Sozialphilosophie bildet den Rahmen für eine Ethik. Humanität ist eben mehr, als bloß dem Sittengesetz zu folgen oder irgendeiner anderen Ethik. Die Moral einer Gesellschaft ist Teil ihrer Kultur; sie stiftet eine Verläßlichkeit, die nicht so ohne weiteres zu ersetzen ist. Wenn eine solche Sozialphilosophie einen appellativen Sinn annehmen kann, dann nur den, ein Plädoyer zu sein für eine Kultivierung der Anschlüsse und Übergänge im Text. Während eine Ethik beispielsweise, jedenfalls seit der Kantischen Durchsetzung des Universalisierungskriterium hinsichtlich von Fremden nur sagen kann: es gibt keine wirklich Fremden, alle Menschen sind gleich und müssen gleich behandelt werden, wird die Anschluß- und Übergangskultivierung sich auf die wirkliche Fremdheit des Fremden einlassen und den Moment seines Übergangs zu uns oder unseres Übergangs zu ihm hinauszuzögern wissen; denn

67 I. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders.: Gesammelte Schriften VII, 282.

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alle Kultur ist Pflege der Umwege, und wir werden mit dem Risiko leben lernen, daß er ein Feind sein könnte, aber auch mit der ungeheuren Chance, daß er uns das Abenteuer der Verführung durch seine Fremdheit und damit der Befreiung aus unseren Bornierungen, Verkrustungen und Versteinerungen bietet. Dann wird sich zeigen, daß das soziale Leben mehr und interessanter ist, als es sich eine Ethik der Universalisierung vorzustellen vermag. Die Ethik will Sicherheit, will Erwartungssicherheit normativ wiederherstellen, zum Glück aber braucht es und gibt es auch das Unerwartete. Dafür versucht eine Sozialphilosophie des kommunikativen Textes zu sensibilisieren und für eine Kultur des Umgangs mit diesem Unerwarteten zu plädieren.68

68 Vorbildcharakter könnte dabei die Kultur des Kulinarischen haben, die für Bereicherungen durch fremde Küche offen ist. So wurde noch Mitte des 19. Jh. Paprika wegen seiner Schärfe von Deutschen für ungenießbar erklärt, nur Ungarn und Spanier würden derartiges verzehren, heute gehört nicht nur Gemüsepaprika, sondern auch der scharfe zum Standard auch der deutschen Küche. Und dieses zunächst abgewehrte Fremde erwies sich als eine Bereicherung des Eigenen.

II. Ethik und Noetik in der diskursiven Dimension »Komm vnd beherrsch / O Herr! Mein Wissen vnd Gewissen/« (A. Gryphius)

2 Der kommunikative Text und der Diskurs

Diese Sozialphilosophie verabschiedet, wie gesagt, methodisch den Gedanken, daß die Gesellschaft aus Menschen besteht, wie auch bereits Luhmann ausgeführt hat.1 Sozialphilosophisch belehrt, hätte dann auch eine kritische Theorie der Kultur den Gedanken aufzugeben, daß es die Menschen sind, die eine Kultur als ein Produkt ihrer Tätigkeiten hervorbringen.2 Das war auch der Irrtum Simmels, der ihn zu der These einer »Tragödie der Kultur«3 verleitete. Wir bräuchten für eine kritische Kulturtheorie also nicht die Voraussetzung eines bestimmten Menschenbildes, aus dem dann folgte, daß es zur »Natur« des Menschen gehörte, eine »Kultur« zu schaffen, worauf sie sich in die geläufigen Aporien der Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Kultur verwickeln würde. Über-

1

N. Luhmann, mehrfach, z.B. ders.: Soziologie der Moral, 31: »[…] These, daß diese Systeme [soziale Systeme] nicht aus Individuen, sondern aus Kommunikationen bestehen.« Sehr unpräzise wechselt er jedoch die Begriffe Individuen und Menschen einfach aus, während es doch nicht unwichtig ist festzuhalten, wie die Systeme Individuen und Menschen verschieden bestimmen, z.B. behandelt die Medizin Menschen, aber nicht Individuen, während Sozialpsychologien oder auch historische Forschungen der Frage nachgehen können, unter welchen Bedingungen Individuen mit ihrer Individualisierung produziert werden, nicht aber wie Menschen produziert werden.

2

Cf. Andreas Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur. Würzburg 2001, 19: »[…] das Gespräch […] bringt uns als Subjekte erst in seinem Vollzug hervor.«

3

Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: ders.: Gesamtausg., hrsg. v. Otthein Rammstedt, Bd. XII, Frankfurt/M. 2001, 194-223; zur Kritik daran s. bereits E. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, 110ff.

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haupt ist das darin enthaltene Konzept eines Objektivismus der Kultur nicht selbstverständlich und der Rückfrage wert. Seit wir uns aber in den Philologien durch Käte Hamburgers Einführung des Begriffs des »lyrischen Ichs« angewöhnen durften,4 nicht den längst verstorbenen Sachsen-Weimarischen Geheimrat für denjenigen zu halten, der das »Ich« in den Goetheschen Gedichten ist, (»Ich ging im Walde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn«, das ist eben keine biographische Aussage) wissen wir zwischen den Autoren von Texten (d.h. der Autorfunktion von Text) und den Menschen, die etwas (auf)geschrieben haben, zu unterscheiden und die Frage »Was will der Autor uns damit sagen?« nur noch spaßeshalber zu stellen.5 Jede Interpretation des zitierten Gedichts griffe völlig daneben, die sagen würde: Eines guten Tages, am 26. 8. 1813 oder vor diesem Datum ging ein gewisser Sachsen-Weimarischer Minister namens Goethe durch einen nicht näher bezeichneten Wald, in dem er nichts suchte oder nichts zu suchen hatte. Im Rahmen des Textes sind nicht nur der Wald und das darin gefundene »Blümchen« poetische Bilder, sondern auch das Personalpronomen der ersten Person, der als Selbst redende Autor. Autor zu sein ist nicht eine Tätigkeit eines Menschen, vielmehr wollen wir das, wenn es je sinnvoll sein sollte, davon zu sprechen, eine schriftstellerische Tätigkeit eines Menschen nennen, Autor zu sein ist eine Funktion, die ein Text als Position im Text auszeichnet. Ein Autor ist demnach kein Mensch, ebensowenig wie ein Ursprung eines Prozesses oder eine Ursache ein Gott ist. Ein Autor ist diejenige Position in einem textuellen Gefüge, der die Textfortsetzungen und Textanschlüsse zugerechnet werden. Und damit sind Autor eines Textes stets mehrere, weil der Text ein Geflecht ist, auch wenn der Mensch, der der Schriftsteller war, nur einer – identifizierbar als ein Körper unter Humankörpern – gewesen sein mag. Ein Autor ist kein Mensch. Autor ist die Urheber-Position im Textgefüge. Wer ist der Autor eines echten Zwiegesprächs? – natürlich zwei zusammen, auch wenn jeder Mensch für sich alleine ein Mensch ist. Daher ist auch das, was Derrida mit Bezug auf die Eudemische Ethik des Aristoteles als das Ideal der Freundschaft herausstellt,6 nämlich daß

4

Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. 3. Aufl. Stuttgart 1977, bes. 217ff.

5

Kurt Röttgers: Das Leben eines Autors., in: Dialektik 2005/1, 5-22; daß auch ein vermeintlich autobiographischer Text wie Ecce homo von Nietzsche nur den »Schauspieler seiner selber« erscheinen läßt, nicht den Menschen Friedrich N., dazu s. F. Nietzsche: Kritische Studienausg. III, 513; cf. auch Simone-Bettina Haag: Das Denken (in) der Bewegung. Hamburg 2008, 84

6

J. Derrida: Politik der Freundschaft, 239.

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eine Seele in zwei Körpern wohnt, nur in Textgestalt möglich. Was ein Autor ist, wird vom Text aus definiert; aber es ist nicht so, wie hartgesottene methodische Individualisten meinen könnten, nämlich daß Autoren wohl Personensynthesen sein müßten. Es gibt auch Autoren, die aus gar keinen Menschen bestehen. Menschen und Autoren sind Bewohner verschiedener ontologisch zu qualifizierender Welten. All das gilt in verstärktem Maße für solche Texte, die einen kollektiven Autor haben, wie die Texte des romantischen Symphilosophierens, die als Texte nicht mehr von Einzelnen, die schrieben, zu verantworten sind.7 Belehrt durch diese texttheoretischen Vorgaben, hat eine Sozialphilosophie eine asubjektive Philosophie des kommunikativen Textes zu sein. Die klassische Sozialphilosophie der ausgehenden Moderne hatte sich mehr oder weniger explizit folgenden Vorannahmen verschrieben, die allesamt noch einer substantialistischen statt einer funktionalistischen Metaphysik verpflichtet sind. Danach hat soziales Handeln seine Ursprünge in Handlungssubjekten, die ihrerseits mit Intentionen ausgestattet sind. Handeln ist dann das Handeln von Handlungssubjekten, die ihre zuvor gehabten Intentionen verwirklichen. Insofern es soziales Handeln ist, bedarf es der Koordination verschiedener, aber im Prinzip gleich strukturierter Handlungssubjekte, ihrerseits mit spezifischen Intentionen ausgestattet. Zwar sind alle diese koordinierungsbedürftigen Subjekte gleich strukturiert und das heißt in gleicher Weise mit Intentionen versehen, aber über individualisierte Präferenzen und Interessen, die im Hinblick auf die in gleicher Weise vorauszusetzende Struktur kontingent sind, sind diese Subjekte, die durch diese Kontingenzen als Individuen ausgezeichnet sind, im Prinzip auf Konflikt hin ausgelegt. Sie begehren deswegen nicht einander, sondern das, was sie haben, bzw. was jeweils die anderen haben: knappe Dinge (oder sogar Menschen, z.B. Frauen) oder Vorrechte (properties oder property rights): Eigenheit verlangt nach Eigentum. Das Bemühen einer Sozialphilosophie oder zuvor einer Staatsphilosphie ist danach darauf ausgerichtet, solche »natürlichen« Konflikte zu schlichten oder, wo das nicht möglich ist, zu begrenzen, z.B. durch einen übermächtigen und überbevorrechtigten Staat und sein positives Recht. Solche politische Philosophie der Moderne, d.h. der politischen Philosophie der Handlungssubjekte mit Intentionen, Ansprüchen und Rechten, gründet sich daher auf dem Gedanken, daß diese Subjekte über einen Gesellschaftsvertrag überhaupt erst in eine Verbindung zueinander gebracht werden müssen, einen Gesellschaftsvertrag, den sie miteinander auf der Grundlage der von Natur aus gleichen Rechte

7

Kurt Röttgers: Symphilosophieren, in: ders.: Texte und Menschen. Würzburg 1983, 84-118.

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der Subjekte qua ihrer gleichen Subjektivität eingehen werden. Tatsächlich aber weiß eines dieser Subjekte gar nichts von dem anderen Subjekt, ja ob es überhaupt neben dem Subjekt ein anderes Subjekt gibt, erscheint zweifelhaft; denn entweder gibt es der Struktur nach überhaupt nur ein einziges Subjekt, das in allem, was menschlich ist, dasselbe ist (transzendentale Subjektivität), oder es gibt ein anderes, aber ob es seinerseits ein Subjekt von der Art ist, als die das Subjekt in seinem Selbstbewußtsein sich weiß, ist auf immer ungewiß. So vermutet das Subjekt per analogiam von anderem aufgrund gewisser Indizien, daß es auch ein Subjekt sei: das sogenannte Problem der Intersubjektivität, das uns die subjektzentrierte Moderne beschert hat. Die epistemologische und metaphysische Einsamkeit zusammen mit der politisch-philosophischen Hypothese der gleichen Grundrechte aller macht den Vertragsgedanken zum Grundgedanken der Gesellschaftstheorie der Moderne. Üblicherweise fügt man schnell hinzu, daß dieses nur kontrafaktisch gemeint sei: man müsse sich das Gesellschaftsleben, wenn es gerecht gestaltet sein solle, so denken, als ob alle diese Subjekte, die nichts voneinander wissen und sich nicht füreinander interessieren außer für das, was sie haben, Dinge und Rechte, miteinander einen Vertrag eingegangen wären. Statt dieser Annahmen moderner Provenienz soll hier ausgegangen werden von einer asubjektiven Sozialphilosophie des kommunikativen Textes, wie sie in den Kategorien der Sozialphilosophie erstmals probeweise niedergelegt worden ist. Anstelle einer wie auch immer formal aufgeweichten Form eines autonomen Handlungssubjekts startet dieses Konzept mit einer ausschließlich funktional zu charakterisierenden Struktur, nämlich der des kommunikativen Textes. Der Textbegriff geht dabei aus von dem Textbegriff L. Hjelmslevs,8 A. Martinets und E. Benvenistes;9 philosophisch aber tritt dieser Begriff ein in Kontexte einer asubjektiven Phänomenologie des Zwischen, wie sie ansatzweise in MerleauPontys Leibzentrierung10, dann in Foucaults Diskurszentrierung11 oder Nancys

8

Louis Hjelmslev: Prolegomena to a Theory of Language. Madison 1961; Anré Martinet: Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1963; Émile Benveniste: La forme et le sens dans la langage in: Langage. Neuchâtel 1967, 27-40.

9

Texte zur Theorie des Textes, hrsg. v. Roger Lüdeke, Stephan Kammer. Stuttgart 2008.

10 Zur »Intercorporéité« (Zwischenleiblichkeit) bei Maurice Merleau-Ponty s. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, 185; ders.: Zeichen. Hamburg 2007, 246; zur Kritik Gerhard Gamm: Der unbestimmte Mensch. Berlin, Wien 2004, 34: »[…] der Leibphänomenologie fehlt ein Organ für die konstitutive Künstlichkeit

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»Mit«12 vorliegt. Der kommunikative Text ist damit die Struktur, die sich zwischen den Menschen entfaltet, sie einbindet, sie bestimmt, sie als Subjekte allererst bezeichnet und ihnen ihre Rollen im Geschehen zuweist.13 An Luhmann anknüpfend, kann man dann sogar sagen, daß die Gesellschaft nicht aus Menschen »besteht«, weil nicht sie die »Elemente« sind, aus denen zuvor nicht bestehendes Soziales sozialvertragsmäßig aufgebaut würde, sondern sie besteht aus Kommunikationen, die als ganze Text bilden, und in ihn eingewoben sind.14 Die in den Text eingewobenen Menschen sind viel eher als durch den Text, den sie nicht intendieren konnten, weil niemand Herr des kommunikativen Textes ist, verführte Subjekte, denn als autonome Subjekte zu begreifen. J. P. Wilson in einer nicht unumstrittenen Interpretation hat sogar den Textbegriff zum Verständnis der Heideggerschen Ontologie verwendet; unstrittig daran dürfte freilich sein, daß Heidegger nicht von einer Subjekt-Substanz-Metaphysik ausgeht, noch bei ihr ankommt.15 Stellt man sich nun die Aufgabe einer rationalen Analyse des Textgeschehens, so wird man es – so denke ich – vor allem in drei Dimensionen auszulegen haben: die Zeit, das Soziale und das Diskursive. In allen drei Richtungen ergeben sich auf den ersten Blick selbstverständliche und einfache Kontinua, und

der menschlichen Natur, die vermittels der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien sie von Anfang an durchzieht. Menschen agieren in symbolisch vermittelten Weltverhältnissen, nicht in der Natur […] Für Lebewesen unserer Statur bedeutet Leben immer auch, es simulieren zu müssen, nur im Schein zeugt es vom Sein.« 11 Programmatisch in Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977. 12 J.-L. Nancy: Singulär plural sein. 13 Auch zu erinnern wäre an Ernst Cassirer (Vorgängigkeit des Sprechens vor Ich und Du) und Clifford Geertz (Kultur als Text), sowie an den Spalt bei Derrida. E. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, 49ff.; Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1994, 60ff.; Jacques Derrida: Vom Geist. Frankfurt/M. 1993, 75ff. 14 Niklas Luhmann: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach den Menschen, in: ders.: Soziologische Aufklärung VI. 2. Aufl. Wiesbaden 2005, 149-161. 15 Thomas J. Wilson: Sein als Text. Freiburg 1981; nicht für die Hermenutik des Seins, sondern eher auf der Linie der philosophischen Hermeneutik als Verstehenslehre stehend liegt Paul Ricœurs Beitrag: Der Text als Modell, in: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, hrsg. v. Gottfried Boehm, Hans-Georg Gadamer. Frankfurt/M. 1978, 83-117.

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zwar jeweils in zwei einander entgegengesetzten Richtungen. Im Temporalen haben die Husserlschen Zeitanalysen das wesentliche geleistet; als ursprüngliche Kontinua enthüllen sich demnach die Protentionen im Zukünftigen und die Retentionen im Vergangenen des Textes als eines Prozesses (im Unterschied zu Husserl, der noch subjekt- und d.h. bewußtseinsbezogen argumentierte) in der Zeitdimension; in der Sozialdimension des kommunikativen Textes entsprechen dem als ursprüngliche Kontinua der gemeinschaftliche Andere (im Sinne von Tönnies Unterscheidung von Gemeinschaft16 und Gesellschaft) im Äußeren und das Gemüt17 im Inneren; in der Diskursdimension sind als die Kontinua vermutlich die Mythen (als durch [Wieder-]Erzählen vergewisserte Weltorientierungsschemata) und die moralischen Lebensformen (als in Routinen eingespielte Handlungsorientierungsschemata) anzusetzen. Wenn das Soziale als durch den zunächst gemeinschaftlichen Anderen im Äußeren, aber auch des Gemüts im Inneren, strukturiert anzusehen ist, dann ist diese Struktur die Struktur des Textes selbst, d.h. die Unterscheidung Selbst und Anderer ist als Unterscheidung rein funktionaler Begriffe zu verstehen, so daß Selbst derjenige ist, der für einen bestimmten Textteil als »Autor«, als Redender anzusehen ist, während Anderer der Angeredete, der Fragende o.ä. ist, und wie man weiß, wechseln die Besetzungen dieser Funktionspositionen ständig. Selbst ist der, der im Text »ich« sagt, Du ist der Andere, der Angeredete und Hörende oder Lesende – das Entscheidende aber ist, daß nicht ein Ich der Ausgangspunkt der Analyse ist, sondern jenes (aus der Perspektive des Substantiierten) wandernde Selbst. Jene von Fichte eingeführte Redeweise, daß das Ich sich setze, ist sowieso ein Sprachmißbrauch; vielmehr kann ein Selbst, das sich im Text als »ich« ausspricht, sagen: Ich setze mich. Der wesentliche Unterschied ist der, daß Selbst eine bloße Funktionsposition im Text ist, durch die der, der sie als Redender momentan innehat, »ich« sagen darf, während »das Ich« eine unhintergehbare Letztposition zu sein behauptet. Während die Präposition »er/sie/es« substitutives Signifikat auf der Signifikatenebene ist, ergibt die Referenz von »ich« allein durch den Textvollzug, deswegen sind Aussagen in der Form der 3. Pers. Sing., bezogen auf »ich« allein

16 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. 3. Aufl. Darmstadt 1991. 17 Zu diesem eigentlich verwegenen Begriff s. Stephan Strasser: Das Gemüt. Utrecht 1956; Strasser ordnet freilich das Gemüt, anders als hier, dem »Gefühlsleben« zu. Demgegenüber umfaßt der ursprüngliche Begriff als Kollektivsingular »die gesamte innere Welt des Menschen«, so H. Emmel/Red.: Gemüt, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter et al. Basel, Stuttgart 1971ff., III, 258-262, hier 258.

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schon grammatisch unsinnige Aussagen.– Ähnlich dem Wechseln der Positionen von Selbst und Anderem in verschiedenen Besetzungen ist auch die Scheidung von Weltorientierung und Handlungsorientierung keine definitive, und ob eine Erwartung durch ein veränderndes Handeln oder eine neue Weltsicht enttäuscht oder stabilisiert wird, ist nicht substantiell determiniert, sondern kann wechseln. Jenseits der ursprünglichen Kontinua, d.h. gebrochen und reflektiert, ergeben sich als Ergebnisse zu lösender Aufgaben die eigentlichen Erkenntnis- und Handlungsdimensionen, als da sind z.B. die durch Geschichtenerzählen konstruierten Kontinuitäten der eigentlichen Vergangenheit, durch Verträge, Absprachen, Recht etc. begründeten Verläßlichkeiten des Umgangs mit dem gesellschaftlichen Anderen und schließlich die in ihrem Objektivitätsanspruch reflektierte, d.h. wissenschaftliche Erkenntnis der Welt. Daß das gleiche auch für die jeweils andere Richtung gilt, versteht sich von selbst, d.h. für das Planen des Zukünftigen, für die Organisation des Selbstbewußtseins und für die Ethik. Bei dieser dreidimensionalen, jeweils doppelt gerichteten und jeweils einfachen und reflektierten Form der Bezüge des kommunikativen Textes können wir nicht stehenbleiben. Denn so wie eine Gesellschaft sich nicht als eine Verkettung von Alteritätsbeziehungen verstehen läßt, so wie die Geschichte etwas anderes ist als die vielen Geschichten, die so erzählt werden, und (wissenschaftlich fundierte) Weltorientierung kein Resultat vieler wahrer Sätze ist, so muß generell der kommunikative Text Iterationskaskaden ausbilden. Im Sozialen ist es die Gestalt des Dritten, die diese Funktion der eigentlichen Konstitution der Gesellschaft erfüllt. Aber so wie Selbst und Anderer nicht substantialisiert gedacht wurden, so steht auch niemals fest, wer der Dritte ist; wie beim Skat ist es mal dieser, mal jener. Dazu kommt, daß die Zwei den Dritten entweder einschließen oder ausschließen können, aber was auch immer sie tun werden, sie werden ihn nicht loswerden. Die »glückliche Zweierbeziehung« ist keine Gesellschaft; und darin irren alle konsensbezogenen Gesellschaftstheorien, daß sie so tun, als könne der Dritte einer sein wie die Zwei. Das hat M. Serres an der sozialkonstitutiven Gestalt des Parasiten ausführlich gezeigt.18 Der eigentlich interessante und für die Institution von Gesellschaft bestimmende Parasit ist nicht der Dritte, der sich nur auf den einen oder den anderen in einer Beziehung bezieht und ihn aussaugt, sondern der maßgebliche Parasit ist der Beziehungsparasit, der sich aus dem Gelingen einer Zweierbeziehung seinen Teil abzweigt. Ersichtlich kann aber in einer Dreierbeziehung jeder von den Dreien die Beziehung der anderen beiden anzapfen. Wenn aber der Dritte als Beziehungsparasit auftritt, dann ist die

18 Michel Serres. Der Parasit. Frankfurt/M. 1981

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Identifizierung des Parasiten immer nur vorübergehend möglich; am Ende könnte es jeder sein. Schließlich aber weiß eine Gesellschaft nur durch die Negation, was sie eigentlich sein kann. Und das verbindet sich mit der Gestalt des Fremden, der seiner Konstruktion und seiner Funktion im Prozeß des kommunikativen Textes nach ganz etwas anderes ist als ein anderer Anderer oder vielleicht ein Anderer, der noch ein bißchen mehr anders wäre als andere Andere. Der Fremde ist der, der jenseits einer konstruierten Grenze lebt; d.h. im bezug auf den kommunikativen Text: es ist der, der außerhalb des Textes steht. Und daher kann er als Bedrohung empfunden werden, was sich in der bekannten Fremdenfeindlichkeit ausdrücken kann, aber selbstverständlich nicht muß; denn er kann auch als verführerische Chance aufgefaßt werden, durch die die Erstarrungen des Textes aufgebrochen werden können. Der so konstruierte Fremde kann nicht verstanden werden: Verstehen bezieht sich immer auf ein Innerhalb der Texte; wird folglich »der Fremde« verstanden, dann ist er nicht fremd. Nur im Übergang über die Grenze oder im Verschieben der Grenze kann sich ein Verstehen dessen ereignen, der zuvor fremd war. Unter Diskurs verstehen wir schließlich eine Instanz der relativen Regularität, die im Hinblick auf den kommunikativen Text formal Prinzipien vorgibt, »Lineaturen«,19 die aber im Vergleich etwa zu einer Grammatik von eingeschränkterer Gültigkeit, von geringerer Vollständigkeit, von begrenzterer Verbindlichkeit sind, die aber gleichwohl für einen ganz bestimmten Textabschnitt in generativer Weise determinierend sein können. Wegen der genannten Einschränkungen differenziert sich Diskursivität von vornherein in verschiedene Diskurse.20 Diese Differenzierung kann sehr wohl auch verschiedene Grade der Verbindlichkeit ausbilden, wie z.B. der juristische und der poetische Diskurs; und wie wenig das mit originaler Urheberschaft eines sprechenden Subjekts zu tun, kann man an Figuren studieren, die sich in beiden dieser Diskurse bewegen, wie z.B. E. Th. A. Hoffmann. Hatte man bislang davon auszugehen, daß beispielsweise Foucault und Habermas so Unterschiedliches mit dem Begriff »Diskurs« meinen, daß es nicht einmal viel Sinn machte, die Begriffe zu vergleichen,21 so könnte es doch sein,

19 Lineaturen sind Formalstrukturen, in die sich Texte einschreiben. Cf. Kurt Röttgers: Die Lineatur der Geschichte. Amsterdam, Atlanta/GA 1998. 20 Niklas Luhmann spricht von den verschiedenen Codes der Subsysteme des Gesellschaftssystems, die diese definieren. 21 Anders Thomas Schäfer: Reflektierte Vernunft. Frankfurt/M. 1995.

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daß unser Begriff des Diskurses wegen seiner Formalität einen Bezugsrahmen bereitstellt, der noch vor der Entscheidung zwischen »Sprachereignis« und »Sprachpraxis« liegt.22 Vom Text aus gesehen erscheint der Diskurs als eine Praxisform, von der Sprache aus gesehen als ein nicht vorgesehenes und veränderndes Ereignis. Für den kommunikativen Text ist der Diskurs eine Vorgabe, die sich weder wie ein System zu einem dem System immanenten Prozeß verhält noch wie ein vorausgehender Prozeß zu seinem Anschluß. Er ist vielmehr eine Lineatur, die sich als gestische Konvergenz einspielt: wie die Höhe des Einsatzes in einem Glückspiel hängt der Diskurs schon von den vorhergehenden Spielergebnissen ab und beeinflußt auch die (im Glücksfall) stattfindende Auszahlung, aber der Spielverlauf selbst wird dadurch nicht determiniert. Man kann auch von »Habitualisierungen von Textverläufen« sprechen. Und wenn man von »Redegewohnheitsnotwendigkeiten« spricht, so meint man damit Zusatzeinrichtungen zur Sprache, die die extreme Störanfälligkeit der Fortsetzbarkeit von Text (durch Gewalt und Mystik) reduzieren helfen. Die Zeit und der Andere sind im Hinblick auf den Text Kontingenzen, die bewältigt werden müssen, sollen Textanschlüsse gelingen. Der Diskurs ist eine solche Zusatzeinrichtung der Textsicherung. Eine der Methoden der Herstellung von Textfortsetzungssicherheiten war in der Moderne die Reflexion, eine andere, allgemeinere die Iterabilität.23 Wir unterscheiden gemäß den drei Dimensionen des kommunikativen Textes drei Modi der Reflexion, die temporale Reflexion, die soziale Reflexion und das, was man her-

22 Zu den unterschiedlichen Diskursbegriffen s. insbes. Émile Benveniste: La forme et le sens dans le langage, in: ders.: Problèmes de linguistique générale. Bd. II, Paris 1974, 215-238; Paul Ricœur: The Model of the Text, in: Social Research 38 (1971), 528562; ders.: Diskurs und Kommunikation, in: Neue Hefte für Philosophie 11 (1975), 125; für Foucault klassisch: Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, cf. dazu auch Th. Schäfer: Reflektierte Vernunft, der sich bemüht, Fragen Habermasscher Art an Foucault zu richten; Lucian Hölscher: Zeit und Diskurs in der Lexikographie der frühen Neuzeit, in: Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hrsg. v. Reinhart Koselleck. Stuttgart 1979, 327-342; Roland Barthes: Leçon. Paris 1978; J. Habermas: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik; Manfred Frank: Zum Diskursbegriff bei Foucault, in: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, hrsg. v. Jürgen Fohrmann, Harro Müller. Frankfurt/M. 1988, 25-54. 23 Eine der Gestalten, an denen sich der Übergang von modernen, auf Reflexion setzenden zu postmodernen Theorien Formen der Iteration studieren läßt, ist der Doppelgänger.

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kömmlicherweise die transzendentale Reflexion genannt hat, was wir hier nun die diskursive Reflexion nennen werden. Alle drei Reflexionsmodi sind Verfahren der Vermeidung radikaler Übergänge,24 d.h. Kontinuitätssicherungsverfahren. Kontinuitätssicherungsverfahren sind deswegen erforderlich, weil die Möglichkeit der Textanschlüsse stets begleitet ist von der Bedrohung des Textabbruchs, d.h. der sozialen Prozesse: von der Gewalt, der Mystik oder von spezifischen Diskursen durch spezifische Bedrohungen, wie nach Derrida der Diskurs der Philosophie durch den Wahnsinn.25 Wenn man auf das intentional sprechhandelnde Subjekt als Origo des Textes verzichtet, weil die Textintention vor dem Text so etwas wie ein Sprechen vor dem Sprechen oder wenigstens ein sprachförmiges »Meinen« vor dem Sprechen, gewissermaßen einen Täter vor der Tat voraussetzt, dann ist man die Frage nach dem Ursprung des Textes nicht zugleich losgeworden. Es bietet sich an, die Texterzeugung einer Durchkreuzung mindestens zweier Diskurse zuzuschreiben.26 Deswegen sind auch Metaphern für alle Textualität zentral, weil sie den Übergang aus einem Diskurs in einen anderen vollziehen. Diskurse als »Redegewohnheitsnotwendigkeiten« verweisen in diesem paradoxen Begriff aber nicht nur auf die Notwendigkeiten der Bewältigung der für den Textfortgang bedrohlichen Kontingenzen, sondern mit ihm auch darauf, daß die Art und inhaltlichsubstantielle Ausgestaltung unmotiviert ist, d.h. sich in ihrer Entstehung selbst kontingent sind. Kein Diskurs ist anders legitimiert als durch die Leistung der Kontinuitätssicherung. Das wird besonders schön sichtbar in der Rhetorik der Gewalt, die zwar einerseits die Gewalt als das dem Text schlechthin Entgegengesetzte moralisch und ethisch auszugrenzen versucht, aber ebenso unbefangen eine, selbst eine putativ-präventiv eingesetzte, Gegen-Gewalt, die doch nichts anderes ist als die zuvor ausgegrenzte Gewalt, zu rechtfertigen versteht. So stehen die Diskurse zwischen der Verbindlichkeit des Systems und der Faktizität des Textprozesses. Im Verhältnis zur beugenden Kraft des Systems sind Diskur-

24 Kurt Röttgers: Metabasis. Philosophie der Übergänge. Magdeburg 2002; Maurice Merleau-Ponty: Signes. Paris 1960, 229-241 (= Zeichen, 265-279). 25 Jacques Derrida: Cogito oder die Geschichte des Wahnsinns, in: ders.. Die Schrift und die Differenz. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1972, 53-102; allerdings hat hier Derrida immerhin noch eine Übergangsinstanz zwischen Vernunft (der Philosophie) und Wahnsinn vorgesehen, und das ist der Sinn; Derrida ist zwar postmodern, aber ängstlich postmodern, so daß hier »Sinn« an die Stelle der »Reflexion« der Moderne als kontinuitätssichernde Übergangsgarantie einrückt. 26 Julia Kristeva: 6KPHLZWLNĂ Paris 1969, 156.

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se nichts als bloß partikulare ausdifferenzierte Gewohnheiten. Im Verhältnis zur Vielfältigkeit des kommunikativen Textes haben Diskurse quasi-apriorische Kraft. Insofern macht der gelingende kommunikative Text den Eindruck, als wären seine Teile, insbesondere auch die sozial definierbaren Anteile, explizit aufeinander abgestimmt. Aber gerade das ist die unersetzbare Funktion von Diskursen, daß solche Abreden nicht erforderlich sind, weil die Passung »selbstverständlich« ist. Diskursive Vorkehrungen (»Lineaturen«) wirken im Text immer zugleich restriktiv und produktiv. Der Diskurs schließt aus, aber er ermöglicht auch. Gewisse Dinge werden erst im Rahmen eines bestimmten Diskurses sagbar; aber im Rahmen eines bestimmten Diskurses sind gewisse Dinge auch unsagbar. Im juristischen Diskurs etwa sagen zu wollen, ein bestimmter Paragraph des Einkommensteuergesetzes sei dazu angetan, die Seele in Anbetung ihres Schöpfers jubilieren zu lassen – das geht nicht. Selbst wenn es ironisch gemeint sein sollte, hat es den juristischen Diskurs genau damit bereits verlassen. Der Diskurs hat seine Immanenz, die ihn als Lineatur des Textes wirken läßt. Zugleich ist mit dem Diskurs eine Spannung aufgerufen, die ihn Diskurs nur sein läßt in Differenz und d.h. auch in Distanz zu je einem anderen Diskurs.27

27 Genau in diesem Sinne hat Heike Kämpf: Perspektiven einer postfeministischen Ethik jenseits einer geschlechterspezifischen Moral, in: Ethica 11 (2003), 115-13, moralisches Sprechen als einen Einspruch zu formulieren versucht, der eine postfeministische Ethik als Ethik eines Einspruchs gegen eine geschlechterspezifische Moral zu definieren hilft. Sie resümiert: »Diese ethische Position, welche die Moralität des Einspruchs begründet, läßt sich nicht positivieren, der Ort des Einspruchs läßt sich nicht fixieren, ohne sich selbst den Boden der Kritik zu entziehen. Daher scheint die Formulierung einer postfeministischen Ethik bedenkenswert, die die feministischen Kritikstrategien fortführt, ohne eine feministische Ethik zu entwerfen.« (134)

3 Die Nähe und Immanenz des Diskurses und die Differenz und Distanz

So wie wir in der sozialen Dimension Selbst und Anderen nur in bezug aufeinander denken konnten, es zugleich aber vermieden, sie substantiell zu bestimmen, und sei es auch nur als Ich und Du, um nämlich unter bestimmten Umständen noch sagen zu können »Ich ist ein Anderer«,1 so werden wir auch jetzt in der epistemisch-normativen Dimension den Diskurs auf seine Andersheit beziehen müssen. Das Heterologe des Diskurses werden wir die Kultur nennen,2 so daß der Diskurs und die Kultur stets in Spannung aufeinander bezogen gedacht werden müssen. Die Heterologie der Kultur erscheint als moralische Kultur und als kulturelle Bildung. Der Text ist auch Kritik des Diskurses. Indem der heterologische Text die Sedimentierungslinien der Diskurse durchschneidet und die Verwerfungen sichtbar macht, zeigt er, daß er stets auch die Abweichung von der Lineatur ist. So stellt der heterologische Text die Geltung des Diskurses in Frage. Und darin bewährt sich eine Kultur. Der Text ist Einschreibung und Devianz zugleich, und zwar konstitutionsnotwendigerweise. So wie der Andere nicht der Unfall ist, der dem Selbst zustößt, so ist auch die Devianz des Textes nicht das Mißgeschick, durch das der Text das diskursive Ideal verfehlte. Wenn also R. Barthes Texte der Lust und Texte der Wollust unterschied und wenn J. Kristeva die Zeichenverwendung als Symbolisches von dem Zeichenausdruck des Semiotischen

1

Arthur Rimbaud: Brief an Georges Izambard, 13.5.1871, in: ders.: Sämtliche Dichtungen. München 1997, 249.

2

Darin folge ich Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Frankfurt/M. 1992, bes. 12f; cf. auch A. Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis; Ralf Konersmann: Kulturkritik. Frankfurt/M. 2008.

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unterschied,3 so wird hier darauf bestanden, daß es sich dabei nicht um substantiell definierbare Textsorten handelt, sondern um zwei Aspekte eines jeglichen Textes. Das mußte auch noch Kristeva anders sehen, weil sie das Semiotische in der Tat bestimmt als diejenige Zeichenartikulation, durch die die »Triebe« sich ausdrücken. Zwar sieht auch sie vor, daß es die rein semiotischen Texte nicht gibt, sondern jene Triebartikulation durchkreuzt wird von einer »thetischen Phase«, durch die die Ordnung der Diskurse die Triebartikulation (über)formt. Wir verzichten hier in der Grundlegung der Sozialphilosophie auf solche Begriffe wie »Triebartikulation«, weil dadurch substantielle Annahmen unbefragt eingehen würden in die Sozialphilosophie. Ob und wie das Unbewußte (als innerer Fremder der sozialen Dimension) in Beziehung steht zu den Kategorien der symbolisch-normativen Dimension, das wird erst noch zu klären sein und darf nicht in die Grundlegung der Theorie als Voraussetzung eingehen. Das Wichtige bei Kristeva ist es jedoch, daß sie den Widerspruch zwischen dem Symbolischen und Semiotischen als textkonstitutiv hervorhebt. Das Formale dieses Widerspruchs ist in der Tat das, was die Differenz zwischen dem Diskurs und der Kultur ausmacht. So wie Fremdheit jäh auftauchen kann (in Traumbildern, Textabbrüchen, im Umkippen von Vertrautheit in irritierende Fremdheitsanmutungen u.ä.), so ist sie als die Negation unserer Eigenheit mit dieser zusammen auch stets bedroht. Wer außerhalb unserer Verständlichkeiten steht, ist bedrohlich und verführerisch zugleich; wer von uns dagegen dieses Faszinosum des Fremden nicht kennt, sondern alles versteht, der versteht im Grunde gar nichts, zumal nicht seine Eigentümlichkeit (Proprium). Ihm ist alles gleich gültig und gleichgültig. Wenn wir in diesem Sinne von der Fremdheit der fremden Kultur sprechen können, dann setzt das voraus, daß Kultur nicht per se Identifikationsmedium sein kann. Aufgabe einer kritischen Kulturtheorie könnte es geradezu sein, das Nicht-Identifikationsfähige herauszuheben, so daß nicht Identität oder Identifikationsmöglichkeit das Merkmal von Kultur wäre, sondern die Differenz. Mit dem Aspekt des Heterologischen als Bestimmungsmerkmal von Kultur nehme ich Bezug auf die Kulturtheorie von Andreas Hetzel. Hetzel trennt sich von all den Kulturtheorien, die Kultur aus etwas anderem, d.h. aus etwas der

3

Roland Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt/M. 1974, 31 ff.; Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt/M. 1978, 53, cf. 122.

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Kultur Vorgängigem und damit Nichtkulturellem ableiten möchten.4 Wenn man sich aber von solchen Vorstellungen verabschiedet hat, dann muß man die Konstitutionsbedingungen von Kultur in die Kultur selbst verlegen, und das heißt nichts anderes, als daß die Differenz zur Kultur als ihr selbst zugehörig zu behandeln ist. Dabei kann sich Hetzel auf einen Gewährsmann wie Derrida berufen, der gesagt hat: »Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich identisch ist. […] mit sich differiert. Es gibt keine Kultur und keine kulturelle Identität ohne diese Differenz mit sich selbst.«5 Damit hört Kultur auf, der Inbegriff der Beruhigungen zu sein, die Heimat, Identität, Wertesicherheit etc. verheißen.6 Kultur nimmt sich ernst darin, auch das zu sein, was man ihr immer wieder vorgeworfen hat: Beunruhigung, Verunsicherung, Devianz. Der Begriff der Paradoxie wird damit zum Zentralbegriff in dem Sinne wie Friedrich Schlegel das Paradox als das bestimmt hat, »was dem gemeingeltenden Unsinn […] widerspricht.«7 »Kritik« ist nur einer der Wege des Umgangs mit Paradoxie, es ist eine moderne (d.h. vor-postmoderne) Form des Umgangs mit Paradoxien, weil er auf Steigerung hin angelegt ist. Insofern hat Hetzel recht, wenn er Kulturkritik für wesentlich für Kultur hält – er hat recht für die Moderne, die sich angesichts von Paradoxien nicht anders zu helfen wußte, als sie kritisch aufzulösen. Inzwischen aber kennen wir genügend andere Formate der Entparadoxierung, die wir ebenso wie die Kritik als Kulturtechniken werten dürfen, z.B. die Wiederholung. Jeder nur oft genug wiederholte Satz verliert genau dadurch an Glaubwürdigkeit, ja zuweilen wird er zur Parodie; denn wäre der ausgesagte Satz wirklich wahr,

4

So auch schon Ernst Cassirer: Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, in: ders.: Erkenntnis, Begriff, Kultur, hrsg. v. Rainer A. Bast. Hamburg 1993, 231-261.

5

J. Derrida: Das andere Kap, 12f.; zur Philosophie der Differenz bei Derrida s. auch Heinz Kimmerle: Philosophien der Differenz. Würzburg 2000, 136-160; Françoise Dastur: Philosophie et Différence. Chatou 2004, 107-114

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»Heimat schenkt nur Religion.« Helmut Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin, New York 1975, 342; cf. Volker Schürmann: Heimat als wissenstheoretische Kategorie. Bremen 1993; Karen Joisten: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie. Berlin 2003.

7

Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler. Bd. 18. München, Paderborn, Wien, Zürich 1963, 124; cf. A. Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis, 282; auch Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. 3. Aufl. München 2007, 288: »Die Philosophie manifestiert sich nicht im gesunden Menschenverstand, sondern im Paradox. Das Paradox ist Pathos oder Passion der Philosophie.«

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brauchte er nicht so oft wiederholt zu werden und die parodistische Wiederholung ist dann die Komödie, in der jede Ernsthaftigkeit ihr Ende findet.8 Was für die exzessive Wiederholung offenkundig ist, gilt aber bereits für jede Wiederholung.9 In jeder Wiederholung sind Identität und Nichtidentität zwangsläufig immer zugleich anwesend. Diese Eigenschaft von Wiederholungen wird von Derrida am Zitat beispielhaft gezeigt. »Diese Zitathaftigkeit, diese Verdopplung oder Doppelheit, diese Iterierbarkeit des Zeichens (marque) ist kein Zufall und keine Anomalie, sondern das (Normale/Anormale), ohne welche ein Zeichen (marque) sogar nicht mehr auf sogenannt ›normale‹ Weise funktionieren könnte.«10 Folge der heterologischen Grundorientierung ist es, daß nicht die Diskurse der Gegenstandsbereich einer Kulturtheorie sein können, sondern die diskursiv unerklärlichen »Übergänge“ und Brüche zwischen den Diskursen. Eine heterologische Kulturtheorie hätte dem nachzugehen. Die radikalste Herausforderung in diesem Sinne ist die Gewalt des Fremden, eine Gewalt, die alle unsere Sinnstrukturen in Frage stellt, die absolut unverständlich ist und entsetztes Schweigen abnötigt. Wem es wirklich um die Fremdheit der fremden Kultur geht, der darf diese äußerste Möglichkeit nicht außer acht lassen oder gar in ein alles umklammerndes Verstehen einbeziehen. Das ist z.B. die Tendenz jener Sozialpsychologen, die gefragt werden, wenn wieder einmal in der Öffentlichkeit von einem sinnlosen Gewaltakt zu berichten ist; sie verstehen es dann, sie verstehen es als Symptom für etwas ganz anderes. Eine kritische Kulturtheorie könnte zwar ebenfalls nicht im Außen ihrer selbst operieren, aber sie kann und muß die-

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Karl Marx: »Die Geschichte ist gründlich und macht viele Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt. Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie […] Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide.« (Karl Marx, Friedrich Engels: Werke I. Berlin 1976, 382); cf. auch Simon Critchley: Ethics – Politics – Subjectivity. London 1999, 217-238: »Comedy and Finitude«.

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Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung; dazu Kurt Röttgers: Es wiederholt sich, in: Philosophie und Nicht-Philosophie, hrsg. v. Friedrich Balke, Marc Rölli. Bielefeld 2011, 209-225.

10 Jacques Derrida : Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, 325-351, hier 339; überdeutlich auch ders.: Vom Geist, bes. 50: Geist wird vom Geist heimgesucht. Die Metaphysik kehrt stets zurück, wie ein Gespenst, wie ein Wiedergänger. Verdopplung, die man nie vom Einfachen trennen kann. Geist als Doppelgänger. Doppelgängertum ist dem Geist inhärent.

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ses Außen als ein Außen bezeichnen können. Sonst droht der »Verlust des Fremden«.11 Wie aber ist, angesichts der Möglichkeit der radikalsten Differenz von Text und Gewalt, der Umgang mit dem Fremden zu gestalten? Er ist, kurz gesagt als Umweg zu gestalten. Der »clash of civilizations« ist ein militärtechnischer oder bestenfalls ein ökonomischer Begriff, als solcher empfiehlt er den kürzesten, schnellsten und unaufwendigsten Weg zur Erreichung eines angestrebten Ziels (das Ökonomieprinzip). Es ist kein kulturtheoretischer Begriff; denn als solcher würde er nicht den Weg des kurzen Prozesses wählen, sondern, den Umweg, den Abweg, den Ausweg.12 Kultur ist die Methode der unendlichen Vermittlungen zwischen dem Einen und dem Anderen, auch zwischen Text und Gewalt. Las Casas, der Menschenfreund,13 wollte, daß alle Indios als Menschen behandelt würden und nicht nur die getauften, das ist ehrenhaft und verdient alle Anerkennung; aber wirklich interessiert hat er sich nicht für die Indios und ihre fremde Kultur. Durán dagegen wollte das Heidentum vernichten, er wollte es mit Stumpf und Stiel ausrotten, im Innersten der Seelen der Indios, damit sie nicht insgeheim doch von ihren Göttern träumten und im Marienbild eine heidnische

11 Ausführlicher Kurt Röttgers: Spuren der Macht und das Ereignis der Gewalt, in: Reden von Gewalt, hrsg. v. Kristin Platt. München 2002, 80-120; ders.: Der Verlust des Fremden, in: Transkulturelle Wertekonflikte, hrsg. v. Kurt Röttgers, Peter Koslowski. Heidelberg 2002, 1-26. 12 Gerhard Gamm in Interpretation von Simmels Philosophie des Geldes: »[…] die Aufgabe der Mittel ist es, den Zweck aufzuschieben […]« Gerhard Gamm: Die Unbestimmtheit des Geldes, in: Aspekte der Geldkultur, hrsg. v. Willfried Geßner, Rüdiger Kramme. Magdeburg 2002, 115-136, hier 128; ähnlich Manfred Sommer: Suchen und Finden. Frankfurt/M. 2002, 361, der geradezu von einem »Kulturprinzip des Dazwischenschiebens« spricht. Die früheste Formulierung des Umwegigkeitsprinzips finde ich bei Lichtenberg (Sudelbücher B 129), wo er zwei Wege, das Leben zu verlängern bespricht, den medizinischen, der die eine Strecke zwischen Geburt und Tod zu strecken versucht, und den philosophischen: deren Art ist es, »daß man langsamer geht und die beiden Punkte stehen läßt, wo Gott will, und dieses gehört für die Philosophen, diese haben nun gefunden, daß es am besten ist daß man zugleich botanisieren geht, zickzack, hier versucht über einen Graben zu springen und dann wieder herüber, wo es rein ist, und es niemand sieht, einen Purzelbaum wagt und so fort.« Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, I, 81. Wenn man es so will, sind Anmerkungen dieser Art Purzelbäume. 13 Tzvetan Todorov: Die Eroberung Amerikas. Frankfurt/M. 1985, 177 ff.

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Göttin anbeteten; also mußte er die indianische Religion und Kultur aufs genaueste studieren, damit er nicht ein solches heidnisches Residuum in den Seelen der Indios übersähe. Damit er diese Kultur in allen Details studieren könnte, mußte er sie in ihrer ganzen Vielfalt und Integrität erhalten. Die Erzeugung solcher reflexiver Paradoxien ist der humanisierende Zug von Kultur, der von den Fremdverstehern verkannt wird. Eine weitere Konsequenz für eine sozialphilosophisch angeleitete Kulturtheorie ist ein Okkasionalismus der Verführungen. Für sie gilt: »Ich brauche nicht eigens zu wollen, weil ich ohnehin so geführt werde, wie ich wollen würde, wenn ich wollen müßte.«14 Wie auch immer die genaue Ausgestaltung eines Subjektbegriffs am Ende aussehen wird, es wird nicht mehr autonomer und in sich begründeter Ursprung einer epistemischen oder einer praktischen Welt sein.15 Für es wird eher das Prinzip der Verführung (Kierkegaard, Camartin)16 oder das Prinzip der Primordialität des Anderen (Lévinas) oder das Prinzip der Responsivität (Waldenfels) strukturbildend sein. Dadurch wird der Begriff der Macht im 21. Jahrhundert nicht mehr darauf beschränkt sein können, Handlungskontinuitätssicherung durch Modalisierung des Handelns eines Handlungssubjekts zu bezeichnen,17 sondern wird sich dem sehr viel komplexeren Horizont der Handlungskontinuitätssicherung im Netz der konkreten Gelegenheiten stellen müssen. Jenes Pläne-Machen, das schon Brecht ironisiert hatte,18 ist ange-

14 M. Sommer: Suchen und Finden, 393, dort allerdings bezogen auf die Navigationsführung durch GPS; das läßt sich aber ohne große Bedenken verallgemeinern. 15 Die Kategorie »Selbstbehauptung« zur Grundkategoerie des neuzeitlichen Subjekts zu machen, ist nur eine verzweifelte Rückzugsposition des ehemals autonomen Subjekts, s.: Selbstbehauptung und Anerkennung, hrsg. von Helmut Girndt. St. Augustin 1990; es scheint mir kein Zufall zu sein, daß die meiste Literatur zur Selbstbehauptung Ratgeber für junge Mädchen dazu sind, wie sie sich als selbstbewußt darstellen können. Im übrigen erwähnenswert diverse Arbeiten von Volker Gerhardt, z.B. ders.: Vom Willen zur Macht. Berlin 1996. 16 Zur Verführungstheorie s. Søren Kierkegaard: Entweder – Oder, hrsg. v. Hermann Diem, Walter Rest. 2. Aufl. Köln, Olten 1968; Iso Camartin: Lob der Verführung. München 1987. 17 So noch K. Röttgers: Spuren der Macht und das Ereignis der Gewalt. 18 »Ja, mach nur einen Plan | sei nur ein großes Licht | und mach dann noch 'nen zweiten Plan | gehn tun sie beide nicht.« (Dreigroschenoper: Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens, Berthold Brecht: Die Dreigroschenoper. Frankfurt/M. 1968)

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sichts unendlich gesteigerter Komplexität auch der Möglichkeiten der Handlungsfortsetzung theoretisch naiv oder praktisch rücksichtslos. Unter den diagnostisch festzustellenden Bedingungen der endenden Moder19 ne erweist sich eine Metaphysik als obsolet, die ein Wissen einer Welt gegenüberstellen zu können meinte. Archive des Wissens sind Elemente ebendieser Welt; und dann stellt sich die Frage, wie diese Archive des Wissens optimal strukturiert sind. Die klassische Topologie kannte eine Welt, die entweder (im Newton-Universum) Ordnungen hatte, die das Archiv des Wissens in seiner Sprache abzubilden hätte, die Gewähr dieser Abbildbarkeit war die Mathematik, oder die (im Kant-Universum) erst noch der ordnenden Zurüstung durch ein Subjekt bedurfte. Diese Ordnung des Wissens war besonders durch einen hervorragenden Standpunkt zu gewährleisten, von dem aus man den Überblick über alles gewinnen konnte, was als Welt unter einem lag (erstmals in Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux manifestiert, heute im GPS20). Dieses Wissen rasterte die Welt und wies, wie Kant das ausdrückte, jedem Ding seine Stelle zu.21 Es war eine statische Wissensmetaphysik, für die Sitzen und Stehen die charakteristischen Einstellungen waren: Seßhaftigkeit, Besitz, Standpunkt etc. Die Wissensmetaphysik des 21. Jahrhunderts muß eine solche Topologie des Wissens als unbrauchbar verabschieden. Seit Kants Zeiten steht die Alternative gedanklich zur Verfügung, nämlich als der nomadische, der zigeunerische Weg zur Aufklärung, man möchte es im Gegensatz zur ersitzenden Vernunft die nomadische Vernunft nennen.22 Wenn nun, am Ende der Moderne, Wissen nicht mehr angemessen als über-blickshaft, als ersitzend, als Ordnungen abbildend und als statisch interpretiert werden kann, empfiehlt es sich, die nomadische Vernunft als Leitbild zu wählen. Marc Augé hat mit dem Begriff des »Nicht-Orts« die Topo-

19 Globalisierung, Wandel der Identitätskonzepte in gewandelten Medialitäten, Risikogesellschaft statt Knappheitsgesellschaft, Verlust bzw. Schwinden von Fremdheiten bei gleichzeitiger Hypertrophie von Sicherheitbedarf und Überwachungsexzessen usw. 20 Zum GPS in phänomenologischer Sicht M. Sommer: Suchen und Finden, bes. 302ff.; zur Vertikalität allgemein Ralf Konersmann: Übersicht, in: Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hrsg. v. Ralf Konersmann. Darmstadt 2007, 485-498, bes. p. 486ff. 21 I. Kant: Gesammelte Schriften III, (KrV B 294 f.). 22 Kurt Röttgers: Kants Kollege und seine ungeschriebene Schrift über die Zigeuner. Heidelberg 1993.

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logie einer gewandelten Welt entworfen, in der kein Bleiben ist,23 sondern die man immer nur durchstreift: Verkehrswege und zugehörige Hallen, Supermärkte und Passagen. Solche Atopien erinnern zwar an barocke Vanitas-Vorstellungen, aber mit dem einen erheblichen Unterschied, daß das Barock noch die Utopie eines jenseitigen Ortes kannte. Nomaden verteilen ständig neu, es gibt keinen gesicherten Besitz, während die Seßhaften dazu unfähig sind.24 Daher ist der postmoderne Nomade der Prototyp des zeitgenössischen Kapitalismus, und gesteigert des Finanzkapitals.25 Die postmoderne Realität hat die Menschen längst zu Figuren des Anderswo gemacht, wo auch immer sie gerade ausgemacht werden können, haben sie das Ticket, anderswo zu sein, schon bei sich, und sie reden permanent mit Menschen im Anderswo per Dauer-Mobiltelefonie. Selbst die Heimat-Seite im Internet (»homepage«) ist nur Durchgangsort für ein endloses »Surfen«, was die Zähler auf manchen Seiten zählen, sind eben nicht »Besucher«, sondern Vorbeistreifende eines Verkehrsflusses. Diesen Wandel in den realen Beziehungen, sollte auch die postmoderne Wissens-Metaphysik wiedergeben können. Wie schon Kant den Zusammenhang von Skeptikern und Nomaden herstellte, so stellt auch noch Peter Wust fest, daß die Wissens-Nomaden »beunruhigend« seien26 – aber: die Beruhigung ist postmodern nicht mehr zu haben. Hinzu kommt, daß für diese das Labyrinth als Grundorientierung dienen darf (Labyrinthe sind das Gegenteil von Chaos: sie sind Hyper-Ordnungen), und zwar ein Labyrinth, das seinerseits nicht statisch ist, so daß man hoffen könnte, durch einen angemessenen Überblick oder durch Hilfestellung einer wohlwollenden Frau (Ariadne) und des von ihr gestellten Leitfadens einen Ausgang aus ihm zu finden.27 Zur Grunderfahrung gehört nunmehr, daß jeder Leit-Faden, d.h. jede

23 Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Frankfurt/M. 1994. 24 Carl Schmitt: Nomos – Nahme – Name, in: Der beständige Aufbrauch. Fs. Erich Przywara, hrsg. v. Siegfried. Behn. Nürnberg 1959, 92-105, hier bes. 100f.; hier auch als Bekräftigung ein Zitat des lippischen Philosophen Arnold Kanne: »Die Sprache weiß es noch.« 25 J. Vogl: Das Gespenst des Kapitals. 26 Peter Wust: Ungewißheit und Wagnis. München, Kempten 1950, 20, 291. Zu Kants Bedenken gegen die Skeptiker als »Nomaden« s. KrV. A IX; ausführlich zur Interpretation dieser merkwürdigen Identifikation s. Kurt Röttgers: Kants Zigeuner, in: KantStudien 88 (1997), 60-86. 27 So noch Roland Barthes: Les mots du labyrinthe. Paris 1980; und selbst noch Maurice Bucaille: Spirale et labyrinthe, in: The Situationist Times. 4. International Edition.

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Methode selbst sozusagen labyrinthogen ist.28 Die Labyrinthe wachsen, und zwar genau in Abhängigkeit von unserer Bewegung in ihnen, oder anders gesagt: mit jedem erworbenen Wissen wächst der Horizont des Ungewußten. Auf Erkenntnisbemühungen zu verzichten jedoch, ist keine zur Verfügung stehende Option. Angesichts dieser Lage ist der Gedanke zu erproben, ob nicht die Netzstruktur des sich erweiternden Labyrinths unseres Wissens einer nomadischen Vernunft die Vorstellung nahelegen müßte, daß wir uns orientierend immer im Zentrum eines Universums des Wissens stehen: der Archivar trägt sozusagen das Archiv immer mit sich, wo immer er ist, ist das Archiv mit seiner labyrinthischen Struktur: »die Welt im Kopf« (Canetti).29 Was schon Whitehead als die »fallacy of simple location“ bezeichnete,30 die Illusion, daß ein Beobachter sich selbst in einer Ordnung eindeutig positionieren könnte, wird hier nicht länger als ein bedauerlicher Mangel begriffen, sondern nomadische Orientierung in labyrinthischen Wissensarchiven besteht im Legen von Archivierungsspuren, diese können nicht zielgerichtet sein, sondern nur erprobend von der Art, die Michel Serres »Randonnée« genannt hat.31 Das Labyrinth hat Gänge, in denen man sich bewegen kann, und Kreuzungen, an denen man sich entscheiden muß. Jede Entscheidung eröffnet eine neue Perspektive, d.h. einen neuen Durchblick, jede Bewegung ist eine neue Erfahrung. Ob man dieselbe Entscheidung zweimal treffen, dieselbe Erfahrung zweimal machen kann, ist eine rein rhetorische Frage, sie

Kopenhagen 1963, 12-16. – Anders jedoch bereits Nietzsche, s. dazu unter diesem Aspekt Simone-Bettina Haag: Das Denken (in) der Bewegung: Nietzsches ›Gipfel der Betrachtungen‹. Hamburg 2008. 28 S. u. Abschnitt 5.5; zu dieser Deutung des Labyrinths s. im übrigen Kurt Röttgers: Die Welt, der Tanz, das Buch, das Haus, das Bild, die Liebe, die Welt, in: Labyrinthe, hrsg. v. Kurt Röttgers, Monika Schmitz-Emans. Essen 2000, 33-62 und ders.: Arbeit am Mythos des Labyrinths, in: Das Daedalus-Prinzip, hrsg. v. Laila Kais. Berlin 2009, 13-37; so auch, wenngleich ironisch Monika Schmitz-Emans: Ein Brief aus Babel über unsere (ganz alltägliche?) Dekonstruktion, in: Zeno 15 (1993), 4-44, hier 25; zu Labyrinthen allgem. Hans Kern: Labyrinthe: Erscheinungsformen und Deutungen. München 1982; cf. auch: Labyrinth und Spiel. Umdeutung eines Mythos, hrsg. v. Hans Richard Brittnacher und Rolf-Peter Janz. Göttingen 2007. 29 Elias Canetti: Die Blendung. Frankfurt/M. 1976, 326 ff. 30 Alfred North N. Whitehead: Science and the Modern World. New York 1928, 50 ff. 31 Michel Serres: Hermes V: Die Nordwest-Passage. Berlin 1994, 121-148.

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setzte denjenigen Überblick32 voraus, durch den wir uns wissend selbst wissen und lokalisieren könnten. Und so besteht die Wissensbewegung in nichts anderem als stetigem Wiedererkennen verbunden mit stetigem Erstaunen über Neues. Diese Doppelheit macht auch die Wiederholung bei Deleuze aus: die Wiederholung ist der Ort der Differenz.

3.1 N ÄHE

UND

D ISTANZ 33 IM

SOZIALEN

P ROZESS

Zugrundegelegt wurde die Deutung des sozialen Prozesses als eines kommunikativen Textes. Das hat mehrere Implikationen: Es wurde nicht ausgegangen von dem Menschen (oder gar den natürlich zu Unrecht so beliebten »Menschenbildern«34), ebenfalls nicht von dem autonomen Subjekt (wie es seit dem Deutschen Idealismus als verallgemeinerter Ursprung des Wissens und des Handelns konfiguriert worden ist, auch wenn das Subjekt in seinem ursprünglichen Sinn als »Unterworfenes« auch in einer Theorie des kommunikativen Textes als Deutung einer der Funktionspositionen erscheinen darf),35 ebenfalls nicht von dem Individuum als dem aufgrund einer inneren Unendlichkeit unverwechselbar und unauslotbar Einzigen, und schließlich auch nicht von der Person als Zurechnungseinheit für Adressen, Verantwortlichkeiten oder als Grundeinheit eines sogenannten Gesellschaftsvertrags,36 oder gar von irgendeiner anderen substantiellen Figuration wie z.B. einem »Thäter« unabhängig von und vorgängig zu allem

32 M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, 170; ders.: Das Auge und der Geist. Hamburg 2003, 277; R. Konersmann: Übersicht. 33 Nähe und Distanz haben ihre je spezifische Bedeutung in allen drei Dimensionen des kommunikativen Textes, die Nähe als Protention und Retention im Temporalen, als Gemeinschaft und Gemüt im Sozialen und als Moral/Ethos und Gewißheit im Diskursiven. In diesem Kapitel wird es jedoch vorrangig um soziale Nähe und Distanz gehen. 34 Zur Warnung vor »Menschenbildern« s. auch N. Luhmann: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen. 35 Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M. 2001; dazu Hanna Meißner: Jenseits des autonomen Subjekts. Bielefeld 2010; auch Simon Critchley: Post-Deconstructive Subjectivity?, in: ders.: Ethics. London 1999, 51-82. 36 Als »Maske« freilich kann auch dieses Konzept im Rahmen einer Theorie des kommunikativen Textes rehabilitiert werden. Rainer Adolphi: Persona, in: Masken, hrsg. v. Kurt Röttgers, Monika Schmitz-Emans. Essen 2009, 97-131.

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Tun.37 Noch schlimmer sind natürlich diejenigen Theorien, die alle diese Begriffe für beliebig oder unter nur stilistischen Gesichtspunkten austauschbare Begriffe halten und dann von der Intersubjektivität zwischen Individuen oder von dem Menschen, der dem Objekt gegenübersteht, zu sprechen sich erlauben. Wolfgang Welsch hat gezeigt, wie der Ausgang vom Menschen, dieses Grundübel der Moderne, auf ein Axiom von Diderot zurückgeht, der 1755 in dem Artikel »Enzyklopädie« der Encyclopédie schrieb: »Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muß [...] Was liegt mir, wenn ich von meiner Existenz und dem Glück meiner Mitmenschen absehe, noch an der übrigen Natur?«38 Als methodisches Prinzip macht das nur dann Sinn, wenn die sogenannte übrige Natur in sich selbst ein Konstrukt des Menschen ist. Das hat nicht einmal die kopernikanische Wende Kants behauptet, die nicht »den Menschen«, sondern das (menschliche und wenn es ähnlich strukturierte andere gäbe, auch diese) Erkenntnisvermögen als Bezugspunkt erwählt hatte. Aber schon in der Selbstanwendung stößt man auf Schwierigkeiten: Ist »der Mensch« ein solches Konstrukt des Menschen?39 Wenn wirklich der Ausgangspunkt allen Fragens der Mensch und der Endpunkt aller Antworten ebenfalls der Mensch ist, dann ist das Erkennen in einer tautologischen Struktur gefangen. Wenn es in aller Politik, in aller Ökonomie, in aller Kunst, ja sogar in aller Religion immer um den Menschen geht, wozu dann überhaupt differenzieren? Aber woher wüßten wir das eigentlich, wenn wir es wüßten, daß alles vom Menschen auszugehen habe und bei ihm zu enden habe? Welsch diagnostiziert eine solche Denkweise als den Selbstbetrug, der für die Moderne typisch ist, und er stellt Vattimos (postmoderne und im Prinzip hermeneutische) These dagegen, daß wir ein Gespräch sind, was er seinerseits zu Recht kritisiert. Aber sein eigener Vorschlag erscheint mir an dieser Stelle hinwiederum so hilflos, daß ich ihn

37 Cf. F. Nietzsche: Kritische Studienausg., XIII, 274; cf. III, 621: dort ist vom Rückschluß die Rede »[...] vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Thäter [...]« (cf. VI, 426) - zu den vier großen Irrtümern VI, 90f. 38 Denis Diderot: Enzyklopädie. Philosophische und politische Texte aus der „Encyclopédie“ sowie Prospekt und Ankündigung der letzten Bände, hrsg. v. Ralph-Rainer Wuthenow. München 1969, 121. Wolfgang Welsch: The Human – Over and Over Again, in: Weakening Philosophy. Fs. Gianni Vattimo, hrsg. v. Santiago Zabala. Montreal & Kingston, London, Ithaca 2007, 87-109. 39 Selbst wenn im Zeitalter der Genmanipulation diese auf den Menschen übergreifen wird, wird nicht »der« Mensch »den« Menschen konstruieren, sondern einige wenige werden die Konstrukteure anderer sein.

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hier mit Schonung übergehen möchte. Vielleicht kann ja, so hoffe ich, die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes (»In-Zwischen«40) dieses Defizit beheben. Es ist vielmehr ausgegangen worden von einem sich als Prozeß darstellenden Zwischen41, durch das die Positionen in diesem relationalen Prozeß überhaupt erst »fest«gelegt werden. In ihrer Medialität ist diese Relationalität von vornherein konkret. In seiner Gestalt als sich entfaltender Text zwischen Menschen, Personen, Subjekten, Individuen oder dgl. hat der Prozeß von vornherein seine Konkretheit. Nach Luhmann besteht, wie erwähnt, die Gesellschaft nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen. Es ist trivial zu behaupten, daß es aber ohne Menschen keine Kommunikationen gäbe, ebenso trivial wie, daß es keine Menschen gäbe, wenn es keine Eiweißmoleküle gäbe. Aber so wie Menschsein etwas anderes bedeutet als ein Einweißklumpen zu sein, ebenso ist das Soziale etwas anderes als eine Ansammlung von Menschen. Es ist der sprachliche Prozeß, d.h. der Text, der die sozialen Relationen konstituiert, Simmel sagte, »Wechselwirkung« macht Gesellschaft aus,42 d.h. nichts anderes als Relationalität als Prozeß. Als sprachlicher Prozeß (Text) beinhaltet die Relationalität von Beginn an eine fundamentale Asymmetrie. Einer spricht, der Andere hört zu. Hört keiner zu, dann ist der kommunikative Prozeß mißlungen, ebenso,

40 http://www.fernuni-hagen.de/universitaet/aktuelles/2009/06/15-am-roettgers-kollo. shtml 41 Eine Sozialontologie des Zwischen/Mit hat vorgelegt J.-L. Nancy: Singulär plural sein; Nancys Philosophie der Pluralität von Singularitäten wird mit Derridas Philosophie der Differenz konfrontiert von M.-E. Morin: Jenseits der brüderlichen Gemeinschaft. 42 G. Simmel: Soziologie, 17f. Simmel bestimmt dort Gesellschaft unter dem speziell soziologischen Gesichtspunkt formal als das, »wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten.« Ähnlich die Bestimmung von Wirtschaft in: Philosophie des Geldes, l. c. VI (1989), 61: »Daß alle Wirtschaft Wechselwirkung […] ist…« Cf. Raymond Boudon: Die Erkenntnistheorie in Simmels »Philosophie des Geldes«, in: Zs. f. Soziologie 18 (1989), 413-425, bes. 419. Der Begriff der Wechselwirkung hat insofern eine interessante Geschichte, als er – eine der Kantischen Kategorien in seiner Kategorientafel der Kritik der reinen Vernunft – von Simmel als Begriff der Explikation sozialer Phänomene aufgewertet wird, in der amerikanischen Simmel-Rezeption als »interaction« wiedergegeben wird und dann in deren deutschen Übersetzungen als »Interaktion« zurückgekehrt ist. P. Ziche: Wechselwirkung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter et al. XII. Basel, Stuttgart 2004, 334-341.

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wenn das Sprechen endet und z.B. »die Waffen sprechen«. Aber im wirklich gelingenden kommunikativen Text sind diese beiden Funktionsposition von Sprecher und Hörer, von Selbst und Anderem, nicht substantiell festgelegt, sondern wechseln. Im gelingenden, d.h. fortsetzbaren Gespräch (des kommunikativen Textes) wechseln die Positionen permanent. Das kann man normativ als Ethos der Kommunikation pflegen, d.h. doch auch den Anderen zu Wort kommen zu lassen; man kann es aber auch institutionell vorsehen. Eine der optimalen Formen in dieser Hinsicht ist die Tischgesellschaft. Indem sie etwas anderes ist als eine kollektive Abfütterung und Sättigung von Humankörpern, ist sie eine permanente Oszillation zwischen Speisen und Reden. Wenn man nicht gerade Sokrates heißt (Platons »Gastmahl«) und gar nicht essen will, sondern nur reden, ist das Gastmahl die Gelegenheit der Wechselrede par excellence. Zwischen kollektiver Abfütterung und spielverderberischem bloßem Anlaß zum Reden ist die gelungene Tischgesellschaft, wie Kant sie in seiner Anthropologie als Synthese von Wohlleben und Sittlichkeit empfiehlt, der Prototyp des gelingenden kommunikativen Textes.43 Das Modell läßt sich allerdings auch verallgemeinern. Überall dort, wo ein Sprachspiel (Wittgenstein) oder ein Dispositiv (Foucault) die Umbesetzung der Funktionspositionen systematisch vorsieht, ist ein solcher Text gegeben, der seine eigene Fortsetzbarkeit autopoietisch mitproduziert.44 Die sogenannte performative Wende der Kulturwissenschaften45 besteht vor allem darin, dieser fundamentalen Reziprozität in der Rollenverteilung und den Vorgängen der Umbesetzungen der Positionen des Textes gesteigerte Aufmerksamkeit zu widmen und sie auch dort wahrzunehmen, wo sie bisher ignoriert wurden. Solche Aufmerksamkeit versteht es dann auch, sie dort entdecken, wo man glaubte, sie durch institutionelle Asymmetrisierung stabil und nicht veränderbar zu halten, etwa in den Positionen von Analytiker und Patient in der psychoanaly-

43 Dazu ausführlicher Kurt Röttgers: Kritik der kulinarischen Vernunft. 44 Die Frage, ob nicht auch das Essen für eine gelingende kommunikative Tafelrunde entbehrlich ist – und Platons Symposion verzichtet ja auf die Darstellung der Mahlzeit selbst und berichtet nur die Gespräche im Anschluß an die Mahlzeit –, ist nicht pauschal zu beantworten. Die Somatizität des genußreichen Essens müßte dann gewiß durch Ersatzeinrichtungen substituiert werden; grundsätzlich ist das möglich, wie wissenschaftliche Symposien zeigen, aber sie bedürfen dann zusätzlicher Regeln. 45 Judith Butler: Performative Acts and Gender Constitution, in: Theatre Journal 40 (1988), 519-531; Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M. 2004.

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tischen Gesprächssituation,46 in der Folter47 u. ä. Man hätte das eigentlich seit Hegels Dialektik von Herr und Knecht wissen können, aber man hat es wohl nicht wissen wollen, daß die Funktionspositionen des kommunikativen Textes, also Selbst und Anderer, keine Substanzidentitäten haben. Genau das ist der Grund, warum der sozialphilosophische Ausgang von Elementen des Sozialen, sozialen oder meinetwegen auch vorsozialen Substanzen so extrem widersinnig ist; denn dann haben wir schon den Wechsel von Reden und Zuhören als erstes Erklärungsproblem, wenn wir es nicht als Problem zu übersehen und zu ignorieren gelernt haben. Der Ausgang vom Zwischen des kommunikativen Textes kann schlicht den jeweils Redenden als ein Selbst identifizieren und funktional bestimmen. Und der Andere, der Zuhörende (gelingende, d.h. anschlußfähige Kommunikation vorausgesetzt) ist der Geredet-Habende und Reden-Werdende. Das ist zugleich der rationale Kern der Philosophie der Responsivität,48 d.h. derjenige, der ohne jeden Bezug auf die Ethik von Lévinas auskommt: Das redende Selbst ist kein »Ursprung« des Textes (oder gar seine Intentionen); denn zuvor hatte schon der Andere geredet (als ein Selbst im Modus der Vergangenheit), und er wird derjenige sein, der dann zukünftig als ein redendes Selbst dem jetzigen Selbst antworten wird. Die aufscheinende Verwobenheit der Funktionspositionen des Textes mit seiner als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausgelegten Zeitlichkeit ist schon ein erster Hinweis darauf, wie der kommunikative Text sozialphilosophisch zu analysieren sein wird: In ihm sind drei Dimensionen als aufeinander bezogen gedacht: die Zeit, das Soziale und das Diskursive. Jede der drei Dimensionen legt sich in zwei Richtungen aus. Die Gegenwart des Vollzugs unterscheidet sich selbst von der Nicht-Gegenwart als Vergangenheit einerseits, als Zukunft andererseits, das Selbst setzt sich analog dazu von seinem inneren Anderen einerseits und von seinem äußeren Anderen andererseits ab. Und schließlich legt sich der Diskurs in Epistemisches und in Normatives aus. Wie man sieht, kommt das Normative erst an dieser Stelle in den Blick der Sozialphilosophie, nicht schon in ihrem Ansatz. Auch normativ kann und wird die Sozialphilosophie sein dürfen, aber nicht schon von Anfang an, wenn sie nicht ihren Blick auf das Soziale unnötig einschränken und letzten Endes auf falsche, weil einseitige Bahnen lenken will. Die normativistische Mehrheit unter

46 Diana Pflichthofer: Spielräume des Erlebens. Performanz und Verwandlung in der Psychoanalyse. Gießen 2008. 47 Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Frankfurt/M. 1992. 48 Bernhard Waldenfels: Antwortregister. Frankfurt/M. 1994.

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den Sozialphilosophen wendet an dieser Stelle ein, daß man aus einem Sein kein Sollen ableiten könne, daß man also von Anfang an normativ sein müsse, wenn man überhaupt einen kritischen Maßstab und Normen und Wertungen des Sozialen gewinnen wolle. Wenn diese in ihren daraus gezogenen Folgerungen recht hätten, könnte es so scheinen, als wäre es immer schon zu spät, wenn man nicht von Anfang an normativ redet. Aber notabene, die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes redet gar nicht von einem Sein, so daß es für ein Sollen zu spät wäre. Sie redet von einem Zwischen, in dem der Unterschied von Sein und Sollen noch gar nicht gemacht ist, bzw. immer erst noch zu machen ist. Georg Simmel hat in seiner Einleitung in die Moralwissenschaft gezeigt, daß der Zusammenhang zwischen Sein und Sollen sehr viel intrikater ist, als es sich das (normative!) Verbot des naturalistischen Fehlschlusses träumen läßt.49 Wenn wir also im folgenden von Nähe und Distanz im sozialen Prozeß zu reden haben, so werden wir diese Differenz zunächst absolut wertfrei einführen, darin auch unterschieden von der Umgangssprache, die überwiegend – aber keineswegs ausschließlich – Nähe positiv konnotiert und Wärme, Vertrautheit, Intimität, Heimat u. dgl. assoziiert, Distanz dagegen mit Kälte, Fremdheit, Bedrohlichkeit und Ferne (Elend). Aber immerhin hatte schon Christian Morgenstern in seinem Gedicht »Die Nähe« bemerkt: »Sie kam nie zu den Dingen selber«, d.h. in aller Nähe ist immer schon auch eine Distanz eingebaut, weswegen Morgenstern ironisch sie zum Näher, ja zur Näherin sich steigern läßt, die – ich vermute es interpretierend – wegen dieser allzu großen Steigerung ihre Herkunft aus der Nähe negierte (»vergaß […] und hielt all Obiges für Spaß«).50 Mit dem Verzicht auf Normativität im Anfang und mit einem Ausgang von einem Zwischengefüge bleiben – postanthropologisch – auch die sogenannten Menschenbilder versagt. Gleichwohl ist die Sozialphilosophie nicht unmenschlich oder arbeitete an der Abschaffung des Menschen, wie manche unter dem Schlagwort »Transhumanismus« argwöhnen. Unser Argument ist vielmehr: Wenn wir abwarten müßten, bis wir einen halbwegs überzeugenden Begriff vom Menschen erarbeitet hätten, d.h. von dem Menschen als einer Einheit, dann hätte das zwangsläufig eine Dauerabstinenz von sozialphilosophischen Fragen zur Folge.51 Denn was ist es denn wohl, jenes »Wesen« des Menschen, das uns seiner Einheit vergewisserte? Ist es etwa jenes illusionäre Bild, das er (?) oder ir-

49 Georg Simmel: Gesamtausgabe. Bde 3 u. 4. Frankfurt a. M. 1989. 50 Christian Morgenstern: Gesammelte Werke in einem Bd. Neuausg. 1989. München, Zürich 1989, 282. 51 G. Gamm: Der unbestimmte Mensch.

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gendeiner von sich selbst entworfen hat, um das Leben durchstehen zu können? Oder ist es das, was nur andere von uns sehen und sagen, die Radiologen, die Schwiegermütter, Geheimdienste und Psychoanalytiker, die uns (jeder auf seine Art) durchschauen, oder die Detektive und Kriminologen, die unsere vergangenen Taten, oder die Astrologen, die uns unser zukünftiges Schicksal zeigen? Oder ist das »wahre Wesen« des Menschen sein über soziale Netzwerke erstelltes Profil oder seine DNS, eine entzifferbare Geheimschrift, die den Einzelnen unverwechselbar macht, ihn zwar nicht determiniert, aber doch gewisse Wahrscheinlichkeiten beinhaltet, z.B. kriminell oder krebskrank zu werden. Oder sollen wir, um das Wesen des Menschen zu bestimmen, statt von solchen »Fakten« von Setzungen ausgehen, z.B. den sogenannten Menschenbildern, also Fragmenten jener »philosophy«, Gegenteil einer Philosophie, in der unbegründete und unbegründbare Annahmen gemacht werden, denen gegenüber unter zivilisierten Menschen Toleranz und nicht Begründungsbedürftigkeit und kritische Argumentation angesagt ist. Menschenbilder dieser Art sind wie religiöse Überzeugungen oder sexuelle Vorlieben nicht argumentationsfähig oder verhandelbar. Man »hat« dann ein bestimmtes Menschenbild, z.B. wie Hobbes ein angeblich pessimistisches, man ist von ihm befallen wie von Herpes. Für das philosophische Denken sind Menschenbilder so etwas wie spezifische Behinderungen. Nach diesen deutlich formulierten Vorbehalten, darf es nun allerdings auch erlaubt sein, ein paar Bemerkungen über die Menschen zu machen. Gerade das Thema »Nähe« ist vermutlich ein Thema, das Menschen an-geht. Die ontogenetische Entwicklung des menschlichen Organismus beginnt, so wird der externe Beobachter sagen, in der Nähe. In der Gebärmutter ist alles nah, so scheint es, und diese Nähe scheint zugleich mit Enge und mit Geborgenheit verbunden zu sein – und mit Wärme. So erscheint es dem externen Beobachter, der zu allem diesem das Gegenteil kennt: die Ferne, die Weite und die Kälte. Der Foetus »weiß« das alles nicht: er ist nicht »froh«, daß er nicht zu frieren braucht, er »will« sich nicht frei bewegen und stößt an die engen Grenzen seiner Behausung, er »fühlt« sich nicht »geliebt«, auch wenn hier vielleicht schon die ersten Differenzerfahrungen beginnen mögen. Ganz anders der Mutterorganismus. Ihm ist der Eindringling fremd, und er geht von vornherein auf Distanz zu ihm. Wenn es ihm nicht gelingt, ihn wieder loszuwerden (Abstoßung, Rhesus-Unverträglichkeit bis hin zu bewußt vorgenommener Abtreibung), dann muß er sich jedenfalls von ihm abgrenzen: hormonelle Umstellung, Einkapselung in der Gebärmutter zwecks Vermeidung gefährlicher anderer, organismusnäherer Einnistungen, etwa im Eileiter, Trennung der Blutkreisläufe, Schaffung einer Clearing-Stelle für Übersetzungen (Placenta). Wir sehen also, wie hier Nähe und Distanz ineinandergreifen. Was für den ex-

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ternen Beobachter Nähe zu sein scheint, kennt die Unterscheidung von Nähe und Distanz gar nicht, erzeugt auf der anderen Seite die Distanzierung aus der Nähe heraus. Wir werden zu prüfen haben, ob folgende Verallgemeinerung aus diesen Befunden heraus erlaubt ist: Nähe gibt es überhaupt nur als verlorene Nähe. Wenn die Nähe aber verloren ist und dadurch als Nähe konstituiert, dann entsteht ineins damit das Bedürfnis nach Nähe. Das Paradies ist immer schon verloren, wie in der Allgemeinen Verführungstheorie52 ist eine Erinnerung eingerichtet, die eine Vergangenheit erschafft, die niemals Gegenwart gewesen ist. Die als verloren konstituierte Nähe erweckt das Begehren, das Paradies soll wiedergewonnen werden, wohl wissend, daß ein wiedergewonnenes Paradies nicht dasselbe wäre, wie dasjenige, was als verloren geglaubt wird. »Die Rückkehr ergreift folglich nicht mehr Besitz. Sie eignet sich den Ursprung nicht wieder an. Dieser ist nicht mehr in sich. […] eine Spur, die eine Anwesenheit ersetzt, die nie anwesend war.«53 Die Welt, in der wir leben, ist zu fern, zu weit und zu kalt. Der Garten Eden ist warm (sonst könnten wir dort nicht nackt herumgelaufen sein), er ist begrenzt (sonst könnten wir von dort nicht ausgegrenzt worden sein), und er ist zum Greifen nah. Nur die normative Unterscheidung (die Erkenntnis des Guten und Bösen) war verboten. Aber hier begegnet uns obiges Problem wieder: Das Verbot der Einführung von Normativität ist bereits die Einführung der Normativität. Uns begegnet hier also wieder die gleiche paradoxe Asymmetrie. Gott, bzw. die Göttin, wollte, so müssen wir schließen, uns von Anfang an von sich distanzieren. So wie der Foetus von der Einsicht abgeschnitten ist, daß er distanziert wird und es erst bei der geburtlichen Austreibung erfahren wird, so haben auch wir (als Adam und Eva) erst bei der Vertreibung aus dem Paradies begriffen, daß Gott oder Göttin aus göttlichem Distanzierungsbedarf uns eine Falle stellte. (Falle muß man es im Monotheismus nennen, weil die Erschaffung des Menschen einen parthenogenetischen Ursprung anzeigt.) Die als verlorene konstituierte Nähe ruft freilich nicht nur das Begehren des Ausgestoßenen hervor, sondern modifiziert zugleich den Distanzierungswillen der Göttin bis hin zu jener Anerkennungs-Geste: »Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.« Zuvor aber reicht sie dem Neugeborenen die Brust. Nun bedarf es keiner Clearing-Stelle der Distanzwahrung mehr, ungefiltert erreicht der Milchfluß den Säugling. Von der Mutter wird die Hingabe im Stillen ohne Distanzierung und

52 Jean Laplanche: Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze. Tübingen 1988; s. dazu: Die unbewusste Botschaft der Verführung, hrsg. v. Lothar Bayer, Ilka Quindeau. Gießen 2004. 53 J. Derrida: Die Schrift und die Differenz, 445, 444.

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mit Befriedigung erlebt: hingebungsvolle zuwendende Nähe. Jetzt ist der Säugling, der die Distanz einführt. Der Milchfluß selbst ist kontinuierlich, das Saugen und Schlucken skandiert ihn in Abschnitte, und schließlich ist der Säugling satt oder schläft ein. Die Brust wäre weiter da, aber der Andere distanziert sich von ihr. Auch die Güte Gottes wäre unermeßlich, aber der Mensch wendet sich ab und begibt sich in den Abgrund der Sünde. Diese Oszillation von Distanz und Nähe setzt sich fort im kindlichen Da-Weg-Spiel. Zunächst kann das, was nah ist, was da ist, in den Mund genommen werden, was weg ist, nicht. Aber dann wird die Mund-Nähe durch Sichtbarkeit ersetzt, was eine gewaltige Abstraktion darstellt. Denn das Sehen ist eigentlich im Gegensatz zum Tasten und Schmecken ein distanzierender Sinn. Wenn also etwas als »nah« gesehen wird, dann ist diese Nähe eine hoch vermittelte Nähe.54 So ist, das Sichtbare als das Nahe zu interpretieren, eine weitere Vermittlungsstufe in der Verschränkung von Nähe und Distanz. Aber es hat auch die Bedeutung, daß die als verloren konstituierte Nähe nicht wirklich und endgültig verloren ist. Im Da-Weg-Spiel wird das auf die Dinge selbst übertragen. Die zeitweilig in Unsichtbarkeit distanzierten Dinge erscheinen als »dieselben« wieder in der Nähe der Sichtbarkeit. So erzeugt sich Weltvertrauen, weil das »Verlorene« wiedererlangt werden kann. Die Eltern, die aus dem Zimmer gegangen sind, sind nicht wirklich verschwunden, ihre Nähe ist virtualisiert: es gibt virtuelle Nähe neben der leibhaftigen. Der Heiland ist nicht verschwunden, sondern viruell mitten unter den Gläubigen. Das ist auch der Grund, warum nicht »Intercorporéité«, sondern Kommunikation, als Modus der Virtualisierung von Nähe, der Schlüssel der Sozialphilosophie ist. Es gibt quasi-mystische Erfahrungen, in denen die Differenz von Nähe und Ferne aufgehoben ist, in denen eine unendliche Ferne und Weite ganz nah ist. Solche Erfahrungen ereignen sich vor allem in der Indifferenzzone der Dämmerung zwischen Schlaf und Wachen oder im Halbtraum, oder sie werden durch meditative Praktiken herbeigeführt; dort hat sich die organische Separation der Sinne noch nicht eingestellt, der Körper ist in dieser Zone ein »Körper ohne Organe«55. Die hier zu machende Erfahrung läßt nicht eine »andere« Erfahrung spüren, sondern gewissermaßen den synästhetischen Untergrund aller Sinnener-

54 Zur Medialität (statt Unmittelbarkeit) von Nähe in der Kommunikation s. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung; zuvor schon in gleichem Sinn Kurt Röttgers: In der Mitte: Das Medium. Mittel – Mitte – Mit, in: Mitte. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Konzepte, hrsg. v. Kurt Röttgers, Monika SchmitzEmans. Essen 2006, 16-33. 55 G. Deleuze, F. Guattari: Tausend Plateaus, 205ff.

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fahrung. Die hier zu machende Raumerfahrung der fernen Nähe oder nahen Ferne setzt sich sozialen Raum fort, worauf später zurückzukommen ist. Naherfahrungen haben ihre eigentümlichen Sinnlichkeitsbedingungen. Ein Beispiel: Eine Landschaft ist Korrelat leiblicher Erfahrungen so wie die Welt Korrelat von Erkenntnisbeziehungen ist. Beide sind im eigentlichen Sinne keine Gegenstände. Eine Landschaft ist immer fern, unser Leib ist immer nah. Diese Nähe und diese Ferne sind direkt aufeinander bezogen. Aber beide sind konkret. Die Besteigung eines Berges als Teils der Landschaft, d.h. der aktive FerneBezug, hat mit den Hindernissen der Nähe zu kämpfen. Denn der eine Landschaft erwandernde Leib »zoomt« nicht ein Bild in eine Nähe herbei. Die Nähe von vorhin, die einer neuen Nähe Platz machte, verschwindet hinter unserem Rücken, wir spüren sie noch kurze Zeit »im Nacken«, sie entschwindet in die Ferne. Und neue Fernen entstehen. Was im rein Visuellen so klar scheint, die Unterscheidung von Nähe und Ferne, ist im gesamtheitlichen Erfahrungsraum des Wanderns zweideutig geworden. Der wandernde Leib befindet sich immer im Übergangsbereich von Nähe und Distanz. Wer wandert, ist nicht im Zwischenraum zweier GPS-Ortungen,56 er ist immer »hier«, und die Landschaft verändert sich für ihn. Führte der Aufstieg durch Wald und Unterholz, so kann es geschehen, daß man sich urplötzlich auf dem Gipfel befindet und sich unerwartet eine weite Ferne eröffnet. Sahen wir aber unterwegs in der Landschaft eine ferne Wiese und lockte uns diese Sommerwiese, uns niederzulegen, so ändert sich auch hier das Verhältnis von Nähe und Ferne urplötzlich: aus dem bloßen Wunsch und der vielleicht erinnerungsgesättigten Vorstellung ist nun eine sinnlich faßbare Realität geworden: wir spüren den Duft der Gräser und Kräuter und ihr Kitzeln auf der Haut, hören die Fliegen und Bienen und sehen die Detailunterschiede der Gräser und Kräuter, die zuvor in der Ferne bloß eine Wiese bildeten. In einem sinnlich gesättigten Zwischenraum bewegt sich der eine Landschaft erwandernde Leib mit seinen Sinnen. Jenseits dessen gibt es eine Welt, die uns im Prinzip erkennend zugänglich ist, nämlich daß »wir« (?) uns inmitten von Molekülen bewegen und daß »wir« (?) uns in einer Galaxie bewegen. Aber läßt sich die Erfahrung wirklich angemessen im deskriptiven, epistemischen oder im normativen Diskurs darstellen? Jede Beschreibung wahrt nicht

56 Zur Phänomenologie von Hier-Erfahrung und GPS-Ortung s. M. Sommer: Suchen und Finden, 184ff., 301ff.; zum Wandern (ohne GPS) s. Kurt Röttgers: Leib und Landschaft - Wandern und Wohnen, in: Landschaft, gesehen, beschrieben, erlebt, hrsg. v. Kurt Röttgers, Monika Schmitz-Emans. Essen 2005, 44-66 u. bes. Michel Serres: Variations sur le Corps. Paris 1999.

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nur, sondern ernötigt Distanz. Im Extrem: mein eigenes gegenwärtiges Beschreiben kann ich nicht beschreiben.57 Aber selbst wenn die Beschreibung des gemeinschaftlichen Anderen (im Unterschied zum gesellschaftlichen Anderen) die maximale Annäherung, die Anschmiegung und Berührung, sucht, dann ist auch da der Annäherung sozialontologisch eine unüberschreitbare Grenze gesetzt, durch die die unendliche Nähe ausgeschlossen ist, ohne daß der Andere mit mir identisch wäre, aber gerade auch dann die Beschreibung unmöglich machte; die unendliche Nähe läßt den kommunikativen Text kollabieren. Bausteine zu einer Philosophie der Berührung gibt es, seit Novalis notierte: »(Wozu überhaupt ein Anfang? Dieser unphilosophische – oder halbphilosophische Zweck führt zu allen Irrthümern.) Theorie der Berührung – des Übergangs – Geheimniß der Transsubstantiation.«58 In neuerer Zeit haben Merleau-Ponty, Lévinas59 und Nancy60 zu einer solchen Theorie beigetragen.61 Antje Kapust weist interessanterweise darauf hin, daß ein Mangel an Sinn für Pluralität seine Ursache in Berührungsangst haben kann.62 Auch Sigmund Freud erklärte das »Verbot« der Berührung für das »Haupt- und Kernverbot der Neurose«.63 Der VerbrüderungsTerrorist Robespierre war ein klassisches Beispiel einer solchen Berührungsangst.64 Dazu paßt wunderbar, daß Georg Simmel in seiner Philosophie des Geldes bemerkte, daß das Geld »die unmittelbaren Berührungen mit den Dingen er-

57 Die Linearität des Textes erzwingt sukzessive Anschlüsse; wie jeder Zwang kann auch dieser unterlaufen werden, z.B. durch das, was gerade hier geschieht: durch Anmerkungen; zu Anmerkungen s. Peter Rieß: Vorstudien zu einer Theorie der Fußnote. Berlin, New York 1983; der Hypertext ermöglicht eine Perfektionierung und exzessive Steigerung dieser Subversion der Linearität. 58 Novalis: Schriften III, 383. 59 E. Lévinas: Die Spur des Anderen, bes. 261-294: »Sprache und Nähe«; ders.: Totalität und Unendlichkeit. Freiburg, München 1987, 65: »Die Idee der Berührung stellt nicht den ursprünglichen Modus des Unmittelbaren dar.« 60 Jean-Luc Nancy: Corpus. 2. Aufl. Zürich, Berlin 2007; zu Nancy unter diesem Aspekt s. Jacques Derrida: Berühren, Jean-Luc Nancy. Berlin 2007. 61 Zu Merleau-Ponty und Lévinas s. Antje Kapust: Berührung ohne Berührung. München 1999. 62 L. c., 370. 63 Sigmund Freud: Totem und Tabu, in: ders.: Werkausg. In 2 Bden., hrsg. v. Anna Freud, Ilse Grubrich-Simitis. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1978, II, 224. 64 Hans v. Hentig: Terror. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1970, 35.

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spart«.65 Es erspart vielleicht auch durch das Prinzip der Repräsentation, das es mir erlaubt, den Anderen im Selbst zu simulieren, die Berührung mit dem Anderen/des Anderen. Geld hat keine olfaktorische Relevanz, Geld stinkt nicht, wie sollte es auch, während der Lateiner noch wußte: (pecus olet, sed:) pecunia non olet. Damit wird durch das Geld einer Philosophie der Anerkennung der Boden entzogen, weil es nur noch erforderlich ist, daß der Wert des Geldes anerkannt sei, nicht mehr die sogenannten Subjekte. Der Tanz wäre das Gegenteil: die hemmungslose Ermöglichung von Berührungen (Distanzierungen und Näherungen), Tanz hier durchaus im verallgemeinerten Sinn genommen, in dem auch der Text tanzend sein kann – und vergessen wir nicht: das Labyrinth ist ursprünglich ein Tanz. Das Geld läßt, wie man weiß, alle Dinge als Waren darstellbar werden, der Tanz beläßt sie in der Pluralität ihrer Diversität. Daher ist auch der Eintritt in den Tanz, der schon stattfindet, keine (gar rationale) Entscheidung, sondern beruht auf dem Prinzip der Ansteckung. Nur in extrem gehegten und d.h. anderweitig sozial geregelten Situationen lassen sich Somatismen als Argumente verwenden. »Wenn du das so sagst, bekomme ich Herzbeklemmungen.« Es kann durchaus (sozialtherapeutisch) angezeigt sein, Situationen zu schaffen, in denen das so vorgebracht werden und ernst genommen werden kann – aber Gesellschaften lassen sich nicht durch Argumente der (somatischen) Nähe aufbauen oder das soziale Band, das sie zusammenhält, so nicht erklären. Ebenso bleibt immer eine Distanz im Normativen. Die Ethik, selbst die des »individuellen Gesetzes«66 (Simmel), versucht zwar, dem gelebten Ethos nahezukommen, aber auch Ethik setzt Distanz, die ohne Verlust der Selbstverständlichkeit des Ethos der Lebenswelt nicht möglich ist. Es ist nicht ganz klar, was es ist, was wir nicht wissen, daher ist es auch nicht ganz klar, was es ist, was wir wissen. In diesem Mangel an Klarheit in diesem Clair/Obscur unserer Wissensbemühungen hilft nur die Urteilskraft. Wissen distanziert uns die Gegenstände der Welt. Einer der Gründe für Nichtwissen kann daher die zu große Nähe der Gegenstände zu unseren Sinnen sein. Die Gegenstände unserer Sinne können je nach dem Sinn, in dem sie begegnen, leichter oder weniger leicht in Distanz gehalten werden. Gesicht und Gehör machen uns die Distanzierung leichter als Tastsinn, Geruch und Geschmack.67 Dieser Zusammenhang zwischen Wissen

65 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 652. 66 G. Simmel: Lebensanschauung, 346-425: Das individuelle Gesetz. 67 S. die Äußerung Cézannes, daß man einem Kornfeld so nahe sein müsse, es nicht mehr zu sehen, erwähnt bei G. Deleuze, F. Guattari: Tausend Plateaus, 682.– Im Hinblick auf das Gehör hat sich allerdings in letzter Zeit, veranlaßt durch die

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und Schmecken (savoir et saveur), zwischen Erkennen aus Distanz und Berührungs-Erkennen affiziert ebensosehr Raum und Zeit. Die ganz besondere Schwierigkeit, das Naheliegende des Geschmacks zu beschreiben, rührt daher, daß Geschmack und Geruch differenzierende Sinne sind, die Vielheiten wahrnehmen, aber nicht integrieren, während Gesichtssinn und Gehör synthetisierende Sinne sind, die Einheiten schaffen. Der Geschmack bringt es immer nur zu einem Gemisch, während das Auge nach Einheit verlangt. Der Gesichtssinn distanziert, das macht die Beschreibung des Naheliegenden schwierig, weil der Gesichtssinn nichts in der Nähe beläßt oder bei dem allzu Naheliegenden versagt. Der Geschmack dagegen erfaßt das ganz Naheliegende in seiner differenzierten und vermischten Vielfalt, aber er versagt an der Beschreibung angesichts der Notwendigkeit der Verwendung einer Sprache, die mit Hilfe von Allgemeinbegriffen identifiziert. Es gibt zweifellos immer wieder Versuche, das Bouquet eines großen Weines etwa zu beschreiben, solche Beschreibungen schwanken zwischen nichtssagenden, lächerlichen und exzentrisch gewagten Vergleichen. Daher hielt es ja auch Hegel für unangemessen, daß sich der Philosoph mit der bunten Vielfalt der »unendlich mannigfaltigen Verhältnisse«, mit jenem »unendlichen Reichtum von Formen, Erscheinungen und Gestaltungen« abgebe, er solle diese bunte Vielfalt durchstoßen auf den Kern der Sache hin, der ein begrifflicher sei.68 Die Schwierigkeit, ja man möchte sagen: Unmöglichkeit, den Wein mit allgemeinen Begriffen zu beschreiben, hindert übrigens gar nicht die Fähigkeit des Weinkenners, Weine wiederzuerkennen oder Ähnlichkeiten zu schmecken, d.h. Erkenntnisfunktionen auszuüben angesichts systematisch unentwirrbarer Gemische. Deleuze und Guattari nennen den Raum der nahsichtigen Anschauung, sei diese nun dem Gesichtssinn, dem Gehör oder dem Tasten (und wir möchten hin-

Durchseuchung der Gesellschaft mit Mobiltelefonen, ein Wandel vollzogen: Während bislang das Akustische entweder als Hintergrundrauschen einer Welt oder als Ansprache, die uns angeht, auftrat, sind wir heutzutage permanent mit Ansprachen konfrontiert, die uns nichts angehen und denen wir gerne entgehen möchten, die wir aber kaum wegblenden können wie ein Vogelgezwitscher; da hilft dann oft nur noch die Verstöpselung der Gehörgänge durch MP3-Player. Zum Nahsinn des Geschmacks s. Bernhard Waldenfels: Fremdspeise, in: Die Tischgesellschaft, hrsg. v. Iris Därmann, Harald Lemke. Bielefeld 2008, 43-59; Michel Serres: Die fünf Sinne. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1994; K. Röttgers: Kritik der kulinarischen Vernunft. 68 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. Johannes Hoffmeister. 4. Aufl. Hamburg 1955, 15.

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zufügen: dem Geschmack und Geruch) geschuldet, einen haptischen Raum,69 so daß z.B. von dem Auge in einer solchen Anschauung sehr wohl gesagt werden kann, daß es die Dinge der Nähe »berührt«70 und z.B. auch in sozialen Beziehungen wir von einem allzu nahe rückenden Blick peinlich berührt sind.71 Ebenso ist auch der begrifflich davon abgesetzte optische Raum nicht allein auf das Auge in seiner fernsichtigen Anschauung beschränkt. Der Maler eines Bildes ist klassischerweise stets mit beidem konfrontiert gewesen: Er malt einen Gegenstand, den er sich ganz fernhält, aber er malt ihn in Reichweite. Das Gemälde als sichtbaren Gegenstand sieht er in seiner Nähe, was zurückwirkt auf die Sicht des gemalten Gegenstandes in der Ferne, der nun dem Sehenden wie ganz in der Nähe erscheint. Um eine angemessene Sicht selbst des Naheliegenden zu haben, wird es überall oft nötig sein, Abstand zu wahren. Die Beschreibung des Naheliegenden, von der die Rede war, ist trotz der Verwendung von Allgemeinbegriffen, die über das Naheliegende hinausgreifen, ihrer Zielrichtung nach eine »dichte Beschreibung«,72 insofern sie sich in der distanzierenden Beschreibung um eine neue Nähe bemüht,73 ja um die eigentliche Nähe, weil die erste Nähe des bloß Naheliegenden nur ein dumpfes »Hier« und »Jetzt« beinhaltet, und deswegen zum Abbruch des kommunikativen Textes führen kann, während die Beschreibung als Annäherungstext eine jeweils aktuelle und gleichwohl beschriebene Nähe des Nahegelegenen präsentiert. Cézanne sagte einmal, daß man einem Kornfeld zu nahe kommen müsse, so daß man es nicht mehr sehen könne, um es angemessen malen zu können. In seiner Cézanne-Interpretation spricht Merleau-Ponty von der fiebrigen Nähe zu den Dingen, die das Malen erzwingt und von ihm erzwungen wird. Andererseits aber ist es nach ihm, Valéry zitierend, der sich damit auf Leonardo da Vinci bezog, ein »Gipfel der Verachtung

69 G. Deleuze, F. Guattari: Tausend Plateaus, 687ff. 70 Zum Begriff der Berührung, vor allem bei Maurice Merleau-Ponty s. A. Kapust: Berührung ohne Berührung. 71 Zum sozialen Abstand (als »Anstand«) s. Thorsten Sindermann: Der Takt und seine Moral, in: Perspektiven der Philosophie 35 (2009), 179-202. 72 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Frankfurt/M. 2002. 73 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, in: ders.: Gesammelte Schriften. Darmstadt 1998, VI, 66: »Allein erst äußerste Ferne wäre die Nähe; Philosophie ist das Prisma, das deren Farben auffängt.« H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, 332: »Nur Indirektheit schafft Direktheit, nur die Trennung bringt Berührung.«

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für gewisse Dinge […], sie in aller Ruhe zu untersuchen«.74 Das ist der Standpunkt des Theoretikers, und das ist der Standpunkt des Voyeurs, der in aller Ruhe abschätzt, welches Ausmaß an Verführungskraft wohl von den Dingen oder Menschen ausgehen mag, ohne sich selbst je dieser Verführung auszusetzen, geschweige denn die Dinge zur Beschreibbarkeit zu verführen. Auf diese Weise wird die Beschreibung (oder das Malen eines Bildes) selbst wieder zu einem Element der Welt, statt daß es ihr gelingt, sich herauszuhalten und sich nicht von der Materialität und Körperlichkeit der Dinge anstecken zu lassen. Am Ende wird dann nichts naheliegender sein, als das Naheliegende zu beschreiben. Die zärtliche Beschreibung (»Be-schreibung«) der Haut des Anderen ist in diesem Sinne eine Berührung, und jede Berührung hat etwas von einer magischen, bezaubernden Veränderung von Berührendem und Berührtem. So vereinigt die Beschreibung in eigentümlicher Weise Nähe und Distanz: Dem gegenwärtig Naheliegenden gegenüber wahrt sie notwendigerweise Distanz, aber dem (soeben) Nahegelegen-Habenden und dem (sogleich) Naheliegen-Werdenden versucht sie, ganz nahe zu kommen, auch wenn dieses aus zeittheoretischen Gründen nicht wirklich möglich ist, ohne daß Vergangenheit/Zukunft zur Gegenwart würde, dann aber gerade wiederum als Beschreibungsermöglichung Distanz erforderte. Die Beschreibung eines Prozesses, wenn sie die Nähe wahren will, kann nur selbst ein Prozeß sein, muß sich in die Bewegung sozusagen einfädeln. Sie muß in den Tanz der Phänomene einstimmen. Wenn man jedoch die Beschreibungsebene wechselt, ist auch die Anweisung Beschreibe/male einen vorliegenden Text, nicht mehr unsinnig: sie könnte meinen die Beschreibung der Strukturprinzipien oder der Grammatik dieses Textes. Und genau diese ist nicht darauf angewiesen, Text, d.h. Prozeß zu werden, sondern kann sich auch als Bild geben, z.B. als Labyrinth.75 Die Strukturbeschreibung ist jedoch keine Beschreibung des

74 Paul Valéry: Œuvres. Paris 1957, I, 1212: »[…] car le comble du mépris pour certaines choses est enfin de les examiner à loisir.« Dt. Übers. (modifiziert) nach Maurice Merleau-Ponty: Der Zweifel Cézannes, in: Was ist ein Bild?, hrsg. v. Gottfried Boehm. München 1994, 39-59, hier 55. 75 S. z.B. Jens Baggesen: Das Labyrinth oder Reise durch Deutschland in die Schweiz. 1789. Neudr. Leipzig, Weimar 1985, seine Reisebeschreibung folgt der Labyrinthstruktur seiner Reise. Daher auch seine bemerkenswerte Anweisung, daß ein Reisender (und ein seine Reise in ihrer labyrinthischen Bewegungsstruktur Beschreibender) keine Religion haben sollte, wenn man nämlich mit Baggesen unterstellt, daß Religion einen gesicherten Ort im Sein garantiert. Sie ist gewissermaßen eine kartogra-

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Naheliegenden mehr. Die Haut des Anderen kann be-schrieben werden, nicht aber sein Skelett, die Beschreibung seines Skeletts setzt den distanzierenden, analytischen Blick (mit Röntgen-»Augen«) voraus. Die Beschreibung seines Genoms ist in einer Schrift verfaßt, die erst noch dechiffriert werden muß. Die Annäherung an die Haut des Naheliegenden ist verführerisch und läßt sich selbst durch die Nähe verführen. Das aber kann nichts anderes heißen, als daß die Beschreibung des Naheliegenden keinen festen, vorab geregelten und Sicherheit gewährenden Ablaufplan hat, sie desavouiert das autonome Subjekt und seine freien, selbstgewählten Handlungs- und Darstellungspläne und die ihnen ex post zugeordneten Intentionen. Konkret heißt das, daß der glatte, der haptische Raum die permanente Richtungsänderung der Handlungsabsichten, sofern man solche nötig gehabt haben zu müssen meint, bewirkt. Die sich aufdrängenden Richtungsänderungen sind diktiert von der labyrinthischen Struktur, in der sich die Anhaltspunkte und Orientierungslinien permanent verändern. Über das Leben, das wir leben, gibt es eben nicht den großen Überblick, der uns die Struktur dieses Labyrinths als einen Kosmos erkennen ließe. Nicht der vermeintliche großartige Überblick (oder der über-legene Standpunkt) hilft hier, sondern von Fall zu Fall wechselnde Durchblicke (Per-spektiven). Daher die Komik eines Buchtitels als Versprechung: Das Leben: Gebrauchsanweisung76. Zur Fortbewegung im mit Steinen durchsetzten morastigen Gelände hilft keine Überblickskarte, sondern es hilft nur zu erlernen, wie man Gelegenheiten ergreift, bzw. sich von ihnen, d.h. von Stein zu Stein hüpfend, ergreifen läßt. Gleichwohl ist diese Bewegung im Dickicht des Alltags alles andere als eindimensional, und zwar viel weniger als die durch Pläne und Überblicke77 entworfenen kürzesten Wege.

phische Lokalisierung der eigenen Position in der Seinsordnung, aber den Weg durchs Leben muß man schon selbst gehen. – Die bildhafte Strukturbeschreibung ist auch das methodische Prinzip der Hermeneutik von Hans Leisegang: Denkformen. Berlin, Leipzig 1928; zur Beschreibung als Beispiel für Bildhaftigkeit, insbes. bei Wittgenstein s. Josef Simon: Lebensformen, in: Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, hrsg. v. Wilhelm Lütterfelds. Frankfurt/M. 1999, 190212. 76 Georges Perec: Das Leben: Gebrauchsanweisung. 6. Aufl. Frankfurt/M. 2006. 77 Den Beschränkungen des Naheliegenden und der leibbedingten Nahsichtigkeit zu entkommen, ist ein alter Menschheitstraum seit Daedalos, dem Griechen. So nahm Platon (173e-174a) an, daß nur der Körper des Philosophen irdisch verhaftet sei, sein Geist aber die weltlichen Nichtigkeiten überfliege. Daß aber der Blick von oben, der Über-Blick, nicht die wahre Sicht der Dinge, sondern nur eine andere, vielleicht sogar

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Das Hin- und Herhüpfen zwischen den Anhaltspunkten einer ersten Ebene ist eingebettet in eine Orientierung übergeordneter Struktur, usw. iterierbar, keine von ihnen jedoch ist globaler Natur oder erreicht die Sphäre transzendentaler Geltungen, wahrscheinlich kehrt die Gesamtstruktur fraktal in sich zurück, und immer gibt es Verzweigungen, Abweichungen und Umwege, kurzum Kultur. Sich vom einem Stück samtbrauner Haut zu einer Beschreibung verführen zu lassen, kann seine Anhaltspunkte zu einer Fortsetzung dieses Sprachspiels finden in der Beschreibung anderer Hauttönungen desselben Körpers, in gleichen Tönungen anderer Körper, etwa vom weiblichen zum männlichen übergehend oder zum tierischen oder zu gemalten, oder vom lebendigen Körper zum Präparat wechselnd oder von Worten zu Handlungen. Ein anderes Beispiel: Nehmen wir an, der Alltag enthalte für die Menschen Probleme, denen sie sich konfrontiert sehen und die sie lösen müssen oder wollen. Diese Probleme haben eben keinen solchen Zusammenhang, daß man eine allgemeine Problemlösungsformel haben könnte oder auch nur eine über-sichtliche Ordnung der Probleme so, daß man die einzelnen Probleme deduktiv oder stratifizierend ordnen und abarbeiten könnte; durchwursteln heißt die Parole, weil alle Handlungspläne an der Kontingenz der Anderen zerschellen. Auch wenn wir, um unsere Macht zu steigern, mit anderen gemeinsam handeln, gibt es doch immer die anderen Anderen, die nicht mitmachen und zu allen Plänen kontingent verbleiben. Die tendenziell terroristische Menschheitsverbrüderung (»fraternité ou la mort«) ist der (vergebliche) Versuch, dieses Problems der anderen Anderen Herr zu werden. Und werden Probleme wirklich einmal gelöst, dann bekommen sie alsbald Junge. Und weil das so ist, erscheint es angesichts mancher Probleme sinnvoller, sich mit ihnen zu arrangieren statt sie zu lösen und damit der Produktivität neuer Probleme zuzuführen. »Wie glücklich waren wir doch, Margot, weißt du noch, als unsere Probleme, wie man sie nennt, noch nicht gelöst waren […]«78 Nicht nur, wenn die Sozialwissenschaften meinen, von »dem« Menschen ausgehen zu sollen, sondern auch viel allgemeiner gilt, daß Erkenntnis einen Allgemeinheitspunkt sucht, der es ihr erlaubt, Naheliegendes zu distanzieren.

eine verzerrte oder falsche, darbiete, wird in dem Begriff des Überflugs kritisch artikuliert. Kant hat den transzendenten Vernunftgebrauch auch einen überfliegenden (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft B 352; 671) genannt; seine Kritik der Vernunft warnt vor den Illusionen des Überflugs. Auch Philosophien der Immanenz, wie z.B. die Phänomenologie Merleau-Pontys kritisieren den »survol« (M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, 170; ders.: Das Auge und der Geist, 277). 78 M. Serres: Der Parasit, 119.

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Man kann das am Problemzusammenhang der Ethnologie erläutern. Als erstes hat der Ethnologe das Problem, wie Clifford Geertz herausgearbeitet hat, plausibel zu machen, daß er wirklich »dort« war, daß er der indigenen Bevölkerung ganz nahe gekommen ist. Das Stichwort für diese Bemühungen ist die »teilnehmende Beobachtung« und deren authentische Beschreibung; dieser nahekommende Blick in die Körperlichkeit der fremden Kultur ist ein indiskreter, ja man möchte sagen pornographischer Blick. Pornographisch darf man diesen Blick vielleicht deswegen nennen, weil er einerseits etwas sehen läßt, was besser im Verborgenen geblieben wäre, weil er andererseits etwas einer Beschreibung zuführt, was seinen Wert als geteilte Praxis, nicht aber im Wertesystem eines Beschreibungsdiskurses hat. Jede kulturelle Praxis ist in dem Sinne eine maskierte Praxis als sie nicht das Bewußtsein ihrer selbst bei sich führt. Masken bieten Schutz und verbergen. Der indiskrete Blick respektiert das Geheimnis der Maske nicht, er demaskiert79 das Geheimnis, das sich hinter der Oberfläche der Maske verbirgt. Als Wissenschaftler aber ist der Ethnologe dem Ethos der Distanzierung von seinem Gegenstand verpflichtet;80 er folgt dem Idol der Nichtverwicklung in seinen Gegenstand, obwohl die Heisenbergsche Unschärferelation gezeigt hat, daß selbst die Physik in dieser Frage an Grenzen stoßen kann, und die Kritische Theorie Horkheimers, daß dieses Idol in den Sozialwissenschaften immer schon eine Selbsttäuschung ist; der Ethnologe aber läßt sich nicht auf das Geheimnis ein, was nämlich hieße, es nicht zu verraten; sondern er profaniert es und verrät es an seine Wissenschaftler-Kollegen und die interessierte Öffentlichkeit, zu denen und deren Distanzierungswillen er nach der behaupteten Nähe zu »seinen Eingeborenen« zurückgekehrt ist. Alles was fremd schien, wurde als verstehbar demaskiert, der Fremde wurde wenigstens in effigie zum Anderen gemacht. Obwohl man ihm, dem Fremden, nahe war – das wollen wir dem zurückgekehrten Ethnologen einmal glauben –, wird er als Anderer in Distanz gehalten. Wer sich aber auf die Geheimnisse der fremden Kultur wirklich einläßt, wer sich mit der indigenen Bevölkerung dergestalt verschwistert, der kann nicht

79 Zum pornographischen Blick s. Kurt Röttgers: The Pornographic Turn, in: Engagement and Exposure, ed. Kristóf Nyíri. Wien 2009, 87-91; zu Demaskierungen ders.: Demaskierungen, in: Masken, hrsg. v. Kurt Röttgers, Monika Schmitz-Emans. Essen 2009, 64-96. Zum Doppelcharakter der Maske: sie verhüllt und schützt das Gesicht, aber sie enthüllt durch die Wahl der Maske zugleich ein Jenseits von Gesicht und Maske, s. Käte Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie. München 1990, 136. 80 Zur philosophischen Reflexion des Verstehens im ethnographischen Diskurs s. Heike Kämpf: Die Exzentrizität des Verstehens. Berlin 2003, bes. 7-293.

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mehr zurück, er wird zum »Aussteiger« seiner eigenen Kultur oder zu einer der bedauerlichen Gestalten des Mestizentums, z.B. mit dem traurigen Schicksal einer Malinche.81 Sie übersetzt nicht nur Worte, sondern Kulturen; das kann sie nur, weil sie eine Vermittlerin der Kulturen und in sich selbst eine Durchmischerin der Kulturen ist: sie war (kulturell) Indianerin und Spanierin, eben Mestizin, sie förderte das gegenseitige Verstehen, genau dadurch war sie zugleich Verräterin der eigenen Kultur. Also ist das »Eintauchen« in die Kultur der Fremden, sobald es für die Fachkollegen und die Öffentlichkeit beschreibbar wird, alles andere als die Beschreibung von Naheliegendem. Die Beschreibung wird an den Diskurs der Ethnologie und seine Regularitäten angeschlossen und so allgemein verständlich. Nichts anderes, so scheint mir, geschieht im übrigen in der Psychoanalyse. Der Analytiker »deutet«, was gesagt wird, d.h. er taucht einerseits ein in die Geheimnisse des Unbewußten des Analysanden ein und zugleich schließt er dieses an den Diskurs der Psychoanalyse an.82 Das ist der Haupteinwand des Vertreters der »Philosophischen Praxis«, Gerd B. Achenbachs, gegen die Psychoanalyse: die Analytiker nehmen ihre Klienten nicht ernst, weil sie »hinter« dem, was diese sagen, angeschlossen an den Diskurs der Psychoanalyse, generell noch etwas ganz anderes vermuten.83 Nicht die Nähe des Fremden spricht sich im Diskurs der Ethnologie aus, sondern die distanzierende Beschreibung eines Anderen. Was wie ein Nahekommen aussieht, ist tatsächlich eine extreme Distanzierung. Aber im Selbstverständnis der epistemischen Beziehung der Wissenschaft zu ihrem Gegenstand ist diese extreme Distanzierung zugleich der Weg zu einer Nähe, die der fremden Kultur so nahe kommt, wie diese sich selbst niemals kommen könne (das gleiche gilt natürlich auch für das Selbstverständnis der Praxis der Psychoanalyse und ihrer Deutungskompetenz). Der Wissenschaftler »sieht«, was die Angehörigen der fremden Kultur selbst niemals sehen können: die Kultur und zugleich ihre Rückseite, den Diskurs, ferner die Praxis (Performanz) und zugleich deren Struktur. Angesichts der epistemischen Aporie einer unmöglichen Nähe stellt sich die Frage, ob diese Aporie nicht mit einem dominant gewordenen, aber nicht alternativenlosen epistemischen Design zusammenhängt, das auf die cartesianische

81 Dazu T. Todorov: Die Eroberung Amerikas, 123ff. 82 D. Pflichthofer: Spielräume des Erlebens, 76f. über zwei Deutungen einer Äußerung eines Sportlers, ferner 70 zur Verwendung von Termini wie »projektive Identifikation«, von »Übertragung« und »Gegenübertragung«. 83 Gerd B. Achenbach: Die reine und die praktische Philosophie. Wien 1983, zur Kritik der »auxiliaren Vernunft«, s. 17-28.

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Subjekt/Objekt-Spaltung aufgebaut ist. Testen wir doch einmal, ob das oben schon angesprochene Modell eines labyrinthischen Perspektivismus nicht besser geeignet sein könnte. Die Grundannahmen dieses Modells sind, daß der Erkennende und Handelnde sich in einem Labyrinth befindet und immer nur sieht, was er sieht. Alle Bewegungen – insbesondere die Suche nach dem Ausgang (der Ausgang, der zugleich die Archè ist) – d.h. jeder Versuch, dem Labyrinth zu entkommen, m.a.W. jeder Versuch einer Komplexitätsreduktion steigert die Komplexität des Labyrinths. Ebenso ist jeder Versuch eines Überblicks (Kants transzendenter »Überflug«, Merleau-Pontys »survol«, s.o.), d.h. eine übersichtige Perspektive durch Erklimmen einer weiteren Dimension, letztlich also Transzendentalphilosophie nichts als eine contre cœur vorgenommene Komplexitätssteigerung des Modells in eine weitere Dimension hinein. Wer in einem sich ändernden Labyrinth unterwegs ist, dem hilft der distanzierte Blick von oben, der Über-Blick wenig; denn selbst wenn er den Blick von außerhalb der Räume, in denen wir uns bewegen, haben könnte, so hätte er doch den Blick von außerhalb der Zeiten nicht, der es ihm gestatten würde vorherzusehen, wie das Labyrinth sich morgen geändert haben wird, und der dementsprechend ganz bestimmte Wege und Bahnungen als erfolgversprechend auszuzeichnen gestattete.84 Wenn er aber nun nicht stillesteht, sondern sich bewegt,85 ist allein die rhythmische Bewegung dem Prinzip einer Welt mit Labyrinthcharakter angemessen –, wenn er sich also bewegt, so wird er nicht sicher wissen können, ob er an den Orten, an denen er vorbeistreicht, schon einmal war, weil die Kreuzungspunkte des La-

84 Das ist auch das grundsätzlich nicht eliminierbare Problem der Börsenspekulation: man muß nicht nur einschätzen können, wie morgen der Stand eines Unternehmens hinsichtlich seiner Produktivität und Absatzchancen seiner Produkte sein wird, was ja innerhalb gewisser Fehlertoleranzen durch Unvorhersehbarkeiten allenfalls noch prognostizierbar wäre, sondern man muß in zunehmend höherem Maße wissen, wie andere Spekulanten dieses morgen für übermorgen einschätzen werden. Natürlich gibt es immer welche, die nachher behaupten, den Überblick gehabt zu haben; sie konkurrieren lediglich mit anderen, abweichenden Überblickern: Einer wird am Ende recht gehabt haben und von ihm wird man dann anschließend behaupten, daß er den Überblick gehabt habe. 85 Kurt Röttgers: Wandern und Wohnen in labyrinthischen Texturen, in: Universität und Lebenswelt, hrsg. v. Wieland Jäger, Rainer Schützeichel. Wiesbaden 2008, 9-28; ders.: Arbeit am Mythos des Labyrinths, in: Das Daedalus-Prinzip, hrsg. v. Laila Kais. Berlin 2009, 13-37.

