Das ewige Nun: Ein Paradoxon in der Philosophie des Proklos [1 ed.] 9783428522736, 9783428122738

Anstoß der Untersuchung ist der in der Mystik des Abendlandes wiederkehrende Topos der Präsenz des Ewigen im Nun. Dieser

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Das ewige Nun: Ein Paradoxon in der Philosophie des Proklos [1 ed.]
 9783428522736, 9783428122738

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Philosophische Schriften Band 72

Das ewige Nun Ein Paradoxon in der Philosophie des Proklos

Von

Veronika Maria Roth

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

VERONIKA MARIA ROTH

Das ewige Nun

Philosophische Schriften Band 72

Das ewige Nun Ein Paradoxon in der Philosophie des Proklos

Von

Veronika Maria Roth

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Philosophische Fakultät I der Universität Regensburg hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-12273-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Philosophie, insbesondere die platonische, ist immer auch Dialog, und so möchte ich allen danken, die mich auf meinem bisherigen Weg begleitet haben. Prof. Dr. Wolfgang Spohn sowie Prof. Dr. Franz von Kutschera haben mich in meinen ersten Studienjahren für die Klarheit und Präzision der analytischen Philosophie begeistert, Prof. Dr. Ferdinand Ulrich brachte mir die mystischen Denkformen des Mittelalters nahe, deren vertraute Fremdheit mich bis heute fasziniert. Der eklatante Gegensatz zwischen diesen beiden Herangehensweisen an das Philosophieren bildete letztlich den Keim für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit: Kann ein scheinbar nur mystisch einholbares Philosophem dem heutigen Denken vermittelt werden? So folgt die Untersuchung einer Grundfrage, die sich bereits in meinen ersten Studienjahren herauskristallisiert hat. Prof. Dr. Rolf Schönberger hat mich ermuntert, diese Frage an der Philosophie des Proklos zu untersuchen und mich dabei als Doktorvater begleitet. Ich danke ihm für seine kontinuierliche Unterstützung. Ermöglicht wurde das Forschungsvorhaben durch ein Stipendium der DFG im Rahmen des Graduiertenkollegs „Vormoderne Konzepte von Zeit und Vergangenheit“ an der Universität zu Köln. Meinem dortigen Mentor, Prof. Dr. Werner Deuse, bin ich zu ganz besonderem Dank verpflichtet. Für die Durchsicht größerer Übersetzungspassagen danke ich Jens Janissen. Das Philosophische Seminar und das Thomas-Institut zu Köln boten mir ein anregendes Umfeld für die Erstellung der Arbeit. Voll Freude und Dankbarkeit denke ich an die intensiven philosophischen Diskussionen mit meiner Zweitgutachterin, Prof. Dr. Claudia Bickmann, zurück, durch welche die Anlage der vorliegenden Arbeit maßgeblich beeinflußt wurde. Prof. Dr. Jan Opsomer danke ich für sein offenes Ohr für meine Fragen zum Neuplatonismus. Wichtige Denkanstöße haben sich auch aus Gesprächen auf Tagungen und Kongressen ergeben, und ich danke allen Forscherinnen und Forschern, welche sich die Mühe gemacht haben, meine noch unfertigen Ideen mit mir zu diskutieren. Durch den langwierigen Prozeß der Niederschrift haben mich freundschaftliche und familiäre Bande getragen. Mein Dank gilt Dr. Maria Kronfeldner, Susanne Biber und Andreas Petter für die anregenden Gespräche, die Ermunterungen und die mühsame Arbeit des Korrekturlesens. Meinen Eltern danke ich, daß sie mich auf meinem Weg unterstützt und mit ihrer

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Vorwort

Liebe begleitet haben und sich die Mühe gemacht haben, das Typoskript vor dessen Einreichung durchzusehen. Und nicht zuletzt möchte ich meiner alten Tante Liesi Dank aussprechen, der es immer wieder gelungen ist, mir durch ihre Lebensweisheit und aufmunternden Worte über Durststrecken beim Denken und Schreiben hinwegzuhelfen. So freue ich mich, das vorliegende Buch jetzt als Druckfassung meiner Dissertationsschrift vorlegen zu können, die an der Universität zu Köln entstanden ist und an der philosophischen Fakultät I der Universität Regensburg eingereicht wurde. Frankfurt, im März 2008

Veronika Roth

Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Was ist in der Zeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zeit als relativ zur Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Eckharts präsentische Eschatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit und ihre Verbindung mit dem Nun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Nun der Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Paradox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Proklos: der Neuplatonismus als philosophisches System . . . . . . . . . . . . . VI. Vorhaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kurzer Aufriß seines philosophischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Philosophische Fragestellungen: Prädikatenlogik versus Platonismus . . 1. Der logische Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prädikatenlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die platonische Frage nach dem Woher der Eigenschaften . . . . . . . . III. Der neuplatonische aitia-Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die aitia als vorgängige, transzendente Entität, der die Wirkung ähnlich ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Transmission Theory . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Dynamis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gibt es eine höchste Ursache? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Causa finalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Ordnung der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Eine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das allgemeinste Prädikat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Überseiende Eine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das erste Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) arrêton kai agnôston . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) to hen kai tagathon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Eine als generatives Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) hai henades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) peras kai apeiria – mit einem Exkurs zum Bedeutungsfeld „Sein“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 16 17 21 25 25 34 36 51 53 56 56 57 57 60 63 65 65 67 68 69 70 72 73 76 77 82 85 85 86 89 90 92

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Inhaltsverzeichnis V.

Der intelligible Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strukturprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) noêton – noêton hama kai noeron – noeron . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sein – Leben – Intellekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) peras – apeiria – mikton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) monê – proodos – epistrophê . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Entsprechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Struktur des intelligiblen Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die intelligible Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die intelligible und zugleich intellektuelle Ebene . . . . . . . . . . . . . c) Die intellektuelle Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Intelligibles Leben vs. intelligible und zugleich intellektuelle Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Intelligibler Intellekt vs. intellektuelle Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . .

110 114 114 115 117 123 126 128 129 131 136 143

C. Die I. II. III.

Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Intellekt als Ort der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analogie zwischen dem überseienden Einen und den Ideen . . . . . . . . . . Die Transzendenz der Ideen I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Idee als auto kath’hauto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Idee als amethekton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Segeltuchdilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Argument vom dritten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Größenregreß: Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Moderne Interpretationen I: Vlastos und Sellars . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Ähnlichkeitsregreß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Proklos’ Deutung des Arguments vom dritten Menschen . . . . . . . . . 5. Moderne Interpretationen II: Taylor und Cherniss . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Selbstprädikation der Ideen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Pauline Predications . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Logik der Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Lloyds Quasi-Genus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Benennung der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Das Verhältnis zwischen Instanz und Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Relation aph’henos und pros hen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Die Transzendenz der Ideen II: jenseits von Raum und Zeit . . . . . . . . . . 1. Die Transzendenz der Ideen über den Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Transzendenz der Ideen über die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150 151 161 162 162 165 169 171 173 174 186 188 196 200 201 212 221 224 229 229 234 251 253 259

D. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation . . . . . . . . I. Der Grund dieser Paradoxa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überschreitung des Referenzrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Immanente Wirksamkeit der transzendenten Idee . . . . . . . . . . . . . . . .

268 268 269 271

143 147

Inhaltsverzeichnis

11

II.

Integration in Proklos’ Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 1. Unterscheidung nach Hinsichten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 2. Priests „Logic of Paradox“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 3. Proklos und das Widerspruchsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 4. Die Auflösung der nicht auflösbaren Paradoxa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 a) Die Widersprüchlichkeit dieser Paradoxa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 b) Proklos’ philosophisches System als Theorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 c) Die Eingrenzung der Paradoxa in Proklos’ philosophischem System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 III. Parallele zu Meister Eckhart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 IV. Das ewige Nun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 E. Die Ewigkeit in der Philosophie des Proklos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 I. Die Stellung der Ewigkeit im intelligiblen Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 1. Die Ewigkeit und die Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 2. Die Ewigkeit und das Autozôon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 3. Die Ewigkeit als die mittlere Trias der intelligiblen Ebene . . . . . . . . 294 a) Die Ewigkeit als Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 b) Die Ewigkeit als erste Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 4. peras und apeiron der Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 II. Das philosophische Paradox des ewigen Nun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 1. Die Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 2. Die Zeit als Abbild der Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 a) Das Immer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 b) Das Nun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 3. Die Aufhebung des Widerspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 F. Das I. II. III.

Ewige und das Nun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Resümee der bisherigen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Das religiöse Paradox des ewigen Nun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Die Erfahrbarkeit des Ewigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 1. Die Erkenntnis der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 2. Intellektuelle Anschauung und Intuition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 3. Das Erlebnis des Ewigen im Nun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

G. Nachtrag: der Weg zum glückseligen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Quellenausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Sonstige verwendete Übersetzungen und Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Andere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338

A. Einführung Seit jeher reklamiert die Mystik die Erfahrbarkeit des Ewigen im Nun.1 Da sich menschliche Erfahrung aber in der Zeit ereignet, erscheint die Begegnung von Ewigkeit und Zeit im erfahrenen Nun paradox, insofern die Begriffe Ewigkeit und Zeit einander entgegengesetzt sind. Die vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, inwieweit dieses Paradox philosophisch einholbar ist. Wie gezeigt werden wird, gründet es auf der philosophischen Voraussetzung einer zeitlosen Ewigkeit, in der Immer und Nun dasselbe sind – auch dies erscheint paradox. Es ist das Hauptziel der Untersuchung, diese philosophische Voraussetzung beispielhaft an der Philosophie des Proklos zu klären. Dabei wird deutlich werden, daß das Erklärungspotential der Philosophie des Proklos über dieses Ziel hinausgeht. Da sowohl der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit als auch die Vorstellung der Erfahrbarkeit des Ewigen im Nun in der neuzeitlichen Philosophie zunehmend marginalisiert wurden, steht vor der eigentlichen Untersuchung eine Einführung. Sie nähert sich dem Begriff einer zeitlosen Ewigkeit zunächst ex negativo und zeigt, daß es ethische Implikationen hat, ob er in Vergessenheit gerät oder nicht: Nur vor dem Hintergrund dieses Begriffs ist präsentische Eschatologie denkbar (A. I.). Das Konzept der präsentischen Eschatologie wird am Denken Meister Eckharts genauer dargestellt (A. II.), und die Geschichte des Begriffs einer zeitlosen Ewigkeit knapp umrissen (A. III.). Das folgende Kapitel (A. IV.) legt dar, inwiefern dieser Begriff paradox ist, und untersucht verschiedene Weisen, Paradoxa zu begegnen, um schließlich einen philosophisch verantwortlichen Umgang mit Paradoxa zu erarbeiten: die Eingrenzung des Paradoxes innerhalb des Systems, in dem es auftritt. Sodann wird erklärt, warum es sinnvoll ist, das philosophische Paradox des ewigen Nun an der Philosophie des Proklos zu klären (A. V.), und das Vorhaben kurz skizziert (A. VI.).

I. Was ist in der Zeit? „Die Welt ist alles, was der Fall ist“,2 so lautet der vielzitierte erste Satz in Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus. Mit seinem Tractatus 1 2

So etwa Albrecht, Im ewigen Jetzt. Wittgenstein, § 1.

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A. Einführung

wurde Wittgenstein zu einem Kronzeugen des logischen Positivismus,3 der sich für „die Wende der Philosophie“4 hielt. Der logische Positivismus, auch „Neopositivismus“ oder „logischer Empirismus“ genannt, glaubte an „die n e u e wissenschaftliche Methode des Philosophierens“5, bestehend in der „l o g i s c h e n A n a l y s e d e r S ä t z e u n d B e g r i f f e d e r e m p i r i s c h e n W i s s e n s c h a f t e n“6. Damit rücken Sätze über die empirische Wirklichkeit in den Fokus der Philosophie, die nach Auffassung des logischen Positivismus kein „System von Sätzen“, sondern ein „System von A k t e n“ ist, „diejenige Tätigkeit, durch welche der S i n n der Aussagen festgestellt oder aufgedeckt wird“7. Ein sinnvoller Satz gehört entweder „zum Gebiet der Logik einschließlich der Mathematik“8 oder aber er ist „ein empirischer Satz. Er ist dann zurückführbar auf das Gegebene und daher grundsätzlich als wahr oder falsch entscheidbar“.9 Ob ein nicht-mathematischer Satz sinnvoll ist, hängt also wesentlich davon ab, ob er im empirisch Gegebenen prinzipiell verifizierbar ist oder nicht.10 Mit dem empirisch Gegebenen ist nicht allein das dem Individuum sinnenfällig Gegebene gemeint, sondern entsprechend der wissenschaftlichen Ausrichtung des Neopositivismus „die intersensorisch und intersubjektiv überprüfbaren, räumlich-zeitlich bestimmbaren Gegenstände und Ereignisse“11. 3 cf. Schlick, Wende, S. 6: „Die Wege gehen von der L o g i k aus. Ihren Anfang hat L e i b n i z undeutlich gesehen, wichtige Strecken haben in den letzten Jahrzehnten G o t t l o b F r e g e und B e r t r a n d R u s s e l l erschlossen, bis zu der entscheidenden Wendung aber ist zuerst L u d w i g W i t t g e n s t e i n (im ‚Tractatus logico-philosophicus‘, 1922) vorgedrungen.“ (Hervorhebungen: Schlick). Zum logischen Positivismus cf. auch B. II. 1. 4 So der Titel des Beitrages, den Moritz Schlick im ersten Band der Zeitschrift „Erkenntnis“ veröffentlicht hat. Die „Erkenntnis“ war das Publikationsorgan der beiden neopositivistischen Denkschulen, des Wiener Kreises und der Berliner „Gesellschaft für empirische Philosophie“. Cf. Salamun, S. 2. 5 Carnap, Logik, S. 12. (Hervorhebung: Carnap). 6 Carnap, Logik, S. 12. (Hervorhebung: Carnap). 7 Schlick, Wende, S. 8 (Hervorhebungen: Schlick). Wie stark sich Schlick hier an Wittgenstein anlehnt, macht folgender Beleg deutlich: Wittgenstein, § 4.112: „Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken. Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. Ein philosophisches Werk besteht wesentlich aus Erläuterungen. Das Resultat der Philosophie sind nicht ‚philosophische Sätze‘, sondern das Klarwerden von Sätzen.“ 8 Carnap, Logik, S. 25. 9 Carnap, Logik, S. 25. 10 cf. Schlick, Positivismus und Realismus, S. 114: „Als berechtigter, unangreifbarer Kern der ‚positivistischen‘ Richtungen erscheint mir das Prinzip, daß der Sinn jedes Satzes restlos in seiner Verifikation im Gegebenen beschlossen liegt.“ 11 Haller, S. 16. Cf. auch Schlick, Raum und Zeit, S. 58 sowie S. 60, der sich gegen „den strenge[n] Positivismus eines Mach“ wendet: „Erstens scheint es mir eine willkürliche, ja dogmatische Festsetzung zu sein, wenn man nur die anschau-

I. Was ist in der Zeit?

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Gegen Kant werden Raum und Zeit allerdings nicht als apriorische Formen der Anschauung gefasst,12 sondern die Wirklichkeit ist für den Neopositivismus – Einstein folgend – die „Einheit von Raum, Zeit und Dingen“13. Einer Philosophie aber, die das Gegebene in solcher Weise begreift und zum Maßstab von Wahrheit macht, rückt ein Konzept aus dem Blick, das im Rahmen dieser Arbeit zentral sein wird: das Konzept einer zeitlosen Ewigkeit. Denn einer Philosophie, die ihre Aufgabe darin sieht, mit dem Kriterium des empirisch Gegebenen zu entscheiden, ob nicht-mathematische Sätze sinnvoll sind oder nicht, wird die Zeit zur unhintergehbaren Voraussetzung, weil das empirisch Gegebene wesentlich zeitlich bestimmt ist.14 Auf den logischen Positivismus wurde an dieser prominenten Stelle deshalb eingegangen, weil diese Weltanschauung große Wirkmächtigkeit entfaltet und somit prägenden Einfluß auf wesentliche Strömungen des heutigen Denkens und Philosophieverständnisses genommen hat, die sich zunehmend an die positiven Wissenschaften gebunden sehen. Zu Beginn der Arbeit dient das prädikatenlogische Programm des logischen Positivismus als Folie, vor der die Philosophie des Proklos entwickelt wird, denn verschiedene Fragestellungen führen zu verschiedenen Antworten. Durch das Aufzeigen der Fragehaltungen diamatral entgegengesetzter philosophischer Ansätze tritt die vorliegende Arbeit in den Dialog mit dem fremden Denken des Proklos und unterscheidet sich mithin von anderen Arbeiten im deutschen Sprachraum, die bei ihren Darstellungen des proklischen Denkens eine Innenperspektive einnehmen, wie beispielsweise den exzellenten Arbeiten Beierwaltes’15 und Halfwassens16. lichen Elemente und ihre Beziehungen als real gelten lassen will. Diese Einengung des Wirklichkeitsbegriffes auf das unmittelbar Gegebene ist durch das Verfahren der Wissenschaften nicht gerechtfertigt.“. 12 Reichenbach setzt sich in seinem für den ersten Band der „Erkenntnis“ verfaßten Aufsatz „Die philosophische Bedeutung der modernen Physik“ mit der Aprioritätsphilosophie auseinander. 13 Schlick, Raum und Zeit, S. 51. 14 Es ließe sich allerdings fragen, wie es um die mathematischen Sätze steht: Sind sie in der Zeit oder nicht? Mathematische Sätze gelten immer, und ihre Geltung ist keinerlei zeitlicher Veränderung unterworfen. Ist diese Dauer ohne Veränderung der mathematischen Sätze noch eine zeitliche Kategorie oder nicht? Im Sinne des Neopositivismus wäre es sinnlos, mathematischen Sätzen einen bestimmten Zeitpunkt oder -raum zuzuordnen, weil sie immer gelten. Doch läßt sich daraus der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit ableiten? Ich meine kaum. Zwar schreiben Cornford und Whittaker, wie im Abschnitt A. III. 1 gezeigt werden wird, den platonischen Ideen zeitlose Dauer zu, die sie mit der Ewigkeit identifizieren, doch läßt sich ein solcher Begriff für den metaphysikfeindlich eingestellten Neopositivismus nicht postulieren: Der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit wäre für den Neopositivismus sinnlos und mithin überflüssig.

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A. Einführung

Damit versteht sich diese Arbeit nicht im reinen Sinne als philosophiehistorische, sondern sucht mit Blick auf ein wissenschaftsgebundenes Denkparadigma die Auseinandersetzung und den Dialog mit Proklos, einem Denker der Spätantike (ca. 410–485), der sich als Nachfolger Platons verstand. Auch der Anstoß zu dieser Arbeit läßt sich in Abgrenzung zum wissenschaftsgebundenen Denkparadigma formulieren: Wie gleich ausgeführt werden wird, hat es eine ethische Implikation, ob der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit in unserem Denken einen Platz findet oder nicht. 1. Zeit als relativ zur Ewigkeit Das platonische Denken kennt den Begriff einer Ewigkeit, die nicht nur in Opposition zur Zeit gedacht wird, sondern von der die Zeit abhängt: Platon konzipiert die Ewigkeit als der Zeit vorgängig. Im Timaios erscheint die Zeit als „bewegtes Abbild der Ewigkeit“17, so daß das Ewige und insbesondere die Ewigkeit selbst, der Zeit nicht unterworfen sind. Eine Abwendung vom Begriff einer zeitlosen Ewigkeit markiert Thomas Hobbes, der in seinem 1651 erschienenen Leviathan gegen den Begriff einer solchen Ewigkeit wettert: For the meaning of Eternity, they will not have it to be an Endlesse Succession of Time; [. . .] But they will teach us, that Eternity is the Standing still of the Present Time, a Nunc-stans (as the Schools call it); which neither they, nor any else understand, no more than they would a Hic-stans for an Infinite greatnesse of Place.18

Seitdem verabschiedet sich der Terminus einer zeitlosen Ewigkeit aus der universitären Philosophie. In Kierkegaards stark theologischem Denken hat das Ewige in Opposition zum Zeitlichen noch einen Platz.19 Dem heutigen 15

cf. vor allem Beierwaltes, Proklos sowie seine folgenden Aufsätze: Entfaltung der Einheit; Dionysios; Identität in der Differenz, S. 36 sqq.; Philosophische Marginalien. 16 cf. Halfwassen, Hegel, S. 386–362; Halfwassen, Das Eine als Einheit und Dreiheit. 17 Platon, Timaios 37d5. (Übersetzung: Apelt). 18 Hobbes, Leviathan IV 46, S. 370. („Was die Bedeutung von Ewigkeit betrifft, so wollen sie sie nicht als eine endlose Aufeinanderfolge von Zeit verstanden wissen, [. . .]. Aber sie wollen uns lehren, daß Ewigkeit Stillstehen der gegenwärtigen Zeit sei, ein nunc-stans, wie es die Schulen nennen, was weder sie verstehen noch sonst jemand versteht, so wenig, wie sie ein hic-stans als Bezeichnung der unendlichen Größe eines Ortes verstehen würden.“ Übersetzung: Euchner). 19 Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 8 (XI 127): „Der Mensch ist eine Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen [. . .].“

I. Was ist in der Zeit?

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naturwissenschaftlich geprägten Denken fiele es jedoch schwer, eine zeitlose Ewigkeit zu denken, eine Ewigkeit, die etwas anderes meint als eine unendlich lange Zeit. 2. Implikationen Das platonische Denken konzipiert die Zeit als relativ zu einer zeitlosen Ewigkeit, das neuzeitliche in der Regel nicht. Die beiden verschiedenen Konzepte von Zeit haben – und das war der Anstoß für diese Arbeit – Implikationen für die Frage, was wir hoffen dürfen. Ins Religiöse gewendet bezieht sich diese Hoffnung auf das Göttliche, das ganz Andere, und selbst ins Säkulare zurück gewendet, bleibt der Frage die Suche nach dem Anderen inhärent. Die Antwort darauf, so meine These, fällt unterschiedlich aus, je nachdem, welchen Zeitbegriff wir unserem Leben zugrunde legen. Wird die Zeit als Absolutum angesetzt, ohne den Horizont einer zeitlosen Ewigkeit mitzubedenken, von der sie abhängt, so kann sich das ganz Andere allenfalls am Ende der Zeit ereignen, dann also, wenn sich die eigene Lebenszeit oder die Zeit der Welt erschöpft hat. Der Zielpunkt der religiösen Hoffnung wird mithin in die Zukunft verschoben, die Gläubigen auf die Zukunft vertröstet. Eine solche religiöse Haltung hat Karl Löwith im Blick, wenn er die geschichtsphilosophische Überzeugung, Geschichte habe als Zweck „ein künftiges Ziel“20 als „dem eschatologischen Glauben an einen heilsgeschichtlichen Endzweck entsprungen“21 deutet. Die Idee der Geschichtsphilosophie, Geschichte habe einen Sinn, auf den sie den Blick im Laufe ihrer Entwicklung mehr und mehr freigebe, wurzelt nach Löwith im eschatologischen Glauben an ein geschichtliches Telos. Erlösungsideologien wie beispielsweise der Marxismus sind nach seiner Deutung säkularisierte religiöse Heilserwartung.22 20

Löwith, S. 15. Löwith, S. 14 sowie S. 26: „der moderne Mensch dachte eine Philosophie der Geschichte aus, indem er die theologischen Prinzipien im Sinne des Fortschritts zu einer Erfüllung säkularisierte“. 22 Löwith, S. 42: „Diese Philosophie des Proletariats als eines auserwählten Volkes wird im Kommunistischen Manifest entwickelt, einem Dokument, das im Einzelnen seines Inhalts wissenschaftlich bedeutsam, im Ganzen seiner Konstruktion eine eschatologische Botschaft und in seiner kritischen Haltung prophetisch ist“. Löwiths Analyse ist insofern problematisch, als sie der christlichen Tradition eine Geschichtsvorstellung unterstellt, wie wir sie erst seit dem 19. Jh. kennen, so daß sich der Begründungszusammenhang zwischen christlicher Tradition und Geschichtsphilosophie, den Löwith behauptet, umkehren oder zumindest verschieben würde: Denkbar wäre ja eine gemeinsame Ursache sowohl für die Entwicklung der Geschichtsphilosophie als auch für das religiöse Hoffen auf eine Erlösung, die als zukünftiges Ereignis begriffen wird. 21

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A. Einführung

Doch religiöse Hoffnung ist auch anders denkbar, dann nämlich, wenn sich das ganz Andere nicht nur am Ende der Zeit, sondern inmitten der Zeit ereignen kann. Dies wird durch einen Zeitbegriff möglich, der die Zeit nicht als absolut, sondern als relativ zur Ewigkeit betrachtet: Eine nicht als absolut verstandene Zeit ist durchlässig für die zeitlose Ewigkeit, welche als ihr Grund verstanden wird. Das ganz Andere kann sich in der Gegenwart ereignen. Eine solche Begegnung mit dem Göttlichen in der jeweiligen Gegenwart wurde und wird immer wieder von der Mystik beschrieben. Robert Spaemann dazu: Die unüberbietbare Einheit mit dem Grunde [. . .] ist von der Art, daß ihr gegenüber die Differenz von Diesseits und Jenseits, Gegenwart und Zukunft verschwindet. Der Himmel ist nicht mehr zukünftiger Lohn für jetzige Bewährung, sondern mit dieser als absoluter Gegenwärtigkeit identisch: Nunc stans.23

Ein gänzliches Verschwinden von Gedankenformen ist ideengeschichtlich eher die Ausnahme. In der Regel werden sie lediglich weniger wirkmächtig. Dies gilt auch für das Konzept der Begegnung des Ewigen mit dem Zeitlichem, das denn auch von den verschiedensten Denkern formuliert wurde und wird. Einige dieser Denker, die den Eintritt des Ewigen in die Zeit in den Begriffen des Augenblicks, des Nun, des Nunc stans oder auch der Gegenwärtigkeit zu fassen versucht haben, seien hier erwähnt. Der recht theologisch geprägte Philosoph Sören Kierkegaard (1813–55) faßt den Augenblick als „jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit einander berühren“,24 wobei die Gegenwärtigkeit des Augenblicks sowohl die Gegenwärtigkeit der Zeit als auch die Gegenwärtigkeit der göttlichen Ewigkeit sein kann25 und der Mensch mithin im Augenblick dem Göttlichen zu begegnen vermag. Selbst bei bei Wittgenstein (1889–1951), dessen Philosophie vom Neopositivismus und seinem Abschied von jeglicher Metaphysik beansprucht wird, findet sich die Vorstellung der Erlebbarkeit des Ewigen in der Gegenwart: Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.26

In der Mystik Meister Eckharts (ca. 1260–1328) wird das gegenwärtige Ereignis des Göttlichen besonders deutlich: In der Gottesgeburt im Nun ist dem Menschen die Ewigkeit Gottes gegenwärtig. Largier spricht daher von 23

Spaemann, S. 39. Kierkegaard, Angst, S. 90 (IV 359). 25 Kierkegaard, Angst, S. 88 (IV 357): „Der Augenblick bezeichnet das Gegenwärtige als ein solches, das nichts Vergangenes und nichts Zukünftiges hat; denn eben hierin liegt ja die Unvollkommenheit des sinnlichen Lebens. Das Ewige bezeichnet ebenfalls das Gegenwärtige, das nichts Vergangenes und nichts Zukünftiges hat, und dies ist des Ewigen Vollkommenheit.“ 26 Wittgenstein, § 6.4311. 24

I. Was ist in der Zeit?

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„radikaler präsentischer Eschatologie“, die das Denken Eckharts kennzeichne.27 In der dialektischen Theologie Karl Barths ereignet sich Offenbarung, wenn „der Schleier der Zeit zerreißt im ewigen Augenblick“28, so daß sich auch für sein Denken die „Präsenz des Eschaton im ewigen Augenblick“29 konstatieren läßt: Denn die Wahrheit ist das Jetzt (3, 21), der Augenblick außer aller Zeit, in dem der Mensch nackt vor Gott steht, der Punkt, [. . .] von dem wir herkommen, Jesus Christus der Gekreuzigte und Auferstandene.30

Karl Barth setzt sich jedoch ausdrücklich von der Mystik ab, die er in die Nähe des Atheismus rückt.31 So kann zwar auch für sein Denken von „Gegenwartseschatologie“ gesprochen werden, er betont jedoch die Differenz zwischen Ewigkeit und Zeit stärker als Eckhart, weil er die mystische Erfahrung der Gottesgeburt in der Seele des Einzelnen ablehnt.32 Durch 27

Largier, Zeit, S. 253. Barth, Römerbrief, S. 381. 29 Beintker, S. 49. 30 Barth, Römerbrief, S. 287. Das dialektische Verhältnis von Zeit und Ewigkeit im Denken Karl Barths zeigt der Fortgang des Zitats, ibid., S. 287 sq.: „Was vor und nach diesem Augenblick aller Augenblicke ist, [. . .] das ist die Zeit. An diesem Jetzt, an der Ewigkeit entsteht als ihre Negation die Zeit [. . .]. Die ‚Zeit des Jetzt‘ nennen wir sie nach dem, was sie verhüllt und w o r a u f sie hinweist [. . .]. Daß [. . .] die Zeit, in der wir leben, die Ewigkeit in sich verbirgt, aber auch bewahrt [. . .], das erkennen wir, sofern wir kraft der Tat Gottes an uns [. . .] h e r k o m m e n von der absoluten Gegenwart des Jetzt.“ ( Hervorhebungen: Barth). 31 cf. Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. 1.2, S. 348–356. Barths Ablehnung der mystischen Gotteserfahrung im Jetzt wird in Bd. 2.1, S. 703 sq. deutlich: „Die Mystik irrt sich freilich, die vor lauter vermeintlichem Ergreifen Gottes in der Gegenwart jenes göttlichen Vorher vergessen wollte. [. . .] Es wäre jede Gotteslehre, die etwa in der Hypostasierung unseres jeweiligen Jetzt zwischen den Zeiten, dessen, was wir als ‚Gegenwart‘ zu kennen meinen, unseres zeitlichen Existenzbewußtseins oder auch in einer Spekulation über die Gottbezogenheit aller Zeiten bestehen und aufgehen würde, eine Götzen- mehr als eine Gotteslehre. Göttlich ist nur die Überzeit, die auch Vorzeit und dann auch Nachzeit, die eben als solche unserer Übersicht und Verfügung eindeutig entzogen ist.“ 32 cf. Barth, Römerbrief, S. 294: „Wir wissen, daß alles Geschaffene, alles was in der Zeit ist [. . .] sein ewiges Sein als ewige Zukunft ungeboren in sich trägt, gebären möchte und – in der Zeit nie gebären wird.“ Nach Barth birgt die Mystik die Gefahr, die Differenz zwischen Gott und Mensch einzuebnen und Gott zum Gegenstand zu machen, wie aus seiner Polemik gegen Angelus Silesius deutlich wird: „Der ‚Cherubinische Wandersmann‘, in welchem diese frommen Unverschämtheiten zu lesen stehen [. . .], ist seinerzeit mit dem Imprimatur eines römisch-katholischen Bischofs versehen ausgegangen, und man kann sich wohl fragen, ob dieser Bischof ein Schwachkopf war oder ob er mit dem modernen Schalk unter einer Decke steckte. Sicher ist das d i e unmögliche Rede über das Verhältnis von Gott und Mensch, die aber da unweigerlich möglich und bei einiger Konsequenzmacherei so28

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A. Einführung

diese Ablehnung ergibt sich in seiner Theologie das „Paradoxon, daß Ewigkeit Zeit und doch nicht Zeit wird“33. Präsentische Eschatologie bildet einen Gegenentwurf zu einer auf die Zukunft bezogenen Eschatologie, der sich nicht im Sinne einer auf die Zukunft bezogenen Heilsideologie säkularisieren läßt. Dieser Ansatz ist so interessant wie fremd. Wie kann dieses fremde Denkkonzept dem neuzeitlichen philosophischen Denken vermittelt werden? Zunächst liegt der Einwand nahe, präsentische Eschatologie rekurriere auf etwas, das sich dem begrifflichen Denken prinzipiell entziehe, eine mystische Erfahrung oder aber das unaufhebbare Paradox des Glaubens, so daß man gar nicht von einem Denkkonzept sprechen könne, das mit dem philosophischen Denken zu vermitteln sei. Für Sören Kierkegaard, Karl Barth und für Wittgensteins Tractatus mag dieser Einwand richtig sein, denn für diese Philosophen ist das, was hier „präsentische Eschatologie“ genannt wurde, dem Denken prinzipiell unzugänglich: Für Kierkegaard ist „der Augenblick das Paradox“34, das Paradox aber der vom Denken ersehnte „Untergang“ des Denkens.35 In ähnlicher Weise ist das Paradox des Glaubens bei Karl Barth dem Denken entzogen, denn es ist „n i e zu umgehen und wird n i r g e n d s aufgehoben“.36 Wittgenstein grenzt das Mystische von vornherein aus dem Bereich dessen, über das gesprochen werden kann, aus.37 Wittgensteins Sprachphilosophie beinhaltet aber die Identifikation von Sagbarem und Denkbarem. Den Tractatus schließt er mit den bekannten Worten: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.38

Das Mystische liegt für Wittgenstein also jenseits des Bereichs des Denkbaren. Doch gilt dies auch für Eckhart? Ist Eckharts „Mystik“ als Absage an das Denken zu begreifen? Über diese Frage wurde viel gestritten. Dieser Streit hat sich vor allem an den Paradoxa in Eckharts Denken entzündet. In einem erstmals 1953 erschienenen Beitrag vertritt Josef Quint die These gar notwendig wird, wo man im Blick auf das für alle menschliche Liebe allerdings unentbehrliche Requisit des von dem Liebenden verschiedenen geliebten G e g e n s t a n d e s auch die Liebe Gottes wesensmäßig an die Existenz eines solchen A n d e r e n binden und in der Beziehung zu diesem Anderen aufgehen lassen will.“ (Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. 2.1, S. 316. Hervorhebungen: Barth). 33 Barth, Römerbrief, S. 332. 34 Kierkegaard, Philosophische Brocken, S. 55 (IV 224). 35 cf. Kierkegaard, Philosophische Brocken, S. 35 (IV 204). Cf. auch ibid., S. 56 (IV 224). 36 Barth, Römerbrief, S. 87. (Hervorhebungen: Barth). 37 „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ (Wittgenstein, § 6.522). 38 Wittgenstein, § 7.

II. Eckharts präsentische Eschatologie

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von Eckharts Philosophie als Mystik außerhalb des rationalen Diskurses: In seinem Versuch, die „mystische Intuition“ zur Sprache zu bringen, führe Eckhart einen „Kampf gegen die Sprache“.39 Dreißig Jahre später wendet sich Burkhard Mojsisch vehement gegen die These von Eckhart als Mystiker40 und will in Eckharts Denken eine „objektive Paradoxaltheorie [. . .] als Fundamentaltheorie“41 erkennen. Eckharts präsentische Eschatologie beruht auf dem Paradox der Erfahrbarkeit des Ewigen im Nun. Ist dieses Paradox philosophisch zugänglich oder verschließt es sich dem Denken in einer Weise, daß Eckharts präsentische Eschatologie einer Mystik der irrationalen Sorte zuzuordnen wäre? Um dieser Frage auf die Spur zu kommen, soll Eckharts präsentische Eschatologie nun näher dargestellt und philosophische Voraussetzungen von denen des Glaubens geschieden werden. Das systematische Interesse dieser Arbeit beschränkt sich dabei auf die eindeutig philosophischen Voraussetzungen von Eckharts präsentischer Eschatologie und will diese beispielhaft an der Philosophie des Proklos klären.

II. Eckharts präsentische Eschatologie Wie konzipiert Eckhart seine präsentische Eschatologie?42 Das Einbrechen des Ewigen in die Zeit ist ein Akt der Gnade Gottes. Erst wenn der Mensch sich innerlich von allem Irdischen, das heißt auch von der Zeit, befreit hat, kann ihm die Gnade der Gottesgeburt in seiner Seele zuteil werden: Ich sprach einst ebenhier: Gott sandte seinen Sohn in der Fülle der Zeit: – zu der Seele, wenn sie über alle Zeit hinausgeschritten ist. Wenn die Seele der Zeit und des Raumes ledig ist, so sendet der Vater seinen Sohn in die Seele.43 39

Quint, Mystik, S. 141: „Daß Eckehart bei seinem leidenschaftlichen Bemühen, dieses sein Denk-Schauen, das kein Denken in Begriffen, in logisch-diskursivem Denkgang, sondern eine auf Denk-Schauen beruhende mystische Intuition ist und nur sein kann, sprachlich zum Ausdruck zu bringen, den eingangs berührten Kampf gegen die Sprache mit allen Kampfmitteln führt, konnten wir immer wieder beobachten.“ 40 Mojsisch, Meister Eckhart, S. 11 sq.: „Daß die neue Metaphysik Meister Eckharts keine erlebnishaft-irrationale, ekstatische, auf eher zu verschweigenden unmittelbaren Privaterfahrungen beruhende Mystik ist [. . .], haben bereits seine Zeitgenossen erkannt.“ 41 Mojsisch, Meister Eckhart, S. 86. 42 Zu Zeit und Erlösungsvorstellung bei Meister Eckhart cf. die sehr erhellende Dissertation von Niklaus Largier (Largier, Zeit). 43 Meister Eckhart, Werke, Bd. 1, S. 56 (Pr. 4): Ich sprach einest alhie: got sante sînen sun in der vülle der zît der sêle, sô si alle zît vürgangen hât. Sô diu sêle der

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A. Einführung

Zeit und Kreatur sind ein Hindernis für die Gottesgeburt in der Seele,44 und so erscheint die Fülle der Zeit, in der Gott seinen Sohn sendet, bei Eckhart denn auch als „des Zeitlichen [. . .] Aufhebung in der ewigen Gegenwart Gottes“45: Als die Zeit erfüllt war, da ward geboren „Gnade“. Wann ist „Fülle der Zeit“? – Wenn es keine Zeit mehr gibt. Wenn man in der Zeit sein Herz in die Ewigkeit gesetzt hat und alle zeitlichen Dinge in einem tot sind, so ist das „Fülle der Zeit“.46

Die Gottesgeburt ereignet sich am Schnittpunkt zwischen Zeit und Ewigkeit, wenn der Mensch „in der Zeit sein Herz in die Ewigkeit“ gesetzt hat. Dies wird augenblickshaft, im Nun, gedacht: Die Seele, die da steht in einem gegenwärtigen Nun, in die gebiert der Vater seinen eingeborenen Sohn, und in derselben Geburt wird die Seele wieder in Gott geboren.47

Das Nun verbindet also die Ewigkeit und die Zeit. Eckhart unterscheidet das Nun der Ewigkeit von dem der Zeit,48 so daß sich die Frage stellt, welches Nun er hier meint. Da Eckhart das Nun der Zeit in der Regel als der Gottesgeburt hinderlich abwertet, weil es eben zeitlich ist und daher weg müsse, damit sich die Gottesgeburt ereignen kann,49 so meint denn die zît und der stat ledic ist, sô sendet der vater sînen sun in die sêle. (Übersetzung nach der Ausgabe von Niklaus Largier). 44 cf. Meister Eckhart, Werke, Bd. 1, S. 408 (Pr. 38): Daz ist ein nôtwârheit: alliu zît muoz dâ abe sîn, dâ sich disiu geburt hebet, wan niht enist, daz dise geburt alsô sêre hinder als zît und crêatûre. („Es ist notwendig wahr: Alle Zeit muß dort weg sein, wo diese Geburt anhebt, denn nichts gibt es, was diese Geburt so sehr behindert wie Zeit und Kreatur.“ Übersetzung nach der Ausgabe von Niklaus Largier). 45 So Largier in seinem Stellenkommentar zu Meister Eckhart, Werke, Bd. 1, S. 1000. 46 Meister Eckhart, Werke, Bd. 1, S. 132 (Pr. 11): Dô diu zît vol was, dô wart geborn gnâde Wenne ist vüllede der zît? Sô der zît niemê enist. Swer in der zît sîn herze gesast hât in êwicheit und in dem alliu zîtlîchiu dinc tôt sint, daz ist vüllede der zît. (Übersetzung nach der Ausgabe von Niklaus Largier). 47 Meister Eckhart, Werke, Bd. 1, S. 128 (Pr. 10): Diu sêle, diu dâ stât in einem gegenwertigen nû, dâ gebirt der vater in sie sînen eingebornen sun, und in der selben geburt wirt diu sêle wider in got geborn. (Übersetzung nach der Ausgabe von Niklaus Largier). 48 Meister Eckhart, Werke, Bd. 2, S. 139 (Pr. 77): Aber der engel bekennet in einem liehte, daz über zît ist und êwic ist. Dar umbe bekennet er in einem êwigen nû. Aber der mensche bekennet in einem nû der zît. Daz allerminste ist daz nû der zît. Nim abe daz nû der zît, sô bist dû allenthalben und hâst alle zît. („Der Engel aber erkennt in einem Lichte, das über der Zeit und ewig ist. Darum erkennt er in einem ewigen Nun. Der Mensch aber erkennt in einem Nun der Zeit. Das Allergeringste ist das Nun der Zeit. Nimm weg das Nun der Zeit, so bist du allenthalben und hast alle Zeit.“ Übersetzung und Hervorhebung nach der Ausgabe von Niklaus Largier).

II. Eckharts präsentische Eschatologie

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Fülle der Zeit, in der sich die Gottesgeburt ereignet, „die Fülle allen Seins im nû der êwicheit“.50 Doch ist mit dem Nun der Ewigkeit bei Eckhart Entzeitlichung gemeint? Johann Kreuzer argumentiert überzeugend, daß dem nicht so ist, und deutet Eckharts Nun der Ewigkeit als „Augenblick erfüllter Zeit“51 und „die Erfahrung von Gegenwärtigkeit“.52 Das Nun der Ewigkeit ist dem Nun der Zeit nicht völlig fremd: Zum einen vermag der Mensch durch das Nun der Zeit zum Nun der Ewigkeit zu gelangen.53 Zum anderen aber ereignet sich die Gottesgeburt aus der Perspektive der Zeit im Nun, das durch diese Gottesgeburt zum Nun der Ewigkeit geadelt wird. Es ist dann reine Gegenwärtigkeit und hat nichts mehr vom sequentiellen Nun der Zeit, das der Gottesgeburt hinderlich ist. Niklaus Largier schreibt dazu: In der Zeit ist in jedem Nu der Zeit Fülle der Zeit, denn in der Gottesgeburt ist die Zeit immer schon der alteratio enthoben und als Verwirklichung begriffen, die tätiges Leben ist.54

Aus der Perspektive der Ewigkeit ist die Fülle der Zeit das Nun der Ewigkeit, aus der Perspektive der Zeit ist die Fülle der Zeit, welche die Gottesgeburt ermöglicht, nur in der Zeit zu begreifen: Das Nun der Ewigkeit ereignet sich für den Menschen in der Zeit.55 49 Meister Eckhart, Werke, Bd. 2, S. 48 (Pr. 69): Hie und nû daz sprichet als vil als stat und zît. Nû, daz ist daz allerminste von der zît; ez enist noch ein stücke der zît noch ein teil der zît: ez ist wol ein smak der zît und ein spitze der zît und ein ende der zît. Nochdenne, swie kleine ez sî, ez muoz abe; allez, daz die zît rüeret oder den smak der zît, daz muoz allez abe. („ ‚Hier‘ und ‚Nun‘, das besagt soviel wie Stätte und Zeit. ‚Nun‘, das ist das Allermindeste an Zeit; es ist weder ein Stück der Zeit noch ein Teil der Zeit: wohl aber ist es ein Geschmack der Zeit und eine Spitze der Zeit und ein Ende der Zeit. Und doch, wie klein es auch sein mag, es muß weg; alles, was an die Zeit oder an den Geschmack der Zeit rührt, das muß alles weg.“ Übersetzung nach der Ausgabe von Niklaus Largier). 50 Niklaus Largier in seinem Stellenkommentar zu Meister Eckhart, Werke, Bd. 1, S. 1000. 51 Kreuzer, S. 264. 52 Kreuzer, S. 265. 53 cf. Niklaus Largier in seinem Stellenkommentar zu Meister Eckhart, Werke, Bd. 1, S. 1002 sq.: „Der Mensch selbst befindet sich hier – als vernunftbegabtes Wesen – in einer besonderen Situation: Er vermag vernunfthaft die Zeitlichkeit des kreaturhaften Daseins zu überschreiten und im nû der zît zu erkennen, also den zeitlosen Begriff der Dinge zu fassen. Der Mensch vermag aber noch darüber hinaus ins nû der êwicheit zu gelangen, wenn er das nû der zît in der vollkommenen abegescheidenheit überschreitet [. . .]. Wo dies geschieht, wird der Mensch in der Gottesgeburt eins mit dem Sohn.“ 54 Largier, Zeit, S. 191. 55 Zu dieser Gegenwärtigkeit des Ewigen in der Zeit schreibt Kreuzer, S. 266: „Das ‚gegenwärtige Nun der Ewigkeit‘ unterscheidet sich von der Abfolge isolierter

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A. Einführung

Aus unserer bisherigen Darstellung von Eckharts präsentischer Eschatologie lassen sich folgende Momente als für sie wesentlich festhalten: die Gnade, die Gottesgeburt, die Fülle der Zeit, das Nun der Ewigkeit und das der Zeit. Erst durch die Gnade Gottes kann sich die Gottesgeburt in der Seele des Einzelnen ereignen. Dann ist Fülle der Zeit und im Nun schlagen Zeit und Ewigkeit ineinander um. Das Paradoxe an dieser Konzeption ist die Koinzidenz von Zeit und Ewigkeit im Nun, denn Zeit und Ewigkeit sind einander entgegengesetzt. Dieses Paradox, das ich das religiöse Paradox des ewigen Nun nennen will, gründet im Denken Meister Eckharts im Glauben an die Menschwerdung Gottes: Durch die Inkarnation hat sich das Göttliche selbst verzeitlicht und diese Verzeitlichung Gottes ermöglicht im Gnadenakt der Gottesgeburt in der Seele des einzelnen Menschen das Umschlagen vom Nun der Zeit ins Nun der Ewigkeit. Als Voraussetzungen des Glaubens für Eckharts präsentische Eschatologie lassen sich also die Lehre von der Inkarnation sowie die Gnade Gottes, durch die sich die Gottesgeburt in der Seele des Einzelnen ereignen kann, festhalten. Heißt dies allerdings, daß Eckharts präsentische Eschatologie philosophisch unzugänglich ist und sich im Sinne Kierkegaards auf das höchste metaphysische Paradox56 zurückzieht, vor dem der Verstand kapitulieren muß? Wie sich erweisen wird, ist dem nicht so. Hinter dem religiösen Paradox des ewigen Nun, das die Koinzidenz von Zeit und Ewigkeit im Nun behauptet, steht das philosophische Paradox des ewigen Nun, das behauptet, daß das Ewige im Nun der Ewigkeit ist: Das Ewige muß im Nun der Ewigkeit sein können, wenn es im Nun der Zeit sein soll. Da das Ewige jedoch auch immer ist, weil die Ewigkeit alle Zeit auf gleichzeitige Weise umfaßt,57 behauptet dieses philosophische Paradox des ewigen Nun die Koinzidenz des Immer mit dem Nun. Aus der Perspektive der Zeit erscheint dies als Widerspruch, weil das, was zueinander konträr ist, das Immer und das Nun, in eins fällt; aus der Perspektive der Ewigkeit jedoch ist dieser Widerspruch – das wird diese Untersuchung zeigen – aufgehoben. Jetztpunkte. Insofern muß es als ‚zeitlos‘ gedacht werden. Aber es ist nicht Gegensatz des Vorübergehens des Zeitlichen, d. h. Endlichen. Seine ‚Zeitlosigkeit‘ erfüllt sich in der Zeit.“ (Hervorhebungen: Kreuzer). 56 Nämlich die Menschwerdung Gottes: „Daß Gottes Sohn Mensch ward, ist freilich das höchste metaphysische und religiöse Paradox“. [Kierkegaard, Die Tagebücher, Bd. 1, S. 293 (IV A62)]. 57 cf. z. B. Meister Eckhart, Werke, Bd. 1, S. 136: [. . .] ez ist in der êwicheit weder gester noch morne, dâ ist ein gegenwertigez nû; daz vor tûsent jâren was und daz über tüsent jâr komen sol, daz ist dâ gegenwertic [. . .]. („[. . .] in der Ewigkeit gibt es kein Gestern noch Morgen, da gibt es ein gegenwärtiges Nun; was vor tausend Jahren war und was nach tausend Jahren kommen wird, das ist da gegenwärtig [. . .].“ Übersetzung nach der Ausgabe von Niklaus Largier).

III. Der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit und ihre Verbindung mit dem Nun 25

Der philosophische Begriff einer zeitlosen Ewigkeit, der dies zu leisten vermag, hat eine lange Tradition. Dadurch wird das philosophische Paradox des ewigen Nun philosophisch zugänglich. Dieses Paradox und der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit sind also die eindeutig philosophischen Voraussetzungen der präsentischen Eschatologie. Sie zu klären ist das Hauptziel dieser Arbeit. Im folgenden soll die Tradition des Begriffs einer zeitlosen Ewigkeit und ihre Verbindung mit dem Nun skizziert werden, um dann zu zeigen, warum es sinnvoll ist, das philosophische Paradox des ewigen Nun an der Philosophie des Proklos zu untersuchen.

III. Der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit und ihre Verbindung mit dem Nun Dieses Kapitel widmet sich der Herkunft und Tradition des Begriffes einer zeitlosen Ewigkeit und ihrer Verbindung mit dem Nun. Die kurze Darstellung dieses Philosophems im Denken Plotins (ca. 205–270), Augustinus’ (354–430) und Boethius’ (ca. 480–524) zeigt die Kontinuität zwischen dem Denken der griechischen Antike und dem christlichen Mittelalter. 1. Der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit Der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit, der für die mittelalterliche Theologie prägend wird, ist kein biblisches, sondern platonisches Gedankengut.58 Er geht zurück auf Platons Timaios, in dem Platon die Zeit (þ xrünoò) von der Ewigkeit (þ aùÿn) abhängig macht, deren Abbild sie ist: Aber ein bewegtes Abbild der Ewigkeit beschließt er herzustellen. Gleichzeitig also mit der Ordnung des Weltalls überhaupt schafft er ein nach der Zahl (in bestimmten Maßen) fortschreitendes Abbild der in Einheit beharrenden Ewigkeit, ein Abbild, dem wir den Namen Zeit gegeben haben.59 58 cf. Flasch, S. 113 sq.: „Nehmen wir die Termini Zeit und Ewigkeit. Dieses Kontrastpaar beherrscht Augustins Text von der ersten Zeile an. Er hat es nicht der Bibel entnommen, in der Ewigkeit entweder keine oder eine abgeleitete Funktion hat, sondern der platonischen Tradition. Bei Platon aber gewann das Wort für aeternitas, nämlich aion, erst die später festliegende Bedeutung. War es doch Platon, der aion, das bis dahin in das Bedeutungsfeld von Dauer, Bestand, Leben gehörte, zum Terminus für Ewigkeit umprägte und im Timaios als Kontrastbegriff zu Zeit installierte, und zwar so, daß die Zeit die Ewigkeit nachahmen sollte (38 a 7)“. (Hervorhebungen: Flasch). _ _ 59 Platon, Timaios 37d5–7: eùkš d\ ýpenüei kinhtün tina aùwnoò poihsai, ka˝ _ _ _ _ diakosmwn Ñma ožran˛n poie i mÍnontoò aùwnoò ýn Ån˝ kat\ ÷riqm˛n ùousan _ aùÿnion eùküna, touton ân dÌ xrünon −nomÜkamen. (Übersetzung: Apelt).

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A. Einführung

Diese Stelle aus dem platonischen Timaios ist in der modernen Forschung umstritten: Rémi Brague geht in seiner Untersuchung Du temps chez Platon et Aristote so weit, zu behaupten, daß die gängige Lesart, die die Zeit als das Abbild der Ewigkeit versteht, falsch sei:60 Nicht die Zeit, sondern der Himmel sei das Abbild des aùÿn.61 Den aùšn will Brague nicht als Ewigkeit, sondern als die Weltseele und den ihr innewohnenden Intellekt verstanden wissen.62 Die Zeit ist nach seiner Deutung das, wodurch der Himmel das Abbild des aùšn ist.63 Da Bragues Deutung jedoch der gesamten platonischen Tradition widerspricht und es hier um den Aufweis dieser Tradition geht, sollen im Folgenden nur jene Autoren zu Wort kommen, die darin übereinstimmen, daß die Zeit bei Platon das Abbild der Ewigkeit ist. In der modernen Forschung herrscht Uneinigkeit darüber, wie der Unterschied zwischen der Ewigkeit und ihrem Abbild, der Zeit, zu interpretieren ist. Ist die Ewigkeit als Dauer zu interpretieren, die sich insofern von der Zeit unterscheidet, als das Ewige keinerlei Veränderung unterworfen ist, das Zeitliche hingegen gerade durch Werden und Vergehen gekennzeichnet ist? Diesen Standpunkt, der vom traditionellen abweicht, vertritt Cornford64 und mit ihm Whittaker.65 Cornford interpretiert die Ewigkeit Platons als „eternal unchanging duration“66 und fügt an: The concept of duration without change, as the attribute of real being, was first formulated by Parmenides.67

Damit eine als Dauer gedachte Ewigkeit jenseits der Zeit steht, bringen Cornford und Whittaker einen Zeitbegriff in Anschlag, der den Begriff der Dauer nicht gänzlich einholt. Cornford verbindet den Begriff der Zeit, Platon folgend,68 mit ihrer Einteilung nach Tagen, Nächten, Monaten und Jah60 Brague, S. 69: „Quoi qu’il en soit de leur légitimité, nous croyons avoir montré que la définition du temps comme image de l’éternité, que chacun attribue aujourd’hui à Platon, repose sur une erreur dans l’assignation du sujet.“ 61 Brague, S. 46: „l’image de l’aiôn n’est pas le temps, mais le ciel.“ (Hervorhebungen: Brague). 62 Brague, S. 58: „Quoi qu’il en soit, on peut penser que Platon utilise ici le mot aiôn comme une manière poétique de désigner l’âme et, pour reprendre les termes d’Aristote, ce qui dans l’âme est capable de compter, c’est-à-dire le nous.“ sowie 59: „[. . .] c’est chez Platon le système corporel des astres qui est l’image de l’âme du monde et du noûs qui l’habite.“ 63 Brague, S. 59: „Le ciel, plus exactement, les astres, constitue l’image de l’aiôn. Dans ce cas, le temps n’est plus l’image de l’aiôn, mais ce au moyen de quoi le ciel en est l’image.“ (Hervorhebung: Brague). 64 cf. Cornford, S. 97–105. 65 cf. Whittaker. 66 Cornford, S. 103. 67 Cornford, S. 103.

III. Der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit und ihre Verbindung mit dem Nun 27

ren sowie ihrer Meßbarkeit durch die Himmelsbewegungen. Cornford bezieht sich dabei auf Timaios 37d, wonach die Zeit zusammen mit dem Himmel entstanden ist, den er „the celestial clock“ nennt.69 Erst die Meßbarkeit der Zeit, die durch die periodische Himmelsbewegung gegeben ist, mache – so Cornford – die Zeit zu Zeit.70 Setzt man einen solchen Zeitbegriff voraus, so steht eine Dauer ohne jegliche Veränderung insofern jenseits der Zeit, als sie nicht meßbar ist. Whittaker hingegen stellt einem Begriff der Ewigkeit, der zeitlose Dauer bedeutet, einen Zeitbegriff gegenüber, der notwendig mit Veränderung verknüpft ist: In the Timaeus [. . .] time involves change because it is essentially related to the world of change. Nevertheless, as we have seen, the mode of being of the Forms, according to this revised view, still involves duration, but of a sort that is exempt from change. Thus, Plato has neither inherited from the Eleatic school the view that duration is a process nor has he formulated it himself.71

Die zeitlose Dauer, die Whittaker und Cornford mit der Ewigkeit identifizieren, ist frei von allem Prozessualen und Veränderlichen, und es ist lediglich dieses Fehlen von Veränderlichkeit, aufgrund dessen nach dieser Interpretation dem Ewigen nur das „ist“, nicht aber das „war“ oder „wird sein“ (Platon, Timaios 37e5–38a2) zukommt: Justice is what it was and what it will be. Thus, we cannot correctly speak of the Forms in the past tense, as though what we say no longer applies, nor can we speak of them in the future tense, as though what we say has no application to present or past. We use past, present and future tenses in order to pinpoint events and states with reference to the temporal standpoint of the speaker. But at whatever moment we may choose to speak of the Forms the only applicable tense is the present simply because the Forms are tJ katJ tažtJ ñxonta ÷eû (Tim. 37 B 3).72

Nach dieser Interpretation hat das Ewige, und das sind bei Platon insbesondere die platonischen Ideen, einen ähnlichen Status, den wir heute etwa mathematischen Wahrheiten zusprechen würden. Und doch wäre es dem 68

Platon, Timaios 37e. Cornford, S. 103: „Time is essentially divided into the three ‚forms‘, past, present, future; and it ‚moves according to number‘, being measured by a plurality of recurrent ‚parts‘, the periods called day, month, year. Nothing that we can call Time can exist without these units of measurement; and these again cannot exist without the regular revolutions of the heavenly bodies, the motions of the celestial clock. Time, accordingly, is said to ‚come into being together with the Heaven‘, in the sense that neither can exist without the other.“ 70 Cornford, S. 104 verweist darauf, daß es in der griechischen Tradition durchaus einen solchen Zeitbegriff gibt: „Plato’s view of Time as inseparable from periodic motion is no novelty, but a tradition running throughout the whole of Greek thought, which always associated Time with circular movement.“ 71 Whittaker, S. 141. 72 Whittaker, S. 141. (Hervorhebung: Whittaker). 69

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A. Einführung

modernen Denken fremd, daraus Opposition und Abhängigkeit zwischen Zeit und Ewigkeit abzuleiten. Cornford und Whittaker wenden sich mit ihrer Interpretation gegen die traditionelle Auslegung, die die Ewigkeit jenseits von Zeit und Dauer ansetzt. Einen solchen Standpunkt vertritt H. Cherniss. Er macht den Unterschied zwischen der sinnenfälligen Welt und den ewigen Ideen ungleich Cherniss und Whittaker nicht am Begriff der Dauer fest, sondern an der Zeitlosigkeit der Ideen: The phenomenal world, involved in process as it is, cannot be called eternal; but the difference between it and the ideas in this respect is not one of duration, it is the difference between timeless being on the one hand and temporal duration on the other (Timaeus 38C1–3).73

Cherniss hält Dauer für einen primär zeitlichen Begriff, und dem Ewigen Dauer zuzuschreiben, daher für eine unangebrachte Übertragung aus dem Bereich des Zeitlichen. Den Begriff einer Dauer, die frei von Prozessualem ist, erkennt er nicht an.74 So stehen die Ideen für ihn jenseits von Zeit und Dauer.75 Die Ewigkeit der Ideen bedeutet nach dieser Interpretation, daß die Ideen völlig außerhalb aller Bestimmungen, die irgendwie an Zeit gebunden sind, liegen: So the „eternity“ of the ideas does indicate their essential difference from phenomenal particulars; but this essential difference lies in their absolute reality independent of temporal and spatial limitations which are necessary characteristics of all sensibles.76

Wir haben es also mit zwei verschiedenen Deutungen der platonischen Ewigkeit, von der die Zeit abhängt, zu tun. Die eine Deutung setzt sie jenseits von Zeit und Dauer an, die andere hingegen jenseits von Zeit, aber nicht jenseits von Dauer. Meines Erachtens ist das Problem an dieser zweiten Deutung – und hier stimme ich mit Cherniss überein –, daß Dauer im Grunde genommen doch ein quasi-zeitlicher Begriff ist. Dies wird vor allem an folgender Stelle in Whittakers Darlegung deutlich: Time and duration are not equivalents in the Timaeus for some type of durational spread, not identical with time, must have existed prior to the actual creation of time by the demiurge. Thus the fact that the Forms are beyond the range of time does not necessarily indicate that they are outside duration.77 73

Cherniss, Academy, S. 212. (Hervorhebungen: Cherniss). Cherniss, Academy, S. 212: „Plato [. . .] insists that the ascription of duration to eternal being is a mistaken transference from the world of becoming, for temporal determination is in all cases a measure of process (Timaeus 37 E-38 A).“ 75 Cherniss, Akademie, S. 14: „Jede dieser Ideen ist [. . .] etwas vollkommen Individuelles, weil sie [. . .] unbeeinflußt von Prozeß und Bewegung, zugleich zeitlos ist und jede Dauer übersteigt.“ 76 Cherniss, Academy, S. 212. 74

III. Der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit und ihre Verbindung mit dem Nun 29

Dieses Argument, dessen Herzstück die Frage ist, was vor der Schöpfung der Zeit passiert, übersieht etwas ganz Wesentliches: daß es sich beim Schöpfungsmythos im Timaios um einen Mythos handelt. Nur der Mythos kann davon erzählen, was vor der Schöpfung der Zeit passiert. Diese Rede philosophisch für bare Münze zu nehmen und eine dauerhafte Ausdehnung vor der Erschaffung der Zeit zu postulieren, in der der Demiurg agieren kann, ist problematisch, weil sie mit zeitlicher Begrifflichkeit argumentiert, obgleich es die Zeit noch gar nicht gibt. Durch diese Argumentationsführung wird meines Erachtens die Ewigkeit der Zeit stärker angeglichen als es die Opposition erlaubt, die Timaios zwischen Ewigkeit und Zeit aufmacht. Ein solcher Ewigkeitsbegriff kommt allerdings dem des Aristoteles sehr nahe, von dem Werner Beierwaltes schreibt: Der aùÿn wird zwar als unwandelbar, aber doch in Analogie zur Zeit gedacht. [. . .] Während „wandelbare“ Zeit als Zahl der Bewegung einen bestimmten Anfang und ein bestimmtes Ende hat, hat Ewigkeit als unendliche Zeit weder Anfang noch Ende.78

Die Deutung der Ewigkeit bei Platon als jenseits von Zeit und Dauer ist insofern traditionell, als sie der neuplatonischen Deutung entspricht. Plotin entwickelt in seiner Abhandlung „Über Ewigkeit und Zeit“ (Enn. III 7) einen Ewigkeitsbegriff, der jenseits von Zeit und Dauer steht. Zwar greift er die aristotelische Etymologie, nach der sich Ewigkeit (aùÿn) von „immer sein“ (aùe˝ e ùnai) ableite,79 auf,80 so daß man meinen könnte, er verknüpfe den Begriff der Ewigkeit mit dem der Dauer. Dies ist jedoch nicht richtig. Wenn Plotin „immer“ auf die Ewigkeit bezieht, so hat es keinerlei Anklang an „Erstreckung“ (ñktasiò): _

Wenn wir aber vom Immer sprechen, und damit meinen, daß es nicht einmal i s t , ein andermal aber n i c h t i s t , so muß man dafürhalten, daß dies unseretwegen gesagt ist; denn das Immer könnte vielleicht, wenn es nicht im eigentlichen Sinne ausgesagt, sondern zur Erklärung der Unvergänglichkeit gebraucht würde, die Seele irreleiten in die Erstreckung des „Immer-mehr“ und des „Niemals-EndenWollens“.81 77

Whittaker, S. 137 sq. Beierwaltes, Plotin, S. 146. _ 79 Aristoteles, De caelo 279a25–28: KatJ t˛n ažt˛n d˚ lügon ka˝ t˛ tou _ pÜnta xrünon ka˝ tÌn ÷peirûan periÍxon pant˛ò ožranou tÍloò ka˝ t˛ t˛n _ _ tÍloò aùÿn ýstin, ÷p˛ tou aùe˝ e ùnai tÌn ýpwnumûan eùlhðÿò, ÷qÜnatoò ka˝ _ qe ioò. („In demselben Sinne ist nun auch die Fülle des ganzen Himmels und die die ganze Zeit und die Unbegrenztheit umfaßt, der Aion, und hat den Namen vom ‚stets sein‘ (aiei on) als ein unsterbliches und göttliches“. Übersetzung: Gigon). _ 80 Plotin, Enn. III 7.4,42 sq.: aùšn gJr ÷p˛ tou ÷e˝ Øntoò. („Ewigkeit nämlich heißt sie nach dem ‚immer Seienden‘.“ Übersetzung: Beierwaltes). 81 Plotin, Enn. III 7.6,21–26: ˜Otan d˚ t˛ ÷e˝ lÍgwmen ka˝ t˛ ož pot˚ m˚n _ _ _ Øn, pot˚ d˚ mÌ Øn, êmwn Òneka de i nomûzein lÍgesqai· ýpe˝ 78

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A. Einführung

Das Immer der Ewigkeit ist in entzeitlichtem Sinne zu denken82 und steht jenseits aller Dauer. Auch daß Plotin die Ewigkeit „unendliches Leben“ (zwÌn åpeiron83) nennt, ist nicht im Sinne einer Unendlichkeit zu deuten, wie sie sich in Zeit nur insofern verwirklichen kann, als das Zeitliche nach immer mehr drängt;84 Hegel nannte diese Unendlichkeit die „schlechte oder negative Unendlichkeit“.85 Vielmehr kommen die zeitlos gedachten Begriffe „immer“ und „unendlich“ im plotinischen Denken der Ewigkeit ursprünglich zu und werden erst in abgeleiteter Weise von der Zeit ausgesagt.86 Das Unendliche der Zeit ist ein „Immer-im Nacheinanderins-Unendliche“ (t˛ eùò åpeiron pr˛ò t˛ ýðechò ÷eû87). Die Ewigkeit hingegen ist „vollendet-unendlich“ (åpeiroò çdh88), sie kennt kein Nacheinander, weil sie im Gegensatz zur Zeit unausgedehnt (÷diÜstaton89) ist. Bei ihr ist das Ganze zugleich (þmou t˛ Õlon90). Da sie weder Zukunft noch Vergangenheit kennt, kommt ihr allein das „ist“ der Gegenwart zu: _

_

Was also weder war noch sein wird, sondern nur ist, was dieses Sein als Ständiges hat, da es sich weder wandelt in das „Wird sein“, noch sich gewandelt hat, das ist die Ewigkeit.91

Und so versteht Plotin das Immer der Ewigkeit im Sinne von wahrhaft seiend: Deshalb ist das „Immer“ als „wahr(-haft) seiend“ zu begreifen.92 _

tü ge ÷e˝ tÜx\ ºn ož kurûwò lÍgoito, ÷llJ lhðq˚n eùò dÇlwsin tou ÷ðqÜrtou _ _ planˆw ºn tÌn yuxÌn eùò ñktasin tou pleûonoò ka˝ ñti ¼ò mÌ ýpileûyontüò pote. (Übersetzung und Hervorhebungen: Beierwaltes). 82 cf. Beierwaltes, Plotin, S. 145: „der Ewigkeit werden die Abmessungen der Zeit abgesprochen; [. . .] Insgleichen sind Jetzt und Immer als Prädikate von Ewigkeit als entzeitlicht zu denken. [. . .] Ewigkeit strebt nicht nach Zukünftigem. [. . .] das Immer ist nicht eine ins Unendliche verlängerte Zeit.“, sowie 207: „Ewigkeit ist zwar Immer, jedoch nicht im Sinne einer ‚schlechten Unendlichkeit‘.“ und 190: „Ewigkeit ist nicht ‚unendliche Zeit‘, sondern zeitloses Immer.“ 83 Plotin, Enn. III 7.5,26. _ 84 Plotin, Enn. III 7.6,38–41: T˛ gJr ýn xrünˆw [. . .] deümenon ka˝ tou ñpeita, _ _ ýlle ipon tˆw xrünˆw [. . .]. („Das in Zeit Seiende nämlich [. . .] bedarf immer noch des Danach, da ihm die Zeit fehlt [. . .]“. Übersetzung: Beierwaltes). 85 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 93/94. 86 cf. Beierwaltes, Plotin, S. 271: „Sowohl åpeiron als auch ÷eû sind in Bezug auf Zeit uneigentlich gebraucht. [. . .] Weder åpeiron noch ÷eû nämlich verweisen in ihrem ursprünglichen Sinne (für plotinisches Denken) auf unbegrenzte zeitliche oder räumliche Wiederholbarkeit oder Abständigkeit.“ 87 Plotin, Enn. III 7.11,54 sq. (Übersetzung: Beierwaltes). 88 Plotin, Enn. III 7.11,46. (Übersetzung: Beierwaltes). 89 Plotin, Enn. III 7.2,32. 90 Plotin, Enn. III 7.2,18. _ _ 91 Plotin, Enn. III 7.3,34–36: ¯O ožn mÇte þn, mÇte ñstai, ÷ll\ ñsti münon, _ _ _ _ touto Åstšò ñxon t˛ e ùnai tˆw mÌ metabÜllein eùò t˛ ñstai mhd\ až metabeblhkÍnai ýst˝n þ aùÿn. (Übersetzung: Beierwaltes).

III. Der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit und ihre Verbindung mit dem Nun 31

Doch ist die Gegenwart der Ewigkeit nicht im Sinne der zeitlichen Gegenwart, sondern, wie Beierwaltes schreibt, als zeitlose Gegenwärtigkeit zu verstehen: Ist meint Gegenwärtig-, Da-, Im-Jetzt-Sein, welches nie umschlägt und deshalb Immer so ist, wie es „jetzt“ ist; es meint also nicht zeitliche Gegenwart, sondern reine, d. i. zeitlose Gegenwärtigkeit.93

Der Ewigkeitsbegriff, wie ihn Plotin formuliert, findet als aeternitas Eingang in die mittelalterliche Tradition.94 Ein entscheidender Unterschied allerdings zwischen der hellenistisch-neuplatonischen und der christlich-neuplatonischen Tradition ist – wie bereits erwähnt – das Ereignis der Menschwerdung Gottes in Christus, also der Verzeitlichung Gottes.95 Der Fokus der folgenden Überlegungen allerdings liegt auf der Kontinuität zwischen dem Ewigkeitsbegriff des hellenistischen Neuplatonismus und der christlichen Tradition. Bei Augustinus erscheint die Ewigkeit als die Ewigkeit Gottes.96 Wie Plotin97 denkt er die Zeit von der Ewigkeit her98 und wie dieser bringt er die Ewigkeit mit dem Wort „immer“ (semper99) in Zusammenhang. Doch 92

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_

Plotin, Enn. III 7.6,33 sq.: di˛ lhptÍon t˛ ÷e˝ o Áon „÷lhqwò æn“. (Übersetzung: Beierwaltes). 93 Beierwaltes, Plotin, S. 172. 94 Die mittelalterliche Tradition kennt auch den Begriff einer zeitlosen Dauer, der dem aristotelischen Ewigkeitsbegriff nahe kommt: das aevum. Cf. dazu Beierwaltes, Plotin, S. 147: Die „Rezeption des aristotelischen Begriffes aùÿn noch im Mittelalter zur Einführung eines Vermittlungsbegriffes zwischen zeitloser aeternitas Gottes und der Zeit [. . .]: des aevum, in dem zwar weder alteratio noch prius et posterius statthaben, das jedoch nach Analogie der Zeit bewegt ist: Aevum ist die Seinsweise der Gestirne und der reinen Intelligenzen (Engel).“ 95 Dazu Flasch, S. 291: „A vermißte in den platonischen Büchern die Menschwerdung, also die Verzeitlichung Gottes, deren Ziel freilich es ist, A zufolge, uns aus der Zeit zu befreien.“ 96 cf. Augustinus, Confessiones XI 1,1 sq.: Numquid, domine, cum tua sit aeternitas, ignoras, quae tibi dico, aut ad tempus uides quod fit in tempore? („Herr, dein ist die Ewigkeit. Aber weißt du deshalb etwa nicht, was ich dir sage? Oder siehst du etwa zeitbedingt, was in der Zeit geschieht?“ Übersetzung: Flasch). 97 cf. Plotin, Enn. III 7.11 sowie Beierwaltes, Plotin, S. 241: „Um das Wesen von Z e i t zu erkennen, müssen wir uns reflektierend in die Ewigkeit erheben, welche die Seinsverfassung des Geistes ist. Diese Anweisung ist aus dem platonischen Horizont des Gedankens gesprochen, daß man Zeit nicht von ihr selbst, sondern nur von ihrem Urbild her verstehen könne.“ (Hervorhebung: Beierwaltes). 98 cf. Flasch, S. 292: „Von wo nimmt Augustins Zeitbuch argumentativ seinen Anfang? Von der menschlichen Zeiterfahrung oder von der Ewigkeit? Gleich die ersten beiden Zeilen setzen die Zeit in Kontrast zur Ewigkeit. Ontologisch wie axiologisch gehen sie vom Primat der Ewigkeit aus.“ (Hervorhebung: Flasch). 99 Augustinus, Confessiones XII 18,4.

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A. Einführung

auch bei Augustinus ist keinesfalls an ein zeitliches Immer, an immerwährende Dauer, zu denken. Dies wird daraus deutlich, daß Augustinus „immer“ (semper) mit „einmal“ (semel) und „allzugleich“ (simul) verbindet, um die „wahre Ewigkeit der Schöpfers“ zu beschreiben: Wollt ihr sagen, das sei falsch, was mir die Wahrheit mit ihrer mächtigen Stimme ins Ohr meines Geistes spricht von des Schöpfers wahrer Ewigkeit: daß in seinem Wesen, während die Zeiten laufen, nichts und gar nichts sich verändert und sein Wille nicht als etwas anderes außer seinem Wesen ist? und daß er also nicht bald dies, bald jenes will, sondern alles, was er will, einmal und allzugleich und immer will, nicht von Mal zu Mal aufs neue ansetzt, jetzt zu dem und jetzt zu dem, nicht hinterher will, was er vorher nicht gewollt, oder etwas nun nicht mehr will, was er vordem gewollt hat: denn ein solcher Wille ist wandelbar, und alles, was wandelbar ist, ist nicht ewig – aber „unser Gott ist ewig“.100

Und so bedeutet denn auch der Begriff sempiternus, den Augustinus zur Beschreibung der Ewigkeit verwendet, nicht zeitlich-immerwährend, sondern vorzeitlich-ewig. Kurt Flasch übersetzt diesen Begriff, der wie semper zusammen mit simul erscheint, folgerichtig mit „ewig“: Deswegen sprichst du in deinem Wort, das gleichewig ist mit dir, auf einmal ewig alles, was du sprichst.101

Das Zugleich des Ewigen macht deutlich, daß die Ewigkeit frei von Veränderung, Sukzession und Dauer ist. Im Ewigen ist das Ganze gegenwärtig: Im Ewigen aber geht nichts vorher, dort ist das Ganze gegenwärtig, während keine Zeit ganz gegenwärtig ist.102

So ist die Ewigkeit in der Konzeption des Augustinus wie in der des Plotin ein gegenwärtiges, unausgedehntes Ganzes, in dem alles zugleich ist.103 100

Augustinus, Confessiones XII 18,1–9: Num dicetis falsa esse, quae mihi ueritas uoce forti in aurem interiorem dicit de uera aeternitate creatoris, quod nequaquam eius substantia per tempora uarietur nec eius uoluntas extra eius substantiam sit? Vnde non eum modo uelle hoc modo uelle illud, sed semel et simul et semper uelle omnia quae uult, non iterum et iterum neque nunc ista nunc illa nec uelle postea quod nolebat aut nolle quod uolebat prius, quia talis uoluntas mutabilis est et omne mutabile aeternum non est; deus autem noster aeternus est. (Übersetzung: Bernhart). 101 Augustinus, Confessiones XI 9,11 sq.: Et ideo uerbo tibi coaeterno simul et sempiterne dicis omnia, quae dicis. (Übersetzung: Flasch). 102 Augustinus, Confessiones XI 13,9–11: non autem praeterire quidquam in aeterno, sed totum esse praesens; nullum uero tempus totum esse praesens. (Übersetzung: Flasch). 103 Auf den Zusammenhang zwischen Augustinus und Plotin weist Flasch, S. 335 sq. hin: „die Konzeption der Ewigkeit als sukzessionsfreien Zugleichsbesitzes aller Vollkommenheiten stammt von Plotin. Das Zugleichsein in n. 16, 7 steht ebenfalls vor dem Hintergrund des plotinischen Denkens: Das Ewige als das wahrhaft Seiende ist nicht das unendlich Ausgedehnte, ist nicht infinite Zeit, sondern unveränderlicher Selbstbesitz, der in sich konzentriert ist. Es ist unzerdehnt, adiastatos, also überzeitlich, Enn. III 7, 3.“

III. Der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit und ihre Verbindung mit dem Nun 33

Bei Boethius ist die Ewigkeit wie bei Augustinus die Ewigkeit Gottes.104 Im Gegensatz zu Plotin und Augustinus trifft Boethius eine terminologische Unterscheidung zwischen zeitlichem Immer-sein (sempiternitas) und überzeitlicher Ewigkeit (aeternitas),105 bzw. zwischen der dauernden Welt (mundus perpetuus) und dem ewigen Gott (deus aeternus).106 Der Sache nach gilt diese Unterscheidung freilich bei Plotin und Augustinus genauso. Wie diese konzipiert auch Boethius das, was sich unendlich lange Zeit erstreckt, nicht als ewig, weil in der Zeit im Gegensatz zur Ewigkeit, die den ganzen Umkreis des unbegrenzten Lebens zugleich erfaßt, die Vergangenheit verrinnt, während die Zukunft noch nicht da ist: Mag also auch das, was die Beschaffenheit der Zeit erfährt, weder jemals angefangen haben noch aufhören, wie Aristoteles von der Welt behauptete, und mag sich auch sein Leben in die Unendlichkeit der Zeit erstrecken, so ist es doch durchaus noch nicht so, daß man es mit Recht als ewig bezeichnen dürfte. Denn es erfaßt und umfaßt nicht gleichzeitig den ganzen Umkreis des wenn auch unbegrenzten Lebens, sondern es besitzt die Zukunft noch nicht und die Vergangenheit nicht mehr.107

Hier zeigen sich Übereinstimmungen zwischen der Ewigkeitskonzeption des Boethius und denen des Plotin und des Augustinus, was durch folgende Definition des Boethius noch deutlicher wird: Was jedoch die ganze Fülle des unbegrenzbaren Lebens gleichzeitig umgreift und besitzt, dem weder etwas am Zukünftigen abgeht noch vom Vergangenen verflossen ist, das wird mit Recht als ewig aufgefaßt, und das muß notwendigerweise, seiner selbst mächtig, immer als ein Gegenwärtiges in sich verweilen und die Unendlichkeit der bewegten Zeit als eine Gegenwart vor sich haben.108 104 Boethius, Consolatio V 6,2: Deum igitur aeternum esse cunctorum ratione degentium commune iudicium est. („Daß Gott also ewig sei, ist die gemeinsame Überzeugung aller Vernunftbegabten.“ Übersetzung: Gegenschatz/Gigon). 105 Boethius, De trinitate IV 71–74: [. . .] quod nostrum, „nunc“ quasi currens tempus facit et sempiternitatem, diuinum uero „nunc“ permanens neque mouens sese atque consistens aeternitatem facit; („[. . .] weil unser Jetzt gleichsam laufend die Zeit und das Immer-sein bewirkt, das göttliche Jetzt aber beharrend, sich nicht bewegend und feststehend die Ewigkeit bewirkt.“ Übersetzung: Elsässer). 106 Boethius, Consolatio V 6,14: [. . .] Platonem sequentes deum quidem aeternum, mundum uero dicamus esse perpetuum. („[. . .] so wollen wir, Platon folgend, Gott zwar ewig, die Welt aber dauernd nennen.“ Übersetzung: Gegenschatz/Gigon). 107 Boethius, Consolatio V 6,6 sq.: Quod igitur temporis patitur condicionem, licet illud, sicuti de mundo censuit Aristoteles, nec coeperit umquam esse nec desinat uitaque eius cum temporis infinitate tendatur, nondum tamen tale est, ut aeternum esse iure credatur. Non enim totum simul infinitae licet uitae spatium comprehendit atque complectitur, sed futura nondum, transacta iam non habet. (Übersetzung: Gegenschatz/Gigon). 108 Boethius, Consolatio V 6,8: Quod igitur interminabilis uitae plenitudinem totam pariter comprehendit ac possidet, cui neque futuri quicquam absit nec praeteriti fluxerit, id aeternum esse iure perhibetur idque necesse est et sui compos

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A. Einführung

Wichtige Aspekte der zeitlosen Ewigkeit, auf die im Zusammenhang mit Plotin und Augustinus bereits hingewiesen wurde, kehren hier wieder: Das Ewige hat das, was in der Zeit in einem unendlichen sukzessiven Nacheinander erfolgt, zugleich gegenwärtig. Durch dieses Zugleich ist die Ewigkeit auf eine Weise unendlich, die von der „schlechten Unendlichkeit“109 zu unterscheiden ist, was Boethius dadurch zum Ausdruck bringt, daß in der Ewigkeit „ein unbegrenzbares Leben gleichzeitig ganz in der Gegenwart erfaßt wird“.110 Werner Beierwaltes zeigt überzeugend, daß Boethius’ Ewigkeitsdefinition von Plotin III 7 abhängt,111 und weist auf die große Wirkungsgeschichte dieser Definition in der mittelalterlichen Philosophie hin.112 Plotin, Augustinus und Boethius stimmen also in den Hauptpunkten ihrer Ewigkeitskonzeption überein. Sie alle folgen dem (neu-)platonischen Denkparadigma, das die Ewigkeit jenseits von Zeit und Dauer ansetzt und im christlichen Mittelalter wirksam wird und bleibt. 2. Das Nun der Ewigkeit Doch woher rührt die Verbindung der zeitlosen Ewigkeit mit dem Nun? Zum einen ist es die reine Gegenwärtigkeit der Ewigkeit, die dem Nun (nun) besondere Bedeutung zukommen läßt. Plotin schreibt dazu: _

Denn was könnte ihm erst später zukommen, was (es) nicht schon jetzt ist? Es kann auch nicht später etwas sein, was es nicht schon ist. Es gibt ja nichts, von dem aus es in das Jetzt gelangen könnte; jenes war nämlich nicht ein Anderes, sondern dieses selbst; auch wird es nicht künftig etwas sein, was es nicht jetzt schon hat, mit Notwendigkeit.113

Zum anderen jedoch wird die Ewigkeit mit dem Nun in Zusammenhang gebracht, weil in ihr „Alles zugleich“ (Ñma tJ pÜnta114) ist. Schon Parmepraesens sibi semper assistere et infinitatem mobilis temporis habere praesentem. (Übersetzung: Gegenschatz/Gigon). 109 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 93/94. 110 Boethius, Consolatio V 6,36 sq.: interminabilis uitae totam pariter complexum esse praesentiam. (Übersetzung: Gegenschatz/Gigon). 111 Beierwaltes, Plotin, S. 198 sqq. 112 Beierwaltes, Plotin, S. 200: „Dadurch, daß die boethianische Ewigkeits-Definition für die gesamte Philosophie des Mittelalters geradezu zu einer Modell-Definition wurde, ist ein zentraler Gedanke der Philosophie Plotins in der Gotteslehre des Mittelalters indirekt wirksam geworden.“ _ _ 113 Plotin, Enn. III 7.3,27–31: Tû gJr ºn ka˝ Österon ažtˆw gÍnoito, â_mÌ nun _ â mÌ ñstin çdh· ojte gJr ñstin, ÷ð\ o ë eùò t˛ ýsti; mhd\ až Österon ýsomÍnou, _ _ _ _ nun Óceir ýke ino gJr þn ožk ållo, ÷llJ toutor¢ ojte mÍllontoò ñsesqai, â _ mÌ nun ñxei, ýc ÷nÜgkhò. (Übersetzung: Beierwaltes). 114 Plotin, Enn. III 7.3,18. (Übersetzung: Beierwaltes).

III. Der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit und ihre Verbindung mit dem Nun 35

nides kannte den Begriff eines Nun, in dem das Ganze (des parmenideischen Einen) zusammen vorhanden ist: es war nie und wird nie sein, weil es im Jetzt zusammen vorhanden ist als Ganzes, Eines, Zusammenhängendes.115

Bei Plotin ist in der Ewigkeit „gleichwie in einem Punkt Alles versammelt“ (o Áon ýn shmeûˆw þmou pÜntwn Øntwn116), und so ist das zeitlose Nun der Ewigkeit zu verstehen. Dazu Werner Beierwaltes: _

_

Der Ewigkeit kommt nicht in der Zukunft zu, was sie als z e i t l o s e s Jetzt nicht „jetzt schon“ hätte. [. . .] Die Punktualität des z e i t h a f t e n Jetzt selbst, sowie seine hermeneutische und ontologische Funktion für den Begriff von Ewigkeit machen einsichtig, warum Ewigkeit mit dem zeitlos-stehenden J e t z t oder dem zeitlos-währenden H e u t e identifiziert werden konnte.117

Augustinus spricht nicht vom Nun, sondern vom „Heute“ (hodiernus118) der Ewigkeit. Den Gedanken vom Heute der Ewigkeit entwickelt er insbesondere in Confessiones XI 16. Sein Argumentationsgang ist dem Plotins sehr ähnlich. Zunächst weist Augustinus auf die Gegenwärtigkeit der Ewigkeit hin: Durch die Erhabenheit deiner immer gegenwärtigen Ewigkeit gehst du allem Vergangenen voraus und überschreitest du alles Zukünftige.119

Die Gegenwärtigkeit der Ewigkeit impliziert ihr Zugleich: Deine Jahre gehen nicht und kommen nicht [. . .]. Deine Jahre stehen alle zugleich.120

Wegen dieses Zugleichs der Ewigkeit Gottes sind Gottes Jahre wie ein Tag: Deine Jahre sind wie ein Tag.121

Da die Ewigkeit Gottes jedoch gegenwärtig und nicht dem Zeitfluß unterworfen ist, ist der Tag Gottes das Heute: Und dein Tag ist nicht irgendein Tag, sondern ist das Heute, weil dein Heute nicht dem Morgen weicht und nicht dem Gestern folgt.122 115

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Parmenides fr. 8,5 sq.: oždÍ pot' þn ožd' ñstai, ýpe˝ nun ñstin þmou pan, Òn, sunexÍò. (Übersetzung: Diels). 116 Plotin, Enn. III 7.3,19 sq. (Übersetzung: Beierwaltes). 117 Beierwaltes, Plotin, S. 170. (Hervorhebungen: Beierwaltes). 118 Augustinus, Confessiones XI 16,11. 119 Augustinus, Confessiones XI 16,2 sq.: Sed praecedis omnia praeterita celsitudine semper praesentis aeternitatis et superas omma futura. (Übersetzung: Flasch). 120 Augustinus, Confessiones XI 16,5–7: Anni tui nec eunt nec ueniunt [. . .]. Anni tui omnes simul stant. (Übersetzung: Flasch). 121 Augustinus, Confessiones XI 16,9: Anni tui dies unus. (Übersetzung: Flasch). 122 Augustinus, Confessiones XI 16,9–11: et dies tuus non cotidie, sed hodie, quia hodiernus tuus non cedit crastino; neque enim succedit hesterno. (Übersetzung: Flasch).

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A. Einführung

Gottes Heute ist die Ewigkeit: Dein Heute ist die Ewigkeit.123

Doch das Heute Gottes ist vom zeitlichen Heute zu unterscheiden, wie das Nun der Ewigkeit vom Nun der Zeit zu unterscheiden ist. Denn das Heute und das Nun der Zeit sind durch Zukunft und Vergangenheit erst definiert, das Heute und das Nun der Ewigkeit dagegen verharren in der Ewigkeit. Auf diesen Unterschied macht Boethius aufmerksam, der das „gleichsam laufende Nun“ („nunc“ quasi currens) der Zeit vom „beharrenden Nun“ („nunc“ permanens) der Ewigkeit unterscheidet: [. . .] weil unser Jetzt gleichsam laufend die Zeit und das Immer-sein bewirkt, das göttliche Jetzt aber beharrend, sich nicht bewegend und feststehend die Ewigkeit bewirkt.124

IV. Das Paradox Der skizzierte Ewigkeitsbegriff, der seine Wurzeln in der neuplatonischen Philosophie hat, gilt in der Denktradition des Mittelalters unhinterfragt. Uns ist dieses Denkparadigma, das den Begriff einer zeitlosen Ewigkeit mit dem Nun verbindet, fremd geworden. Es beruht auf einem Paradox.125 Im Nun der Ewigkeit fällt zusammen, was aus zeitlicher Perspektive zueinander konträr ist: das teillose Nun, das keinerlei zeitliche Erstreckung hat,126 und das Immer, das sich über alle Zeit erstreckt.127 Dieses Paradox wurde als das philosophische Paradox des ewigen Nun bezeichnet. Wenn Konträres oder auch Kontradiktorisches zusammenfällt, verstößt dies gegen die Regeln der Logik, so daß das philosophische Paradox des ewigen Nun aus der Perspektive der Zeit als Antinomie erscheint: Was aus dieser Perspektive logisch unvereinbar ist, wird in eins gedacht. Ein solches Paradox128 ist ein schwerwiegendes philosophisches Problem, weil es gegen 123

Augustinus, Confessiones XI 16,11: Hodiernus tuus aeternitas. (Übersetzung: Flasch). 124 Boethius, De trinitate IV 71–74: [. . .] quod nostrum, „nunc“ quasi currens tempus facit et sempiternitatem, diuinum uero „nunc“ permanens neque mouens sese atque consistens aeternitatem facit; (Übersetzung: Elsässer). 125 cf. A. II. _ _ 126 Aristoteles, Physica 218a6–8: t˛ d˚ nun ož mÍroò· metre i te gJr t˛ mÍroò, _ _ _ _ _ _ ka˝ sugke isqai de i t˛ Õlon ýk twn merwn. þ d˚ xrünoò ož doke i sugke isqai _ _ ýk twn nun. („Das ‚Jetzt‘ aber ist nicht Teil: der Teil mißt (das Ganze) aus, und das Ganze muß aus den Teilen bestehen; die Zeit besteht aber ganz offensichtlich nicht aus den ‚Jetzten‘.“ Übersetzung: Zekl). 127 Zwischen der ganzen zeitlichen Erstreckung (dem Immer) und gar keiner zeitlichen Erstreckung (dem Nun) gibt es ein Drittes, eine gewisse zeitliche Erstrekkung. Das Nun und das Immer bilden also keinen kontradiktorischen Gegensatz, sondern einen konträren Gegensatz.

IV. Das Paradox

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das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs (auch „Satz des Widerspruchs“ oder „Widerspruchsprinzip“ genannt) verstößt. Aristoteles formuliert das Widerspruchsprinzip im vierten Buch seiner Metaphysik wie folgt: Daß nämlich dasselbe demselben in derselben Hinsicht [. . .] unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann, .129

Eine probate Methode, vermeintliche Widerspruche aufzulösen, ist in der aristotelischen Formulierung bereits angegeben: die Unterscheidung nach Hinsichten. So läßt sich der Widerspruch zwischen den beiden Sätzen „Dieser Kuchen ist schwarz“ und „Dieser Kuchen ist nicht schwarz“ einfach auflösen, wenn der betreffende Kuchen außen schwarz ist, nicht aber innen. Dasselbe (t˛ ažtü), nämlich das Prädikat schwarz, kommt demselben (tˆw ažtˆw) Kuchen nicht in derselben Hinsicht (katJ t˛ ažtü) zu. _

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Wie aber stellt sich der Widerspruch, als der das philosophische Paradox des ewigen Nun aus der Perspektive der Zeit erscheint, in der Formulierung des Aristoteles, daß dasselbe demselben in derselben Hinsicht unmöglich zukommen und nicht zukommen kann, dar? Worum handelt es sich bei den beiden Begriffen „dasselbe“ und „demselben“? „Demselben“ sei x. Was aber kommt x zu und zugleich nicht zu? Der Widerspruch besteht in der Koinzidenz von Immer und Nun. Wie aber ist das gemeint? Was ist x? Setzt man für x beispielsweise die Zugspitze an, so führt dies nicht zum er128 Die Begriffe „Paradox“, „Paradoxie“ und „Antinomie“ sollen in dieser Arbeit zunächst gleichbedeutend für das Zusammenfallen des logisch Unvereinbaren verwendet werden. Damit folge ich Schaeffler, S. 321, der „paradoxe Aussagen“ als „Aussagen, die das logisch Unvereinbare zusammenspannen“, faßt. Dies ist ein enger Begriff des Paradoxes, der das Paradox mit der Antinomie gleichsetzt. Allerdings wird dieser enge Begriff des Paradoxes im Laufe der Arbeit insofern aufgebrochen als sich zeigen wird, daß die hier behandelten Paradoxa aus der Enge des jeweiligen Bezugsrahmens entstehen. So ist später etwa davon die Rede, daß die Ewigkeit das philosophische Paradox des ewigen Nun rechtfertigt. Damit erfährt der Begriff des Paradoxes eine Wendung, die über das rein Antinomische hinausgeht. Von dem Begriff der „Paradoxie“ in einem weiteren Sinne, wie etwa bei der „Haufen-Paradoxie“, werde ich keinen Gebrauch machen. Cf. auch Kutschera, Paradoxie, S. 96: „ bezeichnet in der Logik einen durch eine (scheinbar) korrekte logische Argumentation gewonnenen Satz, der kontradiktorisch ist oder im Widerspruch zu anerkannten Tatsachen steht bzw. zu stehen scheint. So wird diese Bezeichnung (insbesondere im angelsächsischen Sprachbereich) auch auf die logischen Antinomien angewendet. Ferner wird sie gebraucht für Trugschlüsse von der Art, wie sie besonders ausführlich in der megarisch-stoischen Logik erörtert wurden, wie z. B. [. . .] den Swreûthò.“ (Hervorhebung: Kutschera). 129 Aristoteles, Metaphysica 1005b19 sq.: t˛ gJr ažt˛ Ñma ëpÜrxein te ka˝ _ _ mÌ ëpÜrxein ÷dŸnaton tˆw ažtˆw ka˝ katJ t˛ ažtü. (Übersetzung mit Modifikation: Bonitz).

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A. Einführung

wünschten Ergebnis: Daß die Zugspitze immer ist, schließt bestimmt nicht aus, daß sie auch im jeweiligen Nun ist. So ist das philosophische Paradox des ewigen Nun aber nicht gemeint. Vielmehr behauptet es, daß das Nun in paradoxer Weise das Ewige umfaßt, was aus der Perspektive der Zeit nichts anderes bedeutet, als daß das Immer in das Nun hineinpaßt, so daß x ein Zeitraum ist, der sowohl unendlich lang ist als auch gar keine Länge hat. Der Widerspruch stellt sich in der Formulierung des Aristoteles wie folgt dar: Der Zeitraum x hat sowohl alle Erstreckung (immer) als auch keine und somit nicht alle Erstreckung (nun). Das Prädikat „alle Erstreckung“ kommt x mithin sowohl zu als auch nicht zu und zwar in derselben Hinsicht, nämlich der zeitlichen. Dies ist die Weise, wie sich das philosophische Paradox des ewigen Nun aus der Perspektive der Zeit darstellt. Die Untersuchung wird zeigen, daß diese immanente Perspektive der Zeit zu kurz greift und der Widerspruch aus der transzendenten Perspektive der Ewigkeit aufgehoben ist, weil Immer und Nun im Bereich des Ewigen dasselbe sind. Allerdings darf die Unterscheidung zwischen der immanenten und der transzendenten Perspektive – wie gezeigt werden wird130 – nicht mit einer Unterscheidung nach Hinsichten im Sinne des Aristoteles verwechselt werden. Das philosophische Paradox des ewigen Nun, die Koinzidenz von Immer und Nun, bleibt aus der Perspektive der Zeit als ein Paradox bestehen, das logisch Unvereinbares miteinander verbindet. Warum aber ist ein Paradox, das logisch Unvereinbares verbindet, für die Philosophie ein ernstes Problem? Aus Sicht der klassischen Logik ist ein selbstwidersprüchlicher Satz immer falsch. Nun gilt aber in der klassischen Logik der Grundsatz ex falso quodlibet, d. h. aus einem falschen Satz A läßt sich jeder beliebige Satz B ableiten. Dies führt zu dem schwerwiegenden Problem, daß in einem logisch homogenen philosophischen System, in dem die Regeln der klassischen Logik gelten, auch der Satz B, was immer er sei, sein Recht einfordern kann, wenn es den falschen Satz A enthält. Kurz gesagt: Gilt in einem logisch homogenen philosophischen System ein falscher Satz, so gelten in ihm nach den Regeln der klassischen Logik alle falschen Sätze, es wird mithin unsinnig. Manuel Bremer nennt dies das Explodieren einer Theorie: Gemäß der Standard-Logik explodiert eine Theorie logisch, sobald ein einziger Widerspruch in ihr auftritt. Unter „Theorie“ soll hier zunächst nicht mehr verstanden werden als eine Menge von Aussagen, die zumindest derart logisch verknüpft sind, dass alle logischen Konsequenzen, die aus irgendwelchen Aussagen in dieser Menge[n] impliziert werden, selbst in dieser Menge sind. Dass eine Theorie „explodiert“ heißt, daß mit dem Vorliegen eines einzigen Widerspruchs (der „Zündung“ der Explosion) sich mit ex contradictione quod libet alle Aussagen in ihr ableiten lassen.131 130

cf. D. II. 1.

IV. Das Paradox

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Wie aber läßt sich paradoxes Sprechen verteidigen? Der Konflikt besteht offensichtlich zwischen der paradoxen Aussage und der klassischen Logik. Es wurde daher versucht, das Sprechen in Paradoxa vom logischen Diskurs abzugrenzen. So wurden Diskursfelder abgesteckt, in denen paradoxes Sprechen erlaubt ist, so z. B. der religiöse und der mystische Diskurs. Anders Nygren unterscheidet in seinem 1972 erschienenen religionsphilosophischen Werk Meaning and Method132 verschiedene „Sinnzusammenhänge“, den der Wissenschaft, den der Ethik, den der Ästhetik und den der Religion.133 Zwischen den einzelnen Sinnzusammenhängen gibt es keine Heteronomie, sondern ein jeder ist für sich autonom. Daher steht es auch nicht an, eine Aussage, die in den einen Sinnzusammenhang gehört, mit den Maßstäben des anderen Sinnzusammenhanges zu beurteilen. Während Paradoxa „im theoretischen Sinnzusammenhang“, wie beispielsweise die Zenonschen Paradoxa, „auf logisch unvorsichtigen Formulierungen“ beruhen und nach Nygren „ein Zeichen dafür , daß in der eigentlichen Begriffsbildung und im Gedankengang etwas nicht stimmt“ und daher „aufgelöst und beseitigt“ werden müssen, gehöre es „zum Wesen der religiösen Paradoxie [. . .], daß sie bleiben muß“134. Warum aber muß bzw. darf eine widersprüchliche Formulierung im religiösen Sinnzusammenhang bleiben? Nach Nygren ist „die religiöse Paradoxie [. . .] mehr scheinbar als wirklich“135. Sie entsteht dann, wenn man die in ihr vorkommenden Ausdrücke fälschlicherweise im Rahmen des theoretisch-wissenschaftlichen Sinnzusammenhanges versteht: Hier hat nun die religiöse Paradoxie die bedeutsame Aufgabe klarzumachen, daß das, was gesagt wird, in einen ganz anderen Sinnzusammenhang als den theoretisch-wissenschaftlichen hineingehört. Das Paradox zu beseitigen hieße, das Gesagte aus seinem eigenen Sinnzusammenhang herauszureißen und es so zu behandeln, als gehöre es dem theoretischen Zusammenhang an.136

Die religiöse Paradoxie ist das Stopschild, das vor der Vermischung der Sinnzusammenhänge warnt: Die paradoxe Form steht als ein Warnungs- und Ausrufungszeichen da, damit man keinen fremden S i n n in das Gesagte hineinlegt. Tut man das, dann geht 131

Bremer, S. 9. Dieses Buch erschien 1979 unter dem Titel Sinn und Methode in deutscher Übersetzung. 133 cf. Nygren, S. 315. Dies sind die „traditionell gegebenen Sinnzusammenhänge“, was jedoch nicht ausschließt, daß es noch andere Sinnzusammenhänge geben kann: „Die Sinnzusammenhänge bilden kein geschlossenes System, in dem kein Platz für etwas anderes wäre.“ (ibid., S. 316). 134 Nygren, S. 382. (Hervorhebung: Nygren). 135 Nygren, S. 382. 136 Nygren, S. 382. 132

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A. Einführung

der Sinn im Ganzen verloren. Deshalb sagten wir oben: Die „religiöse Paradoxie ist dazu da, um zu b l e i b e n“.137

Nach Nygren ist das religiöse Paradox also sinnvoll, und ein paradoxer Satz der Religion ein sinnvoller Satz, wenn man ihn in dem ihm zukommenden religiösen Sinnzusammenhang versteht. Selbstwidersprüchlich, d. h. immer falsch und mithin unsinnig wird er erst, wenn man ihn in den ihm fremden theoretisch-wissenschaftlichen Sinnzusammenhang stellt. Ganz in diesem Sinne setzt sich Karl Barth in seiner „dialektischen Theologie“ für das Paradox im religiösen Diskurs ein.138 Nach Barth kann der Unterschied zwischen Gott und Mensch bei aller Beziehung nur im paradoxen Ausdruck gewahrt bleiben:139 Das „positive Verhältnis von Gott und Mensch“ nennt er „das absolut paradoxe“.140 Es meint einen Widerspruch, der prinzipiell nicht aufgelöst werden kann.141 Karl Barth faßt das Paradox des Glaubens als radikal und unaufhebbar: Das Paradox des Glaubens ist n i e zu umgehen und wird n i r g e n d s aufgehoben.142

Auch die Paradoxa in der mystischen Sprache werden häufig in dem Sinne gedeutet, daß sie sich einer begrifflich-logischen Betrachtung prinzipiell entziehen, daß sie also, um mit Nygren zu sprechen, einem anderen Sinnzusammenhang, nämlich dem mystischen, angehören. In diese Richtung gehen die meisten sprachwissenschaftlichen Forschungen zur Mystik. Mystik wird in der Regel als ein „Erfahren Gottes“143 verstanden, und die mystische Sprache als ein Versuch, diese Erfahrung in Worte zu kleiden. 137

Nygren, S. (Hervorhebungen: Nygren). Zur Rolle des Paradoxes im Denken Karl Barths cf. Beintker, S. 81–89; Kobusch, Paradoxon, S. 472–475; Schröer, Paradox; Schröer, Denkform, S. 133–154. 139 Karl Barth nennt diesen Unterschied die „i n n e r e D i a l e k t i k d e r S a c h e“. Im Vorwort zur zweiten Auflage seines Römerbriefkommentars schreibt er: „Aber was meine ich, wenn ich die i n n e r e D i a l e k t i k d e r S a c h e und ihre Erkenntnis im Wortlaut des Textes den entscheidenden Faktor des Verständnisses [. . .] nenne? [. . .] ‚Gott ist im Himmel und du auf Erden‘. Die Beziehung d i e s e s Gottes zu d i e s e m Menschen, die Beziehung d i e s e s Menschen zu d i e s e m Gott ist für mich das Thema der Bibel und die Summe der Philosophie in Einem. Die Philosophen nennen diese Krisis des menschlichen Erkennens den Ursprung. Die Bibel sieht an diesem Kreuzweg Jesus Christus.“ (Barth, Römerbrief, S. xiii. Hervorhebungen: Barth). 140 Barth, Römerbrief, S. 69. 141 cf. Beintker, S. 83: „Wie bei jenem besitzt er auch bei Barth einen antisystematischen, antilogischen Grundzug, zielt gegen die synthetisierende Vermittlung des Unterschiedes von Gott und Mensch. Er benennt einen Widerspruch, der um der Geltung der Wahrheit willen als Widerspruch ertragen werden muß und nicht im Pathos des Logikers, jeden Widerspruch auflösen zu müssen, überwunden werden kann.“ 142 Barth, Römerbrief, S. 87. (Hervorhebungen: Barth). 138

IV. Das Paradox

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Nach Haas ist die „Paradoxie [. . .] eine adäquate, wenn nicht die angemessenste Denk- und Sprachform der Mystik“.144 Warum? Beim sprachlichen Ausdruck der mystischen Gotteserfahrung wird deshalb häufig auf Paradoxa, d. h. auf widersprüchliche Aussagen zurückgegriffen, weil die mystische Gotteserfahrung der unio mystica, also der Einung zwischen Gott und Mensch, selbst eine widersprüchliche ist.145 Durch die Widersprüchlichkeit der mystischen Erfahrung wird ihr sprachlicher Ausdruck zum Problem. Das Verhältnis zwischen Mystik und Sprache und die daraus sich ergebenden Paradoxa wurden in der Forschung auf verschiedene Weise gedeutet. Josef Quint faßt Sprechen zunächst als begriffliches Sprechen und identifiziert dieses mit dem begrifflichen Denken.146 Vom begrifflichen Denken unterscheidet er Eckharts mystisches „Denk-Schauen, das kein Denken in Begriffen, in logisch-diskursivem Denkgang, sondern eine [. . .] mystische Intuition ist“.147 Es gibt also einen Überschuß des Denkens über die Sprache, den diese nicht einzuholen vermag, denn die „Ohnmacht des [. . .] begrifflichen Denkens vermag weder die Intuition vom innersten Wesen der menschlichen Seele [. . .], noch die vom alles Sein tragenden und begründenden all-einigen göttlichen Vernunftsein zu fassen“.148 Besonders virulent wird der Überschuß des Denkens über die Sprache bei der spekulativen Mystik – und dies ist die Mystik Meister Eckharts –, die Quint als „ein philosophisches Bemühen“ faßt, „die mystische Schau dem denkenden Erkennen faßbar zu machen“.149 Die spekulative Mystik kann in noch geringerem 143 Haas, Sprache, S. 185. Cf. auch Quint, Mystik, S. 114, der vom „Geheimnis [. . .], das der Mystiker erfährt“ oder ibid., S. 119 von der „mystische Erfahrung“ spricht. Auch Haug, Wort, S. 38 spricht von der „mystische Erfahrung“ bzw. in Haug, Grundlegung, S. 495 von „mystischer Gotteserfahrung“. 144 Haas, Paradox, S. 284. 145 cf. Haas, Paradox, S. 282 sq: „Innerhalb religiöser Traditionen kommt der religiös-mystischen Erfahrung unzweifelhaft bei der Ausformung von Paradoxien eine [. . .] tragende Funktion zu. Das liegt grundsätzlich daran, daß jede Gotteserfahrung eine einheitliche Widerspruchserfahrung oder widersprüchliche Einheitserfahrung darstellt.“ (Hervorhebung: Haas). Die unio mystica ist eine widersprüchliche Erfahrung, weil in ihr Einheit und Vielheit, Immanenz und Transzendenz, Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit koinzidieren: „Einheitserfahrung aber ist denkbar nur im Moment ihrer Widersetzlichkeit gegen die Vielheit der irdischen Existenz; der Ausdruck beider zusammen muß notwendigerweise paradox ausfallen, da darin die Gleichzeitigkeit von Immanenz und Transzendenz, Kontingenz und Absolutheit, Vielem und Einem behauptet werden muß.“ (ibid., S. 283). 146 So spricht er vom „sprachlich-begriffliche Denken“ und stellt fest: „Sprach-Denken aber ist ein Denken in Begriffen.“ (Quint, Mystik, S. 122). 147 Quint, Mystik, S. 141. 148 Quint, Mystik, S. 141. 149 Quint, Mystik, S. 121.

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A. Einführung

Maße auf die vorgeprägten sprachlichen Ausdrücke zurückgreifen als beispielweise die Gefühlsmystik.150 Es kommt zum „Kampf der spekulativen Mystik gegen die Begrenztheit des sprachlichen Ausdrucks“151. Der Kampf der Mystik gegen die Sprache ist kreativ, „ihr Sprachstil [. . .] ist hervorgetrieben durch den Kampf des mystischen Denkens gegen die Unzulänglichkeit des Begriffs-Wortes“.152 Es kommt zur „mystischen Sprachschöpfung“, um die „Grenzen des Ausdrückbaren“ zu sprengen.153 Das mystische Paradox ist eine solche Sprachschöpfung.154 Als „Sprachkampfmittel“155 rebelliert es insofern gegen das begriffliche Denken als dieses die coincidentia oppositorum verbietet.156 Die mystische Erfahrung aber ist die Erfahrung der coincidentia oppositorum. Deshalb ist ihr die paradoxe Ausdrucksform in besonderer Weise angemessen: In der paradoxen Aussageweise [. . .] ist für den Mystiker d a s Ausdrucksmittel gegeben, das sein Wissen vom Aufgehobensein aller Gegensätze im All-Einen, soweit es sprachlich überhaupt aussagbar ist, am besten zu vermitteln vermag, wenn er nicht sein Geheimnis im sanctum silentium [. . .] bewahren [. . .] will.157 150 Quint, Mystik, S. 121: „Auch in den Bezirken [. . .] der sensitiven Gefühlsund der voluntaristischen Willensmystik, genügen der Mystik die vorgegebenen Aussageweisen und Ausdrucksmittel der Sprachen nicht restlos, aber für ihre sprachlichen Zwecke, d. h. für den Ausdruck der Gefühlsregungen und der Willensstrebungen, reichen die [. . .] überkommenen sprachlichen Ausdrücke [. . .] in weit größerem Umfange aus als für das Anliegen der spekulativen Mystik: das erkennende Erfassen und die adäquate Aussage der mystischen Schau.“ 151 Quint, Mystik, S. 147 sq. Der Begriff des Kampfes durchzieht Quints Aritkel (z. B. ibid., S. 121; S. 122; S. 123; S. 141; S. 151). Der „Kampf der Mystik gegen die Sprache“ (ibid., S. 121) betrifft nicht nur die spekulative Mystik, sondern alle Mystik, nur ist er in der spekulativen Mystik am ausgeprägtesten: „Wo die sprachliche Äußerung des Mystikers sich im wesentlichen auf den Ausdruck der den mystischen Einigungsakt [. . .] begleitenden Empfindungen [. . .] beschränkt [. . .] oder wo sie vordringlich die ethischen Vorbedingungen für die unio mystica und ihre Auswirkungen für die willensmäßige Haltung zur ethisch-praktischen Lebensgestaltung [. . .] sprachlich zur Aussage bringen will, da kommt der berührte Kampf gegen die Sprache wesentlich schwächer zum Austrag.“ (Quint, Mystik, S. 121). 152 Quint, Mystik, S. 123. 153 Quint, Mystik, S. 124. 154 Quint, Mystik, S. 133: „Die Unmöglichkeit aber, das erfahrungssichere innere Wesen um das göttliche Sein im sprachgebundenen Wort zur vollgültigen Aussage zu bringen, treibt den spekulativen Mystiker [. . .] zur Paradoxie, mit Hilfe deren die Begrenztheit [. . .] des begriffsgebundenen Sprachwortes zu sprengen unternommen wird.“ 155 Quint, Mystik, S. 133. 156 Quint, Mystik, S. 150: „Die adäquateste Denk- wie Aussageform des spekulativen Mystikers aber kann nur die P a r a d o x i e sein mit dem ihr innewohnenden Streben, unvereinbare Gegensätze durch die Verbindung von Position und Negation in scharf antithetischer Aussage zur coincidentia oppositorum zu zwingen.“ (Hervorhebung: Quint).

IV. Das Paradox

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Quint unterscheidet also zwischen der begrifflichen Sprache und der Sprache, wie sie von der Mystik erst hervorgebracht wird, um den Überschuß des spekulativen Denkens über das begriffliche Denken einzuholen. Diese mystische Sprache hält sich nicht an die Regeln des logisch-diskursiven Denkens. Insofern läßt sich in Quints Ausführungen eine Differenz erkennen zwischen dem Sprachbegriff, von der sie ihren Anfang nehmen, nämlich dem der begrifflichen Sprache, und dem erweiterten Sprachbegriff der Mystik, nämlich dem einer Sprache, die durch den kreativen Kampf der Mystik gegen die begriffliche Sprache erst entsteht. Walter Haug kritisiert Josef Quint, doch auch seine Deutung läuft darauf hinaus, zwischen einem Bereich, in dem das Paradox unsinnig ist, und einem anderen, in dem es seine Berechtigung hat, zu unterscheiden. Haug wendet sich gegen Quints Ansatz, eine Differenz zwischen Sprache und Erfahrung einzutragen. Quints Sprachauffassung sei zu eng.158 Haug setzt dem eine Sprachauffassung entgegen, in der „Sprache [. . .] selbst Medium der Erfahrung“159 ist. Das, was nach Quints These im Kampf der Mystik gegen die Sprache als spezifisch mystische Sprachform erst entstehe, sei immer schon gegeben.160 Haug deutet die mystische Sprache funktional.161 Damit ist seine Deutung des mystischen Sprechens eine Deutung im Sinne der Sprechakttheorie: In einem Beitrag zu Meister Eckhart162 stellt er die These auf, es gehe Eckhart gar nicht darum, „etwas Unfaßbares in Sprache zu fassen“.163 Eckharts mystische Sprache sei „eine Sprache, die die mystische Erfahrung nicht vermitteln will“,164 vielmehr sei sie und mit ihr die mystischen Stilformen emphatisch zu verstehen. Ihre Funktion sei es, „deut157

Quint, Mystik, S. 150. (Hervorhebung: Quint). Haug, Grundlegung, S. 494 sq.: „Quint geht [. . .] von einer Sprachauffassung aus, die Sprechen und begriffliches Denken identifiziert. Die Sprache erscheint als ein rationales Instrument, mit dem man eine Erfahrung, die jenseits aller Rationalität liegt, [. . .] zu fassen versucht – ein Versuch, der aufgrund der Prämissen nicht gelingen kann. Diese rationalistisch-instrumentale Sprachauffassung verengt das Wesen und die Funktion menschlichen Sprechens in unzulässiger Weise.“ 159 Haug, Grundlegung, S. 495. 160 Haug, Grundlegung, S. 495: „Dabei spielen immer schon jene Möglichkeiten eine wesentliche Rolle, die nach Quint beim Kampf der Mystik gegen die Sprache aktualisiert werden: das Sich-selbst-Überschreiten der Sprache, die Selbstreflexion, der Übergang ins Schweigen. Und so sind denn auch jene Denk- und Stilformen, die sich nach Quint in einem spezifisch mystischen Wortfeld niederschlagen, generell verfügbar.“ 161 Haug, Grundlegung, S. 495: „Die mystische Sprache ist also nicht instrumentell-phänomenologisch, sondern allein von ihrer Position und Funktion im Rahmen mystischer Gotteserfahrung aus sinnvoll zu analysieren und darzustellen.“ 162 Haug, Wort. 163 Haug, Wort, S. 37. 164 Haug, Wort, S. 38. 158

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A. Einführung

lich zu machen, daß Theologie nur als eine Theologie jenseits der Differenz denkbar“165 sei. In diesem funktionalen Zusammenhang seien auch die Paradoxa bei Meister Eckhart zu sehen: Seine mystischen Paradoxa zielen auf dieses Zurücklassen der Differenz.166

Haug meint hier die ontologische Differenz zwischen Mensch und Gott, die in der mystischen Einheit verschwindet, so daß die Ähnlichkeit zwischen Mensch und Gott, die ja das Moment der Vermittlung in sich trägt, „gegenüber dem entscheidenden Umschlagspunkt im Grunde bedeutungslos“167 wird. Haug betont diesen Umschlagspunkt so sehr, daß er zwischen einem „diesseits der Wende“ und einem „jenseits der Wende“168 bei Meister Eckhart unterscheidet. Jenseits der Wende sind diejenigen, die die Gottesgeburt erfahren durften. An sie ist die mystische Rede mit ihren paradoxen Wendungen gerichtet, die in emphatischer Weise deutlich macht, daß sie sich nur an diesen Zuhörerkreis richtet. Das Paradox hat die Funktion, die Trennlinie zu markieren, es „schlägt einem diesseits der Wende alle Mittel aus der Hand, mit denen man die abegescheidenheit aus eigener Kraft hoffte erreichen zu können“.169 Diejenigen diesseits der Wende können und sollen den mystischen Diskurs nicht verstehen.170 Für Haug ist das mystische Paradox also Teil eines hermetischen Diskurses, der nur von den mystisch Erfahrenen verstanden werden kann und soll. Haug und Quint kommen also darin überein, das mystische Paradox einem Diskurs zuzuordnen, der außerhalb des begrifflich-rationalen Diskurses steht. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden besteht darin, daß Haug den Begriff der Sprache weiter faßt als Quint, so daß der mystische Diskurs Teil der Sprache bleibt. Alois Maria Haas nimmt de facto eine Zwischenstellung zwischen Haug und Quint ein. Mit Haug bindet er den Begriff der Erfahrung an den der Sprache.171 Er setzt die mystische Erfahrung damit im Gegensatz zu Quint 165

Haug, Wort, S. 35. Haug, Wort, S. 35. 167 Haug, Wort, S. 33. 168 Haug, Wort, S. 38. 169 Haug, Wort, S. 37: „Das Paradox, das aus der abegescheidenheit heraus die Einheit im Sein darstellt, schlägt einem diesseits der Wende alle Mittel aus der Hand, mit denen man die abegescheidenheit aus eigener Kraft hoffte erreichen zu können.“ 170 Haug, Wort, S. 37: „Das Paradox und die andern mystischen Stilformen sind hier nicht Ausdruck des vergeblichen Bemühens, etwas Unfaßbares in Sprache zu fassen, sondern Zeichen ihrer Freiheit. Nur für die Unfreien diesseits der Wende bleibt in diesem Sprechen ein Stachel zurück. [. . .] die Sprache [. . .] geht dabei an gegen die Festigkeit von Begriffen [. . .]: Begriffe, Bilder, Systemansätze werden in einem offenen Prozeß immer wieder zurückgelassen.“ 166

IV. Das Paradox

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nicht außerhalb der Sprache an, so daß es nach Haas auch nicht zum Kampf der Sprache gegen die Mystik kommt. Gleichwohl ist „die menschliche Sprache [. . .] durch die mystische Erfahrung immer auf fruchtbare Weise überfordert“.172 Nach Haas ist das mystische Paradox bereits in der Redesituation des Mystikers begründet,173 die insofern als sie über das Unaussprechliche spricht, paradox ist. Wie Haug sieht Haas das mystische Paradox auch unter einem funktionalen Aspekt: Seine Funktion sei es, aufzurütteln.174 Haas bleibt im Gegensatz zu Haug bei seiner Analyse des mystischen Paradoxes allerdings nicht bei der Betrachtung der mystischen Redesituation stehen, sondern sieht – und dies ist der philosophisch interessante Aspekt – auch die ontologische Begründung des mystischen Paradoxes: das „Grundparadox einer unähnlichen Ähnlichkeit oder ähnlichen Unähnlichkeit“175 zwischen Gott und Geschöpf. Obgleich diese ontologische Begründung des Paradoxes seine inhaltlich-philosophische Analyse ermöglichen würde, ist Haas’ Analyse vorwiegend eine Deutung des mystischen Paradoxes als eines rhetorischen Phänomens:176 Die mystische Sprache ist 171 Haas, Sprache, S. 188 sq.: „Kommt dazu, daß sich [. . .] menschliche Erfahrung [. . .] immer vornehmlich in Worten oder Zeichen [. . .] äußert; sprachlich ist Erfahrung, soweit sie sich äußert, in einem weiten Sinn allemal! Ja der Zugang zu Erfahrungen ist mir durch die überkommene Tradition [. . .] immer sprachlich vermittelt. Zuhöchst natürlich in der christlichen Religion [. . .]. Wenn der menschgewordene Gott das WORT ist, dann muß die lebendige Erfahrung mit diesem Gottmenschen selber auch worthaften Charakter haben.“ (Hervorhebung: Haas), sowie ibid., S. 186: „Es wäre ein Mißverständnis, wenn man annehmen wollte, die Art, wie die Mystiker von ihrer Erfahrung mit Gott berichten, entzöge sich dem religiösen Reden als eine den Glauben außer Geltung setzende, gewissermaßen schon wissende Sonderform der Redeweise. Die Mystik und ihre Sprache steht im Gegenteil in den vielfachen Spannungsbezügen, wie sie für jedes Reden zwischen und über Mensch und Gott gültig und traditionell sind.“ 172 Haas, Sprache, S. 189. 173 Haas, Paradox, S. 274 sq.: „Als ein [. . .] Moment dieser [. . .] Zuspitzung der Redesituation ergibt sich aus der Polarisierung von Redegebot und -verbot eine _ Spannung, die ihren Austrag in der bewußten Anwendung des parÜdocon sxhma als einer der Sachaussage voranstehenden, sie bedingend-konstituierenden Widersprüchlichkeit bekommt.“ 174 Haas, Sprache, S. 190: „Es ist [. . .] klar, daß die mystische Sondersprache [. . .] das negative Sprechen [. . .], [. . .] das Paradox [. . .] und schließlich die Tautologie [. . .] und die Hyperbel [. . .] in einem ausgezeichneten Maße bevorzugt. [. . .] Sein Reden ist ein Brüskieren des Alltagsverstandes, ein Aufwecken aus der trägen Ruhe der Gottesferne.“ 175 Haas, Paradox, S. 280. Für Meister Eckhart hält er fest: „Eckharts Satz: Got und ich wir sint ein [. . .] ist [. . .] eine Provokation, die nur innerhalb der eben geschilderten Grundparadoxie allen christlichen Redens – der bei aller Ähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf waltenden je grösseren Unähnlichkeit – einen Sinn hat.“ (ibid.). 176 Haas, Paradox, S. 279: „Dabei kommt es wenig darauf an, ob das über Gott sich äußernde Paradox nun im logischen Sinne ein solches ist, sondern es kommt

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A. Einführung

eine „Sondersprache“,177 die wie bei Haug und Quint anderen Regeln gehorcht als der begrifflich-rationale Diskurs. Sowohl Karl Barths Paradox des Glaubens als auch Quints, Haugs und Haas’ Deutungen des mystischen Paradoxes wurden vor dem Hintergrund von Nygrens Unterscheidung von Sinnzusammenhängen dargestellt: Das religiöse und das mystische Paradox erscheinen dann außerhalb des begrifflich-rationalen Sinnzusammenhangs, wodurch die Regeln der Logik auf diese Paradoxa nicht anwendbar sind. Der paradoxe Satz ist also kein Satz, der nach den Regeln der Logik immer falsch ist, und es kommt mithin nicht zum Explodieren der Theorie. Ist diese Lösung philosophisch befriedigend? Bei genauerem Hinsehen ergeben sich ernsthafte Probleme. Dies läßt sich sowohl am Paradox des Glaubens bei Karl Barth als auch am mystischen Paradox bei Meister Eckhart zeigen. Das Paradox des Glaubens ist wesentliches Konstituens der dialektischen Theologie Karl Barths. Wie gezeigt wurde, ist es prinzipiell unaufhebbar. Mit Nygren können wir es also einem anderen Sinnzusammenhang zuordnen als dem theoretisch-wissenschaftlichen, so daß es nach dieser Zuordnung nicht aus der Perspektive der Logik beurteilt werden darf. Doch diese Zuordnung ist nicht so klar, wie Nygren postuliert. Tatsächlich ist das Paradox des Glaubens Teil einer Theologie, die das Widerspruchsprinzip durchaus in Anspruch nimmt. Nygrens Unterscheidung zum Trotz ist die „Gretchenfrage an die Theologie, wie sie’s denn mit der Logik halte“178, also nicht nur erlaubt, sondern sogar notwendig. Wie aber steht Karl Barth, wenn er dem Paradoxen als dem unaufhebbaren Widerspruch eine solche Rolle einräumt, zum logischen Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs? Nach Barth hat der Satz des Widerspruchs relative Geltung, nämlich im Bereich der geschöpflichen Wirklichkeit.179 Für den Bereich alles darauf an einzusehen, daß über Gott und den menschlichen Bezug zu ihm nicht anders als in (rhetorischen) Paradoxen gesprochen werden kann.“ 177 Haas, Sprache, S. 187. Haas schwankt in seiner Bewertung der mystischen Sprache als Sondersprache. Besonders deutlich wird dieses Schwanken in Haas, Paradox, S. 275: „Weit entfernt davon, gegenüber anderem kommunikativem Sprechen sich völlig als Sondersprache abzusetzen, ratifiziert die mystische Sprache eine Form der Kommunikation, die dieser als einer Möglichkeit, über die Welt zu reden, an sich schon eingegeben ist.“ In seiner Anmerkung zu „Sondersprache“ schreibt er indes: „Damit sei dem mystischen Diskurs der Status einer ‚Sondersprache‘ [. . .] keinesfalls abgesprochen.“ 178 Kobusch, Paradoxon, S. 473. 179 Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. 2.1, S. 602: „[. . .] rechnen wir mit dem Satz des Widerspruchs als mit der Grenze des Möglichen, dann tun wir das in einem V e r t r a u e n auf die Einheit und Kontinuität der geschöpflichen Wirklichkeit und Macht, zu der auch unsere, diese geschöpfliche Wirklichkeit und Macht als solche

IV. Das Paradox

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des Göttlichen argumentiert er gegen das menschliche Ansinnen, Gott an den Satz des Widerspruchs zu binden.180 Der Satz des Widerspruchs kann keine vom Menschen gezogene Grenze sein.181 Die Grenze des Möglichen „ist uns [. . .] durch G o t t e s W o r t gezeigt“182. Theo Kobusch folgert daraus: [. . .] der Satz des Widerspruchs fällt also möglicherweise dem „Wort Gottes“ zum Opfer, was nur bedeuten kann, daß er keine unumschränkte und unbedingte Geltung hat für die Theologie.183

Nach Kobusch bedeutet das Aufgeben der unbedingten Geltung des Widerspruchsprinzips den „Ruin der Theologie“:184 Der in dem Zitierten ausgedrückte Verzicht auf die unbedingte Geltung des Widerspruchsprinzips ist für die Theologie als Theologie schlechthin ruinös.185

Auch für die spekulative Mystik ergeben sich schwerwiegende Probleme, wollte man sie als ein Sprechen kennzeichnen, das nicht nach den Gesetzen der Logik beurteilt werden kann und darf. Denn die spekulative Mystik ist immer auch ein „philosophisches Bemühen“, so daß sie nicht reflektierende Vernunft gehört, das als solches nur ein relatives Vertrauen sein kann“. (Hervorhebungen: Barth). 180 Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. 2.1, S. 601: „Wohl aber ist jenes prius zu bestreiten, wohl aber jener Begriff eines absolut Möglichen bzw. Unmöglichen, an welchem nun auch die Allmacht Gottes g e m e s s e n sein soll, statt daß umgekehrt diese als der Inbegriff des Möglichen verstanden wird.“ (Hervorhebungen: Barth). 181 Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. 2.1, S. 604: „Als die vom Geschöpf selbst gezogene Grenze des Möglichen wird auch der Satz des Widerspruchs nicht nur nicht unerschütterlich haltbar sein, sondern sich früher oder später gegen sich selbst richten und damit dann allerdings alle Gewißheit, alle sicheren Tritte innerhalb des geschöpflichen Raums unmöglich machen müssen.“ (Hervorhebungen: Barth). 182 Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. 2.1, S. 604. 183 Kobusch, Paradoxon, S. 474. Karl Barths Haltung zum Satz des Widerspruchs ist verwickelter, als in dieser kurzen Darstellung gezeigt werden kann, und so fallen denn auch die Deutungen der Haltung Karl Barths zu dieser Frage in der Forschung unterschiedlich aus. So gründet nach Schröer, Paradox, S. 65 die Widersprüchlichkeit bei Barth einzig in der Sünde des Menschen: „Gott ist nicht widersprüchlich in sich und, recht verstanden, auch nicht in seiner Offenbarung, paradox sinnwidrig ist vielmehr die Sünde des Menschen. Sie ist eigentlich unverständlich.“. Für die These, daß Gott im Denken Karl Barths nicht selbstwidersprüchlich ist, kann sich Schröer auf Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. 2.1, S. 603 stützen: „Die Grenze des Möglichen ist also nicht das sich selbst, sondern d a s G o t t W i d e r s p r e c h e n d e .“ (Hervorhebungen: Barth). Wenn es nichts gibt, das Gott widersprechen kann, so kann Gott auch nicht sich selbst widersprechen. Meines Erachtens läßt dieses Zitat allerdings die Möglichkeit offen, daß Barths Theologie Selbstwidersprüchliches zuläßt, daß also der Satz des Widerspruchs nicht unumschränkt gilt. Damit folge ich der Deutung Kobuschs. 184 Kobusch, Paradoxon, S. 472. 185 Kobusch, Paradoxon, S. 474.

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A. Einführung

als losgelöst von den Gesetzen der Logik definiert werden kann. Alois Maria Haas schreibt: Nur wird man nicht den Fehler machen dürfen, Philosophie und Mystik bei Meister Eckhart gewissermaßen hübsch assortiert nebeneinander vorfinden zu wollen. Das Gegenteil ist der Fall.186

Tatsächlich stellen demnach sowohl die dialektische Theologie als auch die spekulative Mystik Eckharts Denksysteme187 dar, in denen sich auf der einen Seite paradoxe Aussagen, auf der anderen Seite Bereiche finden, die die klassische Logik in Anspruch nehmen. Betrachtet man diese Denksysteme als logisch homogene Theorien, so ergibt sich ein Dilemma: Entweder gilt die klassische Logik für die ganze Theorie. Dann aber sind die darin enthaltenen Paradoxa Aussagen, die immer falsch sind, und die Theorie explodiert wegen des Prinzips ex falso quodlibet. Oder aber man verzichtet, damit die Theorie nicht explodiert, auf wesentliche Teile der klassischen Logik. Unter der gemachten Voraussetzung einer logisch homogenen Theorie sind dann aber die Argumentationsmöglichkeiten im ganzen Denksystem massiv eingeschränkt. Eine mögliche Antwort auf dieses Dilemma wäre, solche Denksysteme von vornherein zu verbieten. So erklärt Anders Nygren alle Metaphysik für sinnlos, weil sie verschiedene Sinnzusammenhänge vermischt: Die Sinnlosigkeit der Metaphysik hat ihren Grund darin, daß sie prinzipiell verschiedene Sinnzusammenhänge miteinander vermischt. Sie oszilliert zwischen den verschiedenen Sinnzusammenhängen und gehört in keinen hinein. Sie vermischt das, was getrennt gehalten werden muß.188

Diese Lösung ist so radikal wie problematisch. Sie wird weder der Religion noch der Philosophie gerecht, denn sie verböte der Religion, weil es religiöse Paradoxa gibt, logische Argumentationen und der Philosophie die Reflexion auf den Grund: Daß die philosophische Reflexion auf den Grund paradox ausfällt, wird diese Arbeit erweisen.189 Nygrens Postulat der klaren Trennung von Sinnzusammenhängen ist künstlich, denn sie geht an der philosophischen Wirklichkeit vorbei: In ihr haben wir es immer wieder mit Paradoxa zu tun.190 186

Haas, Mystik, S. 330. „Denksystem“ sei hier in einem weichen Sinn verstanden als eine Menge aufeinander bezogener Sätze. 188 Nygren, S. 323. 189 cf. auch Barth, Römerbrief, S. xiii: „Die Beziehung d i e s e s Gottes zu d i e s e m Menschen, die Beziehung d i e s e s Menschen zu d i e s e m Gott ist für mich das Thema der Bibel und die Summe der Philosophie in Einem. Die Philosophen nennen diese Krisis des menschlichen Erkennens den Ursprung. Die Bibel sieht an diesem Kreuzweg Jesus Christus.“ (Sperrdruck: Barth, Kursivdruck von mir). 187

IV. Das Paradox

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Nygrens Ansatz wurde so ausführlich behandelt, um das Bewußtsein dafür zu schärfen, daß eine Grenze gezogen werden muß zwischen dem Bereich, in dem die klassische Logik gilt, und jenem, in dem Paradoxa ihre Geltung haben. Allerdings verläuft diese Grenze tatsächlich mitten durch das betreffende Denksystem, wollen wir nicht mit Nygren einen Großteil der Philosophie und Philosophiegeschichte für unsinnig erklären. Ein philosophisch verantwortlicher Umgang mit Paradoxa grenzt diese innerhalb eines Denksystems ein, damit sie ihre Berechtigung haben, ohne daß alles mögliche aus ihnen abgeleitet werden kann. Es muß gezeigt werden können, wo diese Grenze verläuft und warum sie sich ergibt. Um dies zu zeigen, muß geklärt werden, welche Paradoxa in einem Denksystem vorkommen und aus welchen Gründen, denn die Grenze scheidet den paradoxen Bereich von jenem, in dem die klassische Logik mit dem Widerspruchsprinzip und dem Prinzip ex falso quodlibet ihre volle Geltung hat. Diese Lösung setzt also den Bereich, dem der paradoxe Satz angehört, als der klassischen Logik enthoben an und kann die Gründe dafür angeben. Ausgangspunkt dieser Überlegungen war die Möglichkeit einer präsentischen Eschatologie: die paradoxe Koinzidenz von Zeit und Ewigkeit im Nun. Diese Koinzidenz wurde als das religiöse Paradox des ewigen Nun bezeichnet. Es wurde gezeigt, daß das religiöse Paradox des ewigen Nun im Denken Meister Eckharts einerseits im Glauben an die Verzeitlichung des Göttlichen in der Inkarnation gründet. Andererseits setzt es den philosophischen Begriff einer Ewigkeit voraus, der es ermöglicht, daß das Ewige im Nun ist. Auch dies ist paradox, weil das Ewige nicht nur im Nun, sondern auch immer ist. Diese Koinzidenz von Immer und Nun wurde als das philosophische Paradox des ewigen Nun bezeichnet. Wie läßt sich das religiöse Paradox des ewigen Nun vor dem Hintergrund der inzwischen angestellten Überlegungen bewerten? Wodurch wird die Trennlinie gezogen, die dieses Paradox einhegt? Insofern es sein Fundament im Glauben an die Menschwerdung Gottes hat, ist es der Glaube, der die Trennlinie zieht und das Paradox rechtfertigt. Solange dieser Glaube philo190 Selbst in der Philosophie der Mathematik müssen wir mit Paradoxa rechnen, man denke etwa an Russells Mengenantinomie oder an das Lügnerparadox. Diese Paradoxa können nicht mit Nygren, S. 382 als „im theoretischen Sinnzusammenhang [. . .] auftauchende Paradoxa“ aufgefaßt werden, die „Zeichen dafür“ sind, „daß in der eigentlichen Begriffsbildung und im Gedankengang etwas nicht stimmt, und [. . .] daher nicht toleriert werden“ können, also „aufgelöst und beseitigt“ werden müssen, denn es gibt gute Gründe, anzunehmen, daß diese Paradoxa unter Beibehaltung des Widerspruchsprinzips nicht aufzulösen sind. Die Typentheorie nach Tarski, Truth ist eine formale Vermeidung solcher Paradoxa, aber keine Lösung (dazu Priest, S. 219 sq.).

