Himmel - Erde - Mensch: Das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit in der antiken chinesischen Philosophie 9783495860281, 9783495484890

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Himmel - Erde - Mensch: Das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit in der antiken chinesischen Philosophie
 9783495860281, 9783495484890

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Vorwort
Teil I: Ein problematisches Grundverständnis und die Frage nach dem Vollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses
1. Ein problematisches Grundverständnis des antiken chinesischen Denkens
1.1. Eine Kontrastfolie
1.2. Der lebenspraktische Anspruch des antiken chinesischen Denkens
2. Das uneingelöste Sinnversprechen des Grundverständnisses
3. Die Prüfung des Grundverständnisses und die Frage nach dem Vollzug und Geschehen des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses
4. Der Zugang zum Vollzug und Geschehen des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses
4.1. Die Textauswahl
4.2. Die methodischen Ansätze
5. Allgemeine Anmerkungen
Teil II: Die Überprüfung
A. Das Lunyu
1. Einleitende Bemerkungen
2. Der Himmel und das Wirklichkeitsverständnis im Lunyu
2.1. Der Himmel
2.2. Das Wirklichkeitsverständnis
3. Eine erste Bestimmung
3.1. Das Wirklichkeitsverhältnis als Ausformungsgeschehen
3.2. Konfuzius als Lehrer
4. Leibhaftige Teilnahme und konkreatives Hervorgehen
4.1. Zeng Xi
4.2. Das Problem der li
4.3. Die Äußerlichkeit der li
4.4. Die li und das Wirklichkeitsverhältnis
5. Anrühren und Antworten
6. Tastendes Einspüren
7. Der unverzerrte Selbstvollzug
8. Verfeinerung und Verwebung
B. Das Mozi
1. Einleitende Bemerkungen
2. Der Himmel und das mohistische Wirklichkeitsverständnis
2.1. Der Himmel
a) Die Realpräsenz des Himmels
b) Der Himmel als Tendenz der Wirklichkeit
2.2. Das Wirklichkeitsverständnis
3. Das Wirklichkeitsverhältnis als Wirksammachen unterstützender Bezogenheiten
4. Die Orientierungen und das mediale Wirksammachen tragender Beziehungen
5. Die Hervorbringung wirksamer Wirklichkeitsverhältnisse
6. Die umprägende Einwebung von Orientierungen
6.1. Das Beispiel der Handwerkszeuge
6.2. Die Anweisungen und die Vorbilder
7. Die umprägende Einwebung als Veranlassen
8. Einschätzen und Unterscheiden
9. Die Ausweitung der Sensibilität
C. Das Daodejing
1. Einleitende Bemerkungen
2. Das Verständnis von Wirklichkeit im Daodejing
2.1. Die bewegte Wirklichkeit
2.2. Die Bewegung
a) Die sich bewegende Bewegung
b) Erneuerung und weiterführende Umgestaltung
c) Ziran 自然
d) Unerschöpflichkeit und Unbestimmtheit
e) Konkreativität
3. Das Wirklichkeitsverhältnis als Selbstfortführung
4. Leibhaftige Spontaneität und situative Findung
5. Selbstlose Rezeptivität und Selbstbehauptung
6. Feste und unterstützende Bindung
7. Wiedereinfindung durch Auflösung und An-Sich-Halten
8. Rückkehr und Abbau
Teil III: Die Auswertung
1. Bestätigung des Grundverständnisses?
2. Schlussfolgerung
Literaturverzeichnis
Register

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https://doi.org/10.5771/9783495860281 .

WELTEN DER PHILOSOPHIE

A

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Das klassische chinesische Philosophieverständnis wird immer wieder als ein lebenspraktisches beschrieben. Statt die Grundstrukturen und die ersten Ursachen des Wirklichen theoretisch zu erkunden, sei es der antiken chinesischen Philosophie vor allem darum zu tun, den Menschen auf Wege hin zu einer reibungslosen Einfügung in den Lauf der Dinge aufmerksam zu machen. Die vorliegende Arbeit überprüft dieses Vorverständnis und diskutiert, inwieweit die einschlägigen Texte, u. a. von Konfuzius, Mozi und Laozi, dem ihnen zugeschriebenen lebenspraktischen Anspruch gerecht werden.

Der Autor: Philippe Brunozzi hat Sinologie und Philosophie an den Universitäten Trier und Wuhan (VR China) studiert. Seit 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für praktische Philosophie der Universität Kassel.

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Philippe Brunozzi Himmel – Erde – Mensch

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Welten der Philosophie 8 Wissenschaftlicher Beirat: Claudia Bickmann, Rolf Elberfeld, Geert Hendrich, Heinz Kimmerle, Kai Kresse, Ram Adhar Mall, Hans-Georg Moeller, Ryôsuke Ohashi, Heiner Roetz, Ulrich Rudolph, Hans Rainer Sepp, Georg Stenger, Franz Martin Wimmer, Günter Wohlfahrt, Ichirô Yamaguchi

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Philippe Brunozzi

Himmel – Erde – Mensch Das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit in der antiken chinesischen Philosophie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48489-0 (Print)

ISBN 978-3-495-86028-1 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I Ein problematisches Grundverständnis und die Frage nach dem Vollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses . . . . .

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Vorwort

1.

2. 3.

4.

5.

Ein problematisches Grundverständnis des antiken chinesischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Eine Kontrastfolie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Der lebenspraktische Anspruch des antiken chinesischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das uneingelöste Sinnversprechen des Grundverständnisses Die Prüfung des Grundverständnisses und die Frage nach dem Vollzug und Geschehen des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zugang zum Vollzug und Geschehen des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Die methodischen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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35 37 37 38 45

Teil II Die Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A.

Das Lunyu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.

Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

5. 6. 7. 8.

Der Himmel und das Wirklichkeitsverständnis im Lunyu . 53 53 2.1. Der Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.2. Das Wirklichkeitsverständnis . . . . . . . . . . . . . 60 Eine erste Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Das Wirklichkeitsverhältnis als Ausformungsgeschehen 60 65 3.2. Konfuzius als Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Leibhaftige Teilnahme und konkreatives Hervorgehen . . . 69 4.1. Zeng Xi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4.2. Das Problem der li . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.3. Die Äußerlichkeit der li . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.4. Die li und das Wirklichkeitsverhältnis . . . . . . . . 92 Anrühren und Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . Tastendes Einspüren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Der unverzerrte Selbstvollzug . . . . . . . . . . . . . . . 103 Verfeinerung und Verwebung . . . . . . . . . . . . . . . 110

B.

Das Mozi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. 2.

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7. 8. 9.

Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Himmel und das mohistische Wirklichkeitsverständnis . 2.1. Der Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Das Wirklichkeitsverständnis . . . . . . . . . . . . . Das Wirklichkeitsverhältnis als Wirksammachen unterstützender Bezogenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Orientierungen und das mediale Wirksammachen tragender Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hervorbringung wirksamer Wirklichkeitsverhältnisse . Die umprägende Einwebung von Orientierungen . . . . . 6.1. Das Beispiel der Handwerkszeuge . . . . . . . . . . . 6.2. Die Anweisungen und die Vorbilder . . . . . . . . . Die umprägende Einwebung als Veranlassen . . . . . . . Einschätzen und Unterscheiden . . . . . . . . . . . . . . Die Ausweitung der Sensibilität . . . . . . . . . . . . . .

C.

Das Daodejing

1. 2.

Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . Das Verständnis von Wirklichkeit im Daodejing 2.1. Die bewegte Wirklichkeit . . . . . . . . . 2.2. Die Bewegung . . . . . . . . . . . . . .

2.

3.

4.

3. 4. 5. 6.

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Inhalt

3. 4. 5. 6. 7. 8.

Das Wirklichkeitsverhältnis als Selbstfortführung . . . . Leibhaftige Spontaneität und situative Findung . . . . . Selbstlose Rezeptivität und Selbstbehauptung . . . . . . Feste und unterstützende Bindung . . . . . . . . . . . . Wiedereinfindung durch Auflösung und An-Sich-Halten Rückkehr und Abbau . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil III Die Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Bestätigung des Grundverständnisses? . . . . . . . . . . . Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2009 vom Fachbereich II der Universität Trier als Dissertation angenommen. Für die Bereitstellung des institutionellen Rahmens sowie die Unterstützung bei der Durchführung der Arbeit sei Prof. Dr. Karl-Heinz Pohl, PD Dr. Dennis Schilling, den Mitarbeitern des Forschungsreferats der Universität Trier sowie Christine Wolf-Dienhart vom Dekanat des Fachbereichs II gedankt. Ohne die Einladung von Prof. Dr. Guo Qiyong an die Universität Wuhan und dessen Ermutigungen, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, wäre diese Arbeit allerdings kaum fertig gestellt worden. Ihm und dem Wuhaner Kreis gilt von daher mein besonderer Dank. Nicht weniger entscheidend haben Prof. Dr. Rolf Elberfeld, Dr. Henrik Jäger und Prof. Dr. Mathias Obert mit ihren wertvollen Anregungen und stets freundlichen Kritiken den Verlauf dieser Arbeit unterstützt und mitgestaltet. Für diese angenehme Begleitung in nicht immer einfachen Zeiten möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichsten Dank aussprechen. Die Verantwortung für die Unzulänglichkeiten und die Fehler der Arbeit liegen gleichwohl weiterhin alleine bei mir selbst. Besondere Erwähnung verdienen zudem Dr. Bao Xiangfei, Dr. Liu Huiru, von dem ich in den langjährigen persönlichen Gesprächen viel gelernt habe, sowie Kathrin, deren Hilfe sich nicht in ein paar Worte fassen lässt – von ihr habe ich aber die großzügigste und umfassendste Unterstützung erfahren. Ferner haben Prof. Dr. Bernd Dörflinger, Michael Carroll und Dr. Gilbert Metzger durch ihre Hilfestellung in unterschiedlichen Phasen der Arbeit zu deren Abschluss beigetragen. Dem Verlag Karl Alber sowie den Herausgebern danke ich für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Bei der Publikation waren Lukas Trabert und Eva Lang stets tatkräftige und ansprechbare Begleiter. Für diese vorzüglichen Rahmenbedingungen bin ich sehr dankbar. Besondere Worte des Dankes gebühren schließlich meinen Eltern, 11 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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Danksagung

die mir aus der Ferne auch für diesen Lebensabschnitt ein tragender Hintergrund gewesen sind. Kassel, Juni 2011

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Vorwort

Wollen wir uns das antike chinesische Denken der Vor-Han-Zeit, wie es sich bis zum 2. Jh. v. Chr. herausgebildet hat, näher erschließen, so lassen wir uns gewöhnlich von einem bereits vorhandenen, expliziten Grundverständnis dieser geistesgeschichtlichen Epoche leiten. Ein solches Grundverständnis gibt uns vor allem eine erste Orientierung an die Hand. Ohne die unterschiedlichen Denkrichtungen im Voraus schon restlos auf den Punkt zu bringen, lenkt es als allgemeiner heuristischer Interpretationsrahmen unseren auslegenden Blick in eine bestimmte Richtung. Es skizziert den großen Rahmen, innerhalb dessen sich dieses Denken bewegte, und zeigt damit den Sinnhorizont an, den weitergehende, genauere Auslegungen im Blick zu behalten haben. 1 Als ein orientierender Vorgriff, der die Grundausrichtung und die allgemeinen Grundzüge des antiken chinesischen Denkens herausstellt, fungiert ein jedes Grundverständnis freilich immer nur als ein möglicher Interpretationsrahmen. Als solches bildet es bloß eine Perspektive unter anderen, die bei der Auslegung der einschlägigen Texte eingenommen werden kann. In diesem Sinne entfaltet jedes Grundverständnis seine je eigene Erschließungskraft und eröffnet dementsprechend einen jeweils besonderen Zugang zu diesem Denken. Dabei wird indessen kein Grundverständnis absolute Gültigkeit beanspruchen können. Im Gegenteil. Als perspektivischer, nur möglicher Blickwinkel wird ein jedes Grundverständnis stets problematisch bleiben. Nie kann es sich als erster holzschnittartiger Bestimmungsversuch seiner eigenen Gültigkeit und Tragweite endgültig sicher sein; diese stehen vielmehr jederzeit auf dem Spiel. 2 Stets droht nämlich die Gefahr, dass es seinen Gegenstand nur am Rande auf nebensächliche Aspekte hin in den Blick Vgl. hierzu Stephan Schmidt: Die Herausforderung des Fremden. Interkulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken, S. 229 ff. 2 Vgl. ebd., S. 231 f. 1

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Vorwort

nimmt. Die Gültigkeit und Erschließungskraft eines Grundverständnisses können sogar bei fortschreitender Auslegungsarbeit gänzlich ins Wanken geraten. Dies ist dann der Fall, wenn die konkreten Textauslegungen das sie leitende Grundverständnis nicht bestätigen, wenn dieses also einen Sinn antizipiert und verspricht, der sich in der eingehenden Interpretationsarbeit nicht einholen lässt und damit die Texte in ihrem Sinnpotenzial überfordert. Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie wird ein solches leitendes Grundverständnis des vor-han-zeitlichen Denkens stehen. Auch wenn es sich dabei um ein besonders wirkmächtiges, da weit anerkanntes Grundverständnis handelt, das für einen Großteil der sinologischen Beschäftigung mit dem antiken chinesischen Denken maßgebend war und es auch weiterhin ist, so kommt gleichwohl bei näherem Hinsehen der Verdacht, dass es in seiner Gültigkeit und Erschließungskraft fraglicher ist, als es zunächst vermuten lässt. Auf dieses Grundverständnis scheint der eben geschilderte Extremfall zuzutreffen: Es scheint als heuristischer Interpretationsrahmen die Texte in ihrem Sinnpotenzial zu überfordern, ihnen also einen Sinn abzuverlangen, den sie nicht einlösen können. Durch die sich so abzeichnende Diskrepanz zwischen dem projizierten allgemeinen Grundverständnis einerseits und dem in der konkreten Textauslegung geschöpften Sinn andererseits droht die Gültigkeit und Erschließungskraft dieses Vorverständnisses untergraben zu werden. Da die Anfechtung dieses Grundverständnisses angesichts dessen Wirkmächtigkeit eine nicht unerhebliche Revidierung unseres Verständnisses des antiken chinesischen Denkens zur Folge hätte, wird im Folgenden beabsichtigt, dieser interpretatorischen Spannung auf den Grund zu gehen. Noch ist nämlich nicht sicher, ob es sich hierbei lediglich um eine vorübergehende Erschütterung handelt, die sich durch gezielte Textarbeit schnell beruhigen lässt, oder ob sich mit der Diskrepanz zwischen dem Grundverständnis und den bisherigen Auslegungen tatsächlich ein Abgrund auftut, durch den dieses Grundverständnis als mögliche Blickrichtung auf das Denken der chinesischen Antike gegenstandslos wird. Kurz, die vorliegende Studie legt die Erschließungskraft dieses Vorverständnisses auf die Waagschale. Sie will sich vergewissern, ob es dem chinesischen Denken und den entsprechenden Texten tatsächlich einen Sinn abverlangt, der als solcher nicht einzulösen ist. Der Gang der folgenden Untersuchung gliedert sich somit in drei Teile. In einem ersten Teil wird zunächst das hier problematisierte Grundverständnis des vor-han-zeitlichen Denkens vorgestellt und in 14 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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Vorwort

seiner problematischen, die Texte überfordernde Hinsicht thematisiert. Nach kurzen methodischen Ausführungen wird sodann im zweiten Teil zu prüfen sein, ob dieses Grundverständnis die Texte tatsächlich überbeansprucht, d. h., ob sich die Lücke zwischen dem Grundverständnis und dem Sinnpotenzial der Texte in der Tat nicht schließen lässt. Es wird versucht, die Sinnvorgabe des Grundverständnisses in der problematischen Hinsicht durch gezielte Textarbeit einzuholen und zu bestätigen. Damit bildet dieser Teil das Herzstück der Studie. Im letzten Teil wird die so durchgeführte Überprüfung abschließend auszuwerten sein. Denn noch ist offen geblieben, ob sich das Grundverständnis an den Texten bestätigen ließ oder ob es tatsächlich als Zugang zum chinesischen Denken problematisch bleiben muss.

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Teil I Ein problematisches Grundverständnis und die Frage nach dem Vollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses

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1.

Ein problematisches Grundverständnis des antiken chinesischen Denkens

1.1. Eine Kontrastfolie Das Grundverständnis des chinesischen Denkens der Vor-Han-Zeit, das im Mittelpunkt dieser Studie steht, lässt sich am deutlichsten vor der Kontrastfolie einer bestimmten Ausprägung der westlichen Philosophie umreißen. Der Darstellung halber sei von daher zunächst dieser Strang des europäischen Philosophierens vorgestellt, um von diesem aus das hier ins Visier genommene Grundverständnis des antiken chinesischen Denkens klarer hervortreten zu lassen. Die Wiedergabe dieser als Kontrastfolie herangezogenen Ausprägung westlichen Philosophierens erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es handelt sich lediglich um eine mögliche Deutung dieser Traditionslinie, die nicht beabsichtigt, deren historische Nuancen allesamt einzufangen, sondern vor allem darauf abzielt, sie als Darstellungshintergrund aufzuarbeiten. Der hier als Hintergrundfolie dienende Strang der europäischen Philosophie bildet jenes Philosophieverständnis, das die Wissenschaftlichkeit der Philosophie in den Vordergrund gestellt hat und sie dementsprechend als Lieferant unbedingter, letzthin gültiger Wahrheiten verstanden haben wollte. Ausgangspunkt dieser Richtung innerhalb der westlichen philosophischen Tradition bildet ein dem Menschen eigentümliches Staunen: das Staunen des Menschen, dass er sich Dingen bewusst ist, die von ihm verschieden sind. 1 Die Tatsache, dass dem Menschen etwas erscheint und somit überhaupt etwas – für ihn – wirklich ist, sollte dabei zur treibenden Kraft eines eigentümlichen Fragens werden. Das Staunen wurde nämlich nicht nur als eine bloß bewunderungswürdige menschliche Eigenschaft wahrgenommen. Mit ihm und dem damit aufgebrochenen Bewusstsein einer getrennten Wirklichkeit tat sich in den Augen der Philosophen vielmehr eine besondere Möglichkeit für den Menschen auf. Ausschlaggebend für die Wahrnehmung dieser Möglichkeit war, dass das im Staunen sich manifestierende Bewusstsein von Wirklichkeit schlechthin letztlich als ein ursprüngliches Wissen von ebendieser Wirklichkeit erfahren wurde, d. h. als ein erstes Wissen davon, dass es so etwas wie eine vom Subjekt zu unterscheidende Wirklichkeit gibt. 1

Vgl. etwa Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie, S. 16.

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Ein problematisches Grundverständnis

Sicherlich ist dieses anfängliche Wissen als solches nicht schon in sich abgeschlossen. Es ist vielmehr zunächst ein noch unbestimmtes Wissen. Denn was es genauer mit der Wirklichkeit auf sich hat und wie sie beschaffen ist, bleibt auf dieser Ebene noch unbeantwortet. Allerdings weist das im Staunen sich abzeichnende, noch undurchsichtige Wissen gleichzeitig über sich hinaus und deutet als solches bereits auf eine andere Form des Wissens von Wirklichkeit hin. Das Staunen lädt in seiner Unbestimmtheit dazu ein, mehr zu wissen, die Wirklichkeit also umfassender und erschöpfender zu erkunden. 2 Mehr noch: In diesem noch unbestimmten staunenden Wissen kündigt sich die Möglichkeit einer durch und durch bestimmten Erkenntnis an, d. h. einer Erkenntnis, in der die gesamte Wirklichkeit in ihren letzten Ursachen und fundamentalsten Bestimmungen denkend eingeholt wird. 3 Aus der sich so andeutenden Möglichkeit eines umfassenden Wissens erwuchs letztlich die Vision einer absoluten Vernunft, einer Vernunft, welche die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit zum Gegenstand hat und auf ein Zusammenfallen von Sein und Denken aus ist. Auch wenn der Mensch an der Realisierung dieser Möglichkeit immer wieder verzweifelte und sie für ihn das »Rätsel aller Rätsel« 4 bleiben musste, so sollte die im Staunen sich niederschlagende tiefste »Wesensverbundenheit« zwischen erkennender Vernunft und erkannter Wirklichkeit und die sich damit auftuende Hoffnung auf eine allumspannende Wirklichkeitserkenntnis zur innersten »Triebkraft aller historischen philosophischen Bewegungen« 5 werden. Galt es somit, die Wirklichkeit in ihrer Ganzheit auf ihre fundamentalsten Bestimmungen hin denkend einzuholen, so konnte sich die Philosophie nicht mit der Inblicknahme der wandelbaren Eigenschaften der Wirklichkeit begnügen. Hier lassen sich der ewige Bau der Wirklichkeit und deren unveränderliche, sich selbst gleich bleibende Grundmomente nirgends auffinden. Die Philosophie konnte ihrer AufDass das Staunen zur Erkenntnis drängt, darauf weisen sowohl Platon als auch Aristoteles hin. Während es bei Platon Paradoxien zu sein scheinen, welche den Menschen zur weiteren Erkenntnissuche anspornen (Theaitetos, 154c–155d), führt Aristoteles die Befremdlichkeit des Wirklichkeitsspektakels als Anstoß des forschenden Weiterfragens an (Metaphysik, I 2, 982b12–17). 3 Vgl. Aristoteles: Metaphysik, I 1–2, 980a21–983a24. 4 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, S. 13. 5 Ebd., S. 11. 2

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Ein problematisches Grundverständnis des antiken chinesischen Denkens

gabe nur dadurch nachkommen, dass sie sich über das bloß Partikulare und Zufällige hinaus dem Allgemeingültigen und Notwendigen zuwandte, um von dort aus abschließende, unbedingt gültige Aussagen »über empirisch nicht nachprüfbare Momente der Wirklichkeit zu formulieren« 6, die letztlich für alle anderen Wissenschaften verbindlich sind. Die diesem Programm verpflichtete denkende Erschließung des Seins schlug sich in theoretischen Entwürfen nieder, die mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit (episteme) auftraten. Alle fundamentalen Aussagen über die Wirklichkeit im Ganzen mussten den Kriterien der diskutierbaren Nachvollziehbarkeit und der Begründetheit ihrer Gedanken (logon didonai) nachkommen. 7 Anders waren sie keine letzten Aussagen über das Ganze der Wirklichkeit. Nur über eine rationale Bewältigung der Wirklichkeit versprach sich die Philosophie die angestrebte Übereinstimmung von Denken und Sein zu erreichen. Mit diesem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit grenzte sich die Philosophie gegen andere Paradigmen umfassender menschlicher Wirklichkeitsbewältigung, wie etwa Weltanschauungen, Religionen, Ideologien sowie Kunst und Literatur, ab. Im Unterschied zu diesen Orientierungsangeboten war die hier berücksichtigte philosophische Tradition darauf aus, über die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit begründete, letztgültige Theorien zu erstellen. Sicherlich lässt sich diese Ausprägung der westlichen Philosophie nicht auf ihr theoretisches Anliegen reduzieren. In ihren Versuchen, das Denken dem Sein anzugleichen, stand immer auch das praktische Wirklichkeitsverhältnis des Menschen auf dem Spiel. Dies spiegelt sich darin, dass die theoretischen Weltauslegungen dem Menschen gleichzeitig tief greifende Verwandlungen seiner existenziellen Haltung und somit seines gelebten Wirklichkeitsverhältnisses abverlangten. Ob es sich um die Dialoge Platons oder die Manuskripte Aristoteles’ handelt, stets war der Ruf nach einer Transformation der konkreten Zuwendungen des Menschen zur Wirklichkeit hörbar. 8 So ist etwa die platonische Idee des Guten nicht nur als »höchster Gegenstand des Wissens« 9 und Angelpunkt der Wirklichkeitsauslegung bedeutungsvoll. Die Idee des Guten Béla Weissmahr: Ontologie, S. 14. Vgl. ebd., S. 13 ff. 8 Vgl. hierzu die Studie von Pierre Hadot: Philosophie als Lebenskunst. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, 2005. 9 Platon: Der Staat, 505a. 6 7

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Ein problematisches Grundverständnis

liefert gleichzeitig einen Orientierungshorizont, durch den das menschliche Handeln in seinen lebensweltlichen Verstrickungen eine neue Ausrichtung gewinnen kann. In diesem Sinne erwartet Platon vom Philosophen, das, was er geschaut hat, auch »in das persönliche und staatliche Leben der Menschen einzupflanzen« 10, um damit das »Ende des Unheils für die Staaten« 11 herbeizuführen. Genauso wenig lässt sich bei Aristoteles der Schlussstein des Wirklichkeitsgewölbes, der unbewegte Beweger, auf ein rein theoretisches Konstrukt reduzieren. Auch hier verliert der Höhepunkt philosophischer Betrachtungen nicht seine praktische Bedeutung. Kontinuierlich in Bewegung, ohne selbst bewegt zu werden, 12 wird der unbewegte Beweger zum zentralen Motiv, ja zum Paradigma einer vollkommenen menschlichen Lebensführung. Ihm hat der Philosoph »nachzuleben« 13. Damit zieht Aristoteles wohl ein theoretisches Leben (bios theoretikos) in Betracht, das als selbstgenügsames, kontemplatives Leben ganz im Dienste einer vernunftgemäßen Annäherung an das Ewige zu stehen hat. Als ein derartiges autarkes, den konkreten Lebensinteressen entsagendes Leben 14 bleibt es allerdings weiterhin eine bestimmte Form der Zuwendung zur Wirklichkeit. Bleibt der Bezug des theoretischen Anliegens der Philosophie zum praktischen Wirklichkeitsverhältnis des Menschen gewahrt, ermöglicht Philosophie dem Menschen sogar auf existenzieller Ebene, sich in ein neues Verhältnis zu seinem unmittelbaren Lebensumfeld einzulassen und sich in ihm, als einer bewohnbaren, intimen Welt, zurechtzufinden, so sollte der Theorie und Wissenschaftlichkeit im menschlichen Wirklichkeitsverhältnis dennoch Priorität eingeräumt werden. Die Fragen »Was soll ich tun?« oder »Was darf ich hoffen?« mussten sich in letzter Instanz der theoretischen Erschließung der Wirklichkeit unterordnen. Bevor also eine existenzielle Entscheidung herbeigeführt, ein politisches Handeln provoziert oder Wege zum menschlichen Glück aufgezeigt werden können, müssen vorab die Grundbestimmungen der Gesamtwirklichkeit geklärt werden. Diese Fragen und alle damit verbundenen partikularen Lebensinteressen blieben somit in ein theoretisches Leben eingebettet und mussten von der Warte der Wahrheit des

10 11 12 13 14

Ebd., 500d. Ebd., 473d. Siehe hierzu ausführlicher Aristoteles: Metaphysik, XII 7. Aristoteles: Nikomachische Ethik, X 7, 1178a. Vgl. ebd., X 7.

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Ein problematisches Grundverständnis des antiken chinesischen Denkens

in schattenloser Durchsichtigkeit geschauten Baus der Welt aus angegangen werden. 15 Sollte Philosophie also zu einer Wandlung der Existenz und des Wirklichkeitsverhältnisses des Menschen führen, so konnte dies nur über den Umweg theoretischer Wahrheit erreicht werden. Stellvertretend für diese Vorrangstellung der »ersten Philosophie« kann folgende Stellungnahme Schellings angeführt werden: »Die Scheu vor der Spekulation, das angebliche Forteilen vom Theoretischen zum bloß Praktischen, bewirkt im Handeln notwendig die gleiche Flachheit wie im Wissen. Das Studium einer streng theoretischen Philosophie macht uns am unmittelbarsten mit Ideen vertraut, und nur Ideen geben dem Handeln Nachdruck und sittliche Bedeutung.« 16 Ähnlich bestimmt auch Descartes das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, wenn er die »erste Philosophie« als Wurzel charakterisiert, aus der alle anderen Disziplinen hervorzugehen haben. 17 Die hier als Darstellungshintergrund herangezogene Ausprägung westlichen Philosophierens zeichnet sich also dadurch aus, dass der denkenden Durchdringung der Wirklichkeit Vorrang vor allen anderen Anliegen eingeräumt wurde. Von diesem Hintergrund sei jenes Grundverständnis des antiken chinesischen Denkens abgehoben, das im Folgenden auf seine Gültigkeit und Reichweite hin zu problematisieren sein wird.

1.2. Der lebenspraktische Anspruch des antiken chinesischen Denkens Dass die Wirklichkeit zum Gegenstand einer Wissenschaft werden könne und sich allumfassende und überzeitliche Erkenntnisse über die Grundstrukturen und ersten Ursachen alles Wirklichen im Medium der Sprache formulieren ließen, dieses Projekt, so das hier berücksichtigte Grundverständnis, war dem antiken chinesischen Denken fremd. 18 Die Möglichkeit, »das Seiende als Seiendes« 19 zu erfassen und im RahPlaton: Der Staat, 500c. F. W. J. Schelling: »Vorlesung über die Methode des akademischen Studiums«. In: Schellings Werke, Bd. 3, S. 299. 17 Vgl. René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, XLIf. 18 Vgl. etwa Roger T. Ames, David L. Hall: Thinking from the Han. Self, Truth, and Transcendence in Chinese and Western Culture, S. 147 f.; François Jullien: Der Umweg über China, S. 108; Guo Qiyong 郭齊勇: Zhongguo zhexueshi 中國哲學史, S. 7. 15 16

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men eines argumentativen Diskurses Sein und Denken in Übereinstimmung zu bringen, entwickelte sich im antiken China nicht zur Triebfeder philosophischer Bemühungen. Anstelle eines Philosophierens, das den unmittelbaren Lebensinteressen enthoben nach theoretischer Wahrheit strebt und erst nachträglich Relevanz für das reale Wirklichkeitsverhältnis entfaltet, bildete sich hier ein Denken heraus, das auf originäre Weise ein praktisch-existenzielles Anliegen verfolgte. Beseelender Kern des antiken chinesischen Denkens war diesem Vorverständnis zufolge von Anfang an die unvermittelte Frage nach der gelingenden Teilnahme des Menschen (ren 人) am Wirklichkeitsgeschehen, welches sich zwischen »Himmel und Erde tian di 天地« abspielt, 20 d. h. die Frage nach der reibungslosen, mitwirkenden Einfügung des Menschen in den Lauf der Dinge. 21 Dem Denken war es hier unmittelbar, ohne Umweg über eine theoretische Erkundung des Weltgerüsts, um die Lebensentfaltung des Menschen (sheng 生) in und mit den großen Zusammenhängen der naturwüchsigen Wirklichkeit zu tun. 22 Es beabsichtigte direkt in den Lebensvollzug des Menschen hineinzuspielen, um ihn so hin zu einem gelingenden Lebenswandel inmitten der »zehntausend Dinge wanwu 萬物« zu orientieren. 23 Dies, so weiter dieses Grundverständnis, haben die klassischen Denkschulen dadurch zu erreichen versucht, dass sie den Menschen Aristoteles: Metaphysik, IV 1, 1003a 24. Die Bedeutung der gelingenden Teilnahme des Menschen an der Wirklichkeit lässt sich auch an dem Zeichen can 參 festmachen, das mit »zusammenwirken« oder auch »teilnehmen« übersetzt werden kann und immer wieder zur Charakterisierung des Verhältnisses des Menschen zu Himmel und Erde herangezogen wurde. Vgl. hierzu etwa die Verwendung dieses Zeichens in den Kapiteln Liyun 禮運 und Zhongyong 中庸 des Liji 禮記 sowie im Xunzi 荀子 (Tianlun 天論) und Zhuangzi 莊子 (Zaiyou 在宥). Wenn im Folgenden von Wirklichkeit die Rede sein wird, so ist damit nicht die durch wissenschaftliche Setzungen objektivierte Wirklichkeit gemeint, sondern die Wirklichkeit, wie wir sie in unseren alltäglichen Beschäftigungen und somit vor allem im praktischen Umgang mit unseren unterschiedlichen Lebensumfeldern, im »Besorgen« (Martin Heidegger: Sein und Zeit, § 15), erfahren. 21 Vgl. Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuandao pian 中國哲學原論。 原道篇, S. 9 ff.; ders.: Zhongguo wenhua zhi jingshen jiazhi 中國文化之精神價值, S. 300 f.; Guo Qiyong 郭齊勇: Ebd., S. 6 f. 22 Vgl. Mou Zongsan 牟宗三: Zhongxi zhexue zhi huitong shisi jiang 中西哲學之會通 十四講, S. 10 ff., 23. 23 Vgl. Guo Qiyong 郭齊勇: Ebd., S. 7 f.; Anne Cheng: Histoire de la pensé chinoise, S. 34; Chad Hansen: »Chinese Language, Chinese Philosophy, and ›Truth‹«. In: Journal of Asian Studies 44 (1985/3), S. 491–519. 19 20

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auf konkrete Wege hin zu einem gelingenden Wirklichkeitsverhältnis aufmerksam machten und ihn anregten, diese Wege einzuschlagen. 24 Um den Menschen tatsächlich anzurühren und zu bewegen, griff man nicht auf argumentativ vorgebrachte, wohl begründete Theorien zurück. Statt ihre Vorstellungen eines gelingenden Lebensvollzuges in der Welt streng zu begründen, versuchten die unterschiedlichen Denker diese in Texten vielmehr bildhaft auszumalen. 25 Nur von anschaulichen, in sich bewegten Bildern wurde erwartet, dass sie diesseits absoluter Klarheit und Widerspruchslosigkeit die Nähe zu den lebenswirklichen Erfahrungen wahren und somit in ihrer prallen materialen und emotiven Sättigung den gesuchten verändernden Effekt auf den Leser erzeugen. Nur bildkräftige Ausmalungen erschienen geeignet, Wege und Möglichkeiten einer gelingenden Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen greifbar werden zu lassen, sie auf eine »Formel« zu bringen und in ihren Wirkungen derart plastisch erscheinen zu lassen, dass sie den Leser ermutigen, sich auf sie einzulassen. 26 Um möglichst anschauliche und ergreifende Gesamtbilder eines gelingenden menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses zu zeichnen, griffen die Verfasser auf unterschiedliche sprachliche Ausdrucksformen zurück, die von kurzen Sentenzen, Anekdoten über Metaphern bis hin zu Beschreibungen, längeren Ausführungen oder Dialogen reichten und derer sie sich in je unterschiedlichen Gewichtungen bedienten. 27 An die Stelle eines Strebens nach der Verwirklichung einer absoluten Vernunft, in der sich Denken und Sein die Hand reichen, tritt also im antiken chinesischen Denken die »Sorge youhuan 憂患« 28 um den tatsächlichen Lebensvollzug des Menschen sowie der Versuch, die EntVgl. etwa François Jullien: Der Umweg über China, S. 65; ders.: Un sage est sans idée, S. 45; Roger T. Ames, David L. Hall: Thinking from the Han. Self, Truth, and Transcendence in Chinese and Western Culture, S. 149 f. 25 Vgl. etwa Anne Cheng: Histoire de la pensé chinoise, S. 32 ff., Wu Kuang-ming: On Chinese Body Thinking: A Cultural Hermeneutic, S. 195–200; Fung Yu-lan: A Short History of Chinese Philosophy, S. 11 ff. Siehe auch die Studie von Sarah Allan: The Way of Water and Sprouts of Virtue, 1997. 26 Vgl. hierzu etwa Edward Slingerland: »Conceptual Blending, Somatic Marking, and Normativity: A Case Example from Ancient China«. In: Cognitive Linguistics 16 (2005/ 2), S. 557–584. 27 In diesem Zusammenhang sei auf Werke wie etwa das Lunyu 論語, das Mengzi 孟子 oder das Zhuangzi 莊子 hingewiesen, in denen sich die Aneinanderreihung unterschiedlicher Diskursformen exemplarisch vorgeführt findet. 28 Vgl. Xu Fuguan 徐復觀: Zhongguo renxinglunshi 中國人性論史, S. 20 f. 24

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faltung des Menschen in und mit der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit anzustoßen und zu unterstützen. Die lebenspraktische Dimension des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses geriet somit ins Visier des Denkens. In diese nämlich wollte es ohne Umwege transformierend hineinwirken. Obwohl es sich bei diesem Grundverständnis des klassischen chinesischen Denkens um einen sehr wirkungsmächtigen Interpretationsrahmen handelt, der immer wieder als Zugang zu den einschlägigen Texten herangezogen wird, gerät seine Gültigkeit und Tragweite bei näherer Betrachtung gleichwohl ins Wanken. Als solches scheint es letztlich einen Sinn zu versprechen, der sich in einer entscheidenden Hinsicht in den philosophischen Texten nicht bestätigen lässt und diese somit in ihrem Sinnpotenzial zu überfordern droht. Es entsteht von daher der Verdacht, dass dieses Vorverständnis als leitender Interpretationsrahmen für die Erschließung des antiken chinesischen Denkens nicht geeignet ist.

2.

Das uneingelöste Sinnversprechen des Grundverständnisses

Geht es dem chinesischen Denken der Antike dem eben vorgestellten Grundverständnis zufolge vor allem darum, den Menschen in seinem gelebten Verhältnis zur Wirklichkeit auf bestimmte Wege und Möglichkeiten hinzuweisen und zu diesen anzuregen, so stellt sich über die bloße Zurkenntnisnahme dieser Grundausrichtung hinaus die Frage, welche Wege uns denn in den entsprechenden Texten genau aufgezeigt werden. Es liegt geradezu in der Konsequenz dieses Vorverständnisses, die Texte genauer auf ebendiese Wege hin zu beleuchten. Gerade an diesem Punkt droht der Sinnhorizont des hier thematisierten Interpretationsrahmens allerdings in Diskrepanz zu dem Sinnpotenzial der Texte zu geraten. Denn wirft man einen Blick auf die westliche sinologische Forschung, 29 so lassen deren Resultate die Möglichkeit einer ausführlicheren Herausarbeitung der Vorstellungen eines gelingenden Wirklichkeitsverhältnisses eher fraglich erscheinen. Mit der näheren Ausleuchtung der vorgeschlagenen Zugänge zu Insofern die vorliegende Studie im Rahmen der westlichen Chinaforschung ansetzt, sei in diesem Zusammenhang lediglich die westliche sinologische Literatur berücksichtigt.

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einer wirksamen Teilnahme an der Wirklichkeit scheint sich die westliche Sinologie bisher äußerst schwer getan zu haben. Sicherlich nehmen sinologische Studien das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit wiederholt in den Blick. Ob es ihnen dabei allerdings gelungen ist, dem Anspruch ihres eigenen Grundverständnisses des chinesischen Denkens gerecht zu werden und die empfohlenen Wege eingehender vorzustellen, sei hier bezweifelt. Wie der antiken chinesischen Philosophie zufolge genau auf die Wirklichkeit einzugehen ist, dies lassen die Forschungsergebnisse weitestgehend im Dunkeln. Damit aber stellt sich die Frage, ob dieses Grundverständnis den Texten nicht einen Sinn abverlangt, den sie nicht einlösen können. Von der Warte der sinologischen Forschung aus betrachtet, entsteht jedenfalls der Eindruck, dass sich nichts Genaueres hinsichtlich jener gelingenden Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen ausmachen lässt, dieses Grundverständnis mithin als allgemeiner Interpretationsrahmen das Sinnpotenzial der Texte nur begrenzt zu erschließen vermag. Zwischen dem Grundverständnis und dem damit antizipierten Sinnversprechen einerseits und den Texten und deren Auslegungen andererseits tut sich somit eine gefährliche Kluft auf, die das Grundverständnis in seiner Gültigkeit und Erschließungskraft zu unterminieren droht. Dass die Wege hin zu einem gelingenden Wirklichkeitsverhältnis auf der Grundlage der Texte bisher nicht näher herausgearbeitet wurden, sei im Folgenden an zwei maßgeblichen Sinologen verdeutlicht, welche sich von ebendiesem Grundverständnis leiten ließen und deren Studien angesichts der weiten Resonanz, die sie ausgelöst haben, ein repräsentativer Wert zukommt. Es handelt sich dabei um die Arbeiten von François Jullien und Roger Ames. Auch wenn diese Sinologen das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit im chinesischen Denken thematisieren, so wird an ihren Interpretationsversuchen deutlich, dass sie nicht über sehr allgemeine, textübergreifende Grundcharakterisierungen der Stellung des Menschen in der Welt hinausgekommen sind. Von einer ausführlichen Beleuchtung etwaiger lebenspraktischer Ratschläge kann hier kaum die Rede sein. Denn was uns die Texte nahelegen, ja, was sie letztlich mit uns vorhaben, konnten sie nur umrisshaft offenlegen. Wenden wir uns zunächst dem französischen Sinologen François Jullien zu. In der europäischen Tradition, so Jullien, stand die Orientierung an vorgegebenen Idealen (eidos) im Mittelpunkt der Erfahrung und Auslegung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses. Damit meint Jul27 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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lien, dass der Mensch in den Augen dieser Tradition stets dazu angehalten ist, sich in seinen Zuwendungen zur Umwelt an idealen Modellen auszurichten, um diese als bereits im Voraus bestimmte Ziele (telos) in seinen realen Lebensvollzügen umzusetzen. In der europäischen Welt, so der französische Sinologe, wurde also die Verwirklichung und Umsetzung festgelegter Ziele als Grundvollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses betrachtet. 30 Diese Ausrichtung an abstrakten Ideen und Modellen, denen gemäß man in die Welt einzugreifen hat, ist Jullien zufolge der chinesischen Tradition fremd geblieben. Hier sieht er das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit vielmehr auf eine »Opportunität des Momentes« 31 hin fokussiert. Anstelle der »Modellbildung« 32 und des direkten, gradlinigen Strebens nach vorgegebenen Zielen, die über die aktuelle Situation hinausweisen, wird in dieser Tradition das Handeln dem »Moment gemäß« 33 zum Angelpunkt menschlicher Wirklichkeitszuwendungen. Wie ist dies näher zu verstehen? Die Wirklichkeit, so Jullien, wurde in China vor allem unter dem Gesichtspunkt der Dynamik und des Werdens betrachtet und entsprechend als ein fortdauernder und allumfassender Wandlungsprozess erfahren. Einen Seinsbegriff oder eine Gottesidee, welche der Wirklichkeit ein festes und bleibendes Fundament verleihen würden, hat das chinesische Denken nicht entwickelt. 34 Das konkrete Wirklichkeitsgeschehen wurde nie auf eine ideale Ordnung hin betrachtet, deren Abbild oder Geschöpf es wäre. Ohne auf eine vorgegebene, hintergründig wirksame Ordnung zu verweisen, wird die naturwüchsige Welt hier vielmehr zu einem sich selbst hervorbringenden und sich selbst ordnenden Geschehen, das sich in Abwesenheit eines ontologischen Rückgrats in einem ständigen Wandel befindet. 35 Aus einem unerschöpflichen »Immanenzfonds« heraus bringt sich das Wirkliche in kontinuierlicher Transformation fortwährend aus sich selbst heraus von Neuem hervor. 36 Vgl. François Jullien: Traité de l’efficacité, S. 15; ders.: Un sage est sans idée, S. 13–19. François Jullien: Der Umweg über China, S. 111. 32 Ebd., S. 92. 33 Ebd., S. 183. 34 Vgl. ebd., S. 52, 108. 35 Vgl. ebd., S. 60 ff., sowie François Jullien: Traité de l’efficacité, S. 31. 36 Vgl. François Jullien: Der Umweg über China, S. 53, sowie ders.: Un sage est sans idée, S. 62 f. 30 31

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Nicht in einer hintergründig tragenden Dimension wurzelnd, deckt das innerweltliche Wirklichkeitsgeschehen nunmehr den gesamten Spielraum des Wirklichen ab. Die Aufmerksamkeit des Menschen hat sich von daher nicht mehr auf ein Jenseits, sondern ausschließlich auf den konkreten Lauf der Dinge selbst zu richten. Statt in kontemplativer Schau hinter und über der konkreten Wirklichkeit den ewigen Bau des Weltgebäudes zu erblicken, gilt es vielmehr, dem »Moment gemäß« in die Dynamik und Tendenz der je vorliegenden Situation hineinzufinden. Dies, so Julliens Interpretation, besagt, dass der Mensch das jeweilige »Situationspotenzial« 37 (shi 勢) für sich nutzbar zu machen hat, um sich von dem Drall des Wirklichkeitsspiels tragen zu lassen. 38 Nur so vermag er auf gedeihliche Weise an seiner Umwelt teilzunehmen. Die im westlichen Denken zentrale Zweck-Mittel-Beziehung, in der ein übergeordnetes Ziel die Richtung vorgibt, wird im chinesischen Denken durch die Nutzung der Dynamik und Tendenz der Umstände ersetzt. Der Hinwendung zu idealen Vorgaben tritt hier ein dezidiertes Eingehen auf die Immanenz des konkreten Wirklichkeitsgeschehens gegenüber. Sich vom Situationspotenzial tragen zu lassen, schließt darüber hinaus jeglichen »spektakulären Heroismus der Handlung« 39 aus. In Ermangelung vorgegebener Ideale, die es umzusetzen und zu verwirklichen gilt, ist der Mensch nicht mehr dazu aufgerufen, in einem souveränen Eingreifen in das Weltgeschehen seinen Willen in die Tat umund der Wirklichkeit aufzusetzen. 40 Die Einfindung des Menschen in eine wirksame Interaktion mit seinem Lebensumfeld spielt sich hier nicht auf der Ebene der Herstellung (poesis) und der eigenmächtigen Gestaltung ab, sondern hat vor allem aus und mit dem je vorliegenden Kontext, dessen Bewegung es aufzugreifen gilt, zu erfolgen. Letzten Endes ist von jeglicher eingreifenden Initiative abzusehen. 41 Nur in einer Selbstbeschränkung und der selbstlosen Öffnung für die situationsimmanente Tendenz vermag sich der Mensch dem Wirklichkeitsverlauf wirksam anzuschmiegen. Eigeninitiative droht hingegen, den tragenden Kontakt zum Lauf der Dinge zu unterbrechen. Versucht François Jullien: Der Umweg über China, S. 71. Vgl. François Jullien: Traité de l’efficacité, S. 32 f., sowie ders.: Der Umweg über China, S. 71. 39 Ebd., S. 50. 40 Vgl. etwa François Jullien: Traité de l’efficacité, S. 149 ff. 41 Vgl. François Jullien: La propension des choses, S. 11. 37 38

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man das Geschehen seinen eigenen Vorstellungen und Zielen gemäß zu kontrollieren, so wird man sich über die vorliegende Situation hinwegsetzen und sich damit notgedrungen den Zugang zu deren tragender Dynamik versperren. 42 Sich einem Wellenreiter ähnlich von dem Lauf der Dinge tragen zu lassen, ohne dabei vorgefertigten Plänen nachzujagen, darin besteht vor dem Hintergrund Julliens Interpretationsansatz der Weg hin zu einer gelingenden Teilnahme an der Wirklichkeit im chinesischen Denken. Das Einfinden in das Situationspotenzial und das Ausschöpfen dessen Wirksamkeit zeichnen hier das Grundgeschehen und den Grundvollzug menschlicher Wirklichkeitsverhältnisse aus. Lassen Julliens Studien demnach das Bild einer gelingenden Teilnahme des Menschen an den »zehntausend Dingen« in seinen Umrissen sichtbar werden, so bleiben nichtsdestotrotz zahlreiche Momente ungeklärt. Wie man in die Situation hineinfindet, auf welcher Ebene sich dieses Sich-Einlassen auf das situativ Gegebene vollzieht, d. h., welche menschlichen Fähigkeiten hierbei angesprochen sind, und wie sich das Getragenwerden vom Potenzial der Situation abspielt, diese Fragen werden nicht näher thematisiert. Sicherlich klingen weiterführende Hinweise zum Vollzug eines gedeihlichen Wirklichkeitsverhältnisses in Julliens Ausführungen an. Insofern sie aber nicht weiter präzisiert werden, tragen sie nicht erheblich zu einer genaueren Ausmalung der empfohlenen Wege bei. So deutet Jullien etwa darauf hin, dass dem gelingenden Einstieg in den Wirklichkeitsverlauf eine Einschätzung der situativen Tendenz vorauszugehen hat. 43 Diese gilt es frühzeitig, noch im Stadium ihres Entstehens, zu erspähen, um sich rechtzeitig auf sie einstellen und sodann mühelos in den Fluss der Ereignisse eintauchen zu können. 44 Wie man allerdings eine Situation angemessen einschätzt und was hier Einschätzen zu bedeuten hat, bleibt, so weit ich sehe, unbestimmt. Das Einschätzen wird wohl an anderer Stelle als ein intuitives Gewahren und Spüren präzisiert. 45 Dennoch wird dieser zusätzliche Hinweis eher unvermittelt erwähnt. Wie wir uns dieses intuitive Gewahren vorzustellen haben und wie es zu diesem kommt, wird nicht weiter herausgearbeitet. Ähnlich verhält es sich mit Julliens Hinweis, dass sich die Ein42 43 44 45

Vgl. François Jullien: Traité de l’efficacité, S. 33, 117. Vgl. ebd., S. 61 f. Vgl. ebd., S. 87 ff., 91 f., Vgl. François Jullien: La propension des choses, S. 89 f.

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findung in die Wirklichkeitsdynamik als ein Anpassen (conformer) vollzieht. 46 Auch hier bleibt der Sinologe weiterführende Ausführungen schuldig. Genauso wenig tragen die weiteren Hinweise auf die Ausschaltung des »Verlangens nach Initiative désir d’initiative« 47 oder etwa auf die Bewahrung von »Geschmeidigkeit souplesse« und »Disponibilität disponibilité« 48 zur Klärung des Vollzuges eines gelingenden Wirklichkeitsverhältnisses bei. Auch wenn es sich dabei um unabdingbare Haltungen handelt, die den Aufstieg auf die Wellen der Wirklichkeit allererst ermöglichen, so bleiben sie als solche gleichwohl weitestgehend unterbeleuchtet. Ungeklärt bleibt etwa, ob allein schon die bloße Aufgabe von Plänen und die alleinige Ablehnung jeglicher Form des Aktivismus eine gelingende Einfindung in die Wirklichkeit verbürgen und wie sich die Aufgabe von Plänen und die Außerkraftsetzung der Eigeninitiative vollziehen. Ist das Einnehmen dieser Haltung etwa mit dem Ausknipsen des Lichts oder dem Umdrehen eines Schalters vergleichbar? Auch hier gewinnt man den Eindruck, dass die Hinweise eher unvermittelt von Jullien in seine Auslegung eingeführt werden. Wie sich diese Momente darüber hinaus in den Gesamtvollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses integrieren, kommt ebenso wenig zur Darstellung. Wenn es demnach in den Schlussbemerkungen von La propension des choses zusammenfassend heißt, »Il n’y a pas, […] d’une part, le plan de la connaissance, de l’autre, celui de l’action: sage est celui qui, accédant à l’intuition du dynamisme impliqué dans le cours des choses […], se garde d’aller à son encontre et tend au contraire à le laisser oeuvrer – en toute situation – le plus complètement possible« 49, so bleibt man nach wie vor im Unklaren darüber, wie sich der Weg in ein wirksames Wirklichkeitsverhältnis genau darstellt. Der Weg zur Wirklichkeit muss von daher eher als ein Weg ohne Weg erscheinen. Man gewinnt sogar den Eindruck, dass es Jullien vielmehr um ein Denken des Weges geht, als darum, den Weg des Menschen hin zu einer gedeihlichen Partizipation an der Gesamtwirklichkeit als realen und realisierbaren Anspruch aufzuzeigen. 50 Sicherlich können Julliens Ausführungen als eine erste Umreißung der Vorstellung eines gelinVgl. ebd., S. 247. Ebd., S. 223. 48 François Jullien: Traité de l’efficacité, S. 56. 49 François Jullien: La propension des choses, S. 260 f. 50 Dem entspricht vermutlich, dass Jullien seine eigene Beschäftigung mit China stets »anti-exotisch und theoretisch« betrachtet hat (ders.: Der Umweg über China, S. 42). 46 47

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genden menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses in der antiken chinesischen Philosophie herangezogen werden. Dennoch reichen sie als solche nicht schon aus, um uns ein klareres Bild zu machen. Noch sind die von Jullien aufgezeigten Vollzüge zu verschwommen und schematisch, als dass sie eine Bestätigung des vorausgesetzten lebenspraktischen Anspruchs des antiken chinesischen Denkens darstellen könnten. Wäre mit Julliens Ergebnissen das letzte Wort gesprochen, so würden uns die Texte zu höchst Schleierhaftem anregen. Es würde sich um Vollzüge und Wege handeln, von denen wir eigentlich nicht so richtig wüssten, wie sie auszusehen haben. Ähnlich verhält es sich bei Roger Ames, dem zweiten hier berücksichtigten Sinologen. 51 Roger Ames teilt mit François Jullien zahlreiche Voraussetzungen zur Interpretation des klassischen chinesischen Denkens. Auch er geht davon aus, dass wir in den einschlägigen Texten mit einer Welt konfrontiert werden, in der die Wirklichkeit vorwiegend unter den Aspekten des Werdens und des Wandels in den Blick genommen wird. 52 Die »zehntausend Dinge wanwu 萬物«, so Ames, werden nicht als getrennte, substanzielle Entitäten ausgelegt, sondern vielmehr als »processes or events« 53, die sich in ständiger Transformation befinden. Dabei ist jedes Ding als Vollzug und Wandlungsprozess in ein Gewebe gegenseitiger Abhängigkeit eingelassen, aus dem heraus es seine jeweilige Wirklichkeit schöpft: »Thus, things are not objects, but foci within a continuous field of changing processes and events.« 54 Dinge vollziehen sich nicht in linearen und einbahnigen Entwicklungsabläufen, sondern stets aus gegenseitig sich bedingenden Bezogenheiten heraus. Als Vollzug ist das »Ding« demnach genauer als »transactional process« 55 zu verstehen, als ein Prozess, der sich in und mit seinem Umfeld vollzieht. Kann den »Dingen« somit kein eigenständiges Selbstsein zugeschrieben werden, existieren sie nie bloß für sich, sondern immer nur für- und miteinander, so bildet die Wirklichkeit in all ihren Momenten einen allumfassenden konkreativen Zusammenhang, in dem sich alles in einem »mutual Einen großen Teil seiner Studien hat Roger Ames gemeinsam mit dem Philosophen David Hall verfasst. Der Darstellung halber sei im Folgenden lediglich Roger Ames erwähnt. 52 Vgl. etwa Roger T. Ames: Focusing the Familiar. A Translation and Philosophical Interpretation of the Zhongyong, S. 8–11. 53 Ebd., S. 11. 54 Ebd., S. 10. 55 Ebd., S. 12. 51

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shaping of oneself and one’s communal context« 56 ausgestaltet und sich darin gegenseitig hervorbringt. 57 Diese Auslegung von Wirklichkeit bleibt nicht folgenlos für die Selbsterfahrung des Menschen. Insofern der Mensch nicht aus dem Rahmen der Wirklichkeit fällt, sondern mit allen Dingen die gleichen Grundeigenschaften teilt, gilt auch für ihn, dass er nur in einem konkreativen Kontakt mit der Wirklichkeit seine eigene Realität gewinnen kann. Er ist folglich, so Ames, als ein kontextuelles Selbst zu betrachten, das nicht nur maßgeblich durch die Qualität seiner Verhältnisse zu den Mitmenschen und der Wirklichkeit im Ganzen mitgeprägt wird, sondern damit einhergehend auch seinerseits sein jeweiliges Umfeld mitgestaltet. 58 Der Lebensvollzug des Menschen impliziert demnach »both the realization of the focal self and of the field of events, the realization of both particular and context« 59. Derartige Beziehungen gegenseitiger Realisierung durchdringen und tragen das menschliche Leben in all seinen Aspekten. Folgt man Ames’ Interpretationsansatz, so ergibt sich für den Weg hin zu einer gelingenden Teilnahme an der Wirklichkeit, dass sich diese nur in einem konkreativen Interaktionsprozess mit den jeweiligen Umfeldern realisieren kann. 60 Nur in einem lebendigen Zusammenspiel wird es dem Menschen gelingen, einen Wandel seiner selbst und des Umfeldes herbeizuführen, aus dem heraus sodann ein wirksames Beziehungsgeflecht entstehen kann. 61 Dies macht Ames’ Auslegung zufolge den Grundvollzug eines gelingenden menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses aus. Werfen Ames’ Ausführungen somit einiges Licht auf das uns hier interessierende lebenspraktische Anliegen des antiken chinesischen Denkens, so lässt sich das Gleiche reklamieren wie bei François Jullien. So anregend und verdienstvoll Ames’ Arbeiten auch sind, ein genaueres, plastischeres Bild der empfohlenen Wege zeichnen auch sie nicht. Auch sie kommen nicht erheblich über diese allgemeine Skizzierung hinaus. Wie sich dieses konkreative Wirklichkeitsverhältnis geEbd., S. 31. Vgl. ebd., S. 13. 58 Vgl. Roger T. Ames: Thinking from the Han. Self, Truth, and Transcendence in Chinese and Western Culture, S. 23–28. 59 Roger T. Ames: Focusing the Familiar. A Translation and Philosophical Interpretation of the Zhongyong, S. 32, 43. 60 Vgl. ebd., S. 31 f. 61 Vgl. ebd., S. 33. 56 57

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nauer vollzieht und was dabei alles geschieht, bleibt größtenteils ausgeblendet. Sicherlich liefert Ames weiterführende Hinweise. So weist er etwa darauf hin, dass ein konkreatives Wirklichkeitsverhältnis eine besondere Haltung voraussetzt, die er als Haltung der »deference« 62 bezeichnet. Damit ist eine Haltung der Rezeptivität gemeint, die darin besteht, sich der gegebenen Situation nicht aufzudrängen, sondern sich ihr zu öffnen und sich ganz auf sie einzulassen, indem man sich »in the place of what is to be known, to be acted in accordance with, or to be desired« 63 stellt. In diesem Zustand der Öffnung und Rezeptivität wird man mit gesteigerter Wachsamkeit an das Umfeld herantreten und die Dinge so spiegeln (mirror) können, wie sie sind, ohne ihnen durch Anwendung künstlicher Konzepte und vorgefertigter Vorstellungen Gewalt anzutun. 64 In dieser Offenheit vollzogen, werden sich menschliches Wissen, Handeln und Wollen angemessen in das naturwüchsige Wirklichkeitsgeschehen integrieren. Auch wenn Ames ferner darauf hinweist, dass dieses Spiegeln als »synergistic and responsive« zu verstehen ist und sich somit als ein Geschehen darstellt, »where all of the elements are in the stream and constitute a fluid interdependent continuity« 65, so bleibt nichtsdestotrotz unbestimmt, was damit in concreto gemeint ist und wie sich in diesem Spiegeln konkreative Verhältnisse einstellen. Verleiht uns Roger Ames einen ersten Eindruck der Vorstellung einer gelingenden Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen im Denken des antiken Chinas, so gelingt es seinen Ausführungen gleichwohl nicht, die von den Texten empfohlenen Wege dorthin genauer herauszustellen. Wäre es tatsächlich der Anspruch des chinesischen Denkens, den Menschen in bestimmte Bahnen zu lenken, so müsste sich wesentlich deutlicher aufzeigen lassen, wie diese letztlich aussehen. Andernfalls müsste dieser Denktradition vorgehalten werden, sie wäre sich selbst nicht im Klaren darüber, wohin sie den Menschen eigentlich führen will. Thematisieren die beiden Sinologen in ihren Interpretationsansätzen sehr wohl das menschliche Wirklichkeitsverhältnis, so deuten sie Roger T. Ames: Thinking from the Han. Self, Truth, and Transcendence in Chinese and Western Culture, S. 46. 63 Vgl. ebd. 64 Vgl. ebd., S. 49 sowie Roger T. Ames: Daodejing: »Making This Life Significant.« A Philosophical Translation, S. 34 f. 65 Roger T. Ames: Daodejing: »Making This Life Significant.« A Philosophical Translation, S. 42. 62

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Die Prüfung des Grundverständnisses

gleichwohl nur schemenhaft an, wie dieses Verhältnis im antiken chinesischen Denken genau ausgelegt wurde. Sie liefern lediglich allgemeine Charakterisierungen, die als solche nicht ausreichen, das vorausgesetzte lebenspraktische Anliegen der Texte vollständig zur Geltung zu bringen. Wird davon ausgegangen, dass die Texte den Menschen in seinen Zuwendungen zur Wirklichkeit anleiten wollen, so scheinen sie diese Erwartung nicht erfüllen zu können. Von daher liegt die Vermutung nahe, dass dieser Interpretationsrahmen die Intention der Texte nicht trifft.

3.

Die Prüfung des Grundverständnisses und die Frage nach dem Vollzug und Geschehen des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses

Droht das Grundverständnis des antiken chinesischen Denkens, das vor allem dessen lebenspraktischen Anspruch hervorhebt, in seiner Gültigkeit untergraben zu werden, so sei dessen Fragwürdigkeit nicht einfach hingenommen. Insofern dieser Interpretationsrahmen ein Vorverständnis in den Vordergrund rückt, das nicht nur die westliche Beschäftigung mit dem chinesischen Denken maßgeblich geprägt hat, sondern auch von chinesischer Seite immer wieder als heuristische Stütze herangezogen wird, 66 so scheint es angebracht, an dem aufgetauchten kritischen Punkt nachzuhaken und zu prüfen, ob das fragliche Grundverständnis die Texte tatsächlich überfordert. Es besteht nämlich die Möglichkeit, dass es den bisherigen Auslegungsversuchen der Sinologie nicht darum zu tun war, die in den Texten empfohlenen Wege hin zu einem gelingenden Wirklichkeitsverhältnis genauer zu fassen. Für diese Vermutung spricht, dass die eben betrachteten Studien nicht explizit nach solchen Wegen Ausschau gehalten haben. Sie sind vielmehr darum bemüht, die Stellung des Menschen in der Welt, wie sie sich im antiken chinesischen Denken darstellt, textübergreifend in ihren allgemeinen Grundzügen auszuloten und von westlichen Vorgaben abzuheben. Um zu klären, ob die Diskrepanz zwischen dem Grundverständnis und den Texten lediglich auf eine Lücke in der Forschung zurückzuführen ist, die sich schnell füllen lässt, oder ob das Grundverständnis tatsächlich auf der Grundlage der Texte nicht einzuholen ist, sei im Folgenden ver66

Siehe hierzu die in Punkt 1.2. angeführten Quellen.

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Ein problematisches Grundverständnis

sucht, die empfohlenen Wege hin zu einer gelingenden Teilnahme am Wirklichen mit aller Nachdrücklichkeit und Ausführlichkeit herauszuarbeiten. Für ein solches Vorhaben empfiehlt es sich erstens, die Untersuchung auf ein paar wenige Texte zu beschränken. Eine zu große Ausweitung des Textmaterials würde eine gründlichere Aufarbeitung der empfohlenen Wege schnell überlasten und den Rahmen des Machbaren sprengen. Zweitens sei die Frage nach den Wegen hin zu einem gelingenden Zusammenspiel zwischen dem Menschen und seiner Umwelt anders gewendet. Der Darstellung und Textinterpretation halber sei allgemeiner danach gefragt, wie das menschliche Wirklichkeitsverhältnis dem Vollzug nach in den einschlägigen Texten genauer verstanden und ausgelegt wurde. Diese Umformulierung bietet sich insofern an, als dass sie sich mit der Frage nach den vorgeschlagenen Wegen deckt. Die Beschreibungen und Auslegungen des Vollzuges des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses sind nämlich immer auch als Empfehlungen geeigneter Lebenswege zu betrachten. Indem die Texte das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen dem Vollzug und Geschehen nach auslegen, zeigen sie gleichzeitig die Wege zu dessen Gelingen auf. Zudem erlaubt uns diese allgemeiner formulierte Ausgangsfrage einen breiteren Blick auf die Texte zu werfen. Sie befreit uns von dem engen begrifflichen Rahmen, der mit den Ausdrücken »Weg« und »gelingend« vorgezeichnet wird. Nicht immer ist explizit von »Wegen« und einem »gelingenden« Wirklichkeitsverhältnis die Rede. Von der allgemeinen Frage nach dem Vollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses ist demgegenüber zu erwarten, dass sich aus dieser Perspektive wesentlich mehr und somit vor allem auch die implizit angedeuteten Hinweise bergen lassen, sodass ein runderes und ausführlicheres Bild eines gelingenden Wirklichkeitsverhältnisses des Menschen entstehen kann. Wie sich das menschliche Wirklichkeitsverhältnis dem antiken chinesischen Denken zufolge genau vollzieht und was dabei geschieht, dies bilden somit die Fragen, welchen die folgenden Ausführungen im Hinblick auf die Prüfung des Grundverständnisses nachgehen werden.

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4.

Der Zugang zum Vollzug und Geschehen des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses

4.1. Die Textauswahl Wie bereits erwähnt, wird die Prüfung des Grundverständnisses lediglich an ein paar ausgewählten Texten durchgeführt. Mit der Fokussierung auf eine begrenzte Textgrundlage geht sicherlich die Gefahr einher, dass sich die Aussagekraft der Überprüfung auf dieses Material reduziert. Dass einige Texte eine genauere Herausarbeitung des Vollzuges und des Geschehens des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses zulassen, impliziert nicht schon, dass dies auch auf andere Texte zutrifft. Insofern hier ein Grundverständnis geprüft wird, welches dem eigenen Anspruch nach das antike chinesische Denken als Ganzes anspricht, so ist von dem Prüfungsversuch zu erwarten, dass sich dessen Gültigkeit trotz der eingeschränkten Textgrundlage gleichwohl auf diese geistesgeschichtliche Periode insgesamt erstreckt. Dieser Gratwanderung zwischen der geforderten Präzision und der dazu notwendigen Beschränkung auf einzelne Texte einerseits und dem gleichzeitigen Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Prüfung andererseits soll mit einer gezielten Auswahl der Texte beigekommen werden. Drei Texte werden im Folgenden herangezogen: das Lunyu 論語, das Mozi 墨子 und das Daodejing 道德經. Von ihnen verspricht sich der folgende Prüfungsversuch die Erfüllung der doppelten Forderung nach Präzision und allgemeiner Gültigkeit. Inhaltlich fallen die Texte in dieselbe Entwicklungsphase des chinesischen Denkens. Zwischen der ausklingenden Zhou周-Zeit (11. v. Chr. – 5. Jh. v. Chr.) und der einsetzenden Zhanguo戰國-Zeit (Ende des 5. Jh. v. Chr. – 221 v. Chr.) angesiedelt, 67 bilden sie Zeugnisse einer tiefgreifenden Umbruchsphase. Es ist dies eine Zeit, in der man nicht mehr bedenkenlos auf das tradierte Welt- und Menschenverständnis zurückgriff. Vielmehr machten sich zunehmend Versuche bemerkbar, alten politischen und sozialen Strukturen neue Orientierungssysteme gegenüberzustellen bzw. Altes neu einzukleiden und einzubetten. 68 Sind das Lunyu, das Mozi und das Daodejing in dieser Übergangszeit zu verorten, so beschränkt sich ihre Auf die Texte wird im Teil II noch einmal einzeln in kurzen einleitenden Bemerkungen einzugehen sein. 68 Vgl. etwa Heiner Roetz: Die chinesische Ethik der Achsenzeit, S. 59–82. Siehe auch Xu Fuguan 徐復觀: Lianghan sixiangshi 兩漢思想史, S. 38–48. 67

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Bedeutung gleichwohl nicht auf diese Epoche der einsetzenden Pluralisierung der Orientierungsentwürfe. Als Zeugnisse einer Umbruchsphase weisen sie einerseits zurück auf die Zeit der Zhou 周 und tragen als solche weiterhin die Spuren ihrer geistesgeschichtlichen Herkunft in sich. Gleichzeitig sollten sie andererseits der weiteren Entwicklung des antiken chinesischen Denkens ihren eigenen Stempel aufdrücken und es in seinem Fortgang entscheidend prägen. Verweisen die Texte somit in beide Richtungen über sich hinaus, so kann ihnen unabhängig von ihrem besonderen historischen Entstehungsrahmen so etwas wie ein repräsentativer Wert für das antike chinesische Denken zugeschrieben werden. Entsprechend ist davon auszugehen, dass sich die Gültigkeit des Prüfungsversuches nicht auf diese Texte beschränkt, die Prüfung mithin, parallel zur angestrebten Genauigkeit, eine, wenn auch nicht streng allgemeine, so doch generelle Gültigkeit beanspruchen kann. Bilden das Lunyu, das Mozi und das Daodejing die Fenster, durch welche die Auslegung des Vollzuges des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses im antiken chinesischen Denken näher erschlossen werden soll, so wird der forschende Blick dabei durch einen zusätzlichen methodologischen Rahmen geleitet, von dem zu erwarten ist, dass er eine sachgemäße Annäherung an die Texte und die Thematik ermöglicht.

4.2. Die methodischen Ansätze Zur genaueren Herausarbeitung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses seien zwei methodische Ansätze herangezogen und miteinander verknüpft. Ausschlaggebend für die Wahl des ersten methodischen Ansatzes ist die Tatsache, dass die hier behandelten Texte, den Ausführungen in Punkt 1.2. entsprechend, ihre Vorschläge nicht in einer begrifflich gefassten, kohärenten Systematik vorbringen. 69 Vielmehr entfalten auch sie durch die Aneinanderreihung unterschiedlicher Diskursformen und somit stilistisch zwischen kurzen Sentenzen, kleinen Geschichten, Dialogen oder Metaphern, wechselnd Gesamtbilder Vgl. hierzu in Bezug auf das Lunyu Amira Katz-Goehr: »»The (True) Meaning of Xing Had Been Lost!« Words and Poetry in the Analects of Confucius«. In: Monumenta Serica (2006/54), S. 151–164, sowie in Bezug auf das Daodejing Hans-Georg Möller: Laozi (Lao-tze), S. 11–15. Dass auch das Mozi kein »systematisches« Werk darstellt, also auch hier keine Begründungsversuche anzutreffen sind, wird in Teil II deutlich werden. 69

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des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses. Eine genauere Herausarbeitung des Verständnisses und der Auslegung ebendieses Verhältnisses kann somit nicht auf der Ebene des Begriffes oder des bloßen Satzes ansetzen. Nicht Grundbegriffe, Argumente und systematische Grundlegungsversuche sind primär zu erschließen. Viel eher werden die mittels unterschiedlicher Diskursformen entworfenen Bilder des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses auf die darin aufgezeigten Vollzüge hin zu durchleuchten sein. Für eine derart auf Gesamtbilder ausgerichtete Texterschließung verspricht gerade die Hermeneutik des französischen Philosophen Paul Ricœur, einen angemessenen methodischen Ansatz bereitzustellen. Insbesondere der für seine Texthermeneutik zentrale Aspekt der »Welt des Textes monde du texte« scheint der Darstellungsart der hier herangezogenen Texte entgegenzukommen. Ricœur definiert den Text als einen schriftlich fixierten Diskurs. 70 Als schriftlich fixierter Diskurs ist der Text freilich nicht der mündlichen Rede nachgeordnet. Der Text, so betont Ricœur, ist keineswegs auf die bloße Aufzeichnung einer vorgängigen Rede zu reduzieren. Vielmehr ist er ein Diskurs von eigener Dignität. Anstatt ein vorgängiges mündliches Sagen lediglich schriftlich festzuhalten, bildet er einen eigenständigen, mit eigenen Mitteln vollzogenen Diskurs, d. h. einen Diskurs, der direkt in die Buchstaben eingeschrieben wird. 71 Der schriftlich fixierte Diskurs erfolgt somit nicht nach, sondern neben und anstelle der mündlichen Rede. Was geschrieben wird, wird eben nicht gesagt. Diese Kennzeichnung des Textes ist grundlegend für Ricœurs gesamte Hermeneutik, denn sie zieht entscheidende Konsequenzen nach sich. Bildet der Text einen eigenständig produzierten Diskurs und nicht die bloße Bewahrung einer zuvor mündlich geäußerten Rede, so führt dies zu einer Umwälzung des Verhältnisses des Textes zur Welt. Während sich die Referenz einer mündlichen Rede auf die aktuelle Situation des Sprechers bezieht, ihr Sinn mithin in einem Zeigen aufgeht, so gerät die direkte Referenz bei einem schriftlich durchgeführten Diskurs in die Schwebe. 72 Durch die schriftliche Ausführung des Diskurses wird dieser von der alltäglichen Gesprächssituation getrennt. Die Schrift hebt den unmittelbaren Bezug des Diskurses auf Außersprachliches 70 71 72

Vgl. Paul Ricœur: Du texte à l’action, S. 154. Vgl. ebd., S. 154–156. Vgl. ebd., S. 157.