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byrinths nicht dieselben bleiben und weil er nicht derselbe bleibt.86 Es wird Ähnlichkeiten geben, Verknüpfungen, Verbindungen, Assoziationen, aber keine Sicherheiten von der Art, wie ein metaphysisches Identitätsprinzip sie versprechen zu können glaubte. Immerfort wird er von Naheliegendem umgeben sein, immerfort wird er um Abstand bemüht sein, aber nie wird die Distanzierung unwiderruflich gelungen sein. Immer wieder wird das theoretisch Distanzierte ganz plötzlich in einer Perspektive erscheinen, unter der es uns hautnah begegnet. Was Geschichte schien und damit im Erzählen endgültig distanziert, das meldet völlig unvorgesehen plötzlich als Ereignis sich neu an. Oder sollte es vielleicht gar keine Wiederbegegnung sein, sondern ein völlig Neues?87 Sind beispielsweise die Neonazis wirklich nur die Wiederkehr des Nationalsozialismus in jungen und unbelehrbaren Körpern? Und wie können wir es wissen, wenn der ÜberBlick selbst nur eine und zwar nicht eine besonders gute Perspektive auf ein in seinem Inneren und iterativ fortwachsendes Labyrinth darstellt? Wir werden uns also zu fragen haben, wie das Zusammen von Nähe und Distanz (bei Unterstellung einer Labyrinthik des Diskurses) zur Organisation des kommunikativen Textes (d.i. des sozialen Prozesses) dient. Dabei bedienen wir uns der temporalen Dimension als fakultativ gewählten Ausgangs. Zeit ist zuallererst nach Nähe (unmittelbare Gegenwart) und Distanz (Nicht-Gegenwart) differenziert. Das Nicht-Gegenwärtige erscheint unter zweierlei Gestalt, die wir als

86 In der neueren französischen Philosophie ist das am Zusammenhang der Begriff Identität und Wiederholung herausgearbeitet worden, s. G. Deleuze: Differenz und Wiederholung, und, von anderen Voraussetzungen ausgehend J. Derrida: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, 325-351 und anderen Schriften, zu Deleuze unter diesem Aspekt K. Röttgers: Es wiederholt sich; und zu Derrida Rodolphe Gasché: The Tain of the Mirror. Cambridge/Mass., London 1986 und Kurt Röttgers: Derridas Doppelgänger, in: Zs. f. Kulturphilosophie 6 (2012), 137-159. Zu vergleichen ist auch C. Constantius [d.i. Søren Kierkegaard]: Die Wiederholung, in: Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode u.a., hrsg. v. Hermann Diem, Walter Rest. München 1976, 327-440. 87 Bergson hatte versucht, mit der Unterscheidung von zweierlei Erinnerung dem Rechnung zu tragen, mußte aber zugeben, daß die Trennung künstlich sei und die Wirklichkeit des Erinnern stets beides verknüpft: eine habituell gewordene Praxis und eine erinnernde Repräsentation; Henri Bergson: Matière et mémoire. 47. Aufl. Paris 1946, 83ff.; zu Bergson s. jetzt auch Kristóf Nyíri: Zeit und Bild. Bielefeld 2012, 16-21.

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Richtungen88 der Zeit bezeichnen dürfen: Vergangenheit und Zukunft. Bei diesem Überlegungsstand erscheint es noch ungelöst, wie der letztlich infinitesimale Gegenwartspunkt zur Vergangenheit werden kann, was doch unsere geläufige Erfahrung mit Zeit zu sein scheint, und woher ein neuer Gegenwartspunkt kommt und wie er den alten ablösen kann, ohne daß wir in einen Atomismus der Gegenwartspunkte geraten, in dem dann das Kontinuum der Erfahrung mysteriös bleibt. Hier hat die Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins die entscheidende Aufklärung gebracht.89 Sie differenziert nämlich im Begriff der Vergangenheit (für die Zukunft gilt Analoges) die unmittelbar verflossene Vergangenheit (Retention) von der Vergangenheit, auf die sich eine eigene Akt-Intentionalität des Erinnerns richtet. Die Retention hat keine eigene Intentionalität, sie ist vielmehr eine Begleitung der auf gegenwärtiges Wahrnehmen gerichteten Intentionalität. So haben wir zwei Ergebnisse dieser Überlegung: Die Gegenwart ist kein temporaler Punkt, sondern ist in sich ausgedehnt mit immer weiter abgeschatteten, immer mehr verblassenden Rändern (wie im Räumlichen die Ränder des Gesichtsfeldes). Wäre sie ein Punkt, so bedürfte es eines eigenen synthetischen Aktes, um etwa eine Melodie zu erfassen; die Annahme eines solchen Aktes – der seltsamerweise nie ausbleiben könnte und daher auch als eigenständiger Akt fraglich wäre – hat etwas sehr Konstruiertes. Den Alltagsintuitionen und den Sprachgewohnheiten entspricht es eher, die Gegenwart als ausgedehnt zu begreifen, wie auch das Gesichtsfeld stets mehr enthält als den gerade fixierten Gegenstand. Es gibt zweierlei Vergangenheiten, eine der entschwindenden Nähe und eine der aktuell überwindbaren Distanz. Dabei sind die beiden Vergangenheiten keineswegs exklusiv zueinander. Wir können uns auch auf ein Noch-Bewußtes reflexiv und uns erinnernd in einem eigenen vergegenwärtigenden Akt beziehen; und jeder solchermaßen erinnernd vergegenwärtigende Akt hat seinerseits als Akt seine Retentionen. So ergeben sich zwei ganz verschiedene Formen von temporaler Nähe, die der präsentisch unmittelbaren und dann sich abschattenden, kontinuierlich abnehmenden retentionalen Nähe und die der re-präsentierten Nähe. Die eine liegt auf der Vollzugsebene des kommunikativen Textes, die andere auf der der Inhalte. Nur im Gegenwartsmoment kommen beide zur Deckung, im erinnernden Akt haben wir sie in absoluter Konfrontation: Als repräsentierter

88 »Zeit-Ekstasen« oder »Zeitmodi« sagen andere, s. Gernot Böhme: Über die Zeitmodi. Göttingen 1966. 89 Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (= Husserliana X). Den Haag 1966.

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Inhalt ist dieser ganz nahe, als Akt ist er ebenfalls ganz nahe, aber auf völlig andere Weise. In der sozialen Dimension des kommunikativen Textes bringt die psychoanalytische »Übertragung« beides illusionär zur Deckung; diese Illusion gilt deswegen als heilsam, weil ein bestimmter Inhalt für den Analysanden eben nicht als Nähe repräsentierbar ist, sondern im Unbewußten verborgen und unzugänglich und weil diese Verbergung bestimmte Probleme des Patienten erzeugt hat. Wie ist das möglich, und was leistet in theoretischer Hinsicht die Annahme eines Unbewußten? Zur Beantwortung dieser Frage kommen wir, wenn wir nun die Betrachtung der temporalen Dimension des kommunikativen Textes verlassen und die soziale Dimension in Augenschein nehmen, wobei zu beachten ist, daß die drei Dimensionen immer zugleich da sind (wie die drei Dimensionen des euklidischen Raumes, aber z.B. in der Frage, ob ein bestimmter Schrank in ein bestimmtes Zimmer paßt, teils die Höhe, teils die Breite, teils die Tiefe von besonderem Belang sein mögen), nur das analytische Interesse und die entsprechenden Perspektiven verschieden ausgerichtet sein können. Auch in der sozialen Dimension unterscheiden wir zunächst Nähe und Distanz, erstere wollen wir das Selbst, letzteres das Andere, oder die Andere oder den Anderen nennen (même et l’autre/autrui, the Self and the Other). Wie in der temporalen Dimension erscheint es nun auch in der sozialen Dimension zweckmäßig, zwei Richtungen zu unterscheiden, die als Innen und Außen benannt werden können. Einer der Grundirrtümer der abendländischen Psycho-Metaphysik besteht nun allerdings darin, das Selbst und die psychische Innenwelt zu identifizieren mit der Folge, daß für die Innenwelt die Psychologie, für die Außenwelt die Soziologie und für die nicht zu leugnenden Zusammenhänge beider dann eben die Sozialpsychologie zuständig zeichnen.90 Diese PsychoMetaphysik, die auf die Erfindung einer unsterblichen Seele in einem als Gefängnis dienenden Körper zurückzuführen ist, ist in der Tradition m.W. einzig von Novalis aufgebrochen worden, indem er den »Sitz der Seele« dort annahm, wo Innenwelt und Außenwelt sich berühren und in jedem Punkt dieser Berüh-

90 So zu reden, hieße natürlich, eine spezialisierte Sorte von Psychologie zu reklamieren; daß aber erst eine die Alternative unterwandernde Sozialphilosophie dafür zuständig sein könnte dazu s. G. Simmel in seinem »Exkurs über die Analogie der individualpsychologischen und der soziologischen Verhältnisse« in ders.: Soziologie, 850-855; was dort nur kurz angedeutet wurde, wird versucht auszuführen in Wolfgang Mack, Kurt Röttgers: Gesellschaftsleben und Seelenleben. Anknüpfungen an Gedanken von Georg Simmel. Göttingen 2007.

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rung,91 das entspricht unserem Begriff des Selbst zwischen innerem und äußerem Anderen. Es gibt nämlich jene sogenannten Spiegelphänomene, in denen ein Selbst im Außen seinem inneren Anderen begegnet, in der Literatur der Romantik auch als Doppelgängermotiv gestaltet. Aber im Spiegel findet ja gerade keine Selbstverdopplung statt, vielmehr sieht ein Selbst im Spiegel etwas anderes als das Vollzugs-Selbst;92 gesteigert gilt das für diejenigen »Spiegel«, die die Anderen für ein Selbst sind.93 Also sprechen wir von diesem Selbst als einer Funktionsposition im kommunikativen Text: es ist diejenige Position, die »ich« sagt. Und da das jeder Redende sagen kann – und nur der Redende, denn der Hörende hört ein »du« – ist das Selbst eine bloße, ontisch und substantiell eben nicht festgelegte Funktionsposition, ähnlich wie Gegenwart nicht ein bestimmtes Datum oder Ereignis wäre und bliebe. Wenn aber diese Annahme zweckmäßig sein sollte, dann ergäbe sich zwangsläufig die Notwendigkeit zweier Richtungen des Anderen, die des inneren und die des äußeren. Natürlich ist auch der Andere, sei es der innere, sei es der äußere, nicht substantiell festgelegt, so daß bestimmte Feminismen, die die Frau als das »Andere« festgelegt sehen möchten, zwar sozialkritisch verständlich, aber sozialontologisch viel zu kurz greifend sind.94 Das hieße, daß die Funktionsposition des redenden Selbst im kommunikativen Text immer von Männern besetzt wäre, was sicher nur in extremen Ausnahmefällen so ist: »taceat mulier in ecclesia« oder in der bekannten Welt vielleicht in Saudi-Arabien; dieser Illusion unterliegt auch noch Ruth Großmaß, wenn sie sagt, daß es etwas völlig verschiedenes sei, ob ein Psychotherapeut eine Klientin verführt oder ob

91 Novalis: Sämtliche Schriften II, hrsg. v. Richard Samuel. Darmstadt 1965, 419 ( = Ath.fr. 19). Allerdings sprach schon der Platon-Kritiker Aristoteles von einer über den lebenden Körper verteilten Seele, s. dazu bes. Hubertus Busche: Die Seele als System. Hamburg 2001. 92 Zum Spiegel-Motiv als Metapher der Reflexion des Selbst, bzw. der Thematisierung von Subjektivität s. Ralf Konersmann: Lebendige Spiegel. Frankfurt/M. 1991. 93 S. das »Spiegel-Stadium« in der Entwicklung des Selbst bei Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: ders.: Schriften I. Olten 1973, 71-168. 94 Diese Feminismen bewegen sich in einem Abhängigkeitskreis von Simone de Beauvoir: Das Andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek bei Hamburg 1991; zur kritischen Relativierung dieser Position s. Brigitte Rauschenbach: Gleichheit, Differenz, Freiheit? Bewusstseinswenden im Feminismus nach 1968, als: http://web.fuberlin.de/gpo/pdf/tagungen/rauschenbach_tagung_okt_2008.pdf

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eine Psychotherapeutin eine Klienten verführt, ersteres nennt sie einen sexuellen Übergriff, letzteres hat schonungsvoll keinen Namen;95 es hieße außerdem, daß das innere Andere jedes (solchermaßen immer männlichen) Selbst immer weiblich wäre, was eine ebenso absurde Annahme wäre; das ist nicht einmal genau die Annahme der Unterscheidung von animus und anima bei C. G. Jung.96 Der/die/das Andere ist eben nicht substantiell festgelegt, auch nicht als Geschlecht (gender). Wie bei der temporalen Dimension des kommunikativen Textes wollen wir auch in der sozialen Dimension einen nahen Anderen und einen fernen Anderen unterscheiden, und zwar in gleicher Weise durch ein unmittelbares Kontinuum der Nähe einerseits und einer bewußt und explizit hergestellten Kontinuität andererseits. In Anknüpfung an die von F. Tönnies eingeführte Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft,97 die von ihm ebenfalls funktional eingeführt wurde, nämlich durch zwei verschiedene Willensmodi (»Wesenswille« und »Kürwille« benannt) und nicht wie spätere Anknüpfungen an ihn als substantielle Festlegungen bis hin zur nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft«, wollen wir im Äußeren von einem gemeinschaftlichen Anderen des Kontinuums der Nähe und einem gesellschaftlichen Anderen sprechen, mit dem über Vereinbarungen, Verträge usw. explizit eine Kontinuität neuer Nähe, d.h. einer reflexiv gesicherten Verläßlichkeit und abgesicherten Vertrauens (im Unterschied zum »Urvertrauen« der Nähe) hergestellt wird. Nun stellt sich natürlich die Frage, wie wir diese Problematik für den inneren Anderen behandeln wollen. Wegen der erwähnten falschen, bzw. verzerrenden Psycho-Metaphysik eines Selbst im Inneren, das von dort nach außen wirkt und Eindrücke von dort empfängt, gibt es keine eingeführte Terminologie der Unterscheidung eines inneren Anderen in einem Kontinuum der Nähe und eines inneren Anderen einer konstruierten Kontinuität neuer Nähe. Ich habe daher einstweilen vorgeschlagen, für das Kontinuum der Nähe des inneren Anderen zum

95 Ruth Großmaß: Therapeutische Beziehungen: Distante Nähe, in: Handbuch persönliche Beziehungen, hrsg. v. Karl Lenz, Frank Nestmann. Weinheim, München 2009, 545-563. 96 Z.B. Carl Gustav Jung: Seele und Erde, in: ders.: Seelenprobleme der Gegenwart. 5. Aufl. Zürich 1950, 156-186; dazu Emma Jung: Animus und Anima. FellbachOeffingen 1990. 97 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. 3. Aufl. Darmstadt 1991.

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fungierenden Selbst den alten Begriff des »Gemüts« wieder aufzugreifen98 und für die explizite Kontinuität auf den Begriff des Selbstbewußtseins zurückzugreifen, was vielen philosophischen Ausformulierungen dieses letzteren Begriffs durchaus nahe kommt. Was aber ist mit dem Unbewußten? Das Unbewußte ist für ein Selbst nicht erreichbar, es ist weder ein Begleitumstand seines Fungierens wie das Gemüt, noch bildet es in expliziter Reflexion eine Kontinuität aus. Es liegt jenseits einer Grenze.99 Was genau dort liegt, wissen wir nicht, das Unbewußte ist in seiner Substanz zugleich das Ungewußte,100 aber auch das, auf das wir nicht handelnd einwirken können. Bezogen auf den kommunikativen Text ist das Unbewußte demnach dasjenige, worüber man nicht sprechen kann. Das Unbewußte ist das Ungesagte und das (jeweils) Unsagbare. Letzteres heißt aber auch, daß die Grenze des Unbewußten nicht fest liegt. Der Freudsche Satz, daß, wo Es war, Ich sein solle (wenn man für den Moment einmal Es = Unbewußtes setzt), ist vielleicht in jedem konkreten Fall richtig, indem er dann auf das Nichtfeststehende der Grenze verweist, als Totalanspruch aber würde er unsinnig, weil zwar jede bestimmte Grenze aufgehoben werden kann, der Begriff der Grenze als solcher jedoch nicht. Psychoanalyse ist eine Grenzverkehrsregelung dort, wo sich eine bestimmte Begrenzung als hinderlich erweist.

98

Zur ausführlichen Begründung s. K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie, 210-224.

99

Jacques Lacan: Schriften. Olten 1973ff., II, 162: »Da stehen wir nun also am Fuß der Mauer, am Fuß der Sprachmauer. Wir stehen hier auf unserem Platz, das heißt auf der selben Seite wie der Patient, und wir werden an dieser Mauer, die für ihn und uns die selbe ist, auf das Echo seines Sprechens zu antworten versuchen. Jenseits dieser Mauer gibt es für uns nur äußere Dunkelheit.« Kurz zuvor hatte es geheißen: »Zweifellos müssen wir unser Ohr dem Nichtgesagten öffnen, das in den Löchern des Diskurses ruht«, nicht ohne andererseits hinzuzufügen: »aber es ist nicht herauszuhören, wie Klopfzeichen hinter einer Mauer.« (152)

100 »Das Gebiet der Psychoanalyse nun erstreckt sich genau auf diesem Boden des Ungedachten der Phänomenologie.« Jacques Derrida: Fors, in: Nicolas Abraham, Maria Torok: Kryptonymie. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1979, 5-58, hier 35; höchst aufschlußreich für einen angemessenen Begriff des Unbewußten, nämlich weil er eine Korrespondenz zum Außen schon in den Begriff verlegt, ist Jean-Luc Nancys Aussage »L’inconscient, c’est le monde en tant que totalité de significabilité, ordonnée à rien d’autre qu’à sa propre ouverture.« J.-L. Nancy. Le Sens du monde, 78.

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Die Pflichthofersche Deutung der psychoanalytischen Praxis101 kommt nun der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes deswegen besonders nahe, weil für sie die Tatsache besonders wichtig ist, daß beide – Analytikerin und Analysand – im Prozeß der Analyse sich verändern. Natürlich bleibt die psychoanalytische Gesprächssituation ein künstliches und starres Arrangement und das ist auch gut so; denn kaum etwas ist nerviger als jene Zeitgenossen, die, mit rudimentären Kenntnissen des psychoanalytischen Jargons ausgestattet, das Verhalten ihrer Mitmenschen »entlarven«. Innerhalb des vereinbarten festen Rahmens einer Therapie jedoch kommt die Insistenz auf der Veränderbarkeit beider Rollen und der gemeinsamen, performativen Herstellung einer Szene der grundsätzlichen Nichtfestgelegtheit der Positionen von Selbst und Anderem im kommunikativen Text sehr nahe, bzw. diese bilden für jene einen geeigneten theoretischen Hintergrund. All das, was für das Unbewußte und den Zugang zu ihm angeführt wurde, gilt nun mutatis mutandis auch für das Jenseits der Grenze des äußeren Anderen. Diesen nennen wir dann die Fremde/den Fremden. Auf diese Weise wird der Begriff des Fremden ebenso scharf von dem des Anderen geschieden wie die der Begriff des inneren Anderen von dem des Unbewußten, von dem ja sogar einige meinten, es gäbe ein »kollektives Unbewußtes«, aber vermutlich nur, weil es nicht als Gewußtes individualisiert werden kann. Das gleiche gilt nun aber auch für die Fremden, auch sie bilden kein Kollektiv, sondern wir wissen per definitionem schlicht nichts über sie (anders gesagt, Fremde sind die, über die wir nichts wissen). Daher ist die Erscheinung des Fremden in hohem Maße ambivalent, mindestens als bedrohlicher Feind102 oder als befreiender Verführer103 kann er auftreten, ganz so wie auch das Unbewußte sich als bedrohliche Blockade oder als befreiender Witz oder Traum (nach Freud) melden kann. Wenn wir nun auf das Thema der Nähe (und Distanz) zurückkommen, so scheint es auf den ersten flüchtigen Blick so, als wäre das Jenseits der Grenze

101 D. Pflichthofer: Spielräume des Erlebens. 102 Das ist bekanntlich die These von Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Berlin 1963, 27; ders.: Ex Captivitate Salus. Köln 1950, 89f.: »Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt«; cf. Uwe Justus Wenzel: Die Dissoziation und ihr Grund, in: Die Autonomie des Politischen, hrsg. v. Hans-Georg Flickinger. Weinheim 1990, 13-36; K. Röttgers. Flexionen des Politischen, 46ff. 103 S. K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie, 407-470, bes. 442ff., Bernhard Waldenfels: Der verführerische Andere, in: Die unbewusste Botschaft der Verführung, hrsg. v. Lothar Bayer, Ilka Quindeau. Gießen 2004, 205-224.

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ganz fern.104 Das aber hieße endlich doch wieder, daß die Fremde eine Steigerung der Andersheit wäre, noch ein bißchen mehr anders als alle anderen Anderen wäre ein solcher Fremder, und daß das Unbewußte nichts anderes als eine solche Steigerung der Reflexion, daß sie an Transzendentes heranreichte. Ein solches Verständnis würde der Sache nicht gerecht und unterschritte den fälligen theoretischen Differenzierungsbedarf. Es muß einfach berücksichtigt werden, daß unsere Lebenspartnerin intimster Nähe uns urplötzlich abgründig fremd erscheinen kann und daß unser Gemüt uns jäh unergründlich vorkommen kann,105 wenn unsere eigenen Gefühle uns plötzlich befremden und wie vor einem Abgrund stutzen lassen.106 Das könnte darauf verweisen, daß die Grenze nicht in der Ferne liegt, d.h. daß die Begriffe von Nähe und Distanz nicht mit dem Grenzbegriff korrelieren, sondern daß die Grenze einen Abgrund markiert, der sich sozusagen überall im Labyrinth auftun kann. Auch die Dimension des Diskursiven teilt sich in zwei Richtungen, die des Normativen und die des Epistemischen, in der einen finden sich die Sätze des Sollens in der anderen die des Seins. In beiden Fällen aber geht es um Regularitäten; denn im Anschluß an den Diskurs-Begriff von Benveniste soll unter Diskurs diejenige Zwischenebene verstanden werden, die im Hinblick auf den (kommunikativen) Text normierend wirkt, die aber ihrerseits im Hinblick auf Logik und Ethik performativ ist. Die Regularitäten des Diskursiven sind also relative Regularitäten. Wenden wir uns zunächst dem Epistemischen, d.h. der Sphäre symbolischen Sinns zu, so können wir hier ebenfalls nach Nähe und Distanz differenzieren. Auch im Bereich symbolischen Sinns gibt es die Nähe eines ungebrochenen

104 Maurice Blanchot: L’entretien infini: »[…] se tenir dans le langage, c’est toujours déjà être au dehors […]«; zu dieser Figur des »dehors« s. Michel Foucault: La pensée du dehors, in: ders.: Dits et écrits I, hrsg. v. Daniel Defert, François Ewald. Paris 1994, 518-539. 105 Zur Unergründlichkeit, speziell bei Plessner s. Volker Schürmann: Unergründlichkeit und Kritik-Begriff. Plessners Politische Anthropologie als Absage an die Schulphilosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1997) 345-361. 106 Zum Übergang über Abgründe s. I. Kant: Nachlaß, in: ders. Gesammelte Schriften XX, 272f.; dazu Eckart Förster: Die Idee des Übergangs, hrsg. v. Forum für Philosophie. Bad Homburg 1991, 28-48, und andererseits Søren Kierkegaard: Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, hrsg. v. Hermann Diem, Walter Rest. München 1976, 227ff. dort über Lessing und sein Zögern vor dem Sprung über den Abgrund.

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Sinns von symbolischen Geltungen. Wir wollen diese Nähe die Gewißheit nennen. Damit spielen wir einerseits an auf Hegels Begriff der »sinnlichen Gewißheit«,107 verzichten aber bewußt auf die Fundierung dieser Gewißheit in der Sinneswahrnehmung. Denn für diesen Typ von Gewißheit spielt seine Herkunft keine Rolle. Das kann sowohl die Sinnlichkeit eines unmittelbar Gegebenen sein, allerdings in der Form phänomenologischer Gegebenheit (d.h. als Phänomen, nicht als Ding an sich selbst), das kann aber auch eine mathematische oder logische Evidenz sein, die der Sinnlichkeit nicht bedarf. Nicht vergessen werden darf dabei, daß dieser symbolische Sinn nicht bezogen ist auf ein sogenanntes erkennendes Subjekt, sondern auf den Diskurs. Es ist die Referenz des Diskurses, die das Phänomen ausmacht. Dieses »erscheint« nicht einem Bewußtsein (Bewußtsein gehört vielmehr in die soziale Dimension des kommunikativen Textes), sondern es wird zum Erscheinen gebracht als Bezug eines Diskurses.108 Statt also von der »sinnlichen Gewißheit“ sprechen wir von der »symbolischen Gewißheit«.109 Symbolisch heißt diese Gewißheit auch deswegen, weil das Symbolon die Hälfte ist, die auf die andere Hälfte verweist.110 Im Symbolischen tritt uns die

107 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Frankfurt/M. 1970, III, 82-92: »Die sinnliche Gewißheit oder das Diese und das Meinen« (Phänomenologie A. 1.) 108 Die sogenannte »Sprachbedingtheit des Denkens« ist heute nach dem Linguistic Turn eine Trivialität, konnte sich aber gegen cartesianischen Rationalismus und kantianischen Transzendentalismus über Herder, Christian Jakob Kraus, Wilhelm v. Humboldt, Sapir, Whorf und Weisgerber erst allmählich durchsetzen. S. dazu Helmut Gipper: Das Sprachapriori. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987; cf. Émile Benveniste: Catégories de pensée et catégories de langue, in: ders.: Problème de linguistique générale. Paris 1966, 70: »C’est ce qu’on peut dire, qui délimite et organise ce qu’on peut penser.« 109 Das konvergiert durchaus mit dem Symbolbegriff, den Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen verwendet. Er spricht dort von den Bildwelten, »deren Prinzip und Ursprung in einer autonomen Schöpfung des Geistes selbst zu suchen ist. Durch sie allein erblicken wir und in ihnen besitzen wir das, was wir die ›Wirklichkeit‹ nennen: denn die höchste objektive Wahrheit, die sich dem Geist erschließt, ist zuletzt die Form seines eigenen Tuns. […] in alledem besitzt nunmehr der Geist die Anschauung seiner selbst und die der Wirklichkeit.« (Philosophie der symbolischen Formen. 7. Aufl. Darmstadt 1977, I, 48) 110 Cf. auch den Gebrauch, den Michel Serres von dem Gegensatz sym-bolon / diabolon macht. M. Serres: Der Parasit, 379 ff., bes. 384: »Wenn er [der Dritte] einschließt, ist er symbolhaft, wenn er ausschließt, ist er diabolisch.«

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Unmittelbarkeit, wie gesagt, in Form der symbolischen Gewißheit entgegen, was als eine »richtige« Fortsetzung des Textes gelten darf, d.h. auf eine Frage beispielsweise als eine passende Antwort gelten kann, oder natürlich auch, was zu einer »Antwort« die passende Frage sein möchte, was als Zustimmung, was als Ablehnung gelten darf, was man zu tun hat, wenn etwas bezweifelt wird usw. Wittgenstein hatte diesen Zusammenhang die Sprachspiele genannt.111 Sprachspiele bewegen sich in der Ebene der symbolischen Gewißheit. Wittgenstein hatte allerdings immer auch den Fall mitbedacht, der ein bestimmtes Sprachspiel verletzt oder verläßt um zu verdeutlichen, was die Grenzen eines Sprachspiels sind. Normalerweise verstehen sich die Regeln innerhalb einer Lebensform von selbst. Das bewirkt aber auch, daß die Negation hier anders wirkt als im »Normativen«. Ist dort, wie wir sehen werden, die Übertretung unmittelbar zum Sinn des Normativen mitgehörig, sowohl im Verbot als auch im Gebot, so endet mit den Grenzen der Sprachspiele und der symbolischen Gewißheit die Welt des Sagbaren. Was sich nicht im Medium der symbolischen Form (Cassirer) sagen läßt, das läßt sich überhaupt nicht sagen. Gewiß, manches ragt, Spuren hinterlassend, in den Text hinein. Der Text geht nicht ungerührt weiter, wenn sinnlose Gewalt ihm begegnet. Aber im Kontinuum der symbolischen Gewißheit gibt es eben keinen Ort für Gewalt, vielmehr ernötigt die Gewalt eine Distanzierung und eine über das Erzählen von Gewalt reflexiv erzeugte Kontinuität. Das Problem ist allemal ein Textanschluß- und Textfortsetzungsproblem. An bestimmten Textstellen muß der Text plural sein, um seine Anschlüsse sichern zu können, es müssen ja nicht immer gleich »mille plateaus« (Deleuze/Guattari) sein. Solche Mehrebenenpluralität der Textanschlüsse ermöglicht jegliche Abweichung von jener einfachen Textanweisung, daß unsere Rede »Ja, ja, nein, nein« sein solle und alles andere wäre von Übel, d.h. alles andere wäre Kultur: lügenhaftes, metaphorisches, lyrisches Sprechen usw. Die Pflege der Umwege im Text, die die Kultur ausmacht, ermöglicht immer auch eine solche Textfunk-

111 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M. 1967, 24 (Nr. 23), passim; ders.: Über Gewißheit. Frankfurt/M. 1970, 56. »Mit dem Wort ›gewiß‹ drücken wir die völlige Überzeugung, die Abwesenheit jedes Zweifels aus, und wir suchen damit den Andern zu überzeugen.« (Nr. 194) Gewißheit hat ihren Sinn allerdings nicht als das Überzeugtsein von einzelnen Sätzen, sondern nur im Kontext von Erfahrungen: »Wir sind dessen ganz sicher, heißt nicht nur, daß jeder Einzelne dessen gewiß ist, sondern, daß wir zu einer Gemeinschaft gehören, die durch die Wissenschaft und Erziehung verbunden ist.« (79, Nr. 298)

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tionen, die man Lüge oder Maskierungen nennen mag: Sie sind die Verschleierung der einfachen und in ihrer Nacktheit brutalen Wahrheit. (Deleuze sagt sogar, daß die Nacktheit erst mit ihrer Verkleidung ihre Wahrheit findet.) Statt einfach zu sagen, wie es ist, sagt der Text etwas anderes stattdessen, er ergreift andere Textfortsetzungsmöglichkeiten als jenes »Ja, ja, nein, nein«. Die Wahrheit ist einfach. Die Verbergung im Geheimnis des Textes ist Vervielfältigung. Daher erfordert das Lügen so viel Intelligenz, so viel Phantasie und so viel Mut. In einer Welt, die wir nur perspektivisch wahrnehmen können, ist die Abweichung von der Wahrheit nicht nur unvermeidlich, sondern geradezu förderlich. Solche Abweichung kann ein Irrtum sein, sie kann das Festhalten an einem Irrtum trotz besserer Einsicht sein, sie kann auf Erziehung beruhen, die über die jeweilige Realität des Kindes hinausgreift auf seine zukünftigen Möglichkeiten und Aufgaben, sie kann Bildung sein, die die »schnelle Mark“ hinausschiebt oder gar verschmäht, sie kann der Glaube an ein Jenseits (d.h. an eine Seele mit der Hauptaufgabe der Unsterblichkeit und an ein Anderswo) sein, sie kann eine schonungsvolle Lüge sein, sie kann die dreiste, provokante oder phantastische Verstellung sein, sie kann auch das Begehren eines anderen sein, das sich in Utopien und Atopien ausspricht. Sie kann aber auch das Mißverstehen sein, das so heilsam und schonungsvoll sein kann; der sterbende Hegel soll gesagt haben, es habe ihn nur einer verstanden und der habe ihn mißverstanden. Daß es nur einer gewesen sein soll, ist eine traurige Bilanz, aber daß er ihn mißverstanden hat, zeigt tröstlich, daß er übersetzend einen Anschluß finden konnte. Es gibt, wie oben gesagt, ein Kontinuum symbolischen Sinns, das sich z.B. in Sprachspielen ausgestaltet. Aber hier fehlt – auch das bei Wittgenstein entwickelt – ein vollständig konsistentes System;112 die Sprachspiele bilden untereinander partielle Konsistenzen aus. Das ist der rationale Kern der »sympathy for the devil«: der Teufel hat vielerlei Gestalt, während der monotheistische Gott von der verzweifelten Bemühung beseelt ist, Einer zu sein – verzweifelt deswegen, weil schon die Selbstbeziehung die Einheit sprengt, jedenfalls in unseren logischen und epistemischen Welten. Die Vielheit dagegen reicht in der Lebenswelt, d.h. im Kontinuum symbolischen Sinn, aus, ja macht den eigentlichen Reichtum der Lebenswelt aus.113 Erst wenn die Unmittelbarkeit der Lebenswelt

112 Zum Fehlen eines konsistenten Systems beim späten Wittgenstein s. Kristóf Nyíri: Zeit und Bild. Bielefeld 2012, 73-97. 113 Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 5. Aufl. Frankfurt/M. 1980; außerdem Niklas Luhmann: Die Lebenswelt – nach Rücksprache mit Phänomenologen, in: Archiv für Rechts- und Sozial-

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verlassen wird, werden die Inkonsistenzen sichtbar und möglicherweise zum Problem. Die Folge ist: man wird dem Sinn eines einzelnen Sprachspiels nicht gerecht, wenn man seine speziellen Gültigkeitsbedingungen separat überprüfen möchte. Macht es Sinn, das Sprachspiel »Gebet« auszuführen? – ich wüßte nicht, wie man das beurteilen sollte. Die Inkonsistenz dagegen, ein höheres Wesen im Gebet um Regen zu bitten und sich zugleich auf die Wettervorhersage der Medien zu verlassen, diese Inkonsistenz kann kritisch überprüft werden, sie könnte dann aber auch als irrelevant gesetzt oder beseitigt werden, wobei die Beseitigung durchaus davon Gebrauch machen könnte, daß Meteorologen oft irren, d.h. ihnen durchaus nicht alle Einflußfaktoren bekannt sind. Alle Apologeten sogenannter übersinnlicher Erscheinungen machen von einem ähnlichen Argument Gebrauch, nämlich »das kann doch kein Zufall sein«, wenn wissenschaftliche Erklärungen einstweilen zu versagen scheinen. Das heißt nichts anderes als: nicht als Einzelzüge im kommunikativen Text machen Sprachspiele Sinn, sondern nur im Kontinuum symbolischen Sinns. Anders aber als dieses Kontinuum geltenden Sinns ist seine Negation stets partikular, sei es als radikaler Bruch des Textes in Mystik und Gewalt, sei es als Lügen, als Skepsis u. ä. Es gibt keine vollständig konsistente Lügen-Welt als Korrelat aller einzelnen Lügen. Und daß die Skepsis als systematischer Zusammenhang gedacht, d.h. als Skeptizismus, in sich widersprüchlich ist, ist von Gegnern der Skepsis oft genug und gerne nachgewiesen worden.114 Konnte Gott von sich behaupten, er sei der, der er ist, so müßte der Teufel antworten, er selbst sei nie der, der er zu sein schien.115 Die Wahrheit des in Sprachspielen manifesten symbolischen Sinns – das muß auch hier gegen jeglichen Fundamentalismus festgehalten werden – ist nicht die ursprüngliche, tiefe und grundlegende Wahrheit, zu der irgendjemand

philosophie 72 (1986), 176-194; ferner: M. Sommer: Suchen und Finden, 7 ff.; zu den Vorzügen des Pluralismus s. bereits William James: Essays in Religion and Morality, in: ders.: Works XI. Cambridge/Mass., London 1982, 3-63; und natürlich Odo Marquard: Lob des Polytheismus; ferner Amelie Oksenberg Rorty: Varieties of Pluralism in a Polyphonic Society, in: Review if Metaphysics 44 (1990), 3-20. 114 Daher Volker Schürmanns Insistieren auf einer pyrrhonischen Skepsis im Unterschied zu einem Sketizismus, Volker Schürmann: Heitere Gelassenheit. Magdeburg 2002. 115 K. Röttgers: Teufel und Engel.

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zurückfinden müßte. Gewisse Heideggerianismen haben das geglaubt.116 Die einfache Wahrheit symbolischer Gewißheit ist eine einfache nur zusammen und im Verhältnis zur reflektierten und in der Reflexion in Distanz gehaltene Wahrheit einer rekonstruierten Kontinuität des Wissens, d.h. alles jenes nichtselbstverständlichen und kontraintuitiven Wissens, für das uns das wissenschaftliche Wissen den Typ abgeben kann. Daß die Sonne »aufgeht«, ist wahr genau unter der Bedingung, daß wir außerdem wissen, daß sich die Erde um die Achse der Pole dreht. Die Rechtfertigung unmittelbarer symbolischer Gewißheit einer aufgehenden Sonne ist bezogen auf die sichtbare Bahn dieses Himmelskörpers, die dann abends zum Sonnenuntergang führt. Diese Wahrheit bleibt Wahrheit nur in Relation zu jener wissenschaftlichen Wahrheit, aber sie bleibt es auch tatsächlich, und wird nicht durch die kontraintuitive wissenschaftliche Redeweise vollständig überholt. Wir machten uns geradezu lächerlich, wollten wir auf den Satz »schau nur, der herrliche Sonnenaufgang« antworten: »du meinst, wie herrlich sich die Erde dreht«. Tatsächlich ist mit jedem Text unmittelbarer symbolischer Gewißheit die Möglichkeit dieser reflexiven Digression mitgegeben. Und bereits Kinder geben sich in einem gewissen Alter nicht mehr mit den Schemata »Sonnenaufgang – sichtbare Bahn – Sonnenuntergang« zufrieden, sondern wollen wissen, wo sie zwischendurch ist und vielleicht sogar, warum sie nicht genau an der Stelle aufsteht, wo sie abends zuvor untergegangen war, wo sie selbst doch jeden Morgen genau aus dem Bett aufstehen, in das sie sich abends begeben hatten. Das aber heißt nichts anderes, als daß die unmittelbare symbolische Gewißheit stets begleitet – aber keineswegs bedroht – ist von dem reflektierten, vermittelten symbolischen Wissen. Symbolischer Sinn ist beides zusammen. Nur die Gegebenheitsweisen lassen beide unterschieden sein. Es hat Systeme symbolischen Sinns gegeben, denen diese Doppelheit noch nicht zur Verfügung stand. Sie meinten, ihre diskursive Sinnorganisation sei als Ganzes bedroht, wenn der Zweifel oder die Lüge etwas anderes nahelegten, als selbstverständlich war. Da aber beide nicht auszuschalten sind, mußte man den Ausstieg aus der Welt symbolischer Gewißheit selbst institutionalisieren, entweder sozial oder temporal. Der soziale Ausstieg heißt Professionalisierung bestimmter Sinn-Praktiken. Dann hatte man Priester, Seher, Wissenschaftler, die einem sagen konnten, was sie wollten, und die so ein System kontraintuitiver Texte etablieren konnten. Es waren die Zweifel- und Lügenexperten. Dieses System von Aussagen, durch Professionalisierung von den symbolischen Gewißhei-

116 Th. W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit, in: ders.: Gesammelte Schriften VI, 413523.

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ten der Lebenswelt abgetrennt, brauchte man nicht zu glauben,117 oft war es auch ein Geheimwissen, wenn man nur den Experten für kontraintuitiven Sinn die Achtung nicht entzog; die Zweifel an der Wirklichkeit und die Erfindung unsichtbarer Wesenheiten wären irritierend in die Lebenswelt eingekehrt, hätte man sie nicht sozial wirksam exiliert. Die temporale Sistierung von Sinn bedeutete, daß man Gelegenheiten (Situationen) schuf, fest umrissen, an denen jedermann aus den Selbstverständlichkeiten der symbolischen Gewißheit aussteigen durfte. Das waren die Weihen, die geheiligten Feste, und das war das Fabulieren. Man sieht auch an diesen Beispielen, wie der soziale und der temporale Ausstieg in vormodernen Gesellschaften zumeist miteinander verschränkt sind. In der Moderne bleibt es bei der Professionalisierung kontraintuitiver Sinnleistungen, die temporale Beschränkung aber hat die Moderne in der Verwissenschaftlichung ebenso aufgegeben wie etwa in pietistischer Lebensführung und in der Ausbildung einer literarischen Kultur. Wenn aber, wie in der Postmoderne, der Fake zum Normalfall wird, d.h. die simulierte Realität mit der Lebenswelt innigst verwoben ist, dann wird damit auch die Professionalisierung obsolet.118 Damit hängt dann zusammen, daß archaische Gesellschaften Wissen und Ungewußtes, vermittelt durch den Begriff des Geheimwissens, sehr viel enger verstanden als die Moderne. Diese führt allerdings jedes Ungewußte auf ein NochUngewußtes zurück, so daß am Ende alles gewußt – aber nichts mehr gewiß ist. Waren einst Wissen und Ungewußtes gleichermaßen fremd, so wird unter dem fortschrittsprozessualen Postulat der Identifizierung von Wissen und Ungewußtem im Begriff der Erkenntnis die Gewißheit zu etwas Fremdem. Gehen wir nun zum Normativen über, so unterscheiden wir auch hier eine Normativität der Nähe von einer der Distanz. Ersteres nennen wir Ethos oder das Kontinuum gelebter Moral, letzteres die Pflicht als dasjenige reflektierte Normative, das eine fraglich gewordene Moral als Kontinuität des Normativen wiederherstellt. Die normative Selbstverständlichkeit des Ethos ist, wenn sie in der so-

117 Michael McCloskey, Robert Kargon: The Meaning and Use of Historical Models in the Study of Intuitive Physics, in: Ontogeny, Phylogeny, and Historical Development, hrsg. v. Sidney Strauss. Norwood/N.J. 1988, 49-67. 118 Daher haftet den Plagiatsvorwürfen etwas Anachronistisches an; jedermann bastelt sich seine Wissenswelten als Patchwork aus den diversen Wissensangeboten zusammen – nur veröffentlichen darf er das so nicht, das gilt als »Diebstahl geistigen Eigentums«; zur Problematik dieses Begriffs s.: Die Debatte um geistiges Eigentum. Interdisziplinäre Erkundungen, hrsg. v. Thomas R. Eimer, Kurt Röttgers, Barbara Völzmann-Stickelbrock. Bielefeld 2010.

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zialen Dimension ebenfalls in dem Kontinuum der Nähe im Äußeren auftritt, d.h. im Hinblick auf den gemeinschaftlichen Anderen, nichts anderes als tatsächlich »gelebte«, d.h. wirkliche Moral. Diese Moral als Inbegriff der guten Sitten einer Gemeinschaft oder einer Gesellschaft ist noch etwas ganz anderes als die von einer ethischen Reflexion auf ihre Moralität hin geprüfte Moral. Das heißt diese Moral enthält durchaus Bestimmungen, die einer ethischen Überprüfung – unter welchen Kriterien auch immer – nicht standhalten würden, die aber gleichwohl gelten. Es ist das, was Ethnologie oder Soziologie als empirischen Gegenstand ihrer Untersuchungen von Moral ausmachen und beschreiben. Auch die Sozialphilosophie wird sich zunächst einmal in sich selbst nicht-normativ diesem Phänomen zuzuwenden haben. D.h. sie wird angesichts der Pluralität von moralischen Regeln und Vorstellungen nicht zuerst zu fragen haben, welche davon »zu Recht« bestehen, sondern welchen Sinn innerhalb eines Diskurses bestimmte Regelungen haben. Aber auch hier ist die Distanzierung immer schon in die lebensweltlichen Orientierungen eingebaut. Wer immer bei der Einübung durch »Das-tut-man nicht!«-Anweisungen mit der Frage des Zöglings konfrontiert wurde »warum nicht?«, weiß, daß nicht erst die philosophisch-ethische Reflexion das Kontinuum unbefragter normativer Geltungen aufbricht.119

119 Zur Abbildung von Nähe der temporalen und der diskursiv-normativen Dimension s.u. 5.10 und 5.11.

4 Die zwei Richtungen der Differenz des Diskurses

Wenn es um Distanz von der Unmittelbarkeit des Prozesses geht, so war uns diese zunächst in der temporalen Dimension als die Nichtgegenwart von Vergangenheit einerseits von Zukunft andererseits erschienen, in der sozialen Dimension hingegen als die Andersheit im Inneren einerseits im Äußeren andererseits. Wir werden jetzt in der Dimension des Diskursiven nach den Analoga der Distanz von Unmittelbarkeit zu fragen haben. Der Diskurs hat die Distanz in sich selbst als die Differenz dessen, was in ihm geschieht, und dessen, was damit gemeint ist. Dieses Andere des Diskurses nennen wir üblicherweise Sinn. Der Sinn des kommunikativen Textes ist dasjenige, worauf der Diskurs bezogen ist. Diese Bezogenheit ist grundsätzlich von zweierlei Art, je nachdem ob diese Sinnreferenz auf Sein oder auf Sollen bezogen ist. Diese beiden Referenzen haben (noch) nichts mit der sogenannten objektiven Welt zu tun, so als könnte nur das als gesollt auftreten, was nicht schon ist, und als könne nur das als seiend auftreten, was nicht einem Sollen unterliegt. Wir haben uns zwar in der Philosophie daran gewöhnt, den naturalistischen Fehlschluß zu scheuen wie der Teufel das Weihwasser, aber die Meta-Teufel sind frei von solchen Phobien. Sie nehmen zur Kenntnis, daß wir uns in ganz vielen Fällen anders einstellen, insbesondere wenn das Seiende als ein ehemals Gewolltes (als Geschöpf des Schöpfers, als Eigentum des Aneigners etc.) dargestellt werden kann. Wenn etwas mein Eigentum ist, dann soll es mir nicht genommen werden. Oder wenn (in vielen Kulturen) die Frau dem Manne untertan ist, dann soll es (in diesen Kulturen) auch so sein. Abstrakt kann man selbstverständlich immer auch das Gegenteil denken, aber diese Abstraktion gehört zur Geltung von Normen, als ihre Geltungsbedingung von Norm hinzu, nämlich, daß sie auch übertreten werden kann. Aber auch dann kann aus einem Sein ein Sollen abgeleitet werden, wenn es eine Seinszufriedenheit oder Seinsergebenheit gibt, angesichts derer jeder Eingriff als Störung gewertet wird und damit seine Verhinderung als gesollt erscheint. Diese Hinweise

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sollten an dieser Stelle nur begründen, warum Sein und Sollen nicht gemessen werden an den vermeintlich objektiven Zuständen der Welt. Vielmehr müssen wir uns Sein und Sollen als entgegengesetzte Aspekte des Sinns des Diskurses denken. Der Sinn des Diskurses ist damit ursprünglich auseinandergelegt als Normatives und als Symbolisches. Wir können diese doppelte Sinnfunktion des Diskurses (in losem Anschluß an Niklas Luhmann) auch verdeutlichen an einem kleinen Beispiel: »X wird mir sicher aus dem Urlaub eine Ansichtskarte schreiben.« Ich bekomme die Karte, und die Erwartung ist erfüllt. Schreibt er dagegen nicht, kann ich die Enttäuschung normativ bewältigen, dann sage ich: »X hätte mir doch aus dem Urlaub eine Karte schreiben können (= sollen).« Ich könnte aber auch kognitiv reagieren und nun wissen, daß ich z.B. unsere Beziehung von meiner Seite aus überbewertet hatte. Etwas anders sieht es freilich für den aus, von dem etwas erwartet wird und der das weiß. (Ich übergehe den einfachsten Fall, daß er nämlich einfach schreibt, ohne jede Berücksichtigung von Erwartungen anderer.) D.h. er sieht sich – zu recht oder zu unrecht – einem normativen Erwarten ausgesetzt. Er seinerseits kann nicht erwarten, daß der Andere die Erwartungsenttäuschung auf jeden Fall kognitiv abwickeln wird. Er steht also vor der Entscheidung, die Erwartung zu enttäuschen oder nicht. Beugt er sich der Erwartung, dann hat er von sich aus die Normativität auf sich genommen und den anderen davon entlastet. Beugt er sich diesem nicht, ist er in der gleichen Lage wie der Andere zuvor; denn er erwartet nun, entweder daß der Andere seine Enttäuschung normativ abwickelt, tut er das, dann ist alles einfach; enttäuscht der Andere jedoch diese Erwartung, daß er seine Enttäuschung normativ abwickeln werde, so kann der Zweite seine Enttäuschung hinsichtlich der Enttäuschungsabwicklung des Ersten entweder normativ oder kognitiv abwickeln. Dann ist er also entweder der Meinung, der Andere hätte sehr wohl höhere Erwartungen an ihn haben können, auch wenn oder gerade weil er selbst diese enttäuschen würde, oder er weiß nun, daß der andere nun gelernt hat, daß er keine Karten an ihn schreibt. Oder aber der Zweite erwartete, daß der Erste seine Enttäuschung kognitiv abwickelt. Tut er das, dann ist wieder alles einfach: A erwartet eine Karte, bekommt keine, und nun weiß er Bescheid – genauso hatte B das erwartet. Komplizierter wird es erst wieder im Fall der Erwartungsenttäuschung der Erwartung von B. Der Zweite kann seine Enttäuschung darüber, daß der Erste seine Enttäuschung nicht kognitiv, sondern normativ bewältigt, seinerseits kognitiv oder normativ bearbeiten. Im ersten Falle weiß er nun, daß der Andere auf das Nichtschreiben einer Karte »empfindlich« reagiert hat, was er aus diesem Wissen macht, ist dann noch eine weitere Frage. Oder aber er reagiert seinerseits normativ auf die nichterwartete normative Enttäuschungsabwicklung des Ande-

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ren. Hier sehen wir dann die Dinge munter eskalieren. Mißverständnisse und größere Konflikte scheinen kaum noch zu vermeiden, und das – paradoxerweise – obwohl Normen ja eigentlich den Sinn haben, Anschlußhandlungen zu stabilisieren und nicht zu destabilisieren. Aber jede Norm führt ihre Übertretung mit sich in Begleitung, so daß bekanntlich diejenigen Konflikte am heftigsten und zuweilen am blutigsten sind, in denen auf beiden Seiten moralisch gute Gründe eine Rolle spielen. Damit Sinn gleichwohl die Funktion der Anschlußsicherung erfüllen kann, kommt alles darauf an, solche Paradoxien normativen Erwartens zum Verschwinden zu bringen (unsichtbar zu machen).

4.1 E THOS

UND

G EWISSHEIT

Der Sinn, in seinen zwei Ausrichtungen des symbolisch Gemeinten und des normativ Gesollten, erscheint in Unmittelbarkeit oder in durch Reflexion gewonnener Vermitteltheit. Die Unmittelbarkeit des Sinns macht das Kontinuum dessen aus, als was der kommunikative Text sich entfaltet im Temporalen als »ausgedehnte Gegenwart« mit ihren Retentionen und Protentionen, im Sozialen als selbstgewisses Gemüt und heimatliche Gemeinschaft. Und es ist nun die Frage, als was uns dieses unmittelbare Kontinuum des Prozesses in der Reflexion des Diskurses zu seinem Sinn erscheint. Im Normativen tritt es uns als die unreflektierte Gewißheit dessen entgegen, was der »richtige« Anschluß an den Text ist, als das, was fraglos zu tun ist. Nur in der im Kindesalter vorgenommenen Einübung ist dieses Normative von der Ermahnung begleitet »das tut man nicht!« Die unbefragte Geltung beruht dagegen genau darauf, daß man das später nicht mehr zu sagen braucht. Es ist das Eigentümliche des Normativen, selbst in dieser Nah-Dimension des Kontinuums der Geltung, daß es in seiner Sinnhaftigkeit stets ebenso unmittelbar begleitet ist von der Übertretung. Im Verbot, d.h. der expliziten Negation einer anderen Möglichkeit ist das unmittelbar evident. Nicht zu lügen, ist die Haltung, es nicht zu tun im Bewußtsein, daß man es sehr wohl könnte, und zwar nicht – darum geht es auf dieser Ebene der Unmittelbarkeit noch gar nicht – in Verfolgung irgendeiner schlechten oder bösen Absicht, sondern allein, weil die Phantasie uns eine andere Realität1 bereithält: Lügen ist

1

Jean Franklin: Le discours du pouvoir. Paris 1975, 143: Lüge als Wille zur Mystifikation.

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ein Zeichen von Intelligenz.2 Aber nicht nur im Verbot, sondern auch im Gebot ist die Übertretung als die andere Möglichkeit stets präsent, selbst in der Unmittelbarkeit. Das Ethos ehelicher Treue ist nur deswegen eine Sinnstruktur, weil die sexuelle Ausschweifung ebenso naheliegend ist. Und hier wird auch das Spezifische dieses Sinn-Kontinuums des Ethos sichtbar, das der Übertretung grundsätzlich fehlt. Das Ethos insgesamt bildet ein mehr oder weniger konsistentes Gefüge. Inkonsistenzen sind erst auf der Grundlage des Aufgebens der Unmittelbarkeit sichtbar, d.h. aber auch, die Einzelmomente unmittelbar geltenden normativen Sinns werden »mißverstanden«, wenn sie als Einzelbestimmungen einer kritischen Überprüfung unterzogen werden: als Einzelbestimmungen – Verbote oder Gebote – waren sie niemals in Geltung, sondern im Kontinuum normativen Sinn, d.h. des Ethos. Im Unterschied zum Ethos ist die Übertretung stets spezifisch. Diese Asymmetrie hat zur Folge, daß beispielsweise in vormodernen Gesellschaften die einzelne Übertretung stets als Angriff auf die Geltung des Ethos als eines solchen gewertet und entsprechend der Wertung geahndet wird. So erklären sich die drakonischen Strafen für Bagatelldelikte, die aus heutiger Sicht als Unverhältnismäßigkeit erscheinen. Die mitpräsente Möglichkeit der Überschreitung des Ethos verweist darauf, daß die Unmittelbarkeit der Geltung keineswegs das »Ursprüngliche«, das »Grundlegende« ist oder gar dasjenige, auf das alles andere (z.B. explizite Sollens-Forderungen einer Ethik) legitimierend zurückgeführt werden könnten oder gar noch weniger (kulturkritisch geredet), zu dem wir zurückfinden müßten. Im Gegenteil ist diese Nähe stets zusammen mit der Distanz als (rekonstruierter) Kontinuität nach einer Verletzung, die sanktioniert wird, daß »man« Pferdefleisch nicht ißt, wird durch jede Übertretung dieser Sitte in einen Horizont der

2

Da auf diese Weise die Fähigkeit zu lügen keine Grundsatzfrage bleibt, sondern analog wie Intelligenz skalierbar, können wir die Fähigkeit zu lügen in gewissem Umfang auch Tieren zusprechen. Wenn der Hahn einen fetten Wurm gefunden hat und seine Hennen mit einem Lockruf anlockt, damit sie den Wurm fressen können, und wenn der Hahn denselben Lockruf ausstößt, ohne einen Wurm vor sich zu haben, dann »lügt« dieser Hahn; denn er verallgemeinert die Anwendung des Lockrufs auf Situationen, für die es normalerweise für die Hennen keinen Grund gäbe zu folgen. Man könnte natürlich auch sagen, er hat sie dressiert/konditioniert. Sie folgen dem Ruf des Hahns, wie moralisch erzogene Menschen dem Ruf ihres Gewissens folgen – ohne Belohnung –. Anregungen zum Problem der Lüge bei Kindern verdanke ich auch der unveröff. Staatsexamensarbeit v. Heinz Röttgers: Die diskordante Persönlichkeit des lügnerischen Kindes in der Hilfsschule.

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Nichtselbstverständlichkeit hineingestellt, aus dem es dann sehr wohl als gerechtfertigt wieder hervorgehen kann, aber die gerechtfertigte Geltung ist etwas anderes als die unbefragte. Vormoderne Gesellschaften, die ihr Ethos durch jede spezifische Übertretung als Ganzes gefährdet sahen, weil die ethische Reflexion als Medium der Rekontinuierung noch nicht bereitstand oder noch nicht stabil genug ausgebildet war, mit der Folge, keine trennscharfe Unterscheidung zwischen Anderem und Fremdem zur Verfügung zu haben, solche Gesellschaften versuchten oft, die Überschreitung selbst zu institutionalisieren. Wird die Überschreitung temporal »domestiziert«, so gibt es bestimmte Tage oder Fristen, wo die Überschreitung vorgesehen ist (»Karneval«); wird sie dagegen sozial »domestiziert«, so gibt es Orte oder Rollen, für die die Geltung des Ethos sistiert ist (»Narrenfreiheit«).3 Die trennscharfe Unterscheidung zwischen Anderem und Fremdem wird in den Menschenrechtsideologien der Spätmoderne fraglich. Indem in einer Universalisierung der Marktkategorie und der faktischen Globalisierung jeder Mensch, weil begriffen als Markt-Teilnehmer eines globalisierten Marktes, mit jedem anderen gleich ist, fällt die Grenze zwischen dem Fremden und dem gesellschaftlichen Anderen. So werden zwar nicht alle Menschen zu Brüdern (d.h. zu gemeinschaftlichen Anderen), aber zu Tauschpartnern.4 Auf den Verlust des Diskriminierungspotentials, d.h. Unterscheidungsfähigkeit, das damit einhergeht, daß man ein generelles Diskriminierungsverbot verhängt, werde ich an anderer Stelle zurückkommen; eine Philosophie der Differenz, wie sie hier zur Leitlinie dient, muß diskriminieren, d.h. unterscheiden, können.5

3

Der Karneval als Sistierung ehelicher Treue oder FKK oder Gemeinschaftssauna als Sistierung des Schamhaftigkeitsgebots werden heute nicht mehr als solche Überschreitungsinstitutionalisierungen verstanden, weil wir gerade nicht mehr in solchen archaischen Gesellschaften leben, in denen der radikale Übergang, »Metabasis«, nur auf diese Art und Weise organisiert werden kann. Es sind Konsumangebote wie alles andere auf dem Markt der Angebote auch.

4

Das ist die zentrale These von Norbert Bolz von der »Menschwerdung des Menschen auf dem Markt«; und er setzt noch eins drauf: »Der Feind wird zum Konkurrenten, und die Brüderlichkeit löst sich in ›Kundschaftsverhältnisse‹ auf.« So in dem Buch mit dem Kalauer-Titel Norbert Bolz: Das konsumistische Manifest. München 2002, 59.

5

Daß es zwischen dem Fundamentalismus der Brüderlichkeit und dem Marktprinzip einen Mittelweg geben könnte, habe ich zeigen versucht in: Kurt Röttgers: Zwischen Markt und Brüderlichkeit – Zum Zusammenhalt von Gesellschaften, in: Mensch und

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Bisher hatten wir mit dem Ethos ausschließlich die normative Seite der unmittelbaren Sinngeltungen behandelt. Wir kommen jetzt zu der symbolischen Seite. Wir ziehen hier den Begriff des Symbolischen im Unterschied zum Normativen demjenigen des »Kognitiven« vor, weil es nicht immer um »Erkenntnisse« geht; allenfalls käme der Wissensbegriff, d.h. der des Epistemischen in Betracht. Insofern ist auch der Titelbegriff »Noetik« nur mit dieser Einschränkung auf das Symbolische zu verstehen. Im Bereich des Diskursiven und der hinter ihm liegenden grammatischen Regularität jedenfalls können wir (in den indoeuropäischen Sprachen) die indikativen Aussagesätze von den Imperativen und Optativen klar unterscheiden: Indikative Aussagesätze beziehen sich auf das, was der Fall ist, Imperative auf das, was (noch) nicht der Fall ist, obwohl es auch dazu Übergangsformen gibt, wie das Normative »ist«.6 Das bewirkt aber auch, daß die Negation hier anders wirkt als im »Normativen«. War dort die Übertretung unmittelbar zum Sinn des Normativen mitgehörig, sowohl im Verbot als auch im Gebot, so endet mit den Grenzen der Sprachspiele und der symbolischen Gewißheit die Welt des Sagbaren. Was sich nicht im Medium der symbolischen Form sagen läßt, das läßt sich überhaupt nicht sagen. Gewiß, manches ragt, Spuren hinterlassend, in den Text hinein. Der Text geht nicht ungerührt weiter, wenn sinnlose Gewalt ihm begegnet. Aber im Kontinuum der symbolischen Gewißheit gibt es eben keinen Ort für Gewalt. Oben hatten wir das Lügen sogleich so behandelt, wie es normalerweise behandelt wird, nämlich als moralisches Phänomen. Aber wir hatten bereits dort nicht verhehlt, daß Lügen auch eine rein epistemische Seite haben. Und es war genau in diesem Sinne, daß wir in einer früheren Studie gefragt hatten,7 ob Texte

Markt. Fs. Volker Arnold, hrsg. v. Tristan Nguyen. Wiesbaden 2011, 73-98; zur Brüderlichkeit s. J. Derrida: Politik der Freundschaft, vor allem aber J.-L. Nancy: Le Sens du monde, 178 und jetzt ders.: Politique et au-delà; zur Interpretation s. M.-E. Morin: Jenseits der brüderlichen Gemeinschaft. 6

Raffael Ferber: Das normative »ist« und das konstitutive »soll«., in: Archiv f. Rechtsu. Sozialphilosophie 74 (1988), 185-199; ders.: Das normative »ist«, in: Diskurs und Dezision. Politische Vernunft in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Hermann Lübbe in der Diskussion, hrsg. v. Georg Kohler, Hermann Kleger. Wien 1990, 241-267.

7

Kurt Röttgers: Lügen(-)Texte – oder nur Menschen?, in: »Dichter lügen«, hrsg. v. Kurt Röttgers u. Monika Schmitz-Emans. Essen 2001, 37-60; cf. auch Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: ders.: Kritische Studienausg. I, 873-890.

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lügen können, oder ob nur Menschen das vermögen. Das ist die Frage, ob es eine rein epistemische, rein im Text sich entfaltende, Seite des Lügens gibt, oder ob stets die moralische, den Menschen betreffende Seite das eigentliche Lügen ausmacht. Unsere Antwort ist dort gewesen: Texte lügen. Unsere Gründe waren – hier kurz zusammengefaßt – die folgenden: Es ist nicht ganz selbstverständlich, Lügen einem lügenwollenden Subjekt zu attribuieren. Erst Augustins Lügen-Theorie warf die Frage nach dem für einen Text im moralischen Sinne verantwortlichen Autor auf. Der Grund dafür ist einfach: Die Lüge ist etwas anderes als die Unwahrheit. Aber lügen will gelernt sein, die Vorsicht vor den Lügen anderer ebenso; Lügen ist, entwicklungspsychologisch gesehen, eine Frage der Intelligenz und der Phantasie. Es heißt zu lernen, daß die rhetorische und die referentielle Ebene von Text unterschieden werden können und letztere den Vorrang zugesprochen erhält. Oder anders gesprochen, Texte müssen für sie verantwortliche Subjekte (Autoren) erhalten. Der Autor ist der Wahrheitsverantwortliche eines Textes. Damit diese Entscheidung aber moralisch relevant wird, müssen Autoren mit Menschen verbunden gedacht werden, deren Gesinnung (Augustin sagt: »so man im Herzen trägt«8) den Ansatzpunkt der Moral aufgibt: »Die Schuld des Lügners aber besteht in der Absicht […]«9 – Damit ist der Grundstein gelegt für die gesamte christliche und neuzeitliche Lügen-Philosophie10, die eine Intentional-Theorie der Lüge ist. Die Lüge wohnt nicht mehr im Text, sondern dort, wo eine Innerlichkeit des Herzens sich »äußert« und in dieser Äußerung eine zweite, andere Innerlichkeit fingiert. Die Intentional-Theorie der Lüge ist eine Theorie des Doppel-Herzens. – Die Intentional-Theorie der Lüge verneint, daß Texte lügen könnten. Mit ihrem Abstellen auf reine sich verdoppelnde Innerlichkeiten hat diese Theorie jedoch ihre eigenen immanenten Schwierigkeiten erzeugt. Denn Innerlichkeiten sind nicht beobachtbar. Und dort toben zwei nicht kongruente Intentionen des Lügens: ein zweites Herz zu haben und einen anderen zu täuschen. In einem allseitig unstrittig fiktionalen Text wird niemand getäuscht, also wird man den Autor, den Wahrheitsverantwortlichen trotz des Scheins eines zweiten Herzens nicht einen Lügner nennen wollen. Andererseits: Liegt eine Täuschungsabsicht vor, wenn jemand im Wissen, daß der Andere ihm sowieso nicht glaubt, diesem die Unwahrheit sagt, damit er ihn zum Glauben an die Wahrheit bringt? Und lügt eigentlich der, der intentional die Unwahrheit sagt, aber genau dadurch die

8

Augustin: Die Lüge und Gegen die Lüge. Würzburg 1953, 2.

9

L. c., 3.

10 Steffen Dietzsch: Kleine Kulturgeschichte der Lüge. Leipzig 1998, bes. 32-42.

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Wahrheit seines Unbewußten zur Sprache kommen läßt? Wenn man an der Intentionaldefinition der Lüge festhält, dann ist man gezwungen, diese Frage zu bejahen. Er log tatsächlich, weil er täuschen wollte, z.B. den Psychoanalytiker; der aber versteht sowieso auf andere Weise, d.h. er kommuniziert jenseits der Oberflächenlüge und antwortet auf die Tiefenwahrheit des Unbewußten, das sich ausspricht. Nimmt man die Psychoanalyse, insbesondere in ihrer kulturtheoretischen Version ernst, dann enthält der Text stets mehr als die einfache Wahrheit oder Lüge: er kommuniziert auf mehreren Ebenen. So würde der Psychoanalytiker zwar sagen, daß sein Patient gelogen hat, aber nicht freiwillig, sondern unter einem spezifischen Zwang. Genau dadurch und nur dadurch aber war es ihm möglich, ebenfalls ungewollt durch Intentionen, die Wahrheit seines Unbewußten Text werden zu lassen. Abgesehen von diesen immanenten Schwierigkeiten der Intentional-Theorie des Lügens, ist sie nicht in der Lage, die besonderen Merkmale der Textanschlüsse angemessen zu formulieren: Aus der Perspektive des kommunikativen Textes muß man daher zu einer entscheidenden Umformulierung des Lügenproblems kommen. Das Problem ist allemal ein Textanschluß- und Textfortsetzungsproblem. An bestimmten Textstellen muß der Text plural sein, um seine Anschlüsse sichern zu können, es müssen ja nicht immer gleich »Mille Plateaus« sein. Solche Mehrdimensionalität der Textanschlüsse ermöglicht jegliche Abweichung von jener einfachen Textanweisung, daß unsere Rede »Ja, ja, nein, nein« sein solle und alles andere wäre von Übel, d.h. alles andere wäre Kultur. Die Pflege der Umwege im Text, die die Kultur ausmacht, ermöglicht immer auch eine solche Textfunktion, die man Lüge nennen mag: Sie ist die Verschleierung der einfachen und in ihrer Nacktheit brutalen Wahrheit. Statt einfach zu sagen, wie es ist, sagt der Text etwas anderes stattdessen, er ergreift andere Textfortsetzungsmöglichkeiten als jenes »Ja, ja, nein, nein«. Die Wahrheit ist einfach. Die Lüge im Text ist Vervielfältigung. Daher erfordert das Lügen so viel Intelligenz, so viel Phantasie und so viel Mut. M .a .W. läßt man die Redeweise zu, wie hier geschehen, daß Texte lügen, dann wird das Problem der Lüge von einem moralischen Problem in ein semantisches und kulturphilosophisches Problem transformiert. In einer Welt, die wir nur perspektivisch wahrnehmen können, ist die Abweichung von der Wahrheit nicht nur unvermeidlich, sondern geradezu förderlich. Solche Abweichung kann ein Irrtum sein, sie kann das Festhalten an einem Irrtum trotz besserer Einsicht sein, sie kann auf Erziehung beruhen, die über die jeweilige Realität des Kindes hinausgreift auf seine zukünftigen Möglichkeiten und Aufgaben, sie kann Bildung sein, die die »schnelle Mark« hinausschiebt oder gar verschmäht, sie kann der Glaube an ein Jenseits (d.h. an eine Seele mit

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der Hauptaufgabe der Unsterblichkeit und das Festhalten eines Glaubens an ein Anderswo) sein, sie kann eine schonungsvolle Lüge sein, sie kann die dreiste, provokante oder phantastische Lüge sein, sie kann aber auch das Begehren eines anderen sein, das sich in Utopien und Atopien ausspricht. Wäre die Existenzweise des Menschen als eines symbolbildenden, sozialen und zeitlichen Wesens nicht der kommunikative Text, dann wäre Lüge überhaupt nicht möglich, nur im Text kann sich Lügen ereignen. Wären die Menschen nicht unterwegs in dem Labyrinth des kommunikativen Textes, so könnten sie als Menschen gar nicht lügen. Lügen ist, textphilosophisch gesehen, ein Effekt, den die symbolbildende Dimension des kommunikativen Textes auf die soziale und die zeitliche Dimension dergestalt hat, daß der Text dadurch an Vielfältigkeit gewinnt. Diese Text-Vervielfältigung durch Lüge o.ä. hat auch den Effekt, daß Übersetzungen und Interpretationen fällig werden über die Abgründe, die die Vervielfältigung aufreißt. Textvervielfältigung macht exegetische, traduktive, hermeneutische und seduktive Anschlußtexte erforderlich. Interpretierende Texte sagen, entgegen anderslautenden Beteuerungen, nicht, was die von ihnen interpretierten Texte sagen; andernfalls wäre sie ja auch überflüssig, wie Odo Marquard treffend bemerkt hat.11 In einem gewissen Sinne sind Interpretationen LügenTexte, und zwar von dem Typ der Lügen, die die schonungslosen LügenEnthüller zu verbreiten pflegen, also mehr oder weniger alle von dem Typ von Hans Traxlers Die Wahrheit über Hänsel und Gretel12. Die schonungslose Enthüllung der Wahrheit durch die Demaskierer, die Übersetzung der Unwahrheit in die Wahrheit gleicht dem Problem einer auf Intersubjektivität reduzierten Sozialität, d.h. einer »Sozialität« ohne einen Dritten. Tatsächlich ist die Maske des Demaskierers auch nur eine weitere Maske und damit eine Instanz der Vervielfältigung der Ebenen möglicher Textanschlüsse, wie das Lügen eben auch. Bleibt also die Unappetitlichkeit gewisser Lügen das einzige Bedenken gegen die Lügen im Text, wenn das moralische Verdikt so sehr eingeklammert wird? Nein. Wir hatten gesagt, daß Lügen eine Vervielfältigung der Textanschlüsse beinhaltet. Genau daraus ergeben sich weitere Bedenken gegen das Lügen. Unter gegebenen Umständen kann es jeweils auch ein Zuviel an Vervielfältigung geben, so daß die Anschlüsse zuviel Unsicherheit mittransportieren. »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht«, kann sicher heute nicht mehr aufrechterhal-

11 Odo Marquard: Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, 117-146. 12 Hans Traxler: Die Wahrheit über Hänsel und Gretel. Frankfurt/M. 1963.

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ten werden. Wenn aber jeder zweite Textanschluß der Vervielfältigung der Möglichkeiten ausgesetzt ist, ist die Selbst-Orientierung im Text zu einer Reduzierung der Zeitperspektive gezwungen. Glaubwürdigkeit und Vertrauen, d.h. eine fraglose Selbstverständlichkeit gewisser Textanschlüsse, sind durch allfälliges Lügen gefährdet. Gleichwohl bleibt unter Bedingungen der angebrochenen Postmoderne kein Rückzug auf substantialistische Garantien solcher Selbstverständlichkeiten mehr übrig. Weder die Drohung der Unglaubwürdigkeit bei einmaligem Lügen noch die Verletzung der Menschheit in der Person des autonomen Subjekts, die das Kantische Lügenverbot begründet hatte, können die Kontinuität des Textes sichern. Der autopoietische Text ist auch der autosuggestive Text. In ihm werden Lügen so lange wiederholt, bis sie zur Wahrheit werden. Dadurch ändert sich die Rolle des »Subjekts« im Text. Vom autonomen Textproduzenten verschiebt sich seine Position zu derjenigen des verführten Subjekts. Das verführte Subjekt ist freilich kein hilfloses Opfer, sondern eines, das seine Verführung genießt, sich ihr ausliefert und eben dadurch selbst verführerisch wird. Rhetorik ist der Textaspekt, in dem es um Verführung geht. Seit Sokrates, diesem Erz-Sophisten, ist das rhetorische Element der Philosophie als Sophistik verfemt worden. In der Postmoderne wäre es an der Zeit, diese verschüttete Tradition der Philosophie wieder zu entdecken.13

4.2 P FLICHT

UND

W ISSEN

Wir werden uns nunmehr denjenigen Formen symbolischen und normativen Sinns zuzuwenden haben, die sich einem Bruch in der Selbstverständlichkeit eines normativen oder symbolischen Kontinuums des Sinns und der Rekonstruktion einer Kontinuität des Sinns durch Reflexion verdanken. Zunächst ist die Frage, welches der Bruch ist, der sich durch Ethos und durch Gewißheit zieht. Dieser Bruch ist konstitutiv in die Strukturen des kommunikativen Textes dadurch eingebaut, daß bereits das bloße Präsenthalten der anderen Dimensionen das Kontinuum des Symbolisch-Normativen »bricht«. Sobald die Zeitlichkeit oder die Sozialität im Ethos auftaucht, tauchen zugleich die Fragen auf wie: war diese Lebensform immer schon in dieser Weise selbstverständlich, und wird sie es für immer sein? Selbst wenn die Antwort uneingeschränkt beja-

13 Kurt Röttgers: Der Sophist, in: Das Leben denken – Die Kultur denken, hrsg. v. Ralf Konersmann. Freiburg, München 2007, I, 145-175; Andreas Hetzel: Die Wirksamkeit der Rede. Bielefeld 2010.

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hend ausfallen sollte, was immerhin ziemlich unwahrscheinlich ist, ist bereits die fragende Reflexion der Selbstverständlichkeit der Einbruch des Nichtselbstverständlichen. Das gleiche gilt für den aus der Sozialität stammenden Zweifel. Ist für den gesellschaftlichen Anderen, ja sogar: ist für den gemeinschaftlichen Anderen die gleiche Lebensform gleich selbstverständlich? Auch hier gilt, selbst wenn die Antwort bejahend ausfallen sollte, wofür es mindestens für den gemeinschaftlichen Anderen eine gewisse Wahrscheinlichkeit geben könnte, selbst dann ist durch die Frage die vorreflexive Selbstverständlichkeit gebrochen; und es wird eine Rekontinuierung fällig. Daß auch die von Husserl angenommene Kontinuität des Bewußtseinsstromes keineswegs selbstverständlich ist, zeigen Überlegungen, die im Anschluß an Sartre geltend machen, daß das transzendentale Bewußtsein nie schlafen darf, d.h. keine Unterbrechungen gestattet. Vielleicht ist aber gerade die Unterbrechung, auch Störungen, der Einspruch des Anderen oder des Dritten, zentral für die Leistungen des Bewußtseins, es ist nicht Kontinuität, sondern es leistet sie angesichts von Herausforderungen. Eine dieser Herausforderungen ist freilich eine selbsterzeugte: die Reflexion. Vielleicht, so vermutet Hans Blumenberg, ist dieses leistende Bewußtsein auch die Grundlage des von Husserl als Ausgang gewählten intentionalen Bewußtseins.14 F. Guattari hat dieses Problem in der Begrifflichkeit von Struktur und Maschine dargestellt. Eine Struktur hat den Charakter der Allgemeinheit, diese wird den Maschinen als punktuellen Okkurenzen gegenübergestellt.15 Ein Subjekt zu sein heißt, einen angebbaren Ort in einer Struktur innezuhaben. Dadurch sind aber beide permanent aufeinander angewiesen. Die maschinelle Singularität kommt nur vor als Brechung von Strukturen, d.h. nur in bezug auf Strukturen. Umgekehrt ist jede Struktur permanent heimgesucht durch das Maschinelle. Das Maschinelle ist die Exzentrizität des Subjekts, so daß das Subjekt stets anderswo ist. In gewisser Hinsicht ist die Maschine der Einbruch der Zeit in die Dauer. Aber auf der anderen Seite ersetzt jede solche Maschine eine andere, die die gleiche Funktion im Hinblick auf die Struktur hatte, so daß es eine Rekontinuierung nicht nur als Geschichte des Wandels der Strukturen gibt, sondern ebensosehr eine (vermittelte) Geschichte der Maschinen selbst erzählbar wird. So hat

14 Hans Blumenberg: Zu den Sachen und zurück. Frankfurt/M. 2006, 151. 15 Félix Guattari: Machine et structure, in: ders.: Psychanalyse et transversalité. Paris 1974, 240 ff.; zum Begriff der Maschine bei Foucault, der auch nichts »Technisches« meint s. Gilles Deleuze: Kein Schriftsteller: ein neuer Kartograph, in: Gilles Deleuze, Michel Foucault: Der Faden ist gerissen. Berlin 1977, 123f.

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auch die sittliche Gewißheit in den skeptischen Fragen nach ihrer Gültigkeit die maschinelle Fraktur an sich, ist aber zugleich der Beginn einer erweiterten Geltung, die zwar die Skepsis nie los wird, aber auch nie von ihr zerstört wird. Jede Ethik als disziplinäre Rekontinuierung sittlicher Gewißheiten (des sensus communis) versucht eine solche moralische Kontinuität wieder herzustellen. Dafür dient in den meisten Fällen von Ethik irgendeine Form eines Verallgemeinerungsprinzips als der Wiederherstellung von Kontinuität. Das Verallgemeinerungsprinzip möchte ich in dieser Funktion zunächst vorstellen an der Moralphilosophie von Adam Smith. Die Moralphilosophie von Smith geht, wie schon zuvor Hume, von zwei Prinzipien der moralischen Orientierung der Menschen aus, dem Egoismus und der Sympathie. Das Interessante ist nun, daß diese beiden Prinzipien nicht symmetrisch sind. Sonst müßte ja dem Egoismus der Altruismus entgegenstehen und ihn einschränken.16 Vielmehr stellt Smith fest, daß der Egoismus als solcher weder sozial noch unsozial ist. Dieser Begriff von Egoismus ist deswegen in sozialer Hinsicht wertneutral, weil er nichts anderes meint als die Freude über das eigene Wohlergehen ungeachtet des Wohls oder Wehe der anderen, und ebenso der Kummer über das eigene Unglück. Erst wenn dieser natürliche Egoismus mit einer Mißgunst mit dem Wohlergehen oder einer Freude über das Mißgeschick der anderen verbunden ist, wird diese Kombination tadelnswert. Das aber heißt auch – und das muß man ganz klar sehen –, daß es unnatürlich wäre, wenn jemand erst dann glücklich sein könnte, wenn auch die ganze übrige Menschheit glücklich wäre, oder sonst nur schlechten Gewissens, d.h. nicht wirklich glücklich wäre, solange er nur annehmen müßte, daß es irgendeinen Menschen gibt, der momentan unglücklich ist. Smith nennt diese Philosophen die »weinerlichen und trübsinnigen Moralisten, die uns beständig vorwerfen, daß wir uns glücklich fühlen, während so viele unserer Brüder sich im Elend befinden.«17 Damit aber dieser Egoismus nicht in eine Rücksichtslosigkeit, d.h. Nichtberücksichtigung der Anderen, umschlägt, sieht Smith jenes zweite Prinzip vor, das aber für ihn ebensosehr keinen moralischen Wert, keine moralische Forderung darstellt, sondern aus der bloßen Natur des Menschen folgt, das Prinzip der Sympathie. Er hält dieses Prinzip für so wichtig, daß er es bereits in den ersten Sätzen seines Werkes ausspricht:

16 Daher ist die Relation Egoismus / Sympathie auch nicht identisch mit der Rousseauschen von »amour de soi« und »pitié«. 17 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, hrsg. v. Walther Eckstein. 2. Aufl. Hamburg 1977, 206.

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»Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zunehmen, […] das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. […] das ist eine Tatsache, die zu augenfällig ist, als daß es irgendwelcher Beispiele bedürfte, um sie zu beweisen.«

18

Insofern sowohl »Mitleiden« wie »Mitfreude« damit gemeint sein können, zieht Smith den Begriff der Sympathie vor als der Fähigkeit, sich in die Rolle, an den Platz des Anderen zu versetzen.19 Das aber heißt nicht, seine Gefühle zu verstehen in irgendeinem abgeklärten Sinn von Verstehen, der es erlaubte zu sagen, man teile zwar die Gefühle des Anderen nicht, aber man »verstehe« sie, sondern es heißt, sie mitzuerleben, bzw. das eigene Erleben an das Erleben des anderen anzuschließen, sich von ihm anstecken, ja verführen zu lassen, was so trivial ist wie, daß das Gähnen in der Gesellschaft ansteckend wirkt. Smith verwendet selbst dafür auch das Bild der »gleichgestimmten Saite«, die mitzuschwingen beginnt.20 Solches kann zur Folge haben, daß unsere Freude im Anschluß an die Freude des Anderen sogar größer ist als die seine, unser Schmerz aus Mitgefühl größer als seiner. Der Grund dafür ist, daß nicht die Beobachtung des Gefühls, bzw. des Gefühlsausdrucks unser eigenes Gefühl auslöst, sondern die Beobachtung der Situation, in der der Andere sich befindet und durch die sowohl seine als auch unsere Gefühle ausgelöst werden. So kann das laute Wehlagen, ohne daß uns die Leidenssituation bekannt wäre, eigentlich nur Neugier, vielleicht sogar Widerwillen und Peinlichkeit erregen. Haben wir jedoch die Gelegenheit, uns in die Situation des Anderen zu versetzen, so entsteht die Sympathie. Smith spielt diese These in einigen Extremsituationen durch wie z.B. dem Wahnsinn oder dem Tod. »Der Tote ist bejammernswert, denken wir, weil niemand mehr in dieser Welt seiner gedenkt und er in kurzer Zeit aus der Liebe und fast sogar auch aus dem Gedächtnis seiner liebsten Freunde und Verwandten ausgelöscht sein wird. «21 Daß wir es dabei auch mit einer ganz natürlichen Täuschung der Phantasie zu tun haben, zeigt für ihn wiederum die Sympathie mit dem Toten: »[…] und daß wir, wenn ich so sagen darf, unsere eigene lebende Seele in ihren

18 L. c., 1. 19 Im 20. Jh. ist dieser Gedanke von George Herbert Mead aufgenommen und ausgearbeitet worden, s. dazu auch J. Habermas: Theorie kommunikativen Handelns II, 7-169. 20 A. Smith: Theorie der ethischen Gefühle, 101. 21 L. c., 8.

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unbeseelten Leichnam einquartieren und uns dann die Gefühle vorzustellen versuchen, die wir in dieser Lage haben würden.«22 Das alles hat mit Moral selbst noch nichts zu tun, wohl aber mit den Grundlagen, auf denen jegliche Moral aufbaut. Hierzu führt Smith den Begriff der Billigung / Mißbilligung ein. Billigung ist nichts anderes als das Innewerden der Übereinstimmung der eigenen Gefühle mit denen der anderen. Wenn jemand sich in einer bestimmten Situation freut, wir von seiner Freude angesteckt werden und dann diese Übereinstimmung bemerken, so billigen wir seine Freude. Diese Billigung kann sich auch von der realen Ansteckung ablösen. So kann es sein, daß wir die Freude eines anderen zwar im Prinzip mitempfinden könnten, aber wegen der besonderen und andersartigen Situation, in der wir selbst uns befinden, tatsächlich nicht empfinden. Gleichwohl wird uns die erfreuliche Situation, in der er sich nach unserer Beobachtung befindet, uns dazu bringen, seine Freude zu billigen. Mit dem Prinzip der Billigung hat Smith die Ebene der Moral betreten, freilich jene – wie wir sagen müssen – der moralischen Kontinua, d.h. der sittlichen Gewißheit. Und in der Tat sagt er, daß es ein Minimum der Übereinstimmung und gegenseitigen Billigung für den sozialen Zusammenhalt geben müsse.23 Dieses Minimum nennt er »Harmonie«, und das sei weniger als Konsens, aber wiederum ausreichend und realistischerweise das, was maximal zu erwarten und zu erreichen ist. Diese durch Sympathie fundierte Billigung oder Mißbilligung gilt vor allem für Gemeinschaften; da aber Moralität darin gründet, ist es wichtig, solche Gemeinschaften zu pflegen, statt in universalisierender Einsamkeit über das Wohl der Menschheit nachzugrübeln. Die Anschließbarkeit der Gefühle aneinander beruht auf einer doppelten Voraussetzung: der Bemühung um Nachvollzug auf seiten des Beobachters und der Bemühung um Nachvollziehbarkeit auf seiten des Beobachteten. Die Stufe der ethischen Generalisierung erreicht Smith nun dadurch, daß er den unbeteiligten Beobachter einführt. Denken wir uns zwei ertrinkende Kinder und einen Mann am Ufer, der eines und nur eines retten könnte. Was wird er tun? Dem Prinzip der Sympathie folgend, kann er sich in die Situation der Ertrinkenden versetzen und den Wunsch des Nichtertrinkens zur eigenen Handlungsmotivation »benutzen«. Aber er muß sich entscheiden. Wenn er nun erkennen muß, daß eines der Kinder sein eigenes Kind ist, wird er vermutlich dieses retten. Zur Billigung oder Mißbilligung dieser Entscheidung brauchen wir die

22 L. c., 9. 23 L. c., 25.

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Distanz des unbeteiligten Beobachters. Jeder unbeteiligte Beobachter wird den Einfluß der familiären Neigungen auf die Entscheidung des Mannes billigen; ja mehr noch und genauer: er würde es mißbilligen, wenn der Familienvater unter Niederschlagung aller Neigungen, wie es bei Kant heißen wird, ein »objektiveres« Kriterium verwendet hätte also z.B. Alter des Kindes, Verschuldungsgrad für diese Situation oder für das Nichtschwimmertum oder Geschlecht oder körperliche Mängel.24 Das bei Smith Entscheidende seines Generalisierungsgrundsatzes des »unbeteiligten Beobachters« ist nun aber, daß auch dieser gedachte Dritte über kein anderes, etwa höherwertiges Beurteilungsprinzip verfügt als über das der Sympathie. Sein Egoismus ist zwar nicht weggedacht, findet aber in der Situation seines Unbeteiligtseins in diesem Fall keinen Ansatzpunkt, so daß die Sympathie allein und rein wirken kann. Diese Instanz des unbeteiligten Beobachters – das ist dann die nächste Stufe der Generalisierung in der Smithschen Moralphilosophie – kann von jedem Selbst eingenommen werden, d.h. sie ist an keinerlei substantiellen Voraussetzungen gebunden und ist im Spiel der Positionen im kommunikativen Text variabel, d.h. die Position des Dritten rotiert. Es ist dieses das Verfahren der Selbstbilligung, wie es der dritte Teil des Werks von Smith behandelt. Er spricht dort von der Teilung »gleichsam in zwei Personen«,25 die dazu führen könne, daß wir »zu unparteiischen Zuschauern unseres eigenen […] Verhaltens werden.«26 Als Herbart im Jahre 1812 die Moralphilosophie von Christian Jakob Kraus aus dem Nachlaß herausgab, da stellte er die Differenz dieser Adam Smith und Hume folgenden Moralphilosophie zu derjenigen Kants mit folgenden Worten heraus:

24 Oftmals sind diese »objektiveren« Kriterien gar nicht zu einer eindeutigen Entscheidung hinführend. So könnte man das Nichtschwimmertum als besondere Hilfsbedürftigkeit interpretieren oder umgekehrt als Verschuldungsgrad für das eigene Unvermögen; das Geschlecht kann man als größere gesellschaftliche Wichtigkeit von Jungen oder als größere oder generelle Hilfsbedürftigkeit von Mädchen interpretieren, wenn man traditionell denkt; oder man kann die körperlichen Mängel als besonderen Appell an karitative Einstellungen interpretieren oder in sozialdarwinistischer Perspektive als etwas, das eher dem Untergang geweiht sein sollte. 25 L. c., 170. 26 L. c., 172.

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»[…] daß Kraus sich immer geradezu mit den Urtheilen der Billigung und Mißbilligung beschäftigt. Dieß sind in Wahrheit die ächten und ursprünglichen Thatsachen des sittlichen Bewußtseyns. Erschlichen aber ist die berühmte praktische Vernunft; erschlichen das Eine und einfache Gebot, welches diese Eine Vernunft aussprechen soll, nehmlich in so27

fern das Gebot für ein Faktum […] erklärt wird […]«

Während also – auf unseren Zusammenhang übertragen – Kant mit der Identität von Allgemeinheit, Einheit und Faktizität operiert, treten in der skeptischen Moralphilosophie Faktizität und Allgemeinheit zunächst auseinander, so daß die Allgemeinheit zu einer erst noch abzuleitenden Argumentationsstufe gehört. Bei Kraus beruht diese Ableitung auf folgenden Grundsätzen: •

• •

Um etwas als etwas zu erkennen, brauchen wir eine Einsicht in seine Entstehung: In Fragen der Moral brauchen wir also – um den Wortgebrauch eines späteren Philosophen zu verwenden – eine »Genealogie der Moral«; um etwas Menschliches zu begreifen, brauchen wir eine Einsicht in den Praxiszusammenhang seiner Entstehung;28 auch das Nichtmenschliche wird in Analogie zu diesen Praxiszusammenhängen gedeutet, weil andere Deutungsschemata gar nicht zur Verfügung stehen: »Was er wahr nimmt, nimmt er wahr, weil er will, oder weil er muß […]«29

Konsequenterweise beginnt Kraus seine Moralphilosophie mit dem Kapitel »Praktische Anthropologie«, dessen erstes Stichwort in der Tat der Akt der Billigung ist. Wie dann Kraus von hier aus zu Grundsätzen kommt, die inhaltlich identisch mit den Kantischen sind,30 das darzustellen oder in der Stringenz zu präzisieren, kann hier nicht die Aufgabe sein. Halten wir jedoch zunächst einmal zitatweise fest, wie sich Kraus die Allgemeinheit begründet denkt: »Nichts ist Tugend, als was 1) gebilligt wird, 2) vom Thäter selbst, 3) durch ein allgemeingültiges und objektiv richtiges Urtheil, so daß er einsieht, jeder vernünftige und unpartheiische Beurtheiler müsse es überall und immer unveränderlich eben so billigen.«31 Wie kommt der »Thäter« zu dieser Beurteilungsfähigkeit? Er setzt

27 Christian Jakob Kraus: Vermischte Schriften, hrsg. v. Hans v. Auerswald. Königsberg 1809-1819, V, X. 28 L. c., 13 f. 29 L. c., 15. 30 L. c., 159 ff. 31 L. c., 185.

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sein partikulares Urteil einer Konsistenzprüfung aus, und zwar sowohl – wie wir hier sagen: – in einer temporalen wie in einer sozialen Reflexion: stimmt das gegenwärtige Urteil mit früheren überein und stimmt es mit denen der Anderen überein? Die Allgemeinheit des ethischen Urteils setzt also gerade nicht die Fähigkeit voraus, den »einzig möglichen« Standpunkt einzunehmen und gegen Anfechtungen zu verteidigen, sondern ganz im Gegenteil, die Fähigkeit den Standpunkt zu wechseln.32 Wir werden hier also zweitens die Kantische Pflichtethik als höchst elaborierten Typus einer solchen moralischen Kontinuität herausstellen, dabei werden wir speziell auf drei Dinge zu achten haben: • • •

Wie erscheint bei Kant die unmittelbare moralische Gewißheit in der ethischen Reflexion auf sie? Was ist der Bruch dieses Kontinuum, worin zeigt er sich? Was sind die diskursiven Kriterien der Rekontinuierung?

Zwar geht die populärer gehaltene Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vermeintlich von der »gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis« (1. Abschnitt) aus, tatsächlich ist dieses jedoch nicht der Fall. Schon der berühmte erste Satz ist ein Signal in die andere Richtung: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.«33 Nachdem er die Idee des Denkmöglichen innerhalb und außerhalb der Welt etwa 10 Seiten lang entwickelt und plausibilisiert hat, kommt Kant zu der lapidaren Feststellung, daß die »gemeine Menschenvernunft in ihrer praktischen Beurteilung« damit vollkommen übereinstimme.34 Das in § 7 der Kritik der praktischen Vernunft als kategorischer Imperativ formulierte »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« nennt er dann in der Anmerkung zu diesem Paragraphen als Bewußtseinstatsache ein »Faktum der Vernunft«, und zwar deswegen, weil es auf keinerlei Anschauung gründet und damit auch ein Ausnahmefaktum darstellt, es gibt keine weiteren »Fakten« der Vernunft. Allein diese Stellung der vermeintlich unmittelbaren moralischen Gewißheit als einzig Anschauungsloses sollte wohl den Verdacht

32 L. c., 188; zu den Standpunktsphilosophien des 19. Jahrhunderts, ausgehend von Jakob Sigismund Beck und Johann Gottlieb Fichte, s. Kurt Röttgers: Der Standpunkt und die Gesichtspunkte, in: Archiv f. Begriffsgeschichte 37 (1994), 257-284. 33 I. Kant: Gesammelte Schriften IV, 393. 34 L. c., 402.

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erregen können, es sei nicht ein Faktum, sondern ein Fiktum. So kann es in der Kantischen Ethik auch gar keinen Bruch dieses Kontinuums der Moralität geben, sondern allenfalls Mißverständnisse und Mißdeutungen, die aber jederzeit durch Rekurs auf die Faktizität des Sittengesetzes in seiner Form als kategorischer Imperativ behoben werden können. Nun gibt es in der Kantischen Moralphilosophie allerdings etwas, das den Platz unmittelbarer moralischer Gewißheiten in den anderen Moralphilosophien einnimmt. Kant nennt es die Maximen und erläutert es als das »subjektive Prinzip des Wollens«,35 oder als nur für den Willen eines Einzelsubjekts als verbindlich angesehen.36 Diese Bestimmungen von »Maxime« sind so extrem, daß irgendwie klar ist, daß sie nicht Grundlagen von moralischen Orientierungen sein können. Eher entsprechen sie dem, was man heute »Motive« nennen würde, deren Moralität oder Immoralität dann erst durch das Maximenprüfungsverfahren des kategorischen Imperativs überprüft werden kann und gegebenenfalls muß. Insofern es kein sittliches Kontinuum gibt, gibt es auch keinen Bruch und gibt es auch keine Rekontinuierung. Die Kontinuität des kategorischen Imperativs verdankt sich vielmehr der Unterstellung, daß es gar keine Unterscheidung von Kontinuum und auf Reflexion zurückgehender Kontinuität gibt. Die Kontinuitätskonstruktion ist eine Aufgabe von Anfang an. Die philosophische Reflexion erzeugt diese nicht, weil sie nie erzeugt werden muß, sondern als »Faktum“ immer schon vorhanden ist, die philosophische Reflexion macht sie nur sichtbar. Insofern ist es auch eine epistemische Reflexion und keine spezifisch moralische oder ethische. So kann es auch keine Steigerungsstufen für Moralität bei Kant geben, sondern nur die Ja- oder Nein-Entscheidung. Die Unterscheidung von Legalität und Moralität oder von »pflichtgemäß« und »aus Pflicht« ist eben keine Unterscheidung innerhalb des Feldes sittlicher Orientierungen, sondern eine Unterscheidung, die das Sittliche vom Nichtsittlichen abtrennt. Kommen wir nun kurz zu der Frage eines eigenen moralischen Sinns, des sogenannten moral sense, als einer natürlichen emotionalen Ausstattung des Menschen. Es gibt eine gewisse Tradition der angelsächsischen Philosophie, die die Theorie vertrat, daß es einen eigenen moralischen Sinn gebe, der eine Art Gefühl sei, der dem Subjekt eine unmittelbare sittliche Gewißheit vermittelt.

35 L. c., 400, Anm. 36 KpV § 1; cf. Rüdiger Bittner: Maximen, in: Akten d. 4. Intern. Kant-Kongresses, Mainz 6.-10. April 1974, II. 2. Berlin, New York 1974, 485-498.

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Diese Theorie wurde insbesondere von Shaftesbury und Hutcheson vertreten.37 Darin setzte sich diese Richtung einer kognitivistischen Tradition in der Folge Lockes entgegen. Adam Smith führte dann beide Traditionen in gewisser Weise zusammen, zugleich aber weit über sie hinaus. Sein »Gefühl für das sittlich Richtige«38 ist, wie gesagt, gegründet auf die »Tatsache«, daß der Mensch, mag er auch noch so egoistisch sein, doch am Schicksal anderer Anteil nimmt. Es ist bemerkenswert, daß Smith die Lehre vom moral sense ablehnt, nämlich als ein »besonderes Seelenvermögen«, eine »eigentümliche Wahrnehmungskraft«,39 und zwar weil in diesem Sinn eine moralische Unmittelbarkeit suggeriert wird, die es nicht gibt. Moralität (Billigung oder Mißbilligung) ist stets vermittelt durch die Anderen. Deren aktuelle Billigung oder Mißbilligung bzw. die Billigung und Mißbilligung des generalisierten Anderen, wird uns in unserer sittlichen Selbstbetrachtung leiten und nicht irgendeine Form der unmittelbaren Einsicht in das Gute. Denn – so sagt Smith – wenn dieser unmittelbare moralische Sinn, irregeleitet, das Laster billigen würde, so könnten wir das Urteil eines solchen moralischen Sinns nur hinnehmen, nicht aber selbst moralisch qualifizieren. D.h. das, was wir weiter unten als Bewertung der Bewertung bezeichnen werden und wodurch der moralische Diskurs erst zu einem solchen wird, wäre a priori ausgeschlossen. Auch Kant – freilich aus anderen Gründen – kritisiert das moralische Gefühl. Er verrechnet es unter diejenigen Prinzipien der Sittlichkeit, die heteronom angelegt sind, genauer zu denen der Glückseligkeit, weil es eine Annehmlichkeit gewährt, die bei Zuwendung zu Sittlichem fällig ist. Kants Kritik besteht darin, daß offenbar der moralische Sinn das schon voraussetzen muß, was er allererst begründen möchte. Doch auch Kant, vor allem in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, geht von einer sittlichen Unmittelbarkeit aus. Allein diese Eingangsbestimmung seiner Ethik ist formal, und Kant sichert sie im folgenden gegen materiale Interpretationen sorgfältig ab. Dieser reine und gute Wille kann nur als praktische Vernunft expliziert werden. Dazu dient ihm der Pflichtbegriff, genauer einer Handlung aus Pflicht, nicht bloß pflichtgemäß. Wir werden abschließend jetzt die Gesichtspunkte einer Rekontinuierung an der Frage einer postfeministischen Ethik prüfen. Eine feministische Ethik macht

37 Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury: An Inquiry Concerning Virtue, or Merit, dt. als Shaftesbury: Untersuchung über die Tugend. Leipzig o. J., und Hutcheson s. Dieter Henrich: Hutcheson und Kant, in: Kantstudien 49, (1958), 49-69. 38 Adam Smith, l. c., 1 ff. 39 L. c., 237.

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geltend, daß die allgemeine Ethik eine männliche Ethik sei, daß also die beanspruchte Universalisierung die Überstülpung eines ethischen Prinzips, nämlich das der Pflicht beispielsweise, von einer Hälfte der Menschheit auf die gesamte Menschheit darstelle. Heike Kämpf hat in dem beachtenswerten Beitrag zu einer postfeministischen Ethik diesen Gesichtspunkt herausgearbeitet. Sie denkt die Funktion der Ethik, speziell den Funktionsort einer postfeministischen Ethik als »Einspruch«, durch die das von einer spezifischen universalisierenden Ethik Ausgeschlossene das Wort ergreift.40 Gewonnen wird diese Position durch eine »Selbstreflexion feministischer Ethik«, als »Überschreitung«.41 Anschließen kann das Ausgeschlossene freilich auch an die untergründige Präsenz des Ausgeschlossenen in den Akten der Ausschließung selbst. Die Diskriminierungen und Verfemungen, aber auch die prekären Positivierungen eines weiblichen Denkens verraten seine geleugnete Macht. Der männliche Diskurs über den Ort der Frau im Text verrät, von Diderots Behauptung, daß die Weiber »in ihrem Innern die wahren Wilden geblieben sind«42 bis zu Nietzsches Ermahnung, die Peitsche nicht zu vergessen, wenn man zum Weibe gehe, eine Furcht vor der Macht des Ausgeschlossenen und eine Bedrohtheit des philosophischen Diskurses. Der Bruch des moralischen Kontinuums des Diskurses ist unvergessen und lebt fort in den Bemühungen um Rekontinuierung, die nun eine postfeministische Einspruchs-Ethik durcheinanderbringen möchte: »Mit der Philosophie ist ihre Kritik entstanden, die nicht zufällig weiblich ist«, nämlich in der Figur der thrakischen Magd.43 Auf die Form des kritischen Einspruchs und sein Woher werden wir noch zurückkommen. Hier geht es zunächst um den darin beanspruchten Aspekt, die Praxis gegenüber der Theorie wieder zur Geltung zu bringen. Das ist nämlich insofern ein merkwürdiger Anspruch, als es ja gerade zu den Konstitutions- und Ausdifferenzierungsbedingungen des Diskurses einer deontologischen Ethik gehörte, die Normativität in die Reflexion der Normativität hinein zu verlängern, d.h. das Gute in gutseiender Weise zu reflektieren, die wahre

40 H. Kämpf: Perspektiven einer postfeministischen Ethik jenseits einer geschlechterspezifischen Moral. 41 L. c., 116. 42 Zit. p. 118. 43 Diese hat Hans Blumenberg einer subtilen Untersuchung unterzogen: Hans Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. Frankfurt/M. 1987.

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Theorie der Praxis mit der wahren Praxis zu identifizieren.44 Genau das wird hier bei Kämpf (und Diderot) bestritten. Es wird behauptet, daß erst der Einspruch des Ausgeschlossenen den Praxisaspekt der Philosophie selbst in den Blick geraten läßt. Denn die mit sich allein gelassene Theorie verliert mit dem sie betreffenden Einspruch auch das Bewußtsein ihrer Praktizität und ihrer Irritierbarkeit durch Praxis. Wir müssen freilich fragen, was Praxis hier genau besagen soll. Wenn wir das Symbolische und das Normative als die komplementären Richtungen diskursiven Sinns (Sein und Sollen) herausgestellt haben, so könnte die Einspruchs-Ethik gelesen werden als die Behauptung, daß in der sogenannten Praktischen Philosophie der philosophische Diskurs sozusagen die Richtung geändert habe und auf das Symbolische hin tendiere, wo es doch um das Normative geht. Es könnte aber auch gelesen werden als die Generalbehauptung, daß Philosophie im Prozeß des Philosophierens eine Praxis sei; dazu bedürfte es freilich keiner Einspruchs-Ethik, das ist die Grundidee der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes. Schließlich könnte sich in der Praxis-Behauptung auch ein Fundamentalismus verstecken, der meint, jede reflektierte Normativität auf die gelebte Sittlichkeit des Ethos fundieren zu können oder jede Nichtfundierung von dort her kritisieren zu sollen, als wäre Schillers »Züchtige Hausfrau«, die »drinnen waltet« (Lied von der Glocke), ein Kriterium der Pflicht – ein Bild angesichts dessen sich schon die Frühromantiker vor Lachen gekrümmt haben und das man Heike Kämpf wirklich nicht unterstellen sollte. Aber was genau soll die Beschwörung der Praxis bedeuten? Zu recht kritisiert Kämpf Ansätze wie die von Gilligan, die eine weibliche Moral von einer männlichen abgrenzen. In der Tat ist die Entgegensetzung von Fürsorge und Gerechtigkeit nicht an Weiblichkeit vs. Männlichkeit festzumachen. Eine Moral der Nähe und eine reflektierte Moralität der Ferne hat erst dann mit Männern und Frauen etwas zu tun, wenn Frauen durch Ausschluß aus der Öffentlichkeit auf Nahbeziehungen allein festgelegt worden wären oder wenn Männer durch Absorption in der Öffentlichkeit von allen Nahbeziehungen ausgeschlossen würden. Aber das hat nicht direkt etwas mit Weiblichkeit oder Männlichkeit zu tun, sondern mit spezifischen Ausschlüssen aus Sphären des Normativen. Übertrüge man Gilligans Naturalismus auf die symbolische Richtung des Diskursiven, so müßte man Frauen als Nahsinnwesen, d.h. als Schmeckerinnen und Riecherinnen ansprechen, Männer dagegen als Hörer und Seher. Auch hier gehört das Zusammen von Nähe und Ferne zum wahren Sinn des Menschlichen, nicht die Separierung und die Privilegie-

44 I. Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis, in: ders.: Ges. Schriften VIII, 275 ff.

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rung. Gemeint sein kann ja wohl auch kaum jene von einer kurzsichtigen Politik eingeforderte Praxisbehilflichkeit (»Praxisrelevanz«) der Theorie, die die Zwecke der Praxis schon für ausgemacht hält und nun die Theorien danach bemißt, inwieweit sie sich als Mittel dieser Zwecke eignen. Angesichts solcher Theoriebegriffe einer polytechnischen Labor-Politik ist es gewiß am besten, die völlige Nutzlosigkeit jeglicher Theorie für jene munter einzugestehen. Aber wie gesagt, auch das kann eine postfeministische Ethik kaum mit dem Praxis-Einspruch gemeint haben. Im zweiten Teil dieses Abschnitts werden wir uns den symbolischen Generalisierungen zuzuwenden haben, die eine gebrochene symbolische Gewißheit ernötigt. Auch hier könnte man darauf verweisen, wie allein schon der Bezug auf die soziale und die temporale Dimension den Bruch darstellt. Ich will das abkürzungshalber nicht weiter ausführen, sondern lediglich diesem Bruch den ihm gebührenden Namen zuweisen, den wir ihm üblicherweise geben: Es ist der Zweifel und etwas gründlicher die Skepsis (nicht der Skeptizismus!), die hier den Anlaß für die Rekontinuierung geben. Und das Resultat der Wiederherstellung dieser Kontinuität im Symbolischen nennen wir Wissen. Im Alltagsverständnis wird oft angenommen, daß sich die Meinungen der Leute (doxa, »philosophy«) vom wissenschaftlichen Wissen (episteme, Philosophie) durch einen höheren Grad von Gewißheit bei letzteren unterscheiden. Das Gegenteil ist der Fall: im Alltag benötigen wir Gewißheiten, die uns im (wissenschaftlichen) Wissen für immer abhanden gekommen sind. Und weil uns die Sicherheit in der Philosophie durch allgegenwärtige Skepsis nicht mehr zur Verfügung steht, kürzen wir die Argumentation manchmal ab durch Toleranz gegenüber irgendwelchen »philosophies«. Solche Skepsis ist etwas anderes als ein Wissen (gar Wissenschaft) vom Nichtwissen (Ignoretik45). Nun reichen aber Ethos und Pflicht, sowie symbolische Gewißheit und Wissen nicht aus, die diskursiven Grundstrukturen der symbolisch-normativen Dimension auszuleuchten. Sowie wir in der Sozialdimension eingestehen mußten, daß sich das Soziale nicht aufgebaut denken läßt durch eine Verkettung SelbstAnderer-Beziehungen, sondern daß es des Dritten bedarf, um Soziales vor sich zu haben, so ist es auch im Symbolisch-Normativen nicht mit der Beziehung des Diskurses auf seinen normativen oder symbolischen Gehalt getan. Eine klassische Illusion derjenigen Gesellschaftstheorien, die überhaupt den Dritten kennen

45 Kurt Röttgers: Woran ist die Ignoretik gescheitert?, in: Wissen und Verantwortung. Fs. Jan Peter Beckmann. Freiburg, München 2005, I, 136-177; Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1990, 269.

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und nicht Sozialität durch Intersubjektivität herzuleiten versuchen, ist es gewesen, daß der Dritte konstitutiv »über« dem Selbst und dem Anderen steht.46 Wir hatten dagegen gezeigt, daß der Dritte nicht das Grundelement der (wohl gar hierarchisch strukturierten) Herrschaft darstellt, sondern daß seine ontologische Position nicht sicher ist, d.h. wer heute oder unter einem bestimmten Aspekt Dritter ist, kann morgen oder unter einem anderen Aspekt die Position von Selbst oder Anderem einnehmen. Mit anderen Worten, er ist wie auch Selbst und Anderer im kommunikativen Text nur eine Funktionsposition, nicht eine spezifische Substanz oder mit einer spezifischen Substanz fest verbunden. Das hat zur Folge, daß sich die Positionen im Text in Rotation befinden können und dann nicht hierarchische Herrschaften begründen, sondern an-archische Netzstrukturen. Diese Annahmen haben auch für die symbolisch-normative Dimension weitreichende Konsequenzen: Das transzendentale Subjekt verabschiedet sich aus der Theorie. Das Subjekt der Moderne, die irgendwann im vergangenen Jahrhundert endete, hatte sich selbst bestimmt als selbstbestimmtes Subjekt. Um sich selbst bestimmen zu können, mußte es sich als frei setzen. Frei zu sein, hieß erstens, in Handlungszusammenhängen als Urheber von Handlungen gelten zu können. Zu diesem Zweck hatte das Subjekt, bevor es handelte, die Intention zu handeln; es war Täter, noch bevor es etwas tat.47 So erschien ihm seine Freiheit verdoppelt, nämlich in seiner Intentionsbildung autonom, d.h. selbstgesetzgebend zu sein,

46 So etwa Levinas und Derrida; cf. Thomas Bedorf: Die Gerechtigkeit des Dritten – Konturen eines Problems, in: Philosophische Perspektiven. Beiträge zum VII. Internationalen Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, hrsg. v. Otto Neumaier, Clemens Sedmak u. Michael Zichy. Frankfurt/M., Lancaster 2005, 50-55; zur Kritik dieser Illusion s. Kurt Röttgers: Transzendentaler Voyeurismus, in: Theorien des Dritten, hrsg. v. Thomas Bedorf, Joachim Fischer u. Gesa Lindemann. München 2010, 33-71. 47 Dieser Illusion hängen auch immer noch diejenigen an, die die Täter noch, bevor sie die Tat tun, identifizieren und unschädlich machen zu können glauben: die »Schläfer« unter uns, die schon zur Gewalt »neigen«, bevor sie noch irgend etwas getan haben. Zu ihrer Erkennung und Ergreifung dienen analog zu den Nackt-Scannern der Körper die Seelen-Scanner, d.h. die durch Vernetzung vielfältiger Informationen erzeugten »Profile«, die die dilettantische Informationsbeschaffung der »Stasi« an Effizienz bei weitem übertreffen werden, ganz zu schweigen von der freiwilligen und selbsttätigen stasi-ähnlichen Erfassung durch Facebook und ähnliche Selbstauskunfteien.

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und in seiner handelnden Intentionsverwirklichung ungehindert zu sein.48 Was nutzte – so nahm man an – dem Subjekt der Moderne die schönste Selbstgesetzgebung, wenn die sozialen und politischen Verhältnisse es an der Verwirklichung der selbstgesetzten Ziele hinderten? Und was nutzten ihm die schönsten politischen Freiheiten, wenn das Subjekt nicht fähig war, sich selbst Gesetze zu geben und sich selbst zu beherrschen? In diesem Gedanken überlebte die alte Bedeutung des Wortes »subiectum«, nämlich ein Unterworfenes zu sein. Nur das seiner Vernunft unterworfene Subjekt sollte als wahrhaft freies Subjekt gelten. Wozu, kann man sich fragen, wurde diesem Subjekt eingeredet, es sei frei gerade dann, wenn es unterworfen sei? Aus seiner historischen Genese ist diese Paradoxie erklärlich. Das Subjekt der bürgerlichen Revolution berief sich in seiner Opposition gegen die die äußerliche Freiheit einschränkende Gesetzgebung auf seine innerliche Unterworfenheit, seine innere Freiheit, um zu dokumentieren, daß Freiheit nicht in Anarchie mündet, sondern im Gegenteil eine noch stabilere Herrschaftsstruktur gewährleistet. Mit der Paradoxie verband die Moderne eine doppelte Frontstellung. Dieses Subjekt nämlich sollte zugleich ein einzelnes und vereinzeltes sein, um dann mit seinesgleichen atomistisch (d.h. individuell, so die Übersetzung für Atom seit Cicero) und egalitär die Lebensverhältnisse vertraglich so regeln zu können, daß jeder Einzelne sich selbst bestimmen kann. Die zugemutete Paradoxie war, Individuum und Subjekt zugleich zu sein. Als Individuum ist das moderne Selbst einzig, unverwechselbar und von innerer Unendlichkeit der Vielfalt seiner Bestimmungen. Als Subjekt jedoch sollte es im Kern ein allgemeines, vernünftiges und alle Vernünftigkeit repräsentierendes, also gerade nicht individualisiertes sein; von ihm aus konnte jede historisch-konkrete Gestaltung der Lebensverhältnisse als bloß partikular und nicht allgemeingültig kritisiert werden. Im Subjekt, wenn es sich wahrhaft selbst bestimmte, artikulierte sich die Vernunft, und die ist bekanntlich in allen Subjekten eine einzige und mit sich identische. Zweitens aber hieß für das Subjekt der Moderne Freiheit auch, Urheber seiner Welt zu sein, so wie sie als erkannte erscheint. Aber auch in dieser theoretischen Dimension seiner prekären Existenz in der Moderne wird die Freiheit des Subjekts sofort durch die Allgemeinheit seiner Vernünftigkeit wieder eingefangen und unterworfen. So werden Anarchismus einerseits, Solipsismus andererseits im Konzept des autonomen Subjekts vermieden. In den

48 Daß bereits John Locke diese Freiheitsverdopplung absurd erschien, hat nicht den Siegeszug dieser Idee verhindern können, daß es hinter der offensichtlichen Freiheit noch eine eigentliche Freiheit des Subjekts gäbe. John Locke: Works. Neudr. Aalen 1963, I, 252.

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postmodernen Überwachungsgesellschaften, entstanden aus einem hypertrophierten Sicherheitsbedürfnis, das für jede Unsicherheit einen Schuldigen kennen zu müssen meint, ist diese Paradoxie tendenziell eliminiert. Gleichwohl ist kaum zu übersehen, daß dieses Subjekt-Konzept der Moderne den Anderen nicht kennt. Entweder die Theorie des Subjekts verwickelt sich in die Fallstricke der Intersubjektivitätstheorie, nämlich wenn die Außenseite des Subjekts, sein Erkennen und sein Handeln, zentral ist; dann aber bleibt immer fraglich, ob es das andere Subjekt überhaupt gibt in der Art und Weise, wie das Subjekt sich selbst in seinem Erkennen und Handeln gegeben ist, oder – in einer schwächeren Version –, ob das eine Subjekt das andere Subjekt je wirklich verstehen kann. Oder die Theorie des Subjekts in der Moderne kennt den Anderen deswegen nicht, weil es in seiner Selbstinterpretation als ein allgemeines, weil vernünftiges, immer schon über die Differenz des Anderen hinaus ist. Charakteristisch dafür ist Kants Lügentheorie in seiner Auseinandersetzung mit Benjamin Constant.49 Die soziale Dimension des Anderen und seines fraglichen Rechts auf Wahrheit scheidet Kant von vornherein als unsinnigen Gedanken aus; beim Lügen komme es nicht auf den Anderen an, sondern allein auf die Verletzung der »Menschheit in meiner Person«. Und diese »Menschheit in meiner Person« ist selbstverständlich eine und alle bloß empirischen Differenzen sekundär, so daß in der Tat einer, oder genauer jeder Mensch die Menschheit repräsentiert und für sie einsteht. Darin wird nicht nur eine Überforderung des Subjekts sichtbar, das die Verantwortung für die gesamte Menschheit übernehmen soll, sondern es tritt auch zutage eine Ignoranz hinsichtlich derjenigen besonderen Verpflichtungen, die sich aus sozialer Nähe ergeben. Also muß – im Kantischen Beispiel – der Schutzsuchende, selbst als Freund, an seinen potentiellen Mörder verraten werden, um die Menschheit in meiner Person nicht zu verletzen. Kant berücksichtigt nicht nur den Anderen nicht und widerspricht damit Constants Korrelierung des Lügenverbots mit einem fraglichen Recht auf Wahrheit des potentiellen Mörders, sondern er ignoriert auch, was wohl der Betroffene, d.h. der Dritte dazu sagen wird, daß er sich einem ausgeliefert hatte, auf dessen Schutz er sich vertrauensvoll verlassen zu können glaubte und der sich nun auf die »Menschheit in seiner Person« beruft, um ihn zufolge des Lügenverbots zu verraten. Ich hoffe, er sagt sich: euch Kantianer mit der »Menschheit in eurer Person« kenne ich wohl, da wird es das beste sein, ich verlasse das Haus durch die Hintertür, rette damit mein Leben und die »Menschheit in der Person« des vom potentiellen Mörder

49 In der kleinen Schrift Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen (1797), in: I. Kant: Ges. Schriften VIII, 425-430.