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A. Einführung

sophisch nicht einholbar ist, läßt sich ein Paradox, das in ihm gründet, aus philosophischer Sicht lediglich konstatieren. Mein Anliegen ist daher zunächst bescheidener und will die eindeutig philosophischen Voraussetzungen des religiösen Paradoxes des ewigen Nun klären: das philosophische Paradox des ewigen Nun und den Begriff einer zeitlosen Ewigkeit, der dieses Paradox rechtfertigt. Der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit hat seine Wurzeln in der neuplatonischen Philosophie. Wie dargelegt, zieht ein philosophisch verantwortlicher Umgang mit Paradoxa eine Grenze zwischen dem Paradox und den anderen Aussagen eines Denksystems, in dem es auftritt, so daß für den abgegrenzten paradoxen Bereich nicht der Satz des Widerspruchs und das Prinzip ex falso quodlibet gelten. Sonst nämlich kann nach diesen beiden Prinzipien aus einem paradoxen Satz jeder beliebige andere Satz gefolgert werden. Dieser erste Schritt des Abgrenzens begnügt sich mit dem Konstatieren des Paradoxes, wie man Paradoxa des Glaubens lediglich konstatieren kann, solange dieser Glaube philosophisch nicht einholbar ist. Für eine philosophische Klärung eines Paradoxes innerhalb eines philosophischen Denksystems reicht dieser erste Schritt indes nicht aus. Die Grenze zu ziehen, genügt nicht, sondern es muß gezeigt werden können, wodurch die Grenze entsteht: Warum ist der Bereich jenseits der Grenze als paradox zu beschreiben und dennoch Teil des philosophischen Denksystems? Dies aber heißt, die Ursache des Paradoxes innerhalb dieses Denksystems zu klären. Sie liegt, sofern es sich wirklich um ein philosophisches Paradox handelt, in der jeweiligen Philosophie selbst begründet: Das philosophische Paradox ist vom Denken selbst gemacht. Es kommt dem Denksystem nicht von außen zu. Um ein philosophisches Paradox zu klären, müssen wir zeigen, aus welchen philosophischen Voraussetzungen es sich ergibt. Wenn wir das philosophische Paradox des ewigen Nun klären wollen, müssen wir das philosophische System untersuchen, in dem es auftritt, und einen Bereich für es abgrenzen. Wir müssen die Gründe angeben können, warum die Trennlinie so verläuft, wie sie verläuft, d. h. wir müssen begründen können, warum sich dieses Paradox innerhalb des betreffenden philosophischen Systems ergibt. Wenn wir Glück haben, finden wir innerhalb des philosophischen Systems andere mit ihm verwandte Paradoxa, so daß die Paradoxalität des Systems als Ganzes deutlich werden kann. Wie gezeigt wurde, ist der ideengeschichtliche Ursprung des philosophischen Paradoxes des ewigen Nun die Philosophie des Neuplatonismus. Um das philosophische System zu untersuchen, in dem es vorkommt, ist nach einem Denker zu suchen, der die Philosophie des Neuplatonismus als System formuliert hat.

V. Proklos: der Neuplatonismus als philosophisches System

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V. Proklos: der Neuplatonismus als philosophisches System Plotin und Proklos sind die beiden großen Denker des Neuplatonismus: Plotin gilt als sein Begründer, Proklos als derjenige, durch dessen Schriften der Neuplatonismus in seiner systematischen Vollendung auf uns gekommen ist:191 Unter Plutarch, Syrian und Proklos findet der Neuplatonismus in der Schule von Athen seine Ausprägung als philosophisches System. Plutarchs und Syrians Schriften sind zum Großteil verschollen, so daß der Neuplatonismus als philosophisches System im Werk des Proklos überliefert ist.192 Das Denken des Proklos hatte direkten und indirekten Einfluß auf das lateinische Mittelalter. Direkt zugänglich waren seine Schriften durch Übersetzungen ins Lateinische. Um 1160 fertigte ein Anonymus eine Übersetzung der Elementatio Physica an, der Großteil der Schriften des Proklos aber war ein Jahrhundert später durch die Übersetzungen des Wilhelm von Moerbeke zugänglich, der die Elementatio Theologica (1268), die Tria Opuscula (1280), den Timaioskommentar und den Parmenideskommentar des Proklos ins Lateinische übertrug.193 Durch diese Übersetzungen – hauptsächlich wurden die Elementatio Theologica und die Tria Opuscula rezipiert194 – hatte Proklos’ Denken direkten Einfluß auf den mittelalterlichen Platonismus. 191 Ich übergehe hier den nicht so bedeutenden Vorgänger des Plotin, seinen Lehrer Ammonius Sakkias, sowie die weniger wichtigen Nachfolger des Proklos. Zur Bedeutsamkeit von Plotin und Proklos cf. Josef Koch, Neuplatonismus, S. 117: „Ich verstehe also unter Neuplatonismus zunächst die philosophische Bewegung, die von Plotin ausgeht und in Proklos ihren letzten großen Vertreter hat. Damit sind zugleich die beiden Denker genannt, die für das Mittelalter von entscheidender Bedeutung waren. Die neuplatonischen Aristoteles-Kommentatoren, die im 13. Jahrhundert bekannt werden, treten ihnen gegenüber weit zurück. Vergleicht man nun Plotin und Proklos, so erscheint jener als der geniale Begründer des neuplatonischen Systems, wenngleich er seine Gedanken nirgendwo systematisch dargelegt, sondern in immer neuen Ansätzen in mehr oder weniger umfangreichen Essays entwickelt hat. Für die Schüler und Nachfahren lag es natürlich nahe, das in den Enneaden liegende System explizit auszuführen. Dieser Aufgabe unterzog sich der ‚Scholastiker‘ unter den Neuplatonikern, Proklos.“ 192 cf. Rosán, S. vii: „the last or Athenian School of Neoplatonism, to which our philosopher Proclus belonged, devoted itself to the task of resynthesizing these three strands, the theoretical, the practical and the scholarly, into one ultimate and comprehensive system of philosophy. But since the works of Proclus’ predecessors in this school, Plutarch of Athens and Syrianus, have almost all been lost, and those of his few immediate successors were either biographical in nature or else commentaries upon his own ideas, Proclus (died 485 A. D.) stands as the only important representative of the Athenian School of Neoplatonism and therefore as the last systematic philosopher in the History of ancient Greece.“ 193 cf. Grabmann.

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A. Einführung

Indirekt war sein Denken im Mittelalter durch die Schriften des Dionysios Pseudo-Areopagita und den Liber de Causis wirksam. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts übersetzte Gerhard von Cremona eine für aristotelisch gehaltene Schrift aus dem Arabischen ins Lateinische, die unter dem Titel Liber de Causis Eingang in das mittelalterliche Denken fand.195 Die Autorität des Liber de Causis setzte sich im dritten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts durch.196 Er galt als wichtiges Metaphysikbuch, das in den europäischen Universitäten verwendet wurde.197 Tatsächlich jedoch ist diese pseudo-aristotelische Schrift im Wesentlichen ein Exzerpt der Elementatio Theologica des Proklos, so daß das Denken des Proklos über den Liber de Causis indirekt Einfluß auf das mittelalterliche Denken hatte. Wie die Elementatio Theologica ist diese Schrift, die im arabischen Kulturkreis vermutlich im 9. Jahrhundert entstand, in Propositionen gegliedert. Die Abhängigkeit des Liber de Causis von Proklos wies Thomas von Aquin in seinem 1272 verfaßten Kommentar zum Liber de Causis durch einen Vergleich mit der Elementatio Theologica nach, die ihm durch Moerbekes Übersetzung bereits zugänglich war. Die andere Quelle, durch die das Denken des Proklos dem Mittelalter indirekt präsent war, sind die Schriften des Dionysios.198 Ihr Einfluß im lateinischen Mittelalter beginnt mit einer Schenkung. Der griechische Kaiser Michael Bekkos schenkt im Jahre 827 Ludwig dem Frommen einen Kodex des Corpus Dionysiacum, dessen Verfasser den Anschein erweckt, er sei mit dem in der Apostelgeschichte auf dem Areopag bekehrten athenischen Ratsherren Dionysios (Apg. 17, 34) identisch.199 Dadurch wurde den Schriften des Corpus Dionysiacum allerhöchste Autorität zugeschrieben, die alsbald, zuerst durch den Abt Hilduin von St.-Denis, dann durch Eriugena ins Lateinische übertragen wurden.200 Nachdem in der neuzeitlichen Forschung verschiedentlich auf die Verwandtschaft des Corpus Dio194 Grabmann, S. 418 differenziert in seiner Darstellung nicht zwischen den verschiedenen Schriften: „Der scholastische und mystische Platonismus des Mittelalters war seit dem Ende des 13. Jahrhunderts vor allem durch das neuübersetzte Schrifttum des Proklos bestimmt und vermittelt.“ 195 Die Eckpunkte der Geschichte des Liber de Causis finden sich in Grabmann, S. 413. 196 cf. Saffrey, Liber de causis, S. 477. 197 Saffrey, Liber de causis, S. 478: „Zwischen 1230 und 1240 informiert der von Grabmann entdeckte ‚Studienführer‘ den Examenskandidaten, daß man Metaphysik nach drei Büchern studiert: der metaphysica vetus, der metaphysica nova und dem ‚Liber de causis‘.“ 198 Zum Verhältnis zwischen Dionysios und Proklos cf. Beierwaltes, Dionysios. 199 Womit er diesen Anschein eigentlich erweckt, ist nicht ganz klar, wie Schäfer, S. 381, Anm. 3 schreibt: „Wodurch genau das nahegelegt wird, bleibt trotz anscheinend überwältigendem Indizienreichtums ziemlich schwer zu entscheiden.“

VI. Vorhaben

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nysiacum mit den Schriften des Proklos hingewiesen wurde, konnten Hugo Koch und Josef Stiglmayr in zwei im gleichen Jahre (1895) erschienenen und, obgleich unabhängig voneinander entstandenen, ähnlich gelagerten Untersuchungen, die Abhängigkeit des Dionysios von Proklos nachweisen:201 Dionysios hat von Proklos abgeschrieben. Damit kann er freilich nicht identisch mit dem Apostelschüler Dionysios Areopagita sein, denn Proklos hat bis 485 n. Chr. gelebt.202 Durch diese fälschliche Identifikation hat das Denken des Proklos in die mittelalterliche Philosophie in großem Umfang Eingang gefunden.

VI. Vorhaben Anstoß zu dieser Arbeit war das Konzept der Gegenwartseschatologie im Denken Meister Eckharts und ihr Hauptziel ist die Klärung der eindeutig philosophischen Voraussetzungen dieses Konzepts, des philosophischen Paradoxes des ewigen Nun sowie des Begriffs einer zeitlosen Ewigkeit. Diese Voraussetzungen haben ihren Ursprung in der (neu-)platonischen Philosophie. Die Frage, wie ein Paradox denkbar ist, läßt sich zufriedenstellend nur im Rahmen des philosophischen Systems klären, das dieses Paradox hervorbringt. Weil der Neuplatonismus im Denken des Proklos seine systematische Form gefunden hat, sollen der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit und das philosophische Paradox des ewigen Nun exemplarisch an der Philosophie des Proklos geprüft werden: Nur im Rahmen eines bestimmten philosophischen Systems kann geklärt werden, welchen Ort das Paradox innerhalb dieses Systems hat. Dabei soll die Spezifik des proklischen Ewigkeitsbegriffes weder übergangen werden, noch soll behauptet werden, dieser Ewigkeitsbegriff sei in seiner Spezifik repräsentativ für den Neuplatonismus.203 Repräsentativ für 200 Weitere Übersetzungen des Corpus Dionysiacum folgten: im 12. Jahrhundert durch Johannes Saraccenus, im 13. Jahrhundert durch den Engländer Robert Grosseteste und im 15. Jahrhunderts durch den Italiener Ambrosius Traversari. Cf. Josef Koch, Neuplatonismus, S. 119. 201 Hugo Koch und Stiglmayr führen den Nachweis an der Lehre vom Bösen, weil sich Proklos darin spezifisch von seinen Vorgängern unterscheidet. 202 Die Entstehungszeit der dionysischen Schriften, die ihre erste Erwähnung auf dem Religionsgespräch von Konstantinopel (531 bzw. 533) finden, ordnet Hugo Koch, S. 454 „kurz vor der Schließung der heidnischen Philosophenschule in Athen (529)“ ein. 203 In seiner spezifischen Ausformung unterscheidet sich der proklische Ewigkeitsbegriff von dem Plotins. Cf. Beierwaltes, Plotin, S. 150: „In der nachplotinischen Tradition wird die Einheit von Ewigkeit und Geist dadurch in bestimmtem

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A. Einführung

den Neuplatonismus ist jedoch, daß der Begriff einer zeitlosen Ewigkeit mit dem Nun verbunden wird, und es ist die grundsätzliche Denkbarkeit dieses paradoxen Begriffs, die am philosophischen System des Proklos beispielhaft gezeigt werden soll. Das Vorhaben, die Frage nach einer mit dem Nun verbundenen zeitlosen Ewigkeit exemplarisch an der Philosophie des Proklos zu klären, bringt die Aufgabe mit sich, das philosophische System des Proklos darzustellen. Deshalb werden in Teil B die Grundprinzipien der Philosophie des Proklos skizziert, wobei die Darstellung von dem Bestreben geleitet ist, das fremde Denken des Proklos dem modernen Denken zu vermitteln. Ein Vergleich mit der neopositivistischen Haltung macht deutlich, welche spezifische Frage diese Philosophie auszeichnet: Es ist die (neu-)platonische Frage nach dem Woher und ihre Beantwortung durch das transzendente Intelligible im allgemeinen und die Ideen im besonderen, wodurch sich diese Philosophie vom modernen Denken unterscheidet. Teil C widmet sich den Ideen in der Philosophie des Proklos. Dabei wird deutlich werden, daß sich in der Philosophie des Proklos durch die Frage nach dem Woher aus immanenter Perspektive Paradoxa ergeben, weil diese Frage über die immanente Perspektive hinausgreift. Teil D befaßt sich mit diesen Paradoxa, dem des Raumes, dem der Zeit und dem der Selbstprädikation, und geht der Frage nach, ob sie echte Widersprüche sind oder nicht. Dabei wird sich zeigen, daß die Unterscheidung zwischen immanenter und transzendenter Perspektive von eminenter Bedeutung ist, denn aus transzendenter Perspektive ist der im Paradox formulierte Widerspruch aufgehoben. Das Paradox der Zeit, auf dem das Hauptaugenmerk dieser Untersuchung liegt, ist also aus der transzendenten Perspektive der Ewigkeit aufgehoben. Deshalb befaßt sich Teil E mit der Ewigkeit. Es geht den Fragen nach, wodurch die Ewigkeit das Paradox des ewigen Nun rechtfertigt, und warum dieses Paradox im Bereich der Zeit, die das Abbild der Ewigkeit ist, ein echter Widerspruch bleibt. Damit ist das Hauptziel der Arbeit, die Klärung des philosophischen Paradoxes des ewigen Nun und des Begriffs einer zeitlosen Ewigkeit, die dieses Paradox rechtfertigt, erreicht. Allerdings kann an der Philosophie des Proklos mehr gezeigt werden als ursprünglich angenommen: Seine Philosophie vermag nicht nur das philosophische, sondern auch das religiöse Paradox des ewigen Nun zu klären. Darüber hinaus hat das religiöse Paradox des ewigen Nun auch im Denken Sinne aufgehoben, daß Ewigkeit als eine eigene Hypostasis gedacht wird (Procl. Elem. theol. 53–55). Proklos kritisiert auf Grund seines hypostatischen aùÿn-Begriffes die plotinische Identifizierung von Geist und Ewigkeit“.

VI. Vorhaben

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des Proklos seinen Austrag in der menschlichen Erfahrung. Dem widmet sich Teil F. Ein Nachtrag geht darauf ein, daß das eigentliche Ziel der Philosophie des Proklos ein ethisches ist, so daß sich bei aller Differenz Berührungspunkte mit dem Konzept der Gegenwartseschatologie ergeben.

B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos I. Kurzer Aufriß seines philosophischen Systems Das philosophische System des Proklos bewegt sich zwischen den Extremen Einheit und Vielheit, die sich jedoch nicht gleichwertig gegenüberstehen. Die Einheit ist der Vielheit hierarchisch vorgeordnet. Je mehr Einheit eine Entität aufweist, desto höher rangiert sie im streng hierarchisch gegliederten System. Höheres verursacht ihm Nachgeordnetes, wobei die Ursachen je nach Stellung verschieden weit reichen. Das höchste Prinzip in Proklos’ Metaphysik ist das Überseiende Eine. Es ist für alles verantwortlich, seine Wirkung reicht bis zu formlosen Materie, der Ölh.1 Ihm nachgeordnet ist die Trias Sein – Leben – Intellekt, die mit dem Bereich des Körperlichen, der informierten Materie, durch die Seele verbunden ist. Für den Bereich der seienden Dinge ergibt sich so die Rangordnung Sein, Leben, Intellekt, Seele, Körper: Also ist das, was zuerst über den Körpern situiert ist, die Seele, der Intellekt aber ist jenseits der Seele, das Leben aber ist dem Intellekt vorgängig, das Sein aber liegt über allem, das Sein in erster Linie.2

Die Ursache des Seins, das Überseiende Eine, ist Nicht-Sein, insofern sie als Ursache des Seins jenseits des Seins steht: Denn das Nicht-Sein selbst, mit dem auch die Negation des Seienden einhergeht, setzen wir bisweilen jenseits des Seins an und sagen, daß es die Ursache ist und daß es das Seiende hervorbringt.3

Die formlose Materie hingegen ist Nicht-Sein, insofern sie vom Sein depriviert ist: 1

cf. Opsomer, Matter, S. 173: „matter derives its existence from the One, in _ other words it is produced by god.“ sowie Theol. Plat. I(21).98,26 sq.: ka˝ tou m˚n _ Ån˛ò ka˝ ê Ölh metÍsxe ka˝ Òkaston twn Øntwn. („Am Einen partizipiert sogar die Materie und jedes einzelne des Seienden.“). _ 2 Theol. Plat. III(6).23,11–13: Ožkoun yuxÌ mÍn ýsti t˛ prÿtwò ëperidrum_ _ _ Ínon swmÜtwn, nouò d˚ ýpÍkeina yuxhò, zwÌ d˚ nou presbutÍra, t˛ d˚ ïn ýð\ Ñpasin Ôdrutai, t˛ prÿtwò Øn. _ 3 Theol. Plat. II(5).38,26–28: Ka˝ gJr t˛ mÌ ïn ažt˛ par\ ˆ¼ ka˝ ê ÷püðasiò _ _ twn Øntwn ýstûn, þt˚ m˚n ýpÍkeina tou Øntoò tiqÍmenoi lÍgomen ¼ò aŁtiün _ ýsti ka˝ ¼ò paraktik˛n twn Øntwn.

II. Philosophische Fragestellungen: Prädikatenlogik versus Platonismus

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Bisweilen aber lassen wir es als Privation des Seins und als des Seins ermangelnd: Nach dieser Weise nämlich nennen wir unzweifelhaft das ganze Werden und die Materie Nicht-Sein.4

So ergibt sich für das philosophische System des Proklos folgende Rangordnung: Überseiendes Eines, Sein, Leben, Intellekt, Seele, Körper, formlose Materie (Ölh). Wie kommt man zu einer solchen Metaphysik? Welche Fragen stellt diese Philosophie und aufgrund welcher Voraussetzungen gelangt sie zu ihren Antworten?

II. Philosophische Fragestellungen: Prädikatenlogik versus Platonismus Die folgenden Überlegungen nähern sich der platonischen Philosophie prädikatenlogisch an. Diese moderne Folie soll helfen, herauszuarbeiten, worauf es der platonischen Philosophie ankommt. Zwei Leitfragen sind dabei hilfreich. Zum einen: Welche Fragen stellt die jeweilige Philosophie? Zum anderen: Was ist ein „Ding“, was sind die Entitäten, auf die es dieser Philosophie ankommt? Dafür, daß ich das prädikatenlogische Programm als Folie gewählt habe, hatte ich folgende Gründe: Erstens knüpfe ich damit an den gegenwärtigen Diskurs der analytischen Philosophie an, in dem das prädikatenlogische Programm zum Standardrepertoire gehört. Zweitens lassen sich an Hand dieser Folie wesentliche Unterschiede herausarbeiten: Zum einen geht die Prädikatenlogik davon aus, daß sich alle Sachverhalte, auch philosophische, formalisieren lassen. Eine solche Formalisierung soll helfen, philosophische Fragestellungen unabhängig von ihrem Inhalt zu berechnen. Wie sich im Laufe dieser Arbeit zeigen wird, ist dies aus systematischen Gründen für Proklos nicht unbedingt möglich. Zum anderen nimmt die Prädikatenlogik die Welt und die Eigenschaften in der Regel als gegeben an, wodurch sie sich eklatant vom Platonismus unterscheidet, der nach dem Woher der qualitativ bestimmten Entitäten fragt. 1. Der logische Positivismus Der neuzeitlichen Philosophie eignet eine gewisse Arroganz: Gab es doch seit dem Cogito eines René Descartes immer wieder philosophische Denkansätze, die glaubten, alle Philosophie vor ihnen Makulatur werden zu 4

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Theol. Plat. II(5).39,2–5: þt˚ d˚ tou Øntoò stÍrhsin ka˝ ýnde˚ò tou Øntoò _ ÷poleûpomen ažtü katJ gJr touton dhladÌ t˛n trüpon ka˝ tÌn gÍnesin _ _ pasan ka˝ tÌn Ölhn mÌ ïn ÷pokaloumen.

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

lassen. So glaubte Hume durch sorgfältige Analyse des menschlichen Verstandes alle wirklichen philosophischen Probleme lösen zu können, und so glaubten auch die Anhänger des logischen Positivismus, wie er vom Wiener Kreis am Beginn des 20. Jahrhunderts vertreten wurde, zu einer endgültigen Lösung aller Philosophie gelangt zu sein. Diese „die n e u e wissenschaftliche Methode des Philosophierens“,5 auf die bereits in der Einführung eingegangen wurde,6 zeichnet sich durch ihre Feindlichkeit gegenüber der Metaphysik aus:7 An Stelle „metaphysischer Begriffsdichtung“ sollte „eine streng wissenschaftliche Methode des Philosophierens“8 treten. Diese ablehnende Haltung gegenüber der Tradition wird im 1929 erschienenen Manifest des Wiener Kreises betont: Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt k e i n e u n l ö s b a r e n R ä t s e l. Die Klärung der traditionellen philosophischen Probleme führt dazu, daß sie teils als Scheinprobleme entlarvt, teils in empirische Probleme umgewandelt und damit dem Urteil der Erfahrungswissenschaft unterstellt werden. In dieser Klärung von Problemen und Aussagen besteht die Aufgabe der philosophischen Arbeit, nicht aber in der Aufstellung eigener „philosophischer“ Aussagen.9

Wie bereits erwähnt wurde, sind sinnvolle Sätze für den logischen Positivismus entweder empirisch oder aber sie gehören zum Gebiet der Mathematik, einschließlich der Logik. Worauf sich der logische Positivismus also gründet, wird aus dem programmatischen Aufsatz „Die alte und die neue Logik“, den Rudolf Carnap im ersten Band der Zeitschrift „Erkenntnis“ veröffentlichte, deutlich: Der neue Kurs dieser Zeitschrift, der mit diesem Heft beginnt, stellt sich die Aufgabe, die neue wissenschaftliche Methode des Philosophierens zu fördern, die man vielleicht in aller Kürze dadurch kennzeichnen kann, daß sie in der logischen Analyse der Sätze und Begriffe der empirischen Wissenschaft besteht.10

Die beiden Schlüsselbegriffe „empirische Wissenschaft“ und „logische Analyse“ erläutert Carnap näher: 5

Carnap, Logik, S. 12. (Hervorhebung: Carnap). cf. A. I. 7 Hacker, S. 91 schreibt in seiner historischen Untersuchung über das Manifest des Wiener Kreises: „Der negative Kreuzzug galt der Demolierung der Metaphysik (und der Theologie).“ Bei Schlick, Wende, S. 9 heißt es: „Das Streben der Metaphysiker war von jeher auf das widersinnige Ziel gerichtet [. . .], [. . .] das Unsagbare zu sagen; [. . .] So fällt die Metaphysik dahin, nicht weil die Lösung ihrer Aufgabe ein Unterfangen wäre, dem die menschliche Vernunft nicht gewachsen ist (wie etwa K a n t meinte), sondern weil es diese Aufgabe gar nicht gibt. Mit der Aufdeckung der falschen Fragestellung wird aber zugleich die Geschichte des metaphysischen Streites verständlich.“ (Hervorhebung: Schlick). 8 Carnap, Logik, S. 12. 9 Verein Ernst Mach, S. 15 sq. (Hervorhebung: Verein Ernst Mach). 10 Carnap, Logik, S. 12. 6

II. Philosophische Fragestellungen: Prädikatenlogik versus Platonismus

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Das erste Merkmal besteht darin, daß dieses Philosophieren sich in engster Verbindung mit der empirischen Wissenschaft, ja überhaupt nur an ihr vollzieht, so daß eine Philosophie als eigenes Erkenntnisgebiet neben oder über der empirischen Wissenschaft nicht mehr anerkannt wird. Das zweite Merkmal gibt an, worin die philosophische Arbeit an der empirischen Wissenschaft besteht: in der Klärung ihrer Sätze durch logische Analyse.11

Die von Carnap geforderte „n e u e wissenschaftliche Methode des Philosophierens“12 bescheidet sich also in ihrem Feld. Sie sieht sich nur noch im Zusammenhang mit der empirischen Wissenschaft, die Philosophie ist zur ancilla scientiae geworden: Die szientistische Grundeinstellung der Neopositivisten äußert sich nicht zuletzt auch in der Ansicht, daß die Philosophie zu einer Art von „Dienerin“ an den Wissenschaften werden müsse.13

Die neue Methode des Philosophierens gründet also auf zweierlei: Erstens auf dem Glauben an „das Gegebene“,14 an die Erkenntnis der Welt durch Empirie.15 Zweitens auf der Annahme der unumschränkten Gültigkeit der Logik. Beide Punkte sind miteinander verknüpft. So rechnet Carnap beispielsweise die Erkenntnistheorie zur Logik, sie ist angewandte Logik.16 Auch „die Ausschaltung der Metaphysik“17 – und dadurch wird die Fokussierung aller Philosophie auf das empirische Gegebene erst möglich – soll durch logische Analyse geleistet werden: Bereits eingangs feiert Carnap in seinem Aufsatz den Abschied aller klassischer Metaphysik mit dem Hinweis auf ihre Sinnlosigkeit. Kriterium ist die Logik: Alle Philosophie im alten Sinne, knüpfe sie nun an Plato, Thomas, Kant, Schelling oder Hegel an, oder baue sie eine neue „Metaphysik des Seins“ oder eine „geisteswissenschaftliche Philosophie“ auf, erweist sich vor dem unerbittlichen Urteil der neuen Logik nicht etwa nur als inhaltlich falsch, sondern als logisch unhaltbar, daher sinnlos.18

Ein weiteres wichtiges Merkmal dieser neuen philosophischen Methode ist die von ihr verwendete logische Symbolik: Weil die Logik unumschränkt gültig ist, lassen sich alle bedeutungsvollen Sätze formalisieren und unabhängig von ihrem Inhalt logisch behandeln. Dies hat den Vorteil, daß sie 11

Carnap, Logik, S. 12. Carnap, Logik, S. 12. (Hervorhebung: Carnap). 13 Salamun, S. 4. 14 Carnap, Logik, S. 24. 15 So schreibt Hahn, S. 97: „Vielmehr glauben wir, daß nur die Erfahrung, nur die Beobachtung uns Kenntnis vermittelt von den Tatsachen“. Dieser Beitrag ist ebenfalls im ersten Band der „Erkenntnis“ erschienen. 16 Carnap, Logik, S. 12. 17 Carnap, Logik, S. 15. 18 Carnap, Logik, S. 13. 12

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

sich in einem logischen Kalkül berechnen lassen. Dadurch soll sauberes Schlußfolgern erzielt werden: Durch die Verwendung der Symbolik in der Logik wird vor allem eine sonst nicht erreichbare Strenge der Schlussfolgerung erzielt. Das Schließen geschieht hier durch ein rechenmäßiges Operieren mit den Formeln [. . .]; inhaltliche Überlegungen leiten dabei zwar den Gang der Deduktion, gehen aber nicht in die Deduktion mit ein. Diese Methode sichert, daß sich bei der Deduktion keine unbemerkten Voraussetzungen einschleichen, was sich bei Ableitungen in der Wortsprache schwer vermeiden läßt.19

Diese Philosophie bedient sich also einer formalen Sprache, um gegebenen Fragestellungen leichter auf die Spur zu kommen. Dabei gibt es formale Sprachen unterschiedlicher Komplexität. Eine noch wenig komplexe formale Sprache, die hier vorgestellt wird, ist die Prädikatenlogik erster Stufe. Den damit verbundenen philosophischen Anspruch der Formalisierbarkeit und Berechenbarkeit philosophischer Fragestellungen nenne ich das prädikatenlogische Programm. Der Abgesang des logischen Positivismus an die klassische Metaphysik war von weitaus geringerer Wirkungsgeschichte als die Einführung einer formalen Sprache in die Philosophie: Schon bald versuchte man, diese Methode auch auf klassische metaphysische Fragestellungen anzuwenden. Ein früher Vertreter dieser Richtung ist Karl Dürr, der bereits 1945 die logischen Probleme, die im Sophistes aufgeworfen werden, mit Hilfe der Prädikatenlogik formulierte.20 2. Prädikatenlogik Dieser Abschnitt skizziert die Prädikatenlogik kurz und illustriert sie mit Beispielen.21 Dies soll zeigen, was die Prädikatenlogik leisten kann und will, wonach sie fragt und wonach nicht. Wie bereits erwähnt, geht sie von der grundsätzlichen Formalisierbarkeit der normalen Umgangssprache aus. Ziel ist die Präzisierung wissenschaftlicher Probleme und die Möglichkeit in der Sprache der Prädikatenlogik von bestimmten Sätzen auf andere Sätze unabhängig von ihrem Inhalt zu schließen. Zunächst soll die Sprache der Prädikatenlogik dargestellt werden, und zwar nicht in der frühen, etwas schwerfälligen Form, wie sie von Russell/ Whitehead in den Principia Mathematica entwickelt wurde, und auf die Carnap in seinem Aufsatz zurückgreift, sondern in der moderneren Form, 19

Carnap, Logik, S. 16. cf. Dürr. 21 Eine gut lesbare Einführung zur formalen Logik (Aussagenlogik und Prädikatenlogik) bietet Hoyningen-Huene. 20

II. Philosophische Fragestellungen: Prädikatenlogik versus Platonismus

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die sich durchgesetzt hat. Carnap verwendet diese modernere Form in seiner Schrift Philosophical Foundations of Physics (1966). Was wird für die Sprache der Prädikatenlogik benötigt? Da sind erstens Parameter, die auf bestimmte Gegenstände verweisen (a, b, c, . . .). Zweitens gibt es Variablen (x, y, z), die sich auf Gegenstände beziehen ohne auf einen bestimmten Gegenstand festgelegt zu sein. Drittens gibt es Symbole für ein- oder mehrstellige Prädikate, die in der Regel mit großen Buchstaben wiedergegeben werden. Den oder die Parameter der Gegenstände, auf die ein Prädikat zutrifft, schreibt man hinter dieses Symbol. Wenn wir festlegen: Px: = „x ist ein Pferd“ und a: = Anna, so steht Pa für den Satz „Anna ist ein Pferd“. Das zweistellige Prädikat K können wir z. B. wie folgt festlegen: Kxy: = „x ist kleiner als y“. Es steht für eine Relation und es liegt auf der Hand, daß zwischen Kxy und Kyx zu unterscheiden ist. Zu den Prädikaten ist folgende Anmerkung wichtig: Sie sind von Gegenständen klassenlogisch unterschieden, so daß PP oder PL keine wohlgeformten Ausdrücke sind. Viertens gibt es Quantoren (": Allquantor, $: Existenzquantor), die besagen, ob es Gegenstände gibt, die einen Satz wahr machen: Der Allquantor besagt, daß alle Gegenstände den Satz wahr machen, der Existenzquantor, daß es mindestens einen Gegenstand gibt, der diesen Satz wahr macht. Fünftens gibt es ein Zeichen für die Negation von Sätzen (é), das wir vor den jeweiligen Satz schreiben, so z. B. éPa. Sechstens gibt es aussagenlogische Verknüpfungen zwischen Sätzen (Ù: = und; Ú: = oder; fi: = impliziert). Was ist interessant an der Prädikatenlogik? Erstens die Wahrheitsfunktion, die jedem Prädikat für jede mögliche Belegung einen Wahrheitswert zuordnet (wahr oder falsch), woraus sich nach bestimmten Regeln auf die Wahrheit komplexerer Sätze schließen läßt. Wenn also Anna tatsächlich kein Pferd ist, so ordnet die Wahrheitswertfunktion dem Satz Pa den Wahrheitswert „falsch“ zu. Eine solche Wahrheitswertfunktion ist eine Erfüllungsrelation: Es gibt nur wahr oder falsch, kein mehr oder weniger wahr. Von gleichem Aussagewert wie die Wahrheitswertfunktion ist es, wenn für jedes n-stellige Prädikat die Menge aller n-Tupel angegeben wird, die dieses Prädikat erfüllen (wahr machen). Eine solche Menge heißt Extension des Prädikates F, geschrieben F. Zweitens sind logische Verhältnisse zwischen Prädikaten von Interesse, die es erlauben, von der Wahrheit eines Satzes auf die Wahrheit eines anderen zu schließen, so kann von „Sokrates ist ein Mensch“ auf „Sokrates ist ein Sinnenwesen“ geschlossen werden, wenn bekannt ist, daß alle Menschen Sinnenwesen sind. Diesen Zusammenhang kann man entweder in der Sprache der Prädikatenlogik darstellen, oder aber ihn hinreichend beschreiben durch die Angaben der Mengenverhältnisse zwischen den Extensionen der beiden Prädikate. Es sei Mx: „x ist ein Mensch“ und Ax: „x ist ein Sinnenwesen“. Der logische Zusammenhang, daß alle Menschen Sinnenwesen sind, läßt sich prädikatenlogisch

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

oder mengentheoretisch darstellen. Prädikatenlogisch stellt sich dieser Zusammenhang wie folgt dar: "x (Mx fi Ax) (für alle x gilt: wenn x ein Mensch ist, so ist x ein Sinnenwesen). Die Mengentheoretische Darstellung gibt an, daß die Menge aller Sinnenwesen eine (echte) Obermenge der Menge aller Menschen ist: A É M. Ein solcher logischer Zusammenhang zwischen Prädikaten erlaubt es, von der Wahrheit des Satzes Ma auf die Wahrheit des Satzes Aa zu schließen. Die Darstellung der Prädikatenlogik will ich mit einem kleinen Beispiel abschließen: zur Illustration werde eine sehr einfache Welt betrachtet, in der es nur vier Gegenstände (Individuen), sowie drei einstellige Prädikate gibt. Für die vier Gegenstände stehen die Parameter a, b, c und d, für die Prädikate die Symbole P, M und A, wobei a: = Anna, b: = Berta, c: = Christoph und d: = Dora, sowie Px: = „x ist ein Pferd“, Mx: = „x ist ein Mensch“ und Ax: = „x ist ein Sinnenwesen“. Die Extensionen der Prädikate seien wie folgt: P = {a}; M = {b; c}; A = {a; b; c}. Das heißt, Anna ist ein Pferd, Berta und Christoph sind Menschen, jedem der drei kommt das Prädikat zu, ein Sinnenwesen zu sein. Über Dora wissen wir wenig: Nur, daß sie kein Sinnenwesen ist und somit a fortiori auch kein Mensch und kein Pferd. Zwischen den Extensionen der drei eingeführten Prädikate gibt es verschiedene Mengenverhältnisse, die ihren logischen Zusammenhang zeigen: A ist echte Obermenge von P (A É P); A ist echte Obermenge von M (A É M). Wissen wir, daß P(a) wahr ist, so wissen wir auch, daß A(a) wahr ist. Ebenso: wenn M(b) wahr ist, so ist auch A(b) wahr. Es ließe sich einwenden, daß die Schlüsse im angeführten Beispiel ebenso gut auch im Rahmen der klassischen aristotelischen Logik gezogen werden können, so daß sich die Frage aufdrängt, ob dieses Beispiel Carnaps Ansatz gerecht wird. Carnap spricht explizit von einer neuen Logik. Was ist neu an Carnaps neuer Logik? Neu daran ist erstens die „Logik der Beziehungen“22. Eine Beziehung zwischen zwei Individuen ist das zweistellige Prädikat Kxy („x ist kleiner als y“). Wichtig ist nun, daß man mit solchen Beziehungen rechnen kann: Der Schluß von Kab und Kbc auf Kac ist gültig, weil Kxy eine transitive Relation ist. Neu an der neuen Logik ist zum anderen die Typentheorie, zu der die Bemerkung gehört, daß Prädikate von Gegenständen klassenlogisch unterschieden werden, daß Prädikate insbesondere nicht auf sich selbst zutreffen können.23 Durch die Typentheorie lassen sich bestimmte logische Antinomien überwinden.24 Zwar konnten einige Aspekte dieses Ansatzes in der kurzen Darstellung nur gestreift wer22 23 24

Carnap, Logik, S. 16 sqq. cf. Carnap, Logik, S. 20. Carnap, Logik, S. 19 sq.

II. Philosophische Fragestellungen: Prädikatenlogik versus Platonismus

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den, so daß sie dem von Carnap vorgestellten Projekt nur bedingt gerecht wird. Im Rahmen der Leitfrage, was dieser Philosophie im Gegensatz zum (Neu-)Platonismus wichtig ist, soll dies indes nicht weiter stören. Was ist wichtig am prädikatenlogischen Programm? Die „Dinge“, auf die es dieser Philosophie ankommt, sind in der strengen, von Carnap geforderten Form die Dinge der empirischen Wirklichkeit. Sie werden als gegeben angenommen. Ziel dieser Philosophie ist die präzise Behandlung von Sätzen über diese gegebene empirische Wirklichkeit. Dabei hilft eine formale Sprache. Sie soll Klarheit im philosophischen Diskurs schaffen. Grundsätzlich ist jeder sinnvolle Satz formalisierbar. Eigenschaften werden wie die empirischen Dinge als gegeben angenommen und durch Prädikatssymbole formalisiert. Zusammenhänge zwischen den Extensionen verschiedener Prädikate helfen dabei, den Wahrheitswert bestimmter Sätze aus dem anderer Sätze abzuleiten. 3. Die platonische Frage nach dem Woher der Eigenschaften Die platonische Philosophie begnügt sich nicht damit, lediglich festzustellen, daß einer Menge von Dingen eine Eigenschaft gemeinsam ist. Sie fragt tiefer, nämlich nach dem Woher dieser gemeinsamen Eigenschaft: Denn jedem obliegt es doch wohl, zu erforschen, woher diese Gemeinsamkeiten , woher die Natur des Allgemeinen (denn was in diesem ist, ist nicht auch in einem anderen) und was also dasselbe in jedem einzelnen erzeugt und an welchem Einen die Teilhabe ist.25

Diese Frage nach dem Woher ist eine doppelte, die jedoch auf das gleiche zielt: Zum einen wird nach dem Woher der Eigenschaft selbst gefragt, zum anderen danach, woher es kommt, daß eine Eigenschaft einer Menge von Gegenständen gemeinsam ist. Noch in der Frage wird die Zielrichtung der Antwort angedeutet: „an welchem Einen die Teilhabe?“. Gesucht wird nach einem partizipierten Einen, das für das Zukommen der gemeinsamen Eigenschaft verantwortlich ist. Im engeren Sinne ist dieses partizipierte Eine die platonische Idee. Sie ist Ursache26 (aŁtia) ihrer Instanzen,27 an der diese partizipieren. Im weiteren 25

_

In Parm. 714, 23–27: Pant˝ gJr ºn ëpopÍsoi zhte in püqen aÁ koinüthteò _ _ aÁ twn kaqülou ðŸseiò (t˛ gJr ýn tˆwde ïn ožx˝ ka˝ ýn ållˆw aëtai, püqen _ ýst˝), tû ožn ýpoûhsen ýn ÅkÜstˆw tažt˛n, ka˝ tûnoò Ån˛ò ê mÍqeciò. 26 Es stellt sich die Frage, ob die Idee Ursache einer Eigenschaft der Instanz ist, oder aber Ursache der Instanz an sich. In der Philosophie des Proklos ist beides möglich. Cf. Alfred E. Taylor, The Philosophy of Proclus, S. 169: „the effect produced may be the existence of an individual or a quality of an individual, or both.“ 27 Leider scheint die Bezeichnung dessen, wofür die Idee verantwortlich ist, bereits eine Entscheidung für eine philosophische Schule zu sein. So spricht Beierwal_

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Sinne sind es die Dinge der transzendenten Welt überhaupt,28 die als aùtûai (Ursachen) bzw. ÷rxa˝ (Ursprünge) Antwort auf die Frage nach dem Woher29 geben. Das klassische Partizipationsverhältnis30 nach Platon ist das zwischen Sinnending und Idee.31 In der neuplatonischen Philosophie und im Grunde schon bei Platon selbst (man denke etwa an seinen Sophistes32) wird dieses Verhältnis weiter gefaßt und bezieht sich auch auf die Dinge der transzendenten Welt untereinander. Damit sind die Antworten auf die beiden Leitfragen des einführenden Vergleichs zwischen dem (Neu-)platonismus und dem prädikatenlogischen Programm gefunden. Die eine war, welche Fragen die jeweilige philosophische Richtung stellt. Der Neuplatonismus fragt nach dem Woher der Eigenschaften der Dinge, das prädikatenlogische Programm stellt diese Frage nicht. Die Antwort auf diese Frage führt im Neuplatonismus zu Entitäten, die im Mittelpunkt des philosophischen Interesses stehen. Damit ist denn auch die Antwort auf die zweite Leitfrage gefunden, was nämlich die Entitäten sind, auf die es der jeweiligen Philosophie ankommt. Waren es für den logischen Positivismus die Dinge der empirischen Welt, so zielt das Interesse des Neuplatonismus auf die Dinge der transzendenten Welt, die als Ursachen Antwort auf die Frage nach dem Woher geben: Die Ideen sind Gegenstände.33 Zumindest für den Neuplatonismus sind sie jedoch Gegenstäntes, Plotin, S. 259 vom Ideeierten, Kutschera, Platons Philosophie, Bd. 1, S. 122 hingegen der analytischen Tradition folgend von der Instanz einer Idee. Ich folge mit der Bezeichnung „Instanz“ der analytischen Tradition, jedoch ohne mich inhaltlich auf diese festzulegen. Vielmehr setze ich mich, wie der Gang der Argumentation zeigen wird, mit dieser Tradition kritisch auseinander. 28 aŁtia und ÷rxÌ sind weiter gefaßt als die Ideen im strenge Sinne, deren Ort der (göttliche) Intellekt ist. Denn auch Ideen und der Intellekt haben Eigenschaften, nach deren Ursachen man fragen kann. So ist beispielsweise die Ewigkeit dafür verantwortlich, daß die Ideen ewig sind. 29 In Proklos’ Philosophie wird die Frage nach dem Woher zu einer Leitfrage, der Thesaurus Linguae Graecae gibt für sein Werk 222 Okkurenzen von püqen (woher) an (zum Vergleich: Aristoteles: 56; Platon: 85). 30 Zum Thema der Partizipation bei Platon und Proklos cf. Roth/Schäfer, Partizipation. 31 Zur Illustration sei das Prädikat M gegeben, das für die Eigenschaft steht, ein Mensch zu sein. Diejenige Ursache, die für diese Eigenschaft verantwortlich ist, wollen wir M0 nennen. Jeder einzelne Mensch mi ist als Instanz von M0 Element der Extension des Prädikates Mensch, der Menge M. M ist die Menge aller Menschen. 32 Meijer, S. 65 kann ich deshalb nur bedingt zustimmen. Er schreibt: „Participation was now called upon to explain not only the relation between the ideas and particulars, but also, g o i n g b e y o n d Plato, the relation between the inhabitants of the transcendent world itself, i. e. mind and soul.“ (Sperrdruck von mir). 33 cf. Kutschera, Parmenides, S. 31: „Man kann aber die Ideen Platons nicht einfach als Attribute ansehen, denn für ihn waren sie auch Gegenstände, Universalien und zugleich Individuen.“

III. Der neuplatonische aitia-Begriff

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de der besonderen Art. Wie gezeigt werden wird,34 ist die Idee in der Philosophie des Proklos ein Gegenstand, der im Hinblick auf diejenige Eigenschaft, für die er verantwortlich ist, jenseits der Formalisierbarkeit steht.

III. Der neuplatonische aitia-Begriff 1. Die aitia als vorgängige, transzendente Entität, der die Wirkung ähnlich ist Der vorige Abschnitt hat sich mit der (neu-)platonischen Frage nach dem Woher der Eigenschaften der Dinge befaßt: Es sind die Ideen und Dinge der transzendenten Welt, die als aùtûai (Ursachen) Antwort auf diese Frage geben. Im folgenden soll untersucht werden, was für ein Ursache-Begriff dabei in Anschlag gebracht wird. Der Neuplatonismus faßt den Begriff der Ursache weiter als den der Idee. Unsere Untersuchung deckt diesen weiten Begriff ab, denn das metaphysische System des Proklos besteht nicht nur aus Ideen, sehr wohl aber aus Ursachen. Um es zu untersuchen, muß der Begriff der aùtûa genau geklärt werden. Um den Einstieg zu erleichtern, wird der aùtûa-Begriff zunächst in Opposition zum modernen Alltagsverständnis der Kausalrelation gesetzt. Im modernen Alltagsverständnis sind wir bereit, Relationen von verschiedenem ontologischen wie logischen Status als kausal zu bezeichnen.35 So sagen wir etwa, „weil es regnet, ist die Straße naß“. Hier handelt es sich um eine hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung, die als Ursache bezeichnet wird. Oder wir sagen: „Rauchen verursacht Krebs“, wobei es sich um einen statistischen Zusammenhang handelt, den wir als kausal anerkennen. Oder aber wir sagen: „weil Herr Müller keinen Regenschirm dabei hatte, ist er naß geworden.“ Hier handelt es sich um eine kontrafaktische Analyse von Kausalität, denn gemeint ist damit: „Hätte er einen Regenschirm dabei gehabt, so wäre er nicht naß geworden“ So verschieden diese drei Auffassungen von Kausalität sind, so sehr haben sie doch Gemeinsamkeiten, die sie als grundverschieden von der neuplatonischen Kausalitätskonzeption kennzeichnen: (1) In den genannten Beispielen ist vorwiegend von Ereignissen als Ursachen resp. Wirkungen die Rede. Im Gegensatz dazu sind es im neuplatonischen Verständnis niemals Ereignisse, sondern immer Gegenstände, die als Ursachen und Wirkungen gelten.36 (2) In den genannten Beispielen handelt es sich um Ursa34

cf. C. VI. 2. Zu verschiedenen modernen Theorien der Kausalität cf. Kutschera, Objektivität, S. 41–51. 35

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

chen und Wirkungen der physischen Welt. Der neuplatonische aùtûa-Begriff dagegen meint eine metaphysische, transzendente Entität.37 Die Wirkung kann wie die Ursache metaphysisch oder aber physisch sein. (3) Im modernen, physischen Kausalitätsverständnis ist die Ursache der Wirkung in der Regel zeitlich vorgängig.38 Die neuplatonische aùtûa hingegen ist als transzendente Ursache der Wirkung ontologisch vorgängig. (4) Die gesamte abendländische Tradition der Antike und des Mittelalters und mit ihr der Neuplatonismus geht von einer Ähnlichkeit zwischen Ursache und Wirkung aus. Dadurch unterscheidet sich ihr Kausalitätsverständnis eklatant vom neuzeitlichen, wie A. C. Lloyd bemerkt: But similarity is the property which typically distinguishes the causal relation of this theory from that of a constant conjunction theory. For Berkeley and Hume the relation holds between events; and taking pain instead of heat as an equally standard effect of heat they see no reason why an event which is caused by some other event should be similar to it.39

Die Ergebnisse des Vergleichs einer modernen Auffassung von Kausalität mit dem neuplatonischen aŁtia-Begriff lassen sich wie folgt zusammenfassen: Bei der neuplatonischen aŁtia handelt es sich um eine metaphysische Entität, die als transzendente Ursache der Wirkung ontologisch vorgängig ist. Die Wirkung ist der Ursache ähnlich. Die Transzendenz der Ursache trifft den Kern der Fragestellung nach einer zeitlosen Ewigkeit, weil die Transzendenz der Idee auch ihre Transzendenz über die Zeit impliziert, weshalb die Idee ihren Instanzen nicht zeitlich, sondern ontologisch vorgängig ist. Ich möchte an dieser Stelle vorgreifen und kurz plausibel machen, warum der Platonismus die Ideen als transzendent ansetzt. Solange wir uns im Bereich der Immanenz bewegen, führt die Frage nach dem Woher in einen infiniten Regreß, ein infiniter Regreß aber galt dem antiken Denken als unmöglich (cf. B. III. 5.). Doch wie kommt es zu diesem infiniten Regreß? Die Idee ist Ursache dafür, daß einer Menge von Dingen eine bestimmte Eigenschaft gemeinsam ist. Wäre diese Idee eine immanente Entität, so könnte man wegen der Ähnlichkeit der Instanzen zu dieser Idee eine neue Menge von Dingen bilden, die eine gemeinsame Eigenschaft haben, was erneut die Frage nach dem Woher aufwirft, so daß erneut nach einer Idee gesucht werden müßte. Im Bereich der 36 cf. Alfred E. Taylor, The Philosophy of Proclus, S. 164: „Causality [. . .] implies two related terms, the producer (t˛ parÜgon) and the produced (t˛ paragümenon), and these are never events.“ _ 37 In E. T. 75,1 sq. schreibt Proklos: Pan t˛ kurûwò aŁtion legümenon _ ýc´Çrhtai tou ÷potelÍsmatoò. („Alles, was Ursache im eigentlichen Sinne genannt wird, transzendiert seine Wirkung.“). 38 Bei statistischen Kausalzusammenhängen ist dies nicht unbedingt der Fall. 39 Lloyd, Principle, S. 147.

III. Der neuplatonische aitia-Begriff

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Immanenz läßt sich dieser Vorgang unendlich oft fortsetzen. Es ist dies das Argument vom dritten Menschen, auf das später ausführlich eingegangen wird (cf. Kapitel C. V.). Erst die Transzendenz der Idee beendet diesen Regreß, weil sich die Idee wegen ihrer Transzendenz mit ihren Instanzen nicht verrechnen läßt.40 Für unsere Untersuchung müssen wir den aŁtia-Begriff allerdings noch schärfer fassen, denn es stellt sich die Frage, wie die aŁtia für ihre Wirkung verantwortlich ist: Wie sind Ursache und Wirkung miteinander verbunden? 2. Transmission Theory Lloyd weist darauf hin, daß die vormoderne Theorie von Kausalität bis Descartes eine „transmission theory“ sei: In this transmission theory the cause of some object b having a property ð can sometimes be regarded as some other object a which has the property ð and sometimes as the ð possessed by a.41

Dies ist durchaus nicht so klar, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: Denn was genau ist mit ð gemeint? Wie soll eine Eigenschaft Ursache sein? Daß jedoch etwas von der Ursache auf die Wirkung übergeht, darf auch für die Philosophie des Proklos behauptet werden: Alles, was durch sein Sein für andere ein Anführer ist, ist selbst zuerst das, woran es denen, die angeführt werden, einen Anteil gibt.42

Die Ursache ist die Anführerin der Ordnung (tÜciò) ihrer Wirkungen, denn sie ist ihren Wirkungen vorgängig. Proklos nennt sie auch die „Monas“ (monÜò) ihrer Taxis.43 Sie gibt etwas an die Wirkung weiter (metadûdwsi) und sie ist in erster Linie (prÿtwò) das, was sie an die Wirkung weitergibt. Somit gibt es einen Konnex zwischen dem Charakteristikum der Wirkung und der Ursache. Hierbei ist eine genaue Formulierung wichtig: Sagen wir, daß in der aùtûa das Charakteristikum (ùdiüthò), für das sie verantwortlich ist, schon vorhanden sein muß, so ist das zu ungenau, denn die Ursache hat nicht das, was sie weitergibt, sie ist es. 40 Daß die Idee mit ihren Instanzen nicht verrechenbar ist, impliziert eine ungewöhnliche Relation der Ähnlichkeit zwischen Instanz und Idee. Cf. C. V. 4. 41 Lloyd, Principle, S. 146 sq. _ _ _ _ _ 42 E. T. 18,1 sq.: Pan t˛ tˆw e ùnai xorhgoun ålloiò ažt˛ prÿtwò ýst˝ touto, _ _ _ oë metadûdwsi to iò xorhgoumÍnoiò. Daß es sich bei dem xorhgoun um eine Ursache handelt, wird aus dem Beweis der Propositio deutlich: E. T. 18, 12 sq.: ÷ll\ eù m˚n þ ažt˛ò lügoò, ožk ºn ñti t˛ m˚n aŁtion eŁh, t˛ d˚ ÷potÍlesma. („Aber wenn es dieselbe Definition gäbe, dann wäre das eine nicht mehr Ursache, das andere hingegen Wirkung.“). 43 cf. E. T. 21. Zum Begriff der Monas cf. C. II.

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

3. Partizipation Weiter oben wurde gesagt, daß die Instanz an der Idee partizipiert. Dies gilt im weiteren Sinne auch für die aùtûa, an der die Wirkung partizipiert. Verursachung und Partizipation stehen – mit gewissen Einschränkungen44 – in einem reziproken Verhältnis: Nun aber ist es notwendig, daß das Verursachte an der Ursache partizipiert.45

Ursache und Wirkung hängen über die Relation der Teilhabe miteinander zusammen. Dies wirft die Frage auf, wie die Ursache wirklich transzendent sein kann, wenn die Wirkung an ihr teilhat. Wird ihre Transzendenz nicht durch das Teilhabeverhältnis beeinträchtigt? Proklos löst dieses Problem im Gefolge von Iamblich. Das Hauptaugenmerk dieser Lösung liegt darauf, die Transzendenz der Ursache zu wahren. Die Wirkung hat nicht direkt an der Ursache teil. Sie ist unpartizipierbar, bringt aber partizipierbare Entitäten hervor. Dies führt zu einem Dreischritt: Gegeben sei die transzendente Ursache c und die Menge der Instanzen M = {a1; a2; . . .; an}. Als transzendente Ursache ist c unpartizipierbar (÷mÍqekton). Sie bringt für jede Instanz ai die partizipierte Entität pi (t˛ metexümenon) hervor, an der die Instanz ai als das Partizipierende (t˛ metÍxon) teilhat.46 44 Eingeschränkt werden muß diese Behauptung, weil die Idee die Instanz transzendiert und daher kein Relatum ist, das im Rahmen der Relation zwischen Instanz und Idee in Anspruch genommen oder verrechnet werden kann: Die Relation zwischen Idee und Instanz ist asymmetrisch (cf. C. V. 4.). Soll die Idee wirklich transzendent sein, so kann die Instanz im strengen Sinne auch nicht an ihr partizipieren. Daher führt Iamblich die Idee als ÷mÍqekton ein, die ein metexümenon hervorbringt, an dem die Instanz partizipiert, so daß sich der in diesem Abschnitt besprochene Dreischritt ÷mÍqekton – metexümenon – metÍxon ergibt, den Proklos übernimmt. Diesen Dreischritt hat De Rijk, S. 4 im Blick, wenn er gegen die These argumentiert, die beiden Relationen Verursachung und Partizipation seien zueinander reziprok: „What was decisive for the later development of Platonism is that causation and participation lost the relation of reciprocity they had before, when Forms were supposed to cause something and, by the same token, to be partaken of [. . .] by it, to that effect that ‚A causes B‘ implied ‚A is partaken of by B.‘ in Neoplatonism, mÍqeciò, meaning ‚participation‘ became a unilateral relation, viz. from effect to cause, not vize versa, whereas cause and effect maintained causation as a bilateral relation“. Stricte sensu hat De Rijk recht. Da Proklos jedoch selbst in verkürzter Redeweise von der Partizipation der Instanz an der Idee spricht (s. u.), ist es m. E. durchaus statthaft, bei Proklos von einem reziproken Verhältnis von Verursachung und Partizipation zu sprechen, solange man sich dieser verkürzten Redeweise bewußt ist. So schreibt auch Alfred E. Taylor, The Philosophy of Proclus, S. 169: „In their view, the causal relation is always a case of ‚participation‘.“ _ 45 E. T. 28, 11 sq.: ÷llJ mÌn ÷nÜgkh t˛ aùtiat˛n tou aùtûou metÍxein. 46 cf. E. T. 23.

III. Der neuplatonische aitia-Begriff

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Daß die Wirkung an der Ursache teilhat, ist eine verkürzte Redeweise, weil sie das partizipierte Bindeglied pi außen vor läßt. Dennoch macht Proklos von dieser verkürzten Redeweise häufig Gebrauch. 4. Dynamis Die Frage, wie Ursache und Wirkung miteinander verbunden sind, ist mit dem bisher Gesagten für die Philosophie des Proklos noch nicht ganz beantwortet. Noch nicht angesprochen wurde das Konzept der dŸnamiò, das untrennbar mit seinem aŁtia-Begriff verbunden ist: Die dŸnamiò ist die Kraft oder Wirkmächtigkeit der Ursache, die Wirkung hervorzubringen. Je höher eine Ursache im metaphysischen Gefüge angesiedelt ist, umso mehr dŸnamiò hat sie: Alles, was Ursache von mehr Wirkungen ist, ist dem überlegen, das seine Wirkmächtigkeit in Relation zu weniger Dingen hat und das eine Teilmenge der Dinge hervorbringt, deren ganze Existenz das andere verursacht. Denn wenn das eine Ursache von weniger, das andere aber Ursache von mehr ist, die einen aber eine Teilmenge der anderen sind, wird das, was die eine erzeugt, auch die andere erzeugen, die die Existenz von mehr Wirkungen verursacht; denn was diese hervorbringt, das bringt jene nicht alles hervor. Folglich ist sie wirkmächtiger und umfassender. Denn so wie sich der Hervorgang zum Hervorgang verhält, so verhält sich das Hervorbringende zum Hervorbringenden, wenn man sie im Verhältnis zueinander nimmt; was aber mehr bewirkt, hat als stärkeres auch universellere Wirkmächtigkeit.47

Offensichtlich hat dieser aktive dŸnamiò-Begriff, der die Kraft einer Ursache meint, mit dem aristotelischen dŸnamiò-Begriff, der reine Potentialität meint, wenig gemeinsam. Allerdings kennt auch Proklos eine passive dŸnamiò.48 Sie meint z. B. die passive Möglichkeit der Materie (Ölh), informiert zu werden. Ganz im Sinne des Aristoteles49 ist dieser dŸnamiò die Aktualität (ýnÍrgeia) vorgängig. Von ihr ist die aktive dŸnamiò, wie sie 47

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E. T. 60,1–10: Pan t˛ pleiünwn aŁtion kre_ ittün ýsti tou pr˛ò ýlÜttona tÌn dŸnamin laxüntoò ka˝ mÍrh parÜgontoò ¼n qÜteron Õlwn ëpostatikün ýstin. _ eù gJr t˛ m˚n ýlattünwn, t˛ d˚ pleiünwn aŁtion, mÍrh d˚ tJ Òtera twn _ _ ÅtÍrwn, é m˚n poie i qÜteron, ka˝ t˛ loip˛n poiÇsei, t˛ twn pleiünwn _ _ ëpostatikün· é d˚ touto parÜgei, toŸtwn ož pÜntwn ýst˝n ýke ino paraktikün. dunatÿteron åra ka˝ perilhptikÿteron· ¼ò gJr t˛ proelq˛n pr˛ò t˛ proelqün, oÖtw t˛ paragag˛n pr˛ò t˛ paragagün, kat\ ållhla lhðqÍnta, t˛ d˚ pleûw dunÜmenon meûzona dŸnamin ñxei ka˝ þlikwtÍran. 48 Von dieser passiven dŸnamiò handelt E. T. 77. 49 cf. Aristoteles, Metaphysica 1049b5: ðaner˛n Õti prüteron ýnÍrgeia dunÜmeÿò ýstin. („Es ist offenbar, daß die Aktualität früher ist als die Potentialität.“).

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

den transzendenten Ursachen eignet, zu unterscheiden.50 Als Wirkmächtigkeit ist sie der ýnÍrgeia vorgängig.51 Der dŸnamiò-Begriff bei Proklos hat also zwei Bedeutungen, die sorgfältig voneinander zu trennen sind.52 5. Gibt es eine höchste Ursache? Die bisherigen Ausführungen deuten auf eine strenge Hierarchie im metaphysischen Gefüge des Proklos hin, denn die Ursache ist der Wirkung vorgängig und es gibt eine Rangordnung zwischen Ursachen. Dies legt die Frage nahe, ob es so etwas wie eine höchste Ursache gibt. Daß dies der Fall ist, führt Proklos in der Propositio 11 seiner Elementatio Theologica aus: Alles Seiende geht aus einer einzigen Ursache hervor, der ersten.53

Eine genaue Untersuchung des Beweises führt auf die Spur proklischer Argumentationsmuster und gibt darüber hinaus tiefer gehenden Einblick in sein aùtûa-Konzept. Zunächst zerlegt Proklos die Alternative des zu beweisenden Satzes, daß nämlich alles aus der ersten Ursache hervorgeht, vollständig: Denn andernfalls gibt es (1) keines Seienden Ursache, oder (2) die Ursachen sind wegen der Begrenzung von allem zirkulär oder (3) der Progreß ins Unendliche und ein anderes ist eines anderen Ursache und die vorgängige Existenz der Ursache wird nirgends aufhören.54

Dann führt Proklos jede der drei sich so ergebenden Möglichkeiten ad absurdum. (1) Der erste Fall, daß kein Seiendes eine Ursache hat, es also keine Ursache des Seienden gibt, widerspricht dem Satz vom zureichenden Grund. 50

Zur Unterscheidung der aktiven von der passiven dŸnamiò cf. E. T. 78 sq. Der aktiven dŸnamiò wiederum ist die ožsûa vorgängig so daß sich für die Metaphysik des Proklos folgender Dreischritt ergibt: ožsûa – (aktive) dŸnamiò – _ _ ýnÍrgeia. Cf. In Alc. 84,9–11: mÍsh gJr ê dŸnamûò ýsti thò te ožsûaò ka˝ thò _ _ ýnergeûaò, proballomÍnh m˚n ÷p˛ thò ožsûaò, ÷pogennwsa d˚ tÌn ýnÍrgeian. („Denn die dŸnamûò ist in der Mitte zwischen der ožsûa und der ýnÍrgeia, weil sie zwar von der ožsûa hervorgebracht wird, aber die ýnÍrgeia erzeugt.“). 52 Diesen Unterschied bringt Proklos in In. Alc. 122,8–10 auf den Punkt: dittÌ _ _ _ gJr ê dŸnamiò, ê m˚n tou poiountoò, ê d˚ tou pÜsxontoò· ka˝ ê m˚n mÇthr _ _ thò ýnergeûaò, ê d˚ ëpodoxÌ thò teleiüthtoò. („Denn ‚dŸnamiò‘ ist zweideutig, einerseits des Aktiven, andererseits des Passiven. Und die eine meint die Mutter der ýnÍrgeia, die andere aber die Möglichkeit, die Vervollkommnung aufzunehmen.“). _ _ 53 E. T. 11,1: PÜnta tJ Ønta prüeisin ÷p˛ miaò aùtûaò, thò prÿthò. _ 54 E. T. 11,2–4: í gJr oždenüò ýstin aùtûa twn Øntwn, í kŸklˆw tJ aŁtia _ peperasmÍnwn twn pÜntwn, í ýp\ åpeiron ê ånodoò ka˝ ållo ållou aŁtion _ _ ka˝ oždamou stÇsetai ê thò aùtûaò prou¤püstasiò. 51

III. Der neuplatonische aitia-Begriff

71

Interessanterweise ist dies aber nicht das Argument, wie es Proklos angibt. Sein Argument läuft wie folgt: Wenn es aber keines Seienden Ursache gibt, wird es keine Ordnung von Zweitrangigem und Erstrangigem, von Vollendendem und Vollendetem, von Ordnendem und Geordnetem, von Erzeugendem und Erzeugtem, von Aktivem und Passiven geben; und es wird keine Wissenschaft von irgendeinem Seienden geben.55

Wenn es keine Ursache des Seienden gäbe, so gäbe es weder Ordnung noch Wissenschaft (ýpistÇmh) des Seienden. Offenbar beruht sein Argument auf der Intelligibilität des Seienden, die Proklos voraussetzt. Sein Begriff von Wissenschaft und der der Ursache hängen auf’s Engste zusammen: Denn die Erforschung der Ursachen ist die Aufgabe der Wissenschaft, und dann sagen wir, daß wir sichere Kenntnis haben, wenn wir die Ursachen des Seienden entdeckt haben.56

(2) Den zweiten Fall, daß Ursachen und Wirkungen in einem zirkulären Verhältnis stehen, führt Proklos folgendermaßen ad absurdum: Wenn die Ursachen aber in einem Kreis herumgehen werden, wird dasselbe früher und später sein, sowohl stärker als auch schwächer: Denn jedes Hervorbringende ist der Natur des Hervorgebrachten überlegen.57

Hier setzt Proklos die Vorgängigkeit der Ursache vor der Wirkung voraus, was im Widerspruch zur Zirkularität zwischen Ursache und Wirkung steht. (3) Bleibt der dritte Fall: der infinite Progreß von Ursachen. Ein infiniter Progreß galt dem antiken Denken als unmöglich. Doch warum? Schon Aristoteles formuliert in seiner Analytica posteriora den Grundsatz der ÷nÜgkh sthnai,58 der Notwendigkeit, stehenzubleiben. Es ist dies ein epistemisches Prinzip, das aber ontologisch gedeutet wird. Auch für Proklos sind Epistême und Ontologie die beiden Seiten derselben Münze, weil er, wie bereits bemerkt, von der Intelligibilität des Seienden ausgeht. Und so ist auch sein Argument gegen den infiniten Progreß in der ontologischen Ordnung eben jenes, daß dann keine Epistême möglich wäre. _

_

55 E. T. 11,5–8: ÷ll\ eù m˚n mhden˛ò eŁh twn Øntwn aùtûa, ojte tÜciò ñstai deutÍrwn ka˝ prÿtwn, teleioŸntwn ka˝ teleioumÍnwn, kosmoŸntwn ka˝ kosmoumÍnwn, gennÿntwn ka˝ gennwmÍnwn, poioŸntwn ka˝ pasxüntwn· ojte _ ýpistÇmh twn Øntwn oždenüò. _ _ 56 E. T. 11,8–10: ê gJr twn aùtûwn gnwsiò ýpistÇmhò ýst˝n ñrgon, ka˝ tüte _ lÍgomen ýpûstasqai Õtan tJ aŁtia gnwrûswmen twn Øntwn. 57 E. T. 11,11–13: eù d˚ kŸklˆw perûeisi tJ aŁtia, tJ ažtJ prütera ñstai ka˝ _ _ Östera, dunatÿterÜ te ka˝ ÷sqenÍstera· pan gJr t˛ parÜgon kre ittün ýsti _ _ thò tou paragomÍnou ðŸsewò. 58 Aristoteles, Analytica Posteriora 81b33.

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Die drei Möglichkeiten (1), (2) und (3) sind ad absurdum geführt. Damit hat Proklos gezeigt, daß es eine hierarchisch geordnete Kausalkette gibt, deren erstes Glied die Ursache von allem ihm Nachrangigen ist. Die Untersuchung dieses Beweises hat einen wichtigen Befund zum Begriff der aùtûa bei Proklos zum Ergebnis: Wie die Abweisung der ersten (1) und dritten (3) Möglichkeit zeigt, ist er eng mit dem Epistême-Begriff verbunden, denn „dann sagen wir, daß wir sichere Kenntnis haben, wenn wir die Ursachen des Seienden entdeckt haben“59. _

Die erste Ursache ist auch das erste Prinzip, ê ÷rxÌ twn pÜntwn. Weil es am höchsten in der metaphysischen Rangordnung steht, hat es umfassendste dŸnamiò. 6. Causa finalis In der bisherigen Darstellung wurde der Begriff der Ursache in der (neu-)platonischen Philosophie vor allem unter dem Gesichtspunkt betrachtet, daß die Ursache ihre Wirkungen hervorbringt, daß sie also Wirkursache ist. Weil die Ursache für das Charakteristikum steht, das der Wirkung eignet, ist sie auch paradigmatische Ursache. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Metaphysik des Proklos ist folgender Punkt, der bisher noch nicht berührt wurde: Jede transzendente Ursache ist auch Finalursache. Weil die Wirkung aus der Ursache stammt, hat sie Sehnsucht (Øreciò60) nach ihr und wendet sich zu ihr zurück.61 So ist die Rückkehr (ýpistroðÇ62) zur Ursache untrennbar mit dem Hervorgang (prüodoò63) aus ihr verbunden. Damit vereinigt die transzendente Ursache, die für eine Menge von Dingen gleichen Charakteristikums verantwortlich ist, die drei Ursachentypen in sich, die Proklos „Ursachen im eigentlichen Sinne“ (tJ kurûwò aŁtia) nennt: die Finalursache, die paradigmatische Ursache und die Wirkursache.64 Von diesen drei Ursachentypen hebt Proklos die Finalursache, die Ursache der Rückkehr in den Grund, als die „allererste, eigentlichste und führendste Ursache“ besonders hervor: _

59 E. T. 11,9 sq.: tüte lÍgomen ýpûstasqai Õtan tJ aŁtia gnwrûswmen twn Øntwn. Cf. supra. 60 E. T. 31,9. 61 cf. E. T. 31–39. 62 E. T. 34,15. 63 E. T. 34,14. 64 cf. In Alc. 169,7 sq: [. . .] ýpeidÌ tJ kurûwò aŁtia ålla eùsû· t˛ telikün, t˛ paradeigmatikün, t˛ poihtikün. („[. . .] da ja die Ursachen im eigentlichen Sinne andere sind: die finale, die paradigmatische und die wirkende.“).

III. Der neuplatonische aitia-Begriff

73

[. . .] weil die allererste, eigentlichste und führendste Ursache die finale ist: Um ihretwillen nämlich wirkt das Wirkende und entsteht das Entstehende.65

7. Die Ordnung der Dinge Es sind die Dinge der transzendenten Welt, die als aùtûai im Mittelpunkt von Proklos’ philosophischen Interesse stehen. Ihre Rangordnungen zu bestimmen ist für ihn im Rahmen seines fein hierarchisch abgestuften philosophischen Systems von eminenter Bedeutung. Für die Bestimmung der Rangordnung zwischen Entitäten verfolgt Proklos zwei verschiedene Argumentationsmuster, die sich durch die bisherigen Überlegungen erklären lassen. Ich will jeweils ein Beispiel geben, um dann zu erklären, worauf die Argumentation basiert. (1) Im Buch D seines Timaioskommtentars argumentiert Proklos, daß die Ewigkeit dem Autozôon, dem Paradigma, nach dem der Demiurg die Welt bildet, vorgängig ist: Daß also die Ewigkeit würdevoller und ursprünglicher und gleichsam beständiger ist als das Autozôon, obgleich es, wie er selbst oben gesagt hat, das Schönste und das Vollendetste der intelligiblen Lebewesen ist, ist allen ganz deutlich: Denn wenn das eine als Partizipierendes sowohl ewig genannt wird als auch ist, von der Ewigkeit aber nicht gesagt worden ist, daß sie am Autozôon teilhat, und sie ihren Namen nicht von diesem erhalten hat, so ist deutlich, daß das eine zweitrangig, das andere aber einfacher und ursprünglicher ist.66

Grundlage seiner Argumentation ist, daß zwischen Partizipierendem und Partizipierten schon immer ein hierarchisches Verhältnis besteht: Aber so wie wir alle sagen, daß das mit Intellekt Begabte und das Beseelte unterhalb von Intellekt und Seele sind, so ist eben auch das Ewige der Ewigkeit nachrangig.67

Diesen Grundsatz formuliert Proklos in seiner Elementatio Theologica: Alles Partizipierende ist geringer als das Partizipierte und das Partizipierte geringer als das Unpartizipierbare.68 65 In Alc. 207,10–12: [. . .] diüti t˛ prÿtiston ka˝ kuriÿtaton aŁtion ka˝ _ _ êgemonikÿtaton t˛ telikün ýsti· toŸtou gJr Òneka ka˝ tJ poiounta poie i ka˝ tJ ginümena gûnetai. 66 In Tim. III.10,8–15: þ toûnun aùšn Õti semnüterüò ýsti ka˝ ÷rxhgikÿteroò _ _ ka˝ o Áon monimÿteroò tou ažtozˆÿou, kaûper Øntoò kallûstou ka˝ teleiotÜ_ _ _ tou twn nohtwn zˆÿwn, ¼ò ažt˛ò ýn to iò prÿtoiò eŁrhke [30 D], pant˝ prüdhlon· eù gJr t˛ m˚n aùÿnion ¼ò metÍxon lÍgetaû te ka˝ ñstin, þ d˚ aùšn ojte _ _ metÍxein eŁrhtai tou ažtozˆÿou ojte ýpwnumûan ÷p\ ažtou katedÍcato, _ dhlon, ¼ò t˛ mÍn ýsti deŸteron, t˛ d˚ ãploŸsteron ka˝ ÷rxhgikÿteron. _ 67 In Tim. III.10, 19–21: ÷ll\ Êsper t˛ ñnnoun ka˝ t˛ ñmyuxon nou ka˝ _ _ yuxhò ýpûtade pÜnteò ðamÍn, oÖtw dÌ ka˝ t˛ aùÿnion aùwnoò deuteron.

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Die Ursache ist dem Verursachten vorgängig: Jede hervorbringende Ursache ist der Natur des Hervorgebrachten überlegen.69

(2) Der andere Fall ist interessanter. An folgender Stelle argumentiert Proklos, daß das Sein dem Leben und dieses dem Intellekt vorgängig ist: Weil aber die Ursache von mehr vorgängig zur Ursache von weniger ist, wird unter jenen das Sein das allererste sein; denn es ist bei allen, bei denen Leben und Intellekt sind (denn alles, was lebt und an Intelligenz teilhat, ist notwendigerweise), aber umgekehrt nicht (denn nicht alles Seiende lebt und denkt). Das Leben aber ist das zweite: Denn alles, was am Intellekt teilhat, hat auch am Leben teil, aber nicht umgekehrt: Denn vieles lebt zwar, bleibt aber ohne Anteil an Einsicht. Der Intellekt aber ist das dritte: Denn alles, das in irgendeinem Maße einsichtsvoll ist, lebt auch und ist.70

Worauf beruht dieses Argument? Zunächst fällt auf, daß Proklos hier logisch argumentiert: Alles, was lebt und am Intellekt teilhat, ist auch, aber nicht alles, was ist, lebt und hat am Intellekt teil. Die Extension des Prädikates „x ist“ ist eine echte Obermenge sowohl des Prädikates „x lebt“ als auch des Prädikates „x hat am Intellekt teil“. Für die beiden Prädikate „x lebt“ und „x hat am Intellekt teil“ gilt: Die Extension des ersteren ist eine echte Obermenge der Extension des letzteren. Daraus schließt Proklos auf die Rangordnung der zugehörigen Ursachen Sein, Leben und Intellekt. Allgemein ausgedrückt: Wenn die Extension des Prädikates A eine echte Obermenge der Extension des Prädikates B ist, so ist die Ursache A0 der Ursache B0 vorgängig.71 Doch warum kann Proklos so argumentieren? Folgende Parallelstelle gibt einen Hinweis: _

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68 E. T. 24: Pan t˛ metÍxon tou metexomÍnou katadeÍsteron, ka˝ t˛ metexü_ menon tou ÷meqÍktou. _ _ _ _ 69 E. T. 7,1 sq.: Pan t˛ paraktik˛n ållou kre ittün ýsti thò tou paragomÍnou ðŸsewò. Dodds folgend übersetze ich t˛ paraktik˛n mit „hervorbringende Ursache“. Zum angesprochenen Grundsatz cf. auch In Parm. 886,41–887,2: ê gJr _ _ _ _ ¼ò ÷lhqwò aùtûa pantaxou twn ÷poteloumÍnwn ýc´Çrhtai pantelwò. („Denn die Ursache im eigentlichen Sinne ist allenthalben über das Hervorgebrachte gänzlich transzendent.“). _ _ 70 E. T. 101,6–13: diüti d˚ prohge_itai t˛ twn pleiünwn aŁtion í t˛ twn _ _ ýlattünwn, ýn ýkeûnoiò t˛ m˚n ïn ñstai prÿtiston· pasi gJr pÜrestin, o Áò _ _ _ zwÌ ka˝ nouò (zwn gJr pan ka˝ noÇsewò metÍxon ñstin ýc ÷nÜgkhò), ožk _ _ _ ñmpalin dÍ (ož gJr tJ Ønta pÜnta z´h ka˝ noe i). deutÍra d˚ ê zwÇ· pasi gÜr, _ _ _ _ o Áò nou mÍtesti, ka˝ zwhò mÍtestin, ožk ñmpalin dÍ· pollJ gJr z´h mÍn, _ _ gnÿsewò d˚ åmoira ÷poleûpetai. trûtoò d˚ þ nouò· pan gJr t˛ gnwstik˛n _ _ þpwsoun ka˝ z´h ka˝ ñstin. 71 Zeller, Die Philosophie der Griechen, Bd. 3.2, S. 851 drückt dies so aus, daß Proklos „das Verhältnis der höheren Ursachen zu den niedrigeren dem der allgemeineren Begriffe zu den besonderen gleichsetzt“.

III. Der neuplatonische aitia-Begriff

75

Welcher von beiden ist nun überlegen, das Leben oder der Intellekt? Aber wenn am Intellekt nur das Einsichtsvolle des Seienden partizipiert, am Leben aber auch solches, das ohne Anteil an Einsicht ist (denn wir sagen auch, daß die Pflanzen leben), ist es sicherlich notwendig, daß das Leben jenseits des Intellekts angeordnet ist, weil es Ursache von mehr ist und die Gaben von ihm auf mehr Entitäten ausstrahlt als der Intellekt.72

Das Leben ist deshalb höherstehender, weil es seine Gaben auf mehr Entitäten ausstrahlen kann. Es ist wirkmächtiger, was mit dem dŸnamiò-Aspekt der Ursache zu tun hat. Dies wird aus der im Abschnitt B. III. 4. (Dynamis) bereits zitierten Stelle deutlich: Alles, was Ursache von mehr Wirkungen ist, ist dem überlegen, das seine Wirkmächtigkeit in Relation zu weniger Dingen hat und das eine Teilmenge der Dinge hervorbringt, deren Existenz das andere als ganze verursacht.73

Was die stärkere Ursache als Ganzes zu konstituieren vermag, davon bringt die schwächere Ursache nur einen Teil hervor, weil ihre dŸnamiò geringer ist. Je höher eine Entität im metaphysischen Gefüge steht, desto umfassender ist ihre dŸnamiò. Dies wird durch die Inklusionsverhältnisse der jeweiligen Extensionen der Prädikate gespiegelt: Denn die Wirkmächtigkeiten der höheren und universelleren Dinge erstrecken sich weiter als die der geringeren, und dies sehen wir auch ganz deutlich bei den Genera der Dinge hier; denn die universelleren werden von mehr Dingen ausgesagt, weil sie den Rang der vorgängig wirksamen und demiurgischen Genera nachahmen.74

Deshalb kann Proklos die Frage der Rangordnung zwischen metaphysischen Entitäten auf der logischen Ebene (logikwò75) angehen. In seinem Parmenideskommentar argumentiert er wie folgt: _

Ist nicht das für alle klar, daß, wann immer es eine Hypothese in einem Syllogismus gibt, die aus der Aufhebung der Voraussetzung die Aufhebung der Folgerung sicher macht, die Voraussetzung umfassender ist? Wie zum Beispiel bei dieser: „wenn nicht Sinnenwesen, so nicht Mensch; nun aber nicht Sinnenwesen, auch nicht Mensch“; folglich ist „Sinnenwesen“ umfassender als „Mensch“. Denn wie sonst könnte das Aufgehobene das Andere zugleich nichtig machen, wenn es nicht umfassendere Wirkmächtigkeit hätte?76

Gegeben sind die beiden Prädikate „x ist ein Sinnenwesen“ (kurz A) und „x ist ein Mensch“, (kurz M). Für die zugehörigen Extensionen A und M gilt: A É M (A ist echte Obermenge von M). In der Sprache der Prädikatenlogik stellt sich dieser Zusammenhang wie folgt dar: "x[M(x) fiA(x)], was äquivalent mit "x[éM(x) fiéA(x)] ist. Wird das Prädikat A verneint, so muß mit ihm das Prädikat M verneint werden, so daß das Prädikat A umfassender ist. In der Philosophie des Proklos ist damit auch die Ursache umfassender, die für dieses Prädikat verantwortlich ist, und das ist die zugehörige Idee. Sie hat die umfassendere Wirkmächtigkeit (dŸnamin kaqolikwtÍran). Am meisten dŸnamiò hat das erste Prinzip, weil es alles hervorbringt. Der Grad an dŸnamiò einer Entität ist relativ zum ersten Prinzip: Also haben die Dinge, die dem Prinzip näher sind, ihre Vielheit zwar zusammengezogen, ihre Wirkmächtigkeit aber ausgedehnter als die weiter entfernten.77

Ideen im besonderen und Ursachen im allgemeinen erfüllen in Proklos’ System zwei Funktionen, die über das Konzept der dŸnamiò zusammenhängen: Zum einen sind sie ontogenerisch für die Existenz ihrer Instanzen verantwortlich, zum anderen sind sie entsprechend ihrem Grad an dŸnamiò für das logische Verhältnis der Instanzen zueinander verantwortlich.

IV. Das Eine Die erste und höchste Ursache, die zugleich das erste Prinzip ist, muß als dasjenige vorgestellt werden, was für das allgemeinste Prädikat verantwortlich ist. Mittels des allgemeinsten Prädikates können wir spekulativ etwas über das erste Prinzip herausfinden. Dazu soll zunächst (B. IV. 1.) geklärt werden, was das allgemeinste Prädikat ist. Wie sich zeigen wird, ist dies das Prädikat „x ist eines“. Der zweite (B. IV. 2.) und der dritte (B. IV. 3.) Abschnitt befassen sich mit Status und Benennung des ersten Prinzips. Der 76

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In Parm. 1098,5–13: Ožkoun touto pasûn ýsti kataðan˚ò ¼ò Õtan ´þ _ _ _ ÷naûresin tou ÅpomÍnou sunhmmÍnon ýk thò ÷nairÍsewò tou êgoumÍnou tÌn _ _ _ pistoŸmenon, kaqolikÿterün ýsti t˛ êgoumÍnon; o Áon ýn tˆw, eù mÌ zwon, ožx˝ _ _ _ ånqrwpoò· ÷llJ mÌn ož zwon, ožd˚ ånqrwpoò· åra t˛ zwon tou ÷nqrÿpou _ kaqolikÿteron. Ka˝ pwò gJr ållwò ÷naireq˚n sunanairoûh qÜteron, eù mÌ dŸnamin ñxei kaqolikwtÍran. _ _ _ 77 In Parm. 890, 31–34: TJ åra thò ÷rxhò ýggutÍrw t˛ m˚n plhqoò ñxei _ sunestalmÍnon, dŸnamin d˚ ëperhplwmÍnhn twn poÞÞwtÍrw. Cf. auch E. T. 61 und E. T. 62.

IV. Das Eine

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darauf folgende Abschnitt (B. IV. 4.) geht der Frage nach, wie das erste Prinzip alles ihm Nachrangige erzeugt. 1. Das allgemeinste Prädikat Die erste Ursache ist das, woran alles partizipiert: Denn es ist wohl notwendig, daß dasjenige die Ursache alles Seienden ist, woran alles Seiende partizipiert.78

Das, woran alles partizipiert, ist für die allgemeinste Eigenschaft verantwortlich. Was aber ist die allgemeinste Eigenschaft? Was wird von allem ausgesagt? Es ist das Prädikat „x ist eines“: Was nun ist wohl das, das überall ist und von allem partizipiert wird? Es ist also jedes einzelne des Seienden zu prüfen, was all diese erfahren haben und was nur immer in all diesen gemeinsam ist; [. . .] und überhaupt ist es nicht irgendwie möglich von allem anders zu sprechen, als daß alles und jedes einzelne eines ist.79

Eines zu sein ist eine Eigenschaft, die Grade zuläßt.80 Selbst der Vielheit, die ja diametral zur Einheit steht, kommt das Prädikat „x ist eines“, wenn auch in einem sehr schwachem Grade, noch zu. Die Vielheit ist also vom Einen abhängig, nicht aber umgekehrt. Dies führt Proklos in der ersten Propositio seiner Elementatio Theologica aus: Jede Vielheit hat irgendwie am Einen teil.81

Teilhabe bedeutet, daß dem Partizipierenden die Eigenschaft, für die das Partizipierte verantwortlich ist, zukommt.82 Daß jede Vielheit irgendwie am Einen teilhat, heißt also, daß sie irgendwie eines ist. Im folgenden werde ich den Beweis dieser Propositio detailliert untersuchen. Dies soll dabei helfen, mit dem proklischen Denken vertrauter zu werden, denn eine solche Untersuchung gibt Aufschluß über die ausgesprochenen und unausgesprochenen Voraussetzungen, die Proklos in seinem Be78

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Theol. Plat. II(3).23,15–17: \AnÜgkh gÜr pou touto e ùnai twn Øntwn _ Ønta. ãpÜntwn aŁtion oë pÜnta metÍxei tJ _ _ 79 Theol. Plat. II(2).25,7–13: Tû ožn ºn eŁh t˛ pantaxou ka˝ ëp˛ pÜntwn _ _ metexümenon; SkeptÍon dÌ twn Øntwn Òkaston tû pÍponqen Ñpanta tauta _ ka˝ tû potÍ ýstin ýn Ñpasin ažto iò koinün· [. . .] ka˝ Õlwò Ñpanta mÇ p´h dunat˛n ållwò lÍgein í ¼ò Ùn pÜnta ka˝ Òkaston. 80 Das Prädikat „eines“ kann stärker oder schwächer realisiert sein: Es kommt einem Schaf in stärkerem Maße zu als einer Herde Schafe, weil das Schaf als lebendiger Organismus bei seiner Teilung sein Wesen als Schaf verlöre, eine (hinreichend große) Herde ihr Wesen als Herde jedoch nicht (cf. Plotin, Enn. VI. 9). _ _ _ 81 E. T. 1,1: Pan plhqoò metÍxei p´h tou Ånüò. 82 cf. B. II. 3. sowie B. III. 3.

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

weis macht. Das Hauptaugenmerk liegt dabei darauf, unter welchen Voraussetzungen die Argumentation funktioniert. Dadurch unterscheidet sich diese Herangehensweise von der Hathaways,83 der vornehmlich fragt, ob der Beweis funktioniert, und zu dem Schluß kommt, daß er ungültig ist. Hathaways Herangehensweise ist problematisch, denn sie ist anachronistisch: Er nähert sich dem Beweis mit moderner Begrifflichkeit, genauer gesagt, mit einem modernen Unendlichkeitsbegriff.84 Ich hingegen möchte herausfinden, welche Voraussetzungen getroffen werden müssen, damit die Argumentation funktioniert. So wird der geistige Hintergrund, vor dem Proklos sein Denken aufspannt, klarer. Doch zunächst der Text, den ich entsprechend der folgenden Analyse gliedere: Vielheit hat irgendwie am Einen teil.85 Denn wenn sie in keiner Weise teilhaben sollte,86 dann wird weder die ganze Vielheit eines sein,87 noch jedes einzelne der vielen, aus denen die Vielheit ,88 sondern es wird auch jedes einzelne jener eine Vielheit sein,89 und dies bis ins Unendliche,90 und jedes einzelne dieser Unendlichen wird wieder eine unendliche Vielheit sein.91 (1f) Eine Vielheit allerdings, die in keiner Weise an Einem teilhat, weder bezüglich sich als Ganzem noch bezüglich jedes einzelnen von denen, die in ihr sind, wird in jeder Beziehung und in bezug auf jedes unendlich sein.92 (2) (2a) Denn jedes einzelne der vielen, welches immer Du nimmst,93 (2b) wird entweder sicherlich eines sein94 (2c) oder nicht eines;95 Jede (1) (1a) (1b) (1c) (1d) (1e)

83

Hathaway, S. 122–136. Hathaway, S. 131. _ _ _ 85 E. T. 1,1: Pan plhqoò metÍxei p´h tou Ånüò. _ 86 E. T. 1,2: eù gJr mhdam´h metÍxoi. 87 E. T. 1,2: ojte t˛ Õlon Ùn ñstai. _ _ _ _ 88 E. T. 1,2 sq.: ojq\ Òkaston twn pollwn ýc ¼n t˛ plhqoò. _ 89 E. T. 1,3: ÷ll\ ñstai ka˝ ýkeûnwn Òkaston plhqoò. _ 90 E. T. 1,4: ka˝ touto eùò åpeiron. _ _ 91 E. T. 1,4 sq.: ka˝ twn ÷peûrwn toŸtwn Òkaston ñstai pÜlin plhqoò åpeiron. _ 92 E. T. 1,5–7: mhden˛ò gJr Ån˛ò mhdam´h metÍxon mÇte kaq\ Õlon Åaut˛ _ _ _ mÇte kaq\ Òkaston twn ýn ažtˆw, pÜnt´h åpeiron ñstai ka˝ katJ pan. _ _ 93 E. T. 1,7 sq.: twn gJr pollwn Òkaston, Õper ºn lÜb´hò. 94 E. T. 1,8: çtoi Ùn ñstai. 95 E. T. 1,8: í ožx Òn. 84

IV. Das Eine

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und wenn nicht eines,96 entweder sicherlich vieles97 oder nichts.98 Wenn aber jedes einzelne nichts ist, so ist auch das aus diesen , nichts;99 (2h) wenn aber vieles, wird jedes einzelne aus unendlich mal Unendlichem .100 (2i) Dies ist aber unmöglich.101 (2j) Denn weder besteht irgend etwas des Seienden aus unendlich mal Unendlichem102 (2k) (es gibt nämlich nichts, das mehr wäre als das Unendliche,103 (2l) das aber aus allem ist mehr als jedes einzelne),104 (2m) noch ist es möglich, daß sich etwas aus dem Nichts zusammensetzt.105 Jede Vielheit hat also irgendwie am Einen teil.106 (2d) (2e) (2f) (2g)

Der Beweis besteht aus zwei Teilen. Der erste (1) funktioniert als reductio ad absurdum: Das Gegenteil des zu beweisenden Satzes wird vorausgesetzt und ad absurdum geführt. Der zweite Teil (2) funktioniert als Ausschlußverfahren. Beide Teile greifen auf ein Grundaxiom antiken Denkens zurück: das Verbot des infiniten Regresses. Im ersten Teil setzt Proklos das Gegenteil des zu beweisenden Satzes voraus (1) und führt zunächst eine vollständige Zerlegung dessen durch, was es heißt, daß eine Vielheit nicht am Einen teilhat: (1a) und (1b). Eine Vielheit ist also ein Ganzes, das sich aus (ýc) Komponenten zusammensetzt. Daß einer Vielheit genau dann das fragliche Prädikat „x ist eines“ nicht zukommt, wenn es weder dem Ganzen noch den Komponenten zukommt, ist ein nicht weiter hinterfragtes Postulat in Proklos’ Beweis. Aus (1b) folgt (1c): Jede der Komponenten wäre eine Vielheit. Daraus aber ergibt sich eine unendliche iterative Operation (1d). Das Argument endet in einem infiniten Regreß (1e). Weil ein infiniter Regreß aber nicht statthaft ist, muß das Gegenteil der Voraussetzung wahr sein: Jede Vielheit hat irgendwie am Einen teil. 96

E. T. 1,8: ka˝ eù ožx Òn. E. T. 1,8: çtoi pollJ. 98 E. T. 1,8 sq.: í oždÍn. 99 E. T. 1,9: ÷ll\ eù m˚n Òkaston oždÍn, ka˝ t˛ ýk toŸtwn oždÍn. 100 E. T. 1,9 sq.: eù d˚ pollÜ, ýc ÷peirÜkiò ÷peûrwn Òkaston. _ 101 E. T. 1,10: tauta d˚ ÷dŸnata. _ 102 E. T. 1,11: ojte gJr ýc ÷peirÜkiò ÷peûrwn ýstû ti twn Øntwn. _ 103 E. T. 1,11 sq.: (tou gJr ÷peûrou plÍon ožk ñsti. 104 E. T. 1,12: t˛ d˚ ýk pÜntwn ÅkÜstou plÍon). _ 105 E. T. 1,12 sq.: ojte ýk tou mhden˛ò suntûqesqaû ti dunatün. _ _ _ 106 E. T. 1,13 sq.: pan åra plhqoò metÍxei p´h tou Ånüò. 97

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

(1f) lese ich im Gegensatz zu Hathaway nicht als Definition oder Axiom,107 sondern als bestärkende Zusammenfassung des bisher Gesagten. Das zweite Argument widmet sich einer beliebigen Komponente der Vielheit: Sie ist eines (2b) oder nicht eines (2c) (vollständige logische Zerlegung). Der Fall, daß eine jede Komponente der Vielheit nicht eines ist (2c), wird in zwei Alternativen zerlegt: Sie ist entweder vieles (2e) oder nichts (2f). (2f) wird für den Fall, daß alle Komponenten nichts sind, ad absurdum geführt: Dann wäre auch das Ganze nichts (2g).108 Daß das unmöglich ist (2i), wird in (2m) noch einmal mit anderen Worten wiederholt. (2f) scheidet also aus. Für den Fall, daß eine beliebige Komponente der Vielheit nicht eines ist (2c), bleibt die Alternative (2e) übrig, die aber zu einem infiniten Regreß führt: Die Vielheit der Komponente bestünde dann wieder aus vielen Komponenten usf. Sie wäre dann aus unendlich mal Unendlichem (ýc ÷peirÜkiò ÷peûrwn) zusammengesetzt (2h). Daß das unmöglich ist (2i), wird in (2j) noch einmal wiederholt und durch (2k) und (2l) zusätzlich untermauert. Die beiden Möglichkeiten, daß eine beliebige Komponente der Vielheit nicht eines ist ((2e) und (2f)), sind damit ausgeschlossen. Übrig bleibt (2b): Eine jede Komponente der Vielheit ist eines. Der Beweis ist redundant: Er besteht aus zwei Teilen, wovon der erste für die zu beweisende Behauptung schon hinreichend wäre. Auch der zweite Teil des Beweises, der zudem gar nicht notwendig ist, ist redundant. Er könnte schon mit (2i) beendet sein, denn ein infiniter Regreß galt dem antiken Denken als unmöglich, weil dadurch nichts erklärt wird. (2j) bis (2m) liefern zusätzliche Hinweise für (2i), warum also (2g) und (2h) unmöglich sind. (2m) bezieht sich auf (2g), (2j) auf (2h). Daß es nichts geben kann, was aus unendlich mal Unendlichem besteht (2j), untermauert Proklos mit (2k) und (2l). Hathaway kommt zu dem Schluß, daß der Beweis ungültig ist.109 Er liest den Beweis nicht als aus zwei Teilen bestehend, sondern als ein Ganzes: 107

Hathaway, S. 128 zerlegt (1f) in zwei Sätze. Vom ersten („A multitude partakes of unity either with respect to the whole multitude or with respect to each of the things in it“) schreibt er, er habe „the ring of a definition . . . or an axiom“. Doch in Wirklichkeit wiederholt Proklos nur das bereits in (1a) und (1b) Gesagte. 108 Daß dieser intuitiv korrekte Schluß nicht so allumfassend gültig ist, wie man im ersten Moment vielleicht glauben möchte, darauf weist Hathaway, S. 129 hin. Für die Nullmenge gilt er nicht. Sie setzt sich aus nichts zusammen. 109 Hathaway, S. 131: „Proclus’ first proof is invalid.“

IV. Das Eine

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(1f) ist für ihn keine wiederholende Zusammenfassung des bisher Gesagten, sondern ein Axiom, das durch (2) gestützt wird. (2k) und (2l) liest er als Kernstück des Beweises und kommt so zu dem Befund: „the logical faults in Proclus’ proof are concentrated here.“110 Nach meiner Analyse jedoch ist der Beweis von Propositio 1 zutiefst redundant, so daß der von Hathaway festgestellte Mangel keinen Stützpfeiler des Beweises trifft. Und doch ist es interessant, sich (2k) und (2l), mit denen Proklos (2j) zu untermauern sucht, genauer anzusehen, weil dies weiteren Aufschluß über Proklos’ Denken gibt: Hinter (2l) steht der Satz, daß die Summe mehr ist als eines seiner Teile, ein Satz, den wir wohl auch aus heutiger Sicht akzeptieren würden. (2k) setzt einen bemerkenswerten Unendlichkeitsbegriff voraus: „denn es gibt nichts, das mehr wäre als das Unendliche“. Dies gilt aus Sicht der modernen Mathematik freilich nicht und auch für Proklos gilt es nicht allumfassend. In der 95. Propositio seiner Elementatio Theologica schreibt er: Jede Wirkmächtigkeit, die einfacher ist, ist unendlicher als die Wirkmächtigkeit, die sich vermehrt.111

Wenn es um Wirkmächtigkeit geht, gibt es offensichtlich auch bei Proklos eine Steigerung von unendlich.112 Offenbar bezieht sich (2k) auf abzählbare Entitäten. Nach der vorgestellten Analyse ist der Beweis gültig. Seine Argumentation basiert auf folgenden Voraussetzungen: (1) Eine Vielheit ist ein Ganzes, das aus Teilen besteht. (2) Ein Prädikat kommt dieser Vielheit zu, wenn sie ihr entweder als Ganzem oder einem seiner Teile zukommt. (3) Ein infiniter Regreß ist unmöglich. (4) Ein Ganzes ist mehr als seine Komponenten. (5) Soweit es sich um abzählbare Entitäten handelt, gibt es nichts, das mehr wäre als das Unendliche. (4) und (5) kommen, wie dargelegt, in einem Zusatz vor, der für den Beweis nicht wirklich nötig ist. 110 111

Hathaway, S. 130. _ _ _ E. T. 95,1 sq: Pasa dŸnamiò ÅnikwtÍra ožsa thò plhqunomÍnhò ÷peiro-

tÍra. 112

_

c. f. auch_ E. T. 93,14–16: ÷peirüterai gJr aÁ twn þlikwtÍrwn dunÜmeiò, _ þlikÿterai ožsai ka˝ ýggutÍrw tetagmÍnai thò prwtûsthò ÷peirûaò. („Denn die Wirkmächtigkeiten der universelleren Entitäten sind unendlicher, weil sie selbst universeller und näher zur allerersten Unendlichkeit angeordnet sind.“).

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Auf die Begründung für (3) wurde schon bei der Analyse des Beweises der elften Propositio113 eingegangen: Das antike Denken hielt sich an den Grundsatz der ÷nÜgkh sthnai114, der Notwendigkeit, stehenzubleiben. Dadurch wird jegliches unendliche Pro- oder Regredieren unmöglich. Dahinter steht, wie gezeigt wurde, die Auffassung der grundsätzlichen Intelligibilität alles Seienden: Epistême und Ontologie sind untrennbar verbunden. _

In der Propositio 1 beweist Proklos, daß „x ist eines“ das allgemeinste Prädikat ist. In der hierarchischen Metaphysik des Proklos hat dasjenige, das für dieses Prädikat verantwortlich ist, den höchsten Rang. 2. Das Überseiende Eine Was nun ist dasjenige, welches für das Prädikat „x ist eines“ verantwortlich ist? Wie dürfen wir es benennen? Das Schöne selbst verleiht allen Dingen, die schön sind, dieses Attribut.115 In Analogie dazu ist es das Eine selbst (ažt˛ t˛ Ùn116 bzw. t˛ ažto˚n117), das allen Dingen, die eines sind, dieses Attribut verleiht. Dies aber ist gänzlich alles. In übersteigerter Weise bringt Proklos dies mit der Bemerkung zum Ausdruck, daß ohne das Eine selbst sogar das Nichts ganz und gar nichts wäre.118 Was aber hat das Eine selbst für einen Status? Ist es wie das Schöne selbst eine Idee? Ist es ein Seiendes? Doch das seiende Eine begreift auch Vielheit in sich. Einheit kommt ihm als Attribut zu, so daß sich die Frage nach dem Woher dieses Attributs stellt. Solange man im Bereich des Seins bleibt, gerät man in einen infiniten Progreß: 113

cf. B. III. 5. Aristoteles, Analytica Posteriora 81b33. _ _ _ 115 cf. In Parm. 1121, 18–21: ka˝ gJr ê twn kalwn ÷p˛ tou ažtokÜllouò, _ _ _ _ _ ka˝ ê twn ùsotÇtwn ÷p˛ thò prÿthò ùsüthtoò, ka˝ ê twn ÷peiriwn ÷p˛ thò ažtoapeirûaò. („[. . .] Denn nicht nur die der schönen Dinge vom Schönen selbst und die der Gleichheiten von der ersten Gleichheit, sondern auch die der unendlichen Dinge von der Grenzelosigkeit (Unendlichkeit) _ _ selbst.“) sowie Theol. Plat. V(14).47,22–27: De i gJr [. . .] ¼ò tJ kalJ pÜnta _tou _ _ _ _ ažtokÜllouò, [. . .] oÖtw ka˝ t˛ plhqoò twn dhmiourgwn ýk miaò e ùnai dhmiourgûaò ka˝ per˝ mûan ëðestÜnai dhmiourgikÌn monÜda. („Denn es muß, [. . .] wie alles Schöne vom Schönen selbst [. . .], so auch die Vielheit der Demiurgen aus einer Schöpfung sein und relativ zu einer demiurgischen Monade existieren.“). 116 Z. B. In Parm. 728,29. 117 Z. B. E. T. 4. _ _ 118 Theol. Plat. II(3).25,20–22: t˛ d˚ mhd˚n ka˝ ažtou tou Ån˛ò ÷poleipümenon ožd˚n ºn eŁh t˛ parÜpan. („Wenn aber das Nichts auch vom Einen selbst verlassen würde, wäre es gänzlich nichts.“). 114

IV. Das Eine

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Denn wenn also auch in ihm eine Vielheit ist, wird es ein Geeinigtes sein und nicht Eines schlechthin; denn vor dem Geeinigten ist das Einigende, wie eben auch vor dem, das geprägt wird, das Prägende ist; es gibt folglich etwas, das sogar dem Einen, welches das Erste ist, vorgängig ist, was unmöglich ist. Und wenn jenes wiederum eine Vielheit hat, werden wir ein anderes ihm vorgängiges suchen, und uns entweder bis ins Unendliche fortbewegen oder das einzig Eine finden und sagen, daß dieses ganz und gar einzige Ursache ist.119

Doch was ist jenes „einzig Eine“? Im Bereich des Seins ist es nicht zu suchen, weil diese Suche, wie bereits gesagt, zu einem infiniten Progreß führt. Ist es also nicht-seiend? In gewissem Sinne ja, und hier geraten wir an den Nerv proklischer Metaphysik: In seiner Philosophie der Transzendenz hat die Negation zwei Bedeutungen: Doch im zweiten Fall sind die Negationen Privationen, im ersten Fall aber die transzendenten Ursachen aller hervorgebrachten Dinge.120

So hat auch „nicht seiend“ zwei Bedeutungen. Die eine Bedeutung ist die gewöhnliche: „nicht seiend“ als „vom Sein depriviert“. Die andere Bedeutung, die auf das Eine zutrifft, ist „nicht seiend“ im Sinne von „dem Sein vorgängig“:121 „Vor dem Sein also ist das Eine.“122 Das Sein ist auf das Eine angewiesen, nicht aber umgekehrt: Denn daß das Eine nicht am Sein teilhat, ist möglich, daß aber das Sein nicht am Einen teilhat, ist unmöglich; es ist nämlich möglich, daß das Nicht-Sein überragt: Das Eine ist nämlich von der Art.123

Das Eine, welches dem Sein vorangeht, gibt es zwar, wenngleich es nicht „ist“:124 Es ist überseiend. Im Sinne eines Eigennamens soll im weiteren Text vom Überseienden Einen die Rede sein. _

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119 In Parm. 1093,5–13: Eù gJr dÇ ti ka˝ ñstin ýn ažtˆw plhqoò, ênwmÍnon _ _ _ ñstai ka˝ ožx Ùn ãplwò· pr˛ d˚ tou ênwmÍnou t˛ Ånoun ýstin, Êsper dÌ ka˝ _ _ _ pr˛ tou eùdopoioumÍnou t˛ eùdopoioun· ñstin åra ti ka˝ tou Ån˛ò ýpÍkeina _ _ _ prÿtou Øntoò, Õper ÷dŸnaton. Ka˝ ýJn ýke ino pÜlin ñx´h plhqoò, pr˛ ažtou zhtÇsomen Òteron, ka˝ í ýp\ åpeiron xwrÇsomen, í t˛ münwò Ùn eërünteò _ _ ýke ino ðÇsomen e ùnai pÜntwò münon aŁtion. _ _ 120 Theol. Plat. I(12).57,21 sq.: \All\ oë m˚n aÁ ÷poðÜseiò sterÇseiò eùsûn, oë _ d˚ aùtûai twn genomÍnwn ãpÜntwn ýc´hrhmÍnai. 121 Nach Merlan, S. 409 gilt dies für den Neuplatonismus überhaupt: „Neoplatonism teaches a deity [. . .] transcending the universe, so that it can be called beyond being or even non-being in the sense of ‚higher than being‘.“ Dies ist jedoch nicht ganz richtig, denn Porphyrios setzt das Eine als das absolute Sein vor dem Seienden an. Cf. Halfwassen, Das Eine als Einheit und Dreiheit, S. 57 sq. _ 122 Theol. Plat. III(2).22,2 sq.: Pr˛ thò ožsûaò åra t˛ Òn._ _ 123 In Parm. 1094,6–9: T˛ m˚n gJr Ùn mÌ metÍxein tou e ùnai dunat˛n, t˛ d˚ _ _ e ùnai mÌ metÍxein tou Ån˛ò ÷dŸnaton· ka˝ gJr t˛ m˚n mÌ ïn dunat˛n ëperÍ_ xein· toiouton gJr t˛ Òn. 124 cf. De Rijk, S. 11: „The One itself exists but is not (‚being‘ indeed is something inferior to Oneness and Existence [. . .]) it is ‚beyond Being‘ (ëperoŸsion).“

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Proklos verwendet im zitierten Text für die dem Sein vorgängige Existenz das Verb ëperÍxein (das Sein überragen), häufiger jedoch ist der Terminus ëpÜrxein125. Das Konzept von Vorgängigkeit, das hinter dem Terminus ëperÍxein steht, ist logisch interessant, weil es den Rahmen einer zweiwertigen Logik übersteigt. Dies legt die Vermutung nahe, diesem Konzept sei womöglich mit einer dreiwertigen Logik beizukommen, indem man neben den beiden üblichen Wahrheitswerten wahr und falsch einen dritten Wahrheitswert „dem Prädikat vorgängig“ einführt. In Abschnitt D. II. 2. werden wir einen ähnlichen Vorschlag vorstellen, Graham Priests „Logic of Paradox“,126 die versucht, durch die Einführung eines dritten Wahrheitswertes innerhalb des prädikatenlogischen Paradigmas mit Paradoxa umzugehen. Daß die Einführung eines dritten Wahrheitswertes dem Konzept der Vorgängigkeit nicht gerecht werden kann, wird aus einer einfachen Überlegung deutlich: Für Wahrheitswerte ist es wesentlich, daß sie miteinander verrechnet werden können, und dem steht das Konzept der Vorgängigkeit entgegen, denn was dem Prädikat vorgängig ist, kann wegen dieser Vorgängigkeit nicht innerhalb der prädikativen Strukturen, die es begründet, verrechnet werden. Das vorgängige Dritte, das wahr und falsch erst ermöglicht, in die prädikative Struktur zu zwingen, deren Möglichkeitsgrund es ist, und die so entstandene Aussage mit einem dritten Wahrheitswert zu belegen, hieße, diesen Umstand zu verkennen.127 Claudia Bick125 In seiner sehr hilfreichen Studie KINHSIS AKINHTOS untersucht Gersh, S. 30–38 drei Fachtermini in der Philosophie des Proklos, die alle drei mit dem englischen Begriff „existence“ wiedergegeben werden können. Dabei arbeitet er den Unterschied zwischen „sein“ und „dem Sein vorgängigen existieren“ deutlich heraus. Die drei von ihm untersuchten Termini sind ëpüstasiò, Öparciò und ožsûa. Zum Terminus ëpüstasiò ist in unserem Zusammenhang wichtig, daß es sich dabei um etwas Verursachtes handelt: „Its use is, however, not absolutely universal, since Proclus seems to take into account the etymological connection with the verb ëðistÜnai which means to ‚cause‘. The substantival form naturally conveys a strictly passive significance, and so a ëpüstasiò is something which has been caused by something else.“ (ibid., S. 31). So kann der Terminus ëpüstasiò auf nichts jenseits des Seins angewendet werden, insbesondere nicht auf das Überseiende Eine, wodurch er sich vom Terminus Öparciò unterscheidet. Ein wichtiger Aspekt des Terminus Öparciò ist die Einheit, weshalb er auf Götter zutrifft: „It is, in fact, the standard term used throughout Proclus’ writings for the existence of the gods. The gods are also unities (ÅnÜdeò), and since the One is the supreme unity, the term is also applicable to it, Proclus often speaking in mystical language of the årrhtüò Öparciò.“ (ibid., S. 35). Ožsûa bezieht sich natürlicherweise auf nichts Überseiendes, kommt also unter diesem Aspekt dem Terminus ëpüstasiò sehr nahe: „The term naturally cannot apply above the level of Being itself, and higher entities such as gods are termed ëperoŸsioi.“ (ibid., S. 37). Die wichtigen Unterschiede, die Gersh zwischen ëpüstasiò und ožsûa herausarbeitet, brauchen uns in diesem Zusammenhang nicht zu interessieren. 126 cf. Priest.

IV. Das Eine

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mann spricht daher in ihrer am Neuplatonismus orientierten Deutung Platons vom ersten Prinzip als dem „prä-prädikativen, nur als Evidenz zugänglichen Einheitsgrund“.128 Die neuplatonische Philosophie basiert auf einer Logik der Transzendenz, auf die im Rahmen der Frage nach der Selbstprädikation von Ideen eingegangen werden wird.129 3. Das erste Prinzip a) arrêton kai agnôston Als erste Ursache ist das Überseiende Eine Prinzip von Allem.130 Proklos legt großen Wert darauf, daß dieses Prinzip mit dem ihm Nachgeordneten nicht verrechnet werden kann. Es ist allem vorgängig, transzendent und unpartizipierbar. Es entzieht sich sowohl der Sprache als auch der Erkenntnis,131 so daß Schweigen132 die eigentlich angemessene Art der Näherung wäre: Denn es ist weder möglich, dieses zu erkennen, weil es unkenntlich ist, noch, es auszulegen, weil es nicht eingegrenzt ist, sondern als was immer Du es benennst, wirst Du es zwar als etwas benennen und über es sprechen, es selbst aber wirst Du nicht aussprechen: Denn während wir über das sprechen, dessen Ursache es ist, sind wir unfähig zu sagen oder durch intellektuelle Anschauung zu erfassen, welches Etwas es denn nur ist.133 127 cf. Halfwassen, Hegel, S. 424: „[. . .] die negative Transzendenzbehauptung befindet sich nicht auf einer Ebene mit positiven oder negativen kategorialen Aussagen, sondern sie hebt den Horizont, in dem kategoriale Aussagen allein möglich sind, insgesamt auf.“ 128 Bickmann, S. 42. (Hervorhebung: Bickmann). 129 cf. C. VI. 2. _ 130 Theol. Plat. II(4).31,1–3: ˜Oti m˚n ožn t˛ Ùn ÷rxÌ pÜntwn ka˝ aùtûa _ _ prÿth ka˝ Õti pÜnta tJ ålla tou Ån˛ò deŸtera, diJ toŸtwn o ùmai gegonÍnai kataðanÍò. („Daß nun das Eine das Prinzip von allem und die erste Ursache ist, und daß alles andere dem Einen nachrangig ist, das ist – so glaube ich – durch dieses deutlich geworden.“). _ _ 131 cf. Theol. Plat. III(7).29,10–13: ¢ApÜntwn dÌ twn Øntwn ka˝ ažtwn _ _ twn tJ Ønta paragüntwn qewn mûa ka˝ ýc´hrhmÍnh ka˝ ÷mÍqektoò aùtûa prou¤ðÍsthken, årrhtoò m˚n pant˝ lügˆw ka˝ åðrastoò, ågnwstoò d˚ pÜs´h gnÿsei ka˝ ålhptoò. („Vorgängig zu allem Seienden also und zu den Göttern selbst, die das Seiende hervorbringen, existiert eine einzige, transzendente und unteilhabbare Ursache, durch jedes Wort unsagbar und unaussprechbar, jeder Erkenntnis unkenntlich und unbegreiflich.“). _ _ _ 132 cf. Theol. Plat. III(7).30,7 sq.: aÖth m˚n êm_in sig´h ka˝ t´h pr˛ sighò Ånÿsei timÜsqw. („Diese soll von uns durch Schweigen und die dem Schweigen vorgängige Einung verehrt werden.“). _ 133 Theol. Plat. II (8).55,22–26: ojte gJr nohsai taŸthn ¼ò ågnwston ojte _ _ ÷ðermhneusai dunat˛n ¼ò ÷perûgraðon, ÷ll\ Õper ºn eŁp´hò, t˝ ýre iò ka˝

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Als Überseiendes kann das erste Prinzip nicht dingfest gemacht werden: Es ist kein „Etwas“, das sprachlich oder intellektuell erfaßt werden könnte. Dadurch gerät Proklos’ Philosophie in ein Spannungsfeld, über etwas zu sprechen, das jenseits der Sprache liegt. Alle Namen sind unvollkommener Behelf. b) to hen kai tagathon Zwei Namen für das erste Prinzip hebt Proklos indes im Gefolge Platons besonders hervor: „das Eine“ und „das Gute“.134 Sie leiten sich aus nachgeordneten Entitäten ab.135 Die Bezeichnung „das Eine“ stammt, wie gezeigt wurde, daher, daß „x ist eines“ das allgemeinste Prädikat ist. Die Bezeichnung „das Gute“ hat das erste Prinzip, weil alles nach dem ihm strebt.136 Das aber, wonach alles strebt,137 ist das Gute: Das Gute wendet also alle zweitrangigen Entitäten zurück, das Eine aber verursacht ihre Existenz.138

Die einzige Möglichkeit, etwas über das erste Prinzip herauszufinden, ist spekulativ mittels der ihm nachgeordneten Entitäten: Das Unkenntliche also des Ersten beabsichtigen wir mittels der Dinge, die aus ihm hervorgehen, und derer, die sich zu ihm zurückwenden, zu erkennen und versuchen, das Unsagbare vermittels dieser zu benennen.139 _

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per˝ ýkeûnhò m˚n ýre iò, ažtÌn d˚ ožk ýre iò· ¼n gÜr ýstin aùtûa lÍgonteò, Õ ti _ _ _ umen. potÍ ýstin eùpe in í diJ noÇsewò labe in ÷dunato _ 134 Theol. Plat. II(6).40,2–8: dittJ gJr až ka˝ Žnümata paradûdwsin êm_in _ þ PlÜtwn thò ÷rrÇtou taŸthò aùtûaò. \En Politeû ´a m˚n gJr t÷gaq˛n _ ažtÌn ÷pokale i [. . .]· ýn Parmenûd´h d˚ Ùn ýponomÜzei tÌn toiaŸthn ÷rxÌn. („Denn doppelt sind wiederum auch die Namen dieser unsagbaren Ursache, die uns Plato überliefert. Denn im Staat gibt er dieser den Namen ‚das Gute‘ [. . .]; im Parmenides aber nennt er das so beschaffene Prinzip ‚das Eine‘.“). _ 135 Theol. Plat. II(6).41,2–5: TJ m˚n gJr Žnümata k÷ntauqa pr˛ò t˛ met' _ ažt˛ blÍponteò [. . .] ýp' ýke ino metaðÍromen. („Denn wir übertragen auch in diesem Fall die Namen auf jenes, indem wir auf das nach ihm sehen [. . .].“). _ 136 Theol. Plat. II(6).40,14–17: Diüti d˚ až tJ proelqünta pr˛ò ýke_ino katJ _ ðŸsin ýpÍstraptai ka˝ poqe i tÌn årrhton ýkeûnou ka˝ ålhpton Öparcin, t÷gaq˛n ažt˛ prosagoreŸomen. („Weil aber wiederum das, was hervorgegangen ist, seiner Natur entsprechend auf jenes zurückgewandt ist und sich nach der unsagbaren und unfaßbaren Existenz jenes sehnt, nennen wir es das Gute.“). _ _ 137 Theol. Plat. II(6).40,22 sq.: t˛ d˚ ÷gaq˛n koin´h twn Øntwn ýst˝n ãpÜntwn ýðetün. („Das Gute aber ist das gemeinsam Erstrebenswerte alles Seienden.“). _ 138 Theol. Plat. II(6).40,25–27: \Epistreptik˛n åra t˛ ÷gaqün ýsti twn deutÍrwn ãpÜntwn, ëpostatik˛n d˚ t˛ Òn. _ _ 139 Theol. Plat. II(6).41,9–12: Ka˝ t˛ ågnwston åra tou prÿtou diJ twn _ proi¤ üntwn ÷p\ ažtou ka˝ ýpistreðomÍnwn pr˛ò ažt˛ ginÿskein ýpiballü-

IV. Das Eine

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Das Spannungsfeld, in dem sich Proklos’ Philosophie über das erste Prinzip bewegt, wird besonders deutlich an seiner emphatischen Ermahnung an den Leser: Und meine mir weder, daß das Unsagbare deswegen nennbar sei, noch daß die Ursache aller Einheit verdoppelt würde.140

Proklos versucht wie kein anderer Neuplatoniker, den Bereich des Überseienden zu strukturieren. Dies ist ein gefährliches Unterfangen. Denn sobald über Strukturelemente des Überseienden gesprochen wird, könnte man meinen, es handle sich dabei um Entitäten, was aber nicht der Fall ist. Dadurch ergeben sich Probleme, wie folgende Textstelle deutlich macht: Und das Erste ist nicht das Eine im eigentlichen Sinne, denn es ist, wie oft gesagt worden ist, jenseits sogar des Einen.141

Proklos setzt hier das Erste noch jenseits des Einen an, obgleich er sonst durchaus vom Einen als dem ersten Prinzip spricht: Wir erhalten nun daraus, daß das Erste und das Eine dasselbe sind.142

Wie ist solch ein Widerspruch zu bewerten? Ist Proklos an dieser Stelle inkonsistent? Meines Erachtens besteht das Problem darin, daß Proklos sich hier mit seiner Philosophie und seiner Sprache jenseits des Seins bewegt. Dort gibt es streng genommen keine Entitäten und somit kann man im überseienden Bereich auch keine konsistente Ordnung von Entitäten einklagen. Der Vorwurf der Inkonsistenz ist der Sache mithin nicht angemessen. Proklos wagt sich im Spannungsfeld, „das Unsagbare zu benennen“143 sehr weit und versucht, für den Bereich des Überseienden eine _

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meqa, ka˝ t˛ årrhton diJ twn ažtwn ŽnomÜzein ýpixeiroumen. In E. T. 12,1 sq. _ zeigt Proklos daß das Gute die erste Ursache ist: PÜntwn twn Øntwn ÷rxÌ ka˝ aùtûa prwtûsth t˛ ÷gaqün ýstin. („Das Gute ist Prinzip und allererste Ursache alles Seienden.“) Damit sind das Gute und das Überseiende Eine identisch. Für diese Identität argumentiert Proklos in E. T. 13 aus inhaltlichen Gründen: eù d˚ ka˝ _ ê Ònwsiò ÷gaq˛n kaq\ aët˛ ka˝ t˛ ÷gaq˛n Ånopoiün, t˛ ãplwò ÷gaq˛n ka˝ _ _ t˛ ãplwò Ùn tažtün, Ånûzon te Ñma ka˝ ÷gaqunon tJ Ønta. („Wenn aber sowohl die Vereinigung für sich gut ist als auch das Gute vereinigend ist, sind das schlechthin Gute und das schlechthin Eine dasselbe, welches das Seiende vereint und zugleich gut macht.“). _ 140 Theol. Plat. II(6).41,1–2: Kaû moi mÇte Žnomast˛n diJ touto t˛ årrhton ëpolÜb´hò mÇte diplasiÜzesqai t˛ pÜshò Ånÿsewò aŁtion. _ _ _ 141 Theol. Plat. III(7).31,12 sq.: ojte t˛ prwton ¼ò ÷lhqwò ýstin Òn, kre itton _ u Ånüò. gÜr ýstin, ¼ò pollÜkiò eŁrhtai, ka˝ to _ _ 142 In Parm. 1097, 10 sq.: ˙Exomen ožn diJ toŸtwn Õti t˛ prwton tažt˛n ka˝ _ _ t˛ Òn. Cf. auch In Parm. 1096,26–28: Eù ožn t˛ ažt˛ Ùn ka˝ prwton tažt˛n, t˛ _ _ d˚ prwton qe˛ò, dhlon Õti tažt˛n t˛ ažto˚n ka˝ qe˛ò. („Wenn nun das Eine selbst und das Erste dasselbe sind, das Erste aber Gott ist, ist deutlich, daß das Eine selbst und Gott dasselbe sind.“). 143 Theol. Plat. II(6).41,11 sq.: t˛ årrhton [. . .] ŽnomÜzein.

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Ordnung aus den nachrangigen Entitäten abzuleiten.144 Dabei macht er Angaben, die scheinbar widersprüchlich sind. Doch was genau ist der systematische Grund dafür? Eine Antwort auf diese Frage findet sich im Parmenideskommentar. Die Benennung des unsagbaren ersten Prinzips bringt die Schwierigkeit mit sich, es dadurch zu einem Etwas zu machen, was es aber nicht ist. Alle Benennung ist daher relativ zu denjenigen Begriffen, von denen der jeweilige Erklärungskontext ausgeht. Geht er von einem antithetischen Begriffspaar aus, so kommt dem ersten Prinzip eher der bessere der beiden Begriffe zu: Denn man muß den besten145 auf das Beste von allem anwenden, und nicht den wie auch immer geringeren. Deshalb nennen wir, weil das Eine antithetisch zur Vielheit ist, jenes „Eines“, und Ursache zu Verursachtem , geben wir jenem den Namen „Ursache“: Einerseits nämlich ist die Ursache besser als das Verursachte, andererseits das Eine besser als die Vielheit.146

Betrachtet man das Überseiende Eine jedoch unter dem Aspekt seiner völligen Transzendenz, so übersteigt es beide Terme des antithetischen Begriffspaares, insbesondere den besseren: Es liegt jenseits des besseren der beiden Terme. Wir können das Überseiende Eine also entweder mit dem 144

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cf. In Parm. 1049,19–29: Qewrounteò ožn t˛ plÜtoò thò ÷swmÜtou _ _ _ mÍtra proiousan pÜshò ëpostÜsewò thò ëpestrwmÍnhò ažto iò ka˝ tÌn katJ _ _ ýcallagÌn ÷p˛ tou kruðûou pr˛ò t˛ diakekrimÍnon, e ùnai dÇpou ka˝ ýn _ _ _ ažta iò ta iò ÅnÜsin ùdiüthta ka˝ tÜcin metJ thò Ånÿsewò pisteŸomen. \Ek gJr _ _ _ _ thò twn metexüntwn diaðoraò tÌn twn metexomÍnwn diÜkrisin gnwrûzomen· _ _ ož gJr ºn tou ažtou metÍxonta ÷parallÜktwò tosaŸthn ñsxe tÌn pr˛ò ållhla diaðorÜn. („Wenn wir also die Ausdehnung des gesamten körperlosen Seins, das unter ihnen ausgebreitet ist, und die Veränderung, die nach Maß vom Verborgenen zum Differenzierten hervorgeht, betrachten, glauben wir, daß es doch wohl auch bei den Henaden selbst zusammen mit ihrer Einheit Eigentümlichkeit und eine Ordnung gibt. Denn aus der Verschiedenheit der Partizipierenden erkennen wir die Differenzierung der Partizipierten: Dinge nämlich, die auf gleiche Weise an demselben partizipiert hätten, hätten nicht eine so große Verschiedenheit zueinander erhalten.“). Hier fordert Proklos eine Ordnung innerhalb der (überseienden) Henaden, die sich aus den nachrangigen Entitäten herleiten läßt. [(*) Mit diesem erklärenden Zusatz folge ich Gersh, S. 32, der darlegt, daß der Terminus ëpüstasiò bei Proklos immer etwas Verursachtes meint. Cf. auch supra, Anm. 125. 145 Hier folge ich Dillon/Morrow, S. 456, die „the best term“ übersetzen. Offenkundlich lesen sie für ÷üriston åriston. _ 146 In Parm. 1123,30–37: ka˝ gJr tˆw pÜntwn ÷rûstˆw xrÌ prosðÍrein t˛ _ _ ÷üriston, ÷ll\ ož t˛ þpwsoun katadeÍsteron. OÖtwò ÷ntiqÍsewò ojshò tou _ _ Ån˛ò pr˛ò t˛ plhqoò, Ùn ýke ino proseûpomen, ka˝ aùtûou pr˛ò aùtiat˛n, _ _ _ _ _ aŁtion ýke ino prosonomÜsomen· kre itton gJr tou m˚n aùtiatou t˛ aŁtion, tou d˚ plÇqouò t˛ Òn.

IV. Das Eine

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besseren Term eines antithetischen Begriffspaares benennen, oder aber es noch darüber ansetzen: Denn bei jeder Antithese ist es notwendig, daß das Eine entweder beide der gegensätzlichen Terme transzendiert und keiner dieser beiden ist oder daß es eher mit dem Namen des Besseren belegt wird.147

Diese beiden Benennungsmöglichkeiten ergeben den scheinbaren Widerspruch, daß Proklos das erste Prinzip sowohl „das Eine“ als auch „jenseits des Einen“ nennt: Man mußte es aber entweder sowohl „jenseits der Ursache“ als auch „jenseits des Einen“ oder „Eines“ und „Ursache“ nennen, aber nicht „Vielheit“ und „Verursachtes“.148

Die fragliche Textstelle, an der Proklos das Erste noch jenseits des Einen ansetzt,149 bringt den Selbstüberstieg und damit die völlige Transzendenz des ersten Prinzips150 zum Ausdruck. 4. Das Eine als generatives Prinzip Bisher wurde gezeigt, daß das Überseiende Eine das erste Prinzip ist, welches Proklos im Gefolge Platons auch das Gute (t÷gaqün) nennt. Als überseiendes erstes Prinzip bringt es das Sein und mit ihm das Seiende hervor. Wie im vorigen Abschnitt deutlich wurde, wagt sich Proklos mit seiner Beschreibung des überseienden Bereichs sehr weit vor. So läßt er es nicht damit bewenden, daß das Überseiende Eine das Sein hervorbringt, sondern sucht zu erklären, wie dies vor sich geht. Eine solche Erklärung muß den generativen Aspekt des Überseienden Einen so erklären, daß seine Transzendenz bewahrt bleibt. So führt Proklos zwischen dem Überseienden Einen und dem Sein Vermittlungsinstanzen ein. Eine Vermittlung ist notwendig, um die Reinheit des Einen zu sichern: 147

_

In Parm. 1123,26–30: ýp˝ pÜshò gJr ÷ntiqÍsewò ÷nagka ion í ýcai_ _ _ re isqai t˛ Ùn ÷mðotÍrwn twn ÷ntikeimÍnwn ka˝ mÌ e ùnai mhdÍteron ažtwn, í _ _ _ prosagoreŸesqai. tˆw tou kreûttonoò ažt˛ mallon Žnümati _ 148 In Parm. 1123,37–39: DÍon d˚ þn í ka˝ ëp˚r aŁtion, ažt˛ ka˝ ëp˚r Ùn _ _ ÷pokale in í Ùn ka˝ aŁtion, ÷llJ mÌ plhqoò ka˝ aùtiatün. _ _ _ 149 Theol. Plat. III(7).31,12 sq.: ojte t˛ prwton ¼ò ÷lhqwò ýstin Òn, kre itton _ gÜr ýstin, ¼ò pollÜkiò eŁrhtai, ka˝ tou Ånüò. („Und das Erste ist nicht das Eine im eigentlichen Sinne, denn es ist, wie oft gesagt worden ist, jenseits sogar des Einen.“). Cf. supra. _ _ 150 cf. In Parm. 1068, 18–20: Eù d˚ dÌ ka˝ tou Ån˛ò ýpÍkeina ka˝ thò ožsûaò _ _ _ ažtüò ðhsin e ùnai t˛ Ùn (ožd˚ gJr touto kurûwò ýponomÜzesqai), pwò ºn ýp˝ _ _ twn metJ t˛ prwton ÅnÜdwn ýpalhqeŸseie; („Wenn er aber bekanntlich selbst sagt, daß das Eine jenseits sowohl des Einen als auch des Seins ist (denn im eigentlichen Sinne wird nicht einmal dieser Name gegeben), wie kann dies dann für die Henaden nach dem Ersten wahr sein?“). _

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Denn wiederum, wenn wir nämlich das Seiende unvermittelt nach dem Einen einführen sollten, werden wir das Charakteristikum des Einen nirgends in reiner Weise finden.151

In Proklos’ Werk finden sich zweierlei Vermittlungsinstanzen. Da sind zum einen die überseienden Henaden. Ihre Aufgabe ist es vornehmlich, die Transzendenz des ersten Prinzips zu wahren, indem sie zwischen ihm und den nachrangigen Entitäten vermitteln: [. . .] einerseits binden sie alles Seiende an sich, andererseits aber verbinden sie die ihnen nachrangigen Entitäten durch sich mit dem Einen, das über alles gleichermaßen transzendent ist.152

Zum anderen findet sich das Paar pÍraò – ÷peirûa, das sowohl zwischen dem Überseienden Einen und dem Sein vermittelt als auch sein generatives Moment erklärt. Beide Arten der Vermittlung behandelt Proklos am Anfang des dritten Buches seiner Theologia Platonica: Den Henaden widmet er die Kapitel drei mit sechs, dem Paar pÍraò – ÷peirûa das achte Kapitel. a) hai henades Als transzendentes erstes Prinzip ist das Überseiende Eine unpartizipierbar. Es bringt eine Anzahl partizipierbarer Quasi-Entitäten153 hervor, an der seine Wirkung, das Sein und mit ihm das Seiende, teilhaben kann. Dies sind die überseienden Henaden,154 deren Bezeichnung sich vom Einen (to hen) ableitet. In der Elementatio Theologica nennt er sie auch (überseiende) Götter.155 Als erste Anzahl nach dem Einen gleichen sie ihm in höchstem Maße: 151

_

Theol. Plat. III(8).31,8–10: Ka˝ gJr až ka˝ eù tJ Ønta metJ t˛ Ùn ÷mÍswò _ _ _ parÜgoimen, oždamou tÌn tou Ån˛ò ùdiüthta kaqarwò eërÇsomen. 152 Theol. Plat. III(4).17,10–12: [. . .] eùò Åautoˇò m˚n ÷nadhsÜmenoi tJ Ønta _ _ _ pÜnta, di\ Åautwn d˚ tˆw Ån˝ tˆw pÜntwn þmoûwò ýkbebhküti tJ meq\ Åautoˇò sunÜptonteò. 153 Im Bereich des Überseienden kann es qua überseiend keine Entitäten geben. Proklos behandelt die Henaden aber gleichwohl wie Entitäten. Daher wähle ich den Ausdruck „Quasi-Entität“. _ _ 154 Theol. Plat. III(3).13,6–8: ÷nÜgkh tJ prÿtwò Ønta diJ twn prosexwn _ _ ažtwn ÅnÜdwn metÍxein thò prwtûsthò aùtûaò. („Es ist notwendig, daß das in erster Linie Seiende vermittelst der ihm eng verbundenen Henaden an der allerersten Ursache partizipiert.“). 155 cf. E. T. 114. Auch in Decem Dub. 65,1 sq. setzt Proklos die Henaden (unitates) mit den Göttern gleich: Dii quidem itaque provident omnes: et enim sunt quod sunt unitates, ut dictum est, omnes. („Die Götter haben also die Vorsehung in ihrem ganzen Wesen, denn sie sind alle, wie gesagt ist, dasselbe wie die Henaden.“ Übersetzung: Böhme). In Theol. Plat. hingegen identifiziert Proklos (seiende) metaphysische Entitäten mit verschiedenen Gottheiten.

IV. Das Eine

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Die allererste Anzahl aber, die sich sogar mit dem Einen vereinigt, ist eingestaltig, unsagbar, überseiend, und in jeder Beziehung sehr ähnlich wie die Ursache.156

In drei Punkten allerdings unterscheiden sich die Henaden vom Überseienden Einen. Erstens sind sie mehrere. Zweitens sind sie partizipierbar: Jeder Gott ist partizipierbar, außer dem Einen.157

So können sie eine Brücke zum nachgeordneten Sein bilden. Drittens schreibt Proklos den Henaden Charakteristika zu: Weil jede Henade von einer Entität partizipiert wird, die als Seiende ein Charakteristikum (ùdiüthò) hat, kann sie selbst über dieses Charakteristikum identifiziert werden: Während es aber dort sowohl unaussprechbare Einheit als auch das Charakteristikum jeder einzelnen gibt (denn alle Henaden sind in allen, und jede einzelne ist allein für sich) erkennen wir mittels der zweitrangigen und abhängigen Entitäten sowohl ihre Einheit als auch ihr Charakteristikum.158

Hier wagt sich Proklos mit seiner Deutung des überseienden Bereichs sehr weit vor, stellt sich doch die Frage, wie ein Überseiendes charakterisiert sein kann, ohne dadurch schon ein Bestimmtes, also ein Seiendes zu sein. Daß die überseienden Henaden zwar für bestimmte Charakteristika stehen, aber keinesfalls mit den seienden Ideen verwechselt werden dürfen, macht folgende Textstelle klar: So zum Beispiel existiert das Gerechte anders bei den Ideen und anders bei den Göttern.159

Wie jedoch das Gerechte in den Göttern zu denken ist, erklärt Proklos nicht, weil er es nicht erklären kann, denn die Götter stehen jenseits des Seins und damit auch jenseits der Denkbarkeit. So ergibt sich die Spannungslage, daß die Henaden einerseits überseiend und somit verborgen aller Intelligibilität vorgängig sind, andererseits jedoch über sekundäre Entitäten charakterisiert und somit intelligibel sind. Diese Spannungslage benennt Proklos in der 161. Propositio seiner Elementatio Theologica selbst: Die ganze Vielheit der Henaden, die auf das wirkliche Sein leuchtet, ist verborgen und intelligibel; verborgen ist sie als mit dem Einen verbunden, intelligibel aber als vom Sein partizipiert.160 156

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Theol. Plat. III(3).12,21–23: ¢O d˚ prÿtistoò ÷riqm˛ò ka˝ tˆw Ån˝ sumðuü_ menoò ÅnoeidÌò ka˝ årrhtoò ka˝ ëperoŸsioò ka˝ pÜnt´h tˆw aùtûˆw prosümoioò. _ _ 157 E. T. 116,1: Paò qe˛ò meqektüò ýsti, plÌn tou Ånüò. _ 158 In Parm. 1048,35–1049,3: Ojshò d˚ ýke_i ka˝ Ånÿsewò ÷ðrÜstou ka˝ thò _ ÅkÜstwn ùdiüthtoò (ka˝ gJr pasai ýn pÜsaiò aÁ ÅnÜdeò, ka˝ ÅkÜsth xwr˝ò), _ _ _ _ ême iò ÷p˛ twn deutÍrwn ka˝ twn ýchrthmÍnwn tÇn te Ònwsin ažtwn ka˝ tÌn ùdiüthta ginÿskomen. Cf. auch E. T. 118. 159 In Parm. 811,7–9: Ažtûka t˛ dûkaion ållwò m˚n ýn to_iò eŁdesin ëðÍsth_ _ ken, ållwò d˚ ýn to iò qeo iò.