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auf und verleiht dem Text damit eine dreifache semantische Autonomie: eine Autonomie hinsichtlich der Intention und des psychologischen Zustandes des Autors, eine Autonomie hinsichtlich des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontextes seiner Entstehung sowie eine Autonomie hinsichtlich der Adressierung an ein ursprüngliches historisches Publikum. 73 Die Suspendierung der direkten Referenz bewirkt allerdings – und damit kommen wir zur »Welt des Textes« –, dass der Text seine eigene Welt entwerfen kann. Verweist der Text nicht mehr direkt auf die unmittelbare Situation des Autors, so wird er nicht wie die mündliche Rede in der Realität der je vorliegenden Dinge aufgehen und in ihr verschwinden. Durch die Aufhebung der direkten Referenz und den dadurch erzeugten Abstand von der aktuellen Wirklichkeit kann der Text eine eigene Realität 74 und damit eine eigene »Objektivität objectivité« 75 entwerfen, die dem Leser als Weltvorschlag, als »proposition de monde« 76, entgegentritt. Anders gesagt: Der Text entfaltet als schriftlich fixierter Diskurs eine Welt, die nicht unmittelbar auf unsere alltägliche Wirklichkeit verweist, sondern zunächst nur als eine vom Text entworfene, mögliche Welt auftritt. 77 Dies bedeutet keineswegs, soviel sei in diesem Zusammenhang präzisierend hinzugefügt, dass die Welt des Textes in gar keinem Bezug mehr zur Wirklichkeit stünde, die in ihr entworfenen Möglichkeiten mithin keine realen Möglichkeiten mehr wären. Die vom Text entfaltete Welt ist nicht dermaßen fiktiv, dass sie mit unserer gewohnten Realität keine Gemeinsamkeiten mehr aufweisen würde. 78 Sie ist keine in einen luftleeren Raum hinein projektierte Welt. Vielmehr unterzieht die Welt des Textes, wie etwa der Roman, die vorgegebene Realität einer schöpferischen Neubeschreibung. 79 Als solche Umgestaltung der uns bekannten Realität bleibt der Text gleichwohl unserer natürlichen Lebenswelt verhaftet. Um überhaupt umgestalten zu können, muss er, zwischen bloßer Abbildung und bezugloser, freier Sinnschöpfung, die uns bekannte Welt in ihren Grundstrukturen berücksichtigen und in seinen eigenen Weltentwurf aufnehmen. Dass 73 74 75 76 77 78 79

Vgl. ebd., S. 124–125. Vgl. ebd., S. 158. Ebd., S. 141. Ebd., S. 128. Vgl. ebd., S. 141. Vgl. ebd., S. 127. Vgl. ebd., S. 20–21; ders.: Temps et récit I. L’intrigue et le récit historique, S. 108–125.

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sich der Weltvorschlag des Textes nicht vollkommen von der Realität loslöst, tritt auch daran zutage, dass Texte uns ein tieferes Verständnis unserer eigenen Lebenswelt ermöglichen. 80 Als Umschreibung der gewohnten Welt vermögen Texte Dimensionen der Wirklichkeit aufzudecken, die von unserem Alltagsverständnis unbeachtet bleiben. Ein Text ohne jeglichen Bezug zur faktischen Realität würde eine solche Rückbindung nicht zulassen. Er wäre ein schier unverständliches Sinngebilde. Entwirft der Text seine eigene Objektivität und damit eine Welt, die sich aufgrund ihrer Autonomie von den Bedingungen ihrer Entstehung gelöst hat, so kann die Aufgabe der Hermeneutik nicht mehr in dem romantischen Projekt einer Erfassung und Nachbildung der psychologischen Intentionen des Autors bestehen. 81 Der Arbeit am Text ist es nunmehr vor allem darum zu tun, die Welt des Textes und die darin vorgestellten Möglichkeiten menschlichen Daseins zu erschließen. 82 Nicht mehr den Autor und dessen historisches Umfeld, sondern den Weltvorschlag des Textes gilt es zum Sprechen zu bringen. Die Erschließung der Welt des Textes ist deshalb möglich, weil sich der Text als schriftlich fixierter Diskurs durch seinen Werkcharakter auszeichnet. Insofern der Text eine direkte Verschriftlichung eines Diskurses bildet, gewinnt der Diskurs eine spezifische Äußerlichkeit. Durch die Schrift wird der Diskurs zu einem Werk und damit zu einer Einheit, welche die Satzgröße überschreitet und bestimmten Kodifizierungen unterliegt, d. h. sich in spezifische literarische Gattungen einordnen lässt. Aufgrund seines Werkcharakters bildet der Text – auch wenn er wie im Falle der hier behandelten Texte in einer Zusammenwürfelung verschiedener Diskursformen besteht – eine wie auch immer strukturierte Einheit. 83 Die Ganzheit und Strukturiertheit eines jeden Textes ermöglichen allererst die Rekonstruktion dessen Weltvorschlages. Sie erlauben durch Zergliedern, Gegeneinanderstellen und Neukombinieren der unterschiedlichen Sinnmomente, die Welt des Textes in ihren mannigfaltigen immanenten Sinnzusammenhängen durchsichtig zu machen. Als derartige »Textwelten« sollen auch die hier herangezogenen chinesischen Texte behandelt werden. Insofern es diesen Texten weni80 81 82 83

Vgl. ders.: Du texte à l’action, S. 127 f. Vgl. ebd., S. 161 f. Vgl. ebd., S. 128. Vgl. hierzu ausführlicher ebd., S. 120–124.

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ger um strenge Begriffsarbeit und lückenlose Argumentationsläufe geht, als vielmehr um die Ausmalung anschaulicher Gesamtbilder des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses, so scheint Ricœurs Theorie der »Welt des Textes« als methodischer Ausgangspunkt besonders geeignet. Denn werden das Lunyu, das Mozi und das Daodejing über die Ebene begrifflicher und argumentationslogischer Zusammenhänge hinaus als einheitliche »Welten« angegangen, so ist zu erwarten, dass sie dadurch allererst in ihrer Eigenschaft als Gesamtbilder menschlicher Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen zur Geltung gebracht und aufgearbeitet werden können. Dieser erste methodische Ansatz, der vor allem die Grundeinstellung betrifft, aus der heraus im Folgenden die chinesischen Texte als Texte angegangen werden, ist auf inhaltlicher Ebene durch einen zweiten Ansatz zu ergänzen. Zur genaueren Beleuchtung der »Textwelten« empfiehlt es sich nämlich vor dem Hintergrund unserer Fragestellung, eine phänomenologische Perspektive einzunehmen. Nur eine solche erweist sich als geeignet, auf inhaltlicher Ebene unseren Blick für die Sache, d. h. für den Vollzug und das Geschehen des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses, zu schärfen. In einem sehr weiten Sinne geht es der Phänomenologie, mit den Worten Eugen Finks, um die Wiederherstellung der »ursprüngliche[n] Nähe zum Seienden« 84. Als solche strebt sie nach einer neuen Unmittelbarkeit des Seienden, einem erneuerten, ursprünglich erfahrenden Verhältnis zur Welt. 85 Dieser Versuch der Wiedergewinnung einer authentischen Seinsnähe ist dadurch motiviert, dass wir gewöhnlich durch das blinde Einverständnis mit vorgegebenen Auslegungen dessen, was Welt ist und wie unser Bezug zu ihr aussieht, unserer anfänglichen, unmittelbaren Seinserfahrung verlustig geworden sind. Die Art, die Dinge zu sehen, ist durch unhinterfragt übernommene Meinungen, Traditionen und Gewohnheiten, wie sie z. B. in den Naturwissenschaften oder der Metaphysik tradiert werden, verdunkelt und verstellt. 86 Von daher gilt es sich aus den Fängen gültig scheinender Setzungen und tradierter Auslegungen bezüglich unserer Wirklichkeitserfahrungen zu befreien und sie auf ein wiederherzustellendes »ursprüngliches Wissen« 87 hin zu durchbrechen. 88 84 Eugen Fink: »Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls.« In: Studien zur Phänomenologie 1930–1939, S. 191. 85 Vgl. ebd., S. 192. 86 Vgl. ebd., S. 192 f.

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Diesen Durchbruch versucht die Phänomenologie nicht durch eine genaue Inblicknahme der sich zeigenden Gegenstände selbst zu erreichen, sondern durch eine gezielte Hinwendung zu unserem lebendigen Erfahren, in dem sich die Gegenstände allererst als solche zeigen. Sämtliche Seinsbestimmungen des welthaft Gegenständlichen bilden sich aus phänomenologischer Sicht erst im subjektiven Erfahren heraus. Hier ist die Quelle des Sinnes jeglichen Seienden anzusiedeln. Nichts ist »etwas«, das nicht etwas von mir Erfahrenes – etwas Gedachtes, Gefühltes, Phantasiertes, Bewundertes usw. – wäre. 89 Kommen demnach die Weisen unseres Erfahrens für die Bestimmtheit des Wirklichen auf, so kann eine ursprüngliche Nähe zum Seienden nur wiederhergestellt werden, wenn das Wie des Gegebenseins der Gegenstände, die Vollzüge unseres Welterfahrens also, vom Ballast übernommener Seinsauslegungen befreit und in ihrer ganzen Ursprünglichkeit aufgedeckt und zugänglich gemacht worden sind. Die Ursprünglichkeit des Gegebenseins von Seiendem ist also nur im Rückbezug auf unser subjektives Erleben, d. h. nur über eine abbauende, geradezu archäologische Reflexion auf unser eigenes welterfahrendes Leben, zu erreichen. 90 Der Gang der phänomenologischen Reflexion bildet somit einen Weg der Selbstbesinnung, in der versucht wird, hinter den naiven Setzungen und wissenschaftlichen Idealisierungen die vorprädikativen, ursprünglichen Vollzüge aufzudecken, in denen das Gegenständliche sich seinem Sinn nach konstituiert. Dort, im vor aller objektiven Seinsauffassung liegenden »Welt-erfahrende[n] Leben« 91, kann sich die gesuchte ursprüngliche Seinserfahrung wieder einstellen. Auch wenn es dem antiken chinesischen Denken weniger um die Aufdeckung der Grundvollzüge der Seinsbestimmung und der Konstitution des welthaft Gegenständlichen geht, so spielen die Richtung und der Anspruch des phänomenologischen Blickes dem hier verfolgten Anliegen dennoch gleichsam zu. Zunächst geht es in beiden Fällen vorEbd. S. 194. Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, S. 25, sowie Dermot Moran: Introduction to Phenomenology, S. 4. 89 Vgl. hierzu ausführlicher Karl-Heinz Lembeck: Einführung in die phänomenologische Philosophie, S. 26–29. 90 Vgl. Klaus Held: Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, S. 6, sowie Eugen Fink: »Das Problem der Phänomenologie Edmund Husserls«, S. 199, 219. 91 Klaus Held: Ebd., S. 3. 87 88

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nehmlich um Vollzüge: in der Phänomenologie um die Vollzüge sinnhafter Weltkonstitution, im chinesischen Denken um die Vollzüge einer gedeihlichen Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen. Sodann sind die Phänomenologie und das antike chinesische Denken gleichermaßen an unserem lebendigen Erfahren interessiert. Sie richten sich an unsere konkreten, erfahrungsmäßigen Weltzuwendungen, die sie aufklären und neu zur Geltung bringen wollen. Ob die Phänomenologie die Vollzüge der Weltkonstitution zu enthüllen beabsichtigt, oder das chinesische Denken Vollzüge einer gelingenden Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen vorzustellen gedenkt, so wird jeweils von begrifflichen Konstruktionen und objektivierenden Setzungen abgesehen, um direkt unser lebendiges Erfahren zu befragen. 92 Vor dem Hintergrund dieser Parallelen bietet sich für unser Vorhaben ein phänomenologischer Blickwinkel als methodischer Ansatz geradezu an. Aufgrund ihrer Ausrichtung auf das Erfahrungsmäßige bildet die phänomenologische Grundeinstellung für die genauere Herausarbeitung der Vollzüge des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses im Lunyu, Mozi und Daodejing einen geeigneten Ausgangspunkt. Der phänomenologische Blick hält uns dazu an, bei der Erkundung dieser Textwelten von den dort zum Ausdruck kommenden lebendigen Erfahrungen auszugehen und diese auf die in ihnen implizierten Vollzüge hin zu beleuchten. Auf diese Weise ist zu erwarten, dass Aspekte der Auslegungen des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses in den Blick geraten, die in einer philologischen und rein begriffslogisch arbeitenden Betrachtung unbeachtet blieben. Die Texthermeneutik Paul Ricœurs und die phänomenologische Perspektive stellen somit den methodologischen Rahmen bereit, innerhalb dessen die genauere Herausarbeitung des Vollzuges und Geschehens des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses erfolgen soll. Um mögliche Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, sind abschließend noch folgende allgemeine Anmerkungen vorauszuschicken.

5.

Allgemeine Anmerkungen

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die nachfolgenden Ausführungen von zwei Spannungen durchzogen werden, die zwar nicht explizit 92

Vgl. auch Mathias Obert: Welt als Bild, S. 27 f.

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Allgemeine Anmerkungen

thematisiert werden, so doch deren Gang entscheidend mitbestimmen. Die erste Spannung ist allgemein hermeneutischer Natur und bezieht sich darauf, dass die anschließenden Interpretationen an eine lange Auslegungstradition anzuknüpfen haben. Auch wenn die hier behandelten Texte einem anderen Kulturraum entstammen, so begegnen sie uns, angesichts der längst geleisteten Deutungen, gleichwohl immer schon als bereits bearbeitete Sinngebilde. 93 Von diesem Sachverhalt kann auch die vorliegende Studie nicht absehen. Sie hat soweit wie möglich die Auslegungsgeschichte der Texte zu berücksichtigen und die vorhandenen westlichen und chinesischen sinologischen Vorarbeiten einzubeziehen. Die Interpretationen erfolgen demnach nicht von einem absoluten Nullpunkt aus. Sie setzen vielmehr in medias res, in einem bereits begonnenen Gespräch ein, über das sie sich nicht hinwegsetzen können. Trotz der Anknüpfung an die Auslegungsgeschichte werden sie freilich bis zu einem gewissen Grad über die bereits durchgeführten Auslegungen hinausgehen müssen; schließlich gilt es das Sinnpotenzial der Texte neu herauszureizen. Dies bedeutet, dass die Textarbeit teilweise neu ansetzt, um unabhängig von den oben erwähnten Sinologen und der Kommentartradition bisher unbeachtete Aspekte der Textwelten in den Blick zu bekommen. 94 Die zweite Spannung hängt damit zusammen, dass hier ein »fremdes« Denken zur Debatte steht. Sicherlich bleiben die folgenden Auslegungsversuche auf unhintergehbare Weise in Abhängigkeit vom »Hier« des Interpreten, der mit seinen – bewussten sowie unbewussten – Vororientierungen und Vorannahmen die genauere Erschließung der Texte mitprägt. 95 Nie lassen sich Texte unabhängig von eigenen Projektionen und Antizipationen in einem ahistorischen Zustand unberührter Jungfräulichkeit erfassen. Gleichwohl ist dafür zu sorgen, dass die Andersheit des antiken chinesischen Denkens gewahrt bleibt. 96 Begegnen uns die Texte immer schon in einer bestimmten Nähe, d. h. als mehr oder weniger bekannt und verstanden, so ist diese Nähe und Vertrautheit gleichzeitig zu durchbrechen und ein gesundes Maß an Ferne zu bewahren, um zu verhindern, dass ihre Andersheit gänzlich im EiVgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 305–312. Dabei kann nicht in jedem Fall explizit hervorgehoben werden, inwiefern von den Standardinterpretationen abgewichen wird. 95 Vgl. etwa Paul Ricœur: Du texte à l’action, S. 169–176; Stephan Schmidt: Die Herausforderung des Fremden. Interkulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken, S. 109. 93 94

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genen und bereits Bekannten aufgeht. Diese Spannung wird auch die folgenden Ausführungen durchziehen. Sie kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass die Interpretationen in eine Sprache und Terminologie gegossen werden, die immer noch befremdlich genug sind, um nicht den Anschein einer restlosen, klaren Erschließung zu erwecken. 97 Neben diesen beiden Spannungen ist zudem hervorzuheben, dass die Textinterpretationen keineswegs auf Vollständigkeit hin angelegt sind. Sie beabsichtigen nicht, ein endgültiges Bild des Vollzuges und Geschehens des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses zu liefern, sondern versuchen lediglich, einige Texthinweise aufzugreifen und ihnen zu folgen, um so ein genaueres Bild dieses Vollzuges und Geschehens zu zeichnen. Insofern die Texte das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit nicht systematisch im Rückgriff auf eine eigens dafür bereitgestellte Begrifflichkeit erörtern, droht dabei die Gefahr einer willkürlichen Auswahl der Hinweise. Um dieser Gefahr so weit wie möglich vorzubeugen, wurden einerseits nur besonders markante und hervorstechende Anhaltspunkte einbezogen, d. h. Hinweise, die sich auf zentrale Themenfelder der jeweiligen Texte beziehen und sich darüber hinaus durch andere Textstellen untermauern lassen. Andererseits wurden vorrangig Aspekte berücksichtigt, die dazu beitragen, ein mehr oder weniger kohärentes Bild des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses entstehen zu lassen. Was die Darstellung betrifft, so werden die einzelnen Aspekte als ineinander übergehend aufbereitet. Die unterschiedlichen Momente des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses werden nicht als einzelne Bausteine betrachtet, aus denen sich das menschliche Wirklichkeitsverhältnis zusammensetzen würde, sondern als unterschiedliche Facetten desselben Verhältnisses, die allesamt aufeinander verweisen. Aufgrund der linearen Darstellungsweise konnte den wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Vollzugsmomente allerdings nur begrenzt Rechnung getragen werden. Es ist von daher stets zu berücksichtigen, dass jedes Moment sowohl auf die nachfolgenden Momente verweist als auch die vorangegangenen bestätigt und präzisiert. Wie oben ausgeführt, werden die folgenden Texte nicht in begriffslogischer Absicht betrachtet. Dem Vollzug des menschlichen Vgl. hierzu Stephan Schmidt: Ebd., S. 127. Siehe ebenfalls Ram Adhar Mall: Philosophie im Vergleich der Kulturen, S. 78 ff. 97 Vgl. hierzu auch Stephan Schmidts Unterscheidung zwischen »eingängiger« und »widerständiger Übersetzung« (ebd., S. 235–239). 96

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Allgemeine Anmerkungen

Wirklichkeitsverhältnisses wird eher von größeren linguistischen Einheiten aus, jenseits des einzelnen Zeichens, nachgegangen. Wird das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen somit nicht an einzelnen Kernbegriffen, wie etwa dao 道 oder li 禮, festgemacht, so werden philologisch-historische Erläuterungen zu diesen Begriffen in den Hintergrund treten. Die entsprechenden Begriffe werden vielmehr umgekehrt erst von der Auslegung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses aus in den Blick geraten. Die folgenden Ausführungen verstehen sich von daher als eine Lektüre »zweiten Grades« 98, die bereits eine Vertrautheit mit den Texten und deren zentralen Begriffen voraussetzt und somit eher kommentierend eingreift. Abschließend ist noch zu erwähnen, dass sich zahlreiche Textstellen mit ihren Aussagen vor allem an die Herrscher und die herrschende Elite richteten. Sie nämlich waren in der Regel die eigentlichen Adressaten der Texte. Sicherlich wird auch in den folgenden Textanalysen immer wieder vom Herrscher die Rede sein. Gleichwohl soll versucht werden, das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen als ein allgemeinmenschliches darzustellen, d. h. als ein Verhältnis, das alle Menschen gleichermaßen betrifft und alle gleichermaßen ansprechen soll.

98

Vgl. Paul Ricœur: Temps et récit I. L’intrigue et le récit historique, S. 68.

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Teil II Die Überprüfung

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A. Das Lunyu

1.

Einleitende Bemerkungen

Von Konfuzius ist keine eigenhändig verfasste Schrift überliefert. Der Text des Lunyu 論語 wurde erst nach dem Tod des Meisters zusammengestellt. Während lange Zeit die Auffassung vertreten wurde, das Textmaterial gehe auf wortgetreue Notizen und Aufzeichnungen direkter Schüler des Konfuzius zurück, 1 so wurde diese Ansicht in der späteren, vor allem qing-zeitlichen Textkritik allmählich angezweifelt. 2 In der Zwischenzeit geht die Fachwelt davon aus, dass der Text aus chronologisch disparaten Textschichten besteht, in die Aufzeichnungen unterschiedlicher Herkunft eingeflossen sind. 3 Die genaue Autorschaft dieser Niederschriften sowie deren Datierung sind heute jedoch nicht mehr ermittelbar. Auf inhaltlicher Ebene deutet lediglich die Tatsache, dass Problemfelder wie das Herz (xin 心) oder die grundlegenden menschlichen Eigenschaften (xing 性), die in späteren philosophischen Werken So hält Ban Gu 班固, darin Liu Xiang 劉曏 und He Yan 何晏 folgend, im Yiwenzhi 藝 文志 des Hanshu 漢書 fest, dass einige Schüler des Konfuzius unmittelbar nach dem Tod ihres Lehrers zusammengekommen seien, um ihre Notizen »zu sammeln und zu einem Text zu kompilieren 輯而論篡« (zitiert nach Yang Bojun 楊伯峻 (Hrsg.): Lunyu yizhu 論語譯註, S. 25). Vgl. auch Michael Loewe (Hrsg.): Early Chinese Texts: A Bibliographical Guide, S. 314. Zur Textgeschichte des Lunyu siehe Michael Loewe (Hrsg.): Ebd., S. 315–319. 2 Vgl. Edward Slingerland: Confucius Analects, S. XIII. 3 Vgl. Michael Loewe (Hrsg.): Ebd., S. 314, sowie Edward Slingerland: Confucius Analects, S. XIV. Von der Heterogenität des Textmaterials zeugen vor allem die schwer zu erklärenden Redundanzen sowie weitere auffällige Ungereimheiten. Zu diesen Unstimmigkeiten, welche den tradierten Text durchziehen, siehe etwa Yang Bojun 楊伯峻 (Hrsg.): Lunyu yizhu 論語譯註, S. 26 ff. Aufgrund der verworrenen Textlage sind textkritische Fragen immer wieder zum Gegenstand zahlreicher Auseinandersetzungen geworden. Einen kurzen Überblick über das Spektrum dieser Kontroversen liefert Edward Slingerland: Confucius Analects, S. XIV. 1

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Das Lunyu

wie dem Zhuangzi 莊子, dem Mengzi 孟子 oder dem Xunzi 荀子 in den Mittelpunkt rücken sollten, im Lunyu nur am Rande thematisiert werden, darauf hin, dass die Einträge nicht später als das frühe 4. Jh. v. Chr. redigiert worden sind. 4 Können die im textus receptus überlieferten Äußerungen des Konfuzius angesichts dieser problematischen Textlage kaum noch als authentische Wiedergabe seiner ursprünglichen Lehre gelesen werden, so ist der hier beabsichtigte Versuch einer genaueren Auskundschaftung der »Welt des Lunyu« im Hinblick auf die in ihr ausgelegten Vollzüge des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses damit gleichwohl nicht schon zum Scheitern verurteilt. Einerseits ist zu unterstreichen, dass der überlieferte Text trotz seiner Heterogenität keineswegs in zusammenhangslose Fetzen zerfällt. Als solcher stellt er weiterhin eine, wenn auch nicht streng durchkomponierte, so doch insgesamt in sich kohärente thematische und stilistische Einheit dar. Andererseits liefert das Lunyu keinerlei explizite Hinweise dafür, dass gerade die hier leitende Frage nach dem Verständnis des Vollzuges und Geschehens des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses in irgendeiner Hinsicht Gegenstand offener Kontroversen zwischen den Anhängern Konfuzius’ gewesen wäre. Die Annahme einer alle Textschichten durchziehenden, einheitlichen Grunderfahrung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses bildet von daher eine gerechtfertigte Ausgangsvoraussetzung. Im Hinblick auf das hier verfolgte Anliegen ist zunächst hervorzuheben, dass das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt keine systematische Erörterung im Lunyu erfährt. Das überlieferte Material lässt somit nur eine indirekte Aufarbeitung dieses Verhältnisses zu. Als Ausgangspunkt eines solchen indirekten Zugangs bietet sich eine vorgängige Betrachtung der dem Text zugrunde liegenden Erfahrung von Wirklichkeit überhaupt an. Insofern nämlich das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit im Mittelpunkt unseres Vorhabens steht, ist davon auszugehen, dass eine genauere Betrachtung des Verständnisses ebendieser Wirklichkeit Rückschlüsse auf die Auslegung des Verhältnisses des Menschen zu ihr zulässt. Bevor also das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen ein erstes Mal seinem Vollzug und Geschehen nach in den Blick geraten kann (Punkt 3), sei zunächst im folgenden Punkt 2 dieser größere Rahmen abgesteckt. Die über diesen Umweg gewonnene erste Grundcharakterisierung des Vollzuges des mensch4

Vgl. hierzu auch Edward Slingerland: Confucius Analects, S. XV.

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lichen Wirklichkeitsverhältnisses wird sodann im weiteren Verlauf der Ausführungen ab Punkt 4 in sukzessiven Schritten weiter herauszuarbeiten und näher zu entwickeln sein.

2.

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2.1. Der Himmel Verspricht das Verständnis von Wirklichkeit eine indirekte Annäherung an die Auslegung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses, so stößt man auch auf dieser thematischen Ebene auf ein Problem des Zugangs. Statt explizites Thema von Konfuzius’ Lehre zu sein, bildet das Verständnis von Wirklichkeit vielmehr einen vorausgesetzten Hintergrund, der nicht ausdrücklich zur Sprache kommt. Auch das Wirklichkeitsverständnis des Lunyu ist somit nur auf indirektem Weg erschließbar. Ein solcher lässt sich indessen schnell ausmachen. Vor allem die das Lunyu durchziehende Vorstellung des Himmels (天 tian) vermag das beanspruchte Verständnis von Wirklichkeit hervorzukehren. Wenn Konfuzius etwa in 8.19 erklärt, »Nur der Himmel ist wahrlich groß 唯天為大«, 5 und es an gleicher Stelle vom legendären Herrscher Yao 堯 heißt, dass er sich in seinem Handeln nur nach ihm ausgerichtet hat (ze 則), so wird der Himmel im Lunyu als eine der grundlegendsten Dimensionen der Wirklichkeit verbucht. Dementsprechend hat Konfuzius auch in seinem eigenen Leben dem Himmel höchste Bedeutung beigemessen. Nicht nur bildete die Beschäftigung mit dem Himmel, nach eigenem Bekunden, ein entscheidendes Moment in seiner persönlichen Entwicklung. 6 Er pflegte sogar eine geradezu intime Beziehung zu ihm. 7 Bezieht sich der Himmel demnach auf den vermutlich fundamentalsten Aspekt der Realität, so ist davon ausBei der Übertragung ins Deutsche wurden folgende Übersetzungen berücksichtigt: Richard Wilhelm (Übers.): Konfuzius Gespräche (Lun-yü). München, 2006; Edward Slingerland (Übers.): Confucius Analects. Indianapolis, 2003; D. C. Lau (Übers.): Confucius. The Analects. Harmondsworth, 1979; Qian Mu 錢穆: Lunyu xinjie 論語新解. Beijing 北 京, 2005, sowie Yang Bojun 楊伯峻 (Hrsg.): Lunyu yizhu 論語譯註. Beijing 北京, 2005. Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe Yang Bojuns 楊伯峻. 6 Vgl. Lunyu 2.4. 7 Vgl. hierzu Lunyu 3.13, 6.28, 7.23, 9.5, 11.9. 5

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zugehen, dass eine Beleuchtung dieses Konzeptes näheren Aufschluss über das leitende Wirklichkeitsverständnis des Lunyu gibt. Im Hinblick auf das Himmelsverständnis des Lunyu ist zunächst festzuhalten, dass, trotz der offenbaren Bedeutsamkeit des Himmels, die Äußerungen des Meisters zu tian äußerst spärlich und knapp geblieben sind. In seiner Hochschätzung des Himmels brachte er diesem gleichzeitig eine behutsame Reserviertheit entgegen; eine Reserviertheit, die sich gerade darin niederschlug, dass er sich nicht auf ausgedehnte Ausführungen und Erläuterungen einließ. War Konfuzius mit Stellungnahmen zum Himmel nicht besonders großzügig, so geben die wenigen überlieferten Bemerkungen gleichwohl einige Hinweise auf sein Verständnis von tian – ja, vielleicht ist sogar gerade seine Zurückhaltung aussagekräftiger, als es zunächst scheinen mag. Unter den überlieferten Äußerungen Konfuzius’ sticht vor allem ein kurzer Dialog aus dem Kapitel Yang Huo 陽貨 hervor, der uns einen entscheidenden Fingerzeig hinsichtlich seiner Vorstellung vom Himmel gibt. Der besagte Dialog verläuft wie folgt: Der Meister sprach: »Am liebsten möchte ich nicht reden.« Daraufhin bemerkte Zi Gong: »Wenn Sie, Meister, nicht reden, was haben wir Schüler dann noch weiterzugeben?« Der Meister antwortete: »Redet etwa der Himmel? Die vier Jahreszeiten gehen ihren Gang, alle Dinge wachsen heran. Redet dabei etwa der Himmel?« 子曰:»予欲無言。«子貢曰:»子如不言,則小子何述焉?«子 曰:»天何言哉?四時行焉,百物生焉,天何言哉?« (17.19)

Relevant für unsere Frage nach Konfuzius’ Verständnis von tian 天 ist zunächst, dass vom Himmel gesagt wird, er spreche nicht. Der Himmel, so Konfuzius, zeichnet sich gerade durch eine auffällige Wortlosigkeit aus. Dies, so geht gleichzeitig aus diesem kurzen Austausch zwischen Zi Gong und dem Meister hervor, ist allerdings keineswegs dahingehend zu verstehen, dass der Himmel in einem radikalen Schweigen und somit in einer gänzlichen Wortlosigkeit verharre. Der Himmel »spricht« wohl, allerdings nicht in hörbaren Worten, die aus einem Jenseits erhallen würden, sondern, wie in der zitierten Stelle nahegelegt wird, in den Abläufen des Naturgeschehens selbst. Nur hier in den mannigfaltigen Vollzügen des realen Wirklichkeitsgeschehens, etwa im Gang und Wechsel der Jahreszeiten oder in den Wachstumsprozessen, ist er zuge54 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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gen, und nur hier ist er erfahrbar. 8 Was der Himmel darüber hinaus an sich ist, diese Frage bleibt in diesem Dialog ausgeklammert. Nicht einmal ansatzweise unternimmt Konfuzius hier – wie übrigens im gesamten Lunyu – den Versuch, den Himmel als getrennte Entität in den Blick zu nehmen und zu bestimmen. 9 Fürs Erste kann also festgehalten werden, dass der Himmel im Lunyu alles andere als eine in sich ruhende Größe bildet, die sich unabhängig vom erfahrbaren Wirklichkeitsgeschehen als solche abgrenzen und umreißen ließe. Tian verweist nicht auf ein Anderswo, von dem her und auf das hin das Gewühl der mannigfaltigen innerweltlichen Bewegungen allererst seine Wirklichkeit erlangen würde. Der Himmel ist etwas »Nicht-Anderes« 10 und als solches nur im konkreten Wirklichkeitsgeschehen wirklich. 11 Die Hochschätzung, welche Konfuzius dem Himmel entgegenbringt, kann sich dementsprechend nicht auf eine transzendente Sphäre richten. Vielmehr bleibt seine Ehrfurcht (wei 畏) 12 vor dem Himmel am naturwüchsigen Wirklichkeitsgeschehen selbst haften. 13 Wie aber, so lässt sich weiterfragen, ist die Realpräsenz des Himmels näher zu verstehen? Auch in dieser Frage liefert uns das obige Gespräch einen weiterVgl. hierzu etwa Meng Peiyuan 蒙培元: Meng Peiyuan jiang Kongzi 蒙培元講孔子, S. 41 f.; Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuanxingpian 中國哲學原論。 原性篇, S. 115; Roger Ames, Henry Rosemont (Übers.): The Analects of Confucius: A Philosophical Translation. A New Translation Based on the Dingzhou Fragments and Other Recent Archaeological Finds, S. 47. 9 Vgl. Xu Fuguan 徐復觀: Zhongguo renxinglunshi 中國人性論史, S. 88 f. 10 Vgl. zu dieser Wortbildung Heinrich Rombach in Die Welt als lebendige Struktur, S. 97–122. 11 Es sei in diesem Zusammenhang nur angedeutet, dass andere Stellen, in denen der Himmel als getrennte Entität thematisiert zu werden scheint (vgl. Lunyu 3.13, 3.24, 6.28, 7.23, 9.5, 11.9), keineswegs dem hier vorgeschlagenen Interpretationsansatz widersprechen. Wenn sich Konfuzius etwa in 11.9 nach dem Tod seines Lieblingsschülers Yan Yuan 顏淵 beklagt, »Der Himmel verlässt mich 天喪予!«, so kann der Himmel auch hier auf das konkrete Wirklichkeitsgeschehen hin gelesen werden. Der frühe Tod Yan Yuans wäre demnach als Indiz dafür zu lesen, dass der Lauf der Dinge Konfuzius’ Plänen zuwiderläuft. Yan Yuan war für Konfuzius eine wichtige Stütze (vgl. hierzu die Kommentare in Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Lunyu jishi 論語集釋, S. 757 f.). Mit seinem Tod verschlechterte sich die Gesamtlage des Meisters somit erheblich. Der Himmel kann in diesem Zusammenhang durchaus auf eben diesen herben Verlust bezogen werden. Hier bezeichnet tian demnach keine jenseitige Gewalt, sondern bezieht sich allein auf den innerweltlichen Lauf der Dinge als solchen. Auf die weiteren Stellen kann in diesem Rahmen im Einzelnen nicht eingegangen werden. 12 Vgl. Lunyu 16.8. 8

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führenden Hinweis. Aus dem Dialog geht nämlich zugleich hervor, dass für Konfuzius der Himmel vornehmlich in den Wirklichkeitsvollzügen zutage tritt. Im Wachsen etwa oder im Wechsel der Jahreszeiten erscheint er unmittelbar anwesend. Nicht in der bloß ausgedehnten, statischen Sichtbarkeit der Wirklichkeit tritt er uns entgegen, sondern gleichsam zwischen den mannigfaltigen Wirklichkeitsabläufen. Der Himmel ist demnach im Verlauf und in der Wirksamkeit des Wirklichkeitsgeschehens selbst real präsent. 14 Das Wachsen der Pflanzen sowie der Wechsel der Jahreszeiten sind in ihren jeweiligen Vollzugsweisen und -qualitäten als unmittelbare Verkörperungen und lebendige Selbstausdrücke des Himmels zu betrachten. In und mit jedem Wirklichkeitsvollzug wird der Himmel auf je unterschiedliche und je neue Weise – als Wachsen oder als Jahreszeitenwechsel etwa – aktuell erwirkt; und als solcher ist er unmittelbar anwesend. Diese Grunderfahrung des Himmels findet sich im Kapitel Zi Han 子罕 bestätigt. Dort wird von Konfuzius berichtet, er habe sich im Anblick eines Flusses einmal, wie folgt, geäußert: »So fließt alles dahin, wie dieser [Fluss], ohne Halt, Tag und Nacht 逝者如斯夫。不捨晝 夜.« 15 Folgt man den song-zeitlichen Auslegungen Cheng Yis 程颐 und Zhu Xis 朱熹, so kommt in dieser Szene, obwohl hier nicht explizit vom Himmel die Rede ist, gleichwohl zum Ausdruck, dass sich der Himmel für Konfuzius in den konkreten Wirklichkeitsvollzügen unmittelbar verkörpert vorfindet. 16 Dass Konfuzius seinen Blick nicht vom Lauf des Wassers abwendet, sondern seine Aufmerksamkeit ganz auf ihn richtet, deutet darauf hin, dass der Himmel für ihn im fließenden Wasser selbst unmittelbar präsent und wirklich ist. 17 Konfuzius Vgl. hierzu Meng Peiyuan 蒙培元: Meng Peiyuan jiang Kongzi 蒙培元講孔子, S. 51 f. 14 Vgl. Zhu Xis 朱熹 Kommentar in Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 212, sowie Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuanxingpian 中國哲學原論。原性篇, S. 115. 15 Lunyu 9.17. 16 So bemerkt Cheng Yi 程頤: »Der Lauf des Wasser ist unaufhörlich […], er verkörpert den Weg [d. h. den Himmel] 水流而不息 […] 與道為體« (Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 132). Das endlose Fließen wird also als unmittelbarer Ausdruck der Wirksamkeit des Himmels (tian de 天德) verstanden. Vgl. auch Zhu Xi 朱熹: Zhuzi yulei 朱子語類, S. 973 ff. Es ist allerdings in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Stelle 9.17 bis zur Tang唐-Zeit vor allem auf die Vergänglichkeit alles Wirklichen hin, gleichsam als memento mori, gelesen wurde. Vgl. hierzu die entsprechenden Kommentare in Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Lunyu jishi 論語集釋, S. 611. 13

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kann sich nämlich deshalb ganz auf das Spiel des Wassers einlassen, weil im Fließen des Wassers, also im konkreten Wandel der Wirklichkeit (tiandi zhi hua 天地之化), 18 bereits alles zugegen ist. Er braucht sich nicht über das Wirklichkeitsgeschehen zu erheben, um sich in reiner Spekulation dem Himmel anzunähern. Der Anblick der Vollzugsqualität des fließenden Wassers reicht aus, um dem Himmel in einer bestimmten Ausprägung unmittelbar gewahr zu werden (yi jian 易見). 19 Von hier aus gewinnt sodann die oben erwähnte Redescheu des Konfuzius in Bezug auf den Himmel ihre besondere Bedeutung. Denn dass von Konfuzius keine Worte (yan 言) über den Weg des Himmels (tiandao 天道) zu vernehmen sind, 20 ist letzten Endes die natürliche Konsequenz seines eben skizzierten Himmelsverständnisses. Wird der Himmel nicht als hinter allem waltender ontologischer Fixpunkt erfahren, der über die Vollzugsweisen der »zehntausend Dinge« hinaus in einem Jenseits einholbar wäre, so kann Konfuzius ihn unmöglich zum Thema einer herausstellenden, vergegenständlichenden Rede machen. Die Verwandlung des Himmels in den souveränen Klang menschlicher Begrifflichkeit muss sogar Gefahr laufen, den Himmel zu etwas zu machen, was er nicht ist: ein in Identität verharrendes Seiendes. Jedes sprachliche Vermessen droht demnach unmittelbar in Vermessenheit umzuschlagen. Die Zurückhaltung des Konfuzius hinsichtlich der sprachlichen Thematisierung des Himmels ist somit nicht als eine bloße Laune des Meisters zu verstehen. Seine Behutsamkeit entspricht vielmehr seinem eigenen Verständnis vom Himmel, ja, eine solche scheint diesem allererst gerecht werden zu können. 21 Konnte Konfuzius’ Vorstellung vom Himmel damit kurz umrissen werden, so ist sogleich weiterzufragen, was daraus für das uns interesVgl. hierzu auch Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuanxingpian 中國 哲學原論。原性篇, S. 115 f. 18 Vgl. Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 132. 19 Ebd., S. 132. 20 Vgl. Lunyu 5.13. 21 Die Schweigsamkeit des Konfuzius darf allerdings nicht als eine absolute Absage an jegliche Beschäftigung mit dem Himmel verstanden werden. Dem widerspricht alleine schon die hervorragende Bedeutung, welche der Himmel für Konfuzius gespielt hat. Wenn Zi Gong 子貢 also darauf hinweist, es seien von Konfuzius keine Worte (yan 言) über den Weg des Himmels (tiandao 天道) zu vernehmen (5.13), so will er damit keineswegs hervorheben, dass Konfuzius jegliche explizite Beschäftigung mit dem Himmel 17

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sierende Wirklichkeitsverständnis im Lunyu folgt; eine derartige Auffassung des Himmels wird dieses jedenfalls nicht unberührt lassen.

2.2. Das Wirklichkeitsverständnis Zunächst kann vor dem Hintergrund des eben Ausgeführten festgehalten werden, dass sich das Wirkliche auf den realen, aktuell sich vollziehenden Lauf der Dinge beschränkt. Lässt sich kein Himmel als scheut. Dies (bu yu 不語) tut er lediglich in Bezug auf widernatürliche Phänomene, Gewalt, Unordnung und geheimnisvolle Kräfte (7.21). Zi Gong stellt indessen nur fest, dass man Konfuzius’ »Worte in Bezug auf […] den Weg des Himmel nicht zu Ohren bekommt 夫子之言 […] 天道不可得而聞也« (5.13). Damit rückt hier nicht so sehr die Frage in den Mittelpunkt, ob Konfuzius sich mit dem Himmel beschäftigt oder nicht. Dass er dies tut und auch etwas zu »sagen« hat, setzt Zi Gongs Aussage eigentlich schon voraus. Zi Gong behauptet streng genommen nicht, dass Konfuzius sich gar nicht äußert, sondern nur, dass seine Worte nicht zu hören sind. Es scheint also hier eher um die Frage zu gehen, wie Konfuzius sich äußert und welcher Art seine »Worte 言« sind. Analog zum Himmel ist demnach auch Konfuzius’ Schweigen kein absolutes. Zi Gong weist vielmehr darauf hin, dass Konfuzius’ Ausdrucksform, wie die des Himmels, nicht die der »hörbaren Worte« ist. Vgl. hierzu Meng Peiyuan 蒙培元: »Kongzi tianren zhi xue de shengtai yiyi 孔子天人之學的生態意義«. In: Zhongguo zhexueshi 中國哲學史 (2002/2), S. 22, sowie Han Byung-Chul: Abwesen. Zur Kultur und Philosophie des Fernen Ostens, S. 130 ff. Vor diesem Hintergrund sei auch darauf hingewiesen, dass das Urteil, für das Lunyu lasse sich nicht mal als »stillschweigende Hintergrundannahme« ein »kosmologisches Denken« unterstellen (Heiner Roetz: Konfuzius, S. 41 f.), missverständlich ist. Ein explizites kosmologisches Denken, dem ist zuzustimmen, lässt sich im Lunyu nur schwer ausmachen. Dies darf allerdings nicht dahingehend verstanden werden, die Einbettung des Menschen in den Kosmos sei für Konfuzius kein Thema gewesen. Er bekundet wohl ein lebendiges kosmologisches Interesse. Schenkt man dem Kapitel Kongzi xianju 孔子 閑居 des Liji 禮記 Glauben, so muss sogar davon ausgegangen werden, dass Konfuzius die kosmischen Bewegungen als Orientierungen für das menschliche Handeln angesehen hat (Wang Wenjin 王文錦 (Hrsg.): Liji yijie 禮記譯解, S. 752). Dort antwortet er auf die Frage Zi Xias 子夏, was die drei Formen der Unparteilichkeit (wu si 無私) sind, mit folgendem Hinweis: »Der Himmel bedeckt alles ohne eigennützige Parteilichkeit, die Erde trägt alles ohne eigennützige Parteilichkeit, Sonne und Mond bestrahlen alles ohne eigennützige Parteilichkeit 天無私覆,地無私載,日月無私照«. Das kosmische Geschehen wird hier mit den Bewegungen von Himmel und Erde von Konfuzius offensichtlich zur orientierenden Instanz erklärt, die den Menschen bei der Auslegung der obersten moralischen Prinzipien und somit bei der Prüfung seines moralischen Selbstverständnisses leiten kann. Dieses kosmologische Interesse wendet sich bei Konfuzius allerdings zu keinem Zeitpunkt in ein kosmologisches Denken, das sich in einer herausstellenden, systematischen Rede artikulieren würde.

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getrennte ontologische Spindel hinter dem konkreten Wirklichkeitsspektakel ausmachen, ist der Gang der Dinge also nicht das bloße Beispiel einer ihn hervorbringenden jenseitigen Instanz, so impliziert das naturwüchsige Wirklichkeitsgeschehen nichts Zusätzliches außerhalb seiner selbst. Die konkret erfahrbare Realität wird somit in all ihren Abläufen zum Inbegriff der Wirklichkeit. In ihr ist bereits alles unmittelbar zugegen. Wenn Konfuzius demnach im Kapitel Aigong wen 哀公 問 des Liji 禮記 bemerkt, »Die endlos aufeinander folgenden Bewegungen des Mondes und der Sonne von Ost nach West, dies ist der Weg des Himmels 如日月東西相從而不已也,是天道也« 22, oder, wie oben angeführt, im Anblick des fließenden Wassers dessen unaufhörlichen Lauf erwähnt, so hat er damit bereits alles gesagt. Denn hinter oder über diesem Geschehen ist keine weitere Wirklichkeit auszumachen. Restlos geht die Wirklichkeit im lebendigen Zusammenspiel der innerweltlichen Prozesse auf. Unterliegt das konkrete Wirklichkeitsgeschehen demnach keiner stabilen, ordnenden Instanz, so folgt zweitens, dass es gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen wird. Damit ist gemeint, dass ohne ontologisches Rückgrat und vorgegebenen Rahmen die Wirklichkeit als ein sich selbst tragendes und fortführendes Geschehen zu betrachten ist, in dem alles aus sich heraus ineinandergreift und zusammenfindet. 23 Das Wirklichkeitsgeschehen wird somit zu einem selbstbezüglichen Geschehen, das nicht von außen durch eine bewegende und kontrollierende Kraft geleitet wird. Entsprechend charakterisiert Konfuzius in der eben angeführten Stelle des Kapitels Aigong wen 哀公問 des Liji 禮記 den Weg des Himmels (tian dao 天道) und damit das Wirklichkeitsgeschehen insgesamt auch als ein »nicht geregeltes Geschehen, in dem alle Vorkommnisse von selbst hervorgehen 無為而物成« 24. Der Wirklichkeitslauf ist nicht die bloße Wiederholung und Aktualisierung eines bereits feststehenden Programms. Wirklichkeit geschieht, d. h., sie ist in jedem Moment ihres Vollzuges ein tatsächlich sich vollziehender Artikulierungsprozess. In Ermangelung eines übergeordneten Rahmens, so eine dritte Folge, wird in einem sich selbst vollziehenden Wirklichkeitsgeschehen zudem die Differenz zwischen dem Ganzen und dem Teil hinfällig. Es Wang Wenjin 王文錦 (Hrsg.): Liji yijie 禮記譯解, S. 739. Vgl. Meng Peiyuan 蒙培元: Meng Peiyuan jiang Kongzi 蒙培元講孔子, S. 41 f., 52. 24 Wang Wenjin 王文錦 (Hrsg.): Liji yijie 禮記譯解, S. 739. Vgl. hierzu auch Guo Qiyong 郭齊勇: Zhongguo zhexueshi 中國哲學史, S. 26. 22 23

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gibt hier kein Ganzes, das über oder außer den Einzelmomenten stehen würde. Das Ganze wird vielmehr allein durch die Einzelmomente konstituiert. Dieses Zusammenfallen von Ganzem und Teil besagt sowohl, dass das Ganze in jedem Einzelvollzug präsent ist, als auch, dass jeder Einzelvollzug nur im Ganzen, d. h. im Verein mit allen anderen Einzelvollzügen, Bestand haben kann. Nicht nur trägt also jedes Einzelmoment das Ganze, jedes Wirklichkeitsvorkommnis gewinnt zudem erst über alle anderen Vorkommnisse seine Realität. Aufgrund dieser Verschränkung von Ganzem und Teil steht sich dann auch nichts gleichgültig gegenüber. Alles ist in ein durchgängiges Beziehungsgeflecht eingelassen, in dem jedes Element in gegenseitiger Bedingung seine jeweilige Bestimmtheit erhält. Kein Moment des Gesamtgeschehens kann mithin einen exklusiven, alle anderen Momente ausschließenden Stellenwert beanspruchen. Was nur durch seine Bezogenheiten zum Ganzen wirklich ist, dem kann keine souveräne Eigenständigkeit, keine wesenhafte Identität zugeschrieben werden. Verweist in diesem Sinne alles gleichermaßen auf das Ganze und ist somit das Ganze in jedem Einzelmoment realisiert, so ist die Wirklichkeit als ein durch und durch relationales Geschehen zu verstehen. Relationalität, nicht Substantialität, ist der Grundcharakter alles Wirklichen. Wirklichkeit, so hat sich herausgestellt, wird demnach im Lunyu auf das konkrete, naturwüchsige Wirklichkeitsspiel beschränkt und dabei als ein sich selbst tragendes, durch und durch relationales Geschehen charakterisiert. Von hier aus gerät nun auch das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen ein erstes Mal in den Blick.

3.

Eine erste Bestimmung

3.1. Das Wirklichkeitsverhältnis als Ausformungsgeschehen Entscheidend für eine erste Annäherung an das menschliche Wirklichkeitsverhältnis ist, dass der Mensch im Lunyu in Bezug auf die Gesamtwirklichkeit lediglich als ein Moment unter anderen betrachtet wird. Er ragt nicht als Krone der Schöpfung hervor, sondern steht in einer Kontinuität mit allem Wirklichen. 25 Wird dem Menschen kein Sonderstatus eingeräumt, so teilt er mit allem die gleichen Grundmerkmale. Aus der Auffassung von Wirklichkeit als immanentes, sich selbst bewegendes, relationales Geschehen ergibt sich somit für den Menschen, dass auch 60 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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Eine erste Bestimmung

er nur in seiner Relationalität zu seiner Umwelt thematisiert werden kann. Der Mensch ist bei Konfuzius somit nie nur »für sich« Mensch – weder aufgrund eines ihm innewohnenden individuellen möglichen Wesens noch hinsichtlich eines Eidos, an dem er teilhat. »Für sich« betrachtet, muss der Mensch sogar gänzlich unbestimmt bleiben, denn als solcher ist er nichts. Dem entspricht, dass Konfuzius nie zu einer allgemeinen Wesensdefinition des Menschen ausholt, um ihn von allem anderen Seienden abzuheben. Auch wenn sich zwischen den mannigfaltigen Lebensvollzügen der Menschen zahlreiche Gemeinsamkeiten beobachten lassen, 26 so lässt sich der Meister gleichwohl nicht zu allgemeinen Aussagen hinreißen. Zu keinem Zeitpunkt versucht er, diese Gemeinsamkeiten auf wesenhafte, vom tatsächlichen Leben gereinigte Grundmerkmale des Menschen hin auszulegen. 27 Eignet dem Menschen demnach keine bereits vorbestimmte wesenhafte Identität, liegt mithin keine ontologische Abstufung zwischen vorgegebenem Wesen und konkretem Lebensvollzug vor, so gewinnt er, wie alle anderen Vorkommnisse in der Welt, seine Wirklichkeit allein aus den Beziehungen, die er zu seiner jeweiligen Umwelt eingeht. Mensch ist der Mensch also nur, sofern er sich in der Wirklichkeit bewegt und sich auf sie einlässt. Nur im Kontakt mit seiner Lebensumgebung kann er Bestimmtheit, Gestalt und Konturen finden und so zu einem greifbaren Menschen werden. Unabhängig von den Umständen und seinen Beziehungen zu diesen wird er sich hingegen unmittelbar in seiner Wirklichkeit und Bestimmtheit auflösen. Daraus folgt des Weiteren, dass der Mensch nur auf je einmalige Weise und in je andersgearteten Gestalten Mensch werden kann. Gewinnt er erst von den jeweiligen Lebensumständen her seine Bestimmtheit, so wird er unweigerlich in seiner Entfaltung von der Besonderheit seines Lebensumfeldes mitgeprägt werden. Der Mensch ist von daher Vgl. etwa Meng Peiyuan 蒙培元: »Kongzi tianren zhi xue de shengtai yiyi 孔子天人 之學的生態意義«. In: Zhongguo zhexueshi 中國哲學史 (2002/2), S. 21–28. 26 Darauf wird unten weiter einzugehen sein. 27 Vgl. Xu Fuguan 徐復觀: Zhongguo renxinglunshi 中國人性論史, S. 89. Selbst die Stellen 3.8, 6.18, 12.8 oder 15.18, die Anlass geben können, dem Menschen im Lunyu angeborene wesenhafte Auszeichnungen zuzuschreiben (vgl. etwa. D. C. Lau: Confucius. The Analects, S. 41), legen nicht zwingend eine solche »essentialistische« Lektüre nahe. Vgl. hierzu etwa Chong Kim-Chongs Beitrag »The Aesthetic Moral Personality: Li, Yi, Wen, and Chih in the Analects«. In: Monumenta Serica 46 (1998), S. 79 ff. Für eine eingehende Interpretation dieser Stellen müsste allerdings weiter ausgeholt werden, was den Rahmen dieser Studie bei Weitem sprengen würde. 25

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immer nur ein mit den konkreten Umständen geronnener Je-Dieser, und dies auf unhintergehbare Weise: Denn als Je-Dieser gewinnt jeder Mensch von Geburt an Gestalt, und zwar als zhi 質, als ursprüngliche aus der Welt hervorgegangene und immer schon auf einmalige Weise mit ihr verwobene stofflich-geistige Komplexion. 28 Jeder Mensch verkörpert mithin eine je besondere Ausprägung menschlichen Lebens (xing 性). 29 Mit diesen kurzen Ausführungen ist aber implizit auch das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen seinem Vollzug und Geschehen nach ein erstes Mal in seiner ganzen Spannweite hervorgetreten. Im Wirklichkeitsverhältnis des Menschen geht es nicht um die bloße Verwirklichung und Umsetzung einer bereits vollständig ausgefaltet vorliegenden Idee des Menschen, geschweige denn um eine der Erkenntnis verpflichteten Überschreitung des konkreten Wirklichkeitsgeschehens Zhi 質 wird hier nicht als angeborene charakterliche Veranlagung verstanden, die sich auf die Eigensphäre des Einzelnen beschränken würde. Angesichts der fundamentalen Relationalität alles Wirklichen soll zhi, im Gegensatz zu Interpreten wie Herbert Fingarette (Confucius – the Secular as Sacred, S. 3) oder neuerdings Edward Slingerland (Confucius Analects, S. 240), vielmehr als immer schon mit dem je gegebenen Lebensumfeld verwobene stofflich-geistige Formung interpretiert werden. 29 Dass sich das Zeichen xing 性 auf die jeweiligen Ausprägungen menschlichen Lebens bezieht, klingt etwa in Zheng Xuans 鄭玄 Kommentar zu 5.13 an. Für ihn bedeutet xing 性, dass »der Mensch bei der Geburt einen [je besonderen] Lebensatem erhält [und aufgrund dieser Ausstattung] ein hervorragender oder einfältiger, ein glücklicher oder unglücklicher Mensch ist 人受血氣以生,有賢愚吉凶« (Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Lunyu jishi 論語集釋, S. 320). Xing bezeichnet also die Eigenheit eines Menschen, d. h. die besondere Ausprägung menschlichen Lebens, welche jeder Mensch verkörpert. Siehe hierzu auch die Kommentare zu 17.2 in Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Lunyu jishi 論語 集釋, S. 1181, sowie im Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 207. Nicht ein abstraktes wesenhaftes Menschsein, das allen Menschen gleichermaßen zukommt, ist hier Thema, sondern der Mensch in einer konkret verkörperten, geradezu »plastischen« Ausformung seiner selbst. Von daher soll xing im Folgenden als »Ausprägung menschlichen Lebens« wiedergegeben werden. Dem hier gewählten Interpretationsansatz entspricht zudem, dass, worauf Dan Robinson hingewiesen hat, xing in der Vor-Han-Zeit als etwas erfahren wurde, auf das man einwirken kann. So ist etwa schon im Kapitel Zhaogao 召誥 des Shangshu 尚書 von einer Regulierung (jie 節) von xing 性 die Rede (Ruan Yuan 阮元 (Hrsg.): Shisanjing zhushu 十三經注疏, S. 213). Genauso kann xing aber auch »geschützt/bewahrt bao 保« (vgl. Chunqiu zuozhuan 春秋左傳: Zhao 昭 8.1 in Yang Bojun 楊伯峻 (Hrsg): Chunqiu zuozhuan zhu 春秋左傳注, S. 1300, sowie Zhuangzi 莊子: Tiandi 天地 in Chen Guying 陳鼓應 (Hrsg.): Zhuangzi jinzhu jinyi 莊子今註今譯, S. 332), »genährt yang 養« (vgl. Lüshi chunqiu 呂氏春秋: Benxing 本性 in Chen Qiyou 陳奇猷 (Hrsg.): Lüshi chunqiu 呂氏春秋新校釋, S. 21), »verloren shi 失« (vgl. Chunqiu zuozhuan 春秋左傳: Zhao 昭 28

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hin zu den allgemeinen Strukturen des Seins. Nicht Verwirklichung und Erkenntnis haben hier zu »geschehen«, sondern die je einmalige Wirklichwerdung und Ausformung des Menschen im Kontakt mit den konkreten Umständen. Bahnt sich das menschliche Leben allererst im Zusammenspiel mit seiner Lebensumgebung seinen Weg, so wird das Wirklichkeitsverhältnis für den Menschen, was der Wind für den Flug der Taube ist, nämlich der »Ort« und die Möglichkeit seiner Lebensentfaltung. Seinem Grundgeschehen nach kann das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen demnach richtungweisend als ein auf je einmalige Weise im Kontakt mit den konkreten Lebensumfeldern sich vollziehendes Ausformungsgeschehen bestimmt werden. Dabei ist präzisierend hervorzuheben, dass die Einmaligkeit eines jeden Lebensvollzuges keineswegs bedeutet, dass dieser nunmehr zu einem schier unvergleichbaren Prozess wird, der sich im unbestimmbar Partikularen verliert. Zwischen den mannigfaltigen Ausprägungen menschlichen Lebens lassen sich sehr wohl Überlappungen ausmachen. Filigran zeichnen sich zwischen ihnen gemeinsame Weisen ab, wie sich Menschen in das Wirklichkeitsgeschehen einfügen. Einige Einträge des Lunyu weisen auf eine derartige gemeinsame Orientiertheit menschlicher Lebensvollzüge hin. So scheinen etwa die zwischenmenschlichen Beziehungen aus einer begrenzten Menge an möglichen Zugehörigkeitsverhältnissen zu bestehen, in denen sich das Leben eines jeden abspielt. Zi Lu 子路 etwa spricht in 18.7 von den »großen zwischenmenschlichen Beziehungen da lun 大倫«, die von den Kommentatoren durchgehend als die fünf konfuzianischen Kardinalbeziehungen (wulun 五倫) 30 identifiziert wurden. Ähnlich kennzeichnet Zhu Xi 朱熹 in seinem Kommentar zu Lunyu 1.7 die dort erwähnten vier zwischenmenschlichen Beziehungen als »die bedeutendsten der zwischen25.3 in Yang Bojun 楊伯峻 (Hrsg): Chunqiu zuozhuan zhu 春秋左傳注, S. 1457) oder gar »beschädigt bing 病« (vgl. Xunzi 荀子: Xunzi jijie 荀子集解, S. 413) werden. Vgl. hierzu Dan Robins: The Debate over Human Nature in Warring States China, S. 26–33. Was derart beeinflusst werden kann, verweist wohl kaum auf eine wesenhafte, außerzeitliche Entität, sondern muss als etwas »Konkret-Plastisches« erfahren worden sein. Erhält jeder Mensch eine je individuelle Gestalt, so sind auch die unzähligen Gesprächspartner des Konfuzius in ihren individuellen Stilen, im Konzert der Wirklichkeit mitzuspielen, als lebendige Beispiele einmaliger, aus den Umständen heraus gewachsener – und immer noch wachsender – »Ausprägungen menschlichen Lebens« zu betrachten. Dies gilt nicht zuletzt für Konfuzius selbst. Er tritt mitnichten als exemplarischer Mensch auf. Vielmehr verkörpert er eine einmalige Art und Weise, Beziehungen zu Schülern, Machthabern und der Natur zu leben und zu gestalten.

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menschlichen Beziehungen 人倫之大« 31. An anderer Stelle wird der Mensch sogar in seiner Lebensweise explizit von den wilden Tieren abgehoben, womit ihm indirekt eine eigene Lebensform zugeschrieben wird. 32 Die je einmaligen Ausgestaltungen menschlichen Lebens drohen mithin keineswegs in zusammenhangslose Einzelvollzüge zu zersplittern. Weisen die unterschiedlichen Lebensvollzüge gemeinsame Grundzüge auf, so sind diese gleichwohl nicht von ihrem jeweiligen Vollzug selbst zu trennen, d. h., sie verweisen nicht auf ein getrenntes, vorgegebenes Menschsein. Vielmehr beziehen sie sich auf Gemeinsamkeiten, die nur in und mit jedem einzelnen menschlichen Lebensvollzug zum Vorschein kommen. Es handelt sich somit bei diesen Gemeinsamkeiten lediglich um nachträglich beobachtete, ausschließlich in und zwischen den faktischen Lebensvollzügen sich abzeichnende Grundzüge menschlichen Lebens. Entsprechend stellt Konfuzius allein in einem Erfahrungsurteil fest, dass »sich die Ausprägungen menschlichen Lebens nahe kommen 性相近« 33. Ob sich diese geteilten Merkmale auf Wesenseigenschaften des Menschen »an sich« beziehen, es sich dabei also um eine fundamentale Gleichheit handelt, diese Frage wird im Lunyu nicht aufgeworfen. In Bezug auf xing 性 legt Konfuzius sogar die gleiche Redescheu zutage wie im Zusammenhang mit dem Himmel. 34 Zu keinem Zeitpunkt lässt er sich zu allgemeinen, objektivierenden Aussagen bezüglich der mannigfaltigen Ausprägungen menschlichen Lebens verleiten. Die gemeinsame Orientiertheit menschlichen Lebens tritt also mit der Einmaligkeit eines jeden Menschen keineswegs in Widerspruch. Die Gemeinsamkeiten bleiben als »konkrete Gemeinsamkeiten« untrennbar mit den einzelnen Lebensvollzügen verbunden. Konnte das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit dem Vollzug und Geschehen nach damit in einer ersten Annäherung als ein je einmaliges Ausformungsgeschehen im Kontakt mit dem jeweiligen LeVgl. Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 217. Auch wenn sich die fünf Beziehungen erst explizit bei Mengzi ausformuliert finden (Mengzi 孟子 3A4), so werden sie, wenn auch verstreut und nicht in systematischer Ausformulierung, bereits im Lunyu angedeutet. Vgl. auch Hans van Ess: Der Konfuzianismus, S. 33 f. 31 Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 58. 32 Vgl. Lunyu 18.6. 33 Lunyu 17.2. Vgl. hierzu auch Xu Fuguan 徐復觀: Zhongguo renxinglunshi 中國人性 論史, S. 89. Auch Xu hebt hervor, dass sich die Gemeinsamkeiten der menschlichen Lebensvollzüge nur in und zwischen diesen abzeichnen. 34 Vgl. Lunyu 5.13. 30

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bensumfeld charakterisiert werden, so hat jede weitere Bestimmung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses von dieser ersten Kennzeichnung auszugehen und das somit adressierte Ausformungsgeschehen genauer herauszuarbeiten. Bevor allerdings erste Schritte in diese Richtung unternommen werden, sei diese erste Konturierung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses in ihrer Gültigkeit weiter untermauert. Dazu soll im Folgenden kurz auf die Lehrtätigkeit des Konfuzius eingegangen werden. In dessen besonderer Weise, seine Schüler zu betreuen, findet der eben aufgezeigte Grundvollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses nämlich seinen Widerhall.

3.2. Konfuzius als Lehrer Die Lehrtätigkeit des Konfuzius führt uns insofern zu dem eben Ausgeführten zurück, als gerade die Lebensentfaltung des Schülers im Mittelpunkt seines Unterrichts steht. Mit seinen Unterweisungen beabsichtigt Konfuzius nichts anderes, als den einzelnen Schüler in seiner Entwicklung und Reifung zu unterstützen und ihm so zu einem gelingenden Lebensvollzug zu verhelfen. 35 Er soll sich zu einem »großen«, nicht zu einem »kleinen« Gebildeten (ru 儒) entwickeln. 36 Dieses auf die Entfaltung des Schülers ausgerichtete pädagogische Anliegen versucht Konfuzius allerdings nicht dahingehend einzulösen, dass er glatte und eindeutige kontextfreie Begriffs- und Sachanalysen in einem klar durchstrukturierten Lehrgebäude bereitstellt. Statt auf allgemeingültige theoretische Aussagen über das Wesen des Menschen hinzuarbeiten und sichere Erkenntnisse zu vermitteln, richtet er sich direkt an den Schüler, den er in seiner jeweiligen Eigenheit anzusprechen versucht. Dabei beabsichtigt er, die Aufmerksamkeit des Schülers auf sein je eigenes Verhältnis zur Wirklichkeit zu lenken, um ihn von dort aus zu einer Transformation seiner selbst anzuregen. 37 Nur auf dieser Ebene und in einer die lebensweltlichen Verflechtungen integrierenden Lehrtätigkeit sieht Konfuzius die Möglichkeit, den Schüler in seiner Entwicklung zu unterstützen; nur so hofft er, weder seine Worte noch den einzelnen Menschen zu »verlieren shi 失« 38. Widerspruchslose Ausformulierungen wahrer Erkenntnisse ohne Bezug auf die kon35 36

Vgl. Guo Qiyong 郭齊勇: Zhongguo zhexueshi 中國哲學史, S. 31 f. Vgl. Lunyu 6.13.

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krete Lebenslage des Schülers müssen sich vor diesem Hintergrund als zur Unterweisung ungeeignet erweisen. Geht es Konfuzius also um die Entfaltung seiner Schüler, so tritt an diesem Zusammenwirken zwischen Lehrer, Schüler und dessen besonderer Situation deutlich hervor, dass sich die Ausformung menschlichen Lebens für Konfuzius vor allem im lebendigen Kontakt mit den jeweiligen Lebensumständen vollzieht. Konfuzius kann nur deshalb darauf vertrauen, mit Worten, die den Schüler in seiner aktuellen Lebenslage ansprechen, wirksam auf dessen Entwicklung einzuwirken, weil er letztlich davon ausgeht, dass das konkrete Wirklichkeitsverhältnis den vorzüglichen Ort menschlicher Lebensentfaltung bildet. Dass sich Konfuzius als Lehrer nicht über den Schüler und dessen Situation hinaus auf eine Sphäre des Allgemeinen beruft, mithin keinen Keil zwischen entkontextualisierte theoretische Ausführungen einerseits und an den jeweiligen Schüler gerichtete Unterweisungen andererseits treibt, darin spiegelt sich, dass der Mensch in den Augen des Meisters erst im Zusammenspiel mit der ihn umgebenden Wirklichkeit Gestalt annimmt und somit im Lunyu das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen seinem Vollzug nach vor allem auf dessen Ausformung und Lebensentfaltung hin auszulegen ist. An Konfuzius’ Lehrstil tritt des Weiteren hervor, dass sich die Menschen stets unterschiedlich, auf je einmalige Weise entfalten. Indem Konfuzius den Schüler in seiner eigenen Lebenswirklichkeit anzurühren versucht, bemühte er sich, ihn in seiner ganzen Eigentümlichkeit zu berücksichtigen. Stets modulierte er seine Rede auf den entsprechenden Schüler hin und versucht ihn so mitsamt den ihn auszeichnenden Merkmalen, mit seinen jeweiligen Ecken und Kanten, Schwächen und Stärken zu beachten und in seine Unterweisungen einzubeziehen (yincai shijiao 因材施教). 39 Dieser Raum, welchen Konfuzius in seiner Lehre für die Besonderheiten seiner Schüler bereithält, Vgl. hierzu François Jullien: Umweg und Zugang. Strategien des Sinns in China und Griechenland, S. 199–204. 38 Lunyu 15.8. Hierin unterscheiden sich dann auch Konfuzius und Sokrates. Für Sokrates ist das Niveau philosophischer Fragestellungen erst gewonnen, wenn eine Dekontextualisierung eingesetzt hat. Persönliche Erfahrungen sind hier für das philosophische Gespräch nebensächlich. In diesem Sinne muss Kephalos schon zu Beginn des Dialoges Der Staat als der philosophischen Unterredung nicht würdig aus dem weiteren Gang der Gespräche ausscheiden. Er beruft sich lediglich auf seine persönlichen Eindrücke und verzichtet auf jegliche Distanzierungsleistung (Der Staat, 327a–331d). Demgegenüber setzt Konfuzius gerade auf dieser Ebene ein, um sich in sie zu vertiefen. 37

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deutet darauf hin, dass er die Entwicklung des Menschen als einen je einzigartigen Prozess betrachtet hat. Denn nur wenn die Ausformung eines jeden Menschen als unverwechselbarer Vorgang wahrgenommen wird, sind Anweisungen und Unterstützungen vonnöten, welche jeden Schüler in seiner Eigenart ernst nehmen. Gleichzeitig bestätigt die Beziehung zwischen Konfuzius und seinen Schülern aber auch, dass die unterschiedlichen Entwicklungswege gleichwohl in gemeinsamen Bahnen verlaufen. Obwohl Konfuzius den Schüler in seinen Eigentümlichkeiten zu berücksichtigen pflegt, seine Worte mithin nie den Bezug zu dessen individueller Lebenslage verlieren, breitet sich im Lunyu vor dem Leser dennoch so etwas wie eine »Lehre« aus. Die zahlreichen Aussprüche des Meisters treten durchaus in Resonanz zueinander, sodass sich zwischen ihnen die Umrisse einer kohärenten, stimmigen Lehre abzeichnen. Immer wieder gewinnt man den Eindruck, dass sich Konfuzius’ Unterweisungen gleichzeitig an alle Schüler richten und somit für alle gleichermaßen Wichtiges hervorheben. So werden etwa die beiden gleich zu Beginn des Lunyu angeschnittenen Themen des einübenden Lernens (xue 學) und des angemessenen Zeitpunktes (shi 時) 40 im Verlauf des Textes immer wieder in unterschiedlichen Kontexten und aus stets neuen Blickwinkeln variierend beleuchtet. 41 Diese beiden Aspekte scheinen somit feste Bestandteile Konfuzius’ Unterweisungen zu bilden, mit denen sich alle Schüler auseinanderzusetzen haben. Es verwundert demnach nicht, dass in 7.25 darauf hingewiesen wird, Konfuzius’ Lehre lasse so etwas wie ein Lernprogramm erkennen: »Konfuzius’ Unterricht hat vier Schwerpunkte: Kultivierung, Einübung von Verhaltensweisen in den eigenen Lebensvollzug, Gewissenhaftigkeit und Vertrauen 子以四教:文,行,忠, 信«. Dem entspricht auch, dass Konfuzius seine Schüler zuweilen unter gemeinsamen Gesichtspunkten in den Blick nimmt und über ihre individuellen Merkmale hinaus auf geteilte Eigenschaften hin erfasst: »In Siehe Zhu Xis 朱熹 Kommentar zu 11.3 (Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句 集注, S. 145). Ein Beispiel dieser sich am jeweiligen Schüler orientierenden Unterweisung wird in 11.22 geliefert. Vgl. hierzu auch François Jullien: Umweg und Zugang. Strategien des Sinns in China und Griechenland, S. 202 f., sowie Guo Qiyong 郭齊勇: Zhongguo zhexueshi 中國哲學史, S. 27. 40 Vgl. Lunyu 1.1. 41 Vgl. zum »einübenden Lernen« etwa 1.7, 1.8, 2.15, 8.17 sowie zum »angemessenen Zeitpunkt« 1.5, 14.13, 16.6. 39

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der wirksamen Entfaltung eingeübter Verhaltensweisen im eigenen Lebensvollzug zeigten sich Yan Yuan, Min Ziqian, Ranbo Niu und Zhong Gong als besonders begabt; im Umgang mit Sprache taten sich Zai Wo und Zi Gong hervor; in den Angelegenheiten des Regierens zeichneten sich Ran You und Ji Lu aus, und in der Kultivierung sowie im einübenden Lernen erwiesen sich Zi You und Zi Xia als besonders fähig 德行: 顏淵、閔子騫、冉伯牛、仲弓;言語:宰我、子貢;政事:冉有、 季路;文學:子游、子夏.« 42 Die Schüler begegnen Konfuzius mithin keineswegs als unvergleichbare Einzelfälle. Aufgrund gemeinsamer Begabungen lassen sie sich sehr wohl einteilen und damit in ein Lernprogramm aufnehmen. Dass sich Konfuzius’ Lehre auf diese Weise nicht in zusammenhanglose Einzelunterweisungen verliert, sondern stets für mehr als nur einen Schüler gültig bleibt, zeigt an, dass die unterschiedlichen Lebensvollzüge in ihrer Einzigartigkeit immer noch gemeinsame Züge aufweisen. Nur weil menschliches Leben in ähnlichen Bahnen verläuft, braucht Konfuzius auch nicht mit jedem Schüler seine Lehre aufs Neue zu erfinden, sondern kann bei seinen Unterweisungen auf ein einheitliches Lernprogramm zurückgreifen. Die sich so andeutende inhaltliche Geschlossenheit von Konfuzius’ Lehre, so ist allerdings zu präzisieren, bleibt nichtsdestotrotz an die konkret durchgeführte Lehrtätigkeit gebunden. Nie tritt die Lehre des Meisters im Lunyu als abgerundetes Ganzes hervor. Sie bleibt vielmehr in sich brüchig und skizzenhaft. Zieht sich, um ein Bild aus 4.15 und 15.3 aufzugreifen, ein roter Faden durch alle Aussagen des Konfuzius, so ist dieser Faden nicht schon fertig gesponnen. Der »Weg dao 道«, zu dem er seine Schüler ermahnt, 43 wird, trotz einer gewissen inhaltlichen Kohärenz, nie mit einem Anspruch auf strenge Allgemeingültigkeit und in sich geschlossene Systematik vorgebracht. So etwa zieht die eben erwähnte Einteilung Konfuzius’ einiger seiner Schüler in vier Kategorien keineswegs einen Abstraktionsprozess nach sich, der in eine Typik des Schülers münden würde. Wichtiger als die Klassifikation bleiben weiterhin die individuellen, unverwechselbaren Charakterzüge der Schüler. Entsprechend spricht Konfuzius die Schüler, die er in 11.3 noch kategorisiert hat, im gleichen Kapitel wieder einzeln, unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Besonderheiten an. 44 Als solche bilden die Un42 43

Lunyu 11.3. Vgl. Lunyu 7.6.