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Befragten. Das setzt allerdings voraus, daß der Verfolger ebenso denkt, auch potentielle Mörder müssen sich also auf das absolute Lügenverbot der anderen verlassen, was nicht so hoch wahrscheinlich ist. Aber selbst dann, wenn die Eliminierung der Differenz durch den Universalitätsanspruch der Vernunft des Subjekts der Moderne und seine Repräsentativität und wenn die Unmöglichkeit der Darstellung des Anderen in den Theorien der Intersubjektivität keine unüberwindlichen Probleme darstellten (was ich allerdings nicht glaube), wäre doch die Theorie des Subjekts der Moderne noch weit davon entfernt, Mittel zur Darstellung des Sozialen zur Verfügung zu stellen. Erst dann nämlich, wenn uns die Kategorien des Dritten und die des Fremden – als vom Anderen methodisch radikal geschiedenen – zur Verfügung stehen, läßt sich Schritt für Schritt die soziale Dimension des kommunikativen Textes erschließen.50 Der kommunikative Text geht nicht deswegen weiter, weil es Subjekte gibt, die Urheber von Intentionen wären, die sie verwirklichen, indem sie in vertragsförmige Beziehungen mit anderen Subjekten eintreten, die im Grunde ihrer Vernunft auch nicht anders sind als sie selbst und die ihrerseits Urheber von Intentionen sind, die sie verwirklichen wollen, mit denen man also gar keinen Vertrag zu schließen braucht, weil die Grund-Identität von Subjektivität jedes Beilegen von Differenzen durch einen Vertragsschluß erübrigt. Sondern der Text geht weiter, weil er Anschlüsse schafft, d.h. verführerische Gelegenheiten zur Textfortsetzung. Für das moderne Subjekt in seinem Selbstverständnis freilich ist Verführung eine Bedrohung. Angesichts verführerischer Situationen wäre es das Ziel der Modernen immer gewesen, die Autonomie des Subjekts bis zur Unverführbarkeit zu stärken. Darin gingen Sokrates und Augustinus dem modernen Subjekt vorbildhaft voraus, der erste, indem er den Dritten als soziale Grundkategorie, die die Sophistik noch in ihre Erwägungen einbezogen hatte, durchstrich und nur noch die agonale Dialogik der gemeinsamen Bemühung um die Sache kannte, der andere, indem er auch noch den Anderen durchstrich und die Seele mit Gott alleine ließ. Die Moderne, die dieses Erbe antrat, verlor auch noch den Glauben an Gott, nämlich in seiner Funktion als Garant praktischer und epistemischer Beziehungen, die das moderne Subjekt jetzt autonom gestalten wollte, indem es Gott darauf reduzierte, Weltenschöpfer und Jenseitsverwalter zu sein. Der melancholische Rückblick im Sinne einer kritischen Theorie des Subjekts im ja nun überstandenen 20. Jahrhundert hätte daran zu erinnern, wie das sich selbst bestimmende Subjekt den diversen Verführungen trotzt. Und so wird

50 S. dazu ausführlich K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie.

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ja in der Regel auch die Geschichte der großen politischen Katastrophen dieses überstandenen Jahrhunderts als eine Geschichte der leider allzu großen Verführbarkeit und des Mangels an autonomer Selbstbestimmung der Subjekte präsentiert. Es habe einige große Verführer gegeben und zu wenig autonome Subjekte, die sich ihnen in den Weg gestellt hätten. Wären diese Geschichten zutreffend, dann müßte in der Tat die Parole lauten: Stärkt die Subjekte in ihrer Autonomie, verwirklicht endlich die Moderne statt an ihr zu verzweifeln. Solches hören wir denn auch von denen, die sich selbst gerne als Aufklärer bezeichnen lassen. Wie eigentlich immer haben auch noch die gröbsten Geschichten ihr Quentchen Wahrheit. Denn dem wahrhaft autonomen Subjekt könnten weder Teufel noch Frauen51 (oder Männer) etwas anhaben. Modern ist es, das Subjekt als selbstbestimmt zu betrachten und vor allem zu wünschen und zu wollen. Aber leben wir wirklich noch in der Moderne, die mit derartigen Konzepten begreifbar gemacht werden könnte? Inzwischen wachsen doch die Zweifel übergroß; wenn aber dieses Konzept als gewünschtes und gewolltes normatives Korrektiv gegen das Unheil, das droht, beschworen wird, beweisen doch gerade diese forcierten Beschwörungen, daß wir als diagnostischen Befund von etwas anderem auszugehen hätten. Überall aber empfiehlt es sich, therapeutische Maßnahmen nicht vor den diagnostischen anzusetzen. Ebenso wie es unsinnig wäre (manche tun es ja), die Postmoderne programmatisch auszurufen und emphatisch für sie Partei zu ergreifen, ebenso unsinnig wäre es, eine Moderne beschwörend zurückzurufen, die der kühle diagnostische Blick als endend erkennen müßte. In dieser Postmoderne nun, das halte ich für ihr vielleicht zentrales Merkmal, kommt es zum Verlust des autonomen Subjekts. Neue Zeitalter beginnen nicht dadurch, daß man sie programmatisch proklamiert. Das wirklich Neue verdankte sich eigentlich nirgendwo dem entschlossenen Willen, den Intentionen oder den guten Absichten handelnder einzelner oder massenhaft auftretender Menschen. Daher ist der Beginn der Postmoderne auch keinesfalls identifizierbar über die Kritik an der Moderne. Im Gegenteil: Kritik der Moderne ist konstitutives Merkmal der Moderne selbst. Der Begriff der Kritik hat von Poliziano über Lessing, Kant, Marx bis hin zu Horkheimer immer die

51 Rousseau argwöhnte, daß die Frauen »selon l’ordre de la Natur« den Männern die Freiheit rauben wollen und das es deswegen aberwitzig sei, Frauen und kleine Mädchen zu »précepteurs du public« zu machen, was auf dem Theater seiner Zeit geschehe, weswegen es zum moralischen Nutzen der Stadt Genf sei, daß sie kein Theater habe. Jean-Jacques Rousseau: Lettre à d’Alembert. Paris 1967, 113.

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Moderne und ihr Selbstverständnis definiert.52 Auch die Dialektik der Aufklärung ist daher in ihrer Kritik zentraler Strukturen der Moderne nichts anderes als eine revidierte Formulierung der Ansprüche, manche sagen: der uneingelösten Ansprüche der Moderne. Und das gleiche gilt mutatis mutandis für den zentralen Begriff des Subjekts. Kritik des modernen Subjekts ist eine der zentralen Aufgaben des Subjekts der Moderne. Dieser Aufgabe sind Philosophen von Descartes an nachgekommen. Insofern beendet eine »Kritische Theorie des Subjekts im 20. Jahrhundert« dieses nicht, sondern verlängert nur dessen Agonie, sozusagen durch künstliche Beatmung. Was jedoch mit Ende des 20. Jahrhunderts tatsächlich geschehen ist und m.A.n. nun diagnostisch festzuhalten ist, ist der Verlust des Subjekts, und zwar gerade in seiner für die Moderne wesentlichen Funktion des autonomen und d.h. eben auch kritischen Subjekts. M.a.W. ich kennzeichne die Postmoderne nicht als weitere Stufe der Kritik der Moderne, sondern als Verlust wesentlicher Momente der Moderne. Wie bei allen Verlustgeschichten kann man auch in dieser den Verlust als heftig zu beklagenden, vielleicht durch lautes Wehklagen und Mahnen aufzuhaltenden, oder wo schon eingetreten, rückgängig zu machenden beschreiben oder aber als Entlastung und Befreiung. Für welche Art der Geschichte man sich entscheiden wird, wird weitgehend von den Anschlußtexten abhängen. Sachangemessen wäre sicher eine Berücksichtigung sowohl der Leiden wie der Freuden durch Verlust des autonomen Subjekts. Philosophen der Gegenwart neigen vielfach dazu, den eingetretenen Beginn der Postmoderne in diesem Sinne schlicht zu leugnen oder ihn in Begriffen der Moderne als weitere Stufe der Entfaltung ihrer wesentlichen Antriebe zu beschreiben, z.B. als Kritik der Moderne und ihres Subjekts, um dann festzustellen, daß die Postmoderne nun auch nichts anderes sei als eine neue Variante der immer noch nicht überholten und immer noch nicht vollendeten Moderne. Oder aber sie sehen zwar die Strukturen des Neuen, aber das erschreckt sie so sehr, daß sie vor der Postmoderne warnen, als wäre sie ein Ereignis, das, wenn alle Menschen guten Willens sich zusammentun, noch abzuwenden wäre. Solche Mahnungen, Warnungen und Beschwörungen der guten alten Moderne haben zudem durchaus ihren Sinn. Insbesondere bei feierlichen Anlässen ist es öffentlich erwünscht, an das Verlorene weihevoll zu erinnern und zu klagen, zugleich vor der bedingungslosen Selbstauslieferung an ein noch Unbekanntes zu warnen. Das hat, wie gesagt, durchaus seinen Sinn, zumal Epochenschwellen keineswegs bedeuten,

52 Kurt Röttgers: Kritik, in: Enzyklopädie Philosophie, hrsg. v. H. J. Sandkühler. Hamburg 1999, I, 738-746; Paul Geyer: Kritik des Kritikbegriffs, in: Proteus im Spiegel, hrsg. v. Paul Geyer, Monika Schmitz-Emans. Würzburg 2003, 27-41.

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daß das Alte keinen Bestand mehr hätte; es wandelt sich lediglich seine Funktion ins bloß Ornamentale. All das ändert nichts daran, daß der Verlust längst eingetreten und irreversibel ist. Der Funktionsverlust des Konzepts »autonomes Subjekt« heißt ebenfalls nicht, daß niemand mehr davon reden wird. Im Gegenteil, die Rede hat Konjunktur, aber die Rede ist zur Litanei geworden. Zu oft hat man das freie, verantwortliche und selbstbestimmte Subjekt in die Pflicht gerufen, zuviel hat man ihm abverlangt. Abnutzung (Erosion, Korrosion) ist jedoch nur einer der Gründe seines Funktionsverlusts, ja eher ein bloßes Symptom. Denn je mehr sich dem unbefangenen Blick herausstellte, daß die Erwartungen an dieses Konzept, jene »Illusionen von Autonomie«53 sich nicht einlösen ließen, desto mehr und desto unbedingter erwartete man in der Art normativen Erwartens von ihm. Erinnern wir uns doch kurz an den Begriff, den dieses Schicksal etwas eher ereilt hat als den Begriff des autonomen Subjekts, nämlich den Begriff des Fortschritts, der allerdings auch erst später aufgetreten ist als der Subjektbegriff, so daß die Gesamtspanne, während der man ihn für einen wesentlichen Begriff sozialer Selbstverständigung hielt, nur einen kleinen Ausschnitt aus der Moderne umfaßt, ca. 150 Jahre. Heute glaubt kein Mensch mehr an den Fortschritt in dem Sinne, daß ein Fortschreiten zum Besseren die Gesamtstruktur historischen Geschehens ausmache. Gleichwohl ist die Rede vom Fortschritt nicht ausgestorben, sondern »lebt« als Untoter unter uns munter fort, und sei es nur unter der Gestalt des ökonomisch definierten Wachstumsgebots. Dem autonomen Subjekt war in der Moderne viel zugetraut worden. Es sollte Einheitspunkt und Ermöglichungsgrund aller epistemischen Verhältnisse sein, sowie Bedingung der Möglichkeit sittlichen Handelns. Heute setzt sich im allgemeinen immer mehr das Bewußtsein durch, daß ein jeder zwar – in der manchmal einzunehmenden Rolle des autonomen Subjekts – Wahrheit und Sittlichkeit, d.h. die Allgemeinheit seines Wesens, anstreben kann, daß aber die Konkretion der Sittlichkeit und des wahren Wissens ganz anders fundiert sind als in den Intentionen des Subjekts und daß selbst dann sich diese Ergebnisse jeweils temporär und lokal einstellen können, wenn niemand oder nicht die meisten oder nicht die Besten unter den meisten dieses überhaupt intendiert haben konnten. Das nennt man dann die »List der Vernunft« oder die »unsichtbare Hand«. Und manchmal, während dieses geschieht, entwickeln die autonomen Handlungssubjekte dann auch die dazu passenden Intentionen oder auch das nachträgliche Bewußtsein, die passenden Intentionen immer schon oder jedenfalls vor dem Eintritt des Ereignisses gehabt zu haben. Diese Konvergenz der

53 K. Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie.

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Gesetze der Geschichte mit den Intentionen der Handlungssubjekte macht bekanntlich das Fortleben der Hegelschen Geschichtsphilosophie im Parteilichkeitskonzept des Marxismus aus. Das autonome Subjekt wird auch in der Postmoderne Fortbestand haben, aber so wie der Ackerbau in der Informationsgesellschaft und die Kirchen nach dem Tode Gottes und dem Zeitalter des Glaubens: der Ackerbau nicht mehr als Grundform ökonomischer Wertschöpfung, wie noch die Physiokraten des 18. Jh. glaubten, und die Kirchen nicht mehr als monopolistisches Vermittler und Verwalter jenseitigen Heils, sondern leerlaufend oder mit völlig neu erfundenen Funktionen. In gleicher Weise, das wage ich zu prognostizieren, wird auch die Illusion des freien und sich in seinem Handeln und Wissen selbst bestimmenden Subjekts auch in Zukunft in öffentlichen Zeremonien weiter gehätschelt werden. Nicht erst durch die Theorie, sondern durch reale Entwicklungen ist die Subjekt-Gewißheit und mit ihr die Intentionalitäts-Gewißheit geschwunden. Selbstverständlich werden der Begriff des Subjekts und der der Intention nicht dadurch gänzlich obsolet. Ihnen schwindet lediglich ein Großteil der Erklärungskraft, die ihnen in der Folge der klassischen modernen Philosophie bis zu Habermas zugemutet wurde. So ist man befreit zu derjenigen Perspektive, die darauf achtet, wie Intentionen beim Handeln entstehen, ganz ähnlich wie die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Es ist doch gar nicht so, wie bestimmte Sorten von Handlungs-Theorien uns immer noch gerne weismachen möchten, daß erst – als Voraussetzung des Ganzen – ein Subjekt da sei, daß dieses Subjekt Intentionen entwickelt,54 manchmal zugestandenermaßen angestoßen durch Bedürfnisse, Motive oder unbewußte Antriebe, und das schließlich im Sinne der so vom Subjekt gehabten Intentionen gehandelt würde und am Ende sich der Handlungserfolg nach dem Maß der Realisierung der Absichten bemißt. Oft handeln wir in Fortsetzung oder in Beantwortung eines anderen Handelns und erst zur Rede gestellt, leisten wir uns so etwas wie Intentionen. Muß man, um einem Schlag auszuweichen oder um einen Steilpaß eines Mitspielers anzunehmen, oder auch nur »Für Elise« spielend und abwechselnd den vierten und fünften Finger der rechten Hand E und Dis anschlagend, dazu die entsprechenden »Intentionen« entwickelt haben? So zu reden, wäre nichts anderes als eine bloße Verdopplung ontologischer Entitäten, die durch nichts anderes erforderlich wird als durch die Entscheidung für die Annahme, daß alles Handeln seine Origo in einem Subjekt mit präformierten Intentionen habe. Oder achten wir doch auch

54 Zur Kritik s. auch Elizabeth Anscombe: Absicht, hrsg. v. John M. Connolly, Thomas Keutner. Freiburg, München 1986.

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einmal auf jene Veränderung der Absichten durch Einsichten, die das Problem der Lüge in nicht-moralischer Weise tangiert. Irgendwann einmal habe ich eine Einsicht gehabt, ich verbinde sie nun mit der guten Absicht, sie zu äußern und sie zu verbreiten. Unser Text ist ein wahrer Text, und die Autorschaft lasse ich mir, wenn ich meine und die Ehre habe, ein modernes, freies und selbstbestimmtes Subjekt zu sein, als Verdienst zurechnen. Im Verlauf des andauernden Textes, mit dem sich diese Wahrheit verbreitet, stellen sich Zweifel ein, aber der Text geht weiter. Die Zweifel verstärken sich und nehmen überhand, doch der Text geht weiter. Wo entsteht der Punkt, an dem der Autor des Textes, jenes selbstbestimmte, Intentionen pflegende Subjekt zum Lügner wird? Wo ist die gute Absicht zur bösen geworden? Immerhin, meine Zweifel könnten allzu skrupulös gewesen sein, mein schwindender Glaube an die Wahrheit der Äußerung und damit die Güte oder Schlechtigkeit meiner Absichten könnten ein Irrtum sein. Oder umgekehrt: ab welchem Punkt wird die Beruhigung in letzter Hinsicht zur Selbsttäuschung, vielleicht zur Lebenslüge? – Was mit diesen Fragen gezeigt werden sollte: das Subjekt der Moderne ist gar nicht einfach ein selbstbestimmtes, freies Subjekt, das seine Intentionen »hat«, so wie sie nun einmal sind, und das diese Intentionen sich dann in Handlungen äußern läßt. Das Subjekt der Moderne ist bereits ein in sich hoch reflektiertes, bis in eine Labyrinthik einer Innenwelt sich differenziert habendes Subjekt. Intentionen sind für dieses immer schon mehrfach gebrochene Intentionen. Lügen können von intentiones rectae so einfach nicht mehr unterschieden werden. Für Augustin, vor der Moderne, war alles ganz einfach. Das Herz und Gott sind sich einig, beide wollen das Heil der Seele, alles andere ist Störwerk des Teufels. Die die guten Absichten störenden Einsichten eines in sich vielfach reflektierten Subjekts können aber unter Bedingungen der Moderne und der Postmoderne nicht mehr auf eine Unschuld des Herzens zurückgeglaubt werden. Unter den Bedingungen der endenden Moderne gibt es – in gewissem Umfang – eine Informationspflicht, d.h. die Pflicht, die noch so guten Absichten durch Einsichten irritieren zu lassen. Unter Aspekten der Intentionen kann ja das gutseinwollende und gute Absichten haben wollende Subjekt vor dem Lügen sich dadurch schützen, daß es gewisse Wahrheiten nicht zur Kenntnis nimmt und dadurch als Irrtum rettet, was sonst Lüge geworden wäre. Die »Unschuld« des Irrenden weiß die Wahrheit, die er wissen könnte, einfach nicht. Nur ein bißchen mehr an Wissen würde ihn vielleicht schon zum Lügner werden lassen. Aber da entsteht die Frage: Wie viele Informationen zu haben ist Pflicht des selbstbestimmten verantwortlichen Subjekts? »Die deutschen Atomkraftwerke sind die sichersten der Welt« – wie viele Informationen muß sich das autonome Subjekt verschaffen, damit solche Sätze von der Gefahr des Irrtums in die Gefahr der Lüge übergeht,

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oder auf wie viele Informationen darf ich verzichten, damit das nicht geschieht?55 Wo ändern Informationen die Werthaltigkeit der Intentionen, die von Subjekten gehabt werden? Oder bedenken wir den Einfluß des Unbewußten. Kurz zusammengefaßt: Mußte man das, was man sagte, vorher sagen wollen, oder sagt sich auch einiges, sozusagen vorbei an den Intentionen.

4.3 B EOBACHTUNGSBEOBACHTUNGEN B EWERTUNGSBEWERTUNGEN

UND

Das Dritte in der Dimension symbolisch normativen Sinns benennen wir – darin Luhmann folgend – als Beobachter des Beobachters und daran anschließend als Bewerter des Bewerters.56 Luhmanns Sozialphilosophie führt den Begriff des Beobachters zweiter Stufe ein. Der Zusammenhang ist kurz gesagt folgender: Anders als transzendental fundierte Erkenntnistheorien macht der radikale Konstruktivismus Luhmanns sich nicht mehr auf die Suche nach dem unhintergehbaren Ursprung aller möglichen Erkenntnis, der nicht selbst wiederum zum Objekt

55 Leicht veranschaulichen ließe sich das am Diskurs über die Atomenergie in den letzten 50 Jahren. In den Fünfzigerjahren war man der Überzeugung, daß die friedliche Nutzung der Atomenergie das Nonplusultra technologischen Fortschritts bedeute und daß sie die einzige Möglichkeit der Sicherung der Energieversorgung in Deutschland sei, man leistete sich damals in der Bundesregierung sogar einen eigenen Atomminister (Theodor Blank), und diese Art der Energieerzeugung sei sicher und sauber. Niemand bezweifelte irgendeines der Momente dieses Diskurses. Auch im 21. Jh. wird all das immer noch behauptet, aber all das ist inzwischen von Zweifeln besetzt, als Ideologie der Stromkonzerne und ihrer Helferhelfer beargwöhnt oder geradezu als Lüge »entlarvt«. Der Text geht weiter, und wo sind die ursprünglich guten Absichten zu bösen geworden? Seit der Katastrophe von Fukushima setzt sich teilweise, vor allem außerhalb Deutschlands, die Ansicht durch, daß wir es lieber gar nicht wissen wollen, also die Atomkraftwerke besser nicht dem Extremtest durch das Unvorhersehbare aussetzen wollen, was eine Beweislastumkehr wäre. 56 Zur Bewertung von Bewertungen s. auch Georg Simmel: Philosophie des Geldes, in: Georg-Simmel-Gesamtausg., hrsg. v. O. Rammstedt VI. Frankfurt/M. 1989, 37 ff., 52 ff., allein schon, daß die Frage nach dem Wert des Geldes keine sinnlose Frage ist, eröffnet die logische Möglichkeit der Bewertung von Bewertungen, cf. 199 ff., dort die berühmte Formel (201), daß das Geld nicht nur eine Funktion hat, sondern auch eine Funktion ist.

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einer Erkenntnis gemacht werden könnte, weil er die Ermöglichungsbedingung jeglicher Erkenntnis zu sein hätte. Der Konstruktivismus weiß, daß jede Erkenntnis einen solchen blinden Fleck beinhaltet, der aber von einer anderen Perspektive aus sichtbar gemacht werden kann. Der Konstruktivismus operiert vielmehr konsequent differenztheoretisch und nicht mehr von der Identität aus.57 Grundlage ist hier, daß die Position des Beobachters durch eine Unterscheidung konstituiert ist, die qua Beobachten vollzogen wird. Ein Beobachter ohne Unterscheidung (der Mythos des reinen Empirismus) ist nicht möglich. Aber es ist hier (anders als in Descartes Cogito oder Kants Transzendentaler Apperzeption oder in Fichtes Ich oder in Plotins Unum58 oder allen möglichen Subjekt-Theorien) nicht mehr möglich, den einen Einheitspunkt zu identifizieren, der selbst ohne jede Unterscheidung ist und an dem alles Unterscheiden beginnt. Vielmehr ist wie in Derridas différance die Unterscheidung schon in den Ursprung alles Unterscheidens in paradoxer Weise eingebaut. Die Einheit ist die Einheit der Differenz; und die Differenz ist die Differenz der Einheit selbst. Dieses Paradoxon läßt sich zwar nicht auflösen, aber es sind Regeln erkennbar, wie mit ihm umzugehen ist.59

57 Darin trifft sich der Konstruktivismus mit dem Dekonstruktivismus Derridas. Eine von Derridas Plausibilisierungsinstanzen ist die Problematisierung des Begriffs der Quelle, s. Jacques Derrida: Qual Quelle, in: ders.: Randgänge der Philosophie, 291324, hier bes. p. 327; zu den Strukturen der Verdopplung bei Derrida s. Rodolphe Gasché: The Tain of the Mirror, 215ff., 225-239; ferner K. Röttgers: Derridas Doppelgänger. 58 Darin sind alle diese Theorien strukturell von der Art des Monotheismus, dessen Einer Gott sich nicht unterscheidet, aber Unterscheidungen macht; aber das ist die Paradoxie des Monotheismus: Der Gott, der Unterscheidungen macht, unterscheidet sich genau dadurch von dem von ihm Unterschiedenen, dieses Problem ruft bekanntlich den Teufel als das Andere Gottes auf den Plan; cf. auch Michael Rumpf: Dazwischen, der Neid, in: Zeno 15 (1993), 58-74: »[…] der Gott, der das Verbot setzte und damit die Unterscheidung.« (599); Niklas Luhmann betont, daß in der älteren metaphysischen Tradition die Möglichkeit sich selbst ohne Unterscheidung von anderem zu denken allein Gott vorbehalten war. N. Luhmann: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen, 45. 59 Einen solchen Einheitspunkt möchte auch Alexander García Düttmann ins Derridas Denken re-implantieren, der als ein »Retter in der Not« »dem Spuk der gespenstischen Verdoppelung ein Ende« bereiten möchte. Alexander García Düttmann: Derrida und ich. Bielefeld 2008, 152.

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Ist jedes Beobachten (von Welt, von Strukturen oder Objekten der Welt) verwiesen auf das Vollziehen von Unterscheidungen, so ist diese Operation durch einen spezifischen Punkt des Beobachtens nicht selbst beobachtbar. Durch ein Beobachten des Beobachters und seines Beobachtens, auf welche Weise er Unterscheidungen vollzieht, läßt sich zwar für den Beobachter des Beobachters der blinde Fleck des ersten Beobachters für den zweiten sichtbar machen, nicht aber der blinde Fleck des zweiten Beobachters für eben diesen selbst. Und natürlich steht dem gar nichts im Wege, daß der Beobachter des Beobachters des Beobachters sich in ein und derselben Person finden, da aber der Beobachter (des Beobachters usw.) keine Substanz bezeichnet, sondern wie der Autor-im-Text60 eine Funktionsposition ist, ist dieses Gemeinsam-Vorkommen unerheblich. Denn auch wenn beide Positionen in nur einer Person vorkommen, bilden sie doch auch dort eine Differenz, die nicht zur Deckung gebracht werden kann. So ist der »Beobachter des Beobachters« eine Reflexionsposition, aber nicht schon deswegen überlegen, und zwar weil er strukturell die gleichen Probleme hat wie der von ihm beobachtete Beobachter, nur sachlich, d.h. um welche Unterscheidungen es sich handelt, steht er woanders. Daher bieten seine Beobachtungen nicht eine »höhere«, weil reflektiertere oder gar »wahrere« Einsicht in die Welt und ihr Beobachtet-Werden. Wenn eine Biologin im Labor bestimmte Beobachtungen macht und dabei von einem Wissenschaftssoziologen beobachtet wird, so sind eben die Beobachtungen des letzteren in keiner Weise privilegiert. Und wenn schließlich die Biologin sich selbst von dem Wissenschaftssoziologen beobachtet weiß, d.h. das Beobachtet-Werden ihres Beobachtens beobachtet, sagen wir in erkenntnistheoretischer Weise, die die möglichen Orte einer Wissenschaftssoziologie reflektiert, so ist auch das keine »überlegene« Position, durch die man auf der Leiter der Reflexionsiterationen nach oben zu dem Einheitspunkt jeder möglichen Erkenntnis aufsteigen könnte. Es folgt daraus, »daß nicht mehr von Objekten die Rede ist, sondern von Unterscheidungen, und ferner: daß Unterscheidungen nicht als vorhandene Sachverhalte (Unterschiede) begriffen werden, sondern daß sie auf eine Aufforderung zurückgehen, sie zu vollziehen, weil man anderenfalls nichts bezeichnen könnte, also nichts zu beobachten bekäme, also nichts fortsetzen könnte.«61 Das letztere Kriterium hängt mit der Annahme zusammen, daß es sich bei der Gesellschaft und ihren über spezifische Diskurse (»Codes«) ausdifferenzierten Subsystemen um »autopoietische« Systeme handelt, die sich ihre Anschlüsse

60 K. Röttgers: Das Leben eines Autors. Was ist ein Autor, und wo lebt er? 61 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt/M. 1997, 60.

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– wir sagen: die Fortsetzbarkeit des kommunikativen Textes – selber verschaffen müssen, und zwar aus ihrem eigenen Bestand. Die Operation eines Systems ist nur dann sinnvoll, ist nur dann eine Operation, die auch in der Sinndimension des kommunikativen Textes ihren Platz hat, d.h. die überhaupt nur dann zum kommunikativen Text gehört, wenn Anschließbarkeit gegeben ist. Indem für ein System die Unterscheidung von seiner Umwelt konstitutiv ist – wir sagen: die Unterscheidung des Diskurses von dem, was er bezeichnet –, d.h. grundsätzlich nicht zur Disposition steht, heißt das zugleich, daß das System nicht im Außen seiner selbst operieren kann. Alle klassische Erkenntnistheorie hat das gewußt und es beispielsweise auf die Kantische Formel gebracht, daß alles Erkennen sich nur auf die als Erscheinungen gegebenen Dinge, nicht auf die Dinge an sich beziehen könne. – Systeme sind daher, wie Luhmann sagt, selbstrefentiell geschlossen. Ein solches selbstreferentiell geschlossenes System wird in seinen Modifikationen nicht von außen dazu determiniert, sondern es verschafft sich seine Irritationen selbst. Es kann diese Irritationen der Umwelt zurechnen; aber wenn es das tut, dann ist es selbst dasjenige, das dieses tut. Die Umwelt kommt nicht bei dem System zu Besuch, ebensowenig wie früher die Dinge selbst, gar die Dinge an sich, in das Subjekt einwanderten. »Die Realität des Beobachtens ergibt sich […] nicht aus dem Ausgriff auf eine Welt, die unabhängig von dem Beobachter existiert und von allen Beobachtern, wenn sie nicht irren, gleichsinnig erfaßt wird, weil sie unabhängig von ihnen existiert. Deshalb erlaubt auch die Konvergenz von Beobachtungen keinen Rückschluß auf die Realität ihres Gegenstandes, sondern allenfalls einen Rückschluß darauf, daß Kommunikation stattgefunden hat. Jede 62

Referenz […] ist ein Konstrukt des Beobachtens.«

Allerdings müßte man an dieser Stelle genauer unterscheiden, je nachdem, von wo aus die Konvergenz festgestellt wird. Sind es zwei Beobachter, die je füreinander Moment ihrer jeweiligen Umwelten sind, so ist Konvergenz ein, wie Luhmann sagte, Kommunikationseffekt, der freilich auch auf einvernehmlichem Mißverstehen beruhen könnte (was wiederum nur von einem Beobachter dieses doppelten Beobachtens gesehen werden könnte). Ist es jedoch in dieser Weise der Beobachter des Beobachtens, der Konvergenz feststellt, so handelt es sich bei der beobachteten Konvergenz um sein Konstrukt, das wiederum von einem Beobachter seines Beobachtens »falsifiziert« werden könnte. Und da schließlich dieser Beobachter des Beobachtens eine (oder beide) der Beobachter erster Ord-

62 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, 78.

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nung sein kann (dann zugleich als Beobachter dritter Ordnung), sind die Beobachtungskaskaden rekursiv geschlossen und nicht hierarchisch auf irgendeine Einheit hin konvergierend. Man könnte die Position des »Beobachters des Beobachtens« auch den Kritiker nennen und damit die fundamentale Bedeutung des Konzepts von Kritik für jegliche Wissensorganisation der Moderne bezeichnen, wenn nicht gerade darin zugleich eine reiche Quelle möglicher Mißverständnisse einer solchen Konzeption bestünde. Die postmoderne Vorstellung von Wissen ist eben nicht mehr in einer Steigerung durch Kritik fundiert. Selbstverständlich ist Kritik weiter eine der möglichen Textanschlußarten, aber nicht weil der Kritiker (wenn er nicht irrt) recht hat gegenüber dem durch Kritik Überwundenen, sondern Kritik ist schlicht eine der Textanschlußformen durch Positionsabgrenzungen.63 Jeder kritisiert jeden und keiner weiß warum (im Sinne eines »besseren« Wissens).64 Überall dort, wo, wie in der philosophischen Kritik philosophischen Textes, Kritik und Kritisiertes sich im gleichen Diskurs bewegen, ist das Ansinnen der Überlegenheit nur eine Geste der Selbstermächtigung. Wenn z.B. eine Philosophieprofessorin erklärt, sie verstünde die Texte des jüngeren Kollegen nicht, so will sie damit nicht sagen, daß sie zu dumm ist, sondern daß er zu dumm ist, ver-

63 In den Konfinien der Moderne ist sonst auch schwer erklärbar, warum jede Kritik, die doch die letzte, weil Wahrheit entbergende und alles Gerede zum Schweigen bringende sein möchte, gerade das Gegenteil bewirkt: eine unendliche Kaskade weiterer Kritiken. Zum »letzten Buch« als Ziel aller philosophischen Bücher s. Kurt Röttgers: Buchphilosophie und philosophische Praxis, in: Dt. Zs. f. Philosophie 38 (1990), 1187-1201, dort im Anschluß an Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/M. 1981; cf. jedoch auch Jonathan Culler: Dekonstruktion. Hamburg 1988, 100: »Paradoxerweise zieht eine Interpretation um so mehr Schriften nach sich, je überzeugender und maßgebender sie ist.« Und: »Jede Disziplin versteht sich als eine Untersuchung, durch die das Schreiben an sein Ende gebracht werden könnte.« – hier in Interpretation von Derridas Begriff der Schrift. 64 Daher hat Jürgen Frese Kritik als Legitimationgestus bezeichnet, nämlich »Artikulation von Intellektuellen-Identität« zu sein. Jürgen Frese: »The Education of Henry Adams« und die Postmoderne, in: Am Ende – postmodern?, hrsg. v. Dieter Baacke et al. Weinheim, München 1985, 118-130, hier 119; Odo Marquard hat die alles durchschauende Kritik »komisch« genannt, nicht geschützt »davor, sich lächerlich zu machen.« Odo Marquard: Aesthetica und Anaesthetica. Paderborn, München, Wien, Zürich 1989, 57; cf. Jean-François Lyotard: Grabmal des Intellektuellen. Graz, Wien 1985, 17-19.

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ständliche Texte zu schreiben. Die Unterscheidung, die der kritische »Beobachter des Beobachtens« vollzieht, ist als solche kritisch oder unkritisch (oder naiv). Kritik als Perfektionsbegriff verpflichtet jeden, der überhaupt von dieser Unterscheidung Gebrauch macht, sich selbst als kritisch und das kritisch Beobachtete als (relativ) unkritisch zu bezeichnen. Die Umkehrung ist grundsätzlich nicht möglich. Daher kann die Postmoderne auch keineswegs selbst »unkritisch« sein, aber sie kann, wenn sie nicht überhaupt auf diese Unterscheidung verzichtet, das Kritik-Spiel so abundieren lassen, daß die moderne Erwartung der Steigerung durch Kritik unsinnig wird. Und das heißt nichts anderes, als daß Kritik selbst wieder als von derjenigen Naivität erscheint, die sie zum sie selbst legitimierenden Gegenstand gewählt hatte. Jede Demaskierung ist auch Selbstdemaskierung, jede Entblößung ist nur um den Preis der Selbstentblößung zu haben, oder mit Derrida gesprochen, Theorien dekonstruieren sich selbst, was freilich die Moderne noch unsichtbar zu machen versuchen mußte. Oder nach Luhmann: Auch jedes Beobachten des Beobachtens ist auf der operativen Ebene zwangsläufig naiv. »Insofern gibt es keine Reflexivitätshierarchien, mit denen sich das Beobachten von seinem Gegenstand entfernt und sein Verhältnis zur Realität mediatisiert.«65 Derrida hatte noch gemeint, bzw. der Psychoanalyse als Selbstverständnis unterstellt, daß diese einen ganz neuen Typ von Kritik ins Leben gerufen habe, nämlich einen, der das Ungedachte (z.B. der Phänomenologie) zum Thema macht: »Wie in einen Diskurs, wie er auch aussehe, eben das einschließen, was sich, als seine Bedingung, ihm wesentlich entzieht?« Das erfordere einen neuen, strengen Typ von Kritik, um sich gegen beliebiges Geschwätz abgrenzen zu können.66 Ich glaube nicht, daß es sich hierbei um einen neuen Typ von Kritik handelt, sondern um eine Ausdehnung der modernen Kritik auf ein neues Terrain. Immer geht es um Aufdeckung von bisher unbekannten Bedingungen des Textes, aber vielleicht ist ja die Dekonstruktion ursprünglich auch nur eine Ausdehnung von Kritik auf ein bisheriger Metaphysik, von Walter Benjamins »rettender Kritik«, die das Selbstverständnis der Werke reartikulieren möchte, gar nicht so weit unterschieden.67

65 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, 85. 66 J. Derrida: Fors, 35; anders und mit deutlicher Reserve gegenüber dem Kritikbegriff als einem »theoretischen« Begriff Jacques Derrida: Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New Ismen, Post Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen. Berlin 1997, 48f. 67 Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: ders.: Gesammelte Werke. Frankfurt/M. 2011, I, 243-337.

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Wechseln wir nun zur reflektierten Rekontinuierung des durch einen Bruch aufgebrochenen Kontinuums im Bereich des Normativen, so erscheint an der Stelle des Beobachters des Beobachtens der Bewerter von Bewertungen. Wir wollen in der Folge drei Typen solcher Metamoral in Augenschein nehmen, diejenigen Luhmanns, Simmels und Nietzsches. In seinem kurzen Aufsatz Sthenografie spricht Luhmann von der Rolle der Paradoxien in Sinnzusammenhängen. Er schließt sich nicht denjenigen an, die meinen, Paradoxien seien zu vermeiden oder, wenn aufgetreten, zu beseitigen.68 »Die Paradoxien werden nicht vermieden oder umgangen, sondern vorgeführt.«69 Denn im Erkennen, welches sich auf Unterscheiden gründet, ist die Paradoxie unvermeidbar, die darin besteht, daß die Unterscheidung Einheit will oder unterstellt, die sie jedoch qua unterscheidender Differenz zugleich performativ zerstört. Diese Paradoxie, die er nicht vermeiden kann, ist dem Beobachter jedoch der Sache nach unbekannt und kann erst von dem Beobachter seines Beobachtens thematisiert werden: »Jeder Beobachter beobachtet, was er beobachten kann, aufgrund seiner für ihn unsichtbaren Paradoxie, aufgrund einer Unterscheidung, deren Einheit sich seiner Beobachtung entzieht.«70 Das gleiche gilt nun für normative Probleme, die Luhmann am Teufel, d.h. der Inkarnation des als böse von der Moralität Unterschiedenen. Als Gott (so die islamische Version) den Menschen erschuf – nachdem der Engel zuvor geschaffen worden war –, da verlangte er von Iblis (dem nachherigen Teufel), Adam zu verehren. Gehorcht er, so verstößt er gegen den Grundsatz, daß es nur ein verehrungswürdiges Wesen gibt, nämlich Gott; gehorcht er nicht, so verweigert er dem Wesen, dem er allein Gehorsam schuldet, den Gehorsam. Was er auch tut – und eine Bedenkzeit oder die Hoffnung, daß Gott den paradoxen Befehl zurückzieht, gibt es nicht –, er wird zum Bösen. Warum kann Gott diesen Befehl nicht zurücknehmen, oder warum mußte er ihn überhaupt geben? Das mußte er deswegen tun, weil er mit dem Menschen ein moralisch verantwortliches Wesen geschaffen hatte, womit er sich selbst für den Menschen als den Guten setzen und durch eine Grundunterscheidung vom Bösen unterscheiden mußte. Oder reden wir weniger ketzerisch nicht von einem »Müssen« Gottes, so hängt die Existenz des Teufels daran, daß der moralisch sich orientierende Mensch, wenn er denn Gott als das Prinzip des Guten denkt und den Grund seiner moralischen Verpflichtung, das Böse als da-

68 Niklas Luhmann: Sthenografie, in: Niklas Luhmann u. a.: Beobachter. München 1990, 119-137. 69 L. c., 120. 70 L. c., 123.

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von unterschieden mitdenken muß, und zugleich – darin liegt die unaufhebbare Paradoxie dieser Grundunterscheidung – als unteilbare Einheit des Schöpfergottes, neben dem es kein anderes Wesen (gleichberechtigt oder gleich ursprünglich) geben kann.71 Die gleiche asymmetrische Paradoxie gilt natürlich auch für säkular begründete Ethiken wie diejenige Kants. Die Sinnlichkeit als (böse) Quelle der Bestimmungsgründe des Willens zum Handeln kann nur als von der »Selbstbestimmung« des Willens unterschiedene zur Geltung gebracht werden. Auch Kant ist das paradoxe Problem der »Einheit« von Vernunft und Sinnlichkeit bewußt, ohne daß er es lösen konnte, weil er eine hierarchische Lösung vermutete und suchte. Wenn man aber die Autonomie der Vernunft als das oberste Prinzip schon festgelegt hatte (»Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.«72), dann ist eine hierarchische Lösung schon ausgeschlossen. Dann kann man durch alle Überlegungen hindurch (Vielfalt der hypothetischen Imperative, Einheit des kategorischen) immer nur wieder die Grundunterscheidung von Heteronomie und Autonomie affirmieren.73 So darf man freilich das Böse nicht in uns (im Selbst) oder in den Anderen suchen, sondern gemäß dem Namen des Dia-bolos im Zwischen, das Selbst und Anderen textual verwebt und verbindet. Das »soziale Band« des kommunikativen Textes ist der Ort des Bösen, nicht irgendwelche substantiell faßbaren Innerlichkeiten oder Äußerlichkeiten: »Le mal n’est pas crée par nous ou par d’autres, il naît dans ce tissu que nous avons filé entre nous , et qui nous

71 Daß der moralische Polarisierung (Stichwort: Manichäismus) nicht die einzige Form der Paradoxien der Einheit darstellt, der der Teufel seine Existenz verdankt, zeigt K. Röttgers: Teufel und Engel; zum Manichäismus im Katharismus Lacans s. Simon Critchley: Ethics – Politics – Subjectivity. London, New York 1999, 228ff. mit Verweis auf Milan Kunderas Buch: The Book of Laughter and Forgetting. Hammondsworth 1983, in dem das Lachen der Engel vom Gelächter des Teufels unterschieden wird und letzteres für das originale Lachen dargestellt wird. (238) 72 I. Kant: Ges. Schriften IV, 393. 73 Daß Kant dieser Zusammenhang zunehmend als Problem erschienen ist, das er in seiner Anthropologie § 88, l. c. VII, 277ff. überraschend als »das höchste moralischphysische Gut« anspricht, darauf verweist K. Röttgers: Kritik der kulinarischen Vernunft.

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étouffe.«74 Obwohl ins Gute gewendet, spielt auch für Kants »Volk von Teufeln« es keine Rolle, welch »böse Gesinnungen« sie im Inneren hegen, wenn sie sich nur in ihrem »öffentlichen Verhalten« so geben, daß diese Innerlichkeit keine Rolle spielt.75 Weil das Böse in den Relationen beheimatet ist, hat der Kampf gegen das Böse etwas Wahnhaftes. Er tut so, als könne und als müsse man das Böse in der Innerlichkeit von Gesinnungen (oder gar in den Genen von Menschen) aufspüren, verfolgen und ausmerzen, noch bevor es eine Chance hatte, in die Welt zu treten. Was erbringt nun die Bewertung des Bewertens? Zunächst, und vielleicht am wichtigsten: sie löst die unauflösbare Paradoxie der Bewertung von höchster Stelle aus auf.76 Der Bewerter des Bewertens bewertet doppelt: Der Bewerter zweiter Ordnung ist immer Bewerter erster und zweiter Ordnung zugleich. Einerseits sieht er, wie eine gegebene Moral bewertet und er bezieht sich reflexiv darauf, weil ihm das moralische Kontinuum nicht mehr selbstverständlich ist, d.h. er prüft eine gegebene Moral auf ihre Moralität hin77 – nur, wenn das so einfach wäre! Wenn er das nämlich tut, kann er nicht anders als selbst zu bewerten, d.h. zugleich Bewerter erster Ordnung im Hinblick auf das gegebene Problem einer Moralitätsprüfung zu sein. Es gibt keine Ethik, die bewertend (!) zu der Einsicht gelangt, daß sowohl das Gute als auch das Böse einer gegebenen Moral getan werden solle, ohne zugleich zu sagen, was nicht getan werden darf. Selbstverständlich kann man angesichts spezifischer Probleme den normativen Diskurs verlassen und sich auf das Beschreiben verlegen. Aber es ist praktisch im kommunikativen Text, der seine Anschlüsse sichert, nicht möglich, dieses grundsätzlich, d.h. ein für alle Mal, zu tun. Natürlich kann man im Hinblick auf die Be-

74 M. Merleau-Ponty: Signes, 47; ein deutscher Übersetzer muß sich als Wiedergabe von „le mal“ entscheiden zwischen dem Bösen, dem Schlechten oder dem Übel. Die Übersetzung von Christian Bermes entscheidet sich für „das Schlechte“. M. MerleauPonty. Zeichen, 50. 75 I. Kant: Gesammelte Schriften VIII, 366. 76 Natürlich ist auch eine Beobachtung des Bewertens möglich, z.B. als Soziologie der Moral; aber sie ist mit den wirklichen Problemen der moralischen Paradoxie gar nicht konfrontiert, sie macht es sich allzu leicht, indem sie den moralischen Diskurs verläßt und dann „wertfrei“ beschreibt, was die Leute so für Probleme mit dem Bewerten haben, s. N. Luhmann: Soziologie der Moral. Ähnliches gilt für die Bewertung von Beobachtungen, z.B. durch moralisch begründete Forschungsverbote. 77 Annemarie Pieper: Einführung in die Ethik. 2. Aufl. Tübingen 1991, 43, passim.

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gründung der Rechtspraxis Positivist sein, aber die Begründung dafür, daß man es ist und kein Naturrechtler, kann nicht selbst wiederum kontingent sein. Wir hatten gesagt, jeder Bewerter zweiter Ordnung ist in seinem Bewerten des Bewertens zugleich Bewerter erster Ordnung. Mit anderen Worten, er kann gar nicht anders, als den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Das schließt die hierarchische Auflösung des Paradoxons des Bewertens aus. Es bleiben auch hier nur rekursiv geschlossene Netze von Bewertungen, die keine »Letztbegründung« moralischer Normen zulassen. Es gibt allerdings eine Form der Auflösung des moralischen Paradoxons, nämlich den kommunikativen Text zu verlassen und zu Gewalt überzugehen. Statt wie eine kultivierte Praxis es täte, versucht sie nicht, den gordischen Knoten aufzulösen, sondern greift einfach zum Schwert. Daran anschließbar ist eine Rhetorik der Gewalt, die die eigene Gewalt, bzw. Gewaltbereitschaft als Gegen-Gewalt gegen erfahrene oder zu befürchtende Gewalt ausgibt, aber das löst das Problem nicht; denn auch die vermeintliche Gegen-Gewalt ist nichts anderes als durch Legitimations-Rhetorik ornamentierte Gewalt wie jede Gewalt. Daß die Amerikaner im 2. Golfkrieg nicht einmal Massenvernichtungswaffen im Irak versteckt haben, um sie dann als »Beweise« finden zu lassen, ist in heutigen Tagen ein Verzicht auf jeglichen legitimierenden Diskurs und der Übergang zur nackten Gewalt, was Putin mißverstanden hatte, als er erklärte, er hätte solche Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden. Auf diese Weise wird man aber weder das moralische Paradoxon los, noch lassen sich Kontinuitäten machtvollen Handelns auf diese Weise begründen, wie die Entwicklungen seit »Ende« dieses Kriegs eindrucksvoll gezeigt haben. Alexander, als er zum Schwert griff, konnte sich in diesem Gewalt-Akt immerhin noch auf eine Prophezeiung stützen, die die Kontinuität des Textes trotz Gewalt sicherte. Heute versagt selbst das Versprechen einer Befriedung durch »Gegen«Gewalt, so daß Noam Chomsky erklären konnte, der größte der Schurkenstaaten sei derjenige, der diesen Begriff in Umlauf gebracht hatte. Nur konsequent war daher Litwaks Erklärung: »A rogue state is whoever The United States says it is.«78 Gegen einen solchen Schurkenstaat werden die USA, auch ohne irgendeine andere Legitimation immer dann militärisch vorgehen, wenn vitale Interessen der USA auf dem Spiel stehen, d.h. nach einer Formulierung von William Cohen, »ensuring inhibited access to key markets, energy supplies, and strategic resources«.79 Das heißt nichts anderes als: zur legitimen Gegen-Gewalt wird einseitig erklärt, was die Absatzmärkte oder die Energieversorgung der USA ge-

78 Beides nach Jacques Derrida: Schurken. Frankfurt/M. 2003, 146. 79 Zit. ibd.

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fährden könnte. Das wäre nämlich Gewalt gegen die USA und gegen die muß man berechtigterweise mit präventiver Gewalt vorgehen. Alles andere wie Menschenrechte80 oder vermutete Massenvernichtungswaffen ist ornamentale Begleit-Rhetorik imperialistischer Gewalt. Aber nicht nur die vermeintliche Gewalt-Prävention durch Gewaltanwendung ist prekär, sondern ebenso die Suche nach dem vermeintlich ursprünglichen Gewalt-Täter. Ist die Gewalt des Staates Israel gegen die Palästinenser ausgelöst und Reaktion auf die Gewalt der Palästinenser? Ist die immer noch weiter fortgesetzte Landnahme der Israelis in Palästina die ursprüngliche Gewalt? Ist die Vertreibung der Juden aus jenem ihnen von Gott Jahwe verheißenen Land der Ursprung aller Gewalt? Wer wollte das entscheiden.81 Wie man sieht, geht unsere Diskurstheorie der Moral wiederum aus vom Konzept des kommunikativen Textes und seinen Dimensionen; das heißt auch: eine wie immer auch begründete Anthropologie der Moral erscheint hier als obsolet. Der ganze Mensch (seine Nierentätigkeit, seine Psychosen, seine Begabungen, seine Erinnerungen, ja auch sein Identitätsentwurf, seine »unsterbliche« Seele) geht nicht ein in eine Theorie der Moral; bei Kant war es nur die Vernunft, die Anteil an der moralischen Welt hatte, und das ist, mit Spinoza oder Nietzsche gesehen, ein sehr kleiner Anteil, und, was den »ganzen« Menschen betrifft, ein zu vernachlässigender Teil. Wenn Luhmann daraus freilich die Konsequenz zieht, es gehe darum »das Faktum der Moral mit moralfreien Begriffen zu begreifen«, so ist das voreilig.82 Es ist sozusagen ein soziologischer Bias, daß es eine Grundlage der Moral gibt, die nicht selbst moralisch ist, was ohne weiteres zuzugeben ist, und daß es deswegen richtig und wichtig sei, um Moral zu begreifen, auf ihre Faktizität abzustellen. Wenn eine Mutter ihrem Kind das Entblößen der Geschlechtsteile verweist mit der Bemerkung, das tue man nicht, dann ist der Sinn dieses Verweises eben gerade nicht derselbe Sinn wie der des deskriptiven Satzes, daß schamhaftes Verbergen der Geschlechtsteile in der betreffenden Gesellschaft den sozialen Zusammenhalt fördere. Der Sinn eines normativen Satzes ist niemals ein deskriptiver Satz plus Normierungsabsicht, bzw. -kontext. Was Luhmann als die nicht zu vermeidende Paradoxie herausstellt, nämlich die – er hätte das Wort freilich vermieden – Dialektik von Einheit und Differenz im

80 Zu Menschenrechten ohne fundamentalistische Begründung s. Volker Schürmann: Würde als Maß der Menschenrechte, in: Deutsche Zs. f. Philosophie 59 (2011), 33-52. 81 Cf. auch Gertrud Brücher: Gewaltspiralen. Wiesbaden 2011. 82 N. Luhmann: Soziologie der Moral, 43.

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Beobachten, das macht G. Simmel in seiner Philosophie des Geldes gleich zu Anfang zur Unterscheidung von »Wirklichkeit“ und »Wert«, was wiederum unserer Unterscheidung von »Symbolischem« und »Normativem« entspricht. Er stellt heraus, daß es in der Wirklichkeitserkenntnis um Einheitsbildung gehe, während es im Werten um die Herausstellung von Unterschieden geht. Mit anderen Worten, wenn es im Sym-bolon um Einheitsbildung geht, ist der normativen Sphäre die Differenz eingeschrieben; Luhmann hatte das – fast irritiert – als die, entgegen allen Beteuerungen von Moralisten, polemogene Struktur des Moralisierens herausgestellt.83 Die Haltung, die Luhmann angesichts der Moral fordert, nämlich sie in ihrer Faktizität zu beschreiben anstatt sie in ihrer Moralität zu prüfen, geht nach Simmel am Sinn und an den Geltungsansprüchen des Normativen vorbei, d.h. an der Bedeutung moralischer Gehalte. Daher spricht Simmel von der Werte-Welt als einer »völlig autonomen Ordnung«.84 Das wird an anderer Stelle auch von Luhmann selbst deutlicher gesehen: z.B. wenn er die Unterscheidung normativ/kognitiv über Erwartungen definiert;85 das hat damit zu tun, daß Luhmann in einer kaum zu rechtfertigenden Strenge zwischen Normen und Moral unterschieden wissen möchte, obgleich er zugeben muß, daß wohl »keine Moral ganz ohne Normen auskommen wird …«86 Er begründet Normen auf Erwartungen an das Verhalten; Moral dagegen sieht er auf Achtung oder Mißachtung gegründet. Da er aber kaum leugnen wird, daß beides in Kommunikation gründet (bei uns: im kommunikativen Text), scheint die rigorose Trennung schwer nachvollziehbar, und wir lassen sie im folgenden unberücksichtigt. Kommen wir zurück zur polemogenen Nebenfunktion des Moralisierens. Es ist gerade der Charakter der Reflexion der Moral in sich, d.h. der Bewertung des Bewertens, von der Transzendentalphilosophen glaubten, daß sie den Konflikt durch Tiefenfundierung auf immer beseitigen könnte, nämlich die Generalisierung und letztlich Universalisierung des moralischen Anspruchs, die im Gegenteil in besonderer Weise konfliktfördernd ist. Denn sie leistet nichts anderes als die konfliktuelle Materie ebenfalls zu generalisieren. Solange eine Stammesmoral gilt, stört es die Angehörigen des eigenen Stammes, denen die familiäre Pflege der Alten moralisch geboten ist, nicht weiter, wenn ein anderer Stamm seine Alten aussetzt oder in Heimen kaserniert. Unter Aspekten einer Generalisierung aber (sei

83 Niklas Luhmann: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Frankfurt/M. 1990, 26. 84 Georg-Simmel-Gesamtausg. VI, 25. 85 Niklas Luhmann: Rechtssoziologie. Reinbek 1972, 40-64; ders.: Wissenschaft der Gesellschaft, 146. 86 N. Luhmann: Soziologie der Moral, 53.

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es dem Umfang, sei es der Intension nach) kann das eine oder das andere nicht geduldet werden. Das ist auch das Prekäre der Menschenrechtsrhetorik der hegemonialen Imperien: der Gestus der Totalinklusion dient effektiv dazu, politische Systeme und Praktiken, bzw. die sie tragenden Menschen auszugrenzen und letztendlich zu verfolgen. Ebenso verhält es sich mit der partnerschaftlichen Treue, die nicht nur den Frauen abverlangt wird, sondern auch auf die Männer übertragen wird. Dann sind nicht nur die Konflikte innerhalb dieser intensional universalisierten Zweierbeziehung vorprogrammiert, sondern auch gegenüber der Umwelt dieser Exklusion muß diese als verdächtig erscheinen; denn sie praktiziert eine Universalisierung, die die Umwelt (noch) nicht mitvollzogen hat, so daß auch der Konflikt mit dieser unvermeidlich wird. Luhmann87 stellte das für archaische Gesellschaften fest; aber mir scheint der zuweilen an Schärfe kaum zu überbietende Konflikt z.B. zwischen Ehefrau und Kollegin des Mannes und ähnliches kaum anders gelagert. So vermutet Luhmann zwar, daß es moralische Rollenvirtuosen geben mag, die sich selbst moralisch perfektionieren oder »Moralunternehmer«, die andere dazu antreiben, aber das sind Einzelfälle, die nicht einmal bis zu »Tugendtreibhäusern« fortentwickelt werden könnten, geschweige denn zu der Idee, daß die Weltgesellschaft ein solches werden könnte. Luhmann schlägt deshalb eine andere Reflexionsform für Moral vor, nämlich Takt. »Über die Moralisierung von Takt kann die Moral reflexiv werden – nicht im Sinne einer weiteren Begründung ihrer Begründungen, sondern im Sinne einer Anwendung von Moral auf die Kontrolle der spezifischen Risiken der Moral selbst.«88 Takt ist die Einräumung eines Verhaltensspielraums, in dem der Faux-pas nicht geahndet werden muß. Für die Struktur des kommunikativen Textes heißt das: Offenhalten einer Vielzahl von Anschlüssen und Interpretationsmöglichkeiten statt klarer Regeln und Methoden.89 Schon der Takt als wirksamer Mechanismus der polemogenen Seite der Moral (Moralisierung als Polarisierung) zu begegnen, hat dieses Eigentümliche, daß er nur sinnvoll ist im Vertrauen darauf, daß es den Dritten geben kann, der den Konflikt beilegen könnte und der jedem, solange er nicht gesprochen hat, die Zuversicht verleihen kann, daß die zukünftige Bewertung der eigenen Seite zustimmen wird. Der Dritte, solange es ihn gibt, mäßigt den Bewertungskonflikt. Seine Bewertung der Bewertung ist, solange sie in der Modalität der Möglichkeit bleibt, Takt fördernd. Erst wenn der Eine sagt, er sei zugleich der Dritte, hat der

87 L. c., 71. 88 N. Luhmann: Soziologie der Moral, 55. 89 Meyer Howard Abrams: How to do things with texts, in: Partisan Review 46 (1979), 566-588, bes. 587.

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Andere keine andere Chance mehr im Konflikt zu bestehen als seinerseits die Position des Dritten für sich zu beanspruchen, der das eigene Gewissen mit dem Willen der Menschheit identifiziert. Wenn aber umgekehrt die Bewertung der Bewertung nicht von der Stellung der ursprünglichen Bewertung repräsentiert werden kann (Kant: »Die Menschheit in meiner Person«), dann ist die Bewertung der Bewertung kein in einer »Letztbegründung« beendbarer Prozeß mehr, sondern wird rekursiv und damit perspektivisch. Diese Resultate sind freilich etwas ganz anderes als eine heute verbreitete Indifferenz in moralischen Fragen, nach der jeder seine eigene Moral haben könne, die lediglich faktisch, aber nicht normativ eingeschränkt sei durch den Zugriff des Marktes und des Rechts. Weder im symbolischen noch im normativen Diskurs ist die Position des Dritten, also des Beobachters des Beobachtens, noch des Bewerters des Bewertens, eine definitive Position. Durch die Rekursivität dieser funktionalen Position unterliegt sie vielmehr einem Rotationsprinzip der Positionierung im kommunikativen Text, durch die Selbst, Anderer und Dritter im sozialen Prozeß, hier in ihrer symbolisch-normativen Funktion, auftreten.

4.4 D AS U NGEWUSSTE

UND DAS

V ERFEMTE

Innerhalb der sozialen Dimension des kommunikativen Textes war relativ streng zu unterscheiden zwischen dem Anderen und dem Fremden. Hier galt der Andere als einer, der in einem ursprünglichen Kontinuum oder in einer reflektierten Konstruktion einer Kontinuität stand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Der Fremde dagegen war einer, mit dem weder eine Gemeinschaft noch die Gesellschaft das Verbindungsglied darstellte. Er war derjenige, der – durch eine Grenze getrennt – im Jenseits des Textes sich befand.90 Gibt es Vergleichbares in der epistemisch-normativen Dimension des kommunikativen Textes? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir uns nur zu fragen, ob auch hier mit Grenzziehungen gearbeitet werden kann, durch die wie Eigenes und Fremdes, so ein diskursiv vollständig Ausgegrenztes bezeichnet werden kann. Für die epistemische Seite ist das etwas, was kein Beobachter und kein Beobachteter des Beobachters je sieht. Weder die unmittelbare symbolische Gewißheit noch das Wissen reicht an diese Sphäre heran. Wir nennen es in gewisser Anspie-

90 Cf. K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie, 121 ff. u. 273 ff.

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lung an das Fremde im Inneren der sozialen Dimension, nämlich dort das Unbewußte, hier: das Ungewußte. So wenig wie wir mit dem Unbewußten eine Gemeinschaft leben, noch einen Verkehr pflegen können, sondern der Text lediglich zuweilen von ihm gestört wird, so wenig wissen wir vom Ungewußten.91 Aber dieses Problem des Jenseits des Wissens hat Philosophen von Anbeginn an beschäftigt und fasziniert. Schon in ihrer Geburtsstunde erstand der Philosophie einer, der sagte, er wisse, daß er nichts wisse. Wie kann er das, widerspruchsfrei, wissen? Hätte er nicht vorsichtiger sein müssen und lediglich in Zweifel ziehen dürfen, ob sein Wissen ein Wissen der Wahrheit und nicht bloß irrende Meinung sei. Hätte er nicht stattdessen also sagen müssen: ich bin mir nicht sicher, ob nicht mein vermeintliches Wissen bloß eine unbestätigte Meinung ist. Mit dem Paradoxon des Wissens des Nichtwissens kann man sich auf unterschiedliche Weise auseinandersetzen. Man könnte erstens gemäß der Devise, daß Paradoxa nicht sein dürfen, also verscheucht werden müssen, auf die eine oder andere Seite dieses Paradoxons den Geltungsakzent setzen. Dann sagt man entweder: da hat Sokrates vollkommen recht, er ist ein Ignorant. Oder man betont die Wissensseite des Paradoxons, dann kann man das tun, was fast alle Philosophen, die sich auf Sokrates bezogen haben, getan haben, nämlich die behauptete Form des Wissens für eine irgendwie »höhere« Form des Wissens auszugeben. Dann aber ist dieses Wissen nichts anderes als das Beobachten des Beobachters und dessen, was er (zwangsläufig) nicht beobachten kann. Oder klassisch aufklärerisch gesprochen: ein Wissen von den Grenzen des Wissens. Das ist nichts besonders Aufregendes. Das Wissen, daß wir (im Sinne Kants) von den Dingen an sich selbst betrachtet keine Erfahrungserkenntnis haben können, gleicht dann dem der Unmöglichkeit des sogenannten »Fremdverstehens«; was verstanden wird, ist eben darin kein Fremdes, und was erkannt wird, ist eben kein Ding an sich. Die Erkenntnis und das Verstehen überschreiten niemals die Grenzen möglichen Verstehens und die Grenzen möglicher Erkenntnis, wo immer diese liegen mögen. Und eben das hatten wir ja gesagt, diese Grenzen liegen nicht, metaphysisch abgesichert, irgendwie fest, sondern diese Grenzen werden

91 Das Ungewußte breitet sich aus; trotzdem muß entschieden und gehandelt werden; daher vertrauen wir den Experten, die zwar auch nichts wissen, aber an die wir unsere Ratlosigkeit delegieren können, weil sie es sind, die es eigentlich wissen müßten, »science based ignorance«, wie J. Ravetz es genannt haben soll, zit. bei G. Gamm: Der unbestimmte Mensch, 168; cf. G. Gamm: Vertrauen haben. In einer Welt voller Überraschungen. Immerhin, wir wissen, daß sie es wissen müßten, und das ist doch auch eine Form von Wissen.

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je spezifisch gezogen, und zwar um eine Grenze der Eigenheit und eines Grenze des Wissens zu haben, innerhalb derer das Operieren gesichert ist. Daher ist die rechte Verbindung zwischen Wissen und Nichtwissen entscheidend: »Wer alles weiß, kann nicht suchen; doch wer gar nichts weiß, auch nicht.«92 Wir wissen, daß unser Wissen begrenzt ist – begrenzt durch Nichtwissen. Es gibt einen der Menschheitsverbrüderung und der Globalisierung analogen Prozeß der Moderne, in dem sich die illusionäre Überzeugung ausbreitet, daß die Grenze zwischen Gewußtem und Ungewußtem immer weiter hinausgeschoben werde, so daß es am Ende keine Fremden (und kein Unbewußtes) mehr gibt und ebenso kein Ungewußtes. Alles ist gewußt – zwar nicht von jedem Einzelnen, aber von der Menschheit gemeinsam. Seit Kant und seit Freud haben wir uns daran gewöhnen müssen, diese Grenzen des Wissens auch in uns selbst zu suchen, also ganz in der Nähe statt in immer weiterer Ferne. Aber vielleicht war Sokrates nicht der größte aller Sophisten, und vielleicht war er auch nicht der erste aller Transzendentalphilosophen. Vielleicht war Sokrates der Ursprung der Skepsis. Zu reden ist hier nicht vom Skeptizismus, dessen »Widerlegung« eines der beliebtesten Spiele der Philosophiegeschichte war,93 sondern zu reden ist von der pyrrhonischen Skepsis; sie ist eine diätische Praxis im Umgang mit Nichtwissen, eine Entdramatisierung der Fragen hinsichtlich des Ungewußten. Ob die Wahrheit an sich erkennbar ist oder nicht (die Frage, auf die der Skeptizismus und sein Gegner je eine Antwort haben), gehört in den Bereich derjenigen Fragen, die der Skeptiker gerade zögert zu beantworten, weil er darüber keine sichere und eindeutige Kunde zu erhalten weiß. Allerdings ist das keine Denkfaulheit, sondern das Resultat reiflichen, aber vergeblichen Bemühens um eine eindeutige Antwort. Wenn der Skeptiker sich um die Antwort bemüht, muß er nach einer Weile des Abwägens von Gründen und Gegengründen feststellen, daß eine Entscheidung nicht möglich ist, weil es auf beiden Seiten gleich gute Gründe dafür und dawider gibt. Auf der Waage des Abwägens der Gründe ergibt sich ein Gleichgewicht, eine Isosthenie in der Terminologie der Skepsis gesprochen. Das schließt für den Skeptiker nicht aus, daß es Wissen und daß es Gewißheiten gibt, aber es schließt aus, daß es gewiß wäre, wo die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen liegt. Auch wenn der (temporal, sozial, diskursiv) perspektivisch gebundene Gesichtspunkt keine Wahrheitsgewißheit verbürgt, ist doch der kommunikative Text, der die

92 M. Sommer: Suchen und Finden, 19. 93 Bis hin zu Jürgen Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt/M. 1983, 92.

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Positionen des Selbst durch den Anderen (zugleich auch des inneren Anderen), die des gegenwärtigen Moments durch Vergangenheit und Zukunft und die des Diskurses durch Metaphorik und moralische Experimente relativiert, geeignet, die Perspektivik zu überwinden. Das aber heißt, daß Konsens zum Schimpfwort wird, weil nicht die einigende Gewißheit, sondern die (mit einem Wort der Frühromantiker) »polemische Totalität« das Movens der Theorie-Entwicklung ist. Sie schützt davor, daß alle gemeinsam in der größten Phil-Harmonie (statt Philosophie) in die falsche Richtung laufen. Polemische Totalität als Beschreibung des Gesamtzusammenhangs beabsichtigt, Differenz und Pluralität der Differenzen maximal zu entfalten, nicht um sich anschließend zu einigen, sondern weil auf diese Weise am polemischen Stachel des Anderen jedes Selbst zu einer Rationalitätssteigerung gezwungen wird, die jeden zu dem Ideal seiner selbst führt, das in allen dasselbe sein wird. Für die Dauer seines Strebens jedoch versucht jeder, die anderen zu überzeugen. So entsteht eine gebrochene Haltung. Der Gesamtzusammenhang ist skeptisch-isosthenisch, und der Einzelne muß dieses wissen und darf seinen Gesichtspunkt nicht mit dem »einzigmöglichen Standpunkt« verwechseln.94 Das Wissen der Anderen ist sein Nichtwissen. Zugleich aber ist der Gesamtzusammenhang darauf angewiesen, daß der Einzelne von der Gewißheit beseelt ist, er sei auf dem Weg des Wissens und er müsse alle anderen von der Überlegenheit seiner Perspektive überzeugen. Das Nichtwissen der anderen bestärkt seine Gewißheit. So ergibt sich eine Skepsis ohne Relativismus und ohne agnostisches Residuum. Sie operiert methodisch (»skeptische Methode«95) am Rande des Nichtwissens. Die Idee des Konsenses verdankt seine Dignität dem Gedanken der Einheit. Einheit ist oder, wo sie nicht ist, soll sie sein, soll also hergestellt werden. Denn es war Ein Gott, der Eine Welt schuf, von der es nur Eine (wenn auch ziemlich komplexe und schwer erkennbare) Wahrheit gibt.96 Und wenn wir uns in der Su-

94 Zum romantischen Begriff der »polemischen Totalität«, vor allem auch zu seinem moralphilosophischen Implikationen ausführlicher Kurt Röttgers: Erfahrungsverluste durch Moral – alles halb schlimm, in: Ethik und wissenschaftliche Objektivität, hrsg. v. Josef Fellsches, Werner L. Hohmann. Essen 2001, 19-38; zum »einzig möglichen Standpunkt« s. ders.: Der Standpunkt und die Gesichtspunkte. 95 Cf. Odo Marquard : Skeptische Methode im Blick auf Kant. 3. Aufl. Freiburg, München 1982; ders.: Abschied vom Prinzipiellen, in: dass. Stuttgart 1981, 17: »Die Skeptiker sind also gar nicht die, die prinzipiell nichts wissen; sie wissen nur nichts Prinzipielles […]« 96 Daß die »Lockung der Einheit« und die Geringschätzung der Differenzen eine Philosophen-Neigung sei, vermutete Freud und fragte rhetorisch: »Werden wir damit die Dif-

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che nach dieser Einen Wahrheit eines Tages einig sein werden, so wird uns dieses das untrügliche Zeichen sein, daß wir sie gefunden haben. In primitiven Gesellschaften, aber ebensowohl in kleinen Sektoren moderner Gesellschaften, gibt es zwecks Handlungskoordination die Notwendigkeit einer Hintergrund-Einigkeit. Für die Normen einer geltenden Moral ist das trivial, es gilt aber ebenso notwendig für die Symbole der kognitiven Orientierung. Konsens macht das Leben einfacher. Leider ist die Einigkeit des Lagerfeuers in modernen Gesellschaften und ihrer Welt- und Handlungsorientierung längst zerbrochen. Dadurch bleibt Konsens nicht mehr die vorauszusetzende Garantie, sondern wird zu einer unendlichen Aufgabe, die, wenn sie eines Tages gelänge, die Sicherheit der Einen Welt zurückgäbe, so glaubt man. Jenseits dieses illusionären einstigen Konsenses gäbe es kein Nichtwissen mehr; denn aller Dinge Dissens erscheint als Folge eines partiellen Nichtwissens bei einzelnen Beteiligten des universalen kommunikativen Textes. Gleichwohl machten wir – weil wir mehr Einigkeit zum Zweck der halbwegs stabilen Handlungsorientierung brauchen, als auf reiner Interaktionsbasis zu haben ist – Vorgriffe auf diesen universellen Konsens. Im Normativen ist es das durch eine gemeinsame Moral und durch ein Rechtssystem ermöglichte Vertrauen, in dem sich dieser Vorgriff ausdrückt. »It’s a nice day, isn’t it?« – »Yes, it is indeed«. Oder »Alles klar?« – »Alles klar!« In Bemerkungen wie diesen vergewissern wir uns, daß wir uns auf dieselbe Welt beziehen und sie mit denselben Symbolen erschließen. Der Konsens, daß alles klar sei, ist, obwohl gewiß kein Vernunfturteil, doch ein verkleinertes Abbild jener Einstimmung, zu der wir am Ende aller Erkenntnisbemühungen zu kommen hoffen sollen. Im in Aussicht gestellten, zukünftigen vernünftigen Konsens würde dann in der Tat gelten: Alles klar! Unter Bedingungen sektorieller Gliederung in archaischen und modernen Gesellschaften ist Konsensbemühung Einsamkeitsvermeidung.97

ferenzen los?« (Briefwechsel mit Groddeck: Briefe über das Es, zit. bei Käte MeyerDrawe: Illusionen von Autonomie, 119). Wolfgang Welsch hält das Einheitsstreben für kindlich, ein Erwachsener kann Vielheit aushalten. Wolfgang Welsch: Vernunft. Frankfurt/M. 1996, 656. Und Claire Lejeune urteilte sogar: »Jede Leidenschaft zur ›Einheit‹ ist ein symbolischer Inzest.« Claire Lejeune: Das Schreiben und der Baum der Mitte, in: Le GRIF. Essen vom Baum der Erkenntnis. Berlin 1977, 62-75, hier 68. 97 Daß sich in modernen Gesellschaften dieses Problem verschärft stellt für den Fremden, der in einer fremden Umgebung akzeptiert oder wenigstens toleriert werden möchte, darauf verweist nachdrücklich Alfred Schutz: Collected Papers, hrsg. v. Arvid Brodersen. The Hague 1964, II, 91. Schütz hebt vor allem auf Synchroni-

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Wenn aber alle den Konsens, sowohl den vernünftigen wie den des »alles klar« so innig wollen, warum gibt es ihn dann nicht längst, nicht einmal den unvernünftigen? Antwort: weil sie auch noch etwas ganz anderes wollen müssen. Sie müssen vorsichtig sein, weil der, der sagt »alles klar!«, lügt.98 Er verbirgt sich hinter der Behauptung, die Welt sei bereits eine gemeinsame. Das macht alle Kommunikation zweideutig oder mehrdeutig, und für den Dissens wird stets der Andere verantwortlich gemacht, nie das zweideutige Selbst. Der Vorgriff ist (auch!) eine Täuschung. Der Konsens, »dem noch nicht alle beigetreten sind«, ist eben keiner. Angesichts der Konsenszumutung bleibt als die eigentlich philosophische Haltung eine Konsensvermeidung und Dissensemphase, daher die Wichtigkeit der Kritik für die Moderne. Die Welt des Menschen ist eben stets nur eine Welt der Menschen. Man kann daher mit guten Gründen vermuten, daß die »Unauflöslichkeit des sozialen Bandes«99 nicht konsens- sondern dissensgesichert ist.

sationsprobleme der Biographie ab, aber die Probleme ergeben sich ebenso in der epistemisch-normativen Dimension des kommunikativen Textes.– Daß Konsenszumutung auch eine Aufdringlichkeit sein kann und daß es auch einen Einsamkeitsbedarf gibt, selbst einen transzendentalen, wird zumeist unterschlagen. 98 Und wer uns den menschheitlichen Konsens als erstrebenswertes Ziel verkaufen möchte, versucht, uns zu betrügen, wie man leicht an der Menschenrechtsrhetorik der Imperialisten zeigen kann. 99 So Thomas Bedorf in seiner unveröff. Hagener Antrittsvorlesung. Dissenstheoretiker wie er beziehen sich heute vielfach auf Jean Rancière: Das Unvernehmen. Frankfurt/M. 2002, so auch J.-L. Nancy: Politique et au-delà, 38f.: »[…] le consensus est devenu une sorte de norme ou d‘idéal affiché de la vie publique à partir du moment où l’on est sorti des modèles d’assujetissement […] Il est donc nécessaire d’insister sur le dissensus et sur l’exclusion à laquelle procède toute forme de consensus.« Wir werden im III. Tl. darauf zurückkommen.- Konsenstheoretiker machen dagegen immer geltend, daß erstens die Dissensualisten, als Dissidenten sich doch wenigstens einig sein müssen und daß zweitens im Dissens doch Einigkeit über den Gegenstand der Uneinigkeit bestehen müsse, also doch wieder ein »Konsens, dem noch nicht alle beigetreten sind«. Die ganz geläufige Alltagserfahrung dagegen des Streits zwischen Männern und Frauen zeigt, daß es keine Einigkeit über den Gegenstand des Streits geben muß, um engagiert zu streiten. Im Streitvollzug erst wird der Gegenstand des Streits generiert.

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Mit anderen Worten,100 wenn man als eine der Dimensionen von Öffentlichkeit das ansieht, was in aller Munde ist, so ist eines seiner sozialen Resultate der Konsens, der als ein Indiz der Wahrheitsnähe vermutet wird. Also wäre Wahrheit nicht, weil alle zustimmen, so daß Konsensualisierung die Definitionsmacht für Wahrheit wäre,101 sondern Konsens wäre als Indiz für Wahrheit dann zu vermuten, wenn alle zustimmen. Nimmt man diese Präzisierung und bestimmt »alle« als Begriff totaler Inklusion, der kein Außerhalb weder im (sozialen) Raum noch in der Zeit noch in der diskursiven Ordnung, mehr kennt, dann kommen wir zur Konsens-Theorie der Wahrheit. Aber gerade die Bedingung des Totalitäts-Begriffs macht diese Theorie problematisch, weil unanwendbar. Diese »ideale Kommunikationsgemeinschaft« kennt kein Nichtwissen mehr: »Alle« wissen die Wahrheit, und es gibt keinen mehr, der sie nicht wüßte, weder hier noch dort, weder gestern noch morgen. Aber es kann sich auch nicht um Partialwahrheiten handeln, denn alles Wissen steht in Verbindungen der epistemischen und normativen Ordnungen mit anderem Wissen und Werten und erkennt sich selbst als Negation von Nichtwissen: der Konsens der idealen Kommunikationsgemeinschaft.102 Dieser Begriff ist also ein theologischer Begriff: Es ist Gott, für den es kein Nichtwissen außerhalb seines Wissens gibt. Werden zu wollen wie Gott, essend vom Baum der Erkenntnis, hat aber nicht nur die Strafe der Vertreibung zur Folge, sondern die Schlange hatte auch einfach zuviel versprochen: keine reale Kommunikationsgemeinschaft kann sich der idealen auch nur annähern. In Wirklichkeit bewirkt die Idee der idealen Kommunikationsgemeinschaft ja auch etwas ganz Entgegengesetztes: eine verschärfte Demarkation zwischen den Wissenden und den Unwissenden, wobei die Unwissenden durch die Idee des performativen Selbstwiderspruchs imperial integriert werden. Im Grunde sind sie wie wir, wissen es nur noch nicht. Ihr Nichtwissen besteht zu allererst darin, daß sie dem Konsens aller Vernünftigen noch nicht beigetreten sind. Die Vorstellung

100 Und in Anknüpfung an Wolfram Hogrebe: Archäologische Bedeutungspostulate. Freiburg, München 1977, 34. 101 Cf. Vittorio Hösle: Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. München 1990, 104. 102 Karl-Otto Apel: Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung, in: Philosophie und Begründung, hrsg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg. Frankfurt/M. 1987, 116-211; Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien, in: ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/M. 1984.

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eines Konsenses, dem noch nicht alle beigetreten sind, eigentlich eine contradictio in adjecto, ist für die auf die Idee der »idealen Kommunikationsgemeinschaft« Getauften so überaus naheliegend, daß es eine Idee aktiven Nichtwissens (am Maßstab dieser Idee) nicht geben kann. Sollte es unter denen dieser Idee noch nicht Beigetretenen ebenfalls einen Konsens geben, so beweist das insofern gar nichts, als er entweder ein bloß faktischer Konsens einer kontingenten Menschenmenge ist, oder aber ein Konsens von der Art, daß wir Vernünftigen sagen müssen, daß sie im Grunde das gleiche anstreben wie wir Vernünftigen, es nur noch nicht wissen.103 Für Peter Ulrich sind insofern konsensbasierte Verfahren in ihrer Begründung kein Widerspruch zu einer Dissensstruktur der Gesellschaft. Vielmehr komme es gerade unter diesen dissensuellen Bedingungen darauf an, »sich über faire, verbindliche Regeln des Umgangs mit politischem Dissens zu verständigen und eine ›zivilisierte‹ politische Streitkultur aufrechtzuerhalten.«104 Die entscheidende Frage an die Diskurspragmatik ist und bleibt: Wie begründet sich, daß die Regeln des Umgangs mit Dissens konsensfähig sein sollen und nicht ihrerseits im Bereich des Dissenses bleiben? – Die Antwort darauf bleibt nur dann eindeutig, wenn der Wahrheitsbegriff metaphysisch dekonstruiert wird und Wahrheit nicht etwas ist, was im Konsens erreicht wird, sondern sich als ein »Versprechen« darstellt, darüber einen vernünftigen Konsens zu erzielen.105 Dieser Wahrheitsbegriff ist prozedural aufgelöst. Zugleich löst sich jedoch der Verpflichtungscharakter auf; warum sollte sich jemand genötigt fühlen, sich an solchen Konsensspielen in Wahrheitsversprechen zu beteiligen? G. Kimmerle kritisiert daher z.T. zu Recht, wenn er sagt: »Habermas gibt also zu, daß er nur mit seinesgleichen zu kommunizieren gedenkt. […] Kommunikationstheoretisch verbrämt gibt Habermas nur die Anerkennungsgrenzen an, in denen er […] be-

103 Ulrich Thielemann: Das Prinzip Markt. Bern, Stuttgart, Wien 1996, 255 weist zu Recht und ergänzend darauf hin, daß nicht Wahrheit aus Konsens oder umgekehrt abgeleitet werden könne, »sondern daß Wahrheitssuche und Konsenssuche wechselseitig« zu definieren und zu explizieren seien. Das verkompliziert den Zusammenhang, ändert ihn aber nicht grundsätzlich. So auch sein Lehrer Peter Ulrich: »Diskursethik beschreibt nicht ein Erfolg sicherndes (!) Konsenserzielungsverfahren, sondern reflektiert die normativen Bedingungen argumentativer Verständigungsprozesse.« Peter Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik. Bern, Stuttgart, Wien 1997, 85. 104 L. c., 314. 105 So Jürgen Habermas: Vorstudien und Ergänzungen, 137.

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reit ist, seine Vorzugsstellung mit Anderen zu teilen.«106 Damit macht Kimmerle auf etwas aufmerksam, was aller Bemühung um Wahrheit nicht-eliminierbar eingeschrieben ist: nämlich Macht, Macht verstanden als diejenige Form der Handlungskontinuitätssicherung, die nur durch Modalisierung erreicht werden kann, 107 sei es durch metaphorische oder metonymische Verlagerung oder Verschiebung in der temporalen, sozialen oder diskursiven Dimension des kommunikativen Textes. Es gibt daher nicht nur eine Konsenstheorie der Wahrheit, sondern auch eine der Politik. Der (antizipierte oder fiktiv unterstellte) Konsens als Grundlage politischen Handelns heißt bei Rousseau »volonté générale«, und auch seit Rousseau wissen wir, diese von der »volonté de tous« zu unterscheiden, letztere kontingent, erstere in der Vernunft gegründet. Das klingt gut, gibt uns aber gar kein objektives Kriterium an die Hand, einen faktischen Konsens von einem vernünftigen zu unterscheiden. 108 Was aber tut der (zwangsläufig), der einen faktischen Konsens von einem vernünftigen zu unterscheiden lehren möchte? Er fingiert ein Außen des Konsenses, in dem das eigentliche Zentrum läge: ein Nichtwissen, von dem aus das Wissen neu organisiert werden müßte. Faktisch erreicht er das vor allem dadurch, daß er von Positivität auf Negativität umschaltet. Nicht mehr die konsensuelle Harmonie, sondern nun die allgemeine Ablehnung mobilisiert das Einverständnis. Der »allgemeine Haß«109, nicht die allgemeine Menschenliebe ist die Grundlage der Politik des Konsenses, d.h. der allgemeine Unwille ist die Basis des allgemeinen Willens.110 Theoretisch an-

106 Georg Kimmerle: Verwerfungen. Tübingen 1986, 190. 107 Kurt Röttgers: Die Medialität modaler Macht, in: Macht, hrsg. v. Ralf Krause, Marc Rölli. Bielefeld 2008, 261-278. 108 Daher ist Volker Schürmann im Hinblick auf die Menschenrechte genötigt zu sagen: »Wir bekennen uns zu ihnen [den Menschenrechten, K.R.], und wir bekennen uns zur Würde aller Menschen, aber wir hätten dies nicht tun müssen.« V. Schürmann: Würde als Maß der Menschenrechte, 36. Im Grunde ist diese Einigkeit des allgemeinen Willens nur negativ als allgemeiner Unwille (und dann als logische Paradoxie zu haben): Alle sind gegen mich (volonté de tous) – wir alle sind gegen mich (volonté générale). 109 M. Serres: Der Parasit, 180. 110 Drastisch erfahrbar wird das in den einschlägigen Verfolgungen, etwa der Raucher oder der Terroristen. Würde ich psychologische Erklärungen für die Deutung von Argumenten im Text für zulässig halten, dann getraute ich mich zu sagen: Der Wahn von Jean-Jacques, von aller Welt verfolgt zu sein, ist die Grundlage seiner Theorie von der volonté générale. Zu einer solchen psychologisierenden Deutung von Rous-

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spruchsvoller, aber in der Sache gleichförmig benennt N. Luhmann in paradoxer Weise als Bedingung von Konsens den »Verzicht auf Konsens«, d.h. als Reduktion.111 Vielleicht ist ja die Ausrichtung auf eine Art der »Vereinigung«, nicht unbedingt identisch mit Konsens, das Ziel jeder Kommunikation; solche gemeinsame Partizipation an einem kommunikativen Text mag zuweilen unter Ausschluß des Bewußtseins des Ausschlusses von anderen möglichen Themen, von anderen möglichen Kommunikationspartnern geschehen. Wissen mag von Nichtwissen nichts wissen. Und so ist in jeder spezifischen Kommunikation ihre eigene Pathologie angelegt. Unter dieser Maßgabe der Kommunikationszentrierung ist die schizophrene Relation eben nicht die Beziehung zwischen einem (oder mehreren) an sich psychisch Kranken, sondern eine Beziehungs- und Kommunikationserkrankung.112 Danach ist dann Schizophrenie als Krankheit der durchaus angemessene Effekt einer pathologischen Kommunikation. Rational und nicht nur wahnhaft kann Konsens nur von einer dritten Position aus ausgesagt werden; aber das ist nun gerade nicht die alles entscheidende Position, sondern ihr kann ihrerseits widersprochen werden, sei es von einer Position der bedrohten Kommunikation aus, sei es von einem weiteren Dritten aus. Und der Dritte, der Konsens beobachtet unter den Positionen einer Kommunikation, kann dieses nur geltend machen, indem er sich an der Kommunikation beteiligt, jedenfalls überall dort, wo nicht ein künstlich präpariertes experimentelles Design der Sozialforschung die beiden Kommunikationen absichtlich und effektiv gegeneinander isoliert und damit sich selbst dagegen immunisiert, daß die Beobachteten der Beobachtung widersprechen könnten. Für das Gelingen von Kommunikation ist die Ausrichtung der Kommunikation auf Konsens nicht erforderlich. Es gilt nicht nur, »man kann sehr gut zusammen leben aufgrund der wechselseitigen Überzeugung, daß die Begründungen des Anderen falsch sind – auch und gerade dann, wenn jeder die Meinung des Anderen über seine Meinung kennt und auch dieses Kennen der Meinung über das Meinen noch bekannt ist und sich als

seau s. Jean Starobinski: Jean- Jacques Rousseau und die Gefahren der Reflexion, in: ders.: Das Leben der Augen. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1984, 67-146. 111 N. Luhmann: Wissenschaft der Gesellschaft, 712; cf. auch ders.: Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?, in: Materialität der Kommunikation, hrsg. v. Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt/M. 1988, 884-905, zu Konsens speziell 885. 112 So im Anschluß an G. Bateson: Anthony Wilden: System and Structure. London 1972, 110 ff.

R ICHTUNGEN

DER

D IFFERENZ

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wechselseitig stabilisiert hat […]«113, sondern berechtigt wäre doch auch die Frage, worüber sollte denn im Erfolgsfalle konsensorientierter Kommunikation die weitere Kommunikation erfolgen? Deswegen ist umgekehrt auch der Verdacht geäußert worden, Konsens sei eine Ermüdungserscheinung, sowie, dem Vernehmen nach, manche Ehemänner ihren streitbaren Ehefrauen nur um des lieben Friedens willen zustimmen.114 Es ist der Psychotiker, der keine Wissensselektion kennt, weil er so sehr in seiner Wahrheit steht, daß er nichts anderes als diese seine Wahrheit sagen kann, keine Lüge, kein Humor, keine Ironie.115 Gleichwohl bestand ein Großteil der Erkenntnisbemühungen der Moderne darin, nicht nur sich um die Wahrheit zu bemühen, sondern auch die Beistimmung zu suchen. Sozial hat das den Sinn, die Kontingenz jeder einzelnen Empfindung und jedes einzelnen Gedankens zu vermeiden, so daß der Empfindende und Denkende für sich selbst und für die anderen verläßlich wird. Wenn dadurch Konsens und common sense zusammenfallen, dann nehmen die »Erforscher der Wahrheit« im Verfolge einer neuen »Lüsternheit« das Recht der großen Ausnahme für sich in Anspruch; für sie gilt die Umkehrung des Universalisierungsprinzips: es heißt nicht »wo kämen wir hin, wenn alle das machten?«, sondern »wo kämen wir hin, wenn niemand das machte?«116 Wenn aber die gelingende Kommunikation um die Wahrheit den Dritten als Konsens-Beobachter braucht, dann ist dieser ausgeschlossener und eingeschlossener Dritter zugleich, eingeschlossen in das Wahrheits-Begehren, ist er ausgeschlossen aus dem Konsens, den er beobachtet. Diese Notwendigkeit einerseits der Ambivalenz, andererseits des Dritten ergibt eine unscharfe Logik. In der symbolisch-normativen Sphäre des kommunikativen Textes haben wir es als Pendant des Fremden in der sozialen Dimension also hier mit dem Ungewußten einerseits zu tun. Andererseits jedoch mit dem, was wir im Anschluß an Georges Bataille das Verfemte nennen wollen. Bataille will es wagen, über diejenigen Aspekte des Geistes zu sprechen, vor denen dieser selbst sich ängstigt.

113 Niklas Luhmann: Systemtheoretische Argumentationen, in: Jürgen Habermas, Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt/M. 1971, 291-405, hier 320 f. 114 Cf. das Ondit einer amerikanischen Celebrity: Ein Mann der unrecht hat und schweigt, ist weise; ein Mann der recht hat und schweigt, ist verheiratet. 115 Cf. Antoine Compagnon: Psychose et sophistique, in: Folle vérité, hrsg v. Julia Kristeva, Jean-Michel Ribettes. Paris 1979, 171-196, bes. 187 f. 116 Cf. F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft II, Nr. 76, Kritische Studienausg. III, 431 f.

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Und das ist z.B. die Erotik. »Nicht daß er [der Mensch] auf eine Welt hoffen soll, in der es keinen Grund mehr für das Entsetzen gäbe, in der Erotik und der Tod auf die Ebene mechanischer Verkettungen gebracht würden. Aber der Mensch kann das, was ihn erschreckt, überwinden, er kann ihm ins Gesicht sehen.«117 Nur eine Selbstverkennung kann leugnen, daß der Geist bis ins Innerste durchzogen ist von der erotischen Polarität von Heiligem und Wollüstigem. Das heißt auch, folgendes nicht zu verkennen: »Das Gebiet der Erotik ist im wesentlichen das Gebiet der Gewalttätigkeit, der Vergewaltigung«,118 dessen Gipfel der Tod ist. Denn die Erotik greift ein in das, was die gehegte Normalität schützt. Sie geht ins Innerste des Individuums, das normalerweise durch Moral und Takt vor diesem Übergriff geschützt ist, sie entblößt, wo normalerweise Scham vor Nacktheit schützt: »Der ganze Aufwand der Erotik ist im Grunde nur darauf ausgerichtet, die Struktur jenes abgeschlossenen Wesens zu zerstören, daß die Partner des Spieles im Normalzustand sind.«119 Um diesen außergewöhnlichen Übergriff zu kennzeichnen, greift Bataille vielfältig auf die Begrifflichkeit von Grenze und Überschreitung zurück. Zivilisation ist die Errichtung von Grenzen (gegen die Barbaren), und Natur, die sie auch gerade in dieser Geste der Ausgrenzung niemals los wird, liegt außerhalb der Grenze. Die Natur, wenn wir nur mit unserem normativ geleiteten Blick richtig hinschauen, erscheint als Gewalt. Der vegetarische Tiger pädagogisch wertvoller Bilderbücher oder die niedliche Katze, die nicht mit der Maus quälend spielt, mag einer wohlmeinenden Erziehungspraxis angezeigt erscheinen; aber jedes wache Bewußtsein weiß mit der normativen Grenze zugleich von dem Schrecken des Jenseits der Grenze und daß diese Grenze mitten durch es selbst hindurch geht und seine eigene Grausamkeit abtrennt. Bataille rechnet vor allem der Arbeit die Ordnungsstiftung gegen die auflösenden Tendenzen des Verfemten zu.120 Und deswegen sind Tod und Erotik so nahe verwandt, weil beide jenseits der Ordnung liegen, d.h. die Arbeit negieren.121

117 Georges Bataille: Der heilige Eros. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1979, 7. 118 L. c., 15. 119 L. c., 16 f. 120 L. c., 41. 121 S. als eindrucksvolle literarische Gestaltung des Zusammenhangs von Erotik und Arbeitsverweigerung bei Samuel Beckett: Murphy. Hamburg 1959.

5 Mehrdimensionale symbolisch-normative Relationen

Mit diesem kurzen Ausblick auf das Fremde des normativen Diskurses sei der Überblick über die Konstitutionsbedingungen der symbolisch-normativen Dimension des kommunikativen Textes abgeschlossen. Im verbleibenden Kapitel dieses ersten und grundlegenden Teils wenden wir uns den zweidimensionalen Beziehungen zu. Zwar steht der kommunikative Text immer in allen drei Dimensionen, aber bisher haben wir methodisch-reduzierend davon abgesehen; nunmehr wollen wir die Perspektive erweitern. Wie schon öfter betont, ist die soziale Dimension keine, die hinzutritt, die also genauso fehlen könnte. Es gehört vielmehr zum Begriff des kommunikativen Textes, daß er sich stets in allen Dimensionen zugleich entfaltet. Nur in der Analyse kann man das eine oder andere akzentuieren. Wenn wir also bisher zum Zweck der Deutlichkeit die symbolisch-normative Dimension allein für sich betrachtet haben, so ist das einerseits eine Illusion, wie an jedem einzelnen Beispiel selbstkritisch gezeigt werden könnte, andererseits eine abstrahierende Maßnahme, die jetzt partiell zurückgenommen werden soll.

5.1 R ECHT So werden wir uns zunächst zu fragen haben, als was die Pflicht erscheint, wenn sie als von der sozialen Dimension geprägt auftaucht. Wir fragen uns also nun, wie die Pflicht im Kontext des gesellschaftlichen Anderen erscheint. Es scheint genau dieses der Kernbegriff des Rechts zu sein, insofern das Recht sich begründet als Anspruch des Ferneren, d.h. jedes beliebigen

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Anderen an ein Selbst.1 Gestalt gewinnt dieses in der Sprachform des Rechts auf eine Sache oder einen Sachverhalt gegenüber einer Person. Zum Recht im strengen Sinne wird dieser soziale Anspruch auf Pflichterfüllung erst dort, wo die Reflexionsformen des Dritten, d.h. sozial des Richters und symbolisch-normativ in der Figur der Bewertung des Bewertens in einem Rechtssystem mit Kodifizierung und geregelten Verfahrensabläufen eingeführt wird. Betrachtet man ferner die Zeitdimension, so sind es die Geschichten vergangener Fälle2 und ihrer Beurteilungen, sowie der für die Zukunft zu erwartende Fortbestand dieser Konstituentien und Bestandteile des Rechts in der Frage der Rechtssicherheit, die einschlägig wären. Ersichtlich hat diese strukturelle Beschreibung des Rechts als gesellschaftlich auferlegte Pflicht nichts mit den klassischen Rechtsbegründungsfragen zu tun, also naturrechtlichen Gerechtigkeitsvorstellungen vs. positivrechtlichen. Diese Fragen bleiben vielmehr ganz in der Sphäre des Normativ-Symbolischen, nämlich als Antworten auf die Frage, wie eine Bewertung der Bewertungen aussehen kann, ob sie sich z.B. Kontingenz leisten kann oder meint, nicht leisten zu können. Vielmehr tauchen hier solche Fragen auf, ob die Gewalt des Fremden oder seine Verführungskraft für ein Selbst einen Verpflichtungscharakter annehmen kann, der zwar per definitionem kein Recht wäre, aber ein solches begründen könnte.3

1

Die Frage, ob die Frage politischer Gerechtigkeit durch eine grenzenlose Verantwortung (so Derrida in Anknüpfung an Lévinas) begründet ist, weil sonst politisch gar nichts zu entscheiden wäre, oder ob Verantwortung stets auf konkrete und d.h. besondere Andere bezogen gedacht werden müsse, ist nicht neu. Schon in der Französischen Revolution gab es einen Disput darüber, ob die Fraternisierung sich auf die Nation oder auf die Menschheit bezieht. Die den revolutionären Impuls emotional befeuernden Verbrüderungsfeiern mußten stets begrenzt sein, die Verbrüderung der Menschheit aber ist eine abstrakte Idee, die zudem die Gefahr birgt, daß der konkrete Bruder gegenüber dem abstrakten entwertet wird, weil die Beziehung zu ihm schwieriger ist und schwieriger zu verallgemeinern ist, als alle Menschen zu menschenrechtsfähigen Brüdern zu deklarieren. Was hier für den gemeinschaftlichen Anderen (den Bruder) und das Problem, die Menschheit zu einer Gemeinschaft zu erklären, gesagt wird, gilt ebenso auch für den gesellschaftlichen Anderen: Recht ist Recht einer Gesellschaft, nicht der Menschheit, auch wenn es Tendenzen gibt, das zu ändern, z.B. amerikanisches Recht zum Recht der Welt zu machen.

2

S. hierzu die Geschichten-Phänomenologie des Juristen Wilhelm Schapp: In Ges-

3

Z.B. das sogenannte »Recht des Stärkeren«. Zu den beiden Funktionen der

chichten verstrickt. 2. Aufl. Wiesbaden 1976. Rechtssetzung und Rechtserhaltung als Formen der Gewalt und damit der Hinweis auf

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Die Antwort wird vermutlich sein müssen: Genau in dem Maße, in dem jeder identifizierbare Fremde auch als Anderer wahrgenommen und verstanden werden kann, ohne daß damit sogleich der Fremde als solcher, d.h. die jeweils bestimmbare Grenze, jenseits derer er wohnt, fraglich wird, in dem Maße kann auch eine (d.h. seine) bestimmte Gestalt als gesellschaftlich auferlegte Pflicht erscheinen, z.B. wird die aus einem Ghetto hervorbrechende Gewalt dann zur Handlungsverpflichtung für die Verantwortlichen, wenn letztere die GhettoBewohner als Andere »unserer« Gesellschaft betrachten; dann wird man nach den Mißständen forschen und sie zu beseitigen trachten, als deren »Ausdruck« nunmehr diese Gewalt »verstanden« wird. Man kann aber auch (wie im Warschauer Ghetto) ohne Verpflichtungsübernahme allein mit polizeilicher oder militärischer Gewalt darauf antworten.4 Normalerweise wird wohl beides vermischt auftreten; denn kein Rechtssystem kann und darf soviel »Verständnis« für die gewalttätigen Fremden aufbringen,5 daß es zwar das »Anliegen« anerkennt (Verpflichtungsübernahme), jedoch die Form mißbilligt, ohne die Erwartungen an das Rechtssystem insgesamt (Rechtssicherheit) zu gefährden.

5.2 G UTE T ATEN Die zweite Mehrdimensionalität hinsichtlich der Pflicht läge in der Zeitdimension. In Geschichten eingegangene Pflichten sind – wenn sie als Pflichten erfüllt wurden – gute Taten, von denen sich Ruhmreiches erzählen läßt. Wenn freilich die Pflichten unerfüllt geblieben sind, sind es die Sünden. Zwar scheint es auch solche Pflichten zu geben, die weder als gute Taten noch als Sünden in die Geschichten eingehen, wie z.B. die »Pflicht zur Selbsterhaltung«, aber das ist wohl die Angewiesenheit des Rechts auf Gewalt s. Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, in: ders.: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Frankfurt/M. 1965, 29-65; dazu Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Frankfurt/M. 1991 und dazu wiederum Petra Gehring: Gesetzeskraft und mystischer Grund, in: Einsätze des Denkens, hrsg. v. Hans-Dieter Gondek, Bernhard Waldenfels. Frankfurt/M. 1997, 226-255. 4

Wenn nicht mehr das Ghetto, sondern der »Schläfer« die Grundgestalt der Herausforderung für eine Gesellschaft ist, scheint nur noch die polizeiliche Verfolgung als Option übrig zu bleiben. S. dazu Gertrud Brücher: Postmoderner Terrorismus. Opladen 2004.

5

Zum Zusammenhang der Begriffe des Fremden und der Gewalt s. K. Röttgers: Spuren der Macht und das Ereignis der Gewalt, 105 ff.

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eher ein Mißbrauch des Pflichtbegriffs, wenn darunter die bloße Autopoiesis des organischen Systems verstanden wird, die in der Tat Geschichten-unfähig ist. Denn wofür es ein vitales Interesse gibt, das braucht nicht als Pflicht auferlegt werden; insofern kann die Selbsterhaltung auch nicht zu den »guten Taten« gerechnet werden. Nur in den extremen Sonderfällen, wo eine große existentielle Entscheidung fällig wird, scheint es angemessen, eine »Pflicht zur Selbsterhaltung« in Betracht zu ziehen. Diese große Entscheidung ist allerdings dann auch wiederum Geschichten-fähig. Die Begriffe »gute Taten« und »Sünden«, die normalerweise religiös konnotiert werden, sind hier allein narrativistisch konzipiert. Die guten Taten sind die historisch gewordenen Verpflichtungen, die immer wieder und immer weiter erzählt werden können, die Ruhmesblätter der eigenen Geschichten. Sünden dagegen sind jene Verpflichtungsverfehlungen, die man im Prinzip einmal erzählt, nämlich als Beichte, und dann gilt: vergeben und vergessen. Es mag Sünden geben, die weder erzählt noch vergessen werden können: Traumata und damit Blockaden des Erzählens oder das Unverzeihliche.6 Aber das sind Erzählpathologien, die schließlich in einer therapeutischen Metageschichte aufgehoben werden können und müssen. Es hat Bestrebungen gegeben, die Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert als immer wieder zu erzählende, aber niemals zu vergebende Geschichte der deutschen Nation zuzumuten. Das aber konnte nicht funktionieren. Entweder eine deutsche Geschichtsschreibung nach Auschwitz wird zur Unmöglichkeit erklärt (wie angeblich die Lyrik) oder eine Therapie der Erzählblockaden findet statt, durch das auch das Unvorstellbare »verstanden« werden muß.

5.3 »ACHTUNG « Wir können die sozial auferlegte Pflicht allerdings auch unter dem Aspekt des »inneren Anderen«, d.h. entweder unter dem des Gemüts oder des Selbstbewußtseins betrachten. Eine solche dem Selbst auferlegte Pflicht hat die Form der Achtung (oder Mißachtung) in dem Sinne, in dem Kant davon gesprochen hat. In der Kritik der praktischen Vernunft heißt es: »Das Bewußtsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz […] ist nun die Achtung fürs Gesetz.«7 6

Vladimir Jankélévitch: Das Verzeihen. Frankfurt/M. 2003, darin insbes. auch der Beitrag von Jürgen Altwegg: Kein Vergessen, kein Verstehen, kein Verzeihen, 9-33.

7

I. Kant: Ges. Schriften V, 80.

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Nach Kant enthält die Achtung eine Unterwerfung; aber das ist eine Unterwerfung unter das je eigene Gesetz. Darum ist es zugleich eine »Erhebung« und »Selbstbilligung«. Damit, daß Kant Achtung als einziges moralisches Gefühl akzeptiert und deswegen gesteigerten Wert auf die Abgrenzung von allen anderen Gefühlen legt, brauchen wir uns hier nicht weiter aufzuhalten. Aber diese Ambiguität zwischen Unterwerfung und Selbstbilligung ist auch uns wichtig; denn sie verweist einerseits im Begriff der Unterwerfung auf das Auferlegtsein der Pflicht, d.h. daß die reflektierte Kontinuität im Moralischen sich nicht als ein ursprüngliches Kontinuum im Sozialen darstellen kann. Es gibt allerdings eine Formulierung bei Kant, die das Gegenteil nahezulegen scheint. Dort nennt Kant Achtung »die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz […]«8 Wer das täte, wäre (wir reden hier vom inneren Anderen) zur Begründung auf eine These von der Art verwiesen, daß »der Mensch« »von Natur aus« (d.h. in seinem inneren Kontinuum) gut sei. Diese These ist, wie man weiß, in sich widersprüchlich. Aus Beobachterperspektive (des Pädagogen o. ä.) mag man Kinder für »unschuldig« halten, aber das ist etwas ganz anderes als »gut«. Um gut zu sein, muß man schon von der Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen genascht haben. Insofern ist man nicht »von Natur aus« gut, sondern von der Verpflichtung aus, d.h. von der reflektierten Kontinuität, nicht von einem ursprünglichen Kontinuum aus. Die Ambiguität von Unterwerfung und Selbstbilligung enthält aber auch jene »Erhebung«, von der Kant spricht. Nur als eine moralische kann eine Person sich selbst achten, d.h. sich selbst für mehr als eine bloße Faktizität nehmen. Die Achtung für die Pflicht hat damit das Doppelte zu beachten, was die Pflicht einem Selbst auferlegt und genau dadurch zur Selbstachtung, zur Anerkennung des Selbst durch das forum internum zu gelangen. Wir reden momentan nur von dem inneren Anderen, d.h. den vom Selbst-

8

Dieser Gedanke der Unmittelbarkeit legt in der Tat die Vermutung nahe, als rede Kant nicht von einer reflektierten Kontinuität, sondern von einem ursprünglichen Kontinuum im Verhältnis des Willens zum moralischen Gesetz. Der Kontext der zitierten Stelle allerdings revidiert diese voreilige Vermutung; denn der oben unterdrückte Teil der Bestimmung von Achtung lautet »[…] und das Bewußtsein derselben« – Unmittelbarkeit zusammen mit dem Bewußtsein der Unmittelbarkeit ist eben keine Unmittelbarkeit mehr, Achtung erweist sich auch so als ein Reflexionsaffekt. Genau in diese Richtung verweist auch die Fortsetzung des Gedankens, durch den Achtung als »Vorstellung« eines Wertes bezeichnet wird. (l. c., 401 Anm.) Zur Wichtigkeit von Achtung innerhalb einer Theorie der Moral s. auch: N. Luhmann: Soziologie der Moral, 43-60.

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bewußtsein auferlegten Pflichten; ob diese Pflicht einer äußeren Verpflichtung, wie sie im Recht Gestalt gewinnt, entspricht oder nicht, kann zunächst offen bleiben. Naturrechtlich begründete Gerechtigkeitstheorien nehmen an, daß es eine solche Konvergenz geben müsse, wenn man einen Maßstab der Gerechtigkeit an das Recht soll anlegen können. Wir vermuten eher, daß Gerechtigkeitsvorstellungen erst auf der Grundlage der Einführung der Figur des Dritten im sozialen und im symbolisch-normativen Sinne entwickelt werden können. Denn ohnehin ist es ja eine geläufige Erfahrung, daß das forum internum und das forum externum verschiedene Sprachen sprechen. Oft genug gebietet das Recht etwas, was mit Kriterien der Selbstachtung nicht in Einklang gebracht werden kann, sei es, daß das Recht etwas verlangt, was schon wegen der Rechtsmaterie (z.B. das Verwaltungsrecht) überhaupt nicht an moralische Selbstachtung angebunden werden kann, sei es, daß es zu viel oder zu wenig verlangt. So mag das Lügen allgemein (wie Kant glaubte) oder das Lügen bestimmter Art die Selbstachtung beeinträchtigen, obwohl es rechtlich völlig irrevelant ist. Wenn jemand aus Motiven der Barmherzigkeit und Mildtätigkeit Geldscheine nachdruckt und an die Armen verteilt, so wird er sich unter Umständen dazu verpflichtet fühlen, gleichwohl aber vom Recht verfolgt werden. Solche Diskrepanzen lassen sich nicht tilgen. Luhmann begründet dieses mit der Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Subsystems des Rechts und der Unmöglichkeit ein Subsystem der Moral auszudifferenzieren, was sicherlich eine der möglichen Erklärungen wäre. Wir begnügen uns mit der Erklärung, daß der innere und der äußere Andere zwei (entgegengesetzte) Richtungen des Sozialen darstellen, zwischen denen (Teil-)Identität zu behaupten, ähnlich gewagt wäre, wie die geschichtsphilosophische These (in der Zeitdimension des kommunikativen Textes), daß die Zukunft der Vergangenheit gleiche oder wenigstens aus ihr ableitbar sei. Noch mit einem anderen Aspekt des kantischen Achtungsbegriffs stimmen unsere Überlegungen überein. Kant hebt hervor, daß Achtung kein »empfangenes« Gefühl sei, sondern ein »selbstgewirktes«, d.h. eben nicht auf der Einhaltung einer von außen auferlegten Verpflichtung beruht, sondern auf einer des inneren Anderen. So spitzt Kant zu: »Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz […], wovon jene uns das Beispiel giebt.«9 Außerdem umschreibt er Achtung als Wert-Schätzung, womit unser Bewerten des Bewertens angesprochen zu sein scheint, jedoch so, daß nur dessen Möglichkeit konze-

9

L. c. IV, 401 f. Anm.

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diert, nicht aber als Realität eingesehen wird; denn dazu bedürfte es der expliziten Einführung des Dritten.10 Im Falle der Mißachtung der Pflicht spricht Kant bezeichnenderweise auch von »Selbstverachtung«.11 Was die Verpflichtung anbetrifft, so können wir zuletzt auch noch die zukünftige Pflicht, d.h. die andere Richtung in der Zeitdimension, betrachten, d.h. die Umkehrung der »guten Taten« der Vergangenheit. Die zukünftige Pflichterfüllung hat die Gestalt eines jetzigen Versprechens. Der Begriff des Versprechens für diese zukünftige Verpflichtung wurde gewählt, um einen Begriff zu haben, der vor der Unterscheidung von Rechtspflichten und Achtungspflichten liegt. Insofern gehören dazu sowohl Verträge wie auch gute Vorsätze, aber natürlich auch die Versprechen im engeren Sinne. Das Versprechen wollen wir auf den Spuren Nietzsches analysieren, der ja den Menschen gekennzeichnet hat als das Tier, das versprechen darf. Das Versprechen-Können ist, so zeigt Nietzsche, eine sehr voraussetzungsreiche Fähigkeit. Es setzt nämlich voraus, den zukünftigen Willen kennen und bestimmen zu können. Es ist ja etwas anderes als die Verzögerung einer Handlungsausführung auf der Grundlage kontinuierlich fortbestehenden Wollens. Wenn ich jemandem verspreche, ihn in einer Woche zu besuchen, dann will ich dieses ja nicht sieben Tage lang und erst am siebten Tage käme es zur Ausführung. Was sich allenfalls kontinuierlich sieben Tage lang wollen kann, ist, mein Versprechen zu halten. Sogar am siebten Tage, und das ist das besondere des Versprechens, muß ich ihn nicht wirklich besuchen wollen; auch am siebten Tage reicht es, das Versprechen halten zu wollen, selbst wenn ich inzwischen keine Lust mehr zu diesem Besuch habe und es also bereue, das Versprechen gegeben zu haben. Nietzsche spricht davon, daß im Institut des Versprechens vorausgesetzt wird, daß der Mensch sich selbst »berechenbar« sein muß.12 Nietzsche selbst stellt den Begriff des Versprechens dem einer heilsamen Vergeßlichkeit entgegen; das scheint etwas schief zu sein, denn das Wichtige ist nicht, daß man seine alten Versprechen nicht vergißt, das wäre sozusagen eine triviale Nebenbedingung, das Wichtige ist, daß man sich an sie gebunden fühlt. Selbst wenn man sich an alles erinnert, was man je für die damalige Zukunft gewollt hat, heißt das nicht, daß man in irgendeiner Weise an dieses Wollen gebunden wäre, es sei denn man hätte ein Versprechen gegeben oder »sich etwas geschworen«. Ich glaube, noch etwas anderes wird in der Nietzscheschen Vorstellung der Berechenbarkeit verkannt. Es geht im Versprechen um

10 S. l. c., 403 f. 11 L. c., 426. 12 F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausg., V, 292.

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Verläßlichkeit trotz Unberechenbarkeit. Wenn der Mensch sich und anderen berechenbar wäre, brauchten wir tatsächlich keine Versprechen. Eben weil wir kein Wissen von den zukünftigen Handlungen und dem zukünftigen Geschehen haben, brauchen wir Substitute zur Absicherung gegen Kontingenz. Im Unterschied aber zum Recht, das heute gilt und vielleicht morgen auch noch – was jedoch bei bestimmten Rechtsmaterien inzwischen eher unwahrscheinlich ist13 – bindet das Versprechen ausschließlich für die Zukunft. Aber es bindet die Zukunft auch doppelt: es ist nicht nur das Versprechen einer zukünftigen Leistung, sondern auch das Versprechen, daß es auch zukünftig noch ein Versprechen sein wird, so daß der, dem versprochen wurde, nicht nur die Erfüllung erhoffen kann, sondern sie erwarten darf. Würden die Versprechen von heute morgen zu Prognosen meines Verhaltens, wäre bei Enttäuschung der Erwartung eine normative Verarbeitung der Enttäuschung unangemessen, wir müßten dann sagen, der Versprechende hat sich über seine eigene Zukunft getäuscht, nicht aber, er hätte sein Versprechen aber halten sollen, oder allenfalls, er hätte sich über seine eigene Zukunft bei besserer Selbstkenntnis eben nicht über sich selbst täuschen sollen.14 Dagegen ist der Unterschied von Versprechungen zu Verträgen als Kontingenz-Hegungen nicht so erheblich. Das Versprechen bindet lediglich einseitig, es bindet den Versprechenden selbst dann, wenn der, dem etwas versprochen wird, nicht an die Einhaltung glaubt, wie das bei Wahlversprechen inzwischen allgemein üblich ist. Ein Vertrag dagegen wird zwischen mindestens zweien abgeschlossen, selbst dann, wenn die zugesagte zukünftige Leistung einseitig wäre, wie z.B. bei Schenkungsverträgen.

13 N. Luhmann: Rechtssoziologie, 209 ff. Bedingung dafür ist die Positivierung des Rechts, so daß Rechtsänderungen selbst legalisiert werden können und das Recht insgesamt auch als Mittel der Gesellschaftspolitik genutzt werden kann. Besonders deutlich wird das im Steuerrecht; der Steuerpflichtige dieses Jahres kann nicht wissen, welche veränderte Rechtslage er im nächsten Jahr vorfinden wird; auf Seiten des Gesetzgebers hat das (unter dem Druck der diversen Interessenverbände) freilich zur Folge, daß die Veränderungen niemals wirklich dramatisch ausfallen können. 14 So auch Gerhard Gamm in Anknüpfung an W. Hamacher: »[…] um anderen etwas versprechen zu können, muss das Versprechen sich selbst versprechen, ein Versprechen zu sein.« G. Gamm: Der unbestimmte Mensch, 197. Ihm gilt daher »das Versprechen als eine transzendentale Institution des Normativen« (196).

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Birger Priddat hat, nicht unzutreffend, Versprechen als »Minimalform von Moral« bezeichnet.15 Darüber hinaus schildert er die Probleme, die die Ökonomik mit der Einrichtung des Versprechens hat; denn diese beschreibt (ökonomisch) rationale Entscheidungen zwischen Alternativen, und zwar auf Gegenseitigkeit. Wenn aber der Entscheider nicht weiß, ob sein Gegenüber die mit dem Versprechen in Aussicht gestellte Handlung auch tatsächlich ausführen wird, so »kann nicht ›rational‹ gewählt, sondern nur gehofft, vertraut oder erwartet werden.«16 Diese ökonomisch diffusen Begriffe können nur über Anreize operationalisiert werden. Mit anderen Worten, in der Ökonomie werden Selbstbindungen stets auf die Gegenseitigkeit von Selbstbindungen rückbezogen, während die Ethik die einseitige, sozusagen rücksichtslose Selbstbindung zur Grundlage erwählt. Will man auch diese Einseitigkeit noch ökonomisch verstehen, wie Priddat es versucht, so muß man diese einseitigen Versprechungen als Investitionen eines »moralischen Unternehmertums« interpretieren,17 sie führen eine (moralische) Innovation ein und verlassen damit wie alle Unternehmer die vordefinierten Rationalitätsmuster. Auf diese Weise gewinnt Priddat eine sehr positive Deutung der Rolle der Moral: Moral schränkt Handlungsspiele nicht ein wie oft geglaubt wird, sondern sie erweitert sie. Zu Recht weist Priddat die oft gefundene Selbstdarstellung moralischer Akteure zurück, ihr »Gewissen« gebiete ihnen, Versprechen zu halten. Ein Versprechen ist ein Sprechen im kommunikativen Text und daher nicht wirklich »rücksichtslos«, sondern an den Adressaten gerichtet. Ein Versprechen ist etwas anderes als ein Handlungsplan, den einzuhalten man fest beabsichtigt. Es ist andererseits aber auch etwas anderes als eine Drohung. Die Selbstbindung an die Drohung ist deutlich schwächer, die unmittelbare (gegenwärtige) Wirkung dagegen unter Umständen stärker. Gewiß, wenn ich meine Drohungen nicht wahr mache (d.h. keine von ihnen), demontiere ich das Bild meiner Gefährlichkeit. Dagegen kann die gegenwärtige Wirkung einer Drohung nicht so gering ausfallen, ohne aufzuhören eine Drohung zu sein, wie bei Versprechen, denen gegenüber der Adressat skeptisch bleiben darf, ohne daß damit das Versprechen als solches hinfällig würde. Auch ist es nicht so sehr das

15 Birger Priddat: Versprechen: Eine Skizze zum Verhältnis von Moral und Ökonomie, in: Wirtschaftsethik als kritische Sozialwissenschaft, hrsg. v. Markus Breuer, Alexander Brink, Olaf J. Schumann. Bern, Stuttgart, Wien 2003, 293-303, hier 294. 16 L. c., 296. 17 L. c., 298; zur Uminterpretation des Begriffs des Unternehmertums s. Lars Immerthal: Der Unternehmer. München 2007.

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Unerwünschte oder Erwünschte für den Adressaten, das den Unterschied von Versprechen und Drohung ausmacht, wie man am Beispiel des Eheversprechens verdeutlichen könnte. »Ich werde dich heiraten«, kann für die so Angeredete als bedrohlich empfunden werden, wenn es der Falsche sagt, gleichwohl müßte auch sie es als (unerwünschtes) Versprechen deuten, und nicht als Androhung einer Missetat. So ist in der Regel mit dem Versprechen einer Leistung verbunden das Versprechen, daß das Versprechen auch morgen noch gilt. Wegen der Explizitheit des Versprechens gehört es in die gebrochene Normativität. Während verlorengegangenes Vertrauen nicht so einfach wiederherzustellen ist, weil jeder Appell zu vertrauen nur noch einmal bekräftigt, daß es verlorenging, kann es nötig werden, Versprechen zu erneuern. Es kann sein, daß ich mich meines Versprechens von gestern angesichts gewandelter Umstände nicht erinnern kann oder möchte. Gilt mein Versprechen, das ich einem Mädchen im Alter von 17 gab, daß ich sie heiraten würde, wenn ich 70 wäre, immer noch? Hatte ich es nicht längst vergessen und mußte ich nicht daran erinnert werden? Müssen nicht Versprechen dieser Art ab und zu erneuert werden, damit sie die Kraft des Geltens nicht verlieren, so wie Erinnerungen ab und zu aktualisiert werden müssen, um nicht ganz in unauffindbaren Spalten des Bewußtseins zu verschwinden? Gibt es etwas dem Vergessen Ähnliches auch für die Normativität des Versprechens, eine Erlösung von den Bindungen des Versprechens? Würde ich das Versprechen heute noch geben, ich, der ich heute mit einer ganz anderen Frau verheiratet bin? Wird die, der ich es damals gab, heute noch erwarten, daß ich es einlöse oder erneuere. Habe ich doch nicht nur etwas versprochen, sondern auch, daß ich mich in Zukunft an mein Versprechen erinnern werde. Wenn ich also mein Versprechen tatsächlich erneuere, dann rekurriere ich nicht nur darauf, daß ich mich tatsächlich an das Versprechen als eines Erinnerungsfaktums erinnere, sondern auch daß ich noch in dem Versprechen bin, es wird nicht nur eine epistemische Kontinuität begründet, sondern auch eine normative. Wegen dieser Gebrochenheit sind auch Paradoxa des Versprechens möglich, während ein Paradox im Kontinuum des Vertrauens dieses sofort zerstören würde. Anders als bei Wahlversprechen, von denen man lediglich aus Erfahrung weiß, daß sie nicht eingehalten werden, gibt es gerade im ökonomischen Bereich paradoxe Versprechen, die gar nicht eingehalten werden können. Englische Pfundnoten enthielten bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts das Versprechen, daß die Bank von England dem Überbringer ein Pfund (Sterling) zahlen werde. Ein Fälligkeitsdatum wurde jedoch nicht mitversprochen, so daß in das Versprechen der Aufschub der Erfüllung eingebaut war, ohne jedoch das Versprechen als solches aufzugeben. »Geld ist Kreditgeld und also Versprechen auf Geld […] so muss dieses Versprechen

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ebenso verpflichtend wie unhaltbar, nämlich zu keinem Punkt je einlösbar erscheinen[…]«18 Joseph Vogl berichtet von dem Paradox des Versprechens, daß mit dem Papiergeld eingegangen wurde. Das Papiergeld ist einerseits das Versprechen, daß der Überbringer vom Staat (Assignaten) oder von der Bank of England bestimmte Realgüter erhalten kann, also die Währung durch Silber oder durch ehemalige Kirchengüter »gedeckt« sei. Zugleich aber ist die Bank of England durch Parlamentsbeschluß vom 26.2.1797 davon befreit, dieses Versprechen zu jedem beliebigem Zeitpunkt erfüllen zu müssen. Auf der anderen Seite ist der Termin der Einlösung der Assignaten ungewiß. D.h. bei dem Papiergeld handelt es sich entweder um Versprechen, die entweder sofort (oder nie) eingelöst werden oder um Versprechen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eingelöst werden sollten (oder nicht). »Einerseits verbürgen sie den Anspruch auf deponierte Werte und Geldsummen, andererseits funktionieren sie als Zirkulationsmittel nur durch den Verzicht auf die Realisierung dieses Anspruchs.«19 Die Banknote verspricht eine gewisse Silbermenge, zugleich aber markiert sie das Fehlen des Versprochenen: »eine Paradoxie der Selbstreferenz, die sich in der Einheit von Solvenz und Insolvenz verdichtet.«20 Die Entparadoxierung dieses paradoxen Versprechens geschieht durch endloses Aufschieben der Einlösung und des Operierens genau mit diesem Versprechens-Aufschub, so daß man reimen möchte: was du heut‘ nicht kannst besorgen, das verschiebe lieber gleich auf morgen.