92

B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Für sich sind die Henaden zwar unsagbar und unkenntlich,161 über sekundäre Entitäten jedoch sehr wohl charakterisiert: Aber aus den Unterschieden der Partizipierenden folgt, daß auch die Charakteristika jener erkannt werden.162

So sind die Henaden überseiende, partizipierbare Quasi-Entitäten, die zwischen dem ersten Prinzip und dem Seienden vermitteln. b) peras kai apeiria – mit einem Exkurs zum Bedeutungsfeld „Sein“ Im platonischen Dialog Philebos, in dem es um das gute Leben geht, wird dieses als „das aus Freude und Einsicht gemischte Leben“163 bestimmt. Erst wenn das Unbegrenzte, die Freude, durch die Einsicht begrenzt wird, ist das gute Leben möglich. Damit gehört es zur dritten Gattung einer von Sokrates vorgestellten Einteilung alles Seienden. Diese dritte Gattung enthält „alles durch Grenze gebändigte Unbegrenzte“164. Sie ist die gelungene Mischung165 aus Grenze und Unbegrenztem, der ersten und der 160

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E. T. 162,1–3: Pan t˛ katalÜmpon t˛ Øntwò ïn plhqoò twn ÅnÜdwn _ krŸðion ka˝ nohtün ýsti· krŸðion m˚n ¼ò tˆw Ån˝ sunhmmÍnon, noht˛n d˚ ¼ò _ ëp˛ tou Øntoò metexümenon. _ _ 161 E. T. 162,6 sq.: årrhton gJr kaq\ aët˛ pan t˛ qe ion ka˝ ågnwston. („Denn für sich ist das ganze Göttliche unsagbar und unkenntlich.“). _ _ _ 162 E. T. 162,7–9: ÷p˛ d˚ thò twn metexüntwn ýcallaghò ka˝ tJò ýkeûnwn ùdiüthtaò gnwrûzesqai sumbaûnei. _ 163 Platon, Philebos 27d1–2: t˛n meikt˛n bûon êdonhò te ka˝ ðronÇsewò. (Übersetzung mit Modifikation nach Frede; ich folge Friedländer, S. 292, wenn ich êdonÇ mit „Freude“ und nicht mit „Lust“ wiedergebe.). _ _ 164 Platon, Philebos 27d9: sumpÜntwn twn ÷peûrwn ëp˛ tou pÍratoò dedemÍnwn. (Übersetzung: Frede). 165 Sokrates’ Rede von der Mischung ist nicht unproblematisch, wenn wir die Frage betrachten, welcher Gattung er denn eigentlich Vernunft und Wissen zuordnen möchte (daß er Vernunft und Einsicht zusammenfaßt, zeigt Philebos 11b7). Dieses Problem ist zwar für Proklos’ prinzipientheoretische Auslegung von pÍraò und åpeiron nicht von Bedeutung, soll aber der Genauigkeit des Gedankens wegen erwähnt werden: Einerseits spricht die Aufzählung der vier Gattungen (Philebos 27b7–c1) zusammen mit der Aussage, das gute Leben sei das „aus Freude und Einsicht gemischte Leben“ (Philebos 27d1–2) dafür, Einsicht (und Vernunft) der Gattung der Grenze zuzuordnen. Später hingegen (Philebos 30e) wird die Vernunft eindeutig der Gattung der Ursache zugeordnet. Frede, Philebos, S. 199 löst das Problem dahingehend, daß sie Sokrates unterstellt, „in zweierlei Hinsicht von ‚Bestandteilen der Mischung‘ “ zu sprechen. So seien die Ingredienzien einer Mischung als ihre Bestandteile im wörtlichen Sinne von den konstitutiven Momenten einer Mischung zu unterscheiden: Einsicht und Freude seien Ingredienzien des guten Lebens, pÍraò und åpeiron dagegen die konstitutiven Momente einer gelungenen Mischung. Das angesprochene Problem, welcher Gattung denn nun Wissen und Vernunft zuzuordnen sind, beruht also auf der Zweideutigkeit des Begriffs der Mischung: „Platon hält also die verschiedenen Arten, in denen hier Dinge mit einander

IV. Das Eine

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zweiten Gattung. Die vierte Gattung ist die Ursache der Mischung. Sokrates resümiert: Die erste nenne ich das Unbegrenzte, die zweite die Grenze, die dritte das aus beiden zusammengemischte und entstandene Wesen. Wenn ich die Ursache der Mischung und Entstehung die vierte nenne, dann sage ich damit wohl nichts Unstimmiges?166

Diese vierfache Einteilung alles Seienden deutet Proklos prinzipientheoretisch. Die „Ursache der Mischung“ identifiziert er mit dem Überseienden Einen, das „zusammengemischte und entstandene Wesen“ mit dem Sein. Grenze (pÍraò) und Grenzelosigkeit167 (åpeiron bzw. ÷peirûa168) sind die beiden Prinzipien, die zwischen dem Überseienden Einen und dem Sein vermitteln.169 Seine Aufzählung folgt der Rangordnung der Prinzipien: gemischt werden, nicht immer sorgfältig auseinander. Er macht keine terminologische Unterscheidung zwischen der Mischung aus konstituierenden ontologischen Faktoren, wie bei peras und apeiron, und der Mischung aus den Ingredienzien. Diese Zweideutigkeit kommt vor allem bei der Bestimmung der Mischung des Lebens aus Lust und Wissen zum Ausdruck. Das Wissen fungiert nämlich einerseits als Lebensinhalt, andererseits auch als strukturierender Faktor, als die Ursache für das richtige Maß des gut zusammengemischten Lebens.“ (ibid. S. 199). _ 166 Phil. 27b7–c1: Prwton m˚n toûnun åpeiron lÍgw, deŸteron d˚ pÍraò, _ ñpeit\ ýk toŸtwn trûton meiktÌn ka˝ gegenhmÍnhn ožsûan· tÌn d˚ thò meûcewò _ aùtûan ka˝ genÍsewò tetÜrthn lÍgwn ÷ra mÌ plhmmeloûhn ån ti; (Übersetzung: Frede). 167 Die Termini „Grenzelosigkeit“ für die Unendlichkeit und „Grenzeloses“ für das Unendliche übernehme ich von Beierwaltes, Proklos, S. 50 sqq. Als Kunstwörter bringen sie die Besonderheit des philosophischen Konzepts m. E. gelungen zur Geltung. 168 Für das Prinzip des Grenzelosen, die Grenzelosigkeit, ist in Proklos’ eigener Terminologie der Begriff ê ÷peirûa angemessener (cf. Theol. Plat. III(8).31,6 sq. sowie infra, Anm. 214). Manchmal jedoch verwendet er wie im angeführten Zitat den Begriff t˛ åpeiron – wohl um näher am platonischen Wortlaut zu sein zu sein. 169 Eine solche Auslegung ist in der heutigen Forschung keineswegs Konsens, wie Fredes und Kutscheras Deutungen des Dialogs zeigen. Kutschera, Platons Philosophie, Bd. 3, S. 99 betont, daß sich die vierfache Einteilung alles Seienden im Dialog explizit nur auf Empirisches bezieht: „Die folgende Anwendung der vier Gattungen beschränkt sich jedenfalls auf Empirisches. [. . .] Platon eröffnet uns also auch in diesem Dialog keine größeren metaphysischen Perspektiven, als er sie gerade benötigt.“ In eine ähnliche Richtung weist Frede, Philebos, S. 186: „Jedenfalls ist nicht von vornherein anzunehmen, daß Platon hier mit einer ganz neuen ‚Fundamentalontologie‘ aufwarten will, die etwa für sein gesamtes Spätwerk repräsentativ wäre.“ Friedländer, S. 304 hingegen möchte aus dem Dialog durchaus eine allgemeine Ontologie herauslesen. Zu Philebos 27c–31b schreibt er: „Zum dritten Male kehrt die Erörterung auf die Ebene zurück, aus der sie sich zweimal erhoben hatte. Man ist so weit, daß man den Streit um den zweiten Platz nun auskämpfen kann. Ontologie, mag sie noch so weit und so hoch hinauf führen, steigt aus den ursprünglichsten Fragen über das menschliche Leben auf und kehrt wieder zurück in die eine Grundfrage des platonischen ‚Pragmatismus‘ wie wir selbst leben müssen. Der

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Denn die Gottheit, welche die zwei Prinzipien zum Vorschein bringt, war die erste , nach ihr zwei Prinzipien, die Grenze und das Grenzelose, das Gemischte aber ist das vierte.170

Schon dieses kurze Textstück macht die Verschiebung vom platonischen Kontext zur proklischen Auslegung von pÍraò und åpeiron deutlich: Handelt es sich im Kontext des Philebos um eine Einteilung des Seienden in Antwort auf diese Frage wird also jetzt das System der Vier Seinsformen dienstbar gemacht.“ Während in Friedländers ontologischer Auslegung dieser Philebos-Stelle immerhin noch von den vier Seinsformen die Rede ist, steht von den neueren Platon-Deutungen die Theorie der Ungeschriebenen Lehre der proklischen Deutung des Philebos, die pÍraò und åpeiron als überseiende Prinzipien ansetzt, am nächsten. Die Theorie der Ungeschriebenen Lehre Platons wurde von der Tübinger Schule entwickelt (cf. insbesondere Gaiser sowie Krämer), und ihre Nähe zu Proklos ist insofern wenig verwunderlich, als sie die „These eines gleichsam neuplatonisch zu interpretierenden Platon“ vertritt (Wippern, S. xiv; in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Bandes zur ungeschriebenen Lehre). Sie unterstellt Platon eine nur mündlich vermittelte Theorie der beiden Prinzipien „Einheit“ und „unbestimmter Zweiheit“. Diese beiden Prinzipien werden von einigen Vertretern der Theorie der Ungeschriebenen Lehre Platons mit dem pÍraò und dem åpeiron aus dem Philebos identifiziert. PÍraò und åpeiron erhalten damit einen Status außerhalb des Seienden, weil sie nicht nur Gruppen des Seienden, sondern seine konstitutiven Elemente sind, wie Wilpert, S. 324 sq. schreibt: „Doch wenden wir uns nun zur zweiten Gruppe des Seienden oder, wie wir mit einem Vorgriff auf das in der Altersvorlesung deutlicher Entwickelte sagen würden, zum zweiten konstitutiven Element des Seienden.“ Noch deutlicher wird Reale, S. 208, der die Tübinger Theorie in Mailand weiterbetreibt: „Dies ist der Kern der platonischen Protologie: Das Sein geht aus zwei ursprünglichen Prinzipien hervor und ist somit eine Synthese, ein Gemischtes aus Einheit und Vielheit, Bestimmendem und Unbestimmtem, Begrenzendem und Unbegrenztem. Platon wird sich sogar dazu durchringen, eine Kurzfassung dieses Themas in den Schriften zu geben, im besonderen im Philebos.“ (Hervorhebungen: Reale). Diese Deutung des Philebos ist jedoch aus mehreren Gründen problematisch. Erstens ist die Annahme einer ungeschriebenen Lehre Platons problematisch: Das Problematische an ihr ist weniger, Platon eine ungeschriebene Lehre zu unterstellen, als vielmehr der Anspruch, diese heute klar angeben zu können. Ein solches Unterfangen ist hochgradig spekulativ. Zweitens ist es, selbst wenn man Platon die zwei Prinzipien „Einheit“ und „unbestimmte Zweiheit“ unterstellt, fragwürdig, ob man diese wirklich mit dem pÍraò und dem åpeiron aus dem Philebos identifizieren sollte. Frede, Philebos, S. 408 hält diese Gleichsetzung jedenfalls für einen „Kurzschluß“. Drittens ist es fragwürdig, ob man Platon wirklich im Sinne des Neuplatonismus deuten sollte. Als Arbeitshypothese ist es m. E. vorzuziehen, die dialogisch und häufig offen formulierte Suche Platons nach der Wahrheit von der zunehmend systematisch vorgebrachten, mit Antworten aufwartenden, neuplatonischen Philosophie zu unterscheiden. Es beruht auf einer historischen Verkehrung, wenn Reale, S. 205 zum Nachweis der Lehre „der Prinzipien der Einheit und der unbegrenzten Zweiheit“ bei Platon ein Zitat des Proklos als ein „neuerdings wiederentdecktes Zeugnis“ heranzieht. _ _ 170 Theol. Plat. III(9).36,26–28: Prwtoò m˚n gJr þn þ qe˛ò þ tJò dŸo _ ýkðaûnwn ÷rxÜò, dŸo d˚ metJ touton ÷rxaû, t˛ pÍraò ka˝ åpeiron, tÍtarton d˚ t˛ miktün.

IV. Das Eine

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vier Klassen, so scheut sich Proklos nicht, die Klasse der Ursache mit einem überseienden Prinzip, nämlich dem Überseienden Einen zu identifizieren. Auch die Prinzipien pÍraò und ÷peirûa, die zwischen dem Überseienden Einen und dem Sein vermitteln, setzt Proklos als überseiend an: Wenn also das Seiende aus diesen , so ist klar, daß sie vor dem Seienden existieren.171

Überseiend sind sie der Mischung unvermischt vorgängig: [. . .] wenn die Nachrangigen an ihrer Mischung teilhaben, so existieren sie vorgängig zum Ganzen unvermischt.172

Die beiden Prinzipien sind vor ihrer Mischung für sich (kaq\ ÅautJò). Proklos’ Argument dafür beruht darauf, daß sie sich als Prinzipien wie das Eine verhalten: Wie also das Eine selbst dem Geeinten vorgängig ist und wie das, was das Eine erfahren hat, einen zweiten Rang nach der unpartizipierbaren Einheit hat, so existieren folglich auch die zwei Prinzipien des Seienden vorgängig zur Teilhabe und ihrer Mischung zum Seienden ganz für sich als Ursachen des Ganzen. Denn gemäß der Ähnlichkeit der aus dem Einen entspringenden Dinge zum Einen muß vor dem Begrenzten die Grenze und vor dem Grenzelosen die Grenzelosigkeit sein.173

Die beiden Prinzipien sind also überseiend, unvermischt für sich und ergeben in ihrer Mischung das Sein. Doch darf man diese Mischung wirklich als „Sein“ bezeichnen? In den bisher angeführten Proklos-Zitaten jedenfalls war vom „Seienden“ (tJ Ønta) die Rede, das sich aus pÍraò und ÷peirûa konstituiert, die Mischung bezeichnet Proklos als eine Mischung „zum Seienden“ (eùò tJ Ønta). Gibt es also einen Unterschied zwischen „Sein“ und „Seiendem“? Zudem fällt eine Verwerfung zwischen der Begrifflichkeit in den bisher angeführten Proklos-Zitaten und der platonischen Begrifflichkeit auf: Wenngleich Protarchos im Philebos vom pÍraò „im Seienden“ (ýn to iò ožsi174) spricht, so wird doch die Mischung als ožsûa, und zwar als „zusammengemischte und entstandene ožsûa“175, oder gar als gÍnesiò eùò _

171

_

_

Theol. Plat. III(8).30,23 sq.: Eù toûnun ýk toŸtwn tJ Ønta, dhlon Õti pr˛ twn Øntwn ëðestÇkasi. _ 172 Theol. Plat. III(8).30,24–26: [. . .] eù memigmÍnwn ažtwn tJ deŸtera meteûlh_ _ _ ðen, ÷mige iò aëtai twn Õlwn prou¤pÜrxousin. _ _ 173 Theol. Plat. III(8).31,1–8: ˜Wsper ožn t˛ Ùn ažt˛ pr˛ twn ênwmÍnwn ýstû, ka˝ ¼ò t˛ peponq˛ò t˛ Ùn deutÍran ñxei tÜcin metJ tÌn ÷mÍqekton _ _ _ Ònwsin, oÖtwò åra ka˝ aÁ dŸo twn Øntwn ÷rxa˝ pr˛ thò meqÍcewò ka˝ thò eùò _ _ tJ Ønta summûcewò ažta˝ kaq\ ÅautJò ëpÜrxousin aùtûai twn Õlwn. De i gJr _ _ _ e ùnai pr˛ tou peperasmÍnou t˛ pÍraò ka˝ pr˛ tou ÷peûrou tÌn ÷peirûan _ _ katJ tÌn pr˛ò t˛ Ùn twn ÷p\ ažtou proelqüntwn þmoiüthta. 174 Platon, Philebos 26c6. 175 Platon, Philebos 27b8 sq.: meiktÌn ka˝ gegenhmÍnhn ožsûan. (Übersetzung: Frede). _

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

ožsûan176, als „Werden zum Wesen bzw. Sein177“, bezeichnet. Wie aber verhalten sich die Begriffe „Seiendes“ (Ønta) und „Wesen“ bzw. „Sein“ (ožsûa) in der Philosophie des Proklos zueinander? Der Klärung dieser Fragen widmet sich der folgende Exkurs, der die verschiedenen Begriffe aus dem Bedeutungsfeld „Sein“ bei Proklos behandelt und herausarbeitet, inwiefern sie synonym und inwiefern sie bedeutungsverschieden verwendet werden. Exkurs: Das Bedeutungsfeld „Sein“ bei Proklos TJ Ønta ist der Nominativ Plural Neutrum des (aktiven) Präsensstammpartizips zum Verbum „sein“ (e ùnai), was ich Beierwaltes folgend178 singularisch mit „das Seiende“ übersetze. Von diesem Seienden als dem Gemischten aus pÍraò und ÷peirûa hebt Proklos das erste Gemischte als das erste Seiende ab, und nennt es ïn bzw. ažtoün: _

Nach diesem laßt uns sagen, was es denn nur ist, das aber als drittes aus diesen hervortritt. Es wird in der Tat allenthalben Gemischtes genannt, insofern es aus Grenze und Grenzelosigkeit in die Existenz kommt. Wenn nun die Grenze die Grenze des Seienden war und das Grenzelose das Grenzelose des Seienden war, und wenn das Seiende das ist, was seine Beschaffenheit aus beiden hat, wie Sokrates selbst deutlich lehrt, so ist offensichtlich, daß das erste des Gemischten das erste des Seienden ist, dies aber ist nichts anderes als der äußerste Gipfel unter dem Seienden und das, was das ažto˛n ist und nichts anderes als das Øn.179

Was ist mit t˛ ažtoün, das Proklos hier gleichbedeutend mit t˛ ïn verwendet, gemeint? T˛ ïn ist der Singular von tJ Ønta. Das Präfix ažto- bedeutet in der Philosophie des Proklos die Monas, also die Ursache oder die Idee dessen, wovor das Präfix ažto- steht.180 So bedeutet t˛ 176

Platon, Philebos 26d8. Der griechische Terminus ožsûa wird in der Regel mit „Wesen“, „Substanz“ oder „Sein“ wiedergegeben und so schwanken denn auch die Übersetzungen der genannten Philebos-Stellen zwischen „Wesen“ und „Sein“: Apelt, Platon, Bd. 4, S. 61 sq. übersetzt ožsûa an beiden Stellen mit „Sein“, Frede, S. 33 sq. hingegen gibt 27b9 mit „Wesen“, 26d8 mit „Sein“ wieder. 178 cf. Beierwaltes, Proklos, S. 45. 179 Theol. Plat. III(9).34,23–35,7: t˛ d˚ ýk toŸtwn trûton ÷naðainümenon tû _ _ _ _ ¼ò ýk potÍ ýsti, metJ tauta lÍgwmen. Kale itai m˚n ožn pantaxou miktün, _ _ pÍratoò ka˝ ÷peirûaò ëpostÜn. Eù d˚ t˛ pÍraò twn Øntwn þn pÍraò ka˝ _ _ t˛ åpeiron twn Øntwn åpeiron ka˝ ñsti tJ ýc ÷mðo in ñxonta tÌn sŸstasin _ _ tJ Ønta, kaqÜper ažt˛ò saðwò þ SwkrÜthò ÷nadidÜskei, dhlon Õti t˛ _ _ _ _ ýsti twn Øntwn, touto d˚ ožd˚n ållo ýst˝n prÿtiston twn miktwn prÿtistün _ _ í t˛ ÷krütaton ýn to iò ožsi ka˝ Õ ýstin ažto˛n ka˝ ožd˚n ållo í Øn. 180 Dabei handelt es sich wohl um eine Zusammenziehung des platonischen Begriffs für die Idee, bei dem ažt˛ò in prädikativer Stellung vor der Eigenschaft steht, deren Idee gemeint ist. So bedeutet ažt˛ t˛ kal˛n bei Platon die Idee des Schönen 177

IV. Das Eine

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ažtükalon („das Schöne selbst“) die Idee des Schönen,181 þ ažtoÜnqrwpoò („der Mensch selbst“) die Idee des Menschen, þ ažtoi^ppoò („das Pferd selbst“) die Idee des Pferdes und so fort.182 Als Monaden führen sie die ihr jeweils eigene Ordnung (tÜciò oder seirÜ) an.183 Das Anführen einer Ordnung ist in der Philosophie des Proklos nicht auf Ideen beschränkt, sondern gilt für jede transzendente Ursache, die durch das Präfix ažto- gekennzeichnet werden kann: So nennt Proklos das Überseiende Eine t˛ ažtoÍn.184 Analog dazu ist mit t˛ ažto˛n bzw. t˛ ïn im zitierten Text die Monas des Seienden gemeint, weil sie das Seiende (tJ Ønta) als dessen Ursache anführt. Für diesen Inbegriff des Seienden ist die deutsche Übersetzung „das Sein selbst“ bzw. „das Sein“ angemessen.185 Mitunter nennt Proklos diese Monas auch „das Sein in erster Linie“ (t˛ prÿtwò Øn): Denn daß nämlich das Sein in erster Linie der äußerste Gipfel der intelligiblen Ebene ist und die Monas alles Seienden, ist deutlich.186

Als Ursache des Seienden ist das Sein alles auf verborgene Weise: So also ist das Sein aus diesen, insofern es an beiden teilhat und das Eingestaltige von der Grenze hat, das Erzeugende aber und überhaupt die verborgene Vielheit von der Grenzelosigkeit. Denn es ist alles auf verborgene Weise und deshalb die Ursache alles Seienden.187

Es ist bemerkenswert, daß die Monas des Seienden selbst ausdrücklich ein Seiendes ist.188 Damit grenzt Proklos die Monas des Seienden weniger stark vom übrigen Seienden ab als er beispielweise die Idee des Menschen (cf. Platon, Phaidon 78d3). Diese Form lebt zwar auch bei Proklos fort (cf. In Parm. 847,16 sq.), wird aber zunehmend von der Form_ t˛ ažto-~ verdrängt. 181 In Parm. 859,27 sq.: ñsti gJr t˛ ažtükalon e ùdoò noer˛n [. . .]. („Denn das Schöne selbst ist eine intellektuelle Idee [. . .].“). _ 182 In Tim. I.439,24 sq.: ka˝ gJr þ ažtoÜnqrwpoò pollwn aŁtioò ka˝ þ _ ažtoi^ppoò ka˝ Òkaston twn toioŸtwn. („Denn der Mensch selbst ist die Ursache von vielen und das Pferd selbst und jedes einzelne der so beschaffenen .“). 183 In Parm. 869,29–31: PÜntwò gJr ka˝ t˛ ažtükalon ka˝ t˛ ažtodûkaion _ _ _ ka˝ Òkaston e ùdoò êge itai seiraò ùdûaò. („Denn sicher ist auch das Schöne selbst und das Gerechte selbst und jede einzelne Idee Anführerin der ihr eigenen Ordnung.“). 184 cf. B. IV. 2. 185 Mit dieser Übersetzung „Sein“ für die Monas des Seienden folge ich Beierwaltes, Proklos, S. 53 sq. 186 In Tim. I.230,31 sq.: ýpe˝ Õti ge t˛ ïn t˛ prÿtwò ïn t˛ ÷krütatün ýsti _ _ _ _ tou nohtou plÜtouò ka˝ ê monJò twn Øntwn_ ãpÜntwn, dhlon. 187 Theol. Plat. III(9).38,27–39,4: OÖtwò ožn ýk toŸtwn t˛ Øn, ¼ò metÍxon _ _ ÷mðo in ka˝ t˛ m˚n monoeid˚ò ÷p˛ tou pÍratoò ñxon, t˛ d˚ gennhtik˛n ka˝ _ _ Õlwò t˛ krŸðion plhqoò ÷p˛ thò ÷peirûaò. ˙Esti gJr pÜnta kruðûwò, ka˝ _ _ diJ touto pÜntwn aŁtion twn Øntwn.

98

B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

von dem, was an ihr partizipiert, abgrenzt.189 Wenn auch die Monas des Seienden nicht an sich selbst partizipiert,190 so steht sie doch als Seiendes im Gegensatz zu den Ideen, welche als Monaden die Menge der Terme ihrer Taxis – die Monas selbst ausgenommen – eindeutig transzendieren, nicht jenseits des Seienden. Dann nämlich wäre die Monas des Seienden ein überseiendes Prinzip. Der Terminus t˛ ïn beschränkt sich bei Proklos jedoch nicht auf das ažtoün, die Monas des Seienden, sondern kann, wie im folgenden Zitat, einen weiteren Bedeutungsumfang haben: Wenn also das ganze Sein gemischt ist, das Sein selbst aber die ožsûa ist, ist die ožsûa vor allen anderen das Gemischte, weil sie als drittes nach dem Einen in die Existenz kommt.191 _

Hier ist vom ganzen Sein (pan t˛ Øn) die Rede. Es ist aus Grenze und Grenzelosigkeit gemischt. Davon differenziert Proklos das Sein selbst (t˛ ažtoün), i. e. die Monas des Seienden, und identifiziert es mit der ožsûa. Sie ist als das Gemischte schlechthin allem anderen Gemischten vorgängig. Es liegt auf der Hand, daß t˛ ïn in der Wendung pan t˛ ïn nicht wie oben als Inbegriff des Seienden zu verstehen ist, denn pan t˛ ïn meint die Gesamtheit des Seins. Der Terminus t˛ ïn bezieht sich also nicht nur auf die Monas des Seienden. Sein Begriffsumfang kann je nach Kontext weiter oder enger sein: In der Regel meint Proklos mit t˛ Øn, sofern es sich nicht auf die Monas des Seienden bezieht, „den ganzen ewigen Kosmos“.192 Was hingegen unterhalb des ewigen Kosmos liegt, verdient die Bezeichnung t˛ ïn nur in einem defizitären Sinne.193 Der ewige Kosmos _

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188

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cf. die bereits zitierte Stelle Theol. Plat. III(9).35,4 sq.: dhlon Õti t˛ prÿti_ _ _ ston twn miktwn prÿtistün ýsti twn Øntwn („es ist offensichtlich, daß das erste des Gemischten das erste des Seienden ist.“). 189 cf. C. V. 190 Selbstpartizipation ist in der Philosophie des Proklos völlig undenkbar, denn sie würde die Ordnung zwischen Partizipierenden und Partizipierten zerstören, die _ _ Proklos in E. T. 24,1 sq. darlegt: Pan t˛ metÍxon tou metexomÍnou katadeÍste_ ron, ka˝ t˛ metexümenon tou ÷meqÍktou. („Jedes Partizipierende ist minderwertiger als das Partizipierte und das Partizipierte als das Unpartizipierbare.“). _ 191 Theol. Plat. III(9).36,8–10: Eù dÌ miktün ýsti pan t˛ Øn, t˛ d˚ ažto˛n ê _ _ ožsûa, pr˛ twn ållwn ãpÜntwn ê ožsûa t˛ miktün ýstin, ýk trûtwn ÷p˛ tou Ån˛ò ëðistamÍnh. _ _ 192 cf. In Tim. I, 230,29–31: ka˝ t˛ ïn ožn t˛n ažt˛n trüpon ýn Soðist´h m˚n _ _ _ tÌn tou Ån˛ò Øntoò dhlo i tÜcin, ýntauqa d˚ t˛n aùÿnion sŸmpanta küsmon. („Auch das Sein nun bezeichnet auf dieselbe Weise im Sophistes die Ordnung des Einen Seins, hier aber den ganzen ewigen Kosmos.“). 193 Neben dem ewigen Kosmos, dem „wirklichen Sein“ (t˛ Øntwò Øn), das Proklos auch „vollkommenes Sein“ nennt (In Tim. I.228,1 sq.: t˛ pantel˚ò Øn), gibt es noch ein Sein im weiteren Sinne, das „irgendwie Sein, irgendwie aber

IV. Das Eine

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ist der intelligible Kosmos, mit dessen Struktur sich das Kapitel B. V. befassen wird. Für t˛ ïn ist „das Sein“ auch dann eine angemessene Übersetzung, wenn es in einem weiteren Sinne als t˛ ažto˛n gemeint ist, weil der deutsche Begriff „Sein“ nicht nur den Inbegriff des Seienden, sondern auch das Sein in seiner Gesamtheit meinen kann. In einigen Ausnahmefällen bezieht sich t˛ ïn auf ein einzelnes Seiendes und ist dann mit „das Seiende“ wiederzugeben. Der Begriff ê ožsûa wurde im obigen Zitat, in dem Proklos ê ožsûa mit t˛ ažtoün gleichsetzt, so daß also die Monas des Seienden gemeint ist, nicht übersetzt. Die Monas des Seienden wurde bisher im Deutschen als „das Sein“ bzw. „das Sein selbst“ bezeichnet. Auch an folgender Stelle identifiziert Proklos die ožsûa bzw. die ažtoožsûa mit dem Gipfel alles Seienden: Das allererste des Seienden ist das, was aus den allerersten Prinzipien gemischt ist, ich meine also die ožsûa. Denn die ažtoousûa ist der Gipfel alles Seienden und gleichsam die Monas des Ganzen.194

Für die Monas des Seienden verwendet Proklos die vier Termini t˛ ïn bzw. t˛ ažto˛n und ê ožsûa bzw. ê ažtoousûa gleichbedeutend. Dieser Inbegriff des Seienden läßt sich, wie bereits bemerkt, mit dem deutschen Begriff „das Sein selbst“ bzw. „das Sein“ wiedergeben. Im Begriff ožsûa schwingt jedoch auch die Bedeutungskomponente „Wesen“ oder „Substanz“ mit, so daß ê ožsûa bzw. ê ažtoousûa je nach Kontext auch mit „das Wesen/die Substanz“ bzw. „das Wesen selbst/die Substanz selbst“ übersetzt werden können.195 Wie der Bedeutungsbereich von t˛ ïn weiter als der von t˛ ažto˛n ist, ist auch der von ê ožsûa weiter als der von ê ažtoousûa, denn wie t˛ ïn bezieht sich ê ožsûa nicht allein auf die Monas des Seienden. An folgender Stelle spricht Proklos vom „Wesenhaften“ (t˛ ožsiwdÍò) im einzelnen. Dieses Wesenhafte ist deshalb in jedem einzelnen das Wichtigste, weil es _

Nicht-Sein“ ist (In Tim. I.228,2 sq.: p´Ì m˚n Øn, p´Ì d˚ mÌ Øn). In Tim. I.233,1–4 gibt eine Abstufung an, die vom „wirklichen Sein“ über das Seelische, dem „nicht wirklichen Sein“ (ožk Øntwò Øn), und dem Sinnenfälligen, dem „nicht wirklichen Nicht-Sein“ (ožk Øntwò ožk Øn) bis zur Materie reicht. Erst sie ist „wirkliches Nicht-Sein“ (Øntwò ožk Øn). In seiner weitesten Bedeutung kann sich „Sein“ in der Metaphysik des Proklos also auf alles beziehen, was zwischen dem Überseienden Einen und der Materie liegt. Das Überseiende Eine ist als Ursache des Seins NichtSein, die Materie hingegen ist in einem privativen Sinne Nicht-Sein. _ _ 194 Theol. Plat. III(9).35,27–36,3: t˛ prÿtiston twn Øntwn ýst˝ t˛ ýk twn _ prwtûstwn ÷rxwn mignŸmenon, lÍgw_ dÌ tÌn ožsûan. ¢H gJr ažtoousûa _ _ pÜntwn ýst˝ twn Øntwn ÷krüthò ka˝ o Áon monÜò ýsti twn Õlwn. 195 Um die Begrifflichkeiten nicht noch komplizierter zu machen, werde ich mit dem Begriff der Substanz nicht operieren, sondern mich auf den des Wesens beschränken.

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos _

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seine Subsistenz „vom Herd des Seienden“ (÷p˛ thò twn Øntwn Åstûaò) hat. Der Herd des Seienden aber ist die Monas des Seienden:196 Und in allem Seienden nun ist das Wesen das allererste und in jedem einzelnen ist das Wesenhafte das Wichtigste, weil es seine Subsistenz gleichsam vom Herd des Seienden her hat.197

Es stellt sich die Frage, ob Proklos in diesem Zitat vom Wesenhaften und dem Wesen im einzelnen spricht, oder ob er das Wesenhafte im einzelnen vom Wesen in allem Seienden als dem Wesen selbst unterscheidet und von ihm abhängig macht. Oder anders gefragt: Bezieht sich der Anfang des Zitates („in allem Seienden nun ist das Wesen das allererste“) auf das Wesen in den einzelnen Seienden oder aber auf die ažtoousûa, den Herd des Seienden, von dem das Wesenförmige im einzelnen abhängig ist? Diese Frage läßt sich aus dem Text nicht eindeutig entscheiden. Die Tatsache, daß ê ožsûa im Singular steht und als „das allererste“ (t˛ prÿtiston) bezeichnet wird, spricht aber eher für die zweite Möglichkeit. Da Proklos an anderen Stellen jedoch durchaus von der ožsûa einzelner Entitäten, so etwa vom „Wesen der Ideen“198, spricht, ist meines Erachtens, auch wenn mit der ožsûa im obigen Zitat die ažtoousûa gemeint ist, das Wesenhafte im einzelnen gleichbedeutend mit seiner ožsûa. Der Begriff t˛ ožsiwdÍò – wörtlich: „das Wesenförmige“ – unterscheidet sich nur insofern von ê ožsûa, als in ihm die Abhängigkeit des Wesenhaften im einzelnen von der ožsûa als der Monas des Seienden besonders gut zum Ausdruck kommt. Dieses Wesenhafte im einzelnen ist aber nichts anderes als seine ožsûa. Der Begriff ê ožsûa kann damit sowohl das erste Gemischte aus Grenze und Grenzelosigkeit, die Monas des Seienden, als auch den Seins- oder Wesensgrund eines einzelnen Seienden bedeuten. Als Wesensgrund hat die ožsûa zum einzelnen dasselbe Verhältnis wie die ožsûa als Monas des Seienden zum Sein als Ganzem: Sie ist sein Erstes und sein bleibender Grund: _

Und das Wesen ist das Bleibende des Seins, weil es sowohl mit den allerersten Prinzipien verwoben als auch untrennbar vom Einen ist.199

In den bisher behandelten Beispielen hatten t˛ ïn und ê ožsûa leicht verschiedene Bedeutungen: T˛ ïn bezieht sich mehr auf das Sein im allgemeinen, ê ožsûa hingegen auf das Sein oder Wesen eines Bestimmten. Diese beiden Bedeutungen koinzidieren, wenn die Monas des Seienden 196 Saffrey/Westerink, Theol. Plat., Bd.3, S. 123 schreiben dazu: „c’est la monade des êtres“. _ 197 Theol. Plat. III(9).36,3–6: ka˝ ýn Ñpasi toûnun to_iò ožsin ê ožsûa t˛ _ _ _ prÿtiston, ka˝ ýn ÅkÜstˆw t˛ ožsiwdÍò ýsti presbŸtaton ¼ò ÷p˛ thò twn Øntwn Åstûaò ëpostÜn. _ _ 198 In Parm. 1018,5: ê twn eùdwn ožsûa. _ 199 Theol. Plat. III(9).35,19–21: Ka˝ ê m˚n ožsûa t˛ münimon tou Øntoò ka˝ t˛ _ _ _ ta iò prwtûstaiò ÷rxa iò sunuðainümenon ka˝ ÷nekðoûthton tou Ånüò.

IV. Das Eine

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gemeint ist: Einerseits ist die Monas des Seienden, insofern sie die Ursache alles Seienden ist, das Sein im allgemeinen der Ursache nach. Andererseits hingegen ist sie, insofern sie der erste Seinsgrund ist, das Wesen schlechthin. Proklos verwendet den Begriff ožsûa auch für den ersten Term der Trias ožsûa – zwÌ – nouò, die den intelligiblen Kosmos strukturiert.200 Da der erste Term der Trias ožsûa – zwÌ – nouò im Deutschen üblicherweise als „Sein“ wiedergegeben wird,201 ist ožsûa als erster Term dieser Trias mit „Sein“ zu übersetzen.202 Für den ersten Term dieser Trias verwendet Proklos neben dem Begriff ožsûa auch die Begriffe ïn und e ùnai,203 die dann ebenso mit „Sein“ zu übersetzen sind. _

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Der Terminus t˛ e ùnai, der substantivierte Infinitiv von „sein“, bedeutet in der Regel „das Sein“, nur in wenigen Fällen ist eine Übersetzung mit „das Wesen“ angeraten.204 Anlaß zu diesem Exkurs gaben zwei Fragen, die nun beantwortet werden können. Die eine Frage war, ob es gerechtfertigt ist, das Gemischte aus Grenze und Grenzelosigkeit als „das Sein“ zu bezeichnen, denn in den angeführten Proklos-Zitaten war vom „Seienden“ und nicht vom „Sein“ als dem aus Grenze und Grenzelosigkeit Gemischten die Rede. Nun hat sich gezeigt, daß die angegebene Textbasis zu dünn war: Bei Proklos ist das Er200

cf. dazu B. V. cf. Beierwaltes, Proklos, S. 93, der von der Trias „Sein, Leben und Geist“ spricht. Den dritten Term dieser Trias nenne ich entgegen Beierwaltes der angelsächsischen Tradition folgend „Intellekt“ und spreche so von der Trias „Sein – Leben – Intellekt“. 202 Im Prolog des Euklidkommentars verwendet Proklos den Begriff ožsûa in einem noch weiteren Sinne als in den in diesem Exkurs behandelten Texten: dort kann sich ožsûa auf einen Seinsbereich beziehen, etwa wenn In Eucl. 5,14 sq. von „den Prinzipien des gesamten Bereichs des mathematischen Seins“ spricht (tJò [. . .] _ _ ÷rxJò thò maqhmatikhò Õlhò ožsûaò. Übersetzung: Leander Schönberger). Daneben meint ožsûa „Wesen“ im bereits behandelten Sinne oder aber auch im Sinne von „Einzelwesen“. Dies kann sich sogar auf den Bereich des Werdens und Vergehens beziehen: In Eucl. 13,1 sq. spricht von den „sich verändernden Einzelwesen“ _ (kinoumÍnwn ožsiwn). _ 203 So z. B. in E. T. 103,1–3: PÜnta ýn pasin, oùkeûwò d˚ ýn ÅkÜstˆw· ka˝ gJr _ _ _ _ _ _ ýn tˆw Ønti _ka˝ ê zwÌ ka˝ þ nouò, ka˝ ýn t´h zw´h t˛ e ùnai ka˝ t˛ noe in, ka˝ ýn _ _ _ tˆw nˆw t˛ e ùnai ka˝ t˛ zhn [. . .]. („Alles in allem, aber in jedem einzelnen auf die ihm eigene Weise. Denn im Sein sind Leben und Intellekt, im Leben Sein und intellektuelles Erkennen und im Intellekt Sein und Leben [. . .].“). 204 So z. B. an folgender Stelle, um zu vermeiden vom „Sein des Seins“ zu spre_ chen: Theol. Plat. III(6).23,1–3: eù gJr ê zwÌ t˛ prÿtwò Øn, ka˝ tažt˛n t˛ zw´h _ _ _ _ e ùnai ka˝ t˛ Ønti e ùnai, ka˝ e Áò þ lügoò ÷mðo in, [. . .] („Denn wenn das Leben das Sein in erster Linie wäre, und das Wesen des Lebens und das Wesen des Seins dasselbe wären, und für beide dieselbe Bezeichnung gälte, [. . .]“). 201

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

gebnis der Mischung aus Grenze und Grenzelosigkeit nicht nur das Seiende, sondern auch die Monas des Seienden und das Sein in seiner Gesamtheit. Es ist nicht nur gerechtfertigt, das Ergebnis der Mischung als „das Sein“ zu bezeichnen, dieser Begriff trifft sogar besser als der Begriff „das Seiende“, denn „das Sein“ bedeutet einerseits als Inbegriff des Seienden die Monas des Seienden, andererseits jedoch das Sein in seiner Gesamtheit. Das Sein in seiner Gesamtheit aber ist die Gesamtheit des Seienden.205 Die andere Frage bezog sich auf die Differenz zwischen den Worten des Philebos und denjenigen Passagen bei Proklos, die das aus Grenze und Grenzelosem Gemischte als das Seiende (tJ Ønta) bezeichnen, denn im Philebos ist das aus Grenze und Grenzelosem Gemischte die ožsûa und nicht das Seiende. Wie deutlich wurde, kennt Proklos nicht nur das Seiende, sondern auch und in erster Linie die ožsûa als das Gemischte. Als ažtoousûa206 – gleichbedeutend mit dem ažtoün – ist sie das erste Gemische und das erste des Seienden,207 das alles andere auf verborgene Weise enthält. Die Differenz zwischen Proklos und dem Philebos besteht also darin, daß Proklos den Bereich des Gemischten um das gesamte Seiende erweitert. Diese Erweiterung ist nicht weiter verwunderlich, hat sie doch ihre Wurzel in einer Verschiebung vom platonischen Kontext zur proklischen Auslegung von pÍraò und åpeiron, die bereits angesprochen wurde: Geht es im Philebos um eine Einteilung alles Seienden in die vier Klassen pÍraò, åpeiron, Mischung und Ursache der Mischung, setzt Proklos von diesen vier Klassen alles außer der Mischung als überseiend an, wodurch die Mischung sowohl Sein als auch das gesamte Seiende ist. Bisher wurden die beiden Prinzipien Grenze und Grenzelosigkeit in der Philosophie des Proklos vor allem unter dem Aspekt der Platon-Exegese eingeführt, und es wurde darauf hingewiesen, daß es zwischen Proklos und 205 Der Begriff des Seienden (tJ Ønta) ist dem des Seins in seiner Gesamtheit (t˛ Øn) sehr verwandt. Der Unterschied besteht vor allem darin, daß im Begriff tJ Ønta die einzelnen Entitäten stärker in den Blick rücken als im Begriff t˛ Øn. Mengentheoretisch ließe sich dieser Unterschied wie folgt darstellen: Wenn die Extension F des Begriffes tJ Ønta die Elemente n1, n2, n3, . . ., ni enthält, d. h. F = {n1, n2, n3, . . ., ni}, so enthält die Extension G des Begriffes t˛ ïn die Menge der Menge der Elemente n1, n2, n3, . . ., ni: G = {{n1, n2, n3, . . ., ni}}. Es ist allerdings fraglich, ob solch eine mengentheoretische Darstellung einer Philosophie wie der des Proklos gerecht werden kann, in der sich, wie E. T. 103 zeigt, die einzelnen Entitäten wechselseitig durchdringen. 206 cf. supra, Theol. Plat. III(9).36,2 sq. _ _ 207 cf. supra, Theol. Plat. III(9).35,4–7: [. . .] dhlon Õti t˛ prÿtiston twn _ _ _ ýsti twn Øntwn, touto d˚ ožd˚n ållo ýst˝n í t˛ ÷krütaton miktwn prÿtistün _ _ ýn to iò ožsi ka˝ Õ ýstin ažto˛n ka˝ ožd˚n ållo í Øn. („[. . .] so ist offensichtlich, daß das erste des Gemischten das erste des Seienden ist, dies aber ist nichts anderes als der äußerste Gipfel unter dem Seienden und das, was das ažto˛n ist und nichts anderes als das Øn.“).

IV. Das Eine

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Platon eine Verschiebung gibt, insofern Proklos Grenze, Grenzelosigkeit und die Ursache der Mischung im Gegensatz zu Platon als überseiend ansetzt. Eine solche Verschiebung würde Proklos vermutlich nicht zugeben, denn der Neuplatonismus glaubte, die reine Lehre Platons zu repräsentieren.208 Proklos war davon überzeugt, das von ihm vorgestellte philosophische System sei mit dem des Platon identisch.209 Wenn allerdings, wie dies in der modernen Forschung im allgemeinen üblich ist, eine solche Identität nicht vorausgesetzt wird,210 läßt sich die Frage, wie Proklos ein Prinzip aus den Schriften Platons ableitet, von der Frage unterscheiden, welche Funktion dieses Prinzip innerhalb seines philosophischen Systems hat. Dieser zweiten Frage wollen wir uns nun zuwenden: Was ist die systematische Begründung dafür, neben den Henaden vor dem Sein auch diese beiden Prinzipien anzunehmen? Dafür lassen sich zweierlei Begründungen anführen. Die eine (B) argumentiert von oben, vom ersten Prinzip als Ursache, her. Die andere (A) argumentiert von unten, von den Wirkungen her. (A) Grenzelosigkeit und Grenze durchziehen als parallele Ordnungen (tÜceiò) den gesamten spirituellen und sinnenfälligen Kosmos,211 von der Materie angefangen: Ferner ist die Grenzelosigkeit, damit wir von unten den Anfang machen, auch bei der Materie zu betrachten, weil sie für sich unbestimmbar, ungestalt und formlos ist, die Formen und die Gestalten aber sind die Grenzen der Materie.212

Die Ewigkeit, der Intellekt, die Zeit, die Seele, der Himmel und alles Entstandene sind sowohl unendlich als auch endlich. Endlich ist beispiels208 cf. Erler, Einswerdung, S. 191 („Als Neuplatoniker will auch Proklos keine über Platon hinausgehende Lehre bieten, versteht seine Aufgabe vielmehr wie seine Vorgänger darin, die Wahrheit explizit zu machen, die in Platons Werk bisweilen nur andeutungsweise angelegt ist.“); Halfwassen, Hegel, S. 388 („Da Proklos seine eigene Philosophie genau wie Plotin ausdrücklich als Interpretation der genuinen Philosophie Platons versteht, [. . .].“) sowie Saffrey, Accorder, S. 35 („Les philosophes de l’Antiquité tardive, que nous avons accoutumé d’appeler ‚Néoplatoniciens‘, ne revendiquaient pour eux-mêmes que le titre ‚Philosophe platonicien‘. Ils avaient l’ambition d’exposer dans toute sa pureté la philosophie de Platon.“). 209 Dies wird schon allein daraus deutlich, daß er sein umfängliches systematisches Werk, das die metaphysischen Existenzen seines Systems mit den hellenistischen Gottheiten identifiziert, PERI THS KATA PLATWNA QEOLOGIAS (Theol. Plat.) nennt, was übersetzt Die Theologie nach Platon heißt. 210 Eine gewisse Ausnahme bildet die supra, Anm. 169 erwähnte Tübinger Schule, die den prinzipientheoretischen Platon vor dem dialogischen Platon betont und Platon ein System unterstellt, das dem der neuplatonischen Philosophie sehr nahe kommt. 211 cf. In Parm. 1118,33–1123,21 sowie Theol. Plat. III(8).33,3–34,5. 212 In Parm. 1119,4–8: TÌn toûnun ÷peirûan, Ôna kÜtwqen poihsÿmeqa tÌn _ ÷rxÌn, qeatÍon m˚n ka˝ ýp˝ thò Ölhò, diüti ÷orist˛ò kaq\ aëtÌn ka˝ åmorðoò _ ka˝ ÷neûdeoò, tJ d˚ eŁdh ka˝ aÁ morða˝ pÍrata thò Ölhò.

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

weise der Himmel durch das Maßvolle seines Umlaufs, unendlich dagegen, weil dieser Umlauf niemals aufhört. Wenn aber alles sowohl endlich als auch unendlich ist, muß es jeweils etwas geben, das an sich für diese Eigenschaften verantwortlich ist. Das sind pÍraò213 und ÷peirûa214. PÍraò, die Grenze ist für das Begrenzte, bzw. das Endliche verantwortlich. \Apeirûa, die Unendlichkeit bzw. die Grenzelosigkeit ist für das Unendliche bzw. das Grenzelose verantwortlich: Vorgängig zu allem, was aus Grenze und Grenzelosigkeit in die Existenz kommt, existiert für sich die erste Grenze und die erste Grenzelosigkeit.215

Argumentiert man wie hier von unten, d. h. von den Wirkungen her, so kann zwar gezeigt werden, daß es die beiden Prinzipien pÍraò und ÷peirûa gibt, nicht aber, daß sie überseiend sind. (B) Die Argumentation von oben geht vom ersten Prinzip als der Ursache von Allem aus. Es wurde bereits dargelegt, daß in jeder Ursache einerseits die Wirkmächtigkeit (dŸnamiò), die Wirkung hervorzubringen, andererseits aber das Charakteristikum der Wirkung bereits vorgängig vorhanden sein muß. Für das erste Prinzip bedeutet das, daß in ihm umfassendste dŸnamiò und das Charakteristikum „eines“ sein müssen. In diesem Zusammenhang argumentiert Proklos sehr stark von der völligen Transzendenz des ersten Prinzips her, das er an dieser Stelle noch jenseits des Einen216 213 Es findet sich auch die Bezeichnung t˛ ažtüperaò (die Grenze selbst), was _ das Prinzipielle des pÍraò stärker betont. Cf. In Parm. 1121,32–34: Prwton m˚n _ _ ožn pÍraò t˛ ažtüperaò phgÌ ka˝ stÇrigma* pÜntwn ýst˝ twn perÜtwn. („Als erste Grenze nun ist die Grenze selbst Quelle und Grund* aller Grenzen“). Mit Dillon/Morrow, S. 463 folge ich hier (*) der von Cousin erwähnten Konjektur: „Taylor conjecit stÇrigma.“ (In Parm. 1121,33, Anm. 3). 214 Für ê ÷peirûa findet sich (In Parm. 1121,21) auch die Bezeichnung ê ažtoapeirûa („die Grenzelosigkeit selbst“), was Dillon/Morrow, S. 463 mit „Essential Infinity“ wiedergeben. Diese Übersetzung scheint mir etwas unglücklich zu sein, meint doch ažtoapeirûa ein überseiendes Prinzip. Die Bezeichnung t˛ åpeiron für das Prinzip des Unendlichen kommt bei Proklos zwar auch vor, treffender ist jedoch nach seinen eigenen Worten der Terminus ê ÷peirûa (cf. Theol. _ _ _ Plat. III(8).31,6 sq.: De i gJr e ùnai [. . .] pr˛ tou ÷peûrou tÌn ÷peirûan [. . .]. „Denn es muß [. . .] vor dem Grenzelosen die Grenzelosigkeit sein.“). In dieser Wortwahl macht sich seine prinzipientheoretische Auslegung von Philebos 27b7–c1 bemerkbar, was von manchen Forschern leider nicht wiedergegeben wird: So spricht van Riel durchgängig von t˛ åpeiron als dem Prinzip des Unendlichen. D’Ancona und De Rijk hingegen sprechen von ê ÷peirûa und werden Proklos mit diesem Terminus für das Prinzip des Unendlichen m. E. besser gerecht. _ 215 E. T. 90,1 sq.: PÜntwn twn ýk pÍratoò ka˝ ÷peirûaò ëpostÜntwn _ prou¤pÜrxei kaq\ aëtJ t˛ prwton pÍraò ka˝ ê prÿth ÷peirûa. _ _ _ 216 Theol. Plat. III(8).31,11 sq.: ojte t˛ prwton ¼ò ÷lhqwò ýstin Òn, kre itton _ gÜr ýstin, ¼ò pollÜkiò eŁrhtai, ka˝ tou Ånüò. („Und das Erste ist nicht das Eine im eigentlichen Sinne, denn es ist, wie oft gesagt worden ist, jenseits sogar des Einen.“). Cf. supra.

IV. Das Eine

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ansetzt. Es ist „sowohl jenseits der Einheit als auch jenseits der Ursache“217, denn es ist als „Transzendentes ohne Relation zu allem und unpartizipierbar durch alles“218. So kann Proklos nach einem Einen (ti Òn219) suchen, das „in erster Linie Ursache des Seins ist“220 und sich vom ersten Prinzip unterscheidet: Dieses Eine „kommt als erstes aus der unteilhabbaren und unkenntlichen Ursache des Ganzen in die Existenz“221. Proklos identifiziert dieses Eine mit dem Begriff der Grenze im Philebos. In ihm muß die Wirkmächtigkeit (dŸnamiò) sein, das Sein hervorzubringen: Aber wenn dieses Eine Ursache ist und die Existenz des Seins verursacht, wird in ihm wohl eine das Sein erzeugende Wirkmächtigkeit vorhanden sein. Denn jedes Hervorbringende bringt gemäß seiner Wirkmächtigkeit hervor, die ihr Sein zwischen dem Hervorbringenden und dem Hervorgebrachten hat und die des einen Hervorgang und gleichsam Ausstreckung ist, dem anderen aber als erzeugende Ursache vorgeordnet ist.222

Diese dŸnamiò, die das Sein hervorbringt, identifiziert Proklos mit der Grenzelosigkeit bzw. Unendlichkeit (÷peirûa), der die Grenze (pÍraò) vorgängig ist: Dieses Eine also, das vorgängig zur Wirkmächtigkeit existiert [. . .] nennt Sokrates im Philebos „Grenze“, die das Sein erzeugende Wirkmächtigkeit aber „Grenzelosigkeit“.223

Als zum Überseienden Einen gehörig sind pÍraò und ÷peirûa als Ursachen des Seins selbst überseiend. Doch wie genau konzipiert Proklos diese beiden Prinzipien?224 Als Urprinzip ist pÍraò dafür verantwortlich, daß jede Entität ein bestimmtes Eines ist. Es ist dafür verantwortlich, daß ein jedes sein beständiges Charakteristikum (tÌn münimon ùdiüthta225) hat: 217

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Theol. Plat. III(8).31,16: ka˝ thò Ånÿsewò ýpÍkeina ka˝ thò aùtûaò. Theol. Plat. III(8).31,17 sq.: åsxeton pr˛ò pÜnta ka˝ ÷mÍqekton ÷p˛ pÜntwn ýc´hrhmÍnon. 219 Theol. Plat. III(8).31,14. _ 220 Theol. Plat. III(8).31,15: aŁtiün ýsti tou Øntoò prÿtwò. _ _ _ 221 Theol. Plat. III(8).32,3 sq.: prwton ÷p˛ thò ÷meqÍktou ka˝ ÷gnÿstou twn Õlwn aùtûaò prou¤postÜn. _ 222 Theol. Plat. III(8).31,18–23: \All\ eù aŁtiün ýsti touto t˛ Ùn ka˝ ëpostati_ _ _ _ k˛n tou Øntoò, dŸnamiò ºn ýn ažtˆw gennhtikÌ tou Øntoò ëpÜrxoi. Pan gJr _ _ tou parÜgontoò ka˝ t˛ parÜgon katJ tÌn Åautou parÜgei dŸnamin, mÍshn _ _ _ _ _ twn paragomÍnwn ëpüstasin laxousan ka˝ tou m˚n ožsan prüodon ka˝ o ùon _ ýktÍneian, tou d˚ aùtûan gennhtikÌn protetagmÍnhn. _ _ 223 Theol. Plat. III(8).32,2–5: T˛ m˚n toûnun Ùn touto t˛ prou¤pÜrxon thò _ dunÜmewò [. . .] pÍraò þ ýn FilÇbˆw SwkrÜthò ÷pokale i, tÌn d˚ gennhtikÌn _ tou Øntoò dŸnamin ÷peirûan. 224 Dazu auch: van Riel, S. 138–148; D’Ancona; Beierwaltes, Proklos, S. 50–60. 225 Theol. Plat. III(9).37,26. 218

106

B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

PÍraò aber definiert und bestimmt jedes einzelne und setzt es in geeignete Definitionen. [. . .]; so daß vermittelst der ersten Grenze jedes einzelne des Seienden eine bestimmte Natur, eine Definition, ein Charakteristikum und einen geeigneten Platz hat.226

Die ÷peirûa ist gewissermaßen das Urprinzip von dŸnamiò.227 Es ist für die dŸnamiò einer jeden Entität verantwortlich: Jede Wirkmächtigkeit ist entweder begrenzt oder grenzelos; aber jede begrenzte existiert aus der grenzelosen Wirkmächtigkeit, die grenzelose Wirkmächtigkeit hingegen aus das ersten Grenzelosigkeit.228

Das Unendliche (åpeiron) findet sich auf jeder Stufe der proklischen Metaphysik,229 bis hin zur Materie. Dort ist es als reine Möglichkeit nur noch passive dŸnamiò: Die dŸnamiò der Materie aber unvollkommen.230

Im Bereich der Ideen ist dŸnamiò immer aktive dŸnamiò: Wirkmächtigkeit. Jede Unendlichkeit ist hier als unendliche dŸnamiò zu verstehen, nie als unendliche Anzahl, weil zahlenmäßige Vielheit ja mit zunehmender Entfernung vom ersten Prinzip einhergeht:231 Auf eine andere Weise also ist das Unendliche bei jenen zu fassen, der Wirkmächtigkeit und nicht der Zahl nach.232

Sofern sich das Unendliche auf unendliche dŸnamiò bezieht, ist es für Proklos ein relativer Begriff: Unendlich an dŸnamiò ist etwas nur aus der Perspektive der ihm nachrangigen Entitäten: 226 In Crat. 42,3–8: t˛ d˚ pÍraò Òkaston ÷ðorûzei ka˝ perigrÜðei ka˝ _ Ôsthsin ýn oùkeûoiò Õroiò. [. . .] Êste Òkaston twn Øntwn ðŸsin ñxei tinJ ka˝ _ Õron ka˝ ùdiüthta ka˝ tÜcin oùkeûan diJ t˛ prwton pÍraò. 227 cf. Gersh, S. 27, der sich auf E. T. 92,1–4 bezieht: „The first Infinity becomes in this way a paradigm for all the manifestations of power at lower levels of reality, and differs from these other powers by not being specifically linked with any single entity, but being the cause of all transcendently.“ _ 228 E. T. 91,1–3: Pasa dŸnamiò í peperasmÍnh ýst˝n í åpeiroò· ÷ll\ ê _ _ m˚n peperasmÍnh pasa ýk thò ÷peûrou dunÜmewò ëðÍsthken, ê d˚ åpeiroò _ dŸnamiò ýk thò prÿthò ÷peirûaò. 229 cf. In Parm. 1118,39–1121,21. _ 230 Theol. Plat. III(8).34,9 sq.: ê d˚ thò Ölhò dŸnamiò ÷telÌò. 231 In E. T. 86,10–13 schreibt Proklos über das wirkliche Sein (t˛ Øntwò ïn): _ _ ÷llJ katJ tÌn dŸnamin åpeiron ýke ino. di˛ katJ tažt˛n ÷mer˚ò ýke ino ka˝ _ _ åpeiron· ka˝ Õsˆw dÌ mallon Ùn ka˝ mallon ÷merÍò, tosoŸtˆw ka˝ åpeiron _ mallon. („Aber jenes ist bezüglich seiner dŸnamiò unendlich. Deshalb ist es bezüglich desselben unteilbar und unendlich: Denn je stärker etwas eines und je stärker etwas unteilbar ist, desto stärker ist es auch unendlich.“) Diesen Zusammenhang faßt van Riel, S. 140, wie folgt zusammen: „Multiplicity qua dŸnamiò is inversely proportional to actual multiplicity“. 232 In Parm. 890,22–24: ållon åra trüpon t˛ ýn ýkeûnoiò åpeiron lhptÍon _ katJ tÌn dŸnamin ka˝ ož katJ t˛ plhqoò.

IV. Das Eine

107

Es bleibt also, daß das Unendliche bei jenem allein für die geringeren Entitäten unendlich ist, über die es an Einfachheit transzendent ist und sie an Wirkmächtigkeit in einem Maße transzendiert, daß es unfaßbar für sie alle existiert.233

Für sich selbst oder die vorgängigen Entitäten ist es nicht unendlich: Weil es sich selbst aber umfaßt und definiert, kann es für sich selbst wohl nicht unendlich sein.234

Dies führt dazu, daß Proklos in Bezug auf dŸnamiò von mehr oder weniger unendlich sprechen kann, deren Gipfelpunkt die erste Unendlichkeit ist: Denn die Wirkmächtigkeiten der universelleren Entitäten sind unendlicher, weil sie selbst universeller und näher zur allerersten Unendlichkeit angeordnet sind.235

Das Konzept von pÍraò und ÷peirûa ist nicht unproblematisch: So ist beispielsweise nicht klar, ob diese beiden Prinzipien partizipierbar sind oder nicht. Proklos’ Angaben dazu sind widersprüchlich. Einerseits argumentiert er in dem oben zitierten Text von ihrer Ähnlichkeit mit dem Überseienden Einen her, daß sie wie es „vor der Teilhabe“236 sind. Andererseits jedoch sind sie zweitrangige Gottheiten und diese werden vom Sein partizipiert.237 Könnte es sich bei der Partizipation des Seins an den zweitrangigen Gottheiten um eine verkürzte Redeweise handeln, wie es ja auch in verkürzter Redeweise heißt, daß das Sein am Überseienden Einen partizipiert? Dann jedoch müßten sich metexümena als Bindeglieder zwischen ihnen und dem Sein finden. Noch mehr überseiende Quasi-Entitäten238 kämen ins Spiel, von denen bei Proklos jedoch keine Rede ist. Gibt es eine Rangordnung zwischen den drei Prinzipien, dem Überseienden Einen, der Grenze und der Grenzelosigkeit? Daß Hierarchisierungen im überseienden Bereich problematisch sind, darauf wurde weiter oben bereits hingewiesen. Diese Problematik mag De Rijk im Blick haben, wenn er pÍraò und ÷peirûa im Überseienden Einen koinzidieren läßt: 233

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E. T. 93,5–7: münoiò dÌ leûpetai to iò katadeestÍroiò åpeiron e ùnai t˛ _ _ _ _ ýn ýkeûnoiò åpeiron, ¼n ëperÇplwtai t´h dunÜmei tosouton Êste pasin _ ažto iò ÷perûlhpton ëpÜrxein. _ 234 E. T. 93,12 sq.: Åaut˛ d˚ sunÍxon ka˝ þrûzon ožk ºn Åautˆw åpeiron ëpÜrxoi. _ 235 E. T. 93,14–16: ÷peirüterai gJr aÁ twn þlikwtÍrwn dunÜmeiò, þlikÿterai _ _ ožsai ka˝ ýggutÍrw tetagmÍnai thò prwtûsthò ÷peirûaò. _ 236 Theol. Plat. III(8).31,4: pr˛ thò meqÍcewò. _ _ 237 Theol. Plat. III(8).32,9 sq.: [. . .] diüti dÌ twn m˚n deutÍrwn Òkastoò qewn _ ëp˛ tou Øntoò metÍxetai. („[. . .] weil gewiß jede einzelne der zweitrangigen Gottheiten vom Sein partizipiert wird“.). 238 Ich spreche hier von Quasi-Entitäten, weil es im Bereich des Überseienden keine Entitäten geben kann. Cf. supra, B. IV. 4. a).

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Whereas in the One Definiteness (or Limitation) itself is identical with Infinitude itself, they are different entities at every level posterior to the One.239

Bei Proklos finden wir aber durchaus eine Rangordnung der drei Prinzipien. PÍraò und ÷peirûa sind „die zwei Prinzipien nach dem Ersten“240, und das pÍraò ist der ÷peirûa vorgängig: Dieses Eine also, das vorgängig zur Wirkmächtigkeit existiert und als erstes aus der unteilhabbaren und unkenntlichen Ursache des Ganzen in die Existenz kommt, nennt Sokrates im Philebos „Grenze“, die das Sein erzeugende Wirkmächtigkeit aber „Grenzelosigkeit“.241

Daraus ergibt sich folgende Hierarchie: Überseiendes Eines – Grenze – Grenzelosigkeit.242 Die beiden Prinzipien nach dem Überseienden Einen nennt Proklos auch Einheit und Zweiheit, wobei die Einheit für das pÍraò, die Zweiheit hingegen für die ÷peirûa steht, oder nach orphischer Terminologie Äther und Chaos, wobei der Äther für die Grenze, das Chaos hingegen für die Grenzelosigkeit steht: Aber da ja nämlich nach der einen Ursache die Zweiheit der Prinzipien erscheint und in diesen die Einheit der Zweiheit überlegen ist, oder wenn du lieber auf orphische Weise sprichst, der Äther dem Chaos [. . .].243

Es gibt jedoch auch Textstellen, die an dieser Ordnung zweifeln lassen. Eine Gleichordnung läßt sich vermuten, wenn es im Parmenideskommentar heißt, daß „die Gottheit nämlich diese beiden Ursachen zugleich hervorgebracht hat, Grenze und Grenzelosigkeit“244. An anderer Stelle könnte man gar meinen, die Grenzelosigkeit sei der Grenze vorgängig, denn Proklos deutet den Platonischen Parmenides affirmativ, und dort heißt es in der ersten Hypothesis, daß das Eine grenzelos (åpeiron) sei. Das Eine der ersten Hypothesis aber ist nach neuplatonischer Auslegung das Überseiende Eine. 239

De Rijk, S. 13. _ Theol. Plat. III(8).30,15 sq.: aÁ dŸo [. . .] ÷rxa˝ metJ t˛ prwton. _ _ 241 cf. Theol. Plat. III(8).32,2–5: T˛ m˚n toûnun Ùn touto t˛ proupÜrxon thò ¤ _ _ _ dunÜmewò ka˝ prwton ÷p˛ thò ÷meqÍktou ka˝ ÷gnÿstou twn Õlwn aùtûaò _ _ prou¤postÜn, pÍraò þ ýn FilÇbˆw SwkrÜthò ÷pokale i, tÌn d˚ gennhtikÌn tou Øntoò dŸnamin ÷peirûan. _ 242 cf. auch z. B. In Parm. 1124,1–2: Eù toûnun ka˝ t˛ pÍraò tou ÷peûrou _ kre itton, [. . .]. („Wenn also nämlich die Grenze jenseits des Grenzelosen ist, [. . .]“). Wenngleich Proklos hier den Terminus åpeiron verwendet, so wird doch aus dem Kontext deutlich, daß die beiden Prinzipien Grenze und Grenzelosigkeit gemeint sind. _ 243 In Tim. I.176,10–13: ÷ll\ ýpe˝ ka˝ metJ tÌn mûan aùtûan ê duJò twn _ _ ÷rxwn ÷neðÜnh, ka˝ ýn taŸtaiò ê monJò kreûttwn thò duÜdoò, í eù boŸloio _ _ lÍgein \Orðikwò, þ aùqÌr tou xÜouò [. . .]. 244 In Parm. 1121,24–26: DŸo gJr taŸtaò aùtûaò Ñma parÇgagen þ qe˛ò, pÍraò ka˝ åpeiron. (Dies ist eine der wenigen Stellen, an denen Proklos åpeiron und nicht ÷peirûa für das Prinzip der Unendlichkeit verwendet.). 240

IV. Das Eine

109

Daß das Überseiende Eine grenzelos ist, scheint im Widerspruch dazu zu stehen, daß es dem Prinzip der Grenzelosigkeit, ê ÷peirûa, vorgängig ist. Zum ersten Einwand: Daß Grenze und Grenzelosigkeit zusammen bzw. zugleich (Ñma) hervorgebracht werden, läßt meines Erachtens nicht darauf schließen, daß es zwischen ihnen keine Hierarchie gibt. Denn wie anders sollte ein zeitfreies Hervorbringen beschrieben werden? Auch der sinnenfällige Kosmos, in dem es durchaus Rangordnungen von höher und niedriger gibt, wird vom Demiurgen auf einmal (÷qrüwò245) hervorgebracht. Wie aber löst Proklos das exegetische Problem, daß das Überseiende Eine åpeiron genannt wird, wo doch das Prinzip des Unendlichen, die Grenzelosigkeit (ê ÷peirûa), dem Prinzip der Grenze (pÍraò) und dem Überseienden Einen nachgeordnet ist? Er stellt die Frage, wie dem Überseienden Einen das Prädikat åpeiron zukommt: Es bleibt aber noch zu prüfen, ob das Eine auf solche Weise grenzelos genannt worden ist, wie wir die Unendlichkeit beim Seienden bejahend begreifen, oder irgendwie anders.246

Es ist dies die bereits behandelte Frage, wie das Überseiende Eine benannt werden kann.247 Wie dargelegt, ist alle Benennung relativ zum Erklärungskontext. Ist ein antithetisches Begriffspaar gegeben, so kommt dem Überseienden Einen eher (mallon248) der bessere der beiden Begriffe zu. Unter dem Aspekt seiner völligen Transzendenz aber steht es jenseits des besseren der beiden Begriffe. _

Was aber jenseits von F ist, ist auch nicht-F. Hier kommt die bereits angesprochene Logik der Transzendenz zum Tragen, die für Proklos’ Metaphysik so wichtig ist. „Nicht-F“ heißt hier: F vorgängig. Für das Begriffspaar pÍraò – åpeiron bedeutet eine Benennung des Überseiendem Einen unter dem Aspekt seiner Transzendenz, daß der höhere der beiden Terme von ihm verneint wird. Unendlich meint hier, daß es keine Grenze hat,249 weil es aller Grenze vorgängig ist. Bleibt ein dritter Einwand: Die Wirkungen der höheren Ursachen reichen weiter als die der niederen.250 Dies ist, was Olympiodoros251 die Proklische 245

In Tim. III.1,10. In Parm. 1123,22–24: Loip˛n d˚ ýpiskeptÍon püteron oÖtwò åpeiron _ _ _ eŁrhtai t˛ Ùn, ¼ò tÌn ýn to iò ožsin ÷peirûan lambÜnomen kataðatikwò, í ållwò pwò. 247 cf. B. IV. 3. 248 In Parm. 1123,30. _ _ 249 In Parm. 1124,7: gJr åpeiron touto tažt˛n tˆw ož pÍraò ñxonti („denn dieses ‚unendlich‘ ist dasselbe wie ‚keine Grenze habend‘ “). 250 cf. E. T. 57 sqq. und deren klare Auslegung bei Rosán, S. 78. 251 Olympiodoros, In Alcibiadem 109,18 sqq. 246

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Regel252 genannt hat. Nun reicht aber die Reihe des Grenzelosen bis zur Materie, die Reihe der Grenze hingegen nur bis zur Form. Die Wirkung von ÷peirûa reicht weiter als die von pÍraò und demnach müßte die ÷peirûa dem pÍraò vorgängig sein. Dies widerspricht den Textzeugnissen, es sei denn, man setzt als das åpeiron, das die Materie hervorbringt, dasjenige an, welches jeder Grenze vorgängig ist: das Eine selbst. Wie gezeigt wurde, bietet Proklos zweierlei Konzepte von Vermittlung zwischen dem Überseienden Einen und dem Sein an: einerseits das Paar pÍraò – ÷peirûa, andererseits die überseienden Henaden. Beide Konzepte sind paradigmatisch für den Bereich des Seins. Das Verhältnis zwischen dem Überseienden Einen und den Henaden entspricht dem Verhältnis zwischen jeder Idee und ihrer jeweiligen Taxis, d. h. der Ordnung, die von der Idee abhängt. Die Trias Grenze – Grenzelosigkeit – Gemischtes wird paradigmatisch für die triadische Struktur des intelligiblen Kosmos, mit dem sich das nächste Kapitel befaßt.

V. Der intelligible Kosmos Dieses Kapitel befaßt sich mit der triadischen Struktur des Intelligiblen bei Proklos, des Bereichs zwischen der Seele und dem Überseienden.253 Dies ist für das Verständnis seiner Metaphysik unabdingbar und für unsere Fragestellung insofern von Bedeutung als im Intelligiblen die Ewigkeit und das Nun miteinander verschränkt sind. Die Ewigkeit ist integraler Bestandteil des Intelligiblen, in dem „alles im Nun“ ist, wie Proklos in seinem Timaioskommentar schreibt: Beim Intelligiblen das „war“ und das „ist“ dasselbe. Denn dort ist alles gemäß dem „ist“, weil auch alles im Nun ist, das unteilbarer ist als das zeitliche Nun.254

Plotin setzt den Bereich zwischen der Seele und dem Überseienden Einen als die Hypostase Nous (Intellekt) an. Proklos kritisiert diese Position als zu undifferenziert: Die aber, die alles in dasselbe zusammenrühren und sagen, daß es zwischen der Seele und dem Guten lediglich einen Intellekt gibt, sind gezwungen, zuzugestehen, daß Intellekt und Ewigkeit dasselbe sind.255 252 Lloyd, Anatomy, S. 106: „This was called a ‚Proclean Rule‘ by Olympiodorus“. 253 Dazu: Beierwaltes, Proklos, S. 42–164; Gersh; Halfwassen, Hegel, S. 432–462; Rosán, S. 139–156 sowie Siorvanes, Proclus, S. _148–167. _ _ 254 In Tim. I.291,7–9: ýp˝ tou nohtou t˛ þn ka˝ ñsti tažtün – pÜnta gÜr _ _ _ _ ýstin ýke i katJ t˛ ñstin, ýpe˝ ka˝ pÜnta ýn tˆw nun, â dÌ tou katJ xrünon _ nun ÷merÍsteron.

V. Der intelligible Kosmos

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Bei Proklos ist der intelligible Bereich triadisch gegliedert, wobei unterschiedliche triadische Gliederungen unterschiedlichen philosophischen Intuitionen folgen und gleichwohl zur Deckung gebracht werden. Proklos gliedert ihn – um nur zwei Beispiele zu nennen – zum einen als die Trias Sein – Leben – Intellekt, zum anderen als die Trias Intelligibles – Intelligibles und Intellektuelles – Intellektuelles. Die eine triadische Gliederung geht auf Plotin und Porphyrios, die andere auf Iamblich zurück.256 Eine Trias ist eine Einheit aus drei Termen. Es handelt sich dabei sowohl um drei Aspekte einer einzigen Realität als auch um drei aufeinander folgende Stufen beim Hervorgang aus dem ersten Prinzip.257 Die Terme der Trias enthalten einander. Über die drei Terme Sein, Leben und Intellekt schreibt Proklos: Im ersten sind die übrigen der Ursache nach, im mittleren ist der erste durch Partizipation, der dritte aber der Ursache nach, und im dritten sind die vor ihm durch Partizipation.258

Jede Trias ist sowohl Einheit als auch Dreiheit: Sie ist Einheit in der Differenz. Dies macht die Deutung und schon allein die Benennung des triadisch strukturierten Bereichs zwischen der Seele und dem Überseienden Einen schwierig, denn „intelligibel“ ist ein mehrdeutiger Begriff: In unserem Zusammenhang bezieht er sich sowohl auf den ganzen Bereich zwischen dem Überseienden Einen und der Seele als auch auf den ersten Term der Trias Intelligibles – Intelligibles und Intellektuelles – Intellektuelles. Auf die Mehrdeutigkeit des Begriffes „intelligibel“ (nohtün), der sich in 255

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In Tim. III. 12,8–12: oÁ d˚ pÜnta_ eùò tažt˛n sugkukwnteò ka˝ Òna noun _ _ _ metacˇ yuxhò ka˝ t÷gaqou_ münon e ùnai lÍgonteò ÷nagkÜzontai noun ka˝ _ _ aùwna tažt˛n þmologe in e ùnai. Smith, S. 198 gibt zu bedenken, daß Proklos’ Behauptung, Plotin setze den Intellekt mit der Ewigkeit gleich, diesem nicht ganz gerecht werde: „Proclus has either misunderstood the subtlety of Plotinus’s discussion or thinks that it has not worked.“ 256 cf. Steel, Théologie Platonicienne, S. 384, „En réalité, quand Proclus (à la suite de Syrianus) explique le Parménide dans une perspective théologique, il possède déjà tout un système détaillé de la procession des classes divines, qui avait été élaboré dans l’école néoplatonicienne depuis Plotin. C’est le cas de la distinction entre l’intelligible et l’intellectif qui remonte à Jamblique. Il en va de même pour la fameuse distinction entre les trois degrés ‚être, vie, intellect‘ qui remonte à Plotin et à Porphyre [. . .]“. 257 cf. Dodds, E. T., S. 254: „Are Being, Life and Intelligence to be regarded as three aspects of a single reality or as three successive stages in the unfolding of the cosmos from the One? Pr. characteristically answers that both views are true: they are aspects, for each of them implies the others as cause or as consequent; they are successive, not coordinate, for each is predominant (though not to the exclusion of the others) at a certain stage of the prüodoò.“ _ _ 258 E. T. 103, 6–8: ñn te tˆw prÿtˆw tJ loipJ kat\ aùtûan ñsti, ka˝ ýn tˆw _ _ mÍsˆw t˛ m˚n prwton katJ mÍqecin t˛ d˚ trûton kat\ aùtûan, ka˝ ýn tˆw trûtˆw _ tJ pr˛ ažtou katJ mÍqecin.

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

seiner weitesten Anwendung auch auf die Seele beziehen kann, weist Proklos selbst hin: Denn bald beziehen sie das Intelligible auf die ganze durch und durch unsichtbare Natur, so wie wenn sie auch die Seele intelligibel nennen, wie Sokrates im Phaidon, bald aber auf alles, was besser ist als die das seelische Sein, wie die Dihairese im Staat zeigt, bald aber auf die allerersten Triaden des Seins [. . .]259

Der mögliche Bedeutungsumfang des Begriffs des Seins ist noch weiter als der des Begriffs des Intelligiblen. „Das Sein“ (t˛ ïn) kann, darauf wurde bereits hingewiesen,260 im weitesten Sinne im Gegensatz zum Nicht-Sein alles außer dem Überseienden Einen und der Materie meinen. Meistens aber bezieht sich t˛ ïn auf das „wirkliche Sein“ (Øntwò ïn),261 den intelligiblen Bereich. Es kann aber auch dessen Gipfel, das Sein in erster Linie, meinen: die Monas des Seins. Auf die letzten beiden Möglichkeiten bezieht sich Proklos an folgender Stelle, die sich an obiges Zitat anschließt: Auch das Sein nun bezeichnet auf dieselbe Weise im Sophistes die Ordnung des Einen Seins, hier aber den ganzen ewigen Kosmos: Denn daß nämlich das Sein in erster Linie der äußerste Gipfel der intelligiblen Ebene ist und die Monas alles Seienden, ist deutlich.262

Bei der Befassung mit dem intelligiblen Bereich müssen wir uns auf eine Mehrdeutigkeit der Begriffe einstellen. Denn „Sein“ und ebenso „Intelligibles“ meinen einerseits die Gesamttrias, andererseits ihren ersten Term.263 259 In Tim. I.230,22–28: ka˝ gJr t˛ noht˛n pot˚ m˚n katJ pÜshò ðÍrousi _ _ thò ÷eidouò ka˝ ÷orÜtou ðŸsewò, Êsper Õtan ka˝ tÌn yuxÌn nohtÌn _ lÍgwsin, ¼ò þ ýn Faûdwni SwkrÜthò, pot˚ d˚ katJ twn kreittünwn ãpÜntwn _ _ _ _ thò yuxikhò ožsûaò, ¼ò ê ýn Politeû ´a dhlo i diaûresiò, potÍ ge mÌn katJ twn _ prwtûstwn tou Øntoò triÜdwn [. . .]. 260 cf. den Exkurs zum Bedeutungsfeld „Sein“ in B. IV. 4. b). _ _ _ 261 cf. In Tim. I.233,1 sq.: di˛ ka˝ twn palaiwn tineò Øntwò m˚n ïn kalousi t˛ noht˛n plÜtoò. („Deshalb auch haben einige der Alten die intelligible Ebene ‚wirkliches Sein‘ genannt.“). _ _ 262 In Tim. I.230,29–32: ka˝ t˛ ïn ožn t˛n ažt˛n trüpon ýn Soðist´h m˚n tÌn _ _ _ tou Ån˛ò Øntoò dhlo i tÜcin, ýntauqa d˚ t˛n aùÿnion sŸmpanta küsmon· ýpe˝ _ _ Õti ge t˛ ïn t˛ prÿtwò ïn t˛ ÷krütatün ýsti tou nohtou plÜtouò ka˝ ê _ _ monJò twn Øntwn ãpÜntwn, dhlon. 263 Proklos nennt den ersten Term der Trias sowohl ïn als auch ožsûa (und an _ einigen wenigen Stellen e ùnai). Es zeigt sich, daß der Begriff t˛ ïn von Proklos in stärkerem Maße mehrdeutig verwendet wird als ê ožsûa. Wie in B. IV. 4. b) dargelegt wurde, bezieht sich t˛ ïn eher auf das Sein im allgemeinen, ê ožsûa hingegen auf das Sein oder Wesen eines Bestimmten. Dieser Unterschied macht sich nun bemerkbar, wenn die beiden Begriffe auf den ersten Term der Trias Sein – Leben – Intellekt angewendet werden. Während t˛ ïn gleichermaßen die Gesamttrias als auch ihren ersten Term bedeuten kann, bezieht sich der Begriff ê ožsûa nur in-

V. Der intelligible Kosmos

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Dies ist in der Sache selbst begründet, denn Trias ist sowohl Einheit als auch Differenz. Welche Benennung ist dem Bereich zwischen der Seele und dem Überseienden Einen angemessen? Gersh nennt ihn in seiner exzellenten Schrift KINHSIS AKINHTOS „spiritual world“.264 Damit umgeht er das Problem der Mehrdeutigkeit der Begriffe „intelligibel“ und „Sein“ um den Preis eines neuen Begriffs. Mit der Bezeichnung „intelligibel“ will ich – um den Preis der Mehrdeutigkeit – näher an Proklos bleiben. Allerdings läßt sich dieser Preis reduzieren: Bisher wurde vom intelligiblen „Bereich“ gesprochen. „Bereich“ war für die bisherigen Überlegungen ein Hilfsbegriff. Wegen seiner räumlichen Konnotation ist er ungünstig und vermag überdies nicht auszudrücken, daß es sich bei dem zwischen dem Überseienden Einen und der Seele um ein Geordnetes handelt. Um die Ordnung dessen auszudrücken, worauf sich „intelligibel“ im weiteren Sinne bezieht, soll vom „intelligiblen Kosmos“ die Rede sein. Nach welchen Strukturprinzipien der intelligible Kosmos geordnet ist, soll im folgenden untersucht werden. Dabei werden unterschiedliche triadische Gliederungen vorgestellt: Da ist zum einen die große Haupttrias Sein – Leben – Intellekt, die ihren ideengeschichtlichen Ursprung in Platons Sophistes265 hat. Die Trias nohtün – noht˛n Ñma ka˝ noerün – noer˛n entspricht geistmetaphysischen Überlegungen. Die Trias münh – prüodoò – ýpistroðÌ folgt dem Verursachungsprozeß metaphysischer Entitäten. Verwandt damit ist die Trias pÍraò – ÷peirûa – miktün, die der Genese des Seins aus dem Überseienden Einen folgt. Es wird sich zeigen, daß die Triaden sich gegenseitig auslegen, denn Proklos bringt die verschiedenen triadischen Gliederungen des intelligiblen Kosmos miteinander zur Deckung: So ist zum Beispiel das Sein zugleich das Intelligible (nohtün), das Leben hingegen der Hervorgang (prüodoò) aus dem Sein. Bei der weiteren Untersuchung darf nicht vergessen werden, daß jede Trias zugleich Einheit und Dreiheit ist. So betont Proklos bald die Einheit der Trias, bald die Verschiedenheit ihrer drei Terme.

sofern auf die Gesamttrias, als ihr erster Term die Gesamttrias der Ursache nach enthält. 264 Gersh, S. 17. 265 Platon, Sophistes 248e sqq.

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

1. Strukturprinzipien a) noêton – noêton hama kai noeron – noeron _

Schon Aristoteles stellt die Frage, was die Vernunft266 (nouò) wohl als höchstes Objekt ihres Denkens denken mag, und weil in der aristotelischen Metaphysik die Vernunft das höchste Prinzip ist,267 ist sie selbst höchstes Objekt ihres Denkens. Vernunft (nouò) und Denkbares bzw. Gedachtes oder intellektuell Erkanntes (nohtün) sind dabei eine untrennbare Einheit: _

Das Denken an sich aber geht auf das an sich Beste, das höchste Denken auf das Höchste. Sich selbst denkt die Vernunft in Ergreifung des Denkbaren; denn denkbar wird sie selbst, den Gegenstand berührend und denkend, so daß Vernunft und Gedachtes dasselbe sind.268 _

Die hypostatische Einheit des nouò, die wir noch bei Plotin finden,269 ist bei Proklos einer hierarchischen Gliederung von intellektuell Erkanntem (nohtün) und intellektuell Erkennendem (noerün) gewichen. Entsprechend der triadischen Struktur des intelligiblen Kosmos fügt er zwischen dem intellektuell Erkannten (nohtün) und dem intellektuell Erkennenden (noerün) eine Ebene des zugleich intellektuell Erkannten und Erkennenden (noht˛n Ñma ka˝ noerün) ein. Die Entitäten dieser Zwischenebene, in der Theologia Platonica wie alle metaphysischen Entitäten als Gottheiten behandelt, erkennen auf intellektuelle Weise das ihnen Vorgängige und werden von dem ihm Nachrangigen auf intellektuelle Weise erkannt: So beschaffen nun sind die intellektuell erkannten und intellektuell erkennenden Gottheiten [. . .], intellektuell erkennend zwar die Gottheiten vor ihnen, intellektuell erkannt aber von den Gottheiten nach ihnen.270 266 Der Terminus „Vernunft“ ist hier mit Bedacht gewählt, denn wie wir sehen werden, ist er umfassender als der proklische Intellekt, der dritte Term der Trias „Sein – Leben – Intellekt“. _ 267 cf. Aristoteles, Metaphysica 1074b15 sq.: TJ d˚ per˝ t˛n noun ñxei tinJò _ _ _ ÷porûaò. doke i m˚n gJr e ùnai twn ðainomÍnwn qeiütaton. („In Betreff der Vernunft aber entstehen einige Zweifel. Unter dem Erscheinenden nämlich gilt sie für das Göttlichste.“ Übersetzung: Bonitz). _ 268 Aristoteles, Metaphysica 1072b, 18–21: ê d˚ nühsiò ê kaq\ aëtÌn tou kaq\ _ _ _ aët˛ ÷rûstou, ka˝ ê mÜlista tou mÜlista. aët˛n d˚ noe i þ nouò katJ _ _ _ metÜlhyin tou nohtou· noht˛ò gJr gûgnetai qiggÜnwn ka˝ nown, Êste tažt˛n _ nouò ka˝ nohtün. (Übersetzung: Bonitz). 269 cf. Beierwaltes, Proklos, S. 89: „In der Philosophie Plotins ist der Geist eine Hypostasis, die zwar eine Einheit von in sich Unterschiedenem ist, aber nicht verschiedene Dimensionen in sich befaßt, die im Verhältnis der Subordination zueinander stehen.“ (Hervorhebungen: Beierwaltes). _ _ 270 Theol. Plat. IV(1).10,7–11: Toioutoi m˚n ožn eùsin oÁ nohto˝ ka˝ noero˝ _ _ _ qeo˝ [. . .], noounteò m˚n toˇò pr˛ ažtwn, nooŸmenoi d˚ ëp˛ twn met\ ažtoˇò _ qewn.

V. Der intelligible Kosmos

115

So verbinden die intellektuell erkannten und erkennenden Gottheiten (oÁ nohto˝ ka˝ noero˝ qeoû) die Ebene des intellektuell Erkannten (nohtün) mit der des intellektuell Erkennenden (noerün). Das intellektuell Erkannte, das auch als das Intelligible bezeichnet wird, ist dem intellektuell Erkennenden, das auch als das Intellektuelle bezeichnet wird, vorgängig. b) Sein – Leben – Intellekt Sein, Leben und Intellekt, der berühmte Ternar aus Platons Sophistes,271 bildet bei Proklos eine Trias, deren Terme in einem hierarchischen Verhältnis stehen, so daß man bei aller Einheit in der Differenz von einzelnen Hypostasen sprechen kann.272 Das Ordnungsverhältnis zwischen den drei Termen leitet Proklos auf zweierlei Weise her. Zum einen leitet er es aus dem generativen Prozeß des Seins her, der den Triaden pÍraò – ÷peirûa – mikt˛n sowie münh – prüodoò – ýpistroðÌ folgt. Zum anderen leitet er es von unten, aus dem logischen Verhältnis der partizipierenden Entitäten zueinander, her.273 Die drei Terme der Trias Sein – Leben – Intellekt sind die metaphysischen Ursachen für die Entitäten, die an ihnen partizipieren. Diese geben uns Aufschluß über das Ordnungsverhältnis jener. Im sechsten Kapitel des dritten Buches seiner Theologia Platonica leitet Proklos die Ordnung des Seienden her, angefangen von den Körpern. Über die Seele beim Intellekt angekommen, fragt er sich, ob der Intellekt das erste des Seienden sei: Was nun? Ist der Intellekt das allererste des Seienden?274

Aber vor dem Intellekt ist die Ebene des Lebens.275 Das Leben ist dem Intellekt vorgängig, weil es universeller als der Intellekt ist: Alles, was am Intellekt teilhat, hat auch am Leben teil, aber nicht umgekehrt: Denn wir sagen auch, daß die Pflanzen leben.276

So kann Proklos aus dem Verhältnis der Extensionen der Prädikate „x lebt“ und „x ist mit Intellekt begabt“ auf das Ordnungsverhältnis ihrer zugehörigen Ursachen Leben und Intellekt schließen. Das Leben ist dem Intellekt vorgängig. 271

Platon, Sophistes 248e sqq. cf. Gersh, S. 20: „The next triad in the spiritual world is that formed by the _ hypostases of ïn, zwÌ and nouò.“ 273 Zu dieser Argumentation die Ordnung der Dinge betreffend cf. B. III. 7. _ _ _ 274 Theol. Plat. III(6).22,12: Tû ožn; t˛ prÿtiston twn Øntwn þ nouò. _ _ 275 cf. Theol. Plat. III(6).22,12 sq.: ¨ H ka˝ pr˛ toŸtou t˛ thò zwhò plÜtoò. („Nein, vor diesem ist ja die Ebene des Lebens.“). _ 276 Theol. Plat. III(6).22,20 sq.: ka˝ gJr tJ ðutJ lÍgomen zhn. 272

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Nun fragt sich Proklos, ob er mit dem Leben schon beim höchsten Seienden angekommen sei, ob Sein und Leben dasselbe sind. Auch diese Frage löst er über die partizipierenden Entitäten: Denn wenn das Leben das Sein in erster Linie wäre, und das Wesen des Lebens und das Wesen des Seins dasselbe wären, und für beide dieselbe Bezeichnung gälte, so müßte alles, was am Leben teilhat, auch am Sein teilhaben, und alles, was am Sein teilhat, auch am Leben. Denn wenn die beiden dasselbe sein sollten, müßte alles gleichermaßen sowohl am Sein wie am Leben teilhaben.277

Mengentheoretisch ausgedrückt: Sein und Leben wären genau dann dasselbe, wenn die zugehörigen Prädikate „x ist“ und „x lebt“ extensionsgleich wären. Dem ist aber nicht so: Aber es haben zwar alle Lebewesen sowohl Wesen als auch Sein, das Seiende aber ist oft auch frei von Leben.278

Die Extension des Prädikates „x ist“ ist eine echte Obermenge der Extension des Prädikates „x lebt“. Die zugehörigen Ursachen stehen in einem Ordnungsverhältnis: Das Sein ist dem Leben vorgängig. Es ergibt sich also folgendes Ordnungsverhältnis: Sein – Leben – Intellekt.279 Dieses Ordnungsverhältnis ist allerdings nicht so einfach, wie es die bisherige Darstellung erscheinen läßt, denn die drei Terme enthalten einander auf die ihnen eigene Weise, so daß jeder Term die ganze Trias spiegelt. Im Sein finden sich Leben und Intellekt nach der Weise des Seins, im Leben finden sich Sein und Intellekt nach der Weise des Lebens und im Intellekt finden sich Sein und Leben nach der Weise des Intellekts: Alles in allem, aber in jedem einzelnen auf die ihm eigene Weise. Denn im Sein sind Leben und Intellekt, im Leben Sein und intellektuelles Erkennen und im Intellekt Sein und Leben, aber indem alles bald nach der Weise des Intellekts, bald nach der Weise des Lebens, bald nach der Weise des Seins ist.280

Wie Proklos die Ordnung Sein – Leben – Intellekt aus dem generativen Aspekt des Seins herleitet, damit befassen sich die beiden nächsten Unter277

_

Theol. Plat. III(6).23,1–6: eù gJr ê zwÌ t˛ prÿtwò Øn, ka˝ tažt˛n t˛ zw´h _ _ _ _ e ùnai ka˝ t˛ Ønti e ùnai, ka˝ e Áò þ lügoò ÷mðo_ in, Ñpan ºn t˛ zwhò metÍxon ka˝ _ _ _ _ _ tou Øntoò eŁh meteilhðüò, ka˝ pan t˛ tou e ùnai _metalabün, ka˝ thò zwhò. Eù _ _ _ gJr tažt˛n ÅkÜteron, pÜnta ºn þmoûwò tou te e ùnai metÍxoi ka˝ tou zhn. _ 278 Theol. Plat. III(6).23,6–8: ÷llJ tJ m˚n zwnta pÜnta ka˝ ožsûan ñxei ka˝ _ _ t˛ Øn, tJ d˚ Ønta pollaxou ka˝ zwhò ýstin åmoira. 279 cf. auch E. T. 101 sowie den Abschnitt (B. III. 7.). _ _ 280 E. T. 103.1–4: PÜnta ýn pasin, oùkeûwò d˚ ýn ÅkÜstˆw· ka˝ gJr ýn tˆw Ønti _ _ _ _ _ _ _ ka˝ ê zwÌ ka˝ þ nouò, ka˝ ýn t´h zw´h t˛ e ùnai ka˝ t˛ noe in, ka˝ ýn tˆw nˆw t˛ _ _ _ _ e ùnai ka˝ t˛ zhn, ÷ll\ Õpou m˚n noerwò, Õpou d˚ zwtikwò, Õpou d˚ Øntwò Ønta pÜnta. _

V. Der intelligible Kosmos

117

abschnitte, die sich der Trias pÍraò – ÷peirûa – mikt˛n und der Trias münh – prüodoò – ýpistroðÌ widmen. c) peras – apeiria – mikton Die Trias pÍraò – ÷peirûa – mikt˛n beschreibt den generativen Prozeß des Seins auf zweifache Weise: Zum einen erklärt sie, wie das Sein aus dem Überseienden Einen entsteht, zum anderen aber, wie sich das Sein dieser Trias folgend entfaltet. So ist das Sein einerseits das Gemischte aus pÍraò und ÷peirûa, andererseits ist es ein triadisch strukturierter Kosmos, der selbst nach dem Strukturprinzip pÍraò – ÷peirûa – mikt˛n geordnet ist. Im dritten Buch seiner Theologia Platonica beschreibt Proklos die intelligiblen Gottheiten, die erste Ebene des intelligiblen Kosmos.281 Die intelligiblen Gottheiten bilden eine Trias aus Triaden. Sie ist durch die Struktur pÍraò – åpeiron282 – mikt˛n geordnet. Ihr erster Term, d. h. ihre erste Trias, entspricht dem pÍraò, ihre zweite Trias dem åpeiron und ihre dritte Trias dem mikt˛n: Denn die drei Prinzipien nach dem ersten ordnen uns die ganze intelligible Gattung der Gottheiten, die Grenze, indem sie die erste Trias, das Grenzelose, indem es die zweite, und das Gemischte, indem es die dritte zum Vorschein bringt.283

Doch auch die Triaden dieser Trias sind nach pÍraò – åpeiron – mikt˛n strukturiert. Die erste Trias ist die bereits besprochene Trias pÍraò – ÷peirûa – miktün. Sie ragt gewissermaßen nur mit ihrem dritten Term in den Bereich des Seins, denn die erste Grenze und die erste Grenzelosigkeit sind ja überseiend. Das erste Gemischte ist das erste des Seienden. Dies aber ist nichts anderes als das Sein selbst (t˛ ažtoün), die Monas des Seienden. Diese Monas des Seienden nennt Proklos, wie weiter oben dargestellt wurde,284 auch t˛ prÿtwò ïn (das Sein in erster Linie), ê ažtoousûa (das Sein selbst) oder ê ožsûa (das Sein). Als Gipfel des Seienden hat das Sein in 281 Man beachte die Doppeldeutigkeit des Begriffes „intelligibel“. Die erste Ebene des intelligiblen Kosmos ist das Intelligible im engeren Sinne, das mit dem Intelligibel-und-Intellektuellen und dem Intellektuellen den intelligiblen Kosmos bildet. 282 ÷peirûa ist das Urprinzip des åpeiron. Deshalb heißt die erste Trias pÍraò – ÷peirûa – miktün. Als die nachfolgenden Entitäten strukturierend muß sie pÍraò – åpeiron – mikt˛n heißen. Cf. supra, Anm. 214. _ 283 Theol. Plat. III(13).47,13–16: AÁ gJr tre_iò metJ t˛ prwton ÷rxa˝ sŸmpan _ _ _ êm in dieküsmhsan t˛ noht˛n twn qewn gÍnoò, t˛ m˚n pÍraò tÌn _ prÿthn ýkðhnan triÜda, t˛ d˚ åpeiron tÌn deutÍran, t˛ d˚ mikt˛n tÌn trûthn. 284 cf. B. IV. 4. b).

118

B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

erster Linie ursächlichen Charakter: Es ist alles auf verborgene Weise285 und umfaßt alles auf intelligible Weise.286 Es kann sich entfalten, weil es sowohl am pÍraò als auch an der ÷peirûa teilhat.287 PÍraò und ÷peirûa resp. åpeiron haben somit eine doppelte Funktion: Zum einen konstituieren sie das Sein, zum anderen jedoch helfen sie ihm, sich zu entfalten: Denn zweifach sind die Grenze und das Grenzelose, einerseits sind sie über das Gemischte transzendent, andererseits sind sie zu seiner Vervollständigung aufgenommen.288

Die zweite Trias geht aus der ersten hervor: Aber nach dieser ersten Trias, die ihre Existenz vom Einen hat und mit dem Einen verbunden ist, wollen wir eine zweite besingen, die aus dieser hervorgeht und durch Entitäten, die der Trias vor ihr analog sind, konstituiert wird.289

Weil sie der ersten Trias analog ist, lassen sich ihre Charakteristika argumentativ (logismˆw) erfassen: _

Ferner aber ist auch in diesem Fall eine Trias der ersten analog und man muß wiederum ihr Charakteristikum argumentativ erfassen.290

Zwei Merkmale der zweiten Trias lassen sich aus ihrer Analogie zur ersten ableiten. Erstens besteht auch sie aus Grenze, Grenzelosem und Gemischten: Denn in jeder einzelnen ist Grenze, Grenzeloses und Gemischtes.291 285 Theol. Plat. III(12).46,7 sqq.: Ka˝ t˛ m˚n kat' aùtûan ýst˝ pÜnta ka˝ ¼ò pollÜkiò eŁpomen kruðûwò, t˛ d˚ [. . .]. („Das eine ist alles der Ursache nach und, wie wir oft gesagt haben, auf verborgene Weise, das andere aber [. . .].“). _ _ 286 Theol. Plat. III(9).35,8 sq.: t˛ prÿtwò ïn pÜntwn e ùnai nohtwò perilhptik˛n ÷pedeûknumen. („Wir haben gezeigt, daß das Sein in erster Linie alles auf intelligible Weise umfaßt.“). _ 287 Theol. Plat. III(9).38,27–39,3: OÖtwò ožn ýk toŸtwn t˛ Øn, ¼ò metÍxon _ _ ÷mðo in ka˝ t˛ m˚n monoeid˚ò ÷p˛ tou pÍratoò ñxon, t˛ d˚ gennhtik˛n ka˝ _ _ Õlwò t˛ krŸðion plhqoò ÷p˛ thò ÷peirûaò. („So also ist das Sein aus diesen, weil es an beiden teilhat und das Eingestaltige von der Grenze hat, das Erzeugende aber und überhaupt die verborgene Vielheit von der Grenzelosigkeit.“). 288 Theol. Plat. III(10).41,20 sqq.: Ditt˛n gJr t˛ pÍraò ka˝ t˛ åpeiron, ka˝ _ _ _ tJ m˚n ýc´Çrhtai twn miktwn, tJ d˚ eùò tÌn sumplÇrwsin ažtwn pareûlhptai. (Man beachte die Verwendung von åpeiron: Proklos meint damit sowohl das überseiende Grenzelose, die Grenzelosigkeit, wofür er normalerweise den Begriff ÷peirûa verwendet, als auch das seiende Unendliche). 289 Theol. Plat. III(12).45,13–16: MetJ d˚ tÌn triÜda taŸthn prÿthn ÷p˛ _ _ _ tou Ån˛ò ëpostasan ka˝ tˆw Ån˝ sunhnwmÍnhn, deutÍran ëmnÇswmen ÷p˛ _ _ _ _ taŸthò proi¤ ousan ka˝ diJ twn ÷nalügwn t´h pr˛ ažthò sumplhroumÍnhn. _ _ 290 Theol. Plat. III(13).47,2 sq.: \All\ ñsti m˚n k÷ntauqa triJò ÷nÜlogoò t´h _ _ _ _ _ prÿt´h, de i d˚ až ka˝ tÌn ùdiüthta ažthò logismˆw sullabe in. 291 Theol. Plat. III(13).47,19 sq.: ýn ÅkÜst´h gÜr ýsti pÍraò, åpeiron, miktün.

V. Der intelligible Kosmos

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Zweitens ist ihr Kennzeichen als mittlere Trias der mittlere Term der ersten Trias: Grenzelosigkeit oder Unendlichkeit (÷peirûa). Grenzelosigkeit aber ist das Urprinzip von Wirkmächtigkeit (dŸnamiò) und deshalb eng mit ihr verbunden. Das Kennzeichen der zweiten Trias ist daher unendliche Wirkmächtigkeit: Unendliche Wirkmächtigkeit nun ist es, nach der die zweite Triade charakterisiert wird, denn als mittlere existiert sie gemäß der Mitte der ersten.292

Diese unendliche Wirkmächtigkeit bringt Proklos mit dem Begriff des Lebens in Zusammenhang: Nun aber ist das Sein, das diese Trias auffüllt, gleichwie das ihm Vorgängige ein Gemischtes, und etwas, das das Charakteristikum des Lebens hinzunimmt (denn die Grenzelosigkeit hat nämlich in diesem das Leben erzeugt).293

Proklos beschreibt die zweite Trias in Analogie zur ersten wie folgt: Und das eine ist ihr Gipfel, den wir Eines, Gottheit und Existenz nennen, das andere ihre Mitte, die wir Wirkmächtigkeit nennen, das dritte aber ihr Letztes, von dem wir sagen, daß es das Sein in zweiter Linie ist, dies aber ist das intelligible Leben.294

Die zweite Trias ist demnach Grenze – Grenzelosigkeit – intelligibles Leben. Auch in der dritten intelligiblen Trias sind Grenze, Grenzelosigkeit und Gemischtes.295 Weil sie die dritte Trias ist, ist ihr Kennzeichen der dritte Term der ersten intelligiblen Trias, das Gemischte: [. . .], so wie die dritte gemäß dem Charakteristikum des Gemischten hervorgegangen ist.296

Diesen bringt Proklos mit dem Intellekt in Zusammenhang. Das ist verwunderlich: War nicht das Gemischte der ersten Trias Sein und eben nicht Intellekt? Hier sind wir an einem entscheidenden Punkt der proklischen Metaphysik angekommen: Der erste und der dritte Term der Trias stehen _

˙Apeiroò ožn dŸnamûò ýsti kaq\ ⁄n ê deutÍra Theol. Plat. III(13).47,17–19: _ _ xarakthrûzetai· mÍsh gJr ožsa katJ t˛ mÍson thò prÿthò ëðÍsthke. 293 Theol. Plat. III(13).48,11–14: \AllJ mÌn t˛ ïn t˛ tÌn triÜda taŸthn _ _ _ _ sumplhroun mikt˛n mÍn ýstin, Êsper t˛ pr˛ ažtou, ka˝ tÌn thò zwhò ùdiüthta proslabün (ê gJr ÷peirûa ka˝ ýn toŸtˆw tÌn zwÌn ýgÍnnhse). _ _ 294 Theol. Plat. III(12).46,1–5: ka˝ t˛ mÍn ýstin ažthò åkron, â dÌ kaloumen Ùn ka˝ qeüthta ka˝ Öparcin, t˛ d˚ mÍson, [â] prosagoreŸomen dŸnamin, t˛ d˚ _ _ ñsxaton, â dÇ ðamen e ùnai t˛ deutÍrwò Øn, touto dÍ ýstin ê nohtÌ zwÇ. 295 cf. Theol. Plat. III(13).47,19 sq.: ýn ÅkÜst´h gÜr ýsti pÍraò, åpeiron, miktün. („Denn in jeder einzelnen ist Grenze, Grenzeloses und Gemischtes.“). _ 296 Theol. Plat. III(13).47,7 sq.: [. . .], Êsper ê trûth katJ tÌn ùdiüthta tou _ miktou proelÇluqen. 292

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

beinahe in einem kommutativen Verhältnis. Warum das so ist, wird der nächste Unterabschnitt, der sich mit der Trias münh – prüodoò – ýpistroðÌ befaßt, aufweisen.297 Dann wird sich auch zeigen, warum Proklos die dritte Trias mit dem Intellekt in Verbindung bringt. Momentan läßt sich nur festhalten, daß Proklos die dritte intelligible Trias – und zwar genauer gesagt deren dritten Term: das Gemischte – mit dem intelligiblen Intellekt identifiziert. Zusammenfassend beschreibt er die drei Triaden: Denn dreifach sind die Grenze, die Grenzelosigkeit und das Gemischte: Aber bald ist alles gemäß der Grenze, bald gemäß dem Grenzelosen und bald gemäß dem Gemischten; denn bald ist das Gemischte das Sein, bald aber intelligibles Leben, bald aber intelligibler Intellekt.298

Die dritte Trias ist also Grenze – Grenzelosigkeit – intelligibler Intellekt. Die bisherige Darstellung der drei intelligiblen Triaden ist etwas vereinfachend. Sie kommt zum gleichen Ergebnis, wie Saffrey und Westerink, die die Unterteilung der intelligiblen Gottheiten wie folgt angeben: I. Les dieux intelligibles (= le 1) le limitant – l’illimité – 2) le limitant – l’illimité – 3) le limitant – l’illimité –

plan de l’être) se décomposent en trois triades: l’être intelligible; la vie intelligible; l’intellect intelligible.299

Eine solche Auflistung ist hilfreich, darf aber über folgendes nicht hinwegtäuschen: Erstens ist jede Trias sowohl Dreiheit als auch Einheit. Prok297 Aus dem bisher Entwickelten könnte man für eine Vertauschbarkeit von pÍraò und mikt˛n wie folgt argumentieren: Der dritte Term der ersten Trias ist das erste mikt˛n, das erste Seiende. Weil diese Trias aber auch Einheit ist, kann man sie als ganze Trias unter dem Aspekt des mikt˛n auffassen. Im Verhältnis zu den beiden nachfolgenden Triaden aber hat sie den Status des pÍraò. Analog dazu ist auch die dritte Trias nicht nur miktün, sondern auch pÍraò: Mikt˛n ist sie als dritter Term der Gesamttrias. Als Intellekt, der ja das Sein der dritten Trias als ganzer bestimmt, ist sie auch das pÍraò der Gesamttrias. In Theol. Plat. III(14).49,23 sq. schreibt _ Proklos, daß die dritte intelligible Trias „Grenze alles Intelligiblen ist“ (twn _ nohtwn ýstin ãpÜntwn pÍraò), in Theol. Plat. IV(1).7,4 sq. heißt es, daß „der In_ tellekt die Grenze der Trias zu ihrem Ursprung zurückwendet“ (t˛ d˚ pÍraò thò _ triÜdoò taŸthò ýpistrÍðei pr˛ò tÌn ÷rxÌn þ nouò) und auch im Timaioskommentar (In Tim. I.324,21) referiert Proklos mit pÍraò auf den dritten Term der intelligiblen Trias. Ich kann mich in dieser Sache Gersh, S. 23, Anm. 2 nicht anschließen, der die Verwendung von pÍraò hier als rein topologische Bestimmung lesen möchte („Here, pÍraò clearly means the last element“), folgt sie doch der Bezogenheit des dritten Terms der Trias auf den ersten, der dadurch sowohl mikt˛n als auch pÍraò ist. _ 298 Theol. Plat. III(14).51,15–19: Ka˝ gJr t˛ pÍraò trixwò ka˝ ê ÷peirûa ka˝ _ _ t˛ åpeiron, t˛_ miktün· ÷ll\ oë m˚n pÜnta katJ _t˛ pÍraò, oë d˚ pÜnta katJ _ oë_ d˚ pÜnta katJ t˛ miktün· ka˝ oë m˚n ožsûa t˛ miktün, oë d˚ zwÌ nohtÇ, _ oë d˚ nouò nohtüò. 299 Saffrey/Westerink, Theol. Plat., Bd. 1, S. LXV.

V. Der intelligible Kosmos

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los spricht von „triadischen Monaden“ (monÜdeò triadika˝300). Deshalb steht zwar genau genommen der dritte Term der jeweiligen Trias für ihr spezifisches Charakteristikum, im weiteren Sinne aber auch die ganze Trias. So darf man die zweite intelligible Trias guten Gewissens als ganze „intelligibles Leben“ nennen. Das gleiche gilt für den intelligiblen Intellekt. Er meint nicht nur den dritten Term der dritten intelligiblen Trias, sondern in einem weiteren Sprachgebrauch auch die ganze Trias, die eben auch eine Monade, eine münaò triadikÇ, ist. Bei der ersten intelligiblen Trias ist es allerdings fragwürdig, ob man wirklich die ganze Trias pÍraò – ÷peirûa – ažto˛n „intelligibles Sein“ nennen sollte, denn pÍraò und ÷peirûa sind ja überseiend.301 Proklos äußert sich nicht dazu, inwiefern die erste intelligible Trias als münaò triadikÌ aufzufassen ist. _

Zweitens durchdringen sich die Triaden wechselseitig: PÜnta ýn pasin, oùkeûwò d˚ ýn ÅkÜstˆw302 („alles in allem, aber in jedem auf die ihm eigene Weise“) ist ein Leitmotiv der proklischen Metaphysik. Auch für die intelligiblen Triaden gilt, daß sie je alles sind: Denn während die erste Trias alles ist, jedoch auf intelligible und einheitliche Weise und – wie ich platonisch sagen dürfte – nach der Form der Grenze, ist die zweite alles, aber nach der Weise des Lebens und – wie ich dem Philosophen folgend sagen dürfte – nach der Form der Grenzelosigkeit, so wie die dritte gemäß dem Charakteristikum des Gemischten hervorgegangen ist.303

Am Anfang dieses Kapitels wurde auf die Mehrdeutigkeit der Begriffe „intelligibel“ und „Sein“ hingewiesen. Der systematische Grund läßt sich nun angeben: Die wechselseitige Durchdringung der drei triadischen Monaden impliziert die Mehrdeutigkeit der Begriffe. Dies zeigt sich z. B. am Begriff des Seins: Er meint in erster Linie das erste Gemischte, das Sein selbst (t˛ ažtoün). Doch weil Leben und Intellekt in ihm schon enthalten sind, meint er in einem weiteren Sinne auch die ganze intelligible Trias und in einem noch weiteren Sinne den ganzen intelligiblen Kosmos: Wir zeigten, daß das Sein in erster Linie alles auf intelligible Weise umfaßt, auch das Leben und den Intellekt; und daß ja das Leben triadisch nach der Weise des Lebens ist und der Intellekt nach der Weise des Intellekts und daß diese drei, das 300

Theol. Plat. III(14).51,11. _ cf. Theol. Plat. III(8).30,23 sq.: Eù toûnun ýk toŸtwn tJ Ønta, dhlon Õti _ pr˛ twn Øntwn ëðestÇkasi. („Wenn nun das Seiende aus diesen ist, so ist deutlich, daß sie vorgängig zum Seienden existieren.“). 302 E. T. 103,1. _ 303 Theol. Plat. III(13).47,3–8: Thò gJr prÿthò triÜdoò pÜnta m˚n ojshò, _ _ _ ÷llJ nohtwò ka˝ Åniaûwò ka˝ (¼ò ºn eŁpoimi platwnikwò) peratoeidwò, ê _ _ deutÍra pÜnta mÍn ýstin, ÷llJ zwtikwò ka˝ (¼ò ºn eŁpoimi tˆw ðilosüðˆw _ _ _ sunepümenoò) ÷peiroeidwò, Êsper ê trûth katJ tÌn ùdiüthta tou miktou proelÇluqen. 301

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Sein, das Leben und der Intellekt überall sind, daß aber im Sein alles in erster Linie und wesenhaft vorgängig vorhanden ist .304

In seiner Interpretation einer Stelle aus dem Timaioskommentar305 identifiziert ein byzantinischer Scholiast das „wirkliche Sein“ (Øntwò ïn) bei Proklos mit dem Intellekt (nouò).306 Ist das richtig? Weiter oben wurde darauf hingewiesen, daß Proklos den Intellekt ausdrücklich nicht mit dem intelligiblen Kosmos identifizieren möchte.307 Wegen der wechselseitigen Durchdringung von Sein, Leben und Intellekt gilt jedoch: So, wie das Sein sowohl Leben als auch Intellekt ist, so ist auch der Intellekt sowohl Leben als auch Sein. Vor diesem Hintergrund ist es also durchaus statthaft, das Sein mit dem Intellekt zu identifizieren. So wird auch folgende Stelle erklärbar: Über die dritte intelligible Trias, den intelligiblen Intellekt, schreibt Proklos: _

Von dieser Trias nun [. . .] ist das eine Grenze, Einheit und Existenz, das andere Grenzelosigkeit und Wirkmächtigkeit, das dritte aber ein Gemischtes, sowohl Sein als auch Leben als auch intelligibler Intellekt.308

Der dritte Term der dritten intelligiblen Trias ist also nicht einfach der intelligible Intellekt, sondern auch Sein und Leben. Die Dinge verhalten sich also durchaus nicht so einfach, wie die obige Auflistung nahe legt, denn eine Liste gibt eine säuberliche Trennung der aufgelisteten Dinge vor. Es gehört aber zum Wesen der proklischen Metaphysik, daß sich die verschiedenen intelligiblen Entitäten wechselseitig durchdringen: Bei aller Differenz sind sie eine Einheit, bei aller Einheit sind sie different. 304

_

_

Theol. Plat. III(9).35,7–13: t˛ prÿtwò ïn pÜntwn e ùnai nohtwò perilhpti_ _ _ _ k˛n ÷pedeûknumen, ka˝ thò zwhò ka˝ tou _nou· ka˝ gJr tÌn zwÌn triadikÌn _ _ _ _ _ _ e ùnai zwtikwò ka˝ t˛n noun noerwò· ka˝ e ùnai pantaxou m˚n tJ trûa tauta, _ _ _ t˛ Øn, tÌn zwÇn, t˛n noun, prÿtwò d˚ ka˝ ožsiwdwò ýn tˆw Ønti pÜnta prou¤pÜrxein. _ _ _ 305 In Tim. I.233,1–4: di˛ ka˝ twn palaiwn tineò Øntwò m˚n ïn kalousi t˛ noht˛n plÜtoò, ožk Øntwò d˚ ïn t˛ yuxikün, ožk Øntwò d˚ ožk ïn t˛ aùsqhtün, Øntwò d˚ ožk ïn tÌn Ölhn. („Deshalb nennen auch einige der Alten die intelligible Ebene ‚wirkliches Sein‘, ‚nicht wirkliches Sein‘ das Seelische, ‚nicht wirkliches Nicht-Sein‘ das Sinnenfällige, ‚wirkliches Nicht-Sein‘ die Materie.“). 306 Diehl, In Tim., Bd.1, S. 469. _ _ 307 In Tim. III. 12,8–12: oÁ d˚ pÜnta eùò tažt˛n sugkukwnteò ka˝ Òna noun _ _ _ _ metacˇ yuxhò ka˝ t÷gaqo_u münon e ùnai lÍgonteò ÷nagkÜzontai noun ka˝ _ _ aùwna tažt˛n þmologe in e ùnai. („Die aber, die alles in dasselbe zusammenrühren und sagen, daß es zwischen der Seele und dem Guten lediglich einen Intellekt gibt, sind gezwungen, zuzugestehen, daß Intellekt und Ewigkeit dasselbe sind“). Cf. supra. _ _ 308 Theol. Plat. III(14).51,3–7: Thò d\ ožn triÜdoò taŸthò [. . .] t˛ mÍn ýsti pÍraò ka˝ ÅnJò ka˝ Öparciò, t˛ d˚ ÷peirûa ka˝ dŸnamiò, t˛ d˚ mikt˛n ka˝ _ ožsûa ka˝ zwÌ ka˝ nouò nohtüò.

V. Der intelligible Kosmos

123

d) monê – proodos – epistrophê Im Abschnitt B. III. 6. wurde dargelegt, daß die neuplatonische Ursache (aùtûa) nicht nur Wirkursache und paradigmatische Ursache, sondern auch Finalursache ist: Die Wirkung kehrt zur Ursache zurück (ýpistroðÇ). In der Elementatio Theologica schreibt Proklos: Alles Verursachte bleibt in seiner Ursache, geht aus ihr hervor und kehrt zu ihr zurück.309

Daraus ergibt sich eine Kreisbewegung: Alles, was aus etwas hervorgeht und zurückkehrt, hat eine zyklische Aktivität.310

Diese Kreisbewegung311 strukturiert den intelligiblen Kosmos. Sie läßt sich durch die Trias Verharren – Hervorgang – Rückkehr (münh – prüodoò – ýpistroðÇ) beschreiben. Ich stimme mit S. E. Gersh überein, daß diese Trias der bereits behandelten Trias Grenze – Grenzelosigkeit – Gemischtes entspricht: The triadic principle manifests itself in two basic forms: in the first place in that of pÍraò, ÷peirûa and miktün, and in the second place in that of münh, prüodoò and ýpistroðÇ. The fact that these are both reflections of the same principle rather than themselves separate principles leads to a certain degree of interchange between them in Proclus’ exposition.312

Gersh weist allerdings auch auf Unterschiede zwischen den beiden Triaden hin: Nicht der geringste sei der, daß die Trias Grenze – Grenzelosigkeit – Gemischtes statisch sei, die Trias Verharren – Hervorgang – Rückkehr hingegen dynamisch.313 Dem kann ich nicht völlig beipflichten: Da Grenzelosigkeit (÷peirûa) das Urprinzip von Wirkmächtigkeit (dŸnamiò) ist,314 mutet es seltsam an, diese Trias als nicht dynamisch, sondern als statisch zu bezeichnen. Gleichwohl ist deutlich, inwiefern die Bezeichnung „dynamisch“ der Trias Verharren – Hervorgang – Rückkehr in besonderem Maße zukommt: Wegen des Moments der Rückkehr vermag nur sie die triadische Kreisbewegung zu beschreiben. 309

_

_

_

E. T. 35,1–2: Pan t˛ aùtiat˛n ka˝ mÍnei ýn t´h ažtou aùtû ´a ka˝ prüeisin _ ÷p\ ažthò ka˝ ýpistrÍðei pr˛ò ažtÇn. _ 310 E. T. 33,1–2: Pan t˛ proi¤ ˛n ÷pü tinoò ka˝ ýpistrÍðon kuklikÌn ñxei tÌn ýnÍrgeian. 311 Der intelligible Kosmos ist unbewegt, weil er zeit- und ortlos ist. Insofern ist der Begriff einer Bewegung im intelligiblen Kosmos paradox. Diesem Paradox widmet sich Gersh in seiner sehr erhellenden Schrift KINHSIS AKINHTOS. 312 Gersh, S. 19. 313 Gersh, S. 19: „However, the obvious differences, not the least of which is that the former is static, while the latter is dynamic, mean that this interchange cannot always be complete.“ 314 cf. B. IV. 4. b).

124

B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Ein Unterschied zwischen den Triaden Grenze – Grenzelosigkeit – Gemischtes und Verharren – Hervorgang – Rückkehr fällt indes auf, und der besteht in ihrer Inanspruchnahme bei der Herleitung der verschiedenen Ebenen des intelligiblen Kosmos. Die Trias Grenze – Grenzelosigkeit – Gemischtes dient Proklos bei der Herleitung der drei intelligiblen Monaden315 Sein, Leben und Intellekt. Bei der Herleitung der intelligiblen und zugleich intellektuellen Ebene sowie der intellektuellen Ebene hingegen tritt sie zugunsten der Trias Sein – Leben – Intellekt in den Hintergrund: Aber das Charakteristikum der Trias muß man bei der intelligiblen Trias und der intelligiblen und zugleich intellektuellen Trias auf eine andere Weise bestimmen. Denn dort hatte jede einzelne Trias nur ihren dritten Term anteilhaft am Sein: Denn sie war aus Grenze, Grenzelosem und aus beidem, dies aber war bei der ersten das Sein, bei der zweiten das intelligible Leben, der intelligible Intellekt aber bei der dritten. [. . .] Beim Intelligiblen und zugleich Intellektuellem aber hat jede einzelne Trias Sein, Leben und Intellekt.316

Für die jetzige Untersuchung ist aber vor allem wichtig, daß die Triaden Grenze – Grenzelosigkeit – Gemischtes und Verharren – Hervorgang – Rückkehr dasselbe Prinzip reflektieren. Die Trias Verharren – Hervorgang – Rückkehr nämlich hilft zu verstehen, warum der zweite Term der Trias mit dem Leben und der dritte mit dem Intellekt in Zusammenhang gebracht wird: Nun wollen wir uns wieder erinnern, was wir wenig früher zeigten, daß [. . .] und daß in jeder einzelnen Ordnung diese drei sind, die Ursache des Verharrens, die des Hervorgangs und die der Rückkehr, wenn auch der Intellekt eher gemäß der Rückkehr geprägt wird, das Leben gemäß dem Hervorgang und das Sein gemäß dem Verharren.317

Warum ordnet Proklos das Sein dem Verharren, das Leben dem Hervorgang und den Intellekt der Rückkehr zu? 315

_

_

cf. Theol. Plat. IV(1).6,17 sq.: tre iò eùsin aëtai monÜdeò þlikaû. („Es gibt diese drei universelle Monaden“). Es wurde bereits gezeigt, daß die intelligiblen Triaden sowohl Trias als auch Einheit sind. Hier spricht Proklos von Monaden, an anderen Stellen von drei intelligiblen Triaden. Diese Spannung gipfelt in Theol. Plat. III(17).51,11 im Begriff der triadischen Monaden (monÜdeò triadika˝). Cf. B. V. 1. c). _ 316 Theol. Plat. IV(3).16,4–12: De_i d˚ tÌn thò triÜdoò ùdiüthta kaq\ Òteron _ _ _ _ _ _ trüpon ÷ðorûzesqai thò te nohthò _ka˝ thò nohthò Ñma ka˝ noeraò. \Eke i m˚n _ _ tou Øntoò moûraò· ýk gJr pÍratoò gJr ÅkÜsth triJò t˛ trûton münon e ùxe thò _ _ _ _ _ þn ka˝ ÷peûrou ka˝ ýc ÷mðo in, touto d˚ þn ožsûa m˚n ýp˝ thò prÿthò, zwÌ d˚ _ _ _ _ ýp˝ thò deutÍraò nohtÇ, nouò d˚ noht˛ò ýp˝ thò trûthò [. . .]. \En d˚ to iò noh_ _ _ to iò ka˝ noero iò ÅkÜsth triJò ožsûan ñxei ka˝ zwÌn ka˝ noun. _ _ 317 Theol. Plat. IV(1).6,16–7,13: PÜlin toûnun ÷namnÇswmen êmaò ažtoˇò ¼n _ _ mikrˆw prüteron ÷pedeûknumen, ¼ò [. . .] ka˝ ¼ò ýn ÅkÜst´h tÜcei trûa tautÜ _ _ _ _ _ _ ýsti, t˛ thò monhò aŁtion, t˛ thò proüdou, t˛ thò ýpistroðhò, eù ka˝ þ nouò _ _ m˚n kat\ ýpistroðÌn eùdopoie itai mallon, ê d˚ zwÌ katJ tÌn prüodon, ê d˚ ožsûa katJ tÌn monÇn.

V. Der intelligible Kosmos

125

Warum das Sein mit dem Aspekt der Grenze (pÍraò), die dem Verharren (münh) entspricht, in Zusammenhang gebracht wird, kann aus dem bisher Gesagten erklärt werden: Wie gezeigt wurde, ist der dritte Term der ersten intelligiblen Trias das erste Gemischte, das Wesen selbst oder das Sein selbst. Es charakterisiert die Trias als Ganze. Im Verhältnis zu den beiden nachfolgenden Triaden aber hat diese Trias den Status der Grenze. Die Grenze aber entspricht dem Verharren. So kommt es, daß das Verharren mit der ožsûa in Zusammenhang gebracht wird. Verharren und Gemischtes, erster und letzter Term der Triaden, werden aneinander gebunden: Das Sein verharrt auf transzendente Weise in der ersten Mischung.318

Aufgrund welcher philosophischen Intuition aber bringt Proklos das Leben mit dem Hervorgang und den Intellekt mit der Rückkehr in Zusammenhang? Daß der dynamische Aspekt des Verursachungsverhältnisses, der Hervorgang (prüodoò), bei der Beschreibung der triadischen Struktur des intelligiblen Kosmos in den Rang einer eigenen Entität gelangt und mit dem Leben in Zusammenhang gebracht wird, ist bemerkenswert und verlangt nach einer Erklärung. Die Zuordnung des Lebens zum Hervorgang geschieht aufgrund folgender Überlegung: Der Hervorgang des Seienden impliziert Bewegung. Bewegung aber – und hier ist an spontane Bewegung zu denken – impliziert Leben: Wenn nun das Sein auf transzendente Weise in der ersten Mischung verharrt, aber alsbald hervorgeht und von der Monade dyadisch erzeugt wird, dürfte wohl Bewegung an ihm sein; und wenn es aber Bewegung gibt, so muß es notwendig auch intelligibles Leben geben. Denn allenthalben ist die Bewegung eine Art von Leben, da ja sogar jemand die Bewegung der materiellen Körper selbst Leben genannt hat.319

Der Intellekt wird wegen seines reflexiven Moments mit der Rückkehr in Zusammenhang gebracht: Das Ende aber dieser Trias wendet der Intellekt zu ihrem Anfang zurück.320

Weiter oben wurde gesagt, daß der erste und der dritte Term der Trias in einem beinahe kommutativen Verhältnis stehen. Dies ist nun besser zu verstehen: Durch die Rückkehr wird der dritte Term der Trias an den ersten zurückgebunden. In der Trias Sein – Leben – Intellekt vollzieht sich die 318

_

Theol. Plat. III(12).46,13: mÍnei t˛ ïn ýc´hrhmÍnwò ýn t´h prÿt´h mûcei. _ Theol. Plat. III(12).46,13–18: Eù toûnun mÍnei t˛ ïn ýc´hrhmÍnwò ýn t´h _ _ _ atai, prÿt´h mûcei, prüeisi d˚ çdh ka˝ ÷p˛ thò monÜdoò duadikwò ÷pogenn _ kûnhsiò ºn eŁh per˝ auto· kinÇsewò d˚ ojshò ÷nÜgkh ka˝ zwÌn e ùnai nohtÇn. _ _ _ Pantaxou gJr ê kûnhsiò zwÇ tûò ýstin, Õpou ge ka˝ ažtwn twn ýnŸlwn swmÜtwn zwÇn tiò ÷pekÜlese tÌn kûnhsin. _ 320 Theol. Plat. IV(1).7,4 sq.: t˛ d˚ pÍraò thò triÜdoò taŸthò ýpistrÍðei _ pr˛ò tÌn ÷rxÌn þ nouò. 319

126

B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Kreisbewegung Verharren – Hervorgang – Rückkehr, wie sie allgemein für jedes Ursache-Wirkungsverhältnis gilt. Wird durch die Rückkehr der Intellekt mit dem Sein identisch? Oder allgemeiner formuliert: Sind Wirkung und Ursache identisch? Diese Frage untersucht Gersh, der sich mit Rosán und Hadot auseinandersetzt, die die Identität zwischen Ursache und Wirkung betonen. Dies könne nicht angehen, denn dann könne man zwischen Ursache und Wirkung nicht mehr unterscheiden.321 Der Aspekt der Differenz müsse immer auch bedacht werden: Thus, the relationship between an effect and its cause is one of identity combined with difference.322

Das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung ist das der Identität in der Differenz.323 Im speziellen gilt dies auch für das Verhältnis zwischen Sein und Intellekt, weshalb der erste und der letzte Term der Trias Sein – Leben – Intellekt in einem beinahe kommutativen Verhältnis stehen. e) Entsprechungen Daß die verschiedenen Strukturprinzipien einander entsprechen, wurde teilweise schon herausgearbeitet. So konnte gezeigt werden, daß sich die Triaden Sein – Leben – Intellekt, Grenze – Grenzelosigkeit – Gemischtes und Verharren – Hervorgang – Rückkehr gegenseitig auslegen. Aber wie steht es um die Trias Intelligibles – Intelligibles und Intellektuelles – Intellektuelles, die am Anfang des Kapitels behandelt wurde? In welchem Verhältnis steht diese Trias, die geistmetaphysischen Überlegungen folgt, zu den anderen triadischen Strukturierungen? Auch sie kann den anderen Triaden parallel zugeordnet werden: Weiter oben wurde dargelegt, daß sich die Triaden gegenseitig durchdringen, so daß in jedem Term einer Trias die beiden anderen auf die ihnen eigene Weise (oùkeûwò) schon enthalten sind. Um diese ihnen eigene Weise zu bezeichnen, bildet Proklos im folgenden (bereits zitierten) Textbeispiel aus dem jeweiligen Term der Trias Sein – Leben – Intellekt die adverbiale Form: Øntwò, zwtikwò und noerwò: _

_

[. . .] aber indem alles bald nach der Weise des Intellekts, bald nach der Weise des Lebens, bald nach der Weise des Seins ist.324 321

Gersh, S. 134: „To establish an equation between the reflexive and the ascending motions inevitably leads to a breaking-down of the distinction between cause and effect“. 322 Gersh, S. 134. 323 Die Einheit zwischen der hervorbringenden Ursache und der hervorgebrachten Wirkung bringt Proklos in E. T. 30,14 sq. auf den Punkt: Õmoion d˚ Øn, tažtün p´h Ñma ka˝ Òterün ýsti. („Weil es aber ähnlich ist, ist es irgendwie identisch und zugleich different.“).

V. Der intelligible Kosmos

127

An einer anderen Stelle greift Proklos hingegen auf die geistmetaphysischen Trias zurück, um die Weisen des Enthaltenseins von Sein, Leben und Intellekt zu beschreiben: Nun wollen wir uns noch einmal erinnern, was wir wenig früher zeigten, daß es also diese drei universellen Monaden gibt [. . .]: Sein, Leben und Intellekt; und all diese sind auf intelligible Weise im Sein, auf intelligible und intellektuelle Weise im Leben, auf intellektuelle Weise aber im Intellekt.325

Der Vergleich der beiden Textstellen macht deutlich, daß die Trias Intelligibles – Intelligibles und zugleich Intellektuelles – Intellektuelles der Trias Sein – Leben – Intellekt zugeordnet werden kann: Ihre Terme entsprechen einander. Weil sich die Triaden entsprechen, ersetzt Proklos bisweilen einen Term einer Trias durch den entsprechenden Term einer anderen Trias. In folgendem Beispiel erscheint das Leben als Bindeglied zwischen dem Intelligiblen und dem Intellekt. Es ergibt sich die hybride Trias Intelligibles – Leben – Intellekt: Denn es ist die Mitte zwischen dem Intellekt und dem Intelligiblen, indem es den Intellekt mit dem Intelligiblen verbindet.326

Manchmal identifiziert Proklos die Terme der verschiedenen Triaden auch miteinander, wie an folgender Textstelle, die sich der Bedeutung des Lebens in der Trias Sein – Leben – Intellekt widmet. Hier identifiziert Proklos das Sein (t˛ Øn) mit dem Intelligiblen (t˛ nohtün) und das Leben (ê zwÇ) mit der intellektuellen Anschauung (nühsiò): Denn solcherart ist das unpartizipierbare Leben, indem es das Sein in erster Linie und den Intellekt trennt und indem es einerseits selbst am Sein partizipiert, andererseits aber vom Intellekt partizipiert wird. Dies aber ist dasselbe, wie daß die intellektuelle Anschauung aus dem Intelligiblen angefüllt wird, aber aus sich selbst den Intellekt anfüllt. Denn das Intelligible ist das Sein, das Leben aber die intellektuelle Anschauung.327 324

_

_

E. T. 103.1–4: [. . .] ÷ll\ Õpou m˚n noerwò, Õpou d˚ zwtikwò, Õpou d˚ Øntwò Ønta pÜnta. _ _ 325 Theol. Plat. IV(1).6,16–7,7: PÜlin toûnun ÷namnÇswmen êmaò ažtoˇò ¼n _ _ _ mikrˆw prüteron ÷pedeûknumen, ¼ò åra tre iò eùsin aëtai monÜdeò þlikaû, [. . .] _ _ _ _ _ ožsûa, zwÇ, nouò [. . .]· ka˝ pÜnta tauta nohtwò mÍn ýstin ýn t´h ožsû ´a, nohtwò _ _ _ _ _ _ d˚ ka˝ noerwò ýn t´h zw´h, noerwò d˚ ýn tˆw nˆw. _ _ _ _ 326 Theol. Plat. V(38).139,11–13: MÍsh gJr aÖth tou te nou ka˝ tou nohtou, _ _ _ sunÜptousa tˆw nohtˆw t˛n noun. 327 Theol. Plat. IV(1).7,19–24: ToiaŸth gÜr ýstin ê ÷mÍqektoò zwÇ, diorû_ _ zousa tü te prÿtwò ïn ka˝ t˛n noun ka˝ metÍxousa m˚n ažtÌ tou Øntoò, _ _ _ _ _ _ metexomÍnh d˚ ëp˛ tou nou touto d˚ tažt˛n tˆw plhrousqai m˚n ýk tou _ _ _ _ nohtou tÌn nühsin, plhroun d˚ ÷ð\ Åauthò t˛n noun, t˛ gJr ïn t˛ nohtün ýstin, ê d˚ zwÌ nühsiò. Cf. auch Theol. Plat. III(9).36,3–8, das die selben Identi-

128

B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Wichtig an diesem Textzeugnis ist außerdem, daß die drei Terme der Trias in einem Partizipationsverhältnis stehen, daß der rangniedrigere Term vom ranghöheren abhängig ist, was Proklos auch mit der Metapher des Anfüllens zum Ausdruck bringt. Bisher wurden verschiedene triadische Strukturprinzipien des intelligiblen Kosmos bei Proklos erarbeitet. Es wurde dargestellt, welchen philosophischen Überlegungen sie folgen und es konnte gezeigt werden, daß sie einander entsprechen. Der nächste Abschnitt skizziert die Struktur des intelligiblen Kosmos bei Proklos. 2. Die Struktur des intelligiblen Kosmos Zur Erarbeitung der Struktur des intelligiblen Kosmos bei Proklos wendet man sich am besten an seine Theologia Platonica, in der Proklos metaphysische Entitäten mit klassischen Gottheiten identifiziert. Es darf deshalb nicht verwundern, wenn er beispielsweise die intellektuelle Ebene auch als „intellektuelle Hypostase der Gottheiten“328 bezeichnet. Dem intelligiblen Kosmos widmet Proklos die Bücher drei bis fünf der Theologia Platonica. Er gliedert seine Abhandlung gemäß der Trias Intelligibles – Intelligibles und zugleich Intellektuelles – Intellektuelles. Jedem Term der Trias, der nun als Ordnung (tÜciò bzw. diÜkosmoò) oder Ebene (plÜtoò) erscheint, widmet er ein Buch, so daß sich beispielsweise Buch vier mit den intelligiblen und zugleich intellektuellen Gottheiten befaßt, die gemäß den bisher erarbeiteten Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Triaden auch als „die , die die Ebene des unpartizipierbaren Lebens erhellen“329, bezeichnet werden.