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terweisungen des Meisters mithin eine nie zur Gänze ausformulierte Lehre. 45 Ihre Einheit realisiert sich, analog zu den beobachtbaren Gemeinsamkeiten menschlicher Lebensvollzüge, nur in und mit jeder partikularen Einzelunterweisung. Die Eigenart von Konfuzius’ Lehrtätigkeit bekräftigt somit die oben herausgearbeitete Grundbestimmung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses als Ort der Ausformung und Entfaltung menschlichen Lebens. Der Unterrichtsstil des Konfuzius bildet geradezu die Antwort auf das so erfahrene Wirklichkeitsverhältnis auf der Ebene der Lehrer-Schüler-Beziehung. Wie sich die Ausformung menschlichen Lebens im Kontakt mit der Wirklichkeit genauer vollzieht und was dabei geschieht, wird im Folgenden Schritt für Schritt aufzurollen sein.

4.

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4.1. Zeng Xi Zu einer ersten Präzisierung des Ausformungsgeschehens sowie des Vollzuges des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses insgesamt wird uns ein hervorstechender Eintrag im Kapitel Xianjin 先進 führen. Dieser vermittelt einen ersten Eindruck, wie im Lunyu die Ausformung des Menschen näher verstanden wurde. In 11.26 fragt Konfuzius die anwesenden Schüler Zi Lu 子路, Zeng Xi 曾皙, Ran You 冉有 und Gongxi Hua 公西華 danach, wie sie sich an der Führung eines Staates beteiligen würden, vorausgesetzt ein Herrscher würde sie in seine Dienste nehmen. Auch wenn es hier zunächst nur um das Problem der richtigen Staatsführung zu gehen scheint, so dreht sich diese Stelle bei näherem Hinsehen gleichwohl um unsere Frage nach dem Ausformungsprozess des Menschen. Die Indienstnahme durch den Herrscher bildet nämlich letztlich nichts anderes als die Möglichkeit, ein bestimmtes Verhältnis zur Wirklichkeit einzugehen und darin dem eigenen Leben eine neue Ausprägung zu verleihen. Zi Lu, Zeng Xi, Ran You und Gongxi Hua saßen mit dem Meister zuVgl. Lunyu 11.5, 11.12, 11.13. Dies erklärt zudem, wieso Konfuzius als Lehrer nur schwer zu fassen ist. Ihm kann keine eindeutige Position zugeschrieben werden. Vgl. hierzu Yan Yuans 顏淵 Charakterisierung seines Lehrers in 9.11.

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sammen. Da sprach der Meister: »Da ich ein paar Tage älter bin als ihr, nimmt mich keiner mehr in seine Dienste. Ihr aber sagt immer: ›Niemand bringt uns Anerkennung entgegen!‹ Wenn euch nun jemand [ein Herrscher] in seine Dienste nehmen würde, was würdet ihr dann tun?« Zi Lu fuhr sogleich heraus: »Ein Reich von tausend Streitwagen, das eingeklammert wäre zwischen mächtigen Staaten, das außerdem von großen Heeren bedrängt wäre und unter Hungersnöten und Missernten litte; wenn ich es zu regieren hätte, so würde ich es in drei Jahren so weit gebracht haben, dass das Volk wieder Mut hat und um das Rechte weiß.« Der Meister lächelte: »Und Ran You, was würdest du tun?« Dieser antwortete: »Ein Gebiet von 60 bis 70, oder sagen wir 50 bis 60 Quadrat-li; wenn ich dieses zu regieren hätte, so würde ich es in drei Jahren so weit bringen, dass das Volk genug zum Leben hat. Was die Pflege der Riten und der Musik betrifft, diese Aufgabe muss warten, bis ein junzi kommt.« »Und Gongxi Hua, was sind deine Vorstellungen?« Gong Xihua antwortete: »Ich sage nicht, dass ich es könnte, aber lernen möchte ich es: Im Ahnentempel oder bei diplomatischen Treffen in den angemessenen zeremoniellen Gewändern und Kopfbedeckungen wenigstens als niedriger Gehilfe zu dienen, das ist mein Wunsch.« »Zeng Xi, was würdest du tun?« Zeng Xi hörte langsam auf an der Laute zu zupfen, ließ sie nachklingen und legt sie dann beiseite, um aufzustehen. Sodann sprach er: »Meine Vorstellungen sind verschieden von den Plänen der drei anderen.« Der Meister sagte: »Was schadet es? Ein jeder soll seine Wünsche aussprechen.« Daraufhin sagte Zeng Xi: »Ich möchte im dritten Monat des Frühlings, nachdem die Frühlingskleider fertig gewoben sind, mit fünf oder sechs jungen Männern und sechs oder sieben Knaben zum Fluss Yi baden gehen, mich mit ihnen beim Regentanzalter vom Wind abtrocknen lassen, um dann singend nach Hause zu schreiten.« Der Meister seufzte tief und sprach: »Ich halte es mit Zeng Xi.« 子路、曾皙、冉有、公西華侍坐。子曰:»以吾一日長乎爾,毋吾以 也。居則曰:«不吾知也!»如或知爾,則何以哉?« 子路率爾而對曰:»千乘之國,攝乎大國之間,加之以師旅, 因之以饑饉;由也為之,比及三年,可使有勇,且知方也。«夫子哂 之。»求!爾何如?« 對曰:»方六七十,如五六十,求也為之,比及三年,可使足 民。如其禮樂,以俟君子。« »赤!爾何如?«對曰:»非曰能之,願學焉。宗廟之事,如會 同,端章甫,願為小相焉。« »點!爾何如?«鼓瑟希,鏗爾,舍瑟而作。對曰:»異乎三子 者之撰。«子曰:»何傷乎?亦各言其志也。«曰:»莫春者,春服既 成。冠者五六人,童子六七人,浴乎沂,風乎舞雩,詠而歸。«夫子

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喟然歎曰:»吾與點也!« (11.26)

Die für unsere Fragestellung relevante Antwort ist die Reaktion Zeng Xis 曾皙. Nur er vermag, das volle Lob des Meisters zu ernten, obwohl er im Vergleich zu den anderen Anwesenden die wohl ausgefallenste Replik vorbringt. Während Zi Lu, Ran You und Gongxi Hua direkt auf Konfuzius’ Frage eingehen und mit zunehmender Bescheidenheit ihre Vorstellungen darlegen, wie sie sich in die Regierung eines Staates einzubringen gedenken, steht Zeng Xis Antwort dem ersten Anschein nach in keinem direkten Bezug zur Ausgangsfrage. Langsam aus seiner Versunkenheit in das Musizieren erwachend, bekundet er nach kurzem Zögern: »Ich möchte im dritten Monat des Frühlings, nachdem die Frühlingskleider fertig gewoben sind, mit fünf oder sechs jungen Männern und sechs oder sieben Knaben zum Fluss Yi baden gehen, mich mit ihnen beim Regentanzalter vom Wind abtrocknen lassen, um dann singend nach Hause zu schreiten.« Entscheidend für das Verständnis dieser Stelle ist, dass die vier Schüler zum Zeitpunkt des Gesprächs ohne Anstellung in staatlichen Institutionen sind. Vor diesem Hintergrund entfaltet Zeng Xis Schilderung allererst ihre eigentliche Bedeutung. Während die anderen Schüler mit ihren Antworten den Blick über ihre aktuelle Lebenslage hinaus abschweifen lassen, um ihn auf ein Ziel in ungewisser Zukunft auszurichten, 46 versucht Zeng Xi mit der von ihm geschilderten Szene aus seiner gegenwärtigen Position heraus zu antworten. Ihm schwebt kein fernes Ziel vor Augen, er plant nicht und hat keine bereits feststehenden Ideen, welche, über seine derzeitige Situation hinauszielend, seine Zukunft gleichsam vorwegnehmen würden. 47 Er orientiert sich nicht schon an einem vorgängigen Verständnis seiner selbst. Vielmehr deutet er durch sein eigenes Musizieren und seine geradezu nahtlos daran anschließende Antwort an, dass er sein Leben nur aus seiner gegenwärtigen Situation heraus gestalten möchte. Da er ohne Amt und Position ist, verortet sich Zeng Xi entsprechend auf der Ebene des Alltäglichen (日用之常), 48 fernab von staatlichen Institutionen und dem politischen Geschehen. Hier nämlich spielt sich sein Leben derzeit ab,

Vgl. Cheng Yis 程颐 Kommentar in Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 154.

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und dies will er mit der Schilderung des Ausfluges nachdrücklich unterstreichen. Damit erfahren wir von Zeng Xi zunächst nichts Neues über das menschliche Wirklichkeitsverhältnis. Seine Antwort bildet vielmehr eine Variation und damit eine Bestätigung dessen, was bereits hervorgehoben worden ist. Zeng Xi hält in dieser Szene dem Wirklichkeitsverhältnis, das primär von einem abstrakten, fiktiven Lebensentwurf getragen wird, ein Verhältnis zur Wirklichkeit entgegen, in dem der Kontakt zum jeweiligen Lebensumfeld in den Mittelpunkt rückt. Damit wird hier noch einmal untermauert, dass der Mensch nur in Interaktion mit seiner Umwelt an Gestalt gewinnen kann. Löst er sich aus dieser heraus, so verlieren seine Worte und seine Absichten ihr Gewicht und werden bedeutungslos. Gleichwohl lassen sich in Zeng Xis Antwort weiterführende Hinweise hinsichtlich des Vollzuges des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses ausmachen. Insbesondere der Kontakt zum Umfeld gerät in Zeng Xis Schilderung genauer in den Blick. Drei Momente stechen hier hervor. Hebt Zeng Xi in seiner Erwiderung auf Konfuzius’ Frage das SichEinlassen auf die aktuelle Lebenssituation hervor, so macht er in seiner Antwort deutlich, dass er damit keineswegs einem bewusstlosen, passiven Aufgehen in der Umwelt das Wort redet. Auch wenn Zeng Xi in seiner kurzen Schilderung des Ausfluges gänzlich in die Situation eingelassen zu sein scheint, sich also zwischen ihm und den Umständen keine Freiräume und ungefüllten Lücken auftun (jin chu 尽处), 49 so ist diese Unmittelbarkeit mitnichten als ein mystisches Einswerden mit dem Wirklichkeitsgeschehen zu lesen. Zeng Xis Darstellung legt vielmehr ein Verhältnis zur Umwelt nahe, in dem die Beziehungen zu den unterschiedlichen Momenten der Situation tätig durchlebt werden. Zwischen einem bloß fiktiven, vorgreifenden Selbstentwurf und einem bewusstlosen, taumelnden Eingehen auf die Situation ist hier eine Kontaktaufnahme mit dem Umfeld angesprochen, die sich in einer aktiven, tätigen Teilnahme vollzieht. Die kurze Schilderung zeigt einen Zeng Xi, der zu einem Mitspieler eines Gesamtgeschehens geworden ist. Singend, badend, sich im Wind trocknend nimmt er in fröhlicher Unmittelbarkeit an dem ihn umgebenden Geschehen teil. Darauf weist auch Zhu Xi 朱熹 hin, wenn er kommentiert: »Zeng Xi überschreitet nicht die Position, die er gerade innehat 不過即其所居之位« (Ebd., S. 153). 48 Vgl. Ebd., S. 153. 49 Vgl. Zhu Xis Kommentar in ebd., S. 153. 47

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Gleichzeitig geht aus der Schilderung hervor, dass sich diese tätige Teilnahme am Situationsgeschehen vor allem auf der Ebene leibhaftiger Vollzüge abspielt. Der Interaktion mit dem Umfeld ist hier zu keinem Zeitpunkt eine reflexiv durchgeführte, distanzierte Beurteilung der vorliegenden Zusammenhänge vorgeschaltet. Die Beziehungen werden vielmehr auf unmittelbare Weise leibhaft durchlebt. Mit der Leibhaftigkeit sei im Folgenden im Gegensatz zum Körper die Sphäre des eigenen Leibes adressiert. Während der Körper von außen als res extensa, als ausgedehntes, bloß vorhandenes Körperding, objektiv beobachtet, vermessen und analysiert werden kann, so ist der Leib stets mein Leib, den ich erlebe, den ich spüre und mit dem ich mich bewege. 50 Während der Körper also der distanzierte, fremde Körper ist, so ist der Leib das, als was ich mich selbst erfahre. Wenn hier von einem leibhaftigen Zugang zur Wirklichkeit die Rede ist, so ist damit gemeint, dass Situationen in all ihren Dimensionen lebendig erlebt und durchlebt werden. Diese Form der Annäherung an die Wirklichkeit verweist auf einen nicht prädikativen Zugang zur Welt; einen Zugang, in dem nicht durch Reflexion das Objekt aus dem Subjekt und das Subjekt aus dem Objekt herausdestilliert werden, sondern in dem Zusammenhänge unmittelbar erfahren und durchlebt werden. Der leibhaftige Weltzugang besteht demnach nicht in einer frontalen, berührungslosen Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, von Für-sich und An-sich, sondern in einem ganzheitlichen Durchleben von Bezogenheiten. Dieser Aspekt der Leibhaftigkeit wird in Zeng Xis Schilderung vor allem durch das Baden, das Abtrocknen und das Singen nahegelegt. Im Baden, Abtrocknen und Singen schickt sich Zeng Xi zu keinem Moment an, sich vom Geschehen zu distanzieren, um es von außen reflexiv zu bewerten. Er bleibt vielmehr in seiner ganzen Leibhaftigkeit in die Zusammenhänge eingeflochten. 51 Damit sind zwei Momente des Ausformungsgeschehens menschlichen Lebens in den Blick geraten. Einerseits, so lässt sich Zeng Xis Schilderung entnehmen, realisiert sich der Mensch nur in einer tätigen Partizipation an seiner Umwelt. Bei der Ausformung des Menschen handelt es sich nicht um ein einseitiges, passives Kausalverhältnis, in dem – um ein berühmtes Bild des Aristoteles aufzugreifen – dem MenVgl. Gernot Böhme: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen, S. 114. Vgl. ferner Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Frankfurt am Main, 2000. 50

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schen, einem Stück Wachs vergleichbar, das Siegel der Wirklichkeit bloß aufgedrückt wird. 52 Ausformen kann sich der Mensch nur, indem er sich in und mit dem Geschehen seines jeweiligen Lebenskontextes vollzieht und als aktiver Mitspieler an ihm teilnimmt. Andererseits wurde deutlich, dass sich die tätige Teilnahme als eine leibhaftige Partizipation darstellt. Situationen werden nicht bloß von außen beurteilt und dann »behandelt«. Vielmehr hat man sich unmittelbar mit seiner ganzen Lebendigkeit auf sie einzulassen. Diese beiden Momente der tätigen und leibhaftigen Teilnahme am situativen Geschehen lassen sich anhand Zeng Xis kurzer Antwort durch ein weiteres Moment ergänzen. Hat sich herausgestellt, dass Zeng Xi die Teilnahme an einer Situation als einen leibhaft-tätigen Vollzug darstellt, so muss im gleichen Atemzug darauf hingewiesen werden, dass er sich, seiner eigenen Schilderung zufolge, dabei keineswegs als alleiniges Zentrum sieht. Er scheint lediglich als ein Moment unter anderen zu fungieren. Dies kommt sprachlich dadurch zum Ausdruck, dass die geschilderten Vollzüge nicht ausschließlich Zeng Xi zugeschrieben werden können. Das Baden, das Abtrocknen und das Singen kommen vielmehr als Gesamtbewegungen zur Sprache, in denen alle Momente, also nicht nur Zeng Xi, sondern auch die Mitanwesenden, der Fluss Yi und der Wind gleichermaßen beteiligt sind. Zeng Xi beschreibt also hier ein durchgängiges Zusammenspiel, in dem sich in Abwesenheit eines zentrierenden Mittelpunktes alle Momente zwischen radikaler Vereinzelung und unterschiedsloser Verschmelzung aufeinander einlassen. 53 In seiner Schilderung finden die unterschiedlichen Momente in einer gemeinsamen Bewegung – vermutlich bei Tagesanbruch – allmählich zusammen, um dann, mit dem Antritt der Heimkehr, wieder langsam auseinanderzutreten. In dieser, aus der Situation heraus erfolgenden Herausbildung gemeinsamer Bezogenheiten findet alles in gegenseitiger Gestaltung seine je eigene Gestalt und Bestimmtheit. Für die Ausformung des Menschen in einer leibhaft-tätigen Teilnahme an seiner konkreten Lebenssituation folgt daraus, dass sich der Kontakt zum Umfeld immer auch in einem gemeinsamen Auseinanderhervorgehen aus der SituaZur Bedeutung der Leibhaftigkeit im chinesischen Denken siehe auch Wu Guangming: On Chinese Body Thinking. A Cultural Hermeneutic. Leiden, 1997; Gudula Linck: Leib und Körper. Zum Selbstverständnis im vormodernen China. Frankfurt am Main, 2001, sowie Mathias Obert: Welt als Bild. Freiburg, 2007. 52 Vgl. Aristoteles: De anima, II 12, 424a17 ff. 51

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Leibhaftige Teilnahme und konkreatives Hervorgehen

tion vollzieht. Die Ausformung seiner selbst geschieht nicht autark, sondern aus einem konkreativen Gesamtgeschehen heraus. 54 Die erste Bestimmung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses als ein Ausformungs- und Entfaltungsgeschehen kann somit vor dem Hintergrund Zeng Xis Schilderung, wie folgt, präzisiert werden: Das Ausformungsgeschehen hat sich – die drei eben herausgearbeiteten Momente zusammenfassend – als ein tätiges und leibhaftiges Durchleben situativer Bezogenheiten erwiesen, die sich in einem konkreativen Austausch mit dem gesamten Umfeld herausbilden. Erst in einer solchen leibhaftigen Partizipation am Wirklichkeitsgeschehen kann der Mensch in situativ sich zusammenfindenden Bezogenheiten in eins mit dem gesamten Umfeld Gestalt annehmen. An dieser Stelle gilt es allerdings kurz innezuhalten. Den drei hier ausgeführten Momenten der tätigen Partizipation, der Leibhaftigkeit und der Konkreativität ist auf einer anderen thematischen Ebene des Lunyu nachzugehen. Dieses Nachfragen drängt sich insofern auf, als die gerade behandelte Antwort Zeng Xis aus dem Gesamtduktus des überlieferten Textes herauszufallen scheint. Für das Lunyu sind die li 禮, die sogenannten »Riten«, von grundlegender Bedeutung. Diese lassen sich aber, wie gleich zu zeigen sein wird, allem Anschein nach nicht ohne Weiteres mit Zeng Xis Schilderung vereinbaren. Es stellt sich somit die Frage, ob die obigen Ausführungen überhaupt für den gesamten Text Gültigkeit beanspruchen können. Um uns der Bedeutung von 11.26 für das ganze Lunyu zu vergewissern, sei deshalb kurz auf die li eingegangen und deren Vereinbarkeit mit den eben herausgearbeiteten Momenten der tätigen Partizipation, der Leibhaftigkeit und der Konkreativität ausgelotet.

Inwiefern sich die klassische chinesische Sprache besonders eignet, solche Gesamtbewegungen sprachlich aufzufangen, vgl. dazu die einschlägigen Ausführungen von Rolf Elberfeld in ders.: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus, S. 88–106. 54 Das Moment der Konkreativität haben auch Roger Ames und David Hall in ihren Interpretationen immer wieder in den Vordergrund gerückt. Bei ihnen bleibt der Prozess der Konkreativität allerdings als ein bloßes »mutual shaping of oneself and one’s communal context« (Focusing the Familiar. A Translation and Philosophical Interpretation of the Zhongyong, S. 31) ein weitestgehend unbestimmtes Geschehen. Insofern die Konkreativität in den obigen Ausführungen mit der tätigen Partizipation und der Leibhaftigkeit in Verbindung gebracht wurde, hat die Konkreativität hier bereits feinere Konturen erhalten. Im weiteren Verlauf der folgenden Interpretation wird dieses Moment der Konkreativität noch genauer zu umreißen sein. 53

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4.2. Das Problem der li Wie in Punkt 3 dargelegt, wird dem Menschen in der Welt des Lunyu keine wesenhafte Identität zugeschrieben. Eine Gestalt gewinnt er erst im lebendigen Kontakt mit seiner Umwelt. Ist der Mensch nicht von einem vorgegebenen Seinskern getragen, sind also Bestimmtheit und Fülle seines Lebens nie schon im Voraus garantiert, so impliziert dies, dass er in reiner Selbstbezüglichkeit zunächst über sich im Unklaren ist. In ihm erklingt keine ihn sicher leitende Stimme. Diese Unbestimmtheit, welche die Stellung des Menschen in der Welt anfänglich ausmacht, kann natürlich zur Folge haben, dass er den letztendlich für ihn entscheidenden Ausformungsprozess gar nicht erst als Aufgabe wahrnimmt. Er lässt sich dann nur halbherzig oder vielleicht gar nicht auf einen solchen ein. Dem Menschen droht in diesem Fall sein Leben zu entgleiten. Er wird sodann ein unbestimmter und gestaltloser Mensch in einer für ihn ebenso unbestimmten und gestaltlosen Wirklichkeit bleiben. Allerdings ist der Mensch seiner eigenen Orientierungslosigkeit nicht hilflos ausgeliefert. Er kann auf Orientierungshilfen zurückgreifen, welche von den weisen Vorfahren gestiftet wurden und ihm von den drei Kulturen der Xia 夏, der Shang 商 und der Zhou 周 überkommen sind: die li 禮. 55 Diesen Orientierungshilfen kommt vor allem die Funktion zu, den Menschen auf dem Weg hin zu einem gelingenden Wirklichkeitsverhältnis an die Hand zu nehmen. Sie »halten« ihn »dazu an« (yue 約) 56, sich auf einen Ausformungsprozess einzulassen und verhindern dadurch, dass er sein Leben verwahrlosen lässt. 57 Zur Lebensentfaltung des Menschen im Kontakt mit seiner Umwelt sind die li sogar derart grundlegend, dass es für Konfuzius schier unmöglich scheint, ein von den li unabhängiges, mithin unvermitteltes Wirklichkeitsverhältnis einzugehen. »Ohne Kenntnis der li«, so lauten die Schlussworte des Lunyu, »kann kein Stand im Leben gefunden werden 不知禮無以立.« 58 Als Orientierungshilfen bilden die li Verhaltensweisen, die in alle Lebensbereiche hineinreichen, von rituellen Zeremonien bis hin zu den alltäglichsten Situationen. 59 In ihrer Eigenschaft als Verhaltensweisen 55 Dass Konfuzius nicht nur die li der Zhou im Blick hatte, sondern auch die li der Xia und Shang, siehe dazu Lunyu 2.23, 3.9. Vgl. auch Meng Peiyuan 蒙培元: Meng Peiyuan jiang Kongzi 蒙培元講孔子, S. 78, und Noah Edward Fehl: Li: Rites and Propriety in Literature and Life, S. 86. Die folgenden Ausführungen können die li nicht in allen

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zeigen die einzelnen li Wege auf, sich auf jeweils bestimmte Weise in das Wirklichkeitsgeschehen einzubringen. Sie bilden sozusagen Öffnungen, durch die hindurch sich der Einzelne angemessen auf eine Situation einlassen kann und somit Aussicht auf eine gelingende Lebensgestaltung hat. 60 Im Lunyu werden die li, die im Folgenden mit »tradierten Verhaltensweisen« oder einfach mit »Verhaltensweisen« wiedergegeben werden, 61 hauptsächlich in Bezug auf die zwischenmenschlichen Beziehungen thematisiert. Im Kontext dieses Werkes haben die li den Einzelnen somit vor allem in seiner Interaktion mit dem Mitmenschen zu orientieren. Als solche öffnen sie dann Räume, innerhalb derer Begegnungen entstehen können, 62 die es jedem erlauben, sich angemessen als Mensch auszuformen. Dabei variieren die Verhaltensweisen je nach Alter, sozialer Position und Lebensbereich, sodass sie ein Gewebe aufeinander verweisender und abgestimmter Zugänge zum Mitmenschen darstellen. Insofern hierbei sämtliche Bereiche und Ebenen zwischenmenschlicher Beziehungen berücksichtigt werden, entwerfen die li als ein Geflecht von Verhaltensweisen gewissermaßen ein Gesamtbild des zwischenmenschlichen Zusammenlebens, das alle zu Dimensionen und Schattierungen behandeln. Sie sollen lediglich in Bezug auf den hier im Mittelpunkt stehenden Ausformungsprozess des Menschen betrachtet werden. 56 Vgl. Lunyu 6.27, 9.11, 12.15. 57 Vgl. etwa Noah Edward Fehl: Li: Rites and Propriety in Literature and Life, S. 87. 58 Lunyu 20.3. Vgl. auch Lunyu 16.13. 59 Vgl. hierzu Homer Dubs (Übers.): The Works of Hsüntze, S. 114–119; Hu Shi 胡適: Zhongguo zhexueshi dagang 中國哲學史大綱, S. 134–143; Antonio Cua: »Li: Rites or Propriety«. In: Encyclopedia of Chinese Philosophy, S. 371. 60 Vgl. auch Antonio Cua: Ebd., S. 372 f. Ihre Orientierungsleistung können die li 禮 erbringen, weil sich die weisen Kulturheroen des Altertums bei ihrem Entwurf nach den Grundbewegungen der Wirklichkeit richteten (ze 則, Lunyu 8.19) und dabei die sich abzeichnende gemeinsame Lebensweise des Menschen (siehe oben Punkt 3.1.) in die li aufnahmen. Vgl. hierzu auch Chunqiu zuozhuan 春秋左傳: Zhao 昭 25.3 (Yang Bojun 楊伯峻 (Hrsg): Chunqiu zuozhuan zhu 春秋左傳注, S. 1457 f.). Haben die li ihr Fundament somit in den naturalen Grundlagen menschlichen Lebens, so wird verständlich, wieso sie den Menschen überhaupt hin zu einer gelingenden Partizipation am Wirklichkeitsgeschehen orientieren können. Die li bilden kein freischwebendes Regelsystem ohne Bezug auf die menschliche Wirklichkeit. Sie verweisen im Gegenteil auf gemeinsame Grundaspekte jeder menschlichen Existenz. Ganz in diesem Sinne werden Konfuzius im Kapitel Liyun 禮運 des Liji 禮記 folgende Worte zugeschrieben: »Mit den li folgten die ersten Könige dem Weg des Himmels, um dem Menschen auf diese Weise zu helfen, seine Haltung und Reaktionen der konkreten Wirklichkeit gegenüber in angemessene Bahnen zu bringen 夫禮先王以承天之道,以治人之情« (Wang Wenjin 王文錦 (Hrsg.): Liji yijie 禮記譯解, S. 289). Ist der naturale Rahmen in die Konstitution der li

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orientieren vermag. 63 Die li stellen damit eine Orientierungshilfe bereit, die es jedem Einzelnen ermöglichen soll, in allen wichtigen Lebenslagen dem jeweiligen Mitmenschen angemessen zu begegnen und sich in dieser Begegnung als Mensch entfalten zu können. Wie wichtig die li für die zwischenmenschlichen Begegnungen sind, unterstreicht Konfuzius ex negativo in 8.2., wenn er dort festhält: »Ehrerbietung ohne Zuhilfenahme tradierter Verhaltensweisen ermüdet; Vorsicht ohne Zuhilfenahme tradierter Verhaltensweisen macht einen ängstlich; Mut ohne Zuhilfenahme tradierter Verhaltensweisen bringt Unordnung; Aufrichtigkeit ohne Zuhilfenahme tradierter Verhaltensweisen führt zu verletzender Taktlosigkeit 恭而無禮勞, 慎而無禮則葸,勇而無禮 則亂,直而無禮則絞.« Ohne die li kommt also keine Kommunikation mit dem Mitmenschen zustande. Wird die menschliche Lebensentfaltung im Lunyu stets durch die li vermittelt gedacht, so regt sich der Verdacht, Zeng Xis Schilderung falle aus dem Rahmen dieses Werkes. Denn unterbricht nicht die Notwendigkeit, das Wirklichkeitsverhältnis in tradierte, geschichtlich gewachsene Verhaltenweisen einzubetten, jegliches situativ und leibhaft vollzogenes, konkreatives Wirklichkeitsverhältnis? Bilden die li nicht ein abstraktes Regelwerk, das bereits ausartikulierte Verhaltensmuster zur Verfügung stellt, welche der konkreten Lebenssituation vorgeordnet sind und somit bloß umgesetzt, der jeweiligen Situation also allein aufgesetzt zu werden brauchen? Hier droht die Gültigkeit der oben herausgearbeiteten drei Momente der tätigen Teilnahme, der Leibhaftigkeit und der Konkreativität für das Lunyu als Ganzes an ihre Grenzen mit eingeflossen, so erklärt sich zudem, wieso die li trotz ihrer Veränderungen, die sie im Laufe ihrer Entwicklung durchgemacht haben, allesamt durch einen roten Faden miteinander verbunden blieben (vgl. Lunyu, 2.23, sowie die entsprechenden Kommentare von Ma Rong 馬融 und Zhu Xi 朱熹 in Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Lunyu jishi 論語 集釋, S. 129 f.) und wieso es Aspekte an den li gibt, die man nicht ändern sollte (Lunyu, 9.3). Die Stabilität der naturalen Bedingungen menschlicher Lebensvollzüge gibt den li nämlich einen festen Rahmen und verbürgt damit deren relative Konstanz. 61 Gewöhnlich werden die li mit »Riten« übersetzt. Um der Vielgestaltigkeit der li und ihrer Bedeutung für den Alltag gerecht zu werden, sei hier die etwas offenere Übersetzung mit »Verhaltensweisen« vorgezogen. 62 Entsprechend hat He Yan 何晏 die li auch als »Weg zur Begegnung und Zusammenfindung 交接會通之道« umschrieben. Zitiert nach Xu Fuguan 徐復觀: Zhongguo renxinglun shi 中國人性論史, S. 46. 63 Vgl. hierzu auch Antonio Cua: »The Ethical and the Religious Dimensions of Li (Rites)«. In: The Review of Metaphysics 55 (2002), S. 487 f.

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zu stoßen. Diese drei Momente scheinen nicht mehr ohne Weiteres auf den ganzen Text übertragbar. Auf diesen drohenden Widerstreit zwischen Zeng Xis Schilderung und den Verhaltensweisen (li 禮) sei in den folgenden beiden Punkten 4.3 und 4.4 näher eingegangen. Dass diese Spannung letztlich keinen Widerspruch darstellt, wird eigentlich schon durch Zeng Xis Antwort selbst nahegelegt. Diese deutet nämlich daraufhin, dass sich auch Zeng Xi im Rahmen tradierter Verhaltensweisen bewegt; und dies sogar auf vorbildliche Weise, denn im Umgang mit den li scheint er den mitanwesenden Schülern überlegen zu sein. Es wurde darauf hingewiesen, dass sich Zeng Xi mit seiner Antwort nicht über seine aktuelle Situation hinwegsetzt. Er entwirft keine seine Lage überschreitenden Pläne. Gerade darin bringt er aber eine besondere Sensibilität für die li zum Ausdruck. Sich nicht über die gesteckten Grenzen der eigenen sozialen Position hinausbewegen, um sich etwa in Regierungsgeschäfte einzumischen, gerade darin besteht die Achtung der li. 64 Indem sich Zeng Xi somit seiner eigenen Position vergewissert und aus ihr heraus zu antworten versucht, bezeugt er die Absicht, seine Stellung im Netz zwischenmenschlicher Beziehungen und den damit verbundenen Verhaltensweisen einzuhalten. Darüber hinaus scheint der von Zeng Xi geschilderte Ausflug zudem im Rahmen eines Frühlingsrituals stattzufinden – zumindest wird dies durch die gemeinschaftliche Fertigstellung der Kleider sowie den erwähnten Altar angedeutet. Das in dieser Szene ausgemalte Wirklichkeitsverhältnis wäre demnach in tradierte Verhaltensweisen, in diesem Fall ein Ritual, eingebettet und somit sehr wohl mit den li vereinbar.

4.3. Die Äußerlichkeit der li Hat sich der Verdacht geregt, dass ein durch die li vermitteltes Wirklichkeitsverhältnis auf ein bloßes Umsetzen und Verwirklichen eines vorgegebenen Regelwerks hinausläuft und der Schilderung des Zeng Xi somit eine nur begrenzte Gültigkeit für das Lunyu zukommt, so ist zunächst an diesem Punkt kritisch nachzuhaken. Bilden die li tatsächlich vorgegebene, ideale Muster, die es lediglich nachzuahmen gilt? Besitzen die li also unabhängig von ihrer Äußerlichkeit bzw. ihrem Vollzug eine autarke Innerlichkeit, deren Gehalt wir zunächst erschöpfend 64

Vgl. Lunyu 8.14.

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zu erfassen haben, um diesen sodann umzusetzen? Führen die Verhaltensweisen also noch vor ihrer tatsächlichen Ausführung ein ideales Eigenleben? Als erster Schritt zur Überprüfung der Verträglichkeit der li mit Zeng Xis Schilderung sei von daher zunächst diesen Fragen nach der Verfasstheit der li genauer nachgegangen. Wenden wir uns hierzu einer eher unscheinbaren Stelle zu. Im Kapitel Ba Yi 八佾 lesen wir: Konfuzius sagte: »Über die li der Xia vermag ich so einiges zu sagen, allerdings gibt es im Lehnsstaate Qi keine Belege für meine Worte. Auch über die li der Yin wäre ich in der Lage, etwas zu sagen, allerdings lassen sich im Lehnsstaat Song keine Zeugnisse mehr zur Untermauerung meiner Worte finden. In beiden Staaten sind Kultur (wen 文) sowie Tugendhafte und Fähige (xian 献) [als mögliche Zeugnisse] abhanden gekommen. Wären ihrer noch ausreichend vorhanden, so könnte ich mich auf sie berufen. 65 子曰:«夏禮,吾能言之,杞不足徵也;殷禮,吾能言之,宋不足徵 也。文獻不足故也,足則吾能徵之矣。« (3.9)

Entscheidend für unsere Frage nach der Verfasstheit der li ist, dass die beiden Zeichen wen 文 und xian 献 hier jeweils als »lebendige Zeugnisse« zu verstehen sind. Das Zeichen xian 献 etwa wird von den Kommentatoren durchgehend als xian 賢, d. h. als »Tugendhafte und Fähige«, gelesen. 66 Bedauert Konfuzius also den Umstand, dass es keine xian 献 mehr gibt, so bezieht er sich damit auf Menschen, die in ihrem Verhalten den li einen wirksamen Ausdruck verleihen und von daher als »Belege« für die überkommenen Verhaltenweisen herangezogen werden können. Genauso bezeichnet auch wen 文 in diesem Zusammenhang lebendige Zeugnisse. Sicherlich kann wen 文 an mehreren Stellen im Lunyu als »Schrift« oder »Text« gelesen werden. 67 So wird wen etwa in 15.26 explizit in dieser Bedeutung verwendet. Dennoch gibt es allen Grund, wen in der oben angeführten Stelle als »gelebte Kultur« auszulegen. Nicht nur wird das Zeichen wen wesentlich häufiger mit tatsächlich vollzogenen Verhaltensweisen und gelebten Praktiken in Verbindung gebracht als mit Schriften und Texten. 68 Vor allem aber fällt auf, dass wen in allen Stellen, die sich – wie 3.9 – auf verganDie Nachkommen der Xia 夏 wurden durch die Zhou 周 mit dem Staate Qi 杞 belehnt, die Nachfahren der Yin 殷 mit dem Staate Song 宋. Vgl. Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Lunyu jishi 論語集釋, S. 161 f.

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gene Traditionen beziehen, gerade in der Bedeutung von alltäglichen, lebendig fortgesetzten Lebensformen verwendet wird. 69 Wenn Konfuzius also das Fehlen von wen beklagt, so liegt es nahe, wen hier nicht als »tote« schriftliche Spuren im archäologischen Sinne zu interpretieren, sondern als gelebte Kultur. 70 Bringt Konfuzius mit seiner Zurückhaltung demnach zum Ausdruck, dass er unabhängig von »lebendigen Zeugnissen« nicht bereit ist, ausführlicher auf vergangene Handlungsweisen (li 禮) einzugehen, so gewinnt diese Stelle besondere Relevanz für unsere Frage nach der Verfasstheit tradierter Verhaltensweisen. Konfuzius’ Weigerung, sich unabhängig von lebendigen Zeugnissen über die li zu äußern, weist darauf hin, dass die li in seinen Augen keine abstrakten Entitäten bilden. Vielmehr deutet sich hier an, dass die li für Konfuzius nur in ihrer Äußerlichkeit wirklich sind, man sie also unabhängig von ihrer tatsächlichen Ausführung nicht als bloß abstrakte Sinngebilde thematisieren kann. Nur als lebendige und tatsächlich vollzogene Verhaltensweisen sind die li wirklich, und nur von hier aus kann man sich auf sie berufen. Unabhängig von ihrer Verwirklichung haben die li hingegen keinen Bestand. In diesem Sinne warnt auch Zai Wo 宰 我: »Werden die li drei Jahre nicht gepflegt, so werden sie zwangsläufig vergehen 三年不為禮,禮必壞.« 71 Nur im äußeren Vollzug wahren sie also ihre Wirklichkeit. Wird ihre Ausführung unterbrochen, so werden damit auch sie vergehen. Die Abhängigkeit der li von ihrer tatsächlichen Ausübung kann durch weitere Stellen belegt werden. Zunächst sei auf einen Eintrag im Kapitel Zizhang 子張 hingewiesen. Dort wird in 19.22 von Konfuzius berichtet, er habe keinen Lehrer gehabt, sondern den »Weg des Wen 文 und Wu 武« 72 – und dazu geVgl. Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Ebd., S. 162 f. Zur Übersetzung von xian 賢 mit »Tugendhafte und Fähige« siehe auch Mathias Obert: Welt als Bild, S. 433. 67 Vgl. Lunyu 1.6, 6.18, 6.27, 7.25, 7.33, 9.11, 11.3. 68 Vgl. Ebd. 3.13, 15.13, 5.15, 8.18, 9.5, 12.8, 12.24, 14.12, 14.18, 16.1, 19.8. 69 Vgl. Ebd. 3.14, 5.13, 8.19, 9.5. 70 Es sei in diesem Zusammenhang nicht verschwiegen, dass im Kapitel Liyun 禮運 des Liji 禮記 gerade der gegenteilige Eindruck entsteht. Dort wird berichtet, dass Konfuzius sich nach Qi 杞 und Song 宋 aufgemacht hat, um nach Zeugnissen (zheng 徵) vergangener Traditionen zu suchen. Allerdings hat er nicht hinreichend Zeugnisse finden können. Es ist ihm jeweils nur eine Schrift in die Hände gekommen, das Xiashi 夏時 in Qi 杞 und das Qiankun 乾坤 in Song 宋 (Wang Wenjin 王文錦 (Hrsg.): Liji yijie 禮記譯解, S. 290). Damit wäre also nahegelegt, dass die li vor allem in Schriften tradiert werden. Allerdings kann diese Stelle auch dahingehend gelesen werden, dass Konfuzius nur Schriften gefunden hat, und ihm gerade Schriften als Zeugnisse nicht ausreichten. 66

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hören auch die li – 73 eigentlich auf der Straße im Umgang mit seinen Mitmenschen gelernt. Hier nämlich, »an den Menschen zai ren 在人«, so lesen wir, war »der Weg von Wen 文 und Wu 武 noch überall wirksam 莫不有文武之道焉«, hier wurde er weitergetragen und vor dem Vergehen bewahrt. 74 Konfuzius hat sich die li also nicht als abstrakte Sinngebilde angeeignet, sondern sie als vorgelebte, in seine konkrete Lebenswelt eingebettete äußere Vollzüge aufgegriffen. Die Bedeutung der Äußerlichkeit und des Vollzuges für die li spiegelt sich ferner darin, dass die Handlungsweisen selbst unmittelbar in ihrem Bestand bedroht sind, sobald ihre Äußerlichkeit verletzt wird. Solche Verletzungen liegen etwa dann vor, wenn sie in falschen Kontexten oder von den falschen Personen ausgeführt werden, wenn sie also in entscheidenden Punkten nicht angemessen praktiziert werden. Diese Verletzungen sind nicht mit bloßen Kratzern zu vergleichen, welche den Gegenstand als solchen unbeschadet lassen. Sie werden vielmehr zur Bedrohung der Handlungsweisen selbst. Wenn Konfuzius demnach anlässlich einer fehlerhaft ausgeführten di 禘-Zeremonie den Blick wegdreht, 75 so bringt er damit nicht bloß seine ästhetische Abscheu zum Ausdruck. Vielmehr sieht er das Ritual selbst bedroht. Denn, so Zhao Boxun 趙伯循, »nicht nur der angemessene Vollzug der Zeremonie ist hier verloren gegangen, sondern die Zeremonie selbst 失禮之 中又失禮焉«. 76 In diesem Sinne ist auch die Anekdote zu lesen, welche vermutlich in Konfuzius’ Schülerjahre fällt. In 3.15 wird berichtet, dass Konfuzius bei den Vorbereitungen einer Zeremonie akribisch nach allen Einzelheiten zu fragen pflegte. Dies nahmen die Anwesenden zum Anlass, an Konfuzius’ Kompetenz in Sachen li zu zweifeln. Dieser begegnete diesem Vorwurf allerdings mit dem Hinweis, dass gerade das gewissenhafte Nachfragen die li ausmache. Entscheidend ist hier, dass sich Konfuzius’ Nachfragen nicht auf das allgemeine Verständnis der Zeremonie richteten, sondern auf ihren konkreten Ablauf und die Details ihrer Ausführung (shi 事) 77, d. h. auf ihre Äußerlichkeit. Auch die Sorgfalt, die Konfuzius in Bezug auf die Durchführung einer Zeremonie an den Tag legte, bestätigt damit, dass Lunyu 17.21. Damit sind die beiden Gründungsfiguren der Zhou 周 gemeint. 73 Vgl. Zhu Xis 朱熹 Kommentar zu dieser Stelle (ders.: Sishu zhangju jizhu 四書章句 集注, S. 225). Siehe zudem Lunyu 9.5 sowie die entsprechenden Kommentare in ebd., S. 128. 74 Vgl. auch Qian Mu 錢穆: Lunyu xinjie 論語新解, S. 497. 71 72

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die li für ihn nur in der tatsächlichen Ausführung wirklich werden und nur dort ihren Sinn entfalten können. Nur weil die li allein in ihrem Vollzug Wirklichkeit gewinnen, wird verständlich, wieso Konfuzius den Details ihrer Ausführung soviel Aufmerksamkeit schenkte. Aber auch die sprachliche Darstellung der Verhaltensweisen, wie sie uns insbesondere im zehnten Kapitel Xiangdang 鄉黨 begegnet, bekräftigt die Bedeutung der Äußerlichkeit und des Vollzuges für die li. Sicherlich scheinen die Ausführungen im zehnten Kapitel dem ersten Anschein nach auf eine Idealität der li hinzudeuten. Bei näherem Hinsehen wird gleichwohl an der Art und Weise, wie die li hier zur Sprache kommen, deutlich, dass sie nicht als ein ideales Regelwerk wahrgenommen und behandelt wurden. Schaut man sich die sprachliche Auskleidung der li im zehnten Kapitel genauer an, so fällt auf, dass die Darstellungen zu keinem Zeitpunkt auf ein identifizierendes Herausstellen eines etwaigen idealen Sinngehaltes abzielen. Vielmehr treten sie dem Leser als anschauliche Ausmalungen des Umgangs des Meisters mit den li entgegen. Werden in diesem Kapitel Gesten, Kleidung und die Einnahme bestimmter Haltungen thematisiert, so beabsichtigen die Beschreibungen zu keinem Zeitpunkt, abstrakte Handlungsregeln darzustellen bzw. eine etwaige ideale Innerlichkeit der li hervorzukehren. Sie scheinen vielmehr die Bewegtheit des tatsächlichen Vollzuges der li sowie die Atmosphäre und Grundstimmung, in der Konfuzius sie ausgeführt hat, auffangen zu wollen. Als solche erwecken die Darstellungen den Eindruck, dass es Vgl. Lunyu 3.10. Bei der di禘-Zeremonie handelt es sich vermutlich um eine Opferzeremonie für die Ahnen des Zhou周-Herrscherhauses. Sie konnte nur von den Zhou周Königen durchgeführt werden. Vgl. hierzu die Erwähnungen der di禘-Zeremonie in den Kapiteln Sangfuxiaoji 喪服小記 und Dazhuan 大傳 des Liji 禮記 (Wang Wenjin 王文錦 (Hrsg.): Liji yijie 禮記譯解, S. 455 und 479). Siehe auch Yang Bojun 楊伯峻 (Hrsg.): Lunyu yizhu 論語譯註, S. 26, sowie Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Lunyu jishi 論語集 釋, S. 165–169. Worin die fehlerhafte Ausführung in 3.10 genau bestand, wird unterschiedlich ausgelegt. So wird Konfuzius’ Unzufriedenheit etwa darauf zurückgeführt, dass die Zeremonie schlampig ausgeführt wurde. Insofern die di-Zeremonie den Zhou 周-Königen vorbehalten war, kann sich Konfuzius’ Wegschauen aber auch darauf bezogen haben, dass ein Lu魯-Fürst unrechtmäßigerweise dieses Ritual vollzogen und es somit usurpiert hat. Die Entrüstung des Meisters würde demnach dem Verlust der Ordnung gelten. Vgl. eingehender Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Ebd., S. 169–172. Ähnlich kommt übrigens auch in Lunyu 3.26 Konfuzius’ Empfindlichkeit für die mangelhafte Durchführung der li zum Ausdruck. 76 Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 74. 77 Vgl. Qian Mu 錢穆: Lunyu xinjie 論語新解, S. 68. 75

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ihnen vor allem darum zu tun ist, dem Leser den Vollzug tradierter Verhaltensweisen durch Konfuzius greifbar und nachvollziehbar zu machen, ja, sie scheinen darauf abzuzielen, ihm ein bewegendes Bild der Ausführung der li zu vermitteln, gleichsam als Appell, sich selbst auf die vorgestellten Verhaltensweisen einzulassen und sie leibhaftig nachzuerleben. 78 Dieser Lesart des Kapitels Xiangdang 鄉黨 entspricht, dass Yin Tun 尹錞 in seiner Leseanleitung zu diesem Kapitel rät, die Einträge so zu lesen, »als ob der shengren [d. h. Konfuzius] vor den eigenen Augen stünde 宛然如聖人之在目也«, um sich sodann »in den shengren nachempfindend hineinversetzen 潛心於聖人« zu können. 79 Auch im sprachlichen Umgang mit den Verhaltensweisen wird also deutlich, dass die li hauptsächlich über ihre Äußerlichkeit und ihren Vollzug und nicht über ihre ideale Innerlichkeit zugänglich sind. Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass die li kein ideales Leben vor ihrem Vollzug führen. Nur in ihrer Ausführung sind sie letzten Endes wirklich, und nur dort haben sie Bestand. Innerlichkeit und Äußerlichkeit fallen selbst in der sprachlichen Thematisierung der li nie auseinander. 80 Jeder Versuch einer solchen Trennung zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, zwischen vorgegebenem idealen Regelwerk und lebendigem Vollzug wäre das Resultat einer nachträglichen Unterscheidung. Die Bedeutung der Äußerlichkeit für die Verhaltensweisen stimmt zudem mit dem Gesamtrahmen der »Welt des Lunyu« überein. Insofern dem Menschen keine vollständig und eindeutig vorgegebene Lebensform eignet, können die li ihre Orientierungsleistung nicht dadurch erbringen, dass sie ihm im Voraus seinen »rechten Weg« vorstellen. Es gibt keinen rechten Weg, keine Lebensform, welche die li getreu abbilden könnten. Die gemeinsame Orientiertheit menschlichen Lebens zeichnet sich, wie in Punkt 3.1. ausgeführt, vielmehr erst nachträglich und nur umrisshaft in den mannigfaltigen faktischen Lebensvollzügen ab. Entsprechend können auch die li nie vom konkreten Lebensvollzug gelöst werden. Die Bedeutung der Äußerlichkeit für die li, soviel sei hier ergänzend hinzugefügt, hat darüber hinaus zur Folge, dass sie als solche nie Vgl. hierzu auch Richard Wilhelms und Edward Slingerlands einleitende Kommentare zu Kapitel 10 (Richard Wilhlem: Konfuzius. Gespräche, S. 85; Edward Slingerland: Confucius Analects, S. 98). 79 Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 136. Vgl. auch Zhu Xis Kommentar zu 5.26 (Ebd. S. 96). 78

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vollständig bestimmbar sind. An die Äußerlichkeit und den Vollzug gebunden, treten sie nie in reiner Präsenz hervor. 81 Stets im Werden befindlich, können sie niemals »perfekt« sein, sondern werden stets mit blinden Flecken, mit Momenten der Unbestimmtheit versehen bleiben. 82 Die Verhaltensweisen bilden von daher als tradierte Weisen, dem Mitmenschen zu begegnen, lediglich »Spuren ji 跡«, welche den Menschen in die »inneren Zimmer shi 室«, d. h. auf den rechten Weg, führen können. 83 Als derartige Spuren deuten sie den Weg des Menschen zwar an, dabei zeichnen sie ihn gleichwohl nicht schon eindeutig, ein für alle Mal vor. Aus dieser Beleuchtung der Verfasstheit der li folgt, dass sich das durch die tradierten Verhaltensweisen vermittelte Wirklichkeitsverhältnis keineswegs, wie befürchtet, auf die Umsetzung und Verwirklichung vorgegebener Muster reduzieren lässt. Die li werden nicht zuerst ihrem idealen Sinn nach aufgeschlüsselt, um dann in der Welt bloß aktualisiert und dem Lauf der Dinge aufgesetzt zu werden. Sie schieben sich nie einfach als restlos bestimmte Handlungsregeln zwischen den Menschen und die konkrete Situation. Vielmehr schöpfen sie ihre Wirklichkeit allein aus ihrem tatsächlichen Vollzug. Damit konnte aber nur gezeigt werden, dass sich die Verhaltensweisen und Zeng Xis Schilderung nicht ausschließen. Ob sich die drei Momente Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass mit der Aufhebung dieser Trennung gleichzeitig eine weitere Trennung hinfällig wird, nämlich die Trennung zwischen der »inneren Einstellung« des Handelnden und dem äußeren Vollzug der li. Die innere Einstellung und persönliche Involvierung, die den Vollzug einer Verhaltensweise zu begleiten haben (vgl. etwa Lunyu, 3.3, 3.12), sind nicht getrennt von der Äußerlichkeit der li zu betrachten. Die innere Haltung des Handelnden ist bereits ein Moment des äußeren Vollzuges. Was also gewöhnlich als Innerlichkeit bei der Ausführung der li betrachtet wird (vgl. etwa Edward Slingerland: Confucius Analects, S. 18), bildet eigentlich einen Moment ihrer Äußerlichkeit, und dabei vermutlich deren höchste Stufe. Denn je tiefer und innerlicher die Involvierung des Handelnden in die Ausführung der li, desto wirklicher, also äußerlicher, werden auch die li. Von daher sind Konfuzius’ Warnungen, die li nicht auf ihre Äußerlichkeit zu beschränken (vgl. etwa Lunyu, 3.4, 9.3, 17.11), nicht als eine Verlagerung auf eine getrennte Innerlichkeit zu verstehen. Vielmehr will er damit nur sagen, dass sich die Äußerlichkeit der li nicht auf den beobachtbaren Vollzug reduzieren lässt, sondern bereits bei der inneren Einstellung anfängt. Entsprechend wäre auch die von Konfuzius empfohlene prüfende Selbstbeobachtung (vgl. etwa Lunyu, 1.4.) immer auch schon als Arbeit an der »Äußerlichkeit« des eigenen Verhaltens und nicht als eine getrennte »innere« Tätigkeit zu verstehen. 81 Vgl. auch Herbert Fingarette: Confucius. The Secular as Sacred, S. 14. 82 Xunzi 荀子 wird rund zweieinhalb Jahrhunderte später die Uneinholbarkeit und Un80

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der tätigen Teilnahme, der Leibhaftigkeit und der Konkreativität in einem durch tradierte Verhaltensweisen vermittelten Wirklichkeitsverhältnis tatsächlich wiederfinden lassen, blieb dabei offen.

4.4. Die li und das Wirklichkeitsverhältnis Ein erster Hinweis auf eines dieser drei Momente ist eigentlich schon mit den obigen Ausführungen zur Verfasstheit der li mitgeliefert worden. Sind die Verhaltensweisen, wie eben dargelegt, immer schon äußerlich und somit immer nur in ihrem Vollzug fassbar, so ist damit implizit angedeutet, dass das durch sie vermittelte Eingehen auf eine Situation immer auch eine aktive Teilnahme an dem jeweiligen Geschehen involviert. Die aktive Teilnahme gewinnt sogar ein besonderes Gewicht. Haben die Verhaltensweisen unabhängig von ihrem konkreten Vollzug keinen Bestand, so wird die aktive Teilnahme an der Situation gleichsam zum »Medium«, in dem sie allererst ihre Realität gewinnen. Auch das durch die li vermittelte Wirklichkeitsverhältnis schließt somit, in Übereinstimmung mit Zeng Xis Schilderung, eine tätige Partizipation an dem jeweiligen Kontext ein. Dies wird im Kapitel Zi Han 子罕 bestätigt, wenn es dort heißt: »Wenn der Meister jemanden in Trauerkleidung oder im Hofgewand sah oder einem Blinden begegnete, so stand er, selbst wenn sie jünger waren, bei ihrem Anblick auf; ging er an so jemandem vorbei, so beschleunigte er seine Schritte 子見齊衰者、冕衣裳者與瞽者,見之, 雖少必作;過之, 必趨.« 84 Das Aufstehen sowie das Beschleunigen der Schritte werden hier als Momente eines bestimmten Verhaltens nicht von außen in die Situation eingebracht. Vielmehr bilden sie unmittelbar aus der Situation heraus vollzogene Reaktionen. Ohne einen praktischen Syllogismus zu durchlaufen, ohne dass also »innen« und »außen« auseinandertreten würden, 85 fügt sich Konfuzius in tätiger ergründbarkeit der li besonders pointiert hervorheben. So heißt es im Kapitel Lilun 禮論 des Xunzi 荀子: »Die Ordnung der li ist wahrhaft unergründlich. Lässt man sich mit einem analytischen Geist, wie er in den Theorien von »Hart und Weiß« oder »Gleich und Ungleich« gepflegt wird, auf die li ein, so wird man sich verlieren 禮之理誠深 矣,»堅白««同異»之察入焉而溺« (Xunzi jijie 荀子集解, S. 356). 83 Lunyu 11.20. Xunzi 荀子 hat im Kapitel Tianlun 天論 des Xunzi 荀子 auf ähnliche Weise die li als Marken bzw. Steuerzeichen (biao 表) gekennzeichnet, die uns beim Überqueren eines Flusses orientieren (Xunzi jijie 荀子集解, S. 318 f.).

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Leibhaftige Teilnahme und konkreatives Hervorgehen

Partizipation in den Lauf der Dinge ein. So wie Zeng Xi mit den Anwesenden zusammen badet oder singt, stimmt auch Konfuzius mittels bestimmter Verhaltensweisen in tätiger Teilnahme in das Gesamtgeschehen ein. 86 Ähnlich wird im Kapitel 10 nahegelegt, dass die Verhaltensweisen immer mit einem tätigen Teilnehmen an der Situation einhergehen. Wenn es etwa gleich zu Beginn des Kapitels Xiangdang 鄉黨 heißt: »Sobald Konfuzius seinen Heimatort erreicht hat, wurde er respektvoll und ehrfürchtig, als könne er nicht mehr sprechen. Im Tempel und bei Hof hingegen sprach er deutlich und artikuliert, aber stets mit Bedacht 孔子於鄉黨,恂恂如也,似不能言者。其在宗廟朝廷,便便言,唯 謹爾« 87, so scheinen die Verhaltensweisen auch hier in ein aktives Mitwirken an dem jeweiligen Umfeld eingebettet zu sein. Konfuzius’ Reaktionen bewahren einen unmittelbaren Kontakt zu den Umständen, in welche sie sich stets stimmig einfügen, und erhalten dadurch eine eigentümlich Frische und Lebendigkeit. Das durch li vermittelte Hineinfinden in eine Situation entspricht allerdings nicht nur insofern Zeng Xis Schilderung, als es sich als tätige Teilnahme an den je vorliegenden Umständen vollzieht. In Übereinstimmung mit den Ausführungen in Punkt 4.1. handelt es sich hierbei ebenso um einen rundum leibhaftigen Vollzug. Dies tritt an der eben angeführten Stelle aus dem Kapitel Zihan 子罕 deutlich zutage. Die dort erwähnten Verhaltensweisen bilden nämlich, genau genommen, ganz und gar leibhaft vollzogene Zuwendungen zu den situativen Gegebenheiten. Das Aufstehen und Beschleunigen der Schritte sind Reaktionen, in denen sich Konfuzius in seiner ganzen Leibhaftigkeit auf eine Begegnung einlässt. Entsprechend wird auch in 13.3 darauf hingewiesen, dass das Volk ohne li nicht weiß, wie es »Hände und Füße 手足« zu betätigen hat. 88 Die li erweitern also nicht unser abstraktes Verständnis der uns umgebenden Wirklichkeit. Sie wirken vielmehr geradewegs in unser leibhaftiges Verhältnis zur Umwelt hinein. Cheng Yi 程頤 spricht in seinem Kommentar zu 12.1 im Zusammenhang mit den in konkrete Lunyu 9.10. Vgl. Yin Tuns 尹錞 Kommentar zu dieser Stelle in Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 130. Ähnlich hebt auch Huang Kan 皇侃 den spontanen Charakter Konfuzius’ Verhalten hervor. Siehe Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Lunyu jishi 論語集 釋, S. 592. 86 In diesem Sinne kann auch Lunyu 7.9 gelesen werden. 87 Lunyu 10.1. 84 85

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Situationen hineingespielten Verhaltensweisen sogar explizit von einer »Wirksamwerdung des Leibes, in der man […] auf die äußeren Umstände antwortend eingeht 身之用也 […] 應於外«. 89 Auch die Begegnung mit dem Mitmenschen durch die li und die damit einhergehende Ausformung seiner selbst vollziehen sich demnach vornehmlich auf der Ebene leibhaft durchlebter Beziehungen. 90 Spielt sich auch das durch die li vermittelte Wirklichkeitsverhältnis wie in Zeng Xis Schilderung in einem tätigen und leibhaftigen Durchleben konkreter Zusammenhänge ab, so bleibt noch ungeklärt, ob es sich hierbei auch um ein konkreatives Geschehen handelt, d. h. um ein Geschehen, in dem die Beziehungen aus dem Zusammenspiel aller involvierten Momente in gegenseitiger Gestaltung hervorgehen. Die eben angeführten Stellen legen dies jedenfalls nicht unmittelbar nahe. Die Verhaltensweisen, wie etwa das Aufstehen und das Beschleunigen der Schritte, scheinen im Gegenteil eher autarke Vollzüge zu bilden, die allein auf den Handelnden zu beschränken sind. Weitet man allerdings den Blickwinkel, so ergibt sich ein anderes Bild. Die li bilden, wie oben in Punkt 4.2. bereits erwähnt, ein umfangreiches Netz zusammenhängender Verhaltensweisen. Dies bedeutet, dass jede Verhaltensweise nur eine Seite einer zwischenmenschlichen Begegnung darstellt und somit zunächst nur als eine Einzelsequenz zu betrachten ist, die auf andere, ihr korrespondierende Verhaltensweisen bzw. Sequenzen verweist. Als Einzelsequenz kann die Ausführung einer Verhaltensweise somit allein nicht schon eine zwischenmenschliche Begegnung herbeiführen. Dies vermag sie erst im Verein mit den ihr korrespondierenden li. In diesem Sinne bilden etwa das Dienen (shi 事) der Beamten und das Anordnen (shi 使) des Machtinhabers stets reziproke aufeinander bezogene Verhaltensweisen, die nur zusammen eine Begegnung entstehen lassen können. 91 Einzeln vollzogen, müssen sowohl das Dienen als auch das Anordnen dagegen wirkungslos bleiben. Geht man also mit einer bestimmten Verhaltensweise ein Verhältnis zu einem Mitmenschen ein, so kann es sich dabei zunächst nur um den ersten Schritt hin zu einer Kontaktaufnahme handeln. In diesem Stadium haben wir es lediglich mit einer erst einsetzenden Begegnung Siehe hierzu auch Zhu Xis 朱熹 Kommentar zu 20.3 in ders.: Sishu zhangju jizhu 四 書章句集注, S. 229. 89 Zhu Xi 朱熹: Ebd., S. 155. 90 Vgl. zur Leibhaftigkeit der Verhaltensweisen auch Lunyu 13.3. 88

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Leibhaftige Teilnahme und konkreatives Hervorgehen

zu tun. Der Einzelne fügt mit seiner Verhaltensweise bloß ein Motiv, eine Anregung in das Spiel der Situation ein und eröffnet damit nur die Möglichkeit einer Begegnung. Als solcher bildet der leibhaft-tätige Vollzug einer Verhaltensweise allerdings noch kein Zusammentreffen, noch keine zwischenmenschliche Begegnung. Das durch den Vollzug einer einzelnen Verhaltensweise angestoßene Geschehen kann sich nur zu einer Begegnung entfalten, wenn die Verhaltensweise auch auf Anklang und Resonanz beim Mitmenschen stößt, und es so gewissermaßen zu einem Zusammenklang kommt. Nur wenn die Anwesenden auch einstimmen und sich antwortend auf die situativ eingebrachte Verhaltensweise einlassen, um die angestoßene Bewegung aufzunehmen und ihrerseits mit einer entsprechenden Verhaltensweise weiterzuführen, kommt die eröffnete und einsetzende Begegnung zur Entfaltung. Erst mit der Antwort der Mitanwesenden kann eine Bewegung entstehen, in der alle Beteiligten sodann zusammenfinden werden. Auch das durch die li vermittelte Wirklichkeitsverhältnis schließt mithin ein situatives Zusammenwirken ein, in dem die Beziehungen in einem konkreativen Geschehen auseinander hervorgehen. Dass die Verhaltensweisen aus der Situation heraus entstehen und somit auf die Antwort aller Involvierten angewiesen sind, wird etwa in 13.3. bestätigt. Dort wird darauf hingewiesen, dass die li ihre Funktion nur dann erfüllen können, wenn sich alle Involvierten an der Situation beteiligen: »Werden die unterschiedlichen Handlungen nicht vollzogen, so kommen die Verhaltensweisen […] gar nicht erst zur Entfaltung 事 不成則禮 […] 不興«. »Nur wenn alle Handlungen zu einer bestimmten Ordnung zusammenfinden«, so kommentiert Fan Zuyu 範祖禹 diese Stelle, »kann auch von li die Rede sein 事得其序之謂禮«. 92 Finden die Handlungen hingegen nicht zusammen, lassen sich also die Beteiligten nicht aufeinander ein, so können die li nicht wirksam werden und dementsprechend auch keine zwischenmenschliche Begegnungen entstehen lassen. 93 Ähnlich wird das Moment des konkreativen Auseinanderhervorgehens im Kapitel Xue’er 學而 thematisiert, wenn es dort heißt: »Unter den Wirkungen der Handlungsweisen ist der Zusammenklang das Entscheidende 禮之用,和為貴.« 94 Ins Zentrum der li rückt hier der Aspekt he 和, der mit »Harmonie« oder »Zusammenklang« wiedergeVgl. Lunyu 3.19 sowie die entsprechenden Kommentare von Huang Kan 皇侃 und Zhu Xi 朱熹 in Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Lunyu jishi 論語集釋, S. 197.

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geben werden kann. Im Gegensatz zur Gleichheit (tong 同) 95 bezieht sich he auf Situationen, in denen sich alles seinen jeweiligen Besonderheiten gemäß einbringt und sich in einem reibungslosen Nebeneinander vollzieht, ohne aufeinander überzugreifen und sich auf Kosten des anderen zu entfalten. 96 Damit legt auch dieses Zitat nahe, dass sich die durch die li vermittelten Beziehungen erst in einem situativen Zusammenwirken einstellen. Nur wenn sich alle Beteiligten aus ihrer jeweiligen Position heraus aufeinander einlassen, kann es durch die li zu einem »Zusammenklang«, d. h. zu einer Begegnung kommen. Ergänzend sei in diesem Zusammenhang noch hervorgehoben, dass der Einzelne an der Erwirkung einer zwischenmenschlichen Begegnung nur beteiligt sein kann. Implizieren die li das Mitwirken aller Involvierten, so käme jeder Versuch, über die gesamte Situation verfügen und somit die Begegnung durch die li erzwingen zu wollen, einer Überschreitung des eigenen Wirkungsbereiches und damit einem gewaltsamen Übergriff auf die Handlungssphäre des anderen gleich. Vielmehr muss sich jeder darauf beschränken, allein innerhalb der Grenzen der eigenen Rolle auf die Situation einzuwirken. 97 Alles andere entzieht sich seiner direkten Kontrolle. Dementsprechend haben die li immer auch mit Selbstüberwindung und Selbsteinschränkung (keji 克己) einherzugehen, 98 um zu gewährleisten, dass »der Herrscher Herrscher, der

Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 167. Vgl. hierzu weiter Fan Zuyus Kommentar in Zhu Xi 朱熹: ebd. Wird die eigene Verhaltensweise nicht beantwortet, so kann man zwei Haltungen einnehmen. Einerseits kann man die Verhaltenweise beharrlich weiter ausführen, in der Hoffnung, dass sie irgendwann beantwortet wird und es dann doch zu einer Kommunikation kommt. So rät Konfuzius, den eigenen Eltern weiterhin pietätvoll gegenüberzutreten, auch wenn diese die kritischen Ermahnungen ihrer Kinder, als Ausdruck ihrer Pietät, zurückweisen (4.18). Andererseits kann man, wenn keine Aussicht auf eine Begegnung besteht, genauso den Rückzug wählen. Durch den Rückzug wird man zumindest verhindern, dass man in seiner eigenen Wirklichkeit beschnitten wird. Wenn etwa ein Herrscher die Ratschläge seiner Beamten nicht mehr berücksichtigt, um nur noch seine eigenen Ansichten durchzusetzen (13.15), so bricht die Beziehung zwischen ihm und seinen Beamten zusammen. Der Beamte verliert damit seine Bedeutung als beratende Instanz und kann seine Rolle nicht mehr angemessen erfüllen. Unter diesen Umständen wird er zurücktreten, um den eigenen Wirklichkeitsverlust zu verhindern (11.24). In diesem Sinne meidet auch der Edle (junzi 君子) Staaten, die in Unordnung geraten sind (etwa 8.13). Dort wird er nämlich kein Gegenüber finden, mit dem er die li üben und ausführen kann. 94 Lunyu 1.12. 95 Vgl. Lunyu 13.23. 92 93

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Anrühren und Antworten

Beamte Beamter; der Vater Vater und der Sohn Sohn bleiben 君君,臣 臣,父父,子子.« 99 Resümierend kann also festgehalten werden, dass sich das durch die li vermittelte Wirklichkeitsverhältnis und die damit einhergehende Ausformung des Menschen weiterhin in dem von Zeng Xi eröffneten Rahmen bewegen. Auch die Verhaltensweisen verweisen auf ein Wirklichkeitsverhältnis, das sich auf genauso wirklichkeitsnahe Weise in tätiger, leibhaftiger und konkreativer Partizipation an der konkreten Situation vollzieht. Die Ausführungen zu Zeng Xis Schilderung des Ausfluges lassen sich demnach auf das ganze Lunyu übertragen. Dieser Exkurs hat uns allerdings nicht nur ermöglicht, die erste Bestimmung des Ausformungsgeschehens zu bestätigen. Die obigen Darstellungen erlauben uns darüber hinaus, dieses Geschehen noch genauer zu umreißen. Wurde bisher lediglich gezeigt, dass sich das konkreative Zusammenwirken in einem gemeinsamen Sich-Aufeinandereinlassen aller Momente abspielt, so ist dabei im Dunkeln geblieben, wie sich dieser konkreative Prozess aus der Perspektive des Einzelnen genauer darstellt. Gerade dies lässt sich vor dem Hintergrund der li klarer herausarbeiten. Damit kann ein weiteres zentrales Moment des Vollzuges des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses freigelegt werden, das sich bei Zeng Xi bereits angedeutet hat, dort aber noch nicht in aller Deutlichkeit hervorgetreten ist.

5.

Anrühren und Antworten

Entscheidend für eine nähere Bestimmung des konkreativen Zusammenwirkens ist die im Zusammenhang mit den li aufgetauchte Unterscheidung zwischen der angestoßenen, erst einsetzenden Begegnung und der tatsächlichen, aus der Antwort der Beteiligten hervorgehenden Begegnung. 100 Diese Differenzierung legt nahe, dass das konkreative Zusammenwirken von zwei Momenten durchzogen wird: einerseits einem Moment des Anrührens bzw. Anregens sowie andererseits einem Vgl. hierzu Zhu Xis Kommentar zu 1.12 in ders.: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 60. Siehe auch Lunyu 15.22. 97 Entsprechend warnt Konfuzius eindringlich vor jeglichen Überschreitungen der eigenen Position (8.14, 14.26) 98 Vgl. Lunyu 12.1. 99 Lunyu 12.11. 96

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Moment des Antwortens. Das gegenseitige Auseinanderhervorgehen setzt demnach stets mit einer Anregung ein, findet aber erst in der Antwort der involvierten Momente seine volle Entfaltung. Diese beiden Momente wurden in den obigen Ausführungen zu den li allerdings nur angeschnitten. Im Folgenden gilt es genauer auszukundschaften, inwiefern das Anrühren und Antworten das menschliche Wirklichkeitsverhältnis in seiner Konkreativität durchwirken. Dazu sei erneut auf die für das gesamte Lunyu zentrale Lehrer-Schüler-Beziehung eingegangen. Bei dieser Beziehung handelt es sich genauso wie bei einem durch li vermittelten zwischenmenschlichen Verhältnis um eine konkreative Interaktion. Beide, Konfuzius und seine Schüler, befinden sich in Wechselwirkung aufeinander bezogen. Nicht nur werden die Schüler maßgeblich durch Konfuzius beeinflusst, auch Konfuzius ist in der Gestalt, in der er uns im Lunyu entgegentritt, ohne seine Schüler nicht denkbar. Diese verleihen nämlich mit ihren jeweiligen Besonderheiten seiner Lehrtätigkeit allererst ihre besondere Gestalt. 101 An diesem Zusammenspiel zwischen Konfuzius und seinen Schülern lassen sich die beiden Momente des Anrührens und Antwortens wiederfinden und genauer herausarbeiten. Dabei gerät zunächst das Moment des Anrührens in den Blick. Das Anrühren bildet den bevorzugten Modus, in dem sich Konfuzius seinen Schülern nähert und mit ihnen in Kontakt tritt. Diesbezüglich ist folgende, im Kapitel Zihan 子罕 überlieferte Selbstdarstellung und Selbsteinschätzung des Meisters besonders aufschlussreich. Dort lesen wir: »Habe ich tatsächlich Wissen? Nein, ich besitze kein Wissen. Wenn mich ein gewöhnlicher Mensch nach etwas fragt, kann es gut sein, dass ich mir völlig leer vorkomme. Ich versuche dann alle Enden seiner Frage erschöpfend an- und abzuklopfen 吾有知乎哉?無知也。有鄙夫問於 我,空空如也,我叩其兩端而竭焉.« 102 Konfuzius hat keine fertigen Lösungen und Lehren anzubieten, welche er dem Schüler vorschreiben will. 103 Seine Versuche, mit dem Schüler in Kontakt zu treten, beschränken sich darauf, ihn wie eine Glocke behutsam abzuklopfen, um ihn so zu einer eigenen Antwort anzuregen. 104 So wie der GlockenspieSiehe hierzu den obigen Punkt 4.4. Vgl. oben Punkt 3.2. In diesem Sinne bemerkt auch Roger Ames: »[T]o know Confucius, we do best to familiarize ourselves with his community of disciples. The teacher can best be known by his students« (»Confucianism: Confucius (Kongzi, K’ung Tzu).« In: Encyclopedia of Chinese Philosophy, S. 63). 100 101

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ler den Glocken nicht vormachen kann, wie sie zu klingen haben, sondern sich lediglich bemühen kann, aus ihnen die schönsten Klänge herauszureizen, so beabsichtigt auch Konfuzius, mit seinen Worten die Schüler bloß anzurühren, um auf diese Weise mit ihnen in einen wirksamen Austausch zu treten. Zeichnet sich die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler damit zunächst durch ein Anrühren aus, so ist dieses Anrühren gleichzeitig in ein Antworten eingebettet, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einerseits sind die anrührenden Worte des Konfuzius selbst als ein Antworten zu verstehen. Indem er nämlich seine Unterweisungen dem jeweiligen Schüler entsprechend moduliert und ihn somit stets in seiner Lebenswirklichkeit anzusprechen versucht, 105 antwortet er mit seiner Lehre immer auch auf dessen Eigenart. Versucht er auf diese Weise wirksame Spuren im Schüler zu hinterlassen und ihn so in seiner Entwicklung zu unterstützen, 106 so kann das antwortende Eingehen auf den Schüler seine erwünschte Wirkung allerdings nur entfalten, wenn sich andererseits auch der Schüler auf die Rede des Meisters einlässt und eine Transformation seiner selbst zulässt. Nur wenn der Schüler also ebenso auf die Hinweise seines Lehrers antwortet, können dessen Worte eine Wandlung bei ihm hervorrufen. Von daher fordert Konfuzius von seinen Schülern auch ein Mindestmaß an Aufgewecktheit und innerer Bereitschaft zum Lernen. 107 Denn erst wenn die Schüler bereit sind zu antworten, kann er hoffen, mit seinen Worten in deren Lebensentfaltung unterstützend hineinzuwirken. 108 Ist das Anregen auf diese Weise in ein doppeltes Antworten eingebettet, so endet das Zusammenwirken von Anregung und Antwort gleichwohl nicht schon in der Antwort des Schülers. Mit der Antwort des Schülers kann sich das Anrührungs- und Antwortgeschehen erneut entspinnen. Die Antwort des Schülers auf die Anregung des Lehrers kann ihrerseits zu einer Anregung für den Lehrer werden, sich mit einer neuen Unterweisung antwortend auf ihn einzulassen. Gerade dies wird im Kapitel Weizheng 為政 angedeutet, wenn sich Konfuzius dort über seinen Lieblingsschüler Yan Hui 顏回, wie folgt, äußert: »Den ganzen Tag unterhielt ich mich mit Yan Hui; dieser erwiderte nichts, 102 103 104 105 106

Lunyu 9.8. Vgl. hierzu die obigen Ausführungen zu Punkt 3.2. Vgl. hierzu Qian Mu 錢穆: Lunyu xinjie 論語新解, S. 227. Vgl. oben Punkt 3.2. Vgl. hierzu ebenfalls Punkt 3.2.