18 J. Vogl: Das Gespenst des Kapitals, 80. Das ist formuliert in Anknüpfung an die Geldtheorie Adam Heinrich Müllers, für den das Geld das wahre unauflösliche Band der Gesellschaften darstellt, und zwar gerade in der Form des Kredits, weil nicht die Materie des Geldes (Metall oder Papier) das Entscheidende ist, sondern das »Wort«. Adam Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes, in: ders.: Vom Geist der Gemeinschaft, hrsg. v. Friedrich Bülow. Leipzig 1931, 239-340, bes. 265-272, sowie ders.: Elemente der Staatskunst, in: dass., 1-238, bes. 155: »Alle diese Umstände zeigen, daß schon jetzt ein andres und viel höheres Geld zirkulieren muß als das Metalgeld, welches höhere wir einstweilen das Wort- oder das Kreditgeld nennen wollen.« 19 L. c., 75. 20 L. c., 76.

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5.4 W ISSENSCHAFT Geht man nun über zu dem epistemischen Bereich des epistemisch-normativen Diskurses, so ist, wie gesagt, das auf den Bruch mit unmittelbarer symbolischer Gewißheit aufbauende Konzept dasjenige des Wissens, darin strukturell vergleichbar der Pflicht (als dem Gesollten). Fragen wir nun weiter nach den Verschränkungen des Wissens mit den anderen Dimensionen des kommunikativen Textes, so werden wir mit dem als gesellschaftlich organisierten Wissen, also mit der Wissenschaft, konfrontiert. Es ist der gesellschaftlich Andere des Selbst, in dem Wissenschaft sich manifestiert. Weder das Wissen des Selbst, mag es – unter was für Gesichtspunkten auch immer – für noch so wahr gelten, noch das in einer Gemeinschaft gepflegte Wissen, das als Wissen genau dadurch ein im wörtlichen Sinne esoterisches Wissen ist, kann für Wissenschaft durchgehen, sondern erst das in einem gesellschaftlich ausdifferenzierten Diskurs organisierte Wissen. Sprachlich manifestiert sich diese Ausdifferenzierung durch eine je spezifische Terminologie. Die zuweilen gehörte Forderung, daß die Wissenschaft eine allgemeinverständliche Sprache verwenden solle, ist dann eine unsinnige Forderung, wenn man damit meinen sollte, daß jedermann das verstehen sollte, was die Wissenschaftler untereinander kommunizieren. Immer ist das Verstehen des (gesellschaftlichen) Anderen ein Problem, warum sollte das im kommunikativen Text der Wissenschaft anders sein? Die Sprache des Anderen ist überall eine andere Sprache. Daß es sich beim wissenschaftlichen Wissen um ein Wissen mit dem Anspruch (»objektiver«) Wahrheit handelt (im Unterschied zur existentiellen Wahrheit eines gelebten Lebens und im Unterschied zur Wahrheitfür-uns, etwa der Zivilreligionen) ist ebenso trivial wie, daß die Pflicht die Pflicht zum (zweifelsfrei) Guten/Rechten ist (im Unterschied zu einer Gewissensobsession subjektiver Art und im Unterschied zu Werten einer spezifischen Gemeinschaft, etwa der angeblich vorrangige Lebenswert des »arischen Menschen“ in einer [in diesem Falle] fiktiven Volksgemeinschaft oder den Werten des christlichen Abendlandes). Der Wahrheitsanspruch hat zweifellos zu tun mit, aber kann nicht begründet werden durch die sogenannten »Tatsachen«. Diese sind vielmehr selbst ein Diskursergebnis. Das ist abgekürzt gesprochen sowohl das Ergebnis des Scheiterns des Induktivismus, herbeigeführt durch den kritischen Rationalismus, als auch der Theorie der Wissenschaft als autopoietisches System, gemäß der das Wissenschaftssystem mit Hilfe des Tatsachenbegriffs »für Zwecke interner Kommunikation davon ausgehen kann, daß es sich nach den Gegebenheiten seiner Umwelt richte, und dabei vergessen kann, daß dies nur dank der selbstre-

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fentiellen Geschlossenheit des Netzwerkes der eigenen Operationen möglich ist. Und es 21

kann dies vergessen, weil dies ohnehin nicht zu ändern ist.«

Selbstverständlich kann man von den einzelnen Wissenschaftlern, insoweit sie zugleich Personen des öffentlichen Lebens sind, erwarten, daß sie den Diskurs der Wissenschaft unter Differenzierungsverlust, bzw. -verzicht einer interessierten Öffentlichkeit kommunizieren. Dann kommt auf die Wissenschaftler die Aufgabe zu erklären, was das soll.22 Innerhalb der Wissenschaft gelten jedoch eigene Gesetze. Tatsache ist hier, was als Tatsache bekannt und anerkannt ist und worauf der kommunikative Text der Wissenschaft sich in der Art eines Anschlusses beziehen kann, oder anders gesagt, worauf der Fortschritt der Wissenschaft aufbauen kann. Obwohl es dem Alltagswissen fremd ist, braucht die »Tatsache« von Elementarteilchen in der Physik nicht immer wieder neu bewiesen zu werden. Im Gegenteil kann das Neu-Auftreten von Beweisen für von bisher als Tatsachen bekannte Sachverhalte durchaus ein Indiz dafür sein, daß eine Tatsache »stirbt«, d.h. aufhört, eine Tatsache zu sein. Die Existenz der Engel beispielsweise, vormals eine Tatsache, von der man ausgehen konnte und die man lediglich genauer beschreiben zu sollen meinte, etwa was ihre Physiologie betrifft, ist spätestens seit 200 Jahren keine Tatsache mehr, Kant meidet es, von ihnen zu reden, obwohl es Anlässe dafür gegeben hätte, Hegel nennt sie etwas bloß Erdichtetes und Gustav Theodor Fechner traktiert sie zwar als wissenschaftliche Tatsache, aber nur noch im Rahmen einer Ironisierung des Wissenschaftsdiskurses.23 Man könnte allerdings auch versuchen, diese ehemalige wissenschaftliche Tatsache wiederum zu einer zu machen, indem man sie anders kon-

21 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, 288 f. 22 Als x-beliebiges Beispiel für diese Schwierigkeit sei eine Dissertation herausgegriffen, deren Wert in der Öffentlichkeit im allgemeinen als unbestritten gilt, nämlich der Biochemie der Gene. Silja Röttgers: Phylogenie und Genexpression der GlutamatSynthase (GOGAT) in verschiedenen Algengruppen. Diss. Giessen 2002. 23 Swedenborg ist insofern kein Gegenbeispiel, sondern eine Bestätigung, als er die Existenz der Engel nicht mehr als wissenschaftlich objektivierbare Tatsache behauptet, sondern als Inhalte seines eigenen Sehertums, daher konnte der Wissenschaftler Kant ihn so herrlich ironisieren. Emmanuel Swedenborg: Er sprach mit den Engeln, ausgew. v. Friedemann Horn. Zürich 1993; I. Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, in: ders.: Ges. Schriften II, 311ff.

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textualisiert.24 Insofern beschreibt Wissenschaft nicht das, was ist, unabhängig davon, ob es die Wissenschaft gibt oder nicht, sondern sie beschreibt das, was es ohne den kommunikativen Text der Wissenschaft nicht gäbe: Engel, Elektronen, schwarze Löcher, die Macht, das Risiko usw. Wissenschaft ist das, was als gesellschaftlich organisiertes Wissen im kommunikativen Text auftritt. Eine solche Auffassung von Wissenschaft bindet sie konstitutiv an die Prozessualität des Textes. Darin unterscheidet sich diese sozialphilosophische Sicht von Wissenschaft von aller Wissenschafts-Logik, die annimmt, Wissenschaft sei vor allem ein Ensemble von Aussagen, deren Beziehungen untereinander wesentlich logische Beziehungen seien: des Schließens, der Erklärung und der Begründung. Erstmals gründlich diskutiert wurde diese Spannung zwischen prozessualer und logischer Sicht des kommunikativen Textes der Wissenschaft am Beispiel der historischen Erklärung. Gibt es wirklich – so lautete die Frage – nur eine einzige logische Form, der jede wissenschaftliche Erklärung genügen muß, wie Hempel zunächst meinte,25 oder gehorcht eine Erklärung in der Geschichtswissenschaft zufolge unseres Wissenwollens von Geschichten mindestens einem oder vielen anderen Modellen, die alle mehr oder weniger – anders als der logische Schluß – die Zeitlichkeit der Geschichte ernst nehmen.26 So werden im kommunikativen Text der Wissenschaft bestimmte Dinge erzeugt, »sichtbar« gemacht, aber es werden auch bestimmte Dinge »unsichtbar« gemacht. Seit 1781 kann die Wissenschaft nicht mehr über Dinge an sich reden; das ist mehr als die Tabuisierung eines Wortes; es ist auch das Verbot bestimmter Typen von Textfortsetzungen, z.B. des Analogieschlusses vom Bekannten auf das als ähnlich vermutete Unbekannte und nicht durch Erfahrung Zugängliche. Solche Verfemungen haben Folgen. In der Regel konstituiert sich so ein ganz neuer Diskurs, im genannten Fall der Diskurs einer Ethik des Noumenalen. Nicht obwohl, sondern gerade weil

24 Das tut beispielsweise M. Serres: Die Legende der Engel, und Kurt Röttgers: Die Physiologie der Engel, in: Engel in der Literatur-, Philosophie- und Kulturgeschichte, hrsg. v. Kurt Röttgers, Monika Schmitz-Emans. Essen 2004, 29-51, sowie ders.: Teufel und Engel. 25 Carl Gustav Hempel: The Function of General Laws in History, in: Theories of History, hrsg.v. Patrick Gardiner. New York, London 1967, 344-356. 26 William Dray: On the Nature and Role of Narrative in Historiography, in: History and Theory 10 (1971), 153-171; Arthur Coleman Danto: Analytical Philosophy of History. Cambridge 1968; John Passmore: Explanation in Everyday Life, in Science, and in History, in: History and Theory 2 (1962), 105-123.

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Freiheit kein möglicher Gegenstand der Erkenntnis ist, wird sie zum Grundbegriff der Praktischen Philosophie.

5.5 ARCHIV Bestimmtes Wissen gilt als Tatsache. Dieses ist vor allem in der Vergangenheit erworbenes und durchgesetztes Wissen. So tritt neben die soziale die temporale Dimension der als Wissen reflektierten Kontinuität des Epistemischen. Im Anschluß an Foucault wollen wir diese Vergangenheitsorganisation des Wissens das Archiv nennen. Damit erfährt der Begriff gegenüber Foucault eine Ausweitung; denn dieser hatte ihn gebraucht, um die spezifische Wissensorganisation des klassischen Zeitalters, d.h. vor der Historisierung der Wissenschaften zu bezeichnen. Gleichwohl meint auch bei ihm der Begriff nicht nur die Methode der Speicherung der Wissensbestände, sondern zugleich auch die Ordnung der Aussagbarkeit.27 Insofern sind die Strukturen des Diskurses im Begriff des Archivs auch bei Foucault immer schon mit gemeint. So wie die Geschichten sich nicht geben lassen als Aufbewahrung des Geschehenen, sondern als Resultat einer Praxis des Erzählens, so ist auch das Archiv nicht das sozusagen ungestörte Sedimentieren und Verstauben des Wissens. Archivarische Tätigkeit ist Organisations-Arbeit, nicht einfach das Zulassen und gegebenenfalls Abschirmen des Verstaubens. Dazu gehört auch, wie St. Dietzsch gezeigt hat, das Vergessen; insofern ist das Archiv, als »Kreuzungspunkt von Erinnern und Vergessen« auch eine »Erinnerungstheraphie«.28 Zweifellos wächst unser Wissen an. Persönliches Wissen kann als Erinnerung dem Gedächtnis übergeben werden, kulturelles bedarf der Archivierung. Beide Formen der Archivierung müssen zweierlei vorsehen können: Vergessenkönnen und Archivierungsoptimierung durch Strukturbildung. In gewissem Umfang ist beides funktional äquivalent. Wer nichts archiviert, bedarf keiner großartigen Strukturen zur Archiv-Verwaltung. Umgekehrt: Die perfektesten Strukturen würden es ermöglichen, alles zu archivieren. Man meint errechnet zu haben, daß das Wissen der Wissenschaft, meßbar in bedrucktem Papier wissenschaftlicher Publikationen, sich alle fünfzehn Jahre verdoppelt. Solche Verdopplungsfunktionen haben – wie man aus jener indischen Geschichte der Verdopplung

27 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt/M. 1981, 187 f. 28 Steffen Dietzsch: Das Archiv und die Ordnung des Vergessens, in: Das Archiv der Goethezeit, hrsg. v. Gert Theile. München 2001, 157-168, hier 158.

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der Reiskörner auf den Feldern eines Schachbretts weiß – etwas Tückisches: langsam fangen sie an, steigern sich unvermutet schnell und fressen am Ende alles auf.29 Wenn diese Verdopplungsfunktion des Wissens auf bedrucktem Papier anhält, dann kann man errechnen, daß wenige Jahrhunderte genügen, bis die gesamte bewohnbare Erdoberfläche, einschließlich der Antarktis, zur Bibliothek geworden ist. Es ist zu vermuten, daß es so nicht kommen wird. Man könnte immerhin vergessen wollen, also etwas aus dem Archiv aussortieren wollen. Leider funktioniert das nicht, aus zwei Gründen. Erstens stehen vor der Tür des Archivs schon diejenigen, die sich eifrig um das »zu Unrecht Vergessene“ bemühen, um es also in ein neues Archiv einzulesen. Zweitens aber ist das Vergessen gar keine Frage des Wollens. Als Kant seinen langjährigen Diener Lampe verstieß, da notierte er in seinen Aufzeichnungen, daß hinfort an Lampe überhaupt nicht mehr gedacht werden solle. Er schrieb es auf, damit er das Vergessen nicht etwa vergesse. Aber gerade das ist ja nicht der Weg des Vergessens, sondern derjenige der Strukturbildung. Es bleibt nichts übrig als auf die vandalischen Nomaden zu warten, die einen Teil eines Archivs zerstören werden. Für die persönliche Erinnerung ist es das Unbewußte, das durch Verdrängung Archiviertes dem Zugriff entzieht. Die öffentlichen Archive bleiben den Zigeunern, Dieben und Anarchisten zur Entlastungspflege überlassen, manchmal auch den Naturgewalten. Die andere Seite jedoch der Doppeldeutigkeit des Wachsens der Archive unseres Wissens ist es, daß mit allem Anwachsen des Gewußten zugleich der Umfang des Ungewußten zu wachsen scheint. Wissenserwerb folgt nicht der Logik der Sanduhr, in der zuerst alles oben im Ungewußten wäre und so nach und nach durch die Enge des menschlichen Geistes hindurch nach unten in das Behältnis des Gewußten durchrieselte. Das Wissen wächst, das Ungewußte mit ihm, ob genauso schnell oder schneller, wer könnte das wissen – über das Ungewußte? Der andere Weg, des anwachsenden Wissens Herr zu werden, ist die Strukturbildung. Strukturen übernehmen Funktionen, für die man ohne Strukturbildung einen Wärter brauchte. Habe ich eine Maschine, dann brauche ich einen Maschinenwärter, der die Maschine ein- und ausschaltet und die diversen Hebel

29 Nach Berechnung der Mathematiker der Universität Paderborn kann man mit der Gesamtmenge der Reiskörner auf jenem Schachbrett gemäß einer Exponentialfunktion die ganze Erdoberfläche mit Reis bedecken – aber wer will das schon? http://wwwmath.upb.de/~mathkit/Inhalte/Folgen/data/manifest25/schachbrett_reiskoerner.html, gesehen am 2.2.2012.

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oder Knöpfe bedient, durch die die Alternativen der maschinellen Prozesse gesteuert werden. Habe ich ein ganzes Gefüge von Maschinen, dann können sie gegenseitig füreinander diese Steuerungsfunktionen übernehmen. Je komplexer dieses maschinelle Gefüge, desto störanfälliger. Also brauchen wir Metamaschinen, die den störungsfreien Ablauf der maschinellen Verkettungen überwachen usw. Aber jede Überwachung einer Störanfälligkeit ist ihrerseits störanfällig. Nun ist die störende Intervention nichts anderes als der Einbruch eines Nomadismus bezüglich einer vorgesehenen Ordnung. Denn es ist ja keineswegs so, als folgte die Störung keinerlei Ordnung: das wären nur die Wundertaten eines unberechenbaren Gottes. Solches ist jedenfalls nicht der Normalfall der Störung eines maschinellen Ablaufs. Auch dieser Prozeß wird vielmehr unterbrochen durch eine andere Rationalität, eben eine nomadische im Hinblick auf die aufgestellten Maschinen. F. Guattari und dann G. Deleuze/Guattari ist die Einsicht zu verdanken, daß genau das, die Unterbrechung, Skandierung eines Fließens das Wesen der Maschine als solcher ausmacht, so daß wir auch hier wiederum die Reziprozität eines Nomadismus von außen und eines im Inneren vorliegen haben. Was also Gefüge ist und was Prozeß ist, das hängt von dem Gesichtpunkt ab, den man eingenommen hat. Wenn wir Archive als Labyrinthe bezeichnen, so darf das nicht in dem Sinne verstanden werden, als wären es Irrgärten, angelegt, um Leute in die Irre zu führen. Dieses war bekanntlich die Wahrnehmung der Griechen, als sie mit dem Labyrinth der minoischen Kultur in Berührung kamen.30 Sie verstanden es nicht, hielten es deswegen für ein Arrangement der Minoer, um Griechen, d.h. Menschen zu verwirren und schätzten es in diesem Verwirraspekt für gefährlich ein. Vermutlich aber war es nur ein hochkomplexer Tanz in einem Sonnenkult, in dem alljährlich Jungmänner und Jungfrauen dem Minotaurus, jenem Mischwesen aus Natur und Kultur31 »geopfert«, d.h. initiiert wurde. Im Kasten der Vergangenheit wollten wir Ordnung schaffen, daher legten wir ein Archiv an. Als dann die Ordnung zum Exzeß wurde, als wir zuviel ord-

30 K. Röttgers: Die Welt, der Tanz, das Buch, das Haus, das Bild, die Liebe, die Welt, der in den Fakten der antiken Welt wiederum weitgehend folgt H. Kern: Labyrinthe; cf. auch K. Röttgers: Arbeit am Mythos des Labyrinths. 31 Roland Barthes: Les mots du Labyrinthe, in: Cartes et figures de la terre. Paris 1980, 94-103, 14: »J’abandonne donc le cauchemar de ce Minotaure imprévisible, embusqué en un carrefour inconnu, c’est-à-dire partout, donc nulle part. Et je lui substitue, fidèle à la généalogie du mythe, la séduction proprement dite du taureau [...] La séduction omniprésente dans tous les labyrinthe.«

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neten, schufen wir genau damit das Labyrinth. Je exzessiver die Ordnung, desto unentrinnbarer das Labyrinth. Und immer mehr wird zur Frage, ob es außerhalb der exzessiven Ordnung überhaupt noch eine wilde, ungeordnete Welt gibt; es ergeht uns wie Rilkes Panther: »Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe | und hinter tausend Stäben keine Welt«.32 Alles, was es überhaupt gibt, gibt es nur als Gewußtes oder wenigstens als potentiell Gewußtes. Canetti: »Eine peinigende Vorstellung: daß von einem bestimmten Zeitpunkte ab die Geschichte nicht mehr wirklich war. Ohne es zu merken, hätte die Menschheit insgesamt die Wirklichkeit plötzlich verlassen; alles was seither geschehen sei, wäre gar nicht wahr; wir 33

könnten es aber nicht merken.«

Und so ist denn ein Labyrinth, und das wollen wir für unsere These, daß Archive Labyrinthe sind, festhalten, alles andere als ein (ebenfalls verwirren könnendes) Chaos; es ist vielmehr eine überkomplexe Ordnung, die in ihrer Überkomplexität verwirrend wirken kann, vor allem für eine vermessende Vernunft anstelle einer tanzend Ordnungsstrukturen einübenden Vernunft. Seit den Anfängen historischen Denkens sind wir gewiß, daß Archive wachsen oder wenigstens auf Wachstum hin angelegt sind. Bezeichnenderweise ist dieser Gedanke des Wachstums genau seit jener Zeit auch mit dem Labyrinth-Gedanken verbunden worden, eben seit der Goethezeit. Während in einer Welt, die als Teil einer Heilsordnung verstanden wird, die Welt zwar auch – wie bei Comenius z.B.34 – als ein Labyrinth aufgefaßt werden kann, aber diese Welt begrenzt ist und ein nicht-labyrinthisches Außerhalb hat, so daß man nur den Ariadnefaden braucht, d.h. die Frohe Botschaft oder als Zentralbegriff bei Kant und seiner Zeit den »Leitfaden«, um herauszufinden aus den Wirrnissen, setzt sich mit dem Historismus nach und nach die Vorstellung durch, daß das Labyrinth der Welt mindestens so schnell wächst, wie wir uns in ihm bewegen, vielleicht sogar schneller, naturgemäß unentscheidbar. Als es noch eine zweidimensionale Welt gab, konnte man glauben, daß die dritte Dimension, d.h. der Blick von oben in das Labyrinth, das natürlich – siehe Sonnenkult – nach oben hin offen war, denjenigen Über-Blick gestattete, der zu-

32 Rainer Maria Rilke: Der Panther (Neue Gedichte, 1907), in: ders.: Gesammelte Gedichte. Frankfurt/M. 1962, 261. 33 Zit. v. Jean Baudrillard: Die fatalen Strategien. München 1985, 15f. 34 Johann Amos Comenius: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens. Jena 1908.

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gleich mit dem Einblick in die Struktur des Labyrinths (»Weltformel«, »Genomformel«) gestattete, die eigene Position in ihr zu lokalisieren. Es gibt sogar Leute, die das immer noch glauben, bzw. ihrem Unglauben durch enorme Forschungsinvestitionen auf finanzielle Art abzuhelfen versuchen. Tatsache ist, daß jede neue Dimension wirklich neue Durchblicke (Perspektiven) eröffnet, aber eben nicht den einen Über-Blick.35 Mit der Eröffnung neuer Durchblicke wird nichts anderes getan, als die Komplexität des Labyrinths zu steigern, d.h. das Labyrinth wachsen zu lassen. Denn das Wachsen des Labyrinths der Welt ist ja nicht auf ein Wachsen der Welt, sondern darauf zurückzuführen, daß wir uns in dieser Welt bewegen, d.h. eher auf das Wachsen der Archive als auf ein Wachsen des Außerhalbs der Archive. Jedes Gewußte aber erzeugt, sobald es gewußt worden ist, stante pede eine neue Sphäre des zwar prinzipiell Wißbaren, aber doch momentan noch Ungewußten. So wuchern die Ordnungsstrukturen, sobald man sie nur anwendet, sich zu einem Labyrinth aus, das schneller zu wachsen scheint, als wir Auswege aus dem Labyrinth ersinnen können, und zwar gerade nicht, weil es uns an Kräften mangelte, sondern im Gegenteil weil unsere Kräfte zu groß sind und wir so aktiv beteiligt sind an dem Wachsen des Labyrinths.36 Jeder Ariadne-Faden erweist sich als in sich selbst labyrinthogen. Wenn das alles aber so ist oder anders gesagt, mit diesen Konzepten angemessen darstellbar wird, dann wird zur entscheidenden Frage nicht mehr, wie finden wir mit Ariadnes oder mit Kants Hilfe aus dem Labyrinth der Archive heraus, sondern welche Bewegungsform oder aber stationäre Position wäre dieser Struktur und unserer Position in ihr angemessen. Natürlich könnte man – in der Logik dieser Bilder gedacht – versucht sein, durch absolute Ruhe und Unbeweglichkeit, sozusagen durch simulierte Leichenstarre das Wachsen des Labyrinths einzudämmen. Man würde dann vielleicht

35 Perspektive in Literatur und bildender Kunst, hrsg. v. Kurt Röttgers, Monika SchmitzEmans. Essen. 1999; zur Kritik des »survol« s. Maurice Merleau-Ponty(M. MerleauPonty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, 170; ders.: Das Auge und der Geist, 277; cf. R. Konersmann: Übersicht): Daß der Blick von oben, der Über-Blick, nicht die wahre Sicht der Dinge, sondern nur eine andere, vielleicht sogar eine verzerrte oder falsche, darbiete, wird in dem Begriff des Überfliegens kritisch artikuliert. Kant hat den transzendenten Vernunftgebrauch auch einen überfliegenden (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft B 352; Gesammelte Schriften III, 671) genannt; seine Kritik der Vernunft warnt vor den Illusionen des Überfliegens. 36 Man kann diesen Zusammenhang das Paradox der Gewißheit nennen: Je mehr wir wissen, desto mehr schwindet die Gewißheit.

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denken, das Archiv sei ein Karzinom und jede weitere Ausbreitung und Metastasenbildung müsse verhindert werden. Aber ist das Archiv in seinem Wachstum wirklich in der Weise bösartig, daß es den Zusammenhang, dessen Teil es ist, zu zerstören droht? Pessimisten des technologisch-industriellen Fortschritts befürchten das. Optimisten glauben, daß mit jedem neu erzeugten Risiko neu erzeugte Risikobewältigungen hinzuwachsen. Beide sind naiv in dem Sinne, als sie sich selbst im Labyrinth stationär und irgendwie den Überblick habend, positionieren. Aber Bewegungslosigkeit ist eine Illusion.37 Was bleibt, ist die Frage, welche Form von Bewegung ist die in einem labyrinthischen Archiv angemessene Bewegungsform. Dazu meine These: die nomadische, dazu mehr an gegebener Stelle.

5.6 B ILDUNG Es entspricht der eigentümlichen Geschichte des Bildungsbegriffs, Bildung nicht an kulturellen Beständen festzumachen, was von Nietzsche zu Recht kritisiert worden ist, sondern das Phänomen der Bildung zunächst als ein Phänomen der Beziehung zum Anderen, d.h. als soziales Phänomen zu begreifen. Dem genügen in der Geschichte des Begriffs vor allem die Wortbildungen »Ein-Bildung« (ein Bild in eine Seele einfügen) und »Aus-Bildung« (das innere Bild-Sein oder Werden in die Erscheinung bringen). Auch wenn der organologische Hintergrund dieses humanistischen Bildungsbegriffs heute kaum noch verwendbar ist und damit dieser selbst auch einer seiner Grundlagen entbehrt,38 wie es etwa lange Zeit in der Frontstellung einer »lebendigen Bildung« gegen die »toten Bücher« Geltung beanspruchte,39 scheint mir doch wichtig, die Relationalität eines Wissensbestandes durch den inneren Anderen eines Selbst hervorzuheben, statt wie zuweilen geschieht, einfach bestimmte Inhalte pädagogischer Bemühungen als Bildung auszuzeichnen, wie es insbesondere in der Opposition von Allgemeinbildung und beruflicher Bildung geschieht, nämlich als Unterscheidung nützlichen und unnützen Wissens. Da wir Bildung hier sehr wohl als eine Modi37 Das ist, etwas übersetzend verfremdet, die Kernidee von A. N. Whitehead: Process and Reality. 38 Zur Geschichte des Bildungsbegriffs s. Ernst Lichtenstein: Zur Entwicklung des Bildungsbegriffs von Meister Eckhart bis Hegel. Heidelberg 1966; Günther Dohmen: Bildung und Schule. Weinheim 1964. 39 Chr. J. Kraus: Vermischte Schriften, VIII, 154.

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fikation von Wissen betrachten, wird der Bildungsbegriff durch seine Innerlichkeitsbeziehung nicht zu einem schimärischen Begriff, sondern Bildung wollen wir verstehen als ein seelisch organisiertes Wissen. Darin ist sie nichts anderes als ein gewissermaßen inneres Archiv. Natürlich ist es unter diesen theoretischen Umständen reizvoll, nach dem Verhältnis von Bildung und Kultur zu fragen, zwei Begriffen, die gemeinhin in einer emphatisierten Nähe zueinander behandelt werden. Nachdem wir oben Kultur durch die Differenz und Distanz zum unmittelbar geltenden Epistemischen und Normativen bestimmt hatten und auf der epistemischen Seite Gewißheit und Wissen als zwei Distanzierungsstufen unterschieden hatten, bekommt der Begriff der Bildung auf diese Weise ein relativ präzises Profil: als seelisch organisiertes Wissen geht es einerseits um einen spezifischen Ausschnitt des Kulturellen, nämlich ein Epistemisches, das über die bloße symbolische Gewißheit hinausgeht, andererseits wird der soziale Aspekt, näherhin der Aspekt des inneren Anderen im Bildungsbegriff hervorgehoben. Darin trennen wir uns natürlich von einer bestimmten Zitationstradition hinsichtlich des Kulturbegriffs, die immer wieder Ciceros »cultura animi« bemüht.40 In dieser Anbindung des Bildungsbegriffs an den Begriff des inneren Anderen darf jedoch nie die Relationalität Selbst/Anderer im kommunikativen Text vergessen werden. Daher geht es hier überhaupt nicht um Innerlichkeitspflege, noch weniger allerdings um eine Kritik derselben. Innerlichkeit in diesem Sinne einer humanistischen Pädagogik geht von dem Begriff des Individuums aus, das ein Inneres »hat«, das gebildet zu werden verdient. Der Ansatz der Sozialphilosophie beim kommunikativen Text bedeutet, von Relationen, nicht von substantiellen Einheiten auszugehen. Dann heißt Bildung nichts anderes als die Pflege des Verhältnisses eines Selbst zum Anderen durch Kultur, speziell zum inneren Anderen. Diese Bezogenheit ist wie das Archiv keine Akkumulation von Beständen. Bildung heißt dann ebensosehr Vergessenkönnen wie das Archiv auf seinen Vandalismus angewiesen ist. Man sollte vermuten, daß der oben dargestellte Nomadismus in den Archiven ebensosehr für die gebildete Seele gilt: Seelenorganisation im Zeitalter des Hermes 41 heißt dann auch Strukturbildung zwecks Vermeidung von Kapazitätsproblemen einer rein kumulativen Bildungsorganisation. Das möchte man nun eine philosophische Bildung nennen. Be-

40 Die einschlägige Stelle ist Cicero: Tusculanarum ad M. Brutum disputationem lib. II, 5, wo die Philosophie als »cultura animi« bezeichnet wird. 41 Cf. M. Serres: Die Legende der Engel. p. 39 ff.; ders.: Hermes II: Interferenz. Berlin 1992, 166 ff.

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zeichnenderweise tritt philosophische Bildung als sozialer Faktor erstmals im Rahmen der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Gestalt der französischen »philosophes« auf, und zwar parallel mit einer kapitalistischen Ökonomie, die ja ebenfalls über die rein kumulative Reichtumsbildung des Merkantilismus hinausgeht. Beides folgt jedoch zunächst eindeutig der Reflexionsfigur als dem Charakteristikum der Moderne. Es ist die Frage, ob wir nicht analog zur nomadischen Alternative zur Moderne eine ähnliche schweifende und rhizomatische Seelenbildung bräuchten oder vielleicht in Ansätzen schon haben.42 Es wäre eine eher experimentelle Selbstbeziehung, die nicht im Selbstbewußtsein mündete. Seelische Selbsterkundungszüge führten dann nicht mehr zur Entdeckung einer stabilen Ordnung, einer »Seßhaftigkeit im Inneren«, sondern allenfalls zu Erkundungen. Je mehr ein Selbst in dieser Hinsicht weiß, desto weniger kennt es sich in dieser internen Alterität aus, weil auch diese wissensabhängig wächst, so daß – jedenfalls unter gewissen Aspekten – gilt: je gebildeter, desto chaotischer. Nun ist der Bildungsbegriff natürlich durch seine Geschichte belastet. Es gibt religiöse (Meister Eckhart) und organologische Hintergrundtraditionen, die man, will man mit diesem Begriff weiter arbeiten, unter Kontrolle bringen muß. Aber zwischen dem religiösen und dem organologischen Bildungsbegriffs ist auch eine Spannung in der Frage vorgegeben, von wo die Bildung komme, von außen oder von innen. Der religiöse Bildungsbegriff unterstellt, daß die Bildung des Selbst vom Anderen herrühre (die Bildung des Seelenfunkens durch Gott), der organologische Bildungsbegriff geht dagegen von der Aus-Bildung von Anlagen aus, d.h. daß Bildung eine Manifestations- und Ausdrucksform von Anlagen sei. Der klassische und dann in die Pädagogik (heute sagt man sogar: Bildungswissenschaften) abgesunkene Bildungsbegriff kombiniert beide Nuancen. Dann

42 Schon früh: Gisela Dischner: Der Neue Charakter, in: L’inivitation au Voyage zu Alfred Sohn-Rethel. Bremen 1979; heute ist es vor allem das Internet, das zur Reflexion eines ihm entsprechenden Charakters provoziert, klassisch dazu Sherry Turkle: Identität im Zeichen des Internets. Reinbek 1998. Im Hinblick auf seine eigene Textualität hat Michel Foucault gesagt. »Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes: sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.« Michel Foucault: Archäologie des Wissens, in: ders.: Die Hauptwerke. Frankfurt/M. 2008, 471-699, hier 492.

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schützt Bildung auch deswegen gegen haltlose Schwärmerei43 mit ihren Konsequenzen politischer Revolutionen und Despotismus, weil durch Bildung das Innere eine »fortgehende Kette der ungeheuersten Revoluzionen«44 ist. Dann ist die Menschheitsaufgabe der allgemeinen Bildung der gesamten Menschheit eben dadurch zu bewältigen, daß das Zentrum der Menschheit im Menschen selbst liegt,45 so daß die eigentliche Bildung die Selbst-Bildung ist.46 Auch hier ist die religiöse Konnotation nicht aufgegeben, erhält freilich eine fast übernatürliche Konnotation: Bildung ist Gott-Werdung.47 Unter diesem Aspekt der Repräsentanz von Innen und Außen wird der Vorgang der Äußerung selbst unnötig. Dann enthält der gebildete Mensch in seinem Inneren (jener »Kette der ungeheuersten Revoluzionen«) einen Roman, d.h. einen ins Unendliche gehenden synästhetischen Prozeß, der es überhaupt nicht nötig hat, als ein äußerlicher Roman, d.h. als Buch zu erscheinen. Ja, hier bewährt sich die alte Opposition von lebendiger Bildung vs. toten Büchern.48 Nun ist aber der klassische Bildungsbegriff, sei er nun stärker von der religiösen EinBildung oder stärker von der organologischen Aus-Bildung strukturell geprägt, stets auf Inhaltlichkeit bezogen. Das hat (auch) damit zu tun, daß Bildung wörtlich Bild-Werdung ist. Schon der innere Roman verweist darauf. Für das nationale Selbstverständnis der Deutschen um 1800 spielt nun gerade der Bildungsbegriff eine prominente Rolle. Während die Franzosen sich – in Anlehnung an römisch-republikanische Werte – der politischen Umwälzung widmeten, fühlten sich die Deutschen in ihrem politischen Partikularismus seit Winckelmann der griechischen Bildung verpflichtet.

43 S. dazu bereits Friedrich Schlegel: »Bildung ist das Einzige, was gegen Schwärmerei sichert.« Beilage II, 13. F. Schlegel: Kritische Friedrich Schlegel- Ausgabe, Bd. 18, 518. 44 F. Schlegel: Philosophische Lehrjahre II, 637, l. c., 83. 45 ders.: Ideen 65: »Nur durch Bildung wird der Mensch, der es ganz ist, überall menschlich und von Menschheit durchdrungen.« l. c. II, 262. 46 L 86, l. c. II, 157. Die Fragmente werden zitiert als L=Lyceumsfragmente, A = Athenäumsfragmente) 47 A 262, l. c. II, 210. 48 H. Blumenberg. Die Lesbarkeit der Welt, 17 ff.; Kurt Röttgers: Buchphilosophie und philosophische Praxis, s. auch der Wunsch von Kraus, »in Männern, die ihm ihre Bildung verdankten« fortzuwirken, »nicht aber in todten Büchern.« (Chr. J. Kraus, l. c., 154)

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Noch 1807 sagt Wilhelm von Humboldt: »Die Deutschen besitzen das unstreitige Verdienst, die griechische Bildung zuerst treu aufgefaßt und tief gefühlt zu haben [...]«49 Bis in die politische Verfassung hinein, der Föderalismus einer Staaten-Vielfalt, gleicht Deutschland dem antiken Griechenland, das aber ist keine historische Rückständigkeit (gemessen am Zentralismus Frankreichs und Roms), sondern die angemessene politische Verfassung der Humanität, die von Griechenland zu Rom hin verfallen und untergegangen ist, derzeit ihren Sachwalter aber unter den Deutschen hat und damit die wahre Option auf eine wahre Zukunft der Menschheit darstellt. So ist im Hinblick auf die Entwicklung von wahrer Politik und Kultur Deutschland bereits über Frankreich hinaus. Je nachdem nun, ob an den Vorgängen der Französischen Revolution stärker die zentralistischen, hegemonialen, romanophilen, bloß äußeren Momente einer blutigen Politik betont wurden, oder stärker die menschheitlichen Ideale, konnte die Revolution als letztes Aufbäumen des römischen Geistes oder als Durchbruch menschheitlicher, letztlich griechischer Ideale aufgefaßt werden. Als Konsequenz dieser Bewertung aber gilt: Die eigentliche Revolution findet in Deutschland statt, die Französische Revolution ist nur ihr Abglanz. Solch ein Bildungsbegriff tritt daher ebensosehr mit einem Universalisierungsanspruch auf wie der politische oder der philosophische Freiheitsbegriff. Als Postulat tritt es daher durchaus auf in der Form, daß es ein Reich der Roheit jenseits der Grenzen eines Reichs der Bildung nicht geben solle (!).50 Gleichwohl bleibt dieser Bildungsbegriff, jedenfalls bei F. Schlegel, okkasionalistisch. So wie wir weder leben, um glücklich zu sein, noch um unsere Pflicht zu tun, sondern um uns zu bilden, weil es für die Einrichtung eines gelungenen Lebens eben keine Grundsätze gibt, sondern nur mehr oder weniger geeignete Maßnahmen, Vorkehrungen und Einrichtungen, so ist auch der Bildungsbegriff selbst von den Umständen betroffen, so daß Bildung so etwas ist wie die »Stimmung« eines Musikinstruments: vor einem Konzert mit harmonischen Zusammenspiel müssen die Instrumente aufeinander eingestimmt werden.51 Könnte das noch wie eine bloße Kompromißbildung oder Verbindlichkeit eines abstrakt vorgegebenen Maßes (»Kammerton A«) mißdeutet werden, so ist

49 Manfred Fuhrmann: Die »Querelles des Anciens et des Modernes«, der Nationalismus und die deutsche Klassik, in: Deutschlands kulturelle Entfaltung, hrsg. v. Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Rudolf Vierhaus. München 1980, 49-67, hier zit. 61. 50 Ideen 48, l. c. II, 261; cf. XVIII, 87 (Nr. 697): »Man lebt […] um sich zu bilden«. 51 L 55, l. c. II, 154.

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die Idee des Symphilosophierens und das ihm zugrundeliegende Konzept einer polemischen Totalität Gewähr gegen eine solche Mißdeutung. Und es ist auch der Bildungsbegriff, der in diesen Zusammenhang einbezogen wird. So heißt es etwa im Fragment 80 der Ideen, daß die Differenz von Meinungen, die natürlich gemäß den Gedanken der polemischen Totalität eine notwendige Voraussetzung jeglicher Übereinstimmung ist, zu einer Einigkeit gebracht werden kann durch Bildung, »die jedem besonderen Sinn zu dem allgemeinen unendlich erweitert«, genau dadurch daß die Sinnunterstellung ein Sein unterstellt, noch bevor es geworden ist.52 Dieses hermeneutische Prinzip, am Kritisierten durch Kritik das Hervortreten des Ideals zu provozieren, verhindert eine Deutung von Stimmung als Kompromiß. Mit diesem enorm wichtigen Aspekt des Schlegelschen Bildungsbegriffs ist die Kontextualität jeglicher Bildung angesprochen.53

5.7 Z UKÜNFTIGES W ISSEN Kommen wir zum letzten und schwierigsten Aspekt der Beziehung der Dimension des Epistemisch-Normativen auf die Zeitdimension des kommunikativen Textes, und zwar auf der Seite des Epistemischen: nämlich das zukünftige Wissen. Popper hat überzeugend dargetan, daß es ein Wissen von zukünftigem Wissen nicht geben kann; denn wer dieses Wissen besäße (d.h. nicht nur Vermutungen, Ahnungen und dgl.), der müßte bereits ein Wissen von jenem vorgeblich erst zukünftigen Wissen haben, d.h. dieses Wissen wäre nicht erst zukünftig zu erwerbendes Wissen, sondern bereits jetzt vorhandenes Wissen. In gewissem, vielleicht aber eher einzuschränkendem Sinne gilt das auch von zukünftigem Nichtwissen. Die Ignoretik als Wissenschaft vom Ungewußten scheitert auch an der Zukunft. Aber im Wille-zum-Wissen gibt es eine nicht-epistemische Präsenz eines zukünftigen Wissens. Das Begehren ist die Zukünftigkeit auch des Wissens. Bekanntlich läßt sich das auch gesellschaftlich organisieren: Forschungsprojekte, ja selbst ein Teil der wissenschaftlichen Hypothesenbildung ist nichts anderes als dieser vorlaufende Entwurf des Wissens. Aber es gibt auch versperrte Wege. Niemand könnte – ernsthaft – heute die Dinge-an-sich erforschen wollen. Und das liegt selbstverständlich nicht an den Dingen-an-sich, die sich nicht über52 Ideen 80, l. c., 263. 53 Zum Begriff der moralischen Bildung bei Schlegel, der hier außer Betracht bleiben muß, s. K. Röttgers: Erfahrungsverluste durch Moral – alles halb so schlimm., 30 ff.

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listen ließen. Ebensowenig ist die Überwindung der Lichtgeschwindigkeit oder die Abkühlung jenseits der tiefstmöglichen Temperatur kein bloß technisches Problem, das man eines Tages zu überwinden hoffen kann. Der Diskurs ist vielmehr so strukturiert, daß diese epistemischen Zukünfte ausgeschlossen sind. Wer eine Erfahrung macht, die der Kantischen Erkenntnistheorie widerspricht, z.B. die Heisenbergsche Unschärfe, der weiß nun nicht etwas über die Dinge-an-sich, sondern er weiß lediglich etwas über Dinge als Erscheinungen, was zuvor nicht gewußt werden konnte und womit Kant nicht rechnen konnte. Etwas anderes ist der Typ von Wissen, den Nikolaus von Cues als docta ignorantia bezeichnete. Alles Wissen von den Dingen dieser Welt, auch alles Wissen, das wir zukünftig durch eine neue Erkenntnis haben werden, ist von der Art der Relationierung eines zuvor Unbekannten mit einem zuvor schon Bekannten.54 Das aber heißt: all unser Wissen von den Dingen dieser Welt – inklusive des zukünftigen Wissens von den Dingen dieser Welt – ist von der Art des Mehr oder Weniger auf der Skala des Kontinuums des Wißbaren. Was aber Gott betrifft, ist es ein Irrtum anzunehmen, daß ein Wissen von Gott ein Wissen vom Ende dieser Skala wäre, als wäre Gott nur ein bißchen größer als das größte anzunehmende Ding der Welt, etwas erhabener usw. Zwar kann man voll der Bewunderung für die Schöpfung sein und auch von ihrer numerischen Unendlichkeit überzeugt sein, aber anzunehmen, dieses sei ein Wissen von Gott, ist eine Form von Götzendienst, der die Bilder der Wahrheit mit der Wahrheit selbst verwechselt. – Dennoch gibt es nach Nikolaus von Cues eine Art des Wissens von Gott, das Gott weder als ein ens perfectissimum inter entia unterstellt, noch einen Analogieschluß darstellt, von der Art, daß, da es Bilder (picturale oder textuale) von Wesen wie Göttern oder den Einhörnern gibt, es auch diese Wesen »irgendwo« geben müsse. Im Sinne einer negativen Theologie ist dieses Wissen von Gott dasjenige, das aufscheint als Effekt unseres Wissens von unserer Unwissenheit, bzw. der Verfaßtheit unseres Wissens als bloß konjekturales Wissen. Jenseits dessen bleibt uns das Wissen von der Unwissenheit. Es ist ein Wissen, das nichts begreift, weil es sich dem Unbegreifbaren stellt. Die docta ignorantia ist die Anerkennung des Bestehens einer Wahrheit, deren Inhalt dem endlichen Erkennen entzogen bleibt. Denn die Unendlichkeit (etwa auch die in der Mathematik) ist nicht etwas, das man dann erreicht, wenn man nur lange genug zählt. Es ist das, was sich dem Zählen entzieht, was aber gleichwohl im System der Arithmetik Sinn macht, bzw. wo es keinen Sinn macht zu sagen, das Unendliche

54 »Omnes autem investigantes in comparatione praesuppositi certi proportionabiliter incertum iudicant.« Nicolaus de Cusa: De docta ignoratia I, 6.

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gebe es nicht, weil man zählend nie dort anlangt und weil das Zählen dort versagt, weil man über das Unendliche hinaus nicht weiter zählen kann. Frage ist nun, was dieses für die Figur des zukünftigen Wissens im Rahmen einer Theorie des kommunikativen Textes bedeutet. Die Antwort scheint klar: Auch jedes zukünftige Wissen ist ignorantia. Die docta ignorantia jedoch ist kein Wissensprojekt, das durch Erkenntnisbemühungen in Zukunft erreichbar sein könnte, sondern es ist die Inversion der Differenz, die den Erkennenden vom Erkannten trennte. Diese Inversion, die Cusanus in der Figur der coincidentia oppositorum dachte, ist in jedem Moment des kommunikativen Textes möglich. Das aber kann nur heißen: Sie verläßt die Opposition von Archiv und Projekt zugunsten des einen exstatischen Moments: Uchronie und uchronisches Wissen.

5.8 M ORAL Nachdem wir zuletzt in verschiedenen Aspekten die Beziehung von Wissen auf die soziale und temporale Dimension des kommunikativen Textes betrachtet haben, steht nun noch aus, das Ethos in eben solcher Weise zu untersuchen. Ich erinnere zunächst daran, daß wir Ethos bestimmt hatten als das Normative der kontinuierlichen Nähe im Unterschied zur Pflicht als dem Normativen, das durch die Reflektiertheit hindurchgegangen und die wiederhergestellte Kontinuität des Normativen bedeuten sollte. Welchen Sinn bestimmte moralische Regelungen in dem Diskurs einer bestimmten Gemeinschaft haben, das wird sich nur anhand konkreter Beispiele exemplarisch zeigen lassen. Nehmen wir also beispielsweise eine Familie und die in ihr gültigen Regeln der Arbeitsteilung. Diese weichen ganz offenkundig von den universalisierten Regeln der Gesellschaft ab. In Deutschland beispielsweise ist Kinderarbeit verboten. Es kann aber durchaus familiäre Gemeinschaften geben in denen die größeren Kinder am Gesamtumfang der familiär anfallenden Arbeiten beteiligt sind. Sie werden normativ einbezogen in die Verantwortung für das, was man das Familienleben nennt. Eine Entlohnung im strikten Sinne findet nicht statt, weil ein Arbeitsvertrag nicht, auch nicht implizit begründet worden ist. Die Gemeinschaft – d.h. die gemeinschaftliche Beziehung von Selbst und Anderem – kennt ja überhaupt nicht den Vertrag als formalisierte Beziehungsform. Wenn hier Befehl und Gehorsam zum Einsatz kommen, so kann das nicht die Grundform sein; denn die Arbeit in der Versorgung eines Kleinkindes etwa wird von diesem den Versorgenden nicht befohlen (noch weniger besteht ein – wenn auch impliziter – Vertrag zwischen Kleinkind und Versorgenden), sondern am besten gibt man

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diese familiäre Fürsorge55 dadurch wieder: es versteht sich »von selbst«, was zu tun ist. Der Andere ist mit seinem Anspruch auf Sorge einfach unmittelbar präsent. Das gleiche gilt auch für die mitsorgende Tätigkeit der Kinder. Wenn Kindern die Einbeziehung in die Verantwortung vorenthalten wird, werden sie später in neuen familiären Beziehungen Schwierigkeiten haben, entsprechend zu agieren. Das heute verbreitete Anspruchsdenken beruht vermutlich darauf, daß Familienbeziehungen (der Nähe) zu schnell als Gesellschaftsbeziehungen (d.h. potentiell als rechtsfähige Vertragsbeziehungen) interpretiert werden und das so, daß die familiäre Fürsorge von vornherein als gesellschaftlich induzierte und rechtsförmig erzwingbare Fürsorgepflicht gedeutet wird.56 Gestützt wird diese Fehlinterpretation fürsorgender Zuwendung zum gemeinschaftlichen Anderen heute durch die im Recht formulierten Ansprüche, z.B. zur Entgeltung der häuslichen Pflege zwecks Entlastung der öffentlichen Einrichtungen. Man könnte das Augenmerk aber genauso gut auf die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern lenken. Rechtlich – d.h. in der gesellschaftlichen Beziehung zwischen Selbst und Anderen – haben wir die Gleich-Berechtigung von Mann und Frau (wie immer auch die gesellschaftliche Praxis davon abweichen mag). Da gemeinschaftliche Beziehungen nicht vom Recht geregelt sein können, bzw. sind es dann eben keine gemeinschaftlichen mehr (ein »Recht« auf zärtliche Intimität ist undenkbar), müssen zur Regelung dieser Beziehungen andere normative Formen greifen: eben Moral in dem eingeführten Sinne. Da Familien in der Moderne jedenfalls (und das wird sich in der Postmoderne eher noch verstärken) – formell gegründet werden, muß sich die Selbstverständlichkeit einer Moral dieser neu gegründeten Familie erst herstellen, in gewisser Weise vergleichbar der Einbeziehung der Kinder in die Verantwortung für die Familie. Wenn es in der Herkunftsfamilie A üblich war, daß Männer den Mülleimer heraustragen und ebenso in der Herkunftsfamilie B, dann ist es am einfachsten und am wahrscheinlichsten, daß auch in der neu gegründeten Familie so verfahren wird. Da der Alltag und die Moral in ihm aus vielen solchen Regeln bestehen, die in sich selbst nicht ein auf Konsistenz und Widerspruchsfreiheit prüfbares System bilden, und da seit circa 200 Jahren Familien »auf Liebe« gegründet werden,

55 Begriff hier im Sinne Heideggers, M. Heidegger: Sein und Zeit, 122. 56 Zur Ethics of Care s. Nikola Biller-Adorno: Gerechtigkeit und Fürsorge. Frankfurt/M. 2001; zur entschiedenen Pflege einer Gemeinschaftsmoral der »Wohnstube« s. Johann Heinrich Pestalozzi: Lienhard und Gertrud. 1. Tl. neu hrsg. v. Albert Reble. Bad Heilbrunn 1961.

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d.h. oft auf einen sehr labilen, auf sexuelle Attraktivität bezogenen Rahmen, der eher Differenz als Homogenität honoriert, sind Familiengründungen heute moralisch riskante Unternehmungen. Einerseits sichert das Familienrecht die gesellschaftlich Schwächeren in Familien ab, andererseits gefährdet es genau dadurch die Herausbildung einer stabilen Gemeinschaftsmoral der Familie. So müßte beispielsweise heute jeder Mann wegen der Privilegierung der Frau im Familienrecht,57 wenn er die Familiengründung von ihrer möglichen juristischen Auflösung mitsamt den Rechtsfolgen für ihn selbst her betrachtete, überhaupt vor jeglicher Familiengründung zurückschrecken. Genau davor jedoch macht »Liebe« als Familiengründungsmotiv blind. Hart gesagt, ist heute jeder familiengründende Mann ein Triebtäter, der die möglichen Rechtsfolgen seines Tuns nicht berücksichtigt. Dieses hier veranschaulichte Hereinregieren des Rechts, d.h. einer gesellschaftsförmigen Beziehung, in eine Beziehung zum gemeinschaftlichen Anderen wollen wir jedoch im Moment außer Betracht lassen, weil zwischen der Verwegenheit der Familiengründung und dem ja nicht sicheren Scheitern ein möglicherweise langer kommunikativer Text liegt, der durch eine ihm eigentümliche Moral geprägt ist, eine Moral der Üblichkeiten.58 Es gibt überhaupt keine Regeln, aus denen ableitbar wäre, ob der Mann oder die Frau in einer zweigeschlechtlichen Familie (in einer eingeschlechtlichen noch schwieriger) den Mülleimer herauszutragen habe, einer jedoch muß es tun, und es geht nicht an, dieses mit jedem gefüllten Mülleimer erneut zu diskutieren. Es muß eine Üblichkeit begründet werden. Es gibt freilich auch Üblichkeiten, die in den Gemeinschaftsbeziehungen einer Gesellschaft, ziemlich ähnlich gestaltet sind.59 Lévi-Strauss hat in den »Mythologica« solche allgemeiner verbreiteten Muster untersucht, und das ließe sich bis in die heutigen Gesellschaften fortsetzen. So gilt etwa als ziemlich weit verbreitete Regel die Topologie des Kochens: Männer sind für das Kochen und Garen außerhalb des Hauses zuständig: Grillen, ja selbst wenn es nur auf dem Balkon stattfindet, ist Männersache, der häusliche Herd dagegen ist Frauensache, und wenn Männer dort auch kochen oder garen, sind sie doch immer nur Gast und haben sich der Ordnung dieses Ortes durch Frauen zu unterwerfen.60

57 Das ist bekanntlich durch die Familienrechtsnovelle von 2010 abgemildert worden. 58 Zum Usualismus s. O. Marquard: Apologie des Zufälligen, 117-139: »2. Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten« (122 ff.) 59 Claude Lévi-Strauss: Mythologica. Frankfurt/M. 1971ff. 60 Karl Friedrich v. Rumohr: Geist der Kochkunst, Frankfurt/M. Insel 1978, 22: »Noch unlängst [...] wurden die Frauen auch in Deutschland in einer Art Unterordnung und

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5.9 W OHLWOLLEN

UND

S YMPATHIE

Mehr als eine Veranschaulichung der Moral als einem Ethos der Gemeinschaft durch die Einrichtung von Üblichkeiten im Zusammenhang familiärer Arbeitsteilung konnte und sollte hier zunächst nicht geleistet werden. Da wir aber in der sozialen Dimension die Innen- und Außenrichtung der Orientierung unterschieden hatten und im Nahbereich entsprechend den gemeinschaftlichen Anderen im Äußeren dem Gemüt im Inneren als dem Inneren nahestehenden Anderen entgegengesetzt hatten, ist nun unsere Aufgabe zu untersuchen, was das für das Ethos bedeutet. Welche Art normativer Selbstverständlichkeiten kennt das Gemüt? Das Gute zu tun, weil es einem naheliegt, wollen wir im folgenden Wohlwollen nennen. Das Wohlwollen ist deutlich zu unterscheiden vom Altruismus. Letzterer ist eine eingenommene Haltung, für die es gute oder weniger gute Gründe geben mag, die man auch als eine Verbrämung eines fundamentalen Egoismus verdächtigen kann usw. Wohlwollen dagegen ist die dem Selbst entgegengebrachte Selbstverständlichkeit des Guten. Erste und offenkundigste Erscheinungsform dieses Wohlwollens ist daher auch die noch völlig unreflektierte Selbst-Sorge.61 Etwas in uns will das Wohlergehen unseres Selbst. Wenn nun aber der innere und der äußere Andere eines Selbst stets nur zusammen auftreten, steht diese Selbstsorge stets auch in Verbindung mit der Fürsorge. Es ist gerade die soziale Nähe, in der Inneres und Äußeres noch eng verbunden sind. Wohlbefinden und Wohlergehen der Nächsten hängen hier eng zusammen. Solche Konsonanz wollen wir im Anschluß an die schottische Moralphilosophie auch mit dem Begriff der »Sympathie« bezeichnen. Der reinen Wortbedeutung nach ist Sympathie nichts anderes als das Zusammenspiel der Gefühle. In diesem Sinne taucht der Begriff als philosophischer Begriff grundlegend erstmals in der Moral-sense-Philosophie (Shaftesbury, Hutcheson) auf und meint dort den angeborenen Sinn für das Gemeinschaftliche (»sensus communis«). Schon bei Shaftesbury ist Sympathie zwar ein moralfundierender, aber in

Dienstbarkeit gehalten, das Haus und Küchenwesen ihnen gleichsam als ein verantwortliches Amt und Ministerium aufgetragen. Diese Stellung hat, dem Himmel sei’s gedankt, seit einiger Zeit ganz aufgehört.« Das Problem sei nun (1832) eher umgekehrt: Auch wenn die Frauen in ihrer Wirksamkeit nun nicht mehr auf die Küche eingeschränkt seien, so ließen sie doch niemanden, insbesondere keine Männer, in die Küche hinein. 61 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit 3: Die Sorge um sich. Frankfurt/M. 1986.

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seinen Wirkungen nicht immer nur positiver Begriff, da er ebensosehr die Grundlage für gemeinsam geteilten Fanatismus sein kann. In der für uns anschlußfähigen Form taucht der Sympathiebegriff erst bei Hume auf. Hume trennt den Sympathiebegriff scharf von dem (dem Ursprung nach gleichbedeutenden) Begriff der »compassion«. Letzteres meint Mitleid und ist der Schadenfreude entgegengesetzt. Hume nennt beide jedoch »Nebenaffekte«. Seine Untersuchung der »ursprünglichen Affekte“ führten ihn auf die Sympathie als Grundprinzip der menschlichen Natur, nämlich »to receive by communication their [sc. the others’] inclinations and sentiments« und zwar selbst dann, wenn die eigenen Gefühle davon abweichen: »Die uns eigentümliche Neigung, mit anderen zu sympathisieren, und auf dem Wege der Mitteilung deren Neigungen und Gefühle […] in uns aufzunehmen.«62 Für eine postanthropologische Sozialphilosophie ist nicht mehr »die« menschliche »Natur« Grundlage moralphilosophischer Überlegungen, sondern die Kommunikation. Aber offenbar gleichgültig, von welcher der beiden Richtungen man auf soziale Phänomene schaut, wird man gezwungen, Sympathie als Schnittstelle in Betracht zu ziehen. Während Hume jedoch Sympathie noch auf die gesamte Menschheit bezogen wissen wollte, legt Adam Smith eine hochdifferenzierte Moralphilosophie der Sympathie vor, wie oben ausführlich geschildert.

5.10 G UTE S ITTEN Bilden wir nun den Aspekt der Nähe sowohl in der temporalen als auch in der diskursiv-normativen Dimension des kommunikativen Textes aufeinander ab – d.h. die Retentionalität bzw. Protentionalität des Ethos – so werden wir diese beiden Aspekte als die »guten Sitten« und als das »Vertrauen« ansprechen können. Als die Normativität des Immer-schon sind die guten Sitten von der doppelt reflektierten Form als den guten Taten zu unterscheiden. Selbstverständlich ist die Unterscheidung von Nähe und reflektierter Distanz nicht eo ipso in allen Dimensionen gleichzeitig vorhanden. So wäre es durchaus denkbar, die Retentionalität von Pflichten zu untersuchen oder umgekehrt die Geschichtlichkeit 62 David Hume: Tractat über die menschliche Natur, hrsg. v. Theodor Lipps. Hamburg, Leipzig 1906 II, 103, 48 – englisch: A Treatise of Human Nature, hrsg. v. Lewis Amherst Selby-Bigge, H. Nidditch, 2. Aufl. Oxford 1975, 316.

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eines Ethos. Hier wie überall ist Vollständigkeit nicht angestrebt, sondern es soll lediglich exemplarisch vorgeführt werden, was sichtbar wird, wenn man die Begrifflichkeit einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes in seinen drei Dimensionen so anlegt, wie das hier geschieht. Es ist naheliegend, für diese exemplarische Demonstration die reineren Fälle herauszugreifen. Wir wenden uns also zunächst den guten Sitten zu. Die guten Sitten geben ein Ensemble normativer Diskursivität ab, das sowohl in der normativ-symbolischen wie auch in der temporalen Dimension ungebrochen und unreflektiert ist. Wer gemäß den guten Sitten wirkt, weiß weder, warum er das tut, noch, ob es ehemals oder anderswo anders üblich ist. Auf Seiten der normativen Orientierung ist ein solcher Prozeß weder ignorant noch erfahrungsblind. Es versteht sich nach dem Grundsatz, daß man zwar alles (anything) zu jeder Zeit (at any time) ändern oder zur Disposition stellen kann, aber nicht alles (everything) in jedem Moment (at every moment), von selbst, daß man für alles übrige die routinierte Selbstverständlichkeit der Üblichkeiten braucht.63 Und weil das so ist, können die Menge der Selbstverständlichkeiten und die der Änderungsnotwendigkeiten oder anderen Handlungsdrucks durchaus in Konflikt geraten. Ein und dieselbe Handlungsorientierung ist dann in zwei verschiedenen Bezugssystemen darstellbar und bewertbar. So mag die elterliche Fürsorge für die eigenen Kinder eine solche Selbstverständlichkeit der guten Sitten sein; da sie darüber hinaus aber im Recht als Unterhaltsanspruch geregelt ist, wird die Sache zweideutig. Aber es ist wie bei den optischen Kipp-Phänomenen: Man kann nie beide Gestalten zugleich sehen, man kann nie beiden normativen Orientierungen zugleich folgen. Aber es wäre eine pathologische Einschränkung, folgerte man aus dem Bestehen der einen Orientierung die Unmöglichkeit der anderen, d.h. daß die guten Sitten deswegen unmöglich würden, weil es für die gleichen Handlungsfelder auch Rechtsregeln gibt, oder umgekehrt. (Habermas: »Ko-

63 Zum Usualismus, insbes. Odo Marquard: Apologie des Zufälligen, in: ders.: dass. Stuttgart 1986, 117-139; zu erinnern wäre auch an Erich Mühsams Gedicht Der Revoluzzer: »War einmal ein Revoluzzer, | im Zivilstand Lampenputzer; | ging im Revoluzzerschritt | mit den Revoluzzern mit …“ Er gerät in Konflikt zwischen den Gewohnheiten (Lampenputzer-Dasein) und den Erfordernissen revolutionären Barrikadenbaus aus demontierten Straßenlaternen. Seine Konsequenz (daher widmete Mühsam das Gedicht der deutschen Sozialdemokratie) ist: „Dann ist er zu Haus geblieben | und hat dort ein Buch geschrieben: | nämlich, wie man revoluzzt | und dabei doch Lampen putzt«, hrsg. v. Helga Bemmann. Hamburg 1978.

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lonisierung der Lebenswelt«64) Normalerweise ist klar, daß beide Orientierungssysteme nicht kongruent sind. Der Begriff der guten Sitten kommt vor allem in Ergänzung zu Begriffen des Rechts vor. Die klassische Bezugsstelle findet sich in der Germania des Tacitus. Er schildert die Sitten der Germanen und sagt im Anschluß an die Darstellung der Verfolgung von Ehebruch und Kindstötung bei den Germanen als »Schandtat«: »und vermögen dort gute Sitten als anderswo gute Gesetze.«65 Der lateinische Terminus lautet hier: »boni mores«. Der Begriff der »guten Sitten« ist eine derjenigen Berührungsflächen, in denen der juristische und der philosophische Diskurs sich begegnen. Für den juristischen Diskurs ist die Anerkennung dieser Berührung und die damit aufgerufene Metaphorizität einzelner Begriffe zugleich das Eingeständnis, daß es neben aller postulierten Autonomie des Rechtssystems in anderer Perspektive sehr wohl auch eine Abhängigkeit des Rechts von der Gesellschaft und von gesellschaftlichem Wandel gibt. In diesem Sinne ist das Recht metaphorisch (!) als eine »geronnene Moral« bezeichnet worden.66 Indem man aber Ethik als (Gültigkeits-)Reflexion von den faktisch geltenden Moralen unterscheidet, kommt man zu zwei verschiedenen Anbindungen des unbestimmten Rechtsbegriffs der »guten Sitten« an die Philosophie. Werden die »guten Sitten« auf Moral bezogen, dann bilden sie die Normativität tatsächlich geübter Lebensformen; werden sie jedoch auf Ethik bezogen, dann geht es um die Prinzipien, die die kontingent geltenden normativen Regeln auf den Begriff der Sittlichkeit hin überschreiten. Dieser doppelte Bezug macht aus dem Recht sowohl einen Diskurs, in dem sich historisch bedingte normative Artikulationen von Interessen, Meinungen und Wertungen niedergeschlagen haben, als auch einen Diskurs, der den Anspruch erheben muß, Ausdruck von reflexionsgerechtfertigten und von gültigen »Werten« und von Ideen von Gerechtigkeit zu sein. Die erste Version steht in der Gefahr des Minimalismus der Sitten bestimmter Stände, Volkskreise oder gar der subjektiven Meinung eines Richters, was eben diese seien, die zweite in der Gefahr, das Recht in den Dienst eines Tugendterrors zu stellen. Die beiden Perspektiven sind jedoch nicht so unabhängig voneinander, wie es im Moment scheinen mag. Denn stets hat sich noch die Rechtspre-

64 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/Main 1981, II, 229ff. 65 Tacitus: Germania, cap. 19. Stuttgart 1952, 19. 66 So Horst Dreier: Gesellschaft, Recht, Moral, in: Universitas 1993, 247-257, hier 250 im Anschluß an Bernd Rüthers: Rechtsordnung und Wertordnung (1986), 22.

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chung vorbehalten, bestimmte Verkehrssitten bestimmter Kreise als »Unsitten« qualifizieren zu können, d.h. in philosophischer Sicht, eine partikulare Moral als unsittlich kritisieren zu können. Im Rechtssystem erscheint dieser Aspekt als die Unverfügbarkeit bestimmter Rechtsprinzipien. Das sind nicht nur die nicht aufhebbaren Grundrechte des GG, sondern auch solche Prinzipien, die die Akzeptanz des Rechts als legitim und damit das soziale Band einer Gesellschaft sichern. Die Frage ist nun im folgenden, wo in diesem Feld der Unterscheidungen die »guten Sitten« anzusiedeln wären. Der in diesem Zusammenhang meist zitierte Gesetzestext ist § 138(1) BGB, obwohl der Begriff auch an anderen Stellen, z.B. §826 BGB und in anderen Gesetzen begegnet. BGB § 138 bestimmt: »Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.« Tatsächlich ist hier ein ziemlich unbestimmter Begriff in das Recht eingeführt, um Grenzen des rechtlich Regelbaren zu ermöglichen. Daß das, was dermaßen außerhalb des Rechts liegt, nicht selbst rechtlich eindeutig faßbar ist, ergibt sich folgerichtig aus der Logik des Begriffs. Die Eingrenzungen sind daher zunächst einmal negative. Der Begriff der guten Sitten gibt dem Richter zwar einen Handlungsspielraum jenseits des rechtlich Regelbaren; aber er ermöglicht keine Willkürmaßnahmen; denn nicht das subjektive Empfinden des Richters ist ausschlaggebend, sondern daß eine Entscheidungsgrundlage im subjektiven Empfinden des Richters ein Mißbrauch des durch § 138 eingeräumten Ermessensspielraums wäre. Der Grund für die Einführung des Begriffs der im Römischen Recht verankerten boni mores in das BGB, so viel scheint klar zu sein, war, daß, dem Wirtschaftsliberalismus folgend, der Privatautonomie der Akteure bei der Abwicklung und Begründung von Rechtsgeschäften ein sehr breiter Raum zugestanden worden war, der irgendwo seine Grenze finden mußte. In den ursprünglichen Beratungen wurde neben dem Begriff der »guten Sitten« als Begrenzungsbegriff unbeschränkter Privatautonomie auch die Gefährdung der »öffentlichen Ordnung« diskutiert, was insbesondere von der SPD unterstützt wurde, und ebenfalls »gegen die Sittlichkeit« anstelle »gegen die guten Sitten«. Beides fand nicht Eingang ins Gesetz, letzteres mit der eher unverständlichen Begründung, die Formel »gegen die guten Sitten“ sichere eher »den objektiven Maßstab für die Handhabung des Gesetzes«.67 Tatsächlich aber erwies sich die Formel als in hohem Maße sowohl als interpretationsbedürftig als auch als interpretationsoffen. Vielzitiert ist eine Erläuterung des Reichsgerichts von 1901 der Prüfung der Sittenwidrigkeit, nämlich ob ein Rechtsgeschäft »mit dem Anstandsgefühl aller

67 Zit. nach Konstantin Simitis: Gute Sitten und ordre public. Marburg 1960, 4, Anm. 7.

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billig und gerecht Denkenden« übereinstimme.68 Fast möchte man meinen, daß diese vermeintliche Erläuterung noch viel problematischer ist als der Begriff der »guten Sitten« als solcher. Daß hier ein Gefühl zum Maßstab der Gültigkeit eines Rechtsgeschäfts gemacht wird, und zwar – noch eine Steigerung der Problematik – ein Gefühl aller in bestimmter Weise Denkenden, muß ein Unbehagen hinsichtlich der zu erwartenden Rechtssicherheit erzeugen. Wenn das Reichsgericht oder in der Folge der BGH vorinstanzliche Urteile zu revidieren sich gezwungen sieht, dann muß es doch damit auch implizit die Richter der Vorinstanzen zu den nicht von diesem Anstandsgefühl geleiteten oder nicht zu den allen rechnen, die »billig und gerecht« denken. Tatsächlich handelt es sich ja um eine Exklusionsformel: einer, der nicht wie »alle« denkt, gehört nicht diesen »allen«: wer auch immer kein konformes Gefühl hat, gehört ipso facto nicht zur Gruppe der »billig und gerecht Denkenden«. Wer zu der Allheit der so Denkenden gehört, ist von diesem Gefühl bewegt, wer nicht, der nicht. Aber was ist denn nun eigentlich »Anstand«, was »billig Denken«? Geht man auf die ursprüngliche, durch Etymologie gesicherte Bedeutung zurück, so verweisen beide Wörter, ja selbst eine ursprüngliche Bedeutung des Wortes »gerecht« auf dasselbe, nämlich eine Anpassung an die (guten) Sitten; was sich ihnen fügt, ist anständig und billig.69 Damit aber gerät die vermeintliche Explikation des Begriffs der »guten Sitten« zur bloßen Tautologie. Mit den »guten Sitten« stimmt überein, was an die »guten Sitten« angepaßt ist und sich ihnen fügt. Dann aber hat, wie das Reichsgericht in dem gleichen Urteil feststellte, der Richter den Maßstab für die guten Sitten »aus dem herrschenden Volksbewußtsein zu entnehmen«. Das könne durchaus auch eingeschränkt sein auf die Geltung in einem bestimmten »Volkskreis«, z.B. die Grundsätze eines »ehrbaren Kaufmanns«. Aber schon dieses Reichsgerichtsurteil sah sich bemüßigt, die Sitten eines Volkskreises zu unterscheiden von einer »im Handelsverkehr thatsächlich aufgekommenen Geschäftspraktik, welche möglicherweise nicht sowohl eine Sitte als vielmehr eine Unsitte sein kann.«70 Das ist insofern ein bemerkenswerter Widerspruch, als hier der Maßstab, nämlich die praktischen Sitten eines

68 Entscheidungen des Reichsgerichts in Civilsachen 48 (1901), 124; cf. dazu Kommentar zum BGB, hrsg. v. Hanns Prütting u.a. Köln 2008, 162. 69 Heidegger übersetzt griech. GtNK mit Fuge, »die verfügend fügt und Fügung ist«, das, was sich fügt, weil es von der Fuge in Anspruch genommen wird; er verweist auch auf die deutsche Redewendung »mit Fug und Recht«. Martin Heidegger: Der Spruch des Anaximander. Gesamtausg. Bd. LXXVIII, 161f. 70 Entscheidungen des Reichsgerichts in Civilsachen 48 (1901), 125.

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Volkskreises, selbst noch einmal einem Maßstab unterworfen wird, der es erlaubt Sitten von Unsitten zu unterscheiden. Es ist ganz klar, daß mit diesem »Anstandsgefühl« als Grundlage der »guten Sitten« gerade nicht die Dimension betreten ist, die wir als Sittlichkeit, als sittliche Pflicht des gesellschaftlich geltenden oder ethisch reflektierten Normativen bezeichnet. Dieses »Anstandsgefühl“ als Grundlage der »guten Sitten« ist nichts Objektives; es ist aber auch nichts rein Subjektives in der Weise, wie wir subjektiv als Mangel an Objektivität zu verstehen pflegen. Von der Ethik aus erscheinen somit die »guten Sitten« als »Minimum« von Sittlichkeit, aber eben nur aus dieser Perspektive, die, wie wir nicht müde werden zu betonen, nicht die letztbegründete Gültigkeit des Normativen konstituiert. So wird in der juristischen Literatur einerseits vielfach betont, daß Grundsätze einer allgemeinen oder gar einer »verfeinerten« Sittlichkeit ungeeignet seien, den Begriff der »guten Sitten« zu erläutern, andererseits wird gleichwohl betont, daß das »herrschende Volksbewußtsein«, so wie es sich im Zweifelsfall empirisch-demoskopisch erheben ließe, noch selbst einer Bewertung unterworfen werden könne und müsse. Beispielsweise wird die Identifikation des »herrschenden Volksbewußtseins« mit dem »gesunden Volksempfinden« oder gar dem »völkischen Gewissen« normalerweise als problematisch angesehen. Diejenigen, die die Explikation des Begriffs gerne rein rechtsimmanent gestalten möchten und jede Einmischung außerrechtlicher, moralischer Gesichtspunkte vermeiden möchten, müssen sich vorhalten lassen, daß in Art. 2(1) GG neben dem Respekt vor den Rechten anderer und vor der »verfassungsmäßigen Ordnung« als Einschränkung der Individualrechte auch von dem »Sittengesetz« die Rede ist. Und so hat der frühe Kommentar zum BGB von von Thur davon gesprochen, daß durch §138(1) BGB die »Sittenordnung« zu einer »sekundären Rechtsquelle« aufrücke71 und davon, daß hier die Moral direkt auf die Gültigkeit von Rechtsgeschäften einwirke, so daß er die boni mores gleichsetzt mit den »Vorschriften der Sittlichkeit (Moral)«. § 138(1) habe, so von Thur, eine (sitten-)erzieherische Absicht, nämlich zu verhindern, daß die Moral des Volkes durch böse Beispiele gefährdet werde. Allerdings habe das auch Grenzen; denn es gehe nicht um die Durchsetzung einer »verfeinerten Moral«, sondern um dasjenige Minimum moralischer Orientierung, das in einem bestimmten Volkskreis Anerkennung genieße, mit der Konsequenz, daß an die Elite eines Volkes juristisch

71 Andreas v. Thur: Der allgemeine Teil des deutschen bürgerlichen Rechts. Berlin 1910-1918, 2.1, 21.

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höhere moralische Anforderungen zu stellen seien als an das gemeine Volk, sozusagen eine Umkehrung des Satzes »Quod licet Jovi, non licet bovi«. Und es gibt eine weitere Abgrenzung: »es kann nicht Aufgabe des Rechts sein, das gesamte Verhalten der Parteien einer sittenrichterlichen Kritik zu unterziehen und in die außerhalb des Geschäftes liegende Lebenssphäre inquisitorisch einzudringen.«72 Diskutierte Beispiele sind dann in der einschlägigen Literatur oft der Kauf eines Geschenks durch einen Ehemann für seine Geliebte – oder noch häufiger diskutiert: der Bordell-Verkauf. Letzteres ist einerseits zunächst nichts anderes als der Verkauf einer Liegenschaft mit einem darauf stehenden Gebäude, selbst dann, wenn der Verkäufer in dem Gebäude einen Bordell-Betrieb hatte und der Käufer die Absicht zu haben scheint, diesen Betrieb fortzuführen. Dadurch sind die guten Sitten nicht tangiert. Anders scheint es bewertet werden zu sollen, wenn die bordellbetriebsmäßige Ausstattung des Hauses mit zum Gegenstand des Kaufvertrags wird oder wenn eine nur durch Fortführung des Bordellbetriebs zu erreichende hohe Mieteinnahme zur vertragsmäßig garantierten Rendite des Objekts gehört. Ist dann nicht, so fragt man, der Verstoß gegen die »guten Sitten« Teil des Vertragsgegenstandes? Andere Kommentatoren beschränken allerdings den Verstoß gegen die »guten Sitten« auf den Vertrag als solchen, unabhängig vom Vertragsgegenstand; dann wäre keinerlei Bordell-Verkauf gegen die guten Sitten, es sei denn der Vertrag wäre sittenwidrig zustande gekommen. Insbesondere diejenigen, die vom Verlust einer homogenen Werte-Ordnung in der pluralistischen Gesellschaft sprechen, werden so argumentieren müssen. Daraus folgte aber auch ein gänzlicher Verzicht auf eine erzieherische Wirkung auf das Moralbewußtsein. Vor allem in der Nachkriegszeit war gerade das aber einer der Impulse der Rechtsprechung, das »gesunde Volksempfinden« zu sichern oder zu fördern.73 So war etwa »Kuppelei« definiert als Förderung oder Billigung von »Unzucht«. Unzucht aber war kein Rechtsbegriff, sondern diese wurde ausschließlich über eine bestimmte Sexualmoral interpretiert. So stellte der BGH fest, daß »Kuppelei« sich beziehe »auf einen außerrechtlichen Maßstab, auf eine den Bereich des bloß Rechtlichen überschreitende Norm«, um eine Norm schließlich »der Sittlichkeit, des Sittengesetzes«.74 Die Normen dieses »Sittengesetzes« gelten nach den Feststellungen des BGH »unabhängig davon, ob diejenigen, an die sie sich

72 L. c., 29. 73 Cf. Konstantin Simitis: Gute Sitten und ordre public, 12. 74 Zit. Konstantin Simitis, l. c., 15.

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mit dem Anspruch auf Befolgung wenden, sie wirklich befolgen und anerkennen oder nicht; ihr Inhalt kann sich nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln«; sie »gelten aus sich selbst heraus«, sie sind fundiert in einer »vorgegebenen« »Ordnung der Werte«, die der Mensch »hinzunehmen« habe.75 Es ist schon erstaunlich, wie viel unausgegorene Metaphysik der Sitten zur Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe von der höchstrichterlichen Rechtsprechung bemüht werden kann. Man sieht an diesen Bezugnahmen aus dem Recht heraus auf eine das Recht transzendierende Moral und ihre ethische Begründung, wie zwei verschiedene Argumentationsrichtungen bedenkenlos kombiniert werden können, die in der Philosophie kontrovers diskutiert werden, wenn es um eine Bestimmung des rechtlich Unbestimmten geht. Mit dem »Sittengesetz« ist ein Rekurs aus die Kantische Ethik und ihre Tradition gegeben, mit der »vorgegebenen Ordnung der Werte« dagegen auf die »materiale Wertethik« Max Schelers, die ja ihren Hauptimpetus aus der Kritik am »Formalismus« der Kantischen Ethik gewinnt. Die Anerkennung einer »Ordnung der Werte« kann einen Werte-Wandel einer pluralistischen Gesellschaft schwerlich eingestehen. In der Begründung eines Urteils des BGH aus dem Jahre 1955 kann man lesen: »Eine Schrift oder Schriftenreihe gefährdet Jugendliche dann sittlich, wenn sie nach ihrer mutmaßlichen [sic!] Richtung im jungen Menschenden Aufbau der unserer christlichabendländischen Weltanschauung […] entspr. sittlichen Wertvorstellungen […] erschwert [sic!].«76 Liest man das heute, so muß man entweder sagen, daß es eine solche unwandelbare und hinzunehmende Werte-Ordnung offenbar nicht gibt77 – das wäre dann die kognitiv-lernende Verarbeitung der Enttäuschung über eine entlaufene Realität; oder man muß – in normativer Einstellung – die Kapitulation der Werte-Welt vor der ökonomisch diktierten Verwertungs-Welt beklagen und kritisieren angesichts dessen, was mittlerweile an Computerspielen, Fernsehsendungen vor allem im Privatfernsehen und auch in Schriften und Schriftenreihen als normale Realität gang und gäbe geworden ist und den Aufbau »der unserer christlich-abendländischen Weltanschauung« mit den ihr »entsprechenden Wertvorstellungen« nicht nur erschwert, sondern geradezu blockiert und verhindert. Der oben notierte Widerspruch zwischen Gefühl (»Anstandsgefühl«) und Denken der »billig und gerecht Denkenden« kehrt in der philosophischen Kont-

75 Ibd. 76 Zit. l. c., 16, Anm. 38. 77 Kurt Röttgers: Werte-Politik, in: Zs. f. Kulturphilosophie 3 (2009), 135-150.

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roverse zwischen einer rationalen Berufung auf das Sittengesetz (bei Kant: unter »Abbruch aller Neigungen«78) und einer auf ein Wertefühlen gegründeten Wertethik bei Scheler wieder. Zusammenfassend wird man feststellen müssen, daß die Ausfüllung der im übrigen rechtslogisch notwendigen Lückenhaftigkeit des Rechts angesichts der bunten Vielfalt tatsächlichen Lebens durch einen auf die rechtstranszendente Moral verweisenden Begriff der »guten Sitten“ weder allein durch Rekurs auf die empirisch zu erhebende historische Wandelbarkeit und Pluralität von Sitten noch durch den Appell auf das unwandelbare und einzige »Sittengesetz« gelingt, es vielmehr bei einem Oszillieren des juristischen Diskurses zwischen diesen beiden Polen bleibt. Die inhaltliche Bestimmung dessen, was die »guten Sitten« ausmacht, fällt schwer und wird, was eine pluralistische Gesellschaft betrifft, nahezu unmöglich. Aber damit wird der Begriff in seiner formalen Funktionalität nicht hinfällig. So wenig wie der Begriff des Fremden dadurch hinfällig wird, daß wir beispielsweise nicht angeben können, welche Hautfarbe »der« Fremde hat, ebenso wenig wird der Begriff der guten Sitten dadurch hinfällig, daß wir keinen Konsens darüber erzielen können, ob der Geschlechtsverkehr gegen Bezahlung gegen »die« guten Sitten verstößt.79 Wenn es für eine Frau und den Kreis, in dem sie lebt, in normativer Weise nicht üblich ist, dergleichen zu tun, dann verstieße eine solche Praxis gegen ihre guten Sitten selbst dann, wenn der »Freier« das anders sieht oder die Not sie dazu zwingt. Der Inhalt der »guten Sitten« ist – formal bestimmt – der Bereich dessen, was man tun kann, weil man es immer schon tun konnte, ohne die normativ gemeinte Abwehr (»das haben wir noch nie so gemacht«) hervorzurufen. Meine Beispiele legen die Vermutung nahe, daß es sich bei dieser Beziehung diskursiver und temporaler Nahbereiche um eine Rela-

78 I. Kant: Ges. Schriften V, 71. 79 Die Abgrenzung zu Simmels »individuellem Gesetz« ist klar. In der Notwendigkeit, Goethes und Kants Vorstellungen von Sittlichkeit zu vereinbaren, bildete der späte Simmel den Begriff des individuellen Gesetzes. G. Simmel: Gesamtausg. XVI: Lebensanschauung, 346ff. Dieses formuliert eine individuelle Verpflichtung gegenüber dem, was ein Individuum immer schon als für es selbst verpflichtend empfunden getan und gelassen hat, formuliert also eher so etwas wie individuelle moralische Integrität, während wir hier aus einer Skepsis, die der Skepsis gegenüber einer Privatsprache gleicht, nicht von dem Individuum ausgehen können, sondern die sozial geltenden Verpflichtungen für originär halten, d.h. hier wie immer vom kommunikativen Text ausgehen.

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tion handelt, die auch in der sozialen Dimension vorrangig im Nahbereich (der »Gemeinschaft« oder des »Gemüts«, siehe »Anstandsgefühl«) fundiert ist. Freilich ist das nicht zwangsläufig so: Das Leben in »guten Sitten« läßt sich einüben, so daß die »Achtung« vor dem siebten Gebot zum Habitus wird; und es gibt ja auch Interpretationen der Kantischen Ethik, die sie genau so verstehen.80 In diesem Sinne bestimmt auch Fichte in der 15. Vorlesung der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters von 1804 Sitte folgendermaßen: »die angewöhnten und durch den ganzen Stand der Cultur zur anderen Natur gewordenen, und ebendarum im deutlichen Bewusstseyn durchaus nicht vorkommenden Principien der 81

Wechselwirkung der Menschen untereinander.«

Was den Inhalt betrifft, so macht Fichte in der 16. Vorlesung, in der er über Religion spricht, den Versuch einer Bestimmung, allerdings kontaminiert mit den Tugenden, so daß man nicht weiß, was er zu den Tugenden und was er zu den guten Sitten rechnet: »Verträglichkeit, Menschenliebe, Mitleid, Wohltätigkeit, häusliche Zucht und Ordnung, Treue und sich aufopfernde Anhänglichkeit der Gatten gegen einander, und der Eltern und Kinder […]«.82 Man weiß auf diese Weise, was etwa bestimmte Intellektuelle um 1800 für »gute Sitten« und Tugenden hielten und kann es mit dem vergleichen, was Tacitus über die Germanen glaubte herausgefunden zu haben. Dieses soll nun abschließend an zwei extrem entgegengesetzten Positionen exemplarisch gezeigt werden, die beide aus recht verschiedenen Gründen philosophisch hochproblematisch sind. Das ist einmal die Position des »Kantianers« Karl Albrecht Schachtschneider, zum anderen die von Ernst Wolf. Schachtschneider entwickelt seine Erläuterung zu den »guten Sitten« unter dem programmatischen Titel Das Sittengesetz und die guten Sitten83. Schon der erste Satz dieses Beitrags ist höchst fragwürdig, gibt aber signifikant die Richtung von Schachtschneiders Überlegungen vor: »Das Sittengesetz ist der von Immanuel Kant definierte kategorische Imperativ, der das christliche Liebesgebot aufkläre-

80 So die Kant-Interpretation von Paul Menzer. 81 Johann Gottlieb Fichte: Sämtliche Werke, hrsg.v. Immanuel Hermann Fichte. Berlin 1845 ff., VII, 215. 82 l. c., 230. 83 Karl Albrecht Schachtschneider: Das Sittengesetz und die guten Sitten, in: Fs. f. Werner Thieme, hrsg. v. Bernd Becker, Hans Peter Bull u. Otfried Seewald. Köln u.a.1993, 195-225.

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risch definiert.«84 Erstens, Kant »definiert« nicht den kategorischen Imperativ und dieser »ist« nicht das Sittengesetz; das Sittengesetz gilt für Kant als ein »Faktum der (praktischen) Vernunft“ und gilt mithin für alle vernünftigen Wesen. Da aber der Mensch nun einmal ein nicht nur vernünftiges Wesen ist, äußert sich dieses Gesetz für den Menschen unter der Form eines Imperativs, und zwar eines kategorischen, d.h. in seiner Geltung unbedingten Imperativs. Der Inhalt und die Form sind hier strikt zu unterscheiden, wenn man den unten näher zu erläuternde Denkfehler vermeiden will. Für ausschließlich vernunftgesteuerte Wesen gäbe keinen kategorischen Imperativ, der entsprechende Satz müßte für sie rein deskriptiv formuliert werden und lautete etwa: Du handelst zwangsläufig jederzeit so, daß die Prinzipien deines Handelns mit einer allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft identisch sind, die dich mit Naturgesetzlichkeit bestimmen. Zweitens, der kategorische Imperativ ist formal etwas ganz anderes als das »christliche Liebesgebot«. Das Gebot der Nächstenliebe fordert eine Zuwendung zum konkreten, begegnenden Menschen in seiner Not und Hilfsbedürftigkeit, siehe das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Für die Kantische Ethik dagegen gibt es keinen konkreten Nächsten, sondern ihr Universalisierungskriterium fordert stets den Bezug auf die Menschheit, oder, wie Kant einmal sagte, auf die »Menschheit in meiner Person«. Seinen Willen durch die konkreten und damit kontingenten Umstände der Begegnung mit (vielleicht bloß vermeintlichen oder gar vorgespielten) Not eines konkreten Anderen bestimmen zu lassen, ist jederzeit heteronom und damit zwar nicht verboten, aber ohne sittlichen Wert. Wenn Schachtschneider dann aus seiner Identifikation von Sittengesetz und kategorischem Imperativ folgert, daß das Sittengesetz »das ethische Grundgesetz aller freiheitlichen Gemeinwesen, der Republiken« sei, dann geht das weit über Kant hinaus. Denn, wie gesagt, die unmittelbare, also quasi naturgesetzliche Wirkung des Sittengesetzes als Grundgesetz gälte nur eine Gemeinschaft rein vernünftiger Wesen, also der Engel oder für die »Gemeinde der Heiligen«. Die Kontamination des Sittengesetzes und des politischen Grundgesetzes (GG wird von Schachtschneider ausdrücklich genannt) ist geschuldet einer Verwirrung im Freiheitsbegriff. Kant folgend ist strikt zu unterscheiden zwischen der transzendentalen Freiheit des Menschen, dem kategorischen Imperativ folgen zu können (seine Autonomie) und sich nicht durch heteronome Bestimmungsgründe determinieren lassen zu müssen, auf der einen Seite und der politischen Freiheit auf der anderen als der »Unabhängigkeit von der nötigenden Willkür« anderer.85

84 L. c., 195. 85 I. Kant: Gesammelte Schriften VI, 237.

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Aus dieser Kontamination bei Schachtschneider ergibt sich folgerichtig der völlig falsche Satz: »Politische Freiheit ist somit Autonomie des Willens.«86 Autonomie des Willens ist transzendentale Freiheit, und politische Freiheit ist etwas anderes; denn transzendental frei ist der Handelnde auch dann, wenn ihm die politische Freiheit abgeht und er der »nötigenden Willkür« eines anderen ausgesetzt ist: aus transzendentaler Freiheit kann auch ein Gefolterter sich bestimmen, den Freund nicht zu verraten; und als politisch frei ist ein Handelnder auch dann anzusehen, wenn er seinen Willen heteronom, etwa durch Neigungen und Stimmungen bestimmen läßt. »Freiheitlich können die Menschen ihr gemeinsames Leben nur gestalten, wenn sie dem Sittengesetz Folge leisten.«87 Ja, da könnten wir natürlich lange warten! Denn daß jemals ein Mensch dem Sittengesetz Folge geleistet hätte, d.h. »aus Pflicht« und nicht nur »pflichtgemäß« gehandelt hätte,88 dafür gibt es nach Kant keinerlei empirische Evidenz. Gerade weil wir nicht von der Bestimmung des Willens aller Menschen durch das Sittengesetz ausgehen können, brauchen wir nach Kant das Recht, um nämlich die politische Freiheit zu gewährleisten. Wir wollen jetzt den kantianisierenden Fehlinterpretationen Kants nicht weiter folgen, sondern haben uns zu fragen, was diese Sittengesetzorientierung für die Interpretation der »guten Sitten« bedeutet. Die »guten Sitten« sind material bestimmt, aber sie müßten ihre Verbindlichkeit letztlich aus der Formalität des Sittengesetzes herleiten können. So ist eine Identifikation beider ausgeschlossen: »Der Gegensatz der Formalität des Sittengesetzes und der Materialität der guten Sitten verbietet es, das Sittengesetz in Art. 2 Abs.1 GG als gute Sitten zu verstehen, welche die allgemeine Handlungsfreiheit beschränken.«89 Aber wie ist dann die Verbindung beider zu denken? Schachtschneider konstruiert sie über die Aufgabe des Gesetzgebers, »in repräsentativer Sittlichkeit zu erkennen, welche Gesetze für das gute Leben aller Bürger in allgemeiner Freiheit richtig sind.«90 Aus »repräsentativer Sittlichkeit« wird die Konformität der Gesetze mit der Erzwingbarkeit der »guten Sitten« ausgestattet. Fazit: »Gute Sitten können also nur Recht schaffen, wenn das (formale) Sittengesetz beachtet wurde.«91

86 K. A. Schachtschneider: Das Sittengesetz und die guten Sitten, 195. 87 Ibd. 88 Zu dieser Unterscheidung s. I. Kant: Ges. Schriften IV, 406. 89 K. A. Schachtschneider: Das Sittengesetz und die guten Sitten, 207. 90 Ibd. 91 L. c., 208.

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Nach dieser Position der direkten Einwirkung des Sittengesetzes durch die »repräsentative Sittlichkeit« des Gesetzgebers auf die Materialisierung in der Form der »guten Sitten« kommen wir nun zur absolut entgegengesetzten Deutung der »guten Sitten« bei Ernst Wolf. Wolf hält den Rekurs des Rechts auf Begriffe wie »gute Sitten«, »Sittengesetz« oder »Sittlichkeit« für grundlegend verfehlt; denn mit ihnen werden Recht und Moral in eins gesetzt: Recht aber ist nach Wolf eine durch wissenschaftliche Erkenntnisverfahren gesicherte, erfahrbare menschliche Ordnung, während Moral etwas Überweltliches sei, das nur durch einen »metaphysischen« oder religiösen Glauben bestimmt sei. Wenn ein solcher Glaube aber mit dem innerweltlichen Rechtssystem verbunden wird, ergibt sich ein rechtswidriger staatlicher Herrschaftsanspruch und eine Kontrolle über die Gesinnungen der Bürger. Folgerichtig erklärt Wolf die »guten Sitten«-Formel für verfassungswidrig, weil sie dem Grundsatz der Glaubensfreiheit widerspreche. An dieser Stelle könnte es für Wolf insofern prekär werden, als er aus Rechtssicht für eine Beliebigkeit moralischer Überzeugungen optieren müßte. Wenn aber jemand aus moralischer Überzeugung mordet (Raskolnikov), kann er zwar immer noch juristisch belangt werden, aber moralisch ist ihm (aus seiner Moral heraus) nichts vorzuwerfen. Tatsächlich aber arbeitet aber gerade die juristische Unterscheidung von Mord und Totschlag mit einer und nicht nur beliebigen oder privaten moralischen Differenz (»niedrige Motive«). Tatsächlich verfolgt aber Wolf seine Überlegungen gerade nicht in moralischem Gebiet weiter, sondern bemüht sich, rein rechtsimmanent zu bleiben. Von diesem immanenten Gesichtspunkt aus nennt er Begriffe wie »gute Sitten« »scheinmoralische Leerwörter«92; denn die in den Konkretisierungsversuchen beschworene »Volksmoral« gibt es gar nicht, so daß Legitimierungsversuche durch diese Formel nur richterliche Willkürentscheidungen verschleiern oder gar ideologieverdächtig sind wie die Konkretisierungen durch das Gewissen der Volksgenossen, das völkische Gewissen der völkischen Art in der NS-Justiz. Begriffe wie »gute Sitten« führen ein völlig unangemessenes Moralisieren in die Rechtspraxis ein.93 Dann gilt: »›Sittenwidrig‹ ist danach, was ein Gericht jeweils so nennt.«94 Wenn es aber vom moralischen Standpunkt aus so etwas wie Sittenwidrigkeit geben sollte, so wäre das etwas ganz anderes als Rechtswidrigkeit und muß daher ohne Rechtsfolgen bleiben. »Wie […] ein Mensch durch den Ge-

92 Ernst Wolf: Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts. 3. Aufl. Köln 1982, 348. 93 Ibd. 94 L. c., 356.

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nuß von Pilzen keine Fleischvergiftung bekommen kann, kann durch einen Verstoß gegen vermeintlich ›gute Sitten‹ keine Rechtswirkung, mithin auch keine Unwirksamkeit eines Rechtsgeschäfts entstehen.« 95 Für eine Undurchlässigkeit des Rechts als eines über einen spezifischen Code ausdifferenzierten Subsystems der Gesellschaft für andere Diskurse, speziell auch der Moral, argumentiert auch Niklas Luhmann.96 Das Rechtssystem ist »normativ geschlossen«. Diese These »richtet sich vor allem gegen die Vorstellung, Moral könne im Rechtssystem unmittelbar gelten.«97 Eines seiner Argumente speziell für moderne Gesellschaften ist ein empirisch nachweisbarer Pluralismus moralischer Bewertungen, oder anders gesagt, moralische Unterscheidungen sind »nicht mehr konsensfähig«. Ironischerweise hält Luhmann das auch für gut für die Moral im Sinne einer »Verfeinerung der moralischen Empfindlichkeit«, aber ein Import in das Rechtssystem würde sowohl dem Recht als auch der Moral schaden. »So hat die Moral als solche keine rechtliche Relevanz.«98 Wenn aber einzelne moralische Gesichtspunkte in das Rechtssystem eintreten sollen, dann geht das nur über die kognitive Offenheit des Rechtssystems, m.a.W. das Recht nimmt dann zur Kenntnis, welche moralischen Überzeugungen in der Gesellschaft im Umlauf sind. Moralische Normen wirken im normativ geschlossenen Rechtssystem nicht normativ, sie treten dort lediglich als feststellbare Tatsachen auf, und »Tatsachen können die Normen nicht ändern.«99 Es bleibt aber als offene Frage auch hier, ob das Soziale, der Fortgang des kommunikativen Textes in der diskursiven Dimension allein durch das Recht gewährleistet werden kann oder ob nicht Gesellschaft auch in Distanzverhältnissen durch so etwas wie unbefragte Geltungen auch normativer Distanzen gesichert sein muß. Denn Distanzverhältnisse in der sozialen Dimension erzwingen nicht oder legen nicht einmal nahe, in der diskursiven Dimension allein durch Distanzverhältnisse abgesichert zu sein, so wie auch in der temporalen Dimension die Vergangenheit des gesellschaftlichen Anderen nicht nur als reflektierte Vergangenheit und nicht etwa auch durch Retentionen strukturiert wird.

95 L. c., 353. 96 N. Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997, 78. 97 Ibd. 98 L. c., 85. 99 L. c., 86.

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Für die unbefragten Geltungen der Gesellschaft hat Émile Durkheim den Begriff des sozialen Bandes eingeführt.100 In seiner Schrift Physik der Sitten und des Rechts betont er, daß keine Form sozialer Prozesse ohne das auskommt, was er dort »moralische Disziplin« nennt.101 Zwar folgten die Individuen ihren je eigenen, wenn man so will: egoistischen Interessen, aber zugleich haben sie das vitale Interesse an der Erhaltung derjenigen Ganzheiten, denen sie angehören, weil sie auch deren Ziele als gemeinsame Ziele verfolgen. Wegen der sich daraus möglicherweise ergebenden Widersprüche beider Interessenorientierungen ist es erforderlich, daß die Bestandserhaltung der Ganzheiten sich gegenüber den egoistischen Zielen als Zwang, als Disziplinierung äußert, vom Individuum aus betrachtet – vom Gesichtspunkt der Ganzheiten aus betrachtet, handelt es sich eher um institutionalisierte Routinen. Da die Individuen Harmoniebedürfnisse haben und die Konkordanz der Interessen kennen, sind die Sitten, d.h. die Normalität des Moralischen, eine Verankerung, die als soziales Band den Zusammenhalt des Sozialen bewirkt. Wir wollen im folgenden kurz prüfen, was denn die philosophische Tradition allenfalls zur Konkretisierung des Begriffs der guten Sitten beizutragen hätte. Es scheint zweckmäßig, dabei auf die aristotelische Tradition der praktischen Philosophie zurückzugreifen. In seiner Nikomachischen Ethik102, 2. Buch, geht Aristoteles davon aus, daß »keine der ethischen Tugenden uns von Natur gegeben wird«103, wobei wir hier »Natur« in dem weiten Sinne als einer unwandelbaren Vorgegebenheit zu verstehen haben. Solch einer »Natur« folgen alle anderen Lebewesen; nur der Mensch hat eine andere Quelle seines Verhaltens, die sein Verhalten wandlungsfähig macht. Es ist das, was Aristoteles »Gewohnheit« ( HMR9) nennt und damit zugleich anspielt auf die doppelte Herkunftsbeziehung des Wortes Ethos als HMR9undMR9Zwar stellt Aristoteles zuvor fest, daß sich die dianoetischen Tugenden durch »Erfahrung und Zeit« bilden, im Sinne der Theorie des kommunikativen Textes also vermittels des Zusammenwirkens in den Dimensionen von Zeit und Weltbezug, und damit gibt es hier eine Vorgängigkeit der Betätigung der Sinne vor dem Sinn und bei den ethischen Tugenden sei es umgekehrt, hier sei der Sinn den Betätigungen vorgängig, aber es wäre

100 Émile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt/M. 1988. Der Begriff als solcher ist jedoch älter. 101 L. c., 27. 102 Ich benutze die Ausg. v. Olof Gigon: Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Düsseldorf, Zürich 2001. 103 1103a.

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wohl keine Gewaltsamkeit der Interpretation, wenn man auch für die ethischen Tugenden die Konstitutionsbedingungen in dem Zusammenspiel der drei Dimensionen des kommunikativen Textes vermutete. Nur im sozialen Kontakt haben wir Gelegenheit, Tugenden einzuüben und zwar ebenfalls in der Zeit, d.h. durch Gewöhnung an die bewährten, d.h. guten Sitten. Dieses sei, so Aristoteles, auch das Ziel jedes Gesetzgebers gewesen: die Leute/ Bürger durch Gesetze in ein tugendhaftes Leben einzugewöhnen. Wir haben uns hier, über Aristoteles hinausgehend, kurz zu fragen, welche Art Zeitlichkeit und welche Art Sozialität hier ins Spiel kommt. Was die Zeitlichkeit betrifft, ist es klar: es muß der retentional wirkende Vergangenheitsbezug sein; denn nicht eine explizite Erinnerung an das, was früher üblich war, begründet die Eingewöhnung in das Ethos, sondern die fortdauernde Wirksamkeit. Was aber wichtig ist festzuhalten, ist, daß Ethik in fortgehende Prozesse der Praxis eingelassen ist und nicht aus einem jenseits der Handlungswirklichkeiten liegenden Prinzip oder Sittengesetz abgeleitet werden kann. Den ethischen Untersuchungen mangelt die »mathematische Genauigkeit«, sie behandeln vielmehr das »Handeln im Umriß«104, weil Handlungssituationen im steten Wandel begriffen sind. Daher ist das Kriterium ethischer Beurteilung die Angemessenheit an die Umstände, als da sind Anstand, Billigkeit und Gerechtigkeit. »Denn in den Untersuchungen über das Handeln sind die Allgemeinheiten inhaltsleer, das Einzelne aber wahrer.«105 Daher ist dann auch Tugend »anstrengend«, weil sie eine stets wiederholte Bemühung um diese Angemessenheit sei. Es ist folglich zweckmäßig, so ergänze ich, moralische Routinen (»Gewohnheiten«) zu entwickeln. Nach dem Aristelico-Hegelianer Joachim Ritter106 verliert eine vornehme Ethik à la Kant oder gar Fichte den Kontakt zur Praxis tätigen Lebens. Was mit dieser Entgegensetzung aufgerufen ist, ist in der Tat die Konfrontation von »guten Sitten« vs. »Sittengesetz«, wie sie sich in den divergierenden Interpretationen von § 138(1) BGB niedergeschlagen hat. Philosophischerseits treten eine Ethik, die in der Wirklichkeit tätigen Lebens enthalten ist und aus ihr heraus entwickelt und kultiviert werden müßte, und eine Ethik auseinander, die als

104 1104a. 105 1107b. 106 Ich beziehe mich vor allem auf: Joachim Ritter: Das bürgerliche Leben, in: ders.: Metaphysik und Politik. Frankfurt/M. 1977, 57-105; ders.: Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles, in: Rehabilitierung der praktischen Philosophie, hrsg. v. Manfred Riedel. Freiburg 1974, II, 479-500.

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fremde Forderung der Vernunft an ein vernunftloses Geschehen herangetragen werden müßte. Die Frage ist: Ist die Welt, auch die soziale Welt, im Prinzip gut und zustimmungsfähig – bei allem Änderungsbedarf im Einzelnen – und lädt damit zu einer Kultivierung ein, oder ist die Welt amorph oder sogar schlecht und muß erst noch durch Eingriff der Vernunft lebenswert und gut gemacht werden. Der Aristotelismus optiert für die Zustimmungsfähigkeit107 auf der Basis der Pflege der guten Sitten und gelebter sozialer Zusammenhänge anstelle einer »Metaphysik« der Sitten, die an diese den Verdacht eines Nichtbestehens vor dem Richterstuhl der Vernunft heranträgt. Diese Entscheidung hängt auch damit zusammen, welche Form von Menschsein in die sozialen Beziehungen und Prozesse eingetragen werden soll. Ist es das isolierte Individuum, dessen Beziehungen erst noch ausgedacht und vereinbart werden müssen, um dann (vor allem vertragsförmig) realisiert werden zu können; oder ist es der »Mensch unter Menschen«. Oder in unserer Terminologie: Muß der kommunikative Text (von wem auch immer) begonnen und in seinem ursprünglichen Beginnen begründet werden oder wenigstens so gedacht werden, als habe er eine Archè (= Herrschaft vom »Ursprung« aus); oder wird der kommunikative Text für alle, die als in ihm vorkommend begriffen werden können, als vorgefunden betrachtet werden müssen? Wie viele solcher Alternativfragen ist die Frage, so gestellt, falsch gestellt. Weder ein puristischer Usualismus noch eine reine Gründungsemphase geben die Wirklichkeit des sozialen Prozesses angemessen wieder. Sie ist eben beides: Gewohnheit und Innovation, aber auch nicht als Kompromiß oder Mittelmaß, sondern je nach eingenommenem Gesichtspunkt das eine oder das andere. Durch Perspektivenwechsel läßt sich beides beobachten und bewerten, so wie auch unsere Darstellung hier erst das eine und dann das andere betrachtete; denn auch wir befinden uns in einem fortgehenden Text und die Position des Kosmotheoros ist uns versagt.108 Seit Menschengedenken haben wir immer nur die Vorderseite

107 Cf. auch den Ritter-Schüler Robert Spaemann: Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, in: ders.: Philosophische Essays. Stuttgart 1983, 80-103. 108 M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, 152: »Aber bin ich wirklich Kosmotheoros? […] Bin ich ursprünglich Schauvermögen, reiner Blick, der die Dinge an ihrem zeitlichen und räumlichen Ort und die Wesenheiten an einem unbsichtbaren Himmel fixiert […]?« Natürlich nicht, cf. auch 32. Der Begriff geht vermutlich zurück auf Christiaan Huyghens: Kosmotheoros, sive De terris coelestibus, earumque ornatu, conjecturae ad Constantinum Hugenium, fratrem. Den Haag 1698; ich benutze die dt. Übers.: Cosmotheoros Oder Welt-betrachtende Muthmassungen von denen himmlischen Erd-Kugeln und deren Schmuck. Leipzig 1703. Ex.

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des Mondes gesehen; seit Satelliten uns Bilder von der Rückseite zugänglich gemacht haben, wissen wir, daß der Mond von hinten im wesentlichen so aussieht wie von vorne – ein guter Grund mehr, uns mit dem Anblick der Vorderseite zufrieden zu geben und die Unsummen der Weltraumforschung besser auf diesem Planeten zu verwenden. Wegen der doppelten Perspektive lohnt sich ein Blick auf die andere Seite, hier auf Fichtes »Sittenlehre«109. Sie versteht sich als System notwendigen Denkens, das aus Freiheit das Objekt durch das Subjekt bestimmt, und zwar von einem Punkt aus, in dem Subjekt und Objekt ungeschieden sind und daher weder subjektiv noch objektiv ist, d.h. eben deswegen auch weder durch Sachkenntnis noch durch Reflexion erkannt, sondern nur aus seinen Resultaten, in denen Subjekt und Objekt bereits geschieden sind, erschlossen werden kann. Im Handeln aus Freiheit stellt sich qua Autonomie das Sittengesetz in der Welt dar. Das Sittengesetz, insofern es den Handelnden in seinem Handeln bestimmt, führt zu einer Vergessenheit des Selbst. Das Selbst kennt darin keinen Anderen mehr (aber sich selbst auch nicht), sondern wird allumfassend, d.h. zu einem Gott. Das ist, offen gesagt, ziemlich viel; aber es ist ja auch gedacht als der Punkt reiner Sittlichkeit, der empirisch vom konkret Handelnden niemals erreicht sein wird, weil im konkreten Handeln immer schon das Subjekt dem Objekt gegenübersteht. Theoretiker des Sittengesetzes wie Fichte behaupten, daß man zur Beurteilung der Sittlichkeit von Handlungen einen möglichst reinen und möglichst universellen Maßstab braucht. Soviel ist daran richtig, daß es im konfliktuellen Gegeneinander zweier Positionen (auch im Pflichtenkonflikt, z.B. »Rauchen ist unmoralisch« vs. »Rauchen ist nicht unmoralisch«) einer dritten Position zur Entscheidung bedarf. Aber die Illusion der Transzendentalisten ist, daß man diese dritte Position so hochsteigern kann, daß sie prinzipiell außerhalb jedes möglichen Konflikts angesiedelt ist, bei Fichte eben jener Indifferenzpunkt von Subjekt und Objekt, und der dennoch aussagekräftig zu sein vermag. Eine Kritik des Transzendentalismus als mögliche Interpretation dessen, was die guten Taten sein könnten, ist am prägnantesten von dem Ritter-Schüler Odo Marquard vorgetragen worden. Seine Gegenposition nennt er Usualismus. Dessen Grundvoraussetzung ist, daß nur wenig vom Handelnden abhängt. Vieles, was den Menschen begegnet, ist zunächst einmal zufälliges Widerfahrnis, und

der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden: digital.slub-dresden.de/id30409217Z/11022820.pdf. s. auch. J.-L. Nancy: Le Sens du monde, 62, in Anknüpfung an Merleau-Pontys Bedenken. 109 Johann Gottlieb Fichte: Das System der Sittenlehre. Hamburg 1963.

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das ist auch gut so, sagt er in seiner Kritik der »Absolutmachung des Menschen«.110 Diese nämlich unterstellt, daß es tendenziell kein Geschehen gibt, das nicht absichtsvoll herbeigeführt oder absichtsvoll zugelassen wurde, Konsequenz: für alles ist im Prinzip ein Schuldiger (oder ein Verdienstvoller) zu finden und verantwortlich zu machen. Aber »wir Menschen sind nicht nur unsere – absichtsgeleiteten – Handlungen, sondern auch unsere Zufälle.«111 Da der Mensch hiernach für alles »absolut« verantwortlich ist, muß seine Entscheidung jeweils die absolut richtige und sittliche sein. Dafür aber, so Marquard, »ist das Menschenleben zu kurz« … der Menschen »Tod ist stets schneller als ihre absolute Wahl.«112 In summa: die Menschen »leben und wählen ihr Leben nicht…absolut: denn sie müssen sterben […]«113 Damit hängt eine zweite Einschränkung der transzendentalen Perspektive zusammen: »die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten«. Die Transzendentalisten, hier also die Diskursethiker, negieren, bzw. suspendieren vorsorglich das Übliche, solange es nicht durch transzendentale Letztbegründung gerechtfertigt werden kann. Und die Üblichkeiten, das sind »die Handlungsanweisungen, die gelten, weil sie schon galten.«114 Die Transzendentalpragmatiker dagegen, so karikiert Marquard ihre Position, empfehlen »daß das Leben zu unterlassen […] ist, solange nicht – durch absolute Wahl: durch absolutes Wissen, durch absolute Handlungsrechtfertigung – absolut erwiesen ist, daß es das absolut richtige Leben ist. Das Programm der Absolutmachung des Menschen negiert vor115

sorglich das wirkliche Leben, soweit es das Ensemble der Üblichkeiten ist.«

Die Üblichkeiten, das wäre Marquards Auskunft in der Frage der Interpretation der guten Sitten, sind das Kriterium, nicht ein absolut zu setzendes Sittengesetz. Zur Kritik wiederum sowohl des Usualismus Marquards als auch von dessen Kritik durch Habermas ist die treffende Charakterisierung von Wolfgang Welsch zu beachten. Daß sich Marquard und Habermas gegenseitig vorwerfen, das Wesen der Moderne zu verfehlen, ist für ihn signifikant:

110 O. Marquard: Apologie des Zufälligen, 118. 111 L. c., 119. 112 L. c., 121. 113 Ibd. 114 L. c., 123. 115 Ibd.

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»Es ist dieser Grundunterschied im Moderne-Verständnis, das allen Argumentationen zugrundeliegt. Was für den einen die Moderne definiert das Projekt einer Strukturierung der sozialen Wirklichkeit –, das fällt für den anderen auf die Gegenseite der Moderne, zählt zur ›Gegen-Neuzeit‹. Umgekehrt ist des letzteren Usualismus für den ersteren nur voraufklärerisch. Der Gegensatz ist klar, man muß ihn aber auch aufdecken und beachten, sonst könnte die gemeinsame Berufung auf die Moderne und die gemeinsame Ablehnung der Postmoderne zur heillosen Verwirrung scheinbarer Einigkeit führen. […] Zudem hat die Postmoderne das Problem der Pluralität, das die Moderne bloß mitschleppte, ausdrücklich gemacht und reflektiert, und so hieße, ihr Pluralität vorzurechnen, ohnehin fast nichts anderes, als sie zu bestätigen. So bleibt es gerade postmodern dabei, daß nicht IndifferenzPropaganda, sondern Differenzierungs-Arbeit der korrekte Weg ist, mit Pluralität umzu116

gehen.«

Dem bleibt nichts Wesentliches hinzuzufügen. Abschließend ist nun die Frage, ob es nicht zwischen den Interpretationen der guten Sitten als Usualismus oder gar als empirische Erfassung dessen, was die Leute so tun und lassen auf der einen Seite und dem Sittengesetz als Maß jeglicher Moral auf der anderen ein Mittelweg denkbar ist. Georg Simmel hat in seiner späten, lebensphilosophischen Phase mit dem Begriff des Individuellen Gesetzes versucht, ein solches Konzept vorzuschlagen. »Das individuelle Gesetz« ist der Titel des vierten Kapitels des Buches Lebensanschauung.117 Im ersten Schritt macht Simmel deutlich, daß es ihm nicht um die Aufstellung eines »Moralprinzips« gehe, »das den Maßstab für den sittlichen Wert oder Unwert menschlichen Verhaltens darböte.«118 Nichtsdestoweniger oder vielmehr ein solches Prinzip erst grundlegend geht es ihm um den »metaphysischen Ort«, an dem oder aus dem heraus so etwas wie ein Sollen überhaupt entsteht. Dieser Ortsbestimmung stellt sich als allererste Frage diese: »ob sittliche Notwendigkeiten ihre Inhalte und deren Legitimierung aus einer dem Leben des Individuums jenseitigen metaphysischen Wirklichkeit beziehen, d.h. aus einem allgemeinen, sich selbst tragenden Prinzip, das von sich aus dem einzelnen Leben nicht verknüpft ist, sondern ihm als Gesetz, insbesondere Gesetz der ›Vernunft‹, gegenübersteht, als sittlicher Wert der einzelnen Handlung, die vollbracht werden soll, weil ihr Inhalt nun einmal diesen sachlich-sittlichen Wert hat. Oder: ob die Inhalte des Sollens sich aus der

116 Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. 6. Aufl. Berlin 2002, 52. 117 Georg Simmel: Lebensanschauung, in: Georg-Simmel-Gesamtausg. XVI, 209-425. 118 L. c., 351.

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Lebenstotalität des Individuums entwickeln, so daß die Handlung gar nicht als einzelne, an beliebig vielen Individuen objektiv gleiche nach einem allgemeinen Gesetz gefordert und beurteilt wird, sondern gemäß dem Zusammenhang der idealen Lebensgestaltung, die gerade diesem Individuum wie mit ideellen Linien eingewebt ist, der prinzipiellen Einzigkeit seines Lebenssinnes folgend – gerade wie sein Leben als wirkliches eben sein indivi119

duelles und unverwechselbares ist.«

Selbstverständlich favorisiert er die zweite Ansicht. Damit aber stellt sich ihm die Aufgabe zu erklären, wie überhaupt die erste Ansicht entstehen konnte. Seine Erklärung greift auf eine Figur zurück, die er schon in der Tragödie der Kultur120 verwendet hatte. Danach erzeugt »das Leben« Gebilde, die sich ihm dann gegenüberstellen, im Bereich des Sollens eben als äußerliche Forderungen. Das Leben, er betont: »das schöpferische Leben«, kennt neben dem erkennenden Weltbezug als ebenso fundamental das Sollen. Dieses Sollen als Lebensvollzug verfestigt sich dann aber in seinen Äußerungen zu Normen, Prinzipien und Imperativen. Wie fremd auch immer diese in ihrer Bestimmtheit dem Leben sein mögen, wurzeln sie doch »in gleicher Eigentiefe« wie die Wirklichkeitserkenntnis. »Der imperativische, objektive Ton, den wir, schärfer oder milder, an den Inhalten unseres Sollens hören, verhindert durchaus nicht, sie als Wellen unseres Lebensstromes zu empfinden, als herausgeboren aus dem kontinuierlichen Zusammenhang des Lebens, wie es sein sollte. Hören wir dann aber, wir sollen immer die rechte Mitte halten, oder unser Handeln als allgemeines Gesetz vorstellen können, oder uns nach dem größtmöglichen Nutzen der größtmöglichen Zahl richten, oder man solle in jedem Augenblick die Natur in sich durch die Vernunft überwinden – so spüren wir vielleicht, daß zwar tiefe und inhaltreiche ethische Erlebnisse diese Formulierungen gewissermaßen als ihre Silhouette entwickelt haben; nun aber stehen sie als feste Gehäuse da und wollen das unendlich bewegte, unendlich differenzierte gesollte Leben in sich hinein zwingen, das sie doch bald überflu121

tet, bald unausgefüllt läßt.«

Das führt nun zwangsläufig zu einer Kant-Kritik. Kant, der das Sittengesetz, das nach Simmel zwar aus dem Sollen geboren ist, ihm aber als Fremdes fordernd (»Imperativ«) gegenübertritt, muß dieses – da er alle Heteronomie eigentlich ab-

119 Ibd. 120 L. c. XIV, 385-416: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«. 121 L. c. XVI, 353f.

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lehnt – zum eigentlichen Ich erklären und das »ganze Individuum« in zwei spalten: Vernunft und Sinnlichkeit, ja mehr noch, er muß behaupten, daß nicht das Gesetz, sondern die Sinnlichkeit das dem Menschen eigentlich Fremde ist, das dann das Ich verführt. Solches ruft den energischen Protest Simmels hervor: »[…] dasjenige Maß von Sinnlichkeit, d.h. von sinnlicher Verführbarkeit und Verführtheit, das das Individuum nun einmal realisiert, gehört genau so zum Ich, wie irgend ein anderes Element seiner seelischen Wirklichkeit.«122 Zwar liegt der Gegenstand der Sinnlichkeit oft außerhalb des Individuums, nicht aber die Sinnlichkeit selbst. Hier bewährt sich Simmels relationales Denken. Daß ein Relatum einer Relation außerhalb liegt, bewirkt doch nicht, daß die ganze Relation ins Außerhalb gehört. Sonst – so Simmel – müßte man auch die Lunge als nicht zum Körper gehörig deklarieren, bloß weil sie die Luft von außerhalb bezieht. Ein anderer gewichtiger Einwand besteht gegen die Allgemeinheitsforderung, »daß die Allgemeinheit des sittlichen Gesetzes ihr Wesen ausmacht.«123 Da aber Simmel das Sollen als eines Modus des Lebens begreift und da ferner alles Sein nur als Individuell-Sein Wirklichkeit hat, ist auch das Sollen keine Instanz des Allgemeinen, sondern des Individuellen. Das Streben nach dem Allgemeinen und das Widerstreben gegen die Pluralität des Individuellen ist so kurios wie jenes von Simmel angeführte jüdische Bonmot, daß es doch seltsam sei, daß Gott so viele Krankheiten geschaffen habe, aber nur eine einzige Gesundheit. Genau das Gegenteil sei der Fall: Gesundheit böte die volle Entfaltung aller Möglichkeiten des Individuums, während der Kranke sich auf einen Fall des Allgemeinen einer Krankheit reduziere. Und ebenso muß das sittliche Sollen sich aus der vollen Entfaltung des individuellen Lebens ergeben. Das macht natürlich nur dann Sinn, wenn dieses Leben in seiner zeitlichen Erstreckung gewertet wird. Die sittliche Gesamtperson, die ich gestern und immer schon war, ist mir heute das individuelle Gesetz meines Handelns. So scheint in der Tat das »individuelle Gesetz« eine Ausformulierung der »guten Sitten« zu bieten, unter der Bedingung freilich, daß man auch Konkordanzen von Individualitäten zuläßt und Individualität nicht als Partikularität begreift.