_

_

fikationen vornimmt: ka˝ ýn Ñpasi toûnun to iò ožsin ê ožsûa t˛ prÿtiston, _ _ _ ka˝ ýn ÅkÜstˆw t˛ ožsiwdÍò ýsti presbŸtaton ¼ò ÷p˛ thò twn Øntwn Åstûaò _ _ ëpostÜn. Ka˝ gJr t˛ noht˛n mÜlista toutü ýstin, ýpeidÌ nouò mÍn ýsti t˛ gnwstikün, ê d˚ zwÌ nühsiò, noht˛n d˚ t˛ Øn. („Und in allem Seienden nun ist das Wesen das allererste und in jedem einzelnen ist das Wesenhafte das Wichtigste, weil es seine Subsistenz gleichsam vom Herd des Seienden her hat. Denn das Intelligible ist dies ganz besonders, weil das Erkenntnisvermögen der Intellekt, das Leben die intellektuelle Anschauung, das Sein aber das Intelligible ist.“). In Theol. Plat. IV(5).22,2 erscheint die intellektuelle Anschauung (nühsiò) ausdrücklich als _ Medium zwischen dem Intelligiblen und dem Intellekt: ê d˚ nühsiò metacˇ nou _ ka˝ nohtou. („Die intellektuelle Anschauung aber ist zwischen dem Intellekt und dem Intelligiblen.“). _ _ 328 Theol. Plat. V(1).6,14: ê noerJ twn qewn ëpüstasiò. _ _ _ 329 Theol. Plat. IV(2).10,22–11,1: oÁ t˛ thò zwhò plÜtoò thò ÷meqÍktou katalÜmponteò.

V. Der intelligible Kosmos

129

a) Die intelligible Ebene Auf die intelligible Ebene des intelligiblen Kosmos – Proklos widmet ihr das dritte Buch seiner Theologia Platonica – wurde in B. V. 1. c) bereits eingegangen. Sie gliedert sich in drei Triaden aus Grenze – Grenzelosigkeit/ Grenzelosem – Gemischten. Das Gemischte der ersten Trias, die Proklos dem platonischen Parmenides folgend auch das Eine Sein nennt,330 ist das Sein in erster Linie, das der zweiten Trias intelligibles Leben und das der dritten intelligibler Intellekt, so daß sich für die intelligible Trias folgendes Schema ergibt: 1. intelligible Trias 1.1. erste Trias 1.1.1. Grenze 1.1.2. Grenzelosigkeit 1.1.3. das Sein in erster Linie 1.2. zweite Trias 1.2.1. Grenze 1.2.2. Grenzeloses 1.2.3. intelligibles Leben 1.3. dritte Trias 1.3.1. Grenze 1.3.2. Grenzeloses 1.3.3. intelligibler Intellekt Der ontologische Status der jeweiligen ersten beiden Terme dieser drei Triaden ist nicht ganz klar. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß das erste pÍraò (1.1.1.) und die erste ÷peirûa (1.1.2.) überseiend sind, weil sie das Sein in erster Linie, die Monas des Seienden, erst konstituieren. Was ist mit pÍraò und åpeiron der beiden anderen Triaden? An folgender Textstelle, die bereits zitiert wurde,331 behandelt Proklos auch das pÍraò und das åpeiron der zweiten und dritten Trias als überseiend; nur der dritte Term jeder intelligiblen Trias habe Anteil am Sein: Denn dort hatte jede einzelne Trias nur ihren dritten Term anteilhaft am Sein: Denn sie war aus Grenze, Grenzelosem und aus beidem, dies aber war bei der ersten das Sein, bei der zweiten das intelligible Leben, der intelligible Intellekt aber bei der dritten.332

Dem widerspricht folgendes Textzeugnis, das pÍraò und åpeiron als intelligible Prinzipien bezeichnet: 330

_

Theol. Plat. III(24).84,26 sq.: Kale i d˚ ažtÌn Ùn Øn. („Er nennt aber diese das Eine Sein.“). 331 cf. B. V. 1. d). 332 Theol. Plat. IV(3).16,6–10: \Eke_i m˚n gJr ÅkÜsth triJò t˛ trûton münon _ _ _ _ _ u Øntoò moûraò ýk gJr pÍratoò þn ka˝ ÷peûrou ka˝ ýc ÷mðo in, e ùxe thò to _ _ _ _ _ touto d˚ þn ožsûa m˚n ýp˝ thò prÿthò, zwÌ d˚ ýp˝ thò deutÍraò nohtÇ, nouò _ d˚ noht˛ò ýp˝ thò trûthò.

130

B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Mit Recht also sprach Sokrates, daß alles Seiende aus Grenze und Grenzelosem sei, und daß diese zwei intelligiblen Prinzipien von der Gottheit ihre Existenz in erster Linie hätten.333

Das Intelligible aber ist das Sein334 und daher eben nicht überseiend. Mag es sich bei den beiden zitierten Stellen um unterschiedliche Manifestationen von Grenze und Grenzelosem handeln? In diese Richtung könnte eine weiter oben zitierte Textstelle335 weisen, in der eindeutig davon die Rede ist, daß Grenze und Grenzeloses zweifach seien. In ihrem weiteren Kontext lautet diese Stelle: Deshalb ist das Gemischte Ursache der Werdewelt und der gemischten Natur hier, die Grenze aber und das Grenzelose, die vor dem Sein sind, sind nicht nur Ursache dieser Mischung, sondern auch ihrer Elemente, deren Ursache das Gemischte, insofern es gemischt ist, nicht war. Denn zweifach sind die Grenze und das Grenzelose, einerseits sind sie über das Gemischte transzendent, andererseits sind sie zu seiner Vervollständigung aufgenommen.336

Grenze und Grenzeloses sind also einerseits Ursache der Mischung, andererseits Ursache ihrer Elemente. Ist die Mischung, wie in der ersten Trias, das erste Sein, so stehen Grenze und Grenzelosigkeit als Ursache der Mischung klar jenseits des Seins. Als Ursache der Elemente ragen sie ins Sein. Diese Elemente werden in der zweiten und dritten Trias von Bedeutung: Diese beiden Triaden sind Auslegungen des Seins, so daß all ihre Terme – entgegen des ersten Textzeugnisses – dem Bereich des Seins angehören müßten. Grenze und Grenzeloses der zweiten und dritten Trias transzendieren zwar das intelligible Leben resp. den intelligiblen Intellekt, das Sein jedoch, das sich in der ersten Trias konstituiert, dürften sie nicht transzendieren. Daß Grenze und Grenzeloses zweifach seien, löst unsere Frage leider nicht. Eine andere Lösung indes bietet sich an, heißt es doch, daß in der intelligiblen Ebene jede Trias nur den dritten Term „anteilhaft am Sein hat“ (e ùxe thò tou Øntoò moûraò337). Diese Aussage läßt sich auch so deuten, _

333

_

_

Theol. Plat. III(8).34,12–14: Eùkütwò åra ka˝ þ SwkrÜthò ñlegen ýk _ pÍratoò e ùnai ka˝ ÷peûrou tJ Ønta pÜnta ka˝ tJò dŸo taŸtaò nohtJò ÷rxJò _ _ ÷p˛ tou qeou prÿtwò ëðestÜnai. 334 Theol. Plat. IV(1).7,23 sq.: t˛ gJr ïn t˛ nohtün ýstin. („Denn das Intelligible ist das Sein.“). Cf. supra. 335 cf. B. V. 1. c). _ 336 Theol. Plat. III(10).41,16–22: Ka˝ diJ tauta t˛ m˚n mikt˛n genÍsewò _ _ tJ aŁtion ka˝ thò memigmÍnhò ýntauqa ðŸsewò, t˛ d˚ pÍraò ka˝ t˛ åpeiron _ _ _ ož taŸthò münon, ÷llJ ka˝ t wn taŸthò stoixeûwn, ¼n t˛ pr˛ tou Øntoò _ mikt˛n ožk þn aŁtion kaq’ Õson ýst˝ miktün. Ditt˛n gJr t˛ pÍraò ka˝ t˛ _ _ _ åpeiron, ka˝ tJ m˚n ýc´Çrhtai twn miktwn, tJ d˚ eùò tÌn sumplÇrwsin ažtwn pareûlhptai. 337 Theol. Plat. IV(3).16,7. Cf. supra, B. V. 1. d).

V. Der intelligible Kosmos

131

daß erst im dritten Term der Trias das eigentliche Charakteristikum zutage tritt. Für die erste Trias, in der sich das Sein ja erst konstituiert, heißt das, daß Grenze und Grenzelosigkeit in einem absoluten Sinne jenseits des Seins sind. Für die beiden anderen Triaden heißt das in dieser Deutung lediglich, daß ihre beiden ersten Terme nur insofern überseiend sind, als sie jenseits des spezifischen Charakteristikums, des intelligiblen Lebens und des intelligiblen Intellekts, sind. Grenze und Grenzeloses der zweiten und dritten Trias sind also überseiend nur in einem relativen Sinne, bezogen auf das spezifische Charakteristikum des dritten Terms, nicht aber überseiend in einem absoluten Sinne. Solche Unterscheidungen nach Hinsichten sind in der Philosophie des Proklos häufig. b) Die intelligible und zugleich intellektuelle Ebene Der intelligiblen und zugleich intellektuellen Ebene des intelligiblen Kosmos widmet Proklos das vierte Buch seiner Theologia Platonica. Aus geistmetaphysischer Sicht handelt es sich um eine Zwischenschicht zwischen dem intellektuell Erkannten und dem intellektuell Erkennenden, eine Zwischenschicht, die sich, wie wir gesehen haben, gut in die triadische Struktur des Intelligiblen Kosmos fügt. Am Beginn des vierten Buches rechtfertigt Proklos diese Zwischenschicht mit Hinweis auf die chaldäischen Orakel:338 Aber weil das eine des Intellektuellen intelligibel und intellektuell ist, nämlich alles, was gemäß dem Orakel als intellektuell Erkennendes intellektuell erkannt wird, das andere aber nur intellektuell, laßt uns sprechen, indem wir bei den intellektuellen und zugleich intelligiblen anfangen und zunächst das Gemeinsame an ihnen abgrenzen [. . .]339

Auch die intelligible und zugleich intellektuelle Ebene gliedert sich triadisch: Die intelligiblen und intellektuellen Gottheiten werden triadisch in die Existenz kommen.340 338

Neben der Philosophie Platons waren die chaldäischen Orakel eine nicht unbedeutende Quelle für Proklos’ Philosophie, auf die wir aber nicht näher eingehen. Zum Einfluß der chaldäischen Orakel auf Proklos und den (Neu-)platonismus cf. Brisson; Lewy; Saffrey, Théurgie; Saffrey, Oracles Chaldaïques; Theiler. _ _ 339 Theol. Plat. IV(1).6,10–13: \All\ ýpeidÌ twn noerwn tJ mÍn ýsti nohtJ _ _ _ ka˝ noerÜ, Õsa noounta noe itai katJ t˛ lügion, tJ d˚ noerJ münon, ÷p˛ twn _ _ _ _ noerwn Ñma ka˝ nohtwn ÷rcÜmenoi lÍgwmen, tJ koinJ prwton per˝ ažtwn diorizümenoi, [. . .]. _ 340 Theol. Plat. IV(1).9,17 sq.: oÁ nohto˝ ka˝ noero˝ qeo˝ triadikwò ëpostÇsontai.

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Weil diese Ebene entfernter vom Einen ist, ist sie durch größere Vielheit, aber geringere Wirkmächtigkeit (dŸnamiò) gekennzeichnet als die intelligible Ebene, die durch triadische Monaden341 gekennzeichnet ist: Das, was weiter weg vom einen Prinzip in die Existenz kommt, ist vielfältiger als das vor ihm, es ist zwar schwächer an Wirkmächtigkeit und am Umgreifen des Nachrangigen, es wird aber durch mehr und von der Monade weiter entfernte Zahlen zerteilt und verläßt die Einheit der zuerst wirkenden Ursachen, und tauscht so die verborgene Existenz dieser Ursachen gegen die Vielheit ein. Nach diesem Verhältnis ist die intelligible und intellektuelle Unterscheidung stärker als die intelligible Unterscheidung und die intellektuelle stärker als diese.342

Die intelligible und zugleich intellektuelle Ebene, im folgenden Zitat als „Gottheiten, die gemäß dem Leben sind“ bezeichnet, steht in einem generativen Gesamtzusammenhang zwischen dem Intelligiblen und dem Intellektuellen: Und die Gottheiten, die gemäß dem Leben sind [. . . ] nennen wir intelligibel und zugleich intellektuell [. . .] weil sie ihre Existenz von den intelligiblen Monaden haben und alle intellektuellen Hebdomaden erzeugen.343

Die intelligible und zugleich intellektuelle Ebene entfaltet sich in Unterordnungen von Gottheiten, deren genaue Charakteristika allen ihnen nachrangigen Entitäten und so auch uns verborgen sind.344 Dennoch lassen sich die verschiedenen triadischen Gliederungen, denen sie folgen, darstellen: 341 Es ist eine Frage des Blickwinkels, ob man die triadischen Monaden als Triaden oder als Monaden auffaßt: Im Verhältnis zum Überseienden Einen sind sie Triaden, im Verhältnis zum geteilten Wesen der Triaden sind sie Monaden. Cf. Theol. Plat. IV(1).9,12–16: aÁ gJr nohta˝ triÜdeò ¼ò m˚n pr˛ò tÌn ÷krotÜthn _ ka˝ twn pÜntwn ýc´hrhmÍnhn Ònwsin_triÜdeò eùsûn, ¼ò d˚ pr˛ò tÌn di´hrhmÍnhn _ _ twn triÜdwn ožsûan monÜdeò ºn e ùen ÷ð\ Åautwn tJò Õlaò triÜdaò ýkðaûnousai. („Denn die intelligiblen Triaden sind zwar einerseits im Verhältnis zur höchsten und alles transzendierenden Einheit Triaden, im Verhältnis zum geteilten Wesen der Triaden aber sind sie wohl Monaden, die aus sich alle Triaden zur Erscheinung bringen.“). _ _ 342 Theol. Plat. IV(1).9,21–28: TJ gJr porrÿteron ëðistÜmena thò miaò _ _ _ _ _ ÷rxhò plhqŸetai twn pr˛ ažtwn mallon, ka˝ ta iò m˚n dunÜmesin _ _ _ _ _ _ ýlattountai ka˝ ta iò twn deutÍrwn perioxa iò, ÷riqmo iò d˚ pleûosi ka˝ thò _ _ _ monÜdoò plÍon ÷ðesthküsi diairountai ka˝ tÌn Ònwsin ÷ðiasi tÌn twn _ _ prwtourgwn aùtûwn, tÌn poikilûan ÷nt˝ thò ýkeûnwn kruðûaò ëpÜrcewò _ _ _ ÷llattümena. KatJ dÌ touton t˛n lügon ka˝ thò nohthò diakrûsewò pleûwn ê nohtÌ ka˝ noerÜ, ka˝ taŸthò ê noerÜ. 343 Theol. Plat. IV(1).8,27–9,4: ka˝ toˇò katJ tÌn zwÌn qeoˇò [. . .] nohtoˇò _ _ _ þmou prosagoreŸomen ka˝ noeroŸò, [. . .] ¼ò ëpostÜntaò m˚n ÷p˛ twn nohtwn _ monÜdwn, pÜsaò d˚ tJò noerJò ÅbdomÜdaò ÷pogennwntaò. _ 344 Theol. Plat. IV(1).10,2–6: [. . .], Êste [. . .] tJò ùdiüthtaò ažtwn ÷ne_ _ _ _ chgÇtouò e ùnai ka˝ twn êmetÍrwn ýpibolwn ÷perihgÇtouò ka˝ münoiò ažto iò _ _ _ _ _ kataðane iò to iò qeo iò ka˝ to iò Åautwn aùtûoiò. („[. . .], so daß ihre Charakte-

V. Der intelligible Kosmos

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Erstens sind die intelligiblen und zugleich intellektuellen Gottheiten entsprechend ihrer Zwischenstellung zwischen dem Intelligiblen und dem Intellektuellen gegliedert. Diese Gliederung mutet fast topologisch an: Es werden denn auch diese auf die besagte Weise dreifach geteilt, an das Intelligible knüpfen sie durch ihren Gipfel an, an das Intellektuelle aber durch ihr Ende, durch die mittlere Verbindung aber der Spitzen haben sie beide Charakteristika der beiden zugleich und erstrecken sich zu beidem hin [. . .].345

Eine andere Gliederung, die mit der ersten zur Deckung gebracht wird, ist die nach Sein, Leben und Intellekt. Weil die intelligible und zugleich intellektuelle Ebene die mittlere Ebene ist, bezeichnet sie Proklos mitunter auch schlicht als „Leben“. In ihr finden sich die drei Terme Sein, Leben und Intellekt nach der Weise des mittleren der drei Terme, nach der Weise des Lebens (zwtikwò): _

Und deshalb, weil auch in diesen alles nach der Weise des Lebens ist, so wie es in den ihnen vorgängigen auf intelligible Weise ist und in den ihnen nachrangigen auf intellektuelle Weise, das Sein, das Leben und der Intellekt, ist das Sein das Intelligible des Lebens, das Leben aber die Mitte und zugleich das Charakteristikum dieser Ordnung, der Intellekt aber das letzte und das, was das Intellektuelle unmittelbar überragt – weil sich dies nun alles auch bei diesen Gottheiten findet, wird es eine Aufteilung in erste, mittlere und letzte Gattungen geben.346

Als dritte Gliederung des Intelligiblen und zugleich Intellektuellen gibt Proklos die Trias Verharren – Hervorgang – Rückkehr an: Drittens , weil auch das Leben verharren und hervorgehen und zu seinen Prinzipien zurückkehren muß.347

Auch hier ist vom Leben statt von der Ebene des Intelligiblen und zugleich Intellektuellen die Rede. Auf diese Verschiebung der Begriffe wird später eingegangen werden.348 ristika unaussprechlich und für unsere Intuition unerklärt sind und allein den Göttern und ihren Ursachen evident sind.“). _ _ 345 Theol. Plat. IV(3).13,25–14,4: Merûzontai m˚n dÌ ka˝ oëtoi trix´h katJ _ _ _ _ t˛n eùrhmÍnon trüpon, tˆw m˚n nohtˆw diJ thò Åautwn ÷krüthtoò sunÜpton_ _ _ _ _ _ teò, tˆw d˚ noerˆw diJ thò teleuthò, tˆw d˚ mÍsˆw sundÍsmˆw twn åkrwn tÌn sunamðotÍran ýc Łsou laxünteò ùdiüthta ka˝ diateûnonteò ýp\ åmðw [. . .]. 346 Theol. Plat. IV(3).14,7–14: Ka˝ diüti ka˝ ýn toŸtoiò ýst˝ tJ pÜnta _ _ _ _ _ zwtikwò, Êsper ýn to iò pr˛ toŸtwn nohtwò k÷n_ to iò ÷p˛ toŸtwn noerwò, ê _ _ _ ožsûa ka˝ ê zwÌ ka˝ þ nouò, ê m˚n t˛ noht˛n ožsa thò zwhò, ê d˚ t˛ mÍson _ _ _ nouò t˛ ñsxaton ka˝ t˛ to iò Ñma ka˝ ê thò tÜcewò taŸthò ùdiüthò, þ d˚ _ _ _ _ _ noero iò prosexwò ýpoxoŸmenon – pÜntwn ožn Øntwn k÷n toŸtoiò to iò qeo iò, _ diaûresiò ñstai prÿtwn te ka˝ mÍswn ka˝ teleutaûwn genwn. 347 Theol. Plat. IV(3).14,14 sq.: Ka˝ trûton Õti ka˝ tÌn zwÌn mÍnein te ka˝ _ proi¤ Ínai de i ka˝ pr˛ò tJò ÷rxJò ýpistrÍðein. 348 cf. B. V. 3. a).

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Wie genau stellt sich Proklos die Struktur des Intelligiblen und zugleich Intellektuellen vor? Die intelligible und zugleich intellektuelle Ebene ist eine Trias, die nach Sein, Leben und Intellekt gegliedert ist: Sie werden nun, wie ich sagte, dreifach geteilt: Ihr allererstes ist das Sein, ihr Zentrum aber das Leben, ihr Ende aber der Intellekt.349

Jeder der drei Terme bzw. Gottheiten hat für sich an den drei intelligiblen Monaden Sein – Leben – Intellekt teil. Dadurch ergibt sich eine Verdreifachung von Sein, Leben und Intellekt, weil jede dieser drei Gottheiten in sich wiederum eine Trias aus Sein, Leben und Intellekt ist: Weil aber jede einzelne dieser drei vollendet ist und an den intelligiblen Monaden teilhat, ich meine am dortigen Sein, am intelligiblen Leben und am intelligiblen Intellekt, wird sie gemäß der Teilhabe an den ersten Ursachen verdreifacht.350

An einer späteren Textstelle im dritten Kapitel des vierten Buches der Theologia Platonica grenzt Proklos die intelligiblen und zugleich intellektuellen Triaden von den intelligiblen Triaden ab:351 Der Hauptunterschied ist, daß auf der Ebene des Intelligiblen die drei Terme Sein, Leben und Intellekt erst aus Grenze und Grenzelosem als Mischung entstehen,352 daß sich hingegen auf der Ebene des Intelligiblen und zugleich Intellektuellen jeder der drei Terme in jeder Trias findet: Beim Intelligiblen und zugleich Intellektuellen hat jede einzelne Trias Sein, Leben und Intellekt.353

Wir haben es also mit drei Triaden aus Sein – Leben – Intellekt zu tun, so daß sich für die Intelligible und zugleich Intellektuelle Trias folgendes Schema ergibt: 349

_

_

Theol. Plat. IV(3).15,3–5: Merûzontai m˚n ožn, Õper ñðhn, trix´h· ka˝ ñsti _ _ m˚n ožsûa ažtwn t˛ prÿtiston, zwÌ d˚ t˛ mÍson, nouò d˚ t˛ ñsxaton. _ _ 350 Theol. Plat. IV(3).15,5–8: \EpeidÌ d˚ Òkastoò twn triwn toŸtwn tÍleiüò _ _ _ _ _ _ _ ýsti ka˝ metÍxei twn nohtwn monÜdwn, thò ožsûaò lÍgw thò ýke i, thò zwhò _ _ _ _ _ _ _ thò nohthò, tou nou tou nohtou, triplasiÜzetai katJ tÌn mÍqecin twn _ prwtourgwn aùtûwn. 351 Theol. Plat. IV(3).16,4–17,14. 352 Theol. Plat. IV(3).16,6–10: \Eke_i m˚n gJr ÅkÜsth triJò t˛ trûton münon _ _ _ _ _ u Øntoò moûraò ýk gJr pÍratoò þn ka˝ ÷peûrou ka˝ ýc ÷mðo in, e ùxe thò to _ _ _ _ _ touto d˚ þn ožsûa m˚n ýp˝ thò prÿthò, zwÌ d˚ ýp˝ thò deutÍraò nohtÇ, nouò _ d˚ noht˛ò ýp˝ thò trûthò. („Denn dort hatte jede einzelne Trias nur ihren dritten Term anteilhaft am Sein: Denn sie war aus Grenze, Grenzelosem und aus beidem, dies aber war bei der ersten das Sein, bei der zweiten das intelligible Leben, der intelligible Intellekt aber bei der dritten.“) Cf. supra, B. V. 2. a) bzw. B. V. 1. d). 353 Theol. Plat. IV(3).16,11 sq.: \En d˚ to_iò nohto_iò ka˝ noero_iò ÅkÜsth triJò _ ožsûan ñxei ka˝ zwÌn ka˝ noun.

V. Der intelligible Kosmos

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2. intelligible und zugleich intellektuelle Trias 2.1. erste Trias: Sein 2.1.1. Sein 2.1.2. Leben 2.1.3. Intellekt 2.2. zweite Trias: Leben 2.2.1. Sein 2.2.2. Leben 2.2.3. Intellekt 2.3. dritte Trias: Intellekt 2.3.1. Sein 2.3.2. Leben 2.3.3. Intellekt Die Unterscheidungen zwischen den drei Triaden trifft Proklos auf die bereits bekannte Weise adverbialer Zuschreibungen: Das Intelligible des Lebens hat Sein, Intellekt und Leben auf intelligible Weise, das Intelligible und Intellektuelle hat Sein, Leben und Intellekt nach der Weise des Lebens, das Intellektuelle aber hat Sein, Leben und Intellekt auf intellektuelle Weise. Überall ist die Trias in jedem einzelnen der Abschnitte, aber mit dem angemessenen Charakteristikum.354

Auch hier bezeichnet Proklos die ganze Ebene des Intelligiblen und zugleich Intellektuellen als Leben. An folgender Stelle, die sich an die oben zitierte Stelle anschließt, folgt Proklos mit seinen adverbialen Zuschreibungen ganz der Trias Intelligibles – Intelligibles und zugleich Intellektuelles – Intellektuelles: Beim Intelligiblen und zugleich Intellektuellen hat jede einzelne Trias Sein, Leben und Intellekt, die eine auf intelligible und zugleich intellektuelle Weise, aber eher auf intelligible Weise, insofern sie im Zusammenhang mit dem ersten Intelligiblen steht, die andere aber auf intellektuelle und intelligible Weise, aber eher auf intellektuelle Weise, weil sie direkt über dem Intellektuellen steht, die andere aber sammelt in sich zu gleichen Teilen die Charakteristika der beiden.355

Es läßt sich also zusammenfassen: Die intelligible und zugleich intellektuelle Ebene, bisweilen auch als Leben bezeichnet, ist eine Trias aus Sein, Leben und Intellekt. Sie enthält die drei Terme der Trias nach der Weise des Lebens. In einer tieferen Schicht ist jeder der drei Terme der Trias in sich wieder eine Trias aus Sein, Leben und Intellekt, der diese Terme auf die je ihm eigene Weise (nach der Weise des Seins, d. i. auf intelligible _

_

354 Theol. Plat. IV(3).15,8–13: ka˝ t˛ m˚n noht˛n thò zwhò ožsûan Łsxei ka˝ _ _ _ noun ka˝ zwÌn nohtwò, t˛ d˚ noht˛n ka˝ noerün, ožsûan ka˝ zwÌn ka˝ noun _ _ _ _ zwtikwò, t˛ d˚ noerün, ožsûan ka˝ zwÌn ka˝ noun noerwò. Ka˝ pantaxou m˚n _ _ triJò ýn ÅkÜstˆw twn tmhmÜtwn, ÷llJ metJ thò oùkeûaò ùdiüthtoò. 355 Theol. Plat. IV(3).16,11–17: \En d˚ to_iò nohto_iò ka˝ noero_iò ÅkÜsth triJò _ _ _ _ ožsûan ñxei ka˝ zwÌn ka˝ noun, ê m˚n nohtwò Ñma ka˝ noerwò, ÷llJ mallon _ _ _ _ nohtwò, kaq\ Õson ýst˝ sunexÌò to iò prÿtoiò nohto iò, ê d˚ noerwò ka˝ _ _ _ _ _ _ nohtwò, ÷llJ mallon noerwò, diüti prosexwò ýpibÍbhken to iò noero iò, ê d˚ _ _ _ kat\ Łshn mo iran ÷mðotÍraò ýn Åaut´h sullabousa tJò ùdiüthtaò.

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Weise, nach der Weise des Lebens, d. i. auf intelligible und zugleich intellektuelle Weise, oder nach der Weise des Intellekts, d. i. auf intellektuelle Weise) enthält. c) Die intellektuelle Ebene Der intellektuellen Ebene des intelligiblen Kosmos widmet Proklos das fünfte Buch seiner Theologia Platonica. Sie ist die dritte und letzte Ebene des intelligiblen Kosmos, die ihn damit abschließt: Laßt uns nach diesem eine dritte, andere Ordnung von Gottheiten betrachten, die die intellektuelle genannt wird: Sie steht im Zusammenhang mit den Ordnungen vor ihr, beendet aber die ganzen Hervorgänge der Gottheiten, wendet sie zu ihrem Ursprung zurück und beendet den einen Kreis der zuerst wirkenden und vollendeten Ordnungen.356

Die intellektuellen Gottheiten sind von allem ihnen Vorgängigem abhängig: Die intellektuellen Gottheiten gehen aus allem ihnen Vorgängigem hervor: Ihre Einheit erhalten sie vom Einen, das vor dem Intelligiblen ist, ihr Sein aber vom Intelligiblen, ihr vollkommenes Leben aber, das verbindend ist und die Götter erzeugt, vom Intelligiblen und Intellektuellen, ihr intellektuelles Charakteristikum aber haben sie von sich selbst.357

Wie zu erwarten, ist die intellektuelle Ebene stärker gegliedert als die beiden Ebenen vor ihr: Denn die intellektuelle Ordnung ist nicht eins und unteilbar, sondern hat mannigfaltigere Hervorgänge als die höheren Gattungen empfangen.358

Die intellektuelle Ebene ist ein weiterer Schritt der Entfaltung der Einheit in die Vielheit. Mit ihr verläßt Proklos die gewohnte triadische Struktur, denn die intellektuelle Ebene ist hebdomadisch strukturiert: Sie entrollt die Triaden der intelligiblen und zugleich intellektuellen Ebene in intellektuelle Hebdomaden und entfaltet ihre komprimierte Wirkmächtigkeit in intellek356

_

Theol. Plat. V(1).6,6–10: T˛ dÌ metJ touto trûthn ållhn diaküsmhsin _ _ _ qewn tÌn noerJn ÷pokaloumÍnhn qewrÇswmen, sunexh m˚n ta iò pr˛ ažthò, _ sumperaûnousan d˚ tJò Õlaò proüdouò twn qeûwn ka˝ ýpistrÍðousan eùò _ _ _ tÌn ÷rxÌn ka˝ kŸklon Òna twn prwtourgwn ka˝ pantelwn diaküsmwn _ ÷potelousan. _ _ 357 Theol. Plat. V(1).712–17: ProÍrxontai d˚ ÷p˛ pÜntwn twn pr˛ ažtwn oÁ _ _ _ _ noero˝ qeoû, tJò m˚n Ånÿseiò ÷p˛ tou Ån˛ò tou pr˛ twn nohtwn ëpodexüme_ _ _ noi, tJò d˚ ožsûaò ÷p˛ twn nohtwn, tJò d˚ zwJò tJò pantele iò ka˝ sunekti_ _ _ _ kJò ka˝ gennhtikJò twn qeûwn ÷p˛ twn nohtwn ka˝ noerwn, tÌn d˚ noerJn _ ùdiüthta par\ Åautwn laxünteò. _ 358 Theol. Plat. V(2).9,13–16: Ož gJr e Áò ýsti ka˝ åtomoò þ noer˛ò diÜkos_ _ moò, ÷llJ poikilwtÍraò ñlaxe proüdouò twn ëyhlotÍrwn genwn. _

V. Der intelligible Kosmos

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tuelle Vielheit.359 Der erste Hervorgang der intellektuellen Gottheiten ist eine Hebdomade, deren sieben Terme sich wiederum hebdomadisch entfalten,360 so daß sich eine Hebdomade aus sieben Hebdomaden ergibt. Weil Proklos hier von der triadischen Struktur der beiden früheren Ebenen abweicht, lassen sich die Terme der intellektuellen Hebdomade nicht in der Weise herleiten wie die Terme der beiden früheren Ebenen.361 Die folgende Darstellung der sieben Hauptterme der intellektuellen Ebene ist daher weitestgehend deskriptiv. Auf die mythologischen Identifikationen der Gottheiten wird deshalb hingewiesen, weil dies der besseren Orientierung in Proklos’ intelligiblen Kosmos dient. So weit sich in der intellektuellen Hebdomade Reste einer triadischen Struktur finden, die eine Herleitung aus früheren Entitäten erlaubt, wird darauf eingegangen werden. Die intellektuelle Hebdomade besteht aus zwei Triaden und einer siebten Gottheit. Die erste Trias ist die Trias der Väter, die zweite die der unbefleckten Gottheiten. Zu ihnen gesellt sich eine dritte triadische Monade, die Ursache der Unterscheidung ist. Daß diese „siebte Monade“362 monadisch, die beiden Triaden hingegen triadisch sind, nennt Proklos selbst „das Paradoxeste“,363 ein weiterer Hinweis darauf, daß eine deduktive Herleitung der intellektuellen Gottheiten wohl kaum möglich ist. Die erste Trias der intellektuellen Hebdomade entfaltet sich in Analogie zu vorgängigen Entitäten: Ihre drei Terme entsprechen den ersten Termen der drei intelligiblen Triaden. Der erste Term jeder intelligiblen Trias aber _

359 Theol. Plat. V(2).13,25–14,4: tJ pÜnta parÜgousi [. . .] Åbdomadikwò d˚ oÁ noeroû, tJò gJr nohtJò Ñma ka˝ noerJò triÜdaò eùò ÅbdomÜdaò noerJò _ ÷nelûssousi ka˝ tJò sun´hrhmÍnaò ýkeûnwn dunÜmeiò eùò poikilûan ýcaplousi noerÜn. („Die intellektuellen bringen alles hebdomadisch hervor und sie entrollen die intelligiblen und zugleich intellektuellen Triaden in Hebdomaden und entfalten die konzentrierten Wirkmächtigkeiten jener zu intellektueller Mannigfaltigkeit.“). _ _ _ 360 Theol. Plat. V(2).11,24–27: Prwtûsth m˚n ožn aÖth prüodoò twn noerwn _ _ _ qewn êm in eùò ÅptÜda diakriqe isa telÍwò ÷numnÇsqw· deŸterai d˚ ëp˛ _ taŸthn ållai noeûsqwsan ÅbdomÜdeò ÅptÜ, tJò thò ÅptÜdoò taŸthò monÜdaò _ proÜgousai mÍxri twn ýsxÜtwn. („Dieser allererste Hervorgang der intellektuellen Gottheiten, der in sieben unterteilt ist, soll von uns vollendet besungen worden sein; unter diesem aber sollen sieben andere zweitrangige Hebdomaden bedacht werden, die die Monaden dieser sieben bis zu den letzten Dingen weiterführen.“). 361 cf. Dillon, Demiurge, S. 348: „The intellective hebdomad is actually thoroughly peculiar, as compared with the realms prior to it.“ 362 Theol. Plat. V(36).131,19 sq. 363 Theol. Plat. V(2).11, 9–11: ka˝ t˛ pÜntwn paradocütaton, t˛ m˚n diakri_ _ tik˛n aŁtion mallün ýsti monadikün, t˛ d˚ patrik˛n ka˝ t˛ åxranton mallon triadikün. („Und von allem das Paradoxeste ist, daß die unterscheidende Ursache eher monadisch ist, die väterliche Ursache aber und die unbefleckte eher triadisch sind.“).

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

ist das pÍraò, die Grenze, die Proklos in mythologischer Redeweise auch „Vater“ nennt: In jeder einzelnen intelligiblen Trias wird aber wiederum die Grenze „Vater“ genannt, das Grenzelose „Wirkmächtigkeit“ und das Gemischte „Intellekt“.364

Deshalb ist die erste Trias der intellektuellen Ebene die Trias der drei Väter. Wegen ihrer Analogie365 zu den ersten Termen der drei intelligiblen Triaden ist sie nach dem Strukturprinzip Intelligibles – Leben – Intellekt gegliedert: Es werden nun auch hier drei Väter sein, die das ganze intellektuelle Sein unterteilen, der erste ist gemäß dem Intelligiblen angeordnet, der zweite gemäß dem Leben, der dritte aber gemäß dem Intellekt.366

Die drei Väter werden mythologisch gedeutet: Den ersten Vater identifiziert Proklos mit Kronos, den dritten mit Zeus, dem Sohn des Kronos. Zeus ist zugleich der Demiurg des Timaios.367 Zwischen den beiden steht als dritter „Vater“ die Göttin Rhea, die mit dem Leben in Zusammenhang steht. Sie ist die Mutter des Zeus: Offenkundig nun ist, daß wir sagen werden, daß die Königin Rhea, die einerseits Mutter des Zeus ist, andererseits aber die zweite nach Kronos ist, da er Vater ist, diese Mitte anfüllt, weil sie der lebensspendende Kosmos ist und die Ursache des ganzen Lebens in sich vorher bereitgestellt hat.368 364

_

_

Theol. Plat. III(73).19–21: PÜshò d˚ až nohthò triÜdoò t˛ m˚n pÍraò ýn _ ÅkÜst´h patÌr ýponomÜzetai, t˛ d˚ åpeiron dŸnamiò, t˛ d˚ mikt˛n nouò. 365 Theol. Plat. V(2).9,18–24: ka˝ toˇò nohtoˇò mimoŸmenoi patÍraò, oÆ t˛ _ _ noht˛n plÜtoò trix´h die ilon, [oÆ] toiaŸthn Òcousi tÌn pr˛ò ÷llÇlouò _ diaðorÜn, þ m˚n ÷nÜlogon proelqšn tˆw prÿtˆw patr˝ ka˝ noht˛ò Œn, þ d˚ _ _ _ tˆw deutÍrˆw ka˝ tÌn noerJn zwÌn pasan eùò Åaut˛n ÷nadhsÜmenoò, þ d˚ tˆw _ trûtˆw ka˝ t˛n Õlon sugkleûwn diÜkosmon t˛n noerün, Êsper ýke inoò t˛n nohtün. („Und weil sie die intelligiblen Väter nachahmen, die die intelligible Ebene dreifach unterteilen, werden sie zueinander so einen Unterschied haben, daß der erste analog zum ersten Vater hervorgeht und intelligibel ist, der zweite aber analog zum zweiten hervorgeht und das ganze intellektuelle Leben an sich anbindet, der dritte aber analog zum dritten hervorgeht und die ganze intellektuelle Ebene abschließt, so wie jener die intelligible Ebene abschließt.“). _ _ 366 Theol. Plat. V(2).9,16–18: Tre_iò m˚n ožn ñsontai k÷ntauqa patÍreò oÁ tÌn Õlhn ožsûan tÌn noerJn dielünteò, þ m˚n katJ t˛ nohtün, þ d˚ katJ tÌn _ zwÇn, þ d˚ katJ t˛n noun tetagmÍnoò. _ _ _ _ 367 Theol. Plat. V(22).82,20 sq.: PÜnta dÌ ožn tauta saðwò êm in ýpideûk_ nusin Õti ka˝ þ PlÜtwn eùò tažt˛n ågei tˆw Di˝ t˛n Õlon dhmiourgün. („All dies nun zeigt uns klar und deutlich, daß nämlich Platon den universellen Demiurgen mit Zeus gleichsetzt.“). _ _ 368 Theol. Plat. V(3).16,11–15: Dëlon dÌ ožn Õti tÌn basilûda ¢RÍan, mhtÍra _ _ _ m˚n ožsan tou Diüò, tou d˚ Krünou patr˛ò Øntoò [tÌn] deutÍran, tÌn _ mesüthta taŸthn sumplhroun ðÇsomen, küsmon zwogonik˛n ëpÜrxousan ka˝ _ _ _ tJò thò Õlhò zwhò aùtûaò ýn Åaut´h prosthsamÍnhn.

V. Der intelligible Kosmos

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Zeus und Kronos stehen zueinander im Verhältnis des Intellekts zum Intelligiblen, d. h. des Intellekts zu seinem Objekt: Das, was nun Zeus begehrt, und sein Intelligibles ist Kronos, der sehr große Zeus selbst aber ist ein göttlicher und demiurgischer Intellekt.369

Hier erfahren wir etwas sehr Wichtiges über das Verhältnis zwischen dem Intellekt und seinem Objekt, dem Intelligiblen. Der Intellekt begreift das Intelligible, obgleich es ihn transzendiert, was Proklos durch das mythologische Motiv, daß Zeus seinen Vater fesselt, ausgedrückt sieht: Denn das Intelligible ist für den Intellekt Objekt des Begreifens. So wie zwar das Intelligible den Intellekt transzendiert, man aber sagt, daß der Intellekt es begreife, so sagt man bekanntlich auch, daß Zeus seinen Vater feßle.370

Das Objekt des Intellekts darf nicht als außerhalb des Intellekts vorgestellt werden: Und so ist das Intelligible nicht außerhalb des Intellekts.371

Hier ist eine Spannungslage erkennbar: Einerseits transzendiert das Intelligible den Intellekt, andererseits ist es nicht außerhalb des Intellekts. Wie löst Proklos diese Spannungslage? Mehr als einmal wurde betont, daß im intelligiblen Kosmos alles in allem ist. So ist auch im Intellekt ein intelligibler Anteil. Zeus selbst trägt einen intelligiblen Anteil in sich, auf den er reflektieren kann. Zeus reflektiert das Intelligible vor ihm, indem er sich selbst reflektiert. Indem er sich selbst intellektuell erkennt, erkennt er alles vor ihm.372 Die Selbstreflexion beinhaltet die Reflexion auf Vorgängiges: Deshalb wendet sich jedes einzelne des Göttlichen nicht auf das, was geringer ist, zurück. Es ist hingegen auf sich selbst zurückgewandt und durch sich selbst zu dem, was überlegen ist.373

Das Verhältnis zwischen Kronos und Zeus zeigt deutlich die wechselseitige Durchdringung der Entitäten des intelligiblen Kosmos. Jede Auflistung kann daher nicht mehr als eine Orientierungshilfe sein. 369

_

Theol. Plat. V(3).16,5–7: T˛ toûnun ýðet˛n tou Di˛ò ka˝ t˛ noht˛n þ _ _ Krünoò ýstûn, ažt˛ò d˚ þ mÍgistoò Zeˇò nouò qe ioò ka˝ dhmiourgiküò. _ _ _ 370 Theol. Plat. V(5).21,13–15: Tˆw gJr nˆw t˛ noht˛n perilhptün· Êsper ožn _ _ _ ýc´Çrhtai m˚n tou nou t˛ nohtün, lÍgetai d˚ ažt˛ perilambÜnein þ nouò, _ oÖtw dÌ ka˝ þ Zeˇò desme in t˛n patÍra lÍgetai. _ _ 371 Theol. Plat. V(5).22,10 sq.: ka˝ oÖtwò ožk ñcw tou nou t˛ nohtün. _ _ _ _ _ 372 Theol. Plat. V(5).22,21 sq.: Au \ tˆw åra tˆw noe in Åaut˛n paò nouò ka˝ tJ _ _ pr˛ ažtou pÜnta noe i. („Indem er also sich selbst intellektuell erkennt, erkennt der Intellekt alles vor ihm.“). _ 373 Theol. Plat. V(5).22,26–28: Di˛ dÌ ka˝ twn qeûwn Òkaston pr˛ò m˚n t˛ _ _ _ xe iron ÷nepûstroðün ýsti, pr˛ò d˚ aët˛ ka˝ di\ Åautou pr˛ò t˛ kre itton ýpÍstraptai.

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Der ersten Trias ist eine zweite Trias aus drei „unbefleckten Gottheiten“ (åxrantoi qeoû374) zugeordnet. Sie schützen die Gottheiten der drei Väter davor, zu nah in Kontakt mit der nachgeordneten Schöpfung zu kommen.375 Deshalb nennt Proklos sie auch „die drei unbefleckten Wächter der intellektuellen Väter“ (oÁ tre iò åxrantoi ðŸlakeò twn noerwn patÍrwn376). Jedem Vater ist ein Term dieser Wächter-Trias zugeordnet.377 Entsprechend dieser Zuordnung sind die drei Wächter monadisch voneinander getrennt. Als Trias bilden sie jedoch eine Einheit: _

_

_

So sind die drei unbefleckten Wächter der intellektuellen Väter monadisch unterteilt, zusammen mit dieser Unterteilung aber haben sie auch ihr miteinander vereinigtes Sein.379

Die Trias der drei Wächter hat zwei verschiedene Momente: das der Unterscheidung und das der Einheit: Denn die Wache dieser Götter ist zweifach, einerseits wirkt sie zuerst und ist eingestaltig, weil sie von der Trias der verbindenden Gottheiten abhängt, andererseits koexistieren sie mit vor der Neigung zu allen zweitrangigen Entitäten.380

Das Moment der Einheit hat sie, weil sie von der Trias der verbindenden Gottheiten (twn sunektikwn qewn) abhängt. Welche Trias ist damit gemeint? Im allgemeinen ist das Verbindende ein Charakteristikum der intelligiblen und intellektuellen Ebene,381 des Lebens. Im besonderen ist sie ein Charakteristikum der mittleren Trias dieser Ebene, des Lebens des Lebens.382 _

374

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Theol. Plat. V(33).122,21. cf. Dillon, Demiurge, S. 348: „As Proclus explains in chs. 33–5, their role is to protect the Demiurge (and the elements superior to him) from contamination by contact with inferior entities – a role particularly relevant to the Demiurge in connexion with his work of creation.“ 376 Theol. Plat. V(33).121,20 sq. _ _ 377 Theol. Plat. V(2).10,17 sq.: [. . .] Êste Òkaston twn ÷xrÜntwn qewn ùdûˆw _ sunezeuxqai patrû. („[. . .], so daß jede einzelne der unbefleckten Gottheiten mit einem ihr zugehörigen Vater zusammengespannt ist.“). 378 Hier folge ich Gersh, S. 32, der darlegt, daß der Terminus ëpüstasiò bei Proklos immer etwas Verursachtes meint. Cf. auch supra, Anm. 125. _ 379 Theol. Plat. V(33).121,20–23: Ka˝ di´Çrhntai m˚n oëtws˝ monadikwò oÁ _ _ _ _ tre iò åxrantoi ðŸlakeò twn noerwn patÍrwn, metJ d˚ thò diairÍsewò taŸthò ñxousi ka˝ tÌn ênwmÍnhn pr˛ò ÷llÇlouò ëpüstasin. _ _ 380 Theol. Plat. V(34).126,5–8: DittÌ gJr ê ðrourJ twn qewn toŸtwn, ê m˚n _ _ _ _ prwtourg˛ò ka˝ ÅnoeidÇò, thò twn sunektikwn qewn ýchrthmÍnh triÜdoò, ê _ _ _ d˚ sunupÜrxousa ažto iò *** ÷p˛ thò pr˛ò tJ deŸtera pÜnta ‰ophò. _ 381 Theol. Plat. IV(8).26,20–22: Pasa gJr ê mÍsh diaküsmhsiò aÖth zwopoiüò ýsti ka˝ sunektikÌ ka˝ telesiourgüò. („Denn diese ganze mittlere Ordnung ist belebend, verbindend und Vollendung wirkend.“). 382 cf. Theol. Plat. IV(19).57,24 sq.: Diüper ê mÍn ýsti sunagwg˛ò triÜò, ê d˚ _ sunektikÌ tou plÇqouò, ê d˚ telesiourgüò. („Gerade darum ist die erste Trias 375

V. Der intelligible Kosmos

141

Diese mittlere Trias identifiziert Proklos mit der Göttin Adrasteia, die mit der Funktion des Bewachens in Zusammenhang steht.383 Mit Verweis auf diese Stelle geben Saffrey/Westerink in ihrem Kommentar zum Text die Trias der verbindenden Gottheiten, von der die Trias der drei Wächter abhängt, als die mittlere Trias der intelligiblen und intellektuellen Ebene an.384 Proklos’ Zuordnung der Trias der drei Wächter zur Trias der verbindenden Gottheiten folgt nicht mehr der Struktur einer triadischen Logik, wie die Zuordnungen in den beiden früheren Ebenen. Sie folgt dem inhaltlichen Kriterium, das die mythologische Zuschreibung metaphysischer Entitäten mit sich bringt, denn Adrasteia ist durch die Funktion des Bewachens charakterisiert. Das Moment der Unterscheidung hat die Trias der drei Wächter von der siebten Monade.385 Diese beiden Momente, das der Einheit und das der Unterscheidung, charakterisieren das Verhältnis zwischen der Trias der Väter und der ihr zugeordneten Trias der unbefleckten Wächter-Gottheiten. Entsprechend der zunehmenden Entfaltung in die Vielheit ist die erste Wächter-Gottheit mit dem ersten Vater vereinigt, die dritte vom dritten getrennt: Es ist sicherlich notwendig, daß auch die allererste Ordnung der unbefleckten Anführer bei den intellektuellen Vätern triadisch ist und daß sie dieselbe vollendete Anzahl hat wie die drei intellektuellen Gottheiten, daß der erste mit dem ersten bleibend vereinigt ist, der zweite sich irgendwie vom zweiten in der Vereinigung mit ihm trennt, der dritte aber sich schon vom dritten getrennt hat.386

Auf mythologischer Ebene identifiziert Proklos die unbefleckten Gottheiten mit den Kureten.387 versammelnd, die zweite die Vielheit verbindend und die dritte Vollendung be_ _ wirkend.“) sowie Theol. Plat. IV(20).58,24–59,3: per˝ d˚ thò sunektikhò triÜdoò _ _ ýn tˆw parünti lektÍon. TaŸthn toûnun ožranûan periðorJn þ ýn tˆw Faûdrˆw _ _ _ _ SwkrÜthò ÷pokale i, diüti m˚n t˛ mÍson kÍntron katÍxei thò zwhò thò ÷meqÍktou. („Über die verbindende Trias müssen wir nun sprechen. Diese nennt Sokrates im Phaidros den Himmelumlauf, weil sie das mittlere Zentrum des unpartizipierbaren Lebens innehat.“). _ _ 383 Theol. Plat. IV(17).52,9–11: Touto toûnun t˛ ðrourhtik˛n þ thò \Adra_ steûaò ýndeûknutai qesmüò, ân ožd˚n ÷podranai dunatün. („Das Gesetz der Adrasteia, dem nichts entkommen kann, bezeichnet diese Wächterfunktion.“). 384 Saffrey/Westerink, Theol. Plat., ad. loc.: „Cette garde, qui dépend de la triade de dieux mainteneurs, qui est la deuxième triade de dieux intelligibles-intellectifs, doit être Adrastée, voir Théol. plat. IV 17, p.52.3–21. et In Tim. III, p.303.26–30.“ _ 385 Theol. Plat. V(36).131,19 sq.: [. . .] katJ tÌn Åbdümhn [. . .] monÜda, tÌn thò diairÍsewò aùtûan. („[. . .] gemäß der siebten Monade, der Ursache der Unterscheidung.“). _ 386 Theol. Plat. V(34).126,14–20: ÷nÜgkh dÇpou ka˝ tÌn twn ÷xrÜntwn _ _ _ _ êgemünwn prwtûsthn tÜcin ýn to iò noero iò patrÜsi triadikÌn e ùnai ka˝ to iò _ _ _ _ tris˝ noero iò qeo iò t˛n ažt˛n ñxein tÍleion ÷riqmün, ka˝ t˛n m˚n prwton tˆw _ _ prÿtˆw monûmwò ênwsqai, t˛n d˚ deŸteron diakrûnesqaû pwò ýk tou deutÍrou _ _ metJ thò pr˛ò ažt˛n Ånÿsewò, t˛n d˚ trûton çdh diakekrûsqai tou trûtou.

142

B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Neben der Trias der Väter und der Trias der unbefleckten Gottheiten gibt es in der intellektuellen Ebene eine siebte Gottheit. Sie ist eine Monade, die die intellektuelle Hebdomade abschließt und – wie bereits erwähnt – die Ursache der intellektuellen Unterscheidungen ist.388 Zusammen mit den beiden Triaden vervollständigt sie die intellektuelle Hebdomade,389 so daß sich für die intellektuelle Ebene folgendes Schema ergibt: 3. intellektuelle Hebdomade 3.1. erste Trias: Trias der Väter 3.1.1. intelligibler Vater (Kronos) 3.1.2. lebensspendender „Vater“ (Rhea) 3.1.3. intellektueller Vater (Zeus/der Demiurg) 3.2. zweite Trias: Trias der unbefleckten Wächter-Gottheiten (Kureten) 3.2.1. – 3.2.2. – 3.2.3. 3.3. siebte Gottheit Dem dritten intellektuellen Vater der intellektuellen Hebdomade, den Proklos, wie bereits erwähnt, mit dem Demiurgen des Timaios identifiziert, kommt in der Philosophie des Proklos eine besondere Bedeutung zu. Er schafft die Welt nach dem intelligiblen Paradigma, das Platon das „vollkommene Lebewesen“,390 Proklos das Autozôon nennt. Auf mythologischer Ebene identifiziert Proklos das Autozôon mit dem Gott Phanes, auf metaphysischer Ebene mit dem intelligiblen Intellekt,391 dem dritten Term der dritten Trias der intelligiblen Ebene. Der Demiurg ist als Intellekt der intellektuellen Ebene Intellekt im eigentlichen Sinne, weshalb ihn Proklos intellektuellen Intellekt nennt: 387

cf. Theol. Plat. V(35).127,8–131,10. _ _ Theol. Plat. V(36).131,14–16: LoipÌ dÍ ýstin ê thò noeraò ÅbdomÜdoò _ ãpÜshò sugkleûousa _ t˛n ÷riqm˛n ka˝ thò Õlhò diairÍsewò prwtûsth ka˝ _ ÅnoeidÌò aùtûa, per˝ êò katJ t˛ Åchò poihsümeqa toˇò lügouò. („Was aber bleibt, ist das, was die Ordnung der gesamten intellektuellen Hebdomade abschließt und was die allererste und eingestaltige Ursache der ganzen Unterscheidung ist, über die wir gemäß der Reihenfolge sprechen werden.“). _ 389 cf. Theol. Plat. V(36).133,23–26: ˙Estin åra ka˝ katJ t˛n PlÜtwna twn _ _ _ _ Õlwn diairÍsewn ýn to iò noero iò ê prwtûsth monÜò, ka˝ metJ twn dittwn _ _ _ _ triÜdwn, thò te patrikhò lÍgw ka˝ thò ÷xrÜntou, sumplhro i tÌn noerJn Õlhn ÅbdomÜda. („Die allererste Monade aller Unterscheidungen ist also auch nach Platon im Intellektuellen und zusammen mit den zwei Triaden, ich meine die väterliche und die unbefleckte, vervollständigt sie die ganze intellektuelle Hebdomade.“). _ _ 390 Platon, Timaios 31b1: tˆw pantele i zˆÿˆw. _ _ 391 In Tim. III.101,3–10: ñstin åra t˛ ažtozˆw on nouò nohtüò [. . .]. di˛ dÌ _ ka˝ \Orðeˇò [frg. 119] FÜnhtÜ te t˛n qe˛n touton proshgüreusen [. . .]. („Das Autozôon ist folglich der intelligible Intellekt [. . .]. Deshalb eben nannte nämlich Orpheus diesen Gott zum einen Phanes [. . .].“). 388

V. Der intelligible Kosmos

143

Von diesem so großen Gott hängt denn der Demiurg des Alls ab, der zwar auch selbst ein Intellekt ist, wie wir früher gesagt haben, aber als hauptsächliche Ursache von Intellekt ist er der intellektuelle Intellekt.392

Der intelligible Intellekt und der intellektuelle Intellekt stehen, wie dieses Zitat, in dem der Demiurg vom Autozôon abhängt, zueinander in einem besonderen Verhältnis, das im Zusammenhang mit der Frage nach dem Ort der Ideen393 von Bedeutung ist. 3. Offene Fragen In der intelligiblen Ebene entstehen Sein, Leben und Intellekt, die für die Gliederung des intelligiblen Kosmos paradigmatisch sind. So ist die mittlere Ebene des intelligiblen Kosmos Leben (2.), die dritte Ebene Intellekt (3.). Damit drängt sich die Frage auf, wie das intelligible Leben (1.2.3.) zum Leben als der intelligiblen und intellektuellen Ebene (2.) steht, und wie der intelligible Intellekt (1.2.3.) zur intellektuellen Ebene (3.). Handelt es sich hierbei um die gleichen Entitäten, so daß die Untergliederung der intelligiblen und intellektuellen Ebene in Wahrheit eine Untergliederung des intelligiblen Lebens wäre und die Untergliederung der intellektuellen Ebene in Wahrheit eine Untergliederung des intelligiblen Intellekts? a) Intelligibles Leben vs. intelligible und zugleich intellektuelle Ebene Diese Frage soll zunächst für den Begriff des Lebens geklärt werden. Am Anfang des vierten Buches seiner Theologia Platonica grenzt Proklos die intelligible Ebene von der intelligiblen und intellektuellen Ebene ab: Nun wollen wir uns wieder erinnern, was wir wenig früher zeigten, daß es also diese drei universellen Monaden gibt, die gänzlich jenseits der Gottheiten, die nach Teilen unterteilt sind, stehen, Sein, Leben und Intellekt, und diese haben an den überseienden Henaden vor den partikulären Entitäten teil; das Sein transzendiert die übrigen, das Leben hat eine Mittelstellung und die Grenze dieser Trias wendet der Intellekt zu ihrem Anfang zurück.394 392

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In Tim. III.101,16–19: pr˛ò dÌ touton t˛n tosouton qe˛n þ dhmiourg˛ò _ _ ÷nÇrthtai tou pant˛ò nouò m˚n ka˝ ažt˛ò Œn, Êsper eŁpomen prüteron, _ _ ÷llJ noer˛ò nouò ¼ò nou diaðerüntwò aŁtioò. Cf. auch In Tim. III.101,26 sq.: _ ÷mÍqektoò d˚ æn Øntwò noerüò ýsti nouò [. . .]. („Da er unpartizipierbar ist, ist er wirklich der intellektuelle Intellekt [. . .]“). 393 cf. C. I. _ _ 394 Theol. Plat. IV(1).6,16–7,5: PÜlin toûnun ÷namnÇswmen êmaò ažtoˇò ¼n _ _ _ mikrˆw prüteron ÷pedeûknumen, ¼ò åra tre iò eùsin aëtai monÜdeò þlikaû, _ _ _ pÜntwò ýpÍkeina twn katJ mÍrh di´hrhmÍnwn qewn, ožsûa, zwÇ, nouò, ka˝

144

B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Proklos rekapituliert hier das dritte Buch seiner Theologia Platonica. Er spricht von den drei intelligiblen Triaden, bzw. ihren dritten Termen, dem intelligiblen Sein, dem intelligiblen Leben und dem intelligiblen Intellekt. Bei den überseienden Henaden, von denen die Rede ist, handelt es sich meines Erachtens um den pÍraò-Aspekt der jeweiligen Trias, ihren ersten Term, den Proklos, wie dargelegt, unter einem bestimmtem Aspekt auch überseiend nennt.395 Wenig später schreibt Proklos: Dies zugrundegelegt, ist es ohne Zweifel notwendig, daß die ersten intellektuellen Gottheiten, die ihr Wesen gemäß dem Leben haben, den unpartizipierbaren Intellekt mit der intelligiblen Gattung der Gottheiten verbinden und einerseits die mannigfaltigen Hervorgänge der zweitrangigen eingestaltig zusammenhalten, andererseits die bleibenden Existenzen der leitenden Ursachen zum Vorschein bringen und entfalten. Denn so ist das unpartizipierbare Leben, daß es das Sein in erster Linie und den Intellekt abgrenzt und selbst am Sein partizipiert, aber vom Intellekt partizipiert wird.396

Worum geht es hier? Was meint Proklos mit den „ersten intellektuellen Gottheiten, die ihr Wesen gemäß dem Leben haben“? Diese Gottheiten verbinden die intelligible Gattung der Gottheiten mit dem unpartizipierbaren Intellekt, stehen also zwischen der intelligiblen Ebene und dem unpartizipierbaren Intellekt. Rosán identifiziert den unpartizipierbaren Intellekt mit der intellektuellen Ebene.397 Da die „ersten intellektuellen Gottheiten, die ihr Wesen gemäß dem Leben haben“ die intelligible Ebene (1.) mit der intellektuellen Ebene (3.) verbinden, muß mit ihnen die intelligible und zugleich intellektuelle Ebene (2.) gemeint sein. Dies deckt sich mit der Deutung von Saffrey/Westerink.398 Im zweiten Satz spricht Proklos vom „unpartizipierbaren“ Leben, das das Sein in erster Linie vom Intellekt abgrenzt. Was genau mag Proklos damit meinen? Bezieht sich Proklos mit dem „intelligiblen Leben“ auf den vor_

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tauta pr˛ twn merikwn metÍxei twn ëperousûwn ÅnÜdwn· ýc´Çrhtai d˚ ê _ _ _ ožsûa twn loipwn, mÍshn d˚ ñlaxen ê zwÌ tÜcin, t˛ d˚ pÍraò thò triÜdoò _ taŸthò ýpistrÍðei pr˛ò tÌn ÷rxÌn þ nouò. 395 cf. B. V. 2. a). 396 Theol Plat. IV(1).7,14–21: ToŸtwn toûnun ëpokeimÍnwn ÷nÜgkh dÇpou toˇò prÿtouò noeroˇò qeoŸò, katJ tÌn zwÌn ožsiwmÍnouò, sunÜptein t˛n _ _ _ _ ÷mÍqekton noun pr˛ò t˛ noht˛n twn qewn gÍnoò ka˝ tJò m˚n poikûlaò twn _ _ deutÍrwn proüdouò sunÍxein Ånoeidwò, tJò d˚ twn prohgoumÍnwn aùtûwn _ monûmouò ëpÜrceiò ýkðaûnein ka˝ ÷naploun. ToiaŸth gÜr ýstin ê ÷mÍqektoò _ _ zwÇ, diorûzousa tü te prÿtwò ïn ka˝ t˛n noun ka˝ metÍxousa m˚n ažtÌ tou _ _ Øntoò, metexomÍnh d˚ ëp˛ tou nou. 397 Rosán, S. 151–156. 398 cf. Saffrey/Westerink, Theol. Plat., Bd. 4, S. 120: „Il s’agit des dieux intelligibles-intellectifs“.

V. Der intelligible Kosmos

145

ausgehenden Satz und meint damit die intelligible und zugleich intellektuelle Ebene (2.)? In diese Richtung weist folgendes Textzeugnis: Es ist nun das unpartizipierbare Leben, das an den intelligiblen Monaden teilhat, das zweite nach dem Sein und Erzeuger des unpartizipierbaren Intellekts.399

Wenn das unpartizipierbare Leben an den intelligiblen Monaden (1.) teilhat, ist es ihnen nachrangig. Es ist also nicht Teil der intelligiblen Ebene (1.), sondern ihr nachgeordnet. Auch andere Textzeugnisse weisen in diese Richtung,400 so daß davon auszugehen ist, daß Proklos mit dem „unpartizipierbaren Leben“ in der Regel die zweite Ebene des intelligiblen Kosmos (2.) meint. Im oben zitierten Text heißt es aber vom unpartizipierbaren Leben, daß es „das Sein in erster Linie und den Intellekt abgrenzt“. Das Sein in erster Linie ist die erste Trias (1.1.) oder genauer der dritte Term der ersten Trias (1.1.3.) der intelligiblen Ebene (1.). Damit entsteht der Eindruck, daß Proklos hier vom Verhältnis der drei intelligiblen Triaden spricht: Mit dem unpartizipierbaren Leben wäre dann das intelligible Leben (1.2.3.) gemeint, mit dem Intellekt der intelligible Intellekt (1.3.3.). Wir stehen also vor widersprüchlichen Deutungen: Meint Proklos mit dem „unpartizipierbaren Leben“ das Leben der intelligiblen Ebene oder aber die intelligible und zugleich intellektuelle Ebene? Dieser Widerspruch zwischen den beiden Deutungen läßt sich nicht lösen, es sei denn, man billigt Proklos einen äußert souveränen Umgang mit den verschiedenen metaphysischen Entitäten zu. Im zitierten Textzeugnis verschwimmt die zweite Trias der intelligiblen Ebene (1.2.), bzw. ihr dritter Term (1.2.3.), mit der intelligiblen und intellektuellen Ebene (2.). Wie aber steht es um das Verhältnis zwischen der zweiten Trias der intelligiblen Ebene (1.2.) und der intelligiblen und zugleich intellektuellen Ebene (2.)? Wie setzt Proklos den Begriff des Lebens an? Zur Lösung dieser Frage führt Proklos’ Theorie der Verursachung. Proklos schreibt: Denn das Leben ist in erster Linie im Intelligiblen, in zweiter Linie aber im Intelligiblen und Intellektuellen, in dritter Linie aber im Intellektuellen, der Ursache nach existiert es im ersten, gemäß dem Wesen im mittleren und durch Partizipation im letzten.401 399 Theol. Plat. IV(1).8,10–12: ˙Esti toûnun ê ÷mÍqektoò zwÇ, metÍxousa d˚ _ _ _ _ twn nohtwn monÜdwn, deutÍra metJ t˛ ïn ka˝ gennhtikÌ_ tou ÷meqÍktou nou. _ _ 400 So z. B. Theol. Plat. IV(2).10,22–11,2: Õpwò d˚ až prohlqon ÷p˛ twn _ _ _ _ _ _ nohtwn qewn oÁ t˛ thò zwhò plÜtoò thò ÷meqÍktou katalÜmponteò, ýðechò _ to iò eùrhmÍnoiò diÍlqwmen. („Wie nun wiederum die , die die Ebene des unpartizipierbaren Lebens beleuchten, aus den intelligiblen Gottheiten hervorgehen, wollen wir im Anschluß an das Gesagte durchgehen.“). 401 Theol. Plat. IV(2).11,15–20: Ka˝ gJr ê zwÌ prÿtwò mÍn ýstin ýn to_iò _ _ _ _ nohto iò, deutÍrwò d˚ ýn to iò nohto iò ka˝ noero iò, katJ d˚ trûthn ÷püstasin

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B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Im eigentlichen Sinne, gemäß dem Wesen (kat’ ožsûan), ist das Leben in der intelligiblen und zugleich intellektuellen Ebene, die deshalb als das unpartizipierbare Leben angesetzt werden kann. In der intelligiblen Ebene ist es lediglich der Ursache nach, in der intellektuellen Ebene durch Partizipation. Proklos’ Ursachenlehre führt zu dem Dreischritt „der Ursache nach (kat’ aùtûan) – gemäß dem Wesen (kat’ ožsûan) – durch Partizipation (katJ mÍqecin)“. In der 103. Propositio der Elementatio Theologica ist es dieser Dreischritt, mit dem Proklos die Verschränkung von Sein, Leben und Intellekt begründet: Denn weil jedes einzelne entweder der Ursache nach oder gemäß der Existenz oder durch Partizipation ist, sind im ersten die übrigen der Ursache nach, im mittleren das erste durch Partizipation, das dritte aber der Ursache nach, und im dritten die vor ihm durch Partizipation.402

Hier spricht Proklos nicht vom Dreischritt kat’ aùtûan – kat’ ožsûan – katJ mÍqecin, sondern vom Dreischritt kat’ aùtûan – kaq’ Öparcin – katJ mÍqecin. Genau hier liegt der Schlüssel zu dem Problem, wie der zweite Term der intelligiblen Ebene (1.2.) zur intelligiblen und intellektuellen Ebene (2.) steht: Im Sein, das heißt in der intelligiblen Ebene (1.), sind das Leben und der Intellekt der Ursache nach (kat’ aùtûan). Weil sie im Sein sind, spricht Proklos auch davon, daß sie dort „nach der Weise des Seins“ (Øntwò) als „wesensförmige“ (ožsiÿdhò) sind. Das Adverb Øntwò sowie das Adjektiv ožsiÿdhò, von Liddel/Scott/Jones mit „essential, substantial, real“ wiedergegeben, stehen in gefährlicher Nähe zum mittleren Term des Verursachungsprozesses, kat’ ožsûan. Deshalb wählt Proklos hier für den mittleren Term des Verursachungsprozesses den Terminus „gemäß der Existenz“ (kaq’ Öparcin): Deshalb sind also auch im Sein das Leben und der Intellekt vorweggenommen, da aber jedes einzelne gemäß der Existenz charakterisiert wird, d. h. weder der Ursache nach (denn es ist Ursache eines anderen) noch durch Partizipation (denn anderswoher hat es das, woran es teil hat), sind dort sowohl das Leben als auch das intellektuelle Erkennen nach der Weise des Seins, wesensförmiges Leben und wesensförmiger Intellekt.403 _

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ýn to iò noero iò, kat\ aùtûan m˚n ýn to iò prÿtoiò ëpÜrxousa, kat\ ožsûan d˚ _ _ ýn to iò mÍsoiò, katJ mÍqecin ýn to iò ýsxÜtoiò. 402 E. T. 103,5–8: ýpe˝ gJr Òkaston í kat\ aùtûan ñstin í kaq\ Öparcin í _ _ katJ mÍqecin, ñn te tˆw prÿtˆw tJ loipJ kat\ aùtûan ñsti, ka˝ ýn tˆw mÍsˆw t˛ _ _ m˚n prwton katJ mÍqecin t˛ d˚ trûton kat\ aùtûan, ka˝ ýn tˆw trûtˆw tJ pr˛ _ ažtou katJ mÍqecin. _ _ 403 E. T. 103,8–13: ka˝ ýn tˆw Ønti åra zwÌ proeûlhptai ka˝ nouò, ÅkÜstou d˚ katJ tÌn Öparcin xarakthrizomÍnou ka˝ ojte katJ tÌn aùtûan (ållwn_ _ gÜr ýstin aŁtion) ojte katJ tÌn mÍqecin (÷llaxüqen gJr ñxei touto, oë

V. Der intelligible Kosmos

147

Nun ist der systematische Grund dafür gefunden, warum der zweite Term der intelligiblen Ebene (1.2) mit der intelligiblen und intellektuellen Ebene (2.) zu verschwimmen droht: In der intelligiblen Ebene ist das Leben der Ursache nach (kat’ aùtûan). Weil aber die intelligible Ebene das Sein ist, ist das Leben in ihr als wesensförmiges (ožsiÿdhò) nach der Weise des Seins (Øntwò). Dies ist mißverständlich ist, denn ožsiÿdhò bedeutet hier nicht „substantiell“ im eigentlichen Sinne. Das betreffende Charakteristikum, das Leben, ist hier noch nicht zu seiner vollen Entfaltung gekommen: Es ist im Sein nur der Ursache nach angelegt. Unproblematisch sind die adverbialen Bestimmungen, mit denen Proklos die Weise des Enthaltenseins im Leben und im Intellekt bestimmt: Im Leben ist sowohl das Sein (es ist dort durch Partizipation) als auch der Intellekt (er ist dort der Ursache nach) nach der Weise des Lebens (zwtikwò), denn das Leben bestimmt die Existenz (ê Öparciò) dieser Ebene. Auf intellektuelle Weise sind im Intellekt Sein und Leben, die in ihm, weil er der dritte Term ist, durch Partizipation sind: _

[. . .] und im Leben ist das Sein durch Partizipation, das intellektuelle Erkennen aber der Ursache nach, jedoch beide in der Weise, die charakteristisch für das Leben ist (denn dementsprechend ist seine Existenz); und im Intellekt sind sowohl das Leben als auch das Sein durch Partizipation, d. h. beide auf intellektuelle Weise [. . .]404

Nun ist das Verhältnis zwischen dem intelligiblen Leben (1.2. bzw. 1.2.3.) und der zweiten Ebene des intelligiblen Kosmos, der intelligiblen und zugleich intellektuellen Ebene (2.), geklärt: Der zweite Term der intelligiblen Ebene ist das Leben der Ursache nach, die intelligible und zugleich intellektuelle Ebene ist das Leben gemäß der Existenz, das Proklos auch unpartizipierbares Leben nennt. b) Intelligibler Intellekt vs. intellektuelle Ebene Für das Verhältnis zwischen dem intelligiblen Intellekt (1.3.) und der intellektuellen Ebene (3.) gilt mutatis mutandis das Gleiche wie für das Verhältnis zwischen dem intelligiblen Leben und der intelligiblen und zugleich intellektuellen Ebene: Der intelligible Intellekt ist Intellekt der Ursache nach. Erst in der intellektuellen Ebene kommt der Intellekt zu seiner eigentlichen Entfaltung. _

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meteûlhðen), Øntwò ýst˝n ýke i ka˝ t˛ zhn ka˝ t˛ noe in, zwÌ ožsiÿdhò ka˝ _ nouò ožsiÿdhò. _ _ _ 404 E. T. 103,13–16: [. . .] ka˝ ýn t´h zw´h katJ mÍqecin m˚n t˛ e ùnai, kat\ aùtûan _ _ _ _ d˚ t˛ noe in, ÷llJ zwtikwò ÅkÜteron (katJ touto gJr ê Öparciò)· ka˝ ýn tˆw _ _ nˆw ka˝ ê zwÌ ka˝ ê ožsûa katJ mÍqecin, ka˝ noerwò ÅkÜteron [. . .].

148

B. Grundprinzipien der Philosophie des Proklos

Hier ergibt sich eine weitere Schwierigkeit: Was ist der Intellekt im eigentlichen Sinne? Weiter oben wurde die intellektuelle Ebene (3.) als der unpartizipierbare Intellekt angesetzt. Da die intellektuelle Ebene jedoch einen intelligiblen Anteil (Kronos) hat, setzt Proklos als Intellekt im eigentlichen Sinne den intellektuellen Intellekt (3.1.3.) an: Denn der wirkliche Intellekt, nämlich der, der sich bezüglich dieser Existenz gegründet hat, ist der intellektuelle Intellekt.405

Offenbar gibt es einen Intellekt im weiteren Sinne, die intellektuelle Ebene, und einen Intellekt im engeren Sinne, den intellektuellen Intellekt, den Proklos mitunter auch als unpartizipierbaren Intellekt bezeichnet.406 Er ist das Intellektuelle schlechthin, so wie der erste Term der intelligiblen Trias (1.1.) das Intelligible schlechthin ist: Denn auch der intelligible Intellekt ist zwar schlechthin intelligibel und gehört zu jener Seinsstufe, wird aber Intellekt genannt, weil er Ursache aller intellektuellen Natur ist [. . .]. Nur der intellektuelle Intellekt ist eigentlich Intellekt, weil er das Intellektuelle selbst im Intellektuellen zugeteilt bekommen hat, wie ja auch zu dem in hervorragender Weise und in erster Linie Intelligiblen ein sowohl allererstes als auch höchstes Intelligibles gehört, das wir bekanntlich das Eine Sein und das verborgene Sein nennen. Denn dieses ist das Intelligible schlechthin, der Intellekt schlechthin aber ist der intellektuelle Intellekt.407

Proklos’ Benennungen metaphysischer Entitäten sind in hohem Maße kontextabhängig: Im Verhältnis zu den beiden ersten Ebenen (1. und 2.) kann die dritte Ebene (3.) getrost als unpartizipierbarer Intellekt bezeichnet werden. Im Kontext der dritten Ebene ist es der dritte Term der Väter-Trias, der als unpartizipierbarer Intellekt bezeichnet wird. Für diese Kontextabhängigkeit metaphysischer Entitäten bei den späteren Neuplatonisten hat John 405

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Theol. Plat. V(15).50,7 sq.: ¢O gJr ¼ò ÷lhqwò nouò ka˝ þ katJ taŸthn _ ÁdrŸsaò Åaut˛n tÌn Öparcin þ noerüò ýsti nouò. _ _ _ 406 Theol. Plat. V(15).52,2–7: \Ek gJr tou ÷meqÍktou nou paò þ metexümenoò _ prüeisin. ˜Wsper ožn eù ñlegen Õti t˛ metexümenon ëðûsthsi nohtün, t˛ _ _ _ _ prÿtwò ºn þn ïn ýke ino t˛ gennhtik˛n aŁtion, oÖtwò ýpe˝ noun ÷ð\ Åautou _ parÜgei prÿtwò, nouò ºn ÷mÍqektoò eŁh ka˝ noerüò. („Denn aus dem unpartizipierbaren Intellekt geht jeder teilhabbare Intellekt hervor. So wie nun wenn er sagte, daß er das teilhabbare Intelligible gründete, jene hervorbringende Ursache das Sein in erster Linie wäre, er , weil er aus sich selbst einen Intellekt in erster Linie hervorbringt, ein unpartizipierbarer und intellektueller Intellekt sein dürfte.“). _ _ 407 Theol. Plat. V(15).50,8–17: \Epe˝ ka˝ þ noht˛ò nouò ãplwò mÍn ýsti _ _ _ _ noht˛ò ka˝ thò moûraò ýkeûnhò, lÍgetai d˚ nouò ¼ò aùtûa thò noeraò ãpÜshò _ _ ðŸsewò [. . .]. Münoò d˚ þ noer˛ò nouò ùdûwò ýst˝ nouò, ažt˛ t˛ noer˛n ýn _ _ _ _ to iò noero iò klhrwsÜmenoò, Êsper dÌ ka˝ twn nohtwn kuriÿtata ka˝ prÿtwò ýst˝ noht˛n ka˝ prÿtiston ka˝ ÷krütaton, â dÌ ka˝ Ùn ïn ka˝ _ _ _ _ kruðûwò ïn ýponomÜzomen. Touto m˚n ožn ýsti t˛ ãplwò nohtün, þ d˚ ãplwò _ _ nouò noer˛ò nouò.

V. Der intelligible Kosmos

149

Dillon im Zusammenhang mit der Frage, wo Iamblich den Demiurgen ansetzt, eine treffende Analogie gefunden: Wählen wir das Gesicht als Kontext, so ist es das Auge, das sieht, und nicht die Nase, wählen wir hingegen das Auge selbst als Kontext, so können wir die Sehfunktion dort noch genauer orten.408

408 Dillon, Demiurge, S. 343: „It seems to me that there need be no great problem, if we accept that later Neoplatonists were prepared to operate in different contexts at various levels of complexity. In the commentary, Iamblichus simply wishes to re-assert, as against Porphyry, that the demiurgic function in the universe is a property of Intellect, broadly speaking, as against Soul. In this more specialized monograph, it would seem, he is concerned to pinpoint more exactly where in the realm of Intellect is to be found the essence of demiurgy, and this he finds in the Zeus-figure among the ‚Fathers‘ (Kronos-Rhea-Zeus) of the intellectual hebdomad. An analogy, I would suggest, would be asserting, on the one hand, that it is the eye that sees (rather than, say, the nose), but then, in a more specialized context, specifying further what element it is within the eye that specifically engenders vision – let us say the iris, or the cornea.“

C. Die Ideen Die Darstellung der Metaphysik des Proklos wurde mit einem Vergleich mit dem prädikatenlogischen Programm begonnen. Dabei wurde deutlich, daß die platonische Philosophie ganz anders fragt: Ihr genügt es nicht festzustellen, daß einer Menge von Dingen eine Eigenschaft gemeinsam ist, sondern sie fragt nach dem Woher dieser gemeinsamen Eigenschaft. Antwort auf diese Frage sind im besonderen die platonischen Ideen, für Proklos die intelligiblen Entitäten im allgemeinen. Höchste Ursache, die noch jenseits des Intelligiblen steht, ist das Überseiende Eine. Die vorrangigen Ursachen sind für die ihnen nachgeordneten Entitäten logisch und ontogenerisch verantwortlich. Dies zieht eine weitere Frage nach sich: Wie bringen die Ursachen die nachgeordneten Entitäten hervor? Oder, bezogen auf das Überseiende Eine: Wie entfaltet sich das Eine in die Vielheit? Um die Beantwortung dieser Frage hat sich Proklos besonders bemüht. Seiner Lösung dieser Frage war der Abschnitt zum generischen Aspekt des Überseienden Einen (B. IV. 4.) und das Kapitel zur triadischen Entfaltung des intelligiblen Kosmos (B. V.) gewidmet. Hier war der Horizont der Vergleichbarkeit mit dem prädikatenlogischen Programm überschritten. Jetzt geht es um die Ideen bei Proklos: Um was für Entitäten handelt es sich? Hier wird der Vergleich mit dem prädikatenlogischen Programm wieder sinnvoll sein, weil er hilft, die logischen Besonderheiten der platonischen Idee, wie sie Proklos begreift, herauszuarbeiten. Einschlägig für Proklos’ Deutung der Ideenlehre sind vor allem die Bücher zwei bis fünf des Parmenideskommentars,1 weil sie sich auf den Teil des Dialogs beziehen, in dem Parmenides scharfe Kritik an Sokrates’ Vorstellungen zu den Ideen übt. Proklos liest diese Kritik allerdings nicht als vernichtend für die Ideenlehre, sondern als mäeutisch: Durch Parmenides’ Nachfragen soll Sokrates dazu gebracht werden, die Ideenlehre so zu verfeinern und zu korrigieren, daß sie schließlich der Kritik standhalten kann.2 Ein entscheidendender Punkt der Kritik des Parmenides bezieht sich auf die 1

In Parm. 721–1038. cf. John Dillon in Dillon/Morrow, S. 195: „[. . .] for Proclus there are no insoluble problems in the Parmenides, since Parmenides’ purpose is for him not eristic but maieutic, and all his puzzles are simply designed do lead the young Socrates to a higher level of sophistication in his view of the structure of reality.“ 2

I. Der Intellekt als Ort der Ideen

151

Frage nach dem Verhältnis zwischen der Idee und den Instanzen. Vorab sei gesagt, daß Proklos zwei Mißverständnisse als den Grund für die von Parmenides vorgetragenen Schwierigkeiten betrachtet, nämlich erstens die Vorstellung, daß die Anwesenheit der Ideen in den Instanzen körperlich sei, zweitens die Vorstellung einer Gemeinsamkeit zwischen der Idee und ihren Instanzen: Denn wenn wir zusätzlich zur unkörperlichen Partizipation die Partizipierten auch als vollkommen jenseits der Partizipierenden annehmen, dann dürfte es keine Schwierigkeit mehr mit der Teilhabe geben; diese beiden ergeben nämlich die Schwierigkeit: Die körperliche Art der Anwesenheit und die Gemeinsamkeit mit ihnen .3

I. Der Intellekt als Ort der Ideen Zunächst stellt sich die Frage nach dem Konnex zwischen den Ideen und dem intelligiblen Kosmos, mit dem sich das letzte Kapitel befaßt hat. Wie ist das Verhältnis zwischen der Entfaltung des Einen in die Vielheit und den Ideen? Im Parmenideskommentar schreibt Proklos, daß der Intellekt der Ort (tüpoò) der Ideen sei. Wie ist „Ort“ in diesem Zusammenhang zu verstehen? Weil der Intellekt jenseits von Raum und Zeit steht, ist tüpoò hier keinesfalls im räumlichen Sinn gemeint: Denn der Intellekt ist ihr Ort, nicht in der Weise „Ort“, als ob jene eines Sitzes bedürften [. . .].4

Beierwaltes schreibt hierzu: „Ort“ ist allerdings nicht so zu verstehen, als ob die Ideen seiner als eines _ raumhaften „Sitzes“ (Òdra) bedürften. Die Ortlosigkeit des nouò ist gerade der Grund dafür, daß er eine alle Unterschiedenheit integrierende Einheit zu sein vermag, [. . .].5

Auch ist der Intellekt nicht im synthetischen Sinne Ort der Ideen, daß er sie als seine angehäuften Teile umgreift. Vielmehr ist der Intellekt vorgängiges Prinzip der Ideen, was Proklos in zwei Bildern zum Ausdruck bringt: Zum einen im Bild des Kreises, dessen Mittelpunkt als Ursprung aller Ra3

_

In Parm. 878,31–36: \EJn gJr pr˛ò t´h ÷swmÜtˆw meqÍcei ka˝ ýkbebhküta _ pÜnth twn metexüntwn tJ metexümena lÜbwmen, ožkÍti ožd\ ºn Ùn leûpoito _ _ _ per˝ thò meqÍcewò åporon· dŸo gJr tauta poie i tÌn ÷porûan, þ swmatik˛ò _ thò parousûaò trüpoò ka˝ ê pr˛ò ažtJ koinüthò. _ _ 4 In Parm. 930,11 sq.: tüpoò gJr ažtwn ýstin þ nouò, ožx oÖtw tüpoò ¼ò ýkeûnwn Òdraò deomÍnwn. 5 Beierwaltes, Proklos, S. 40.

152

C. Die Ideen

dien Prinzip des Kreises ist, zum anderen im Bild der Wissenschaft, die in jedem ihrer Theoreme vorgängig als ganze enthalten ist.6 Auf die Frage, was die Ideen mit dem Intellekt zu tun haben, gibt Proklos zwei Antworten. Erstens sind die Ideen die Gedanken des Intellekts, zweitens ist der Intellekt die Stufe in der metaphysischen Ordnung des Proklos, in der das Sein in eine Vielheit unterschieden ist. Die Ideen sind die Gedanken des Intellekts im Sinne seiner intellektuellen Anschauungen: Es soll also gesagt werden, daß die wirkliche Idee ein Gedanke ist, aber zuerst als intellektuelle Anschauung des wahren Intellekts, d. h. des väterlichen Intellektes selbst, bei dem sowohl das Seiende intellektuelle Anschauungen sind als auch die intellektuellen Anschauungen das Seiende.7

Es ist das Moment der Rückkehr des Intellekts, durch welches das Seiende und die Gedanken im Intellekt identisch sind.8 Dies aber sind die Ideen, die entstehen, indem sich der Intellekt in der intellektuellen Anschauung zu sich selbst zurückwendet: Es scheint mir aber, daß der intelligible Intellekt gemäß seiner Rückkehr zu den Prinzipien des Ganzen zur vollkommenen Vielheit der Ideen wird und auf intellektuelle und zugleich intelligible Weise alle Ursachen des Seienden in sich aufnimmt.9

Die intellektuelle Anschauung des Intellekts, die nühsiò, ist vom diskursiven Denken, der diÜnoia zu unterscheiden,10 denn im Intellekt gibt es _

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_

6 In Parm. 930,14–20: [. . .], ožd\ oÖtw tou nou periÍxontoò ažtJò ¼ò ažtou _ mÍrh seswreumÍna katJ sŸnqesin, ÷ll\ ¼ò t˛ kÍntron ýn Åautˆw tJ pollJ _ _ _ wn, ka˝ ¼ò ê ýpistÇmh tJ pollJ qewrÇñxei pÍrata twn ÷p\ ažtou gramm _ _ _ _ _ mata, ožk ýk twn pollwn ožsa, ÷llJ pr˛ twn pollwn ka˝ ýn ÅkÜstˆw ê _ pasa. („[. . .] und auch nicht, indem der Intellekt sie so umfaßt wie seine gemäß Zusammensetzung angehäuften Teile, sondern wie der Mittelpunkt in sich die vielen Endpunkte der Linien hat, die von ihm , und wie die Wissenschaft ihre vielen Theoreme , nicht, daß sie aus vielen wäre, sondern vor den vielen und in jedem_ einzelnen als ganze.“). _ _ 7 In Parm. 895,3–7: legÍsqw toûnun e ùnai nühma t˛ ¼ò ÷lhqwò e ùdoò, _÷llJ _ _ _ _ _ _ _ prwton m˚n ¼ò nühsiò tou ÷lhqouò nou ka˝ ažtou tou patrikou, par\ ˆ¼ ka˝ tJ Ønta noÇseiò eùs˝ ka˝ aÁ noÇseiò tJ Ønta. _ 8 In Parm. 901,15–17: tJ d˚ nou noÇmata tJ Ønta ýst˝ diÜ te tÌn noerJn _ ýpistroðÌn ka˝ tÌn ýpikratousan ýn ýkeûnoiò tautüthta. („Die Gedanken des Intellekts aber sind das Seiende wegen der intellektuellen Rückkehr und der Selbigkeit, die in jenen vorherrscht.“). 9 Theol. Plat. III(19).65,25–66,3: Doke_i d\ ñmoige katJ tÌn ýpistroðÌn tÌn _ _ _ Åautou pr˛ò tJò twn Õlwn ÷rxJò þ noht˛ò nouò ýpistreðümenoò plÇrwma _ _ _ _ _ genÍsqai twn eùdwn ka˝ pÜnta noerwò Ñma ka˝ nohtwò eùò Åaut˛n xwrhsai _ tJ twn Øntwn aŁtia. 10 Die Unterscheidung zwischen nühsiò und diÜnoia ist in der platonischen Philosophie zentral. Zur Bedeutung dieses Begriffspaars bei Platon cf. Bickmann.

I. Der Intellekt als Ort der Ideen

153

kein diskursives Nacheinander,11 weil der Intellekt aller Zeit vorgängig ist.12 Werner Beierwaltes schreibt dazu: Geist also ist aus sich selbst und auf sich selbst wirkende, jeder möglichen Verwirklichung vorgängige Wirklichkeit, da sie sich der Zeit enthoben, im zeitlosen Jetzt des aùÿn vollzieht. Deshalb kann vom Geist gesagt werden: „Zugleich nämlich denkt er und hat gedacht“ er findet und zugleich hat er schon gefunden . Dadurch ist das Vorher und Nachher im Akt des Denkens aufgehoben.13

Mit der paradoxen Formulierung des „zeitlosen Jetzt des aùÿn“ rührt Beierwaltes an die zentrale Frage dieser Arbeit. Ihrer Beantwortung sind der Abschnitt C. VIII. 2. sowie E und F gewidmet. Der höchste Intellekt in der Metaphysik des Proklos ist der intelligible Intellekt, die dritte Trias (oder ganz genau: deren dritter Term) der intelligiblen Ebene. Proklos ordnet ihm von den fünf Genera des Seins Identität und Differenz zu: Und deshalb hatte die erste Trias als das Gemischte das Sein, die zweite aber das Leben, worin sowohl Bewegung als auch Ruhe war, weil das Leben verharrt und hervorgeht, in der dritten aber war Identität und Differenz.14

Die zunehmende Entfaltung des intelligiblen Kosmos in die Vielheit ist erst durch das Moment der Unterscheidung möglich. Dieses Moment der Unterscheidung setzt in der zweiten Trias der intelligiblen Ebene ein,15 und 11 cf. E. T. 170,17: ožd˚ gJr metabÇsetai ka˝ noÇsei é mÌ prüteron, ÷kûnhtoò Œn. („Da er unbewegt ist, wird er nämlich auch nicht voranschreiten und etwas erkennen, was er vorher nicht erkannt hat.“). 12 Die diÜnoia des Demiurgen, von der in F. III. 3. die Rede sein wird, ist insofern ein Grenzfall, als der Demiurg ja selbst Intellekt ist. Sie hat noch einen Rest an Sequentialität an sich und ist von der nühsiò, der eigentlichen Tätigkeit des Intel_ _ lekts, verschieden. Cf. In Tim II.61,17–19: ka˝ gJr t˛ polusxid˚ò twn thò aùtûaò _ _ _ _ ÷pologismwn dianoûaò ñrgon ýstû, nou d˚ t˛ monoeid˚ò ka˝ t˛ ýn t´h miˆa noÇsei tJ pÜnta perieilhðüò. („Denn die vielfache Differenzierung der Berechnungen der Ursache ist die Tätigkeit des diskursiven Denkens, des Intellekts aber ist das Einfache und das, was alles in der einzigen intellektuellen Anschauung erfaßt hat.“). 13 Beierwaltes, Proklos, S. 102. (Hervorhebung: Beierwaltes; Klammeranmerkung von mir). _ 14 Theol. Plat. III(19).65,5–9: Ka˝ diJ touto ê m˚n prÿth triJò t˛ mikt˛n _ _ e ùxe tÌn ožsûan, ê d˚ deutÍra tÌn zwÇn, Õpou ka˝ kûnhsiò þn ka˝ stÜsiò, _ _ _ menoŸshò thò zwhò ka˝ proi¤ oŸshò, ýn d˚ t´h trût´h tažt˛n ka˝ qÜteron. 15 Theol. Plat. III(25).86,25–87,5: prüeisin ê deutÍra triJò prÿth dunÜmei _ _ _ t´h noht´h xarakthrizomÍnh ka˝ tJò ýn ažt´h monÜdaò diakekrimÍnaò ñxousa. _ PÜntwn gJr ênwmÍnwn ýke i ka˝ ÷diakrûtwn Øntwn ê diÜkrisiò ýn taŸt´h proðaûnetai, ka˝ t˛ ïn ka˝ ê dŸnamiò di´Çrhtai plÍon ÷p\ ÷llÇlwn, ka˝ t˛ ýk toŸtwn ožkÍti münon Ùn Øn ýstin, ÷ll\ Õlon, ¼ò mÍrh tü te Ùn ka˝ t˛ ïn ñxon _ ýn Åautˆw. („Die zweite Trias geht hervor, wobei sie als erste von der intelligiblen Wirkmächtigkeit charakterisiert wird und die Monaden in sich unterschieden hat.

154

C. Die Ideen

im intelligiblen Intellekt ist das Sein erstmals in eine Vielheit unterschieden. Deshalb kommen die Ideen dort zum Vorschein: Denn das Sein in erster Linie ist das Sein selbst und der Inbegriff des Seins, das zweite aber ist die Wirkmächtigkeit, die zwar vom Sein in erster Linie hervorgeht und gleichsam eine Zweiheit ist, welche die Vielheit des Seienden erzeugt, aber noch nicht die Vielheit ist, das dritte aber ist die Vielheit des Seienden selbst, weil dort das Sein unterschieden ist.16

Durch das Moment der Unterscheidung ist die Idee etwas Seiendes und nicht Sein schlechthin: Und das Gemischte ist bald das Sein, bald aber das intelligible Leben und bald der intelligible Intellekt. In diesem nun sind auch die Ideen in erster Linie. Denn die Unterscheidung des Intelligiblen bringt die Ordnung der Ideen deshalb zum Vorschein, weil die Idee etwas Seiendes ist und nicht Sein schlechthin.17

Dies erklärt auch, was das Moment der Unterscheidung mit den Ideen zu tun hat. Wenngleich das Sein selbst letztlich Ursache von allem Seienden18 ist, ist erst die Idee Ursache einer Entität mit ihrem bestimmten Charakteristikum: Denn wessen Existenz die Ideen auf geteilte Weise verursachen, dessen transzendente Ursache ist das Sein, und was das Sein gebündelt hervorbringt, dessen Ursache sind die Ideen auf geschiedene Weise. Deswegen werden die Ideen zwar die Urbilder des Seienden genannt, das Sein aber wird die Ursache von allem nach ihm, nicht aber das Urbild genannt. Die Urbilder sind nämlich die Ursachen der Dinge, die bezüglich ihres Seins unterschieden sind und die verschiedene Charakteristika des Wesens haben.19 Während dort [i. e. in der ersten Trias] alles vereint und ununterschieden ist, kommt nämlich die Unterscheidung in dieser zum Vorschein, und das Sein und die Wirkmächtigkeit sind mehr voneinander unterschieden und das aus ihnen ist nicht mehr einzig das Eine Sein, sondern ein Ganzes, insofern es sowohl das Eine als auch das Sein als Teile in sich hat.“). _ 16 Theol. Plat. III(14).51,22–27: T˛ m˚n ožn prÿtwò ïn ažto˛n ka˝ Õper Øn, _ _ _ Øntoò ka˝ o Áon duJò t˛_ d˚ deŸteron dŸnamiò proi¤ ousa m˚n ÷p˛ tou prÿtwò _ _ _ _ ožsa gennhtikÌ tou plÇqouò twn Øntwn, ojpw d˚ ožsa t˛ plhqoò, t˛ d˚ _ _ _ _ ýke i tou Øntoò. trûton ažt˛ t˛ twn Øntwn plhqoò, diakriqÍntoò _ _ 17 Theol. Plat. III(14).51,18–22: ka˝ oë m˚n ožsûa t˛ miktün, oë d˚ zwÌ _ _ _ ¢H gJr twn nohtÇ, oë d˚ nouò nohtüò. \En toŸtˆw toûnun ka˝ tJ eŁdh prÿtwò. _ _ _ _ nohtwn diÜkrisiò tÌn twn eùdwn ýkðaûnei tÜcin, diüti t˛ e ùdoò t˝ Øn ýstin, _ ÷ll\ ožx ãplwò Øn. 18 Nach der proklischen Regel, daß die höheren Ursachen weiter reichen als die niedrigeren ist das Überseiende Eine Ursache von allem, die Materie (ê Ölh), die „wirkliches Nicht-Sein“ (In Tim. I.233,4: Øntwò d˚ ožk Øn) ist, eingeschlossen. Das Sein selbst hingegen ist Ursache von allem Seienden im weitesten Sinne, d. h. bis zum Sinnenfälligen, das „nicht wirkliches Nicht-Sein“ (In Tim. I.233,3: ožk Øntwò d˚ ožk ïn) ist. 19 Theol. Plat. III(14).51,27–52,7: \Wn gJr ëpostatikJ tJ eŁdh memerismÍnwò, _ toŸtwn ýst˝n aŁtion ýc´hrhmÍnon t˛ Øn, ka˝ ¼n ÷qrüwò t˛ ïn paraktikün,

I. Der Intellekt als Ort der Ideen

155

Im intelligiblen Intellekt kommen die verschiedenen Charakteristika des Seins zum Vorschein, weil sich das Sein dort in die verschiedenen Ideen ausdifferenziert: Die Monas des Seienden, das Sein selbst, verleiht einem Seienden zwar sein Sein, erst die Idee jedoch sein So-Sein. Proklos identifiziert20 den intelligiblen Intellekt mit dem vollkommenen Lebewesen des Timaios.21 Weil das vollkommene Lebewesen des Timaios das erste Lebewesen ist, bezeichnet Proklos es als das Autozôon. Es ist das Paradigma, nach dem der Demiurg die Welt erschafft, und in dem, wie bereits gesagt, die ersten Ideen zum Vorschein kommen: Ferner aber ist auch die dritte Trias vom intelligiblen Leben erfüllt und ist deshalb ein intelligibles Lebewesen und das allererste Lebewesen. In erster Linie nämlich partizipiert es selbst an der Gesamtheit , bringt aber in sich die allerersten Ideen zum Vorschein, zu denen sich auch der demiurgische Intellekt ausstreckt, um den ganzen Kosmos entstehen zu lassen. Und dieses ist das intelligible Alles, so wie der sichtbare Kosmos das Sinnenfällige ist. Deshalb nämlich nennt Platon das Autozôon vollkommen.22

Mit dem intelligiblen Intellekt, dem Autozôon des Timaios, konkurriert der intellektuelle Intellekt, den Proklos an dieser Stelle den demiurgischen Intellekt nennt, um die Stellung des Ortes der Ideen. Er ist, wie gezeigt wurde, der dritte Term der ersten Trias der intellektuellen Hebdomade (3.1.3.).23 Proklos identifiziert ihn mit Zeus bzw. mit dem Demiurgen des Timaios. Die Orakel weisen ihn als Ort der Ideen aus: Der Timaios setzt nun die eine zuerst wirkende Ursache aller Ideen in das Intelligible (denn dort ist das Autozôon, wie wir an anderen Stellen gezeigt haben), die Orakel aber sagen, daß die Quelle der Ideen im Demiurgen vorher existiert.24 toŸtwn tJ eŁdh diakekrimÍnwò ýst˝n aŁtia, diüti tJ m˚n eŁdh paradeûgmata _ _ _ kale itai twn Øntwn, t˛ d˚ ïn aŁtion twn_ met\ ažt˛ pÜntwn, ÷ll\ ož _ _ parÜdeigma· twn gJr di´hrhmÍnwn katJ t˛ e ùnai ka˝ diaðürouò thò ožsûaò _ ýxüntwn toˇò xarakthraò aŁtia tJ paradeûgmata. _ 20 cf. In Tim. I.420,11 sq.: ê trûth toûnun triJò ê nohtÌ t˛ ažtozˆw on. („Die dritte intelligible Trias nun ist das Autozôon.“) sowie In Tim. III.101,3 sq.: ñstin _ _ åra t˛ ažtozˆwon nouò nohtüò. („Es ist also das Autozôon der intelligible Intellekt.“). 21 cf. Platon, Timaios 31b1. 22 Theol. Plat. III(18).61,1–8: \AllJ mÌn ka˝ ê trûth triJò peplÇrwtai m˚n _ _ _ _ _ zwhò nohthò ka˝ diJ touto zˆwün ýsti noht˛n ka˝ prÿtiston zˆwon. Prÿtwò _ _ _ gJr ažt˛ metÍxei thò Õlhò ðŸsewò, ýn Åautˆw d˚ ýkðaûnei tJ prÿtista twn _ _ eùdwn, pr˛ò é ka˝ þ dhmiourgik˛ò nouò ÷nateinümenoò t˛n Õlon ëðûsthsi _ küsmon· ka˝ ñstin ažt˛ t˛ noht˛n pan, ¼ò þ ðainümenoò küsmoò t˛ aùsqhtün, _ di˛ ka˝ þ PlÜtwn pantel˚ò ýponomÜzei t˛ ažtozˆwon. 23 cf. B. V. 2. c). _ 24 In Parm. 802,2–6: ¢O m˚n ožn Tûmaioò ýn to_iò nohto_iò ÷pÍqeto tÌn _ _ _ mûan prwtourg˛n aùtûan pÜntwn twn eùdwn (ýke i gJr t˛ ažtüzwon, ¼ò ýn

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C. Die Ideen

Proklos hat es mit zwei widerstreitenden Textzeugnissen zu tun, die für ihn gleichermaßen bindend sind, dem Platons und dem der Orakel: Bei Platon ist das Autozôon Ursache der Ideen. In Proklos’ Systematik ist das Autozôon die dritte Trias (1.3.) der intelligiblen Trias, die wir nach ihrem dritten Term (1.3.3.) als ganze als intelligiblen Intellekt bezeichnen dürfen.25 Nach den Orakeln jedoch ist der Demiurg die Quelle der Ideen. Proklos ist damit in der Not, diese beiden Zeugnisse kompatibel zu machen. Er löst die Schwierigkeit dadurch, daß sich die Ideen im Autozôon dadurch von den Ideen im Demiurgen unterscheiden, daß sie im Autozôon der Ursache nach, im Demiurgen bereits manifest sind: Und diese unterscheiden sich nicht voneinander, wie es vielleicht manchen scheinen dürfte; denn es ist nicht dasselbe, die eine ganzheitliche Ursache der kosmischen Ideen aufzusuchen und schlechthin die erste Manifestation der ganzen Ordnung der Ideen zu betrachten: Aber bezieht den Inhalt dieser auf den Demiurgen, den jener auf die intelligible Ordnung selbst des Göttlichen, von der her auch der Demiurg und alle Ordnungen mit eidetischem Sein erfüllt werden.26

Weil das Autozôon dem Überseienden Einen näher ist, ist in ihm weniger Vielheit aber mehr Wirkmächtigkeit als im Demiurgen, denn der intelligible Kosmos verliert bei seiner Entfaltung in die Vielheit an Einheit und Wirkmächtigkeit: Denn jeder Hervorgang schwächt zwar die Wirkmächtigkeit, mehrt aber die Vielheit.27

Für die Nachrangigkeit des demiurgischen Intellekt zum Autozôon spricht, daß der platonische Timaios nur vier Ideen im Autozôon angibt.28 So kann Proklos sowohl intelligible Ideen im Autozôon als auch intellek_

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ålloiò ÷pedeûknumen), tJ d˚ Lˆ−gia tÌn phgÌn twn ùdewn ýn tˆw dhmiourgˆw prou¤pÜrxein ðas˝. 25 cf. B. V. 1. c). _ 26 In Parm. 802,6–15: ka˝ ož diÍsthke tauta ÷p\ ÷llÇlwn, Êò poŸ tisin ºn _ _ düceien· ož gÜr ýsti tažt˛n ýgkosmûwn eùdwn ýpizhte in tÌn mûan ka˝ þlikÌn _ _ _ _ _ aùtûan, ka˝ ãplwò ãpÜshò thò seiraò twn ùdewn tÌn prÿthn ñkðansin _ _ _ tÌn perioxÌn, twn d˚ qewre in· ÷llJ twn m˚n eùò t˛n dhmiourg˛n ÷napÍmpei _ _ _ ýp\ ažtÌn tÌn nohtÌn tÜcin twn qeûwn, ÷ð\ êò ka˝ þ dhmiourg˛ò plhroutai _ ka˝ pÜnteò oÁ diÜkosmoi eùdhtikhò ožsûaò. _ _ 27 In Tim. III.107,5 sq.: pasa gJr prüodoò ýlatto i m˚n tÌn dŸnamin, ajcei _ d˚ t˛ plhqoò. _ 28 Platon, Timaios 39e10–a2: eùs˝n dÌ tÍttareò, mûa m˚n ožrÜnion qewn _ gÍnoò, ållh d˚ pthn˛n ka˝ ÷eropüron, trûth d˚ ñnudron e ùdoò, pez˛n d˚ ka˝ _ xersa ion tÍtarton. („Es sind deren aber vier: erstens das himmlische Geschlecht der Götter, sodann das geflügelte und die Luft durchkreuzende, drittens das der Wassertiere, viertens das der auf Füßen wandelnden Landtiere.“ Übersetzung: Apelt).

I. Der Intellekt als Ort der Ideen

157

tuelle Ideen im demiurgischen Intellekt anerkennen. Diese sind den menschlichen Angelegenheiten näher als jene: Denn die intelligiblen Ideen haben nicht eine solche Kenntnis von unseren Angelegenheiten wie sie die intellektuellen Ideen haben, d. h. eine Kenntnis, die bestimmt ist als Kenntnis der menschlichen Angelegenheiten, insofern sie menschlich sind, und überhaupt als Kenntnis der individuellen Ideen und des Sinnenfälligen, sondern sie haben eine eingestaltige, ganzheitliche und monadische Kenntnis all dessen, was zusammen unter ein einziges Genus geordnet wird.29

In der Philosophie des Proklos sind also sowohl der intelligible als auch der intellektuelle Intellekt auf ihre je eigene Weise Ort der Ideen. Der intelligible Intellekt ist Ort der umfassenderen, der intellektuelle Intellekt Ort der partielleren Ideen: Nun aber hat zwar das Paradigma nur vier Ideen, er aber auch die noch partielleren als jene hat, der Sonne, des Mondes und jeder einzelnen der unaufhörlichen Entitäten .30

Es ist lohnend, genauer zu betrachten, wie Proklos das Verhältnis zwischen dem Demiurgen und dem Autozôon konzipiert, weil dadurch einmal mehr die wechselseitige Durchdringung der Entitäten des intelligiblen Kosmos in der Philosophie des Proklos deutlich wird. Im platonischen Timaios blickt der Demiurg auf das Autozôon, das Paradigma, nach dem er die Welt schafft.31 Proklos geht der Frage des Verhältnisses zwischen dem Autozôon und dem Demiurgen nach: Aber wenn es noch andere Ordnungen zwischen dem Einen und dem Demiurgen gibt, so ist zu untersuchen, ob das Paradigma des Alls vorrangig in ihm, nach ihm, oder vor ihm ist.32

Proklos argumentiert zunächst mit einem Ausschlußverfahren. Daß das Paradigma vorrangig im Demiurgen ist, schließt Proklos mit dem Argument aus, daß im Demiurgen dann die vier intelligiblen Ideen des intelligiblen Intellekts wären. Dies kann aber deshalb nicht sein, weil der Demiurg als intellektueller Intellekt die partielleren Ideen enthält. Daß das Paradigma 29

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In Parm. 964,36–965,5: tJ gJr nohtJ eŁdh toiaŸthn ožk ñxei gnwsin twn _ _ êmetÍrwn oÔan tJ noerJ, diwrismÍnhn twn ÷nqrwpeûwn ´ê ÷nqrÿpeia, ka˝ _ _ _ _ _ Õlwò twn ÷tümwn eùdwn, ka˝ Õlwò twn aùsqhtwn, ÷ll\ Ånoeidh ka˝ þlikÌn ka˝ _ _ monadikÌn pÜntwn þmou twn ëð\ Ùn gÍnoò tattomÍnwn. 30 In Tim. I.323,6–8: kaûtoi t˛ m˚n parÜdeigma münaò ùdÍaò ñxei tÍttaraò, _ ažt˛ò d˚ ka˝ tJò ñti merikwtÍraò ýkeûnwn, êlûou, selÇnhò, ÅkÜstou twn ÷idûwn. 31 cf. Platon, Timaios 29a3. _ _ 32 In Tim. I.322,30–323,2: eù d˚ ka˝ ållai metacˇ tou Ån˛ò ka˝ tou _ _ _ dhmiourgou tÜceiò eùsû, püteron ýn ažtˆw prÿtˆw t˛ parÜdeigma tou pant˛ò _ í met\ ažt˛n í pr˛ ažtou zhthtÍon.

158

C. Die Ideen

dem Demiurgen nachrangig ist, schließt Proklos mit folgendem Argument aus: Der Demiurg würde dann auf etwas blicken, das schlechter (xe iron33) und unwürdiger (÷timüteron34) wäre als er selbst. Dadurch wäre er auf etwas ihm Nachrangiges hingewendet (ýstrammÍnoò35), was man aber für keine göttliche Existenz annehmen könne. _

Nun, da Proklos die ersten beiden Möglichkeiten ausgeschlossen hat, bleibt die dritte Möglichkeit übrig: Daher ist das Paradigma vor dem Demiurgen.36

Damit ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Demiurgen und dem Autozôon noch nicht ganz geklärt, denn es bleibt noch offen, inwiefern das Paradigma vor dem Demiurgen ist. Proklos stellt die Frage, wie der Demiurg das Paradigma sieht: Wenn aber der Demiurg das Intelligible sieht, sieht er es auf sich selbst hingewendet oder nur außerhalb seiner selbst?37

Wenn jedoch der Demiurg das Paradigma als etwas ihm Äußerliches sieht, so ist dies eine Sinneswahrnehmung und keine intellektuelle Anschauung: Aber wenn er es nur außerhalb seiner selbst , dann sieht er Trugbilder des Seins und wird eine Sinneswahrnehmung statt einer intellektuellen Anschauung haben.38

Bereits im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Zeus, das ist der Demiurg, und seinem Vater Kronos wurde deutlich, daß das Intelligible nicht außerhalb des Intellekts ist.39 Weil der Intellekt das Intelligible begreift,40 umgreift er es auch, so daß es nicht außerhalb seiner selbst ist. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem intelligiblen und dem intellektuellen Intellekt (i. e. zwischen dem Paradigma und dem Demiurgen = Zeus) ist der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem intelligiblen Vater und dem intellektuellen Vater der ersten Trias der intellektuellen Hebdomade (i. e. 33

In Tim. I.323,9. In Tim. I.323,9. 35 In Tim. I.323,9. _ _ 36 In Tim. I.323,10 sq.: Êste pr˛ tou dhmiourgou t˛ parÜdeigmÜ ýstin. _ 37 In Tim. I.323,16 sq.: eù d˚ þrˆa t˛ noht˛n þ dhmiourgüò, püteron eùò _ _ Åaut˛n ýstrammÍnoò þrˆa, í ñcw münon Åautou. _ _ _ 38 In Tim. I.323,18 sq.: ÷ll\ eù m˚n ñcw münon Åautou, eŁdwla þrˆa tou Øntoò ka˝ Òcei aŁsqhsin ÷nt˝ noÇsewò. 39 cf. B. V. 2. c), wo Theol. Plat. V(5).22,10 sq. zitiert wurde: ka˝ oÖtwò ožk _ _ ñcw tou nou t˛ nohtün. („Und so ist das Intelligible nicht außerhalb des Intellekts.“). _ _ 40 Theol. Plat. V(5).21,13: Tˆw gJr nˆw t˛ noht˛n perilhptün. („Denn das Intelligible wird vom Intellekt begriffen.“). 34

I. Der Intellekt als Ort der Ideen

159

zwischen Kronos und Zeus) analog. Beide Male geht es um das Verhältnis zwischen dem Intelligiblen und dem Intellektuellen. Der Demiurg nimmt das Paradigma wahr, indem er sich auf sich selbst zurückwendet: Wenn er aber auf sich selbst , ist das, was intellektuell erkannt wird, auch in ihm.41

Proklos kommt zu dem Schluß, daß das Paradigma sowohl vor dem Demiurgen als auch im Demiurgen ist. Auf den ersten Blick erscheint dies unbefriedigend, da Proklos wenige Zeilen vorher noch die Möglichkeit, daß das Paradigma im Demiurgen ist, ausgeschlossen hat. Wie löst Proklos diesen scheinbaren Widerspruch? Hier kommt der Grundsatz der proklischen Metaphysik „alles in allem, aber in jedem auf die ihm eigene Weise“ (pÜnta ýn pasin, oùkeûwò d˚ ýn ÅkÜstˆw42) zum Tragen. Im Demiurgen ist das Paradigma auf intellektuelle Weise und es ist nicht, wie in der oben ausgeschlossenen Möglichkeit, vorrangig in ihm (ýn ažtˆw prÿtˆw43): _

_

So daß das Paradigma sowohl vor dem Demiurgen als auch in ihm ist, auf intelligible Weise vor ihm, auf intellektuelle Weise aber in ihm.44

Wie gesagt, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Demiurgen und dem Paradigma analog zu der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem intellektuellen und dem intelligiblen Vater der intellektuellen Ebene: Beide Male ist ein Verhältnis zwischen dem Intelligiblen und dem Intellektuellen gemeint, im einen Fall das Verhältnis zwischen dem intelligiblen und dem intellektuellen Intellekt, im anderen Fall das Verhältnis zwischen dem Intelligiblen und dem Intellektuellen innerhalb des Intellekts. Diese Analogie reicht bis hinein in die mythologischen Verhältnisse der Gottheiten, die Proklos mit dem Demiurgen und dem Paradigma sowie dem intellektuellen Vater und dem intelligiblen Vater identifiziert. Der Demiurg ist zugleich der intellektuelle Vater, den Proklos mit Zeus identifiziert. Das Paradigma identifiziert er mit dem Gott Phanes,45 den intelligiblen Vater mit Kronos. Auf der Ebene des Intellekts stellt sich das Verhältnis zwischen dem Intelligiblen und dem Intellektuellen durch die Fesselung des Kronos durch Zeus dar, der ihn damit umgreift. Noch drastischer ist das Umgreifen des intelligiblen Intellekts durch den intellektuellen Intellekt in der Darstellung des Mythos: Zeus verschlingt Phanes und verleibt ihn sich damit ein: Dies beschreibend sagte allerdings auch Orpheus, daß der intelligible Gott vom Demiurgen des Ganzen verschlungen werde; Platon nahm zwar an, 41

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In Tim. I.323,19 sq.: eù d˚ eùò Åautün, ñsti ka˝ ýn ažtˆw t˛ nooŸmenon. 42 E. T. 103,1. 43 In Tim. I.323,1. _ _ 44 In Tim. I.323,20–22: Êste ka˝ pr˛ tou dhmiourgou t˛ parÜdeigmÜ ýsti _ _ _ _ _ ka˝ ýn ažtˆw, nohtwò m˚n pr˛ ažtou, noerwò d˚ ýn ažtˆw. 45 cf. B. V. 2. c).

160

C. Die Ideen

daß der Demiurg auf das Paradigma sehe, womit er die intellektuelle Anschauung durch das Sehen beschrieb, der Theologe aber , daß er das Intelligible sowohl gleichsam anspringe als auch verschlinge, wie es der Mythos gesagt hat.46

Das Bild, das durch den orphischen Mythos gewonnen ist, stellt die wechselseitige Durchdringung der Entitäten in der Philosophie des Proklos treffender dar als das Schauen des Demiurgen auf das Paradigma, in dem etwas äußerliches mitschwingt, das Proklos, wie gezeigt wurde, eigens zurückweist. Es läßt sich also festhalten: Der Ort der Ideen ist der Intellekt, denn erstens sind im Intellekt Gedanken und Ideen, die in der Rückwendung des Intellekts auf sich selbst entstehen, dasselbe, zweitens ist der Intellekt die Stufe in der Metaphysik des Proklos, auf der das Moment der Unterscheidung wirksam wird. In erster Linie und auf intelligible Weise erscheinen die Ideen im intelligiblen Intellekt. Im intellektuellen Intellekt, dem Demiurgen, sind die Ideen auf intellektuelle Weise. Der intellektuelle Intellekt, der Demiurg, und der intelligible Intellekt, das Paradigma, nach dem der Demiurg die Welt schafft, sind aufs Innigste miteinander verbunden: Nach orphischer Mythologie verschlingt der Demiurg den intelligiblen Intellekt, nach dem Mythos, den Platon Timaios im gleichnamigen Dialog erzählen läßt, nimmt er den intelligiblen Intellekt in sich auf, indem er auf ihn sieht. Durch die innige Verbindung des Intellektuellen mit dem Intelligiblen bei der Schöpfung des Sinnenfälligen ist die Kontinuität zwischen den verschiedenen Ebenen in der Philosophie des Proklos gewährleistet. Eine jede Ebene repräsentiert das Ganze auf die ihr eigene Weise: Folglich sagt Platon nun auch mit Recht, daß er sein Werk mit Blick auf das Paradigma verrichtet, damit er dadurch, daß er jenes intellektuell erkennt, alles wird und dann den sinnenfälligen Kosmos in die Existenz bringt. Denn das eine < i. e. das Paradigma> war alles auf intelligible Weise, er aber alles auf intellektuelle Weise, der Kosmos aber alles auf sinnenfällige Weise.47

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46 In Tim. I.324,14–19: tauta d˚ ka˝ þ \Orðeˇò ýndeiknŸmenoò _ _ _ katapûnesqai t˛n noht˛n qe˛n ñðato parJ tou dhmiourgou twn Õlwn· ka˝ þ m˚n PlÜtwn blÍpein eùò t˛ parÜdeigma t˛n dhmiourg˛n ëpÍqeto, tÌn nühsin _ _ _ _ diJ thò þrÜsewò ýndeiknŸmenoò, þ d˚ qeolügoò ka˝ o Áon ýpiphdan ažt˛n tˆw _ _ nohtˆw ka˝ katapûnein, ¼ò þ muqoò ñðhsen. _ 47 In Tim. I.325,4–8: eùkütwò åra ka˝ nun þ PlÜtwn eùò t˛ parÜdeigma _ _ _ _ in ýke ino pÜnta genümenoò t˛n blÍpontÜ ðhsi dhmiourge in ažtün, Ôna tˆw noe _ _ _ _ aùsqht˛n ëpostÇshtai küsmon· t˛ m˚n gJr þn nohtwò pan, ažt˛ò d˚ noerwò _ _ _ pan, þ d˚ küsmoò aùsqhtwò pan.

II. Analogie zwischen dem überseienden Einen und den Ideen

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II. Analogie zwischen dem überseienden Einen und den Ideen Die Ideen sind, darauf wurde bereits verschiedentlich hingewiesen, die intelligiblen Ursachen ihrer Instanzen. Die Menge der Entitäten, für die eine Idee verantwortlich ist, nennt Proklos auch Ordnung (tÜciò) dieser Idee. Das Verhältnis zwischen einer Ursache und der Menge derer, die sie hervorbringt, ist dasselbe wie das Verhältnis des Überseienden Einen zu Allem: Denn wenn es notwendig ist, daß sich die Ursache zu ihrem Erzeugten so verhält wie sich das Eine zur ganzen Natur des Seienden verhält, [. . .]48

Somit ist auch das Verhältnis zwischen einer Idee und ihrer Taxis dasselbe wie das Verhältnis zwischen dem Überseienden Einen und allem, was ist. Wie das Überseiende Eine allem, was ist, Einheit stiftet, so stiftet auch die Idee allen Dingen neben der bestimmten Eigenschaft, für die sie verantwortlich ist, Einheit. Proklos nennt die Ideen daher auch Henaden49 oder Monaden. Sie sind dem Überseienden Einen analog. Alle unteilhabbaren Monaden aber werden wiederum auf das Eine zurückgeführt, weil sie alle dem Einen analog sind.50 _

48

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Theol. Plat. III(2).10,18–20: Eù gJr de i tÌn aùtûan touto e ùnai pr˛ò tJ _ Åauthò gennÇmata Õper ýst˝ pr˛ò Ñpasan tÌn twn Øntwn ðŸsin t˛ Òn. _ _ _ 49 So z. B. In Parm. 812,38–813,3: Paò gJr þ t´hde twn ÷nqrÿpwn ÷riqm˛ò _ _ _ [. . .] ýcÇrthtai thò ÅnÜdoò ýkeûnhò thò noeraò, ⁄n ažtoÜnqrwpon proseirÇ_ _ _ kamen, Õti prÿth aùtûa ka˝ phgÌ thò twn ÷nqrÿpwn ýst˝ seiraò. („Denn die ganze Zahl der Menschen hier [. . .] hängt von jener intellektuellen Henade ab, die wir den Menschen selbst genannt haben, weil sie erste Ursache und Quelle der Ordnung der Menschen ist.“). Henade im Sinne von Idee darf nicht mit den überseienden Henaden verwechselt werden, von denen in B. IV. 4. a) die Rede war. Im Parmenideskommentar versucht Proklos die unterschiedlichen Verwendungen der Begriffe Henade und Monade für die platonische Idee in Platons Philebos zu rechtfertigen _ (In Parm. 880,30–36): ˜Oqen ka˝ þ ýn tˆw FilÇbˆw SwkrÜthò pot˚ m˚n ÅnÜdaò _ kale i tJò ùdÍaò, pot˚ d˚ monÜdaò· eùs˝ gJr_ ¼ò m˚n pr˛ò ažt˛_ t˛ Ùn monÜdeò, _ diüti ka˝ plhqüò ýstin ÅkÜsth ka˝ Øn ti ožsa ka˝ zwÌ ka˝ e ùdoò noerün· ¼ò _ _ d˚ pr˛ò tJ ÷p\ ažtwn paragümena ka˝ tJò seirJò éò ëðestasin, ÅnÜdeò. („Deshalb nennt auch Sokrates im Philebos die Ideen bald Henaden, bald aber Monaden: Denn insofern sie im Verhältnis zum Einen selbst , sind sie Monaden, weil jede einzelne eine Vielheit, ein bestimmtes Seiendes, Leben und eine intellektuelle Idee ist; insofern sie aber im Verhältnis zu dem, was von ihnen hervorgebracht wird, d. h. zu den Ordnungen, deren Existenz sie verursachen*, Henaden.“). Allerdings hält sich Proklos selbst nicht daran: Seine Verwendung von Henas und Monas für die platonische Idee scheint keiner _ _ _ Regel zu folgen. (* ëðestasin wurde hier als ëðistasin gelesen, weil ëðestasin nicht transitiv verwendet wird.). _ _ 50 E. T. 100,7 sq.: pasai d˚ až aÁ ÷mÍqektoi monÜdeò eùò t˛ Ùn ÷nÜgontai, _ _ diüti pasai tˆw Ån˝ ÷nÜlogon. _

162

C. Die Ideen

Aus diesem Analogieverhältnis zwischen dem Überseienden Einen und den Ideen lassen sich verschiedene Eigenheiten der Ideen ableiten, auf die in den folgenden Kapiteln näher eingegangen wird. Wie das Überseiende Eine ist auch die Idee transzendente, unteilhabbare Ursache ihrer nachgeordneten Entitäten. Es wurde gezeigt, daß die Benennung des Überseienden Einen problematisch ist, und auch bei den Ideen ist zu bedenken, auf welcher Grundlage sie benannt werden können. Hier stellt sich die Frage nach der Selbstprädikation der Ideen. Welche Antwort Proklos auf diese Frage gibt, zeigt seine Behandlung des Größenregresses im platonischen Parmenides, auch bekannt als Argument vom dritten Menschen.

III. Die Transzendenz der Ideen I Die Ideen sind dem Überseienden Einen analog: Denn wegen der Ähnlichkeit zu jenem ist bezüglich jeder einzelnen Ordnung des Seienden analog dem Guten eine Monas zur Existenz gelangt, die sich zu der ganzen ihr verbundenen Reihe so verhält, wie sich das Gute zu allen Ordnungen der Götter verhält.51

Dementsprechend sind sie im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Taxis transzendent: [. . .] weil bekanntlich die Ursache im eigentlichen Sinne transzendent über das Hervorgebrachte ist und in sich und durch sich getrennt vom Partizipierenden gegründet ist.52

1. Die Idee als auto kath’hauto Die Transzendenz der Ideen wird von Proklos wieder und wieder betont. Im platonischen Parmenides fragt Parmenides den Sokrates, ob er glaube, daß es „ganz für sich“ eine Idee der Ähnlichkeit gebe.53 Diese zweiglied_

51 Theol. Plat. II(5).38,3–7: diJ gJr tÌn þmoiüthta tÌn pr˛ò ýke ino kaq\ _ _ _ _ _ ÅkÜsthn twn Øntwn tÜcin ÷nÜlogon ëpÍsth tˆw ÷gaqˆw monÜò, touto ožsa _ _ _ pr˛ò Õlon t˛n sŸzugon aëthò â pr˛ò ãpÜsaò ýst˝ tJò twn qewn diakosmÇseiò t÷gaqün. Cf. auch Theol. Plat. III(2).11,5 sq.: OÖtw gJr ºn tü te _ _ prÿtiston gÍnoò ýc´hrhmÍnon pantaxou tÌn ÷nÜlogon ñxoi tˆw Ån˝ tÜcin ka˝, [. . .] („Denn so hat wohl sowohl das allererste transzendente Genus allenthalben eine Stellung, die dem Einen analog ist, als auch [. . .]“). _ _ 52 In Parm. 881,10–13: [. . .] diüti dÌ t˛ ¼ò ÷lhqwò aŁtion ýc´Çrhtai twn _ _ _ _ ÷potelesmÜtwn, ka˝ Ôdrutai ýn Åautˆw ka˝ ýð\ Åautou xwristwò ÷p˛ twn metexüntwn. _ 53 Platon, Parmenides 128e6–129a1: tüde dÍ moi eùpÍ· ož nomûzeiò e ùnai ažt˛ _ kaq\ aët˛ e ùdüò ti þmoiüthtoò [. . .]; („Aber das sag mir doch: Meinst du nicht, daß es ganz für sich eine Idee der Ähnlichkeit gibt [. . .]?“ Übersetzung: Martens).

III. Die Transzendenz der Ideen I

163

rige Wendung „ganz für sich“ (ažt˛ kaq’ aëtü) interpretiert Proklos als doppelte Abgrenzung der Ideen: Und einerseits unterscheidet er durch das kaq\ aët˛ die Ideen von dem, was von den vielen (Einzel-)Dingen ausgesagt wird; denn welches davon ist kaq\ aët˛, da es doch sein Sein in Relation zum Zugrundeliegenden hat, da es doch auf Grund von vielen gleichen Sinneseindrücken existiert und als das, was dem Bereich der Meinung angehört, und da es sich doch mit Vorstellungen des Einbildungsvermögens vermischt? Durch das ažt˛ andererseits unterscheidet er das Gemeinsame in den Einzeldingen, das auch Gegenstand der Definition ist, denn dieses ist in einem anderen und besteht zusammen mit der Materie, weshalb es sich auch mit Veränderung anfüllt und irgendwie sterblich ist wegen seiner Gemeinschaft mit dem Materialisiertem.54

Durch die Wendung „für sich“ (kaq’ aëtü) wird die Idee von dem, „was von den vielen (Einzel-)Dingen ausgesagt wird“, abgegrenzt. Das „was von den vielen (Einzel-)Dingen ausgesagt wird“ geben Dillon/Morow als „attribute“ wieder.55 Es handelt sich dabei um ein mentales Konzept, das durch Abstraktion vieler gleichartiger Sinneseindrücke entsteht. Wir haben es also mit einem universale post rem zu tun. Weil dieses sein Fundament in Sinneswahrnehmungen hat, gehört es dem Bereich der Meinung (düca) an. Aber nicht die Meinung, sondern der Intellekt ist der Betrachtung der Ideen angemessen.56 Noch einen weiteren Grund, gibt Proklos an, warum er die Ideen von den Attributen abgrenzt: Attribute werden von ihren Trägern ausgesagt, sie stehen in Relation zu ihren Trägern (ýn sxÍsei pr˛ò tJ ëpokeûmena57), die Idee aber ist für sich (kaq’ aëtü): Sie ist jeder Relation enthoben58 und daher keinesfalls mit einem Attribut gleichzusetzen. _

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54 In Parm. 730,15–25: Ka˝ diJ m˚n tou kaq\ aët˛ xwrûzei twn ýp˝ to iò _ pollo iò kathgoroumÍnwn tJ eŁdh· tû gJr toŸtwn kaq\ aëtü ýstin, ýn sxÍsei _ pr˛ò tJ ëpokeûmena tÌn ëpüstasin ñxon, ka˝ ýk pollwn Łswn aùsqÇsewn ka˝ _ _ docast˛n ëpÜrxon, ka˝ sumðurümenon ta iò ðantastika iò ýpinoûaiò; DiJ d˚ _ _ _ tou ažt˛ xwrûzei t˛ ýn to iò kaq\ Òkasta koin˛n, â ka˝ þristün ýsti· touto gJr ýn ållˆw ýst˝ ka˝ meq\ Ölhò ëðÍsthken, Õqen ka˝ ÷lloiÿsewò ÷napûmplatai ka˝ ñsti pwò qnht˛n diJ tÌn pr˛ò t˛ ñnulon koinwnûan. 55 Dillon/Morow, S. 106 übersetzen: „ ‚by itself‘ serves to distinguish Ideas from attributes predicated of particular things.“ _ _ _ 56 In Parm. 881,13–18: Eù m˚n ožn ýp˝ tJ eŁdh tiò ÷p˛ twn aùsqhtwn toŸtwn _ ÷nt˝ düchò proi¤ stÜsqw ka˝ pÜnth di´hrhmÍnwn ýqÍloi metabaûnein, noun m˚n _ _ _ thò þdou taŸthò êgemüna, qeÜsqw d˚ Òkaston e ùdoò ÷sŸntakton pr˛ò tJ _ t´hde ka˝ ÷migÍò. („Wenn nun jemand von diesen sinnenfälligen und in jeder Beziehung zerteilten Dingen zu den Ideen hinaufsteigen will, so soll er einerseits den Intellekt anstelle der Meinung als Führer auf diesem Weg an die Spitze stellen, andererseits soll er jede einzelne Idee unverbunden und unvermischt mit den Dingen hier betrachten.“). 57 In Parm. 730,17 sq. 58 Dies mag merkwürdig erscheinen, hat aber mit Proklos’ Vorstellung der Relation zwischen Wirkung und transzendenter Ursache zu tun: Zwar stehen die nach-

164

C. Die Ideen

Durch die Wendung aët˛ hingegen ist die Idee von dem universale in re abgegrenzt, von dem Gemeinsamen in den Einzeldingen. Das Gemeinsame in den Einzeldingen ist ein immanentes Merkmal. Es ist mit der Veränderlichkeit der Materie assoziiert und daher in gewisser Weise sterblich. Die Ideen aber sind jenseits von Werden und Vergehen. Die Zuordnung der beiden Wendungen aët˛ und kaq’ aët˛ zu den beiden Abgrenzungen von dem universale in re und dem universale post rem ist in gewisser Weise beliebig, da Proklos wenig später schreibt, daß man diese Zuordnung auch anders herum vornehmen kann: Du könntest aber sagen, daß auch auf der einen Seite das ažt˛ die Idee von den Konzepten unterscheidet (denn keines dieser ist „selbst“: Denn sie verweisen auch mit auf jene, von denen sie sind, weil sie zu anderen gehören und von anderen herkommen); daß aber auf der anderen Seite das kaq’ aët˛ von dem, was in den Einzeldingen, in anderen ist, . So daß diese beiden Ausdrücke die Idee im eigentlichen Sinne von den beiden trennen.59

Wichtig indes ist, daß Proklos die transzendente Idee sowohl von den Konzepten als auch von den Gemeinsamkeiten in den Einzeldingen unterscheidet. Als Ursachen sind die Ideen in ihrer Transzendenz dem Überseienden Einen analog: Nun wollen wir wiederum zusätzlich zu dem, was gesagt worden ist, auch dieses noch festsetzen [. . .], daß es also notwendig ist, daß allenthalben vorgängig zu den partizipierten Ursachen die unpartizipierbaren existieren [. . .]. Denn wenn es notwendig ist, daß sich die Ursache zu ihrem Erzeugten so verhält wie sich das Eine zur ganzen Natur des Seienden verhält [. . .], das Eine aber unpartizipierbar ist, weil es in gleicher Weise alles Seiende transzendiert, insofern es alles auf einheitliche Weise hervorbringt, so kommt es doch wohl auch jeder einzelnen der anderen Ursachen, die die Überlegenheit des Einen über alles spiegelt, zu, das Seiende auf den zweiten Rangstufen und das, was von ihm partizipiert wird, zu transzendieren.60 rangigen Entitäten in Relation zu den ihnen vorrangigen Ursachen, nicht aber umgekehrt. Auf diese Besonderheit in der proklischen Metaphysik werde ich später eingehen. _ 59 In Parm. 731,6–14: LÍgoiò d\ ºn Õti ka˝ t˛ m˚n ažt˛ xwrûzei t˛ e ùdoò ÷p˛ _ _ _ twn ýnnohmÜtwn (ožd˚n gJr toŸtwn ažtü· sunanaðÍrei gJr k÷ke ina ¼n _ _ ýstin, ållwn Ønta ka˝ ÷p\ ållwn)· t˛ d˚ kaq\ aët˛, to_u ýn to iò kaq\ Òkasta _ ýn ållˆw Øntoò, Êste åmðw ÷mðotÍrwn t˛ ¼ò ÷lhqwò e ùdoò dii^sthsi. 60 Theol. Plat. III(2).10,15–26: PÜlin toûnun diorizÿmeqa pr˛ò to_iò eùrhmÍ_ _ _ _ noiò ka˝ touto [. . .] ¼ò åra de i pr˛ twn metexomÍnwn aùtûwn _pantaxou tJ _ _ ÷mÍqekta prou¤pÜrxein [. . .]. Eù gJr de i tÌn aùtûan touto e ùnai pr˛ò tJ _ _ Åauthò gennÇmata Õper ýst˝ pr˛ò Ñpasan tÌn twn Øntwn ðŸsin t˛ Òn, [. . .] _ t˛ d˚ Ùn ÷mÍqektün ýstin, ÷p˛ pÜntwn þmoûwò ýc´hrhmÍnon twn Øntwn ¼ò _ pÜntwn Åniaûwò paraktikün, prosÇkei dÇpou ka˝ twn ållwn aùtûwn Òkaston

III. Die Transzendenz der Ideen I

165

2. Die Idee als amethekton Somit stellt sich die Frage, wie Teilhabe an den Ideen denkbar ist, analog zu der Frage, wie Teilhabe am Überseienden Einen denkbar ist. Das Überseiende Eine bringt, darauf wurde in B. IV .4. a) hingewiesen, eine Menge partizipierbarer Entitäten hervor, die Henaden, an denen die nachrangigen Entitäten teilhaben, so daß sie in indirekter Weise auch am Überseienden Einen teilhaben. Ebenso bringt die transzendente Idee, darauf wurde in B. III. 3. hingewiesen, eine Menge partizipierbarer Entitäten hervor, an denen die Instanzen teilhaben. Es ergibt sich also eine Hierarchie zwischen dem Unpartizipierbaren und dem Partizipierten, die Proklos mit der Hierarchie zwischen „der Idee, die in sich“ ist und der „Idee, die in anderen“ ist, parallelisiert: Folglich sind vor den Ideen, die in anderen sind, die Ideen, die in sich sind, und vor den Ursachen, die in derselben Ordnung sind, die transzendenten Ursachen und vor den Partizipierten die unpartizipierbaren Monaden.61

Daß Proklos die beiden Paare nicht nur parallelisiert, sondern tatsächlich identifiziert, so daß mit der Idee, die in anderen ist, das Partizipierte, mit der Idee hingegen, die in sich ist, das Unpartizipierbare gemeint ist, darüber gibt folgende Stelle des Parmenideskommentars Aufschluß: _

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Denn erkenne dies zuerst bei den Ideen (ýp˝ twn eùdwn), wie zum Beispiel der Mensch zweifach ist, einerseits der transzendente, andererseits aber der partizipierte. [. . .] Die Sonne also, der Mond und jede einzelne der anderen natürlichen _ _ _ Arten (twn ållwn Òkaston ðusikwn eùdwn) hat das eine in einem anderen, das andere aber für sich. Denn das, was in einem anderen ist, das Gemeinsame und das Partizipierte muß vor sich das haben, welches sich gehört, d. h. kurz gesagt, das Unpartizipierbare; die transzendente Idee wiederum, die nämlich für sich ist, muß, weil sie die Ursache von vielen ist, die Vielheit zu einer Einheit machen und verbinden. Andererseits aber ist das Gemeinsame in ihnen die Verbindung der vielen , und deshalb ist der Mensch selbst etwas anderes, etwas anderes aber der Mensch im Einzelnen. Jener ist ewig, dieser hingegen zwar irgendwie sterblich, irgendwie aber nicht. Jener ist intelligibel, dieser aber sinnenfällig.62 _

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tÌn tou Ån˛ò ëperoxÌn pr˛ò pÜnta ÷peikonizümenon ýc´hrhsqai twn ýn to iò _ deutÍroiò Øntwn ka˝ metexomÍnwn ëp\ ažtwn. _ _ 61 Theol. Plat. III(2).11,9–12: ˙Estin åra pr˛ twn ýn ålloiò Øntwn eùdwn tJ _ _ ýn aëto iò Ønta ka˝ pr˛ twn suntetagmÍnwn aùtûwn tJ ýc´hrhmÍna ka˝ pr˛ _ twn metexomÍnwn aÁ ÷mÍqektoi monÜdeò. _ _ _ _ 62 In Parm. 707,11–27: ˙Ide gJr ažt˛ prwton ýp˝ twn eùdwn, o Áon Õpwò þ ånqrwpoò ditt˛ò, þ m˚n ýc´hrhmÍnoò, þ d˚ metexümenoò· [. . .] Ólioò toûnun ka˝ _ _ _ selÇnh ka˝ twn ållwn Òkaston ðusikwn eùdwn, t˛ m˚n ýn ållˆw, t˛ d˚ kaq\ _ _ aëtwn aëtü· tÜ te gJr ýn ålloiò Ønta ka˝ tJ koinJ ka˝ metexümena de i pr˛ _ _ _ ñxein t˛ Åautou ïn, ka˝ Õlwò t˛ ÷mÍqekton· ka˝ až t˛ ýc´hrhmÍnon e ùdoò ka˝

166

C. Die Ideen

Hier stellt Proklos das Unpartizipierbare dem Partizipierten gegenüber. Das Partizipierte ist „in einem anderen“, es ist das Gemeinsame in den Einzeldingen, das die Einzeldinge als das ihnen Gemeinsame verbindet. Das Unpartizipierbare hingegen ist die transzendente Idee. Sie gehört sich und verbindet die Einzeldinge, insofern sie deren Ursache ist.63 _

Proklos differenziert also die Idee, das e ùdoò, das er hier auch das ðusik˛n e ùdoò nennt, in einen transzendenten und in einen immanenten Anteil. Dies bringt Schwierigkeiten bei der Wiedergabe im Deutschen mit sich. Erstens verwendet Proklos e ùdoò hier in einem weiteren Sinne als dem der transzendenten Idee, die ganz für sich ist (ažt˛ kaq’ aët˛ e ùdoò) und von der im letzten Abschnitt die Rede war: Sie ist der transzendente Anteil des e ùdoò, von dem hier die Rede ist. Zweitens ist der Terminus der Idee seit dem Idealismus in der deutschen Tradition gewöhnlich auf die transzendente Idee festgelegt. Über diesen zweiten Einwand möchte ich insofern hinweggehen, als der idealistische Sprachgebrauch eben restriktiver ist als der des Proklos, und es meines Erachtens durchaus möglich ist, von „immanenten Ideen“64 zu sprechen. Das erste Vorkommnis von e ùdoò wurde also mit „Idee“ übersetzt, weil aus dem Kontext deutlich ist, daß „Idee“ hier einen weiteren Bedeutungsumfang als „transzendente Idee“ hat. Diese Übersetzung überträgt ins Deutsche, daß Proklos den Terminus e ùdoò in einem engerem und in einem weiteren Sinne versteht. Nur im engeren Sinne verstanden meint e ùdoò die transzendente Idee. Da dies aber die Idee im eigentlichen Sinne ist, werde ich, sofern der Kontext nicht nahelegt, daß mit „Idee“ etwas anderes gemeint ist, den Terminus „Idee“ für die transzendente Idee verwenden. Diese Benennungspraxis überträgt den weiten Bedeutungsumfang, den e ùdoò bei Proklos hat, ins Deutsche, ohne jedoch zu verkennen, daß die Idee im eigentlichen Sinne auch bei Proklos die transzendente Idee ist. _

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Welcher Terminus aber ist eine gute Wiedergabe für ðusik˛n e ùdoò? „Natürliche Idee“ ist unklar. Der Terminus „naturimmanente Idee“ griffe zu kurz, denn er trifft nur einen Aspekt dessen, was Proklos hier mit dem ðusik˛n e ùdoò meint. Diese Übersetzung von ðusik˛n e ùdoò würde deshalb nicht weiterhelfen, weil es Proklos gerade um die Differenzierung des ðusik˛n e ùdoò in einen immanenten und einen transzendenten Anteil geht. Deshalb ist auch die Wiedergabe mit „form in nature“65 bei Dillon/Morrow _

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kaq\ aët˛ ïn, Ñte pollwn ïn aŁtion, Ånoun ka˝ sunde in t˛ plhqoò· ñsti d˚ až _ _ _ _ twn pollwn desm˛ò t˛ ýn ažto iò koin˛n, ka˝ diJ touto ålloò m˚n þ_ ažto_ _ Ünqrwpoò, ålloò d˚ þ ýn to iò kaqÍkasta, ka˝ ýke_inoò m˚n aùÿnioò, oëtoò d˚ _ pÌ m˚n qnht˛ò, pÌ d\ oõ, ka˝ ýke inoò m˚n noht˛ò, oëtoò d˚ aùsqhtüò. 63 Zu dieser Deutung cf. auch Lloyd, Anatomy, S. 84. 64 So Frede, Philebos, S. 139. 65 Dillon/Morow, S. 82.