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wie ein Tor. Als er sich dann zurückzog und ich ihn bei seinen alltäglichen Geschäften beobachtete, da war er aber im Stande, meine Worte zu entfalten. Yan Hui, der ist mit Sicherheit kein Tor 吾與回言終日, 不違如愚。退而省其私,亦足以發。回也,不愚.« 109 Vom Schüler Yan Hui heißt es hier, er habe die Rede seines Lehrers »entfaltet fa 發«. Dieses »Entfalten« kann in diesem Zusammenhang durchaus dahingehend gelesen werden, dass es Yan Hui gelungen ist, in seinem Versuch, die Worte des Meisters in sein eigenes Handeln zu übertragen, diese gleichzeitig weiterzuentwickeln. 110 Dem entspricht, dass Konfuzius seine erste Einschätzung von Yan Hui zurücknimmt und ihn letztlich doch nicht als Tor abstempelt. Konfuzius’ Lobpreisung bedeutet demnach, dass er in Yan Huis Verhalten bisher nicht beachtete Aspekte seiner eigenen Worte wahrgenommen hat. Es ist insofern davon auszugehen, dass er, auf diese Weise von seinem eigenen Schüler angeregt, Korrekturen an seiner eigenen Lehre vorgenommen hat. Damit sind am Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler die beiden Momente des Anrührens und Antwortens in ihrer ganzen Dynamik hervorgetreten. Angesichts der zentralen Bedeutung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses für das Lunyu kann somit für jeglichen konkreativen Austausch verallgemeinernd festgehalten werden: Lässt man sich auf eine Situation ein, so nimmt man zunächst die situative Anregung auf, um antwortend auf diese einzugehen. In diesem Antworten fügt man selbst eine neue Anregung, einen neuen Impuls ins Spiel der Situation ein, den die involvierten Momente ihrerseits antwortend aufgreifen können. Dabei kann das antwortende Aufgreifen der eigenen Anregung durch die anderen Momente seinerseits einen neuen Anregungs- und Antwortprozess anstoßen. Auf diese Weise wird das konkreative Wirklichkeitsverhältnis als Ganzes und aus der Perspektive aller Einzelmomente in seinem Vollzug und seiner Dynamik durch die beiden Aspekte des Antwortens und Anregens rhythmisiert. Alle Momente bewegen sich in einem ständigen und untrennbar miteinander verVgl. Lunyu 7.8 sowie Lunyu 5.9, 7.26, 8.5, 8.17, 9.20, 15.16. Vgl. auch François Jullien: Umweg und Zugang. Strategien des Sinns in China und Griechenland, S. 199–204. 109 Lunyu 2.9. 110 In diesem Sinne übersetzt auch Richard Wilhelm fa mit »entwicklen«. Vgl. ders.: Konfuzius. Gespräche, S. 16. Zhu Xi 朱熹 spricht sogar davon, dass Yan Hui »den Weg des Meisters entfaltet und erhellt 發明夫子之道.« (ders.: Sishu jangju jizhu 四書章句集 注, S. 66). Vgl. hierzu auch Qian Mu 錢穆: Lunyu xinjie 論語新解, S. 35. 107 108

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schränkten Antworten und Anregen weiter. Dem Vollzug und Geschehen nach lässt sich das menschliche Wirklichkeitsverhältnis somit zusätzlich zu den bereits herausgearbeiteten Momenten als ein gleichzeitiges Anregungs- und Antwortgeschehen kennzeichnen. Dieses Anregungs- und Antwortgeschehen ist allerdings, soviel sei hier präzisierend hinzugefügt, nicht rein kausalistisch oder mechanistisch zu denken. Sicherlich bleiben die Momente des Anrührens und Antwortens untrennbar aufeinander bezogen. Im konkreativen Wirklichkeitsverhältnis gehen die Beziehungen, ohne Sprünge zu machen, stets auseinander hervor. In diesem Sinne wird etwa in 19.17 darauf hingewiesen, dass man Trauer und die damit verbundenen Verhaltensweisen nicht ohne entsprechenden Anlass erschöpfend realisieren kann. Das Trauern muss durch den Tod eines Nahestehenden veranlasst werden und kann sich nur aus dieser Situation heraus angemessen entfalten. 111 Ein Trauern ohne angemessenen Anlass wäre kein Trauern. Allerdings vollzieht sich dieses Auseinanderhervorgehen nicht als rein »mechanistische« Kausalkette, wie etwa das Aufeinanderprallen von Billardkugeln. Durch die Anregung wird man nicht bloß ergriffen und in ein anonymes Geschehen hineingerissen. Die Antwort ist nicht schon vollends durch die Anregung determiniert, auch wenn man diese zu berücksichtigen und in seine Antwort aufzunehmen hat. Zwischen Anregung und Antwort bleibt ein Hiatus bestehen, der verhindert, dass sich das konkreative Zusammenspiel als ein bloßes Geschehen in der dritten Person vollzieht. Im Antworten und Anrühren lasse nämlich immer noch ich mich auf die Anregung ein und antworte ihr. Das, worauf ich antworte, steht sicherlich nicht in meiner Verfügung; wie und was ich antworte, wird mir allerdings nicht vordiktiert, sondern hängt letzten Endes von mir ab. 112 Dies wird vor allem daran deutlich, dass man sich zu jeder Zeit aus einer Interaktion verabschieden, mithin eine Antwort oder Anregung verweigern kann. 113 Die Dynamik des Veranlassens und Antwortens im konkreativen Wirklichkeitsverhältnis durchzieht das gesamte Lunyu. So lässt sich das oben Gesagte etwa auch an der Beziehung des Herrschers zu den Untertanen veranschaulichen und bestätigen. Der Herrscher regiert (wei zheng 為政) nicht, indem er wie ein Bildhauer auf das Volk (min 民) einwirkt und es zu einem verfügbaren Vgl. hierzu Zhu Xis 朱熹: Sishu jangju 四書章句集注, S. 224 f., sowie Yang Bojun 楊 伯峻 (Hrsg.): Lunyu yizhu 論語譯註, S. 202.

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Gegenstand gestalterischer Maßnahmen macht. 114 Sein Regieren zielt nicht darauf ab, das Volk zum bloßen Objekt von Regelungen und Gesetzen zu machen. Vielmehr ist es ihm darum zu tun, eine veranlassende Wirksamkeit (de 德) zu entfalten, d. h., durch sein Verhalten und seine Maßnahmen eine besondere Qualität erfahrbar zu machen, durch welche das Volk innerlich angerührt und in eine bestimmte Grundstimmung gebracht werden kann. In diesem Sinne wird im Lunyu die Wirksamkeit eines Herrschers mit dem »Wind feng 風« verglichen, der das Volk wie Gras anrührt und in Bewegung bringt. 115 Auch hier bildet das Anrühren den Grundmodus der Kontaktaufnahme mit dem Umfeld und somit den ersten Schritt hin zu einem konkreativen Austausch. Nur durch ein Anrühren kann der Herrscher erreichen, dass »die Nahen sich erfreuen und die Fernen angereist kommen 近者說,遠者 來«. 116 Dabei bleibt das Moment des Anrührens auch in diesem Zusammenhang in ein doppeltes Antworten eingebettet. Einerseits kann der Herrscher das Volk nur anregen, insofern er in seinem Regieren angemessen auf dessen Ansprüche antwortet. Nur wenn er die grundlegendsten Bedürfnisse und den Lebensrhythmus der Bevölkerung berücksichtigt, 117 kann er die Menschen auch erreichen und bewegen. Als solches ist das Regieren aber nicht nur ein Antworten auf die Interessen des Volkes. In seinem Gelingen ist es darüber hinaus darauf angewiesen, dass die Untertanen auch ihrerseits antworten. Die Herrschaft wird seine Wirksamkeit nur entfalten können, wenn das Volk auf die Anrührungsversuche des Herrschers eingeht. Nur wenn es sich anrühren lässt, den Herrscher also in seiner Qualität wahrnimmt und sich auf ihn einlässt, kann dieser, dem Polarstern ähnlich, zum Angelpunkt werden, um den sich alles dreht. 118 Der Herrscher ist mithin nur ein Teil 112 Vgl. Herbert Fingarette: Confucius. The Secular as Sacred, S. 24 f., sowie allgemeiner Bernhard Waldenfels: Antwortregister. Frankfurt am Main, 1994. 113 Vgl. etwa Lunyu 5.7, 8.13, 11.24. 114 Vgl. Lunyu 2.3. 115 Vgl. Lunyu 12.19. An diesem Bild wird zudem deutlich, dass sich das Anregen weiterhin als ein durch und durch leibhaftiges Geschehen vollzieht. Die Qualität des Herrschers wird nicht erkannt. Sie bildet keinen abstrakten Bedeutungswert, der vom Volk zuerst eingesehen werden muss. Sie wird vielmehr, wie durch das sich beugende Gras angedeutet, leibhaft erfahren. Dem entspricht zudem, dass der Herrscher die eigenen Qualitäten nicht in einer abstrakten Rede zum Ausdruck zu bringen versucht, sondern sich bemüht, diese in seinem konkreten Verhalten bis in seinen Gesichtsausdruck und die Intonation seiner Stimme hinein zu verkörpern. Vgl. dazu Lunyu 8.4.

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eines lebendigen Ganzen, von dem her er allererst seine Wirklichkeit erlangt und auf dessen Antworten er angewiesen ist. Gerade dies scheint in Konfuzius’ Bemerkung mitzuschwingen, Yao 堯 und Shun 舜 hätten die Welt nie als ihr Eigentum betrachtet. 119 Darin klingt an, dass der Machtinhaber statt über die Welt zu verfügen, in seiner eigenen Wirksamkeit vielmehr von dieser abhängig ist und sie deshalb auch nicht besitzen kann. 120 Inwiefern allerdings dem Lunyu zufolge seinerseits das Volk in seinem Antworten den Herrscher anzuregen vermag, geht nicht ausdrücklich aus dem Text hervor. Im Kapitel Zilu 子路 wird lediglich angedeutet, dass der Herrscher auf Ratschläge angewiesen ist. 121 Gerade im Hinblick auf mögliche Fehlentscheidungen, so wird in 13.3. hervorgehoben, sind Vorschläge und Empfehlungen seitens der Beamten unentbehrlich. Sie erfüllen eine korrektive Funktion und sollen den Herrscher von möglichen Fehltritten abhalten. Verschließt sich der Herrscher solchen Anregungen, so droht letztlich »der Staat verloren zu gehen sang bang 喪邦«. 122 Auch wenn hier nicht weiter geklärt wird, von wem genau diese Empfehlungen auszugehen haben und wie sie eingebracht werden, so zeichnet sich dennoch ab, dass der Herrscher im Lunyu nicht der allein Anrührende ist, sondern seinerseits genauso auf die Anregungen seiner Untertanen angewiesen ist. Auch die Beziehung zwischen dem Herrscher und dem Untertan vollzieht sich demnach als ein gegenseitiges Anregungs- und Antwortgeschehen, in dem sich Herrscher und Untertan erst in einem Sich-Aufeinandereinlassen ausformen. Abschließend seien in diesem Zusammenhang noch zwei Anmerkungen angebracht. Zunächst ist hervorzuheben, dass das Anregungsund Antwortgeschehen nur gelingen kann, wenn alle Involvierten auch die Bereitschaft mitbringen, sich anrühren zu lassen und antwortend auf die Anregungen einzugehen. Nur so kann sich ein responsiver Austausch in einem gegenseitigen Anrühren und Antworten entfalten. 116 Lunyu 13.16. Vgl. auch Lunyu 1.5, 1.9, 2.19, 2.20, 8.2, 12.1, 12.17, 12.14, 12.19, 13.1, 13.2, 13.6, 15.5, 17.6, 20.2. 117 Vgl. Lunyu 1.5. 118 Vgl. Lunyu 2.1. 119 Vgl. Lunyu 8.18. 120 Mengzi 孟子 wird später die Rolle des Volkes stärker hervorheben und ihm das Recht auf Widerstand zugestehen. Vgl. Yang Bojun 楊伯峻 (Hrsg.): Mengzi yizhu 孟子譯注, 1B8. 121 Vgl. Lunyu 13.15.

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Dem entspricht, dass Konfuzius, wie bereits erwähnt, von seinen Schülern eine innere Bereitschaft zum Lernen erwartet. Nur wenn sie die existentielle Dringlichkeit verspüren, sich zu wandeln, ist die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sie von den Worten des Lehrers ergriffen werden. Bringt der Schüler diese Bereitschaft nicht mit, fragt er sich nicht ständig, »Wie kann ich das schaffen 如之何?« 123, so kann er nicht angerührt werden und damit auch nicht in einen konkreativen Ausformungsprozess mit seinem Lehrer treten. In solchen Fällen ist auch Konfuzius als Lehrer hilflos. 124 Ebenso zentral erweist sich die Bereitschaft, sich anregen zu lassen, in der Beziehung zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen. Lassen sich Letztere nicht anrühren und verändern, so bleibt der Herrscher in seiner Macht beschränkt. Es kommt dann nicht zu jenem Verflechtungsprozess, in dem sich Herrscher und Volk gleichermaßen entfalten können. Deshalb liegt es im Eigeninteresse des Herrschers, für die Kultivierung der Bevölkerung (jiao 教) zu sorgen, 125 sie also zu »wachsamem Respekt, pflichtbewusster Gewissenhaftigkeit und gegenseitiger Anspornung 敬忠以勸« 126 anzuhalten, und zu hoffen, dass das Volk »Scham empfindet und in der Lage ist, sich selbst zu berichtigen 有恥而格«. 127 Nur so werden die Untergebenen die Impulse des Herrschers überhaupt wahr- und aufnehmen können. Andererseits gilt genauso für den Herrscher, dass auch er dieselbe Bereitschaft mitzubringen hat. Nur wenn er für korrigierende Anregungen offen ist und sich auf entsprechende Selbstkorrekturen einlässt, kann er mögliche Irrtümer vermeiden und somit das konkreative Zusammenwirken mit seinem Volk aufrechterhalten. Zweitens ist zu ergänzen, dass erst vor dem Hintergrund der beiden Momente des Anrührens und Veranlassens verständlich wird, wieso dem Vertrauen (xin 信) im Lunyu eine so zentrale Bedeutung beigemessen wird. 128 Das Vertrauen kann im Lunyu sowohl als Vertrauen, das man einem anderen entgegenbringt, wie auch als Vertrauenswürdigkeit gelesen werden. Diese beiden Aspekte des Vertrauens stehen in einem engen Bezug zum konkreativen Prozess und der Tatsache, dass das Veranlassen und Antworten dabei kein lückenloses, in sich schon vorbestimmtes, mechanisches Geschehen darstellen. Das gelingende Sich-Aufeinandereinlassen hängt, wie oben her122 123 124 125

Lunyu 13.15. Lunyu 15.16. Vgl. Lunyu 15.16. Vgl. Lunyu 13.9.

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Tastendes Einspüren

vorgehoben, entscheidend von der Antwort und Bereitschaft aller involvierten Momente, sich anregen zu lassen, ab. Als Einzelner kann man demnach nicht mehr tun, als sich stets zu bemühen, eine bewegende und den Umständen angemessene Anregung in eine Situation hineinzuspielen. Gerade dabei spielt das Vertrauen eine entscheidende Rolle. Einerseits ist man gut beraten, stets vertrauenswürdig und aufrichtig zu sein. Nur so wird man mit einer langfristigen Offenheit und Aufmerksamkeit des Mitmenschen rechnen können, die notwendig ist, um ihn anzuregen. Andererseits muss man gleichzeitig der Antwort des anderen vertrauen, auf die man bei der Herbeiführung einer wirksamen Interaktion angewiesen ist. Deren Aufrichtigkeit kann man sich nie vollends sicher sein. Man kann nur auf deren Lauterkeit vertrauen. Geht die eigene Vertrauenswürdigkeit oder das Vertrauen auf die Antwort des anderen verloren, so gerät der Austausch ins Stocken. Denn ist man nicht mehr vertrauenswürdig, so wird die eigene Anregung keine Antwort mehr finden, und misstraut man grundsätzlich dem Mitmenschen, so wird man sich nicht mehr anrühren lassen. In diesem Sinne bildet das Vertrauen den Zement des sozialen Gefüges, der die menschliche Gemeinschaft im Inneren zusammenhält. Entsprechend heißt es im Kapitel Weizheng 為政: »Menschen ohne Vertrauen; ich weiß nicht, ob so etwas geht. Ein großer Wagen ohne Joch, ein kleiner Wagen ohne Kummet, wie kann man den voranbringen 人而無信,不知其可也。 大車無輗,小車 無軏,其何以行之哉?« 129

6.

Tastendes Einspüren

Zur weiteren Bestimmung des Vollzuges des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses als leibhaftig-tätiges, konkreatives Zusammenwirken mit dem Lebensumfeld kann an das eben dargestellte Anregungs- und Antwortgeschehen angeknüpft werden. Die beiden Momente des Anrührens und Antwortens werfen nämlich eine Frage auf, welche die Richtung anzeigt, in die dem Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit im Lunyu weiter nachzugehen ist. Ob man veranlassend in eine Bewegung hineinzufinden versucht Lunyu 2.20. Lunyu 2.3. 128 Vgl. Lunyu 1.4, 1.5, 1.6, 1.7, 1.8, 1.13, 2.22, 5.10, 5.26, 5.28, 7.1, 7.25, 8.4, 8.13, 8.16, 9.25, 12.7, 12.10, 12.11, 13.4, 13.20, 15.6, 15.18, 17.6, 17.8, 19.2, 19.10, 20.1. 126 127

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Das Lunyu

oder sich antwortend auf eine Anregung einlässt, in beiden Fällen, so wurde hervorgehoben, handelt es sich nicht um ein bloß mechanisches Ergreifen, bzw. Ergriffenwerden. Die Kontaktaufnahme lässt sich nicht auf ein übergangsloses, allein in der dritten Person sich vollziehendes Zusammenfinden reduzieren. Vielmehr werden die Antworten und die Anregungen weiterhin eigenständig vollzogen. Erfolgen das Veranlassen und das Antworten demnach nicht aus strenger Naturgesetzlichkeit heraus, so können sie fehlgehen, mithin »über die Umstände hinausgehen 過於物«. 130 Dies ist dann der Fall, wenn die Antwort oder die Anregung an den Ansprüchen der Situation vorbeizielt, z. B. wenn man in der Anwesenheit des Herrschers »spricht, ohne dass man das Wort hat 言未及之而言«. 131 Bevor man also eine Anregung oder eine Antwort in eine Situation hineinwebt, hat man sich stets ihrer Angemessenheit zu vergewissern. Wie aber, so stellt sich die Frage, sind Antwort und Anregung in die je vorliegende Situation einzufügen, sodass die Gefahr von Fehltritten verringert wird? Dazu sei eine Stelle aus dem Kapitel Shu’er 述而 herangezogen, in der die Grundhaltung zur Sprache kommt, in der Konfuzius einer Situation begegnet und sich auf sie einlässt. Dort lesen wir: Wenn Konfuzius mit jemandem zusammen war, der gut sang, so bat er ihn mit Sicherheit, den Gesang zu wiederholen. Dann stimmte auch er ein. 子與人歌而善,必使反之,而後和之 (7.32)

Konfuzius, so geht aus diesem Eintrag hervor, gerät nicht unmittelbar, in einem blitzartigen Ergriffenwerden in den Bann des Gesangs. Er stimmt nicht übergangslos in ihn ein. An seiner Bitte um Wiederholung wird vielmehr deutlich, dass er sich dem Gesang nur sehr behutsam nähert. Seinem Antworten auf den Gesang geht ein Moment des Innehaltens voraus, in dem er versucht, die gegebene Situation in ihrer Qualität und Bewegtheit zu erfassen. »Er will«, so kommentiert Zhu Xi 朱熹, »die Subtilität des Gesanges auffangen und dessen schöne Bewegung aufgreifen 欲得其詳而取其善«. 132 Dabei ist seine Aufmerksamkeit allerdings nicht ausschließlich auf den Gesang gerichtet. In der be129 130 131

Lunyu 2.22. Wang Wenjin 王文錦 (Hrsg.): Liji yijie 禮記譯解, S. 738. Vgl. Lunyu 16.6.

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Tastendes Einspüren

dachtsamen Annäherung »tastet« Konfuzius gleichzeitig auch sich selbst »ab«. Es ist nämlich seine Absicht, so wieder Zhu Xi 朱熹, sich »in authentischer und aufrichtiger Gesinnung 誠意« 133 einzubringen. Konfuzius will sich nicht über die Situation erheben, um dieser von oben herab in unantastbarer Souveränität seinen Stempel aufzudrücken. 134 Mit seinem Innehalten versucht er vielmehr, sich selbst in Bezug auf die Situation einzuschätzen. Nicht nur dem Singenden will er gerecht werden, sondern auch sich selbst. Hinzu kommt, dass sich dieses tastende Einstimmen als ein leibhaftiges Ausloten von Zusammenhängen vollzieht. Konfuzius beurteilt den Gesang nicht aus der Distanz, sondern versucht dessen Bewegungsqualität vor allem zu erspüren. Das Antworten und Anregen, so lässt sich dieser Szene entnehmen, sind durch ein tastendes und spürendes Einfinden zu antizipieren. Erst in einem vorbereitenden Sich-Einstimmen, das sich zwischen bewusstloser Spontaneität und rationalem Kalkül als ein langsames SichEinschwingen vollzieht, wird das jeweilige Geschehen in seiner Besonderheit erfasst. Das tastende Einspüren bildet das Vorspiel, das notwendig ist, um die eigene Anregung oder Antwort angemessen in die Situation einzubringen und um auf diese Weise dem Fehlgehen der eigenen Zuwendungen zum Umfeld vorzubeugen. Dieses Moment des spürenden und tastenden Einfindens taucht im Lunyu in mindestens einem weiteren Gewand auf. Denn auch die »Vorsicht jin 謹/shen 慎« 135 bildet letztlich eine Form abtastenden und horchenden Hineinspürens. Im Zustand gesteigerter Vorsicht wird man seine Wachsamkeit auf jedes Detail und jede Veränderung richten, so »als ob man vor einem tiefen Abgrund stünde oder auf dünnes Eis trete 如臨深淵、如履薄冰«. 136 Aus dieser Grundhaltung heraus wird man den passenden Moment (shi 時) ausmachen können, um sich sodann angemessen in den Lauf der Dinge einzubringen. Auch Vorsicht und achtsame Behutsamkeit bewahren demnach vor überhasteten Eingriffen und damit vor schmerzlichen Fehlern. In diesem Sinne heißt es im Kapitel Weizheng 為政: »Viel hören, dem Zweifelhaften misstrauen und vorsichtig alles Übrige aussprechen, so macht man wenig Fehler. Sich viel anschauen, das Gefährliche meiden und vorsichtig alles Übrige tun, so wird man wenig zu bereuen haben 多聞闕疑,慎言其餘,則寡 132 133 134

Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 117. Zhu Xi 朱熹: Ebd. Vgl. Zhu Xi 朱熹: Ebd.

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尤;多見闕殆,慎行其餘,則寡悔.« 137 Ähnlich rät Konfuzius im Kapitel Yanyuan 顏淵, dass »man vor die Tür gehen soll, als ob man einen großen Gast empfange 出門如見大賓«. 138 Wie beim Empfang eines Gastes gilt es auch im alltäglichen Umgang mit den Mitmenschen, sich stets mit Bedacht und einem Blick für die Einzelheiten zu bewegen. 139 Nur so gelingt es einem, den Ansprüchen der Situation gerecht zu werden. Die gleiche behutsame Vorsicht wird auch dem Herrscher empfohlen. In seinem Regieren hat er sich so vorsichtig und einfühlsam zu verhalten, wie im Umgang mit einem Kleinkind oder wie bei der Ausführung einer großen Zeremonie. 140 Auch für ihn gilt, dass er sich langsam, in einem spürenden Abtasten auf die jeweiligen Situationen einzulassen hat. Mit dem Moment des behutsamen Sich-Einschwingens in Situationen ist die Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Wirklichkeit gleichwohl noch nicht abgeschlossen. Steht die Ausformung des Menschen im Lunyu im Mittelpunkt des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses, so bedeutet dies nicht, dass jede beliebige Ausformung bereits eine gelingende Lebensentfaltung darstellt. Im Gegenteil wird im Lunyu eine ganz besondere Form der Ausformung als die vorzüglichste in den Vordergrund gerückt.

7.

Der unverzerrte Selbstvollzug

Seine Vorstellung einer gelingenden Lebensentfaltung bringt Konfuzius in seiner kurzen autobiografischen Selbstdarstellung im Kapitel Weizheng 為政 zum Ausdruck. Dort hält er in Bezug auf seine letzte Lebensphase, die mit seinem siebzigsten Lebensjahr einsetzt, fest, dass er nunmehr in der Lage ist, »den Neigungen seines Herzens zu folgen, ohne dabei das Maß zu überschreiten 從心所欲,不踰矩.« 141 Offensichtlich umschreibt er damit die höchste Stufe seiner Entwicklung. Hier scheint er sich nunmehr reibungslos in der Welt bewegen zu kön-

135 136 137 138 139 140

Vgl. Lunyu 1.6, 1.9, 1.14, 2.18, 7.13, 8.2, 11.1, 19.25, 20.1. Lunyu 8.3. Lunyu 2.18. Lunyu 12.2. Vgl. auch Lunyu 7.11, 16.11. Vgl. Lunyu 8.6 und 12.2.

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Der unverzerrte Selbstvollzug

nen. Diesen wenigen Worten lässt sich gleichzeitig entnehmen, wie Konfuzius die gelingende Lebensentfaltung letztlich verstanden hat. Das responsive Sich-Einlassen auf eine Situation sowie die damit verbundene Ausformung des eigenen Lebens, so wird hier angedeutet, kann dann als gelungen betrachtet werden, wenn man sich in allen Aspekten und Dimensionen seines Lebens unverzerrt und ungehemmt vollziehen kann. »Den Neigungen seines Herzens zu folgen«, ohne sich dabei ständig an den Umständen zu stoßen, bedeutet nämlich nichts anderes, als dass sich der eigene Lebensvollzug als ungestörter Selbstvollzug fortführt. Mit den Worten Zhu Xis 朱熹 ausgedrückt, vollzieht sich die Lebensentfaltung dann am vorzüglichsten, wenn man sich aus der eigenen Mitte (zhong 中) heraus und ohne zwanghafte Anstrengung (bu mian 不勉), also ganz bei sich bleibend (an 安), überall wirksam einbringen kann. 142 Im gelingenden Lebensvollzug steht man sich, um eine Wendung Cheng Yis 程頤 aus seinem Kommentar zu 6.30 zu entlehnen, »nicht [mehr] selbst im Weg 自與己不相干«. 143 Folgt man also Konfuzius’ autobiografischer Notiz, so zeichnet sich der gelingende Lebensvollzug und das damit einhergehende Wirklichkeitsverhältnis vor allem durch einen unverzerrten Selbstvollzug aus. 144 Diese Auffassung eines gelingenden Wirklichkeitsverhältnisses wird durch weitere Hinweise im überlieferten Text untermauert. Wenden wir uns dazu zunächst dem Lernprozess zu, wie er im Lunyu vorgestellt wird. Das Curriculum, das die Schüler zu durchlaufen haben, umfasst eine Reihe von »Künsten yi 藝« 145, in die sich alle einzuüben haben. Gemeinhin werden sechs Praktiken zu diesen Künsten gezählt. Es sind dies die Verhaltensweisen (li 禮), die Musik (yue 樂), das Bogenschießen (she 射), das Wagenlenken (yu 御), das Rechnen (shu 數) sowie das Schreiben (shu 書). 146 Angesichts dieses Programms liegt es nahe, hier eher ein »Abrichten« als einen ungestörten Selbstvollzug zu vermuten. Schaut man allerdings genauer hin, so leuchtet am Horizont dieses Lernprogramms gleichwohl jener unverzerrte Selbstvollzug auf. Im Kapitel Xianwen 憲問 etwa weist Konfuzius explizit darauf hin, dass es im Lernen gerade »um einen selbst 為 己« 147 zu gehen hat, und nicht um die Erwartungen und Ziele anderer. 148 Das Ziel des Lernens ist es, sich selbst zu entfalten (cheng ji 成 Lunyu 2.4. Siehe Zhu Xis 朱熹 Kommentar zu 2.4 in seinem Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 63.

141 142

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己), 149 ohne sich dabei von den Zielen und Absichten anderer fehlleiten zu lassen. Gewinnt das Einüben in die Künste erst von diesem Ziel her seine eigentliche Bedeutung, so tritt daran gleichzeitig hervor, dass der unverzerrte Selbstvollzug das letzte »Ziel« menschlicher Lebensentfaltung darstellt. Dieser Zusammenhang zwischen Lebensentfaltung und unverzerrtem Selbstvollzug steht letztlich auch im Zentrum des Regierens. Jede Herrschaft sollte mindestens zwei Anliegen verfolgen. Einerseits sollte der Herrscher den Interessen und Bedürfnissen der Bevölkerung besondere Beachtung schenken 150 und dabei »seine Fürsorge auf das ganze Volk ausdehnen und allen seine Unterstützung zukommen lassen 博施於民而能濟眾« 151. Andererseits hat der Herrscher gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Gesamtordnung der Gesellschaft aufrechterhalten bleibt. Er hat durch ständige »Richtigstellung der Namen zheng ming 正名« 152 zu gewährleisten, dass sich alle ihren jeweiligen Positionen und Aufgaben gemäß am gemeinschaftlichen Leben beteiligen und dadurch zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen. Werden durch diese beiden Anliegen Armut und Hunger sowie Gewalt und Streitereien verhindert, 153 so zielen die Anstrengungen des Herrschers dabei nicht bloß auf die Besänftigung der Bevölkerung und die Eindämmung sozialer Konflikte. Die Herrschaftsausübung wird im Lunyu vielmehr auf die Unterstützung und Förderung des ungestörten Selbstvollzuges der Menschen hin konzipiert. Dies tritt an folgendem Bild besonders prägnant hervor. Im Kapitel Zilu 子路 heißt es von der gelingenden Herrschaft, sie Vgl. Zhu Xu 朱熹: Ebd., S. 106. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass das Zeichen zhong 忠, das zuweilen mit »Loyalität« übersetzt wird, auch auf den ungestörten Selbstvollzug hin gedeutet werden kann. So bringt auch Tang Junyi mit Verweis auf Cheng Yi 程頤 diesen Terminus mit dem erschöpfenden Vollzug seiner selbst in Verbindung. Will man zhong 忠 mit »Loyalität« übersetzen, so impliziert »Loyalität« immer auch Loyalität gegenüber sich selbst. Vgl. Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuanxingpian 中國哲 學原論。原性篇, S. 93. Siehe ebenso Xu Fuguan 徐復觀: Zhongguo renxinglunshi 中國 人性論史, S. 93. 145 Lunyu 7.6. 146 Vgl. hierzu Hans van Ess: Der Konfuzianismus, S. 25. 147 Lunyu 14.24. 148 Vgl. auch Lunyu 1.1, 1.16, 14.30, 15.19, 15.21. 149 Vgl. den Kommentar Huang Kans 皇侃 zu dieser Stelle in Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Lunyu jishi 論語集釋, S. 1004. Siehe auch oben Punkt 3.2. 143 144

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Der unverzerrte Selbstvollzug

bewirke, dass die Menschen, »ihre Kinder in einem Sack auf dem Rücken tragend 襁負其子«, von überall angereist kommen, um in den Wirkungskreis des Herrschers zu gelangen. 154 Entscheidend an diesem Bild ist die leicht zu übersehende Erwähnung der Kleinkinder. Dieser Hinweis auf die Kinder und somit auf das werdende, noch wachsende Leben, deutet an, dass das Regieren und die daraus resultierende gesellschaftliche Ordnung nicht Selbstzweck sind, sondern vielmehr die Bedingungen bereitzustellen haben, unter denen sich menschliches Leben ungestört entfalten kann. Nur die Aussicht auf eine ungehinderte Lebensentfaltung lässt die Menschen in den geordneten Staat ziehen; und um die ungestörte Lebensgestaltung jedes Einzelnen hat es letztlich jeder Herrschaft zu gehen. 155 Angesichts der ursprünglichen Relationalität des Menschen und der Konkreativität seines Wirklichkeitsverhältnisses darf allerdings nicht übersehen werden, dass sich der unverzerrte Selbstvollzug weiterhin mit dem jeweiligen Lebensumfeld vollzieht. Ist die menschliche Lebensentfaltung ein unhintergehbar situatives Geschehen, so kann der Selbstvollzug nicht in einer autistischen Selbstumdrehung bestehen. Er bleibt auf das gesamte Lebensumfeld hin geöffnet und kann nur im Verein mit diesem gelingen. Diese Verschränkung des eigenen Selbstvollzuges mit dem jeweiligen Umfeld impliziert zweierlei. Einerseits hat die situative Einbettung des Selbstvollzuges zur Folge, dass dieser nur gelingen kann, wenn sich die Umstände nicht verzerrend oder hemmend auf ihn auswirken. In seiner Rückbindung an das jeweilige Umfeld ist ein unverzerrter Selbstvollzug nur möglich, wenn sich das gesamte Umfeld genauso unverzerrt vollzieht. Erst wenn sich alle involvierten Momente reibungslos aus sich heraus vollziehen, ohne sich dabei gegenseitig zu beeinträchtigen, kann auch der eigene Selbstvollzug ungestört seinen Gang nehmen. 156 Die Bedeutung des unverzerrt sich vollziehenden Umfeldes für den eigenen Selbstvollzug lässt sich indirekt an der Rückzugsbereitschaft des Edlen (junzi 君子) ablesen. Wenn es von diesem heißt, dass er sich in Zeiten politischer und sozialer Unordnung aus der Mitwirkung an den Regierungs150 151 152 153 154 155

Vgl. etwa Lunyu 12.9, 13.9, 20.2. Lunyu 6.30. Lunyu 13.3. Vgl. Lunyu 13.11 und 16.2. Vgl. Lunyu 13.4. Vgl. auch Meng Peiyuan 蒙培元: Meng Peiyuan jiang Kongzi 蒙培元講孔子, S. 100.

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geschäften zurückzieht, 157 so ist damit gleichzeitig gesagt, dass sich der Einzelne nur in einem insgesamt geordneten Umfeld ungestört vollziehen kann. Der Edle geht gerade deshalb auf Distanz zu seinem Umfeld, weil er keine Möglichkeit mehr sieht, sich in und mit diesem zu entfalten. 158 Andererseits bedeutet die Abhängigkeit des gelingenden Selbstvollzuges vom jeweiligen Umfeld zudem, dass der eigene ungehemmte Selbstvollzug seinerseits allem Mitinvolvierten verhilft, in eine genauso gelingende Bewegung zu finden. Indem man sich selbst unverzerrt vollzieht, hilft man gleichzeitig dem anderen, sich genauso reibungslos vollziehen zu können. Im ungestörten Selbstvollzug wird man ihm zumindest den nötigen Raum zur Selbstentfaltung gewähren. In diesem Sinne heißt es im Kapitel Yongye 雍也: »Wenn ich mich selbst vollziehen möchte, so verhelfe ich damit [auch] dem anderen seinen Stand zu finden 己欲立而立人.« 159 Die gelingende Selbstausformung spielt also immer auch unterstützend in die Sphäre des anderen hinein. Dem sind zwei Anmerkungen beizufügen. Zunächst ist zu ergänzen, dass sich die unterstützende Auswirkung des eigenen Selbstvollzuges auf das Umfeld nicht allein »von selbst«, ohne eigenes Hinzutun entfaltet. Die Entfaltung des Umfeldes bildet nie nur den bloßen Nebeneffekt des eigenen Selbstvollzuges. Das heißt, es reicht nicht aus, sich lediglich um sich selbst zu kümmern, in der Hoffnung, dass sich sodann alles andere unverzerrt zu vollziehen beginnt. Weit entfernt einem derartigen distanzierten Verhältnis zur Umwelt das Wort zu reden, in dem man sich eigentlich für nichts einsetzt außer für sich selbst, geht der gelingende Selbstvollzug im Lunyu vielmehr mit einer besonders wachsamen Sorge für den anderen einher. In der Ausformung seiner selbst hat man sich immer auch um die Entfaltung seines Lebensumfeldes zu bemühen. 160 In diesem Sinne heißt es vom junzi 君子, dass er stets versucht ist, den Mitmenschen in seiner Vgl. hierzu auch Xu Fuguan 徐復觀: Zhongguo renxinglunshi 中國人性論史, S. 90 f., 92. 157 Vgl. Lunyu 5.2, 5.21, 8.13, 14.1, 14.3, 15.7. 158 Der Rückzug bedeutet allerdings nicht schon, dass sich der Edle in ein Einsiedlerdasein flüchtet. Schließlich bleiben ihm andere Wege offen, sich weiterhin in ungehemmtem Selbstvollzug in seinem Umfeld zu bewegen. So etwa kann der Rückzug des junzi darin bestehen, Dummheit vorzutäuschen, um nicht in die Mühlen der widrigen Umstände zu geraten. Vgl. Lunyu 5.21. Eine andere Möglichkeit des junzi, sich zurückzuziehen, kann auch darin bestehen, sein Lebenszentrum in das Private zu verlagern. Auch dort kann er zu einem ungestörten Selbstvollzug finden. Vgl. etwa Lunyu 2.21, 7.4. 156

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Der unverzerrte Selbstvollzug

Selbstentfaltung aktiv zu unterstützen 161 und »den Bedürftigen zur Hilfe zu eilen 周疾« 162. Ähnlich unterstreicht Konfuzius’ Lobpreisung der Beharrlichkeit des Kanzlers Ziwen 子文, der sich trotz wiederholter Amtsenthebungen immer wieder mit all seinen Kräften für den Staat Chu 楚 einsetzte, dass man sich im Selbstvollzug gezielt seiner Umwelt anzunehmen hat. 163 Die Sorge um das Umfeld hat sich dabei allerdings nicht nur auf die zwischenmenschlichen Beziehungen zu beschränken. Wenn es im Kapitel Shu’er 述而 heißt, »Der Meister fing Fische mit der Angel, aber nie mit dem Netz; er schoss Vögel, aber nie, wenn sie noch im Nest saßen 子釣而不綱,弋不射宿« 164, so wird angedeutet, dass sich Konfuzius nicht nur um den Menschen, sondern genauso um die Ordnung und das Gleichgewicht der Natur sorgte. Damit einhergehend ist zweitens hervorzuheben, dass die Auswirkungen der Handlungen auf das Umfeld als Kriterium für die Bewertung des Selbstvollzuges herangezogen werden können. Schließt der Selbstvollzug immer auch die Entfaltung des Umfeldes mit ein, so lässt ein Blick auf ebendieses Rückschlüsse auf das Gelingen der Ausformung seiner selbst oder eines Mitmenschen zu. Bereits im Kapitel Jiugao 酒誥 des Shangshu 尚書 heißt es in diesem Sinne in Bezug auf den Herrscher, dass er sich »nicht nur im Wasser, sondern auch im Volke zu betrachten hat 無於水監,當於民監«. 165 Dem Herrscher wird hier der Zustand der Bevölkerung als Maßstab der Selbstprüfung empfohlen. Im Lunyu kann die Bedeutung der Wirksamkeit des Handelns für die Beurteilung einer Handlung oder einer Lebensweise insbesondere an Konfuzius’ Bewertung Guan Zhongs 管仲 festgemacht werden. Auch wenn Guan Zhong seinem Vorgesetzten, dem Prinzen Jiu 糾, nicht in den Tod folgte, sondern in die Dienste dessen Mörders, dem Herzog Huan 桓公, trat und sich somit der Illoyalität verdächtig machte, so ließ ihm Konfuzius dennoch höchstes Lob zukommen. 166 Denn nicht nur hat Guan Lunyu 6.30. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wieso zhong 忠, das oben in der Fußnote 144, S. 104 mit dem Selbstvollzug in Verbindung gebracht wurde, im Lunyu mit shu 恕, mit der Sorge um das Wohlergehen des anderen (15.24, 12.2), gepaart wird (4.15). Damit wird unterstrichen, dass der Selbstvollzug immer auch mit einer aktiven Fürsorge für den Nächsten einhergeht, ja, Letztere sogar konstitutiv für den Selbstvollzug ist. Vgl. hierzu auch Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuanxingpian 中國哲學 原論。原性篇, S. 91 f. 161 Vgl. Lunyu 12.16. 162 Lunyu 6.4. 163 Vgl. Lunyu 5.19. 159 160

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Zhong entscheidend dazu beigetragen, dass sich die verfeindeten Machthaber friedlich vereinten, auch hat er den Einfall benachbarter Stämme und damit den Zerfall der Zhou周-Kultur zu verhindern gewusst. 167 Die Wirksamkeit seines Handelns, das, so Zhu Xis Kommentar, »allen Menschen zu Gute kam 澤及人« 168, gewinnt hier eine geradezu enthüllende Funktion, 169 und es ist vor allem die historische Bedeutung Guan Zhongs Wirkens, die für Konfuzius Anlass zur Würdigung gab. Die Entfaltung des Umfeldes bildet allerdings keinen absoluten Maßstab. Denn dass es durch den eigenen Selbstvollzug zur Entfaltung des gesamten Umfeldes kommt, hängt nie nur vom Einzelnen ab. Zu viele Faktoren spielen dabei mit, als dass die Auswirkungen von Handlungen als unfehlbares Indiz eines gelungenen Selbstvollzuges gelten können. Auf politischer Ebene gesteht Konfuzius sogar ein, dass die wirksame Entfaltung des Umfeldes ein durchaus schwer zu erreichendes Ziel ist. Selbst Yao 堯 und Shun 舜 ist es nie gelungen, dem Volk gänzlich zur Entfaltung zu verhelfen. 170 Dennoch bleibt die Wirksamkeit des Selbstvollzuges ein guter Maßstab für die Bewertung des eigenen sowie des Handelns anderer. Es hat sich also gezeigt, dass die gelingende Ausformung des Menschen im konkreativen Zusammenspiel mit dem Umfeld vor allem in einem unverzerrten Selbstvollzug besteht. Dabei setzt der eigene Selbstvollzug nicht nur ein genauso ungehemmt sich vollziehendes Umfeld voraus. Er trägt gleichzeitig entscheidend zu dessen Entfaltung bei. 171 Alle bisher skizzierten Momente sind, sofern es sich um ein gelingendes Wirklichkeitsverhältnis handelt, in einen derartigen ungestörten Selbstvollzug eingebettet zu denken. Ist die Herausarbeitung des Wirklichkeitsverhältnisses des Menschen dem Geschehen und Vollzug nach somit bis zum unverzerrten Selbstvollzug vorgedrungen, so

Lunyu 7.27. Ruan Yuan 阮元 (Hrsg.): Shisanjing zhushu 十三經注疏, S. 207. 166 Vgl. Lunyu 14.16, 14.17. 167 Vgl. Lunyu ebd. sowie Edward Slingerland: Confucius Analects, S. 161. 168 Zhu Xu 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 180. 169 Die Selbstbeobachtung (Lunyu, 1.4, 4.17) und Selbstkritik (Lunyu, 15.15, 15.19), zu welcher Konfuzius immer wieder anregt, beschränkt sich demnach nicht auf die bloße »Eigensphäre«. Der selbstkritische Blick hat sich immer auch auf die Auswirkungen des eigenen Verhaltens zu richten. 164 165

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Verfeinerung und Verwebung

ist damit das Wirklichkeitsverhältnis noch nicht in allen seinen Dimensionen erfasst. Eine Letzte steht noch aus.

8.

Verfeinerung und Verwebung

Konnte die Bedeutung des unverzerrten Selbstvollzugs für das menschliche Wirklichkeitsverhältnis anhand der kurzen Autobiografie des Meisters aufgezeigt werden, so macht der biografische Abriss gleichzeitig deutlich, dass der reibungslose Selbstvollzug das Resultat eines längeren Prozesses bildet. Erst mit siebzig nämlich war Konfuzius in der Lage, »den Neigungen seines Herzens zu folgen, ohne dabei das Maß zu überschreiten«. Der ungehinderte Selbstvollzug bildet somit kein Geschehen, das wie ein Programm immer schon mühelos abgespult wird. Aus Konfuzius’ Selbstdarstellung geht vielmehr hervor, dass das Ausformungs- und Entfaltungsgeschehen in einen umfangreichen Entwicklungsprozess eingebunden ist. Wurde die menschliche Lebensentfaltung bisher unabhängig vom gesamten Lebensvollzug und somit vor allem in seiner situativ-räumlichen Dimension betrachtet, so gilt es abschließend, den Vollzug auch in seiner zeitlichen Erstrecktheit, also über die gesamte Lebensspanne hinweg zu betrachten. In einem Gespräch mit dem Musikmeister des Staates Lu 魯 äußert sich Konfuzius, wie folgt, über Musik: So viel können wir über Musik wissen: Am Anfang, wenn die Musik einsetzt, ertönen die fünf Töne durcheinander, ohne klaren Lauf. Wenn die Musik in Schwung kommt, finden die Töne langsam zusammen, sie treten dann klar hervor und weben sich zu einem zusammenhängenden Vgl. Lunyu 6.30 und 14.42. In diesem Zusammenhang sei noch die Frage aufgeworfen, ob der wirksame Selbstvollzug im Lunyu nicht als der vorzügliche Ort fungiert, an dem es dem Menschen gelingt, Zugang zum »Weg des Himmels tian dao 天道« zu gewinnen. Dies würde bedeuten, dass der Mensch, gewissermaßen von innen, im gelingenden leibhaftigen Mitwirken am Wirklichkeitsgeschehen gleichzeitig am Himmel teilnimmt. Die Wirksamkeit seines Handelns wäre er dann nichts anderes als die Hervorbringung und Ausgestaltung des Himmels. Dass Konfuzius in Bezug auf den Himmel nicht viele Worte (yan 言) verliert, würde vor diesem Hintergrund vor allem bedeuten, dass nicht die begriffliche Aufbereitung der Wirklichkeit, sondern das leibhaftig-situative Eingehen wirksamer Zusammenhänge mit dem Umfeld (xing 行) die geeignete Zugangsweise zum Himmel, als fundamentalste Sicht der Wirklichkeit, darstellt. Dies ist allerdings lediglich ein Interpretationshinweis, der sich nur schwer am Text bestätigen lässt. 170 171

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Ganzen zusammen. Hier findet die Musik schlussendlich ihre Vollendung. 172 樂其可知也:始作,翕如也;從之,純如也,皦如也,繹如也,以 成。 (3.23)

In dieser kurzen Schilderung, die zunächst in keinem Bezug zum menschlichen Lebensvollzug zu stehen scheint, versucht Konfuzius, die Musik ihrer inneren Bewegung nach genauer zu fassen. Dabei kehrt er zwei ineinander verschränkte, gleichzeitig ablaufende Bewegungen hervor. 173 Unabhängig davon, ob sich das Zeichen yue 樂 in diesem Zusammenhang auf die fünf Töne 174 oder auf die Musikaufführung als Ganze 175 bezieht, charakterisiert Konfuzius die Bewegung der Musik zunächst als einen langsamen Verfeinerungsprozess. Während die Musik eingangs noch keine klare Gestalt aufzeigt, so gewinnt sie eine solche erst im Laufe ihres eigenen Vollzuges. Aus dem anfänglichen noch unartikulierten Zusammentönen entfaltet sich langsam eine immer deutlicher artikulierte Bewegung. Allmählich setzt sich ein durchgängiger Stil durch, bis schließlich alle Momente in einem Zusammenklang zusammenfinden. Die Musik verfeinert sich somit, indem sie gleichsam sich selbst gegenüber zunehmend sensibler und artikulierter wird. Andererseits bildet die langsam sich verfeinernde Bewegung der Musik gleichzeitig einen fließenden Verwebungsprozess. Die einzelnen Bewegungen gehen gleitend ineinander über, sich verweben sich miteinander und knüpfen ohne Sprünge und Stockungen aneinander an (xiang lian 相連). 176 Jede Bewegung nimmt die vorangegangene auf, lässt sie in sich einfließen und führt sie sodann variierend weiter. Entfaltet sich Musik also in einer allmählichen Verfeinerung ihrer selbst, so tut sie dies, indem sie ihre Bewegungen ineinander übergehen lässt und sie gleitend miteinander verwebt. 177 Im Hinblick auf unsere Frage nach der Ausformung menschlichen Lebens ist anzumerken, dass diese doppelte Bewegung der Verfeinerung und Verwebung nicht auf die Musik zu beschränken ist. Sie charakterisiert ebenso den Vollzug menschlicher Lebensentfaltung. Musik funVgl. zu dieser Übersetzung den von Zhu Xi 朱熹 angeführten Kommentar Xie Liangzuos 謝良佐 in Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 79, sowie Meng Peiyuan 蒙培元: Meng Peiyuan jiang Kongzi 蒙培元講孔子, S. 132. 173 Vgl. hierzu auch Meng Peiyuan 蒙培元: Ebd., S. 132. 172

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giert im Lunyu als ausgezeichnetes Medium, durch das die Entwicklung des Menschen weiter angeregt und vertieft werden kann. Im Kapitel Taibo 泰伯 heißt es diesbezüglich: »In den Liedern des Shijing kann man Anregungen finden, in den li kann man einen Stand im Leben finden, und in der Musik kann man sich entfalten 興於詩,立於禮, 成於樂.« 178 Die Beschäftigung mit Musik, so wird hier hervorgehoben, bietet eine vortreffliche Unterstützung der eigenen Ausformung, denn durch Musik, so kommentiert Bao Xian 包咸, kann man »sein eigenes Leben entfalten 成性« 179. Offensichtlich besteht also im Lunyu zwischen Musik und dem menschlichen Leben eine enge Verwandtschaft. 180 Wurde der Lebensvollzug von Konfuzius in Analogie zur Musik erfahren, so lassen sich die beiden an der Musik beobachteten Bewegungsqualitäten der Verfeinerung und der Verwebung auch auf die Ausformung menschlichen Lebens übertragen. Die Fähigkeit des Menschen, sich responsiv auf Situationen einzulassen, würde sich demnach, um zunächst die erste Bewegungsqualität näher in den Blick zu nehmen, ebenfalls in einem Verfeinerungsprozess allmählich herausbilden. Dass das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen im Lunyu als ein derartiger Sensibilisierungsprozess erfahren wurde, spiegelt sich vor allem an zwei Grundhaltungen wider, zu denen Konfuzius immer wieder ermahnt. Es sind dies die ständige Bereitschaft zu unzensierter Selbstprüfung sowie die unablässige BemüVgl. den Kommentar von Xie Liangzuo 謝良佐 in Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 79. 175 Siehe hierzu die entsprechenden Anmerkungen Yang Bojuns 楊伯峻 und Qian Mus 錢穆 zu Lunyu 8.15. In Bezug auf die Musikaufführung sei hier noch angemerkt, dass sie meistens mit einem Solo des taishi 太师, des Musikmeisters, einsetzte (sheng ge 升歌). Es folgten dann einzelne, ineinander übergehende Instrumentalaufführungen, die dann in ein Finale mündeten, in das alle einstimmten. Vgl. hierzu auch die Ausführungen des Kapitels Yueji 樂記 des Xunzi 荀子 (Xunzi jijie 荀子集解, S. 384 f.). 176 Vgl. Xie Liangzuos 謝良佐 Kommentar in Zhu Xi 朱熹: Ebd., S. 79. Er verwendet in seinen Anmerkungen zudem das anschauliche Bild des »Aneinanderbindens von Perlen guan zhu 貫珠« zur Verdeutlichung der musikalischen Bewegung. 177 Vor dem Hintergrund dieser beiden Momente der Verfeinerung und Verwebung kann auch folgende Bemerkung Konfuzius’ im Kapitel Taibo 泰伯 gelesen werden: »Vom Soloeinsatz des Musikmeisters Zhi bis zum guanju, das als Schlussteil aufgeführt wurde, kam alles zur vollen Entfaltung. Meine Ohren waren erfüllt von der Musik 師摯之始, 關雎之亂,洋洋乎!盈耳哉« (8.15). Auch hier würde es sich nach dieser Lesart um eine allmählich sich verfeinernde und weitende Fortführungsbewegung handeln, in der alles in einen Entfaltungsprozess eingebunden ist. Vgl. auch Yang Bojuns 楊伯峻 Ausführungen zu dieser Stelle in ders. (Hrsg.): Lunyu yizhu 論語譯註, S. 83. 174

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hung um Korrektur des eigenen Verhaltens. 181 Diese beiden Haltungen der Selbstbeobachtung und der Selbstkorrektur zählen zu Konfuzius’ dringendsten »Sorgen you 憂«. 182 Denn, »die Wirksamwerdung von Verhaltensweisen im eigenen Lebensvollzug nicht weiter verfeinern, das Erlernte nicht vertiefend besprechen, Treffendes hören und es im eigenen Lebensvollzug nicht wirksam werden lassen, eigene Makel nicht beheben können 德之不脩,學之不講,聞義不能徙,不善不 能改« 183, dies will er in seinem Selbstverhältnis unbedingt vermeiden. Die hervorragende Bedeutung der Selbstprüfung und Selbstkorrektur, die es »tagtäglich aufs Neue 日新« 184 durchzuführen gilt, zeigt an, dass sich der Lebensvollzug in Konfuzius’ Augen als ein anhaltender Vertiefungs- und Verfeinerungsprozess zu vollziehen hat. Ein Vollzug, der wie ein Programm von selbst ablaufen würde, bräuchte nicht durch eine derartige Wachsamkeit begleitet und unterstützt zu werden. Nur etwas, das einen Entfaltungs- und Verfeinerungsprozess zu durchlaufen hat, ist auf eine ständige Prüfung und Korrektur angewiesen. Dass die Lebensentfaltung im Lunyu in Analogie zur Musik als eine Selbstverfeinerung verstanden wurde, lässt sich auch am Lernprozess ablesen. Das Lernen, so wie es Konfuzius vor Augen hat, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es sich nicht abrundet. Es bildet als solches einen unabschließbaren Entwicklungsgang, bei dem es immer wieder neu anzusetzen gilt. Dies liegt daran, dass das zu Erlernende in den seltensten Fällen ausgelernt werden kann. Die Grenze zwischen Können und Nichtkönnen kann sich stets verschieben, sodass man den Lernprozess offen zu halten hat, um Verbesserungen und Verfeinerungen zuzulassen. Man hat so zu lernen, »als ob man das zu Lernende nie erreichen kann, und als ob man ständig dessen Verlust zu befürchten hat 如不及,猶恐失之« 185. Auf diese Bereitschaft zur Vertiefung macht auch Zeng Zi 曾子 aufmerksam, wenn er im Kapitel Taibo 泰伯 Lunyu 8.8. Siehe Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Lunyu jishi 論語集釋, S. 530. Xing 性 wurde hier als »Leben« übersetzt, gemeint ist aber weiterhin die je besondere Ausprägung menschlichen Lebens, die jeder Mensch verkörpert. 180 Die Nähe zwischen Musik und Lebensentfaltung wird nicht zuletzt durch Konfuzius selbst bezeugt, der noch kurz vor seinem Tod sang und musizierte. Vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen im Kapitel Dangong shang 檀弓上 des Liji 禮記 (Wang Wenjin 王文錦 (Hrsg.): Liji yijie 禮記譯解, S. 79 f.). 181 Zur Selbstprüfung vgl. Lunyu 1.4, 4.17, 7.3, 12.4, 15.15; zur Korrekturbereitschaft vgl. Lunyu 1.8 und 15.30. 182 Lunyu 7.3. 178 179

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rät: »Von den eigenen erworbenen Fertigkeiten aus nach dem fragen, was man nicht kann; von den Bereichen aus, in denen man sich gut auskennt, nach dem fragen, was einem nur wenig bekannt ist; den eigenen Besitz als bedürftig und die eigene Fülle als immer noch leer wahrnehmen. Wenn jemand einem widerspricht, nicht auf der absoluten Gültigkeit der eigenen Position verharren 以能問於不能,以多問 於寡;有若無,實若虛,犯而不校.« 186 Immer wieder hat man von sich selbst abzurücken, um sich in Frage zu stellen. Insofern das Lernen aber stets im Dienste der eigenen Lebensentfaltung steht, 187 deutet die Bereitschaft, das bereits Angeeignete nicht als etwas Abgeschlossenes zu betrachten, sondern es immer weiter vertiefen zu wollen, darauf hin, dass auch die Ausgestaltung seiner selbst und das damit einhergehende Wirklichkeitsverhältnis im Lunyu als ein Verfeinerungsprozess verstanden wurden. Der Vollzug des eigenen Verhältnisses zu den jeweiligen Lebensumständen hat demnach, wie eine musikalische Bewegung, zusehends feinfühliger und sicherer zu werden. Immer tiefer und umfassender hat man mit sich selbst und den jeweiligen Lebensfeldern umzugehen, bis man sich schließlich überall – in der Freizeit zu Hause, in der Natur oder gar im Traum – 188 in einem ungestörten Selbstvollzug ausformen kann. Genauso wird man dabei zusehends leichter und wirksamer auf den Lauf der Dinge einwirken können. Die unmerkbarsten Selbstausdrücke – der Ton der Stimme, der Gesichtsausdruck, ja die kleinste Körperbewegung – 189 werden dann ausreichen, Impulse zu setzen, welche das jeweilige Umfeld neu beseelen und zur Entfaltung bringen. Der ideale Herrscher etwa wird sodann durch seine bloße Präsenz in der Lage sein, ein ganzes Volk zu einem Wandlungsprozess anzuregen. 190 Gleichzeitig vollzieht sich der Verfeinerungsprozess der Lebensentfaltung, wie die Musik, in einem gleitenden Ineinanderübergehen, d. h. in einer fließenden Verwebung der unterschiedlichen Lebensbewegungen. Die Verfeinerung verläuft nicht in Sprüngen, sondern in einem allmählichen Transformationsprozess, in dem alle Phasen nahtlos ineinander übergehen. Dies tritt zunächst an Konfuzius’ eigenem Ebd. Siehe Yin Tuns 尹錞 Kommentar zu 7.3 in Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章 句集注, S. 109. Vgl. auch das Daxue 大學 in Wang Wenjin 王文錦 (Hrsg.): Liji yijie 禮 記譯解, S. 898. 185 Lunyu 8.17. 186 Lunyu 8.5. 183 184

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Lebenslauf besonders deutlich hervor. Im Rückblick auf sein Leben beschreibt er dessen Verlauf im Kapitel Weizheng 為政, wie folgt: »Mit fünfzehn war ich ganz auf das Lernen und Einüben bedacht; mit dreißig habe ich meinen Stand gefunden; mit vierzig hatte ich keine Zweifel mehr; mit fünfzig bin ich mir der Beziehung zwischen dem Himmel und meinem eigenen Leben bewusst geworden; mit sechzig hörte ich alles heraus, und mit siebzig folgte ich den Neigungen meines Herzens, ohne dabei das Maß zu überschreiten 吾十有五而志于學,三十而 立,四十而不惑,五十而知天命,六十而耳 順,七十而從心所 欲,不踰矩«. 191 Wie immer die unterschiedlichen Lebensphasen genau zu interpretieren sind, so scheinen sich die einzelnen Etappen jedenfalls zu einem stimmigen Ganzen zusammenzuweben. Zusammen bilden sie die Bewegung eines Lebens und verleihen diesem in ihrer spezifischen Reihenfolge eine unverwechselbare Gestalt. Die unterschiedlichen Phasen heben sich hier nicht als Negationen der jeweils vorangegangenen gegenseitig auf. Vielmehr sind die einzelnen Stufen als ineinander übergehende Weiterführungen der jeweils vorangegangenen Stufen zu betrachten, die sich auf diese Weise zu einer zusammenhängenden Lebensbewegung miteinander verquicken. In diesem Sinne hat auch Cheng Yi 程頤 in Anlehnung an das Buch Mengzi 孟子 den Lebensweg des Konfuzius mit dem Lauf des Wassers verglichen, das erst »weiter fließt, wenn die Furchen gefüllt sind 盈科而後進«. 192 Wie das Wasser so hat sich auch Konfuzius’ Leben als fließende Fortführung sich verwebender Bewegungen vollzogen. Dass der Ausformungsprozess menschlichen Lebens im Kontakt mit den jeweiligen Lebensumfeldern als ein fließendes Verweben verstanden wurde, zeigt sich auch daran, dass Konfuzius dringend rät, jeglichen Stillstand und alle einseitigen Versteifungen zu vermeiden. Nie sollte sich der Edle (junzi 君子) kompromisslos auf einen bestimmten Bereich beschränken und nur eine Möglichkeit in Betracht ziehen. Sein Vgl. den obigen Punkt 3.2. Vgl. Lunyu 7.4, 7.27, 7.5. 189 Vgl. Lunyu 8.4. 190 Vgl. Lunyu 13.6, 13.13 sowie 9.14. In diesem Zusammenhang sei nur angedeutet, dass das Konzept ren 仁 auf den hier thematisierten Sensibilisierungsprozess hin gelesen werden kann. Wer überall und zu jeder Zeit in der Lage ist, sich selbst unverzerrt zu vollziehen und dabei dem Umfeld zur Entfaltung zu verhelfen, auf den würde dann die Kennzeichnung ren 仁 zutreffen. Ob sich diese Lesart am Text und in der Kommentartradition erhärten lässt, sei hier offen gelassen. 187 188

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Blick hat stets bereit zu sein, andere Perspektiven einzunehmen und zu dulden. Gerade dies spricht Konfuzius an, wenn er mit mahnendem Ton sagt: »Der junzi ist kein ritueller Gegenstand 君子不器.« 193 Ein ritueller Gegenstand (qi 器) zeichnet sich dadurch aus, dass er jeweils festgelegte Funktionen besitzt, durch die er vollständig bestimmt ist und die nicht überschritten werden können, ohne ihn zu einem anderen Gegenstand zu machen. 194 Mit dem menschlichen Lebensvollzug in Verbindung gebracht, verweist dieses Bild des zeremoniellen Utensils auf ein einseitig ausgerichtetes Leben, dessen Vollzug sich nur noch in einem beschränkten Rahmen abspielt. 195 Demgegenüber hat der wahre junzi jegliche Versteifungen und Verkrustungen zu vermeiden und als jemand, »für den es nichts gibt, das [unter allen Umständen] möglich und [unter allen Umständen] unmöglich wäre 无可无不可« 196, die Bereitschaft zu bewahren, sich auf neue Möglichkeiten einzulassen. 197 In dieser Abneigung Konfuzius’ gegen festgefahrene Einseitigkeiten (ji gu 疾固) 198 drückt sich die Grunderfahrung aus, dass sich die Ausformung menschlichen Lebens als ein Verwebungsprozess vollzieht. Dass alle Stockungen und Versteifungen zu vermeiden sind, setzt nämlich voraus, dass der menschliche Lebensvollzug im lebendigen Kontakt mit der Wirklichkeit, wie die Musik oder der Lauf des Wassers, als ein Ineinanderübergehen unterschiedlicher Phasen verstanden wurde. Anders gewendet: Nur weil sich das menschliche Leben in einem Verweben von Bewegungen ausgestaltet, gilt es stets, bereit zu sein, behände (min 敏) 199 in allen Situationen – während des Essens genauso wie in Momenten der Hast und Unsicherheit – 200 konkreative Beziehungen zum Umfeld einzugehen und alle Verhärtungen und einseitigen Fixierungen aufzulösen. Aus alldem geht hervor, dass sich die Lebensentfaltung in den Augen des Konfuzius in seiner zeitlichen Erstrecktheit, wie die Musik, als ein gleichzeitiges Verfeinern und Verweben unterschiedlicher Bewegungen vollzieht. Alle oben herausgearbeiteten Momente des Vollzuges des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses, vom Antworten und Anregen über das tastende Einspüren bis hin zum unverzerrten Vollzug, Lunyu 2.4. Vgl. Zhu Xi 朱熹: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 65, sowie Yang Bojun 楊伯 峻 (Hrsg.): Mengzi yizhu 孟子譯注, 4B18, 7A24. 193 Lunyu 2.12. 194 Vgl. Zhu Xis 朱熹 Kommentar in ders.: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 66. 191 192

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sind in einen solchen zweigleisigen Prozess eingebunden. Über die gesamte Lebensspanne hinweg betrachtet, wurde die Ausformung des menschlichen Lebens im Lunyu also als ein langsamer, fließender Entfaltungsprozess erfahren, in dem das menschliche Leben zunehmend an Weite und Fluss gewinnt. Dem »Kleinigkeitskrämer doushao zhi ren 鬥 筲之人« 201, der rigoros auf bestimmte Bereiche beschränkt bleibt, ist also derjenige gegenüberzustellen, der immer umfassender und erschöpfender auf die unterschiedlichsten Situationen antwortend einzugehen vermag. 202 Während der einseitig ausgerichtete Spezialist seinen Wert gerade aus seiner Beschränkung bezieht, die er als Exklusivität und Einzigartigkeit feiert, schöpft der junzi seine Wirklichkeit aus seiner Öffnung für und seiner Vertiefung in größere Zusammenhänge. Erst in dieser Öffnung für weitere Felder, in dieser »Weitung des Weges des Menschen 弘道« 203, sieht der junzi die Möglichkeit gegeben, eine umfassendere und reichere Wirklichkeit zu erlangen. Die »kleinen Wege xiao dao 小道« des Spezialistentums empfindet er hingegen als Hindernisse in der Weitung seines Wirkungsfeldes (zhi yuan 致远). 204 Gilt es, das Wirklichkeitsverhältnis und die eigene Entfaltung zu verfeinern, um sein Leben zu »weiten kuoda 扩大« 205, so sei in diesem Zusammenhang präzisiert, dass sich dieses allmähliche Ausformungsgeschehen nicht auf ein Telos hin bewegt. Angesichts des Fehlens einer vorgegebenen wesenhaften Identität des Menschen kann der Entfaltungsprozess seinen Abschluss nicht in einer totalen Erfüllung finden, in welcher der Mensch sozusagen zu sich selbst käme. Nirgends liegt ein Entsprechend kritisiert Konfuzius seinen Schüler Zi Gong 子貢, der für seinen notorischen Hang zum Spezialistentum bekannt war, indem er ihn mit den zeremoniellen Gefäßen für Getreide hu 瑚 und lian 璉 vergleicht (5.4). Obwohl es sich bei diesen beiden mit Jade beschmückten Bambusgefäßen um besonders wertvolle Stücke handelt – schließlich gehen sie auf die Xia夏- und Shang商-Zeit zurück –, so bleibt ihre Wirksamkeit dennoch beschränkt und einseitig (pian yong 偏用). Sie können nämlich nur zu besonderen zeremoniellen Anlässen Verwendung finden (vgl. hierzu den Kommentar von Huang Kan 皇侃 in Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Lunyu jishi 論語集釋, S. 293). Für Zi Gong gilt mithin: Er mag zwar besondere Fähigkeiten an den Tag legen und sich in bestimmten Bereichen bewähren und gut auskennen, als solcher führt allerdings auch er ein beschränktes Leben, das nur in speziellen Bereichen Wirksamkeit entfalten kann. 196 Lunyu 18.8. 197 Vgl. auch Lunyu 4.10, 9.4, 17.24, 18.8. 198 Lunyu 14.32. 199 Vgl. Lunyu 1.14, 4.24, 7.20, 17.6, 20.1. 200 Vgl. Lunyu 4.5. 195

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solches Telos vor, auf das hin und von dem her alle Lebensschritte ihren Sinn erhalten würden. Als erst im Kontakt mit der konkreten Wirklichkeit einsetzender Prozess bleibt die Ausformung menschlichen Lebens ein offener Vollzug, der unter stets sich wandelnden Umständen immer wieder neu angestoßen und aufgerollt werden muss und nie in einer endgültigen, gesättigten Selbstpräsenz zum Stillstand kommt. Mit jedem neuen Lebensvollzug erfährt die Konkretisierung menschlichen Lebens eine weitere Ausformung, ohne dass dabei eine ursprüngliche Bestimmtheit eingeholt werden würde. Mit diesem letzten Moment des sich verfeinernden Verwebungsprozesses hat der Versuch, das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen dem Vollzug und Geschehen nach im Lunyu genauer herauszuarbeiten, seinen Abschluss gefunden. Das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen wurde im Lunyu vor allem als sich stets verfeinernder und immer fließender sich vollziehender Ausprägungs- und Ausformungsprozess ausgelegt, der in konkreativen und leibhaft durchlebten Zuwendungen zur Umwelt seinen Gang nimmt. Zusammen mit den Momenten des Anregens und Antwortens, des tastenden und spürenden Einfindens in eine Situation sowie des unverzerrten Selbstvollzuges entsteht so das Bild eines gelingenden menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses, wie es seinem Vollzug nach im Lunyu vorgestellt und empfohlen wird. Alle herausgearbeiteten Vollzugsaspekte zeichnen in ihren wechselseitigen Bezügen den vorgeschlagenen Weg, den der Mensch einzuschlagen hat, um wirksam am Wirklichkeitsgeschehen teilnehmen zu können. Wie diese Resultate in Bezug auf das hier verfolgte Anliegen einer Prüfung des eingangs problematisierten Grundverständnisses des antiken chinesischen Denkens zu bewerten sind, wird erst in Teil III zu behandeln Lunyu 13.20. Darauf weist auch Zhu Xi 朱熹 hin, wenn er in seinem Kommentar zu 2.1 hervorhebt, dass der junzi »alle Aspekte seines Lebens wirksam werden lässt, und so auf alle Situationen antwortend einzugehen vermag 體無不具,故用無不周« (ders.: Sishu zhangju jizhu 四書章句集注, S. 66). Ähnlich lesen wir beim yuan-zeitlichen Kommentator Xu Qian 许谦, dass der junzi »auf alle sich darbietenden Situationen und Vorkommnisse antwortend eingeht 事物之来皆有以应之« (Cheng Shude 程樹德 (Hrsg.): Lunyu jishi 論語集釋, S. 97). 203 Lunyu 15.29. 204 Vgl. Lunyu 19.4. Siehe hierzu auch Zhu Xi 朱熹: Ebd., S. 222, sowie den Kommentar von Qian Mu 錢穆: Lunyu xinjie 論語新解, S. 484. 205 Xu Fuguan 徐復觀: »Shi »Lunyu« de ren 释»论语«的仁«. In: Zhongguo sixiangshi lunji xupian 中国思想史论集续篇, S. 239. 201 202

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Das Lunyu

sein. Im Folgenden sei der zweite berücksichtigte Text, das Buch Mozi 墨子, genauer auf den Vollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses hin beleuchtet.

