Disziplinen der Philosophie: Ein Kompendium 9783787325313, 9783787327157

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Disziplinen der Philosophie: Ein Kompendium
 9783787325313, 9783787327157

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Disziplinen der Philosophie Ein Kompendium

Herausgegeben von Horst D. Brandt

FE L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

PH I LOSOPH ISCH E BIBL IOT H EK BA N D 6 6 6

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bi­­­blio­gra­phi­sche Daten sind im Internet ­abrufbar über ‹http://portal.dnb.de›. ISBN 978-3-7873-2531-3

www.meiner.de Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2014. Alle Rechte vor­be­halten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Tanovski Publishing Services, Leipzig. Druck und Bindung: C. H. Beck, Nördlingen. Werkdruck­papier: alte­rungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zell­stoff. Printed in Germany.  ©

Vorbemerkung

Dieses Kompendium bietet dem Leser eine leicht fassliche und zugleich sehr informative Einführung in die verschiedenen Disziplinen und Richtungen der Philosophie auf höchstem Niveau. Angefangen von dem ersten Artikel, der die Beschreibung, Unterscheidung und Vorstellung der verschiedenen Philosophiebegriffe umfasst, die sich in der Geschichte der Philosophie herausgebildet haben, sind alle speziell ausgerichteten Artikel des Bogens von der »Anthropologie« bis zur »Sprachphilosophie« der großen und renommierten dreibändigen Enzyklopädie Philosophie entnommen, die Hans Jörg Sandkühler  in Verbindung mit Dagmar Borchers, Arnim Regenbogen, Volker Schürmann und Pirmin Stekeler-Weithofer herausgegeben hat. Disziplinen der Philosophie empfiehlt sich nicht nur als eine exzellente Orientierungshilfe für Studenten und an der Philosophie interessierte Leser, sondern auch als hochkarätiges und aktuelles Nachschlagewerk zu den Zielen und Wegen der ganzen Varietät der in Disziplinen aufgefächerten Philosophie von den Anfängen bis zur Gegenwart, das dem seit langem eingeführten Wörterbuch der philosophischen Begriffe (PhB ) nun ergänzend zur Seite gestellt wird. – Jedem Artikel sind Angaben zu den herangezogenen Quellen und weiterführender Literatur angefügt. Horst D. Brandt

Inhalt

Philosophiebegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analytische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analytische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angewandte Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkenntnis / Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethik /Moralphilosophie/ Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Existenz/Existenzphilosophie/ Existentialismus . . . . . . . . . . . . Geschichte/Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metaphysik/Metaphysikkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophische Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik/politische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religion/Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

                        

Philosophiebegriffe

1 Bedeutungsumfang. ›Philosophie‹ (Ph.) als Terminus wird vielfältig verwendet. Das Spektrum des Ph.-Begriffs reicht von Bezeichnungen für abstrakte, in theoretischer Fachsprache formulierte Systeme bis hin zu anspruchsarmen Bezeichnungen für bloß subjektive Intentionen und Handlungsstrategien (etwa ›Ph.‹ – z. B. in der Werbesprache – als Sammelbegriff für bewusste Konzeptionen, für intendierte Handlungsmuster). Angesichts der Vielfalt von Ph.-Begriffen verwendet die Enzyklopädie Philosophie diesen Terminus nur dann, wenn eine Lehre, eine Doktrin oder ein Erklärungsmuster wesentliche Merkmale von philosophischer Theorie enthält. Die folgende Übersicht über Ph.-Begriffe geht gesondert auf dieses Verständnis von ›Ph. als Theorie‹ noch überschreitende Versuche ein: Als Ph. werden oft nicht nur die Theorien selbst, sondern auch die Gegenstände des philosophischen Theoretisierens bezeichnet: Weltsysteme, Schöpfungsordnungen, Gestalten der Entwicklung des Geistes, konzeptionell begründete Lebenshaltungen, Weltbilder, Weltanschauungen, Ideologien. Der Begriff wird seit der griech.-röm. Antike, auch ohne ausdrücklichen Bezug auf eine bestimmte Theorie, auch für eine theoretisch dominierte oder allgemein kontemplative Lebensform im weitesten Sinne verwendet. Ferner sind eingrenzende Definitionsversuche zu beachten, die den Theorieanspruch von Ph. auf nur wenige Programmpunkte reduzieren. Zur Begriffsgeschichte 1 gehören auch Tendenzen, nach denen der Ph.Begriff durch andere Termini ersetzt wird, oder auch Positionen, nach denen sich die Forschungsaufgabe der Ph. historisch oder sachlich erledigt habe. Im Rahmen dieses Bedeutungsspektrums wird die Bezeichnung ›Ph.n‹ im Plural für unterschiedliche Theorien verständlich. Die damit bezeichneten Theorieentwürfe müssen nicht sämtliche Merkmale seriöser Theoriebildung erfüllen. Von ›Ph.n‹ lässt sich auch sprechen, wenn damit zumindest der Anspruch von Theorieverfassern auf Entwürfe für systematische Erklärungen, aber auch für Konzeptionen und Program-

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me zum Umgang mit Welt- und Menschenbildern ernst genommen wird. So gibt es Grenzfälle: Vielfach werden die in verschiedenen Kulturen entwickelten Weisheitslehren (Weisheit) auch unter dem Namen ›Ph.‹ tradiert. Dagegen lässt sich einwenden, dass solche Doktrinen oft auch ohne ausdrückliche theoretische Begründung weitergegeben werden. Ihre hohe Wirksamkeit oder auch ihr soziales Ansehen beruht in solchen Fällen darauf, dass sie als nur verkündete – und nicht als begründete – Prinzipien umso stärker wirksam wurden, je weniger sie an eine tradierbare Doktrin gebunden überliefert wurden. Sie werden jedoch ausdrücklich als Ph.n oder auch als Gegenstände einer Ph. bearbeitet, wenn sie in der kulturvergleichenden Forschung auf ihren Bezug zu zivilisationsabhängigen Welt- und Menschenbildern hin befragt werden. Doch auch bei streng philosophisch argumentierenden Autorinnen und Autoren kommen zahlreiche Varianten im Verständnis von Ph. vor. Sofern sie als Urheber von Theorieentwürfen schulbildend wirkten, sind ihre Versuche zur Begründung oder ihre angebotenen Neudefinitionen des Ph.-Begriffs zu beachten. Daher werden hier bevorzugt Werke geprüft, die die Begriffsbestimmung ausdrücklich zum Thema machen. Zentrale Hauptwerke der Ph., in denen keine solche Begriffsklärung zu finden ist, werden hier nicht berücksichtigt. 2 Zur Begriffsgeschichte 2.1 ›philosophia‹ bei Platon, Aristoteles ›Ph.‹ meint im Griech. vor Sokrates und Platon die Aufgeschlossenheit für Weisheitslehren; seit dem . vorchristlichen Jh. wird aus der Bedeutung von philo-sophos die inhaltlich neue Bestimmung der philosophia, im Unterschied zur sophistike (techne), der bloßen Kunst, Weisheit zu vermitteln (Sophistik). ›Ph.‹ im klassischen Sinne gibt es jedoch erst, seitdem in den frühantiken Kulturen die Gewissheit verloren gegangen oder zumindest zweifelhaft geworden ist, dass sich ›Weisheiten‹ in Form einer verbindlichen ›Lehre‹ tradieren lassen. Als Haltung oder als Tätigkeit wird Ph. von Platon in seinem Dialog Euthydemos vorgestellt. Sie gilt hier als Besitz oder Erwerb eines Wissens über das am meisten Gültige, über das in höchstem Maße Ideale und das Umfassendste. Gerechtfertigt wird diese Haltung aber nur durch den Gebrauch dieses Wissens zum Vorteil von Menschen. 2

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Als Philosophierender kann nur bezeichnet werden, wer das Ewige und Unveränderliche erkennt (›Philosoph‹), nicht, wer sich in der Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Dinge verliert (›Philodox‹). 3 Ph. bleibt menschliche Tätigkeit. ›Ph.‹ bezeichnet von nun an nicht mehr ein göttlich autorisiertes, sondern nur noch ein menschliches Wissen, und zwar ein den Individuen je eigenes Verhältnis zur Weisheit. Bei Platon ist, wer nach ihr strebt, ausdrücklich noch kein ›sophos‹ (Weiser); er oder sie strebt liebend zu ihr und ist auf dem Wege, ihr Freund (philos) zu werden. Ein authentisches Verhältnis zur ›Weisheit‹ (sophia) schreibt Platons Sokrates in einem anderen Zusammenhang nur den Göttern zu: Von den weisheitsliebenden Menschen vermag er nur als von »philosophoi«, nicht aber von »sophoi« (von ›Weisen‹) selbst zu reden. 4 Der ›Philosoph‹ vollendet i. d. R. den eigenen Lebenslauf nicht etwa im Zustand erreichter Weisheit, sondern nur noch im Horizont eines zu erwerbenden Wissens. Die von Sokrates und Platon eingeführte Abgrenzung der Ph. von bloßer Weisheitslehre hatte sich in der klassischen Antike erst langsam durchgesetzt. Noch Isokrates verwendet ›Ph.‹, zeitgleich mit Platon, auch zur abwertenden Bezeichnung von rein formalistischen Argumentationen in der Sophistik und in der Mathematik 5, ohne dass dessen eigenes Ph.-Verständnis (Ph. als Rechtfertigung überkommener doxa) schulbildend wirken konnte. Die speziellen Inhalte der auf Einzelwissenschaften aufbauenden Theoriesystematik, welche vom heutigen Begriff ›Ph.‹ umfasst wird, wurden bei Platon noch unter ›Dialektik‹ eingeordnet. Dialektik wird im . Buch der Politeia nicht nur als erlernbare Haltung der Wahrheitssuche 6, sondern auch als das Ende, als Vollendung aller Wissenschaften 7 bezeichnet. Dies ist die Bedingung dafür, dass Ph. – stärker noch bei Aristoteles als bei Platon – nicht mehr nur als tradierte Erzählung (historia, mythos) vermittelt wird, sondern als eine neu begründete Wissenschaft (episteme) weiter gegeben werden kann. Das Wissen der neuen Wissenschaft muss nicht einmal mehr durch Rekurs auf mythische Traditionen belegt oder ergänzt werden. An die Stelle von erzählten Kosmogonien oder Theogonien tritt die gewusste Naturlehre (physika) oder die durch theoria angeeignete ›Theologik‹. Im Unterschied dazu kennt Aristoteles nicht den platonischen Abstand zwischen unvollkommenem menschlichem Weisheitsstreben

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und vollkommener Weisheit. Sophia ist für ihn ein mehr oder weniger vollkommenes Können und Wissen. 8 Daher können für Aristoteles unterschiedliche theoretische Disziplinen ›philosophiai‹ (›Ph.n‹ im Plural) heißen – so z. B. die Mathematik, die ›Physik‹ im wörtlichen Sinne als Naturlehre insgesamt, die Theologie und schließlich die spezielle ›Erste Ph.‹. 9 Erst nach Einführung von ›Ph.‹ im Sinne der engeren Bedeutung ›Erste Ph.‹ (nun im Unterschied zu anderen ›theoretischen‹ Wissenschaften) kann Aristoteles das spezielle Programm der von ihm begründeten neuen Wissenschaft von anderen Disziplinen (auch von der ›Dialektik‹ oder der ›Sophistik‹) abgrenzen: »Die Philosophie untersucht (skopei) nicht die Teildinge danach, inwiefern ihr jeweils etwas zukommt (ti symbebeken), sie betrachtet (theorei) vielmehr das Seiende danach, inwiefern es jeweils ein solches Seiendes ist«. 10 Nicht die Zuordnung von Eigenschaften zu den Dingen, sondern die Eigentümlichkeit, welche den Seinsstatus der Dinge selbst betreffen, wird hiermit zum Gegenstand der Ph. Die in der Nachfolge sich entwickelnden Gebiete der Ph. enthalten somit die Methoden und Kunstlehren des menschlichen Wissens und Könnens, so insbes. die Logik, aber auch die Gebiete der später sog. ›praktischen Ph.‹ (urspr. ›Ethik‹ und ›Politik‹ im Sinne heutiger ›Politischer Ph.‹). Erst im klassischen Griechenland wird dieses Verhältnis von sich selbstständig der episteme widmenden Menschen zur ›Weisheit‹ neu begründet, v. a. von Menschen, die über die Wahrheit der tradierten Einsichten selbst kontrolliert urteilen, sei es zustimmend oder auch kritisch. 2.2 Philosophie: Schrifttraditionen und Lebensformen in der Antike Nach der Einführung des Ph.-Begriffs zur Bezeichnung systematisierter Wissensbestände in der Antike stellte sich bereits in den damaligen Schulbildungen die Frage: Wie weit reicht die Tradition von philosophischen Lehrinhalten in die Vergangenheit zurück? Die Antwort war selbst abhängig von klassischen Deutungen des Ph.-Begriffs. Für Aristoteles galt Thales als Begründer der Ph. im Sinne von Ursachenforschung. 11 Diogenes Laertios nimmt eine zweifache Entstehung der Ph. an: Er führt Anaximander als ersten Vertreter der ionischen und Pythagoras als Gründer der ›italischen‹ Ph. ein. 12

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Unabhängig davon fragt sich, wann zuerst das Wort ›Ph.‹ aufgetaucht ist. Eine begriffsgeschichtliche Ableitung von ›Ph.‹ führt zunächst zu der ursprünglichen griech. Wortbedeutung von philo-sophos (wörtl.: ›Weisheitsfreund‹). Die Bezeichnung ›philosophieren‹ als Tätigkeit (›philosophein‹), und zwar als kluges oder gelehrtes Disputieren, ist viel älter als die substantivierten Bezeichnungen ›philosophos‹ und ›philosophia‹. In der Forschung blieb umstritten, ob die Begriffe ›Ph.‹ und ›Philosoph‹ bereits von Pythagoras benutzt wurden (wie Diogenes Laertios I  behauptet), oder ob erst Platon sie in die öffentliche Streitkultur eingeführt hat. 13 Dass der Ph.-Begriff griech. Ursprungs ist und es angeblich keine anderen Bezeichnungen bei Nicht-Griechen gibt, reicht für Diogenes Laertios als Beleg dafür aus, Ph. als bei den Griechen entstanden zu begreifen. 14 Zwar prüft er Weltbildaussagen über Götter und über Gerechtigkeit bei anderen Völkern als mögliche Belege für Ph. Doch er enthält sich des Urteils, ob etwa Gymnosophisten, Druiden, Magier, Mythenerzähler oder Geometer, die auf unterschiedliche Weise als Stifter und Überlieferer weiser Lehren und Praxen galten, überhaupt ›Philosophen‹ genannt werden dürfen. 15 Im Anschluss an die klassische attische Philosophie setzte sich im Hellenismus auch ein Verständnis von Ph. durch, dem zufolge dieser Begriff ein Erkennungsmerkmal für die Zuschreibung einer weisen Lebensform für nachdenkliche Menschen geworden ist. Für das antike Verständnis von Ph. galt das Philosophieren auch als Tätigkeit, als ein gelehrter und ein weiser Lebensstil und nicht nur als Inbegriff des Wissens. Auch dafür gibt es zahlreiche Belege. ›Ph.‹ wird als Bezeichnung auch für Lebensformen eingeführt. Nachweise dafür finden wir nicht nur in den Texten philosophischer Autoren, sondern in noch größerer Zahl auch in werkbiografischen Zuschreibungen. Die wichtigste Quelle ist die Werk- und Vita-Sammlung des Diogenes Laertios. Die Lehren der älteren Stoiker (Stoizismus) und der nacharistotelischen Skepsis werden hier besonders ausführlich im Kontext auch der Lebensführung ihrer Urheber vorgestellt: Antisthenes und Zenon 16, Chrysipp 17, Pyrrhon 18 und Epikur. 19 So wurde der Ph.-Begriff in der fachlichen Historiografie auch im Hinblick auf seine »praktische Bedeutung einer Lebenskunst auf wissenschaftlicher Grundlage« 20 zusammengefasst und erweitert.

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2.3 Wandlungen im Philosophie-Verständnis: Mittelalter und frühe Neuzeit Eines der längerfristigen Resultate der Christianisierung Europas seit der Spätantike war die Zerstörung oder Aufhebung philosophischer Lebensformen. Damit verlor sich auch das Verständnis für Ph., nach dem man die Pluralität von Lebensauffassungen und Weltbildern als ›Ph.n‹ im Plural begreifen konnte. Der Titel ›Ph.‹ erhielt mit der frühmittelalterlichen Einführung eines noch nicht professionellen Studiums der sieben artes liberales, der ›freien Künste‹ (Rhetorik, Grammatik, Dialektik als ›trivium‹, Arithmetik, Geometrie, Harmonielehre und Astronomie als ›quadrivium‹) eine neue Bedeutung. In zahlreichen Kompendien des elementaren akademischen Lehrbetriebs wird die Summe dieser artes als ›Ph.‹ bezeichnet. Spezielle Lehrinhalte der antiken Ph. wurden im ›Trivium‹ insbes. unter der Disziplin der ›Dialektik‹ weitergegeben. Teile des aristotelischen ›Organon‹ wurden hier als wörtlich lehrbar eingeführt. Für die Lehren der Bereiche des ›Quadriviums‹ wurden zunächst Teile aus den Kompendien des ausgehenden Altertums zugrunde gelegt, v. a. die von Marcianus Capella, Cassiodor und Isidor von Sevilla. Unter dem Begriff ›Ph.‹ wurde damit in erster Linie die Summe der Lehrinhalte der ›freien Künste‹ verstanden. Hinzu kam aber auch die Bezeichnung ›Ph.‹ für das tradierte vorchristliche antike Schrifttum. Insbesondere aus einzelnen Werken von Platon und Aristoteles wurde hier bei der Beurteilung des Wahrheitsanspruchs von Lehraussagen zitiert. Wie kam es, dass nicht nur die christlichen Patristiker, sondern auch jene noch paganen ›Philosophen‹ in ihrer noch aus vorchristlicher Zeit stammenden Gelehrsamkeit als Autorität und als Berufungsinstanz für die Gültigkeit von mittelalterlichen Weltbildannahmen und Glaubenslehren ernst genommen werden durften? Die klassische griech. und röm. Philosophie war in ›heidnischen‹ Kontexten entstanden und noch nicht von der kirchlich gelehrten Offenbarungswahrheit geprägt. So wurden Aristoteles, Platon und die Kirchenväter damals noch nicht in überwiegend historischer Perspektive als Wegbereiter der Jetztzeit, also noch kaum in den Grenzen historischer Entwicklung gesehen. Sofern man sich mit ihren Thesen (in Abschriften und in Kommentaren zu Texten, zu Zitaten) auseinander setzte, wurden sie überwiegend wie Zeitgenossen in die aktuellen Diskussionen einbezogen. Sie galten

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insbes. dann als tradierungswürdig, wenn sie Argumente zur Stützung von als wahr behaupteten Positionen lieferten. Sie galten als kritikwürdig, wenn sie als Beispiele für fehlerhaftes Denken oder für irrtümliche Weltbildelemente vorgeführt werden konnten. Im . Jh. setzte eine Neubewertung zunächst der antiken philosophischen Schrifttradition ein, also in einer Epoche, die erst in späterer Zeit als eine ›Renaissance‹ – ›Wiedergeburt‹ der Antike – bezeichnet wurde. Die Wiederaneignung umfangreicher Teile des antiken Schrifttums wurde durch den Exodus griech. Gelehrter beim Niedergang des byzantinischen Reichs begünstigt (Eroberung Konstantinopels im Jahre ). Große Teile der antiken philosophischen Originaltexte, die im klassischen Griechisch seit der Etablierung des oström. Reichs tradiert worden waren, wurden mit dem Exil griech. Gelehrter in Italien seit dem . Jh. im sog. ›Abendland‹ zugänglich. Plethon, Gründer einer Philosophenschule auf der Peloponnes, der die klassische griech. Tradition im byzantinischen Reich pflegte, gilt als entscheidender Anreger für den Export philosophischer Lehrtraditionen nach Italien. Bereits als Teilnehmer am Konzil von Ferrara/Florenz  hielt er dort Vorträge über griech. Ph. Es ist wahrscheinlich, dass er mit seinen Vorträgen entscheidend zur späteren Gründung der platonischen Akademie () durch den florentiner Bankier Cosimo de Medici d. Ä. beigetragen hat. Im Unterschied zu Plethon setzte sich Georg von Trapezunt mit seiner Schrift Comparationes philosophorum Aristotelis et Platonis (verfasst , Erstdruck ) mit der von Plethon gestifteten antiken Ph.-Tradition kritisch auseinander. Im Unterschied zu Plethon nimmt er im Philosophenstreit zwischen Aristotelikern und Platonikern Stellung für die Seite des Aristoteles. Gegenstand des Streits war die Frage, welcher dieser Ph.n am ehesten die kirchliche Lehre vom Schöpfergott, von der Struktur des Kosmos und von der Unsterblichkeit der Seele berühre. Ph. diente in diesem Kontext noch der Bestätigung oder Infragestellung des Lehrgebäudes der Theologie. Die Berufung auf Ph. sollte dagegen nach Pico della Mirandola nicht mehr ausschließlich der Stützung christlicher Traditionen dienen. Ph. musste damit ihre mittelalterliche Funktion als ancilla theologiae endgültig aufgeben. In seinen Conclusiones philosophicae, cabbalisticae et theologicae () schlug Pico vor, sämtliche damals herrschenden Weltauffassungen und Weltbilder, die von unterschiedlichen religi-

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ösen und philosophischen Richtungen geteilt werden könnten, zu vereinigen. Er stellte hohe Übereinstimmungen zwischen Positionen der vorchristlichen griech. Ph. (Platon, Aristoteles), der mosaischen Religionsauffassung (v. a. in der Torah und in den weiteren Schriften der hebr. Bibel) sowie in der christlichen und muslimischen Gottesund Weltauffassung fest. Als Gemeinsames entdeckte er das Weltbild des Platonismus, soweit es sich auch in der christlichen Theologie durchgesetzt hatte. Die Schrift diente zur Vorbereitung eines für das folgende Jahr in Rom geplanten interkulturellen und interreligiösen Philosophen- und Theologenkongresses. Nahziel der Beratung sollte ein weitreichender Konsens über die philosophischen Grundlagen aller konkurrierenden Religionsauffassungen sein. Picos Fernziel war die Stiftung einer neuen einheitlichen monotheistischen Universalreligion. Einige Thesen der Conclusiones wurden sofort nach der Publikation von kirchlicher Seite verurteilt; der Kongress wurde verboten. Ein anderer Versuch Ph. und theologische Lehrmeinungen für die Lösung gemeinsamer Rätsel der jüdischen, christlichen und muslimischen Tradition nutzbar zu machen, stammt von Johannes Reuchlin in seinen De arte cabbalistica libri tres (). Die Kabbalah galt zur damaligen Zeit noch als Lehrbestandteil einer heterodoxen philosophischen Tradition. Die Einheit der kosmischen Zahlen- und Buchstabenwelt bestätigt nach Reuchlin, dass Weisheitserkenntnis nicht nur durch Schrifttradition, sondern auch durch Anwendung einer pythagoreischen Zahlensymbolik und durch lat., griech. und hebr. Buchstabenspekulation möglich sei. Die ›occulta philosophia‹ wurde damit zum Lehrbestandteil der Ph. außerhalb der kirchlich kontrollierten Schulen. Cornelius Agrippa von Nettesheim (–) versuchte in seinen Drei Büchern über die okkulte Philosophie oder über die Magie Resultate aus den Geheimwissenschaften für eine neu zu begründende Naturwissenschaft zu sichern. Die Lehren seines erst  erschienenen Hauptwerks waren in der Gelehrtenwelt bereits vorher umstritten und scharfer kirchlicher Kritik ausgesetzt. Auch er vertrat die Position, dass Mikro- und Makrokosmos sich entsprechen und dass, was außerhalb der Menschen ist, zugleich innerhalb des Menschen wirkt. Das entspricht einer neueren Naturauffassung, die auch in der Astrologie ihre praktische Anwendung gefunden hatte.

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Der Ph.-Begriff wird nun nach dem Muster dieses neuen Naturbildes auch zur Bezeichnung angewandter Wissenschaften verwendet. Paracelsus (um –) nennt die überlieferte Gelehrsamkeit vom medizinischen Wissen über Diagnose (einschließlich Mantik) und Behandlung (einschließlich Magie) ›Ph.‹, so im Titel seines Lehrwerks Philosophia sagax. 21 Doch wird dieser Begriff in einer eigenständigen Theorie erst in dem  postum erschienenen Sammelwerk Das Buch Paragranum ausdifferenziert. 22 Hier unterscheidet Paracelsus in vier unterschiedlichen Traktaten auch begrifflich zwischen dem philosophischen, dem astronomischen, dem alchimistischen und dem ethischen Zugang zur Medizin. Die angewandte Astronomie erörtert die Umweltprobleme, die Alchimie auch die Verwendungsregeln für Heilsubstanzen. Die philosophische Einsicht in die Naturzusammenhänge verbindet hier die angewandten Wissenschaftsbereiche. Die bloß subjektive Theoriebildung des Arztes – die von Paracelsus als ›innere‹ Ph. bezeichnet wird – wird dagegen als bloße Spekulation und Phantasterei abgetan und nicht für die Orientierung in der Heilkunst empfohlen. Ärztliches Handeln sei dagegen an der ›äußeren Ph.‹ zu orientieren, also an der mikrokosmischen Quintessenz der natürlichen (makrokosmischen) Umweltbedingungen (. Traktat). Diese ›äußere‹ Ph. legt somit Wesensverwandtschaften zwischen Natureigenschaften und therapeutischen Einwirkungsmöglichkeiten offen. Aus diesem Grunde stellt Paracelsus das ihm zugängliche zeitbedingte Wissen über die einzelwissenschaftlich erfahrbaren Entsprechungen zwischen Kosmos und Menschenwelt in den Traktaten über Astronomie (. Traktat) und über Alchimie (. Traktat) zusammen. ›Ph.‹ diente noch bis ins . Jh. als Bezeichnung für die damalige Gelehrsamkeit von der kosmologischen Einheit von Makro- und Mikrowelt. Als Klassifikationsbegriff für tradierte Wissensformen – auch Astrologie, Mantik, Magie, Kabbalah, Naturheilkunde und Geisterbeschwörung – musste sie in Theorien über die neue Begründung der Forschung seit Francis Bacon (–), Thomas Hobbes (–) und René Descartes (–) verworfen werden. Von der philosophischen Gotteslehre behandelt Descartes (s. u. .) nur noch die rationalen Beweisstrategien (Gottesbegriffe/Gottesbeweise). Hobbes schließt auch die Erörterung theologisch vorformulierter Weltbildprobleme aus der Ph. aus. 23 Statt dessen reduziert er den Ph.-Begriff auf

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die nicht mehr nur tradierte, sondern ausschließlich kontrollierbare »rationelle Erkenntnis der Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder erzeugenden Gründen und umgekehrt der möglichen erzeugenden Gründe aus der bekannten Wirkung«. 24 Damit werden alle Bereiche der Ph. von der kategorialen Definitionslehre, die Hobbes ›Erste Ph.‹ nennt 25, bis zu Lehren von den menschlichen Sinnen, der Einbildung, den Leidenschaften und den daraus abgeleiteten bürgerlichen Pflichten (›Staats-Ph.‹) unter einem speziellen Ph.-Begriff subsumierbar. 26 Hobbes schließt sich damit der erstmals von Francis Bacon vorgestellten nichtmetaphysischen Begründung der ›Ersten Ph.‹ an. Dieser hatte schon in seiner Instauratio Magna (seit ) diesen Bereich der Ph. als Wissenschaft der Axiome begründet und zugleich die Metaphysik der Natur-Ph. zugeordnet. Damit stellt Bacon seine neue Abfolge der Lehrstücke der Ph. so vor: Er unterscheidet eine ›Erste Ph.‹ in neuer Bedeutung und eine ›Zweite Ph.‹, welche die Stoffsammlung für die anwendbaren Wissenschaften liefert. Ph. fungiert hier nicht mehr als Inbegriff der wissenschaftlichen Forschungsdisziplinen (scientiae) und dient in keiner Weise mehr als Sammelbegriff für überlieferte Theoriegelehrsamkeit. 2.4 ›Philosophie‹ als prädisziplinäre Sammelbezeichnung für Menschheitswissen; Alternativen zum Philosophie-Begriff Der Begriffsumfang von ›Ph.‹ seit der Neuzeit (. Jh.) nahm in dem Maße ab, wie das tradierbare enzyklopädische Wissen sich um neue Disziplinbezeichnungen zentrierte. Solange einzelne Naturwissenschaften noch nicht als voneinander abgrenzbare Lehrgebiete unter eigenständigen Namen (z. B. als Physik, Chemie, Biologie) eingeführt waren, wurden Standardwerke der Naturerkenntnis noch häufig unter dem Titel ›Ph.‹ angekündigt. Isaac Newtons axiomatische Philosophiae naturalis principia mathematica (), die klassifikatorische Philosophia botanica () von Carl von Linné d. Ä. (–) und die systematisierende Philosophie zoologique ( Bde., ) von Lamarck enthielten überwiegend Erklärungsmodelle, die ihre zentrale Bedeutung in denjenigen Wissenschaftsgebieten erhielten, die sich als experimentelle und als systematisch klassifizierende Disziplinen seit dem . Jh. neu konstituierten (Philosophie der Physik; Philosophie der Biologie).

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Als ›Ph.‹ als umfassender Sammelbegriff für lehrbare Wissenschaften bei vielen Autoren fraglich wurde, wurden vielfach auch neue Komposita gebildet, die ›sophia‹ auf analoge Weise in die Wortneuschöpfungen einführten. So wurde z. B. die ›Pan-sophie‹ als Bezeichnung für eine All-Wissenschaft verwendet, die auch theologische Gelehrsamkeit einschloss. 27 Schulbildend für die Pädagogik wurde diese Sammelbezeichnung v. a. bei Jan Amos Comenius. 28 In einer Zusammenschau von philosophisch sowie theologisch geprägter Mystik stellte Jakob Böhme seine Meditationsresultate in seinen Werken unter dem Titel ›Theosophie‹ vor. 29 Doch schon im . Jh. behielt dieser Terminus seinen Sinn nur noch zu philosophiehistorischer Klassifikation von nicht mehr zeitgemäßen Lehrinhalten. Unter dem Titel ›Theosophie‹ wurden erst wieder im . Jh. spekulative Erkenntnisansprüche publiziert, die von einflussreichen Weltanschauungszirkeln kultiviert wurden (Gründung der ›Theosophischen Gesellschaft‹  durch H. P. Blavatzky und H. S. Olscott), ohne sich jedoch an zeitgenössischen philosophischen Richtungen zu orientieren. 2.5 Philosophie-Begriffe für die Wissenschaften im Rationalismus und Empirismus Unabhängig von der Entwicklung einzelner Wissenschaftsdisziplinen, die ihren Fortschritt nichtphilosophischen Forschungsmethoden verdanken, bestanden die Autoren rationalistischer Theorien (Rationalismus) auf dem durchgängigen Fundierungsanspruch der Ph. für die einzelwissenschaftliche Erkenntnis (Philosophie und Wissenschaften). Dem Begriffsumfang nach bezeichnet Descartes als Ph. nicht nur die im Buchtitel der Meditationes genannte ›prima philosophia‹, sondern auch das Spektrum der Erkenntnistheorie und der Naturwissenschaften, die Gegenstände seines Sammelwerks Principia philosophiae () sind. Dazu zählt er die ›Metaphysik‹ (. Teil – so bezeichnet im Brief an Picot, textgleich mit dem Vorwort), die Körperlehre (. Teil – gemeint ist die Physik als Kosmologie), die Lehre von der sichtbaren Welt (. Teil über Astronomie) und die Geowissenschaften (. Teil, die auch Meereskunde, Chemie, Geologie, Meteorologie und Wärmelehre einschließen). Somit behandelt er die Prinzipien der Naturerkenntnis noch getrennt von einander – unter den Aspekten der Metaphysik, der allgemeinen Physik, der kosmologischen Astronomie und der Geowis-

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senschaften. Dies zeigt, dass Descartes noch nicht über ein belegbares Konzept für die einheitliche Geltung der Naturgesetze im gesamten Kosmos verfügte. Das Prinzipienwerk mit seinen unterschiedlichen, auch weitgehend nur empirisch ausgewiesenen wissenschaftlichen Erkenntnissen soll auch insofern weiter als ›Ph.‹ bezeichnet werden, als es mit seiner Lehre von den Beziehungen von Körper und Geist aufeinander auch die Sinneswahrnehmungen und die Seelenlehre – zumindest in deren Bezügen zu körperlichen Funktionen – erklärt. 30 Von der Bedeutungsgleichheit von Ph. und Wissenschaft auszugehen ist nach rationalistischen Schulmeinungen unproblematisch. Abgrenzende Definitionen kommen bei den Begründern des Rationalismus nur dann vor, wenn Ph. von bloßem religiösem Glauben unterschieden wird. Spinoza betont diese Differenz, um gegenüber den Machtansprüchen religiöser Gemeinschaften auf der Freiheit des Philosophierens bestehen zu können: Das Ziel der Ph. sei »nur die Wahrheit«, im Glauben gehe es dagegen nur »um den Gehorsam und die Frömmigkeit«; dieser beruhe nur auf »Schrift und Offenbarung«. 31 Gegen solche Unterscheidungen wendet sich Leibniz, solange er die Ansprüche von Ph. und Theologie vergleicht. In dem gleichen Zusammenhang, in dem Pierre Bayle in seinem Dictionnaire historique et critique (– ) die skeptische Trennung von Glaubens- und Vernunftverhalten betont, besteht Leibniz auf der Vereinbarkeit beider in seiner Abhandlung über die Übereinstimmung von Glaube und Vernunft, die sich im ersten Teil seiner Theodizee findet. Der Ph.-Begriff wird hier beim Streit zwischen Lehrmeinungen niemals abgrenzend verwendet. Er gilt als Synonym für Wissenschaft im Allgemeinen. In diesem Sinne klassifiziert Leibniz Ph. im Schlüsseldialog seiner Nouveaux Essais 32 als theoretische Ph. (›Physik‹), praktische Ph. (›Moral‹) und als diskursive Ph. (›Logik‹). Bei Christian Wolff deckt die Umfangsbestimmung von wissenschaftlicher Erkenntnis als Ph. einen anderen Bereich als die inhaltliche Definition von Ph. ab. Die »cognitio philosophica« beschäftigt sich mit Ursachen und Gründen alles Seienden. Der Buchtitel Philosophia prima sive Ontologia für seine ›deutsche Metaphysik‹ () umfasst neben Seins- und Erkenntnislehren auch die empirische Psychologie und die Theologia naturalis. Von der so eingegrenzten Ph. lässt sich die bloße Tatsachenerkenntnis, die ›cognitio historica‹, und

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die Größenbestimmung durch ›cognitio mathematica‹ systematisch unterscheiden. Darüber hinaus erweitert Wolff den Ph.-Begriff in seinem logischen Status: Ph. als Wissenschaft vom Möglichen, insofern es sein kann, ein Definitionsvorschlag, der auch im Artikel ›Ph.‹ der franz. Encyclopédie  wiederkehrt, der wahrscheinlich auf Diderot zurückgeht. Von Wolff wird die Einteilung der Ph. in Theologie, Psychologie und Physik übernommen. 33 Danach umfasst die natürliche Theologie die »Wissenschaft von den möglichen Dingen in Beziehung auf Gott«, d. h. die Dinge, die man nur in Gott oder ausgehend von Gott begreifen kann. Der rationalen Psychologie geht es um die »möglichen Dinge in Bezug auf die Seele«, der Physik um die »möglichen Dinge in Bezug auf den Körper«. Die rationale Theologie sollte nach Diderot wegen der epistemologischen Priorität der Möglichkeits- vor der Wirklichkeitserkenntnis zunächst die Lehre von Gott, dann erst die von den Geschöpfen behandeln. 34 Die Seelenlehre beschäftigt sich nicht nur mit aktuellen Zuständen, sondern vorrangig 35mit dem Willen, also mit dem, »was in Folge dieses Willens geschehen kann«. 36 Diderots Artikel ›philosophe‹ vermittelt das nun atheistisch und materialistisch gewendete Prinzip des Empirismus, der Philosoph bilde sich »seine Prinzipien auf der Grundlage unzähliger einzelner Beobachtungen« mit dem Prinzip ›Vernunft‹, das anstelle der ›Gnade‹ aus Ursachen-Erkenntnis zum Handeln motiviert: »Der Philosoph [. . . ] erkennt die Ursachen, soweit dies in seiner Macht steht, kommt ihnen auch oft zuvor und stellt sich bewusst in ihren Dienst«. 37 Erkenntnis des Kausalen, Antizipation und bewusstes Eingreifen in die Wirkungsweise der Naturgesetze sind auch die Voraussetzungen einer Moral-, will sagen: Verhaltensphilosophie. Der anonyme Artikel Philosophie definiert: »Philosophieren heißt den Grund der Dinge angeben oder ihn wenigstens suchen; denn solange man sich darauf beschränkt, bloß das, was man sieht, zu betrachten und wiederzugeben, ist man nur Historiker [. . . ]. Wer aber darauf ausgeht, zu entdecken, warum die Dinge sind und warum sie eher so als anders sind, ist Philosoph in der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes. 38 Die philosophes sahen sich bald einer von der Kirche, den Gerichtshöfen und teilweise auch von der Regierung getragenen antiphilosophischen Kampagne gegenüber; die Encyclopédie war lange Zeit verboten.

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In rationalistischen und idealistischen Theorien (Idealismus) umfasst der als ›Ph.‹ bezeichnete Forschungsbereich die apriorische Begriffsbildung, die Systematik der Spekulation und die Prinzipien der Wissenschaften – insgesamt Gegenstände oder Produkte des Denkens. Dagegen beziehen Theorien, die von der Erfahrungen ausgehen und empiristisch bzw. sensualistisch begründet werden, ihren Ph.-Begriff nicht nur auf Denkresultate, sondern häufig auch auf Lebenserfahrungen, die noch gar nicht in Denkoperationen systematisiert worden sind. David Hume lässt in seinen Dialogen über die natürliche Religion sogar erwägen, ob nicht auch vortheoretisch systematisierbare Alltagserfahrungen als Ph. bezeichnet werden können. In einem der Diskussionsbeiträge geht er davon aus, »dass wir, je größere Erfahrung wir erwerben und je stärkere Verstandesausstattung wir haben, um so mehr unsere Grundsätze allgemein und umfassend machen; und dass, was wir Ph. nennen, nur ein geordneteres und methodischeres Verfahren derselben Art ist«. 39 Im Zeitalter der Aufklärung setzte sich im Zuge der Ersetzung des Lat. als Wissenschaftssprache durch das Dt. vorübergehend auch die Bezeichnung ›Weltweisheit‹ durch (Weisheit), zunächst nur als Übersetzung von Aspekten des Ph.-Begriffs. Christian Wolff verwendet diesen neu belebten Begriff in seinen deutschsprachigen Werken fast durchgängig als Synonym für Ph. Johann Christoph Gottscheds Sammelwerk zur Darstellung der Ph. Wolffs erhielt den Namen Erste Gründe der gesamten Weltweisheit (/). Doch im späten . Jh. wurden mit diesem Begriff verstärkt Versuche zur Begründung einer praktischen Ph. identifiziert. Georg Friedrich Meiers Allgemeine praktische Weltweisheit () nahm Baumgartens Ansatz einer Neubegründung der Ph. auf, die nicht nur Denkleistungen, sondern auch Empfindungen und deren Deutungen theoriefähig machten. 2.6 Kant und der deutsche Idealismus Durch den erkenntniskritischen Zugang auf die Lehren traditioneller Ph. geht auch Kant im Rahmen seiner ›transzendentalen Methodenlehre‹ in der Kritik der reinen Vernunft (zuerst ) davon aus, dass das überkommene Verständnis von Ph. inhaltlich als »Vernunfterkenntnis aus Begriffen« bestimmt werden kann. 40 Auch noch in der späteren Kritik der Urteilskraft kennzeichnet er den Begriffsumfang

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von Ph. auf ähnliche Weise: »Soweit Begriffe a priori ihre Anwendung haben, soweit reicht der Gebrauch unseres Erkenntnisvermögens nach Prinzipien, und mit ihm die Ph.«. 41 Doch der rationalistische Erkenntnisanspruch, nach dem die Gegenstände der Ph. (Metaphysik als Ontologie, natürliche Theologie, rationale Seelenkunde) ausschließlich mit den Mitteln der Vernunft bestimmt werden können, wird von Kant bestritten. Die Kritik der reinen Vernunft stellt eine Erkenntnis allein mit den Mitteln der Spekulation, etwa in der Metaphysik als Ontologie, in der natürlichen Theologie und in der rationalen Seelenlehre grundsätzlich in Frage. Zwar bleibt Kant dem »Schulbegriff« von Ph. als »System aller philosophischen Erkenntnis« 42 treu. Doch bezeichnet er die so als ›Ph.‹ bezeichnete Systematik lediglich als das, was man als »das Urbild der Beurteilung aller Versuche zu philosophieren versteht, welche jede subjektive Ph. zu beurteilen dienen soll«. 43 Das rationalistische Konzept einer Ph. als Möglichkeitswissenschaft beurteilt Kant daher kritisch, wenn er diese bezeichnet als »bloße Idee von einer möglichen Wissenschaft, die nirgends in concreto gegeben ist«. So führt das Studium der Wolffischen Schul-Ph. nur zu »historische[r] Erkenntnis«. 44 Sein eigenes kritisches Ph.-Konzept entspricht eher dem Verständnis für Auffassungen Ph. in ihrem »Weltbegriff«, den er den Lehrmeinungen nach dem traditionellen »Schulbegriff« vorzieht 45 : Dem Weltbegriff nach ist Ph. »die Wissenschaft von der Bezeichnung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae), und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft«. 46 Dies zeichnet nicht nur Kants praktische Ph. aus, die durch moralische und juridische Gesetze Soll-Zustände definiert. Der Philosoph soll auch die Ordnung der Welt nach Naturgesetzen bestimmen. Wenn der Verstand nach Kant der Natur die Gesetze vorschreibt, erfüllt sich auch die ›Ph. der Natur‹ in ihrer Aufgabe zur ›Gesetzgebung‹ in diesem Sinne. Kant wollte in der Kritik der reinen Vernunft den von ihm kritisierten Lehren den Ph.-Charakter zumindest nach dem ›Schulbegriff‹ noch nicht absprechen. Eine Systematisierung seiner praktischen Ph. als Gesetzgeberin der Vernunft gelingt ihm erst in der ›Metaphysik der Sitten‹ (). Hier widmet er sich im Vorwort ausdrücklich der Frage, »ob es wohl mehr als eine Ph. geben könne«. Zwar gesteht er den von

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ihm kritisierten Vorgängerphilosophien »um die gegenwärtige sein Verdienst« zu 47, führt dann jedoch fort: »Aber da es doch, objektiv betrachtet, nur Eine menschliche Vernunft geben kann: so kann es auch nicht so viel Ph.n geben, d. i. nur ein wahres System derselben aus Prinzipien möglich, so mannigfaltig und oft widerstreitend man auch über einen und denselben Satz philosophiert haben mag«. 48 Auch J. G. Fichte geht von diesem Konsens – »die Ph. ist eine Wissenschaft« – aus. 49 Es gibt sie nur als Unikat. ›Wissenschaft‹ kann nur auf ein schon in den ersten Grundsätzen gesichertes Wissen genannt werden. Als Kriterium der Überprüfung beruft er sich nicht nur auf die in Selbstbeobachtungen erfahrenen Freiheitsgefühle, die als Aufforderung zum Handeln erlebt werden, sondern auch auf »Gefühle von Notwendigkeit« für den Bereich der Erkenntnis. »Welches ist der Grund des Systems der vom Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen, und dieses Gefühls der Notwendigkeit selbst? Diese Frage zu beantworten ist die Aufgabe der Ph.; und es ist meines Bedünkens nichts Ph. als die Wissenschaft, die diese Aufgabe löst«. 50 Bei Fichte wird damit der Ph.-Status des tradierten Wissens bestritten, soweit es nicht in seiner neuen ›Wissenschaft‹ bestätigt wird. Für die Darstellung der Grundlagen seiner eigenen Theorie wählt er deshalb in Vorlesungen und Publikationen seit  den Begriff »Wissenschaftslehre«. Im Unterschied dazu bleibt Schelling bei der Darstellung aller Stadien der Entwicklung vom Bewusstsein bis zur selbstbewussten Wissenschaft beim Begriff ›Ph.‹. Für ihn ist Ph. »Urwissenschaft«, »jenes Ich des Bewusstseins mit Bewusstsein zu sich selbst [. . . ]. Die Aufgabe der Wissenschaft ist, dass jenes Ich des Bewusstseins den ganzen Weg von dem Anfang seines Außersichseins bis zu dem höchsten Bewusstsein – selbst mit Bewusstsein zurücklege. Die Ph. ist insofern für das Ich nichts Anderes als eine Anamnese, Erinnerung dessen, was es in seinem allgemeinen (seinem vorindividuellen) Sein getan und gelitten hat«. 51 Die Programmschrift ›System des transzendentalen Idealismus‹ () behandelt »alle Teile der Ph. in Einer Kontinuität und die gesamte Ph. als das, was sie ist, nämlich als fortgehende Geschichte des Selbstbewusstseins, für welche das in der Erfahrung Niedergelegte nur gleichsam als Denkmal und Dokument dient«. 52 Für Hegel bleibt dagegen die innere Reflexion des Selbstbewusstseins in der Phänomenologie des Geistes () nur ein Entwicklungssta-

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dium des Geistes, die bei der Selbstbezüglichkeit eines begrenzten Ichs nicht stehen bleiben kann. Für Hegels Theoriebildung kann die Vorrede zur Phänomenologie des Geistes () als Programm zur Gewinnung seines eigenen Ph.-Begriffs gelesen werden. Er wendet sich hier gegen jegliche Vorabdefinition von Ph. mit ihren unterschiedlichen »Behauptungen und Versicherungen über das Wahre«. 53 »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System desselben sein. Daran mitzuarbeiten, dass die Ph. der Form der Wissenschaft näher komme, – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein – ist es, was ich mir vorgesetzt«. 54 Ebenfalls programmatisch bleibt noch die vorläufige Bestimmung in §  der frühen Heidelberger Enzyklopädie (): »Die Ph. wird hiermit für die Wissenschaft der Vernunft ausgegeben, und zwar insofern die Vernunft ihrer selbst als alles Seins bewusst wird«. Ihr Gegenstand ist also nicht ein spekulativ konstruiertes besonderes Objekt, sondern sie stellt – so heißt es in §  der . Aufl. bzw. in §  der . Aufl. von  – als »philosophische« Enzyklopädie »die Abscheidung und den Zusammenhalt ihrer Teile nach der Notwendigkeit des Begriffs« dar; jeder ihrer Teile, d. h. jede Gestalt der logischen und historischen Wirklichkeit ist »ein sich selbst schließender Kreis der Totalität«. Es kann nicht verwundern, dass Hegel mokant den Alltagsgebrauch des engl. Wortes ›philosophical ‹ – mit der Bedeutung ›sophisticated ‹ – in einer Annonce des ›Morning Chronicle‹ vom . .  notiert: »The art of preserving the hair, on philosophical principles, neatly printed . . . is just published.« 55 Hegels Konzept einer Ph. als Theorie der überindividuellen Geistesentwicklung wird von seinem Zeitgenossen Schopenhauer heftig bekämpft. Die vielfältigen Lesarten für den Ph.-Begriff in Die Welt als Wille und Vorstellung (/) lassen sich klassifizieren, wenn man von dem von ihm diskutierten Bedeutungsumfang ausgeht: Ph. wirkt niemals direkt praktisch, sie konzentriert sich auf eine betrachtende, nicht vorschreibende Haltung. 56 Ph. sei danach immer theoretisch, allerdings in einem beschränkten Sinne: »Die echte philosophische Betrachtungsweise der Welt [. . . ] ist gerade die, welche nicht nach dem Woher und Wohin und Warum, sondern immer nur nach dem Was der Welt frägt«. 57 Am Schluss des zweiten Buchs nennt er seinen eigenen Zugang »Epiphilosophie«; es gehe nicht darum, »das Dasein

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der Welt aus seinen letzten Gründen zu erklären: vielmehr bleibt sie bei dem Tatsächlichen der äußeren und inneren Erfahrung, wie sie jedem zugänglich sind, stehen«. 58 Das Weisheitskonzept Schopenhauers, nach dem der welterzeugende Wille der gleiche sei wie der im jeweils eigenen Willensakt, überschreitet alle philosophischen Erklärungsansprüche nach Grund und Ursache alles Seienden. ›Ph.‹ bleibt dabei einerseits als Sammelbezeichnung für sämtliche vom Autor selbst abgelehnte Fragestellungen und Lebenshaltungen erhalten. Andererseits reklamiert Schopenhauer die Bezeichnung ›Ph.‹ nur für die von ihm selbst vertretene Lehre, nach der auch die im Weltgefühl sich äußernden Vorstellungen von der Welt als interne Selbstbeziehung der Welt, die sich selbst vorstellt, gedeutet werden können. 59 2.7 ›Philosophie‹ in Programmen des Früh-Sozialismus und des frühen Positivismus Die Funktionsbestimmungen der Ph., die mit dem aufklärerischen Vertrauen in Vernunft und Fortschritt verbunden waren, wurden aufgrund der Kritik, in der (unvollendeten) Französischen Revolution hätten sich die ›Ideen der Philosophen‹ blamiert, vom frühen Sozialismus radikal in Frage gestellt. Saint-Simon ging es um eine ›neue‹ Wissenschaft und mit ihrer Hilfe um den Wechsel von der Revolution zur Reform, von der Kritik zur ›Reorganisation‹. Die Enzyklopädie des . Jh. müsse die von den Denkern des . Jh. eingeschlagene Richtung verändern; war die die alte Philosophie kritisch, d. h. ›negativ‹, soll die neue ›positive‹ Wissenschaft ›organisierenden Charakter‹ haben. Das Ziel besteht in der Reorganisation des moralischen, religiösen und politischen Systems, die von der Ph. nicht mehr zu erwarten ist. Weit weniger ›Re-Organisator‹ als Saint-Simon ist Charles Fourier. Seine Kritik am Bestehenden betrifft auch den Bestand des Wissens. Fourier denkt ›das Neue‹ radikaler; dies zeigen alle seine Schriften, angefangen von Lettre de Fourier au Grand Juge () über die Théorie des quatre mouvements et des destinées générales von  und die Nouvelle Introduction à la Théorie des quatres mouvements von  bis hin zu Le nouveau monde industriel et sociétaire () und zu den nachgelassenen Manuskripten Le nouveau monde amoureux. Als ›Entdecker‹ (inventeur) der Wissenschaft von der gesellschaftlichen Bewegung 60 will er sich gegen die Irrtümer der Ph. stellen, um nicht

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»nur ein Sophist mehr« zu sein. 61 Der Entdecker muss erstens nachweisen, dass der Satz der »Sophisten des . Jh. [. . . ], es gebe nichts Neues zu entdecken«, falsch ist 62 ; er muss zweitens begründen, warum »die Aufdeckung einer Theorie, die das Gesicht der Welt ändern wird, bis auf unsere Tage verzögert worden ist« – durch die Ph. 63 Fourier zeigt sich in seinem Werk sensibel auch für methodologische Probleme einer ›neuen Wissenschaft‹. So betont er etwa in seiner späten Théorie de l’unité universelle () in einer Zwischenbilanz zwölf Grundsätze, zu deren Beachtung die Theorie verpflichtet ist und durch deren Missachtung die Entdeckung der Bewegungen und die Analyse der Wirklichkeit unmöglich wird; diese Prinzipien sind: die Vollständigkeit der Forschung; die Würdigung der Erfahrung; das Erschließen des Neuen durch Analogie; die Verbindung von Analyse und Synthese; die Förderung wissenschaftlicher Alternativen (v. a. der bisher vernachlässigten Wissenschaften); die Reduktion der Mannigfaltigkeit der Triebkräfte auf Gesetze der »attraction«, die Suche nach Wahrheit; der Rekurs auf die Natur; die Kritik der Vorurteile; Beobachtung anstelle von Spekulation; Sprachkritik und der Mut, »das Erlernte [zu] vergessen und das menschliche Verständnis von Grund auf [zu] erneuern«. 64 Konstitutiv für sein Programm ist seit  die Kritik am Hochmut von drei Wissenschaften, der Metaphysik, der Politik und der Moral, die er  um die Kritik an der Ökonomie erweitert – und v. a. an der Ph. überhaupt, und zwar wegen ihres methodischen Leichtsinns, des »simplisme« ihrer Erklärungsmethoden 65 und wegen der Identität der Zivilisation mit dem »philosophischen Regime«. 66 Die Ph. ist verstrickt in eine Modekontroverse – die Idéologie. Fouriers Philosophiekritik weist weit über kognitive Gesichtspunkte hinaus: Seine Kritik gilt den ›philosophes‹, weil sie »immer zu spät in die soziale Bewegung eingreifen«. 67 Diese Ph.-Kritik – ›Wissenschaft‹ statt ›Spekulation ›physique sociale‹ statt Geschichtsphilosophie – bestimmte auch Auguste Comtes philosophie positive, wie er sie  in seinem Discours sur l’esprit positif darlegte. Bei ihm verlaufen die Trennlinien zwischen überholten Phasen der Zivilisationsentwicklung mitten durch die Epochen der Ph. In seinem durchaus von philosophischen Konzepten bestimmten Denken wird die vorletzte Phase als ›metaphysische‹ und damit als überwindbar angekündigt. Comtes eigene Zukunftsprognosen wurden

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von seinem Konzept ›positiver Ph.‹ geprägt: Ph. wird hier begrenzt auf die Auswertung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das Ph. genannte Resultat wurde so zum »système général des conceptions humaines«. 68 2.8 Zur Philosophie-Kritik in sensualistischen und materialistischen Theorien sowie seitens der Naturwissenschaften Grundsätzlich ist in einer kurzen Phase zwischen  und  die Ph.-Kritik seitens empirischer Naturwissenschaftler, v. a. an der spekulativen Natur-Ph. 69 Ph. und Wissenschaften stehen um die Mitte des . Jh. in einer grundlegend veränderten Situation. Sie sind konfrontiert mit dem Prozess, in dem sich – in kritischer Auflehnung gegen die Tradition spekulativer Natur- und Geschichtstheorien – ›positive‹ Wissenschaften herausbilden, die sich an einem der Ph. vermeintlich überlegenen Ideal der Erkenntnis orientieren; Empirizität, Nomologie, Exaktheit, Objektivität und praktische Innovation sind ihre Ziele. Diese Wissenschaften verschreiben sich nicht mehr der Totalisierung der Phänomene im spekulativen Begriff, sondern der Analyse der ›Tatsachen‹; man will zu den ›Sachen selbst‹. In den er Jahren gelten bereits die Naturwissenschaften aufgrund ihrer Erkenntnisfortschritte und praktischen Erfolge als das Maß wissenschaftlicher Theorie. Als Carl Gustav Carus  unter dem Titel Von den Anforderungen an eine künftige Bearbeitung der Naturwissenschaften den ersten der Vorträge vor der ›Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte‹ hielt, war er für etwa zwei Jahrzehnte der letzte, der sich von der schon gängigen Polemik gegen die Naturphilosophie distanzierte und nachdrücklich forderte: »Naturbetrachtung und spekulative Betrachtung können und dürfen [. . . ] nicht geschieden sein«. 70 Es sollte nicht lange dauern, bis derartige Anforderungen an das Studium der Natur angesichts der Fortschritte der empirischen Wissenschaften geradezu als absurd erschienen. So forderte z. B. der Botaniker Schleiden  in seiner polemischen Schrift Schelling’s und Hegel’s Verhältnis zur Naturwissenschaft : »Die Naturwissenschaft darf nicht allein, sondern sie muss sogar, wenn sie sich nicht selbst vernichten will, Schelling und seine Ph. völlig ignorieren.« 71 Eine der heftigsten Attacken gegen die Naturphilosophie findet sich in Justus von Liebigs Schrift Über das Studium der Naturwissenschaften, in der er den Zustand der Chemie in Preußen thematisierte: »Kann man

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solche Schwindler Naturforscher oder Philosophen nennen, die den ersten Grundsatz der Naturforschung und Ph., nur das Beweisbare und Bewiesene für wahr gelten zu lassen, auf die gewissenloseste Weise verletzen?« Während Liebig  die Philosophie noch auf ihrem eigenen Feld zu treffen versuchte und die Natur-Ph. als »mit Stroh ausgestopftes und mit Schminke angestrichenes totes Gerippe« vorführte, verändert sich in den folgenden Jahren die Argumentation. Selbst ein so bedeutender, aus der Schule des philosophisch orientierten Physiologen Johannes Müller stammender und philosophisch geschulter Physiologe wie Wilhelm Griesinger zeigte vorerst am Zustand der Philosophie kaum mehr Interesse. Aus seiner Kritik spricht bereits eine autonom gewordene Naturwissenschaft: »Die Zeiten sind vorbei, wo einst Schelling es als einen Erbfehler bezeichnen durfte, dass viele Empiriker mit ihren Fakten zufrieden zu sein sich schämen und sich auf Theoretisieren verlegen; er hatte wohl Recht, wenn er damit den Wucher philosophischer Spekulation abwies, den jene mit den Resultaten empirischer Forschung trieben; jetzt aber haben glänzende Beispiele der Welt gezeigt, dass eben die v. a. zu theoretischer Feststellung der Begriffe befähigt und berufen sind, welche selbst in mühsamer Forschung mit dem Einzelnen des Materials gerungen haben.« 72 Doch nach einer Phase beiderseitiger Entfremdung waren bald neue Formen und Prozesse von Interaktionen zwischen der Ph. und den Wissenschaften zu beobachten, v. a. mit den Naturwissenschaften. Zunächst waren es diese Wissenschaften, die eine neue Nähe zur Ph. suchten, bevor man sich auch in der Ph. auf die notwendigen Beziehungen zu den Wissenschaften besann. Denn die seit dem Zusammenbruch der spekulativen Systeme des Deutschen Idealismus – seit Hegels Tod im Jahre  – gestörte Beziehung hatte zu Krisen sowohl in der Ph. als auch in den Wissenschaften geführt. Rudolf Haym stellte  nüchtern fest, die Ph. sei in einer Zeit, in der »die Materie lebendig geworden zu sein scheint« und die »untersten Grundlagen unseres physischen wie unseres geistigen Lebens [. . . ] durch die Triumphe der Technik« zerstört würden, in einer Situation »vollkommener Herrenlosigkeit, im Zustande der Auflösung und Zerrüttung«. 73 Und doch wurde die Beziehung zwischen Ph. und Wissenschaften aus zwei Gründen wieder lebendig: Zum einen lebten Ideen der idealistischen Ph., mehr oder weniger untergründig, im Denken von Naturwis-

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senschaftlern fort; zum anderen entstand aus internen Gründen der Wissenschaftsentwicklung – es handelte sich vornehmlich um die Probleme der Induktion und der Empirie – ein erneutes Bedürfnis nach philosophischer Theorie. Es bestand ein Bedarf an Prinzipien, wie sie – im Gegensatz zum neueren Materialismus und Naturalismus – in der Erkenntnistheorie, in der Logik der Wissenschaften und in der Epistemologie gefunden werden konnten. Wenn Helmholtz  nach den Thatsachen in der Wahrnehmung fragte, dann formuliert er seine Frage nicht nur am Rande in der Sprache der Ph.: »Was ist Wahrheit in unserem Anschauen und Denken? In welchem Sinne entsprechen unsere Vorstellungen der Wirklichkeit?« 74 Es war nicht zufällig, dass er seine Antwort in der Sprache Kants gab; der Neukantianismus begann auf die Naturwissenschaften auszustrahlen. Ein programmatischer Vortrag Ludwig Boltzmanns ›Über die Entwicklung der Methoden der theoretischen Physik in neuerer Zeit‹ () zeigt, dass nur so lange keine Methodendebatten geführt werden, wie eine Wissenschaft sich ihrer Methoden gewiss ist, solange also Beobachtung, Experiment oder Messung unproblematisch sind. Diese Gewissheit aber wurde in der Krise der Physik zum Problem geworden. Boltzmann betonte nun: »Die hohe Bedeutung der richtigen Methode erklärt es, dass man bald nicht bloß über die Dinge nachdachte, sondern auch über die Methode unseres Nachdenkens selbst. Es entstand die sogenannte Erkenntnistheorie, welche trotz eines gewissen Beigeschmacks der alten, nun verpönten Metaphysik für die Wissenschaft von größter Bedeutung ist. Die Fortentwicklung der wissenschaftlichen Methode ist sozusagen das Skelett, das den Fortschritt der gesamten Wissenschaft trägt«. 75 Von der sensualistischen Tradition und von den zeitgenössischen Wissenschaften – so v. a. von der Physiologie J. Müllers – ließ sich auch Ludwig Feuerbach anregen; er erwog, den authentischen Bezug von Menschen zu ihrer Sinnlichkeit schon im vortheoretischen Zustand als ›Ph.‹ zu bezeichnen. »Der Philosoph muss das im Menschen, was nicht philosophiert, was vielmehr gegen die Ph. ist, dem abstrakten Denken opponiert, [. . . ] in den Text der Ph. aufnehmen. [. . . ] Die Ph. hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, mit der Nichtphilosophie zu beginnen«. 76 Feuerbach beschränkte die ›spekulative‹ Ph. in kritischer Hinsicht auf die rationale Theologie. 77 Die ›neue‹ Ph. dagegen erkenne das Wirkliche in concreto als das Sinnliche, eröffne

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sich also nicht über den Zugang des reinen Denkens. 78 Sie setzt auf die »Wahrheit der Liebe, die Wahrheit der Empfindung«. 79 Doch blieben Feuerbachs Grundsätze der Philosophie der Zukunft () nur Programmpunkte für eine noch einzulösende Anthropologie, deren Probleme hier nur in Thesenform formuliert wurden. Seit der Mitte des . Jh. traten dann Theoretiker auf, die direkt eine physikalisch begründete materialistische Sichtweise oder einen naturwissenschaftlichen Monismus für die Bildung eines neuen Weltbildes – unabhängig von Ph.-Traditionen – empfahlen. Einige von ihnen zeichnen sich durch heftige Polemiken gegen philosophisch begründete Weltanschauungen aus. Welcher Ph.-Begriff dabei jeweils als Negativ-Folie diente, ist unterschiedlich. Noch Ernst Haeckel beklagt im Vorwort zur . Auflage seines Bestsellers Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie (), dass Vertreter »exakter Naturwissenschaft« »tiefere Erkenntnis des allgemeinen Zusammenhangs der beobachteten Erscheinungen – d. h. eben Ph.! – für überflüssig halten.« 2.9 Marx, Engels, Marxismus Marx und Engels verliehen dagegen dem mit der Revolution notwendig zu verändernden gesellschaftlichen Bewusstsein nicht mehr den Namen ›Ph.‹. Marx sprach der materialistischen Gesellschaftsanalyse der Zukunft in der mit Engels verfassten Frühschrift Die Deutsche Ideologie (um , EA ) den Titel ›Ph.‹ direkt ab. »Die selbstständige Ph. verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium. An ihre Stelle kann höchstens eine Zusammenfassung der allgemeinsten Resultate treten, die sich aus der Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschen abstrahieren lassen«. 80 Noch nachdrücklicher verabschiedete Fr. Engels den traditionellen Ph.-Begriff – v. a. in Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (): Mit der theoretischen Überwindung von Widersprüchen sei die Ph. überfordert. Dies als Aufgabe der Ph. darzustellen hieße weiter nichts »als die Aufgabe, dass ein einzelner Philosoph das leisten soll, was nur die gesamte Menschheit in ihrer fortschreitenden Entwicklung leisten kann – sobald wir das einsehen, ist es auch am Ende mit der ganzen Ph. im bisherigen Sinne des Worts. Man lässt die auf diesem Weg und für Jeden einzelnen unerreichbare ›absolute Wahrheit‹ laufen

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und jagt dafür den erreichbaren relativen Wahrheiten nach auf dem Wege der positiven Wissenschaften und der Zusammenfassung ihrer Resultate vermittels des dialektischen Denkens«. 81 Zwar wandten sich Marx und Engels in Die deutsche Ideologie gegen das ›ideologische‹ junghegelianische Dictum vom ›Ende der Ph.‹ 82, doch beherrschte ein empiristischer Wirklichkeitsbegriff die antiphilosophische Rhetorik. Dies galt für Engels’ Polemik Die Kommunisten und Karl Heinzen () und deren Aussage: »Der Kommunismus ist keine Doktrin, sondern eine Bewegung ; er geht nicht von Prinzipien, sondern von Tatsachen aus. Die Kommunisten haben nicht diese oder jene Ph., sondern die ganze bisherige Geschichte und speziell ihre gegenwärtigen tatsächlichen Resultate [. . . ] zur Voraussetzung« 83, und dies sollte gelten bis hin zu Engels’ Anti-Dühring, in dem er jede »über den andren Wissenschaften stehende Ph.« für überflüssig erklärte. 84 Dieses Verdikt gegen Ph. wurde freilich in der um  entstehenden sozialistischen/kommunistischen Bewegung keineswegs akzeptiert, wie die zur Zeit der Entstehung der Deutschen Ideologie einsetzenden Proteste von Arbeiterkommunisten im Exil gegen die Verwissenschaftlichung des Sozialismus zeigten. Die Arbeiter lasen in ihren Schulungen nicht Marx, sondern Feuerbach, den sie nicht als NichtPhilosophen, sondern als Philosophen wahrnahmen. Die Auseinandersetzung zwischen dem ›Bund der Kommunisten‹ und Marx war ein Streit zugunsten der Ph. und gegen Marx’ ›wissenschaftliche‹ Kritik der politischen Ökonomie. 85 In der späteren Debatte über Marxismus und Ph. blieb umstritten, ob bei Marx die . seiner Thesen über Feuerbach als prinzipielle Absage an die Ph. gedeutet werden könne: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern«. Marx und Engels lieferten im Verständnis der marxistischen Bewegung selbst die Grundlagen für Theorien im . und . Jh., die sich ausdrücklich als Ph. begriffen und auch weiterhin begreifen. In der zukunftsbezogenen Geschichtstheorie Ernst Blochs z. B. wird geradezu der Ph. die Rolle der Bewahrerin und Erzeugerin von utopischer und real-revolutionärer Hoffnung zugeschrieben. In Das Prinzip Hoffnung (ab ) heißt es: »Ph. wird Gewissen des Morgen, Parteilichkeit für die Zukunft, Wissen der Hoffnung haben oder sie wird kein Wissen mehr haben. Und die neue Ph., wie sie

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durch Marx eröffnet wurde, ist dasselbe wie die Ph. des Neuen«. 86 Doch es gab auch andere Stimmen. Karl Korsch verglich zwischen theoretischer Ideologie- und Gesellschaftskritik auf der einen Seite und praktischem revolutionärem Befreiungskampf der Arbeiterklasse auf der anderen Seite. Von daher beurteilte er in seiner Funktionsanalyse der marxistischen Theorie Marxismus und Philosophie () die Verwendung des Ph.-Begriffs kritisch: Marxismus sei Ph.-Kritik. Nur soweit er zur Widerlegung und Überwindung der bürgerlichen Ph. beitrage, fungiere der Marxismus in dieser einen Hinsicht als Ph. 87 2.10 Zum Philosophie-Begriff in neo-positivistischen Richtungen Die Konzentration der Ph. auf Wissenschaft im methodologisch strengen Sinne im sog. Neopositivismus oder auch ›Logischen Empirismus‹ führte bei vielen Gründern dieser Schulen zur eingrenzenden Verwendung des Begriffs i. S. v. ›Wissenschafts-Ph.‹ oder ›wissenschaftliche Ph.‹. R. Carnap empfahl im Sinne des Wiener Kreises für die philosophische Methodologie den Terminus ›Wissenschaftslogik‹. 88 Sein Vorschlag, den tradierten Ph.-Begriff durch diesen neuen vollständig zu ersetzen 89, wurde jedoch in der Schulbildung des Wiener Kreises nicht berücksichtigt. Methodologisch gesehen übernahmen auch die sprachanalytischen Nachfolger des Logischen Empirismus das Konzept, das ihre Gründer einst ›wissenschaftliche Ph.‹ genannt hatten. Sie unterschieden sich von traditionellen Ph.n durch programmatische Eingrenzung der Aufgaben der Ph. auf Sprachkritik (Sprachphilosophie; Philosophie der normalen Sprache). Der frühe Wittgenstein betonte in seinem Tractatus-logico-philosophicus () ausdrücklich, die Ph. sei keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. Ihre Resultate seien keine philosophischen Sätze, sondern sie fördere ausschließlich das Klarwerden über Sätze. 90 2.11 Philosophie-Begriffe in lebens- und existenzphilosophischen Theorie- und Forschungsansätzen Die häufig auftretende undefinierte Verwendung des Ph.-Begriffs in der umfangreichen Literatur zur Lebensphilosophie macht eine systematische Übersicht über Begriffsverständnisse nahezu unmöglich. Auffällig bleiben die Abweichungen vom traditionellen Ph.-Verständnis. Die Generierung eines vitalistisch geprägten Weltbildes (Vitalismus), das

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sich insgesamt am Lebensbegriff orientiert, förderte aber auch Erwägungen, nach denen Ph. als das Leben verneinende Haltung beurteilt wurde. Bisherige ›Ph.‹ genannte Theorieansätze verfielen unter diesem Aspekt einem generellen Verdacht. G. Simmel hatte einmal erwogen, Ph. nur eine »vorläufige Wissenschaft« zu nennen, »deren allgemeine Begriffe und Normen uns so lange zur Orientierung über die Erscheinungen dienen, bis die Analyse derselben uns zu der Erkenntnis ihrer realen Elemente und zur exakten Einsicht in die unter diesen wirksamen Kräften verhilft«. 91 F. Nietzsche bezeichnet mit autobiografischen Anspielungen seinen eigenen Versuch, jede Krise als Krankheit und damit Ph. als Heilung durch Stiftung einer neuen Ph. zu deuten, als eine noch nicht erkannte Aufgabe der Ph.: »Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebenso viele Ph.n hindurchgegangen: er kann eben nicht anders als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umsetzen, – diese Kunst der Transfiguration ist eben Ph.« 92 Nietzsche beansprucht selbst den Namen ›Ph.‹ für seine Schriften, stellt jedoch die Wahrheitssuche als durchgehenden Habitus des Philosophierens in Frage. Er deutet mitunter die Ph. von ihrer Ursprungsbedeutung als Weisheitsstreben her als ein Fluchtverhalten vor dem ›Geist‹. »Selbst jener Philosophenanspruch auf Weisheit, der hier und da einmal auf Erden gemacht worden ist, [. . . ] war er nicht immer bisher, in Indien, wie in Griechenland v. a. ein Versteck?« 93 Erst von einer künftigen Ph. erwartet Nietzsche den Verzicht auf Weisheit und Wahrheit. »Ich erwarte immer noch, dass ein philosophischer Arzt im ausnahmsweisen Sinne des Wortes [. . . ] einmal den Mut haben wird, meinen Verdacht auf die Spitze zu bringen und den Satz zu wagen: bei allem Philosophieren handelte es sich bisher gar nicht um ›Wahrheit‹, sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachstum, Macht, Leben«. 94 Als besonders wirkungsmächtig erwies sich W. Diltheys Forschungsprogramm, nach der das historische Verfahren zur Analyse der Ph.Entwicklung mit einer Systematik der Geistesgeschichte verbunden werden kann. Danach kann Ph. zum Gegenstand einer geisteswissenschaftlichen Forschung werden, die sich selbst nicht auf eine bestimmte Richtung berufen muss. So kommt es, dass bei Dilthey der Ph.Begriff nicht mehr an das Konzept der von ihm selbst vertretenen

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Lebensphilosophie gebunden bleibt. Ph. als ein kulturwissenschaftliches Forschungsgebiet thematisiert den Gegenstand in funktionaler Hinsicht. Der Ph.-Begriff dient hier zur Bezeichnung von Wirkungszusammenhängen in einer Kultur. »Wenn wir die Ph. als einen solchen Wirkungszusammenhang auffassen, so stellt sie sich zunächst als eine Mannigfaltigkeit von Leistungen dar: Erhebung der Weltanschauungen zur Allgemeingültigkeit, Besinnung des Wissens über sich selbst, Beziehung unseres zweckmäßigen Tuns und praktischen Wissens auf den Zusammenhang der Erkenntnis, Geist der Kritik, der in der ganzen Kultur gegenwärtig ist, Zusammenfassen und Begründen.« 95 In den Gründungsschriften der phänomenologischen Schulen wird der Ph.-Begriff überwiegend konventionell benutzt. 96 E. Husserl beansprucht nur, die ›Phänomenologie‹ als methodologische Grundlage allen Philosophierens neu zu begründen. Auch der frühe M. Heidegger folgt noch diesem Anspruch auf Fundierung der Ph. durch Selbstauslegung: »Ph. ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins«. 97 In seinen philosophiehistorischen Studien geht Heidegger später verstärkt den vor- und nachrationalistischen Denkentwürfen der Ph.geschichte nach. Seine Ankündigung, dass das künftige Denken nicht mehr Ph. genannt werden solle, wurde schon  bekannt. 98 Eine Neubestimmung von Ph. stellte er  in einem Vortrag ›Was ist das – die Philosophie?‹ vor. 99 Heidegger grenzte hier sein Verständnis von Ph. ausschließlich auf die Entwicklung des Denkens seit Sokrates und Platon ein und klammerte die vorsokratischen Denker aus dem Ph.Begriff aus. 100 Ph. wird als historisch vergängliche Gestalt des Denkens interpretiert. Doch die Frage nach der Vollendung der neuzeitlichen Ph. bleibt hier noch offen. 101 Ph. sei ein »Entsprechen« im »Hören« auf das, was die Ph. uns bereits zugesprochen habe. Das Sein des Seienden eröffne sich nicht in formalisierten Theorien, sondern v. a. in der Weise, wie sie sich ohne Zutun der denkenden Menschen in den Theorieentwürfen zwischen Platon und Nietzsche ereignet habe. Doch da der Seinsbezug der Ph. nicht durch Theoriebildung errungen werden kann, vielmehr in historischer Perspektive gesehen schicksalhaft verborgen bleibt, kann er als geoffenbart erst dann hingenommen werden, wenn eine künftige Konstellation von Mensch und Welt dies ermöglicht. Heidegger ordnet sein eigenes Denken in vielen Schriften

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daher eher der dichterischen Sprache als den lehrbaren Doktrinen zu. Die Behauptung, der bisherige Gegenstand der Ph., der Seinsbezug des Menschen, eröffne sich nur in geschichtlicher Perspektive, ist vielfach als Absage an einen eingrenzbaren Erkenntnisbereich, genannt Ph., verstanden worden. 3 Grenzen der Definierbarkeit des Philosophie-Begriffs Fachorientierte Nachschlagewerke im . Jh., die der hermeneutischen Vagheit des Ph.-Begriffs entsprechen, weichen daher häufig der Definition dieses Begriffs aus. Viele verzichten zwar auf eine Definition, versuchen aber, die Definitionsprobleme im Einzelnen aufzuzählen. Einige erwägen sogar, die Ungewissheit bei der Überprüfung der Resultate philosophischen Denkens und Forschens als Erkennungsmerkmal für Ph. anzugeben. In einem der Werke wird Karl Jaspers als Autorität für die These zitiert, dass gerade der wissenschaftliche Konsens in der Ph. verloren gegangen sei: »Während die Wissenschaften auf ihren Gebieten zwingend gewisse und allgemein anerkannte Erkenntnisse gewonnen haben, hat die Ph. dies trotz der Bemühungen der Jahrtausende nicht erreicht. Es ist nicht zu leugnen: In der Ph. gibt es keine Einmütigkeit des Erkannten. Was aus zwingenden Gründen von Jedermann anerkannt wird, das ist damit eine wissenschaftliche Erkenntnis geworden, ist nicht mehr Ph., sondern bezieht sich auf ein besonderes Gebiet des Erkennbaren«. 102 Häufig wird auch darauf verwiesen, dass andere Wissenschaftsdisziplinen sich durch eingrenzende Gegenstandsbereichen bestimmen lassen, während die Ph. nur eine allgemein gültige Methode beanspruche, ohne sich bisher festlegen zu können (vgl. kritisch dazu Philosophie und Wissenschaften). 103 Wäre dieser Gesichtspunkt ein Definitionshindernis, so wären auch die Aufgaben der Mathematik, der formalen Logik und der (nicht nur auf bestimmte Philologien eingegrenzten) Linguistik, die alle ihre Forschungsgegenstände erst durch ihre Fachsystematik erzeugen, ebenfalls nur in ihrer Vielfalt beschreibbar, aber nicht nach Inhalt und Umfang eindeutig bestimmbar. Die Vielfalt der Ph.-Begriffe macht es auch B. Jahn, dem Bearbeiter der Bibliographischen Enzyklopädie deutschsprachiger Philosophen () in seinem Vorwort schwer, eine Grenzlinie zu Werken von Physikern und anderen Naturwissenschaftlern, von Theologen und

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Juristen zu finden, wie sie für ein Nachschlagewerk bibliografisch erforderlich wäre. Leichtfertig wird bedauert, die Definitionen von Ph. seien »so zahlreich wie die ihnen zugrunde liegenden philosophischen Konzeptionen«. 104 Doch präsentiert tatsächlich jede theoretische Konzeption, die sich als wahrheitsfähig anbietet, ausschließlich ihr eigenes Potenzial als Ph.? Nach vorliegender Übersicht lässt sich dies nur für das Ph.-Verständnis derjenigen Autoren nachweisen, die nicht bereit sind, alternative Theorieentwürfe oder Vorgängermodelle als Ph. zu bezeichnen. Dass auch solche Positionen vertreten wurden, konnte mit Belegen beim späten Kant, bei Fichte und Schopenhauer nachgewiesen werden. Andere Autoren dagegen grenzen gerade die bisherigen Theorieentwicklungen als Ph. vom künftigen Denken als Nicht-Ph. oder als Ph. mit anderen (neuen) Kennzeichnungen ab (Marx, Engels, Nietzsche, Carnap, Heidegger). Wiederum andere sind bereit, die Ordnung der Welt, z. B. die Schöpfungsordnung, selbst als lehrende Quelle des Philosophierens und damit als einen Gegenstand zu bezeichnen, der bereits vor aller Theoriebildung ›Ph.‹ genannt werden kann (Stoische Schulen, Nikolaus Cusanus, Giordano Bruno, Schelling). Doch bei der großen Mehrzahl bleibt es bei einem traditionellen Begriff für Ph., der nicht nur die eigene theoretische Position, sondern auch die der dargestellten oder als konkurrierend beurteilten anderen Theorieansätze umfasst. Nur bei dieser Begriffsverwendung lassen sich die Forschungsgegenstände der Ph.-Geschichte und der interkulturellen Ph. (vgl. unten .) vergleichen. Die Verwendung des Begriffs für die adjektivische Bestimmung von Sachverhalten, Praxen, Konzepten (›philosophische‹ Zugangsweise) oder zur adverbialen Kennzeichnung von geistigen Tätigkeiten oder Bewertungen (etwas ›philosophisch‹ beurteilen; ›philosophisch‹ interessant) lässt sich in vielen Fällen auch dann rechtfertigen, wenn kein unmittelbarer Theoriebezug vorliegt. Ph. als theoretisch fundierte Kommunikationsform und als wissenschaftliche Disziplin liefert auch Kriterien dafür, was in völlig anderen Disziplinen oder sozialen Praxen zu Recht als ›philosophisch‹ beurteilt werden kann (z. B. Argumentationen, Begründungen, Schlüssigkeit, ethische Rechtfertigung). Die sich langsam durchsetzende Redeweise von ›Angewandter Ph.‹ bestätigt, dass Theoriekonzepte auch in anderen disziplinären Tä-

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tigkeitsbereichen auf ihre praktische Wirksamkeit geprüft werden können. Diese Begriffsverwendung geht bereits davon aus, dass Ph. sich gerade nicht bloß in reflexiver Theorieanalyse erschöpfen sollte. Die sie vertretenden Fachleute verfügen über Beratungs-, Mediationsund praktische Beurteilungskompetenzen – nicht nur für die Lebensberatung, sondern auch für systemische Analysen. für die ethische und rechtliche Normenkontrolle und nicht zuletzt für die Politikberatung. 4 Grenzen der interkulturellen Übersetzbarkeit des Begriffs Die Frage nach der Bestimmung des Begriffsinhalts und -umfangs von Ph. berührte stets auch die Übersetzbarkeit des griech. Begriffs in andere Sprachen. In nichteuropäischen Kulturkreisen finden sich für diesen Begriff allenfalls analoge Termini. Wie kann das, was sprachgeschichtlich nicht ausdrücklich ›Ph.‹ hieß, trotzdem als Ph. interpretierbar werden? Dies betrifft die Frage, ob die Lehren und die gesammelte Theoriegelehrsamkeit oder auch die unkommentiert überlieferten Bruchstücke aus Weisheitslehren im anspruchsvollen Sinne ›Ph.‹ genannt werden dürfen. Unproblematisch kann eine Antwort für diejenigen Kulturen ausfallen, die den griech. Begriff selbst als Lehnwort übernommen haben: z. B. falsafa im Arabischen (Islam und Philosophie). Andere Kulturen operieren mit der Bedeutungsentsprechung für ›Lehre von der Klugheit‹ (zhe-xüe oder si-xiang, chin. für ›Denken‹; shiso im Japanischen) (Konfuzianismus und Philosophie). Auch die Einordnung des religiösen und meditativen Schrifttums des indischen Subkontinents in den Forschungs- und Dokumentationsbereich ›indische Ph.‹ ist unproblematisch (Hinduismus und Philosophie; Buddhismus und Philosophie). Zwar gibt es hier für den Begriff ›Ph‹., wie er in europ. Sprachen verwendet wird, keinen einheitlichen Sammelbegriff, weder im Sanskrit noch in den Nachfolgesprachen. Doch haben sich in der Historiografie der indischen Gelehrsamkeit seit dem . Jh. Bezeichnungen wie darshana (Sanskrit wörtl.: Schauen) sowie darshana-maya (wörtl.: Weg des Schauens) für die neuhinduistischen Lehrtraditionen insgesamt, nicht nur für einzelne Schulen, durchgesetzt. Allerdings bedeutet darshan nicht nur ›selbst schauen‹ (gr. theorein), sondern auch im Schauen ›angeschaut werden‹ (z. B. durch die Götter), bezeichnet also die religiöse Haltung der meditativen Hingabe an das ›a-dvaita‹ (das ›Un-Geteilte‹, das Eine), nicht allein

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die ›geschaute‹ Theorie der philosophischen Gelehrsamkeit. Für die überlieferbare Systematik von Weltbildentwürfen wurde der Begriff anvikshiki vidya, übersetzbar mit ›nachprüfender Wissenschaft‹, seit dem . Jh. von vielen indischen Ph.-Schulen sowie von Teilen der westlich orientierten indologischen Forschung übernommen. Daneben gibt es Weisheitstraditionen in anderen Kulturen, die vom ursprünglichen Begründungskontext losgelöst überliefert worden sind. Sie weisen daher noch keine Merkmale auf, die es ermöglichen, sie unkommentiert schon als ›Ph.‹ klassifizieren zu können. Hier hängt es davon ab, wie weit solche Weisheits- und Klugheitslehren der philosophischen Hermeneutik beim interkulturellen Vergleich zugänglich sind. ›Interkulturelle Ph.‹ ist ein inzwischen gängiger, aber problematischer Begriff. Wenn er die Aufforderung zur lernenden Öffnung für noch Unbekanntes bezeichnet, ist er unverzichtbar. Ein ›Zwischen den Kulturen‹ hat es in der Philosophie in zweifacher Bedeutung immer gegeben: in Form der Hybridisierung einer philosophischen Kultur durch Begegnung mit (geografisch gesehen) anderen Kulturen und symbolischen Formen, mit Mythen, Religionen und Künsten, und (seit Aristoteles) durch die Begegnung und wechselseitige Implementierung des Wissens der Philosophien und empirischen Wissenschaften. Das Konzept der Interkulturalität setzt etwas voraus, das es nicht gibt: starre Grenzen zwischen Kulturen, über die hinweg ›Dialoge‹ zu stiften sind; Stifter sind in aller Regel hegemoniale Kulturen (v. a. des ›Westens‹), die mit mehr oder oder weniger schlechtem Gewissen auf jene ›Anderen‹ zugehen, die allzuoft nur die ›Anderen-ihrer-selbst‹ sind. Die Antwort der ›Anderen‹ ist dann die Forderung nach Entkolonialisierung ihrer Begriffe. Es ist sinnvoller, das Philosophieren als eine transkulturelle Praxis in heterogenen Wissenskulturen zu verstehen, in denen man sich in Erkenntnis und sozialer Praxis bewegt, sobald man gelernt hat, natürliche und optionale Sprachen zu beherrschen. Der Vergleich zwischen philosophischen Traditionen findet alltäglich statt, weil es nicht ›die Ph.‹ gibt, sondern einen schützenswerten Pluralismus philosophischer Fragen und Argumente. Der gleichberechtigte interphilosophische Dialog hat keine andere Voraussetzung als das philosophische Gespräch selbst: Lernen, Wissen, Respektieren. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein Gelingen

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ist, einzusehen, dass das Verstehen des ›Anderen‹ Grenzen hat: Man muss nicht alle und alles verstehen, um andere zu respektieren, und sei es in der Form der Kritik. 105 Burkert, W., , Platon oder Pythagoras? Zum Ursprung d. Wortes ›Philosophie‹. In: Hermes . – Autrum, H. (Hg.), , Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf Versammlungen d. Gesellschaft Deutscher Naturforscher u. Ärzte (–), Berlin/Heidelberg/NY. – Bloch, E., , Das Prinzip Hoffnung, GA Bd. , Fft./M. – Boltzmann, L., , Über die Entwicklung der Methoden der theoretischen Physik in neuerer Zeit. In: Autrum . – Carnap, R.,   (), Logische Syntax der Sprache, Fft./M. – Dilthey, W., , Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, WW Bd. V II, Stuttgart/Tübingen/Zürich. – Feuerbach, L.,  (), Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie. In: Ders., Kleine Schriften, Fft./M. – Fourier, Ch., , Lettre de Fourier au Grand Juge. In: ders., Théorie des quatres mouvements [. . . ], Paris  [= Lettre]. – Fourier, Ch., –, Publication des manuscrits de Charles Fourier, Paris [= Manuscrits]. – Fourier, Ch., , Théorie des quatres mouvements et des destinées générales. Novelle édition corrigée et augmentée du Nouveau monde amourex (Extraits). Publié pour la première fois, d’articles et de documents également inédits, d’une importante introduction par Madame S. Debout et d’une notice biographique sur l’auteur, Paris [= Théorie des quatres mouvements]. – Fourier, Ch., , Le nouveau monde industriel et sociétaire ou invention du procédé d’industrie attrayante et naturelle distribuée en séries passionées. Préface par Michel Butor, Paris [= Le nouveau monde]. – Fourier, Ch., , Ökonomisch-philosophische Schriften, hg. v. L. Zahn, Berlin. – Griesinger, W.,  (), Theorien und Thatsachen. In: W. Griesinger’s GA, . Bd., Versch. Abhandl., Berlin. – Gründer, K., , Philosophie in der Geschichte ihres Begriffs, Basel. – Haym, R., , Hegel und seine Zeit. Vorl. über Entstehung u. Entwicklung, Wesen u. Werth der Hegel’schen Philosophie, Berlin. – Hegel, G. W. F., , Berliner Schriften –, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg. – Hegel, G. W. F.,  (), Phänomenologie des Geistes, Vorrede, Hamburg. – Heidegger, M., , Was ist das – die Philosophie?, Pfullingen. – Heidegger, M.,   (), Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den ›Humanismus‹, Bern. – Heidegger, M.,  (), Sein und Zeit, Tübingen. – Helmholtz, H. v., , Die Thatsachen in der Wahrnehmung. In: Ders., Vorträge und Reden,  Bde., Braunschweig . – Husserl, E., , Erste Philosophie, Husserliana, Bd. V I I, hg. v. R. Boehm, Den Haag. – Husserl, E.,  , Ideen zu einer Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Husserliana, Bd. III, hg. v. W. Biemel, Den Haag. – Jahn, B., , Bibliografische Enzyklopädie deutschsprachiger Philosophen, München. – Jaspers, K., , Einführung in die Philosophie, München. – Kimmerle, H., , Interkulturelle Philosophie zur Einführung, Hamburg. – Korsch, K.,  (), Marxismus und Philosophie, ND Fft./M. – Kranz, M., , Philosophie. In: HWbPh, Bd. . – Mall, , In: Das Konzept einer interkulturellen Philosophie. In: polylog.