III. Die Transzendenz der Ideen I

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problematisch, denn das ðusik˛n e ùdoò darf hier keinesfalls auf die naturimmanente Idee eingeschränkt werden. Dann nämlich hätte die Bemerkung, daß es „das eine in einem anderen, das andere für sich“ hat, keinen Sinn. Doch was bedeutet das Attribut ðusik˛n hier, wenn es nicht Naturimmanenz meint? Obgleich eine Übersetzung von twn ållwn Òkaston ðusikwn eùdwn, die ðusikwn als Genitivattribut zu eùdwn auffassen würde, höchst unwahrscheinlich ist, ist der Sache nach genau dies gemeint: Das attributive Adjektiv ðusik˛n macht, wie die Beispiele zeigen, deutlich, daß es sich um Ideen von natürlichen Dingen und keinesfalls von Artefakten66 handelt. Die hier gewählte Übersetzung „natürliche Art“ bringt um den Preis, daß der Terminus „Idee“ in ihr nicht vorkommt, treffend zum Ausdruck, was mit dem ðusik˛n e ùdoò gemeint ist:67 Sie grenzt es zum einen von Artefakten ab und bewahrt zum andern den doppelten Aspekt, unter dem das ðusik˛n e ùdoò hier erscheint, denn „natürliche Art“ bedeutet vor dem Hintergrund einer platonischen Metaphysik sowohl die transzendente Idee der materialisierten Spezies als auch die materialisierte Spezies selbst. Damit kommt in diesem Begriff die Doppelnatur des ðusik˛n e ùdoò zum Ausdruck, die transzendente und die naturimmanente Idee. Letztere ist es, die Proklos im obigen Zitat mit dem Partizipierten identifiziert und die er „sinnenfällig“ und „irgendwie sterblich“ nennt. _

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Gegen diese Identifikation des Partizipierten mit der sinnenfälligen, naturimmanenten Idee steht allerdings folgender Beleg, in dem sich Proklos deutlich dafür ausspricht, auch das Partizipierte als völlig außerhalb des Partizipierenden aufzufassen: Denn wenn wir zusätzlich zur unkörperlichen Partizipation die Partizipierten auch als vollkommen jenseits der Partizipierenden annehmen, dann dürfte es keine Schwierigkeit mehr mit der Partizipation geben.68

Dies widerspricht dem obigen Textzeugnis, daß das Partizipierte „in einem anderen“ sei. Wie läßt sich dieser Widerspruch auflösen? Die ein66 Ob Platon selbst Ideen von Artefakten angenommen hat, ist nicht sicher. Zwar führt er am Anfang des zehnten Buches der Politeia die Idee des Bettes an (Platon, Politeia 596a10–597c3), nach Aristoteles, Metaphysica 991b6 sq. gab es in Platons Ideenlehre jedoch keine Ideen von Artefakten, so daß es sich bei der Idee des Bettes um eine platonische Ironie handeln könnte. Horn, S. 299 dagegen schreibt, daß „das gewählte Beispiel einer Idee, das Bett, anscheinend nur karikaturhaft und ironisch gemeint sein kann“ (Hervorhebung von mir), und entscheidet die Frage, ob Platon Ideen von Artefakten angenommen hat, positiv: „Platon nimmt also offenkundig eine ‚Idee der Flöte‘ an.“ (ibid., S. 309). 67 Mein Dank für diesen Übersetzungsvorschlag gilt Prof. Jens Halfwassen (Heidelberg). _ 68 In Parm. 878,31–34: \EJn gJr pr˛ò t´h ÷swmÜtˆw meqÍcei ka˝ ýkbebhküta _ pÜnth twn metexüntwn tJ metexümena lÜbwmen, ožkÍti ožd\ ºn Ùn leûpoito _ per˝ thò meqÍcewò åporon.

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C. Die Ideen

fachste Lösung wäre es, anzunehmen, daß Proklos im zweiten Textzeugnis mit dem Partizipierten in verkürzter Redeweise die (unpartizipierbare) Idee meint. Diese Lösung ist einfach, wird jedoch der Sache nicht ganz gerecht, denn es gibt einen systematischen Grund für die Zwitternatur des Partizipierten: Proklos’ Philosophie steht vor zwei Aufgaben, die schlecht miteinander vereinbar sind. Einerseits muß sie die Transzendenz der vorgängigen Ursachen wahren. Andererseits muß sie diese vorgängigen Ursachen mit dem Immanenten vermitteln. Dieser Vermittlung dient der Dreischritt ÷mÍqekton – t˛ metexümenon – t˛ metÍxon. Die Bürde der Vermittlung zwischen Transzendenz und Immanenz lastet dabei auf dem metexümenon. Meijer schlägt daher vor, zwischen metexümenoò I und metexümenoò II zu unterscheiden: metexümenoò I ist das immanente, metexümenoò II das transzendente Partizipierte.69 Er führt damit noch mehr Zwischeninstanzen in die Proklische Metaphysik ein als Proklos selbst. Ich halte diesen Vorschlag nicht für zielführend, weil er die metaphysischen Entitäten verdoppelt und das Problem nicht löst: Die Frage der Vermittlung zwischen Transzendenz und Immanenz verschiebt sich auf das Verhältnis zwischen dem metexümenoò I und dem metexümenoò II. Eine Lösung des Widerspruchs, die dem Denken des Proklos angemessen ist, bietet hingegen De Rijks Hinweis auf die zentrale Bedeutung einer Unterscheidung in der Metaphysik des Proklos, die er „scope distinction“ nennt: Rather, scope distinction concerns an object qua whole, one time observed from one aspect proper to it and another time from some other angle.70

Diese Unterscheidung läßt sich auf die Frage anwenden, warum das Partizipierte bisweilen als transzendent, bisweilen jedoch als immanent erscheint: Soll die Überbrückung der Kluft zwischen transzendenter Idee und immanenter Instanz betont werden, so erscheint das Partizipierte – das mit der Metapher des Funkens beschrieben werden kann71 – als immanent: Der „Funke“ ist angekommen. Soll jedoch die transzendente Herkunft des Partizipierten betont werden, so erscheint es als transzendent. Im eigentlichen Sinne jedoch ist das Partizipierte weder immanent noch transzendent. In dieser speziellen Natur des Partizipierten, zwischen dem Immanenten und dem Transzendenten zu vermitteln, ist das Problem begründet, daß es bald als immanent, bald hingegen als transzendent erscheint. 69

Meijer, S. 77: „Metexümenoò I refers to the formative principle, which belongs to the participant, whereas metexümenoò II concerns entities which are participated in and of a higher rank, and do not depend on their participants for their existence.“ 70 De Rijk, S. 29. 71 De Rijk, S. 17: „Therefore all transcendent principles must be ‚exempt from being a share‘ since what is shareable, or rather actually shared, is the dŸnameiò or sparks produced by them qua causes.“ (Hervorhebungen: De Rijk).

IV. Das Segeltuchdilemma

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IV. Das Segeltuchdilemma Wie Proklos die Relation der Teilhabe zwischen Instanzen und Ideen konzipiert, wird auch aus seiner Deutung72 des Segeltuchdilemmas deutlich, weil es beim Segeltuchdilemma73 um die Frage geht, wie Teilhabe an den Ideen gedacht werden soll. Parmenides stellt Sokrates vor folgende Alternative: Alles, was teilhat an der Idee, muß doch wohl entweder an der ganzen Idee oder an einem Teile von ihr Anteil haben.74

Sokrates entscheidet sich für die erste Alternative, daß die ganze Idee dem Teilhabenden innewohnen müsse, und wird von Parmenides herausgefordert: Recht artig, mein Sokrates [. . .], wie du da ein und dasselbe an vielen Orten zugleich sein läßt, ähnlich, wie wenn Du ein Segeltuch über vielen Menschen ausbreitetest und dann sagtest, dies Eine sei als ganzes über Vielen.75

Das Segeltuch fungiert hier für die Idee, es ergibt sich die Absurdität, daß die „einheitliche Idee uns in Wahrheit teilbar“76 würde: Sokrates ist bei der zweiten unhaltbaren Alternative des Dilemmas gelandet. Wie deutet Proklos dieses Dilemma? Zunächst sei wiederholt, wie Proklos den platonischen Parmenides liest: Für Proklos ist der Dialog Parmenides keinesfalls eine Darstellung fundamentaler Probleme der Ideenlehre oder gar die Kapitulation vor diesen Problemen. Vielmehr soll der junge Sokrates anhand der sich ergebenden Schwierigkeiten dahin geführt werden, die Ideenlehre richtig zu verstehen. Und so ist auch Proklos’ Deutung dieser Schwierigkeiten ihrer Überwindung gewidmet. Wie nun begegnet er dem Segeltuchdilemma? Proklos sieht das Problem in der Konstruktion des Dilemmas: Nur wenn man die Idee als körperlich ansetzt, ergeben sich die beiden einander ausschließenden Alternativen, daß die Instanz an ihr als Ganzer oder an einem Teil von ihr partizipiert: Dieser aber partizipiert natürlicherweise auf zweierlei Arten: Entweder nämlich saugt er das Partizipierte ganz in sich hinein, oder einen Teil: Wie wenn wir nämlich hungrig sind und am Essen als Ganzem partizipieren.77 72

In Parm. 856,4–866,24. Platon, Parmenides 131a8–131c11. _ _ 74 Platon, Parmenides 131a4f: Ou \ koun çtoi Õlou tou eŁdouò í mÍrouò Òkaston t˛ metalambÜnon metalambÜnei; (Übersetzung: Apelt). _ 75 Platon, Parmenides 131b7ff: ¢HdÍwò ge, ðÜnai, − Sÿkrateò, Ùn tažt˛n _ _ _ iò, o Áon eù Ástûˆw katapetÜsaò polloˇò ÷nqrÿpouò ðaûhò Ñma pollaxou poie _ _ Ùn ýp˝ pollo iò e ùnai Õlon. (Übersetzung:_ Apelt). _ 76 Platon, Parmenides 131c9f: t˛ Ùn e ùdoò êm_in t´h ÷lhqeû ´a merûzesqai [. . .]. (Übersetzung: Apelt). 73

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C. Die Ideen

Bei einem körperlichen Verständnis der Partizipation gibt es kein Tertium zwischen den beiden Alternativen.78 Für die Teilhabe an den Ideen gilt aber, daß die Instanzen sowohl an der ganzen Idee als auch an einem Teil von ihr partizipieren.79 Wie ist das denkbar? Die Instanzen partizipieren an einem Teil der Idee, insofern sie nur einen Teil ihrer Wirkmächtigkeit aufnehmen.80 An der Idee als Ganzer haben sie Teil, weil sie das Charakteristikum, für das die Idee verantwortlich ist, ganz bewahren.81 Die Idee ist den Instanzen, ohne selbst geteilt zu werden, als Ganze präsent. Deshalb kann Proklos sagen, daß die immaterielle Idee zugleich überall ist.82 Ein 77

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In Parm. 858,12–15: Touto d˚ pÍðuke dittwò metÍxein· í gJr Õlon eùò _ _ Åaut˛ spˆa t˛ metexümenon, í mÍroò· ka˝ gJr Õtan peinwmen, Õlou metÍxomen _ tou brÿmatoò. _ _ 78 In Parm. 857,1–5: AÁ mÍn gÍ ðasin ÷lhq˚ò t˛, eù metÍxei tJ t´h de _twn _ _ _ _ eùdwn, í Õlwn ažtwn í merwn metÍxein· tou gJr Õlou ka˝ mÍrouò ožd˚n e ùnai _ metacˇ, diüti mÍroò ažto iò t˛ ožx Õlon. („Die anderen allerdings sagen, daß es wahr sei, daß wenn die Dinge hier an den Ideen teilhaben, sie entweder an ihnen als Ganzen oder an ihnen als Teilen teilhaben: Denn es gebe deshalb nichts zwischen dem Ganzen und einem Teil, weil für sie ein Teil nicht das Ganze ist.“). _ _ 79 In Parm. 860,3 sq.: [. . .] ka˝ Õlwn åra ka˝ merwn metÍxei tJ deŸtera twn oùkeûwn. („[. . .] folglich partizipieren die zweitrangigen Entitäten sowohl am Ganzen als auch an Teilen ihrer zugehörigen .“). _ 80 In Parm. 859,11–15: Diüti m˚n gJr ýke_ino t˛n aùtûaò ñxei lügon, tauta d˚ _ _ _ ýc aùtûaò ýst˝n, oždamou d˚ tJ aùtiatJ tÌn Õlhn ëpodÍxetai twn aùtiwn _ _ dŸnamin, ožx Õlou tJ t´hde metÍxei tou eŁdouò. („Denn weil einerseits jene das Verhältnis einer Ursache hat, diese aber aus einer Ursache sind, die Verursachten aber nirgends die ganze Wirkmächtigkeit ihrer Ursachen aufnehmen, partizipieren die Dinge hier nicht an der Idee als Ganzer.“). _ 81 In Parm. 859,18–22: Diüti d˚ tÌn ùdiüthta sÿzei tJ t´h de, kaq\ ⁄n lÍgetai _ _ t˛ ýke i dûkaion dûkaion í t˛ kal˛n kal˛n, katJ tÌn aëtwn dŸnamin, diJ dÌ _ _ _ _ touto pÜlin twn Õlwn lÍgoito ºn metÍxein, ož twn merwn. („Weil andererseits die Dinge hier gemäß ihrer Wirkmächtigkeit das Charakteristikum bewahren, gemäß dem das Gerechte dort gerecht genannt wird oder das Schöne schön, deshalb kann man also wieder sagen, daß sie an als Ganzen und nicht als Teilen partizipieren.“). 82 In Parm. 882,26–35: Münwò d\ ºn ýpisthmonik˛n lügon ÷podoûh tiò per˝ _ _ _ thò meqÍcewò, eù ka˝ thò parousûaò ÷ðelšn t˛ swmatoeid˚ò ka˝ thò ÷swma_ _ _ _ tûaò t˛ koin˛n, oÖtw pwò qe ito metÍxein tJ t´hde twn ùdewn ÷swmÜtwò m˚n _ _ ožx Ån˝ d˚ pr˛ò ažtJ lügˆw kratoumÍnwn, parouswn to iò metalambÜnousin, _ _ _ Ôna ka˝ pantaxou −sin aÁ ažta˝ diJ t˛ ÷sÿmaton, ka˝ oždamou diJ t˛ _ _ ýc´hrhsqai twn metexüntwn. („Man kann aber nur eine wissenschaftliche Begriffsbestimmung der Teilhabe geben, wenn man, nachdem man sowohl das Körperliche von der Anwesenheit als auch das Gemeinsame von der Unkörperlichkeit entfernt hat, so etwa festsetzt, daß die Dinge hier auf unkörperliche Weise an den Ideen partizipieren, die zwar den Partizipierenden gegenwärtig sind, aber nicht durch eine Proportion ins Verhältnis zu ihnen gezwungen werden, damit dieselben sowohl überall sind wegen ihrer Unkörperlichkeit, als auch nirgends wegen ihrer _ Transzendenz über die Partizipierenden.“). Cf. auch E. T. 98,1: Pan aŁtion xwri-

V. Das Argument vom dritten Menschen

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Ganzes, das den Teilen präsent ist, ohne selbst geteilt zu werden, nennt Proklos das Ganze vor den Teilen.83 A. C. Lloyd schreibt dazu: The whole before the parts [. . .] is identified as it normally is after Iamblichus with the imparticipable; and this makes it readily applicable to the Sail Cloth dilemma.84

Als Ganzes vor den Teilen steht die transzendente Idee für das Charakteristikum der Taxis, das sie in erster Linie (prÿtwò) ist. Somit ist sie die unpartizipierbare Monas der Taxis. Weil sie den Raum transzendiert, ist sie die dritte Möglichkeit neben den beiden Alternativen des Segeltuchdilemmas, die freilich nur wegen der Unkörperlichkeit der Idee gegeben ist. Aus der unpartizipierbaren transzendenten Idee gehen die metexümena hervor, die den Partizipierenden (metÍxonta) eignen. Sie verhalten sich tatsächlich wie die einzelnen Stücke des Segeltuches, denn jedem Mitglied der Taxis eignet das Charakteristikum der Taxis anders. Durch den Dreischritt ÷mÍqekton-metexümena-metÍxonta entgeht Proklos dem Segeltuch-Dilemma und rettet die transzendente Idee.85

V. Das Argument vom dritten Menschen Trifft das Prädikat, für das eine Idee verantwortlich ist, auf die Idee selbst zu oder nicht? Die Frage nach der Selbstprädikation der Ideen stellt sich im Zusammenhang mit dem Argument vom dritten Menschen86, einem Einwand gegen die Ideenlehre, der von Platon selbst in seinem Parmenides vorgebracht wurde, und dessen formale Struktur herauszuarbeiten sich Vlastos in einem 1954 erschienenen Artikel87 bemüht hat. Platon formuliert diesen Einwand zum einen am Beispiel der Idee der Größe (Größenregreß88), zum anderen im Zusammenhang mit der Frage der Ähnlichkeit zwischen Instanz und Idee (Ähnlichkeitsregreß89). Der Größenregreß und der Ähnlichkeitsregreß sind strukturgleich.90 _

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st˛n pantaxou ýstin Ñma ka˝ oždamou. („Jede getrennte Ursache ist überall und zugleich nirgends.“). 83 cf. E. T. 67–70. 84 Lloyd, Anatomy, S. 104. 85 cf. Lloyd, Procession, S. 26: „Proclus [. . .] thought the distinction of imparticipable, participated and participant one of the great discoveries of philosophy because it rebutted the Sail Cloth dilemma.“ 86 cf. Roth, Dritter Mensch. 87 Vlastos, Parmenides. 88 Platon, Parmenides 131e8–132b2. 89 Platon, Parmenides 132c12–133a6. 90 cf. Allen, Parmenides, S. 184: „The Likeness Regress and the Largeness Regress are homologous.“ sowie Kutschera, Parmenides, S. 38: „Es ergibt sich also

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C. Die Ideen

Die Bezeichnung als Argument vom dritten Menschen findet sich bei Aristoteles, der es in der Metaphysik erwähnt,91 und in der verlorenen Schrift per˝ ùdewn ausformuliert haben soll.92 Durch den Metaphysikkommentar des Alexander von Aphrodisias ist uns das Argument unter dieser Bezeichnung überliefert.93 Es soll auf Polyxenos, einen Schüler des Pythagoräers Bryson zurückgehen,94 woran A. E. Taylor allerdings berechtigte Kritik übt:95 In seinem Metaphysikkommentar stellt Alexander von Aphrodisias an der Kommentarstelle zu 990b17 drei trûtoò ånqrwpoò-Argumente vor, wobei er das erste (entgegen Taylors Deutung) mit dem dritten identifiziert.96 Das dritte Argument führt zu einem infiniten Regreß. Es ist aber das zweite, das Alexander dem Polyxenos zuschreibt.97 Deshalb kann das Argument vom dritten Menschen, das Parmenides als Größen- und Ähnlichkeitsregreß vorbringt, nicht auf Polyxenos zurückgehen. Taylor geht sogar so weit, zu behaupten, daß das trûtoò ånqrwpoò-Argument, das Aristoteles in der Metaphysik erwähnt, nicht mit den Regreßargumenten des Parmenides übereinstimmt,98 wofür er allerdings keine zwingenden Beweise angibt. Da es in der Forschung jedoch Konvention ist, sich mit der Bezeichnung „Argument vom dritten Menschen“ auf die Regreßargumente im Parmenides zu beziehen, eines der drei von Alexander angeführten Argumente vom dritten Menschen auch mit ihnen übereinstimmt, und Alexander dieses mit dem trûtoò ånqrwpoò-Argument der Schrift per˝ ùdewn identifiziert, soll die Bezeichnung „Argument vom dritten Menschen“ übernommen werden. _

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eine zweite Version des Arguments vom Dritten Menschen.“ und Vlastos, Parmenides, S. 241 sq.: „All I shall attempt here is to show that Plato’s second version of the Argument is similar in logical structure to his first and presupposes both of the inconsistent premisses presupposed by the first.“ 91 Aristoteles, Metaphysica 990b17, sowie im möglicherweise nicht authentischen Buch K: Aristoteles, Metaphysica 1059b8. 92 cf. Alexander Aphrodisiensis, In Metaphysica 85,11. 93 Alexander Aphrodisiensis, In Metaphysica 83,34–85,12. 94 cf. Kutschera, Parmenides, S. 30, Anm. 25. 95 Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 51–69. _ _ 96 Alexander Aphrodisiensis, In Metaphysica 85,3 sq.: ñsti d˚ þ lügoò oëtoò tˆw prÿtˆw þ ažtüò, ýpe˝ [. . .] („Es ist aber dieses Argument dasselbe wie das erste, weil [. . .]“). 97 Alexander Aphrodisiensis, In Metaphysica 84,16–84,21. 98 Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 68 sq.: „We are justified then in saying that though, as Alexander tells us, Aristotle had made some use of the argument from _ the alleged impossibility of the ‚regress‘ in his lost work per˝ ùdewn, there is no passage in his extant works in which the trûtoò ånqrwpoò need be understood as referring to the ‚regress‘ [. . .]. I conclude then that Aristotle’s allusions to the ‚third man‘ as a paradox implied by Plato’s theories about Forms has nothing to do with the problem of the ‚regress‘.“

V. Das Argument vom dritten Menschen

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Mit Vlastos’ Interpretation des Arguments vom dritten Menschen beginnt eine Interpretationslinie, die auf dem prädikatenlogischen Paradigma beruht. Proklos setzt sich in seinem Parmenideskommentar mit dem Argument vom dritten Menschen auseinander. Ein Vergleich dieser beiden Positionen ist für unsere Untersuchung doppelt hilfreich. Erstens läßt sich dadurch der Kontrast zwischen der Proklischen Metaphysik und dem prädikatenlogischen Programm, mit dem die Auseinandersetzung mit der Philosophie des Proklos begonnen wurde, verfeinern. Zweitens erhellt dieser Kontrast Proklos’ Auffassung der Ideenlehre. 1. Der Größenregreß: Textgrundlage Nach dem Segeltuchdilemma vertieft Parmenides am Beispiel der Ideen der Größe und der Kleinheit die Paradoxa, die sich daraus ergeben, wenn man sich Teilhabe an der Idee körperlich vorstellt, so daß die Idee tatsächlich geteilt würde.99 Diesen Paradoxa ist Proklos durch seine Erwiderung auf das Segeltuchdilemma, daß die Partizipation eben nichts Körperliches ist, schon hinreichend begegnet. Dann stellt Parmenides den jungen Sokrates vor ein weiteres Problem der Ideenlehre, den Größenregreß. Worum geht es in diesem Argument? Zur Beantwortung dieser Frage soll zunächst der Text des Parmenides betrachtet werden: Doch weiter. Wie stellst du dich zu Folgendem? Und das wäre? Irre ich nicht, so gründet sich deine Annahme einheitlicher Ideen auf folgende Betrachtung. Wenn sich dir eine Menge von Dingen als groß darstellt, so scheint dir bei dem Blick auf die Gesamtheit sich darin eine einheitliche Form kundzugeben, auf Grund deren du annimmst, das Große sei eine Einheit. Da hast du recht, habe er erwidert. Aber das Große selbst und die großen Dinge, wie stehen sie zueinander? Wenn du sie beide wiederum ebenso mit einem Blicke der Seele zusammen erfassest, wird dann nicht abermals irgendein Großes auftauchen, welches den notwendigen Grund dafür abgibt, daß beide als groß erscheinen? So scheint es. Es wird also eine neue Idee der Größe auftauchen, die neben der Größe an sich und den an ihr teilhabenden Dingen steht; und über diesen beiden wiederum eine andere, durch die beide groß sein werden. Und so erhältst du nicht mehr je e i n e Idee (für eine zusammengehörige Gruppe von Dingen), sondern eine unzählige Menge.100 99

Platon, Parmenides 132b3–132c12. Platon, Parmenides 131e8–132b2: _ Tû d˚ dÇ; pr˛ò tüde pwò ñxeiò; 100

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C. Die Ideen

Gegeben ist eine Menge M0 von Objekten a1, a2, a3, . . ., an, die alle die Eigenschaft haben, groß zu sein. Nach der Ideenlehre muß es zu dieser Menge M0 eine Idee g geben, aufgrund derer ihren Elementen die Eigenschaft zukommt, groß zu sein. Diese Idee g ist „das Große selbst“. Doch auch das Große selbst und die großen Dinge „erscheinen beide als groß“. Man kann also eine neue Menge M1 bilden, indem man die Menge M0 um g erweitert. Für die Menge M1 gibt es eine neue Idee g1, aufgrund derer alle Elemente der Menge M1 als groß erscheinen: „Wird dann nicht abermals irgendein Großes auftauchen, welches den notwendigen Grund dafür abgibt, daß beide als groß erscheinen? – So scheint es.“ Diese Operation läßt sich beliebig oft fortsetzen, führt also zu einem infiniten Regreß. 2. Moderne Interpretationen I: Vlastos und Sellars Doch was genau steht hinter dem Argument? Von welchen unausgesprochenen Voraussetzungen geht es aus? Dazu sollen moderne Interpretationen des Arguments betrachtet werden. Der erste moderne Interpret, der ganz dem prädikatenlogischen Paradigma verpflichtet ist, ist Gregory Vlastos, der mit seinem 1954 vorgelegten Aufsatz „The Third Man Argument in the Parmenides“, zu einem besseren Verständnis des Arguments101 beitragen wollte. Ich möchte Vlastos’ Analyse des Arguments vom dritten Menschen wegen ihrer großen Wirkungsgeschichte102 detailliert darstellen: _

T˛_ po ion; _ _ _ _ O ùmaû se ýk tou_ toioude Ùn Òkaston e ùdoò oŁesqai e_ùnai Õtan püll\ åtta _ megÜla soi düc´h e ùnai,_ mûa tiò Łswò doke i ùdÍa ê ažtÌ e ùnai ýp˝ pÜnta ùdünti, _ Õqen Ùn t˛ mÍga êg´h e ùnai. _ \Alhqh lÍgeiò, ðÜnai. _ _ _ Tû d\ ažt˛ t˛ mÍga ka˝ t÷lla tJ_ megÜla, ýJn ¼saŸtwò t´h yux´h ýp˝ pÜnta _ _ _ Łd´hò, ožx˝ Òn ti až mÍga ðane itai, ˆ¼ tauta pÜnta megÜla ðaûnesqai; ˙Eoiken. _ ˙Allo åra e ùdoò megÍqouò ÷naðanÇsetai, _par\ ažtü te t˛ mÍgeqoò gegon˛ò _ _ _ _ ka˝ tJ metÍxonta ažtou· ka˝ ýp˝ toŸtoiò až pasin Òteron, ˆ¼ tauta pÜnta _ _ megÜla ñstai· ka˝ ožkÍti dÌ Ùn Òkastün soi twn eùdwn ñstai, ÷llJ åpeira t˛ _ plhqoò. (Übersetzung und Hervorhebung: Apelt). 101 Vlastos, Parmenides, S. 232: „If any progress in agreement is to be made at this juncture it must come from some advance in understanding the logical structure of the Argument.“ 102 Horn, S. 299 spricht von der „klassischen Interpretation durch Gregory Vlastos“. Auf Vlastos’ Deutung beziehen sich, um nur einige Beispiele aus den Jahren zwischen 1955 und 1997 zu nennen: Sellars; Kutschera, Parmenides, S. 29–35; Allen, Parmenides, S. 191; Hunt.

V. Das Argument vom dritten Menschen

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Die ersten beiden Schritte seiner Rekonstruktion folgen dem Text und entsprechen unserer obigen Deutung: (A1) If a number of things, a, b, c, are all F, there must be a single Form F-ness, in virtue of which we apprehend a, b, c, as all F.103 (A2) If a, b, c, and F-ness are all F, there must be another Form, F-ness1, in virtue of which we apprehend a, b, c and F-ness as all F.104

Was Vlastos als „the Form F-ness“ bezeichnet, will ich im Deutschen in Analogie zu Platons Ausdruck ažt˛ t˛ mÍga („das Große selbst“) mit der Bezeichnung die „Idee F-selbst“ wiedergeben. Vlastos verwendet für die Eigenschaft F den Buchstaben F (kursiv), mit dem in B. II. 2. die Extension des Prädikats F bezeichnet wurde. Um mit dieser früheren Bezeichnung nicht zu konfligieren, werde ich dafür F schreiben. Hinter (A2) steckt, so Vlastos, eine Annahme, die er die „Self-Predication Assumption“ nennt: (A3) Any Form can be predicated of itself. Largeness is itself large. F-ness is itself F.105

Nur wenn man voraussetzt, daß Parmenides in seinem Argument stillschweigend von der Annahme ausgeht, daß das Prädikat, für das eine Idee verantwortlich ist, auch für die Idee selbst gilt (Selbstprädikation), ist der Übergang von F-selbst zu F-selbst1 möglich. Der erste Interpret, der auf die stillschweigende Annahme der Selbstprädikation im Größenregreß hingewiesen hat, ist A. E. Taylor.106 Auf seine Interpretation des Größenregresses, die Proklos sehr verpflichtet ist, und die sich von der Vlastos’ eklatant unterscheidet, werden wir später eingehen. Doch noch eine weitere Annahme ist notwendig, damit das Argument wirklich in einen infiniten Regreß führt: Es ist die Annahme daß die Idee von den Entitäten, für deren Eigenschaft sie verantwortlich ist, verschieden ist. Vlastos nennt sie die „Non-Identity Assumption“, die er folgendermaßen formuliert. (A4) If anything has a certain character, it cannot be identical with the Form in virtue of which we apprehend that character. If x is F, x cannot be identical with F-ness.107 103

Vlastos, Parmenides, S. 232. Vlastos, Parmenides, S. 233. 105 Vlastos, Parmenides, S. 236. 106 Im Jahre 1916 in Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 46: „But, Parmenides contends, we may once more ascribe this common predicate not only to each of the several ‚particulars‘, but also to their ‚common nature‘ itself.“ Cf. Vlastos, Parmenides, S. 236: „The credit for recognising this as an indispensable, though suppressed, premiss of the Third Man Argument goes to A. E. Taylor.“ 107 Vlastos, Parmenides, S. 237. 104

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C. Die Ideen

Ohne diese Annahme, wäre die Folgerung in (A2), daß es, wenn a, b, c und F-selbst alle F sind, eine andere Idee F-selbst1 geben muß, aufgrund derer sie alle F sind, nicht schlüssig. Dann könnte nämlich die Idee F-selbst selbst dafür verantwortlich sein, daß ihr die Eigenschaft F zukommt: Der Regreß käme nicht zustande. Logische Umformungen der beiden Annahmen (A3) und (A4) führen in einen direkten Widerspruch: (A3) besagt, daß F-selbst selbst die Eigenschaft F hat. (A4) besagt, daß, wenn x die Eigenschaft F hat, x von F-selbst verschieden ist. Weil x in (A4) für jedes beliebige x steht, kann es durch die Idee F-selbst substituiert werden. Dann erhält man: (A5) Wenn F-selbst die Eigenschaft F hat, ist F-selbst von F-selbst verschieden. Die Protasis von (A5) aber ist (A3). Seine Apodosis ist offensichtlich widersprüchlich.108 Ist die Substitution, die zu (A5) und damit in einen direkten Widerspruch führt, zulässig? Sellars, der sich 1955 mit Vlastos’ Analyse auseinandersetzt, bezweifelt dies: Convincing? Yet this „demonstration“ is a tissue of confusions.109

Die Substitution von x durch F-selbst ist nur dann zulässig, wenn man F-selbst als einen Namen, d. h. als repräsentatives Symbol für eine bestimmte Entität (entsprechend den Parametern a, b, c in Abschnitt B. II. 2.) deutet. Dies hängt aber von der Interpretation des ersten Teils des Arguments ab: Irre ich nicht, so gründet sich deine Annahme einheitlicher Ideen auf folgende Betrachtung. Wenn sich dir eine Menge von Dingen als groß darstellt, so scheint dir bei dem Blick auf die Gesamtheit sich darin eine einheitliche Form kundzugeben, auf Grund deren du annimmst, das Große sei eine Einheit.110

Ob obige Substitution zulässig ist oder nicht, hängt davon ab, wie man „eine einheitliche Form“ (mûa tiò [. . .] ùdÍa) deutet. Meint Parmenides damit eine bestimmte Idee oder eine (oder mehr) Ideen? Ist eine bestimmte 108

Vlastos, Parmenides, S. 238: „(A4) reads: if x is F, x cannot be identical with F-ness. Substituting F-ness for x in (A4), we get: (A5) If F-ness is F, F-ness cannot be identical with F-ness.“ 109 Sellars, S. 415. _ _ _ _ 110 Platon, Parmenides 132a1–a4: O ùmaû se ýk tou toioude Ùn Òkaston e ùdoò _ _ _ Õtan püll\ åtta megÜla soi düc´h e ùnai, mûa tiò Łswò doke i ùdÍa oŁesqai e ùnai _ _ _ ê ažtÌ e ùnai ýp˝ pÜnta ùdünti, Õqen Ùn t˛ mÍga êg´h e ùnai. (Übersetzung: Apelt).

V. Das Argument vom dritten Menschen

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Idee gemeint, so ist die Substitution zulässig, weil F-selbst dann ein Name ist. Ist hingegen eine (oder mehr) Ideen gemeint, steht F-selbst für eine Variable, die Substitution ist nicht zulässig. Sellars entscheidet sich für die zweite Alternative: Mit „eine einheitliche Form“ ist eine (oder mehr) Ideen gemeint. Entsprechend dieser Deutung ist „the Form F-ness“ resp. „F-selbst“ in Vlastos’ (A1) kein Name einer bestimmten Idee, sondern eine Variable, für die man Symbole substituieren kann, die jeweils eine bestimmte Idee repräsentieren.111 „F-selbst“ steht also für „F-selbst1“, „F-selbst2“, . . ., „F-selbstn“. Dann aber darf x in (A4) nicht durch F-selbst ersetzt werden, so daß (A3), die Annahme der Selbstprädikation, die Sellars (SP) nennt und (A4), die Annahme der Nichtidentität, die Sellars (NI) nennt, nicht in direktem Widerspruch zueinander stehen. Sellars’ Deutung führt zu einer anderen Rekonstruktion des Arguments, das den infiniten Regreß nachzeichnet.112 Kutschera hält sie für die interessantere Deutung des Arguments vom dritten Menschen.113 Weil Sellars und Vlastos gleichsam Antagonisten in der modernen Deutung des Arguments vom dritten Menschen sind, soll hier auch Sellars’ Rekonstruktion dargestellt werden:114 Sellars geht von vier Voraussetzungen aus: (G), (SP), (NI), (P): (G) besagt, daß es, wenn einer Menge von Entitäten die Eigenschaft F gemeinsam ist, mindestens eine Idee F-selbst geben muß, aufgrund derer sie alle F sind: (G) If a number of entities are all F, there must be an F-ness by virtue of which they are all F.115

(SP) ist die Annahme der Selbstprädikation von Ideen: (SP) All F-nesses are F.116 111 Sellars, S. 417: „In this case a formula involving ‚F-ness‘ would represent a class of sentences in each of which there would occur, instead of ‚F-ness‘ one of the following: ‚Largeness‘, ‚Triangularity‘, . . ., where the latter, however, are to be construed not as names of single Forms, but rather as variables. In other words, the latter would be used in such a way as to admit of such contexts as ‚All Largenesses . . .,‘ ‚There is a Triangularity . . .,‘ etc. And the substituends for these variables, e. g., ‚Largeness‘, would be designated by some such device as the use of numerical subscripts, e. g., ‚Largeness1‘, ‚Largeness2‘, etc.“ (Hervorhebungen: Sellars). 112 Sellars, S. 419. 113 cf. Kutschera, Parmenides, S. 33. 114 Meine Darstellung lehnt sich an Kutscheras Formalisierung von Sellars Rekonstruktion des Arguments an (cf. Kutschera, Parmenides, S. 33 sq.). 115 Sellars, S. 417. 116 Sellars, S. 418.

178

C. Die Ideen

(NI) besagt, daß eine Entität, welche die Eigenschaft F hat, nicht mit der Idee, aufgrund derer sie die Eigenschaft F hat, identisch sein kann: (NI) If x is F, then x is not identical with the F-ness by virtue of which it is F.117

(P) ist die Annahme einer Menge M0118 von Entitäten, die alle die Eigenschaft F haben: M0 = {a, b, c, . . ., n}. Sellars’ Rekonstruktion läuft wie folgt: (1)

Es gibt eine bestimmte Idee F-selbst1, aufgrund derer die Elemente der Menge M0 die Eigenschaft F haben. (Aus (G) und (P); dies scheint prima facie Sellars’ Einwand gegen Vlastos zu widersprechen, ist aber korrekt: Wenn es zu der Menge M0 F-selbst gibt, „F-selbst“ aber eine Variable ist, für die man „F-selbst1“, „F-selbst2“, . . ., „F-selbstn“ einsetzen kann, so darf eine bestimmte Idee F-selbst1 identifiziert werden.)

(2)

F-selbst1 hat die Eigenschaft F. (Aus (SP) und (1)).

(3)

Es gibt eine Menge M1 = M0 ¨ {F-selbst1}.

(4)

Alle Elemente der Menge M1 haben die Eigenschaft F. (Aus (P), (2) und (3)).

(5)

Es gibt eine bestimmte Idee F-selbst2, aufgrund derer die Elemente der Menge M1 die Eigenschaft F haben. (Aus (G) und (4)).

(6)

F-selbst1 hat aufgrund der Idee F-selbst2 die Eigenschaft F. (Aus (3) und (5)).

(7)

F-selbst1 ist von F-selbst2 verschieden. (Aus (NI) und (6)).

(8)

F-selbst2 hat die Eigenschaft F. (Aus (SP) und (5)).

(9)

Es gibt eine Menge M2 = M1 ¨{F-selbst2}.

(10) Alle Elemente der Menge M2 haben die Eigenschaft F. (Aus (4), (8) und (9)). (11) Es gibt eine bestimmte Idee F-selbst3, aufgrund derer die Elemente der Menge M2 die Eigenschaft F haben. (Aus (G) und (10)). (12) . . . Das Argument läßt sich beliebig lange fortsetzen. Wie gezeigt wurde, liegt der Unterschied zwischen Sellars’ und Vlastos’ Rekonstruktion darin, wie man Parmenides’ Rede von der „einen einheit117

Sellars, S. 418. (Hervorhebung: Sellars). Sellars selbst führt in seiner Rekonstruktion den Begriff der Menge nicht ein. Der Begriff der Menge kommt jedoch in Kutscheras Formalisierung von Sellars Rekonstruktion vor und hilft, diese eleganter darzustellen. 118

V. Das Argument vom dritten Menschen

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lichen Form“ in 132a1–4 liest. In der Lesart Sellars’ wird daraus die Voraussetzung (G), in der Vlastos’ die Voraussetzung (A1). Vlastos nimmt Sellars’ Kritik insoweit an, als er anerkennt, daß der Widerspruch zwischen (SP) und (NI) von (A1) abhängt. Er spricht deshalb 1969 nicht mehr von dem inkonsistenten Paar (SP) und (NI), sondern von der inkonsistenten Trias aus (A1), (SP) und (NI).119 Berechtigte Zweifel hingegen hegt Vlastos an der Lesart (G), daß es zu jeder Menge von Entitäten, welche die Eigenschaft F haben, eine (oder mehr) Ideen F-selbst gibt. Er argumentiert überzeugend, daß genau eine Idee gemeint sein muß: There can be no doubt that here „one“ could only mean just one, for only this meaning would warrant the adversative form of the second clause of (S) : there is obviously no conflict between at least one and „infinitely many“.121

Der Unterschied zwischen den beiden Rekonstruktionen ist nicht so bedeutend: Beide gehen von den Prinzipien der Selbstprädikation (SP) und der Nichtidentität (NI) aus,122 so daß ich nun zu Vlastos’ Deutung und seiner Bewertung der beiden Prinzipien zurückkomme. Wie bewertet Vlastos das Argument vom dritten Menschen? Eine grundsätzliche Entscheidung bei der Deutung des Parmenides ist, ob man die Schwierigkeiten der Ideenlehre, die Parmenides vorbringt, als vernichtend für die Ideenlehre oder als mäeutisch liest. Deutet man sie als mäeutisch, so geht Parmenides von falschen Voraussetzungen aus, die es zu entdecken gilt. Dies ist die Lesart des Proklos. Anders Vlastos: In seinem Aufsatz von 1954 vertritt er die These, daß Platon im Parmenides mit Problemen der Ideenlehre ringt, mit denen er selbst nicht zurechtkommt. Er geht von der Annahme aus, daß die im Parmenides vorgebrachten Schwierigkeiten keinesfalls kunstvoll konstruiert sind, sondern meint, daß Platon die impliziten Voraussetzungen des Arguments nicht klar waren: Hätte er gesehen, daß sie schlicht widersprüchlich sind, hätte er keinen infiniten Regreß zu konstruieren brauchen.123 Platon hätte, wäre ihm die Struktur des 119

Vlastos, Plato’s Third Man, S. 352: „1, SP, and NI form an inconsistent triad“, sowie Anmerkung 40: „Due to my defective axiomatization of Platos’s argument in TMA I, I had inferred that SP and NI are an inconsistent pair.“ 120 Zitiert nach Vlastos, Plato’s Third Man, S. 354. 121 Vlastos, Plato’s Third Man, S. 354. 122 Kutschera, Parmenides, S. 35: „Der Unterschied ist jedoch nicht gravierend, denn die Paradoxie leitet sich in beiden Fällen aus S4 und S2* ab.“ (S4 entspricht (SP), und S2* entspricht (NI); Hervorhebungen: Kutschera). 123 Vlastos, Parmenides, S. 244: „If Plato knew that his theory commits him to these premisses, he would not need the regress to tell him that his theory is logically moribund and must submit to drastic surgery to survive.“ (Hervorhebung:

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C. Die Ideen

Arguments klar gewesen, die Ideenlehre, sein Refugium absoluter Sicherheit zur Zeit der Abfassung des Phaidon, des Symposions und des Staates,124 zurücknehmen müssen: He was thus holding consciously a metaphysical Theory whose disastrous implications were hidden from his conscious mind. He was saying and believing things which in self-consistency he would have had to take back, had he clearly understood their true logical outcome.125

Vlastos geht mit seiner Deutung sogar so weit, eine psychologische Analyse von Platon zur Zeit der Abfassung des Parmenides zu geben, die mit seiner Interpretation d’accord ist: He begins to feel that something is wrong, or at least not quite right, about his theory, and he is puzzled and anxious. [. . .] He can hardly make these objections perfectly precise and consistent counterarguments to his theory. Unless he discovers the exact source of its difficulties and can embody the discovery, the objections [. . .] will be the expression of his acknowledged but unresolved puzzlement, brave efforts to impersonate and cope with an antagonist who can neither be justly represented nor decisively defeated because he remains unidentified and unseen. This, I believe, is an exact diagnosis of Plato’s mind at the time he wrote the Parmenides.126

Vlastos’ These ist es, daß Platon die Annahmen (SP) und (NI) implizit anerkannt haben muß. Im folgenden werden diese beiden Annahmen und ihre Deutung durch Vlastos genauer untersucht. Die Annahme (SP), die Selbstprädikation der Ideen, setzt Parmenides im Größenregreß voraus, denn sonst könnte er nicht sagen, daß das Große selbst und die großen Dinge „beide als groß erscheinen“. Doch setzt auch Platon sie voraus? Für einen Denker, der wie Vlastos dem prädikatenlogiVlastos). Hier setzt Sellars’ Kritik an, der durch seine Rekonstruktion den direkten Widerspruch zwischen (SP) und (NI) vermeidet. Da hier jedoch keine detaillierte Darstellung der Debatte Sellars – Vlastos geliefert werden soll, sei darauf nur verwiesen (cf. Sellars, S. 421: „The crucial step in this reasoning is the contention that if Plato had realized that Self-Predication and Nonidentity are indispensible premises of the Argument, he would have detected their inconsistency, and would therefore, instead of playing with a regress, have turned directly to the problem ‚Does my Theory of Forms involve a commitment to these inconsistent principles? And if not, what would remain if one or the other were abandoned?‘ But we have undercut this step by showing that the idea on which it rests – namely that Self-Predication and Nonidentity are patently incompatible – is mistaken.“). 124 Vlastos, Parmenides, S. 255: „The Theory of Forms is then the greatest of certainties, a place of unshakable security to which he may retreat when doubtful or perplexed about anything else.“ 125 Vlastos, Parmenides, S. 254. 126 Vlastos, Parmenides, S. 255.

V. Das Argument vom dritten Menschen

181

schen Paradigma verpflichtet ist, stellt sich diese Frage in folgender Form: „trifft das Prädikat, für das eine Idee verantwortlich ist, auf die Idee zu oder nicht?“, denn die platonische Idee wird als Gegenstand127 in das prädikatenlogische System eingefügt, so daß sich diese Frage nur im Rahmen der zweiwertigen Logik beantworten läßt128 Vlastos vertritt die Meinung, daß Platon die Selbstprädikation der Ideen vorausgesetzt hat.129 Dafür gebe es aber keine expliziten Hinweise,130 denn Vlastos’ These ist es ja gerade, daß Platon die Selbstprädikation der Ideen implizit vertreten habe. Anders Sellars: Er hält den ersten Teil des Parmenides für eine Kritik an der Auffassung, daß die Ideen selbstprädikativ sind.131 Damit vertritt er eine orthodoxe Meinung.132 Was aber heißt es, daß die Ideen nicht selbstprädikativ sind? Nennen wir die Idee, die für die Eigenschaft F verantwortlich ist, F-selbst (im Sinne eines Namens), dann würde die Zurückweisung der Selbstprädikation im prädikatenlogischen Paradigma éF(F-selbst) bedeuten, d. h. der kontradiktorische Gegensatz der Eigenschaft F trifft auf die Idee F-selbst zu. Bei Sellars finden wir keinen Hinweis darauf, daß er die Abweisung der Selbstprädikation der Ideen in dieser Weise versteht. Wie die Abweisung der Selbstprädikation der Ideen bei Proklos zu verstehen ist, darauf wird später eingegangen werden (cf. Kapitel C. VI.). Wie aber steht es um die andere der beiden impliziten Annahmen des Größenregresses, (A4) bzw. (NI), die Annahme der Nichtidentität zwischen einer Menge von Entitäten, denen aufgrund einer bestimmten Idee eine bestimmte Eigenschaft zukommt, und dieser Idee? Parmenides geht implizit 127 cf. Kutschera, Parmenides, S. 31: „Man kann aber die Ideen Platons nicht einfach als Attribute ansehen, denn für ihn waren sie auch Gegenstände, Universalien und zugleich Individuen.“ 128 Kutschera, Parmenides, S. 31 argumentiert innerhalb desselben Paradigmas: „Verwendet man, wie Platon das meist tut, zur Bezeichnung der Idee des Schönen den Ausdruck ‚Das Schöne selbst‘ (ažt˛ t˛ kalün), so wäre es merkwürdig, wenn man ihr das Adjektiv ‚schön‘ abspräche.“ 129 Vlastos, Parmenides, S. 248: „That Plato assumes Self-Predication I already implied in the fourth of the conditions of Platonic being I have listed above.“ 130 Vlastos, Parmenides, S. 246, Anm. 4: „For this no documentation (in the strict sense) can be offered.“ (Hervorhebung: Vlastos). 131 Sellars, S. 428: „Indeed, as I have said before, I am convinced that the first part of the Parmenides is a deliberate and sustained critique of Self-Predicational interpretations of the Ideas.“ 132 cf. Vlastos, Addenda, S. 444: „In the second part of his paper [. . .] Sellars attempts to show that Plato’s thought was not burdened with Self-Predication. His argument is a welcome defense of a well-known position, like that of Taylor and Cornford, which is doubtless still held and will continue to be held.“ sowie 438: „I have accordingly devoted the last section of the paper to a critique of that very considerable part of Sellars’ interpretation of Plato which is still so widespread that it may fairly be called ‚orthodox‘.“

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C. Die Ideen

von (NI) aus, denn diese Annahme ist notwendig, damit der Größenregreß funktioniert. Reginald E. Allen deutet dieses Prinzip im Sinne des Chorismos der Ideen, denn er verweist darauf, daß Sokrates bereits zugestanden hat, daß die Ideen und das, was an ihnen partizipiert, getrennt (xwrûò) voneinander sind.133 Doch kann mit (NI) tatsächlich der Chorismos der Ideen gemeint sein, wie Platon ihn verstand? Kutschera gibt zu bedenken, daß Platon den Chorismos als Chorismos der Ideen von den Einzeldingen, nicht aber als Chorismos der Ideen von den Ideen verstand.134 Er sieht deshalb den schwachen Punkt des Arguments vom dritten Menschen in der Annahme (NI) und deutet es nicht als vernichtend für die Ideenlehre.135 Auch Vlastos diskutiert die Frage, ob im Größenregreß statt (NI) resp. (A4) das schwächere Prinzip (A4a), der Chorismos der Idee von den Einzeldingen gemeint sein könnte: (A4a) If any particular has a certain character, then it cannot be identical with the Form in virtue of which we apprehend that character. If x is F, x cannot be identical with F-ness when, and only when, the values for x are particulars, a, b, c . . .136

Was passiert unter der Annahme des schwächeren Prinzips (A4a) mit dem Argument vom dritten Menschen? Erstens gibt es zwischen (A3) und (A4a) keinen direkten Widerspruch, weil x in (A4a) nicht durch „the Idea F-ness“ substituiert werden darf. Zweitens käme der infinite Regreß nicht zustande: Weil mit (A4a) durchaus angenommen werden kann, daß die Idee F-selbst selbst dafür verantwortlich ist, daß ihr die Eigenschaft F zukommt (der Chorismos gilt nach (A4a) nur für das Verhältnis zwischen Idee und Einzelding, nicht für das Verhältnis zwischen Idee und Idee), gäbe es keinen Übergang von der Idee F-selbst zu einer anderen Idee F-selbst1. Mit der schwächeren Annahme (A4a) gäbe es also weder einen Widerspruch in den Voraussetzungen des Arguments vom dritten Menschen noch mündete 133 Allen, Parmenides, 156: „Socrates has already agreed (130b2–3) that things that partake of Ideas are separate from Ideas.“ 134 Kutschera, Parmenides, S. 32: „Vlastos und Allen unterstellen Platon dieses Prinzip S2*. Sie geben dafür aber keine Belege an. Für Allen ist es Ausdruck des Chorismos der Ideen, aber der ist offenbar kein Chorismos der Ideen untereinander oder gar von sich selbst, sondern ein Chorismos der Ideen von ihren empirischen Instanzen, oder allgemein: von den körperlichen Dingen.“ (S2* entspricht (NI); Hervorhebung: Kutschera). 135 Kutschera, Parmenides, S. 32: „Ich sehe also keine Rechtfertigung dafür, Platon das Prinzip S2* zu unterstellen. Es steht zudem in direktem Widerspruch zu S4, das gut belegt ist. Daraus ergibt sich: Platon selbst hat das Argument kaum als stichhaltig angesehen. Es dient nur dazu, den jungen Sokrates weiter zu verwirren, der offenbar nur eine vage Vorstellung von Chorismos und Prädikation hat.“ (S2* entspricht (NI), und S4 entspricht (SP); Hervorhebungen: Kutschera). 136 Vlastos, Parmenides, S. 238.

V. Das Argument vom dritten Menschen

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es in einen infiniten Regreß.137 Der Größenregreß funktioniert also nur unter der Annahme des starken Prinzips (A4) resp. (NI). Bisher hat Vlastos nur gezeigt, daß die Annahme des starken Prinzips (NI) für die Konstruktion des Größenregresses unumgänglich ist, daß also Parmenides (NI) für sein Argument voraussetzt. Doch kann man auch von Platon behaupten, daß er das starke Prinzip (NI) voraussetzt? Dieser Frage widmet er sich etwas später138 und versucht zu zeigen, daß Platons Ontologie notwendigerweise zu der Annahme (NI) führt, wenngleich sie das letzte sei, was Platon habe sagen wollen: Certainly Plato never said any such thing; indeed this is the last thing he would have wished to say. The Separation Theory is clearly meant to separate Forms from particulars, Largeness from large things, not to reintroduce the separation within the formal pole of the Form-particular relation, to split off Largeness from Largeness1.139

Doch wie genau funktioniert Vlastos’ Argumentation? Dem soll nicht um seiner selbst willen nachgegangen werden, sondern weil es einen zentralen Punkt der Problemlage des Größenregresses trifft. Vlastos’ Argumentation mutet seltsam an, denn er geht von einer Annahme aus, die dem Prinzip (SP) widerspricht, der Äquivokation zwischen der Idee und den Instanzen: Among the unintended and unexpected consequences of this distinction is the Nonidentity Assumption in its full-strength form, (A4) [. . .], i. e. that the nonidentity of a Form with any of its homonymous instances holds not only when the instance is a particular but also when the instance is the Form itself.140

Wird das Prädikat, für das eine Idee verantwortlich ist, in äquivoker Weise von der Idee und den Instanzen ausgesagt, was Vlastos bei seiner Herleitung von (NI) voraussetzt, so fällt das Prinzip (SP). Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn (SP) und (NI) stehen ja im Widerspruch zueinander. Was verwundert, ist, daß Vlastos dieses Problem nicht benennt. Seine Argumentation für (NI) steht unverbunden neben seiner Forderung der Selbstprädikation in Platons Ontologie. Doch wie argumentiert Vlastos? Kernpunkt seiner Argumentation ist die hierarchische Konzeption der Realität in der Philosophie Platons. Platon habe als erster westlicher Denker auf den Unterschied zwischen einer Eigenschaft und den Dingen, die diese Eigenschaft haben, hingewiesen. Allerdings werde dieser Unterschied so137

cf. Vlastos, Parmenides, S. 238 sq. Vlastos, Parmenides, S. 248–254. 139 Vlastos, Parmenides, S. 253. 140 Vlastos, Parmenides, S. 253 sowie S. 251: „What of the other assumption which I have called Nonidentity in Section I? If the question concerned only the nonidentity of particulars with their homonymous Forms – (A4a) [. . .] – the answer would seem so obvious as to be trivial.“ (Hervorhebung von mir). 138

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C. Die Ideen

gleich wieder verwischt, denn der Unterschied zwischen Idee und Instanzen sei kein klassenlogischer im Sinne Freges, sondern ein Unterschied des Grades an Realität zwischen Idee und Instanz: To say that the difference between a white thing, like wool or snow, and the universal, Whiteness, is a difference in degree of reality, is to put Whiteness in the same class with white things albeit a pre-eminent member of that class, endowed in pre-eminent degree with the character which its fellow members possess in variously deficient degrees; it is to think of Whiteness as a (superlatively) white thing, and thus to assimilate it categorically to white things, instead of so distinguishing it from them.141

Der entscheidende Punkt ist nun der, wie man diesen Unterschied an Realität zwischen Idee und Instanz deutet. Vlastos’ Denkhorizont, das ergibt sich aus seiner Argumentation, geht von zwei möglichen Alternativen aus: der Äquivokation und der Univokation zwischen Idee und Instanz. In folgender Anmerkung, die sich gegen Cherniss wendet, der ähnlich wie Taylor argumentiert, daß die Idee, das ist, was die Instanz als Attribut hat, weist Vlastos die Möglichkeit zurück, daß das Prädikat „groß“, das auf die Idee der Größe zutrifft, und das Prädikat „groß“, das auf große Einzeldinge zutrifft, identisch sind: If these two predicates were i d e n t i c a l , the Form would be indistinguishable from the predicate which attaches to particulars, and the „Separation“ would collapse: F-ness would then be the F of F particulars, and the distinction between, e. g. „Similarity itself“ and „the Similarity which we possess“ at 130b would vanish. Had Plato „believed that . . . the idea is that which the particular has as an attribute“ (Cherniss, p. 298) – a beautiful statement of what Plato’s theory should have been – the „Separation“ would have never arisen. This is my main objection to Cherniss’ interpretation of the Third Man Argument.142

Es soll hier nicht zur Debatte stehen, ob Vlastos Cherniss mit seiner Replik gerecht wird.143 Aus seiner Argumentation geht jedoch deutlich hervor, daß er sich an dieser Stelle gegen die Univokation zwischen Instanz und Idee wendet, denn wenn das Prädikat „groß“, das auf die Idee der Größe zutrifft, und das Prädikat „groß“, das auf große Einzeldinge zutrifft, identisch wären, so würde „groß“ in univoker Weise von der Idee der Größe und großen Einzeldingen ausgesagt. Vlastos weist hier also die Univokation zwischen Idee und Instanz, die er in (SP) voraussetzt, mit dem Hinweis auf 141

Vlastos, Parmenides, S. 252. Vlastos, Parmenides, S. 253 sq., Anm. 1 (Sperrdruck von mir). Vlastos bezieht sich auf Cherniss, Academy. 143 Tatsächlich ist dies mehr als fragwürdig, denn Cherniss’ Argument ist es ja gerade, daß die Idee mit prädikativen Strukturen nicht erfaßt werden kann (cf. C. V. 5.). 142

V. Das Argument vom dritten Menschen

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den Chorismos zurück. Nun geht er davon aus, daß das Prädikat, das die Idee benennt, ein anderes sei, als das, das die Instanzen benennt: For if the Form, Largeness, is superlatively large, while large mountains, oaks, etc., are only deficiently large, it must follow that the single word, large, stands for two distinct predicates: (a) the predicate which attaches to the large particulars; (b) the predicate which attaches to Largeness. Call (a), „large“ and (b), „large1“.144

Der Ausdruck „that the single word, large, stands for two, distinct predicates“ (Hervorhebung von mir) weist deutlich darauf hin, daß Vlastos hier von einer äquivoken Verwendungsweise des Prädikates „groß“ zwischen Idee und Instanz ausgeht. Daraus leitet er das starke Prinzip (NI) ab: Eichen und Berge seien groß, die Idee der Größe, die für das Prädikat „groß“ verantwortlich ist, hingegen groß1. Für das von „groß“ unterschiedene Prädikat „groß1“ aber sei die Idee der Größe nicht verantwortlich, es müsse also eine andere Idee der Größe1 geben, die für das Prädikat groß1 verantwortlich sei.145 Wie gezeigt wurde, steckt im Kern der Interpretation des Größenregresses durch Vlastos die ungelöste Frage, ob das Prädikat „groß“ von der Idee der Größe in univoker oder in äquivoker Weise ausgesagt wird, denn daß Platon für die Benennung der Einzeldinge denselben Ausdruck wie für die Benennung der Idee verwendet, ist deutlich.146 Für einen Denker, der wie Vlastos dem prädikatenlogischen Paradigma verpflichtet ist, gibt es nur die beiden Alternativen: Die Frage, ob das Prädikat „groß“, das von den Instanzen ausgesagt wird, auch von der Idee der Größe ausgesagt wird, läßt sich entweder mit „ja“ oder „nein“ beantworten.147 Beantwortet man sie mit nein, so ist die gleiche Benennung zwischen Instanz und Idee ein äquivoker Gebrauch des Prädikates: In Wahrheit handelt es sich um zwei verschiedene 144

Vlastos, Parmenides, S. 253 sq. cf. Vlastos, Parmenides, S. 254: „Now since Largeness is, by hypothesis, the Form of the predicate ‚large‘, it cannot be the Form of the different predicate ‚large1‘. There must then be two Forms, Largeness and Largeness1 and the fullstrength form of the Nonidentity Assumption becomes unavoidable.“ _ _ _ _ 146 So z. B. in Platon, Phaidon 78d10–e2: Tû d˚ twn pollwn kalwn, o Áon _ ÷nqrÿpwn í Ôppwn í Ámatûwn í ållwn ¼ntinwnoun toioŸtwn, í Łswn _ _ í pÜntwn twn ýkeûnoiò þmwnŸmwn; („Wie steht es aber mit der Menge der sinnlichen Dinge, wie z. B. Menschen, Pferde, Kleider oder was sonst dergleichen, die wir als gleich oder schön oder mit sonst einem auch für die Ideen gültigen Ausdruck bezeichnen?“ Übersetzung: Apelt, Hervorhebung von mir). 147 Auch Kutschera, Platons Philosophie, Bd. 1, S. 122 vertritt die Position, daß es nur diese beiden Alternativen gibt. In seiner Deutung des Euthyphron schreibt er: „Die Frömmigkeit muß also entweder fromm oder unfromm sein, und angesichts dieser Alternative wird man sich für das Frommsein der Frömmigkeit entscheiden.“ Cf. auch supra, Anm. 128. 145

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C. Die Ideen

Prädikate, die zufälligerweise den gleichen Namen haben. Beantwortet man sie mit „ja“, so geht man von einem univoken Gebrauch des Prädikates „groß“ für die Idee der Größe und ihre Instanzen aus. Dies ist die Annahme der Selbstprädikation. Daß hinter seiner Interpretation das Problem von Äquivozität versus Univozität steckt, darauf weist Vlastos nicht hin, so daß nicht klar ist, ob er dieses Problem gesehen hat. Wer das Problem von Äquivozität versus Univozität zwischen Idee und Instanz gesehen hat, und deshalb wurde auf diesen Punkt so ausführlich eingegangen, ist Proklos. Für ihn gibt es, wie gezeigt werden wird, eine dritte Möglichkeit neben den beiden Alternativen Äquivozität – Univozität, die wesentlich mit dem ursächlichen Charakter der Ideen zusammenhängt und die das prädikatenlogische Paradigma übersteigt: die Relation ab uno. 3. Der Ähnlichkeitsregreß Wie bereits erwähnt, gibt es im Parmenides eine zweite Version des Arguments vom dritten Menschen: den Ähnlichkeitsregreß. Auch auf ihn soll eingegangen werden, um dann Proklos’ Replik auf beide Regreßargumente darzustellen. Worum geht es beim Ähnlichkeitsregreß? Von Parmenides in die Ecke getrieben, macht Sokrates einen neuen Vorschlag, wie das Verhältnis zwischen Instanz und Idee zu deuten sei: Die Idee ist das Urbild, dessen Abbild die Instanz ist: Die Ideen stehen gleichsam als Urbilder in voller Wirklichkeit da, die Einzeldinge aber sind ihnen ähnlich und sind Abbildungen von ihnen und die Teilnahme der Einzeldinge an den Ideen besteht eben in nichts anderem als in dieser Nachbildung.148

Auf die Bemerkung des Sokrates, daß die Instanz der Idee ähnlich sei, wirft Parmenides ein: Wenn die Instanz der Idee ähnlich sei, dann müsse doch wohl auch die Idee der Instanz ähnlich sein. Parmenides setzt hier eine symmetrische Ähnlichkeitsrelation voraus. Wenn aber Instanz und Idee einander ähnlich sind, dann muß es etwas geben, das für diese Ähnlichkeit verantwortlich ist: Ist es aber nicht unumgänglich notwendig, daß das Ähnliche an ein und derselben Idee Anteil hat, wie das ihm Ähnliche?149 148

_

Platon, Parmenides 132d1–4: tJ m˚n eŁdh tauta _Êsper paradeûgmata _ ÅstÜnai ýn t´h ðŸsei, tJ d˚ ålla toŸtoiò ýoikÍnai ka˝ e ùnai þmoiÿmata, ka˝ ê _ _ _ _ mÍqeciò aÖth to iò ålloiò gûgnesqai twn eùdwn ožk ållh tiò í eùkasqhnai _ ažto iò. (Übersetzung mit Modifikation: Apelt). _ _ 149 Platon, Parmenides 132d9–e1: T˛ d˚ Õmoion tˆw þmoûˆw ÷r\ ož megÜlh _ _ ÷nÜgkh Ån˛ò tou ažtou metÍxein; (Übersetzung: Apelt).

V. Das Argument vom dritten Menschen

187

Das Argument hat bisher also so weit geführt, daß Idee und Instanz an etwas teilhaben, kraft dessen sie einander ähnlich sind. Was aber ist dieses Etwas? Parmenides entlockt Sokrates die Zusage, daß dies „die eigentliche Idee selbst“ (ažt˛ t˛ e ùdoò) sei: _

Wird aber nicht dasjenige, woran das Ähnliche Anteil haben muß, um überhaupt ähnlich zu sein, eben die eigentliche Idee selbst sein? – Unbedingt.150

Nun wird das Argument aporetisch: Ähnlichkeit zwischen Instanz und Idee sei unmöglich, denn sie führe in einen infiniten Regreß von Ideen: So ist es demnach unmöglich, daß ein Einzelding der Idee ähnlich sei oder die Idee einem Einzelding; denn wäre dies der Fall, so würde immer neben der Idee noch eine andere Idee zum Vorschein kommen, und wenn sie wieder einem andern ähnlich ist, abermals eine andere, und so wird unaufhörlich immer wieder eine neue Idee auftauchen, wenn die Idee demjenigen, was an ihr Anteil hat, ähnlich ist.151

Ein infiniter Regreß aber galt dem griechischen Denken, wie oben dargelegt wurde,152 als unmöglich. Für die Deutung des Arguments stellt sich allerdings die Frage, was mit der „eigentlichen Idee selbst“ (ažt˛ t˛ e ùdoò) gemeint sein mag. Sie bürgt für die Ähnlichkeit zwischen der Idee und den Instanzen. Allen hält es deshalb für die ökonomischste Lösung, „die eigentliche Idee selbst“ als die Idee der Ähnlichkeit zu deuten,153 so daß sich folgende Rekonstruktion des Arguments ergibt: Die beiden Einzeldinge a und b sind einander auf Grund der Idee der Ähnlichkeit ähnlich. Doch auch die Idee der Ähnlichkeit und die beiden Einzeldinge a und b sind einander ähnlich. Deshalb muß es eine weitere Idee1 der Ähnlichkeit geben, aufgrund derer sich die Idee der Ähnlichkeit und die ähnlichen Dinge a und b ähnlich sind. Das Argument läßt sich beliebig lange fortsetzen, führt also in einen infiniten Regreß. Wenn man „die Idee selbst“ als die Idee der Ähnlichkeit deutet, funktioniert der Ähnlichkeitsregreß nur für diese eine Idee, nicht aber für andere Ideen. Er kann dann auch nicht guten Gewissens als Argument vom dritten Menschen bezeichnet werden. _

150

_

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Platon, Parmenides_ 132e3–5: Oë d\ ºn tJ Õmoia metÍxonta Õmoia ´þ, ožk _ ýke ino ñstai ažt˛ t˛ e ùdoò; – PantÜpasi m˚n ožn. _(Übersetzung: Apelt). _ 151 Platon, Parmenides 132e6–133a3: Ou \ k åra_ o Áün tÍ ti tˆw eŁdie Õmoion _ _ parJ t˛ _e ùdoò ÷e˝ ållo ÷naðanÇsetai e_ùnai, ožd˚ t˛ e ùdoò ållˆw· eù d˚ mÇ, _ _ ºn ýke inü tˆw Õmoion ´þ_ , Òteron až, ka˝ oždÍpote paŸsetai ÷e˝ e ùdoò, ka˝ _ _ _ kain˛n e ùdoò gignümenon, ýJn t˛ e ùdoò tˆw Åautou metÍxonti Õmoion gûgnhtai. (Übersetzung: Apelt). 152 cf. B. III. 5. 153 Allen, Parmenides, S. 181. Allen weist jedoch auch auf die andere Möglichkeit, „die Idee selbst“ als jede beliebige Idee zu deuten, hin. _

188

C. Die Ideen

Ich sehe aber keinen Grund dafür, diesen Regreß auf die Idee der Ähnlichkeit zu beschränken, denn auch eine andere Lesart ist möglich: Mit „die eigentliche Idee selbst“ kann, und damit folge ich Taylor154, Vlastos155 und Kutschera156, jede beliebige Idee gemeint sein, an der sich der Ähnlichkeitsregreß zeigen läßt, denn Ähnlichkeit heißt ja auch immer ähnlich bezüglich eines bestimmtem Charakteristikums. Nach dieser Lesart funktioniert der Regreß für jede beliebige Idee F-selbst: Wenn a die Eigenschaft F hat, so ist sie der Idee F-selbst ähnlich. Wenn a der Idee F-selbst ähnlich ist, so ist die Idee F-selbst a ähnlich. Um jedoch einander ähnlich sein zu können, müssen a und F-selbst an der „eigentlichen Idee selbst“ (ažt˛ t˛ e ùdoò) teilhaben. Was ist mit ažt˛ t˛ e ùdoò gemeint? M. E. ist damit diejenige Idee gemeint, die letzten Endes für das Verhältnis zwischen der Idee F-selbst und a verantwortlich ist. Sie aufzufinden ist allerdings unmöglich, denn unter der unausgesprochenen Voraussetzung, daß die Idee F-selbst nicht an sich selbst teilhat, findet man zunächst die Idee F-selbst1, die von F-selbst verschieden ist. Das Einzelding a und die Idee F-selbst sind einander ähnlich, weil sie an der Idee F-selbst1 teilhaben. F-selbst1 aber ist der Idee F-selbst und den Einzeldingen ähnlich, so daß eine neue Idee F-selbst2 nötig wird, aufgrund derer diese Ähnlichkeitsrelation besteht. So muß nach immer neuen Ideen gesucht werden: Es ergibt sich also ein unendliche Folge von Ideen, F-selbst, F-selbst1, F-selbst2, . . ., F-selbst¥, die niemals bei der „eigentlichen Idee selbst“ (ažt˛ t˛ e ùdoò) ankommt. _

_

_

Nach dieser Rekonstruktion ist der Ähnlichkeitsregreß eine zweite Version des Arguments vom dritten Menschen, in der die beiden Grundannahmen (SP) und (NI) wiederzuerkennen sind: Hinter der Annahme der symmetrischen Ähnlichkeit zwischen Idee und Instanz bezüglich der Eigenschaft F steht das Prinzip der Selbstprädikation (SP): Die Idee F-selbst ist in gleicher Weise F wie ihre Instanzen. Die unausgesprochene Annahme, daß keine Idee an sich selbst teilhat, entspricht der Annahme der Nichtidentität zwischen einer Menge von Entitäten, denen aufgrund einer Idee eine bestimmte Eigenschaft zukommt, und dieser Idee (NI). 4. Proklos’ Deutung des Arguments vom dritten Menschen Proklos’ Deutung des Arguments vom dritten Menschen zielt auf seine Lösung, denn Proklos liest die Schwierigkeiten der Ideenlehre, mit denen Parmenides den jungen Sokrates konfrontiert, als mäeutisch: Sokrates soll die Ideenlehre verbessern. Den Lauf des Dialogs deutet Proklos als den ver154 155 156

cf. Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 84–89. cf. Vlastos, Parmenides, S. 241–244. cf. Kutschera, Parmenides, S. 37–40.

V. Das Argument vom dritten Menschen

189

schiedenen Ebenen folgend, auf denen sich die Ideen manifestieren. John Dillon schreibt dazu: Proclus presents Parmenides as posing his problems about the Forms simply in order to lead Socrates to a more sophisticated understanding of the multiplicity of levels at which the Forms manifest themselves. Each apparently insoluble puzzle, then, is only insoluble at a certain level. Advance a stage higher, and it solves itself. The Third Man argument, for instance, is an insoluble puzzle at the level of immanent forms, but Parmenides is here leading Socrates to an understanding of transcendent Forms.157

Die Argumente, die dem Größenregreß vorangehen,158 das Segeltuchdilemma sowie die Paradoxa zu den Ideen der Größe und der Kleinheit, gehen von der Voraussetzung aus, daß die Partizipation zwischen der Idee und ihren Instanzen etwas Körperliches ist. Die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten sollen, so Proklos, zeigen, daß die Voraussetzung falsch ist: Die Partizipation zwischen Ideen und Instanzen darf nicht als körperlich gedacht werden: Daß man nicht annehmen darf, daß die Partizipation an den Ideen körperlich ist, ist durch das Gesagte genügend gezeigt worden.159

Doch was ist die (falsche) Voraussetzung, durch die Parmenides den Größenregreß konstruiert? Wenngleich Parmenides beim Größenregreß nach Proklos’ Deutung von einer perfekteren Hypothese ausgeht als beim Segeltuchdilemma160 – er geht nun von einer unkörperlichen Weise der Partizipation aus – kann er noch nicht bei der transzendenten Idee angekommen sein, denn sonst ergäben sich keine Schwierigkeiten. Im Größenregreß setzt Parmenides nach Proklos’ Deutung nicht die eigentliche transzendente Idee voraus, sondern das ðusik˛n e ùdoò, die naturimmanente Idee: _

Daß aber das Argument von der naturimmanenten Idee und dem Aufstieg vom Sinnenfälligen zu ihr , zeigt er, [indem er . . .].161 _

Das ðusik˛n e ùdoò, das Proklos mit dem natürlichen Logos identifiziert, ist die Ursache, auf die man bei der Suche nach dem Gemeinsamen in den Einzeldingen unmittelbar stößt: 157

John Dillon in Dillon/Morrow, S. xxxiii sq. Platon, Parmenides 131a8–131e7. _ 159 In Parm. 878,1–3: ˜Opwò m˚n ožx˝ swmatikÌn oùhtÍon e ùnai tÌn metÜl_ _ _ _ hyin twn eùdwn, ýpidÍdeiktai diJ twn eùrhmÍnwn Ákanwò. _ 160 In Parm. 878,18 sq.: åneisi d˚ ýnteuqen ýp\ ållhn teleiotÍran ëpüqesin þ Parmenûdhò. („Parmenides geht aber von hier aus zu einer anderen, perfekteren Hypothese hinauf.“). _ _ 161 In Parm. 879,22–25: ˜Oti d˚ per˝ ðusikou eŁdouò þ lügoò ka˝ thò ÷p˛ _ _ _ twn aùsqhtwn ýp\ ažt˛ metabÜsewò, dhlo i [prostiqe˝ò . . .]. 158

190

C. Die Ideen

Wie wir nun zu den natürlichen Logoi hinaufgehen, lehrt Parmenides selbst deutlich: Denn vom Gemeinsamen in den Einzeldingen laufen wir zu seiner nächsten Ursache empor, die denn sicher die naturimmanente Idee ist.162

Sokrates’ Annahme, die zum Größenregreß führt, ist, daß er die Partizipation der Instanzen an der transzendenten Idee so ansetzt wie die Partizipation am natürlichen Logos.163 Diese Annahme ist insofern falsch, als eine solche Art der Partizipation zwar unkörperlich ist, es aber dennoch etwas Gemeinsames (ti koinün) zwischen den Partizipierenden und dem Partizipierten gibt: Nun aber geht er zum unkörperlichen Logos hinauf, von dem wir, wenn wir ihn mit Blick auf die Sache definieren wollen, festsetzen werden, daß er der natürliche ist, d. h., daß es eine Weise der Partizipation gibt, die zwar unkörperlich ist, aber etwas Gemeinsames mit dem Partizipierenden hat.164

Dieses Gemeinsame führt zum infiniten Regreß: Wenn es demnach etwas Gemeinsames zwischen den Ideen und denen, die an ihnen partizipieren, gibt, so wird der infinite Regreß von denen, die am Gemeinsamen partizipieren, zum Gemeinsamen Raum haben.165

Die falsche Voraussetzung, durch die der Größenregreß entsteht, ist also die Gemeinsamkeit zwischen Idee und Instanz. Wenn es aber keine Gemeinsamkeit zwischen der Idee und der Instanz gibt, so kann es auch nicht sein, daß die Eigenschaft F der Idee F-selbst in gleicher Weise zukommt wie ihren Instanzen. Damit fällt die Voraussetzung der Selbstprädikation (SP). Als erstes Ergebnis können wir festhalten, daß Proklos die Annahme der Selbstprädikation der Ideen (SP) zurückweist. Proklos’ Replik des Arguments vom dritten Menschen soll nun genauer untersucht werden, denn dadurch wird zweierlei deutlich: Erstens, daß es bei Proklos zwischen den Instanzen und der Idee durchaus einen Regreß geben darf, allerdings keinen infiniten. Dieser finite Regreß, der bei der em162

_

_

In Parm. 879,15–19: Pwò ožn ånimen ýp˝ toˇò ðusikoˇò lügouò, ažt˛ò _ _ _ _ koinwn ýp˝ didÜskei saðwò þ Parmenûdhò· ÷p˛ gJr twn ýn to iò kaqÍkasta _ _ t˛ prosex˚ò aŁtion ažtwn ÷natrÍxomen, â dÇ ýsti pÜntwò e ùdoò ðusikün. _ _ _ 163 In Parm. 878,19–22: mÇpote gJr oÖtw tJ t´h de metÍxei twn ùdewn, ¼ò _ _ _ _ _ twn ðusikwn lügwn, þmotagwn m˚n Øntwn ka˝ þmoðuwn to iò metÍxousin, ÷swmÜtwn d˚ Õmwò; („Ob nämlich die Dinge hier vielleicht so an den Ideen partizipieren, wie an den natürlichen Logoi, die zwar in derselben Ordnung und von derselben Natur wie die Partizipierenden,_aber gleichwohl unkörperlich sind?“). 164 In Parm. 878,26–31: ˙Aneisin ožn ýpû tina lügon ÷sÿmaton, ân, eù ýqÍloi_ men eùò tJ prÜgmata ÷poblÍponteò ÷ðorûzesqai, ðusik˛n e ùnai qÇsomen, ka˝ _ _ _ e ùnai t˛n trüpon thò metoxhò ÷sÿmaton m˚n, ÷ll\ ñxontÜ ti koin˛n pr˛ò tJ metÍxonta. _ _ _ _ 165 In Parm. 882,8–11: \EJn goun ´þ ti koin˛n ta iò ùdÍaiò ka˝ to iò metÍxousin _ _ _ _ ažtwn, ê ýp\ åpeiron metÜbasiò Òcei xÿran ÷p˛ twn tou koinou metexüntwn ýp˝ t˛ koinün.

V. Das Argument vom dritten Menschen

191

pirischen Instanz seinen Anfang nimmt, durchläuft die verschiedenen Stufen der proklischen Metaphysik bis hin zum Intellekt, dem Ort der Ideen. Zweitens wird dadurch die Frage geklärt, wie sich Proklos die Relation zwischen Idee und Einzelding vorstellt, wenn er die Selbstprädikation ablehnt: Wie ist die Ähnlichkeit zwischen Idee und Instanz zu denken, wenn sie nicht in einen infiniten Regreß führen soll? Der finite Regreß, den Proklos als Lösung des Arguments vom dritten Menschen anbietet, geht von den natürlichen Logoi bzw. den ðusikJ eŁdh aus. Mit dem ðusik˛n e ùdoò, das Proklos hier gerade von der transzendenten Idee differenziert, ist die Idee gemeint, wie sie sich in der Natur manifestiert.166 Dies wird normalerweise mit dem aristotelischen Terminus „natürliche Form“ wiedergegeben. Um jedoch zu verdeutlichen, daß es Proklos in seiner Replik des Arguments vom dritten Menschen um einen Ideen-Regreß geht, übersetze ich den Terminus e ùdoò innerhalb dieses Regresses mit „Idee“ und gebe e ùdoò ðusik˛n denn mit „naturimmanente Idee“ wieder. _

_

_

Die nächste Stufe des Regresses wird deshalb erreicht, weil der natürliche Logos bzw. das e ùdoò ðusikün als lediglich immanentes Prinzip nach einer transzendenten Ursache verlangt, denn nur eine solche ist Ursache im eigentlichen Sinne: _

Der Logos in der Natur des Großen nun sehnt sich aber, weil er die großen Dinge hier nicht transzendiert, sondern sich in sie eingießt und mit ihnen in dieselbe Ordnung gestellt wird, nach einer Natur vor sich, einer Ursache nun aber der Größe sowohl seiner selbst als auch der großen sichtbaren Dinge (denn die Ursache im eigentlichen Sinne ist allenthalben über das Hervorgebrachte gänzlich transzendent), zu der nämlich Parmenides den Sokrates hinaufführt.167

Der Aufstieg zu den weiteren Stufen des Regresses erfolgt wegen der Gemeinsamkeit zwischen den aufgefundenen eŁdh bzw. Logoi und dem, was daran partizipiert. Proklos formuliert den Regreß bis zum Auffinden der transzendenten Idee zum einen als Logos-Regreß, zum anderen als IdeenRegreß. Als Logos-Regreß stellt sich der Regreß wie folgt dar: Wenn wir vom Materiellen zu den Logoi Spermatikoi hinaufgehen, finden wir etwas, das ihnen gemeinsam ist, das Unvollendete; wenn wir aber von diesen zu 166

_

Fusik˛n e ùdoò hat hier also eine andere Bedeutung als in dem im Abschnitt C. III. 2. behandelten Textstück (In Parm. 707,17). Für die Diskussion dieser Frage danke ich Prof. Jens Halfwassen (Heidelberg). _ _ _ 167 In Parm. 886,36–887,3: ¢O d\ ožn ýn t´h ðŸsei tou megÜlou lügoò, Ñte _ _ _ ožk ýcVrhmÍnoò twn ýntauqa megÜlwn, ÷llJ sundiabaptizümenoò ažto iò ka˝ _ _ suntattümenoò, ýpipoqe i tina pr˛ aëtou ðŸsin, ÷llJ mÌn megÍqouò aùtûan _ _ _ _ aëtou te ka˝ twn ðainomÍnwn megÜlwn (ê gJr ¼ò ÷lhqwò aùtûa pantaxou _ _ twn ÷poteloumÍnwn ýc´Çrhtai pantelwò), ýð\ ⁄n ka˝ þ Parmenûdhò ÷nÜgei t˛n SwkrÜth.

192

C. Die Ideen

den natürlichen , daß sie körperliche Aktivität haben; wenn wir aber von diesen zu den seelischen Logoi hinaufgehen, das Zeitliche ihres Wirkens. Wenn wir aber zu den Ideen im eigentlichen Sinne emporlaufen, werden wir nichts finden, was diesen und jenen gemeinsam ist.168

Der Logos-Regreß nimmt also beim Materiellen169 seinen Ausgang und folgt den Stufen Logoi Spermatikoi – natürliche Logoi – Logoi in der Seele, um schließlich bei der transzendenten Idee anzukommen. Zwischen den natürlichen Logoi, von denen oben die Rede war, und dem Materiellen fügt Proklos die Logoi Spermatikoi ein. Damit nimmt er einen stoischen Begriff auf, was das synkretistische Moment der Philosophie Proklos’ deutlich macht. Die Logoi Spermatikoi sind so etwas wie quasi-körperliche Keimkräfte.170 So wird auch verständlich, warum Proklos einerseits sagen kann, daß die natürlichen Logoi das erste seien, auf das man bei der Suche nach der Ursache des Gemeinsamen in den Einzeldingen stoße, andererseits jedoch die Logoi Spermatikoi zwischen dem Materiellen und den natürlichen Logoi einfügt. Offenbar sind die Logoi Spermatikoi so mit dem Materiellen verbunden, daß sie keine Ursache für das Gemeinsame in den Einzeldingen sind. Erst die natürlichen Logoi, die zwar körperliche Aktivität, aber keine körperliche Substanz haben, sind erste Ursache für das Gemeinsame in den Einzeldingen. Zwischen zwei Stufen auf dem Weg zur transzendenten Idee gibt es immer etwas Gemeinsames. Hier weicht Proklos vom Argument 168

_

In Parm. 889,24–31: \Ap˛ m˚n twn ýnŸlwn eùò toˇò spermatikoˇò lügouò _ ÷niünteò, eërûskomÍn ti koin˛n ažto iò, t˛ ÷telÍò· ÷p˛ d˚ toŸtwn eùò toˇò ðusikoˇò lügouò, t˛ swmatikÌn ñxein ýnÍrgeian· ÷p˛ d˚ toŸtwn eùò toˇò _ _ yuxikoˇò, t˛ ñgxronon thò poiÇsewò· ýJn d˚ eùò tJ eŁdh tJ ¼ò ÷lhqwò _ ÷nadrÜmwmen, ožd˚n eërÇsomen to isde ka˝ ýkeûnoiò koinün. 169 Der Terminus ñnulon, von Liddell/Scott/Jones mit „involved or implicated in matter“ angegeben, bedeutet normalerweise so etwas wie „eingekörpert“ oder „verkörperlicht“. Da Proklos in diesem Zusammenhang das ñnulon jedoch rangniedriger als die Logoi Spermatikoi ansetzt, darf hier getrost mit „Materielles“ übersetzt werden, das als konkretes Einzelding allerdings von der Materie (Ölh) in ihrer völligen _ Unbestimmtheit zu unterscheiden ist. Auch Moerbeke übersetzt ÷p˛ twn ýnŸlwn mit „a materialibus“. _ _ 170 cf. In Parm. 883,25–32: ojt\ åra gennÇmata thò Ölhò ëpoqetÍon e ùnai tJ _ _ eŁdh ka˝ blastÇmata, kaqÜper tinÍò ðasin· ojte ýk thò summûcewò ažtJ twn _ _ _ ãplwn stoixeûwn ëðûstasqai sugxwrhtÍon· ojte to iò spermatiko iò lügoiò _ _ _ tÌn ažtÌn ñxein ožsûan dotÍon· pÜnta gJr tauta swmatoeidh ka˝ ÷telh ka˝ _ meristÌn ažtwn ÷poðaûnei tÌn ëpüstasin. („Folglich darf man weder annehmen, daß die Ideen Erzeugnisse und Abkömmlinge der Materie sind, ganz so wie manche sagen, noch darf man einräumen, daß ihre Existenz aus der Mischung der einfachen Elemente verursacht wird, noch darf man zugeben, daß sie dasselbe Wesen haben wie die Logoi Spermatikoi: Denn all diese sind körperlich, unvollendet und zeigen ihr Sein als ein geteiltes.“) sowie Pohlenz, S. 373, der die Logoi Spermatikoi als Keimkräfte, „die im Großen wie im Kleinen im Stoff vorhanden sind und die Entwicklung nach dem vernunftgesetzten Ziele lenken,“ bezeichnet.

V. Das Argument vom dritten Menschen

193

vom dritten Menschen ab, indem er als das Gemeinsame nicht die Eigenschaft nennt, für die die Idee verantwortlich ist, sondern eine allgemeine Gemeinsamkeit zwischen zwei Stufen auf dem Weg zur transzendenten Idee: Das Gemeinsame zwischen dem Stofflichen und den Logoi Spermatikoi ist, daß sie beide unvollendet sind, das Gemeinsame zwischen den Logoi Spermatikoi und den natürlichen Logoi ist ihre körperliche Aktivität und das Gemeinsame zwischen den natürlichen Logoi und den seelischen Logoi ist ihr Wirken in der Zeit. Erst zwischen der eigentlichen Idee endlich und der vorhergehenden Stufe gibt es nichts Gemeinsames: Die Idee im eigentlichen Sinne ist völlig transzendent. An der Kommentarstelle zum Ähnlichkeitsregreß gibt Proklos den finiten Regreß bis zum Auffinden der transzendenten Idee als Ideen-Regreß an. Er führt über die beiden Stufen der naturimmanenten Idee und der seelischen Idee (gemeint ist die Idee, wie sie sich in der Seele manifestiert, nicht etwa die Idee von Seelischem) und findet sein Ende bei der intellektuellen Idee: Denn anders sind die naturimmanenten Ideen, die dem Sinnenfälligen vorgängig sind, anders die seelischen und anders die intellektuellen, und vor diesen gibt es keine anderen mehr.171

Entscheidungskriterium, ob mit einer bestimmten Stufe die transzendente Idee erreicht ist, ist die Frage, ob es sich um ein reines Urbild handelt: Alle Ideen unterhalb der intellektuellen Idee mögen zwar Urbilder für die ihnen nachfolgenden Stufen sein, sind jedoch auch Abbilder der intellektuellen Idee.172 Erst sie ist nur Urbild, ohne Abbild zu sein. Es läßt sich festhalten: In der proklischen Metaphysik gibt es zwischen Sinnending und transzendenter Idee einen finiten Regreß, der die verschiedenen Stufen, auf denen sich die Ideen manifestieren können, das Körperliche und die Seele durchläuft, um schließlich beim Intellekt, dem Ort der transzendenten Idee anzukommen. Zwischen den niedrigeren Stufen des Regresses gibt es etwas Gemeinsames, erst zwischen der intellektuellen Idee schließlich und den vorangehenden Stufen gibt es nichts Gemeinsames, denn die Idee ist völlig transzendent. Vergleicht man diesen Befund mit Vlastos’ Rekonstruktion des Arguments vom dritten Menschen, so läßt sich konstatieren, daß Proklos die Voraussetzung der Selbstprädikation (SP) ablehnt, denn wenn es gar nichts Gemeinsames zwischen der Idee und der Instanz gibt, so fällt die Voraussetzung der Selbstprädikation. Wegen der beharrlichen Betonung der Transzendenz der Idee dürfte er die Voraussetzung _ _ 171 In Parm. 912,41–913,2: ˙Alla gJr tJ ðusikJ eŁdh pr˛ twn aùsqhtwn, ålla tJ yuxikJ, ålla tJ noerJ, ka˝ ožkÍti pr˛ toŸtwn ålla. 172 So heißt es beispielsweise von den Ideen in der Seele, daß die sowohl Urbilder als auch Abbilder sind. Cf. In Parm. 913,4 sq.: [. . .] tJ d˚ yuxikJ ka˝ paradeûgmata ka˝ eùküneò [. . .].

194

C. Die Ideen

der Nichtidentität der Idee und der Entitäten, für deren Eigenschaft sie verantwortlich ist, (NI) anerkannt haben. Daß es nichts Gemeinsames zwischen Idee und Instanz gibt, wirft die Frage auf, wie sich Proklos das Verhältnis zwischen Idee und Instanz vorstellt. Zur Klärung dieser Frage dient Proklos’ Kommentar zum Ähnlichkeitsregreß, der zweiten Version des Arguments vom dritten Menschen, denn der Ähnlichkeitsregreß basiert auf der Ähnlichkeitsrelation zwischen Idee und Instanz. Sokrates macht den Vorschlag, daß die Ideen Urbilder und die Instanzen ihre Abbilder sind: Die Ideen stehen gleichsam als Urbilder in voller Wirklichkeit da, die Einzeldinge aber sind ihnen ähnlich und sind Abbildungen von ihnen und die Teilnahme der Einzeldinge an den Ideen besteht eben in nichts anderem als in dieser Nachbildung.173

Mit diesem Vorschlag ist Sokrates nach Proklos’ Deutung weiter als beim Größenregreß, denn das Urbild transzendiert das Abbild: Denn das Urbild ist dem Abbild nicht gegenwärtig und ist auch nicht in derselben Ordnung wie es.174

Außerdem verweist die Wendung, daß die Ideen „in voller Wirklichkeit dastehen“, auf ihre Unwandelbarkeit im Gegensatz zu den Dingen der Werdewelt.175 So deutet Proklos den Gang des Dialogs als allmähliche Annäherung an die transzendente Idee. Was noch fehlt, ist die Erkenntnis, daß die Ideen nicht nur paradigmatisch für ihre Instanzen, sondern auch erzeugend (gennhtikÜ), vollendend (telesiourgikÜ) und beschützend (ðrourhtikÜ) sind.176 _

173 Platon, Parmenides 132d1–4: tJ m˚n eŁdh tauta Êsper paradeûgmata _ _ ÅstÜnai ýn t´h ðŸsei, tJ d˚ ålla toŸtoiò ýoikÍnai ka˝ e ùnai þmoiÿmata, ka˝ ê _ _ _ _ mÍqeciò aÖth to iò ålloiò gûgnesqai twn eùdwn ožk ållh tiò í eùkasqhnai _ ažto iò. (Übersetzungmit Modifikation: Apelt). _ 174 In Parm. 906,32 sq.: t˛ gJr parÜdeigma t´h eùküni ož pÜrestin, ožd˚ þmotagÍò ýsti pr˛ò ažtÇn. _ 175 cf. In Parm. 906,20–24: TaŸt´h gJr ÷ntidie_ile, tˆw ÅstÜnai t˛ gûgnesqai _ diairwn, ka˝ ažt˛ eùò tJ katJ tažtJ ka˝ ¼saŸtwò ñxonta, ka˝ tJ mhdÍpote ¼saŸtwò ñxonta, gignümena d˚ münon. („Denn auf diese Weise trifft er die gegensätzliche Unterscheidung, indem er vom Dastehen das Werden unterscheidet, und die Unterscheidung in bezug auf das, was sich bezüglich seiner selbst gleich verhält, und das, was sich niemals gleich verhält, sondern nur im Werden ist, trifft.“). 176 In Parm. 911,37–40: ojte gJr tJ eŁdh paradeûgmata münon, ÷llJ ka˝ _ _ gennhtikJ ka˝ telesiourgikJ ka˝ ðrourhtikJ twn aùsqhtwn eùsin [. . .]· ojte [. . .]. („Und die die Ideen sind nämlich nicht nur Vorbilder, sondern sie erzeugen die Sinnendinge auch, vollenden sie und beschützen sie [. . .]; noch [. . .].“). Cf. _auch _ _ In Parm. 909,1–3: Ož münon åra paradeigmatikün ýsti pan t˛ qe ion e ùdoò,

V. Das Argument vom dritten Menschen

195

Nun lockt Parmenides den jungen Sokrates allerdings in eine Falle: Wenn nun, erwiderte Parmenides, irgend etwas der Idee gleicht, muß da nicht notwendig auch die Idee dem ähnlich sein, das ihm nachgebildet ist, insoweit als es ihm wirklich ähnlich geworden ist?177

Nach Proklos’ Deutung fordert Parmenides den Sokrates damit heraus, die Transzendenz der Idee über die Instanz zu erkennen, denn Parmenides gehe, indem er eine symmetrische Ähnlichkeitsrelation voraussetze, absichtlich von einer falschen Annahme aus: Er zeigt, daß wenn das Sinnenfällige der intelligiblen Idee ähnlich ist, es nicht notwendig ist, daß das Verhältnis auch reziprok ist, und diese auch jenem ähnlich genannt wird, damit wir nicht von neuem die Suche nach irgendeiner anderen Idee vor den beiden, die einander ähnlich sind, beginnen, die die Ursache der Ähnlichkeit der beiden ist.178

Eine symmetrische Ähnlichkeitsrelation stellt die beiden Relata auf die gleiche ontologische Ebene: Wenn a b ähnlich ist, so ist auch b a ähnlich. Die beiden Relata einer symmetrischen Ähnlichkeitsrelation sind einander bezüglich eines gemeinsamen Charakteristikums ähnlich, und der infinite Regreß nimmt seinen Lauf: Denn was einander ähnlich ist, hat sicher irgendein Identisches gemeinsam, und wegen dieses Identischen, das in ihnen ist, sagt man, daß sie ähnlich sind. Denn wenn dies eingeräumt ist, daß das Partizipierte und das Partizipierende, das Urbild und das Abbild, einander ähnlich sind, wird es auch vor diesen ein anderes geben, das diese ähnlich macht, und dies bis ins Unendliche.179

Proklos unterscheidet jedoch zwei Arten der Ähnlichkeitsrelation. Die eine ist symmetrisch und besteht zwischen gleichgeordneten Entitäten, die andere ist asymmetrisch, weil sie zwischen Entitäten besteht, die in einem ontologischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen: Die abhängige Entität ist der vorrangigen ähnlich, nicht jedoch umgekehrt: _

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÷llJ ka˝ patrik˛n, ka˝ ažtˆw tˆw e ùnai gennhtik˛n aŁtion twn pollwn. („Also ist die ganze göttliche Idee nicht nur paradigmatisch, sondern auch väterlich und ist durch ihr Sein selbst die erzeugende Ursache_ der vielen .“). _ _ 177 Platon, Parmenides 132d5 sq.: Eù ožn ti, ñðh, ñoiken tˆw eŁdie, o Áün te _ _ _ _ _ ýke ino t˛ e ùdoò mÌ Õmoion e ùnai tˆw eùkasqÍnti, kaq\ Õson ažtˆw ÷ðwmoiÿqh; (Übersetzung: Apelt). 178 In Parm. 912,19–24: ýpideûknusin ¼ò, eù t˛ aùsqht˛n Õmoiün ýsti pr˛ò t˛ _ _ noht˛n e ùdoò, ož xrÌ ka˝ ÷ntistrÍðein tÌn sxÍsin k÷keûnˆw touto lÍgein _ Õmoion, Ôna mÌ pr˛ twn dŸo þmoûwn ÷llÇloiò Òterün ti pÜlin zhtÇswmen _ _ _ e ùdoò, ÷mðo in thò þmoiüthtoò aŁtion. _ 179 In Parm. 912,24–31: tJ gJr ÷llÇloiò Õmoia pÜntwò tažtou tinoò _ _ _ kekoinÿnhke, ka˝ di\ ýke ino tažt˛n ýn _ažto iò ïn Õmoia lÍgetai e ùnai. ToŸtou gJr sugxwrhqÍntoò, ÷llÇloiò Õmoia e ùnai tü te meqekt˛n ka˝ t˛ metÍxon, t˛ _ parÜdeigma ka˝ t˛ eùkasq˚n, ñstai ka˝ pr˛ toŸtwn ållo ti t˛ tauta _ _ ÷ðomoioun, ka˝ touto ýp\ åpeiron.

196

C. Die Ideen

Darauf hätte Sokrates sagen müssen, daß „ähnlich“ zweideutig ist: Das eine ist als Ähnliches mit dem Ähnlichen zusammengebunden, das andere aber ist ähnlich, insofern es eine Abschwächung im Verhältnis zu einem Archetyp ist.180

Die Ähnlichkeitsrelation zwischen Idee und Instanz ist in der Philosophie des Proklos asymmetrisch. Die Idee ist der Instanz nicht ähnlich: Die aber einzig Urbilder sind, sind den Abbildern nicht mehr ähnlich: Denn diejenigen sind ähnlich, die in irgendeinem Grade dasselbe erfahren haben, jene aber haben nichts erfahren, weil sie erstrangig sind.181

Es ist die ontologische Vorgängigkeit der Idee vor der Instanz, die es verbietet, von einer Ähnlichkeit der Idee zur Instanz zu sprechen. Folgende Ergebnisse lassen sich festhalten: In Proklos’ Ontologie gibt es einen finiten Regreß bis zur transzendenten Idee. Sie hat mit den ihr nachrangigen Entitäten nichts mehr gemeinsam. Damit weist Proklos die Annahme der Selbstprädikation der Ideen (SP) zurück und erkennt die Nichtidentität zwischen der Idee und den Entitäten, für deren Eigenschaft die Idee verantwortlich ist, (NI) an. Proklos betont die ontologische Vorgängigkeit der Idee vor ihren Instanzen und konzipiert die Relation zwischen Idee und Instanz als asymmetrische Ähnlichkeitsrelation: Die Instanz ist der Idee ähnlich, nicht aber die Idee der Instanz. 5. Moderne Interpretationen II: Taylor und Cherniss Sellars’ und Vlastos’ Interpretationen des Arguments vom dritten Menschen sind – wie dargelegt – dem prädikatenlogischen Paradigma verpflichtet: Jedes Prädikat F hat eine Extension F, und die Frage, ob die Idee F-selbst Element oder nicht Element der Menge F ist, läßt sich innerhalb dieses Paradigmas klar mit ja oder nein beantworten. Dieser Abschnitt geht auf zwei andere moderne Deutungen des Arguments vom dritten Menschen ein, auf die Taylors182 und auf die Cherniss’183. Sie betonen das derivative Abhängigkeitsverhältnis zwischen Instanz und Idee184 sowie das ursächliche Moment der Ideen185 und haben 180

_

In Parm. 912,31–34: Pr˛ò é lÍgein ñdei t˛n SwkrÜth t˛ Õmoion e ùnai dittün· t˛ m˚n sŸzugon þmoûˆw Õmoion, t˛ d˚ ¼ò ëðeimÍnon pr˛ò ÷rxÍtupon Õmoion. 181 In Parm. 913,11–14: é d˚ paradeûgmata müna ýst˝n, ožkÍq\ Õmoia ta_iò _ eùküsi· tJ gJr tažtün ti peponqüta ÕmoiÜ ýstin, ýke ina d˚ ožd˚n pÍponqe _ prwta Ønta. 182 Alfred E. Taylor, Parmenides. 183 Cherniss, Academy, S. 293–300 und 375. 184 cf. Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 87. 185 cf. Cherniss, Academy, S. 375.

V. Das Argument vom dritten Menschen

197

damit eine gewisse Affinität zu Proklos. Deshalb soll sich das Augenmerk bei der Darstellung dieser Positionen auf zwei Fragen richten, die – wie gezeigt wurde – für Proklos’ Interpretation des Arguments bedeutsam sind: Zum einen auf die Frage nach der Selbstprädikation der Idee, zum anderen auf die Frage nach der Ähnlichkeit zwischen Instanz und Idee. Bisher wurde gezeigt, daß Proklos die Selbstprädikation der Idee (SP) zurückweist. Damit ist jedoch die Frage, wie es sein kann, daß die Idee unter demselben Terminus firmiert wie ihre Instanzen, noch nicht beantwortet. A. E. Taylor arbeitet in seinem 1916 erschienenen Aufsatz „Parmenides, Zeno and Socrates“ heraus, daß das Argument vom dritten Menschen auf der Annahme der Selbstprädikation der Ideen beruht,186 und es ist diese Annahme, die er für den schwachen Punkt des Arguments hält: [. . .] if the theory of Socrates is to be defended at all, it must be shown that the alleged „regress“ does not really arise. That is, we must deny the tacit premise of Parmenides that a universal can be predicated of itself as it is predicated of its „instances“. A1 and A2, we must say, have the common nature A, or are „instances of“ A, but A and A1 are not two „instances of“ A; A has not to itself the relation it has to A1 or to A2.187

Taylor argumentiert, daß die Ideen bei Platon nicht selbstprädikativ sind. Die Eigenschaft, für die eine Idee verantwortlich sei, komme der Idee nicht in der selben Weise zu wie ihren Instanzen: We may say of two white things that each of them is white, but we must not say in the same way that whiteness, or white, is white.188

Taylor weist auf die Ambiguität der Kopula „ist“ hin: „A ist B“ kann man einerseits so verstehen, daß A unter das Prädikat B fällt. A hat dann die Eigenschaft B: Or, to use Plato’s language, which makes the point clearer, though we may say that a white surface has whiteness, or white colour, we must not say that white colour, or whiteness, has white colour or whiteness.189

Andererseits kann man „A ist B“ als Identitätsaussage zwischen A und B lesen, und so versteht Taylor scheinbar selbstprädikative Aussagen: 186 Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 46: „Thus if the resemblance between A , 1 A2, A3 requires to be accounted for by saying that each of them is an ‚instance‘ of A, by parity of reasoning we must say that since A itself, h a s a p r e d i c a t e i n c o m m o n w i t h A1, A2, A3, there is a second Form – call it A(1) of which A, A1, A2, A3 all ‚partake‘, and the same considerations will avail to establish in the place of every Form A postulated by the theory of Socrates, a simply infinite series of Forms A, A(1), A(2), . . ., A(n) . . ., A(w). And this, it is assumed, is an absurdity.“ (Sperrdruck von mir). 187 Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 50. 188 Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 50. 189 Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 50. (Hervorhebungen: Taylor).

198

C. Die Ideen

„White is white“, „goodness is goodness“, and the like, if they are significant expressions at all, are not predications but assertions of identity.190

Taylor hält die Ambiguität des Satzes „A ist B“ für die Lösung des Arguments vom dritten Menschen, denn er kann einerseits eine Prädikation, andererseits die Identität zwischen A und B ausdrücken: The solution of Parmenides’ puzzle, then, is that identity and the relation of predicate to subject are different and disparate.191

Damit löst Taylor die Frage, wie es sein kann, daß die Idee unter demselben Eigenschaftswort formiert wie ihre Instanzen, mit dem Hinweis darauf, daß es sich um eine Identitätsaussage handelt. Cherniss argumentiert ähnlich. Auch er weist auf den Unterschied zwischen „sein“ und „haben“ hin: Plato, then, believed that since the idea is that which the particular has as an attribute, the „third man“ is illegitimate as an argument against the ideas because idea and particular cannot be treated as homogeneous members of a multiplicity.192

Die Frage nach der Ähnlichkeit zwischen Instanz und Idee beantworten Taylor und Cherniss wie Proklos. Sie argumentieren, daß wegen der ontologischen Vorgängigkeit der Idee vor den Instanzen die Ähnlichkeitsrelation nicht reziprok sein kann. Taylor schreibt dazu: [. . .] the puzzle can only be solved if it is possible to hold that a particular existent and a Form are not, on the theory under examination, like one another in the same sense in which two particular existents which are members of the same class are like one another. More precisely, what we need to be able to say is that the relation between Form and particular existent symbolised by calling the second a „likeness“ of the first is asymmetrical.193

Cherniss belegt die Behauptung, daß die Ähnlichkeitsrelation zwischen Instanz und Idee bei Platon nicht symmetrisch ist, anhand von Textstellen aus dem Timaios und dem Staat und kommt zu dem Schluß, daß Idee und Instanz bei Platon einander nicht ähnlich sind: This distinction, however, between the being of model and that of copy is made in the Republic (596 E-597 A; cf. Cratylus 432 B-D), so that even before Plato wrote the Parmenides he must have believed that the „likeness“ of particular to idea does not imply that the idea and the particular are „alike“.194

Die Behauptung einer asymmetrischen Ähnlichkeitsrelation mag uns fremd erscheinen. Taylor versucht, diese kontraintuitive Behauptung anhand 190 191 192 193 194

Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 50. Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 50 sq. Cherniss, Academy, S. 298. (Hervorhebungen: Cherniss). Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 86. Cherniss, Academy, S. 298.

V. Das Argument vom dritten Menschen

199

eines einfachen Beispiels plausibel zu machen: Obgleich eine Photographie meines Gesichts meinem wirklichen Gesicht ähnlich ist, kann man nicht sagen, daß mein wirkliches Gesicht der Photographie ähnlich ist: My carte-de-visite photograph and my living face may be like one another, but the likeness is not such that it could be argued „This photograph is a likeness of you, ergo, by conversion, you are a likeness of it“. You can argue that since my reflection in a looking-glass is like me, therefore I am like it, but you cannot argue that since it is the reflection of me, I am the reflection of it.195

An Taylors Beispiel erstaunt, daß er entgegen Cherniss behauptet, daß Urbild und Abbild einander ähnlich sind, die Ähnlichkeit des Urbildes zum Abbild jedoch negiert. Der springende Punkt des Arguments ist aber, wie ich meine, deutlich: Das Abbild ist eine defizitäre Repräsentation und es verbietet sich, von einer Ähnlichkeit des Urbildes zum Abbild zu sprechen, die gerade diesen defizitären Seinsmodus thematisiert: Mein wirkliches Gesicht ist eben nicht Spiegelung seiner Spiegelung. So ist die Ähnlichkeit zwischen Instanz und Idee die Ähnlichkeit zwischen Abbild und Urbild, und diese Relation ist eine andere als die Ähnlichkeit zwischen zwei Instanzen: No particular existent is like a universal in the same way in which two instances of the same universal are like each other.196

Es läßt sich festhalten: Wie Proklos weisen Cherniss und Taylor die Annahme der Selbstprädikation der Ideen zurück, denn die Eigenschaft, für die eine Idee verantwortlich ist, wird nicht in der gleichen Weise von der Idee gesagt wie von sie von den Instanzen der Idee ausgesagt wird. Cherniss weist darauf hin, daß die Idee, die für eine Eigenschaft verantwortlich ist, diese Eigenschaft nicht in der selben Weise hat wie ihre Instanzen, sondern vielmehr diese Eigenschaft ist. Taylor deutet die Kopula „ist“ in scheinbar selbstprädikativen Aussagen als Identitätsaussage. Diesen Interpretationen liegt die ontologische Vorgängigkeit der Idee vor ihren Instanzen zugrunde. Anhand weiterer Belegstellen argumentiert Cherniss überzeugend, daß Platon das Argument vom dritten Menschen nicht als vernichtend für die Ideenlehre gesehen hat197 und kommt zu folgendem Schluß: This and the fact that he believed the „third man“ argument to have no cogency against the theory of ideas [. . .] show that for him an idea was neither a particular comparable with particulars nor a universal in the sense of a similarity of particulars but rather the cause of that which in particulars is similar whenever and wherever it occurs and therefore itself neither temporal nor spatial but an eternal 195 196 197

Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 87. (Hervorhebungen: Taylor). Alfred E. Taylor, Parmenides, S. 88. Cherniss, Academy, S. 295–298.

200

C. Die Ideen

individual other than any and all of its representations and universal as the original of which all are copies and as what is really meant by the name which is given to all these representations in common.198

Cherniss betont also das ursächliche Moment der Idee. Damit bewegt er sich wie Taylor im Gegensatz zu Vlastos außerhalb des prädikatenlogischen Paradigmas. Nach den Interpretationen Taylors und Cherniss’ darf der Satz „Die Idee der Schönheit ist schön“ nicht in der gleichen Weise gelesen werden wie der Satz „Aphrodite ist schön“. Den ersten Satz in gleicher Weise wie den zweiten mit dem Wahrheitswert „wahr“ belegen zu wollen, so daß die Idee der Schönheit wie Aphrodite Element der Extension des Prädikates „schön“ wäre, hieße, sich von der Frage nach der Selbstprädikation der Ideen in die Irre führen zu lassen: Die Idee ist mit ihren Instanzen nicht verrechenbar. Es ist durchaus bedenkenswert, ob Taylors und Cherniss’ Deutungen des Arguments vom dritten Menschen, die der Deutung des Proklos sehr nahe kommen, Platon nicht besser gerecht werden als Deutungen, die dem prädikatenlogischen Paradigma verpflichtet sind.

VI. Selbstprädikation der Ideen? Dieses Kapitel widmet sich der Frage nach der Selbstprädikation der Ideen, denn was die Abweisung der Selbstprädikation der Ideen bei Proklos bedeutet, wurde noch nicht beantwortet. Bisher wurden verschiedene moderne Interpretationen des Arguments vom dritten Menschen vorgestellt. Vlastos, der dem prädikatenlogischen Paradigma verpflichtet ist, beantwortet die Frage, ob die Ideen selbstprädikativ sind, in seinem 1954 erschienenen Beitrag zum Argument vom dritten Menschen199 positiv. Taylor und Cherniss betonen den ursächlichen Charakter der Ideen und beantworten die Frage nach der Selbstprädikation der Ideen negativ, weil die Idee nicht mit ihren Instanzen verrechenbar ist. Etwa zwanzig Jahre nach Vlastos’ erstem Beitrag haben Vlastos und eine seiner Schülerinnen, Peterson, versucht, die Annahme der Selbstprädikation innerhalb des prädikatenlogischen Paradigmas als Pauline Predications umzudeuten.200 Um den Blick für das Problem der Selbstprädikation weiter zu schärfen, sollen diese Deutungen zunächst (C. VI. 1.) vorgestellt werden. Vlastos distanziert sich mit der Deutung scheinbar selbstprädikativer Aussagen als Pauline Predications von der Annahme der Selbstprädikation der 198 199 200

Cherniss, Academy, S. 375. (Hervorhebung von mir). Vlastos, Parmenides. Vlastos, Unity; Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise.

VI. Selbstprädikation der Ideen?

201

Ideen, denn seine Version der Pauline Predication läuft darauf hinaus, daß die Ideen nicht selbstprädikativ sind. Petersons Version der Pauline Predication hingegen bewegt sich zwischen Univokation und Äquivokation. Der Abschnitt C. VI. 2. ist der Frage gewidmet, was es bei Proklos heißt, daß die Ideen nicht selbstprädikativ sind. Schließlich soll im Abschnitt C. VI. 4. die Frage behandelt werden, auf welcher Basis Proklos die Benennung der Ideen konzipiert. 1. Pauline Predications Vlastos geht in seiner Rekonstruktion des Arguments vom dritten Menschen, die bereits vorgestellt wurde, davon aus, daß Platon die beiden Annahmen (SP) und (NI) unwissentlich vorausgesetzt haben muß. Später distanziert er sich von der Annahme, daß Ideen bei Platon immer selbstprädikativ sind: Have we then any good reason to believe that Plato really committed himself to unrestricted self-predication? In my paper on the Third Man in 1954 I emphasized that Plato has never asserted such a thing. I listed it nonetheless among the general assumptions of his Theory because, I said, it „is certainly implied by various things he said and believed“ (336); my references includes „Justice is just“ and „Piety is pious“ in the Protagoras. My present paper refutes that construction of those two sentences. If my present argument is correct [. . .] they are not an instance of self-predication at all.201

Was war passiert? 1965 hatte eine seiner Studentinnen, Sandra Peterson, einen Vorschlag gemacht, wie Sätze wie „Die Gerechtigkeit ist fromm“ oder „Die Gerechtigkeit ist gerecht“ zu verstehen sind: als Pauline Predications. Diese Bezeichnung leitet sich von Paulus’ erstem Brief an die Korinther ab, in dem der Liebe Attribute zugeschrieben werden, die wir normalerweise von Personen sagen. Vlastos übernimmt den Terminus der Pauline Predication. Seine Deutung der Pauline Predication weicht jedoch von der Petersons ab: Während Vlastos die Annahme der Selbstprädikation fallen läßt, deutet Peterson die Pauline Predication als eine besondere Weise der Selbstprädikation. Ich möchte zunächst auf Vlastos’ Version der Pauline Predication eingehen, um dann die spannendere, aber weniger rezipierte Version Petersons darzustellen. Die folgende Darstellung von Vlastos’ Deutung scheinbar selbstprädikativer Aussagen als Pauline Predications bezieht sich auf folgende zwischen 1970 und 1974 erschienene Aufsätze: „An Ambiguity in the Sophist“, „The Unity of the Virtues in the Protagoras“ sowie „A Note on ‚Pauline Predications‘ in Plato“. 201

Vlastos, Unity, S. 453.

202

C. Die Ideen

Vlastos geht der Frage nach, was das „ist“ in „A ist B“ bedeutet, wenn das Subjekt A ein Universale (im Falle Platons ist damit eine Idee gemeint) ist. Einige Beispiele dafür sind die folgenden Sätze: (1) Der Bär ist behaart. (2) Der Bär ist ein Artbegriff. (3) Der Mensch ist sterblich. (4) Der Mensch ist ewig. Die Satzpaare (1) und (2) sowie (3) und (4) zeigen deutlich, daß es ein Problem gibt. Doch worin liegt dieses Problem? Hier ist eine prädikatenlogische Analyse hilfreich. Es seien gegeben: a) Individuen: u: = der Artbegriff „Bär“; m: = die Idee des Menschen. b) Prädikate: Ux: = „x ist ein Bär“; Hx: = „x ist behaart“; Ax: = „x ist ein Artbegriff“; Mx: = „x ist ein Mensch“; Sx: = „x ist sterblich“; Ex: = „x ist ewig“. Will man die obigen Sätze formalisieren, so muß man ihre logische Struktur ergründen. Schnell wird dabei die Ambiguität der oberflächlich gleichen Struktur deutlich: Satz (1) bedeutet schwerlich, daß der Artbegriff „Bär“ behaart ist und ebensowenig bedeutet Satz (2), daß ein bestimmter Bär ein Artbegriff ist. Es ist also wie folgt zu formalisieren: (1*) "x (Ux fi Hx) – Für alle x gilt: wenn x ein Bär ist, so ist x behaart. (2*) Au – Der Artbegriff Bär ist ein Artbegriff. (3*) "x (Mx fi Sx) – Für alle x gilt: wenn x ein Mensch ist, so ist x sterblich. (4*) Em – Die Idee des Menschen ist ewig. Das Problem besteht darin, was man als Subjekt des Satzes auffaßt. In den Fällen (2) und (4) ist es das Universale als Individuum, das als Subjekt des Satzes fungiert und von dem das Prädikat ausgesagt wird. In den Fällen (1) und (3) hingegen sind die Individuen, auf die das Universale zutrifft, Subjekt des Satzes, wofür das Universale eine verkürzte Ausdrucksweise ist. Unter der gleichen Oberflächenstruktur verbergen sich also zwei völlig verschiedene Tiefenstrukturen. Das „ist“ des ersten Falles, bei dem das Prädikat vom Subjekt als Individuum ausgesagt wird, bezeichnet Vlastos nach Peano mit dem Buchstaben e. Für „Sokrates ist weise“ schreibt er „Sokrates e weise“, um auszudrücken, daß das Individuum Sokrates Element der Extension des Prädika-

VI. Selbstprädikation der Ideen?

203

tes „weise“ ist.202 Ich halte mich an die in B. II. 2. eingeführte Schreibweise und gebe „Sokrates ist weise“ mit Ws wieder, wobei Wx für „x ist weise“ und s für Sokrates stehen. Den zweiten Fall der Prädikation, bei der das Prädikat von den Individuen ausgesagt wird, auf die das in der Subjektposition genannte Universale zutrifft, nennt Vlastos Pauline Predication. Ein Beispiel dafür ist folgende Behauptung aus dem Protagoras: (5) Die Gerechtigkeit ist fromm.203 Im prädikatenlogischen Paradigma gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten, diesen Satz bei Platon zu verstehen. Es sei g: = die Idee der Gerechtigkeit; Gx: = „x ist gerecht“; Px: = „x ist fromm“. Dann bringen die Formalisierungen (5*) und (5**) die beiden verschiedenen Tiefenstrukturen zum Ausdruck: (5*) Pg – Die Idee der Gerechtigkeit ist fromm. (5**) "x (Gx fi Px) – Für alle x gilt: wenn x gerecht ist, ist x fromm. Vlastos hält die Lesart (5*) für absurd.204 In „The Unity of the Virtues in the Protagoras“ argumentiert er, daß mit der Lesart (5**) eine stringente 202 Vlastos, Pauline Predications, S. 95: „Is he using the copula in the same way it is most commonly used in Greek (as in English) subject-predicate sentences, sc. to indicate that the individual named by the subject-term is a member of the class of those possessing the attribute expressed by the predicate-term? This use of ‚is‘ may be conveniently indicated, after Peano, by the letter epsilon (for ‚ñsti‘), writing ‚Socrates e wise,‘ for ‚Socrates is wise.‘ “ _ 203 cf. Platon, Protagoras 331b1–3: ýgš m˚n gJr ažt˛ò ëpÍr ge ýmautou _ ðaûhn ºn ka˝ tÌn dikaiosŸnhn Õsion e ùnai ka˝ tÌn þsiüthta dûkaion. („Ich meinesteils für mich wenigstens würde sagen, daß die Gerechtigkeit allerdings fromm sei und die Frömmigkeit gerecht“. Übersetzung: Schleiermacher). 204 Vlastos, Pauline Predications, S. 96: „A parallel, if less blatant, absurdity would turn up if we chose our examples from the Protagoras. When Plato there (331 B 2) asserts (4) justice is pious, would we want to understand him to be implying (4a) justice e pious? To do so would be to suppose that Plato would want an abstract Form to have a property which only concrete individuals – persons – and, by legitimate extension, their actions, dispositions, institutions, laws, etc., could possibly have. So to apply that predicate to the abstract term ‚Piety‘ would be as absurd a move as to apply it to a number or to the multiplication sign.“ Cf. auch Vlastos, Unity, S. 444 sq.: „We know, to begin with, that Socrates thinks of ‚Justice‘ as the name of a universal and that he does not think of universals as persons, nor yet as ontological dependencies of persons such as the actions, decisions, dispositions, practicies or policies of this or that person. This being the case, to say of any universal that it is just or unjust, pious or impious, brave or cowardly would be sheer nonsense: these are moral predicates, and for that reason they are as impredicable of a logical entity, like a

204

C. Die Ideen

Deutung des Problems der Einheit der Tugenden im Protagoras möglich ist. Die Anwendung auf Sätze mit selbstprädikativer Form wie „Die Gerechtigkeit ist gerecht“ ist ein Nebenprodukt dieser Analyse.205 Auch diese Sätze seien, so Vlastos, ambig. Ihr Prädikat ließe sich entweder als Selbstprädikation (6*) oder als Pauline Predication (6**) deuten. Dies läßt sich prädikatenlogisch wie folgt ausdrücken: Es sei f die Idee F-selbst, die für die Eigenschaft F verantwortlich ist. Der Satz (6) F-selbst ist F. läßt dann die beiden Deutungen (6*) und (6**) zu: (6*) Ff – Die Idee F-selbst ist F. (6**) "x (Fx fi Fx) – Für alle x gilt: wenn x F ist, ist x F. Was folgt daraus für das Argument vom dritten Menschen? Vlastos weist darauf hin, daß eine Pauline Predication keine Selbstprädikation sei und auch besser nicht als solche bezeichnet werde.206 Wenn man „Die Größe ist groß“ als Pauline Predication deutet, funktioniert das Argument vom dritten Menschen nicht mehr, weil dann die Voraussetzung (SP) fehlt. Es ist jedoch typisch für Vlastos’ Platon-Deutung, daß er behauptet, Platon sei sich der Ambiguität von Sätzen der Form „B ist A“, wobei B für ein Universale steht, nicht bewußt gewesen: The principal finding of this investigation has been that while Plato uses „B is A“ as an ambiguous sentence-form, taking advantage of its ambiguity to assert it now in one, now in the other, of its alternative uses, he does so without awareness of the ambiguity.207

Zu dieser Deutung paßt seine 1969 veröffentlichte These, Platon habe die Annahme der Selbstprädikation nie bewußt zurückgewiesen208 aber auch universal, as of a mathematical entity, like a number or a geometrical figure: to say that justice is pious would be as absurd as to say that the number eight or the hexagon is pious.“ 205 Vlastos, Unity, S. 417: „A spin-off of the undertaking will be a new account of the two notorious sentences in our passage – ‚Justice is just‘, ‚Piety is Pious‘ – with implications for the vexed problem of ‚self-predication‘ in Plato.“ 206 Vlastos, Unity, S. 451, Anm. 97. 207 Vlastos, Sophist, S. 307. (Hervorhebungen: Vlastos). 208 Vlastos, Self-Predication, S. 335: „Is there any evidence in the Platonic corpus which would prove that Plato ever consciously rejected the assumption that the Form corresponding to a given character itself has that character (‚self-predication‘, abbreviated to SP)? Harold Cherniss thought he had found this in Parmenides 157E6–158B2. His interpretation has not been challenged in print to my knowledge, and it is highly persuasive. It has persuaded, among others, Colin Strang, who holds (contrary to Cherniss, but in common with many scholars) that Plato subscribed to SP in the middle dialogues; Strang refers to this text as clear evidence that Plato jettisoned SP in the Parmenides. As I do not believe that the text warrants such a

VI. Selbstprädikation der Ideen?

205

nicht bewußt anerkannt: Bei bewußter Anerkennung von (SP) käme es nicht zum Argument vom dritten Menschen, weil die Idee dann die Eigenschaft, für die sie verantwortlich ist, durch Partizipation an sich selbst hätte, so daß die Voraussetzung (NI) nicht gegeben wäre.209 Vlastos äußert sich nicht direkt, was seine Auslegung von „Die Idee F-selbst ist F“ als Pauline Predication für das Argument vom dritten Menschen bedeutet, es ist aber wohl der ambige Charakter dieses Satzes, der für Vlastos’ Interpretation des Arguments vom dritten Menschen relevant ist: Weil (6) zwar sinnvoller Weise die Bedeutung (6**) hat, jedoch einem Vexierbild gleich auch die Bedeutung (6*) haben kann, funktioniert das Argument vom dritten Menschen. Es ist allerdings ein starkes Stück, Platon zu unterstellen, er habe dies nicht durchschaut. Wenn man „Die Idee F-selbst ist F“ eindeutig als Pauline Predication liest, kommt das Argument vom dritten Menschen gar nicht erst in Gang. Zudem wird der Satz „Die Idee F-selbst ist F“ so trivial,210 daß man diese Deutung nicht als Lösung des Arguments vom dritten Menschen betrachten kann. Überdies gibt es nach Vlastos’ Interpretation bei Platon auch Ideen, die tatsächlich selbstprädikativ im Sinne von (6*) sind. Als Beispiel nennt er die Idee der Schönheit.211 Für diese Idee läßt sich (6) zwar gewiß auch als Pauline Predication deuten, denn der Satz „Wenn x schön ist, ist x schön“ ist eine Tautologie. Für die Idee der Schönheit ergibt sich aus jedoch der Möglichkeit, (6) als (6**) zu deuten, keine Möglichkeit, (SP) aufzugeben, denn die Deutung (6*) gilt ja auch. Das Argument vom dritten Menschen bleibt als „Schönheitsregreß“ in der im Abschnitt C. V. 2. angegebenen Rekonstruktion bestehen. Vlastos’ Interpretation scheinbar selbstprädikativer Ausdrücke als Pauline Predications bietet keine Lösung des Arguments vom dritten Menschen, das damit aporetisch bleibt. Die ungelöste Frage der Selbstprädikation der Ideen bleibt bestehen, weil der Satz Ff im prädikatenlogischen Paradigma nur die beiden möglichen Wahrheitswerte „wahr“ oder „falsch“ hat. conclusion, I had best explain why.“ sowie S. 341: „Thus from the texts at our disposal I, for one, hesitate to believe that Plato ever achieved the lucidity of explicit decision on the general issues of self-predication and self-participation.“ 209 Vlastos, Self-Predication, S. 339: „Affirming self-participation would offer an easy way to block the regress in the Third Man Argument: if F-ness participates in itself, no further Form would be required to account for F-ness and all the F-particulars being F.“ 210 cf. Kutschera, Parmenides, S. 31, Anm. 27: „Vlastos deutet in (1973), Kap. 10 und 11 manche Selbstprädikationen als Pauline-predications, d. h. im Sinn von ‚Alles, was F ist, ist F‘ [. . .]. Damit werden solche Aussagen freilich trivial.“ 211 Vlastos, Unity, S. 456: „But we do have as good contextual reasons for saying that when he refers to the Form of Beauty in the Symposium (211C-D) as â ñsti kalün, he does mean to predicate ‚is beautiful‘ of the Form of Beauty.“

206

C. Die Ideen

Eine raffiniertere Deutung des Arguments vom dritten Menschen bietet Sandra Peterson, auf die der Begriff der Pauline Predication zurückgeht. Sie versteht die Pauline Predication als eine besondere Form der Selbstprädikation, so daß die Grundannahmen des Arguments vom dritten Menschen miteinander konsistent sind: I propose a way of understanding the self-predication premise of the third man argument which Plato used against himself. The way I propose fulfills some of the desiderata for a good interpretation of Plato: it is not unreasonable by itself; it is formally consistent with the other premises of the third man, singly and jointly.212

Welche Voraussetzungen legt Sandra Peterson dem Argument vom dritten Menschen zugrunde? Wie Vlastos und Sellars geht sie von den Grundannahmen (NI) und (SP) aus. Ihre dritte Grundannahme nennt sie „one-andthe-same-form premise“:213 If a plurality of things are all of them large, there is (at least) one form of large things in virtue of which all of them are large (one-and-the-same form).214

Dies entspricht Sellars’ Grundannahme (G). Peterson bleibt die Erklärung schuldig, inwiefern ihre Interpretation eine formale Inkonsistenz zwischen den drei Grundannahmen (G), (NI) und (SP) vermeidet,215 aber dies ist auch nicht wirklich spannend, denn schon Sellars’ Interpretation hat gezeigt, daß die drei Annahmen zwar nicht formal inkonsistent sind, aber sehr wohl in einen infiniten Regreß führen. Das Interessante an Petersons Vorschlag ist, daß sie sich sehr genau mit der Frage auseinandersetzt, wie ein Prädikat von der Idee und den Instanzen ausgesagt wird. Ihre Interpretation beruht auf der Uminterpretation der Extension eines Prädikates. Damit geht Peterson an die Grenzen des prädikatenlogischen Paradigmas. Peterson führt den Begriff der Pauline Predication ein, um dann drei mögliche Reaktionen auf Pauline Predications darzustellen: (1) Abweisung, (2) Umschreiben ihrer logischen Struktur, (3) Uminterpretation. Es ist diese dritte Möglichkeit, die Uminterpretation der Pauline Predications, welche für die Deutung des dritten Menschen fruchtbar gemacht werden kann. Sie läuft darauf hinaus, daß das Prädikat in einer Weise von der Idee ausgesagt wird, welche – so meine Deutung Petersons – ein Drittes 212

Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 451. Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 465. 214 Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 462. 215 Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 451, Anm. 1: „I omit here the demonstration of the formal consistency of the premises.“ 213

VI. Selbstprädikation der Ideen?

207

zwischen Univokation und Äquivokation im klassischen Wortsinne ist und damit der Analogie (dazu später) sehr nahe kommt. Zurück zu Petersons Darstellung der möglichen Reaktionen auf Pauline Predications: Werden diese abgewiesen (1), so vertritt man die Ansicht, daß Sätze wie „die Liebe leidet lang“ trotz ihrer üblichen Verwendung absurd sind. Wird die logische Struktur von Pauline Predications umgeschrieben (2), so können Pauline Predications entweder im Sinne Vlastos’ gelesen werden. Auf diese Möglichkeit hat schon Aristoteles hingewiesen, der den Satz „Der Mensch ist ein Mensch“ als „Alles, was ein Mensch ist, ist ein Mensch“ deutet.216 Oder sie werden, sofern es sich um scheinbar selbstprädikative Aussagen handelt, als Identitätsaussagen gelesen: „Gerechtigkeit ist gerecht“ bedeutet dann „Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit“. Bei der Uminterpretation von Pauline Predications (3) wird ihre logische Struktur nicht angetastet, sondern der Satz „B ist A“ so gelesen, daß B ein Element der Extension A des Prädikates A ist. Die Sätze „Die Frömmigkeit ist gerecht“217 und „Die Gerechtigkeit ist gerecht“ sind dann so zu verstehen, daß die Idee der Frömmigkeit und die Idee der Gerechtigkeit Elemente der Extension des Prädikates „gerecht“ sind. Uminterpretiert wird dabei die Extension A des Prädikates A. Dazu gibt Peterson die beiden Extensionen A1 und A2 an, wobei A1 Einzeldinge und A2 Ideen enthält. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, diese Uminterpretation aufzufassen. Die erste – Peterson nennt sie „conservative reinterpretation“218 – geht davon aus, daß das Prädikat A die beiden Extensionen A1 und A2 hat. Die zweite Möglichkeit der Uminterpretation, die Peterson „expansive reinterpretation“219 nennt, ordnet dem Prädikat A die Extension A zu, welche die Vereinigungsmenge aus A1 und A2 ist: A = A1 ¨ A2. Peterson führt die Unterscheidung zwischen A1 und A2 am Beispiel der Gerechtigkeit durch: Die Extension G1 enthält gerechte Personen, gerechte Handlungen, gerechte Institutionen, etc., die ich der Einfachheit halber im folgenden „Einzeldinge“ nenne. Die Extension G2 enthält Ideen, die gerecht sind, wie die Idee der Frömmigkeit, die Idee der Gerechtigkeit und 216 cf. Aristoteles, Sophisti elenchi 178b,36–39: ka˝ Õti ñsti tiò trûtoò ånqrwpoò par\ ažt˛n ka˝ toˇò kaq\ Òkaston· t˛ gJr ånqrwpoò ka˝ Ñpan t˛ _ koin˛n ož tüde ti ÷llJ toiünde ti í pos˛n í prüò ti í twn toioŸtwn ti shmaûnei. („Und daß ein dritter Mensch ist außer dem Betreffenden selbst und den anderen Individuen. Mensch besagt wie alles Allgemeine kein Dieses, sondern eine Qualität oder eine Relation oder eine Weise u. dergl.“ Übersetzung: Rolfes). 217 cf. Platon, Protagoras 331b1–3. 218 Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 461. 219 Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 462.