122 L. c., 355. 123 L. c., 365.

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5.11 V ERTRAUEN Bereits vor mehr als 10 Jahren hat Franz Petermann erklärt, daß kaum ein Begriff so überstrapaziert worden ist wie der des Vertrauens.124 Das kann freilich keine Warnung davor sein, sich wissenschaftlich (sei es bei Petermann psychologisch, sei es hier sozialphilosophisch) mit Begriff und Phänomen des Vertrauens auseinanderzusetzen; denn gerade die Unterscheidung zwischen Gebrauch und »Überstrapazierung« läßt sich nur auf diese Weise gewinnen. Ein großer Teil der traditionellen philosophischen – aber auch ein großer Teil der pädagogisch-psychologischen – Diskussionen um Vertrauen krankt daran, daß sie anthropologisch fundiert sind. Gibt es aber nichts Strittigeres als Menschenbilder und ist in allen Gesellschaftstheorien immer nur ein bestimmter Aspekt eines solchen brauchbar, so haben wir gute Gründe, auf eine solche Menschenbildfundierung auch im Vertrauensbegriff für sozialphilosophische Diskussionen zu verzichten. Immerhin lebt auch die Hobbessche Staatskonstruktion nicht von der ihrer nachgesagten Anthropologie, daß der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, was als Allaussage ja bereits dadurch widerlegt wäre, daß es wenigstens einen Menschen gibt, der seinen Mitmenschen nicht nach dem Leben trachtet. Tatsächlich braucht die Hobbessche Staatskonstruktion aber nur eine sicherheitstheoretische Grundlage, die lautet: Es ist nicht ausgeschlossen, daß es wenigstens einen Menschen gibt, der mir nach dem Leben trachtet; und da ich nicht wissen kann, welcher unter allen Menschen dieser eine mögliche ist, muß ich mich vor allen fürchten und mich vor allen schützen. Das generalisierte Mißtrauen des vorvertraglichen Zustandes bei Hobbes basiert also auf Unwissen über den und über die Menschen und nicht auf einem anthropologischen Wissen über seine Natur, bzw. die Anthropologie beschränkt sich auf den einen Satz, daß der Mensch ein Wesen ist, das nur ungern eines gewaltsamen Todes stirbt. Ob der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, oder nicht vielmehr – wie Michel Serres meint125 – eine parasitäre Laus, darüber haben wir auch heute noch kein generalisierbares sicheres Wissen.126 Zum Glück für die Theoriebildung in

124 Franz Petermann: Psychologie des Vertrauens. 3. Aufl. Göttingen, Bern, Toronto 1996, 9. 125 M. Serres: Der Parasit. 126 Neuerdings macht die Altruismus-Forschung (Ernst Fehr u.a.) von sich reden, s. die Konferenz »Altruismus und Mitgefühl in Wirtschaftssystemen«, die unter Leitung von Ernst Fehr unter Beteiligung des Dalai Lama 2010 in Zürich stattfand.

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der Sozialphilosophie brauchen wir aber nicht auf ein solches sicheres anthropologisches Wissen zu warten, bevor wir mit der Sozialphilosophie beginnen könnten. Denn die Gesellschaft »besteht« nicht aus Menschen, sondern das Soziale ist Kommunikation. Deswegen wird im folgenden der Begriff des kommunikativen Textes zugrundegelegt. Es wird also um eine nicht-anthropologisch fundierte Theorie des Vertrauens gehen. Wenn ich zur Aufschlüsselung des Vertrauensbegriffs im folgenden die beiden Begriffe »Ethos« und »Routine« verwende, so will ich sogleich ein spontan auftretendes Mißverständnis ausräumen: Nicht im mindesten ist es meine Absicht, diese beiden Begriffe einander moralisierend entgegenzusetzen und etwa zu empfehlen, anstelle von seelen- und gedankenloser Routine mehr ethische Orientierungen zu verwenden. In einer solchen Vermutung verbärge sich ein zweifaches Mißverstehen, das erste bezöge sich auf den Begriff des Ethos. Denn mit dem Begriff des Ethos zunächst ist nicht etwas gemeint, was von ethischer Reflexion erzeugt oder auch nur stabilisiert werden könnte. Vielmehr ist Ethos das in einem sozialen Zusammenhang unbefragt geltende Kontinuum normativer Orientierungen. Im folgenden werden wir uns aber genauer dem protentionalen Ethos zuwenden, den Eigenschaften einer dominanten Beziehung der temporalen Nähe in der Zukunft mit der Nähe in normativer Hinsicht.127 Gemeint ist das, was wir mit

127 Wenn hier Vertrauen als normative temporale Naherwartung beschrieben wird, so hat der Ausdruck »Nähe« nichts mit meßbaren (Zeit-)Abstand zu tun. Gemäß letzterem als Kriterium kann diese Nähe durchaus in der (temporalen Abstands-)Ferne liegen, wie jenes verheißende Reich Gottes, welches nahe herbeigekommen ist, ohne daß nur ein grobes Mißverständnis den Tag der nächsten Woche als Termin angeben möchte, zu dem es eingetroffen sein wird. Nähe heißt hier und anderswo: in einem ungebrochenen Kontinuum der Temporalität (und der Normativität) gelegen, so daß die Nähe des Eschatons mit dem Kalender gar nichts zu tun hat. Die Frage nach dem Datum bereits führt den Bruch in dieses Kontinuum ein, ebenso wie hinsichtlich des Vertrauens die Frage nach der Berechtigung des Vertrauens die Wirksamkeit des Vertrauens bereits bricht. Die Temporalstruktur des Ethos im Vertrauen als protentional zu bezeichnen, hebt eine Schwierigkeit Schottlaenders auf, der – mit Binswanger – Vertrauen als »ebensosehr zukunfts- wie gegenwartsbezogenes Verhalten« bezeichnet. Es geht nicht um irgendeine abstrakt ausdenkbare Zukunft, und es geht auch nicht um den abstrakten Gegenwartspunkt, sondern um jene im Begriff der Protention in die Zukunft sich ausdehnende Gegenwart, die Schott-

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Selbstverständlichkeit in der Zukunft erwarten können, sowohl von uns selbst als auch von anderen. Und genau das nennen wir normalerweise Vertrauen, und zwar sowohl als Selbstvertrauen wie auch als Vertrauen in Andere. Vom Versprechen unterscheidet sich Vertrauen vor allem durch Explizitheit vs. Implizitheit, aber auch durch eine spezifische Umkehrung. Der Versprechensgeber verpflichtet sich für die Zukunft; diese Zukunftsfestlegung gilt aber beim Vertrauen für den Vertrauensnehmer. Vertrauen ist also nicht auf Versprechen gegründet.128 Wenn Vertrauen und Versprechen etwas miteinander zu tun haben, dann wohl nur in der Form, daß ein Systemvertrauen bestehen muß, daß das gesellschaftliche Institut des Versprechens auch in Zukunft noch Sinn und Gültigkeit hat. Das direkte Vertrauen aber erübrigt in vielen Fällen das Versprechen. Wenn man Selbst und Anderen als der Substanz nach austauschbare Positionen im kommunikativen Text bestimmt, dann ist es naheliegend, Selbstvertrauen und Fremdvertrauen direkt zu korrelieren, wie auch Luhmann das tut,129 und zwar deshalb, weil das soziale Kontinuum, das sich in den Kontingenzbereich hinein erstreckt, unabhängig davon ist, ob wir es mit dem inneren oder dem äußeren Anderen zu tun haben, aber auch die methodisch ganz anders gelagerte Vertrauenstheorie Schottlaenders hebt diesen Zusammenhang hervor. Er schreibt: »Mein Zweifel an mir selbst und meine Abständigkeit von meinem Leibe heben den Zustand des einfachen inneren Sichvertrauens und –vertrautseins in der gleichen Weise auf, wie – und auf diese Parallele kommt es im vorliegenden Zusammenhang an! – der Zweifel am Anderen und die Entfremdung von der Umwelt das vertrauensvolle Geborgensein im Äußeren aufheben.«130 Es spricht vieles dafür, das protentionale Ethos des Vertrauens nicht auf den sozialen Nahbereich der Gemeinschaft zu beschränken, sondern vielmehr via Systemvertrauen als Rahmen auch auf gesellschaftliche Beziehungen übertragen zu sehen, so wie wir ja

laender mühsam mit jenem »ebensosehr« zu bezeichnen versucht. Rudolf Schottlaender: Theorie des Vertrauens. Berlin 1957, 18. 128 Julian B. Rotter: A New Scale for the Measurement of Interpersonal Trust, in: Journal of Personality 35/1 (1967), 651-665; ders.: Generalized Expectancies for Interpersonal Trust, in: American Psychologist 26 (1971), 443-452. Daß sich zu vertrauen, wenn es geschichtsabhängig ist, sich als Versprechen äußern kann dazu s. Gerhard Gamm: Vertrauen haben in einer Welt voller Überraschungen, in: Museumskunde 72 (2007), 47-55, hier bes. 49f. 129 Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. 2. Aufl. Stuttgart 1973, 77. 130 R. Schottlaender, l.c.,13.

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auch jedem sozialen Anderen in der Gesellschaft gegenüber zeitliche Naherwartungen (Protentionen) hegen. Es ist die gesellschaftskonstitutive Position des Dritten, die diesen Übergang ermöglicht oder erleichtert. Einem mir völlig Unbekannten kann ich z.B. in Geschäftsfragen Vertrauen entgegenbringen, weil ich unterstelle, daß im Falle der Enttäuschung des Vertrauens ein Dritter da ist, der mir dann nahe sein wird. Nur auf der Grundlage des Vertrauens zu ihm, dessen Beziehung zur Beziehung nicht agonal sein kann, kann ich ins Ungewisse hinein Vertrauen investieren. Diese Position des Dritten kann durchaus unterschiedlich besetzt sein. In der Sophistik ist es derjenige, dem die Entfaltung des rhetorischen Arguments gilt und der beeinflusst werden soll; im Rechtssystem ist es der Richter; in der Transzendentalen Dialektik Kants ist es die Kritik der Vernunft; in außermodernen Gesellschaften sind es das Netz der Verwandtschaftsbeziehungen usw. In der Thematisierung des Vertrauens als »Sozialkapital« im Sinne Colemans131 geht es genau um diese Bedingungen der Möglichkeit der Ausdehnung protentionalen Ethos auf distanzierte soziale Beziehungen; und die hier von mir vertretene These ist, daß dieses möglich ist dann und nur dann, wenn eine Nähe zu einem gesellschaftskonstitutiven Dritten132 prinzipiell gegeben ist. D.h. mit anderen Worten: wenn die Bedingungen für ein »Vertrauen in Vertrauen« – wie Luhmann gesagt hat – gegeben sind. Diese Bedingungen stellt die Position des Dritten bereit. Dagegen ist die Dyaden-Verkettung und die Generalisierung von Dyadenverkettungen, kein geeignetes Muster für Vertrauen zu gesellschaftlich Anderen. Und wir halten es für einen völlig verfehlten Ansatz, in der Analyse von Ver-

131 Jules Coleman: Social Capital in the Creation of Human Capital, in: American Journal of Sociology 94 (1988), S95-S120; ders.: Systems of Trust, in: Angewandte Sozialforschung 10 (1982), 277-299; der früheste Beleg des Terminus scheint zu sein Jane Jacobs: The Death and Life of Great American Cities. New York 1961, 138 – so jedenfalls: Francis Fukuyama: Trust. London 1996, 364. Es handelt sich bei diesem Begriff um eine Ausdehnung des von Gary Becker eingeführten Begriffs des Humankapitals (Fähigkeiten, Erziehung, Ausbildung, Wissen etc.). Coleman argumentierte, daß es neben den epistemischen Eigenschaften auch soziales Kapital gibt, das wie monetäres Kapital, Ressourcen etc. wertschöpfend in den Produktionsprozeß sowie förderlich in alle sozialen Prozesse eingeht: die Bereitschaft zur Kooperation z.B. Diese Bereitschaft hängt ganz entscheidend davon ab, ob es in Gesellschaften geteilte normative Orientierungen von der Art eines Ethos gibt. 132 Zum Dritten s. Th. Bedorf: Dimensionen des Dritten, sowie K. Röttgers: Kategorien, 245-272.

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trauen von Zweierbeziehungen auszugehen, wie der Psychologe Petermann133 dieses vorschlägt; auf diese Weise kann Vertrauen als soziales Phänomen überhaupt nicht in den Blick kommen. Denn Sozialität ist nicht über die Zweierbeziehung konstituiert: weder ist eine Zweierbeziehung bereits als solche eine Sozialbeziehung, noch ist das Soziale über eine Verkettung von Zweierbeziehungen verständlich zu machen; erst die Position des Dritten macht aus einer Beziehungsform eine soziale Beziehung. Wenn wir Vertrauen als Sozialkapital begreifen lernen wollen, ist der Ansatz bei der Zweierbeziehung nicht nur unzureichend oder durch Erweiterungen korrigierbar, sondern er ist fehlleitend, weil der Dritte kein einfaches Additiv zu einer grundlegenden Zweierbeziehung ist. Dieser Dritte kann durchaus den Vertrauensvorschuß liefern, der Vertrauenspflege in Gang zu setzen vermag. Vertrauen reduziert Unsicherheiten; man muß nicht mehr mit allem Möglichen rechnen, sondern nur noch mit einigem. Zugleich erhöht das investierte Vertrauen aber das Risiko, daß das Vertrauen enttäuscht werden könnte. Die Kosten für Vertrauenspflege eines begründeten Vertrauens sind vergleichsweise gering, und zwar genau deswegen, weil das Risiko bleibt, das Risiko nämlich, daß Selbst eines Tages doch vom Anderen betrogen wird. Wie Ripperger gesagt hat, ist Vertrauen eine »riskante Vorleistung unter Verzicht auf explizite vertragliche Sicherungs- und Kontrollmaßnahmen«,134 aber wie Luhmann gesagt hat, können wir das Risiko nicht vermeiden, und es ist ein ebenso großes Risiko, kein Risiko eingehen zu wollen.135 Umgekehrt könnte man dann auch feststellen, daß dort, wo es gar kein Risiko gibt (und keine Gefahr) auch Vertrauen vollständig unnötig wird. Es ist kein Risiko, daß die Ampel, vor der wir stehen, nie wieder grün zeigen wird, insofern ist unser Warten vor ihr auch kein Vertrauensbeweis. Vertrauen antizipiert eine Kontingenzreduktion. Die eigene Verletzlichkeit ist der Einsatz in diesem Spiel. Wie bei allen Risiken können auch die mit Vertrauen verbundenen Risiken verschieden hoch sein. Den Extremfall nennt man »blindes Vertrauen«. Aber dieser in der Regel kritisch gemeinte Begriff spricht etwas an, was in jedem Vertrauen enthalten ist. Würde man nämlich bei jedem Vertrauen prüfen müssen und wollen, ob es ein gerechtfertigtes ist, dann würde jedes Vertrauen, weil es eben auf der Grundlage von Mißtrauen gegründet wäre, eben doch kein Vertrauen sein. Insofern ist das »Vertrauen in Vertrauen« zwangsläufig und unvermeidbar für jedes effektiv wirksame Vertrauen.

133 F. Petermann: Psychologie des Vertrauens, 11. 134 Tanja Ripperger: Ökonomik des Vertrauens. Tübingen 1998. 135 Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin 1991.

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Denn – ebenfalls Luhmann – jedes Vertrauen »überzieht«136 die zur Verfügung stehenden Informationen. Gemessen an dem Bild des »homo oeconomicus« und seiner Entscheidungs-Rationalität ist Vertrauen daher »irrational«, weil Entscheidungen aufgrund von Vertrauen Entscheidungen auf der Grundlage unzureichender Informationen sind. In seiner Soziologie des Geldes hat K. Heinemann137 von der Gewißheit gesprochen, die nicht unbedingt in objektivem Wissen gründet und dennoch ein sicheres Erwarten hinsichtlich des Werts des Geldes ermöglicht. Und: Ein Kind, das sich seinen Eltern anvertraut, braucht nicht erst den genetischen Test abzuwarten, der ihm das Wissen absichert, daß dieses tatsächlich seine Eltern seien. Vertrauen kann man nur Personen oder Umständen, die man in »gewisser Weise« kennt. Normalerweise ist diese epistemische Komponente implizit, d.h. es ist eine nicht mehr begründbare Gewißheit, seltener dagegen ein explizites, erfahrungsbegründetes, reflektiertes Wissen. Daher ist Vertrauen in einem bestimmten Umfang auch erfahrungsresistent. Im Einzelfall kann Vertrauen enttäuscht werden, ohne daß es damit bereits hinfällig würde. Es gibt Belastungsgrenzen für Vertrauensenttäuschungen, aber diese sind nicht nach fallibilistischen Prinzipien bestimmbar. Nach dem Grundsatz »wer einmal lügt, dem glaubt man nicht«, kann man überall dort, wo Vertrauen wirkt, gerade nicht verfahren. Dort gilt nämlich: »auch wenn du einmal gelogen hast, werde ich dir in Zukunft doch weiter glauben«. Insofern lehnen wir auch alle Bestimmungen ab, die behaupten, Vertrauen resultiere aus Erfahrungen, stattdessen werden wir davon ausgehen, daß im Gegenteil Vertrauen immer die Erfahrungsbasis überschreitet. Negativ benannt und bewertet wird das mit dem Begriff der Vertrauensseligkeit. Es ist vielleicht richtig, daß Vertrauen im Hinblick auf die Kontingenz zukünftiger anderer Möglichkeiten immer einen Vorschuß beinhaltet, den man zusammen mit dem Wissensvorschuß durch Gewißheit mit der Glaubensgewißheit in Analogie bringen kann.138 Dieser Wissensvorschuß der Gewißheit ist auf gewisse positiv bestätigte Erfahrungen also eine eingespielte Praxis der guten Sitten angewiesen.139 Schott-

136 N. Luhmann: Vertrauen, 26. 137 Klaus Heinemann: Soziologie des Geldes. Stuttgart 1969, 134. 138 Extensiv tut das Eugen Diesel: Die Macht des Vertrauens. München 1946, z.B. 35, oder Ludwig Binswanger als Art der Gnade: Grundformen und Erkenntnis des menschlichen Daseins. 2. Aufl. Zürich 1953, 352ff. 139 Setzt man diese Gedanken fort bis in eine neue Deutung der Rolle der Engel (s. dazu M. Serres: Die Legende der Engel; dazu Kurt Röttgers: Michel Serres – Strukturen mit Götterboten, in: Französische Nachkriegsphilosophie, hrsg. v. Günter Abel. Ber-

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laender verwendet in seiner Explikation des Vertrauensbegriffs die Zielbegriffe »Ruhe, Gewißheit, Sicherheit« als die zentralen Begriffe, um die es bei Vertrauen geht.140 Insofern ist – gemäß Kriterien rationaler Wahlentscheidungen – Vertrauen stets unbegründbar, es ist, wie Simmel schon sagte, eine unentwirrbare Mischung aus Wissen und Nichtwissen. Erst wenn wir alles wüßten, könnten wir auf Vertrauen ebenso gut verzichten. Unter Bedingungen der Endlichkeit des Daseins und der sozialen Prozesse sind wir dagegen auf Daseinsbewältigung und Prozeßbewältigung durch Vertrauen verwiesen. Insofern kann man sagen, daß Vertrauen zwar unbegründbar ist,141 aber es im allgemeinen gute Gründe dafür gibt zu vertrauen.142 Die Irrationalität eines Vertrauens in Vertrauen ist auf einer erweiterten Ebene der Rationalitätsprüfung dann eben sehr wohl eine Frage erweiterter Rationalität. Oder, wie Fukuyama gesagt, hat: »It is not rational for people to be ›rational‹ about every single choice they make in life […]«143 In vielen Angelegenheiten, insbesondere des Alltags, müssen wir nämlich ständig in dieser Lage unzureichender Informationen entscheiden und unsere Klugheit

lin 2001, 399-426, ders.: Engel und andere Mittler, in: der blaue reiter 13 (2001), 1518; ders.: Physiologie der Engel, so ist die den Engeln und ihrer versprechenden Verkündigung angemessene Einstellung diejenige des Vertrauens, im Unterschied zu der dem Inhalt einer Offenbarung angemessenen Einstellung des Glaubens. Sofern die Hörenden der Botschaft der Engel vertrauen, sind die Worte der Verkündigung mehr als bloße Worte: sie wollen mit ihren Worten gar nichts anderes erreichen als das Vertrauen in die Botschaft, die sie zu verkündigen haben. Gerade das macht es so schwer, ihre Botschaft anzunehmen; denn daß jemand uns ausnutzen will, das ist verständlich, auch daß trotzdem begrenztes und riskantes Vertrauen möglich ist; aber daß Engel grenzenloses Vertrauen verdienen, weil sie keine Absicht hinter der Botschaft haben, das ist schwer zu akzeptieren. Sofern wir aber Engel für Fiktionen halten, sind es diejenigen Fiktionen, durch die die Möglichkeit grenzenlosen Vertrauens Gestalt annimmt. Das ist dadurch gegeben, daß sie zugleich unendlich nah und unendlich fern gedacht werden müssen. Der Engel übermittelt eine Botschaft und vermittelt zugleich eine Beziehung. 140 Rudolf Schottlaender: Theorie des Vertrauens. Berlin 1957, 8. 141 So N. Luhmann, l.c. 142 Zu der darin implizierten Unterscheidung von begründetem Wissen und den guten Gründen der Urteilskraft s. auch K. Röttgers: Woran ist die Ignoretik gescheitert?, in: Wissen und Verantwortung. Fs. Jan Peter Beckmann. Freiburg, München 2005, I, m136-177. 143 F. Fukuyama: Trust, 20.

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walten lassen. Es ist keine Frage, daß nicht alle sozialen Beziehungen durch Vertrauen geregelt werden können. Aber ebenso unsinnig und für die Sozialität insgesamt desaströs wäre es, »niemanden zu vertrauen«, wenn das überhaupt denkbar wäre. »Ein grenzenloses Vertrauen zu schenken, ist auch nichts weniger als eine Tugend; es ist ein Zeichen von Schwäche und Unerfahrenheit. Man kann sich nicht ohne Gefahr der ganzen Welt anvertrauen; daran hindert die Klugheit; aber das Wesen ist ganz schlecht beraten und ganz unglücklich, das sich niemandem anvertrauen kann.«144 Dennoch kann man mit Fukuyama »high-trust-societies« von »low-trustsocieties« unterscheiden wollen, wobei das Maß darin besteht, inwieweit in den verschiedenen Gesellschaftsordnungen das in Kleinfamilien überall gegebene Vertrauen auch auf weitere Gesellschaftsbereiche übertragen werden kann. Dieses Maß eines Vertrauensniveaus von Gesellschaften ist dann zugleich das Maß, wie flexibel eine Gesellschaft auf neue Situationen ohne übermäßige Anpassungskosten reagieren kann. Und Fukuyama nennt Namen: Für ihn sind Japan und Deutschland »high-trust societies«, Frankreich, Süditalien u.a. »low-trust societies«; die USA ist das höchst bedenkliche Beispiel einer Gesellschaft, die eigentlich ein hohes Vertrauensniveau hatte, dieses aber seit ca. 30 Jahren systematisch verspielt, so daß heute 1% der amerikanischen Gesellschaft im Gefängnis sitzt und die Sicherheitsausgaben (Polizei) pro Kopf der Bevölkerung die höchsten auf der Welt sind.145 Postmoderne Gesellschaften sind nicht nur auf die Errungenschaften der Moderne wie Recht, Markt und freies Individuum angewiesen und bauen auf sie auf, sondern ebenso auf vormoderne Errungenschaften wie Solidarität, Bindungsfähigkeit und Integrationsfähigkeit.146 Nun gibt es trotz generellen Vertrauens in das Funktionieren des Straßenverkehrssystems das als »Rowdytum« bekannte extrem regelwidrige Verhalten einzelner. Es verweist auf das sogenannten »Trittbrettfahrer«-Problem. Damit ist

144 Anonym [d.i. Antoine Joseph Pernety]: Observations sur les maladies de l’ame. Berlin 1777, 192, z.T. wörtlich aus: Paul Henri Thiry d’Holbach: La morale universelle... Amsterdam 1776, 255ff.; übers. K. R. 145 F. Fukuyama: Trust, 11. 146 Daß dieses auch Konsequenzen für den Freiheitsbegriff haben müßte, habe ich in meinem Plädoyer für den Begriff der »sozialen Freiheit« versucht plausibel zu machen, Kurt Röttgers: Soziale Freiheit als Innovation, in: Berliner Debatte INITIAL 9 (1998), 31-38; ders.: Ein Freiheitsbegriff für die Wirtschaftsphilosophie, in: Wirtschaftsethik – Wo bleibt die Philosophie?, hrsg. v. Peter Koslowski. Heidelberg 2001, 55-76.

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gemeint die regelwidrige Nutzung öffentlicher Güter. Im Fall des VerkehrsRowdytums ist das die widrige Nutzung einer staatlicherseits bereitgestellten Verkehrs-Infrastruktur mit Straßen und Verkehrsregeln. Rowdy kann man nur sein, wenn es die anderen nicht sind. Wenn alle sich so verhielten, bräche das Verkehrssystem als solches zusammen. In der Regel wird das TrittbrettfahrerSyndrom unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und unter Gesichtspunkten der Rationalität (des Auseinanderbrechens individueller und kollektiver Entscheidungs-Rationalität) behandelt. Das wollen wir hier nicht tun, sondern die Vertrauens-Frage in den Mittelpunkt stellen.147 Dann ergibt sich die Interpretation, daß das Rowdytum das Systemvertrauen in das Verkehrssystem nicht erschüttert, sondern vielleicht im Gegenteil sogar bekräftigt, weil das Systemvertrauen sonst gar keine Gelegenheit zur Bewährung vorfände. Die normative und nicht-kognitive Fundierung von Vertrauen ermöglicht die partielle Erfahrungsresistenz. Im strikten Wortsinn ist daher ein Vertrauensmanagement gar nicht möglich: Vertrauen kann ganz leicht zum Einsturz gebracht werden, in dem seine Berechtigung fraglich und begründungsbedürftig wird; es kann aber nur sehr schwer gewonnen oder auch nur sehr schwer wiedergewonnenen werden. Daher ist ein »Vertrauensmanagement« weniger zu denken als ein planvolles Herbeiführen von Vertrauen, als vielmehr als eine behutsame Vertrauenspflege.148 Dazu gehört aber – das ist unbestritten – eine Kenntnis der Umstände, unter denen Vertrauen effektiv ist. Fast könnte der Verdacht naheliegen, als wäre es besser, auf die Angewiesenheit auf ein so fragiles Gut wie Vertrauen zu verzichten. Der Versuch aber, nach der Devise »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser« die Angewiesenheit auf Vertrauen durch eine immer effektivere Kontrolle zu reduzieren, muß scheitern. Denn wer seinem Interaktionspartner mißtraut und ihn lieber kontrolliert, muß wenigstens den Kontrolleuren vertrauen oder er gerät in eine alles absorbierende Kontrollspirale hinein. Da Kontrolle stets nur die Gegenwart kontrollieren kann, nie die Zukunft, das Kontingenzproblem aber aus der Zukunft entsteht, ist Kont-

147 Peter Koslowski: Prinzipien der Ethischen Ökonomie. Tübingen 1988, 20ff.; ders.: Die Ordnung der Wirtschaft. Tübingen 1994, 132ff. 148 Der Begriff der »Vertrauenspflege« ist unübersehbar eine Anspielung auf den Kulturbegriff, der aber hier wegen seiner insgesamt eher vielfältig schillernden Bedeutung vermieden wird. Unbefangener Fukuyama: »Social capital [...] is usually created and transmitted through cultural mechanisms like religion, tradition, or historical habit.« Trust, 26.

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rolle in dieser Hinsicht keine echte Alternative zu Vertrauen. Nur eine soziale Immobilität kann sich auf zukünftige Verletzungen so einstellen, daß sie sie vermeidet. Die Kosten dafür aber können leicht zu hoch werden. Die Ökonomen drücken diesen Sachverhalt aus, indem sie sagen, daß Vertrauen die Transaktionskosten senken hilft. Da letztlich jedes Geschäft unter gesellschaftlich Anderen riskant ist, aber eben genau deswegen auch chancenreich und daher nicht als zu vermeidend eingestuft werden kann, sind Absicherungen, d.h. Risiko-Bearbeitungen (nicht Risiko-Vermeidungen!) notwendig. Kontrolle ist gewiß eines der Verfahren; aber sofern die Interaktionen am (freien) Markt geschehen, kann die Kontrolle in nichts anderem bestehen, als daß die Abwicklung Vertragsform erhält, die im Rechtssystem sanktionsbewehrt auftritt.149 Kontrolle kann ersetzt werden durch Versicherungen, Bürgschaften oder HedgeFonds. Das Rechtssystem kann nachträglich eine Nichterfüllung des Vertrages sanktionieren oder erzwingen. Ist aber z.B. ein vertraglich Zahlungspflichtiger nicht mehr zahlungsfähig, so hilft das Recht wenig, wie alle je durch Konkurse anderer Geschädigten wissen. Aber deswegen ist auch die Wiederherstellung von Zahlungsfähigkeit durch Gewährung von Krediten auf der Grundlage von Vertrauen so wichtig für die Aufrechterhaltung der Zahlungsfunktion im System der Wirtschaft. In diese Unsicherheit treten Versicherungen und Bürgen ein.150 Inwieweit Risiken auf Versicherungen oder auf das Rechtssystem übertragen werden, wird von Fall zu Fall, aber auch von Rechtssystem zu Rechtssystem variieren. Wie weit beispielsweise das Haftungsrecht in einem bestimmten Rechtssystem geht und inwieweit eine Versicherung für den Schadensfall abgeschlossen werden kann151 oder – dritte Option – inwieweit das Risiko durch alternativen Risikotransfer selbst getragen werden kann, das wird ebenfalls variieren. Will man aber weder auf »vollständige« (ist das möglich?) Kontrolle, noch auf Versicherungen / Bürgschaften/Hedge-Fonds setzen, weil jedes unter Umständen zu teuer ist und dennoch nicht von der Angewiesenheit auf Vertrauen in der Form von Systemvertrauen befreit, dann bleibt die protentionale Normierung des Vertrauens übrig. Im übrigen ist nicht nur in der Kontrolloption (wer kontrolliert die Kontrolleure?), sondern auch in der Versicherungs-Option (wer ver-

149 Unter Globalisierungsbedingungen kann das auch die Fiktion eines universell geltenden Rechts sein, wie es ja Bestrebungen gibt, daß USA-Recht als überall auf der Welt verbindliches und einklagbares Recht anzusehen. 150 Jules L. Coleman: Risks and Wrongs. Cambridge 1992. 151 Coleman plädiert dafür, dass Haftungsrecht auf solche Fälle zu beschränken, für die der potentiell Geschädigte andernfalls eine Versicherung abgeschlossen hätte.

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sichert die Rückversicherungen?) Vertrauen »als Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität« (Luhmann) unverzichtbar. Schon die Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit durch erneute Kreditgewährung ist eine Form von Vertrauen, nämlich in die zukünftige Zahlungsfähigkeit des Kreditnehmers und zwar genau dann, wenn ihm Vertrauen entgegengebracht wird.152 Selbst wenn man von einem generalisierten Mißtrauen ausgehen wollte – wie es die Hobbessche Staatskonstruktion tut, die einen Vertrag zugunsten Dritter (des Souveräns nämlich), zur Sicherheitsgarantie macht –, kommt man nicht ohne Vertrauen aus, in diesem Fall dann eines Vertrauens in den Souverän, daß er die Risikoabsorption effektiv übernehmen kann, m.a.W. auch Systemvertrauen, als Absicherung gedacht, ist doch auch nur eine Art von Vertrauen, d.h. partiell unsicher. Würden die Bürger auch noch der Sicherheitsgarantie des Staates mißtrauen müssen, so würde in dem gleichen Maße das ursprüngliche Mißtrauen aller gegen alle wiedererstehen, ein Zustand, der sich unter der Dominanz der Finanzmärkte und der erwiesenen absoluten Unfähigkeit der Politik, dem zu begegnen, allmählich abzeichnet. Der Dritte kann die Sicherheitsgarantie für das Vertrauen zwischen Selbst und Anderem nur unter der Bedingung übernehmen, daß ihm selbst vertraut wird, was – nebenbei gesagt – erneut die Austauschbarkeit (die Rotierbarkeit) der Positionen von Selbst, Anderem und Dritten im kommunikativen Text belegen würde. Liegt keine spezifische (retentionale) Handlungserfahrung vor (das haben wir immer so gemacht – das ist das Thema der Routine), so muß auf die Erfahrungen (Routinen) des Dritten zurückgegriffen werden. Bei Einstellungen in den Öffentlichen Dienst wird ein polizeiliches Führungszeugnis verlangt, in oeconomicis fragt man die Schufa, im übrigen gibt es ein ausgedehntes und immer weiter expandierendes Begutachtungs- und Zertifizierungswesen. Leumund oder Reputation nennt man die Erfahrungs-Absicherung durch Dritte. Auch hier wieder treffen wir auf die gesellschaftskonstitutive Funktion des Dritten. Sofern es sich um die Welt im allgemeinen handelt, sprechen wir auch von »Gottvertrauen«, insofern für das vertrauensvolle Verhältnis zur Welt ein Vertrauens-Adressat gebraucht wird, ist es die Rolle Gottes, diesen Adressaten zu spielen, Bezugspunkt dieses im Kern irrationalen Vertrauens in die Ordnung der Welt zu sein. Auch dafür nämlich, eine grundsätzlich vertrauensvolle Haltung einzunehmen, gibt es keine direkt rationalen, sondern allenfalls gute Gründe. Wenn man nun nicht darauf alleine setzen kann, daß es eine Grundsatzvertrau-

152 Dominieren allerdings die Hedge-Fonds den Finanzmarkt, dann setzt sich ein Vertrauen in Mißtrauen durch.

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ensdisposition in der Humansozialisation in frühester Kindheit gegeben hat, weil man die Darstellungsebene »des Menschen« – wie hier durchgängig – als Begründung verlassen hat, wird man gedrängt danach zu fragen, unter welchen Bedingungen denn Vertrauen gedeiht, was also die Bedingungen von Vertrauenspflege sein könne. Wie Protentionen nicht ohne gleichzeitige Retentionen möglich sind, so ist auch Vertrauen als zukunftsbezogener Habitus des Prozesses nicht ohne vorangegangene Prozeßstücke zu denken, in denen soziale Erfahrungen dem Interaktionspartner, aber vor allem die Reputation des Interaktionspartners bei potentiellen oder aktualen Dritten die Absicherung der Naherwartungen bestimmen. Aber wenn wir Vertrauen als protentional normatives Kontinuum bestimmt haben, dann wäre es zirkulär, erneut ein normatives Kontinuum als Erklärung für die Grundlage von Vertrauen angehen zu wollen, so etwa die »guten Sitten«, so eng der Zusammenhang auch sein mag, denn man könnte mit der gleichen Berechtigung wie beim Vertrauen nach der normativen Grundlage der guten Sitten fragen und auf den Gedanken kommen, das Vertrauen als Grundlage der guten Sitten anzusehen. Noch weniger aber können wir die reflektierte Form der normativen Orientierung zur Grundlage der normativen Kontinua erklären wollen, also z.B. die Pflichten in der einen oder anderen Form. Wir müssen also vielmehr Ausschau halten nach Handlungs- oder Geschehenskontinua, die nicht selbst normativ fundiert sind. Ich möchte im folgenden zwei Arten solcher Kontinua unterscheiden, nämlich diejenigen der Natur und diejenigen der Technik. Dadurch, daß natürliche Vorgänge nicht länger aus der Willkür der Götter, Geister oder Dämonen stammend, begriffen werden, sondern als den Gesetzen der Natur gehorchend und damit eben nicht mehr kontingent, sondern unabänderlich und erkennbar so oder so ablaufend, rührt eine große Verläßlichkeit diesbezüglicher Abläufe. Wir brauchen die nächste Sonnenfinsternis nicht als Drohung zu empfinden, denn wir können berechnen, wann sie kommt und wann sie wieder vorbei ist und vieles andere mehr. Wichtiger für unseren Zusammenhang der Sozialphilosophie als dieses neuzeitlich ermöglichte naturwissenschaftlich begründete Welt-Vertrauen, in dem auch der Weltenschöpfer auf die prinzipiell in seiner Allmacht stehende Möglichkeit des Wunders (des Verstoßes gegen die Naturgesetze) freiwillig verzichtet hat, ist das durch Technik ermöglichte, aber auch bedrohte, d.h. fragil ermöglichte, Sozialvertrauen. Technik, darauf hat Walter Benjamin eindringlich verwiesen, ist der Ersatz einer unmittelbaren sozialen Beziehung durch eine durch Sachen und entspre-

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chende Sachlichkeit vermittelte Beziehung.153 Technik ist eine im Sozialen erreichte Gleichförmigkeit von sozialen Abläufen. In diesem Sinne spricht man auch bei eingeübten Fertigkeiten von Techniken. Sofern es sich dabei um eine von materiellen Vorgegebenheiten unabhängige, d.h. übertragbare Gleichförmigkeit handelt, wird man diese auch als eine Routine bezeichnen wollen. Man kann, wie Luhmann das getan hat, das Lob der Routine anstimmen154. Die öfters zu hörende für Routinen typische Bemerkung, etwas Bestimmtes hätten »wir« »immer so gemacht« ist ein Gemisch aus deskriptiver und normativer Bedeutung, die wir hier analytisch auch trennen könnten. Und je nach Auslegung wird artikulatorisch der Akzent auf »immer« oder auf »so« zu liegen kommen. Wenn wir uns entscheiden, die Betonung auf das modale Kontinuum zu verlegen, also sachbezogen zu argumentieren, dann sind wir auf eine kognitive Verarbeitung möglicher enttäuschender Erfahrung von etwas Neuem eingestellt. Tatsächlich ist die situative Notwendigkeit der Behauptung bereits der Hinweis darauf, daß die entsprechende Routine fraglich geworden ist. Es taucht am Horizont der Handlungsorientierung ein Neues auf, das in eine neue Kontinuitätskonstruktion einbezogen werden könnte. Dann heißt der Satz soviel wie: »Bisher haben wir das immer so gemacht, es ist ersichtlich, daß wir es auch anders machen könnten.« Da es auch in dieser kognitiven Einstellung, in dieser Lernbereitschaft, um Handlungsorientierung geht, brauchen wir andere Gründe als die, die die Option des Neuen selbst bereitstellt um zu entscheiden, ob alles beim Alten bleiben oder ob die Möglichkeit des Neuen ergriffen und realisiert werden soll. Diese Gründe stellt das Ethos dann bereit, wenn das Neue etwas bloß epistemisch Neues ist, obwohl im konkreten Handeln das selten so sauber zu separieren sein wird. Handelt es sich jedoch auch um ein in normativer Orientierung Neues, so muß auf

153 W. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, 48. 154 Niklas Luhmann: Lob der Routine, in: ders.: Politische Planung. Opladen 1971, 113142. Man kann das natürlich auch kritisieren wollen, wie Beisenherz es tut, der Luhmann eine ideologisch motivierte doppelte »Verschiebung« unterstellt: von der praktischen Orientierung zur Sachlichkeit von Systemerfordernissen und von den Systemerfordernissen zur persönlichen Kompetenz. H. Gerhard Beisenherz: Legitimation durch Vertrauen. Marburg 1980, 36. Er hält das Arzt-Patienten-Verhältnis dafür für typisch. Das praktische Problem einer Krankheit wird auf das Gesundheitssystem übertragen, für das die Kompetenz des einzelnen Arztes einsteht. Zu diesem hat dann der Patient Vertrauen zu haben, ja die Arzt-Patienten-Beziehung wird auf seiten des Patienten zu einer Verpflichtung zu vertrauen umgedeutet.

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die in Recht, Moral etc. eingegangenen Verpflichtungen oder auf die im Bild der eigenen Integrität eingegangene Sittlichkeit Bezug genommen werden. Uns soll hier der unaufwendigere Fall interessieren, daß das Ethos im großen und ganzen ausreicht, um mit dieser neuen Option umzugehen. Ihr Interesse rührt gerade daher, daß es günstig scheint, den Aufwand, wenn es geht, niedrig zu halten, und nicht alles immer und immer zugleich zu einer Grundsatzfrage hochzustilisieren. Die Ethos-Stabilisierung des Handelns erspart Reflexionskosten dort, wo sie – aller Wahrscheinlichkeit und Lebenserfahrung nach – unnötig sind. Erneut: unser Leben und die sozialen Prozesse, in die es eingebettet ist, sind zu kurz, als daß wir es mit solchen Tätigkeit verplempern dürften. Also, Lob der Routine und Lob eines Ethos, aus dem für zukünftiges Handeln das Vertrauen folgt. Letzteres aber nun zeigt, daß die Wirksamkeit eines Ethos heutzutage eingebettet sein muß in einen rechtlichen und moralischen Rahmen. Dieser selbst ist an dieser Stelle nicht unser Thema gewesen, sondern unser Thema war das, was im Schutz dieses Rahmens gedeihen kann; auf diese Mikro-Gedeihlichkeiten ist aber auch umgekehrt die Rahmenordnung in ihrer Legitimität angewiesen. Weil Vertrauen das in die Zukunft erstreckte Ethos ist, kann es – anders als Onara O’Neill behauptet – auch keine Pflicht zum Vertrauensaufbau geben.155 Schon Schottlaender hatte demgegenüber festgestellt: »Vertrauen ist nicht zu den Tugenden, Mißtrauen nicht zu den Lastern zu rechnen.«156 Denn von Pflichten wird man erst dort sprechen wollen, wo die selbstverständliche Orientierung des Ethos gebrochen ist. Allenfalls könnte man im Sinne einer Vertrauenspflege von einer Pflicht zur Selbstbegrenzung von Pflichtenethik sprechen, also einer Diätetik der Pflichtzumutungen dort, wo es Selbstverständlichkeiten normativer Orientierungen gibt. Pflichten werden auferlegt, sei es durch das Rechtssystem, sei es durch das sittliche Bewußtsein, sei es durch Selbstbindungen. Vertrauen aber gedeiht; und manchmal müssen Pflichten auferlegt werden, weil Vertrauen eben nicht mehr gedeiht, aber nicht diese Fälle interessierten uns hier. Selbstverständlich gibt es angebbare Gedeihensbedingungen. Einige folgen der immanenten Logik der temporalen, sozialen und symbolisch-normativen Kontinua, einige bzw. sogar viele andere, vor allem im modernen und postmodernen Gesellschaften, liegen in der »Rahmenordnung« der Gesellschaft, in Bedingungen der Unabänderlichkeit der Vergangenheit und der Unvorhersehbarkeit der Zukunft, sowie den symbolischen und normativen Ordnungen beschlossen. Wenn Beisenherz Luhmann vorwirft, er ersetze persönliches Vertrauen durch Systemvertrau-

155 Onara O’Neill: Tugend und Gerechtigkeit. Berlin 1996, 266 f. 156 R. Schottlaender: Theorie des Vertrauens, 7.

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en, so reihen wir uns ein in die Reihe derjenigen, die diesen Vorwurf auf sich ziehen. Es ist doch wirklich die Frage, wie in einer Situation zu verfahren ist, in der ökonomische Prozesse eben nicht mehr oder nur noch beiläufig durch persönliches Vertrauen entlastet werden können. Gibt es Kontinua normativer Selbstverständlichkeiten für Zukünftiges, die an die Stelle des persönlichen Vertrauens rücken können oder müssen wir in all diesen Fällen von dem generalisierten Mißtrauen ausgehen, das war unsere Frage gewesen, und das muß glaube ich für moderne Gesellschaften die Grundfrage bleiben. Im Rahmen einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes, die von persönlichen Qualitäten absieht, könnte gezeigt werden, daß wir uns ein generalisiertes Mißtrauen nur auf Kosten der radikalen Einschränkung von Handlungschancen leisten könnten. Genau deswegen und weil es eine normative Art der Enttäuschungsabwicklung darstellt, darf Vertrauen auch enttäuscht werden – natürlich nur im gewissen Umfang, der aber – wie Risikotoleranz – eine Frage klugen Ermessens und keine Grundsatzfrage ist. Wenn Beisenherz meint, hier werde die Grenze von Sein und Schein eingerissen, so müssen wir festhalten, daß das grundsätzlich für alle normativen Orientierungen gilt.157 Werden Ebenen und Perspektiven der Kontinua von symbolisch-normativen Selbstverständlichkeiten zu massiv in Frage gestellt, dann schwindet Vertrauen, und es korrodieren soziale Routinen und Verläßlichkeiten des Umgangs. Das aber hat selbst unter Gesichtspunkten schon allein der ökonomischen Rationalität kontraproduktive bis katastrophale Folgen. Denn da jede Transaktion dann einer mehrfachen Absicherung und Protokollierung bedarf, steigen die Transaktionskosten unter Bedingungen des Verfalls symbolisch-normativer Kontinua oder der zu schnellen Transformation solcher Kontinua in reflektierte Kontinuitäten (Ersetzung von Selbstverständlichkeiten durch Regeln des gleichen Inhalts, und zwar weil es ja sein könnte, das jemand käme, der die Selbstverständlichkeiten in Frage stellte) in Gesellschaften enorm an.

157 H. Gerhard Beisenherz: Legitimation durch Vertrauen, 308.

III. Die Kommunikation in der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes

6 Isolierender Konsens

6.1 B ALLSPIELE

UND

S PRACHSPIELE

Gehen wir aus von einem Ballspiel als einer einfachen Form nicht-sprachlicher Kommunikation. Ein Spieler wird dadurch als (Mit-)Spieler identifizierbar, daß er angespielt werden kann und abspielen kann. Der Ball fungiert als Identifikator und als das, was den Fortgang des Spiels sowohl ausmacht als auch garantiert. In diesem Ball-Prozeß werden durch die Bewegungen des Balls zu den Körpern diese als Subjekte des Spiels konstituiert.1 Also nicht die Subjekte gingen mit ihren Spielintentionen in das Spiel ein, nähmen sich dann den Ball und realisierten dann mit seiner Hilfe ihre Intentionen, sondern der Ball bestimmt die Spieler, er ist der Kommunikator.2 Der Ball macht die beteiligten Körper zu Objekten (Völkerball) oder zu Subjekten (Volleyball). Der Spieler, der gute Spieler, stellt sich in den Dienst des Prozesses des Balls, beim Volleyball beispielsweise stehen alle, auch die, die in gegnerischen Mannschaften gegeneinander angetreten sind, im Dienst der Aufgabe, daß der Ball zwischen den Körpern in Bewegung bleibt und nicht auf den Boden aufschlägt. »Der hin- und herlaufende Ball webt […] das Kollektiv.«3 »Kein souveränes Subjekt vermag die Bewegungen […] zu 1

Man könnte auch, eine weitere Stufe theoretischer Komplexität, die Differenz als das eigentliche Subjekt bezeichnen, das ist in etwa die These von Lacan; ich vermeide diese Darstellungsweise hier, nicht nur weil sie sehr stark dem üblichen Sprachgebrauch von Subjekt widerspricht, sondern auch, weil sie zu dem verharmlosenden Mißverständnis einlädt, das Subjekt gebe es vorab, nur trage es eine Differenz in sich. S. dazu Hermann Lang: Die Sprache und das Unbewußte. Frankfurt/M. 1993, bes. 246-266.

2

Cf. dazu M. Serres: Der Parasit, 346.

3

L. c., 348.

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kontrollieren. Jede Subjektposition wird in die medialen Prozesse […] einbezogen.«4 Die so gestiftete Gemeinsamkeit ist nur durch das Netz der Ballbewegungen definiert; eine substantielle Gemeinsamkeit der Körper oder Seelen ist nicht nur nicht nötig, sie wird von neutralen Beobachtern auch als fehl am Platz gewertet, so etwa, wenn rassische Homogenität der Spieler von gewissen beobachtenden und bewertenden Minderheiten verlangt würde. Wie beim Ballspiel verhält es sich auch mit der Teilnahme am Text: nur der ablaufende und sich über gelingende Anschlüsse fortsetzende Text legt fest, wer dazugehört. Aber umgekehrt das heißt auch, daß er es ist – seine Vollzugsqualität – der bestimmt, wer nicht dazugehört. Es ist nicht a priori ausgeschlossen, daß bei diesen Ausschlüssen auch ethnische, fremdsprachlichkeitliche und rassistische Argumente in Anwendung gebracht werden; aber ob dieses tatsächlich geschieht, ist allein Sache des Textes und seiner Fortsetzungschancen. So kann es auch Textzusammenhänge geben, in denen gerade das Vorbringen eines rassistischen Arguments zum Ausschluß dieses bisherigen Textpartizipienten führt, m.a.W. daß in diesem Zusammenhang Rassismus keine zugelassene Textfortsetzungsregel ist, bzw. ergibt. Dabei spielt es übrigens für den kommunikativen Text immer weniger eine Rolle, ob es sich um schriftliche oder mündliche Artikulationsweisen handelt. Die von Platons Phaidros bis zur Kanadischen Schule der Medientheorie reichende Schriftkritik ist von Derrida, ebenso radikal vertreten, umgekehrt worden.5 Heute müssen wir zugestehen, daß eine Medialität wie die des Internets, diese Unterschiede zwischen Literalität und Oralität nivelliert; zwar hat Walter Ong diesbezüglich die These einer »sekundären Oralität« aufgestellt,6 aber auch darüber ist die Entwicklung hinausgegangen. Ist Email mündlich oder schriftlich? Selbst wenn eine Email tatsächlich geschrieben wird, hat sie doch in ihrer Flüchtigkeit alle Merkmale der Mündlichkeit, und eine große Menge solcher Emails wird von Spam-Filtern ausgesondert und vom Empfänger »überhört«. Gehen wir nun aber zur nächsten Stufe über, zu »Skype« nämlich oder zu SMS, so sind die dort zu verfassenden Mitteilungen so kurz, daß sie eigentlich und oft

4

A. Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis, 242.

5

Platons Schriftkritik findet sich bekanntlich im „Phaidros“, 275a ff., dort allerdings berichtet als eine ägyptische Lehre; zur Kanadischen Schule s. Dieter Mersch: Medientheorien. Hamburg 2006, 90-130; J. Derrida: Die Schrift und die Differenz, und öfter.

6

Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Opladen 1987, 135ff.

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nur als Aufforderung zu einem Telefongespräch gemeint sein können, so z.B. die Aufforderung durch eine Mobiltelefon-Mailbox bei Nichterreichbarkeit des Teilnehmers ihm eine SMS mit Aufforderung zur Telefonie zu senden. Aber selbst wenn wir dann über Skype ein »mündliches« Gespräch erfolgreich angebahnt haben, wird es von der Internettelefonie digital umgewandelt, d.h. in einen Code »verschriftlicht«. Deshalb werden wir im folgenden die Unterscheidung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit als irrelevant ignorieren. Auf die Textentfaltung und Textfortsetzung den Akzent zu setzen, bedeutet eine Perspektive einzunehmen, für die das Performative Vorrang hat und d.h. wiederum, das Rhetorische (und Sophistische) gegenüber dem Geltungstheoretischen ins Zentrum zu rücken.7 Was ein Selbst (verstanden als diejenige Funktionsposition im kommunikativen Text, von der aus sich »ich« sagt) einem Anderen (verstanden ebenfalls als Funktionsposition im kommunikativen Text, nämlich die als »du« angesprochen ist und hört) sagt, hängt auch ganz entscheidend von diesem Anderen ab, weil Zuhören eine Aktivität ist, die auf das Reden des Redenden Einfluß ausübt. Der Andere bestimmt mit, welcher Diskurs uns verbindet. Der Dritte schließlich beobachtet Selbst und Anderen, u.U. bewertet er den sich zwischen ihnen entspinnenden Text. Effektiv wird das nur dann, wenn er sich einmischt, wenn er z.B. die Regeln des Diskurses zur Geltung zu bringen versucht und wenn er dem einen oder dem anderen recht geben möchte. Er führt in die pure Intersubjektivität das Soziale ein.8 Im Sozialen des kommunikativen Textes ist dieser sowohl vom Anderen bestimmt (kann dieser das Argument aufgreifen oder den Ball auffangen?) als auch vom Dritten. Daher steht, was gesagt wird, in einer Dialektik von Anderem und Drittem.9 Eine solche Konzeption setzt sich in Opposition zu derjenigen, die der Deutsche Idealismus entwickelt hatte, um den solipsistischen Fallstricken der Intersubjektivität zu entkommen. Dieser hatte nämlich angenommen, daß die Konstituierung objektiver Erkenntnisse von Erfahrungstatsachen dieser Welt deswegen möglich ist, weil die Strukturen möglicher Erkenntnis in allen Subjekten dieselbe seien, bzw. das nur dasjenige ein Subjekt genannt zu werden verdient, das diese

7

A. Hetzel: Die Wirksamkeit der Rede; zuvor K. Röttgers: Der Der Sophist.

8

Theorien des Dritten, hrsg. v. Thomas Bedorf, Joachim Fischer, Gesa Lindemann. München 2010; cf. auch: Hermann Lang: Im Anfang waren es drei – das Konzept der «strukturalen Triade» oder der Ödipuskomplex heute, in: ders.: Strukturale Psychoanalyse. Frankfurt/M. 2000, 156-172.

9

Cf. Antoine Compagnon: Psychose et sophistique, in : Folle vérité, hrsg. v. Julia Kristeva, Jean-Michel Ribettes. Paris 1979, 171-196, bes. 179f.

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Strukturen teilt. Mit anderen Worten ausgedrückt heißt das, daß der Andere nur eine Variation meines Selbst sei, Variation in unwesentlichen Merkmalen der Struktur von Erkenntnis. Der Gegenstand der Erkenntnis ist daher immer meiner oder könnte es wenigstens sein. Jedes Subjekt ist nur eine Verallgemeinerung des Selbst. So etwas wie ein textuelles Zwischen der Subjekte ist deswegen so überflüssig wie ein Gespräch mit mir selbst, in dem ich mich über mich informieren könnte. Der Konsens ist a priori vorhanden, wenn auch vielleicht noch nicht bewußt. Zwischenzeitlich könnte sich zwar der Andere, insofern ich es doch nicht ganz bin, über den »wahren« Konsens täuschen. Aber wenn er nicht bösartig oder verstockt ist, wird er »meinem Konsens« schon noch beitreten. Er wird wie Phaidros sagen: »So wird es wohl sein, Sokrates. […] O ja. […] Ja. […] Allerdings. […] Ja. […]«10 Was anderes könnte ein solcher Anderer sagen, der nur eine Variation meines Selbst ist? Ein so konzipierter Anderer ist eben keine Funktionsposition des kommunikativen Textes, sondern er ist als Nicht-Ich darauf festgelegt, so zu werden wie das Ich, das ihn »setzte“. Er muß »sich“ opfern, nicht einfach die Position im Text wechseln, sondern ein anderer Anderer werden, »sich selbst« aufgeben, um ein Ich zu werden. Der Monolog mit dem Anderen, sozusagen, macht keine Relationalität im Medium des Textes möglich, sondern ist die dauerhaft stabile Asymmetrisierung,11 ohne eine Spur einer Dialektik von Herr und Knecht. Auch die Relation Selbst/Anderer ist eine asymmetrische, aber da es sich nur um austauschbare Funktionspositionen handelt, ergibt sich anders als in jeder Substantialisierung kein dauerhafter Nachteil, sondern eine Folge wechselnder Asymmetrien. Henry Blackwell schrieb 1853 in einem Brief an Lucy Stone: »My idea of the relation involves no sacrifice of individuality but its perfection«, sie führe zu beiderseitig gleicher Fortentwicklung anstatt eines Niedergangs. »If both parties cannot study more, think more, feel more, talk and work more than they would alone, I will remain an old bachelor and adopt a Newfoundland dog or a terrier as an object of affection.«12

10 Platon: Phaidros, 270 f. 11 »Das Natürliche ist, daß Menschen miteinander reden. Schon, daß einer fast unausgesetzt redet, während ein anderer nur noch nickt und schweigt, ist eine unnatürliche Situation. Sie zeigt auf eine Störung des Verhältnisses zwischen den beiden. Gar, daß jemand ein, zwei Stunden pausenlos spricht und andere ihm zuhören, ist ein dem täglichen Leben entfremdeter Vorgang. Die Lust am Reden vor einem Publikum erwächst auf gestörtem sozialen Feld.« Arno Plack: Philosophie des Alltags. Stuttgart 1979, 134. 12 Zit. bei William Leach: True Love and Perfect Union. New York 1980, 196.

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Konsens-Theoretiker verwenden ein, wie Sybille Krämer es genannt hat, »erotisches« Kommunikationsmodell:13 In ihm geht es um Verständigung, es wirft die Frage auf, wie zwei sich einig sein können, wie sie im Medium, dem Zwischenraum jegliche Störung der Verständigung ausschließen können. Wäre es möglich, das, was Michel Serres das Pfingstereignis genannt hat,14 dann wäre das Medium ausgeschaltet, weil es dazwischentritt in die angestrebte Unmittelbarkeit der Kommunikation (=Kommunion), die Zwei in der Intersubjektivität wären Eins geworden.15 Die Betonung der Relation und des Zwischen (Mediums) impliziert nicht die Annahme, daß da im Zwischenraum seinerseits ein kollektives Subjekt entstünde, eine Gemeinschaft oder gar ein Staat, jedenfalls irgendetwas Institutionelles, oder mit den Worten von Jean-Luc Nancy: »L’être-en-commun sans substance commune.«16 Das setzte nach den klassischen Theorie ja doch immer voraus, daß der Ausgangspunkt Individuen seien, die dann in irgendeiner Weise aus ihrer je individuellen Macht (hier gleich Kraft) so etwas wie eine für sich bestehende kollektive Macht entließen, sei es daß der verbindende Text als ein immer wieder neu zu beschwörender Vertragstext angenommen wurde oder noch mystischer als ein Eid der Verbrüderung, der entweder die Einheit der Nation oder gar die einer verbrüderten Menschheit aus sich hervorbrächte. In jedem Fall wurden die Institute Einrichtungen erstarrter Diskurse; denn Institute sind dadurch definiert, daß in ihnen seit ihrer Gründung (der Archè) der Diskurs stabilisiert und immobilisiert wurde, verbunden bis daß der Tod (zur Not im Brudermord) die über nichtveränderbare Verfassungen, Menschenrechtserklärungen oder dgl. verbrüdert Vereinten scheidet. Es ist außerordentlich schwer, jedoch das eigentliche Ziel jeden Reformismus, Institute innerlich zu mobilisieren. Als ein typisches Beispiel mag hier der Feminismus des 19. Jh. besonders in Amerika dienen. Sein Ziel war die Schaffung der wahren Union. »Wahr« bedeutete für die Protagonisten der Bewegung: vernünftig, kooperativ, egalitär und erfahrungsoffen. Dem sollte eine »wahre Liebe«, die genau diese Eigenschaften vereinigte, dienen. So ganz neu war das freilich nicht, der Utopist Charles Fourier hatte in seiner Neuen Liebeswelt seine gesellschaftliche Utopie verstanden als

13 S. Krämer : Medium, Bote Übertragung, 12-18. 14 M. Serres: Der Parasit, 66ff. 15 Zum Denken in Orientierung an Einheit s. Kurt Röttgers: Kosten der Einheit. http://www.phil-inst.hu/highlights/pecs_kant/Kosten_der_Einheit.pdf 16 J.-L. Nancy: Politique et au-delà, 11.

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durch wahre Liebe und gutes Essen geprägt.17 Das Problem dieser reformerischen und utopischen Regungen war und ist, daß sie immer von dem Individuum als einer Letztsubstanz ausgehen und dann die Frage behandeln, wie das Soziale zwischen den schon für sich bestehenden Individuen zu gestalten sein, damit sich die Individuen dabei wohlfühlen. Die Struktur des Ballspiels lehrt uns, die Dinge, also das Soziale anders zu zentrieren. Das Soziale ist ein voraussetzungsloses Konstrukt, d.h. vor allem es setzt keine substantiellen Basiseinheiten voraus, sondern ist deren Voraussetzung.18 Gehen wir aber jetzt über die nicht-sprachliche Kommunikation des Ballspiels hinaus, so kommen wir zunächst zur sprachlichen, aber nichts-sagenden Kommunikation. Es ist ein Gemeinplatz unter Philosophen zum Gerede in kritischer Distanz zu verharren. Tatsächlich aber ist das Triviale unentbehrlich.19 Wenn wir über das Wetter nörgeln, dann bringen wir – und deswegen ist das Nichtssagende so wichtig als Aspekt unserer Überlegungen – ebenfalls nicht tief im Subjekt oder in der Tiefe des Individuums begründete und dann mit Ausdrucksintention versehene Einsichten zutage und von einem Kommunikationspartner zum anderen. Eher verläuft es so, wie das geschilderte Ballspiel: ein Wort ergibt das andere, und niemand muß zuvor meinen, was gesagt wird.20 Gleichwohl darf ein Stöhnen über dieses grauenhafte Wetter nicht unbeantwortet bleiben: der Ball muß sozusagen weitergespielt werden. Solche nichtssagende Kommunikation kann aber durchaus dissensual ablaufen. Wenn man mir z.B. vorwirft, ich hätte eine andere Frau zu lange oder zu freundlich angeschaut, dann ist auch das in Wahrheit eine Zelebrierung von Vordergründigkeiten; wie das Ballspiel bedeutet es nicht etwas ganz anderes, sondern es ist, was es ist: Zwist, eben nicht freundliches Abspielen, sondern wie das Abwerfen im Völkerball.

17 Charles Fourier: Le Nouveau Monde amoureux. 2. Aufl. Paris 1967; s. K. Röttgers: Kritik der kulinarischen Vernunft, 38-45. 18 Cf. Lutz Ellrich: Die Konstitution des Sozialen, in: Zs. f. philos. Forschung 46 (1992), 24-43. 19 Z.B. Martin Heidegger: »[…]bin ich mein Dasein zumeist und durchschnittlich nicht selbst, sondern die Anderen; ich bin mit den Anderen und die Anderen mit den Anderen ebenso. Keiner ist in der Alltäglichkeit er selbst. Was er ist und wie er ist, das ist niemand: keiner und doch alle miteinander. [...] Dieser Niemand, von dem wir selbst in der Alltäglichkeit gelebt werden, ist das ›Man‹«: Der Begriff der Zeit, 13. 20 Eindrucksvolle Beispiele für die Unübersetzbarkeit des Nichtssagenden (Clichés) finden sich bei Ivan Fónagy: Situation et signification. Amsterdam, Philadelphia 1982, 7ff.

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Genau genommen ist der Dissens kommunikationsförderlicher als der Konsens. Denn wenn wir uns einig sind, z.B. über das schlechte Wetter und auch diese Einigkeit von allen so gesehen wird, dann müssen wir zur Kommunikationsfortsetzung entweder das thematische Terrain wechseln oder wir drohen in Schweigen zu verfallen. In den Ballspielen, die auf Abspielen in der eigenen Mannschaft beruhen, ist es die gegnerische Mannschaft, die stört, d.h. die in das harmonische Abspielen interveniert und damit die Kommunikationsabläufe offen hält. In ihrer Semiologie des Paragramms schreibt Julia Kristeva21 dem Paragramm folgende Eigenschaften zu: Das Paragramm setzt nicht die Idee eines sprechenden/schreibenden Subjekts und eines Empfängers der Botschaften voraus, noch auch die Signifikant/Signifikat-Idee. Vielmehr ist es die Doppelheit Schreiben/Lesen, eines Lesens, das zugleich eine Redeskription ist, und eines Schreibens, das eine Intensivierung des Lesens ist, die als diese Doppelheit eine Verräumlichung reiner Sequentialität beinhaltet, man könnte auch sagen: die Einführung des Dritten, der die reine Linearität überschreitet. Im kommunikativen Text ist es der andere Text, auf den sich das Paragramm bezieht, der also den Dritten darstellt. Damit geht Paragrammtik sowohl über den szientifischen, prinzipiell (mono)logischen Text hinaus, der sagt, was er sagt, ohne jede Rücksicht auf die Tatsache oder deren Qualität möglicher Anderer, der so beschreibt oder erzählt, was ist, und dessen Referenz die Identifikation von Gegenständen ist.22 Als er auch über den Dialogtext hinausgeht, der immerhin den Wechsel der Positionen von Selbst und Anderem vorsieht. Die intertextuelle Beziehung setzt sich in eine Ambivalenz zwischen Anderem und Drittem. Es ist z.B. ein TextZitat oder eine Paraphrase oder auch eine Lücke, die da entsteht, wo, obwohl der Andere es erwarten könnte, gerade nicht zitiert oder angespielt wird, sondern übergangen.23 Kristeva sagt zwar, daß das Paragramm eine Struktur mindestens

21 Julia Kristeva: 6KPHLZWLN, 183. 22 Deswegen nennt Jean Franklin den Logos die Diktatur der Bezeichnung. Jean Franklin: Le discours du pouvoir. Paris 1975, 119, cf. auch 128-134 zur näheren Erläuterung. 23 Zur grundsätzlichen Rolle des Zitats für das Konzept des intertextuellen Dritten s. schon Benjamin, dessen Passagen-Werk eigentlich aus nichts anderem als Zitaten bestehen sollte, nach der Devise: ich, Walter, das vortextuelle Subjekt, habe gar nichts zu sagen, alles was zu sagen ist, sagt sich. Zu diesem Antisubjektivismus Benjamins s. Theodor W. Adorno: Über Walter Benjamin. Frankfurt/M. 1970, 26. Zur Rolle des Zitats s. auch Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext, hier 339.– Manchmal und

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zweier Elemente sei, aber das ist ungenau; es setzt in der Tat zwei Elemente voraus, ist aber seinerseits als diese (erfüllte oder unerfüllte) Relation eine Beziehung nach außerhalb der Zwei. Wenn man also mit Derrida sagen wollte, daß es kein Textäußeres gebe, so wird man modifizieren müssen: es gibt (für den Text) kein Äußeres, das nicht seinerseits Text wäre. Zwar ist es sinnvoll, eine Unterscheidung zu vollziehen zwischen einem Selbst und seinem Sagen, zwischen einem Selbst-im-Text und einem sagenden Selbst. Aber dieser Unterschied ist nicht der zwischen einem vor-textuellen, in den Tiefen des Individuums beheimateten Meinen, einem Sprechen vor dem Sprechen, sondern es ist der Unterschied zwischen einem nichts-sagenden Selbst und dem Selbst-im-Text. Ein verständigungs- und konsensorientierter Dialog ignoriert den Dritten: ihn darf es nicht geben, weil er nur stören könnte, so daß eine solche verständigungsorientierte Gesellschaft, vorgestellt werden muß als eine unendliche Kette von Dyaden, die sich zwar unendlich überschneiden und durchkreuzen können, aus der es aber prinzipiell kein Entkommen geben kann, so daß die Ausgeschlossenen, die Dritten, keine Chance haben.24 In diesem Sinne ist es gemeint, wenn man sagt, Konsens isoliert: er läßt Zwei in Eins zusammenfallen (Intersubjektivität ohne Sozialität)25 und exkludiert den Dritten als Störung.26 Ein spezielles Format solcher Intervention des Dritten in verständigungsoder gar konsensorientierte Texte, solcher Intertextualität, ist die Kritik, bzw. auch die Orientierung des Textes an möglicher Kritik. In gewissem Sinne ist jede

immer öfter beruht das Nicht-Zitat auch auf einer Vermeidung des Lesens. Hatte schon Odo Marquard (mündlich) gesagt, daß jeder Text eine Belästigung sei, so stellen Taylor und Saarinen fest, daß in Expertenkulturen immer weniger gelesen wird: wer als Experte anerkannt ist, braucht nicht mehr zu lesen, kann allenfalls lesen lassen; wer also liest/schreibt gehört noch nicht zu den anerkannten Experten. Marc C. Taylor, Esa Saarinen: Imagologies: Media Philosophy. London, New York 1994; Konsequenz: wenn du ein Buch liest, hast du das zu rechtfertigen. 24 So beklagt »Le GRIF«: »[…] ist die Einsamkeit der Frau, die schöpferisch tätig ist, unermeßlich.« Le GRIF: Kreativität, Sprache, Kultur, in: Le GRIF: Essen vom Baum der Erkenntnis. Berlin 1977, 8-17, hier 11. 25 K. Röttgers: Transzendentaler Voyeurismus. 26 »So führte […] ausgerechnet der Glaube an die prinzipiell einheitliche Ausrichtung […] auf diese Wahrheit […] zu Zerstreuung und Isolation.« Monika Schmitz-Emans: Ein Brief aus Babel über unsere (ganz alltägliche?) Dekonstruktion, 9; cf. auch Susan Sontag über das Schweigen(-Müssen) des modernen Künstlers. Susan Sontag: The Aesthetics of Silence, in: dies.: Styles of Radical Will. New York 1966, 3-34, hier 5.

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Kritik reaktionär, indem sie nur auf einen Impuls re-agiert, auf einen ImpulsText, der Selbst und Anderen schon voraussetzt.27 Kritik interveniert, u.U. interveniert sie in Einverständnisse oder sogar Konsense, sie »entlarvt« diese als vermeintliche Einverständnisse oder falsche Konsense. Kritik ist nicht kreativ in einem emphatischen Sinne von Kreativität. Es ist natürlich die Frage, ob es Kreativität in diesem emphatischen Sinne überhaupt geben kann, also daß etwas ganz Neues, Unvordenkliches durch sie entstünde. Gleichwohl mag man vielleicht annehmen, ob es nicht etwas derartiges näherungsweise gibt, also z.B. wenn irgendwo bisher die Waffen und Apparate das Geschehen bestimmten und nun unvorhersehbar ein Gespräch beginnt. Und das kann dann sogar mit einer Kritik solcher sprachloser Verhältnisse beginnen. Die Moderne hatte Kritik ganz wesentlich als den Modus ihrer Selbstverständigung verstanden. Das lag daran, daß sie nicht begriffen hatte, daß das Verhältnis von Selbst, Anderem und Drittem auf dem Rotationsprinzip beruht und nicht auf dem Steigerungs- oder Fortschrittsprinzip. Sie glaubte, indem sie dem Dritten Transzendentalität zuschrieb, daß Kritik immer im Dienste der Verbesserung der Basisverhältnisse stünde. Tatsächlich aber ist der Dritte nur der Intervenierende, und intervenieren kann jeder in alles. Man kann (mit Luhmann) statt des Begriffs der kritischen Intervention einen noch unbelasteteren Begriff wählen, den der Beobachtung. Jeder kann jeden und alle seine Beziehungen beobachten, ohne je ausschließen zu können, daß auch er bei seinem Beobachten beobachtet wird. Den Kosmotheoros, der alles beobachten kann, aber selbst nicht beobachtet werden kann, gibt es nicht, abgesehen davon daß dieser Begriff schon einen Widerspruch in sich selbst enthält, wenn man ihn auf die Selbstbeobachtung dieses Kosmotheoros anwendet.28 Der Redende, also das Selbst, redet nicht, was er zuvor aus sich selbst heraus gedacht hat und jetzt im Reden exkrementiert29, er ist vielmehr Element des

27 Dieser ursprüngliche Sinn ist erhalten Benjamin Constant: Des réactions politiques. O. o. an V; dazu daß auch Autonomie ursprünglich ein Begriff der Opposition gewesen ist, der dem Subjekt zugesprochen wurde, s. K. Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie, 8ff. 28 L. c., 30: »Das Ich, das über sich spricht, kann nicht wissen, ob es dasselbe ist, über das es spricht.« 29 Artaud soll in diesem Sinne gesagt haben, daß jeder (schriftliche) Text eine Sauerei ist.

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Schauplatzes, auf dem sich Denken als Reden ereignet.30 Insofern ist es eklatant falsch, was Monika Schmitz-Emans in ihrer Polemik Ein Brief aus Babel über unsere (ganz alltägliche?) Dekonstruktion sagt/sagen läßt: »[…] mit der Tilgung des ‚Subjekts‘ wird das Geschriebene – in letzter Konsequenz – unlesbar.« Und: »Ich stelle fest: Bedingung einer Beschäftigung mit Texten […] wäre wohl das Festhalten an […] der Intentionalität schriftlicher Zeugnisse.«31 Schon die Tatsache, daß es viele Texte gibt, deren »Subjekt« unbekannt ist und über deren Intentionalität wir nichts wissen, die wir aber gleichwohl verstehen, d.h. an die wir sinnvoll andere Texte anknüpfen können, müßte diese Subjekt-Hermeneutik irritieren. Derrida hat die Begründung dafür noch eine Stufe tiefer (oder höher, oder abseitiger?) gelegt. Das einfache Subjekt, das diese Leistung erbringen könnte, gibt es gar nicht, es ist schon an seiner Quelle in sich gespalten, und zwar deswegen unvermeidlich, weil es die Zeit ist, die es immer schon gespalten hat, den darin enthaltenen Aufschub (différance genannt), kann es auf keine Weise vermeiden in vermeintlicher Unmittelbarkeit: »Diese Bewegung der différance überfällt nicht unvermutet ein transzendentales Subjekt. Sie bringt es hervor.«32

6.2 D AS G ELD

UND DIE

P SYCHOANALYSE

Man könnte nun für Kommunikationsprozesse statt vom Ball oder vom Nichtssagenden auch vom Geld ausgehen. Das Geld definiert die Partner am marktförmigen Austauschgeschehen zunächst als Geldgeber und Geldnehmer. Alle anderen Qualitäten sind für das Geldgeschäft irrelevant, sowohl die substantiellen als auch akzidentellen Eigenschaften, Intentionen oder dgl., z.B. ob es Perso-

30 Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur, in: ders.: Gesammelte Schriften, XI, 21: »Eigentlich denkt der Denkende gar nicht, sondern macht sich zum Schauplatz geistiger Erfahrung […]« Darin stimmt – auch wenn er es nicht so gerne gehört hätte – Adorno mit Nietzsche überein: » […] nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn ›er‹ will, und nicht wenn ›ich‹ will; so dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt ›ich‹ ist die Bedingung des Prädikats ›denke‹. Es denkt: aber dass dies ›es‹ gerade jenes alte berühmte ›Ich‹ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine ›unmittelbare Gewissheit‹.« F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausg. V, 31. 31 Monika Schmitz-Emans: Ein Brief aus Babel über unsere (ganz alltägliche?) Dekonstruktion, 35 u. 44. 32 J. Derrida: Die Stimme und das Phänomen, 112.

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nen sind, Unternehmen, Scheinfirmen, betrügerische Fallen im Internet, bloße Konten mit automatischer Kontenführung durch Abbuchungen und Gutschriften; irrelevant ist aber inzwischen auch vollständig, ob da irgend etwas Materielles den »Besitzer« wechselt. Die heutigen Finanzmärkte, die weltweit den größten Teil aller Transaktionen ausmachen, z.B. verkaufen in den Derivaten mit Geld nichts als zukünftige Preise und Preiserwartungen. Schon für deren Vorläufer, die Warentermingeschäfte, galt: »Jemand, der eine Ware nicht hat, sie weder erwartet noch haben will, verkauft diese Ware an jemanden, der diese Ware ebenso wenig erwartet oder haben will und sie auch tatsächlich nicht bekommt.«33 Schon Proudhon erklärte nicht mehr die Kooperation, sondern den Tausch für die zentrale, bewegende soziale und politische Kraft der Moderne.34 Dessen Ausdruck ist das Geld. So lasse sich, nach Proudhon, die soziale bewegende Kraft einer bestimmten Geldmenge in PS umrechnen, so daß man sagen könne, Geld sei ein Zeichen für eine bewegende Kraft. Die Möglichkeit der Umrechnung aller »Dinge« in Geld wird heute noch in Vanuatu gehandhabt; nach Erhebung des New Economics Foundation Index sind die Bewohner von Vanuatu die glücklichsten Menschen der Welt.35 Die Tanbunia Bank dort tauscht alle materiellen und immateriellen »Dinge« gegen Geld ein und umgekehrt, z.B. auch einen guten Rat oder eine gute, alte Geschichte. Das heißt allerdings nicht, daß Vanuatu ein zurückgebliebenes und von der Entwicklung abgeschnittenes Land sei. So hat etwa Vanuatu die sehr begehrte TopLevel-Domain .vu im Internet, einige Offshore und Public-Domain-Firmen haben sich dort niedergelassen, der Staat hat einen Außenhandelsüberschuß von 1,8% des BIP. Vanuatu hat kein Militär und infolgedessen keine Militärausgaben, der größte Haushaltsposten ist die Bildung. Zu Vanuatu gehören 67 bewohnte Inseln mit insgesamt 108 verschiedenen Sprachen, womit Vanuatu bei ca. 250.000 Einwohnern die größte Sprachendichte der Welt hat. Im Medium des Geldes treten wie in jeder Kommunikation Störungen und Interventionen auf. Joseph Vogl hat aufgrund umfangreicher Studien der einschlägigen Fachliteratur gezeigt, daß die Krisen der Finanzmärkte sich nicht, wie die Ideologen des Kapitalismus behaupten, als von außen, von marktfremden Einflüssen, Störungen aufgrund von Interventionen, verdanken, sondern endogene Krisen sind. Die Störungen werden von den Finanzmärkten durch ihre eigene Logik selbst erzeugt, mit der paradoxen anmutenden Struktur, daß, wenn alle

33 J. Vogl: Das Gespenst des Kapitals, 94. 34 Pierre-Joseph Proudhon: Œuvres complètes. Nouv. éd. Paris 1931, X, 258ff. 35 Nach http://de.Wikipedia.org/wiki/Vanuatu, aufgerufen am 8.6.2011.

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Marktteilnehmer der Finanzmärkte sich »rational« verhalten, sie genau dadurch die Krisen des Systems erzeugen, ähnlich wie wenn im Straßenverkehr alle einer Umleitungsempfehlung zur Stauvermeidung folgen, sie genau dadurch auf der Umleitungsstrecke einen Stau verursachen. Wenn alle sich ökonomisch antizyklisch verhalten (möchten), erzeugen sie unvermeidlich die Krise. Das ist deswegen so: »Die marktgängige Meinung bildet sich danach, was nach durchschnittlicher Meinung die Durchschnittsmeinung sein könnte […]«36 Allgemein gesagt, treten Störungen dann auf, wenn in den kommunikativen Oberflächenprozessen des Textes solche Textanschlüsse auftreten, die die gelingenden Oberflächenanschlüsse im kommunikativen Text auf eine vermeintlich diese Anschlüsse gewährleistenden, dahinterliegenden Tiefen des Eigentlichen hin durchbohren wollen. Zum Beispiel sind es in gelingender Alltagskommunikation solche, die das Gelingen als beiderseitige Täuschungen und Selbsttäuschungen entlarven möchten, wie z.B. psychoanalytisch Angehauchte uns weismachen möchten, das vermeintlich den Fortgang des Prozesses garantierende »Verstehen«, sei »in Wahrheit«, d.h. berücksichtige man das Unbewußte und Fremde, ein brillantes Mißverstehen. Im gelingenden Prozeß des Kapitalismus, solange er ohne endogene Krisen abläuft, sind es dann diejenigen, die meinen, daß die Prozesse des Finanzkapitals mit ihren Zinsen, Krediten und Derivaten doch »irgendwie« auf die Produktion von Waren oder wenigstens auf Gold bezogen sein müßten. Aber schon am Gold als angeblich realem Wert, mehr noch an der Produktion von Waren, die niemand braucht und deren Bedarf erst noch geweckt werden muß, zeigt sich, daß eine inhaltlich gefüllte Referenz auf ein vermeintlich sicheres Außerhalb des Prozesses des kommunikativen Textes als solche ebensowenig einen »wahren« Wert darstellt wie die Derivate. Beide beziehen sich auf zukünftig zu erwartende Wertschätzungen anderer, d.h. sind fest verankert allein im kommunikativen Text, nicht aber in der »realen« Welt. Die Psychoanalyse war allerdings, anders als deren vulgäre Adepten praktizierten, nicht von einer gelungenen Kommunikation ausgegangen, sondern von einer gestörten. Bestimmte Areale waren der Kommunikation entzogen, und die-

36 J. Vogl: Das Gespenst des Kapitals, 156. Vogl stützt sich auf Untersuchungen von Hyman P. Minsky: Financial Instability Revisited: The Economics of Disaster. Washington 1970, sowie Benoît B. Mandelbrot, Richard L. Hudson: Fraktale und Finanzen. 3. Aufl. München 2009. »Minskys These finanzieller Instabilität besagt demnach, dass manifeste Krisen und Zusammenbrüche nicht einfach durch äußere Erschütterungen, durch fiskalische oder politische Theatercoups, sondern durch die Parameter und Eigenbewegungen der Finanzökonomie selbst hervorgebracht werden.« (162)

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ser Entzug beeinträchtigte die Anschließbarkeiten im kommunikativen Text. Die Analytiker nannten es »Verdrängung«. Diese Theorie setzt in ihrer z.T. auch von Freud selbst und vor allem seinen amerikanischen Nachfolgern vertretenen naturalistischen Interpretation der Psychoanalyse voraus, daß es vorkommunikativ Subjekte »gibt«, die mit bestimmten Trieben ausgestattet sind, daß das Ausleben dieser Triebe sozial unerwünscht sei und daß daher seine Artikulationen aus dem kommunikativen Text ausgeschlossen seien, eben »verdrängt«, und zwar in ein Unbewußtes wie in einen Abfalleimer deponiert; aber wie aus einem Abfalleimer zuweilen Gerüche entweichen, so hat auch das Verdrängte im Unbewußten seine Effekte im Sichtbaren: Symptome, neurotische Störungen des bewußten kommunikativen Textes. Die Psychoanalyse nun als »talking cure« (in dem Doppelsinn, daß die Therapie im Sprechen besteht und daß sie eines Therapie des Sprechens ist) ist die Initiierung eines anderen kommunikativen Prozesses, in dem durch Selbstreflexion des Subjekts diese Areale des Verdrängten zugänglich gemacht würden. Voraussetzung dieses anderen kommunikativen Textes ist jedoch, daß das Verdrängte im normalen kommunikativen Text störende Symptome hervorruft, an die der therapeutisch inszenierte Text anschließen kann. Aus psychoanalytisch-therapeutischer Sicht wird man diesen als Symptomen aufgefaßten symbolischen Elementen des kommunikativen Textes eine fundamentale Zweideutigkeit unterstellen müssen. Der Text sagt, was er sagt, und er verschweigt in symptomatischer Weise etwas ganz anderes, fast immer Wiedersprechendes. Wenn jemand im therapeutisch inszenierten Text sagt, es ginge ihm gut, dann ist der Psychoanalytiker verpflichtet, ihm nicht zu glauben und sich für den Patienten zu fragen: Warum sagt er das, wo er doch freiwillig in die Therapie gegangen ist? Was will er verbergen? Er glaubt wahrscheinlich (bewußt), ihm ginge es gut, aber ich weiß es besser: er verbirgt mit dieser bewußtseinsgestalteten Aussage ein (potentielles) Sprechen seines Unbewußten, das Hilfe erfleht. Der therapeutische Text versucht nun, den Oberflächen-Text des Bewußtseins zu durchstoßen und dem Sub-Text durch Reflexion zum Durchbruch in den Oberflächentext zu verhelfen und ihn in einen Anschluß in diesem zu überführen. Der Therapeut regt zu diesem Zweck zustimmungsfähige Interpretationen an, die der Patient nach einem Zerbrechen eines bewußtseinsgesteuerten Widerstandes als Befreiung von den Verdrängungs-Zwängen erleben kann. An die Seite der naturalistischen Interpretation der Psychoanalyse ist mit Lacan eine kulturalistische getreten, die alle psychischen Prozesse im Diesseits der Sprache lokalisiert. Da das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert ist, so sagt er, gibt es zwei Texte, einen, der dem Bewußtsein zugänglich ist, und einen, der ihm entzogen ist. In Anknüpfung an Lacan haben Abraham, Torok und in der Folge auch Derrida davon gesprochen, daß die Auflösung der Geheimnisse des

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Unbewußten genau dort neue Geheimnisse des Unbewußten hervorruft, Krypten haben sie gesagt, und Krypten von Krypten. Die Interpretation auf der Grundlage einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes muß diese Version als sehr naheliegend verstehen. Der Sub-Text des Unbewußten produziert seine ihm eigentümlichen und eigenen Anschlüsse. Wenn er Anschlüsse an den Oberflächentext findet (und das nicht nur in der Therapie!) dann handelt es sich um eine Instanz von Transversalität37. Selbst Blumenbergs Deutung der zwei Offenbarungsbücher Gottes, der Bibel und der Natur, also auch der Natur als Text, folgt dieser Linie.38 In der Bibel sagte Gott, was er zu sagen hatte, diese Offenbarung war eindeutig und interpretationsunzugänglich und -unbedürftig (auch wenn vielleicht manch einer es nicht verstanden hatte): reine Oberflächlichkeit des göttlichen Textes. Teilweise wird heute noch der Koran in dieser Weise verstanden, weswegen er ja auch in der arabischen Originalsprache gelesen werden kann und muß, da jede Übersetzung eine Interpretation ist.39

37 Der Begriff des Transversalen wurde vom Psychoanalytiker Félix Guattari in die neuere Diskussion eingeführt. Félix Guattari: Psychanalyse et transversalité. Paris 1974; aufgegriffen wurde er im vernunfttheoretischen Sinne von Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft und im Anschluß daran im medientheoretischen Sinn von Mike Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des Internets. Weilerswist 2001. Der Begriff kommt jedoch schon bei Lichtenberg vor: Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher LII 843, in ders.: Schriften und Briefe II, 508. 38 H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, 81. 39 Anders M. M. Shabestarian in seinem Vortrag »An Introduction to Qur’anic Hermeneutics« auf dem World Philosophy Day 2010, Teheran 21.11.2010.

7 Es spricht

Wenn der Text nicht nichtssagend ist, sondern etwas sagt, so sagt er stets mehr als eines. Er ist immer mehrdeutig und gibt so Anlaß zu Mißverständnissen, auch produktiven Mißverständnissen. Der Text ist aber auch in sich widersprüchlich, d.h. paradox in dem Sinne, wie Friedrich Schlegel das Paradoxon klassisch definiert hatte als das, was dem gemeingeltenden Unsinn widerspricht, so daß der Text dem Diskurs entspricht und widerspricht zugleich. Er hat Anteil an dem allgemein geteilten Unsinn und weicht zugleich von ihm ab. Daher haben Sprachreiniger, Philosophen und Sprachpädagogen sich seit eh und je um die Entparadoxierung des Textes bemüht. Die Rede sei Ja, Ja und Nein, Nein, oder clare et disticte, wie die Philosophen gesagt haben. Eine Entparadoxierung ist zweifellos möglich, und zwar durch Einführung der dritten Position in den Text. Der Dritte, der Selbst und Anderen samt ihrer paradoxen Verwicklungen beobachten kann, kann in einer Textintervention die Paradoxa entwickeln und darstellen. Hatte die paradoxe Rede von Selbst in seinem sowohl inneren als auch äußeren Anderen eine inkongruente Spaltung hervorgerufen, so besteht die scheinbare Lösung in einer Metakommunikation, also die Einrichtung einer metakommunikativen Abzweigung im kommunikativen Text. Aber genau dann, wenn der Dritte metakommunikativ interveniert und sich nicht bei bloßer Beobachtung bescheidet und heraushält, um vielleicht die psychischen Probleme des sogenannten double bind aufzulösen, ist sein metakommunikativer Anschluß doch nichts anderes als ein kommunikativer Anschluß. D.h. der sogenannte metakommunikative Text ist, sobald es ihm gelingt, einen Anschluß an den kommunikativen Text, auf den er sich bezieht, zu gewinnen, selbst nichts anderes als ein Teil desselben und nimmt an dessen Paradoxien teil. Auch sogenannte Metakommunikation ist Kommunikation und erzeugt mit seinem Widerspruch gegen die vorgefundenen Widersprüche lediglich einen weiteren. Anthony Wilden hat gezeigt, warum das notwendigerweise so ist. Auch Metakommunikation ist, wie jede Kommunikation gezwungen, Analoges, d.h. Kontinua, zu digitalisieren, was

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Deleuze/Guattari als die Leistung der maschinellen Gefüge (agencements machiniques) herausgearbeitet hatten. Die Digitalisierung tritt bereits dadurch ein, daß die Negation zugelassen ist. Daß aber jede Identifikation die Möglichkeit der Negation benötigt, ist auch daran ersichtlich, daß der metakommunikative Bezug auf den kommunikativen Text, in dem Selbst und Anderer als dieser und jener markiert und bezeichnet werden müssen. Der Text als solcher kann als ein Kontinuum erscheinen, aber die Bezeichnung fügt Grenzen, Abgrenzungen in dieses Kontinuum ein und skandiert es zu diskreten Einheiten: Jetzt redet dieser (= ist in der Position des Selbst), dann hört jener zu (= ist in der Position des Anderen), dann wechselt das. Die Metakommunikation ist ein Prozeß, der Autoren ernennt, d.h. Zurechnungseinheiten, Verantwortliche für Text. Es ist dieses der Übergang vom »Ein Wort ergibt das andere« zu den sogenannten »autonomen«, redenden Subjekten, denen zugerechnet wird, daß es sie schon vor und unabhängig von dem Text gegeben hätte und die dann intentional in diesen eingetreten wären. Solche metakommunikative Ernennung von Textpositionen mit Verantwortlichkeiten, d.h. die Ernennung von Autoren-im-Text, die den neuzeitlichen Theorien des autonomen Subjekts vor aller Medialität Vorschub geleistet haben. Wilden verweist auf vormoderne, stoische Theorien, die das Kontinuum als ein Analoges denken konnten, und zwar mit Begriffen wie Pneuma und Sympathia. 1 Nur in den modernen Theorien, die ein Selbst-im-Text als ein autonomes Ich-vordem-Text festgeschrieben haben, geht die Aussage »Jeder kann Sätze mit dem Personalpronomen ›ich‹ bilden« über zu den Aussage »Nur ein Ich ist ein Ich, alles andere ist Nicht-Ich oder allenfalls Du«. So werden präpositional ausdrückbare Funktionspositionen des kommunikativen Textes zu substantiell faßbaren Einheiten, unabhängig von ihrer Position im Medium. Daß das eine Täuschung ist, verrät schon jener Ausschluß des »Taceat mulier in ecclesia«, der bestimmte Typen von Subjekten zu bestimmten Positionen im Text nicht zulassen möchte. Ich komme noch einmal zurück auf die Skandierung eines Kontinuums, bzw. die Digitalisierung eines Analogen. Die damit erzeugten Brüche bleiben nicht als solche bestehen, wenn der soziale Prozeß des kommunikativen Textes Anschlüsse findet, sondern diese Brüche werden ineins mit dieser Bewegung zu einer Kontinuität rekontinuiert: das Ereignis fügt sich ein in eine (erzählte) Geschichte. Auf diese Weise werden die Übergänge nicht nur in der Art einer Flexibilisierung der je gezogenen Grenze in beiden Richtungen offen gehalten; denn die konstruierte Kontinuität kann nun ihrerseits als ein ungestörtes Kontinuum angesehen und behandelt werden. Beispiel: Zwischen dem vergangenen Geschehen

1

A. Wilden: System and Structure, 122ff.

E S SPRICHT

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als einem Kontinuum zeitlichen Fließens und dem Geschichtenerzählen eben dieses Geschehens besteht der Bruch, der das Geschehen als solches skandiert; denn das Erzählen setzt sich in Distanz zum Erzählten, es kann sich als Erzählvollzug nicht selbst erzählen; als Signifikant kann es nicht im selben Akt zugleich Signifikat sein; es ist nicht Teil des Geschehens, das es erzählt. Selbst wenn dieses Erzählen darin endet zu sagen: Nach all dem sitzen wir nun hier und erzählen uns diese Geschichte, muß sie doch genau hier tatsächlich enden. Auf der anderen Seite aber ist die erzählende Organisation des Erzählten auch gerade wegen dieser Unmöglichkeit selbst ein Kontinuum, das Kontinuum des Signifizierungs-Prozesses. Allgemeiner gesprochen: Jede systemhafte Organisation von Grenzen (und Brüchen) sieht den Wechsel zwischen diesen beiden Ebenen vor, zwischen der des Signifikanten und der des Signifikats, so daß jedes Signifikat in gewandelter Perspektive zum Signifikanten werden kann und jeder Signifikant in erneut gewechselter Perspektive zum Signifikat. Auf diese Weise wird es möglich, in einem Kontinuum Elemente zu isolieren und sie in einer Kontinuität zu repräsentieren, m.a.W. die Elemente eines Kontinuums von diesem selbst zu unterscheiden. Es werden in der Rekontinuierung nicht nur die isolierten Elemente identifizierbar, sondern zugleich auch der Zwischenraum zwischen ihnen gefüllt. Der Zwischenraum, die Mitte oder das Medium, ist nicht etwa nichts oder ein leerer, abstrakter Abstand. Roland Barthes hat darauf aufmerksam gemacht, daß es Texte gibt, die gewissermaßen untersagt sind; das sind Texte, die selbst in der Rekontuierung den Bruch als sichtbare Spur enthalten. Er nennt sie Texte der Wollust und unterscheidet sie von den Texten der Lust. Sie sind in sich widersprüchliche Texte; denn auf der einen Seite sind sie als Textvollzug rekonuiertes Kontinnum; auf der anderen Seite markieren sie den Bruch des Unsagbaren noch im Text selbst. Zu recht bemerkt Barthes, daß man über solche Texte der Wollust nicht angemessen sprechen kann, weil jedes Sprechen-über die Spur des Bruchs verschwinden läßt; diese Texte muß man sich sprechen lassen; nur so können sie den Abgrund des Unsagbaren zur Erscheinung bringen.2

2

R. Barthes: Die Lust am Text, 31ff.; vielleicht aber hat der mündliche Text durch die Anwesenheit der Stimme, d.h. des Somatischen immer etwas von diesem WollustCharakter, der sich nicht darstellen läßt, sondern nur praktizieren. Sybille Krämer: Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung?, in: Vermittlung / Unmittelbarkeit, hrsg. v. Stefan Münker, Alexander Roesler u. Mike Sandbothe. Frankfurt/M. 2003, 78-90, zur Stimme bes. 87ff.

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Die Fixierung auf dieses Füllen, als wären die Elemente nicht isoliert oder isolierbar, macht nach Deleuze/Guattari die Einstellung des Schizos aus.3 Der als pathologisch zu diagnostizierende Schizophrene reagiert damit auf eine als durchdigitalisiert und nicht rekontinuiert empfundene Welt mit seiner eigenen alles übergreifenden Analogisierung, d.h. der Ignorierung oder dem als nichtexistent Setzen jeglicher Grenzen.4 Dagegen besteht das Talent des Neurotikers darin, die Grenzziehung und das Unterscheiden unverrückbar festzuschreiben. Insofern hat auch die Terroristenjagd bis in die Seelen der bislang unauffälligen »Schläfer« hinein durchaus etwas Neurotisches, weil sie durch ihre Verfahren allein die Unterscheidung zwischen friedlichen Bürgern und friedlich scheinenden »Schläfern« als etwas in der Realität Bestehendes und Aufzudeckendes festschreibt.5 Der Neurotiker besteht darauf, daß die Ereignisse des vergangenen Geschehens eine unabhängige ontologische Realität jetzt noch haben und nicht an das Erzählen gebunden sind und daß die Liebe etwas ganz anderes sei als das sexuelle Begehren und mit ihm in keinerlei Verbindung stehe.6 Von der Neurose, die dergestalt ein Verrat am Begehren ist, das nicht mehr auf die Emotionalität bezogen ist und sich einen Scheinbezug statt dessen erstellt, d.h. das Kontinuum des Begehrens nicht zuläßt, ist zu unterscheiden die echte Psychose, d.h. der Wahn, der einen Verrat an der Realität insgesamt darstellt. Aber zu beiden Strategien der Weltorientierung gibt es auch sozial respektable Varianten: die Religion7 und die Wissenschaft8. Die Re-

3 4

G. Deleuze, F. Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie I. Cf. Jacob S. Kasanin: Language and Thought in Schizophrenia. New York 1964, bes. die Beiträge von Nigel Cameron: Experimental Analysis of Schizophrenic Thinking, 50-63 und Kurt Goldstein: Methodological Approach to the Study of Schizophrenic Thought Disorder, 17-39.

5

G. Brücher: Postmoderner Terrorismus, 144ff.; die Vorratsdatenspeicherung macht zwar nicht einen jeden, der telefoniert, wirklich zu einem Verdächtigen, aber zu einem potentiell Verdächtigen, solange er sich nicht durch Zeitablauf ohne kriminelle Aktivität einstweilen als unverdächtig herausgestellt hat.

6

Jean-Michel Ribettes: Le phalsus, in: Folle vérité, ed. Julia Kristeva u. Jean-Michel

7

Möglicherweise aber auch eine bestimmte Form von Dichtung: Kenneth Burke:

Ribettes. Paris 1979, 116-170, hier bes. 155. Dichtung als symbolische Handlung. Frankfurt/M. 1966, 66: der Dichter als Priester. 8

Zur »moderneren Ideologie der Wissenschaft« s. Pirmin Stekeler-Weithofer: Was ist Denken? Stuttgart, Leipzig 2004, 14: das »dreieinige Wahrheitskriterium« setzt auf

E S SPRICHT

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ligion läßt das Unwahrscheinliche wahrscheinlich erscheinen und kommt damit der verbohrten Behauptung der Realität des Unwahrscheinlichen durch den Neurotiker nahe. Die Wissenschaft dagegen kommt mit der Negation der Subjektivität des Wissenschaftlers der Behauptung – bei Kant explizit vollzogen – nahe, daß das Subjekt die Allgemeinheit als solche sei.9 Jürgen Habermas hat in seiner Freud-Interpretation von einer (pathologischen) »Desymbolisierung« gesprochen, die das Begehren aus dem kommunikativen Text ausschließt und an dessen Stelle das pathologische Symptom setzt. Dem antwortet in therapeutischer Absicht eine »Resymbolisierung« des Ausgeschlossenen.10 Es gibt Sozialformen, die den isolierenden Konsens unterlaufen. Hans-Georg Gadamer nannte in diesem Zusammenhang das Fest. Anzuknüpfen wäre aber auch an die in der Kantischen Anthropologie als höchstes physisch-moralische Gut genannten Gespräche (kommunikative Texte!) anläßlich einer guten Mahlzeit.11 Heilsam könnte in dieser Hinsicht auch eine neue Ethnologie des Fremden sein, die die Begegnung mit dem Fremden, d.h. immer auch des Umgangs mit der Grenze, die uns von ihm trennt, gerade nicht als Feindschaft, als (terroristische) Bedrohung oder als »Clash of civilization« neurotisch wahrnehmen muß, sondern sich die Möglichkeit der befreienden Faszination in der Grenzbegegnung offenhält.12

»die effektive Beobachtbarkeit, die effiziente Machbarkeit und den faktischen Konsens am Ende«. 9

Julia Kristeva: Le vréel, in: Folle vérité, ed. Julia Kristeva u. Jean-Michel Ribettes. Paris 1979, 11-30, hier bes. p. 20f.

10 J. Habermas: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, 137f. 11 Hans-Georg Gadamer: Die Aktualität des Schönen. Stuttgart 1977, 52; die Anknüpfung an § 88 der Kantischen Anthropologie wird versucht in K. Röttgers: Kritik der kulinarischen Vernunft. 12 H. Kämpf: Die Exzentrizität des Verstehens, 373ff.; Kurt Röttgers: Fremdheit, in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. v. Petra Kolmer u. Armin G. Wildfeuer. Freiburg, München 2011, I, 818-832.

8 Therapeutik des Diskurses

Die Frage, die sich im Anschluß an Habermas stellt, ist die, ob sich der Diskurs therapieren läßt. Daß menschliche Individuen krank, auch psychisch krank sein können und daß sie dann therapiebedürftig sind, ist klar. Aber kann ein ganzer Diskurs, also diejenige Dimension des kommunikativen Textes, in der Epistemisches und Normatives (Ethik und Noetik) einer Kultur in der Gestalt des Textes zusammenwirken, krank sein? Was soll das heißen? Dächte man von den Konfinien einer kritischen Theorie aus, dann würde man wohl Bausteine zu einer Bejahung dieser Fragen beitragen wollen. Aber wohlgemerkt: Es geht in diesen Fragen nicht darum, ob die Menschen durch Diskursstrukturen leiden,1 sondern darum, ob der Diskurs etwas an sich haben kann, das ihn als »krank« erscheinen läßt. Die Bedingungen wird man präzisieren können: Welche Diskursstrukturen sind in der Lage, (wie menschliche Krankheiten das Leben) die Fortexistenz des kommunikativen Textes zu bedrohen und damit letztlich das soziale Band? Habermas ist nun der Grundüberzeugung, daß Konsens das erstrebenswerte Ziel in der Gesellschaft sei, das ihrem Zusammenhalt dienlich sei. Infolgedessen gelten Ausgleich von Interessen und Harmonie als positive Werte und Kohärenz und ein Gleichgewicht als mögliche Zwischenziele, bis wir uns denn (als regulative Idee, vielleicht sogar kontrafaktisch) dereinst alle einig sein werden – und infolgedessen uns nichts mehr zu sagen haben. Davon sind wir, das ist klar, weit entfernt. Also bräuchten wir bis auf weiteres die Kritik als das Movens der Ausrichtung auf diese Ziele des Diskurses und der sozialen und politischen Praxen.2

1

Das ist das Thema des Sammelbds.: Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens, hrsg. v. Sybille Krämer, Elke Koch. München 2010; sowie: Verletzende Worte, hrsg. v. Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer u. Hannes Kuch. Bielefeld 2007.

2

»It sometimes happens that what to be practical disputes are really verbal, very often it is the other way about. […] however […] linguistic analysis […] does not solve the

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Kritik macht gegenüber gesellschaftlichen und politischen Institutionen einen begrifflichen Anspruch geltend, den diese Institutionen durch ihre Gründung eigentlich hatten und fortdauernd haben sollte, nämlich den genannten Zielen und Werten zu dienen. Solch eine Kritik fingiert die Perspektive eines Subjekts, das sich trotz anderer Realität dieser Gründungsziele erinnert und auf ihre Realisierung pocht.3 In jener Zeit der Gründung war es das bürgerliche Subjekt, in dem dieser Anspruch seinen Ort hatte. Man nannte das einen emanzipatorischen Impuls.4 Unter den gewandelten Bedingungen der Postmoderne, die eine Philosophie der netzförmigen Differenzen an die Stelle eine Philosophie der Identität, der Kontinuität, gar des Fortschritts von einer Herrschaft begründenden Archè zu einer befreiten Menschheit als Ziel setzt, gerät die Erinnerung an die Gründungen freilich zur bloßen Nostalgie und der emanzipatorische Anspruch, der der Kritik zugrunde liegt, gerät zur erhebenden Erinnerung daran, wie es früher einmal war, bzw. hätte sein sollen: die sogenannten uneingelösten Versprechen der Moderne. Allerdings basierten diese Versprechen damals auf objektiv gegebenen Möglichkeiten – nur, Möglichkeiten bleiben nur transtemporal-transzendental erhalten, wenn sich die Realitäten nicht ändern. Neue Realitäten gebären neue oder transformierte Möglichkeiten. Der argumentative Trick von Habermas und allen, die an ihn glauben, besteht nun darin, daß er individuelle Pathologien wie etwa Neurosen gesellschaftlichen Strukturen parallelisiert oder sogar analogisiert. Nach ihm sind es dieselben Konstellationen, die den Einzelnen in die Neurose treiben, und die die Gesellschaft zur Errichtung von Institutionen bewegen. Wie das Individuum im Wiederholungszwang das Symptom substituiert und perseveriert, so reproduzieren Institutionen symptomatisch immer und immer wieder den nicht realisierten Anspruch auf harmonische Verhältnisse. Worin aber bestand einst für das als generalisiert gedachte bürgerliche Subjekt dieser Anspruch? Der Diskurs à la Habermas, der reine Kommunikation in

problems, but it can fulfil the extremely important function of enabling us to see more clearly what the problems are.« Alfred J. Ayer: Metaphysics and Common Sense. Basingstoke 1973, 34. 3

Kurt Röttgers: Kritik und Praxis. Zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx. Berlin, New York 1975; zuletzt noch (modifiziert) ders.: Kritik.

4

Zur Problematik des Emanzipationsbegriffs zwischen Recht und Politik s. Reinhart Koselleck: Die Grenzen der Emanzipation – Eine begriffsgeschichtliche Skizze, in: Europa und die Folgen, hrsg. v. Krzysztof Michalski. Stuttgart 1988, 51-70.

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seiner Reinheit in den Blick nimmt, ist dem ökonomisch-liberalistischen5 Modell des freien Tausches auf dem Markt ohne alle störenden Einwirkungen von außen nachgebildet, d.h. unter Bedingungen idealer Konkurrenz, wie die Ökonomen sagen. Der Diskurs (Markt der Argumente) befreit von den (neurotischen) Institutionen. So rekonstruiert, erscheint Habermas freilich gar nicht mehr als Nostalgiker der uneingelösten Versprechen, sondern als Stichwortgeber des global deregulierenden Neoliberalismus à la Milton Friedman, der ein »Marktversagen“ gar nicht kennt bzw. zur Kenntnis nimmt.6 Kritik gerinnt so zur Ideologie-Kritik im Sinn eines bloßen Durchschauen der (illegitimen) Ziele des Gegners, der eben stets nicht die ideale Konkurrenz will, sondern sich ihrer nur bedient zur Durchsetzung seiner monopolistischen Ziele. Solche (Ideologie-)Kritik bezieht ihr (vermeintliches) Recht daraus, daß sie dem Gegner nachweisen kann, daß sein egoistisches Ziel sein mag, ein Monopol zu errichten, daß dieses Ziel aber nicht zum Ziel des Marktes/Diskurses überhaupt widerspruchsfrei generalisiert werden kann. Er erstrebt – ohne daß ihm das bewußt sein könnte, oder auch nur dürfte – ein Ziel, das er nicht erstreben kann, ohne seine eigene Grundlage zu gefährden (der sogenannte performative Selbstwiderspruch). Es fragt sich aber, ob der Theoretiker des Diskurses gegenüber den Kritisierten in einer komfortableren, d.h. überlegeneren Position ist. Der Wirtschaftswissenschaftler kann gefahrlos dieses oder jenes behaupten, solange er sich nicht selbst dem ökonomischen Ziel der Gewinnmaximierung aussetzt,7 der Philosoph der Kommunikation aber kann dieses nicht sein, ohne zu

5

Der ökonomische Liberalismus angelsächsischer Provenienz ist einem republikanischen Liberalismus der französischen Revolution entgegengesetzt: Freiheit des Marktes vs. Bürgerrechten, Vertrauen in die »invisible hand« vs. »contrat social« und Gewaltenteilung.

6

Zur Kritik einer sich selbst minimierenden Wirtschaftspolitik s. frühzeitig schon u.a. Rüdiger Pohl: Arbeitslosigkeit: Löst die Wirtschaftspolitik das Beschäftigungsproblem?, in: Fernuniversität und Gesellschaft, hrsg. v. Gründungsrektor der Fernuniversität. Hagen 1984, 91-108; zur »Idylle des Markts« s. J. Vogl; Das Gespenst des Kapitals, 31ff., 83ff.

7

Daß es aber eigentlich komplexer ist, weil die Wirtschaftstheorie ja die Zustände durch Handlungsanweisungen herbeiführen hilft, die sie prognostiziert hatte, und damit nach Vogl, l. c., 56, dem Kantischen Wahrsager gleicht, der »die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er im voraus verkündet.« Kant nennt dieses Verfahren »eine Geschichte a priori« und bringt ihr die entsprechende Skepsis entgegen. I. Kant: Ges. Schriften VII, 79f.

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kommunizieren. Auch scheinbare Metakommunikation ist, wie gesagt, performativ gesehen, nichts anderes als Kommunikation. Von der normalen Kommunikation unterscheidet Habermas ideologiekritisch die »Pseudokommunikation«, die nur scheinbar gelingt, die aber dem »Muster systematisch verzerrter Kommunikation« gehorcht.8 Da muß also zu den Kommunizierenden erst ein Dritter hinzukommen, der das Einverständnis als bloß vermeintliches durchschaut und entlarvt, d.h. ein Spielverderber, der den Spielenden einzureden versucht, daß ihr Spiel nur ein Spiel und ein fragwürdiges zudem sei.9 Auf der einen Seite haben wir also das an der Psychoanalyse abgelesene Modell der Durchschauer(innen) der pathologischen Pseudokommunikation und in deren Hintergrund das Modell der Markt-Harmonie liberalistischer Provenienz.10 Auf der anderen Seite und später bei Habermas finden wir das Modell systematisch verzerrter Kommunikation in der Kolonisierung der Lebenswelt. Die Lebenswelt, so Habermas, lebt von einem »lebensweltlichen Konsensvorschuß«.11 Wenn dieser Vorschuß ausbleibt, wie in vielen Sphären ausdifferenzierter moderner Gesellschaften, dann steigt das »Dissensrisiko«.12 Die Einsicht von Parsons‘ Medientheorie sei nun gewesen, daß an diese Stellen des durch Dissensrisiken gesteigerten Verständigungsaufwands Medien wie z.B. Geld substituiert würden, die eine Handlungskoordination ohne viele Worte und langes Herumreden ermöglichen. Habermas jedoch möchte vermuten, daß in den »Lebensbereichen, die Funktionen der kulturellen Reproduktion und der sozialen

8 9

J. Habermas: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, 134. Zu den Entlarvern (und Entlarverinnen!) s. Kurt Röttgers: Demaskierungen, in: Masken, hrsg. v. Kurt Röttgers u. Monika Schmitz-Emans. Essen 2009, 64-96.

10 Auf die Gefahr der »therapeutischen« Verfolgung der falsch Denkenden hat auch Gertrud Brücher hingewiesen: Menschenmaterial. Opladen 2004, 15-17. Wenn die Gesellschaft sich zu einer Art Anstalt wandelt, in der Diagnose und Therapie nicht mehr zur Behandlung individueller Leiden psychisch Kranker eingesetzt werden, sondern im Sinne einer Bestimmung des Wesens der »Normalen«, dann macht die Gesellschaft Jagd auf das Unbewältigte aller Individuen, eine Jagd, der jeder sich ausgesetzt fühlen muß und in der jeder zum Jäger wird, seine sozialen Anderen für therapiebedürftig zu durchschauen. 11 Jürgen Habermas: Handlung und System. Bemerkungen zu Parsons Medientheorie, in: Verhalten, Handeln und System, hrsg. v. Wolfgang Schluchter. Frankfurt/M. 1979, 68-105, hier 78. 12 Ibd.

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Integration erfüllen«,13 Verständigung nicht durch Medien und Medientechnik ersetzt werden könne. Ich glaube, das hat Parsons auch nie behauptet, und ich glaube auch, daß Habermas (mit Parsons!) damit sogar recht hat. Der kommunikative Text ist das grundierende Medium unserer sozialen Beziehungen; allerdings wird diese Erkenntnis durch den vieldeutigen Lebensweltbegriff eher erschwert und irregeleitet wird. Gegenüber der am Konsens orientierten Sozialphilosophie, die Therapeutik von kranken Individuen als Modell einer Kritik wählt, wird hier darauf bestanden, daß Kritik Dissenspflege ist. Schon das Modell einer Gesellschaft, die konsensual wäre, ist ennuyierend. Die für den kommunikativen Text entscheidende Figur ist nicht Harmonie, sondern das, was Jean-Luc Nancy als das »Être-encommun« herausgestellt hat, eine Struktur, die etwas grundsätzlich anderes ist als eine wesentliche Communauté oder gar die deutsche »Gemeinschaft« oder die Community der Kommunitaristen. Sie ist nichts anderes als das Zusammenvorkommen, in dem sich Nähe und Distanz verbinden und durchkreuzen. Bei Nancy heißt diese mediale Struktur Mit/Zwischen. Die Entlarvungsstrategie der sozial gewendeten Psychoanalyse, die sich als Gesellschaftskritik geriert, verfehlt jedoch das Wesentliche des psychoanalytisch therapeutischen Gesprächs. Denn das Unbewußte, als Behälter der Verdrängten, ist nicht ein verstecktes Etwas, das vom Analytiker durch eine spezielle Technik zutage gefördert wird (wie das Erz aus einem Bergwerk). Es ist ein in Kommunikation als ein Vergangenes Konstruiertes. Performativ ist es gerade das und wirkt dadurch therapeutisch befreiend, daß es die Inszenierung einer neuen Erfahrung ist, vergleichbar mit einer neuen Liebe. Diese neue Erfahrung im kommunikativen Text, die Vergangenes einzubeziehen erlaubt, heilt, d.h. macht weiteren Text und erweiterte Textanschlüsse möglich. Das aber heißt nicht, wie Freud es einmal verräterisch formuliert hatte, daß das Es so aufbereitet wird, wie die Holländer seinerzeit planten die Zuidersee trockenzulegen, damit das Land unter dem Meer an die Oberfläche kommt. Vielmehr müssen wir uns das Unbewußte wie eine iterative Kryptenbildung vorstellen: jede geöffnete Krypta erzeugt zugleich eine neue, wie jede Offenbarung, Apokalypse, neue Geheimnisse erzeugt; alles zu offenbaren, wie es manche radikale Aufklärer wie z.B. de Sade wollten, ist ein unsinniges Vorhaben. Also kommt es gar nicht darauf an, einen kranken oder auch einen krankmachenden Diskurs zu durchschauen und den Patienten (die Gesellschaft) zur Anerkennung dieser Erkenntnis oder zum Zulassen einer bestimmten vergangenen und verdrängten Erinnerung zu verhalfen, son-

13 L. c., 85.

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dern darum, einen neuen Text zu ermöglichen. Genau genommen geht es in der Therapie darum, den Kranken dazu zu befähigen, die Funktionsposition des Selbst im kommunikativen Text einnehmen zu können, bzw. zu diesem Funktionswechsel zu befähigen. Diese Befähigung schließt die Möglichkeit ein, auch die Position des Dritten temporär einzunehmen. Nach Karl-Otto Apel ist die Bedingung der Möglichkeit der Verständigung allgemein ein »transzendentales Sprachspiel«.14 Wir wissen nicht, was das ist. Aber wüßten wir es, dann würde klar sein, daß wir es eh schon gespielt haben, sonst hätten wir uns ja nicht wissend darüber verständigen können. Explizit gemacht, lautet diese Tautologie: Wo und wann immer Verständigung geschieht, liegt dieses Spiel schon vor und beweist in der Verständigung seine Präexistenz. Da ein solcher tautologischer »Beweis«, der im Grunde nichts anderes ist als die mutwillige Verdopplung von Begrifflichkeit, etwas dürftig scheint, sichert Apel dieses Transzendentale durch die Behauptung eines Realen ab, nämlich durch einen, wie er sagt »genetischen Ausgangspunkt«. Was hier »genetisch« heißen soll, nämlich etwas durch die biologischen Gene oder durch die mosaische Genesis Abgesichertes, bleibt auch dann noch unklar, wenn Apel die »Grundtatsachen des menschlichen Gattungslebens« beschwört. Er veranschaulicht dieses tautologische Schema eines Transzendentalen und Realen auch in den Begriffen der »idealen Kommunikationsgemeinschaft« und der »realen Kommunikationsgemeinschaft«, die sich in einer »Dialektik« gegenseitig voraussetzten. In moralischer Hinsicht folgt für ihn daraus, daß die »reale Kommunikationsgemeinschaft« gesichert werden solle, um in ihr die ideale »zu verwirklichen«.15 Die moralische Maxime der Verwirklichung einer transzendentalen Bedingung der Möglichkeit von etwas ist eine schwindelerregende Idee.16 Denn das Transzendentale ist entweder in jeder Weltzuwendung immer schon verwirklicht (nicht etwa, wie Apel meint, als Realität antizipiert), so wie Kant die Wirklichkeit von Raum und Zeit in jeder Anschauung als schon verwirklicht annehmen muß, oder aber man muß sich eine ideales Transzendentale begleitend neben einem realen

14 Karl-Otto Apel: Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften, in: ders.: Transformation der Philosophie. Frankfurt/M. 1973, II, 220-263, hier 257. 15 Ders.: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: dass. 358-435, bes. 429ff. 16 Aber sie ist in dieser Theorie notwendig. In ihr drückt sich ein grenzenloses Vertrauen in die Vernunft aus, »[…] derart, daß, folgt man nur den der Sprachpragmatik immanenten Regeln, die Welt in Ordnung kommen kann.« (G. Gamm: Nicht nichts, 136).