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Zschr. f. interkulturelles Philosophieren, Wien. – Müller, G., , Theosophie. In: HWbPh, Bd. . – Naumann, M. (Hg.), , Artikel aus der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Enzyklopädie, Leipzig. – Paracelsus, Astronomia Magna oder die ganze Philosophia der großen und kleinen Welt, /, S W, . Abt. Hg. v. Sudhoff et al., N D München et al. . – Paracelsus, Das Buch Paragranum. Darinn die vier Columnae, als da ist, Philosophia, Astronomia, Alchimia und Virtus, auff welche Theophrasti Medicin fundirt ist, tractirt werden, SW . Abt., Bd. . – Regenbogen, A., , Philosophie als Weisheit? Vom weisen Umgang mit philosophischem Wissen. In: Sandkühler . – Sandkühler, H. J., , Natur und Wissenskulturen. Sorbonne-Vorlesungen über Pluralismus und Epistemologie, Stuttgart/Weimar. – Sandkühler, H. J., , Was leistet interkulturelle Philosophie? In: Information Philosophie . – Sandkühler, H. J. (Hg.), , Philosophie, wozu?, Fft./M. – Schleiden, M. J., , Schelling’s und Hegel’s Verhältnis zur Naturwissenschaft, Leipzig. – Schmidt, H., , Philosophisches Wörterbuch, (. Augl., bearb. J. Streller), Stuttgart. – Schmidt-Biggemann, W., , Pansophie. In: HWbPh, Bd. . – Simmel, G.,  ff. (), Aufsätze  bis . Über sociale Differenzierung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (). Hg. v. H.-J. Dahme, G A Bd. , Fft./M. – Windelband, W. „ Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, (. Aufl., hg. H. Heimsoeth), Tübingen. 1 Vgl.

d. umfangreiche Darstellung v. Kranz et al. , zusammengest. in Gründer . – 2 Euthydemos d-a. – 3 Politeia a. – 4 Phaidros, d. – 5 Vgl. Kranz , . – 6 Politeia, d ff. – 7 Ebd., a. – 8 Metaphysik, a  u. ff. – 9 Ebd., a  u. ff. – 10 Ebd., b, –. – 11 Metaphysik, Buch Alpha, b ff.; vgl. auch d. Darstellung bei Diogenes Laertios, Buch I. – 12 Diogenes Laertios D L I, ; zu Pythagoras: vgl. auch d. Themenliste d. verlorenen Schriften d. Pythagoras in: Diogenes Laertios V I I I, –. – 13 Vgl. Burkert . – 14 D L I . – 15 Ebd., I –. – 16 Ebd., Buch V I u. V I I. – 17 Ebd., Buch VI I. – 18 Ebd., Buch I X, Kap.  ff. – 19 Ebd., Buch X. – 20 Windelband, § , . (zit. n. . erg. Aufl., ). – 21 Paracelsus . – 22 Paracelsus, Das Buch Paragranum. S W . Abt., Bd. . – 23 Hobbes, Lehre vom Körper, . Teil, . Kap. . – 24 Ebd, Kap. ; vgl. auch . Teil, . Kap. . – 25 Ebd., I I. Teil. – 26 Ebd., I. Teil, . Kap., . – 27 SchmidtBiggemann , –. – 28 Comenius , vgl. ders. . – 29 Müller , – . – 30 Descartes, Prinzipien, . Teil, Abs. –. – 31 Spinoza, Theol.-polit. Traktat, . Kap. – 32 Leibniz, . Buch, Kap. X X. – 33 Diderot, Art. ›Philosophie‹ in: Enzyklopädie. Philos. u. politische Texte, München , ; vgl. auch Diderots ›Prospekt einer Enzyklopädie‹ von , Abschn. ›Philosophie oder Weisheit‹; ebd., –. – 34 Diderot, ebd., . – 35 Wolff, Philosophia rationalis sive logica I. § , N D , . – 36 Diderot, ebd. – 37 Naumann , . – 38 Ebd., . – 39 Hume, Dialoge über d. natürl. Religion, . Teil. – 40 Kant, KrV A , B ; Logik, A A Bd. , . – 41 Kant, KdU, Einleitung, I I, . Abs. – 42 Kant, KrV A , B , Logik, AA Bd. , . – 43 Ebd. – 44 Ebd., A , B . – 45 Ebd., A , B . – 46 Ebd., A , B   ; vgl. A  /B  . – 47 Kant, Metaph. d. Sitten, Vorrede AB XIII. – 48 Ebd. – 49 Fichte, Über d. Begriff d. Wissenschaftslehre, .

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Abschn. § , W W I, . – 50 Fichte, Erste Einl. in d. Wissenschaftslehre, Einl., . – 51 Schelling, Zur Geschichte d. neueren Philosophie, Münchner Vorlesungen. S W X, . – 52 Schelling, SW I I I, ; vgl. auch . – 53 Hegel, Phänom. d. Geistes, Vorrede, . Abs. – 54 Ebd., . – 55 Hegel , . – 56 Schopenhauer, Die Welt als Wille u. Vorstellung, . Bd., . Betrachtung, § ; vgl. § . – 57 Ebd., § . – 58 Ebd., . Bd., Erg. z. . Buch, § . – 59 Ebd., . Bd., . Buch, § . – 60 Fourier, Lettre, . – 61 Forier, Nouveau Monde, . – 62 Fourier, Théorie des quatres mouvements, . – 63 Fourier, Nouveau Monde, . – 64 Fourier , –. – 65 Fourier, Le nouveau monde, . – 66 Fourier, ebd., . – 67 Fourier, Théorie des quatres mouvements, . – 68 Comte, Cours de philosophie positive, Bd. I, .. – 69 Vgl. zum Folgenden Sandkühler , Kap.  u. . – 70 Carus  in Autrum , . – 71 Schleiden , . – 72 Griesinger , . – 73 Haym ,  ff. – 74 Helmholtz , . – 75 Boltzmann , . – 76 Feuerbach. , . – 77 Feuerbach, Grundsätze d. Ph. d. Zukunft, §§ –. – 78 Ebd, §§ , . – 79 Ebd., § . – 80 MEW , . – 81 MEW , . – 82 M EW , . – 83 M EW ,  f. – 84 MEW ,  f. – 85 Vgl. MEG A I I I/, ; Der Bund der Kommunisten, hg. v. M. Hundt, Bd. , Berlin ,  f. – 86 Bloch , . – 87 Korsch , . – 88 Carnap , . – 89 Ebd., . – 90 Wittgenstein, Tractatus .. – 91 Simmel  ff., Bd. , . – 92 Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Vorrede z. . Ausg. , Pkt. . – 93 Ebd., . Buch, Abschn. . – 94 Ebd., Vorrede z. . Ausg. von , Abschn. . – 95 Dilthey, Der Aufbau d. geschichtl. Welt in d. Geisteswissenschaften, WW Bd. V I I, . – 96 Husserl , ; ders. , X X I u. . – 97 Heidegger  . §  C, . – 98 Heidegger , . – 99 Heidegger . – 100 Ebd., . – 101 Ebd., . – 102 Schmidt/Streller , mit wörtl. Zitat aus Jaspers . – 103 Philosophie. In: Meiers kleines Lexikon Philosophie, Mannheim , vgl. Philosophie. In: EPhW, Bd. . – 104 Jahn , Vorwort, X I I. – 105 Sandkühler ,  ff.; vgl. Mall ; Kimmerle .

Arnim Regenbogen

Analytische Ethik

1 Zum Begriff. Die analytische Ethik (a. E.) ist eine bestimmte, durch ihr methodisches Vorgehen charakterisierte Richtung in der Ethik: Die a. E. zielt auf methodisch sauber gewonnene, klare und zu einer systematischen Theorie verbundene Erkenntnisse. Näherhin zielt die a. E. in methodischer Hinsicht zum einen auf Erkenntnisse, die erkenntnistheoretischen Qualitätsstandards genügen und dadurch möglichst wahr sind. Dies erfordert (mindestens) dreierlei. (i) Die behaupteten Propositionen müssen klar und verständlich sein, damit sie überhaupt wahrheitsfähig und verifizierbar sind. Diese Verständlichkeit wird u. a. durch die Verwendung allgemein bekannter und in ihrer Bedeutung klarer Termini oder präzise Definition neuer Termini erreicht. (ii) Die Behauptungen müssen mit intersubjektiv nachvollziehbaren Methoden gewonnen werden, entweder durch direkte Verifikation, die den in der Behauptung implizit enthaltenen Verifikationsregeln folgt, oder durch indirekte Erkenntnis anhand anderer effektiver und erkenntnistheoretisch anerkannter Erkenntnisverfahren – z. B. deduktive oder induktive Ableitung, probabilistische Schlüsse, Rekurs auf Informanten oder Experten, Einsatz entscheidungstheoretischer Kalküle. Ein solches Vorgehen sichert den Erkenntnischarakter der Behauptung und damit die Wahrheit oder wenigstens Wahrscheinlichkeit oder Wahrheitsähnlichkeit der Behauptung. (iii) Die Behauptungen müssen argumentativ begründet werden derart, dass die methodische Erkenntnis für andere Personen nachvollziehbar und wiederholbar ist. Zum anderen zielt die a. E. in methodischer Hinsicht auf zu Theorien verbundene, kohärente Systeme von Erkenntnissen. Dies erfordert u. a., dass, wenn nötig, eine eigene Terminologie der theoretisch zentralen Termini eingeführt wird, dass die zentralen Thesen der Theorie möglichst in eine axiomatische Anordnung gebracht werden (mit von einander unabhängigen Axiomen und aus ihnen abgeleiteten Theoremen), dass die Axiomensysteme möglichst einfach sind und dass Axiome und Theoreme insgesamt doch vollständig sind, also

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alle Fragen der Disziplin beantworten können. Vorteile solch einer Theoretizität sind u. a., dass alle Fragen der Disziplin beantwortet werden, dass Einzelantworten nicht bloß deshalb plausibel erscheinen, weil sie nicht mit Antworten auf andere Fragen zusammengebracht werden, dass eine gewisse Ökonomie der Erkenntnisse erreicht wird: Relativ wenige Axiome, aus denen schnell neue Theoreme abgeleitet werden können, genügen. Die a. E. grenzt sich damit ab von Ethiken, die sich in dunklen Behauptungen gefallen, bloße Meinungen darlegen, sich auf undurchsichtige Quellen berufen, nur apodiktisch behaupten oder unzusammenhängende Einzelerkenntnisse hochhalten. Allerdings sind die soeben aufgezählten Desiderate auch für die a. E. nur Ideale, die leider meist nicht vollständig erreicht oder von manchen analytischen Ethikern auch nicht zur Gänze geteilt werden. Aus diesen Gründen sind auch die Grenzen zwischen analytischer und nichtanalytischer Ethik fließend; und man kann zwischen harten, eher idealtypischen analytischen Ethikern, die viele dieser Ideale erreichen, und weicheren unterscheiden, die dies nicht tun. Die a. E. ist derjenige Teil der analytischen Philosophie, der deren Methodik auf die Fragen der Ethik anwendet. Entsprechend den Gebieten und Unterdisziplinen der Ethik, versucht sie, auf der Ebene der materialen Erkenntnisse, (i) den Sinn und das Wesen der Moral, (ii) die Grundlagen und Quellen moralischer Prinzipien (insbes. auch die Ontologie der Moral), (iii) die moralischen Prinzipien selbst und (iv) moralisch adäquate Antworten auf speziellere, angewandt ethische Entscheidungsfragen zu ermitteln. Wegen der gewünschten Methodik sollte die Reihenfolge der gerade genannten Erkenntnisse auch einer Begründungsreihenfolge entsprechen: Der Sinn der Moral sollte die Grundlagen und Quellen der Moral bestimmen (helfen); aus den Quellen der Moral sollten sich stringent die moralischen Prinzipien ergeben; und die Anwendung der Prinzipien auf spezielle oder typische Fälle sollte die Antwort auf die einzelnen Entscheidungsfragen liefern. Wegen der eingangs genannten methodischen Ansprüche stellt die a. E. diesen materialen Erkenntnissen aber noch eine Reihe metatheoretischer Erkenntnisse, also metaethischer Überlegungen (Metaethik) und Disziplinen voran, im Idealfall folgende: (v) i. w. S. wissenschaftstheoretische Untersuchungen zu den Zielen der Ethik

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als Wissenschaft und zum Theorietyp der Ethik, (vi) zu ihrer Methodik sowie (vii), moralsemantisch, zur Bedeutung der Moralsprache (inklusive Untersuchungen zur deontischen Logik). Während die analytisch-ethischen Untersuchungen zu Zielen, Theorietyp und Methodik der materialen Ethik in der gegenwärtigen Diskussion relativ vernachlässigt werden, ist die, manchmal exzessiv betriebene, Moralsemantik für viele zum Synonym für a. E. geworden. Zum einen ist die Moralsemantik in der a. E. aber keine Selbstzweck, sondern ihr Sinn ist hauptsächlich instrumentell, nämlich erkenntnistheoretisch: Wenn man die genaue Bedeutung von sprachlich formulierten moralischen Prinzipien kennt, dann ist dies zumindest ein Ansatz für die Begründung solcher Prinzipien. Denn angenommen, die Prinzipien sind wahrheitsfähig (Kognitivismus/Nonkognitivismus), dann müsste die genaue Bedeutung solcher Prinzipien auch deren Wahrheitsbedingungen enthalten, mithin die Bedingungen für ihre direkte Verifikation. Wenn sie nicht wahrheitsfähig sind, dann folgt daraus schon, dass sie nicht durch Verifikation begründet werden können; ihre Bedeutungsanalyse liefert dann – abgesehen von dieser Information, die Konfusion zu vermeiden hilft – möglicherweise die Wissensvoraussetzungen dafür, wie sie vielleicht in anderer Form begründet werden können. Zum anderen hat die Moralsemantik in unterschiedlichen analytisch-ethischen Ansätzen auch einen sehr unterschiedlichen Stellenwert. Sie hat einen relativ großen Stellenwert für reperiente Ethiken, die die Moral als vorgegeben und als nur aufzufindende ansehen (wie z. B. im ethischen Realismus oder in einem starken, Mooreschen Intuitionismus); sie haben hingegen einen vergleichsweise geringen Stellenwert für konstruktivistische Ethiken (wie etwa der Kontraktualismus), die annehmen, Moral sei ein menschliches Konstrukt. Denn nach konstruktivistischen Ethiken ist auch die Moralsprache von Menschen konstruiert; und im Zweifelsfall werden die moralsprachlichen Ausdrücke einfach gemäß den theoretischen Erfordernissen definiert. Gemäß dieser Begriffsbestimmung ist die a. E. also (entgegen manchen Behauptungen 1) nicht identisch mit einer speziellen Unterdisziplin der Ethik, wie der Metaethik oder, noch enger, der Moralsemantik, oder ein besonderer Ansatz innerhalb dieser Unterdisziplinen, sondern eben ein allgemeiner ethischer Ansatz, der alle Themen der Ethik behandelt – auch wenn Untersuchungen zur Moralsemantik und allge-

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mein zur Metaethik in der a. E. sicher überproportional vertreten sind. Und da die a. E. ein bestimmter methodischer Ansatz in der Ethik ist, ist sie auch nicht per definitionem auf bestimmte materialethische Positionen, wie z. B. den Utilitarismus, festgelegt. Der Utilitarismus ist zwar historisch relativ eng mit der a. E. verbunden; aber heute sind sicher die meisten analytischen Ethiker keine Utilitaristen. 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte D. Hume hat seine materialen Ausführungen zur Ethik massiv mit Reflexionen zur Begründbarkeit der Moral verbunden und eine streng methodische und argumentative Vorgehensweise von der Theoretischen Philosophie auf die Ethik übertragen. Er ist dadurch der Ahnherr der a. E. Hume hat wichtige Grundsätze der ethischen Methodik formuliert, insbes. das Humesche Gesetz, dass aus Aussagen über ein Sein alleine keine Aussagen über ein Sollen folgen (Sein-Sollen-Problem). 2 (Dieses Gesetz muss zwar nach dem heutigen Stand der Logik präzisiert werden, etwa so: Aus Propositionen ohne moralische Prädikate folgen keine nichttrivialen Propositionen mit moralischen Prädikaten. Aber die Grundidee des Gesetzes ist richtig.) Seine emotivistische Theorie zu den Grundlagen der Moral, dass die moralischen Unterscheidungen nicht aus der Vernunft stammen, also nicht wahrheitsfähig sind, sondern aus den Affekten 3, insbes. dem Wohlwollen bei uninteressierter Betrachtung 4, ist nicht nur der Vorläufer einer emotivistischen Semantik moralsprachlicher Ausdrücke (Hume selbst hat keine entsprechende Semantik entwickelt, sondern erkenntnistheoretische und psychologische Thesen aufgestellt), sondern auch der Anstoß für eine naturalistische (Naturalismus) Konzeption von Ethik: Hume sieht keine Möglichkeit einer Begründung moralischer Prinzipien, sondern stellt die Erklärung der moralischen Phänomene an deren Stelle. Von der materialen Ethik bleiben dann nur noch die Klärung des Sinns und Wesens der Moral sowie der Grundlagen und Quellen moralischer Prinzipien; eine normative Lehre der moralischen Prinzipien selbst sowie ihre Anwendungen, mithin den traditionelle Kern der Ethik, gibt es nicht mehr; es handelt sich nur noch um eine Ethik i. w. S. Viele spätere Autoren sind diesen Linien Humes gefolgt; andere haben aber auch Stücke aus Humes naturalistischen Erklärungen von Moral für die Begründung von Moralprinzipien verwendet.

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Wegen seines strikten Naturalismus hat Hume keine Moralprinzipien begründet. Das prinzipienethische Paradigma hingegen, an dem sich sehr viele analytische Ethiker abgearbeitet haben und das den Beginn einer analytischen Prinzipienethik oder, wie heute meistens gesagt wird, normativen Ethik darstellte, ist der von Bentham, Mill und Sidgwick entwickelte Utilitarismus. Deren Begründungen des Utilitarismus sind relativ dürftig. Was viele Ethiker mit analytischen Idealen aber am Utilitarismus fasziniert hat, waren zunächst dessen intuitive Anfangsplausibilität, die es auch erlaubte, viele Ideen der Alltagsmoral zu rekonstruieren, dann aber auch formal die Metaphysikfreiheit und Klarheit seines Moralprinzips. Letztere ermöglichen es prinzipiell, bei genügend empirischen Informationen und Rechenzeit, in jeder Situation intersubjektiv nachvollziehbar zu entscheiden, was aus (utilitaristisch-)moralischer Sicht zu tun ist. Zum einen haben Utilitaristen deshalb mit diesem Prinzip viele Regeln der Alltagsmoral begründet und andere massiv kritisiert – wie unnütz grausame Strafen oder moralische Verbote von schadlosen Handlungen (z. B. Homosexualität oder Euthanasie im strikten Sinne) – sowie Reformen vorgeschlagen; der Utilitarismus war und ist also fruchtbar für die Entwicklung der angewandten Ethik. Zum anderen hat er andere analytische Ethiker, die den Utilitarismus moralisch indäquat fanden, stimuliert, bessere, aber ähnlich klare und metaphysikfreie Moralprinzipien zu entwickeln. George Edward Moore ist der Begründer der Moralsemantik, also der Theorie der semantischen Bedeutung moralischer sprachlicher Ausdrücke. Negativ hat er mit dem sog. Argument der offenen Frage zu begründen versucht, dass man moralische Wertprädikate nicht in naturalistischen Begriffen definieren kann: Bei jeder derartigen Definition von ›gut‹ als › F ‹ könne man fragen: p ist F , ist p aber auch gut? Deshalb sei der Schluss von naturalistischen Prämissen (z. B. › p ist F ‹) auf Werturteile (also: › p ist gut‹) – selbst bei Verwendung einer entsprechenden (impliziten) analytischen Prämisse ›› x ist gut‹ ist definiert als: x ist F ‹ – ein naturalistischer Fehlschluss. 5 (Die Lehre vom naturalistichen Fehlschluss ähnelt zunächst dem Humeschen Gesetz; und manchmal werden beide verwechselt. Moore geht aber weit über Hume hinaus, indem er auch die Möglichkeit einer (impliziten) analytischen Prämisse, in der ›gut‹ naturalistisch definiert wird leug-

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net.) Für Moore ist ›gut‹ hingegen ein undefinierbares Prädikat wie ›gelb‹, das eine unseren moralischen Intuitionen zugängliche objektive Qualität bezeichnet. 6 Diese Intuitionen werden von Moore nicht einfach als Ausdruck unserer persönlichen Präferenzen aufgefasst, sondern als Erkenntnis von nicht weiter beweisbarem Evidentem, so dass moralische Wertungen also wahrheitsfähig, mithin kognitiv sind. 7 Prinzipienethisch ist Moore Utilitarist. Sein wesentlicher Beitrag zur materialethischen Diskussion ist aber seine Kritik am Hedonismus und die Einführung von Listen mit anderen intrinsischen Gütern. 8 Moores Argument der offenen Frage sowie sein Lehre vom naturalistischen Fehlschluss selbst werden heute häufig in Frage gestellt: Das Argument beruht alleine auf Moores gegenteiligen Intuitionen, und es kann nicht einmal ausschließen, dass künftig bessere naturalistische Definitionen gefunden werden. Aber Moores Überlegungen zur Bedeutung von ›gut‹ haben Reflexionen darüber eingeleitet, was das Besondere von Wert- und normativen Aussagen gegenüber empirischen Aussagen ist. Der Ausgangspunkt für die Entwicklung nonkognitivistischer Moralsemantiken ist hingegen der logische Empirismus. Nach dem von den zentralen logischen Empiristen ursprünglich vertretenen ultraengen Sinnkriterium sind nur Beobachtungssätze und logische Ableitungen daraus sinnvolle wissenschaftliche Aussagen; Werturteile sind dann nicht wahrheitsfähig und deshalb sinnlos. 9 Die meisten logischen Empiristen haben den Nonkognitivismus (Fehlen der Wahrheitsfähigkeit) aufrechterhalten, die Behauptung der Sinnlosigkeit moralischer Urteile aber erst gar nicht vertreten oder später zurückgenommen 10, was dann für sie die Frage nach der Bedeutung moralischer Ausdrücke aufwarf. Von logischen Empiristen sind dann die ersten Versionen des Expressivismus (auch ›Emotivismus‹ genannt) entwickelt worden (also der Theorie, dass die Bedeutung moralischer Äußerungen ist, unsere Einstellungen und Gefühle auszudrücken – › x ist schlecht.‹ bedeutet dann z. B. so etwas wie: › x , buh!‹). 11 Auf dieser nonkognitivistischen Linie sind weitere Moralsemantiken entwickelt worden: von Stevenson eine weitere expressivistische 12 und von Hare der (universelle) Präskriptivismus, nach dem moralische Urteile universelle Präskriptionen sind, die der Sprecher auf der Basis seiner eigenen Präferenzen macht. ›Dass die Person s A tut, ist gut‹ bedeutet danach ungefähr:

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›Alle Menschen (inklusive ich selbst), tut, immer wenn ihr euch in einer Situation wie s befindet, A !‹ 13 Parallel zur Moralsemantik i. e. S. entwickelte sich in den er und er Jahren rasant die deontische Logik mit Beiträgen von z. B. Alan Ross Anderson, Chisholm, Hintikka, A. N. Prior und von Wright. In gewisser Weise ist die deontische Logik auch Teil der Moralsemantik i. w. S. Insofern passte diese Entwicklung zur inhaltlichen Abstinenz der a. E. dieser Jahre. Innerhalb der gerade konzipierten nonkognitivistischen Moralsemantiken ist eine (kognitivistische) Begründung moralischer Prinzipien nicht möglich. Als Hauptaufgabe der Ethik blieb dann nur noch die Moralsemantik selbst, mit der v. a. kognitivistische Missverständnisse ausgeräumt werden sollten. Außerdem ist natürlich eine naturalistische Ethik (i. w. S.) möglich, in der soziologisch, psychologisch, evolutionsbiologisch etc. die Entstehung von Moral erklärt wird. Viele nonkognitivistische Moralsemantiker sahen diesen Verzicht auf eine materiale Ethik gerade als einen Vorteil, nämlich als Beitrag zur Wertfreiheit der Wissenschaft an. Andere sprachen der Ethik allerdings mehr Aufgaben zu: Auch wenn die Moral letztlich eine Frage persönlicher Präferenzen sei, hingen diese doch z. T. von empirischen Annahmen ab, und diese Präferenzen kämen oft in ganzen Systemen von individuellen und generellen Wertungen daher. Dann kann die Ethik aber eventuelle empirische Fehlannahmen oder Inkohärenzen solcher Moralen aufklären und damit zu einer minimalen Form von Rationalität verhelfen. 14 Diese durch den frühen Nonkognitivismus geprägte Sicht von den begrenzten Möglichkeiten und Aufgaben einer a. E. ist auch heute noch unter nichtanalytischen Philosophen – die darin gerade ein Scheitern der a. E. sehen –, aber auch unter analytischen Theoretischen Philosophen relativ weit verbreitet; und auch einige analytische Ethiker vertreten nach wie vor diese Position. 15 Jüngere Entwicklungen in der a. E. haben diese Grenzen aber weit überschritten. Nonkognitivismus und Konzentration auf die Moralsemantik dominierten die a. E. bis in die er Jahre. Hare machte jedoch schon  den Versuch, den Utilitarismus aus dem von ihm in der Moralsemantik entwickelten universellen Präfentialismus zu begründen – wobei er selbstverständlich dessen subjektivistische Basis betont: Das jeweilige Subjekt macht auf der Basis seiner Präferenzen universelle Vorschrif-

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ten. 16 Daneben gab es auch eine prinzipienethische Diskussion zur Verbesserung des Utilitarismus, um einige seiner Kontraintuitivitäten zu beseitigen; z. B. wurden der negative, der Regel- und der Motivutilitarismus entwickelt. 17 Abgesehen von dieser innerutilitaristischen Diskussion war die a. E. in den letzten Jahrzehnten vor  mehr oder weniger prinzipienethisch und erst recht angewandt ethisch abstinent, ziemlich formal und deshalb für die interessierte etwas breitere Öffentlichkeit weitgehend langweilig und belanglos, aber auch intern gelähmt und etwas blutleer. Diese Situation änderte sich mit dem Beginn der er Jahre, markiert und massiv beeinflusst durch das Erscheinen von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit () 18, aber auch angestoßen durch einen gesellschaftlichen Bedarf an und ein Entstehen der angewandten Ethik infolge politischer Diskussionen um atomare Abschreckung, Abtreibung, soziale Ungerechtigkeit, Frauenemanzipation etc. Die befreiende Wirkung und der anregende Einfluss von Rawls’ Werk sind kaum zu überschätzen; sie beruhen auf einem Feuerwerk von – für die damalige Zeit – Innovationen: Rawls verwendet konsequent die von ihm entwickelte intuitionistische Methode des Überlegungsgleichgewichts, operationalisiert die Idee der Unparteilichkeit durch den ›Schleier des Nichtwissens‹, setzt zur internen Entfaltung dieser Idee die rationale Entscheidungstheorie ein (die letzten beiden Neuerungen sind allerdings Wiedererfindungen von Theorien des Ökonomen John Harsanyi 19), benutzt ökonomische Theorien, macht Anleihen bei Kant (für Analytiker vorher unvorstellbar), kritisiert in innovativer Weise den Utilitarismus, entwickelt v. a. ein neues Moralprinzip, das viele Ethiker, aber auch breitere Bevölkerungskreise (wenigstens partiell) attraktiv finden: die Gerechtigkeitsgrundsätze mit der Vorordnung der Freiheit und dem Unterschieds- oder Differenzprinzip, das die Benachteiligtsten absolut vorrangig behandelt, usw. Man mag viel kritisieren an Rawls’ Theorie (Inkohärenzen, die bloß intuitionistische Begründung, Kontraintuitivitäten seiner Moralprinzipien etc.), aber die enorm anregende Wirkung wird man ihr nicht abstreiten können. Zumindest ist die a. E. seit dieser Zeit quasi explodiert; in nahezu allen Teildisziplinen der Ethik hat sie seitdem eine Fülle von Diskussionen und alternativen Modellen hervorgebracht, die sich gegenseitig befruchten; und sie hat, nicht zuletzt, viele Anhänger gewonnen. Die

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Kehrseite dieser Blüte ist allerdings, dass viele der neueren Ansätze methodisch und argumentativ weniger streng sind, also nur weiche a. E. darstellen, so dass auch die Grenzen zur nichtanalytischen Ethik stark verschwimmen. 3 Felder der analytischen Ethik Die Menge der Beiträge der a. E. seit den er Jahren zu fast allen Teildiziplinen der Ethik ist enorm. Hier kann der Reichtum dieser Produktion nur angerissen werden. 3.1 Wissenschaftstheorie und Methodik der Ethik Metaethische im Prinzip wissenschaftstheoretische Abhandlungen zu den Zielen und zum Theorietyp der Ethik finden sich in der a. E. so gut wie nicht. Im Bereich der Methodik der Prinzipienethik (nicht der angewandten Ethik) sind eine Reihe von klar erkennbaren Begründungstypen entwickelt worden 20 : Spieltheoretische und kontraktualistische Vorteilsethiken verwenden instrumentalistische Begründungen, die zeigen, dass die Befolgung bestimmter moralischer Strategien und Regeln für das moralische Subjekt vorteilhaft ist (s. u. .). Der soziale Justifikationismus bzw. diskursive Konsensualismus (z. B. von Scanlon, Pfannkuche, Tugendhat) versucht zu beweisen, dass bestimmte moralische Prinzipien die diskursive Zustimmung aller Betroffenen bekommen würde. Der moralische Motivationalismus begründet moralische Bewertungsfunktionen aus altruistischen Motiven wie der Empathie als Teil unserer umfassenden prudentiellen Bewertungsfunktionen (s. u. .) usw. Aber meist werden solche Methoden nur kurz erklärt (wenn überhaupt) und dann angewendet; ausführliche Begründungen und Darlegungen einer Methode sind relativ selten. Der bekannteste ausführliche Methodendarlegung ist Rawls’ Vorstellung seiner intuitionistischen Methode des reflexiven Gleichgewichts: Generelle und spezielle (zu Einzelfällen) eigene Intuitionen werden im Falle von Inkohärenzen so lange modifiziert, bis ein kohärentes System entsteht, mit dem man intuitiv einverstanden ist. 21 Für die a. E., die sich ja als methodisch par excellence versteht, ist der bisher magere Ertrag im Bereich Wissenschaftstheorie und expliziter Methodik der Ethik peinlich und sollte Grund für vermehrte Anstrengungen sein.

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3.2 Moralsemantik In der Moralsemantik 22 ist nach der Ausarbeitung von Hares universellem Präskriptivismus zum einen der Expressivismus, insbes. von Blackburn und Gibbard, weiter ausgearbeitet und enorm verfeinert worden, v. a. um das Frege-Geach-Problem zu lösen. (Das Frege-GeachProblem des Expressvismus ist, dass dieser die Bedeutung von ›gut‹ nur für dessen prädikative Verwendung in elementaren Aussagesätzen erklärt, aber nicht für das ganze Spektrum der möglichen Verwendung von ›gut‹, z. B. in Kennzeichnungen, in komplexen Sätzen, in Imperativen, Ausrufen etc.) Zum anderen ist auf kognitivistischer Seite seit den er Jahren der ethische Realismus emporgeschossen, sowohl in naturalistischen Varianten – z. B. von Boyd, Sturgeon und Railton, die annehmen, die objektive ethische Realität sei in normalen naturalistischen Termini beschreibbar oder superveniere (Supervenienz) auf der so beschriebenen Realität – als auch in nicht naturalistischen Varianten, z. B. von McDowell. Im Prinzip müssten sich moralische Begriffe dann nach der ersten Variante naturalistisch definieren lassen. Da die Debatte sich aber auf subtilsten Niveaus der Metatheorie bewegt – z. B. superveniert die moralische Realität genauso über der beobachtbaren wie die physikalisch-theoretische? – sind bisher noch keine entsprechenden Definitionen entwickelt worden. Eine negative, nonkognitivistische Moralsemantik ist Mackies Irrtumstheorie (error theory), nach der der kognitivistische Schein alltagssprachlicher moralischer Urteile trügt; ihm entspricht keine moralische Realität. Mackie untermauert diese als solche keineswegs neue These mit einem neuen, viel diskutierten und schwerwiegenden Einwand, dem Argument der motivationalen, epistemischen und ontologischen Absonderlichkeit (queerness): Wenn es (realistische) moralische Tatsachen gäbe, müssten diese von sich aus – also ohne Zutun subjektiver Strukturen – motivieren; sie müssten von einem eigenen Sensus wahrgenommen werden; und sie müssten noch zu den natürlichen Eigenschaften hinzutreten. 23 Ein zentrales Ziel der analytisch-philosophischen Moralsemantik war, zu klären, ob moralische Äußerungen wahrheitsfähig sind, und, wenn ja, was ihre genaue Bedeutung ist, um dann gezielt die substanziellen Fragen beantworten zu können, welche der mit den entsprechenden Prädikaten formulierten moralischen Prinzipien wahr sind. Die

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gegenwärtige Moralsemantik hat sich mit ihren vielen indirekten Argumenten und subtilen, manchmal sophistischen Diskussionen, z. B. der Vergleichbarkeit von moralischer und physischer Realität, so weit von diesem Ziel entfernt, dass nicht absehbar ist, wie sie noch zur Klärung der substanziellen moralischen Fragen beitragen kann. Damit hat sie auch eine der Tugenden analytischer Philosophie aufgegeben, nämlich relevante Fragen beantworten zu wollen. 3.3 Theorien zu Sinn, Wesen, Grundlagen und Quellen sowie Ontologie der Moral Auch zu Sinn und Wesen der Moral gibt es innerhalb der a. E., wie auch sonst in der Ethik, leider kaum explizite Untersuchungen, obwohl diese für eine instrumentalistische Moralbegründung zentral wären. (Eine jüngere Ausnahme ist z. B. Kaluzas Theorie der Moral als Kitt der Gemeinschaft. 24) Wirklich ausgeführte Begründungen moralischer Prinzipien stützen sich immer auf bestimmte Grundlagen, oder, anders ausgedrückt, um deren starken inhaltlichen Einfluss zu unterstreichen: Quellen, aus denen sie sich ergeben. In manchen Ethiken werden diese Quellen explizit diskutiert, in anderen werden sie nur innerhalb der Moralbegründung benutzt. Im letzteren Fall kann man, wenn die Begründung stringent aus solch einer Quelle entwickelt ist, wenigstens die impliziten Annahmen über die Grundlage der Moral erschließen. Nach der Art dieser Quellen kann man zwischen (eher) reperientistischen Moralbegründungen, die versuchen, eine vorgegebene Moral zu erkennen, und (eher) konstruktivistischen Moralbegründungen unterscheiden, die die Menschen als Schöpfer der Moral ansehen, die am besten nach bestimmten Standards konstruiert werden sollte. Zu den reperientistischen gehören der ethische Realismus und der starke (nichtrealistische) Intuitionismus, zu den konstruktivistischen der Kontraktualismus, spieltheoretische Begründungen, der moralische Motivationalismus und der Neokantianismus. Nach dem ethischen Realismus – u. a. vertreten von Boyd, Brink, Dancy, McDowell, Oddie, Platts, Railton, Sayre-McCord, Schaber, Shafer-Landau sowie Sturgeon, und kritisiert z. B. von Putnam, Scarano – besteht die Begründung moralischer Prinzipien, eventuell auch von ›Prinzipien‹ für einzelne Fälle, in der Erkenntnis der objektiven

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moralischen Realität. Nun ist die Existenz dieser Realität u. a. wegen der Relativität moralischer Überzeugungen ziemlich umstritten, so dass der größte Teil der Theorie des ethische Realismus darin besteht, genau diese Existenz u. a. mittels Parallelen zu empirischen Erkenntnissen zu belegen. Die Aussagen über diese Parallelen blieben aber bisher so vage, dass aus dem Realismus nicht in stringenter Weise eine Prinzipienethik hat entwickelt werden können. Der Wert des Realismus steht aber noch aus einem anderen Grund in Frage: Selbst wenn es diese moralische Realität gäbe, wäre dies eben eine Realitätsschicht mehr; es wäre unklar, wieso und wie diese eine praktische Orientierungsfunktion haben könnte und wie ihre Erkenntnis uns motivieren könnte. Angesichts dieser Probleme ist zweifelhaft, ob der moralische Realismus überhaupt die Ideale der Klarheit und Nachprüfbarkeit sowie der Theoretizität erfüllt. Der starke Intuitionismus, z. B. von Audi in der Tradition von Moore und Ross vertreten, nimmt an, dass moralische Intuitionen durchaus Erkenntnisse sind, er muss aber nicht zusätzlich behaupten, dass sie eine moralische Realität wiedergeben. Dann bleibt allerdings offen, was da eigentlich erkannt wird. Angesichts des Stellenwerts der Intuitionen erstaunt auch, wie wenig der hinter diesen Intuitionen stehende Mechanismus im Intuitionismus untersucht worden ist, um deren Erkenntnischarakter garantieren zu können. Denn zunächst ist ja ziemlich offensichtlich, dass solche Intuitionen u. a. von der Erziehung abhängen und kulturell beeinflusst sind. Ein schwacher Intuitionismus nimmt als Grundlage der Moralbegründung hingegen einfach die moralischen Präferenzen der Subjekte oder einzelner Subjekte an, ohne eine Theorie über deren Herkunft zu vertreten. Rawls z. B. hat einen schwachen Intuitionismus vertreten; in der angewandten Ethik ist er zudem das mit Abstand am häufigsten verwendete Begründungsverfahren. Wegen der einfachen Akzeptanz gegebener (kohärenter) Intuitionen kann der schwache Intuitionismus nicht die intersubjektive Geltung seiner Prinzipien begründen. Im Zweifelsfall stellen die einzelnen Theorien nur Systematisierungen der moralischen Überzeugungen des jeweiligen Autors dar; und auch diese können jederzeit wieder revidiert werden. Spieltheoretische und rein kontraktualistische Moralbegründungen, z. B. vertreten von Gauthier, Hoerster, Mackie, McClennen, Narveson,

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Schüßler, Stemmer, stützen sich auf die (vorwiegend egoistischen) Interessen der Moralsubjekte und entscheidungstheoretische, insbes. spieltheoretische Prinzipien zur optimalen Realisierung dieser Interessen. Abweichungen von einem nackten Egoismus ergeben sich dadurch, dass spieltheoretische Ansätze auf Kooperationssituationen und reziproke Kooperation setzen, die für alle Kooperationspartner mehr Nutzen abwirft als unkooperatives Handeln. Das größte innertheoretische Problem dieses Ansatzes ist, wie die Versuchung zur Ausnutzung der Kooperation (der andere kooperiert, man selbst aber nicht) abgeblockt werden kann. Der wichtigste Lösungsansatz dazu ist die Regel, dass man mit Personen, die vermutlich unkooperativ sind, selbst nicht kooperiert; ein einmal ruinierter Ruf verhindert dann viele Kooperationsmöglichkeiten, senkt also die Gewinnmöglichkeiten erheblich, was von unkooperativem Verhalten abschreckt. Das größte externe Problem solcher Ethiken ist, dass sie nur sehr schwache moralische Prinzipien begründen können und alle nicht Kooperationsfähigen als Nutznießer der Moral ausschließen. Ein moralischer Motivationalismus, wie er nach dem Vorbild Schopenhauers etwa von Brandt, Lumer, Rescher oder Schälicke entwickelt worden ist, begründet moralische Wertfunktionen aus altruistischen Motiven wie der Empathie. Der moralische Wert wird dabei mit der altruistischen Komponente der je individuellen umfassenden Wünschbarkeitsfunktion gleichgesetzt. Gerade wegen ihres Altruismus können diese Bewertungsfunktionen intersubjektiv einigermaßen übereinstimmen; und da es sich um Komponenten der normalen motivierenden Nutzenfunktion handelt, korrespondiert den so begründeten moralischen Bewertungsfunktionen eine Anfangsmotivation, entsprechend zu handeln. Da es sich aber nur um eine Anfangsmotivation handelt, werden noch weitere Motive benötigt. Die Institutionalisierung moralisch guter sozialer Normen mit Sanktionsdrohungen könnte diese Zusatzmotivation liefern. Der moralische Motivationalismus ist eine spezielle Form des (fundativen) ethischen Internalismus, d. i. eine Ethik, deren Moralbegründung sich auf die Wünsche des Moralsubjekts stützt – aus Gründen der Autonomie des Subjekts wie aus Gründen der gewünschten motivierenden Wirkung der Moralbegründung. 25 Der (fundative) ethische Internalismus richtet sich insbes. gegen eine kantische Ablehnung der

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Wünsche des Subjekts als moralische Handlungsgründe. Er hat viele Anhänger auch über den moralischen Motivationalismus hinaus gefunden, außer Williams insbes. Michael Smith, Nichols, Wedgwood. Neokantianische Begründungsansätze in der a. E., wie sie etwa von Darwall, Korsgaard oder Nagel entwickelt wurden, sehen v. a. eine substanziellere Form der individuellen Rationalität als die Grundlage der Moral an. Nagel beispielsweise nimmt an, dass das künftige Ich vom gegenwärtigen genauso weit entfernt ist wie räumlich entfernte Personen; eine Rationalität, die das künftige Ich berücksichtige, müsse deshalb auch andere Personen berücksichtigen. 3.4 Prinzipienethik Als ›Prinzpienethik‹ wird hier diejenige Subdisziplin der Ethik bezeichnet, die sich mit der Entwicklung der grundlegenden moralischen Prinzipien befasst. Ein großer Teil der Diskussion in der analytischen Prinzipienethik seit Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit befasste sich mit dem Utilitarismus. Zum einen wurden wichtige neue Kritiken gegen ihn vorgebracht und alte vertieft: Die utilitaristische Nutzenaddition berücksichtige die Verteilungsgerechtigkeit nicht (Rescher); der utilitaristische Kalkül berücksichtige nicht die Getrenntheit von Personen (Rawls); das Maximierungsgebot fordere zu viel von den Moralsubjekten (Scheffler); der Handlungsutilitarismus koordiniere das Handeln der Subjekte nicht, führe deshalb zu suboptimalen Entscheidungen (Gibbard). Zum anderen wurden u. a. als Antwort auf diese Kritiken viele Alternativen zum Utilitarismus entwickelt, die ebenfalls wohlfahrtsethisch sind, also die moralische Wünschbarkeit über den persönlichen Nutzen der Betroffenen definieren. Rawls’ Differenzprinzip ist zu einem allgemeinen Maximinprinzip erweitert worden, das immer die Verbesserung der Lage des jeweils Schlechtestgestellten allen anderen Handlungsmöglichkeiten vorzieht (Koller, Pfannkuche, Pogge). Eine Reihe von Ethikern fand die Idee, Benachteiligte aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit bevorzugt zu behandeln, zwar richtig, Maximin aber unökonomisch – für kleinste Verbesserungen der Lage des Schlechtestgestellten werden riesige Verbesserungsmöglichkeiten für etwas besser Gestellte preisgegeben – und ungerecht gegenüber allen besser Gestellten. Sie haben deshalb den Prioritarismus vorge-

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schlagen, d. i. ein Bewertungskriterium, das eine Synthese aus dem Utilitarismus und Maximin darstellt und die Interessen der schlechter Gestellte immer nur begrenzt (und nicht wie bei Maximin unendlich viel) stärker gewichtet, so dass bei einer möglichen Alternative mit im Vergleich sehr viel größeren Vorteilen für besser Gestellte ab einem bestimmten Punkt dieser Alternative der Vorzug gegeben wird. Prioritaristen sind u. a. Hurley, Lumer, Nagel, Parfit und Rabinowicz. Ein weiteres Bewertungsverfahren, mit dem der Utilitarismus in eine verteilungsgerechtere Theorie überführt werden soll, ist der moderate Egalitarismus (Rescher, Temkin, Trapp), der von der utilitaristisch ermittelten Nutzensumme immer Punkte für ungleiche Verteilungen des Nutzens abzieht, je größer die Ungleichheit, desto mehr. Andere Alternativen zum klassischen Utilitarismus sollen dessen Überforderungsproblem lösen. Scheffler beispielsweise will die Interessen des Handelnden immer doppelt stark berücksichtigen. Hare hingegen sieht einen Zwei-Ebenen-Utilitarismus vor, der auf der niederen Ebene auch Verletzungen des Maximierungsgebotes zulässt. Neben diesen Wohlfahrtsethiken sind von analytischen Ethikern aber auch Prinzipienethiken entwickelt worden, die auf völlig andere Traditionen zurückgehen. Nozicks Liberalismus beispielsweise basiert auf den lockeschen Naturrechten. Viele analytische Vertreter der Tugendethik (z. B. Bennett, Foot, Nussbaum, Slote) knüpfen an Aristoteles’ Tugendlehre an (Tugend). 26 3.5 Angewandte Ethik Analytische Ethiker haben die Entwicklung und Ausdehnung der seit den er Jahren entstandenen angewandten Ethik erheblich vorangetrieben, und zwar in allen Sparten der angewandten Ethik. Ihr auffälligster Beitrag bestand bisher weniger in der Ausarbeitung kompletter Theorien als vielmehr im Einbringen innovativer starker Argumente auf der Basis bekannter und akzeptierter Prinzipien, mit denen z. B. bisher übliche Differenzierungen kritisiert wurden. Ein Vorreiter in dieser Hinsicht ist P. Singer, der z. B. mit diversen ›Ausdehnungsargumenten‹ zunächst die wesentliche Ähnlichkeit von hoch entwickelten Tieren und wenig entwickelten Menschen (z. B. kleinen Kindern) belegt und dann die Anwendung bestimmter Schutzrechte auch auf Tiere gefordert hat. 27 Mit einem strukturell analogen Argu-

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ment hat er sich für eine massive Entwicklungshilfe an die ›Dritte Welt‹ eingesetzt 28, außerdem für liberale Positionen bezüglich Abtreibung und Euthanasie. Einer der Pioniere der analytischen angewandten Ethik in Deutschland war D. Birnbacher, dessen Schriften zur Bio-, Umwelt- und Zukunftsethik hier stellvertretend für unzählige weitere Beiträge genannt seien. 29 Der Einfluss der von analytischen Ethikern in die angewandt ethischen Debatten eingebrachten Argumente und Argumentativität ist unverkennbar. Sie haben die Diskussionskultur in der angewandten Ethik im Laufe der letzten drei Jahrzehnte positiv verändert derart, dass auch nichtanalytische Ethiker immer mehr dazu tendieren, klare und allgemein akzeptable Argumente vorzubringen. Ayer, A., , Language, Truth and Logic, London. Dt. Sprache, Wahrheit und Logik, Stuttgart . – Birnbacher, D., , Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart. – Birnbacher, D., , Bioethik zwischen Natur und Interesse, Berlin. – Borchers, D., , Die neue Tugendethik – Schritt zurück im Zorn? Eine Kontroverse in d. Analyt. Philos., Paderborn. – Brandt, R. B., , Toward a Credible Form of Utilitarianism. In: H. N. Castañeda/G. Nahnikian (eds.), Morality and the Language of Conduct, Detroit. – Carnap, R., , Die Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis . – Carnap, R., , Kaplan on Value Judgments. In: P. A. Schilpp (ed.), The Philosophy of Rudolf Carnap, La Salle (Ill.). – Fisher, A./S. Kirchin (eds.), , Arguing About Metaethics, London/NY. – Hare, R. M., , The Language of Morals, Oxford. Dt. Die Sprache der Moral, Fft./M. – Hare, R. M., , Freedom and Reason, Oxford, Corrected edtion . Dt. Übers.: Freiheit und Vernunft, Fft./M. . – Harsanyi, J. C., , Cardinal Utility in Welfare Economics and in the Theory of Risk-Taking. In: J. of Political Economy . Auch in: Ders.: Essays on Ethics, Social Behaviour, and Scientific Explanation, Dordrecht/Boston. – Harsanyi, J. C., , Cardinal Welfare, Individualistic Ethics, and Interpersonal Comparisons of Utility. In: J. of Political Economy . Auch in: Ders., Essays on Ethics, Social Behaviour, and Scientific Explanation, Dordrecht/Boston . – Hegselmann, R., , Was ist und was soll Moralphilosophie? In: R. Hegselmann/H. Kliemt (Hg.), Peter Singer in Duisburg. Eine kommentierte Dokumentation, Fft./M. – Hume, D., (–), A Treatise of Human Nature. Ed. L. A. Selby-Bigge. nd ed. by P. H. Nidditch, Oxford  . Dt. Ein Traktat über die menschliche Natur,  Bde., Hamburg . – Kaluza, M., , Der Kitt der Gemeinschaft. Über d. Funktion v. Gerechtigkeit, Paderborn. – Kellerwessel, W., , Normenbegründung in der Analytischen Ethik, Würzburg. – Lumer, Ch., , Rationaler Altruismus. Eine prudentielle Theorie d. Rationalität u. d. Altruismus, Osnabrück. – Lyons, D., , Forms and Limits of Utilitarianism, Oxford. – Mackie, J. L., , Ethics. Inventing Right and Wrong, Harmondsworth. Dt. Ethik. Auf der Suche nach

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dem Richtigen und Falschen, Stuttgart . – Menger, K., , Moral, Wille und Weltgestaltung. Grundlegung z. Logik d. Sitten, hg. u. eingel. v. U. Czaniera, Fft./M. . – Moore, G. E., , Principia Ethica, Cambridge. Dt. Principia Ethica, Stuttgart . – Railton, P., , Analytic Ethics. In: REPh. – Rawls, J., , Outline of a Decision Procedure for Ethics. In: Philos. Rev. . Dt. in Auszügen: Ein Entscheidungsverfahren für die normative Ethik. In: D. Birnbacher/ N. Hoerster (Hg.), Texte zur Ethik, München . – Rawls, J., , A Theory of Justice, Cambridge (Mass.). Dt. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Fft./M. . – Singer, P., , All Animals are Equal. In: Philos. Exchange . Dt. Alle Tiere sind gleich. In: A. Krebs (Hg.), Naturethik, Fft./M. . – Singer, P., , Practical Ethics, Cambridge. Dt. Praktische Ethik, Stuttgart  . – Smart, J. J. C., , An outline of a system of utilitarian ethics, Melbourne. Auch in: Ders./B. Williams, Utilitarianism for and against, Cambridge . – Stevenson, Ch. L., , The Emotive Meaning of Ethical Terms. In: Mind . Dt. Die emotive Bedeutung ethischer Ausdrücke. In: G. Grewendorf/G. Meggle (Hg.), Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung d. Metaethik, Fft./M. . – Stevenson, Ch. L., , Ethics and Language, New Haven. – Williams, B., , Internal and External Reasons. In: R. Harrsion (ed.), Rational Action. Studies in philosophy and social science, Cambridge/London. Dt. Interne und externe Gründe. In: B. Williams, Moralischer Zufall, Fft./M. . – Wittgenstein, L.,   (), Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Fft./M. 1 Z. B.

Railton , . – 2 Hume –, III... – 3 Ebd. – 4 Ebd. III..; III... – 5 Moore , §§ –. – 6 Ebd., §§ ; ; . – 7 Ebd., §§ ; ; . – 8 Ebd., §§ ; ; , . – 9 Wittgenstein ; Carnap , . – 10 Z. B. Carnap . – 11 Ayer , Kap. . – 12 Z. B. Stevenson ; . – 13 Hare ; , Tl. . – 14 Menger . – 15 Z. B. Hegselmann . – 16 Hare , Tl. . – 17 Z. B. Smart ; Brandt ; Lyons . – 18 Rawls . – 19 Harsanyi ; . – 20 Überblicke: Kellerwessel ; Lumer , –. – 21 Rawls . – 22 Sammlung neuerer Beiträge: Fisher/Kirchin . – 23 Mackie , Abschn. .. – 24 Kaluza . – 25 Williams . – 26 Überblick: Borchers . – 27 Singer ; , Kap. . – 28 Singer , Kap. . – 29 Z. B. Birnbacher ; .

Christoph Lumer

Analytische Philosophie

1 Zum Begriff. Die Analytische Philosophie (APh.) beginnt mit der Idee, dass vor der Beantwortung von Fragen deren Bedeutung klar sein sollte. Gibt es ›Grunchies‹ wirklich? Darf man sie ›tröffeln‹? Sind sie nicht ›grummlig‹? Bei diesen Fragen herrscht, wie jeder sieht, Klärungsbedarf. Ein solcher Bedarf besteht der APh. zufolge auch bei philosophischen Fragen – auch wenn das nicht sofort jedermann sieht. Als Orientierungsbasis für die nötige Klärung kommen naturgemäß nur Bereiche in Betracht, die nicht ihrerseits (oder wenigstens nicht in gleichem Maße) einer Klärung bedürftig sind. Welche sind das? Dies wird unterschiedlich gesehen. Der Normal-Sprachen-Zweig der APh. (Philosophie der normalen Sprache) orientiert sich, nicht überraschend, an der normalen Sprache, der Ideal-Sprachen-Zweig an einer künstlichen (speziell: logischen) Sprache; demgegenüber hofft der in der Philosophie des Geistes und in den mit ihr verwandten Gebieten neuerdings vorherrschende kognitive Zweig eher auf eine irgendwie kognitionstheoretisch vermittelte Klärung en passant. 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte . Die Leitfigur des Idealsprachen-Zweigs war B. Russell. Dessen Erklärung von Kennzeichnungsausdrücken lieferte das Standardmodell dafür, wie logische Analyse funktioniert. Sei K ein Kennzeichnungsausdruck, so ist der Satz (A) »a ist K« zwar, oberflächlich betrachtet, von der gleichen Form wie der Satz »a ist lustig«. Aber das täuscht: (A) besagt nämlich laut Russell soviel wie: (A0 ) »Es gibt ein x , das die K -Eigenschaft hat; und für alle y gilt: wenn y die K-Eigenschaft hat, dann ist y mit a identisch.« Erst in (A0 ) – genauer: in dessen logischer (hier nicht angeführter) Formalisierung (A∗ ) – zeigt sich, was in (A) alles versteckt ist. Die logische Analyse macht das Versteckte explizit, indem sie den umgangssprachlichen Satz (A) in den formalsprachlichen Satz (A∗ ) transformiert. (Der gleiche Trick, anstatt bei der Oberflächenform bei der logischen Tiefenstruktur der Sprache anzusetzen, steckte übrigens auch hinter Chomskys späterer Revoluti-

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on der Linguistik.) Russells Zielsprache war einfach: Prädikatenlogik (Logik) plus Identität. Die gleiche Zielsprache lag auch Wittgensteins Tractatus zugrunde, dem philosophisch einflussreichsten Werk der idealsprachlichen Richtung. Logische Analysen sind Transformationen von Sätzen aus einer Sprache L in solche der Zielsprache L∗ . Sind das bloß Übersetzungen? Spitzen sie das, worum es jeweils gehen soll, nicht auch gelegentlich – und zwar zu Recht – zu? Und gibt es nicht verschiedene Arten der Zuspitzung, lies: Präzisierung? Diese Fragen wurden in der APh. leider zu lange und zu oft offen gelassen. Infolge mangelnder Alternativen (divergierender Zielsprachen) stellten sich diese Fragen lange Zeit einfach nicht. Für Russell wie für den Wittgenstein des Tractatus hatte die logische Analyse eine Basis, hinter die man nicht weiter zurück kann: Es gibt gewisse nicht weiter analysierbare Sätze (Elementarsätze), und diese sind die Analyse-Basis für alle anderen Sätze: Alle Nicht-Elementarsätze sind Wahrheitsfunktionen von Elementar-Sätzen. Wäre dem so, so würde sich die Frage, wie Sprache sich auf die Welt beziehen kann (Referenz), auf die Frage reduzieren, wie Elementarsätze einen solchen Bezug haben können. Wittgensteins Antwort auf diese Frage war seine berühmte Bildtheorie: Elementarsätze bestehen aus Namen, die Dinge in der Welt vertreten; und deren Beziehungen im Satz entsprechen den Ding-Beziehungen in einem Sachverhalt (= bilden letztere ab in dem sehr abstrakten Sinne von: sind strukturgleich). Diese Ideen zusammen ergeben die von Russell treffend so genannte Position des logischen Atomismus. . Die Realität in der Logik sieht anders aus. Nicht alle Nicht-Elementarsätze sind Wahrheitsfunktionen der elementaren. Sei ∗ ein Modaloperator, so steht bzw. fällt mit der Wahrheit/Falschheit von A in der Regel nicht auch schon die von ∗(A). Ist A wahr, so kann z. B. trotzdem Notwendig- A falsch sein. Gleiches gilt für alle sog. intensionalen Kontexte. Intensionale Logiken (das sind solche, die diesen Kontexten gerecht werden) gibt es in ausgearbeiteter Form erst seit den er Jahren. Deren Grundgedanke, nicht nur auf Extensionen (Dinge, Mengen von Dingen und Wahrheitswerte) zu rekurrieren, sondern auch auf Intensionen (Extensionen in Abhängigkeit von mög-

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lichen Welten), war zwar – man denke nur an Leibniz – keineswegs neu, wurde in den intensionalen Semantiken dieser Logiken aber doch erstmals systematisch präzisiert. Der weite Bereich der mit diesen Semantiken konstruierbaren Philosophischen Logiken (z. B. der verschiedenen Modallogiken, der Konditionallogik, der epistemischen Logik, der Wollenslogik, der Handlungslogik etc.) ist bzw. wäre seitdem so etwas wie der ideale Kernbereich der APh. Dort waren in den letzten Jahrzehnten die größten Fortschritte zu verzeichnen; und von dort gingen auch die wichtigsten Anstöße für die anderen Bereiche aus. Seitdem kann man cum grano salis sagen: APh. at its best – das ist bzw. wäre heute: Philosophische Logik plus deren Anwendung – eine kritische Anwendung, versteht sich. 1 Aber auch im Bereich der extensionalen Logik sind zahlreiche Neuerungen zu verzeichnen. Die klassische zweiwertige Logik wurde um mehr-(drei-, vier-, n-)wertige Logiken (Logik, mehrwertige) erweitert; sog. freie Logiken (bei denen auch Namen verwendet werden dürfen, denen kein Gegenstand als Namensträger zugeordnet ist) und weitere sog. alternative Logiken wurden und werden entwickelt. Neue nichtklassische Logiken werden mit Sicherheit auch weiterhin entdeckt bzw. erfunden werden. Solange es in der APh. Leute mit Phantasie gibt, wird es auch neue Logiken geben. Die Logik ist heutzutage also ein sehr weites und vielfältiges Gebiet. Entsprechend weit und vielfältig ist das, was heute als logische Analyse zählt. Es gibt nicht mehr die Zielsprache, vielmehr eine ganze Palette unterschiedlicher Sprachen. Und wer mit der Auswahl immer noch nicht zufrieden ist, dem steht es frei, sie durch die Konstruktion zusätzlicher Alternativen zu erweitern. Ein logischer Analytiker ist heute sehr viel freier als zu Beginn der APh.; und von daher erklärt sich auch, warum die Frage, welche der verfügbaren (bzw. konstruierbaren) Zielsprachen für welche Zwecke die beste ist, in den Diskussionen der APh. zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Zudem ist keines der verschiedenen Logiksysteme sakrosankt; jedes hat seine Nachteile. Es wäre völlig falsch zu erwarten, dass die somit notwendig gewordene Debatte um die Pros und Contras bezüglich der diversen Systeme jemals ein Ende finden könnte. Für die Offenheit der Debatte sorgt schon allein die Tatsache, dass Abwägungen der verschiedenen Logiken mit zahlreichen nicht-nur-logischen Fragestellungen engstens

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verknüpft sind. Sprachphilosophische, metaphysische, ontologische, erkenntnis- und allgemein kognitionstheoretische Aspekte kommen ins Spiel, sobald man die diversen Logiken nicht nur als formale Systeme intern betrachtet, sondern jeweils die Frage nach deren Adäquatheit (in Ansehung der genannten Aspekte) stellt. Und das sollte man bei jeder Logik-Anwendung tun. . Die wichtigste Figur des normal-sprachlichen Zweigs der APh. war – neben dem Vorläufer G. E. Moore und G. Ryle – der spätere Wittgenstein. Dieser verfolgte mit seiner Philosophie (speziell in den Philosophischen Untersuchungen) mehrere Ziele. (i) die Destruktion gewisser Grundannahmen des logischen Atomismus und verwandter sprachtheoretischer Positionen; (ii) die Konstruktion einer adäquateren Auffassung vom Funktionieren von Sprache; und (iii) – mit dem zweiten Ziel zusammenhängend – die Entwicklung einer Therapie, die gegen die typischen Philosophenverwirrungen helfen soll. Der Grundgedanke hinter Wittgensteins Untersuchungen – und das gilt für die Philosophie der normalen Sprache insgesamt – war ein ganz simpler: Bedeutung = Gebrauch. Allein damit war, noch vor jedem Versuch, diese Gleichung auszubuchstabieren, gegenüber allen abbildtheoretischen Semantiken ein radikaler Perspektivenwechsel vollzogen. Wie sich die Syntax mit den Relationen zwischen den (Teilen von) Zeichen befasst, so befasste sich die Semantik bis dato mit den Relationen zwischen Zeichen und Welt. Was Zeichen-Benutzer tun, wenn sie Zeichen benutzen, das zu erklären war die Aufgabe der sog. Pragmatik. Mit der Bedeutung = Gebrauch − Gleichung dreht sich das Verhältnis zwischen Semantik und Pragmatik um. Ja, mehr als das: Pragmatik wird zur Basis der Semantik. Wie Zeichen und Wörter und Sätze erst durch ihre Einbettung in diverse Kontexte Bedeutung erhalten und (was auf dasselbe hinausläuft) für uns nur vor dem Hintergrund der Kontexte verstehbar sind (Kontextualismus), hat Wittgenstein anhand zahlreicher (vereinfachter) Beispiel-Situationen (Sprachspielen) vorgeführt. Die aus diesen Konstruktionen zu ziehenden Schlüsse überließ er meist uns. Das war in doppelter Weise geschickt: Zum einen lieferte er mit seinen Beispielen scheinbar wirklich nur das, was er mit seinem Philosophieren erklärtermaßen liefern wollte: eine Denk-Methode, die jeder, der

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sie einmal durchschaut hat, auch auf neue Fälle (des Testens philosophischer Thesen) anwenden kann. Und es verstrickt alle, die die von ihnen gezogenen Schlüsse auch veröffentlichen, in die endlose Debatte darüber, ob das wirklich die (auch nach Wittgensteins Meinung) richtigen Schlüsse sind oder nicht. Die Wittgenstein-Exegese gehört unter den Branchen der Philosophie des . Jh. zweifellos zu denen mit der höchsten Wachstumsrate. 2 . Theorienverzicht war die stärkste Medizin, die Wittgenstein dem Philosophen verordnete. Nicht alle haben sie geschluckt. Besonders renitent zeigte sich der Oxforder Sprachtheoretiker J. L. Austin, der Erfinder der Sprechakttheorie. Austin fand in der ›Bedeutung = Gebrauch‹-Gleichung die rechte Seite nicht weniger klärungsbedürftig als die linke – und legte in How to Do Things with Words () auch gleich einen ersten Klärungsversuch vor, den dann sein Schüler J. R. Searle systematisch ausgebaut hat. Wer z. B. heute den Satz »Heute ist der . Mai« äußert – was macht der? Fast die ganze frühere Sprachphilosophie hätte sich hier mit der Antwort »Behaupten, dass heute der . Mai ist, was denn sonst?« zufrieden gegeben – und damit schlicht übersehen, dass diese Äußerung sehr viel mehr sein kann: z. B. eine Erinnerung daran, dass die Miete fällig ist; eine Erklärung dafür, warum gerade ein Feuerwerk abgebrannt wird; die Bitte eines Bettlers um ein diesem Festtag angemessenes Almosen etc. – je nach den Umständen. Die Austin/Searlesche Sprechakttheorie war der Versuch, in all diese Dinge (samt der jeweiligen Umstände) etwas Ordnung zu bringen: Sie zielte auf eine Klassifikation der (von Austin) so genannten illokutionären Akte ab. Das war – gegenüber Wittgenstein, der auf die Frage, wie viele derartige ›Dinge‹ es gäbe, sinngemäß bloß ein ›Viele; unendlich viele?‹ parat gehabt hatte – ein Fortschritt. So sahen das jedenfalls Searle und alle anderen Sprechakttheoretiker. Trotzdem war dieser Fortschritt in Sachen Pragmatik mit einem Rückschritt verbunden, und zwar in Hinsicht der pragmatischen Semantik. Die klassische Sprechakttheorie (die Austins und Searles) interessierte sich wirklich nur für das, was man mit Wörtern bzw. Worten tun kann – mit Wörtern mit einer schon vorausgesetzten Bedeutung. Was diese Bedeutung ausmacht – dieses zentrale Thema einer pragmatischen Semantik war so gar nicht mehr formulierbar.

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. Hier sprang H. P. Grice mit einem ganz andersartigen Ansatz in die Bresche. Dessen Programm bestand aus drei Schritten: (i) Zuerst erkläre man einen allgemeinen Begriff des kommunikativen Handelns auf der Basis allgemeiner handlungstheoretischer Termini (wie z. B. Tun, Glauben und Wollen); und dann (ii) erkläre man die reguläre, konventionale und schließlich sprachliche Bedeutung von Ausdrücken durch Rekurs auf die mit deren Äußerungen verbundenen Standardabsichten; und schließlich (iii) erkläre man auch noch, was es heißt, etwas mittels der Äußerung von sprachlichen Ausdrücken indirekt zu kommunizieren (etwas zwischen den Zeilen zu sagen). Schon bei Schritt (i), der Allgemeinen Theorie des kommunikativen Handelns, zeigt sich der Unterschied zur Sprechakttheorie. Grices Ansatz ist intentionalistisch; der Ansatz der Sprechakttheorie war (anfangs) ausschließlich regelorientiert. Diese Verschiedenheit spiegelt eine tiefere wider: nämlich die zwischen solchen Handlungstheorien, deren Grundbegriffe nur auf konkrete Akte anwendbar sind, und solchen, deren Basisbegriffe auf Handlungs-Typen bezogen sind. Welcher dieser beiden Ansätze auf welchen Gebieten welche Vor- und Nachteile hat, diese Frage bestimmt einen Großteil der laufenden Diskussionen um die ›richtigen‹ Grundlagen der Kommunikations-, Bedeutungs- und Sprachtheorie. Verknüpft sind diese Diskussionen mit all den Schwierigkeiten, die bereits aus dem Streit um den sog. methodologischen Individualismus bekannt sind. Teil (i) der Griceschen Theorie ist mit epistemisch-logischen, Teil (ii) mit spieltheoretischen Mitteln inzwischen präzisiert 3 ; eine sprechakttheoretisch fundierte Semantik als Alternative haben von Savigny () und dann Brandom () vorgelegt. Ein Vergleich zwischen intentionalistischem vs. regelianistischem Ansatz steht aber immer noch aus. Ebenso eine Explikation von Grices Schritt (iii), der (deshalb nur im Sinne eines Vorgriffs so bezeichneten) Theorie der Konversationsimplikaturen (Implikatur). Auch die pragmatischen Semantiken kann man heute (nach der in () oben geschilderten Entwicklung der intensionalen Logiken) mit formalen Mitteln präzisieren, und man tut dies auch. Die Umgangssprache hat in der APh. daher heute zwar oft noch immer das erste Wort, aber fast nirgendwo mehr das letzte. Das macht die früher geläufige und oben zu Darstellungszwecken genutzte Unterscheidung

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zwischen diesen zwei Zweigen der APh. inzwischen beinahe obsolet. Diese Feststellung trifft natürlich nur für die Problembereiche zu, die sich durch den Einsatz von Logiken heutzutage klären lassen. Das sind aber bei weitem nicht alle. . Eine weitere Quelle der APh. waren die wissenschaftstheoretischen Arbeiten aus dem Wiener Kreis (u. a. mit M. Schlick, O. Neurath und F. Waismann, Empirismus, logischer) und verwandter Zirkel u. a. in Berlin (H. Reichenbach) und Prag (R. Carnap). Gemeinsam war ihnen das Bestreben, die Rolle der Philosophie im Zusammenhang mit den empirischen Wissenschaften zu klären. Die Tendenz war klar anti-metaphysisch. Eines der Hauptinteressen galt der Abgrenzung sinnloser Sätze von sinnvollen (insbes.: empirischen), wobei das sog. Verifikationskriterium (Verifikation) der Bedeutung eine wesentliche Rolle spielte; ein weiterer Schwerpunkt war der Versuch, die angenommene Einheit der Wissenschaften (Einheitswissenschaft) an einem für alle Wissenschaften geltenden einheitlichen Erklärungsmodell (dem Modell der deduktiv-nomologischen Erklärung und dessen induktivstatistischen Varianten) festzumachen. Das beste Paradigma für Arbeiten aus der Anfangszeit dieser wissenschaftstheoretischen Komponente der APh. ist R. Carnaps Der logische Aufbau der Welt. Dort wird exemplifiziert, wie begriffliche Theorienreduktionen vonstatten gehen könnten; und schon der Titel macht die enge Verbindung zu den in () skizzierten Logik-Ansätzen deutlich. In der Frühzeit der analytischen Wissenschaftstheorie ließen sich die meisten Arbeiten von Überlegungen aus der Metamathematik inspirieren. Eine axiomatisch formulierte Theorie (eine axiomatische Logik) war dabei das dominante Modell. Für den Wiener Kreis wie auch für die anderen genannten Zirkel bedeutete die Herrschaft des Nationalsozialismus das Ende: das Ende an den genannten Orten, nicht das Ende der Wirksamkeit. Führende Vertreter (darunter auch Carnap) konnten sich in die USA retten; und von dort aus verbreitete sich diese Richtung dann fast über die ganze westliche Welt – mit England, Australien und Neuseeland sowie Skandinavien als Schwerpunkten. (Von größter Bedeutung für die Entwicklung der Wissenschaftstheorie im Nachkriegsdeutschland war Wolfgang Stegmüller, ab  Professor in München. Dessen ab

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 erschienenes opus magnum Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie umfasste den Stoff und ersetzte für viele die Lektüre ganzer Bibliotheken.) 3 Einzelprobleme . Die Trennung zwischen analytischen Sätzen/Aussagen einerseits und synthetischen (analytisch/synthetisch) andererseits war in der APh. lange Zeit so etwas wie eine Selbstverständlichkeit, nahezu ein Dogma.  wurde dieses Dogma durch W. V. O. Quine gekippt. Das war einer der wichtigsten Wendepunkte in der APh. Man kann ihn verschieden interpretieren. Wer meint, für die APh. sei dieses Dogma (als Dogma) notwendig gewesen, wird Quines Beitrag als Beginn des Verfalls ansehen. (Diese Variante wählen natürlich alle, die der APh. ohnehin nicht wohlwollend gegenüber stehen). Wer die APh. nicht auf dieses Dogma festnagelt, dem steht es frei, auch diese Entdogmatisierung als Fortschritt zu sehen. Man kann mit der analytischsynthetisch-Unterscheidung auch völlig undogmatisch weiterarbeiten. Sie ist nichts weiter als eine von uns vorgenommene Setzung, auf deren Explikationsvorteile wir nicht verzichten sollten. Schließlich hat auch nach Quines Dogmensturz kein vernünftiger Mensch auf die (aus eben solchen Setzungen resultierende jeweilige) Logik verzichtet, auch nicht Quine. (Ohnehin war Quines Dogmenzerstörung weniger radikal, als sie zunächst erschien: In modifizierter Form taucht die analytisch-synthetisch-Distinktion als Unterschied zwischen Kern und Peripherie eines Systems wieder auf.) Mit der Destruktion der analytisch-synthetisch-Unterscheidung war auch die (des Redens bezüglich) der Bedeutungen von Sätzen (und deren Teilen) verknüpft. Seitdem teilen viele den sog. Bedeutungsskeptizismus. Man kann aber auch diesen als Vorteil sehen: Spätestens jetzt ist klar, dass Bedeutungen idealisierte Konstrukte sind – Idealisierungen, die, wenn sie als solche durchschaut sind, zahlreiche Vorteile haben. . Das Interesse der analytischen Wissenschaftstheorie war anfangs ausschließlich auf die synchronen Aspekte wissenschaftlicher Theorien fixiert. Das änderte sich mit den Arbeiten von T. Kuhn (). Was ein ›Paradigmenwechsel‹ ist, meint seitdem in der Philosophie bei uns jeder zu wissen (Paradigma). Der entsprechende Paradigmen-

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wechsel in der Wissenschaftstheorie selbst bewirkte, dass nun auch diachrone Betrachtungen angestellt werden und so die dynamischen Aspekte von Theorien in den Blick kommen. Den nächsten Schritt machte J. Sneed (The Logical Structure of Mathematical Physics, ). Der Begriff einer empirischen Theorie lässt sich mit den Mitteln der Mengenlehre in seiner ganzen Komplexität erfassen; verschiedene Arten von intertheoretischen Relationen können nun genau identifiziert werden, insbes. die diachronischen Theorien-Aspekte. Den Durchbruch schaffte dieser neue Ansatz dank Stegmüllers Theorienstrukturen und Theoriendynamik (). Das dort entworfene Programm einer strukturalistischen Wissenschaftskonzeption lieferte einen Rekonstruktionsrahmen, mit dem sich physikalische Theorien genauso analysieren lassen wie Das Kapital von Karl Marx. 4 . Die Entwicklungen in der Logik wie in der Wissenschaftstheorie verlaufen naheliegenderweise meist konvergent. Die Dynamisierung logischer Betrachtungen (insbes. im Rahmen der epistemischen Logik) hat in der Dynamisierung der Wissenschaftstheorie ihr Spiegelbild. Parallelen gibt es aber auch zur oben skizzierten Entwicklung der Sprachphilosophie. Die dort eingetretene pragmatische Wende (weg von reiner Syntax und einer nur an dieser orientierten Semantik) ist ebenso ein Kennzeichen der neueren Wissenschaftstheorie. Und das wiederum verstärkt die Rezeption derjenigen Vorläufer der APh., die dem Pragmatismus von Dewey und Peirce nahe standen. Und das ist wiederum nur eine Komponente in dem derzeitigen Trend zur Historisierung der APh. Logik, Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie – innerhalb dieser Trias bewegte sich noch bis Ende der er Jahre in der APh. nahezu alles. Die meisten Arbeiten aus den anderen Bereichen der APh. lassen sich bis dahin mehr oder weniger als Anwendungen und Ergänzungen von und zu Resultaten aus dieser Trias verstehen. . So war z. B. die analytische Ethik lange Zeit fast ausschließlich auf die Metaethik beschränkt, und diese hat per definitionem die Klärung der (Logik der) moralischen Begriffe und der verschiedenen Begründungsformen moralischer Urteile zum Ziel. Der bedeutendste und einflussreichste Vertreter der durch ihn geradezu definierten Phase der

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analytischen Ethik war R. M. Hare. Ethik, so Hare, ist nichts anderes als Metaethik in ihrer um Tatsachenwissen ergänzten Anwendung auf praktisch-ethische Probleme. Die analytische Ethik ist zwar gegenüber den unterschiedlichen Typen normativer Ethiken (wie z. B. Tugendethiken, Pflichtenethiken, vertragstheoretischen und Folgen-Ethiken) neutral; der v. a. in der angelsächsischen Tradition verankerte Utilitarismus ist in ihr aber bis heute dominant, wenngleich mit abnehmender Tendenz. Hare glaubte, den sog. Präferenz-Utilitarismus (wonach unter dem auf ein Individuum a bezogenen Nutzen nichts anderes als der Grad der Erfüllung der Präferenzen von a zu verstehen ist) direkt aus den beiden Grundeigenschaften moralischer Urteile ableiten zu können: aus deren Präskriptivität plus Universalisierbarkeit (weshalb Hares Position auch als universeller Präskriptivismus bezeichnet wird). Die bekanntesten Vorläufer von Hare waren G. E. Moore und C. L. Stevenson. Auch die analytische Ethik hatte ihre Wende. A Theory of Justice () von John Rawls wurde von vielen als eine ungeheure Befreiung empfunden: Nach jahrzehntelanger Fixierung auf die Metaethik endlich wieder inhaltliche normative Debatten? (Diese geläufige Einschätzung ist aber unfair: Schon bei Hare galt als bester Test für eine ethische Theorie deren Relevanz für die Praxis; und er hatte seine eigene Theorie diesem Test permanent unterzogen – und zwar öffentlich.) Rawls Vertragstheorie der Gerechtigkeit hat weit über die Philosophie hinaus Furore gemacht. In anderer Weise gilt dies auch für einige Debatten aus der Praktischen Ethik, in denen sich Vertreter der APh. in den letzten Jahren besonders – und ihrem Selbstverständnis entsprechend mitunter auch klar und deutlich – hervorgetan haben. Peter Singers Praktische Ethik, ein Beispiel guter angewandter analytischer Ethik (Angewandte Ethik), entfachte in den deutschsprachigen Ländern einen Sturm der Entrüstung; wie kräftig sich philosophische Klarheit und öffentliche Akzeptanz beißen können, wurde in diesem Kontext den meisten analytischen Philosophen wohl erstmals bewusst. Der Streit um die Praktische Ethik machte den alten Streit um die Rolle der Philosophie in der modernen Welt aktuell.