208

C. Die Ideen

andere Ideen, von denen Platon sagt, daß sie gerecht sind. Peterson gibt folgende Erklärung für die Elemente von G2: In „Justice is just“ or „Piety is just,“ „just“ has the extension of „is such that if anything x participates in it, then x is just.“ To mark off this role of the predicate, I use „just2.“ Lest the explanation of „just2“ look circular, let me spell it out in two clauses: x is just2 if and only if either (i) x is a form and if anything y participates in x, y is just1. or (ii) x is a form and if anything y participates in x, y is just2 or y is just1.220

Diese Erklärung erscheint, insofern sie das zu Erklärende enthält, etwas unschön. Peterson geht darauf ein und weist den möglichen Einwand ihrer Zirkularität zurück, und zwar mit dem Hinweis darauf, daß die Erklärung eine Anleitung zum Auffinden von Entitäten ist, die gerecht2 sind:221 In einem ersten Schritt ist nach (i) x gerecht2, gdw. x eine Idee ist und alle y, die an x teilhaben, Einzeldinge sind, die gerecht1 sind. Nun läßt sich „gerecht2“ in (ii) im Sinne des im ersten Schritt gewonnenen „gerecht2“ verstehen und ersetzen, so daß man in einem zweiten Schritt erhält: z ist gerecht2 gdw. z eine Idee ist und alle x, die an z teilhaben, entweder Ideen sind, so daß alle y, die an x teilhaben, gerecht1 sind, oder Einzeldinge sind, denen die Eigenschaft zukommt, gerecht1 zu sein. Nach diesem Muster läßt sich immer weiter substituieren, so daß sich Kaskaden aneinander teilhabender Ideen ergeben. Dies ist einerseits für die Rekonstruktion des Arguments vom dritten Menschen von Bedeutung, andererseits wird Peterson damit dem Problem der Einheit der Tugenden im Protagoras gerecht, denn einige der Entitäten, die an der Tugend teilhaben, sind Ideen, wie z. B. die Idee der Gerechtigkeit.222 Was nun bedeutet die Uminterpretation für das Argument vom dritten Menschen? 220 Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 461. 1975 ergänzt Peterson, Correction, S. 96 diese Erklärung um den Zusatz „y „ x“. 221 Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 462: „This familiar kind of explication is not circular. It gives some initial conditions, devoid of use of ‚just2‘ under which certain items are just2. Given these items, you can go on to find others which are just2.“ 222 Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 462, Anm. 18: „It may look as though it would be simpler to describe the extensions of F1 and F2 – in particular, ‚just1‘ and ‚just2‘ – by these clauses: x is just1 if and only if x is just in the way appropriate to non-forms; x is just2 if and only if x is a form and every participant in x is just in the way appropriate to non-forms. But such clauses for ‚virtuous‘ would not guarantee that ‚is virtous2‘ was true of virtue, since some of virtue’s participants are forms (e. g., charity, justice). The two clauses for the definition of F2 allow for the latter.“

VI. Selbstprädikation der Ideen?

209

Es stellt sich die Frage, wie das Prädikat A von den Elementen der Mengen A1 und A2 ausgesagt wird. Hat die Menge A2 nur ein Element, nämlich die Idee A-selbst, läßt sich das Argument vom dritten Menschen im Falle der „conservative reinterpretation“ unterlaufen, indem man unterstellt, daß das Prädikat von der Idee und den Instanzen äquivok ausgesagt wird. Wenn sich das Prädikat A der Idee A-selbst und der Elemente von A1 so verhält wie das Prädikat „ein Schimmel sein“ eines Reittieres und eines Schimmelpilzes, dann fällt die Annahme, daß es eine weitere Idee geben muß, aufgrund derer die Elemente der Menge A1 und A-selbst A sind: If the F and the plurality of things which are F do not, on ground of ambiguity of F, count as a new plurality of things which are F in the same sense, the claim that F is ambiguous, as „seal“ is, will render illegitimate an application of the one-and-the-same-form premise on a mixed batch of F things and will avoid the regress in this special sort of case.223

Allerdings ist diese Lösung nicht besonders glücklich: Erstens funktioniert sie nur, darauf weist Peterson selbst hin, wenn A2 tatsächlich nur ein Element enthält. Andernfalls ergibt sich der infinite Regreß für die Extension A2.224 Zweitens kann im Falle einer schlichten Äquivokation zwischen Idee und Instanz von Selbstprädikation nicht mehr die Rede sein. Es ist aber das erklärte Ziel von Petersons Artikel, einen vernünftigen Vorschlag für die Annahme der Selbstprädikation bei Platon zu machen. Petersons Interpretationsvorschlag für das Argument vom dritten Menschen beruht auf der „expansive reinterpretation“ von Pauline Predications: The proposal I am making is that Plato, consistently with the premises of the third man argument, might have meant by „just“ something with the extension of, for example, „just1 or just2“.225

Die „expansive reinterpretation“ gibt die Bedeutung des Prädikates „gerecht“ also mit „gerecht1 oder gerecht2“ an, d. h. Gx: = G1x Ú G2x. Damit ist die Extension G des Prädikates G die Vereinigungsmenge aus G1 und G2: G = G1 ¨ G2. Zur Vereinfachung soll im folgenden davon ausgegangen werden, daß die Menge A2 nur ein Element enthält, nämlich die Idee A-selbst, die dafür verantwortlich ist, daß den Elementen der Menge A1 die Eigenschaft A zukommt. 223

Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 464. Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 464 sq.: „But citing the described ambiguity of F is not enough to flaw the argument for most predicates. For example, take ‚virtuous‘. Virtue, charity, justice, and humility are virtuous, all in the same way – namely virtuous2. The one-and-the-same-form premise, then, requires a common form of virtue over them. So the argument generates a regress for virtue.“ 225 Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 463. 224

210

C. Die Ideen

Am Beispiel der Idee der Gerechtigkeit befaßt sich Peterson mit der Frage, ob die Verwendung des Prädikates „gerecht sein“ für die Idee der Gerechtigkeit und für gerechte Personen, Gesetze, Institutionen, etc. eine bloße Äquivokation wie im Falle des Wortes „Schimmel“ ist. Dann wäre es nicht statthaft, die Menge gerechter Dinge und die Idee der Gerechtigkeit unter das eine Prädikat G fallen zu lassen: Our question is whether the difference between the two uses is so great that the one-and-the-same-form premise would be as illegitimately applied to a plurality of just things consisting of, say, Socrates and justice as to a plurality of seals consisting of the seals in the Los Angeles Zoo and the Great Seal.226

Peterson argumentiert gegen die Annahme der Äquivokation zwischen Idee und Instanzen: Erstens sei die Idee der Gerechtigkeit zwar kategorial von ihren Instanzen unterschieden, aber dieser Unterschied sei auch nicht größer als die kategorialen Unterschiede innerhalb der Menge G1, denn auch gerechte Menschen unterschieden sich kategorial von gerechten Gesetzen.227 Zweitens lasse sich eine Definition für „gerecht sein“ angeben, die die Elemente der Menge G1 und die der Menge G2 gleichermaßen erfasse: x ist gerecht, genau dann wenn x geeignet ist, jedem das ihm Gebührende zuzuteilen.228 Die Zusammenführung der Prädikate G1 und G2 unter eine gemeinsame Definition vermeidet eine bloße Äquivokation zwischen Idee und Instanz, so daß die Deutung von (SP) im Sinne einer „expansive reinterpretation“ das Argument vom dritten Menschen nicht unterläuft: Reinterpretation of the kind I have described offers a reasonable hypothesis about how Plato might have used self-predicative claims; but it does not by itself provide a distinction which would block the use of the one-and-the-same-form premise. In fact, the distinction among uses of any predicate F which is needed in order to fault the argument as relying on an illegitimate application of the oneand-the-same-form premise is a distinction which puts F’s self-predicative use on the one side of the distinction and puts all the non-self-predicative uses on the other side.229

Durch die Subsumption von G1 und G2 unter G wird das Regreß-Argument möglich: In einem ersten Schritt findet sich eine Idee G-selbst1, die dafür verantwortlich ist, daß der Idee G-selbst und den gerechten Dingen die Eigenschaft G zukommt. Nach der Erklärung des Prädikates G2 ist die Idee G-selbst1 Element der Menge G2. Damit fällt sie unter die gemeinsame Definition von G1 und G2, hat also die Eigenschaft G. Nun läßt sich nach einer neuen Idee G-selbst2 suchen, aufgrund derer G-selbst, G-selbst1 und 226

Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 465 sq. cf. Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 466. 228 cf. Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 467: „Let this analysis be ‚is disposed to allot each man his due‘.“ 229 cf. Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 468 sq. 227

VI. Selbstprädikation der Ideen?

211

die Elemente der Menge G1 die Eigenschaft G haben. Das Regreß-Argument nimmt seinen Lauf: G2 wächst zu einer Menge mit unendlich vielen Elementen an. Nicht immer läßt sich eine einfache Definition angeben, die die Elemente von A1 und A2 gleichermaßen erfaßt. Die Extension M des Prädikates Mx („x ist ein Mensch“) im Sinne der „expansive reinterpretation“ beispielsweise ist die Vereinigungsmenge aus der Menge M1, die alle Einzelmenschen enthält, und der Menge M2, die die Idee des Menschen enthält. Das Prädikat Mx ist m. E. nicht anders als in der Form einer Adjunktion zu erfassen: Mx genau dann, wenn x entweder ein Einzelmensch oder aber die Idee des Menschen ist. Das Argument funktioniert dann mit dieser gemeinsamen Definition, und die Benennungsweise zwischen Instanz und Idee ist insofern keine reine Äquivokation, als Instanz und Idee die gemeinsame Eigenschaft M haben, Elemente der Menge M zu sein, diese Menge aber kein bloßes Sammelsurium ist, sondern den inneren Zusammenhang zwischen Instanz und Idee zum Ausdruck bringt. Doch läßt sich daraus, daß „gerecht“ nicht äquivok von Idee und Instanz ausgesagt wird, die Univokation zwischen Idee und Instanz ableiten? Dies soll für den allgemeinen Fall geklärt werden, und es drängt sich sogleich die Frage auf, welches Prädikat univok von Idee und Instanz ausgesagt wird. Peterson unterscheidet ja, indem sie die Extension A in A1 und A2 aufspaltet, zwischen drei Prädikaten, und es ist einzig das Prädikat A, das univok von Idee und Instanz ausgesagt wird, weil Idee und Instanz gleichermaßen Elemente der Extension A sind. Von Univokation läßt sich aber sinnvoller Weise nur sprechen, wenn sich A auch auf einen Begriff bringen läßt, der univok von Idee und Instanz ausgesagt wird. Im Falle der Gerechtigkeit ist dies möglich, weil sich G als die einfache Eigenschaft „geeignet, jedem das ihm Gebührende zuzuteilen“ angeben läßt, so daß „gerecht“, in diesem Sinne verstanden, univok von der Idee der Gerechtigkeit und den Instanzen, die gerecht sind, ausgesagt wird. Im Falle des Menschen ist es jedoch nicht möglich, einen Begriff anzugeben, der die Idee des Menschen und deren Instanzen gleichermaßen umfaßt und somit in univoker Weise von Idee und Instanz ausgesagt wird. Was für das Prädikat „Mensch“ gilt, gilt für die meisten Prädikate, denn das von Peterson gewählte Beispiel der Gerechtigkeit ist ein Sonderfall, in dem sich die Prädikate G1 und G2 unter einen Begriff bringen lassen, der univok von Idee und Instanz ausgesagt wird. Meine These ist, daß Peterson mit der „expansive reinterpretation“ selbstprädikativer Ausdrücke eine Deutung liefert, nach der Idee und Instanz im allgemeinen Fall weder univok noch äquivok benannt werden. Diese Mittlere beruht auf der Aufspaltung des Prädikates A in A1 und A2. Damit geht

212

C. Die Ideen

Peterson freilich an die Grenzen des prädikatenlogischen Paradigmas, denn man kann sich durchaus fragen, ob A wirklich noch ein Prädikat ist. Was leistet Petersons Interpretation der Selbstprädikation als Pauline Predication? Einerseits vermeidet sie eine Interpretation der Selbstprädikation, die die Idee auf die Ebene der Instanzen stellt und dadurch kontraintuitiv ist,230 andererseits aber ist sie nicht so trivial wie Vlastos’ Interpretation der Pauline Predication, bei der man sich ernsthaft fragt, ob das Argument vom dritten Menschen dann noch funktioniert. Drei Punkte sind im Rahmen dieser Untersuchung an Petersons Vorschlag wichtig. Erstens enthält die Extension A des Prädikates A die Idee A-selbst als Element, wenn auch als herausragendes. Zweitens wird das Prädikat von der Idee und den Instanzen weder in univoker noch in äquivoker Weise ausgesagt, obgleich es drittens etwas Gemeinsames zwischen der Idee und den Instanzen gibt, das sich in einer gemeinsamen Definition ausdrücken läßt, und wodurch das Regreß-Argument ins Rollen kommt. 2. Die Logik der Transzendenz Wie gezeigt wurde, weist Proklos die Annahme der Selbstprädikation der Ideen (SP) zurück, denn zwischen der Idee und den Instanzen gibt es nichts Gemeinsames.231 Doch was bedeutet es, daß die Ideen nicht selbstprädikativ sind? Was bedeutet es, daß die Eigenschaft, für die eine Idee verantwortlich ist, nicht auf die Idee zutrifft? Oder, allgemeiner ausgedrückt: Was bedeutet es, daß die Eigenschaft, für die eine transzendente Ursache verantwortlich ist, nicht auf diese transzendente Ursache zutrifft? Was der Abweis der Selbstprädikation bedeutet, soll zunächst im zweiwertigen prädikatenlogischen Paradigma betrachtet werden: 1. Gegeben sei die Idee F-selbst, für die ich f schreibe. 2. F-selbst ist für das Prädikat F verantwortlich. 230 cf. Allens Kritik an einer solchen Interpretation der Selbstprädikation: Allen, Participation, S. 43: „Briefly, the problem is this: the dialogues often use language which suggests that the Form is a universal which has itself as an attribute and is thus a member of its own class, and, by implication, that it is the one perfect member of that class. The language suggests that the Form has what it is: it is self-referential, self-predicable. Now such a view is, to say the least, peculiar. Proper universals are not instantiations of themselves, perfect or otherwise. Oddness is not odd; justice is not just; Equality is equal to nothing at all. No one can curl up for a nap in the Divine Bedsteadity; not even God can scratch Doghood behind the Ears.“ (Hervorhebungen: Allen). 231 cf. C. V. 4.

VI. Selbstprädikation der Ideen?

213

3. Die Extension des Prädikats F ist die Menge F. Es gilt: F = {x‰x ˛ F}. 4. Die Komplematärmenge von F sei die Menge F’, die alle Elemente, die nicht in F enthalten sind, enthält. Es gilt: F’ = {x‰x ˇ F }. Die Frage nach der Selbstprädikation der Idee F-selbst stellt sich innerhalb dieses Paradigmas als die Frage, ob f ˛ F oder f ˇ F: 1. f ist genau dann selbstprädikativ, wenn f ˛ F: Der Satz Ff hat dann den Wahrheitswert „wahr“. 2. Die Idee f ist genau dann nicht selbstprädikativ, wenn f ˇ F: Der Satz Ff hat dann den Wahrheitswert „falsch“. Dies ist gleichbedeutend damit, daß die Negation des Satzes Ff wahr ist: Der Satz éFf hat den Wahrheitswert „wahr“, f ist Element der Komplementärmenge F’ von F: f ˛ F’. Es gelten folgend Prinzipien: 1. Das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs (die beiden Alternativen Ff und éFf können nicht beide zugleich wahr sein): é(Ff Ù éFf) 2. Das Prinzip des tertium non datur (es gibt kein Drittes zwischen den beiden Alternativen): éFf Ú Ff Im prädikatenlogischen Paradigma sind das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs und das Prinzip des tertium non datur miteinander äquivalent. Wie nun verhält es sich in der Philosophie des Proklos mit der Frage der Selbstprädikation? Nach seiner Interpretation des Arguments vom dritten Menschen sind die Ideen nicht selbstprädikativ. Prädikatenlogisch ausgedrückt hieße das éFf. Es gibt allerdings Belege, die scheinbar gegen Proklos’ Ablehnung der Selbstprädikation der Ideen sprechen. An folgender Stelle macht Proklos deutlich, daß er keine Idee mit etwas Gegensätzlichem assoziiert wissen will: Denn überhaupt existiert keine der Ideen aus dem ihr Entgegengesetzten: Weder nämlich der Intellekt aus nicht Intelligiblem, noch das Leben aus nicht Lebendem, noch die Bewegung aus Nicht-Bewegung, noch das Schöne aus Nicht-Schönem. So daß auch der Mensch nicht aus Nicht-Mensch und nichts anderes aus dem, was nicht so beschaffen ist, wie es selbst.232 _

232

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_

In Parm. 850,30–851,2: ˜Olwò gJr ožd˚n twn eùdwn ýk twn ÷ntikeimÍnwn _ ažto iò ëðÍsthken· ojte gJr ýc ÷noÇtwn þ nouò, ojte ýk mÌ zÿntwn ê _ ožd˚ zwÌ, ojte ýk mÌ kinÇsewn ê kûnhsiò, ojte kal˛n ýk mÌ kalwn, Êste _ ånqrwpoò ýk mÌ ÷nqrÿpwn, ožd˚ ållo ožd˚n ýk mÌ toioŸtwn o Áon ažtü ýstin. _

214

C. Die Ideen

In die gleiche Richtung weist folgendes Textzeugnis: Wie also auch das in erster Linie Schöne nie nicht schön ist, und das wirkliche Sein nicht ebenfalls Nicht-Sein ist, so ist auch das in erster Linie Eine nicht ebenfalls vieles.233

Wollte man diese Belege prädikatenlogisch formalisieren, so hieße das für die Idee f: ééFf, was sich aussagenlogisch in Ff umformen läßt. Dies aber würde bedeuten, daß die Ideen doch selbstprädikativ sind, und dafür spricht auch folgender Beleg: Der Mensch selbst aber ist ja gewiß nicht irgendwie Mensch, irgendwie aber nicht, sondern er ist ganz und gar Mensch.234

„Der Mensch selbst“ (þ ažtoÜnqrwpoò) steht hier für die Idee des Menschen. Von ihr sagt Proklos, daß sie „ganz und gar Mensch“ sei. Auch dem Guten selbst spricht Proklos das Prädikat „gut“ zu: Vor allen, die in irgendeiner Weise am Guten partizipieren, hat das in erster Linie Gute den Vorrang, d. h. das, was nichts anderes ist als gut.235

Wir stehen vor einem Widerspruch: Einerseits gibt es in der Philosophie des Proklos zwischen Idee und Instanz nichts Gemeinsames, so daß die Ideen nicht selbstprädikativ sind. Prädikatenlogisch ausgedrückt hieße das: éFf. Andererseits spricht Proklos der Idee die Eigenschaft, für die sie verantwortlich ist, offenbar zu, was sich prädikatenlogisch mit Ff ausdrücken läßt. Für die Idee f würde damit (Ff Ù éFf) gelten, was gegen das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs verstoßen würde. Der bisherige Befund ist paradox. Doch woher rührt dieses Paradox? Um diese Frage zu klären, soll zunächst untersucht werden, was die Negation in der Aussage, daß die Idee nicht selbstprädikativ ist, bedeutet. Die Prädikatenlogik begreift die Negation in folgendem Sinne: 1. éFf gdw. f ˛ F’, d. h. éFf ist genau dann wahr, wenn f Element der Komplementärmenge F’ der Extension F des Prädikats F ist. 2. Die prädikatenlogische Negation ist also eine kontradiktorische Negation, weil sie das genaue Gegenteil der Affirmation bezeichnet.236 _

233 In Parm. 1093,1–3: Êsper dÌ ka˝ t˛ kal˛n t˛ prÿtwò oždamwò ýsti mÌ kal˛n, ka˝ t˛ Øntwò ïn ožx˝ ka˝ mÌ ïn, Êste ka˝ t˛ prÿtwò Ùn ožx˝ ka˝ pollÜ. _ _ 234 In Parm. 850,26–29: þ d˚ ažtoÜnqrwpoò ož ph mÌn ånqrwpüò ýsti, ph _ d˚ oõ, ÷ll\ Õloò di\ Õlou toioutoò. _ _ _ _ _ 235 E. T. 8,1–2: PÜntwn twn þpwsoun tou ÷gaqou metexüntwn êge itai t˛ prÿtwò ÷gaq˛n ka˝ â mhdÍn ýstin ållo í ÷gaqün. 236 cf. Prior, S. 458: „Contradictory negation [. . .] is the relation between statements that are exact opposites, in the sense that they can be neither true together nor false together.“

VI. Selbstprädikation der Ideen?

215

In der Philosophie des Proklos hingegen ist die Negation nicht auf diese Art der Negation beschränkt. Wie im Abschnitt B. IV. 2. bereits deutlich wurde, kann die Negation bei Proklos auch Vorgängigkeit bedeuten. Deshalb müssen wir Proklos auch nicht der Inkonsistenz bezichtigen, wenn er das erste Prinzip einerseits als das Eine, andererseits aber jenseits des Einen ansetzt, denn die Benennung des ersten Prinzips ist relativ zum Benennungskontext.237 Soll das erste Prinzip relativ zu dem antithetischen Begriffspaar „eines“ und „nicht eines“ benannt werden, so kommt ihm der Begriff, der für das ontologisch Höherrangige steht, zu, und insofern ist es „eines“. In der Benennung des ersten Prinzips kann aber auch seiner völligen Transzendenz Rechnung getragen und zum Ausdruck gebracht werden, daß es beide antithetischen Begriffe übersteigt. Dann muß man ihm den Begriff, der für das ontologisch Höherrangige steht, absprechen: Das erste Prinzip ist „nicht eines“. Das heißt freilich nicht, daß es „nicht eines“ im Sinne des anderen Begriffes des antithetischen Begriffspaares wäre, denn wenn es den Begriff, der für das ontologisch Höherrangige steht, übersteigt, dann übersteigt es auch den, der für das ontologisch Niederrangige steht. Diese Art der Negation, die sich von der prädikatenlogischen Negation unterscheidet, soll „transzendente Negation“ heißen. Die transzendente Negation begründet eine Logik, die aus immanenter Perspektive paradox wirkt: Das erste Prinzip ist „eines“, weil dieser Begriff besser ist als sein Gegensatz, „nicht eines“. Im eigentlichen Sinne aber ist das erste Prinzip „nicht eines“, weil es alle positiven Begriffe, mithin auch „eines“ transzendiert. Diese Logik, die von der transzendenten Negation begründet wird, soll „Logik der Transzendenz“ heißen. Daß die Logik der Transzendenz aus der Perspektive der Prädikatenlogik paradox wirkt, beruht darauf, daß die Negation – wie in der Philosophie des Proklos – über die prädikatenlogische Negation hinausgeht. Am Beginn seines Kommentars der ersten Hypothesis des platonischen Parmenides legt Proklos dar, welche verschiedenen Bedeutungen die Negation haben kann. Dabei setzt er das Sein paradigmatisch für die Affirmation, das Nicht-Sein hingegen paradigmatisch für die Negation: Das Sein nämlich ist das Paradigma der Bejahung, das Nicht-Sein aber das der Verneinung.238

Weil das Nicht-Sein (1) jenseits des Seins, (2) auf gleicher Ebene mit dem Sein, oder (3) dem Sein nachrangig sein kann, hat die Negation drei Bedeutungen, die diesen Verhältnissen entsprechen: 237

cf. B. IV. 3. b). _ In Parm. 1072,30–32: t˛ m˚n gJr ïn thò kataðÜseÿò ýsti parÜdeigma, _ t˛ d˚ mÌ ïn thò ÷poðÜsewò. 238

216

C. Die Ideen

Weil aber „Nicht-Sein“ mehrdeutig ist, erstens insofern es jenseits des Seins ist, zweitens aber, insofern es in denselben Rang mit dem Sein gestellt wird, drittens aber, insofern es die Privation des Seins ist, ist es doch wahrlich deutlich, daß wir auch drei Arten von Negationen betrachten werden, die eine jenseits der Bejahung, die andere einer Bejahung ermangelnd, die dritte mit der Bejahung irgendwie vergleichbar.239

Proklos unterscheidet also drei Formen der Negation. (1) Die Negation, die die Vorgängigkeit des Verneinten vor dem Bejahten ausdrückt, die transzendente Negation. (2) Die Negation, die auf gleicher Ebene mit der Affirmation steht. (3) Die privative Negation, die in Proklos’ Ontologie der Affirmation nachrangig ist. Bei den Formen (2) und (3) handelt es sich um kontradiktorische Negationen. Die Logik der Transzendenz beruht auf der Unterscheidung zwischen kontradiktorischer und transzendenter Negation. Der paradoxe Befund im Zusammenhang mit der Benennung des ersten Prinzips läßt sich nun in einen größeren Rahmen stellen: Auch die Benennung der Ideen folgt der Logik der Transzendenz, die sich normalsprachlich folgendermaßen ausdrücken läßt: Als transzendente Ursache ist die Idee nicht die Wirkung und deshalb kommt ihr das Prädikat, für das sie verantwortlich ist, im Sinne einer transzendenten Negation nicht zu. Als transzendente Ursache jedoch steht sie für die Eigenschaft, für die sie verantwortlich ist und die sie deshalb in erster Linie (prÿtwò) ist. Heißt dies, daß im Falle der transzendenten Idee in bezug auf diejenige Eigenschaft, für die die Idee verantwortlich ist, das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs nicht mehr gilt? Um dieses so wichtige Problem zu beleuchten, soll der Frage nachgegangen werden, was die transzendente Negation im Rahmen der extensionalen Logik bedeutet. Damit werden bewußt zwei verschiedene Paradigmen, das prädikatenlogische und das der (neu-)platonischen Philosophie, die die Ideen als transzendente Ursachen der Eigenschaften der Dinge ausmacht, gegeneinander gesetzt. Um die prädikatenlogische Negation von der transzendenten Negation unterscheiden, sei die erstere mit é PL, die letztere mit é TR bezeichnet. Die prädikatenlogische und transzendente Negation stellen sich im Vergleich wie folgt dar: 1. Der Satz é PLFa besagt, daß a nicht Element der Menge F (a ˇ F), sondern Element der Menge F’, der Komplementärmenge zu F, ist (a ˛ F’). 239

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In Parm. 1073,2–8: \EpeidÌ d˚ pollaxwò t˛ mÌ ïn, t˛ m˚n ¼ò kre itton _ _ tou Øntoò, t˛ d˚ ¼ò tˆw Ønti suntattümenon, t˛ d˚ ¼ò stÍrhsiò tou Øntoò· _ dhlon dÇpouqen Õti trittJ ka˝ ÷poðÜsewn eŁdh qewrÇsomen, t˛ m˚n ëp˚r tÌn katÜðasin, t˛ d˚ kataðÜsewò leipümenon, t˛ d˚ parisoŸmenün pwò pr˛ò tÌn katÜðasin. _

VI. Selbstprädikation der Ideen?

217

2. Der Satz é TRFf hingegen besagt, das hat Proklos’ Replik des Arguments vom dritten Menschen deutlich gezeigt, daß f ˇ F, sie besagt aber zugleich, daß f ˇ F’. Die transzendente Negation ist damit ein Drittes zwischen – genauer gesagt: vor – der prädikatenlogischen Affirmation und der prädikatenlogischen Negation. Im Rahmen der zweiwertigen extensionalen Logik gelten folgede Entsprechungen: 1. f ˇ F entspricht dem Satz é PLFf. 2. f ˇ F’ entspricht dem Satz é PLé PLFf bzw. dem Satz Ff (é PLé PLFf läßt sich aussagenlogisch in Ff umformen). Wenn man die transzendente Negation aus der Perspektive der Prädikatenlogik betrachtet, so bedeutet der Satz é TRFf im Paradigma der zweiwertigen extensionalen Logik (é PLFf Ù é PLé PLFf). Daraus ergeben sich folgende Ungereimtheiten: 1. Verstoß gegen das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs, denn (é PLFf Ù é PLé PLFf) ist äquivalent mit (é PLFf Ù Ff). 2. Verstoß gegen das Prinzip des tertium non datur, denn (é PLFf Ù é PLé PLFf) ist äquivalent mit é PL(Ff Ú é PLFf). Aus Sicht der Prädikatenlogik gelten für die Idee in bezug auf die Eigenschaft, für die sie verantwortlich ist, die Prinzipien des ausgeschlossenen Widerspruchs und des tertium non datur nicht mehr. Diese Prinzipien aber sind Grundfesten der klassischen Logik. Bedeutet dies also eine völlige Absage an die Logik? Im zweiwertigen prädikatenlogischen Paradigma läßt sich die Transzendenz der Idee, die in bezug auf die Eigenschaft, für die sie verantwortlich ist, Affirmation und Negation übersteigt, nicht darstellen. Aus dieser Perspektive gilt für die Idee f, daß sie die Eigenschaft F sowohl hat als auch nicht hat, beziehungsweise, daß sie die Eigenschaft F weder hat noch nicht hat, weil Proklos’ Philosophie der Transzendenz eine einfache zweiwertige Logik sprengt: Die transzendente Negation ist ein Drittes vor Negation und Affirmation. Weil Proklos jedoch ausdrücklich sagt, daß die Ideen nichts Widersinniges, sondern „ganz und gar das Wahre“ an sich haben,240 ist der Satz (é PLFf Ù Ff), als der sich die transzendente Negation aus Sicht der Prädikatenlogik darstellt, der transzendenten Idee unangemessen. 240

_

In Parm. 972,22–24: ñxei gJr ož tJ åtopa, ÷llJ tJ ÷lhqh tJ eŁdh pÜntwò. („Denn die Ideen haben nicht das Widersinnige an sich, sondern ganz und gar das Wahre.“).

218

C. Die Ideen

Im speziellen Fall der Idee f und der Eigenschaft F ist die Grenze der klassischen Logik überschritten, denn diese wird dem ursächlichen Charakter der Ideen nicht gerecht. Damit ist aber auch die Grenze des formallogischen Programms überschritten. Zwar ist die Idee eine Entität, aber keine, die sich in die prädikative Struktur fügen läßt, die durch sie erst begründet wird. Wird dies doch versucht, so ergibt sich aus der Perspektive der Prädikatenlogik für die Idee f: (é PLFf Ù Ff). Dies ist ein Selbstwiderspruch, weil es gegen das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch verstößt. Für jede von der Idee f verschiedene Instanz a kann aus dem Satz (é PLFa Ù Fa) nach dem Prinzip des ex falso quodlibet jeder beliebige Satz abgeleitet werden, denn (é PLFa Ù Fa) ist immer falsch. Für (é PLFf Ù Ff) gilt dies aber nicht,241 so daß die transzendente Idee innerhalb des zweiwertigen prädikatenlogischen Kalküls nicht als Einzelding behandelt werden kann. Logisches Schließen ist dann nämlich nicht mehr unabhängig vom Inhalt möglich.242 Damit ist, will man einer transzendenten Ursache die Eigenschaft, für die sie verantwortlich ist, zu- oder absprechen, die Grenze der klassischen Logik in der proklischen Metaphysik erreicht: Die Idee f ist Grund der Möglichkeit für Affirmation und Negation der Eigenschaft F und transzendiert deshalb Affirmation und Negation der Eigenschaft F. Zwar wird die Idee f als F-selbst benannt, aber das ist nicht so zu verstehen, daß ihr die Eigenschaft F in der Weise zugesprochen würde wie der Instanz a. Die Idee wird also in einem nicht- bzw. prä-prädikativen243 Sinne benannt. In Bezug auf die Eigenschaft, für die eine Idee verantwortlich ist, liegt die Idee jenseits der Logik: Es ist nicht entscheidbar, ob ihr die Eigenschaft, für die sie verantwortlich ist, zukommt oder nicht. So kann die Idee der Schönheit zwar als „das Schöne selbst“ benannt, aber nicht als schön prädiziert werden. Andere Eigenschaften können von der Idee durchaus ausgesagt werden: Es ist durchaus entscheidbar, ob die Idee der Schönheit eines, ewig, usf. ist. Im Zusammenhang mit dem ersten Prinzip in der Philosophie des Proklos wurde angemerkt, daß sich Proklos im Spannungsfeld bewegt, über etwas 241

Wie vermieden wird, daß sich aus diesem offenbar selbstwidersprüchlichen Satz alles mögliche ableiten läßt, damit befaßt sich der Abschnitt D. II. 4. 242 In D. II. 2. wird eine dreiwertige formale Logik vorgestellt werden, die weniger empfindlich in bezug auf das Widerspruchsprinzip ist und in der die Schlußregeln in gewissem Sinne vom Inhalt abhängig sind. Weil Proklos jedoch unbedingt am Widerspruchsprinzip festhält (cf. D. II. 3.), hilft selbst die Einführung einer solchen Logik nicht weiter. 243 Diesen Terminus übernehme ich von Bickmann, S. 36, die schreibt, daß „wir im noetisch Erfaßten das Selbstsein – oder die Idee – einer Sache als ihr prä-prädikatives Sein ‚im Namen‘ einfach haben“. (Hervorhebung. Bickmann).

VI. Selbstprädikation der Ideen?

219

zu sprechen, das jenseits der Sprache liegt.244 Diese paradoxe Wendung läßt sich vor dem Hintergrund des hier Entwickelten nun besser verstehen: Eine jede Idee liegt in bezug auf die Eigenschaft, für die sie verantwortlich ist, jenseits der Logik. Da das erste Prinzip aber für alles und damit auch für alle Eigenschaften verantwortlich ist, liegt es in einem absoluten Sinne jenseits der Logik: Von ihm kann nichts prädiziert werden. Damit ist es aber jenseits der Sprache und kann im äußersten Falle benannt werden. Indem Proklos das erste Prinzip benennt, spricht er über etwas, das insofern jenseits der Sprache liegt, als es nicht prädiziert werden kann. Weiter oben wurde die doppelte Negation in dem Satz, daß das in erster Linie Schöne nie nicht schön sei, als ééFf formalisiert und im Sinne der Aussagenlogik in die Affirmation Ff umgeformt. Jetzt, nach der Herleitung der transzendenten Negation, muß diese Umformung revidiert werden: Denn was bedeutet der Satz, daß die Schönheit nie nicht schön ist? Die zweite Negation ist wohl als kontradiktorische Negation zu deuten. Doch wie ist die erste Negation zu lesen? Sehen wir uns dazu folgendes Textbeispiel an: Wir sagen, daß allenthalben jedes in erster Linie Eine seine Quasi-Gegensätze transzendiert und in reiner Weise das ist, was es ist.245

Mit „jedes in erster Linie Eine“ (t˛ prÿtwò Òkaston Òn) meint Proklos die Monas einer Taxis. Im weiteren Sinne ist das jede transzendente Ursache, im engeren Sinne die transzendente Idee. Sie transzendiert ihre QuasiGegensätze246 (twn o Áon ÷ntikeimÍnwn), also all das, was im Gegensatz zu der Eigenschaft steht, für die sie verantwortlich ist. Durch diesen Ausdruck betont Proklos die Transzendenz der Ursache über ihre Wirkungen: Weil die Ursache über ihre Wirkungen transzendent ist, kann ihr diese Ebene der Realität auch nicht in ebenbürtiger Weise entgegengesetzt sein. Wenn aber die Idee das Gegenteil der Eigenschaft, für die sie verantwortlich ist, transzendiert, so ist die erste Negation nicht als kontradiktorische, sondern als transzendente Negation zu lesen. Der Satz ééFf steht also für den Satz é TRé PLFf. Dieser Satz darf aber nicht in die Affirmation Ff um_

244

_

cf. B. IV. 3. a). _ In Parm. 1092,35–1093,1: lÍgomen Õti pantaxou t˛ prÿtwò Òkaston Ùn _ _ _ ýc´Çrhtai twn o Áon ÷ntikeimÍnwn ka˝ kaqarwò ýstin Õper ýstûn. _ 246 Diese Übersetzung übernehme ich von Halfwassen, Hegel, S. 423, der twn _ o Áon ÷ntikeimÍnwn in Theol. Plat. II(10).63,10 als „Quasi-Gegensätze“ übersetzt. Allerdings ist dort der Kontext ein anderer: Vom Überseienden Einen wird all das negiert, was es hervorbringt, so daß seine Produkte im Verhältnis zu ihm Quasi-Gegensätze sind. Im angeführten Zitat hingegen lese ich Quasi-Gegensätze als diejenigen Entitäten, die im Gegensatz zu der von der Ursache hervorgebrachten Entitäten stehen. Die transzendente Negation erlaubt also eine Verschiebung des Begriffs „Gegensatz“, weil sie ein Drittes ermöglicht. 245

220

C. Die Ideen

geformt werden, denn er besagt zwar daß f ˇ F’, dies bedeutet aber nicht, daß f ˛ F. Daß Proklos eine positive Aussage über die transzendente Idee anschließt, darf nicht in die Irre führen, der Satz ééFf sei hier einfach als der prädikatenlogische Satz Ff zu lesen. Vielmehr bedeutet die Affirmation in „Die Idee der Schönheit ist schön“ etwas anderes als die in dem Satz „Diese Skulptur ist schön“, denn nur so kann der Regreß im Argument vom dritten Menschen vermieden werden. Die Logik der Transzendenz beruht also nicht nur auf der transzendenten Negation, sondern auch auf der transzendenten Affirmation. Was aber bedeutet die transzendente Affirmation? Auch dieser Frage soll zunächst im prädikatenlogischen Paradigma der extensionalen Logik nachgegangen werden. Dabei stehe für die transzendente Affirmation F TRx, für die prädikatenlogische Affirmation wie gewohnt Fx. Was bedeutet der Satz F TRf? Im Rahmen der extensionalen Logik stellt sich die Frage, wessen Element die Idee f ist, wenn F TRf. Es sei die Menge F die Extension des Prädikates F, d. h. F = {x‰Fx}, und F’ die Menge aller x, für die gilt: é PLFx. Im Rahmen der extensionalen Logik ist F’ die Komplementärmenge zu F. F TRf bedeutet keinesfalls é PLFf, also ist f sicherlich kein Element der Menge F’. Es gilt somit: f ˇ F’. Doch ist f Element der Menge F? Nach Proklos’ Replik des Arguments vom dritten Menschen ist f nicht Element der Menge F, denn die Menge F ist im Sinne der Prädikatenlogik die Menge der Dinge, die die Eigenschaft F in univoker Weise haben, was durch die prädikatenlogische Affirmation Fx ausgedrückt wird: F = {x‰Fx}. Es gilt also f ˇ F. Aus der Perspektive der extensionalen Logik gilt für den Satz F TRf sowohl f ˇ F als auch f ˇ F’. f ist also weder Element der Extension F, noch Element ihrer Komplementärmenge F’, so daß gilt: (é PLFf Ù é PLé PLFf), was sich im prädikatenlogischen Paradigma in (é PLFf Ù Ff) umformen läßt. Aus prädikatenlogischer Perspektive hat die transzendente Affirmation die gleiche Bedeutung wie die transzendente Negation: Sie erscheint als falsch, weil sich aus dieser Perspektive ein Verstoß gegen das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs ergibt. Auch aus der Perspektive der Idee hat die transzendente Affirmation die gleiche Bedeutung wie die transzendente Negation: Sie bringt zum Ausdruck, daß die Idee F-selbst als Grund der Möglichkeit von F und nicht-F diesen Gegensatz transzendiert. Das prädikatenlogische Paradigma kann, wie schon bei der Untersuchung der transzendenten Negation deutlich wurde, die Transzendenz der Idee nicht darstellen: Die prädikatenlogische Perspektive wird dem ursächlichen Charakter der Idee nicht gerecht. Damit unterscheidet sich das prädikatenlogische Paradigma grundsätzlich von dem der (neu-)platonischen Philosophie, was die Analyse dieser Philosophie aus prädikatenlogischer Perspek-

VI. Selbstprädikation der Ideen?

221

tive fragwürdig macht. Um diesen Unterschied herauszuarbeiten, wurde die transzendente Negation und die transzendente Affirmation aus prädikatenlogischer Perspektive untersucht. Die Verwerfung zwischen prädikatenlogischer Perspektive und (neu-)platonischer Philosophie zeigt sich vor allem darin, daß das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs für die Idee in bezug auf die Eigenschaft, für die sie verantwortlich ist, der verkürzten Perspektive der Prädikatenlogik zum Opfer fällt. Unsere Analyse der transzendenten Affirmation aus prädikatenlogischer Sicht ist davon ausgegangen, daß die Idee F-selbst mit der Extension des Prädikates F ebensowenig zu tun hat, wie jedes beliebige x, dem die Eigenschaft F nicht zukommt. Dies ist unbefriedigend. Wir müssen eine Beschreibung des Verhältnisses zwischen Idee und Instanz finden, die dem Umstand Rechnung trägt, daß die Idee F-selbst unter dem selben Eigenschaftswort firmiert wie ihre Instanzen. Dazu möchte ich zunächst A. C. Lloyds Vorschlag, das neuplatonische Genus als Quasi-Genus aufzufassen, vorstellen und der Frage nachgehen, auf welcher Basis die Ideen in der Philosophie des Proklos positiv benannt werden, um im darauf folgenden Abschnitt zu untersuchen, wie Proklos das Verhältnis zwischen Idee und Instanz konzipiert. 3. Lloyds Quasi-Genus Es läßt sich eine Menge F* bilden, die die Vereinigungsmenge der Instanzen der Idee F-selbst mit der Idee F-selbst ist: F* = {x‰Fx} ¨ {f}. Dies erinnert an Petersons „expansive reinterpretation“ der Pauline Predication. Peterson macht die Idee zu einem Element der Extension der Eigenschaft, für die die Idee verantwortlich ist, was jedoch zum Regreß im Argument vom dritten Menschen führt. A. C. Lloyd schlägt vor, das neuplatonische Genus im Sinne der Menge F* aufzufassen. Es enthält sich selbst als Element: The genus was for them a whole which was prior to its parts; and it was also in some way a member of whatever class it is the class concept of („Is there anything more beautiful than beauty itself?“).247

Eine solche Menge, die ihr ausgezeichnetes Element, das ich als die Idee F-selbst bzw. f bezeichnet habe, enthält, nennt A. C. Lloyd ein Quasi-Genus und behauptet, daß im Platonismus alle Genera Quasi-Genera sind: Platonists had plausible and familiar reasons for believing that all genera were quasi-genera in this sense, although the extent to which they did so is not clear.248 247 248

Lloyd, Anatomy, S. 77. (Hervorhebungen von mir). Lloyd, Anatomy, S. 76 sq.

222

C. Die Ideen

Die Folge, die die Idee F-selbst als Quasi-Genus bildet, nennt Lloyd P-series. Paradigmatisch für die P-series ist die Folge der natürlichen Zahlen: The paradigm case of what I call a P-series is the number series, and what was apparently common to all its members was the unit or monad. But this is also the first term of the series.249

Daß Lloyd sowohl das ausgezeichnete Element der Menge als auch die ganze Menge Quasi-Genus nennt, erschwert die Lektüre. Hier soll deshalb von der Idee F-selbst bzw. von f die Rede sein, wenn das Quasi-Genus als Element des Quasi-Genus als Menge gemeint ist (damit ignoriere ich Lloyds Ausführungen zum Verhältnis zwischen Genus und Spezies, denn sie sind für unsere Fragestellung nebensächlich). Lloyd begreift das QuasiGenus, das macht obiges Zitat klar, als so etwas wie die Extension der Eigenschaft F. Lloyds Quasi-Genus kommt der Intuition, daß die Idee F-selbst mehr mit dem Prädikat F zu tun hat als irgendeine andere Entität x, auf die die Eigenschaft F nicht zutrifft, entgegen. Die Elemente des Quasi-Genus stehen in einem Ordnungsverhältnis, denn die Idee F-selbst ist ihren Instanzen ontologisch vorgängig. Ein solches Genus ist deshalb kein Genus im klassischen aristotelischen Sinne: According to Aristotle, if the members of a class which might be said to differ specifically from one another are in an order of prior and posterior, the class is not a genus.250

Ein Genus im klassischen aristotelischen Sinne nennt Lloyd Standard-Genus. Es erfüllt die Bedingungen für eine Extension im Sinne der Prädikatenlogik, denn allen Elementen des Standard-Genus kommt die Eigenschaft, die sie zu Elementen des Standard-Genus macht, in synonymer (univoker) Weise zu: In Aristotelian logic the standard genus is predicated „synonymously“ of all its species, that is, with the same name and the same definition or meaning.251

Aber ist auch das Quasi-Genus eine Extension im Sinne der Prädikatenlogik? Dann müßte sich eine Eigenschaft X angeben lassen, so daß alle Elemente der Menge F* unter diese Eigenschaft fallen: F* = {x‰Xx}. Wie dargelegt, befaßt sich Peterson in ihrem Beitrag zur Pauline Predication mit dieser Frage. Sie versucht eine Definition zu finden, die sowohl auf die Idee F-selbst als auch auf die Instanzen von F-selbst zutrifft.252 Damit will sie die Kluft überbrücken, die zwischen der Anwendung des Prädikates F 249 250 251 252

Lloyd, Anatomy, S. 76. Lloyd, Anatomy, S. 76. Lloyd, Anatomy, S. 77. cf. C. VI. 1.

VI. Selbstprädikation der Ideen?

223

auf die Idee F-selbst (SP) und seine Anwendung auf die Instanzen, die F sind, besteht. Dies gelingt ihr für die Idee der Gerechtigkeit mit der Wendung „is disposed to allot each man his due“253, was sich jedoch schwerlich generalisieren läßt. Von dieser Schwierigkeit abgesehen, kann das QuasiGenus schon allein deshalb keine Extension im prädikatenlogischen Sinne sein, weil dies den Regreß im Argument vom dritten Menschen nach sich ziehen würde. Dies kann man der neuplatonischen Platon-Auslegung aber nicht unterstellen: Such a quasi-genus has also two purely logical advantages over the standard genus. Neoplatonists were well aware of them. First [. . .]. Secondly, it blocks the Third Man regress. For only if the form and its instances are F in the same sense of „F“ (i. e. synonymously) will they entail a further universal (a second form of F).254

Wenn die Eigenschaft, für die eine Idee verantwortlich ist, nicht in univoker (synonymer) Weise von der Idee und den Instanzen ausgesagt wird, stellt sich die Frage, ob es sich dann um einen Fall reiner Äquivokation (Homonymie) handelt, wie im weiter oben angeführten Beispiel des Schimmels. Lloyd bezweifelt dies, denn dann sei die Idee kein Universale: Of course the form must not share only the name „F“ (i. e. homonymously) with its instances; otherwise we have no universal at all.255

Auf welcher Basis die Benennung der Idee unter dem selben Eigenschaftswort wie die Benennung der Instanzen zu denken ist, darauf geht der nächste Abschnitt ein. Es läßt sich zusammenfassen: A. C. Lloyd schlägt vor, das neuplatonische Genus als Quasi-Genus zu interpretieren, das vor dem Hintergrund unserer Untersuchung der Menge F* entspricht, die sowohl die Idee F-selbst als auch ihre Instanzen enthält. Damit wird er dem Umstand gerecht, daß die Idee F-selbst unter dem selben Eigenschaftswort firmiert wie ihre Instanzen. Bei F* handelt es sich allerdings nicht um eine Extension im prädikatenlogischen Sinne, denn F wird nicht in synonymer (univoker) Weise von allen Elementen der Menge F* ausgesagt. Lloyds Interpretation beruht darauf, daß er die Monas einer Taxis mit zur Taxis rechnet, wofür er die Folge der natürlichen Zahlen als paradigmatisches Beispiel angibt. Doch sehen wir uns an, was Proklos zur Monas einer Taxis schreibt: Jede Taxis nimmt von einer Monade ihren Anfang und geht in eine Vielheit hervor, die der Monade entspricht, und die Vielheit jeder Taxis wird auf eine einzige Monade zurückgeführt.256 253 254 255

Peterson, A Reasonable Self-Predication Premise, S. 467. Lloyd, Anatomy, S. 85. Lloyd, Anatomy, S. 85.

224

C. Die Ideen

Dieses Textzeugnis unterscheidet die Monas als ursächliches Prinzip von der Vielheit, die von ihr hervorgebracht wird. Wenn die Vielheit auch der Monas entspricht, so darf die Monas nach Proklos nicht zu ihrer Vielheit gerechnet werden: Die Idee ist mit ihren Instanzen nicht verrechenbar. Ich halte Lloyds Vorschlag für etwas problematisch, denn er sucht die Tatsache, daß die Idee etwas mit ihren Instanzen zu tun hat, im Begriff des Quasi-Genus auf eine Weise zu fassen, welche der Transzendenz der Idee nicht hinreichend gerecht wird. 4. Die Benennung der Ideen Wie gezeigt wurde, verwendet die platonische Philosophie für die Idee und ihre Instanzen dieselbe Bezeichnung. Die Darstellung verschiedener Interpretationen des Arguments vom dritten Menschen aus prädikatenlogischer Perspektive hat gezeigt, daß es ein entscheidender Unterschied ist, ob die Idee und ihre Instanzen in univoker (synonymer) oder äquivoker (homonymer) Weise bezeichnet werden: Hinter Vlastos’ erster Deutung des Arguments vom dritten Menschen steht, wie gezeigt wurde,257 die ungeklärte Frage, ob die Eigenschaft F in univoker oder in äquivoker Weise von der Idee F-selbst ausgesagt wird. Sandra Peterson gibt mit ihrem Vorschlag der „expansive reinterpretation“ der Pauline Predication nach meiner Deutung ein Mittleres zwischen Univokation und Äquivokation an und geht damit an die Grenzen des prädikatenlogischen Paradigmas. Aus prädikatenlogischer Perspektive ist es klar entscheidbar, ob die Idee F-selbst Element der Extension F der Eigenschaft F ist. Wenn ja, wird die Eigenschaft F in univoker Weise von der Idee und den Instanzen ausgesagt; wenn nein, ist die gleiche Benennung zwischen Idee und Instanz Zufall: F wird dann in äquivoker Weise von der Idee und der Instanz ausgesagt. Peterson bewegt sich am Rande des prädikatenlogischen Paradigmas, in dem es kein Drittes zwischen Univokation und Äquivokation gibt, weil sie die Extension F des Prädikates F als die Vereinigungsmenge aus F1, die Einzeldinge enthält, und F2, die Ideen enthält, angibt. Das prädikatenlogische Paradigma droht damit zu bersten, weil es sehr schwierig sein dürfte, für jedes beliebige Prädikat F eine einfache Eigenschaft X anzugeben, so daß gilt: F = {x‰Xx}. _

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_

256 E. T. 21,1–3: Pasa tÜciò ÷p˛ monÜdoò ÷rxomÍnh prüeisin eùò plhqoò t´h _ monÜdi sŸstoixon, ka˝ pÜshò tÜcewò t˛ plhqoò eùò mûan ÷nÜgetai monÜda. 257 cf. C. V. 2.

VI. Selbstprädikation der Ideen?

225

Taylor und Cherniss, die das derivative Abhängigkeitsverhältnis zwischen Idee und Instanz betonen, weisen mit ihrem Abweis der Selbstprädikation der Ideen die Univokation zwischen Idee und Instanz zurück, ohne sich jedoch für eine Äquivokation zwischen Idee und Instanz entscheiden zu müssen. Weil sie sich nicht innerhalb des prädikatenlogischen Paradigmas bewegen, kann es für sie – wie auch für Proklos – ein Drittes zwischen Univokation und Äquivokation geben. Von diesem Dritten soll jetzt die Rede sein. Wie gezeigt wurde, sind die Ideen bei Proklos nicht selbstprädikativ. Die Eigenschaft, für die eine Idee verantwortlich ist, wird also nicht in univoker Weise von der Idee und der Instanz ausgesagt. Allerdings wäre es auch sonderbar, wenn dieselbe Benennung zwischen Idee und Instanz eine bloße Äquivokation wäre, wie das Wort „Schimmel“ für ein weißes Pferd und einen Pilzbefall. Genau dieser Frage der Univokation oder Äquivokation zwischen Idee und Instanz geht Proklos im vierten Buch seines Parmenideskommentars nach: Nun aber meinten einige Leute, daß Platon in univoker Weise spricht, die anderen aber, daß er in äquivoker Weise spricht, wenn er dasselbe sowohl vom Intelligiblen als auch vom Sinnenfälligen prädiziert.258

Proklos hält die Benennung zwischen Idee und Instanz für eine Äquivokation, die er aber von der Äquivokation im klassischen Sinne unterscheidet. Er betont den derivativen Aspekt der Instanzen und entscheidet sich damit de facto für eine dritte Möglichkeit zwischen Univokation und Äquivokation: Ich aber glaube, daß er auf eine andere Weise äquivok spricht und nicht in der Weise, die jene vorausgesetzt haben: Denn „Mensch“ ist nicht so äquivok, wie ein zwei Sachen gegebener Name, sondern so, wie ein in erster Linie jenem , in zweiter Linie aber diesem ähnlich gemachter Name, weshalb der Mensch auch nicht dasselbe ist, wenn wir vom intelligiblen und wenn wir vom materialisierten sprechen.259 258

_

_

In Parm. 851,21–24: Kaûtoi pollo iò tisin ñdocen þ PlÜtwn to iò m˚n _ _ _ _ sunwnŸmwò, to iò d˚ þmwnŸmwò tJ ažtJ kathgore in twn te nohtwn ka˝ _ aùsqhtwn. 259 In Parm. 851,24–31: ýmo˝ d˚ doke_i trüpon Òteron þmwnŸmwò lÍgein ka˝ _ ožx ân ýke inoi proeilÇðasin· ož gJr oÖtwò þmÿnumon t˛ ånqrwpoò, ¼ò _ Ønoma yil˛n katJ duo in pragmÜtoin keûmenon, ÷ll\ ¼ò ÷ðomoioŸmenon prÿtwò m˚n ýkeûnˆw, deutÍrwò d˚ toŸtˆw, di˛ ka˝ ož tažtün ýstin þ ånqrwpoò _ _ _ Õtan ýp˝ tou nohtou lÍgwmen ka˝ Õtan ýp˝ tou ýnŸlou.

226

C. Die Ideen

Proklos versteht die Namen als Bilder (÷gÜlmata) der bezeichneten Sache, die den immateriellen Ideen in erster und den Instanzen in zweiter Linie zukommen.260 Was aber heißt es, daß der Name in erster Linie der Idee gegeben wird?261 Heißt dies, daß die Eigenschaft F, für die die Idee F-selbst verantwortlich ist, doch von dieser ausgesagt wird? Der Beantwortung dieser Frage dient folgendes Textzeugnis: Denn jedes, das eine Eigenschaft hat, ist das, was es ist, nicht im absoluten Sinne, wie zum Beispiel das, was die Eigenschaft schön oder die Eigenschaft gleich hat.262

Proklos’ unterscheidet hier zwischen dem, das eine qualifizierende Eigenschaft hat (t˛ poiün) und der Idee, die für diese Eigenschaft im absoluten Sinne (ãplwò) steht. Weil die Idee F-selbst für die Eigenschaft F im absoluten Sinne steht, darf von ihr nicht gesagt werden, sie habe die Eigenschaft F so, wie ihre Instanzen diese Eigenschaft haben:263 _

Denn „mit der Eigenschaft Lebewesen“ bestimmtes Lebewesen und nicht denn alles im absoluten Sinne ist ohne Eigenschaft, weil es Differenzierung vorgängig ist, die es dazu macht, etwas zu absoluten Sinne : Denn welches Lebewesen? schaft Lebewesen.264

in Wahrheit auf ein im absoluten Sinne; ja etwas ist, das der haben, und nicht im Das mit der Eigen-

Man kann die Idee F-selbst wohl am ehesten als Inbegriff der Eigenschaft F bezeichnen, nicht aber behaupten, daß sie die Eigenschaft F hat. Denn sie ist im Gegensatz zu den Instanzen kein poiün. Die Eigenschaft F kann von der Idee F-selbst nicht ausgesagt werden, weil die transzendente 260

_

In Parm. 851,8–10: TJ åra Žnümata, eŁper ýst˝n ÷gÜlmata twn prag_ _ _ _ mÜtwn logikJ, twn ÷u^lwn ýst˝n eùdwn prÿtwò, deutÍrwò d˚ twn aùsqhtwn. („Folglich gehören die Namen, weil sie sprachliche Bilder der Sachen sind, in erster Linie den immateriellen Ideen, in zweiter Linie aber den sinnenfälligen Dingen“.). _ _ 261 In Parm. 850,6–11: Oëtoi dÇpou ka˝ to_iò ñmðrosin ÷naqÇsousi tÌn twn _ _ _ ŽnomÜtwn eÖresin, Êò ðhsin þ ýn tˆw KratŸlˆw SwkrÜthò ëp˛ tˆw dialektikˆw _ _ tJ Žnümata tiqÍmenoò, ka˝ Òkaston prÿtwò m˚n ýp˝ twn ÷u^lwn eùdwn _ _ _ ke isqai, deutÍrwò d˚ ýp˝ twn aùsqhtwn. („Diese werden das Auffinden der Namen doch wohl den Weisen übertragen, wie Sokrates im Kratylos sagt, indem er die Namen in die Obhut des Dialektikers gibt, und daß jeder einzelne in erster Linie den immateriellen Ideen, in zweiter Linie aber den sinnenfälligen Dingen gegeben wird.“). _ _ _ 262 In Parm. 1096,21 sq.: pan gJr t˛ poi˛n ožk ñstin ãplwò, o Áon t˛ poi˛n kal˛n í t˛ poi˛n Łson. 263 Dies erinnert an Cherniss’ Deutung des Arguments vom dritten Menschen (cf. C. V. 5.), was deren Nähe zu der Deutung Proklos’ zeigt. _ _ 264 In Parm. 1097,6–10: Ka˝ gJr t˛ poi˛n zwon ÷lhq˚ò ýp˝ tou tin˛ò zÿou _ _ _ _ _ ka˝ ož t˛ ãplwò· åpoion gJr t˛ ãplwò pan, ¼ò pr˛ diaðoraò ïn, Ótiò poie i _ _ _ t˛ ñxon ti ka˝ ožx ãplwò· tû gJr zwon; t˛ poi˛n zwon.

VI. Selbstprädikation der Ideen?

227

_

Idee das, wofür sie steht, im absoluten Sinne (ãplwò) ist. Erst von der Instanz kann gesagt werden, daß sie die Eigenschaft, für die die Idee verantwortlich ist, hat. Diesen Unterschied hat Proklos im Blick, wenn er von Äquivokation zwischen Idee und Instanz spricht. Diese Bezeichnung übernimmt er aus dem platonischen Parmenides, in dem Parmenides die Dinge hier als äquivok (þmÿnuma) mit den Ideen bezeichnet.265 Anhand Proklos’ Kommentar zu dieser Stelle266 soll im folgenden untersucht werden, was Proklos unter „äquivok“ versteht. Folgenden drei Fragen geht Proklos nach: (1) Wie ist das Verhältnis zwischen Idee und Instanz? (2) Haben die Idee und ihre Instanzen eine gemeinsame Definition? (3) Wie können die Ideen erkannt werden? Was sagt die proklische Äquivokation zwischen Idee und Instanz über das Verhältnis zwischen Idee und Instanz aus (1)? Äquivokation zwischen Intelligiblem und Sinnenfälligem bedeutet bei Proklos, daß die Benennung dem Sinnenfälligen vom Intelligiblen zukommt: Daß aber die sinnenfälligen Dinge den intelligiblen äquivok sind, ist wiederum nach platonischer Übereinkunft gesagt, die besagt, daß die Benennungen den Dingen hier von jenen her zukommen, wie bei den Dingen, die äquivok benannt werden, weil sie von einem und in Beziehung auf eines sind.267

Die Instanzen haben von den Ideen nicht nur ihr Sein, sondern auch ihren Namen: Von dort also haben die Dinge hier sowohl ihr Sein als auch ihren Namen.268

Dieses Verhältnis entspricht der Relation „von einem“ (÷ð’ Ånüò) und „in Beziehung auf eines“ (pr˛ò Òn), mit der sich der Abschnitt C. VII. 1. eingehend befassen wird. Fallen Idee und Instanz unter eine gemeinsame Definition (2)? In ihrem Vorschlag, scheinbar selbstprädikative Ausdrücke bei Platon als Pauline Predications aufzufassen, unternimmt Sandra Peterson den Versuch, eine gemeinsame Definition für die Idee und ihre Instanzen anzugeben.269 Solche Bestrebungen lehnt Proklos ab: 265

_

_

Platon, Parmenides 133d2 sq.: tJ d˚ par' êm in tauta þmÿnuma Ønta ýkeûnoiò [. . .]. („Was aber bei uns ist und dieselben Bezeichnungen wie jenes hat [. . .]“. Übersetzung: Martens). 266 In Parm. 939,19–940,4. _ 267 In Parm. 939,19–23: T˛ d˚ þmÿnuma tJ aùsqhtJ to_iò nohto_iò e ùnai pÜlin _ _ katJ tÌn PlatwnikÌn eŁrhtai diÜtacin, tJ Žnümata to iò t´hde par\ ýkeûnwn _ ýðÇkein lÍgousan, ¼ò ýn to iò ÷ð\ Ån˛ò ka˝ pr˛ò Ùn þmwnŸmoiò legomÍnoiò. 268 In Parm. 851,10–12: ýke_iqen åra ka˝ tÌn ožsûan ñxei ka˝ tÌn ýpwnumûan _ tJ t´hde. 269 cf. C. VI. 1.

228

C. Die Ideen

Niemand nun soll dieselbe Definition dieser und jener einfordern, denn jene sind nicht von gleichem Rang und sind völlig jenseits von diesen, so wie die transzendente Ursache den Verursachten ist.270

Der tiefere Grund hierfür ist, daß eine Idee überhaupt nicht unter eine Definition fallen kann, denn eine Definition wird, weil sie von Zusammengesetztem handelt ist, der Einfachheit der Idee nicht gerecht: Lieber aber soll man nicht einmal eine Definition für jene gänzlich einfachen und teillosen Ideen suchen: Denn die Definitionen sind von zusammengesetzten Dingen, sie befassen sich immer mit den Unterschieden der gleichgeordneten Spezies.271

Wenn die Idee nicht definitorisch begriffen werden kann, stellt sich die Frage, wie die Idee dann erfaßt werden kann (3). Die transzendente Idee wird durch Intuition (ýpibolÇ) erfaßt, eine Fähigkeit der reinen und gotterfüllten intellektuellen Anschauungen der Seele:272 Aber wir räumen die Intuition jener einzig den reinen und von Gott inspirierten intellektuellen Anschauungen der Seele ein.273

Die intellektuelle Anschauung (nühsiò) kennt kein sequentielles Nacheinander und unterscheidet sich so vom diskursiven Denken. Folgerichtig werden die Ideen durch Intuition, die ein plötzlicher Akt ist, erfaßt. Daß die Idee nicht mit dem diskursiven Denken begriffen werden kann, weist einmal mehr darauf hin, daß sie (in bezug auf die Eigenschaft, für die sie verantwortlich ist) jenseits prädikativer Strukturen steht: So kann das Schöne selbst (t˛ ažtokalün) mit dem Eigenschaftswort für schön (kalün) benannt werden, ohne daß jedoch die Eigenschaft schön von ihm prädiziert würde. Es läßt sich also festhalten: Die Benennungsweise zwischen Idee und Instanz ist für Proklos ein Drittes zwischen Univokation und Äquivokation im klassischen aristotelsichen Sinne: Die Instanzen werden nach der Idee benannt, weil die Idee ihre Ursache ist. Umgekehrt werden die Ideen mit demselben Eigenschaftswort wie ihre Instanzen zur Sprache gebracht und benannt, allerdings in einem Sinne, der jenseits der Logik steht: Es ist un270

_

In Parm. 939,25–29: Mhde˝ò ožn t˛n ažt˛n þrism˛n ÷paiteûtw toŸtwn te _ ka˝ ýkeûnwn ÷suntÜktwn Øntwn ka˝ pantelwò ýkbebhkütwn ÷p˛ toŸtwn, _ _ Êsper tJ aŁtia tJ ýc´hrhmÍna ÷p˛ twn aùtiatwn. _ _ 271 In Parm. 939,29–32: mallon d˚ mhd˚ þrism˛n ýp\ ýkeûnwn zhteûtw twn _ _ ãplwn pÜnth ka˝ ÷merûstwn eùdwn· sunqÍtwn gÜr eùsin oÁ þrismo˝, per˝ d˚ _ _ _ diaðoraò strÍðontai twn katatetagmÍnwn eùdwn. 272 cf. F. III. _ 273 In Parm. 939,33 sq.: ÷llJ münaiò ta_iò kaqara_iò ka˝ ýnqÍoiò noÇsesi thò _ yuxhò ýpitrÍpomen tÌn ýkeûnwn ýpibolÌn.

VII. Das Verhältnis zwischen Instanz und Idee

229

möglich, diese Benennung innerhalb eines formallogischen Kalküls einbringen zu wollen, weil dann, wie dargelegt, das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs seine Geltung verlöre.274

VII. Das Verhältnis zwischen Instanz und Idee Der letzte Abschnitt hat sich mit der Benennungsweise zwischen Idee und Instanz bei Proklos befaßt, die, wenngleich von Proklos als Äquivokation bezeichnet, de facto ein Drittes zwischen Univokation und Äquivokation im klassischen Sinne ist. Jetzt soll näher auf das Verhältnis zwischen Instanz und Idee eingegangen werden. Dazu soll zunächst die aristotelische Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Òn, die als ein Drittes zwischen Univokation und Äquivokation konzipiert ist, vorgestellt werden, weil diese Relation in der Philosophie des Proklos für die Relation zwischen Ursache und Verursachtem paradigmatisch ist und über das bloße Verhältnis ihrer Benennung weit hinaus geht: Sie benennt nicht nur das Verhältnis der Aussageweisen zwischen Idee und Instanz, sondern in erster Linie ihr ontologisches Verhältnis. Dann wird zu untersuchen sein, ob das Verhältnis zwischen Ursache und Verursachtem bei Proklos als Analogie verstanden werden kann. 1. Die Relation aph’henos und pros hen Auch Aristoteles kennt ein Drittes zwischen Univokation und Äquivokation: die Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Òn. Am Anfang seiner Nikomachischen Ethik geht Aristoteles den verschiedenen Weisen nach, wie „gut“ ausgesagt werden kann: „Gut“ wird ebenso wie „seiend“ in den verschiedenen Kategorien ausgesagt. Da es aber in den verschiedenen Kategorien verschiedene Bedeutung hat, gibt es keinen univoken Begriff des Guten. Deshalb ist „gut“ für Aristoteles kein Universale: Ferner: Da vom Guten ebenso viele Bedeutungen ausgesagt werden wie vom Seienden [. . .], so gibt es da offenbar kein Universales, das allen gemeinsam und eines wäre. Denn sonst würde man von ihm nicht in allen Kategorien, sondern nur in einer sprechen.275

Doch heißt das, daß „gut“ in äquivoker Weise in den verschiedenen Kategorien ausgesagt wird? Auch diese Möglichkeit verwirft Aristoteles 274

cf. C. VI. 2. _ Aristoteles, Ethica Nicomachea 1096a23–29: ñti d\ ýpe˝ t÷gaq˛n ùsaxwò lÍ_ _ getai tˆw Ønti [. . .], dhlon ¼ò ožk ºn eŁh koinün ti kaqülou ka˝ Òn· ož gJr ºn _ _ ýlÍget\ ýn pÜsaiò ta iò kathgorûaiò, ÷ll\ ýn miˆa mün´h. (Übersetzung: Gigon). 275

230

C. Die Ideen

und weist auf eine andere Möglichkeit neben Univokation und Äquivokation hin: Aber wie ist es denn zu verstehen? Das viele Gute scheint doch nicht zufällig denselben Namen zu haben. Ist es etwa darum, weil es von einem herkommt oder insgesamt auf eines hinzielt oder eher in der Weise der Analogie? In dieser Weise ist das, was im Körper das Sehvermögen ist, in der Seele der Geist und in einem anderen wiederum ein anderes.276

Als dritte Möglichkeit neben der Univokation und der Äquivokation erwägt Aristoteles zum einen die Analogie. Als Beispiel für eine Analogie gibt er eine Proportionalitätsanalogie an: was in der Seele der Geist ist, ist im Körper das Sehvermögen. Zum anderen erwägt er die Relation „von einem“ (÷ð’ Ånüò) und „in Beziehung auf eines“ (pr˛ò Òn). Die Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Ùn führt er hier nicht genauer aus, sondern verweist auf eine andere Stelle: Aber diesen Punkt müssen wir jetzt wohl fallen lassen; denn darüber Genaueres auszusagen, dürfte einem anderen Bereiche der Philosophie angemessener sein.277

Dieser andere Bereich der Philosophie, auf den Aristoteles hier verweist, ist die Wissenschaft vom Sein bzw. vom Seienden als solchem, die Metaphysik, denn auch „seiend“ wird auf verschiedene nicht-äquivoke Weisen ausgesagt. Im Buch G seiner Metaphysik äußert sich Aristoteles zur Relation „in Beziehung auf eines“ (pr˛ò Òn): Das Seiende wird in mehrfacher Bedeutung gebraucht, aber immer in Beziehung auf eines und auf eine einzige Wesenheit und nicht nach bloßer Namensgleichheit.278

Als Beispiele für solche Bezeichnungsweisen, die auf eines hin ausgerichtet sind, nennt Aristoteles die Bezeichnungen „gesund“ und „ärztlich“, die auf die Gesundheit und die Arzneikunde hin ausgerichtet sind.279 Nenne _

276 Aristoteles, Ethica Nicomachea 1096b26–29: ÷llJ pwò dÌ lÍgetai; ož gJr _ _ _ _ ñoike to iò ge ÷p˛ tŸxhò þmwnŸmoiò. ÷ll\ ÷rÜ ge tˆw ÷ð\ Ån˛ò e ùnai í pr˛ò Ùn _ _ _ Ñpanta suntele in, í mallon kat\ ÷nalogûan; ¼ò gJr ýn sÿmati Øyiò, ýn yux´h _ nouò, ka˝ ållo dÌ ýn ållˆw. (Übersetzung: Gigon). _ 277 Aristoteles, Ethica Nicomachea 1096b30 sq.: ÷ll\ Łswò tauta m˚n ÷ðetÍon _ _ _ t˛ nun· ýcakriboun gJr ëp˚r ažtwn ållhò ºn eŁh ðilosoðûaò oùkeiüteron. (Übersetzung: Gigon). _ 278 Aristoteles, Metaphysica 1003a,33 sq.: T˛ d˚ ïn lÍgetai m˚n pollaxwò, ÷llJ pr˛ò Ùn ka˝ mûan tinJ ðŸsin ka˝ ožx þmwnŸmwò. (Übersetzung: Bonitz). 279 Aristoteles, Metaphysica 1003a,34–1003b3: [. . .] ÷ll\ Êsper ka˝ t˛ ëgiein˛n _ _ _ _ _ Ñpan pr˛ò ëgûeian, t˛ m˚n tˆw ðulÜttein t˛ d˚ tˆw poie in t˛ d˚ tˆw shme ion _ _ _ (t˛ e ùnai thò ëgieûaò t˛ d\ Õti dektik˛n ažthò, ka˝ t˛ ùatrik˛n pr˛ò ùatrikÇn _ _ _ lÍgetai ùatrik˛n t˛ d˚ tˆw ežðu˚ò e ùnai pr˛ò m˚n gJr tˆw ñxein ùatrikÌn _ _ _ _ ažtÌn t˛ d˚ tˆw ñrgon e ùnai thò ùatrikhò) [. . .] („[. . .] sondern wie alles, was gesund genannt wird, sich auf Gesundheit bezieht, indem es dieselbe nämlich erhält oder hervorbringt, oder ein Zeichen derselben oder sie aufzunehmen fähig ist; wie

VII. Das Verhältnis zwischen Instanz und Idee

231

ich etwa einen Menschen, eine Diät und eine Gesichtsfarbe gesund, so wird „gesund“ in diesen drei Fällen weder in univoker Weise noch in äquivoker Weise gebraucht, sondern diese drei Verwendungsweisen sind auf die Gesundheit hin ausgerichtet. Ebenso verhält es sich mit dem Begriff des Seienden: ebenso wird auch das Seiende zwar in vielfachen Bedeutungen ausgesagt, aber doch alles in Beziehung auf ein Prinzip.280

Hier soll nicht genauer darauf eingegangen werden, inwiefern sich die Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Ùn bei Aristoteles auf eine bloße Bezeichnungsweise bezieht wie im Falle der Gesundheit oder aber prinzipientheoretischen Charakter hat wie im Falle des Seins bzw. des Seienden. Im Rahmen dieser Untersuchung ist wichtig, daß die Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Òn, die Aristoteles auf einige wenige Fälle von Benennungen beschränkt, die er weder als univok, noch als äquivok einordnet (seiend, gut, ärztlich, gesund), für Proklos die Relation ist, die das Verhältnis zwischen transzendenter Ursache und Verursachtem angemessen beschreibt. A. C. Lloyd dazu: Whether we compare a monad and its „number“ to a genus and its species or to a generating cause and any of its products, the second term of the pair is related to the first as pr˛ò Òn and ÷ð’ Ånüò (e. g. ET 110, in Parm. 704). That Proclus is using the formula with the technical Aristotelian implication is clear from his combining it with the denial that the terms of the pairs are sunÿnuma (e. g. in Parm. 709.13–6; Cf. PT 111.27, 97).281

Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, daß Proklos die Benennung zwischen Idee und Instanz einerseits von der Univokation, andererseits von der bloßen Äquivokation im aristotelischen Sinne abgrenzt, wenngleich er dafür den Begriff der Äquivokation verwendet, den er allerdings in einem nichtaristotelischen Sinne meint. Mit der Relation zwischen transzendenter Ursache und Verursachtem als Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Ùn läßt sich nun das Konzept angeben, das hinter dieser Art der Äquivokation steht. Mit ihr entgeht Proklos dem Regreß im Argument vom dritten Menschen: Auch darf das, was in den vielen Einzeldingen ist, die unter die Idee fallen, nicht univok sein, damit nicht wieder ein einziger Begriff für beide ein anderes Gemeinsames für sie einfordert; sondern , wie oft gesagt worden ist, von einem und in Beziehung auf eines: Denn was die eine Idee in etwas ärztlich heißt in Beziehung auf die Arzneikunde, entweder weil es die Arzneikunde besitzt oder zu ihr wohl befähigt oder ein Werk derselben ist; [. . .]“. Übersetzung: Bonitz). _ 280 Aristoteles, Metaphysica 1003b5 sq.: oÖtw d˚ ka˝ t˛ ïn lÍgetai pollaxwò m˚n ÷ll' Ñpan pr˛ò mûan ÷rxÇn. (Übersetzung und Hervorhebung: Bonitz). 281 Lloyd, Procession, S. 24.

232

C. Die Ideen

erster Linie ist, das sind die vielen Einzeldinge, die unter sie fallen, in zweiter Linie.282

Die Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Ùn beschreibt nicht nur das Verhältnis zwischen der Benennung von Idee und Instanz, sie kann dieses Verhältnis vielmehr deshalb beschreiben, weil sie für das ontologische Verhältnis zwischen Idee und Instanz im besonderen und das zwischen Ursache und Verursachtem im allgemeinen steht: Denn jede Ordnung ist auf die ihr zugehörige und korrespondiererende Monade bezogen, von der sie sowohl ihr Sein als auch ihre Benennung hat, weder in univoker Weise noch beliebig und wie zufällig, sondern insofern sie von einem und in Beziehung auf eines ist, so daß auch das Seiende wirklich aus einer einzigen Monade ist, die in erster Linie Sein ist und genannt wird, wegen der auch es, seinem Rang entsprechend, sowohl das Seiende ist, als auch das Seiende genannt wird.283

Proklos nimmt hier auf das aristotelische Hauptbeispiel der Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Òn, das Sein bzw. das Seiende, Bezug. Waren jedoch bei Aristoteles „seiend“ und „gut“ neben „gesund“ und „ärztlich“ wenige Fälle, für die die Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Ùn gilt, so sind bei Proklos alle Reihen (÷riqmoû) auf eines hin ausgerichtet und von einem abhängig, der zugehörigen Monade. Mit „Reihe“ (÷riqmüò) meint Proklos das Gleiche wie mit „Ordnung“ (tÜciò). Sie ist die (geordnete) Menge aller Dinge, für die eine Monade verantwortlich ist. Dies kann die Menge der Einzelseelen sein, für die die Seele verantwortlich ist, oder die Menge der einzelnen Intellekte, für die der Intellekt verantwortlich ist, oder aber die Menge der Instanzen einer Idee, für die diese Idee verantwortlich ist. In der Philosophie des Proklos ist das Sein kein Einzelfall einer Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Òn, sondern ist deshalb eine Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Òn, weil alle Reihen von einem abhängig und auf eines hin ausgerichtet sind. Die Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Ùn zwischen Instanz und Idee steht also bei Proklos sowohl für das ontologische Verhältnis als auch für die Aussageweise zwischen den beiden. Diese Aussageweise ist ein Mittleres zwischen Univokation und Äquivokation im aristotelischen Sinne und wird von Proklos in der Regel in einem nicht-aristotelischen Sinne als Äquivokation 282

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In Parm. 880,8–13: [._. .] ojte sunÿnumon e ùnai xrÌ t˛ ýn to iò ëð\ Åaut˛ _ _ pollo iò, Ôna mÌ pÜlin e Áò æn ÷mðotÍrwn lügoò Òteron ÷pait´h ti koin˛n _ ýp\ ažto iò· ÷ll\ ¼ò eŁrhtai pollÜkiò, ÷ð\ Ån˛ò ka˝ pr˛ò Òn· â gÜr ýsti t˛ Ùn _ _ e ùdoò prÿtwò, touto tJ ëp\ ažt˛ pollJ deutÍrwò. _ _ 283 In Parm. 704,2–10: paò gJr ÷riqm˛ò eùò oùkeûan aëtˆw ka˝ sŸstoixon _ ÷nÇrthtai monÜda, ÷ð\ êò ka˝ tÌn ëpüstasin ñxei ka˝ tÌn proshgorûan, ojte _ sunwnŸmwò, ojte eùkh ka˝ ¼ò ñtuxen, ÷llJ ¼ò ÷ð\ Ån˛ò ka˝ pr˛ò Òn, Êste ka˝ _ _ tJ Ønta ka˝ ýk miaò ýsti monÜdoò ⁄ prÿtwò ka˝ lÍgetai ïn, di\ ⁄n ka˝ tauta _ katJ tÌn Åautwn tÜcin ka˝ ñsti ka˝ ýponomÜzetai Ønta.

VII. Das Verhältnis zwischen Instanz und Idee

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bezeichnet. Allerdings ist Proklos in dieser Bezeichnung nicht ganz konsequent. An folgender Stelle, die von der Aussageweise des Seins handelt, setzt er die Benennung ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Ùn zwischen Univokation und Äquivokation an: „Sein“ wird von allem Seienden entweder in äquivoker Weise ausgesagt, oder in univoker Weise oder als von einem und in Beziehung auf eines; aber daß es in äquivoker Weise ausgesagt wird, ist unmöglich, wenn wir das eine mehr, das andere weniger seiend nennen; denn im äquivok Ausgesagten ist kein mehr und weniger.284

Doch warum behauptet Proklos hier, das Sein werde nicht äquivok ausgesagt? Dafür gibt er als Argument an, daß es beim Sein graduelle Unterschiede, ein Mehr oder Weniger, gebe, beim äquivok Ausgesagten jedoch nicht. Damit operiert er an dieser Stelle mit einem anderen Begriff der Äquivokation als sonst, denn sein Argument läßt sich auf das Verhältnis zwischen Idee und Instanz übertragen: Auch zwischen Idee und Instanzen gibt es einen graduellen Unterschied, denn was die Idee in erster Linie ist, das sind die Instanzen in zweiter Linie. Proklos verwendet den Begriff der Äquivokation hier also im aristotelischen Sinne und nicht wie sonst, Platon folgend,285 für eine Aussageweise, die de facto ein Mittleres zwischen der Univokation und der Äquivokation im Sinne des Aristoteles ist. Die Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Ùn bietet also ungeachtet mangelnder Einheitlichkeit in der proklischen Begrifflichkeit eine dritte Möglichkeit zwischen Univokation und Äquivokation, sofern man Äquivokation als zufällige Gleichbenennung versteht. Diese dritte Möglichkeit ist deshalb gegeben, weil diese Relation das ontologische Verhältnis zwischen Ursache und Verursachtem beschreibt, wobei die doppelte Wendung ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Ùn sowohl den Hervorgang des Verursachten aus der Ursache als auch ihre Rückwendung zur Ursache zum Ausdruck bringt. Was im allgemeinen für das Verhältnis zwischen Verursachtem und Ursache gilt, gilt im besonderen für das Verhältnis zwischen Instanz und Idee, so daß das Verhältnis zwischen Instanz und Idee bei Proklos als Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Ùn beschrieben werden kann. Diese Relation sagt etwas über die Benennung und das ontologische Verhältnis zwischen Idee und Instanzen aus: Weil die Idee Prinzip (÷rxÇ286) ihrer Instanzen ist, sind diese nach ihr benannt. _

284 In Parm. 709,8–13: í þmwnŸmwò lÍgetai t˛ ïn katJ twn Øntwn pÜntwn, í sunwnŸmwò, í ¼ò ÷ð\ Ån˛ò ka˝ pr˛ò Òn· ÷ll\ þmwnŸmwò ÷dŸnaton, eŁper t˛ _ _ _ _ m˚n mall on Øn ðamen, t˛ d˚ êtton· t˛ gJr mallon ka˝ êtton ožk ñstin ýn _ to iò þmwnŸmoiò. 285 Platon, Parmenides 133d3.

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C. Die Ideen

2. Analogie Ein Drittes zwischen Univokation und Äquivokation mag zwar im Rahmen des prädikatenlogischen Paradigmas fremd erscheinen, für jemanden, der mit der scholastischen Metaphysik vertraut ist, ist es indes nichts besonderes. Das Denken des 13. Jahrhunderts setzte die Analogie – Averroes folgend – als selbständiges Drittes zwischen Univokation und Äquivokation an,287 und so lesen wir denn bei Thomas von Aquin: In dreifacher Weise wird etwas von mehreren ausgesagt: eindeutig, mehrdeutig oder analog.288

Da sowohl Proklos’ Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Ùn als auch die analoge Aussageweise, von der Thomas spricht, ein Drittes zwischen Univokation und Äquivokation ist,289 stellt sich die Frage, ob man Proklos’ pr˛ò Òn-Relation mit der Analogie im Sinne der Scholastik gleichsetzen kann. Hierbei ist jedoch zu beachten, daß es in der Scholastik keine eindeutige Analogiekonzeption gibt, ja daß sich sogar bei einem einzigen Autor, Thomas von Aquin, verschiedene Analogiemodelle finden.290 Die Frage muß also anders lauten: Gibt es in der Scholastik eine Form der Analogie, die der proklischen pr˛ò Òn-Relation entspricht? Dieser Frage soll beispielhaft an der Philosophie des Thomas von Aquin nachgegangen werden, dessen Analogie-Lehre W. Kluxen als „die philosophiegeschichtlich wichtigste“ bezeichnet.291 Wie gezeigt wurde, geht die proklische pr˛ò Òn-Relation auf Aristoteles zurück. Daß sich Thomas in seinen Ausführungen zur Analogie als 286 In E. T. 21,4 sq. sagt Proklos, daß die Monas einer Vielheit zu dieser den _ relativen Status eines Prinzips hat: ê m˚n gJr monÜò, ÷rxhò ñxousa lügon, _ _ _ _ ÷pogennˆa t˛ oùke ion Åaut´h plhqoò. („Denn die Monas hat den relativen Status eines Prinzips und erzeugt die ihr zugehörige Vielheit.“). Da die transzendente Idee aber eine Monas ist, ist auch sie das Prinzip ihrer Instanzen. 287 cf. Pannenberg, S. 191. 288 Thomas von Aquin, De Principiis Naturae, § 6: tripliciter aliquid predicatur de pluribus: uniuoce, equiuoce et analogice. (Übersetzung: De Vries, S. 28). 289 In der Summa Theologiae I q 13 a 5 schreibt er über die analoge Aussageweise: Et iste modus communitatis medius est inter puram aequivocationem et simplicem univocationem. Neque enim in his quae analogice dicuntur, est una ratio, sicut est in univocis nec totaliter diversa, sicut in aequiuocis. („Und diese Weise der Gemeinsamkeit steht in der Mitte zwischen der reinen Äquivokation und der einfachen Univokation. Denn weder ist in dem, was analog ausgesagt wird, ein einziger Sinn wie bei der Univokation, noch ein völlig verschiedener wie bei der Äqivokation.“ Übersetzung mit Modifikationen nach der deutschen Thomas-Ausgabe). 290 cf. Schönberger, S. 128: „Thomas [. . .] legt [. . .] eine Vielzahl von Analogiemodellen vor, die in ihrer jeweiligen Eigenart noch nicht sehr lange erkannt sind: daß sie sowohl chronologisch weit auseinander liegen als auch sachlich nicht miteinander harmonisierbar sind.“ 291 Kluxen, S. 221.

VII. Das Verhältnis zwischen Instanz und Idee

235

Aussageweise auf die aristotelische pr˛ò Òn-Relation bezieht292 und Aristoteles’ Beispiel von der Gesundheit im Rahmen seiner Erörterungen immer wieder auftaucht,293 legt einen Zusammenhang zwischen der proklischen pr˛ò Òn-Relation und der Analogie als Aussageweise bei Thomas nahe. Allerdings ist die proklische pr˛ò Òn-Relation eine besondere Form der pr˛ò Òn-Relation, denn sie sagt nicht nur etwas über die Benennungsweise zwischen Idee und Instanz aus, sondern beschreibt auch ihr ontologisches Verhältnis: Die Gleichbenennung hat ihren Grund in einem ontologischen Kausalverhältnis. Danach ist zu suchen, will man eine Form der Analogie in der Scholastik finden, die der proklischen pr˛ò Òn-Relation entspricht. Im folgenden werde ich verschiedene Analogiekonzeptionen der Scholastik, wie z. B. die Proportionalitäts- oder die Attributionsanalogie und ggf. deren verschiedene Varianten vorstellen, um einen Austrag für die Frage zu erzielen, ob die proklische pr˛ò Òn-Relation als Analogie im Sinne der Scholastik gewertet werden kann. Auf terminologischer Ebene erstaunt zunächst, daß Aristoteles die Analogie in der Nikomachischen Ethik von der pr˛ò Òn-Relation ausdrücklich abgrenzt. Dies hat seinen Grund darin, dass „Analogie“ bei Aristoteles die Analogie im eigentlichen mathematischen Sinne meint, und das ist die Proportionalitätsanalogie: a hat zu b die gleiche Proportion wie c zu d (a : b = c : d).294 Auch Proklos versteht unter Analogie im allgemeinen die „Identität des Verhältnisses“,295 und so läßt sich denn die Analogie zwischen dem Überseienden Einen und den Ideen, von der im Kapitel C. II. die Rede war, als Proportionalitätsanalogie auffassen: Wie sich das Überseiende Eine zu allem, was ist, verhält, so verhält sich eine jede Monas zu ihrer jeweiligen Taxis. Auch Sokrates’ Gleichnisrede im Staat, in der er die Sonne als Analogon des Guten bezeichnet,296 läßt sich im Sinne einer Proportionalitäts292

Z. B. Summa Theologiae I q 13 a 6 sowie Summa contra gentiles I, 34. Z. B. De principiis naturae § 6, Summa Theologiae I q 13 a 5 sowie Summa contra gentiles I, 34. 294 Selbstverständlich kann die Proportionalitätsanalogie auch sechs, acht oder mehr Glieder haben; es gilt dann beispielsweise: a : b : c : d = e : f : g : h. Aristoteles, Ethica Nicomachea 1131a31 sq. bringt die Proportionalitätsanalogie wie folgt auf den Punkt: ê gJr ÷nalogûa ùsüthò ýst˝ lügwn, ka˝ ýn tÍttarsin ýlaxûstoiò. („Proportionalität ist eine Gleichheit der Verhältnisse und verlangt mindestens vier Glieder.“ Übersetzung: Gigon). 295 In Remp. I.288,29–299,1: lügou gÜr ýstin ê ÷nalogûa tautüthò. („Denn die Analogie ist die Identität des Verhältnisses.“). _ _ 296 Platon, Politeia 508b12–c2: Touton toûnun, þn d\ ýgÿ, ðÜnai me lÍgein t˛n _ _ _ tou ÷gaqou ñkgonon, ân t÷gaq˛n ýgÍnnhsen ÷nÜlogon Åautˆw, Õtiper ažt˛ ýn _ _ _ _ _ _ _ tˆw nohtˆw tüpˆw prüò te noun ka˝ tJ nooŸmena, touto touton ýn tˆw þratˆw 293

236

C. Die Ideen

analogie verstehen:297 Wie sich die Sonne zum Sinnenfälligen verhält, so verhält sich das Überseiende Eine zum Intelligiblen. Ob die Analogien zwischen dem Überseienden Einen und den Ideen sowie der Sonne und dem Guten allerdings ausschließlich als Proportionalitätsanalogien zu verstehen sind, wird noch zu prüfen sein.298 Für Proklos hat die Proportionalitätsanalogie, die dieser analogen Redeweise vom Guten299 zugrunde liegt, heuristischen Wert: Denn wenn es notwendig ist, daß sich so, wie sich der König Sonne durch die erzeugende Kraft des Lichtes zum Werden, allem Sichtbaren und allem Sehenden verhält, auch das Gute zum Intellekt und zum Intelligiblen durch die Ursache verhält, die die Wahrheit hervorbringt, werden wir einerseits sagen, daß die Sonne das, was zugleich sieht und gesehen wird, in einzigartiger Überlegenheit transzendiert, andererseits aber darin übereinkommen, daß das Gute jenseits dessen ist, das ewig intellektuell erkennt und erkannt wird.300

Auch die scholastische Philosophie kennt die Proportionalitätsanalogie. Sie ist jedoch keine Aussageweise, sondern setzt zwei Verhältnisse miteinander gleich. In den Schriften des Thomas spielt sie eine eher untergeordnete Rolle.301 Die Proportionalitätsanalogie ist ein Modell der Analogie, prüò te Øyin ka˝ tJ þrÿmena. („Sie also meine ich – das kannst du nun als meine Ansicht verkünden – mit jenem Sprößling des Guten, den das Gute selbst als sein Analogon erzeugt: was es selbst im Bereiche des Denkbaren ist im Verhältnis zur Vernunft und zum Gedachten, das ist die Sonne im Bereiche des Sichtbaren im Verhältnis zu dem Gesicht und zu dem Gesehenen.“ Übersetzung mit Modifikation nach Apelt. Dieser übersetzt ÷nÜlogon mit „Ebenbild“, ich ziehe den Terminus „Analogon“ vor.). 297 Dies ergibt sich aus dem Text, der dieses Verhältnis ausbuchstabiert. Allerdings ist das Sonnengleichnis, wie weiter unten dargelegt werden wird, sehr differenziert und beschränkt sich nicht auf diesen Aspekt. Daran mag es wohl liegen, daß dieser Aspekt in der Literatur nur selten Erwähnung findet, so zum Beispiel im Stellenkommentar der Ausgabe von James Adam, Bd. 2, S. 59, der schreibt: _ „Õtiper – þrÿmena explains ÷nÜlogon Åautˆw which should be understood in its strict sense of proportionate or ‚geometrical equality‘ “. 298 Ganz offensichtlich finden sich innerhalb dieser beiden Proportionalitätsanalogien auch Ursachenverhältnisse, beispielsweise ist die Sonne ein „Sprößling“ des Guten. Auf den Zusammenhang zwischen Kausalverhältnissen und der Proportionalitätsanalogien bei Proklos gehe ich weiter unten ein. _ 299 cf. Theol. Plat. II(5).37,15–17: \En Politeû ´a m˚n gJr diJ thò pr˛ò t˛n _ _ Ólion ÷nalogûaò tÌn åðraston ùdiüthta ka˝ Öparcin tou ÷gaqou memÇnuken. („Denn im Staat hat er die unaussprechbare Eigentümlichkeit und Existenz des Guten durch die Analogie zur Sonne kundgetan.“). _ 300 Theol. Plat. II(4).32,5–12: Eù gJr ¼ò ñxei pr˛ò tÌn gÍnesin ka˝ pan t˛ _ _ þrat˛n ka˝ tJ þrwnta pÜnta katJ tÌn gennhtikÌn tou ðwt˛ò dŸnamin þ _ basileˇò ˜Hlioò, oÖtwò ÷nÜgkh ka˝ t˛ ÷gaq˛n ñxein pr˛ò t˛n noun ka˝ tJ _ _ _ nohtJ katJ tÌn thò ÷lhqeûaò oùstikÌn aùtûan, twn m˚n þrÿntwn þmou ka˝ _ _ _ twn þrwmÍnwn katJ mûan ëperoxÌn t˛n Ólion ýc´hrhsqai ðÇsomen, twn d˚ nooŸntwn ÷e˝ ka˝ nooumÍnwn ýkbebhkÍnai t˛ ÷gaq˛n sugxwrÇsomen.

VII. Das Verhältnis zwischen Instanz und Idee

237

aber wegen ihrer Vier- oder Mehrgliedrigkeit es ist nicht die Art der Analogie, die sinnvoller Weise mit der Relation zwischen Idee und Instanz in Zusammenhang zu bringen ist. Auf der Suche nach einem Analogiemodell, das sinnvoller Weise mit der proklischen pr˛ò Òn-Relation in Zusammenhang zu bringen ist, sucht man am besten nach einem scholastischen Analogiemodell, das auf die aristotelische pr˛ò Òn-Relation Bezug nimmt. Es ist dies die Attributionsanalogie, die analogia attributionis. Sie hat ihren Namen von der Hinordnung (attributio) von mehreren auf eines.302 Thomas schreibt in der bereits zitierten Schrift De principiis naturae zur analogen Aussageweise: Analogisch wird etwas ausgesagt von mehreren, deren ratio verschieden ist, die aber auf ein und dasselbe hingeordnet sind.303

Doch auch die Attributionsanalogie läßt noch verschiedene Varianten zu. Entweder wird, wie es das obige Zitat insinuiert, etwas in analoger Weise von zwei oder mehreren Entitäten ausgesagt, weil sie auf eines hingeordnet sind: Entweder weil mehrere Dinge in einem Verhältnis zu einem dritten stehen, so wie „gesund“ von der Medizin und vom Urin ausgesagt wird, insofern beide hingeordnet und bezogen sind auf die Gesundheit eines Lebewesens, die der Urin anzeigt, die Medizin verursacht.304

Oder aber die Attributionsanalogie beschreibt das Verhältnis zwischen einer Entität und dem Einen, auf das sie hingeordnet ist: Oder daraus, daß das eine in einem Verhältnis zum anderen steht; so wie „gesund“ von der Medizin und vom Lebewesen ausgesagt wird, insofern die Medizin Ursache der Gesundheit ist, die im Lebewesen ist.305 301 cf. Rolf Schönberger, S. 136: „Das primäre Modell der Analogie, das seine mathematische Herkunft noch am deutlichsten wiedergibt, ist das der Verhältnismäßigkeit, der proportionalitas; dieses spielt bei Thomas jedoch nur in den Aristoteles-Kommentaren eine Rolle und in den frühen ‚quaestiones disputatae de veritate‘ (2, 11). Späterhin wird es von Thomas stillschweigend verlassen.“ 302 cf. De Vries, S. 28. 303 Thomas von Aquin, De Principiis Naturae, § 6: Analogice dicitur predicari quod predicatur de pluribus quorum rationes diuerse sunt, sed attribuuntur uni alicui eidem. (Übersetzung: De Vries, S. 28). 304 Thomas von Aquin, Summa Theologiae I q 13 a 5: vel quia multa habent proportionem ad unum, sicut sanum dicitur de medicina et urina, inquantum utrumque habet ordinem et proportionem ad sanitatem animalis, cuius hoc quidem est signum, illud vero causa. (Übersetzung mit Modifikationen nach der deutschen Thomas-Ausgabe). 305 Thomas von Aquin, Summa Theologiae I q 13 a 5: vel ex eo quod unum habet proportionem ad alterum; sicut sanum dicitur de medicina et animali, inquantum medicina est causa sanitatis, quae est in animali. (Übersetzung: Rolf Schönberger, S. 137 sq.).

238

C. Die Ideen

Der Unterschied zwischen den beiden Modellen besteht in der unterschiedlichen Stellung des primum analogatum,306 und überhaupt sind die eigentlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Analogienmodellen in ihrer ontologischen Tiefenstruktur zu suchen, wie Rolf Schönberger anmerkt: Es ist von allergrößter Wichtigkeit zu beachten, daß Analogie zwar einen Prädikationsmodus darstellt, aber noch eine Variationsbreite von Modellen zuläßt, die auf dieser Ebene nicht letztlich zur Entscheidung und Bestimmung gebracht werden können. Dies erbringt allererst ein Rekurs auf ontologische Strukturverhältnisse.307

Bei der Suche nach einer Form der Analogie, die der proklischen pr˛ò Òn-Relation entspricht, ist also nach einer Form der Analogie zu suchen, die in ihrer ontologischen Tiefenstruktur der proklischen pr˛ò Òn-Relation entspricht, und es liegt auf der Hand, daß von den beiden genannten Modellen einzig das zweite in Frage kommt, und dies aus zwei Gründen. Erstens sind bei der proklischen pr˛ò Òn-Relation die Instanzen auf die Idee hingeordnet und der fragliche Aussagemodus ist nicht der zwischen den Instanzen (dies wäre der erste Fall), sondern der zwischen Idee und Instanz: Die Idee entspricht dem primum analogatum, die Instanz dem secundum analogatum. Zweitens besteht zwischen der Idee und der Instanz ein kausales Verhältnis, und auch in dem genannten Beispiel bei Thomas besteht zwischen der Medizin und dem Lebewesen, die beide in analoger Weise „gesund“ genannt werden, ein kausales Verhältnis. Primum analogatum und secundum analogatum stehen also in einem kausalen Verhältnis (proportio) zueinander. Diese Art der Analogie, die ich wegen des ursächlichen Verhältnisses des primum analogatum Ursachenanalogie nennen möchte, ist eine Proportionsanalogie und darf nicht mit der Proportionalitätsanalogie verwechselt werden, die Verhältnisse miteinander gleichsetzt und keine Analogie im Sinne eines Prädikationsmodus ist. Doch die Ursachenanalogie läßt noch verschiedene Varianten zu, und dies ist für die Suche nach einer Form der Analogie, die der proklischen pr˛ò Òn-Relation entspricht, wichtig, denn es wäre falsch, die Form der Ursachenanalogie, die Thomas in seinem Beispiel anführt, mit der proklischen pr˛ò Òn-Relation zu identifizieren. Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Relationen: Erstens ist die Kausalität in der proklischen 306 cf. Rolf Schönberger, S. 136 sq.: „Diese beiden Modelle unterscheiden sich [. . .] durch die unterschiedliche Stellung des primum analogatum: Entweder zwei (oder auch mehrere) Elemente stehen in einem je verschiedenen Verhältnis zu diesem, oder ein Element steht dazu in einem unmittelbaren Verhältnis. Diese Unterscheidung kehrt in allen wichtigen systematischen Texten des Thomas von Aquin seit den 1260iger Jahren wieder.“ 307 Rolf Schönberger, S. 140.

VII. Das Verhältnis zwischen Instanz und Idee

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pr˛ò Òn-Relation eine andere als die in Thomas’ Beispiel, denn die pr˛ò Òn-Relation bei Proklos ist auch eine Relation ÷ð’ Ånüò, und ÷ð’ Ån˛ò meint bei Proklos die ontologische Abhängigkeit der Instanzen von ihrer transzendenten Ursache, der Idee, und nicht etwa den banalen Kausalzusammenhang zwischen der gesunden Medizin und dem gesunden Lebewesen. Zweitens unterscheiden sich die beiden Fälle darin, worauf das analog Ausgesagte in erster Linie zutrifft. Bei Proklos ist es immer die Idee, die in erster Linie das ist, was die Instanzen erst in zweiter Linie sind: Denn was die eine Idee in erster Linie ist, das sind die vielen Einzeldinge, die unter sie fallen, in zweiter Linie.308

Die Idee aber entspricht dem primum analogatum.309 In dem Beispiel des Thomas ist es genau umgekehrt: Hier wird „gesund“ nicht in erster Linie vom primum analogatum, der Medizin, ausgesagt, sondern – Thomas gemäß – in aristotelischer Tradition vom gesunden Lebewesen,310 dem secundum analogatum. Die Suche geht also weiter nach einer Form der Ursachenanalogie, bei der die Ursache als transzendente Ursache für die Wirkung ontologisch verantwortlich ist, und das analog Ausgesagte auf die Ursache in erster Linie 308

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In Parm. 880,12 sq.: â gÜr ýsti t˛ Ùn e ùdoò prÿtwò, touto tJ ëp\ ažt˛ pollJ deutÍrwò. 309 An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, daß die Eigenschaft, für die die Idee verantwortlich ist, bei Proklos von dieser Idee nicht im prädikatenlogischen Sinne ausgesagt wird. Die Idee hat nicht eine Eigenschaft, sondern ist das, wofür _ sie steht, im absoluten Sinne (ãplwò): Die Idee wird mit einem Namen belegt, der auf sie in erster Linie, auf die sinnenfälligen Dinge _erst in zweiter Linie zutrifft. Cf. _ C. VI. 4., wo In Parm. 850,6–11 angeführt wurde: Oëtoi dÇpou ka˝ to iò ñmðrosin _ _ ÷naqÇsousi tÌn twn ŽnomÜtwn eÖresin, Êò ðhsin þ ýn tˆw KratŸlˆw _ _ SwkrÜthò ëp˛ tˆw dialektikˆw tJ Žnümata tiqÍmenoò, ka˝ Òkaston prÿtwò _ _ _ _ _ m˚n ýp˝ twn ÷u^lwn eùdwn ke isqai, deutÍrwò d˚ ýp˝ twn aùsqhtwn. („Diese werden das Auffinden der Namen doch wohl den Weisen übertragen, wie Sokrates im Kratylos sagt, indem er die Namen in die Obhut des Dialektikers gibt, und daß jeder einzelne in erster Linie den immateriellen Ideen, in zweiter Linie aber den sinnenfälligen Dingen gegeben wird.“). 310 cf. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I q 13 a 6: per prius enim dicitur animal sanum quam medicina, quae est causa sanitatis. („Denn in erster Linie wird das Lebewesen vor der Medizin, der Ursache der Gesundheit, ‚gesund‘ genannt.“). In aristotelischer Tradition wird „gesund“ in erster Linie vom gesunden Lebewesen ausgesagt (cf. Ferré, S. 95: „ ‚Man‘ is the prime analogate, to whom alone ‚healthy‘ pertains intrinsically and properly.“); es darf nicht irritieren, daß Aristoteles, Metaphysica 1003a,34–1003b1 (cf. supra) die Gesundheit als das Eine angibt, auf das sich alles bezieht, was gesund genannt wird: Gemeint ist die Gesundheit des Lebewesens. In platonischer Tradition wird die Gesundheit selbst in erster Linie gesund genannt, ohne daß jedoch, darauf wurde bereits ausführlich eingegangen, das Prädikat „gesund“ von der Gesundheit im prädikatenlogischen Sinne prädiziert würde.

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C. Die Ideen

zutrifft. Es ist dies die theologische Ursachenanalogie, wie sie zwischen Gott und Welt besteht: With respect to the analogy, between God and the world, God is sometimes taken as the prime analogate (as, on the „order of being,“ he must be), to whom alone such qualities as „goodness“ and „wisdom“ pertain in the full sense.311

Doch welche Namen sind es, die von Gott, dem primum analogatum, in erster Linie und den Geschöpfen, den secunda analogata, in zweiter Linie ausgesagt werden? Im sechsten Artikel der 13. Quaestio des ersten Buches seiner Summa Theologiae geht Thomas der Frage nach, ob die Namen früher von den Geschöpfen als von Gott ausgesagt werden.312 Er kommt dabei zu folgendem Ergebnis: Namen, die von Gott nur im metaphorischen Sinne ausgesagt werden, gelten in erster Linie von den Geschöpfen und dann erst von Gott.313 Namen jedoch, die göttliche Vollkommenheiten bezeichnen, wie „gut“ oder „weise“, kommen Gott in erster Linie und den Geschöpfen, die Gottes Abbilder314 sind, in zweiter Linie zu. Die analoge Aussageweise der Namen für die göttlichen Vollkommenheiten ist also in dieser Hinsicht durchaus mit der proklischen pr˛ò Òn-Relation zu vergleichen, denn auch der Name, der für die Idee steht, trifft in erster Linie auf die Idee und in zweiter Linie auf die Instanzen zu.315 Doch ist die theologische Ursachenanalogie bei Thomas auch hinsichtlich des Kausalverhältnisses zwischen dem primum analogatum und den secunda analogata mit der proklischen pr˛ò Òn-Relation zu vergleichen? Die theologische Ursachenanalogie beruht auf einer Kausalrelation, bei der die Wirkung der Ursache ähnlich ist: Insofern die Geschöpfe Gottes Abbilder sind, sind sie ihm ähnlich. Die Kausalrelation zwischen Gott und den Geschöpfen, die für die theologische Ursachenanalogie in Anschlag gebracht 311

Ferré, S. 95. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I q 13 a 6: Utrum nomina per prius dicantur de creaturis quam de Deo. („Werden die Namen früher von den Geschöpfen als von Gott ausgesagt?“ Übersetzung: Die deutsche Thomas-Ausgabe). 313 Dazu gibt er in der Summa Theologiae I q 13 a 6 folgendes Beispiel: sic nomen leonis, dictum de Deo, nihil aliud significat quam quod Deus similiter se habet ut fortiter operetur in suis operibus, sicut leo in suis. („So bezeichnet der Name ‚Löwe‘, von Gott ausgesagt, nichts anderes als daß Gott sich ähnlich verhält, weil er in seinen Werken so stark wirkt wie der Löwe in seinen.“). 314 Thomas von Aquin, Summa Theologiae I q 13 a 2: Deus in se praehabet omnes perfectiones creaturarum, quasi simpliciter et universaliter perfectus. Unde quaelibet creatura intantum eum repraesentat, et est ei similis, inquantum perfectionem aliquam habet. („Gott enthält in sich vorgängig alle Vollkommenheiten der Geschöpfe, weil er schlechthin und allseitig vollkommen ist. Daher ist jegliches Geschöpf insofern ein Abbild von ihm und ihm ähnlich, als es irgendeine Vollkommenheit hat.“ Übersetzung mit Modifikationen nach der deutschen ThomasAusgabe). 315 cf. supra, Anm. 309. 312

VII. Das Verhältnis zwischen Instanz und Idee

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wird, unterscheidet sich also wesentlich von der Ursachenanalogie, die auf einer innerweltlichen Kausalrelation zwischen der gesunden Medizin und dem gesunden Lebewesen beruht. Die Namen „gut“ und „weise“ gelten von Gott „auf Grund seines Wesens“ (essentialiter316) und die theologische Ursachenanalogie gilt wegen der wesensmäßigen Übereinstimmung zwischen Gott und seinen Geschöpfen: Und so wird, was immer von Gott und den Geschöpfen gemeinsam ausgesagt wird, in dem Sinne ausgesagt, daß es eine Hinordnung des Geschöpfes auf Gott gibt als zu seinem Ursprung und seiner Ursache, in der alle Vollkommenheiten der Dinge vorgängig in überragender Weise existieren.317

Das primum analogatum, Gott, ist ontologisch für die secunda analogata, die Geschöpfe, verantwortlich, die ihm ähnlich sind. Thomas grenzt die theologische Ursachenanalogie deutlich von der Art der Ursachenanalogie ab, bei der es keine wesensmäßige Übereinstimmung mit der Wirkung gibt.318 Rolf Schönberger hat herausgearbeitet, daß die Kausalrelation, die von der Ähnlichkeit und wesensmäßigen Übereinstimmung zwischen Ursache und Wirkung ausgeht, „Basis und Determinationsgrund theologischer Analogie“319 bei Thomas ist. Es liegt auf der Hand, daß es die theologische Ursachenanalogie ist, die der proklischen pr˛ò Òn-Relation entspricht, denn die metaphysischen Voraussetzungen sind die gleichen: durch Teilhabe gestiftete Ähnlichkeit. Auf diese metaphysischen Voraussetzungen weist Rolf Schönberger hin: Auch wenn Thomas von Aquin mit Sicherheit nicht der erste ist, der in der Hochscholastik eine Analogiekonzeption vorlegt, die mit den Elementen der durch Kausalität gestifteten Ähnlichkeit, dem als Teilhabe gedachten Verhältnis von Schöpfer und Schöpfung und einer als „mittlerer“ in bezug auf Univozität und Äquivozität bestimmten Weise analogen Prädizierens arbeitet, so übertrifft doch seine Theorie [. . .] alle ihm voraufgehenden Beiträge.320

Wie Gott essentialiter und in erster Linie gut und weise ist, die Geschöpfe jedoch als seine Abbilder erst in zweiter Linie gut und weise genannt werden, so ist auch die Idee in erster Linie das, was den Instanzen als ihren Abbildern erst in zweiter Linie zukommt.321 Weil die theologische 316

Thomas von Aquin, Summa Theologiae I q 13 a 6. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I q 13 a 5: Et sic, quidquid dicitur de Deo et creaturis, dicitur secundum quod est aliquis ordo creaturae ad Deum, ut ad principium et causam, in qua praeexistunt excellenter omnes rerum perfectiones. (Übersetzung mit Modifikationen nach der deutschen Thomas-Ausgabe). 318 Dann nämlich könne man Gott ebensogut Körper nennen, da er ja die Ursache der Körper sei. Cf. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I q 13 a 2. 319 Rolf Schönberger, S. 140. 320 Rolf Schönberger, S. 127. 321 cf. C. VI. 4. 317

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C. Die Ideen

Ursachenanalogie im Denken des Thomas die eigentlich bedeutende Form der Ursachenanalogie ist, soll im folgenden unter „Ursachenanalogie“ eben diese theologische Ursachenanalogie verstanden werden. Damit ist die Frage, mit welcher Art der Analogie die proklische pr˛ò Òn-Relation sinnvoller Weise in Zusammenhang gebracht werden kann, geklärt: Es ist die theologische Ursachenanalogie des Thomas, denn diese bedeutet das Gleiche wie die proklische pr˛ò Òn-Relation: Beide Termini meinen sowohl ein ontologisches Verhältnis als auch eine Aussageweise. Bei der Identifikation der proklischen pr˛ò Òn-Relation mit der theologischen Ursachenanalogie ist jedoch eine historische Verwerfung in der Begrifflichkeit zu beachten, denn Proklos kennt den Terminus der Analogie zwar auch, dieser hat bei ihm aber eine andere Bedeutung als bei Thomas: Proklos verwendet den Begriff der ÷nalogûa nie für eine Aussageweise.322 Dieser Bedeutungsverschiebung zwischen dem proklischen Analogiebegriff und dem Begriff der Analogie im Sinne der Scholastik folgend möchte ich nun den Bedeutungshorizont des Begriffes der ÷nalogûa bei Proklos untersuchen. Dabei werden sich drei Bedeutungsaspekte des Terminus herauskristallisieren: (1) die literarische Analogie, (2) die Proportionalitätsanalogie und schließlich (3) die Analogie zwischen Ursache und Wirkung. Diese drei Aspekte hängen miteinander zusammen: Zum einen lassen sich literarische Analogien bei Proklos häufig auch als Proportionalitätsanalogien deuten. Zum anderen, und das ist im Rahmen dieser Untersuchung bedeutsam, finden sich bei Proklos innerhalb der Proportionalitätsanalogien häufig Ursachenverhältnisse. Dem Zusammenhang zwischen der ÷nalogûa und der Ursachenrelation bei Proklos soll am Ende dieses Abschnitts (C. VII. 2.) nachgegangen werden, weil dabei ein wichtiger Punkt deutlich werden wird, der bei der Identifikation der proklischen pr˛ò Òn-Relation mit der Ursachenanalogie zu beachten ist. Eine Form der Analogie, die bei Proklos häufig begegnet, ist die literarische Analogie (1). Sie besteht zwischen metaphysischen Entitäten und den Ereignissen oder den Personen der Texte, die er kommentiert. So deutet Proklos die drei Hauptpersonen des platonischen Parmenides, Parmenides, Zeno und Sokrates, beispielsweise als Trias, die der intelligiblen Trias Sein – Leben – Intellekt analog ist: Aber diese drei scheinen uns die so beschaffene Analogie zu bewahren, der erste zum Sein, der zweite aber zum Leben, der dritte aber zum Intellekt [. . .].323 322

Wie weiter oben dargelegt wurde (cf. C. VII. 1.), bezeichnet Proklos die Aussageweise zwischen dem Einen und den vielen Einzeldingen, die auf dieses Eine hingeordnet sind und von ihm abstammen, in einem nicht-aristotelischen Sinne als „Äquivokation“, was de facto ein Drittes zwischen der „Univokation“ und der „Äquivokation“ im Sinne des Aristoteles ist.

VII. Das Verhältnis zwischen Instanz und Idee

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Die analoge Zuordnung dieser drei Personen ist nicht auf diese eine Zuordnung beschränkt, wie der Fortgang des Zitates zeigt: [. . .] oder der erste zum ganzen und unpartizipierbaren Intellekt, der zweite aber zum partizipierbaren und der dritte aber zum , der zugleich individuell und partizipierbar ist.324

In den meisten Fällen aber meint Proklos mit Analogie eine Proportionalitätsanalogie (2), und mit etwas gutem Willen läßt sich auch die Analogie zwischen Parmenides, Zeno und Sokrates und den entsprechenden metaphysischen Entitäten im Sinne der Proportionalitätsanalogie deuten, denn es verhält sich beispielsweise Parmenides so zu Sokrates wie das Sein zum Intellekt oder Sokrates so zu Zeno wie der Intellekt zum Leben. An folgender Stelle setzt Proklos, Platon folgend,325 epistemologische Kategorien, Glauben und Wissen in Analogie zum Intelligiblen und der Werdewelt, dem Paradigma des platonischen Timaios und seinem Abbild, dem Kosmos: Vorher setzte er als Vorausgehendes zwei Terme, Intelligibles und Gewordenes oder Urbild und Abbild, und zwei nahm er zu diesen analog hinzu, Wissenschaft und wahrscheinliche Rede oder Wahrheit und Glauben: Wie Wahrheit zum intelligiblen Paradigma, so Glaube zum gewordenen Abbild.326 323

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In Parm. 628,30–33: \All\ oëtoi m˚n oÁ tre iò toiaŸthn êm in ðaûnontai diasÿzonteò ÷nalogûan, þ m˚n pr˛ò t˛ ïn, þ d˚ pr˛ò tÌn zwÌn, þ d˚ pr˛ò _ t˛n noun [. . .]. _ 324 In Parm. 628,33–36: [. . .] í þ m˚n pr˛ò t˛n Õlon ka˝ ÷mÍqekton noun, þ d˚ pr˛ò t˛n meqekt˛n, þ d˚ pr˛ò t˛n merik˛n Ñma ka˝ meqektün. _ _ _ 325 cf. Platon, Timaios 29b2–c3: ¼de ožn perû te eùkünoò ka˝ per˝ tou para_ _ ¼npÍr eùsin ýchghtaû, deûgmatoò ažthò dioristÍon, ¼ò åra toˇò lügouò, _ _ _ _ ka˝ toŸtwn ažtwn ka˝ suggene iò Øntaò· tou m˚n ožn monûmou ka˝ bebaûou _ _ _ ka˝ ÷metaptÿtouò – kaq\ Õson o Áün te ka˝ metJ nou kataðanouò monûmouò _ _ ÷nelÍgktoiò prosÇkei lügoiò e ùnai ka˝ ÷nikÇtoiò, toŸtou de i mhd˚n ýlleûpein _ _ – toˇò d˚ tou pr˛ò m˚n ýke ino ÷peikasqÍntoò, Øntoò d˚ eùkünoò eùkütaò _ ÷nJ lügon te ýkeûnwn Øntaò· Õtiper pr˛ò gÍnesin ožsûa, touto pr˛ò pûstin ÷lÇqeia. („Was also das Bild und sein Urbild anlangt, so macht sich für die Darstellung beider ein Unterschied notwendig insofern, als sie (die Darstellung) mit dem, was sie darstellt, auch in innerer Verwandtschaft stehen muß. Für das Bleibende und Feststehende und mit Hilfe der Vernunft Erkennbare muß auch die Darstellung den Charakter des Bleibenden und Unumstößlichen an sich tragen; sie darf, soweit überhaupt bei Worten von Unwiderleglichkeit und Unwandelbarkeit die Rede sein kann, es daran in keiner Weise fehlen lassen; dagegen wird die Darstellung des dem Muster nur Nachgebildeten, also des bloßen Abbildes, den Charakter des Wahrscheinlichen und des der Eigenart dieses Gegenstandes Entsprechenden tragen. Wie sich zum Werden das Sein, so verhält sich zum Glauben (pûstiò, Wahrscheinlichkeit) die Wahrheit.“ Übersetzung und Klammerbemerkungen: Apelt, Hervorhebung von mir). 326 In Tim. I.344.28–345.3: Prüteron m˚n dŸo êgoŸmena ýpoûei, noht˛n ka˝ genht˛n í parÜdeigma ka˝ eùküna, ka˝ dŸo toŸtoiò ÷nÜlogon ýlÜmbanen, ýpistÇmhn ka˝ eùkotologûan í ÷lÇqeian ka˝ pûstin· ¼ò ÷lÇqeian pr˛ò t˛ noht˛n parÜdeigma, oÖtw pûstin pr˛ò tÌn genhtÌn eùküna.

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C. Die Ideen

Dieses Verhältnis läßt sich mathematisch in das Verhältnis, wie es Platon im Timaios erwähnt, umformen: Das Sein, und damit ist nach Proklos das Intelligible gemeint, verhält sich zum Werden wie die Wahrheit zum Glauben.327 Eine solche Umformung nennt Proklos eine Umformung nach der Weise der Geometrie (gewmetrikwò): _

Nun aber fügte er nach der Weise der Geometrie auch die Vertauschung hinzu; denn wenn gilt: Wie Wahrheit zum Intelligiblen, so der Glaube zum Gewordenen, gilt auch umgekehrt: Wie Wahrheit zum Glauben, so das Intelligible zum Gewordenen.328

Innerhalb dieses viergliedrigen Verhältnisses finden sich zweigliedrige Verhältnisse: Das intelligible Urbild ist Ursache des gewordenen Abbildes, und auch zwischen den epistemologischen Kategorien und den ihnen zugehörigen ontologischen Kategorien gibt es ein derivatives Verhältnis: Denn woher anders die Erkenntnisse als von dem Erkennbaren?329

Ob nun auch, wie es die Proportionalitätsanalogie nahelegt, die Wahrheit Ursache des Glaubens ist, wie das Urbild Ursache des Abbildes ist, dazu äußert sich Proklos nicht. Doch Proklos verwendet den Terminus „analog“ nicht nur für die literarische Analogie und die mehrgliedrige Proportionalitätsanalogie, innerhalb derer sich bei ihm häufig Ursachenverhältnisse finden. Auch die einfache Proportion in einem Ursachenverhältnis nennt Proklos „analog“ (3). Denn wenn die göttliche Ordnung das Eine als vorgängige Ursache hat [. . .] und die Vielheit allenthalben analog zu ihrer Ursache ist, so ist denn deutlich, daß auch die göttliche Ordnung den Charakter der Einheit hat, wenn das Eine Gott ist.330

Dieser Beleg widerspricht der Behauptung Kluxens, erst im Mittelalter werde der Übergang von der mehrgliedrigen Proportionalitätsanalogie zur zweigliedrigen Proportionsanalogie vollzogen,331 denn Proklos meint hier 327

Platon, Timaios 29c3. _ _ In Tim. I.345,3–6: nun d˚ gewmetrikwò ka˝ t˛ ýnallJc prosÍqhken· eù gJr ¼ò ÷lÇqeia pr˛ò t˛ nohtün, oÖtwò ê pûstiò pr˛ò t˛ genhtün, ka˝ ýnallÜc, ¼ò ÷lÇqeia pr˛ò pûstin, oÖtwò t˛ noht˛n pr˛ò t˛ genhtün. _ 329 In Tim. I.339,16 sq.: ka˝ püqen gJr ÷llaxüqen aÁ gnÿseiò, í ÷p˛ twn _ gnwstwn. 330 E. T. 113,2–5: eù gJr þ qe_ioò ÷riqm˛ò aùtûan ñxei prohgoumÍnhn t˛ Òn, _ _ _ [. . .] ka˝ ñstin ÷nÜlogon t˛ plhqoò pantaxou pr˛ò tÌn aùtûan, dhlon dÌ Õti _ _ ka˝ þ qe ioò ÷riqm˛ò Ånia iüò ýstin, eŁper t˛ Ùn qeüò. 331 cf. Kluxen, S. 218 sq., wo er im Abschnitt „Proklos“ zum Übergang der Bedeutung des Begriffes „Analogie“ von einer vier- oder mehrgliedrigen Verhältnisgleichheit zu einem einfachen zweigliedrigen Verhältnis schreibt: „Damit heißen nun auch solche Strukturen , bei denen Vor- und Nachordnung besteht, bei de328

VII. Das Verhältnis zwischen Instanz und Idee

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mit dem Terminus „analog“ die einfache Proportion zwischen Wirkung und Ursache, die in großer Nähe zu der behandelten Ursachenanalogie steht: Der göttlichen Reihe kommt der Charakter der Einheit deshalb zu, weil sie dem Einen analog ist. Allerdings bezieht sich „analog“ hier auf ein ontologisches Verhältnis und nicht auf eine Aussageweise, so daß mit dem Begriff ÷nÜlogon nur ein bestimmter Aspekt der Ursachenanalogie, nämlich das ontologische Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, erfaßt wird. Wenn Proklos das ontologische Verhältnis und das Verhältnis der Benennungen zwischen der Monas und ihrer Taxis zum Ausdruck bringen möchte, spricht er von der Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Òn. Proportionalitätsanalogie und Ursachenverhältnis sind in der Philosophie des Proklos eng miteinander verknüpft, denn häufig ist ein Ursachenverhältnis der Grund dafür, daß die Proportionalitätsanalogie trägt. An folgender Stelle rechtfertigt Proklos die analoge Übertragung von Erkenntnissen aus einem Bereich der Mathematik, der Geometrie, auf einen anderen Bereich der Mathematik, der Arithmetik, mit dem kausalen Zusammenhang der beiden Bereiche: Die Eigenschaften der Dreiecke und der Vierecke betrachtet ja gewiß in erster Linie die Geometrie, in analoger Weise aber die Arithmetik, die sie von ihr empfängt: Denn in den Zahlen sind die mathematischen Figuren der Ursache nach.332

Um eine Proportionalitätsanalogie handelt es sich in diesem Beispiel insofern, als die Verhältnisse zwischen den Zahlen denen zwischen den geometrischen Formen entsprechen, was die Übertragung der Erkenntnisse aus dem einen Bereich auf den anderen Bereich rechtfertigt. Diese Proportionalitätsanalogie trägt aber aufgrund des kausalen Verhältnisses zwischen Arithmetik und Geometrie: Die Zahlen sind die Ursachen der geometrischen Formen.333 Die enge Verknüpfung zwischen Proportionalitätsanalogie und Ursachenverhältnis in der Philosophie des Proklos läßt sich auch an den weiter oben angeführten Beispielen zeigen, zum einen (a) an der Analogie zwischen dem Überseienden Einen und den Ideen, zum anderen (b) an der Analogie nen gar zweifelhaft sein kann, ob auf beiden Seiten Proportionen stehen. Es ist nur ein Schritt noch, auch ein zweigliedriges Verhältnis zu nennen, den jedoch die Neuplatoniker nicht tun, sondern erst das Mittelalter.“ Tatsächlich jedoch ist dieser Schritt – sieht man von der Unschärfe zwischen dem eigentlichen Terminus ÷nalogûa und dem Adjektiv ÷nÜlogoò ab – bei Proklos hier schon vollzogen. _ 332 In Eucl. 61,5–8: tÜ ge mÌn twn trigÿnwn ka˝ tetragÿnwn gewmetrûa m˚n _ _ _ qewre i prÿtwò, kat\ ÷nalogûan d˚ labousa par\ ažthò ê ÷riqmhtikÇ· ka˝ _ _ gJr ýn to iò ÷riqmo iò sxÇmata kat\ aùtûan ýstûn. 333 Die Zahlen sind den geometrischen Formen ontologisch vorgängig. Daß die geometrischen Formen zuerst erkannt werden, weist darauf hin, daß Epistême und Ontologie hier in einem reziproken Verhältnis stehen.

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C. Die Ideen

zwischen dem Guten und der Sonne, denn auch innerhalb dieser viergliedrigen Proportionalitätsanalogien334 finden sich zweigliedrige Ursachenverhältnisse. Das Überseiende Eine verhält sich zu allem, was ist, so wie eine jede Idee zu der ihr eigenen Taxis. Diese Proportionalitätsanalogie (a) beruht auf dem Ursachenverhältnis (aa) zwischen dem Überseienden Einen und den Ideen: Weil das Überseiende Eine Ursache der Ideen ist, sind die Ideen ihm ähnlich. Zu dieser Ähnlichkeit gehört, daß das Ursachenverhältnis (ab) zwischen dem Überseienden Einen und allem, was ist, mit dem Ursachenverhältnis (ag) zwischen einer Idee und ihrer Taxis übereinstimmt: Weil das Überseiende Eine seine Wirkungen transzendiert, transzendiert auch eine jede Idee ihre Taxis. More Geometrico wäre durch mathematische Umformung dieser Proportionalitätsanalogie ein viertes Ursachenverhältnis zu erwarten: Alles, was ist, verhält sich zu jeder Taxis so wie das Überseiende Eine zu jeder Idee. Es ist jedoch offenkundig Unsinn, zwischen allem, was ist, und jeder Taxis ein Verhältnis zu postulieren, das dem Verhältnis zwischen dem Überseienden Einen und den Ideen entspräche. Hier stoßen wir an die Grenzen des Modells. Warum dies der Fall ist, wird weiter unten dargelegt werden: Diese Proportionalitätsanalogie ist eine besondere, für die der Begriff „transzendente Proportionalitätsanalogie“ eingeführt werden wird. Auch das Sonnengleichnis ist eine (transzendente) Proportionalitätsanalogie (b). Sie beruht auf dem Ursachenverhältnis (ba): Das Gute ist Ursache der Sonne, und die Sonne sein Sprößling (ñkgonon335). Deshalb entspricht das Ursachenverhältnis (bg) zwischen der Sonne und dem Sinnenfälligen dem Ursachenverhältnis (bb) zwischen dem Guten und dem Intelligiblen: Die Ursache transzendiert die Wirkung. Es wäre eine weitere Untersuchung wert, welche Proportionalitätsanalogien in der Philosophie des Proklos ihr Fundament in einem Ursachenverhältnis haben. Es läßt sich festhalten: Neben der literarischen Analogie (1) umfaßt der Bedeutungshorizont der ÷nalogûa in der Philosophie des Proklos sowohl die Proportionalität (2) als auch ursächliche Verhältnisse (3). Damit bedeutet der Begriff der Analogie bei Proklos also nie eine Aussageweise, sondern in der Regel ein Verhältnis. Es ist deshalb ein Anachronismus, dessen 334 Tatsächlich ist die Analogie zwischen dem Guten und der Sonne umfassender als in der hier angegebenen viergliedrigen Form, denn auch Vernunft und Gesichtssinn werden ins Verhältnis zum Guten und zur Sonne gesetzt. Daß es sich also eigentlich um eine sechs- und nicht um eine viergliedrige Proportionalitätsanalogie handelt, soll im folgenden jedoch übergangen werden, da es darauf im Rahmen dieser Ausführungen nicht ankommt. 335 Platon, Politeia 508b13.

VII. Das Verhältnis zwischen Instanz und Idee

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man sich bewußt sein muß, wenn man die pr˛ò Òn-Relation bei Proklos als Ursachenanalogie bezeichnet, denn der Begriff der Ursachenanalogie bedeutet neben dem kausalen Verhältnis zwischen dem primum analogatum und dem secundum analogatum auch die analoge Aussageweise zwischen den beiden. Wenngleich Proklos den Begriff der ÷nalogûa nicht im Sinne einer Aussageweise verwendet, so kann er, wie dargelegt, doch mit dem ursächlichen Aspekt der pr˛ò Ùn-Relation, die der Ursachenanalogie entspricht, zusammenhängen. So ist das analoge Verhältnis zwischen den Ideen und dem Überseienden, das mit der Ziffer (3) gekennzeichnet wurde, eine Relation ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Ùn, weil die Ideen, vom Einen und Guten abstammend, „eines“ und „gut“ genannt werden. Dieses Ursachenverhältnis ist dasselbe wie das Verhältnis (aa), aufgrund dessen die Proportionalitätsanalogie (a), daß sich das Überseiende Eine zu allem was ist, so verhält wie jede Idee zu ihrer Taxis, überhaupt trägt. Innerhalb dieser Proportionalitätsanalogie gibt es, wie dargelegt, zum einen das Ursachenverhältnis (ab) zwischen dem Überseienden Einen und allem, was ist, sowie zum anderen das Ursachenverhältnis (ag) zwischen der Idee und ihrer Taxis. Beide Ursachenverhältnisse sind Basis einer pr˛ò Ùn-Relation: Alles was ist, wird in analoger Weise „eines“ und „gut“ genannt, weil es vom Einen resp. dem Guten abstammt, und die Idee F-selbst und alle Dinge, denen die Eigenschaft F zukommt, werden wegen des Ursachenverhältnisses zwischen der Idee und den Instanzen in analoger Weise F genannt. Der Abschluß dieses Abschnitts widmet sich der näheren Betrachtung des Zusammenhangs zwischen dem proklischen ÷nalogûa-Begriff und der Ursachenrelation. Dadurch nämlich wird deutlich, was bei der Identifikation der proklischen pr˛ò Òn-Relation mit der Ursachenanalogie zu beachten ist. Ursachenanalogie bedeutet ja, wie gesagt, immer auch ein Verhältnis zwischen dem primum analogatum und dem secundum analogatum. Das Verhältnis zwischen dem ersten Prinzip und den ihm nachrangigen Entitäten aber problematisiert Proklos bei seiner Diskussion des Sonnengleichnisses: Die Analogie und die Negation sind für Proklos zwei Weisen der Hinführung zur unaussprechlichen (årrhton336) und unkenntlichen (ågnwston337) Überlegenheit des ersten Prinzips: Ich sage also, daß er es bald durch Analogie und die Ähnlichkeit zu den zweitrangigen Entitäten darstellt, bald aber durch Negationen seine Transzendenz und seinen Überstieg über zugleich das ganze Seiende zeigt. Denn im Staat hat er die unaussprechbare Eigentümlichkeit und 336 337

Theol. Plat. II(5).37,10. Theol. Plat. II(5).37,11.