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B. Das Mozi

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Einleitende Bemerkungen

Wie der Titel des Buches Mozi 墨子 bereits verrät, ist das in diesem Werk dokumentierte Denken mit der historischen Figur des Mozi in Verbindung zu bringen. 1 Gleichwohl kann das Mozi genauso wenig wie das Lunyu als Vermächtnis eines einzelnen Autors betrachtet werden. Das uns überlieferte Werk bildet eine Textsammlung, in die Schriften eingeflossen sind, die weder der Verfasserschaft noch der Kompilationstätigkeit nach Mozi selbst zugeschrieben werden können. Das aufgenommene Textmaterial setzt sich vielmehr aus Abhandlungen zusammen, die unterschiedlichen Entwicklungsphasen der auch als »Mohismus« bezeichneten Denkströmung 2 entstammen und deren Datierung teilweise bis ins 3. Jh. v. Chr. hineinreicht. Das Mozi ist demnach nicht als Gründungsmanifest, sondern als Zeuge der Entwicklung einer bestimmten Schule zu betrachten. Folgt man der von Hu Shi 胡適 (1891–1962) vorgenommenen und inzwischen allgemein anerkannten Gliederung des Textmaterials, so lassen sich die überlieferten 53 Kapitel des ursprünglich insgesamt 71 Kapitel umfassenden Mozi in fünf Teile gliedern: Kapitel 1–7, 8–39, 40–45, 46–50 und 52–71. 3 Jede dieser Textgruppen bildet dabei eine Die Lebensdaten des Mozi sind nicht eindeutig ermittelbar. Fest steht nur, dass er in der Zeit zwischen dem Tod Konfuzius’ (479 v. Chr.) und der Geburt Mengzis (372 v. Chr.) und somit in der Übergangsperiode der Chunqiu春秋- zur Zhanguo戰國-Zeit gelebt und gewirkt hat. 2 Siehe zum Mohismus etwa Steve Coutinho: Zhuangzi and Early Chinese Philosophy, S. 77–81. Die mohistische Bewegung zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass sich die Anhänger der Lehre des Mozi in Gemeinden organisierten, die durch ihre strenge Disziplin bekannt waren und von »Großmeistern juzi 鉅子« geleitet wurden. Vgl. hierzu Reinhard Emmerich: »Religiöse Einstellungen der Mohisten«. In: Chinesische Religion und Philosophie. Konfuzianismus, Mohismus, Daoismus, Buddhismus – Grundlagen und Einblicke, S. 37. 1

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Das Mozi

mehr oder weniger zusammenhängende Einheit, die auf eine je eigene Herkunft verweist. Am augenfälligsten stechen die Kapitel 40–45, die sogenannten Mobian 墨辯, und die Kapitel 52–71 hervor. Sie nehmen thematisch und stilistisch eine Sonderstellung im Gesamtduktus des Mozi ein. Während die Mobian lapidare Begriffserklärungen und kurze Einträge zu unterschiedlichen Themen, wie Logik, Erkenntnis oder Ethik, anführen, stehen in den Kapiteln 52–71 technische und strategische Aspekte der Kriegsführung im Mittelpunkt. Ihrer Form und ihrem Inhalt nach sind diese beiden Textgruppen allerdings nur schwer mit den restlichen Teilen des Mozi in einen nahtlosen Zusammenhang zu bringen, in denen vor allem Regierungstechniken vorgestellt werden. Die Mobian sowie die Kapitel 52–71 werden in der Forschung sodann auch als die vermutlich spätesten Textschichten veranschlagt – geschätzt wird das 3. Jh. v. Chr. 4 Von den übrigen drei Teilen, den Kapiteln 1–7, 8–39 und 46–50, wird hingegen angenommen, dass sie ein vergleichsweise zuverlässiges Bild der frühen mohistischen Bewegung des 5. und 4. Jh. v. Chr. zeichnen. 5 Insofern sie aber beachtliche stilistische Unterschiede aufweisen, ist auch in ihrem Fall davon auszugehen, dass sie unterschiedlicher Provenienz sind. So haben die Kapitel 46–50, in denen sich kurze Gespräche und Anekdoten des Mozi lose aneinandergereiht finden, mehr Ähnlichkeiten mit dem Lunyu als mit den durchkomponierten Ausführungen der Kapitel 1–7 und 8–39. Aber auch diese beiden Teile unterscheiden sich in ihren Darstellungsweisen. Während die ersten sieben Kapitel kurze und konzentrierte Essays bilden, die einen konzisen Überblick über die Hauptthesen der Mohisten liefern, nehmen die Kapitel 8– 39 schon eher den Charakter größerer Abhandlungen an, in denen verschiedene Grundansichten ausführlicher ausgebreitet werden. In Bezug auf die letztgenannten Kapitel 8–39 kommt hinzu, dass die dort behandelten »zehn Anweisungen« gleich in drei leicht abgewandelten AusVgl. Hu Shi 胡适: Zhongguo zhexueshi dagang 中國哲學史大綱, S. 151–152. Einen kurzen Überblick über die chinesische Textkritik liefert etwa Li Guanghui 李光輝: »»Mozi« chengshu niandai ji zhuzhe kaozheng zongshu »墨子«成書年代及著者考證 綜述«. In: Yindu xuekan 殷都學刊 (2006/4), S. 102–105. 4 Zu dieser Datierung siehe den Beitrag »Mohist Canons« von Christopher J. Fraser in der Standford Encyclopedia of Philosophy: http://plato.stanford.edu/entries/mohistcanons/, sowie Li Guanghui 李光輝: Ebd., S. 104. 5 Vgl. Benjamin Schwartz: The World of Thought in Ancient China, S. 137. 3

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Einleitende Bemerkungen

arbeitungen vorliegen, bei denen davon auszugehen ist, dass sie auf konkurrierende mohistische Schulen zurückgehen, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben. 6 Es scheint sich mithin bei diesen Kapiteln vielmehr um zusammengetragene Schriften als um einen Text aus einem Guss zu handeln. Ist angesichts dieser verworrenen Textlage der Annahme eines einzigen Urhebers jede Grundlage entzogen, so wird die Beleuchtung des Mozi auf den Vollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses hin damit nicht schon zu einem aussichtslosen Unternehmen, das jeglicher einheitlichen Textgrundlage entbehren würde. Zunächst braucht für unsere Fragestellung keineswegs das gesamte Buch Mozi herangezogen zu werden. Insofern die vorliegende Arbeit den Vollzug eines gelingenden menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses anhand zentraler philosophischer Texte der ausgehenden Zhou周-Zeit (11. v. Chr. – 5. Jh. v. Chr.) und der einsetzenden Zhanguo戰國-Zeit (Ende des 5. Jh. v. Chr.–221 v. Chr.) genauer zu betrachten versucht, kann die Beleuchtung des Mozi auf die Kapitel 1–7, 8–39 und 46–50 beschränkt werden. Von ihnen wird, wie eben erwähnt, angenommen, dass sie, im Gegensatz zu den Mobian und den Kapitel 52–71, gerade in diesen Zeitraum fallen. Darüber hinaus können diese Teile, trotz ihrer Unterschiede, als kohärente und in sich stimmige Texteinheit herangezogen werden. Ungeachtet der Heterogenität des Textmaterials weisen sie hinreichend inhaltliche Ähnlichkeiten auf, um sie als Zeugnisse einer in Grundfragen einheitlichen Lehre zu lesen. Dies gilt auch und gerade für die dreifachen Ausführungen der Kapitel 8–39, deren Abweichungen keine unvereinbaren Divergenzen in den Grundthesen erkennen lassen. 7 Will man dennoch gegen die Unterstellung einer in Grundfragen einheitlichen Lehre die nicht zu leugnenden inhaltlichen Dissonanzen anführen, so ist darauf hinzuweisen, dass, wie im Lunyu, auch hier unser Anliegen von diesen unberührt bleibt. Der uns interessierende Vollzug des Vgl. hierzu etwa A. C. Graham: Divisions in Early Mohism Reflected in the Core Chapters of Mo-tzu, S. 1. Zur Aufsplitterung der mohistischen Bewegung in unterschiedliche Schulen (bie mo 別墨)) siehe auch das Kapitel Tianxia 天下 des Zhuangzi 莊子 (Chen Guying 陳鼓應 (Hrsg.): Zhuangzi jinzhu jinyi 莊子今註今譯, S. 863) sowie das Kapitel Xianxue 顯學 des Hanfeizi 韓非子 (Chen Qiyou 陈奇猷: Hanfeizi xin jiaozhu 韓非子新校注, S. 1124). Beide Quellen weichen allerdings in ihren Darstellungen der Fraktionenbildung voneinander ab. 7 Vgl. hierzu A. C. Graham: The Disputers of the Tao, S. 35, sowie ders.: Divisions in Early Mohism Reflected in the Core Chapters of Mo-tzu, S. 1 f. 6

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menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses stand nämlich nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen innerhalb der mohistischen Bewegung. Die inhaltlichen Differenzen der Kapitel 8–39 etwa gehen, wie A. C. Graham hervorgehoben hat, vielmehr auf unterschiedliche politische Grundhaltungen zurück. Sie sind Ausdruck konservativerer und radikalerer Auslegungen des mohistischen Programms, welche vermutlich auf die Notwendigkeit zurückzuführen sind, die Lehre für unterschiedliche Zuhörerschaften aufzubreiten; schließlich konnten die Machthaber nicht mit dem gleichen Programm überzeugt werden wie potenzielle Anhänger aus den unteren sozialen Schichten. 8 Waren demnach nicht abweichende Auffassungen in Bezug auf das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit Stein des Anstoßes innerhalb der mohistischen Bewegung, so können die hier berücksichtigten drei Teile aus dem Blickwinkel unserer Fragestellung durchaus als kohärente Textgrundlage verbucht werden. Wenden wir uns unserem Anliegen zu, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Herausarbeitung des Vollzuges eines gelingenden menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses im Mozi von besonderer Brisanz ist. Nicht nur haben sich die Mohisten in expliziter Kritik von den Konfuzianern abzugrenzen versucht, 9 es wird ihnen zudem in der modernen Forschung eine Weise des Philosophierens nachgesagt, die sehr stark an westliche Gewohnheiten erinnere. Mit den Mohisten, so eine geläufige Einschätzung, seien erste Keime eines begründenden, rationalen Diskurses in China gesprossen. 10 Es drängt sich von daher die Frage auf, ob die in Bezug auf das Lunyu gewonnenen Resultate auch hier noch Gültigkeit beanspruchen können, bzw. ob dem leibhaftigen, konVgl. A. C. Graham: Divisions in Early Mohism Reflected in the Core Chapters of Motzu, S. 20–28. 9 Vgl. hierzu etwa das Kapitel »Gegen die Konfuzianer Feiru 非儒«. Von Mozi selbst wird im Kapitel »Das Wichtigste zusammengefasst 要略« des Huainanzi 淮南子 berichtet, dass er zunächst unter dem Einfluss der Konfuzianer stand. Er hat, so lesen wir dort, »den Bildungsweg eines ru durchlaufen und sich die Techniken des Konfuzius angeeignet 學儒者之業,受孔子之術« (Liu Wendian 劉文典 (Hrsg.): Huainan hongli jijie 淮 南鴻烈集解, S. 709). Erst später hat er sich von ihnen abgewandt, da ihm »die konfuzianischen Verhaltensweisen lästig und störend wurden und ihn frustrierten 以為其禮煩擾 而不說« (Ebd.). Siehe auch Chad Hansen: A Daoist Theory of Chinese Thought, S. 99. 10 So ist etwa A. C. Graham der Ansicht, dass Mozi gleichsam die Wiege philosophischer Rationalität in China bildet. »Rational debate in China«, so seine Einschätzung, »starts with the first rival of Confucius, Mo Ti« (ders.: Disputers of the Dao, S. 33). Vgl. auch Benjamin Schwartz: The World of Thought in Ancient China, S. 164; Anne Cheng: His8

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kreativen Wirklichkeitsverhältnis des Lunyu hier ein Modell rationaler Durchdringung und begründender Argumentation entgegentritt? Wie im Falle des Lunyu so kommt auch die folgende Darstellung der mohistischen Auslegung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses dem Vollzug und Geschehen nach nicht umhin, sich einen indirekten Zugang zu ihrem Gegenstand zu bahnen. Auch im Mozi geraten Geschehen und Vollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses nicht unmittelbar in den Blick. Es empfiehlt sich von daher auch in diesem Zusammenhang, mit einer vorgängigen Bestimmung der mohistischen Grunderfahrung von Wirklichkeit überhaupt einzusetzen. Insofern nämlich das menschliche Wirklichkeitsverhältnis im Blickpunkt steht, so verspricht auch hier eine genauere Beleuchtung des mohistischen Grundverständnisses von Wirklichkeit schlechthin einen ersten Zugang zum Verhältnis des Menschen zu ebendieser Wirklichkeit.

2.

Der Himmel und das mohistische Wirklichkeitsverständnis

2.1. Der Himmel Das mohistische Verständnis von Wirklichkeit lässt sich, ähnlich wie im Lunyu, nicht direkt herausarbeiten. Auch im Mozi wird die Wirklichkeit zu keinem Zeitpunkt ihrer Verfasstheit nach zum unmittelbaren Gegenstand ausführlicher Betrachtungen. Immerhin wird, deutlicher als noch im Lunyu, bei den frühen Mohisten der »Himmel tian 天« explizit als Grundmoment der Gesamtwirklichkeit hervorgehoben. Die Wirklichkeit, so lesen wir, ist nämlich bis in ihre kleinsten Winkel vom Himmel durchdrungen: »Bis in die Spitzen der feinsten Borsten gibt es nichts, was der Himmel nicht gemacht hat 若豪之末,非天之所為 也.« 11 Rückt der Himmel aufgrund seiner Allgegenwart demnach fast bis zur Deckungsgleichheit an das naturwüchsige Wirklichkeitsspiel heran, so ist davon auszugehen, dass sich das Wirklichkeitsverständnis der toire de la pensée chinoise, S. 94; Chad Hansen: A Daoist Theory of Chinese Thought, S. 95. 11 Tianzhi zhong 天志中, S. 202. Den folgenden Ausführungen liegt die Mozi-Ausgabe Mozi jiangu 墨子間詁 von Sun Yirang 孫詒讓 (1848–1908) zugrunde. Zitiert wird nach der Neuauflage Sun Yirang 孫詒讓 (Hrsg.): Mozi jiangu 墨子間詁. Beijing 北京, 2001. Bei der Übertragung ins Deutsche wurden folgende Übersetzungen herangezogen: Mei

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Mohisten gerade über ihre Vorstellung vom Himmel erschließen lässt. 12 Es sei von daher im Folgenden zunächst auf die mohistische Vorstellung des alles durchdringenden Himmels eingegangen, um von Yi-pao (Übers.): The Ethical and Political Works of Motse. London, 1929; Helwig Schmidt-Glintzer (Übers.): Mo Ti: Gegen den Krieg. Düsseldorf, 1975. Zu der gerade angeführten Stelle vermerkt Sun Yirang 孫詒讓, dass vor fei 非 ein zusätzliches wu 無 einzuschieben ist. Das obige Zitat ist mithin, wie folgt, zu lesen: »若豪之 末,無非天之所為也.« 12 Die Hervorhebung der Allgegenwart des Himmels kann als Reaktion der Vertreter der ersten Generation der Mohisten auf die zunehmende Marginalisierung des Himmels im Laufe der Zhou周-Zeit gelesen werden. Sie scheinen mit ihrem Verständnis des Himmels beabsichtigt zu haben, diesem wieder eine gewichtigere Bedeutung beizumessen. Die religiöse Figur des »Himmels tian 天«, die nach dem militärischen Sieg der Zhou 周 über die Shang 商 in Muye 牧野 gegen Ende des 11. Jh. v. Chr. in den Mittelpunkt des religiösen und politischen Lebens der frühen Zhou周-Zeit rücken sollte, hatte bis zur einsetzenden Zeit der »streitenden Reiche« (Zhan guo 戰國) viel von ihrem ehemaligen Glanz verloren. In der frühen Zhou-Zeit wurde der Himmel als eine empfindsame, willentlich eingreifende Macht erfahren, welche das Handeln der Menschen beobachtet und sich, wenn nötig, in den Lauf der Dinge einschaltet, um die Ordnung des Weltlaufs aufrechtzuerhalten (vgl. Yuri Pines: Foundations of Confucian Thought. Intellectual Life in the Chunqiu Period, 722–453 B.C.E, S. 55–59). Nach der Verlegung der Hauptstadt ins östlichere Luoyi 洛邑 – auch Chengzhou 成周 genannt –, die im Jahre 771 v. Chr. vor dem Hintergrund von Erbfolgestreitigkeiten erfolgte und durch die Ermordung des Königs You 幽 begleitet wurde, sollte der Himmel allerdings als Garant der Ordnung zusehends in Frage gestellt werden. Mit der Neugründung der Hauptstadt setzte das allmähliche Zerbröckeln der Zentralgewalt der Zhou-Könige und des Zusammenhalts der Familienbünde ein. Der damit einhergehende Zerfall der politischen und sozialen Stabilität sollte erste – zunächst noch unsichere und vorsichtige – Zweifel der damaligen Elite an der Ordnungsfunktion des Himmels hervorrufen (vgl. Yuri Pines: Ebd., S. 59). Mit der weiteren Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung geriet die Zuverlässigkeit und Allmacht der Himmels allerdings in ein immer negativeres Licht, sodass der Himmel sogar zuweilen als eine dem Menschen gegenüber boshaft gesonnene Macht angeprangert wurde. Vgl. hierzu etwa folgende Lieder des Shijing 詩經: »Yuwuzheng 雨無正« (Mao, 194), »Xiaomin 小旻« (Mao, 195), »Qiaoyan 巧言« (Mao, 198). Es war den Menschen angesichts der Existenz eines angeblich ordnenden Himmels nicht mehr ohne Weiteres einsichtig, wieso die Welt in eine derartige Unordnung verfallen konnte und warum gerade die unrechtmäßigen und skrupellosen Gewaltherrscher weiterhin unbestraft die Zügel der politischen Macht hielten. Konnte dem Himmel nicht mehr bedingungslos als Garant der Ordnung vertraut werden, so musste er zusehends rätselhafter erscheinen und letztlich sogar als unzugänglich wahrgenommen werden. Mit der ausgehenden Chunqiu春秋-Zeit und der anfangenden Zeit der streitenden Reiche war sodann ohne Umschweife von der Unmöglichkeit die Rede, den Willen des Himmels erfassen und begreifen zu können (vgl. etwa Zuozhuan 左傳: Zhao 昭 4.1, S. 1246; Zhao 昭 30.2, S. 1508; Ai 哀 1.4, S. 1608; Ai 哀 15.3, S. 1692–1693. Die Seitenzahlen verweisen auf die Ausgabe Yang Bojuns 楊伯峻

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hier aus Rückschlüsse auf das Wirklichkeitsverständnis des Mozi ziehen zu können. 13 a)

Die Realpräsenz des Himmels

Entscheidend für das mohistische Verständnis des Himmels ist, dass, auch wenn es gerade vom Himmel hieß, er »mache wei 為« alles, die Mohisten ihn dennoch nicht als einen demiurgischen Himmel verstanden haben. 14 Zu keinem Zeitpunkt wird der Himmel im Mozi explizit als etwas Transzendentes thematisiert. Die Frage, ob die Wirklichkeitsvollzüge das Sichtbarwerden einer anderen, getrennten Wirklichkeit (Hrsg.): Chunqiu zuozhuan zhu 春秋左傳注. Beijing北京, 2005. Vgl. auch Yuri Pines: Ebd., S. 59–70). Diese zunehmende Rätselhaftigkeit des Himmels führte dazu, dass der Mensch immer mehr auf sich selbst zurückgeworfen wurde und der Himmel somit an Relevanz verlor. Vgl. Yuri Pines: Ebd., S. 66 ff. Statt auf den Beistand des Himmels zu warten, sah er sich nunmehr allein auf sich selbst gestellt. Nicht um die Gunst des Himmels, sondern nur noch um sein eigenes Wohlergehen war es ihm ab sofort zu tun. Repräsentativ für den Ausschluss des Himmels aus den menschlichen Angelegenheiten steht die berühmte Stellungnahme Zi Chans 子產 (?–522 v. Chr.): »Der Weg des Himmels ist fern, der Weg des Menschen hingegen ist nahe und trifft als solcher nicht auf den Weg des Himmels. Wie sollen wir so den Himmel erkennen können? 天道遠,人道邇, 非所及也,何以知之?« (Zuozhuan 左傳: Zhao 昭 18.3, S. 1395). Der Kontext dieser Äußerung ist folgender: Eine dem Staate Zheng 鄭 drohende Feuersbrunst wollte der dienstälteste Beamte Pi Zao 裨灶 mit einer Zeremonie abwenden. Zi Chan, der Kanzler des Staates Zheng, lehnte diese Vorgehensweise allerdings als Aberglauben ab. Nicht mehr auf den Himmel, sondern allein auf seine eigenen Fähigkeiten habe der Mensch zu vertrauen. Gegen diesen Zweifel an der Bedeutung des Himmels für die menschlichen Angelegenheiten scheinen die frühen Mohisten des 5. Jh. v. Chr. angekämpft zu haben, wenn sie den Zeitgenossen einen Himmel entgegenhielten, der in sämtliche Momente und Ebenen des Wirklichkeitsgeschehens hineinspielt und somit alles durchwirkt. Ein derartig fundamentaler und alle Dimensionen der Wirklichkeit durchdringender Himmel konnte nicht mehr als belanglos abgekanzelt und einfach umgangen werden. Im Gegenteil spielt ein solcher allgegenwärtiger Himmel wieder in alle menschliche Angelegenheiten hinein und muss demnach in seiner Bedeutung für das menschliche Leben wieder ernst genommen werden. Entsprechend wird der Leser im Mozi immer wieder ermahnt, mit dem Himmel »nicht fahrlässig umzugehen 不可不慎也« (Tianzhi zhong 天志中, S. 199). 13 Die Himmelsvorstellung der Mohisten kann hier nicht in allen Schattierungen vorgestellt werden. Vielmehr werden sich die nachfolgenden Ausführungen auf die für unsere Frage nach der Verfasstheit der Wirklichkeit relevanten Eigenschaften des Himmels im Mozi beschränken. 14 Vgl. Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuandao pian 中國哲學原論。 原道篇, S. 189.

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bilden, mithin von einem Himmel an sich herrühren, wird nicht einmal andeutungsweise angeschnitten. Dem überlieferten Text zufolge birgt das naturwüchsige Wirklichkeitsgeschehen demnach keine zweite Wirklichkeitsebene hinter sich. 15 Vielmehr sind die Wirklichkeitsvollzüge restlos so zu betrachten, wie sie sich jeweils vollziehen. Dass die Mohisten den Himmel nicht als eine jenseitige Macht verstanden haben, spiegelt sich darin, dass sie ihn im Gegensatz zur frühen Zhou周-Zeit nie als empfindsame, willentlich eingreifende personale Gottheit verehrt haben, zu welcher man in ein persönliches Beeinflussungsverhältnis treten kann. 16 Der Versuch, indirekt über Zeremonien und Opfergaben Kontakt mit einer hinter dem Wirklichkeitsgeschehen waltenden himmlischen Macht aufzunehmen, wird von den Mohisten nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. So weisen sie darauf hin, dass die Zeremonien »der weisen Könige aus der Zeit der drei Dynastien, Yu, Tang, Wen und Wu 昔三代聖王禹湯文武« lediglich ins Leben gerufen worden sind, »um allen Menschen vor Augen zu führen, dass der Himmel die Richtlinie bildet, nach der sich der Himmelssohn orientiert 欲以 天之為政於天子明說天下之百姓«. 17 Durch die Zeremonien soll dem Volk vor allem die Bedeutsamkeit des Himmels für das Regieren bewusst gemacht werden. Ihnen kommt von daher allein eine pädagogische Rolle zu. Von einer tatsächlichen Interaktion mit einem willentlich handelnden, jenseitigen Himmel kann hier gleichwohl nicht die Rede sein. Ähnlich wird an anderer Stelle die Tatsache, dass alle dem Himmel opfern, lediglich als Hinweis dafür angeführt, dass vor ihm alle gleich Vgl. hierzu den Abschnitt »Religion« in Christopher J. Frasers Beitrag »Mohism« in der Stanford Encyclodedia of Philosophy: http://plato.stanford.edu/entries/mohism/ #religion; Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuandao pian 中國哲學原 論。原道篇, S. 191; Xu Fuguan 徐復觀: Zhongguo renxinglunshi 中國人性論史, S. 320. 16 Vgl. hierzu Fußnote 12, S. 124 f. 17 Tianzhi shang 天志上, S. 194. Zheng 政 ist in diesem Zusammenhang nicht als »Regieren« oder »Leiten« zu lesen, sondern als »Richtlinie« oder »Vorgabe«. In diesem Sinne übersetzt auch Mei Yi-Pao zheng mit »standard« (vgl. ders.: The Ethical and Political Works of Motse, S. 137). Dem entspricht, dass die gesellschaftliche Ordnung den Mohisten zufolge hauptsächlich durch ein Angleichen jeder gesellschaftlichen Schicht an die höhere Schicht zustande kommt. Die höhere Schicht stellt den Maßstab bereit, nach dem sich die untergeordneten Schichten richten müssen. Vgl. hierzu die Kapitel Shangtong 尚同 des Mozi 墨子. Der Herrscher, als Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie, orientiert sich seinerseits an dem Himmel. Dieser leitet also nicht aktiv den Herrscher, sondern dient vor allem als Vorbild, nach dem sich der Herrscher auszurichten hat (fa 法). Vgl. Fayi 法儀, S. 22. 15

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sind, der Himmel also niemanden ausschließt. Denn dass alle Menschen dem Himmel opfern, so fragen die Verfasser, »zeigt dies nicht, dass der Himmel alle Menschen umgreift und alle gleichermaßen ernährt? 此不 為兼而有之,兼而食之邪?« 18. Dass man durch sorgfältig vorbereitete Opfergaben mit einer getrennten Entität in Kommunikation treten kann, dies findet sich auch hier nicht einmal angedeutet. 19 Es verwundert von daher kaum, dass der Himmel bei den Mohisten nie von einer religiösen Aura umgeben war. Die konfuzianische Wertschätzung der Verhaltensweisen (li 禮) und die daoistische Hochachtung vor der Unergründlichkeit der Wirklichkeitsvollzüge erscheinen weit mehr von einem religiösen Ton durchtränkt als die mohistische Thematisierung des Himmels. 20 Verweist der Himmel in seiner Allgegenwart nicht auf eine jenseitige Größe, so bedeutet dies, dass er nur im aktuell sich vollziehenden Wirklichkeitsgeschehen (tiandi 天地) anwesend ist. Das konkrete Wirklichkeitsgeschehen wird somit zum tatsächlichen Zugegensein, zum unmittelbaren Selbstausdruck des Himmels. 21 Ganz in diesem Sinne hat Chad Hansen in seinen maßgebenden Analysen zum Mozi den Begriff tian 天 auch mit »Natur« übersetzt und somit die Untrennbarkeit des Himmels von dem raum-zeitlichen Wirklichkeitsgeschehen unterstrichen. 22 Ist die Omnipräsenz des Himmels im Mozi somit als eine Realpräsenz zu lesen, wird das Wirklichkeitsspiel also zur lebendigen Verkörperung des Himmels, so ist diese unmittelbare Anwesenheit des Himmels gleichwohl nicht als seine vollständig gesättigte Präsenz im konkreten Wirklichkeitsgeschehen zu verstehen. Mitnichten verschmelzen Himmel und Wirklichkeitsgeschehen hier zu einer starren, deckungsgleichen Identität »an und für sich«, in welcher der Himmel vollständig durchsichtig vorliegen würde. Wäre dies der Fall, so würden die Mohisten eine erschöpfende empirische Beschreibung des Himmels Fayi 法儀, S. 22. Ähnlich sind auch Tianzhi zhong 天志中, S. 197, und Shangtong zhong 尚同中, S. 82 f., zu lesen. 20 Vgl. hierzu den Abschnitt »Religion« in Christopher Fraser: »Mohism.« In: Stanford Encyclodedia of Philosophy: http://plato.stanford.edu/entries/mohism/#religion; Anne Cheng: Histoire de la pensée chinoise, S. 107. 21 Siehe hierzu Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuandao pian 中國哲學 原論。原道篇, S. 193. 22 Siehe Chad Hansen: A Daoist Theory of Chinese Thought, S. 123. 18 19

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vorlegen können, bzw. den Begriff des Himmels für überflüssig erklären müssen. Gerade dies ist aber nicht der Fall. Nicht nur wird der Begriff tian 天 zu keinem Zeitpunkt entbehrlich, auch wird der Himmel nie durch eine empirische Beschreibung der Wirklichkeit einzuholen versucht. Ein weiterer Grund, der gegen eine totale Verschmelzung von Himmel und konkreter Wirklichkeit spricht, ist darin zu sehen, dass die Mohisten den Menschen als ein Wesen verstanden haben, das über sich verfügt und in der Lage ist, sein Schicksal in die Hand zu nehmen. 23 Wäre der Himmel hingegen mit der Wirklichkeit eins, so könnte dem Menschen diese Freiheit nicht zugeschrieben werden. Er könnte dann nicht über sich bestimmen, sondern würde zum bloßen Spielball des Laufs der Dinge werden. Verweist der Himmel nicht auf ein radikales Anderswo, so fällt er also genauso wenig mit dem gegebenen Wirklichkeitsgeschehen in lückenloser Deckungsgleichheit zusammen. Wie im Lunyu ist auch hier davon auszugehen, dass sich der Himmel erst in der Äußerlichkeit des Wirklichkeitsgeschehens allmählich ausartikuliert. Im konkreten Wirklichkeitsgeschehen und somit durch dessen mannigfaltige Vollzüge hindurch wird der Himmel allererst realisiert und wirklich. 24 Als derart in der Wirklichkeit sich erst artikulierender Himmel ist er sicherlich überall und zu jedem Zeitpunkt präsent. Nirgends wird er indessen gänzlich aufgehen, nirgends wird er zu einer selbstidentischen Präsenz finden. Zwischen totaler Anwesenheit und spurenloser Abwesenheit befindet er sich vielmehr im konkreten Wirklichkeitsgeschehen stets im Werden. b)

Der Himmel als Tendenz der Wirklichkeit

Weist die mohistische Himmelsvorstellung damit deutliche Ähnlichkeiten mit dem Lunyu auf, so gehen die Mohisten dennoch in einem entscheidenden Punkt über dieses hinaus. Als in der »Äußerlichkeit« des Wirklichkeitsgeschehens selbst unmittelbar sich artikulierender Himmel versuchen sie ihn, im Gegensatz zum Lunyu, näher zu bestimmen. Dies wird in den Kapiteln »Gegen Fatalismus Fei Ming 非命« näher ausgeführt. Vgl. auch Guo Qiyong 郭齊 勇: Zhongguo zhexueshi 中國哲學史, S. 58. 24 Auch Tang Junyi 唐君毅 weist indirekt in seinen Ausführungen zum Mozi auf diesen Punkt hin. Vgl. ders.: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuandao pian 中國哲學原論。原道 篇, S. 191. 23

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Folgende Stelle aus dem Kapitel Fayi 法儀 ist in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung. Die Vollzüge des Himmels vollziehen sich nicht unabhängig voneinander, jeder für sich, sondern stets miteinander. Dabei unterstützen sie sich großzügig gegenseitig, ohne sich dies als Verdienst anrechnen lassen zu wollen. Als solche sind sie dauerhaft und klar und lassen in ihrer Wirksamkeit nicht nach. 天之行廣而無私,其施厚而不德,其明久而不衰。 (Fayi 法儀, S. 22)

Ist tian 天, wie eben ausgeführt, nicht als eine getrennte Entität zu verstehen, so beziehen sich die hier erwähnten »Vollzüge des Himmels tian zhi xing 天之行« ausschließlich auf die mannigfaltigen Wirklichkeitsabläufe, in denen sich der Himmel artikuliert. 25 Alle in diesem Zitat angeführten Charakterisierungen sind somit auf das konkret erfahrbare Wirklichkeitsgeschehen hin zu lesen. Geht man von diesen Zeilen aus, so wird das himmlische Moment in der konkreten Wirklichkeit vor allem als eine alles durchziehende Tendenz bestimmt, als eine Vollzugsqualität, der alles folgt. Diese Vollzugsqualität zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass alles in gegenseitiger Bezogenheit seinen Lauf nimmt (guang 廣). Nichts führt ein autarkes, abgeschottetes Einzeldasein für sich (si 私). Derart aufeinander bezogen, lässt sich zudem alles gegenseitig Unterstützung zukommen. 26 Alles leistet bereitwillig im Wirklichkeitsspiel einen Beitrag zum Erhalt des Ganzen (shi hou 施厚). Jedes Moment gibt sich bedingungslos, ohne nach Anerkennung zu streben (bu de 不德), für das Weiterbestehen der »zehntausend Dinge« hin. Was sich aus diesem Beziehungsnetz gegenseitig sich unterstützender Bezogenheiten löst, von dem ist anzunehmen, dass es notgedrungen vergehen wird. Als ein derartiges Geschehen ist der Fortgang der Wirklichkeit dann auch dauerhaft gesichert (jiu 久). Insofern sich alle Wirklichkeitsabläufe gegenseitig tragen und unterstützen, verflechten sie sich zu einem durchgehend verzahnten Gesamtgeschehen, das durch eine alles durchströmende Wirksamkeit beseelt ist. 27 Das Wirklichkeitsgeschehen wird Der Akzent liegt also auf xing 行 und nicht auf tian 天. 天之行 könnte letztlich auch mit »die Artikulationen des Himmels in der Wirklichkeit« wiedergegeben werden. 26 Vgl. hierzu auch Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuandao pian 中國 哲學原論。原道篇, S. 191. 25

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dadurch in seinem Lauf nicht mehr erlahmen, sondern sich kontinuierlich aus sich heraus fortführen. Es vollzieht sich dann in einer optimalen, vielleicht sogar in der bestmöglichen Weise. 28 Dass alle Abläufe in gegenseitiger Unterstützung zu einem dauerhaften, sich nicht abnutzenden Gesamtgeschehen zusammenfinden, dies kennzeichnet also das himmlische Moment im Wirklichkeitsgeschehen. Die dauerhaften Beziehungen gegenseitiger Unterstützung bilden somit die himmlische Grundmelodie, welche das natürliche Wirklichkeitsgeschehen in all ihren Vollzügen zum Erklingen bringt. Auf ebendiese Vollzugsqualität des Wirklichkeitsgeschehens hin haben die Mohisten den Himmel (tian 天) zu bestimmen versucht. 29 Während im Lunyu 論語 von einem weitgehend unbestimmten Wachsen (sheng 生) und dem ohne weitere Hinweise erwähnten Gang der vier Jahreszeiten die Rede war, 30 ist bei den frühen Mohisten der Hang erkennbar, dem Himmel klarere Konturen zu geben. Mit dieser alles durchziehenden und überall sich artikulierenden Vollzugsqualität ist auch der Begriff der »himmlischen Intention tian zhi 天志« in Verbindung zu bringen. Dies wird dadurch nahegelegt, dass die beiden Bezeichnungen tianzhi 天志 und tian 天 im Mozi synonym verwendet werden. Nirgends wird die »himmlische Intention tian zhi 天志« explizit vom Himmel (tian 天) abgehoben. Dabei ist der Begriff der »himmlischen Intention« sicherlich nicht wörtlich zu lesen. Eine Intention lässt sich nur einer getrennten, selbstständigen Entität zuschreiben. Als eine derartige Entität, die aus einem Anderswo in den Lauf der Dinge eingreift, haben die Mohisten, wie oben gesehen, den Himmel allerdings nicht verstanden. Der Begriff der »himmlischen Intention« ist somit metaphorisch zu verstehen. Als solcher bezieht er sich aber genauso wie der Begriff tian 天 auf die allein im Vollzug der Gesamtwirklichkeit wirksame Tendenz. Vor diesem Hintergrund kann das Wirklichkeitsverständnis der Mohisten nun hervorgekehrt werden.

Vgl. auch Tang Junyi 唐君毅: Ebd. Vgl. Chad Hansen: A Daoist Theory of Chinese Thought, S. 114. 29 Hieß es oben vom Himmel, dass er alles »macht wei 為«, so ist damit letzten Endes gemeint, dass er insofern alles »macht«, als dass sich alles nach der »himmlischen Tendenz«, d. h. in Beziehungen gegenseitiger Unterstützung, vollzieht und diese dabei realisiert. 30 Vgl. Lunyu 17.19. 27 28

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2.2. Das Wirklichkeitsverständnis Verweist das Wirklichkeitsgeschehen nicht auf eine hintergründig wirksame, urbildliche Dimension, so kann für die Mohisten das Wirkliche nur das konkret gegebene Wirklichkeitsgeschehen selbst bilden. Als unmittelbarer Selbstausdruck des Himmels bzw. der himmlischen Tendenz ist die konkret sich darbietende Wirklichkeit der alleinig relevante Bereich für den Menschen. Hier nämlich spielt sich alles ab. Ermahnen die Mohisten also den Menschen, den Himmel zu achten, und weisen sie darauf hin, dass dieser für alle menschlichen Belange von überragender Bedeutung ist, 31 so beabsichtigen sie damit die Aufmerksamkeit des Menschen gänzlich auf den konkreten Lauf der Dinge sowie die dort zum Ausdruck kommende Vollzugsqualität zu lenken. Insofern der Himmel, als Grundtendenz alles Wirklichen, im Mozi andererseits eine nähere Bestimmung erhalten hat, erscheint die konkret erfahrbare Wirklichkeit gleichzeitig unter einem neuen Licht. Das Wirkliche stellt sich nunmehr als ein Geschehen dar, in dem alles auf bestimmbare Weise seinen Lauf nimmt. Alles steht in einem unterstützenden und tragenden Bezug zueinander und bringt sich wirksam (li 利) in die Gesamtwirklichkeit ein. Dadurch wird die Wirklichkeit nicht nur lesbar. Insofern die Vollzugsweise dauerhaft ist, wird der Lauf der Dinge sogar bis zu einem gewissen Grade vorhersehbar. Dem Menschen tritt das Wirklichkeitsgeschehen somit nicht als ein ständig sich wiederholendes Wunder, sondern als ein irgendwie vertrautes Spiel gegenüber, dessen Verlauf er sich ruhig anvertrauen kann. Damit kann das mohistische Wirklichkeitsverständnis, wie folgt, auf den Punkt gebracht werden. Als Inbegriff von Wirklichkeit schlechthin wird das konkrete Wirklichkeitsgeschehen im Mozi als ein Geschehen charakterisiert, das sich durch eine bestimmbare Grundtendenz auszeichnet. Wirklichkeit wird als ein Beziehungsgeflecht verstanden, in dem sich alles fortwährend in gegenseitiger Unterstützung zueinander verhält. Vor dem Hintergrund dieser Bestimmung von Wirklichkeit gerät nun auch das menschliche Wirklichkeitsverhältnis seinem Vollzug und Geschehen nach ein erstes Mal in den Blick. Wie, so ist nun genauer nachzufragen, lässt sich das Verhältnis des Menschen zu einer derart verfassten Wirklichkeit seinem Vollzug und Geschehen nach bestimmen? 31

Vgl. hierzu oben Fußnote 12, S. 124 f.

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Das Mozi

3.

Das Wirklichkeitsverhältnis als Wirksammachen unterstützender Bezogenheiten

Entscheidend für eine erste Annäherung an das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit ist, dass die Grundtendenz alles Wirklichen auch in die Sphäre des Menschen hineinreicht. Insofern der Himmel allumfassend ist und bis in die »Spitzen der Borsten« hineinwirkt, prägt die himmlische Grundtendenz auch den Lebensvollzug des Menschen von Grund auf. Als gleichberechtigtes Moment der Gesamtwirklichkeit ist der Mensch wie alles Wirkliche in tragende Verhältnisse gegenseitiger Unterstützung eingelassen, und nur in solchen Verhältnissen spielt sich sein Leben ab. Dieses Bild der Stellung des Menschen in der Wirklichkeit impliziert gleich zweierlei. Einerseits besagt die Einbettung des Menschen in die Gesamtzusammenhänge, dass er in seinem Fortbestand auf stützende Beziehungen zu seinem Umfeld angewiesen ist. Diese Abhängigkeit von seiner Umwelt bildet dabei nicht nur einen Aspekt seines Lebens unter anderen. Sie ist vielmehr dessen tragende Grundlage und durchzieht sämtliche Ebenen seines Lebens. In diesem Sinne heißt es im Kapitel Tianzhi zhong 天志中: Auch weiß ich aus Folgendem, dass sich der Himmel großzügig um das Leben der Menschen sorgt: 32 Aufgrund des Himmels [der Grundtendenz alles Wirklichen] sind Sonne, Mond und die Gestirne derart geordnet, dass sie dem Menschen die Wege beleuchten; dank seiner sind die vier Jahreszeiten, Frühling, Herbst, Winter und Sommer, derart organisiert, dass sie das Leben der Menschen regulieren und gliedern. Von Donner begleitet spendet der Himmel Schnee, Reif, Regen und Tau, sodass die fünf Feldfrüchte, der Hanf und die Seidenraupen wachsen und die Menschen sie bearbeiten und nutzbar machen können. Wegen des Himmels sind Berge und Flüsse, Schluchten und Täler sowie die unzähligen anderen Vorkommnisse derart geordnet und disponiert, dass sie vorgeben, was dem Menschen zu Gute kommt und was nicht. […] Durch den Himmel sind die Menschen in der Lage, Metalle und Holz, Vögel und Tiere für sich zu nutzen sowie die fünf Feldfrüchte, Hanf und die Seidenraupen zu bearbeiten, um sich mit Kleidung und Nahrung zu versorgen.

Bildet der Himmel (tian 天), wie oben gezeigt, keine aktive, eingreifende Instanz, so bezieht sich der Begriff tian auch hier nicht auf eine jenseitige gestaltende Instanz, sondern auf die das Wirklichkeitsgeschehen von innen heraus beseelende Vollzugstendenz. Das Gleiche gilt auch für die folgenden Zitate.

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且吾所以知天之愛民之厚者有矣,曰以磨為日月星辰,以昭道之; 制為四時春秋冬夏,以紀綱之;雷降雪霜雨露,以長遂五穀麻絲, 使民得而財利之;列為 山川谿谷,播賦百事以臨司民之善否 […] ; 賊金木鳥獸,從事乎五穀麻絲,以為民衣食之財。 (Tianzhi zhong 天志中, S. 202 f.)

Bis in die elementarsten Ebenen des menschlichen Lebensvollzuges entfalten die Wirklichkeitszusammenhänge also eine unterstützende Wirksamkeit und gestatten dem Menschen dadurch allererst ein gedeihliches Leben zu fristen. 33 Nie lebt er allein aus sich heraus, sondern in das Wirklichkeitsgeschehen eingebettet, wird er von dessen Tendenz getragen. Ähnlich ist an anderer Stelle zu lesen: »Die Menschenwelt wird vom Himmel umfasst und umsorgt; er bewirkt, dass die zehntausend Dinge derart in unterstützender Beziehung zueinander stehen, dass sie dem Menschen Nutzen bringen 今夫天兼天下而愛之,撽遂 萬物以利之.« 34 Die Einbettung des Menschen in die Gesamtwirklichkeit lässt sich gleichwohl nicht auf ein passives Getragenwerden reduzieren. Sie impliziert nämlich gleichzeitig, dass auch der Mensch eine tragende Funktion im Wirklichkeitsgeschehen erfüllt. Als integraler Bestandteil dieses Geschehens bildet er, wie alles Wirkliche, immer auch einen aktiven Mitspieler an diesem. Dies geht aus dem Kapitel Tianzhi zhong 天志中 hervor, wenn dort darauf hingewiesen wird, dass das Naturgeschehen nur dann seinen geordneten Lauf nehmen kann, wenn auch der Mensch dem Himmel folgt, er mithin das tragende Beziehungsnetz in seinem Handeln berücksichtigt und unterstützt. Denn nur wenn sich der Mensch angemessen in das naturhafte Wirklichkeitsgeschehen einfügt, »werden die durch den Himmel in Gang gesetzten Kälte- und Wärmeperioden geordnet sein, werden die vier Jahreszeiten abgestimmt sein, werden yin und yang, Regen und Tau zur richtigen Zeit einsetzen, werden die fünf Getreidesorten reifen, werden die sechs Arten von Haustieren wachsen, werden verheerende Katastrophen, schwere Epidemien und unheilvolle Hungersnöte gar nicht erst eintreten 天之為寒 熱也節,四時調,陰陽雨露也時,五穀孰,六畜遂,疾災戾疫凶饑 則不至« 35. Als vollwertiges Moment der Gesamtwirklichkeit trägt der Mensch somit entscheidend zu deren Erhalt bei. Vgl. David E. Soles: »Mo Tzu and the Foundations of Morality«. In: Journal of Chinese Philosophy 26 (1999/1), S. 43 f. 34 Tianzhi zhong 天志中, S. 201. 33

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Das Mozi

Damit aber wird das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit seinem Vollzug und Geschehen nach ein erstes Mal sichtbar. Aufgrund seines sowohl passiven als auch aktiven Eingebundenseins in die Gesamtwirklichkeit kann das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen im Mozi seinem Grundvollzug nach als ein Teilnehmen an unterstützenden Bezogenheiten bestimmt werden. Hat der Mensch nur Bestand, indem er sich in die mannigfaltigen Wirklichkeitsabläufe einfügt, um gegenseitig sich unterstützende Beziehungen mit diesen einzugehen, so ist ein autarkes, in einsamer Selbstregie geführtes Leben für ihn nicht denkbar. Leben bedeutet für den Menschen somit immer auch ein Teilnehmen an den wechselseitig sich tragenden Wirklichkeitszusammenhängen. Diese erste Kennzeichnung des Verhältnisses des Menschen zur Wirklichkeit ist allerdings sogleich durch eine Präzisierung zu ergänzen. Als Grundvollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses bildet die Teilnahme an Beziehungen gegenseitiger Unterstützung zum Lebensumfeld kein bloßes Faktum menschlichen Daseins. Die Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen vollzieht sich den Mohisten zufolge nie schon von selbst; sie muss vielmehr erst geleistet werden. Dies rührt daher, dass sich der Mensch nicht schon nahtlos in die Wirklichkeit einfügt. Damit wollen die Mohisten nicht sagen, dass der Mensch ein blinder Fleck, ein wunderlicher Fremdling in der Welt ist, der aus dem Nirgendwo in sie hineinblickt. Dem würde seine unhintergehbare Eingebundenheit in das Wirklichkeitsganze widersprechen. Die »Abständigkeit« des Menschen besagt vielmehr, dass er in seiner originären Eingebundenheit nie schon vollständig orientiert ist. Die spontanen Antworten des Menschen auf seine Umwelt, seine »natürlichen emotionalen Reaktionen qing 情« 36, geben ihm als solche keine zuverlässige Auskunft über den Weg, den er einzuschlagen hat. Sie bilden keine verlässlichen Wegweiser, nach denen er unbesorgt sein Handeln ausrichten könnte. Entsprechend heißt es im Kapitel Xiushen 修身: »Sich ohne Reflexion und Beobachtung den spontanen Reaktionen seines Leibes überlassen, führt ab vom Weg 彼智無察,在身而情,反其路者 也.« 37 Allein aus sich heraus vermag der Mensch kein wirksames, sein Leben tragendes Verhältnis zur Wirklichkeit einzugehen. Vielmehr

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Ebd. Xiushen 修身, S. 10 Ebd. Bi 彼 ist Sun Yirang 孫詒讓 zufolge hier als fei 非 zu lesen.

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geht er, allein auf sich gestellt, in seinen Zuwendungen zur Umwelt zunächst fehl. 38 Die ursprüngliche Orientierungslosigkeit des Menschen kann dabei dramatische Folgen zeitigen. Ohne sicheren inneren Kompass droht er den Blick für die lebensnotwendigen, tragenden Zusammenhänge zu verlieren, in welchen sich sein Leben abspielt. Er wird sich dann in seinem Verhalten über sie hinwegsetzen bzw. sie »überschreiten guo 過«. Wie aus der kleinen Abhandlung »Überschreitungen vermeiden Ciguo 辭過« hervorgeht, bedeutet dies, dass der Mensch unter diesen Umständen einzelne Aspekte des Gesamtzusammenhangs auf Kosten anderer hervorhebt, um ihnen eine exklusive Bedeutung beizumessen. Solche einseitigen und zum Teil übertriebenen Hypostasierungen einzelner Momente (yinyi 淫佚) 39 bewirken, dass das Beziehungsgewebe, in welches sein Handeln eingelassen ist, aufgerissen und in seinem Zusammenhalt aufgelöst wird. Dies veranschaulichen die Mohisten im Kapitel Ciguo 辭過 unter anderem am Errichten teurer Prestigebauten. 40 Während der Hausbau als zivilisatorische Leistung vergangener Kulturheroen (shengwang 聖王) die Menschen ursprünglich vom unzuträglichen Leben in der freien Wildnis und in den Höhlen befreit hat, pervertieren viele Herrscher die eigentliche Funktion des Hausbaus, um sich prunkvolle Paläste und Bauten errichten zu lassen, die, statt zum Allgemeinwohl beizutragen (不加利者), allein in ihrer Pracht und dem Genuss ihres Anblickes (觀樂) 41 ihren Zweck erfüllen. Mit ihren maßlosen Ansprüchen setzen die Herrscher allerdings eine unheilvolle Kaskade sozio-ökomischer Fehlentwicklungen in Gang. Denn durch die Aufwendung der Ressourcen zur Errichtung dieser Bauten werden tief greifende gesamtwirtschaftliche Dysfunktionen und Störungen hervorgerufen. Vor allem die Erhöhung der Steuerabgaben, die Ausweitung des Frondienstes und die Vernachlässigung anderer Aufgaben werden zu verheerenden Schieflagen und Engpässen in der Grundversorgung der Bevölkerung führen. Auf diese Weise werden durch die einseitige

Dieser Sonderstatus des Menschen wird im Mozi lediglich zur Notiz genommen und liegt als unausgeführte Voraussetzung dem frühen mohistischen Denken zugrunde. Weiterführende Erklärungen für die ursprüngliche Orientierungslosigkeit des Menschen werden nicht geliefert. 39 Ciguo 辭過, S. 38. 40 Ebd., S. 30 f. 41 Ebd., S. 31. 38

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Ausrichtung des Handelns ganze Lebensfelder in ihrem Gleichgewicht gestört. 42 Bewegt sich Mensch demnach nie schon mit notwendiger Gesetzmäßigkeit in einem wohlproportionierten Verhältnis zu seinem Lebensumfeld, so ist seine Teilnahme an unterstützenden Bezogenheiten allererst zu leisten. Die Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen stellt den Menschen also zunächst vor eine heikle Aufgabe, deren Nichterfüllung seinen Untergang bedeuten würde. 43 In diesem Sinne lesen wir im Kapitel »Gegen Musik Feiyue shang 非樂上«, dass sich der Mensch im Gegensatz zum Tier »auf zusätzliche Anstrengungen zu stützen hat, um leben zu können 賴其力者生« 44. Wurde der Grundvollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses eben noch als ein Teilnehmen an tragenden Beziehungen bestimmt, so ist dieses Teilnehmen genauer In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Folgen derartiger Störungen des tragenden Beziehungsgeflechtes von den Mohisten als Strafen (fa 罚) des Himmels betrachtet wurden, denen wir nicht entkommen können. Für unser Verhalten sucht uns der Himmel bis in die »menschenleeren Wälder, Schluchten und dunklen Höhlen 林 谷幽門無人« (Tianzhi shang 天志上, S. 192) heim. Siehe hierzu auch Fayi 法義, S. 22; Tianzhi zhong 天志中, S. 198; Tianzhi xia 天志下, S. 209 f. Angesichts der obigen Interpretation der mohistischen Himmelsvorstellung als eine alles durchziehende Vollzugstendenz ist in diesem Zusammenhang allerdings nicht an eine strafende Hand zu denken, die von außen eingreifen würde. Insofern es sich beim Himmel nicht um eine personale Gottheit handelt, sondern um die Grundtendenz des Wirklichkeitsgeschehens, ist die mohistische Rede von den »Strafen des Himmels« metaphorisch zu lesen. Das Unheil, das dem Menschen widerfährt, wenn er sich der himmlischen Tendenz und somit den tragenden Zusammenhängen enthoben denkt, ist vielmehr als zwangsläufige, gleichsam natürliche Reaktion des Laufs der Dinge auf das Verhalten der Menschen zu verstehen. Der Mensch wird also lediglich durch den Lauf der Dinge selbst »bestraft«. Genauso ist auch die Unterstützung zu verstehen, welche dem Menschen bei angemessenem Verhalten zukommt. Der dadurch bewirkte ungestörte, gedeihliche Lebensvollzug, ist nicht eine persönliche Belohnung einer jenseitigen Macht, sondern genauso als die bloße Folge des bloßen natürlichen Laufs der Dinge zu betrachten. Die Belohnung (shang 賞) und der Nutzen (利) gehen somit ausschließlich aus dem Wirklichkeitsgeschehen selbst hervor. 43 Für diese Aufgabe trägt der Mensch die alleinige Verantwortung. Es gibt für die Mohisten keinen Grund, auf den Beistand einer etwaigen jenseitigen, persönlichen Macht zu warten und zu hoffen. Dem entspricht, dass sich die Mohisten jeder Art des Fatalismus widersetzen. Siehe hierzu insbesondere die Kapitel »Gegen Fatalismus Fei Ming 非命«. Die Mohisten gehen zudem davon aus, dass der Mensch immer schon die nötige Motivation besitzt, seinen prekären Zustand zu beenden, bzw. die fatalen Folgen seines orientierungslosen Verhaltens zu vermeiden. Denn »wonach die Menschen am meisten streben, ist Leben, und was sie am meisten verabscheuen, ist der Tod 民生為甚欲,死為甚 憎« (Shangxian zhong 尚賢中, S. 65). 44 Feiyue shang 非樂上, S. 257. 42

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als ein Wirksammachen ebensolcher Beziehungen zu begreifen. An tragenden Beziehungen teilzunehmen, bedeutet für den Menschen immer auch, sich darum zu bemühen, sein Handeln in die großen Zusammenhänge der Wirklichkeit einzufügen, um wirksame, sein Leben unterstützende (li 利) Beziehungen entstehen zu lassen. Damit liegt im Mozi eine im Vergleich zum Lunyu etwas anders gelagerte Ausgangssituation vor. Der Schwerpunkt liegt hier nicht mehr auf einem Ausformungsgeschehen, in dem der Mensch eine Gestalt gewinnt, sondern auf einem Wirksammachen tragender Beziehungen zur Wirklichkeit. Während sich der Vollzug des Wirklichkeitsverhältnisses bei Konfuzius auf eine Weitung des Weges des Menschen (hong dao 弘道), auf eine möglichst umfassende Ausformung des eigenen Lebens bezog, so liegt das Augenmerk der Mohisten auf der Teilnahme an der Grundtendenz der Wirklichkeit. Insofern es sich dabei um weniger intime Beziehungen handelt und der Mensch hier aus einem allgemeinen Blickwinkel betrachtet wird, hat diese Schwerpunktverlagerung vermutlich auch dazu beigetragen, dass der persönliche Ton, der das Lunyu noch auszeichnete, in den mohistischen Texten nunmehr verstummt und die konkrete Gesprächssituation zwischen Lehrer und Schüler in den Hintergrund rückt. Konnte das menschliche Wirklichkeitsverhältnis dem Vollzug nach somit grob umrissen werden und als Wirksammachen tragender Beziehungen bestimmt werden, so hat die weitere Bestimmung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses über eine nähere Ausbuchstabierung dieses Wirksammachens zu verlaufen.

4.

Die Orientierungen und das mediale Wirksammachen tragender Beziehungen

Geht es dem Menschen in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit darum, tragende Beziehungen zu ihr wirksam werden zu lassen, so kann er dabei gleichwohl nicht auf ein apriorisch vorgegebenes Orientierungswissen zurückgreifen. Wie bereits gesehen, erfahren die Mohisten den Menschen vielmehr als ein Sorgenkind des Lebens, das sich in der Welt nicht immer schon mühelos zurechtfindet. Nicht einmal seine spontanen emotionalen Reaktionen, so die mohistische Diagnose, vermögen den Menschen in seinen Zuwendungen zur Wirklichkeit angemessen zu leiten. Will er in ein gedeihliches Verhältnis zu seinem Umfeld hi137 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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neinfinden, so ist er dabei auf zusätzliche Orientierungen angewiesen, die ihn gewissermaßen von außen an die Hand nehmen. Nur dank solcher Hilfsmittel wird es ihm möglich sein, an dem überall im Wirklichkeitsgeschehen sich realisierenden Netz tragender Beziehungen nutzbringend teilzunehmen. Bezeichnet werden diese zusätzlichen Hilfsmittel in den mohistischen Schriften als fa 法 – ein Zeichen, das im Folgenden mit »Orientierungsmittel« oder einfach mit »Orientierung« wiedergegeben wird. Sie gehen den Mohisten zufolge auf die herausragenden Kulturheroen des Altertums zurück. Namentlich werden in diesem Zusammenhang im Kapitel Shangxian zhong 尚賢中 die drei Weisen Bo Yi 伯夷, Yu 禹 und Hou Ji 後稷 erwähnt. 45 Indem sie »vorsichtig mit ihren Worten umgegangen sind, Aufmerksamkeit und Bedacht in ihrem Verhalten haben walten lassen und ihre Gedankenbewegungen verfeinert haben 謹其言,慎其行,精其思慮«, ist es ihnen gelungen, »die verborgenen Zusammenhänge der Wirklichkeit auf ihren Nutzen hin aufzuspüren 索天下之隱事遺利«, 46 um sodann entsprechende Handlungsstrategien und Verfahrensweisen zu entwickeln, die es den Menschen erlauben sollten, in ebendiese Zusammenhänge hineinzufinden. So etwa hat Bo Yi 伯夷 das Strafsystem, Hou Ji 後稷, der Ahne der Zhou 周, Agrikulturtechniken und Yu 禹 Wasserregulierungsmethoden sowie eine Namensgebung für Berge und Flüsse entworfen. 47 Mit diesen Hilfsmitteln haben sie den Mitmenschen Öffnungen und Wege aufgezeigt, tragende Beziehungen zum Wirklichkeitsgeschehen aufzubauen, und ihnen damit dazu verholfen, sich in einer neuen Qualität in die Gesamtwirklichkeit einzufügen. Ohne Rückgriff auf solche zusätzlichen Orientierungen wäre es dem Menschen unmöglich, sich von der Überforderung durch die eigene Orientierungslosigkeit zu entlasten und wirksam am Lauf der Dinge teilzunehmen. »Wer in der Welt etwas ausführen will, kann dies nicht ohne Orientierungen tun. Sich ohne Orientierungen in das Wirklichkeitsgeschehen einfügen und seine geplanten Vorhaben dennoch gelingend vollbringen, dies ist unmöglich. Selbst die besten Ratgeber, die Die Frage, wie es angesichts der ursprünglichen Orientierungslosigkeit des Menschen dennoch einigen wenigen gelingen konnte, Orientierungen zu generieren, wird von den Mohisten nicht näher behandelt. 46 Shangxian zhong 尚賢中, S. 64. 47 Vgl. Shangxian shang 尚賢上, S. 63. 45

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sich als Generäle oder Minister betätigen wollen, müssen allesamt auf Orientierungen zurückgreifen. 天下從事者,不可以無法儀,無法儀 而其事能成者無有也。雖至士之為將相者,皆有法.« 48 Die Unumgänglichkeit zusätzlicher Orientierungen tritt am Beispiel der Handwerker besonders deutlich zutage. Insofern diese sich in all ihren Tätigkeiten durch fa leiten lassen, werden sie im Mozi sogar zum Paradigma des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses erhoben. Die besten Handwerker benutzen alle bei der Ausführung ihrer Arbeit Orientierungshilfen. Machen sie etwas Rechteckiges, so nehmen sie den Winkel zur Hilfe, für Rundes verwenden sie den Zirkel, für Ebenes die Wasserwaage, für Gerades die Richtschnur und für Senkrechtes das Lot. Geschickte ebenso wie ungeschickte Handwerker bedienen sich alle dieser fünf Instrumente als Orientierungen. Die Geschickten bringen so die Formen angemessen hervor, und die Ungeschickten wachsen, indem sie sich bei ihren Arbeiten auf die Hilfsmittel stützen, über sich hinaus – auch wenn sie trotz der Hilfsmittel weiterhin die Formen nicht angemessen hervorzubringen vermögen. […] Wenn nun die Mächtigen die Welt oder die Großstaaten regieren und dabei keine Orientierungen benutzen, nach denen sie sich richten, so reichen sie nicht einmal an die Handwerker heran. 至百工從事者,亦皆有法。百工為方以矩,為圓以規,衡以水,直 以繩,正以縣。無巧工不巧工,皆以此五者為法。巧者能中之,不 巧者雖不能中,放依以從事,猶逾己。 […] 今大者治天下,其次治 大國,而無法所度,此不若百工辯也。 (Fayi 法儀, S. 20 f.)

Damit lässt sich für das Wirksammachen unterstützender Beziehungen zur Wirklichkeit sowie für den Vollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses insgesamt festhalten: Wie auch immer die Einfindung in ein wirksames Wirklichkeitsverhältnis weiter zu bestimmen sein wird, stets ist das Wirksammachen seinem Vollzug nach als ein mediales Geschehen zu verstehen. Es vollzieht sich nicht in einem unvermittelten Kontakt mit dem jeweiligen Umfeld, sondern immer nur durch geschichtlich gewachsene Orientierungen hindurch. Wurde das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen dem Vollzug nach zunächst als ein Wirksammachen tragender Beziehungen charakterisiert, so kann es nunmehr um das Moment der Medialität erweitert und somit genauer

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Fayi 法儀, S. 20.

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als ein mediales Wirksammachen gekennzeichnet werden. Diese Bestimmung ist allerdings in zwei Punkten zu ergänzen. Wie Chen Wenmei 陳問梅 anregt, so ist davon auszugehen, dass die Liste der Orientierungen unabschließbar ist. 49 Jeder Bereich, jedes Lebensfeld bedarf je eigener stabilisierender Orientierungen (fa 法). Aus den obigen Ausführungen ist bereits hervorgegangen, dass die fa im Mozi in durchaus unterschiedlichen Gewändern auftauchen. Unter die Orientierungen fallen nicht nur allgemeine Kulturtechniken, wie etwa die Wasserregulierung, der Agrarbau oder das Strafsystem, sondern auch Handwerkszeuge, wie das Winkeldreieck oder das Lot. Darüber hinaus zählen die Mohisten auch die überlieferten Sitten (su 俗), in die jeder Mensch hineinwächst, 50 sowie die unterschiedlichen Vorbilder, die jedem in den Personen der Eltern, Lehrer, Herrscher oder Beamten begegnen, zu den fa. Ferner werden im Mozi auch allgemeine Anleitungen, wie etwa die in den Kapiteln 8–39 ausgeführten zehn Anweisungen oder die bloße Aufforderung, »der Welt zu nützen 利天下« 51, als Orientierungen betrachtet. 52 Chen Wenmei 陳問梅 zufolge bilden die im Mozi erwähnten Orientierungen allerdings nur einen Bruchteil aller möglichen fa. In diesem Sinne sind auch die zehn Anweisungen der Kapitel 8–39 nicht als abgeschlossenes Register praktischer Ratschläge zu lesen. Vielmehr handelt sich hierbei bloß um die wichtigsten Anweisungen, die beim Regieren auf jeden Fall zu berücksichtigen sind. Angesichts der großen Anzahl an Orientierungen ist zudem davon auszugehen, dass nicht alle Orientierungen für jeden Einzelnen gleich wichtig sind. So etwa kommt den fa des Handwerkers nicht für alle die gleiche Relevanz zu. Andere Orientierungen hingegen, wie etwa die Empfehlung der »uneingeschränkten gegenseitigen Fürsorge jian’ai 兼 愛«, sprechen ausnahmslos alle Menschen an und sind von jedem in Vgl. Chen Wenmei 陳問梅: Moxue zhi xingcha 墨學之省察, S. 275 ff. Vgl. etwa Jiezang xia 節葬下, S. 187 f. Siehe auch Chad Hansen: A Daoist Theory of Chinese Thought, S. 101. 51 Shangtong xia 尚同下, S. 95; Feigong xia 非攻下, S. 156. 52 Vgl. hierzu den Abschnitt »The Concept of Fa (Models)« in Christoper Fraser: »Mohism.« In: Stanford Encyclodedia of Philosophy: http://plato.stanford.edu/entries/ mohism/#religion. Aus der obigen Auflistung einiger Orientierungen geht zudem hervor, dass sie unterschiedlicher Seinsart sein können. Sie können als Handwerkszeuge nicht-sprachliche Hilfsmittel bilden, als menschliche Vorbilder im Zwischenbereich zwischen Sprachlichem und Nicht-Sprachlichem angesiedelt sein oder als Anweisungen rein sprachliche Gebilde darstellen. 49 50

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den eigenen Lebensvollzug einzubeziehen. Jeder nimmt aber letztlich nur eine begrenzte Menge von Orientierungen für sich in Anspruch, die dann sozusagen seine Welt ausmachen und gestalten. Zweitens ist in Bezug auf die Orientierungsleistung der fa hervorzuheben, dass, auch wenn die Mohisten die zusätzlichen Orientierungen als unerlässliches Medium zur Einfindung des Menschen in das Wirklichkeitsgeschehen qualifizieren, sie diesen gegenüber gleichwohl kritische Distanz bewahren. Mit aller Nüchternheit weisen sie darauf hin, dass die Hilfsmittel den Menschen zuweilen ins Verderben führen können. Anstatt gedeihliche, tragende Beziehungen zu erschließen und auf diese hin zu öffnen, verhindern die fa gelegentlich ebensolche Beziehungen. Ein extremes Beispiel fehlleitender Orientierungen liefert das Kapitel Jiezang xia 節葬下, in dem die menschenverachtenden Gebräuche des Volkes der Gaishu 輆沐 thematisiert werden: »Früher gab es östlich von Yue den Staat des Gaishu-Volkes. Wenn der erste Sohn geboren wurde, wurde er zerschnitten und gegessen. Dies nannte man »Dem Bruder entsprechen«. Wenn der Großvater starb, wurde die Großmutter weggeschleppt und aufgegeben, mit der Begründung: »Man kann nicht mit der Frau eines Geistes am gleichen Ort zusammenleben.« Diese Gewohnheiten wurden oben [von der herrschenden Schicht] als allgemeine Regelung und unten [von der gemeinen Bevölkerung] als Sitte angesehen. Man praktizierte sie, ohne aufhören zu wollen, und folgte ihnen, ohne sich Gedanken zu machen. Können diese Gewohnheiten tatsächlich als Weg der Mitmenschlichkeit und des Angemessenen betrachtet werden? 昔者越之東有輆沐之國者,其長子 生,則解而食之。謂之›宜弟‹;其大父 死,負其大母而棄之,曰鬼 妻不可與居處。此上以為政,不以為俗,為而不已,操而不擇。則 此豈實仁義之道哉?« 53 Die fa sind demnach, wie Arzneimittel, stets auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen. 54 Immer wieder ist zu hinterfragen, ob sie tatsächlich in allen Hinsichten zu tragenden und wirksamen (li 利) Bezogenheiten führen und somit der Grundtendenz der Wirklichkeit, dem Himmel, entsprechen. 55 In diesem Sinne fungiert der Himmel als oberster Maßstab und letzte Orientierung, von der aus alle anderen Orientierungen zu bewerten sind. Der Himmel bildet die »klarste Orientierung Jiezang Xia 節葬下, S. 187 f. Vgl. Feigong xia 非攻下, S. 155. 55 Vgl. ebenfalls Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuandao pian 中國哲 學原論。原道篇, S. 161 f. 53 54

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ming fa 明法« 56, und an ihn, d. h. an die überall im Wirklichkeitsgeschehen sich realisierende Grundtendenz, hat man sich bei der Bewertung aller anderen fa zu halten. Je wirksamer die Orientierungen, d. h. je tragender die Zusammenhänge, zu denen hin sie öffnen, desto angemessener (yi 義) sind sie. Wird die Grundtendenz der Wirklichkeit nicht realisiert, entstehen also keine tragenden Zusammenhänge, so sind die entsprechenden fa zu verwerfen. 57

5.

Die Hervorbringung wirksamer Wirklichkeitsverhältnisse

Hat sich das Wirksammachen als ein medialer Vollzug entpuppt, so ist nunmehr genauer nachzufragen, wie der Mensch mit den fa überhaupt in ein wirksames Wirklichkeitsverhältnis hineinfinden kann. Noch ist nämlich nicht klar, wie sich das mediale Wirksammachen tragender Bezogenheiten in den Augen der Mohisten darstellt. Dazu sei im Folgenden zunächst die Entstehung der Orientierungen näher in den Blick genommen. In der Entstehung der Orientierungen vollzieht sich das Wirksammachen tragender Beziehungen nämlich auf originäre Weise; hier tritt es gleichsam an seiner Geburtstätte hervor. Auch wenn sich im Mozi keine systematischen Ausführungen zur Genese der Orientierungen finden lassen, so kann dennoch auf folgende Stelle aus dem Kapitel Ciguo 辭過 verwiesen werden, welche die Entstehung einer bestimmten Orientierung, der »Orientierung des Hausbaus«, ausführlicher thematisiert: In ältester Zeit als das Volk noch nicht wusste, wie man Häuser und Räume baut, suchte man Hügel und Anhöhen auf, um dort zu leben, Tianzhi shang 天志上, S. 197. Damit waren die frühen Mohisten gleichzeitig Kritiker jeglichen Traditionalismus. Sie zweifelten daran, dass die bloße Befolgung gewohnter Verhaltensweisen allein angemessenes menschliches Verhalten garantieren kann. Vgl. etwa Gongmeng 公孟, S. 460. Siehe hierzu auch Chad Hansen: A Daoist Theory of Chinese Thought, S. 106 ff. Der gleiche Gedanke findet sich später bei den Legalisten wieder. Vgl. etwa das Kapitel Wuchong 五蟲 des Hanfeizi 韓非子 (Chen Qiyou 陈奇猷 (Hrsg.): Hanfeizi xin jiaozhu 韓非子新校注, S. 1085 f.). Dieser traditionskritische Drall des mohistischen Denkens mündet allerdings zu keinem Punkt in eine absolute Zurückweisung jeglicher Tradition. Auch wenn für die Mohisten Gewohnheit und Herkunft nicht alleiniger Geltungsgrund von Orientierungen sind, so bleibt für sie das Tradieren als solches unerlässlich. Das Aneignen und Verbreiten von angemessenen fa kann nämlich nur durch Überlieferung gelingen. Siehe hierzu das Kapitel Suoran 所染 sowie Chad Hansen: Ebd., S. 107.