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. Weniger umstritten sind die Beiträge der APh. zur Ästhetik; diese imitierten meist einfach die Entwicklungen in der analytischen Ethik. Die Metaästhetik untersucht die verschiedenen Funktionen bzw. logischen Strukturen des ästhetischen Diskurses. Das bedeutendste Werk in dieser Disziplin ist bislang N. Goodmans The Languages of Art (). Die Eigentümlichkeiten des religiösen Diskurses werden im Rahmen der analytisch betriebenen Religionsphilosophie untersucht, deren Zentralthema das Pro und Contra bezüglich der Existenz Gottes ist. Paradigmatisch für die APh. der Religion sind die Beiträge von R. Swinburne und J. L. Mackie. . Ein weiteres Zentrum der APh., in dem die Entwicklungsstränge verschiedener Themenbereiche konvergieren, ist die analytische Handlungstheorie. Man kann diese als den Kernbereich der mit den Methoden der APh. betriebenen Praktischen Philosophie ansehen. 5 Sie ist zum einen die Metatheorie zu den verschiedenen inhaltlichen (empirischen, normativen und rationalen) Handlungstheorien; das heißt: Sie klärt und präzisiert die wichtigsten handlungstheoretischen Grundbegriffe (wie z. B. Tun, Glauben, Wollen, Beabsichtigen etc.) und die verschiedenen Begründungs-, Erklärungs- und Rechtfertigungsfunktionen der in den diversen Handlungstheorien aufgestellten Gesetze bzw. Prinzipien. Einer der Hauptrenner in diesem weiten Feld war und ist das Problem der Unterscheidung zwischen dem (naturwissenschaftlichen) Erklären und dem (auf einen zu erfassenden Sinn abhebenden) Verstehen von Handlungen und deren Produkten. Die wichtigsten Autoren sind hier, neben Wittgenstein, G. H. von Wright und D. Davidson. Allergrößten Einfluss hatte die als handlungstheoretischer Vorläufer der späteren Philosophie des Geistes anzusehende Arbeit The Concept of Mind () von G. Ryle. Zum anderen behandelt die analytische Handlungstheorie das, was früher als Metaphysik der Handlung bezeichnet wurde: traditionell-philosophische Fragen wie die nach der Willensfreiheit, nach der Möglichkeit des (Wissens vom bzw. des Zugangs zum) Fremdpsychischen, nach dem Leib-SeeleZusammenhang etc. . In den meisten Debatten in der Handlungstheorie wird inzwischen auf das Modell des rationalen Handelns rekurriert, das (sofern

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es um die Handlung eines Einzelnen geht) im Rahmen der rationalen Entscheidungstheorie mithilfe quantitativer Nutzens- bzw. (subjektiver) Wahrscheinlichkeits-Begriffe präzisiert ist. Dabei spielt (für sog. Entscheidungssituationen unter Risiko) das Kriterium von Bayes eine wesentliche Rolle, wonach eine Entscheidung/Handlung genau dann rational ist, wenn ihr Erwartungswert des Nutzens (d. h.: die Summe der mit der jeweiligen Wahrscheinlichkeit gewichteten Nutzenswerte ihrer verschiedenen Folgen) maximal ist. Dieser Ansatz wurde im Rahmen der Spieltheorie für Entscheidungen mehrerer Agenten verallgemeinert. 6 Heute dürfte es keinen guten APh.-Vertreter geben, der, wenn er in der Handlungstheorie arbeitet, nicht auf das Präzisierungsinstrument der Entscheidungs- bzw. Spieltheorie zurückgreift. Das gleiche gilt auch für viele Bereiche der Ethik und der Sozialphilosophie – ja für fast alle philosophische Disziplinen. Zum Beispiel hat D. Lewis durch spieltheoretische Mittel Konventionsbegriffe erfasst, die auch sprachtheoretisch (für eine Präzisierung einer präferenztheoretischen Variante der pragmatischen Semantik) relevant sind. Das Instrument der Entscheidungs- bzw. Spieltheorie gehört in der APh. genauso zum Handwerkszeug wie die diversen Logiken. Problem-Favorit ist, schon in jedem Anfängerkurs, das sog. Gefangenendilemma (Spieltheorie). Entscheidungs- und Spieltheorie sind auch Instrumente in zahlreichen Fächern außerhalb der Philosophie; primär natürlich in dem Fach, aus dem diese Instrumente stammen: der Nationalökonomie. Je nach Tiefe der Fragestellung gehen Beiträge aus diesen Fächern und solche aus der APh. mitunter fast ununterscheidbar ineinander über. Insofern haben Vertreter der APh. in Sachen Interdisziplinarität bezüglich der betreffenden Fächer meist keine Probleme. . Von Anfang an interdisziplinär orientiert ist die neuere Philosophie des Geistes. Diese arbeitet zwar auch an den (in .) schon angeführten Problemen der alten Metaphysik des Handelns weiter; falls jemand nach einem philosophischen Paradigmenwechsel suchen sollte: hier ist einer. Leitdisziplin in der Philosophie des Geistes ist nicht mehr die Bedeutungs- bzw. Sprachtheorie, sondern die sog. Kognitionstheorie. Aber nicht nur dort: Denn die Philosophie des Geistes ist selbst zur Leitdisziplin der APh. geworden, und zwar naheliegender Weise: Mit

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der Pragmatisierung der sprachphilosophischen Semantik und der Wissenschaftstheorie rückten in der APh. die diversen Begriffe der Handlungstheorie selbst in diesen Disziplinen der theoretischen Philosophie ins Zentrum. In der Praktischen Philosophie waren sie ohnehin seit je dort. Die in Form der Entscheidungs- und Spieltheorie präzisierten Rationalitätstheorien (Rationalität) basieren auf den gleichen Grundbegriffen. Von einem Verständnis dieser Begriffe hängt also in fast allen Disziplinen der Philosophie fast alles weitere ab. Wie könnte da die APh. eben diese Begriffe nicht wichtig nehmen? Analysiert und expliziert wurde diese in der APh., wie gesagt, auch schon vor der kognitionswissenschaftlichen Wende. Aber erst mit dieser (d. h. mit dem Entstehen der verschiedenen Kognitionswissenschaften) wird ein alter Traum realisierbar: der der Naturalisierung des Geistes (Naturalismus). Das glauben jedenfalls viele Vertreter der APh., die es jetzt in Zusammenarbeit mit den diversen Kognitionswissenschaften auch näher wissen wollen. Was das Forschungsprojekt einer Naturalisierung des Geistes überhaupt bedeutet, was an ihm dran ist, welche Folgerungen zu ziehen wären, wenn es erfolgreich sein sollte, das sind die Fragen, die derzeit fast alle Debatten in der Philosophie des Geistes – und indirekt damit auch fast alle anderen – beherrschen. (Zentralthemen sind: Was ist Bewusstsein? Was Intentionalität? Was heißt und gibt es überhaupt mentale Verursachung? Funktioniert der Geist wie ein Computer? Könnte er selbst einer sein? Wenn wir was denken, wovon hängt es ab, was? Nur vom Denken selber? Oder auch von der Welt?) Hierzu wird am meisten geforscht; in diesem Gebiet ändert sich innerhalb kürzester Zeit am meisten; von hier aus, so heißt es, dürften die nächsten Kognitions- und vielleicht auch gar PhilosophieRevolutionen ausgehen. Die zurzeit einflussreichsten philosophischen Mitspieler in diesem Wettrennen sind P. M. und P. S. Churchland, D. Dennett, J. A. Fodor, H. Putnam und J. R. Searle. 7 . Wie bei allen Erfolgsgeschichten wendet sich auch bei der APh. der Blick inzwischen auf die eigenen Anfänge. Wo die genau liegen? Darüber – und über die diversen Vorläufer, Väter und Großväter – also speziell über und zu G. Frege (zu diesem v. a. M. Dummett), B. Bolzano, F. Brentano – wird zunehmend geforscht. Dabei zeigt sich auch hier: Der Erfolg hat immer viele Väter. Sprechakttheoretische Un-

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terscheidungen hatte z. B. schon A. Marty vorweggenommen; und im Zuge des Aufstiegs der mentalistischen Philosophie des Geistes kommen auch parallele Fragestellungen bei E. Husserl in den (v. a. durch D. Føllesdal ermöglichten) Blick. Und findet sich eines der Hauptwerkzeuge der APh., die Mögliche-Welten-Theorie, nicht auch schon bei Leibniz? War nicht gar schon Abaelard einer der scharfsinnigsten Analytiker? Durch diese auf sich selbst bezogene Historisierung der APh. verliert dort auch die Unterscheidung zwischen systematischer vs. historischer Philosophie ihre anfängliche Schärfe. Zudem werden auch Klassiker wie Hegel, deren Einfluss von den meisten analytischen Philosophen der Anfangszeit bekämpft, wenn nicht gar verachtet worden war, inzwischen selber durch die analytische Brille gelesen. 8 Institutionell hatte es die APh. in den deutschsprachigen Ländern auch nach  anfangs sehr schwer. In Deutschland begann erst mit der Stegmüller-Professur in München  die Wende zum Besseren. Lange Jahre wirkte sich die Konkurrenz zwischen den traditionellen Analytikern und den Vertretern des Erlanger Konstruktivismus (P. Lorenzen, K. Lorenz u. a.) für beide Seiten negativ aus. Heute ist diese Konkurrenz unter dem Dach eines erweiterten Verständnisses von APh. konstruktiv-kritischer Kooperation gewichen. Die neuesten Entwicklungen der APh. werden in den alle drei Jahre stattfindenden Kongressen der  gegründeten GAP (Gesellschaft für Analytische Philosophie) und deren Proceedings Perspectives in Analytical Philosophy (wie über die gleichnamige Reihe) dargestellt; ebenso in den Tagungen und Proceedings der Österreichischen Ludwig-Wittgenstein-Gesellschaft sowie der ESAPh. (European Society for Analytical Philosophy). Impliziert der große Erfolg der APh. (auch in den deutschsprachigen Ländern) nicht auch einen Verlust? Z. B. ist der kämpferische antimetaphysische Ton der Anfangszeit völlig verschwunden: Metaphysik hat seit  9 sogar in der APh. Sektionsstatus. Ist die APh. also derzeit wirklich dabei, wie G. H. von Wright  bemerkte 10, ihre Identität zu verlieren? Das hängt wohl auch vom Nicht-analytischen Rest ab, gegen den sich die APh. von Anfang an natürlich gerne als ›die bessere Philosophie‹ abgegrenzt hat. Auch wenn man Føllesdal vielleicht nicht blanko zustimmen wird, wenn er die APh. schlicht mit guter Philosophie gleichsetzt 11 – eines wird man kaum bestreiten können: dass sie jene neuen Standards definiert hat. Manche Postmodernisten

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reden schon von postanalytischer Philosophie; was an diesem Gerede dran ist, wird man sehen. Austin, J. L., , How to Do Things with Words, Oxford. – Ayer, A. J., , Russell and Moore. The Analytical Heritage, London. – Baker, G. P./Hacker, P. M. S., , An Analytical Commentary on the Philosophical Investigations, Vol. , Oxford. – Bartelborth, T., , Begründungsstrategien. Ein Weg durch d. Analytische Erkenntnistheorie, Berlin. – Beckermann, A. (Hg.), , Analytische Handlungstheorie, Bd. II, Fft./M. – Beckermann, A., , Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, Berlin/NY. – Brandom, R., , Making It Explicit, Harvard. – Bubner, R. (Hg.), , Sprache und Analysis, Göttingen. – Butler, R. J. (ed.), /, Analytical Philosophy,  vols., Oxford. – Carnap, R., , Der logische Aufbau der Welt, Berlin. – Carnap, R.,  (), Meaning and Necessity, Chicago. – Churchland, P. M., , Matter and Consciousness, Cambridge (MA). – Churchland, P. S., , Neurophilosophy, Cambridge (MA). – Davidson, D., , Essays on Actions and Events, Oxford. – Davidson, D.,  Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford. – Dennett, D., , The Intentional Stance, Cambridge (MA). – Dummett, M., , Ursprünge der analytischen Philosophie, Fft./M. – Evans, G., , The Varieties of Reference, ed. J. McDowell, Oxford. – Essler, W. K.,  f., Analytische Philosophie I/II, Stuttgart. – Fehige, Ch./Wessels, U. (Hg.), , Preferences, Berlin/NY. – Flew, A. (ed.), , Logic and Language, NY. – Føllesdal, D., , Was ist analytische Philosophie? In: G. Meggle (Hg.), Analyomen . Proceedings of the st Conf. ›Perspectives in Analytical Philosophy‹, Vol. I: Logic, Epistemology, Philosophy of Science, Berlin/NY . – Frege, G., , Über Sinn und Bedeutung. In: Ders., Funktion, Begriff, Bedeutung, hg. v. G. Patzig, Göttingen . – Goodman, N., , Languages of Art, Indianapolis. – Grice, P., , Studies in the Way of Words, Cambridge (MA). – Hallett, G., , A Companion to Wittgenstein’s ›Philosophical Investigations‹, Ithaca/London. – Hacker, P. M. S., , Wittgenstein’s Place in Twentieth Century Analytic Philosophy, Oxford. (Dt.: Wittgenstein im Kontext der Analytischen Philosophie, Fft./M. .) – Hare, R. M., , The Language of Morals, Oxford. – Hare, R. M., , Freedom and Reason, Oxford. – Hare, R. M., , Moral Thinking, Oxford. – Hintikka, J., , Models for Modalities, Oxford. – Hoche, H.-U., , Einführung in das sprachanalytische Philosophieren, Darmstadt. – Holmström-Hintikka, G./Tuomela, R. (eds.), , Contemporary Action Theory,  vols., Dordrecht. – Hughes, G. E./Cresswell, M. J., , An Introduction to Modal Logic, London. – Jäger, Ch. (Hg.), , Analytische Religionsphilosophie, Paderborn. – Jeffrey, R. C., , The Logic of Decision, NY/ Toronto/London (Dt.: Logik der Entscheidung, Wien/München ). – Kern, L./Nida-Rümelin, J., , Logik kollektiver Entscheidungen, München/Wien. – Kim, J., , Philosophy of Mind, Boulder, CO  (Dt. Philosophie des Geistes, Berlin/Heidelberg ). – Kripke, S.,  , Naming and Necessity, Oxford. – Kuhn, T. S., , The Structur of Scientific Revolutions, Chicago. – Kutschera, F. v., , Einführung in die intensionale Semantik, Berlin/NY. – Kutschera, F.

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v., , Grundfragen der Erkenntnistheorie, Berlin/NY. – Kutschera, F. v., , Ästhetik, Berlin/NY. – Kutschera, F. v., , Vernunft und Glaube, Berlin/NY. – Kutschera, F. v., , Grundlagen der Ethik, Berlin/NY. – Lenzen, W., , Glauben, Wissen und Wahrscheinlichkeit, Wien/NY. – Lewis, D., , Convention, Cambridge (MA). – Lewis, D., /, Philosophical Papers, Vol. I/II, Oxford. – Lorenz, K., , Elemente der Sprachkritik. Eine Alternative z. Dogmatismus u. Skeptizismus in d. Analyt. Philos., Fft./M. – Lorenzen, P./Lorenz, K., , Dialogische Logik, Darmstadt. – Luce, R. D./Raiffa, H., , Games and Decisions, NY. – Mackie, J. L., , The Miracle of Theism, Oxford. – Meggle, G.,   (), Grundbegriffe der Kommunikation, Berlin/NY. – Meggle, G., , Handlungstheoretische Semantik, Habil-Schrift; Berlin/NY . – Meggle, G. (Hg.), , Analytische Handlungstheorie, Bd. I, Fft./M. – Meggle, G./Wessels, U. (Hg.), , Analyomen . Proceedings of the st Conference »Perspectives in Analytical Philosophy«, Berlin/NY. – Meggle, G. (Hg.), , Analyomen . Proceedings of the st Conference ›Perspectives in Analytical Philosophy‹, Vol. I–III; Berlin/NY. – Montague, R., , Formal Philosophy, ed. R. H. Thomason, New Haven/London. – Moore, G. E., /, Some Main Problems of Philosophy, London. – Moore, G. E.,  (/), Philosophical Papers, London. – Nagel, L./Heinrich, R. (Hg.), , Wo steht die Analytische Philosophie heute? Wien/ München. – Newen, A./Savigny, E. v., , Analytische Philosophie. Eine Einf., München. – Pap, A., , Elements of Analytic Philosophy, NY. – Putnam, H., , The Meaning of ›Meaning‹. In: Ders., Mind, Language, and Reality, Philosophical Papers Vol. , Cambridge (MA). – Quine, W. V. O.,   (), Two Dogmas of Empiricism. In: Ders., From a Logical Point of View, Cambridge (MA). – Quine, W. V. O., , Word and Object, Cambridge (MA). – Raatzsch, R., , Eigentlich Seltsames. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Bd. I: Unterwegs z. Großen Frage (PU –), Habil-Schrift Leipzig. – Rawls, J., , A Theory of Justice, Oxford. – Reichenbach, H., , Elements of Symbolic Logic, NY. – Russell, B., , On Denoting. In: Mind . – Russell, B./Whitehead, A. N.,  (–), Principia Mathematica, Cambridge. – Ryle, G., , The Concept of Mind, London. – Savigny, E. v., , Die Philosophie der normalen Sprache, Fft./M. – Savigny, E. v., , Analytische Philosophie, Freiburg/München. – Savigny, E. v., , Zum Begriff der Sprache, Stuttgart. – Savigny, E. v., /, Wittgensteins ›Philosophische Untersuchungen‹. Ein Kommentar f. Leser,  Bde., Fft./M. – Scholz, O. R., , Verstehen und Rationalität, Fft./M. – Searle, J., , Speech Acts, Cambridge. – Singer, P., , Practical Ethics, Cambridge. – Sinnreich, J. (Hg.), , Zur Philosophie der idealen Sprache, München. – Sneed, J. D., , The Logical Structure of Mathematical Physics, Dordrecht. – Stekeler-Weithofer, P., , Grundprobleme der Logik, Berlin/NY. – StekelerWeithofer, P., , Hegels Analytische Philosophie, Paderborn. – Stegmüller, W.,  ff., Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Berlin/Heidelberg. – Strawson, P. F., , Individuals, London. – Swinburne, R., , The Existence of God, Oxford. – Waismann, F., , Was ist logische Analyse? GAA hg. von Gerd H. Reitzig, Fft./M. – Williams, B./Montefio-

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re, A. (eds.), , British Analytical Philosophy, London. – Wittgenstein, L., , Tractatus logico-philosophicus. In: WA, Bd. , Fft./M. – Wittgenstein, L., , (PU) Philosophische Untersuchungen. In: WA, Bd. , Fft./M. – Wright, G. H. v., , Explanation and Understanding, Ithaca/NY (Dt.: Erklären und Verstehen, Fft./M.  ). – Wright, G. H. v., , Analytische Philosophie – eine historischkritische Bemerkung. In: Meggle/Wessels . 1 Musterbeispiele solchen Philosophierens u. a. bei J. Hintikka, F. v. Kutschera, W.

Lenzen, D. Lewis und R. Montague. – 2 Die wichtigsten Kommentare: Hallett, Baker/Hacker, v. Savigny und Raatzsch. Zu Wittgenstein im Kontext der APh. vgl. Hacker . – 3 Meggle , . – 4 Vgl. Bibliography of Structuralism in: Erkenntnis, . – 5 Vgl. hierzu d. beiden Bde. Analytische Handlungstheorie von Beckermann u. Meggle ; z. derzeitigen Stand d. Debatten vgl. die beiden Bde. von Holmström-Hintikka/Tuomela . – 6 Ein Klassiker d. Entscheidungstheorie: Jeffrey ; d. Spieltheorie: Neumann/Morgenstern . Bes. wichtig auch: Luce/Raiffa . – 7 Die beiden besten Einf. in d. Philos. d. Geistes sind d. von Kim  u. Beckermann . – 8 Vgl. z. B. Stekeler-Weithofer . – 9 Vgl. Meggle . – 10 Von Wright . – 11 Føllesdal .

Georg Meggle

Angewandte Ethik

1 Zum Begriff. Mit dem Terminus ›Angewandte Ethik‹ (AE) ist jener Teilbereich der Ethik gemeint, in dem konkrete moralische Fragen systematisch untersucht und moralische Kontroversen auf ihren argumentativen Kern hin analysiert werden. ›Ethik‹ wird in diesem Zusammenhang nicht gleichbedeutend mit Moral als »Gesamtheit der moralischen Urteile, Normen, Ideale, Tugenden, Institutionen« 1 gebraucht, sondern synonym mit ›Moralphilosophie‹ verwendet. Hiermit ist dann jene Fachdisziplin angesprochen, die sich systematisch mit der Analyse von moralischen Begriffen, moralischem Denken, der Konsistenz und Kohärenz unseres moralischen Überzeugungssystems sowie moralischer Argumentationen beschäftigt. Im Zuge dieser kritischen Auseinandersetzung sind im Laufe der Philosophiegeschichte diverse Moraltheorien entwickelt worden, die in der Rekonstruktion dessen, was Moral im Kern ausmacht, unterschiedliche Akzente setzen, eine je eigene Terminologie nutzen und ein spezielles Moralkriterium vorstellen, das den eigentlichen ›Kern‹ der Moraltheorie ausmacht. Ganz allgemein versteht man nun unter ›AE‹ die Anwendung der in der Ethik und ihrer Teildisziplin, der Metaethik gewonnenen Erkenntnisse und Begriffe, Moralkriterien oder -prinzipien auf konkrete moralische Probleme oder moralische Dilemma-Situationen, mit der Absicht, einen konstruktiven Beitrag zu deren (Auf-)Lösung oder doch zumindest zu deren inhaltlicher Klärung zu leisten. Welche inhaltlichen Positionen sind im vorliegenden Konflikt involviert? Was wird jeweils behauptet und welche Gründe werden für die Thesen ins Feld geführt? Wie sind die Beweislasten verteilt? Was ist eigentlich ein Argument für was? Und wo liegt der eigentliche Kern der Kontroverse? Überlegungen dieser Art trägt der Angewandte Ethiker an moralische Streitfragen heran. In einem allgemeinen Sinne hat es AE schon immer gegeben. Die Entwicklung und das entschiedene Eintreten für eine bestimmte Moraltheorie hat sich seit der Antike eigentlich immer auch dadurch vollzogen, dass die Leistungsfähigkeit dieser Moraltheorie in direkter Konfrontation mit konkreten moralischen Fragen unter Beweis gestellt

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wurde. Als explizite eigenständige Disziplin entstand sie – jedenfalls im Kontext der analytischen Ethik – in den er Jahren, als man in der angelsächsischen Moralphilosophie begann, intensiv über Fragen der moralischen Zulässigkeit der Abtreibung und – etwas später – verschiedener Varianten der Sterbehilfe zu diskutieren. 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte Den zeitlich-historischen Beginn der AE genau anzugeben ist schwierig, wenn nicht unmöglich. Während es in der nicht-analytischen Ethik eine lange Tradition der Anwendung von allgemeinen Normen und Prinzipien auf als problematisch wahrgenommene moralische Sachverhalte gibt und eine traditionelle Trias von allgemeiner Ethik, Metaethik und AE, ergibt die Entwicklung der analytischen Ethik ein etwas anderes Bild: Vor dem erkenntnistheoretischen Hintergrund des frühen Logischen Empirismus, demzufolge es nur zwei Arten von sinnvollen Sätzen geben konnte – analytische a priori und synthetische a posteriori – wurde Ethik als Wissenschaft insofern als seriöses wissenschaftliches Unternehmen unmöglich, als normative Urteile in keine dieser beiden Teilklassen zu subsumieren waren. Es blieben für die frühen Logischen Empiristen in dieser Hinsicht nur zwei Optionen offen: die Metaethik, also die systematische Analyse der Sprache der Moral und moralischer Urteile sowie die deskriptive Ethik. Erst als sich in den er und er Jahren im Kontext sprachanalytischer Untersuchungen (u. a. von Richard Hare 2) abzeichnete, dass auch moralische Urteile (anders als etwa die Emotivisten oder Expressionisten meinten) logisch-semantische Eigenschaften haben, die in ethischen Konfliktfällen eine rationale, regelgeleitete Entscheidungsfindung ermöglichen, wurde die Ethik und dann auch die AE wieder zu Optionen auch für analytische Ethiker. Hare selbst 3, aber auch Philippa Foot 4 u. a. begannen die Diskussion mit einer intensiven Auseinandersetzung um Abtreibung und Sterbehilfe, die bald auch in Deutschland aufmerksam rezipiert und dann eigenständig fortgeführt wurde. 5 Seit dieser Zeit hat die AE auch im Kontext der analytischen Philosophie einen enormen Aufschwung genommen. Ausgehend von den bereits erwähnten ›klassischen Fragen‹ der Bioethik, die sich an den Grenzen des Lebens stellen, kam es rasch zu einem breiten Spektrum an sog. Bereichsethiken wie beispielsweise der Tierethik, der

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Medizinethik oder der Ökologischen Ethik. Heute ist neben der fortgesetzten Expansion der Bereichsethiken im Zuge der Forschung auch in der Lehre ein großes Interesse von Lehrenden und Studierenden an Studienprogrammen festzustellen, die sich (ausschließlich) der AE widmen. 6  wurde der erste Lehrstuhl für AE in Jena eingerichtet. 3 Methoden- und Selbstverständnis 3.1 Was heißt ›Anwendung‹? Die AE bietet heute ein disparates Bild: An der Oberfläche meint man weiterhin eine große Euphorie bei allen Beteiligten wahrzunehmen – die AE prosperiert und ist inzwischen auch als seriöses wissenschaftliches Unternehmen fast überall akzeptiert. Das war durchaus nicht immer so. Viele Philosophen betrachteten sie als ›Philosophie light‹, als Philosophie für Ungeduldige und Oberflächliche, die lieber im vermeintlich schnellen und öffentlichkeitswirksamen Geschäft der Beschäftigung mit als gesellschaftlich relevant betrachteten moralischen Problemen glänzen wollten als sich in der Grundlagenforschung an komplizierten und schwer vermittelbaren Detailfragen die Zähne auszubeißen. So schreibt Dieter Birnbacher nicht ohne Augenzwinkern: »Es ist nicht zu leugnen, dass der praktische Ethiker innerhalb seiner eigenen Profession nicht im allerbesten Ruf steht. Bereits dadurch, dass er sich überhaupt mit Anwendungsfragen beschäftigt, übt er in den Augen vieler seiner Kollegen aus der ›Fachphilosophie‹ Verrat an der Reinheit des Gedankens. Überdies steht er dadurch, dass er sich auf das bedenkliche Spiel mit politischen Diskursformen einlässt, im Verdacht, strategisch statt sachbezogen zu argumentieren und damit die intellektuelle Glaubwürdigkeit der Zunft insgesamt zu untergraben. [. . . ] Die typische Frage des Fachkollegen an den Angewandten Ethiker lautet deshalb: ›Betreiben Sie darüber hinaus auch noch wirkliche Philosophie?‹.« 7 Mag diese Art der Skepsis gegenüber der Tätigkeit des Angewandten Ethikers inzwischen auch geringer geworden sein, so gibt es heute nicht nur externe kritische Vorbehalte, sondern jenseits der vermeintlich positiven Erfolgsbilanz v. a. auch interne Kontroversen, die u. a. die Methode der AE, die Bedeutung von Theorien für die Entscheidungsfindung sowie das Verhältnis zwischen AE und der allgemeinen Ethik und Anspruch der AE an sich selbst thematisieren. Das fängt schon damit an, dass –

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wie insbes. Andreas Vieth betont – der Anwendungsbegriff in der AE viele Facetten hat, die oft nicht sauber voneinander getrennt werden, so dass »Erläuterungen zu Gegenstand und Ziel der AE meistens ein Amalgam aus verschiedenen Facetten des Anwendungsbegriffes« 8 seien. Vieth selbst unterscheidet sechs verschiedene Aspekte: »() Der Ethik-Experte wendet sein Wissen für Ethik-Laien verständlich an: Der Philosoph kann in diesem Sinne als Ethikexperte durch seine Expertise Laien ein Verständnis für Fragen der philosophischen Ethik vermitteln. [. . . ] () Die Theorie wird in der Praxis angewendet: Die philosophische Disziplin entwickelt Theorien (im Elfenbeinturm), die dann von Philosophen und Nicht-Philosophen umgesetzt werden müssen. [. . . ] () Ethik bzw. Konzepte der allgemeinen Ethik werden auf bestimmte Problemkontexte wie z. B. auf die Medizinethik oder andere Bereiche übertragen (Umweltethik, Sozialethik, Genethik, usw.). [. . . ] () Abstrakte Prinzipien, die man z. B. durch die allgemein und abstrakt denkende Vernunft erkannt hat, werden konkretisiert, d. h. sie werden der lebensweltlichen Erfahrung einverleibt. [. . . ] () Allgemeine Prinzipien des Richtigen und Guten, z. B. die Menschenrechte, werden spezifiziert, indem man aus ihnen bspw. sozialpolitische Maßnahmen ableitet. [. . . ] () Normen von universaler Geltung müssen partikular interpretiert werden: das universale Verbot, Menschen zu töten, schließt nicht aus, dass in gewissen Situationen und unter bestimmten Umständen Ausnahmen gerechtfertigt sind (Notwehr, Tötung im Krieg, finaler Rettungsschuss).« 9 Welche Auffassung von der Arbeit des Angewandten Ethikers ist adäquat? Braucht man Moraltheorien und wenn ja, welche? Wie hat man sich die ›Anwendung‹ von Theorien oder Moralprinzipien überhaupt vorzustellen? Und wie lässt sich das Verhältnis von Angewandter Forschung zur Grundlagenforschung in der Ethik beschreiben? Gibt es Parallelen zur Naturwissenschaft? Und schließlich: Was kann und was darf die Öffentlichkeit von der Zunft der Angewandten Ethiker eigentlich erwarten? Die Arbeiten der verschiedenen Angewandten Ethiker sind maßgeblich nicht nur von ihren metaethischen und moraltheoretischen Positionen geprägt, sondern auch von den Antworten, die sie auf diese Fragen geben. Hinter der Fülle von Artikeln und Vorträgen zu Themen der AE stehen jeweils ganz unterschiedliche methodische und inhaltliche Überzeugungen und Ansprüche innerhalb der AE.

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3.2 Der Bedarf an ethischer Expertise und die Ansprüche der Öffentlichkeit Der Impetus zur rasanten Entwicklung der zeitgenössischen AE kam aus zwei Richtungen – zum einen von den Philosophen selbst, die gerne zeigen wollten, wie sich die von ihnen vertretenen Moraltheorien in der Konfrontation mit konkreten moralischen Problemen bewähren; zum anderen (wie Philosophen mit einem gewissen Stolz betonen) von Seiten der Öffentlichkeit, die zunehmend bereit ist, Philosophinnen und Philosophen als ethische Experten anzuhören und ihnen Verantwortung in öffentlichen Kontroversen zu übertragen. Für den Bedarf an ethischer Orientierung werden verschiedene Gründe angeführt: Das Spektrum reicht von einer grundlegenden Orientierungs- und Legitimationskrise moderner pluralistischer Gesellschaften und ihrer zentralen Institutionen bis hin zu den teilweise als bedrohlich oder gar als unabsehbar empfundenen Konsequenzen moderner Technologien (etwa im Bereich der Gen- oder Medizintechnik), gesellschaftlicher Entwicklungen (demografische Tendenzen, multikulturelle Entwicklungen, ökonomische Probleme bzw. Krisen auf den Finanzmärkten u. ä.) und internationaler Herausforderungen (wie etwa dem internationalem Terrorismus, der Ausbreitung von Seuchen und der Zunahme von Hunger und Gewalt in bestimmten Regionen der Erde oder auch die immer noch unzureichende Implementierung von Menschenrechten in verschiedenen Ländern). Konkret sind es die vielfältigen Probleme der modernen Lebenswelt, die sich in Kontexten wie Medizin, Technik, Medien, Umwelt, Wissenschaft oder Wirtschaft für Individuen und Institutionen stellen, die den Gegenstandsbereich der modernen AE ausmachen und die Öffentlichkeit beschäftigen. Hinzu kommt das zunehmende Bedürfnis von weiten Teilen der Bevölkerung, ethische Aspekte gegenüber ökonomischen und politisch-rechtlichen stärker zu gewichten und bei Entscheidungen systematisch einzubinden. Die Philosophie spielt heute also durchaus eine Rolle, wenn es um die Systematisierung und Professionalisierung komplexer Entscheidungen in pluralistischen Gesellschaften geht. In öffentlichen Institutionen richtet sich das Entscheidungsverhalten und die Muster der Entscheidungsdurchsetzung nach konfligierenden Rationalitäten: Politische Opportunismen, administrative Postulate, wirtschaftliches

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Effizienzstreben und rechtliche Rahmensetzungen stoßen vermeintlich unvermittelbar aufeinander. Entscheidungen, die dann als Resignationslösungen aus unsachgemäßem Kompromissdenken oder situativen Zwängen getroffen werden, sind oftmals kontrafunktional und somit unbefriedigend. Um zur Bewältigung der bestehenden Dilemmata eigene Bewertungsmaßstäbe entwickeln, neue Lösungsalternativen generieren und ihre Entscheidung situations-, problemund anspruchsgruppengerecht treffen zu können, sind Philosophinnen und Philosophen von Seiten der Öffentlichkeit aufgefordert, sich in lokalen und nationalen Ethikkommissionen einzubringen, Gutachten und Expertisen zu verfassen, sog. Ethiktools (also Kriterienkataloge, Ethikkodizes und andere systematisch-strukturelle Hilfsmittel zur Entscheidungsfindung bei ethischen Fragen) zu entwickeln und in den Medien Stellung zu moralischen Fragen zu beziehen. Voraussetzung dafür ist ein aufgeklärtes, reflektiertes Verhältnis zur eigenen Arbeit, also eine begründete Vorstellung darüber, was ein Ethiker leisten kann und was nicht. Oftmals sieht er sich nämlich mit Ansprüchen und Vorstellungen hinsichtlich der von ihm zu gewährleistenden ethischen Expertise konfrontiert, die nicht adäquat sind und ihn zu überfordern drohen. Diese Ansprüche betreffen sowohl die Eindeutigkeit von Antworten (die Idee, es gäbe eine und nur eine richtige Antwort auf eine ethische Frage bzw. eine richtige Lösung für ein moralisches Problem) als auch den Geltungsanspruch, der mit diesen Antworten verbunden ist – viele meinen, die von einem Ethikexperten vorgetragenen Urteile und Ansichten beruhten auf einem theoretischen Fundament, dass mit gewissem Recht eine absolute Verbindlichkeit und Geltung beanspruchen könne und dieser Geltungsanspruch lasse sich auf konkrete Lösungsvorschläge (problemlos) übertragen. Wichtig für Ethiker ist es, diese Ansprüche kritisch zu reflektieren und ggf. (partiell) zurückzuweisen. Ob, wie und welchem Ausmaß er das tun wird, hängt von seinem methodischen und inhaltlichen Vorverständnis ab, und das kann individuell sehr verschieden ausfallen. So sieht z. B. Carmen Kaminsky für die AE eine »öffentliche Perspektive in einem doppelten Sinne: Sie nimmt erstens öffentliche, d. h. aktuelle, in einem spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhang aufkommende Probleme wahr, greift sie auf und versteht damit ihre eigenen Themen als real gegebene und dringend zu bewertende bzw. zu lösende Fragestellungen.

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Sie ist zweitens als öffentliche, politisch relevante und entsprechend wirksame Debatte zu begreifen.« 10 3.3 Laien und Experten Moralische Fragen werden in unendlich vielen Fällen von Nicht-Ethikern erfolgreich und kompetent gelöst. Viele Menschen agieren in ihrem persönlichen privaten und beruflichen Umfeld auf eine Art, die sie ohne weiteres als moralisches Vorbild qualifiziert. Philosophen – auch Ethiker – gehören nicht automatisch zur Menge dieser kompetenten Entscheider. Wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen moralischen und ethischen Experten: Während es anmaßend und fragwürdig wäre, sich als Ethiker eine Expertise erster Art zuzuschreiben, darf man vielleicht doch mit einigem Recht letzteres für sich reklamieren. Aber was macht einen ethischen Experten aus? Diese Frage stellt sich aus zweierlei Gründen: Zum einen stellt sie sich – wie Dieter Birnbacher feststellt – dem Ethiker – z. B. im Kontext einer Ethikkommission – ganz konkret in Reaktion auf die an ihn heran getragenen Erwartungen und Reaktionen: »Denn in der Tat wird ihm in der konkreten Kommissionsarbeit gewöhnlich keinerlei Sonderkompetenz zugestanden – schon deshalb nicht, weil sich in Sachen Moral niemand so einfach ›belehren‹ lässt. Aber auch aus anderen Gründen hat der Ethiker keinen leichten Stand. Nicht nur steht er mit seinen normativen Beurteilungen in Konkurrenz mit den Kollegen aus Theologie und Rechtswissenschaft, [. . . ], er konkurriert auch mit den Vertretern relativ autonomer Binnen-, Standes- und Berufsmoralen, die sich innerhalb bestimmter berufs- und Interessengruppen herausgebildet haben und die gegen die von dem normativen Ethiker ins Feld geführten allgemeinen normativen Prinzipien im Konflikt mit Zähnen und Klauen verteidigt werden. Das gilt nicht nur für die ›ärztliche Ethik‹, für die Ärzte gemeinhin die alleinige Zuständigkeit reklamieren, sondern auch für Binnenmoralen, die sich zum Teil erst durch die Abgrenzung gegen die als ›Störung‹ empfundene Intervention professioneller Ethiker konstituieren.« 11 Zum anderen stellt sie sich in Hinblick auf den Anspruch, den er oder sie selbst an seine Tätigkeit heranträgt und in Hinblick auf die Definition der erforderlichen Kenntnisse, Fertigkeiten und die anstehenden Aufgaben. Die von Angewandten Ethikerinnen gegebenen Angaben sind dementsprechend

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variabel. Vorausgesetzt wird bei einem ethischen Experten die Kenntnis von ethischen Grundlagentheorien, Binnenmoralen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, Modellen ethischer Rechtfertigung und Argumentmustern sowie die intensive Beschäftigung mit strittigen und interpretationsbedürftigen Begriffen wie etwa ›Menschenwürde‹, ›Autonomie‹, ›Lebensqualität‹ oder ›Nutzen‹. Der Ethikexperte (die Ethikexpertin) sollte Theorien und Begriffe im Kontext konkreter Sachfragen anwenden und nutzbar machen können, er sollte sich von persönlichen inhaltlichen Standpunkten distanzieren können und sich statt dessen in die Positionen der Beteiligten hineindenken können und in der Lage sein zu prognostizieren, welche Aspekte eines moralischen Problems von einem bestimmten moralisch-gesellschaftlichen Standpunkt aus vermutlich als besonders relevant betrachtet werden. »Der Ethik-Experte ist Experte, weil er mit moralischen Begriffen, Argumenten, Norm- und Wertsystemen besonders gut umzugehen versteht, auch wenn ihn dies noch keineswegs zu einem moralischen Experten macht, der weiß, welche Normen und Werte die richtigen sind. Er vermag andere darin zu unterstützen, in moralischen Konfliktfällen die relevanten Wertgesichtspunkte aufzusuchen und in durchsichtiger und nachvollziehbarer Weise gegeneinander abzuwägen [. . . ]. In dem Maße, in dem der ethische Experte über Expertise verfügt, kommt ihm auch Autorität zu. Aber diese Autorität ist nicht die charismatische Autorität des Gurus, sondern die durch besondere Kenntnisse und Fertigkeiten begründete – und durch diese kontrollierbare – Autorität des Sachverständigen.« 12 Neben der Klärung und Analyse von Konzepten und Wertbegriffen sowie der systematischen Evaluation von Argumentationen kann dem Experten dann auch – wenn er diese Teilaufgaben gut erfüllt – eine Moderatoren- sowie eine Vorbildfunktion zukommen: Sein Beitrag, der darin bestehen kann, wählbare Optionen einzugrenzen und auszuweisen, den moralischen Kern einer Kontroverse offen zu legen und an Standards der Fairness und Transparenz einer Diskussion auch bei emotional aufwühlenden Problemen festzuhalten, kann dazu führen, dass er auch als Mediator oder Moderator in ethischen Auseinandersetzungen fungiert und in Hinblick auf den Austragungsmodus der zu führenden Diskussion ein Vorbild wird – dies wäre gewissermaßen der Idealfall.

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3.4 Die Funktion von Theorien Wie man die Fragen nach dem ethischen Expertentum des Philosophen beantwortet, hängt maßgeblich davon ab, welche Rolle man Intuitionen und prima-facie-Prinzipien bei komplexen ethischen Entscheidungen zugesteht und wie man den konstruktiven Beitrag grundlagentheoretischer Moraltheorien im Kontext einer konkreten Beratungssituation beurteilt. In der Diskussion darüber stehen sich hier – ähnlich wie in der Debatte über den Stellenwert von Grundlagentheorien bei der Erklärung lokaler Phänomene in den Naturwissenschaften – zwei konträre Einschätzungen gegenüber: Eine Position geht davon aus, dass eine Moraltheorie unabdingbare Voraussetzung für die fundierte Stellungnahme zu konkreten moralischen Fragen ist. Notwendig ist ein spezielles Verfahren, dass es erlaubt, sich von moralischen Intuitionen zu distanzieren und einen systematischen, reflektierten Zugang zu einem moralischen Problem zu gewinnen. Üblicherweise geht man davon aus, dass die AE deshalb so heißt, weil man eine ausgearbeitete Theorie der Moral in Anschlag bringt, die einem die Terminologie, die Rekonstruktion der Moral sowie ein gut begründetes Moralprinzip bereit stellt, mit deren Hilfe man dann an die systematische Analyse konkreter ethischer Fragen und Probleme herantritt. Auf diese Weise kann der Philosoph nicht nur zur Lösung konkreter Probleme beitragen, sondern darüber hinaus zugleich die Leistungskraft ›seiner‹ ethischen Theorie demonstrieren. Allerdings ist diese Vorstellung, der in epistemologischer Hinsicht die Idee eines deduktiven Schlussverfahrens zugrunde liegt, auch in der Ethik nicht ohne Probleme: Zum einen gibt es oftmals keine eindeutigen Lösungen, entweder weil Vertreter unterschiedlicher Theorien zu unterschiedlichen Antworten kommen oder weil Vertreter desselben theoretischen Ansatzes ganz unterschiedlich argumentieren. Zudem fällt die Diskussion konkreter Moralprobleme oftmals in einen Wettbewerb der Systeme zurück, und es kommt innerhalb der AE einer ›Pseudodynamik‹, einem mehr oder weniger verkappten Wettbewerb der Theorien, der die Beteiligten in der Sache, also in Hinblick auf das konkrete Problem keinen Schritt weiter bringt. Das hat bereits in den er Jahren in der angelsächsischen Moralphilosophie zur Bildung einer ›antitheoretischen Fraktion‹ unter den Moralphilosophen geführt, die den Anspruch der ethischen Grundlagentheorien,

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im Zuge einer Deduktion auch zu praktischen Problemen eine qualitativ bessere Antwort liefern zu können als der von theoretischem Wissen unberührte gesunde Menschenverstand, massiv kritisiert haben. A. Baier, C. Noble, B. Williams, E. Pincoffs, A. MacIntyre u. a. vertraten dabei im Kern zwei Anliegen: Sie beklagten – interessanterweise als Folge einer unangemessenen Orientierung der Ethik an den methodologischen Maßstäben der Naturwissenschaften – eine Überschätzung der Relevanz ethischer Theorien für den moralischen Alltag. Normative Moraltheorien seien überflüssig, denn die Antworten, die sie uns lieferten, fänden wir auch ohne sie; sie hätten mithin ein Legitimationsproblem. »any answer, dictated by a normative ethical theory can be, and in every case I can think of, has been arrived at in some other way, and herein lies the problem«. 13 Überlegungen dieser Art liegen der zweiten Position zugrunde: Die Idee dieses Modells hat Hans Reichenbach bereits  formuliert: »Wer Ethik lernen will, sollte nicht zum Philosophen gehen, sondern dorthin, wo ethische Fragen ausgefochten werden. Er findet reiches Material in jeder Gemeinschaft, in der Willensrichtungen der verschiedensten Art miteinander in Wettbewerb treten, ob es nun eine politische Partei ist oder eine Arbeitergewerkschaft oder eine wissenschaftliche Organisation oder ein Skiverein oder eine Gruppe, wie sie durch gemeinsames Studium in einem Hörsaal oder einem Klassenzimmer geformt wird.« 14 Es lassen sich verschiedene positive Belege für diese Einschätzung anführen: Da ist zum einen die auch von Moralphilosophen zugestandene moralische Kompetenz der Akteure im Alltag. Die meisten Probleme lassen sich eben ganz ohne philosophischen Beistand lösen. Da ist zum anderen das vollkommen anders geartete Anforderungsprofil, dass sich für Angewandte Ethiker stellt: Vieth u. a. zufolge geht es in der AE eben nicht um die Universalisierbarkeit, Allgemeinheit und Abstraktheit ethischer Deliberation und ihrer Ergebnisse (wie bei der Entwicklung universeller Theorien), sondern um angemessene Lösungen, zugeschnitten auf spezielle Probleme in einem spezifischen Kontext mit einem entsprechend begrenzten Geltungsanspruch. Eine vermittelnde Position zwischen diesen beiden Extremen nimmt u. a. Julian Nida-Rümelin vor dem Hintergrund eines Kohärentismus als Modell ethischer Rechtfertigung ein. Er plädiert für eine wechselseitige Bezogenheit und Befruchtung von Theorie und Anwendung, ohne

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dass eine Seite einen epistemologischen Vorrang beansprucht: »Theoretische und praktische Fragen der Ethik bilden nicht zwei disjunkte Klassen, sondern ein Kontinuum, und die Begründungsrelationen verlaufen weder von der Theorie zur Praxis noch von der Praxis zur Theorie, sondern richten sich nach dem Gewissheitsgefälle unserer moralischen Überzeugungen. Es gibt moralische Überzeugungen von hoher Allgemeinheit, die wir nicht aufzugeben bereit sind ebenso wie es konkrete Verhaltensweisen gibt, die wir als unmoralisch diskreditiert sehen wollen.« 15 Und Birnbacher, der einen einheitlichen theoretischen Hintergrund für einen Angewandten Ethiker auch deshalb für unverzichtbar hält, um einen theoretischen Eklektizismus zu vermeiden, weist darauf hin, dass dieser moraltheoretische Hintergrund nicht monolithisch sein muss, sondern durchaus pluralistisch sein kann. 16 Wie fahrlässig es ganz allgemein sein kann, AE ohne hinreichende Kenntnis der einschlägigen Diskussionen in der Grundlagenforschung zu betreiben, hat u. a. Weyma Lübbe betont: »Eine stabile Anbindung der AE insbes. an die grundlagentheoretische Entwicklung ist in der deutschsprachigen Literatur gerade in der Medizinethik nicht selbstverständlich. Das liegt auch daran, dass die Medizinethik sich mehr und mehr als separates Forschungs- und Lehrgebiet etabliert, das grundsätzlich von unterschiedlichen Disziplinen aus (einschließlich der Medizin selbst) bedient werden kann. Entsprechend kann eine Befassung mit normativen Grundlagenfragen auf dem in den hierfür zuständigen Debatten erreichten Differenzierungsniveau nicht stets erwartet werden. Auch bei ausgebildeten Moralphilosophen unter den Medizinethikern stiehlt die permanente Nachfrage nach Diskussionsbeiträgen in interdisziplinären und außerakademischen Kontexten, in denen es oft eher um einführende Informationen und um normative Positionierung als um analytisches Tieferbohren geht, leicht die Zeit und die Motivation, die man für eine anhaltende Grundlagenorientierung braucht. Das alles ist verständlich und in gewissem Umfang auch unvermeidlich. Aber es führt dazu, dass anstelle der Aufnahme der im Grundlagenbereich stattfindenden und im Einzelnen stets auch weiter führenden argumentativen Entwicklung in nicht wenigen Beiträgen das unfruchtbare repetieren verfestigter ethischer ›-ismen‹ oder ›Ansätze‹ vorherrscht.« 17

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Umstritten ist, wie man die Entwicklung der Prinzipienethik vor diesem Hintergrund interpretieren soll, die  erstmalig von Tom Beauchamp und James Childress in ihrem Buch Principles of Bioethics vorgestellt wurde. Einerseits stellt die Prinzipienethik eine dezidierte Abkehr vom Grundlagenstreit um die ›richtige‹ Moraltheorie dar, in dem Versuch, Prinzipien auf einer mittleren Ebene zu begründen, die Entscheidern eine inhaltliche Orientierung bieten können, ohne dass sie sich an eine bestimmte Moraltheorie gebunden sehen. Diese Abkehr wendet sich zugleich gegen ein deduktives Modell, bei dem etwa deontologische oder utilitaristische Prinzipien auf ein konkretes Problem angewendet werden. Die Tatsache, dass diese Prinzipien noch spezifiziert und gewichtet werden müssen, bietet genau jenen Raum für inhaltliche Feinjustierungen, der in der konkreten Situation so dringend benötigt wird. Andererseits legen Beauchamp und Childress aber durchaus Wert auf die Feststellung, dass sich die vier Prinzipien nicht nur von der Alltagsmoral, sondern auch von den etablierten und akzeptierten Grundlagentheorien der Ethik rekonstruieren lassen und dass die auf Basis der Prinzipien getroffenen Entscheidungen in diesem Sinne als theoretisch fundiert gelten können. Damit verwahren sie sich zugleich gegen das Gegenmodell des freien, gänzlich situationsbezogenen Argumentierens. Differenzierte Interpretationen der Prinzipienethik im Streit zwischen Universalisten und Partikularisten finden sich u. a. bei Quante und Vieth 18 sowie in Rauprich und Steger. 19 4 Bereiche und Bereichsethiken 4.1 Bereichsethiken Die AE gliedert sich in ein breites Spektrum von Bereichsethiken. Dieses Spektrum ist prinzipiell unabgeschlossen und offen für neue Ausprägungen. Während die Bioethik gewissermaßen den Kern und einige ihrer Fragen – die Grenzen des Lebens betreffend – geradezu die ›Klassiker‹ der AE darstellen, sind andere Bereichsethiken vergleichsweise neu, wie etwa die Neuroethik oder die Medienethik. Einige Philosophen sehen gar einen inflationären Zuwachs an immer neuen Bindestrich-Ethiken und warnen davor, Moden nachzurennen und schnelllebige Trends zu kreieren. Bisher sind die Bereichsethiken eher locker nach Themenbereichen bzw. bestimmten Kontexten

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gegliedert – die Bezeichnungen ›Tierethik‹, ›Wirtschaftsethik‹ oder ›Wissenschaftsethik‹ sind Beispiele dafür. Andere Philosophen sehen in dieser lockeren und inhaltlich eher unstrukturierten Praxis der Herausbildung neuer Bereichsethiken kein Problem. Bisher hat man zwar angenommen, dass innerhalb dieser Bereichsethiken auch unterschiedliche normative Akzente gesetzt werden und spezifische Normen und Werte relevant werden, aber dennoch keinen Reflexions- oder gar Systematisierungsbedarf gesehen. Eine neue Bereichsethik etablieren zu wollen verlangt dann eine Begründung, wenn einem nicht nur daran gelegen ist, einen bisher noch nicht eigens aufgeführten Kontext zu etablieren, sondern wenn man darüber hinaus auch eine Notwendigkeit für diesen neuen Bereich reklamieren will; also den Nachweis führen möchte, dass die Einrichtung einer Bereichsethik unter methodischen und inhaltlichen Gesichtspunkten sinnvoll ist. Genau das ist nun das Anliegen der Tübinger Medizinethiker Matthias Synofzik und Georg Marckmann. Sie binden die Einrichtung einer neuen Bereichsethik an die Erfüllung zweier Kriterien 20 : (i) Der gegebene Sachbereich muss eine ›deskriptiv qualitativ eigenartige Klasse von Handlungen‹ umfassen, also einen eigenständigen Handlungsbereich beschreiben. (ii) Diese ›qualitativ eigenartige Klasse von Handlungen‹ muss zugleich auch normativ eigenständige Probleme aufwerfen, also normative Probleme eigener Art. Die Diskussion über diese Kriterien und darüber, ob es überhaupt nötig ist, solche zu definieren, wird derzeit noch geführt; auch sie spiegelt das unterschiedliche Selbstverständnis der Angewandten Ethiker. 4.2 Die Neuroethik als neue Bereichsethik Die Neurowissenschaften sind derzeit wohl die meist diskutierten Einzelwissenschaften. Nicht nur inneruniversitär werden ihre Methoden und Resultate interdisziplinär diskutiert, auch die außeruniversitäre Öffentlichkeit verfolgt ihre Entwicklung mit großem Interesse und erheblichem Informationsbedarf. Dabei geht es neben der Reflexion der neuartigen experimentellen Methoden wie etwa bildgebender Verfahren, die es erlauben, Hirnprozesse von außen zu beobachten, v. a. auch um ihre viel versprechenden Ergebnisse in der Grundlagenforschung, der medizinischen Diagnostik, der Prothetik und der Pharmakologie. Philosophen sind in diesem Fall in verschiedener Hinsicht gefordert:

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Zum einen ist es sicherlich eine reizvolle Aufgabe, die Methoden und Resultate der Neurowissenschaften unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten zu eruieren, aber auch, sie mit Theorien und Methoden der Philosophie des Geistes, der Erkenntnistheorie, der Sprachphilosophie und der Anthropologie zu verbinden. Zum anderen wird es darum gehen, den interdisziplinären Dialog zwischen verschiedenen Fächern wie etwa den Neurowissenschaften, der Psychologie und der Philosophie zu moderieren. Und schließlich geht es darum, die moralischen Fragen, die sich im Kontext der neurowissenschaftlichen Forschung und Anwendung ihrer Resultate ergeben, zu untersuchen. Letzteres hat sich eine relativ junge Bereichsethik, die Neuroethik, zur Aufgabe gemacht. M. Synofzik und G. Marckmann haben einen Vorschlag für eine Strukturierung dieser neuen Bereichsethik vorgelegt. 21 Grundsätzlich unterscheiden sie zwischen den Neurowissenschaften der Ethik und der Ethik der Neurowissenschaften. In den Neurowissenschaften der Ethik geht es ihrem Verständnis nach um die Klärung der ethischanthropologischen Implikationen neurowissenschaftlicher Erkenntnis. Von besonderem Interesse sind ihrer Ansicht nach hier die neurowissenschaftliche Erklärung moralischen Verhaltens sowie die durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse nahe gelegte Deutung von Rationalität, des Selbst und der Willensfreiheit. Dabei geht es nicht nur darum, unser bisheriges Verständnis zu vertiefen, sondern auch darum, sich zu fragen, ob und inwieweit wir unser bisheriges Verständnis dieser zentralen menschlichen Funktionen und Charakteristika verändern müssen. Die Ethik der Neurowissenschaften hingegen untersucht Marckmann und Synofzyk zufolge die ethischen Implikationen neurowissenschaftlicher Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten. Dabei geht es v. a. um die moralische Legitimität von neurotechnologischen Eingriffen, psychopharmakologischen Interventionen oder die moralische Beurteilung des Einsatzes bildgebender Verfahren. Ausgelöst durch den rasanten Fortschritt in den Neurowissenschaften erleben wir also die Geburt einer Bereichsethik aus dem Geiste des verantwortungsvollen, reflektierten Umgangs mit wissenschaftlichem Fortschritt – etwas, das nicht zu Unrecht derzeit viele Moralphilosophen interessiert und inspiriert. Inspirierend ist dabei auch der Austausch zwischen der Ethik der Neurowissenschaften und der

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Neurowissenschaft der Ethik, denn natürlich bedeutet eine moralphilosophische Auseinandersetzung mit diesen Fragen zunächst und zumeist, sich hinsichtlich der Fakten, also der als gut gesichert geltenden Erkenntnisse innerhalb der Neurowissenschaften auf den neusten Stand zu bringen. 5 Probleme und Perspektiven Die AE ist nicht nur wegen ihrer Inhalte und Methoden, sondern auch wegen ihrer internen Schwierigkeiten ein interessantes Gebiet: Gerade weil auch hier nicht alle Ansprüche erfüllt und nicht alle Diskussionen zu inhaltlichen Fragen zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden konnten, bieten sich interessante Arbeits- und Entwicklungsperspektiven. Das partielle Scheitern der AE betrifft die Diskussion um inhaltliche Fragen wie etwa die nach dem moralischen Status des Embryos oder der moralischen Legitimität aktiver Sterbehilfe: Hier wie in manchen anderen Themenbereichen sind alle vernünftigen Positionen besetzt und alle einschlägigen Argumente vorgetragen worden, ohne dass sich eine Antwort oder Lösung durchsetzen konnte, und zwar in dem Sinne, dass sie innerhalb der AE als überlegen gelten würde oder sich öffentlich durchgesetzt hätte. In vielen Teilen der AE kann man eine Art von Pseudodynamik beobachten, einen mehr oder weniger verkappten Wettbewerb der Theorien, der die Beteiligten in der Sache, also in Hinblick auf das konkrete Problem nicht weiter bringt. Das Stadium der Pseudodynamik ist erreicht, wenn kein weiterer Bedarf an Begriffsklärung erkennbar ist, zentrale Argumentationsstrategien, deren Beweislasten und Schwächen bekannt sind, das Infragestellen von Prämissen keinen Erkenntnisgewinn für das Ausgangsproblem (unendlicher Regress ohne neue Erkenntnisse für das Ausgangsproblem) bringt, es in Begründungsfragen zu Wiederholungen sowie zur zunehmenden Unplausibilität neuer Ansätze kommt und wenn ein partieller Konsens in Detailfragen erkennbar wird. In der Sache kommt man nicht voran, weil man sich über die theoretischen Hintergrundannahmen nicht einigen kann; dies spielt denjenigen in die Hände, die einen theoriefeindlichen bzw. theorieskeptischen Standpunkt innerhalb der AE einnehmen, und so droht die AE zu einem bloßen Außenposten der moralphilosophischen Grundlagenforschung zu werden.

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Die Perspektiven der AE liegen in der enormen Bandbreite ihrer inhaltlichen Interessenschwerpunkte, die durch die Vielfalt der Bereichsethiken indiziert, aber keineswegs vollständig abgebildet werden. Hier ist offen, welche Dynamik die Bereichsethiken jeweils in sich, aber auch als Gesamtspektrum entfalten werden. Neben der inhaltlichen Dynamik der einzelnen Bereichsethiken und ihrer offenen Gesamtentwicklung stehen auch weiterhin interessante Fragen hinsichtlich ihrer Methoden und ihres Selbstverständnisses an, die wiederum epistemologische und wissenschaftstheoretische Weiterungen mit Querverbindungen auch in die theoretische Philosophie haben. Almond, B. (ed.), , Introducing Applied Ethics, London. – Almond, B./Hill, D. (eds.), , Applied Philosophy. Morals and Metaphysics in Contemporary Debate, London. – Ayer, A., , Language, Truth and Logic, London; dt.: Sprache, Wahrheit und Logik, Stuttgart . – Bayertz, K. (Hg.), , Praktische Philosophie. Grundorientierungen angewandter Ethik, Reinbek. – Beauchamp, T./Childress, J.,   (), Principles of Biomedical Ethics, NY/Oxford. – Birnbacher, D., , Tun und Unterlassen, Stuttgart. – Birnbacher, D., , Für was ist der ›Ethik-Experte‹ Experte? In: Rippe . – Brudermöller, G., , Angewandte Ethik und Medizin, Würzburg. – Chadwick, R./Callahan, D./Singer, P. (eds.), , Encyclopedia of Applied Ethics –, London. – Frey, R. G. (ed.), , A Companion to Applied Ethics, London. – Foot, P., , The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect. In: Oxford Rev. – Hare, R., , The Language of Morals, Oxford. – Hare, R., , Applications of Moral Philosophy, London. – Hare, R., , Abortion and the Golden Rule. In: Philosophy & Public Affairs .. – Hare, R., , Essays on Bioethics, Oxford. – Kaminsky, C., , ›Angewandte Ethik‹ zwischen Moralphilosophie und Politik. In: Rippe . – Kettner, M., , Angewandte Ethik als Politikum, Fft./M: – Knoeppfler, N./Kunzmann, P./Pies. I./Siegetsleitner, A. (Hg.), , Einführung in die Angewandte Ethik, München. – Leist, A. (Hg.), , Um Leben und Tod, Fft./M. – Lenk, H., , Einführung in die Angewandte Ethik, Stuttgart. – Lübbe, W. (Hg.), , Tödliche Entscheidung. Allokation v. Leben u. Tod in Zwangslagen, Paderborn. – Nida-Rümelin, J. (Hg.), , Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken u. ihre theoretische Fundierung, Stuttgart. – Noble, C., , Normative Ethical Theories. In: The Monist . – Pieper, A./ Thurnherr, U., , Angewandte Ethik. Eine Einf., München. – Quante, M./ Vieth, A., , Welche Prinzipien braucht die Medizinethik. In: Düwell, M./ Steigleder, K. (Hg.), Bioethik, Fft./M. – Rauprich, O./Steger, F. (Hg.), , Prinzipienethik in der Biomedizin, Fft./M. – Reichenbach, H., , Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie. In: GW Bd. , Berlin . – Rippe, K.-P. (Hg.), , Angewandte Ethik in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg/ Schweiz. – Singer, P., , Practical Ethics, Cambridge. – Synofzik, M./Marck-

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mann, G., , Neuroethik – eine neue Bereichsethik. In: Information Philosophie, http://www.information-philosophie.de/philosophie/neuroethik.html. – Thurnherr, U., , Angewandte Ethik zur Einführung, Hamburg. – Vieth, A., , Einführung in die Angewandte Ethik, Darmstadt. 1 Ricken , . – 2 Vgl. u. a. Hare . – 3 Vgl. u. a. Hare , . – 4 Vgl. u. a.

Foot . – 5 Vgl. u. a. Leist . – 6 Beispiele sind u. a. ein M. A.-Programm am Center für Bioethik in Münster, sowie eine Professur f. AE Ethik an d. Univ. Bayreuth. – 7 Birnbacher ,  f. – 8 Vieth , . – 9 Ebd.,  f. – 10 Kaminsky , . – 11 Birnbacher ,  f. – 12 Ebd., . – 13 Noble , . – 14 Reichenbach , . – 15 Nida-Rümelin , . – 16 Birnbacher , . – 17 Vgl. u. a. Lübbe , . – 18 Quante/Vieth . – 19 Rauprich/Steger . – 20 Synofzik/Marckmann . – 21 Ebd.

Dagmar Borchers

Erkenntnis/Erkenntnistheorie

1 Zu den Begriffen. 1.1 ›Erkenntnis‹. Der Begriff ›Erkenntnis‹ (E.) – franz. connaissance; engl. cognition, knowledge – bezeichnet sowohl den Prozess (›Erkennen‹) als auch das Resultat des Prozesses, das – im Unterschied zu Meinung/Glaube – in Wissen als gerechtfertigter wahrer Überzeugung bestehen soll. »Mit dem Wort ›erkennen‹ bezeichnen wir diejenige intentionale, auf eine zu erfassende Sachlage gerichtete Tätigkeit, die zum Resultat hat, was wir intersubjektiv verfügbares, objektiv gültiges Wissen = Erkenntnis nennen.« 1 Der E.begriff ist mit einem weiten semantischen Feld vernetzt, zu dem u. a. ›Bewusstsein‹, ›Einstellung‹, ›Denken‹, ›Geist‹, ›Gewissheit‹, ›Intentionalität‹, ›Intuition‹, ›Erfahrung‹, ›Evidenz‹, ›Denken‹, ›Kognition‹, ›epistemische Rechtfertigung‹, ›Evidenz‹, ›Proposition/ Aussage/Satz‹, ›Repräsentation‹, ›Sachverhalt‹, ›Subjekt‹, ›Subjektivität‹, ›Überzeugung‹, ›Urteil‹, ›Wahrheit‹, ›Wahrnehmung‹, ›Wissen‹ und ›Wissenskultur‹ gehören (zur Geschichte, die hier zu ›E.‹ nur exemplarisch an wichtigen Knotenpunkten dargestellt werden kann, und zum Verständnis des E.problems sind die entsprechenden Artikel heranzuziehen). Wären, wie ›metaphysische‹ Realisten/Materialisten/Naturalisten behaupten, Sein und Bewusstsein, Objekt und Subjekt, Welt-an-sich und Welt-für-uns, identisch, wäre E. durch das Sein/Seiende determiniert (Determinismus) und gäbe es im Erkennen eine ›direkte Bezugnahme‹ (Referenz) auf ›die Dinge‹, dann gäbe es philosophische Probleme wie das der Intentionalität oder der Rechtfertigung nicht. Vom realistischen Alltagsverstand und common sense wird ›E.‹ spontan so verstanden, als würden ›objektive‹ Formen der Realität (Entitäten, Sachverhalte, Ereignisse) in ›subjektive‹ Formen des Bewusstseins transformiert. Das E.problem besteht aber gerade darin, dass das Erkennen in der phänomenalen Wirklichkeit des Wissens Vorstellungen in Sachverhalte übersetzt (Übersetzung): In der E. wer-

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den E.gegenstände zu ›Realobjekten‹. E. ist nicht Repräsentation von Realität im E.subjekt, sondern (Re-)Präsentation von Wirklichkeit durch das E.subjekt. E. kopiert nicht und besteht nicht in Abbildern, sondern sie konstituiert Welten. Dies bedeutet nicht, E. ›schaffe‹ die ›Außenwelt‹, sondern sie verleiht den in ihrem ›An-sich-Sein‹ nicht erkennbaren Entitäten ›für uns‹ Bedeutung in Zeichen und Symbolen, v. a. in der Sprache. In der E. wird Etwas als Etwas repräsentiert. Analytisch können bei der E.tätigkeit Operationen unterschieden werden, die nicht nacheinander in der Zeit – als Stufenfolge –, sondern gleichzeitig vollzogen werden und Wahrnehmung, Erfahrung, Konstruktion, Interpretation und Wissen miteinander verbinden: die Hervorhebung (Identifikation) eines zu erkennenden Objekts aus der Mannigfaltigkeit der Sinnesdaten durch das Unterscheiden von und Vergleichen zwischen E.objekten; die Zergliederung des E.gegenstandes in Teile und die Re-Komposition zum Ganzen; das Abstrahieren (Abstraktion) von unwesentlichen Objektmerkmalen und das Synthetisieren als wesentlich angesehener Eigenschaften; die Zuordnung einzelner E.gegenstände zu Objektklassen; die interpretierende Zuschreibung von Bedeutung und die Zeichen- und Namengebung. Jede Operation ist mit allen anderen vernetzt. Sinnlichkeit und rationale Verarbeitung bilden in jedem Moment des Prozesses der E. eine Einheit. Was als erkannt gilt, ist auf seine Zweckmäßigkeit für die Welt-Orientierung und die Praxis geprüft und bewertet – im Rahmen von wissenskulturellen Instanzen, von kumulierter Erfahrung, von Empirie und Experiment, von Vorwissen bzw. Vor-Urteilen sowie von Überzeugungen. Den Resultaten der auf Einzelnes/Besonderes bezogenen Wahrnehmung und Erfahrung wird ihr Ort in übergreifenden epistemischen und praktischen Zusammenhängen zugewiesen. Welten, Weltversionen, Interpretationswelten, Paradigmata und Wissenskulturen bilden Landkarten, auf denen diese Orte angezeigt werden. Mit besonderen Orten, mit spezifischen E.dispositionen, mit Fragen nach der Bedeutung von Geschlechtszugehörigkeit und Geschlechterverhältnissen (Philosophie und Geschlechter) für die E. beschäftigen sich feministische E.theorien. 2 Gesellschaftliche Bedingungen und Dimensionen der E. stehen im Zentrum des Interesses der ›Social Epistemology‹. 3

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Mit dem E.begriff sind einige wesentliche, bereits auf der Ebene des Alltagsbewusstseins wahrgenommene, von der Philosophie seit ihren Anfängen thematisierte und bis heute kontrovers verhandelte Probleme verbunden: Referiert E., direkt/vermittelt? Repräsentiert E., wie repräsentiert sie etwas von einer Außenwelt, das von epistemischer bzw. kognitiver Aktivität abhängig/unabhängig ist? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit E. wahre bzw. richtige (Re-)Präsentationen sind, und wie können wahre bzw. richtige von falschen bzw. unrichtigen E. unterschieden werden? Führt E., wie führt E. zu Wissen als gerechtfertigter wahrer Überzeugung? Wie ist, wenn Erkennen individuell und subjektiv ist, Intersubjektivität möglich? Wie ist, wenn E. kultur-kontextuell ist, Transkulturalität möglich? »Was heißt Wissen? Wissen wir überhaupt etwas? Und – wenn ja, was können wir wissen? Wer (oder was) ist es, der (oder das) etwas weiß, wenn überhaupt etwas gewusst wird? Woher stammt unsere E. und wie lässt sie sich rechtfertigen?« 4 Bezogen auf solche Fragen erörtern bestimmte realistische E.theorien (Realismus) das ›Problem der Außenwelt‹. Nicht nur R. Carnap zufolge handelt es sich um ein Scheinproblem. Niemand zweifelt ernsthaft an der Existenz der Außenwelt. Das Problem ist anders zu stellen: »An external world, as philosophers have used the term, is not some distant planet external to earth. Nor is the external world, strictly speaking, a world. Rather, the external world consists of those objects and events which exist external to perceivers.« 5 Da es sich bei den Formen, Wegen, Verfahren und Ergebnissen von E. nicht um von den veränderlichen Lebensweisen der Menschen unabhängige Konstanten/Invarianten handelt, begegnen in der Geschichte unterschiedliche/gegensätzliche – mythische, religiöse, ästhetische, philosophische, wissenschaftliche – Reflexionen auf die E.probleme. Die Pluralität auch der in der Philosophie entstandenen E.begriffe und Problemlösungsansätze ist Ausdruck und Form der Geschichtlichkeit der E. 6 1.2 ›Erkenntnistheorie‹ Die zentralen Fragen der philosophischen Erkenntnistheorie (ETh.) – franz. théorie de la connaissance, épistémologie; engl. theory of knowledge, epistemology – lauten: »(a) Was ist das Ziel unserer E.bemü-

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hungen? (b) Wie lässt sich dieses Ziel erreichen? (c) Anhand welcher Kriterien können wir entscheiden, ob wir das Ziel erreicht haben? [. . . ] (d) In welchen Bereichen können wir dieses Ziel erreichen?« 7 Der Geschichtlichkeit der E. entsprechend fallen die eth. Antworten je nach den Weltbildern und Evidenzen einer Zeit, nach Theorierahmen und je nach praktischen Interessen, in deren Horizont sie gegeben werden, unterschiedlich aus. E.begriffe der ETh.n sind kultur-, theorieund handlungskontextuell (Kontextualismus). Zu eth. E.begriffen gehören ontologische Seins- und epistemologische Wirklichkeitsbegriffe: Ob ›E.‹ als auf eine ›objektive‹ Realität referierend und sie abbildend oder als ›subjektive‹ Vorstellung einer im Bewusstsein konstituierten phänomenalen Wirklichkeit bestimmt wird, hängt wesentlich von den ontologischen (Ontologie), epistemologischen und methodologischen (Methode/Methodologie) Voraussetzungen als Rahmen der Definitionen von ›E.‹ ab. Solche Theorierahmen stellen z. B. Idealismus und Materialismus, Rationalismus und Empirismus, Realismus, Monismus/Dualismus und Pluralismus dar. Probleme, die im Horizont der Weltbilder bzw. Rahmentheorien behandelt werden, sind u. a. die Beziehungen zwischen Psychischem und Physischem (Körper und Geist 8, Leib-Seele-Problem), Sinnlichkeit und Rationalität, Wahrnehmung, Beobachtung, Erfahrung und Interpretation (Bedeutungszuschreibung), Meinung, Alltagswissen und Vorurteil. Immer geht es letztlich um epistemische Rechtfertigung 9 und um die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen von Gewissheit. 10 ›Die‹ ETh. gibt es nicht; welche Art von Antworten zu erwarten ist, hängt vom jeweiligen Typus und von voraussetzungsvollen Strategien ab. Zu den wichtigsten Voraussetzungen zählen ontologische Realitätskonzeptionen. Realismus besteht in einem weiten Sinne in einer »fundamentalen ontologischen Intuition«, deren einfachste Version besagt, es gebe Dinge außer mir selbst. Dieser Minimal-Realismus schliesst die nicht weniger fundamentale epistemologische Intuition ein, die Dinge außer mir, zumindest teilweise, aufgrund eines direkten kognitiven Bezugs zu ihnen auch erkennen zu können. Diejenigen, welche diese Intuitionen als unangemessen in Zweifel ziehen, werden von Verteidigern eines starken Realismus oft als Anti-Realisten bezeichnet – eine Karikatur, denn die Skeptiker behaupten keinen ontologischen Anti-Realismus im Sinne der Leugnung der Existenz

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der Außenwelt. Was sie geltend machen, ist etwas anderes: Unsere E.se beziehen sich (referieren) nicht direkt und nicht kausal verursacht auf die Realität; sie entstehen vielmehr als Bewusstseinsleistungen in Kontexten, in denen jeweils interpretiert wird, was wirklich ist und wie es wirklich ist. Die vermeintlichen Anti-Realisten bevorzugen schwach-realistische Epistemologien und verweigern sich dem Mythos des Gegebenen. In systematischer Hinsicht unterscheiden sich ontologische Begründungen für Auffassungen von E. (i) in ihren Annahmen über die Existenz von Entitäten und deren Eigenschaften (ontologische Existenz-Hypothese) und (ii) in ihren Annahmen über die Unabhängigkeit bzw. Abhängigkeit der Entitäten und Eigenschaften von den Leistungen des E.subjekts (epistemologische Abhängigkeits-/ Unabhängigkeits-Hypothese). Abhängig vom gewählten ›epistemologischen Profil‹ (s. .) werden normative Kriterien entwickelt, nach denen zwischen wahrem und falschem Wissen über die Wirklichkeit entschieden werden soll (z. B. Wahrheitskriterien der Korrespondenz oder der Kohärenz, pragmatische Wahrheitskriterien u. a.). Das Wort ›ETh.‹ wurde bereits um  in der Kantischen Schule geprägt. 11 Schon H. Vaihinger hat  in Über den Ursprung des Wortes ›Erkenntnistheorie‹ auf die frühen Quellen verwiesen, so auf die in E. Reinholds Theorie des menschlichen Erkenntnisvermögens () verwendete Begrifflichkeit ›erkenntnistheoretisch‹ und ›E.theoretiker‹. Reinholds ›Denkformenlehre‹ fasste unter ETh. »die Gesamtheit der Disziplinen der Logik, Sprachphilosophie, ›transzendentalen Psychologie‹, Hermeneutik und Methodenlehre«. 12 Noch ohne terminologische Schärfe wurde das Wort ›Eth‹ erstmals in Tennemanns Geschichte der Philosophie eingeführt, und F. E. Beneke forderte  in Kant und die philosophische Aufgabe unserer Zeit explizit dazu auf, an die »Kantische Eth.« anzuknüpfen. 13 Die heute eigenständige philosophische Disziplin ›ETh.‹ gibt es seit etwa . »Das kantianische Bild von der Philosophie mit der ETh. im Zentrum wurde [. . . ] allgemein akzeptiert, als Hegel und der spekulative Idealismus nicht mehr die intellektuelle Szenerie Deutschlands dominierten.« 14 Mit E. Zellers Schrift Über Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnistheorie () kann der Disziplintitel ›ETh.‹ als etabliert gelten; er definiert ETh. als die Wissenschaft, »welche die Bedingungen untersucht, an welche die Bildung unserer Vorstellungen durch die Natur unseres Geistes

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geknüpft ist, und hiernach bestimmt, ob und unter welchen Voraussetzungen der menschliche Geist zur E. der Wahrheit befähigt ist«. 15 Während es im . Jh. nicht zuletzt Grundlagenprobleme der (Natur-) Wissenschaften waren, aus denen das Bedürfnis nach philosophischer ETh. entstand, ist sie seit dem ersten Drittel des . Jh. als philosophische Theorie in ihrer Erklärungskompetenz nicht mehr unangefochten. 16 Nachdem in den /er Jahren die Wissenssoziologie zu ihr in Konkurrenz getreten ist, machen ihr seit Ende der er Jahre empirische Naturwissenschaften und empiristische Methodologien ihre Gegenstände streitig und behaupten die Naturalisierbarkeit der zu erklärenden Phänomene (Naturalismus). »Als ›wissenschaftlich‹ gelten weiterhin nur mehr die Methoden und Ergebnisse der Naturwissenschaften, nicht die der Philosophie [. . . ] Mit dem Wandel des E.ideals hat sich auch das Selbstverständnis des Menschen grundlegend verändert. Die idealistische Konzeption, nach welcher er ein Geistwesen ist, das gewissermaßen zufällig auch einen Körper hat, ist durch eine naturalistische Konzeption abgelöst worden, nach der er Teil der Natur ist und sich seine geistigen und kulturellen Leistungen biologisch aus Struktur und Evolution seines Organismus und der ihm angebotenen Verhaltensweisen erklären lassen.« 17 So unterschiedliche Theorien wie die psychologisch begründete ›genetische ETh.‹ J. Piagets 18, die evolutionsbiologisch gestützte ›evolutionäre ETh.‹ 19 oder der aus der Biologie der Selbstorganisation herkommende ›radikale Konstruktivismus‹ 20 sind Symptome einer Entwicklung, von der die philosophische ETh. beinflusst oder zumindest beeindruckt worden ist – bis hin zur Selbstanzeige ihres Endes: »Wohl schwerlich dürfte es übertrieben sein zu behaupten: ETh. ist heute eine tote Disziplin der Philosophie« 21 ; ähnlich das Diktum P. Feyerabends: »Philosophen, die sich heute mit den Wissenschaften befassen, verwenden logische Prinzipien und wenige eth. Annahmen. Das ist alles. Der Rest wurde von der Wiener ›Revolution in der Philosophie‹ beseitigt« (Empirismus, logischer). 22 Zu einzelwissenschaftlichen Zuständigkeitsansprüchen, die nicht komplementär, sondern als Alternativen zur Eth. auftreten, kann gesagt werden: (i) Kritikern der philosophischen ETh. ist der v. a. von E. Cassirer 23 materialreich dargelegte Sachverhalt meist nicht bewusst, dass sie sich spätestens seit der Renaissance in Nähe zu den Wissenschaften entwickelt hat. Heute gelten zu Recht angesichts der

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E.fortschritte empirischer und theoretischer Kognitionswissenschaften spekulative Konstruktionen nach dem Muster metaphysischer ETh. als unhaltbar. (ii) Die vollständige Naturalisierung der Gegenstände und Probleme der philosophischen ETh. ist jedoch weder absehbar noch wünschenswert; Bewusstseinsleistungen (das Explanandum) sind nicht mit Leistungen des Gehirns identisch und können deshalb auch nicht auf ›natürliche‹, z. B. neuronale Prozesse (das Explanans) reduziert werden; das Explanans ist nicht ›natürlich‹, ›materiell‹ o.ä, sondern bewusstseinsförmig wie das Explanandum. Es gibt bis heute keinen guten Grund, die von Kant in der Kritik der reinen Vernunft begründete ›Kopernikanische Wende‹ rückgängig zu machen: »[. . . ] so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, [. . . ] und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten. nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse.« 24 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte von ›Erkenntnis‹ 2.1 Zur Frühgeschichte der Philosophie der Erkenntnis Bereits die frühesten überlieferten Zeugnisse europäischen Denkens über die Frage nach dem Wesen der E. – antike Kosmogonien, Weisheitslehren, nichtsystematische philosophische Reflexionen und, seit dem . Jh. v. u. Z., philosophische Theorien mit zunehmend systematischem Anspruch – sind Belege für die Zentralität einiger Problemstellungen, die für die ganze Geschichte der ETh. konstitutiv geworden sind: Die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der E. und des Wissens entsteht als Frage nach dem Woher des Kosmos der göttlichen und natürlichen Welt. Im Übergang vom Mythos zum rationalen Denken, zunächst der Naturphilosophie, dann der Metaphysik, werden Bestimmungen zum Verhältnis von Erfahrung und Wissen, zum Verhältnis von Welt und Wissen, zur Wahrheit der E. und zur Rolle der Subjektivität vorrangig. 25 Eth. Lehrmeinungen finden sich zunächst in der ionischen, v. a. milesischen Naturphilosophie in spekulativen Aussagen über die arche, den Ursprung alles Wirklichen, in den Elementen der Natur. Schon um  v. u. Z. geht mit Anaximandros’ Begriff des apeiron, des Unbestimmt-Unbegrenzten, die empirische Sicht auf die der Erfahrung unmittelbar zugänglichen Stoffe und Substrate über in das Denken eines nicht-empirischen Allge-

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meinen, das aller Wirklichkeit zugrundeliegt. Mit dem Überschreiten der Erfahrung wird Reflexion auf die Bedingungen der Begriffsbildung notwendig. Um  führt Heraklit mit der Idee des logos die Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Denken als den zwei E.quellen ein. Der logos ist nicht mehr Stoff, sondern Auslegung/Sinn, der sich in allem Seienden manifestiert; er bezeichnet zugleich ein Denken, das in der Mannigfaltigkeit des Seienden das Eine der Weltordnung zu erfassen und den Schein der Sinne hinter sich lässt, die in der E. die Fiktion der Stabilität der Dinge erzeugen. E. aus dem logos ist E. der Identität von Sein und Denken und der Differenz zwischen dem Sein als Bewegung und dem Denken, dessen Begriffe die Bewegung ruhigstellen. Der Auffassung Heraklits, dass nur die Bewegung ist, setzt der Eleat Parmenides (–) entgegen, dass nur das mit dem Denken identische Sein ist, während Entstehen und Vergehen, jedes Werden bloße Namen sind, d. h. Nichtsein, von dem keine E. möglich ist. Bei Parmenides wird die Entscheidung über Wahrheit und Unwahrheit von einer göttlichen Instanz präsentiert; sie zeigt gegenüber dem Erfahrungswissen die Bedingung der Möglichkeit wahrer E.; die in den Sinnesempfindungen gegebene Wirklichkeit kann erst in der Reflexion auf ein ewiges, homogenes Sein erfasst werden. Demokrit (etwa –) hat, gestützt auf den Atomismus seines Lehrers Leukipp, seine Naturtheorie und Philosophie integrierende Lehre mit dem Ziel entwickelt, die bei Anaxagoras noch auf der Annahme einer Mischung vieler qualitativ unterschiedlicher Elemente beruhende Erklärung der Vielheit der Erscheinungen auf wenige Qualitäten und auf quantitative Gegebenheiten materieller Körper zu gründen; deren kleinste Einheit ist ein Konstantes und Unteilbares, atomon oder idea. Die Dinge sind Zusammensetzungen von Atomen. Sie sind der sinnlichen Wahrnehmung unmittelbar zugänglich: Die Dinge senden Atomverflechtungen aus, die eidola (Bilder), welche die Struktur der Dinge repräsentieren und Gegenstand der Sinnlichkeit sind. Doch bleibt E. aus Wahrnehmung ›dunkel‹; die Realität in ihrer Wahrheit zu erfassen, bleibt der aus Atomen der Seele herrührenden Verstandestätigkeit vorbehalten. Das bereits in der Naturphilosophie auftauchende Problem der Subjektivität hat die Sophistik radikalisiert. Protagoras’ (–) Erhebung des Menschen zum ›Maß‹ der Dinge bindet die Frage, was als Seiendes

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gelten könne und was nicht, an die individuelle Wahrnehmung des E.subjekts: Das Wahrgenommene ist nur für die Wahrnehmung. Die häufig als bloße Rhetorik kritisierte Dialektik der Sophisten und der methodisch geförderte Zweifel als Weg der Wahrheitssuche haben ihre Fruchtbarkeit v. a. durch die sokratische Methode bewiesen, die den Zugang zur Wahrheit durch die Frage zu gewinnen sucht. Sokrates (etwa –) tritt gegen den ›Relativismus‹ der Sophisten an, indem er zum Ziel der von der Maxime ›Erkenne dich selbst‹ ausgehenden Wahrheitsfindung das Allgemeine und Notwendige an den Dingen erhebt. Grundlegend wird die epagoge, der induktive Weg (Induktion) vom Besonderen zum Allgemeinen. Der Weg vom Nichtwissen zum Wissen führt zur Wahrheit des logos. Das Ziel der E., die nie mehr als wissendes Nichtwissen ist, besteht in der Überführung der nur Singularitäten präsentierenden und deshalb stets wandelbaren Vorstellungen in die Allgemeinheit des Begriffs, der unwandelbar ist und das Wesen der Dinge bezeichnet. Platon (–) hat in der Sophistik eine Ursache des Verfalls der Polis gesehen. Er schreibt allein der Vernunft Fähigkeit zur Wahrheit zu. Seine Ideenlehre ist der Versuch, die sokratische Aporie des Nichtwissens im Wissen systematisch dadurch aufzuheben, dass er die Idee nicht als Abbild fasst, sondern als Urbild und ontologischen Grund des Seienden. Sinnliche Wahrnehmung führt nur zum Meinen, zur doxa; allein dem logos gelingt episteme als wahre E. des Seins des Seienden. Grund und Gegenstand der E. ist die Idee als urbildliches Sein und erste Welt. Die zweite Welt der Erscheinungen existiert als mimesis, als Nachbildung der Ideen. Die erste Welt könnte deshalb von Menschen in ihrer Welt der Erscheinungen nie erkannt werden; selbst eine wahre E. der Sinnendinge setzte die Rückführung der Phänomene auf einen Grund vor aller Erfahrung voraus, d. h. eine apriorische Existenz der Ideen. Platons Lösung besteht in der Annahme einer unsterblichen Seele, welche die Welt vor jedem individuellen empirischen Leben bereits geschaut hat: E. ist anamnesis, Erinnerung des von der Seele vor aller Erfahrung Geschauten, und ihr höchstes Ziel ist der Begriff als Wissen der Idee. Die erinnernde Ideenschau macht es möglich, dass menschliche E. Erscheinungen als solche erfassen kann, indem sie sie auf den Urgrund zurückführt. Aristoteles (–, von  bis zu Platons Tod  in dessen Aka-

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demie) hat durch seine intensive empirische Orientierung, seine Metaphysik und die Begründung der Logik nachhaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Philosophie der E. genommen. Er wandte sich gegen den platonischen Zwei-Welten-Dualismus und machte geltend, dass das Wesen der Dinge nicht außerhalb der Dinge existieren könne und die Ideen keine Ursache des Seienden und der Bewegung der Natur sein könnten. Das Allgemeine ist keine abgetrennte (choriston) Substanz, sondern eine sich im Einzelnen realisierende Bestimmung. Die Substanz ist Subjekt und Träger der Eigenschaften und der Bewegung. Jedes Seiende kann in die Prinzipien ›Materie‹ und ›Form‹ (Form/Materie) zergliedert werden; durch Abstraktion von den konkreten Eigenschaften gelangt man zur ›ersten Materie‹ als dem Träger der Qualitäten; die Form ist das Prinzip, das der Materie ihre Bestimmung gibt; zugleich ist sie das Allgemeine der Gegenstände. Die Materie verfügt nicht über die Kraft der Selbstbewegung, sondern hat als Ursache den ›unbewegten Beweger‹, das göttliche Prinzip, das als einzige reine materielose Form zugleich noesis noeseos, das sich selbst denkende Denken ist. Die menschlichen Denkformen entsprechen den Seinsformen einer Natur, die nicht göttliche Schöpfung ist, sondern ihrer eigenen Teleologie folgt. Die erste Quelle des E. ist die sinnliche Wahrnehmung, die durch Einwirken der Gegenstände auf die Sinnesorgane entsteht. Allgemeine Vorstellungen, die durch Wiederholung der Wahrnehmungen und durch Erinnerung zustande kommen, sind die Grundlage der Erfahrung. Die E. geht von den Erscheinungen als dem ›Für-uns-Früheren‹ aus; ihr Ziel ist das Wesen als das ›Der-Natur-nach-Frühere‹. Während die empeiria nur zur Kenntnis der Faktizität der Dinge gelangt, erreicht der logos, der Begriff ›beweisender Wissenschaft‹, ihr Wesen durch den Nachweis der Ursachen und ihrer Notwendigkeit. Auch das Prinzipienwissen gründet, im Gegensatz zu Platons Annahme angeborener Ideen, in aisthesis, in der Wahrnehmung des Einzelnen, von dem aus Abstraktion den Weg zur Erfahrung, Synthesis (als Bildung des Allgemeinen im Begriff ) den Weg zum logisch gültigen Beweis eröffnen. Wahrheit der E. bedeutet Übereinstimmung (Korrespondenz) des Wissens mit etwas, was ist. Plotin (–), Philosoph des Hellenismus und Begründer des Neuplatonismus, hat zwar Motive der gesamten antiken Philosophie zusammengefasst, v. a. aber den Platonismus radikalisiert. Er folgt der

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Aristotelischen Gewichtung der Wahrnehmung, differenziert aber die Seele in die ›von unten‹ bestimmte Wahrnehmung und den ›von oben‹ bestimmten Geist, zwischen denen die dianoia (Verstandeserkenntnis) vermittelt. Wahre E. gründet in der Einheit der Vernunft (nous) mit dem Erkennen und dem Erkannten. Die Wirklichkeit aber ist eine zunehmende Degression der Vollkommenheit, die das ›Eine‹ (hen), das noch über Sein und Denken ist, auszeichnet. In der Stufenfolge der Emanation des Einen entsteht zunächst der nous, in dem Denken und Sein eine Einheit des Unterschiedenen bilden. Er ist Selbstanschauung als Anschauung der Welt der Ideen, die im Unterschied zu Platon nicht nur Urbilder, sondern das Seiende bewegende Kräfte sind und in Vielheit existieren. Die zweite Form der Emanation ist die Seele, welche in Nachbildung der Ideenwelt des nous die sinnliche Welt bildet; als Nachbildung der Ideen ist sie psyche, als Bildung der Wirklichkeit physis; sie nimmt die individuellen Gestalten alles Lebendigen an. In der Idee des Einen ist zugleich die Umkehrung dieser Emanation, die Rückkehr zum Einen als Prinzip des Seins, verbürgt. Sie vollzieht sich als Entsinnlichung und als Überwindung der Körperlichkeit, wie sie im Schönen bereits weltlich präsent ist, bis der Geist sich in ekstasis, sich auch über das Denken erhebend, wieder selbst anschaut und weiß. In den Bemühungen der lat. Patristik, v. a. bei Augustinus (–), werden Lehren der Antike mit denen des Christentums vermittelt. Zum zentralen Problem wird die Beziehung zwischen Glauben und Wissen. Der Philosophie wird gegenüber religiösem Offenbarungswissen und Theologie eine nachrangige, dienende Funktion zugewiesen: Die Wahrheit des Glaubens ist zwar in Übereinstimmung mit dem göttlichen Logos, soll aber durch philosophische Begründung rational gerechtfertigt werden. Nicht Erfahrung und das Wissen der scientia sind die eigentlichen Quellen der E., sondern die illuminatio, die Erleuchtung aus Gott, mit deren Hilfe sich der Mensch durch sapientia (Weisheit), durch die ihm innewohnende ewige Wahrheit der Seele, auf die Wirklichkeit bezieht; die sinnliche Wahrnehmung wird erst durch die Seele zur E.weisheit geführt: ›Die Seele ist das Auge, Gott ist das Licht‹. E. vollendet sich im Gottes- und Selbsterkennen des Glaubens. In Wiederaufnahme der Anamnesislehre Platons übernimmt die memoria, die Erinnerung, die Vermittlung der Welterkenntnis mit Gott als höchster Idee.