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C. Die Ideen

Existenz des Guten durch die Analogie zur Sonne kundgetan. Im Parmenides aber wiederum hat er den Unterschied des Einen zu allem nach ihm durch Negationen dargelegt.338

Die Monas einer jeden Ordnung ist dem ersten Prinzip resp. dem Guten analog, weil sie ihm ähnlich ist,339 und so beruht denn die Analogie zwischen der Sonne, die die Monas des Sinnenfälligen ist, und dem Guten auf der Ähnlichkeit der Sonne zum Guten. Ähnlich aber ist die Sonne dem Guten, weil sie von ihm kausal abhängt. Die Analogie zwischen dem Guten und der Sonne hat also, wie bereits ausgeführt, ihre Rechtfertigung im Ursachencharakter des Guten: Weil das Gute Ursache der Sonne ist (ba), ist die Sonne ihm ähnlich. Deswegen entspricht das Verhältnis (bg), welches die Sonne als Monas zu ihrer Taxis, dem Sinnenfälligen, hat, dem Verhältnis (bb), welches das Gute zu allen Ordnungen der Götter hat. Es ist allerdings zu beachten, daß Proklos den Begriff der Proportion (lügoò) oder des Verhältnisses (sxÍsiò) vermeidet. Dies hat seinen Grund: Bei der Besprechung des Arguments vom dritten Menschen wurde deutlich, daß in der Philosophie des Proklos zwar die Instanz der Idee ähnlich ist, aber nicht umgekehrt. Die Ähnlichkeit zwischen Instanz und Idee ist eine asymmetrische Relation.340 Ebenso sind die zweitrangigen Entitäten auf das erste Prinzip hingeordnet, ohne daß man von einer Relation des ersten Prinzips zu den zweitrangigen Entitäten sprechen darf. Das erste Prinzip ist nicht verrechenbar. Dies macht Proklos durch folgende emphatische Ermahnung an den Leser deutlich: Und daß mir niemand entweder die so beschaffene Art der Rede verschmäht, indem er festsetzt, daß diese Negationen wie Privationen beschaffen sind, oder versucht, diese Reise, die zum allerersten Prinzip hinaufführt, zu verunglimpfen, indem er die Analogie als Identität der Proportionen, die Proportionen aber als Verhältnisse definiert.341 338 Theol. Plat. II(5).37,12–17: LÍgw toûnun Õti pot˚ m˚n di\ ÷nalogûaò ažt˛ _ _ _ ka˝ thò twn deutÍrwn þmoiüthtoò ýmðanûzei, pot˚ d˚ diJ twn ÷poðÜsewn t˛ _ _ _ ýc´hrhmÍnon ažtou ka˝ ÷ð\ Õlwn þmou twn Øntwn ýkbebhk˛ò ýpideûknusin. _ \En Politeû ´a m˚n gJr diJ thò pr˛ò t˛n Ólion ÷nalogûaò tÌn åðraston _ _ ùdiüthta ka˝ Öparcin tou ÷gaqou memÇnuken. 339 Theol. Plat. II(5).38,3–7: diJ gJr tÌn þmoiüthta tÌn pr˛ò ýke_ino kaq\ _ _ _ _ _ ÅkÜsthn twn Øntwn tÜcin ÷nÜlogon ëpÍsth tˆw ÷gaqˆw monÜò, touto ožsa _ _ _ pr˛ò Õlon t˛n sŸzugon aëthò [÷riqm˛n] â pr˛ò ãpÜsaò ýst˝ tJò twn qewn diakosmÇseiò t÷gaqün. („Denn wegen der Ähnlichkeit zu jenem ist bezüglich jeder einzelnen Ordnung des Seienden analog dem Guten eine Monas zur Existenz gelangt, die sich zu der ganzen ihr verbundenen Reihe so verhält wie das Gute zu allen Ordnungen der Götter.“). 340 cf. C. V. 4. 341 Theol. Plat. II(5).38,13–18: Kaû moi mhde˝ò mÇte tJò ÷poðÜseiò taŸtaò _ _ _ _ o Áon sterÇseiò e ùnai tiqÍmenoò ÷timazÍtw t˛n toiouton twn lügwn trüpon,

VII. Das Verhältnis zwischen Instanz und Idee

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Proklos spricht sich hier in aller Deutlichkeit dagegen aus, aus der Analogie zwischen dem ersten Prinzip und dem ihm Nachrangigen irgendwelche Proportionen (lügoi) oder Verhältnisse (sxÍsei) abzuleiten. Dies erklärt auch, warum die obige mathematische Umformung der Proportionalitätsanalogie zwischen dem Überseienden Einen und den Ideen zu einem unsinnigen Ergebnis geführt hat: Eine solche Umformung ist nicht zulässig, weil das Ursachenverhältnis (aa), auf dem sie beruht, sowie die beiden anderen Verhältnisse, die in ihr vorkommen, im strengen Sinne gar kein Verhältnisse sind und so auch nicht im Rahmen einer mathematischen Umformung more geometrico in Anspruch genommen werden dürfen. Doch dürfen solche Proportionalitätsanalogien überhaupt noch als Proportionalitätsanalogien bezeichnet werden, wenn doch die in ihnen vorkommenden Verhältnisse im strengen Sinne gar keine Verhältnisse sind? Wir haben es mit einer Spannungslage zu tun: Einerseits nimmt Proklos die Analogie zwischen dem Guten und der Sonne, wie weiter oben gezeigt wurde, durchaus in Anspruch, um den Überstieg des Guten über den intelligiblen Bereich abzuleiten.342 Andererseits verbietet es eben dieser Überstieg, überhaupt noch von Relationen innerhalb dieser Analogie zu sprechen, denn dieser Überstieg ist ein Verhältnis der besonderen Art: Weil eines der beiden Relata nicht in Anspruch genommen und nicht verrechnet werden kann, darf man streng genommen auch nicht mehr von einem Verhältnis sprechen. Um einerseits nicht noch mehr Termini einzuführen, andererseits aber klar zu machen, daß es sich bei diesen Proportionalitätsanalogien um besondere handelt, die nicht more geometrico umgeformt werden dürfen, will ich sie „transzendente Proportionalitätsanalogien“, das Verhältnis zwischen einer transzendenten Ursache und ihren Wirkungen „transzendente Proportion“ nennen. mÇte tÌn ÷nalogûan ýn lügwn tažtüthti toˇò d˚ lügouò ýn sxÍsesin ÷ðorizümenoò diabÜllein ýpixeireûtw tÌn ÷nagwg˛n taŸthn poreûan ýp˝ tÌn prwtûsthn ÷rxÇn. _ 342 Cf. Theol. Plat. II(4).32,5–12: Eù gJr ¼ò ñxei pr˛ò tÌn gÍnesin ka˝ pan t˛ _ _ þrat˛n ka˝ tJ þrwnta pÜnta katJ tÌn gennhtikÌn tou ðwt˛ò dŸnamin þ _ basileˇò ˜Hlioò, oÖtwò ÷nÜgkh ka˝ t˛ ÷gaq˛n ñxein pr˛ò t˛n noun ka˝ tJ _ _ _ nohtJ katJ tÌn thò ÷lhqeûaò oùstikÌn aùtûan, twn m˚n þrÿntwn þmou ka˝ _ _ _ twn þrwmÍnwn katJ mûan ëperoxÌn t˛n Ólion ýc´hrhsqai ðÇsomen, twn d˚ nooŸntwn ÷e˝ ka˝ nooumÍnwn ýkbebhkÍnai t˛ ÷gaq˛n sugxwrÇsomen. („Denn wenn es notwendig ist, daß sich so, wie sich der König Sonne durch die erzeugende Kraft des Lichtes zum Werden, allem Sichtbaren und allem Sehenden verhält, auch das Gute zum Intellekt und zum Intelligiblen durch die Ursache verhält, die die Wahrheit hervorbringt, werden wir einerseits sagen, daß die Sonne das, was zugleich sieht und gesehen wird, in einzigartiger Überlegenheit transzendiert, andererseits aber darin übereinkommen, daß das Gute jenseits dessen ist, das ewig intellektuell erkennt und erkannt wird.“).

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C. Die Ideen

Die transzendente Proportionalitätsanalogie zeigt die Ähnlichkeit der zweitrangigen Entitäten zum ersten Prinzip an: Die Analogien aber werden lediglich um der Demonstration der Ähnlichkeit willen verwendet, der Ähnlichkeit der zweitrangigen Entitäten zu jenem, und durch sie wird weder eine Proportion noch ein Verhältnis noch eine Gemeinsamkeit des allerersten Prinzips zu dem ihm Nachrangigen kundgetan.343

Die Verhältnisse innerhalb der transzendenten Proportionalitätsanalogie sind keine Verhältnisse im eigentlichen Sinne, sondern transzendente Proportionen. An diesem Zitat wird eine Eigentümlichkeit der transzendenten Proportion deutlich, die sich schon bei der Besprechung des Arguments des dritten Menschen gezeigt hat: Zwar ist das Zweitrangige durch Ähnlichkeit auf das Erstrangige bezogen, nicht aber das Erstrangige auf das Zweitrangige. Das erste Prinzip ist aller Relation enthoben, obgleich das, was von ihm abhängt, zu ihm in Relation steht: Es ist aber nötig, jenes zwar ohne Relation zu allem und über das Ganze gleichermaßen transzendent, von den anderen aber die einen ihm näher, die anderen ihm ferner zu bewahren.344

Das erste Prinzip transzendiert das ihm Nachrangige wesentlich stärker als andere transzendente Ursachen das ihnen Nachrangige transzendieren: Denn seine Transzendenz ist nicht so beschaffen wie die, die bei den zweiten und dritten Ordnungen betrachtet wird, sondern das Gute überragt das Ganze um viel mehr als der Intellekt das ihm Nachrangige.345

Gleichwohl übersteigen die anderen Ursachen das ihnen Nachgeordnete: Aber der ganze Intellekt und jeder Gott hat eine Überlegenheit im Verhältnis zu den Geringeren, d. h. zu denen, deren Ursache er ist, die schwächer ist als das Erste zu jedem einzelnen des Seienden .346

Proklos spricht hier zwar nicht explizit von transzendenten Ideen, aber mit Göttern sind immer auch die Monaden und damit die Ideen gemeint. Sein Vorbehalt der Relationslosigkeit des ersten Prinzips läßt sich also in 343

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Theol. Plat. II(5).39,6–9: AÁ d˚ ÷nalogûai di\ ñndeicin münon thò pr˛ò _ ýke ino twn deutÍrwn þmoiÿsewò paralambÜnontai, ka˝ ojte lügoò ožde˝ò _ _ ojte sxÍsiò ojte koinwnûa thò prwtûsthò ÷rxhò pr˛ò tJ met\ ažtÌn ýk toŸtwn ÷naðaûnetai. 344 Theol. Plat. II(5).39,20–22: De_i d˚ ýke_ino m˚n åsxeton pr˛ò pÜnta ka˝ _ ÷ð\ Õlwn þmoûwò ýc´hrhmÍnon ðulÜttein, twn d˚ ållwn tJ m˚n ýggŸteron ýkeûnou tJ d˚ porrÿteron. _ _ 345 Theol. Plat. II(5).39,9–13: Ka˝ gJr t˛ ýc´hrhmÍnon ažthò ož toioutün _ _ _ _ ýstin o Áon ýp˝ twn deutÍrwn ka˝ trûtwn qewre itai diaküsmwn, ÷llJ pollˆw _ _ _ meizünwò t÷gaq˛n ëperÍxei twn Õlwn í þ nouò twn met\ ažtün. _ _ _ 346 Theol. Plat. II(5).39,15–17: ÷llJ paò þ no_ uò ka˝ paò qe˛ò ëðeimÍnhn _ ñlaxen ëperoxÌn pr˛ò tJ katadeÍstera ka˝ ¼n ýstin aŁtioò í t˛ prwton _ pr˛ò Òkaston twn Øntwn. _

VIII. Die Transzendenz der Ideen II: jenseits von Raum und Zeit

251

abgeschwächter Form auf die Ideen übertragen. Wenngleich die Ideen nicht aller Relation enthoben sind – sie stehen beispielweise untereinander in Relation – so sind sie doch der Relation zu ihrer jeweiligen Taxis enthoben, wie schon Proklos’ verblüffende Ähnlichkeitsrelation zwischen Idee und Instanz gezeigt hat. Bei der Beschäftigung mit der Frage der Selbstprädikation der Ideen, die das Argument vom dritten Menschen aufgeworfen hat, wurde deutlich, daß Proklos die Benennung zwischen Idee und Instanz als ein Drittes zwischen Univokation und Äquivokation konzipiert, das seine Grundlage in der pr˛ò Òn-Relation zwischen Idee und Instanz hat, die sowohl ihr ontologisches Verhältnis als auch das Verhältnis ihrer Bennennung bezeichnet. Wie gezeigt wurde, entspricht diese pr˛ò Òn-Relation inhaltlich der theologischen Ursachenanalogie bei Thomas, die sowohl eine Benennungsweise als auch ein Verhältnis bedeutet. Was das Verhältnis zwischen Idee und Instanz betrifft, ist jedoch ein Vorbehalt angebracht, und deshalb wurde Proklos’ Diskussion der Analogie zwischen der Sonne und dem Guten so ausführlich behandelt: Das Verhältnis zwischen Idee und Instanz ist, was ich eine transzendente Proportion genannt habe. Zwar steht die Instanz im Verhältnis zur Idee, nicht aber umgekehrt. Von einem Ursachenverhältnis zwischen Idee und Instanz zu sprechen, ist deshalb der Versuch, etwas auszudrücken, was sich wegen der Transzendenz der Idee nur bedingt ausdrücken läßt, denn die Idee ist nicht verrechenbar, auch nicht in ein Ursache-Wirkungsverhältnis. So darf der Begriff der Ursachenanalogie, der eben auch Verhältnis bedeutet, über einen Punkt nicht hinwegtäuschen: die Transzendenz der Ursache über die Wirkung im allgemeinen und die Transzendenz der Idee über die Instanz im besonderen. Diese Transzendenz darf bei der Beschäftigung mit der proklischen Metaphysik nie vergessen werden.347

VIII. Die Transzendenz der Ideen II: jenseits von Raum und Zeit In diesem Kapitel zu den Ideen bei Proklos ist bereits mehrfach auf die Transzendenz der Ideen eingegangen worden und es wurde gezeigt, daß 347 Dieses Problem hat Thomas für das Verhältnis zwischen Gott und Schöpfung freilich auch gesehen. So schreibt er in den Quaestiones Disputate de Veritate q 2 a 3, wo er – cf. Kluxen, S. 222 – allerdings ein anderes Analogienmodell entwickelt als das hier Besprochene: ideo impossibile est infinitum aliquod proportionari finito per modum proportionis. („Daher ist es unmöglich, daß das Unendliche durch die Form der Proportion zum Endlichen im Verhältnis steht.“). Die Spannung, von einem Verhältnis zum unverfügbaren Transzendenten zu sprechen, findet sich also auch bei Thomas.

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C. Die Ideen

Proklos die Ideen sowohl von mentalen Konzepten als auch vom Gemeinsamen in den Einzeldingen abgrenzt, was in scholastischer Terminologie als Abgrenzung von den universalia post res einerseits und dem universale in re andererseits bezeichnet wurde.348 Die transzendenten Ideen konzipiert Proklos als unpartizipierbar (÷mÍqekta), die die partizipierten Entitäten (tJ metexümena), an denen die Instanzen teilhaben, erst hervorbringen. Daß die Bürde der Vermittlung zwischen Immanenz und Transzendenz auf den metexümena liegt, darauf wurde hingewiesen.349 Für den Bereich der Logik wurde gezeigt, daß die Transzendenz der Ideen in der Philosophie des Proklos eine Logik begründet, die sich aus prädikatenlogischer Perspektive paradox ausnimmt: Für die Idee F-selbst ist nicht entscheidbar, ob sie die Eigenschaft F, für die sie verantwortlich ist, hat oder nicht hat. Dieses Kapitel widmet sich einer speziellen Implikation der Transzendenz der Ideen, ihrer Transzendenz über Raum und Zeit. Der Raum und die Zeit sind die Seinsweisen des Endlichen, das Proklos mit Platon das Werdende nennt. Platon setzt im Timaios das Sein, das immer ist (t˛ ïn ÷eû), dem immer Werdenden, das aber niemals Sein ist (t˛ gignümenon [. . .] ÷eû, ïn d˚ oždÍpote), gegenüber.350 In dem von Proklos kommentierten Text fehlt das ÷eû nach t˛ gignümenon, so daß er die beiden konträren Termini des Seins, das immer ist, und des Werdenden, das niemals Sein ist, kommentiert. Das Sein, das immer ist, ist für ihn im weitesten Sinne der intelligible Kosmos,351 wobei die Monas des Seienden, die Proklos auch das Eine Sein nennt, nur der Ursache nach immer ist.352 Das Werdende, das 348

cf. C. III. 1. cf. C. III. 2. 350 Platon, Timaios 27d6–28a1. _ _ 351 In Tim. I.232,4–7: Êst\ e ùnai dhlon ýk toŸtwn, Õti t˛ ÷e˝ ïn Ñpasan _ _ perieûlhðe tÌn pr˛ twn yuxwn ðŸsin eŁte nohtÌn eŁte noerÜn, ÷rxomÍnhn _ _ _ m˚n ÷p˛ tou ažtoüntoò, teleutwsan d˚ eùò t˛n merik˛n noun. („So daß daraus deutlich ist, daß das Sein, das immer ist, die ganze den Seelen vorgängige Ordnung umfaßt hat (sei es die intelligible, sei es die intellektuelle), die vom Sein selbst ihren Anfang nimmt, beim individuellen Intellekt aber aufhört.“). _ 352 In Tim. I.234.23–27: trixwò gÜr ýstin Òkaston, í kat\ aùtûan, í kaq\ _ Öparcin, í katJ mÍqecin· t˛ m˚n ožn Ùn ïn kaq\ Öparcûn ýsti münwò Øn, kat\ aùtûan d˚ ÷e˝ Øn, þ d˚ aùšn kaq\ Öparcin ÷e˝ Øn, katJ mÍqecin d˚ Øn, t˛ d˚ aùÿnion katJ mÍqecin ïn ka˝ ÷e˝ Øn, kaq\ Öparcin d˚ ållo ti, noht˛n í noht˛n ka˝ noer˛n í noerün. („Denn jedes einzelne ist auf dreierlei Weise: entweder der Ursache nach oder gemäß der Existenz oder durch Partizipation: Das Eine Sein nun ist gemäß der Existenz nur Sein, der Ursache nach aber Sein, das immer ist. Die Ewigkeit aber ist gemäß der Existenz Sein, das immer ist, durch Partizipation jedoch Sein. Das Ewige ist durch Partizipation Sein und Sein, das immer ist, gemäß der Existenz aber etwas anderes, ein intelligibles oder ein intelligibles und intellektuelles oder ein intellektuelles.“). Cf. _ auch In Tim. I.231,29–232,1: eù mÌ åra kÜlliston twn nooumÍnwn pÜntwn _ _ _ _ _ _ zˆwon t˛ ažtozˆwon e ùpe nooumÍnwn Øntwn ka˝ tou aùwnoò pr˛ tou zˆÿou ka˝ 349

VIII. Die Transzendenz der Ideen II: jenseits von Raum und Zeit

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niemals Sein ist, ist für ihn hingegen das Körperliche.353 Das Werdende ist räumlich und zeitlich verfaßt. Zwischen dem intelligiblen Kosmos und dem Körperlichen steht die Seele, die zwar nicht räumlich, wohl aber in einer gewissen Hinsicht zeitlich verfaßt ist: Jede partizipierbare Seele hat ihr Wirken gemäß der Zeit, wenngleich sie ihr Wesen als ewiges hat: Jede partizipierbare Seele hat zwar ihr Wesen als ewiges, ihr Wirken jedoch gemäß der Zeit.354

Ausschlaggebend dafür, daß etwas durch Zeit gemessen wird, ist, daß es im Werden ist: Alles, was durch Zeit gemessen wird, ist entweder bezüglich seines Wesens oder seines Wirkens in der Hinsicht, in der es gemäß der Zeit gemessen wird, im Werden.355

Da das Wirken der Seele im Werden ist, wird sie durch Zeit gemessen. Die Zeit reicht in der Metaphysik des Proklos in höhere Schichten als der Raum, denn die Zeit bezieht sich im Gegensatz zum Raum nicht nur auf das Körperliche, sondern auch auf das Wirken der Seele. 1. Die Transzendenz der Ideen über den Raum Die Besprechung von Proklos’ Interpretation des Segeltuchdilemmas hat gezeigt, daß Proklos die Partizipation der Instanzen an den Ideen als unkörperlich konzipiert: Die Idee ist ein Ganzes vor den Teilen, eine dritte Möglichkeit neben den beiden scheinbaren Alternativen, daß die Instanz an der ganzen Idee oder aber an einem Teil der Idee teilhat. An der Idee als Ganzem vor den Teilen hat die Instanz einerseits ganz teil, weil sie die Eigenschaft, für die die Idee steht, ganz bewahrt, andererseits nur teilweise, weil sie die Wirkmächtigkeit der Idee nur zu einem Teil aufnimmt. Diese dritte Möglichkeit, das Ganze vor den Teilen, ist, darauf wurde hingewiesen, nur gegeben, weil Proklos die Ideen als unkörperlich konzipiert. _

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tou Ån˛ò Øntoò, tou m˚n ¼ò kat\ aùtûan ÷eû, tou d˚ ¼ò kaq\ Öparcin, tou _ _ _ aùwnoò, tou d˚ ¼ò katJ mÍqecin, tou aùwnûou. („Außer wenn er also das Autozôon das schönste Lebewesen all dessen nannte, was intellektuell erkannt wird, und das, was intellektuell erkannt wird, sowohl die Ewigkeit vor dem Lebewesen als auch das Eine Sein sind, wobei das dritte der Ursache nach immer, das zweite, die Ewigkeit, aber gemäß der Existenz immer, das erste, das Ewige, durch Partizipation immer ist.“). _ 353 In Tim. I.233,15 sq.: münon d˚ t˛ swma gignümenün ýsti ka˝ Øntwò oždÍpote Øn. („Einzig der Körper aber ist das Werdende und niemals das wirkliche Sein.“). _ 354 E. T. 191,1 sq.: Pasa yuxÌ meqektÌ tÌn m˚n ožsûan aùÿnion ñxei, tÌn d˚ ýnÍrgeian katJ xrünon. _ 355 E. T. 50,1 sq.: Pan t˛ xrünˆw_ metroŸmenon í katJ tÌn ožsûan í katJ _ tÌn ýnÍrgeian gÍnesûò ýsti taŸt´h, ´ê metre itai katJ xrünon.

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C. Die Ideen

Wegen ihrer Unkörperlichkeit ist die Idee in der Philosophie des Proklos überall. Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit, denn Proklos sagt im selben Atemzug, daß die Idee nirgends ist: Man kann aber nur eine wissenschaftliche Begriffsbestimmung der Teilhabe geben, wenn man, nachdem man sowohl das Körperliche von der Anwesenheit als auch das Gemeinsame von der Unkörperlichkeit entfernt hat, so etwa festsetzt, daß die Dinge hier auf unkörperliche Weise an den Ideen partizipieren [. . .], damit dieselben sowohl überall sind wegen ihrer Unkörperlichkeit, als auch nirgends wegen ihrer Transzendenz über die Partizipierenden; denn die Gemeinsamkeit mit den Partizipierenden beschränkt die transzendente Überlegenheit.356

Die Idee ist also überall und zugleich nirgends, und im weiteren Sinne gilt das für jede Ursache, die von ihrer Wirkung getrennt (xwristün) ist: Jede getrennte Ursache ist überall und zugleich nirgends.357

Der Befund, daß die getrennten Ursachen im allgemeinen und die Ideen im besonderen sowohl überall als auch nirgends sind, ist paradox. Dies hat De Rijk zu folgender Bemerkung veranlaßt: Reading such statements might easily lead you to the middle of nowhere.358

Doch was ist der systematische Grund für dieses Paradox? Zur Klärung dieser Frage soll zunächst darauf eingegangen werden, wie Proklos rechtfertigt, daß die Idee als transzendente Ursache überall und nirgends ist. Daß die Idee überall ist, begründet er mit der Unkörperlichkeit der Idee, die, wie gezeigt wurde, vielen verschiedenen Instanzen als ganze präsent ist, ohne selbst geteilt zu werden: Es sind ja doch die Körper, die nicht als ganze in vielen sein können, die Entitäten aber, die als Unkörperliche für sich sind, sind allen Entitäten, die an ihnen partizipieren können, als ganze gegenwärtig.359

Daß die Idee nirgends ist, begründet Proklos, wie obiges Zitat zeigt, mit der Transzendenz der Idee. Daß die Ideen im besonderen und die transzendenten Ursachen im allgemeinen überall und nirgends sind, bringt also das Spannungsfeld zwischen Transzendenz und Immanenz zum Ausdruck. 356 In Parm. 882,26–36: Münwò d\ ºn ýpisthmonik˛n lügon ÷podoûh tiò per˝ _ _ _ thò meqÍcewò, eù ka˝ thò parousûaò ÷ðelšn t˛ swmatoeid˚ò ka˝ thò ÷swma_ _ _ _ tûaò t˛ koin˛n, oÖtw_ pwò qe ito metÍxein tJ t´hde twn ùdewn ÷swmÜtwò [. . .], _ _ Ôna ka˝ pantaxou −sin aÁ ažta˝ diJ t˛ ÷sÿmaton, ka˝ oždamou diJ t˛ _ _ _ ýc´hrhsqai twn metexüntwn· ê m˚n gJr pr˛ò tJ metÍxonta koinüthò ÷ðaire i tÌn ýc´hrhmÍnhn ëperoxÇn. _ _ _ 357 E. T. 98,1: Pan aŁtion xwrist˛n pantaxou ýstin Ñma ka˝ oždamou. 358 De Rijk, S. 1. _ 359 In Parm. 882,41–883,3: TJ goun sÿmatÜ ýsti tJ mÌ dunÜmena Õla ýn _ _ _ _ pollo iò e ùnai, tJ d˚ kaq\ aëtJ ÷sÿmata pasin Õla pÜresti to iò metÍxein _ ažtwn dunamÍnoiò.

VIII. Die Transzendenz der Ideen II: jenseits von Raum und Zeit

255

Überall ist die transzendente Ursache, weil sie ihren immanenten Wirkungen gegenwärtig ist: Denn durch die Mitteilung ihrer eigenen Wirkmächtigkeit ist sie überall.360

Nirgends ist sie, weil sie als transzendente Ursache von ihren Wirkungen getrennt ist: Aufgrund ihres Wesens aber, das mit dem, was im Raum ist, unvermischt ist, und aufgrund ihrer transzendenten Reinheit ist sie nirgends.361

So ist die transzendente Ursache überall, die transzendente Ursache hingegen nirgends: Damit sie nun nicht nur als Ursache in allem ist, was teilhaben kann, sondern auch als etwas Getrenntes, das für sich ist, allem vorgängig ist, was von ihr erfüllt wird, ist sie überall und zugleich nirgends.362

Daß die Idee überall und nirgends ist, ist aus immanenter Perspektive paradox. Dieses Paradox erinnert an jenes, das im Abschnitt zur Logik der Transzendenz behandelt wurde: Aus prädikatenlogischer Perspektive muß die Eigenschaft, für die eine Idee verantwortlich ist, dieser Idee sowohl zuals auch abgesprochen werden. Nun heißt es von der Idee und von jeder getrennten Ursache, daß sie sowohl überall als auch nirgends ist. Somit wird der Idee einerseits zugesprochen, daß sie an jedem Ort ist, andererseits wird ihr abgesprochen, daß sie an irgendeinem Ort ist. Gibt es einen systematischen Zusammenhang zwischen den beiden Paradoxa? Überall und nirgends beziehen sich in ihrer Grundbedeutung auf den Raum und sind in dieser Bedeutung zueinander konträr: Wenn etwas überall ist, so besetzt es den ganzen zugrunde liegenden Raum, wenn etwas nirgends ist, so ist es an keinem Ort des zugrunde liegenden Raumes zu finden. Setzt man eine Welt voraus, in der alles, was es gibt, räumlich konstituiert ist (tJ ýn tüpˆw Ønta363), so ist der Satz, daß etwas nirgends ist, gleichbedeutend damit, daß es nicht existiert. Dies kann im Falle der transzendenten Idee, von der Proklos sagt, daß sie nirgends ist, freilich nicht gemeint sein. Wie aber ist die Negation, die „nirgends“ ausdrückt, in der Aussage, daß die Idee nirgends ist, dann gemeint, die Proklos überdies der scheinbar konträren Aussage, daß sie überall ist, anfügt? Daß die Idee nirgends ist, begründet Proklos mit ihrer Transzendenz. Aus ihrer Transzendenz folgt aber 360

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E. T. 98,2: t´h m˚n gJr metadüsei thò Åautou dunÜmeÿò ýsti pantaxou. _ _ E. T. 98,5 sq.: t´h d˚ ÷mûktˆw pr˛ò tJ ýn tüpˆw Ønta ožsû ´a ka˝ t´h ýc´hrh_ mÍn´h kaqarüthti oždamou_ ýstin. _ _ _ 362 E. T. 98, 14–17: Ôn\ ožn ka˝ aŁtion ëpÜrxon ýn pasin ´þ to iò dunamÍnoiò _ _ _ _ metÍxein, ka˝ xwrist˛n ïn ýð\ Åautou pr˛ pÜntwn ´þ twn ÷p\ ažtou plhrou_ _ mÍnwn, pantaxou ýstin Ñma ka˝ oždamou. 363 E. T. 98,5 sq. (Cf. supra). 361

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C. Die Ideen

auch, daß sie nichts Gemeinsames mit den Instanzen hat, denn dies würde ihre Transzendenz beeinträchtigen. Daß sie nichts Gemeinsames mit den Instanzen hat, heißt aber, daß sie nicht selbstprädikativ ist. Daß die Idee nicht selbstprädikativ ist, ist, wie im Abschnitt zur Logik der Transzendenz gezeigt wurde, im Sinne einer transzendenten Negation zu lesen: Die Idee hat als transzendente Ursache nicht die Eigenschaft, für die sie verantwortlich ist, denn sie ist ihr vorgängig. Beide Negationen, die, daß die Idee nicht selbstprädikativ ist, und die, daß die Idee nirgends ist, haben ihren Grund in der Transzendenz der Idee. Ist also die Negation in der Aussage, daß die Idee nirgends ist, womöglich auch im Sinne einer transzendenten Negation zu lesen? Die transzendente Negation einer Eigenschaft bedeutet, daß die Idee dieser Eigenschaft als deren transzendente Ursache vorgängig ist. Was aber würde die transzendente Negation in „nirgends“ bedeuten? Im Rahmen welcher Deutung ist die paradoxe Wendung, daß die Idee überall und nirgends ist, erklärbar? Meine These ist, daß der Satz, daß die Idee überall und nirgends ist, analog zu dem Satz ist, daß die Idee F-selbst die Eigenschaft F sowohl hat als auch nicht hat. Die prädikatenlogische Negation und Affirmation decken den ganzen logischen Raum ab. Zwischen Fx und é PLFx gibt es kein Drittes. Dies wird aber dem ursächlichen Charakter der Ideen nicht gerecht, weil diese außerhalb des logischen Raumes stehen. Deshalb gilt aus der verkürzten Perspektive der Prädikatenlogik für die Idee F-selbst, daß sie die Eigenschaft F sowohl hat als auch nicht hat, beziehungsweise, daß sie die Eigenschaft F weder hat noch nicht hat. Aus dieser Perspektive ergibt sich ein Widerspruch, weil die Prädikatenlogik als Totalität des logischen Raumes etwas zugrunde legt, das von der transzendenten Idee überschritten wird. Ein Analogieschluß liefert eine vernünftige Deutung des Satzes, daß die Idee überall und nirgends ist. Die Idee wird hier nicht als außerhalb des logischen Raumes, sondern als außerhalb desjenigen Raumes betrachtet, auf den sich „überall“ und „nirgends“ beziehen. Daß die Idee nirgends ist, bedeutet also, daß sie außerhalb des Raumes steht. Sie transzendiert den Raum, der die Seinsweise ihrer Instanzen ist. Die Richtigkeit dieser Deutung belegt folgendes Zitat aus dem Parmenideskommentar: Denn das ganze Körperliche, das wegen seiner Ausdehnung als Begrenztes existiert, kann nicht auf dieselbe Art als dasselbe größeren und kleineren Dingen gegenwärtig sein; nun aber sind das Gleiche, das Größere und das Kleinere und jede einzelne der anderen den Partizipierenden auf gleiche Weise gegenwärtig, wie sie ausgedehnt sein mögen; also sind alle Ideen ohne Ausdehnung. Aus dem selben Grund aber sind sie auch jenseits jeden Ortes.364 364

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In Parm. 873,5–13: t˛ gJr swmatik˛n pan, ¼rismÍnon ëpÜrxon katJ tÌn _ diÜstasin, ÷dŸnaton ¼saŸtwò t˛ ažt˛ pare inai meûzosi ka˝ ýlÜttosin· ÷llJ

VIII. Die Transzendenz der Ideen II: jenseits von Raum und Zeit

257

Der Analogieschluß zwischen dem prädikatenlogischen Paradox, daß die Idee sowohl F als auch nicht-F ist, und dem topologischen Paradox, daß sie sowohl überall als auch nirgends ist, trägt deshalb, weil beide Paradoxa ihren Grund in der Transzendenz der Idee haben: Die Idee sprengt den Referenzrahmen, den die im Paradox vorkommenden Begriffe aufspannen. Als Ursache der Eigenschaft F sprengt die Idee F-selbst den Rahmen der logischen Bestimmung F oder nicht-F, als außerhalb des Raumes sprengt sie den Rahmen topologischer Bestimmungen. Zwischen den beiden Paradoxa gibt es also einen systematischen Zusammenhang. Das Paradox, daß die Idee überall und nirgends ist, hat demnach aus der Perspektive der Transzendenz und der der Immanenz je verschiedene Bedeutung: Aus der Perspektive der Transzendenz ist die Idee überall und nirgends, insofern sie den Raum überhaupt transzendiert. Der Widerspruch zwischen „überall“ und „nirgends“ löst sich mithin auf, weil diese Begriffe keine Bedeutung haben. Aus der Perspektive der Immanenz hingegen ist das Paradox ein echter Widerspruch, weil es behauptet, daß jeder oder kein Ort des zugrundeliegenden Raumes besetzt ist. Welchen Raum aber transzendieren die Ideen? Zur Beantwortung dieser Frage muß geklärt werden, auf welchen Raum sich „überall“ und „nirgends“ aus immanenter Perspektive beziehen. Dies läßt sich freilich besser an der Bestimmung „überall“ als an der Bestimmung „nirgends“ herausfinden, weil sie sich auf den ganzen Raum bezieht. Was bedeutet es, daß die Idee überall ist? Proklos argumentiert aus der Perspektive der Wirkungen der Ursache dafür, daß diese Ursache überall ist. Wenn Proklos sagt, daß die transzendente Idee überall ist, weil sie in all ihren Instanzen ist, so ist sie streng genommen nicht wirklich überall, sondern nur in diesen Instanzen. Möglicherweise meint Proklos jedoch, daß sie potentiell überall ist, daß also der ganze Raum, in dem sich die Instanzen finden können, als von der Idee oder der Ursache durchwirkt gedacht wird. Doch welcher Raum ist hier gemeint? Meint Proklos den physischen Raum? In diese Richtung weist die Wendung t´h d˚ ÷mûktˆw pr˛ò tJ ýn tüpˆw Ønta ožsû´a365 („aufgrund ihres Wesens aber, das mit dem, was im Raum ist, unvermischt ist“) im obigen Zitat, in der er die transzendente Ursache vom Bereich ihrer Wirkungen abgrenzt, denn tüpoò bedeutet in der Regel den physischen Raum. Es kann jedoch nicht einzig der physische Raum gemeint sein, denn beispielsweise ist die Idee der Tugend auch in einer tugendhaften körperlosen Seele zu finden. Gemeint ist offenbar der Raum als der Ort, an dem sich Ideen und Ursachen manifestieren, also der Ort, an dem sich Instanzen und Wirkungen finden. _

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mÌn ka˝ t˛ Łson ka˝ t˛ me izon ka˝ t˛ ñlatton, ka˝ Òkaston twn ållwn þmoûwò _ pÜresti to iò metÍxousin, Õpwò ºn ñxoi diastÜsewò· ÷diÜstata åra pÜnta tJ eŁdh ýstû. KatJ d˚ tÌn ažtÌn aùtûan ka˝ tüpou pant˛ò ëperûdrutai. 365 E. T. 98,5 sq. Cf. supra.

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C. Die Ideen

Auf niedrigster Ebene, wenn von materiellen Instanzen die Rede ist, ist dies der physische Raum, so daß die Idee diesen gewiß transzendiert. Das Paradox, daß die Idee überall und nirgends ist, ergibt sich aus der Perspektive der Immanenz. Aus dieser Perspektive beziehen sich überall und nirgends auf den immanenten Raum: Überall ist die Idee, weil ihre Instanzen potentiell den ganzen Raum einnehmen, nirgends ist sie, weil sie, die Immanenz überragend, aus dieser Perspektive nicht einholbar ist. Weil die Idee die Immanenz, die auf niedrigster Ebene räumlich konstituiert ist, transzendiert, ergibt sich das Paradox aus dieser Perspektive. Weil die Idee nicht räumlich konstituiert ist, führt ein Sprechen über sie in räumlichen Kategorien zu einem scheinbaren Widerspruch, der seinen Grund darin hat, daß sie den Raum transzendiert. Aus der Perspektive der Transzendenz beziehen sich „überall“ und „nirgends“ auf gar keinen Raum, denn die Idee transzendiert den Raum. Also bedeuten die beiden Begriffe aus der Perspektive der Transzendenz das Gleiche, nämlich gar nichts. Was im speziellen für die Idee gilt, gilt im allgemeinen für jede getrennte Ursache. Das Ineinandergreifen von Immanenz und Transzendenz, von „überall“ und „nirgends“ wird an folgender Stelle, in der Proklos die Bestimmungen „überall“ und „nirgends“ auf das Sein bezieht, besonders gut deutlich: Denn das Sein ist deshalb nirgends, weil es überall ist: Denn was von einem Ort festgehalten wird, ist in etwas, was aber allem auf gleiche Weise gegenwärtig ist, ist nirgends speziell, und weil es wiederum nirgends ist, deshalb ist es überall: Denn weil es über alles auf gleiche Weise transzendent ist, ist es allem auf gleiche Weise gegenwärtig, da es ja von allem gleich weit entfernt ist.366

Proklos läßt die Begründungen dafür, daß das Sein überall und nirgends ist, ineinander umschlagen. Daß das Sein nirgends ist, begründet er im Rahmen der Immanenz damit, daß es überall ist, denn was überall ist, ist an keinem bestimmten Ort und insofern auch wieder nirgends. Dieses Argument überschreitet den immanenten Rahmen jedoch bereits, denn daß das Sein nirgends ist, erklärt sich ja gerade daraus, daß es als transzendentes Prinzip im Bereich des Immanenten nicht haftbar gemacht werden kann. Hier schlagen also auch Immanenz und Transzendenz ineinander um. Ebenso im zweiten Argument. Hier erklärt Proklos, daß das Sein überall ist, aus seiner Transzendenz, die sich ja, wie gezeigt wurde, aus immanenter Perspektive vor allem dahingehend darstellt, daß das Sein nirgends ist. Weil es alles auf gleiche Weise transzendiert, ist es von allem gleicherma366

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In Parm. 1138,10–16: oždamou gJr t˛ ïn, diüti pantaxou· t˛ gJr ëpü _ _ tinoò tüpou kratoŸmenon ñn tinû ýsti, t˛ d˚ pasin þmoûwò par˛n oždamou _ _ _ u· diJ gJr ýstin ÷ðwrismÍnwò, ka˝ diüti pÜlin oždamou, diJ touto pantaxo _ _ _ _ t˛ pÜntwn þmoûwò ýc´hrhsqai pasin þmoûwò pÜrestin, o Áon ýcûsou twn pÜntwn ÷ðestÿò.

VIII. Die Transzendenz der Ideen II: jenseits von Raum und Zeit

259

ßen entfernt und so auch wieder überall: Auch so kann die Transzendenz der Idee aus immanenter Perspektive gesehen werden. Diese beiden Argumente funktionieren für das Sein wegen seiner Omnipräsenz besonders gut, sind aber auch für die Ideen denkbar. So ist beispielsweise die Idee des Menschen überall, insofern sie in jedem Menschen ist. Diese Bestimmung ist aber so unspezifisch, daß man schon wieder sagen kann, daß sie nirgends ist. Als transzendente Idee ist sie aus immanenter Perspektive einerseits nirgends. Weil sie damit aber von allen Menschen gleichermaßen entfernt ist, ist sie zugleich überall. „Überall“ hätte in diesem Falle aus immanenter Perspektive eine engere Bedeutung als im Falle des Seins, weil es sich nur auf den Bereich der Instanzen der Idee des Menschen bezöge. Die paradoxe Wendung, daß die getrennten Ursachen im allgemeinen und die Ideen im besonderen überall und nirgends sind, kombiniert zwei Bestimmungen, die aus der Perspektive der Immanenz zueinander konträr sind. Diese Perspektive greift jedoch zu kurz, weil sie den Ideen, die die Immanenz und damit auch den Raum transzendieren, nicht gerecht wird. Daß die Idee nirgends ist, ist die unbeholfene Weise, ihre Transzendenz aus der Perspektive der Immanenz zum Ausdruck zu bringen. Daß die Idee überall ist, bringt die Omnipräsenz der transzendenten Idee aus immanenter Perspektive zum Ausdruck. Weil die transzendente Idee des Raumes enthoben ist, läßt sich von ihr sagen, daß sie sowohl überall als auch nirgends ist, ohne daß diese beiden Bestimmungen in konträrem Gegensatz zueinander stünden. 2. Die Transzendenz der Ideen über die Zeit Wie aber steht es um das Verhältnis zwischen den Ideen und der Zeit? Die raumzeitliche Verfaßtheit ist ein Signum des Endlichen und so erstaunt es nicht, daß die Ideen neben dem Raum auch die Zeit transzendieren: Ebenso sind sie in ihrer Einfachheit eben auch über jede Zeit transzendent; denn sie sind allem auf zeitlose Weise und auf einmal gegenwärtig.367

Weil die Idee den Raum transzendiert, ergibt sich aus immanenter Perspektive das Paradox, daß die Idee überall und nirgends ist. Nun stellt sich die Frage, ob die Transzendenz der Ideen über die Zeit zu einer Antinomie führt, die der Antinomie, daß die Idee überall und nirgends ist, entspricht. Eine solche Antinomie ergäbe sich aus der immanenten Perspektive, die der zeitlichen Bestimmung nicht entfliehen kann. Sie hätte ihren Grund darin, daß die immanente Perspektive immer an zeitliche Bestimmungen gebunden 367 In Parm. 873,18–20: ¢WsaŸtwò ge ka˝ xrünou pant˛ò ëperÇplwtai· pÜresti gJr ÷xrünwò Ñpasi ka˝ ÷qrüwò.

260

C. Die Ideen

ist und der Transzendenz der Idee über die Zeit nicht gerecht wird. Soll diese Antinomie aufgespürt werden, so muß man der Frage nachgehen, wie sich die transzendente Idee aus der Perspektive der Zeitlichkeit darstellt. Das antike Denken betrachtete die natürliche Arten als unvergänglich (hatte es doch im Gegensatz zu uns kein empirisches Wissen von der Vergänglichkeit der Arten). Deshalb sind in der platonischen Philosophie die Prinzipien, welche für diese verantwortlich sind, i. e. die transzendenten Ideen, unaufhörlich (÷i¤ dûwò): Denn wenn es sogar unmöglich ist, daß eine der Arten gänzlich ausstirbt, ist es ohne Zweifel umsomehr notwendig, daß auch die eine Ursache jeder einzelnen unaufhörlich bewahrt wird und besteht.368

Was aber unaufhörlich besteht, das ist aus der Perspektive der Zeitlichkeit immer. Und so sagt Proklos vom Menschen – und hier meint er den Menschen schlechthin (ãplwò ånqrwpüò369) und nicht irgendeinen Menschen (tiò ånqrwpoò370) –, daß er immer (÷e˝) ist: _

Denn der Mensch ist immer.371

Wenn etwas ein Prädikat immer hat, hat es dieses nicht mal schon, dann wieder nicht, sondern ewig (aùwnûwò): Wann immer wir aber „immer schön“ sagen, erkennen wir das, was nicht zwar bald schön ist, bald aber nicht schön, sondern ewig schön ist.372

Unaufhörlich, immer und ewig bedeuten aus der Perspektive der Zeitlichkeit die ganze Ausdehnung der Zeit. Weil sich die Wirkungen einer Idee über die ganze Zeit erstrecken, ist die Idee, argumentiert man von der unendlichen Dauer ihrer Wirkungen her, immer, denn sie manifestiert sich immer. Andererseits jedoch kann der Idee, weil sie die Zeit transzendiert, keine Dauer zugeschrieben werden. Wie aber stellt sich das Fehlen einer zeitlichen Dauer aus der Perspektive der Zeitlichkeit dar? Es ist die zeitliche Kategorie des Nun oder Jetzt (t˛ nun), das nach Aristoteles zwar Grenze und Zusammenhang der Zeit,373 nicht aber ihr Teil ist: _

_

_

368 In Parm. 1047,33–36: Eù gJr ka˝ mhd˚n twn eùdwn Õlon ýkleûpein duna_ _ t˛n, pollˆw dÇpou mallon ka˝ tÌn mûan ÷rxÌn ÅkÜstou sÿzesqai ka˝ mÍnein _ ÷i¤ dûwò ÷nagka ion. 369 In Parm. 792,5 sq. 370 In Parm. 792,6. 371 In Parm. 792,6 sq.: ÷e˝ gÜr ýstin ånqrwpoò. _ 372 In Tim. I.238,23–25: Õtan d˚ ÷e˝ kalün , â mÌ pot˚ m˚n _ kalün ýsti, pot˚ d˚ ož kalün, ÷ll\ aùwnûwò ýst˝ kalün . _ 373 cf. Aristoteles, Physica 220a10–12: T˛ d˚ nun ýstin sunÍxeia xrünou, Êsper ýlÍxqh· sunÍxei gJr t˛n xrünon t˛n parelhluqüta ka˝ ýsümenon, ka˝ _ _ pÍraò xrünou ýstûn· ñsti gJr tou m˚n ÷rxÇ, tou d˚ teleutÇ. („Das Jetzt bildet

VIII. Die Transzendenz der Ideen II: jenseits von Raum und Zeit

261

Das „Jetzt“ aber ist nicht Teil: der Teil mißt (das Ganze) aus, und das Ganze muß aus den Teilen bestehen; die Zeit besteht aber ganz offensichtlich nicht aus den „Jetzten“.374

Auch für Proklos kann die kontinuierliche Dauer der Zeit nicht aus Jetzten bestehen, weil das Jetzt bzw. Nun „teillos“375 ist, teillose Dinge aber „nichts Kontinuierliches bilden“.376 Somit ist das Nun zwar zeitliche Kategorie, jedoch ohne Dauer. Es bietet sich also an, die Idee, der keine Dauer zugeschrieben werden kann, weil sie die Zeit transzendiert, aus zeitlicher Perspektive als in einem Nun zu beschreiben. Und tatsächlich ist es in der Philosophie des Proklos das unteilbare Nun, in dem die überzeitlichen Ideen den zeitlichen Instanzen die Teilhabe gewähren: Ebenso sind sie in ihrer Einfachheit eben auch über jede Zeit transzendent; denn sie sind allem auf zeitlose Weise und auf einmal gegenwärtig; da ja auch die Entstehensprozesse, wie wir vorher sagten, gewisse Vorbereitungen für die Teilhabe an jenen sind, sind auch sie zwar ganz und gar in der Zeit, die Ideen aber gewähren den Dingen, die in einem Entstehensprozeß sind, die Teilhabe an ihnen, ohne daß sie dazu überhaupt zeitlichen Ausdehnung bedürften, sondern auf unteilbare Weise im unteilbaren Nun selbst, was denn auch ihr ewiges Sein nachbildet.377

Ist das Augenmerk auf die fehlende Dauer der überzeitlichen Idee gerichtet, so ist sie zugleich, im Nun oder aber im Plötzlichen, denn sie manifestiert sich augenblickshaft: Deshalb stellt sich die Idee auch bei den Dingen, die gemäß der Zeit in die Existenz kommen, im Plötzlichen ein.378

Es ergibt sich also folgende Antinomie: Weil die Idee die Zeit transzendiert, stellt sie sich aus der Perspektive der Zeitlichkeit einerseits im Nun den Zusammenhang von Zeit, wie gesagt wurde; es hält ja die vergangene und zukünftige Zeit zusammen. Und es ist auch die Grenze von Zeit, stellt es doch des einen Anfang, des anderen Ende dar.“ Übersetzung: Zekl). _ _ 374 Aristoteles, Physica 218a6–8: t˛ d˚ nun ož mÍroò· metre i te gJr t˛ mÍroò, _ _ _ _ _ _ ka˝ sugke isqai de i t˛ Õlon ýk twn merwn· þ d˚ xrünoò ož doke i sugke isqai _ _ ýk twn nun. (Übersetzung: Zekl). _ 375 E. P. I.16,1: T˛ nun ÷merÍò ýstin. („Das Nun ist teillos.“). _ 376 E. P. I.2,1: DŸo ÷merh sunex˚ò ožd˚n poiÇsei. („Zwei teillose Dinge werden nichts Kontinuierliches bilden.“ Übersetzung: Ritzenfeld). 377 In Parm. 873,18–27: ¢WsaŸtwò ge ka˝ xrünou pant˛ò ëperÇplwtai· pÜresti gJr ÷xrünwò Ñpasi ka˝ ÷qrüwò· ýpe˝ ka˝ aÁ genÍseiò proparaskeuaû _ _ tinÍò eùsi thò ýkeûnwn meqÍcewò, ¼ò proeûpomen, ka˝ aëtai m˚n ýn xrünˆw _ _ pÜntwò, tJ d˚ eŁdh to iò ýn genÍsei dûdwsi tJò Åautwn meqÍceiò ožd˚n Õlwò _ _ _ _ prosdeümena thò katJ t˛n xrünon paratÜsewò, ÷ll\ ýn ažtˆw tˆw nun _ _ ÷merûstˆw ÷merûstwò, â dÌ ka˝ mime itai tÌn aùÿnion ažtwn ëpüstasin. _ 378 In Parm. 844,4–6: Õqen ka˝ ýn to_iò katJ xrünon ëðistamÍnoiò ýn tˆw _ ýcaûðnhò paragûgnetai t˛ e ùdoò.

262

C. Die Ideen _

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_

(ýn tˆw nun), im Plötzlichen (ýn tˆw ýcaûðnhò) oder zugleich (÷qrüwò) dar, andererseits jedoch als immer (÷eû), unaufhörlich (÷i^dion) und ewig (aùÿnion). Diese Antinomie entspricht der räumlichen Antinomie, daß die Idee überall und nirgends ist. Argumentiert man von der raumzeitlichen Omnipräsenz der Idee in ihren Wirkungen, so ist die Idee überall und immer. Hat man hingegen aus raumzeitlicher Perspektive im Blick, daß die Idee weder räumlich noch zeitlich einholbar ist, so ist sie aus räumlicher Perspektive nirgends, aus zeitlicher Perspektive hingegen in einem Nun, weil sie ohne Dauer ist. Aus der Perspektive der transzendenten Idee ist die Antinomie jedoch aufgehoben, weil dort, was aus räumlicher Perspektive zueinander konträr ist, keine Bedeutung hat, und was aus zeitlicher Perspektive zueinander konträr ist, in eins fällt: Die beiden Bestimmungen, das Immer und das Nun, koinzidieren im Bereich des Intelligiblen. Bisher wurden die Begriffe „immer“, „unaufhörlich“ und „ewig“ als zeitliche Bestimmungen betrachtet und als zeitliche Bestimmungen haben sie die gleiche Bedeutung. Dabei geraten jedoch wichtige Differenzierungen aus dem Blick, denn in der Philosophie des Proklos beziehen sich diese Begriffe auch oder insbesondere auf das Intelligible, dessen überzeitliche Seinsweise Proklos in der Regel als ewig (aùÿnion) bezeichnet. Eine Verwendung des Begriffes „ewig“ im Sinne eines zeitlichen Immer, wie es das obige Zitat, daß das, was immer schön sei, nicht bald schön, bald aber nicht schön, sondern ewig schön sei, nahelegt, ist bei Proklos eher selten. Weil im Intelligiblen die Antinomie zwischen Nun und Immer aufgehoben ist, ist das ewige Immer (Proklos meint hier das intelligible Immer) im Nun: Das dritte aber zeigt die Unveränderlichkeit: Denn dies ist das Immer; und nicht einfach die Unveränderlichkeit, sondern die ewige Dauerhaftigkeit; denn anders ist das zeitliche Immer und anders das ewige. Letzteres ist das ganze Sein auf einmal, ersteres aber erstreckt sich zusammen mit dem ganzen Zusammenhang der Zeit und ist unendlich, letzteres ist im Nun, ersteres aber in einem Intervall, denn das Intervall trifft unaufhörlich ein und entsteht immer.379

Hier verwendet Proklos den Begriff „ewig“ ganz eindeutig im Sinne von „überzeitlich“, denn er setzt das ewige Immer vom zeitlichen Immer ab. „Immer“ hat bei Proklos – wie der Begriff des Unaufhörlichen – zwei Bedeutungen: 379

_

In Tim. I.238,31–239,6: t˛ d˚ tÌn ÷metablhsûan · _ touto gJr t˛ ÷eû· ka˝ ožx ãplwò tÌn ÷metablhsûan, ÷llJ tÌn aùÿnion diamonÇn· ållo gJr t˛ ÷e˝ t˛ xronik˛n ka˝ ållo t˛ aùÿnion· t˛ m˚n ÷qrüwò _ _ _ pan Øn, t˛ d˚ t´h Õl´h sunexeû ´a tou xrünou sunekteinümenon ka˝ åpeiron, t˛ _ _ _ m˚n ýn tˆw nun, t˛ d˚ ýn diastÜsei, thò diastÜsewò ÷katalÇktou tugxanoŸshò ka˝ ÷e˝ gignomÍnhò. _

VIII. Die Transzendenz der Ideen II: jenseits von Raum und Zeit

263

Freilich ist auch „immer“ zweideutig, einerseits ewig, andererseits aber zeitlich.380

Ebenso bezieht sich der Begriff des Unaufhörlichen (t˛ ÷i^dion) zum einen auf das Zeitliche, zum anderen jedoch auf das Intelligible. Dem Intelligiblen kommt er in erster Linie zu: Im eigentlichen Sinne nämlich und in erster Linie ist das Intelligible unaufhörlich (÷i^dion), in zweiter Linie aber das, was sich über den Hervorgang und die Entfaltung der Zeit erstreckt.381

Wenn sich die Begriffe „immer“ (÷e˝), „unaufhörlich“ (÷i^dion) und „ewig“ (aùÿnion) auf das Intelligible beziehen, ist in ihnen die Aufhebung der Antinomie zwischen dem Immer und dem Nun schon mitgedacht, denn diese beiden Bestimmungen, die aus zeitlicher Perspektive zueinander konträr sind, fallen aus überzeitlicher Perspektive in eins. So drücken diese drei Begriffe die Transzendenz des Intelligiblen über die Zeit aus, eine Eigenschaft des Intelligiblen, die in der Philosophie des Proklos wesentlich stärker in den Blick rückt als seine Transzendenz über den Raum. Woran mag das liegen? An folgender Stelle verbindet Proklos die beiden Aspekte, daß die Idee sowohl den Raum als auch die Zeit transzendiert, miteinander: Da ja die Ideen in erster Linie im Paradigma des Intelligiblen existieren, wie wir im Timaios gelernt haben, ist jede einzelne der ersten Ideen ohne Zweifel ein Eines, Sein und ein Ganzes; weil sie aber so beschaffen ist, kann sie auch zur selben Zeit als dieselbe in vielen sein, obgleich diese getrennt sind, allerdings auf transzendente Weise, so daß sie sowohl überall als auch nirgends ist und, obwohl allem auf zeitlose Weise gegenwärtig, dennoch mit ihm unvermischt ist.382 380

In Tim. III.3,8 sq.: ditt˛n gJr ka˝ t˛ ÷eû, t˛ m˚n aùÿnion, t˛ d˚ xronikün. In Tim. III.3,6–8: kurûwò m˚n gJr ka˝ prÿtwò ÷ûdion t˛ nohtün, deu_ _ Cf. tÍrwò d˚ t˛ t´h tou xrünou proüdˆw ka˝ ÷nelûcei sumparateinümenon. _ auch E. T. 55, 16–31: ýk dÌ toŸtwn ðaner˛n Õti dittÌ þn ê ÷i¤ diüthò, aùÿnioò _ m˚n ållh, katJ xrünon d˚ ållh· ê m˚n Åstwsa ÷i¤ diüthò, ê d˚ ginomÍnh· ka˝ ê _ _ _ _ m˚n þqroismÍnon ñxousa t˛ e ùnai ka˝ þmou pan, ê d˚ ýkxuqe isa ka˝ ýcaplw_ tÌn xronikÌn parÜtasin· ka˝ ê m˚n Õlh kaq\ aëtÇn, ê d˚ ýk qe isa katJ _ _ merwn, ¼n Òkaston xwrûò ýsti katJ t˛ prüteron ka˝ Österon. („Daraus ist natürlich deutlich, daß ‚Unaufhörlichkeit‘ zweideutig war, einerseits ewig, andererseits aber gemäß der Zeit; die eine eine feststehende Unaufhörlichkeit, die andere aber eine werdende; und die eine hat ihr Sein gesammelt und zugleich ganz, die andere aber gemäß der zeitlichen Erstreckung ausgegossen und ausgefaltet; und die eine ist ganz für sich, die andere aber aus Teilen, von denen jeder einzelne gemäß dem Früher und Später abgesondert ist.“). _ _ 382 In Parm. 861,9–16: \EpeidÌ tJ eŁdh prÿtwò ýn tˆw paradeûgmati twn _ _ nohtwn ëðÍsthken, ¼ò ýn Timaûˆw memaqÇkamen, Òkaston dÇpou twn_ prÿtwn _ _ _ eùdwn ka˝ Òn_ ýsti ka˝ ïn ka˝ Õlon· toiouton d˚ ïn ýn pollo iò m˚n e ùnai taž_ _ Êste pantaxou te e ùnai t˛n xwr˝ò ožsi dunat˛n ka˝ Ñma, ÷llJ ýc´hrhmÍnwò, _ _ _ ka˝ oždamou, ka˝ pasi par˛n ÷xrünwò åmikton e ùnai pr˛ò ažtÜ. 381

264

C. Die Ideen

Die räumliche und die zeitliche Transzendenz der Idee werden hier zusammengedacht und damit begründet, daß die Idee ein Eines, Sein und ein Ganzes ist. Diese Transzendenz ist der Grund dafür, daß sie als dieselbe zur selben Zeit (Ñma) in vielen, d. h. an verschiedenen Orten, sein kann. Um dem Unterschied zwischen der räumlichen und der zeitlichen Bestimmung nachzugehen, soll dieser Satz probehalber durch Vertauschung der räumlichen und der zeitlichen Bestimmungen umkehrt werden, so daß sich folgender Satz ergibt: „Die Transzendenz der Idee ist der Grund dafür, daß sie als dieselbe am selben Ort zu verschiedenen Zeiten sein kann.“ Dies ist aber offensichtlich Unsinn. Daß etwas zu verschiedenen Zeiten am selben Ort sein kann, bedarf keiner Transzendenz, sondern ist für immanente Dinge völlig normal. Offensichtlich können Zeit und Raum hier nicht vertauscht werden, sondern es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen der Zeit und dem Raum, was der tiefere Grund dafür sein mag, daß Proklos die Transzendenz der Idee über die Zeit stärker betont als ihre Transzendenz über den Raum. Doch worin liegt dieser Unterschied? Um dieser Frage auf die Spur zu kommen, sollen die beiden obigen Sätze genauer untersucht werden. Behutsam formalisiert stellen sie sich wie folgt dar: (1) a ist im Zeitpunkt t0 an verschiedenen Raumpunkten x1, x2, . . ., xn. (2) a ist zu verschiedenen Zeitpunkten t1, t2, . . ., tn am Raumpunkt x0. Diese beiden Sätze sind parallel gebaut. In beiden Sätzen ist die Rede von disparaten Punkten, in (1) des Raumes, in (2) der Zeit. Scheinbar können beide Sätze aus immanenter Perspektive, d. h. wenn a ein raumzeitlich konstituiertes Objekt ist, wahr werden. Damit (1) wahr wird, müßte a, was immer es sei, so groß sein, daß es die Raumpunkte x1, x2, . . ., xn abdeckt. Damit (2) wahr wird, müßte a am Raumpunkt x0 bleiben, bis die Zeitpunkte t1, t2, . . ., tn verstrichen sind. Doch warum eignet sich der erste Satz, auf die Transzendenz der Idee hinzuweisen, der zweite hingegen nicht? Offenbar wird der Fall, daß a so groß ist, daß es als dasselbe die Raumpunkte x1, x2, . . ., xn abdeckt, verworfen, denn a ist ja genaugenommen, dies ist das Argument des Segeltuchdilemmas, nicht als dasselbe an den verschiedenen Raumpunkten x1, x2, . . ., xn. Als dasselbe kann es aus immanenter Perspektive strenggenommen nur an einem Punkt sein. Das raumzeitlich konstituierte Objekt a kann Satz (1) nicht wahr machen, Satz (2) hingegen schon. Den ersten Satz macht kein raumzeitlich konstituiertes Objekt, sondern nur die Idee, die Raum und Zeit transzendiert, wahr. Woran aber genau liegt der Unterschied zwischen Satz (1) und Satz (2)? Beide Sätze erfordern, daß disparate Punkte miteinander zur Deckung gebracht werden, und hier zeigt sich der fundamentale Unterschied zwischen dem Raum und der Zeit. Damit verschiedene Zeitpunkte am selben Ort, an

VIII. Die Transzendenz der Ideen II: jenseits von Raum und Zeit

265

dem auch das raumzeitlich konstituierte Objekt a ist, zusammenfallen, braucht das Objekt a bloß ruhig liegen zu bleiben und zu warten, denn es gehört zum Wesen der Zeit, daß sie als „bewegtes Abbild der Ewigkeit“383 verschiedene Zeitpunkte miteinander verbindet. Wie aber könnten verschiedene Raumpunkte in eins fallen? Immanent können sie das höchstens aus der Perspektive von a, wenn a die verschiedenen Punkte x1, x2, . . ., xn durchläuft. Dies aber braucht Zeit und kann daher aus immanenter Perspektive unmöglich im selben Zeitpunkt t0 geschehen. Satz (1) kann also nur aus transzendenter Perspektive, wenn a kein raumzeitlich konstituiertes Objekt, sondern eine Idee ist, wahr werden. Ist mit dieser transzendenten Perspektive vor allem eine Transzendenz über den Raum oder eine Transzendenz über die Zeit gemeint? Der Satz (1), daß a im Zeitpunkt t0 an verschiedenen Raumpunkten x1, x2, . . ., xn ist, läßt sich sowohl aus der Transzendenz der Idee über den Raum als auch aus ihrer Transzendenz über die Zeit erklären. Weil die Idee wegen ihrer Transzendenz über den Raum überall und nirgends ist, wird der Satz (1) wahr, wenn man die Transzendenz der Idee über den Raum voraussetzt. Doch Satz (1) wird auch wahr, und dies ist der interessantere Fall, wenn man die Transzendenz der Idee über die Zeit voraussetzt: Aus intelligibler Perspektive fallen, wie weiter oben ausgeführt wurde, das Nun und das Immer zusammen. Das intelligible Nun ist eine Totalität, die das Immer umfaßt. Setzt man die Transzendenz der Idee über die Zeit voraus, so kann t0 als intelligibles Nun betrachtet werden, in dem es kein Nacheinander verschiedener Zeitpunkte, sondern nur die Totalität des „Zeitpunktes“ t0 gibt. Dann aber fallen die verschiedenen Raumpunkte in eins, denn es gibt kein Nacheinander verschiedener Zeitpunkte mehr, so daß Entfernungen nicht mehr zählen und mithin aufgehoben sind. Also ist die transzendente Idee a durch ihre Transzendenz über die Zeit allen Raumpunkten zugleich gegenwärtig. Aus der Transzendenz der Idee über die Zeit folgt mithin ihre Transzendenz über den Raum. Doch gilt dies auch umgekehrt? Folgt aus der Transzendenz der Idee über den Raum auch ihre Transzendenz über die Zeit? Wie dargelegt, wird Satz (1) auch wahr, wenn man die Transzendenz der Idee über den Raum voraussetzt. Doch folgt daraus irgend etwas über ihre Transzendenz über die Zeit? Für den Raum gibt es bei Proklos kein Konzept, das dem intelligiblen Nun, das die Totalität der Zeit in sich umgreift, analog wäre. Es gibt kein intelligibles Hier, das die Totalität des Raumes umgriffe, denn die Idee ist nicht überall und hier, sondern überall und nirgends. Geht es bei der zeitlichen Antinomie darum, zeitliche Dauer im Immer völlig zu bejahen und im Nun völlig zu negieren, so geht es bei der räumlichen Antino383

_

Platon, Timaios 37d7: ùousan aùÿnion eùküna.

266

C. Die Ideen

mie darum, daß die Idee den Raum völlig und gar nicht einnimmt, ohne daß letzteres durch einen raumlosen Punkt im Raum ausgedrückt würde. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob die Transzendenz über den Raum die Transzendenz über die Zeit impliziert, soll aus heuristischen Gründen eine sehr fragwürdige Interpretation des Satzes, daß die Idee überall ist, gewagt werden, die so tut, als dürfte dieser Satz in der Weise gedeutet werden, daß alle Raumpunkte in eins fallen. Fragwürdig ist diese Interpretation deshalb, weil Proklos, wie gesagt, für den Raum nichts kennt, das dem intelligiblen Nun analog wäre. Folgt aus dieser weitgehenden Interpretation irgend etwas für die Zeit? Würde das Ineinsfallen aller Raumpunkte die zeitlichen Differenzen aufheben, so wie ein ewiges Nun die räumlichen Differenzen aufhebt, weil die Zeit, die es zu ihrer Überwindung bräuchte, im Nun aufgehoben ist? Was folgt für die Zeit, wenn der Raum zu einem Punkt zusammenschrumpft? Es bräuchte keine Zeit mehr, um von einem Punkt zum anderen zu gelangen. Mit sehr viel gutem Willen läßt sich das tentative Argument, das den Raum auf einen Raumpunkt zusammenschrumpfen läßt, so weit treiben, daß die Differenz der Zeitpunkte aus der immanenten Perspektive dieses Raumpunktes aufgehoben ist, weil aus räumlich-immanenter Perspektive nichts passiert. Abgesehen davon, daß die Vorraussetzung dieses Arguments höchst zweifelhaft ist, ist dadurch nichts gewonnen, denn die Zeit wirkt in der Metaphysik des Proklos nicht nur im Raum, sondern auch in der Seele, deren Wirken bzw. Aktivität zeitlich ist. Die Zeit verflösse also trotzdem, auch wenn alle Raumpunkte in eins fielen. Aus der Transzendenz der Ideen über den Raum folgt, selbst wenn man sie in fraglicher Weise als Ineinsfallen aller Raumpunkte interpretiert, nichts für die Zeit. Die Transzendenz über die Zeit impliziert die Transzendenz über den Raum, nicht jedoch umgekehrt, denn die Zeit steht in der hierarchischen Metaphysik des Proklos höher als der Raum: Die Seele ist ihrem Wirken nach zeitlich konstituiert, nicht jedoch räumlich. Allein das Physische ist räumlich konstituiert. Dies erklärt, warum Proklos mehr Gewicht auf die Transzendenz der Ideen über die Zeit als über den Raum legt. Mit ihr wird mehr ausgesagt, denn den Raum transzendiert bereits die Seele. Allein das Intelligible aber transzendiert die Zeit. Die Transzendenz der Ideen über die Zeit bringt Proklos vornehmlich durch die Bezeichnungen „immer“ (÷e˝), „unaufhörlich“ (÷i^dion) und „ewig“ (aùÿnion) zum Ausdruck. Sie meinen die Eigenschaft der Ideen, die Zeit zu transzendieren: Ihr Immer ist in einem ewigen Nun aufgehoben. Doch woher kommt den Ideen diese Eigenschaft zu? Es braucht einer Art Meta-Idee, kraft derer den Ideen die Eigenschaft zukommt, unaufhörlich zu sein. Diese Meta-Idee ist die Ewigkeit (þ aùÿn). Sie ist sowohl etymologisch für das Immer (÷e˝) als auch ontologisch für die Unaufhörlichkeit der Ideen verantwortlich:

VIII. Die Transzendenz der Ideen II: jenseits von Raum und Zeit

267

„Immer“ aber von der Ewigkeit: Denn wie das Eine Sein der Anführer des Seins ist, so ist die Ewigkeit für das Intelligible die Anführerin der Unaufhörlichkeit.384

Die Relation zwischen der Ewigkeit und den ewigen Dingen ist also ein klassisches Verhältnis ÷ð’ Ån˛ò und pr˛ò Òn, denn die ewigen Dinge erhalten sowohl die Bezeichnung „immer“ als auch ihr unaufhörliches Sein von der Ewigkeit. Aus dem bisher Entwickelten läßt sich bereits zweierlei über die Ewigkeit konstatieren. Erstens ist sie ein überzeitliches Prinzip, mit ihr ist keinesfalls unendliche Dauer gemeint. Zweitens muß sie den Ideen, da diese ewig sind, vorgängig sein. Die Ewigkeit muß in der Metaphysik des Proklos also vor dem Autozôon, dem Ort der Ideen, zu finden sein. Mit der Ewigkeit in der Metaphysik des Proklos und ihrem Verhältnis zur Zeit werden sich die Teile E und F befassen.

384

_

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_

_

In Tim. I.239,12 sq.: t˛ d˚ „÷e˝“ ÷p˛ tou aùwnoò· ¼ò gJr tou e ùnai t˛ Ùn _ _ _ Øn, oÖtw thò ÷idiüthtüò ýsti xorhg˛ò to iò nohto iò þ aùÿn.

D. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation Teil C hat sich mit den Ideen in der Philosophie des Proklos befaßt. Die Ideen sind die transzendenten Ursachen ihrer Instanzen. Wie alle transzendenten Ursachen in seiner Philosophie sind sie die Antwort auf die Frage nach dem Woher (püqen;). Solche Ursachen sind nicht etwa bloß von explanatorischem Wert wie beispielsweise in der modernen Physik der Begriff des magnetischen Feldes, sondern sie haben ontologischen Status.1 Wie gezeigt wurde, ergeben sich für die Ideen drei verschiedene Paradoxa: das Paradox des Raumes, das der Zeit und das der Selbstprädikation. Aus der Perspektive der Immanenz behaupten diese Paradoxa Widersprüchliches, weil die Idee den Referenzrahmen überschreitet, den die im Paradox vorkommenden Begriffe aufspannen. Im folgenden soll zunächst der Grund dieser Paradoxa genauer untersucht werden, um dann der Frage nachzugehen, wie sichergestellt ist, daß diese Paradoxa das philosophische System des Proklos nicht ruinieren. Dazu soll als heuristisches Instrumentarium ein Vorschlag vorgestellt werden, innerhalb der Prädikatenlogik mit Paradoxa umzugehen, ohne diese von vornherein für sinnwidrig, also falsch, zu erklären. Der Kontrast zur formalen Logik soll ein weiteres Mal helfen, die Besonderheiten der Philosophie des Proklos aus heutiger Sicht klarer zu sehen.

I. Der Grund dieser Paradoxa Weiter oben wurde gezeigt, daß die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation ihren Grund in der Transzendenz der Idee haben: Die Idee sprengt den Referenzrahmen, den die im Paradox vorkommenden Begriffe aufspannen. Sie steht außerhalb des räumlichen, zeitlichen und logischen Rahmens, von dem im Paradox die Rede ist. Doch inwiefern führt 1 „Ontologischer Status“ ist hier in einem weiten Sinne zu verstehen und geht über den Bereich der Ønta hinaus. Wie gezeigt wurde, gibt es in der Philosophie des Proklos überseiende Ursachen (das Überseiende Eine, die Henaden und die beiden Prinzipien pÍraò und ÷peirûa), die zwar existieren aber nicht sind. Diesen _ Unterschied bringt Proklos durch die Verben ëpÜrxein („existieren“) und e ùnai („sein“) zum Ausdruck (cf. B. IV. 2.).

I. Der Grund dieser Paradoxa

269

die Überschreitung des im Paradox zugrundeliegenden Referenzrahmens zum Paradox? 1. Überschreitung des Referenzrahmens Um dieser Frage nachzugehen, soll zwischen dem räumlichen, dem zeitlichen und dem Referenzrahmen der logischen Bestimmung F oder éF unterschieden werden. Die Paradoxa des Raumes und der Zeit behaupten die Koinzidenz von Bestimmungen, die innerhalb des räumlichen und des zeitlichen Referenzrahmens zueinander konträr sind, das der Selbstprädikation die Koinzidenz der kontradiktorischen Bestimmungen F und éF. Die Idee nun steht außerhalb des räumlichen, des zeitlichen und des Referenzrahmens der logischen Bestimmung F oder éF. Was mag dies bedeuten? Wir können uns wesentlich leichter vorstellen, daß etwas den räumlichen Referenzrahmen überschreitet – schon von Gedanken liegt es nahe, anzunehmen, sie stünden außerhalb räumlicher Bestimmungen –, als daß etwas jenseits der binären Logik F oder éF steht. Dies nämlich erscheint als logisch unmöglich. Logisch unmöglich aber bedeutet nach den Regeln der klassischen Logik schlechterdings unmöglich. Dadurch entsteht der Eindruck, die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation seien verschieden schwerwiegend, denn das Paradox des Raumes läßt sich auflösen, wenn man annimmt, daß es schlichtweg unsinnig sei, etwas Nichträumlichem ein räumliches Attribut zu zuschreiben. Wenn wir es für sinnlos erachten, zu behaupten, mein Gedanke an heute Abend sei in der Küche, dann ist es genauso sinnlos, zu behaupten, er sei im Arbeitszimmer. Die Behauptung, dieser Gedanke sei in der Küche und im Arbeitszimmer ist nach dieser Deutung nicht vor allem paradox, insofern die räumlichen Bestimmungen „in der Küche“ und „im Arbeitszimmer“ zueinander konträr sind, sondern vielmehr sinnlos. In analoger Weise ließe sich das Paradox des Raumes für sinnlos erklären, weil die Idee ja außerhalb räumlicher Bestimmungen ist. Wenngleich es problematischer erscheint, etwas außerhalb zeitlicher Bestimmungen als außerhalb räumlicher Bestimmungen anzunehmen, läßt sich unter dieser Voraussetzung für das Paradox der Zeit ähnlich argumentieren. Eine entsprechende Auflösung des Paradoxes der Selbstprädikation bietet sich nicht an, solange „außerhalb des Referenzrahmen der logischen Bestimmung F oder éF“ als schlechterdings unmöglich erscheint. Daher liegt es nahe, anzunehmen, die Paradoxa des Raumes und der Zeit seien weniger schwerwiegend als die der Selbstprädikation. Doch diese Überlegungen gehen an Proklos vorbei und zwar aus mehreren Gründen. Erstens entspricht es nicht dem Denken des Proklos, eine Rangordnung aufzumachen, ob es eher denkbar ist, daß die Idee F-selbst

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D. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation

außerhalb des räumlichen, des zeitlichen oder des Referenzrahmens der logischen Bestimmung F oder éF steht: Die Idee F-selbst ist in der Philosophie des Proklos von vornherein außerhalb dieser drei Referenzrahmen. Zweitens entspricht es Proklos nicht, anzunehmen, die Paradoxa des Raumes und der Zeit seien unsinnig, denn Proklos versteht die Behauptungen, die Idee sei überall und nirgends sowie immer und im Nun durchaus als sinnvolle Aussagen. Doch was genau will er damit sagen? Zur Klärung dieser Frage soll das Paradox des Raumes betrachtet werden: Die Idee ist überall und nirgends. Schon ein Blick darauf, welche räumlichen Bestimmungen Proklos von der Idee aussagt, macht deutlich, daß es Proklos nicht angemessen sein kann, dieses Paradox als sinnlos abzutun, denn Proklos schreibt der Idee nicht zwei zueinander konträre Orte zu, sondern alle Orte im Gegensatz zu keinem Ort: nirgends. Daß etwas nirgends ist, ist ein Grenzfall zwischen räumlicher und nichträumlicher Bestimmung, denn diese Bestimmung kann als „außerhalb des Raumes stehend“ interpretiert werden. So gedeutet, bringt die zweite Teilaussage des Paradoxes des Raumes die Transzendenz der Idee über den Raum aus immanenter Perspektive zum Ausdruck, und in diesem Sinne versteht auch Proklos die Aussage, daß die Idee nirgends ist:2 Die Idee steht außerhalb des Raumes. Was jedoch will der erste Teil des Paradoxes, nämlich daß die Idee überall ist, sagen? Wie bereits gezeigt wurde, ist es die immanente Wirksamkeit der Idee im Raum, durch die sie überall ist.3 Daraus wird deutlich, daß es zu kurz griffe, wollte man das Paradox des Raumes ausschließlich mit der Transzendenz der Idee über den Raum und mithin mit der Sinnlosigkeit der Begriffe „überall“ und „nirgends“ aus transzendenter Perspektive begründen. Daß die Idee den räumlichen Referenzrahmen transzendiert, der im Paradox des Raumes aufgespannt wird, macht dieses noch nicht zu einem sinnvollen Paradox. Das Paradox des Raumes wird erst dadurch zum sinnvollen Paradox, daß in ihm zum Ausdruck kommt, daß die Idee außerhalb des Raumes steht und im Raum wirksam ist. Erst die Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz macht es zum sinnvollen Paradox. Die ontologische Begründung des Paradoxes des Raumes liegt in der Besonderheit der transzendenten Idee, immanent wirksam zu sein. Im folgenden soll untersucht werden, ob dies auch die ontologische Begründung des Paradoxes der Zeit und der Selbstprädikation ist. 2 Die Transzendenz der Idee ist der Grund dafür, daß die Idee nirgends ist. Cf. _ _ C. VIII. 1, wo In Parm. 882,34 sq. zitiert wird: [. . .] oždamou diJ t˛ ýc´hrhsqai _ twn metexüntwn („[. . .] nirgends wegen ihrer Transzendenz über die Partizipierenden“). 3 cf. C. VIII. 1.

I. Der Grund dieser Paradoxa

271

2. Immanente Wirksamkeit der transzendenten Idee Das Paradox des Raumes antwortet auf die Frage, wo die Idee ist, und diese Antwort kann nur aus immanenter Perspektive gegeben werden. Sie fällt widersprüchlich aus, denn die Idee ist einerseits der immanenten Perspektive entrückt, also transzendent und insofern aus dieser Perspektive nirgends. Andererseits jedoch können ihre Instanzen, in denen sie wirksam ist, überall sein: Insofern ist sie überall. Es läßt sich festhalten, daß die negative Aussage über die Idee, nämlich daß sie nirgends ist, im allgemeinen ihre Transzendenz, die positive hingegen, daß sie überall ist, ihre immanente Wirksamkeit aufzeigt.4 Dies gilt auch für das Paradox der Selbstprädikation, das auf die Frage antwortet, ob die Idee F-selbst F oder éF ist: Als Ursache ihrer Wirkungen ist sie F, als transzendente Ursache ist sie éF. Die Affirmation zeigt ihre immanente Wirksamkeit. Die Negation bringt ihre Transzendenz zum Ausdruck: Die Idee F-selbst ist éF, insofern sie ganz anders ist als alles Immanente. Doch wie steht es um das Paradox der Zeit, daß die Idee sowohl immer als auch im Nun ist? Hierbei ist zu beachten, daß dies eine verkürzte Formulierung des Paradoxes der Zeit ist.5 Der Widerspruch, der sich aus immanenter Perspektive ergibt, besteht darin, daß der Zeitraum x, in dem sich die Idee manifestiert, sowohl alle Erstreckung (immer) als auch nicht alle Erstreckung hat, weil er nämlich gar keine Erstreckung (nun) hat.6 Gilt auch von diesem Paradox, daß die Affirmation die immanente Wirksamkeit der Idee, die Negation hingegen ihre Transzendenz zum Ausdruck bringt? Für die Affirmation ist dieser Befund richtig, denn daß die Idee immer ist, zeigt, daß sie in der Immanenz die ganze Zeit hindurch wirksam ist: Für Proklos wäre es undenkbar, daß eine Idee nur über einen bestimmten Zeitraum wirkt.7 4 Dies gilt im allgemeinen und ist insofern vergröbernd, als Proklos, wie am Ende von C. VIII. 1. dargelegt wurde, die Begründungen dafür, daß das Sein überall und dafür, daß es nirgends ist, ineinander umschlagen läßt (cf. In Parm. 1138,10–16). 5 Aus immanenter Perspektive ist es nämlich kein Widerspruch, daß etwas immer und im Nun ist: Bereits in der Einleitung wurde dargelegt, daß es kein Wiederspruch ist, zu behaupten, die Zugspitze sei immer und im Nun. 6 Der Zeitraum x, von dem in A. IV. die Rede war, ist also der Zeitraum, in dem sich die Idee aus immanenter Perspektive manifestiert: immer und im Nun. 7 Dies ist sein Argument dafür, daß es keine Ideen von Individuen geben kann (cf. In Parm. 824,23–34). Proklos unterscheidet sich von Plotin, der Ideen von intellektbegabten Individuen durchaus zuläßt (cf. Gerson, S. 72–78). Daß Proklos im Gegensatz zu Plotin keine Idee von Sokrates zulassen kann, dürfte seinen systematischen Grund in der prinzipiellen Trennung zwischen Seele und Intellekt seit Porphyrios haben, auf die Deuse, S. 231 sqq. hinweist.

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D. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation

Für die Negation ist dieser Befund nicht so klar. Daß die Idee im Nun ist, das kein Teil der Zeit ist, kann als Negation der Zeit gedeutet werden, die zum Ausdruck bringt, daß die Idee die Zeit transzendiert. Doch wie wird die Zeit hier negiert? Läge es nicht näher, zu behaupten, die Idee sei nie, wenn einfach ihre Transzendenz über die Zeit dargelegt werden soll? Dann wäre das Paradox der Zeit dem des Raumes analog, das besagt, daß die Idee nirgends ist. Das Paradox der Zeit ist verwickelter als das des Raumes und das der Selbstprädikation, weil seine negative Aussage ein positives Moment enthält: Daß die Idee im Nun ist, kann auch als die Weise gedeutet werden, wie die Idee „auf unteilbare Weise im unteilbaren Nun selbst“8 in der Zeit wirksam ist. Die Spannungslage zwischen Immanenz und Transzendenz, die durch die konträren Begriffspaare der Paradoxa des Raumes und der Selbstprädikation zum Ausdruck gebracht wird, erscheint im Paradox der Zeit zweimal: Erstens erscheint sie im konträren Begriffspaar des Immer und des Nun, im Gegenüber der Affirmation, daß sich die Idee über alle Zeit erstreckt, und der Negation, daß sie sich über gar keine Zeit erstreckt. Zweitens jedoch erscheint diese Spannungslage im Begriff des Nun selbst, weil das Nun paradox ist: Es ist in der Zeit und doch kein Teil der Zeit. Daß die Idee im Nun ist, bezeichnet zum einen die Transzendenz der Idee, insofern das Nun die Zeit negiert, zum anderen die immanente Wirksamkeit der Idee, insofern die transzendente Idee im Nun immanent wirksam ist. So begegnen sich im Nun Transzendenz und immanente Wirksamkeit der Idee. Ausgangspunkt dieser Untersuchung war die Frage nach einer präsentischen Eschatologie in der christlichen Theologie. Es wurde herausgearbeitet, daß sie auf dem religiösen Paradox des ewigen Nun (der Koinzidenz von Zeit und Ewigkeit im Nun) beruht, denn präsentische Eschatologie behauptet die Erfahrbarkeit des Ewigen im Nun. In der christlichen Theologie gründet das religiöse Paradox des ewigen Nun zum einen im Glauben an die Inkarnation, zum anderen hat es das philosophische Paradox des ewigen Nun als eindeutig philosophische Voraussetzung. Das Hauptziel dieser Arbeit wurde zunächst vorsichtig als die Klärung des philosophischen Paradoxes des ewigen Nun formuliert, und der Glaube an die Inkarnation als religiöse Voraussetzung ausgeklammert. Der Gang der Untersuchung macht jetzt deutlich, daß an der Philosophie des Proklos mehr gezeigt werden kann als ursprünglich angenommen: Die Begegnung von Immanenz und Transzendenz, von Ewigem und Zeitlichem im Nun ist integraler Bestandteil seiner Philosophie.9 8

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In Parm. 873,25 sq.: ýn ažtˆw tˆw nun ÷merûstˆw ÷merûstwò. Daß diese Begegnung auch bei Proklos ihren Austrag in der menschlichen Erfahrung hat, wird im Abschnitt F. III. gezeigt werden. 9

II. Integration in Proklos’ Philosophie

273

Wie gezeigt werden konnte, haben die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation ihren Grund darin, daß die transzendente Idee immanent wirksam ist. Das Paradox scheint eine coincidentia oppositorum zu behaupten, wobei die negative Aussage die Transzendenz der Idee, die affirmative ihre immanente Wirksamkeit zum Ausdruck bringt. Das nächste Kapitel geht der Frage nach, wie Proklos verhindert, daß sein System an diesen Paradoxa Schaden nimmt.

II. Integration in Proklos’ Philosophie Wie aber kann Proklos diese Paradoxa in sein philosophisches System integrieren, ohne daß es nach den beiden Prinzipien des ausgeschlossenen Widerspruchs und des ex falso quodlibet Schaden nimmt? Dazu soll zunächst untersucht werden, ob und inwiefern diese Paradoxa auflösbar sind. Sodann soll ein moderner Ansatz vorgestellt werden, mit nicht auflösbaren Paradoxa umzugehen, um schließlich aufzuweisen, was für ein Lösungsmodell der Philosophie des Proklos angemessen ist. 1. Unterscheidung nach Hinsichten? Es wurde gezeigt, daß die positive Aussage der drei behandelten Paradoxa die immanente Wirksamkeit der Idee, die negative Aussage hingegen ihre Transzendenz zum Ausdruck bringt. Dies legt die Vermutung nahe, diese Paradoxa ließen sich nach Hinsichten auflösen: Die positive Aussage sei der immanente Aspekt, die negative der transzendente Aspekt der Idee. Dieser Lösungsversuch ist jedoch nicht nur problematisch, sondern sogar falsch. Problematisch ist dieser Lösungsversuch, weil ihm das Paradox der Zeit widerstrebt, dessen negative und positive Aussage sich nicht so einfach differenzieren lassen. Daß die Idee im Nun ist, ist sowohl eine negative als auch eine positive Aussage, die sowohl die Transzendenz der Idee als auch ihre immanente Wirksamkeit zum Ausdruck bringt. Diese Aussage ist ein Paradox innerhalb des Paradoxes. Dieser Einwand ist jedoch nicht so triftig, wie es zunächst den Anschein haben mag, da auch hier versucht werden könnte, das Paradox durch die Unterscheidung in einen immanenten und einen transzendenten Aspekt aufzulösen. Falsch jedoch ist dieser Lösungsversuch, weil er auf einem Denkfehler beruht. Dies wird deutlich, wenn man sich überlegt, was es denn bedeutet, daß die negative Aussage den „transzendenten Aspekt der Idee“ zum Ausdruck bringt. Der Denkfehler besteht darin, zu meinen, daß die negative Aussage beschreibt, wie die Idee in transzendenter Hinsicht ist, denn tat-

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D. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation

sächlich beschreibt sie lediglich, wie sich die Transzendenz der Idee aus immanenter Perspektive darstellt. Eine Unterscheidung nach Hinsichten bedeutet indes, daß eine Sache in der einen Hinsicht (z. B. innen) so, in der anderen Hinsicht (z. B. außen) aber anders ist. Solche Hinsichten beziehen sich auf etwas, was diese Sache wirklich ist, im Beispielfall, daß sie ein Innen und ein Außen hat. Die immanente Perspektive auf die Idee hingegen meint nichts anderes als die Weise, wie die Idee aus immanenter Perspektive erscheint. Weder darf die immanente Perspektive auf die Transzendenz der Idee damit verwechselt werden, wie die Idee in transzendenter Hinsicht ist, noch darf die immanente Perspektive auf die immanente Wirksamkeit der Idee damit verwechselt werden, wie die Idee in immanenter Hinsicht ist, denn in immanenter Hinsicht ist die transzendente Idee gar nicht: Sie ist transzendent. Da der Unterscheidung zwischen immanenter und transzendenter Perspektive im Rahmen dieser Untersuchung eine tragende Rolle zukommt und sie eben nicht mit der Unterscheidung nach Hinsichten verwechselt werden darf, soll auf sie am Beispiel des Paradoxes der Zeit kurz eingegangen werden. Das Paradox der Zeit, das verkürzt durch die Formulierung, die Idee sei sowohl immer als auch im Nun, zum Ausdruck gebracht wird, stellt sich aus immanenter Perspektive wie folgt dar: Der Zeitraum x, in dem sich die Idee manifestiert, hat sowohl alle Erstreckung als auch gar keine Erstreckung. Dieser Widerspruch, der sich aus immanenter Perspektive ergibt, ist durch keinerlei Hinsichtenunterscheidung aufzulösen. Wie aber steht es um die transzendente Perspektive auf die Idee? Die transzendente Perspektive auf die Idee zeigt, wie die Idee wirklich ist. Allerdings ist diese Perspektive keine Perspektive sub ratione hominis. Immer und Nun haben aus transzendenter Perspektive eine positive Bedeutung, die in eins fällt, so daß der Widerspruch, als der sich das Paradox der Zeit aus immanenter Perspektive darstellt, aufgehoben ist.10 Wegen der tatsächlichen Koinzidenz des Immer mit dem Nun im Bereich des Ewigen ist eine Unterscheidung nach Hinsichten auch hier unangebracht, denn eine Hinsichtenunterscheidung deckt auf, daß die Koinzidenz widersprüchlicher Bestimmungen scheinbar und nicht tatsächlich ist. Die Lösung des Paradoxes der Zeit im Bereich des Ewigen hingegen besteht darin, zu zeigen, daß es sich um eine Koinzidenz nur scheinbar widersprüchlicher Bestimmungen handelt. Die Unterscheidung zwischen der immanenten und der transzendenten Perspektive hat mithin mit einer Unterscheidung nach Hinsichten im Sinne des Aristoteles nichts zu tun. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation sind also aus immanenter Perspektive echte Widersprüche, so daß sich die Frage stellt, wie verhindert werden kann, daß sie sich 10

cf. C. VIII. 2. sowie D. IV. und E. II.

II. Integration in Proklos’ Philosophie

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ruinös in Proklos’ Denken auswirken. Zur Kontrastierung soll zunächst ein moderner Ansatz vorgestellt werden, paradoxe Aussagen innerhalb einer Theorie einzugrenzen. 2. Priests „Logic of Paradox“ A stehe für: „Dieser Satz ist falsch“.11 Welchen Wahrheitswert hat A? Wenn man sich dafür entscheidet, daß A wahr ist, ist er nach seiner eigenen Aussage falsch. Wenn man die gegensätzliche Entscheidung trifft, daß A falsch ist, so ist seine eigene Aussage falsch: Er ist nicht falsch, also wahr. Irgend etwas scheint hier nicht zu stimmen: A ist paradox. Dieses Paradox beruht auf der Selbstbezüglichkeit von A: A sagt etwas über seine eigene Wahrheit aus. Paradoxe Sätze wie A ergeben sich in allen semantisch geschlossenen Sprachen, wie die natürliche Sprache eine ist. Um sie zu vermeiden, verbietet Tarksi in seiner Sprachstufentheorie selbstbezügliche Sätze.12 In seinem 1979 erschienenen Beitrag „The Logic of Paradox“ macht Priest einen anderen Vorschlag, solchen Paradoxa zu begegnen:13 Priests Vorschlag läuft darauf hinaus, den Satz A als paradox anzuerkennen, und die zweiwertige Logik um einen dritten Wert „paradox“ zu erweitern.14 Wie gezeigt wurde,15 ist ein selbstwidersprüchlicher Satz für eine Theorie ruinös, wenn sie die beiden Prinzipien des ausgeschlossenen Widerspruchs und des ex falso quodlibet enthält. Mit der Einführung des Wahrheitswertes „paradox“ gibt Priest das Widerspruchsprinzip auf: In der von ihm entworfenen Logik ist der Satz (A Ù éA) dann und nur dann falsch, wenn A entweder den Wahrheitswert „nur wahr“ oder aber den Wahrheitswert „nur falsch“ hat. Hat A hingegen den Wahrheitswert „paradox“, so hat auch der Satz 11 A ist die griffigste Formulierung der bekannten Lügner-Antinomie. Zur Lügner-Antinomie cf. Brendel. 12 cf. Tarski, Truth. Tarski fordert in seiner Sprachstufentheorie die strenge Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache, was auf ein Verbot solcher Sätze als syntaktisch nicht wohlgeformter Sätze hinausläuft. 13 Priest, S. 219 sq. wendet sich gegen Tarskis Vorschlag der Sprachstufentheorie. Tarksis Vorschlag sei lediglich eine formale Vermeidung solcher Paradoxa und nicht deren Lösung: „Of course, we know how to avoid the paradoxes formally [. . .]. But these are not solutions. [. . .] A solution would tell us which premise is false or which step is invalid.“ 14 Es ergibt sich dann eine dreiwertige Logik mit den Wahrheitswerten „nur wahr“, „nur falsch“ und „paradox“ (sowohl wahr als auch falsch): „Suppose we stop [. . .] trying to find a solution, and accept the paradoxes as brute facts. That is, some sentences are true (and true only), some false (and false only), and some both true and false!“ (Priest, S. 220). 15 cf. A. IV.

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D. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation

(A Ù éA) den Wahrheitswert „paradox“.16 Das Prinzip ex falso quodlibet ist auf ihn nicht anwendbar. Die Theorie explodiert nicht. Das Aufgeben des Widerspruchsprinzips bringt schwere Verluste im Bereich des logischen Schließens mit sich.17 Priest löst diese Schwierigkeit, indem er eine Unterscheidung trifft zwischen Schlüssen, die in einer Theorie, die paradoxe Sätze enthält, unbedingt gültig sind („valid inferences“), und solchen Schlüssen, die nur gültig sind, solange ein Schluß keine paradoxen Sätze enthält, den Schlüssen der klassischen Logik. Diese nennt er quasi-gültige Schlüsse („quasi-valid inferences“18). Er schlägt vor, innerhalb der dreiwertigen Logik quasi-gültige Schlußregeln anzuwenden, solange es keinen besonderen Grund gibt, anzunehmen, daß in einem Schluß Sätze involviert sind, die den Wahrheitswert „paradox“ haben,19 denn paradoxe Sätze sind sehr selten.20 Sobald aber anzunehmen ist, daß in einem Schluß paradoxe Sätze involviert sind, dürfen nur noch gültige Schlußregeln angewandt werden: However, where the man in the street refuses to go on reasoning with paradoxical sentences, we know now that it is perfectly correct to continue provided we restrict ourselves to valid (not quasi-valid) inferences. Since these are very weak, this has precisely the effect of cordoning off the dangerous singularities which are the paradoxes.21

Dies läuft auf eine Isolierung der paradoxen Sätze hinaus: Für Paradoxa gilt das Widerspruchsprinzip nicht, sie sind nicht falsch, sondern paradox. Der Rest der Theorie aber hält sich an die Regeln der klassischen Logik. Die paradoxen Sätze sind damit eingegrenzt und werden mit einem reduzierten Kanon an Schlußregeln behandelt. Insofern Priest Paradoxa innerhalb einer Theorie eingrenzt, entspricht sein Vorschlag dem, was in der Einführung als ein philosophisch verantwortlicher Umgang mit Paradoxa entwickelt wurde, so daß sich die Frage stellt, ob sein Vorschlag möglicherweise auf die Philosophie des Proklos anwendbar ist. Priest leugnet das Widerspruchsprinzip, indem er einfach als dritten Wahrheitswert „paradox“ einführt, der auf der gleichen Ebene mit den beiden anderen Wahrheitswerten steht und mit ihnen verrechenbar ist: Wenn A 16

Dies ergibt sich aus den Wahrheitswerttabellen, die Priest, S. 226 sq. angibt. cf. Priest, S. 231–234. 18 Priest, S. 231. 19 Dies nennt er seine methodologische Maxime („methodological maxime“): „Unless we have specific grounds for believing that paradoxical sentences are occurring in our argument, we can allow ourselves to use both valid and quasi-valid inferences.“ (Priest, S. 235). 20 Priest, S. 235: „[. . .] paradoxical sentences seem to be a fairly small proportion of the sentences we reason with.“ 21 Priest, S. 235. 17

II. Integration in Proklos’ Philosophie

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paradox ist, so ist auch seine Negation paradox.22 Dieser Vorschlag würde helfen, das Paradox der Selbstprädikation, das sich aus der verkürzten Perspektive der klassischen Prädikatenlogik als die Aussage (é PLFf Ù Ff) darstellt, unschädlich zu machen: Wenn man den Satz Ff („Die Idee F-selbst ist F“) mit dem Wahrheitswert „paradox“ belegt, so hat auch seine prädikatenlogische Negation und mithin die Konjunktion (é PLFf Ù Ff) den Wahrheitswert „paradox“.23 Diese Lösung ist also verlockend. Doch entspricht sie auch dem Denken des Proklos? Entspricht Priests Vorschlag, mit Paradoxa umzugehen, der Weise, wie Proklos verhindert, daß die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation in seinem philosophischen System Schaden anrichten? Dazu muß untersucht werden, wie Proklos zum Widerspruchsprinzip steht und ob er es aufzugeben bereit wäre. 3. Proklos und das Widerspruchsprinzip Die Paradoxa in Proklos’ Philosophie legen die Vermutung nahe, daß auch Proklos den Satz des Widerspruchs aufgibt. Doch stimmt das wirklich? Diese Frage soll an zwei Textzeugnissen untersucht werden. Im ersten Textzeugnis geht es darum, daß eine Vielheit ohne Einheit unmöglich ist. Proklos referiert ein Argument Zenons,24 das sich nach seiner Deutung nicht nur auf sinnenfällige Vielheiten anwenden läßt, sondern auch auf intelligible Vielheiten und solche, die Objekt des intellektuellen Erkennens oder des diskursiven Denkens sind.25 Zenons Argument beruht darauf, daß die Elemente einer Vielheit, die von jeglicher Einheit frei ist, einander in derselben Hinsicht erstens sowohl unähnlich als auch ähnlich,26 22

cf. Priest, S. 226. Ähnliches gilt für die Paradoxa des Raumes und der Zeit. Werden die beiden Bestandteile des konträr Entgegengesetzten („die Idee ist überall/immer“ – „die Idee ist nirgends/im Nun“) mit dem Wahrheitswert „paradox“ belegt, so erhält auch die Konjunktion den Wahrheitswert „paradox“. 24 Proklos stellt dieses Argument als ein Argument des Zenon vor. Aller Wahrscheinlichkeit nach stammt es tatsächlich aus den Vierzig Logoi des Zenon, wie John Dillon in Dillon/Morrow, S. xxxviii–xliii überzeugend darlegt. Nach Proklos’ Auffassung stützt Zenon von Elea mit seinen Vierzig Logoi die Lehre des Parmenides von der Einheit des Seins, indem er zeigt, daß die Annahme von Vielheit ohne Einheit zu Schwierigkeiten führt (cf._ In Parm. 619,30–38). _ 25 In Parm. 725,16–18: EŁte ožn nohtün ýsti plhqoò, eŁte aùsqht˛n, eŁte _ _ noer˛n, eŁte dianoht˛n, touto pan eùlÇðqw pr˛ò t˛ parün. („Sei es nun eine intelligible Vielheit, sei es eine sinnenfällige, sei es eine, die Objekt des intellektuellen Erkennens, sei es eine, die Objekt des diskursiven Denkens ist, all dies soll für das gegenwärtige hinzugenommen sein.“). 26 Unähnlich sind sie einander, insofern es kein Eines gibt, an dem sie gemeinsam partizipieren. Eben aber darin, an keinem Einen zu partizipieren, kommen sie überein, so daß sie einander ähnlich sind. Cf. In Parm. 725,24–29: tJ gJr Ån˛ò ka˝ 23

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D. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation

zweitens weder ähnlich noch unähnlich27 sind. Das Argument funktioniert als reductio ad absurdum, weil diese Folgerungen als „widersinnig“ (åtopa28) eingeordnet werden, denn sie behaupten sowohl die Koinzidenz des konträr Entgegengesetzten „ähnlich“ und „unähnlich“,29 wie auch die des kontradiktorisch Entgegengesetzten „ähnlich“ und „nicht ähnlich“ sowie „unähnlich“ und „nicht unähnlich“. Solche Koinzidenzen aber schließt Proklos aus: Denn furchtbar ist es, wenn das kontradiktorisch Entgegengesetzte übereinstimmt; furchtbarer aber, wenn auch das konträr Entgegengesetzte übereinstimmt; von allem aber das Furchtbarste ist es, wenn sowohl das konträr als auch das kontradiktorisch Entgegengesetzte aus der Rede folgt.30

Damit bekennt sich Proklos an dieser Stelle ausdrücklich zum Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs, das besagt, daß A und éA nicht zugleich wahr sein können. Als zweites Textzeugnis soll Proklos’ Kommentar zum Ende der ersten Hypothesis des platonischen Parmenides untersucht werden. Diese Hypothesis scheint voll von Widersprüchen zu sein: Das Eine ruht weder, noch _

_

tažtou mÌ metÍxonta ÷nümoiÜ ýstin ÷llÇloiò, ka˝ pÜlin kat\ ažt˛ touto _ _ koinwne i ÷llÇloiò, kaq˛ ož metÍxei tou Ånüò· tJ d˚ koinün ti ñxonta ka˝ tažt˛n ÕmoiÜ ýstin, Êste tJ ažtJ ka˝ Õmoia ka˝ ÷nümoiÜ ýstin. („Denn Dinge, die nicht an Einem, d. h. am Identischen, partizipieren, sind einander unähnlich, und wiederum gemäß eben diesem hängen sie miteinander zusammen, insofern sie nicht an dem Einen partizipieren; Dinge aber, die etwas Gemeinsames und Identisches haben, sind ähnlich, so daß dieselben Dinge sowohl ähnlich als auch unähnlich sind.“). 27 Nicht ähnlich sind sie, weil sie an keinem Einen partizipieren, nicht unähnlich aber eben dadurch, daß ihnen gemeinsam ist, an keinem Einen zu partizipieren. Cf. _ In Parm. 726,1–7: eù gJr mÌ metÍxei tou Ån˛ò, Õlwò Õmoia ožk ñstin· tJ gJr Õmoia Ånüò tinoò metÍxonta ÕmoiÜ ýsti· ka˝ gJr ê þmoiüthò Ånüthò ýstû· ka˝ _ _ _ _ pÜlin, eù mÌ metÍxoi tou Ån˛ò, koin˛n ažto iò toutü ýstin· ¼n dÍ ýstû ti _ _ koin˛n, tauta kat\ ažt˛ touto ÷nümoia ožk ñstin, Êste ojte ÕmoiÜ ýstin ojte ÷nümoia tJ pollÜ. („Denn wenn sie nicht an dem Einen partizipieren, sind sie überhaupt nicht ähnlich; die Ähnlichen sind nämlich ähnlich, weil sie an einem Einen partizipieren; denn die Ähnlichkeit ist Einheit; wiederum, wenn sie nicht an dem Einen partizipieren, ist ihnen dies gemeinsam; Dinge aber, denen etwas gemeinsam ist, sind einander gemäß eben diesem nicht unähnlich, so daß die Vielen weder ähnlich noch unähnlich sind.“). 28 In Parm. 726,12. 29 Proklos betrachtet „ähnlich“ und „unähnlich“ als zueinander konträr: cf. In _ Parm. 726,16 sq.: ˜Ote m˚n ožn t˛ ažt˛ Õmoion ka˝ ÷nümoion ýdeûknumen, tJ ýnantûa sunÇgomen. („Als wir nun zeigten, daß dasselbe ähnlich und unähnlich ist, führten wir das konträr Entgegengesetzte zusammen.“). 30 In Parm. 726,12–16: dein˛n m˚n gJr t˛ tÌn ÷ntûðasin suntrÍxein· deinüteron d˚ ka˝ t˛ tJ ýnantûa· pÜntwn d˚ deinütaton t˛ ka˝ tJ ýnantûa ka˝ tJò _ ÷ntiðÜseiò Òpesqai tˆw lügˆw.

II. Integration in Proklos’ Philosophie

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verändert es sich,31 es ist weder identisch mit sich selbst oder einem anderen, noch anders als es selbst oder ein anderes.32 Am Ende gipfeln diese Widersprüche in die aporetische Lage auf, daß der Gesprächsteilnehmer Aristoteles behauptet, daß das, was vorher vom Überseienden Einen gesagt wurde, unmöglich sei: Ist es aber möglich, daß es sich auf diese Weise mit dem Einen verhält? – Nein, ich glaube das jedenfalls nicht.33

Proklos bezieht diese Aussage auf alles, was in der ersten Hypothesis vom Einen ausgesagt wurde,34 und wendet sich gegen die Auffassung des Platonikers Origines, der wohl daraus35 gefolgert hat, daß das Überseiende Eine nicht existiert: Diese Aussagen erscheinen nur wegen der Unsagbarkeit des Einen unmöglich, während sie das in Wahrheit gar nicht sind, wie allen klar ist.36

Offenbar hält Proklos die widersprüchlichen Aussagen über das Überseiende Eine, in die die erste Hypothesis des Parmenides die Leserschaft verwickelt, für möglich. Wie aber steht er dann zum Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs? Darüber gibt folgendes Zeugnis Aufschluß: Damit wir es also nicht zulassen, die überlieferte Philosophie mit neuen Lehren einzuführen, muß man sagen, daß das kontradiktorisch Entgegengesetzte im Bereich des Unsagbaren gewiß zugleich falsch ist, allein aber im Bereich des 31

Platon, Parmenides 139b2 sq.: T˛ Ùn åra, ¼ò ñoiken, ojte Òsthken ojte _ kine itai. („Also hat das Eine offensichtlich keine Beharrung und verändert sich auch nicht.“ Übersetzung: Martens). _ 32 Platon, Parmenides 139b4 sq.: Ožd˚ mÌn tažtün ge ojte ÅtÍrˆw ojte Åautˆw _ _ ñstai, ožd\ až Òteron ojte aëtou ojte ÅtÍrou ºn eŁh. („Auch wird es weder dasselbe wie etwas anderes noch wie es selbst sein, ferner weder etwas anderes als es selbst noch als etwas anderes.“ Übersetzung: Martens). _ _ _ 33 Platon, Parmenides 142a,6–8: \ H dunat˛n ožn per˝ t˛ Ùn tauta oÖtwò _ ñxein; – Ojkoun ñmoige doke i. (Übersetzung: Martens). 34 cf. In Parm.(K-L) 62,32–34: Valde hanc inopinabilem conclusionem et multa dubitatione dignam superinduxit omnibus simul dictis abnegationibus. Qualiter enim impossibile hec circa le unum sic habere? Quomodo autem non omnes nobis predicti sermones reiecti sunt per hoc unum solum verbum? („Aus allen den erwähnten Negationen zieht er nun diesen unerwarteten Schluß, der große Zweifel aufkommen läßt. Warum ist es unmöglich, daß es sich mit dem Einen so verhält? Werden nicht alle vorhergegangenen Argumente durch dieses eine Wort verworfen?“ Übersetzung: Bartholomai). 35 cf. John Dillon in Dillon/Morrow, S. 490: „This, it seems, was used by Origen the Platonist as a firm indication that there is no subject of the hypothesis, and that, in turn, provokes Proclus to attack him once again.“ 36 In Parm.(K-L) 64,34–66,2: Hec enim impossibilia utique esse videbuntur propter indicibilem unius causam; quoniam quod et secundum veritatem non sunt impossibilia, palam esse omni. (Übersetzung mit Modifikation: Bartholomai).

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D. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation

Sagbaren wahr und falsch unterscheidet, in überhaupt keinem Bereich aber zusammen wahr ist.37

Für die Fragestellung, wie Proklos zum Prinzip des Widerspruchs steht, sind vor allem der erste und der letzte Teil dieses Zitates von Bedeutung, in denen Proklos folgende beide Aussagen trifft: 1) Im Bereich des Unsagbaren sind beide Alternativen eines kontradiktorischen Gegensatzes falsch. 2) Beide Alternativen eines kontradiktorischen Gegensatzes sind nie, also auch nicht im Bereich des Unsagbaren, zusammen wahr. Mit 1) spricht sich Proklos gegen das Prinzip des tertium non datur, mit 2) für das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruches aus. Das Miteinander dieser beiden Aussagen ist irritierend, denn in der klassischen Logik entspricht das Widerspruchsprinzip dem Prinzip des tertium non datur. Das Widerspruchsprinzip, zu dem sich Proklos in 2) bekennt, besagt, daß etwas und sein Gegenteil nicht zugleich wahr sein können. Dies steht in direktem Gegensatz zu 1), sofern die Behauptung, daß beide Alternativen falsch sind, in der Weise verstanden wird, daß beide Alternativen im Sinne der klassischen Logik negiert werden. Dann nämlich ist diese Negation mit der negativen Alternative des kontradiktorischen Gegensatzes in eine Affirmation verrechenbar: Beide Alternativen des kontradiktorischen Gegensatzes sind wahr. Die Lösung des Problems liegt in Proklos’ Konzept der Negation: Daß beide Alternativen des kontradiktorischen Gegensatzes falsch sind, darf nicht als Negation im Sinne der klassischen Logik verstanden werden, und überhaupt ist Proklos’ Konzept der transzendenten Negation der Schlüssel dazu, wie er zum Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs steht. Zwar kann über das Eine im eigentlichen Sinne nur in Negationen gesprochen werden,38 doch diese Negationen sind keine Negationen im Sinne der klassischen Logik. Sie sind keine Bestimmungen des Überseienden Einen. Für sie gilt der Grundsatz omnis negatio est determinatio nicht, denn das Überseiende Eine ist „unbestimmbar“ (indeterminabile39 ): 37 In Parm.(K-L) 72,19–22: Paternalem philosophiam novis dogmatibus introducere, ut igitur hoc non patiamur, contradictionem in indicibili quidem simul falsam esse dicendum, in solis autem dicibilibus dividere verum et falsum, converificari autem nullatenus in nulla rerum. 38 cf. In Parm.(K-L) 66,18–20: Primam autem sumentem le simpliciter unum non ostendere quale est, auferentem omnia, ponentem autem nichil, quia nichil de illo oportet dicere nobis congeneorum; („Die Erste Hypothese vermag nicht, das Wiesein des schlechthin Einen zu zeigen, sie nimmt alles von ihm weg, spricht ihm aber nichts zu, weil man nichts vom Einen sagen kann, was uns entspricht.“ Übersetzung: Bartholomai). 39 In Parm.(K-L) 70,14.

II. Integration in Proklos’ Philosophie

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Was deshalb negative Bestimmungen des Einen sind, so sagen sie nichts über das Eine aus. Es ist nichts in ihm vorhanden, was formal oder eingrenzend erfasst werden könnte.40

Zum anderen sind sie in keinerlei Schlußfolgerung verrechenbar: Über das Eine hingegen kann kein Schluß durch Negationen etwas aussagen, da es wegen seiner Einfachheit erhaben ist über jeden Gegensatz und jede Negation.41

Bereits in C. VI. 2. wurde gezeigt, daß die Negation, die die Vorgängigkeit der Ursache vor der Wirkung anzeigt, keine Negation im Sinne der zweiwertigen Logik ist. Als transzendente Negation ist sie nicht verrechenbar und ermöglicht ein Drittes zwischen – oder genauer gesagt: vor – der klassischen Negation und der klassischen Affirmation.42 Damit wendet sich Proklos gegen Prinzip des tertium non datur. Mit dem Konzept der transzendenten Negation läßt sich der Konflikt zwischen 1) und 2) klären. Obwohl sich Proklos zum Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs bekennt, läßt er das Prinzip des tertium non datur fallen: Das Unsagbare transzendiert die beiden Alternativen eines jeden kontradiktorischen Gegensatzes. In der Philosophie des Proklos ist es möglich, daß beide Alternativen eines kontradiktorischen Gegensatzes falsch sind, weil seine Philosophie über die zweiwertige klassische Logik hinausgeht. Unmöglich jedoch ist es, daß beide Alternativen eines kontradiktorischen Gegensatzes wahr sind. Damit spricht er sich klar für das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs aus. Ich kann mich daher Jens Halfwassen nicht anschließen, wenn er von der „Einschränkung“ des Satzes vom Widerspruch bei Proklos43 spricht, denn die Differenzierung zwischen dem Prinzip des tertium non datur und dem Widerspruchsprinzip, die durch das Konzept der transzendenten Nega40 In Parm.(K-L) 70,5 sq.: Que itaque unius abnegationes, non sunt circa unum. Nichil enim totaliter illi adest, neque ut species, neque ut privatio; (Übersetzung: Bartholomai). 41 In Parm.(K-L) 70,8–10: circa illud autem unum nulla est dictarum abnegativarum conclusionum; sed exaltatum est propter simplicitatem ab omni oppositione et omni negatione. (Übersetzung: Bartholomai). 42 Im Zusammenhang mit dem ersten Prinzip nennt Halfwassen, Hegel, S. 424 das, was hier als transzendente Negation bezeichnet wird, „die diese übergegensätzliche Transzendenz ausgrenzende Negation“. Von ihr schreibt er, daß sie „keine kategoriale, das Eine positiv oder negativ bestimmende Aussage ist und darum der entsprechenden Affirmation als kategorialer Aussage weder konträr noch kontradiktorisch entgegengesetzt ist, sondern mit ihr nur einen Quasi-Gegensatz bildet“. 43 Halfwassen, Hegel, S. 430. Meine Kritik richtet sich gegen Halfwassens Begrifflichkeit, nicht jedoch gegen seine Analyse.

282

D. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation

tion möglich wird, macht deutlich, daß Proklos das Widerspruchsprinzip nicht einschränkt, sondern aufrecht erhält, sofern man darunter versteht, daß etwas und sein Gegenteil nicht zugleich wahr sein können. Proklos’ Bekenntnis zum Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs sogar für den Bereich des Unsagbaren macht deutlich, daß Priests Vorschlag, Paradoxa zu begegnen, auf die Philosophie des Proklos gewiß nicht anwendbar ist. Zwar geht Proklos’ Denken über eine zweiwertige Logik hinaus. Das jedoch heißt keinesfalls, daß er einen dritten Wahrheitswert annimmt, der mit den beiden anderen und mit sich selbst zu verrechnen wäre. Mit Proklos’ Bekenntnis zum Widerspruchsprinzip können wir annehmen, daß ein selbstwidersprüchlicher Satz für Proklos schlichtweg falsch ist. Nach dem Prinzip ex falso quodlibet folgt jeder beliebige Satz, die Theorie explodiert. Wie also sind die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation in sein philosophische System zu integrieren? Dieser Frage soll im nächsten Abschnitt nachgegangen werden. 4. Die Auflösung der nicht auflösbaren Paradoxa Wie gezeigt wurde, bleibt das Problem bestehen. Aus immanenter Perspektive ergeben sich für die Idee erstens der Widerspruch, daß sie überall und nirgends, zweitens der, daß sie immer und im Nun, und schließlich drittens der, daß sie sowohl F als auch nicht-F ist. Inzwischen wurde herausgearbeitet, daß sich Proklos unbedingt zum Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs bekennt: Etwas und sein Gegenteil können nicht zugleich wahr sein. Das Problem ist also ernst, denn die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation verstoßen aus immanenter Perspektive gegen das Widerspruchsprinzip. Offenbar sind sie falsche Sätze, aus denen sich in einer Theorie alles mögliche ableiten läßt. Wie läßt sich dieses Problem lösen? Im folgenden sollen die impliziten Annahmen, die dieses Problem aufwerfen, untersucht werden: Erstens die Annahme, daß die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation gegen das Widerspruchsprinzip verstoßen. Zweitens die Annahme, daß das System des Proklos eine Theorie ist und somit als eine „Menge von Aussagen, die [. . .] logisch verknüpft sind“,44 aufgefaßt werden kann. Wie sich zeigen wird, sind beide Annahmen nicht uneingeschränkt haltbar, und dies aus demselben Grunde: dem Konzept der Transzendenz in der Philosophie des Proklos.

44

Bremer, S. 9.

II. Integration in Proklos’ Philosophie

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a) Die Widersprüchlichkeit dieser Paradoxa Greift das Widerspruchsprinzip wirklich für die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation? Mehr als einmal wurde betont, daß sich diese Paradoxa aus der Perspektive der Immanenz ergeben, weil sie der Transzendenz der Idee nicht gerecht wird. Es stellt sich also die Frage, ob diese Paradoxa wirklich einen Widerspruch behaupten, der gegen das Prinzip verstößt, daß nicht beide Alternativen eines Gegensatzes wahr sein können. Das Paradox der Selbstprädikation behauptet die Koinzidenz des kontradiktorisch Entgegengesetzten, die Paradoxa des Raumes und der Zeit die Koinzidenz des konträr Entgegengesetzten. Im ersten Textzeugnis, das in D. II. 3. zitiert wurde, nennt Proklos die Koinzidenz des kontradiktorisch Entgegengesetzten „furchtbar“ (deinün), die Koinzidenz des konträr Entgegengesetzten „furchtbarer“ (deinüteron).45 Was genau ist ein kontradiktorischer Gegensatz? Auf der Ebene der klassischen Logik ist diese Frage einfach zu beantworten: Die Aussage nicht-A und die Aussage A sind kontradiktorisch entgegengesetzt, weil nicht-A genau dann wahr ist, wenn A falsch ist, und nicht-A genau dann falsch ist, wenn A wahr ist. A und nicht-A decken den ganzen zugrunde liegenden Bezugsrahmen genau ab, sie überschneiden sich nicht, und es gibt nichts, was über A und nicht-A hinausgeht. Der kontradiktorische Gegensatz scheidet das Wahre vom Falschen. In der Philosophie des Proklos gilt dies für bestimmte Bezugsrahmen. Im Bereich des Sinnenfälligen beispielsweise ist klar entscheidbar, ob der Satz A „x ist ein Lebewesen“ wahr oder falsch ist. Auch im Bereich der Ideen ist klar entscheidbar, ob der Satz B „y ist ewig“ wahr oder falsch ist. Die Eingrenzung eines bestimmten Bezugsrahmens wird in dem in D. II. 3. zitierten Beleg zur ersten Hypothesis des platonischen Parmenides deutlich, in dem Proklos den Bereich des Unsagbaren vom Bereich des Sagbaren abgrenzt. Dort heißt es, daß „das kontradiktorisch Entgegengesetzte [. . .] aber allein im Bereich des Sagbaren wahr und falsch unterscheidet“46. Dies ändert sich aus der Perspektive des Unsagbaren. Aus dieser Perspektive teilt der kontradiktorische Gegensatz nicht mehr alles zugrunde liegende nach wahr und falsch auf: Es gibt ein Drittes. Dieses Dritte wird durch die transzendente Negation ausgegrenzt, die deutlich macht, daß der Bezugsrahmen überschritten wird. Dabei hält Proklos am Prinzip des Widerspruchs fest: Es können nicht beide Alternativen des kontradiktorischen Gegensatzes zugleich wahr sein. 45

In Parm. 726,12–13. In Parm.(K-L) 72,20 sq.: contradictionem [. . .] in solis autem dicibilibus dividere verum et falsum [. . .]. 46

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D. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation

Nun darf Proklos’ Unterscheidung zwischen dem Unsagbaren und dem Sagbaren allerdings nicht in der Weise mißverstanden werden, als ob das Sagbare ein homogener Bereich wäre. Vielmehr ist auch dieser Bereich hierarchisch gegliedert. Auch in ihm lassen sich Bezugsrahmen abgrenzen, die von einer höheren Warte aus überschritten werden. So wird der Bezugsrahmen der Instanzen aus der Perspektive der Idee überschritten. Das Paradox der Selbstprädikation nun entsteht durch die Überschreitung des logischen Bezugsrahmens, den der Gegensatz F und nicht-F aufspannt. Die Idee F-selbst steht außerhalb dieses Bezugsrahmens. Im Abschnitt C. VI. 2. zur Logik der Transzendenz wurde das Paradox der Selbstprädikation daher unter Betonung der völligen Differenz der Idee von ihren Instanzen dahingehend interpretiert, daß sich der Zusammenfall des kontradiktorisch Entgegengesetzten nur aus der verkürzten immanenten Perspektive ergibt. Die völlige Differenz der Idee wurde als transzendente Negation begriffen: Die Idee F-selbst, kurz f, ist nicht-F, insofern sie die prädikatenlogische Affirmation transzendiert. Sie transzendiert aber zugleich die prädikatenlogische Negation. Damit transzendiert sie die Adjunktion aus prädikatenlogischer Affirmation und prädikatenlogischer Negation. Für diese transzendente Negation wurde die Schreibweise é TRFf eingeführt. Es gilt also: (é TRFf Ù é TRé PLFf) bzw. é TR(Ff Ú é PLFf). Nach dieser Deutung ergibt sich der Verstoß gegen das Prinzip des Widerspruchs aus der verkürzten und unangemessenen prädikatenlogischen Perspektive, weil diese Perspektive die transzendente Negation nicht anders denn als prädikatenlogische Negation erfassen kann. Die immanente Perspektive verwechselt die transzendente Negation mit der prädikatenlogischen Negation und verrechnet sie mit ihr, wodurch sich (é PLFf Ù Ff) bzw. sein logisches Äquivalent é PL(Ff Ú é PLFf) ergibt. Dies verstößt gegen die beiden Prinzipien des tertium non datur und des ausgeschlossenen Widerspruchs, die aus der Perspektive der klassischen Logik gleichbedeutend sind. Durch dieses Verrechnen erscheinen beide Alternativen des kontradiktorischen Gegensatzes als wahr. Was aber ergibt sich, wenn man berücksichtigt, daß die Idee F-selbst sowohl die Affirmation als auch die Negation der Eigenschaft F transzendiert? Weil (é TRFf Ù é TRé PLFf) nicht weiter vereinfacht werden kann, ergibt sich kein Verstoß gegen das Widerspruchsprinzip. Weil die transzendente Negation allerdings sowohl Ff als auch é PLFf verneint, ergibt sich ein Verstoß gegen das Prinzip des tertium non datur, was in é TR(Ff Ú é PLFf) zum Ausdruck kommt. Als Grund der Möglichkeit von Affirmation und Negation transzendiert die Idee diesen Gegensatz. Aus der Perspektive der Idee wird das Widerspruchsprinzip nicht verletzt. In C. VI. 2. wurde daher der Begriff der transzendenten Affirmation eingeführt, der wie der der transzendenten Negation die völlige Transzendenz der Idee über prädikatenlogische Affirmation und prädikatenlogische Negation bedeutet: Beide Begriffe

II. Integration in Proklos’ Philosophie

285

entsprechen einander und bilden keinen Gegensatz. Aus der Perspektive der Immanenz ist das Paradox der Selbstprädikation ein echter Widerspruch, aus der Perspektive der Transzendenz hingegen löst es sich auf. Diese Interpretation des Paradoxes der Selbstprädikation beruht auf der völligen Differenz der Idee und funktioniert deshalb, weil das Paradox einen kontradiktorischen Gegensatz behauptet, der sich dadurch ergibt, daß die transzendente Idee den kontradiktorischen Gegensatz aus F und nicht-F transzendiert und die immanente Perspektive dieses Transzendieren nicht anders denn als kontradiktorische Negation fassen kann – sie hat nämlich keinen Begriff einer transzendenten Negation – und diese mit der Negation des transzendierten kontradiktorischen Gegensatzes verrechnet, so daß die jeweils andere Alternative des kontradiktorischen Gegensatzes folgt. Doch das Verhältnis zwischen Instanz und Idee ist nicht nur durch Differenz, sondern auch durch Ähnlichkeit bestimmt. Daraus ergibt sich eine zweite Deutung des Paradoxes der Selbstprädikation: Weil die Instanzen der Idee F-selbst dieser Idee bezüglich der Eigenschaft F ähnlich sind, scheint aus der Perspektive der Immanenz die Idee F-selbst auch F zu sein. Andererseits jedoch überschreitet die Idee den immanenten Bezugsrahmen und scheint insofern nicht-F zu sein. Nach dieser Deutung hat das Paradox seinen Grund darin, daß zwar die Instanzen der Idee ähnlich sind, die Idee aber als transzendente Ursache den Instanzen entrückt und mithin unähnlich ist. Die Ähnlichkeitsrelation zwischen Instanz und Idee ist nicht symmetrisch.47 Die immanente Perspektive kommt zu einem widersprüchlichen Befund, weil sie die asymmetrische Ähnlichkeitsrelation zwischen Idee und Instanz nicht fassen kann. Einerseits erkennt sie die Verschiedenheit der Idee an, wodurch die Idee F-selbst als nicht-F erscheint. Andererseits jedoch verkürzt sie die asymmetrische Ähnlichkeitsrelation zu einer symmetrischen Ähnlichkeitsrelation und folgert daraus, daß die Idee F-selbst F ist. Das Paradox entsteht durch die Überschreitung des Bezugsrahmens der Immanenz hin zur Transzendenz. Diese Überschreitung wird in der asymmetrischen Ähnlichkeitsrelation auf den Begriff gebracht, da das eine Relatum, die Instanz, dem immanenten Bereich angehört, das andere hingegen, die Idee, diesen bereits überschritten hat. Aus der Perspektive der Transzendenz, die den immanenten Bezugsrahmen überschreitet, ist der Widerspruch, der sich aus immanenter Perspektive ergibt, im Begriff der asymmetrischen Ähnlichkeitsrelation aufgehoben: Als vorgängige Ursache ihrer Instanzen ist die Idee den Instanzen unähnlich, obgleich die Instanzen ihr ähnlich sind. Aus transzendenter Perspektive gibt es keinen Widerspruch, denn die Idee ist dem kontradiktorischen Gegensatz zwischen F und nicht-F als Grund ihrer Möglichkeit vorgängig. 47

cf. C. V. 4.

286

D. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation

Das Paradox der Selbstprädikation ist aus immanenter Perspektive ein echter Widerspruch, der sich ergibt, weil die Idee den immanenten Bezugsrahmen bereits überschritten hat, aus transzendenter Perspektive löst sich dieser Widerspruch auf. Die transzendente Perspektive wurde in der ersten Deutung im Konzept der transzendenten Negation, in der zweiten im Konzept der asymmetrischen Ähnlichkeitsrelation auf den Begriff gebracht. Beide Konzepte kann die immanente Perspektive nicht fassen und verkürzt sie: einmal zur kontradiktorischen Negation, das andere Mal zur symmetrischen Ähnlichkeitsrelation. Der Widerspruch entsteht durch diese verkürzte Perspektive. Die Paradoxa der Zeit und des Raumes unterscheiden sich vom Paradox der Selbstprädikation, insofern sie die Koinzidenz des konträr Entgegengesetzten behaupten. Wenngleich sie sich nicht nach dem Muster der ersten Deutung des Paradoxes der Selbstprädikation interpretieren lassen, bei der aus der Perspektive der Immanenz, welche die transzendente Negation zur prädikatenlogischen Negation verkürzt, die jeweils andere Alternative des Gegensatzes folgt, so liegt doch auf der Hand, daß auch diese Paradoxa durch die Überschreitung der immanenten Perspektive entstehen. Weil die Idee der immanenten Perspektive entrückt ist, nimmt sie keinerlei Zeit ein und ist nirgends. Als immanent wirksam ist sie immer und überall. Aus der Perspektive der Immanenz, die an Zeit und Raum gebunden ist, sind die Paradoxa der Zeit und des Raumes echte Widersprüche. Aus der Perspektive der Transzendenz jedoch lösen sie sich auf, denn aus dieser Perspektive gibt es keinen Raum und keine Zeit, so daß „überall“ und „nirgends“, „immer“ und „im Nun“ auch keine Gegensätze bilden.48 Wegen der Perspektivenverschiebung zwischen Immanenz und Transzendenz läßt sich die Frage, ob die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation in der Philosophie des Proklos echte Widersprüche sind, ob sie auflösbar sind oder nicht, nicht klar beantworten. Aus immanenter Perspektive sind sie echte Widersprüche: Weil die Idee zwar immanent wirksam ist, aber doch über die Immanenz hinausgeht, erscheint sie aus immanenter Perspektive überall und nirgends, immer und im Nun, selbstprädikativ und nicht selbstprädikativ. Aus der Perspektive der Transzendenz 48 Zwischen dem Paradox des Raumes und dem der Zeit gibt es allerdings einen wichtigen Unterschied: Während sich der Widerspruch zwischen „überall“ und „nirgends“ aus transzendenter Perspektive auflöst, weil diese Begriffe aus dieser Perspektive keine Bedeutung haben, ist der Widerspruch zwischen „im Nun“ und „immer“ aus transzendenter Perspektive aufgehoben, weil diese Begriffe aus dieser Perspektive zwar durchaus positive Bedeutung haben (cf. C. VIII. 2.), aber keinen Widerspruch bilden. Auf die positive Bedeutung von „immer“ und „im Nun“ im intelligiblen Bereich werden die Abschnitte D. IV. und E. II. näher eingehen.

II. Integration in Proklos’ Philosophie

287

lösen sich diese Widersprüche auf, weil die Perspektive der Transzendenz diese Gegensätze transzendiert. b) Proklos’ philosophisches System als Theorie? Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation lösen sich aus der Perspektive der Transzendenz auf, aus der Perspektive der Immanenz hingegen sind sie echte Widersprüche. Wenn nicht klar beantwortet werden kann, ob die Paradoxa in der Philosophie des Proklos auflösbar sind, ob sie mithin echte Widersprüche sind oder nicht, bleibt offen, ob und inwiefern sie sich auf Proklos’ philosophisches System ruinös auswirken oder nicht. Wie gezeigt wurde, wirkt sich ein echter Widerspruch ruinös auf eine Theorie aus, weil sich aus ihm als einem falschen Satz alles mögliche ableiten läßt. Doch ist Proklos’ philosophisches System als Theorie zu begreifen? Eine Theorie wurde mit Manuel Bremer gefaßt als „eine Menge von Aussagen, die [. . .] logisch verknüpft sind“49. Durch die Abgrenzung des immanenten Bezugsrahmens ergeben sich in der Philosophie des Proklos, wie gezeigt wurde, verschiedene Perspektiven. Paradoxe Aussagen über die transzendente Idee erscheinen aus der Perspektive der Immanenz als echte Widersprüche, aus transzendenter Perspektive lösen sie sich auf. Die erste Deutung des Paradoxes der Selbstprädikation, die oben dargestellt wurde, hat gezeigt, daß aus der Perspektive der Transzendenz zwar gegen das Prinzip des tertium non datur, nicht aber gegen das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs verstoßen wird, denn die Idee F-selbst transzendiert den Widerspruch zwischen F und nicht-F. Innerhalb des immanenten Bezugsrahmens jedoch entsprechen die beiden Prinzipien einander, so daß sich ein echter Widerspruch ergibt. Innerhalb des immanenten Bezugsrahmens gelten mithin strengere logische Gesetze, so daß Proklos’ System nur bedingt als Menge von Aussagen, die logisch miteinander verknüpft sind, aufgefaßt werden kann. Die Trennlinie ist in seinem System bereits eingetragen. Es gibt darin keine unumschränkte Hegemonie der Logik, welche die Aussagen seines Systems miteinander verknüpfen würde. Vielmehr ergeben sich in seinem philosophischen System verschiedene Betrachtungsperspektiven, die mitunter die Gesetze der klassischen Logik überschreiten, so daß es nicht als eine Theorie gelten kann. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation sind keine Gefahr für das philosophische System des Proklos, denn sein System ist nicht logisch homogen und daher auch keine Theorie, die explodieren könnte. Aus immanenter Perspektive ist eine paradoxe Aussage über die 49

Bremer, S. 9.

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D. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation

Idee ein echter Widerspruch, aus transzendenter Perspektive hingegen nicht. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation sind nicht schlechterdings selbstwidersprüchlich und falsch, so daß aus ihnen nach dem Prinzip des ex falso quodlibet jeder beliebige Satz folgen würde. Sie sind dies nur aus der immanenten Perspektive. Wenn sich diese Paradoxa auch nicht auf die ganze Philosophie des Proklos ruinös auswirken, stellt sich doch die Frage, ob sie sich nicht vielleicht ruinös innerhalb des immanenten Bezugsrahmens auswirken. Anders gefragt: Läßt sich der immanente Bezugsrahmen in der Philosophie des Proklos als Theorie begreifen, die explodiert, weil sie selbstwidersprüchliche, mithin falsche Sätze enthält? Dem ist zu entgegnen, daß die paradoxen Aussagen über die Ideen immer schon über den immanenten Bezugsrahmen hinausgehen, weil die Idee außerhalb dieses Bezugsrahmens steht. Wird der immanente Bezugsrahmen als Theorie, also als Menge von Aussagen, die logisch miteinander verknüpft sind, verstanden, so sind die Paradoxa gerade nicht Teil dieser Theorie, weil sie darüber hinausgreifen. Selbst in diesem reduzierten Bereich des immanenten Bezugsrahmens wirken sich die Paradoxa in der Philosophie des Proklos keinesfalls ruinös aus. c) Die Eingrenzung der Paradoxa in Proklos’ philosophischem System Angeregt von Nygrens Unterscheidung verschiedener Sinnzusammenhänge wurde in der Einführung der Entwurf eines philosophisch verantwortlichen Umgangs mit Paradoxa vorgestellt: Die philosophische Reflexion muß klären können, wodurch Paradoxa in einem System entstehen, und diese eingrenzen, damit das philosophische System an ihnen keinen Schaden nimmt. Dieser Entwurf unterscheidet sich von Nygrens Vorschlag der Trennung von Sinnzusammenhängen. Nygren trennt den Sinnzusammenhang der Religion, in dem paradoxe Aussagen sinnvoll sind, von dem der Wissenschaft, der streng logisch argumentiert. In philosophischen Systemen wie dem des Proklos findet sich indes beides: streng logische Argumentation und paradoxe Aussagen. Die Trennlinie verläuft mitten durch das System. Nach den bisherigen Überlegungen kann nun dargelegt werden, an welcher Stelle die Trennlinie in der Philosophie des Proklos verläuft und wodurch sie entsteht. Es ist die Perspektive der Transzendenz, aus der sich die Widersprüche, als die sich die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation innerhalb des immanenten Bezugsrahmens darstellen, auflösen. Diese Perspektive aber ist die Perspektive, die den Ideen angemessen ist. Wie gezeigt wurde, sind die Regeln der klassischen Logik aus dieser Perspektive gelok-

III. Parallele zu Meister Eckhart

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kert, das Prinzip des tertium non datur gilt nicht mehr unbedingt. Doch wo verläuft die Trennlinie, welche die paradoxen Aussagen in der Philosophie des Proklos einhegt, damit sein System an ihnen keinen Schaden nimmt? Genaugenommen gibt es zwei verschiedene Trennlinien. Die eine unterscheidet den transzendenten Bereich, in dem eine paradoxe Aussage durchaus eine positive Bedeutung haben kann (wie das Paradox der Zeit50), von dem immanenten Bezugsrahmen, in dem sie ein echter Widerspruch ist. Dieser transzendente Bereich wäre im Sinne Nygrens ein eigener Sinnzusammenhang, in der Philosophie des Proklos jedoch verläuft die Grenze mitten durch das System, das keine logisch homogene Theorie ist. Doch es ist eine zweite Abgrenzung nötig: Wie gezeigt wurde, sind die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation aus immanenter Perspektive echte Widersprüche. Die zweite Trennlinie ist nötig, um diese Widersprüche unschädlich für den immanenten Bezugsrahmen zu machen. Sie muß diese widersprüchlichen Sätze aus dem immanenten Bezugsrahmen ausgrenzen. Das Kriterium dafür ist, daß es sich bei ihnen um transgrediente Sätze handelt: Weil in ihnen von einer transzendenten Entität, der Idee, die Rede ist, überschreiten sie die Immanenz hin zur Transzendenz. Daher können sie guten Gewissens aus dem immanenten Bezugsrahmen ausgegliedert werden, so daß dieser an ihnen keinen Schaden nimmt. Für beide Trennlinien ist also der wesentliche Punkt die Überschreitung der Immanenz hin zur Transzendenz. Die erste Trennlinie ist die Demarkationslinie zwischen den beiden Bereichen, die zweite grenzt Sätze aus dem immanenten Bezugsrahmen aus, die diese Demarkationslinie überschreiten. Damit liegt die Antwort der Frage auf der Hand, wodurch die Trennlinie entsteht, welche paradoxe Sätze in der Philosophie des Proklos ausgrenzt: Sie entsteht durch das Überschreiten der Immanenz hin zur Transzendenz. Zu diesem Überschreiten drängt die Frage nach dem Grund, die Frage nach dem Woher, denn sie greift immer schon über das Immanente hinaus. Zu Recht also akzeptiert die (neu-)platonische Philosophie nur das Transzendente als befriedigende Antwort auf diese Frage.

III. Parallele zu Meister Eckhart Wie herausgearbeitet wurde, entstehen die Paradoxa in Proklos’ Denken durch die Überschreitung der Immanenz hin zur Transzendenz. Das Trans50 Im Unterschied zum Paradox des Raumes, das zwar insofern ein sinnvolles Paradox ist, als der in ihm formulierte Widerspruch auf das Überschreiten der immanenten Perspektive hinweist. Aus transzendenter Perspektive jedoch haben die den Widerspruch bildenden Aussagen keine positive Bedeutung. Cf. supra, Anm. 48.