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oder man bewohnte Höhlen. Da die Feuchtigkeit des Erdbodens dem Volk abträglich war, entwickelten die weisen Könige den Hausbau. Zur Bauweise dieser Häuser äußerten sie sich folgendermaßen: »Die Höhe des Fußbodens hat auszureichen, um die Feuchtigkeit abzuhalten; die Seitenwände haben Wind und Kälte abzuwehren; das Dach hat vor Schnee, Reif, Regen und Tau zu schützen, und die Höhe der Innenwände hat zu genügen, um Männer und Frauen in ihren Lebensweisen voneinander zu trennen […].« 古之民,未知為宮室時,就陵阜而居,穴而處,下潤濕傷民,故聖 王作為宮室。為宮室之法,曰:室高足以辟潤濕,邊足以圉風寒, 上足以待雪霜雨露,宮牆之高,足以別男女之禮 […] 。 (Ciguo 辞过, S. 30)

Als kurzer kulturgeschichtlicher Abriss, der die Entwicklung des Hausbaus schildert, kreist dieses Zitat um die Entstehung einer Orientierung. Entscheidend an dieser Darstellung ist, dass das fa des Hausbaus weder als Produkt frei schwebender menschlicher Kreativität ex nihilo erfunden noch, von der Natur vorgegeben, bloß aufgefunden wurde. Die Kulturleistung des Hausbaus ging vielmehr aus der Auseinandersetzung des Menschen mit seinen Lebensumständen hervor. Der Hausbau hat sich in eins mit den besonderen klimatischen Herausforderungen entwickelt, ohne dass er von diesen vordiktiert worden wäre. Zwischen reinem Erfinden und bloßem Vorfinden, zwischen reibungsloser Spontaneität und aufnehmender Rezeptivität ist der Hausbau vielmehr einem Sich-Finden von Mensch und Umwelt erwachsen. Der Hausbau ist als Orientierungsmittel das Resultat einer Entwicklung, die sich – vermutlich in einem tastenden Ausprobieren – zwischen einem reinen Kultur- und einem bloßen Naturprozess abspielte. Dies scheint auf alle anderen Orientierungen zuzutreffen – zumindest spricht im Mozi nichts dagegen, den Hausbau als Paradigma für die Entstehung von Orientierungen heranzuziehen. Damit ist gleichzeitig Entscheidendes über das mediale Wirksammachen tragender Verhältnisse gesagt worden. Entstehen die Orientierungen aus einem Findungsprozess heraus, der sich weder auf ein bloßes Erfinden noch auf ein passives Auflesen reduzieren lässt, so gilt das Gleiche für die dabei wirksam werdenden Beziehungen. Mit der Entwicklung der fa zwingt der Mensch der Wirklichkeit weder wirksame Beziehungen auf noch aktiviert er damit bereits vollständig ausgebildet vorliegende Zusammenhänge. Vielmehr werden in der Entstehung der 143 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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Orientierungen wirksame Verhältnisse zwischen bloßer Kreation und bloßem Aktivieren allererst hervorgerufen und hervorgebracht. Naturdinge, wie Früchte, Metalle oder Tiere, drängen sich dem Menschen in ihrer Eignung und ihrem möglichen Nutzen für sein eigenes Leben nicht einfach auf. 58 Ihre Wirksamkeit muss durch die fa erst herausgereizt und erwirkt werden. Wenn es demnach oben in Punkt 4 von den Kulturheroen Bo Yi 伯夷, Yu 禹 und Hou Ji 後稷 hieß, dass sie die fa entworfen haben, indem sie »verborgene Zusammenhänge in der Wirklichkeit auf ihren Nutzen hin aufgespürt haben 索天下之隱事遺 利« 59, so ist dieses Erschließen von Zusammenhängen rückblickend als ein ebensolches urtümliches Hervorbringen wirksamer Beziehungen zu verstehen. Mit den »verborgenen Zusammenhängen« sind also keineswegs bereits vollends ausgebildete Bezogenheiten gemeint, die nur auf ihre Entdeckung warten würden. Vielmehr werden diese Beziehungen zwischen souveräner Herstellung und bloßer Aktivierung in eins mit den fa hervorgebracht. Aus der Perspektive der Entstehung praktischer Orientierungen kann somit für den Vollzug des medialen Wirksammachens festgehalten werden, dass sich dieses zwischen bloßem Aufzwingen und Aktivieren als ein originäres Hervorbringen wirksamer Zusammenhänge abspielt. Ein originäres Hervorbringen ist das Wirksammachen allerdings nicht nur im Stadium des Entstehens der Orientierungen. Bildet die Wirklichkeit im Mozi kein statisches Gefüge, sondern befinden sich die Situationen, in denen sich der Mensch bewegt, in einem ständigen Wandel, so bleibt jede weitere Einfindung in die Wirklichkeit durch die Anwendung von Orientierungen ein immer wieder aufs Neue zu leistendes Wirksammachen tragender Beziehungen zu ihr. Dass der Mensch wirksame Bezogenheiten weder auf- noch erfindet, sondern mittels Orientierungen allererst im Verein mit der Wirklichkeit hervorbringt, stimmt zudem mit der mohistischen Grunderfahrung des Himmels und dem entsprechenden Verständnis von Wirklichkeit überein. Die Grundtendenz allen Wirklichkeitsgeschehens, so hat sich in Punkt 2 gezeigt, verweist weder auf eine abgeschlossene Ordnung noch ist sie auf ein bloßes Zufallsprodukt willkürlich wirkender Kräfte zu reduzieren. Sie artikuliert sich vielmehr in und Siehe hierzu die oben in Punkt 3 bereits angeführte Stelle Tianzhi zhong 天志中, S. 202 f. 59 Shangxian zhong 尚賢中, S. 64. 58

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mit den konkreten Wirklichkeitsabläufen und wird auf diese Weise ebenfalls allererst erwirkt und hervorgebracht. Gilt damit für das Wirkliche insgesamt, dass sich dessen wirksame Bezogenheiten stets im Werden befinden, so kann auch die Einfindung des Menschen in das Weltgeschehen weder in einem bloßen Auffinden noch in der willkürlichen Erschaffung wirksamer Zusammenhänge gelingen. Auch sie kann nur über ein Hervorbringen tragender Wirklichkeitsverhältnisse erfolgen. Werden die tragenden Beziehungen zur Wirklichkeit erst im Aufeinandertreffen zwischen Mensch und dessen Umwelt hervorgebracht, so ist darüber hinaus davon auszugehen, dass die Qualität der Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen mit der Anzahl an fa steigt. Mit jeder Herausbildung eines neuen fa findet der Mensch weiter und tiefer in den Wirklichkeitslauf hinein. Die Grundtendenz der Wirklichkeit wird mit jeder neuen Orientierung ein Stück weiter konkretisiert und so für einen weiteren Bereich oder einen weiteren Aspekt des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses fruchtbar gemacht. Über diese erste Bestimmung des medialen Wirksammachens hinaus liefert das Mozi allerdings weitere Hinweise, welche es erlauben, dieses Hervorbringen tragender Zusammenhänge mittels zusätzlicher Orientierungen und damit das menschliche Wirklichkeitsverhältnis insgesamt präziser hervortreten zu lassen.

6.

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6.1. Das Beispiel der Handwerkszeuge Wie sich die frühen Mohisten das Hervorbringen tragender Zusammenhänge durch die fa weiter vorgestellt haben, kann am Beispiel der Handwerkszeuge aufgezeigt werden. Dass uns gerade diese bei der weiteren Klärung der Hervorbringung wirksamer Zusammenhänge weiterhelfen, ist insofern nicht erstaunlich, als gerade die Handwerker im Mozi als Paradigma des medialen Wirklichkeitsverhältnisses fungieren. 60 Um die mediale Hervorbringung wirksamer Beziehungen von hier aus genauer beleuchten zu können, seien zunächst einige allgemeine Anmerkungen vorausgeschickt. Zunächst ist festzuhalten, dass das Handwerkszeug als Orientie60

Vgl. hierzu oben Punkt 4.

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rungsmittel im Mozi vor allem im Kontext seiner konkreten Anwendung thematisiert wird. Es repräsentiert kein Ideal, das in einer Transzendierung der konkreten Lebenswelt durch geistige Schau in einem Anderswo eingeholt werden kann. Der Handwerker starrt nicht auf das Winkeldreieck (ju 矩), um von ihm aus einer idealen Ordnung ansichtig zu werden und sich sodann sicher gelotst der konkreten Wirklichkeit zuwenden zu können. Er nimmt das Dreieck geradewegs in die Hand, um mit ihm auf unmittelbare Weise an konkrete Situationen heranzutreten. Diese Direktheit wird im Kapitel Fayi 法儀 hervorgehoben, wenn dort vom Handwerker nichts weiter gesagt wird, als dass er mit dem Dreieck »das Eckige macht wei fang 為方« 61. Durch diese lapidare Formulierung wird unterstrichen, dass der Handwerker, das Handwerkszeug und die gegebene Situation in einem unmittelbaren Bezug zueinander stehen, der nicht durch einen dazwischen geschalteten Erkenntnisprozess unterbrochen wird. Dem entspricht zudem, dass nirgends im Mozi in Zusammenhang mit den Handwerkszeugen von einem Zuwachs an Erkenntnis die Rede ist. Im Gegenteil werden die Handwerkszeuge von den frühen Mohisten ausschließlich auf das praktische Wirklichkeitsverhältnis des Menschen, auf sein »tatsächliches Handeln cong shi 从事« hin thematisiert. 62 So werden die Handwerker auch nicht als Wissende (zhi zhe 知者), sondern vor allem als Geschickte bzw. Geübte (qiao zhe 巧者) bezeichnet. 63 Statt sich also erkennend vom Handwerkszeug und der jeweiligen Situation abzuwenden, um ideale Zusammenhänge erfassen zu können, nähert sich der Handwerker unmittelbar mit den Handwerkszeugen den jeweiligen Umständen. Das Handwerkszeug erscheint von daher als ein welthaftes Gebilde, das als solches den Bezug zum Menschen und dessen Umwelt bewahrt hat. Statt zu symbolisieren, verkörpert es in seinem eigenen Bau eine konkrete Weise, sich der Wirklichkeit zu nähern. Es trägt bereits umrisshaft den Weg zur Hervorbringung bestimmter Verhältnisse in sich und ist in diesem Sinne immer schon bewegt. Wie aber sieht die Hervorbringung wirksamer Wirklichkeitsverhältnisse durch derart verfasste Handwerkszeuge näher aus? Bei seiner Anwendung entfaltet das Handwerkszeug zunächst eine umprägende Wirksamkeit. Indem sich der Handwerker auf das Hand61 62 63

Vgl. Fayi 法儀, S. 20. Vgl. ebd., S. 21. Vgl. ebd.

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werkszeug einlässt, verleiht dieses seinen Handgriffen sowie seinem gesamten Verhalten eine neue Wendung, d. h., mit dem Werkzeug in der Hand erhalten seine Handlungen und damit sein Verhältnis zu den Umständen ingesamt eine neue Ausrichtung und Dynamik. Gerade auf diese umprägende Wirksamkeit des Werkzeuges machen die Mohisten aufmerksam, wenn sie hervorheben, dass auch derjenige, der ungeschickt ist und die Handwerkszeuge nur linkisch anzuwenden vermag, dennoch durch das bloße Ergreifen des Werkzeuges über sich hinauswächst. 64 Mit dem Ergreifen eines Werkzeuges gerät er geradezu in dessen Bann und wird von der in ihm verkörperten Weise der Wirklichkeitszuwendung unmittelbar umgeprägt. Das Handwerkszeug webt sich somit gleichsam in das Wirklichkeitsverhältnis des Handwerkers hinein, um diesem einen veränderten Drall zu verleihen. Wirkt das Handwerkszeug auf diese Weise, so kommt es gerade dabei zur Hervorbringung neuer Bezogenheiten. Indem sich der Handwerker mit dem Werkzeug in die jeweiligen Zusammenhänge einlässt, erfährt das Beziehungsgeflecht zwischen Handwerker und Situation Verschiebungen, durch die dann, bei richtiger Anwendung, wirksame Verhältnisse erwirkt werden. So kann der Handwerker durch die Betätigung des Dreiecks zwischen zusammenhanglos herumliegenden Holzbrettern ein neues Beziehungsganzes entstehen lassen und sie in einen wirksamen Zusammenhang zueinander bringen, indem er sie etwa zu einem rechtwinkligen, stabilen Tisch zusammenfügt. Durch die Einwebung des Dreiecks wird das gesamte Maschenwerk zwischen Handwerker und den jeweiligen Zusammenhängen verändert, sodass ein gewandeltes Beziehungsgeflecht entstehen kann. Die Hervorbringung wirksamer Zusammenhänge mittels zusätzlicher Orientierungen, soviel kann aus der Perspektive des Handwerkers festgehalten werden, vollzieht sich mithin als eine umprägende Einwebung. Hineinweben und Umprägen bilden die beiden zentralen Vollzüge, welche die mediale Hervorbringung wirksamer Wirklichkeitsverhältnisse auszeichnen. Dieses umprägende Hineinweben lässt sich darüber hinaus durch zwei weitere Momente charakterisieren, die in dem gerade Ausgeführten bereits implizit angedeutet wurden. Vgl. ebd. Dort heißt es: »Die Geschickten bringen so [durch die Handwerkzeuge] die Formen angemessen hervor, und die Ungeschickten wachsen, indem sie sich bei ihren Arbeiten auf die Hilfsmittel stützen, über sich hinaus – auch wenn sie trotz der Hilfsmittel weiterhin die Formen nicht angemessen hervorzubringen vermögen. 巧者能中 之,不巧者雖不能中,放依以從事,猶逾己.«

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Einerseits bildet die Hervorbringung durch umprägende Einflechtung eines fa einen durch und durch leibhaftigen Vollzug. Wenn es von den Ungeschickten hieß, dass sie durch das bloße Ergreifen eines Handwerkszeuges eine Umwandlung ihres Wirklichkeitsverhältnisses erfahren, so ist damit offenkundig der Aspekt der Leibhaftigkeit thematisiert. Die unmittelbare Umprägung des gesamten Wirklichkeitsverhältnisses ist eben nicht durch einen langwierigen Reflexionsprozess vermittelt. Sie spielt sich vielmehr auf der Ebene unserer direkten, spontanen leibhaftigen Wirklichkeitszuwendungen ab. Andererseits legen die obigen Ausführungen nahe, dass die mediale Erwirkung tragender Zusammenhänge nur im Kontakt mit der konkreten Situation gelingen kann. Nur im lebendigen Kontakt mit dem tatsächlich Vorhandenen kann das Handwerkszeug nämlich seine Wirksamkeit entfalten. Die Hervorbringung tragender Bezogenheiten zur Wirklichkeit mittels Orientierungen erfolgt demnach vor allem als situativer Vollzug im leibhaftigen Kontakt mit den jeweiligen Umständen. Im Folgenden soll diese Charakterisierung der Hervorbringung tragender Zusammenhänge als eine leibhaftig und situativ sich vollziehende umprägende Einwebung von Orientierungen auf ihre Vereinbarkeit mit den anderen Orientierungshilfen überprüft werden. Diese Rückfrage ergibt sich daraus, dass die im Mozi angeführten fa, wie in Punkt 4 erwähnt, eine durchaus heterogene Menge bilden, sodass die Handwerkszeuge trotz ihres paradigmatischen Charakters nicht fraglos für alle anderen Orientierungen Pate stehen können. Bevor also die genauere Beleuchtung der Hervorbringung wirksamer Bezogenheiten fortgeführt werden kann, seien zunächst andere fa auf die eben herausgestellten Momente der umprägenden Einwebung, der Leibhaftigkeit und der Kontextgebundenheit hin beleuchtet.

6.2. Die Anweisungen und die Vorbilder Im Folgenden können sicherlich nicht alle fa einzeln auf die am Beispiel des Handwerkszeugs herausgearbeiteten Momente hin betrachtet werden. Wir werden uns auf die in Punkt 4 bereits erwähnten menschlichen Vorbilder und die zehn allgemeinen Anweisungen beschränken müssen. Diese Einengung des Untersuchungsfeldes ist insofern unproblematisch, als diese beiden Orientierungen neben den Handwerkszeugen die größte Beachtung im Mozi finden und somit einen repräsenta148 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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tiven Stellenwert beanspruchen können. Bevor allerdings geprüft werden kann, ob auch auf sie das leibhaftige und situativ vollzogene umprägende Einweben zutrifft, ist zunächst zu eruieren, ob sie sich wie die Handwerkszeuge durch einen welthaften Charakter auszeichnen, ob sie also griffige Hilfsmittel bilden, welche den Kontakt zum lebendigen Wirklichkeitsverhältnis des Menschen bewahren und nicht wie Symbole über dieses hinausweisen. Was die menschlichen Vorbilder, wie etwa die Eltern oder die Lehrer, betrifft, so werden diese im Mozi mitnichten als Zeichen behandelt, die auf Ideale verweisen. In ihrem Verhalten, d. h. in ihren besonderen Stilen, sich in ihre Umfelder einzufinden, leben diese Vorbilder unmittelbar zugängliche Orientierungen vor, die auf nichts anderes verweisen als auf sich selbst. Dass die Vorbilder von den frühen Mohisten als konkret verkörperte Orientierungen wahrgenommen wurden, kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass der Einfluss, den etwa Eltern oder Lehrer auf ihre Mitmenschen ausüben, im Mozi mit der Wirkung von Farbe auf Seide, d. h. mit einem Färbungsprozess (ran 染), verglichen wurde. Dieser Vergleich ist insofern aufschlussreich, als Farbe gerade nicht wie Zeichen auf etwas Sinnhaftes verweist. Die Farbe wirkt vielmehr in direkter Weise prägend auf das Seidentuch ein: »Wird [die Seide] mit blauer Farbe gefärbt, so wird sie blau; wird sie mit gelber Farbe gefärbt, so wird sie gelb. Ändert sich die Farbe, in die sie eingetunkt wird, so ändert sich auch ihre Farbe. Wird sie fünf Mal in unterschiedliche Farben eingetunkt, so wird sie fünf Mal unterschiedliche Farben annehmen 染於蒼則蒼,染於黃則黃。所入者變,其色亦 變。五入必而已,則為五色矣.« 65 Gilt in den Augen der Mohisten das Gleiche für den Einfluss der Vorbilder auf andere Menschen, »färben« also auch Machthaber oder Gelehrte ihr unmittelbares Umfeld wie die Farbe die Seide, 66 so sind sie als Vorbilder in ihrer Orientierungsfunktion nicht mit Symbolen vergleichbar, die man erkennend einzuholen hat. Wie die Farben sind auch sie als vollwertige Momente der Wirklichkeit anzusehen, von denen man unmittelbar angerührt und ergriffen werden kann. Sie sind den Handwerkszeugen ähnlich keine bloßen Repräsentanten weltloser Ideale, sondern konkrete Verkörperungen von Wegen hin zu einer wirksamen Einfindung in das Wirklichkeitsgeschehen, und als solche welthafte Orientierungen. 67 65 66

Suoran 所染, S. 11 f. Vgl. hierzu die zahlreichen Beispiele, die im Kapitel Suoran 所染 angeführt werden.

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Das Gleiche gilt für die zehn Anweisungen, welche die Mohisten als Quintessenz ihres Programms in den Kapiteln 8–39 ausführlich behandeln. Auch sie sind letzten Endes als konkrete, welthafte Orientierungen zu betrachten, die weder symbolische Platzhalter ewiger Wahrheiten bilden noch als abstrakte Regeln auftreten. Dies geht besonders deutlich aus der Darstellungsweise der zehn Anweisungen im Mozi hervor. Betrachtet man die Darstellungen der zehn Anweisungen in den Kapiteln 8–39 etwas näher, so fällt auf, dass in ihnen die formalen Aspekte in den Hintergrund treten. Sie bilden keine, von einem logon didonai geleiteten systematischen Abhandlungen, keine strengen Argumentationsläufe, die auf lückenlos begründende Ableitungen abzielen. Sicherlich beanspruchen die Autoren, bestimmte Ansichten und Positionen gegen ihre Verfechter abzuheben und zu verteidigen. Wenn immer wieder selbstkritisch Fragen aufgeworfen werden, wie »Woher weiß man das 何以知?« 68, so erheben sie durchaus den Anspruch, »Gründe« anzuführen. Dieser Rechtfertigungsanspruch schlägt sich allerdings zu keinem Zeitpunkt in theoretischen Begründungsversuchen nieder, die auf formale Stringenz aus wären. Vielmehr werden die Anweisungen in Gedankenexperimenten bildnerisch ausgemalt und auf ihre Auswirkungen hin anschaulich dargelegt. 69 Ähnlich den Beschreibungen der li 禮 im zehnten Kapitel des Lunyu 論語 treten hier die Anwendung und die Wirksamkeit der Anweisungen in den Vordergrund. Die sprachlichen Darstellungen versuchen, einen wirklichkeitsnahen Eindruck davon zu vermitteln, wie gelingendes, sich nahtlos in das Wirklichkeitsgeschehen einfindendes menschliches Handeln »ausDass die menschlichen Vorbilder verkörperte Orientierungen bilden, wird auch daran deutlich, dass die weisen Herrscher ihre Qualitäten nicht in vorgetragenen Ansichten, sondern vor allem in ihrem konkreten Verhalten und ihren Zuwendungen zur Umwelt zum Ausdruck bringen. So wird im Mozi berichtet, dass Shun 舜 bei der Feldarbeit, beim Töpfern und beim Fischen in seiner Begabung aufgefallen ist und von Yao 堯 allein auf dieser Grundlage zu seinem Nachfolger auserkoren worden ist. In diesen konkreten Tätigkeiten verkörperte Shun also seine besonderen Qualitäten. Vgl. Shangxian zhong 尚 賢中, S. 57 f. 68 Shangxian zhong 尚賢中, S. 49. Vgl. auch das Kapitel Shangxian shang 尚賢上, wo die Verfasser wiederholt selbstkritisch nachhaken: »Was ist der Grund [für diese Annahme] 其故何« (Shangxian shang 尚賢上, S. 43). 69 Dies hat, soweit ich die Forschungsliteratur überblicke, bisher nur Steve Coutinho angesprochen. Siehe Steve Coutinho: Zhuangzi and Early Chinese Philosophy. Vagueness, Transformation and Paradox, S. 82 f. 67

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sieht«. Es ist den Mohisten demnach hauptsächlich darum zu tun, möglichst anschauliche und anrührende Bilder zu zeichnen, die den Leser auf ein Geschehen aufmerksam machen sollen, das er im Text ein erstes Mal erfahren kann, um es sodann auf diesem Weg in das eigene Wirklichkeitsverhältnis zu übertragen. Dass es den Mohisten um die Zeichnung einprägsamer Bilder gelingender Einfindung in die Wirklichkeit ging, spiegelt sich etwa in dem auffälligen Wiederholungscharakter der Ausführungen. Die gleichen Zusammenhänge werden anhand immer wieder neu ansetzender und stets variierender Veranschaulichungen und Beispiele ausgeführt. 70 Angesichts der mohistischen Bemühungen um Kargheit und Vermeidung von Überflüssigem müssen diese Wiederholungen zunächst befremdlich erscheinen. 71 Liest man die zehn Anweisungen allerdings als bildhafte Darstellungen, so löst sich dieser Widerspruch auf. Die immer wieder neu ansetzenden Beschreibungen sind dementsprechend keineswegs als uninteressant abzutun. 72 An ihnen tritt im Gegenteil die Grundintention der Mohisten zutage, dem Leser anschauliche sprachliche Ausmalungen vorzuhalten, welche die wirksamen Zusammenhänge nacherlebbar und nachvollziehbar machen sollen. Gerade durch variierende Wiederholungen konnten sie hoffen, dem Leser ein einprägsames, nahezu lebendiges Bild eines wirksamen menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses darzubieten. Die immer wieder in das Buch Mozi hineingelesene Kunst des Argumentierens entpuppt sich somit als Kunst der klaren und plastischen Ausmalung. Entsprechend muss jeder Versuch, das Mozi auf seine Argumentationsstruktur hin zu lesen, letzten Endes scheitern. Dies liegt nicht daran, dass die Mohisten der Argumentationskunst nicht mächtig waren, sondern es ihnen nicht primär um eine solche zu tun war. 73 Tritt hier die sprachliche Dokumentierung ganz in den Dienst der Verbildlichung und der bewegenden Darstellung, so bleiben auch die Vgl. hierzu etwa die Kapitel Jian’ai 兼愛 und Jieyong 節用. Entsprechend bemerkt Steve Coutinho: »Yet it is strange that they [the Mohists] did not think of their own repetitive and redundant style to be a kind of wastefulness. For a language as difficult to inscribe as classical Chinese one would expect an appreciation for economy of words« (Steve Coutinho: Zhuangzi and Early Chinese Philosophy, S. 81– 82). Zur mohistischen Kritik an der Verschwendung von Ressourcen siehe die Kapitel Jieyong 節用. 72 Vgl. Christopher Fraser: »Is Mozi 17 a Fragment of Mozi 26«. In: Three Textual Studies of the Mozi http://cjfraser.net/. 70 71

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Anweisungen mit der konkreten Lebenswelt des Menschen verbunden. Auch sie bilden keine Zeichen, die ideale Pläne oder Abläufe repräsentieren wollen. Als Bilder decken sie nichts objektivierend auf, sie legen dem Leser keineswegs die Welt aus, die er dann besser verstehen und durchblicken würde. Sie bilden im Medium der Sprache, genauso wie die Werkzeuge, welthafte Orientierungshilfen, die Wege zur Hervorbringung tragender Zusammenhänge zu veranschaulichen versuchen. Dies, so viel sei hier ergänzend hinzugefügt, findet durch den methodologischen Rahmen, den sich die Mohisten geben, eine zusätzliche Bestätigung. Dieser Rahmen besiegelt geradezu den Bezug der Anweisungen zur menschlichen Lebenswelt. In den Kapiteln »Gegen Fatalismus Feiming 非命« werden drei Maßstäbe angeführt, an denen sich den Mohisten zufolge alle Aussagen auszurichten haben. Diese drei Maßstäbe (sanbiao 三表) sind die historische Grundlage (ben 本), die Evidenz (yuan 原) und der Nutzen in der Anwendung (yong 用). 74 Der Reihe nach besagen sie, dass alle Aussagen erstens auf den Taten und Wirkungen früherer weiser Herrscher (sheng wang zhi shi 聖王之事) zu gründen haben (ben 本), dass sie zweitens auf die Zeugnisse der »Augen und Ohren der Bevölkerung 百 姓耳目« zurückführbar sein müssen (yuan 原), und drittens, dass sie in ihrer Anwendung dem Volk zu nützen (li 利) und somit zur Realisierung der Grundtendenz der Wirklichkeit in den menschlichen Angelegenheiten beizutragen haben (yong 用). 75 Mit diesen drei methodischen Geboten verlangen die Mohisten, dass alle Worte mit der konkreten menschlichen Erfahrung in Verbindung zu bringen sind und in dieser verankert bleiben müssen. Konnte somit gezeigt werden, dass auch andere fa mit den Handwerkszeugen die gleiche Welthaftigkeit und Griffigkeit gemeinsam haben, 76 so stellt sich die Frage, ob sie sich genauso wie diese in das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen hineinwinden und dabei auf die

Wenn Heiner Roetz demnach festhält, »Problematisch wird seine [Mozis] Position aber dort, wo er versucht, sie zu begründen« (Die chinesische Ethik der Achsenzeit, S. 374), so fragt man sich, ob diese Kritik die Mohisten überhaupt trifft. Die Möglichkeit, dass es den Mohisten vielleicht nicht um eine Begründung zu tun war, wird von Heiner Roetz gar nicht erst in Erwägung gezogen. 74 Vgl. Feiming shang 非命上, S. 266. Siehe hierzu auch Chad Hansen: A Daoist Theory of Chinese Philosophy, S. 145 f. 75 Vgl. Feiming shang 非命上, S. 266. 73

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gleiche Weise die Hervorbringung wirksamer Zusammenhänge anstoßen. Wenden wir uns zuerst den Vorbildern zu. Um die Hervorbringung wirksamer Verhältnisse durch Vorbilder in den Blick zu bekommen, kann von der oben bereits erwähnten mohistischen Vorstellung der Beeinflussung durch ein Vorbild ausgegangen werden. Wird eine solche Beeinflussung mit einem Färbungsprozess (ran 染) verglichen, so ist damit bereits angedeutet, dass die orientierende Kraft des Vorbildes im Mozi geradezu als ein Ein-fluss verstanden wurde. Wie die Seide durch die Farbe verändert wird, so wird auch der Mensch vom Mitmenschen durchdrungen. Dieser webt sich als Vorbild, wie das Handwerkszeug, umprägend in das eigene Weltverhältnis hinein. Gerät man somit in den Bann eines Vorbildes, so kommt es immer auch zu einer Transformation des eigenen Lebensstils. Das gesamte Wirklichkeitsverhältnis kriegt eine neue Wendung, in dem Sinne, dass der Beeinflusste sich nunmehr dem Vorbild gemäß auf sein Umfeld einlässt. 77 Werden durch die umprägende Einwebung menschlicher Vorbilder in das eigene Wirklichkeitsverhältnis neue Zusammenhänge erwirkt, so legt das Bild der Färbung gleichzeitig nahe, dass sich dieser Prozess vor allem auf der Ebene leibhaftiger Vollzüge abspielt. Wie oben bereits hervorgehoben, regt das Vorbild im Gegensatz zu Symbolen nicht vorrangig zu einem Verstehensprozess an. Hier findet vielmehr, wie bei der Färbung, ein leibhaftiger Austausch statt, in dem man nahezu unmerklich vom anderen durchtränkt und bewegt wird. Damit rückt auch die konkrete Situation in den Vordergrund. Leiten die Vorbilder nicht von außen als abstrakte Ideale, sondern als Verhaltensweisen, die man sich einverleibt hat, so folgt daraus, dass auch sie ohne etwaige zusätzliche praktische Syllogismen auf unmittelbare Weise im je vorliegenden Wirklichkeitsverhältnis wirksam werden. Nur im situativen Eingehen auf konkrete Vorkommnisse können durch einverleibte Vorbilder neuartige Beziehungen zum Umfeld eingegangen werden. Die Vorbilder weichen demnach hinsichtlich der medialen Hervor76 Gerade in Bezug auf die Griffigkeit der fa ist die mohistische Rede von einem »Ergreifen der Orientierung qu fa 取法« (Shangxian zhong 尚賢中, S. 60, Jian’ai xia 兼愛下, S. 121, 123, 124) aufschlussreicher, als es zunächst erscheinen mag. Das »Ergreifen qu 取« kann im Rahmen des Mozi durchaus wörtlich gelesen werden. Vgl. hierzu allgemeiner Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuandao pian 中國哲學原論。原 道篇, S. 9. 77 Vgl. hierzu die im Kapitel Suoran 所染 angeführten Beispiele.

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bringung wirksamer Beziehungen keineswegs von der Wirkungsweise der Handwerkszeuge ab. Die an Letzteren aufgezeigten drei Momente der umprägenden Einwebung, der Leibhaftigkeit und der situativen Anwendung lassen sich bei den menschlichen Vorbildern identisch wiederfinden. Wie aber verhält es sich diesbezüglich bei den zehn Anweisungen? Kann auch hier von einem leibhaftig-situativen Hervorbringen von Zusammenhängen durch umprägende Einwebung die Rede sein? Entscheidend ist, dass das Modell der Färbung und des Einflusses auch hier gültig bleibt. Auch die Anweisungen wirken auf den Menschen wie die Farbe auf die Seide. Wenn die Mohisten ermahnen, »Verleumderische und böse Worte sollte man nicht durch seine Ohr eindringen lassen, gehässige und aggressive Töne sollte man nicht aus seinem Munde erklingen lassen, und dem Gedanken, ein Menschenkind zu töten oder zu verletzen, sollte man in seinem Herzen keinen Platz gewähren 譖慝之言,無入之耳,批扞之聲,無出之口,殺傷人之孩,無 存之心«, 78 so werden die Worte indirekt mit Farben verglichen. Worte, so geht aus diesen Warnungen hervor, wirken genauso unmittelbar wie diese. Allein schon ihr bloßes Vernehmen kann das Verhalten des Menschen nachhaltig in neue Bahnen lenken. Worte werden nicht erst verstanden und decodiert, um dann umgesetzt zu werden. Sie weben sich im Gegenteil wie die Handwerkszeuge und die menschlichen Vorbilder ohne lange Umwege in das eigene Verhalten hinein, um diesem eine neue Dynamik zu verleihen. Insofern die Anweisungen ihrerseits nichts anderes als längere Wortfolgen bilden, trifft dies genauso auf sie zu. Auch die Anweisungen entfalten somit ihre Wirksamkeit, indem sie, den Leser durchdringend, eine umprägende Wirkung auf ihn ausüben und auf diesem Weg eine Neuorganisation des Beziehungsgeflechtes zwischen ihm und seinem Umfeld herbeiführen. Dabei vollzieht sich die Einwebung der Anweisungen in den Augen der Mohisten ebenfalls auf der Ebene unseres leibhaftigen Weltverhältnisses. Die Worte und Anweisungen vermitteln keine neuen Einsichten in die Wirklichkeitszusammenhänge, sondern durchwirken den Leser bis in »die Muskeln und die Haut 肌膚« der »vier Glieder 四 支« 79 hinein. Statt einen Verstehensprozess in Gang zu setzen, bewirken sie beim Leser vornehmlich eine Umwandlung seines leibhaftigen Zur-Welt-seins. Damit kann die Hervorbringung neuer Beziehungen zur Umwelt aber nur im Kontakt mit der konkreten Situation vonstat78

Xiushen 修身, S. 8 f.

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tengehen. Entfalten die Anweisungen ihre Wirksamkeit erst auf der Ebene der leibhaftigen Zuwendungen zur Wirklichkeit, so werden auch sie nicht von außen an die Situation herangetragen. Nur im Eingehen auf die konkreten Umstände können sie ihre umprägende Kraft entfalten; nur im situativen Sich-Einlassen auf den jeweiligen Kontext lassen sie gleichsam von innen heraus neue Beziehungen entstehen. Konnte damit die Bestimmung der medialen Hervorbringung wirksamer Zusammenhänge als ein leibhaftiges und situativ sich vollziehendes, umprägendes Einweben von Orientierungen an anderen fa bestätigt werden, so sei im Folgenden versucht, weitere Momente dieses Hervorbringungsgeschehens herauszuarbeiten.

7.

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Einen Hinweis auf eine weitere Bestimmung der medialen Hervorbringung und damit des Vollzuges des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses insgesamt liefert uns folgende Beobachtung. Wie bereits mehrfach erwähnt, verkörpern die fa als welthafte Orientierungen konkrete Weisen der Einfindung in ein tragendes Wirklichkeitsverhältnis. Sie tragen den Weg hin zur Hervorbringung wirksamer Bezogenheiten gleichsam in sich. In diesem Sinne wurde das Handwerkszeug oben auch als »bewegt« gekennzeichnet. Allerdings verkörpern die fa nicht schon den ganzen Weg. Sie orientieren ihren Benutzer zunächst nur auf einen Angelpunkt hin, der für einen bestimmten Wirklichkeitsbereich von entscheidender Bedeutung ist und an dem wichtige Wirklichkeitsstränge zusammenlaufen. Den Hervorbringungsprozess als solchen zeichnen sie allerdings nicht schon zur Gänze vor. So etwa trägt das Winkeldreieck, um dieses erneut als Beispiel heranzuziehen, den Tisch und dessen Herstellung nicht schon vollständig in sich. Es leitet den Handwerker lediglich hin zu einer Schnittstelle, an der sich verschiedene Wirklichkeitsmomente neu begegnen können: im Fall des Tisches zur »Rechtwinkligkeit«. Das Dreieck fungiert also nur als Drehscheibe, durch die unterschiedliche Momente auf bestimmte Weise zusammenfinden können, ohne dass dabei die Hervorbringung als solche bereits vorweggenommen wäre. Helfen die Orientierungen dem Menschen demnach vor allem, ge79

Ebd., S. 9.

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zielt zentrale Angelpunkte seines Wirklichkeitsverhältnisses anzusteuern und wirksam werden zu lassen, so stellt die Einwebung der fa in eine bestimmte Situation kein souveränes Gestalten tragender Verhältnisse dar. Durch die fa wird die Hervorbringung nicht bis in die kleinsten Details hinein kontrolliert. Im Gegenteil. Durch sie kann der Mensch die Hervorbringung tragender Wirklichkeitsbezüge lediglich veranlassen. Fügt er sich also mit einer Orientierung in sein Umfeld ein, so begibt er sich mit ihr nur an einen Knotenpunkt, um von dort aus das wirksame Zusammenfinden von Zusammenhängen anzustoßen. Dies kann am Beispiel der Anweisung »Nur die Besten fördern shang xian 尚賢« veranschaulicht und untermauert werden. Lässt sich der Herrscher auf die Anweisung »Nur die Besten fördern shang xian 尚賢« ein, so werden sich, wie in Punkt 6 dargelegt, zunächst seine Haltung sowie sein gesamtes Verhältnis zur Umwelt wandeln. Von dieser Anweisung »gefärbt«, wird er alles daransetzen, die Fähigsten in seinem Staate zu fördern und sie für sich zu gewinnen. Die Einwebung dieser besonderen Anweisung in sein Verhalten ist allerdings nicht dahingehend zu verstehen, dass der Herrscher nunmehr über das gesellschaftliche Geschehen verfügen würde. Zu keinem Zeitpunkt versucht er, mit dieser Anweisung das Gesellschaftsleben in all ihren Aspekten zu kontrollieren. Durch sein gewandeltes Verhalten fügt er lediglich eine neue Qualität ein, die dann als Impuls bzw. Veranlassung weiterwirkt. Indem er mit der gezielten Förderung der Besten einen neuen Akzent setzt, stößt er eine Veränderung an, welche die gesamte Gesellschaft neu belebt. Werden nur noch die Besten gefördert, so werden sich nunmehr alle bemühen, ihr Bestes zu geben. 80 Die Gesellschaft wird auf diese Weise von einem neuen Drall durchwirkt und in ihrem inneren Zusammenhalt neu konfiguriert. Der Staat wird sich auf diese Weise zu einem stabilen und reibungslos funktionieren Ganzen entfalten. 81 Mit der Orientierungshilfe »Nur die Besten fördern shang xian 尚 賢« versucht der Herrscher nicht, die Entwicklung in allen Einzelheiten zu überwachen. Durch das Hineinspielen einer neuen Orientierung veranlasst er lediglich eine Umorganisation des gesellschaftlichen Gewebes. Mit seiner gewandelten Grundhaltung eröffnet er an einer zentralen Schnittstelle einen Raum, in dem die unterschiedlichen Momente 80 81

Vgl. Shangxian shang 尚賢上, S. 46 f. Vgl. Shangxian zhong 尚賢中, S. 49; Shangxian shang 尚賢上, S. 48.

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Die umprägende Einwebung als Veranlassen

neu zusammenlaufen können. In diesem Sinne haben die frühen Mohisten die weisen Herrscher auch mit den großen Flüssen verglichen, denen alles Wasser zufließt: Ströme und Flüsse verabscheuen es nicht, dass die Bäche ihnen aus den kleinen Tälern zufließen und sie füllen; deshalb werden sie groß. Ebenso lehnt auch der weise Herrscher weder die Dienste der Untergeordneten ab noch handelt er dem Lauf der Dinge zuwider. So kann er zum Gefäß der ganzen Welt werden. Das Wasser der Ströme und Flüsse ist nicht das Wasser aus einer Quelle. Genauso ist ein Pelzmantel, der tausend yi wert ist, nicht aus dem Pelz eines einzigen Weißfuchses gefertigt. 江河不惡小谷之滿己也,故能大。聖人者,事無辭也,物無違也, 故能為天下器。是故江河之水,非一水之源也。千鎰之裘,非一狐 之白也。 (Qinshi 親士, S. 6)

Dieser Vergleich des Herrschers mit einem großen Fluss, in dem das Wasser der kleinen Bäche zusammenfließt, veranschaulicht noch einmal, dass die Hervorbringung tragender Zusammenhänge im Bereich des Regierens als ein Veranlassungsgeschehen verstanden wurde, das nicht souverän kontrolliert werden kann, sondern auf die aktive Teilnahme aller involvierten Momente angewiesen ist. Der Herrscher erscheint hier lediglich als ein »Ort«, an dem alles zusammenläuft und sich dabei neu organisiert. 82 Er nimmt, ohne umfassende Kontrolle auszuüben, sämtliche Kräfte auf und wird so zum Anlass tief greifender gesellschaftlicher Veränderungen. Auch wenn sich für die anderen Orientierungen in Bezug auf den Aspekt der Veranlassung keine Textbelege finden lassen, so ist gleichDurch die Veranschaulichung des Veranlassens mit dem Bild der großen Flüsse, denen die Bäche zuströmen, gewinnt die Beziehung zwischen Herrscher und Volk ein nahezu daoistisches Kolorit. Es verwundert demnach kaum, dass die Daoisten zuweilen Interesse am mohistischen Denken gezeigt haben. Vgl. Alfred Forke: Mê Ti des Sozialethikers und seiner Schüler philosophischen Werke, S. 38–39. Allerdings ist zu beachten, dass die daoistische Vorstellung eines Geschehens »von selbst« (vgl. hierzu weiter unten die Ausführungen zum Daodejing) nur beschränkt auf das Mozi zutrifft. Die Veranlassung kommt in den Augen der Mohisten letzten Endes nicht allein durch das Hineinweben einer Orientierung zustande. Damit die fa ihre veranlassende Wirksamkeit entfalten können, bedarf es weiterer Anstöße. Diese zusätzlichen Anstöße bilden vor allem die Strafen (fa 罰) und die Belohnungen (shang 賞). Siehe hierzu etwa Shangxian shang 尚賢上, S. 44–47. Gepaart mit einem hierarchisch geordneten System gegenseitiger Überwachung (Shangtong shang 商同上, S. 75 f.) bewirken die beiden »Techniken shu 82

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Das Mozi

wohl davon auszugehen, dass sich dieses Moment auf alle fa übertragen lässt. Insofern die Anweisungen mit anderen Orientierungen, wie etwa den Handwerkszeugen oder den Vorbildern, die gleichen Strukturmerkmale teilen, es sich also in allen Fällen um welthafte Gebilde handelt, die sich umprägend in das menschliche Wirklichkeitsverhältnis hineinweben, 83 so liegt es nahe, dass sich die Hervorbringung wirksamer Beziehungen auch hier als ein Veranlassen und Anstoßen vollzieht, es sich somit nicht auf ein souveränes »Machen« und »Herstellen« reduzieren lässt. 84

8.

Einschätzen und Unterscheiden

Öffnen die Orientierungen den Menschen auf die Wirklichkeit hin, indem sie die Zusammenfindung tragender Beziehungen zur Umwelt anstoßen, so garantiert ihre bloße Anwendung gleichwohl noch nicht eine gelingende Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen. Sicherlich können die Orientierungen unmittelbar einen Wandel des Wirklichkeitsverhältnisses des Menschen bewirken. Ungeschickte, so hieß es im Kapitel Fayi 法儀, werden allein schon durch das Ergreifen eines Handwerkszeuges über sich hinauswachsen. 85 Ihre volle Wirksamkeit können die fa allerdings erst entfalten, wenn sich der Benutzer mit ihnen auch angemessen auf die jeweilige Situation einlässt. Denn auch wenn der Ungeschickte durch das Handwerkszeug eine Selbststeigerung erfährt, so fällt ihm damit nicht schon urplötzlich die Fähigkeit zu, mithilfe der Handwerkszeuge uneingeschränkt wirksame Bezogenheiten zu seiner Umwelt entstehen zu lassen. 86 Im Gegenteil wird der Ungeschickte trotz des Werkzeugs weiterhin nicht an den Geschickten heranrei術« (Shangxian zhong 尚賢中, S. 50) der Belohnung und der Strafe allererst, dass die vom Herrscher verkörperten Orientierungen befolgt werden und so zur Herausbildung neuer Zusammenhänge beitragen. Dies ist allerdings mit dem Daoismus unvereinbar, da hier das Strafen und Belohnen als Regierungstechniken nicht in Erwägung gezogen werden. 83 Vgl. hierzu den obigen Punkt 6.2. 84 Dass durch Orientierungen tragende Bezogenheiten lediglich veranlasst und angestoßen werden, knüpft letzten Endes an Punkt 5 an, wo darauf hingewiesen wurde, dass sich die mediale Hervorbringung tragender Zusammenhänge zwischen Aktivität und Passivität vollzieht. Als Moment der Hervorbringung tragender Beziehungen spielt sich auch das Veranlassen zwischen bloßer Aktion und bloßer Reaktion ab. 85 Siehe dazu den obigen Punkt 6.1. sowie Fayi 法儀, S. 21.

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Einschätzen und Unterscheiden

chen. 87 Die mediale Hervorbringung wirksamer Bezogenheiten geht mithin nicht schon gänzlich in den bereits herausgearbeiteten Momenten auf. Zur Herausbildung tragender Verhältnisse zur Umwelt bedarf es noch mehr, und zwar einer angemessenen Anwendung der fa. Wie aber, so stellt sich die Frage, gelingt eine angemessene Anwendung eines fa? Unter welchen Voraussetzungen kann man durch die fa den Lauf der Dinge tatsächlich so anstoßen, dass dadurch ein wirksames Verhältnis zum Umfeld möglich wird? Die Antwort der frühen Mohisten lautet: Das Hineinwinden einer Orientierung in eine Situation sowie das damit einhergehende Hervorbringen wirksamer Zusammenhänge kann nur über eine vorgängige Einschätzung der Situation gelingen. 88 Nur so kann eine überstürzte und unangemessene Anwendung der Orientierung verhindert werden. Wie aber stellt sich dieses Einschätzen in den Augen der Mohisten näher dar? Zunächst kann festgehalten werden, dass das Einschätzen den Mohisten zufolge in einem Unterscheiden (bian 辯) besteht. Mit Unterscheiden ist im Mozi gemeint, etwas als »dieses shi 是« oder als »nicht dieses fei 非« wahrzunehmen. 89 Im Zusammenhang mit der Anwendung der Orientierungen bedeutet Unterscheiden sodann, die je vorliegende Situation als für ein bestimmtes fa angemessen (yi 義) oder nicht angemessen (bu yi 不義) zu identifizieren. Bevor man sich also mit einer Orientierung in den Wirklichkeitslauf einlässt, gilt es zunächst die je vorliegende Situation von den fa her und auf diese hin auszuloten. 90 Wie dieses Unterscheiden näher verstanden wurde, darüber lassen sich den hier behandelten Teilen des Mozi nur wenige Hinweise entnehmen. Insofern die fa keine idealen Pläne bereitstellen, 91 kann zunächst davon ausgegangen werden, dass dieses Identifizieren nicht in einem Subsumieren der Situation unter ein eindeutig artikuliertes Raster beVgl. Fayi 法儀, S. 21. Vgl. ebd. 88 Vgl. auch Chad Hansen: A Daoist Theory of Chinese Thought, S. 106. 89 Vgl. Xiushen 修身, S. 10; Shangtong shang 尚同上, S. 75. Siehe auch Chad Hansen: A Daoist Theory of Chinese Philosophy, S. 104. 90 Dass die fa immer auch den Hintergrund abgeben, von dem aus Situationen eingeschätzt und unterschieden werden, wird im Kapitel Tianzhi zhong 天志中 am Beispiel der Handwerkszeuge hervorgehoben. Dort wird das Dreieck als Maßstab angeführt, mit dem man »das Eckige und Nichteckige erkennen kann 方與不方,皆可得而知之« (Tianzhi zhong 天志中, S. 208). 86 87

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Das Mozi

standen haben kann. 92 Mit der ursprünglichen, durch »Färbung« erfolgten Aneignung einer Orientierung ist man nicht schon im Besitz vollständig vorgezeichneter Handlungspläne, welche man den Situationen nur noch aufzusetzen hätte. Die fa haben sich vielmehr als welthafte, griffige Hilfsmittel erwiesen, die als solche nur situativ, also nur in und mit der jeweiligen Situation ihre Wirksamkeit entfalten können. Stellen die fa keine eindeutigen Pläne bereit, auf die man sich zu jeder Zeit berufen kann, so kann die Identifizierung einer Situation als für ein bestimmtes fa angemessen nur aus der eigenen angesammelten Erfahrung heraus erfolgen. Eine Situation einzuschätzen und zu unterscheiden, würde demnach bedeuten, eine Situation mit bereits erlebten Situationen und vollzogenen Anwendungen von Orientierungen in Verbindung zu bringen und auf diese zu übertragen. Wenn wir eine Situation identifizieren und mit einer bestimmten Orientierung auf sie eingehen, so subsumieren wir sie nicht einfach unter ein fa, sondern bringen sie mit anderen Situationen, in denen es uns bereits gelungen ist, wirksame Bezogenheiten hervorzubringen, in Zusammenhang. In diesem Sinne würde das Identifizieren ein Reaktualisieren des eigenen Erfahrungshorizontes im Lichte der aktuellen Situation darstellen. 93 Dass diese kohärenztheoretische Deutung der Identifizierung von Situationen (bian 辯) nicht abwegig ist, wird durch eine Stelle im Kapitel Feigong shang 非攻上 nahe gelegt. Dort heißt es von einem Herrscher, dass er alle Formen unrechtmäßiger Inbesitznahme – vom Raub von Obst bis hin zum Töten von Unschuldigen – vehement verurteilt. Wenn es aber darum geht, andere Staaten anzugreifen und zu überfallen, so beurteilt er diese Taten als lobenswert (yu 譽) und angemessen (yi 義). 94 Damit deutet sich ex negativo an, dass das Einschätzen von Situationen als ein Weiterspinnen bereits gemachter Erfahrungen und bereits vollzogener Anwendungen von Orientierungen zu verstehen ist. Was dem Herrscher nämlich hier Vgl. oben Punkt 6. So hält auch Christopher Fraser in dem Abschnitt »The Concept of Fa (Models)« seiner Gesamtdarstellung »Mohism« fest: »[The] fa are not regarded as general principles that we apply as the major premise of a kind of deductive argument, such as a practical syllogism« (ders.: »Mohism.« In: Stanford Encyclodedia of Philosophy: http:// plato.stanford.edu/entries/mohism/#fa). 93 In diese Richtung legt auch Christopher Fraser das Unterscheiden aus. Vgl. hierzu den Abschnitt »Epistemology« in seinem Beitrag: »Mohism.« In: Stanford Encyclodedia of Philosophy: http://plato.stanford.edu/entries/mohism/#epistemology). 91 92

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Einschätzen und Unterscheiden

nicht gelingt, ist eine bestimmte Situation, den Angriff auf einen anderen Staat, mit anderen gleichartigen Situationen und Einschätzungen in einen stimmigen Zusammenhang zu bringen. Darüber hinaus vollzieht sich auch das Einschätzen von Situationen vor allem auf der Ebene unseres leibhaftigen Wirklichkeitsbezuges. Im Einschätzen geht es nicht um distanzierte Erfahrungsurteile, die von außen an die Situation herangetragen werden. 95 Das Einschätzen einer Situation als »diese« und »nicht diese« und damit als für diese oder jene Orientierung geeignet (yi 義) oder nicht geeignet (bu yi 不義) ist nicht vom leibhaft-konkreten Kontakt mit der Situation zu lösen. 96 Dies geht insbesondere daraus hervor, dass das Unterscheiden zwischen »angemessen yi 義« und »unangemessen bu yi 不義« im Kapitel Feigong shang 非攻上 explizit mit dem Wahrnehmen von »weiß bai 白« und »schwarz hei 黑« sowie mit dem Herausschmecken von »süß gan 甘« und »bitter ku 苦« gleichgestellt wird. 97 Im mohistischen Verständnis erfassen wir also die Angemessenheit einer Orientierung für eine bestimmte Situation auf die gleiche Art und Weise, wie wir Farben wahrnehmen oder Geschmäcke herausschmecken, d. h. in einem leibhaftigen Gewahrwerden. Diesbezüglich kann auch auf einen leicht zu übersehenden, aber dennoch sehr aufschlussreichen Hinweis aus dem Kapitel Jian’ai shang 兼愛上 aufmerksam gemacht werden. Dort heißt es, dass die Anwendung der Anweisung der »umfassenden gegenseitigen Fürsorge jian’ai 兼愛« darin besteht, den Mitmenschen wie seinen eigenen Körper (shen 身) zu »sehen shi 視« 98. Liest man das »Sehen« in diesem Zusammenhang nicht metaphorisch, so klingt auch hier an, dass der Mitmensch nicht über eine Verstandesleistung mit der Anweisung der gegenseitigen Fürsorge in Verbindung gebracht wird. Im Gegenteil scheint dieser Zusammenhang aus der Situation heraus gesehen und Feigong shang 非攻上, S. 128–129. Das gleiche Beispiel wird noch einmal im Kapitel Luwen 魯文 aufgegriffen (S. 469 f.). 95 Vgl. hierzu weiter den Abschnitt »Epistemology« in Christopher Fraser: »Mohism.« In: Stanford Encyclodedia of Philosophy: http://plato.stanford.edu/entries/mohism/ #epistemology. 96 Dies deutet auch Chad Hansen an, wenn er in Bezug auf die Anwendung einer Orientierung auf die jeweilige Situation von einem »sensing« spricht (A Daoist Theory of Chinese Thought, S. 126). 97 Vgl. Feigong shang 非攻上, S. 129. Vgl. auch Chad Hansen: Ebd., S. 128. 98 Jian’ai shang 兼愛上, S. 100. 94

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Das Mozi

somit in einem unmittelbaren leibhaftigen Gewahrwerden hergestellt zu werden. Dass das Unterscheiden im Mozi so verstanden werden kann, wird auch dadurch angedeutet, dass shi 是 und fei 非 immer schon eine praktische Dimension einschließen. Eine Situation als »diese shi 是« oder »nicht diese fei 非« zu identifizieren, bedeutet, sie gleichzeitig zu »bejahen shi 是« oder zu »verneinen fei 非«. 99 Auch damit kündigt sich an, dass das Identifizieren keineswegs auf ein distanziertes Urteilen zu reduzieren ist. Die Mohisten trennen nicht scharf zwischen unseren unterscheidenden Urteilen und unseren Dispositionen, in einer bestimmten Weise zu handeln. Etwas als »dieses« oder als »nicht dieses« zu identifizieren, bildet bereits ein einsetzendes leibhaftiges Sicheinlassen auf die Situation. Vor dem Hintergrund dieses vorgängig zu leistenden Einschätzens, als Bedingung für die angemessene Anwendung der fa, lässt sich abschließend ein letztes Moment der Hervorbringung tragender Wirklichkeitsverhältnisse in den Blick nehmen, welches die Darstellung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses im Mozi abrunden wird.

9.

Die Ausweitung der Sensibilität

Konnte gezeigt werden, dass das Einweben von Orientierungen in das eigene Wirklichkeitsverhältnis über eine vorgängige Einschätzung der Situation zu erfolgen hat, so hat die kohärenztheoretische Deutung des Einschätzungsprozesses gleichzeitig vor Augen geführt, dass das wertende Unterscheiden von Situationen als shi 是 oder fei 非 ein ständig mit jedem neuen Kontext zu wiederholendes Einordnen darstellt. Immer wieder sind die fa, die jeweiligen Situationen und der Erfahrungsschatz des Handelnden in einen stimmigen Zusammenhang zu bringen. Gerade darin ging der oben erwähnte Herrscher fehl. Er vermochte nicht, seine fa gleichmäßig, in Übereinstimmung mit seinem Repertoire an Differenzierungen auf alle ähnlichen Situationstypen zu übertragen. An diesem Punkt tritt aber ein weiteres entscheidendes Moment des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses zutage, welches es nunmehr in seiner ganzen Dynamik hervortreten lässt. Vgl. etwa Shangtong zhong 尚同中, S. 80. Siehe auch Chad Hansen: A Daoist Theory of Chinese Thought, S. 125 ff.

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Die Ausweitung der Sensibilität

Als ein immer wieder zu leistender Vollzug ist das Einschätzen von Situationen nämlich gleichzeitig in einen fortwährenden Sensibilisierungs- und Verfeinerungsprozess eingebettet. Damit ist gemeint, dass sich das Einschätzen sowie das damit einhergehende Hervorbringen tragender Bezogenheiten allmählich zu verfeinern und zu vertiefen haben. Mit jeder neuen Anwendung und jeder gelingenden Hervorbringung wirksamer Zusammenhänge hat man sein Gespür für die Orientierungen und die Situationen zu schärfen. Nur so wird man schlussendlich in der Lage sein, die fa dauerhaft in seinem Wirklichkeitsverhältnis wirksam werden zu lassen. Wenn es von demselben Herrscher heißt, er »kenne zhi 知« 100 das Angemessene nicht, so ist damit kein Mangel an propositionalem Wissen gemeint. Das »Nichtwissen«, von dem hier die Rede ist, verweist vielmehr auf eine fehlende Sensibilität. Entsprechend wird die Unfähigkeit des Herrschers, die Orientierung in allen Situationen gleichermaßen anzuwenden, im gleichen Kapitel mit Störungen des Sinnesapparates verglichen. So wie Störungen des Sehsinnes dazu führen, dass man nicht in allen Situationen »schwarz hei 黑« und »weiß bai 白« unterscheiden kann, oder Beeinträchtigungen des Geschmackssinnes bewirken, dass man nicht in allen Fällen »bitter ku 苦« und »süß gan 甘« herausschmeckt, 101 genauso ist die Fehleinschätzung des Herrschers als eine Störung seines Gespürs für Situationen zu verstehen. Wie die Sinne, die nicht mehr für alle Reize sensibel sind, so leidet auch der Herrscher unter einer Beeinträchtigung seines Gespürs und seiner Rezeptivität. Die angemessene Anwendung der fa kann somit nur über eine ungestörte, durchlässige Sensibilität für die Situationen und die Orientierungen gelingen; und eine solche hat jeder in sich zu kultivieren. Stets gilt es, diese Sensibilität zu fördern und darauf zu achten, dass sie nicht verkümmert oder durch Blockaden gehemmt wird. Das Gespür für eine stimmige Anwendung der fa kann dabei gleichwohl nur verfeinert werden, wenn man die nötige Bereitschaft mitbringt und sich einer ständigen Selbstbeobachtung unterzieht. Die Verfeinerung des eigenen Wirklichkeitsverhältnisses ist kein automatisches Geschehen, das seinen Gang von selbst nehmen würde. Entsprechend ermahnen die Mohisten den Leser – wenn auch weniger nachdrücklich als noch

100 101

Feigong shang 非攻上, S. 129. Vgl. ebd., S. 129, sowie Guiyi 貴義, S. 443.

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Das Mozi

Konfuzius im Lunyu 論語 – zur Selbstbeobachtung und Selbstkorrektur (反之身). 102 Ist das mediale Hervorbringen wirksamer Bezogenheiten zum Umfeld in diesem Sinne von einem solchen Sensibilisierungsprozess abhängig, in dem sich der Umgang mit den fa zusehends verfeinert, so zeichnet sich dieser Prozess im Mozi ferner durch zwei parallel verlaufende Bewegungen aus. Einerseits impliziert die allmähliche Verfeinerung des Umgangs mit den Situationen und den Orientierungen, dass die Einwebung von fa in das eigene Wirklichkeitsverhältnis immer fließender und spontaner wird. Die Orientierungen lassen sich so im Laufe der Zeit zusehends differenzierter und sicherer in die jeweiligen situativen Begebenheiten hineinweben, bis man schließlich »in seinen Zuwendungen zu konkreten Situationen nicht mehr zweifelt, schnell den Durchgang findet und so das realisiert, was man zu erreichen wünscht 动则不疑, 速通成得其所欲«. 103 Andererseits bringt der Verfeinerungsprozess aber auch mit sich, dass der Mensch dadurch einen weitaus tieferen und festeren Stand in der Welt gewinnt. Mit der Verfeinerung der Fähigkeit, sich angemessen mit den Orientierungen in die unterschiedlichen Situationen einzubringen, weiten sich seine wirksamen und tragenden Verhältnisse aus. Immer öfter und dauerhafter wird man solche Verhältnisse eingehen können, dergestalt dass auch die wirksame Partizipation am Wirklichkeitsgeschehen immer umfassender und stabiler wird. Der Sensibilisierungsprozess vollzieht sich somit immer auch als ein Ausweitungsprozess, dessen Endstufe die Gestalt des »Heiligen shengren 聖人« verkörpert, »[dessen] Wirksamkeit so hoch ist wie der Himmel, so weit ist wie die Erde und die ganze Welt bescheint [聖人之]德,若天之高, 若地之普,其有昭於天下也« 104. Er vermag in all seinen leibhaft-medialen Zuwendungen zur Wirklichkeit tragende Zusammengehörigkeiten hervorzubringen und so in jedem Moment die Grundtendenz der Wirklichkeit, d. h. den Himmel, wirksam werden zu lassen. Als Ganzes betrachtet, wird das menschliche Wirklichkeitsverhältnis im Mozi somit seinem Vollzug nach von einem Sensibilisierungsund Verfeinerungsprozess umrahmt, in dem der Mensch immer tiefer und umfassender mit Hilfe der unterschiedlichen fa an der Wirklichkeit 102 103 104

Xiushen 修身, S. 8. Feigong xia 非攻下, S. 140. Sangxian zhong 尚賢中, S. 64.

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Die Ausweitung der Sensibilität

teilnehmen kann. Alle bisher herausgearbeiteten Momente sind rückblickend auf diesen allmählichen Vertiefungs- und Verfeinerungsprozess hin zu lesen. Dieser Prozess ist dabei allerdings nicht nur auf die Eigensphäre des Individuums hin zu betrachten, sondern letzten Endes auf das Gesellschaftsleben insgesamt auszudehnen. Nur in einer durchgängig »sensibilisierten« Gemeinschaft, in der die Orientierungen angemessen zur Anwendung kommen, kann sich allererst auf allen Ebenen des Zusammenlebens ein Geflecht sich gegenseitig unterstützender Beziehungen herausbilden. Auf diese Weise von einer durchgängigen Wirksamkeit getragen, wird es nirgends zu Stockungen (ju 沮) und Zusammenbrüchen kommen. 105 Vielmehr wird überall Ordnung herrschen (zhi 治). 106 Mit diesem letzten Moment der Sensibilisierung und Verfeinerung findet der Versuch, das im Mozi ausgelegte Wirklichkeitsverhältnis des Menschen dem Vollzug und Geschehen nach näher auszuleuchten, seinen Abschluss. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass im Mozi die Teilnahme an tragenden Beziehungen zur Umwelt in den Mittelpunkt des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses rückt. Insofern der Mensch diese Beziehungen allerdings erst stiften muss, kann die Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen nur über ein Wirksammachen unterstützender Verhältnisse erfolgen. Nach Ansicht der Mohisten bedarf es dazu zusätzlicher Hilfsmittel (fa 法), die es nach einem vorgängigen Einschätzen der jeweiligen Situation in einem leibhaftigen Vollzug in diese hineinzuweben gilt. Dabei, so hat sich gezeigt, werden die Zusammenhänge neu geordnet. Als Ganzes ist das mediale Hervorbringen tragender Beziehungen zur Wirklichkeit schließlich in einen allmählichen Verfeinerungsprozess eingebunden, in dem der Mensch immer öfter und dauerhafter ein gedeihliches Verhältnis zu seiner Umwelt eingehen kann. Zusammen stecken diese Momente den Weg hin zu einem gelingenden Wirklichkeitsverhältnis ab, wie er von den Mohisten empfohlen wird. Sie bilden jene Vollzüge, die der Mensch in seinem eigenen konkreten Lebensvollzug umzusetzen hat, um auf wirksame Weise an der Wirklichkeit teilnehmen zu können.

105 106

Vgl. Shangxian xia 尚賢下, S. 66. Vgl. Tianzhi zhong 天志中, S. 197.

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C. Das Daodejing

1.

Einleitende Bemerkungen

Die heute geläufige Version des Daodejing 道德經 umfasst 81 Kapitel. Sie geht auf die Ausgabe des Wang Bi 王弼 (226–249 n. Chr.) zurück, die sich als Standardversion durchgesetzt hat. Die Entstehungsgeschichte auch dieses Textes liegt allerdings weitestgehend im Dunkeln. Obwohl der vermutete Verfasser Laodan 老聃 wiederholt in klassischen Schriften erwähnt wird 1 und der früheste überlieferte Kommentar des Daodejing bereits aus dem 3. Jh. v. Chr. stammt 2, bleibt die ursprüngliche Gestalt des Textes unbekannt. Daran konnten auch die Funde der Mawangdui 馬王堆- und der Guodian 郭店-Texte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wenig ändern. Sicherlich liegen uns mit diesen Funden nunmehr Fassungen vor, die mindestens bis ins 3. Jh. v. Chr. zurückreichen. 3 Als solche haben diese Textfunde jedoch nur zeigen können, dass bereits sehr früh Textstücke zirkulierten, die später in die Standardversion eingeflossen sind, und der textus receptus somit als Resultat eines längeren Kompilationsprozesses zu betrachten ist. Den Ursprung des Daodejing haben diese Ausgrabungen allerdings nicht weiter lichten können. Immerhin lassen linguistische Merkmale, wie die Reime und der formelhafte Charakter, vermuten, dass der Standardtext auf eine mündlich überlieferte Lehre zurückgeht. 4 Die heutige Form des Daodejing wäre somit zum Teil auf einen Verschriftlichungsprozess mündlich tradierter Sinnsprüche unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Alters zurückzuführen. Da diese Annahme allerdings nicht über die Hypothesenbildung hinauskommt, bleibt die Frage, »wessen Kind 誰之子« 5 das Daodejing ist und unter welchen Umständen es geboren wurde, weiterhin offen. Auch wenn somit entscheidende Fragen der Textgeschichte unbeantwortet bleiben, so ist andererseits davon auszugehen, dass das Daodejing nicht aus dem geistesgeschichtlichen Rahmen fällt, in dem sich 166 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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Einleitende Bemerkungen

die vorliegende Studie bewegt. Vor allem die Tatsache, dass Begriffe wie xing 性 oder qing 情, die ab der Zeit der streitenden Reiche, der Zhanguo战国-Zeit, zu unentbehrlichen Bestandteilen des philosophischen Diskurses wurden, im Text gar nicht auftauchen und diskutiert werden, deutet darauf hin, dass die Grundgedanken des Daodejing vor dieser Zeit, in etwa zeitgleich mit den beiden bereits behandelten Texten, zwischen der ausgehenden Zhou周- und der einsetzenden Zhanguo战国Zeit entstanden sein müssen. 6 Schenkt man der Legende Glauben, so haben sich Laozi und Konfuzius sogar persönlich getroffen. 7 Die Herausarbeitung des Wirklichkeitsverhältnisses des Menschen, wie es seinem Vollzug und Geschehen nach in diesem daoistischen Grundtext verstanden wurde, soll auf der Grundlage der Wang Bi王弼-Ausgabe erfolgen. Insofern die neuesten Textfunde lediglich kurze Scheinwerferblicke ins Dunkel der Entstehungsgeschichte des Textes werfen und keineswegs den Laozi-Text zutage fördern konnten, tut diese Beschränkung auf den Wang Bi 王弼-Text der Gültigkeit der folgenden Ausführungen keinen Abbruch. Im Gegenteil. Da die Wang Bi王弼-Ausgabe wirkungsgeschichtlich die einflussreichste Textversion des Daodejing gewesen ist, gewinnen die Resultate sogar an geistesgeschichtlicher Relevanz. Wenden wir uns der näheren Betrachtung des Verständnisses des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses im Daodejing zu, so ist ähnlich vorzugehen wie bei den beiden ersten Texten. Auch im Falle des Daodejing ist zunächst ein Umweg über die dem Text zugrunde liegende Erfahrung von Wirklichkeit überhaupt einzuschlagen. Das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen tritt auch hier nicht unmittelbar in den Blick. Erst eine vorgängige Beleuchtung des Grundverständnisses von Wirklichkeit schlechthin (Punkt 2) wird das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen dem Vollzug und Geschehen nach ein erstes Mal in seinen Grundrissen hervortreten lassen (Punkt 3). Die auf diesem Wege gewonnene erste Charakterisierung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses wird sodann, ab Punkt 4, schrittweise konkretisiert und weiter ausgeführt. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa das Liji 禮記, das Xunzi 荀子, das Zhuangzi 莊子, das Liezi 列子, das Huainanzi 淮南子 und das Lüshi chunqiu 呂氏春秋. 2 Gemeint sind hier die Kapitel Jielao 解老 und Yulao 喻老 des Hanfeizi 韓非子. 3 Siehe hierzu ausführlicher Hans-Georg Möller: Laozi (Lao-tse), S. 144 ff. 4 Vgl. Hans-Georg Möller: Mitte des Kreises: Daoistisches Denken, S. 12 f.; ders.: Laozi (Lao-tse), S. 143 f. 1

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Das Daodejing

2.

Das Verständnis von Wirklichkeit im Daodejing

2.1. Die bewegte Wirklichkeit Es gibt ein Ding, das ungeformt bleibt, Es ist noch vor Himmel und Erde entstanden. Lautlos und gestaltlos, Es vollzieht sich eigenständig und verändert sich dabei nicht, Es durchzieht alles und geht nie zu Grunde, Es kann als Mutter von Himmel und Erde [d. h. aller Wirklichkeitsvollzüge] betrachtet werden. 8 有物混成, 先天地生。 寂兮寥兮, 獨立而不改, 周行而不殆, 可以為天地母。 (Daodejing 25)

Die Wirklichkeit wird von den Daoisten als ganz und gar bewegt erfahren. Alles befindet sich in einem ständigen Wandel und ist somit in ein unaufhörliches Entstehen und Vergehen eingebunden. 9 In diesem Sinne kann von einer originären Bewegtheit der Wirklichkeit gesprochen werden, die alle Winkel des Wirklichen durchdringt. Bewegung ist das »Grundelement« der Wirklichkeit, der »Stoff«, aus dem alles besteht. Alles, was wirklich ist, bewegt sich. Als derartiges Grundelement, das »alles durchzieht zhou xing 周 行« 10, zeichnet sich die Bewegtheit der Wirklichkeit durch eine unerschütterliche Permanenz aus. Während die mannigfaltigen einzelnen Wirklichkeitsvorkommnisse als partikulare Bewegungen in einen unaufhörlichen Wandlungsprozess eingelassen sind, vergeht die Bewegtheit der Wirklichkeit als solche nicht (bu dai 不殆) 11. Sie währt gleichsam durch die vielgestaltigen einzelnen Wirklichkeitsbewegungen hindurch fort, ohne sich dabei zu verändern (bu gai 不改) 12. Aufgrund dieser Konstanz gewinnt die Bewegtheit eine Aura der Ungebundenheit und Unabhängigkeit (du li 獨立) 13. Während alles nur als Bewegung 5 Daodejing 4. Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe von Chen Guying 陳鼓應 (Hrsg.): Laozi zhuyi ji pingjie 老子註及釋評介. Beijing 北京, 2006. 6 Vgl. hierzu auch Xu Fuguan 徐復觀: Zhongguo renxinglunshi 中國人性論史, S. 317. 7 Vgl. Sima Qian 司馬遷: Shiji 史記, S. 1651.

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Das Verständnis von Wirklichkeit im Daodejing

wirklich sein kann und somit von Bewegung »abhängig« ist, bleibt die Bewegtheit selbst auf kein weiteres Moment zurückführbar. Als Grundelement der Wirklichkeit wird die Bewegtheit ihrerseits nicht mehr von woanders her bewegt. In diesem Sinne geht sie dem konkreten Wirklichkeitsgeschehen zwischen Himmel und Erde immer schon voraus (xian tian di sheng 先天地生) 14. Auf dieses alles durchziehende, permanente Grundelement hin soll im Folgenden das Zeichen dao 道, das wörtlich soviel wie »Lauf« oder »Weg« bedeutet, gelesen werden und der hier vorgeschlagenen Interpretation gemäß als »ursprüngliche Bewegtheit« oder einfach als »Bewegung« wiedergegeben werden. In ihrer Permanenz und Unabhängigkeit, soviel ist zu präzisieren, verweist die durchgängige Bewegtheit allerdings nicht auf ein der Zeit enthobenes, ewiges Sein, das die Einzelbewegungen – von innen oder außen – maßregeln würde. 15 Es gibt keine Bewegtheit, die von den vielgestaltigen, konkreten Wirklichkeitsbewegungen zu trennen wäre und so die Wirklichkeit in eine Zweiheit von innen und außen, von Idealität und Materialität sprengen würde. Die Bewegtheit der Wirklichkeit realisiert sich immer nur in und mit den mannigfaltigen, konkret sich vollziehenden Einzelbewegungen der Wirklichkeit; und nur dort ist sie anwesend. 16 Bleibt die Bewegung somit unhintergehbar mit dem naturwüchsigen Weltgeschehen verflochten, so mag es kaum erstaunen, dass die Bewegung von den Daoisten als ein »Ding« erfahren wurde, das »ungeformt bleibt« 17 und Wang Bi von ihr sagte, sie ließe sich als solches »nicht fassen und eindeutig erkennen 不可得而知« 18. Ohne Eigenleben noch vor den konkreten Wirklichkeitsbewegungen kann die Bewegtheit unmöglich, von jeder »Materialität« und »Äußerlichkeit« entkleidet, in reiner Gestalt hervortreten und eindeutig umrissen werden. Angesichts dieser Verschränkung zwischen der ursprünglichen Bewegtheit der Wirklichkeit und den mannigfaltigen WirklichkeitsFolgende Übersetzungen wurden berücksichtigt: Ansgar Gerstner: Eine Synopse und kommentierte Übersetzung des Buches Laozi sowie eine Auswertung seiner gesellschaftskritischen Grundhaltung auf der Grundlage der Textausgabe Wang-Bis, der beiden Mawangdui-Seidentexte und unter Berücksichtigung der drei Guodian-Bambustexte. Trier, 2001; Richard Wilhelm (Übers.): Tao te king. Das Buch vom Sinn und Leben. München, 2006; D. C. Lau (Übers.): Lao Tzu. Tao Te Jing. London, 196; Hans Georg Möller (Übers.): Laotse. Tao Te King: Nach den Seidentexten aus Mawangdui. Frankfurt am Main, 1995. 9 Vgl. Roger Ames: Daodejing. »Making this Life Significant«. A Philosophical Translation, S. 13 ff. Siehe auch Hans-Georg Möller: Laozi (Lao-tse), S. 106; François Cheng: Vide et plein, S. 130. 8

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Das Daodejing

bewegungen ist die »Bewegung dao 道« im Daodejing durchgängig sowohl als allgemeines Medium, in dem alles existiert, als auch als Einzelbewegung zu verstehen. 19 Der Darstellung halber wird im Laufe der folgenden Ausführungen allerdings begrifflich nicht konsequent zwischen Bewegung als Grunddimension der Wirklichkeit und Bewegung als Einzelbewegung unterschieden, sondern in der Regel undifferenziert von »Bewegung« oder »Bewegungen« die Rede sein. Stets bleiben aber beide Aspekte gleichermaßen angesprochen. Dieser allgemeine Horizont des daoistischen Wirklichkeitsverständnisses lässt sich auf der Grundlage des Daodejing in seinen Konturen gleichwohl noch weiter schärfen. Folgende zusätzliche Momente der Bewegung der Wirklichkeit können dabei ausgemacht werden.