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2.2 Aspekte mittelalterlicher Erkenntnislehren Mit Johannes Scotus Eriugena (etwa –) ist die Schwelle des die spätere Hochscholastik beherrschenden Streits über den Status der Universalien erreicht. Für ihn sind Anfang und Ende der Natur in Gott identisch: Gott (Gottesbegriffe) ist der Ursprung der Vielheit der Natur; ewige Ideen sind als Urtypen schöpferisch aktiv (primordiales causae); die Sinnenwelt ist das Ende der göttlichen Selbstentfaltung und der Anfang der Rückkehr des Natürlichen in Gott. Der Allgemeinbegriff, das Sein als oberste Gattung, bestimmt die körperlichen Dinge als Arten der einen Gattung; das Individuelle ist eine Funktion der Substanz (der Gattung); die reale Existenz des Allgemeinbegriffs verbürgt die ›Wirklichkeit‹ des erkannten Einzelnen. Einen ersten Höhepunkt erreicht der Universalien-Realismus mit Anselm von Canterbury (– ). In seinem im Proslogion formulierten »credo, ut intelligam« (ich glaube, um zu erkennen) verbindet sich die Idee subjektiver E.gewissheit mit der Annahme, was gedacht werden könne, müsse notwendig auch existieren; so kann auch die Existenz Gottes »sola ratione« (allein aus Vernunftgründen) bewiesen werden, und aus ihr leitet sich wiederum E.sicherheit ab. Thomas von Aquin (–), dessen Summa Theologiae (–) der Scholastik ihre entwickeltste Systemform gibt, hat seine E.lehre in Kritik am radikalen arabischen Aristotelismus (Ibn Rushd/Averroës) und in Wiederaufnahme wesentlicher Momente des – nicht zuletzt durch den arabischen Arzt Ibn Sina (Avicenna, – ) vermittelten – neuplatonisierenden Aristotelismus entwickelt. E. ist für ihn die Vermittlung zwischen dem E.subjekt und dem Objekt: »Cognitio est media inter cognoscentem et obiectum«. 26 Einerseits erhält das Subjekt eine Zentralstellung: Alles, was erfasst wird, wird auf die Art des Erfassenden erfasst; die Aktivität des Intellekts, der Begriffe der Dinge bildet, ist zugleich reflexives Selbsterkennen; in der E. wird der E.inhalt dem Objekt ›ähnlich‹ (similitudo) durch Angleichung (assimilatio) an den Gegenstand. Andererseits ist die adaequatio (das In-Übereinstimmung-Bringen des Erkennens mit dem Objekt) nicht durch den handelnden Intellekt selbst verbürgt, sondern ontologisch durch das Prinzip der Kausalität, nach dem es keine E. ohne ontische Ursache gibt, und die Letztursache ist Gott als Wirkursache (causa efficiens), Endzweck (causa finalis) und reiner Akt (actus purus); die Möglichkeit der E. des Existierenden ergibt sich aus

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der die Dinge bestimmenden essenzia, dem Wesen, das Teilhabe am göttlichen Wesen ist; Wahrheit der E. ist Übereinstimmung mit dem Wesen der individuellen Gegenstände; allgemeine Wahrheit ergibt sich aus der Abstraktion vom Einzelnen, die zum Sein Gottes zurückführt. Nur insofern Ideen als Gedanken des göttlichen Geistes bestimmt werden, sind sie Universalien ante rem (vor der E. der Dinge); da das Allgemeine sich nur im Individuellen zeigt, sind die aus menschlicher E. gebildeten Universalien in re, d. h. gegenstandsabhängig. Mehr noch als der scholastische Universalien-Realismus ist der Nominalismus für die Entwicklung der neuzeitlichen ETh.wegweisend geworden. Die entscheidende Weichenstellung geschieht durch Wilhelm von Ockham (um –). Mit dem Ziel einer radikalen Trennung von Glauben und Wissen beantwortet Ockham die Frage des Universalienstreits – ob die Allgemeinbegriffe selbständig neben den Dingen existieren, ob sie Abstraktionen von den Dingen sind oder nur Zeichen der Synthesis von Einzeldingen – strikt nominalistisch. Die cognitio intuitiva ist als Grundlage sinnlicher Erfahrung zugleich der Ausgangspunkt der abstrahierenden E.: Das intuitive Erkennen (Intuition) stellt die Existenz von Gegenständen fest; die abstrahierende E. gibt den Namen, die für Einzelnes stehen, unter Verwendung von Universalien eine begriffliche Form, die allgemeine Aussagen ermöglicht. Universalien existieren nicht außerhalb der E., auch nicht als Ideen im göttlichen Geist; sie sind sprachliche Zeichen, gewonnen durch Abstraktion; sie sind Symbole für die durch E. erreichte Synthesis von Einzeldingen, und diese sind der erste Gegenstand der E. Folgerichtig bestimmt Ockham Zeichen, Worte und Sätze als die eigentlichen Inhalte der E. Deshalb kommt der Logik Vorrang vor der Ontologie zu, und die Methodologie übernimmt die Funktion der Anleitung zu richtiger E. In der Untersuchung der Einheit der Naturerscheinungen verlieren die Annahmen Gottes als erster Ursache (causa essendi) und abgetrennter Substanzen außerhalb der Gegenstände der Natur ihre Berechtigung. Für die Naturphilosophie gilt das Prinzip ontologischer Sparsamkeit: Kategorien, die kein extramentales Fundament haben, sind auf ein Minimum zu reduzieren (Ockham’s razor).

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2.3 Frühe Neuzeit: Humanität, Empirie, Rationalität und Forschung In der Renaissance (Wiedergeburt der Antike) verbinden sich Ansprüche auf eine nicht mehr dem Menschen fremde, von transzendenten Instanzen entliehene Rationalität, auf Unabhängigkeit von den Autoritäten der Offenbarung und kanonisierter Philosophie, auf methodische Exaktheit und logische Prüfung und auf Autonomie der E. mit dem Anspruch auf Freiheit des Subjekts. In diesem Prozess verändern sich die Kategorien, in denen die Elemente des Verhältnisses zwischen Gott, Natur und Mensch gedacht werden, radikal. Nicht dass mit überlieferten Auffassungen gänzlich gebrochen würde; noch kann E. nicht ohne ein Gewissheit und Wahrheit verbürgendes Prinzip gedacht werden; die Prinzipien und fundamentalen Kategorien können noch nicht aus Erfahrung und E. selbst gewonnen werden. Doch die mit ›Humanismus‹ bezeichnete Tendenz ist offensichtlich: E. ist nicht ›Teilhabe‹ am göttlichen ›Licht‹, keine von einem ›Wesen‹ garantierte Übereinstimmung des Begriffs mit dem Sachverhalt, sie erschöpft sich nicht in der Rechtfertigung des glaubend Gewussten. Das neue Verständnis von E. gründet im Bewusstsein der Unverzichtbarkeit einer analytischen Methode und methodologischer Reflexion; in Empirisierung und Verwissenschaftlichung der E. wandelt sich die Logik zur Logik der inventio, der Entdeckung durch Forschung. Im naturtheoretischen Denken und im Experiment wendet sich die Neuzeit ab von autoritätengebundener Hermeneutik – eine Hinwendung zum von Beobachtung gestützten Selbstdenken und zur mathematischen Vermessung und Konstruktion der Welt. Nichts mehr kann Gegenstand des Verstandes sein, was nicht zuvor Objekt sinnlicher Wahrnehmung war. Leonardo da Vinci (–), Nikolaus Kopernikus (–), Johannes Kepler (–) und Galileo Galilei (–) können als die Begründer des modernen wissenschaftlichen Weltbildes bezeichnet werden; sie bahnen dem modernen Empirismus und Rationalismus den Weg. In Keplers Neuer Astronomie () heißt es: »Auf die Meinungen der Heiligen aber über diese natürlichen Dinge antworte ich mit einem einzigen Wort: In der Theologie gilt das Gewicht der Autoritäten, in der Naturwissenschaft aber das der Vernunftgründe. [. . . ] heiliger ist mir die Wahrheit, wenn ich, bei aller Ehrfurcht vor den Kirchengelehrten, aus der Philosophie

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beweise, dass die Erde rund, ringsum von Antipoden bewohnt, ganz unbedeutend und klein ist und auch durch die Gestirne hin eilt.« Und Galilei schreibt: »die Autorität der Meinung Tausender in der Wissenschaft ist nicht gegen einen Funken Vernunft eines einzigen aufzuwiegen, weil die derzeitigen Beobachtungen die Urteile der früheren Autoren ihrer Autorität entkleiden.« 27 Mit Galilei gewinnen technische E.mittel große Bedeutung für die E.: Nachdem »eine so wunderbare Erfindung« zur Verfügung steht, »welche die Schärfe unseres Gesichts vier-, sechs-, zehn-, zwanzig-, dreißig- und vierzigmal vergrößert, sind unendlich viele Dinge [. . . ] mit Hilfe des Fernrohrs sichtbar geworden.« 28 Den Weg in die Neuzeit der Wissenschaft bezeichnet der Satz Galileis: »Die Philosophie ist in dem größten Buch geschrieben, das unseren Blicken v. a. offensteht – ich meine das Weltall –, aber das kann man nicht verstehen, wenn man nicht zuerst seine Sprache verstehen lernt und die Buchstaben kennt, in denen es geschrieben ist. Es ist in mathematischer Sprache geschrieben, und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne diese Mittel ist es den Menschen unmöglich, ein Wort zu verstehen, irrt man in einem dunklen Labyrinth umher.« 29 Francis Bacon konzentriert sich in seinem Novum Organon (, Teil der unvollendet gebliebenen Instauratio Magna (), der ›Großen Erneuerung‹ des wissenschaftlichen Geistes) und in De dignitate et augmentis scientiarum (, Über die Würde und die Vermehrung der Wissenschaften) bereits auf die E., die durch wissenschaftliche Forschung gewonnen wird. 30 Bacon, der »eine Philosophie weder im Dienste der Argumentation noch der Religion noch der Ästhetik, sondern im Dienste der materiellen Wohlfahrt der Menschen« konzipiert 31, ist nicht der Urheber jenes Empirismus, von dem gängiges Missverständnis behauptet, er bedeute die Verabsolutierung induktiven Erfahrungswissen. Für ihn, dem es um »Interpretation der Natur« geht, führt der bisherige Weg von den einzelnen Sinnendaten zum Allgemeinen »von der Natur fort«; das Allgemeine soll durch Forschung so gewonnen werden, »wie es die Natur als ihr zugehörig anerkennen würde und wie es im Innersten der Dinge steckt«. »Die, welche die Wissenschaften betrieben haben, sind Empiriker oder Dogmatiker gewesen. Die Empiriker, gleich den Ameisen, sammeln und verbrauchen nur, die aber, die die Vernunft überbetonen, gleichen den Spinnen,

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schaffen die Netze aus sich selbst.« 32 Die Philosophie der Forschung beginnt deshalb mit einer kritischen Analyse der Induktion: »Die Wissenschaften [. . . ] brauchen eine [. . . ] Form der Induktion, welche die Erfahrung auflöst und zergliedert und notwendig durch Ausschließung und Zurückweisung zu einer richtigen Schlussfolgerung gelangt«; notwendig ist auch die Prüfung der »Mitteilung der Sinne [. . . ] Denn es ist gewiss, dass die Sinne täuschen, zugleich aber zeigen sie auch die Mittel an, ihre eigenen Irrtümer zu entdecken«. Bacon geht den Weg einer Kritik der Vorurteile und Trugbilder, der »Idole, welche den Geist erfüllen« und die »entweder von außen gekommen oder angeboren« sind. 33 Diese Kritik bildet ein wesentliches Element der Methode, »die Stufen der Gewissheit zu bestimmen, die sinnliche Wahrnehmung durch Rückführung auf ihre Gründe zu sichern, aber das den Sinnen folgende Spekulieren des Geistes zu verwerfen, um so dem Verstande einen neuen, unfehlbaren Weg von der sinnlichen Wahrnehmung aus zu eröffnen und zu sichern.« 34 Wegweisend für jede spätere, v. a. für Humes und Kants Erfahrungskritik ist, dass bei Bacon die antispekulative Forderung, den ›Tatsachen‹ ihr Recht zu geben, koexistiert mit dem methodologischen Zweifel, der aus der Einsicht in die intellektuelle Zurichtung der ›Tatsachen‹ entsteht: »Der menschliche Verstand gleicht ja einem Spiegel, der die strahlenden Dinge nicht auf ebener Fläche zurückwirft, sondern seine Natur mit der Natur der Dinge vermischt, sie entstellt und schändet«. 35 Bacons Philosophie der E. hat über die epistemischen Interessen hinaus praktische Motive. Seine ›Aphorismen über die Interpretation der Natur und die Herrschaft des Menschen‹ setzen im . Buch des Organon ein mit einem Satz, der verdeutlicht, dass es um ›Herrschaft‹ im Sinne der ›Meisterung‹ des menschlichen Selbst- und Naturverhältnisses geht. Das eigentliche Anliegen besteht darin, ein rationales humanes Naturverhältnis durch Sicherung der Rationalität des Selbstverhältnisses zu ermöglichen: »Der Mensch, Diener und Erklärer der Natur, schafft und begreift nur so viel, als er von der Ordnung der Natur durch die Sache oder den Geist beobachten kann; mehr weiß oder vermag er nicht.« 36 Wenn Mathematik Wahrnehmung, Erfahrung und Denken zu ordnen fähig ist und das methodisch geleitete Experiment an die Stelle der Grundlegung des Wissens durch metaphysische Spekulation tritt,

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muss – so R. Descartes – die Idee der durch Teilhabe am Göttlichen verbürgten E.gewissheit durch andere, möglichst gleichwertige Prinzipien ersetzt werden. Descartes’ Discours de la méthode () ist eine der einflussreichen Antworten auf diese Frage, geschrieben »pour bien conduire sa raison. Et chercher la vérité dans les sciences« (zur richtigen Führung des Verstandes und zur Suche der Wahrheit in den Wissenschaften). In seinen Regulae ad directionem ingenii (entst. um ) fordert er, »nichts für wahr zu halten, als was man evidenterweise als wahr erkennen kann, d. h. sorgfältig ein überstürztes Urteil und ein Vorurteil vermeiden und nichts für die eigene Beurteilung zugrunde zu legen, als was sich klar und deutlich dem Geist offenbart, so dass auch der letzte Anlass für einen Zweifel wegfällt«. 37 Mit Galilei stimmt Descartes überein, naturwissenschaftliche E. müssten, um richtig zu sein, mathematisiert werden; statt des Experiments übernimmt bei ihm aber die Intuition eine maßgebliche Funktion; Axiome sollen nur dann akzeptiert werden, wenn sie als ›evident wahr‹ gelten können, d. h. ›klar und deutlich‹: »Klar (clara)«, so die Prinzipia philosophiae (), »nenne ich die E., welche dem aufmerksamen Geiste gegenwärtig und offenkundig ist [. . . ] Deutlich (distincta) nenne ich aber die E., welche, bei Voraussetzung der Stufe der Klarheit, von allen übrigen so getrennt und unterschieden (sejuncta et praecisa) ist, dass sie gar keine anderen als klare Merkmale in sich enthält.« 38 Diese Bestimmungen kommen vorzüglich dem mathematischen Geist zu, weil »die Arithmetik, die Geometrie und andere Wissenschaften dieser Art, die nur von den allereinfachsten und allgemeinsten Gegenständen handeln und sich wenig darum kümmern, ob diese in der Wirklichkeit vorhanden sind oder nicht, etwas von zweifelloser Gewissheit enthalten«. 39 In der ersten der Meditationen () radikalisiert Descartes den methodischen Zweifel bis über die Grenze der Gewissheit der Existenz Gottes und der objektiven Welt hinaus und bis zur Annahme eines ›bösen täuschenden Geistes‹ 40 ; den Grund der Gewissheit erreicht er in dem Prinzip der Evidenz: »Ich bin, ich existiere«. 41 Die Prinzipia überführen diese Einsicht in die Form des Urteils: »Demnach ist der Satz: Ich denke, also bin ich (cogito, ergo sum) die allererste und gewisseste aller E.e, die sich jedem ordnungsgemäß Philosophierenden darbietet.« 42 Descartes hält dieses aus der Intuition als ›natürlicher Einsicht‹ stammende Prinzip der Selbstevidenz des Verstandes für gesichert. Wäh-

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rend die res cogitans durch die Evidenz der klaren und deutlichen Selbstgegebenheit ausgezeichnet ist, bedarf die Zwei-Substanzen-Lehre zur Sicherung der E. der »körperlichen Substanz« (der Materie im Raum) der Idee »einer erschaffenen denkenden Substanz« 43, die ihrerseits keine bloße Verstandeskonstruktion sein darf. Deshalb führt Descartes ein, was von nun an Gegenstand der philosophischen Kontroverse sein wird: Von den Ideen »sind die einen mir eingeboren, andere von außen hinzugekommen, wieder andere von mir selbst gemacht«. 44 Die nicht-empirischen E.e der Mathematik sind »aus gewissen, mir eingeborenen Begriffen gebildet«. Descartes lässt den Begründungs-Regress bei einer ersten Idee enden, »deren Ursache gleichsam das Urbild darstellt« 45 – Gott, der, weil er gewiss denkbar ist, auch existiert: »da ich ja erstlich weiß, dass alles, was ich klar und deutlich denke, in der Weise von Gott geschaffen werden kann, wie ich es denke, so genügt es für mich, ein Ding ohne ein anderes klar und deutlich denken zu können, um mir die Gewissheit zu geben, dass das eine vom anderen verschieden ist, da wenigstens Gott es getrennt setzen kann«. 46 Ob aber Evidenz überhaupt ein Wahrheitskriterium biete, war bereits in dieser Zeit umstritten; für B. Pascal (Pensées,  erschienen) war es gerade die Vernunft, die es als evident erscheinen lasse, dass auch evidenten Sätzen nicht geglaubt werden müsse. Die Bacon und Descartes folgende Philosophie geht von nun an die zwei Hauptwege empirischinduktiver und rational-deduktiver Begründung der E.sicherheit. Empirismus und Rationalismus treten aber nie reintypisch auf; die beiden Wege kreuzen sich und mit ihnen die Begründungsstrategien. Zu denen, die E.gewissheit apriorisch und substanzontologisch begründen, gehört B. Spinoza, der auf eine rationale, dem mathematischen Ideal reiner E. verpflichtete Methodologie der Wissensgewinnung zielt. Jene E.art, mit der die Natur empirisch nur in der Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen erkannt werden kann, ist unsicher; sie berührt nur res singulares seu particulares (einzelne bzw. besondere Dinge); Ideen auf der Basis der Sinnlichkeit sind inadäquat. Spinozas methodische Aufforderung lautet, »die Wahrheit selbst oder das objektive Sein der Dinge oder ihre Ideen (denn all das bezeichnet ja ein und dasselbe) in gehöriger Ordnung aufzusuchen«. 47 Die hervorgebrachte Natur (natura naturata) muss auf die hervorbringende (natura naturans) zurückgeführt werden, um zu begreifen, wie jedes Besondere (als

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Einschränkung, negatio) als Moment des Ganzen (der determinatio) entsteht. Diese Reduktion leistet der monistische Substanz-Begriff: Die Substanz ist ›sive natura sive deus‹ (die mit Gott gleichbedeutende Natur) als einzige causa sui (Selbstursache). »Unter Substanz verstehe ich das, was in sich ist und durch sich begriffen wird, d. h. das, dessen Begriff, um gebildet werden zu können, den Begriff eines anderen Dinges nicht braucht«. 48 Für die ETh. bedeutet dies, »dass die menschliche Seele ein Teil des unendlichen Verstandes Gottes ist; wenn wir daher sagen, die menschliche Seele nehme dieses oder jenes wahr, so sagen wir nichts anderes, als dass Gott [. . . ], sofern er die Wesenheit der Menschenseele ausmacht, diese oder jene Idee habe«. 49 Gilt der Satz »Gewissheit und objektives Sein sind ja dasselbe« 50, dann können die unsicheren E.arten der Wahrnehmung, der Meinung und der Vorstellung einerseits, des vernünftigen Schliessens andererseits nur durch intellectio überwunden werden, durch eine intuitive Schau des Wesens, deren Spontaneität gleich einem automaton spirituale (geistige Selbstbewegung) wirkt; die Wahrheit dieser Intuition ist durch Teilhabe des menschlichen am göttlichen Verstand verbürgt. Anders gefasst als in der Substanzmetaphysik wird das Problem der E.gewissheit in den – sei es aus politischen, sei es aus wissenschaftlichen Gründen – stärker an empirisch gestützter Aufklärung der E. interessierten Erfahrungsphilosophien. (Zu verweisen wäre auch auf die Tradition der Freidenker, z. B. auf A. Collins (–) und die Forderung, ›freies Denken‹ solle sich nur von der empirischen ›Evidenz der Sache‹, nicht aber durch Autoritäten leiten lassen.) Für die Entwicklung der modernen ETh. besonders folgenreich sind die Antworten, die der britische Empirismus auf die quest for certainty gibt. 2.4 Zum britischen Empirismus D. Hume, der als Diplomat in Paris mit Diderot, D’Alembert, Helvétius und auch mit Rousseau bekannt wurde, hatte mit seinem Treatise of Human Nature (/) zunächst keinen Erfolg. Das überarbeitete . Buch dieses Werkes (Of the Understanding) erschien  unter dem Titel Philosophical Essays Concerning Human Understanding;  erhielt es den Titel An Enquiry Concerning Human Understanding. Hume wurde für Kant von herausragender Bedeutung: »Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was

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mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab.« 51 Humes Ziel, auf das sich Kant in den Prolegomena bezieht, ist eine wissenschaftliche Philosophie der Natur der E. Von einem ›naiven Empirismus‹ kann auch bei ihm keine Rede sein. Zwar ist für ihn der lebendigste Gedanke immer noch schwächer als die dumpfeste Wahrnehmung, und thoughts oder ideas leisten weit weniger als impressions. Doch unterschätzt er die schöpferische Kraft des Intellekts nicht, ohne dessen Tätigkeit das durch die Sinne und die Erfahrung gegebene mannigfaltige Material nicht verbunden werden könnte. Für sein Konzept wesentlich ist die Idee der Assoziation der Repräsentationen: Es gibt ein Prinzip der Verbindung verschiedener Gedanken oder Vorstellungen des Geistes, und wenn sie in der Erinnerung oder in der Imagination erscheinen, führt eine die andere gewissermaßen methodisch und regelmäßig ein. Dieses Prinzip gilt universell; es garantiert so Intersubjektivität – trotz der basalen Funktionen der individuellen Sinnlichkeit und der Erfahrung. Die von Hume genannten Assoziationsprinzipien sind resemblance, contiguity und cause or effect. Was Hume interessiert, sind die matters of fact, für die es keine mathematische Evidenz gibt, sondern nur die problematische Beziehung zwischen einem singulärem Sinnesdatum und der Idee der Gesetzmäßigkeit und der Kausalität. Hume schliesst aus, dass die Kenntnis von Kausalbeziehungen durch Akte des Denkens a priori gewonnen werden können. Ursachen und Wirkungen können nicht durch Vernunft, sondern durch Erfahrung entdeckt werden; Kausalität ist kein Gegenstand von Erfahrung. Erfahrung aber führt nur zu Wahrscheinlichkeit, nicht zu Gesetzmäßigkeit. Wir nehmen nur eine Sukzession wahr, nicht aber die verursachende Kraft. Das von Hume gewählte Beispiel lautet: Dass die Sonne morgen nicht aufgehen wird, ist ein nicht minder einsichtiger Satz als die Behauptung, dass sie aufgehen wird. Keine Wirkung kann mit Notwendigkeit aus einer Ursache abgeleitet bzw. prognostiziert werden. Deshalb haben die Aussagen der Wissenschaft über matters of fact keine verlässlicheren Grundlagen als die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, die Prinzipien, die die Naturphänomene hervorbringen, zu größerer Einfachheit zu bringen und die vielen einzelnen Wirkungen auf einige wenige

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allgemeine Ursachen zurückzuführen. Bilanziert man, so kann man sagen: Der ursprüngliche Empirismus kennt zwei Säulen, auf denen das Wissen ruht – die Sinnlichkeit und den Verstand; beide Säulen sind notwendig, damit Erfahrung zustande kommt. 2.5 Zur französischen Aufklärungsphilosophie Die durch John Locke angebahnte und durch Hume weitergeführte Tradition hat Etienne Bonnot de Condillac (–) wieder aufgenommen und in die neue franz. sensualistische und materialistische Denkkultur übersetzt. Er ist kein Locke-Epigone, sondern gibt dessen Ideen – Anstoß nehmend am rationalistischen Rest, d. h. der Lockeschen Betonung der Reflexion neben der Impression – eine Wendung zur Philosophie der Sprache. Der  erschienene Essai sur l ’origine des connoissances humaines (Versuch über den Ursprung der menschlichen E.se) folgt noch weitgehend der Systematik Lockes;  bietet die ›Abhandlung über die Systeme‹ eine kritische Abrechnung mit der rationalistischen Metaphysik; im  veröffentlichten Traité des sensations (Abhandlung über die Empfindungen) entwickelt Condillac nun einen von Locke abweichenden radikalen Sensualismus, der auch die  erschienene Logique und das postum  veröffentlichte Werk über die Sprache des Rechnens prägt. Bereits im Essai von  plädiert er für eine ›bescheidene‹ Metaphysik, die sich darum bemüht, »die Dinge so zu sehen, wie sie tatsächlich sind«, und die daher so einfach ist »wie die Wahrheit selbst«. 52 Die Untersuchung zielt auf die Operationen des menschlichen Geistes, »die Kunst, diese Operationen miteinander zu kombinieren und sie so zu vollziehen, dass wir alles Verständnis gewinnen, dessen wir fähig sind«. Gegenstand der Analyse sind der Ursprung und die natürlichen Grenzen der E., die nur »mit Hilfe von Beobachtungen«, die »auf ein einziges Prinzip zurückzuführen« sind, bestimmt werden können: »eine ständige Erfahrung, deren sämtliche Folgerungen durch neue Erfahrungen bestätigt werden«. 53 Das Prinzip, »dass alle unsere E.se von den Sinnen herkommen«, entlehnt Condillac ausdrücklich Bacon und Locke. Doch weit mehr als diese hebt er die Bedeutung von Zeichen und Sprache hervor: »Die Ideen verknüpfen sich mit den Zeichen, und nur dadurch können sie sich [. . . ] untereinander verknüpfen.« 54 Der Essai selbst hebt in §  der Ersten Sektion an mit einer These, die scheinbar G. Berkeley

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entlehnt ist: »Mögen wir uns – metaphorisch gesprochen – bis in den Himmel erheben, oder mögen wir in die Abgründe hinabsteigen, wir kommen doch niemals aus uns selbst hinaus, und wir nehmen nur immer unsere eigenen Gedanken wahr.« 55 So ist es zwar sinnlos, danach zu fragen, was die Natur unserer Gedanken ist, doch im Rahmen einer realistischen Ontologie können zumindest folgende Behauptungen formuliert werden: »Wir müssen also in unseren Empfindungen dreierlei unterscheiden: . die Perzeption, die wir haben, . die Beziehung, die wir zu einem außerhalb von uns existierenden Ding herstellen, . die Feststellung, dass das, was wir auf die Dinge beziehen, ihnen auch wirklich zukommt.« 56 Condillacs eigenständige Leistung ist die Idee seiner Semiotik, »dass der Gebrauch der Zeichen die wahre Ursache für die Entwicklung der Imagination, der Kontemplation und des Gedächtnisses ist«. 57 Eine wesentliche Rolle in Condillacs Überlegungen nimmt das Problem des methodologischen Individualismus und des UniversalienNominalismus ein; der Nominalismus erweist sich als Wegweiser des Materialismus. Es gehört zu den menschlichen Bedürfnissen, nicht »Namen für jeden einzelnen Gegenstand zu ersinnen, daher wurde es frühzeitig erforderlich, über allgemeine Bestimmungen zu verfügen«. Kategorien wie »Wesen, Substanz, Sein« sind Ergebnisse von Abstraktion und Klassifikation; für sie gilt, »dass die abstraktesten Bezeichnungen von den ersten Benennungen abgeleitet wurden, die man den sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen gegeben hat«. 58 Die spätere Logique hat den Nominalismus – er ist nicht mehr der Ockhams, sondern inzwischen wesentlich durch die Empirie der Naturwissenschaften geprägt, deren E. auf unter Gesetze subsumierte Einzelobjekte geht – noch einmal zugespitzt: »Wir haben gesagt, dass die Ideen von den sinnlich wahrnehmbaren Objekten ihrem Ursprung nach nichts anderes sind als die Empfindungen, die diese Objekte repräsentieren. Aber in der Natur existieren nur Individuen; also sind unsere ersten Ideen nur individuelle Ideen, Ideen von dem oder jenem Objekt.« 59 Wie weit sich die Entwicklung der ETh. inzwischen von jeder rationalistischen Metaphysik entfernt hat, wird deutlich an den impliziten ontologischen Prämissen, die nun im Interesse an einem anti-skeptischen Realismus die Theoriekonstruktion methodologisch anleiten: Es bedarf keines Gottes zur Sicherung der E. mehr; zureichender Grund

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für E.sicherheit ist die Natur, deren Begriff bereits so weit entwicklungstheoretisch aufgeladen ist, dass er selbst die Logik als ›natürliche Logik‹ prägt: »Es entsprach der Natur der Menschen, die Schwäche ihrer Arme durch jene Mittel zu ergänzen, die die Natur ihnen zur Verfügung gestellt hatte, und so sind sie Handwerker (mécaniciens) geworden, ehe sie es sein wollten. So sind sie auch Logiker geworden; sie haben gedacht, ehe sie danach forschten, wie man denkt. Es mussten sogar Jh.e vergehen, bis die Vermutung aufkam, dass das Denken Gesetzen unterworfen sein könne, und noch heute denken die meisten, ohne auf solche Vermutungen zu kommen.« Eine solche Logik, die »nicht mit Definitionen, Axiomen, Prinzipien« beginnt, sondern mit den Lehren, »die die Natur uns erteilt« 60, steht an der Schwelle eines Verständnisses von E., in dem eine materialistisch gedachte Praxis in den Vordergrund treten wird. Es ist die Generation der mit der Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers ( ff.) verbundenen philosophes, die den Schritt über eine vorrangig an den Naturwissenschaften orientierte ETh. hinaus in Richtung einer neuen praktischen und geschichtsphilosophischen Bestimmung der Gründe und Funktionen der E. und des Wissens tun. Die Enzyklopädisten bilden keine einheitliche Schule, zwischen D’Alemberts Empirismus und Holbachs atheistischem Materialismus zeigen sich große Unterschiede. Doch ist allen gemein, dass als Motiv für den Fortschritt der E. die den Naturwissenschaften eigene, auch für sie unverzichtbare theoretische Neugierde (curiositas) nicht mehr ausreicht; wie die Wissenschaften in der bürgerlichen Gesellschaft selbst längst in technische Praxis einbezogen worden sind, verbindet die philosophische Aufklärung aus praktischen Gründen der Veränderung des ancien régime Wissen und praktische Verantwortung zu einer neuen Einheit. Jean Le Rond D’Alembert (–) veröffentlichte  den Discours préliminaire de l’Encyclopédie und  seinen Essai sur les élémens de philosophie. Im ›Vorwort‹ zu den Ausgaben von  und  des Discours finden sich als Antworten auf Kritiken zwei bemerkenswerte Dementis, die über Traditionslinien Auskunft geben. Zum ersten weist D’Alembert den Vorwurf zurück, der ihn als Nachfolger Lockes und Condillacs in die Nähe zum Materialismus bringen sollte; er wendet sich gegen die Behauptung, »dass ich die Dinge als wirkende Ursache

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unserer Sinnesempfindungen angesehen hätte – trotz meiner ausdrücklichen Versicherung, dass sie zu unseren Empfindungen in keinerlei Beziehung stehen«; zum anderen verteidigt er sich gegen den Einwand, in seiner Wissenschaftsgeschichte und -klassifikation nur ein Plagiator Bacons zu sein. Empiristisches Gemeingut ist die Zurückführung aller unmittelbaren E. auf sinnliche Wahrnehmungen wie auch die These: »die wahre Philosophie wird jeder auf Tatsachen oder anerkannten Wahrheiten beruhenden Schlussfolgerung den Vorzug vor derjenigen geben, die sich nur auf Hypothesen stützt«. 61 Die Problemstellung lautet: »Da keine Verbindung zwischen der einzelnen Sinnesempfindung und dem Gegenstand besteht, der sie hervorruft oder auf den wir sie zumindest beziehen, scheint es in der Tat ausgeschlossen, mit Hilfe eines Vernunftschlusses einen möglichen Übergang vom einen zum anderen zu finden.« 62 Die Problemlösung der Einführung eines »Instinkts, unfehlbarer als selbst die Vernunft«, verbunden mit Condillacs Konzepten ›Bedürfnis‹, ›Zeichen‹ und ›Sprache‹ 63, ist so schwach, dass D’Alembert ohne die Annahme der »Anschauung einer allmächtigen Intelligenz« und der »Existenz Gottes« nicht auskommt. 64 Letztlich gibt er seine Begründungen jedoch in einer gesellschaftsgeschichtlich argumentierenden Genealogie des Wissens aus praktischen Bedürfnissen und »lebensnotwendigen Handwerken«, denen das »zunächst halb spielerisch unternommene Studium der Natur«, die Künste und die Wissenschaften folgen. Sein Interesse gilt dem praktischen »Nutzen« als der Voraussetzung, »Forschungen zu rechtfertigen«. 65 Gegen den »System-Geist« spekulativer Philosophie gewandt 66, konzentriert sich der Discours bei der Erklärung des Anspruchs der Encyclopédie auf das Problem der ›Tatsachen‹. Hier zeigt sich, dass philosophischer Empirismus im Interesse der Sicherung wissenschaftlicher E. auf RationalitätsAnsprüche nicht verzichten kann: Erst »in der Anwendung der mathematischen Analyse auf die Erfahrungstatsachen oder auch nur in einer methodisch gelenkten [. . . ] Beobachtung« kann »der einzig wahre Weg der Naturphilosophie« eröffnet werden. 67 So beschreibt D’Alembert den Weg der E. nicht als Weg von den einzelnen Wahrnehmungen zum allgemeinen Wissen, sondern gerade umgekehrt: »[D]er Geist verfolgt seine Untersuchungen nun einmal in der Weise, dass er nach einer Verallgemeinerung seiner Wahrnehmungen bis zum Punkte ihrer äußersten Zergliederungsmöglichkeit dann auf demselben Wege

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zurückkehrt, von neuem die gleichen Wahrnehmungen macht und daraus allmählich von Stufe zu Stufe die wirklichen Dinge wieder Gestalt werden lässt, die den unmittelbaren und direkten Gegenstand unserer Sinnesempfindungen bilden.« 68 In dieser Perspektive ist die Encyclopédie keine einfache Bestandsaufnahme zu Tatsachen und Ereignissen. Laut D’Alemberts Discours préliminaire verfolgt sie das doppelte Ziel, als ›Encyclopédie‹ den »Aufbau und Zusammenhang der menschlichen Kenntnisse« aufzuzeigen und als ›dictionnaire raisonné‹ – als methodisches Sachwörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe – »die allgemeinen Prinzipien« der Ordnung des Wissens vorzustellen. 69 Entsprechend stellt Denis Diderot (–) in seinem Artikel ›Encyclopédie‹ der »rationalen Philosophie« die Aufgabe, die sich unaufhörlich durch Beobachtung und experimentelle Physik vermehrenden »Tatsachen« und »Erscheinungen« miteinander zu vergleichen und zu verbinden. Seit D’Alembert in seinem Essai formuliert hat, das philosophische Verhalten (morale du philosophe) habe »zum Ziel die Art und Weise, in der wir denken müssen, um uns ohne Abhängigkeit von anderen glücklich zu machen« 70, ist ETh. nicht mehr allein oder in erster Linie Aufklärung über Erfahrung. Zwar bleiben Naturwissenschaft und Naturphilosophie, wie die Beispiele von Helvétius und Holbach zeigen, ihre Orientierungspunkte; doch es ändert sich die Zielbestimmung von E. und Wissen: ETh. ist von nun an eng verbunden mit der praktischen Philosophie, der Geschichts-, Gesellschafts- und Moralphilosophie. 2.6 Kant und der Deutsche Idealismus 2.6.1 Kants ›Revolution der Denkungsart‹ Mit Kants E.kritik hat eine der Revolutionierung des Weltbildes durch Kopernikus vergleichbare epistemologische Revolution begonnen. So hat er es selbst gesehen. In einem Brief an Marcus Herz nimmt er  für sich in Anspruch, »eine gänzliche Veränderung der Denkungsart« herbeizuführen. Diese Veränderung leistet seine Kritik der reinen Vernunft. Kants erste Kritik ist revolutionär und belegt zugleich Kontinuität: Sie lässt den roten Faden einer Philosophie der Erfahrung nicht abreißen, den Bacon und Hume geknüpft haben. Wenn Kant seine eth. Aufgabe als Kritik bestimmt, dann geht es ihm darum, das

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Feld für eine zuverlässige Antwort auf die zentrale Frage zu bestellen: »Was kann ich wissen?« 71 Was Kant an Neuem in die Theorie der E. und des Wissens einführt, sind v. a. (i) die in der ›Transzendentalen Ästhetik‹ ausgearbeitete Theorie von Raum und Zeit als der Sinnlichkeit zugeordnete notwendige Formen der Anschauung a priori; Raum und Zeit sind hinsichtlich aller möglichen Gegenstände der Sinne objektiv gültig und haben ihre eigene Realität; sie ›hängen‹ aber nicht an den Dingen-an-sich, sondern sind Zuschreibungen erkennender Subjekte; Der Raum ist »die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne« 72 ; die Zeit ist »die Form des inneren Sinnes, i. e. des Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes« 73 ; (ii) die Theorie der ›reinen Verstandesbegriffe‹ (Kategorien) und der ›Schemata‹, der Urteile und der Vernunftschlüsse in der den ›Elementen‹ des Verstandes gewidmeten ›Transzendentalen Logik‹; (iii) die transzendentale Deduktion eines Kategoriensystems: Die Kategorien (reine Verstandesbegriffe) sind Bedingungen der Möglichkeit der E. a priori von Gegenständen der Erfahrung, und zwar innerhalb der Grenzen der Erfahrung; (iv) die Theorie der transzendentalen Apperzeption, des ›Ich denke‹, das alle Vorstellungen muss begleiten können; (v) die Theorie der produktiven Einbildungskraft; (vi) die Lehre vom Schematismus, in der das Verhältnis zwischen Kategorien, reinen Anschauungen und in der Anschauung gegebenen Sinnesdaten bestimmt wird; es geht Kant um die auf Regeln a priori beruhenden Vermittlung von Sinnlichkeit und Verstand, von Anschauung und Begriff; der Schematismus der Verstandesbegriffe ist die auf Wahrnehmungsgegenstände angewandte Regel der synthetischen Einheit des Bewusstseins; (vi) die Theorie jener Ideen der Vernunft, die eine regulative Funktion haben, obwohl sie die Grenzen der Erfahrung überschreiten (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit). ›Kritik‹ bezeichnet bei Kant das Vermessen eines Möglichkeitsraumes, d. h. die Analyse der Bedingungen der Möglichkeit von E. und Wissen. Er richtet mit seiner Kritik die Fragen der Philosophie nicht auf die empirischen und genetischen Voraussetzungen der E. Er betont ausdrücklich, »dass hier nicht von dem Entstehen der Erfahrung die Rede sei, sondern von dem, was in ihr liegt«. 74 Sein Interesse gilt den transzendentalen Bedingungen der E. Die Bedingung der Möglichkeit einer Erfahrung, die intersubjektiv und objektiv gültig sein kann,

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formuliert er so: »Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich.« 75 Die Suche nach den Formen dieser notwendigen Verknüpfung führt zurück zu Newtons Prinzipia; in Mathematik und Physik findet Kant allgemeine und notwendige Denkformen, die apriorisch sind, d. h. nicht aus der Erfahrung gewonnen. Was ihn beschäftigt, ist das Problem, welchen Status Gegenstände der E. haben. Er löst dieses Problem dualistisch mit der Unterscheidung zwischen einer phänomenalen und einer noumenalen Welt. Die Gegenstände werden der E. nicht von der noumenalen Realität der Dinge, wie sie an sich selbst sind (Ding/Ding an sich), gegeben, sondern innerhalb der Grenzen der uns erscheinenden (phänomenalen) Welt im Erkennen als E.objekte konstituiert. Die realen Gegenstände geben als Dinge an sich den Stoff zu empirischen Anschauungen; aber sie sind nicht deren Stoff, denn dieser kann nur durch die apriorischen Anschauungsformen und Kategorien des Verstandes zur E. organisiert werden. Das philosophische Problem liegt nicht in der Frage, ob E. durch synthetische Urteile a priori möglich ist; diese Frage ist für Kant durch die Mathematik und die Newtonische Physik beantwortet. Was ihn interessiert, ist das Wie des Zusammenhangs von Sinnlichkeit und Verstand, von Erfahrung, apriorischer E. und objektivem intersubjektiven Wissen. Die Frage nach dem Wie kann sie nicht mehr einfach mit dem Hinweis auf die Tatsachen der Empirie beantwortet werden. 76 Denn für die menschliche E. ist die Komplementarität von zwei simultanen E.vermögen – Sinnlichkeit und Verstand/Vernunft – und von zwei Vorstellungsarten – Anschauung (als Leistung der Sinne) und Begriff (als Leistung des Verstandes) – konstitutiv. Keines der beiden Momente könnte getrennt vom anderen zu E. führen: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden.« 77 Vernunft schließlich ist das Prinzip der systematischen Einheit des Verstandesgebrauchs, bei dem die Grenzen der Erfahrung und der phänomenalen Welt nicht überschritten werden. Die Einheit der Erfahrung setzt die apriorische Einheit des Selbstbewusstseins voraus, die transzendentale Einheit der Apperzeption. 78 Dem ›Ich denke‹ ist eine Synthesis »v. a. Denken« gegeben, »ein Aktus der Spontaneität«, der nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden kann. 79 Die notwendige Bedingung aller E. ist: »Das: Ich

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denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.« 80 Kant bringt das Prinzip seiner ›Kopernikanischen Wende‹ Er beugt aber sofort einem möglichen Missverständnis dieses Theorems vor: Es geht ihm nicht um »empirische Gesetze der Natur, die jederzeit besondere Wahrnehmungen voraussetzen«, sondern um jene »reinen oder allgemeinen Naturgesetze, welche, ohne dass besondere Wahrnehmungen zum Grunde liegen, blos die Bedingungen ihrer notwendigen Vereinigung in einer Erfahrung enthalten«; nur »in Ansehung der letztern ist Natur und mögliche Erfahrung ganz und gar einerlei«. 81 Die ›Revolution der Denkungsart‹ wird in der . Auflage der Kritik der reinen Vernunft in Analogie zur Revolution in der Mathematik und in den Naturwissenschaften erläutert. Man habe bisher angenommen, »alle unsere E. müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere E. erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem E. richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer E. derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. [. . . ] Was Gegenstände betrifft, so fern sie bloß durch Vernunft und zwar notwendig gedacht, die aber (so wenigstens, wie die Vernunft sie denkt) gar nicht in der Erfahrung gegeben werden können, so werden die Versuche sie zu denken (denn denken müssen sie sich doch lassen) hernach einen herrlichen Probirstein desjenigen abgeben, was wir als die veränderte Methode der Denkungsart annehmen, dass wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen.« 82 Am Schluss der Kritik der reinen Vernunft bilanziert Kant das Ergebnis seiner mit dem Ziel Aufklärung durchgeführten Untersuchungen in einer Prognose: »Der kritische Weg ist allein noch offen.« Das »dogmatische Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens« 83 Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, ist diskreditiert.

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2.6.2 Fichte, Schelling und Hegel J. G. Fichte hat seine Wissenschaftslehre von  bis  als eigenen philosophischen Systemansatz ausgearbeitet. Sein Anliegen war, die Frage nach dem Grund für die Möglichkeit wahrer E. so zu beantworten, dass die dualistischen Unzulänglichkeiten der kantischen Philosophie behoben würden. Er hat  seine Wissenschaftslehre mit dem revolutionären Frankreich verglichen: »Mein System ist das erste System der Freiheit; wie jene Nation von den äußern Ketten den Menschen losreißt, reißt mein System ihn von den Fesseln der Dinge an sich, des äußeren Einflusses los, und stellt ihn in seinem ersten Grundsatze als selbständiges Wesen hin.« 84 Kants Transzendentalphilosophie wird radikalisiert; die Dualität von Denken und objektiver Welt wird in einer monistischen Konzeption von Wissen aufgelöst: »Dies der wahre Geist des transzendentalen Idealismus. Alles Sein ist Wissen. Die Grundlage des Universum ist nicht Ungeist, Widergeist, dessen Verbindung mit dem Geiste sich nie begreifen liesse, sondern selbst Geist. Kein Tod, keine leblose Materie, sondern überall Leben, Geist, Intelligenz: ein Geisterreich, durchaus nichts Anderes. Wiederum alles Wissen, wenn es nur ein Wissen ist, – [. . . ] ist Sein (setzt absolute Realität und Objektivität).« 85 Das erkennende Subjekt (Ich) hat die Eigenschaft, durch intellektuelles Handeln in Selbstbestimmung und Selbstnegation zugleich Wirklichkeit (Nicht-Ich) zu konstituieren. ›Idealismus‹ bedeutet jetzt: »Die Intelligenz, als solche, sieht sich selbst zu; und dieses sich selbst Sehen geht unmittelbar auf alles, was sie ist, und in dieser unmittelbaren Vereinigung des Seins und des Sehens besteht die Natur der Intelligenz.« 86 Wie aber kommen wir dann noch dazu, ein Sein anzunehmen? Diese Präsupposition bedarf einer philosophischen Klärung der Frage, wie ein Sein für uns möglich ist. Dogmatismus und Idealismus stellen Versuche dar, den Grund der Erfahrung zu identifizieren. Der Grund wird entweder im Ding gesucht – dies ist der Weg des Dogmatismus/ Realismus – oder aber in der Intelligenz, im Ich; dies ist Fichte zufolge der Weg des Idealismus. Für Fichte »vollständigen Idealismus« ist das »a priori und das a posteriori [. . . ] gar nicht zweierlei, sondern ganz einerlei«, und »die Philosophie antizipiert die gesamte Erfahrung«. 87 Die Realität kann nur noch in einem Begriff gedacht werden, der sie als eine vom handelnden intelligenten Ich abgeleitete Größe erschei-

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nen lässt, als ›Nicht-Ich‹, an dem das Ich eine selbstgesetzte Grenze findet, die es überschreitet, sobald es das, was nicht Ich ist, als Produkt des eigenen Handelns begreift. F. W. J. Schelling hat sein Interesse bis  auf die Frage konzentriert: Wie kann die Kantische Transzendentalphilosophie so erweitert werden, dass Realität nicht nur durch die Kant zufolge unerkennbaren Dinge, wie sie an sich selbst sind, im philosophischen Denken präsent ist, sondern materialiter im Begriff einer wirklichen produktiven, autopoietischen und selbstreferenziellen Natur? Er sucht, zunächst durch Fichte motiviert, nach neuen Problemlösungen, die über den Kantischen Dualismus hinausführen. Das philosophische Problem bestehe, so schon in seiner Abhandlung zur Erläuterung der Wissenschaftslehre (), in Folgendem: »Ich glaube nicht, dass leicht jemand leugnen werde, alle Zuverlässigkeit unseres Wissens beruhe auf der Unmittelbarkeit der Anschauung. Die geistreichsten Philosophen sprechen von der E. äußerer Dinge, als von einer Offenbarung, die uns geschieht; nicht als ob sie dadurch etwas zu erklären vermeinten, sondern um anzudeuten, dass es überhaupt unmöglich sei, den Zusammenhang zwischen Gegenstand und Vorstellung durch verständliche Begriffe zu vermitteln; dieselben nennen unsere Überzeugung von äußern Dingen einen Glauben, entweder, weil die Seele mit dem, was sie glaubt, am unmittelbarsten umgeht, oder, um mit Einem Worte zu sagen, dass jene Überzeugung eine wahrhaft blinde Gewissheit sei, die nicht auf Schlüssen (von der Ursache auf die Wirkung) oder überhaupt auf Beweisen beruhe. Man sieht auch nicht ein, wie irgend eine Annahme, die erst durch Schlüsse erzeugt wird, so in die Seele übergehen, so zum herrschenden Prinzip des Thuns und des Lebens werden könne, als der Glaube an eine Außenwelt ist.« 88 Die Problemlösung, die der frühe Schelling favorisiert, zeichnet sich hier ab: »In unsrer E. ist nichts Unmittelbares (eben desswegen nichts Gewisses), wofern nicht die Vorstellung zugleich Original und Kopie, und unser Wissen ursprünglich und durch ein Ideal und Real zugleich ist. Der Gegenstand ist nichts anderes als unsere selbsteigene Synthesis, und der Geist schaut in ihm nichts an als sein eignes Produkt. Die Anschauung ist völlig tätig, eben deswegen produktiv und unmittelbar. [. . . ] Alle Anschauung ist also ursprünglich eine bloß innere. Dies folgt notwendig aus demjenigen, was wir allein von der Natur der See-

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le wissen und wissen können. Wenn man uns fragt, worin das Wesen des Geistes bestehe, so antworten wir: in der Tendenz sich selbst anzuschauen. Über diese Tätigkeit können wir mit unsern Erklärungen nicht hinaus. In ihr schon liegt die Synthesis des Idealen und Realen in unserem Wissen, durch sie allein kennt der Geist sich selbst, und er hat nur Eine Grenze des Wissens, sich selbst.« 89 Das transzendentale Wissen ist »ein Wissen des Wissens«, das in der Identität der »beiden Sätze: Ich bin, und: es sind Dinge außer mir« gründet. 90 G. W. F. Hegel hat sein ›System der philosophischen Wissenschaften‹ mit einem Veto gegen die subjektive Ich-Philosophie Fichtes und mit der Kritik an Schellings bald nach  entwickelter Identitätsphilosophie des Absoluten verbunden. Überzeugt von der die Philosophie abschliessenden Funktion seines Systems, hat er mit Schärfe auch gegen Philosophien polemisiert, die von ihm nicht als Gestalten der ›Vernunft‹ anerkannt wurden. So gilt in eth. Hinsicht seine Kritik an der neuzeitlichen Philosophie v. a. dem Empirismus und Humes Skepsis sowie dem Materialismus. Sein Idealismus der Objektivität und Notwendigkeit des Geistes wendet sich gegen alle Formen subjektiver Begründung des Wissens über E.gegenstände. Seine Metaphysik fasst nun als onto-logische Dialektik das Denken als Bewegung des Widerspruchs, als den »sich selbst erzeugenden, fortleitenden und in sich zurückgehenden Gang« 91 des Geistes. Hegels Philosophie der E. und des Wissens ist eine Prozesstheorie der Geschichte der Vernunft des Absoluten: Der ›Gang der Idee‹ wird grundsätzlich in der Figur der Einheit von Geist und Geschichte dargestellt. ›Geist‹ ist, wie Hegel in §  der Enzyklopädie () definiert, »die zu ihrem Fürsichsein gelangte Idee [. . . ], deren Objekt ebensowohl als das Subjekt der Begriff ist«, »die sich selbst wissende wirkliche Idee«. 92 Die Bewegung, die Selbstentfaltung der Idee (bzw. des Begriffs, des Geistes, des Absoluten) ist der Grund der Einheit von Erkennen, Wissen und Wirklichkeit. Dies ist Hegels Antwort auf die auch ihn Frage leitende Frage »Wie kommen wir Subjekte zu den Objekten hinüber?« 93 Menschliches Erkennen ist als Leistung des Selbstbewusstseins ein Implikat des substanziellen Geistes, der zum Sichwissen gelangt. In Hegels spekulativer Metaphysik des ›Sichwissens‹ des Geistes sind eth. Fragen im Sinne transzendentaler Vor-Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit von E. sinnlos: Der Geist ist Erkennen; Wissen ist

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Geist. Deshalb verwirft Hegel seit der Phänomenlogie des Geistes und bis hin zur späten Fassung der Enzyklopädie () den Ansatz von Kants ›Kritik‹: Es gibt keinen Grund, anstatt unmittelbar »an das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist« zu gehen, »vorher über das Erkennen sich zu verständigen«. 94 Insofern es um »das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit« ist, gehen muss, hat die Philosophie »nur das Geschäft«, die »eigene Arbeit der Vernunft der Sache zum Bewusstsein zu bringe«. 95 Genau dies aber weiß das gewöhnliche Bewusstsein nicht. Deshalb kritisiert Hegel auch Philosophien der E., die empiristisch auf dieses Bewusstseinsniveau fixiert sind: »Die Endlichkeit des Erkennens liegt in der Voraussetzung einer vorgefundenen Welt, und das erkennende Subjekt erscheint hierbei als tabula rasa. [. . . ] Dies Erkennen weiß sich noch nicht als die Tätigkeit des Begriffs, welche es nur an sich ist, aber nicht für sich. Sein Verhalten erscheint ihm selbst als ein passives, in der Tat ist dasselbe jedoch aktiv.« 96 2.7 Entwicklungen nach dem Deutschen Idealismus 2.7.1 Schopenhauer Die Entwicklung der Eth. hat in Hegels System ihren nachkantischen Scheitel- und Wendepunkt. Von nun an werden sich drei Tendenzen geltend machen: (i) antirationalistische Philosophien, (ii) die positivwissenschaftliche Empirisierung und Naturalisierung der philosophischen Probleme und (iii) verschiedene Rekurse auf Kant, sei es in der aus der Krise der positiven Wissenschaften entstehenden Wissenschaftstheorie, sei es im Neukantianismus. Der Deutsche Idealismus hat schon zu Hegels Zeiten das eth. Feld nicht alleine bestellt. Arthur Schopenhauer (–) ist Zeitgenosse und Antipode. Seine Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde erscheint ; die erste Auflage des Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung ist bereits  veröffentlicht. Nach einem Selbstzeugnis aus dem Jahre  in der Vorrede zur . Aufl. der Dissertation richtet sich sein Angriff v. a. gegen Hegel: »die Köpfe der jetzigen Gelehrtengeneration sind desorganisiert durch Hegel’schen Unsinn: zum Denken unfähig, roh und betäubt werden sie die Beute des platten Materialismus« 97 ; gemeint ist der physiologisch begründete Materialismus, wie er in der Mitte des . Jh. etwa von Vogt, Moleschott und L. Büchner vertreten wurde.

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 hat Schopenhauer für den Kernsatz seiner Lehre – »der Unterschied zwischen Vorstellung und Gegenstand ist unstatthaft: die Welt ist Vorstellung« – geltend gemacht, diese Aussage wie seine gesamte Philosophie seien »bloß die Vollendung des Kantischen transzendentalen Idealismus«. 98 Die Prämisse für die Aufstellung von vier Klassen des Satzes vom zureichenden Grunde, d. h. vom Grund des Werdens, des Erkennens, des Seins und des Handelns, lautet: »Unser erkennendes Bewusstsein, als äußere und innere Sinnlichkeit (Rezeptivität), Verstand und Vernunft auftretend, zerfällt in Subjekt und Objekt, und enthält nichts außerdem. Objekt für das Subjekt sein, und unsere Vorstellung sein, ist das Selbe. Alle unsere Vorstellungen sind Objekte des Subjekts, und alle Objekte des Subjekts sind unsere Vorstellungen.« 99 In einer Erläuterung zur Verwendung des »Ausdrucks reale Objekte« bestätigt Schopenhauer, dass hierunter nichts anderes zu verstehen sei »als eben die anschaulichen, zum Komplex der an sich selbst stets ideal bleibenden empirischen Realität verknüpften Vorstellungen«. 100 Lediglich in »der Professorenphilosophie der Philosophieprofessoren wird man noch immer finden, dass die Anschauungen der Außenwelt Sache der Sinne sei [. . . ] Hingegen die Intellektualität der Anschauung, nämlich dass sie in der Hauptsache das Werk des Verstandes sei, welcher [. . . ] aus dem rohen Stoff einiger Empfindungen in den Sinnesorganen diese objektive Außenwelt allererst schafft und hervorbringt, davon ist keine Rede«. 101 Für Schopenhauer ist das »Objekt des innern Sinnes, das Subjekt des Wollens« das, was im Selbstbewusstsein als Gegenstand auftritt; als Erkanntes tritt es im Erkennen »ausschliesslich als Wille auf. Demnach erkennt das Subjekt sich nur als Wollendes, nicht aber als Erkennendes [. . . ] Daher also gibt es kein Erkennen des Erkennens; weil dazu gefordert würde, dass das Subjekt sich vom Erkennen trennte und nun doch das Erkennen erkennte, was unmöglich ist.« 102 Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung zieht aus dem Dilemma, dass ›kein Erkennen des Erkennens‹ und folglich keine ETh. möglich ist, die Konsequenz, den als »Wahrheit a priori« behaupteten Satz »Die Welt ist meine Vorstellung« in ein Äquivalent zu überführen – in das Axiom »die Welt ist mein Wille«. Der Rückbezug auf Berkeley wird ergänzt durch Rekurse auf die »Vedantaphilosophie« der »Weisen Indiens« 103 (Hinduismus und Philosophie) und schliesslich auf das »Nirwana der Buddhaisten« (Buddhismus und Philosophie). 104 Mit

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dieser Tendenz tritt zugleich der Nihilismus des . Jh. auf die Bühne. Die Forderung lautet, man solle der Konsequenz nicht ausweichen, »dass mit der freien Verneinung, dem Aufgeben des Willens, nun auch alle jene Erscheinungen aufgehoben sind, jenes beständige Drängen und Treiben ohne Ziel und ohne Rast, auf allen Stufen der Objektivität, in welchem und durch welches die Welt besteht [. . . ] Kein Wille: keine Vorstellung, keine Welt. Vor uns bleibt allerdings nur das Nichts.« 105 Es werden in der weiteren Entwicklung E.probleme v. a. der Naturwissenschaften sein – zunächst der Physiologie, dann der Physik, die selbstkritisch die kurze Phase ihres Positivismus überdenken –, die den Ruf nach philosophischer ETh. wieder laut werden lassen. Die Überzeugung wird immer stärker, dass nach dem Ende des spekulativen Idealismus eine Theorie der Welt und eine Theorie des Wissens von der Welt ohne Metaphysik – sei es der Ideenwelt, sei es der Dingwelt – notwendig seien. Diese Theorie soll aber auch dem Sachverhalt Rechnung tragen, dass weder der Materialismus noch der Positivismus akzeptable neue Wege eröffnet haben. Auch die Versuche, den Idealismus neu zu begründen, sind – so ist man überzeugt – gescheitert: Der Idealismus sei nur das schiere Gegenteil des Materialismus; wie letzterer beanspruche er, die Welt monistisch, d. h. aus einem einzigen Prinzip, erklären zu können. Da dieses einzige Prinzip die Idee bzw. der Geist ist, ist der Konflikt mit den Naturwissenschaften und der empirischen Methode programmiert. Auf der anderen Seite erweist sich der Positivismus als naiv und simplistisch, weil er mit seinem Prinzip – der Verabsolutierung der Sinnesdaten – auf eine ›gegebene fertige Welt‹ fixiert ist und den gerade in den Naturwissenschaften inzwischen anerkannten engen Zusammenhang von Induktion und Deduktion und von Beobachtung und Interpretation nicht berücksichtigt. Anders gesagt: Weil die Welt der Idealisten keine wirkliche Welt und die Welt der Positivisten eine geistlose Welt ist, wächst das Bedürfnis nach einer Theorie, in der die Welt und die Konstitution der Welt durch das Erkennen eine Einheit bilden – eine Einheit im Wissen. Die Idee der Fundierung des Wissens der Wissenschaft allein aus ›Tatsachen‹ und durch ›Gesetze‹, die durch eine noch von Skepsis unbehelligte Idee der Kausalität gestützt werden, ist fragwürdig geworden. In der Wissenschaft selbst kündigt sich die Einsicht an, ›Gesetze der Natur‹ seien Sätze der Gesetzgebung durch die E. Was Nomologie

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war, wird mit der neukantianischen Philosophie der Erfahrungswissenschaften – sowohl der Natur- als auch der Kulturwissenschaften – wieder Nomothetik (Nomothetisch/idiographisch). Nicht die ›Realität‹ diktiert der E. ihre Gesetze, sondern das Erkennen konstituiert Gesetze einer phänomenalen Wirklichkeit. Der Weg, der jetzt eingeschlagen wird, führt hinter die nachkantischen Philosophien des Deutschen Idealismus zurück. Er führt (i) in spontanen Wissenschaftlerphilosophien und (ii) im Neukantianismus zurück zu Kant. 106 2.7.2 Philosophie der induktiven Wissenschaften Im . Jh. trennen sich die ›positiven‹ Wissenschaften von der spekulativen Philosophie und suchen angesichts des Problems der E.gewissheit, das sich ihnen bald stellt, erneut eine Beziehung zu ihr. Sie haben trotz ihrer Philosophie-Kritik die seit den britischen Empirie-Philosophen und dann mit Kant bedeutend gewordene philosophische Kritik der Erfahrung nicht ad acta gelegt. Die für kurze Zeit während der er Jahre in empirischen Wissenschaften triumphierende positivistische common-sense-Ontologie, die ihre Evidenzen aus ›sicheren Tatsachen‹ gewinnen zu können glaubt, sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, den Status der Tatsachen zu retten, der innerwissenschaftlich fragwürdig wird; man begreift: keine Empirie ohne Theorie. Signifikant für die Selbstkritik des empirizistischen Positivismus und für eine neue Logik der induktiven Wissenschaften ist William Whewells Philosophy of the Inductive Sciencies, der eine History of the Inductive Sciences () vorausgeht. Whewell versteht unter ›Induction‹ den »process of collecting general truths from the examination of particular facts«; ins Zentrum des Interesses rückt aber die Problematik von »Facts and Ideas«; im Interesse einer angemessenen Theorie der Induktion wird eingeräumt: »Sense and Reason. Neither of these elements, by itself, can constitute substantial general knowledge«; ›Facts‹ sind immer »facts to reason upon«. 107 Es zeichnet sich gegen positivistischen Evidenzansprüche eine interpretationstheoretische Wendung ab: »Nature is the Book, and Man is the Interpreter«. »Signs and Meaning are Ideas, supplied by the mind, and added to all [. . . ] sensations [. . . ]. The Sciences are not figuratively, but really, Interpretations of Nature.« 108 Das Fazit: »experience cannot establish any universal or necessary truths«. 109

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Ähnlich ist die Problemlage in J. St. Mills Methodologie der Experimentalforschung in A System of Logic () dargestellt; es geht Mill um die ›Prinziples of Evidence, and the Methods of Scientific Investigation‹. Wie ist »Verallgemeinerung aus der Erfahrung« möglich? 110 Auch Mill weiß: »was man für ein Ergebnis der Beobachtung hält, ist gewöhnlich ein Gemenge, welches ein Zehnteil Beobachtung und neun Zehnteile Folgerungen enthalten mag.« 111 Man muss sich dem Problem der »abstrakten Ideen« zuwenden, denn Induktion kann »ohne allgemeine Vorstellungen nicht von Statten gehen«: »aller Beweis und alle Entdeckung von Wahrheiten« entspringt für den Empiristen aus Induktion – und zugleich »aus der Auslegung von Induktionen«. 112 2.7.3 Nietzsche Das letzte Kapitel der ETh. zu schreiben hat sich ein Schüler Schopenhauers vorgenommen – F. Nietzsche. Seine Dekonstruktion geht von der funktionalistischen Annahme aus, auch die ETh. sei nichts als eine für den Arterhalt nützlichen Illusion. Das Problems der E.gewissheit sei falsch gestellt. »Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte.« 113 Nietzsches Ziel ist, »den Intellekt als Schuldigen anzuklagen«, anstatt »das Wesen der Dinge als Ursache dieses tatsächlichen, sehr unheimlichen Weltcharakters« zu beschuldigen. 114 »Die größte Fabelei ist die von der E. Man möchte wissen, wie die Dinge an sich beschaffen sind: aber siehe da, es gibt keine Dinge an sich! [. . . ] Die Entstehung der ›Dinge‹ ist ganz und gar das Werk der Vorstellenden, Denkenden, Wollenden, Empfindenden.« In der E. geht es nicht um Wahrheit: »Der ganze E.Apparat ist ein Abstraktions- und Simplifikations-Apparat – nicht auf E. gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge: ›Zweck‹ und ›Mittel‹ sind so fern vom Wesen wie die ›Begriffe‹. Mit ›Zweck‹ und ›Mittel‹ bemächtigt man sich des Prozesses (– man erfindet einen Prozess, der fassbar ist), mit ›Begriffen‹ aber der ›Dinge‹, welche den Prozess machen.« 115 Nietzsches Kritik am »Positivismus, welcher bei den Phänomenen stehn bleibt ›es gibt nur Tatsachen‹« führt zu der These: »nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen«. 116

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2.7.4 Dialektischer Materialismus Die Schriften von K. Marx, F. Engels und späteren Marxisten zeigen sich nicht nur vom Nihilismus der décadence unberührt, sondern sie dokumentieren, in welchem Maße Einstellungen eines E.optimismus Lösungen des Problems der E.gewissheit präjudizieren und auf Praxis bezogene Überzeugungen eth. Lehren bestimmen können. EvidenzAnrufungen haben – nicht nur hier – appellative Funktionen. Der neue geschichts- und gesellschaftstheoretische, praktisch motivierte Materialismus zielt darauf, die Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit der Revolution als gesicherte E. plausibel zu machen. Die Konzepzualisierung der Theorie, auch der ETh., folgt diesem Erfordernis.  schreibt F. Engels in einer Bilanz: »man entschloss sich, die wirkliche Welt – Natur und Geschichte – so aufzufassen, wie sie sich selbst einem jeden gibt, der ohne vorgefasste idealistische Schrullen an sie herantritt [. . . ] Wir fassten die Begriffe unsres Kopfes wieder materialistisch als die Abbilder der wirklichen Dinge, statt [wie Hegel] die wirklichen Dinge als Abbilder dieser oder jener Stufe des absoluten Begriffs.« 117 Für Materialisten komme es »überall nicht mehr darauf an, Zusammenhänge im Kopf auszudenken, sondern sie in den Tatsachen zu entdecken«. 118 Die ›Grundfrage der Philosophie‹ nach dem Verhältnis von Denken und Sein beantwortet Engels  in einer »mehr oder minder zusammenhängende Darstellung der von Marx und mir vertretnen dialektischen Methode und kommunistischen Weltanschauung« mit dem Hinweis, er habe sich davon »überzeugen« können »– woran im allgemeinen kein Zweifel für mich war –, dass in der Natur dieselben dialektischen Bewegungsgesetze im Gewirr der zahlreichen Veränderungen sich durchsetzen, die auch in der Geschichte die scheinbare Zufälligkeit der Ereignisse beherrschen; dieselben Gesetze, die, ebenfalls in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Denkens den durchlaufenden Faden bildend, allmählich den denkenden Menschen zum Bewusstsein kommen«. 119 Die theoretische Grundlage dieser Konzeption ist naturalistisch: »Fragt man aber weiter, was denn Denken und Bewusstsein sind und woher sie stammen, so findet man, dass es Produkte des menschlichen Hirns und dass der Mensch selbst ein Naturprodukt, das sich in und mit seiner Umgebung entwickelt hat; wobei es sich dann von selbst versteht, dass die Erzeugnisse des menschlichen Hirns, die in letzter Instanz ja auch

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Naturprodukte sind, dem übrigen Naturzusammenhang nicht widersprechen, sondern entsprechen«. 120 Diese materialistische Begründung der E.gewissheit bildet am Ende das . Jh. eine Ausnahme von der dominanten Entwicklung, die v. a. vom Neukantianismus und Pragmatismus, von der Lebensphilosophie und von W. Diltheys Hermeneutik und Philosophie der Geisteswissenschaften repräsentiert wird. 2.7.5 Philosophie der Geisteswissenschaften In seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (. Bd. ) und in Die Entstehung der Hermeneutik () begründet W. Dilthey seine Konzeption, die Wirklichkeit könne nicht ›logisch aufgeklärt, sondern nur verstanden werden‹. Die ETh. des ›Verstehens‹ soll zeigen, dass dem Erkennen Gewissheit nicht von ›Gesetzen der Dinge‹ gewährleistet wird; die Bedingungen des Verstehens liegen allein im E.subjekt. Ontisch ›von außen‹ zukommende E.gewissheit gibt es nicht. Für Dilthey ist der ›Tatbestand‹ nicht zu bezweifeln, »welchem gemäß Gegenstände so gut als Willensakte, ja die ganze unermessliche Außenwelt so gut als mein Selbst, welches sich von ihr unterscheidet, Erlebnis in meinem Bewusstsein (ich nenne das Tatsache des Bewusstseins) sind«. 121 Neben die E.gegenstände der ›erklärenden‹ Naturwissenschaften tritt eine Klasse von VerstehensGegenständen der Geisteswissenschaften: »Der Geist hat sich in ihnen objektiviert, Zwecke haben sich in ihnen gebildet, Werte sich in ihnen verwirklicht, und eben dies Geistige, das in sie hinein gebildet ist, erfasst das Verstehen. Ein Lebensverhältnis besteht zwischen ihnen und mir. Ihre Zweckmäßigkeit ist in meiner Zwecksetzung begründet«. 122 Deshalb muss die bisherige »allgemeine ETh. von den Ergebnissen dieses Studiums aus einer Revision unterworfen« werden. 123 Da »das Erleben unergründlich ist und kein Denken hinter dasselbe kommen kann, da das Erkennen selbst nur an ihm auftritt, da das Bewusstsein über das Erleben sich mit diesem selber immer vertieft«, ist die hermeneutische Methode »divinatorisch und ergibt niemals demonstrative Gewissheit«. 124

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2.7.6 Neukantianismus Einer der Sätze, die nach der Mitte des . Jh. als Indiz einer einschneidenden Veränderung des philosophischen Denkens über die Natur und die Theorie der Naturwissenschaften gelesen werden können, lautet: ›Wir fangen mit dem Denken an. Das Denken darf keinen Ursprung haben außerhalb seiner selbst.‹ Es ist unübersehbar, dass dieser Satz Folgen für Naturbegriffe und das Verständnis der Naturwissenschaften hat. Er steht im Mittelpunkt des epistemologischen Programms, das unter dem Namen ›Neukantianismus‹ Epoche gemacht hat. Sein Autor ist Hermann Cohen, der ihn  in seiner Logik der reinen Erkenntnis () schreibt. Es ist offensichtlich, dass diese Aussage sich auf das Problem bezieht, das von Kant artikuliert wurde und das in der kantischen Tradition immer wieder gelöst werden sollte. Ebenso offensichtlich ist, dass Cohens Aussage in ihrer Radikalität einen Bruch mit zwei für Kant charakteristischen Prinzipien bedeutet: Denn erstens werden die Gegenstände der E. – also etwa die Natur – nicht mehr durch feststehende apriorische Formen konstituiert, sondern durch ein offenes, dynamisches System von Urteilen; und zweitens bleibt vom Realismus der Dinge, wie sie an sich selbst sind, nichts mehr übrig. Hier zeigt sich, was ›Neukantianismus‹ bedeutet: Mit Kant über Kant hinaus.  schreibt Wilhelm Wundt, der Begründer der Psychologie in Deutschland: »Kants E.kritik ist die Basis, auf der die empirischen und die philosophischen Wissenschaften dieses Jh. ruhen. Die Empirie entnimmt für sich das realistische Moment, die positiven Ergebnisse seiner Kritik [. . . ] Die Grundansichten, welche in der Physiologie der Sinne der Hauptsache nach noch jetzt gültig sind, leiten ihren Ursprung aus der Kantschen Philosophie her, die einen meistens unbewussten Hauptbestandteil unserer ganzen wissenschaftlichen Bildung und Denkrichtung ausmacht.« 125 Wie Richard Rorty in Philosophy and the Mirror of Nature () gut gezeigt hat, führen Gründe in der Philosophie und Gründe in den Wissenschaften dazu, dass eine neue philosophische Disziplin in das Zentrum des Interesses rückt, die ETh.: »Das kantianische Bild von der Philosophie mit der ETh. im Zentrum wurde [. . . ] allgemein akzeptiert, als Hegel und der spekulative Idealismus nicht mehr die intellektuelle Szenerie Deutschlands dominierten.« 126 Den nun ent-

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stehenden Neukantianismus kennzeichnet der Versuch, Ergebnisse der Sinnesphysiologie für den Ausbau einer E.lehre auf kantischer Grundlage fruchtbar zu machen. Den Durchbruch leitet  ein Werk ein, das in seiner . Aufl. (in  Bdn., /) und danach in vielen weiteren Auflagen enorme Wirkung erreicht: F. A. Langes Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Lange zeigt sich einerseits vom »schnellen Fortschritt der Naturwissenschaften« fasziniert 127 ; andererseits fordert er, die Philosophie solle der E. Rechnung tragen, »dass es dieselbe Notwendigkeit, dieselbe transzendente Wurzel unseres Menschenwesens ist, welche uns durch die Sinne das Weltbild der Wirklichkeit gibt, und welche uns dazu führt, in der höchsten Funktion dichtender und schaffender Synthesis eine Welt des Ideals zu erzeugen, in die wir aus den Schranken der Sinne flüchten können, und in der wir die wahre Heimat unseres Geistes wiederfinden«. 128 Was Lange interessiert, ist der Kant der »Kritik der theoretischen Vernunft« mit der These, »dass unsere Begriffe sich nicht nach den Gegenständen richten, sondern die Gegenstände nach unseren Begriffen«. 129 Hieraus leitet er seine Kritik an falschen Naturbegriffen ab: »Der Materialismus nimmt hartnäckig die Welt des Sinnenscheins für die Welt der wirklichen Dinge«. 130 Sein Einwand lautet: »ein absolut festes, von uns unabhängiges und doch von uns erkanntes Dasein – eine solche Wirklichkeit gibt es nicht und kann es nicht geben, da sich der synthetische, schaffende Faktor unserer E. [. . . ] bis in die ersten Sinneseindrücke und bis in die Elemente der Logik hinein erstreckt.« Lange formuliert als Gegenkonzept: »Die Welt ist [. . . ] unsre Vorstellung: ein Produkt der Organisation der Gattung in den allgemeinen und notwendigen Grundzügen aller Erfahrung, des Individuums in der frei mit dem Objekt schaltenden Synthese.« 131 Die Marburger Schule des Neukantianismus sieht in der transzendentalen Methode das Erbe Kants, das es erlaubt, die Philosophie zu erneuern. Philosophie ist in erster Linie E.kritik, und zwar vorrangig Kritik der naturwissenschaftlichen E. Sie grenzt sich so v. a. von der empirischen Psychologie ab. Es soll nachgewiesen werden, dass die apriorischen Grundsätze der Mathematik und der Naturwissenschaft ihren Ursprung im reinen Denken haben. Eines der bedeutendsten und für den Marburger Neukantianismus repräsentativen Werke ist H. Cohens Kants Theorie der Erfahrung (). Cohen radikalisiert

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Kants Theorie: Bereits die Empfindung, die der Anschauung ihren Gegenstand gibt, ist vom Verstandesdenken geformt. Es gibt keine Dingean-sich als Basis der Empfindung und der sinnlichen Wahrnehmung und in diesem Sinne auch keine Natur, die der E. vorgegeben wäre. Die Philosophie der E. wird zur Methodologie der reinen wissenschaftlichen E., deren Muster die Mathematik ist. Der Kantische Realismus wird eliminiert: »Wir fangen mit dem Denken an. Das Denken darf keinen Ursprung haben außerhalb seiner selbst«. 132 Die Unterstellung eines ›Gegebenen‹ ist ein Vorurteil; in Cohens Analyse der ›reinen‹ E. ist dem Denken nur das ›gegeben‹, was es selbst erzeugen kann. Das ›erzeugende‹ Denken wird als Ursprung schlechthin, als »Prinzip des Ursprungs« bestimmt: »Denken ist Denken des Ursprungs. Dem Ursprung darf nichts gegeben sein«. 133 Paul Natorp kommt in ›Kant und die Marburger Schule‹ () zu keiner anderen Bilanz: Die Anschauung sei lange Zeit »als denkfremder Faktor in der E.« aufgefasst worden, als »dem Denken gegenüberund entgegenstehend«. Nun wisse man: Anschauung »ist Denken«. 134 Was man unkritisch als ›Gegebenheit‹ genommen habe, sei nichts als das ›Postulat der Wirklichkeit‹ – also eine Forderung der Naturwissenschaft – und habe keine andere als modale Bedeutung. Natorp räumt zwar ein, dass die Naturwissenschaften ohne ›Tatsachen‹ nichts beginnen können. Doch er betont, die Stabilität und Absolutheit der räumlich-zeitlichen Ordnung, von der man bisher ausgegangen sei, sei nicht gegeben. Das ›Faktum der Wissenschaft‹ beweise nichts anderes, als dass es eine Intention der E. gebe, die sich auf diese Ordnung richte. Was die Naturwissenschaften ›Beobachtung‹ einer externen Welt nennen, ist Interpretation mit den Mitteln des Denkens, nicht zuletzt Interpretation durch Theorien. Experimente erzeugen die Untersuchungsgegenstände und zwingen sie in die interne Logik naturwissenschaftlicher E. Die in der Naturwissenschaft präsente ›Natur‹ ist eben jene Natur, wie sie durch die Wissenschaft für uns entsteht. Die Heidelberger Schule des Neukantianismus widmet ihre Aufmerksamkeit in erster Linie dem Problem der Werte. Was, so wird gefragt, unterscheidet ein Urteil von einer wertenden Beurteilung? Eine weitere zentrale Frage lautet: Sind Wertungen in alle Urteile und in alle Theorien eingeschrieben oder gibt es Bereiche, die gegenüber Wertungen neutral sind? Dies ist der Kontext, in dem die Heidelberger