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D. Die Paradoxa des Raumes, der Zeit und der Selbstprädikation

zendente ist immanent wirksam. Will man aus der Perspektive der Immanenz vom Transzendenten sprechen, ist der immanente Bezugsrahmen bereits überschritten, und die Rede wird paradox. Aus immanenter Perspektive ist dieses Paradox ein echter Widerspruch, der aus der übergreifenden transzendenten Perspektive aufgehoben ist. Hier ergibt sich eine Parallele zum Denken Meister Eckharts, dessen präsentische Eschatologie den Anstoß zu dieser Arbeit gab. Auch in Eckharts Denken ist es die immanente Wirksamkeit der Transzendenz, durch die Paradoxa entstehen. Obgleich die philologische Forschung ihr Hauptaugenmerk auf die mystische Erfahrung legt und die Paradoxa vor allem als rhetorisches Phänomen des Ausdrucks solcher Erfahrungen betrachtet, stellt Alois Maria Haas fest: Wichtig ist festzuhalten, daß für den Mystiker Eckhart eine Einigung des Menschen mit Gott nicht denkbar ist ohne die Voraussetzung, daß Gott selber in seinem Geschaffenen als „immanente Transzendenz“ [. . .] gegenwärtig ist.51

Eine weitere Parallele, die sich aus dieser immanenten Wirksamkeit der Transzendenz ergibt, ist die asymmetrische Ähnlichkeitsrelation zwischen transzendenter Idee und immanenter Wirkung. Von der philologischen Forschung zur christlichen Mystik wird diese Asymmetrie zwischen transzendenter Ursache und immanenter Wirkung als unähnliche Ähnlichkeit oder ähnliche Unähnlichkeit zwischen Gott und Geschöpf beschrieben: Wie in der Einführung bereits angemerkt, spricht Alois Maria Haas vom „Grundparadox einer unähnlichen Ähnlichkeit oder ähnlichen Unähnlichkeit“.52

IV. Das ewige Nun Die Paradoxa des Raumes und der Zeit lassen sich dahingehend deuten, daß sich die Widersprüche zwischen „überall“ und „nirgends“, „immer“ und „im Nun“ aus der Perspektive der transzendenten Idee auflösen, weil es aus dieser Perspektive weder Raum noch Zeit gibt, so daß diese Bestimmungen bedeutungslos werden und deshalb auch keine Gegensätze bilden können. Für das Paradox der Zeit ist dies jedoch nur die halbe Wahrheit, denn Immer und Nun haben, wie bereits dargestellt wurde,53 nicht nur zeitliche, sondern auch überzeitliche Bedeutung. Im Bereich des Intelligiblen sind diese beiden Begriffe positiv bestimmt und fallen in der Eigenschaft der Idee, ewig zu sein, zusammen. 51 Haas, Paradox, S. 287. Den Begriff „immanente Transzendenz“ übernimmt dieser von Zapf, der sich eingehend mit dem Verhältnis von Transzendenz und Immanenz und seiner Bedeutung für die Eckhartschen Paradoxa befaßt. 52 Haas, Paradox, S. 280. Cf. A. IV. 53 cf. C. VIII. 2.

IV. Das ewige Nun

291

Der Terminus des ewigen Nun bringt das Paradox der Zeit auf eine knappe Formel, denn „ewig“, das aus transzendenter Perspektive die Koinzidenz von Immer und Nun bedeutet, verkürzt sich aus der Perspektive der Immanenz zu Immer im zeitlichen Sinne, das nunmehr in Opposition zu Nun steht: Das philosophische Paradox des ewigen Nun ist aus immanenter Perspektive ein echter Widerspruch, der sich sub specie aeternitatis auflöst. Ein Teilziel dieser Untersuchung war es, das philosophische Paradox des ewigen Nun als philosophische Voraussetzung von Eckharts präsentischer Eschatologie beispielhaft an der Philosophie des Proklos zu klären. Nun ist deutlich, wie dieses Paradox entsteht und wie es aufzulösen ist: Es entsteht durch die philosophische Frage nach dem Grund, die immer schon über die immanente Perspektive hinausgreift. Durch dieses Hinausgreifen überschreitet die Antwort auf diese Frage die immanente Perspektive, und ein Sprechen über den Grund wird von der Warte der Immanenz aus widersprüchlich. Durch das Bedenken der besonderen Perspektive der Transzendenz jedoch löst sich dieser Widerspruch auf. Diese besondere Perspektive ist die Perspektive der Ewigkeit, mit der sich Teil E befaßt.

E. Die Ewigkeit in der Philosophie des Proklos Jetzt widme ich mich der Ewigkeit in der Philosophie des Proklos.1 Sie ist die umgreifende Perspektive, aus der im Intelligiblen Immer und Nun koinzidieren: Die Ewigkeit rechtfertigt das Paradox des ewigen Nun. Wie gezeigt wurde, ist dieses Paradox aus der immanenten Perspektive der Zeit ein echter Widerspruch, aus der transzendenten Perspektive der Ewigkeit hingegen nicht. Die Ewigkeit ist zum einen dafür verantwortlich, daß die Ideen ewig sind, zum anderen ist sie das Urbild der Zeit. Dies ist für die Klärung des philosophischen Paradoxes des ewigen Nun zentral, denn offenbar ist, was aus der Perspektive des Urbildes koinzidiert, aus der Perspektive des Abbildes zueinander konträr.

I. Die Stellung der Ewigkeit im intelligiblen Kosmos Dieses Kapitel klärt, wie die Ewigkeit zu den Ideen steht, welche Stellung sie im intelligiblen Kosmos einnimmt, und wie sich die beiden Urprinzipien pÍraò und ÷peirûa in ihr manifestieren. Dies ist deshalb wichtig, weil dadurch Charakteristika der Ewigkeit deutlich werden, die für die Erklärung, warum aus der Perspektive der Ewigkeit das Immer mit dem Nun koinzidiert, unerläßlich sind. Dem widmet sich das darauf folgende Kapitel (E. II.). 1. Die Ewigkeit und die Ideen Wie in Abschnitt C. VIII. 2. dargelegt wurde, bringt Proklos die Eigenschaft der Ideen, in einem überzeitlichen Sinne „unaufhörlich“ (÷i^dion) zu 1 Zur Ewigkeit in der Philosphie des Proklos cf. Opsomer, Triads. Jan Opsomer untersucht darin, wie Proklos die drei intelligiblen Triaden aus dem platonischen Timaios ableitet, und es ist der Timaios, der Proklos die zweite intelligible Trias mit der Ewigkeit identifizieren läßt. Zum Verhältnis zwischen Ewigkeit und Zeit bei Proklos und im Neuplatonismus cf. Steel, Time; O’Neill, Time; Plass sowie Leisegang. Vorwiegend auf die Zeit in der Philosophie des Neuplatonismus gehen folgende Publikationen ein: Sambursky, Zeit, S. 488 sqq.; Sambursky/Pines, Time, S. 12 sqq. sowie S. 48–63. Eine umfassende Darstellung des Zeitproblems in der Philosophie der Antike und des frühen Mittelalters unter Berücksichtigung des Neuplatonismus und Proklos bietet Sorabji.

I. Die Stellung der Ewigkeit im intelligiblen Kosmos

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sein, auch mit den Begriffen „ewig“ (aùÿnion) und „immer“ (÷e˝) zum Ausdruck. Für diese Eigenschaft ist die Ewigkeit verantwortlich: Denn dies ist den Ideen am Ureigensten: das Gute, das Seinshafte und das Unaufhörliche. Das erste kommt von der ersten Ursache, das zweite aber vom Einen Sein, das dritte aber von der Ewigkeit zur allerersten Ordnung der Ideen.2

Doch wie genau verhält sich die Ewigkeit zu den Ideen? Auskunft darüber gibt Proklos am Anfang des Buches D seines Timaioskommentars, wo er seine Überlegungen zur Ewigkeit, die sich auf Timaios 37d3–7 beziehen, mit der Frage „Was nun könnte die Ewigkeit sein [. . .]?“3 zu ihrem Ende führt. Seine Antwort, in Form einer rhetorischen Frage gegeben, erhellt das Verhältnis zwischen der Ewigkeit und den Ideen: Was aber anderes als die eine Umfassung der intelligiblen Henaden (ich nenne aber „Henaden“ die Ideen der intelligiblen Lebewesen und die Genera all dieser intelligiblen Ideen), dieser also und des Gipfels ihrer Vielheit und ferner Ursache der unveränderlichen Dauerhaftigkeit aller , wobei sie nicht in den vielen intelligiblen Entitäten selbst ist und sich auch nicht aus ihnen zusammensetzt, sondern ihnen auf transzendente Weise gegenwärtig ist [. . .]?4

Die Ewigkeit ist also die Umfassung (perioxÇ) der höchsten Ideen. Besonderen Wert legt Proklos darauf, daß die Ewigkeit über die intelligiblen Entitäten – und dazu gehören die Ideen – transzendent ist. Die Ewigkeit ist ihnen auf transzendente Weise gegenwärtig. Damit verhält sie sich ähnlich zu den intelligiblen Entitäten wie die Ideen zu ihren Instanzen: Die Ewigkeit bewirkt die überzeitliche Dauer des Ewigen, ohne jedoch mit ihm verrechnet werden zu können. 2. Die Ewigkeit und das Autozôon Der Ort der Ideen ist der intelligible Intellekt, der durch die Rückkehr zu sich selbst zur Vielheit der Ideen wird.5 Proklos identifiziert den intelligi2

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In Parm. 831,28–32: oùkeiütata gJr tauta to iò eŁdesi, t˛ ÷gaq˛n, t˛ _ _ _ _ ožsiwdeò, t˛ ÷i^dion, t˛ m˚n ÷p˛ thò prÿthò êkon aùtûaò, t˛ d˚ ÷p˛ tou Ån˛ò _ _ _ _ Øntoò, t˛ d˚ ÷p˛ tou aùwnoò_ eùò tÌn prwtûsthn twn eùdwn tÜcin. 3 In Tim. III.12,12–14: tû ožn ºn eŁh þ aùÿn [. . .]. _ _ 4 In Tim. III.12,14–22: tû d˚ ållo ge í twn nohtwn ÅnÜdwn (lÍgw d˚ ÅnÜdaò _ _ _ _ _ _ noht wn zˆ ÿ wn ka˝ tJ gÍnh t wn noht wn toŸtwn ùdewn paswn) tJò ùdÍaò twn _ _ _ _ toŸtwn d\ ožn ka˝ thò ÷krüthtoò tou plÇqouò ažtwn ê mûa_ perioxÌ ka˝ aùtûa _ _ _ _ _ thò ÷necallÜktou pÜntwn diamonhò, ožk ýn ažto iò ožsa to iò pollo iò _ _ _ _ nohto iò ožd\ ýc ažtwn ÷qroizomÍnh, ÷ll\ ýc´hrhmÍnwò ažto iò parousa [. . .]. 5 cf. C. I., wo Theol. Plat. III(19).65,25–66,3 zitiert wurde: Doke_i d\ ñmoige _ _ _ katJ tÌn ýpistroðÌn tÌn Åautou pr˛ò tJò twn Õlwn ÷rxJò þ noht˛ò nouò _ _ _ ýpistreðümenoò plÇrwma genÍsqai twn eùdwn ka˝ pÜnta noerwò Ñma ka˝ _ _ _ nohtwò eùò Åaut˛n xwrhsai tJ twn Øntwn aŁtia. („Es scheint mir aber, daß der

294

E. Die Ewigkeit in der Philosophie des Proklos

blen Intellekt, die dritte Trias der intelligiblen Ebene, mit dem Autozôon, dem Paradigma, nach dem der Demiurg die Welt schafft. Dieses ist wie die Ideen ewig: Nun aber ist das Autozôon ewig, wie Timaios selbst sagt: „Die Natur dieses Lebewesens war ewig“; und wieder an anderer Stelle, daß das Urbild über die gesamte Ewigkeit seiend ist.6

Da aber das Ewige zweitrangig zur Ewigkeit ist,7 ist auch das Autozôon zweitrangig zur Ewigkeit: Wenn es also ewig ist, hat es an der Ewigkeit teil; wenn aber das Partizipierende allenthalben zweitrangig zum Partizipierten ist, so ist auch das Autozôon zweitrangig zur Ewigkeit.8

Weil es nichts Ewiges gibt, das dem Autozôon – Proklos bezeichnet es an dieser Stelle Platon folgend als das vollkommene Lebewesen – vorgängig ist, ist die Ewigkeit dem Autozôon unmittelbar vorgängig: Jetzt aber beweisen wir [. . .], daß die Ewigkeit nicht nur jenseits des vollkommenen Lebewesens ist, sondern auch, daß sie unmittelbar jenseits von ihm ist: Denn weil es ewig genannt wird, wird es wohl zweitrangig zur Ewigkeit sein; weil es aber nichts Ewiges gibt, das ihm vorgängig ist, wird es wohl unmittelbar nach der Ewigkeit sein.9

3. Die Ewigkeit als die mittlere Trias der intelligiblen Ebene Wenn die Ewigkeit dem Autozôon unmittelbar vorgängig ist, so ist zu vermuten, daß sie der ersten Trias der intelligiblen Ebene nachrangig ist. Diese erste Trias benennt Proklos bisweilen nach ihrem dritten Term als intelligible Intellekt gemäß seiner Rückkehr zu den Prinzipien des Ganzen zur vollkommenen Vielheit der Ideen wird und auf intellektuelle und zugleich intelligible Weise alle Ursachen des Seienden in sich aufnimmt.“). _ 6 Theol. Plat. III(16).54,22–25: \AllJ mÌn t˛ ažtozˆw on aùÿniün ýstin, ¼ò _ ažtüò ðhsin þ Tûmaioò· ¢H m˚n zˆÿou ðŸsiò ýtŸgxanen ožsa aùÿnioò· ka˝ _ pÜlin ýn ålloiò, Õti t˛ parÜdeigma t˛n pÜnta aùwnÜ ýstin Øn. 7 cf. In Tim. III.10,19–21: t˛ gJr aùÿnion ojq\ Õper aùšn ojte kre_itton _ _ aùwnoò, ÷ll\ Êsper [. . .] t˛ ñmyuxon [. . .] yuxhò ýpûtade pÜnteò ðamÍn, oÖtw _ dÌ ka˝ t˛ aùÿnion aùwnoò deŸteron. („Denn das Ewige ist weder das, was die Ewigkeit ist, noch besser als die Ewigkeit, sondern so, wie wir alle sagen, daß [. . .] das Beseelte diesseits der Seele ist, so ist eben auch das Ewige zweitrangig zur Ewigkeit.“). _ _ 8 Theol. Plat. III(16).54,25–55,2: Eù toûnun aùÿniün ýsti, metÍxei tou aùwnoò· _ _ _ _ eù d˚ t˛ metÍxon pantaxou tou metexomÍnou deŸteron, ka˝ t˛ ažtozˆwon tou _ aùwnoò deŸteron. _ _ 9 In Tim. III.12,30–13,3: nun d˚ Õti ka˝ þ aùšn ëp˚r t˛ pantel˚ò zˆwon ka˝ _ Õti prosexwò ëp˚r ažtü [. . .] ýpideûknumen· Õti m˚n gJr aùÿnion eŁrhtai, _ _ _ _ deŸteron ºn eŁh tou aùwnoò· Õti d˚ ožd˚n pr˛ ažtou aùÿnion, prosexwò ºn _ eŁh metJ t˛n aùwna.

I. Die Stellung der Ewigkeit im intelligiblen Kosmos

295

„das Sein selbst“, „das Sein in erster Linie“ oder einfach als „das Sein“. Bisweilen benennt er sie nach ihrem ersten und letzten Term als „das Eine Sein“.10 Daß die Ewigkeit tatsächlich nachrangig zu dieser ersten Trias ist, begründet Proklos mit den beiden Argumentationsmustern zur Ordnung der Dinge, die in B. III. 7. vorgestellt wurden. Das eine Argumentationsmuster leitet das Ordnungsverhältnis zwischen zwei Entitäten daraus ab, daß die eine an der anderen partizipiert. Das andere schließt aus dem Inklusionsverhältnis der Extensionen zweier Prädikate auf das Ordnungsverhältnis der für sie verantwortlichen metaphysischen Entitäten. Daß die Ewigkeit, der Aiôn, am Sein partizipiert, ergibt sich für Proklos aus einer etymologischen Überlegung: Denn das Immer wird dem Sein gemäß demselben angefügt und der immer Seiende (þ ÷e˝ Œn) ist der Aiôn.11

Dadurch ist das Sein der Ewigkeit vorgängig: Denn das Eine Sein ist jenseits der Ewigkeit: Die Ewigkeit partizipiert nämlich am Sein.12

Die andere Begründung für die Vorgängigkeit des Seins beruht darauf, daß die Menge dessen, was am Sein partizipiert, eine echte Obermenge dessen ist, was an der Ewigkeit partizipiert. Das Sein strahlt seine Gaben auf mehr Entitäten aus als die Ewigkeit und ist deshalb näher an der ersten Ursache. Daher ist es der Ewigkeit in der metaphysischen Rangordnung vorgängig: Denn daß der Begriff des Einen Seins und der der Ewigkeit verschieden sind, ist einleuchtend. Denn „immer sein“ und „schlechterdings sein“ sind gänzlich verschieden. Wenn etwas jedenfalls immer ist, ist dieses auch; aber es gilt nicht umgekehrt, wenn etwas ist, ist dieses auch immer. Also ist das Sein universeller und genereller als das immer Sein und deshalb näher an der Ursache von allem.13

Die Ewigkeit ist also die Mitte der intelligiblen Ebene zwischen dem Sein und dem Intellekt: 10

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Theol. Plat. III(27).93,10–12: pot˚ d˚ ÷p˛ twn åkrwn twn ýn ažt´h, tou _ metexomÍnou ka˝ metÍxontoò, Ùn ïn ažtÌn ÷pokale i. („Bald aber nennt er sie nach den Extremen, die in ihr sind, dem Partizipierten und dem Partizipierenden, das Eine Sein.“). _ 11 In Tim. III.15,12 sq.: t˛ gJr ÷e˝ tˆw Ønti sunÜptetai katJ tažt˛n ka˝ ñstin aùšn þ ÷e˝ Œn. _ _ 12 In Tim. I.231,10 sq.: t˛ m˚n gJr Ùn ïn ýpÍkeina tou aùwnüò ýstin· þ gJr _ aùšn metÍxei tou Øntoò. _ _ _ 13 In Tim. III.15,21–16,1: Õti gJr ê tou Øntoò Ån˛ò _ka˝ ê tou aùwnoò ñnnoia _ _ _ diaðÍrousi, dhlon· t˛ gJr ÷e˝ e ùnai ka˝ t˛ ãplwò e ùnai pÜntwò Òteron. eŁ ti _ _ _ eŁ ti ñsti, touto ka˝ ÷eû goun ÷eû ýsti, touto ka˝ ñstin· ožk ÷nÜpalin d˚ _ _ _ _ ýstin· þlikÿteron åra ka˝ genikÿteron tou ÷e˝ e ùnai t˛ e ùnai ka˝ diJ tauta _ ýggutÍrw tou pÜntwn aùtûou.

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E. Die Ewigkeit in der Philosophie des Proklos

Die Ewigkeit ist also vor dem Intellekt und nach dem Sein, so daß sie gemäß der Mitte der intelligiblen Ebene gegründet ist.14

a) Die Ewigkeit als Leben Die Mitte der intelligiblen Ebene aber ist, wie gezeigt wurde, das intelligible Leben.15 Bei der Identifikation der Ewigkeit mit dem intelligiblen Leben beruft sich Proklos auf Plotin: Plotin, der das Charakteristikum der Ewigkeit nach der Theologie Platons am inspiriertesten bekundet, definiert die Ewigkeit als grenzeloses Leben, das sowohl sich selbst als ganzes zugleich zum Vorschein bringt als auch noch dazu das ihm eigene Sein enthüllt.16

Die Verbindung zwischen der Ewigkeit und dem Leben erhellt in der Philosophie des Proklos daraus, daß die Ewigkeit nicht nur die Ursache der Unaufhörlichkeit, sondern auch der Unsterblichkeit ist: Zudem also sagen wir, daß die Ewigkeit für alles die Ursache der Unsterblichkeit ist: Die Ewigkeit ist folglich das in erster Linie Unsterbliche.17

Mit dieser Behauptung beruft sich Proklos in den darauf folgenden Zeilen auf Aristoteles’ De caelo und Platons Phaidon.18 Da Unsterblichkeit aber Leben bedeutet, das niemals aufhört, ist die Ewigkeit als Ursache der Unsterblichkeit „der Vater und die Anführerin des grenzelosen Lebens“.19 Als erste Ursache der Unsterblichkeit ist sie Leben, „denn das Unsterbliche existiert im Leben und in Verbindung mit dem Leben“20: 14

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Theol. Plat. III(16).56,25 sq.: Pr˛ tou nou toûnun þ aùšn ka˝ metJ t˛ Øn, _ _ Êste katJ t˛ mÍson Ôdrutai tou nohtou plÜtouò. 15 cf. B. V. 1. c). 16 Theol. Plat. III(18).60,18–22: Ka˝ Õ ge Plwt_inoò ýnqeastikÿtata tÌn _ _ _ aùwnoò ùdiüthta katJ tÌn tou PlÜtwnoò qeologûan ýmðanûzwn zwÌn _ _ _ åpeiron ÷ðorûzetai t˛n aùwna ka˝ þmou pasan proðaûnousan ÅautÌn ka˝ _ ýkðaûnousan ka˝ t˛ ïn t˛ Åauthò. Saffrey/Westerink, ad. loc. geben als Belegstelle für diese Definition Plotin, Enn. III 7.5,19–28 an. _ 17 Theol. Plat. III(16).55,15–17: Pr˛ò dÌ toŸtoiò t˛n aùwnÜ ðamen aŁtion _ _ _ _ e ùnai thò ÷qanasûaò to iò pasi· t˛ åra prÿtwò ÷qÜnatün ýstin þ aùÿn. 18 cf. Opsomer, Triads, S. 365: „Eternity is the cause of immortality for all beings. This claim is supported by a quotation from Aristotle’s De caelo and from Socrates’ words in the Phaedo who calls God and the form itself of life immortal.“ Cf. Aristoteles, De caelo 279a27 sq. sowie Platon, Phaidon 106d5 sq. _ _ 19 cf. Theol. Plat. III(18).60,16–18: thò d˚ ÷peûrou zwhò þ aùÿn ýsti patÌr ka˝ xorhgüò, eŁper ka˝ pÜshò ÷qanasûaò ka˝ ÷idiüthtoò aŁtioò þ aùÿn. („Die Ewigkeit aber ist der Vater und die Anführerin des grenzelosen Lebens, da die Ewigkeit die Ursache sowohl jeder Unsterblichkeit als auch aller Unaufhörlichkeit ist.“). _ _ 20 Theol. Plat. III(16).55,26 sq.: T˛ gJr ÷qÜnaton ýn zw´h ka˝ metJ zwhò ëðÍsthke.

I. Die Stellung der Ewigkeit im intelligiblen Kosmos

297

Denn wenn sie das in erster Linie Unsterbliche ist und nicht durch Partizipation, sondern die Ursache der Unsterblichkeit und der Unaufhörlichkeit ist, dürfte sie wohl Leben sein, das durch sich selbst das Immer hat und von der Wirkmächtigkeit der Unaufhörlichkeit überfließt [. . .].21

Mit der Identität von Ewigkeit und Leben argumentiert Proklos, wenn er der Frage nachgeht, warum Platon das intelligible Paradigma „Lebewesen“ (zˆwon) nennt.22 Das Autozôon ist ewig und lebt, wobei ihm die erste Eigenschaft von der Ewigkeit, die zweite vom Leben zukommt.23 Weil aber die Ewigkeit mit dem Leben identisch ist, lebt das Autozôon, insofern es ewig ist: _

Wenn allerdings das intelligible Paradigma lebt, insofern es ewig ist – denn die Ewigkeit ist die Gesamtheit des Lebens, wie auch Plotin sagt, so daß das Ewige lebt – aber alles, was lebt, ein Lebewesen ist, so ist folglich das intelligible Paradigma ein Lebewesen.24

Weil die Ewigkeit Ursache der Unaufhörlichkeit und des Lebens ist, kommt es dem Intellekt von der Ewigkeit her zu, daß er bis ins Unendliche lebt: Und der Intellekt lebt wegen der Ewigkeit bis ins Unendliche.25

Dies ist freilich nicht im sequentiellen Sinne gemeint, „denn das Ewige ist alles zugleich, sowohl im Teillosen als auch im Unendlichen der Ewigkeit“26. Der Bereich des Göttlichen ist aller Ausdehnung vorgängig, wodurch Anfang und Ende koinzidieren: [. . .] indem er zeigte, [. . .] daß bei den Göttern vor jeder Ausdehnung die Enden mit den Anfängen antizipiert und zusammengenommen sind.27

Doch die Ewigkeit wirkt nicht nur im Bereich des Intelligiblen: Als Leben ist sie bis in den Bereich des Sinnenfälligen hinein wirksam, denn 21

Theol. Plat. III(16).55,22–25: Eù d\ ñsti t˛ prÿtwò ÷qÜnaton ka˝ ož katJ _ mÍqecin, ÷ll\ aŁtion ÷qanasûaò ka˝ ÷idiüthtoò, eŁh ºn zwÌ par\ Åauthò _ ñxousa t˛ ÷e˝ ka˝ ëperblŸzousa tÌn thò ÷idiüthtoò dŸnamin [. . .]. _ 22 cf. In Tim. I.418,30 sq.: ÷llJ diJ tû, ðaûh ån tiò, zˆw on proshgüreuse t˛ parÜdeigma t˛ nohtün; („Aber weshalb, könnte jemand sagen, nennt er das intelligible Paradigma Lebewesen?“). _ _ 23 cf. In Tim. I.419,5–7: ¼ò gJr aùÿniün ýsti diJ tÌn tou aùwnoò ÷poplÇrw_ _ _ sin, oÖtw dÌ ka˝ zˆwon diJ tÌn thò zwhò ëpodoxÇn. („Denn wie es ewig ist wegen der Anfüllung durch die Ewigkeit, so ist es also auch ein Lebewesen wegen der Aufnahme des Lebens.“). _ _ 24 In Tim. I.419,12–16: eù ožn z´h t˛ parÜdeigma t˛ noht˛n ¼ò aùÿnion – zwÌ _ _ _ _ gJr ê pasa þ aùÿn, Êò ðhsi ka˝ Plwt inoò, Êste t˛ aùÿnion z´h – t˛ d˚ zwn _ _ _ pan zˆwün ýsti, t˛ åra noht˛n parÜdeigma zˆwün ýsti. _ _ _ 25 In Parm. 1121,9 sq.: Ka˝ þ nouò ýp\ åpeiron z´h diJ t˛n aùwna. _ _ _ 26 In Parm. 1230,13 sq.: T˛ m˚n gJr aùÿnion pan þmou ýstin ñn te tˆw ÷mÍrei _ _ _ ka˝ tˆw ÷peûrˆw tou aùwnoò. 27 In Tim. III.16,15–18: [. . .] shmaûnwn, [. . .] Õti tJ tÍlh proeûlhptai ka˝ _ _ _ suneûlhptai ta iò ÷rxa iò pr˛ pÜshò paratÜsewò ýp˝ twn qeûwn.

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E. Die Ewigkeit in der Philosophie des Proklos

sie ist „Leben, das sich den anderen Entitäten in dem Maße hingibt, wie ein jedes es gemäß seiner Natur aufzunehmen in der Lage ist“28. Bereits in B. V. 1. b) wurde gezeigt, daß auch die Pflanzen an der mittleren Trias der intelligiblen Ebene partizipieren, weil sie leben.29 Das Sinnenfällige hat also auch an der Ewigkeit teil, so daß Proklos folgende Frage positiv beantwortet: Ist die Ewigkeit dem Sinnenfälligen nicht auf die eine oder andere Weise, wenn auch nicht gänzlich, gegenwärtig?30

Aber wie ist dies zu denken, wenn doch das Sinnenfällige gewiß nicht in der Weise des Intelligiblen unaufhörlich (÷i^dion) ist? Das Sinnenfällige kann zwar nicht unmittelbar an der Ewigkeit partizipieren, hat aber mittelbar durch seine Partizipation an der Zeit, die das Abbild der Ewigkeit ist, an der Ewigkeit teil: Denn wer an dem Abbild der Ewigkeit partizipiert, partizipiert irgendwie auch an der Ewigkeit, wenn auch nicht so wie der, welcher unmittelbar an ihr partizipiert.31

So nimmt der Kosmos die Ewigkeit auf eine Weise, die ihm möglich ist, auf: Und der Kosmos selbst nimmt auf, nicht wie die Ewigkeit selbst ist, weswegen man auch nicht sagt, daß er ewig (aùÿnioò) ist, sondern wie er ihre ungeteilte Gegenwart und Erleuchtung kann.32

Die Ewigkeit wirkt also einerseits als Leben über den Bereich des Intelligiblen hinaus, andererseits wirkt sie über ihr Abbild, die Zeit, in den Bereich des Sinnenfälligen hinein. Mit der Abbildhaftigkeit der Zeit wird sich der Abschnitt E. II. 2. befassen. b) Die Ewigkeit als erste Ganzheit Seiner Deutung des platonischen Parmenides und des Sophistes entsprechend nennt Proklos die zweite Trias der intelligiblen Ebene auch „Ganzheit“: 28

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Theol. Plat. III(16).55,24–26: zwÌ [. . .] ýporÍgousa to iò ålloiò ažtÌn kaq\ Õson Òkaston pÍðuke. _ 29 Theol. Plat. III(6).22,20 sq.: ka˝ gJr tJ ðutJ lÍgomen zhn. („Denn wir sagen auch, daß die Pflanzen leben.“). _ _ _ _ 30 In Tim. III.16,33–17,1: ÷r' ožn ÷mhgÍp´h pÜresti tˆw aùsqhtˆw þ aùÿn, eù _ ka˝ mÌ pantelwò. _ _ _ 31 In Tim. III.17,2–4: þ gJr thò eùkünoò metÍxwn tou aùwnoò metÍxei pwò ka˝ _ _ _ tou aùwnoò, eù ka˝ mÌ oÖtwò, ¼ò þ ÷mÍswò ažtou metÍxwn. 32 In Tim. III.17,10–13: ka˝ dÍxetai ažt˛ò þ küsmoò ožx ¼ò ñstin ažt˛ò þ _ _ aùÿn, di˛ mhd\ aùÿnioò e ùnai lÍgetai, ÷ll\ ¼ò dŸnatai tÌn ÷mÍriston ažtou parousûan ka˝ ñllamyin.

I. Die Stellung der Ewigkeit im intelligiblen Kosmos

299

Aber nach dieser erhält unmittelbar nachfolgend die zweite ihren Hervorgang, die er gemäß der intelligiblen Ganzheit charakterisiert, wie wir auch im Zusammenhang mit dem Sophistes auseinandergelegt haben.33

Die Ewigkeit ist mit der ersten Ganzheit identisch: Tatsächlich hat er [i. e. Platon] die zweite Trias nach dieser im Timaios die Ewigkeit, im Parmenides aber die allererste Ganzheit genannt.34

Doch warum ist die zweite Trias der intelligiblen Ebene nicht nur Ewigkeit und Leben, sondern auch Ganzheit? Der systematische Grund dafür liegt in der zunehmenden Entfaltung des intelligiblen Kosmos in die Vielheit: In der ersten intelligiblen Trias, der Monas35 des Seienden bzw. dem Einen Sein, ist das Moment der Einheit vorherrschend, erst in der zweiten Trias, die von der Wirkmächtigkeit gekennzeichnet ist, beginnt sich das Sein zu unterscheiden. Hier ist das Sein noch keine Vielheit, sondern eine Zweiheit bzw. Dyade: Das zweite aber ist Wirkmächtigkeit, die von dem, was in erster Linie Sein ist, hervorgeht und gleichsam eine Zweiheit ist, welche die Vielheit des Seienden erzeugt, aber noch nicht die Vielheit ist.36

Doch warum ist das Sein der zweiten Trias Zweiheit? Das Charakteristikum dieser Trias ist das Grenzelose (t˛ åpeiron). Die erste Grenzelosigkeit (ê ÷peirûa) aber ist, wie dargelegt wurde, Zweiheit bzw. in mythologischer Terminologie Chaos.37 Deshalb ist auch die zweite Trias Zweiheit. Dies untermauert Proklos durch zwei zusätzliche Begründungen: Die Ewigkeit (þ aùÿn) setzt sich aus den zwei Komponenten „immer“ (÷eû) und „Sein“ (Øn) zusammen, so daß in der Ewigkeit Zweiheit ist: _

33 Theol. Plat. III(25).86,17–19: MetJ d˚ taŸthn ýðechò ê deutÍra tÌn _ prüodon ñlaxen, ⁄n katJ tÌn þlüthta tÌn nohtÇn, Êsper ka˝ ýn Soðist´h dieûlomen, xarakthrûzei. 34 Theol. Plat. III(27).93,26–94,2: TÇn ge mÌn deutÍran metJ taŸthn ýn _ Timaûˆw m˚n aùwna proseûrhken, ýn Parmenûd´h d˚ þlüthta tÌn prwtûsthn. 35 Es mag irritierend erscheinen, daß eine Trias hier als Monas bezeichnet wird. Es wurde jedoch bereits darauf hingewiesen [cf. B. V. 1. c)], daß die Triaden der intelligiblen Ebene sowohl Einheit als auch Dreiheit sind. Proklos nennt sie daher in Theol. Plat. III(14).51,11 „triadische Monaden“ (monÜdeò triadikaû). _ 36 Theol. Plat. III(14).51,23–25: t˛ d˚ deŸteron dŸnamiò proi ousa m˚n ÷p˛ ¤ _ _ _ _ _ Øntoò ka˝ o Áon duJò o žsa gennhtikÌ to u plÇqouò twn Øntwn, tou prÿtwò _ _ ojpw d˚ ožsa t˛ plhqoò. 37 cf. B. V. 1. c), wo In Tim. I.176,10–13 zitiert wurde: ÷ll' ýpe˝ ka˝ metJ tÌn _ _ mûan aùtûan ê duJò twn ÷rxwn ÷neðÜnh, ka˝ ýn taŸtaiò ê monJò kreûttwn _ _ _ thò duÜdoò, í eù boŸloio lÍgein \Orðikwò, þ aùqÌr tou xÜouò . („Aber da ja nämlich nach der einen Ursache die Zweiheit der Prinzipien erscheint und in diesen die Einheit der Zweiheit überlegen ist, oder wenn du lieber auf orphische Weise sprichst, der Äther dem Chaos “.).

300

E. Die Ewigkeit in der Philosophie des Proklos

Und das Autozôon [. . .] hängt von der Zweiheit in der Ewigkeit ab (denn das Immer in Verbindung mit dem Sein ist die Ewigkeit).38

Außerdem ist die zweite Trias der intelligiblen Ebene eine Zweiheit, weil Proklos ihren ersten und ihren letzten Term als zwei Teile betrachtet, die von der Wirkmächtigkeit getrennt werden: Zuerst nun gehört es sich, die Weise des Hervorgangs der göttlichen Genera zu erwägen und, daß die intelligible Vielheit bezüglich der intelligiblen Monade [. . .] und der Dyade [. . .], die wir zwar die Ganzheit nannten, von der wir aber sagen, daß sie aus zwei Teilen, die infolge der Wirkmächtigkeit getrennt sind, besteht, durch die Monade und die Dyade zum Vorschein kommt.39

Wie das gleich folgende Textzeugnis zeigen wird, trennt die Wirkmächtigkeit den ersten und letzten Term der zweiten Trias nicht nur, sondern verbindet diese beiden Terme auch. Proklos nennt den pÍraò-Aspekt dieser Trias hier das Eine, was freilich nicht mit dem Überseienden Einen zu verwechseln ist. Die zweite Trias ist durch ihren åpeiron-Aspekt trennend verbunden. Dadurch unterscheidet sie sich von der ersten Trias, in der der mittlere Term den ersten und den letzten Term zu einer Einheit macht (Åno i). _

Weil die zweite Trias der intelligiblen Ebene eine Zweiheit ist, die aus zwei Teilen besteht,40 ist sie ein Ganzes: Denn wenn es Unterscheidung gibt, gibt es sowohl Teile als auch das Ganze, das sich aus diesen zusammensetzt. Also wird die zweite Trias intelligible Ganzheit genannt, ihre Teile aber das Eine und das Sein (ich nenne die Extreme). Die Wirkmächtigkeit aber, die auch hier die Mitte ist, verbindet das Eine und das Sein und macht es nicht zu einer Einheit wie in der vor ihr.41

Die zweite Trias der intelligiblen Ebene ist im metaphysischen System des Proklos die erste Entität, die aus zwei Teilen besteht. Weil für ein Ganzes mindestens zwei Teile notwendig sind, ist sie das erste Ganze bzw. „die allererste Ganzheit“42. Offenbar verhält es sich mit der ersten Ganzheit ebenso wie mit der Monas des Seienden, die ungleich den Ideen nicht jen38

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Theol. Plat. III(18).58,18–20: Ka˝ t˛ m˚n ažtozˆwon [. . .] thò ýn tˆw aùwni _ duÜdoò ýcÇrthtai (t˛ gJr ÷e˝ metJ tou Øntoò þ aùÿn). _ _ _ 39 Theol. Plat. III(26).90,16–21: Prwton m˚n ožn thò proüdou t˛n trüpon _ _ _ ýnnoe in prosÇkei twn qeûwn genwn, ka˝ Õti katJ tÌn monÜda tÌn nohtÇn [. . .] _ _ ka˝ tÌn duÜda [. . .], ⁄n þlüthta m˚n ýkaloumen, ýk dŸo d˚ merwn diakekri_ _ mÍnwn ëp˛ thò dunÜmewò lÍgomen ëðestÜnai, t˛ noht˛n ýkðaûnetai plhqoò ÷p˛ monÜdoò ka˝ duÜdoò. 40 Darin unterscheidet sie sich von der überseienden Zweiheit, die als überseiendes Prinzip keine Teile hat. 41 Theol. Plat. III(25).87,7–11: diakrûsewò gJr ojshò ka˝ mÍrh ýst˝ ka˝ t˛ ýk _ _ nohtÇ, mÍrh d˚ ažthò toŸtwn Õlon. Kale itai toûnun ê deutÍra triJò þlüthò _ _ t˛ Ùn ka˝ t˛ Øn – åkra lÍgw – mÍsh d˚ ê dŸnamiò ožsa k÷ntauqa sunÜptei, _ _ _ ka˝ ožx Åno i, kaqÜper ýn t´h pr˛ ažthò, t˛ Ùn ka˝ t˛ Øn.

I. Die Stellung der Ewigkeit im intelligiblen Kosmos

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seits der Ordnung steht, für die sie verantwortlich ist, denn die Monas des Seienden ist selbst seiend:43 Die erste Ganzheit ist selbst ein Ganzes. Als zweiteiliges Ganzes unterscheidet sich die erste Ganzheit von der dritten Trias der intelligiblen Ebene, die bereits Vielheit ist, und die Proklos mitunter auch t˛ pan („das Alles“) nennt.44 Zwar ist jedes Alles ein Ganzes, aber nicht jedes Ganze ist ein Alles, so daß die Ganzheit – Proklos nennt sie hier einfach „das Ganze“ – die mittlere Trias der intelligiblen Ebene und somit identisch mit der Ewigkeit ist: _

Das Ganze aber fällt mit dem mittleren Zentrum und der Verbindung der intelligiblen Ebene zusammen (denn das Ganze ist vor dem Alles, weil zwar das Alles ein Ganzes ist, das Ganze aber nicht schon auch ein Alles ist. Denn die unterschiedene Vielheit ist das Alles, was aber in sich die Vielheit umfaßt und noch nicht unterschieden ist, ist das Ganze: Und dies kommt der Ewigkeit ganz besonders zu, denn die Ewigkeit ist das Maß aller intelligiblen Vielheit, gerade so wie das Ganze der Zusammenhang und die Vereinigung des Alles ist).45 42 Theol. Plat. III(27).94,1 sq.: þlüthta tÌn prwtûsthn. Allerdings ist Proklos in seiner Terminologie nicht ganz konsequent ist: Im neunten Kapitel des dritten Buches seiner Theologia Platonica spricht er nämlich im Zusammenhang mit der Monas des Seienden, die sich aus pÍraò und ÷peirûa konstituiert, von der „Mischung und der Ganzheit dieser beiden “ (Theol. Plat. III.(9).38,2: ê [. . .] toŸtwn ÷mðotÍrwn sŸmmiciò ka˝ þlüthò). 43 cf. B. IV. 4. b). Es scheint eine Besonderheit der obersten Entitäten des intelligiblen Kosmos zu sein, daß das, wofür eine Entität verantwortlich ist, in der ihr vorgängigen Entität bereits der Ursache nach (kat\ aùtûan) angelegt ist. Dagegen sind die Ideen als Ursachen das, wofür sie verantwortlich sind. Die obersten Entitäten des intelligiblen Kosmos sind das, wofür sie verantwortlich sind, bereits „gemäß der Existenz“ (kaq\ Öparcin). So ist die Monas des Seienden, das Eine Sein, gemäß der Existenz Sein und der Ursache nach bereits das ihr Nachfolgende: Sein, das immer ist. Die Ewigkeit ist gemäß der Existenz Sein, das immer ist, und durch Partizi_ ýstin pation das ihr Vorhergehende: Sein. Cf. In Tim. I.234. 23–28: trixwò gÜr _ Òkaston, í kat\ aùtûan, í kaq\ Öparcin, í katJ mÍqecin· t˛ m˚n ožn Ùn ïn kaq\ Öparcûn ýsti münwò Øn, kat\ aùtûan d˚ ÷e˝ Øn, þ d˚ aùšn kaq\ Öparcin ÷e˝ Øn, katJ mÍqecin d˚ Øn, t˛ d˚ aùÿnion katJ mÍqecin ïn ka˝ ÷e˝ Øn, kaq\ Öparcin d˚ ållo ti, noht˛n í noht˛n ka˝ noer˛n í noerün. („Denn jedes einzelne ist auf dreierlei Weise: entweder der Ursache nach oder gemäß der Existenz oder durch Partizipation: Das Eine Sein nun ist gemäß der Existenz nur Sein, der Ursache nach aber Sein, das immer ist. Die Ewigkeit aber ist gemäß der Existenz Sein, das immer ist, durch Partizipation jedoch Sein. Das Ewige ist durch Partizipation Sein und Sein, das immer ist, gemäß der Existenz aber etwas anderes, ein intelligibles oder ein intelligibles und intellektuelles oder ein intellektuelles.“). _ _ _ _ _ 44 Theol. Plat. III(20).72,9 sq.: T˛ m˚n dÌ pan dhlon Õti tˆw pÍrati tˆw nohtˆw [Lacuna]. („Es ist also deutlich, daß das Alles mit der intelligiblen Grenze .“ „Grenze“ bezieht sich hier auf den letzten Term der intelligiblen Ebene. Zum Verhältnis zwischen dem ersten und dem letzten Term einer jeden Trias cf. B. V. 1. d). (*mit dieser Konjektur nehme ich das Verb ãrmüzei aus Zeile 13 auf.).

302

E. Die Ewigkeit in der Philosophie des Proklos

Daß die Ewigkeit Ganzheit ist, ist für die Fragestellung, wie sie das ewige Nun zu rechtfertigen vermag, zentral, denn der Zusammenhang zwischen den beiden Prädikaten „ewig“ und „ganz“ ist der Grund dafür, daß das Ewige „alles zugleich“ (pan þmou46) ist. Dieser so wichtige Punkt wird weiter unten (cf. E. II. 1.) behandelt werden. _

_

4. peras und apeiron der Ewigkeit Als Seiendes partizipiert die Ewigkeit an pÍraò und ÷peirûa. Das pÍraò der Ewigkeit ist der erste Term der Trias, ihr åpeiron sowohl der zweite Term als auch das Kennzeichen ihrer ožsûa. Wie aber manifestieren sich diese beiden Grundprinzipien in ihr? Weil diese Frage für die Abbildhaftigkeit der Zeit von Bedeutung ist, widmet sich ihr dieser Abschnitt. Weil die Ewigkeit als mittlere Trias der intelligiblen Ebene dem mittleren Term der ersten Trias entspricht, ist ihr Kennzeichen das Grenzelose: Die Ewigkeit wird ja gewiß stärker gemäß dem Grenzelosen charakterisiert.47

Dennoch ist sie, weil sie wie alles Seiende in der Metaphysik des Proklos sowohl an der Grenze als auch an der Grenzelosigkeit partizipiert, auch Grenze: Denn die Ewigkeit ist, wenn sie auch wegen des Immer grenzelos ist, doch sicherlich als Maß des Ewigen auch Grenze.48

Grenze ist die Ewigkeit als Maß (mÍtron) des Ewigen. Doch was mag dies bedeuten? Auskunft darüber gibt Proklos in der Propositio 54 seiner Elementatio Theologica, wo von der Ewigkeit und der Zeit als den beiden „einzigen Maßen im Sein des Lebens und der Bewegung“49 die Rede ist: 45

_

_

Theol. Plat. III(20).72,11–19: t˛ d˚ Õlon tˆw mÍsˆw kÍntrˆw ka˝ tˆw sun_ _ _ dÍsmˆw tou nohtou plÜtouò ãrmüzei (t˛ gJr Õlon pr˛ tou pantüò, eŁper t˛ _ _ m˚n pan Õlon ýstû, t˛ d˚ Õlon ožk çdh ka˝ pan ýsti· t˛ gJr di´hrhmÍnon _ _ _ _ plhqüò ýsti pan, t˛ d˚ sunÍxon ýn Åautˆw t˛ plhqoò ka˝ ojpw diakekrimÍnon _ _ _ Õlon· ka˝ touto tˆw aùwni mÜlista prosÇkei, mÍtron gÜr ýstin þ aùšn pant˛ò _ _ _ tou nohtou plÇqouò, Êsper t˛ Õlon sunoxÌ ka˝ Ònwsiò tou pantüò). Kobusch, Das Eine, S. 318 erläutert den hier erklärten Unterschied zwischen dem Alles und dem Ganzen wie folgt: „Denn ‚ganz‘ ist jenes Eine, das in sich die Vielheit, aber nicht in ihrer diskreten Form enthält, ‚alles‘ aber ist gerade das in sich aktuell diskrete Viele.“ 46 In Parm. 1230,13. _ 47 Theol Plat. III(18).59,22 sq.: Mallon mÌn katJ t˛ åpeiron þ aùšn xarakthrûzetai. 48 In Parm. 1120,29–31: ¢O m˚n gJr aùšn, eù ka˝ diJ t˛ ÷e˝ åpeiroò, ÷llJ ¼ò _ mÍtron dÇpou twn aùwnûwn ka˝ pÍraò ýstû. _ _ _ _ 49 E. T. 54,2 sq.: [. . .] mÍtra müna [. . .] ýn to_iò ožsi thò zwhò ka˝ thò kinÇsewò.

II. Das philosophische Paradox des ewigen Nun

303

Denn alles, was mißt, mißt entweder im Verhältnis zu einem Teil oder, indem das Ganze dem, was gemessen wird, zugleich angepaßt wird. Das, was also im Verhältnis zum Ganzen mißt, ist die Ewigkeit, das aber, was im Verhältnis zu Teilen mißt, die Zeit; es gibt demnach nur zwei Maße, das des Ewigen und das dessen, was in der Zeit ist.50

Die Ewigkeit ist ein Maß, das nur als Ganzes zugleich mißt, denn wenngleich sie als erste Ganzheit aus zwei Teilen besteht, ist sie nicht in homogene Abschnitte einteilbar. Grenzelos ist die Ewigkeit, weil sie sowohl die Ursache der Unaufhörlichkeit als auch die Ursache des unerschöpflichen Lebens ist: Denn insofern sie die Ursache von unerschöpflichem Leben und als Wirkmächtigkeit Anführerin des Immer ist, ist sie grenzelos.51

Das Wichtige daran, daß die Ewigkeit an Grenze und Grenzelosigkeit partizipiert, ist, daß sie zugleich (þmou) grenzelos und Grenze ist: _

Denn Ewigkeit ist zugleich sowohl grenzelos [. . .] als auch Grenze.52

In der Ewigkeit sind Grenze und Grenzelosigkeit in demselben (ýn tažtˆw53) gegründet. Wie die Untersuchung zeigen wird, differenzieren sich diese beiden Aspekte in ihrem Abbild, der Zeit. _

II. Das philosophische Paradox des ewigen Nun Aus der Perspektive der Zeit ist das philosophische Paradox des ewigen Nun ein echter Widerspruch, der aus der Perspektive der Ewigkeit aufgehoben ist. Was aber an der Ewigkeit ist es, das dieses Paradox des ewigen Nun rechtfertigt? Dem widmet sich der Abschnitt E. II. 1. Ist dies erst einmal geklärt, verkehrt sich die Frage nach dem ewigen Nun: Sie stellt sich dann nicht mehr als die Frage, warum das philosophische Paradox des ewigen Nun im Bereich des Intelligiblen kein Widerspruch ist, sondern vielmehr stellt sie sich als die Frage, warum das, was aus der Perspektive der Ewigkeit koinzidiert, aus der Perspektive der Zeit zueinander konträr ist. Die Antwort auf diese Frage erhellt aus dem Urbild-Abbild-Verhältnis zwischen Ewigkeit und Zeit, mit dem sich der Abschnitt E. II. 2. befassen wird. _

_

_

50 E. T. 54,4–7: pan gJr t˛ metroun í katJ mÍroò metre i í Õlon Ñma ýðar_ _ _ mosq˚n tˆw metroumÍnˆw. t˛ m˚n ožn kaq\ Õlon metroun aùÿn ýsti, t˛ d˚ katJ _ _ mÍrh xrünoò· dŸo åra müna tJ mÍtra, t˛ m˚n twn aùwnûwn, t˛ d˚ twn ýn xrünˆw Øntwn. _ 51 In Parm. 1122,1–3: kaq˛ m˚n gJr ÷nekleûptou zwhò ýstin aŁtioò ka˝ ¼ò _ dŸnamiò tou ÷e˝ xorhg˛ò, åpeirüò ýsti. _ 52 In Parm. 1121,37–1122,1: aùšn gJr þmou ka˝ åpeirüò ýstin [. . .] ka˝ pÍraò. _ 53 Theol Plat. III(18).59,26 sq.: ¢O d˚ aùšn ýn tažtˆw t˛ pÍraò ÁdrŸsato ka˝ tÌn ÷peirûan. („Die Ewigkeit aber hat die Grenze und die Grenzelosigkeit in demselben gegründet.“).

304

E. Die Ewigkeit in der Philosophie des Proklos

1. Die Ganzheit Als Ganzheit rechtfertigt die Ewigkeit das Paradox des ewigen Nun: Das Ewige, das an der Ewigkeit partizipiert, ist durch diese Partizipation ein Ganzes. Weil es aber ein Ganzes ist, ist es einerseits immer, andererseits im Nun. Warum aber ist das Ewige dadurch im Nun, daß es ein Ganzes ist? Um diese Frage zu beantworten, soll zunächst geklärt werden, was es denn bedeutet, daß das Ewige im Nun ist. Weil das Ewige kein Früher und Später kennt,54 ist es frei von jeglicher Sequentialität. Beim Ewigen resp. beim Intelligiblen ist also alles gemäß dem „es ist“.55 Dies deutet Proklos dahingehend, daß beim Intelligiblen „alles im Nun“ (pÜnta ýn tˆw nun) ist: _

_

[. . .] beim Intelligiblen sind „es war“ und „es ist“ dasselbe – denn dort ist alles gemäß dem „es ist“, weil nämlich alles im Nun ist, das natürlich teilloser ist als das zeitliche Nun.56

Proklos setzt das intelligible Nun vom zeitlichen Nun ab, weil es „teilloser“ als dieses ist. Offenbar kennt Proklos eine Steigerung des Teillosen, denn bereits das zeitliche Nun bezeichnet Proklos in seiner Elementatio Physica als „teillos“.57 Das zeitliche Nun ist teillos, insofern es kein Teil der Zeit, sondern deren Grenze ist. Vor ihm gibt es ein Früher, nach ihm ein Später. Im Gegensatz dazu ist im intelligiblen Nun alles zugleich gegenwärtig, weil es kein Später gibt, durch welches das Intelligible vervollständigt würde – als Ganzes ist es bereits vollständig. Im Ewigen ist alles zugleich, weil es ein simultanes Ganzes ist: Alles Ewige ist ein Ganzes, das zugleich ist: Sei es, daß es lediglich sein Sein als ewiges hat. Dann hat es dieses als Ganzes zugleich gegenwärtig [. . .]. Sei es daß es zum Sein sein Wirken . Dann hat es auch dieses auf einmal.58

Die Unterscheidung, die Proklos hier zwischen ewigem Sein und ewigem Wirken trifft, ist für die Bestimmung der Seele bedeutsam, die zwischen 54

_

cf. E. T._ 52,9–11: eù gJr aùÿniün ýstin [. . .] t˛ ÷e˝ Øn, [. . .] ož de i t˛ m˚n prüteron e ùnai, t˛ d˚ Österon. („Denn wenn ‚ewig‘ [. . .] ‚immer sein‘ bedeutet, [. . .] kann nicht das eine früher, das andere aber später sein [. . .].“). 55 Für eine solche Art des Präsens, das sich vom zeitlichen Präsens unterscheidet, hat Erler im gleichnamigen Aufsatz den Terminus „Praesens divinum“ geprägt. _ _ _ 56 In Tim. I.291,7–10: [. . .] ýp˝ tou nohtou t˛ þn ka˝ ñsti tažtün – pÜnta _ _ _ _ gÜr ýstin ýke i katJ t˛ ñstin, ýpe˝ ka˝ pÜnta ýn tˆw nun, â dÌ tou katJ _ xrünon nun ÷merÍsteron. _ 57 E. P. I.16,1: T˛ nun ÷merÍò ýstin. („Das Nun ist teillos.“). _ 58 E. T. 52,1–6: Pan t˛ aùÿnion Õlon Ñma ýstûn· eŁte tÌn ožsûan ñxei münon _ _ aùÿnion, Õlhn Ñma parousan ažtÌn ñxon [. . .]· eŁte tÌn ýnÍrgeian pr˛ò t´h ožsû ´a, ka˝ taŸthn ÷qrüan ñxon.

II. Das philosophische Paradox des ewigen Nun

305

Ewigem und Zeitlichem steht und so zwar ewiges Sein, aber zeitliches Wirken hat.59 Der Intellekt dagegen, der völlig ewig ist, hat sowohl Sein als auch Wirken als Ganze zugleich: Daß diese aber dasselbe Charakteristikum haben, dürften wir lernen, wenn wir jenes erwägen, daß alles Ewige ein Ganzes ist, das, wenn es wirklich völlig ewig ist, sowohl sein Sein als auch sein Wirken als Ganze zugleich gegenwärtig hat (denn von solcher Art ist der ganze Intellekt, der sowohl sein Sein als auch sein intellektuelles Erkennen als Ganze zugleich und alles in sich auf vollkommene Weise gegründet hat und nicht das eine des Seins zwar hat, hinter dem anderen aber zurückbleibt [. . .])60

Es ist ein Kennzeichen des Ewigen, daß es sein Sein als Ganzes zugleich hat und mithin im Nun ist. Warum aber ist das Ewige dadurch, daß es ein Ganzes ist, auch immer? Wenn etwas im eigentlichen Sinne ganz ist, fehlt ihm nichts. Eine Totalität kann nicht mehr vervollständigt werden. In diesem Sinne umfaßt das Ganze, d. h. die Ewigkeit, die Unaufhörlichkeit, so daß jedes Ganze, d. h. jedes Ewige, auch unaufhörlich ist: Nun aber umfaßt nämlich das Ganze allenthalben die Unaufhörlichkeit: Denn kein Ganzes gibt sein Sein oder die ihm eigene Vollendung auf.61

Wenn das Ewige unaufhörlich ist, so ist es immer. Weil das Ewige ein Ganzes ist, ist es sowohl im Nun als auch immer. Damit ist die Frage geklärt, warum die Ewigkeit die paradoxe Koinzidenz von Immer und Nun im Bereich des Intelligiblen zu rechtfertigen vermag. Sie rechtfertigt dieses Paradox, weil sie die erste Ganzheit ist. Was unmittelbar an der Ewigkeit partizipiert, ist nicht nur ewig, sondern auch ein Ganzes.62 59

_

cf. E. T. 191,1 sq.: Pasa yuxÌ meqektÌ tÌn m˚n ožsûan aùÿnion ñxei, tÌn d˚ ýnÍrgeian katJ xrünon. („Jede partizipierbare Seele hat zwar ihr Wesen als ewiges, ihr Wirken jedoch gemäß der Zeit.“). _ 60 Theol. Plat. III(27). 94,2–8: ˜Opwò d˚ tauta tÌn ažtÌn ñlaxen ùdiüthta _ _ mÜqoimen ºn ýke ino sunnoÇsanteò, Õti pan m˚n t˛ aùÿnion Õlon ýstûn, eù _ tÌn ýnÍrgeian Õlhn Ñma m˚n pantelwò aùÿnion eŁh, ka˝ tÌn ožsûan ka˝ _ _ _ _ _ _ _ parousan ñxon (toioutoò gJr paò nouò, tü te e ùnai ka˝ t˛ noe in Õlon þmou _ _ _ _ ka˝ pan ýn Åautˆw telÍwò ÁdrusÜmenoò, ka˝ ož t˛ m˚n ñxwn tou Øntoò, tˆw d˚ ýlleûpwn [. . .]). 61 Theol. Plat. III(27). 94,14–17: \AllJ mÌn ka˝ t˛ Õlon ÷idiüthtüò ýsti _ _ pantaxou periektikün· ožd˚n gJr twn Õlwn í tÌn ožsûan í tÌn teleiüthta tÌn oùkeûan ÷ðûhsin. _ _ _ 62 Theol. Plat. III(27). 94,14 sq.: Pantaxou toûnun þ aùšn o Áò ºn par´h prÿtwò, þlüthtoò aŁtiüò ýstin. („Allenthalben also ist die Ewigkeit für die Dinge, denen sie zuerst gegenwärtig ist, Ursache von Ganzheit.“).

306

E. Die Ewigkeit in der Philosophie des Proklos

2. Die Zeit als Abbild der Ewigkeit In der Philosophie des Proklos ist die Zeit – der gängigen Lesart des platonischen Timaios folgend – das Abbild der Ewigkeit: Aber Platon selbst hat gesagt, daß die Zeit das Abbild der Ewigkeit ist.63

Daß die Zeit das Abbild der Ewigkeit ist, ist in die Urbild-Abbild-Struktur zwischen dem Kosmos und dem Intelligiblen eingebettet: Die Ewigkeit verhält sich zur Zeit wie das Autozôon zu seinem Abbild, dem Kosmos: [. . .] da sich so, wie sich die Ewigkeit zum Autozôon verhält, die Zeit zum Kosmos hier verhält, der beseelt und mit Intellekt begabt und ganz Abbild des Autozôon ist, gleichwie die Zeit der Ewigkeit ist.64

Was aber ein Abbild ist, hat nicht mehr denselben Logos wie sein Urbild, sondern ist in seinem Wesen von diesem verschieden: Denn alle Abbilder neigen dazu, in ihrem Wesen verschieden von ihren eigenen Urbildern zu sein und nicht mehr denselben Logos zu haben, sondern einen, der ähnlich zu dem ist, woraus sie hervorgegangen sind.65

Die Zeit unterscheidet sich also wesentlich von der Ewigkeit, wenngleich sie ihr Abbild ist. Dieser wesentliche Unterschied besteht darin, daß bei der Ewigkeit das Unendliche gleichsam zugleich ist, die Zeit hingegen ein solches Zugleich nicht kennt: Deshalb ist nämlich bei dieser das Unendliche nicht gleichsam zugleich, wie bei der Ewigkeit.66

Dieser Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit berührt den Kern der Frage nach dem Paradox des ewigen Nun, denn die Ewigkeit kennt das Zugleich des Unendlichen. Für die Frage, warum das philosophische Paradox des ewigen Nun im Bereich der Zeit ein echter Widerspruch ist, der aus der Perspektive der Ewigkeit aufgehoben ist, muß folgendes geklärt werden: Wie manifestieren sich Immer und Nun, die in der Ewigkeit koinzidieren, in ihrem Abbild, der Zeit? Dem widmen sich die nächsten beiden Unterabschnitte. _

63 In Parm. 744,36 sq.: ÷ll\ ažt˛ò þ PlÜtwn eùküna t˛n xrünon aùwnoò eŁrhken. _ 64 In Tim. III.28,11–14: [. . .] eŁper ¼ò þ aùšn ñxei pr˛ò t˛ ažtozˆw on, oÖtwò ñxei þ xrünoò pr˛ò tünde t˛n küsmon ñmyuxon Ønta ka˝ ñnnoun ka˝ Õlon _ _ eùküna tou ažtozˆÿou, kaqÜper þ xrünoò aùwnoò. _ 65 In Parm. 746,6–9: pasai gJr eùküneò ýchllagmÍnai kat\ ožsûan boŸlontai _ _ ka˝ mhkÍti t˛n ažt˛n lügon ñxein, ÷llJ e ùnai twn oùkeûwn paradeigmÜtwn, _ _ _ t˛n Õmoion to iò ÷ð\ ¼n prohlqon. _ 66 In Remp. II.12,10–12: di˛ ka˝ ýp˝ toŸtou t˛ åpeiron ožx o Áon Ñma ýstûn, _ _ ¼ò ýp˝ tou aùwnoò.

II. Das philosophische Paradox des ewigen Nun

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a) Das Immer Bereits im Abschnitt zur Transzendenz der Ideen über die Zeit67 wurde festgestellt, daß die Begriffe „immer“ (÷eû) und „unaufhörlich“ (÷ûdioò) zweideutig sind, denn sie können sich sowohl auf das Ewige als auch auf das Zeitliche beziehen. Wie aber verhält sich das ewige Immer zum zeitlichen Immer? Im platonischen Timaios heißt es kurz vor der Einführung der Zeit als Abbild der Ewigkeit: Die Natur nun dieses Lebewesens war eine ewige, und dies dem Erzeugten gänzlich zu gewähren, war nicht möglich.68

Diese Stelle ist für Proklos sehr wichtig, denn der Demiurg macht dem Kosmos die Zeit zum Geschenk, um ihn dem Autozôon noch ähnlicher zu machen: Weshalb nun gibt die Erzählung zusätzlich zu all dem vorher Genannten dem ganzen Kosmos auch Anteil daran, indem sie dieses achte Geschenk des Demiurgen einführt? Deshalb, weil es gewiß das größte und vollendetste ist und dem Abbild zur höchsten Ähnlichkeit mit dem Urbild verhilft.69

Doch worauf bezieht sich toŸtou70, dasjenige also, woran der Kosmos auch Anteil hat? Im Gegensatz zu Festugière, der toŸtou auf die Ewigkeit bezieht, halte ich den Bezug zu „immer“ (÷eû71) bzw. „unaufhörlich“ (÷ûdion72) in den direkt vorausgehenden Zeilen für wahrscheinlicher. Dort heißt es, daß der Demiurg die Ähnlichkeit des Kosmos zum Intelligiblen vergrößert, indem er den Kosmos „gleichsam unaufhörlich“ (o Áon ÷ûdion73) macht. Was mag dies heißen? Proklos erläutert, was ÷ûdion im eigentlichen Sinne und was es erst in zweiter Linie bedeutet: _

Im eigentlichen Sinne nämlich und in erster Linie ist das Intelligible unaufhörlich, in zweiter Linie aber das, was sich über den Hervorgang und die Entfaltung der Zeit erstreckt; freilich ist auch „immer“ zweideutig, einerseits ewig, andererseits aber zeitlich.74 67

cf. C. VIII. 2. _ _ _ Platon, Timaios 37d3 sq.: ê m˚n ožn tou zˆÿou ðŸsiò ýtŸgxanen ožsa _ _ _ _ _ aùÿnioò, ka˝ touto m˚n dÌ tˆw gennhtˆw pantelwò prosÜptein ožk þn dunatün. _ _ _ 69 In Tim. III.3,9–13: diJ tû ožn sxed˛n ýp˝ pasi toŸtou metadûdwsi tˆw Õlˆw _ _ _ _ _ küsmˆw to iò ñmprosqen Øgdoon tou dhmiourgou touto t˛ dwron eùsagagÿn; _ diüti dÌ mÍgistün ýsti ka˝ teleÿtaton ka˝ eùò åkran þmoiüthta periistˆa tÌn _ eùküna tˆw paradeûgmati. 70 In Tim. III.3,10. 71 In Tim. III.3,9. 72 In Tim. III.3,6 und In Tim. III.3,7. 73 In Tim. III.3,6. 68

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E. Die Ewigkeit in der Philosophie des Proklos

Die Bedeutung „über alle Erstreckung der Zeit“ haben die Begriffe „unaufhörlich“ und „immer“ mithin erst in zweiter Linie, denn die Erstrekkung der Zeit ist etwas, was die Ewigkeit, bei der alles zugleich ist, nicht kennt. Doch was an der Ewigkeit ist es, das vom Immer der Zeit abgebildet wird? Wie bereits dargelegt wurde, ist die Ewigkeit sowohl Grenze als auch grenzelos, weil sie an den beiden überseienden Prinzipien pÍraò und ÷peirûa partizipiert.75 Allerdings überwiegt der Aspekt des Grenzelosen, denn als mittlere Trias der intelligiblen Ebene entspricht die Ewigkeit der ersten Grenzelosigkeit (÷peirûa). Ihre Besonderheiten seien hier kurz resümiert: Wie alle Triaden des intelligiblen Kosmos besteht auch die Ewigkeit aus Grenze (pÍraò), Grenzelosem bzw. Unendlichen (åpeiron) und dem Gemischten aus pÍraò und åpeiron, ihrem Sein bzw. Wesen (ožsûa). Den pÍraò-Aspekt der Ewigkeit bringt Proklos mit dem Einen in Zusammenhang und nennt ihn deshalb auch ÅnÜò.76 Ihr zweiter Term entspricht der Wirkmächtigkeit und auch ihr dritter Term, ihre ožsûa, ist Wirkmächtigkeit bzw. Grenzeloses oder Leben, so daß die Trias als Ganze stärker von diesem Aspekt geprägt ist.77 Dieser åpeiron-Aspekt nun ist die Ursache des Immer, wie folgendes bereits angeführte Zitat belegt: Denn insofern sie die Ursache von unerschöpflichem Leben und als Wirkmächtigkeit Anführerin des Immer ist, ist sie grenzelos.78

Das Immer, das von der Ewigkeit angeführt wird, meint freilich nicht nur das intelligible Immer, sondern auch das Immer der Zeit, „denn sie umfaßt die unendliche Zeit in sich“79. Die Zeit ist unendlich, weil sie kontinuierlich ist: Die Zeit [. . .] ist gemäß ihrer Kontinuität [. . .] unendlich.80 74 In Tim. III.3,6–9: kurûwò m˚n gJr ka˝ prÿtwò ÷ûdion t˛ nohtün, deutÍrwò _ _ d˚ t˛ t´h tou xrünou proüdˆw ka˝ ÷nelûcei sumparateinümenon· ditt˛n gJr ka˝ t˛ ÷eû, t˛ m˚n aùÿnion, t˛ d˚ xronikün. 75 cf. Theol. Plat. III(8).33,4 sq.: Ka˝ gJr þ aùšn ažt˛ò Ñma ka˝ pÍratoò metÍxei ka˝ ÷peirûaò. („Denn auch die Ewigkeit selbst partizipiert zugleich sowohl an Grenze als auch an Grenzelosigkeit“) sowie E. I. 4., wo In Parm. 1121,37–1122,1 _ zitiert wurde: aùšn gJr þmou ka˝ åpeirüò ýstin [. . .] ka˝ pÍraò. („Denn Ewigkeit ist zugleich sowohl grenzelos [. . .] als auch Grenze.“). _ _ 76 Theol. Plat. III(18).60,6: t˛ tou aùwnoò pÍraò ÅnÜò. („Die Grenze der Ewigkeit ist eine Henade.“). 77 cf. E. I. 4. _ 78 In Parm. 1122,1–3: kaq˛ m˚n gJr ÷nekleûptou zwhò ýstin aŁtioò ka˝ ¼ò _ dŸnamiò tou ÷e˝ xorhg˛ò, åpeirüò ýsti. _ 79 Theol. Plat. III(18).59,23 sq.: ka˝ gJr t˛n åpeiron xrünon ýn Åautˆw periÍxei.

II. Das philosophische Paradox des ewigen Nun

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Die unendliche Kontinuität der Zeit hat ihren Grund in der unendlichen Wirkmächtigkeit der Ewigkeit: Woher aber kommt das Unendliche der Kontinuität außer von der unendlichen Wirkmächtigkeit?81

Die Zeit gibt den Dingen ihre Kontinuität, die an der Ewigkeit nicht direkt partizipieren können,82 was für den Bestand des Sinnenfälligen wesentlich ist, denn ohne die Kontinuität der Zeit könnte nichts irgendeine seiner Eigenschaften behalten: Auch ist nicht schwer einzusehen, daß das, was sein Werden in der Veränderung hat, wenn es getrennt von der Zeit wäre, nicht nur nicht unaufhörlich wäre, sondern auch nicht für einen Moment nur irgendeine Eigenschaft behalten könnte, die es hatte.83

Wenn überhaupt keine Eigenschaft über den Moment hinaus Bestand hat, hat selbst das, was in Veränderung ist, keinen Bestand, denn auch für das sich Verändernde ist es wesentlich, daß irgend etwas an ihm gleich bleibt: Ohne Zeit könnte nichts auch nur für einen Moment bestehen. Es läßt sich also festhalten: Das Immer der Zeit bildet den åpeironAspekt der Ewigkeit ab. Zusammen mit der Kontinuität der Zeit hat es seinen Grund in der unendlichen Wirkmächtigkeit der Ewigkeit und ist für den Bestand des Zeitlichen wesentlich. b) Das Nun Die Grenze (pÍraò) der Ewigkeit ist ihr erster Term. Proklos nennt diesen ersten Term der zweiten Trias der intelligiblen Ebene bisweilen auch das Eine84 oder eine Henade.85 Die Grenze der Ewigkeit manifestiert sich, wie bereits dargelegt wurde, darin, daß die Ewigkeit das Maß des Ewigen ist.86 80 Theol. Plat. III(18).59,24 sq.: Ka˝ þ [. . .] xrünoò [. . .] katJ [. . .] tÌn sunÍxeian åpeirüò ýsti. Auf den Zusammenhang zwischen Kontinuität und Unaufhörlichkeit der Zeit weist auch E. P. II.16,1 hin: ¢O xrünoò sunexÇò ýsti ka˝ ÷ûdioò. („Die Zeit ist kontinuierlich und unaufhörlich.“). _ _ 81 Theol. Plat. III(18).60,7 sq.: Püqen d˚ t˛ åpeiron thò sunexeûaò í ýk thò ÷peûrou dunÜmewò. 82 In Tim. III.11,28–31: ka˝ gJr þ xrünoò [. . .] ož per˝ tJ ažtJ strÍðetai _ _ _ _ tˆw aùwni, ÷llJ per˝ tJ mÌ dexümena tÌn ýk tou aùwnoò sunoxÇn. („Denn die Zeit [. . .] dreht sich nicht um dieselben Dinge wie die Ewigkeit, sondern um jene, die ihren Zusammenhalt nicht von der Ewigkeit aufnehmen.“). _ _ 83 In Tim. III.7,31–8,2: ka˝ Õti t˛ ýn metabol´h tÌn gÍnesin ñxon tou xrünou _ _ _ xwr˝ò ožk Õti ÷ûdion, ÷ll\ ožd\ ÷karh diamÍnein o Áün t\ þn, ož xalep˛n suni_ _ _ de in. Êste de i tˆw m˚n ýp˝ plÍon þmoiwqhsomÍnˆw pr˛ò t˛ noht˛n ÷idiüthtüò tinoò. 84 cf. Theol. Plat. III(25).87,8–10: Kale_itai toûnun ê deutÍra triJò þlüthò _ nohtÇ, mÍrh d˚ ažthò t˛ Ùn ka˝ t˛ Øn – åkra lÍgw. („Also wird die zweite Trias

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E. Die Ewigkeit in der Philosophie des Proklos

Auch die Zeit ist Maß, denn sie ist das Abbild der Ewigkeit: Besser also ist es, zu sagen, daß die Gottheit eben diese zwei Maße des Seienden hervorgebracht hat, ich meine die Ewigkeit und die Zeit, die eine dessen, was auf intelligible Weise ist, die andere aber des Kosmischen. Ganz so wie nun der Kosmos das Abbild des Intelligiblen genannt worden ist, ist auch das kosmische Maß als das Abbild des intelligiblen Maßes bezeichnet worden.87

Doch wie manifestiert sich der pÍraò-Aspekt der Ewigkeit in der Zeit, insofern sie Maß ist? Erstens ist die Zeit Maß, weil sie Zahl ist: Aber die Ewigkeit ist Maß, insofern sie das Eine ist, die Zeit hingegen, insofern sie die Zahl ist: Denn jede von beiden mißt, die eine das, was vereint wird, die andere aber das, was gezählt wird, und die Eine die Dauerhaftigkeit des Seienden, die andere die Erstreckung des Werdenden.88

Dieses Textzeugnis legt eine Abhängigkeit der Zeit als Zahl von der Ewigkeit als dem Einen – und hier ist der pÍraò-Aspekt der Ewigkeit gemeint – nahe. Dies entspricht der proklischen Philosophie, denn die „Einheit die Ursache der Zahlen“89. Zweitens – und das ist für die hier untersuchte Fragestellung wichtiger – kann die Zeit nur deshalb messen, weil sie begrenzt ist. Ihre Grenze aber ist das Nun: [. . .] die Zeit [. . .] ist [. . .] gemäß dem Nun [. . .] begrenzt, das Nun nämlich ist die Grenze.90

Das Nun der Zeit hat seinen Ursprung in der ewigen Grenze – und hier ist die Grenze der Ewigkeit gemeint: intelligible Ganzheit genannt, ihre Teile aber das Eine und das Sein (ich nenne die Extreme).“). _ _ 85 Theol. Plat. III(18).60,6: t˛ tou aùwnoò pÍraò ÅnÜò. („Die Grenze der Ewigkeit eine Henade.“). 86 cf. E. I. 4., wo In Parm. 1120,29–31 zitiert wurde: ¢O m˚n gJr aùšn, eù ka˝ _ diJ t˛ ÷e˝ åpeiroò, ÷llJ ¼ò mÍtron dÇpou twn aùwnûwn ka˝ pÍraò ýstû. („Denn die Ewigkeit ist, wenn sie auch wegen des Immer grenzelos ist, doch sicherlich als Maß des Ewigen auch Grenze.“). _ _ _ 87 In Tim. III.17,22–27: bÍltion ožn lÍgein, Õti dÌ dŸo mÍtra tauta twn _ _ _ Øntwn þ qe˛ò parÇgage, t˛n aùwnÜ ðhmi ka˝_t˛n xrünon, t˛n m˚n twn nohtwò _ _ Øntwn, t˛n d˚ twn ýgkosmûwn. kaqÜper ožn þ küsmoò eùkšn eŁrhtai tou _ _ _ _ nohtou, ka˝ t˛ kosmik˛n mÍtron eùkšn tou mÍtrou tou nohtou katwnümastai. 88 In Tim. III.17,27–30: ÷ll\ þ m˚n aùšn mÍtron ¼ò t˛ Òn, þ d˚ xrünoò ¼ò þ _ ÷riqmüò· metre i gJr ÅkÜteroò, â m˚n tJ Ånizümena, â d˚ tJ ÷riqmoŸmena, ka˝ _ _ â m˚n tÌn diamonÌn twn Øntwn, â d˚ tÌn parÜtasin twn ginomÍnwn. _ _ 89 In Parm. 963,32: ê monJò aùtûa twn ÷riqmwn. _ 90 Theol. Plat. III(18).59,24–26: [. . .] þ [. . .] xrünoò [. . .] katJ [. . .] t˛ nun _ pepÍrastai, t˛ d˚ nun pÍraò.

II. Das philosophische Paradox des ewigen Nun

311

Denn von wo anders die Grenze der Zeit als von der ewigen Grenze?91

Die teillose Grenze der Zeit ist das Abbild des Einen – auch hier ist die Grenze der Ewigkeit gemeint: Denn auch die zeitliche Grenze ist teillos, so wie die Grenze der Ewigkeit eine Henade ist: Denn das Teillose ist das Abbild des Einen.92

Das Nun der Zeit ist damit das Abbild des pÍraò-Aspekts der Ewigkeit. 3. Die Aufhebung des Widerspruchs Aus dem bisher Entwickelten ist deutlich, warum das philosophische Paradox des ewigen Nun im Bereich des Zeitlichen ein Widerspruch ist, der im Bereich des Ewigen aufgehoben ist: Als Ganzheit hat die Ewigkeit alles zugleich, so daß die beiden Aspekte pÍraò und åpeiron in der Ewigkeit koinzidieren: In ihr ist zugleich Grenze und Grenzeloses: Insofern sie das Intelligible mißt, die Grenze, insofern sie aber Ursache von Unaufhörlichkeit und des Immer ist, das Grenzelose.93

Die Zeit hingegen hat pÍraò und åpeiron auf getrennte Weise (di´hrhmÍnwò): Die Zeit hat die Grenze und das Grenzelose auf getrennte Weise: Denn gemäß ihrer Kontinuität ist sie grenzelos, gemäß dem Nun aber begrenzt, das Nun nämlich ist die Grenze.94

Im Bereich der Zeit ist die Koinzidenz von Immer und Nun ein echter Widerspruch. Dies spiegelt die zunehmende Entfaltung des Seins in der Philosophie des Proklos: Weil die Ewigkeit höher in der Hierarchie steht, kann in ihr noch zugleich und gleichsam „eingefaltet“ sein, was sich auf einer niederen Stufe – der Zeit – als Gegensatz entfaltet.

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91 Theol. Plat. III(18).60,4 sq.: Püqen gJr ålloqen t˛ pÍraò tou xrünou í ýk _ tou aùwnûou pÍratoò. _ 92 Theol. Plat. III(18).60,5–7: \Epe˝ ka˝ t˛ xronik˛n pÍraò ÷merÍò, ¼ò t˛ tou _ _ aùwnoò pÍraò ÅnÜò· tou gJr Ån˛ò eùkšn t˛ ÷merÍò. _ 93 Theol Plat. III(18).59,17–20: Ka˝ ñstin Ñma pÍraò ýn ažt´h ka˝ åpeiron, _ ¼ò m˚n metroŸs´h tJ nohtJ t˛ pÍraò, ¼ò d˚ ÷idiüthtoò ka˝ tou ÷e˝ aùtû ´a t˛ åpeiron. 94 Theol Plat. III(18).59,24–26: Ka˝ þ m˚n xrünoò di´hrhmÍnwò ñxei t˛ pÍraò _ ka˝ t˛ åpeiron· katJ m˚n gJr tÌn sunÍxeian åpeirüò ýsti, katJ d˚ t˛ nun _ pepÍrastai, t˛ d˚ nun pÍraò.

F. Das Ewige und das Nun I. Resümee der bisherigen Ergebnisse Der Anstoß zu dieser Untersuchung war das Konzept der präsentischen Eschatologie im Denken Meister Eckharts. Es beruht auf dem mystischen Gotteserlebnis im Nun und besagt mithin die Erfahrbarkeit des Ewigen im Nun. Dies ist paradox, weil in einem solchen Nun Ewigkeit und Zeit koinzidieren. Diese paradoxe Koinzidenz von Ewigkeit und Zeit im Nun wurde als das religiöse Paradox des ewigen Nun bezeichnet. Im christlichen Konzept der präsentischen Eschatologie gründet dieses Paradox im Glauben an die incarnatio dei. Weil sich die incarnatio dei im je gegenwärtigen Augenblick in der Seele des Gläubigen ereignen kann, ist es der Glaube an sie, der das religiöse Paradox des ewigen Nun trägt. Daneben aber setzt das religiöse Paradox des ewigen Nun das philosophische Paradox des ewigen Nun voraus, das besagt, daß das Ewige im Nun der Ewigkeit ist, denn wenn das Ewige im Nun der Zeit sein soll, muß es zumindest im Nun der Ewigkeit sein können. Im Rahmen dieser Untersuchung wurde der Glaube an die incarnatio dei als Voraussetzung des Glaubens ausgeklammert und ihr Hauptziel vorsichtiger als die Klärung der eindeutig philosophischen Voraussetzungen der präsentischen Eschatologie formuliert: des philosophischen Paradoxes des ewigen Nun und des Begriffs einer zeitlosen Ewigkeit, die dieses Paradox zu rechtfertigen vermag. Diese eindeutig philosophischen Voraussetzungen der präsentischen Eschatologie wurden beispielhaft an der Philosophie des Proklos geklärt. Das philosophische Paradox des ewigen Nun, das besagt, daß das Ewige im Nun ist, wurde wie folgt interpretiert: Aus transzendenter Perspektive bedeutet „ewig“ die Koinzidenz von Immer und Nun, aus zeitlicher Perspektive hingegen verkürzt sich „ewig“ zum Immer, das nunmehr in Opposition zum Nun steht. Das zeitliche Immer kann nicht in einem Nun sein, das ewige Immer ist ganz natürlicherweise im ewigen Nun, so daß das philosophische Paradox des ewigen Nun vom Begriff einer zeitlosen Ewigkeit getragen ist. Es konnte gezeigt werden, daß die zeitlose Ewigkeit die Seinsweise der transzendenten Ideen ist, die auf die typisch (neu-)platonische Frage nach dem Woher antworten und als transzendente Ursachen ihrer Instanzen auch die Zeit transzendieren: Sie sind ewig. Für diese Eigenschaft ist die zeitlose Ewigkeit verantwortlich. Ferner konnte gezeigt werden, daß

II. Das religiöse Paradox des ewigen Nun

313

die Ewigkeit das philosophische Paradox des ewigen Nun im Bereich des Intelligiblen rechtfertigt, weil sie die erste Ganzheit ist.

II. Das religiöse Paradox des ewigen Nun Doch muß das religiöse Paradox des ewigen Nun wirklich als philosophisch nicht einholbar ausgeklammert werden? Dazu sei zunächst überlegt, welches Nun denn im religiösen Paradox des ewigen Nun gemeint ist: Meint Eckharts präsentische Eschatologie das Nun der Zeit oder das Nun der Ewigkeit, in dem der Mensch das Ewige erfahren kann? Diese Frage, auf die bereits eingegangen wurde,1 ist der neuralgische Punkt von Eckharts präsentischer Eschatologie: Einerseits wertet Eckhart das Nun der Zeit zugunsten des Nun der Ewigkeit ab,2 so daß das Nun, in dem sich die Begegnung mit dem Göttlichen ereignet, nicht anders denn als das „nû der êwicheit“3 denkbar ist. Andererseits jedoch lebt der Mensch in der Zeit, so daß die Begegnung mit dem Göttlichen nur in der Zeit, und zwar im Nun der Zeit denkbar ist. Das religiöse Paradox des ewigen Nun meint die Begegnung von Ewigem und Zeitlichem im Nun, das aus menschlicher Perspektive das Nun der Zeit, aus göttlicher Perspektive das Nun der Ewigkeit ist. Das religiöse Paradox des ewigen Nun war durch die ursprünglich bescheiden formulierte Zielsetzung dieser Untersuchung ausgeklammert worden, denn die Begegnung von Ewigem und Zeitlichen in der Seele des Einzelnen, das Eckhart die Gottesgeburt nennt, ist im christlichen Konzept der präsentischen Eschatologie durch den Glauben an die incarnatio dei gerechtfertigt. Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob an der Philosophie des Proklos nicht mehr gezeigt werden kann, ob unsere Ergebnisse nicht über das ursprünglich formulierte Ziel hinausgehen. Daß dies tatsächlich so ist, zeigt 1

cf. A. II. cf. Meister Eckhart, Werke, Bd. 2, S. 48 (Pr. 69): Hie und nû daz sprichet als vil als stat und zît. Nû, daz ist daz allerminste von der zît; ez enist noch ein stücke der zît noch ein teil der zît: ez ist wol ein smak der zît und ein spitze der zît und ein ende der zît. Nochdenne, swie kleine ez sî, ez muoz abe; allez, daz die zît rüeret oder den smak der zît, daz muoz allez abe. („ ‚Hier‘ und ‚Nun‘, das besagt soviel wie Stätte und Zeit. ‚Nun‘, das ist das Allermindeste an Zeit; es ist weder ein Stück der Zeit noch ein Teil der Zeit: wohl aber ist es ein Geschmack der Zeit und eine Spitze der Zeit und ein Ende der Zeit. Und doch, wie klein es auch sein mag, es muß weg; alles, was an die Zeit oder an den Geschmack der Zeit rührt, das muß alles weg.“ Übersetzung nach der Ausgabe von Niklaus Largier). 3 cf. Niklaus Largier in seinem Stellenkommentar zu Meister Eckhart, Werke, Bd. 1, S. 1000. 2

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F. Das Ewige und das Nun

sich, sobald das Problem ventiliert wird, wie sich die immanente Wirksamkeit des Transzendenten aus zeitlicher Perspektive darstellt: Bereits im Abschnitt zur Transzendenz der Ideen über die Zeit wurde gezeigt, daß sich die immanente Wirksamkeit des Transzendenten aus zeitlicher Perspektive entweder als immerwährend im Sinne einer creatio continua oder aber als plötzlich bzw. im Nun darstellt. Im Abschnitt zur immanenten Wirksamkeit der transzendenten Idee (D. I. 2.) wurde darauf eingegangen, daß das Nun durch seinen doppelten Charakter dafür prädestiniert ist, daß das Transzendente in ihm immanent wirksam wird, denn das Nun ist kein Teil der Zeit und doch in der Zeit. Insofern es kein Teil der Zeit ist, ist es dem Transzendenten, das die Zeit transzendiert, angemessen. Insofern es in der Zeit ist, kann dieses Transzendente im Nun immanent wirksam werden. Auch in der Philosophie des Proklos erscheint das Nun als Schnittstelle zwischen Ewigem und Zeitlichem. Dieses Ergebnis bringt eine überraschende Wendung mit sich. Im Rahmen dieser Untersuchung war die Präsenz des Ewigen im Nun der Zeit mit dem Hinweis auf den Glauben an die Inkarnation zunächst ausgeklammert worden. Nun zeigt sich, daß die platonische Tradition eine solche Präsenz durchaus von sich aus rechtfertigen kann. Dies legt folgende Vermutung nahe, die hier nur angedeutet sei: Möglicherweise ist Eckharts Lehre von der Gottesgeburt stärker vom Platonismus abhängig als bisher angenommen, denn Eckharts Denken geht von der Möglichkeit der Gottesgeburt im je gegenwärtigen Augenblick aus, in der rein biblischen Tradition indes ist die Geburt Gottes ein raum-zeitlich definiertes einmaliges Ereignis.

III. Die Erfahrbarkeit des Ewigen An der Philosophie des Proklos kann also nicht nur die Koinzidenz von Immer und Nun im Ewigen erklärt werden, sondern auch die Präsenz des Ewigen im Nun der Zeit. Doch geht diese Präsenz des Ewigen im Nun der Zeit über die Weise, wie sich die Ideen manifestieren, hinaus? Gibt es in Proklos’ Philosophie so etwas wie eine Erfahrbarkeit des Ewigen? Im Denken Meister Eckharts ist das Erlebnis des Ewigen im Nun zentral: Das ewige Nun hat mithin nicht nur theoretische, sondern auch praktische Bedeutung. Wie dieses Kapitel zeigen wird, läßt sich die vorliegende Untersuchung so weit treiben, daß dieser praktische Aspekt eingeholt werden kann: In der Philosophie des Proklos gibt es eine Entsprechung zum Erlebnis des Ewigen im Nun.

III. Die Erfahrbarkeit des Ewigen

315

1. Die Erkenntnis der Ideen Zunächst sei die Frage, ob das Ewige erfahren werden kann, als die Frage gestellt, ob es erkannt werden kann: Kann das Intelligible bzw. können die Ideen erkannt werden? Proklos’ Antwort scheint nicht eindeutig zu sein. So äußert er bisweilen pessimistisch, daß die Ideen unseren Konzepten (ta iò êmetÍraiò ýpibola iò) unzugänglich sind: _

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Hier zeigt er nunmehr das von unseren Konzepten nicht umschriebene und unerklärte Wesen der göttlichen Ideen.4

Dagegen scheint folgendes Zeugnis zu sprechen, in dem Proklos die Frage erörtert, welche Verstandestätigkeit der Ideenschau angemessen ist. Die Meinung (düca) und die Wissenschaft (ýpistÇmh) schließt er als der Erfassung der Ideen unangemessen aus: Denn die wissenschaftliche Erkenntnis ist im Vergleich zur intellektuellen Intuition stärker zusammengesetzt, der Intellekt aber betrachtet im eigentlichen Sinne die Ideen, weil auch diese ihrer Natur nach intellektuell sind, wir aber allenthalben mit dem Ähnlichen das Ähnliche erkennen, mit dem Intellekt das Intelligible, mit der Meinung die Gegenstände der Meinung und mit der Wissenschaft die Gegenstände der Wissenschaft.5

Es ist der Intellekt, der die Ideen erkennt. Doch ist ein solches Erkennen uns Menschen möglich? Da der Mensch nicht direkt am intelligiblen Kosmos partizipiert, verwundert es nicht, daß sich Proklos auch hierzu negativ äußert und die Ideenschau an folgender Stelle allein dem göttlichen Intellekt zugesteht: Also sind die transzendenten Ideen für unsere Wissenschaft unerkennbar: Denn allein für den göttlichen Intellekt sind sie zu erkennen: Und zwar alle Ideen, insbesondere aber alle, die sogar jenseits der intellektuellen Gottheiten stehen.6

Bliebe dies Proklos’ letztes Wort zur Erkennbarkeit der Ideen, so wäre das platonische Projekt ruiniert, dessen integraler Bestandteil die Ideenschau ist. Doch wie ist die Ideenschau dem Menschen möglich? Als mit Seele begabtes Wesen steht der Mensch diesseits des Intellekts im eigent4

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In Parm. 919,1–3: \En dÌ toŸtoiò tÌn ÷perûgraðon ta iò êmetÍraiò ýpibo_ _ la iò ka˝ ÷periÇghton ožsûan ýndeûknutai twn qeûwn eùdwn. _ 5 In Parm. 924,32–38: ˙Esti gJr ýpisthmonikÌ gnwsiò sunqetwtÍra pr˛ò _ _ _ tÌn noerJn ýpibolÌn, nouò d˚ þ kurûwò qeatÌò twn eùdwn, ýpeidÌ ka˝ ažtJ _ _ _ noerJ tÌn ðŸsin ýst˝, tˆw d˚ þmoûˆw pantaxou t˛ Õmoion gignÿskomen, nˆw m˚n tJ nohtJ, düc´h d˚ tJ docastJ, ýpistÇm´h d˚ tJ ýpisthtÜ. 6 In Parm. 949,18–22: tJ åra ýc´hrhmÍna eŁdh ågnwstÜ ýsti pr˛ò tÌn êmetÍ_ _ ran ýpistÇmhn· nˆw gJr münˆw tˆw qeûˆw qeatÜ ýsti· ka˝ pÜnta m˚n tJ eŁdh, _ _ _ _ diaðerüntwò d˚ Õsa ka˝ twn noerwn ýstin ýp\ ýke ina qewn. _

316

F. Das Ewige und das Nun

lichen Sinne. Dennoch ist er des Intellekts nicht völlig unteilhaftig, denn in der Seele ist der Intellekt gemäß dem Habitus (kaq\ Òcin): Denn der Intellekt ist dreifach: Der erste ist der göttliche [. . .], der zweite aber ist der, der von der Seele partizipiert wird [. . .], der dritte aber ist der gemäß dem Habitus, vermittelst dessen die Seele intellektuell ist.7

Was aber mag es bedeuten mag, daß der Intellekt in der Seele kaq\ Òcin ist? Folgende Stelle erhellt, auf welche Weise der Intellekt in der Seele ist: Denn Wissenschaft ist nicht auch schon der Gipfel der Erkenntnismöglichkeiten, sondern nämlich der Intellekt vor ihr; ich meine nicht den Intellekt, der die Seele transzendiert, sondern die Erleuchtung selbst, die von ihm her zur Seele gekommen ist.8

Der Intellekt kommt der Seele als Erleuchtung vom Intellekt im eigentlichen Sinne zu, so daß die Seele dabei immer sie selbst bleibt, wie R. M. van den Berg betont: Thus, we do not become Nous and transcend our own nature, i. e. that of Soul, but our soul is illuminated by Nous, while remaining itself. It is only because of this illumination that we may enjoy the contemplation of the simple and unvarying Forms as celebrated in the Phaedrus.9

Der Intellekt im eigentlichen Sinne steht in der metaphysischen Ordnung eindeutig jenseits des Menschen. Er gehört zum intelligiblen Kosmos. Da alle Entitäten des intelligiblen Kosmos Gottheiten sind, ist es nicht verwunderlich, daß zur Erkenntnis der Ideen immer auch göttliche Inspiration nötig ist: Aber wir räumen die Intuition jener einzig den reinen und von Gott inspirierten intellektuellen Anschauungen der Seele ein.10

Dies wird durch folgenden Beleg bestätigt, in dem Proklos die Ideenschau erneut von den Erkenntnismöglichkeiten abgrenzt, die dem Menschen natürlicherweise zukommen: Denn weder die sinnenfällige Anschauung noch die auf Meinung beruhende Erkenntnismöglichkeit noch der reine Logos noch unsere intellektuelle Erkenntnismöglichkeit verbindet die Seele mit jenen Ideen. Einzig aber die Erleuchtung durch die intellektuellen Gottheiten macht uns fähig, uns mit jenen 7

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In Tim. II.313,1–4: trixwò gJr þ nouò· prwtoò m˚n þ qe ioò [. . .], deŸteroò _ _ d˚ þ metexümenoò ëp˛ thò yuxhò [. . .], trûtoò d˚ þ kaq\ Òcin, di\ ân ê yuxÌ noerÜ ýstin. _ 8 In Alc. 246,18–247,2: ož gÜr ýstin ýpistÇmh twn gnÿsewn ka˝ ÷krüthò, _ _ _ _ ÷llJ ka˝ pr˛ taŸthò þ nouò· ož lÍgw t˛n ýc´hrhmÍnon thò yuxhò noun, ÷ll\ _ _ _ ažtÌn tÌn ýke iqen ñllamyin tÌn ýðÇkousan t´h yux´h. 9 Van den Berg, Hymns, S. 47. _ 10 In Parm. 939,33 sq.: ÷llJ münaiò ta_iò kaqara_iò ka˝ ýnqÍoiò noÇsesi thò _ yuxhò ýpitrÍpomen tÌn ýkeûnwn ýpibolÌn.

III. Die Erfahrbarkeit des Ewigen

317

intelligiblen und intellektuellen Ideen zu verbinden, wie wohl jemand meinte, der unter göttlicher Inspiration sprach.11

Zur Erkenntnis des Intelligiblen kommt der Mensch nicht aus eigener Kraft, sondern bedarf dazu göttlicher Hilfe, auch Platon: So spricht Proklos von der „göttlich inspirierten Intuition Platons“ (tÌn ñnqeon tou PlÜtwnoò ýpibolÇn12), wenn der Timaios vom Demiurgen handelt, der ja Teil des intelligiblen Kosmos ist. Die Notwendigkeit göttlicher Hilfe wird vor allem im späten Neuplatonismus besonders betont.13 Sie hat ihren systematischen Grund in der prinzipiellen Trennung zwischen Seele und Intellekt seit Porphyrios.14 Im Gefolge von Iamblich führt dies zur Integration theurgischer Praktiken in die neuplatonische Philosophie.15 Solche Praktiken spielen in der Philosophie des Proklos eine bedeutende Rolle dabei, den Menschen zur Ideenschau fähig zu machen: _

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According to Proclus, only divine Nouò is capable of contemplating the Forms. _ Since the divine Nouò is identical with the Demiurge, i. e. the Father of the universe, and since every effect strives after reversion to its cause, the human soul can contemplate the Forms if it manages to return to the Demiurge, which may be referred to as reaching the paternal harbour [. . .]. Proclus uses theurgical ritual, based on this sumpÜqeia, to attract the leader-gods in order to be elevated _ towards the divine Nouò.16

Es läßt sich also festhalten: In der Philosophie des Proklos ist das Intelligible für den Menschen – wenn auch mit göttlicher Hilfe – erkennbar. 11

_

In Parm. 949,22–28: ojte gJr ê aŁsqhsiò, ojte ê docastikÌ gnwsiò, ojte _ _ þ kaqar˛ò lügoò, ojte ê noerJ gnwsiò ê êmetÍra sunÜptei tÌn yuxÌn to iò _ _ _ _ eŁdesin ýkeûnoiò, münh d˚ ê ÷p˛ twn noerwn qewn ñllamyiò dunatoˇò êmaò _ _ _ ÷poðaûnei sunÜptesqai to iò nohto iò ýkeûnoiò ka˝ noero iò eŁdesin, Êò poŸ ðhsû tiò lÍgwn ýnqÍwò. 12 In Tim. III.105,20. 13 cf. Erler, Einswerdung, S. 203: „Plotin verlangt, [. . .] alles abzuwerfen (V 3 (49) 17, 38) und sich nach innen zu wenden (16 (1) 8, 4). Er war optimistisch, dass man auf diese Weise zur Schau des Intelligiblen gelangen könne. Sein Optimismus beruhte auf der Überzeugung, dass beim Abstieg der Seele ein Teil von ihr im intelligiblen Bereich verbleibt. Eben diese Überzeugung aber schwand in der Folgezeit. [. . .] Die Kluft zwischen göttlichem und menschlichem Bereich weitet sich, scheint nun nahezu unüberwindlich. Hilfe ‚von oben‘ wird als notwendig empfunden. [. . .] Erkenntnis des göttlichen Bereiches wird geradezu zu einem gnadenhaften Akt.“ 14 cf. Deuse, S. 233, der zu Iamblich schreibt: „selbst die Scheidung von Nous und Seele im Zusammenhang des ožsûa-Systems geht auf Porphyrios zurück.“ Diese Trennung wurde von Proklos übernommen. 15 cf. Deuse, S. 234: „So begründet bei Jamblich das System der Stufenentfaltung nicht mehr den Weg der Menschenseele über sich selbst zum Nous und zu Gott, sondern nur noch die Notwendigkeit eines neuen Heilsweges, die Notwendigkeit der Theurgie.“ 16 Van den Berg, Harbour, S. 436. Cf. auch van den Berg, Hymns.

318

F. Das Ewige und das Nun

2. Intellektuelle Anschauung und Intuition Wie aber bezeichnet Proklos das Erkennen vermittelst des Intellekts? Da ist zum einen der Begriff der nühsiò, der intellektuellen Anschauung: Es ist also nicht erstaunlich, daß es nicht nur keine Wissenschaft von den Ideen gibt, sondern auch noch eine andere Erkenntnismöglichkeit von ihnen übrig bleibt, die von solcher Art ist, daß wir sie die intellektuelle Anschauung nennen.17

Die nühsiò im eigentlichen Sinne ist jedoch, wie gezeigt wurde, die mittlere Trias der intelligiblen Ebene, das Leben in erster Linie.18 Daher erstaunt es nicht, daß Proklos empfiehlt, sich beim Aufstieg zur Erkenntnis der Ideen von den Einzelheiten der Wissenschaft abzuwenden und die Seele zum „intellektuellen Leben“ (ýp˝ d˚ tÌn noerJn zwÌn19) hinüberzuführen: Aber nach der Wissenschaft und der Übung in ihr muß man die Synthesen, die Dihairesen und die vielgestaltigen Übergänge beiseite legen und die Seele dagegen zum intellektuellen Leben und den einfachen Intuitionen hinüberführen.20

Dieses Zitat enthält den anderen Begriff, mit dem Proklos das Erkennen durch den Intellekt bezeichnet, den der einfachen Intuition (ê ãplh ýpibolÇ). Der Terminus ýpibolÌ leitet sich vom Verb ýpibÜllein („daraufwerfen“) ab und kann auch lediglich „Konzept“ oder „Begriff“21 heißen, er meint mithin nicht in allen Fällen die intuitive Erkenntnis vermittels des Intellekts: Bei Proklos ist auch von ta iò êmetÍraiò ýpibola iò22 („unseren Konzepten“) oder von ta iò merista iò êmwn ýpibola iò23 („unseren geteilten Konzepten“) die Rede, die gerade im Gegensatz zur einfachen Intuition stehen. _

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Die einfache Intuition aber identifiziert Proklos mit der intellektuellen Anschauung: 17

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In Parm. 924,38–41: Qaumast˛n ožn ožd˚n ka˝ mÌ e ùnai twn eùd wn _ _ _ ýpistÇmhn, ka˝ ñti ållhn ëpoleûpesqai gnwsin ažtwn, oÔan tÌn nühsin e ùnaû ðamen. 18 cf. B. V. 1. d). 19 In Alc. 246,17. Das intellektuelle Leben ist zwar nicht mit dem Leben im eigentlichen Sinne identisch, da dies das intelligible Leben ist. Der Aufstieg kann jedoch nicht so rasch geschehen, daß er von der Wissenschaft sogleich zur zweiten Entität in der Metaphysik des Proklos überhaupt überginge. _ 20 In Alc. 246,15–18: metJ d˚ tÌn ýpistÇmhn ka˝ tÌn ýn ažt´h gumnasûan tJò _ m˚n sunqÍseiò ka˝ tJò diairÍseiò ka˝ tJò polueide iò metabÜseiò ÷poqetÍon, _ ýp˝ d˚ tÌn noerJn zwÌn ka˝ tJò ãplaò ýpibolJò metastatÍon tÌn yuxÇn. 21 Liddell/Scott/Jones geben unter I. 2. c „conception, notion“ an. 22 In Parm. 919,1 sq. 23 In Parm. 926,2.

III. Die Erfahrbarkeit des Ewigen

319

Aber die gesamte so geartete Erkenntnismöglichkeit nennen sie die Wissenschaft, wie die einfache Intuition jedes einzelnen dessen, was intellektuell erkannt wird, intellektuelle Anschauung .24

Statt des Begriffs der einfachen Intuition verwendet Proklos auch den der intellektuellen Intuition (ê noerJ ýpibolÇ), wie an folgender Stelle, an der Proklos die vierzig Logoi des Zenon mit der Lehre des Parmenides vergleicht: Denn gemäß der so gearteten Dialektik, die von Synthese der Argumente, von Folgerungen und Widersprüchen Gebrauch macht, verfertigte Zenon seine Logoi. Parmenides aber schaute gerade die Einheit des Seins, indem er allein vom Intellekt selbst Gebrauch machte, d. h. von der intellektuellen Dialektik, die ihre Geltung in einfachen Intuitionen hat. Deshalb nämlich ging der eine zur Vielheit der Logoi hinab, der andere aber hielt sich an die intellektuelle Intuition vom Seienden, die auf eingestaltige Weise immer dieselbe ist.25

Weil sich Parmenides auf die einfache bzw. intellektuelle Intuition verläßt, ist es ihm gegeben, die Einheit des Seins zu schauen. 3. Das Erlebnis des Ewigen im Nun Wenn die Ideenschau dem Menschen möglich ist, kann er das Ewige offenbar erfahren. Doch ist das Ewige in der Philosophie des Proklos in einem Nun erfahrbar? Werden intellektuelle Anschauung und einfache Intuition im Nun erlebt, so daß man auch für die Philosophie des Proklos vom Erlebnis des Ewigen im Nun sprechen kann? Um dieser Frage auf die Spur zu kommen, soll im folgenden untersucht werden, wie sich die Erkenntnis vermittels des Intellekts aus der Perspektive der Zeit darstellt. Der Intellekt im eigentlichen Sinne ist jenseits der Zeit. Diese Enthobenheit von der Zeit stellt sich aus immanenter Perspektive einerseits als immer, andererseits als augenblickshaft, also im Nun, dar. Ein Beispiel für die Seinsweise des Intellekts ist der Schaffensakt des Demiurgen: Gerade so wie der Demiurg des Ganzen mit Blick auf sich selbst und immer in der ihm wesentlich eignenden Denkweise verbleibend den ganzen Kosmos ganzheitlich, auf einmal und immer auf dieselbe Weise hervorbringt – denn er schafft 24

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In Tim. II.313,13–15: tÌn d˚ toiaŸthn pasan gnwsin ýpistÇmhn kalousin, _ _ Êsper nühsin tÌn ãplhn ýpibolÌn ÅkÜstou twn nooumÍnwn. 25 In Parm. 702,11–19: KatJ gJr tÌn toiaŸthn dialektikÌn sunqÍsei lügwn _ xrwmÍnhn ka˝ ÷kolouqûaiò ka˝ mÜxaiò þ ZÇnwn ýpoie ito toˇò lügouò· þ d˚ _ _ _ _ _ Parmenûdhò ažtˆw münˆw tˆw nˆw xrÿmenoò ažtÌn tÌn Ònwsin ýqeato tou Øntoò, _ _ _ _ _ _ t´h noerˆa dialektik´h xrÿmenoò ýn ãpla iò ýpibola iò t˛ kuroò ýxoŸs´h· di˛ ka˝ _ _ _ _ _ _ þ m˚n eùò plhqoò kat´Çei lügwn, þ d˚ thò noeraò ýpibolhò ÷e˝ thò ažthò _ _ monoeidwò ÷nteûxeto twn Øntwn.

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F. Das Ewige und das Nun

eben nicht bald und bald nicht, damit er nicht etwa aus der Ewigkeit heraustritt – auf dieselbe Weise [. . .]26

An diesem Beispiel wird das philosophische Paradox des ewigen Nun noch einmal deutlich: Der Demiurg, bei dem Denken und Schaffen dasselbe sind, schafft sowohl „immer auf dieselbe Weise“ als auch „auf einmal“. Obgleich der Demiurg ja selbst Intellekt ist, differenziert Proklos in ihm die Tätigkeit des Intellekts, die nühsiò, von der Tätigkeit des diskursiven Denkens, der diÜnoia. Die diÜnoia befaßt sich mit der Differenzierung von Ursachen und hat deshalb bereits Sequentialität an sich: Denn die vielfache Differenzierung der Berechnungen der Ursache ist die Tätigkeit des diskursiven Denkens, des Intellekts aber ist das Einfache und das, was alles in der einzigen intellektuellen Anschauung erfaßt hat.27

Im Gegensatz zur diÜnoia hat die Tätigkeit des Intellekts „alles in der einzigen intellektuellen Anschauung erfaßt“. Da jeglicher Zeitabschnitt und insbesondere das Immer Sequentialität impliziert, drängt sich die Vermutung auf, daß sich auch die intellektuelle Anschauung, wie sie dem Menschen möglich ist, nicht anders als im Nun vollziehen kann. Daß auch der Intellekt in der Seele das Objekt seiner Erkenntnis zugleich ganz erfaßt, belegt folgendes Textzeugnis: Wissenschaft aber ist die erste Erkenntnismöglichkeit, die vom Intelligiblen erfüllt wird [. . .]. Sie unterscheidet sich aber vom Intellekt, insoweit jener durch die einfachen Intuitionen allein der Seele wahrnimmt: Denn durch ihn erkennt sie jedes einzelne dessen, was intellektuell erkannt wird, zugleich ganz – es ist nämlich für den Intellekt charakteristisch, daß er in seinen Tätigkeiten gebündelt ist.28

Dieser Befund ist allerdings insofern enttäuschend, als er zwar nahelegt, daß sich intellektuelle Anschauung und einfache Intuition im Zugleich vollziehen, die Objekte der intellektuellen Anschauung jedoch einzelne Entitäten sind – vermutlich einzelne eŁdh – und nicht alles zugleich. So untermauert er zwar die These, daß in der Philosophie des Proklos ein Ewiges, nicht jedoch, daß das Ewige zugleich erfahrbar ist. 26

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In Tim. I.282,27–31: ˜Wsper þ twn Õlwn dhmiourg˛ò eùò Åaut˛n þrwn ka˝ _ _ _ mÍnwn ÷e˝ ýn tˆw Åautou katJ trüpon çqei parÜgei t˛n Õlon küsmon þlikwò _ _ ka˝ ÷qrüwò ka˝ ÷e˝ ¼saŸtwò – ož gJr dÌ pot˚ poie i ka˝ pot˚ ož poie i, Ôna _ _ _ mÇpou ýkb´h tou aùwnoò – t˛n ažt˛n trüpon [. . .]. _ _ _ 27 In Tim. II.61,17–19: ka˝ gJr t˛ polusxid˚ò twn thò aùtûaò ÷pologismwn _ _ _ dianoûaò ñrgon ýstû, nou d˚ t˛ monoeid˚ò ka˝ t˛ ýn t´h miˆa noÇsei tJ pÜnta perieilhðüò. _ _ 28 In Tim. II.313,4–9: ýpistÇmh d˚ ê prÿth plhroumÍnh gnwsiò ÷p˛ twn _ _ _ _ _ _ nohtwn, [. . .] diaðÍrousa d˚ tou nou kaqüson ýke inoò m˚n ýn ta iò ãpla iò _ _ _ _ _ _ münaiò ýpibola iò qewre itai thò yuxhò· di\ ažtou gJr Òkaston twn noou_ _ _ mÍnwn Õlon Ñma noe i – nou gJr Łdion t˛ ÷qrüon ýn ta iò ýnergeûaiò.

III. Die Erfahrbarkeit des Ewigen

321

Dies wird aber durch den bereits zitierten Beleg zur parmenideischen Dialektik untermauert: Intellektuelle Anschauung und einfache Intuitionen können mehr leisten als einzelne Ideen zugleich zu erfassen, denn durch sie erfaßt Parmenides „die Einheit des Seins“ (tÌn Ònwsin [. . .] tou Øntoò29). Es wurde bereits betont, daß intellektuelle Anschauung und einfache Intuition ohne göttliche Hilfe undenkbar sind, denn ohne solche Hilfe ist das Ewige dem Menschen nicht zugänglich. Dieser Aspekt wird auch an folgender Stelle deutlich, an der Proklos reflektiert, wie Timaios im gleichnamigen platonischen Dialog seine Rede entwickelt. Die Struktur der Argumentation des Timaios ahme die hierarchische Stufung zwischen Seele und Intellekt nach: _

Wenn er also ratlos ist und sich fragt, ist er gemäß dem Selbstbewegten der Seele tätig, wenn er aber antwortet, ahmt er die Intuition30 des Intellekts nach, denn er erfaßt die Lehre zuerst mit einer einzigen Äußerung und verkündet die Schlußfolgerung geradewegs vor dem Beweis, denen entsprechend, die von einem Gott inspiriert in Ekstase sind und das Ganze auf einmal sehen und die mit ihrem Intellekt das Ziel vor dem Hervorgang erfassen, weil sie alles zugleich gegenwärtig sehen.31

Proklos räumt damit die Möglichkeit ein, daß jemand in einer Weise göttlich inspiriert ist, daß er oder sie mit dem Intellekt das Ganze zugleich als gegenwärtig sieht. Dieses Erfassen geht über ein bloßes Erkennen hinaus, denn es geschieht im Rahmen eines ekstatischen Erlebnisses. Das Zugleich dieses Erfassens ist aus zeitlicher Perspektive nicht anders zu beschreiben denn als das Erlebnis des Ewigen im Nun.

29

In Parm. 702,14 sq. Proklos verwendet hier statt des gewohnten Kompositums ýpibolÌ den einfachen Begriff bolÇ. Mit der Übersetzung „Intuition“ folge ich Festugière, Timée, Bd. 2, S. 130, der mit „l’intuition“ übersetzt._ _ _ 31 In Tim. I.283,3–283,9: ÷porwn m˚n ožn ka˝ ýrwtwn Åaut˛n katJ t˛ ažto_ _ _ _ _ kûnhton ýnÇrgei thò yuxhò, ÷pokrinÜmenoò d˚ mime itai tÌn tou nou bolÇn, _ _ _ _ prwton miˆa ðwn´h t˛ dügma perilabšn ka˝ t˛ sumpÍrasma pr˛ thò ÷podeû_ cewò ÷nakhrŸcaò åntikruò katJ toˇò ýnqousiwntaò, oÆ t˛ Õlon ÷qrüwò _ _ _ _ _ þrwsi ka˝ t˛ tÍloò pr˛ thò ýkbÜsewò tˆw nˆw sun´hrÇkasin þmou pÜnta _ parünta þrwnteò. 30

G. Nachtrag: der Weg zum glückseligen Leben An der Philosophie des Proklos konnte mehr gezeigt werden, als ursprünglich angenommen: Erstens wurde geklärt, warum der Widerspruch, den die Koinzidenz von Immer und Nun aus der Perspektive der Zeit mit sich bringt, aus der Perspektive der Ewigkeit aufgehoben ist. Zweitens konnte gezeigt werden, daß die Philosophie des Proklos zudem die Gegenwärtigkeit des Ewigen im Nun erklärt. Es konnten mithin sowohl das philosophische als auch das religiöse Paradox des ewigen Nun an der Philosophie des Proklos geklärt werden. Drittens konnte gezeigt werden, daß das religiöse Paradox des ewigen Nun auch bei Proklos seinen Austrag in der menschlichen Erfahrung hat: Die Gegenwärtigkeit des Ewigen im Nun wird in einem göttlich inspirierten Erlebnis erfahren. Diese Ergebnisse legen eine stärkere Korrelation zwischen der Philosophie des Proklos und dem Konzept der präsentischen Eschatologie im Denken Meister Eckharts nahe, als zunächst angenommen. Dieser Nachtrag soll eine weitere Parallele aufweisen, ohne jedoch eine wesentliche Differenz zwischen den beiden Denkern zu übersehen. Wie die intellektuelle Anschauung zu erreichen ist, formuliert Proklos im Alkibiadeskommentar als methodischen Stufenweg.1 Auf der ersten Stufe wendet sich der Mensch von der Meinung (düca) ab,2 auf der zweiten Stufe3 den Wissenschaften und sodann der einen einzigen Wissenschaft zu (pr˛ò tÌn mûan ýpistÇmhn4), welche die erste und voraussetzungslose (tÌn ÷nupüqeton ka˝ prÿthn5) Wissenschaft ist und von der alle anderen Wissenschaften abhängen. Die dritte Stufe bildet der Intellekt, der den Menschen zur Ideenschau fähig macht: Laßt uns also durch den Aufstieg zu diesem Intellekt mit ihm das intelligible Sein schauen, indem wir vermittels der einfachen und ungeteilten Intuitionen die einfachen, stillen und ungeteilten Genera des Seins meditieren.6 1

cf. In Alc. 245,6–249,14. _ _ In Alc. 246,2: ðeuktÍon ÷p˛ twn docwn. („Vor den Meinungen muß man fliehen.“). 3 cf. In Alc. 246,7–15. 4 In Alc. 246,13. 5 In Alc. 246,14. 2

G. Nachtrag: der Weg zum glückseligen Leben

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Daß für die Erreichung dieser Stufe theurgische Praktiken eine Rolle spielen, darauf wurde hingewiesen.7 Hier ist jedoch der Stufenweg noch nicht zu Ende, denn die Seele vermag sich mit dem Göttlichen zu vereinen: Aber nach dem hoch geschätzten Intellekt muß man gerade die höchste Existenz der Seele erwecken, gemäß derer wir Eines sind und von der die Vielheit in uns vereint wird. Denn wie wir gemäß dem genannten Intellekt am Intellekt partizipieren, so auch am ersten , von dem her die Einheit zu allem , gemäß dem Einen und gleichsam Blüte unseres Wesens, gemäß dem wir uns auch am meisten mit der Gottheit verbinden.8

Der Mensch kann sich wegen des Prinzips, daß Gleiches durch Gleiches erfaßt wird, mit dem Göttlichen vereinen, weil es auch in der menschlichen Seele ein Eines gibt: Denn überall kann vom Ähnlichen das Ähnliche erfaßt werden, die Gegenstände der Wissenschaft von der Wissenschaft, das Intelligible vom Intellekt, die Enden des Seienden aber, welche die Einheit am deutlichsten zeigen, vom Einen der Seele.9

Die Einung mit dem Göttlichen ist das höchste ethische Ziel in der Philosophie des Proklos. Sie ermöglicht dem Menschen ein „glückseliges Leben“ (makarûan zwÌn10), zu dem uns Sokrates nach Proklos’ Deutung führen will: Diese ist die allerhöchste unserer Tätigkeiten. Gemäß dieser werden wir von Gott inspiriert, indem wir die ganze Vielheit fliehen, uns genau zu unserer Einheit zusammenziehen, Eines werden und in der Weise des Einen tätig sind. Und weil Sokrates dieses glückselige Leben vorbereitet, ermutigt er uns, die äußere Vielheit niemals zu uns herankommen zu lassen.11 6

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In Alc. 247,4–7: ýp˝ touton toûnun t˛n noun ÷nabÜnteò met\ ažtou tÌn _ _ _ _ nohtÌn ožsûan qeasÿmeqa, ta iò ãpla iò ka˝ ÷merûstoiò ýpibola iò tJ ãpla _ _ ka˝ ÷tremh ka˝ ÷mÍrista twn Øntwn ýpopteŸonteò gÍnh. 7 cf. F. III. 1. _ 8 In Alc. 247,7–11: metJ d˚ t˛n polutûmhton noun ažtÌn tÌn åkran Öparcin _ _ _ _ _ _ ÷nege irai de i thò yuxhò, kaq\ ⁄n Òn ýsmen ka˝ ëð\ êò t˛ plhqoò Ånûzetai t˛ _ _ _ _ ýn êm in. ¼ò gJr_ nou metÍxomen katJ t˛n eùrhmÍnon_ noun, oÖtw ka˝ tou _ _ prÿtou, par\ oë pasin ê Ònwsiò, katJ t˛ Ùn ka˝ o Áon ånqoò thò ožsûaò _ _ êmwn, kaq\ â ka˝ mÜlista tˆw qeûˆw sunaptümeqa. _ _ 9 In Alc. 247,12–14: tˆw gJr þmoûˆw t˛ Õmoion pantaxou katalhptün, tJ m˚n _ _ _ _ ýpisthtJ t´h ýpistÇm´h, tJ d˚ nohtJ tˆw nˆw, tJ d˚ Ånikÿtata mÍtra twn Øntwn _ _ _ tˆw Ån˝ thò yuxhò. Proklos’ Lehre vom Einen der Seele erinnert an Eckharts Lehre vom Seelenfünklein. Auf diesen Zusammenhang geht Ebeling, S. 269–282 in seiner Schrift zu Eckharts Mystik im Kapitel „Proclus’ Lehre über die Seelenspitze“ ein. 10 In Alc. 248,1. _ _ 11 In Alc. 247,14–248,2: aÖth twn êmetÍrwn ýst˝n ýnergeiwn ê ÷krotÜth· _ _ katJ taŸthn ñnqeoi ginümeqa pan t˛ plhqoò ðugünteò ka˝ eùò ažtÌn sunneŸ_ _ santeò tÌn Ònwsin êmwn ka˝ Ùn genümenoi ka˝ Ånoeidwò ýnergÇsanteò. ka˝

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G. Nachtrag: der Weg zum glückseligen Leben

Es liegt auf der Hand, daß dieses glückselige Leben nur durch das Überschreiten des Immanenten hin zur Transzendenz möglich ist und daher also nicht im verzeitlichten Sinne zu interpretieren ist. Es kann mithin als proklisches Korrelat zur präsentischen Eschatologie bei Meister Eckhart gedeutet werden. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch hervorzuheben: Proklos formuliert eine mit theurgischen Praktiken verbundene Methode, wie der Mensch die Einung mit dem Göttlichen erlangen kann. Im Denken Eckharts hingegen ist das Erlebnis der Gottesgeburt durch keinerlei Methode zu erreichen: Es ist reine Gnade.

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taŸthn þ SwkrÜthò proeutrepûzwn êm in tÌn makarûan zwÌn parakeleŸetai _ _ mhdamou prosûesqai t˛ ñcw plhqoò.

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Sachverzeichnis Abbild (cf. auch Urbild) 25–26, 186, 193–196, 240–241, 243–244, 292, 298, 302–303, 306–311 Adrasteia 141 Ähnlichkeitsregreß 186–188, 193–194 Ähnlichkeitsrelation 186, 188, 194–196, 198, 251, 285–286, 290 ÷i^dion cf. unaufhörlich aùÿn cf. Ewigkeit aùÿnion cf. ewig aŁtia cf. Ursache aktive dŸnamiò cf. dŸnamiò Alexander von Aphrodisias 172 ÷mÍqekton cf. Unpartizipierbares _ ÷nÜgkh sthnai 71, 82 Analogie (cf. auch literarische Analogie, Attributions-, Ursachen- und Proportionalitätsanalogie) 161–162, 229–230, 234–251 Äquivokation (Homonymie) 183–186, 201, 207–212, 223–225, 227–234, 242 (Anm. 322) åpeirûa (cf. auch pÍraò – ÷peirûa sowie Trias Grenze – Grenzelosigkeit – Gemischtes) 104 (Anm. 214), 108 (Anm. 244), 299 åpeiron cf. grenzelos Argument vom dritten Menschen 171–200, 201–212, 213, 217, 220–221, 223–224, 231 Aristoteles 29, 33, 36 (Anm. 126), 37–38, 64 (Anm. 29), 69, 71, 82 (Anm. 114), 114, 167 (Anm. 66), 172, 207, 229–235, 239 (Anm. 310), 242 (Anm. 322), 260, 261 (Anm. 374), 274, 279, 296 Äther 108, 299 (Anm. 37)

Attributionsanalogie 235, 237 Augustinus 25, 31–36 ažt˛ t˛ Òn cf. das Eine selbst ažtoÍn cf. das Eine selbst _ ažtozˆwon (Autozôon, Paradigma der Welt; cf. auch intelligibler Intellekt sowie Phanes) 73, 142–143, 155– 160, 263, 267, 293–294, 297, 306– 307 Averroes 234 Barth, Karl 19–20, 40, 46–48 Boethius 25, 33–34, 36 Bryson 172 Carnap, Rudolf 14 (Anm. 5, 6, 8, 9), 58–63 Chaos 108, 299 creatio continua 314 das Eine selbst (t˛ ažtoÍn, ažt˛ t˛ Òn) 82, 87 (Anm. 142), 95, 97, 110, 161 (Anm. 49) das Gute (t÷gaqün) 86, 86 sq. (Anm. 139), 89, 162, 214, 235–236, 246–251 das Überseiende Eine 56–57, 82–85, 86 sq. (Anm. 139), 88–91, 93, 95, 97, 98 sq. (Anm. 193), 105, 107– 113, 150, 161–162, 164–165, 235– 236, 245–247, 279–280, 300 Dauer, zeitliche 260–262, 265, 267 Demiurg 73, 138, 142–143, 149, 155– 160, 319–320 Descartes, René 57, 67 diÜnoia cf. diskursives Denken Dionysios Pseudo-Areopagita 52–53

Sachverzeichnis diskursives Denken (diÜnoia) 152, 228, 277, 320 Dritter Mensch cf. Argument vom dritten Menschen dŸnamiò, aktive cf. Wirkmächtigkeit dŸnamiò, passive 69, 70 (Anm. 50), 106 Eckhart cf. Meister Eckhart Eines selbst cf. das Eine selbst ýpistroðÇ cf. Rückkehr ewig (aùÿnion) 73, 260–263, 266, 293, 298 Ewigkeit (aùÿn) 13, 15–20, 22–36, 49–50, 53–54, 66, 73, 103, 110, 153, 252 sq. (Anm. 352), 265–267, 292– 311, 312–313, 322 ex falso quodlibet 38, 48–50, 218, 275–276, 282, 288 Explodieren einer Theorie 38, 48, 282, 287–288 Ganzes vor den Teilen 171, 253 Ganzheit 298–305, 309 sq. (Anm. 84), 311, 313 Gottesgeburt 18–19, 21–24, 44, 313– 314, 324 Grenze cf. pÍraò – ÷peirûa sowie Trias Grenze – Grenzelosigkeit – Gemischtes grenzelos (åpeiron) 93–95, 102, 104, 106, 108–110, 117 (Anm. 282), 118, 129–131, 138, 296, 299–300, 302– 303, 308–309, 311 Grenzelosigkeit (÷peirûa cf. auch pÍraò – ÷peirûa sowie Trias Grenze – Grenzelosigkeit – Gemischtes) 104 (Anm. 214), 108 (Anm. 244), 109, 119, 299 Größenregreß 171–186, 189–190 Gutes cf. das Gute Hebdomade 136–143, 155, 158 Hegel 30 Henade, seiende 161 (Anm. 49)

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Henaden, überseiende 90–92, 103, 110, 144, 165 Hervorgang (prüodoò; cf. auch Trias münh – prüodoò – ýpistroðÇ) 72, 113, 233, 307 Hobbes, Thomas 16 Homonymie cf. Äquivokation Hume, David 58, 66 Iamblich 68, 111, 149, 171, 317 Ideenschau 315–317, 319, 322 incarnatio dei (Inkarnation) 24, 49, 272, 312–314 Inkarnation cf. incarnatio dei _ Intellekt (nouò; cf. auch Trias Sein – Leben – Intellekt, intelligibler Intellekt und intellektueller Intellekt) 56–57, 74–75, 103, 110, 119, 138– 139, 142–145, 151–160, 163, 193, 232, 243, 252 (Anm. 351), 271 (Anm. 7), 295–297, 305, 315–323 intellektuelle Anschauung (nühsiò) 127, 152, 228, 318–322 _ intellektueller Intellekt (nouò noerüò; cf. auch Demiurg) 142–143, 148, 155, 157–160 intellektuelles Leben (zwÌ noerÜ) 138 (Anm. 365), 318 _ intelligibler Intellekt (nouò nohtüò; _ cf. auch ažtozˆwon sowie Phanes) 120–122, 129–131, 142–145, 147– 148, 152–157, 160, 293 intelligibles Leben (zwÌ nohtÇ) 119–121, 124–125, 129–131, 143– 145, 147, 296, 318 (Anm. 19) Intuition (ýpibolÇ) 228, 315–322 Kierkegaard, Sören 16, 18, 20, 24, 40 (Anm. 141) kontradiktorische Negation (prädikatenlogische Negation) 61, 213–217, 219, 256, 277, 283–286 Kronos 138–139, 142, 148, 149 (Anm. 408), 158–159 Kureten 141–142

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Sachverzeichnis

Leben (cf. auch intellektuelles Leben, intelligibles Leben sowie Trias Sein – Leben – Intellekt) 30, 33–34, 56– 57, 74–75, 119, 125, 127–128, 132– 136, 138, 140, 143–147, 243, 296– 298, 302–303, 308, 318, 322–323 literarische Analogie 242–244, 246 Logik der Transzendenz 85, 109, 212–221 Materie, formlose (Ölh) 56–57, 69, 110, 192 (Anm. 169) mÍqeciò cf. Teilhabe Meister Eckhart 13, 18–24, 41, 43–46, 48–49, 53, 289–291, 312–314, 322– 324 münh cf. Trias Verharren – Hervorgang – Rückkehr Negation (cf. auch kontradiktorische und transzendente Negation) 83, 247–248, 255, 271–272, 280 Nicht-Identität cf. Non-Identity Assumption Nicht-Sein 56–57, 83, 98 sq. (Anm. 193), 112, 122 (Anm. 305), 154 (Anm. 18), 215 nühsiò cf. intellektuelle Anschauung Non-Identity Assumption 175–183, 185, 188, 194, 196 _ nouò cf. Intellekt _ nouò noerüò cf. intellektueller Intellekt _ nouò nohtüò cf. intelligibler Intellekt Olympiodoros 109 Ordnung (tÜciò) 67, 97–98, 103, 110, 128, 161–162, 171, 219, 223, 232, 235 _

Paradigma der Welt cf. ažtozwon Paradox der Selbstprädikation 268– 269, 271–274, 277, 282–289 Paradox der Zeit (cf. auch philosophisches Paradox des ewigen Nun)

268–269, 271–274, 282–283, 287– 291 Paradox des ewigen Nun, philosophisches 13, 24–25, 36–38, 49–50, 53– 54, 272, 291–292, 303–313, 320 Paradox des ewigen Nun, religiöses 24, 49–50, 54, 272, 312, 313–314 Paradox des Glaubens 20, 40, 46 Paradox des Raumes 268–274, 282– 283, 286–288, 289 (Anm. 50), 290 Paradox, mystisches 44–46 Partizipation cf. Teilhabe passive dŸnamiò cf. dŸnamiò Pauline Predication 200–212, 221– 222, 224, 227 pÍraò – ÷peirûa (cf. auch Trias Grenze – Grenzelosigkeit – Gemischtes) 90, 92–93, 95–96, 104–110, 118–120, 129, 131, 292, 301 (Anm. 42), 302–303, 308 Phanes (cf. auch intelligibler Intellekt _ sowie ažtozˆwon) 142–143, 159 philosophisches Paradox des ewigen Nun cf. Paradox des ewigen Nun, philosophisches Platons Parmenides 108, 129, 150– 151, 162, 169, 171–212, 215, 227, 242, 243, 278–279, 283, 298–299 Platons Phaidon 96 sq. (Anm. 180), 112, 180, 185 (Anm. 146), 296 Platons Philebos 92–96, 102, 104 (Anm. 214), 105, 108, 161 (Anm. 49) Platons Protagoras 201–208 Platons Sophistes 60, 64, 98 (Anm. 192), 112–113, 115, 298–299 Platons Staat 86 (Anm. 134), 112, 180, 198, 235, 236 (Anm. 299), 247 Platons Timaios 16, 25–29, 138, 142, 155–157, 160, 198, 243–244, 252, 263, 265, 292 (Anm. 1), 293–294, 299, 306–307, 317, 321 Plotin 25, 29–35, 51, 53 sq. (Anm. 203), 77 (Anm. 80), 110–111, 114, 271 (Anm. 7), 296–297, 317 (Anm. 13)

Sachverzeichnis püqen cf. Woher Polyxenos 172 Porphyrios 83 (Anm. 121), 111, 271 (Anm. 7), 317 Positivismus, logischer 14–15, 57–60 Prädikatenlogik 57–64, 76, 150, 173– 174, 180–181, 185–186, 196, 200, 202–206, 212–218, 220–222, 224– 225, 252, 255–257, 268, 277, 284 prädikatenlogische Negation cf. kontradiktorische Negation präsentische Eschatologie (Gegenwartseschatologie) 19–25, 49, 272, 312– 313, 322, 324 Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs cf. Widerspruchsprinzip Proklische Regel 109–110, 154 (Anm. 18) prüodoò cf. Hervorgang sowie Trias Verharren – Hervorgang – Rückkehr Proportionalitätsanalogie 230, 235– 236, 242–247, 249 Proportionalitätsanalogie, transzendente 249–250 Proportionsanalogie 238, 244 pr˛ò Òn-Relation 229–251, 267 Quasi-Genus 221–224 Regreß (cf. auch Größenregreß und Ähnlichkeitsregreß) 66–67, 79–82, 190–193, 196, 205–206, 209–212, 220–221 religiöses Paradox des ewigen Nun cf. Paradox des ewigen Nun, religiöses Rhea 138, 142, 149 (Anm. 408) Rückkehr (ýpistroðÇ; cf. auch Trias Verharren – Hervorgang – Rückkehr) 72, 152, 293 Satz des Widerspruchs cf. Widerspruchsprinzip Seele 56–57, 110, 112–113, 122 (Anm. 305), 192–193, 230, 232, 253, 266, 304, 316–318, 320–323

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Segeltuchdilemma 169–171, 189, 253, 264 Sein (cf. auch Trias Sein – Leben – Intellekt) 56–57, 74, 83–84, 95– 101, 105, 112, 120, 129–130, 154– 155, 215, 232–233, 244, 252–253, 258–259, 267, 295–296, 301 (Anm. 43), 305 Selbstprädikation (cf. auch Paradox der Selbstprädikation) 162, 171, 175–186, 188, 190, 193, 196–197, 199–229, 251, 268–274 Sinnzusammenhänge nach Nygren 39–40, 46, 48, 49 (Anm. 190), 288–289 Standard-Genus 222 Synonymie cf. Univokation t÷gaqün cf. das Gute tÜciò (Taxis) cf. Ordnung Teilhabe (Partizipation, mÍqeciò) 63–64, 68–69, 73, 77–79, 88 (Anm. 144), 90–92, 98, 105, 107, 115–116, 127–128, 144–147, 165– 171, 173, 187–190, 208, 241, 252– 253, 261, 295, 297–298, 304 tertium non datur 213, 217, 280–281, 284, 289 Theurgie 317, 323–324 Thomas von Aquin 52, 234–242, 251 t˛ ažtoÍn cf. das Eine selbst transzendente Negation 215–221, 256, 280–281, 283–286 transzendente Proportionalitätsanalogie cf. Proportionalitätsanalogie, transzendente Transzendenz 54, 65–68, 85, 89–90, 105, 162–168, 189–196, 212–221, 231, 246, 250–274, 283–293, 312, 314, 324 Trias Grenze – Grenzelosigkeit – Gemischtes (pÍraò – ÷peirûa – miktün) 110, 113, 115, 117–124, 126, 129–130

342

Sachverzeichnis

Trias Intelligibles – Intelligibles und Intellektuelles – Intellektuelles (nohtün – noht˛n Ñma ka˝ noerün – noerün) 111, 113–115, 126–128, 135 Trias Sein – Leben – Intellekt (ožsûa _ – zwÇ – nouò) 56, 101 (Anm. 201), 111, 112 sq. (Anm. 263), 113, 115– 116, 121–122, 124–127, 133–136, 143, 146–147, 242 Trias Verharren – Hervorgang – Rückkehr (münh – prüodoò – ýpistroðÇ) 113, 115, 123–126, 133. trûtoò ånqrwpoò cf. Argument vom dritten Menschen Überseiendes Eines cf. das Überseiende Eine unaufhörlich (÷i^dion) 260, 262–263, 266, 292, 298, 305, 307–309 Univokation 184–186, 207, 211–212, 222–225, 228–234, 241, 242 (Anm. 322), 251 Unpartizipierbares (÷mÍqekton) 68, 144–145, 165–168, 171, 252 Unsterblichkeit 296–297 Urbild (cf. auch Abbild) 186, 193– 196, 199, 243–244, 292, 306–307

Ursache (aŁtia; cf. auch Ursachenanalogie) 56, 63–77, 83, 85, 96–97, 126, 146–147, 150, 154, 156, 161– 162, 163 sq. (Anm. 58), 165–168, 189–192, 212, 218–219, 228–229, 231–233, 245, 254–259, 271, 285, 290, 308, 312, 320 Ursachenanalogie 238–242, 245, 247, 251 Widerspruchsprinzip (Satz des Widerspruchs, Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs) 37, 46–47, 49– 50, 213–214, 216–218, 220–221, 229, 273, 275–284, 287 Wirkmächtigkeit (aktive dŸnamiò) 69–70, 75–76, 81, 104–108, 119, 123, 132, 138, 168 (Anm. 71), 299– 300, 308 Wittgenstein, Ludwig 13–14, 18, 20 Woher (püqen) 54, 57, 63–66, 82, 150, 268, 289, 312 Zeus (cf. auch Demiurg) 138–139, 142, 149 (Anm. 408), 155, 158–159 zwÇ cf. Leben zwÌ noerÜ cf. intellektuelles Leben zwÌ nohtÇ cf. intelligibles Leben Zweiheit 299–300