2.2. Die Bewegung a)

Die sich bewegende Bewegung

Verweist die Bewegung der Wirklichkeit nicht auf eine transzendente bewegende Instanz, die sie gewissermaßen von außen am Laufen halten würde, so muss das Wirklichkeitsgeschehen als solches als ein tatsächliches Geschehen verstanden werden. Die Wirklichkeitsbewegung ist nicht bloß die echoartige Wiederholung eines eigentlich bereits »geschehenen Geschehens« bzw. eines vorab ausformulierten Bewegungsplans. In Abwesenheit einer dem Werden enthobenen bewegenden Kraft, einer Bewegtheit an sich, bildet die Bewegung der Wirklichkeit im Daodejing vielmehr eine originäre, sich bewegende Bewegung, d. h. eine Bewegung, die sich erst in ihrem eigenen Vollzug artikuliert und sich somit stets im Werden befindet. 20 b)

Erneuerung und weiterführende Umgestaltung

Eine derart erst werdende, tatsächlich sich bewegende Bewegung zeichDaodejing 25. Siehe das obige Zitat. Ebd. 12 Ebd. Vgl. hierzu Meng Peiyuan 蒙培元: »»Dao« de jingjie »道«的境界«. In: Zhongguo shehui kexue 中國社會科學 (1996/1), S. 116. 13 Daodejing 25. 14 Ebd. 15 Vgl. hierzu auch Meng Peiyuan 蒙培元: Ebd., S. 115–117. 10 11

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net sich des Weiteren dadurch aus, dass sie in einer ständigen Erneuerung ihrer selbst begriffen ist. Um sich werdend vollziehen zu können, muss sich der Bewegungslauf immer wieder in seiner Gestalt auflösen und sich dabei neu ausrichten. Eine sich nicht mehr auflösende und erneuernde Bewegung würde hingegen erstarren. Unabhängig vom Text kann zunächst thesenartig festgehalten werden, dass eine solche ständig sich erneuernde Bewegung in ihrer Grunddynamik durch zwei untrennbar miteinander verbundene Momente gekennzeichnet sein muss. Einerseits muss sich ein Bewegungsfluss, der sich kontinuierlich erneuert, durchgehend als eine Weiterführung vorangegangener Bewegungen vollziehen. Damit ist gemeint, dass jede neue Bewegung an die vorangehenden Bewegungen anzuknüpfen, diese also aufzugreifen und in sich weiterzuführen hat. Werden die sich verflüchtigenden Bewegungen nicht weitergeführt, sondern lediglich durch neue Bewegungen abgelöst und ersetzt, so wird die Gesamtbewegung kein zusammenhängendes, kontinuierliches Geschehen ergeben können, sondern sich in willkürlichen Sprüngen verlieren. Nur wenn die einzelnen Bewegungen in die neuen Bewegungen mit einfließen, diese mitprägen und somit gleichsam als Spuren in ihnen weiterwirken, können sie zu einer Bewegung gerinnen. Dies lässt sich anhand unserer gewohnten Gehbewegung veranschaulichen. Auch im Gehen greift jeder neue Schritt, den wir machen, den vorangegangenen auf, führt diesen weiter, um seinerseits in einen weiteren Schritt überzugehen. Nur wenn die Schritte in einem ständigen Anknüpfungs- und WeiterVgl. hierzu ebenfalls Meng Peiyuan 蒙培元: Ebd., S. 116; Roger Ames: Daodejing. »Making this Life Significant«. A Philosophical Translation, S. 13–21; François Jullien: Über die »Zeit«: Elemente einer Philosophie des Lebens, S. 26–33. Siehe auch Isabelle Robinet: »The Diverse Interpretations of the Laozi«. In: Religious and Philosophical Aspects of the Laozi, S. 134 ff. 17 Daodejing 25. 18 Wang Bi 王弼: Laozi daodejing zhu 老子道德经注, S. 93. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Kommentarsammlung Wang Bi 王弼, Li Yue 李約, u. a.: Laozi. Sibu yaoji zhushu congkan 老子。四部要籍注疏叢刊. Beijing 北京, 1998. 19 Zhang Junxiang 張君相 bringt dies, wie folgt, auf den Punkt: »Die Bewegung ist nicht von den Einzelbewegungen getrennt, die Einzelbewegungen sind nicht von der Bewegung getrennt. Außerhalb der Bewegung gibt es keine Einzelbewegungen, außerhalb der Einzelbewegung gibt es keine Bewegung 道不離物,物不離道;道外無物,物外無 道« (zitiert nach Lan Xibing 蘭喜並: Laozi jiedu 老子解讀, S. 157). Dem hier verfolgten Interpretationsansatz zufolge wird wu 物, das soviel wie »Ding« bedeutet, als »Einzelbewegung« oder »Vorkommnis« übersetzt. Ist alles Wirkliche Bewegung, so ist auch das »Ding« als eine solche zu verstehen. 16

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führungsgeschehen fließend ineinander übergehen, können sie sich zu einem Gang zusammenweben. Andererseits ist eine ständig sich erneuernde Bewegung nicht nur als ein Weiterführen von Bewegungen zu betrachten. In eins damit muss sie immer auch ein Umprägen vorangegangener Bewegungen bilden. Würden die Bewegungen differenzlos an die vorangegangenen Bewegungen anknüpfen, ohne diese umzuformen, so würde sich die Bewegung ständig um sich selbst drehen. Ohne sich zu verändern, würde sie sich gar nicht erst fortbewegen, sondern im Stillstand verharren. Auch dao 道 müsste demnach als Erneuerungsprozess einen Bewegungsfluss darstellen, der sich zwischen Weiterführung und Veränderung, zwischen absoluter Identität und absoluter Differenz vollzieht. Dass sich dies im Daodejing so verhält, dafür liefert der Text einige Hinweise. Das Wirklichkeitsgeschehen wird auch hier als ein allumfassender, zwischen Stillstand und radikalen Sprüngen sich vollziehender Fluss verstanden, in dem die Bewegungen ineinander übergehen und sich immer wieder neu verweben. Die Gleichzeitigkeit von Weiterführung und Umprägung kommt ein erstes Mal in Daodejing 4 zur Sprache. Wenn wir dort lesen: »Tief [ist die Bewegung], sie scheint der Urahn der tausend Vorkommnisse zu sein 淵兮,似萬物之宗«, so ist damit zunächst darauf hingewiesen, dass die Wirklichkeitsbewegung ein in sich zusammenhängendes Anknüpfungs- und Weiterführungsgeschehen bildet. Die Bewegung wird hier in ihrer zeitlichen Erschrecktheit thematisiert. Die aktuellen Wirklichkeitsbewegungen (wan wu 萬物) 21 haben nämlich eine Herkunft und verweisen als solche auf eine Vergangenheit, aus der sie hervorgegangen sind und die als ihr »Urahn« betrachtet werden kann. Damit ist aber nichts anderes gesagt, als dass das aktuelle Wirklichkeitsspiel eine Weiterführung vorangegangener Bewegungen bildet. Denn dass das beobachtbare Wirklichkeitsspiel auf einen »Urahn« verweist, setzt voraus, dass die aktuellen Wirklichkeitsbewegungen in einer »Verwandtschaftslinie« mit ihrer eigenen Vergangenheit stehen und somit in ihrer zeitlichen Erstrecktheit allesamt zusammenhängen und eine Kontinuität bilden. Mit dem Bild des Urahns wird sogar angedeutet, dass die Gegenwart ihre Herkunft weiterhin als Spur in sich trägt. Der Vgl. hierzu auch Meng Peiyuan 蒙培元: »»Dao« de jingjie »道«的境界«. In: Zhongguo shehui kexue 中國社會科學 (1996/1), S. 116; Roger Ames: Daodejing. »Making this Life Significant«. A Philosophical Translation, S. 57 ff.

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hier verwendete genealogische Begriff des Urahns zeigt nämlich an, dass zwischen Vergangenheit und Gegenwart weiterhin Ähnlichkeiten bestehen. Als ein solches Weiterführen bildet die Wirklichkeitsbewegung allerdings immer auch ein Umprägen. An der gleichen Stelle wird hervorgehoben, dass die Herkunft der aktuellen Wirklichkeitsbewegung nur noch auf ein nahezu anfangsloses, verschwommenes Woher verweist. So heißt es: »Ich weiß nicht, wessen Sohn sie [die Bewegung] ist. Es scheint, als sei sie schon vor di 帝 dagewesen 吾不知誰之子,象帝之先.« Die Herkunft der Bewegung ist also bereits verwischt und als solche nicht mehr rekonstruierbar. Der »Anfang shi 始« muss von daher unbestimmt bleiben. 22 Diese Auflösung der Konturen der Vergangenheit deutet aber darauf hin, dass der Bewegungsablauf als Weiterführung immer auch ein Umgestaltungs- und Umprägungsgeschehen darstellt. Die Wirklichkeitsbewegung vollzieht sich nicht als Wiederkehr des ewig Gleichen und ist somit als »Abkömmling« nicht das bloße Abbild des »Urahn«. Vielmehr zeigt die Verschwommenheit der Vergangenheit an, dass sich die aktuelle Bewegung trotz ihrer Verbundenheit mit ihrer Herkunft gleichzeitig von dieser abgesetzt hat, mithin eine Abwandlung ihrer eigenen Vergangenheit darstellt, die, obwohl noch anwesend, gleichzeitig schon in die Ferne gerückt ist. Die gleiche Verschränkung von Weiterführung und Umprägung lässt sich an einem weiteren grundlegenden Bild des Daodejing festmachen: am Bild der Rückkehr. In Daodejing 40 wird die Eigenart der Wirklichkeitsbewegung (dao 道) als ein Zurückkehren (fan 反) gekennzeichnet. Dort heißt es: »Zurückkehren, dies macht die Dynamik aller Bewegung aus 反者道之動.« Diese Kennzeichnung der Bewegung als Zurückkehren kann zunächst dahin gehend verstanden werden, dass die Bewegung in jedem Moment auf sich »zurückzukommen« hat. Nur in einer ständigen Zurückwendung, d. h. nur in einem weiterführenden Anknüpfen an sich selbst kann sich eine Bewegung überhaupt fortführen und sich somit zu »einer yi 一« 23 Bewegung entfalten. Entsprechend ist auch in Daodejing 25 zu lesen: »Sich Fortführen, das heißt immer auch sich Entfernen. Sich Entfernen, das heißt immer auch Zurückkehren 逝曰遠,遠曰反.« Ohne »Zurückzukehren«, d. h. ohne stete weiterführende Anknüpfung an sich selbst, würde sich die Bewegung nicht fortbewegen (shi 逝) können. Sie hätte keinen bleibenden Bestand, sondern würde unmittel21

Vgl. zu wu 物 die Fußnote 19, S. 171.

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bar zersplittern und sich in einem zusammenhangslosen Umherirren verlaufen. Entsprechend wird das Zurückkehren (gui 歸) auch in Daodejing 16 explizit mit »Konstanz chang 常«, d. h. mit ständiger Fortführung, in Verbindung gebracht. Dieses Bild der Rückkehr bezieht sich im Daodejing allerdings nicht nur auf die an sich selbst anknüpfende und sich somit weiterführende Bewegung. Das Zurückkehren impliziert immer auch ein Moment der Auflösung und der Umprägung. Dies wird auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht. So lesen wir etwa in Daodejing 14: »Unaufhörlich sich fortbewegend, bleibt die Bewegung nie eindeutig benennbar; [immer wieder] kehrt sie in einen Zustand der Unbestimmtheit zurück 黽黽兮不可名,復歸於無物.« An anderer Stelle ist von einer »Rückkehr zum Zustand unbehauenen Holzes 復歸於樸« die Rede, welche die »konstante Wirksamkeit chang de 常德« 24 der Bewegung begleitet. Diese Ergänzung des Bildes der Rückkehr als weiterführendes Anknüpfen durch die Zusatzbilder der Unbestimmtheit und des Rohzustandes macht deutlich, dass die Bewegung zu keinem Zeitpunkt zu einer festen, eindeutig bestimmbaren Gestalt gerinnt. Die Bewegung kreist nicht in feststehender Identität autistisch um sich selbst. In ihrer zurückkehrenden Weiterführung löst sie sich vielmehr immer auch auf und durchläuft dabei Zustände der Unform und Unbestimmtheit. Diese Momente der Auslösung gestatten es ihr immer wieder eine neue Gestalt anzunehmen, dergestalt dass die Rückkehr als Anknüpfen gleichzeitig eine Abkehr von sich selbst darstellt. Dies wird in dem eben zitierten Kapitel 25 nahe gelegt, wenn dort die Rückkehr, d. h. die immer wieder an sich anknüpfende Weiterführung, gleichzeitig mit einem Entfernen (yuan 遠) in Verbindung gebracht wird. In der zurückkehrenden Weiterführung seiner selbst entfernt sich die Bewegung also immer auch von ihrem bereits zurückgelegten Weg. Sie schweift von ihrer Herkunft ab, ohne dass es dabei freilich zu radikalen Brüchen und somit zu einer totalen Zerstreuung und Auflösung der Bewegung kommen würde. Jede Bewegung, so kann festgehalten werden, vollzieht sich mithin als eine sich immer wieder umprägende Weiterführung ihrer selbst. In diese Richtung ist sodann auch Daodejing 42 zu lesen, wenn es dort heißt: »道生一,一生二,二生三,三生萬物.« Wie immer diese Entwicklungsfolge inhaltlich auszulegen ist, 25 so kann diese Genealogie 22

Vgl. auch Daodejing 1.

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hinsichtlich ihres Vollzuges sehr wohl als ein fließendes Auseinanderhervorgehen interpretiert werden, in dem jede Phase in umprägender Weiterführung an die vorherige anknüpft. 26 Paraphrasierend wäre diese Stelle demnach, wie folgt, wiederzugeben: Die Bewegung bewegt sich, diese Bewegung führt sich in einer zweiten fort, diese in einer dritten, bis sie die Form der uns bekannten Bewegungen der tausend Dinge angenommen hat. c)

Ziran 自然

Als werdende Bewegung, die nicht von außen gesteuert wird, stellt das Wirklichkeitsgeschehen in seiner ständigen Erneuerung durch umprägende Weiterführung seiner selbst darüber hinaus eine sich bewegende Bewegung dar. Dies ist wörtlich zu nehmen. Auf keine zugrunde liegende, unabhängige bewegende Instanz verwiesen, als »Weg ohne Weg« 27 also, bildet sie ein ausschließlich aus sich heraus, gänzlich sich von selbst vollziehendes Geschehen. Sicherlich geht jede Einzelbewegung als umprägende Weiterführung aus einer vorausgehenden Bewegung hervor, die als Hintergrund deren Richtung vorgibt (zhang 長) 28 und somit ihren Gang prägt. Weist jede Einzelbewegung auf eine sie bedingende, vorgängige Bewegung zurück, so bildet Letztere allerdings lediglich einen ermöglichenden Hintergrund. Die vorausgehende Bewegung mischt sich nicht dirigierend (bu zai 不宰) 29 in den weiteren Verlauf ein. Das heißt, sie interveniert nicht als »Befehlshaber zhu 主« 30, um die nachfolgende Bewegung ihren eigenen »Vorlieben qin 親« 31 gemäß zu lenken. Als ermöglichender Hintergrund lässt sie, ohne einzugreifen (wu wei 無為) 32, der nachfolgenden Bewegung vielmehr ihren freien Lauf. 33 Diese bildet von daher als anknüpfende, neue Bewegung trotz ihrer Rückgebundenheit weiterhin eine eigenständige Bewegung, eine Bewegung von selbst. Dies bedeutet für die Wirklichkeitsbewegung als Ganzes, dass sie in jedem Moment ihres Vollzuges ein sich selbst hervorbringendes Fortschreiten, ein fließendes Auseinanderhervorgehen von selbst darstellt. Auf diese sich selbst fortführende Bewegung beziehen sich die Daoisten mit dem Begriff ziran 自然, der mit »von selbst« übersetzt werden kann. 34 So heißt es in Daodejing 25 von der Bewegung: »Die 23 24

Daodejing 39. Daodejing 28.

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Das Daodejing

Bewegung richtet sich von selbst nach sich selbst 道法自然«. Damit wird das eben Ausgeführte noch einmal auf besonders pointierte Weise auf den Punkt gebracht. Dass sich die Bewegung von selbst nach sich selbst richtet, bedeutet nichts anderes, als dass sie sich in jedem Moment aus sich heraus und auf stets sich erneuernde Weise von selbst weiterführt, also stets ihren Gang nimmt, ohne dass dabei ein bestimmender Hintergrund, etwa ein regelnder Kontext oder ein bereits feststehendes »Selbst«, heimlich am Werk wäre. Auf dieses Moment des freien Selbstvollzuges hin lassen sich dann auch die Bilder des Nährens und Tragens lesen. 35 Heißt es in Daodejing 51 von der Bewegung (dao 道), dass sie wachsen lässt, pflegt, zur Weiterentwicklung und Reifung verhilft, nährt und beschützt, 36 so können diese Charakterisierungen durchaus auf den Selbstvollzug der Bewegung als solchen und somit auf die Eigendynamik der Bewegung bezogen werden, dank derer sie sich ständig aus sich heraus weiter entfaltet. Das Nähren und Tragen erhalten dann eine selbstreferenzielle Konnotation. Sie weisen darauf hin, dass sich die Bewegung, als sich von selbst aus sich heraus bewegende Bewegung, in jedem Moment selbst nährt und trägt. Auch andere Charakterisierungen der Bewegung, etwa als »Beistand der zehntausend Vorkommnisse 萬物之奧« 37, als »Tor der unergründlichen weiblichen Fruchtbarkeit 玄牝之門« 38, als »Mutter von Himmel und Erde [d. h. aller Wirklichkeitsvollzüge] 天地母« 39 oder als Netz, das nichts durchfallen lässt, 40 lassen sich auf den Selbstvollzug hin deuten. Der Text zwingt uns nicht, diese Bilder auf ein statisches Fundament, von dem alles abhängig wäre, zu beziehen. Er gibt uns hier genügend interpretatorischen Raum, sie genauso als Veranschaulichungen des sich selbst tragenden Vollzugs auszulegen. Die Kennzeichnungen der Bewegung als »Tor der Fruchtbarkeit« oder als »Mutter« besagen dann, dass die Bewegung mit jedem Schritt »Tor« und »Mutter« ihrer selbst ist, d. h., in jedem Moment ihre eigene nährende und tragende Wurzel (gen 根) 41 bildet.

Einen Überblick über mögliche Deutungsansätze liefert Liu Xiaogang 劉笑敢: Laozi gujin 老子古今, S. 438 f. 26 Vgl. hierzu auch Lan Xibing 蘭喜並: Laozi jiedu 老子解讀, S. 157. 27 Günter Wohlfahrt: Der philosophische Daoismus, S. 54. 28 Daodejing 10, 51. 29 Ebd. 30 Daodejing 34. 25

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d)

Unerschöpflichkeit und Unbestimmtheit

Als weitere Momente der Bewegung sind deren Unerschöpflichkeit und Unbestimmbarkeit anzuführen. Wenden wir uns zunächst der Unerschöpflichkeit zu. Verweist die Bewegung nicht auf einen der Zeit enthobenen, ihr vorgegebenen Bewegungsplan, so ist sie auch nicht auf einen Zustand erfüllter Ganzheit und totaler Selbstpräsenz hin ausgerichtet. In Ermangelung einer urbildlichen Selbstheit wird die Bewegung somit nie gänzlich »zu sich kommen« können. Entsprechend wird die Bewegung in Daodejing 4 auch als »nicht zu füllen bu ying 不盈« und »leer chong 冲« gekennzeichnet. 42 Einem Blasebalg vergleichbar setzt sie immer wieder neu an, ohne jemals an eine Grenze zu stoßen, an der sie einen Endzustand gesättigter Selbsterfüllung erreichen würde. 43 Als eine derart »unaufhörlich mian mian 綿綿« 44 sich fortführende Bewegung haben die Daoisten sie auch mit der unversiegbaren Fruchtbarkeit der Täler verglichen, die ständig neues Leben hervorbringt. 45 Wo immer wir also mit dem Finger in die konkrete Welt hinzeigen, wo immer sich etwas bewegt, nirgends wird die Bewegtheit der Welt als abgeschlossenes Ganzes vorliegen. Gerade darauf weist auch Daodejing 1 hin, wenn es dort gleich zu Beginn paraphrasierend heißt, dass keine der unzähligen Einzelbewegungen, die sich vollzogen haben, vollziehen oder vollziehen werden, jemals die Bewegtheit der Wirklichkeit (chang dao 常 道) zur Gänze erschöpfen kann (道可道,非常道). 46 Als ein derartiges unaufhörlich sich selbst fortführendes Geschehen muss die Bewegung, um auf das zweite Moment zu sprechen zu kommen, darüber hinaus grundsätzlich unbestimmbar bleiben. Die BeDaodejing 79. Vgl. Daodejing 37. 33 Vgl. Daodejing 34, 51. Siehe ferner Liu Xiaogang 劉笑敢: Laozi gujin 老子古今, S. 440. 34 Vgl. auch Günter Wohlfahrt: Der philosophische Daoismus, S. 103–110. 35 Vgl. zu diesen Bildern des Nährens und Tragens auch Ellen Marie Chen: »Tao as the Great Mother and the Influence of Motherly Love in the Shaping of Chinese Philosophy«. In: History of Religions 14 (1974), S. 51–64, sowie Robert G. Henricks: »Re-exploring the Analogy of the Dao and the Field«. In: Religious and Philosophical Aspects of the Laozi, S. 161–173. 36 Vgl. Daodejing 51. Der Originaltext lautet: »長之育之;亭之毒之;養之覆之.« Siehe auch die Anmerkungen von Gao Ming 高明 in seinem Boshu laozi jiaozhu 帛書 老子校注, S. 73. 31 32

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wegung wird zwar im Daodejing als etwas durchaus Reales wahrgenommen und dementsprechend auch als »echt zhen 真« 47 bezeichnet. In und zwischen den mannigfaltigen konkreten Einzelbewegungen zeichnet sich sogar, sozusagen an den Rändern, so etwas wie eine allgemeine Figur (zhuang 状), eine allgemeine Gestalt (xiang 象) der Bewegung ab, 48 sodass ihr auch der Charakter eines konkreten »Vorkommnisses wu 物« 49 zugeschrieben werden kann. Dennoch entzieht sie sich als ständig sich transformierende und sich somit immer wieder verflüchtigende Bewegung einer endgültigen Bestimmung. Gerinnt die Bewegung nie zu einer runden, in sich geschlossenen Entität, so können ihre Figur und Gestalt nur vorläufig sein. Ihre Figur wird immer eine Figur ohne feste Figur bleiben und ihre Gestalt eine Gestalt ohne bleibende Gestalt. 50 Entsprechend lässt die Bewegung auch keinen Namen (ming 名) zu, der in der Lage wäre, sie stets zu treffen. Einen »konstanten Namen changming 常名« 51, der die Bewegung auf Schritt und Tritt begleiten und sie immer schon im Voraus kennzeichnen könnte, gibt es nicht. Mit Namen, so kommentiert Wang Bi, lassen sich nur »feste Konturen festhalten; was aber [wie die Bewegung] ungeformt bleibt und somit keine festen Konturen hat, lässt sich [mit Namen] nicht festhalten 定形,混 成無形,不可得而定« 52. Alle Versuche, die Bewegtheit der Wirklichkeit zu bestimmen, laufen von daher unweigerlich Gefahr, ihr »Zwang anzutun qiang 强« 53, d. h., sie auf etwas festzulegen, was sie nie ganz ist. Aufgrund ihrer »Größe da 大«, d. h. aufgrund ihrer Unerschöpflichkeit, gibt es nichts, was der Bewegung ähneln könnte (buxiao 不肖). 54 »Würde ihr [hingegen] etwas ähneln, so wäre sie schon längst winzig [d. h. erschöpft] 若肖,久矣其細也夫.« 55 Sie wäre dann auf eine bestimmte Gestalt reduziert worden. In diesem Sinne unterlässt das Daodejing Daodejing 62. Vgl. zur Übersetzung Chen Guying 陳鼓應: Laozi zhuyi ji pingjie 老子 注譯及評介, S. 303. 38 Daodejing 6. 39 Daodejing 25. Siehe auch Daodejing 52. 40 Vgl. Daodejing 73. 41 Daodejing 16. Wenn dort zu lesen ist: »In ihrem gedeihlichen Wachsen kehren die Vorkommnisse zu ihrer Wurzel zurück 夫物芸芸,復歸其根«, so ist auch hier die Rückkehr zur Wurzel nicht als Rückkehr zu einem Urzustand zu verstehen. Die Wurzel befindet sich nicht außerhalb des Bewegungsprozesses. Sie ist der geschehende Prozess selbst. In diesem Sinne sind rückblickend auch die oben in Punkt b) angeführten Stellen zur Rückkehr zu lesen. 42 Vgl. auch Daodejing 45. 37

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jegliche eindeutige Bestimmung von dao. Es wird sogar explizit darauf hingewiesen, dass selbst das Zeichen dao 道 ein ungeeigneter Name für die Bewegung bleibt. Er erweckt Bilder und Assoziationen, welche der werdenden Bewegung in ihrer Unabschließbarkeit und ihren unerschöpflichen Möglichkeiten nicht gerecht werden können. Der Name dao 道 fungiert von daher lediglich als Notlösung. 56 Lässt sich die Bewegung nicht endgültig auf einen Begriff bringen, muss sie also dunkel und unergründlich bleiben – »dunkel und abermals dunkel 玄之又玄« 57 –, so ist die Unbestimmbarkeit und Dunkelheit der Bewegung dennoch nicht derart absolut, dass Schweigen die einzige Antwort auf die Wirklichkeitsbewegung wäre. Die Bewegung zieht sich trotz ihrer Unschärfe nie gänzlich in die Sphäre des schier Unsagbaren zurück. Denn auch wenn die Bewegung nicht vollends bestimmbar ist, so lässt sich gleichwohl etwas über sie sagen. Dafür steht letztlich der Text des Daodejing als solcher Pate. Die Worte des Daodejing sind kein bloßes Geschrei oder Gebrabbel. Der Text versucht durchaus, etwas zu sagen. Es wird sogar betont, dass sein Inhalt leicht zu verstehen und umzusetzen ist. 58 Wenn es also in Daodejing 32 von der Bewegung heißt, sie sei »namenlos 无名«, so bedeutet dies nicht schon, dass sie schlechthin unsagbar (»无名«) wäre, sondern lediglich, dass sie sich nicht durch einen Namen ein für alle Mal erfassen lasse (无»名«). 59 Kann also sehr wohl etwas über die Bewegung gesagt werden, so wird das Sagen gleichwohl nie in ein endgültig Gesagtes übergehen können. 60 Zwischen restloser Bestimmtheit und totaler Unbestimmtheit entzieht sich die Bewegung als Ganzes einem endgültigen Zugriff: »Man kann sie [die Bewegung] schauen, [in ihrer Ganzheit] aber nicht sehen […]; man kann sie abhorchen, und doch nicht [in ihrer Ganzheit] hören […]; man kann sie greifen, aber dennoch nicht [als Ganzes] fassen 視之不見 […] ;聽之不聞 […] ;搏之不得 […].« 61

Vgl. Daodejing 5. Daodejing 6. 45 Daodejing 6, 15, 28, 39. Vgl. auch Hans-Georg Möller: Laozi (Lao-tse), S. 16–23. 46 Vgl. Wang Bis 王弼 Kommentar zu Daodejing 1 in Laozi daodejing zhu 老子道德经 注, S. 93, sowie Lan Xibing 蘭喜並: Laozi jiedu 老子解讀, S. 3 ff. 47 Daodejing 21. 48 Vgl. ebd. 49 Ebd. 50 Vgl. ebd. 43 44

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e)

Konkreativität

Neben den beiden Momenten der Unerschöpflichkeit und der Unbestimmbarkeit lässt sich ein weiteres und letztes Grundmoment der Bewegung ausmachen. Es handelt sich dabei um das Moment der Konkreativität. Damit ist gemeint, dass die einzelne Bewegung kein von dem jeweiligen Bewegungsfeld abgeschottetes Einzelgeschehen »für sich« bildet, sondern sich nur in und mit der Gesamtbewegung der Wirklichkeit vollzieht. Die einzelnen Bewegungen stehen in einem durchgängigen Resonanzverhältnis zueinander und bilden dabei ein zusammenhängendes, dynamisches Gewebe. Darauf weist Daodejing 16 hin, wenn es dort heißt: »Die zehntausend Vorkommnisse gehen gleichzeitig mit- und auseinander hervor 萬物並作.« In diesem Sinne vermerkt auch Wang Bi 王弼 in seinem Kommentar zu Daodejing 5: »Die zehntausend Vorkommnisse ordnen sich selbst alle gegenseitig 萬 物自相治理.« 62 Wie im Lunyu 論語 und Mozi 墨子 so kann auch in der Welt des Daodejing kein Moment der Wirklichkeit eine autarke Selbstheit für sich beanspruchen. Alles geht vielmehr aus seinen Bezogenheiten zu anderem hervor. 63 Dabei wird der Vollzug »von selbst ziran 自 然« gleichwohl nicht beeinträchtigt, d. h., die Bewegung von selbst wird durch die konkreative Einbettung in das Gesamtgeschehen nicht schon zu einer fremdbestimmten Bewegung. Das Miteinander der Bewegungen vollzieht sich vielmehr so, dass alles weiterhin »als es selbst […] aufeinander zuspielt, ohne sich gegenseitig in seinem Selbstsein zu behindern oder einfach identisch zu werden« 64. Ermöglicht wird diese reibungslose Gleichzeitigkeit des »Von selbst« und des »Mit anderem« dadurch, dass das andere auf ursprüngliche Weise bereits in das Eigene eingeschrieben ist, der Selbstbezug mithin immer schon einen Fremdbezug in sich trägt. Die Eigensphäre und das andere treten sich nicht als

Daodejing 1. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Lan Xibing 蘭喜並: Laozi jiedu 老子解讀, S. 7 f. 52 Wang Bi 王弼: Laozi daodejing zhu 老子道德经注, S. 94 (Kommentar zu Daodejing 25). 53 Daodejing 25. 54 Vgl. Daodejing 67. 55 Ebd. 56 Vgl. Daodejing 25. 57 Daodejing 1. 51

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Das Verständnis von Wirklichkeit im Daodejing

gegenseitig fremde Bereiche gegenüber. Jede Bewegung hält vielmehr immer schon in sich einen Platz für anderes bereit. Diese Offenheit einer jeden Bewegung für anderes lässt sich im Daodejing vor allem an der Verschränktheit von »Fülle you 有« und »Leere wu 無« festmachen. Fülle und Leere, so ist zunächst festzuhalten, konstituieren zusammen jede Einzelbewegung. 65 Ein Vorkommnis hat Fülle (you 有) und ist etwas, weil es gleichzeitig vieles nicht ist, bzw. vieles aus sich ausschließt (wu 無). Die Fülle eines Vorkommnisses ist demnach stets von einem Leerhorizont umgeben. So ist etwa der Becher nur Becher, insofern ihm eine bestimmte Leere anhaftet. Genauso ist auch das Rad nur solange Rad, wie es mit formgebenden Leerstellen versehen bleibt. 66 Jede Bewegung verkörpert somit in ihrer konkreten Verfasstheit eine bestimmte Konfiguration von Fülle und Leere. Entscheidend ist dabei, dass die Leerstellen, welche einem Vorkommnis seine je eigene Gestalt verleihen, dieses dadurch keineswegs von der Umwelt abschotten. Im Gegenteil ermöglicht der Leerhorizont einem Vorkommnis allererst, sich auf anderes einlassen zu können. Die Leere bildet nämlich als solche eine Schnittstelle zwischen dem Eigenen und dem anderen, indem sie das Eigene auf anderes hin öffnet. Sie bildet damit das andere im Eigenen bzw. das Eigene im anderen. So etwa verweist die Leere des Bechers immer auch auf mögliche Inhalte, welche ihn füllen können. Das andere gehört geradezu zur Eigenheitssphäre des Bechers, es ist ihm aufgrund seiner Leere gleichsam eingeschrieben. Ähnlich öffnet die Leere auch das Rad, durch die Nabe, auf anderes hin, Daodejing 70. Vgl. Lan Xibing 蘭喜並: Laozi jiedu 老子解讀, S. 7 ff., 120 ff. 60 Ist die Unsagbarkeit der Bewegung nicht vollständig, so besteht angesichts der Verschränkung von Sagbarkeit und Unsagbarkeit die Schwierigkeit darin, angemessen mit dem »Sagen« umzugehen. Man muss vor allem lernen, wann man sich im Sagen zurückzuhalten hat. So heißt es in Daodejing 32: »Wo das Trennen beginnt, werden Namen hervorgehen. Sobald aber Namen hervorgegangen sind, sollte man auch wissen, wo es haltzumachen gilt 始制有名,名亦既有,夫亦將知止.« Beim Sagen gilt es sowohl das Schweigen als auch die Überführung der Bewegung in restlose Sagbarkeit zu vermeiden. Das Daodejing selbst kann demnach als Versuch eines »großen Trennens 大制«, d. h. einer sprachlichen Umreißung der Bewegung, gelesen werden, die, indem sie gerade nichts Endgültiges sagt, in ihrem Sagen jegliches gewalttätiges Zergliedern (ge 割) umgeht (Daodejing 28). Siehe hierzu auch François Jullien: Umweg und Zugang. Strategien des Sinns in China und Griechenland, S. 273–301. Es gibt also keinen Grund, dem Daodejing einen radikalen Sprachskeptizismus zu unterstellen. Sprache wird nicht verteufelt, sondern nur in ihre Schranken zu weisen versucht. 61 Daodejing 14. 58 59

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Das Daodejing

nämlich auf die Achse und den gesamten Wagen. Die Leere, die ein Ding konkret »umgibt«, bildet somit den Auffangplatz, den Empfangsraum, in den anderes sich einfügen kann. Die totale Fülle, das absolute Ganzsein, würde hingegen jegliche Kontaktaufnahme mit anderem verhindern. Ist das andere immer schon der Eigenheitssphäre einer Bewegung einverleibt, beziehen sich also das Eigene und das andere immer schon aufeinander, so bedeutet dies auch, dass das andere letzten Endes für den Vollzug einer jeden Bewegung unentbehrlich ist. Insofern jedem Vorkommnis durch seinen Leerhorizont bereits anderes eingeschrieben ist, das andere mithin immer schon einen Teil seiner Eigenheit ausmacht, so bildet es gleichzeitig die Voraussetzung für die Entfaltung seiner Wirksamkeit (de 德). Nur im anderen kann ein Vorkommnis seine Ergänzung 67 und damit seine ganze Wirklichkeit finden. So wird auch der Becher erst vollends zum Becher, wenn er gefüllt wird. Durch die Füllung, d. h. durch das andere, erhält er seine volle Wirklichkeit. Wird eine Bewegung demnach nur im Verein mit anderen Bewegungen »eins und ganz yi 一« 68, so bildet dieses Ergänzen allerdings kein einbahniges Geschehen. Indem sich ein Vorkommnis im anderen entfaltet, findet in eins damit auch das andere im Eigenen seine Ergänzung. Der Vollzug »von selbst« und der Vollzug »mit anderem« ermöglichen sich auf diese Weise gegenseitig. 69 Dies kann an Daodejing 11 veranschaulicht werden. Dreißig Speichen umgeben eine Nabe, An ihrer Leere kann der Wagen seine Wirksamkeit entfalten. 三十輻,共一轂, 當其無,有車之用。 (Daodejing 11)

Die Nabe bzw. die Leere, so wird hier deutlich, öffnet das Rad über sich Wang Bi 王弼: Laozi daodejing zhu 老子道德經注, S. 84. Vgl. auch Roger Ames: Daodejing. »Making this Life Significant«. A Philosophical Translation, S. 17. 64 Rolf Elberfeld: »Phänomenologie des Lebens als Selbst-Transformation«. In: Leben als Phänomen. Die Freiburger Phänomenologie im Ost-West-Dialog, S. 280. 65 Vgl. hierzu Lan Xibing 蘭喜並: Laozi jiedu 老子解讀, S. 47 f. 66 Vgl. zu diesen beiden Beispielen Daodejing 11. Siehe auch Wohlfahrt: »Laozi and Heidegger: Wu (Nothing) – on Chapter 11 of the Daodejing«. In: Journal of Chinese Philosophy 30 (2003), S. 43. Im Gegensatz zu Wang Bis 王弼 Auslegung versucht die 62 63

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Das Verständnis von Wirklichkeit im Daodejing

hinaus auf anderes hin, in diesem Fall auf die Achse und den gesamten Wagenoberbau. Dabei entsteht zwischen Rad und Oberbau eine resonierende Wirksamkeit. Im Zusammenwirken können sie dann durch die Leere hindurch ihre jeweilige Wirklichkeit entfalten, ohne sich dabei zu behindern. Nicht nur gewinnt das Rad durch die Nabe und den Wagenoberbau seine Wirklichkeit, auch werden die Achse und der gesamte Aufbau des Wagens erst durch das Rad und dessen Leere ihre Funktion erfüllen. Schließen sich demnach das Eigene und das andere nicht nur nie aus, sondern unterstützen sie sich gegenseitig in ihrem jeweiligen Selbstvollzug, so wird verständlich, wieso sich eine Bewegung im Kontakt mit anderem weiterhin »von selbst« vollziehen kann, sich die Vollzüge »mit anderem« und »von selbst« mithin nicht gegenseitig beeinträchtigen. Als konkreatives Geschehen ist die gesamte Wirklichkeit als ein stimmiges Konzert zu betrachten, in dem die Vollzüge »von selbst« und die Vollzüge »mit anderem« stets reibungslos ineinandergreifen. Durch ihre Leerhorizonte hindurch können sich die Vorkommnisse gegenseitig ergänzen und dadurch in einem regelrechten Wirksamkeitsfluss in ihren jeweiligen Wirklichkeiten realisieren. In einem derartigen konkreativen Wirklichkeitsgeschehen kommt dann auch allen Momenten die gleiche Bedeutung zu. Insofern alles gleichermaßen aufeinander angewiesen ist, kann keiner Bewegung ein besonderer, bleibender Wert zugeschrieben werden. So wie der »Opferhund aus Stroh chu gou 芻狗« 70 keinen Wert an sich beanspruchen kann, sondern einen solchen nur im Rahmen einer Zeremonie erlangt, 71 genauso schöpfen auch alle Bewegungen ihre Bedeutung nur aus dem je vorliegenden Kontext heraus. Einem Vorkommnis einen bleibenden Wert zuzuschreiben, käme letztlich einer groben Verzerrung der tatsächlichen Zusammenhänge gleich. Rückblickend kann also festgehalten werden, dass die Bewegung vorliegende Deutung die »Leere wu 無« nicht mehr der »Fülle you 有« vorzuordnen oder diese gar aus der »Leere wu 無« abzuleiten (vgl. etwa dessen Kommentar zu Daodejing 40 in Laozi daodejing zhu 老子道德經注, S. 103). Wu 無 und you 有 sollen hier als aufeinander verweisende Aspekte der Bewegung gleichwertig nebeneinander gestellt werden. Vgl. hierzu auch Chen Guying 陳鼓應: »Laozi de youwu, dongjing ji tiyongguan 老子的有無,動靜及體用觀«. In: Huazhong shifan daxue xuebao 華中師範大學學 報 44 (2005/6), S. 152. 67 Vgl. Hans-Georg Möller: Laozi (Lao-tse), S. 62. 68 Vgl. Daodejing 39.

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Das Daodejing

als Grundelement alles Wirklichen im Daodejing auf fünf zentrale Momente hin freigelegt wird. Die Wirklichkeit lässt sich hier als ein sich artikulierendes Bewegungsgeschehen charakterisieren, das sich, zwischen absoluter Bestimmtheit und Unbestimmtheit, »von selbst« immer wieder erneuert, ohne jemals gänzlich zu sich zu kommen. Dabei verweben sich alle Einzelbewegungen zu einem konkreativen Gesamtvollzug, dergestalt dass sich die Bewegungen gleichzeitig »von selbst« und »mit anderen« vollziehen können. Wie aber, so ist nun zu fragen, verhält sich der Mensch zu einer derart verfassten Wirklichkeit, und was geschieht dabei?

3.

Das Wirklichkeitsverhältnis als Selbstfortführung

Entscheidend für eine erste Annäherung an den Vollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses ist die Tatsache, dass der Mensch auch im Daodejing keinen Sonderstatus genießt, sondern lediglich eine Bewegung unter anderen bildet. 72 Die oben vorgestellten Grundeigenschaften der Bewegung der Wirklichkeit treffen demnach allesamt auch auf ihn zu. In seinem Lebensvollzug lässt sich der Mensch folglich als eine Bewegung umschreiben, die sich in ständiger Erneuerung von selbst vollzieht, ohne auf ein ihm innewohnendes Telos gerichtet zu sein. Genauso gilt dann auch für den Menschen, dass er sich nur im Verein mit seinem Lebensumfeld, also nur »mit anderem« entfalten und fortführen kann. Bildet der Mensch demnach wie alle Bewegungen einen ständig sich erneuernden Selbstvollzug, der nur mit anderen Bewegungen gelingen kann, die ihn als Ergänzungen in seiner eigenen Wirklichkeit unterstützen, so bildet für ihn das Verhältnis zur Wirklichkeit vor allem die Gelegenheit, sich überhaupt fortführen zu können. Nur indem er sich auf die ihn umgebende Wirklichkeit einlässt, wird er das »andere« finden, das seinen Selbstvollzug allererst ermöglicht. Im Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit geht es im Im Gegensatz zum Mozi 墨子 kann im Daodejing nicht von einem expliziten gegenseitigen Nutzen (li 利) die Rede sein. Während die gegenseitige Unterstützung im Mozi die Grundweise der Wirklichkeit bildet, die alles durchzieht und bestimmt, so erscheint die ergänzende Wirkung des eigenen Selbstvollzuges auf das andere hier als Nebeneffekt ebendieses Selbstvollzuges. Die Ergänzung, die das andere durch den eigenen Selbstvollzug erfährt, wird nicht intendiert und wird demnach nicht mit der gleichen Ausdrücklichkeit und dem gleichen Pathos wie im Mozi vorgetragen.

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Das Wirklichkeitsverhältnis als Selbstfortführung

Daodejing demnach weder, wie im Lunyu 論語, um einen Ausgestaltungsprozess des eigenen Lebens, noch, wie im Mozi 墨子, um ein Wirksammachen gegenseitig sich unterstützender Beziehungen, sondern um die eigene Selbstfortführung. In diesem Sinne lässt sich das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen seinem Grundvollzug nach als ein Fortführen der eigenen Lebensbewegung im Verein mit anderem charakterisieren. Dem entspricht, dass im Daodejing dem »langen Leben« eine zentrale Bedeutung beigemessen wird. 73 Das »lange Leben« steht eben für jene ungestörte Selbstfortführung mit anderem, d. h. für ein Leben, das sich in seiner ganzen Spanne vollziehen konnte und erst dann erlischt, wenn die Zeit gekommen ist. 74 Dieser ersten Bestimmung ist allerdings sogleich hinzuzufügen, dass die Selbstfortführung für den Menschen eine besondere Bedeutung gewinnt. Die Selbstfortführung vollzieht sich nämlich bei ihm nie schon wie ein automatischer Mechanismus »von selbst«. Ein shengren 聖人, ein Meister des Einklangs, 75 der sich in Übereinstimmung mit sich selbst und mit dem jeweiligen Kontext stets von selbst vollzieht und dabei seine Lebensspanne zur Gänze durchlebt, scheint ein glücklicher Ausnahmefall zu sein. 76 Bei den meisten Menschen hingegen kommt die Selbstfortführung in und mit der Wirklichkeit sehr leicht ins Stocken. Denn gewöhnlich stößt sich der Mensch an der Wirklichkeit und erleidet so einen frühzeitigen Abbruch seines Lebens (zao yi 早 已). 77 Ist er also »ein Kind der Wirklichkeitsbewegung«, so ist er gleichwohl zunächst ein verirrtes Kind. Schauen wir etwas genauer hin, so werden die Verirrungen des Menschen im Daodejing auf seinen Hang zurückgeführt, seinen eigenen Lebensvollzug nach festen Vorstellungen und Zielen auszurichten. In seinen Zuwendungen zur Wirklichkeit neigt er dazu, Dingen, Verhaltensweisen oder Situationen unabhängig vom jeweiligen Gesamtkontext einen festen Sinn und Wert zuzuschreiben, um sich allein nach diesen Festlegungen zu orientieren. 78 Solche Fixierungen auf feste Ziele und Werte lassen seinen Blick über den je vorliegenden Kontext hinaus abschweifen und die situativen Ansprüche in den Hintergrund treten. Daodejing 5. Vgl. hierzu den Kommentar von Su Zhe 蘇轍 zu dieser Stelle in Peng Si 彭耜 (Hrsg.): Daodezhenjing jizhu 道德真經集註, S. 350. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Kommentarsammlung Wang Bi 王弼, Li Yue 李約, u. a.: Laozi. Sibu yaoji zhushu congkan 老子。四部要籍注疏叢刊. Vgl. auch Daodejing 2. 72 Vgl. etwa Hans-Georg Möller: Laozi (Lao-tse), S. 76 f. 70 71

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Das Daodejing

Trachtet der Mensch unter diesen Umständen nach etwas, was eigentlich nicht vorliegt, so zeitigt diese Ausrichtung auf feste Ziele und dekontextualisierte Werte immer auch verheerende Folgen für seinen eigenen Lebensvollzug. Das Festhalten an eigenen Setzungen führt zunächst dazu, dass sich der Mensch aus seiner Einbettung in das jeweilige Umfeld löst. Das »Mit anderen« verkümmert durch die Hervorhebung bestimmter Ziele und Werte zu einem verkleinerten und abgeschotteten »Für sich«. Dies veranschaulicht Daodejing 24 mit dem Bild des Menschen, der auf den Zehen steht (qi zhe 企者). Dieses Bild steht für denjenigen, der sich in seinem Trachten nach festgelegten Zielen und Werten über sein Umfeld zu erheben versucht. Dieser Versuch wird allerdings dazu führen, dass er – nur noch auf den Zehen stehend – seinen festen Stand verliert. Nicht mehr in seine konkrete Lebenssituation eingelassen und somit ohne Haftung, wird er sich nicht mehr aufrecht halten können (bu li 不立). 79 Aber nicht nur seinen Halt wird er verlieren. Indem er über das unmittelbare Geschehen hinausgreift, wird ihm zudem das Gefühl für das Passende, das »Genug« der jeweiligen Situation, abhanden kommen. »Er weiß [dann] nicht [mehr], wann es genug ist bu zhi zu 不知 足.« 80 Durch den Verlust des Gespürs für die Situation und den eigenen Stand in ihr verlieren seine Zuwendungen zur Umwelt jegliche Ausgewogenheit. Sie werden »gewunden und eckig jing 徑« 81 und mit dem Lauf der Dinge in Konflikt geraten. Alles, was nicht den eigenen Wertungen entspricht und nicht zu den damit verbundenen Zielen führt, wird nunmehr als störend empfunden und deshalb bekämpft. 82 Angesichts seiner selbst gesteckten Ziele wird er sich zudem nur noch eingeschränkt auf seine Umgebung einlassen. In der Verfolgung der eigenen Ziele wird für vieles kein Platz mehr vorgesehen sein. Damit beschneidet er sich aber in seiner eigenen Wirklichkeit, die in ihrer Entfaltung gerade auf anderes angewiesen ist. Von seinen Ergänzungen abgeschnitten, wird sein eigenes Leben verwundbar und, wie alles SpitVgl. Daodejing 9, 22, 24, 44, 54, 59. Vgl. hierzu weiter Hans-Georg Möller: Laozi (Lao-tse), S. 120–133. 75 Die Übersetzung von shengren 聖人 als »Meister des Einklangs« ist von Ansgar Gerstner entlehnt. Siehe ders.: Eine Synopse und kommentierte Übersetzung des Buches Laozi sowie eine Auswertung seiner gesellschaftskritischen Grundhaltung auf der Grundlage der Textausgabe Wang-Bis, der beiden Mawangdui-Seidentexte und unter Berücksichtigung der drei Guodian-Bambustexte, S. 27. 76 Vgl. Daodejing 70. 73 74

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ze und Hervorragende, leicht zerbrechen. 83 Die eigene Selbstfortführung wird folglich mit größter Wahrscheinlichkeit ein frühzeitiges Ende finden. 84 Aber nicht nur die eigene Selbstfortführung wird dadurch beeinträchtigt. Indem der Kontakt zur Wirklichkeit gestört wird, wird sich auch das andere nur noch beschränkt durch das Eigene hindurch vollziehen können. Man wird dem anderen im eigenen Selbstvollzug nicht mehr den nötigen Raum zur Entfaltung gewähren und es somit ebenfalls in seiner Wirklichkeit beschneiden. Hierfür steht im Daodejing paradigmatisch der Herrscher, der, weil er sich zu stark um das eigene Leben und die eigene Bereicherung sorgt (yi sheng 益生) 85, das Volk vernachlässigt und verwahrlosen lässt, ihm also keinen Raum mehr im eigenen Lebensentwurf gewährt. 86 Ist der Mensch demnach eine fragile Bewegung, die leicht vom Weg abkommt und der es nicht immer gelingt, in reibungsloser Selbstfortführung die eigene Zeitspanne erschöpfend auszuleben, so hat es für den Menschen mit der Selbstfortführung eine besondere Bewandtnis. Realisiert sich der Lebensvollzug beim Menschen nie schon »von selbst«, muss er sogar ständig um ihn bangen, so wird die Selbstfortführung für ihn zu einer Aufgabe. Wurde das menschliche Wirklichkeitsverhältnis dem Vollzug nach zunächst als eine Selbstfortführung charakterisiert, so kann nun ergänzt werden, dass der Mensch diese Selbstfortführung in seinem Wirklichkeitsverhältnis vor allem zu leisten hat; »von selbst« stellt sich beim Menschen der Selbstvollzug nämlich nicht ein. Ist damit eine erste Annäherung an den Vollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses erfolgt, so gilt es, diese im Folgenden zu konkretisieren. Welche Momente charakterisieren den gelingenden Selbstvollzug, den der Mensch im Kontakt mit der Wirklichkeit zu leisten hat? Sicherlich wird die gelingende Selbstfortführung des Menschen mit der oben dargestellten Bewegung der Wirklichkeit Ähnlichkeiten aufweisen. Schließlich bildet der Mensch ein vollwertiges Moment ebendieser Wirklichkeit. Die oben herausgearbeiteten Momente nehmen demnach die Charakterisierung des menschlichen Fortführungsprozesses in der Wirklichkeit teilweise schon vorweg. AllerDaodejing 30. Vgl. etwa Daodejing 2, 3, 9, 34, 38, 75. Siehe auch Edward Slingerland: Effortless Action, 79 f.; Chad Hansen: A Daoist Theory of Chinese Philosophy, S. 211–213. 79 Daodejing 24. 80 Daodejing 46. Vgl. auch Daodejing 33, 44. 77 78

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dings können sie nicht eins zu eins übertragen werden. Das, was allgemein in Bezug auf alle Wirklichkeitsbewegungen herausgestellt worden ist, gewinnt nämlich für den Menschen eine andere, leicht variierte Bedeutung. Er verkörpert und realisiert dieselben Momente auf eine eigene, menschliche Weise, sodass sie am Menschen auch eine andere Ausprägung erhalten.

4.

Leibhaftige Spontaneität und situative Findung

Zu einer ersten schärferen Konturierung der Selbstfortführung des Menschen führt uns ein zentrales Bild des Daodejing: das Bild des Kleinkindes (chi zi 赤子). Dieses Bild wird gleich an mehreren Stellen des textus receptus erwähnt. 87 In Daodejing 55 erhält es allerdings die ausführlichste Ausmalung: Wespen, Skorpione, Nattern und Schlangen stechen und beißen [das Kleinkind] nicht, Wilde Tiere fangen es nicht, Raubvögel greifen es nicht. Seine Knochen und Muskeln sind weich und schwach, sein Griff ist dennoch fest. Es weiß noch nichts von der Vereinigung des Männlichen und Weiblichen, dennoch richtet sich sein Penis auf. Dies ist der höchste Ausdruck ungehemmter Lebensenergie. Es kann den ganzen Tag schreien, doch wird seine Stimme nicht heiser. Daodejing 53. In diesem Sinne lesen wir in Wang Bis 王弼 Kommentar zu Daodejing 7: »Lebt man nur für sich, so wird man mit den Dingen in Widerstreit geraten 自生則與物爭« (Laozi daodejing zhu 老子道德經注, S. 85). Gerade dies ist im nicht-menschlichen, naturwüchsigen Wirklichkeitsspiel nicht der Fall. »Der Himmel ist dauerhaft und die Erde langwährend. Der Grund, warum Himmel und Erde dauerhaft und langwährend sind, ist, dass sie nicht [festen Vorstellungen folgend] nur für sich selbst leben. Deshalb können sie dauerhaft leben 天長地久。天地所以能長且久者,以其不自生,故能長生« (Daodejing 7). In den einseitigen Ausrichtungen des Menschen haben sodann auch »Gewalt und Tyrannei qiang liang 強梁« (Daodejing 42) ihren Ursprung. 83 Vgl. Daodejing 9. 84 Vgl. Daodejing 42. 85 Daodejing 55. 86 Daodejing 53. Vgl. auch Lan Xibing 蘭喜並: Laozi jiedu 老子解讀, S. 193 f. Zur übermäßigen Wertschätzung des eigenen Lebens vgl. Daodejing 50, 55, 75. 81 82

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Dies ist der höchste Ausdruck innerer Stimmigkeit. Sich auf das Stimmigsein verstehen, das heißt, beständig sein. Sich auf das Beständigsein verstehen, das heißt, klarsichtig sein. Das Leben steigern wollen, das heißt, Unheilvolles bewirken. Lenkt das Herz das qi, so heißt dies, gewaltsam erzwingen. Was Gewalt anwendet, altert vorzeitig. Man nennt dies, seinen Weg nicht gehen. Was seinen Weg nicht geht, nimmt ein vorzeitiges Ende. 毒蟲不螫, 猛獸不據, 攫鳥不搏。 骨弱筋柔而握固。 未知牝牡之合而朘作, 精之至也。 終日號而不嗄, 和之至也。 知和曰常, 知常曰明。 益生曰祥。 心使氣曰強。 物壯則老, 謂之不道, 不道早已。 (Daodejing 55)

In Bezug auf diese Darstellung ist zunächst festzuhalten, dass das Bild des Kleinkindes das uns interessierende Themenfeld berührt. Im Mittelpunkt stehen hier die Vermeidung eines »vorzeitigen Endes zao yi 早 已« und damit die gelingende Selbstfortführung des Menschen. Diese scheint das Kleinkind sogar auf vorbildliche Weise zu meistern. Es fügt sich derart reibungslos in sein Umfeld ein, dass selbst die wilden Tiere nicht mehr als dem Menschen feindlich gesinnte Nachbarn auffallen. Dabei kann das obige Zitat leicht den Eindruck erwecken, als sei die Unversehrtheit des Kleinkindes darauf zurückzuführen, dass es jeglichen Kontakt vermeidet, also distanziert und bezugslos an seinem Umfeld vorbeilebt. Es ist allerdings davon auszugehen, dass das Kind tatsächlich Beziehungen zu seiner Umwelt eingeht, sich seine Selbstfortführung mithin in einem Zusammenleben mit den Tieren abspielt. In diesem Sinne vergleicht Huang Maocai 黄茂材 in seinem Kommen87

Daodejing 10, 20, 28, 49, 55.

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tar das Kleinkind auch mit dem Wärter Liang Yang 梁鸯. 88 Von Liang Yang ist im Liezi 列子 überliefert, dass er im Zwinger an die Wölfe und die Tiger herantreten konnte, um sie zu füttern, ohne gebissen zu werden. Ihm gegenüber gaben sie sich sogar besonders zahm. 89 Durch diesen Verweis wird nahe gelegt, dass auch das Kleinkind in einem direkten Kontakt zu den Tieren steht. Das Kleinkind gleitet in seiner Selbstfortführung nicht distanziert an der Welt vorbei, sondern tritt durchaus in Berührung mit ihr. Wenden wir uns dem Vollzug der Selbstfortführung zu, so kann im Ausgang des Bildes vom Kleinkind als erstes Moment festgehalten werden, dass sich der reibungslose Selbstvollzug vor allem auf der Ebene leibhaftiger Spontaneität vollzieht. Das Beieinandersein von Kind und Tier beruht keineswegs auf einer ausführlichen Planung, bzw. auf einer vorgängigen Reflexion. Die Lebendigkeit des Kindes ist noch nicht durch die entwerfenden und planenden Eingriffe des »Herzens xin 心« durchwirkt; noch ist es nicht von künstlichen Sinnvorgaben geleitet, welche seinen natürlichen Lebensatem (qi 氣) und damit seinen gesamten Lebensvollzug in festgelegte Bahnen zwingen. 90 Vielmehr lässt sich das Kleinkind aus einem Zustand unangetasteter Spontaneität heraus in leibhaftigen Reaktionen auf seine Umwelt ein. Dies wird vor allem durch die Bezugnahme auf die Knochen und Muskeln sowie durch das Bild des spontan erregten Gliedes veranschaulicht. Wie im Lunyu und Mozi spielt sich also auch im Daodejing das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen vorzüglich auf der Ebene seiner Leibhaftigkeit ab. Im Gegensatz zu den beiden ersten Werken wird die Leibhaftigkeit hier allerdings in ihrer ursprünglichen, unvermittelten Natürlichkeit hervorgehoben. In seinem Selbstvollzug greift das Kind nicht auf künstliche Hilfsmittel zurück, sondern überlässt sich alleine seiner ureigensten Lebensenergie und Spontaneität. Zu diesem leibhaft-spontanen Durchleben gemeinsamer Bezogenheiten kommt als zweites Moment hinzu, dass Kind und Tier allererst aus der Situation heraus zusammenfinden. Zu keinem Zeitpunkt erweckt die Szene den Eindruck, als werden bereits vorliegende Bezogenheiten aktiviert, als seien Kind und Tier also durch ein wesenhaftes Band miteinander vereint, das sie nachträglich im Aufeinandertreffen lediglich verwirklichen würden. Nicht vorab bestehende Relationen und Wesenszugehörigkeiten werden zur Geltung gebracht; vielmehr gehen die Beziehungen aus der Zusammenkunft zwischen Kind und Tier selbst hervor. Hier trifft sich also nicht immer schon Passendes, 190 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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sondern erst im leibhaftigen Sich-Aufeinandereinlassen findet das Involvierte passend zusammen. Die reibungslose Selbstfortführung im Verein mit dem Lauf der Dinge erweist sich somit vor dem Hintergrund des Bildes vom Kleinkind als ein leibhaftig-spontanes Durchleben gemeinsamer Beziehungen, die sich im situativen Zusammentreffen allererst finden und aus diesem hervorgehen. Diese beiden Momente der leibhaftigen Spontaneität und der situativen Findung lassen sich genauso an der für das Daodejing zentralen Beziehung zwischen Herrscher und Volk wiederfinden. Wie das Kleinkind, so greift auch der Herrscher in seiner Beziehung zum Volk nie planend ein. Im Daodejing erscheint er sogar als stumpfsinnig, ja, als geradezu entrückt. 91 Seine Herrschaftsausübung wird von daher auch als »verdeckt und undurchsichtig men men 悶悶« charakterisiert. 92 Statt sich von »klaren Unterscheidungen und Prüfungen 察察« 93 im Umgang mit seinem Volk leiten zu lassen, lässt er sich vielmehr, wie das Kleinkind, in leibhaft durchlebten, spontanen Zuwendungen auf es ein. Dies wird in Daodejing 49 nahe gelegt, wenn es dort heißt: »Wenn der Meister des Einklangs sich auf die Welt einlässt, vereinigt er sich mit ihr. Er verschmilzt sein Herz mit der Welt. Das ganze Volk heftet dann Augen und Ohren an ihn, und dabei nimmt der Meister des Einklangs jeden als seine Kinder an 聖人在天下,歙歙焉,為 天下渾其心,百姓皆注其耳目,聖人皆孩之.« 94 Nicht auf der Ebene zweckrationaler Überlegungen bildet sich also die Beziehung zwischen Herrscher und Volk heraus, sondern vor allem in einem leibhaft-spontanen Sich-Einlassen, das eher der Beziehung zwischen Eltern und Kind gleicht als der Interaktion rational planender Akteure. Wie beim Kleinkind geht dabei auch die Beziehung des Herrschers zum Volk allererst aus ihrem Zusammentreffen hervor. Das Verhältnis zwischen Herrscher und Volk wird nicht wie etwa in der christlichen Vorstellung des Gottesgnadentums von einem bereits feststehenden Relationsgefüge getragen. Das Herrschaftsverhältnis wird von daher in Daodejing 66 mit der Beziehung zwischen den kleinen Flusstälern (bai gu 百谷) einerseits und den großen Strömen und Meeren (jiang Vgl. Peng Si 彭耜 (Hrsg.): Daodezhenjing jizhu 道德真經集註, S. 485. Vgl. Liezi jishi 列子集釋, S. 58 f. 90 Vgl. hierzu ferner Roger Ames: Daodejing. »Making this Life Significant«. A Philosophical Translation, S. 36–48; Xu Fuguan 徐復觀: Zhongguo renxinglunshi 中國人 性論史, S. 341 ff. 88 89

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hai 江海) andererseits verglichen. 95 Denn genauso wenig wie die Meere, Ströme und Flusstäler bereits festgelegten Bahnen folgen, ruht auch die Beziehung zwischen Herrscher und Volk einer vorgegebenen Ordnung auf. Wie das natürlich gewachsene Beziehungsgewebe zwischen den Gewässern realisiert sich auch die Herrscher-Volk-Beziehung erst aus einem natürlichen Findungsgeschehen heraus. Mit diesen beiden Momenten der leibhaftigen Spontaneität und der situativen Findung sind allerdings lediglich die ersten Grundrisse des Vollzuges der Selbstfortführungen skizziert.

5.

Selbstlose Rezeptivität und Selbstbehauptung

Für die weitere Bestimmung der reibungslosen Selbstfortführung als leibhaft-spontaner, situativer Vollzug liefert die eben herangezogene Darstellung des Kleinkindes einen, wenn auch diskreten, so doch wichtigen weiterführenden Hinweis. Über das Kleinkind hieß es nämlich dort: Seine Knochen und Muskeln sind weich und schwach, sein Griff ist dennoch fest. 骨弱筋柔而握固。

In dieser beiläufigen Bemerkung wird zunächst angedeutet, dass sich das Kind in seinen spontanen, leibhaftigen Zuwendungen zur Wirklichkeit in einem Zustand der Weichheit und Schwäche befindet. Seine Knochen und Sehnen sind noch ganz »weich und schwach rou ruo 柔 弱«, d. h. noch nicht von Verkrustungen und Verhärtungen durchzogen. Gleichzeitig aber geht diese Weichheit mit einer auffälligen Stärke einher. Trotz seines noch zarten Körperbaus vermag das Kind schon fest zuzugreifen (wo gu 握固). Ähnlich wird das Kleinkind auch in Daodejing 10 thematisiert: »Den Lebensatem konzentrieren und dabei Vgl. Daodejing 20. Auch wenn hier ein unbestimmtes »Ich wo 我« das Wort ergreift, so lässt sich diese Stelle durchaus auf den shengren 聖人 und damit auf den idealen Herrscher beziehen. Vgl. Hans-Georg Möller: Laozi (Lao-tse), S. 88 f., sowie den Kommentar von Su Shi 蘇軾 in Peng Si 彭耜 (Hrsg.): Daodezhenjing jizhu 道德真經集註, S. 392–398. 92 Vgl. Daodejing 58. 93 Daodejing 20. 91

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Selbstlose Rezeptivität und Selbstbehauptung

Weichheit erreichen, kannst du dabei wie ein Kleinkind sein? 專氣致 柔,能如嬰兒乎?« Auch hier wird das Kleinkind mit einem Zustand gleichzeitiger Schwäche und Stärke in Verbindung gebracht und dabei sogar zum Paradigma eines ausgewogenen Verhältnisses dieser beiden Aspekte erhoben. Bei ihm nämlich geht das Konzentrieren, das als Zusammennehmen und An-sich-Halten einen Zustand der Stärke bildet, auf vorzügliche Weise mit einem Zustand der Weichheit einher. Mit diesen beiden Momenten der Schwäche und Stärke ist allerdings nicht nur etwas über den inneren Zustand des Kleinkindes gesagt. Sie werfen gleichzeitig klärendes Licht auf den Vollzug der Selbstfortführung als leibhaft-spontanes Durchleben von Beziehungen zum Umfeld. Was die Weichheit betrifft, so kann diese im Hinblick auf die reibungslose Selbstfortführung als eine Haltung der selbstlosen Rezeptivität betrachtet werden. Mit der Weichheit wird darauf hingewiesen, dass sich das Kind im Kontakt mit der Umwelt stets zurücknimmt, sich also nicht über die jeweilige Situation hinwegsetzt, um diese kontrollieren zu wollen. In diesem Sinne umschreibt auch Cheng Xuanying 成玄 英 in seinen Anmerkungen zu Daodejing 55 die Weichheit mit, »den Vorkommnissen folgen und sich zurücknehmend auf sie einstimmen 順 物謙和«. 96 Aufgrund seiner Weichheit bleibt das Greifen des Kindes somit auf den Gegenstand hin geöffnet und versucht diesen in seiner besonderen Gestalt zu berücksichtigen. Lässt das Kind in seiner Rezeptivität allen Vorkommnissen den notwendigen Raum, so erlaubt ihm diese selbstlose Offenheit in seinen Zuwendungen zum Wirklichkeitsgeschehen jegliche Reibungen und Unstimmigkeiten zu vermeiden: 97 »Das Nashorn wird [sodann] nichts finden, worin es sein Horn stoßen kann, der Tiger wird nichts haben, wonach seine Krallen greifen können 兕無所投其角,虎無所用其爪.« 98 Analog dazu zeigt das Moment der Stärke seinerseits an, dass die Selbstfortführung in selbstloser Öffnung zur Wirklichkeit gleichzeitig mit einer Selbstbehauptung einhergeht. Die selbstlose Rezeptivität hat keineswegs zur Folge, dass das Kind durch die Präsenz anderer Dinge erdrückt wird oder gar gänzlich in ihnen – in einer Art mystischer Einheit – aufgeht. Im Gegenteil gelingt es dem Kleinkind, sich trotz seiner selbstlosen Offenheit in seinem Umfeld zu behaupten. 99 Folgt man also dem Bild des Kleinkindes, so ist der Selbstfortfüh94 95

Daodejing 49. Vgl. auch Daodejing 32.

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Das Daodejing

rungsprozess als situativer, leibhaft-spontaner Vollzug zwischen totalem Eingehen in das Weltgeschehen einerseits und unbeugsamer Selbstbehauptung andererseits anzusiedeln. Seinem Vollzug nach spielt sich die Selbstfortführung in einer, durchaus paradox klingenden, gleichzeitigen selbstlosen Rezeptivität und Selbstbehauptung ab. 100 Diese Gleichzeitigkeit von Fremdbezug und Selbstbezug ermöglicht es dem Menschen letztlich, in seiner Selbstfortführung Kollisionen mit seiner Umwelt zu vermeiden und sich reibungslos in ihr zu vollziehen. Die beiden Momente der Rezeptivität und Selbstbehauptung, der Schwäche und Stärke lassen sich auch an der Figur des Herrschers aufzeigen, von dem oben bereits festgestellt werden konnte, dass er sich in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit nicht wesentlich vom Kleinkind unterscheidet. Wie das Kleinkind zeichnet sich auch der Herrscher zunächst durch eine selbstlose Offenheit aus. Statt über der Welt zu thronen, stellt er sich im Gegenteil stets hinten an, ja, er scheint sich dabei sogar seinem Volk zu unterwerfen. 101 Nie ist er versucht, sich mittels willkürlicher Regelungen und Befehle durchzusetzen, und greift dementsprechend auch nicht kontrollierend ein (wu wei 無為), um wie ein Leuchtturm in vollkommener Gestalt über die Welt zu strahlen. 102 Sein Regieren gleicht von daher vielmehr dem Lauf des Wassers. 103 Wie dieses bleibt auch der Herrscher weich und ohne feste Gestalt. In seiner Weichheit und Eigenschaftslosigkeit ist er sogar so wenig vereinnahmend, dass das Volk gar nicht erst bemerkt, dass es überhaupt einen Herrscher gibt. 104 Es hat den Eindruck, nicht von außen durch einen Herrscher geleitet zu werden, sondern alles selbst ohne zusätzliche Unterstützung zu bewerkstelligen. 105 Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass der Herrscher in seiner Offenheit in einem Distanzverhältnis zu seinem Volk steht. Er identifiziert sich vielmehr mit ihm, um sich ihm gänzlich zur Verfügung zu stellen. Der shengren 聖人, so heißt es in Daodejing 49, »ist stets ohne eigenes Herz; er macht dagegen das Herz der Bevölkerung zu seinem Herzen 聖人常無心,以百姓心為心«. Öffnet sich der Herrscher den Anliegen seiner Untertanen und stellt er dabei seine eigenen Anliegen zurück, so gelingt es ihm, stets angemessen auf deren Ansprüche zu antworten. Vom Herrscher heißt es demnach, dass er »kantig ist, ohne zu beschneiden; aufrichtig ist, ohne zu verletzen; geradlinig ist, ohne rücksichtslos zu sein; erstrahlt, ohne zu verblenden 96 97

Zitiert nach Gao Ming 高明: Boshu laozi jiaozhu 帛書老子校注, S. 94. Vgl. Wang Bis 王弼 Kommentar in Laozi daodejing zhu 老子道德經注, S. 110.