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ihre spezifische Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften bzw. Kulturwissenschaften begründen; es geht dabei nicht um eine ontologische Unterscheidung auf der Ebene der Gegenstände, sondern um eine epistemologische Differenzierung auf der Ebene der Methoden. Wilhelm Windelband nimmt  unter dem Titel ›Geschichte und Naturwissenschaft‹ kritisch Stellung zur traditionellen ontologischen Unterscheidung empirischer Wissenschaften nach ihren Gegenständen – nach ›Natur‹ oder ›Geist‹. Er schlägt vor, die wissenschaftlichen »Disziplinen hinsichtlich des formalen Charakters ihrer E.ziele« zu gliedern, um so »eine rein methodologische, auf sichere logische Begriffe zu gründende Einteilung der Erfahrungswissenschaften« vorzunehmen zu können. 135 Der Unterschied wird jetzt darin gesehen, dass für die nomothetischen Wissenschaften »das generelle, apodiktische Urteil« und für die idiographischen Wissenschaften »der singulare, assertorische Satz« charakteristisch ist. 136 Windelband betont, dass sowohl die Naturwissenschaften als auch die Geisteswissenschaften »Erfahrungswissenschaften« sind: »Gemeinsam ist [. . . ] der Naturforschung und der Historik der Charakter der Erfahrungswissenschaft, d. h. beide haben zum Ausgangspunkte – logisch gesprochen, zu Prämissen ihrer Beweise – Erfahrungen, Tatsachen der Wahrnehmung«. Beide stimmten darin überein, »dass die eine so wenig wie die andere sich mit dem begnügen kann, was der naive Mensch so gewöhnlich zu erfahren meint. Beide bedürfen zu ihrer Grundlage einer wissenschaftlich gereinigten, kritisch geschulten und in begrifflicher Arbeit geprüften Erfahrung.« 137 Die »Erfahrungswissenschaften suchen in der E. des Wirklichen entweder das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt; sie betrachten zu einem Teil die immer sich gleichbleibende Form, zum andern Teil den einmaligen, in sich bestimmten Inhalt des wirklichen Geschehens. Die einen sind Gesetzeswissenschaften, die andern Ereigniswissenschaften; jene lehren was immer ist, diese was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist [. . . ] in dem einen Falle nomothetisch, in dem anderen idiographisch.« 138 Der Dualismus der nomothetischen und idiographischen Methoden ist unaufhebbar: »Das Gesetz und das Ereignis bleiben als letzte, inkommensurable Größen unserer Weltvorstellung nebeneinander bestehen.« 139

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Heinrich Rickert, der Nachfolger Windelbands in Heidelberg, setzt diesen Ansatz fort und modifiziert ihn. Auch er widmet sich der kritischen methodologischen Rekonstruktion der Erfahrungswissenschaften und der Bedeutung der Werte und Normen für die Sonderstellung der historischen Disziplinen. Er nimmt jedoch begriffliche Änderungen vor, indem er von Kulturwissenschaften statt von Geisteswissenschaften spricht 140 ; er ersetzt Windelbands Unterscheidung zwischen ›nomothetisch‹ und ›idiographisch‹ durch die Differenz zwischen ›generalisierenden‹ und ›individualisierenden‹ Verfahren 141 ; schließlich mindert er die Rolle der ›Tatsachen‹ und legt den Akzent stärker auf die Konstruktivität der E. und auf die Konstitution von ›Gegenständen‹. Die generalisierenden Naturwissenschaften organisieren – konstituieren – die mannigfaltigen Erscheinungen der Wirklichkeit durch Gesetze ; in den individualisierenden historischen Kulturwissenschaften übernehmen die Werte die entsprechende Funktion: »Durch die Werte, die an der Kultur haften, und durch die Beziehung auf sie wird der Begriff einer darstellbaren historischen Individualität als eines realen Trägers von Sinngebilden erst konstituiert.« 142 In Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft formuliert Rickert  das Prinzip der Konstitution als Prinzip der Perspektivität (Perspektivität, epistemische): »Die Wirklichkeit wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle.« 143 Dieser Perspektivismus, den zu gleicher Zeit auch Ernst Cassirer begründet, hat eine epistemologische Prämisse: die Kritik am metaphysischen Realismus. Rickert betont, dass man mit dem »Begriff der Außenwelt im eigentlichen Sinne des Wortes [. . . ] in Wahrheit ebensowenig wie mit dem Begriff des immanenten Objektes über Tatsachen des Bewusstseins« hinausgelangt: »Die ›Außenwelt‹ also, nach deren Existenz wir fragen, darf weder die außerhalb meines Körpers gelegene noch das unmittelbar gegebene Objekt des Bewusstseins sein. Es bleibt demnach nur [. . . ] die Wirklichkeit ›außerhalb‹ meines Bewusstseins oder die transzendente Realität übrig, gegen die sich der Zweifel zu richten hat, und für welche die Bezeichnung ›Außenwelt‹ nicht gebraucht werden sollte.« 144 In seinem späten Werk Grundprobleme der Philosophie hat Rickert  eine radikale Schlussfolgerung gezogen: Die ›Wirklichkeit‹ existiert nicht als ein Gegebenes, nicht als etwas, das

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sich gibt, sondern sie ist nur als Prädikat einer Aussage verständlich. Das Wirkliche‹ ist das als wirklich prädizierte Seiende. 145 Das Seiende selber aber determiniert nicht die Weise der Prädikation. Es gibt vielmehr eine Pluralität der möglichen Prädikationen, und deshalb gibt es auch denkmögliche Welten, die nicht fiktiv sind, sondern in denen wir tatsächlich leben. Dem entspricht die »Vielheit der tatsächlich vorhandenen Weltanschauungen«. Gewiss bleibt die Hoffnung, die Philosophie könne »eine E. der Welt in ihrer Totalität geben«. Doch Rickerts Schlussfolgerung lautet: »Nur ein ontologischer Pluralismus wird dem Weltreichtum gerecht.« 146 2.7.7 Philosophie der symbolischen Formen: Cassirers Phänomenologie der Erkenntnis Ernst Cassirers Spätwerk An Essay on Man (), das die frühere Philosophie der symbolischen Formen aufnimmt und weiterentwickelt, setzt zur Beantwortung von Kants Frage ›Was ist der Mensch?‹ auf Skepsis: »In the history of philosophy scepticism has very often been simply the counterpart of a resolute humanism. By the denial and destruction of the objective certainty of the external world the sceptic hopes to throw all the thoughts of man back upon his own being. Selfknowledge – he declares – is the first prerequisite of self-realization. We must try to break the chain connecting us with the outer world in order to enjoy our true freedom.« 147 Skepsis und Kritik haben ihren guten Grund: Wir haben keine Gewissheit dafür, »dass das Symbol des Seins, das wir in unseren Vorstellungen zu besitzen glauben, uns seine Gestalt unverfälscht wiedergibt, statt sie gerade in ihren wesentlichen Zügen zu entstellen«. 148 Was Cassirers Philosophie der symbolischen Formen auszeichnet, ist die konsequente Aufdeckung der Relationalität – und in diesem Sinne: Relativität – aller E. und des Wissens, auch in den Wissenschaften. Bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff () hat er betont, das Prinzips der Relativität der E. sei die »Bedingung für den Begriff des Dinges selbst.« 149 Wahrheit über Gegenstände ist von der Wahrheit axiomatischer Voraussetzungen abhängig, und deshalb gibt es »immer nur relatives Sein« 150, in das Subjektivität eingeschrieben ist. Das Ideal der Standpunktfreiheit ist nichts als ein Idol. 151 Cassirer entwirft die Philosophie der symbolischen Formen ( Bde. – ) im Übergang von der Kritik der Vernunft zur Kritik der

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Kultur. 152 In diesem gegen den naiven Realismus und Empirismus geführten Prozess arbeitet er an einer neuen Theorie der E. und des mit Zeichen- und Symbolgebrauch zustande kommenden Wissens. 153 Nur der »naiven Auffassung stellt sich das Erkennen als ein Prozess dar, in dem wir eine an sich vorhandene, geordnete und gegliederte Wirklichkeit nachbildend zum Bewusstsein bringen«. 154 Im ›natürlichen Weltbild‹ ist nicht bewusst dass die Repräsentationen der Welt mit bestimmten kulturellen Signaturen verbundene Präsentationen sind: An die Stelle »passive[r] Abbilder eines gegebenen Seins« treten »selbstgeschaffene intellektuelle Symbole«. 155 Cassirer arbeitet – wie er  unter dem Titel ›Zur Logik des Symbolbegriffs‹ betont – an einer Phänomenologie der E., um zu verstehen, wie wir uns eine Welt »in ihrer charakteristischen Gestaltung [. . . ] aufbauen«. 156 Je mehr an Daten der Wirklichkeitserfahrung wir unter allgemeine Begriffe und Symbole bringen, desto weniger bleibt von jener Welt, die der realistische Alltagsverstand als eine gegebene Realität missversteht. 157 Wir maximieren die Menschenähnlichkeit der von uns objektivierten und interpretierten Welten, und keine der Formen der Weltgestaltung darf normativ für absolut-gültig erklärt werden; jegliches Wissen ist mit seinem eigenen Maß zu messen. 158 Gegenstände sind Variablen bestimmter E.aktivitäten. Objektivität wird nicht mehr, wie in der Substanzmetaphysik, Entitäten zugeschrieben, die unabhängig vom Bewusstsein sind; die Objektivität, von der Cassirer spricht, ist das Ergebnis der Objektivierung durch intellektuelle Formung. Die Gründe für dieses Konzept von Objektivität liefert keineswegs nur der kritische Idealismus. Vor allem die Entwicklung der Wissenschaften hat den starren substanzialistischen Seinsbegriff in Fluss gebracht und »der naiven Abbildtheorie der E. de[n] Boden entzogen«. 159 Mit der Verabschiedung der Abbildtheorie der Repräsentation geht es darum, eine Umkehrung zu erklären, in der die Epistemologie systematischen Vorrang vor der Substanzontologie bekommt. Zu erklären ist, wie Inhalte des Bewusstseins so transformiert werden, dass wir sie für Gegebenheiten der Außenwelt halten. Was die Wissenschaften zeigen, ist: »Es gibt keine ›nackten‹ Fakta – keine Tatsachen, die anders als im Hinblick auf bestimmte begriffliche Voraussetzungen und mit ihrer Hilfe feststellbar sind.« ›Empirie‹ und ›Theorie‹ sind »miteinander solidarisch«. 160 Ein Kronzeuge Cassirers

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ist Pierre Duhem: »Jedes Gesetz [. . . ] kommt nur dadurch zustande, dass an die Stelle der konkreten Data, die die Beobachtung liefert, symbolische Vorstellungen gesetzt werden, die ihnen auf Grund bestimmter theoretischer Voraussetzungen, die der Beobachter als wahr und gültig annimmt, entsprechen sollen. [. . . ] Die Bedeutung dieser Begriffe liegt nicht der unmittelbaren Empfindung offen, sondern kann erst durch einen höchst komplexen intellektuellen Deutungsprozess bestimmt und sichergestellt werden: und eben dieser Prozess, eben diese gedankliche Interpretation ist es, die das Wesen der physikalischen Theorie ausmacht.« 161 Letztlich argumentiert Cassirer – so auch in Zur Logik der Kulturwissenschaften () – mit dem Vico-Axiom, »dass jegliches Wesen nur das wahrhaft begreift und durchdringt, was es selbst hervorbringt«. 162 Er plädiert für einen »Anthropomorphismus« in »kritisch-transzendentalem Sinne« und teilt mit Goethe die Überzeugung, »das Höchste sei es, zu erkennen, dass alles Faktische schon Theorie ist« 163 : »Wir mögen an der Natur beobachten, messen, rechnen, wägen usw., wie wir wollen. Es ist doch nur unser Maß und Gewicht, wie der Mensch das Maß aller Dinge ist.« 164 Als einer der ersten Philosophen seiner Zeit hat sich Cassirer von der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie herausgefordern lassen. Die Bilanz, die er  in ›Zur Einsteinschen Relativitätstheorie‹ zieht, lautet, dass ein empirisches Objekt nichts anderes ist als ein gesetzlicher Inbegriff von Beziehungen. 165 Das physikalische Denken strebt zwar danach, Naturobjekte »in reiner Objektivität« zu bestimmen, doch es spricht dabei »notwendig zugleich sich selbst, sein eigenes Gesetz und sein eigenes Prinzip aus«. 166 2.7.8 Peirce: Alles Denken ist ein Denken in Zeichen Eine der Passagen, in denen C. S. Peirce deutlich auf das Problem Bezug nimmt, das sich für die Zeitgenossen mit dem Namen Kants verbindet, und in der er über E., Empirie und Realität in den Wissenschaften reflektiert, lautet: »In jedem Augenblick sind wir im Besitz gewisser Informationen, d. h. von E.sen, die logisch durch Induktion und Hypothese von vorhergegangenen E.sen abgeleitet sind, die weniger allgemein, weniger deutlich sind und von denen wir ein weniger lebhaftes Bewusstsein haben. Diese sind ihrerseits von anderen abgelei-

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tet . . . und so weiter zurück bis zum idealen Ersten, das ganz singulär und ganz außerhalb des Bewusstseins ist. Dieses ideale Erste ist das partikuläre Ding-an-sich. Es existiert als solches nicht. D. h. es gibt kein Ding, das in dem Sinne an-sich wäre, dass es nicht in Bezug auf den Verstand steht, obwohl die Dinge, die in Bezug auf den Verstand stehen, zweifellos, auch wenn man von dieser Relation absieht, existieren.« 167 Für Peirce ist alles Denken »ein Denken in Zeichen«. 168 Die Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit wissenschaftlicher E. können nicht allein durch die semantische Analyse der zweistelligen Relation von Theorien und Tatsachen geklärt werden. Es muss vielmehr ein intersubjektives Analogon zu Kants ›transzendentaler Einheit des Bewusstseins‹ gefunden werden. Das Analogon ist nur in der pragmatischen Dimension der Zeicheninterpretation zu finden, und dies heißt: in der ›ultimate oppinion of the indefinite community of investigators‹. Es ist allerdings nur noch ein quasi-transzendentales Subjekt, das in der Zeit, ›in the long run‹, die postulierte Einheit erreichen soll. Zeichen repräsentieren nur Zeichen. Auch der bezeichnete Gegenstand selbst tritt nur als Zeichen in die Semiose ein, so dass es für uns keine Möglichkeit gibt, auf ›nackte Tatsachen‹ Bezug zu nehmen. Jedes Bezeichnete ist in ein Kontinuum von Zeichen integriert. Weil alle Gegenstände, auf die wir uns durch Zeichen beziehen, wieder zu Zeichen werden, kommt es also zu einer Semiotisierung des Referenten. Zeichen existieren nur als Momente der Semiose. Unter ›Semiose‹ versteht Peirce »eine Aktion oder einen Einfluss, der aus einer Kooperation dreier Objekte besteht oder diese einschliesst, wie z. B. ein Zeichen, sein Objekt und sein Interpretant, wobei dieser tri-relative Einfluss auf keinerlei Weise in Aktionen zwischen je zwei Objekten aufgelöst werden kann.« 169 Die Semiose ist eine kontinuierliche Interpretation der Zeichen durch Folgezeichen: »Ein Zeichen oder Repräsentamen ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, dass es fähig ist ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht. Dies bedeutet, dass der Interpretant selbst ein Zeichen ist, der ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende.« 170 Ein direkter Bezug eines Satzes auf einen ›realen Sachverhalt‹, auf sein ›Objekt‹, ist nicht möglich; man kann den ›bezeichneten Sachver-

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halt‹ (›Interpretant‹) nicht umgehen. Ohne den Interpretant gäbe es keinen Bezug des Zeichen-Objekts zu einem ›wirklichen‹ Objekt. Das vermeintliche Objekt, dessen Unabhängigkeit vom Bewusstsein metaphysische Realisten und naive Positivisten unterstellen, ist selbst ein Zeichen. Das Zeichen ist die ›menschliche Form‹ der Realität. 2.7.9 Husserl: Der Widersinn einer ›naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie‹ E. Husserl veröffentlicht / in der Zeitschrift Logos seine Philosophie als strenge Wissenschaft. Die Philosophie soll durch eine Kritik des Hegelianismus, des Historismus und des Naturalismus zur strengen Wissenschaft erhoben werden. Der Naturalismus, den Husserl durch den Hegelianismus provoziert sieht, ist in seinen Augen ein »alle absolute Idealität und Objektivität der Geltung preisgebender Skeptizismus«, der »die Weltanschauung und Philosophie der neuesten Zeit in vorherrschender Weise« bestimmt hat. 171 Der Stein des Anstoßes ist die »Naturalisierung des Bewusstseins«, die mit einer Naturalisierung »aller intentional-immanenten Bewusstseinsgegebenheiten« verbunden ist und aus der »die Naturalisierung der Ideen und damit aller absoluten Ideale und Normen« folgt. Dieses Vergehens hat sich nicht nur der Materialismus schuldig gemacht, sondern auch der »Positivismus und der ihn im Relativismus überbietende Pragmatismus«. 172 Husserl kritisiert und argumentiert im Interesse einer ETh., die auf die Idee der Intentionalität nicht verzichtet. Ein weiterer Adressat von Husserls Kritik ist die mit der philosophischen ETh. konkurrierende empirische Psychologie (Psychologismus). Husserl sieht in ihr nur ein schlechtes Surrogat einer Philosophie des Bewusstseins. Er bringt seine Kritik des Naturalismus auf die radikale allgemeine Formel: »Alle Naturwissenschaft ist ihrem Ausgangspunkt nach naiv. Die Natur, die sie erforschen will, ist für sie einfach da.« 173 Husserls Phänomenologie kennt die Kritik der Induktion und des Empirizismus, wie sie in den Naturwissenschaften selbst formuliert worden ist. Doch er verlangt, diese Kritik müsse durch eine »ganz andere Erfahrungskritik« überboten werden, »eine Kritik, die die gesamte Erfahrung überhaupt und das erfahrungswissenschaftliche Denken zugleich in Frage stellt.« Denn »wie Erfahrung als Bewusstsein einen Gegenstand geben oder treffen könne; wie Erfahrungen durch Erfah-

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rungen sich wechselseitig berechtigen oder berichtigen können, und nicht nur sich subjektiv aufheben oder sich subjektiv verstärken; [. . . ] – das alles wird zum Rätsel, sowie die Reflexion sich darauf ernstlich richtet«. Es erscheint als völlig unklar, wie ein Bewusstsein, das sich allein der Logik der Erfahrung anvertraut, »objektiv Gültiges, für an und für sich seiende Dinge Gültiges besagen soll«. Was – alles in allem – entlarvt werden soll, ist der »Widersinn einer ›naturwissenschaftlichen ETh.‹«. Husserls bestimmt so die Ausgangssituation, um dann sein eigenes Konzept zu präsentieren: »Wenn ETh. [. . . ] die Probleme des Verhältnisses von Bewusstsein und Sein erforschen will, so kann sie nur Sein als Correlatum von Bewusstsein vor Augen haben, als bewusstseinsmäßig ›Gemeintes‹: als Wahrgenommenes, Erinnertes, Erwartetes, bildlich Vorgestelltes, Phantasiertes, Identifiziertes, Unterschiedenes, Geglaubtes, Vermutetes, Gewertetes usw. Man sieht dann, dass die Forschung gerichtet sein muss auf eine wissenschaftliche Wesenserkenntnis des Bewusstseins, auf das, was Bewusstsein in allen seinen unterscheidbaren Gestaltungen selbst, seinem Wesen nach ›ist‹, zugleich aber auf das, was es ›bedeutet‹, sowie auf die verschiedenen Weisen, in denen es [. . . ] Gegenständliches meint, und es [. . . ] als ›gültig‹, ›wirklich‹ Seiendes ›erweist‹.« 174 In seinem Wiener Vortrag ›Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie‹ () hat er die Konsequenzen gezogen, die man bei Windelband und bei Rickert noch vermisst. Es ist für ihn »ein Widersinn«, »Geisteswissenschaft durch Naturwissenschaft unterbauen, und so vermeintlich exakt machen zu wollen«. Er geht noch einen Schritt weiter in Richtung einer alternativen Bestimmung naturwissenschafter E.: Wenn »Naturwissenschaft (wie alle Wissenschaft überhaupt) ein Titel für geistige Leistungen« ist, dann ist es »widersinnig und ein Zirkel, das historische Ereignis ›Naturwissenschaft‹ naturwissenschaftlich erklären zu wollen, erklären durch Hereinziehung der Naturwissenschaft und ihrer Naturgesetze, die als geistige Leistung selbst zum Problem gehören«. 175

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3 Systematische Probleme der Erkenntnistheorie im historischen Kontext des . Jh. 3.1 Kritik der Gewissheit: Die Wahl epistemologischer Profile und die Phänomenotechnik Im . Jh. Verknüpfen sich angesichts der Verwissenschaftlichung von immer mehr Lebens-, Erfahrungs- und E.bereichen eth. Probleme zunehmend enger mit den von Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte untersuchten kognitiven und epistemischen Prozessen. Im Denkansatz mit E. Cassirer vergleichbar, hat auch Gaston Bachelard (–), der Begründer der in Deutschland zu wenig rezipierten Épistémologie 176, den Beginn des Zeitalters des ›neuen wissenschaftlichen Geistes‹ »sehr präzise mit dem Jahr « datiert 177, d. h. mit Einsteins Relativitätstheorie. Seine gegen die common sens-Eth. gerichtete Forderung lautet, »dass die wissenschaftliche Philosophie dem unmittelbaren Realen absagt und dass sie die Wissenschaft in ihrem Kampf gegen die ersten Anschauungen unterstützt.« 178 Seit Le nouvel esprit scientifique () hat Bachelard die Strategie einer Überwindung der traditionell als Antipoden aufgefassten Positionen des Induktivismus/Empirismus und Deduktivismus/Rationalismus sowie der Extreme des Idealismus und Materialismus präzisiert. Mit La formation de l’esprit scientifique () plädiert er für eine ›Psychoanalyse der objektiven E.‹. Seine Methode ist, E.hindernisse (obstacles épistémologiques) 179 des realistischen Alltagsverstandes historisch systematisch zu analysieren und das »Unbewusste des wissenschaftlichen Geistes« 180 und das Haben 181 von Objektivität und Wahrheit – die von Substanztheoretikern gepflegten »Besitzerfreuden und objektiven Gewissheiten« 182 – einer Kritik zu unterziehen. 183 Für die Epistemologie macht Bachelard die Einsicht geltend, Objekte der E. liessen sich nicht als etwas unmittelbar Objektives bezeichnen, man müsse einen Bruch zwischen der sinnlichen und der wissenschaftlichen E. annehmen, die vom spontanen Pragmatismus und Realismus bestimmten ›normalen‹ Tendenzen der sinnlichen E. führten in die Irre. 184 Die von Bachelard – wie von Cassirer – geforderte kopernikanische Wende der Objektivität 185 besteht darin, dass nicht der Gegenstand selbst die Objektivität und Exaktheit des Wissens bestimmt; es ist vielmehr die Methode, die ihn konstituiert. Die ob-

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jektive Gewissheit, die der Alltagsverstand zu ›haben‹ glaubt, gibt es nicht, und deshalb ist die Alltagserfahrung für die Wissenschaft kein Ausgangspunkt mehr. 186 Die für den common sense wie auch für den Positivismus gegebenen Tatsachen liefern die Wissenschaft »der Sklaverei unserer ersten Intuitionen« aus. 187 Die ›Phänomene‹ werden ›fabriziert‹. 188 Dem entspricht das Konzept ›Phénoménotechnique‹; es dient der Beschreibung v. a. der experimentellen Phänomenherstellung. 189 Im Experiment »muss man die Phänomene sortieren, filtrieren, reinigen, in die Gußform der Instrumente gießen; ja sie werden auf der Ebene der Instrumente erzeugt. Nun sind die Experimente nichts anderes als materialisierte Theorien. Daraus resultieren Phänomene, die allenthalben die Prägemale der Theorie zeigen.« 190 Die Phänomenotechnik lässt eine Welt nicht mehr »durch einen magischen, der Realität immanenten Impul« erscheinen, sondern »durch einen rationalen, dem Geist innewohnenden Anstoß«. 191 Die experimentelle Realisierung einer Welt hängt von unserer intellektuellen Wahrnehmung ab. 192 Das wissenschaftliche Denken ist charakterisiert durch eine Pluralität epistemologischer Profile, die im Rahmen des »Pluralismus der philosophischen Kultur« 193 (naiver Realismus, positivistischer Empirismus, Newtonscher oder Kantscher Rationalismus, dialektischer Rationalismus etc.) zur Wahl stehen. Vom jeweils gewählten Profil hängen die Phänomene ab, die in der wissenschaftlichen Tätigkeit produziert werden. Die ›Gegebenheit der Dinge‹ ist eine Illusion der Alltagserfahrung; Gegenstände sind als E.objekte sind nicht identisch mit Dingen. Deshalb gibt es keine Gewissheit, die zu ›haben‹ ist. 3.2 Nelson Goodmans Pluralismus der Welt-Versionen Die Welt existiert. Aber es gibt eine Pluralität von Welten (Welt-Versionen) – Produkten von Symbolsystemen. Die Symbolkonstruktionen sind einer Vielfalt an Standards der Richtigkeit unterworfen. 194 Dies ist N. Goodmans Fazit in Ways of Worldmaking (). Goodman erinnert explizit an Themen, die er mit Cassirer teilt 195 : »die Vielheit von Welten, die Scheinhaftigkeit des ›Gegebenen‹, die schöpferische Kraft des Verstehens, die Verschiedenartigkeit und die schöpferische Kraft von Symbolen«. 196 »Wenn es nur eine Welt gibt, umfasst sie

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eine Vielzahl kontrastierender Aspekte; wenn es viele Welten gibt, ist ihre Zusammenfassung eine.« 197 Zu dieser Theorie der Welten gehört ein »radikaler Relativismus unter strengen Einschränkungen«, »der auf eine Art Irrealismus hinausläuft«. 198 Der Grundgedanke ist: The world is in many ways. Damit ist gemeint: Unsere Welten entstehen aufgrund verschiedener Bezugsrahmen der Weltbeschreibungen. 199 Es gibt ein »Sehen jenseits des Seins«. 200 Der mit der Subjektivität des Sehens verbundene Relativismus wird durch die epistemisch-ethische Norm, das Weltverstehen zu verbessern, gezügelt. 201 Fortschritte der E. bringen allerdings nur »ein Fortschreiten im Unterscheiden dessen, was richtig ist, mit sich, aber nicht im Wissen dessen, was richtig ist. Um geschickt und kundig, doch fehlbar, festlegen zu können, ob etwas richtig ist (oder rot oder gefährlich ist), muss man keine wahre, gewisse und begründete Überzeugung besitzen, dass es richtig ist (oder rot oder gefährlich ist), was immer das auch heißen könnte. Auf die Frage ›Woher wissen Sie, was richtig ist?‹ lautet unsere Antwort, dass wir weder das noch irgend etwas anderes wissen. Das Bekannte weiß man nicht.« 202 Mit dem Übergang von Substanzbegriffen zu Funktionsbegriffen wurde »das Gegebene als ein Genommenes erkannt«. 203 Die Konzentration auf die Funktion hat Folgen für das Verständnis von Tatsachen, von Erfahrung, Induktion und Empirie: Tatsachen sind kleine Theorien. 204 Grundlegend ist für Goodman die Beobachtung, dass die Erzeugung, Verwendung und Interpretation von Symbolen an allen Gebieten zentral beteiligt ist, in denen Welten entstehen. 205 Jede Welt ist ein Artefakt, und die Verwandtschaft zwischen Kunst, Wissenschaft, Wahrnehmung und Gestaltung des Alltagswelten ist unübersehbar. Die Wissenschaft hat kein Wahrheitsprivileg 206, und die Vorstellungen von Wissenschaft als dem Versuch, »eine einmalige, abgepackte, aber leider Gottes unentdeckbare Realität ausfindig zu machen, und von Wahrheit als der Übereinstimmung mit dieser unzugänglichen Realität« 207, ist nicht haltbar. Die faktische Pluralität, Relativität und Irrtumsbeladenheit des Erkennens bietet hinreichende Gründe für eine Gewissheitskritik und für eine ETh., die eine Analyse von »E.schranken« 208 leistet und sich von ihnen befreit: Was Wissen ist, darf nicht dadurch definiert werden, dass es höchste epistemische Standards erfüllt. Das damit verbundene

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Streben nach letzter Gewissheit ist aufgegeben worden. 209 Wahrheit ist etwas anderes als Korrespondenz mit einer vorgegebenen Welt. Deshalb plädiert Goodman für eine »Sabotage« an dem, was man als »festen Boden unter den Füßen« missversteht. 210 Eine Weltversion wird dann für wahr gehalten, »wenn sie keinen hartnäckigen Überzeugungen widerspricht und keine ihrer eigenen Vorschriften verletzt«. 211 3.3 Hilary Putnam: Objektivität nach Menschenmaß Hilary Putnam hat in den er Jahren die Wiedereinführung transzendent-kritischen Philosophierens in die Analytische Philosophie vorangetrieben. Mit Reason, Truth and History () hat er den im Positivismus, Logischen Empirismus und der Epistemology naturalized (W. V. O. Quine) aus dem Blick verlorenen philosophischen Horizont der Eth. wieder sichtbar gemacht. Putnam hat eine Variante von Realismus begründet, die sowohl bloßen Subjektivismus (Wirklichkeit = Konstrukt des Ich) als auch metaphysische Realitätsannahmen (Welt = unabhängig von Bewusstseinsleistungen existierend) vermeiden will. Er entgeht mit seiner Kritik an der ›copy theory of truth‹ dem »Würgegriff mehrerer Dichotomien«, v. a. der »Dichotomie zwischen objektiven und subjektiven Ansichten von Wahrheit und Vernunft«. 212 Er argumentiert einerseits in einer »internalistischen Perspektive« gegen die These, »dass der Geist die Welt erschafft«. 213 Andererseits hält er die Frage ›Aus welchen Gegenständen besteht die Welt?‹ »nur im Rahmen einer Theorie bzw. einer Beschreibung [für] sinnvoll« 214 : Putnam stellt die alte Frage aller ETh.: »Wie gelangen die Symbole des denkenden Subjekts (bzw. die seines Geistes/Gehirns) in eine eindeutige Korrespondenzbeziehung mit Gegenständen und Mengen von Gegenständen dort draußen?« 215 Seine Antwort legt eine kritische Konzeption von E.: »ein Zeichen, das von einer bestimmten Gemeinschaft von Zeichenbenutzern auf bestimmte Weise verwendet wird, kann innerhalb des Begriffsschemas dieser Zeichenbenutzer bestimmten Gegenständen entsprechen. Unabhängig von Begriffsschemata existieren keine ›Gegenstände‹. Wir spalten die Welt in Gegenstände auf, indem wir dieses oder jenes Beschreibungsschema einführen. Da die Gegenstände und die Zeichen gleichermaßen interne Elemente des Beschreibungsschemas sind, ist es möglich, anzugeben, was wem entspricht.« 216

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Wahrheit ist »so etwas wie ideale Kohärenz unserer Überzeugungen untereinander und in Bezug auf unsere Erfahrungen entsprechend der Darstellung dieser Erfahrungen in unserem Überzeugungssystem – und nicht Übereinstimmung mit geistesunabhängigen oder redeunabhängigen ›Sachverhalten‹.« 217 Die Frage des externalistischen Realismus, wie die Zeichen und Symbole des E.subjekts in eine unverwechselbare Korrespondenzbeziehung mit Gegenständen ›dort draußen‹ gelangen, ist falsch gestellt, denn Zeichen können nur innerhalb von Begriffsschemata der Zeichenbenutzer bestimmten Gegenständen entsprechen. »Unsere Auffassungen von Kohärenz und Akzeptierbarkeit sind [. . . ] eng mit unseren psychischen Gegebenheiten verknüpft, Sie sind abhängig von unserer biologischen und kulturellen Situation und keineswegs ›wertfrei‹. Aber sie sind nun mal unsere Auffassungen, und zwar Auffassungen von etwas Realem. Sie beschreiben eine Art von Objektivität – etwas, das für uns Objektivität ist –, auch wenn es nicht die Objektivität des Gottesgesichtspunkts ist. Was wir haben, sind Objektivität und Rationalität nach Menschenmaß; sie sind besser als nichts.« 218 Was Putnam mit dem Rekurs auf Kant anstrebt, ist eine Erneuerung der Kopernikanischen Wende und eine Gegenwehr gegen die seit Beginn der er Jahre durch den mind-body-Identismus (Leib-SeeleProblem) ausgelöste Veränderung des eth. Klimas 219 ; damit, dass die Philosophie »antiaprioristisch« geworden sei, habe sie das letzte gute Argument gegen den Naturalismus preisgegeben. 220 Zwar stimmt Putnam mit Quine darin überein, dass unsere »Begriffe der Rationalität und der rationalen Revidierbarkeit« nicht durch »unveränderliche Regelverzeichnisse festgelegt« sind; sie sind auch nicht, »wie Kant glaubte, unserer transzendentalen Natur einbeschrieben«. Doch betont Putnam, die Revisionen der Transzendentalphilosophie könnten nicht »grenzenlos sein, sonst hätten wir keinen Begriff mehr von etwas, das wir noch als Rationalität bezeichnen können«. 221 Eine Eth., die aus den durch Kant eröffneten Denkmöglichkeiten und aus ihm folgenden Entwicklungen gelernt hat, wird bescheiden sein: nicht dogmatisch, sondern kritisch – kontextualistisch, epistemisch perspektivistisch und pluralistisch.

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,  übernommen. – 2 Vgl. z. B. Harding/Hintikka ; Alcoff/Potter ; Code . – 3 Vgl. Bloor ; Goldman ; Kassavine . – 4 So Haller in Chisholm , . – 5 Pappas , . – 6 Zur Geschichte vgl. Cassirer, ECW – ( ff.); Hönigswald  (); Krings/Baumgartner/Prinz ; Diemer/ Gethmann . – 7 Vgl. Beckermann , . – 8 Vgl. Beckermann . – 9 Vgl. Brendel/Koppelberg . – 10 Vgl. Dewey  (). – 11 Köhnke , ; vgl. ders. . – 12 Ebd., . – 13 Ebd.,  ff. – 14 Rorty ,  ff. – 15 Zit. n. Eisler , . Bd., . – 16 Vgl. Schneider . – 17 v. Kutschera , VII. –

152 18 Vgl.

        /       

Piaget . – 19 Vgl. Vollmer . – 20 Vgl. Maturana . – 21 Prauss , . – 22 Feyerabend , . – 23 Vgl. Cassirer, ECW –. – 24 Kant, KrV B XVI. – 25 Zur Antike vgl. Hönigswald , –. – 26 Thomas v. Aquin, De veritate, , obj. . – 27 Kepler , ; Galilei , Bd. , . – 28 Ebd., . – 29 Ebd., . – 30 Krohn . – 31 Ebd., . – 32 Bacon , . – 33 Ebd., ff; vgl.  ff. – 34 Ebd., . – 35 Ebd., . – 36 Ebd., . – 37 Descartes , . – 38 Descartes a, . – 39 Ebd., . – 40 Ebd., . – 41 Ebd., . – 42 Descartes b, . – 43 Ebd., . – 44 Descartes a, . – 45 Ebd.,  ff. – 46 Ebd., . – 47 Spinoza , II, . – 48 Spinoza, Ethica, . Def. – 49 Ebd., II, Lehrsatz . – 50 Ebd., . – 51 Kant, Proleg. (), AA IV, . – 52 Condillac , . – 53 Ebd.,  f. – 54 Ebd.,  f. – 55 Ebd., . – 56 Ebd. – 57 Ebd., . – 58 Condillac ,  f. – 59 Ebd., . – 60 Ebd.,  f. – 61 D’Alembert ,  f. – 62 Ebd., . – 63 Ebd., . – 64 Ebd., . – 65 Ebd., .f. – 66 Ebd., , vgl. . – 67 Ebd.,  f. – 68 Ebd., . – 69 D’Alembert , . – 70 D’Alembert , . – 71 Kant, KrV, A /B . – 72 Ebd., A /B . – 73 Ebd., A /B . – 74 Kant, Prolegomena (), AA IV, . – 75 KrV, B . – 76 Ebd., A VIII, . – 77 Kant, KrV, B  ff./A  f. – 78 Vgl. ebd., B  ff. – 79 Ebd., B /A  f. – 80 Ebd., B . – 81 Kant, Prolegomena (), . – 82 Kant, KrV ( ), B XVIff. – 83 Ebd., B XXXV. – 84 Fichte, Briefwechsel, GA III, , . – 85 Fichte, Darstellung d. Wissenschaftslehre (), SW II, . – 86 Fichte, Erste Einl. in d. Wissenschaftslehre, Fichte , . – 87 Ebd., . – 88 Schelling, Abh. Z. Erl. d. Wissenschaftslehre (), SW I,  f. – 89 Ebd., . – 90 Schelling, System d. transz. Idealismus (), SW III, . – 91 Hegel, Phänomenol. (), H W , . – 92 Hegel, Enzykl. (), H W , . – 93 Ebd., H W ,  – 94 Hegel, Phänomenol. (), H W , . – 95 Hegel, Rechtsphilos. (), HW , . – 96 Hegel, Enzykl. (), H W , . – 97 Schopenhauer , Bd. , VII. – 98 Ebd., XIIf. – 99 Ebd., . – 100 Ebd., . – 101 Ebd., . – 102 Ebd.,  f. – 103 Schopenhauer , Bd. ,  ff. – 104 Ebd., . – 105 Ebd., . – 106 Vgl. Sandkühler . – 107 Whewell ,  f. – 108 Ebd.,  f. – 109 Ebd., . – 110 Mill , III,  f. – 111 Ebd., IV, . – 112 Ebd., II, . – 113 Nietzsche , VI, . – 114 Ebd., II, . – 115 Ebd., . – 116 Ebd., VI, . – 117 Engels, M EW ,  f.; Hervorh. Sa. – 118 Ebd., . – 119 M EW , ; ; Hervorh. Sa. – 120 Ebd., . – 121 Dilthey , . – 122 Ebd.,  f. – 123 Ebd., . – 124 Ebd., ; . – 125 Wundt , . – 126 Rorty ,  ff. – 127 Lange , . – 128 Ebd.,  f. – 129 Ebd.,  f. – 130 Ebd., . – 131 Ebd., . – 132 Cohen , . – 133 Ebd., . – 134 Natorp , . – 135 Windelband ,  f. – 136 Ebd., . – 137 Ebd., . – 138 Ebd., . – 139 Ebd., . – 140 Vgl. Rickert ,  ff. – 141 Vgl. ebd., . – 142 Rickert , . – 143 Ebd. – 144 Rickert ,  f. – 145 Rickert, . – 146 Rickert , –. – 147 Cassirer ECW , . – 148 ECW ,  f. – 149 ECW , . – 150 Ebd., . – 151 ECW , . – 152 ECW , . – 153 Vgl. ECW , VII. – 154 ECW , . – 155 ECW , . – 156 ECW ,  f.; Hervorh. v. mir. – 157 ECW , . – 158 ECN ,  f. – 159 Zur Regeln vgl. ECW , . – 160 ECW , . – 161 ECW , . – 162 ECW , . – 163 ECW , ; vgl. ebd., , ECN , , und ECN , . – 164 ECW , . – 165 ECW , . – 166 Ebd., . – 167 Peirce, CP, .. – 168 CP .. – 169 CP, .. – 170 Peirce, CP .. – 171 Husserl

        /       

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,  f. – 172 Ebd.,  f. – 173 Ebd., . – 174 Ebd.,  f. – 175 Husserl . – 176 Vgl. Rheinberger . – 177 Bachelard , . – 178 In: Bachelard , . – 179 Vgl. Bachelard , –. – 180 Ebd., . – 181 Vgl. ebd., . – 182 Ebd., . – 183 Ebd., . – 184 Ebd., . – 185 Vgl. Bachelard , . – 186 Bachelard a, . – 187 Vgl. ebd.,  f. – 188 Bachelard , . – 189 Bachelard , . – 190 Bachelard, , . – 191 Ebd. – 192 Bachelard ,  f. – 193 Bachelard b, . – 194 Vgl. Goodman , . – 195 Ebd., , vgl. , . – 196 Ebd., . – 197 Ebd., . – 198 Ebd., , vgl. . – 199 Ebd., . – 200 Ebd., . – 201 Goodman/Elgin , . – 202 Ebd. – 203 Ebd., . – 204 Ebd.,  f. – 205 Ebd. – 206 Ebd., . – 207 Ebd., . – 208 Goodman/Elgin ,  f. – 209 Goodman , . – 210 Goodman , . – 211 Ebd., . – 212 Putnam , . – 213 Ebd.,  f. – 214 Ebd., . – 215 Ebd., . – 216 Ebd., . – 217 Ebd.,  f. – 218 Ebd., . – 219 Ebd., . – 220 Ebd., . – 221 Ebd., .

Hans Jörg Sandkühler

Erste Philosophie

1 Zum Begriff. Der Begriff ›Erste Philosophie‹ (EPh.) – griech. prote philosophia, lat. prima philosophia – geht auf Aristoteles zurück. Als EPh. wird zumeist die Metaphysik oder eine der Physik voraufgehende Wissenschaft der Erkenntnisprinzipien bezeichnet. 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte Bei Aristoteles liegt dem Begriff der EPh. eine Einteilung alles Wissens zugrunde, die das Wissen der Prinzipien vom sonstigen Wissen abgrenzt. 1 Das Wissen der Prinzipien ist nach den Graden der Allgemeinheit (Allgemeines/Besonderes/Einzelnes) zu unterscheiden, d. h. innerhalb des Wissens von den Prinzipien ist die eine Wissenschaft des Prinzips von Allem herauszuheben. 2 Das Allgemeinste ist Gegenstand einer einzelnen Wissenschaft, insofern es als eine bestimmte ousia abzugrenzen ist und diese hinsichtlich dessen, was sie ist und was ihr als Seiendem zukommt, betrachtet wird. 3 Da die Ursachen des Sichtbaren von den göttlichen Dingen (phanera ton theion) als die höchsten Prinzipien anzusehen sind, muss sich wenn irgendwo das Göttliche hier finden, und deshalb bezeichnet Aristoteles diese höchste Wissenschaft als Theologie (theologike). 4 Weil die EPh. Wissen vom Allgemeinsten ist, ist sie wesentlich theoretische Wissenschaft (theoretike), sie ist weder Wissenschaft des Einzelnen als solchen, noch geht sie vom Einzelnen aus, um zum Allgemeinen zu gelangen. Obgleich ohne unmittelbaren Bezug zur Praxis, gilt, dass der Gegenstand der EPh. das Beste ist, da er als das Allgemeinste dasjenige ist, von dem die wissenschaftliche Erkenntnis alles sonstigen der Form nach abhängt: »Notwendiger als diese sind alle anderen, besser aber keine.« 5 Der Aristotelische Begriff der EPh., demzufolge die Wissenschaft vom Göttlichen zugleich die allgemeinste Wissenschaft ist, erfährt in der mittelalterlichen Philosophie eine wesentliche Modifikation durch die von Thomas v. Aquin vorgenommene Unterscheidung zwischen einer Theologie aus göttlicher Offenbarung und einer aus menschlicher Vernunft. 6 Zwar wird der EPh. weiterhin die Untersuchung des Seien-

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den als Seiendem (ens inquantum est ens, Sein/Seiendes) zugewiesen, weswegen sie unter Berufung auf die aristotelische Überlieferung als Metaphysik bezeichnet wird, aber sie verliert ihren Rang als würdigstes Wissen überhaupt. Dem entspricht in der weiteren Entwicklung die Tendenz, die EPh. in Abgrenzung von der Theologie als Wissenschaft des Seienden im allgemeinen (ab dem ./. Jh. metaphysica generalis oder dann auch ontologia genannt, Ontologie) zu bestimmen. Eine grundsätzliche Neubestimmung erfährt der Begriff ›EPh.‹ dort, wo die Philosophie beginnt, sich von der aristotelisch-mittelalterlichen Metaphysik zu lösen. F. Bacon versteht die EPh. als die Wissenschaft der Axiome, die aller sonstigen wissenschaftlichen Erkenntnis zugrunde liegen, sowie der allgemeinen Bestimmungen des Seienden. Die Metaphysik ordnet er der Naturphilosophie zu. 7 Descartes hält an der Gleichsetzung von EPh. und Metaphysik fest, lehnt jedoch eine Wissenschaft des Seienden als des Seienden ab. 8 EPh. habe zu ihrer Aufgabe die Untersuchung der Erkenntnisprinzipien. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie klar und evident sind, daher keinem Zweifel unterliegen, und dass die Erkenntnis alles anderen von ihnen abhängt. 9 Gegenstand der so verstandenen Metaphysik ist für Descartes zuhöchst Gott, denn »die Gewissheit und Wahrheit jeder Wissenschaft [hängt] einzig von der Erkenntnis des wahren Gottes [ab] (omnis scientiae certitudinem et veritatem ab una veri Dei cognitione [pendit]).« 10 Die an Descartes anschließende Philosophie der Aufklärung bis Wolff trennt die EPh. als Prinzipienwissenschaft von der Metaphysik; sie wird zumeist als Ontologie bezeichnet. 11 Unter Berufung auf Kants Kritik der Metaphysik vom Standpunkt einer transzendentalen Reflexion aus verfestigt sich das Verständnis von EPh. als grundlegender Untersuchung der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis. In der Kant gegenüber kritischen Philosophie des Deutschen Idealismus verliert der Begriff der EPh. seine herausgehobene Stellung. Am deutlichsten bei Hegel, in dessen System der philosophischen Wissenschaften die Prinzipien nichts sind, was abgesondert von dem aus ihnen Abgeleiteten erkannt werde könne. In der nachhegelschen Philosophie zeigen sich die Bemühungen um die EPh. als problematische Versuche einer Erneuerung vormaliger philosophischer Grundpositionen. Insbes. Husserls Phänomenlogie ist hier zu nennen 12, die sich als Grundlagenwissenschaft in der Tradi-

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tion von Descartes’ Meditationes de prima philosophia versteht, wie insbes. in Husserls Cartesianische Meditationen deutlich wird. Für die Phänomenologie hat die Reflexion auf die sinngebenden Leistungen des transzendentalen Subjekts die Prinzipien aller Erkenntnis zur Klärung zu bringen, um so den Tatsachenwissenschaften wie auch der Mathematik die Gewissheit eines festen Fundamentes zu geben. Die Metaphysikkritik des vom Wiener Kreis um M. Schlick vertretenen logischen Empirismus verneint grundsätzlich die Möglichkeit einer EPh. Philosophie hat kein eigenes, sich zu einem System von Erkenntnissen entfaltendes Gebiet, sondern ist einzig die Tätigkeit der Sinnaufklärung wissenschaftlicher Sätze. Erkenntnis ist ausschließlich durch die empirischen Wissenschaften möglich. Diese Wissenschaften wiederum zeigen von sich her die Tendenz, in einer Einheitswissenschaft aufzugehen, keine einzelne Wissenschaft kann vor irgendeiner anderen einen Vorrang behaupten. 13 Eine dritte Variante findet sich dort, wo am Problembestand einer nicht-empirischen Prinzipienerkenntnis zwar festgehalten wird, aber die Konsequenz eines festen Fundaments unterlaufen werden soll. Exemplarisch liegt ein solcher Versuch mit der philosophischen Anthropologie vor 14, am klarsten formuliert bei Plessner (). In der gegenwärtigen Diskussion kommt dem Begriff der EPh. zumeist keine seiner vormaligen Bedeutung entsprechende Stellung zu. Er wird – wenn überhaupt – vornehmlich dort erwähnt, wo man sich dazu veranlasst sieht, das heutige philosophische Denken gegen die metaphysische Tradition abzugrenzen. 15 Für die Aufgabe, diese Tradition als ein in sich geliedertes Ganzes zu begreifen, ist der Begriff der EPh. allerdings von Bedeutung. 16 Aristoteles, /, Metaphysik, hg. v. H. Seidl, Hamburg. – Bacon, F., /, Instauratio magna. In: The works, hg. Spedding, Ellis, R. L./Heath, D. D., London. – Boeder, H., , Topologie der Metaphysik, Freiburg/München. – Descartes, R.,  ff., Principes de la Philosophie, hg. Adam/Tannery, Bd. IX/, Paris. – Descartes, R.,  ff., Meditationes de prima philosophia, hg. Adam/Tanery, Bd. VII, Paris. – Ebeling, H., , Das Verhängnis: Erste Philosophie, Freiburg/ München. – Husserl, E., /, Erste Philosophie. In: GW, Bde. VII u. VII, Den Haag. – Orth, E. W., , Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. In: Dilthey-Jb. . – Plessner, H., , Macht und menschliche Natur (GS V), Ffm. . – Riedel, M., , Für eine zweite Philosophie, Fft./M. – Schlick, M., , Die Wende der Philosophie. In: Erkenntnis . – Thomas v. Aquin, –

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 ff., Summa theologica, opera omnia Bd. IV–XII, Rom. – Wolff, Chr.,  ff., Philosophia prima sive ontologia. In: GW, II. Abt., Lat. Schr., hg. v. J. Ecole u. a., Hildesheim/NY. 1 Aristoteles, Met. b ff. – 2 Ebd., a. – 3 Ebd., a. – 4 Ebd. – 5 Ebd. a. – 6 Vgl.

Thomas v. Aquin, Summa theologica, q. ,art. . – 7 Vgl. Bacon, De dignitate et augmentis scientarum III.  u. . – 8 Vgl. Descartes  ff., IX/, . – 9 Vgl.ebd., . – 10 Descartes  ff., VII, . – 11 Vgl. Wolff  ff., lat. II, § . – 12 Vgl. Husserl /, VII, . – 13 Vgl. Schlick . – 14 Vgl. Orth . – 15 Z. B. Riedel , Ebeling . – 16 Vgl. Boeder .

Arne Homann

Ethik / Moralphilosophie / Moral

1 Zu den Begriffen. Das griech. Wort ›ethos‹ bedeutet ›Charaktereigenschaft‹. Verwandt damit ist das Wort ›ethos‹, das ›Gewohnheit‹ oder ›Sitte‹ im engeren Sinne bedeutet. Die aristotelischen Ethiken, auf die das Wort ›Ethik‹ (E.) erstmalig bezogen wurde, untersuchen positive und negative Charaktereigenschaften (Tugend/Laster), die durch Gewohnheit erworben werden. Cicero verwendet in seinen lat. Übersetzungen des Griech. die Ausdrücke ›mores‹ (d. i. Sitten, Bräuche, Gewohnheiten) und ›moralis‹ (d. i. die Bräuche betreffend). Der Ausdruck ›E.‹ wird heute in unterschiedlichem Sinne gebraucht. Erstens ist E. der übergreifende Titel für alle (philosophischen) Überlegungen, die Antwort geben auf die Fragen: Wie sollen wir leben? An welchen (letzten) Zielen und Werten sollen wir unser Leben orientieren? Zweitens und drittens werden auch die beiden Disziplinen ›E.‹ genannt, die auf die Grundfragen der E. im übergreifenden Sinne Antworten geben. Diese beiden Disziplinen sind die Eudämonistische Ethik und die Moralphilosophie (MPh.). Die Eudämonistische E. sucht nach dem letzten Ziel, dem höchsten Gut des menschlichen Lebens, das als ›Glück‹, als ›Wohlergehen‹, als ›gutes Leben‹ bezeichnet wird. Die elementaren Fragen der Eudämonistischen E. lauten: Was ist Glück? Wie müssen wir leben, um glücklich zu werden? Solche Fragen nach den notwendigen Konditionen und Komponenten eines guten Lebens sind sog. prudentielle Fragen (lat. prudentia, griech. phronesis = Klugheit). Es sind Fragen, die unsere Lebensklugheit betreffen. Im Unterschied dazu sucht die MPh. Antworten auf folgende Fragen zu finden und zu begründen: Welchen Wesen gegenüber (Menschen, Tiere, zukünftige Generationen, Lebewesen, unbelebte Natur) sollen wir einen moralischen Standpunkt einnehmen? Aufgrund welcher Aspekte dieser Wesen (Lust, Wünsche, Bedürfnisse, Interessen, gutes Leben, Alter, Vielfalt, komplexe Organisation, Seltenheit) sollen wir dabei moralisch Rücksicht nehmen? Was ist überhaupt ein moralischer Standpunkt? Antworten auf Fragen dieses zweiten Typs gehören in

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die MPh. In der MPh. geht es vorrangig um die Konkretisierung und Begründung eines moralischen Standpunktes, nebenher aber auch um psychologische Überlegungen zur Motivation und Realisierbarkeit moralischen Verhaltens. 2 Antike eudämonistische Ethik und moderne Moralphilosophie Die Aufteilung der E. in die Eudämonistische E. einerseits und die MPh. andererseits stellt einen Versuch dar, ethische Überlegungen der Antike, wie sie v. a. von Platon und Aristoteles entwickelt wurden, und Überlegungen der modernen E. in der Nachfolge Kants wechselseitig zu komplementieren und zu korrigieren. 2.1 Eudämonistische Ethik .. Die antike eudämonistische E. als Tugendlehre und Theorie des gelingenden Lebens ist bis heute in zwei Varianten einflussreich: in der E. des Aristoteles und in der (hellenistischen) E. Epikurs und der Stoa. Die ontologische E. der klassischen lat. Antike steht im Kontext einer allgemeinen Theorie, die die Existenz objektiver Normen für alle Entitäten einer Art unterstellt. Entitäten, die dieser objektiven Norm, ihrer Idee, ihrem Wesen entsprechen, gelten als gut bzw. vollkommen. Menschen nehmen im Kontext dieser essenzialistischen Ontologie eine Sonderstellung ein, insofern ausschließlich menschliches Leben als ›glücklich‹ bezeichnet wird, wenn es sein Wesen erfüllt und auf artspezifische Weise tätig ist. Glück besteht z. B. für Aristoteles im tugendgemäßen Tätigsein der Seele. 1 Wie ist das zu verstehen? Menschliches Handeln ist Streben (orexis). Menschliches Streben hat eine zweckrationale Struktur. Es ist auf ein ›Gut‹ (agathon) gerichtet, das durch das Handeln verwirklicht werden soll. Die Güter qua Handlungsziele stehen in einer hierarchischen Ordnung. Das ›höchste Gut‹ (ariston) ist dasjenige, das um seiner selbst willen (und nicht mehr als Mittel zu einem weiteren, höheren Ziel) angestrebt wird. An diesem höchsten Gut sind alle Handlungsziele zu messen. Dieses höchste Gut ist die ›Glückseligkeit‹ (eudaimonia). Aristoteles versteht sie, in ausdrücklicher Abgrenzung gegen konkrete, subjektive Glücks(Empfindungs-)zustände, als Entfaltung und Verwirklichung der dem Menschen durch seine Natur gegebenen Möglichkeiten. Glückseligkeit ist die Vollendung des dem Menschen

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immanenten Strebens. Es ist die angemessene, optimale Verfassung des Menschen, in der seine biologischen, psychischen und rationalen Vermögen (›Seelenteile‹) sich in wohlproportionierter Harmonie befinden. Diese Verfassung kann nur erreicht werden durch die Ausbildung einer allgemeinen Handlungsdisposition, die Aristoteles ihrerseits als eine ausgewogene ›Mitte‹, das ›rechte Maß‹ (mesotes) zwischen ›extremen‹ Gemütsverfassungen und den aus ihnen resultierenden Handlungstypen bestimmt: z. B. Tapferkeit als rechte Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit, Besonnenheit als rechte Mitte zwischen Zügellosigkeit und Stumpfheit. Diese Mitte nennt Aristoteles ›Tugend‹ (arete). Das Handeln gemäß dieser Mitte, sofern es sich zu einer bereits relativ stabilisierten Disposition ausgebildet hat, ist das tugendhafte Handeln. Die Disposition der Tugend und die Praxis der Glückseligkeit sind nur aufgrund des Gebrauchs der Vernunft (des ›vernünftigen Seelenteils‹) zu erhalten. Ausschlaggebend ist nicht, wie die Handlung faktisch ausfällt und welche Konsequenzen faktisch durch die Handlung verursacht werden. Wer zufällig die rechte Mitte trifft und das Richtige tut, handelt darum noch nicht richtig und tugendhaft. 2 Die Eudämonistische E. ist eine Tugendethik. Es geht ihr um die Erkenntnis und den Erwerb positiver Charaktereigenschaften: um ethische Tugenden wie Freundschaft und Gerechtigkeit und um theoretische Tugenden wie Weisheit und Klugheit, deren Besitz und Ausübung notwendige Bedingungen eines guten, glücklichen Lebens sind. Sieht man in der antiken eudämonistischen E. nicht nur den Entwurf einer angemessenen Konzeption guten Lebens, sondern diesen auch verknüpft mit dem weitergehenden Imperativ, vorrangig oder gar ausschließlich das eigene gute Leben und Glück zu fördern, dann könnte man die antike eudämonistische E. leicht im Sinne der moralphilosophischen Position des Egoismus missverstehen. Doch zum einen wird Glück in der eudämonistischen E. der klassischen lat. Antike nicht als Erfüllung subjektiver Interessen bestimmt, weder subjektiv hedonistisch (als Lusterleben) noch voluntaristisch (als Wunscherfüllung). Es ist vielmehr die Erfüllung der objektiven Norm, die im Wesen des Menschen enthalten ist. Zum anderen ist in der antiken eudämonistischen E. die Ausübung der Tugend der Gerechtigkeit, die

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dazu beiträgt, dass auch andere Wesen die ihnen eigene Norm erfüllen können, selber eine notwendige Bedingung des eigenen Glücks. Barbara Merker .. Wie für Aristoteles so ist auch für die Hellenisten die Eudämonie (Glück/Glückseligkeit) das Telos, das höchste Gut. 3 Für sie besteht es in der Freiheit von innerer Erregung und innerem Unfrieden, in seelischer Ausgeglichenheit und Harmonie. Die Stoiker nennen diesen Zustand ›Apathie‹, bei den Epikureern heißt er ›Ataraxie‹. Der Weg dorthin führt für beide über die Entwertung alles Unverfügbaren, denn das Anstreben von Unerreichbarem und das Bewusstsein unerfüllbarer Wünsche ist es, was inneren Unfrieden, Unglück erzeugt. Im Unterschied zu Aristoteles, für den das höchste Gut dem Menschen durch sein Wesen und seine Stellung in der teleologischen Ordnung des Seins vorgegeben ist, besteht für die Stoiker und Epikureer das Glück in der »Erreichung aller selbstgewählten Zwecke«. 4 Daher soll man sich nur solche Zwecke setzen, die man sicher erreichen kann. Jeglicher Affekt soll vermieden werden. Einstimmig leben durch Übereinstimmung von Wollen und Können ist die Maxime. Dies kann nur gelingen, so die Stoiker, wenn die Vernunft alle falschen Wertungen beseitigt und den Trieb auf erreichbare Zwecke festlegt. Man muss unabhängig von äußeren Gütern werden, denn deren Verfügbarkeit ist nicht dauerhaft und jederzeit sicher. 5 Entgegen dem landläufigen Klischee empfiehlt auch Epikur keineswegs die »Lüste der Prasser und des Genießens«, sondern das »Freisein von körperlichem Schmerz und seelischer Aufregung«. 6 Das Glück als höchstes Gut besteht für Epikur in der dauerhaften Empfindung der Unlustfreiheit, im Bewusstsein der Verfügbarkeit der Lust und in der Gewissheit, niemals etwas anzustreben zu müssen, dessen Realisierbarkeit nicht in der eigenen Macht steht. Georg Mohr 2.2 Moderne Moralphilosophie So wenig die antike ontologische E. der Glücksgewinnung als moralphilosophische Position des Egoismus missverstanden werden darf, so wenig die moderne anthropozentrische Moral (M.) der Rück-

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sichtnahme als moralphilosophische Position des Altruismus. Der moralphilosophische Standpunkt gebietet uns nicht, vorrangig oder ausschließlich moralische Rücksicht auf die anderen Menschen zu nehmen und unser eigenes Glück dem Glück der anderen zu opfern. Vielmehr fordert er die Einnahme eines unparteilichen Standpunktes (Unparteilichkeit), von dem aus wir und die anderen gleichermaßen berücksichtigt werden, sofern es nicht gute Gründe für eine ungleiche Behandlung gibt. Die moderne anthropozentrische M., wie sie v. a. von Kant etabliert worden ist, ist Ausdruck der Einsicht in die moralische Gleichheit aller Menschen. Sie ist Kritik am Feudalismus, Sexismus, Rassismus u. s. w. Sie ist Kritik aller Versuche, Menschen aufgrund bestimmter (natürlicher oder sozialer) Eigenschaften oder Einstellungen wie Geschlecht, Hautfarbe, Religion moralisch zu diskriminieren oder zu privilegieren. 7 Spätestens seit Kant wird die Frage nach dem Glück aus systematischen philosophischen Überlegungen ausgeschlossen. Die unterschiedlichen Varianten eudämonistischer E. werden von unterschiedlichen Varianten der MPh. abgelöst. Ein Grund dafür ist die Preisgabe der Prämissen der klassischen antiken Ontologie. 2.3 Revision beider Ethiken Erst seit geraumer Zeit gibt es eine wechselseitige Belehrung antiker und moderner E. Daher macht es Sinn, die gegenwärtige E. in zwei Subdisziplinen zu teilen: in die Eudämonistische E. und in die MPh. Die zentrale Frage der revidierten antiken Eudämonistischen E. lautet nun: Wie lassen sich Konzepte guten Lebens begründen, die sich nicht mehr auf von Menschen unabhängige, objektive Werte und Normen berufen können? Und zentrale Fragen der revidierten modernen MPh. sind: Wer oder was außer dem Menschen verdient noch moralische Berücksichtigung? Muss die MPh. ausschließlich Gerechtigkeit und Unparteilichkeit fordern? Oder gibt es gute Gründe, Verwandte, Freunde, Geliebte parteilich zu behandeln und moralisch bevorzugt zu berücksichtigen? 8 Wie viel Universalismus und Partikularismus also braucht die M.? Und muss die E. der Gerechtigkeit um eine E. der Würde ergänzt und erweitert werden? 9

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3 Gegenwärtige Kontroversen innerhalb der Eudämonistischen Ethik und Moralphilosophie Innerhalb der Eudämonistischen E. ist umstritten, ob objektive oder subjektive Konzeptionen des Glücks und guten Lebens die besseren sind. Und innerhalb der MPh. konkurrieren utilitaristische, deontologische, kontraktualistische E. mit Tugendethiken, Mitleidsethiken bzw. E. moralischer Gefühle. 3.1 Subjektive und objektive Konzeptionen Eudämonistischer Ethik In den klassischen eudämonistischen E. der lat. Antike wurde Glück als die Erfüllung der Norm bestimmt, die in der Idee bzw. im Wesen des Menschen angelegt war. Mit der Preisgabe des Glaubens an die Existenz einer objektiven Teleologie und von menschlicher Setzung unabhängigen Normen entstand die Aufgabe einer alternativen Bestimmung des Glücks. Die gegenwärtige Konjunktur der Frage nach dem Glück und guten Leben ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass Kants Pessimismus hinsichtlich haltbarer Aussagen über das Glück nicht mehr geteilt und der Verzicht auf eine Eudämonistische E. als Defizit empfunden wird. Vielmehr wird aus Gründen, die in der MPh. selber liegen, eine Eudämonistische E. als unabweisbar angesehen. Wenn nämlich der moralische Standpunkt, der in der MPh. näher zu bestimmen ist, angibt, worauf moralische Rücksicht zu nehmen ist, reicht es nicht hin, die jeweiligen Objekte menschlicher Rücksichtnahme wie Menschen oder Tiere zu nennen (Tierethik). Als Antwort auf die Frage, worauf bei Tieren oder Menschen näherhin moralisch Rücksicht zu nehmen ist, ist das gute Leben ein wichtiger Kandidat. Die gegenwärtigen Kontroversen hinsichtlich der Frage, was als Glück oder gutes Leben genauer zu bestimmen sei, konzentrieren sich auf die Alternative einer subjektiven oder objektiven Bestimmung des Glücks. Den subjektiven Konzeptionen des Glücks zufolge sind diejenigen glücklich, die ihr Leben selber oder Episoden in ihm alles-in-allem positiv bewerten. Eine interne Kritik dieser subjektiven Konzeption des Glücks versucht dagegen zu zeigen, dass z. B. eine Kenntnis der Genese oder der Folgen der Lebensperiode, die alles-in-allem positiv bewertet wird, diese Bewertung verändern könnte. Positive Wertungen, die aufgrund falscher Information oder Manipulation vollzogen werden,

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und solche, die permanent negative Wertungen des eigenen Lebens zur Folge hätten, sind Wertungen, die von den Wertenden selber revidiert würden, wenn sie über die notwendigen Kenntnisse verfügten. 10 Objektive Konzeptionen des Glücks versuchen demgegenüber Argumente dafür zu finden, dass die subjektiven Bewertungen des eigenen Lebens, ob informiert oder uninformiert, nicht das (einzige) Kriterium dafür sind, dass ein Leben gut und glücklich ist. Zur Bestimmung des Glücks suchen sie einen Weg zwischen der Berufung auf von menschlicher Setzung unabhängigen Normen auf der einen Seite und bloß subjektiven Wertungen auf der anderen Seite. Sie berufen sich auf die Norm der Rationalität, auf anthropologische Notwendigkeiten und ein intern realistisch verstandenes Wesen des Menschen, konzipieren eine formale Theorie des Glücks und benennen notwendige Bedingungen eines guten Lebens. 11 3.2 Moralphilosophie Zu den prominentesten gegenwärtigen MPh. gehören die E. der moralischen Gefühle, die utilitaristische E., die deontologische E. und die kontraktualistische E. Im Unterschied zu diesen klassischen E.typen ist die feministische E. eine relativ neue Disziplin. Barbara Merker 3.2.1 Ethik der moralischen Gefühle Die Ethik der moralischen Gefühle steht zur Zeit ihrer ersten Ausformulierung,  durch A. A. C. Shaftesbury 12, noch im Zeichen der Suche nach einer Instanz, die die Geltung moralischer Normen (richtigen, angemessenen Verhaltens) und die Einsicht in diese unabhängig von religiös-kirchlicher Autorität ganz aus einer in der Natur des Menschen verankerten Kompetenz sicher zu stellen vermag. Diese Instanz findet Shaftesbury in einem »sense of right and wrong«, den er den »moral sense« nennt. Der moralische Sinn ist die Fähigkeit des Menschen, tugendhaftes Verhalten zu entwickeln durch ein »Gespür« für unnatürliche Antriebe, denen entgegengewirkt wird, und für eine Harmonie zwischen egoistischen und sozialen Antrieben (Altruismus/ Egoismus). Es handelt sich dabei weniger um rationale Einsichten als um »sekundäre Affekte« oder »Neigungen zweiter Stufe«, die die im-

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pulsiven »Neigungen erster Stufe« oder »primären Affekte« steuern. F. Hutcheson greift Shaftesburys Grundgedanken eines genuinen moralischen Sinns auf. 13 Er bestimmt diesen als die Fähigkeit, die moralische Qualität (Tugendhaftigkeit) von Handlungen wahrzunehmen, die durch Wohlwollen motiviert sind, und bei der Handlungsbewertung und -motivierung von subjektiven Präferenzen abzusehen. Aufgrund ihrer natürlichen Anlage zur ›Sympathie‹, zum Mitfühlen, können sich Menschen gefühlsmäßig und/oder gedanklich in die Lage anderer hinein versetzen. D. Hume stimmt letzterem weitgehend zu, korrigiert die These vom moral sense (gegen Shaftesbury und Hutcheson) jedoch dahin gehend, dass moralische Wertungen und Entscheidungen prinzipiell auf einem Zusammenwirken von Verstand und Gefühl beruhen. 14 Hume verbindet diese These mit der heuristischen Konstruktion eines sympathisierenden Beobachters, dessen Perspektive als moralische Urteilsinstanz in Anschlag gebracht wird. A. Smith schließt hier an und ergänzt den Begriff der Sympathie durch die Idee eines unparteiischen Zuschauers, aus dessen Perspektive fremde und eigene Handlungen hinsichtlich ihrer moralischen Eigenschaften beurteilt werden. Diese Konstruktion, die bereits in die Kantische universalistische Ethik vorausweist, tritt mit Smith anstelle des moral sense ins Zentrum der MPh. 15 In die Tradition der E. der moralischen Gefühle gehört im weiteren Sinne auch die Mitleidsethik A. Schopenhauers. Neben der natürlich wirksamen »Haupt- und Grundtriebfeder« hat der Mensch auch eine moralische Triebfeder: das Mitleid mit dem Wohl und Wehe des anderen. Dies kann und soll ich mir zu meinem Motiv machen nach dem Grundsatz: Schade niemandem; vielmehr hilf allen, so viel du kannst (Neminem laede; imo omnes, quantum potes, juva). Dies ist laut Schopenhauer der oberste Grundsatz der E. Aus ihm lassen sich die Tugenden der Gerechtigkeit und der Menschenliebe ableiten. 16 M. Scheler entwickelt zu Beginn des . Jhs. eine Phänomenologie des ›Wertfühlens‹ als Grundlage einer ›materialen Wertethik‹. 17 Als Ausgangspunkt einer Rekonstruktion der Freiheitsannahme erörtert und analysiert P. F. Strawson moralische Gefühle wie das der Dankbarkeit und des Übelnehmens als ›reaktive Einstellungen‹, die für die Kommunikation zwischen Personen konstitutiv sind. 18 Die Ethik der moralischen Gefühle hat seither als eine Disziplin der MPh an Bedeutung gewonnen. 19 Neben allgemeineren Fragen nach der Natur und

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Funktion von Gefühlen, insbes. von moralischen Gefühlen, werden zunehmend auch bestimmte Gefühle und konkrete Gefühlskulturen philosophisch untersucht. In diesem Zusammenhang prominent ist die These R. Benedicts von der östlichen Schamkultur und westlichen Schuldkultur. 20 Georg Mohr 3.2.2 Utilitarismus Die utilitaristische E., wie sie von Jeremy Bentham und John St. Mill entwickelt worden ist, ist eine universalistische und konsequentialistische/teleologische E.: Als moralisch richtig bewertet sie nicht den Charakter oder die Motive der Handelnden, sondern die Handlungen selber. Als moralisch richtig gelten ihr die Handlungen, die optimale Konsequenzen haben. Eine utilitaristische E. braucht also v. a. eine nähere Bestimmung dessen, was die optimalen Konsequenzen sind. Sie muss erstens sagen, welche Arten von Handlungsfolgen sie aus welchen Gründen für intrinsisch gut, für absolut wertvoll hält. Sie muss zweitens sagen, worin für sie das Maximum des Guten besteht (Nutzen). Der Rest ist Empirie: Kenntnis der Kausalbeziehungen, die bestimmte Arten von Handlungen mit bestimmten Arten von Konsequenzen verknüpfen. Die zahlreichen Varianten des Utilitarismus unterscheiden sich in dem, was sie als ›optimale Konsequenz‹, als ›Maximum an Gutem‹ bestimmen. Als intrinsisch gut werden von den einen die Arten von Handlungsfolgen bestimmt, die einen hedonistischen oder allgemeiner einen positiven mentalen Charakter haben: Alle Arten mentaler Zustände, die, wie die Lust, positive Bewertungen in sich tragen. Andere charakterisieren bestimmte Weltzustände als intrinsisch gut, für die es sekundär ist, ob sie in mentalen Zuständen repräsentiert werden. Jene utilitaristischen Theorien haben eine eher monistische Auffassung des intrinsisch Guten 21, diese deuten es in der Regel eher pluralistisch. 22 Die voluntaristische Auszeichnung von absolut guten Handlungsfolgen als Erfüllung (rationaler) Wünsche oder Präferenzen kann in die erste oder zweite Gruppe gehören. Die Varianten utilitaristischer E. unterscheiden sich nicht nur darin, welche Handlungsfolgen sie als intrinsisch gut bewerten, sondern auch darin, was sie als Maximum des Guten ansehen. Die meisten Varianten

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stimmen aber darin überein, dass nur nicht-egoistisch, nicht-anthropozentrisch, nicht-präsentistisch orientierte Handlungen das Maximum an Gutem realisieren können. Das Maximum an Gutem wird für den Präferenzutilitarismus 23 z. B. nur erreicht, wenn wir erstens nicht nur – egoistisch – die (jeweils) eigenen Präferenzen, sondern – universalistisch – die Präferenzen von allen maximieren; wenn wir zweitens nicht nur die menschlichen Präferenzen, sondern die Präferenzen von allen, die Präferenzen haben, maximieren (also auch die von Tieren); und wenn wir drittens nicht nur die Präferenzen der gegenwärtigen Lebewesen, sondern auch die der zukünftigen maximieren. Im übrigen unterscheiden sich die utilitaristischen Varianten hinsichtlich der Bestimmung des Maximums an Gutem nicht nur in der Frage, ob Menschen und Tiere egalitär moralisch zu berücksichtigen sind oder ob sie, wie die meisten glauben, hierarchisch zugunsten der Menschen zu berücksichtigen sind. Sie unterscheiden sich auch in der Frage, ob das Maximum des Guten (des Glücks) in der größten Gesamtsumme des Guten, im größtmöglichen Durchschnitt des Guten oder im größtmöglichen Produkt aus der Menge der moralisch zu berücksichtigenden Lebewesen und dem durchschnittlich Guten besteht. Sofern nicht eine bestehende Population darauf hin getestet wird, ob in ihr das Maximum an Gutem verwirklicht ist, sondern die Frage gestellt wird, ob aus Gründen der Maximierung des Guten zur Fortpflanzung ermuntert werden soll, spielen Differenzen wie die zwischen dem Nutzensummenutilitarismus und dem Durchschnittsnutzenutilitarismus die entscheidende Rolle. 24 Gegen den (direkten/extremen/Akt-/Handlungs-) Utilitarismus, der gebietet, jede einzelne Handlung an den optimalen Konsequenzen zu orientieren, sind eine Fülle an Einwänden vorgebracht worden, die seine moralische Akzeptabilität und seine Praktikabilität betreffen. Diesen Einwänden zufolge verstößt der U. zum einen gegen unsere moralischen Intuitionen: Seine Konzentration auf die Maximierung des Guten berücksichtige nicht die Verteilung des Guten unter den Individuen, ignoriere also die plausiblen Forderungen distributiver Gerechtigkeit. Zur Konzentration auf die Maximierung des Guten gehöre weiter die problematische Berücksichtigung aller Arten von Lust/Präferenzerfüllung, auch die, die wir normalerweise als böse qualifizieren würden. Der Utilitarismus erlaube es sogar, dass Individuen/

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Unschuldige/individuelle Rechte für den Zweck der Maximierung des Guten geopfert werden. Der Utilitarismus ignoriere neben dem Charakter und den Motiven der Handelnden auch die Genese des Guten, also die Frage, ob die, die von der Maximierung des Guten profitieren, dieses Gute auch verdienen. Er schränke mit der Verpflichtung zur Maximierung des Guten unsere Willens- und Handlungsfreiheit dramatisch ein. Außerdem reduziere er ethische Probleme in zu starkem Maße auf empirische Fragen. Zum anderen verstoße die utilitaristische Theorie auch gegen den selbst gesetzten höchsten Zweck: Indem sie Probleme der Kooperation ignoriert und nur die je individuelle Optimierung gebietet, scheitere sie an der Realisierung des Maximums an Gutem, das ohne kooperative Strategien nicht erreicht werden kann. Die Orientierung jeder einzelnen Handlung an der Maximierung des Glücks zerstöre das wechselseitige Vertrauen, stabile Verhaltenserwartungen, die Möglichkeit zuverlässiger und berechenbarer Kooperation, die Ausbildung eines Charakters und sei auch aus diesen Gründen kontraproduktiv. Andere Einwände beziehen sich auf die Praktikabilität utilitaristischer Nutzenberechnungen: Aus dem letzten Zweck der Maximierung des Guten ließen sich keine konkreten Handlungen ableiten. Es sei auch zu viel verlangt, eine solche Maximierung als Handlungsmotiv zu fordern und uns damit aller/vieler anderer Motive zur Realisierung dessen, was uns wertvoll ist, zu berauben. Weiter ließen sich intrinsische Werte wie Lust, Präferenzerfüllung, Schönheit, Wissen, Freundschaft nicht quantifizieren. Schwieriger noch als die intrapersonelle und interpersonelle Maximierung des Guten sei der für die Maximierung vorausgesetzte (ordinale oder kardinale) Vergleich des Quantums an Gutem zwischen Tieren, Tier und Mensch und zukünftigen Tieren und Menschen. Außerdem reiche die Zeit, vor jeder Handlung solche Nutzenberechnungen durchzuführen, nicht aus – wie überhaupt eine utilitaristische E. unrealistisch sei, weil sie die Individuen überfordere. Das Problem zuverlässiger Prognosen und begrenzter Information ziehe die Schwierigkeit nach sich, mit einiger Sicherheit zu bestimmen, welche Handlung moralisch richtig sei. Viele dieser Einwände hat schon J. St. Mill zu entkräften versucht. 25 Andere haben gegen die Einwände selber Einwände erhoben oder ihnen Rechnung getragen, indem sie neuere, subtilere Varianten des

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Utilitarismus entwickelt haben, die nach Auffassung einiger gar nicht mehr als utilitaristische, sondern nur noch als konsequenzialistische E. bezeichnet werden sollten: einen Gerechtigkeits-Utilitarismus 26, einen Kooperations-Utilitarismus 27, einen negativen Utilitarismus, der nur die Vermeidung oder Beschränkung schlechter Konsequenzen von Handlungen gebietet, und/oder einen zwei-stufigen (indirekten/ eingeschränkten/Regel-) Utilitarismus 28, der gebietet, die einzelnen Handlungen an Regeln zu orientieren und nur die Überprüfung bestehender und Etablierung neuer Regeln an der Nützlichkeit: der Maximierung des Guten. Nach der Auffassung einiger sind die unterschiedlichen Fassungen und Deutungen des Regelutilitarismus mit dem Handlungsutilitarismus äquivalent, sofern die Regeln hinreichend verfeinert werden. 29 Andere haben diese Auffassung zu widerlegen versucht. 30 Für einige von diesen ist der Regelutilitarismus bereits eine Variante deontologischer Theorien oder zumindest unterwegs dazu. 3.2.3 Deontologische Ethik (Pflichtethik/Sollensethik) Der Ausdruck ›Deontologie‹ (›deontology‹) wurde zwar von dem Utilitaristen Jeremy Bentham in die E. eingeführt. Doch als deontologische E. werden heute gerade die E. bezeichnet, die keine utilitaristischen/ konsequenzialistischen/teleologischen E. sind. Eine deontologische E. gilt geradezu als Gegenstück der utilitaristischen E. Für den utilitaristischen Typ der E. ist das moralisch Richtige (die Pflicht) abhängig von der Bestimmung des (außermoralischen) höchsten Wertes, des intrinsisch Guten. Sie muss begründen, wieso Lust, Präferenzerfüllung oder andere Zustände absolute Werte sind. Und als notwendiger, wenn auch nicht hinreichender Schritt in einer solchen Begründung dient ihr in der Regel der anthropologische Hinweis, dass Menschen solche Zustände prima facie positiv bewerten. Im Unterschied dazu ist das moralisch Richtige (griech. to deon = die Pflicht) für eine deontologische E. unabhängig von einem außermoralischen höchsten Ziel und Wert. Sie muss daher begründen, wieso es absolute Pflichten gibt, warum etwas unbedingt moralisch richtig und gesollt ist, warum bestimmte Handlungsweisen (Foltern, Betrügen) absolut verboten, andere wiederum absolut geboten sind. So wie der klassische Utilitarismus zu konsequenzialistischen Varianten weiterentwickelt wurde, die deontologische Einwände berücksichtigen, so ist die strikt

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deontologische E. heute Varianten gewichen, die die Konsequenzen von Handlungen nicht völlig außer acht lassen, sondern auch für sie Verantwortung verlangen. Die prominentesten Beispiele für einen deontologischen Typ von E. sind die Kantische E. und die Diskursethik (Apel, Habermas). Beide E. sind insofern internalistische E., als sie davon ausgehen, dass die Einsicht in das moralisch Richtige einen (entscheidenden) Grund für entsprechendes Handeln liefert und dass Gründe Ursachen für Handlungen sind. Kant hat versucht, an die Stelle der üblichen Pluralität absoluter Pflichten nur eine einzige unbedingte Pflicht zu setzen: die Befolgung des Kategorischen Imperativs 31, aus dem alle anderen Pflichten sollten abgeleitet werden können. Viele gegenwärtige Bemühungen innerhalb der E. konzentrieren sich daher auf eine Interpretation und korrigierende Rekonstruktion der verschiedenen Varianten des Kategorischen Imperativs, auf ihren Zusammenhang und auf Möglichkeiten ihrer Begründung. Die Fassung des Kategorischen Imperativs, die die wenigsten Probleme bereitet, besteht in dem Gebot, andere Personen niemals nur als Mittel, sondern immer auch als Selbstzwecke zu behandeln. Mehr Probleme bereitet Kants erste Formulierung des Kategorischen Imperativs: Handle so, dass die Maxime Deines Willens jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. Diese Variante wird häufig als Generalisierbarkeitspostulat, als Prinzip der Universalisierung und auch als Argument der Verallgemeinerung bezeichnet. 32 Leider werden diese Charakterisierungen nicht in einem einheitlichen Sinne gebraucht und der Kategorische Imperativ entsprechend vielfältig verstanden. Einige deuten den Kategorischen Imperativ als Gebot der Unparteilichkeit: als Forderung, gleiche Fälle gleich zu behandeln. Andere interpretieren ihn, konsequenzialistisch, als allgemeines Verbot, auf eine bestimmte Weise zu handeln, wenn es nicht wünschenswert wäre, wenn alle auf diese Weise handelten. Die erste Forderung ist zu formal. Sie ist eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für die moralische Bewertung von Absichten bzw. Handlungen. Die zweite Forderung hätte die absurde Konsequenz, dass beispielsweise niemand mehr einen ärztlichen Beruf ergreifen dürfte. Die erste Forderung ist ergänzungsbedürftig, die zweite reparaturbedürftig. Weiter wird versucht, die Kantische Begründung des Kategorischen Imperativs, die er in den auf diesen folgenden vier Beispielen in der Grundlegung

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zur Metaphysik der Sitten gibt, ohne die metaphysischen Begriffe von Vernunft und Willen zu reformulieren. Demnach ist die Befolgung des Kategorischen Imperativs ein Gebot der Rationalität, weil seine Nichtbefolgung zu (kognitiven/pragmatischen/voluntativen) Selbstwidersprüchen führt. Handlungen, die gegen ihn verstoßen, führen nur dann zum Ziel, wenn nicht alle auf diese Weise handeln. Es ist aber fraglich, ob eine befriedigende Formulierung des Kategorischen Imperativs, die ihn als sicheren Test zur Beurteilung unserer Absichten bzw. Handlungen operationalisierbar macht, bisher gelungen ist. Dieser Aufgabe stellt sich die Diskursethik, die an die Kantischen Forderungen der Konsistenz und Verallgemeinerbarkeit von Handlungen anknüpft, von der strikt intentionalistischen, monologischen und deontologischen Form des Kategorischen Imperativs aber abweicht. Sie will nicht nur Absichten/Gesinnungen/Maximen, sondern auch Handlungen und ihre Konsequenzen moralisch bewerten und dem Kategorischen Imperativ eine intersubjektive Gestalt verleihen. Die Beurteilung einer strittigen Handlungsweise als moralisch richtig ist in der Diskursethik abhängig davon, dass ihr von allen möglichen Betroffenen zugestimmt wird, die als Teilnehmer eines realen praktischen Diskurses ihre Argumente dazu vortragen können. Eine Handlungsweise (und Norm) verdient dann die allgemeine Zustimmung aller möglicherweise Betroffenen, wenn bestimmte normativ gehaltvolle Argumentationsregeln eingehalten werden, die den Diskurs konstituieren und Repression und Ungleichheit ausschließen sollen. Zur Diskursethik von Habermas gehört ein zweistufiges nicht-deduktives Verfahren der Normbegründung. Die normativ gehaltvollen Argumentationsregeln leitet er, an Überlegungen Apels anlehnend, aus den allgemeinen und notwendigen Präsuppositionen jeglicher Argumentation ab, die wir nicht ohne Selbstwiderspruch bestreiten und nicht ohne formallogische petitio principii begründen können. Die problematischen Grundnormen aber sollen erst im praktischen Diskurs der möglicherweise Betroffenen ihre Begründung durch qualifizierte Zustimmung erlangen. 33 Kritisch gegen die Diskurstheorie ist v. a. eingewandt worden, dass diejenigen, die nicht diskursfähig sind (Tiere, Föten, zukünftige Menschen), in ihr eine ungünstige Position einnehmen.