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denken und dann die Verwirklichung des idealen im realen moralisch postulieren. Das macht aber noch weniger Sinn. Wenn man sich erst einmal auf die idealistische Weltverdopplung eingelassen hat, ergeht es einem wie dem Lügner: er muß die behaupteten Fiktionen durch immer weitere und iterierte Fiktionen absichern. Derjenige, der das ideale Transzendentale für sich beanspruchen darf, ist demjenigen gegenüber, der nur das reale Transzendentale hat, in einem Emanzipations-Vorsprung und kann sich im gegenüber als »Sozialtherapeut« aufführen. Aber wie kann man die Differenz zwischen dem Idealo und dem Realo im Zweifelsfall feststellen? Apel muß zugeben, daß das nicht objektiv feststellbar ist, so daß er auf einen moralischen Dezisionismus verfällt: »eine nicht […] begründbare ›moralische‹ Glaubensentscheidung«.17 Der Begriff des »Sozialtherapeuten« wirft in der Tat das Problem auf, ob man soziale Prozesse der Veränderung im Modell der Therapie deuten kann. Zunächst scheint es ja doch so zu sein, daß man geneigt sein darf, Gesellschaften z.B. mit einem hohen Gewalt-Aufkommen, Gesellschaften mit einem geringen Niveau eines Vertrauensvorschusses oder Gesellschaften zunehmender sozialer Ungleichheiten als »krank« zu bezeichnen und nach einer geeigneten Therapie für diese Mißstände zu suchen. Wer aber ist berechtigt, objektiv berechtigt, eine solche Diagnose vorzunehmen? Vielleicht ist man geneigt anzunehmen, dazu seien die Sozialwissenschaften aufgerufen.18 Aber schon der sogenannte »Positivismusstreit« zwischen Kritischer Theorie und Kritischem Rationalismus enthüllte, daß von dieser Seite mit eindeutigen Befunden schon in der Diagnostik nicht zu rechnen ist, geschweige denn in den Therapievorschlägen. In jedem Fall wird vorausgesetzt, daß der Sozialtherapeut sich – mindestens in dieser Funktion – vom Befund selbst ausnehmen kann; denn wäre er von der sozialen Krankheit ebenso befallen wie seine Objekte, d.h. alle anderen, dann wären seine Therapievorschläge nicht mehr wert als beliebige Selbsttherapievorschläge aus der »kranken« Gesellschaft, eben bloße Stammtisch-Meinungen.

17 K.-O. Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, 435. 18 Zur »Versozialwissenschaftlichung des Alltagslebens« s. Peter L. Berger, Hansfried Kellner: Für eine neue Soziologie. Frankfurt/M. 1984, 118; cf. Ulrich Oevermann: Versozialwissenschaftlichung der Identitätsformation und Verweigerung von Lebenspraxis, in: Soziologie und gesellschaftliche Entwicklung, hrsg. v. Burkart Lutz. Frankfurt/M., New York 1984, 463-474.

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Warum sollte man einem solchen Sozialwissenschaftler in seinem Sichaufschwingen zum Großen Überblicker19 mehr Kredit geben als etwa dem Credo neoliberaler Ökonomen, daß der Markt, läßt man ihn nur gewähren, alles von selbst heilt.20 Greifen wir als Beispiel heraus die kleinste soziale Konstellation, die Dreierkonstellation im kommunikativen Text. Einer schwingt sich auf und sagt: Eure Kommunikation ist gestört. Aber im Moment seiner Einmischung hört seine Drittigkeit auf, er rückt in die Funktionsposition des redenden Selbst ein mit der Folge, daß er einen oder beide oder ihre Beziehung adressiert. Und nun kann er von dem einen oder dem anderen oder beiden kritisiert werden. In ihm wiederholt sich das alte Problem der vermeintlichen Sonderstellung der Intellektuellen-Kaste.21 Die Diagnose mißlingender Kommunikation ist selbst ein (mißlingender oder gelingender) Kommunikationsakt. Allerdings gibt diese Feststellung keine Legitimation zur Ablehnung jeglicher Einmischung ab. Der Dritte kann es gar nicht vermeiden, sich einzumischen. Da aber der Dritte für Sozialität notwendig ist, ist Einmischung eine soziale Normalität, aber ebenso die Einmischung in die Einmischung, ohne jegliche höhere Dignität. Im Impetus der sozialverändernden Einmischung verbinden sich die Modi des eingeschlossenen und des ausgeschlossenen Dritten. Der sozialrevolutionäre Dritte definiert (oder erkennt) sich zunächst selbst als ausgeschlossenen Dritten; aber er beläßt es nicht dabei: in der Einmischung drängt er sich als eingeschlossener Dritter auf. Lukács hatte das als Dialektik der Klasse an sich, der Klasse für sich und der Klasse an und für sich gedeutet, was wir als Drittigkeit, Ausschluß und Einschluß benannt haben. Damit wird auch klar, daß klassische Psychoanalyse und Klassenkampf verschiedene Strukturen aktualisieren. Es ist wirklich zweifelhaft, wie hoch der Wert von Konsens anzusetzen ist. Ein wenig hängt es auch davon ab, von welcher Form der Weltzuwendung die Rede ist. Generell ist es wohl so, daß Dissens für das Erleben oft kein Problem darstellt. Exemplarisch gilt das für das ästhetische Erleben; dem Geschmacksurteil wird generell Subjektivität zugerechnet: de gustibus non est disputandum. Manch einer wird vermuten, daß für das erotische Erleben Konsens erstrebenswert sei. Vermutlich gilt aber auch das nicht uneingeschränkt. Wenn Liebespart-

19 K. Röttgers: Transzendentaler Voyeurismus. 20 Joseph Vogl nennt das, wie gesagt, die »Idylle des Markts«, J. Vogl: Das Gespenst des Kapitals, 31ff., 83ff. 21 Wilhelm Goerdt, Winfried Mackenthun, Rainer Piepmeier, Juan Rodriguez-Lores, Kurt Röttgers: Intelligenz, Intelligentsia, Intellektueller, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie IV, hrsg. v. Joachim Ritter et al. Basel, Stuttgart 1976, Sp. 445-458.

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ner nicht nur transparent füreinander wären, sondern zusätzlich konkordant (ein Herz und eine Seele22), könnten sie sich dann noch lieben? – lieben verstanden als erotisches Begehren und nicht bloß als harmonische Gleichgültigkeit. Ein gewisses Maß an Dissens ist vermutlich förderlich, oder vielleicht sogar unabdingbar. All das gilt in gesteigertem Maß für das Erleben einer Kultur, nur eine in sich diskordante Kultur lebt. Insofern ist Kulturphilosophie zwangsläufig eine Philosophie der Widersprüche und Einsprüche. Nun hat man gemeint, daß es mit der handelnden Weltzuwendung ganz anders sei. Handlungskoordination setze Einigkeit – mithin Konsens als Hintergrund – voraus.23 Das gilt aber auch hier nur eingeschränkt. Mit denen, mit denen man zusammen etwa in revolutionärer oder Guerilla-Aktion handelt, ist in diesem Handeln Einigkeit geboten. Wer der Kapitän sein soll, das darf nicht bei jeder Windböe neu diskutiert und »ausdiskutiert« werden. Aber gerade mit denen, gegen die gehandelt werden soll, muß ein Minimum an Dissens, Unverständnis und Uneinigkeit bestehen. (Wir reden von Minimum und gerade nicht vom Totum, weil im Sinne von Carl Schmitt Feindschaft begrenzt sein muß, damit Feindschaft beendbar sein kann.) Dieses Dissenserfordernis benennt der Begriff des Einspruchs auf der Ebene des kommunikativen Textes. Daß Konsens ganz viel mit Macht zu tun hat, eint bei allen sonstigen Divergenzen Hannah Arendt und Carl Schmitt.24 C. Schmitt betont auch zu recht das Zusammengehen von Einheit und Vielheit: »Macht bewirkt Konsens, und zwar oft einen vernünftigen und ethisch berechtigten Konsens; und umgekehrt: Konsens bewirkt Macht, und zwar oft eine unvernünftige und – trotz des Konsenses – ethisch verwerfliche Macht.«25

22 Schon Aristoteles sagte, daß in einer idealen Freundschaft eine Seele in zwei Körpern wohnt, cf. J. Derrida: Politik der Freundschaft, 239 mit Bezug auf Aristoteles: Eudemische Ethik 1240b, 2-15. 23 Liselotte Wiesenthal: Ästhetische Erklärung – Sprachspiel und Interpretation in der Ästhetik, in: Studien zur Entwicklung einer materialen Hermeneutik, hrsg. v. Ulrich Nassen. München 1979, 62-100, hier p. 68ff. 24 Hannah Arendt: Macht und Gewalt. München 1970; Carl Schmitt: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Berlin 1958, 370: »Echte Macht bewirkt echten Konsens und echter Konsens bewirkt echte Macht.« Cf. ders.: Gespräche über die Macht und den Zugang zum Machthaber. Pfullingen 1954. 25 Ders.: Staatsethik und pluralistischer Staat, in: Kant-Studien 35 (1930), 28-42, hier p. 35.

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Die Konsens-Fixierung des Politischen wird auch in einer neueren Publikation von J.-L. Nancy kritisiert. Seit die Unterwerfungsmodelle des Politischen durch die Vertragstheorien abgelöst worden sind, feiere die KonsensOrientierung ihre Triumphe. Er aber fordert, den Dissens zu betonen und auch die Ausschlüsse, die jeder Konsens fordert. Die Gemeinsamkeit im Politischen gebietet Konsens und Dissens zugleich. Diese Gemeinsamkeit (das Être-encommun) ist kein politischer Begriff, er beinhaltet nichts anderes als das sozioontologische Zusammenvorkommen in Nähe und Distanz.26

26 J.-L. Nancy: Politique et au-delà, 38ff.

9 Normative Dialogisierung

Auf der einen Seite des sprachpragmatischen Diskursmodells steht also die vermutete Fundierung in einer Praxis der Lebenswelt; aber auf der anderen Seite wird eine Fundierung in einer unterstellten ethischen Grundnorm der transzendental wirksamen idealen Kommunikationsgemeinschaft gesucht, die – so KarlOtto Apel – »immer schon notwendigerweise von uns anerkannt sein« müsse.1 Der argumentative Trick dieses »immer schon« besteht darin, daß der, der diese Grundnorm bezweifelt, sie schon voraussetzt, sofern er auch nur argumentiert, und man es ihm lediglich zeigen müsse, daß jede Frage nach Genese oder Geltung dieser Norm sie schon praktisch als geltend in Anspruch genommen haben müsse. Das gleicht jenem Trick scholastischer Theologen, die behaupten, auch, ja gerade der Atheist anerkenne die Existenz Gottes, da sein Negieren sich ja auf ihn beziehe. Aber wegen der Zweifel versucht die Transzendentalpragmatik – in ihrem eigenen Sinne allerdings überflüssigerweise –, diese transzendentale Normierung allen argumentativen Sprechens zu explizieren. So versucht man, die Searlesche Sprechakttheorie in einer Weise rekonstruierend in Anspruch zu nehmen, daß wie in einer chemischen Analyse die transzendentale Voraussetzung ausgefällt wird. Gilt für alle ethischen Normen, daß sie begründet werden müssen (und können!), so kann das für die transzendentale ethische Grundnorm nicht gelten. Denn für sie gilt auch nicht, was für alle anderen Normen gilt, nämlich die kontingente Abhängigkeit von faktischen Normenbegründungsdiskursen.

1

Karl-Otto Apel: Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen, in: Sprachpragmatik und Philosophie, hrsg. v. dems. Frankfurt/M. 1976, 10-173, hier 83.

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Die Abhängigkeit von der ethischen Grundnorm hat aber nicht nur Bestand für andere Normen, sondern ebenso für Deskriptionen und logische Deduktionen. Damit ist gewiß nicht gemeint, daß ein Sein aus einem Sollen abgeleitet würde, sondern nur, daß die Praxis des Beschreibens (des Seins) nicht ohne Inanspruchnahme der ethische n Grundnorm möglich wäre. Sie bestimmt aber nicht die Inhaltlichkeit der Beschreibungen oder Deduktionen. Apel folgert daraus allerdings und damit nähert er sich eben doch dem naturalistischen Fehlschluß, daß das »Verstehen« der Beschreibungen des Seins nicht möglich sei, »ohne normative Implikationen mitzuverstehen«.2 Wenn aber – außer der Apelschen Grundnorm – alle anderen Normen kommunikationsabhängig in Begründung und Genese sind, dann heißt das, daß jedes Gespräch permanent Negationen vollzieht, indem bestimmte mögliche Textfortsetzungsanschlüsse vollzogen und andere negiert werden, entweder als realisierbare Möglichkeiten aufgeschoben und damit zugleich für eine modifizierte zukünftige Entscheidungen präsent gehalten werden oder durch alternative Entscheidungen unmöglich gemacht werden. Es heißt aber nicht zwangsläufig, daß in einer Entscheidungssituation der Textanschlüsse nur eine Alternative rational oder vernünftig sei. Nur dann, wenn man annähme, daß die Wahrheit und das Gute schon irgendwo versteckt (von wem?) bereit gehalten würden und nur der Entdeckung harrten, wäre jede Entscheidung eine entweder für oder gegen die Vernunft. So ist es aber nicht. Und so gibt es als Effekt alternative Rationalitäten und Wertewelten, die jede für sich rational begründbar ist und mit der Grundnorm kompatibel, weil jede einzelne von ihnen die Fortsetzung der Kommunikation ermöglicht. Also: Philosophisch begründbar sind verschiedene Bahnen des kommunikativen Textes und verschieden strukturierte Normensysteme. Rationale Normensysteme kennen stets rationale Alternativen. Das schließt nicht aus, daß partiell irrationale Normensysteme auch andere partiell irrationale Normensysteme kennen. So ist z.B.- die Legitimation der prophylaktischen »Gegen«Gewalt gegen befürchtete »primäre« Gewalt ein in ein Normensystem eingebaute Irrationalität. Eine irrationale Alternative dazu wäre z.B. die Zulassung (aber nicht Legitimation) der Selbstjustiz in solchen Fällen. Die Zulassung alternativer Rationalitäten3 und Normativitäten, sowie das Eingeständnis der Löcherigkeit der Rationalitäten gibt keinen Raum für die Begründung eines dezisionistischen Konventionalismus, der bekanntlich von ihren Gegnern der Postmoderne nachgesagt wird, sondern er gibt lediglich Raum für

2

L. c., 74.

3

S. dazu W. Welsch: Vernunft.

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eine pyrrhonische Skepsis, die eben nicht eine Verzweiflungsgeste, sondern bloß der Aufschub des endgültigen Urteils in der Festlegung des Guten und Wahren ist. Es bleibt schwierig, zwischen einer philosophischen und einer nicht-philosophischen Normenbegründung zu unterscheiden. Nur dann, wenn man sich einbildet, philosophische Normenbegründung könne kontextfrei, im idealen, herrschaftsfreien Diskurs vollzogen oder ihr Vollzug kontrafaktisch und antizipatorisch isoliert werden, wird man die philosophische »Sauberkeit« der Normenbegründung erhoffen dürfen. Aber schon, wenn man annimmt, daß es einen Bedarf an einer philosophischen Normenbegründung in der Öffentlichkeit gibt, der also etwas anderem als reiner philosophischer Spielfreude geschuldet ist, sondern eben von außen an den philosophischen Diskurs heran- und in ihn hineingetragen wird, wird ein Kontext erzeugt, der mit der Pflege einer Kontextblindheit eigens neutralisiert werden müßte, um sich nicht auf die spezifische Rationalität der Normenbegründung auszuwirken. So ist die vermeintlich ideale Sprechsituation, also der konkrete kommunikative Text keineswegs so ideal: entweder die Situation schließt alle unter dieser Rationalität Gutwilligen ein und alle anderen aus oder sie ignoriert systematisch und weiß gar nicht, daß es ein Außen desjenigen Kontextes gibt, den sie kennt. In der Verteidigung der Sprachpragmatiker gegen diese Bedenken offenbart sich deren elitäre, nicht-egalitäre Grundstruktur. Sie beansprucht nämlich auch für die vernünftige Rationalität aller möglichen Rationalitäten repräsentativ sprechen zu dürfen. Wenn man Normen als kontrafaktisch stabilisierte Erwartungsmuster hinsichtlich des Verhaltens der Anderen (des inneren und des äußeren) auffaßt, zu denen stets Alternativen denkbar sind, dann gerät der Begriff der ethischen Grundnorm unter Druck. Zu ihr sollte es gerade keine Alternative geben: sie ist die Eine in Einzigkeit.4 Wie das Plotinsche Ureine ist sie dem argumentativen Treiben der Begründung diverser Normen nicht nur enthoben, sondern sie ist deren Bedingung der Möglichkeit.5

4

Zur Immanenz in ihrer historischen Verbindung zur Emanation s. Gilles Deleuze:

5

Daraus macht Apel auch einen Einwand gegen das Lorenzen-Schwemmersche

Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. München 1993, 152ff. Beratungsmodell; für Apel ist eine Beratung über die Grundnorm ausgeschlossen, weil Beratungen sich nicht auf der »transzendentalen Reflexionsebene des philosophischen Diskurses« bewegen. »Die Beratungsbeschlüsse sind verbindlich und legitim im Sinne dialogischer Vermittlung von Ansprüchen durch diskursive Argumente dann und nur dann, wenn die Beratung gemäß der transzendentalpragmatischen Begrün-

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Es ist allerdings möglich, gegen die ethische Grundnorm zu verstoßen, sonst wäre es keine Norm, sondern ein Freiheit ausschließendes Naturgesetz. Wenn sie jedoch die einzig mögliche Grundnorm ist, läßt sich aus einem Verstoß gegen sie kein alternatives Normensystem herleiten: der Teufel, obwohl sein Widerspruch gegen Gott möglich, ja vielleicht sogar notwendig ist, schafft es nicht, eine eigene, alternative Weltordnung zu schaffen.6 Gott ist denkbar, sowohl mit als vielleicht auch ohne Teufel, dem Teufel aber bleibt keine andere Rolle übrig als der »Geist, der stets verneint!«7 Es bleibt festzustellen, daß die Grundnorm Apels sich nicht begründen läßt, daß aber ihre Explizierbarkeit aus ihrem Fungieren als sprachpragmatische Normierung des Sprechens sehr wohl aufgewiesen werden kann. Explikationen dieser Art sind Reflexionen, vorausgesetzt daß die Bedingungen tatsächlich transzendental sind. Normalerweise treten Reflexionen in Kommunikationsprozessen in ganz besonderen Umständen auf; das Bedürfnis nach transzendentaler Reflexion ist oft mit dem Bewußtsein von Verständigungsschwierigkeiten verbunden, die durch einfache Zusatzinformationen nicht behoben werden konnten. Sie haben in umgangssprachlichen Formulierungen oft einen beschwörenden Charakter wie »wir sind uns doch jedenfalls in dem einig, daß …« oder »jeder von uns wird zugeben müssen, daß …« Solche Reflexionen können rechtens transzendental genannt werden, weil sie die Bedingungen der Möglichkeit der bisherigen Kommunikation und die Bedingungen möglicher Anschlüsse thematisieren. Manchmal sind transzendentale mit historischen Reflexionen verbunden, etwa wenn es heißt »bisher waren wir uns doch immer einig, daß …« Vermutlich ist eine solche Verbindung die Vollform der Reflexion von Kommunikationsprozessen und –situationen, die zu den transzendentalen und zu den historischen Reflexionen ausdifferenziert werden können, wenn nach den transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit oder den genealogischen Bedingungen der Entwicklung der Wirklichkeit gefragt wird. Die historische oder genealogische Reflexionsform kann ebenfalls die Form des Appells an Einigkeit haben, etwa wenn im gegenseitigen Geschichtenerzählen unterstellt wird, daß die Kommuni-

dung ihrer Funktion sich als stellvertretende Vollzugsinstitution der unbegrenzten idealen Kommunikationsgemeinschaft verbindlich versteht […]«, m.a.W., wenn die auf Lorenzensche Weise Beratenden sich dem Apelschen Modell unterwerfen. K.-O. Apel: Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen, 172f. 6

K. Röttgers: Teufel und Engel, 8-25.

7

Johann Wolfgang Goethe: Faust. Hamburg 1963, 47.

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kationspartner die jeweiligen Geschichten kennen, sie aneinander anschließen können oder auf eine gemeinsam geteilte »objektive« Geschichte beziehen können. Die Einheit der Einen Grundnorm, die Repräsentation der idealen Kommunikationsgemeinschaft – all das läuft auf eine Liquidierung des Medialen, letztlich des kommunikativen Textes hinaus, weil das Prinzip der Vermittlung, die hier ihren Ort hätte, ersetzt wird durch ein transzendentales Identitätsprinzip: im Grund der Grundnorm sind alle sich »immer schon« einig, sie wissen es nur noch nicht und müssen erst durch die Sprachpragmatiker zu dieser Einsicht in das transzendentale Eine gebracht werden, in hartnäckigen Fällen durch die Kur des Nachweises des »performativen Selbstwiderspruchs«. Tatsächlich liegt hier eine Selbsttäuschung des Transzendentalismus vor. Eine erfolgreiche Vermittlung (Medialität) läßt das Medium in die Unauffälligkeit, in die Unsichtbarkleit zurücktreten.8 Die Mittelbarkeit bringt sich selbst fiktiv als Unmittelbarkeit ins Spiel. So verdankt sich die immanente Textualität des Zwischen aber einem kommunikativen Hin und Her (Dialog, wenn man so will und damit nicht gezwungen ist, den Dialogismus zu unterschreiben und den Dritten zu ignorieren). Erst die (asymmetrische) Differenz der Funktionspositionen des kommunikativen Textes, nämlich von Selbst und Anderem), nicht aber die (angestrebte ) Identität der Vernunft mit sich selbst macht das Soziale möglich. Differenz heißt auch Distanz, oder um mit Nancy zu sprechen: das Singuläre verdankt seine Singularität der Pluralität. Es geht, wenn von den Funktionspositionen des kommunikativen Textes die Rede ist, eben nicht um Individuen (oder gar um Subjekte, Personen, Menschen), sondern um Singularitäten, und bezeichnenderweise kommen die »singuli« im Lateinischen nur im Plural vor – den »*singulus« gibt es nicht. Merleau-Pontys »Intercorporéité« läßt doch die »Corporéité« nicht los und ist daher nicht die Mitte. Wenn Differenz auch Distanz heißt, dann verweist das auch darauf, daß Kommunikation nicht wirklich dialogisch sein kann im Sinnen des Ethos des Dialogismus. Wenn es den zuhörenden und im Rollentausch dann als ein Selbst widersprechenden Anderen nicht gibt, sondern nur in sich und um sich kreisende und untereinander identische Selbste, dann gibt es das Soziale nicht, das eine Modalität zwischen uns ist, uns trennt und in der Trennung verbindet, wie der Zusammenhang der Präpositionen »zwischen« und »mit«.9 Das ist der kommunikative Text.

8 9

S. Krämer: Medium, Bote Übertragung, 103ff. Zur modalen Macht in dieser Doppelfunktion der Trennung und Vereinigung s. auch K. Röttgers: Die Medialität modaler Macht.

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In seinem Aufsatz Verhaltensnorm und Verhaltenskontext stellt Bernhard Waldenfels die Frage, ob es prinzipiell möglich sei, »ein Verhalten voll und ganz zu begründen oder zu rechtfertigen auf dem Wege einer Begründung oder Rechtfertigung der in Anspruch genommenen Normen?«10 Da er schon mit einer negativen Antwort rechnet, führt er den Begriff des Verhaltenskontextes ein, der möglicherweise auch zu einer Verhaltensbegründung dienen könnte. Die strengen Normativisten erklären den Kontext zur bloßen Randbedingung der Anwendung von Normen. Waldenfels möchte deren eingeschränkte Perspektive ergänzend umkehren: »[…] universale Normen sind nur der Rahmen für die Produktivität eines Verhaltens, das immerzu Kontexte fortbildet und ihnen spezifische Motive entnimmt.«11 Dann kann man allerdings nicht mehr die Normativität der faktischen Bestimmtheit (u.a. durch Kontexte) so einfach kritisch entgegensetzen, selbst dann nicht, wenn man sich geschichtsphilosophisch eines Telos allen sozialen Geschehens (der sogenannte »Fortschritt« im 19. Jahrhundert) vergewissert zu haben meint. Für Waldenfels steht daher reales Verhalten immer zugleich unter zwei Determinanten: der Normenanwendung und der Kontextanschlüsse; letzteres hat für ihn aber – anders als für die strengen Normativisten – nicht nur die motivierende Kraft von Randbedingungen, sondern gibt einen Grund ab, der Begründungen und Rechtfertigungen ermöglicht. Daraus folgt: die totale Rechtfertigung von Verhalten durch praktische Vernunft ist ausgeschlossen. Kritik an bestehenden Zuständen, anhand von idealen Maßstäben ist immer möglich und auch zulässig, unzulässig aber wäre eine Kritik, die glaubt, ideale Zustände herbeiführen zu können; denn Abhängigkeit von Kontexten ist das Maß der Konkretheit von Situationen. Praxis ist nicht nur geleitet von normativ vorgegebenen Zielen, sondern auch »ein – immer auch gemeinsames – Schaffen von Kontexten und Situationen in Anknüpfung an vorgegebene Kontexte und Situationen.«12 Mit der Idee der Kontextualität unterläuft Waldenfels die strikte Alternative von Normativität oder Dezision, die noch der frühe Carl Schmitt so formuliert hatte:

10 Bernhard Waldenfels: Verhaltensnorm und Verhaltenskontext, in: Phänomenologie und Marxismus, hrsg. v. Bernhard Waldenfels, Jan Maurits Broekman u. Ante Pažanin. Frankfurt/M. 1977, 134-157, hier 134. 11 L. c., 135, cf. 139-142. 12 L. c., 154.

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»Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus dem Nichts geboren. Die rechtliche Kraft der Dezision ist etwas anderes als das Resultat einer Begründung. Es wird nicht mit Hilfe einer Norm zugerechnet, sondern umgekehrt; erst von einem Zurechnungspunkt aus be13

stimmt sich, was eine Norm und was normative Richtigkeit ist.«

Der Kontextorientierung widerspricht die Transzendentalpragmatik; sie muß unterstellen, daß in beiden Domänen der Begründung und Rechtfertigung eine »Minimalethik«, eben jene ethische Grundnorm, am Werke ist.14 Apel müßte gegen Waldenfels einwenden, daß selbst Kontextorientierung, gerade indem sie Begründungen und Rechtfertigungen zulasse, unter dieser Minimalethik operiere. Aber angenommen, er hätte recht damit, so folgte daraus, müßte man nun mit Waldenfels sagen, wenig oder fast nichts. Für den Inhalt und auch für die Form der Kontextanschlüsse ist noch nichts darüber bestimmt, daß Rechtfertigungen einer argumentativen Grundnorm folgen. John Rawls hat diesen Punkt noch etwas allgemeiner gefaßt.15 Er sagt, daß es (implizite) Regeln einer Praxis gibt, die diese Praxis definieren, und wenn jemand sich auf eine solche Praxis, etwa auf ein nach Spielregeln ablaufendes Ballspiel, einlasse, dann werden Rechtfertigungen seines Handelns sich der Regeln dieses Spiels als Gründe bedienen. Und wenn er den Regeln folgt, etwa wenn er auf Geheiß des Schiedsrichters einen Eckstoß ausführt, weil nach Einsicht des Schiedsrichters ein gegnerischer Spieler die letzte Ballberührung hatte, bevor der Ball ins hintere Aus flog, dann kann, wenn er den Eckstoß ausführt, die Rechtfertigung seines Tuns nur sein, daß die Regeln des Spiels in einem solchen Fall vorsehen, daß ein Eckstoß ausgeführt werde, nicht aber, daß er persönlich überzeugt sei, von der Ecke aus einen vorteilhaften Schuß abgeben zu können. Eine utilitaristische Orientierung kann sich nicht auf ein Regel-Befolgen beziehen; allenfalls könnte sie sich auf die Praxis als solche beziehen: Wie nützlich oder sinnvoll ist es für Spieler, Zuschauer oder für die Gesellschaft als ganze, daß es eine Praxis namens Fußballspielen gibt. Dieser Aspekt des Regelbefolgens in einer Praxis oder – wie Josef Simon ausgeführt hat16 - innerhalb von

13 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. München, Leipzig 1934, 42f. 14 K.-O. Apel: Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften, 230. 15 John Rawls: Two Concepts of Rules, in: The Philosophical Review LXIV (1955), 332, bes. p. 24ff. 16 J. Simon: Lebensformen, 204ff.

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Sprachspielen statuiert nun eine Mehrzahl von »Grundnormen« für eine jeweilige komplexe Praxis und dieses auch in Abhängigkeit von dem Bestehen dieser Praxis innerhalb einer gegebenen Gesellschaft. Ein Versprechen zu geben – so wiederum Rawls – macht nur Sinn innerhalb einer Gesellschaft, in der es diese Praxis gibt, mithin die Regel, daß gegebene Versprechen gehalten werden sollen.17 Die Transzendentalpragmatiker würden nun darüber hinaus sagen, daß es nicht nur die Vielfalt der Sprachspiele und Praktiken gibt, sondern unter ihnen auch solche, die für alles mitmenschliche Zusammenleben gelten, eben die Form argumentativer Praxis, ohne die für sie ein Zusammenleben gar nicht denkbar wäre, für also jenes transzendentale »immer schon« gilt. Rainer Wiehl18 hat den Fall durchgespielt, daß jemand in der Praxis des Streitgesprächs (verallgemeinern wir: der argumentativen Auseinandersetzung) nicht recht haben will, sondern es vorzieht, von allen anderen widerlegt zu werden. Das wäre gewiß ein Regelverstoß im Sinne des Rawlsschen Regelbegriffs, und die anderen werden ihn als Spielverderber betrachten können. Aber nehmen wir hier noch einmal Bezug auf den Fußballspieler mit dem Eckstoß. Es ist in diesem Fall ohne weiteres denkbar, daß er in seinem Tun nicht nur Regelerfüller einer Praxis ist, sondern zugleich auch einem utilitaristischen Kalkül folgt, indem er, nehmen wir einmal an, provoziert oder wenigstens zugelassen hat, daß ein gegnerischer Spieler die letzte Ballberührung vor dem Aus hatte, so daß sein Regelbefolgen die Regel zugunsten einer utilitaristischen Strategie ausnutzt. Abgebildet auf den »Spielverderber« im argumentativen Streitgespräch wird man in diesem Sinne unterstellen dürfen, daß sein Widerlegt-werden-Wollen einem geheimen strategischen Kalkül folgt. Die Normativisten würden für beide Fälle einwenden, daß sein utilitaristischer Kalkül sich gleichwohl im Rahmen der Regeln dieser Praxis bewegt/bewegen müsse. Das wäre allerdings im Fall der argumentativen Praxis eine Unterstellung. Bei dem »Spielverderber« hier könnte es sich ja um eine Prävalenz der Lernbereitschaft gegenüber dem Durchsetzungswillen handeln. Im kommunikativen Text begibt er sich bereitwillig in die Funktionsposition des Anderen. Er will zuhören statt überzeugend oder überredend zu reden. Und nehmen wir erneut die Struktur des kommunikativen Textes als Orientierungsrahmen, so werden wir sagen müssen: Wenn in der argumentativen Auseinandersetzung die Position des Anderen permanent unbesetzt bleibt, dann würden alle

17 Cf. auch Torgny T. Segerstedt: Die Macht des Wortes. Eine Sprachsoziologie. Zürich 1947, 93, 102f. 18 Rainer Wiehl: Dialog und philosophische Reflexion, in: Neue Hefte für Philosophie H. 2/3 (Göttingen 1972), 41-94, bes. 47-52.

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permanent reden, keiner hörte zu, und alle würden aneinander vorbei reden. Wenn die Frauen in der Kirche zu schweigen haben („taceat mulier in ecclesia«19), dann doch, damit die Männer ungestört reden können, dann kann das nicht heißen, daß sie zwecks weiblicher Störungsvermeidung überhaupt nicht in die Kirche gehen sollen – im Gegenteil. Das Weib soll dort sein und auf die Funktionsposition der Anderen festgeschrieben sein, was man zu recht als absolute Perversion der Struktur des kommunikativen Textes ansehen kann, die allerdings über Jahrhunderte auch die männlichen Laien betraf. Georg Simmel hat die Forderung, bzw. den Anspruch, der anderswo der Normativität oder dem Ethischen zugeschrieben wird, in seiner Philosophie des Geldes auf den Begriff des Werts bezogen, und die gibt es ja heute noch, die die Werte beschwören und den Werteverfall beklagen20. Für Simmel allerdings besteht die »Objektivität« des Werts nur insoweit, als er sich dem Subjekt gegenüber als Forderung oder Anspruch artikuliert, nicht unabhängig davon. So kann er sogar formulieren: »Der Wert, der an irgend einem Dinge, einer Person, einem Verhältnis, einem Geschehnis haftet, verlangt es, anerkannt zu werden.«21 Dieses »Verlangen« ist aber keine zum Wert hinzutretende oder aus ihm folgende Normativität, sondern es ist nur ein anderer Terminus für die Werthaftigkeit als solcher. Insofern ist dieses »Verlangen« auch unterschieden von einer ethisch von uns selbst an uns selbst, z.B. in ethisch-sittlichen Zusammenhängen, aufgestellten Forderung, die etwa Kant als Achtung (für das Sittengesetz) bezeichnete und als einziges moralisches Gefühl anerkannte. Dieser Anspruch – so Simmel weiter – ist von der Sache aus betrachtet, etwas rein Subjektives, gründet sich auf ein Gefühl, und nur vom Subjekt aus betrachtet, erscheint es als etwas Objektives. Damit ist der Anspruch, indem er weder im Subjekt noch im Objekt objektiv begründet bist, etwas, was im Zwischen, der Relationalität von Dingen, Personen, Verhältnissen und Geschehnissen seinen Ort hat.22 Der Diskurs als dritte Dimension des kommunikativen Textes, mit seinen zwei Ausprägungen des Epistemischen und des Normativen hat – als Diskurs –

19 In der Luther-Bibel heißt es: »Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß sie reden, sondern sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie aber etwas lernen, so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es steht den Weibern übel an, in der Gemeinde zu reden.« (1. Kor. 14, 34 u. 35) 20 K. Röttgers: Wertepolitik. 21 G. Simmel: Gesamtausgabe VI. Frankfurt/M. 1989, 37. 22 Ibd.

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seinen Ort in der Sprache der Menschen. Die Sprache – anders als der frühe Walter Benjamin es imaginierte23 – kommt nie als solche vor, sondern immer als konkrete Sprache einer Nation/Kultur, d.h. Sprache kommt nur im Plural vor. Vergleichbares ließe sich freilich auch in den anderen beiden Dimensionen feststellen: Alterität kommt ebenfalls nicht als solche vor, sondern nur in der Vielfalt der Besetzungen der Position des Anderen, und Temporalität ebenfalls nicht, obwohl – wegen der Linearitätsvorstellung der chronologisch-»objektiven« Zeit – letzteres am wenigsten den Alltagsmeinungen der Leute und ihrer Physiker entspricht. Daß Sprache stets als bestimmte Einzelsprache (langage als langue) begegnet, bildet sich in der Sozialdimension darin ab, daß der kommunikative Text, der in einer bestimmten Sprache verfaßt ist, damit immer auch nur bestimmte Andere adressiert und nicht alle möglichen. Das Beispiel der Spanier, die nach Mexiko kamen, die Bewohner des Landes (auf spanisch natürlich) fragten »Wo sind wir hier?« und als Antwort bekamen »yukatan« (= wir verstehen dich nicht) und nun »wußten«, daß sie in Yukatan (der Halbinsel in Mexiko) gelandet waren, und das Beispiel der Engländer, die in Australien ein seltsames Tier gefangen hatten und nun von den Bewohnern des Landes (auf Englisch natürlich) wissen wollten, was das für ein Tier sei und als Antwort erhielten »känguruh« (= wir verstehen dich nicht) und die nun »wußten«, wie das Tier heiße, das Beispiel Johann Peter Hebels vom reichen Mann »Kannitverstaan« und schließlich die Meinung der Imperialisten, daß Englisch die Sprache der Menschheit sei, sind alles Belege für eine solche Verwechslung von Sprache überhaupt mit konkreter Sprache. Die konkrete Einzelsprache unter der Vielfalt der Sprachen definiert die Anderen, die in dieser Sprache angesprochen werden können, und das sind niemals alle möglichen. Dramatisch werden die damit vollzogenen Exklusionen dort, wo – wie in Vanuatu –, wie erwähnt, von nur 250.000 Einwohnern 108 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Das erzeugt gewisse, aber wie man an dem friedlichen Zusammenleben sehen kann, nicht unüberwindbare Probleme, die klassisch durch Zeichen im Sand (UNESCO-Weltkulturerbe) behoben wurden. Sind viele Sprachen der Welt angesichts der englischsprachigen Globalisierung (Kolonisierung) der Welt vom Aussterben bedroht wie z.B. Gaelisch, politisch forciert immerhin noch ca. 80.000 Sprecher der 4,5 Mill Iren in der Republik Irland, Unserdeutsch mit noch 100 Sprechern in NeuGuinea, und Arikapú mit noch 6 bekannten Sprechern in Brasilien, so zeigt umgekehrt die Entwicklung in Vanuatu, daß die Sprachen der einstigen Kolonialherren, Französisch und Englisch, nach und nach immer weniger gesprochen

23 W. Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen.

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werden. Hier setzt sich die Kreol- Sprache Bislama durch, die inzwischen von mehr als einem Viertel der Einwohner von Vanuatu als ihre Muttersprache angegeben wird.24 Ähnliches wie für die Sprachlichkeit des Diskurses25 gilt auch für die temporale Dimension. Kommunikation ist nur möglich in einer Erreichbarkeit durch im weiteren Sinne Kopräsenz. Selbst das Reden mit den Verstorbenen nimmt doch an, daß sie jetzt hier (zugänglich) da seien. Es ist jedenfalls keine transtemporale Kommunikation. Und selbst die philosophische Hermeneutik, die von der Fiktion einer Kommunikation mit Textdokumenten, (mit Büchern reden) muß doch annehmen, daß das Textdokument jetzt und hier vorliegt, selbst wenn dieses nur Dokument eines früheren Textes ist. Wenn aber Derrida aus der Präsenz ein Problem macht, nämlich daß die Präsenz immer schon in sich gespalten ist und es die reine Husserlsche Urimpression gar nicht gebe, so daß die Präsenz nur vergangene Präsenz sein könne, dann bekommt er dieses Problem doch nur dadurch, daß er einen zu engen Begriff von Präsenz verwendet. Reden im Präsens meint immer eine ausgedehnte Gegenwart. Es wäre absurd, wollte man Derridas Bedenken so ernst nehmen zu empfehlen, nie mehr zu sagen »ich lebe (jetzt)«, sondern stets nur noch »ich lebte (eben noch)«, weil angeblich der Moment, über den ich im Redevollzug rede, immer schon vergangen sei. Vergleichbar ist diese Aporie einer ähnlich konstruierten, die annähme, ein Selbst gäbe es gar nicht, weil es immer nur im Kontext innerer und äußerer Anderer vorkomme. Und gewisse emphatisierte Vorstellungen von »Selbst-Verwirklichung« lassen sich allerdings von dieser Illusion leiten und müßten demnach eigentlich zugestehen, daß ein solches Selbst das reine Nichts wäre, so daß in Umkehrung dessen sich nur noch mit Rimbaud sagen ließe: Ich ist ein Anderer, so daß, weiter, der Begriff des Selbst durchgestrichen werden müsse; wenn man nicht annehmen müßte, daß auch die Funktionsposition des Selbst eine variabel ausgedehnte Position ist. Und auch für Sprache (in der Form des Diskurses) hieße das dann, daß auch sie es gar nicht gibt, weil z.B. die »ethische Grundnorm« (der antizipierten idealen Kommunikationsgemeinschaft) das Sprechen dezentriert. Tatsächlich aber müssen wir Ausdehnung

24 Zu einigen Besonderheiten Vanuatu s. auch Miloslav Stingl: Muschelgeld und Straßenkreuzer. Leipzig 1975, 84-91. 25 Die Diskursivität wird hier als eine der Dimensionen des kommunikativen Textes definiert, Sprachen aber sind konkrete Phänomene; der Diskurs liegt somit zwischen der parole des Textes, die er reguliert und dimensioniert, und der Sprache, durch die er in seiner konkreten Gestalt determiniert ist.

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(espacement) sowohl für Gegenwart als auch für das Selbst und die Bedeutung im Sprechen unterstellen. Und was immer auch mit-geschieht, das ist der Vollzug einer Begrenzung, einer Abgrenzung derjenigen Vergangenheit, die jeweils nicht zur ausgedehnten Gegenwart gehören soll. Diese Abgrenzung ist ein stillschweigend mitvollzogener Akt jeder Performanz. Wie auch immer ausgedehnt das Selbst im Être-en-commun gedacht wird, irgendwo lassen wir jeweils die Abgrenzung und den Abstand beginnen, in denen die Andersheit des Anderen beginnt. Und alle Diskursivität ist Regelbefolgung und Regelverletzung zugleich, erzeugt Verstehen und Mißverstehen zugleich; daß Männer und Frauen beispielsweise sich innigst verstehen, ist nicht nur unwahrscheinlich, sondern auch gar nicht wünschenswert. Man hat verschiedentlich darauf hingewiesen, daß Sprachpraxis in eine allgemeine soziale Praxis eingelassen sei und sie sowohl determiniert als auch (dialektisch) von ihr determiniert wird und daß sich beide Praxen (in unterschiedlicher Weise) auf eine von der Kultur unterschiedene Natur beziehen.26 Das ist zweifellos richtig, aber die entsprechenden Analysen sind in gewisser Weise nur zweidimensional. Sie untersuchen, so das in seiner Entstehungszeit bemerkenswerte Buch von Henri Lefebvre Le langage et la société, den Zusammenhang von bedeutungsvollen Akten, Natur/Vergangenheit, Symbolik, Wert, Sinn und Praxis und Poiesis. Eine derartige Analyse bleibt auf einer einzigen Ebene. Für sie stellt es sich so dar, daß eine soziale Gruppe etwas Gemeinsames tut und daß die Gemeinsamkeit des Tuns den Gruppenzusammenhalt sichert. Dieses gemeinsame Tun hat zwei Formen: Poiesis, das bewerkstelligende Tun, und Praxis, die in sich sinnvolle Tätigkeit. Letztere enthält auf der sprachlichen Seite die sogenannte Sprache des »wirklichen« Lebens. Erst als deren Rationalisierung tritt dann die Sprache des Überbaus auf. Wie gesagt, das ist intuitiv einleuchtend; ihm fehlt aber die Stringenz, die erst eine dreidimensionale und transversale Analyse freisetzt. So bleibt dort das Konzept der Sprache des wirklichen Lebens eine Box, in die alles nach Belieben hineinpaßt.27 Es käme aber darauf an, die vielfältigen Beziehungen dadurch zu analysieren, daß man ihre mehrfache Dimensioniertheit in den Blick nimmt statt sie bloß als das Mittelglied zwischen

26 Henri Lefebvre: Le langage et la société. Paris 1966; Ferruccio Rossi-Landi: Sprache als Arbeit und als Markt. München 1972; ders: Dialektik und Entfremdung in der Sprache. Frankfurt/M. 1973; Richard Harvey Brown: Society as Text. Chicago 1987; Pierre Bourdieu: Was heißt sprechen? 2. Aufl. Wien 2005. 27 Der Appell an das angebliche »wirkliche« oder auch »normale« Leben ist eine Sonderform von Bornierung.

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allgemeiner sozialer Praxis und dem Überbaubewußtsein zu behandeln. Ein erster Schritt aus dieser Box heraus wäre es, in der Bedeutung eines Zeichens nicht nur signifié und signifiant zu unterscheiden (und selbstverständlich historischen Wandel solcher Zeichen vorzusehen), sondern zu untersuchen, wie bereits Reflexivität diese Unterscheidung permanent durcheinanderwirbelt. Die situative Determination der Rede ist selbst hinwiederum so stereotypisiert, daß die entsprechenden nationalsprachlichen Floskeln kaum übersetzbar sind.28 Außerdem fehlt dieser zweidimensionalen Sprach- und Sozialphilosophie jeweils die zweite Richtung und die Unterscheidung von Nähe und Distanz spielt nur in der sozialen Dimension eine Rolle. Die Zukunft und die Seele spielen keine Rolle, ebenso nicht die retentionale Vergangenheit und die protentionale Zukunft; auch für Normativives und Epistemisches gibt es keine Unterscheidung von Nähe und Distanz. Erst recht fehlt jedes Bewußtsein für die Interdependenz und Durchkreuzung der Dimensionen zu einem vieldimensionalen Netz. Was bedeutet es, von »ehelichen Pflichten« zu reden oder geredet zu haben, d.h. einen Begriff normativer Distanz auf einen Begriff sozialer Nähe anzuwenden? Oder gesellschaftliche Veränderungen in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu befürchten (d.h. zugleich zu bewerten)? Auf Fragen solcher Art kann nur eine Sozialphilosophie Antworten erarbeiten, die den komplexen Begriff des kommunikativen Textes in die Mitte setzt. Aber innerhalb des kommunikativen Textes, wenn er sich einer mehrdimensionalen Analyse erschließt, erscheint immer auch das normative Wirken, und man kann die Analyse darauf focussieren. Das heißt aber gerade weder, daß es eine »ethische Grundnorm« Apels, den vorgängigen ethischen Anspruch des Anderen von Lévinas oder »die« Gesellschaft oder »die« Politik gäbe, von der eine (hier-)archisch dominante Bestimmung des Textes abhinge. Eine solche Annahme wäre ebenso einseitig, als wollte man sagen, alle sozialen Prozesse hingen allein oder dominant von der Zukunft ab. Aber so, wie Odo Marquard zur Charakterisierung der Philosophie Joachim Ritters sagte »Zukunft braucht Herkunft«, ebenso ist Normatives »immer schon« (um jetzt auch einmal transzendental zu reden) epistemisch durchwirkt. In diesem einschränkenden Sinne sagte Hans-Georg Gadamer einmal von der philosophischen Hermeneutik, sie sei gewiß »normativ«, »nämlich in dem Sinne, daß sie eine schlechte Philosophie durch eine bessere zu ersetzen trachtet. Aber sie propagiert nicht eine neue Pra-

28 I. Fónagy: Situation et signification.

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xis …«29 Allerdings gälte es selbst hier noch zu bedenken, welche Normen das Urteil »besser“ steuern. Das ist durchaus ungeklärt, und Normativität könnte dann entweder der Rekurs auf die vom gesellschaftlichen Durchschnitt approbierten Normen sein, oder auf die Normen einer im Sinne Apels selbsternannten und für alle Unvernünftigen repräsentativ wirkende ethische Elite, oder im anderen Extrem auf die Normen in der Folge von Simmels »individuellem Gesetz«, die im Sinne einer individuell bestimmten Kontinuität einer sinnvollen Lebenspraxis stehen. Im letzteren Sinne beanspruchte Roland Barthes, daß das normative Kriterium des besseren Textes nur sein könne: »das ist es! oder mehr noch: das ist es für mich! «30 Die Normativität der ethischen Grundnorm ist, da nicht verhandelbar, sondern in allem Verhandeln »immer schon« vorausgesetzt ein monologisches methodisches Prinzip. Baudrillard hat die sentimentale Trauer über den Verlust der festen symbolischen Ordnung – die sich n.b. in der ethischen Grundnorm zu einer letzten Zuckung aufgebäumt hatte – befragt und festgestellt, daß es eine solche feste Ordnung des Diskurses zweifellos einst gegeben hatte, aber es war die Ordnung einer »unbarmherzigen Hierarchie, denn Klarheit und Grausamkeit der Zeichen gehören zusammen.«31 Die Normativität der ethischen Grundnorm steht im Gegensatz zu einer Dialogizität. Gewiß, man kann auch Dialoge methodisch-monologisch untersuchen und damit eine letztbegründete Ethik zur Grundlage jeglicher Reflexion des Sozialen machen wollen; aber man kann ebensogut das Gegenteil tun: die sozialphilosophisch begründete Dialogizität (in Anwesenheit des Dritten, versteht sich) zum Rahmen jeglicher Ethik machen, wie es die Idee des frühromantischen Symphilosphierens vorsieht.32 Das Doppelgängertum schon im Ursprung ist nicht nur das Prinzip der Dekonstruktion des Ursprungsgedankens bei Derrida, sondern ebenso schon der semiotischen Analyse von Julia Kristeva. An Paragrammen zeigt sie, wie eine Doppeldeutigkeit sich in die »normale« Textpraxis einschleicht, z.B. im Sächsischen »Von der Sowjetunion lernen, heißt siechen lernen«. Der Monologiker läßt nur »siegen lernen«, egal in welcher dialektgefärbten Aussprache zu und schließt das Widersprechen und den Widerspruch aus, während Friedrich Schlegel gesagt hatte, daß ein Text, der sich nicht selbst widerspricht, unvollständig

29 Hans-Georg Gadamer: Replik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, 283-317, hier 297. 30 R. Barthes: Die Lust am Text, 21. 31 J. Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. München 1982, 80. 32 K. Röttgers: Erfahrungsverluste durch Moral - alles halb so schlimm.

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ist. »On comprend alors pourquoi, dans le dialogisme des paragrammes, les lois de la grammaire […] sont transgressées tout en étant implicites.«33 Im Paragramm sind demzufolge das Monologische und die befreiende Wirkung von ihm gleichzeitig anwesend. Diese Doppelheit äußert sich nicht nur im Paragramm, sondern auch im Zitat. Jedes Zitat sagt, was es sagte, und doch, da es nun als Zitat in diesem neuen Kontext auftritt, etwas anderes, als es sagte. Das gilt selbst für die nicht als Zitate gekennzeichneten Kopien von Text, die also ihren Ursprungstext unkenntlich gemacht haben, in dem sie doch etwas anderes sagten. Selbst da, wo eine Kopie nichts Eigenes zu sein vorgibt, ist doch in diesem Ein-anderes-sein-Wollen etwas anderes als dieses Andere. An diese Figur des Anders-sein-Könnens des Textes läßt sich hier digressiv die Frage anschließen, ob und wie das Philosophieren ein anderes sein könne als es ist, also sich selbst versinnlichen könne nach der Devise »Philosophie oder Leben – das geht nicht zusammen«. Gewiß ist, daß einer der Wege, auf denen das möglich scheint, die Metaphorizität ist. In ihr nimmt die Philosophie eine Sinnlichkeit in sich auf, die ihre Heimat in einer anderen Welt hat. Der andere Weg scheint mir zu sein, in der Selbstreflexion der Philosophie deren Tätigkeit als eine durch und durch metaphorische Tätigkeit zu begreifen, d.h. zu wissen, aber dann auch praktisch umzusetzen, daß der philosophische Diskurs nicht an die Dinge und Relationen der Welt heranreicht, sie niemals berühren wird. Beide Wege versetzen das Philosophieren in die Haltung der Melancholie, nach Aristoteles die Grundeigenschaft des Philosophen, d.h. in eine Sinnlichkeit, die nicht mehr die Dinge berührt, sondern diese und deren Nichtigkeit, eine Spielart eines romantischen Nihilismus ist.34 Noch stärker ist die Distanz zu den Dingen freilich in der Musik. Selbst bei solchen Tondichtungen wie Die Moldau muß einem doch erst gesagt werden, daß jenes Fließen der Melodie den tschechischen Fluß evozieren soll. Und in Peter und der Wolf gehört der Text zur Tondichtung hinzu, die dem Hörer erklärt, daß diese musikalische Phrase Peter meint und jene den Wolf und jene andere den Vogel. Die philosophische Distanz zum Leben hat es Gilles Deleuze und Félix Guattari erlaubt zu sagen, daß die eigentliche philo-

33 J. Kristeva: 6KPHLZWLN, 183. 34 Zum romantischen Nihilismus s. Steffen Dietzsch: Lachen über Nichts? Zur Hermeneutik sog. ›nihilistischer‹ Texte, in: Philosophiegeschichte und Hermeneutik, hrsg. v. Volker Caysa, Klaus-Dieter Eichler. Leipzig 1996, 263-271.

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sophische Tätigkeit das Entwerfen von Konsistenzebenen und das Erfinden von Begriffen sei.35 Normative Theorien des Sozialen sind oft, das hatten wir gesehen, tendenziell monologisch, indem sie von einer indiskutablen Einen Grundnorm ausgehen, oder dann höchstens intersubjektiv auf Dyaden aufbauend, in denen der Andere zur Einen Wahrheit des Einen überzeugt werden kann und muß. Zur Deutung des Intersubjektiven, ausgehend vom (autonomen) Subjekt und zentriert auf die Anerkennung der Anderen als Auch-Subjekte, gibt es seit Lévinas eine ernstzunehmende Alternative. Allerdings ist auch seine Philosophie dyadisch organisiert, nur dezentriert sie das Subjekt. Das Subjekt ist nun nicht mehr Origo, sondern Adressat des Textes. Das setzt als erstes voraus, daß das Subjekt sensibel ist, ansprechbar, d.h. daß es zuhören kann, auch im Sinne von gehorchen, so wie ja im mosaischen Glauben das Hören des Wortes und der Gehorsam gegen den, von dem es stammt, die Grundstruktur der Religiosität sind. Wer Ohren hat zu hören, dessen Verantwortung ist die ihm auferlegte Pflicht zu antworten. Seine Sinnlichkeit ist vor allem seine Verletzlichkeit. Das Subjekt ist hier gewissermaßen die verletzliche Haut, auf die sich die Spur des Anderen eingeschrieben hat. So ist bei Lévinas Sinnlichkeit und nicht mehr Bewußtsein (wie bei Husserl) das erste Merkmal des Subjekts. Nicht mehr die Verallgemeinerbarkeit einer Handlungsmaxime, nicht die Innerlichkeit des Rufs eines Gewissens und auch nicht die Objektivität einer Werte-Welt machen das Ethische aus, sondern eine konkrete Anforderung durch den Anderen. Subjekt-Sein heißt Offensein-für. Wer offen ist für die Anforderung des Anderen, läßt sich in Dienst nehmen. Da diese ethische Forderung nicht auf ein Wissen-über den Anderen gegründet ist, die ihm sein Maß an Bedürftigkeit zumäße, »weiß« das ethische Subjekt nichts. Das hat zur Folge, daß man in paradoxer Weise sagen müßte: der Ursprung der Sprache ist die Antwort.36 Und das ist auch im Sinne einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes richtig, als die bloß im strengen Sinne monologische Rede noch kein Text wäre. Das Konzept von Lévinas führt dazu, daß die Dezentrierung des Subjekts das Zentrum auch leer lassen und dennoch die von dort ergehenden Anforderungen ernst nehmen muß, weil sich nun nur noch von dorther bestimmen läßt, was ein Subjekt sein kann. Und doch ist die ergehende Anforderung eine sehr konkrete mit der Folge, daß die Anforderung immer als Anforderungen im Plural ergeht und sie letztlich auch in Konkurrenz zueinander auftauchen.

35 G. Deleuze, F. Guattari: Was ist Philosophie? 36 B. Waldenfels: Antwortregister.

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An dieser Stelle zeigt sich auch, daß bei Lévinas, anders als in den Intersubjektivitätstheorien, das Soziale nicht als Dyadenverkettung erscheinen kann. Die Pluralität konkreter Anforderungen, die selbst, wenn alle »dasselbe« wollen, nicht in eine Harmonie führen, erzeugt für das Subjekt eine Unverträglichkeit der Anforderungen. Oder anders gesagt, das Subjekt ist von Anfang an keine Identität, sondern in sich gespalten. Neuere Diskussionen zu Lévinas betonen nun, daß an dieser Stelle auch bei Lévinas der Dritte ins Spiel komme.37 Der Dritte wird hier interpretiert als »Repräsentant der symbolischen Ordnung« (Bedorf). Er ist es, der Gerechtigkeit im Konflikt der Ansprüche ermöglicht. Das aber bedeutet hier, daß auch dieser Dritte Anforderungen an das Subjekt stellt, freilich Anforderungen anderer, höherer Art. Der Dritte ist hier, wie anderswo, eine Komplexitätssteigerung des Sozialen. In gewisser Weise schützt der Lévinassche Dritte das Subjekt vor Überforderung. Es gilt allerdings zu beachten, daß bei Lévinas alle Positionen festgeschrieben sind. Der Dritte ist der Dritte allemal, als Repräsentant der normativen Ordnung kann er eben nicht als ein Subjekt adressiert werden – von wem auch? Subjekt und Dritter treten wie Sinnlichkeit und Gerechtigkeit auseinander. Eine Rotation der Drittigkeit ist für ein Denken, das weiß, wo Gerechtigkeit und Heiligkeit wohnen, nicht zu denken möglich.38 Der kommunikative Text ohne die Festlegung des Dritten auf Repräsentation des Heiligen oder Gerechten, ist ein Prozeß ohne Hierarchie, ist ein an-archischer Prozeß. Die bei uns angesprochene und immer wieder begegnende Bezogenheit von Sozial-, Temporal- und Diskurs-Dimension erzeugt nicht automatisch so etwas wie eine Geschichtsphilosophie des Fortschritts. Die zwangsläufige Fixierung auf Fortschritt ergibt sich vielmehr nur dann, wenn den zwei Richtungen des Temporalen eine feste Struktur unterlegt wird, wie sie die Linearität der »objektiven« Zeit im Newton-Universum unterstellt. Dann darf man vielleicht erwarten, daß eine in der Vergangenheit beobachtete stetige Funktion einer Meliorisierung/Optimierung in einer noch nicht bestimmbaren Zukunft das Heil erwarten läßt oder jedenfalls eine ebenso stetige Heilsannäherung. In der diskursiven Dimension entspräche dem die Erwartung, daß man eine Ethik aus einer Ontologie

37 Während noch Simon Critchley in seiner Lévinas-Interpretation bei der Dyade stehen bleibt (Simon Critchley: Post-Deconstructive Subjectivity, in: ders.: Ethics. London 1999, 51-82 [zuerst 1995]), macht Thomas

Bedorf den Schritt über diese

Beschränkung hinaus. Th. Bedorf: Le differend éthique, 195-210, ders.: Verkennende Anerkennung. Berlin 2010. 38 K. Röttgers: Transzendentaler Voyeurismus.

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ableiten könne – oder gar aus einem Sollen ein Sein (»weil nicht sein kann, was nicht sein darf«); in der Sozialdimension käme das der noch nicht endgültig überwundenen Vorstellung gleich, daß der Andere im Grunde so ist/sein soll, wie man selbst – oder wiederum umgekehrt, daß ein Selbst nichts anderes ist/sein soll als alle anderen. Allen diesen Festlegungen liegen Substantialisierungen zugrunde. Sie lassen sich durch triviale Paradoxien unterlaufen und fraglich werden. Jeder Fortschritt ist (zugleich auch) ein Rückschritt; Selbst ist ein Anderer; Moral ist eine kulturelle Tatsache.39 Es gibt gute Gründe, diese voneinander separiert auftretenden Linearisierungsfäden im Netz der Dimensionen des kommunikativen Textes dadurch aufzulösen, daß man sie begründend aufeinander bezieht. Wenn man das tut, wird man offenkundigen Unsinn erzeugen können, wie z.B.: Weil der Andere ist wie ich40 und weil aus dieser »Tatsache« die Moral der Veränderung folgt, ergibt sich die »Gewißheit«, daß in Zukunft alles besser sein wird. Solchen Unsinn kann man vermeiden, wenn man das Netz der Relationen als ausschließlich limitierend und nicht konstituierend wirkend begreift.41 Alle Pfadentscheidungen in diesem Netz sind »metarational«; sie lösen keine Probleme, sondern erzeugen sie (durch Komplexitätssteigerung) und verschieben sie – in der Zeit, auf Andere oder in einen anderen Diskurs.42 Was wir also tun müssen und wollen, ist, Moral nicht von vornherein zu bewerten, statt also eine Bewertungsbewertung vorzunehmen, Bewertungen (und Bewertungsbewertungen) zu beschreiben im Rahmen einer Sozialphilosophie

39 Dazu Ralf Konersmann: Kulturelle Tatsachen. Frankfurt/M. 2006; das überaus detailreiche und höchst luzide Buch kennt nur an einer einzigen Stelle die Moral als kulturelle Tatsache, und das noch in einem Zitat von Marcel Mauss (164) 40 Hier ist vom »Ich« die Rede und nicht mehr vom Selbst, weil die Substantialisierung irreal als vollzogen unterstellt wird und nicht mehr von Funktionspositionen. 41 Das ist selbstverständlich nachgebildet dem Kantischen Argument, daß von den Ideen ausschließlich ein regulativer, kein konstitutiver Gebrauch gestattet ist. 42 Daß solche Verschiebung (und damit die Eröffnung der Kultur der Umwege) die zentrale Funktion einer modal verstandenen Macht ist, habe ich anderweitig mehrfach zu plausibilisieren versucht. Kurt Röttgers: Macht, in: Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Christian Bermes, Ulrich Dierse. Hamburg 2010, 221233; ders.: Die Medialität modaler Macht; ders.: Kultur und Ökonomie, in: Das Leben denken - Die Kultur denken, hrsg. v. Ralf Konersmann. Freiburg, München 2007, II, 37-57; ders.: Menschliche Erfahrung: Gewalt begegnet dem Text des Erzählens (Alexander und Schehrezâd).

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des kommunikativen Textes. Das heißt, die Asymmetrie aufzubrechen, daß die Theorie der Moral ergriffen sein müsse für das ethisch als »gut« Zertifizierte und Gerechtfertigte. Es ist jedoch nicht so, daß wir die Asymmetrie damit grundsätzlich überwunden hätten; denn auch die Deskription erzeugt ihre eigenen Asymmetrien (Beobachtungsasymmetrien, nach denen der Sehende sieht, was er sieht, aber sein Sehen nicht sieht), aber, wenn wir die ethische Reflexion zugunsten einer epistemischen sistieren, eröffnen wir das Spiel variabler perspektivischer Asymmetrien. Das ermöglicht Überraschungen. Sofern es sich um Instanzen des kommunikativen Textes handelt, signalisieren Überraschungshorizonte Freiheit, eine Freiheit, die weiter ist als die Unterwerfung unter das moralische Gesetz. Da wir nicht wissen, wenn wir uns moralisch orientieren, was eine letztbegründete ethische Reflexion dazu sagen würde, sind Operationen im moralischen Raum von dem Bewußtsein der Freiheit begleitet.43 Wenn ich mich oder meinen Hund töte, um ihm oder mir weiteres Leiden zu ersparen, dann ist das erstens eine Entscheidung, die vom Bewußtsein der Freiheit begleitet ist, die sich zweitens innerhalb einer moralischen Orientierung bewegt (Leidvermeidung), die aber drittens sich nicht schon der ethischen Reflexion unterworfen hat, die uns etwa belehren möchte, daß die Moral der Hundstötung zwecks Leidvermeidung und die Moral der Selbsttötung zwecks Leidvermeidung ethisch verschieden zu bewerten seien. Wenn man diese Unterscheidung zwischen operierender Moral und ethisch bewerteter Moral einführt, dann ist es umgekehrt auch möglich, von der ethischen Rechtfertigung von Formen des Wissens zu sprechen. Alle Wissensformen enthalten Ausschlüsse (Verknappungen44) des Wissens: Geheime Staatsarchive, Exklusion der Nichtinitiierten bis hin zum Datenschutz und Schutz der Privatsphäre. Und gerade der Datenschutz im Gegensatz zur allseitigen Transparenz in aufgeklärt demokratischen Gesellschaften wirft evidentermaßen ethische Fragen auf, danach, wer was von wem wissen darf. Und schließlich gilt es zu bedenken: »Es könnte sein, daß Wissen überhaupt kein sittlicher Wert ist.«45 Doch kehren wir zurück zur epistemisch gehaltenen Beschreibung von Moral. Es gibt Vollblutethiken, die eine solche Beschreibung aus der Philosophie

43 Daß Freiheit ein Begleiteffekt von Kommunikation ist, betont auch Niklas Luhmann. N. Luhmann: Soziologie der Moral, 60. 44 Zu diesem Begriff s. M. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, 18f. 45 Isaiah Berlin: Revolution der Romantik, in: Lettre International 34,3 (1996), 76-83, hier 81.

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hinaus- und etwa in die Soziologie hineindefinieren möchten.46 Sie fordern für die Philosophie die ethische Einbahnstraße. Aber solche Einbahnstraßen sind zugleich Sackgassen: man darf zwar hinein- aber nie wieder herausfahren. Die bidirektionale Dreidimensionalität der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes ermöglicht es jedoch stets, abzubiegen, transversal andere Ebenen einzunehmen und Umwege zu zelebrieren. Texte der Moderne, insbesondere Romane, favorisieren die Linearität, eins kommt nach dem anderen, und es sieht dann nach Folgerichtigkeit aus. Tatsächlich ist jeder Text mindestens flächig, und wenn er den Dritten als Konstituens anerkennt, mindestens dreidimensional, seine Bewegung duch die Dimensionen ist transversal. Niklas Luhmann hat in seiner Soziologie der Moral die Bedingungen von Achtung und Mißachtung für das Wesen der Moral (einer Gesellschaft) erklärt.47 Das Insgesamt dieser Bedingungen heißt nicht Ethik, weil diese Bedingungen nicht normativ verfaßt sind oder sein müßten. Wenn Luhmann allerdings dann aus Einsicht in den polemogenen Charakter von Moralpraktiken (Moralisierungen), die über Generalisierungen und Thematisierungen von achtungsrelevanten Konfliktmaterien läuft, sich dazu durchringt, eine wirksame Metamoral vorzusehen und diese als gesellschaftlichen Takt zu identifizieren, dann zeigt das eine diesbezügliche Hilflosigkeit. Denn erstens führt nicht jede Debatte um Achtung automatisch dazu, die Probleme durch Generalisierung auf die Spitze zu treiben (nach der Devise »aber so warst Du ja immer schon«), zweitens aber ist der Takt überhaupt keine Metamoral, sondern schlicht ein Moment der Moral – ohne Meta–. Die Begrenzung von Moralisierungen wird auch durch andere Mechanismen des Ebenenwechsels im kommunikativen Text ermöglicht,48 z.B. Freundschaft.49 Die Fingierung einer Metamoral folgt dem trügerischen Modell einer Hierarchie, durch die Sicherheiten allein durch einen eindeutigen Bezugspunkt höchster Ordnungsstufe erzeugt werden sollen. Und wenn man denn schon den Gedanken einer Metamoral zuläßt, warum sollte man sich dann nicht auch zu einer ethischen Letztbegründung à la Apel versteigen dürfen.

46 Anders die um Grenzziehungen unbekümmerte Moralphilosophie Georg Simmels, der wir uns in dieser Hinsicht gerne anschließen: G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft. Frankfurt/M. 1989/1991 (=Georg-Simmel-Gesamtausg. III/IV). 47 N. Luhmann: Soziologie der Moral, 51. 48 Luhmann bezeichnet es als »reflexiv« Werden der Moral, l. c., 55. 49 J. Derrida: Politik der Freundschaft, der, passim, in Anlehnung an Vorgaben von Carl Schmitt die Nähe von Freundschaft, bzw. auch Brüderlichkeit, zu Feindschaft zeigt, so daß der Feind der Doppelgänger des Freundes wird.

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Eine allerdings von Luhmann auch dazu angebotene Alternative ist die Figur des Dritten, und zwar so, wie wir den Dritten konfiguriert hatten: als nichtprivilegierten Dritten, der damit eben auch keine Hierarchie über die Schultern seiner Position ermöglicht. Seine Funktion beschreibt Luhmann als paradox. »Sie erleichtert es, über andere schlecht zu reden, und bewirkt zugleich eine Überschätzung des Guten […].«50

50 N. Luhmann: Soziologie der Moral, 56.

10 Der Andere in der Sprache

Im folgenden wollen wir untersuchen, wie der Andere – also die soziale Dimension – in der Sprache, bzw. im Diskursiven erscheint, und dabei wiederum zunächst die normative Richtung in den Vordergrund rücken. Eine erste Frage wird also sein: Ist eine die Kommunikation generell regelnde Ethik möglich? Edeltraud Bülow hat eine solche »Kommunikative Ethik« vorgelegt.1 Ihr geht es darum, gerade auch den wissenschaftlichen Diskurs auf seine normative Regelbarkeit hin zu überprüfen. Unter einem wissenschaftlichen Diskurs versteht sie: »eine um einer Sache willen installierte Kommunikationssituation, die sich mit dem Sachinteresse und dem kommunikativen Interesse der Kommunikationspartner aufbaut.«2 Diese beiden Aspekte möchte sie scharf getrennt wissen: »Kommunikative Autorität darf nicht durch Sachautorität legitimiert werden.«3 Sie begründet diese Forderung damit, daß das reine Sachinteresse des Theoretikers »extrakommunikativ« sei. Spätestens hier setzen unsere Zweifel ein; denn extrakommunikativ würde heißen, daß das theoretische Bewußtsein sich außerhalb von Kommunikation, d.h. außerhalb vom kommunikativen Text, begründen und erhalten könnte. Selbst wenn der Theoretiker sich zeitweilig aus aktuellen kommunikativen Prozessen ausklinken mag und allein auf seine Sinne und seine Apparate achtet, ist er doch immer in seiner Ergebnisorientierung auf den kommunikativen Text bezogen; und selbst seine Apparate und die Schulung seiner Sinne verbinden sein theoretisches Bemühen mit den Texten der anderen. Oder genauer gesagt: er ist der Andere dieser Texte. Bülows »kommunikative Ethik« stellt sich in den Dienst einer Konflikt-Prophylaxe, die vermeiden will, daß durch reine Sachorientierung eine unreflektierte Ereignishaftigkeit der extra-

1

Edeltraud Bülow: Kommunikative Ethik. Düsseldorf 1972.

2

L. c., 29.

3

L. c., 83.

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kommunikativen Konflikte auftreten kann. Gemeint sind mit diesen Konflikten offenbar Kommunikationsabbrüche. Aber Kommunikationsabbrüche und das mit ihnen begonnene Schweigen setzen immer einen vorhergehenden kommunikativen Prozeß voraus, sonst gibt es nichts abzubrechen und zu schweigen. AbbruchProphylaxe durch vorauseilende ethische Reflexion ist grundsätzlich möglich, aber weder empfehlenswert noch von konkreter Erfolgsaussicht. Die Annahme einer angewandten Ethik der Kommunikation, daß Konfliktprophylaxe durch reflektierten »echten Partnerbezug«4 möglich und erfolgsträchtig sein könnte, setzt voraus, daß der Kommunikations-Coach, der an einer solchen Kommunikationssicherung arbeitet, in gewissem Sinne ebenfalls »extrakommunikativ« sein kann, damit er nicht in den abbrechenden Konflikt hineingezogen werden kann, oder den Abbruch gar durch seine Intervention erst erzeugt. Was, wenn die Kommunikations-Ethikerin durch ihre Intervention erst recht ein konsterniertes Schweigen hervorriefe, das sie doch prophylaktisch auszuräumen sich vornahm und leisten zu können vorgab? Radikaler geht eine ethische Reflexion vor, die die kommunikative Asymmetrie nicht leugnet oder wegzutherapieren sucht,5 sondern diese als ein jeglichem Diskurs eingeschriebenes Gesetz ansieht, nämlich daß das Andere ein Anderes ist und daß es ferner Fremdes gibt, das dem Diskurs entzogen bleibt. Auf der epistemische Ebene erscheint das Fremde als Unverständliches, bzw. auch als der Sichtbarkeit und Erkennbarkeit Entzogenes, bzw. auf der normativen als Regelwidriges, als Verbrechen oder Vergehen. Insgesamt darf man in beiden Richtungen des Diskursiven diese Ausgrenzung von Fremdheit als Schutz vor dem Chaos (dem Abgrund zwischen den Ordnungen) und der Anarchie (Entzug von Herrschaft vom Ursprung und von der Ausrichtung auf ein erstrebenswertes Ziel) ansehen. Als Chaoten und Anarchisten werden dementsprechend diejenigen bezeichnet und ausgegrenzt, die in Widerspruch zur Legitimationsbasis der geltenden Ordnung stehen. Ob sie einer (ganz) anderen Ordnung gehorchen oder jeglichem, das wir – die gut Geordneten – als Ordnung bezeichnen würden, abhold sind, ist aus der Asymmetrie des Ordnungsblicks nicht erkennbar und nicht beurteilbar, interessiert aber auch nicht weiter. Deswegen werden Chaos und Anarchie vorsorglich als Feinde jeder (guten) Ordnung angesehen, weil die Ord-

4

L. c., 151.

5

Zu dieser Problematik des Versuchs, die Asymmetrien loszuwerden s. A. Wilden: System and Structure, 93f. Im Grunde ist die Asymmetrie beseitigt in der (schweigenden) Kommunion des Konsenses nach jeglicher Kommunikation; die totale Identität ist eben keine Beziehung mehr, und jede Beziehung ist asymmetrisch.

D ER A NDERE

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nung bestimmt, was Ordnung ist. Dieses spezifische, mächtige Unvermögen hat Bernhard Waldenfels, was das Normative betrifft, den »blinden Fleck der Moral« bezeichnet.6 Antje Kapust hat in ihrem Buch Berührung ohne Berührung zu zeigen versucht, daß nach Lévinas die »Kraft des Ethischen«7 (bei Lévinas jene Überhöhung des Moralischen, die nicht auf Reflexion der Geltung der Moral beruht, sondern jene höhere Haltung unmittelbar einbringt) dazu führt, daß die Asymmetrie der »Verselbigung des Anderen« unterbrochen wird. Die Frage ist natürlich, ob die Asymmetrie tatsächlich unterbrochen wird oder nicht vielmehr einfach ersetzt wird durch die Asymmetrie des Anspruchs des Anderen. Daher gilt Kapusts Sympathie auch mehr der ungeschriebenen Ethik von Merleau-Ponty, die in Kapusts imaginierender Rekonstruktion ein »fragiles vund ambivalentes Spannungsverhältnis zwischen heterogenen und mehrwertigen Anteilen [ist], in welchem wie in einem Grenzgang zwischen ethischer Öffnung und ontologisch verengter Verschließung Gutes erst freigesetzt werden muß.«8 Wie das aussehen mag, ist letztlich schwer zu sagen und flieht in die dichterische Rede: »Wenigstens in diesem Augenblick bin ich du gewesen.«9 Das läuft darauf hinaus, Leben nicht als einfache Bahn (ins Nirgendwo) zu leben, sondern als ein komplexes Geflecht von Übergängen zum und ins Andere(n), d.h. in der Sicht der Ein-Bahn-Lebenden, »mehrere Leben gleichzeitig«10 zu leben. Mehrere Leben gleichzeitig zu leben, heißt nichts anderes als Drittigkeit nicht nur für die soziale Dimension als Sprengung reiner Intersubjektivität vorzusehen, sondern ebenso für die temporale, so daß die lineare Einspannung der Gegenwart zwischen eine Zukunft und eine Vergangenheit aufgebrochen ist, und ebenfalls für die diskursive Dimension die Drittigkeit zuläßt, die das Verbot beispielsweise des naturalistischen Fehlschlusses nach Odo Marquards Devise »I

6

Bernhard Waldenfels: Der blinde Fleck der Moral, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47 (1993), 507-520, cf. auch L’irréductible, hrsg. v. Robert Legros. Grenoble 1993; cf. dazu A. Kapust: Berührung ohne Berührung, 176.

7

L. c., 24.

8

Ibd.

9

Paulhans, zit. bei Merleau-Ponty, zit. bei Kapust, 144; Kapust meint: »Auf diese Weise wird das Problem des Anderen aus einer einseitigen ethischen Perspektive gelöst und in einer Zwischenzone von ontologischer Verschließung und ethischer Öffnung situiert.« (20)

10 L. c., 144.

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like fallacies«11 außer Kraft gesetzt.12 Auch wenn Gerhard Gamm, Bataille paraphrasierend, sagt »Souverän ist der, der aus der Zeit aussteigt, der die Brücken zum Sozialen abbricht […]“ und zugleich zugeben muß, daß vielleicht »das nicht möglich sein sollte«13, bleibt doch festzuhalten, daß ein wirkliches Aussteigen aus Zeit, Sozialität (und auch Diskursivität) nicht möglich ist (es sei denn, man verließe in reiner Gewalt, reiner erotischer Kommunion oder sprachloser Mystik den kommunikativen Text), wohl aber ein Verlassen der reinen diesbezüglichen Linearitäten. Insofern verweist die Souveränität14 Batailles nicht »auf den blinden Fleck eines Lebens universeller Vermittlung oder Reflexivität«, sondern ganz im Gegenteil auf deren Möglichkeiten der Komplexitätssteigerung. Im Bereich des Symbolisch-Diskursiven bestünde die Linearität in der (überholten) semiotischen Vorstellung, daß Wörter und Aussagen sich auf Dinge und Sachverhalte beziehen, die Komplexitätssteigerung darin, daß in der semantischen Ordnung sich Wörter mit Wörtern auf Dinge unter Dingen oder auch auf Wörter unter Wörtern beziehen (resp. mutatis mutandis Aussagen), so daß man mit Ijsseling sagen darf,15 daß die Kommunizierenden einander Worte (oder man könnte verallgemeinern: Geld in der Ökonomie des Finanzkapitalismus) geben, aber nicht Dinge, und daß die Wörter nicht primär auf Dinge verweisen, sondern auf Wörter oder Worte, und im Finanzkapitalismus nicht auf Waren, sondern auf Geld, Kredite und Gelderwartungen oder Verlusterwartungen anderer Fonds. Eine Sozialphilosophie des kommunikativen Textes, in der der Andere als eine Funktionsposition der sozialen Dimension auftritt, wird gleichwohl von anderen philosophischen Konzeptionen her mit der Frage konfrontiert werden, was das für diesen Anderen bedeutet. Ist er einer »wie ich«, wie es dann heißt, d.h. ist er gemäß einer Konstitutionstheorie von Subjektivität als empirischer nur eine Variation eines Selbst, oder ist auch der Andere Selbst-ständig? Eine solche Befragung macht eine nicht selbstverständliche Voraussetzung, nämlich daß es primär um die Konstitution von Selbst – man sagt dann zumeist »transzendenta-

11 Odo Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, 111. 12 Diese Sprengung der Linearität ist im Internet bereits Realität; die Logik seiner Medialität ist eher eine bildliche als eine textuelle. Welchen Links man folgte und welchen man folgen wird, ist unbestimmt wie die Bewegungen des Auges beim Betrachten eines Bildes, die reine Sequentialität ist in gleichzeitige Vollzüge aufgelöst. 13 G. Gamm: Nicht nichts, 101. 14 Ibd. 15 Samuel Ijsseling: Macht, taal en begeerte, in: Tijdschrift voor Filosofie 41 (1979), 375-404, hier 394.

D ER A NDERE

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lem Subjekt« oder gar »Ich« – oder um die von Selbst-Anderer gehe. Genau diese Voraussetzung einer Ursprungsorientierung steht aber hier infrage.16 Der a priori zu unterstellende oder aber zwangsläufig herzustellende transzendentale Konsens zwischen Ego und Alter Ego ist nicht hinzunehmen.17 Denn in vielfältiger Weise wird in der Philosophie des 20. Jahrhunderts der Andere auch immer als innerer Anderer angenommen. In Mir-Selbst gibt es einen Anderen; oder noch entschiedener gesagt: ein Anderer bin ich mir Selbst. Dieser innere und dieser äußere Andere können Unterbrechungen einer als Kontinuum unterstellten Nähe des gemeinschaftlichen und des gemüthaften Anderen hervorrufen. Derrida hat in Interpretation von Carl Schmitt diese das Kontinuum brechende Ereignishaftigkeit auch als »Ausnahme von mir« bezeichnet.18 Weniger radikal formuliert, aber gleichwohl in die gleiche Richtung zielend hatte Helmuth Plessner formuliert: »Mensch-Sein ist das Andere seiner selbst Sein.«19 Georg Simmel hat den »Glauben an das absolute Ich, an die einheitliche substantielle Seele« mit Entschiedenheit kritisiert. Für ihn löst sich auch der innere Andere in eine Vielzahl und vor allem in reine Relationalität auf, so daß zwischen Innen und Außen ein Analogieverhältnis besteht; dadurch erscheint »das Ich« als »Schnittpunkt sozialer Kreise, als das Resultat sozialer Bewegungen«.20 Wenn man darüber nachdächte, wie diese Alterität denn anders als konstitutionstheoretisch (durch ein sogenanntes Ich) begründet sein könnte, dann käme man, von der Medialität des kommunikativen Textes ausgehend, dazu, Alterierung als Grund der Alterität in den Strukturen des Prozesses aufzusuchen, d.h. eben auch eine Verbindung

16 Zur Ersetzung der Ursprungsorientierung im Subjekt s. N. Luhmann: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen, 42ff.; dazu aus philosophischer Sicht schon zuvor Lutz Ellrich: Die Konstitution des Sozialen. Phänomenologische Motive in Niklas Luhmanns Systemtheorie, in: Zs. f. philos. Forschung 46 (1992), 24-43, bes. 27ff. 17 Zu den Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man ein allen sozialen Prozessen vorausliegendes (dann gewiß transzendentales) Ich annimmt, s. auch George Herbert Mead: Mind, Self, and Society. Chicago 1937, 135f.– Daher empfiehlt es sich, die Perspektive umzukehren. Das »Ich«, seine Genese und sein Fungieren mittels des Prozesses zu beschreiben. 18 J. Derrida: Politik der Freundschaft, 105: »[…] ist die Entscheidung ihrer Struktur nach stets […] eine zerreißende Entscheidung als Entscheidung des anderen in mir. Der absolut anderen in mir, […] das in mir über mich entscheidet.« 19 H. Plessner: Macht und menschliche Natur, 225. 20 G. Simmel: Gesamtausgabe III. Frankfurt/M. 1989, 164.

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zur Alterierung in der Temporalität zu suchen. Nach Rodolphe Gasché ist es die Iterabilität des Prozesses, der eine andere Zeit, eine Zeit des Anderen entspricht.21 Daher lohnt ein kleiner Seitenblick auf den Vortrag, den Martin Heidegger im Juli 1924 vor der Marburger Theologenschaft gehalten hat. Deutlicher noch als in Sein und Zeit heißt es dort: »… bin ich mein Dasein zumeist und durchschnittlich nicht selbst, sondern die Anderen; ich bin mit den Anderen und die Anderen mit den Anderen ebenso. Keiner ist in dieser Alltäglichkeit er selbst: Was er ist und wie er ist, das ist niemand: keiner und doch alle miteinander […] Dieser Niemand, von dem wir selbst in der Alltäglichkeit gelebt werden, 22

ist das ›Man‹«

Anders als Heidegger, der diesem »Man« kritisch gegenübersteht, konstatiert Lévinas: »Der Umstand, daß ich in der Existenz für den Anderen anders existiere als in der Existenz für mich – macht die eigentliche Moralität aus.«23 Selbst-imText ist nur möglich im Kontext der Anderen-im-Text. Die Funktionsposition des Selbst indiziert den Sprecher; und Sprecher kann nur sein, wer im kommunikativen Text seinen Zuhörer findet, den Anderen. So ist eine Wortergreifung kein einsamer Akt, im transzendentalen Subjekt autonom entworfen und durchgeführt, ohne Berücksichtigung der Anderen.24 Wer das Wort ergreift, ein Ereignis inszeniert, wechselt in die Position des Selbst, ändert damit zugleich die Regeln des Diskurses wie auch die Vergangenheit. Diskursstrukturen, Vergangenheiten und das Selbst ändern sich m.a.W. durch das Ereignis der Wortergreifung. Aber als was müssen wir diesen Anderen auffassen? Bernhard Waldenfels hat zwischen Funktionen des Anderen unterschieden, die auch für uns wichtig sein könnten: den Anderen, »der mich begleitet« in der Öffentlichkeit, der Ge-

21 R. Gasché: The Tain of the Mirror, 215. 22 M. Heidegger: Der Begriff der Zeit, 13. 23 E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, 382. 24 In Anknüpfung an Lévinas hat Bernhard Waldenfels die Verknüpfung von Selbst und Anderem (im kommunikativen Text, sagen wir) in der Perspektive einer Philosophie der Responsivität entwickelt. Das setzt voraus, daß Selbst und Anderer in gewissem Umfang substantialisiert gedacht werden; denn nähme man ernst, daß Selbst und Anderer Funktionspositionen sind, gäbe es keinen Anspruch des Anderen, dem ein Selbst zu antworten hätte, sondern der Ansprechende wäre immer ein Selbst. Bernhard Waldenfels: Ordnung im Zwielicht. Frankfurt/M. 1987, 46ff.

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fährte (socius) und der Andere als Freund (amicus), »der mir begegnet«.25 Diese Unterscheidung deckt sich nicht mit der von uns eingeführten zwischen dem gesellschaftlichen und dem gemeinschaftlichen Anderen. Waldenfels präzisiert seine Unterscheidung als »miteinander« und »zueinander«.26 Das »Miteinander« mit dem Begleiter ist weniger als der gesellschaftliche Andere. Es verweist vielmehr darauf, daß der gesellschaftliche Andere (qua Öffentlichkeit) nie alleine vorkommt, sondern als differenzierte Pluralität. Wenn ich z.B. mit einem Geschäftspartner verhandele, stehen im Hintergrund immer alle möglichen Geschäftspartner (für ihn und für mich27). Das »Zueinander« des emphatischen Dialogs aber ist eine dramatische Exklusivität des gemeinschaftlichen Anderen, die keine anderen Anderen zulassen möchte. Neben seiner Freundschaft ohnegleichen28 gibt es noch jene anderen gemeinschaftlichen Anderen, die eher durch ein »Zusammen« als durch ein »Zueinander« zu charakterisieren wären. Sie bilden den Hintergrund einer Heimatlichkeit ohne eine direkte Zuwendung. Diese Unterscheidungen sind selbstverständlich auch für den inneren Anderen gültig.29 Hier gibt es auch das begleitende potentielle Reflexions-Bewußtsein, und hier gibt es auch die Selbst-Liebe im Gemüt. hat sogar von einer Selbst-Zerteilung zu Dividuen in der Moral gesprochen: Etwas im Selbst wird mehr geliebt als etwas anderes, ohne deswegen schon Selbstlosigkeit zu sein. Auch solche Dividualität des Selbst ist eine Exklusivität.30 Die Korrespondenz zwischen dem inneren und dem äußeren Anderen darf man jedoch nicht anerkennungstheoretisch übertreiben. Denn die Identität sowohl des Selbst wie auch des Anderen hängt

25 Bernhard Waldenfels: Das Zwischenreich des Dialogs. Den Haag 1971, XII. 26 Ibd. 27 Siehe G. Simmel: Philosophie des Geldes, in: Georg-Simmel-Gesamtausgabe Bd. VI. 28 Cf. Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. 29 Zur Unterscheidung von äußerem und innerem Anderen in einem sehr ähnlichen Sinne s. auch J. Benjamin: Der Schatten des Anderen, 111, Anm. 3; cf. auch 128f.; ebenfalls K. Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie, 141: »Die Andersheit taucht also in der intrasubjektiven, intrapsychischen Sphäre auf und ist kein bloßes Additum zu einem sich [sic!] selbst bewußten Ich, das aus sich heraus Brücken zu anderen schlägt.« 30 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches Nr. 57.-In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe II, 76: »In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum.«; cf. 91 (Nr. 94); zum Zusammenhang von Nächstenliebe und Selbstliebe s. auch. A. García Düttmann: Derrida und ich, 88f.

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am Prozeß der fingierenden Zuschreibung.31 Das entgegengesetzte Extrem beschwört »Einfühlung«, selbst noch als »Einfühlung« in einen Autor-im-Text. 32 Hinrich Fink-Eitel hatte seinerzeit geglaubt, solche Korrespondenzen in einer »Logik intersubjektiver Beziehungen« abbilden zu können. Diese Beziehungen wären einsichtig auch dann, wenn sie sich der Bewußtheit der Subjekte entzögen.33 Aber es setzt sich heute immer mehr die Erkenntnis durch, daß ein mit Identität besetztes Subjekt ein problematischer Begriff geworden ist. Schon Hegel hatte das »edelmütige Bewußtsein« als »Extrem des Selbst« und als »sich zersetzende« Mitte begriffen.34 Diese Zersetzung dezentriert das Subjekt und läßt die Mitte im Anderen liegen. Insofern muß man sagen, daß die Mitte weder im Selbst noch im Anderen allein liegt, sondern in ihrer Kommunikation: »[…] die Menschheit ist nicht aus Einzelwesen gemacht, sondern aus der Kommunikation zwischen ihnen.« 35 Und Waldenfels fragt: »Hat es Sinn, unter diesen Umständen noch von einem ›Subjekt‹ zu sprechen, das etwas anderes wäre als ein sujet im Sinne des Untertans?«36 Das kann freilich nicht auf ein Verbot der Verwendung des Subjekt-Begriffs hinauslaufen, sondern bewegt sich auf die Frage zu, wo, unter welchen Umständen so etwas wie ein Subjekt auftaucht und was das im Hinblick auf den kommunikativen Text heißen darf, und schließlich auch darauf, die Unterstellung zu vermeiden, daß der Andere dem Selbst gleichen müsse, da auch er ja schließlich etwas von der Art eines Subjekts sei. Stattdessen gehen wir von der Asymmetrie aus, daß die Funktionsposition »Anderer“ der Funktionsposition »Selbst« nicht gleicht. Gleichheit kann durch Symmetrisierung zweier Asymmetrien hergestellt werden, und sie muß in gelingenden Kommunikationsprozessen hergestellt werden, aber Gleichheit ist weder eine Voraussetzung noch ein a priori feststehendes Ziel von Kommunikation. Gleichheit kann durch politi-

31 Zur Kritik und Eingrenzung des Anerkennungsdispositivs s. Th. Bedorf: Verkennende Anerkennung. 32 So noch Norman N. Holland: Einheit – Identität – Text – Selbst, in: Psyche 33 (1979), 1127-1148, expl. 1145. 33 Hinrich Fink-Eitel: Dialektik und Sozialethik. Meisenheim 1978, 154. 34 G.W.F. Hegel: Werke III, 378. 35 Georges Bataille: Die Literatur und das Böse. München 1987, 79. In Anknüpfung daran formuliert Andreas Hetzel: »Die Kommunikation entäßt aus sich die Kommunizierenden. Weder das Selbst noch der Andere gehen der Kommunikation zwischen Selbst und Anderem voraus.« A. Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis, 167. 36 Bernhard Waldenfels: Dialog und Diskurse, in: Archivio di Filosofia LIV (1986), 237250, hier 247.

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sche Eingriffe partiell, d.h. für bestimmte, zumeist rechtlich geregelte und definierte Situationstypen hergestellt werden; aber sie ist für Kommunikation, d.h. auch für den kommunikativen Text als Sozialprozeß nicht selbstverständlich und keine unabdingbare Voraussetzung. Worte der Ordnungsstiftung lassen in Gleichheitsherstellungen in den Textprozessen zwei Aspekte auseinandertreten: die Konstanz des spezifischen Diskurses, die ihn zu Regulierungs- und Normierungsfunktionen qualifiziert, und die Variation, die den Diskurs als die Prozessualität des Sprachsystems erscheinen läßt. Diese Prozessualität und Systematizität von Diskursivität macht ihre Janusköpfigkeit aus. Es bleibt die Frage nach demjenigen, der allein das Soziale konstituiert, d.h. dem Dritten und seiner Position im Diskurs. Da die Textkomplikation durch den Dritten eintritt, ist im Verhältnis von Selbst und Anderem der Dritte immer der Störer, oder anders gesagt, seine diskursive Intervention ist immer ein sogenannter Metadiskurs. Wirkliche Komplexitätssteigerung tritt nämlich dann und nur dann auf, wenn sich die Intervention des Dritten nicht auf den Einen oder den Anderen bezieht, sondern auf deren Beziehung. Seine diskursive Intervention depotenziert folglich das Selbst. Wenn die Funktionsposition des Selbst im kommunikativen Text diejenigen dessen ist, der spricht, dann ist die Wortergreifung des Dritten die Gefährdung der Position des Selbst. Man kann ihn ausschließen und ignorieren; man kann ihm aber auch das Wort erteilen, das aber heißt ihm die Funktionsposition des Selbst einräumen. Darin zeigt sich aber auch, daß der intervenierende sogenannte Metadiskurs auch nichts anderes ist als ein Diskurs, er unterwirft sich der gleichen Regularität, wenn er verständlich ist. Was allein die Rede vom Metadiskurs legitimiert, ist einzig, daß er sich, wenn er eintritt, auf den ablaufenden Text bezieht. Wird die Intervention aber akzeptiert, d.h. wird der Dritte zum Selbst-im-Text, dann wird er nichts anderes gewesen sein als eine Richtungsänderung im Textverlauf. Sagt der Dritte beispielsweise, daß der bisher erfolgreich und störungsfrei verlaufende Text zwischen Selbst und Anderem auf gegenseitigen und stillschweigend einvernehmlichen Mißverständnissen beruhe, dann wird bei einer akzeptierten Intervention anschließend das Thema dieses fragliche Mißverstehen sein.37 Wenn nun aber Thomas Bedorf aufgrund seiner levinasianischen Position einer Transzendentalisierung des Dritten zu einer Position der Gerechtigkeitsforderung sagt, der Dritte begrenze den Anspruch des Anderen, so müßte man hinzufügen: noch mehr depotenziert er und erst er und nicht schon der levinasianisch verstandene Andere die Dominanz des Selbst. Und wenn Bedorf fortfährt,

37 Zur Rolle der drittigen Intervention s. M. Serres: Der Parasit, 97ff.

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daß folglich der Dritte eine Funktion und keine konkrete Gestalt sei, dann kommentieren wir: genau das gilt, anders wäre es gar nicht möglich, auch für Selbst und den Anderen. Und wenn es schließlich heißt, daß der Dritte sowohl ein anderer Anderer sei als auch ein Repräsentant der symbolischen Ordnung, dann ist auch diese Aussage sehr in die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes integrierbar, und zwar in der Form: Der Dritte ist ein Anderer, in Erscheinung aber tritt er als ein Selbst; und wenn sich seine Intervention auf die Beziehung bezieht, dann ist sein in Anspruch genommener Metadiskurs für diesen Moment in der Tat der »Repräsentant« der symbolischen und der moralischen Ordnung.38 Von der Feststellung, daß es eine grundlegende Erkenntnis der linguistischen Wende gewesen sei, »daß das Subjekt eine sprachliche Position und nicht ein Zeichen für die tatsächliche Psyche eines Menschen ist«, geht auch Jessica Benjamin aus.39 Insofern ist es auch für sie der »Diskurs«, es wäre zu ergänzen: und der Text, insofern er die Prozessualität von Diskursivität ist, der eine der Dimensionen ist, in denen sich Subjekte bewegen. Ohne den (potentiellen) Dritten und die Möglichkeit seines Einspruchs ist die »reine« Intersubjektivitätsstruktur von Selbst und Anderem nicht davor gefeit, daß eine Selbst-Ermächtigung zu derjenigen Gewaltform gerät, in der Gleichheit, d.h. Symmetrie, dem Anderen aufgezwängt wird. Solches formuliert Benjamin dazu aus, »daß der Andere möglicherweise nicht überlebt«,40 was sowohl in diesem strukturellen Sinne (der Andere als Anderer), aber aufgrund dessen durchaus auch in einem wörtlichen Sinne gemeint ist. Für Jacques Lacan ist bekanntlich das Unbewußte ein »Ort« symbolischen Fungierens mit seiner ihm eigenen Regularität (»wie eine Sprache«). Für ihn ist folglich das Unbewußte der »Diskurs des Anderen«. Das heißt nichts anderes, als daß erstens das Fremde (das Unbewußte) im Inneren in eine Kommunikation mit dem Selbst gebracht werden kann und im therapeutischen Fall werden muß, und daß zweitens das als Anderes erscheinende Fremde mit dem äußeren Anderen in einer Beziehung steht und zunächst als Analytiker ein Fremder ist, der aber in der Übertragung als ein Anderer des Selbst eingesetzt wird. Das Andere oder der Andere aber spricht verschiedene Sprachen, sie sind von Anfang an des

38 Th. Bedorf: Le differend éthique. 39 J. Benjamin: Der Schatten des Anderen, 105. Weil sie jedoch einen an Identität gekoppelten Begriff des Selbst unterstellt, muß sie auf einer scharfen Abgrenzung der Begriffe »Selbst« und »Subjekt« bestehen – das ist in der Begrifflichkeit, aber weniger in der Sache von der hier vertretenen Konzeption unterschieden. 40 L. c., 118.

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Auftauchens als Differenz und als Pluralität und stehen in dieser strukturellen Qualität in Korrespondenz mit der Vielfalt äußerer Anderer. In seiner Theorie des »Spiegel-Stadiums« der kindlichen Entwicklung hat Lacan diese Korrespondenz auf den Begriff gebracht. In diesem Entwicklungsstadium des Menschenjungen erlernt dieses über die Bildlichkeit des Anderen seine eigene Identität zu konfigurieren.41 Anthony Wilden faßt prägnant zusammen: »The Other is not a person, but a principle: the locus of the ›law of desire‹ […] According to Lacan, the Other […] is the only place from which it is possible to say ›I am who I am‹.«42 Die von der Psychoanalyse nicht zuende gedachte Konsequenz ist, daß, wenn der Andere immer schon plural ist, auch die Identitätsbildung qua multipler Spiegelung eine plurale sein wird und muß. Sein Diskurs wird ein pluraler sein müssen, seine Welt eine von vornherein »ver-rückte Welt« und sein Selbst dementsprechend ein »verrücktes Selbst«, für das nicht »Selbst-Verwirklichung« bestimmend sein kann, weil es dieses Selbst vor aller Verrückung gar nicht gibt. Oder in Subjekt-Terminologie ausgedrückt: Das Subjekt ist, sobald es, diskursiv im Text vermittelt situiert, »weiß«, was es ist, schon ein sich »entfremdetes«. Oder noch anders gesagt: Das seiner selbst bewußte Selbst-im-Text und sein ihm Fremdes entstehen Hand in Hand. Ausgehend davon hat Luce Irigaray Fehlentwicklungen klassifiziert. Nach ihr ist der Schizophrene nicht imstande, diese Pluralität und seine Korrespondenz im Seelischen, dieses Oszillieren also, zu akzeptieren. Daher erfindet er für sich einen ihm eigenen Diskurs, der wie eine Metaphorizität wirkt, aber der Grundlage echter Metaphern, der Diskursverschiebung, entbehrt. Im Unterschied zu ihm baut sich das Delirieren eine in sich geschlossene Welt, die den Spiegelcharakter ganz zu ignorieren versucht. Fremdheit wird weder außen noch innen zugelassen. Davon wiederum unterscheidet Iragaray noch Demenz und Hysterie, auf die wir hier nicht einzugehen brauchen. In allen Fällen aber führt die Zerstörung der Spiegelung zu einer Zerrüttung der diskursiven Dimension des kommunikativen Textes, bis hin zur Zerrüttung des diskursiven Bildes eigener Körperlichkeit.43

41 Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, in: ders.: Schriften I, Weinheim/Berlin: Quadriga 1986, 61-70; cf. auch Donald W. Winnicott: Playing and Reality. London, New York 1971, 111-118. 42 A. Wilden: System and Structure, 22. 43 Luce Irigaray: Communication linguistique et communication spéculaire, in: Cahiers pour l’analyse no. 3 (1966), 39-55, hier bes. 53ff.

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Julia Kristeva hat in der Pluralität der Spiegelungen im textuellen Prozeß folgende Varianten – aus der Perspektive des Selbst gesehen – ausgemacht: • •



Das Heilige: hier herrscht die Annahme, daß es im Netz der Kommunikation den Großen Einen gibt, der die Vielheiten beherrscht; die Magie: hier behält sich das Selbst die Stellung vor, durch die eine definitive Determination des kommunikativen Textes möglich sein soll, das magische Selbst möchte den Anderen beherrschen, dem Text mit ihm die Richtungen und mögliche Veränderungen vorgeben;44 die »literarische« Wirkung: hier identifiziert sich das Selbst mit dem Anderen, um ihm und sich selbst (in Spiegelwirkung) das Netz der Kommunikation als eine schöne phantasmatische Form zu präsentieren.

Für einen gelingenden kommunikativen Text aber käme es darauf an, den Diskurs von diesen Begrenzungen der Hierarchie, des Exzesses und der Hypostase des Anderen zu befreien. Wenn allerdings Kristeva empfiehlt, sich von allen diskursiven Beschränkungen frei zu machen, verkennt sie die Struktur des kommunikativen Textes mit seinen drei notwendigen Dimensionen. Was sie propagiert, »la transformation qu’il fait subir à ses catégories, et construire son domaine en dehors d’elle. C’est […] ce donner dans le texte un champ conceptuel nouveau qu’aucun discours ne peut proposer«45, würde sich nach unserer Begrifflichkeit innerhalb der diskursiven Dimension des kommunikativen Textes abspielen, als Kritik, als Subversion, als Transformation o.ä., weil jedes Jenseits der Diskursivität auch ein Jenseits der Textualität wäre und genau das den sozialen Prozeß als solchen der Auflösung auslieferte.46 Die Zwischenstellung des Diskursiven (des Normativen und Epistemischen) zwischen Sprachsystem und textuellem Prozeß macht es zu einer Instanz einer Art Dialektik, in der sich System/Struktur und Prozeß durchweben.47 Aus anderer Perspektive gesehen, ist es auch eine Dialektik von Realität und Virtualität.

44 Jessica Benjamin hat das die Omnipotenz des Selbst genannt. J. Benjamin: Der Schatten des Anderen, 109ff. 45 J. Kristeva: 6KPHLZWLN, 12. 46 Cf. l. c., 11f. 47 Das ist seit den 60er Jahren ein vieldiskutiertes Problem in der dialektischen Denktradition, als Beispiele für vieles: Igor Hrušovský: Strukturation und Apperzeption des Konkreten. Bratislava 1966; Lucien Sebag: Marxismus und Strukturalismus. Frankfurt/M. 1970.

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Durch diese Zwischenstellung allein entsteht das Bild einer Position des Einzelnen in einer/der Geschichte. Das Einzelereignis ist zugleich Manifestation einer Ganzheit und Transformation derselben. Diese Janusköpfigkeit des Diskurses setzt sich auf der Ebene der Reflexion fort: Auf ihr begegnen sich ein Reflektierendes und in seinem Vollzug ein »Präreflexives«.48 Und der Effekt ist sowohl die »Abbildung« des Sprech-Ereignisses als auch seine Veränderung. In der reflexiven Wiederholung ist es gebrochen, gespalten und damit verändert. Genau auf diese Doppelheit setzt die Psychoanalyse als Therapie, jedenfalls in der Habermasisch-hermeneutischen Deutung: Das Subjekt reflektiert sich, aber nicht in seinem Sosein, sondern die Reflexion verändert das Reflektierte und die Reflexion selbst.49 Auch ihr wie andererseits allgemein der postmodernen Sozialphilosophie liegt die Einsicht zugrunde, daß jede Selbstreflexion, überhaupt jede Selbstbezüglichkeit nicht bei der Selbstidentität ankommt, sondern bei der Differenz. Die Position des Selbst kann sich nicht als diese identifizieren; denn als Positionierung ist sie immer auf die Position des Anderen bezogen. Selbst-Beobachtung ist Beobachtung des Beobachtens der inneren oder äußeren Anderen. Spätestens in der Selbstbezüglichkeit hört das Selbst auf, zweifelsfrei ein Subjekt zu sein; und da Selbstbezüglichkeit gewissermaßen durch den Anderen hindurch unvermeidlich ist, ist das Subjekt generell bedroht. Innerhalb des kommunikativen Textes gibt es dafür keine Abhilfe. Sehr wohl aber lockt die Versuchung, durch ein Verlassen des Textes die (All-)Macht des Subjekts wiederherzustellen, d.h. durch Gewalt. Diese ist darauf ausgerichtet, den Anderen in seiner Position festzulegen, d.h. das Subjekt durch Objektivierung des Anderen zu fixieren. Dann stehen außer diskursiven Zuwendungen alle Möglichkeiten der Unterwerfungs- und Zerstörungspraktiken offen; dann erzeugt das allmächtigohnmächtige Subjekt sich »die« Frauen, »die« Immigranten, kurz seine »Neger«. Wenn sie nicht mit physischer Gewalt vertrieben oder vernichtet werden, dann werden sie mit Erziehung, Disziplinierung, Überwachung und Verwaltung eingegliedert. Schon die Aufzählung der Maßnahmen zeigt an, daß diese Objektivierung nicht auf Personen eingeschränkt bleiben muß, die durch Hautfarbe, biologisches Geschlecht o.ä. »natürliche« Anlässe für die Zugriffe bieten, sondern daß die zum Subjekt pervertierte Position des Selbst, jeden möglichen Anderen einbeziehen kann; jedermann ist verdächtig, ein verkappter oder ein potentieller

48 Jean Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Reinbek 1997. 49 Die Therapie sei – so Habermas – »eine Bewegung der Selbstreflexion«, Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M. 1968, 306.

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»Neger«, ein »Neger«-Schläfer, zu sein. Das so sich immunisierende, als Subjekt festungsgleiche Selbst kann in kontingenten Moralisierungen50 diese Gewaltzugriffe unvorhersehbar streuen: 'mal sind es die Juden, 'mal die Zigeuner, 'mal die Kommunisten, 'mal die Islamisten, 'mal die Schwulen, 'mal die Intellektuellen. Das untergräbt nicht nur die soziale Dimension des kommunikativen Textes durch Fixierung der Positionen, sondern zerstört auch die diskursive Dimension insgesamt, weil weder prognostische Vorhersehbarkeit, noch moralisches Vertrauen unter diesen Bedingungen gedeihen. »Kontingente Moralisierungen« sind das Gegenteil von Moral. Dieses tangiert freilich auch das Subjekt in seiner Selbstidentifikation, als eines ohne Moral weiß es nicht einmal, als welches es morgen zu erscheinen gezwungen sein wird.51 Illustratives Beispiel ist der Aufstand in Libyen 2011. Hatte sich westliche Politik lange Jahre Gaddafis zu bedienen gewußt – bis hin zur CIA-Zusammenarbeit zwecks Folterungen – so waren seit den Aufständen von 2011 Politik und Militär plötzlich auf Seiten der aufständischen »Demokratie«-Bewegung und ihren eigenen Folterungen, Menschenrechtsverletzungen und beabsichtigten Einführung des islamischen Rechts der Scharia. Was genau darf man von einer solchen Politik im Namen von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten in Zukunft erwarten? Man weiß es nicht – und genau das ist das Problem.52 Ähnliches gilt für die von der Großen Politik staatlich organisierte oder sogar nicht freigegebene und erlaubte Gewalt, die sich im Rahmen des »war on terrorism« entfalten darf. Diese entfesselte, d.h. nicht mehr durch das europäische Völkerrecht gehegte Gewalt, bis hin zu den amerikanischen Tötungslisten für unerwünschte Personen,53 bewegt sich auf der gleichen »moralischen« Ebene wie die terroristische Gewalt, läßt sich lediglich von einer anderen »Rhetorik der Gewalt«54 begleiten. Daß mit dieser auch prophylaktisch eingesetzten »Gegen«Gewalt die Motive der terroristischen Feinde aus der Welt zu schaffen wären,

50 Zum Begriff s. K. Röttgers: Kontingente Moralisierungen. 51 Dann wird zur Wirklichkeit, was Stanford M. Lyman, Marvin B. Scott: A Sociology of the Absurd. Pacific Palisades/CA 1970, 159, sagen: »If in fact all the world were a stage, it would be a tale told by an idiot […]« 52 Cf. zu dem Komplex sehr gründlich G. Brücher: Postmoderner Terrorismus. 53 Die Ermordung Osama bin Ladens ist nur der spektakulärste Akt solcher krimineller Akte einer (anti-)terroristischen Außen-»Politik«. 54 Kurt Röttgers: Rhetorik der Gewalt, in: Medien – Ethik – Gewalt, hrsg. v. Petra Grimm, Heinrich Badura. Stuttgart 2011, 175-184.

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daran zu glauben wird man selbst den größten Dummköpfen nicht unterstellen können. »Terroristische und antiterroristische Gewalt sind die komplementären Seiten eines und desselben Prozesses desorientierender Entgrenzung. Die antiterroristische Gewalt ist mithin nicht die legale/legitime Gewalt, die im Rahmen staatsmonopolistisch abgestützter und rechtsstaatlich gehegter Ausübung auf Seiten der Ordnung wirksam wird. Sie ist im Gegenteil eine aus rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen emanzipierte regellose Gewalt […] Was sie von der terroristischen Gewalt unterscheidet, ist nur die unterstellte gute Ab55

sicht, mit der getötet, gefoltert, bombardiert und ohne Rechtsbeistand inhaftiert wird.«

Brücher erkennt darin eine das Subjekt als Weltgestalter korrumpierende Entdifferenzierung der Differenz von Selbst und Anderem.56 Über Selbstbezüglichkeit allein läßt sich die Objektivität der Geltung einer Kultur nicht begründen. Denn die Bezüglichkeit ist ebensosehr im Anderen fundiert. Allerdings läßt sich die Doppelzentrierung (Ellipse) der Kultur auch nicht verstehen als stete Annäherung der Zentren, wie es auf ihre Weise die Anerkennungs- und die Konsenstheorien annehmen. Anerkennung ist stets nur zu haben als »verkennende Anerkennung«.57 Im Hinblick auf das Design der Anerkennungstheorien heißt das: die Objektivität kultureller Geltungen ist nur zu haben als Scheitern58 der Anerkennung. Deren Bild ist die Ellipse mit wechselnden Nähen und Distanzen, nicht jedoch als die Konzentrik des allgemeinen Kreises. Das Scheitern ernst zu nehmen, bedeutet für die Philosophie die Aufgabe, diesen Bewegungen des Scheiterns zu folgen und sie nachzuzeichnen. Wehren sich Organismen eine Zeitlang negentropisch gegen ihren Untergang, so werden sie doch allemal – sterbend – in diesem Widerstand gescheitert sein. In die negentropische Kultur dieser Umwege zum Tod ist die Doppelheit eingezeichnet: Aufschub und Scheitern.59 Das Scheitern gibt Anlaß, den Illusionen der Omnipotenz des planenden und handelnd exekutierenden autonomen Subjekts der Moderne

55 G. Brücher: Postmoderner Terrorismus, 79. 56 Falls einer der Antiterroristen solches lesen sollte, wird er den Verfasser mühelos als einen (potentiellen) Seinesgleichen erkennen können. 57 Th. Bedorf: Verkennende Anerkennung. 58 Zu einer Philosophie des Scheiterns als Chance s. Richard Geisen: Macht und Misslingen. Berlin 2005. 59 Zum damit gegebenen Verlassen der vorgezeichneten Zeit-Bahnen s. St. M. Lyman, M. B. Scott: A Sociology of the Absurd, 189-212.

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Zügel anzulegen, Zügel einer Dezentrierung, durch die die Kultur ein Ort der Weisheit werden kann. Dezentrierung als Vollzug des Scheiterns, des Mißlingens der Konzentration, ist ein Prozeß, in dem das Selbst ver-andert wird, d.h. den Anderen in sich mit dem Anderen außer sich in Korrespondenz setzt. Wenn ein Selbst im kommunikativen Text zum Anderen spricht, bleibt es nicht, was es war. Die Tradition hat versucht, an dieser Stelle eine Demarkationslinie in den Text einzuziehen und den Redetext dem Text der Schrift entgegenzusetzen, angefangen vom Paulus-Wort »Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig«60 bis zu dessen Umkehrung in der Philosophie Derridas und ihrer Kritik des Logozentrismus. Nach dieser Tradition wäre der schriftliche Text das Tote, das den Urheber des Textes und seinen Tod überlebt. Wird diese Abgrenzung mit derjenigen von Allgemeinem und Besonderem zusammengebracht, wird die Verwirrung noch gesteigert. Denn dann kann das Mündliche entweder mit dem Allgemeinen (dem »Geist« bei Paulus) oder im Gegenteil gerade mit dem besonders Individuellen und in der Schrift wegen der Allgemeinheit der Zeichen gar nicht Ausdrückbaren identifiziert werden. Daraus zog Max Frisch die Konsequenz, daß genau dieses Unsagbare eines Sagenden nur fiktiv gebrochen sich sagen läßt. Weil der »Geist« gerade nicht sagbar ist, bedarf es der (literarischen) Schrift. »Jede Geschichte, die sich erzählen läßt, ist eine Fiktion […]«61 Das sogenannte Ich und sein Erzählgestus ist auf diese Weise seinerseits eine Fiktion. Diese Option hebt die Spaltung zwischen schriftlichem und mündlichem Text zwar nicht auf, aber läßt sie als irrelevant erscheinen. Monika Schmitz-Emans erläutert: »Gerade weil und insofern Schrift sich nicht anmaßt, eine positive Vergegenwärtigung zu bewirken, wird sie dem ohnehin Abwesenden am ehesten gerecht. Indem der Text sich selbst als Zwischenraumarchitektur begreift, bedeutet er das Andere in seiner Andersheit.«62 Wenn angesichts der Entzweiung als Charakteristikum der Moderne nach einem Ausgleich gesucht wird, der Selbst und Anderen nicht nur aufeinander bezogen sieht, sondern sie konzentrisch zu einer Einheit versöhnen möchte, so waren es früher Vorstellungen von Gott und gemeinsamer Gotteskindschaft, später die »Fraternité« der im Kampf der Menschheit und der Menschenrechte Ver-

60 2. Korinther 3, 6. 61 Max Frisch: Stiller, in: ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge III. Frankfurt/M. 1986, 416. 62 Monika Schmitz-Emans: Überleben im Text?, in: Colloquia Germanica 26 (1993), 135-161, hier 159.

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einten, so ist es heute das Geld, von dem verzweifelt diese Einheit erwartet wird. Geld, so hört man schon von Georg Simmel, nivelliere alle Unterschiede, es werde »zum absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller Werte […] es wird zum Zentrum, in dem die entgegengesetzesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden […]«63 Der Zweifel aber, daß das Geld die Konzentrierung der Ellipse bewirken könnte, ist nicht in dem volkstümlich festgehaltenen Unterschied zwischen dem Geld, das man hat, und dem Geld, das man nicht hat, festgehalten, sondern wird heute massiv virulent in den Unterschieden der verschiedene Aggregatzuständen von Geld als metallene Münze (die jedoch auch seit Ersetzung der 2-Pfennig-Kupfermünzen durch äußerlich verkupferte in den Fünfzigerjahren auch nicht mehr den Metallwert beinhalten), dem Papiergeld, dem Kredit und den Derivaten und ihrer sehr begrenzten Konvertibilität.64 Geschweige daß das Geld die Unterschiede nivellierte65 und auf diese Weise eine Einheit der Gesellschaft auf dem Niveau der Ökonomie ermöglichte, ist es nur eine andere Darstellungsform der asymmetrischen Elliptik des kommunikativen Textes. Wenn wir annehmen, daß nicht Einheit, sondern Differenz und/oder Pluralität der Konvergenzpunkt des Sozialen sein muß,66 dann brauchen wir nicht auf »die Menschen« zurückzugehen, um die Ebene des Sozialen zu erschließen. Damit der Andere »versteht«, was ein Selbst ihm sagt, reicht es für ihn, im Text zu sein, er muß nicht überhaupt oder gar zuerst verstehen, was hinter diesem Selbst im Jenseits des sozialen Prozesses steckt. Walter Benjamin sagte: »Es ist fundamental zu wissen, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache.«67 Oder anders gesagt: Sprecher ist der Sprecher nur im Text. Man hat geglaubt, die verschiedenen von Benjamin angesprochenen Sprachauffassungen vom Sprechen der Sprachen auf Geschlechter zurechnen zu können, was vielleicht allenfalls dann zuträfe, wenn man unter Geschlecht weder Sex noch Gender, sondern eine Art kulturellen Stils verstünde:

63 G. Simmel: Gesamtausgabe VI, 305. 64 Zur Logik des Finanzkapitals s. J. Vogl: Das Gespenst des Kapitals, bes. 53-82. 65 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 597. 66 Zum Initiator Nietzsche in dieser Hinsicht s. Jean Greisch: Die ewige Wiederkunft des Anderen, in: Concilium 17 (1981), 370-375. 67 W. Benjamin: Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen, 142.

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»[…] die Sprache der Frauen ist ein Zwischengewebe, eine Verlängerung des Körpers […] die Sprache der Männer ist ein Zeichensystem, das auf genaue Kommunikation zielt. Für die Frauen ist sprechen berühren, liebkosen, umgeben. Für die Männer ist sprechen manövrieren. Die geschwätzigen Männer erzählen Dinge – im allgemeinen Heldentaten –, 68

die geschwätzigen Frauen lassen die Worte kreisen, um (fast) nichts zu sagen.«

Mithin ist Verstehen eines Textes nichts von der Art der »Einfühlung«, wie sie die geisteswissenschaftliche Psychologie verstanden hatte und selbst noch Husserl, für den die Einfühlung so etwas wie die Verähnlichung psychischer Gehalte wäre. Textverstehen, nun als Verstehen im Text, läßt die Differenz bestehen und benötigt keine sie transzendierende Einheit, sei es als verborgene Urtatsache, sei es das verbindende Ziel. Nicht gebannt ist damit schon die Versuchung, die Differenz zu DER Differenz zu ontologisieren oder – wie bei Derrida – zu transzendentalisieren. Den Effekt der Spaltung für das Selbst im Verhältnis zu seinem inneren Anderen beschreibt Helmuth Plessner so: niemand weiß – als vermeintlich ungespaltenes Selbst – von sich, »ob er es noch ist, der weint oder lacht, denkt und Entschlüsse faßt, oder dieses von ihm schon abgespaltene Selbst, der Andere in ihm, sein Gegenbild und vielleicht sein Gegenpol […] Wirkliche Innenwelt: das ist die Zerfallenheit mit sich selbst, aus der es keinen 69

Ausweg, für die es keinen Ausgleich gibt.«

Aber das ist nur ein Effekt – die ursprüngliche Spaltung vollzieht sich im Prozeß des kommunikativen Textes, durch die der Andere gerade nicht ist wie das Selbst. Wer aber diese Position des Anderen besetzt, hat im gelingenden Gespräch immer die Option, das Andere eines Selbst oder das Selbst eines Anderen zu werden. Den Moment des Umkippens dieser Differenz kann man das Ereignis nennen. So verstanden ist das Ereignis nicht darstellbar, d.h. repräsentierbar. Es ist der Moment der reinen Gegenwart, der in seinem Sichdarstellen Vergangenheit und Zukunft, Selbst und Anderen und Epistemisches und Normatives auseinandertreten läßt. Was soll unter diesen theoretischen Weichenstellungen des Selbst als Funktionsposition im kommunikativen Text das alte JQYML VHDXWyQ heißen? Es

68 Le GRIF: Kreativität, Sprache, Kultur, in: Le GRIF: Essen vom Baum der Erkenntnis. Berlin 1977, 8-17, hier 15f. 69 H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, 298f.