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Selbstlose Rezeptivität und Selbstbehauptung

方而不割,廉而不劌,直而不肆,光而不耀« 106. Mit diesem Zitat klingt aber gleichzeitig an, dass die selbstlose Offenheit des Herrschers immer auch mit einem Moment der Selbstbehauptung einhergeht. Wird der Herrscher nämlich in seiner Offenheit als »kantig fang 方«, »aufrichtig lian 廉«, »geradlinig zhi 直« und »glanzvoll guang 光« charakterisiert, so scheint er trotz seiner Eigenschafts- und Selbstlosigkeit weiterhin Konturen zu bewahren. In der Tat verliert der Herrscher in seiner selbstlosen, »keine Eingriffe wagenden 不敢為« 107 Öffnung keineswegs seine Identität. Statt sich in einer differenzlosen Einheit mit dem Volke aufzulösen, bewahrt er eine stabile Selbstpräsenz. Einerseits erscheint er in seiner Offenheit als jemand, der sich zuweilen vom Treiben der Massen abwendet und sich, vermutlich in Stunden der Besinnung, seiner Andersheit bewusst wird. In Daodejing 20 wird der Herrscher sogar als jemand dargestellt, der sich unter seinen Mitmenschen verloren vorkommt, da er mit ihnen nur wenig gemeinsam hat. 108 Andererseits bedeutet die Selbstaufgabe für den Herrscher insofern keine Selbstauflösung, als die Selbstlosigkeit letztlich die Voraussetzung für seine »Selbstbehauptung« bildet. Erst durch seine selbstlose Rezeptivität wird er nämlich das Volk sowie den gesamten Lauf der Dinge in seinen Bann ziehen. Alles wird ihm sodann folgen. Denn »können die Fürsten und Könige [den Zustand eines unbehauenen Holzes, d. h. den Zustand der Selbstlosigkeit] bewahren, so werden sich die zehntausend Vorkommnisse von selbst unterwerfen 侯 王若能守之,萬物將自賓« 109. »In den Zustand des Kleinkindes zurückkehrend 復歸於嬰兒« 110, wird der Herrscher gleichzeitig zu höchster Wirksamkeit und »Präsenz« finden. Er wird in seiner Selbstlosigkeit geradezu zum Nabel der Welt, um den sich nunmehr alles dreht. 111 Auch wenn er nicht eingreift und das Volk durch seine Herrschaft »nicht beschneidet bu ge 不割«, so »setzt« er sich dennoch »durch«, Daodejing 50. Dass sich Weichheit und Stärke nicht ausschließen, dies wird in Daodejing 52 allgemeiner formuliert: »Weichheit bewahren, dies heißt Stärke 守柔曰強.« 100 Die beiden Momente der Offenheit und Selbstbehauptung verweisen letztendlich auf die in Punkt 2.2. herausgestellten allgemeinen Momente der »Leere wu 無« und »Fülle you 有«. Offenheit und Selbstbehauptung bilden die konkreten Ausprägungen dieser beiden Momente im Bereich der menschlichen Lebensbewegung. Wie die Leere und Fülle werden folglich auch Stärke und Schwäche in der hier vorgeschlagenen Interpretation als gleichwertige Aspekte gelesen und nebeneinander gestellt. Vgl. hierzu auch Lan Xibing 蘭喜並: Laozi jiedu 老子解讀, S. 107 f. 101 Vgl. etwa Daodejing 66, 67, 72. 98 99

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denn sein Herrschen bildet bei aller Weichheit und Offenheit gleichwohl so etwas wie ein »großes Schnitzen da zhi 大制«. 112 Er stellt sich selbst nicht zur Schau, darum erstrahlt er. Er zeigt sich selbst nicht vor, darum glänzt er. Er lobt sich selbst nicht, darum hat er Erfolg. Er ist nicht selbstgefällig, darum kann er von Dauer sein. 不自見,故明; 不自是,故彰; 不自伐,故有功; 不自矜,故長。 (Daodejing 22)

Wie das Kleinkind führt sich also auch der Herrscher in seinem Verhältnis zum Volk in einer gleichzeitigen selbstlosen Rezeptivität und Selbstbehauptung fort. Auch von ihm kann somit gesagt werden, dass er »um das Männliche weiß, sich [gleichzeitig] aber an das Weibliche [d. h. das Weiche] hält 知其雄,守其雌« 113. Damit der zwischen rezeptiver Offenheit und Selbstbehauptung sich abspielende Selbstvollzug allerdings gelingen kann, hat der Mensch diese beiden Momente nicht nur zur Kenntnis zu nehmen. Er hat den Zustand gleichzeitiger Weichheit und Stärke auf allen Ebenen seines Wirklichkeitsverhältnisses zu realisieren. Von daher beschränken sich die frühen Daoisten nicht bloß darauf, allein die Bedeutung der Offenheit und der Selbstbehauptung für das menschliche Wirklichkeitsverhältnis aufzuzeigen. Sie liefern gleichzeitig Hinweise, wie die Verschränkung von Weichheit und Stärke in unserem Verhalten ausgeführt werden kann. Zwei grundlegende Verhaltensweisen finden dabei besondere Beachtung. Es sind dies das Begehren (yu 欲) und das Werten (wei 為). 114 Auf diese beiden Arten der Zuwendung zur Wirklichkeit sei im Folgenden noch kurz eingegangen. Was das Begehren angeht, so verwirklichen sich hier Rezeptivität und Selbstbehauptung insofern, als das Begehren, indem es auf etwas Vgl. Daodejing 29, 48, 57, 64 sowie Daodejing 22. Vgl. Daodejing 78. 104 Vgl. Daodejing 17. 105 Vgl. Daodejing 17. Siehe zu dieser Stelle ausführlicher Liu Xiaogang 劉笑敢: Laozi gujin 老子古今, S. 207 ff. 106 Daodejing 58. 107 Daodejing 3. Vgl. auch Daodejing 64, 67, 69, 73. 102 103

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aus ist, dieses dennoch nicht an sich reißt. Es ist dies ein Begehren, das nicht auf ein einseitiges, über den Kontext hinausweisendes Ziel gerichtet ist, sondern das Begehrte in seiner Eigenheit zu berücksichtigen und zu würdigen versucht. Es handelt sich mithin um ein Begehren, das selbst nur insofern Begehren sein möchte, als das Begehrte auch von ihm begehrt sein will. Ohne seinen Wollenscharakter zu verlieren, nimmt sich ein solches Begehren immer wieder zurück, um sich in einem subtilen Zusammenspiel zwischen Begehren (you yu 有欲) und nicht Begehren (wu yu 无欲), 115 zwischen Besitz ergreifendem Ansichreißen und regungsloser Indifferenz angemessen auf den jeweiligen Gegenstand einlassen zu können. 116 Auf den Punkt gebracht wird dieses Zusammenspiel in Daodejing 64, wenn es vom shengren heißt, er »begehre, ohne zu begehren yu bu yu 欲不欲«. In einem solchen nicht begehrenden Begehren haben selbstlose Offenheit und Selbstbehauptung ihren Niederschlag zu finden. Genauso schlagen die Daoisten hinsichtlich des Wertens (wei 為) ein Bewerten vor, das sich zwischen Weichheit und Stärke bewegt. Ein solches Werten bedeutet sehr wohl, etwas zu behaupten, bzw. Stellung zu nehmen. Als solches erhebt es allerdings keinen absoluten Gültigkeitsanspruch. 117 Das heißt, es wird in sich die Bereitschaft wahren, sich zu verändern und je nach Situation neu anzusetzen. Nur so kann es in der Lage sein, dem Bewerteten auch gerecht zu werden. Ist die Welt immer nur das, was jeweils der Fall ist, so steht gerade das, was der Fall ist, im Daodejing nie ein für alle Mal fest. Alles ändert sich vielmehr von Fall zu Fall. In unterschiedlichen Kontexten kommen so dem gleichen Vorkommnis jeweils unterschiedliche Eigenschaften zu. Was einfach von der Hand geht, kann unter anderen Umständen schwer fallen; was ein Ton ist, kann in einem anderen Kontext zum bloßen Geräusch werden. 118 In einer derart bewegten Wirklichkeit aber müssen absolute Festlegungen zwangsläufig zu Verzerrungen der tatsächlichen Verhältnisse werden. Das Werten hat demnach stets Weichheit zu bewahren, d. h. offen für neue Kontexte zu bleiben. Damit büßt es gleichwohl nicht schon seinen Bewertungscharakter gänzlich ein. Man kann durchaus 108 109 110 111 112 113

Dass sich Daodejing 20 auf den Herrscher bezieht, vgl. dazu oben Fußnote 91, S. 192. Daodejing 32. Ebd. Vgl. Daodejing 35, 66, 73. Vgl. auch Hans-Georg Möller: Laozi, S. 79 f. Vgl. Daodejing 28. Ebd.

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Das Daodejing

etwas als schön oder hässlich bewerten. Es sind dies aber offene Wertungen, die der Wirklichkeit den nötigen Raum lassen, sich auch anders zeigen zu können. In dieser Verschränkung von willkürlicher Behauptung und radikaler Urteilsenthaltung realisieren sich die beiden Momente der Stärke und Weichheit auf der Ebene des Wertens.

6.

Feste und unterstützende Bindung

Konnte die Bestimmung der Selbstfortführung des Menschen um die Momente der selbstlosen Rezeptivität und der Selbstbehauptung erweitert werden, so blieb bisher ungeklärt, was sich zwischen dem Eigenvollzug und der jeweiligen Situation abspielt. Im Zusammenhang mit dem Kleinkind wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Reibungslosigkeit nicht als ein distanziertes Aneinander-vorbei-Leben zu verstehen ist, sondern sich als tatsächliche Berührung, als lebendiger Kontakt vollzieht. 119 Wie aber stellt sich dieser lebendige Kontakt näher dar? Dem sei im Folgenden genauer nachgegangen. Der Kontakt des Menschen zu seinem Umfeld gerät in Daodejing 27 ein erstes Mal näher in den Blick. Die dort angeführten Bilder versuchen offenkundig die Verbindungen des Menschen zum Kontext seines Selbstvollzuges in ihrer Eigentümlichkeit zu fassen. Wer gut geht, bleibt spurenlos, Wer gut redet, bleibt makellos, Wer gut rechnet, der braucht keine Zahlmärkchen,

114 Wei 為 kann im Daodejing sowohl als »machen«, »tun« als auch als »meinen«, »werten«, »etwas für etwas halten« gelesen werden. Vgl. etwa Chad Hansen: A Daoist Theory of Chinese Thought, S. 213 f. Auch wenn im Folgenden die Bedeutung als »werten« hervorgehoben wird, so sind gleichzeitig alle anderen Bedeutungen mit angesprochen. 115 Vgl. Daodejing 1. 116 Wenn dem Leser demnach geraten wird »seine Privatinteressen zu verringern und seine Begierden zu mindern 少私寡欲« (Daodejing 19), so ist dieser Rat nicht als eine vollständige Tilgung jeglicher Begierden misszuverstehen. Damit ist vielmehr ein nicht begehrendes Begehren angesprochen, in dem der Drang des Begehrens zurückgenommen und vermindert, nicht aber ausgemerzt wird. So verfolgt der shengren weiterhin Ziele (Daodejing 66) und geht, wie in Daodejing 7 angedeutet wird, eigenen Interessen (si 私) nach. Gleichwohl sind diese Interessen nie bloße Eigeninteressen (si 私). Sein Begehren ist kein egoistisches Streben nach Inbesitznahme des anderen, sondern erweist diesem gebührend Achtung.

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Was gut verschlossen ist, bedarf weder eines Schlosses noch eines Riegels, und lässt sich dennoch nicht öffnen, Was gut verknotet ist, bedarf keiner Seile, und lässt sich dennoch nicht aufknoten. 善行無轍跡, 善言無瑕謫, 善數不用籌策, 善閉無關楗而不可開, 善結無繩約而不可解。 (Daodejing 27)

Hält man sich an die ersten drei Zeilen, so kann zunächst festgehalten werden, dass sich die Selbstfortführung in den Augen der Daoisten durch einen lückenlosen Kontakt zum jeweiligen Umfeld auszeichnet. Der gelingende Selbstvollzug wird hier als ein Vollzug charakterisiert, bei dem sich die Freiräume und Abstände zu den Umständen aufgelöst haben. Wer nur dort geht, wo er auch gehen kann, nur das spricht, worüber er auch sprechen kann, und nur das rechnet, was er auch rechnen kann, der wird sich weder vom »Vollzogenen« noch vom jeweiligen Kontext abheben. Er wird vielmehr zu jedem Zeitpunkt tief in die jeweiligen Wirklichkeitsbewegungen eingelassen sein, ohne sich an ihnen abzureiben. Beide, die eigene Bewegung und das gesamte Umfeld, stehen dann gleichsam in- und füreinander ein. 120 Vollzieht sich die gelingende Selbstfortführung somit stets in lückenloser Einbettung in die jeweilige Situation, so lässt sich dieses restlose Eingelassensein noch genauer hervorkehren. Die lückenlose Einbettung impliziert nämlich, wie ebenfalls Daodejing 27 zu entnehmen ist, zweierlei. Einerseits lassen die beiden letzten Bilder des »riegel- und seillosen Zusammenhalts« durchblicken, dass die lückenlose Einbettung im Daodejing als eine feste Bindung verstanden wurde. Was sich ohne Abstand aufeinander einlässt, findet gleichzeitig nahezu untrennbar zusammen. In einem Geschehen, in dem alle Momente füreinander einstehen, hält alles von sich aus in durchgängiger und lückenloser Fügung zusammen. 121 In diesem Sinne heißt es auch in Daodejing 54: »Was gut errichtet ist, lässt sich nicht entwurzeln. Was gut umfasst ist, lässt sich nicht entreißen 建者不拔,善抱者不脫.« In der abstandslosen Einbet117 118

Vgl. Daodejing 2. Vgl. ebd.

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tung verwurzelt man sich also gleichsam in das Umfeld; man dreht sich in es ein und geht dabei ein Bündnis mit ihm ein, dessen bindende Kraft keiner zusätzlichen Sicherung mehr bedarf. Die Lückenlosigkeit, in der sich die gelingende Selbstfortführung des Menschen mit dem Umfeld vollzieht, lässt sich demnach genauer als ein Bindungsgeschehen, als ein sich vertiefendes Eindrehen in die Wirklichkeit charakterisieren. Die Lückenlosigkeit schließt allerdings nicht nur ein Bindungsgeschehen ein. Im lückenlosen Eingelassensein entfaltet der Selbstvollzug gleichzeitig eine unterstützende Wirksamkeit. 122 Indem man sich in sein Lebensfeld eindreht und sich restlos in es einbettet, fördert man zugleich den Selbstvollzug des Umfeldes. Auch dies geht aus Daodejing 27 hervor, wo im Anschluss an die eingangs zitierten Zeilen in Bezug auf den shengren 聖人 zu lesen ist: Gerade deshalb [aufgrund der lückenlosen Einbettung] gelingt es dem Meister des Einklangs den Menschen stets angemessen beizustehen, ohne dabei einen Menschen aufzugeben; deshalb ist er stets in der Lage allen Vorkommnissen angemessen beizustehen, ohne etwas fallen zu lassen. 是以聖人常善救人, 故無棄人, 常善救物, 故無棄物。 (Daodejing 27).

Aufgrund seiner unterstützenden und fördernden Wirksamkeit birgt der Selbstvollzug deshalb immer auch eine Art indirekter Fürsorge (ci 慈) in sich. 123 Was oben für die Bewegung schlechthin festgehalten wurde, gilt somit auch für den Menschen. 124 Auch er findet nicht nur im anderen seine Ergänzung, durch die er seine eigene Wirklichkeit allererst entfalten kann. Indem er sich in selbstloser Rezeptivität auf seine Umwelt einlässt und lückenlose Bindungen mit dieser eingeht, stellt auch er eine Ergänzung für diese bereit. Gerade darauf weist Su Zhe Vgl. oben Punkt 4. Die gleiche Lückenlosigkeit wird in Daodejing 8 angesprochen, wenn dort darauf hingewiesen wird, dass man im gelingenden Selbstvollzug stets am passenden Ort wohnt, im Herzen tief in die Zusammenhänge eingelassen ist, sich im Austausch mit dem Mitmenschen diesem ganz hingibt, im Sprechen aufrichtig und vertrauenswürdig ist, im Regieren die Ordnung wahrt, in den Aufgaben alle seine Fähigkeiten einbringt

119 120

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蘇轍 in seinem Kommentar zu Daodejing 22 hin. Die Ganzheit (quan 全) seiner selbst (wo 我), so hält er fest, geht immer auch mit der Ganzheit der mitanwesenden Vorkommnisse (wu 物) einher: »Die Vorkommnisse und ich werden zusammen ganz, und auf diese Weise werden [wir beide] zu unserer jeweiligen Lebensbewegung zurückfinden 物 我兼全而復於性.« 125 Dementsprechend bin nicht nur ich auf die anderen Vorkommnisse angewiesen, genauso werden sich diese nur durch mich vollziehen können, und dabei gilt: Je mehr man sich selbst entfaltet, desto mehr verhilft man dadurch auch dem anderen in einen Selbstvollzug hineinzufinden. Vom shengren 聖人 heißt es mithin in Daodejing 64: »[Indem er sich aus sich heraus von selbst vollzieht] unterstützt er die tausend Vorkommnisse darin, sich selbst zu tun, und wagt es dabei nicht einzugreifen 輔萬物之自然而不敢為.« Die unterstützende Wirksamkeit der Selbstfortführung ist allerdings nicht mit einer bemutternden Fürsorge zu verwechseln. Angesichts der Gleichzeitigkeit von selbstloser Rezeptivität und Selbstbehauptung kann die Wirksamkeit des eigenen Vollzuges nicht in einem bevormundenden Übergreifen auf die Sphäre des anderen bestehen. Der Beistand, der vom eigenen Selbstvollzug ausgeht, kann höchstens als ein Veranlassen erfolgen. Statt das Umfeld in Schutz zu nehmen oder anzuleiten, kann man lediglich den nötigen Raum bereitstellen, in dem das Mitanwesende die Möglichkeit bekommt, sich selbst zu vollziehen. Die Unterstützung stellt sich somit nur indirekt, ohne aktives Eingreifen ein. Entsprechend wurde die Wirksamkeit des Selbstvollzuges von den Daoisten auch mit der nährenden Kraft des Wassers in Verbindung gebracht. In Daodejing 8 heißt es in Bezug auf das Wasser: »Die Besten sind wie das Wasser. Das Wasser ist gut darin, den zehntausend Vorkommnissen zu nutzen, ohne in einen Widerstreit mit ihnen zu geraten 上善若水。水善利萬物而不爭.« Das Wasser drängt und sich in seinen Zuwendungen zur Umwelt immer im richtigen Moment bewegt (居善 地,心善淵,與善仁,言善信,政善治,事善能,動善時). Auch mit diesen Bildern werden jeweils Vollzüge thematisiert, die sich dadurch auszeichnen, dass sie sich abstandlos in den jeweiligen Rahmen einfügen. 121 Dies erinnert an Heinrich Rombachs absolute Maschine, »in der alle Gegebenheiten als Funktionen mit aufgenommen und in die Konstruktion ohne Rest eingebunden« sind, sodass sie »nicht verschleißen, rosten, zerbrechen, verunfallen« kann (Heinrich Rombach: Strukturontologie, S. 30). Vgl. auch François Jullien: Traité de l’efficacité, S. 114 f. 122 Vgl. auch Roger Ames: Daodejing. »Making this Life Significant«. A Philosophical Translation, S. 131; Karyn Lai: Learning from Chinese Philosophies, S. 50.

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sich nicht auf. Seine Wirkung ist nie die eines Vorschreibens, denn es nährt, ohne zu nötigen, auf nahezu unmerkliche Weise. Ähnlich hat sich auch der Selbstvollzug darauf zu beschränken, den anderen lediglich in seinem Selbstvollzug anzuregen; realisieren muss er sich immer noch von selbst. 126 Dies tritt an der Herrschaftsausübung des shengren besonders deutlich hervor. Vom idealen Herrscher heißt es in Daodejing 35: »Er hält das große Bild, und schon bewegt sich die Welt zu ihm hin. Was kommt, bleibt unbeschadet; Ruhe und Frieden gedeihen 執大象,天下往。往而不 害,安平泰.« Findet durch den Herrscher alles zur Ruhe, so erzielt er diese Wirkung, indem er sich als Anlass und Anregung in den Lauf der Dinge einbringt. Ohne vorzuschreiben und anzuleiten, zieht der Herrscher in seinem bloßen Selbstvollzug alles in seinen Bann, indem er dabei allen den erforderlichen Raum bereitstellt, auch sich entfalten zu können. Es bleibt somit weiterhin das Volk selbst, das sich verändert und von selbst in einen reibungslosen Selbstvollzug hineinfindet. In diesem Sinne schätzt der shengren in Daodejing 57 seine eigene Herrschaft, wie folgt, ein: »Ich greife nicht ein, und das Volk wandelt sich von selbst; ich bevorzuge, ruhig zu sein, und das Volk richtet sich von selbst; ich verfolge kein besonderes Anliegen, und das Volk wird von selbst reich; ich habe kein besonderes Begehren, und das Volk wird von selbst schlicht 我無為,而民自化;我好靜,而民自正;我無 事,而民自富;我無 欲,而民自樸.« 127 Wurde eingangs danach gefragt, wie sich in der gelingenden Selbstfortführung der Kontakt zum Umfeld genauer darstellt, so kann zusammenfassend zurückgehalten werden, dass sich die Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt vor allem in einer lückenlosen Einbettung in das Umfeld vollziehen, in der sich feste und unterstützende Bindungen herausbilden.

7.

Wiedereinfindung durch Auflösung und An-Sich-Halten

Vollzieht sich die Selbstfortführung in festen und unterstützenden Bindungen zum Umfeld, so gerät deren Festigkeit nicht schon in einen Daodejing 67. Siehe hierzu auch Tang Junyi 唐君毅: Zhongguo zhexue yuanlun. Yuandao pian 中國哲學原論。原道篇, S. 314. 124 Vgl. Punkt 2.2. e). 125 Peng Si 彭耜 (Hrsg.): Daodezhenjing jizhu 道德真經集註, S. 405. 123

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Wiedereinfindung durch Auflösung und An-Sich-Halten

Widerspruch zur fundamentalen Bewegtheit der Wirklichkeit. Die Bindungen werden von den Daoisten nicht als starre, monolithische Blöcke betrachtet. Sie bleiben als stabile Gefüge weiterhin in die Dynamik des Weltgeschehens eingelassen. In einer durch und durch bewegten Wirklichkeit, in der sich das Richtige (zheng 正) unter sich ständig verändernden Umständen sehr schnell ins Abwegige (qi 奇), das Taugliche und Angemessene (shan 善) sehr schnell ins Abträgliche (yao 妖) wenden können, 128 ist die eigene Selbstfortführung darauf angewiesen, immer wieder neue Bindungen mit den Umfeldern einzugehen. Genauso wie sich der Bogen stets dem Ziel anzupassen hat, 129 so ist auch der Mensch fortwährend dazu angehalten, sich in jedem Moment aufs Neue auf seine Umwelt einzulassen, um sich angemessen mit ihr vollziehen zu können. Man hat sich, in den Worten Sima Qians 司馬遷, »mit der Zeit fortzubewegen und sich dabei, auf die Vorkommnisse antwortend, mit ihnen zu wandeln 與時遷移,應物變化« 130. Nur so kann es gelingen, das eigene Leben in einer stets sich wandelnden Wirklichkeit fortzuführen. Der Selbstvollzug impliziert demnach als leibhaftiges, sich bindendes Eindrehen in die Umstände immer auch eine Wiedereinfindung in neue Situationen. Ohne ein solches SichWiedereinfinden würde der Mensch den Anschluss an den Lauf der Dinge verpassen. Als Schlüsselmoment in der daoistischen Auslegung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses insgesamt bleibt das Wiedereinfinden damit allerdings noch recht unbestimmt. Erfreulicherweise gibt das Daodejing allerdings, mehr oder weniger ausdrücklich, nähere Auskunft über diesen Aspekt der Selbstfortführung und erlaubt uns so, diesen auf zwei weitere, eng miteinander zusammenhängende Momente hin näher zu bestimmen. Damit sich der Mensch überhaupt in neue Kontexte einfinden kann, muss er zunächst in der Lage sein, neue Gestalten anzunehmen. Nur wenn die eigene Lebensbewegung neue Ausprägungen ihrer selbst zulässt, sich also transformieren kann, wird sie auch mit den gewandelten Kontexten in Resonanz treten und neue Verhältnisse der Bindung und der unterstützenden Wirksamkeit eingehen können. Das Wiedereinfinden impliziert demnach als erstes Moment ein Auflösen seiner 126 In diesem Sinne ist auch das oben zitierte Kapitel Daodejing 27 zu lesen. Wenn es dort in Bezug auf den shengren heißt, dass er allen Menschen und Vorkommnissen beisteht, so ist dies rückblickend nicht im Sinne einer aktiven Unterstützung, sondern ebenfalls als ein Bereitstellen eines Entfaltungsraumes zu verstehen.

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Das Daodejing

selbst, bzw. ein Loslassen von seinem momentanen Zustand. Auch wenn das Auflösen und Loslassen im Daodejing nicht näher ausgeführt werden, so sind sie gleichwohl mit der bereits erwähnten Weichheit und Rezeptivität, als integraler Bestandteil einer jeden Selbstfortführung, mitthematisiert; 131 denn Weichheit schließt immer auch ein Loslassen von etwas ein. Was weich ist, schottet sich nicht ab, sondern ist stets bereit, nachzugeben, um in der antwortenden Hinwendung zu neuen Kontexten eine gewandelte Ausprägung seiner selbst anzunehmen und sich auf diese Weise in die besondere Konstellation der Situation hineinzuverwandeln. Wer seine Weichheit verliert, der wird starr und hart; der vermag sich nicht mehr zu transformieren und baut dementsprechend auch keine ergänzenden Bindungen mehr zu sich wandelnden Umwelten auf. Wenn es demnach heißt, »Das Feste und Starre sind die Gesellen des Todes, das Weiche und Schwache die Gesellen des Lebens 堅強者死之徒,柔弱者生之徒« 132, so ist damit unter der Hand zugestanden, dass die Selbstfortführung nur über ein Sich-Auflösen gelingen kann. Dem Auflösen und Loslassen sind dabei keine Grenzen gesetzt. Wie alle Bewegung so eignet auch dem Menschen keine wesenhafte Identität, auf deren Verwirklichung er sich hinbewegen würde. 133 Auch für ihn gilt, dass er als Bewegung seine Identität erst im Lebensvollzug selbst gewinnt. Tendiert der Mensch demnach nicht nach der Erfüllung und Verwirklichung einer bereits vorliegenden Selbstheit, so ist die Möglichkeit, sich aufzulösen und im eigenen Lebensvollzug neue Ausprägungen anzunehmen, schier unerschöpflich; sie ist grenzenlos. 134 Gleichwohl »hält« die Selbstfortführung trotz ihrer eigenen Auflösung weiterhin »an sich«. 135 Im Wiedereinfinden verfließt die Lebensbewegung nicht einfach in ein willkürliches Hin und Her. Ungeachtet der ständigen Transformation seiner selbst bleibt der Mensch als Bewegung nach wie vor eine Bewegung. Dies wird allein schon durch das daoistische Ideal des langen Lebens angedeutet, nach dem man seine je eigene Lebensspanne zur Gänze auszuleben hat. Das gleiche An-Sich127 Vgl. auch Daodejing 37. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, wieso der Herrscher keine Anerkennung für seine Herrschaft einfordert (Daodejing 79); schließlich ist es das Volk, das sich von selbst ordnet. 128 Vgl. Daodejing 58. 129 Vgl. Daodejing 77. 130 Sima Qian 司馬遷: Shiji 史記, S. 2479. Vgl. auch ebd., S. 2481.

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Wiedereinfindung durch Auflösung und An-Sich-Halten

Halten wird aber auch durch die Verwendung von Zeichen wie shou 守, bao 保/抱 und zhi 执 nahe gelegt, die allesamt auf ein Bewahren und Festhalten hinweisen und immer wieder zur Charakterisierung des Selbstverhältnisses des Menschen herangezogen werden. 136 Empfiehlt das Daodejing etwa, »seine Mitte zu halten shou zhong 守中« 137 oder »einen Zustand der Ruhe zu bewahren shou jing 守靜« 138, so signalisieren diese Hinweise, dass der Selbstvollzug immer auch ein Moment des An-Sich-Haltens einschließt. Das Festhalten, das nicht mit einem verkrampften Bewahren und Beharren zu verwechseln ist, ist notwendig, um ein vollständiges Verfließen, also eine grenzenlose Selbstfortführung, zu verhindern. Ohne das Moment des Festhaltens würde sich das Wiedereinfinden nie zu einer Selbstfortführung entfalten können, sondern in einer blinden Fortführung ohne Selbst jegliche Gestalt verlieren. Wenngleich die Wiedereinfindung in einer ersten Inblicknahme also als ein grenzenloses Geschehen gekennzeichnet worden ist, das durch keine vorbestimmten substanziellen Grenzen des Sich-Auflösens im Vorhinein beschränkt wird, so handelt es sich dabei gleichwohl nicht um ein grenzenloses Geschehen. Jede Bewegung gerinnt weiterhin zu einem Leben, das sich durch einen alle Auflösungen und Transformationen durchziehenden Stil auszeichnet. Dieser letzte Aspekt des An-Sich-Haltens lässt sich außerdem an der Vorsicht ablesen, zu welcher das Daodejing den Leser mehrfach ermahnt. In Daodejing 15 etwa werden diejenigen, die sich auf vortreffliche Weise in der Welt fortbewegen, folgendermaßen charakterisiert: Wie vorsichtig! Gleich dem Überqueren eines Flusses im Winter, Wie wachsam! Gleich der Furcht vor den Nachbarn auf allen vier Seiten. Wie ernsthaft! Gleich dem Verhalten von Gästen. 豫兮若冬涉川; 猶兮若畏四鄰; 儼兮其若客; (Daodejing 15)

Diese Bilder, die auch das im Lunyu 論語 und Shijing 詩經 auftauchende Bild des sich langsam vorwärts tastenden Überquerens eines gefrorenen Flusses anführen, 139 bringen allesamt eine Haltung der Vorsicht 131 Vgl. den obigen Punkt 5 sowie die Ausführungen zur bewegten Wirklichkeit schlechthin in Punkt 2.2. b). 132 Daodejing 76. Vgl. auch Daodejing 29, 64.

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Das Daodejing

und der gesteigerten Aufmerksamkeit zum Ausdruck. Analog zu jenem Gefäß aus dem Tempel des Herzogs Huan 桓公 von Lu 魯, das, wenn es zu leer oder zu voll war, umkippte, 140 hat auch der Mensch ständig die Balance zu wahren und zum richtigen Zeitpunkt innezuhalten. 141 Stets hat er die Einzelheiten der Situation achtsam im Auge zu behalten, um auf diese Weise bereits einsetzende Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und dadurch angemessen in den Lauf der Dinge hineinzufinden. 142 In diesem Sinne wird auch dem Herrscher geraten, die gleiche Behutsamkeit an den Tag zu legen, wie beim Braten kleiner Fische. 143 Geringschätzige Achtlosigkeit und überhebliche Leichtfertigkeit (qing 輕) führen hingegen meistens ins Verderben: »Wer leichtfertig zusagt, wird gewiss wenig glaubwürdig sein. Wer viel auf die leichte Schulter nimmt, wird gewiss viel Schwerem begegnen 夫輕諾必寡信,多易必 多難.« 144 Von daher rät das Daodejing: »Achte auf das Ende genauso wie auf den Beginn 慎終如始.« 145 In unserem Zusammenhang verät die besondere Bedeutung, die der Vorsicht damit im Daodejing beigemessen wird, letztlich, dass sich der Mensch im Wiedereinfinden nie gleichgültig aufzulösen und fortzuführen hat, sondern immer auch die Haltung eines vorsichtigen An-Sich-Haltens bewahren muss. Lässt sich das Wiedereinfinden von daher seinem Vollzug nach als ein gleichzeitiges Auflösen und An-Sich-Halten bestimmen, so wird die gesamte Lebensbewegung des Menschen letzten Endes von der Dynamik dieser beiden Momente durchzogen. Das Auflösen und An-SichHalten können dabei derart subtil ineinandergreifen, dass sie ein gleitendes Fließen ergeben. Das ständige Sich-Wiedereinfinden in wechselnde Umfelder wird sich sodann in einer gelingenden Selbstfortführung zu einem »großen Fließen da shun 大顺« 146 entfalten, zu einem reibungslosen Vollzug »von selbst ziran 自然«. Konnte die Selbstfortführung der menschlichen Lebensbewegung auf das Moment des Wiedereinfindens hin weiter bestimmt werden, so ist indessen im gleichen Atemzug darauf hinzuweisen, dass sich dieses Vgl. oben Punkt 2.1. Vgl. auch Lan Xibing 蘭喜並: Laozi jiedu 老子解讀, S. 41. 135 Dem entspricht, dass die Selbstaufgabe immer auch mit einer Selbstbehauptung einhergeht. Vgl. dazu den obigen Punkt 5. Vgl. hierzu auch Punkt 2.2. b). 136 Vgl. hierzu Daodejing 5, 9, 10, 14, 15, 16, 19, 22, 28, 32, 35, 37, 42, 52, 54, 62, 64, 67, 79. 137 Daodejing 5. 138 Daodejing 16. 133 134

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Rückkehr und Abbau

Wiedereinfinden des Menschen in stets wechselnde Lebensfelder nie schon wie ein naturhafter Automatismus »von selbst« einstellt. Statt sich immer schon von selbst reibungslos zu vollziehen, bildet der Mensch, wie in Punkt 3 hervorgehoben wurde, vielmehr ein Sorgenkind des Lebens, das sich zunächst selbst im Weg steht. Durch einseitige Ausrichtungen auf ferne Ziele und ideale Werte löst er sich meistens aus den tragenden Bezogenheiten zu seinem Umfeld heraus, sodass ihm, von seinen Ergänzungen abgeschnitten, ein frühzeitiges Ende seines Lebens droht. Entsprechend bilden die Wiedereinfindung sowie das nahtlose Ineinandergreifen aller bisher herausgearbeiteten Momente nicht schon ein problemlos funktionierendes Ganzes. Es ist vielmehr die Aufgabe eines jeden Menschen, die unterschiedlichen Momente in seinem eigenen Lebensvollzug zu realisieren. 147 Zum Abschluss sei deshalb der Frage nachgegangen, wie es den Daoisten zufolge dem Menschen gelingt, diese Aufgabe zu meistern, d. h. auf welchem Weg er aus seiner ruinösen Situation herausfinden kann, um in reibungsloser Selbstfortführung gedeihliche Bindungen zu seinem Lebensumfeld eingehen zu können. Dabei wird ein weiteres entscheidendes Moment der Selbstfortführung des Menschen und somit des Vollzuges seines Wirklichkeitsverhältnisses insgesamt zum Vorschein kommen.

8.

Rückkehr und Abbau

Scheitern die meisten Menschen zunächst an ihrer eigenen Selbstfortführung, so bedeutet dies nicht schon, dass sie hinsichtlich eines gelingenden Selbstvollzuges vollständig ahnungslos wären. Wenn es in Daodejing 76 heißt, dass »der Mensch, wenn er geboren wird, weich und schwach ist 人之生也柔弱«, so ist davon auszugehen, dass jeder als Kleinkind am eigenen Leibe die Erfahrung einer reibungslosen Selbstfortführung gemacht hat. Sicherlich ist den meisten Menschen im Laufe ihres Lebens dieses ursprüngliche Vermögen, sich mühelos von selbst in der Welt fortzubewegen, abhanden gekommen. Die ungeVgl. Lunyu 8.3 und das Lied »Xiaomin 小旻« des Shijing 詩經 (Mao 195). Vgl. das Kapitel Youzuo 宥坐 des Xunzi 荀子 (Xunzi jijie 荀子集解, S. 520). Siehe auch Edward Slingerland: Effortless Action, S. 87. 141 Vgl. Daodejing 9, 32. 142 Vgl. Daodejing 63, 64. 143 Daodejing 60. 139 140

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Das Daodejing

hinderte Selbstfortführung ist, vermutlich durch die Sozialisation, allmählich ins Stocken geraten. 148 Es hat sich ein Versteifungsprozess eingestellt, in dem immer mehr Einseitigkeiten und Festlegungen den fließenden Selbstvollzug erschwerten. Dennoch ist die gelingende Selbstfortführung als solche dem Menschen dadurch nicht schon absolut fremd geworden. Er hat lediglich verlernt und vergessen, was er als Kind problemlos vermochte. Ist davon auszugehen, dass jeder Mensch einst die Erfahrung einer gelingenden Selbstfortführung im Kontakt mit der Wirklichkeit gemacht hat und dementsprechend eigentlich über ein einschlägiges Vorwissen verfügt, 149 so ist damit bereits angedeutet, wie der Mensch wieder in die Bewegung eines reibungslosen Selbstvollzuges hineinfinden kann. Ist er nicht gänzlich orientierungslos, sondern hat er immer schon eine Ahnung von einer gelingenden Selbstfortführung, so hat er den in seiner Kindheit erfahrenen Zustand eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Weichheit und Stärke, zwischen Auflösen und An-Sich-Halten wiederherzustellen. Das heißt, er hat zu ehemals realisierten Möglichkeiten zurückzufinden, um, an diese anknüpfend, den frühzeitigen Abbruch seines Lebens zu verhindern. Für den durchschnittlichen, erwachsenen Menschen hat die Selbstfortführung demnach immer auch mit einer Wiedergewinnung ursprünglicher Möglichkeiten einherzugehen. Nur in einem Zurückkehren zu dem bereits erfahrenen Zustand kindlicher Spontaneität kann er die eigene verhängnisvolle Situation hinter sich lassen. In diesem Sinne ist die Selbstfortführung des Menschen ihrem Vollzug nach immer auch als eine Rückkehr zu einer zweiten Unbefangenheit zu verstehen. Dieses Zurückkehren ist dabei nicht bloß ein Moment der Selbstfortführung neben anderen. 150 Es greift auf alle anderen Momente über, sodass alle bereits hervorgehobenen Aspekte des menschlichen Selbstvollzuges in diese Bewegung der Wiedergewinnung eingebunden sind. Zu einer näheren Charakterisierung der Rückkehr sei das Kapitel Daodejing 48 herangezogen. Dort findet sich der Prozess der Wiedergewinnung, wie folgt, umschrieben: Wer das Lernen betreibt, gewinnt täglich hinzu; 144 145 146 147

Daodejing 63. Siehe auch Daodejing 73. Daodejing 64. Vgl. auch Daodejing 63. Daodejing 65. Vgl. auch oben Punkt 2.2. b). Vgl. hierzu auch Punkt 3.

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Rückkehr und Abbau

Wer [hingegen] die Bewegung von selbst einübt, wird täglich geringer. Geringer werden und abermals geringer werden, Um beim Nichteingreifen anzugelangen. Nichteingreifen, und es bleibt nichts ungetan. 為學日益, 為道日損。 損之又損, 以至於無為。 無為而無不為。 (Daodejing 48)

Aus dieser kurzen Schilderung lassen sich gleich zwei zentrale Momente aussondern, welche die Rückkehr zum »Nichteingreifen wu wei 無 為« und somit zum reibungslosen Selbstvollzug in ihrer Dynamik klarer hervortreten lassen. Zunächst zeigt sich in diesem Zitat, dass die Wiedergewinnung des ungehinderten Selbstvollzuges nur allmählich vonstattengehen kann. Nicht in einem Sprung, sondern in einem tagtäglichen, Schritt für Schritt langsam sich vertiefenden und verfeinernden Prozess vermag der Mensch, wieder zu seiner »Kindheit« zurückzufinden und verloren geglaubte Grunddispositionen wiederzubeleben. So wie »ein Baum, den man mit beiden Armen umfasst, aus einem haarfeinen Spross erwachsen ist; ein neunstöckiger Turm mit einem Korb Erde angefangen wurde und eine Reise von tausend Meilen unter den Füßen begann 合抱之 木,生於毫末;九層之台,起於累土;千里之行,始於足下« 151, so hat auch die Rückkehr zur zweiten Unbefangenheit einen langen Weg zurückzulegen. Zweitens machen die obigen Zeilen darauf aufmerksam, dass die allmähliche Rückkehr von den Daoisten gleichzeitig als ein Abbauprozess verstanden wurde, denn nur über einen solchen kann der Zustand des »Nichteingreifens wu wei 無為« wiederhergestellt werden. Sind gerade Versteifungen und Einseitigkeiten Grund für den Verlust der ungestörten Selbstfortführung, so kann die Wiedergewinnung ureigenster Möglichkeiten nur in einer Aufweichung und in einem Abbau verkrusteter Strukturen gelingen. Erst eine Auflösung der künstlichen Vgl. Chad Hansen: A Daoist Theory of Chinese Thought, S. 211 f. Dies würde auch erklären, wieso die Verfasser die Worte des Daodejing als leicht verständlich angesehen haben (Daodejing 70). Jeder hat die Vollzüge, die im Daodejing ausgebreitet werden, eigentlich bereits erfahren. 148 149

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Das Daodejing

Ziele und Werte vermag die eigene Lebensbewegung aus den sie einengenden Bahnen zu befreien. Dieses Abbauen wird auch in Daodejing 56 thematisiert, wenn dort metaphorisch davon die Rede ist, dass die Spitzen abzustumpfen, die Verstrickungen zu lösen, der Glanz zu dämpfen und der Staub zu ebnen sind (挫其銳,解其紛,和其光,同 其塵) – mithin die starren und hemmenden Vorprägungen abgetragen und abgewetzt werden müssen. 152 Entsprechend rät auch Daodejing 19, mit den gängigen Idealen vorbildlichen Menschseins zu brechen (jue sheng 絕聖), die Gelehrsamkeit aufzugeben (qi zhi 棄智) sowie von Kunstfertigkeit (qiao 巧) und von dem Streben nach Gewinn (li 利) abzulassen. Diese Einstellungen unterbinden allesamt mit ihren künstlichen Vorgaben und Vorgriffen jenen Selbstvollzug, wie er oben im Daodejing herausgearbeitet wurde. Die Wiedergewinnung der ureigensten Möglichkeiten gelingender Selbstfortführung führt also nicht über eine heroische Selbststeigerung und Selbstüberwindung, sondern vielmehr über ein allmählich sich vertiefendes Abbauen künstlicher Vorgaben. Damit wird aber gleichzeitig ein dritter Aspekt der Rückkehr sichtbar. Als allmählicher Abbau verstellender und fehlleitender Selbst- und Weltbilder vollzieht sich die Rückkehr immer auch als eine Arbeit an sich selbst. Der Zustand der kindlichen Unbefangenheit wird nicht jenseits aller Bemühungen erreicht, sondern stellt sich erst durch eigenes Hinzutun ein. Dabei ist zu betonen, dass dieser eingreifende Abbau hemmender Versteifungen keineswegs seinem eigenen Ziel des leibhaft-spontanen Selbstvollzuges widerstreitet. Das aktive Abbauen und der spontane Selbstvollzug bilden keine zwei radikal verschiedenen Zustände, die in keinem Verhältnis zueinander stehen würden und zwischen denen man nur durch ein Springen wechseln könnte. Bei dieser Arbeit an sich handelt es sich, um ein Bild aus dem Kapitel Shanmu 山木 des Zhuangzi 莊子 zu bemühen, vielmehr um ein Hauen, in dem gerade der Zustand des Unbehauenen realisiert wird (既雕既琢復歸於撲). 153 So wie ein solches Hauen dem Material nichts aufzwingt, sondern es gleichsam im Behauen zu sich selbst zurückkehren lässt, ist auch das abbauende Zurückkehren als eine Arbeit zu verstehen, die nicht verzerrt oder verfälscht, sondern gerade die reibungslose, unverstellte Selbstfortführung belebt. Wie die Abbauarbeit in die Selbstfortführung übergeht und sich somit Eingreifen und Nichteingreifen verquicken, lässt sich anhand der Abbaumethoden ver150

Vgl. Daodejing 15, 19, 28, 57.

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Rückkehr und Abbau

anschaulichen, die im Daodejing erwähnt werden. Auch wenn sich diese Methoden auf der Grundlage des Textes nicht mehr eindeutig rekonstruieren lassen, so sei im Folgenden dennoch versucht, zumindest eine Methode näher zu beleuchten. Die hier berücksichtigte Methode eines nicht eingreifenden Abbauens künstlicher Lebensbahnen besteht in der Beruhigung (jing 靜) und Entleerung (xu 虛) des Herzens. 154 Insofern das Herz der Ort der Bildung fester Zielsetzungen und damit hemmender Lebensentwürfe ist, zielen Beruhigung und Entleerung darauf ab, dessen Aktivitäten und Einflüsse zu reduzieren. 155 Diese beiden »Eingriffe« bilden dabei insofern abbauende Maßnahmen, als sie das Entwerfen virtueller Ziele langsam eindämmen und somit die einseitigen Ausrichtungen des eigenen Lebensvollzuges außer Kraft setzen. Die so erfolgende Auflösung künstlicher Ziele und Werte führt sodann zur Wiederherstellung des Zustandes ursprünglicher Spontaneität. Durch die Außerkraftsetzung der Projektionen des Herzens wird also der notwendige Raum geschaffen, in dem die ursprüngliche Fähigkeit einer fließenden Selbstfortführung wieder aufleben und sich ungehindert entfalten kann. Als solche bildet diese Arbeit am Herzen ein »nicht eingreifendes Eingreifen«. Sind das Beruhigen und Entleeren des Herzens wohl Eingriffe in die Gesamtkonstellation der Eigensphäre, so bleiben sie insofern nicht eingreifend, als sie den anvisierten Zustand nicht herstellen, sondern den gelingenden Selbstvollzug lediglich aufs Neue ermöglichen. Als Eingriffe tragen die Beruhigung und Entleerung des Herzens nur dazu dabei, einen günstigeren Rahmen für den Selbstvollzug bereitzustellen. Als solcher wird sich der Selbstvollzug gleichwohl von selbst einstellen müssen. An der Beruhigung und der Entleerung des Herzens deutet sich also an, wie den Daoisten zufolge das Abbauen in die fließende Selbstfortführung in und mit der Welt übergeht und sich Eingreifen und Nichteingreifen dabei die Hand reichen. 156 Stellt sich der gelingende Selbstvollzug erst in einer Rückkehr zu einer zweiten Unbefangenheit ein, so hat Letztere über einen allmählichen Abbau festgefahrener Strukturen zu verlaufen, indem durch eine nicht eingreifende Abbauarbeit die ursprüngliche Lebensdynamik wiederbelebt werden soll. Alle bisher behandelten Momente, von der leibhaftigen Spontaneität bis zum fließenden Wiedereinfinden, stellen sich 151 152

Daodejing 64. Vgl. auch Gao Ming 高明: Boshu laozi jiaozhu 帛書老子校注, S. 99.

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Das Daodejing

erst über eine derartige Rückkehr ein und sind somit ihrem Vollzug nach stets in einen Abbauprozess eingebettet zu denken. Dieser Moment der abbauenden Rückkehr rundet die Herausarbeitung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses, wie es dem Vollzug nach im Daodejing ausgelegt wurde, ab. Auch in diesem letzten Text konnte der Vollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses auf einige zentrale Momente hin freigelegt werden. Während es im Lunyu um die Ausprägung des eigenen Lebens ging und im Mozi um die Teilnahme an tragenden Bezogenheiten zur Umwelt, so ist im Daodejing das Augenmerk auf die Selbstfortführung des Menschen gerichtet. Die Fortführung der eigenen Lebensbewegung, so hat sich gezeigt, vollzieht sich dabei dem Daodejing zufolge vor allem als ein leibhaftigspontanes Durchleben aus der Situation heraus entstehender Bezogenheiten. Zwischen selbstloser Rezeptivität und Selbstbehauptung geht der Mensch dabei stets feste und unterstützende Beziehungen mit seinem Umfeld ein, die er mit dem Wandel der Situationen immer wieder zu erneuern hat. Letztlich kann die Selbstfortführung aber nur gelingen, wenn der Mensch in einer Rückkehr zu einer zweiten Unbefangenheit die durch Verkrustungen und Versteifungen gehemmten ureigensten Fähigkeiten reaktiviert. Zusammen bilden diese Momente und Vollzüge den daoistischen Weg, den der Mensch einzuschlagen hat, um gelingend an der Wirklichkeit teilnehmen zu können. Nachdem die drei Texte des Lunyu, des Mozi und des Daodejing jeweils auf den Vollzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses hin in den Blick genommen wurden, so sind die gewonnenen Resultate in einem abschließenden Schritt im Hinblick auf das in Teil I vorgestellte und problematisierte Grundverständnis des antiken chinesischen Denkens hin auszuwerten.

Chen Guying 陳鼓應 (Hrsg.): Zhuangzi jinzhu jinyi 莊子今註今譯, S. 506. Siehe etwa Daodejing 3, 15, 16, 26, 37, 45, 57, 61. 155 Vgl. Harold Roth: »The Laozi in the Concept of Early Daoist Mystical Praxis«. In: Religious and Philosophical Aspects of the Laozi, S. 575 ff. 153 154

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Teil III Die Auswertung

156 Eine weitere Methode zum Abbau von hemmenden Verkrustungen zielte auf einen kontrollierten und geläuterten Umgang mit den eigenen Sinneseindrücken ab. Gerade diese Methode wird in Daodejing 56 angesprochen, wenn dort das Auflösen festgefahrener Lebensbahnen mit einem »Stopfen der Löcher und einem Schließen der Türen 塞其 兌,閉其門« in Verbindung gebracht wird. Vgl. auch Daodejing 52 sowie Harold Roth: Ebd., S. 71 ff. Inwiefern es sich dabei allerdings um eine nicht eingreifende Abbauarbeit handelt, geht nicht unmittelbar aus dem Text hervor.

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1.

Bestätigung des Grundverständnisses?

Das Ziel der vorangegangen Auslegungen war es, ein wirkmächtiges Grundverständnis des antiken chinesischen Denkens auf seine fraglich gewordene Gültigkeit hin zu überprüfen. Nach diesem Grundverständnis ist es dem vor-han-zeitlichen chinesischen Denken vor allem darum zu tun, den Menschen in einer gelingenden Teilnahme an seiner Umwelt zu unterstützen. Dies, so weiter das besagte Grundverständnis, versucht das antike chinesische Denken dadurch zu erreichen, indem sie dem Menschen Wege dorthin aufzeigt. Diese grobe Konturierung des klassischen chinesischen Denkens hat sich allerdings bei näherem Hinsehen als problematisch erwiesen. Maßgebliche Studien der westlichen sinologischen Forschung haben nicht aufzeigen können, auf welche Wege uns die chinesische Philosophie eigentlich aufmerksam machen will. Von daher ist der Verdacht aufgekommen, dieses Grundverständnis eigne sich nur begrenzt zur Erschließung der einschlägigen Texte. Allem Anschein nach überfordert es deren Sinnpotenzial, indem es ihnen einen Sinn abzuverlangen scheint, den sie so nicht einlösen können. Um uns der somit ins Wanken geratenen Gültigkeit und Erschließungskraft dieses Grundverständnisses zu vergewissern, wurde versucht, die empfohlenen Wege hin zu einem gelingenden Wirklichkeitsverhältnis, wie sie uns in drei zentralen Texten der chinesischen Antike vorgestellt werden, genauer herauszuarbeiten. Denn, so die aufgemachte Rechnung, lässt sich bei gezieltem Nachfragen ein detaillierteres Bild einer gelingenden Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen zeichnen, so kann die Gültigkeit des problematisierten Grundverständnisses als gesichert gelten. Wird hingegen kein Zugewinn an Präzision zu verzeichnen sein, so vermag es als heuristischer Interpretationsrahmen dem Sinnhorizont dieser Texte nicht gerecht zu werden. Ist es aber dem hier unternommenen Prüfungsversuch gelungen, das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen und damit die empfohlenen Wege genauer herauszuarbeiten, um auf diese Weise das fragwürdig gewordene Grundverständnis zu bestätigen? Können die Texte also dem ihnen zugeschriebenen Anspruch, den Menschen in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit zu orientieren, nachkommen? Blicken wir auf die drei Textinterpretationen zurück, so lässt sich – ohne sie an dieser Stelle noch einmal zusammenfassend anzuführen – zunächst verbuchen, dass der Vollzug und das Geschehen des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses und damit die empfohlenen Zugänge

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zu einer gelingenden Teilnahme am Lauf der Dinge in der Tat konturenreicher hervorgetreten sind. Im Durchgang durch die drei Textwelten konnten, über die in Teil I erwähnten Sinologen Roger Ames und François Jullien hinaus, diesseits allgemeiner Charakterisierungen anschauliche und in sich zusammenhängende Vorstellungen eines gelingenden Wirklichkeitsverhältnisses herausgestellt werden, die dem Leser ein klareres und einprägsameres Bild vermitteln, wozu die jeweiligen Texte ihn eigentlich bewegen wollen. Dass das menschliche Wirklichkeitsverhältnis genauer in den Blick geraten ist, spiegelt sich nicht zuletzt auch darin, dass die obigen Interpretationen zudem eine im Vergleich zu Jullien und Ames differenziertere textübergreifende Grundcharakterisierung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses erlauben. In jeweils anderen Einkleidungen sind in den drei Texten letztlich ähnliche Grundmomente sichtbar geworden, die als solche schon die allgemeinen Charakterisierungen von Jullien und Ames präzisieren. 1 Zunächst vollzieht sich das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen in allen drei Texten als situativ und leibhaft durchlebte Teilnahme an den jeweils vorliegenden Umständen. Statt ideale Zusammenhänge zu erkennen und denkend einzuholen, werden Verhältnisse aus der jeweiligen Situation heraus leibhaftig durchlebt. Dieser lebendige Kontakt zum konkreten Lebensumfeld wird dabei nicht durch ein bereits vorliegendes Beziehungsnetz ermöglicht. Vielmehr, so hat sich gezeigt, gehen die Bezogenheiten allererst aus dem realen Wirklichkeitsverhältnis selbst hervor. Sie werden nicht bloß aktiviert oder verwirklicht. Sie stellen sich vielmehr nur im aktuell und leibhaft durchlebten Weltbezug ein und entspringen als solche einem konkreativen Prozess gegenseitiger Hervorbringung, in dem alle Momente beteiligt sind. Das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit hat infolgedessen auch nur so lange Bestand, wie er sich auf sein jeweiliges Umfeld einlässt und an ihr teilnimmt. Wird der Vollzug der Teilnahme am Lauf der Dinge unterbrochen, so werden sich auch die Beziehungen verflüchtigen. Dieses situative, konkreative Hervorgehen von Beziehungen, so hat sich des Weiteren herauskristallisiert, stellt sich erst in einem Veranlassungs- und Anregungsgeschehen ein. Beziehungen werden nicht hergestellt, sondern gleichsam aus den Umständen herausgekitzelt. Nur in einem die gesamte Situation involvierenden Anregungs- und Antwortspiel finden die unterschiedlichen Momente zu einem wirksamen Wirklichkeitsgefüge zusammen. Ein auf diese Weise sich einstellendes Wirklichkeitsverhältnis bleibt sicherlich in sich labil. Wird die eigene

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Bestätigung des Grundverständnisses?

Veranlassung nicht beantwortet, oder beantwortet man selbst eine Anregung nicht, so wird der situative Wirksamkeitsfluss unterbrochen. Der gelingende Hervorgang gemeinsamer Bezogenheiten zur Wirklichkeit durch Veranlassung verlangt zudem ein vorgängiges spürendes und tastendes Sich-Einschwingen in die jeweilige Situation. Um sich auf wirksame Weise antwortend oder anregend in sein Umfeld einbringen zu können, bedarf es einer vorsichtigen Annäherung an dessen Gesamtkonstellation, um diese auf ihre innere Dynamik und Tendenz hin abzuhorchen. Man hat also zuerst zu einem Responsorium für die Situation zu werden, d. h., sie in sich zum Klingen zu bringen. Nur so wird man sie angemessen einschätzen und sich wirksam auf sie einlassen können. Zuletzt hat sich erwiesen, dass alle Momente des Vollzuges des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses ihrerseits in einen umfassenden Einübungs- und Sensibilisierungsprozess eingebunden sind. Der Mensch hat einen Vertiefungsprozess zu durchlaufen, in dem sich die unterschiedlichen Momente und Vollzüge eines gelingenden Wirklichkeitsverhältnisses allmählich in ein sicheres Können verwandeln. Immer öfters und fließender wird er auf diese Weise mit seinem Lebensumfeld in Kontakt treten können – bis sein Lebensvollzug schließlich in ein reibungsloses und zu jedem Moment wirksames Fließen in und mit seiner Umwelt übergeht. Die so hervorgetretenen gemeinsamen Grundzüge ergänzen die Bestimmungsversuche des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses, wie wir sie bei Jullien oder Ames angetroffen haben. Mit der Leiblichkeit, dem Anregungs- und Antwortgeschehen, dem Erwirken von Zusammenhängen sowie der Einübung und der Verfeinerung sind Aspekte zutage getreten, die sich in dieser Ausdrücklichkeit bei den drei Sinologen nicht erwähnt finden. 2 Die Texte vermitteln uns also nicht nur einzeln, sondern auch im Hinblick auf textübergreifende Grundcharakterisierungen ein genaueres Bild vom Wirklichkeitsverhältnis des Menschen, zu dem sie uns letztlich anregen wollen. Das hierbei leitende Grundverständnis vermag somit sehr wohl die Texte zum Sprechen zu bringen und als Interpretationsrahmen die weitere Erschließung deren Sinnpotenzials zu leiten. Die eingangs festgestellte Diskrepanz zwischen dem allgemeinen Grundverständnis und dem konkreten Sinngehalt der Texte verweist demnach nicht auf eine unüberwindbare Kluft. Ob die genauere Herausarbeitung des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses allerdings auch an anderen Texten 217 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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Die Auswertung

möglich ist, das Grundverständnis mithin für das gesamte antike chinesische Denken fruchtbar gemacht werden kann, wird zwar durch die geistesgeschichtliche Sonderstellung der drei ausgewählten Texte nahe gelegt. 3 Dass sich die Aussagekraft der Überprüfung damit umstandslos auf die antike chinesische Philosophie schlechthin erstreckt, ist dadurch allerdings noch nicht endgültig festgestellt. Dazu bedürfte es einer weiterführenden Vergewisserung, welche zusätzliche zentrale Texte einer ähnlichen Prüfung unterzieht. Trotz dieses ersten positiven Eindrucks können die Ergebnisse dennoch nicht befriedigen. Zunächst ist anzumerken, dass die in den obigen drei Interpretationen herausgearbeiteten Bilder einer gelingenden Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen weiterhin recht unscharf bleiben. Auch wenn über die in Teil I behandelten sinologischen Studien hinausgegangen werden konnte und somit die Richtung, in welche die Texte den Leser bewegen wollen, deutlicher und greifbarer hervorgetreten ist, so ist nicht zu leugnen, dass der Leser weiterhin in vielen Punkten im Unklaren darüber bleibt, worauf er sich einzulassen hat und was mit ihm geschehen muss, damit er sich gelingend in den Lauf der Dinge einfügen kann. Der Aspekt des Veranlassens etwa hat den Vollzug eines gelingenden menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses, wie er z. B. im Lunyu ausgelegt wurde, sicherlich genauer hervortreten lassen. Der Leser wird durch diesen Hinweis darauf aufmerksam gemacht, in welcher Grundhaltung er sich seinem Umfeld zu nähern hat. Gleichwohl umgibt das Veranlassen als Vollzug eine Aura des Rätselhaften. Wie durch das Veranlassen ein wirksames Verhältnis zum Umfeld entstehen kann, scheint vielmehr einen hermetischen Prozess zu bilden, der über unbekannte Kanäle verläuft und sich als solcher kaum näher zur Sprache bringen lässt. Dies wird den Leser eher zögern lassen, als ihn bei der Wahl unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten orientieren. Der gleiche Eindruck entsteht auch bei den weiteren herausgearbeiteten Momenten. Das immer wieder thematisierte Moment des tastenden Einspürens in die jeweiligen Situationen sowie der Transformationsprozess, den ein jeder zu durchlaufen hat und der in Diese Momente sind, wohl bemerkt, nicht als Zusammenfassung der obigen Textauslegungen zu betrachten. Es handelt sich hierbei lediglich um sich andeutende Gemeinsamkeiten, die nicht von den je unterschiedlichen Gesamtentwürfen der jeweiligen Texte zu trennen sind. In ihren konkreten Ausmalungen in den entsprechenden Textwelten erhalten diese gemeinsamen Grundmomente nämlich jeweils unterschiedliche Ausdeutungen und Präzisierungen.

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Schlussfolgerung

allen drei Texten je anders vorgestellt wird, oder auch die Verschränkung von Weichheit und Härte, Loslassen und Ansichhalten, die das Daodejing in den Vordergrund rückt, sind allesamt Vollzugsaspekte, denen im Medium der Sprache nur sehr schwer nachzukommen ist. Auch sie werden dem Leser in konkreten Lebenslagen und damit vor allem in Situationen des Konfliktes zwischen mehreren Handlungsoptionen nur wenig Anleitung geben können. Von daher muss auch offen bleiben, was ein gelingendes Wirklichkeitsverhältnis letztlich ausmacht. Denn wann man sich angemessen in den Lauf der Dinge eingelassen hat, lässt sich allein auf der Grundlage der Texte nicht eindeutig fassen. Dies aber wirft ein fragliches Licht auf die lebenspraktische Zuständigkeit klassischer chinesischer Texte. Hinzukommt, dass die Vollzüge in allen drei Fällen nur sehr mühsam und stets unter der Oberfläche der Texte herausgearbeitet werden konnten. Zu keinem Zeitpunkt scheinen die Autoren beabsichtigt zu haben, die Vollzüge explizit zu beschreiben und systematisch aufzuarbeiten. Im Gegenteil musste bei allen drei Texten zuerst ein Umweg über eine vorgängige Klärung des jeweils zugrunde liegenden Wirklichkeitsverständnisses genommen werden, um auf diese Weise indirekt zum Vollzug eines gelingenden menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses vorzudringen. Wäre es der chinesischen Philosophie tatsächlich darum zu tun gewesen, den Menschen in seinem Wirklichkeitsverhältnis anzurühren, so fragt man sich, wieso die empfohlenen Wege nicht ausdrücklicher und methodischer dargelegt wurden. Warum haben die Verfasser die Vollzüge nur indirekt thematisiert und damit die Gefahr heraufbeschworen, dass der Leser letztlich nicht versteht, worum es ihnen eigentlich geht? Angesichts dieser Vorbehalte ist den zunächst positiv anmutenden Ergebnissen entgegenzuhalten, dass sie die Gültigkeit des hier problematisierten Grundverständnisses des antiken chinesischen Denkens dennoch nicht restlos verbürgen können – dieses somit nur begrenzte Erschließungskraft beanspruchen kann.

2.

Schlussfolgerung

Die Überprüfung des Vorverständnisses ist somit zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangt. Weder trifft das Grundverständnis vollends zu, 2

Vgl. hierzu die obigen Ausführungen in Teil I, Punkt 2.

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Die Auswertung

noch erscheint es vollkommen abwegig, es als allgemeinen Interpretationsrahmen heranzuziehen. Welche Schlussfolgerungen sind aus dieser Pattsituation zu ziehen? Da der Prüfungsversuch kein abschließendes Fazit zulässt, scheint der aussichtsreichste Ausweg darin zu bestehen, das hier überprüfte Grundverständnis zwischen totaler Ablehnung und folgenloser Annahme partiell zu revidieren und umzuformulieren; vorausgesetzt, man will überhaupt noch an ihm festhalten. Wie dieses berichtigte Grundverständnis genau auszusehen hat, muss hier offen gelassen werden. Es sei lediglich versucht, die Richtung anzudeuten, in welche es womöglich zu verschieben ist. Genauigkeit war das Kriterium, welches stillschweigend die gesamte Untersuchung leitete. Die Forderung nach Genauigkeit bildete nicht nur den Hintergrund, vor dem das hier betrachtete Grundverständnis allererst fraglich wurde. Sie wurde gleichzeitig zum Prüfstein für dessen Gültigkeit. Gegen dieses Kriterium ließe sich sicherlich einwenden, dass es sich von Anfang an nicht für die Beurteilung und Prüfung dieses Grundverständnisses eigne. Dem antiken chinesischen Denken sei es eben nie um Genauigkeit und Präzision zu tun gewesen. Seinem lebenspraktischen Anspruch hoffte es vielmehr mittels »unscharfer« Bildern nachzukommen, denn nur offene Bilder seien allererst in der Lage, den Menschen in seinem gelebten Wirklichkeitsverhältnis anzurühren und am sichersten hin zu einer gelingenden Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen zu lotsen. Würden auch nicht allzu genaue Anleitungen dem lebenspraktischen Anspruch der Texte zuwiderlaufen? Drohten die Orientierungsangebote dann nicht zu starren Regelwerken zu verkommen, die den Unbestimmtheiten und der Offenheit eines jeden menschlichen Lebensvollzuges zuwiderlaufen? Die Suche nach Genauigkeit und Präzision mag in der Tat den klassischen chinesischen Texten nicht gerecht werden und eher mit dem gewaltsamen Strecken der Füße einer Ente vergleichbar zu sein – um auf ein Bild aus dem Zhuangzi zurückzugreifen. 4 Gleichzeitig wäre die Aufgabe dieses Kriteriums gerade für ein Denken, das einen dezidiert lebenspraktischen Anspruch erhebt, nicht nur gefährlich, da auf diese Weise nicht hinreichend Vorkehrungen gegen Missbrauch und Irrwege getroffen werden. Das Unscharfe und Ungenaue auf sich bewenden lassen, kann sogar auf längere Sicht zu einer Diskreditierung dieser Denktradition führen. Denn wenn dem Sollen kein Können ent3

Vgl. hierzu Teil I, Punkt 4.1.

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Schlussfolgerung

spricht, die empfohlenen Wege hin zu einer gelingenden Teilnahme am Wirklichkeitsgeschehen mithin nicht in ihrer Machbarkeit aufgezeigt werden können, muss das Sollen letztlich leer bleiben; und als solches kann es nur schwer zu einer ernsthaften Herausforderung für andere Denktraditionen werden. Vor allem aber werden die Leser weitergehende Fragen an diese Texte richten. So werden sie, wenn sie etwa nach dem normativen Potential der empfohlenen Vollzugsweisen fragen, nähere Auskunft darüber erwarten, welche Normen aus den aufgezeigten Momenten jener »vollzugsorientierten Lebenshaltung […] zur Welt« 5 gewonnen werden können, bzw. welche Konsequenzen sich aus den lebenspraktischen Ratschlägen für Probleme der sozialen Gerechtigkeit oder insgesamt für die Wahl der Grundprinzipien einer Staats- und Rechtsordnung ergeben. Dieser Übergang von den grundlegenden Vollzugs- und Verhaltensweisen hin zur Ebene gemeinverbindlicher Handlungsnormen kann aber nur über eine möglichst genaue Herausarbeitung derselben Vollzugs- und Verhaltensweisen gelingen. Wollen wir also das Kriterium der Genauigkeit nicht geradewegs aufgeben, so fragt sich, wie im Zusammenhang des chinesischen Denkens mit ihm umzugehen ist, ohne dabei die Eigenart der Texte gänzlich aus dem Blick zu verlieren. Für die drei hier behandelten Texte gilt, dass es ihnen jeweils darum geht, bewegende und anregende Bilder eines gelingenden Wirklichkeitsverhältnisses zu zeichnen. Als solche tendieren sie letzten Endes dazu, hinter dem tatsächlichen Lebensvollzug zurücktreten zu wollen. So versucht das Lunyu, wie an dessen zehntem Kapitel deutlich wurde, 6 nur als eine richtungweisende »Marke biao 表« 7 zu wirken; und genauso beabsichtigen das Mozi und das Daodejing lediglich auf Wege aufmerksam zu machen, ohne deren Ausführung gänzlich begleiten und damit übernehmen zu wollen. Im Hintergrund dieser Texte scheint also die Erfahrung zu wirken, »dass Worte allein nicht zu einer Entwicklung und zu einem Wachstum des Menschen führen, dass Sprache nur hinweisen, aber nicht beschreiben oder erklären kann« 8. Es ist von daher davon auszugehen, dass das Lesen und die Auseinandersetzung mit den Texten nur einen Teil einer umfassenderen Praxis darstellen; das Lesen mithin immer in einen größeren Praxiskontext eingebettet ist, auf den hin die Texte zu lesen sind und von dem aus sie letztlich ihren Sinn entfalten können. Die Suche nach Genauigkeit und Präzision wäre demnach nicht allein auf sprachlichem Wege im Text zu erreichen. Zweifellos ist die Sprache im chinesischen Kontext von her221 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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Die Auswertung

vorragender Bedeutung. Sie bildet ein zentrales Medium, mit dem wir uns in die Welt orientieren können. Gleichwohl ist Sprache hier nicht allein strukturierend und leitend, sondern verweist immer auch auf nichtsprachliche Praktiken als ihre Ergänzung. Vor diesem Hintergrund wäre die Revidierung des hier betrachteten Grundverständnisses des antiken chinesischen Denkens nicht so sehr am Grundverständnis selbst vorzunehmen. Das Grundverständnis könnte beibehalten werden, nur wäre zu versuchen, das Spektrum der Weisen der Annäherung an die Texte auszuweiten. Der einseitige philologische Blick auf Zeichen und Texte müsste dann, zwar nicht gänzlich aufgegeben, so doch ergänzt und diversifiziert werden. Erst in dem Zusammenspiel unterschiedlicher, vor allem praxisorientierter Formen und Wege der Textaufarbeitung sowie den dadurch neu gewonnenen Perspektiven und Hinweisen könnte sich die gesuchte Präzision einstellen. Wurde mit Paul Ricœur davon ausgegangen, dass die Texte als »Textwelten« zu lesen sind, die von den Bedingungen ihrer Herstellung losgelöst sind, so stellt sich nunmehr die Frage, ob Paul Ricœurs Texthermeneutik unseren Blick nicht zu stark auf den Text und deren Welten eingeengt hat. Diese Anmerkungen können allerdings in diesem Rahmen nicht über programmatische Ankündigungen hinausgehen. Es ist auch zu vermuten, dass diese hermeneutische Neuausrichtung mit neuen Problemen zu kämpfen haben wird. So wird zunächst zu klären sein, welche Praktiken die Textlektüre unterstützen sollen bzw. welche heute noch in China bekannten und überlieferten Praktiken uns ermöglichen, die Texte in einem »Netz unterschiedlicher Textzugänge« neu zu erschließen. Zudem werden zahlreiche methodologische Probleme dieser Zusammenführung der Textlektüre mit anderen Praktiken zu lösen sein. Vielleicht liefert uns in diesem Zusammenhang die chinesische Textpragmatik weiterführende Hinweise. Wie philosophische Texte in China gehandhabt und gelesen wurden und welche Funktionen ihnen in der damaligen Gesellschaft zukamen, wurde in den obigen Ausführungen nicht weiter thematisiert. Eine genauere Betrachtung der Pragmatik philosophischer Texte im antiken China könnte uns aber näheren Aufschluss über die Vernetzung von Praktiken und somit über die

Siehe das Kapitel Pianmu 駢拇. Chen Guying 陳鼓應 (Hrsg.): Zhuangzi jinzhu jinyi 莊子今註今譯, S. 235.

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Schlussfolgerung

Machbarkeit und die Chancen eines solchen hermeneutischen Unterfangens geben.

5 6 7

Mathias Obert: Welt als Bild, S. 38. Vgl. Teil II, Punkt 4.3. Xunzi: Xunzi jijie 荀子集解, S. 318 f.

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Die Auswertung

8

Henrik Jäger: Zhuangzi. Mit den passenden Schuhen vergisst man die Füße, S. 183.

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Register

Abbau 211 Ames, Roger 23, 25, 27, 32–33, 75, 92, 218 Anrühren 25–26, 89, 92, 98, 156 Antworten 89, 92, 98 Aristoteles 20, 22 Auflösung 205, 211 bian 辯 159 Bindung 201 dao 道 47, 57, 68, 170, 173, 177, 180 Daodejing 37, 157, 167, 177, 200, 212, 223 Descartes, René 23 Elberfeld, Rolf 75, 182 fa 法 138, 140, 148 Fink, Eugen 42 Gadamer, Hans-Georg 45 Guo Qiyong 23–24, 59 Hansen, Chad 24, 127, 130, 140, 142, 161, 198 Heidegger, Martin 24 Herrscher 96, 105, 114, 192, 195, 203 Husserl, Edmund 20, 43 Jäger, Henrik 224 Jullien, François 23, 25, 27–28, 67, 181, 218 Kleinkind 105, 189, 194, 197, 209 Konkreativität 75, 89, 95, 106, 181, 185, 202

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Lebensentfaltung 26, 63, 103, 112 Leibhaftige Teilnahme 73, 88, 148, 154, 161, 191 Lernen / Lehren 66, 95, 113, 210 li 禮 47, 76, 81, 86, 104, 127 Liji 24, 58–59, 77, 81, 83, 100, 112 Lunyu 37, 51, 80, 89, 120, 128, 130, 137, 150, 164, 182, 186, 191, 207, 213, 220, 223 Medialität 139 Mengzi 52, 64, 97, 115 Möller, Hans-Georg 38, 167 Mozi 37, 119, 182, 184, 186, 191, 213, 223 Obert, Mathias 44, 74, 223 Platon

20, 22–23

ren 仁 114 Rezeptivität 143, 194, 197, 199 Ricoeur, Paul 39, 224 Roetz, Heiner 37, 58, 152 Rombach, Heinrich 55, 201 Rückkehr 174, 210 Schmidt, Stephan 13, 45 Selbstbehauptung 195, 197 Selbstkorrektur 112, 164 Selbstlosigkeit 195 Selbstvollzug 103, 109, 186, 193, 200, 204, 212 Spontaneität 143, 191, 210 Tang Junyi 24, 56–57, 104, 107, 128, 141 Tastende Einfindung 101, 207 Text als Bild 25, 42, 84, 151 tian 天 53, 56, 109, 123, 128, 130, 142 Umprägung

147, 173

Verfeinerung 111, 116, 163, 210 Vollzug 36, 44, 61, 95, 110, 128–129, 204 Waldenfels, Bernhard 73, 96 Wandel 66, 115, 204, 206 Weg 25–26, 31 Weichheit 194, 196–197, 205, 221

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Register Wirklichkeitsverhältnis 21–22, 24–25, 28, 33, 36, 53, 60, 75, 80, 95, 118, 134, 144, 147, 158, 165, 185, 204, 218 Wirklichkeitsverständnis 53, 55, 59, 123, 126, 131, 171 Wirksamkeit 106, 109, 114, 131, 137, 184, 201–202 Worte 57, 154, 179, 181 wu 無 182 wu wei 無為 195, 210 xin 心 51, 191 xing 性 51, 62, 64 Xu Fuguan 25, 64, 78, 117 Xunzi 24, 52, 63, 85, 111, 207

Zhuangzi 24, 52, 62, 121, 212, 222 Ziran 自然 176, 182, 208

235 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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Register

Welten der Philosophie

236 Seiten, kartoniert, € 39,– ISBN 978-3-495-48385-5

Band 1 Ram Adhar Mall / Jayandra Soni Kleines Lexikon der indischen Philosophie 112 Seiten, kartoniert, € 20,– ISBN 978-3-495-48353-4

Band 2 Ryôsuke Ohashi Die Philosophie der KyôtoSchule Texte und Einführung 548 Seiten, kartoniert, € 69,– ISBN 978-3-495-48316-9

Band 3 Hans-Georg Moeller / Günter Wohlfart (eds.) Laughter in Eastern and Western Philosophies Proceedings of the Académie du Midi 236 https://doi.org/10.5771/9783495860281 © Verl

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Welten der Philosophie Band 4 Ram Adhar Mall Indische Philosophie – Vom Denkweg zum Lebensweg Eine interkulturelle Perspektive Ca. 416 Seiten, kartoniert, Ca. € 49,– ISBN 978-3-495-48368-8 (Frühjahr 2012)

Band 5 Ferdinand Mutaawe Kasozi Introduction to an African Philosophy The Ntu’ology of the Baganda 120 Seiten, kartoniert, € 24,– ISBN 978-3-495-48236-0

Band 6 Shizuteru Ueda Wer und was bin ich? Zur Phänomenologie des Selbst im Zen-Buddhismus 224 Seiten, kartoniert, € 29,– ISBN 978-3-495-48435-7

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Welten der Philosophie Band 7 Marcus Schmücker / Fabian Heubel (Hg.) Dimensionen der Selbstkultivierung Beiträge des Forums für Asiatische Philosophie Ca. 440 Seiten, kartoniert, Ca. € 39,– ISBN 978-3-495-48503-3 (Frühjahr 2012)

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