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3.2.4 Kontraktualismus Für eine kontraktualistische E., wie sie von Hobbes 34 entwickelt worden ist, ist die Etablierung von allgemein verbindlichen Normen, die den zwischenmenschlichen Umgang regeln, das beste Mittel, den in Gewalt und Krieg mündenden Interessenkollisionen des Naturzustandes ein Ende zu bereiten und Selbsterhaltung, Frieden und die optimale Befriedigung der individuellen Interessen für alle zu sichern. Aus der rationalen Einsicht heraus, dass die Befolgung bestimmter allgemeiner Regeln im Interesse jeder Person liegen, wird ein Vertrag geschlossen, der diese Regeln allgemeinverbindlich etabliert (Gesellschaftsvertrag). Umstritten sind kontraktualistische E. aus mehreren Gründen. Erstens ist umstritten, ob E. dieses Typs überhaupt als zur MPh. gehörig angesehen werden können. Wer glaubt, dass es genuin moralische Verpflichtungen gibt, muss die naturalistische Reduktion der M. auf egoistische Rationalität und die Optimierung egoistischer Interessenbefriedigung kritisieren. Zweitens wird bezweifelt, ob eine kontraktualistische E. das ›Schwarzfahrerproblem‹ lösen kann: das Problem der Selbstausnahme von den vertraglich vereinbarten Regeln. Denn rationale Egoisten scheinen keinen Grund zu haben, die vereinbarten Regeln auch in Situationen einzuhalten, in denen es zur Befriedigung ihrer Interessen günstiger ist, sie zu übertreten. Die Vermeidung des Schwarzfahrerproblems erfordert zum einen Maßnahmen, die die Entdeckung von Normverstößen wahrscheinlich machen; zum anderen die Durchsetzbarkeit von Sanktionen. Hobbes hat aus dem Grund eine staatliche Gewalt postuliert, die Vertragsbrüche mit so schweren Sanktionen ahndet, dass der rationale Egoist es aus eigenem Interesse vorziehen muss, die Verträge zu halten, wenn er befürchten muss, entdeckt zu werden. Verträgen sind im Kontext ethischer Theorien allerdings ganz unterschiedliche Funktionen zugewiesen worden. Schon bei Locke hat der Vertrag, der den bürgerlichen Staat etabliert, nicht mehr die Funktion, Normen allererst zu schaffen. Seiner naturrechtlichen Konzeption zufolge (Naturrecht) sind Menschen schon vor jeder Vertragsschließung mit Rechten wie die auf Leben und Eigentum ausgestattet. Aufgabe des vertraglich konstituierten Staates ist nur noch die angemessene Interpretation und Sicherung dieser natürlichen Rechte. 35 Neben der Funktion der Etablierung, Interpretation, Sicherung und Durchsetzung von Normen sind Verträge auch zur Begründung von Normen,

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als Test ihrer moralischen Qualität, zur Entdeckung eines Gerechtigkeitskriteriums in Anspruch genommen 36 und, wie von Rousseau 37, kritisiert worden. 3.2.5 Feministische Ethik Feministische E. haben die klassischen E.typen aus der Perspektive der Geschlechterdifferenz (Philosophie und Geschlechter) in ein neues Licht gerückt. Ihnen geht es insbes. um das Problem der Differenz sog. weiblicher und männlicher Werte und die Frage, inwieweit die gängen E.konzeptionen die moralischen Erfahrungen und die Diskriminierung von Frauen berücksichtigen. Ein Ausgangspunkt der Reflexion feministischer E. war die Beobachtung, dass neben abstrakten ›männlichen‹ Werten wie Gerechtigkeit, Unparteilichkeit, Unpersönlichkeit, Unabhängigkeit, Autonomie, reziprokem Respekt (Achtung) und abstraktem Sich-in-andere-Hineinversetzen auch ›weibliche‹ Werte wie Fürsorge, Anteilnahme, Empathie, Mitgefühl, persönliche Bindungen und Beziehungen, Wohlwollen, Vertrauen, Altruismus und Kontextsensitivität in menschlichen Leben eine unverzichtbare Rolle spielen. Die eindeutige empirische Zuordnung solcher Werte zu jeweils einem Geschlecht, wie sie zunächst von Gilligan 38 vorgenommen wurde, ist später u. a. als zu essenzialistisch kritisiert und eher symbolisch 39 als ›andere Stimme‹ interpretiert worden. Versuche zur Ersetzung von formalen Verfahrens- und universellen Prinzipien-E. durch Fürsorgeethiken (Care-Ethics) haben Versuchen einer Ergänzung und Erweiterung solcher bloßer Gerechtigkeits-E. Platz gemacht. Die Suche nach einer solchen Ergänzung ist u. a. begleitet von kritischen Rückgriffen auf die Aristotelische E. des guten Lebens mit ihrer Tugend der Freundschaft, auf die Humesche E. des Wohlwollens und Mitgefühls, auf übersehene partikularistische und kontextsensitive Aspekte der Kantischen E. und auf kommunitaristische Positionen (Kommunitarismus) mit ihrer Kritik am abstrakten, von allen Zielen und Konzeptionen des guten Lebens losgelösten Subjektbegriff universalistischer M.theorien. 40 Gegen eine Reduktion der E. auf eine reine Fürsorge-E. sind mehrere Argumente geltend gemacht worden. Es ist eingewandt worden, dass Frauen in abhängigen Positionen und ungerechten Kontexten nur durch Rekurs auf Gerechtigkeitsprinzipien, Prinzipien des wech-

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selseitigen Respekts, der Nicht-Einmischung und Nicht-Verletzung vor (Selbst-)Ausbeutung geschützt werden können. 41 Als fraglich angesehen wird weiter, ob das Paradigma einer Fürsorge-E., die asymmetrische Mutter-Kind-Beziehung 42, als angemessenes Paradigma einer allgemeinen E. betrachtet werden kann. Es wird eingewandt, dass Diskriminierung von Frauen und Gewalt gegen sie im Rahmen einer bloßen Fürsorge-E. nicht angemessen kritisiert werden kann und dass die Kritik des moralischen Standpunktes der unparteilichen E. weitgehend auf ein Missverständnis des Sinns von Unparteilichkeit zurückgeführt werden kann. 43 3.3 Angewandte Ethik Die Angewandte/Praktische E. fragt nicht primär nach allgemeinen moralischen Prinzipien, Verhaltensregeln und Haltungen. Sie fragt konkreter nach dem richtigen Verhalten gegenüber der Natur und dem richtigen Verhalten innerhalb der Kultur: der Institutionen der Politik, des Rechts, der Wirtschaft, der Medizin, der Medien usw. Die angewandte E. ist nicht eine völlig neue Erfindung innerhalb der E. Denn schon immer sind ethische Überlegungen mit Blick auf konkrete ethische Phänomene und Probleme angestellt worden. Die angewandte E. ist auch nicht die bloße Applikation allgemeiner Regeln auf konkrete Einzelfälle. Eher ist das Verhältnis eines wechselseitiger Bereicherung und Einsicht. 44 Die Disziplinen der Angewandten E. sind begrifflich nicht trennscharf voneinander geschieden. So gibt es, zum Teil auch in Abhängigkeit von den jeweils bezogenen Positionen, Überlappungen z. B. zwischen der Naturethik, der Ökologischen E., der Umweltethik, der Bioethik, der Medizinethik. .. Der gegenwärtige Boom der Naturethik ist u. a. eine Antwort auf die ökologischen Probleme der Gegenwart. Die Naturethik (Umweltethik/Ökologische E.) gibt unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dem richtigen Umgang des Menschen mit der (außermenschlichen) Natur: mit Tieren, Pflanzen, Steinen, Landschaften, Wasserfällen, Ökosystemen, biologischen Arten usw. Sie sagt, was an der Natur und aus welchen Gründen schützenswert ist. Die üblichen Antworten auf die naturethische Frage lassen sich eingliedern in die sog. Anthropozentrische und in die Physiozentrische E.

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Für die Anthropozentrische E. haben nur Menschen einen moralischen Eigenwert. Die Natur dagegen hat nur einen instrumentellen Wert für die Befriedigung menschlicher Interessen. Pathozentrische, Biozentrische und Holistische E. sind dagegen Physiozentrische E. Sie unterscheiden sich dadurch voneinander, dass sie unterschiedlichen Teilen der Natur einen intrinsischen moralischen Wert zusprechen. 45 Die Pathozentrische (Sentientistische) E. ist eine E. der Leidensvermeidung oder Leidensbegrenzung. Ihr zufolge sind alle empfindungsfähigen Naturwesen, die ihr Leben in Form von Lust und Schmerz bewerten, moralisch zu berücksichtigen. Die klassische utilitaristische E. und die Mitleidsethik Schopenhauers sind Beispiele für pathozentrische E. Insofern das Kriterium für moralische Rücksichtnahme nicht in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten biologischen Gattung liegt, ist die Pathozentrische E. eine sog. nicht-speziesistische E. Der Biozentrischen E. zufolge hat alles Lebendige einen moralischen Wert und ist daher moralisch zu berücksichtigen. Biozentriker fordern selten, wie tendenziell Albert Schweitzer, eine egalitäre ›Ehrfurcht vor dem Leben‹. Sie fordern zumeist, dass Lebewesen hierarchisch (z. B. nach dem Kriterium ihrer biologischen Organisationshöhe) moralisch zu berücksichtigen sind. Für Holistische E. hat die Natur als Ganze – belebt und unbelebt – einen moralischen Wert. In der Regel wird aber die moralische Rücksicht an bestimmte erhaltenswerte Eigenschaften der Natur gebunden: an die funktionale Organisation, an die Komplexität der Organisation, an Diversität, Einzigartigkeit, Alter, Schönheit usw. Gegen die schroffe Konstrastierung der physiozentrischen Konzeption eines absoluten, intrinsischen moralischen Eigenwerts der Natur und der anthropozentrischen Konzeption eines letztlich nur instrumentellen Wertes der Natur sind viele Alternativen vorgeschlagen worden. So lassen sich die physiozentrischen E. auch ohne die Unterstellung der Existenz von Menschen unabhängiger Werte so lesen, dass sie lediglich den Ausschnitt der Welt angeben, der moralisch berücksichtigt werden soll. Und gegen die instrumentelle Reduktion der Natur auf ein Mittel der Befriedigung von Bedürfnissen und menschlichen Wohlbefindens in den anthropozentrischen E. sind Argumente angeführt worden, denen zufolge die Natur auch einen eudämonistische Wert hat und

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zum guten Leben beiträgt: einen ästhetischen Eigenwert z. B. oder einen Heimatwert. 46 .. Die Bioethik sucht nach dem richtigen menschlichen Umgang mit dem Lebendigen. Die Tierethik, Medizinethik, Genethik gehören zur Bioethik. Diese benennt lediglich das Gebiet, das unter moralischer Perspektive zu betrachten ist. Sie präjudiziert nicht – wie häufig unterstellt – auch bestimmte, nämlich utilitaristische Antworten. 47 Die Tierethik fragt nach dem angemessenen Verhalten des Menschen gegenüber Tieren. Sie gibt Antworten auf Fragen wie: Unter welchen Bedingungen ist es moralisch gerechtfertigt, Tiere zu töten und ihnen Schmerzen zuzufügen? Haben wir nur negative Unterlassungs- oder auch positive Hilfspflichten gegenüber Tieren? Wie kann oder sollte tierisches Leid gegen moralisches Leid aufgewogen worden? Sollte Tierschutz im Grundgesetz verankert sein? Mit Blick auf solche Fragestellungen und aus der Perspektive 48 utilitaristischer, deontologischer und Mitleids-E. werden menschliche Praktiken wie das Töten von Tieren, Massentierhaltung, Tierversuche, Tiertransporte, Tiergärten, Amputationen, Kastrationen usw. moralisch bewertet. Die Medizinethik sucht nach einer angemessenen Organisation des Gesundheitswesens. Sie bestimmt weiter das richtige Verhalten von Ärztinnen und Pflegern gegenüber Patienten. Vieldiskutiert ist dabei die Frage, ob überhaupt, wieviel und in welchem Sinne Paternalismus gegenüber Patienten erlaubt ist und somit deren Autonomie eingeschränkt werden darf. Neue medizinethische Fragen sind entstanden im Zusammenhang neuer Technologien wie z. B. der Fortschritte im Rahmen der Transplantations- und Intensivmedizin. Hier stellen sich u. a. das Problem der moralischen Berechtigung aktiver und passiver Euthanasie, moralische Probleme mit der Reproduktionsmedizin (In-Vitro-Fertilisation, Embryonenschutz, Klonen), das Problem des Umgangs mit irreversibel Komatösen (›Hirntoten‹), aber auch das Problem der Verteilungsgerechtigkeit bei knappen materiellen und finanziellen Ressourcen. 49 .. Wirtschaftsethiken gehen nicht mehr von der optimistischen Einschätzung Adam Smiths aus, dass der freie Markt selber für moralisch gerechte Verhältnisse sorgt. Sie suchen daher nach Ansätzen für

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ethisches wirtschaftliches Handeln auf der Ebene der Beschäftigten eines Unternehmens, auf der Ebene der Unternehmen als korporativer Entscheidungsträger und auf der Ebene des Staates, auf der die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns festgelegt werden. Umstritten ist dabei, ob bereits die staatliche Festsetzung von Rahmenbedingungen allein moralischen Ansprüchen genügt oder ob weitergehende moralische Pflichten in konkreten Kontexten wirtschaftlichen Handelns bestehen. Die Forderungen gehen hier bis zur moralischen Bewertung der im Prozess des Wirtschaftens geschaffenen Güter, der Konsequenzen ihrer Vermarktung und der Marketingstrategien. Die Unternehmensethik, die Marketingethik, die Managementethik und die Führungsethik sind Teilgebiete der Wirtschaftsethik. 50 3.4 Metaethik Die E. ist primär eine normative Disziplin. Sie sagt, was wir tun sollten. Im Unterschied zu dieser normativen E. ist die deskriptive E. eine lediglich konstatierende Disziplin. Sie beschreibt, was von unterschiedlichen Kulturen zu unterschiedlichen Zeiten für richtig gehalten wurde. Die Meta-E. dagegen untersucht die Grundlagen der normativen E. Zu ihr gehören ontologische, semantische und epistemologische Fragen. Sie fragt nach der Bedeutung der grundlegenden moralischen Begriffe wie geboten, verboten, erlaubt, gut, richtig, sollte, muss. Sie fragt danach, ob und wie wir erkennen können, was moralisch richtig und geboten ist. Und sie fragt nach dem ontologischen Status von Normen und Werten. Zu den grundlegenden Unterscheidungen der Meta-E. gehört die Unterscheidung zwischen Kognitivismus und Non-Kognitivismus. Kognitivistische E. unterstellen, dass wir prinzipiell berechtigt sind, mit moralischen Aussagen Geltungsansprüche zu erheben. Sie glauben, dass wir in moralischen Angelegenheiten zu Erkenntnissen gelangen können. Zu den umstrittenen Fragen gehört, ob und wie sich eine solche spezifisch moralische Erkenntnis von anderen Arten von Erkenntnis (empirischen, ästhetischen) unterscheidet, ob es etwas in der Welt gibt, was solche Sätze wahr macht (Moralischer Realismus/Objektivismus) 51, oder ob moralische Erkenntnis bloß auf bestimmten Arten qualifizierter Übereinkunft bzw. Übereinstimmung beruht. Die Differenzen innerhalb kognitivistischer E. werden besonders deutlich an der

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Art und Weise, wie das Problem der Begründung moralischer Aussagen gelöst wird. Die meisten traditionellen E. sind kognitivistische E. 52 Nicht-kognitivistische E. 53, wie sie von Stevenson, Ayer u. a. entwickelt worden sind, bestreiten, dass in moralischen Aussagen Erkenntnis zum Ausdruck kommt. Ihnen zufolge haben moralische Aussagen zwar die grammatische Erscheinung von Behauptungssätzen, gehören semantisch aber zu anderen Typen von Aussagen: zu Aussagen, die Befehle, Aufforderungen, Empfehlungen, Appelle zum Ausdruck bringen (evokative, präskriptive, imperative Deutung); zu bewertenden Einstellungen der jeweiligen Sprecher wie Billigungen, Wünschen (emotive, expressive Deutung) oder zu einer Kombination aus beiden. »Diese Handlung zu vollziehen ist moralisch richtig« bedeutet demnach: »Ich billige diese Handlung und fordere Dich auf, sie zu tun.« Nicht-kognitivistische Theorien sind reduktionistische bzw. subjektivistische Theorien, die leugnen, dass es einen eigenständigen Bereich der M. gibt. Sie bestreiten erstens, dass moralische Sätze Behauptungssätze sind, und zweitens, dass sich moralische Sätze auf nicht-normative Sätze naturalistisch reduzieren lassen, und behaupten drittens, dass in moralischen Sätzen nur die subjektiven Einstellungen der Sprecher zum Ausdruck kommen (Kognitivismus/Nonkognitivismus). Andere reduktionistische Theorien leugnen ebenfalls, dass es einen genuinen moralischen Bereich gibt. Sie reduzieren aber moralische Aussagen auf psychologische, theologische, biologische, soziologische Aussagen, also auf Behauptungssätze, die wahr oder falsch sein können. Hier handelt es sich um kognitivistische naturalistische Theorien der M. 54 Barbara Merker Aristoteles, , Nikomachische Ethik (NE), Hamburg. – Baier, A., , A Progress of Sentiments. Reflections on Hume’s Treatise, Cambridge. – Bayertz, K. (Hg.), , Praktische Philosophie. Grundorientierungen angewandter Ethik, Reinbek. – Bayertz, K., a, Praktische Philosophie als angewandte Ethik. In: Bayertz . – Beauchamp, T. L./Childress, J. F., , Principles of Biomedical Ethics, NY/Oxford. – Benedict, R.,  (), Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur, Fft./M. – Bentham, J., , Introduction to the Principles of Morals and Legislation, NY. – Biervert, B./Held, M. (Hg.), , Ökonomische Theorie und Ethik, Fft./M. – Birnbacher, D., , Mensch und Natur. Grundzüge d. ökologischen Ethik. In: Bayertz . – Brandt, R. B., , A Theory of the Good and the Right, Oxford. – Darwall, St./Gibbard, A./Railton,

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nach einer modernen Wirtschaftsethik, Stuttgart. – Williams, B., , Personen, Charakter und Moralität. In: Ders., Moralischer Zufall, Königstein. – Wolf, U., , Das Tier in der Moral, Fft./M. 1 Aristoteles,

NE a. – 2 Aristoteles, NE II, , a ff. – 3 Hossenfelder ; Forschner . – 4 Hossenfelder , . – 5 Vgl. Guckes . – 6 Zit. n. Hossenfelder , . – 7 Vgl. Tugendhat ,  ff. – 8 Vgl. Lafollette ; Williams . – 9 Vgl. Margalit . – 10 Vgl. Rawls ,  ff.; Egonsson ; Griffin . – 11 Vgl. Tugendhat ,  ff.; Nussbaum ,  ff. – 12 Shaftesbury . – 13 Hutcheson . Zur Moral-Sense-Philosophie vgl. Schrader  und Rühl . – 14 Hume ; vgl. dazu Mohr . – 15 Smith . – 16 Schopenhauer ,  (§ ),  (§ ). – 17 Scheler . – 18 Strawson . – 19 Siehe z. B. Döring/Meyer . – 20 Benedict . – 21 Vgl. Bentham . – 22 Vgl. Moore ; Griffin . – 23 Vgl. Singer , v. a. Kap. . – 24 Vgl. Sidgwick ,  ff. – 25 Vgl. Mill , Kap. . – 26 Vgl. Trapp . – 27 Vgl. Sen , –. – 28 Vgl. Hare . – 29 Vgl. Lyons ; Brandt . – 30 Vgl. Gibbard . – 31 Vgl. Kant , AA IV,  ff. – 32 Vgl. Singer ; Kutschera ,  ff.; Hoerster . – 33 Habermas ,  ff. – 34 Hobbes , . – 35 Locke . – 36 Rawls ; vgl. Koller ; Kersting . – 37 Rousseau ,  ff. – 38 Gilligan ; vgl. auch Pieper , –. – 39 Friedman ; vgl. Nunner-Winkler . – 40 Vgl. Friedman a; Baier ; O’Neill . – 41 Vgl. Sherwin ; Stocker . – 42 Vgl. Nodding . – 43 Vgl. Jagger . – 44 Vgl. Bayertz a,  ff. – 45 Vgl. Frankena . – 46 Vgl. Birnbacher , ; Krebs ,  ff. – 47 Vgl. Siep , – . – 48 Vgl. Singer ; Höffe ; Wolf . – 49 Vgl. Beauchamp/Childress ; Dworkin ; Hegselmann/Merkel ; Hoff/In der Schmitten ; Jonas . – 50 Vgl. Biervert ; Etzioni ; Homann ; Koslowski ; Lenk/Maring ; Steinmann/Löhr ; Ulrich . – 51 Vgl. Sayre-McCord . – 52 Vgl. v. Kutschera . – 53 Vgl. Meggle . – 54 Vgl. Mackie ,  ff.

Existenz/ Existenzphilosophie / Existentialismus

1 Zu den Begriffen. Das lat. existenzia geht auf das griech. hyparsis zurück und wird im Dt. sowohl mit ›Existenz‹ (E.) als auch mit ›Dasein‹ übersetzt. Die Begriffe E./Dasein bezeichnen die Tatsache, dass etwas ist, im Unterschied zur Wesensbestimmung (griech. ousia), was es ist. Sie werden auch verwendet, um das wirkliche Vorhandensein einer Sache im Gegensatz zur bloßen Möglichkeit zu kennzeichnen. Erst in der Existenzphilosophie (EPh.) sind die Termini ›Dasein‹ und ›E.‹ reserviert für die Kennzeichnung der Besonderheit des Menschen gegenüber allem anderen Seienden, wobei ›Dasein‹ zumeist für den Menschen allgemein steht, ›E.‹ dieses Dasein näher qualifiziert. »Das ›Wesen‹ des Daseins liegt in seiner Existenz.« 1 Diese terminologische Abgrenzung des Menschen findet sich als Prinzip einer Philosophie erstmals bei Kierkegaard und wird dann v. a. durch Heidegger, Jaspers und Sartre weitergeführt. Die Aufnahme des E.motivs in anderen Bereichen wie der Literatur (Rilke, Kafka, Sartre, Camus), Theologie (Bultmann, Marcel) oder Pädagogik (Bollnow), aber auch die französische Variante der EPh. (Sartre, Camus), werden meist als Existentialismus bezeichnet. In der modernen Logik, hier speziell der Prädikatenlogik, fungiert der E.begriff als Existenzoperator bzw. Existenzquantor (∃), auch als Einsquantor oder Manchquantor bezeichnet. Er hat die Bedeutung von ›mindestens ein‹ oder ›einige‹ in der E.aussage (Existentialurteil), dass es mindestens einen Gegenstand gibt, dem ein bestimmtes Prädikat zugeordnet ist. Dem vom Existenzquantor zu unterscheidenden Existenzprädikat (E), das v. a. große Bedeutung für den ontologischen Gottesbeweis hatte, wird seit Frege und Russell keine Relevanz für die Logik mehr zugestanden, da E. kein Prädikat sei. Schon Kant hatte in der Auseinandersetzung mit dem ontologischen Gottesbeweis darauf hingewiesen, dass das ›ist‹ in dem Satz »Gott ist allmächtig« nicht ein zusätzliches Prädikat des Existierens gegenüber allen anderen möglichen Prädikaten des Gottesbegriffs bedeute, sondern lediglich

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einen (grammatikalischen) Bezug zwischen dem Subjekt (Gott) und seinen Prädikaten herstelle. 2 2 Zur philosophischen Bedeutung Thema der EPh. ist der Mensch in seiner jeweiligen Spezifik und Selbstbezüglichkeit. Sie intendiert nicht die Erarbeitung eines allgemeinen Subjektbegriffs wie im Deutschen Idealismus oder das Aufweisen charakteristischer Merkmale wie in der Philosophischen Anthropologie, sondern denkt den Menschen radikal individualisiert. Als Absolutum gilt nicht mehr das allgemeine Subjekt in seiner Bestimmung als Vernunftwesen, sondern »ich bin selbst das Absolute«. 3 Die EPh. beschäftigt sich mit der Befindlichkeit und Innerlichkeit, der Authentizität des als ›Einzelner‹, ›Ich‹ oder ›Selbst‹ konkretisierten Subjekts, das als die letzte und absolute Instanz des eigenen Lebens angesehen wird. Die EPh. thematisiert zwar die lebensweltliche Situierung des Einzelnen, will aber den Menschen nicht empirisch aus der Welt oder aus der Geschichte erklären. Vielmehr geht es darum, diejenigen Aspekte herauszustellen, die das originäre Selbstsein bestimmen. Hierzu zählen v. a. die unbedingte Freiheit und Selbstbestimmung, aber nicht im Sinne von Willkür, sondern als Übernahme der Verantwortung für sich selbst, für das eigene Leben und Handeln. Freiheit wird hier verstanden als prinzipielle Unbestimmtheit und Offenheit des menschlichen Wesens, die gefasst ist im Begriff der ›Möglichkeit‹. Die gesamte EPh. zentriert sich um das Problem der Freisetzung des Menschen zur Selbstbestimmung, zum Selbstentwurf auf die je eigenen Möglichkeiten hin. E. ist nicht eine Faktizität, ein Gegebensein, sondern sie ist aufgegeben, sie ist das beständige Überschreiten (Transzendieren) des Erreichten und Bestehenden. E. ist das allen Bestimmungen voraus liegende, irreduzible Faktum, dass ich bin, das Urerlebnis des Selbstseinmüssens und -könnens. Dieses Faktum wird nicht in der Erkenntnis bewusst, sondern in der erschließenden Funktion der Befindlichkeit, der Stimmungen und Gefühle. Angst, Sorge, Verzweiflung, Absurdität, Endlichkeit und Tod werden zu wichtigen existenzphilosophischen und existenzialistischen Themen. Das heißt aber auch, dass Wahrheit vom Objektivitätsanspruch losgelöst und an die Subjektivität der Befindlichkeiten und Stimmungen des Einzelnen in seiner jeweiligen existenziellen Situation gebunden wird. Die EPh.

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betont aber, dass das Aufmerken auf die eigene Existenzialität je nur in bestimmten Situationen oder Augenblicken geschieht, wohingegen das Alltagsleben zumeist das Dasein bestimmt. Der existenzphilosophische Ansatz ist im letzten Drittel des . Jh. kaum mehr explizit weitergeführt worden, aber unterschwellig in vielen Variationen bis heute präsent. Ein wesentlicher Grund für das nachlassende Interesse an dieser philosophischen Richtung liegt wohl darin, dass nun viel stärker gesellschaftliche, politische, ethische und sprachanalytische Fragen in den Vordergrund des philosophischen Diskurses getreten sind. Der existenzphilosophisch gefasste Einzelne sollte sein eigenes Ethos gerade nicht in der Gesellschaft, sondern allein in sich selbst finden. Diese reine Ichbezogenheit ist jedoch ambivalent: Sie ermöglicht einerseits einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichpolitischen Gegebenheiten, aber sie steht andererseits der Möglichkeit im Wege, ein sozial und politisch reflektiertes Verständnis zu gewinnen, aus dem der eigene Platz in der Welt zu bestimmen wäre. 3 Zur Geschichte der Existenzphilosophie 3.1 Søren Kierkegaard (–) Der Denkeinsatz der EPh. mit Kierkegaard ist schon prägnant an den Titeln seiner Schriften ablesbar: Entweder-Oder (), Die Wiederholung (), Furcht und Zittern (), Der Begriff Angst (), Stadien auf des Lebens Weg (), Die Krankheit zum Tode (), Der Augenblick (). Sie lassen den Problemumschwung vom Deutschen Idealismus zu einer individualisierten, die Endlichkeit des Lebens reflektierenden, die Ambivalenzen des menschlichen Daseins betonenden Philosophie anklingen. Kierkegaard stellt drei verschiedene Lebensmuster oder auch Stadien des Existierens gegenüber: das Ästhetische, das Ethische und das Religiöse. Der Ästhetiker lebt im Augenblick und ganz nach seinen unmittelbaren sinnlich-emotionalen Bedürfnissen. Sein Leben ist bestimmt durch die Möglichkeiten, die ihm die Welt vorgibt. Er ist schnell gelangweilt, hasst die Wiederholung und sucht deshalb den permanenten Wechsel der Eindrücke. Er kennt keine Konstanz und keine verbindlichen Prinzipien. Demgegenüber gestaltet der Ethiker sein Leben nach einem selbst gewählten Prinzip und Ideal. Er übernimmt die Bürde der Vergangenheit und die Verantwortung für die Zukunft. Das Ethische resultiert aus der

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bewussten Wahl, aus der selbst vollzogenen Entscheidung für etwas. In der Wahl ist der Einzelne er selbst, vollkommen auf sich gestellt und entscheidet, wer er sein will: »das Ich wählt sich selbst«. 4 Das ethische Individuum ist sich selbst Aufgabe und für das, was es ist und wozu es sich macht, selbst verantwortlich. Dabei muss der Einzelne in die Welt eingreifen und in ihr handeln, aber gerade damit erschafft er sich selbst. Die eigene Lebensentscheidung und Wertsetzung des Ethikers, die ihm als allgemein und verbindlich gilt, wird jedoch noch einmal in Frage gestellt durch das Religiöse. Zum religiösen Glauben gelangt man nicht durch Überlegung oder bewussten Entscheid, sondern durch eine innere Bewegung, einen ›Sprung‹. Die Metapher vom Sprung signalisiert den rational nicht erfassbaren Hiatus zwischen Einzelnem und Allgemeinem, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, den Kierkegaard auch als ›Paradox‹ oder als das ›Absurde‹ bezeichnet. Sie markiert den ungeheuren Anspruch, sich als Einzelner gegen alles Bestehende zu behaupten, die eigene Innerlichkeit absolut zu setzen. Der Glaube ist das Paradox, »dass der Einzelne als der Einzelne größer ist als das Allgemeine, dass er diesem berechtigt gegenübersteht, nicht subordiniert, sondern übergeordnet«. 5 Der Entwicklungsgang der wahrhaften – für Kierkegaard: religiösen – Subjektivität ist ein Weg, der »erst vor dem Einzelnen entsteht und sich hinter ihm wieder schließt«. 6 Der Sprung ist nur allein zu vollziehen, »weil der Sprung die Kategorie der Entscheidung ist«. 7 Wirkliche Religiosität erreicht nur der Einzelne. Glaube ist ein individuelles, nicht kommunizierbares, nicht-rationales Verhältnis zum Absoluten. Das Paradox des Glaubens liegt jenseits der Vernunft. Das im Glauben am deutlichsten greifbare Phänomen des Existierens kann durch das systematische Denken gerade nicht erfasst werden, nämlich Konkretheit, Zeitlichkeit, Werden, Not. Es geht im Existieren nicht um objektive Wahrheit, sondern um die Wahrheit für mich. »Alles wesentliche Erkennen betrifft die Existenz«. 8 Jeder Versuch, das Wahre des Selbst wissenschaftlich zu fassen, führt in Widersprüche und Tautologien. Das Selbst entzieht sich dem Objektivitätsanspruch des wissenschaftlichen Denkens. Es ist nur subjektiv, individuell zu ergreifen, oder gar nicht. »Und dies ist das Wunderbare des Lebens, dass jeder Mensch, der auf sich selbst achtgibt, weiß, was keine Wissenschaft weiß, weil er weiß, wer er selbst ist«. 9

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Indem der Mensch zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Geist und Körper, Freiheit und Notwendigkeit situiert ist, erfährt er das Paradoxe dieses Zwischen, das immer eine Unbestimmtheit, Unsicherheit bedeutet, die mit Angst und Verzweiflung einhergeht. Angst resultiert aus Freiheit, aus der Unbestimmtheit des Lebens, aus dem ständigen Verändern. Nichts Erreichtes ist ein für allemal errungen, sondern immer schon von Verlust bedroht. Angst ist »die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit«. 10 Aufgegeben ist deshalb dem Einzelnen ein unaufhörliches Streben nach sich selbst angesichts eines unerreichbaren Absoluten. Bewältigungsstrategien dieser konstitutiven existenziellen Ambivalenz sind für Kierkegaard z. B. Ironie und Humor. 3.2 Karl Jaspers (–) Jaspers setzt seine philosophische Grundfrage an bei der Suche nach einem die Subjekt-Objekt-Trennung überwindenden ›Umgreifenden‹. Es ist zu denken als das Sein überhaupt, als der Grund von allem. Das Umgreifende liegt über unseren Horizont hinaus und ist nur da in Horizonten. Sobald man das Umgreifende in seinem Gehalt zu verstehen trachtet, zerfällt es in Weisen des Umgreifenden. »Das Umgreifende ist also das, was sich immer nur ankündigt« 11, es ist ein Grenzbegriff, an den nur eine Annäherung möglich ist. Es kann selbst nicht Gegenstand der Erkenntnis werden, obwohl es in allem zur Erscheinung kommt. Das Umgreifende wird von Jaspers untergliedert in (i) das Umgreifende, das das Sein selbst ist: Welt und Transzendenz; (ii) das Umgreifende, das wir sind oder sein können: Dasein, Bewusstsein, Geist und E.; (iii) Vernunft als das Verbindende aller Weisen des Umgreifenden. Die philosophische Grundoperation besteht im Transzendieren, im Überschreiten des Seienden hin zum Umgreifenden. Das Bezogensein des Menschen auf die Transzendenz als Grund seines Daseins und seiner Freiheit charakterisiert die Dimension des Existierens. E. heißt eigentliches Selbstsein, Innerlichkeit, Selbstbezug, »unaufhebbar in ein Anderes, ist das selbst für sich Haftende, sich nicht Ableitende, Unvertretbare«. 12 E. geht über die Weisen des Daseins, Bewusstseins und Geistes als dem Faktischen des Menschen hinaus und betrifft »das Innerste des Inneren. [. . . ] Dieses Innerste ist der dunkle Grund des Selbstseins, die Verborgenheit, aus der ich mir frei entgegenkomme,

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das, als was ich mich selbst hervorbringe, indem ich mir geschenkt werde.« 13 E. ist dabei nichts Feststehendes, Gegebenes, sondern die beständige Herausforderung der Selbstwahl, des eigentlichen Seinkönnens, das zurückbezogen ist auf die Transzendenz als Grund der eigenen E., der von Jaspers akzentuiert wird als Gott. »Gott ist das Sein, an das restlos mich hinzugeben die eigentliche Weise der Existenz ist.« 14 Die Verbindung von Freiheit und Gott ist eine doppelte. »Gott ist für mich in dem Maße, als ich in Freiheit wirklich ich selbst werde.« 15 Und der Bezug zu Gott verweist darauf, dass Freiheit nicht aus eigenem Verdienst zu erwerben, nicht verfügbar ist, sondern sich einem Transzendenten verdankt. Verantwortung des Menschen ist es, dieses Geschenk anzunehmen in Würdigung für seine Freiheit, oder es zu missachten in Hingebung an äußerliche Mächte. Die Vorstellung von Freiheit ist gekoppelt an die immerwährende Veränderung, das selbsttätige Werden des Menschen. »Freiheit wird erworben durch inneres Handeln und durch die Tätigkeit in der Welt«. 16 Die einschneidendste Erfahrung von E. macht der Mensch nach Jaspers in ›Grenzsituationen‹ (z. B. Tod, Schuld, Zufall). Hier wird der Mensch auf sein Innerstes zurückgeworfen. Es sind Situationen, über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können, die aber den Einzelnen ins Tiefste treffen. Sie lassen die Kluft zwischen Wollen und Erreichbarem, zwischen Endlichkeit und Transzendenz aufscheinen; sie konfrontieren mit dem Scheitern des Menschen, das v. a. ein Scheitern des Denkens an der Transzendenz ist. »Wie er sein Scheitern erfährt, das begründet, wozu der Mensch wird.« 17 Von den Grenzsituationen aus sind zwei Wege möglich, entweder das Aufgeben, die Enttäuschung, die Ohnmacht, oder das tätige Standhalten, das Annehmen der Herausforderung und die Besinnung auf sich selbst. Jaspers begnügt sich aber nicht mit der Herausstellung der existenziellen Selbsterfahrung, sondern bindet diese zurück an die ›Kommunikation‹. »Was sich nicht in Kommunikation verwirklicht, ist noch nicht, was nicht zuletzt in ihr gründet, ist ohne genügenden Grund. Die Wahrheit beginnt zu zweien.« 18 Seine Philosophie »wurzelt in der Betroffenheit vom Ausbleiben der Kommunikation. [. . . ] Erst in der Kommunikation wird der Zweck der Philosophie erreicht«. 19 Philosophie ist für Jaspers nur möglich in ihrem Bezug auf die Welt, aber sie strebt über das Weltliche hinaus ins Unendliche. Sie setzt sich so in

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Gegensatz zur Wissenschaft, zum Alltagsdenken, zu allen Formen von Wahn und Vorurteil. Sie ist ein unablässiger Kampf für die Wahrheit, für die Würde des Menschen, für eine humane Welt, wofür Jaspers auch ›Liebe‹ geltend macht, eine verbindende Instanz, die sich der Rationalität entzieht, aber verbunden ist mit dem Vertrauen in den transzendenten Grund der Dinge. 3.3 Martin Heidegger (–) Als Schüler Husserls mit der Phänomenologie bestens vertraut, geht es Heidegger um die Frage, wie überhaupt für den Menschen Phänomene, das heißt die Gegebenheiten der Welt, zugänglich sind. Wie ist für uns etwas? Die Frage nach dem Sein ist v. a. anderen die Frage danach, welchen Sinn der Terminus ›Sein‹ für uns hat. Diese Frage ist nach Heidegger die »Fundamentalfrage« überhaupt und wird behandelt durch die »Fundamentalontologie«. In Sein und Zeit () greift Heidegger die Frage nach dem Sinn von Sein so auf, dass er hier untersucht, welche Fähigkeiten und Strukturen der Mensch mitbringt, um Sinn zu konstituieren. Diese Strukturen nennt er ›Existenzialien‹, sie zeichnen den Menschen in seiner E. aus. Ihre philosophische Untersuchung, die in Sein und Zeit vorgeführt wird, heißt ›existenziale Daseinsanalytik‹ bzw. ›Existenzialontologie‹. Heidegger fasst die Spezifik des Menschen als eines besonderen Seienden ebenso wie Kierkegaard und Jaspers mit dem Terminus ›Dasein‹, denn er ist ein Seiendes, das nicht nur ›ist‹, sondern ›da‹ ist, d. h. sich zu seinem Sein verhält. Da-sein in diesem Sinn kann nur der Mensch. Das Selbstverhältnis impliziert, dass das Leben für den Menschen nicht einfach geschieht, sondern er sein Leben selbst bestimmen kann. Dieser spezifische Selbstbezug des Daseins charakterisiert seine E. Die Existenzialanalyse geht in zwei Schritten vor: Zunächst legt sie die Grundverfassungen des Daseins in seiner durchschnittlichen Alltäglichkeit frei (›Uneigentlichkeit‹). In seiner Alltäglichkeit ist das Dasein zunächst und zumeist geprägt durch das Gegebene und die Anderen. Es ist nicht es selbst, sondern hat die uneigentliche, entfremdete Seinsweise des ›Man‹, das als Existenzial der Alltäglichkeit fungiert. Das Man nimmt dem Einzelnen die Entscheidungen ab, es entlastet von jeder Verantwortung, es gibt vor, wie das Leben zu gestalten ist. Im Seinsmodus der Alltäglichkeit sind alle individuellen Unterschiede eingeebnet,

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es zählen Durchschnittlichkeit und Anpassung. Erst in der Besinnung auf sich selbst, im Anspruch, man-selbst sein zu wollen, vermag das Dasein sich aus der Uneigentlichkeit zu erheben, sich freizumachen vom Faktischen. Diese Besinnung erfolgt in der ›Befindlichkeit‹ der Angst. Sie offenbart dem Dasein seine Unbestimmtheit, sein Freisein-für das, was es selbst wählt. Dem Existenzial der Befindlichkeit korrespondiert das ›Verstehen‹. Verstehen zielt auf die Erschließung der Grundverfassung des Daseins. Es zieht den Blick ab von der Alltäglichkeit und fragt nach den Möglichkeiten des Selbstseinkönnens, der Besinnung auf sich selbst. Entgegen dem Geworfensein in eine vorgegebene Welt geht es um die Möglichkeit des ›Entwurfs‹ eines selbstbestimmten Lebens. Entwurf weist auf das, was noch nicht ist, auf die »Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existenzielle Möglichkeiten« 20, auf ein ›Sich-vorweg-sein‹. Erst in der Dialektik von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit, von Alltäglichkeit und Selbstsein, kommt das Strukturganze des Daseins zur Geltung. Diese Seinsganzheit des Daseins ist bestimmt als ›Sorge‹. In der Sorge geht es um die Möglichkeit der Selbstbestimmung des Daseins in seinem Entwurf auf der Grundlage seines In-der-Welt-seins. Sorge ist das »Sich-vorweg-schon-sein-in(der-Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)«. 21 Die Frage nach dem Seinsganzen des Daseins impliziert aber auch die Dimension der Zeitlichkeit, welche überhaupt den Grund der Existenzialität bildet. Denn Ganzseinkönnen ist immer verbunden mit Anfang und Ende (Tod). Der Tod ist »die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit« 22, denn er kann nicht an ein Man abgetreten werden; er vereinzelt und verweist jeden auf sich selbst. Der Aufruf zum Selbstsein erfolgt aber nicht schon in den ›Stimmungen‹, diese bereiten das Dasein nur darauf vor, den Aufruf zu sich selbst zu vernehmen. Der Ruf erfolgt durch das ›Gewissen‹. Der Ruf trifft das Dasein in seiner Alltäglichkeit, er trifft das Selbst im Man-selbst und lässt das Man bedeutungslos werden. Der Ruf des Gewissens kann nicht geplant und nicht willkürlich herbeigeführt werden. Er hat keinen Inhalt, sondern ist nur Appell. Er kommt über uns. Im Ruf des Gewissens spricht sich für das Dasein die Sorge um das eigene Selbstsein aus. Dieses Selbstsein ist aber nie vollkommen zu erreichen, es ist ein regulativer Anspruch, der von einem ›Nicht‹ begleitet ist, der zwar zu realisieren versucht wird, aber dennoch Möglichkeit bleibt. Durch

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die Konfrontation mit der Nichtigkeit, mit der Fehlbarkeit und Unerreichbarkeit des Entwurfs markiert Heidegger die implizite Negativität aller menschlichen Bestrebungen. Das Sichentwerfen, das in ›Entschlossenheit‹ umgesetzt werden soll, führt immer auch die Gefahr des Scheiterns mit sich. Hier wird deutlich, dass im E.begriff die konstitutionelle Unbestimmtheit des Daseins verarbeitet ist. E. verweist auf den Anspruch der Selbstwahl, des Selbstentwurfs, der Selbstverantwortung, des Selbstseins als der Wesensbestimmungen des Menschen. 3.4 Jean-Paul Sartre (–) Sartres philosophisches Hauptwerk L’Être et le Néant (, dt. Das Sein und das Nichts) gilt zugleich als wichtigstes theoretisches Werk des französischen Existenzialismus (Ex.). Seine zentrale These besteht in der Auszeichnung des Menschen (Für-sich) durch den Vorrang der E. vor der Essenz, während alle anderen Seinsphänomene (An-sich) bestimmt sind durch den Vorrang der Essenz vor der E. Das heißt, jedes Seiende, das nicht Mensch ist, hat schon mit seiner faktischen E. eine immanente Wesensbestimmung. Der Mensch hingegen ist mit seinem bloßen Existieren nicht schon fertig, sondern muss sich sein Wesen selbst erst schaffen. Das Für-sich ist das Sein, »das nicht das ist, was es ist, und das das ist, was es nicht ist«. 23 Es ist die Fähigkeit, zu negieren. Es ist wesensmäßig unbestimmt, nämlich durch Nichts, durch Nicht-Festgelegtsein, d. h. durch Freiheit, bestimmt. Sartre begnügt sich aber nicht damit, Freiheit nur als eine Potenz oder Möglichkeit des Menschen vorzustellen. »Was wir Freiheit nennen, ist also unmöglich vom Sein der ›menschlichen-Realität‹ zu unterscheiden. Der Mensch ist keineswegs zunächst, um dann frei zu sein, sondern es gibt keinen Unterschied zwischen dem Sein des Menschen und seinem ›Frei-sein‹.« 24 Sartre radikalisiert den existenzphilosophischen Freiheitsgedanken so weit, dass jedes Begegnende und Widerfahrende nur vor dem Hintergrund der Freiheitsforderung zu verstehen ist, aber nicht als einer anthropologischen Tatsache, sondern in der individualisierten Perspektive, dass Freiheit immer »meine Freiheit« 25 ist. Freiheit ist absolut, denn man kann nicht ein bisschen frei und ein bisschen determiniert sein. Freiheit und Determinismus schließen einander aus. Die Absolutsetzung des Freiheitsgedankens bedeutet dabei nicht die Rechtfertigung von Maßlosigkeit und Willkür, sondern macht erst

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›Verantwortung‹ möglich. Der als vollkommen frei gedachte Einzelne hat all sein Handeln selbst zu verantworten, es gibt keine andere Instanz, an die er diese Verantwortung delegieren könnte. »Diese absolute Verantwortlichkeit ist übrigens kein Akzeptieren: sie ist das bloße logische Übernehmen der Konsequenzen unserer Freiheit. Was mit zustößt, stößt mir durch mich zu, und ich kann weder darüber bekümmert sein noch mich dagegen auflehnen, noch mich damit abfinden.« 26 Diese Herausforderung der eigenen Freiheit anzunehmen, für alles verantwortlich zu sein, ist ein Anspruch an den Einzelnen, dem dieser kaum genügen kann. Freiheit geht so einher mit Angst. Ähnlich wie die anderen Existenzphilosophen stellt auch Sartre fest, dass im alltäglichen Leben die Menschen ihrer Freiheit gerade nicht Rechnung tragen: »die meiste Zeit fliehen wir vor der Angst in die Unaufrichtigkeit«. 27 Sartre bemüht sich darum, die Bedeutung des Anderen für die Konstituierung des existenzialen Selbstbezugs herauszustellen. Es geht ihm nicht einfach um den Bezug des Ich zum Sein, sondern um die »Beziehung des Für-sich zum An-sich in Anwesenheit des andern«. 28 Anhand solcher Psychophänomene wie Scham oder Liebe versucht Sartre deutlich zu machen, dass die Selbstkonstitution immer auch intersubjektiv vermittelt ist. »Der andere ist für meine Existenz unentbehrlich, wie übrigens auch für die Kenntnis, die ich von mir selbst habe. Unter diesen Bedingungen entdeckt mir die Entdeckung meines Innersten zugleich auch den anderen, als eine mir gegenüberstehende Freiheit, die für oder gegen mich denkt und will. So entdecken wir sofort eine Welt, die wir Inter-Subjektivität nennen werden, und in dieser Welt entscheidet der Mensch darüber, was er ist und was die anderen sind.« 29 In einzelnen Zeitschriftenartikeln hat Sartre sich mit Kritikern des Ex. auseinandergesetzt und immer wieder erläutert, warum der Ex. ein Humanismus ist, dass Freiheit (signalisiert in der Angst) Verantwortung für sich selbst und alle Menschen impliziert, dass der Ex. »eine humanistische Philosophie des Handelns, der Anstrengung, des Kampfes, der Solidarität« 30 ist. 3.5 Albert Camus (–) Camus zentriert seine Abhandlung Le Mythe de Sisyphe – Essai sur l’absurde (, dt. Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde) um Überlegungen zum Absurden, womit er an Kierkegaards

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Absurditätsbegriff anknüpft. Das Absurde ist nicht einfach ein zu registrierender Zustand oder Sachverhalt, sondern ein Zwiespalt, der herrührt aus der Diskrepanz zwischen Mensch und Welt, zwischen Handlung und Resultat. Das Absurde scheint dem Menschen auf, wenn die Welt fragwürdig geworden ist und ihren Sinn verloren hat. Während traditionell ein Leben nur dann als lebenswert erschien, wenn es mit einem Sinn verbunden werden konnte, treibt Camus die Sinnfrage auf die Spitze, auf der sie umschlägt in die Frage nach der Selbstmord (Selbsttötung) angesichts des in der Absurdität manifesten Sinnverlusts. Das Absurde ist das Aufbegehren des Inneren gegen das Äußere, des rational nicht zu fassenden Selbst gegen sein Leben. Von dem Moment an, wo jemandem die Absurdität bewusst wird, steht er vor der Entscheidung, ihr auszuweichen (durch Flucht in die Alltäglichkeit oder durch Selbstmord) oder dagegen zu revoltieren und das Leben zu nehmen als eine ständige Revolte, eine ständige Auflehnung gegen seine eigene Unbestimmtheit und ein permanentes Infragestellen der Welt. Die Revolte ist »eine ständige Konfrontation des Menschen mit seiner eigenen Dunkelheit« 31, die Einsicht, das eigene Selbst nur in der Ungewissheit zu finden. Die Revolte ist die Akzeptanz der Herausforderung, Akzeptanz des Absurden. »Leben heißt: das Absurde leben lassen.« 32 Der Selbstmord ist das Versagen des Menschen vor der Herausforderung, sich der Zerrissenheit und Ungewissheit zu stellen. Mit dieser Auffassung des Absurden wendet sich Camus gegen ein Freiheitspostulat, in dem der Mensch nur noch »Sklave seiner Freiheit« 33 ist. Freiheit selbst wird absurd, denn die Loslösung des Menschen von jeglichem Telos, von jeglicher Ordnung der Welt lässt alles Vertrauen auf ein Morgen schwinden, macht deutlich, dass kein Verlass darauf ist, dass die Intentionen meines Tuns auch tatsächlich irgendeine Entsprechung in der Welt haben. Freiheit wird zur Illusion und dies v. a. vor der Möglichkeit des Todes. Camus redet von einer Welt, »in der das Denken und das Leben jeder Zukunft beraubt sind. Alles, was den Menschen zu Arbeit und Tätigkeit anhält, nützt die Hoffnung aus. Das einzige Denken, das keine Lüge ist, ist demnach ein steriles Denken. In der absurden Welt misst sich der Wert eines Begriffs oder eines Lebens an seiner Unergiebigkeit.« 34 Als typische Figur des Absurden schildert Camus Sisyphos, der von den Göttern verurteilt ist, immer wieder einen Felsblock auf den Berg

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zu rollen. Gegen das unentrinnbare Schicksal steht die innere Auflehnung. Das Vermögen, die eigene Lage zu bedenken, lässt einerseits die Tragweite der ewig-sinnlosen Tätigkeit bewusst werden, eröffnet aber zugleich die Möglichkeit, das eigene Schicksal zu verachten. Sisyphos bleibt die Freiheit der Gedanken. »Das Wissen, das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg.« 35 Camus, A., , Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über d. Absurde, Hamburg (MS). – Heidegger, M.,  , Sein und Zeit, Tübingen (SuZ). – Jaspers, K.,  , Von der Wahrheit, München/Zürich (VdW). – Jaspers, K., , Kleine Schule des philosophischen Denkens, München/Zürich (K S). – Jaspers, K.,  , Einführung in die Philosophie, München/Zürich (E P). – Kierkegaard, S., , Der Begriff Angst, Stuttgart (B A). – Kierkegaard, S., , Furcht und Zittern, Fft./M. (FuZ). – Kierkegaard, S.,  , Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken ( Tle.), München (NS). – Kierkegaard, S., , Entweder – Oder ( Tle.), München (EO). – Sartre, J.-P., , Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg (SuN). – Sartre, J.-P., , Zum Existentialismus. Eine Klarstellung. In: GW, Philos. Schr. I, Bd. , Reinbek (ZE). – Sartre, J.-P., , Der Existentialismus ist ein Humanismus. In: GW, Philos. Schr. I, Bd. , Reinbek (EH). 1 Heidegger,

SuZ, . – 2 Vgl. Kant, KrV B  f. – 3 Kierkegaard, EO II, . – . – 5 Kierkegaard, FuZ, . – 6 Kierkegaard, N S I, . – 7 Ebd., . – 8 Ebd., . – 9 Kierkegaard, B A, . – 10 Ebd., . – 11 Jaspers, VdW, . – 12 Ebd.,  f. – 13 Ebd.,  f. – 14 Jaspers, EP, . – 15 Ebd., . – 16 Jaspers, VdW, . – 17 Jaspers, E P, . – 18 Ebd., . – 19 Ebd., . – 20 Heidegger, SuZ, . – 21 Ebd., . – 22 Ebd., . – 23 Sartre, SuN, . – 24 Ebd., . – 25 Ebd., . – 26 Ebd., . – 27 Ebd., . – 28 Ebd., . – 29 Sartre, E H, . – 30 Sartre, ZE, . – 31 Camus, MS, . – 32 Ebd., . – 33 Ebd., . – 34 Ebd., . – 35 Ebd., . 4 Ebd.,

Bärbel Frischmann

Geschichte / Geschichtsphilosophie

1 Zu den Begriffen. Im Unterschied zur philosophischen Reflexion auf Natur als ein gegebenes, äußeres Objekt ein theoretischer Vorgang vom Anbeginn philosophischer Arbeit ist das Erfassen des Objekts ›Geschichte‹ (G.) eine Leistung erst der neueren europäischen Philosophie: Noch das okzidentelle Mittelalter vermochte einer besonderen Wissenschaft von der G. keinen Platz im Verband der den Wissenskosmos ausmachenden artes liberales zuzuweisen. Der moderne Begriff der ›G.‹ als jenes Teils der Naturentwicklung, der das ›Werden der Natur zum Menschen‹ (K. Marx) betrifft ›G.‹ also als Prozess der Selbsterzeugung des Menschen und seiner Umstände (als Gesellschaft) und damit als Inbegriff menschlich-gesellschaftlicher Praxis und als autonomer Prozess ist indes abzuheben sowohl von jeder theologischen Verbindung mit einem ›göttlichen Wesen‹ als auch von jeder bloß naturgeschichtlichen (naturgesetzlichen) Entwicklungsschematik. In dem Maße, wie durch den Selbsterzeugungsprozess des gesellschaftlichen Menschen vormoderne Lebens- und Gesellschaftsformen überwindbar werden, wird ein Zusammenhang von Selbsterzeugung (Machbarkeit) und Erkenntnis dieses Prozesses als G. philosophisch erfasst. 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte 2.1 Frühe Begriffe von ›Geschichte‹ Die zum Topos werdende Einsicht, dass die Menschen Verfasser und Schausteller ihres eigenen Dramas sind, ist die Vorbedingung der Erfassung dessen, was mit ›G.‹ philosophisch gemeint wird; und insofern ist jene »Eroberung der geschichtlichen Welt« 1 eine begriffliche Leistung der europäischen Philosophie der Aufklärung, namentlich von Philosophen wie Hobbes, Vico, Voltaire und Herder, sodann den Denkern des Deutschen Idealismus, v. a. Schellings und Hegels, aber auch von Marx. Der Begriff ›philosophie de l ’histoire‹ wurde von Voltaire in seinem Encyclopédie-Artikel Histoire eingeführt. Vor allem im . Jh. entfalteten sich Einsichten in die autonome Natur der G. in dem Maße, wie durch die Entwicklungen in den Wissenschaften

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und in der Gesellschaft u. a. mit der G.theologie alles Reden vom ›Ende der G.‹ – im Sinne eines ›Ziels‹ der G. – methodologisch ebenso überwunden werden konnte wie geschichtstheoretische Vorstellungen einer naturgesetzlichen Objektivität, mit der die Annahme festgefügter ›Abläufe‹ geschichtlicher Prozesse gedacht wurde. Die aufklärerische Vernunft versuchte zunächst auch die G. nach den methodischen Mustern der Naturwissenschaft zu denken. Dabei war aber einsichtig, dass mathematische Gewissheit in der G. nicht zu erreichen sei; nicht mehr als Regularität und Graduierungen von Wahrscheinlichkeit waren im Denken über G. möglich. Dies war aber nicht nur ein wissenschaftstheoretisches Problem, sondern hatte unmittelbare gesellschaftliche Folgen: So wie die Religionskritik der Aufklärung Strategien zur Entlarvung von ›Pfaffenbetrug‹ entwickelte (Voltaire), so wurde geschichtstheoretisch gefordert, dass die ›G.lügen‹ der traditionellen konfessionellen G.schreibung aufgespürt würden. »Wie man die entscheidenden Begebenheiten hervorsuchen, sie unter einander verbinden und nach dem Geist [. . . ] seines Zeitalters einkleiden solle: Dies lehrt die Theorie der G.« 2 Die weltanschaulich folgenreichste Wirkung des neuen Denkens über G. war die Überwindung des christlichen (biblischen) teleologischfinalistischen G.bildes (Teleologie). Dazu trugen neben den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaften, die z. B. mit einem neuen Zeitbegriff die traditionelle christliche Chronologie überwanden, auch neue ethnologische Erfahrungen bei; seit dem . Jh. wurden in Europa außereuropäische Kulturen zur Kenntnis genommen, wodurch sich auch das traditionelle Raumverständnis wandelte. G. B. Vico sprach dasjenige aus, worum es bezüglich der G. ging. G. ist das Werk der Menschen selber; der Topos, G. sei für die Menschen erkennbar, weil sie von ihnen gemacht sei, findet sich in der Fassung von  der  zuerst erschienenen Principi di una scienza nuova intorno alla comune natura delle nazioni (Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker): »in solch dichter Nacht voller Finsternis, mit der die erste von uns so weit entfernte Urzeit bedeckt ist, erscheint dieses ewige Licht, das nicht untergeht, folgender Wahrheit, die auf keine Weise in Zweifel gezogen werden kann: dass diese politische Welt sicherlich von den Menschen gemacht worden ist ; deswegen können (denn sie müs-

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sen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden. Folgendes muss bei jedem, der darüber reflektiert, Staunen erregen wie nämlich alle Philosophen sich ernsthaft bemüht haben, Wissen zu erlangen von der Welt der Natur; von der doch, weil Gott sie schuf, er allein Wissen haben kann, und wie sie vernachlässigt haben, diese Welt der Völker oder politische Welt zu erforschen, von der, weil die Menschen sie geschaffen hatten, die Menschen auch Wissen erlangen konnten«. 3 Die G.auffassung ist im . Jh. zunächst ›providentialistisch‹: Die G. wird als Verwirklichung der Ziele Gottes und seiner Güte verstanden. Für dieses G.konzept steht Bossuets Discours sur l ’histoire universelle (). Das Providentielle der G. zeigt sich exemplarisch. Aus der G. sind zwei Lehren zu ziehen: »(i) Die heidnische G. die G. der Antike und der barbarischen Reiche ist wesentlich zyklisch, eine G. des Aufstiegs und des Untergangs. Auf diese Weise offenbart sich Gott, indem er die von ihm inspirierten Prophezeiungen erfüllt und auch den Gegensatz zwischen der Vergänglichkeit der Reiche dieser Welt und der Ewigkeit und Stabilität des göttlichen Reiches bewirkt. (ii) Die G. der ›heiligen Völker‹ hingegen der Juden und der Christen vermittelt eine direktere Lehre: Sie zeigt, dass Frömmigkeit, auch in dieser Welt, belohnt und Gottlosigkeit bestraft wird.« Die Menschen machen zwar ihre eigene G., doch ihre Motivationen sind göttlichen Ursprungs. 4 Isaak Iselin war einer der ersten der europäischen Aufklärer, der den Versuch unternahm, G. als G. des Fortschritts der menschlichen Vernunft zu denken; freilich war auch hier bei den besten Vertretern aufklärerischen Denkens über G., u. a. Hausen, Chladenius und Bolinbroke, ein methodischer Skeptizismus beim Erfassen des Geschichtlichen unübersehbar. Theoretisch hatte das seinen Grund u. a. darin, dass mit den vorherrschenden Erkenntnismitteln exemplarisch die des Wolffianismus das erkennende Erfassen historischer, d. h. sich ständig wandelnder Sachverhalte, nur mit Einschränkung möglich war. Die zu erreichenden Resultate waren in die Kompetenz der niederen (unteren) Erkenntnisvermögen gegeben; denn, wie z. B. Crusius festhielt (und darin bestand auch bei ansonsten verfeindeten philosophischen Fraktionen allgemeiner Konsens): »Die Verknüpfung der Dinge in der Welt sind zu mannigfaltig, als dass wir die Begebenheiten aus den Ursachen, oder diese aus jenen durch den Weg der Demonstration

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entdecken könnten.« 5 Diese Denkhaltung, der sog. Pyrrhonismus historicus, fand etwa in dem Werk von Lord Bolingbroke, Briefe über das Studium und den Nutzen der Geschichte (), das in Deutschland verbreitet war, ihren Ausdruck. Der Weg zum Begreifen der G. in einer ›historischen Logik‹, wie sie Justus Möser vorschwebte, blieb in diesem Denkraum letztlich doch verschlossen.  veröffentlichte Herder ein Werk mit dem Titel Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Herders GPh, in entwickelter Form in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (–) vorliegend, fragt nicht nach Prinzipien a priori, sondern ist konkreten Fragen der G. gewidmet. Die Ideen enthalten Studien zur Kosmologie, zur Naturgeschichte und zur Anthropologie sowie Darstellungen zu einer Vielzahl von Gesellschaften. Herder schreibt hier: »Der Gott, den ich in der G. suche, muss derselbe sein, der er in der Natur ist; denn der Mensch ist nur ein kleiner Teil des Ganzen, und seine G. ist, wie die G. des Wurms, mit dem Gewebe, das er bewohnt, innig verwebet. Auch in ihr müssen also Naturgesetze gelten, die im Wesen der Sache liegen und deren sich die Gottheit so wenig überheben mag, dass sie ja eben in ihnen, die sie selbst gegründet, sich in ihrer hohen Macht mit einer unwandelbaren, weisen und gütigen Schönheit offenbaret. Alles, was auf der Erde geschehen kann, muss auf ihr geschehen, sobald es nach Regeln geschieht, die ihre Vollkommenheit in ihnen selbst tragen. Lasset uns diese Regeln, die wir bisher entwickelt haben, sofern sie die Menschengeschichte betreffen, wiederholen; sie führen alle das Gepräge einer weisen Güte, einer hohen Schönheit, ja der inneren Notwendigkeit selbst mit sich. [. . . ] In der allgemeinen G. also wie im Leben verwahrloster einzelner Menschen erschöpfen sich alle Torheiten und Laster unsres Geschlechts, bis sie endlich durch Not gezwungen werden, Vernunft und Billigkeit zu lernen. Was irgend geschehen kann, geschieht und bringt hervor, was es seiner Natur nach hervorbringen konnte. Dies Naturgesetz hindert keine, auch nicht die ausschweifendste Macht an ihrer Wirkung; es hat aber alle Dinge in die Regel beschränkt, dass eine gegenseitige Wirkung die andre aufhebe und zuletzt nur das Ersprießliche dauernd bleibe.« 6 Den Impetus für alles weitere Bemühen um die G. hat F. Schiller so umrissen: »Die Geringschätzung der G. kommt mir unbillig vor. Die G. ist willkürlich, voll Lücken und sehr oft unfruchtbar, aber eben das

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Willkürliche in ihr könnte einen philosophischen Geist reizen, sie zu beherrschen.« 7 2.2 Kant und der Deutsche Idealismus 8 I. Kants metaphysikkritisches Philosophiekonzept stellte sich in den Umkreis des sog. Vico-Axioms von der Konvergenz der Machbarkeit und der Erkennbarkeit des Geschichtlichen, mit dem seit der Mitte des . Jh. eine folgenreiche Wende in der Philosophie bei der Gewinnung des Geschichtlichen erreicht wurde: »Wir können aber nur das verstehen und anderen mitteilen, was wir selbst machen können.« 9 Diese Verbindung zwischen der Machbarkeit und der Geschichtlichkeit im Sinne des Selbsterzeugungsprozesses, der die G. ist, war bei den besten theoretischer Köpfen der deutschen Philosophie in der Zeit der Französischen Revolution offensichtlich, namentlich bei Schelling, der feststellte: »Dem Menschen aber ist eine G. nicht vorgezeichnet, er kann und soll seine G. sich selber machen.« Programmatisch formuliert er: ») Was nicht progressiv ist, ist kein Objekt der G. [. . . ] ) Wo Mechanismus ist, ist keine G., und umgekehrt, wo G. ist, ist kein Mechanismus. [. . . ] Wenn also der Mensch G. (a posteriori) hat, so hat er sie nur deswegen, weil er keine (a priori) hat; kurz, weil er seine G. nicht mit-, sondern selbst erst hervorbringt.« 10 – Ganz im Sinne einer Einlösung der Folgen der Kantschen Metaphysik-Kritik führte Schelling diese ›Revolution der Denkart‹ weiter; im Hauptwerk seiner frühen Jahre, im System des transzendentalen Idealismus () sind die beiden philosophisch-methodologischen Wege für ein System der Philosophie als ›G.fragen‹ formuliert; der Transzendentalphilosophie geht es um die Herkunft des Objektiven aus dem Subjektiven, und die Naturphilosophie hat die Herkunft des Subjektiven aus dem Objektiven zu klären. Von allem, was die Vernunft erkennt, so Schelling schon in Von der Weltseele (), »ist in der Natur nicht allein der Abdruck, sondern die wirkliche G. selbst enthalten«. 11 Die Philosophie hat jetzt nur noch eine Aufgabe – die Genesis des Selbstbewusstseins nachzuvollziehen: »Die äußere Welt lag vor uns aufgeschlagen, um in ihr die G. unseres Geistes wiederzufinden.« 12 Der Mensch also ist als ein natur-historischer Körper eingefügt in die Prozessualität der Natur, sie ist seine transzendentale Vergangenheit. Mit Schellings Naturphilosophie werden bemerkenswerte Einsichten in naturanaloge

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Gesetzmäßigkeiten bzw. Bedingungen geschichtlicher Prozesse möglich. »Die Gedanken Schellings über die Stufen der Historie glaube ich besser zu verstehen« schreibt einmal F. Creuzer, »seitdem ich die Einleitung zu seiner Philosophie der Natur und die Vorrede las.« 13 Der Übergang zur Naturphilosophie erfüllt bei Schelling also zunächst durchaus die Grundintentionen des Transzendentalismus – es geht um die Bedingungen der Möglichkeit von Objektivität. Naturphilosophie und Transzendentalphilosophie (als transzendentale Prinzipienlehren) erfüllen dieselben Funktionen, nur auf unterschiedlichen Etappen der Genesis des Subjekts, dort als unbewusste Tätigkeit (Natur), hier als bewusste Tätigkeit (Ich). »Von seinem transzendentalen Ansatz her führt der frühe Schelling nicht nur zurück zur Objektivität [. . . ], sondern auch zu dem, was wir heute die Geschichtlichkeit des Menschen nennen würden. Die G. ist also ursprünglich und anfanghaft das eine große Grundproblem Schellings.« 14 Die G. ist der Grund des Menschen als natürlicher Körper. Naturphilosophie ist also Transzendentalphilosophie mit anderen Mitteln. Dieser neue entwicklungsgeschichtliche Philosophiebegriff aus dem Geist der Kantschen Transzendentalphilosophie brachte ein neues Bewusstsein von Historizität hervor, d. h. von der Entwicklung der Wirklichkeit: Die Welt ist kein Aggregat fertiger Dinge, sondern von Prozessen. In den Naturgeschichten, mit denen sich das Aufklärungsdenken konfrontiert sah, bezog sich ›G.‹ nicht auf Entwicklung, auf Genesis oder gar auf eine Theorie dieser Genesis, sondern meinte die Beschreibung, Klassifikation, auch Erzählung von Tatsachen oder singulären Ereignissen (Narration); Naturgeschichte war mehr oder weniger Naturkunde. Erst auf dem Boden des entwickelten Kantianismus entwickelt sich ein philosophisches Bewusstsein, das zu einer Differenzierung im Sprachgebrauch von ›Historie‹ und ›G.‹ führte: »Das Wort G . in der Bedeutung, da es einerlei mit dem griech. Historia (Erzählung, Beschreibung) ausdrückt, ist schon zu sehr und zu lange im Gebrauch, als dass man sich leicht gefallen lassen sollte, ihm eine andere Bedeutung zuzugestehen [. . . ] Doch die Sprachschwierigkeit im Unterscheiden kann den Unterschied der Sachen nicht aufheben.« 15 Es geht nun um den Aspekt der Verzeitlichung in der Struktur von Prozessen, um – wie es Schelling bald formulieren wird – »eine G. nicht der Naturobjekte (welches eigentlich Naturbeschreibung ist), sondern der

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hervorbringenden Natur selbst«. 16 Begonnen hatte mit dieser Begriffsdifferenzierung bereits Kant mit seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels () und dann v. a. mit seinen Kritiken an Herder () und an Forster (). In der Hinwendung zum Naturprozess, in der Aufhellung »der wahrhaft inneren Form der Prozesse« 17 liegt nun die Leistung der Identitätsphilosophie (Schelling, Hegel) bei der Herausarbeitung eines künftigen historischen Philosophierens. Das Begreifen der G., des Prozesses der Historisierung, gelingt der Identitätsphilosophie im Verhältnis von Mensch und Natur. Zukunft freilich ist mit dieser Denkform von Historizität nur als Herkunft begreifbar. Der Mensch ist nicht mehr bloß anthropologisch begriffen, aber er bleibt eingelagert in die Prozessualität der Natur, die seine ›transzendentale Vergangenheit‹ ist. »Ich suchte also«, schreibt Schelling, »mit Einem Wort den unzerreißbaren Zusammenhang des Ich mit einer von ihm notwendig vorgestellten Außenwelt durch eine dem wirklichen oder empirischen Bewusstsein vorausgehende transzendentale Vergangenheit dieses Ich zu erklären, eine Erklärung, die sonach auf eine transzendentale G. des Ichs führte. [. . . ] Die Philosophie ist [. . . ] für das Ich nichts anderes als eine Anamnese, Erinnerung dessen, was es in seinem allgemeinen (seinem vorindividuellen) Sein getan und gelitten hat. [. . . ] Und so wurde denn dieselbe Philosophie, welche auf einer früheren Stufe Naturphilosophie war, hier Philosophie der G.« 18 Dieses Denken wurde bestimmt von der Idee eines beständigen Fortschreitens zu Höherem im geschichtlichen Prozess. Hegel 19, der sich wie kein anderer im Deutschen Idealismus der G. nicht nur als ›Begriff‹, sondern auch ihren realen Gestalten gewidmet hat, fasste G. in der Perspektive einer ›philosophischen Weltgeschichte‹ als – in Widersprüchen (dialektisch) prozessierenden – Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit: »Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.« 20 Das Medium dieses dialektischen Fortschrittsprozesses sind die Menschen, ihre Handlungen, Leidenschaften und Bedürfnisse. Doch trotz aller Betonung der geschichtsbildenden Kraft des Menschen erweist sich Hegels Begriff der G. als einer dem Einzelmenschen verborgenen ›Wesens‹-Logik folgend: Die G. vollzieht sich selbst nach eigenem Gesetz; in seinen Nürnberger Schriften betont Hegel: »dass der G.

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ein Zweck zugrunde liegt, dies enthält der Glaube an die Vorsehung. Existenz, Dasein hat unendlichen Wert – ob das Individuum untergeht oder sein sittlicher Zweck«. 21 Die Menschen sind bei Hegel das Werkzeug einer G., die hinter ihrem Rücken verläuft. So heißt es z. B. in der Phänomenologie des Geistes (): »Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die G., nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene G., bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewissheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur – aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit.« 22 In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Fassung ) verteidigt Hegel diesen Begriff der G. gegen die Kritik an der Idee ihrer ›Notwendigkeit‹: »Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird, und es gibt deshalb nichts Verkehrteres als den Vorwurf eines blinden Fatalismus, welcher der Philosophie der G. darum gemacht wird, weil dieselbe ihre Aufgabe als die Erkenntnis der Notwendigkeit dessen, was geschehen ist, betrachtet. Die Philosophie der G. erhält hiermit die Bedeutung einer Theodizee, und diejenigen, welche die göttliche Vorsehung dadurch zu ehren meinen, dass sie die Notwendigkeit von ihr ausschließen, setzen dieselbe durch diese Abstraktion in der Tat zu einer blinden, vernunftlosen Willkür herab.« 23 Zur Dialektik im Erfassen des Geschichtlichen in jener Epoche (von Condorcet bis zu den Sozialisten), das heißt, dieser Optimismus einer geschichtlichen Entwicklung bis hin zum irdischen Heil, gehört allerdings, »dass eine starke Wurzel des säkularisierten Entwicklungs- und Fortschrittsglaubens gerade nicht aus der Aufklärung, sondern aus dem alten christlichen G.bild stammt.« 24 Erst mit Nietzsche ist dieses geschlossene G.denken für die Moderne aufgebrochen worden. Steffen Dietzsch

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2.3 Das . Jahrhundert: Geschichte als ›geschichtliche Welt‹ und als Geschichtsschreibung Das . Jh. – aber auch zum Teil das . Jh. – gilt nicht zu unrecht als das Jh. der G., als das Jh., in dem das Problem des historischen Bewusstseins vorherrscht. »Dieses historische Bewusstsein ist in der ersten Hälfte des . Jh. zu einem weltanschaulichen Problem geworden« 25 ; das Thema der historischen Erkenntnis und der G.wissenschaft steht im Mittelpunkt. Im Laufe des . Jh. hat sich endgültig die Auffassung durchgesetzt, dass die G. vom Gesichtspunkt der Individuation und der definitorischen Bestimmungen der Methoden der G.forschung aus zu betrachten sei. Der Begriff des G.bewusstseins ist von diesem Standpunkt aus nicht in einem abstrakten Sinne – als etwas, das vor oder außerhalb der G. besteht – oder im Sinn einer aus jeder räumlichzeitlichen und sozialen Bedingung herausgelösten Entität zu verstehen. Es geht hier vielmehr um die Tendenz – sie kennzeichnet die moderne Kultur und wird im Laufe des . Jh. vorherrschend –, wieder Formen eines historischen Selbstverständnisses zu finden; es ist hier die Tendenz einer jeden Gegenwärtigkeit gemeint, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. 26 Die G. ist nun nicht mehr lediglich G. Gottes, G. des Menschengeschlechts oder der Natur, sie ist v. a. G. der Individualitäten (Völker, Nationen, Staaten, Klassen), der politischen Besonderheiten und der konkreten nationalen Bestimmtheiten aber auch die der öffentlichen Meinung. »G. wird nicht nur von Historikern reflektiert und präsentiert, sie durchdringt vielmehr das Bewusstsein der kulturellen und politischen Öffentlichkeit«. 27 Eine wichtige Rolle übernimmt in der Philosophie nach dem Tod Hegels der Diskurs über den Sinn und die Bedeutung der G., die im wesentlichen als Ganzheit der Erfahrungen des menschlichen Lebens verstanden wird, als Gesamtheit der Tatsachen und der Äußerungen, die – nach einem Ausdruck Diltheys – den »ganzen Menschen« 28 in seiner Art der Erkenntnis, in seinen Handlungen und in seinem Empfinden formen. Mit diesem Versuch, der die Vielfalt der wirksamen Kräfte des Menschen zum bevorzugten Objekt der G. macht, beginnt jener Prozess, der in den folgenden Jahrzehnten zu einer immer größeren Übereinstimmung von G., Psychologie und Anthropologie führt. »Die Theorie dieser psycho-physischen Lebenseinheiten ist die Anthropologie und Psychologie. Ihr Material bildet die ganze G. und

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Lebenserfahrung [. . . ]. Die Verwertung des ganzen Reichtums der Tatsachen, welche den Stoff der Geisteswissenschaften überhaupt bilden, ist der wahren Psychologie sowohl mit den Theorien, von denen demnächst zu sprechen sein wird, als mit der G. gemeinsam«. 29 In der zweiten Hälfte des . Jh. wird somit einer der bedeutendsten Aspekte der Debatte über die G. deutlich: die immer engere wechselseitige Durchdringung von Philosophie und geschichtlicher Erkenntnis, von G.theorie und G.schreibung. Das Problem der Methodenbestimmung schließt sich, auch was die G.wissenschaft betrifft, immer mehr dem Bewusstsein an, dass die G. die Grundlage der Kenntnisse und der Wissenschaften bilden muss, die sich mit der moralischen und sozial-politischen Tätigkeit des Menschen beschäftigen. Die G. bildet zusammen mit der Psychologie und der Anthropologie, mit der Linguistik und der Philologie die Grundlage der ethischen Mächte der menschlichen Kultur, so wie diese im Bereich der Geisteswissenschaften in Erscheinung tritt und sich äußert. Es besteht kein Zweifel darüber, dass – wie Humboldt geschrieben und später auch Ranke bestätigt hatte – »die Aufgabe des Geschichtsschreibers die Darstellung des Geschehenen ist«. Die G. darf hierbei nie auf das Ereignis und seine bloße Beschreibung beschränkt werden. Vom philosophischen Standpunkt aus gesehen bildet sie nämlich den Schlüssel zur Individuation und zum Verständnis der Gesamtheit der Lebenserfahrungen. Auch Humboldt behauptete, dass die Spekulation, Erfahrung und Dichtung nicht voneinander getrennte und gegensätzliche Elemente der menschlichen Tätigkeit sind, sondern vielmehr ihre Artikulationen. »Der Geschichtsschreiber umfasst alle Fäden irdischen Wirkens und alle Gepräge überirdischer Ideen; die Summe des Daseins ist, näher oder entfernter, der Gegenstand seiner Bearbeitung, und er muss daher auch alle Richtungen des Geistes verfolgen«. 30 Da die G. (und nicht mehr nur die Natur) als Material, mit dem die G.wissenschaft arbeitet, und zugleich als Tatsache der menschlichen Erfahrung in ihrer Totalität auftritt, ergibt sich die Notwendigkeit, eine Historik zu entwickeln, die nicht nur eine ›Enzyklopädie und Methodologie der G.‹ ist, sondern auch eine philosophisch-hermeneutische Theorie, die die besondere Realität der menschlichen Erfahrung zu verstehen vermag. Schon Ranke hatte von der Notwendigkeit eines »geistigen Verständnisses« 31 gesprochen, d. h. eines dem Studium und

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der Analyse der geistigen Tatsachen angemessenen Verständnisprozesses, der nichts mit demjenigen, der die natürlichen Tatsachen erklärt und beschreibt, gemeinsam hat. Die berühmte Formel, die Droysen zur Bestimmung des Wesens der G.methode verwendete – nämlich »forschend zu verstehen« – gründet sich auf die Überzeugung, dass die geschichtliche Erkenntnis v. a. Formen und Ausdrücke des menschlichen Willens zum Gegenstand hat. »Die Menschenwelt ist durch und durch geschichtlicher Natur, und das ist ihr spezifischer Unterschied von der natürlichen Welt. Die geschichtliche Welt ist die wesentlich menschliche; sie ist zwischen der natürlichen und übernatürlichen, wie der Mensch selbst seinem sinnlich-geistigen Wesen nach an beiden teilnimmt«. 32 Die menschliche Welt kennzeichnet sich als Welt der Ideen. Diese Ideen sind nicht im Sinn der idealistischen Philosophien zu verstehen, sondern in dem der »großen geistigen Tendenzen, welche die Menschheit beherrschen«. 33 Sie bilden die Welt des sittlichen Lebens, die Welt der »sittlichen Mächte«, die sich deutlich von den natürlichen Gemeinsamkeiten, die vom Volk und von der Familie dargestellt werden, unterscheiden; diese Welt wird ihrerseits in eine ideale Sphäre (Sprache, Kunst, Religion und Wissenschaft) und in eine praktische Sphäre (Gesellschaft, Recht und Staat) 34 unterteilt. Wenngleich die Reflexion von Marx die dialektische Beziehung zwischen der Naturalisierung des Menschen und der Historisierung der Natur bewahrt, betrachtet sie dennoch die G. v. a. als »Prozess der Selbsterzeugung des Menschen und seiner Umstände«. Die materialistische G.auffassung hält die praktische, ethische und soziale Dimension für den bevorzugten Gegenstand der G., und zwar für einen Gegenstand, der im Vergleich zu jeder Voraussetzung und Deduktion sowohl theologischer als auch naturalistischer Art immer unabhängige Eigenschaften aufweist. Es handelt sich um die logische Konklusion eines langen Prozesses der Säkularisierung der geschichtlichen Erfahrung der Menschen, der mit der Krise des Universalismus und der Kosmologie des Mittelalters und mit dem Anbruch des Humanismus der Renaissance begonnen und sich mit der fortschreitenden unabhängigen Bildung der G.wissenschaft im Zeitalter der Aufklärung allmählich bestätigt hatte. Die moderne G.auffassung, die in der Beziehung zwischen der menschlichen Erfahrung als Machbarkeit und ihrer Geschichtlichkeit wurzelt,

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stellt sich nun mit Kant und Vico in den Vordergrund der philosophischen Reflexion Europas. Zweifellos ist Koselleck zuzustimmen, der eine Unterscheidung zwischen ›Historie‹ und ›G.‹ trifft, wobei der letztere Begriff – im Unterschied zum ersten, welcher sich über einen sehr langen Zeitraum hinweg in der klassischen Kultur Europas entwickelte – erst am Ende des . Jh. zum politischen und sozialen Leitbegriff 35 wird. 2.4 Geschichte als Fortschritt Ein Merkmal dieses Säkularisierungsprozesses der G. ist ohne Zweifel der Begriff des Fortschritts. Die G. nimmt mit Herder und Kant und in den folgenden Jahren – wobei sie das entscheidende Moment der Hegelschen Idee vom Weltgeist durchläuft – entweder als roter Faden zum Besseren hin (Kant) oder als Entwicklung des Menschengeschlechts (Herder) oder schließlich als Selbstbejahung der Vernunft in ihren logischen Formen und in ihren geschichtlich-universalen Erscheinungen (Hegel) immer mehr die philosophische Bedeutung und die methodologische Struktur eines Entwicklungsprozesses an. Die sich hieraus ergebende Auffassung von der G. als Prozess von fortschreitenden Etappen, die sich auf ein Ziel zubewegen, in dem sich die G. und die Gesellschaft des Menschen vollkommen entfalten, ist diejenige, die vom Positivismus erarbeitet worden ist. Die G. folgt, wie die Natur, regelmäßigen Entwicklungsgesetzen, die die konstanten Modi erklären können, dank welcher – so behauptet Comte – die Menschheit allmählich von der theologischen und metaphysischen zur positiven Entwicklungsstufe übergeht. Die G.wissenschaft hat von diesem Gesichtspunkt aus lediglich die Aufgabe, nach den Konstanten und Analogien, die zwischen den Entwicklungsgesetzen »unserer individuellen und kollektiven Natur« und den verschiedenen und aufeinanderfolgenden Phasen der vergangenen G. bestehen, zu suchen. Die Epochen der G. werden also als »bestimmte Phasen einer gleichen grundlegenden Entwicklung« dargestellt. Jede Epoche geht aus der vorangehenden hervor und bereitet die folgende aufgrund unwandelbarer Gesetze vor. 36 Die G. des Menschen bewegt sich konstant zwischen einer Reihe von Polaritäten: Ordnung und Fortschritt, Statik und Dynamik, Sein und Bewegung. Und dennoch bleibt der Fortschritt ein wesentliches Merkmal dieser G. 37 Auch John Stuart Mill stellt Theorien

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über die Existenz von Gesetzen der G. auf, die er allerdings in den Kontext einer umfassenden Forschung über die logischen Gesetze, die dem System der Moralwissenschaften angehören, einreiht. Die Gesetze der G. kennzeichnen sich nicht so sehr durch eine strenge Gleichstellung mit den Naturgesetzen, als durch einen Induktionsprozess, der den Ursprung zur Regelmäßigkeit empirischer Art gibt. Aufgrund dieser empirischen Gesetze ist es möglich, die objektiven Verbindungen von Ursache und Wirkung und den gesamten Ablauf der G. zu erklären. Im Laufe des  Jh. setzt sich – sowohl dank der positivistischen Philosophen und G.schreiber (Buckle, Taine, Villari, usw.) als auch dank des immer größeren Einflusses der evolutionistischen Ideen Darwins – endgültig die Idee vom geschichtlichen Fortschritt durch, die im Zeitalter der Aufklärung, insbes. in den Ausführungen von Turgot und Condorcet, vorbereitet und theoretisiert wurde. Das unaufhaltsame Streben des Menschen nach der endgültigen Bestätigung des ›positiven‹ Geistes nimmt so bei Comte die klare Form einer finalistischen Geschichtsphilosophie (GPh) mit immer ideologischer werdenden Zügen an. Das Zeitalter des positiven Geistes wird nicht nur vom Fortschritt der Wissenschaften und der Technik gekennzeichnet, sondern von dem Erreichen einer Situation, in der – wie dies Comte in seinem Système de politique positive vertritt – eine neue »Religion der Menschheit« eine gesamte moralische und soziale Erneuerung der Menschheit ins Leben ruft. Die Ideologie des geschichtlichen Fortschritts, die die europäische Kultur des . Jh. weitgehend prägt, erschöpft sich freilich nicht nur in der positivistischen Strömung. Sie bestätigt, wie schon bei Comte zu sehen war und noch klarer in den politischen liberalen und sozialistischen Ideologien zu erkennen ist, die Idee einer ›Herrschaft‹ der menschlichen Vernunft über die Praxis und ist schließlich von einem unbegrenzten Vertrauen in die Mittel der Vernunft, die es der Menschheit gestatten, sich auf die Freiheit und auf eine Gesellschaft ohne Vorurteile und Konflikte hin fortzubewegen. Die G. ist, von diesem Gesichtspunkt aus, der progressive und unaufhaltsame Weg der modernen Kultur zu den Eroberungen der Wissenschaft und zu der vollkommenen Entfaltung der politischen und sozialen Freiheit hin. Die Dialektik wird zum einflussreichsten begrifflichen Instrument des geschichtlichen Fortschritts. Diese Dialektik, die mit Hegel die

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Grundlage einer Forschung nach den Methoden bildete, durch welche die konkrete geschichtliche Erfahrung nur aufgrund der Formen der progressiven Selbstverwirklichung des Geistes verstanden werden konnte, wird mit Marx dagegen zur Methode, die den Zusammenhang konkret/abstrakt zu verändern vermag, indem sie nicht die Geistesgeschichte, sondern die G. der materiellen Kräfte der Produktion in den Mittelpunkt stellt. Von diesem Gesichtspunkt aus wird die entschiedene Behauptung von Marx und Engels verständlich, eine »einzige Wissenschaft«, nämlich die der G. 38, anzustreben. In dieser, und nur in dieser bilden sich die materiellen Bedingungen des Lebens, die sich von ihrer ursprünglichen Erscheinung aus allmählich in die natürlichen Prozesse des menschlichen Daseins und in die künstlichen Prozesse der Produktionsweise 39 teilen. Der wahre Ursprungsort der G. ist weder der Geist noch eine außerhalb der realen Lebensbedingungen liegende Vernunft, sondern die aktive Praxis der Menschen und ihre materiellen Bedürfnisse. »Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst.« 40 In diesem Sinn kann die G.auffassung von Marx zugleich als materialistisch und als prozessualistisch definiert werden, da die materielle Grundlage der G. nicht nur von der sinnlichen Tätigkeit des Menschen gebildet wird, sondern auch von den Arten, durch die sich diese Tätigkeit in der Evolution und in der Umformung der Praxis, der menschlichen Arbeit und der Produktionsformen zeigt. Produktion und Reproduktion bilden im beständigen dialektischen Übergang von der G. zur Natur und umgekehrt die Tatsache der G., d. h. das, was als die Grundbedingung aller G. definiert werden kann. 41 Von dieser Grundbedingung ausgehend definieren sich durch die progressive Artikulation und Komplexität die Hauptkategorien (aber auch die wesentlichen Strukturen der sozialen und wirtschaftlichen Realität) des G.verständnisses: Es geht hier um die Faktoren, die zur Bildung und zur Entwicklung der Prozesse der Arbeitsteilung, der sozialen Produktionsverhältnisse, der Produktivkräfte und der Gesellschaftsformationen (die einem geradlinigen Evolutionsprozess folgen, der von den antiken und feudalen bis zu den bürgerlichen geht) geführt haben. Die G.auffassung von Marx kann nicht auf die für sie gewiss wichtige Radikalisierung der Materialität der G.prozesse reduziert werden.