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wird wohl heißen müssen, die Position genau zu bestimmen, sowohl in bezug auf den inneren als auch auf den äußeren Anderen, wiewohl man bei dieser Operation eher auf die inneren und die äußeren Anderen in ihrer Pluralität stoßen wird. Selbst-Erkenntnis kann also nicht einmal fiktiv meinen: erkenne was du wärest, wenn es keine Anderen gäbe und du in keinen Beziehungen stündest.70 Die Spaltung ist dem Selbst eingeschrieben, und es muß sich zu und in ihr positionieren. Aus ihr gibt es kein Entkommen durch eine vermeintlich den Spalt überbrückende Metakommunikation – oder Gott … Problematisch wird diese Spaltung erst dort, wo der Abgrund im Inneren von dem im Äußeren nicht mehr unterschieden werden kann und wenn die inneren Anderen mit den äußeren Anderen zu einer Einheit zusammengefaßt werden (sollen). Denn die Paradoxie des Abgrunds (des Chaos im Sinne von Hesiod) ist weder eine einzige noch in einem einzigen Streich zu beseitigende. Auch Gewalt beseitigt sie nur für den Augenblick des Gewaltvollzugs. Danach stellt sie sich wiederholend erneut ein. Die Selbst-Gewißheit des Leibes schien für die LeibPhänomenologen die Basis für das authentische Selbst zu bieten. Aber sogar Merleau-Ponty mußte mit dem Begriff der Intercorporéité einen Ausweg aus dem Autismus einer isolierenden Selbstbezüglichkeit des Leibes vorsehen, wenn auch mit unzureichenden, weil die Struktur der Kommunikation verfehlenden begrifflichen Mitteln. Allerdings, und das verdient hier ebenfalls festgehalten zu werden, ist die Spaltung nicht eine einfache. Sie ist vielmehr in ihrer Komplexität auch eine Faltung, die nicht nur Differenzen festhält, sondern auch Ähnlichkeiten. Solche Rekontinuierung des zerbrochenen Kontinuums bedeutet im Normativen, daß es mit der Unterscheidung des Guten und Bösen nicht getan ist, schon gar nicht mit der Separierung der identifizierten Bösen von »uns« Guten. Der erbarmungslose Kampf gegen »das« Böse macht auch den so Kämpfenden böse und könnte ihm, wenn er zur Erkenntnis noch fähig ist, zeigen, daß schon durch sein Kämpfen »das« Böse eine Vielfalt ist, von der er selbst ein Teil ist.71 Aus der manichäischen Konsequenz der Identifikation des (fernen) Anderen mit dem Bösen – und daß die Bösen nicht immer schon als solche erkannt und

70 Cf. A. Wilden: System and Structure, 108: »[…] for our self has no meaning and no existence except in its relationship to Otherness.« 71 Cf. Georges Préli: La force du dehors. O. O. 1977, 218: »On sait que […] l’accès au symbolique, - au langage, en même temps qu’il structure le sujet, l’aliène, le constitue comme barré parce que du même coup une vitre le sépare de son immédiateté, lui barre à jamais l’accès au ›réel‹.«

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demaskiert worden sind – und den zukünftigen Bösen (den heutigen »Schläfern«) befreit die mit Lévinas und seinen Adepten vorgenommene probeweise Umkehrung. Statt den Anderen zum Thema, zu Eigentum, Beute, Raub und Opfer zu machen, ihm nun zu unterstellen, daß er »Gott näher« sei, daß die moralische Gerechtigkeit bei ihm beginne und von ihm ausgehe.72 Aber genau hier hat ebenfalls die Pluralisierung einzusetzen, und da beginnen für Lévinas die Probleme; denn das Gute (»Gott«) ist Eines, nur der Teufel ist vielfältig und erscheint stets in neuer Gestalt und an anderen Orten.73 Der sogenannte »Anspruch« des Anderen (in der Doppelbedeutung von engl. »address« und »claim«) stellt sich als Konzert, ja als Konkurrenz dar. Das ist für Lévinas ein (für ihn möglicherweise lösbar scheinendes74) Problem dar, nicht aber für eine Theorie des kommunikativen Textes. In ihr erscheint die Vielfalt auf der Darstellungsebene des Textes mit seinen zugleich vereinheitlichenden und vervielfältigenden Diskursstrukturen, symbolischen und normativen. Wer hier momentan als »Terrorist« ausgeschlossen wird, ist (nach Ibn Khaldun) nur der Repräsentant einer neuen Asabiyah.75 Sein Böses ist (vielleicht) ein zukünftiges Gutes, oder jedenfalls das Gute der Fremden, die ein- oder auszuschließen die stetige Option des Textes ist. Eine solche Sicht ist kein Relativismus; denn der Relativist unterstellt, daß er die Position einnehmen könnte bzw. innehat, von der aus alles relativ wäre. Aber genau diese Position ist unmöglich. Daher ist auch das Bekenntnis zu »unserem« »Guten«, d.h. die Asymmetrie, unausweichlich, und zwar ebenso unausweichlich, wie der Sehende zwangsläufig eine, genau seine Perspektive einnehmen muß, selbst wenn er weiß, daß es andere gibt und daß er anderes sähe, wenn er anderswo wäre. Die überragende Perspektive, die den Relativismus rechtfertigen würde, kann nicht eingenommen werden, d.h. real gibt es sie nicht. Was sich im Normativen als die Austreibung des Bösen aus dem Text darstellt, ist im Epistemischen die Tendenz zum Rechthaben, die seit Platon das Erkenntnisbemühen bewegt.76 Seit Sokrates, dieser Erzsophist, die Sophisten aus der Philosophie vertrieben hat,77 gilt die Unterstellung, daß »die Wahrheit« ir-

72 E. Lévinas: Die Spur des Anderen, 199f. 73 K. Röttgers: Teufel und Engel, 8. 74 Thomas Bedorf macht dazu die Kategorie des Dritten bei Lévinas stark: Th. Bedorf: Le differend éthique. 75 Schimmel, Annemarie (Hg.): Ibn Chaldun. Ausgew. Abschnitte aus der muqaddima. Tübingen 1951. 76 Karl Otto Erdmann: Die Kunst recht zu behalten. 3. Aufl. Leipzig 1924. 77 K. Röttgers: Der Sophist, mit weiteren Literaturhinweisen.

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gendwo wie ein Osterei versteckt ist und die Erkennenden nun aufgerufen sind, sie zu suchen und zu finden.78 Was er nicht zu suchen und zu finden hätte, das ist das Falsche. Lévinas stellte fest: »Alle Transzendenz wird als Wissen gedacht.«79 Dann erscheint das Empfinden als eine Art des Verspeisens statt eine Berührung ohne Bewußtsein der Berührung zu sein, was Sartre seinerzeit das präreflexive Cogito genannt hatte. Sehen, selbst wenn es normalerweise der Erkenntnis untergeordnet ist, ist, so Lévinas, ein Berühren, eine Performanz der Nähe ohne Bewußtsein der Nähe. Diese Aisthesis der Nähe ist, so sagt Lévinas, »ist die ursprüngliche Sprache, Sprache ohne Worte und Sätze, reine Kommunikation.«80 Dieses alles sind Behauptungen, für die in einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes kein Platz ist. Aber für Lévinas begründet diese Nähe, diese Kommunikation ohne Text das Ethische, auf das es ihm so sehr ankommt. Folgt man jedoch der sophistischen und damit performativen Alternative81 zu den Ostereier-Suchenden, dann muß man sagen, daß es diese Wahrheit im Jenseits des Textes – für den Text – gar nicht gibt; vielmehr stellt sie sich im Prozeß des kommunikativen Textes erst heraus.82 Es wird Zeit, auf den Kommunikationsbegriff im allgemeinen klärend einzugehen, geht er doch integral in den Begriff des kommunikativen Textes ein. Leitende Frage darf dabei sein, inwiefern der Text nicht zuerst als ein Moment zu sehen ist, auf das sich Kommunikationen, Kritiken, Interpretationen usw. beziehen können, wie es Hermeneutik und Literaturkritik praktizieren, sondern durch

78 F. Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, 883: »Wenn Jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort wieder sucht und auch findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und Finden der ›Wahrheit‹ innerhalb des Vernunft-Bezirkes.« 79 E. Lévinas: Die Spur des Anderen, 277; cf. A. Wilden: System and Structure, 170: »All behavior is communication.« Die Semantik dieser sprachfreien Kommunikation heißt dann folgerichtig Zoosemantik. Die Lévinassche sprachfreie Kommunikation oder die Zoosemantik kennen keine Probleme der Übersetzung. 80 E. Lévinas: Die Spur des Anderen, 280. 81 Cf. A. Hetzel: Die Wirksamkeit der Rede. 82 Zu Eugen Rosenstock-Huessy in dieser Hinsicht s. Wilfried Rohrbach: Das Sprachdenken Eugen Rosenstock-Huessys. Stuttgart 1973, 31, Anm. 8: die Sprache ist ursprünglich Werbung, ist Gesang, nicht aber Gegnerschaft von Propositionen; zur »politischen« Sprache des Kräftemessens s. auch B. Waldenfels: Ordnung im Zwielicht, 81ff.

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diese selbst ebenso wie auf ihre Gegenstände sich bezieht, so daß jegliche Kommunikation – sei es im mündlichen, sei es im schriftlichen – als Text angesehen werden kann. Sogar wenn man die sogenannte Intersubjektivität oder gar Zwischenleiblichkeit und Zwischenmenschlichkeit im Blick hat, darf man das Zwischen dieser Sphären als kommunikativen Text verstehen. Deswegen müssen wir nun, um diesen Textbegriff zu konturieren, auf Kommunikation »im allgemeinen« zu sprechen kommen.

11 Allgemeines zu Kommunikation

Viele haben gemeint, Kommunikation als ein Handeln darstellen zu können. Hier aber wurde sie als sozialer Prozeß behandelt. Der Unterschied im Ansatz ist offenkundig. Handeln setzt Subjekte voraus, und im Unterschied zum Verhalten setzt Handeln freie Subjekte voraus, die Intentionen haben und Handlungspläne entwerfen und sie in der Welt verwirklichen. Nur gewaltsam läßt sich dieses Modell auf Kommunikation anwenden. Kommunikation setzt schon im Begriff eine Gemeinsamkeit (communitas) voraus und kann nicht von einer handelnden subjektzentrierten Einsamkeit ausgehen. So ist in Kommunikation von Anfang an Sozialität eingelassen. Und umgekehrt: Sozialität ist wesentlich auf Kommunikation angewiesen, ja besteht aus ihr. Es ist gewiß eine unnötige Ausweitung des Kommunikationsbegriffs, jeden Austausch mit der Umwelt (wie z.B. Stoffwechsel der Organismen) als Kommunikation zu bezeichnen, so daß dann auch Pflanzen durch Wasser- und Nährstoffaufnahme und Photosynthese mit ihrer Umwelt »kommunizieren« würden.1 Aber was man zweifellos sagen kann, ist, daß ein solcher Austausch mit der Umwelt für Menschen z.B. Kommunikation voraussetzt. Also nicht animalische Nahrungsaufnahme als solche ist Kommunikation, aber jede Mahlzeit ist es. Die Sozialform der gemeinsamen Mahlzeit ist offener als die Gemeinschaft, weil sie nicht nur die in engeren Bindungen miteinander Lebenden verbindet, sondern kommunikativ offen auch Gäste zuläßt, aber sie ist geschlossener als die auf Tausch- und Vertragsbeziehungen beruhende Gesellschaft. Sie läßt zu, aber sie schließt auch aus. Kommunikation bedeutet ein Sich-Einlassen auf den Anderen. Ein solches Sich-Einlassen, ein solches Ansprechen, läßt im kommunikativen Prozeß Selbst als den Sprechenden und den Anderen als den Angesprochenen und Zuhörenden

1

So A. Wilden: System and Structure, 203.

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als Positionen des kommunikativen Textes auseinandertreten. Und der Angesprochene ist immer ein Besonderer, ein Partikularer, d.h. eher ein Bubersches »Du« als ein Fichtesches »Nicht-Ich«. Solche Anerkennung der Partikularität in der Kommunikation ist grundsätzlich unterschieden von einer Erkenntnisbeziehung, die immer (qua Verwendung allgemeiner Begriffe) eine Unterordnung des Besonderen unter ein Allgemeines ist. Selbst wenn der Andere nur zuhört und nicht als ein Selbst das Wort ergreift, ist die Rede von Selbst doch spezifisch genau auf ihn bezogen und abgestimmt. Spricht Selbst zum Anderen über ihn, hat das schon etwas Herabsetzendes und Beleidigendes; denn wenn jemand als Fall eines Allgemeinen angesprochen wird, wird er als Angesprochener nicht ernst genommen und fühlt sich u.U. verletzt. So wird aber auch die ärztliche Kommunikation mit dem Patienten zweideutig. Der Arzt spricht mit dem Patienten, sonst fühlte der sich nicht ernst genommen, wie es früher zuweilen bei ChefarztVisiten der Fall gewesen sein soll, daß dieser in Anwesenheit des Patienten über ihn mit dem Oberarzt sprach. Aber der verantwortliche Arzt, wenn er denn ein naturwissenschaftlich ausgebildeter Mediziner ist, muß den Patienten, bzw. seine organischen Krankheits-Symptome auch in den Begriffen naturwissenschaftlicher Allgemeinheiten bezeichnen. Dem kommt freilich der sogenannte mündige Patient entgegen, indem er in der Anamnese seine Beschwerden bereits auf den Organen seines Körpers lokalisiert, von Ausnahmen in Pädiatrie, Psychiatrie oder Veterinärmedizin einmal abgesehen. Als Grundorientierung des Verstehens von Kommunikation den Handlungsbegriff auszuklammern, heißt nicht zugleich, die Bedeutung von Kommunikation für Handlungsprozesse zu bestreiten. Alles nicht-solitäre Handeln setzt zwecks Handlungskoordination Kommunikation voraus. Und je differenzierter und pluralistischer Gesellschaften sind, umso mehr sind sie darauf angewiesen, weil vieles in ihnen sich nicht mehr von selbst versteht. Aber je differenzierter eine Gesellschaft ist, umso differenzierter und flexibler muß auch das Kommunikationsmedium sein.2 Man muß damit rechnen und darauf vorbereitet sein, daß der Andere anders ist, als ursprünglich zu erwarten gewesen wäre, und das gilt sogar für den inneren Anderen. Und genau hier entsteht auch ein Problem. Die Adressierung des inneren Anderen und des äußeren Anderen müssen keineswegs konvergieren. Vielfach wird man seine Motive zu kommunizieren nicht mit kommunizieren, ja oft gera-

2

Cf. J. Kristeva: 6KPHLZWLN, 9.

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de verheimlichen wollen, ja auch vor sich selbst.3 Rousseau meinte diesbezüglich sogar kulturelle Grundunterschiede feststellen zu können. In den südlichen Sprachen habe die Grundmotivation des Ansprechens der Anderen die Form »aimez-moi«, in den nördlichen Sprachen dagegen die des »aidez-moi«.4 Wie dem auch sei, es gibt jedenfalls oft diesen verborgenen Teil der Kommunikation. Entscheidend ist, daß es für eine erfolgreiche Kommunikation keineswegs erforderlich ist, daß beide Seiten als wechselnde Selbst und Anderer stets die gleichen (geheimen) Motive verfolgen. Die Nordländer und die Südländer Rousseaus können, obwohl der Modus ihrer Kommunikation perspektivisch divergiert, durchaus erfolgreich und störungsfrei kommunizieren. Der eine bekommt die Liebe, die er will, der andere die Hilfe. Voraussetzung ist natürlich, daß die Divergenz nicht zum Thema, etwa durch einen besserwissenden Dritten, oder zum Gegenstand der Kommunikation gemacht wird, d.h. daß die Ebenen der Kommunikation auseinandergehalten werden können.5 So nämlich kann dieses subtextuelle Gelingen sich selbst dann ereignen, wenn die Partner sich thematisch mißverstehen oder aneinander vorbeireden. Oft sind ja doch Mißverständnisse (von denen man allerdings erst später wissen darf), sowohl reizvoll und inspirierend als auch subtextuell befriedigend.6 Der Modus der Kommunikation determiniert nicht die Thematik. Allerdings gibt es Abstufungen. Die Tendenz der theoretischen Kommunikation geht dahin, eine Konvergenz von Modus und Thema zu erzeugen, z.B. im Wertfreiheitspostulat der Soziologie oder in der Logischen Propädeutik und ihrem Versuch einer »Orthosprache«. Dagegen ist wäre es in erotischer Kommunikation, z.B. eines Flirts, oftmals unangemessen, das Thema Liebe anzusprechen. Diese Befunde legen es nahe, Kommunikationssituationen als grundsätzlich vielschichtig anzunehmen. Situationen sind definitionsoffen. Diese Offenheit ist allerdings begleitet von der Unterstellung, daß man sich prinzipiell verstehen

3

Hierzu subtil Hannah Arendt: Wahrheit und Lüge in der Politik. München 1972; sie zeigt anhand der Pentagon-Papiere, wie insbesondere in herausgehobenen politischen Positionen der Selbstbetrug dem Betrügen der anderen vorausgehen kann, 34.

4

S. Ijsseling: Macht, taal en begeerte, 375.

5

Ronald D. Laing: Phänomenologie der Erfahrung. Frankfurt/M. 1969, 70-73.

6

Meyer Howard Abrams spricht von schwachen und starken Mißverständnissen; starke Mißverständnisse sind kreativ und wertvoll, weil der Rezipient ihnen den ablaufenden Text überschreiten kann. M. H. Abrams: How to do Things with Texts, hier 581-585; in gleichem Sinn Sarah Kofman: Schreiben wie eine Katze. Graz, Wien 1985, 69; zur Produktivität von Mißverständnissen s. auch G. Gamm: Nicht nichts, 160.

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könnte, d.h. daß Anschlüsse der Ebenen aneinander gefunden werden könnten. Zu derartigen Unterstellungen gehören vor allem Kompetenzzurechnungen. Konkret heißt das: Vor Eintritt in eine Situation erotischer Kommunikation ist es nicht erforderlich, ja manchmal sogar hinderlich, das Einverständnis des Partners zum Eintritt in eine solche Situation vorab einzuholen, d.h. Verführung muß immer möglich bleiben. Was aber unbedingt erforderlich ist, daß ich dem Partner die Kompetenz zu einer solchen Kommunikation unterstelle (Pädophilie ist keine erotische Kommunikation!). Unterstellungen dieser Art können sowohl enttäuscht werden, als auch einer expliziten Prüfung unterzogen werden. Prüfungsgespräche gehen generell von der Kompetenzunterstellung aus und überprüfen dann die Robustheit dieser Unterstellung. Bei einer Widerlegung der Unterstellung ist zweierlei Anschluß möglich: erstens Kommunikationsabbruch, zweitens Wechseln auf eine andere, zumeist reflexive Ebene, z.B. der Thematisierung der Gründe für das Scheitern. Bei einer irrtümlichen Unterstellung der Kompetenz zu einer homoerotischen Kommunikation wird man normalerweise den Abbruch wählen. In Examenssituationen wird man in einem Feedback die Ebenenwechsel wählen. Das Scheitern kann von dem, der die Unterstellung machte, sowohl kognitiv als auch normativ bewältigt werden. Den Begriff der Metakommunikation für den Ebenenwechsel zu verwenden, halte ich deswegen für etwas irreführend, weil anders als im ursprünglichen Sinn etwa von Metaphysik als meta-ta-physika (hinter, d.h. im Anschluß an die Physik) mit der Vorsilbe »meta« meist etwas Höheres, und nicht einfach etwas Anschließendes gemeint oder mitgemeint ist. Reflexion auf einer anderen Ebene ist aber nicht »höher«, sondern nur anders. Stimmt es eigentlich, fragen wir, was Nietzsche gesagt haben soll,7 daß man seine Erkenntnis nicht mehr genügend liebe, sobald man sie mitteile, oder stimmt die dahinter sich verbergende Annnahme, daß man, auch wenn einen das Leben zum Zusammenleben mit anderen zwinge, doch als Denker ganz alleine denken könne, oder vielleicht sogar sollte?8 Gibt es das wirklich, jenes einsame Denken? Jedenfalls wäre es ein Denken vor jeder Sprachlichkeit; denn die Sprache ist immer sozial vorgegeben. Die Sprache legt schon fest, mit wem und wie man kommunizieren kann. Ein Denken ohne Sprache, vielleicht ist es möglich, vielleicht ist Mystik solch ein Denken. Aber dann hätte man zu klären, wie weit

7

Wolfgang Müller-Lauter: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: NietzscheStudien 3 (1974), 1-60, hier 5.

8

In diesem Sinne Karl Kollmann: Zur sanften Gewalt, in: Konkursbuch 2 (1978), 161173, hier 162.

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man den Begriff »Denken« fassen will, ob man wirklich alle mentalen Prozesse, die möglicherweise auch nicht auf Sprache angewiesen sind, darunter mit begreifen will. So meinte etwa A. J. Ayer noch, daß es ein Denken ohne Worte gebe; aber, so Ayer, dieses sei unklar: »vague and inchoate“. Um zu kommunizieren, ringe man dann um die rechten Worte/Wörter, und wenn man sie gefunden habe, dann sei auch der Gedanke von größerer Bestimmtheit. Der allgemeine Begriff von Denken, den er dabei unterstellt, ist, daß Denken zwar immer ein Zeichengebrauch sei, aber nicht notwendigerweise von Wortzeichen.9 Aber wie soll man wissen, ob jemand, der sich kommunikativ nichts anmerken läßt, für sich alleine »denkt«. Ist es nicht vielmehr so, daß der, der »denkt«, in der Performanz seines Denkens immer schon sich eingelassen in einen kommunikativen Text mitdenken muß? Wenn Nietzsche aufschrieb, daß man seine Gedanken nicht genügend liebe, wenn man sie mitteilt, dann scheint er selbst diesen Gedanken, daß es so sei, nicht genügend geliebt zu haben, als er ihn schreibend der Kommunikation preisgab. Zugegeben, er schreibt nicht für alle, für die stumpfe Masse, sondern Auserwählte seinesgleichen, die »freien Geister«. Aber die Auswahl, die er damit schreibend trifft, ist doch eine bestimmte, auch wenn er de facto darin weitgehend gescheitert ist.10 Er konturiert seinen Anderen, er denkt nicht erst für sich – losgelöst von jeder möglichen Kommunikation – und teilt dann seine ungenügend geliebten Gedanken den Würdigen, oder gar den Unwürdigen mit. Sie sind in seinem Denken schon anwesend und gestalten es, nicht die realen Anderen (wie auch?), sondern die in seinem Denken vorgestellten Anderen. Stellt er sie sich als begriffsstutzig vor, dann denkt er für sie langsamer, unterstellt er Bildungsarmut, dann denkt er ausführlicher. Und schließlich: denkt er schweigend, dann zwingt er an der Stelle den Anderen zum Reden und läßt, wenigstens partiell, sein Denken durch ihn determinieren. »So war früher die Unbegabtheit des Schülers die Ausrede des Lehrers, heute ist die Unbegabtheit oder hoffnungslose Verkalkung des Lehrers die Ausrede des Schülers.«11 Aber schon die Form der Aus-Rede hat das einsame Denken längst verlassen.

9

Alfred J. Ayer: What is Communication, in: ders.: Metaphysics and Common Sense. Basingstoke 1973, 19-34; in die gleiche Richtung zielen die neueren Untersuchungen von Kristóf Nyíri: Kép és idĘ. Budapest 2011; ders.: Bild und Zeit. Bielefeld 2012.

10 »Er wollte immer ein Schicksal sein, und sein Schicksal war doch immer das des Scheiterns.« Steffen Dietzsch: Vom Wiederentdecken eines Unvergessenen, in: Weimarer Beiträge 36 (1990), 1018-1026, hier 1019. 11 Niklas Luhmann: Schematismen der Interaktion, in: Kölner Zs. f. Soziologie u. Sozialpsychologie 31 (1979), 237-255, hier 240f.

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Reden wir also vom Menschen als der vermeintlichen Quelle und dem primären Ort solch autochthonen Denkens. Zwangsläufig müssen wir dabei die Frage nach den Möglichkeiten des Sozialen und damit der Sozialphilosophie eine Weile außer acht lassen; denn daß vom Menschen her eine Sozialphilosophie nicht entwickelt werden könne, hatten wir ja ständig vorausgesetzt. Aber natürlich gibt es Menschen, und außerhalb der Sozialphilosophie kann auch über sie (wie intuitiv und unbegründet es auch immer sein mag) geredet werden.12 So wollen wir annehmen, daß es neben allem Reden und Denken eine sinnliche Verfassung des Menschen gibt, die als symbiotischer Mechanismus dieses Denken und Reden ermöglicht (wie auch umgekehrt), jedoch nicht determiniert. Und manchmal begegnet der Sinnlichkeit ein Ereignis, das alle vorherige Textualität bricht und ihre Ordnung auf den Kopf stellt. Und so gibt es quasi einen Anker im Sinnlichen, der auch das Begehren nach Kommunikation steuert. Aber – darauf hat Lévinas stets insistiert – der Andere, auf den sich dieses Begehren bezieht, stellt das Selbst infrage. Das Begehren, fundiert in der Sinnlichkeit, ist doch etwas ganz anderes als ein in der Naturalität begründeter Trieb. Der Trieb findet in der Triebbefriedigung, zur Not in der Selbstbefriedigung, seine Ruhe … bis er sich (natural) erneut meldet. Das Begehren aber ist unendlich und kann nicht beruhigt werden. Dieser Andere, auf den sich das Begehren richtet, entzieht sich also, zugleich aber ist mit ihm mehr als er selbst kopräsent, »wie ein Text durch seinen Kontext« sagt Lévinas.13 So gerät für Lévinas etwas an Kommunikation in den Blick, was außerhalb der Thematik (des Signifikats also) liegt. »[…] daß in der Rede eine Beziehung zu einer Singularität stattfindet, die außerhalb des Themas der Rede steht und nicht in der Rede thematisiert wird.« Das nennt man texttheoretisch den Subtext. Solch ein Subtext gründet nicht in einer Erkenntnis des Anderen, was jedoch auch bereits für die Performanz des Textes gilt, umso mehr aber für den Subtext;

12 Daß »der« Mensch eine Erfindung der Humanwissenschaften ist, ist bekanntlich eine der zentralen Thesen Michel Foucaults; mit der Historisierung der Kategorie »des Menschen« ist auch das mögliche Ende dieses Konzepts anvisiert. Gottfried Benn, der Arzt, diagnostizierte freilich bereits 1950: »Es ist überhaupt kein Mensch mehr da, nur noch seine Symptome.« Gottfried Benn: Gesammelte Werke 4. Wiesbaden 1968, 1056. Diese Diagnose beruht auf einem völligen Verlust eines »moralischen und philosophischen Inhalts« im durchgängigen Materialismus; und stellt sich angesichts eines solchen Nihilismus für Benn die Frage »Wie soll man da leben«, so hatte er früh die zynische Antwort parat: »Man soll ja auch nicht.« (1162). 13 E. Lévinas: Die Spur des Anderen, 220.

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vielmehr gründet er in der sinnlichen Nähe des Anderen (oder in der Materialität des Mediums bei Distanz-Kommunikation). Die subtextuelle Nähe des Anderen nennt Lévinas nun irreführenderweise »Ethik«. Manifest ist diese Nähe im Sinnlichen in der Haut, die man berührt, und in dem Antlitz, das der Blick berührt.14 Geht man auf diese Weise vor, dann gerät die Lehre vom Menschen unversehens schnell zu einer Lehre von den Beziehungen,15 was nichts anderes zur Folge hat, als die Anthropologie doch wieder in der Sozialphilosophie zu fundieren und keinesfalls umgekehrt. Die Frage, die sich dann ergibt und die in den Sechzigerjahren schon von Paul Ricœur aufgeworfen und von Jean-Luc Nancy weiterverfolgt worden ist, ist dann die, wie die Lehre von den Beziehungen in der hermeneutischen Lehre vom Sinn einzurichten sei.16 Und es eröffnet sich ebenfalls die Perspektive des Werdens, in Beziehungen ist der Mensch stets ein Werdender. Menschsein als eine Gestalt des Werdens hat Michel de Montaigne in das Bild des Windes gekleidet: »Wir sind ja selbst eitel Wind! Der Wind freilich, weiser als wir, hat seine helle Freude am Sausen und Brausen und findet seine Erfüllung in dem, was seines Amtes ist, ohne auf Bestand und Dauer aus zu sein, die ihm wesensfremd sind.«17 Von da ist es kein weiter Weg zu der Feststellung: »Identität ist die Einheit, die ich in einem Selbst finde, wenn ich dieses so betrachte, als sei es ein Text.«18 Diese Betrachtungsweise ist deswegen so na-

14 L. c., 274. 15 Das ist auch die These von Th. Bedorf: Le différend éthique, bes. 195ff. 16 Paul Ricœur: Symbolique et temporalité, in: Ermeneutica e Tradizione, ed. E. Castelli. Padova 1963, 5-31, hier bes. 14; das ist natürlich ebenfalls die Frage nach dem Verhältnis des ethnologischen Strukturalismus von Lévi-Strauss, der eine Lehre von den Beziehungen ist, zur Hermeneutik.; s. dazu H. Kämpf: Die Exzentrizität des Verstehens. 17 Michel de Montaigne: Essais. Frankfurt/M. 1998, 559. 18 N. N. Holland: Einheit Identität Text Selbst, hier 1132; cf. J. Benjamin: Der Schatten des Anderen, 129ff.; cf. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, in: Ges. Schriften 6, 62: »Dies Werden verschwindet und wohnt in der Sache […] Im Lesen des Seienden als Text seines Werdens […]«, bewährt sich die Philosophie als Dialektik. Ebenso Heidegger: »Das Ganze zeigt sich erst und nur in seinem Werden.« Martin Heidegger: Zur Sache des Denkens (Gesamtausg. XIV). Frankfurt/M. 2007, 76. Aus diesem Werdens-Charakter des menschlichen Lebens als Phänomen ergibt sich (mit MerleauPonty), daß »die Erscheinung des Menschen nicht wie eine Wirkung aus einer Ursache abgeleitet werden« darf. Maurice Merleau-Ponty: Vorlesungen I. Berlin 1973, 126.

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heliegend, weil die Menschwerdung des Humanjungen in der Tat die Einlassung in einen Text ist. »Sprechen heißt an der Brust der gemeinsamen logischen Mutter saugen.«19 Deswegen ist die Eintextung des Menschenjungen mehr als nur eine Analogie zur Identitätsbildung, es ist eine solche. Wir sprechen eine (oder mehrere) Sprachen, unsere Muttersprache, die sich von anderen Sprachen unterscheidet; wir sprechen niemals die Sprache. Zugleich aber ist unsere uns eigene Sprache eine uns verbindende, die uns in einem gemeinsamen kommunikativen Text verwickelt. Eine Privatsprache gibt es nicht: entweder sie ist nicht strikt privat, d.h. auf ein einzelnes Individuum beschränkt, oder sie ist keine Sprache. Alle Sprache ist öffentlich, bzw. öffnend.20 Andererseits heißt genau das auch: Nichts ist nicht-kommunizierbar. Sprechen ist also keine Exekution von Äußerungsintentionen sprechhandelnder Subjekte. Aber es ist auch nicht eine Selbstrealisierung der Möglichkeiten, die eine Sprache bietet, etwa daß »die Sprache spricht« (Heidegger). Denn der Text des Sprechens verbindet Selbst und Anderen in einer gemeinsamen Situation, möchte man sagen.21 Aber so sehr gemeinsam ist die Situation auch wiederum nicht, da die Asymmetrie von Selbst und Anderem schon allein deswegen und weil die Situation das ist, was von den Teilnehmern als die Situation definiert wird. Selbst und Anderer sind verschiedene Perspektiven der Situationsdefinition. Wenn beispielsweise Selbst seinen Anderen belehrt, so kann je nach Besetzung der Position des Anderen dieses von diesem Anderen in eine sehr unter-

19 M. Serres: Der Parasit, 355. 20 Peter Bichsel hat das Wittgensteinsche Privatsprachen-Argument in eine Geschichte umgesetzt. Ein Mann, der das Leben eintönig findet, will alles ändern, und er ändert die Wörter für die Dinge, das Bett nennt er fortan »Bild« usw. Er schuf sich seine Privatsprache mit der Folge, daß er die Leute nicht mehr verstand, die nun zu seinem Bild weiterhin »Bett« sagten. Bichsel: »[…] eine lustige Geschichte ist das nicht. […] [Er] konnte die Leute nicht mehr verstehen […] Viel schlimmer war, sie konnten ihn nicht mehr verstehen. Und deshalb sagte er nichts mehr. Er schwieg, sprach nur noch mit sich selbst, grüßte nicht einmal mehr.« Peter Bichsel: Ein Tisch ist ein Tisch, in: ders.: Kindergeschichten. Frankfurt/M. 1997, 21-30, hier 29f. 21 Es gibt natürlich auch Texte, die keinerlei Hinweise auf die Situation enthalten oder zu enthalten scheinen, sie ersetzen oftmals die Situationsreferenz durch eine intertextuelle Referenz, z.B. oftmals wissenschaftliche, theoretische Texte. Cf. Josef SimoninGrumbach: Pour une typologie des discours, in: Langue, Discours, Société. Pour Émile Benveniste, ed. Julia Kristeva, Jean-Claude Milner u. Nicolas Ruwet. 1975, 85-121, hier 109f.

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schiedliche Situation definiert werden, je nachdem, ob ein Schüler von einem Lehrer etwas lernen möchte oder ob eine Ehefrau von ihrem Mann die Bilder in einem Museum »erklärt« bekommt. Oftmals ist aber nicht einmal die Situationsdefinition in solchen Fällen einvernehmlich klar. So mag der Lehrer glauben, der Schüler wolle das lernen, was er ihm belehrend sagt; aber sicher sein kann er sich dessen nicht. Der Schüler mag glauben, daß der Lehrer ihm etwas beibringen möchte, vielleicht will der aber nur seine Überlegenheit demonstrieren, sicher sein kann sich der Schüler nicht. Der Ehemann im Museum mag glauben, seine Frau entbehre bestimmter Informationen über das, was die Bilder zeigen, sicher sein kann er sich dessen nicht; und die Ehefrau mag glauben, ihr Mann wolle sich nur aufspielen, aber sicher sein sie sich auch dessen nicht. Diese doppelte Unsicherheit hat Niklas Luhmann als die doppelte Kontingenz von Interaktion bezeichnet. Sie beruht darauf, daß das Wahrnehmen des Anderen (von einem Selbst) von dem Selbst aus seinerseits wahrgenommen wird. Textphilosophisch umformuliert, heißt das: Das, was ein Selbst einem Anderen sagt, ist doppelt unsicher. Selbst stimmt sein Sagen auf den situationalen Erwartungshorizont ab, zugleich aber weiß er, das sein Sagen für jeden Anderen interpretationsoffen ist. Diese Unsicherheit des kommunikativen Textes ist wünschenswert. Denn ebenso wie der Konsens die Kommunikation, d.h. das soziale Band des kommunikativen Textes, zum Erliegen bringen kann, so wäre auch die absolute Determination des situationalen Erwartungsraumes tödlich. Niemand brauchte mehr zuzuhören, wenn immer schon klar wäre, was gesagt werden wird und wie es verstanden werden muß. Das hat Folgen für den Diskurs, er ist eindeutig und mehrdeutig zugleich. Insofern ist die geläufige Klage darüber, daß »wir« uns nicht mehr verstehen, weil »wir!« keine gemeinsame Sprache mehr sprechen, völlig verfehlt. Der Diskurs, situiert zwischen Sprachsystem und Text, formalisiert die Abweichung und ermöglicht und begrenzt die Vielfältigkeit des Textes. Selbst der juristische Diskurs, der doch mit dem Ziel gerechter Verfahren um Eindeutigkeit bemüht ist, zeigt doch in jedem Prozeß seine Interpretationsoffenheit und Situationsabhängigkeit. Die Regelungen der StVO, des Zivilrechts, des Verwaltungsrechts, ja selbst des Strafrechts oder des Zivilprozeßrechts regeln nicht in einer alles überwältigenden Weise das, was in der Gesellschaft geschieht, sondern eröffnen im Gegenteil den Text des unendlichen Palavers der Anwälte. Wenn das öffentliche Sprechen das Palaver und das Gerede zelebrieren, die das Man sich entfalten läßt, dann fragt sich, ob es nicht in Absetzung davon das »echte« Gespräch, den »reinen« verständigungsinnigen Dialog geben könne. Eine der kontrafaktischen Bedingungen eines solchen ist die Nichtexistenz des

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Dritten. Seine Nichtexistenz ist etwas ganz anderes als sein Ausschluß; ein nichtexistenter, ja nicht einmal der Möglichkeit nach existierender Dritter kann gar nicht ausgeschlossen werden. Also ist der nichtexistente Dritte nur als kontrafaktische Fiktion (oder wenn man lieber so will: als regulative Idee) denkbar. Eine andere Bedingung ist der Dissens. Denn gerade, wenn es keinen Dritten gibt, endet im thematisch allumfassenden Konsens jegliche Möglichkeit eines kommunikativen Anschlusses. Bei partiellem Konsens hilft immer der Themenwechsel oder der Ebenenwechsel. Dann hilft mühelos immer der reflexive Anschluß: »Aber wie hast Du das gemeint, als Du mir vorhin zustimmtest?« Selbst aus dem Scheitern der Kommunikation im (gedachten) totalen Konsens gibt es noch einen Ausweg: den Monolog, der sich im fiktiven Anderen einen dissensuellen Anderen kreiert.22 Was aber ist mit jenem, der aufgrund eines totalen Konsenses nun nichts mehr zu sagen weiß, sondern nur noch schaut. Wir wissen, daß theoria das reine Schauen ist ohne jeden Zusatz eines Palavers. Ist solche theoria nicht insgeheim das Ziel aller Kommunikation, möchte nicht jedes Wort das letzte sein, weil mit ihm nunmehr alles gesagt ist? Gadamer hat in der Tat noch gemeint, daß das Zuschauen das erstrebenswerte Ziel sei. »Zuschauen ist also eine echte Weise der Teilhabe.«23 Wir nennen den reinen Zuschauer normalerweise einen Voyeur. Man kann bezweifeln, daß er nicht doch in einem abgeleiteten Sinne ein Teilhaber ist. Sein Zuschauen (als Sehen) setzt also gerade auf einen distanzierenden, nicht partizipierenden Sinn. Gewiß gibt es Vorgänge, für die Partizipation sinnlos ist und nur theoria, das distanzierende Sehen angezeigt ist, z.B. der Ausbruch eines Vulkans. Wenn wir aber den Zornausbruch eines anderen Menschen ebenso distanziert betrachten wie den Vulkanausbruch, dann hat sich die Situation vollständig geändert. Was in einem Fall rational ist, ist im anderen Fall zynisch.24 Insofern wäre zu erwä-

22 Zum Dialog umfassend B. Waldenfels: Das Zwischenreich des Dialogs. 23 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. 3. Aufl. Tübingen 1972, 118. 24 Cf. auch die Kritik an der »Okularität« Rankes durch Paul Yorck von Wartenburg: Der Okularismus betrachtet die Geschichte nach Analogie der Naturschauspiele: »Abstraktion […] von aller Empfindung.« Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877-1897. Halle 1923, 113.

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gen, ob nicht das zuschauende Dabeisein (theoria) auch die rein konsensuale postdialogische Kommunion entweiht.25 Das Dabeisein und Zuschauen des Theoretikers liegt zwischen dem bloßen Zusammen-Vorkommen und der Teilnahme. Es gibt allerdings auch – wenige – soziale Prozesse, bei denen man durch Zuschauen bereits zum Teilnehmer wird. In vielen anderen Fällen wird das Zuschauen von den Beschauten als Kommunikationsverweigerung aufgefaßt, z.B. wenn jemand bei rituellen u.a. Gemeinsamkeitsfesten sich auf das Zuschauen (»Gaffen«) beschränkt, obwohl er eigentlich, qua »Verbrüderung«, dazugehören sollte. In Gesprächen wird das bloße Dabeisein bis zu einem gewissen Punkt als Schüchternheit oder selbstkritische Einschätzung spezifischer Inkompetenz toleriert oder sogar geschätzt, aber darüber hinaus wird der Blick des Schweigenden als objektivierendes Beobachten registriert oder als peinlich empfunden. Sein schweigendes Zuschauen erscheint als Surrogat möglicher Teilnahme am Kommunikationsprozeß. Insofern wir den kommunikativen Text als die Grundform begreifen, unter der soziale Prozesse analysiert werden können, werden wir auch am Kommunikationsbegriff dessen Prozessualität herauszustellen haben. Zugleich aber wird man festhalten müssen, daß Kommunikation ein komplexer Prozeß ist, für den es kein einzelnes und Eindeutigkeit gewährendes System/Paradigma gibt. So läßt sich z.B. Kommunikation als sprachlicher Prozeß sowohl dem grammatischen System einer Sprache zuordnen, als auch ebenso dem Diskurs einer Sprechergemeinschaft (z.B. dem Diskurs des Rechtssystems), ebenso Personen(-gruppen) als spezifischen Erfahrungssystemen. Unter dem Aspekt der Prozessualität betrachtet, erscheint der Text und seine ihm immanente Kommunikation als ein unendlicher Prozeß. Wie das Leben der Organismen schon für eine gewisse Zeitspanne ein gegen die Entropie gerichteter Prozeß ist, so ist auch die Kommunikation ein die einzelnen Kommunizierenden übergreifender negentropischer, der Tendenz der Kultur gemäß, unendlicher Prozeß. Die soziologische These, daß man nicht nicht kommunizieren könne, ist ein anderer Ausdruck für die Einlassung der je individuellen Negentropien in diese übergreifende Negentropie der Kommunikation. Ebenso wie Entropie und Negentropie sich im Prozeß durchkreuzen und durchmischen, ebenso sind

25 Friedrich Schlegel hat die »gemeinschaftliche Freude« als den Ursprung der »Geselligkeit« im Medium von Musik und Poesie eines festes als Quelle aller Bildung bezeichnet. Friedrich Schlegel: Über die weiblichen Charaktere in den griechischen Dichtern, in: Friedrich Schlegel 1794-1802. Seine prosaischen Jugendschriften, hrsg. v. Josef Minor. Wien 1882, I, 30.

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sequenzielle Zielerreichungsbewegungen (das ökonomische Prinzip) und digressive Verzögerungen und Umwegigkeiten (das Kulturprinzip) verwoben; eines für das andere wirkt wie eine Metasprache auf eine Sprache, als Metonymie und Metaphorik, als Männlichkeit und Weiblichkeit, als Intentionalität und Wille zur Macht (Nietzsche) und als Nachgiebigkeit (Iso Camartin). Indem wir den kommunikativen Text und den in ihm zu lokalisierenden Kommunikationsbegriff ins Zentrum der Analyse des Sozialen rücken, erweisen wir uns einer Idee idealer oder direkter oder absoluter Kommunikation abhold. Diese Begriffe gehen von der Vorstellung aus, daß die Innerlichkeiten von Individuen das erste sind und daß diese innerlich unendlichen Individuen sich in Kommunikation füreinander so öffnen, ja offenbaren, daß sie im Idealfall gelingender Kommunikation dieser Sorten ganz transparent füreinander werden, das Kommunikationsmedium ganz verschwindet, die Individuen füreinander effabile werden und Kommunikation zur Kommunion der Seelen wird, wie es die Engel füreinander sind, wenn man der Vergleichenden Anatomie der Engel eines gewissen Dr. Mises (alias G. Th. Fechner) glauben darf,26 und wie die Geheimdienste und ökonomischen und politischen Überwacher und Bundes-Trojaner es gerne hätten. Jede reale Kommunikation bliebe hinter dieser vermeintlich idealen zurück, weil sie voll störender Einwirkungen wäre und sogenannte verzerrte, ja systematisch verzerrte Kommunikation hervorbringe, die man aber Zug um Zug beseitigen könne und müsse, um sich jenem Ideal von Kommunikation anzunähern, die aber streng genommen gar keine Kommunikation mehr wäre, weil in absoluter Transparenz nichts mehr zu sagen bliebe. Ideale Kommunikation (= Kommunion) wäre reines Werden des Selbst. Von den Verteidigern dieses Modells wird oft die genetisch frühe, allerdings dort auch ganz unentwickelte Form der Kommunikation zwischen Mutter und Kind angeführt, die für den Säugling nahezu die Totalität von Kommunikation überhaupt ist und damit diejenige Einheit präfiguriert, die die ideale Kommunikation ausmachen würde. Thomas Bedorf berichtet, daß Axel Honneth berichtet habe, daß Donald W. Winnicott davon gesprochen habe, daß es eine Mutter-Kind-Symbiose gebe, in der es nicht nur eine Abhängigkeit des Säuglings von der Mutter gebe, sondern »eine ebensolche Abhängigkeit der Mutter vom Kleinkind«, indem sie »von der

26 Dr. Mises (d.i. Gustav Theodor Fechner): Vergleichende Anatomie der Engel, in: Kleine Schriften vom Dr. Mises. Leipzig 1875, 195-240, zit. nach Natur der Ästhetik – Ästhetik der Natur, hrsg. v. Olaf Breidbach. Wien, New York 1997, 196-219; cf. dazu Karl Clausberg: Schillernde Blasen der Phantasie aus reiner Wissenschaft, in: dass., 189-194; K. Röttgers: Die Physiologie der Engel; ders.: Teufel und Engel.

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Nicht-Kommunizierbarkeit der Bedürfnisse auf der anderen Seite dazu gebracht wird, sich umstandslos mit diesen zu identifizieren.«27 Indem es in diesen Diskussionen um Identifikationen, nicht aber um Kommunikationen geht, und indem unklar bleibt, wie diese Identifikationen operieren, ist die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes auf der realistischeren Seite. Ideale Kommunikation ist ein Schein (sei es auch ein »Vorschein« einer Lebensform, wie Habermas früher sagte28), bleibt zu erwägen, ob es vielleicht ein notwendiger Schein sei, weil zwar jede faktische Kommunikation als momentan befriedigend erlebt werden könne, aber es immer ein in utopischer Weise über diese Befriedigung hinausschießendes Begehren endgültiger und restloser Befriedigung gebe. Wenn wir das annähmen, dann würden wir die Unendlichkeit des Prozesses fiktiv, ja illusionär an den inneren Unendlichkeiten von Individuen festzumachen versuchen, statt umgekehrt diese auf jene zu beziehen, d.h. vom Medium und der Vermittlung auszugehen. Lösen wir uns also nun von diesem vermeintlichen Ideal direkter, d.h. nicht durch ein Medium vermittelter Kommunikation, so bleibt uns von diesen Impulsen der Sinn der Annahme eines textualen Kooperationsprinzips übrig, das z.B. in bestimmten Konversationspostulaten explizierbar ist.29 Ein solches sprachliches Kooperationsprinzip, entsprechend reformuliert, besagt: Der Prozeß der Kommunikation wird durch bestimmte, selbst kommunikative Desiderate aufrechterhalten. Diese Desiderate sind Desiderate einer Konstitution eines Wir im Prozeß der Kommunikation.30 Als Projekte einer solchen Wir-Konstitution könnten beispielsweise genannt werden: gemeinsames Wissen (Luhmann), gemeinsame Wahrheit, korrelative Relevanz und Verständlichkeit, d.h. Anschlußfähigkeit als Bedingung der Fortsetzung des Textes. Werden diese Projekte nicht eingelöst, so ist mehrererlei möglich. Diesen Möglichkeiten ist jedoch eines ge-

27 Th. Bedorf: Verkennende Anerkennung, 49; dort auch umfangreiche Literaturhinweise zur Kritik dieser Annahme einer »symbiotischen Dyade«, 50, Anm. 13. 28 Später hat er bekanntlich diese Formulierung zurückgenommen bzw. relativiert. 29 Herbert Paul Grice: Logic and Conversation, in: Syntax and Semantics, vol. 3, ed. by P. Cole and J. L. Morgan. New York 1975, 41–58. 30 Alfred Schutz: The Problem of Social Reality, in: Collected Papers I, 218ff.: Die Gemeinsamkeit des Involviertseins in einen kommunikativen Prozeß konstituiert eine gemeinsame Zeit: »He and I, we share, while the process lasts, a common vivid present, our vivid present, which enables him and me to say: ›We experienced this occurrence together.‹ By the We-relation, thus established, we both […] are living in our mutual vivid present […] We grow old together.« (219f.)

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meinsam, nämlich daß der Text nicht unverändert fortgesetzt werden kann. Das Ereignis des Intervenierens in der Artikulation von Kommunikationspostulaten erscheint für das Kontinuum als »Störung«. Störungen dieser Art generell vermeiden zu wollen, wäre widersinnig; ebensowenig sinnvoll wäre freilich die gegenteilige Maxime: störe Kommunikation durch Metakommunikation, wo immer du kannst. Die Befolgung einer solchen Maxime wäre allein schon deswegen unmöglich, weil die Universalisierung der Maxime Kommunikation gänzlich zerstören würde. Insofern Kommunikation ein Prozeß in der Gestalt eines Textes ist, ist sie immer auch analysierbar als die Temporalität des Diskursiven und, nehmen wir die sozialen Dimension mit hinzu, der Sozialität der in den Prozeß verflochtenen Kommunikationspartner (als Funktionspositionen des kommunikativen Textes. Die Temporalität in diesen Prozessen ist denkbar als: •

• •

Subsumtion: die Einordnung eines Prozeßsegments in eine übergreifende temporale Perspektive, vergleichbar der Einbeziehung von Selbst und Anderem in soziale Systeme oder von diskursiven Strategien in eine Grammatik; Finalität: die Einbeziehung in einfache, handlungstheoretisch darstellbare Zweck-Mittel-Relationen; Korrelation: die Auffassung der gegenseitigen, Medialität begründenden Abhängigkeit von Prozeßsegmenten.31

Trotz der generellen Austauschbarkeit und Rotation der Funktionspositionen von Selbst, Anderem und Drittem bilden sich für die innehabenden Personen gewisse Rollenerwartungen und –zurechnungen für Situationstypen heraus, die eine gewisse Stabilität und, was die Prozessualität anbelangt, Kontinuitäten perspektivischer Zeitbewältigung heraus. Durch eine solche Typisierung von Zeitbewältigungen im kommunikativen Text gewinnen wir die Möglichkeit, den im Prinzip unendlichen Text auf seine immanenten Begrenzungen hin zu befragen, so daß wir Segmente abbilden können.32 Die symbolische Vermittlung der Kommunikationsprozesse realisiert sich

31 In jedem dieser drei Fälle gilt, daß Kommunikation dargestellt wird als Aktualität der Netzstruktur des Sinns der Welt; Niklas Luhmann: Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas, Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt/M. 1971, 42; J.-L. Nancy: Le Sens du Monde, 80. 32 Dieses scheint auch die Ebene möglicher Vermittlung zwischen Prozeß- und Systembeschreibungen zu sein, die Wolfgang Lipp in seiner dramatologischen Konzeption

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als Projekt der gemeinsamen Konstitution von Sinn. Daß im Zuge dieses Konstrukts auch die Funktion der wechselseitigen Anerkennung aktualisiert wird, ist ebenso klar wie trivial. Aus dieser konkomitanten Anerkennung läßt sich jedoch nur in extremer Vereinseitigung und Abstraktheit so etwas wie einer Anerkennungstheorie der Intersubjektivität oder gar eine Sozialphilosophie ableiten. In der Tat kann es ja Kommunikationsprozesse geben, in denen die Anerkennung wichtiger wird als die Medialität des Diskursiven, aber das sind Spezialfälle. Man kann nun die oben genannten drei Prozeßbewältigungsformen auf diese Mehr oder Weniger von Anerkennung oder Medialität beziehen und kommt auf diese Weise zu einem Schema von sechs Elementen:33 Vermittlungsaspekt

Prozeßbewältigung

Anerkennung

Medialität

subsumtiv

Aufopferungsinstitutionen

Wissenssysteme

final

Strategische Kooperation

Normative Systeme: Moral/Ethik

korrelativ

Erotik/Kampf

Ästhetisches

Eine Kommunikation der Aufopferung ist eine solche, die sich höheren Einheiten einfügt und von dieser Einpassung eine Anpassung an deren Werte, Sinnschließungen und Konsolidierung als Segment ableiten kann. Die Kommunikationspartner/-positionen sind hier nicht autonome Handlungssubjekte eines Kommunikationsprozesses, sondern ihre Kommunikationen repräsentieren die Kommunikationsprozesse auf der vermeintlich übergeordneten, jedenfalls weiter ausgreifenden Ebene und beziehen auch dadurch ihre Legitimationen. Individualisierungen wären kontingent und allenfalls bloß hinderlich. In strategischer Kooperation beziehen die Partner/Positionen ihre Anerkennung aus der gegenseitigen Vorteilsnahme, wie sie dem ökonomischen Tauschprozeß zugrunde liegt. Aber auch viele andere Formen gehören hierher, z.B. der »small talk«, Zwangskommunikationen wie Verhöre, Ausforschungen Verant-

von Institutionen anvisiert. Wolfgang Lipp: Institutionen – Mimesis oder Drama?, in: Zs. f. Soziologie 5 (1976), 360-381. 33 Die hier ausgeführten Überlegungen sind locker angelehnt an Vorschläge von William Sacksteder: Person, Communication, and Violence, in: World Futures 7 (1969), 3346; cf. ders.: Kinds of Theoretical Communication, in: International Philosophical Quarterly 4 (1964), 110-121.

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wortungszurechnungen, usw. bis hin zu therapeutischen Kommunikationsformen. Selbst die Kommunikationen des Finanzkapitalismus folgen dieser Figur: sie verschaffen die Anerkennung aus einer Futurisierung, in der der Tausch von Waren oder Geldsummen, face-to-face oder vermittelt, abgelöst worden ist durch eine Kommunikation mit Zukünftigem, Erwartungen zukünftiger Erwartungen usw. Erotik und Kampf, der liebende Kampf, ist in dieser Reihe die reinste, weil korrelative Form, die deswegen von gewissen Intersubjektivitätstheorien zum Grundmodell gewählt wurde. Erotische Kommunikation führt tendenziell zur Negation der Realität des Kommunikationspartners durch Steigerung der Bedeutung, des Gewichts des kommunikativen Prozesses als eines solchen und der Funktionspositionen in ihm, die sein Fortschreiten gewährleisten. Erotische Kommunikation ist die Berührung, die die Positionen in Nähe und Distanz zugleich positioniert, die die Unterschiedenen unterscheidet.34 Dabei bleibt jedoch – das gilt es zu beachten und nicht zu verwischen – die Asymmetrie jeglicher Kommunikation erhalten. Ekstatische erotische Kommunikation kann im Prozeß u.U. auf die Wörtersprache verzichten, weil ihr Diskurs, sowohl symbolisch als auch moralisch ganz von der »Sprache des Körpers« beherrscht wird, der sehr wohl seine eigene Symbolik und seine eigene Moral kennt. Erotische Kommunikation übergeht, und zwar in reziproker Asymmetrie, das, was für zur Autonomie ernannte Personen die Person »mit eigenen Rechten“ heißen darf. Im Mißlingen erotischer Kommunikation wird daher diese Asymmetrie auch als »Übergriff« erlebt. Die ganz normale Asymmetrie jedoch, die als solche kein Störungsereignis darstellt, erscheint in erotischer Kommunikation als Verführung. Verführung ist hinsichtlich der sozialen Dimension des kommunikativen Textes an Fremdheit gebunden. Denn weder die Vertrautheit der Gemeinschaft noch die austauschförmigen Beziehungen der Gesellschaft lassen Raum für Verführungen. Wer auch immer verführen möchte oder verführt werden möchte oder dazu verführen möchte, verführt zu werden oder dazu verführt werden möchte zu verführen, setzt jeweils damit eine Fremdheitsbeziehung, die durch eine Grenze markiert wird. Genau deswegen wird in mißlingender erotischer Kommunikation dieser Grenzüberschritt auch als Aggression und dahinter die Figur des Feindes wahrgenommen. Aber selbst in mißlingender erotischer Kommunikation, d.h. wenn die Fremde nicht zur Anderen und im Wechsel der Positionen zum Selbst einer erotischen Kommunikation wird, ist doch jedenfalls die erotische Ansprache eine Art Imputation von Anerkennung. Die Fremde wird anerkannt als eine,

34 J.-L. Nancy: Singulär plural sein, 62

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der eine erotische Kommunikation zugetraut wird. Der Perversion des Fetischismus rückt diese Ansprache nahe, wenn wie im Pygmalion-Mythos die Imputation die real gegebenen Möglichkeiten überschreitet. Nur im Mythos gelingt selbst die Überwindung dieser Fremdheit. Fetischismus ist also nicht die sogenannte »widernatürliche Ausübung des Geschlechtsakts«, sondern bereits die vermeintliche Kommunikation mit Dingen.35 Erotische Kommunikation ist die Höchstform anerkennender Kommunikation. Sie begründet die reine, ungetrübte Intersubjektivität ohne Störung durch Soziales, d.h. den Dritten. Genau deswegen erscheinen auch die Partner erotischer Kommunikation einander als unvergleichlich und unersetzbar. Die These der Unersetzbarkeit scheint prima vista der oben aufgestellten Behauptung der Negation von Bestimmtheit zu widersprechen. Aber es ist gerade die Nichtverankerung des Kommunikationsprozesses in bestimmten substantiellen oder akzidentellen Eigenschaften der jeweiligen Menschen, die diesen zum einzigen und unverwechselbaren macht. Wenn Liebe blind macht, dann beruht das genau darauf, daß die Ausblendung aller differentiellen Eigenschaften alle potentiellen Alternativen negiert und damit auch die Bestimmtheiten aufhebt und vergleichgültigt. Wo aber zur Anschlußfähigkeit erotischer Kommunikationen tatsächlich ganz bestimmte Eigenschaften, z.B. Blondheit, als notwendig unterstellt werden, da kann dann mit etwas Fleiß immer ein Ersatz-Kommunikationspartner solch halb-erotischer Kommunikation gefunden werden. Ein Kommunikationsprozeß jedoch, der seine Bestimmtheit nicht solch kontingenten Faktoren von außerhalb des kommunikativen Textes verdankt, ist unverwechselbar und überdauert; und das ist schließlich auch der Grund dafür, daß Liebe den Tod des Partners oder seine anderweitige Abwesenheit überdauern kann; in diesen außerordentlichen Fällen zeigt sich, daß die erotische Kommunikation auch als bloße Ansprache denkbar ist. Vermutlich aber überdauert sie nicht ewig, und zwar schon allein deswegen, weil die erotische Kommunikation eine somatische Basis des Begehrens postuliert. Nicht nur wenn der Partner stirbt, sondern auch wenn die eigene somatisch markierte Leidenschaft stirbt, transformiert sich auch die erotische Kommunikation in eine andere Form von Kommunikation, z.B. in eine immer wieder gern und auch gemeinsam erinnerte und erzählte Geschichte einer großen Liebe. Weil erotische Kommunikation die pure korrelative Form der Anerkennung als reine Intersubjektivität ist,

35 Insofern ist auch die hermeneutische Annahme man könne mit schriftlich niedergelegten Texten wie mit menschlichen Kommunikationspartnern reden, indem sie auf unsere Fragen angeblich »antworten«, eine sublime Form von Fetischismus.

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ist Liebe asozial.36 Geschichten der Liebe sind nur noch Bilder erotischer Kommunikation, nicht mehr diese selbst, insofern immer schon medial vermittelt. Insgesamt wird man sagen müssen, daß eine reine, direkte Anerkennungskommunikation deswegen unmöglich ist, weil es Prozeßrekurrenzen, die als Wiederholungen Wiedererkennen gewährleisten, geben muß, um den kommunikativen Text unanfälliger für Störungen zu gestalten. Selbst die rein korrelative erotische Kommunikation ist zum Zweck der Fortsetzbarkeit nach eingetretenen Unterbrechungen auf symbolische oder normative Vermittlungen angewiesen.37 So wird man sagen müssen, daß Anerkennung dazu tendiert, in Vermittlung überzugehen, d.h. den medialen Diskurs zu mobilisieren. Erfahrungen sind nur als symbolisch vermitteltes Wissen in Kommunikation übertragbar. Solches Wissen ist proliferierend, netzförmig im kommunikativen Text anschlußfähig. Der unendliche Prozeß wird auf diese Weise z.B. durch Themen gegliedert, die ihm mit Selektion möglicher Anschlüsse auch eine Richtung geben.38 Themen sind kommunikativ erzeugte diskursive Konstrukte, die Anschlüsse selegieren. In Wissenssystemen (Epistemischem) organisierte theoretische Kommunikation (Argumentation) weist der Kommunikation eine solche Richtung, daß in ihr die temporale Orientierung keine Rolle spielt, bzw. spielen soll, sondern es um (unter Irrtums- und Erkenntnisfortschrittsvorbehalt) »ewige« Wahrheiten geht. Auch die Personen spielen keine Rolle,39 so daß Selbst und Anderer fiktiv identisch werden: die Schüler lernen genau das, was die Lehrer wissen, bis die Schüler wissen, was die Lehrer wußten. Gleichwohl ist diese subsumtive Form der Medialität, die die Dimensionen der Zeit und des Sozialen im kommunikativen Text auszuschalten trachtet, immer nur eine methodische Fiktion. Wie wir wissen, wechselt die Attraktivität von Themen der Wissenschaft ähnlich schnell wie Kleidermoden; obwohl sich beispielsweise in der Sache wenig geändert hat, kann man heute mit einer Diskussion der »Aktualität des Marxschen Denkens«, dem Thema der 60er bis 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in Kreisen der

36 E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, 384; R. Barthes: Die Lust am Text, 59, zu recht hebt Barthes hervor, daß die Asozialität liebender Wollust kein Rückfall in einsame Subjektivität sei: »alles verliert sich, voll und ganz.« Cf. auch 24. 37 Zum gleitenden Übergang von den neurotische Zuständen der Verliebtheit über Hypnose zur Bildung von Kollektiven gemäß der Freudschen Theorie s. F. Guattari: Psychanalyse et transversalité, 153. 38 Dieter Wyss: Mitteilung und Antwort. Göttingen 1976, 46. 39 Streng genommen, sind Personen, die keine Rolle spielen, keine Personen. Die Maske macht den Maskenträger, die Kleider die Leute und die Tat den Täter.

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Sozialwissenschaften heute keine Kommunikation mehr anstoßen.40 Innerhalb aber einer anschlußfähigen Themenvorgabe floriert die Kommunikation; dem werden dann Förderprogramme, Tagungen, Preise, Stipendien in Nachwuchsförderungen u.ä. ausgeschrieben, je nach Finanzlage werden Stellen geschaffen, Verlage werden begierig und wollen »Einführungen« in das Thema auf dem Büchermarkt anbieten, ja selbst Rundfunk und Fernsehen reagieren hektisch. Und nach ein paar Jahren ist der Spuk vorbei. Interessanterweise drängen sich gerade in solchen Themenkonjunkturen die Dimensionen von Zeit und sozialem Raum auf: es sind dann immer wieder dieselben Personen (die vermeintlichen Experten für das Thema), die in immer kürzeren Abständen angefragt werden, sich in die inszenierten Kommunikationen einzubringen.- Wie aber entstehen »neue« Themen? Eine wichtige Vorbedingung ist, daß sie nicht wirklich und radikal neu sein dürfen, sich vielmehr von Anfang an in die bestehenden Wissenssysteme einordnen (subsumieren) lassen, also die subsumtive Struktur dieser Vermittlung nicht infrage stellen. Taucht etwas wirklich Neues im kommunikativen Text auf, mag es vielleicht einen gewissen Sensationswert haben, da es aber der diskursiven Anschlußfähigkeit mangelt, wird es nicht zum Thema werden. Die theoretische Kommunikation ist noch stärker auf Generalisierung ausgelegt als die ebenfalls subsumtive Kommunikationsform aufopfernder Anerkennung. Theoretische Kommunikation will und soll »veröffentlicht« werden. Daher sind Brief, Telefonat oder Email keine geeigneten Medien theoretischer Kommunikation, es sei denn sie würden von vornherein den Dialog auf den potentiellen Dritten der Öffentlichkeit hin überschreiten. Ob sich das unter der allgemein zu beobachtenden Tendenz der Korrosion des Privaten in der totalen Überwachung und freiwilligen Entblößung41 ändern wird, bleibt abzuwarten, darf momentan aber noch nicht triftig bezweifelt werden. Theoretische Kommunikation hatte immer schon die gesamte Menschheit als Mit-Adressaten, weswegen ja auch der Begriff des »geistigen Eigentums« für theoretische Arbeiten ein absurdes, gleichwohl von der Verwertungsindustrie hartnäckig verteidigtes Konstrukt ist.42 Diese Absurdität wird allerdings zunehmend dadurch entparadoxiert, daß die Ordnung, in die ein Thema eingeordnet wird, nicht mehr autonome

40 S. als Beispiel für vieles: Gajo Petroviü, Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hrsg.): Die gegenwärtige Bedeutung des Marxschen Denkens. Bochum 1985. 41 K. Röttgers: The Pornographic Turn. 42 Kurt Röttgers: Geistiges Eigentum: Das Eigentum im Text, in: Kommunikationsmanagement. Strategien – Wissen – Lösungen, hrsg. v. Bentele, Piwinger, Schönborn. Aktualisierungsliefrg. 8.46, (2011), 171-197.

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Wissenssysteme sind, sondern die ökonomische Verwertung oder sogenannte Praxisrelevanz. Luhmann hatte noch auf der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Subsysteme mit verschiedenen Codes bestanden. Mit der »Ökonomisierung aller Lebensbereiche« erleben wir jedoch eine Entdifferenzierung und damit Primitivisierung, die sich Luhmann noch nicht vorzustellen vermochte, der als Evolutionstheoretiker noch – wenn auch anspruchsvoller formuliert – dem verpflichtet war, was im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert der Fortschrittsgedanke war. Wenn inzwischen die Rettung der Banken wichtiger erscheint als die Rettung des Bildungssystems, der Universitäten, Akademien und Forschungseinrichtungen, dann ist das nur dadurch möglich, daß Banken und Akademien in ein und dasselbe übergeordnete System eingeordnet werden und dieses als ökonomisch monodiskursiv codiert auftritt. Eigentlich wird in den Wissenssystemen die theoretische Kommunikationsform, der epistemische Diskurs, eine gemeinsame Welt hierarchisch geordneten Sinns konstituiert.43 Im normativen Diskurs von Moral und Ethik wird eine gemeinsame Praxis entweder ausgeübt (Moral) oder nach einem Fraglichwerden wiederhergestellt (Ethik). In der finalen Medialität des Normativen wird die Integrität des Anderen am meisten geachtet und die Zukünftigkeit des gemeinsamen Erwartens in Verträgen, Versprechen, Projekten oder im geltenden Vertrauen gesichert. Das gilt sowohl für den äußeren wie für den inneren Anderen. Der Frieden mit sich und mit den Mitmenschen ist Gewährleistungsinstanz einer gedeihlichen Zukunft. Wenn die Kommunikationspartner entweder voneinander glauben und erwarten, daß der innere oder äußere Andere so bleibt wie er war (die moralische oder konservative Option) oder daß er sich schon in einem gemeinsamen Prozeß in wünschenswerter Weise ändern wird (das ethische oder emanzipatorische Projekt), so ist das nur ein scheinbar unauflöslicher Widerspruch oder ein Konflikt zwischen Männern und Frauen. Unauflöslich wäre dieser Widerspruch nur dann, wenn es je bei reiner ungetrübter Intersubjektivität bleiben könnte und es den in Sozialität sich verbergenden Dritten, d.h. die Vermittlung nicht gäbe. In reiner, sicherer und gegenseitiger Moralität, wenn es sie denn gäbe, schwiege der Dritte. Insofern aber überhaupt ethische Reflexion vorgesehen ist, erscheint er als rhetorische, sophistische Appellationsinstanz. Daß seine Funktion sophistisch ist, beruht darauf, daß Ethisches immer schon im Plural auftritt – anders als in den Wissenssystemen. Die heilige Sprache, die das Gute priesterlich verkündet und alle Ethiken zur Einheit zusammenfügt, gibt es eben nicht. Selbst wenn man Philosophie zu Religion regredieren lassen wollte, käme man nicht in den Genuß

43 Cf. W. Sacksteder: Kinds of Theoretical Communication.

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des Ethischen, es sei denn man träumte weiter von reinen, vermittlungslosen Anerkennungsverhältnissen. Aber da würde sich die Intersubjektivität sofort in derjenigen strategischen Kommunikationsform darstellen, die genötigt wäre, Angehörige anderer Religionen zu missionieren, zu bekehren oder zu erschlagen. Auch unter den Kommunikationsformen medialer Vermittlung ist es wiederum die Korrelationen arrangierende Prozeßbewältigung, die am wenigsten bezug nimmt auf kontingent substantielle Eigenschaften. Wir nennen diese Kommunikationsform diejenige unter dem ästhetischen Diskurs. Der ästhetische Prozeß weist über die Positionen der Zeitekstasen hinaus und überschreitet Epistemisches und Normatives. Im Extremfall ist es die reine Befreiung des Mediums zu sich selbst, z.B. als Lyrik. Bei der Einteilung in die sechs Kommunikationsformen handelt es sich nur um Aspekte, die mehr oder weniger jeden kommunikativen Text betreffen können. Sie sind zwar ihrer Natur nach Aspekte der diskursiven Dimension, aber sind stets auch bezogen auf die soziale Dimension; insbesondere die Unterscheidung von Intersubjektivität der Anerkennung und Sozialität der Vermittlung macht nur in dieser Dimension Sinn. Auch wenn ein Teil der Wissenschaftstheoretiker der 1930er bis 1970er Jahre so tat, als ob sie mit der Beschreibung der Logik der Wissenschaft einen reinen Typ des Wissenssystems herausgestellt hätten, handelte es sich doch dabei nur, wie wir wissen, um ein fiktionales Konstrukt. Es könnte so scheinen, als ob es zwischen den hier herausgestellten Kommunikationsformen und den Kategorien der Habermasschen Universalpragmatik Parallelen gebe; insbesondere die sozialen Formen theoretischer, normativer und ästhetischer Kommunikation ähneln anscheinend in gewisser Weise seinen kognitiven, interaktiven und expressiven Kommunikationsmodi. Gleichwohl bestehen auch gravierende Unterschiede: einerseits, was die Genese der Schematik betrifft, nämlich über Differenz sinnhafter Prozeßstrukturierung bei uns, über implizite Geltungsansprüche der Kommunizierenden bei Habermas, die als »propositionaler Gehalt«, »interpersonale Beziehung« und »Sprecherintention« eine Zuordnung auf die Modi zuläßt, bei uns aber keine solche einfache Zuordnung ermöglicht, sondern lediglich am Thema der Kommunikation seine symbolische Vermittlung von der unthematischen direkten Kommunikation der Anerkennung unterscheidbar macht.44 Der andere Unterschied besteht in der Interpretation der zustimmungsfähigen Deutung von Kommunikation als »Aktualisie-

44 Jürgen Habermas: Was heißt Universalpragmatik?, in: Sprachpragmatik und Philosophie, hrsg. v. Karl-Otto Apel. Frankfurt/M. 1976, 176

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rung von Sinn« (statt »Transport von Informationen«). Bei uns bedeutet »Aktualisierung von Sinn« verschiedenes, je nachdem in welcher Rubrik der Prozeßbewältigungsformen sie begegnet. Subsumtive, aufopfernde Projekte aktualisieren als sozial verbindlich gegeben vorauszusetzenden, d.h. institutionalisierten Sinn; seine Sinnstrukturen sind in der Regel hierarchisch, d.h. auf Einheit von Archè und Telos hin orientiert. Finale Projekte strategischer Kommunikation aktualisieren über Erwartungen gegenseitig zugerechneten Sinn und entsprechen in dieser Form allen drei von Habermas genannten Geltungsansprüchen. Die korrelativen Projekte aktualisieren einen sich performativ aufbauenden Sinn. Daher sind Liebe, Kampf und Kunst Sinngebilde, die der Tendenz nach innovativ sind, zuweilen bis hin zu an-archischen und revolutionären Spielarten. Kooperation und Normativität sind auch unter Bedingungen hoher Komplexität im Prinzip flexibel und transversal angelegt, indem hier die Sinngebilde von den Besonderheiten der die Positionen einnehmenden Kommunikationspartner abhängen.45 Die größte Stabilität bietet Kommunikation, die sich einem Rahmen von Institutionen oder vorhandenen Wissens bloß anpaßt oder einpaßt. Wenn davon die Rede war, daß in den finalen Kommunikationsformen die Besonderheit der Kommunikationspartner am meisten zur Geltung kommt, so heißt das wegen der Kontingenz keineswegs schon, daß der Grad der Selbstbestätigung hier am größten sei. Vielmehr wird man analog zu den Prozeßbewältigungs- und Kommunikationsformen auch verschiedene Formen und Grade der Bestätigung eines Selbst im kommunikativen Text unterscheiden müssen. Es gibt in den subsumtiven Formen eine institutionell gesicherte Bestätigung, deren Grad abhängt von dem Ausmaß und der Übernahme von vorgegebenen Rollenerwartungen und Wissensaneignungen, klassisch ausgeprägt in den Graden von Lehrling, Geselle und Meister oder von Student, Mitarbeiter und Professor. Die finalen Kommunikationsformen sehen eine Bestätigung durch (fortgehende) Interaktionen vor. Und die korrelativen Formen lösen in den Prozessen alle Vorgegebenheiten auf, so daß Selbstbestätigung hier die Form der performativen Selbsterzeugung annimmt. Als wir unser Augenmerk auf die Kommunikationsformen richteten, hatten wir die Abstraktion vorgenommen, Begrenztheit eines Prozeßsegments zu unterstellen und die Übergänge zwischen den Segmenten oder aus den Segmenten heraus zu ignorieren. Aber schon in den innovativen korrelativen Formen wurde diese Abstraktion extrem belastet, bzw. brüchig. Wir haben uns also zu fragen,

45 Jean-Luc Nancy sprach daher hier von der Pluralität der Ursprünge der Welt. J.-L. Nancy: Singulär plural sein, 40.

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wie ein unbegrenzter Sinnaufbau möglich ist und welchen Strukturen er folgt. Das gilt aber auch ebenso und sogar für die subsumtiven Formen, wenn sich der Rahmen durch Binnendifferenzierung oder durch Globalisierung erweitert und verschiebt. Solche Übergänge aus Begrenzungen heraus erweitern aber nicht nur die möglichen Anschlüsse im kommunikativen Text, sie verschließen auch bestimmte andere. Insbesondere die Kommunikationen der Anerkennung sind davon betroffen und erzeugen das Phänomen der unerfüllten Kommunikation. Darin gibt es ein Selbst, das (unter einem bestimmten Aspekt) keinen Anderen findet, oder einen Anderen, den kein bestimmtes Selbst anspricht. Unter der Form der Kooperation scheint es bei sich erweiternder Kommunikation fast unmöglich, für alle möglichen Kommunikationspartner gleich attraktiv zu sein. Deswegen sind ja die Anerkennungstheorien so armselig, die meinen, über intersubjektive Verhältnisse die Gesellschaft, gar die Weltgesellschaft in den Blick bekommen zu können. In dem Maße als anerkennende Intersubjektivität über die Begrenzungen hinauswächst, gibt es für die Kooperationsform irgendwie füreinander bestimmter Partner stets unbefriedigte Bedürfnisse einerseits und notwendige Strategien der Kommunikationsverweigerung andererseits. Jaspers, der jede Kommunikationsverweigerung als eine Schuld ansah, sprach daher in diesem Zusammenhang von einer »unausweichlichen Schuld«.46 Denn jede reale Kommunikation verweigert und negiert andere Möglichkeiten; wollte man aber tatsächlich mit maximal vielen zugleich (anerkennend!) kommunizieren, so würde damit Kommunikation als solche zerstört. Die sogenannte Massenkommunikation; selbst wenn sie interaktive Elemente einbaut, ist nur die Simulation von Kommunikation. Uns scheint demnach der Begriff der »unausweichlichen Schuld« in anerkennenden Verhältnissen der Intersubjektivität kein sinnvoller Begriff zu sein. Der Begriff der Schuld sollte für normativ vermittelte Verhältnisse reserviert bleiben. Hier aber wäre es keine sinnvolle moralische oder ethische Forderung, daß jeder mit jedem tatsächlich kommunizieren solle, und daß, wo dieses nicht geschieht, Schuld zuzurechnen sei, sofern ein konkreter Kommunikationsanspruch erhoben wird.47 Dennoch ergibt sich für eine nicht in sich normativ verfaßte Sozialphilosophie hier ein Problem. Für sie stellen sich bestimmte Sorten des Mißlingens von Kommunikation als Störungen des Prozesses dar. Das ist z.B. dann der Fall, wenn ein bestimmtes Kommunikationsangebot (ein Ansprechen im kommunika-

46 Karl Jaspers: Philosophie. 4. Aufl. Berlin, Heidelberg, New York 1973, II, 60. 47 Hans Blumenberg setzt für »Lesbarkeit« Kommunikationswilligkeit voraus, was jedoch nicht stets zu unterstellen ist. H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, 122f.

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tiven Text) ohne Antwort bleibt. Außer Betracht bleiben können die Fälle, für die das Ausbleiben einer Antwort daran liegt, daß die Position des Anderen von einem für diese Kommunikationsform inkompetenten Partner eigenommen wird. Nehmen wir also nur die Fälle in Augenschein, in denen echte Störungen vorliegen, und achten wir darauf, wie solche Störungen behoben werden können. Oben hatten wir als eine mögliche Störungsbeseitigungsform die Verführung angesprochen. Da Kommunikation generell asymmetrisch ist, ist auch in Verführungsprozessen eine Position der anderen voraus, sprich ein Partner dem anderen. Wir sehen hier von den hochkomplexen Verhältnissen der Verführung Abhängiger (auch Schutzbefohlenen) ab und betrachten nur die Fälle, in denen der Verführende den zu Verführenden zu etwas verführt, was dieser substantiell auch selbst will, nämlich Verführtwerden, der zu Verführende für den Verführer zu sein – nach der alten Dienstmädchen-Devise: »Ach Gott, man wird so leicht verführt, man muß sich nur bemüh’n.« Mißlingt nun der Versuch der Verführung zu Kommunikation, so kann es dem zu Verführenden eben nicht als »Schuld« angelastet werden, daß er sich verweigert – so weit gehen nicht einmal die normativen Universalpragmatiker, die Kommunikationswilligkeit normativ fordern.

12 Entfremdung in der Sprache

Im folgenden werden wir der Frage nachgehen, ob der kritische Begriff der »Entfremdung in der Sprache« im Rahmen einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes Sinn macht. Es ist evident, daß es sich dabei um eine Fragestellung der Beziehung der sozialen Dimension auf die diskursive Dimension handelt. Wir wollen den Begriff zunächst dadurch schärfen, daß wir sprachliche Entfremdung als Negation der Möglichkeit sprachlicher Innovationen fassen. Für eine solche Negation kann man generell zwei Ursachen suchen: entweder diskursive Gründe oder soziale Gründe, oder natürlich beides. Die diskursive Verhinderung kann sowohl epistemisch gelagert sein als auch normativ, und die soziale Verhinderung kann eine innere oder eine äußere Blockade sein.1 Entfremdung hat hier also nicht nur den geläufigen Sinn, daß ein Selbst sich in dem Text nicht selbst wiederfinden kann, sondern auch den geradezu umgekehrten, daß es Verhinderungen dessen gibt, daß ein Selbst sich selbst fremd werden kann (Innovation). Es ist jedoch ganz unvorstellbar, daß die Entfremdung dieser Art ganze Diskurse, ganze Moralsysteme oder Wissenssysteme oder ganze Gesellschaften, ja selbst Individuen in toto beträfe. Entfremdung ist immer partiell. Die marxistische Sprachphilosophie von Henri Lefebvre2 nimmt zum Ausgangspunkt, daß auch Waren in der kapitalistischen Produktions- und Zirkulationswelt Zeichen sind, für die die Saussuresche Einheit von Signifikat und Signifikant gilt. Signifikant der Ware ist das Objekt, das getauscht werden kann und soll, und Signifikat ist die mit der Ware im Tausch verheißene mögliche Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen. Die parole nun (bei uns der Text) ist nicht nur das Medium der Vermittlung im Kommunikationsprozeß, sondern, sofern sie als Diskurs verfestigt ist, dient sie auch als Herrschaftsinstrument der

1

Zu Blockade s. G. Deleuze: Differenz und Wiederholung, 28ff.

2

H. Lefebvre: Le langage et la société.

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Regulierung von Text (d.h. des sozialen Prozesses). Im Extremfall wird ein solcher Text zur Platitüde und sagt nichts Spezifisches mehr aus. Im poetischen Sprechen von der Romantik bis zum Surrealismus sieht Lefebvre eine Gegenbewegung zu der diskursdominierten Banalisierung des Textes. Denn der Diskurs z.B. des Alltagslebens neigt zur Trivialisierung. Seine scheinbare Nähe zur Welt der Dinge ist nichts als die Nähe zum durchökonomisierten Diskurs der Warenund Geldwelt. Formale Bedingung wahrer Kommunikation aber ist nicht die vorgegebene diskursive Einförmigkeit, sondern die quasi metaphorische, immer spontane Begegnung (mindestens) zweier Diskurse in einem Text, der sie zum Mitklingen miteinander bringt. Für Lefebvre ist der Diskurs nicht nur eine »Redegewohnheitsnotwendigkeit«, sondern zugleich auch eine sozial geprägte Norm der Regulierung von Handlungen und Handlungssituationen: »Le discours devient norme sociale. Il régit les actes et les situations comme les objets.«3 In diesem Sinne weitet Lefebvre auch den Textbegriff aus, ein soziales Feld ist für ihn ein Text: »La notion de texte et celle de champ se recoupent. Un texte social est un champ sensible chargé de sens à travers des signes et des valeurs.«4 Sinn und Werte sind die zwei Richtungen, die die diskursive Dimension des kommunikativen Textes hat. Wenn Lefebvre dann jedoch als Beispiele für den »sozialen Text« anführt: Gesichter, Gesten, Kleidung, Wohnungen, Möbel, Häuser einer Straße, so würde eine Sozialphilosophie des kommunikativen Textes vorsichtiger verfahren und lediglich auf die textuelle Vermitteltheit dieser Phänomene abstellen, sie nicht selbst zu Textelementen erklären. Aus seiner Kontrastierung eines »wahren« Textes (als diskursive Begegnung) und der monodiskursiven Textualität der Banalität folgt für Lefebvre zwangsläufig eine fundamentale Diskurs-Kritik, gipfelnd in der Aussage: »En bref, le discours, c’est le degré zéro de la parole.«5 Auch als Null-Text hat der Diskurs seine soziale Funktion, er verbindet Gruppen, die sonst nichts verbindet als das Gerede. Indem in dem Diskurs als Gerede eine schöpferisch-produktive Tätigkeit ausgeschlossen ist, ist der Diskurs für Lefebvre der Ort des sprachlichen Entfremdens. Aber Lefebvre wäre nicht Lefebvre,6 wenn er nicht via negationis den Ausblick auf die Aufhebung der Entfremdung anzeigte. Die Entfremdung erzeugt, so heißt es, ineins mit ihrem Prozeß auch ein soziales »Unbewußtes« (in Anführungszeichen!). Dieses

3

H. Lefebvre: Le langage et la société, 366.

4

L. c., 296.

5

L. c., 367.

6

Hajo Schmidt: Sozialphilosophie des Krieges. Staats- und subjekttheoretische Untersuchungen zu Henri Lefebvre und Georges Bataille. Essen 1990.

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drängt in Poesie und in der Psychoanalyse an die Oberfläche des Textes. Daraus ergibt sich das Projekt einer – wie Julia Kristeva es später genannt hat – »Revolution der poetischen Sprache«7. Die Phantasie-Eruptionen des Pariser Mai 1968 haben diesen Visionen Lefebvres eine konkrete Gestalt gegeben. Im Kontrast zu Lefebvres surrealistisch-romantischem Projekt einer Aufhebung der sprachlichen Entfremdung steht das Konzept eines anderen marxistischen Sprachphilosophen, nämlich Ferruccio Rossi-Landis Sprache als Arbeit und als Markt.8 Seine Sprachphilosophie ist stärker am empirisch-deskriptiven und analytischen Potential des Marxismus interessiert als an ihrer utopischen Struktur des Projekts einer Befreiung. Insofern will Rossi-Landi die Entfremdungsstruktur selbst dort noch aufspüren, wo der Text innovativ wird. Den Sprechern entgleiten gewissermaßen die Resultate der Innovation in dem Sog der Banalität der sprachlichen Zirkulationssphäre. Denn die Bedingungen des Lernens von ursprünglichem Sprachausdruck (schöpferischer Tätigkeit und Arbeit) sind nicht identisch mit denen des Lernens des Sprachgebrauchs. Ein Großteil des schulischen Sprachunterrichts besteht darin, so Rossi-Landi, den Kindern die ursprüngliche Sprachschöpfungsfähigkeit auszutreiben und sie an die jeweiligen Diskursregeln anzupassen, ihnen also die Freude an der Subversion der Diskurse zu nehmen und sie durch die schale Freude gelungener Anpassung zu ersetzen. Rossi-Landi bildet Sprache in einem zur materiellen Produktion homologen Modell ab.9 Nach dieser Homologie zirkulieren sprachliche Einheiten (Wörter, Sätze) wie Waren auf dem Markt; es zählt nur ihr »Tauschwert«, d.h. ihre Äquivalenz oder Nichtäquivalenz zu anderen sprachlichen Einheiten, d.h. allgemein ihre Stellung im System sprachlicher Werte, auch wenn sie ursprünglich [?, K.R.] auf ihren »Gebrauchswert« bezogen waren, d.h. ihren Nutzen für Prozesse der Kommunikation. Die Untersuchung der Befriedigung kommunikativer Bedürfnisse schreibt Rossi-Landi vor allem einer nicht zur »Kaminphilosophie« ver-

7

J. Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache.

8

F. Rossi-Landi: Sprache als Arbeit und als Markt; cf. ders.: Dialektik und Entfremdung in der Sprache.

9

Zur Begründung s. insbes.: Sprache Als Arbeit und als Markt, 132-180; es wird dort auf die Einflüsse der Soziologie Durkheims auf die Linguistik de Saussures hingewiesen, sowie auf diejenigen des Ökonomen Sraffa auf Wittgensteins Sprachphilosophie; s. zum ersten auch Witold Dorozewski: Quelques remarques sur les rapports de la sociologie et de la linguistique: Durkheim et F. de Saussure, in: Journal de Psychologie Normale et Pathologique 30 (1933), 82-91; zu letzterem Rossi-Landi, l. c., 98ff.

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kommenen Sprachanalyse à la Wittgenstein und deren marxistischer Rezeption zu, dagegen die Untersuchung des sprachlichen »Tauschwerts« der herkömmlichen Linguistik, die kein Interesse an der Möglichkeit der Hintergehbarkeit sprachlicher Konventionen zeige, sondern die Sprache in ideologischer Weise wie eine Naturgegebenheit hinnehme. Der Nachteil von Rossi-Landis Homologie-Modell ist offenkundig. Zwar führt es zu einer Unterscheidung von faktisch vorkommenden Sprachspielen von kommunikativ erforderlichen, die Verwirklichung der letzteren aber wird mit dem Begriff »Arbeit« unterbestimmt, wenn man denn, wie üblich, unter Arbeit eine intentional gerichtete, zweckrational auf »Produkte« ausgerichtete Tätigkeit von Handlungssubjekten versteht. Der Begriff »Arbeit« enthält doch mindestens folgende fünf Komponenten: •

• • •



Arbeit ist Mühe10 (so bei den Griechen), ist Strafe (so im Mythos der Vertreibung aus dem Paradies), ist Bußmittel (im Rahmen der Kirche und schulischer »Strafarbeiten«), ist Zwang (im Rahmen politischer und polizeilicher Maßnahmen zur Einfügung von Lebenszeiten in Produktionsprozesse), ist das Gegenteil von Muße als angemessener Lebensführung11; Arbeit ist Quelle von Eigentum und Reichtum, d.h. Arbeit ist wertschaffend (die Lockesche Tradition12); Arbeit ist Medium der Selbsterzeugung des Menschen als eines Gattungswesen (Hegel, Marx); Arbeit ist intentionale Tätigkeit eines Handlungssubjekts und seiner Zwecksetzungen der Erzeugung verfügbarer Resultate (zunächst als Gebrauchswert, dann in der Warenproduktion zugleich davon abgehoben als Tauschwert); Arbeit ist – selbst im Rahmen einer Lebensgestaltung als Muße – freier tätiger Ausdruck eines Selbst.

In all dem wird man den Kommunikationsbegriff nicht der Arbeit zuschlagen können. Ist Arbeit unter dem einen oder anderen Aspekt Poiesis (herstellendes

10 Zur Thematisierung des Arbeitsbegriffs s.: Sinn von Arbeit, hrsg. v. Wieland Jäger, Kurt Röttgers. Wiesbaden 2008; s. auch Maud Meyzaud: Die Ferien des neuen Menschen, in: Nicht-Arbeit, hrsg. v. J. Etzold u. J. Schäfer. Weimar 2011, 7-37. 11 Volker Schürmann: Muße. 2. Aufl. Bielefeld 2003; dem folgend Kurt Röttgers: Muße, in: Sinn von Arbeit, 161-182. 12 Crawford Brough Macpherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus von Hobbes bis Locke. Frankfurt/M. 1973.

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Handeln), so ist Kommunikation als Prozeß eher Praxis. Manch eine Kommunikation ist weder mühevoll, noch schafft sie transferierbare Werte, noch ist sie im Hegel-Marxschen Sinne Selbsterzeugung von so etwas wie Menschen, noch hat sie einen Zweck außerhalb ihres eigenen Vollzugs, noch verändert sie irgendein materielles Substrat.13 Insgesamt aber scheint der westlich-marxistische Begriff der Entfremdung, der im übrigen vom reifen Marx vermieden wurde, wenig geeignet, sprachliche Prozesse im Rahmen einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes zu charakterisieren. Denn dieser seit Feuerbach als Kritik konnotierte Begriff meint ja doch immer mit, daß es anders sein könnte, weil sollte. Für sprachliche »Entfremdung« der bei Lefebvre und Rossi-Landi beschriebenen Art gilt das nicht. Diskurse (epistemischer und normativer Art) sind ebenso wenig aufhebbar wie in der sozialen Dimension Seele und Gesellschaft oder in der temporalen Zukunft und Vergangenheit. Der Begriff vermittlungsloser Unmittelbarkeit ist sozialphilosophisch unbrauchbar und nicht einmal als kritische Hintergrundfolie sinnvoll, weil Unmittelbarkeit (der sprachlose, asoziale und mystisch-ekstatische Augenblick) jeglichen kommunikativen Text, d.h. jeglichen sozialen Prozeß begrifflich negiert. Allerdings weiß Rossi-Landi von dieser prinzipiellen Unvermeidbarkeit der diskursiven Dimension; daher benennt er die vermeidbare Entfremdung die sprachliche Ausbeutung. Die Sprachkritik Lefebvres setzt anders ein, indem aus den diachronen Differenzen das Bild anderer Möglichkeiten entwirft. Auch er gewinnt so die Unterscheidung einer verfestigten Sprache – bei ihm der »Diskurs« – von der innovativen Fähigkeit abweichenden Ausdrucks. Auch er diagnostiziert sprachliche Entfremdung in den vollständig linguistisch analysierbaren Diskursen. Insofern entsprechen sich Rossi-Landis Begriff der Sprache als »Markt« und Lefebvres Diskursbegriff als Negativbegriffe.14 Das Positive erscheint bei ihm als die Fähigkeit der parole (des Textes), sich vom Diskurs zu befreien und »Sinn« zu verwirklichen und so kommunikative Bedürfnisse zu befriedigen.15 16

13 Cf. Jürgen Frese: Prozesse im Handlungsfeld. München 1985, 92-108; Frese unterscheidet »Produktion« und »Kommunikation«, und außerdem noch »Politik«, als begrifflich gegeneinander exklusive Dimensionen von Typen von »Handlungen«. 14 Cf. auch Michel de Certeau: L‘écriture de l’histoire. Paris 1975, 22, der Diskurs und Kapital analogisiert. 15 Im übrigen ist das kein genuin marxistischer Gedanke. »Es bestehen nun aber auch Möglichkeiten einer Weise von Aktivität, eines Denkens in bloßen rezeptiv auf-

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Die allgemeine Frage ist also diejenige nach sprachlichen und anderen Innovationen. Oder anders: Wie ist Neues im Text möglich, radikal Neues, das mehr wäre als eine durch Toleranzen zugelassene Variation der Diskurse? Vor allem im Normativen hat diese Frage etwas Provokantes. Ist eine neue Moral möglich, die nicht in den schon bestehenden ethischen Reflexionen vorgesehen ist? Moralisch erlaubt kann sie gar nicht sein. Lefebvre setzt auf die diachrone Erfahrung, daß die Widersprüche der Diskurse, d.h. der »Logiken« und Moralen, bzw. auch der Widersprüche in den »Logiken« und Moralen Anlässe zur Hoffnung auf Befreiung und Innovation bieten. Rossi-Landi setzt auf die Diversität und die Prozesse der Diversifikation der Sprachspiele, die im Sinne von Wittgenstein eben kein homogenes System abgeben, sondern eine Unordnung der »parola collettiva« des Volkes.17 Da beide die Sprache als ein separates System betrachten, er-

genommenen Passivitäten, das allein mit passiv verstandenen und übernommenen Bedeutungen wirtschaftet, ohne jede Evidenz ursprünglicher Aktivität […] Es ist leicht zu bemerken, daß […] das ursprünglich anschauliche Leben, das in Aktivitäten auf dem Grunde sinnlicher Erfahrung seine ursprünglich evidenten Gebilde schafft, sehr schnell und in wachsendem Maße der Verführung der Sprache verfällt. Es verfällt in großen und immer größeren Strecken in ein rein von Assoziationen beherrschtes Reden und Lesen, wonach es oft genug in seinen so gewonnenen Geltungen von der nachkommenden Erfahrung enttäuscht wird«, schrieb kein anderer als Edmund Husserl in dem Ms., das Eugen Fink unter dem Titel Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentionalhistorisches Problem veröffentlichte, abgedruckt als Beil. III in: Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hrsg. v. Walter Biemel. 2. Aufl. Den Haag 1962, 372. 16 Mit Sinnverwirklichung durch Sprachinnovation ist selbstverständlich ein Begriff von sprachlicher Innovation bewußt unterlaufen, der sich auf die »nichtkonventionalisierten Bereiche der sprachlichen Kommunikation« beschränken will, ein solcher Innovationsbegriff ignorierte die Möglichkeit kritischer Prozesse gänzlich; s. Siegfried Kanngießer: Sprachliche Universalien und diachrone Prozesse, in: Sprachpragmatik und Philosophie, 273-393, hier 332, cf. auch das »Innovationsprinzip«, 371. Obwohl er Apels Begriff der »unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft« gründlich mißversteht als empirische Homogenisierung von Sprachvarianten, ist doch Helmut Schnelle zuzustimmen, daß ein solcher Zustand eine »Einschränkung der Menschheit insgesamt und der Möglichkeiten der Individuen« sei, Helmut Schnelle: Empirische und transzendentale Sprachgemeinschaften, in: dass., 394-440, hier 434. 17 F. Rossi-Landi: Sprache als Arbeit und als Markt, 174ff; cf. H. Lefebvre: Le langage et la société, 94f.

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hoffen sie von einer nicht- oder nur halbsprachlichen Praxis der Menschen den Impuls für die sprachliche Innovationspraxis. Einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes kann diese Auskunft freilich nicht genügen. Diese marxistischen Sprachphilosophen glauben an »den Menschen«, an seine (unbefriedigten) kommunikativen Bedürfnisse und den Aufstand dieser Humaniora gegen die Systemstrukturen. Der Gebrauch des Begriffs »sozialer Text« ist der Versuch, die Homologie unsprachlicher und sprachlicher Praktiken so zusammenzufügen, daß die Übergänge Hoffnungen auf eine nichtentfremdete Realisierung der totalen Möglichkeiten »des« Menschen freigeben. Der Begriff »sozialer Text« bei Lefebvre18 ist daher ein Meta-Sprachspiel, während der Begriff des Soziotextes bei Frese19 eher sozusagen contre cœur de Wittgenstein ein System von Sprachspielen bezeichnet. Tatsächlich regeln spezifische Diskurse nicht alles, sondern Spezifisches. Insofern gibt es auch nicht den totalen Zwangszusammenhang, der eine totale Innovation erforderlich machte. Jede Innovation ist dementsprechend partikular, ändert für einen spezifischen Diskurs vielleicht Entscheidendes, hat aber u. U. nur geringe Auswirkungen auf andere Diskurse. Bezogen auf das Sprachsystem als ganzes und das soziale System insgesamt, wird man daher feststellen müssen: Innovationen haben primär die Gestalt von Variationen, die von der Figur der Differenz im Ursprung20 leben. Im einzelnen treten solche partikularen Innovationen als Regelverstöße auf. Aber so wie man nie gegen alle Regeln auf einmal verstoßen kann, stürzen auch Revolutionen keineswegs ein ganzes Gesellschaftssystem um, im Gegenteil ist gerade eine Revolution darauf angewiesen, Garantien der sozialen Zusammenhalts zu mobilisieren, die schon vorher als Ressourcen bereit lagen. So hat die Französische Revolution ineins mit der Auflösung des hierarchischen Gesellschaftszusammenhalts der Ständeordnung die moralische Ressourcen der »Einheit der Nation« und der »Brüderlichkeit aller Menschen« zu mobilisieren versucht, ungeachtet allerdings des ungeklärten Widerspruchs dieser beiden Prinzipien miteinander. Es bedurfte erst einer philosophischen Reflexion eines Immanuel Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden diesen Widerspruch zu einer spannungsvollen Einheit von Nationalismus (als Patriotismus) und Kosmopolitismus (als Weltbürgertum) in einer Weise zusammenzuführen, die auch in Frankreich große Aufmerksamkeit fand. Wegen der unverzichtbaren Hintergrundstabilität der Revolutionen kann man im Nachhinein jeder

18 L. c., 296. 19 J. Frese: Prozesse im Handlungsfeld, 240. 20 Jacques Derrida: Qual Quelle, in: ders.: Randgänge der Philosophie, 291-324.

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Revolution dann sagen: »im Grunde« habe sich nicht viel geändert und die Große Revolution der Befreiung »des« oder der Menschen stehe immer noch aus.21 Dieses »Noch-nicht« der »echten« Revolution, in der die Menschheit befreit würde, läßt sich freilich auch auf die vorrevolutionäre Situation jeder Revolution projizieren. So daß der geläufige Vorwurf an die Revolutionäre, die Revolution verraten zu haben, widersinnig ist. Die Revolution ändert nicht nur bestehende Diskurse, sondern auch deren historische Vergegenwärtigung im Geschichtenerzählen. Im geänderten Geschichtsbild erscheinen dann die griechische Bürgerlichkeit der Polis und die Gemeinschaft der Urchristen als direkte Vorläufer der Fraternité.22 Das bisher Unbedeutende oder Ungedeutete wird mit dem Sinn gegenwärtiger Orientierungen beladen.23 Wenn wir noch von kommunikativen Bedürfnissen sprechen, dann kann das im Rahmen einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes nur heißen, daß ein Selbst sich in einer bestimmten Weise positioniert hat, d.h. vor allem auch im Hinblick auf den inneren und äußeren Anderen und sich in dieser Positionierung bestätigt wissen möchte, konkret heißt das: wenn Selbst im Text sich auf einen bestimmten Anderen bezieht, d.h. ihn anspricht, dann möchte Selbst eine Antwort, d.h. wiederum daß er angesprochen wird von dem Selbst des Anderen als dessen Anderer. Oder wenn es um den inneren Anderen geht: daß im Inneren nicht eine Leere ist, die auf eine Befragung keine Antwort ermöglicht.– Eine Ge-

21 W. Benjamin: Gesammelte Werke II, 964: »Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich«. Aber dieses Bewußtsein hängt an dem Augenblick der Aktion; insgesamt gilt auch für Benjamin: »Die jeweils Herrschenden sind die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugute.« (960) 22 Das ist etwa das Geschichtsbild von Hauke Brunkhorst in ders.: Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft. Frankfurt/M. 2002, 12; zur Kritik s. Kurt Röttgers: Fraternité und Solidarität in politischer Theorie und Praxis – Begriffsgeschichtliche Beobachtungen, in: Solidarität. Ein Prinzip des Rechts und der Ethik. Würzburg 2011, 19-53. 23 So bestimmt Johan Pal Arnason das revolutionäre Ziel einer »emanzipierten Gesellschaft«: »für die nicht Stabilisierung von vorgegebenen Verkehrsformen, sondern Annäherung an den Zustand herrschaftsfreier Kommunikation das regulative Ziel wäre«, diese »ist mit Parzellierung von Kommunikationsprozessen nach einem multiplizierten Schema des instrumentellen Handelns unvereinbar.« Johan Pal Arnason: Zwischen Natur und Gesellschaft. Frankfurt/M., Köln 1976, 109f.

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fahr ist, daß bei Mißlingen die Struktur immer wieder neu eingetragen wird, so daß ein Selbst sein Mißverstandenwerden stets aufs Neue bestätigt finden kann. Dann wird die soziale Welt so aufgeräumt, daß sie mit dem Selbst immer schon aufgeräumt hat. Wenn man so will, ist auch das eine Form der SelbstBestätigung im kommunikativen Text. Jede Form der Selbst-Bestätigung, auch noch die pervertierte solcher Negationen, ist zugleich auch eine Selbst-Veränderung, weil Selbst-Veranderung. In dieser Selbst-Veränderung gibt es einen kommunikativen Subtext, in dem der innere Andere und der äußere Andere mehr oder weniger korrespondieren und kommunizieren als Formen der Konfusion in einem Sub-Selbst in Differenz. Wegen dieses Differenz-Charakters ist auch die Negation, z.B. als dauerhafte Ablehnung, eine Form der Selbst-Bestätigung. So wird Selbst-Bestätigung immer durchsetzt mit Selbst-Verleugnung.24 Nur im freilich fiktiv nur vorgestellten Ideal einer sich aufhebenden »direkten« Kommunikation (d.h. der Kommunikation der Engel untereinander) ist dieser angebliche Defekt von Kommunikation aufgehoben, oder im Gebet, in dem genau deswegen auch die Antwort ausbleiben darf. Denn dem Gebet geht immer schon voraus die Veranderung des Selbst durch die Gottheit oder durch Vergöttlichung des Anderen, wie wir sie in der Philosophie von Emmanuel Lévinas finden,25 m.a.W. im »Hören des Wortes«.26 Die Vergöttlichung des Anderen als Position im kommunikativen Text wird von Lévinas jedoch in der sprachlosen Geste gedacht: »Das Antlitz spricht. Die Erscheinung des Antlitzes ist die erste Rede.«27 Dieses vorsprachliche Reden des Antlitzes stellt nach Lévinas das Bewußtsein infrage, d.h. in unserem Sinne eine bestimmte Form des inneren Anderen.28 Tatsächlich wird das Selbst so zum Anderen eines vorgestellten und vergöttlichten Anderen in einer Sprache vor der Sprache, einem Text zuunterst des kommunikativen Textes, durch den das Bewußtsein, d.h. der innere Andere eines Selbst schon fraglich geworden sein kann. Das ist im übrigen in Sartres Analyse der Scham nicht wesentlich anders. Denn die Scham ist ein Sich-Schämen vor dem

24 D. Wyss: Mitteilung und Antwort, 383: »Selbstverwirklichung über die Sprache ist Verbergung des Subjekts […] Entfremdung.« Cf. F. Rossi-Landi: Sprache als Arbeit und als Markt, 48. 25 E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, 106f.: »Die Dimension des Göttlichen öffnet sich vom menschlichen Antlitz aus.« 26 Cf. Michael Theunissen: Der Andere. Berlin 1965, 456; ders.: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt/M. 1991, 321ff. 27 E. Lévinas: Die Spur des Anderen, 221. 28 L. c., 222.

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Anderen, dessen reiner Blick der vorsprachliche Vorwurf ist bzw. als solcher gilt. Allerdings ist dieser Blick nicht bewußtseins- und reflexionsfrei wie das Lévinassche Antlitz. Denn nur indem es einem Selbst bewußt ist, daß es gesehen wird, kommt dieser Anruf des Anderen zustande. Insofern ist diese Reflexionsstruktur immer schon eingelassen in die sozialphilosophische Struktur des kommunikativen Textes, während Lévinas versucht, ihr in eine Basis unterhalb des Sozialen zu entkommen.29 Dem Vorsprachlichen zum Ausdruck zu verhelfen, ist das Anliegen einer Hermeneutik des Leidens. Es geht hier vor allem um das Leiden im sozialen Zusammenhang, d.h. vor allem um das Erleiden von Gewalt.30 Gewalt, auch das Erleiden von Gewalt, ist etwas, das außerhalb des Textes steht. Dem Leiden eine Stimme zu geben, ist dann vor allem das Einbeziehen dieser Gewalt des Fremden31 in den kommunikativen Text. Unbestritten sei, daß es auch verletzende Worte gibt,32 Worte, die nicht verletzend gemeint waren, aber dennoch verletzten, Worte, die verletzen sollten, aber verpufften und echte Beleidigungen, denen das Leid schon ins Wort geschrieben ist. Das sind Worte, die zwar im kommunikativen Text erscheinen, aber definitiv ein Außerhalb des Textes einbringen. Immerhin jedoch hat der, der beleidigt, nicht zur sprachlosen Gewalt gegriffen. Komplizierter wird es bei struktureller Gewalt in der Sprache, also bei sogenannten Diskriminierungen (wörtlich: Unterscheidungen). Zwecks gutwilliger Diskriminierungsvermeidung führte man für das Wort »Krüppel« das Wort »Behinderter« ein, das inzwischen ebenfalls als diskriminierend eingestuft wird und zu dem Ersatzvorschlag führte »Menschen mit besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten«, was allerdings wegen der euphemistischen Lächerlichkeit seinerseits als diskriminierende Verspottung aufgefaßt werden mag. Ähnliches gilt für andere Ersetzungsketten gutmeinender Diskriminierungsvermeidung wie z.B. »Zwerge« ĺ »Kleinwüchsige« ĺ »vertikal Herausgeforderte«.33 Der Gutsprech-Ratschlag

29 Jean-Paul Sartre: L’être et le néant. Paris 1943, 277: »Ainsi la honte est honte de soi devant autrui; ces deux structures sont inséparables.« Cf. dazu M. Theunissen: Der Andere, 207f., sowie Thomas Bedorf: Andere. Bielefeld 2011, 152ff. 30 Zur notwendigen Unterscheidung von Gewalt-Handeln und Gewalt-Erleiden s. K. Röttgers: Spuren der Macht und das Ereignis der Gewalt, 93ff.; ders.: Rhetorik der Gewalt. 31 K. Röttgers: Spuren der Macht und das Ereignis der Gewalt, 105ff. 32 Verletzende Worte, hrsg. v. Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer u. Hannes Kuch. Bielefeld 2007. 33 Mechthild Hetzel: Provokation des Ethischen. Heidelberg 2007, 26, Anm. 3.

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mit der Anwartschaft auf den Korrektheits-Oskar, doch gefälligst alle so zu bezeichnen, wie sie sich selbst nennen, also die Eskimos nicht mehr Eskimos, sondern Inuit, die Lappländer nicht mehr Lappländer, sondern Samen, würde zunächst erfordern, daß die Engländer und US-Amerikaner uns nicht mehr »Germans« nennen dürfen, die Franzosen nicht mehr Allemands und die slawischen Völker uns nicht mehr Nemecki nennen dürfen, welches letztere ja tatsächlich herabsetzend ist. Besonders kompliziert wird die Einhaltung der Korrektheitsstandards im Fall der Zigeuner, die wir als Korrektsprecher nun nicht mehr so, sondern »Sinti und Roma« nennen sollen, nicht wissend, daß die Unterscheidung eine Diskriminierung der Roma seitens der Sinti beinhaltet. Doch gerade das Wort Roma beinhaltet seinerseits eine starke Diskriminierung aller Nicht-Roma; denn Roma hat die Bedeutung »Menschen«, während wir Nicht-Menschen dadurch entweder als Gadschos (d.h. die Zuhause Zurückgebliebenen) oder gar als Haxo (die geistig Zurückgebliebenen) bezeichnet werden.34 Kurzum, die »gefühlte« Gewalt sprachlicher Unterscheidungen ist eine vieldeutige und problematische Angelegenheit. Ähnliches gilt, ohne daß das hier ausgeführt zu werden brauchte, für den im grammatikpolitischen Feminismus thematisierte Gebrauch der Genera: kein Genus im Ungarischen, zwei im Französischen, drei im Deutschen und bis zu dreißig in anderen Sprachen der Welt.35 Kommen wir zurück zum Ausdruck des Leidens in der Sprache, in den Diskursen und im Text. Die Sprachwerdung des Sprachlosen geschieht immer vor dem Hintergrund, daß Sprache das Beherrschbare (und teilweise auch das Unbeherrschbare) beherrschen hilft, indem sie das unbeherrschbare Chaos als ein

34 http://romani.uni-graz.at/rombase/cgi-bin/art.cgi?src=data/ethn/topics/gadscho.de.xml, zuletzt eingesehen am 9.11.2011. 35 Charles F. Hockett: A Course in Modern Linguistics. 13. Aufl. New York 1968, 231ff., in vielen Sprachen spielt neben der männlich/weiblich/(sächlich)-Unterscheidung die von beseelt/unbeseelt eine herausragende Rolle, z.B. im Russischen, im Algonquian gar als einzige Unterscheidung, im Fidschi dagegen ist die einzige GenusUnterscheidung die von allgemein/besonders. Je mehr Genera eine Sprache hat, desto mehr ist sie auf inkludierende Sprachpraktiken angewiesen, so wie es im Deutschen zwar der Mensch heißt, weibliche Exemplare dieser Gattung aber stets mitgemeint sind.– Und da sich das durch den grammatikpolitischen Feminismus nicht mehr von selbst versteht, sei es für dieses Buch ein für allemal nachholend betont: das masculine Genus wird inkludierend verwendet. Da die Funktionspositionen im kommunikativen Text per definitionem verschieden besetzbar sind, ist mit dem Anderen die Besetzbarkeit dieser Position durch weibliche und männliche Wesen vorgesehen.

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Fremdes ausgrenzt und ausschließt. Es gibt wohl keinen Denker, der dieses Problem so ernst genommen hat wie Theodor W. Adorno. Seine Negative Dialektik36 ist eine Dialektik, die nicht wie die Hegelsche auf Versöhnung abzielt, sondern von dem Fortbestehen des Unversöhnten aus zu denken versucht. Hatte es in den Minima Moralia geheißen »[…] es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewußtsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält«37, so machen diese beiden Momente der »ungemilderten Negativität« und der »Möglichkeit des Besseren« die eigentliche Struktur einer Negativen Dialektik aus, die in der Negation der Negation nicht die Affirmation findet, sondern das Fortbestehen des Unversöhnten. Die sprachliche Erscheinung des utopischen Elements ist daher für Adorno stets der Konjunktiv, der zu denken erlaubt, daß es anders sein könnte als es ist. Der logisch zwingenden Gewalt des Faktischen entrinnt daher nicht der Wille zur verändernden Tat, weil er im Faktischen verbleibt, sondern ein Denken im Konjunktiv anderer Möglichkeiten. Nicht die massenhaften Solidarisierungen für ein besseres Allgemeines (Humanität, gerechte Gesellschaft u. dgl.) verheißen daher eine gelungenere Existenz der Menschen, sondern nur die zugemutete und übernommene Einsamkeit (»ungemilderte Negativität«) des Intellektuellen als Solidarität mit der Existenz der »Möglichkeit des Besseren«. »Die Glorifizierung der prächtigen underdogs läuft auf die des prächtigen Systems heraus, das sie dazu macht.«38 Die »Seele« ist daher auch nicht das Residuum des vom Markt noch nicht Erfaßten, also gewissermaßen ein nucleus des Heils, sondern am Ende nur »die Sehnsucht des Unbeseelten nach Rettung«.39 Seele ist keine Realität, sondern eine Modalität. Die aufscheinende Möglichkeit des Anderen als des Allgemeinen, verdeutlicht Adorno am Beispiel unglücklicher Liebe. Der unglücklich Liebende findet es ungerecht, daß er nicht geliebt wird; in der Versagung der Liebe wird einerseits die Autonomie (d.h. Allgemeinheit) des Geliebten real, andererseits läßt sie den unglücklich Liebenden zurück als von der Allgemeinheit Ausgeschlossenen, der nun als Ausgeschlossener paradoxerweise meint, ein Recht (d.h. einen allgemeinen Anspruch) auf Liebe zu haben (ein »unveräußerliches […] Menschenrecht, von der Geliebten geliebt zu werden.«40 Die negativ und konjunktiv auf-

36 Th. W. Adorno: Negative Dialektik, in: ders.: Gesammelte Schriften, VI, 7-412. 37 L. c. IV, 26. 38 L. c. IV, 29. 39 L. c. IV, 194. 40 L. c. IV, 187.

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scheinende Möglichkeit stellt sich dann so dar: »Das Geheimnis der Gerechtigkeit in der Liebe ist die Aufhebung des Rechts, auf die Liebe mit sprachloser Gebärde deutet.«41 Da der Konjunktiv, die Möglichkeit also, nicht unabhängig vorkommt, sind der eigentliche Gegenstand kritischen Philosophierens von Adorno immer die Realität und ihre Reflexe gewesen, an denen dann und nicht unabhängig die anderen Möglichkeiten aufscheinen. Daher ist der kritische Impuls auch für eine »Negative Dialektik« unaufhebbar. Einer der berühmtesten und meist zitierten Aphorismen der Minima Moralia ist ein Satz aus Nummer 29: »Das Ganze ist das Unwahre.«42 Der Interpretation dient, vor allem jener andere, ebenso oft herangezogene Aphorismus: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«43 Darin ist ausgesprochen, daß die Totalität des gesellschaftlichen Zusammenhangs, die auf dem Tauschprinzip beruht, nichts ausgespart läßt. Totalität, wie der Name schon sagt, umschließt alles; und wenn deren Grundprinzip falsch ist – gemessen am Maß eines menschenwürdigen und glücklichen Lebens –, dann ist absolut nichts davon unberührt. Beispielsweise das Individuum, scheinbar und in der Blütezeit der bürgerlichen Bewegung artikuliert als Hort einer inneren Unendlichkeit, die sich dem äußeren Zugriff entzieht, ist – nach Adorno –, weil es von dieser Gesellschaft durch schmerzhafte Erziehungs- und Zurichtungsprozesse einer totalisierenden bürgerlichen Gesellschaft erzeugt wird, doch nichts als deren Reflex. Was als ein Fluchtpunkt des Widerstands erscheinen mag, ist immer nur Indiz dieser Pathologie der Gesellschaft, gerade auch in den Formen des Widerstands. Das ist deswegen fatal, weil dieser Totalitarismus der bürgerlichen Existenzform seine materielle Grundlage längst verloren hat, so daß der Bürger nur noch ein Gespenst ist: eine bedrohliche Erscheinung, der kein Leben mehr innewohnt. Allgemeinaussagen haben daher bei Adorno stets die Form des Ausdrucks der konjunktivischen Option auf real nicht mögliche Alternativen, wie etwa in paradoxen Aussagen derart, etwas sei »Anzeichen dafür, wie unmöglich das Zusammenleben der Menschen unter den gegenwärtigen Verhältnissen geworden ist.«44

41 ibd. 42 L. c. IV, 55. 43 L. c. IV, 43. 44 L. c. IV, 40 f.

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Adorno macht all das an einer Vielzahl von Beobachtungen aus dem Alltagsleben deutlich, z.B. dem Funktionswandel von Takt,45 des Lügens,46 des Schenkens,47 der Intimität des Wohnens (»[…] kann man überhaupt nicht mehr wohnen«)48. Ist also Glück, gelingendes Leben unmöglich und bleibt nur die Verzweiflung? Adornos Antwort auf eine derart gestellte Frage bliebe zwiespältig. Einerseits bieten die Massenkultur und ihre Kulturindustrie eine so erdrückende Vielfalt von Glücksangeboten, daß, wer angesichts dieser Vielfalt unglücklich bleibt, so die totalisierende Botschaft dieser Gesellschaft, ist einerseits selbst schuld, andererseits aber kann auch ihm noch in psychoanalytischen Kuren und psychotherapeutischen Kuschel- und Wohlfühlgruppen – gegen Bezahlung (s. Tauschprinzip), versteht sich – aufgeholfen werden. Diesem Beglückungs-Totalitarismus mißtraut Adorno zutiefst und setzt dem entgegen: »Was wäre Glück, das sich nicht mäße an der unmeßbaren Trauer dessen was ist? Denn verstört ist der Weltlauf.«49 Auf der anderen Seite gibt es mit konjunktivischem Vorbehalt, Bilder des Glücks: »[…] auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen […]«50 Und philosophischer: »Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden.«51 Und ebenso deutlich ein anderer Aphorismus: »Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.«52 Wie sehr unter Bedingungen des falschen Allgemeinen dieses nur ein Bild ist, wird an vielen anderen Stellen deutlich: der Widersprüchlichkeit der Treueforderung,53 dem Zwangscharakter der bürgerlichen Familie,54 der Deformation der Sexualität.55 Das Glück als Möglichkeit verliert damit den Charakter eines Ziels, das in irgendeiner Rich-

45 L. c. IV, 38 ff., 44 ff. 46 L. c. IV, 31 f., 122 f. 47 L. c. IV, 46 f. 48 L. c. IV, 42. 49 L. c. IV, 228. 50 L. c. IV, 179. 51 ibd. 52 L. c. IV, 218. 53 L. c. IV, 195 f. 54 L. c. IV, 22 f. 55 IV, 190 ff., 50 ff.

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tung der Bemühungen um eine bessere Zukunft läge und wird zum transzendental-ekstatischen Bild einer jederzeit bestehenden anderen Möglichkeit.56 Was Philosophie unter diesen Bedingungen (»Philosophie im Angesicht von Verzweiflung«57) sein und leisten kann als der »Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellten«58, das zeigt vor allem die spätere Philosophie Adornos. So beginnt etwa Negative Dialektik mit dem Marx aufnehmenden und umdeutenden Gedanken, daß die »Verwirklichung« der Philosophie, von Marx als von der Revolution zu leistende Aufgabe formuliert, verpaßt wurde: der »Augenblick ihrer Verwirklichung« wurde versäumt.59 Die allseits geforderte Praxisrelevanz des Gedankens ist das Gegenteil einer Verwirklichung der Philosophie, sie will nämlich nichts anderes als den »kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte.«60 Das Denken müßte sich von der Zumutung der Praxis-Behilflichkeit befreien, wenn es denn wirklich das Versprechen einer Abhilfe von dieser falsch laufenden Praxis enthalten soll. Aber auch in seiner Spätphilosophie macht Adorno nicht einen Vorschlag einer anderen Philosophie, damit dann alles richtig wäre. Vielmehr radikalisiert er seine Überlegungen noch einmal, indem nicht das die bürgerliche Gesellschaft organisierende Tauschprinzip in den Fokus der Kritik gerät, sondern nunmehr Denkstrukturen, nämlich die eines »identifizierenden“ Denkens: »Denken heißt identifizieren. Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen will.«61 Das ist nicht nur Kritik am Nominalismus, sondern zeigt eine Problematik auf, die jeder Verwendung von Allgemeinbegriffen anhaftet. Indem es das Besondere mit einem Allgemeinbegriff bezeichnet, bezeichnet es gerade nicht die Besonderheit des Besonderen; darauf aber käme es an, dem Besonderen in seiner Besonderheit Ausdruck verleihen zu können; denn das Jonglieren mit Allgemeinbegriffen ist kein großes Kunststück und eigentlich der Mühe nicht wert. Auf die Versenkung in die Unendlichkeit dessen käme es an, was dem Allgemeinbegriff heterogen ist. Das Nichtidentische zu denken – mit den Mitteln eines Denkens, das immer identifiziert, das ist die paradoxe Aufgabe, vor die sich die Negative Dialektik

56 Cf. dazu in Anknüpfung an Walter Benjamin l. c. IV, 171 ff. 57 L. c. IV, 283. 58 ibd. 59 L. c. VI, 15. 60 ibd. 61 L. c. VI, 17.