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Wenn es nur darum ginge, dann wäre der historische Materialismus – wie schon Croce in seinen Kritiken am Ende des . Jh. Behauptete – nichts als ein nützlicher Kanon der Interpretation der geschichtlichen Begebenheiten. Vielmehr bedeutet die Anerkennung der zentralen Rolle der G.wissenschaft zusammen mit der grundlegenden materiellen Geschichtlichkeit des Lebens des Menschen für Marx, die wesentlichen Gründe des geschichtlichen Prozesses der Moderne zu verstehen, der durch die entfremdete Arbeit (Entfremdung) und die Enteignung der Produktionsmittel zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geführt hat, und folglich die praktischen Instrumente der Politik und des Klassenkampfes vorzubereiten. 2.5 Krise und Kritik der Geschichte Nach dem Tod Hegels entwickelt sich eine radikale Kritik gegenüber den GPh.n, aber auch gegenüber jedem evolutiven und fortschrittlichen Plan der geschichtlichen Realität. Es wird nicht nur eine aprioristische Auffassung der Weltgeschichte in Frage gestellt, sondern auch die Idee, dass der Verlauf der historischen Ereignisse sich in einer zyklischen Reihe von aufeinanderfolgenden Epochen bewegt, wobei jede dieser Epochen ein unumstößliches Element des Fortschritts zum Besseren und zur zukünftigen Gesellschaft hin in sich trägt. Schon Kierkegaard kritisiert auf entscheidende Weise die Idee eines »fortgesetzten weltgeschichtlichen Prozesses«, von dem nur eine absolute »skeptische Unsicherheit« 42 kommt, womit am Ende jede Form der Weltgeschichte sich nicht als ein Prozess der Bildung von Vertrauen in die Entwicklung der Menschheit offenbart, sondern als einer der Angst. 43 Schopenhauer übt eine ebenso tief greifende Kritik an den Theorien der Geschichtlichkeit und an den GPh; für ihn hat die Philosophie nicht die veränderliche Welt der geschichtlichen Tatsächlichkeit zum Gegenstand, sondern die der erkennenden Formen des »Immer-Gleichen«, und die geschichtliche Realität beschränkt sich, in der ewigen Objektivierung der Welt des Willens, auf eine »zufällige Form der Erscheinung der Idee«. 44 Mit Burckhardt und Nietzsche erreicht die Kritik der geschichtlichen Erkenntnis und Kultur ihren Höhepunkt. In Über geschichtliches Studium weist Burckhardt auf die Gefahren hin, die sich in jedem finalistischen und universalistischem Modell der geschichtlichen Rea-

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lität einnisten, und unter diesen v. a. auf die Gefahr, dass sich eine mythologische Anschauung vom Fortschritt ergeben kann, in deren Namen man dann versucht, das im Leben des Menschen gegenwärtige Böse und Negative zu rechtfertigen. Jede geschichtsphilosophische (gph.) Hypostasierung ist daher die Todfeindin der geschichtlichen Erkenntnis. 45 Für Burckhardt ist die GPh eine regelrechte contradictio in adiecto, denn »G., d. h. das Koordinieren, ist Nichtphilosophie und Philosophie, d. h. das Subordinieren, ist Nichtgeschichte«. 46 Dennoch bedeutet die Ablehnung der G. nicht, dass das Studium der G. und die Möglichkeit der geschichtlichen Erkenntnis zu vernachlässigen wären. Das Fundament der Geschichtlichkeit bleibt das, welches sich auf den »strebenden und handelnden« Menschen gründet, wobei das Studium der Vergangenheit nicht als Vorstufe einer unbegrenzten Entwicklung verstanden wird, sondern als Analyse und Verständnis dessen, was »das Wiederholende, Konstante, Typische« 47 ist. Das Studium des geschichtlichen Menschen und die historische Anthropologie nehmen so den Platz ein, den die Metaphysik und die Theologie in den GPh hatten. Die geschichtliche Realität entfaltet sich für Burckhardt in einer konstanten Beziehung zwischen einer dynamischen Seite und einer statischen Seite. Diese Dialektik wird in der Artikulation der »drei großen Potenzen: Staat, Religion, Kultur« sichtbar; die ersten beiden stellen das statische Moment dar, während die Kultur das dynamische Moment ist. Das Überwiegen des dynamischen Moments der G. verleiht dieser einen offenen und unbegrenzten Charakter, der auch der des Lebens ist. Somit ist die Hauptkategorie der G. für Burckhardt sicher nicht der Fortschritt oder die lineare Entwicklung der in eine theologische Perspektive eingereihten Ereignisse, sondern die ›Krise‹, die ein Zeichen der Vitalität, des Wachstums von neuen Kräften und Formen ist. Der vollkommen neue Diskurs Nietzsches über die Beziehungen zwischen G. und Leben fügt sich in diese Verbindung zwischen Krise und Kritik ein. Nietzsche verzichtet, wie bekannt ist 48, auf die platonische Theorie einer auf die Erinnerung gegründeten geschichtlichen Erkenntnis und erkennt damit den genetischen Ort der historischen Krankheit, die die Fundamente der europäischen Modernität untergräbt. Für Nietzsche ist es paradoxerweise nicht die Erinnerung, sondern das Vergessen, das eine wahre Lebensbedingung sein kann,

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ein erstes wesentliches Mittel gegen die tödliche Infektion, die das Übermaß an geschichtlichem Sinn nicht nur zum Nachteil des Individuums, sondern auch zum Nachteil von Völkern und Kulturen verursacht hat. Nutzen und Schaden, negative Grenzen und positive Aspekte im Gebrauch der G.schreibung werden von Nietzsche in der Gliederung von drei wesentlichen Typologien beschrieben: (a) die »monumentalistische Historie«, die sich als ein Versuch darstellt, die Vielfalt der Lebenstätigkeit mit der Größe und der Mustergültigkeit der Ereignisse zu versöhnen, die die Kontinuität des G.prozesses garantiert (auf diese Art und Weise wird jedoch das schöpferische Vermögen des Lebens gedemütigt 49); (b) die »antiquarische Historie«, die sich bemüht, die von der Vergangenheit hinterlassenen Spuren zu bewahren, um sie den zukünftigen Generationen zu übergeben (am Ende wird so das Altertum verehrt, während das Neue abgelehnt und das aktive Individuum zur Untätigkeit gezwungen wird 50); (c) die »kritische Historie« maßt sich an, die vergangene G. vor dem Gericht des Urteils erscheinen zu lassen, und zeigt sich somit als »die Kraft eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können« 51 (und doch verringert jeder Versuch sie zurückzudrängen nicht die Gefahr, dass die wahre Lebensquelle in den Hintergrund gerät). In allen drei Grundformen sucht und bevorzugt Nietzsche die Motive für die Selbstbehauptung des Lebens, d. h. die Motive, die der Hypertrophie an geschichtlichem Sinn und der Krankheit abhelfen, welche die Zukunft entwurzeln und der Spannung des Lebenden, die in der Gegenwart wirkt, Kraft nehmen. »Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart [. . . ] als Baumeister der Zukunft« nimmt der Mensch die Fähigkeit, nicht nur die Vergangenheit zu deuten, sondern sie auch auf die Bedürfnisse des Lebens auszurichten. 52 Auch der reife Nietzsche kritisiert weiterhin den ›schlechten‹ Historismus, und zwar die kontemplativen Formen der geschichtlichen Erkenntnis, die das Wesen des Lebens und seinen »Willen zur Macht« nicht erkennen und die daher die entscheidende Rolle der menschlichen Kräfte, die einzigen, die neue und schöpferische Interpretationen und Strömungen der G. hervorbringen können, außer acht lassen. »Die ewige Wiederkehr des Gleichen« 53 ist also nicht im Sinne einer unbeweglichen Starrheit des Lebenden zu interpretieren, vielmehr ist sie für den Historiker der einzige Weg, eine bewusste authentische Genealogie der Diskontinui-

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tät/Ungleichheit der Ereignisse und der beständigen Spannung der Kräfte, auf die sich das Leben gründet, zu verwirklichen. 2.6 Geschichte zwischen Leben und Wissenschaft Ein anderer Weg der Rekonstruktion der Geschichtlichkeit und der kritischen Neugründung der G.wissenschaft wird, v. a. in Deutschland, wenn auch nicht einheitlich, von den Historikern und Philosophen verfolgt, die zu der Strömung des Historismus gezählt werden können. Es gibt ein Element, das diese Strömung mit den Ideen von Burckhardt und Nietzsche verbindet, und zwar die Kritik der GPh Diese Kritik zeigt sich jedoch bei Autoren wie Ranke 54 und Droysen, aber auch Dilthey, Troeltsch und Meinecke, nicht nur in der philosophischen Neuformulierung der zentralen Beziehung zwischen Zeit, Leben und Geschichtlichkeit, sondern auch in einem bewussten Versuch, die methodologischen und erkennenden Bedingungen der Möglichkeit des geschichtlichen Wissens zu erkennen. Philosophische G. und philologische G. finden, z. B. bei Ranke, vom Zusammenhang zwischen Verstehen und Universalgeschichte 55 ausgehend, einen möglichen Vermittlungsort. Auch wenn die G. nunmehr jeglichen Anspruch darauf verloren hat, den einheitlichen Sinn der Ereignisse wiederzufinden, indem sie sich einer philosophischen Hypostase anvertraut, bedeutet das nicht, dass man für diese eine Synthese ermitteln kann, die innerhalb der konkreten G.prozesse bleibt. Das ist die Bedeutung der Weltgeschichte Rankes, die keine überarbeitete Form der GPh ist, sondern nur die notwendige, dialektisch offene Verbindung zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen dem, was von den menschlichen Konflikten erzeugt wird und dem, was sich als Tendenz zur Zukunft und zur Entwicklung zeigt. 56 Die G. ist niemals vollendet und auf eine geschlossene Totalität zurückführbar, sie wurzelt immer in den Dingen, Bedürfnissen und den Interessen der Menschen. 57 Aus diesem Grund darf nun das Problem der philosophischen Natur der Geschichtlichkeit nicht von einer Auffassung der G. als objektiver und analytischer Erkenntnis der Tatsachen und ihrer Artikulierung in einer Hermeneutik der Universalgeschichte, die nicht mehr als Weltgeschichte, d. h. als philosophische G. der Welt zu verstehen ist, getrennt werden. Bei Droysen bewegt sich der Diskurs auf einer doppelten Ebene: jener der methodisch-erkennenden Diskussion über die Bedingungen

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und die Grenzen des geschichtlichen Wissens und jener theoretischen philosophischen des Verstehens (Dilthey vertritt die gleiche Position) als bevorzugte Dimension der Geschichtlichkeit der menschlichen Welt. Der Ausgangspunkt ist auch für Droysen die Erkenntnis der Krise des G.bewusstseins, der immer deutlicheren Spaltung zwischen G. und Gegenwart, zwischen der übermäßigen Last der Erinnerung und dem Schwinden der Bedeutung des geschichtlichen Daseins. Die Lösung ist nicht in der GPh zu suchen, sondern in einer Historik, die sich auf die konstitutive Geschichtlichkeit des menschlichen Seins und auf ihre beständige Polarisierung zwischen Geist und Natur gründet. Deshalb ist die G. für Droysen eine epidosis eis auto: d. h. der Erwerb von Kraft und Vitalität, der sich immer von neuem in jeder Individualität (des einzelnen geschichtlichen Phänomens wie auch der geschichtlichen überindividuellen Mächte) zeigt und einen bedeutenden Platz im Ablauf der Entwicklung erhält. 58 Das Werk Droysens beschäftigt sich aber auch damit, den methodischen und erkennenden Apparat der G.forschung zu definieren und aufzubauen. Die Historik erscheint nun als ein »Organon des historischen Denkens und Forschens«, aber auch als Erforschung einer unabhängigen Methode der G.wissenschaft, die der besonderen Natur des G.objekts angemessen ist. Was die verschiedenen Bereiche der Natur und der G. kennzeichnet, ist nicht ein abstrakter Unterschied zwischen Materie und Geist, sondern vielmehr die Unterscheidung der Erkenntnismodelle aufgrund des Überwiegens der räumlichen oder zeitlichen Dimension. 59 Auf diesen Punkt gründet sich Droysens Theorie des Verstehens als Methode und Theorie der G., als Erkenntnisform der geschichtlichen Beziehungen zwischen dem Ich und dem Anderen, zwischen Außen und Innen sowie zwischen Ganzem und Teil. Droysen legt einerseits den Grundstein zu einer ethischen G.auffassung (in deren Mittelpunkt die »ethischen Mächte« – der Staat, die Religion, die Kultur – und die »idealen Gemeinsamkeiten«, in denen sich die Kontinuität der menschlichen Erfahrung zeigt, stehen) und bestimmt andererseits die Koordinaten eines hermeneutischen Modells der geschichtlichen Erkenntnis, die nunmehr jede ontologische und gph. Begründung aufgegeben hat, um sich immer mehr einem kritisch-erkennenden Verfahren für das Verstehen der geschichtlichen Individualitäten und der gesellschaftlichen und

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kulturellen Zusammenhänge, innerhalb derer diese sich entwickeln, zu widmen. Auf diesem Weg begegnet man dem Projekt Diltheys, einer ›Kritik der historischen Vernunft‹. Dilthey konzentriert seine Forschung auf die Hypothese einer anthropologischen und psychologischen Begründung der Geisteswissenschaften, indem er das kritisch-transzendentale Projekt Kants weiterentwickelt und erweitert. Der Auflösungsprozess der traditionellen Metaphysik und GPh ist zu Ende geführt worden: Im Mittelpunkt der geschichtlichen Realität steht der wirkliche Mensch, der nicht in der alleinigen abstrakten erkennenden Dimension oder in der ebenso nur abstrakten natürlichen Dimension betrachtet wird, sondern in der Gesamtheit seiner wollenden, fühlenden und vorstellenden Erlebnisse. 60 Das Individuum muss für Dilthey in der Komplexität seiner grundlegenden Elemente analysiert werden. Dem geschichtlichen Zusammenhang muss sich daher der begründende psychische Zusammenhang anschließen. Die geschichtliche Individualität ist keine abstrakte Monade (das isolierte Individuum, sagte Dilthey in der Einleitung von , ist eine Abstraktion, die irgendwo existiert 61), sie ist vielmehr die einzig wahre Universalität, das bedeutet die Quelle, aus der jede in der Weltgeschichte gegenwärtige aktive Kraft entspringt. Im Leben des geschichtlichen Subjekts – und nicht nur im strengen Apriori der Erkenntnisfähigkeit – werden die geschichtlichen und gesellschaftlichen Kategorien, durch die die historische Vernunft die Verständnisprozesse der Realität fördert, aktiv. Das Objekt der geschichtlichen Erkenntnis, das eine von Vico begonnene Linie in der modernen Philosophie fortsetzt und von Dilthey in die Objektivierungsprozesse des Lebens eingereiht wird, wird dank der Methoden des Verstehens zur Materie der Geisteswissenschaften, einer Materie, die dadurch, dass sie unmittelbar vom Menschen erzeugt wird, noch besser zu verstehen ist. Im Zusammenhang, der zwischen Leben, Ausdruck und Verstehen entsteht 62, baut sich nicht nur die Realität der geschichtlichen Welt auf, sondern es verwirklicht sich eine ganz neue logische und erkennende, aber auch ethische Struktur der Beziehungen zwischen dem Selbst und dem Anderen, zwischen dem Selbst und der Welt. Wenn die G. v. a. Zusammenhang ist – der Zusammenhang ist für Dilthey eine Kategorie, die aus dem Leben selbst entsteht 63 –, wenn sie eine Struktur von vielfältigen Er-

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lebnissen 64 ist, dann versteht sich, dass diese nicht mehr als Objekt einer abstrakten Philosophie oder einer aprioristischen Metaphysik zu verstehen ist, sondern als Begründung und ›Tatsache‹ der G.wissenschaft, d. h. der Analyse der Strukturzusammenhänge (Individuum, Gemeinschaften, Kultursysteme), die die Herrschaft des Geistes ausmachen. 65 Somit haben sich die beiden möglichen Gründungswege der Geschichtlichkeit endgültig voneinander getrennt: Der Weg, auf dem die GPh die Bildung und Definition von unbedingten Normen und Werten einem absoluten überindividuellen Geist anvertraut hat, und der Weg der kritischen G.wissenschaft, »welche jedes transzendentale und metaphysische Prinzip für das Verständnis der geistigen Welt verwirft [. . . ]. Sie leugnet jedes Wissen von einem unbedingten Wert, einer schlechthin gültigen Norm, einem göttlichen Plan oder einem im Absoluten gegründeten Vernunftzusammenhang. Indem sie so die Relativität jedes menschlich, geschichtlich Gegebenen ohne Einschränkung anerkennt, hat sie zu ihrer Aufgabe, aus dem Stoff des Gegebenen ein objektives Wissen über die geistige Wirklichkeit und den Zusammenhang ihrer Teile zu gewinnen«. 66 Das problematische Erbe der Kritik Diltheys an der geschichtlichen Vernunft liegt in diesem bewussten Schwanken der G.auffassung zwischen der Suche nach Zusammenhängen, Prozessen, Relativitätselementen einerseits und der nie erloschenen Tendenz zu einer Bestimmung von stabilen Formen der Totalität (die sog. Weltanschauungen) andererseits. Das Leben selbst ist Wirkungszusammenhang, es ist die Verbindung von Totalitäten, die man jedoch nur durch die Prozesse des individuellen Verstehens erfahren kann. »Der Historiker kann nicht auf den Versuch verzichten, G. aus ihr selbst zu verstehen auf Grund der Analyse der verschiedenen Wirkungszusammenhänge«. 67 Deshalb kann die Geschichtlichkeit nicht nur die Grundlage einer Wissenschaft der geschichtlichen Begebenheiten, oder der G.schreibung, sondern auch die Grundlage einer Lebensphilosophie bilden, die ihre Wurzel in sich selbst findet. 3 Der Methoden- und Theorienstreit über die Geschichte Die Debatte über die Methoden und die Theorien der G.wissenschaft erreicht in den Jahrzehnten des ausgehenden . Jh. und beginnenden . Jh. ihren Höhepunkt. Eines der interessantesten Merkmale die-

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ser Debatte stellt zweifellos die ›Wende‹ dar, die sich nach und nach von der ›politischen G.‹ (die G.schreibung spielte, in Deutschland wie in Italien, in den ideologischen und geistigen Prozessen der Bildung und der Stärkung des einheitlichen Nationalstaates während der zweiten Hälfte des . Jh. eine bedeutende Rolle) zur ›Kulturund Sozialgeschichte‹ (und auch bis zu den Formen der historischen Anthropologie und der sozialgeschichtlichen Psychologie) vollzieht. Die neuen Methoden und Theorien, die sich in Bezug auf die Hypothese der Kulturgeschichte bilden, stellen eine weitere Szenerie dar, innerhalb derer sich die Krise der historistischen Tradition des . Jh. vorbereitet. Im Mittelpunkt der Diskussion unter den Historikern ist die Gesamtheit der Themen, die das problematische Erbe der posthegelianischen Wissenschaft und Philosophie der G. auf verschiedene Arten darstellen, wiederzufinden: der Konflikt zwischen der individualisierenden Methode und der Regelmäßigkeit geschichtlicher verallgemeinernder Gesetze, die Zusammenhänge und die Unterschiede zwischen G. und Kultur, die Debatte über Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften, die Dialektik zwischen Normativität und Relativität sowie die ungeklärte Stellung der G. zwischen Wissenschaft und Leben, zwischen Wissenschaft und Kunst. Am Ende der er entwickelte sich, v. a. in Deutschland, die Polemik über die Kulturgeschichte, die von der historiografischen und zugleich ideologischen Polemik Schäfers 68 gegen die Popularisierung der von der kulturgeschichtlichen Tendenz dargestellten G. ausging, welch daraufhin sofort von Gothein 69 verteidigt wurde. In diesem Zusammenhang (zu berücksichtigen ist der nunmehr grundlegende Einfluss, den die Nationalökonomie und der Verein für Sozialpolitik von Gustav Schmoller, aber auch die Völkerpsychologie von Wundt auf die G.schreibung ausübt) reift allmählich die kulturgeschichtliche Perspektive von Karl Lamprecht heran. 3.1 Karl Lamprecht und Wilhelm Diltey Die G. ist für Lamprecht – der aus diesem Grund von den deutschen akademischen Historikern beschuldigt wird, mit dem kollektivistischen Materialismus und dem Positivismus zu sympathisieren – im wesentlichen ›empirische Wissenschaft‹, die der abstrakten Trennung (die sowohl von den Materialisten als auch von den Idealisten gefor-

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dert wurde) von Freiheit und Bedürfnis ein Ende setzt. Die Freiheit des Individuums ist nach Lamprecht immer eine geschichtliche, nicht aber absolute Freiheit, eine Freiheit, die von der Beziehung zur Zeit nicht absehen kann. Die Rolle des Individuums in der G. kann dank der Psychologie ermittelt werden, die zudem eine der Grundlagen der G.wissenschaft bildet, wobei der Leipziger Historiker schließlich zu der Behauptung gelangt, dass die G. als eine Form von angewandter Psychologie betrachtet werden kann. 70 Lamprecht schlägt – neben der Bewertung der Aspekte der GPh, die in seiner kollektivistischen und legalistischen G.auffassung noch weiterbestehen – eine neue Methode von Kulturgeschichte 71 vor, die imstande ist, die Grenzen der historistischen Ansätze zu überwinden und die G.forschung auf umfassenderen Grundlagen (auch in Hinsicht auf die neuen politischen und sozialen Probleme, die die kapitalistische Entwicklung und die Vergesellschaftlichungsprozesse mit sich bringen) neu zu gründen. Diesen Prozess der Erweiterung des G.objektes vollzieht Lamprecht in seiner monumentalen Deutsche Geschichte, die zwischen  und  erscheint. In ihr wird das konkrete Ziel einer Darstellung der G. des deutschen Volkes (also nicht der deutschen Nation) innerhalb komplexer materieller und kultureller Differenzierungen verfolgt. Dieser Prozess ist nun zu erforschen, wobei einerseits die geschichtlich-ökonomischen Voraussetzungen berücksichtigt werden und andererseits die Instrumente typisch-morphologischer Verallgemeinerung, die Lamprecht in den Kategorien »symbolisch«, »konventionell«, »subjektivistisch«, »impressionistisch« ansetzt. Über die von Lamprecht entwickelten Theorien entzündete sich eine heftige Debatte, in die ein großer Teil der europäischen Historiker (von Meinecke bis Hintze und E. Meyer, von Croce bis Pirenne 72) verwickelt wurde. Neben den verschiedenen Antworten, die die einzelnen Teilnehmer am Methodenstreit zu geben versuchten, und neben der Herauskristallisierung der Positionen, die sich einerseits zur Verteidigung der psychisch-individuellen G. und andererseits zur Hypothese einer kollektivistischen und psychisch-sozialen G. gebildet hatten, blieb als eine nunmehr positive erworbene Tatsache das Bedürfnis nach der Erweiterung des geschichtlichen Interesses und die Tendenz, die Wechselbeziehung zwischen gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren im Studium der geschichtlichen Phänomene für möglich zu halten.

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Die klassische Formulierung der G.wissenschaft des . Jh. und ihrer Philosophie, der Historismus, geriet jedoch endgültig in eine Krise. 73 Diese Krise wurde vom späten Dilthey prophezeit, der in seiner ›Weltanschauungslehre‹ 74, in der er die Relativität der Typen und die zentrale Bedeutung des geschichtlichen Vergleichs theoretisierte, zu dem Schluss gelangte, dass die Kenntnisnahme der unüberwindbaren Widersprüche zwischen den metaphysischen Systemen 75 schließlich nur die immer wiederkehrende und offene Spannung der Bedingtheit zwischen der geschichtlichen Erkenntnis und der Grundidee des Lebens bloßlegte. Eben diese ungelöste Beziehung zwischen der Wissenschaft und dem Leben, zwischen den Formen der geschichtlichen Erkenntnis und der Unerforschbarkeit des Lebens rief die antihistoristische Reaktion Husserls und seine Überzeugung vom zeitlosen und objektiven Wert der Wissenschaft gegen jeden Relativismus hervor. 76 Der radikale Wandel der theoretischen und methodologischen Paradigmen der G.wissenschaft wird mit der großen epochalen Wende des Ersten Weltkrieges und mit den daraus resultierenden Veränderungen, die sich auf die Politik, die Mentalität und die Wissenschaft traumatisch auswirkten, zusehends sichtbar. Die GPh des . Jh. scheinen vom kulturellen Horizont Europas endgültig verschwunden zu sein. Der Historismus gibt zwar noch Lebenszeichen von sich, wie einerseits der absolute Historismus Croces 77 und dessen Theorie über die Reduktion der Philosophie auf eine Methodologie der G. und andererseits das kritische Überdenken dieser Position in den Formulierungen von Troeltsch 78 bezeugen; Gleiches gilt für die ersten Versionen des marxistischen Historismus des . Jh., wie z. B. den A. Gramscis. 79 Doch die Aufgaben der G.wissenschaft konzentrieren sich nun nicht mehr auf die Bestimmung von Gesamtübersichten des G.prozesses, sondern auf die Auswirkung der Ergebnisse der einzelnen Disziplinen und der möglichen Vergleichsformen. Die intellektuelle Atmosphäre des Abendlandes wird von einem Gefühl der Krisis beherrscht, und die beiden bedeutenden Bücher, die den Geist der Epoche symbolisieren, sind die von Spengler 80 und Husserl 81 ; außerdem ist nicht zu vergessen, dass mit den er Jahren die Zeit des Existenzialismus beginnt, die Philosophie der Krisis schlechthin.

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3.2 Max Weber In diesem Zusammenhang sind die neuen Theorien der G. und die Versuche einer Neuformulierung der Methoden der historisch-sozialen Wissenschaften aufgrund ihrer logischen Struktur und erkennenden Grundlage zu analysieren. Max Weber hat die Ergebnisse, zu denen die Theorie Diltheys über das geschichtliche Verstehen (im besonderen die Überzeugung, dass eine neue Bedeutung von geschichtlicher Synthese und Totalität vom Begriff ›Leben‹ als Wirkungszusammenhang ausgehen muss) wieder aufgenommen und verbessert und damit versucht, den Zusammenhang zwischen objektiver Kausalität und individueller Motivierung innerhalb neuer Koordinaten zu setzen. Dieser Versuch ist auch auf dem Hintergrund einer radikalen kritischen Meinungsänderung in Bezug auf die Folgen des abendländischen Rationalismus 82 zu sehen. Die immer größere Neigung zur Differenzierung und Spezialisierung der verschiedenen Lebensbereiche, die allmähliche Trennung der wissenschaftlichen Formalisierungsprozesse von den metaphysischen Weltanschauungen bilden für Weber das Wesen der modernen Welt. Geschichtlicher Perspektivismus und Relativismus einerseits und »Entzauberung der Welt« andererseits bedeuten keinen Verzicht auf die Möglichkeit des geschichtlichen Verstehens, sondern sind ein endgültiger Abschied von jeder metaphysischen und ontologischen G.auffassung. Die G. verliert endgültig jegliche Art apriorischer Notwendigkeit; ihre wahre begründende Kategorie ist die der bestimmten Möglichkeit, die aus dem Konflikt der Werte hervorgeht und die sich im Prozess der Bildung der Idealtypen 83 ausdrückt. Auch wenn Weber im besonderen von der scharfsichtigen Wahrnehmung der rationalistischen Erklärungsprinzipien der geschichtlichen Welt ausgeht, versucht er doch mit der Fundierung des Erkenntniswertes der geschichtlichen Tatsachen und mit der Artikulation einer erneuerten Methode der historisch-sozialen Wissenschaften eine Antwort auf die irreversible Krise des universalistischen Modells zu geben. Was auch immer das Urteil über die Ergebnisse der Reflexion Webers zur G. sein mag, es besteht kein Zweifel darüber, dass diese fähig war, einige bedeutende methodologische und begriffliche Kategorien zu liefern (Wertfreiheit, Wertbeziehung, Idealtypus, Definition des sozialen Handelns und seiner Formen), die in nicht sekundären Bereichen der G.wissenschaft des . Jh. be-

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wusst angewendet worden sind. Man denke nur an die begriffliche und idealtypische Konstruktion des modernen Kapitalismus, an die grundlegende Beziehung zwischen Ökonomie und Religion, an die Rolle der Rationalisierungsprozesse in der kulturellen und sozialen Welt der Moderne oder an den Gebrauch der Analogie und der vergleichenden Methode. In Webers Schema werden die Autonomie und die Individualität der sozialgeschichtlichen Phänomene sicher nicht abgestritten; dies bedeutet jedoch nicht, dass in der Erkenntnis geschichtlicher Ereignisse keine kausalen Folgerungen gezogen werden könnten. Es ist die Art der Beziehung zwischen den mannigfaltigen Ursachen und der Wirkung, welche die historische von der Naturerkenntnis unterscheidet, da die verstehende Analyse des Historikers nur mit Hypothesen und Vergleichen arbeitet und seine Urteile nicht den Charakter der Notwendigkeit, sondern den der Möglichkeit annehmen. Giuseppe Cacciatore 4 Geschichtsphilosophie im . Jahrhundert Zu Ende des . Jh. stehen sich in den Debatten über die GPh zwei kontroverse Lager gegenüber, deren Fraktionen untereinander zerstrittenen sind. Die eine Position ist den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges (W. Benjamin) geschuldet; eine Mehrheit (exemplarisch: M. Heidegger) diagnostiziert eine Sinnkrise der Gegenwart bzw. der Moderne und plädiert deshalb für eine Orientierung ›über die Moderne hinaus‹; eine Minderheit (exemplarisch: H. Arendt) hält eine systematische GPh für nicht mehr möglich. Die andere Position, die sich trotz der dramatischen Ereignisse dieses Jh. um eine Weiterentwicklung der GPh bemüht, wird in drei Gruppierungen vertreten: Die vorherrschende Richtung bilden analytisch orientierte Philosophien; während Auffassungen wie jene von H. Broch oder K. R. Popper der GPh eine Absage erteilen, verfolgen andere – etwa A. Danto, H. White oder K. Röttgers – die Absicht einer analytischen Begründung. Eine Minderheit widmet sich weiterhin einer marxistischen GPh. Eine weitere Tendenz, die – eher umgangssprachlich – unter die Rubrik ›GPh‹ gerechnet wird, stellen die zahlreichen Sinnstiftungsversuche von G. dar, wie sie von Spengler und Toynbee vertreten wurden; in der Philosophie spielen sie heute keine Rolle.

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Allen diesen Richtungen – vielleicht mit Ausnahme von Marxisten und Einzelgängern – ist eine Überzeugung gemeinsam, die das gph. Credo des . Jh. zu sein scheint: Sie richten sich alle mehr oder minder explizit gegen den Hegelschen Entwurf einer GPh. Es gibt in diesem Jh. so gut wie keinen gph. Versuch, der nicht entweder – in ablehnender Grundhaltung – an Hegel anknüpfte (Jaspers) oder von sich behauptete, dort zu beginnen, wo Hegel im . Jh. zu denken aufgehört habe (Heidegger), oder der nicht direkt von der Absicht beflügelt würde, Hegel zu widerlegen (analytische Philosophen). Schließlich ist seit dem letzten Jahrzehnt des . Jh. eine Tendenz zu beobachten, die aus dem hier auch zuvor schon vertretenen Standpunkt vom Ende der (traditionell eurozentristischen) GPh eine philosophiehistorische und empirisch fachwissenschaftlichen Beschäftigung mit der G. der GPh entwickelt, selbst wenn es sich dabei zum Teil auch um eine »›Rehabilitierung‹ einer ›GPh nach der GPh‹ « handeln sollte. 84 4.1 Neukantianischer Beginn und Erster Weltkrieg Beginnend mit Liebmanns ›Zurück zu Kant‹ () oder mit Windelbands Diktum von , Kant verstehen heiße über ihn hinausgehen, entstand eine neukantische Kritik der Kantischen GPh, die über Simmel bis zu Cohen und zu Rickerts Probleme der Geschichtsphilosophie () reichte. Diese Problematik verweist auf die Debatten zur G.wissenschaft und GPh im engeren Sinn, wie sie zu Anfang dieses Jh. begonnen worden sind. Ihr Kern ist die Frage, wie Kants theoretische Philosophie auf den Komplex der G. zu übertragen sei. Zugleich betraf die Auseinandersetzung auch die fundamentale Metaphysikkritik, wie sie fast zur selben Zeit durch den amerikanischen Pragmatismus und die später sog. ›Wiener Schule‹ entwickelt wurde, die den ›Umweg über Kant‹ vermied und mit Vertretern wie K. Popper zur grundsätzlichen Absage an jegliche GPh führte. Einer der Promotoren dieser Fragestellungen war G. Simmel mit seiner in mehreren Aufl. erweiterten und veränderten Schrift Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Bei der ersten Auflage () war noch der alles entscheidende Ausgangspunkt die Überlegung, dass »die Erkenntniskritik der historischen Empirie gegenüber vorbereiten, der philosophischen G.betrachtung gegenüber üben« solle. 85 Die Studie beschränkte sich auf drei Kapitel zu psychologischen Voraussetzungen

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in der G.schreibung, zu historischen Gesetzen und zum Sinn der G. – Gegenständen also, denen sich der Fachhistoriker in der Regel nicht widmet. Mit der beträchtlich erweiterten Fassung () veränderte sich zwar nicht die Fragestellung, jedoch die Blickrichtung. Was Simmel bei seinen durchgängigen Versuchen der Beseitigung »des naiven Realismus« als »Übereinstimmung des Denkens, im Sinne eines Spiegelbildes, mit dem ihm im absoluten Sinn äußeren Gegenstande« 86, anstrebte, war, dass er den in den Naturwissenschaften schon erzielten Erfolg auch für die G. erreichen wollte; er zielte dabei aber weniger auf eine Überwindung des (zeitgenössischen) Psychologismus ab als auf dessen Einbeziehung in sein erkenntnistheoretisches Programm, auf das er über die Beschäftigung mit der Kunst gekommen war. Dem gesellte sich insbes. die neue Aufgabe zu, auch andere Fassungen des ›naiven Realismus‹ – wie den ›historischen Realismus‹ oder ›historischen Rationalismus‹, wie Simmel den historischen Materialismus oder Marxismus nannte – kritisch zu überwinden. 87 Demgegenüber vermittelten Rickerts als Einführung gedachte Probleme der Geschichtsphilosophie eher den Eindruck, ein Nachhall der v. a. von der ›südwestdeutschen Schule‹ des Neukantianismus seit Ende des . Jh. entfachten Diskussion über die nomothetisch/ideografischUnterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften (Windelband) zu sein. Rickert war der Meinung, »dass fast alles, was an gph. Problemen die heutige Zeit bewegt, bereits früher behandelt worden ist, und dass vieles schon damals begrifflich klarer herausgearbeitet war«; gemeint war Kant. 88 Er unterschied drei Elemente: G. (i) als Universal- oder Weltgeschichte; (ii) als »Verallgemeinerung« der die Welt betreffenden einzelwissenschaftlichen Ergebnisse, als Frage nach einem »allgemeinen ›Sinn‹ oder nach [d]en allgemeinen ›Gesetzen‹« des geschichtlichen Lebens; (iii) die Darstellung betreffend, »als Wissenschaft vom geschichtlichen Erkennen oder als ein Teil der Logik«. 89 Dem entsprach die Einteilung seiner Ausführungen: »Logik der Geschichtswissenschaft«, »Prinzipien des historischen Lebens« und »GPh als Universalgeschichte«. Rickert kam zu dem Schluss, dass insbes. der letzte Aspekt gph. Fragens »als der Abschluss des ganzen philosophischen Systems betrachtet werden [könne], wenn [diese Wissenschaft] zu zeigen versucht, wie viel von den systematisch begründeten Werten im bisherigen Verlauf der G. verwirklicht worden ist«. 90 Verbunden

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war mit dieser Hoffnung der Versuch, für die Philosophie zurückzuholen, was sie im . Jh. an die G.wissenschaft verloren hatte. Eine andere Linie hat fast zeitgleich W. Benjamin eingeschlagen. Für den Anfang und die Begründung seiner gph. Bemühungen bildete Kant den Ausgangspunkt. Dies belegt Benjamins erste Dissertationsplanung (ab Oktober ): »Ich werde in diesem Winter beginnen über Kant und die G. zu arbeiten«; die GPh wollte er behandeln, weil in ihr »die spezifische Verwandtschaft einer Philosophie mit der wahren Lehre am klarsten hervortreten müsse«. 91 Angeregt war Benjamin in erster Linie durch die Marburger Schule, v. a. durch H. Cohen: »Meine philosophische Gedankenentwicklung ist in einem Zentrum angelangt«; als ein Thema fixierte er »die geschichtlich fundamental wichtige Koinzidenz gewisse[r] [. . . ] tiefste[r]« Tendenzen der Romantik »mit Kant«; im »Zentrum der Romantik« sah er den »Messianismus«, wobei er »Kants Ästhetik als wesentliche Voraussetzung der romantischen Kunstkritik« verstand. 92 Aus dem »romantischen Begriff der Kritik [sei] der moderne Begriff derselben« hervorgegangen. 93 H. Broch hingegen ging es in seiner Theorie der G.schreibung und der GPh darum, dass »gph.[n] Untersuchungen [. . . ] mit berechtigtem Misstrauen begegnet werden [dürfe]. Unzweifelhaft ist die GPh das spezifische Gebiet alles Dilettantismus in der G. und jedes Feuilletonismus in der Philosophie.« 94 Er stellte die empirisch zutreffende, aber theoretisch unzureichende Kritik der Fachhistoriker an den G.philosophen vor, und bei seiner Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von »Philosophie und Empirie« sowie mit deren jeweiligen »Interessen« ging es darum, die philosophischen Entwürfe von Kant bis Hegel mit den »historischen Interessen« und den zeitgenössischen biologistischen Evolutionstheorien (z. B. Spencer) und mathematischen Modellen in Einklang zu bringen. Öffentlichkeitswirksam wurden die Kontroversen um Kant durch den Ersten Weltkrieg (v. a. die Technik), die für viele überraschende militärisch-ökonomische Überlegenheit der USA und die russische Oktoberrevolution von ; hierdurch erhielten traditionelle Denklinien und Kategorien eine fundamental neue Bedeutung. Die ›Ideen von ‹ bildeten das Erwartungsraster derjenigen, die Deutschland auf den ›Weg zur Weltmacht‹ verpflichten wollten. Sie wandten sich explizit gegen die »Ideen von «, gegen die Franzö-

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sische Revolution und gegen Hegel, der als deren Repräsentant in Deutschland galt. Die gph. Perspektive formulierte Windelbands ›GPh. Eine Kriegsvorlesung‹ (im WS /): ›‹ werde mehr bedeuten als die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege; es sei »die Kultur der Menschheit, um die gerungen wird. Wir erleben eine Selbstzerfleischung der europäischen Gesittung, die wir nicht mehr für möglich gehalten hätten. [. . . ] Und wir Deutsche stehen im Mittelpunkt dieses Ringens, wir sollen erdrückt, wir sollen vernichtet, unser Volk soll aus der Gemeinschaft der Kultur ausgeschlossen werden. [. . . ] Nun aber haben auch wir den Hass gelernt [. . . ] aus der Scham darüber, wie wir unser Heer, das aus Kulturmenschen besteht wie kein anderes, dieses höchste und edelste Menschenmaterial in den Kampf schicken müssen gegen den entfesselten Auswurf der schwarzen und gelben Race«. 95 Ähnlich forderte H. Cohen, gegen die ›verächtlich‹ ›selbstverräterische‹ Unterscheidung »zwischen dem Volke der Dichter und Denker und dem der Kämpfer und Staatenbildner« gewandt: »Führend muss unsere Mitwirkung bleiben, wenn anders dem Geiste und einer universellen Geistesart die politische Führung im ethischen Sinne der Weltgeschichte zukommt«. 96 Der Schock des Ersten Weltkriegs führte aber auch dazu, das die Idee des ›Endes der G.‹ nicht mehr nur, wie Hegel interpretiert wird, als ›Erreichen der Ziele von ‹, als ›Erfüllung‹ verstanden wurde, sondern auch als Katastrophe gedeutet werden konnte und die eigentlich pessimistische Dimension der modernsten abendländischen GPh begründete. GPh überhaupt erschien vielen nun als unmöglich; als ihre pessimistische Variante setzte sich ein Abendland-Nihilismus durch.  schrieb M. Scheler in Genius des Krieges: »Jeglicher Aspekt ist fragwürdig geworden, über jeden herrscht eine unbegrenzte Zahl entgegengesetzter Meinungen – und nur die Masse und die Gewalt geben noch einige Bedeutung«. 97 Die politisch weitreichendste Kritik am geistigen Zustand des . Jh. begründete M. Weber in seiner am Neukantianismus anknüpfenden generellen gph. Skepsis gegenüber der westeuropäischen Säkularisierungs- und Rationalisierungsentwicklung; er begann diese mit seinem Aufsatz ›Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus‹ zu analysieren. Seine Frage lautete: Wie ist zu erklären, dass sich von England aus ein einziges Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Denksystem zunächst in Europa entwickeln und

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dann zum normativen Vorbild für die ganze Welt werden konnte? Als erstes versuchte er diese Entwicklung aus dem motivierenden Moment der protestantisch-calvinistischen ›innerweltlichen Askese‹ zu erklären; dies verwies zweitens auf das im Prozess der Weltreligionen nur in Europa zu beobachtende und von hier die Welt umgreifende Prinzip der abendländischen Rationalität – mit der Perspektive der ›Entzauberung der Welt‹ als ›Sinnentleerung‹. Webers Ansatz beeinflusste nahezu alle gph. Versuche im . Jh. – von Bloch und Lukács über C. Schmitt und Benjamin bis Heidegger, Jaspers, Adorno/Horkheimer und Löwith. Th. Lessing z. B. hielt in Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen () G. »weder für Wirklichkeit noch für Wissenschaft«, und er war sich sicher, »dass Einheit der G. nirgendwo besteht«. »Denn wir erlitten den Zusammenbruch der abendländischen Fortschrittswirtschaft und Entwicklungsphilosophie. Wer die Jahre  bis  wachen Sinnes erlebt hat, der weiß, was er künftig von Entwicklung und Fortschritt in Natur und G. zu halten hat.« In der Hauptsache erklärte er sich somit gegen das Fortschrittsprinzip des G.denkens (»Hölle des Fortschritts«), das er mit dem neuzeitlichen Europa identifizierte und – schon in ›Europa und Asien‹ () – Asien und der Antike gegenüberstellte: »die historische Denkart, welche niemals unmittelbare Gegenwart, Vision und Augenblick hat, [ist] das Vorurteil abendländischer Menschheit [. . . ], während Altertum und Morgenland G. in unserem Sinn nicht besaßen«. Alles aktive Philosophieren seiner Gegenwart beurteilte er als den Prinzipien »der weltübermächtigenden, naturauflösenden europäisch-amerikanischen Praktik und Faktik« verfallen. 98 O. Spenglers Rede vom ›Untergang des Abendlandes‹ zielte darauf, den geopolitischen ›Kontinent‹ Abendland zu verlassen, wenn und insofern Europa auf oder in der zukünftigen Welt noch eine Chance haben sollte. Sein Plädoyer war scheinbar radikaler und entsprach dem nicht viel später so bekannt gewordenen Prinzip von der ›verbrannten Erde‹: Europa, das Abendland, verdiene, zugrunde zu gehen – wenn es denn nicht seinen Gegensatz zu Asien überwinden könne. Befürchtungen und heroische Perspektiven entsprachen dem Zeitgeist: Es war die Rede von der ›gelben Gefahr‹ und die Zeit des extremen Nietzsche-Kultes sowie des politischen ›Pantersprungs‹ nach Agadir . Die Entsendung eines dt. Kanonenboots nach Marokko quittierte Spengler mit dem Ausspruch: »Ich lehre den Imperialismus!«

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Die Programmatik seines Der Untergang des Abendlandes lautete: »Wenn unter dem Eindruck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche und man kann ihnen nichts besseres wünschen«. 99 4.2 Die Zeit des Nationalsozialismus Auch eines der meistdiskutierten Werke dieses Jh. ist als Echo der Kriegserlebnisse zu lesen: M. Heideggers Sein und Zeit (). Es stellt eine GPh dar, wenn auch nicht in der traditionellen Form dieser Gattung. Das Werk setzt ein mit der Frage nach dem ›Sinn des Seins‹ und gelangt über ›Zeit und Welt‹ zum Problem von »Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit«. In dieser Perspektive gibt Heidegger seine gph. Antwort auf die Seinsfrage, die über die »Daseinsganzheit« zwischen Leben und Tod hinausführt: »Wenn die Frage nach der Geschichtlichkeit in diese ›Ursprünge‹ [sc. der Zeit als solcher] zurückführt, dann ist damit schon über den Ort des Problems der G. entschieden. Er darf nicht in der Historie als der Wissenschaft von der G. gesucht werden«; hiermit grenzte er sich kritisch von Simmel und Rickert ab. 100 Heidegger wollte vermeiden, aus der G. ein Objekt des wissenden Erkennens werden zu lassen, um sie als einen Modus des Seins selbst fundamentalontologisch und nicht ohne Frontstellung gegen den neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff – insbes. gegen Hegel – fassen zu können.  lieferte Heidegger in seinen Metyphysik-Vorlesungen für das gesamte . Jh. das gph. Stichwort von der ›Schicksalsentscheidung des Abendlandes aus der Mitte des deutschen Seins heraus‹. Er fragte: Ist das ›Sein‹ »das geistige Schicksal des Abendlandes?«. Er antwortete: »Dieses Europa, in heilloser Verblendung immer auf dem Sprunge, sich selbst zu erdolchen, liegt heute in der großen Zange zwischen Rußland [. . . ] und Amerika«, die beide »metaphysisch gesehen« identisch seien: »dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen«. Die Deutschen seien in der Mitte der Zange, was einschließt, »dass dieses Volk als geschichtliches sich selbst und damit die G. des Abendlandes aus der Mitte ihres künftigen Geschehens hinausstellt in den ursprünglichen Bereich der Mächte des Seins«. Wenn nicht Vernichtung die »Entscheidung über Europa« sein soll, »dann kann sie nur fallen durch

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die Entfaltung neuer geschichtlich geistiger Kräfte aus der Mitte«. 101 Nur ein Jahr später, , präzisierte Heidegger diese Ansicht in einem in Rom gehaltenen Vortrag Europa und die deutsche Philosophie: »Unser geschichtliches Dasein erfährt mit gesteigerter Bedrängnis und Deutlichkeit, dass seine Zukunft gleichkommt dem nackten EntwederOder einer Rettung Europas oder seiner Zerstörung. Die Möglichkeit der Rettung aber verlangt ein Doppeltes: . Die Bewahrung der europäischen Völker vor dem Asiatischen. . Die Überwindung ihrer eigenen Entwurzelung und Aufsplitterung«. Um sich dieser ›Rettung‹ zu vergewissern, schlug er vor: »jeder Anfang der Philosophie ist und kann nur sein eine Wiederholung des ersten [. . . ] Deshalb müssen wir, wollen wir etwas vom Weg der deutschen Philosophie ahnen lernen, Wesentliches vom ersten Anfang bei den Griechen wissen«. 102 Symptomatisch sind auch andere Entwürfe von GPh in dieser Zeit. E. Rothacker z. B. unterschied in dem von ihm verfassten Teil über GPh des Handbuchs der Philosophie zwischen ›materialer GPh‹, »d. h. im Sinne einer Philosophie des lebendigen Geschehens selbst: der geschichtlichen Wirklichkeit« und einer ›formalen GPh‹, der »Historik«, in der »wir alle Bemühungen zusammen[fassen], über unser weltanschauliches und wissenschaftliches Verhalten zur dieser geschichtlichen Welt Klarheit zu gewinnen«; als »einen ersten und knappen Begriff für das Gefüge der geschichtlichen Wirklichkeit« nannte Rothacker das – nicht näher bestimmte – »Volk«; er habe sich »damit begnügen müssen, die philosophische Gefügelehre der geschichtlichen Kerngebilde, die wir Völker nennen, und ihrer Bewegungsgesetze bis an die Grenze zu führen, wo heute die hoffnungsvollen [einzelwissenschaftlichen] Arbeiten an demselben Gegenstand einsetzen, dessen Erforschung wir für die wissenschaftliche Aufgabe der Zukunft halten: das Volk«. 103 Den Abschluss bildete die »existenzielle Reduktion. Rasse und Volksgeist« mit der These: »Der Inhalt der Weltgeschichte ist der Kampf um kulturelle Lebensstile.« 104 In der Auseinandersetzung mit dem Faschismus sind für die GPh – neben der radikalen These von Adorno/Horkheimer, dass die Aufklärung im Faschismus münde, neben Kracauer und neben konservativer Hilflosigkeit post festum (z. B. H. Heimsoeth) 105 – v. a. W. Benjamins ›Geschichtsphilosophische Thesen‹ relevant. Den Gehalt seiner kritischen Auseinandersetzungen mit dem deut-

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schen Historismus, dem Fortschrittsglauben und dem zeitgenössischen Hitler-Stalin-Pakt sowie der verkürzten Marx-Rezeption der damaligen linken Parteien stellten die Abschlussthesen (XIV–XVIII) dar: Vergangenheit als Jetzt, Gegenwart und Gegenstand sowie schließlich – als Erlösung: »Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit[,] durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird«; so ist »jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben«. 106 Mit ›Erlösung‹ ist der Inbegriff sowohl der TraditionsKategorie eingeholt, die mit dem jüdischen ›Ursprung‹ identisch ist, als auch auf die eigentliche Dimension der Benjaminschen GPh verwiesen: ›Erlösung‹ zielt – wohl im Gegensatz zu den meisten anderen zeitgenössischen GPh.n – nicht auf Europa allein, sondern auf die Universalgeschichte: »Der echte Begriff der Universalgeschichte ist ein messianischer. Die Universalgeschichte im heutigen Verstande ist eine Sache der Dunkelmänner«. 107 Zusammenfassend notiert Benjamin  im Tagebuch: »Mein Versuch, eine Konzeption von G. zum Ausdruck zu bringen, in der der Begriff der Entwicklung gänzlich durch den des Ursprungs verdrängt wäre. Das Historische, so verstanden, kann nicht mehr im Flussbett eines Entwicklungsverlaufes gesucht werden«. 108 4.3 Karl Jaspers und Karl Löwith Im . Jh. gibt es nahezu keine systematischen gph. Darstellungen von Rang. Ausnahmen bilden Jaspers’ Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (), ursprünglich eine Vorlesung vom Sommersemester , und in gewisser Weise Löwiths fast gleichzeitig in engl. Sprache erschienenes Werk Weltgeschichte und Heilsgeschehen (dt. ), das zunächst noch den Untertitel ›Die theologischen Voraussetzung der GPh‹ trug, dann aber in den ›Gesammelten Schriften‹ zusammen mit weiteren Arbeiten Löwiths zu Recht mit ›Zur Kritik der GPh‹ untertitelt wurde; es leitete die fachwissenschaftliche Forschung zur G. der GPh ein. Beide Werke sind auch unmittelbare Reflexionen auf die historischen Erfahrungen mit dem NS-Regime und dem Exil. Jaspers bietet eine Zwischenbilanz der herausragenden gph. Topoi dieses Jh.: In den drei Teilen ›Weltgeschichte‹, ›Gegenwart und Zukunft‹ und ›Vom Sinn der G.‹ reflektiert er über das weltgeschichtliche »Schema«, über die »Achsenzeit«, und – bezogen auf die Gegenwart – über »Das schlechthin Neue: Wissenschaft und Technik«, die »Massen«

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als »entscheidenden Geschehensfaktor«, die Grundtendenzen: Sozialismus, Welteinheit und Glaube und über die Bestimmung »unseres modernen geschichtlichen Bewusstseins«. Jaspers benennt zwar einen Begriff von G., eine »Glaubensthese« von der »Einheit der G.«; aber er kennt zwei Seinsmodi: die G. »ist nicht vollendet [. . . ] Ein Abschluss der G. erscheint unmöglich«, und »das Umgreifende von allem, [ist] das Sein selbst«. Entsprechendes gilt für das Wissen von der G., die »mit Blick auf die langen Zeiten der Vorgeschichte« womöglich nur »eine vorübergehende Erscheinung« ist; daraus folgt: »wesentlich ist, dass das Geschichtswissen im Ganzen nicht das letzte Wissen ist«. Deshalb ist das markanteste Resultat der Jasperschen GPh die »Überwindung der G.«; ein »Ungenügen an der G. überfällt uns«. 109 G. gibt keinen Sinn, sie taugt nicht für Sinndeutung; vielmehr gilt: »Es kommt an auf den Anspruch an Gegenwärtigkeit als Ewigkeit in der Zeit. Die G. ist umgriffen von dem weiteren Horizont, in dem die Gegenwärtigkeit als Stätte, Bewährung, Entscheidung, Erfüllung gilt. Was ewig ist, erscheint als Entscheidung in der Zeit. Für das transzendierende Bewusstsein der Existenz verschwindet die G. in der ewigen Gegenwart«. Was bleibt ist die »Grundparadoxie unserer Existenz, nur in der Welt über die Welt hinaus leben zu können [. . . ] Es gibt keinen Weg um die Welt herum, sondern nur durch die Welt, keinen Weg um die G. herum, sondern nur durch die G.«. Übereinstimmungen mit dem Benjaminschen Ansatz sind so offensichtlich wie eine tiefe Differenz: Beiden gemein ist das Denken der Gegenwart als »Stätte, Bewährung und Erfüllung« (Jaspers), als ›Stillstand‹, ›Tradition‹ und ›Erfüllung‹ (Benjamin). Bei Jaspers ist Gegenwart das Geltungs-Moment des Umgreifenden, des ›weiteren Horizonts‹, nicht der G., die sich selber nur als »Weg zum Übergeschichtlichen« erweist, das »ewige Gegenwart« ist; G. ist nur ein ›AlsOb‹; sie »leuchtet wie ewige Gegenwart«. 110 Für Benjamin dagegen ist die eigentliche G. – diejenige, die nicht der herrschenden Anschauungen entspricht – die ›Gegenwärtigkeit‹, »Gegenwart als Erlösung«; dies ist nicht der Marxsche Begriff der befreiten Weltgesellschaft (dieser setzt den Gegensatz zur bisherigen G. voraus), sondern das Konzept der freien Weltgesellschaft. Mit derselben traditionskritischen und europa-nihilistischen Intention schickt Löwith – noch im Exil – seiner philosophischen Kritik der GPh

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eine Begriffsbestimmung der Philosophie der G. voraus als »die systematische Ausdeutung der Weltgeschichte am Leitfaden eines Prinzips, durch welches historische Geschehnisse und Folgen in Zusammenhang gebracht und auf einen letzten Sinn bezogen werden«. 111 Damit entwickelt Löwith den bemerkenswerten Versuch, die neuzeitlichen GPhEntwürfe auf ihre theologisch-christlichen Ursprünge zurückzuführen und zu zeigen, »dass die moderne GPh dem biblischen Glauben an eine Erfüllung entspringt und dass sie mit der Säkularisierung ihres eschatologischen Vorbildes endet«; dabei bedient er sich einer »Darstellung, welche den historischen Fortgang der G.deutungen rückläufig entwickelt«, weil er beim gegenwärtigen nichttheologischen Allgemeinbewusstsein anknüpfen will, methodisch der Gegenwartsbezug geschichtlichem Denken immer inhärent ist und weil er sich mehr oder weniger am Ende des modernen historischen Denkens« sieht. 112 D. h.: Löwith verfolgt die Entwicklung von seiner Burckhardt-Kritik über Marx, Hegel, Phroudhon, Comte, Condorcet, Turgot, Voltaire, Vico, Bossuet, Joachim, Augustin bis zu Orosius und zur biblische Auslegung der G. Löwith konnte damit zeigen – und im Prinzip die heutige ideengeschichtliche Forschung zur GPh vorbereiten –, dass die abendländische Gphil. zum einen das Verhältnis zwischen theologischer Eschatologie und metaphysischer Teleologie, zum anderen das Verhältnis zwischen Tradition und Fortschritt als Kontinuität behandelt. Sein Resümee im Nachwort () lautet, dass sein Versuch die zugrunde liegende »Problematik unseres geschichtlichen Denkens« nicht löse, dass der vom Glauben gestützte »Verkündigung eines wahrhaften eschaton mit jüngsten Gericht und Erlösung« von der modernen Vernunft nicht geteilt werden kann, die sich lieber auf ein »Vertrauen in die historische Kontinuität« gerade auch »im Angesicht von Katastrophen« verlässt: »Auf der Ebene der kundbaren G. würde es in der Tat unvernünftig sein zu erwarten, dass z. B. ein Atombombenkrieg ein für allemal den Zivilisationsprozess, d. h. die menschliche Aneignung der Welt durch konstruktive Zerstörungen, beendigen wird.« 113 Nicht von Ungefähr sind die beiden gph. Versionen von Jaspers und Löwith in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entstanden, von der sie intentional nicht zu lösen sind: Löwiths Kritik bezog sich auf die abendländische Tradition der GPh. Jaspers’ Kritik zielt auf die zukünftigen Perspektive einer weltgeschichtlichen

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Philosophie. 114 Das, worauf das sein Denken nach  abstellte, war das Ende der abendländischen Vorreiterrolle des Philosophierens als Bedingung der Möglichkeit eines Beginns von Weltphilosophie; dies war gleichbedeutend mit der Absage an jegliche weltanschauliche Orientierung von GPh und mit der Frage nach den philosophischen Voraussetzungen dafür, wie G.(n) zu denken ist (sind), was für gewöhnliche und theoriefeindliche Historiker meist unverständlich bleibt. 115 4.4 Neuere analytische Geschichtstheorien Die zugespitzte These von der »Fiktion der Darstellung des Faktischen« hat H. White entwickelt. 116 Er wirft den Historikern, »die einen deutlichen Trennungsstrich zwischen G.schreibung und GPh ziehen«, vor, nicht zu erkennen, »dass jeder historische Diskurs eine ausgereifte, wenn auch nur implizite GPh in sich birgt«; der Unterschied zwischen der Wissenschaft und der Philosophie der G. besteht nur darin, »dass letztere den Begriffsapparat, mit dem sie die Fakten im Diskurs ordnet, an die Oberfläche bringt, während die eigentliche G.schreibung [. . . .] diesen im Inneren des Diskurses verbirgt«. 117 Alles, was wir von der G. aussagen können, sind in erster Linie Aussagen über die G. sind. Jeder sich strikt empirisch-positiv begreifenden G.wissenschaft ist laut White immer auch eine spezielle Philosophie immanent. Whites in Metahistory entwickelte »These ist, dass der dominante Tropus und das dazugehörige sprachliche Protokoll die irreduzibel ›metageschichtliche‹ Grundlage jeder historischen Darstellung sind« und »dass das ›metageschichtliche‹ Element in den Schriften der großen Historiker des vergangenen Jh. auf die insgeheime ›GPh‹ verweist, ohne die sie nicht die Werke hätten schreiben können«. 118 Er bestreitet aber die »verbreitete Auffassung«, »dass der ›metahistorische‹ Unterbau in den theoretischen Begriffen besteht, deren der Historiker sich bedient, um seinen Erzählungen das Aussehen von ›Erklärungen‹ zu verleihen«. 119 Für die geschichtstheoretische Ebene differenziert er drei Versionen bzw. Strategien (argument, emplotment, ideologische Implikation), die ihrerseits jeweils »vier mögliche Ausdrucksformen« aufweisen (Formativismus, Organizismus, Mechanismus, Kontextualismus). Die ›metahistorische‹ Ebene oder ›insgeheime GPh‹ versucht er durch vier Typen der Präfiguration zu erläutern, die der Historiker bei seinem »wesentlich poetischen Akt, der das historische Feld präfiguriert und

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den Bereich konstitutiert«, vollzieht; es handelt sich um Tropen der poetischen Sprache: Metapher, Metonymie, Syndoche, Ironie. 120 Die Ergebnisse seiner Untersuchung reichen von der These, dass es keine »G.schreibung im eigentlichen Sinne« gibt, »die nicht gleichzeitig ›GPh‹ ist«, bis zur These, dass die »Forderung nach Verwissenschaftlichung der Historie [. . . ] lediglich eine Präferenz für eine bestimmte Form historischer Begriffsbildung aus[drückt], deren Gründe entweder moralische oder ästhetische sind, deren epistemologische Begründung jedoch noch aussteht«. 121 A. Danto war von Ayers »Bemühungen um eine Analyse von Sätzen über die Vergangenheit« sowie von dessen Argumentation beeindruckt, dass »keine Aussage als solche eine über die Vergangenheit ist«. 122 Schon in Language, Truth and Logic hatte Ayer darauf verwiesen, dass zwar »Propositionen, die sich auf die Vergangenheit beziehen, denselben hypothetischen Charakter haben wie diejenigen, die sich auf die Gegenwart und diejenigen, die sich auf die Zukunft beziehen«, dass aber diese »Tatsache« in keiner Weise bedeute, »dass diese drei Arten von Propositionen nicht unterschieden sind. Sie werden nämlich durch verschiedene Erfahrungen verifiziert und dienen ihrer Aussage.« Ayer sah »nichts übertrieben Paradoxes in der Ansicht, dass Präpositionen über die Vergangenheit Regeln zur Vorhersage solcher ›historischer‹ Erfahrungen sind, von denen man gemeinhin behauptet, dass sie diese verifizieren. Und ich sehe nicht ein, wie sonst ›unser Wissen um die Vergangenheit‹ analysiert werden sollte.« 123 Hiermit setzt sich Danto in einem Kapitel über Verifikation, Verifizierbarkeit und zeitabhängige Aussagen kritisch auseinande. 124 Sein Problem erläuterte er am ›gegenstands‹bezogenen Beispiel der Unterscheidung von G. ›als Wirklichkeit‹ und ›als Urkunde‹; er stellt fest, »dass etwas nur vermittels der Beziehung auf ›G.-als-Wirklichkeit‹ als ›G.-als-Urkunde‹ konstituiert werden kann«. Es sei »ein wenig einfältig, sich darüber zu wundern, wie es möglich sei, von ›G.-als-Urkunde‹ zu ›G.-als-Wirklichkeit‹ überzugehen. Denn schon indem etwas für ›G.-als-Urkunde‹ angesehen wird, hat man diesen Schritt vollzogen. Andernfalls würden wir eben nur Dinge sehen. Nur allzu oft beginnen erkenntnistheoretische Diskussion über G. mit einer grundsätzlich falschen Annahme: das wir alle zeitlich illiterat seien. Es wird natürlich zu einer drängenden Frage, wie wir von der Gegenwart zur Vergangenheit gelangen können. Wir

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könnten es nicht, so heißt es, aus dem einfachen logischen Grunde, weil es in jeder Schlussfolgerung von einem gegenwärtigen Datum auf ein vergangenes Faktum notwendigerweise einer allgemeinen Regel bedürfe«. Danto zufolge ist eine »Tatsache, dass wir unsere Konzeption von einer Vergangenheit automatisch erwerben, genauso wie wir unsere Sprache erwerben, die reich an vergangenheitsbezogenen Prädikaten ist. Ohne diesen Sachverhalt ist es mir unmöglich, einzusehen, wie G. überhaupt beginnen sollte«; diese Einsicht sei auch das große Verdienst G. Vicos, der die Entstehung der Sprache mit dem Beginn der G. identifizierte. 125 Im Unterschied zum praktizierenden Historiker bezieht Danto freilich seine ›Gegenstands‹-Bestimmung von G.wissenschaft und GPh ausschließlich auf ›Aussagen‹, und sein G.begriff ist auf ›Vergangenheit‹ reduziert. Eine grundlegende Zusammenfassung und Darstellung der klassischen Spannweite von G.wissenschaft und GPh hat K. Acham vorgelegt. Er differenzierte den Terminus ›G.‹ in das vom Historiker unabhängige Geschehen und in die Erforschung (Historie), um der GPh eine doppelte Aufgabe zuzuweisen: als Theorie der historischen Entwicklung das Geschehen zu behandeln und als Theorie der G.wissenschaft eine Philosophie der historischen Forschung darzustellen 126 ; letzterer geht es um die Prinzipien des historischen Erkennens. Damit ist das Feld der analytischen GPh beschrieben, die in der Hauptsache »eine Methodologie der Rechtfertigung, nicht [. . . ] eine Methodologie der Entwicklung historischer Aussagen« ist. 127 Wie Ayer, Quine und Danto, steht auch Acham in der Tradition der Diskussion über das Verhältnis von Empirie und Theorie des historischen Wissens bzw. Erkennens; er steht dem traditionellen antimetaphysischen oder antispekulativen Affekt der Vorgänger allerdings skeptisch gegenüber. Seine den weiteren Komplex der (historischen) Sozialwissenschaften einbeziehenden Untersuchungen zum »Verhältnis von Tatsachen und Theorien«, zu »rationalen und nicht-rationalen Deutungen« und zu »Erklärungen« sowie »Darstellungen« im historischen Bereich fallen für die Wissenschaft und Philosophie der G. freilich ein wenig zu optimistisch aus: Die bei Soziologen vergleichsweise fortgeschrittenen Theorie-Debatten sind nicht typisch für die Philosophen und Wissenschaftler im Bereich der G. Während in den USA die Debatte über die analytische GPh schon in

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der er Jahren weitgehend für beendet erachtet wurde, wird im deutschsprachigen Bereich eine Folgediskussion geführt. So versucht etwa K. Röttgers 128 die Auseinandersetzungen über die Erzählstrukturen von ›G.‹ zu rekonstruieren und weiterzuführen. Die Positionen der analytischen Philosophie berücksichtigend, hat er konkurrierende Ansätze – etwa der Hermeneutik – einbezogen. Im Zentrum des Interesses stehen Überlegungen zur Textualität historischen Geschehens, zu den verschiedenen (historischen) Zeitstrukturen, zu den Debatten über Macht, Identität, Sozialität und das ›Ende der G.‹ (›post-histoire‹), wie sie zum einen seit etwa der Mitte der er Jahre (beginnend mit M. Foucault) geführt wurden, zum anderen aber v. a. in einer aktuellen kommukations- bzw. diskurstheoretischen Perspektive weitergeführt werden. Lars Lambrecht 5 Geschichte und Sozialwissenschaft So sind die Motive leichter zu verstehen, dank derer sich, von Weber an, die immer engere Beziehung zwischen G. und Soziologie gefestigt hat, die auch die neuen theoretischen und methodologischen Paradigmen der G.wissenschaft des . Jh. geprägt hat. 129 Das Übereinstimmen von geschichtlichem und soziologischem Wissen kennzeichnet die theoretische Reflexion über die G. in den Tendenzen, die das Bedürfnis ausdrücken, eine Reihe von Instrumenten zu erarbeiten, die dem Verstehen dienen und der Evolution eines geschichtlichen Prozesses, der immer mehr von der sozialen Gesamtheit geprägt wird, möglichst angemessen sind. Es geht hier jedoch nicht um eine Erscheinung der abstrakten Versozialwissenschaftlichung der G.; der methodische und begriffliche Einfluss ist zweifellos wechselseitig: Während die typologische und nomologische Struktur der Soziologie der G.forschung unentbehrliche Hilfsmittel liefern kann, tragen der Sinn der Historizität, die Relativität der Urteile und die Vielfältigkeit der geschichtlichen Zeiten ebenso dazu bei, die Methoden und Inhalte der Sozialwissenschaft zu historisieren/zu individualisieren. Mit der französischen Schule der Annales scheint der Wandel des theoretisch-methodologischen Paradigmas endgültig vollzogen zu sein. Der traditionellen Idee einer pädagogischen und pragmatischen G. oder der ebenso traditionellen Idee einer linear-evolutionären G. folgt

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eine im wesentlichen ›strukturale‹ Auffassung. In den Forschungen von Marc Bloch, Lucien Febvre und Fernand Braudel (und in ihren theoretischen Voraussetzungen) sind Anzeichen dieser paradigmatischen Veränderung deutlich sichtbar. Das historische Ereignis wird nicht mehr in seiner ›Beispielhaftigkeit‹ betrachtet, sondern als ›Funktion‹ eines Veränderungsprozesses, der sich nicht auf einer univoken Zeitskala verortet. Dieser Wandel lässt sich nicht nur in einer regelmäßigen und beständigen Entwicklung interpretieren, sondern auch in den Abschnitten, die von Unterbrechungen und Diskontinuitäten gezeichnet sind. In dem Moment, in dem die europäische Kultur von tief greifendem Wandel in der Auffassung der Zeit und ihren physischen, psychischen, sprachlichen und sozialen sowie philosophischen Koordinaten (von Bergson bis Freud, von Einstein bis Heisenberg, von Husserl bis Heidegger, von Saussure bis Wittgenstein) geprägt wird, scheint auch die G.theorie von den Auswirkungen einer Revolution betroffen zu werden, die die traditionellen kodifizierten Auffassungen vom Leben, von der Zeit und der Sprache in Frage stellt. Die G. ist nicht mehr nur G. des Auffallenden und ›Monumentalen‹, G. großer Schlachten und großer Menschen; sie will jetzt auch G. von Räumen, Orten, von Klimata und Landschaften, von materiellen Kulturen und Mentalitäten, von sozialen Gruppen und anonymen Massen sein. Die Zeit wird nicht mehr in ihrer evolutiven Linearität betrachtet; vielmehr will man in ihr die Pluralität der Ebenen (von den unmittelbarsten bis zu den sogenannten von ›langer Dauer‹) und die Kreuzung der einzelnen Wege vertiefen. Auch wenn es wahr ist, dass mit dem neuen theoretisch-methodologischen Paradigma die Strukturen im Vergleich zu den einzelnen und kollektiven Individualitäten bevorzugt werden, bedeutet dies nicht, dass die G. vor dem Determinismus kapituliert (auch wenn derartige Elemente auch im Strukturalismus des . Jh. zu finden sind). Braudel 130 stellt das Problem, die Analyse einer Struktur niemals auf eine im voraus gebildete und künstliche Art von ihrer bestimmten Zeitlichkeit und von der mit ihr verbundenen Historizität zu trennen. Neben einer ›fast unbeweglichen‹ Struktur der Zeit, die man in den Klimaveränderungen und in der Folge der Erdzeitalter lesen und interpretieren kann, gibt es eine von ›langer Dauer‹, die die Epochen und G.zyklen betrifft, und eine weitere, die mit der ›kon-

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junkturellen Zeit‹ verbunden ist, die wiederum mit den Prozessen der politischen, ökonomischen, demografischen und kulturellen Veränderung verbunden ist. Schließlich gibt es die kurze Zeit des ›Ereignisses‹, des geschichtlichen Phänomens, das im einzelnen politischen, ökonomischen, kulturellen Ereignis entsteht. Diese andersartige Auffassung von den historischen Zeiten setzt nicht nur die theoretische Paradigmaveränderung der G.wissenschaft aufs Spiel, sondern trägt dazu bei, die ganze Karte der möglichen Beziehungen zwischen der G. und der Gesamtheit der Geisteswissenschaften neu zu zeichnen: von der Anthropologie bis zur Psychologie, von der Wirtschaft zur Demografie, von der Ethnologie zur Soziologie. Dies ist möglich, da jeder dieser Bereiche dazu tendiert, die eine oder die andere zeitliche Ebene zu bevorzugen. Nur in diesem Zusammenhang kann man den Sinn der ›Globalgeschichte‹ Braudels richtig verstehen. In dieser geht es nicht um eine Rückkehr zu einer universalistischen GPh, sondern nur um die Anerkennung der Tatsache, dass die pluralen Bereiche der menschlichen Erkenntnis (Pluralismus) immer zu einer unabdingbaren Dimension der Historizität, Soziabilität und Zeitlichkeit gehören. Das Bild der G.wissenschaft zwischen der ersten und der zweiten Hälfte des . Jh. wird jedoch nicht nur von den Erfahrungen der französischen Historiografie oder von den Modellen einer neuen Sozialgeschichte geprägt, die sich in Frankreich, aber auch in Deutschland, England und Italien entwickelt hat. Die Wiederaufnahme der Debatte – besonders im angelsächsischen Raum – über die wissenschaftliche oder narrative Natur der G., über die G. als Erklären oder als Verstehen 131, hat u. a. dazu beigetragen, die Diskussion über die Beziehungen zwischen G. und Sozialwissenschaften sowie zwischen G. und Wissenschaft im allgemeinen wieder zu entfachen. 6 Der Konflikt der Erklärungsmodelle Die Versuche der neopositivistischen Epistemologie (Neopositivismus), ein allgemeines hypothetisch-deduktives Erklärungsmodell zu begründen, das sowohl der Definition allgemeiner Gesetze als auch der Ermittlung von Wahrscheinlichkeitsbereichen dient, wenden sich nicht nur den Logiken und den Sprachen der Wissenschaft zu, sondern auch den Methoden und den Inhalten der G. Mit C. G. Hempel 132 wird die Hypothese einer Einheit des wissenschaftlichen Modells

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aufgestellt, das auch auf die Inhalte der geschichtlichen Erfahrung angewendet werden kann; deren Erklärung liegen allgemeine Gesetze zugrunde, die denen ähnlich sind, die bei der Erklärung der Phänomene der physischen Welt verwendet werden. Man will die traditionelle GPh nach dem Modell der analytischen Philosophen durch das Verfahren der Zergliederung des geschichtlichen Textes in seine logischen Elemente ersetzen, um ihn von jeder Hypothek dialektischer und teleologischer Art zu entlasten. Dieses Erklärungsmodell beschränkt sich jedoch nicht nur auf einen reinen Mechanismus der Übertragung der Naturgesetze auf die G. Es wird überarbeitet und auch aufgrund funktionalistischer und probabilistischer Korrektive neu artikuliert. Schon mit Dray 133 z. B. ist in der G. das Modell der allgemeinen Gesetze aufgegeben und durch ein Modell rationaler Erklärungen ersetzt worden. Dank der Verwendung theoretischer Paradigmen, die immer die Notwendigkeit der Verbindung von Sprachanalyse und G.wissenschaft 134 hervorgehoben haben, rückt der Text in der Erklärung der geschichtlichen Begebenheiten in den Vordergrund. »Was die G. ist, sagt uns die Historie – nicht in ihrem Inhalt, sondern in ihrer Form: in der Art, wie sie das Gewesene temporal, logisch, sprachlich strukturiert und dadurch aus Geschehen G. macht. Der veränderte Kontext eröffnet neue Querverbindungen, schlägt Brücken zwischen der philosophisch-historischen Analyse und sprach- und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen«. 135 Somit wird für die G. als Besonderheit ihr erzählender Charakter geltend gemacht. Aufgrund der von A. Danto 136 formulierten Hypothesen ist behauptet worden, dass die G. nicht auf ein rein erklärendes Verfahren zurückgeführt werden kann, da die Besonderheit des G.machens in der Erzählung der Ereignisse, in den ›erzählenden Sätzen‹ liegt, die die verschiedenen Ereignisse logisch und zeitlich wieder miteinander verknüpfen. Derselbe empirische Charakter der Gegebenheit findet seine mögliche Erklärung in den Formen, die der Historiker von seiner Rekonstruktion zu geben vermag. Auch die narrativistische Historie (Narration) zeigt sich v. a. als ein Versuch, den Sinn und das Objekt der G. unabhängig von allen Schemata der GPh wiederzufinden. Poesie, Metapher und Erzählung bilden nun unabhängige, originale Momente der Darstellung der Welt, die nicht nur in ihrer engen deskriptiven Funktion zu bewerten sind, sondern

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in ihrer Fähigkeit, sich als Modalitäten der Erkenntnis der geschichtlichen Zeitlichkeit 137 zu zeigen. Dieselben rhetorischen Figuren (insbes. die Metapher) verlieren den technisch-formalen Charakter der antiken Tradition der Renaissance und des Barock und werden Artikulationen von Sinn und einheitlichen Synthesen, die so die historischen Ereignisse antizipieren und darstellen können. 138 Ein bemerkenswerter Teil der Reflexionen im . Jh. über die G. ist von der in den Theorien M. Heideggers und H.-G. Gadamers ausgearbeiteten hermeneutischen Philosophie stark beeinflusst worden. Heidegger unterzieht jegliche Zurückführung der Historizität auf Prozesse des wissenschaftlichen und objektiven Verstehens einer harten Kritik und beabsichtigt, auf den ursprünglichen Bereich der geschichtlichen Erfahrung der Zeitlichkeit des Daseins 139 zurückzugehen, das nicht mehr nur Grundlage der geschichtlichen Erkenntnis ist, sondern Maßstab aller Daseinsformen, d. h. der ganzen Seinsgeschichte. Gadamer verwandelt die ursprüngliche klassische Bedeutung des Verstehens in eine universale Hermeneutik, die imstande ist, die Formen des menschlichen Daseins als Sinnartikulationen des geschichtlichen Seins des Subjekts zu begreifen. 140 Auf diese Weise wird in antipositivistischem Sinne der Erfahrungsbegriff, der sich in seiner grundlegenden geschichtlichen Dimension als komplexe Erfahrung der vollendeten Zeitlichkeit des Menschen zeigt, rehabilitiert. 141 7 ›Geschichte‹ am Ende des . Jahrhunderts In den letzten Jahrzehnten des . Jh. hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die Arbeit der Historiker und die epistemologische und philosophische Reflexion über die G.wissenschaft von jeglicher Abhängigkeit von den GPh frei ist. Was heute immer mehr auf dem Gebiet der G.studien vorherrscht, ist ein »Klima der Kritik und der Ernüchterung gegenüber der Fortschrittsideologie«. 142 Dies bedeutet auch, dass die Möglichkeit für die G., in unserer Zeit einen philosophischen Wert und eine philosophische Bedeutung zu bewahren, mit den Prozessen der methodologischen und epistemologischen Klärung der G.wissenschaften und mit der Vielfalt der G. und des Wissens um die G. verbunden bleibt, und sie somit jede Scheinforschung von Systemen totaler Erklärung oder globaler Ableitung geschichtlicher Begebenheiten aufgibt.