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gestellt sieht. Im Widerspruch, der sich nicht versöhnt, erscheint unaufhebbar und damit unversöhnbar der Einspruch der Realität gegen das Denken. »Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.«62 Das heißt für Adorno der Vorrang des Objekts. Für das Denken besteht die paradoxe Aufgabe, dem, was dem Denken absolut heterogen ist, sich so »anzuschmiegen«63, wie es Simmel und Phänomenologie (»zu den Sachen selbst«) vergeblich versuchten. In den Angelegenheiten der Menschen ist das vorrangig die Aufgabe, das stumme und begriffslose Leiden »beredt« werden zu lassen, nicht indem es nun zum Plaudern gebracht wird; und dieses Reden des begriffslosen Leidens geht nur in der Methode einer Negativen Dialektik, deren Fluchtpunkt nicht die Versöhnung des Gedankens mit der Realität ist, sondern die Auslieferung an das Unversöhnte. Dann »begänne das Objekt unter dem verweilenden Blick des Gedankens selber zu reden.«64 So gibt es genau zwei Arten dort anzukommen: Kritik als Movens der Negativen Dialektik, oder durch den Begriff über den Begriff hinauszugehen auf das Ästhetische. Und auf letzteres bezieht sich Adornos Spätwerk Ästhetische Theorie, die bewußt die Doppeldeutigkeit enthält eine Ästhetik zu sein und eine Theorie zu sein, die selbst ästhetisch ist. Während Erkenntnis sich »spröde« gegen das Leiden verhält, ist die ästhetische Erfahrung, indem sie die Kontinuität des Unheils zerbricht, in der Katastrophe des Augenblicks ein Ausdruck des Leidens. Das geht aber nur, wenn die Kunst nicht das angeblich »Ewige im Menschen« auszudrücken versucht, sondern indem sie selbst sterblich, d.h. vergänglich wird, und zwar genau in ihrem Protest gegen die Vergänglichkeit. Stärker noch als jedes Kunstwerk verweist das Naturschöne auf den Vorrang des Objekts. Gleichwohl ist dieses eine menschliche Kategorie. Adorno sagt: die Natur will schweigen, der aber genau das feststellt, ist einer, der, vom Schweigen der Natur beseelt, reden will.65 Daher sind das Ästhetische in Kunst und Natur als Ausdruck des Unbegriffenen und der kritische philosophische Gedanke in seiner Form der Negativen Dialektik wechselseitig aufeinander verwiesen.

62 L. c. VI, 21. 63 L. c. VI, 24. 64 L. c. VI, 38. 65 L. c. VII, 108.

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Der Text ist, nach einem Wort von Silla Consoli, ein Liebesverlangen.66 Deswegen ist die Begegnung mit dem Text, d.h. sich auf die Textualität einzulassen, ein stets – der Möglichkeit nach – befreiendes Abenteuer. Lieben, in hingebungsvoller Weise, kann man nur das Fremde, nicht das Eigene. Sich Identifizieren, sich in seiner Identität bestätigen Lassen, das verbleibt in der Sphäre der Eigenheit, Liebe aber befreit zu Fremdheit. Hingebungsvoll an das Fremde zu lieben, läßt daher auch das Fremde im Selbst entdecken oder sogar sich selbst fremd zu werden. Der kommunikative Text, weil er nicht vom Selbst abhängt, d.h. intendiert und planvoll umgesetzt werden kann, ist immer schon dem Nichtidentischen ausgesetzt. Das befreit, aber es ängstigt auch. Deswegen vollzieht sich immer zugleich mit der Befreiung auch eine (Liebes-)Abwehr. Eine der erfolgreichsten Formen ist die Kontamination von Liebe und Macht. Getrieben werden kann eine solche Kontamination durch eine Dominanz des Somatischen, speziell der Liebe durch den Sexualtrieb. Selbst dort, wo der Andere nicht als Sexual-Objekt benutzt wird (das wäre eine Form der Herrschaft), sondern wo nur – quasi als Tauschhandlung – die wechselseitige Triebbefriedigung angezielt wird (im Sinne von Kants »wechselseitigen Gebrauch ihrer Geschlechtseigenschaften«67), handelt es sich in erster Linie um eine gemeinsam gesteigerte Machtbeziehung, nicht um das Abenteuer der Liebe, und Kant spricht ja auch gar nicht von Liebe, sondern von der Rechtsgemeinschaft der Ehe, die allerdings bei ihm nicht der Liebe, sondern der »natürlichen Geschlechtsgemeinschaft … nach der bloßen thierischen Natur (vaga libido, venus volgivaga, fornicatio)«68 entgegengesetzt wird. Die Frage allerdings, die Adornos Spätphilosophie aufwirft, ist radikaler und für die Möglichkeit einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes bedrohlicher. Mit dem Lord-Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthals formuliert,69 ist es die Frage, ob das Sprechen, also ob der Text, der uns verbindet, je den Dingen (und dazu gehören auch die Personen, über die wir reden) gerecht werden könne. Oder bleibt zwischen dem Text und den Dingen stets ein unüberbrückbarer Abgrund. Und was die Menschen in ihren leibgebundenen Leiden betrifft, ist die Frage, ob dieses in einem emphatisierten Sinne textfähig ist. Auf einer ersten

66 Sila Consoli: Le récit du psychotique, in: Folle vérité. Séminaire dirigé par Julia Kristeva, ed. Jean-Michel Ribettes. Paris 1979, 36-75, hier p. 39. 67 I. Kant: Gesammelte Schriften I, 278. 68 L. c., 277. 69 Hugo v. Hofmannsthal: Ein Brief, in: ders.: Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, Reisen (Gesammelte Werke in zehn Einzelbd.) Frankfurt/M. 1979, 461-472.

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Ebene stellt sich das Problem als das des Redens über Schmerzen dar.70 Der Andere kann die Schmerzen nicht fühlen, die sich ein Selbst zuzusprechen versucht. Daher die geläufige Behauptung, der Andere könne ja gar nicht wissen, was es bedeute solche Schmerzen zu haben. Aber zweitens gibt es auch die Notwendigkeit, eine Sprache des Schmerzes zu erlernen. Ich erinnere mich, daß ich als Kind zunächst höchst unsicher war, ob ein spezifisches Unwohlsein das sei, was die Anderen meinten, wenn sie sagten, sie hätten »Kopfschmerzen«. In dem Sinne kann man vielleicht sogar sagen, Schmerzen müssen erlernt werden, sowohl was ihre Erkenntnis als spezifische betrifft (und deren Artikulation) als auch, Schmerzen-Haben als eine somatische Artikulationsfähigkeit Anderen gegenüber zu pflegen; der ganze psychosomatische Komplex will erlernt werden und versteht sich weder für ein Selbst noch für die Anderen von selbst. Es gibt Menschen, die diese Privatsprache so raffiniert ausgebaut haben, daß sie am Ende selbst nicht mehr herausfinden. Am Anfang des Schmerz-Erlernens aber steht der Säugling, der schreit und nicht weiß, warum. Die lose Verbindung des Somatischen mit dem Text hat aber auch noch andere Formen. Eine bemerkenswerte ist das – vielleicht sogar ostentative – Schweigen. Auf die forschende Frage »Geht es dir nicht gut?« erhält man beispielsweise als Antwort »Es ist nichts, mir geht es gut«, ausgedrückt in einer Weise, durch die die Lüge erkennbar sein soll. Die subtextuell übermittelte Botschaft ist, daß das Leiden jeden sprachlichen Ausdruck überschreitet. Diese stumme Botschaft des Leidens kann echt sein, sie kann aber auch ihrerseits eine »erlogene« Botschaft sein, absichtsvoll kalkuliert, hypochondrisch und exaltiert oder aber auch hysterisch-pathologisch. Vermutlich bleibt keine andere Wahl, als nur dasjenige Leiden ernstzunehmen, das im Text als Thema oder Ausdruck erscheint, sei es professionell im Sprechzimmer des Arztes, sei es ästhetisch überformt in einer Lyrik des Schmerzes.71 Das setzt allerdings voraus, daß sich der Text diesen Erfahrungen öffnet und nicht etwa daran zu verzweifeln lehrt, daß es ein nie ausgedrücktes oder ausdrückbares Leiden geben könnte (Adornos Diktum der Unmöglichkeit einer Lyrik nach Auschwitz). Wer schweigt, sagt jedenfalls nicht viel, auch wenn er beabsichtigen mag, subtextuell genau damit alles zu sagen; denn auch wer alles sagt, sagt nichts, nichts Spezifisches. Aber wie gesagt, es ist in dieser Verbannung des stummen Somatischen aus einer Sozialphilosophie des kommunikati-

70 Cf. dazu wegweisend E. Scarry: Der Körper im Schmerz. 71 Überzeugende Beispiele erscheinen mir die Todesfuge Paul Celans oder die Lyrik von Nelly Sachs.

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ven Textes vorausgesetzt die Öffnung des Textes für dieses Fremde seiner selbst, d.h. keine Blockade des Besonderen durch das Allgemeine.72 Sprachskepsis, die sich für eine solche Revolution der Diskurse offen hält, ist angesagt, Sprachresignation, die den Abgrund zu den Dingen beschwört, ist nur erbaulich. Die klassische philosophische Hermeneutik steht scheinbar vor einer ähnlichen Situation. Vor dem Hermeneutiker liegt ein schriftlich überliefertes Textdokument, z.B. ein Buch. Es schweigt, wie es so die Art von Papier ist. Der Hermeneutiker will es zum Sprechen bringen, indem er mit dem Buch redet, es befragt. Er bildet sich ein, es antworte. Aber dem Hermeneutiker ist bewußt, daß seine Frage ein Vor-Urteil, ein vorläufiges Urteil, enthält. Er ist darauf gefaßt, daß das Buch sein Vorurteil in seiner »Antwort“ korrigiert. Hat seine Situation Ähnlichkeit mit dem zuvor geschilderten Zur-Sprache-Bringen des Leidens? Ich sage Nein. Ob Bücher darunter leiden, daß niemand sie liest, weiß ich nicht. Für eine solche Vermutung spricht jedoch nicht viel; viel dagegen spricht für die Vermutung, daß Menschen darunter leiden können, daß niemand mit ihnen sprechen mag. Man kann Bücher zum Sprechen bringen, indem man sie vorliest, indem man sie zitiert oder interpretiert, auch plagiiert. Mit anderen Worten: Seit Erfindung der Schrift, d.h. der Speicherung von Text, ist es möglich, vergangenen Text in gegenwärtigen Text einzubringen. Und das hat dann allerdings begrenzte Ähnlichkeit mit der Zulassung des Fremden in »unseren« Text, als Text zwischen Selbst und Anderem. In beiden Fällen kann dieses Einbringen zu einer Revolution des Diskurses führen. Aber es bleibt ein gravierender Unterschied. Der Hermeneutiker, wenn er Wissen erzeugt, muß mit gegenwärtigen Kommunikationspartnern über den vergangenen Text reden, seine vermeintliche Kommunikation mit dem Buch ist zu großen Teilen nichts anderes als Kommunikation mit gegenwärtigen Anderen über das Buch. Dagegen ist das Reden über den Fremden keine sinnvolle Vorbereitung seiner Einbeziehung in den kommunikativen Text. Wer fremd ist, entzieht sich, solange er fremd ist, dem Verstehen. Es nützt nichts, über ihn zu reden, fast möchte man meinen, es schadet sogar. Es würde vielleicht der philosophischen Hermeneutik, d.h. der Reflexion der Bücher verstehenden Praxis, auf die Sprünge helfen, wenn man annähme, daß die Kommunikation mit Büchern (in Wahrheit: Kommunikation über Bücher) eine Form pathologischer Kommunikation ist, so als wollte man den Fremden zur Sprache/zum Sprechen bringen, indem man sich zunächst mit Anderen über ihn verständigt (als einen ausgeschlossenen Dritten), bevor er als Anderer in den kommunikativen Text eintreten darf.

72 Dazu einschlägig und überzeugend G. Deleuze: Differenz und Wiederholung, 15ff.

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Als vom Bruch des Schweigens als eines Effekts der Hermeneutik des Leids die Rede war, wurde das Schweigen nur unter dieser eingeschränkten Perspektive anvisiert; aber das Schweigen ist für eine Sozialphilosophie des kommunikativen Textes ein sehr viel größeres Problem. Und schon beim gebrochenen Schweigen stellt sich immer die Frage, ob das gebrochene Schweigen dasselbe ist, was es als schweigendes Schweigen war. Das schweigende Schweigen, sofern es beobachtet oder erinnert wird, ist in seiner Dumpfheit kein Moment des Textes, aber man kann es thematisieren, dann erscheint es auf der SignifikatSeite des Textes, es wirkt nicht und man kann es trivialisieren mit Ausdrücken wie »Wie gut, daß wir einmal darüber geredet haben«. Es hat nichts Substantielles, bleibt thematisiertes und diagnostiziertes Symptom. Es selbst verbleibt im rein Negativen des Außerhalb des Textes.73 Etwas anderes wäre es, ein bestimmtes Schweigen abzuschaffen; aber seine Bestimmtheit gewinnt ein solches überhaupt erst im Prozeß seiner Abschaffung. Erst das gebrochene Schweigen ist ein bestimmtes Schweigen, aber dieses Schweigen schweigt nicht mehr, es schwieg. Insofern gilt Derridas (präzisierbare) Bemerkung, daß es kein Außerhalb des Textes gebe, uneingeschränkt.74 Für den kommunikativen Text gibt es kein Außerhalb des kommunikativen Textes; alles, von dem man wirklich sagen kann, es gebe es, gibt es im Text dieses Sagens, wo denn sonst. Man sagt uns: in der Welt. Aber Welt – das ist der Inbegriff der Möglichkeiten sinnerschließender Texte, kein Behälter für Dinge.75 Insofern ist der oben gebrauchte Begriff des

73 Wenn Jonathan Culler meint, Wittgenstein habe mit der Bemerkung, »Bububu« könne nicht meinen »Wenn es nicht regnet, gehe ich spazieren«, genau diese Möglichkeit geschaffen, es so meinen zu lassen, so kenne ich niemanden, selbst unter den besten Wittgenstein-Kennern, der diese »Möglichkeit« in die Wirklichkeit umsetzt und »Bububu« sagt, wenn er jenen Bedingungssatz meint. So hat sich dadurch, daß Wittgenstein die Unmöglichkeit behauptet hat, eben doch keine neue Möglichkeit im Sprechen selbst der Wittgensteinianer eröffnet. Jonathan Culler: Dekonstruktion. Reinbek 1988, 138. 74 Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt/M. 1974, 274: »Ein Text-Äußeres gibt es nicht.« 75 Zu dem engen, unauflöslichen Zusammenhang von Welt und Sinn s. J.-L. Nancy: Le Sens du monde. Nach Nancy kann man nicht erst die Tatsächlichkeit der Welt feststellen, und dann nach deren Sinn fragen. Und Sinn ist nicht einer, sondern singulär plural, so daß es auch nicht den Einen Ursprung der Welt gibt, sondern die vielen Ursprünge; cf. auch Derrida, für den Ursprung niemals einer ist, sondern schon in sich gespalten ist. K. Röttgers: Derridas Doppelgänger.

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»schweigenden Schweigens« ein leerer, ein bloßer Grenzbegriff, er bezeichnet nichts, ähnlich dem Kantischen Ding-an-sich, das ja keine aus dem Verborgenen wirkende Wirklichkeit bezeichnet, sondern die Grenze sinnvollen Sprechens über Dinge der Erfahrung. Dieses Schweigens-an-sich wird man nur vom Text aus ansichtig. Ob die Gießkanne des Lord Chandos in ihrer vollen weltkontextuellen Bedeutung-für-sich so auch im Text erscheinen könne, ist eine irrelevante, ja unsinnige Frage, die als Frage überhaupt nur dann auftauchen kann, wenn eine abgründige Sprachskepsis das Kontinuum des kommunikativen Textes brüchig erscheinen läßt; aber das dann in einem wundervollen Text Hugo von Hofmannsthals zu neuer Blüte einer textuellen Kontinuität aufblühen kann. Noch einmal zurückgewendet auf das Problem einer Hermeneutik des Leidens, ergibt sich nun die Frage, ob Leiden, das Leiden-an-sich abschaffbar ist. Und nun kann die Antwort nur lauten: Nein, und zwar nicht aus trivialen technischen Gründen. Der Text kennt seine Grenze, aber er kennt sein Außerhalb nicht. Der Wunsch, alles Schweigen der Welt zur Sprache zu bringen und alles Leiden abzuschaffen, ist der Traum einer entgrenzten, einer totalen Kommunikation. Der soziale Prozeß (des kommunikativen Textes) ist in seinem Fortgang immer der Ausschluß anderer Möglichkeiten von Anschlüssen. Das ist sein Profil. Zwar ist er nie einfach linear – das würde einen naiven, Heidegger würde sagen vulgären Zeitbegriff voraussetzen: reine, chronologisch erfaßbare Sukzession – er ist voller Widersprüche, voller fortbestehender Alternativen, voller Schleifen, voller Wiederkehren und Wiederholungen, voller ekstatischer Haltepunkte usw. Weil er kommunikativer Text ist, kann er gar nicht linear sein, immer kommen der Andere und der Dritte der linearen, intentionsgesteuerten individuellen Planrealisierung in die Quere. Vor der imaginären Kontrastfolie totaler Kommunikation erscheint der kommunikative Text daher immer als eingeschränkte Kommunikation. Gesteuert ist diese Einschränkung durch Erwartungen von Selbst und Anderem und durch die darüber gelagerten Erwartungserwartungen, d.h. die Reflexivität der Erwartungsstruktur. Dabei kann es vorkommen, daß der Eine oder Andere auch illusionär eine uneingeschränkte, totale Kommunikation erwartet, z.B. als Habermas‘ herrschaftsfreier Diskurs oder Jaspers‘ »Idee des Geisterreichs« als »der Wille zu der allseitig vordringenden, entschiedenen und uneingeschränkten Kommunikation.«76 Gegenüber den noch im fortschrittsphilosophischen Denken des 19. Jahrhunderts befangenen Ideen des herrschaftsfreien Diskurses oder der »allseitig vordringenden, entschiedenen und uneingeschränkten Kommunikation« hegen wir die Vermutung, daß jede Kommunikationserweite-

76 Karl Jaspers: Philosophie. 2. Aufl. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1948, 634.

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rung (in einer gewissen Hinsicht) stets begleitet ist von einer Kommunikationseinschränkung (in einer anderen Hinsicht). Angesichts der sich entfesselnden (»vordringenden«) Kommunikation werden dann zugleich Orte der Kommunikationseinschränkung definiert: taceat mulier in ecclesia, wenn sie schon sonst überall mitreden; oder Personen klinken sich (als Mönche z.B.) aus der allseitigen Kommunikationszumutung aus, heute z.B. indem sie kein Mobiltelefon besitzen und damit für sich die globale kommunikative Erreichbarkeit ausschließen. Daneben gibt es die zugemuteten Kommunikationseinschränkungen, die als sozialpathologisch angesehen werden dürfen, z.B. familiäre Strukturen erzeugte neurotische Blockaden, die sich dann im kommunikativen Text stets aufs neue selbst bestätigen lassen können. Die Selbst-Bestätigung mißlingender Kommunikation, also die Kommunikation mißlingender Kommunikation, mag man »Angst« nennen, SelbstBeengung.77 In solchen Prozessen bedingen die Angst vor Einschränkung der kommunikativen Selbst-Bestätigung und Kommunikations-Selbstbeschränkung zum Zweck der Angst-Reduktion sich gegenseitig. Ihnen wohnt eine so bewundernswerte Konsequenz der Abschirmrung gegen störende Einflüsse inne, daß eher erstaunlich wird, wie Kommunikation überhaupt je gelingen kann. Dieses Erstaunen reduziert sich erst, wenn man die Struktur des kommunikativen Textes mit ihren drei Dimensionen der Anschlußsicherung in der Zeit, im Sozialen und in den Diskursen in Betracht zieht und die gegenseitige Verwobenheit in den Blick nimmt. So kann man zwar für sich alleine angstvoll die Zukunft negieren, aber nicht, wenn es die Anderen gibt, und nicht, wenn es normative Anforderungen gibt. Man kann zwar aus Angst die eigene Seele verleugnen, aber nicht, wenn man Vergangenheit hat/haben will und darum wissen kann. So ist auch ersichtlich, daß der kommunikative Text nicht getragen ist von den Individuen, ihrer Wohlbefindlichkeit, ihren Macken, ihren Plänen und ihren Ängsten, sondern ein sich selbst tragender und steuernder Prozeß, der sich dabei u.a. der Individuen bedient. Dadurch wird Selbst-Bestätigung nur eine unter mehreren Determinanten des Prozesses, vergleichbar einer durch Vergangenheit und Zukunft nahegelegten Bestätigung der Gegenwart (Präsentozentrismus) und der normativ und epistemisch gesicherten Diskursivität (dahinter: Sprachlichkeit) des Prozesses. Damit wird auch ein Begriff der Prozeßerweiterung (Kommunikationserweiterung) faßbar, der unabhängig von diversen Qualitäten, Dispositionen und Einstellungen ist und so als Dispositiv bezeichnet werden mag. Selbst-Bestätigung kann dann nicht mehr heißen, Bestätigung dessen, was einer gewesen zu sein

77 So D. Wyss: Mitteilung und Antwort, 292.

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glaubte oder zu sein beabsichtigte oder was der Andere einem aus seiner eigenen Selbst-Bestimmung heraus normativ abverlangte, sondern was eine Position in der Aktualität des Prozesses ist. Natürlich sind wir (als Menschen) erpicht darauf, Leiden abzuschaffen, aber wir wissen gar nicht, wie das vor sich geht. Indem wir Subjekt-zentriert vorgehen, schaffen wir im Wege der Leidvermeidung stets neues Leiden. Das fängt an bei einer an Leidens-Symptomen und ihrer Unsichtbarbachung ansetzenden (natur-)wissenschaftlich vorgehenden Medizin, die im therapeutischen Vorgehen gegen ein Symptom zwar andere nicht direkt erzeugt, wohl aber als Nebenwirkung der Medikamentierung hervorruft. Das führt über familienzerstörerische psychoanalytische Individualtherapien und endet nicht erst bei der Kriegsführung mit Kollateralschäden Unbeteiligter zum Zweck der Friedenssicherung oder bei Stützung desaströser Finanz-Systeme durch staatliche Banken-Rettungen oder Maßnahmen zur angeblichen Beseitigung von Hunger auf der Welt durch Lebensmittel-Verknappung und –Verteuerung durch Abhängigkeiten von Genmanipulationen. All diese bloßen Problemverschiebungen indizieren, daß der Ansatz beim »verantwortlichen« Subjekt oder allgemeiner beim Akteur ein verfehlter Ansatz schon für eine zutreffende Diagnose darstellt, geschweige denn geeignete Mittel der Problembewältigung hervorbrächte. Eine an den Prozeßstrukturen im Zwischen (am kommunikativen Text) ansetzende Theorie führt dementsprechend nicht nur zur Subversion des Subjekts, sondern auch zur Subversion rein sprachlicher oder rein temporaler Sinnorganisationen. Die Subjekt-Objekt-Spaltung, jenes unheilvolle Erbe des Cartesianismus, das nicht erst von Cassirer und Plessner überwunden wurde, sondern auch von allen Spielarten einer Immanenzphilosophie von Spinoza bis Deleuze und Nancy, sondern das auch der Spinoza-Kenner Althusser hätte kritisch sehen können, wenn er nicht gemeint hätte, man könne sich wie Lenin die Hegel-Lektüre durch eine Marx-Lektüre ersparen.78 Diese S/O-Spaltung hat freilich auch eine Kehrseite, durch die nicht der Text als Produkt und der »Autor« als Produzent auftreten darf, sondern durch die, so wie auf der Südhalbkugel des Planeten »Erde« alle Köpfe nach unten zeigen, will sagen, durch die der Text als vermeintlich aktives Subjekt und die vormaligen, als autonom fingierten Subjekte nun als Unterworfene Objekt-Status erhalten. Aber mit der Ernennung des Textes zum Subjekt ist das Problem nicht beseitigt, sondern nur verschoben, wie man an Ju-

78 Louis Althusser: Lenin und die Philosophie. Reinbek 1974, 72f.: »Lenin brauchte Hegel nicht zu lesen, um ihn zu verstehen; er hatte ihn schon verstanden, nachdem er gründlich Marx gelesen und verstanden hatte.«

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dith Butlers Anstrengungen ablesen kann, das Unterworfene gleichwohl zum Handlungssubjekt des Widerstands zu ernennen.79 Einen Ausweg, aber mehr auch nicht, zeigt Derridas These an, daß das Subjekt, aber natürlich auch das Objekt, von Anfang an ein in sich Gespaltenes ist. Damit würde die S/O-Spaltung zu etwas Zweitrangigem. Der entscheidende Schritt bestünde nun darin, die Qualität des Spalts, le pli, Grund der Komplikation und der Explikation zugleich, zu analysieren. Die Spalte ist jenes Zwischen, in dem Berührung und Abstand,80 Nähe und Distanz zugleich statthaben. Ein in der Phänomenologie vielfach vorgetragener und in Teilen der Phänomenologie favorisierter Vorschlag der Konkretisierung des Zwischen ist Maurice Merleau-Pontys Begriff der Intercorporéité, bzw. Zwischenleiblichkeit. Ich bin mir in der Hinsicht mit Gerhard Gamm einig, der den »Nostalgismus der Leibphänomenologie« kritisiert als ungeeignetes Verfahren »aus der Mitte zu denken«81. »Dagegen kommt alles darauf an, die Mitte offen zu halten, sie nicht zu besetzen; erst über ihre Exzentrizität können alle Leibresonanzen zum Sprechen und alle Aktanten zum Handeln verleitet werden, die Mitte sollte als ›sich zersetzende Mitte‹ (Hegel) gelesen werden.«82 Der kommunikative Text, der die Funktionspositionen von Selbst, Anderem und Drittem systematisch vorsieht, ist die konkrete Gestalt, von der her eine Ontologie des Sozialen entwickelt werden kann, die sowohl den Individualismus als auch den Kollektivismus der Moderne vermeidet und gleichwohl das Netz des Sozialen einer aussichtsreichen Analyseperspektive zuführt. Es käme darauf an, eine Sozialphilosophie zu entwerfen und auszuführen, die in sich nicht-hierarchisch strukturiert ist und so keine Einladung zur Großen Politik der Beherrschung anbietet. Eine solche hat sich vom Gedanken der Einheit (als Archè oder als Telos, von der ursprünglichen Gründung oder von der fortschrittlichen Hoffnung) als Heilsidee, d.h. der Idee des Einen Heilen verabschiedet. Was sie jedoch auch nicht brauchen kann, ist die Figur des Dritten als eines Heilands, d.h. eines die Kontinuität des sozialen Prozesses aus seiner eigenen Vollzugsvollkommenheit garantierenden transzendenten oder transzendentalen Voyeurs oder Moraliseurs. Diese Desiderate erfüllt eine Sozialphilosophie des kommunikativen Textes.

79 J. Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. 80 Cf. A. Kapust: Berührung ohne Berührung. 81 Gerhard Gamm: Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität. Berlin, Wien 2004, 23. 82 Ibd.

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Die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes ist eine handlungstheoriefreie Theorie; wenn ihr also eine Praxis-Theorie anverwandt sein sollte, dann müßte es eine handlungstheorieabstinente Praxistheorie sein. Herkömmlich, Aristoteles folgend, nahm man an, daß man vom Begriff des Handelns (eines womöglich autonomen Subjekts) auszugehen habe; dann würde man drei verschiedene Handlungsbegriffe zu unterscheiden haben: Poiesis, Praxis und Techne. Wenn man nun aber diese moderne Subjektzentrierung in der Postmoderne aufzugeben hätte, weil sie nur noch marginale Restbereiche des Sozialen zwanglos erschließen könnte, und zu einer Ontologie des Sozialen überginge, die von der Mitte, von Medialität ausginge, und gleichwohl den Praxisbegriff gerne beibehalten möchte, dann hätte man sich zu fragen, wie ein handlungstheoriefreier Praxisbegriff aussehen könnte, der als in einer Sozialphilosophie der Mitte impliziert dargestellt werden könnte. In den drei Dimensionen des kommunikativen Textes formuliert, hieße das: a) temporal: Praxis wäre als ein Prozeß zu verstehen, der in sich selbst iteriert und reflektiert wäre – Praxis wäre immer schon über einfache Praxis hinaus und so nicht mit sich identisch; b) sozial: Praxis wäre eine Art Selbstbildung (Selbst-Bildung), die sich im Zwischen von innerem und äußerem Anderen abspielt – Praxis wäre nie freie Artikulation eines Selbst; c) diskursiv: Praxis wäre die rekursive Realität von Ethischem und Noetischem. In allen drei Dimensionen erscheint somit Praxis als reflektierte Praxis. Wenn man also, zugegebenermaßen mit einer gewissen Anstrengung der Umformulierung aus einer handlungstheoretischen Perspektive in eine medialitätstheoretische, fragt, ob eine Sozialphilosophie des kommunikativen Textes als Rahmen für eine Praxistheorie gibt (als Rahmen demgemäß auch für eine Ethik!83), dann wird man zugestehen müssen, daß eine solche Sozialphilosophie einen solchen Praxisbegriff enthalten könnte. Ein Text, ein Diskussionstext zumal und ein jeder Textteil ist, wenn er überhaupt sinnvoll ist, ein Beitrag zu einem umfassenderen Diskussionstext, ist ein Gewebe mit verschiedenen Partnern, im Text als Funktionspositionen des Textes markiert, das nicht zum intentionalen Gegenstand eines der Partner gemacht werden kann. Text ist eben nicht etwas, was erst im Verborgenen des Inneren eines Individuums als bloßes Meinen auftaucht, dann versprachlicht und anschließend geäußert wird, sondern was im Text geschieht (auftaucht), ist immer schon eine Bezogenheit. Der Text ist immer der kollektive Aufbau des Textes;

83 Kurt Röttgers: Die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes als Rahmen für eine Ethik.http://www.fernuni-hagen.de/imperia/md/content/philosophie/textdokumente/inaug.pdf

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selbstverständlich sind ex post immer Zurechnungen, auch bewertende Zurechnungen als Verdienst und Schuld möglich und oft auch nötig. Verstöße gegen Commonsense oder Moral gehen nicht in der Unterschiedslosigkeit eines großen im Prinzip grenzenlosen Prozesses unter. Wir wollen den Missetäter (sozusagen: Missetexter) kennen, und keine Sorge, wir werden ihn ausfindig machen; aber ihn schon, bevor er in der Tat zum Täter wurde, gewissermaßen den Blitz, bevor er blitzte, heißt, die »Schläfer« im Text zu identifizieren, also zu wissen oder ausfindig zu machen, was er sagen wird, bevor es im Text auftaucht, setzt die unendliche Verfolgung in Gang bis in die geheimsten Schlupfwinkel der Seelen, die die Terroristenjäger so lieben. Es gehört zum Wesen des kommunikativen Textes, daß der Andere in ihm kein Objekt ist – anders als die schriftlich überlieferten Textdokumente aus der Vergangenheit. Die Unterschiede zwischen beidem zu verwischen, ist eine Unsitte der philosophischen Hermeneutik, die so tut, als redete sie mit Büchern und als wären die Anderen solche, mit denen wir zuerst vorurteilsbefrachtet verkehrten, bevor sie und die Bücher uns lehrten, unsere vorläufigen Urteile zu revidieren. Bemerkbar wird der Unterschied im Widersprechen des Anderen, er reagiert immer wieder anders, als ein Selbst erwarten konnte. Hinsichtlich des diskursiven Dimension des kommunikativen Textes kann ein solcher Widerspruch im Widersprechen sowohl epistemisch als auch normativ beantwortet werden: entweder mit einem »das wußte ich gar nicht, aber jetzt weiß ich bescheid« oder mit einem »das solltest du aber (nicht)… « Es ist wichtig festzuhalten, daß – mehr oder weniger – stets beide Optionen offenstehen. Der Widerspruch des Anderen ist nicht zwangsläufig das Lévinassche Antlitz, das das Ethische als unnachgiebige Forderung stumm artikuliert. Es ist eben keine zu perhorreszierende Objektivierung des Anderen, wenn ein Selbst zum Anderen des Anderen wird, ihm neugierig zuhört und von ihm lernt. Und diese Offenheit für den Anderen hat nichts Ethisches von der Art des Pathos »du wirst/sollst mich nicht töten«. Es ist pure Neugier. Die Dialektik des Widerspruchs im kommunikativen Text ist von Anfang an iteriert und gespalten. Selbst ist nicht nur auf den Widerspruch gefaßt, erwartet ihn, sondern erwartet auch, daß der Andere erwartet, daß Selbst erwartet usw. Ob diese Dialektik eine versöhnende oder eine negative sein wird, ist ebenfalls unentschieden. Eine versöhnende schließt den Text (in gewisser Hinsicht), eine Negative Dialektik84 läßt ihn offen. Auch für diese Alternative gilt (Hegel und

84 Th. W. Adorno: Negative Dialektik.

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Adorno sehe ich protestieren) vermutlich: manchmal Versöhnung, manchmal Unversöhnlichkeit. Zuweilen reden wir auch über schriftlich überlieferte Textdokumente vergangener kommunikativer Texte, vielleicht sogar mit Hermeneutikern, die glauben, mit ihnen zu reden. Aber wir diskutieren nicht mit vergangenem Text, sondern immer nur mit gegenwärtigen Kommunikationspartnern über vergangenen Text. Dieser befand sich in einer ähnlichen Situation wie der gegenwärtige, auf ihn bezügliche Text. Daher ist die hermeneutische Grundsituation die Relation zweier kommunikativer Texte, der eine in Signifikanten-, der andere in Signifikats-Position, und die Umkehrung ist, anders als in der Situation der Kommunikation im kommunikativen Text, unumkehrbar. Daher erscheinen beide Deutungen inakzeptabel: der Text als Gesprächspartner ebenso wie der Text als Produkt. Die Iterationsstruktur des kommunikativen Textes kann auch verstanden werden als Moment einer Reflexion. Wie oben schon kurz angedeutet, kann auch die Reflexion in den drei Dimensionen des kommunikativen Textes verstanden werden als temporale, als soziale und als diskursive Reflexion. Die temporale Reflexion bewirkt die aktive Vergegenwärtigung einer Vergangenheit, die soziale Reflexion bewirkt die Wahrnehmung des Anderen als ein Selbst, und die diskursive Reflexion bewirkt die Begründung von intuitiven Gewißheiten und von moralischen Geltungen. Es ist – gegen die Tradition – wichtig zu betonen, daß Reflexion in diesem Sinne keine Aktsorte einer zu unterstellenden Subjektivität ist, sondern eine strukturelle Eigenschaft des kommunikativen Textes als Prozeß. Der Prozeß macht sich in dieser Struktur selbst zum Gegenstand, ist in sich reflektiert. Diese Iterationstruktur des kommunikativen Textes mag man – wenn man mag – eine Praxis nennen. Das Prinzip der Iteration wirkt sich in zweierlei Weise aus, horizontal und vertikal. In horizontaler Hinsicht ist es das Anschlußprinzip des Undsoweiter, wobei natürlich selbst in der Wiederholung keine Identität gegeben ist,85 noch weniger im Hinzutreten und in regulären Verkettungen. In der temporalen Dimension ist die horizontale Verkettung die Sukzession, in der Reduktion darauf die sogenannte objektive, will meinen chronologisch erfaßbare Zeit, die – so meint der Alltagsverstand – genau so schon in der Vergangenheit war und ununterscheidbar (??) auch in der Zukunft sein wird; in der sozialen Dimension ist die horizontale Verknüpfung das Hinzutreten weiterer Anderer – manche Anerkennungstheoretiker begnügen sich mit dieser horizontalen Iteration zur Erklä-

85 G. Deleuze: Differenz und Wiederholung.

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rung von Sozialem – das gilt auch für den inneren Anderen; denn ich bin, um mit Rimbaud zu sprechen nicht ein Anderer, d.h. ein einziger Anderer, sondern , mit Nietzsche zu sprechen, eine Vielheit von Seelen; in der diskursiven Dimension ist dies die Folgerung, sei es die logische, sei es die verantwortungsmoralische. In vertikaler Iteration erscheinen die reflexive Reproduktion von Vergangenem oder die Planung von Zukünftigem in der temporalen Dimension; in sozialer Dimension ist die Iteration durch den Dritten – in der Figur des Beziehungsparasiten bei Michel Serres – gegeben; in der diskursiven sind es klarerweise Noetik und Ethik als Metadimensionen. Beide Formen der Iteration sind mit allen Formen der dimensionalen Ausprägungen kombinierbar und treten sowieso im kommunikativen Text nie isoliert auf. So kann man beispielsweise eine wissenschaftslogische Erörterung der Sukzession der Zeit für die Geschichtswissenschaft vornehmen.86 Die stete Kombination der Dimensionen im sozialen Prozeß läßt sich veranschaulichen auch dadurch, daß die Sukzession, d.h. die horizontale Verknüpfung in der Zeit, nicht ohne die soziale Dimension erklärt werden kann: Warum sollte jemand etwas erzählen, wenn niemand zuhört? Oder: Was soll ein Dritter tun, wenn es keinerlei epistemische oder normative Erwartungen gibt? Zwar ist die einzelne Iteration unumkehrbar asymmetrisch, aber diese Unumkehrbarkeit ist relativiert dadurch, daß sie durch weitere asymmetrische Unumkehrbarkeiten iteriert wird. Die weiteren Anderen sind in solch weiterer Iteration Vervielfältigungen des Selbst. Und was Zukunft war, wird Vergangenheit sein. Und schließlich: Ethik kann gelernt und gewußt werden. In dieser Strukturen der Reflexion und der Iteration, die den sozialen Prozeß prägen, geht so etwas wie eine vorgängige, authentische Identität verloren, bzw. sie geht in ihnen auf. Der Prozeß, in dem wir immer schon stecken, ist ein entropischer Prozeß, seine unvermischten Ingredienzien, wenn es sie denn je gegeben haben sollte, sind nicht mehr aus ihm destillierbar und separat darstellbar. Aber wie der Chemiker nicht mehr das Unvermischte zurückgewinnen kann und dennoch eine chemische Analyse durchführen kann, so können auch wir für den sozialen Prozeß – unter Verzicht auf den Anspruch unvermischter Authentizität »des“ Menschen eine Strukturanalyse des kommunikativen Textes durchführen. Identitäten sind daher stets Identitäten im Übergang. Und es wird wichtiger, Übergangsstrukturen herauszuarbeiten als den aporetischen Versuch zu unternehmen, punktuell gültige authentische Identitäten zu fixieren. Das gilt nicht nur

86 … die kritisch ausfallen wird, weil unzureichend, s. Kurt Röttgers: Der kommunikative Text und die Zeitstruktur von Geschichten. Freiburg, München 1982, 93ff.

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für die soziale Dimension, sondern selbstverständlich auch z.B. – horribile dictu – für Moral. Es gibt die authentische, die wahre Moral nicht, sondern nur Moralim-Übergang, und daran kann auch eine ethische Reflexion nichts ändern, wie sich an der Geschichte der Ethik, d.h. ihrer Historizität mühelos ablesen läßt. Wie der Dritte die Beziehung zwischen Selbst und Anderem, auf die er sich bezieht, sowohl stabilisieren wie auch destabilisieren kann, so kann auch Ethik Moral sowohl stabilisieren als auch destabilisieren, und Ethik kann zugelassen oder wegen ihrer potentiell destabilisierende Wirkung (etwa in den diversen Fundamentalismen) ausgeschlossen werden. Es ist der Text, der »als Einsammeln und Vermischen von Selbst und Anderem« Identitäten aus sich entläßt.87 Norman Holland, von dem dieses Zitat stammt, hat Text und Selbst als »Daten« (d.h. als Gegebenes) behandelt, Einheit und Identität demzufolge als »Konstrukte«.88 Seine (plausible) Begründung lautet, daß, während Einheit und Identität nur Gleichheiten, bzw. Kontinuitäten konstruieren, Text, Selbst und Anderer die Differenz und den Wandel von Gleichheiten und Kontinuitäten mit umfassen.

87 N. N. Holland: Einheit – Identität – Text – Selbst, hier 1146. 88 L. c., 1132.

13 Identität und so weiter

Nach allgemeiner Meinung gibt es nichts, was mehr einzig und authentischer Ausdruck eines unverwechselbaren Individuums wäre, als seine Unterschrift.1 Es ist mehr als nur Indiz einer Funktionsposition in einem Text, deren Besetzung wechseln kann. So mag bei öffentlichen Beurkundungen zwar ein Dienstsiegel erforderlich sein, ohne Unterschrift des derzeitigen Amtsinhabers ist das Siegel allein nicht ausreichend für die Gültigkeit des Dokuments. Der Unterschreibende sagt mit seiner Unterschrift im Text nicht nur: seht her, ich bin es, ein unverwechselbarer Einzigartiger, ein Individuum, sondern er zertifiziert so auch den umgebenden Text als seinen Text, der ihm eignet. Und dennoch, darauf hat Jacques Derrida hingewiesen, kann die Unterschrift diese Funktion paradoxerweise nur dadurch ausüben, daß sie nicht einzig ist, sondern wiederholbar, und zwar in unterschiedlichen Kontexten. Es ist nichts als ein AuthentifizierungsZeichen, wie wenn einer im kommunikativen Text »ich« sagte. Solange Unterschriften nicht als gefälschte bezeichnet worden sind, gelten sie als Authentifizierung des umgebenden Kontextes. Kann jemand seine eigene Unterschrift fälschen? Kann jemand »ich« sagen und nicht sich meinen? Natürlich kann er das – in abgehobener Weise. Fichtes Philosophie tut es fortwährend. Krasser noch. Da alle Biographien Lügengeschichten sind, bezeichnet das Ich in ihnen jedenfalls nicht die Person, das Individuum dessen, der den Text schrieb. Es ist heute nicht unüblich, Sekretärinnen usw. Faksimiles für Unterschriften-Kopien anzuvertrauen. Der Unterschrift-Geber weiß dann nicht einmal, was er alles auf diese Weise authentifiziert hat. Und gefälschte von echten 50€-Scheinen werden nicht

1

Erkennungsdienstlich gelten inzwischen allerdings Fingerabdruck, Iris und DNS als eindeutigere Merkmale der Erkennung eines Individuums; aber außer bei Analphabeten der Finderabdruck gelten diese Zugriffsmerkmale nicht als Authentifizierungssignale: eine Speichelprobe unter einem Vertrag ist ungültig.

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dadurch unterschieden, daß Herr Trichet letztere eigenhändig unterschrieb, während erstere eine bloß kopierte Unterschrift enthielten. Im Gegenteil: begegnete uns ein Stück Papier, das wie ein 50€-Schein aussähe mit dem einzigen Unterschied einer echten Unterschrift von Herrn Trichet, müßten wir dieses Papier für eine Fälschung (seitens von Herrn Trichet) halten. Konsequenz: Selbst Unterschriften, d.h. Textstücke mit einem hohem Authentifizierungsgrad präsentieren nicht so etwas wie eine individuelle Identität. Ist also »Identität« ein sinnleeres Konzept? Nein. Ein anspruchsvolles Konzept von Identität nimmt Identität nicht mehr in dem simplen logischen Sinn von a=a. Vielmehr kann man Identität nur als vermittelte, d.h. durch die Mitte des Textes hindurchgegangene verstehen, was auch heißt: Nur als Nicht-Identität hat Identität Realität. Veranschaulichen ließe sich das durch Lacans Konzept des Spiegels.2 Im Spiegel erkennt das kleine Kind sich als das, was es (noch) nicht ist: als Einheit einer somatischen Organisation. Das gespiegelte Wesen hat eine gespaltene Identität, bzw. eine durch den Spalt vermittelte Identität. Diese Erkenntnis ist auch auf die Ebene des Textes transferierbar. Die vorgegebene diskursive Dimension läßt ein Selbst nicht sagen, was es »eigentlich«3 meint oder sagen will, sondern was in seiner Sprache und seinen epistemischen und normativen Diskursen sich sagen läßt. Sein Text ist ein gespaltener Text. Und schließlich gilt diese gespaltene Vermitteltheit auch für die Zeit. Das Selbst ist sich zeitlich identisch nur unter der Bedingung, daß es keine Identität im Augenblick haben kann. Nur weil es ein anderes war, kann es sein, was es ist; aber genau dieses ist es nicht, sondern das, was es war. So ist Identität für ein Selbst eine Zumutung durch Diskursivität, Sozialität und Temporalität. Man hat eine Identität zu haben, um ansprechbar (»allzeit zuhanden«4), verantwortungsvoll5 und verläßlich6 zu sein. Aber diese Identität ist

2

J. Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion; zu Lacan s. insbes. Alain Juranville: Lacan und die Philosophie. München 1990.

3

Käte Meyer-Drawe spricht geradezu von einer »Sucht nach Authentizität«. K. Meyer-

4

Allzeit zuhanden, hrsg. v. Kristóf Nyíri. Wien 2002.

5

Kurt Röttgers: Verantwortung nach der Moderne in sozialphilosophischer Perspektive,

Drawe: Illusionen von Autonomie, 40.

in: Unternehmensverantwortung aus kulturalistischer Sicht, hrsg. v. Th. Beschorner u.a.. Marburg 2007, 17-31; ders.: Verantwortung für Innovationen, in: Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip, hrsg. v. Ludger Heidbrink u. Alfred Hirsch. Frankfurt/M., New York 2008, 433-455.

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keineswegs eine in freiem existentiellen Entwurf selbstgewählte. Gewiß, man kann im Nachhinein so tun, als sei alles Sosein ein selbstgewähltes, oder jede Abweichung als eine von den Zumutungen durch freie Wahl motivierte darstellen lassen. In diesem Sinne dient das Geschichtenerzählen der Identitätspräsentation und darin der Identitätskonstruktion.7 Tatsächlich aber kann niemand seine Muttersprache frei wählen oder seine Moral frei entwerfen oder seine Herkunft frei bestimmen. So kann man auch sagen, wenn man auf die Emergenz von Identitäten abstellt, Identität wird gelernt. Aber da man zwar einzelnes zu lernen verweigern kann, aber generell gilt, daß man nicht nicht lernen kann, ist Identität qua Lernen Schicksal. Identität ist mehr Schicksal als Entwurf. Dieses Schicksal zu bejahen (im Sinne von Nietzsches amor fati), entlastet; denn jeder Zug im kommunikativen Text muß nun nicht mehr als ein nach Rationalitätsstandards (etwa dem kategorischen Imperativ) zu entscheidendes Handeln aufgefaßt werden, Identität verleiht Routinen, Üblichkeiten. Zugleich reduziert sie Unsicherheiten genau dadurch, daß Identität nicht frei zusammengebastelt, sondern in diskursiven, sozialen und zeitgenössischen Kontexten, d.h. im Zusammenhang anderer schicksalshafter Identitäten hervorgebracht wurde. Daher bezeichnete Talcott Parsons Identität als einen Kernbestand von Bedeutungen, die einer Person als Objekt eines Interaktionssystems zukommt.8

6

Gerhard Gamm: Vertrauen haben. In einer Welt voller Überraschungen, in: Museumskunde 72 (2007), 47-55; ders.: Der unbestimmte Mensch, 196-201; zum Versprechen unter den Bedingungen der Dominanz des Finanzkapitals s. J. Vogl: Das Gespenst des Kapitals, 79f.: »Geld ist Kreditgeld und also Versprechen auf Geld […] so muss dieses Versprechen ebenso verpflichtend wie unhaltbar, nämlich zu keinem Zeitpunkt je einlösbar erscheinen […]« Vogl nimmt hier Bezug auf Adam Heinrich Müller, der in seiner Geld-Theorie zwar schon von einer Gleichwertigkeit von Papiergeld und Metallgeld gesprochen hatte, so daß es ein Irrtum wäre, »daß das Papiergeld überhaupt nur als Substitut des Metallgeldes zu denken sei« (Adam Müller: Vom Geist der Gemeinschaft, 269), der sich aber natürlich nicht vorstellen konnte, daß Papiergeld nur durch (zukünftiges) Papiergeld gedeckt sein könnte. Nach Müller wäre das vergleichbar wie wenn ich heute mein Wort gebe, daß ich morgen mein Wort geben werde usw., d.h. ohne je eine andere Leistung zu versprechen, als zukünftig ein Versprechen zu geben.

7

Dieter Thomä: Erzähle dich selbst. Frankfurt/M. 2007; Peter Schmucker: »Wir müssen uns erzählen«, in: Der Anaesthesist 11 (2006), 1217-1224.

8

Talcott Parsons: The Position of Identity in the General Theory of Action, in: The Self in Social Interaction, ed. C. Gordon, K. J. Gergen. New York, London, Sydney, Toronto 1968, I, 11-23, hier p. 14.

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Daß Identität nicht frei verfügbar, sondern auferlegt ist, wird im Tode in aller Radikalität offenbar: Die Nachrufe sagen es, wer man war, vielleicht auch, wer man hätte sein sollen. Die ganze Vergangenheit faßt sich nun in einer Totalidentität zusammen. Solange wir aber leben,9 so sagt Sartre, der Philosoph der Freiheit des existentialen Entwurfs, haben wir zu sein, sind wir noch nicht zu dieser Totalidentität geronnen, auch wenn wir immer schon den Teil der gewordenen Identität mit uns herumschleppen, der unsere Vergangenheit ist.10 Da Identität Schicksal ist, kann moralkonformes Verhalten im Rahmen dieser Moral nicht bestraft werden, das beruhigt. So weit, so gut; aber in postmodernen, pluralen Gesellschaften ist das Leben etwas komplizierter. Man hat gemeint, es gäbe ein Ich, das Ich.11 Statt Sätze zu untersuchen, in denen das Wörtchen »ich« vorkommt,12 hat man eine metaphysische Fiktion geschaffen, über die man dann wie über ein Objekt sprechen kann, während im regulären Sprachgebrauch »ich« nur in grammatischer Subjektposition vorkommen kann; dann glaubt man sich berechtigt zu sagen: Das Ich setzt sich – statt: ich setze mich. Es gibt Sprachen, in denen die Kennzeichnung der Sprecherposition normalerweise schon im Verb enthalten ist; so ist »ego« im Lateinischen oder »én« im Ungarischen nur zur besonderen Hervorhebung, insbesondere zur Absetzung von Alternativen üblich. Nur Sprachen, die die Flexion (fast ganz) verloren haben wie das Englische oder bei denen Zweideutigkeit zugelassen sind wie im Deutsch, z.B. »(ich) gehe« und »(er) gehe« (1. Konjunktiv), ist es stets erforderlich, das Personalpronomen der 1. Person einzusetzen.13 Diese Sprachen können dann überdies besondere Formen der Hervorhebung entwickeln wie z.B. französisch »moi, je …« Das verleitete zu dem Irrsinn der Annahme, es gebe –

9

»[…] und man soll leben, wenn man nicht todt ist.« Friedrich Schlegel: Kritische Ausg. XVIII, 206 (Philos. Lehrjahre IV, 116).

10 J.-P. Sartre: L’être et le néant, 159; cf. auch Hegel: Wesen ist, was gewesen ist. 11 Zur Kritik der Ausgangs von einem »Ich« s. auch G.W.F. Hegel: Logik, Werke V, 76, passim 12 J. Benjamin: Der Schatten des Anderen, 105: »[…] daß das Subjekt eine sprachliche Position und nicht das Zeichen für die tatsächliche Psyche eines Menschen ist.« Cf. Geoffrey Madell: The Identity of the Self. Edinburgh 1981, 23-48. 13 Benveniste und andere bezweifeln, daß diese Wörtchen (ego, én, ich, I, je, ik …) Pronomen wie alle anderen seien, es sind Indikatoren für Diskursinstanzen.

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außerhalb jeden Textes und vor allen Sprachen – ein Ich.14 Auch Lévinas bezieht sich auf diese Vorstellung, allerdings um sie zu kritisieren: »Das Ich ist die Identifikation schlechthin, der Ursprung des Phänomens selbst der Identität. Die Identität des Ich ist in der Tat nicht die Beständigkeit einer unveränderlichen Qualität. Ich bin nicht ich selbst aufgrund dieses oder jenes Charakterzuges, den ich vorweg identifiziere, um mich als derselbe wiederzufinden. Weil ich von Anfang an der Selbe bin, me ipse, eine Selbstheit, kann ich ein jedes Objekt, einen jeden Charakterzug und jegli15

ches Seiendes identifizieren. […] Die Tautologie der Selbstheit ist Egoismus.«

Einer der Gründe für das Interesse an temporaler Identität, die auch das Geschichtsinteresse motiviert, ist die Suche nach dem »wahren« Ursprung, deutlich sichtbar in den oft laienhaften familiengeschichtlichen Forschungen. Selbstverständlich kann Geschichte als Wissenschaft (der historische Diskurs) diese perverse Sehnsucht nach dem Ursprung nicht befriedigen. Das Geschichtenerzählen erfindet, ernennt und konstruiert die Ursprünge und die Identitäten. Die Sprachursprungstheorien des 18. Jahrhunderts, die zunächst das Hebräische, dann das Sanskrit und seltsamerweise zwischendurch auch das Holländische zur Ursprache der Menschheit erklären wollten, und heute die Kreationisten, die den Einen Ursprung der Einen Welt durch das Eine Buch festgelegt wissen wollen, hätten es gerne sehr einfach; aber die philosophisch reflektierte historische Forschung versagt sich, dieses Simplizitätsbedürfnis zu befriedigen. Sie weiß: Ursprünge werden ernannt,16 und unsere Vorfahren, wie wir sie kennen, wurden erfunden.17

14 Ferruccio Rossi-Landi behauptet mit Bezug auf D. Lee: Freedom and Culture (1961), daß die Sprache der Wintu im Norden Kaliforniens gar kein Wort für »ich« habe, weil sich der Sprecher nie als Einzelner isoliert, so daß auch für Personen in Kollektiven nie ein »und« erforderlich sei. Ferruccio Rossi-Landi: Dialektik und Entfremdung in der Sprache, 150. Und er zitiert wiederum Lee mit folgender Bemerkung. »Eine Untersuchung des grammatischen Ausdrucks für Identität, Beziehung und Unterschied zeigt, daß das Wintu das Ich nicht als etwas exakt Umgrenztes, Bestimmtes versteht, sondern mehr als eine Konzentration, die langsam verschwindet und dem anderen Platz macht […]« 15 E. Lévinas: Die Spur des Anderen, 209. 16 H. Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin, 11: »Anfänge gibt es in der Geschichte nicht; sie werden dazu ›ernannt‹!« 17 Eric Weil: De l’intérêt que l’on prend à l’histoire, in: ders.: Essais et conférences I. Paris 1970, 207-231, hier bes. 209.

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Was ist also unter so bewandten Umständen von der gängigen Legitimationsformel für das Geschichtenerzählen und die auf ihm aufbauende Geschichtswissenschaft zuhalten, nämlich daß Geschichten Identitäten präsentieren oder gar stabilisieren?18 Zur Beurteilung müßte man erst einmal präzisieren, was hier unter Identität zu verstehen ist. Nach den Befunden der begriffsgeschichtlichen Forschung19 war Antonius Andreas der erste, der Identität zum obersten Prinzip des Denkens erhob. Sein Grundsatz »ens est ens«, ist vielleicht unstrittig, aber auch nicht sehr gehaltvoll, selbst wenn er als Grundlage der Möglichkeit jeglicher Prädikation verstanden würde. Hegels Schelling-Kritik aufnehmend, hat Theodor W. Adorno das Prinzip der Identität für in sich problematisch angesehen. Prädikation wird verhängt, wird zum Verhängnis für das Identifizierte; denn etwas identifizieren heißt, es nicht als es selbst zu nehmen, sondern ihm eine Allgemeinheit überzustülpen.20 Das Besprochene bleibt der Aussage fremd. Mag man diese These der Natur gegenüber als eine Spielart von Sentimentalität beargwöhnen, so gewinnt Adornos Verdacht denen gegenüber an Kraft, die selbst als Partizipienten in den kommunikativen Text eintreten könnten, aber als Identifizierte auf die Signifikats-Seite des Textes gebannt werden, indem man über sie, aber nicht mit ihnen redet. Zum Beispiel die Identifizierung der »Schwarzfahrer« unter den Fahrgästen durch die Kontrolleure völlig ungeachtet der besonderen Umstände, z.B. den eines alten Mütterchens, das um 8:58 mit einen Fahrschein aufgegriffen wird, der erst ab 9:00 Gültigkeit hat; man redet nicht mehr mit ihr, sondern nach ihrer Identifikation als »Schwarzfahrerin« wird sie an die »Rechtsabteilung« des Personenbeförderungsunternehmens verwiesen.21 Eine Argumentation ihrerseits, etwa daß sie keine genau gehende Uhr bei sich gehabt hätte,

18 Hermann Lübbe: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Basel, Stuttgart 1977, 168ff. 19 Otto Muck: Identitätsprinzip, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter et al. IV. Basel, Stuttgart 1976, Sp. 152f., im Anschluß an H. Meyer: Systematische Philosophie I (1955), 259. 20 Th. W. Adorno: Negative Dialektik, z.B. 147. »Reine Identität ist das vom Subjekt Gesetzte, insofern von außen Herangebrachte. Sie immanent kritisieren heißt darum, paradox genug, auch, sie von außen kritisieren. Das Subjekt muß am Nichtidentischen wiedergutmachen, was es daran verübt hat.« Aus entfernten Welten kommt zu einer ähnlich gelagerten Kritik Gilles Deleuze. G. Deleuze: Differenz und Wiederholung, 15ff. Die Allgemeinheit des Begriffs bewirkt eine Blockade. 21 Zur »staatspolizeilichen« Identifikation von Subjekten s. auch K. Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie, 93.

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hätte nichts genutzt, weil sie erkannt worden war als eine, die formell im Unrecht war. Wir Kontrolleure erkennen und identifizieren nur, wir gestatten Ihnen nicht, die Position des Selbst im kommunikativen Text einzunehmen. Freilich gibt es eine Gruppe von Personen, für die die identifizierende Art der Zuwendung die einzig sinnvolle Art ist, die Toten. Wer mit ihnen reden wollte, wäre nicht ganz bei Trost, sich aber ihrer, über sie redend, zu erinnern, ist nicht nur quasi-moralische Pflicht des Gedenkens, sondern dient auch der Stabilisierung der eigenen Identität durch Kontinuität in der Zeit. Den erkannten Subjekten (= Objekten) wird eine Identität angepaßt, sei es nun, daß Kaiser Karl, genannt der Große, als Verbreiter von Christentum und Bildung, als Vorläufer der europäischen Einigung (so in Aachen), als »Sachsenschlächter« (so die Nationalsozialisten), oder als bloß erfundene Mythengestalt (so Illig22) sein soll. Der Streit um die Identifikation ist ein Streit um die Position im kommunikativen Text und ihrer temporalen Absicherung durch Kontinuitätskonstruktionen. Davon zu unterscheiden sind die Fälle der Identifikation des Anderen im Text als eines solchen, wie im Beispiel des »schwarzfahrenden« alten Mütterchens, der auf den Kopf zugesagt wird, daß sie eine solche sei. Ihr wird keine Möglichkeit des Widerspruchs gegen die zugemutete Identifikation zugestanden, d.h. der kommunikative Text mit ihr wird aus Machtvollkommenheit heraus abgebrochen, ein Akt der Gewalt. Wir wissen nicht, was ein solcher auf eine Identifikation festgelegter Anderer »denkt« – nie wissen wir, was einer »denkt«, der nicht reden darf, d.h. kein Selbst sein darf. Wenn es der Andere im Text ist, so ist es eine unzulässige, dem Cartesianismus anheim gefallene Fiktion, daß es in der Position des Anderen, tief drinnen ein Ich gäbe, das heimlich sich entschließt zu »denken« (»Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst,…« singt Juliane Werding) und dann aufgrund seines entschlossenen Denkens zu der Überzeugung kommt, es »sei«. Der Andere ist anders. Selbst für ein Selbst ist die Ich-Fiktion, wenn sie denn mehr sein will als die Textposition des Redenden-im-Text etwas Gewagtes. Sagte noch Lichtenberg, man solle doch eher sagen »es denkt« statt für Denken einen vom Denken unabhängigen Akteur anzunehmen. In der älteren deutschen Sprache war es noch möglich zu sagen »mich deucht« statt »ich denke« (im älteren Englischen »methinks«), so wie man bis vor kurzem noch sagte »mir träumte« statt heute »ich träumte«, als wäre man der aktiv Träumende, der dann auch für den Inhalt der

22 Heribert Illig: Das erfundene Mittelalter. Die größte Zeitfälschung der Geschichte. Berlin 2005.

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Träume zur Verantwortung gezogen werden könnte. Wo oder wer ist der, der behaupten könnte, er werde gleich anfangen zu denken. Um so weniger »denkt« der schweigende und hörende Andere; in der Vorlesung sitzen nicht Denker, sondern Hörer, vielleicht bekommen sie einen Hörerschein, aber mit Sicherheit keinen Denkerschein. Aber was geschieht mit einem Selbst, das durch Positionswechsel zum Anderen eines Anderen gemacht wird und sich nun einer Identifikation ausgesetzt sieht, die nicht seinem bisherigen Selbstentwurf entspricht? Hier müssen wir strikt unterscheiden zwischen der Funktionsposition des Textes und der Person (Rolleninhaber), der diese Position erfüllt. Die Positionsidentifikation ist eindeutig: Selbst ist Selbst und Anderer ist Anderer. Die Person dagegen, also das Rollenensemble, die sie zur Einnahme der Position qualifiziert, also der Professor, der eine Vorlesung vor Hörern abhalten darf,23 ist schon nicht mehr ganz unstrittig. In Diskussionsrunden mag einer durch den Moderator zum Reden ermächtigt werden, ihm wurde das Wort erteilt, sobald er aber Dinge zu sagen wagt, die von ihm beim stillschweigend geduldeten Worterteilen nicht zu erwarten waren, fallen ihm die Anderen ins Wort. Noch deutlicher wird es, wenn der Redende »aus der Rolle« fällt und anfängt, »als Mensch« zu sprechen, wenn also ein Dekan bei der Begrüßung auswärtiger Gäste sagen würde: »Ich freue mich überhaupt nicht, Sie heute hier begrüßen zu müssen; Ihretwegen mußte ich nämlich heute morgen früher als gewohnt aufstehen.« »Der Mensch« meint, aus den zugemuteten Identifikationen herauszufallen. »Der Mensch« macht ein angebliches Recht auf »Selbst«(?)verwirklichung geltend, als gäbe es ein Selbst vor der Wirklichkeit des kommunikativen Textes. Tatsächlich aber hat einer Identität nur im Text, nicht vor ihm oder außerhalb.24 Wer ein angebliches Recht auf Selbstverwirklichung geltend macht, verwechselt zweierlei, nämlich ein angebliches Recht auf ein Selbst vor aller Wirklichkeit, das sich in die Wirklichkeit einzubringen befugt sein müsse und ein Recht auf eine Kontinuität seiner Identitätszuweisungen (biographische Identität). Zum Konflikt und damit zum explizit vorgetragenen Recht auf »Selbstverwirklichung“ wird das dann, wenn sich die kommunikativen Kontexte signifikant ändern, z.B. in der Pubertät oder wenn der Stil einer Kuschel- und Wohl-

23 Rituell ist das in der sogenannten Antrittsvorlesung manifestiert: in ihr gibt es üblicherweise keine Diskussion, Hörer bleibt Hörer. 24 Jean-Luc Nancy: Identité. Fragments, franchises. Paris 2010, 65: »Une identité es tun acte ou une tension dont les effets sont reconnaissables, mais dont la nature ne s’isole pas comme un corps chimique.«

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fühlgruppe wie z.B. Bioenergetik in Konflikt gerät mit anderen kommunikativen Kontexten. Die Geborgenheit in dem einen Kontext konfligiert für »den Menschen« mit der gefragten Offenheit in anderen Kontexten, oder andersherum: die Freiheit des einen Kontextes konfligiert mit der Beengung des anderen. In den postmodernen, pluralen Gesellschaften ist die biographische Identität stets bedroht,25 es wird hier weniger darauf ankommen, sich treu zu bleiben, als vielmehr in all der Untreue sich nicht zu verlieren oder an Verläßlichkeit für die Anderen, die anderen sich Untreuen, einzubüßen. Daß das ein Problem ist, insbesondere in Multimedialität, beginnen Psychologen zu begreifen, ein Problem, an das die Mittel der klassischen Psychoanalyse nicht heranreichen.26 Hatte noch Fichte behauptet, »Die lezte Bestimmung aller endlichen vernünftigen Wesen ist demnach absolute Einigkeit, stete Identität, völlige Uebereinstimmung mit sich selbst«27, und konnte er das behaupten, weil es die Vernunft, die Eine Vernunft, sein sollte, die das Wesen des »vernünftigen Wesens« ausmacht und es definierte, so ist erstens die Einheit als Voraussetzung heute keine Selbstgewißheit mehr und zweitens auch nicht mehr in dem Sinne erforderlich (auch wenn die Individualisierungsprozesse unendliche Selbstinszenierungen in Gang setzen) und drittens weiß bei der Vielfalt marktmäßig zur Auswahl angebotener Identitäten, die wie Masken auswechselbar sind, kaum jemand mehr, wer er ist bzw. sein soll. Signifikant ist, daß beim Übergang von der Festnetz- zur Mobiltelefonie niemand mehr sich mit Namensnennung meldet. Zygmunt Baumann stellte fest: die mit Identitäten früher verbundene soziale Anerkennung als so und so bestimmter braucht heute nicht mehr erkämpft oder ver-

25 Habermas fragt deshalb, ob »komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden« können, Jürgen Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt/M. 1976, 63-126, hier 92, er bejaht diese Frage, indem er die Komponente der Vernünftigkeit unterstreicht. Cf. ders.: Erkenntnis und Interesse, 178-203. Cf. auch Helmut Dubiel: Identität und Institution. Düsseldorf 1973; ders.: Identität, Ich-Identität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie IV. Basel, Stuttgart 1976, Sp. 148-151. Uns bleiben Zweifel, ob die Vernunft (noch?) so stark ist, diese Einheitsstiftung leisten zu können; zu einem reduzierteren und den Bedingungen der Postmoderne angepaßten Vernunftbegriffs s. W. Welsch: Vernunft. 26 Sherry Turkle: Identität in Zeiten des Internets; dies.: Who am We? – http://www. wired.com/wired/archive/4.01/turkle_pr.html; Philipp Bromberg: Speak that I May See You, in: Psychoanalytic Dialogues 4 (1994), 517-547. 27 Johann Gottlieb Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten. Jena, Leipzig 1794, 21.

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handelt zu werden, »sie ist sozusagen von Anfang an in das auf dem Markt gehandelte Produkt eingebaut.«28 Gegen Maslows Glauben an eine »objektive Präferenzstruktur« als Legitimation der neoklassischen Ökonomie macht M. Aglietta mit Bezug auf Simmels Philosophie des Geldes geltend: »Am Anfang stehen nicht etwa Subjekte mit objektiven Präferenzen, sondern der Tausch, […] d.h. der Erwerb der Identität als Wirtschaftssubjekt […]«29 Hätte Fichte solches für das »empirische Ich« ohne weiteres zugestanden, demgegenüber aber darauf bestanden: »das reine Ich kann nie in [sic!] Widerspruche mit sich selbst stehen«30, so ist seit Derrida postmoderne Grundüberzeugung, daß das bei Fichte so genannte »Ich« von Anfang an Differenz ist.31 In der unhintergehbaren Differenzstruktur ist der als Intersubjektivität installierte Kampf um Anerkennung32 außer Kraft gesetzt. »Am Ende steht das Bewußtsein identitärer Verdoppelung.«33 Diese Verdopplung hat selbst die Struktur des Spiegels verlassen. Der Spiegel – welche Bedeutung ihm seit Lacan auch beigemessen werden konnte und mußte – hielt immer noch die Unterscheidung von Soma und Imago fest. Und selbst wenn das Imaginäre dem Selbst näher ist als sein Leib, kommen der Leib und sein Bild doch nie zur Deckung. Ja mehr noch, sowohl Somatizität als auch Imaginäres sind nicht mit sich identisch. Die Wiederholung – sei es aufgrund von Temporalität, sei es aufgrund von Sozialität, sei es aufgrund von Diskursivität –

28 Zigmunt Baumann: Moderne und Ambivalenz. Hamburg 1992, 250. 29 Michel Aglietta: Die Ambivalenz des Geldes, in: Georg Simmels Philosophie des Geldes, hrsg. v. Jeff Kintzelé, Peter Schneider. Frankfurt/M. 1993, 175-220, hier 184. 30 Johann Gottlieb Fichte: Einige Vorlesungen …, 20. 31 J. Derrida: Das andere Kap, 22-26; cf. dazu K. Röttgers: Derridas Doppelgänger, anders noch im Anschluß an Habermas: Axel Honneth: Kritik der Macht. Frankfurt/M. 1985, 258f.: über die »Identitätsentwicklung der Subjekte« als »kognitive Akte … reflexiv auf das eigene Selbst bezogen.« Oder in der Sprache der Transzendentalphilosophie: Der Mensch werde durch Philosophie mit sich identisch – so Hans Michael Baumgartner: Wozu noch Philosophie?, in: Wozu noch Philosophie, hrsg. v. Hermann Lübbe. Berlin, New York 1978, 238-258, bes. 242-244. Das ist bewußt auch gegen Luhmann gesagt (s. 249-252). In Luhmann-Nachfolge formuliert Gertrud Brücher: »Denn ein Selbst lässt sich nicht direkt, durch Rückgang auf sich selbst, sondern nur durch Rückgang auf ein anderes, eine Unterscheidung, identifizieren. Wenn man sich beobachtet, ist man schon nicht mehr man selbst, sondern übernimmt die Rolle eines Anderen.« G. Brücher: Postmoderner Terrorismus, 166f. 32 Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Frankfurt/M. 1994. 33 G. Gamm: Nicht nichts, 52.

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wiederholt nicht ein Selbiges. Das wiederholte Selbst kehrt nicht als es selber zurück. »Nicht das Selbe kehrt wieder, nicht das Ähnliche kehrt wieder, vielmehr ist das Selbe die Wiederkehr des Wiederkehrenden, d.h. des Differenten. […] Die Wiederholung in der ewigen Wiederkunft ist das Selbe, allerdings nur insofern, als es sich einzig von der Differenz und dem Differenten aussagt.«34 Diese paradoxe Differenzstruktur von Identität findet Deleuze sogar bei Spinoza wieder in der notwendigen Umkehr des Verhältnisses der Substanz zu ihren Modi mit der Folge, daß das Werden dem Sein vorausliegt wie auch die Differenz der Identität. »Daß die Identität nicht primär ist, daß sie als Prinzip, aber als sekundäres Prinzip, als gewordenes Prinzip existiert, daß sie um das Differente kreist […]«35 Mit anderen Worten: Identität ist der Differenzvollzug, ist Diskontinuität. Allerdings gehört das Bewußtsein dieser differentiellen Übergängigkeit nicht zu ihrem Vollzug selbst. Die Potentialität, nicht aber die Aktualität der Reflexion begleitet den Vollzug.36 Die Postmoderne ist mit dem Zeitalter der Differenz zugleich das Zeitalter der Zerrüttung der überkommenen Vorstellungen von Identität.37 Man könnte das negativ wertend beurteilen, indem man sagt, das Ich der Identität sei stets bedroht. Symptom dieser Bedrohtheit wäre die sich herausgebildet habende Unfähigkeit, die eigene Geschichte zu erzählen. Solche Unfähigkeit wird im psychoanalytischen Prozeß einer Therapie zugeführt. Gelingt der Prozeß, dann wird im kommunikativen Text der Spielraum der Präsentation von Identität, vor allem im Geschichtenerzählen, erweitert.38 Das kann aber auch abseits von psychoanalytischen Prozessen der Texterweiterung in einer Wendung vom Objekt-Sein im Gedacht- und Verfügtwerden zum Ergreifen des Wortes, d.h. in der Eroberung der Position des Selbst, geschehen. Gelingt dieses so oder so, dann ist es nicht einfach die Erhaltung und Verteidigung bedrohter Identität, sondern es ist das Sicheinlassen auf den Prozeß, d.h. auch auf diejenigen Verän-

34 G. Deleuze: Differenz und Wiederholung, 373. 35 L. c., 64f.; cf. Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie; sowie ders.: http://www.webdeleuze.com/php/liste_texte.php?groupe=Spinoza . 36 J. Simon: Lebensformen, 211. 37 J.-L. Nancy: Parallele Differenzen, 33, wo Nancy Deleuze und Derrida als zwei differente Spielarten des Differenzdenkens herausstellt. 38 In Anlehnung an Müller-Lauters Interpretation des »Willens zur Macht« bei Nietzsche möchte man sagen: Es geht nicht um Erhaltung, sondern um Erweiterung. W. MüllerLauter: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, 2f.

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derungen, die aus der Perspektive krampfartiger Identitätsstabilitäten als »Bedrohungen« erscheinen mögen. Also könnte man die probeweise eigenommene negative Bewertung auch ausschalten und nun feststellen, daß die Grenze des Selbst im kommunikativen Text immer eine poröse und permeable Grenze ist. Wie beim Stoffwechsel der Organismen ist das Selbst nichts ohne den Prozeß permanenten Austauschs. So ist zwar die Position des Selbst singulär, aber jede Besetzung der Position im Prozeß ist eine vielfältig gespaltene. Das Selbst ist »eine sprachliche Position und nicht ein Zeichen für die tatsächliche Psyche eines Menschen.«39 Und gehen wir noch einen Schritt weiter: Die Selbstfraglichkeit des Unbewußten ist im Prozeß kommunikativer Des-Identifizierung eine andere Form der Begegnung mit dem Fremden. M.a.W. der Fremde ist ein Doppelgänger – nicht des Selbst, sondern seiner Selbstverborgenheit. Daß Identität eine Zuweisung ist und eben nicht die Selbstvergewisserung als Ausgangspunkt (Origo, Archè, Autonomie des Subjekts), hat Georg Büchner in Leonce und Lena im Dialog von König Peter vom Reiche Popo mit Valerio gestaltet. »Peter. Wer seid Ihr? Valerio. Weiß ich’s Er nimmt langsam hintereinander mehrere Masken ab. Bin ich das? Oder das? Wahrhaftig ich bekomme Angst, ich könnte mich so ganz auseinanderschälen und –blättern. Peter verlegen Aber – aber etwas müßt ihr dann 40

doch sein? Valerio. Wenn Eure Majestät es so befehlen.«

Sogar im psychoanalytischen Prozeß, in dem ein Selbst sein Fremdes zum Sprechen bringt, kann es nicht von sich aus wissen, ob das sprechende Selbst mit dem Ausgesprochenen »identisch« ist. Dieses wird ihm vom Analytiker zugewiesen. Wie die Gedanken kommen, so auch die Bilder aus dem Unbewußten. Das bist du (SSzÂd]z4lgtat tvam asi), sagt sich das Subjekt, angeleitet vom Analytiker. Der Zuweisungscharakter von Identität macht in der Tat aus dem Subjekt,

39 J. Benjamin: Der Schatten des Anderen, 105 – Benjamin sagt statt »Selbst« »Subjekt«, nicht ohne auch Judith Butler zu zitieren, nach der »das Subjekt« immer schon strukturiert sei: »Kein Subjekt ist sein eigener Ausgangspunkt.« (zit. 108) – oder, wie wir gesagt haben: der Andere, bzw. die Anderen in ihrer Vielfalt tauchen im Prozeß sowohl als äußere wie auch als innere Andere auf. 40 Georg Büchner: Werke in einem Bd. München, Wien 1980, 115.

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das ein Selbst sein möchte, nichts als ein Subjekt, ein Untertan des Königs vom Reiche Popo.41 Wenn es so ist, daß Identität nicht Selbst-erzeugt ist, sondern vom Anderen auferlegt, dann fragt sich, was das für kollektive Identitäten bedeutet. Erster Punkt, der als Grenzmarkierung festgehalten zu werden verdient, ist: Die Menschheit hat keine Identität, und im einzelnen: Menschenwürde ist kein Identitätsmerkmal; denn wer sollte wohl berufen und befugt sein, diese zu verleihen? Aber wie sieht es mit nationalen Identitäten aus? Versucht eine Nation sich »aus sich heraus«, vom nationalen Innen zu definieren, so gerät ein solcher Versuch zumeist problematisch. Dann wird die Rasse, die »Reinheit« des »Bluts« oder dgl. beschworen, allerdings in meistens fragwürdiger biologischer Ausrichtung; immerhin hat ein deutscher Mann mit einem afrikanischen Mann mehr genetische Übereinstimmung als mit einer deutschen Frau. Verwendet man aber Kultur als Identitätsidentifikator, dann muß man ganz schnell mit Derrida feststellen: »Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich identisch ist.« Kultur ist Differenz mit sich, sie hat keinen Identität gewährleistenden einfachen Ursprung, Kultur ist an-archisch.42 Ein Kollektiv kann sich keine Identität aus sich heraus (er)finden, sie setzt sich damit zwangsläufig in einen Widerspruch sowohl zu sich selbst als auch zu den Singularitäten seiner selbst.43 Andreas Hetzel hat, mit Blick auf die Museumsinsel in Berlin, von einem »Zentralfriedhof der Kultur« gesprochen.44 Das ist insofern eine anregende Metapher als sie darauf verweist, daß nur eine tote Kultur eine ist, die mit sich identisch ist. Für kollektive Identitäten gilt nämlich dasselbe wie für einfache Identität eines Selbst. Schon in ihrer identifizierenden Selbstbeschreibung sind sie nicht mehr identisch mit sich. In der Reflexivität ist bei Selbst-Beschreibungen beschreibendes und beschriebenes Selbst different. Übrigens gilt dasselbe auch für die sogenannte Selbstverwirklichung: Verwirklichendes und verwirklichtes Selbst – was immer das heißen mag – können nie in Deckung sein. Selbstverwirklichung ist immer eine Enttäuschung; sie führt oft zu der Selbsttäuschung (auch diese mit dem Problem der Reflexivität behaftet, aber das ist ein anderes Thema), als sei die Umwelt ein Verhinderer der Selbstverwirklichung, z.B. die Männerwelt für die Selbstverwirklichung der Frauen.

41 S.o. Kap. 3; s. auch B. Waldenfels: Dialog und Diskurse, 247 und im Anschluß daran K. Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie, 141f. 42 J. Derrida: Das andere Kap, 12. 43 J.-L.Nancy: Identité. 44 A. Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis, 54.

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Und da, wo die Selbstbeschreibung als Selbst-Erkenntnis als Voraussetzung in die Bedingungen der Selbstverwirklichung eingelassen ist, ist die Selbstverwirklichung schon von der Bedingungsstruktur her in sich gespalten; aber auch in einer angeblichen Selbstverwirklichung ohne Anteil einer Selbsterkenntnis ist der Spalt unvermeidlich. Und so sind Selbstbeschreibungen niemals »wahr«, weil sie etwas anderes beschreiben, als sie zu beschreiben vorhaben und vorgeben. Und das gleiche gilt eben auch für Kollektive; sie verfehlen immer die »einfache Wahrheit«. Daß es nämlich ein soziales Kollektiv »gibt«, (Nancys »êtreen-commun«), hat seine Thematisierung im kommunikativen Text, also im Zwischen, als Bedingung der Möglichkeit der Existenz.45 Ebenso wie die Identitätszuweisung unausweichlich ist und zugleich der Quell der Identität, so ist es auch unabwendbar, Identitätszuweisungen – versteht sich: selektiv – zu akzeptieren. Würde man alle Zuweisungen zurückweisen, um eine angeblich vollkommen authentische, in Wirklichkeit aber autistische Selbsterzeugung von Identität hervorzurufen, so stellte sich das im kommunikativen Text als die paradoxe Behauptung dar »mich gibt es gar nicht, da ist nichts von der Art, die ihr erwartet, ich bin eine Illusion«.46 Die Behauptung »ich bin eure Illusion« markiert einen soziopathologischen Extremfall. Unter psychologischem Aspekt, d.h. wenn wir aus professionellen Gründen unterstellen, das Selbst, von dem das gesagt wird, sei ein Subjekt, das das glaubt, wird man »Derealisation« diagnostizieren.47 »Weiß ich nicht, was ich bin, so weiß ich auch nicht sicher, daß ich bin.«48 Der Psychologe kennt auch die Gründe solcher Derealisation. Eine archaische Angst, verursacht durch eine bedrohliche Mutter, dann übertragen auf die ganze Welt, induziert einen »Totstellreflex«: Wenn es mich nicht gibt, dann kann auch niemand mir etwas anhaben. Sozialphilosophisch gesprochen, handelt es sich um eine Entselbstung eines »Subjekts«, vergleichbar einem Rücktritt: ich bin nicht mehr euer Präsident, wendet euch an einen anderen, nicht

45 Niklas Luhmann: The Self-Description of Society. Crisis Fashion and Sociological Theory, in: International Journal of Comparative Sociology XXV (1984), 59-72, hier p. 66. 46 Die Behauptung »ich bin eine Illusion« ist selbst für einen Schauspieler, der auf der Bühne einen Text von einem Autor für ein Publikum spricht, nicht durchhaltbar, wie man in Jacques Rivettes Film L’amour par terre sehen kann. 47 Peter Haerlin: Psychoanalyse der Derealisation, in: Katabole 2 (1981), 98-118. 48 L. c., 103.

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an mich. Insofern ich der Satz »ich bin eine Illusion«, ernsthaft gesprochen, ein letzter Satz in einem kommunikativen Text.49 Da Identitätszuweisungen im kommunikativen Text plural sind, kann das Selbst mit seiner Identität spielen, im Erfolgsfall spricht man dann von RollenSouveränität. In den verschiedenen Rollen artikuliert sich ein diverses Selbst, so wie Kierkegaard, bezogen auf sein Spiel mit den diversen Pseudonymen darum gebeten hat, daß diese die Adressaten von Repliken sein sollten, nicht ein gewisser Søren Kierkegaard, besonders deutlich dort greifbar, wo, wie in EntwederOder die verschiedenen Pseudonyme ineinander verschachtelt sind und der Respondent, der Andere also, darauf achten muß, auf welche Ebene er sich zu beziehen hat. Wir können also nunmehr zusammenfassen. Die multiple und Mehrebenenzuweisung von Identität erzeugt uns das Bild eines für die Funktionsposition des Selbst einsetzbaren »vieldimensionalen Menschen«, so der Titel einer Schrift von James Ogilvy.50 In diesem Bild ist die Vorstellung eines anthropologisierten Subjekts als des organisierenden Zentrums einer Welt (der Erkenntnis und des Handelns) aufgegeben. Der Diskurs, nicht ein autonomes Subjekt bestimmt als eine seiner Dimensionen den Verlauf des kommunikativen Textes, also des sozialen Prozesses. Für den Menschen bedeutet das, die Rationalität des im Handeln und Erkennen Pläne und Intentionen verwirklichenden Subjekts, des autonomen Subjekts also, zu überschreiben durch das verführte Subjekt, das sensibel auf Anschlußmöglichkeiten im Text reagiert. Für dieses Subjekt ist nicht länger der Monolog ausschlaggebend, der das als vernünftig Erkannte für andere lernbar ausspricht (mit welchen Schnörkeln einer sokratisch-platonischen Dialektik auch immer verbrämt) und auch nicht der Dialog, der den Dialog-Partner der Intersubjektivitätsbeziehung zur Einsicht bringt (mit jenem »zwanglosen Zwang des besseren Arguments«), sondern der Polylog, der die plurale Textualität verwirklicht, d.h. in der der sogenannte Mensch permanent wechselnd in den Positionen des Selbst, des Anderen und des Dritten auftaucht. Und er ist nicht dort

49 Der Psychoanalytiker gibt natürlich nicht nach und versucht in einem alternativen Text den Einklang von Identität und Realität herzustellen, versucht, die diagnostizierte Derealisation einer Rerealisation zuzuführen – das verläuft aber ebenfalls über Zuweisungen (und Abweisungen), cf. l. c., 107.- Ein freilich nicht sehr geglückter, aber prinzipiell eben möglicher Anlauf einer sozialphilosophischen Grundlegung der psychoanalytischen Deutungskategorien liegt vor in Talcott Parsons: The Position of Identity in the General Theory of Action, 20. 50 James Ogilvy: Many Dimensional Man. New York 1977.

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stets derselbe, sondern ein vieldimensional, subversiv und transversal verschiedener. Er ist Eklektiker und Sophist, zwei Rollen, die dem »autonomen Subjekt« der Moderne verboten waren. Also: Nicht erst das Sein und dann die Relationen, sondern Sein heißt in Relation-Sein und –Werden (Nancy); die Differenzstruktur geht der Identität voraus (Derrida); Identitäten verdanken sich Zuweisungsstrukturen, nicht substantiellen Vorgegebenheiten; im kommunikativen Text »gibt« es keine Kausalitäten, sondern Übergänge, genauer: »Kausalität« ist eine meist zu einfache Übergangsbeschreibung, es sei denn man erweiterte den Kausalitätsbegriff, über die causa efficiens hinausgehend, zu einer immanenten Kausalität im Rahmen einer Philosophie radikaler Immanenz, für die die causa sui das Modell abgibt (Deleuze in Interpretation von Spinoza, dann ist Kausalität nichts anderes mehr als einer der Typen von Strukturtransformationen.

Schlußbemerkung

Der soziale Prozeß, um den es und in seiner Eigenständigkeit in unserer Untersuchung ging, entfaltet sich in der Zeit als Prozeß, in der Sozialdimension als Praxis und in der diskursiven Dimension als Formung. Wir haben diese Dreidimensionalität des sozialen Prozesses daher als kommunikativen Text bezeichnet. Im Zentrum jeder der drei Dimensionen steht jeweils eine Fiktion, die sich in der Relationierung operativ bewährt. Im Zentrum der Zeit steht die gegenwärtige, prozessuale »Urimpression«, die sich auf Zukunft und Vergangenheit bezieht und nur in dieser Bezogenheit ihre Realität hat. Im Zentrum des Sozialen steht in analoger Funktion die Fiktion eines praktischen »Selbst«, das nur in seiner Beziehung auf den Anderen seine Realität hat. Und im Zentrum des Diskursiven steht der formende »Sinn«, der nur als Wissenbezug und als Moralbezug seine eigene Realität hat. Die Fiktionalität von »Urimpression«, »Selbst« und »Sinn« wirkt sich darin aus, daß nur in obliquer Weise nach ihnen gefragt und über sie gesprochen werden kann. So ist – mit Wilhelm Busch – »Sinn« stets »der Unsinn, den man läßt«, dann ist »Selbst« die Paradoxie, die von sich nur sagen kann »ich bin eine Illusion«, und dann ist die »Urimpression« das nicht-existente Zusammenstoßen von Zukunft und Vergangenheit, das das Tempus des Präsens immer verfehlen wird und immer verfehlt hat. Im kommunikativen Text mit seinen drei Dimensionen wirken alle drei Fiuktionen stets zusammen und sind nur analytisch isolierbar. So ist die Praxis des Sozialen, d.h. im Hinblick auf den inneren und äußeren Anderen, stets zugleich prozessual, d.h. auf Vergangenheit und Zukunft bezogen, und ewbenso stets zugleich formend, gestaltend im Hinblick auf Epistemisches und Ethisches. Wie dieses Zusammenwirken konkret aussehen kann, haben wir im 4. Kapitel an elf Beispielen aufgezeigt, die sich jedoch alle dadurch auszeichneten und darauf beschränkten, daß in ihnen die diskursive Dimension, d.h. die Sinnformation schwerpunktmäßg sichtbar wurde. Im Grunde müßten jetzt meine beiden vorbereitenden Bücher mit den Schwerpunktsetzungen der Zeitstruktur des Historischen und den Kategorien des

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Sozialen neu geschrieben werden. Nach der entschieden vollzogenen Dezentrierung von Subjekt/Individuum/»Mensch« ergeben sich aber diese analytischen Perspektiven quasi mit Leichtigkeit, sozusagen von »Selbst«. Zur Veranschaulichung des erarbeiteten Rahmens füge ich ein Schema ein:

In dieses Schema konnten jedoch nicht alle gewonnenen Differenzierungen eingetragen werden; es fehlen beispielsweise die Differerenzierungen von Nähe und Distanz (Gemüt und Bewußtsein – Gemeinschaft und Gesellschaft – Retention und Reproduktion – Gewißheit und Wissen – Moral und Ethik). Es fehlt auch der Aspekt des Dritten im Sozialen, der objektiven Zeit im Temporalen und der Ordnung im Diskursiven. Schließlich fehlt gänzlich die (Nicht-)Beziehung zum Außen des kommunikativen Textes, die als Fremder und Unterbewußtsein im Sozialen, als Ewigkeit und Uchronie im Temporalen und als religiöser Glaube (in mystischer Form oder als docta ignorantia) und als das »Jenseits von Gut und Böse« (bzw. als die »göttliche Gewalt« bei Benjamin) im Diskursiven bezeichnet werden dürften. Aber letzteres wären Themen, die sich einer diskursiven philosophischen Erörterung entzögen, bzw. nur als störende oder als aufgelöste in den Text der Philosophie hereinragten und in Erscheinung träten. Für sie gilt, was Wittgenstein am Ende seines Tractatus, d.h. bevor dieser ins Schweigen übergeht, sagte: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.«

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400 | DER KOMMUNIKATIVE T EXT

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L ITERATUR

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Register

Abel

35, 218 Abgrenzung 272 Abraham 95, 141, 243 Abrams 148, 307 Achenbach 88 Achtung 147, 164-171, 280 Adorno 27, 83, 102, 237, 240, 311, 340, 341, 342, 343, 344, 345, 346, 354, 355, 364 Aglietta 368 Alexander 145 Allgemeinheit 120, 212 Alterität 27 Althusser 351 Altruismus 190, 213 Altwegg 164 An-archisches Denken 28 Anderer 18, 19, 31, 34, 35, 54, 56, 73, 93, 94, 109, 129, 130, 149, 233, 234, 268, 276, 286, 287, 346 Anerkennung 36, 297, 319, 322 Anschlüsse 130, 139 Anstalt 254 Anstand 195 Anstandsgefühl 194, 196, 198 Anthropologie 213 Antonius Andreas 364

Apel 155, 256, 257, 261, 262, 263, 264, 267, 273, 274, 280, 325, 334 Arbeit 332 Archè 22, 28, 29, 41, 43, 235, 352, 370 Archiv 67, 69, 175-180 Arendt 40, 259, 307 Ariadne 68, 178, 179 Aristoteles 18, 37, 93, 205, 206, 259, 275, 353 Arnason 336 Artaud 239 ästhetischer Diskurs 325 Asymmetrie 22, 284 Aufopferung 319 Aufschub 170, 171 Auftauchen 29 Augé 67, 68 Augustin 66, 111, 130, 135 Außerhalb 348 Authentifizierung 359 Authentizität 360 Autonomie 131 Autor 50, 111, 246 Autoreferenz 21 Ayer 252, 309

404 | DER KOMMUNIKATIVE T EXT

Baggesen 84 Barthes 57, 61, 62, 68, 177, 247, 274, 322 Bataille 159, 160, 286, 290, 330 Bateson 158 Baudrillard 178, 274 Baumann 367, 368 Baumgartner 368 Beauvoir 93 Becker, B. 200 Becker, G. 216 Beckett 160 Bedorf 18, 36, 127, 154, 216, 233, 277, 290, 291, 292, 297, 302, 316, 317, 338 Begehren 310 Beisenherz 225, 226, 227 Benjamin, Jessica 35, 289, 292, 294, 311, 362, 370 Benjamin, Walter 24, 141, 163, 224, 225, 237, 270, 299, 336, 343 Benn 310 Benveniste 52, 57, 97, 98, 362 Beobachatung 118, 119, 136, 138, 139, 239 Beobachtungsbeobachtungen 136141 Beratung 263 Berger 100, 257 Bergson 90 Berlin 279 Bermes 144, 278 Berührung 20, 27, 80, 83, 84, 303 Beschreibung 83, 84 Bewegung 180 Bewertung 40, 136,142, 144, 145, 148, 149, 162, 166

Bewertungsbewertungen 40, 142149 Beziehungen 311 Bichsel 312 Bildung 180-185 Biller-Adorno 188 Billigung 118, 120, 123 Binswanger 214, 218 Bittner 122 Blackwell 234 Blanchot 20, 21, 22, 97 blinder Fleck 137, 138 Blumenberg 8, 115, 124, 140, 183, 244, 327, 363 Böhme 91 Bolz 109 Böses 142, 143, 144, 301 Bote 32 Boudon 72 Bourdieu 272 Brecht 66 Bromberg 367 Brown 272 Bruch 114, 121, 126, 246 Brücher 43, 146, 163, 248, 254, 296, 297, 368 Brüderlichkeit 38, 109, 162 Brunkhorst 336 Buber 306 Bucaille 68 Büchner 370 Bülow 283 Burke 248 Busche 38, 93 Butler 70, 73, 352, 370

Cacciari 32 Camartin 66, 316 Cameron 248

R EGISTER

Canetti 69, 178 Cassirer 18, 22, 23, 24, 49, 53, 63, 98, 99, 351 Celan 346 Certeau 333 Cézanne 83 Chaos 284, 301 Chomsky 145 Cicero 128, 181 Clausberg 316 Cohen 145 Coleman, James 222 Coleman, Jules 216 Comenius 178 Compagnon 159, 233 comparution 25 Consoli 345 Constant 129, 239 Critchley 64, 70, 143, 277 Culler 140, 348

Daedalos 85 Dalai Lama 213 Danto 174 Dastur 63 Deleuze 25, 43, 63, 64, 70, 78, 81, 82, 83, 90, 99, 100, 115, 177, 246, 248, 263, 275, 276, 329, 347, 351, 355, 364, 369, 374 Delhom 36 Demaskierung, Entlarvung 70, 87, 113, 141, 255 Derrida 18, 23, 25, 27, 30, 33, 38, 41, 50, 53, 57, 58, 61, 63, 64, 72, 77, 80, 90, 95, 110, 127, 137, 140, 141, 145, 162, 163, 232, 237, 238, 240, 243, 259, 271, 274, 280, 287, 289, 298, 300,

| 405

335, 348, 352, 359, 368, 371, 374 Descartes 36, 132, 137 Dezentrierung 276, 298 Diderot 71, 124, 125 Diesel 218 Dietzsch 111, 175, 275, 309 Differenz 33, 61-70, 137, 142, 146, 152, 252, 265, 295, 299, 335, 369, 374 Dilthey 17, 314 Dinge an sich 174 Dischner 182 Diskurs 34, 39, 56, 57, 58, 59, 64, 97, 105, 269, 272, 291, 313, 315, 330, 333 Diskursethiker 209 Diskursives 53 Diskursivität 271 Dispositiv 73 Dissens 21, 154, 156, 237, 254, 255, 258, 260 Distanz 38, 70-104, 265 Dividuum 289 Dohmen 180 Doppelgänger 64, 274 Doppelheit 295 Doppel-Herz 111 Dorozewski 331 Dray 174 Dreier 193 Dritter 25, 31, 34, 37, 40, 55, 119, 127, 130, 148, 149, 158, 162, 166, 216, 223, 233, 238, 245, 258, 277, 281, 291, 324, 357 Dubiel 367 Durán 65 Durkheim 205, 331 Dyade 36, 216, 238, 276

406 | DER KOMMUNIKATIVE T EXT

Egoismus 116 Eimer 103 Einfühlung 290, 300 Einheit 43, 137, 142, 143, 146, 152, 263, 265, 299, 352, 367 Einigkeit 43, 154, 264 Einmischung 258 Einspruch 59, 124, 125, 126, 259 Ellrich 236, 287 Emmel 54 Engel 32, 173, 219, 316 Entfremdung 329-357 Epistemisches 34, 39, 97 Epochenschwellen 132 Ereignis 246, 300 Erfahrung 218, 221 Erotik 160, 258, 320 Ethik 37-40, 81, 144, 193, 283, 324 Ethnologie 87, 88 Ethos 81, 103, 107-109, 110, 187, 205, 214, 226 Être-en-commun 255, 260 Eurydike 22 Faltung

301 Familienleben 187, 188 Fechner 173, 316 Fehr 213 Feind 42, 259 Ferber 110 Feuerbach 333 Fichte 54, 121, 137, 200, 206, 208, 306, 359, 367, 368 Fink 334 Fink-Eitel 290 Fónagy 236, 273 Förster 97

Fortschritt 133, 324 Fortsetzbarkeit 139 Foucault 52, 53, 56, 57, 73, 97, 115, 175, 182, 190, 279, 310 Fourier 235, 236 Frank, M. 57 Franklin 107, 237 Freiheit 127, 175, 220, 279 Fremder 44, 56, 62, 64, 65, 87, 96, 109, 149, 163, 284, 292, 320, 345, 347, 370 Frese 9, 140, 333, 335 Freud 80, 96, 151, 152, 243, 249, 255 Freundschaft 50, 289 Friedman 253 Frisch 298 Fuhrmann 184 Fukuyama 216, 219, 220, 221 Fundamentalismus 37, 125 Funktionsposition 28, 35, 74, 127, 138 Fürsorge 125, 188, 190

Gadamer 53, 249, 273, 274, 314 Gamm 28, 32, 33, 35, 37, 39, 52, 65, 75, 150, 168, 215, 256, 286, 352, 361, 368 García Düttmann 137, 289 Gasché 90, 137, 288 Geertz 53, 83, 87 Gehlen 16 Gehring 163 Geisen 297 Geist 38, 64 geistige Eigentum 323 Geld 80, 171, 240-244, 299 Gemeinschaft 54, 94 Gemüt 54, 95

R EGISTER

Gerechtigkeit 125, 162, 166, 193 Gerhardt 66 Geschichten 174, 246, 364, 369 Gesellschaft 54, 94 Gesellschaftsvertrag 17, 51 Gespräch 313 Gewalt 58, 64, 65, 145, 146, 160, 162, 295, 296, 338 Gewissen 203 Gewißheit 98, 102, 110-114, 126, 179 Gewohnheit 205, 207 Geyer 132 Gilligan 125 Gipper 98 Goerdt 258 Goethe 36, 50, 199, 264 Goldstein 248 Gott 186 Greisch 299 Grenze 96, 97, 149, 150, 151, 160 Grice 317 GRIF 153, 238, 300 Große Politik 17, 30, 40, 41 Großmaß 93, 94 Grundnorm 261, 262, 263, 264, 265, 267, 273, 274, 276 Grundrechte 194 Gründung 41, 252 Guattari 43, 78, 81, 82, 83, 99, 115, 177, 244, 246, 248, 275, 276, 322 gute Sitten 37, 191-212 gute Taten 164 Gutes 39, 142, 301, 302 Guzzoni 23

Haag

50, 69

| 407

Habermas 56, 57, 117, 134, 151, 155, 156, 159, 209, 249, 251, 252, 254, 295, 317, 318, 325, 349, 367, 368 Haerlin 372 Hamacher 168 Hamburger 50 Handeln 134, 259, 305, 306, 353 Handlungssubjekt 51, 52 Harweg 8, 9 Hebel, Johann Peter 270 Hegel 35, 36, 74, 82, 98, 100, 134, 173, 180, 290, 332, 333, 340, 351, 352, 354, 362, 364 Heidegger 18, 19, 22, 25, 26, 27, 33, 38, 53, 188, 195, 236, 288, 311, 349, 385 Heinemann 218 Hempel 174 Henrich 123 Hentig von 80 Herbart 119 Herder 98 Hermeneutik 347, 349, 354 Hesiod 32, 301 Heterologie 61, 62, 64 Hetzel 49, 61, 62, 63, 114, 232, 233, 290, 303, 371 Hetzel, M. 338 Hjelmslev 9, 52 Hobbes 17, 76, 213, 223 Hockett 339 Hoffmann 56 Hofmannsthal 345, 349 Hogrebe 155 Holbach 220 Holland 290, 311, 357 Hölscher 57 Homer 21

408 | DER KOMMUNIKATIVE T EXT

Honneth 316, 368 Horkheimer 87, 131 Hösle 155 Hrušovský 294 Hudson 242 Humanität 184 Humboldt 98, 184 Hume 116, 119, 191 Husserl 9, 10, 20, 33, 36, 54, 91, 115, 271, 276, 300, 334 Hutcheson 123, 190 Huyghens 207

Ibn Khaldun 302 Ich 50, 54, 362, 365, 368, 369 ideale Kommunikationsgemeinschaft 155 Identifikation 317, 343, 365 Identität 62, 252, 265, 311, 356, 359-374 Ijsseling 286, 307 Illig 365 Immanenz 61-70 Immerthal 169 Individualismus 17, 31 individuelles Gesetz 199, 210, 212 Individuum 17, 26, 29, 36, 38, 51, 128, 207, 212, 236, 316 Innerlichkeit 111, 181 Innovation 207, 334, 335 Intention 51, 130, 133, 134 Intercorporéité 20, 52, 352 Intersubjektivität 25, 34, 35, 52, 129, 233 Intertextualität 238 Intervention 239 In-Zwischen 35 Irigaray 293

Isosthenie 151 Iteration 55, 57, 355, 356

Jacobs 216 James 101 Jankélévitch 164 Jaspers 327, 349 Joisten 21, 63 Jung 94 Juranville 360 Kämpf 59, 87, 124, 125, 249, 311 Kanne 68 Kanngießer 334 Kant 20, 30, 32, 34, 36, 40, 42, 44, 67, 68, 71, 72, 73, 86, 89, 97, 114, 119, 120, 121, 122, 123, 125, 129, 131, 137, 139, 143, 144, 146, 149, 150, 151, 152, 164, 165, 166, 167, 173, 176, 178, 179, 186, 198, 199, 200, 201, 202, 206, 211, 216, 249, 252, 253, 256, 259, 269, 278, 335, 345, 349, 398 Kapust 80, 83, 285, 352 Karl, genannt der Große 365 Kasanin 248 kategorischer Imperativ 121, 122 Kellner 257 Kern 69, 177 Kettering 38 Kierkegaard 21, 66, 90, 97, 373 Kimmerle, G. 156, 157 Kimmerle, H. 63 Ko-Existenz 25, 27 Kollektivismus 17, 31 Kollmann 308

R EGISTER

Kommunikation 21, 31, 53, 72, 158, 191, 214, 236, 245, 253, 303, 305-328, 333, 337, 349 Kommunikationsgemeinschaft 261 kommunikativer Text 20, 27, 30, 31, 32, 34, 38, 39, 51, 52, 73, 74, 130, 143, 234, 269, 273, 278, 280, 286, 292, 304, 315, 330, 345, 349 Konersmann 61, 67, 70, 93, 114, 179, 278 Konjunktiv 340, 341 Konsens 36, 43, 154, 155, 156, 157, 158, 159,231-244, 249, 251, 258, 259, 260 Kontext 266, 267 Kontingenz 58, 313 Kontinuität 55, 58, 122, 246 Kontinuum 53, 122, 246 Kontrolle 221, 222 Korrelation 318 Koslowski 65, 220, 221 Kosmotheoros 207, 239 Krämer 32, 78, 235, 247, 251, 265, 338 Kraus 98, 119, 120, 180, 183 Krise 242 Kristeva 58, 61, 62, 233, 237, 248, 249, 274, 275, 294, 306, 331, 345 Kritik 61, 63, 130, 131, 140, 141, 185, 239, 251, 253, 255, 266, 333, 344 Krypta 244, 255 Kultur 44, 45, 49, 61, 62, 66, 181, 297, 371 Kulturprinzip 316 Kundera 143

Labyrinth

| 409

68, 69, 81, 85, 89, 90, 177, 178, 179 Lacan 93, 95, 143, 231, 243, 292, 293, 360, 368 Laing 307 Lang 231, 233 Laplanche 77 Las Casas 65 Leach 234 Leben 211, 212, 285 Lebenswelt 254 Lee 363 Lefebvre 272, 329, 330, 331, 333, 334 Leibniz 36 Leiden 338, 344, 346, 349, 351 Leisegang 85 Lejeune 153 Leonardo da Vinci 83 Lessing 97, 131 Letztbegründung 145, 209 Lévinas 11, 38, 41, 66, 74, 80, 127, 162, 273, 276, 277, 285, 288, 302, 303, 310, 322, 337, 338, 354, 363 Lévi-Strauss 189, 311 Lichtenberg 23, 65, 244, 365 Lichtenstein 180 Liebe 322, 345 Linearität 286 Lipp 318 Lipps 24, 191 Litwak 145 Locke 123, 128, 332, 390 Lorenzen 263 Lübbe 110, 364, 368 Luckmann 100 Lüge 107, 108, 110, 111, 112, 113, 114, 129, 135

410 | DER KOMMUNIKATIVE T EXT

Luhmann 28, 36, 39, 49, 53, 56, 70, 72, 100, 106, 126, 136, 137, 138, 139, 141, 142, 144, 146, 147, 148, 158, 159, 165, 166, 168, 173, 204, 215, 216, 217, 218, 219, 223, 225, 226, 239, 279, 280, 281, 287, 309, 313, 317, 318, 324, 368, 372, 390 Lukács 258 Lust 61 Lyman 296, 297 Lyotard 140

Macht

66, 259, 345 Mackenthun 258 Macpherson 332 Madell 362 Magie 294 Mahlzeit 73, 305 Malinche 88 Man 236, 288 Mandelbrot 242 Manichäismus 143 Marion 43 Markt 109, 253, 333 Marquard 101, 113, 140, 152, 189, 192, 208, 209, 238, 273, 285, 286 Martinet 52 Marx 21, 30, 64, 131, 252, 322, 332, 333, 343, 351 Maschine 115, 176 Maslow 368 Maxime 122 Mead 117, 287 Medialität 17-31,72, 78, 232, 265, 353 Medium 17, 22, 31, 235, 247 Meister Eckhart 180, 182

Mensch 16, 17, 71, 75, 76, 213, 224, 310, 335, 366 Menschenrechte 41, 146 Menschheit 42, 336 Menzer 200 Merleau-Ponty 18, 20, 33, 34, 52, 58, 70, 80, 83, 84, 86, 89, 144, 179, 207, 208, 265, 285, 301, 311, 352 Mersch 20, 232 Metadiskurs 291 Metakommunikation 245, 254, 308 Metamoral 280 Metapher 58 Meyer 364 Meyer-Drawe 87, 133, 153, 239, 289, 360, 364, 371 Meyzaud 332 Minsky 242 Mises 316 Mißtrauen 213, 217 Mißverständniß 245, 272, 307 Mitdasein 18, 19 Miteinandersprechen 19 Mitleid 191 Mitte 27, 30, 247, 290, 353 Modalisierung 66 Moderne 63, 67, 131, 132 Monotheismus 137 Montaigne 311 Moral 37, 39, 104, 118, 144, 146, 147, 149, 169, 187-189, 193, 196, 198, 199, 203, 204, 278, 279, 280, 296, 324, 357 moral sense 122, 123 Moralisierung 42, 147, 280, 296 Morgenstern 27, 75 Morin 20, 72, 110

R EGISTER

Muck 364 Mühsam 192 Müller 171, 361 Müller-Lauter 308, 369

Nähe 27, 37, 38, 61-104, 214, 303 Nancy 18, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 35, 40, 52, 53, 72, 80, 95, 110, 154, 208, 235, 255, 260, 265, 311, 318, 320, 326, 348, 351, 366, 369, 372, 374 Negative Dialektik 340, 344 Negentropie 315 „Neger“ 296 Neoliberalismus 253 Netz 29, 69 Neues 21, 131, 225, 239 Neurotiker 248, 249 Newton-Universum 277 Nicht-Ich 234 Nichtidentisches 343, 345 Nichtwissen 150, 151, 152 Nietzsche 21, 23, 35, 50, 69, 71, 110, 124, 142, 146, 159, 167, 180, 240, 289, 299, 303, 308, 309, 316, 356, 361, 369, 392 Nihilismus 275 Nikolaus von Cues 186 Nomadismus 67, 68, 69, 177 Norm 147, 262, 263, 264, 266 normativer Diskurs 324 Normativität 15, 34, 74, 75, 77, 97, 106, 262 Novalis 26, 34, 80, 92, 93 Nyíri 87, 100, 309, 360 O’Neill 226 Objektivierung 295 Odysseus 21

| 411

Oevermann 257 Offenbarung 244, 255 öffentliche Ordnung 194 Öffentlichkeit 155 Ogilvy 373 Ökonomie 169 Ökonomieprinzip 65 Oksenberg Rorty 101 Okularismus 314 Ong 232 Oralität 232 Ordnung 284 Orpheus 22

Paradies

77 Paradoxon 63, 142, 171, 245 Paragramm 237, 274, 275 Parsons 254, 361, 373 Passmore 174 Paulhans 285 Pelzig 8 Perec 85 performative Wende 73 performativer Selbstwiderspruch 253 Performatives 233 permanente Intervention 43 Pernety 220 Perspektive 69, 152, 179, 302 Perspektivismus 89 Pestalozzi 188 Petermann 213, 217 Petrarca 67 Petroviü 323 Pflicht 39, 103, 114-136, 162, 163, 165, 202 Pflichthofer 74, 88, 96 Philosophieren 275 philosophy 126

412 | DER KOMMUNIKATIVE T EXT

Picard 33 Pieper 144 Piepmeier 258 Plack 234 Plagiat 103 Platon 73, 85, 93, 232, 234, 302 Plenge 28 Plessner 16, 17, 63, 83, 97, 287, 300, 351 Plotin 137, 263 Pluralität 43, 299 Pohl 253 Poiesis 272, 332 polemische Totalität 152, 185 Politisches 17, 18, 40, 41 Poliziano 131 Popper 185 Postfeminismus 123 Postmoderne 58, 68, 131, 132, 262 Präsenz 271 Praxis 120, 125, 126, 272, 333, 353 Praxis-Behilflichkeit 343 Praxisrelevanz 126, 343 Préli 301 Priddat 169 Privatsprache 312 Probleme 86, 278 Professionalisierung 102, 103 Protention 54 Proudhon 241 Prozeß 35, 72, 84, 315 Psychoanalyse 88, 240-244, 254 Psychose 159, 248 Putin 145

Quelle

23, 137

Rancière

154

Randonnée 69 Ranke 314 Rationalität 221, 262, 263 Raum 82 Rauschenbach 93 Ravetz 150 Rawls 17, 267, 268 Recht 161-163, 166, 203, 204 Rechthaben 302 Reflexion 57, 264, 295, 355, 356 Reformismus 235 Regel 267, 268, 272 Rekontinuierung 116, 121, 123, 126, 142 Relation 24, 32, 72, 269, 311 Responsivität 74, 288 Retention 54 Revolution 184, 335 Rhetorik 114, 233 Ribettes 248 Ricœur 9, 57, 311 Rieß 80 Rilke 178 Rimbaud 61, 271, 356 Ripperger 217 Risiko 217, 222 Ritter 54, 72, 206, 207, 208, 258, 273, 364 Rivette 372 Robespierre 80 Rodriguez-Lores 258 Rohrbach 303 Rosenstock-Huessy 303 Rossi-Landi 272, 331, 332, 333, 334, 337, 363 Rotationsprinzip 149 Rotter 215 Röttgers, H. 108

R EGISTER

Röttgers, K. 15, 16, 18, 21, 30, 32, 34, 36, 38, 43, 50, 51, 56, 58, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 73, 78, 79, 82, 87, 89, 90, 92, 95, 96, 101, 103, 109, 110, 114, 121, 126, 127, 130, 132, 137, 138, 140, 143, 149, 152, 157, 163, 174, 177, 179, 183, 185, 198, 216, 218, 219, 220, 233, 235, 236, 238, 249, 252, 254, 258, 264, 265, 269, 274, 277, 278, 296, 302, 316, 323, 332, 336, 338, 348, 353, 356, 360, 368 Röttgers, S. 173 Rousseau 39, 157, 158, 307 Routine 214, 223, 225 Rumohr 189 Rumpf 137 Rüthers 193

Saarinen 238 Sachs 346 Sacksteder 319, 324 Sade 21, 255 Sandbothe 244, 247 Sapir 98 Sartre 115, 295, 303, 337, 338, 362 Saussure 9, 329, 331 Scarry 74, 346 Schachtschneider 200, 201, 202 Schäfer 56, 57 Schapp 21, 162 Scheitern 297 Scheler 198, 199 Schelling 32, 364 Schiller 125 Schizophrenie 158, 248, 293

| 413

Schlegel 63, 183, 184, 185, 245, 274, 315, 362 Schmerz 346 Schmidt, Hajo 330 Schmied-Kowarzik 323 Schmitt, Carl 18, 40, 68, 96, 259, 266, 267, 280, 287 Schmitz-Emans 69, 70, 78, 79, 87, 110, 132, 174, 179, 238, 240, 254, 298 Schmucker 361 Schnelle 334 Schottlaender 214, 215, 219, 226 Schrift 232, 298 Schuld 327 Schurkenstaat 145 Schürmann 24, 63, 97, 101, 146, 157, 332 Schutz 87, 129, 226, 279, 284 Schutz, A. 153, 317 Schweigen 348, 349 Schwemmer 263 Scott 296, 297 Searle 261 Sebag 294 Seele 38, 340 Segerstedt 268 Sein 105 Selbst 31, 34, 54, 73, 238, 239, 265, 271, 291, 295, 366, 370 Selbstbehauptung 66 Selbst-Bestätigung 337 Selbstbewußtsein 95 Selbstbezüglichkeit 295, 297, 301 Selbst-Sorge 190 Selbstverwirklichung 366, 371 Semiotisches 61 sensus communis 190

414 | DER KOMMUNIKATIVE T EXT

Serres 32, 36, 55, 69, 79, 82, 86, 98, 157, 174, 181, 213, 218, 231, 235, 291, 356 Shabestarian 244 Shaftesbury 123, 190 Signifikant 247, 273 Signifikat 247, 273 Simitis 80, 194, 197 Simmel 16, 18, 24, 25, 36, 49, 65, 72, 80, 81, 92, 136, 142, 147, 199, 210, 212, 219, 269, 274, 280, 287, 289, 299, 344, 368 Simon 85, 267, 369 Sindermann 83 Singularität 265 Sinn 58, 101, 105, 205, 318, 326 Sinnlichkeit 212, 310 Sitte 200, 205 Sittengesetz 122, 197, 198, 202, 203, 206, 208, 210 Sittenordnung 196 Sittlichkeit 196, 208 Situation 266, 312 Skepsis 68, 126, 151, 263 Smith 116, 117, 118, 119, 123, 191 Sokrates 73, 114, 130, 150, 151 Sollen 105, 210, 212 Sommer 65, 66, 67, 79, 101, 151 Sontag 238 Sophist 151 Soziales 17, 34, 53 soziales Band 143, 205 Sozialkapital 216 Sozialphilosophie 16, 34, 39, 44, 45, 51, 52, 74, 125, 273, 280, 286, 353 Sozialtherapeut 257 Soziologie 16

Sozio-Ontologie 25 Spalte 300, 301, 352 Spiegel 93, 360, 368 Spiegel-Stadium 293 Spinoza 146, 263, 351, 369, 374 Sprache 22, 24, 243, 270, 271, 312, 315 Sprachspiele 73, 99, 100, 101, 231-240, 334 Sprechakttheorie 261 Sraffa 331 Staat 51 Standpunkt 121, 152 Starobinski 158 Steigerung 140, 141 Stekeler-Weithofer 248 Stengel 34 Stimme 247 Stingl 271 Stone 234 Störung 242, 318, 327 Strasser 54 Struktur 115, 175, 176 Subjekt 36, 51, 52, 66, 114, 115, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 231, 233, 237, 240, 246, 276, 277, 287, 290, 295, 305, 370, 373 Subjekt-Objekt-Spaltung 351 Subjektzentrierung 20 Subsumtion 318 Subtext 310 Swedenborg 173 Symbol 98 Symbolisches 61, 98, 106, 110 Sympathie 116, 190, 191 Symphilosophieren 185 Symptom 243

R EGISTER

Tacitus 193, 200 Takt 148, 280 Tanz 81 Täter 23, 127 Tatsache 172, 173 Tausch 253, 341 Taylor 238 Telos 28, 352 Terrorismus 42, 248 Teufel 137, 142 Text 21, 53, 72, 232, 247, 304, 311, 353 Textanschlüsse 262 Thema 322 theoretische Kommunikation 323 Therapeutik 243, 251-260 Thielemann 156 Thomä 361 Thur von 196 Tod 19, 160 Todorov 65, 88 Tönnies 54, 94 Torok 95, 243 totale Kommunikation 349 Totalität 155, 341 Transversalität 244 Transzendentalpragmatik 261 Traxler 113 Treue 148 Trittbrettfahrer 221 Turkle 182, 367 Überbau 272 Überblick 67, 70, 85, 89, 90, 179, 258 Überflug, survol 179 Übergang 44, 246, 356, 374 Übergriff 160

| 415

Überschreitung, Übertretung 99, 108, 109, 160 Übertretung 99, 108, 109 Üblichkeit 189, 192, 209 Uchronie 187 Ulrich 156 Umweg 45, 65, 86, 99, 112, 297, 316 Unbewußtes 95, 243, 255, 292, 370 Unergründlichkeit 97 Ungewußtes 69, 149-160 Universalisierung 44, 116, 119, 147, 201 Unmittelbarkeit 17, 22, 34, 35, 107, 108, 165, 265 Unterscheidung 28, 137, 138, 142 Unterwerfung 165 Unverzeihliches 164 Unwille 157 Unwissenheit 186 Urimpression 33, 271 Ursprung 23, 27, 363 Usualismus 189, 192, 208, 210

Valéry 83, 84 Vattimo 71 Verantwortung 162 Verdopplung 64, 368 Verfemtes 149-160 Verführung 66, 84, 130, 320, 328 Vergessen 175, 176 Verläßlichkeit 55 Vermittlung 265, 322 Vernunft 128, 367 Versprechen 167, 168, 169, 170, 215, 268 Verständigung 235, 255, 256 Verstehen 56, 272, 300

416 | DER KOMMUNIKATIVE T EXT

Verträge 168 Vertrauen 170, 213-227 Vielfältigkeit 113 Vielheit 29, 100 Vogl 30, 171, 241, 242, 253, 258, 299, 361 Volksbewußtsein 196 volonté générale 30, 157 Völzmann-Stickelbrock 103

Wachstum

133, 178, 179 Wahrheit 100, 155, 159, 172 Waldenfels 66, 74, 82, 96, 163, 266, 267, 276, 285, 288, 289, 290, 303, 314, 371 Wandern 79 Wechselwirkung 72 Weil 363 Weisgerber 98 Welsch 71, 153, 209, 210, 244, 262, 367 Welt 348 Weltverdopplung 257 Wenzel 96 Werden 311 Werding 365 Wert 198, 269 Whitehead 69, 180 Whorf 98 Widerfahrnis 208 Widerspruch 354 Wiederholung 63, 70, 90

Wiehl 268 Wiesenthal 259 Wilden 158, 245, 246, 284, 293, 301, 303, 305 Wilson 53 Winckelmann 183 Winnicott 293, 316 Wir 317 Wissen 67, 102, 114-136, 150, 152, 155, 172, 175, 176, 185, 186 Wissenschaft 172, 173, 174, 248 Wittgenstein 34, 73, 85, 99, 100, 312, 331, 332, 334, 335, 348 Wohlwollen 190, 191 Wolf 200, 203 Wortergreifung 288 Wust 68 Wyss 322, 337, 350

Yorck von Wartenburg Zeit

314

33, 53, 91, 174 Zeitbewältigung 318 Zitat 64, 237, 275 Zuschauen 314 zw~on politikón 18 Zweifel 126 Zwischen 17-31, 35, 52, 72, 74, 235 Zwischenraum 247

Sozialphilosophische Studien Thomas Bedorf Andere Eine Einführung in die Sozialphilosophie 2011, 210 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1710-8

Thomas R. Eimer, Kurt Röttgers, Barbara Völzmann-Stickelbrock (Hg.) Die Debatte um geistiges Eigentum Interdisziplinäre Erkundungen. Rechtswissenschaft – Politikwissenschaft – Philosophie 2010, 212 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1570-8

Andreas Hetzel Die Wirksamkeit der Rede Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie 2010, 484 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1543-2

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Sozialphilosophische Studien Kristóf Nyíri Zeit und Bild Philosophische Studien zur Wirklichkeit des Werdens Juni 2012, 204 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1904-1

Volker Schürmann Die Unergründlichkeit des Lebens Lebens-Politik zwischen Biomacht und Kulturkritik 2011, 250 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1905-8

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