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Es bleibt jedoch eine Möglichkeit, die Funktion des philosophischen, als kritische Reflexion über das Tatsächliche und über seine vielfältigen Dimensionen verstandenen Denkens und die theoretischen und methodischen Modelle der G. miteinander zu verbinden. Diese Möglichkeit wird wieder einmal von der unabdingbaren Beziehung zwischen der Historizität und der Zeitlichkeit gegeben. Koselleck 143 hat richtigerweise betont, dass auch die äußerst formalisierten Erfahrungsmodi der Zeit (die Nichtumkehrbarkeit der Ereignisse, ihre Wiederholbarkeit, die Gegenwärtigkeit von Nicht-Gegenwärtigem) und ihre Verbindung mit Begriffen wie Fortschritt, Dekadenz, Situation, Dauer, Beschleunigung usw., zugrunde liegen: Kurz, sie bilden die Grundlage von allen möglichen Definitionen, durch die sich die geschichtliche Dimension äußert. Der entscheidende Charakter der geschichtlichen Zeit bildet die Achse der G.theorien und ihrer Forschung. Trotz des oft zur Schau gestellten ›Endes der G.‹ scheint das, was heute in den Vordergrund rückt – wenn auch im richtigen Abstand, auf den die historiografischen Strömungen gegenüber vorfabrizierten philosophischen und ideologischen Schemata aufmerksam machten – eine erneuerte Verbindung von philosophischen Konzeptualisierungen und Theorisierungen zu sein, die sich auch auf die Veränderungen der G.wissenschaft auswirken. Man denke an das Erbe Webers, das in einigen Strömungen der Sozialgeschichte 144 fortgedauert hat, man denke an die Modelle der philosophischen Hermeneutik und der rhetorischen Philosophie, die einige Versionen der narrativen G. beeinflusst haben, und an die Wiederaufnahme der Debatte über die Kulturgeschichte 145 und über die G.kultur 146, man denke schließlich auch an die Wiederaufnahme des Vergleichs zwischen Historismus 147 und G.wissenschaft. 148 Einem Wort von Veyne 149 zufolge ist eine erneuerte philosophische Dimension der G. nur insofern möglich, als man deren wiederkehrendes Bedürfnis nach Konzeptualisierung erkennt. Das Interesse an der G., die Debatten über die Vergangenheit und die Erblasten auf dem Bewusstsein der Menschen, die Arten, in denen die G. sich immer wieder mit dem Leben der Gegenwart verbindet, kurz, alles, was von der von den postmodernen Bildern der Gegenwärtigkeit genährten Ernüchterung vertrieben worden zu sein schien, zeigt sich mehr denn je am Horizont des ausgehenden Jh. Das . Jh. hat mit dem Metho-

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denstreit begonnen, mit der Debatte über die Natur der G. und über ihren wissenschaftlichen Status. Es geht mit scheinbar identischen Fragen zu Ende, die aber immerhin von neuartigen Problemen des Heute hervorgerufen werden, die wieder einmal das Schicksal der G. als ethischen 150, anthropologischen und politischen Horizont der menschlichen Welt betreffen. Giuseppe Cacciatore 8 Ende der Geschichtsphilosophie? Bei der seit Ende des . Jh. zu beobachtende Tendenz eines Endes der GPh wäre zum Jahrtausendwechsel ein konjunkturbedingter Umschwung zu neuen gph. Spekulationen zu erwarten gewesen, wie sie auch zumindest feuilletonistisch »zuhauf zu lesen waren« 151, wobei allerdings die gewohnte geschichtswissenschaftliche Ablehnung der GPh als »Hybris« (Wehler) ebenso wie die Sinnstiftungsversuche von Historikern im Stile eines popularisierten Heidegger über das »Zwischen Anfang und Ende der G.« als ›Historische Existenz‹ (Nolte) dominierten. 152 Stattdessen aber wurden – insbes. aus den USA – zum einen umfangreiche Studien und meist politikwissenschaftliche Diskussionen zu Themen wie z. B. ›In Vorbereitung des . Jh.‹ von P. Kennedy oder zur ›Neugestaltung der Weltpolitik im . Jahrhundert‹ (›The Clash of Civilisation‹ von S. Huntington) publiziert. Zum anderen wurde eine wirklich gph. Debatte geführt, die jedoch nicht als solche firmierte, sondern unter dem Label eines ›Endes der G.‹ (›posthistoire‹) eine kaum zu überschauende Publizität erfahren hatte; sie wurde eingeleitet oder wiederbelebt durch die an A. Kojèves HegelInterpretation anknüpfende These F. Fukuyamas 153 vom ›Ende der G.‹, die – zunächst noch mit einem Fragezeichen versehen – vor dem Herbst  in der offiziösen Zeitschrift der U. S.-amerikanischen Außenpolitik ›The National Interest‹ erschienen war; sie wurde  zum gleichnamigen Buch (mit ohne Fragezeichen) erweitert und von den einen als triumphaler Sieg des Westens sowie der Marktwirtschaft und von anderen als Kassandra-Warnung vor der vermeintlichen Erfüllung des bürgerlichen Zeitalters sowie seiner beginnenden Perspektivlosigkeit diskutiert. – Kojève – dessen Werk seinerzeit zunächst auf große Teile der franz. linken Intelligenz und bald auch international bis heute eine erhebliche Wirkung hatte – rekurriert mit seiner These

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vom ›Ende der G.‹ 154 auf Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ 155 von  – das Jahr des Tilsiter Friedens und des Höhepunktes der Napoleonischen Macht, in der Hegel nach der Interpretation von I. Fetscher »den wesenhaften Abschluss der G.« 156 gesehen haben soll. So interpretiert Kojève ohne direkten Zitatnachweis das gesamte Kapitel VI der ›Phänomenologie‹ 157, bezieht sich darauf allerdings nicht systematisch, sondern auf Hegels ›Enzyklopädie‹, und zwar im Abschnitt ›Begriff und Einteilung der Logik‹ auf den berühmten §  (»Das dialektische Moment ist das eigene Sichaufheben«): »Alles Endliche ist dies, sich selber aufzuheben.« 158 Kojève schlussfolgert daraus seine spezifische gph. These und Hegel-Interpretation, dass, wenn sich das endliche Wesen dialektisch selbst aufhebe, daher »die G. selbst wesentlich endlich sein« muss; »die Weltgeschichte muss ein definitives Ende haben«. 159 Wie wenig dagegen allerdings die apokalyptische bzw. unsinnige Vision eines faktischen Endes der G. gemeint sein kann, zeigt der systematische Bezug auf Hegels ›Enzyklopädie‹, III. Teil, . Abt. »Der objektive Geist«, c. »Der Staat«, Abschnitt γ : »Die Weltgeschichte«, §  ff.: Hier geht es Hegel um die These, dass es einen »absolute[n] Endzweck der Welt« als »Weltgeist« gebe, und zwar als »Entwicklung in der Zeit« – »und damit als G.« – und in dieser Abfolge, dass »der G., und zwar wesentlich der Weltgeschichte als Endzweck an und für sich zum Grunde liege und derselbe wirklich realisiert worden sei und werde [. . . ], dass überhaupt Vernunft in der G. sei« – und dass schließlich dieser objektive Zweck in der Realisierung der Freiheit liege. 160 Somit ist aber gegen Kojève die Bedeutung einer nicht trivialen Rede vom Ende der G. nur als Aufhebung des Endlichen in der Objektivität des Geistes, der Vernunft und der Freiheit zu verstehen. Im Unterschied hierzu wird Kojève von Fukuyama rezipiert, der behauptet, dass Hegel mit Napoleons Sieg über Preußen in Jena » das Ende der G. proklamiert« habe 161 ; damit wolle Kojève Hegel nicht widerlegen, sondern nachweisen, dass dieser bis heute hin Recht behalten habe mit der Verwirklichung der französischen Revolutionsideale von Freiheit und Gleichheit und als Vollendung und Ergebnis aller bisherigen G. in der bürgerlichen Gesellschaft. Dieses konstatieren ganz ähnlich sowohl die bereits von J. Habermas 162 kritisierte gph. Position in ›Kritik und Krise‹ von R. Koselleck (), die wie bei Kojève auf dieselbe Inspirationen

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von L. Strauss und C. Schmitt zurückgeht und bis zu den heutigen U. S.-amerikanischen Neokonservativen reicht, als auch die »rettende Kritik« der Hegelschen GPh von J. Rohbeck. 163 Nach dem Vorbild Kojèves geht es Fukuyama darum, die Gegenwart Ende des . Jh. so zu verstehen, dass die beiden historischen Herausforderungen des Liberalismus und des demokratischen Staates – Kommunismus und Faschismus – diesen nichts hätten anhaben können, sondern nur für ihren weiteren Ausbau und ihre räumliche Verbreitung über Europa und Nordamerika hinaus gesorgt habe. Fukuyamas Intention dabei ist, den »Triumph des Westens, des westlichen Denkens [. . . ] in der völligen Erschöpfung aller Alternativen zum westlichen Liberalismus« nachzuweisen und damit die Hegelsche GPh von dem »verzerrenden Filter des Marxismus« zu befreien. 164 Anders gelagert sind die Positionen von Kittsteiner und Rotermund. Rotermund plädiert »für eine Erneuerung der GPh« in der Tradition Hegels und Marx’. Er wendet sich damit gegen »eine beinahe generelle Weigerung des heutigen Denkens, den Kantischen Horizont zu überschreiten«. 165 Kittsteiner argumentiert zunächst zur Unhintergehbarkeit gph. Denkens und rekurriert dabei auf Entwürfe von Adam Smith, Kant, der Junghegelianer, von Marx und Nietzsche und nicht zuletzt von Benjamin, wobei er neuerdings allerdings bemüht ist, die gph. Ansätze von Marx und Heidegger zwar in Einklang zu bringen, sie aber zugleich auch in der gewöhnlichen antiteleologischen Perspektive zu deuten. 166 Auch Rohbeck geht es entsprechend dem Untertitel um eine »Rehabilitierung« der GPh, faktisch aber um eine Zusammenführung zweier seiner Forschungsschwerpunkte, nämlich der Gund der Technikphilosophie. 167 Dieser Ansatz mag für G.philosophen plausibel sein, wenn man im Gefolge des sog. Siegeszuges der Technik besonders seit dem . Jh., der Industriellen Revolution und ihres Fortschrittsglaubens darin die essenziellen Bestandteile einer spezifischen GPh des . Jh. und der Moderne verorten will; allerdings ist dieser Entwurf dann doch nicht mehr in der ›klassischen‹ GPh-Systematik durchgeführt, sondern diskutiert eher fachwissenschaftlich umfassend moderne Aspekte sozial-, kulturhistorischer und sozialökonomischer Provenienz von der ›technischen Zivilisation‹ über die ›Globalisierung‹ bis hin zum ›Strukturwandel der Arbeit‹. Für diese ideengeschichtliche Forschung in Bezug auf die sozialhistorische Wirklichkeit der

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Gegenwart stehen auch Arbeiten wie z. B. die von V. Kruse () und B. Liebsch (). Von Bedeutung bleibt der Beitrag Hannah Arendts. Im Unterschied zu W. Benjamin hat sie – eingedenk der historischen Ereignisse des . Jh., doch gegen die Sichtweise der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer und im Sinne der von Löwiths bereits  vorgetragenen Burckhardt-Thesen vom ›philosophische[n] Verzicht auf die GPh.‹ 168 – die Möglichkeit einer GPh radikal bestritten; hieran ändert sich nicht prinzipiell etwas, wenn man ihr als Kant-Rezipientin »gph. Motive kantischer Art« unterstellt. 169 Es geht ihr um weit mehr als um ›Schwierigkeiten mit der GPh‹ (O. Marquard). Entschiedener urteilt sie, G. könne heute nicht mehr das Bedürfnis nach Sinnstiftung befriedigen. 170 Sie diagnostiziert seit »dem Beginn dieses Jh. [ein] Wachstum von Sinnlosigkeit«, den »Ruin unserer Denkkategorien und Urteilsmaßstäbe« und eine ›wirkliche Gefahr‹, »wenn [. . . ] die Menschen beginnen, aus der G., wie sie sich dem professionellen Auge des Historikers präsentiert, eine Philosophie zu machen«. 171 Sie fordert einen intellektuellen ›Bruch‹ mit der Tradition, der dem faktischen Bruch in diesem Jh. Entspricht – ein leidenschaftliches Denken ›ohne Geländer‹. Von der von Anfang an ideologisch verstrickten GPh ist keine Aufklärung über G. zu erwarten, weder in philosophischer 172 noch in wissenschaftlicher Hinsicht. Der Bruch mit der abendländischen Tradition ist irreversibel. Arendts radikale Skepsis hinsichtlich der Bedingungen der Möglichkeit einer Philosophie der G. gilt auch der G.wissenschaft. In ihrer Vita activa führt sie aus, »dass G. aus nichts anderem besteht als aus G.n, und dass diese G.n von Geschehnissen und Ereignissen berichten, und nicht von solchen oder anderen Kräften, deren Ablauf voraussagbar ist, oder von Ideen, die sich logisch entwickeln. Müßig und gefährlich werden sie nur, wenn man glaubt, sie als Einwände gegen die Realität des Geschehenen benutzen zu können, als enthielten sie Hinweise darauf, wie die G. ›eigentlich‹ sich hätte vollziehen ›müssen‹; wenn man vergisst, dass die Zahl der faktisch bestehenden Alternativen prinzipiell beliebig ist, und dass das ›Es hätte auch anders kommen können‹, immer nur den Charakter einer Vorstellung hat, die bestenfalls einleuchtend ist, aber niemals die unerwartete Durchschlagskraft eines wirklich sich Ereigneten kompensieren kann. Die Erwägung historischer Alternativen ist

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ein Gedankenspiel, das dem Nachdenken der Ereignisse so lange von Nutzen sein kann, als es sich an die Wirklichkeit gebunden weiß«. 173 Lars Lambrecht Acham, K., , Analytische Geschichtsphilosophie. Eine kritische Einf., Freiburg/München. – Adorno, T., , Über Walter Benjamin. Aufsätze, Artikel, Briefe, Fft./M. – Adorno, T./M. Horkheimer, , Dialektik der Aufklärung. In: M. Horkheimer, GS, Bd. , Fft./M. – Angehrn, E., , Geschichtsphilosophie, Stuttgart/Berlin/Köln. – Arendt, H., , Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München. – Arendt, H., , Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München/Zürich. – Ayer, A. J., , Sprache, Wahrheit und Logik, Stuttgart. – Baumgartner, H. M., , Vernunft im Übergang zu Geschichte. Bemerkungen z. Entwicklung v. Schellings Philosophie als Geschichtsphilosophie. In: L. Hasler (Hg.), Schelling. Seine Bedeutung f. eine Philosophie d. Natur u. d. Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt. – Benjamin, W., , Angelus Novus. Ausgewählte Schriften , Fft./M. – Benjamin, W., ff, GS, Fft./M. – Bossuet, J.-B.,  (), Discours sur l’histoire universelle, Paris. – Bourgeois, B., , Geschichtsphilosophie im deutschen Idealismus. In: H. J. Sandkühler (Hg.) , Sandkühler, Weltalter – Schelling im Kontext d. Geschichtsphilosophie, Hamburg. – Braudel, F., , Ecrits sur l’histoire, Paris. – Broch, H., , Theorie der Geschichtsschreibung und der Geschichtsphilosophie (). In. Ders., Komm. WA, Bd. /: Philos. Schr. . Theorie, Fft./M. – Burckhardt, J, , Weltgeschichtliche Betrachtungen, Berlin/Stuttgart. – Cacciatore G./Giugliano A. (ed.), , Storicismo e Storicismi, Milano. – Cacciatore, F. M. , Indagini su Oswald Spengler, Soveria Mannelli. – Cacciatore, G., , Crisi dello storicismo e »bisogno« di Kulturgeschichte: il caso Lamprecht. In: Arch. di storia della cultura, I. – Cassirer, E. , Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen (= EC W ). – Cesa, C., , System und Geschichte im Spannungsfeld zwischen Schelling und Hegel. In: Pragmatik. Hb. Pragmatischen Denkens, Bd. : Pragmatisches Denken v. d. Ursprüngen bis z. . Jh., hg. v. H. Stachowiak unter Mitarb. v. C. Baldus, Darmstadt. – Cohen, H., , Über das Eigentümliche des deutschen Geistes, Berlin (Philos. Vortr. Veröff. v. d. Kantges., hg. v. A. Liebert, Nr. ). – Comte, A., , Rede über den Geist des Positivismus (), Hamburg. – Conrad, C./M. Kessel (Hg.), , Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beitr. z. aktuellen Diskussion, Stuttgart. – Conte, D., , Storicismo e Storia universale, Napoli. – Croce, B., , Zur Theorie und Geschichte der Historiografie, Tübingen. – Croce, B., , La storia come pensiero e come azione, Bari. – Crusius, C. A., , Weg zur Gewissheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis, Leipzig. – Danto, A. C., , Analytical Philosophy of History, Cambridge. – Danto, A. C., , Analytische Philosophie der Geschichte, Fft./M. – Dierse, U./G. Scholz, , Geschichtsphilosophie. In: HWbPh, Bd. , Darmstadt. – Dilthey, W., , Einleitung in die Geisteswissenschaften (). In: G S,

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sen ,  f.; vgl. Bossuet , Tl. , Kap. . – 5 Crusius , . – 6 Herder –, Bd. ,  u. . – 7 Schiller , Bd. , . – 8 Vgl. Bourgeois . – 9 Kant , Bd. , ; vgl. Kaulbach . – 10 Schelling, S W I,  f. Vg. Baumgartner , Cesa , Jacobs . – 11 Schelling, S W I I I, . – 12 Schelling, SW I I I, . – 13 F. Creuzer an F. K. v. Savigny, . . . In: Briefe F. Creuzers an F. K. v. Savigny –, hg. v. H. Dahlmann, Berlin , . – 14 Kasper , . – 15 Kant , Bd. , . – 16 Schelling, S W I I I, . – 17 Hegel , . – 18 Schelling, SW X,  ff., ; Hervorh. St. D. – 19 Vgl. Lucas , Hespe . – 20 Hegel , Bd. , . – 21 Ebd., Bd. , . – 22 Ebd., Bd. , . – 23 Ebd., Bd. , . – 24 Kaegi , . – 25 Vgl. Spranger , . – 26 Vgl. Hauser ,  f. – 27 Vgl. Hardtwig , . – 28 Vgl. Dilthey , X V I I ; vgl. auch Rodi . – 29 Ebd., . – 30 Vgl. Humboldt , . – 31 Vgl. Ranke , S W , . – 32 Vgl. Droysen , . – 33 Ranke , . – 34 Vgl. Droysen ,  ff. – 35 Vgl. Koselleck , –. – 36 Vgl. Comte  (), . – 37 Ebd., . – 38 Vgl. MEW, Bd. , . – 39 Vgl. M EW, Bd. ,  ff. – 40 Vgl. M EW, Bd. , . – 41 Ebd. – 42 Kierkegaard , W W /, . – 43 Kierkegaard , WW ,  ff. – 44 Schopenhauer ,  ff. – 45 Burckhardt , . – 46 Ebd., . – 47 Ebd.,  ff. – 48 Nietzsche , Bd. I. – 49 Ebd.,  ff. – 50 Ebd., . – 51 Ebd., . – 52 Ebd.,  ff. – 53 Ebd., Bd. I V, . – 54 Mommsen . – 55 Conte . – 56 Ranke ,  ff. – 57 Ranke , . – 58 Droysen ,  ff. – 59 Ebd., . – 60 Dilthey , XV II– X V I I I. – 61 Ebd.,  ff. – 62 Vgl. Kühne/Bertram/Rodi  – 63 Dilthey , GS V I I, . – 64 Vgl. Mezzanzanica ; Marini . – 65 Ebd., . – 66 Ebd., . – 67 Ebd., . – 68 Vgl. Schäfer . – 69 Vgl. Gothein . – 70 Vgl. Lamprecht , . – 71 Vgl. Lamprecht . – 72 Vgl. ausführlich Cacciatore , –. – 73 Vgl. Oexle . – 74 Vgl. Dilthey b. – 75 Ebd.,  u. ff. – 76 Vgl. Husserl . – 77 Vgl. Croce  (in der ital. Version: Bari ); Croce . – 78 Vgl. Troeltsch , . – 79 Vgl. Gramsci . – 80 Vgl. Spengler . – 81 Vgl. Husserl . – 82 Vgl. Weber . – 83 Vgl. Weber . – 84 Vgl. Robeck , ff; Rohbeck/Nagl-Docekal , ; Liebsch , ,  ff. – 85 Simmel , . – 86 Simmel ,  f. – 87 Vgl. ebd., –, . – 88 Rickert , . – 89 Ebd.,  f. – 90 Ebd., . – 91 Benjamin , . – 92 Ebd., , , . – 93 Ebd., . – 94 Broch , . – 95 Windelband , –. – 96 Cohen ,  f. – 97 Zit. n. Löwith b, . – 98 Zit. in d. Reihenfolge: Lessing , ,, , , . – 99 Alle Zit. n. d. Bericht ›Erbschaft des Untergehers. Ein Kolloquium über Oswald Spenglers Fall‹, v. H. Ritter, FA Z v. . . . – 100 Heidegger , . – 101 Heidegger ,  f. – 102 Heidegger , ,  f. – 103 Rothacker ,  f. – 104 Ebd., . – 105 Adorno/Horkheimer

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 Kracauer ; Heimsoeth . – 106 Benjamin , G S I,, . – 107 Ebd., V,, . – 108 Ebd., V I, . – 109 Jaspers , , , . – 110 Alle Zit. ebd.,  f. – 111 Löwith a, ; vgl. auch ders. b – 112 Löwith a,  f. – 113 Ebd., , . – 114 Vgl. Sandkühler . – 115 So Wehler ,  ff. – 116 White b, . – 117 Ebd., . – 118 White a, . – 119 Ebd., . – 120 Ebd., . – 121 Ebd.,  f. – 122 Danto , ; er zitierte hier aus Ayers ›Problem of Knowledge‹ (). – 123 Ayer , . – 124 Vgl. Danto ,  ff. – 125 Ebd.,  f. – 126 Vgl. Acham ,  f. – 127 Ebd.,  f. – 128 Röttgers . – 129 Vgl. Wehler ; Kocka . – 130 Vgl. Braudel . – 131 Vgl. Riedel ; vgl. für das Folgende: Kap. V; vgl. auch v. Wright . – 132 Vgl. Hempel . – 133 Vgl. Dray . – 134 Vgl. Acham . – 135 Vgl. Anghern ,  f. – 136 Vgl. Danto . – 137 Vgl. Ricœur  ff. – 138 Vgl. White , . – 139 Vgl. Heidegger , . – 140 Vgl. Gadamer , . – 141 Ebd.,  u. ff. – 142 Vgl. Le Goff , . – 143 Vgl. Koselleck , . – 144 Vgl. Mommsen . – 145 Vgl. Hardtwig/ Wehler . – 146 Vgl. Rüsen . – 147 Vgl. Cacciatore-Giugliano (Hg.),  und Lönne . – 148 Vgl. Oexle . – 149 Vgl. Le Goff/Nora . – 150 Vgl. Losurdo . – 151 Siehe Liebsch , . – 152 Wehler , Nolte . – 153 Kojève ; Fukuyama . – 154 Kojève , ; vgl. dazu kritisch Maurer , ff, bes.–. – 155 Ebd.,  ff. zur Interpretation der ›Phänomenologie‹ als GPh. – 156 Kojève, , . – 157 Ebd.,  f., , , , , , bes. –, . – 158 Hegel /,  f. – 159 Kojève , . – 160 Hegel /,  ff. – 161 Fukuyama , . – 162 Vgl. Habermas, ,  ff. – 163 Rohbeck , ,  f. – 164 Fukuyama , , . – 165 Rotermund , . – 166 Kittsteiner , ders.  und . – 167 Vgl. Robeck . – 168 Vgl. Löwith ; s. auch ders. a,  ff. – 169 Nagl-Docekal ,  – 170 Vgl. Lambrecht . – 171 Arendt , , , . – 172 Exemplarisch Schaeffler ; Angehrn . – 173 Arendt ,  f.

Idealismus

1 Zum Begriff. In der Geschichte der Philosophie wird ein Typus von Theorien mit einem Namen bezeichnet, der sich seit Kant auch als Selbstbezeichnung eingebürgert hat: Idealismus (I.). Diese Bezeichnung umfasst jene spekulativen Ideenlehren, wie sie seit Platon bekannt sind. Als philosophische Strategie ist der I. zumindest durch drei – zugleich oder getrennt auftretende – Merkmale ausgezeichnet: (i) Als Ontologie behauptet er die Existenz von geistigen Entitäten (Ideen), die nicht auf materielle Entitäten reduzierbar sind; (ii) als Erkenntnistheorie vertritt er die These, dass die den Menschen erscheinende Außenwelt nicht von den Vorstellungen denkender Subjekte unabhängig ist; und (iii) als Ethik widmet er sich normativen Konzepten der Begründung und Rechtfertigung des Handelns aus Prinzipien der Vernunft. 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte 1 Es ist eine allgemeine ideengeschichtliche Erscheinung, dass -ismusTypenbegriffe wie ›I.‹ nur selten als Selbstbezeichnungen und meist von Kritikern als Bezichtigungsbegriffe eingeführt werden. Ein -ismus gehört in der Regel als relationaler Terminus zu einem Paar von Oppositionsbegriffen, so auch ›I.‹, der ohne ›Materialismus‹ (oder ›Realismus‹) als Widerpart nicht zu denken ist, wie die eng miteinander verkoppelte Einführung von ›Materialismus/I.‹ zeigt. (i) Materialismus: Im  in Jena (zunächst London ) erschienenen Briefwechsel zwischen S. Clarke und G. W. Leibniz sind ›Materialist‹ und ›Materialismus‹ erstmals in dt. Sprache belegt: Clarke kritisiert, »der ungegründeten Weltweisheit derer Materialisten« liefen »die mathematischen Grundsätze der Philosophie gerade zuwider«, und der »Begriff derjenigen, welche behaupten, dass die Welt eine große Maschine sei«, führe »den Materialismum und das blinde Verhängnis ein«. Leibniz hat dem mit der Zuspitzung beigepflichtet, dass die »Lehrsätze derer Materialisten zur Unterhaltung der Gottlosigkeit einen großen Beitrag tun«. 2 In J. G. Walchs Philosophischem

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Lexikon ( ) wird der ›Materialismus‹ mit der Leugnung der »geistlichen Substanzen« identifiziert; er sei ein »Mechanismus«, der »alle Begebenheiten und Wirkungen der natürlichen Körper bloß aus der Beschaffenheit der Materie« abzuleiten suche. 3 Zedler hat  im . Bd. seines Grossen vollständigen Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste Walchs Ausführungen zum ›Materialismus‹ übernommen, aber in einem bei Walch noch nicht vorkommenden Artikel Materialisten die kritischen Konnotationen formuliert, die in Zukunft zur Denunziation des Materialismus gehören sollten: Die Materialisten seien eine »schlimme Sekte unter den Philosophen«, ihre Leugnung der Differenz von Seele und Leib gebe die »Freiheit mit der Unsterblichkeit der Seelen« preis, und ihr ganzes Denken sei »der Religion und Tugend nachteilig«. Damit sind bereits in den Anfängen durch den synonymen Gebrauch von ›Materialismus‹, Mechanismus, Sektentum, Religionsfeindlichkeit, Immoralismus und Verstoß gegen die kirchliche und staatliche Ordnung die wesentlichen Elemente gegeben, die es über lange Zeit verhindern, dass sich Materialisten als Materialisten bezeichnen. ›Materialismus‹ ist als Begriff eine Kampfansage gegen den Materialismus der Materialisten. (ii) Idealismus: Chr. Wolff, selbst vom Verdacht des Spinozismus und Atheismus bedroht – Spinoza gilt weithin als Hauptvertreter des ›Materialismus‹ –, führt wenig später die folgenreiche Dichotomie Materialist/Idealist ein. 4 Auch wenn andere Polaritäten wie ›Materialismus/Immaterialismus‹ oder ›Naturalismus/Spiritualismus‹ noch begegnen, bezeichnet seit Wolff ›I.‹ das Veto gegen materialistische Konzeptionen. Der I.begriff hat sich als Typen-Begriff seit dem . Jh. durchgesetzt, und zwar als Bezichtigungsbegriff. So wird bei Leibniz und Wolff derjenige bezichtigt, ›Idealist‹ zu sein, der die ideelle Existenz der Seele behauptet und die Existenz der realen Welt und der Körper leugnet. Von hierher rührt der noch heute pejorative umgangssprachliche Gebrauch: ›Idealisten‹ idealisieren, verkennen die ›harte Realität‹ und mühen sich vergeblich für ideale Ziele ab. Terminologisch tritt ›Idealismus‹ mit Kant in der Philosophie als Selbstbezeichnung und als Gegenbegriff gegen ›Naturalismus‹, ›Materialismus‹, ›Realismus‹ und ›Dogmatismus‹ auf.  erklärt M. Mendelssohn: »Der Anhänger des I. hält alle Phänomena unsrer Sinne für Akzidenzen des menschlichen

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Geistes, und glaubt nicht, dass außerhalb desselben ein materielles Urbild anzutreffen sei, dem sie als Beschaffenheiten zukommen.« 5 Der Begriffsgebrauch ist allerdings keineswegs stabil und einheitlich. Die idealistischen Philosophen in Deutschland polemisieren vornehmlich gegen den Antipoden ›Realismus‹ und streiten zugleich um die richtige I.konzeption; sie grenzen sich gegeneinander ab und kennzeichnen die eigene bzw. gegnerische Position jeweils durch Hinzufügung von Adjektiven als einen bestimmten I. – ›kritischer‹, ›transzendentaler‹, ›subjektiver‹, ›objektiver‹, ›absoluter‹, ›uneigentlicher/eigentlicher‹, ›schlechter‹, ›platter‹, ›dogmatischer‹, ›formaler‹, ›abstrakter‹. . . I. 3 ›Deutscher Idealismus‹ Innerhalb des I. wird zeitlich die Entwicklung von Kant bis zu Hegel und zum Spätwerk Schellings als Deutscher Idealismus (D. I.) 6 verortet. In sich durchaus heterogen, hat sich diese besondere philosophische Konstellation als intellektuelle Bewegung aus ihrer Zeitgenossenschaft im ›Zeitalter der Vernunft‹ verstanden, näher: der Manifestationen dieser Vernunft als Wissen des Ganzen und als Wissenschaft sowie als Fortschritt, Freiheit und Recht. Die philosophischen Zeitgenossen eines Zyklus von wissenschaftlichen, kulturellen und politisch-sozialen Veränderungen, die als Revolutionen verstanden werden, und auch eines Anti-Zyklus von Gegen-Revolutionen und Restaurationen gehen davon aus, dass die Philosophie kein bloß äußerliches Verhältnis zum Bruch mit dem ancien régime in der Französischen Revolution und zur Freisetzung der modernen bürgerlichen Gesellschaft hat; dies gilt auch für die Veränderungen des ästhetischen und religiösen Weltbildes sowie des philosophischen und wissenschaftlichen Wissens. So verstanden, bildet das, was ›D. I.‹ genannt wird, eine Einheit. Den Philosophen, die dieser Einheit zugerechnet werden, ist es nicht eingefallen, sich selbst als deutsche Idealisten zu bezeichnen und ihre Philosophien unter dem Zeichen D. I. zu deklarieren. Die mit dem Wort gemeinte Konstellation ist von den Schülern v. a. Hegels zunächst nur mit Philosophen-Namen bezeichnet worden: / legt C. L. Michelet eine Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel vor. Durch R. Kroners Von Kant bis Hegel (/) ist diese vermeintliche ›Linie‹ zum Topos und zur Legende geworden.

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Der Terminus ›D. I.‹ ist erst in den er Jahren eingeführt worden, und zwar durch materialistische Gegner, die für einen ›realen Humanismus‹ und gegen dessen ›Feind‹, den »Spiritualismus oder den spekulativen I.« plädierten, »der an die Stelle des wirklichen individuellen Menschen das ›Selbstbewusstsein‹ oder den ›Geist‹ setzt und mit dem Evangelisten lehrt: ›Der Geist ist es, der da lebendig macht, das Fleisch ist kein Nütze.‹« Die Autoren dieser Kritik sind die jungen K. Marx und F. Engels; sie formulieren sie in Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (). In dieser ersten gemeinsamen Polemik gegen die ›linke‹ Hegelschule prägen sie die Bezeichnung »deutscher I.«: »Die Metaphysik des . Jh., welche von der französischen Aufklärung und namentlich von dem französischen Materialismus des . Jh. aus dem Felde geschlagen war, erlebte ihre siegreiche und gehaltvolle Restauration in der deutschen Philosophie und namentlich in der spekulativen deutschen Philosophie des . Jh. Nachdem Hegel sie auf eine geniale Weise mit aller seitherigen Metaphysik und dem deutschen I. vereint und ein metaphysisches Universalreich gegründet hatte, entsprach wieder, wie im . Jh., dem Angriff auf die Theologie der Angriff auf die spekulative Metaphysik und auf alle Metaphysik. – Sie wird für immer dem nun durch die Arbeit der Spekulation selbst vollendeten und mit dem Humanismus zusammenfallenden Materialismus erliegen. 7 Der Terminus ›D. I.‹ gehört in der Zeit seiner Prägung in das Wortfeld von ›Ideologie‹, und dies bedeutet: zu dem an Napoléons Denunziation der Idéologistes (Destutt de Tracy, Cabanis u. a.) als ›idéalistes‹ und ›idéologues‹ orientierten Sprachgebrauch. ›Idealistisch‹ kann bei Marx und Engels auch als allegorischer Ausdruck für ›ideologisch‹ auftreten, wie etwa die Wortverbindung »idealistische Superstruktur« 8 belegt. In einer im Manuskript von Marx’ und Engels’ Die deutsche Ideologie gestrichenen Fußnote heißt es: »Der deutsche I. sondert sich durch keinen spezifischen Unterschied von der Ideologie aller andern Völker ab. Auch diese betrachtet die Welt als durch Ideen beherrscht, die Ideen u[nd] Begriffe als bestimmende Prinzipien, bestimmte Gedanken als das den Philosophen zugängliche Mysterium der materiellen Welt. Hegel hatte den positiven I. vollendet. [. . . ] Die deutschen Philosophen, aus ihrer Traumwelt aufgerüttelt, protestieren gegen d[ie] Gedankenwelt, der sie die Vorstellung der wirklichen,

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leib[haftigen . . . ] Die deutschen philosophischen Kritiker behaupten sämtlich, dass Ideen, Vorstellungen, Begriffe bisher d[ie] wirklichen Menschen beherrscht u[nd] bestimmt haben, dass d[ie] wirkliche Welt ein Produkt d[er] ideellen Welt ist.« 9 In neutraler, nicht mehr ideologiekritischer Bedeutung taucht ›D. I.‹ erst weit später auf, so z. B.  in F. A. Langes – er ist Neukantianer – Geschichte des Materialismus. 10 Der Terminus kann zu der Zeit als etabliert gelten, als ihn etwa W. Dilthey in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften () oder in Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften () ohne weiteren Erläuterungsbedarf verwendet. Doch eine allgemein akzeptierte Definition von ›I.‹ gab und gibt es nicht;  notiert F. Mauthner, ›I.‹ sei »ein verhältnismäßig junges Wort; aber es war von Anfang an verworren, und selten verstehen zwei Menschen, die [das Wort] gebrauchen, unter I. dasselbe«. 11 ›D. I.‹ ist bis heute nicht unumstritten. »›D. I.‹ ist ein so allgemeiner Name, der sehr verschiedene Dinge zum Zwecke der Abkürzung, der Herrschaft und der Indifferenzierung zusammenfasst. [. . . ] gemessen am sachlichen Gehalt ist ›D. I.‹ ein denkbar schlechter Name.« 12 Diese Warnung vor dem Wortgebrauch ist aus mehreren Gründen nicht unberechtigt: (i) Die Philosophien des D. I. sind nicht nur auf höchst unterschiedliche Weise ›idealistisch‹, sondern sie schließen – bereits bei Kant und dann mit Kant oder gegen Kant – auch idealismuskritische Strategien in Richtung einer Implementierung realistischer Ontologien in sich ein; nicht zu vergessen sind auch die Dialoge, die Kant mit dem Materialisten G. Forster und Schelling mit dem Materialisten Feuerbach geführt haben. (ii) Die Philosophien des D. I. interagieren auf unterschiedlichste Weise mit Philosophien anderer nationaler Kulturen, sei es im Rekurs auf die Philosophiegeschichte, sei es in direktem Bezug auf Zeitgenossen. Den D. I. als ein vorrangig nationalgeschichtliches Phänomen zu behandeln, würde zu kurz greifen. Er ist vielmehr im Horizont verschiedenster Formen der Beeinflussung, Rezeption und Akkulturation zu sehen und zu erforschen, in denen er mit anderen Elementen der europäischen Kultur-, Geistes-, Wissenschafts-, Rechts- und Politikgeschichte interagiert. In das Studium des D. I. müssen andere philosophische Denkweisen und Kulturen – wesentliche Momente der europäischen Vorgeschichte wie der britische Empirismus, der Rationalismus oder die französi-

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sche Aufklärung – einbezogen werden, um die Herausbildung und Entwicklung dieses Philosophierens in Deutschland verstehen zu können. Zu berücksichtigen sind ferner zeitgenössische Rezeptionen und Metamorphosen in anderen europäischen Kulturen, die sich daraus ergebenden Interaktionen zwischen den Philosophien und die Beziehungen zu Religion, Kunst, Wissenschaften, Recht und Politik. Geschieht dies, so wird deutlich: Der ›deutsche‹ I. war und ist ein zentrales Moment der Entwicklung Europas als einer polyphonen kulturellen Einheit. 13 (iii) Der Name ›D. I.‹ verführt insofern zu unangemessenen Vereinfachungen, als er die Epoche von Kants kritischer Philosophie () über Hegels Enzyklopädie und Logik (bis ) bis zu Schellings Tod () auf einen einzigen Nenner zu bringen sucht; die Konflikte in der Philosophie dieser Zeit, in denen sich zahlreiche einer Erinnerung würdige Gegner der Idealisten engagieren, werden ausgeblendet. (iv) Der ›Deutsche I.‹ ist mit den vier ›großen Namen‹ Kant, Fichte, Schelling, Hegel nicht hinreichend umschrieben. Es gibt die Gefahr, das Ganze komplexer und widersprüchlicher Konstellationen (so der Titel des von D. Henrich initiierten Forschungsprogramms 14) aus den Augen zu verlieren und sich auf die vier ›großen Meister‹ zu fixieren, gerade so, als hätten sie nicht in einer Zeit außerordentlich aktiver philosophischer Diskussionen geschrieben, die durch viele mittlerweile fast vergessene, aber damals wichtige Gesprächsteilnehmer mit getragen wurde. Obwohl Kant, Fichte, Schelling und Hegel oft in Reaktion aufeinander geschrieben haben, war ein interner Dialog nicht ihr einziges Ziel. 15 (v) Eine weitere Gefahr besteht darin, die zeitliche Folge als notwendig und den Weg von Kant zu Hegel als teleologische Entwicklung misszuverstehen. Die Gefahr ist um so größer, als dieses Interpretationsmuster von Hegel selbst in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie ins Spiel gebracht worden ist. Seine Vorgänger hätten dies wohl nicht akzeptiert; Schelling 16, der Hegel überlebt hat, hat ihm vehement widersprochen. (vi) Der D. I. wird als philosophische Bewegung gesehen, und dies nicht zu Unrecht. Es gibt aber keinen guten Grund, hinter das Selbstverständnis seiner Protagonisten zurückzufallen. Sie haben ihre Philosophien bewusst und explizit in Interaktionen entwickelt und wahrgenommen – mit den zeitgenössischen, teilweise nicht weniger tief greifenden Veränderungen in Kunst und Religion,

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Naturforschung und Naturwissenschaften, Recht und Politik sowie mit den entsprechenden Theorien. 4 ›Idealismus‹ im Deutschen Idealismus Kant, der Begründer des ›kritischen I.‹, hat sich immer wieder von jenem I. distanziert, den G. Berkeley in seinem später als ›Solipsismus‹ gekennzeichneten Gedankenexperiment des ›solum ipse‹ und des ›esse est percipi‹ zur Warnung vor Gottlosigkeit konzipiert hatte. Kant schreibt hierzu: »Es ist also der Egoismus und I. ein skeptischer Versuch, wo man nicht die Dinge leugnet, sondern den Sinnen ihre Zuverlässigkeit nimmt. Dass die Sinne keinen Beweis geben können (welches in der Philosophie sehr gut ist), dient, die Untersuchungen zu unterscheiden. Der Verstand kann zwar zu der Zuverlässigkeit der Sinne etwas hinzutun; denn wenn Dinge verändert werden, so muss in ihnen ein Grund der Veränderung sein. Also bleibt der Egoismus und I. als problematisch in der Philosophie.« 17 Unter dem Titel ›Widerlegung des I.‹ schreibt er in seiner Kritik der reinen Vernunft: »Der Idealism (ich verstehe den materialen) ist die Theorie, welche das Dasein der Gegenstände im Raum außer uns entweder bloß für zweifelhaft und unerweislich, oder für falsch und unmöglich erklärt; der erstere ist der problematische des Cartesius, der nur Eine empirische Behauptung (assertio), nämlich: Ich bin, für ungezweifelt erklärt; der zweite ist der dogmatische des Berkeley, der den Raum mit allen den Dingen, welchen er als unabtrennliche Bedingung anhängt, für etwas, was an sich selbst unmöglich sei, und darum auch die Dinge im Raum für bloße Einbildungen erklärt. Der dogmatische Idealism ist unvermeidlich, wenn man den Raum als Eigenschaft, die den Dingen an sich selbst zukommen soll, ansieht; denn da ist er mit allem, dem er zur Bedingung dient, ein Unding. Der Grund zu diesem Idealism aber ist von uns in der transscendentalen Ästhetik gehoben. Der problematische, der nichts hierüber behauptet, sondern nur das Unvermögen, ein Dasein außer dem unsrigen durch unmittelbare Erfahrung zu beweisen, vorgibt, ist vernünftig und einer gründlichen philosophischen Denkungsart gemäß: nämlich, bevor ein hinreichender Beweis gefunden worden, kein entscheidendes Urteil zu erlauben.« 18 Seinen eigenen I. erläutert er in Abgrenzung zu anderen Idealismen so: »Der Satz aller ächten Idealisten von der Eleatischen

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Schule an bis zum Bischof Berkeley ist in dieser Formel enthalten: ›Alle Erkenntnis durch Sinne und Erfahrung ist nichts als lauter Schein, und nur in den Ideen des reinen Verstandes und Vernunft ist Wahrheit. Der Grundsatz, der meinen Idealism durchgängig regiert und bestimmt, ist dagegen: ›Alles Erkenntnis von Dingen aus bloßem reinen Verstande oder reiner Vernunft ist nichts als lauter Schein, und nur in der Erfahrung ist Wahrheit. Das ist ja aber gerade das Gegenteil von jenem eigentlichen Idealism; wie kam ich denn dazu, mich dieses Ausdrucks zu einer ganz entgegengesetzten Absicht zu bedienen [. . . ]? Mein so genannter (eigentlich kritischer) Idealism ist also von ganz eigentümlicher Art, nämlich so, dass er den gewöhnlichen umstürzt, dass durch ihn alle Erkenntnis a priori, selbst die der Geometrie, zuerst objektive Realität bekommt, welche ohne diese meine bewiesene Idealität des Raumes und der Zeit selbst von den eifrigsten Realisten gar nicht behauptet werden könnte. [. . . ] Es sei mir also erlaubt, ihn künftig, wie oben schon angeführt worden, den formalen, besser noch den kritischen Idealism zu nennen, um ihn vom dogmatischen des Berkeley und vom skeptischen des Cartesius zu unterscheiden.« 19 Um den I. Kants hat sich von  bis  in Deutschland eine intensive Auseinandersetzung ergeben. 20 Seine Ideen wurde keineswegs ohne Widerspruch aufgenommen, sondern von Seiten des Dogmatismus, Eklektizismus, Skeptizismus und Fideismus (Glaubensphilosophie) bekämpft. Ein moderater Dogmatiker wie Moses Mendelssohn verteidigte  in seinen Morgenstunden den ontologischen Gottesbeweis gegen Kant, den ›alles Zermalmenden‹. Kant, so auch J. A. Reimarus, habe nur die Philosophie der skeptischen Humeaner fortgesetzt. Noch heftiger reagierten die ›Zeloten‹, die Wächter des Glaubens, aus dem katholischen und dem protestantischen Lager. Auf der anderen, nichtfideistischen Seite warf der Eklektiker D. Tiedemann dem Königsberger übermäßigen Dogmatismus vor. Noch härter waren die Angriffe aus zwei der mächtigsten akademischen Einrichtungen im damaligen Deutschland: den Universitäten Göttingen und Halle. In Göttingen war die Universität von Eklektikern und moderaten Popularphilosophen beherrscht; in einer Rezension in den einflussreichen Göttinger Anzeigen von gelehrten Sachen warf Ch. Garve Kant schon  vor, einen Berkeleyschen I. zu propagieren.

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Noch einflussreicher waren die Kritiken Hamanns, Herders und Jacobis. Alle drei misstrauten dem diskursiven rationalen Denken und pochten auf unmittelbare Gewissheit und historische Überlieferung. Hamann kritisierte die Vernunft von ›außen‹, im Namen der christlichen Religion; Herder wandte sich im Namen der Rechte der von der mechanischen Vernunft entheiligten Natur gegen Kant; und Jacobi argumentierte mit einer schneidenden internen Kritik an den Voraussetzungen des diskursiven Denkens gegen jegliche ›rationalistische‹ Philosophie. Neben Gegnern meldeten sich kritische Freunde wie K. L. Reinhold zu Wort, der Kants Doktrin als ein ›neues Evangelium der reinen Vernunft‹ missverstand. Kants selbst hatte jedoch darauf bestanden, die Kritik sei nichts als eine »Propädeutik zum System der reinen Vernunft«: Ein solches System »würde Transscendental-Philosophie heißen«. 21 Nachdem der Kantianismus die skeptizistische Kritiken wie die des Aenesidemus (Pseudonym G. E. Schulzes) überstanden hatte, schien Maimons radikal kritischer Skeptizismus ihn endgültig in eine Sackgasse geführt zu haben. Stand seine Auflösung bzw. Selbstauflösung bevor? Es entstand eine neue intellektuelle Kultur, die sich auf die Suche nach dem wahren Geist der kritischen Philosophie machte – der D. I. Kants Problemstellungen wurden ernst genommen; die Problemlösungen entfernten sich mehr oder weniger von ihm. Fichte entwickelt sein I.verständnis durchaus im Anschluss an Kant, freilich in Kritik an dessen ›Feigenblatt‹-Realismus der Existenz, aber Unerkennbarkeit der ›Dinge an sich‹, und auf eine radikal auf das Ich zentrierte Art und Weise. Es geht ihm um die »wahre Streitfrage des Realismus und des I.«, und das ist »die: welchen Weg man in Erklärung der Vorstellung nehmen solle«. 22 Seine Antwort formuliert er  in der Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre : »Der I. erklärt [. . . ] die Bestimmungen des Bewusstseins aus dem Handeln der Intelligenz. Diese ist ihm nur tätig und absolut, nicht leidend; das letzte nicht, weil sie seinem Postulate zufolge erstes und höchstes ist, dem nichts vorhergeht, aus welchem ein Leiden desselben sich erklären ließe. Es kommt aus dem gleichen Grunde ihr auch kein eigentliches Sein, kein Bestehen zu, weil dies das Resultat einer Wechselwirkung ist, und nichts da ist, noch angenommen wird, womit die Intelligenz in Wechselwirkung gesetzt werden könnte. Die Intelligenz ist dem I. ein Tun, und absolut

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nichts weiter; nicht einmal ein Tätiges soll man sie nennen, weil durch diesen Ausdruck auf etwas bestehendes gedeutet wird, welchem die Tätigkeit beiwohne. So etwas anzunehmen aber hat der I. keinen Grund, indem in seinem Prinzip es nicht liegt, und alles übrige erst abzuleiten ist.« 23 In der Darstellung der Wissenschaftslehre wird Fichte dann  das Prinzip seiner Philosophie auf die knappe Formel bringen: »Dies der wahre Geist des transcendentalen I. Alles Sein ist Wissen.« 24 An dieser Bilanz nimmt Schelling Anstoß; er plädiert in seinen Ideen zu einer Philosophie der Natur (,  ) für die Erneuerung des realistischen Moments im I., und dies heißt: für die Natur, die Fichte ›annihiliert‹ habe: »Bestimmen wir also die Philosophie im Ganzen nach dem, worin sie alles anschaut und darstellt, dem absoluten Erkenntnisakt, von welchem auch die Natur nur wieder die eine Seite ist, der Idee aller Ideen, so ist sie I. I. ist und bleibt daher alle Philosophie, und nur unter sich begreift dieser wieder Realismus und I., nur dass jener erste absolute I. nicht mit diesem andern, welcher bloß relativer Art ist, verwechselt werde.« 25 Mit seinem System des transzendentalen I. () glaubt Schelling, die Fichte noch unzugängliche Lösung einer Synthese von Natur- und Transzendentalphilosophie, von Realismus und I., gefunden zu haben: »Wie die Naturwissenschaft den I. aus dem Realismus hervorbringt, indem sie die Naturgesetze zu Gesetzen der Intelligenz vergeistigt, oder zum Materiellen das Formelle hinzufügt [. . . ], so die Transzendental-Philosophie den Realismus aus dem I., dadurch, dass sie die Gesetze der Intelligenz zu Naturgesetzen materialisiert, oder zum Formellen das Materielle hinzubringt.« 26 An dieser Position hält Schelling auch noch nach dem Übergang zu einer Identitätsphilosophie des Absoluten fest.  schreibt er in seinen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit: »Der I., wenn er nicht einen lebendigen Realismus zur Basis erhält, wird ein ebenso leeres und abgezogenes System, als das Leibnizische, Spinozische, oder irgend ein anderes dogmatisches. Die ganze neu-europäische Philosophie seit ihrem Beginn (durch Descartes) hat diesen gemeinschaftlichen Mangel, dass die Natur für sie nicht vorhanden ist, und dass es ihr am lebendigen Grunde fehlt. Spinozas Realismus ist dadurch so abstrakt als der I. des Leibniz. I. ist Seele der Philosophie; Realismus ihr Leib; nur beide zusammen machen ein lebendiges Ganzes aus.« 27

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Auch Hegel, der sich bis  Seite an Seite mit Schelling für ein nichtsubjektivistisches Verständnis von I. einsetzt, teilt die Kritik, in Fichtes I. sei »das System des Wissens ein Wissen von einem ganz leeren Wissen, welchem eine empirische Realität – von der Einheit, welcher die Mannigfaltigkeit – absolut entgegengesetzt ist«. 28 Er würdigt noch in seiner Wissenschaft der Logik, dass der »konsequenter durchgeführte transzendentale I. [. . . ] die Nichtigkeit des von der kritischen Philosophie noch übriggelassenen Gespensts des Dings-an-sich, dieses abstrakten, von allem Inhalt abgeschiedenen Schattens erkannt und den Zweck gehabt, ihn vollends zu zerstören. Auch machte diese Philosophie den Anfang, die Vernunft aus sich selbst ihre Bestimmungen darstellen zu lassen. Aber die subjektive Haltung dieses Versuchs ließ ihn nicht zur Vollendung kommen.« 29 Mit dem Satz der Logik – »dass das Endliche ideell ist, macht den I. aus« 30 – kennzeichnet er dann den Weg seiner Philosophie zu der bisher ausstehenden Vollendung, den Weg des I. als Philosophie des Geistes, der sich im Prozess der Aufhebung der Gestalten seines Andersseins in Natur und Geschichte als absoluter Geist selbst expliziert. Der ›D. I.‹ ist nach Hegels Tod () bald auf den Widerstand derer gestoßen, deren Theorien nicht möglich gewesen wären, wären sie nicht durch die Schule Kants und Hegels gegangen. Den Ton dieser Kritik gibt L. Feuerbach vor, der mit seinen Grundsätzen der Philosophie der Zukunft () den I. vom Kopf auf die Füße zu stellen beabsichtigt. Feuerbach bestreitet vehement den Fichteschen Grundsatz, die Vernunft könne nicht bedingt sein. Der Idealist habe »seinen Pantheismus im Ich – außer dem Ich ist nichts, alle Dinge sind nur als Objekte des Ich«. 31 Feuerbach fällt nicht hinter Kant zurück; er bestreitet den konstitutionstheoretischen Grundsatz nicht realistisch, sondern unterläuft ihn materialistisch durch das Postulat des Bedingtseins des setzenden Tuns. Diese Bedingtheit ist eine doppelte, nämlich durch die Natur, ausgedrückt im ›Abhängigkeitsgefühl‹ und durch den Mitmenschen: »Der I. hat daher recht, wenn er im Menschen den Ursprung der Ideen sucht, aber unrecht, wenn er sie aus dem isolierten, als für sich seiendem Wesen, als Seele fixierten Menschen, mit einem Worte: aus dem Ich ohne ein sinnlich gegebenes Du ableiten will. Nur durch Mitteilung, nur aus der Konversation des Menschen mit dem Menschen entspringen die Ideen. Nicht allein, nur selbander kommt

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man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt.« 32 Diese Bedingtheit des Setzens ist bisher am konsequentesten in Plessners Philosophie der exzentrischen Positionalität ausgearbeitet worden. 5 Zu einigen wesentlichen systematischen Problemstellungen des Deutschen Idealismus 33 . Vernunft 34 : Auf dem mit dem Begriff ›Vernunft‹ abgesteckten Feld vollzieht sich nach Kants Kritik der Übergang vom kritischen zum spekulativen I. Was ›Vernunft‹ genannt wird, ist bald nicht mehr vorrangig Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, sondern wird im Sprach- und Bedeutungsfeld einer Metaphysik des Absoluten zur Substanz und zum sich selbst verursachenden Subjekt. Hatte Fichte in seiner Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre () das Ich als das Absolute bestimmt, so setzt sich seit der Wissenschaftslehre von  bis  die Tendenz durch, nicht nur dem Ich absolutes Wissen zuzuschreiben, sondern dieses im göttlichen Absoluten zu verorten. Schelling begreift in seiner Identitätsphilosophie – bald nach dem System von  – eine absolute Vernunft als Indifferenz, die der vom Verstand vollzogenen Differenzierung zwischen Natur und Geist voraus liegt. Hegel nimmt in seiner Wissenschaft der Logik – einer Ontologie des ›Geistes‹ – in die Lehre vom Wesen () ein Kap. über ›Das Absolute‹ als das in sich differenzlosen Eine auf. In der Lehre vom Begriff () führt der Denkweg von der Substanz zum ›Begriff‹ und zur ›absoluten Idee‹, die sich – so in der Enzyklopädie ab  – in ihrer Selbstentfaltung entäußert, um vermittels ihrer Entäußerungsformen ›Natur‹ und ›menschlicher subjektiver und objektiver Geist‹ in Vollendung zu sich selbst zurückzukehren. Die Erkenntnis- und Lebensweise der Vernünftigen ist diese Vernunft nicht mehr. . Philosophie als System 35 : Im D. I. ist methodisch erlangtes Wissen systematisch. Das ›System‹ ist die der Philosophie angemessene Form, weil sie nur so die Struktur der Vernunft zum Ausdruck bringen kann. Wenn Wissenschaft systematisch ist, und Philosophie eine Wissenschaft ist, dann muss die Philosophie systematisch sein. Kant 36 habe, so Hegel, noch nicht verstanden, dass die systematische Ordnung des Wissens kein Produkt der Subjektivität des Erkennens sei. Fichte und Schelling entwickeln das Prinzip, dass alles subjektive Wissen einen

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objektiven Grundsatz voraussetze, von dem aus die Elemente des Systems deduziert werden können. Im holistischen System werden alle Elemente inferenziell gestützt. . Erkenntnis und Wissen: Die philosophischen Theorien der Erkenntnis und des Wissens im D. I. unter ›Erkenntnistheorie‹ zu subsumieren, ist problematisch. Dieser Terminus wird erst um  in der Kantischen Schule geprägt; die Disziplinbezeichnung ›Erkenntnistheorie‹ entstammt dem Neukantianismus und kann erst mit E. Zellers Schrift Über Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnistheorie () als etabliert gelten. Noch problematischer wäre es, von ›der‹ Erkenntnistheorie des D. I. zu sprechen. So, wie zuvor die rationalistische Metaphysik der Schulphilosophie, der Empirismus in der Tradition Bacons und materialistische und naturalistische Erkenntnistheorien zeitgleich koexistiert haben, existieren zur Zeit des D. I. die kritische Philosophie Kants und Gegenpositionen rationalitätskritischer glaubensphilosophischer Widersacher, der radikale ›Ich‹-I. Fichtes, Schellings Bemühungen um einen Kants Welten-Dualismus vermeidenden ›Ideal-Realismus‹, Hegels Metaphysik des Absoluten als Geist und Schopenhauers zeitgleiche Auflösung der Welt in ›Wille und Vorstellung‹ (). Sie alle sind auf unterschiedliche Weise und in Auseinandersetzung miteinander bemüht, das ihnen bei Kant ungelöst erscheinende Problem der Beziehung zwischen subjektiver Erkenntnis und objektiver Realität zu lösen. Ungeachtet ihrer Unterschiede und Gegensätze verfolgen alle erkenntnistheoretischen Bemühungen das Ziel, eine für die menschliche Existenz zentrale Frage zu beantworten: Wie lässt sich das Ziel des Erkennens erreichen, durch Bewusstseinsleistungen mit der Wirklichkeit in Beziehung zu treten und diese so zu repräsentieren, dass Repräsentationen Handlungen rational anleiten? Bei der Beantwortung dieser Frage werden in mehr oder weniger realistischen oder aber mehr oder weniger konstitutionstheoretischen Perspektiven Demarkationslinien an den Grenzen der Realität an sich abgesteckt. Der vorrangige Gesprächspartner der Kontrahenten ist Kant; die Stellungnahmen pro (so im wesentlichen Schelling) oder contra Kant (so v. a. Hegel) zeigen Idealisten, die an ganz unterschiedlichen Konzeptionen von I. arbeiten. Kants Philosophie ist nicht zuletzt deshalb Anknüpfungspunkt oder Stein des Anstoßes, weil sie

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als Philosophie der Erfahrung die Erinnerung auch an den britischen Empirismus, den kontinentalen Rationalismus und sensualistisch-materialistische Theorien der französischen Aufklärung lebendig erhält. Kant sucht eine zuverlässige Antwort auf die zentrale Frage: »Was kann ich wissen?« Sein vorrangiges Interesse gilt nicht der Genese von Erfahrung und nicht deren Gegenständen, sondern den transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis (Transzendentalphilosophie). Das gegenüber dem Empirismus Neue besteht darin, dass Kant nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori fragt, um über das Ensemble von Anschauung, Verstandestätigkeit und Vernunft-Synthesis aufzuklären. Kant umreißt seine Programmatik in der ›Vorrede‹ zur . Auflage der Kritik der reinen Vernunft : Die Metaphysik muss versuchsweise die ›kopernikanische‹ Annahme wagen, dass die Gegenstände sich nach unserer Erkenntnis richten müssen, nicht umgekehrt. Es ist zunächst Fichte 37 mit seiner Wissenschaftslehre, der seit  einen radikaleren philosophischen Systemansatz ausarbeitet. Mit der Befreiung ›von den Fesseln der Dinge an sich‹ wird Kants Dualität von Denken und objektiver Welt in einer subjekt-zentrierten monistischen Konzeption von Wissen aufgelöst. Vor seiner Wissenschaftslehre sei Kant nicht verstanden worden; dessen Interpreten hätten wegen der Ding-an-sich-Problematik leichtes Spiel gehabt, ihn als Dogmatiker (Realisten) auszugeben und so dem oberflächlichen Empirismus weiterhin Tribut zu zollen. Fichte sucht nun nach dem Grund einer Erfahrung, deren Objekt außer aller Erfahrung gefunden werden soll: Die Vernunft muss aus sich selbst und frei von äußerer Determination sich selbst und ihre Objekte ›setzen‹. Das erkennende Ich wird nun mit der Eigenschaft ausgestattet, durch intellektuelles Handeln in Selbstbestimmung und Selbstnegation zugleich die Wirklichkeit als Nicht-Ich zu konstituieren. Am Nicht-Ich hat das Ich eine selbstgesetzte Grenze, die es überschreitet, sobald es das, was nicht Ich ist, als Produkt des eigenen Handelns begreift. Unbedingt, d. h. auf keinen anderen Grund mehr zurückzuführen, ist für Fichte allein das Wissen selbst. Tathandlung, Setzung und Ich-sein sind identisch. Der Problematik dieser Position ist sich Fichte bewusst; er spricht bereits am Anfang der Wissenschaftslehre von einem unvermeidlichen Zirkel der Argumentation.

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Schelling hat im Ausgang und in Kritik an Fichte sein Interesse bis  im wesentlichen auf zwei Fragen konzentriert: (i) Wie ist eine Philosophie begründbar, die ihre Nähe zur erfahrbaren Welt nicht verliert und die doch nicht durch Empirie, sondern voraussetzungslos zu begründen ist? (ii) Wie kann die Kantische Transzendentalphilosophie so erweitert werden, dass Realität nicht nur durch die Kant zufolge unerkennbaren Dinge, wie sie an sich selbst sind, im philosophischen Denken präsent ist, sondern materialiter im Begriff einer wirklichen produktiven, autopoietischen und selbstreferenziellen Natur? Immer wieder widmet er sich dem Realismus-Problem, d. h. der Frage, wie eine objektive Welt »für uns wirklich geworden, wie jenes System und jener Zusammenhang der Erscheinungen den Weg zu unserm Geiste gefunden, und wie sie in unsern Vorstellungen die Notwendigkeit erlangt haben, mit welcher sie zu denken wir schlechthin genötigt sind«. 38 Seine Antwort formuliert er in der These der Identität von Geist und Natur, des ›Parallelismus der Natur mit dem Intelligenten‹. Er präzisiert sie nach  im Übergang von der Transzendental- zur Identitätsphilosophie: Das ›Wissen um das Absolute und das Absolute selbst‹ sind eins, und das Organ, mit dem man zu diesem Wissen gelangt, ist die intellektuelle Anschauung. Die Identitätsphilosophie Schellings führt die Epistemologie, die seit Kant den Rang einer ersten Philosophie innehat, zurück in eine Ontologie des Wissens, die Schelling zunehmend historisch-genetisch begründet. Überzeugt von der die philosophische Entwicklung abschließenden Funktion seines Systems, hat Hegel von der Phänomenologie des Geistes () über die zwischen  und  entstandene Wissenschaft der Logik bis zur Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (,  ,  ) einen I. der Objektivität und Notwendigkeit des Geistes und eine Prozesstheorie der Geschichte der Vernunft des Absoluten ausgearbeitet. Die Selbstentfaltung der Idee ist der Grund der Einheit von Erkennen, Wissen und Wirklichkeit. Dies ist Hegels Antwort auf die auch ihn als Problem leitende Frage »Wie kommen wir Subjekte zu den Objekten hinüber?« 39 Menschliches Erkennen ist als Leistung des Selbstbewusstseins ein Implikat des substanziellen Geistes, der zum Sichwissen gelangt. In dieser spekulativen Metaphysik des ›Sichwissens‹ des Geistes sind erkenntnistheoretische Fragen im Sinne transzendentaler Vor-Fragen nach den Bedingungen

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der Möglichkeit von Erkenntnis sinnlos: Der Geist ist Erkennen; Wissen ist Geist. Deshalb verwirft Hegel seit der Phänomenologie des Geistes den Ansatz von Kants ›Kritik‹: Es gibt für ihn keinen Grund mehr, anstatt unmittelbar »an das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist« zu gehen, »vorher über das Erkennen sich zu verständigen«. 40 Unter ›Erkenntnistheorie‹ ist Hegels Lehre vom sich selbst erkennenden und wissenden Geist nicht mehr zu subsumieren. . Natur 41 : Kant schlägt ein dynamistisches Modell der Natur vor (so in seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, ) und schreibt den lebendigen Organismen eine ›bildende Kraft‹ zu, welche die mechanischen Kräfte teleologisch zu einem determinierten Ziel treibt (so in seiner Kritik der Urteilskraft, ). Schelling 42 versteht zunächst die Realität als die gegenständliche Welt, auf welche die Freiheit des Ich wirkt; er begreift aber schon bald die strukturelle Identität von Welt und Ich und fasst sie so als das Resultat von zwei einander entgegengesetzten Kräften auf, die sich vergegenständlichen und danach streben, zu Bewusstsein zu gelangen; gleichwohl ist die Natur nicht das Pendant des Bewusstseins, sondern dessen Vorgeschichte. Die Natur (natura naturans) wird zur Voraussetzung und zu dem Moment der Entwicklung des Geistes, der zwar als Anfang wirkt, aber in einen die ganze Realität umfassenden Prozess des Lebendigen einbezogen ist. Gerade das in dieser Zeit wegweisende Organismus-Konzept übernimmt eine wichtige Rolle bei der Erforschung der Produktivität der Natur, die in Verwandtschaft mit dem künstlerischen Schaffen gesehen wird: Die Organismen sind die Kunstwerke der Natur. Die ursprüngliche Autonomie und Autarkie der Natur manifestiert sich endlich als Ort des Zusammentreffens von Freiheit und Notwendigkeit, von Unendlichem und Endlichem. Hegel legt die systematische Ausformung seiner Naturphilosophie 43  mit seiner Enzyklopädie vor. Bei ihm hat die Naturphilosophie den Charakter metatheoretischer Betrachtung, d. h. eines Denkens, in dem sich die Natur als »die Idee in der Form des Andersseins« (§ ) offenbart, als das ›Negative ihrer selbst‹, als ein selbstbezügliches Außer-sich-sein-Können der Idee. Aber im Status ihrer Äußerlichkeit und Andersheit kann sich die Idee in der Natur nur auf jene unangemessene Weise manifestieren, die sie überwinden muss, um als Geist zu sich selbst zu kommen.

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. Geschichte 44 : Was den idealistischen Geschichtsbegriff im D. I. nicht zuletzt auszeichnet, ist die Integration der Geschichte in die Philosophie und – zumindest in den späteren Phasen – der Philosophie in die Geschichte. Es gibt neben großer Übereinstimmung zwischen Aufklärung und D. I. offensichtliche Differenzen. Kant thematisiert  in Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht keine empirischen historischen Ereignisse. Statt dessen stellt er Grundsätze auf, die als Axiome für das Studium der Geschichte dienen sollen: Die Geschichte realisiert als unbeabsichtigte Folge von Handlungen, die an individueller Selbstförderung orientiert sind, einen Endzweck: Sie ist Geschichte der Freiheit. Doch weil »aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, [. . . ] nichts ganz Gerades gezimmert werden« kann und es für eine optimistischen Anthropologie und Fortschrittstheorie keine guten empirischen Gründe gibt, verlegt Kant die Begründungsebene aus der Geschichte in die Natur : »Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d. i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur.« 45 Der Naturbegriff – Kant spricht von »Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung« als einem »besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung« 46 – übergreift die Idee von Recht und Staat: »Man kann die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und zu diesem Zwecke auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.« 47 Schelling ist der erste unter den deutschen Idealisten, der in seinem System des transzendentalen I. () das Problem der in der Geschichte Handelnden explizit behandelt. Er versucht die Frage zu beantworten, wie die spontane Freiheit des menschlichen Handelns vereinbar ist mit dem empirischen Dasein der Handelnden als Mitglieder einer kausal bestimmten physischen Welt. Im Unterschied zu Kant nimmt er eine

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metaphysische Verbindung zwischen Freiheit und Notwendigkeit an, eine prästabilierte Harmonie zwischen der transzendentalen Dimension des menschlichen Handelns und der empirischen Realität der Handlungsbedingungen. Der Grund dieser Harmonie ist das Absolute. Schelling ist zunehmend skeptisch hinsichtlich der Realisierbarkeit von Kants Idee universeller Rechtsverhältnisse als des Zwecks der Geschichte. Es scheint ihm »zweifelhaft und ungewiss, ja unmöglich«, dass alle Individuen dieses Ziel verfolgen, »da bei weitem die meisten sich jenen Zweck nicht einmal denken«. Die Idee einer moralischen Weltordnung erscheint ihm als fragwürdig. Statt dessen sucht er die Spur jener Gesetzmäßigkeit, in der eine ›unbekannte Hand‹ das Spiel der Willkür in der Geschichte regelt. Er findet diese Spur im Absoluten als dem Grund der Harmonie zwischen der ›Freiheit und dem Intelligenten‹, und dies bedeutet: im ›System der Vorsehung‹, d. h. in der Religion. Für den Schelling des Jahres  ist die Geschichte als Ganzes eine »fortgehende, allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten«. 48 In Hegels Schriften sind alle Themen der idealistischen Geschichtsauffassung zusammengefasst; sein System der spekulativen Philosophie nimmt insofern historischen Charakter an, als konkrete Geschichtsschreibung für das systematische Denken von grundlegender Bedeutung ist. Hegel gründet wie Herder sein Geschichtsbild auf eine philosophische Theorie der Entwicklung. In der Geschichte verwirklicht sich der Geist, indem er den Widerstand von Formen seines eigenen Selbst überwindet: Die Geschichte ist voll von Konflikten, und dies nicht nur, weil der ›logische‹ Prozess, die Selbstexplikation des Geistes, durch Willkür und Kontingenz gestört wird, sondern weil die Geschichte ein Drama ist, in dem verschiedene Aspekte eines einzigen Prinzips miteinander in Widerspruch treten und immer komplexere Formen annehmen. Geschichte ist der Prozess des Geistes, der Selbst-Wissen erlangt und deshalb frei ist. Die Weltgeschichte ist die Auslegung des Geistes in der Zeit. Die Geschichte ist für Hegel eine zweckmäßige und notwendige Entwicklung in Stufen. Dies wirft das Problem auf, wie angesichts dieser Notwendigkeit das Handeln der Individuen noch als Ursache der historischen Veränderung gedacht werden kann. Hegels Antwort lautet: Die Zwecke des Geistes verwirklichen sich durch die ›List der Vernunft‹, welche die Leiden-

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schaften für sich wirken lässt. Mit diesem Theorem will Hegel die Koordination von zwei verschiedenen Subjekten leisten: Geist und Individuum. Das Handeln der Individuen soll nicht überflüssig sein: Sie verwirklichen die Zwecke des Geistes, und zwar als unbeabsichtigte Folge der vernünftigen Verfolgung ihrer eigenen Zwecke. Die Geschichte verwirklicht mit der Zeit einen Zweck, der von den Individuen als vernünftig erkannt werden kann. Aber dieser Zweck ist kein Fortschritt zum größeren Glück der Menschheit. Geschichte besteht als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit in der Verwirklichung der substanziellen Vernunft. In der späten Entwicklungsgeschichte des D. I. eröffnet Schelling als Gegner Hegels ein neues Kapitel der Geschichtstheorie. Nach seinem Urteil hat die rationale Geschichtsphilosophie versagt. Die Entwürfe zu seinen Weltaltern ( ff.) zeigen Schelling auf dem Wege zu einer narrativen Historie (Narration), zu einer ›geschichtlichen Philosophie‹, die Hermeneutik und Philosophie der Zeiten ist. Das »ganze Gebäude der Zeit muss abgetragen werden, um auf den Grund zu kommen«. 49 Im Kontext des Problems der Konstitution der Vergangenheit durch den ›Geschichtsschreiber‹ widmet sich Schelling dem Meta-Thema, wie über die Zeiten zu sprechen ist: »Das Vergangene wird gewusst, das Gegenwärtige wird erkannt, das Zukünftige wird geahndet. Das Gewusste wird erzählt, das Erkannte wird dargestellt, das Geahndete wird geweissagt. [. . . ] Alles, schlechthin alles, auch das von Natur äußerliche, muss uns zuvor innerlich geworden sein, ehe wir es äußerlich oder objektiv darstellen können. Wenn im Geschichtsschreiber nicht selbst die alte Zeit erwacht, deren Bild er uns entwerfen will: so wird er nie anschaulich, nie wahr, nie lebendig darstellen. Was wäre alle Historie, wenn ihr nicht ein innerer Sinn zu Hülfe käme?« 50 Der Mensch, der fähig ist, »sich eine Vergangenheit zu erschaffen [. . . ], genießt auch allein einer wahren Gegenwart, wie er einer eigentlichen Zukunft entgegensieht.« 51 Die von Schelling beabsichtigte Geschichtstheorie bricht auch mit den Methoden spekulativer Geschichtskonstruktion. Aber die von ihm gesuchte Alternative heißt nicht ›Irrationalismus‹; die rationalen »logischen« Systeme bleiben für ihn unverzichtbare historische und systematische Voraussetzungen des Begreifens der Wirklichkeit; sie »werden erst falsch wenn sie das Positive ausschließen und sich selbst dafür ausgeben«. 52 Entsprechend heißt es in der

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Einleitung der Philosophie der Mythologie, die gemäß ihrem weiteren Titel Darstellung der rein rationalen Philosophie () zugleich eine Wiederaufnahme der Thematik der frühen ›negativen Philosophie‹ ist: »Mit der Vernunftwissenschaft ist eine Philosophie der wirklichen Geschichte unmöglich, obgleich wir zugegeben haben, dass auch die Philosophie der Geschichte ihre negative Seite hat«. 53 . Freiheit und Moral 54 : Während die Moralphilosophie v. a. bei Kant 55, aber auch beim Jenenser Fichte einen eigenständigen und wesentlichen Systemteil bildet, tritt sie bei Schelling und Hegel in den Hintergrund. Bei Kant und Fichte ist die Moral die Dimension der Freiheit und des höchsten Interesses der Vernunft. Freiheit ist die Erkenntnis des Sittengesetzes, und das Sittengesetz ist nichts anderes als Ausdruck der Freiheit vernünftiger Wesen. Die vernunfttheoretische Explikation von Freiheit als Autonomie bildet den moralphilosophischen Leitgedanken in den Philosophien des D. I. Der im D. I. konzipierte Zusammenhang von Freiheit und Autonomie geht auf Rousseau zurück: Freiheit ist Selbstgesetzgebung. Bei Kant erweist sich Freiheit als Wesen der primär praktischen Vernunft. Fichte schreibt  in einem Brief: »Mein System ist das erste System der Freiheit; wie jene Nation [Frankreich] von den äußeren Ketten den Menschen losreißt, reißt mein System ihn von den Fesseln der Dinge an sich, des äußeren Einflusses los, und stellt ihn in seinem ersten Grundsatze als selbständiges Wesen hin.« Von Schelling gibt es keine Schrift, die systematisch der Ethik, der Moral und der Sittlichkeit gewidmet ist. Doch sowohl die Moralität des menschlichen Handelns als auch der für ihn problematische Status einer Ethik haben ihn immer wieder zur Kritik an der Faktizität der Moral und zu alternativen Begründungen der Geltung sittlicher Normen veranlasst. Gleichwohl ist es das Kantische Problem der Antinomie von Freiheit und Kausalität, dessen Erbe Schelling in der nachkantisch veränderten Subjektivitäts-Perspektive eines unbedingt freien, eines ›absoluten Ich‹ aufnimmt: »Das absolute Ich [. . . ] schlechthin, dass das endliche Ich ihm gleich werde, d. h. dass es alle Vielheit und allen Wechsel in sich schlechthin zernichte. Was für das endliche, durch ein Nicht-Ich beschränkte, Ich moralisches Gesetz ist, ist für das unendliche Naturgesetz, d. h. es ist zugleich mit und in seinem bloßen

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Sein gegeben. Das unendliche Ich ist bloß insofern, als es sich selbst gleich, als es durch seine bloße Identität bestimmt ist; es soll nicht erst sein Sein bloß durch Identität mit sich selbst bestimmen. Das unendliche Ich also kennt gar kein Moralgesetz [. . . ] Das moralische Gesetz im endlichen Wesen ist also vorerst Schema des Naturgesetzes, wodurch das Sein des Unendlichen bestimmt ist; was durch dieses als Seiend vorgestellt wird, muss jenes als Gefordert vorstellen. Da nun das höchste Gesetz, wodurch das Sein des unendlichen Ichs bestimmt ist, das Gesetz seiner Identität ist [. . . ], so muss das Moralgesetz im endlichen Wesen diese Identität nicht als Seiend, sondern als Gefordert vorstellen, und das höchste Gesetz für das endliche Wesen ist demnach dieses: Sei absolut – identisch mit dir selbst.« 56  formuliert Schelling in seiner Neuen Deduktion des Naturrechts die – in allen modernen naturrechtlichen und kontraktualistischen politischen Theorien (Gesellschaftsvertrag) bekannte – Forderung, dass »jedes moralische Wesen auf unbeschränkte empirische Freiheit Verzicht tut. Denn unbeschränkte empirische Freiheit führt auf unendlichen Widerstreit in der moralischen Welt«. 57 Ethik hat einen defizitären Status: »Das Gebot der Ethik [. . . ] muss nicht den Ausdruck des individuellen, sondern den Ausdruck des allgemeinen Willens enthalten. [. . . ] Aber dieses Gebot der Ethik ist doch nur abhängig von dem höheren Gebot der Moral. Die Ethik stellt nur deswegen den allgemeinen Willen als Gesetz auf, um durch den allgemeinen Willen den individuellen zu sichern. Nicht weil ich mich dem allgemeinen Willen unterwerfe, mache ich Anspruch auf Individualität, sondern, weil und insofern ich Anspruch auf Individualität mache, unterwerfe ich mich dem allgemeinen Willen. Der allgemeine Wille ist bedingt durch den individuellen, nicht der individuelle durch den allgemeinen. [. . . ] Die Form des allgemeinen Willens ist Freiheit überhaupt, die Materie Moralität. Also ist die Freiheit nicht abhängig von der Moralität, sondern die Moralität von der Freiheit. Nicht weil und insofern ich moralisch bin, bin ich frei, sondern weil und insofern ich frei sein will, soll ich moralisch sein.« 58 In der weiteren Entwicklung Schellings werden in dem Maße, wie die Realität des Handelns der Menschen zu Zweifeln an ihrer Fähigkeit zu Freiheit und weltbürgerlicher Gemeinschaft führt, das Recht und der von ihm immer an der Ermöglichung von Freiheit

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gemessene Staat zu Mitteln der Kompensation möglicher Freiheitszerstörung. 59 . Recht und Staat 60 : Nicht nur innertheoretische Gründe erklären das starke Interesse der deutschen Idealisten an der Philosophie des Rechts und des Staates sowie an der Philosophie der Geschichte. Ihr Interesse ist von der Französischen Revolution geweckt. Die durch die Kritik der reinen Vernunft eröffnete philosophische Revolutionsperiode wird als Äquivalent der politischen Revolution in Frankreich verstanden.  veröffentlicht Fichte die Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens und den Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution;  veröffentlicht Hegel anonym eine ›an das Württembergische Volk‹ gerichtete Flugschrift Dass die Magistrate von den Bürgern gewählt werden müssen. . . Politik ist mit der Entwicklung der Philosophie im D. I. eng verknüpft. Es wird zwar schon bald klar, dass in Deutschland eine Revolution nicht auf der Tagesordnung steht. Noch  erklärt Hegel in seiner Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte: »Der Gedanke, der Begriff des Rechts machte sich mit einem Male geltend, und dagegen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten. [. . . ] Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. [. . . ] Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.« 61 Kants ›Reinschriftfragment‹ zum ›Streit der Fakultäten‹ (›Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren begriffen sei?‹) belegt seine Zweifel hinsichtlich der menschlichen Fortschrittsfähigkeit. »Dass die Masse des unserer Natur angearteten Guten und Bösen in der Anlage immer dieselbe bleibe und in demselben Individuum nicht vermehrt werden könne, mag immer eingeräumt werden, und wie sollte sich auch dieses Quantum vermehren lassen, da es durch die Freiheit des Subjekts geschehen

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müsse und dieses hiezu selber einen größeren Fonds bedarf als sie einmal hat? [. . . ] Also kann die Frage nicht sein ob das Fortschreiten der Menschen zum Besseren die Naturvollkommenheit derselben (die Vergrößerung seiner der Moralität günstigen ursprünglichen Anlage) sein und nach und nach bessere Menschen erscheinen, sondern ob die Menschen dereinst immer besser werden sollen [. . . ] Dass aber so etwas einmal geschehen und dadurch gerade auch ein unaufhörliches Fortschreiten zum Besseren in dem menschlichen Geschlecht werde begründet werden, lässt sich a priori durch die Vernunft nicht dartun; denn es ist ein Faktum, dessen Wirklichkeit viel sich ereignende widerwärtige Umstände Kriege, verwahrloste Erziehung und Verwilderung durch Not oder schlimme Beispiele vereiteln können, wodurch auch der beste Fortgang auf Jh. unterbrochen oder gar rückgängig gemacht werden kann.« Angesichts dieses Befundes stellen Recht und Staat für Kant die Problemlösung dar: »Die Menschen bedürfen bei ihrer natürlichen Bösartigkeit und in ihrer darum sich unter einander drängenden Lage einer Macht, die jeden größeren Haufen derselben unter dem Zwange öffentlicher Gesetze halte und dadurch jedem sein Recht sichere, welches aber nicht eher als nach willkürlich verübten Feindseligkeiten geschehen kann, welcher Unsinn, wenn bei zunehmender Kultur doch in ihm Methode ist, Krieg heißt und unter Völkern die nun schon gesetzliche Systeme, Staaten genannt, ausmachen von ihren Machthabern zum eigentlichen Endzweck gemacht wird [. . . ] Der Zwang, welcher Menschen von Anderen gesetzlich angetan werden kann, ist gegen sie als der Rechte fähige Wesen nicht anders möglich als vermittelst einer Gesetzgebung, zu welcher, die so gehorchen sollen, ihre Stimme gegeben haben oder vielmehr nur durch den vereinigten Willen zum Gesetz gemacht worden. [. . . ] Es ist moralische Gewissheit dass alles immer zum Besseren hinwirke. Denn wenn wir auch keine theoretisch hinreichenden Gründe hätten: wenn die Politiker uns ganz andere Mittel anpriesen so müssen wir doch so handeln als ob das Menschliche Geschlecht immer zum Besseren hinstrebe.« 62 Schelling 63 und Hegel verfolgen in ihren Theorien des Politischen Ziele, die einander nahe sind, weil sie in einer vergleichbaren Wahrnehmung der Moderne gründen; doch grundsätzlich unterschiedlich, ja entgegengesetzt, sind die Begründungsverfahren, die sie für ihre Theoriekonstruktionen wählen. Schellings explizite Stellungnahmen

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zu den Revolutionen von ,  und  scheinen es nahezulegen, die frühe Zustimmung zur französischen und die späte Ablehnung der dt. Revolution als Indizien eines grundlegenden Meinungswandels zu nehmen. Was sich ändert, ist seine Auffassung der praktischen Notwendigkeit des Staates. Was sich nicht ändert, ist die Idee, Staatsfunktionen hätten keinen Wert in sich und seien nur als Mittel zum Zweck der Freiheit akzeptabel. Im System des transzendentalen Idealismus plädiert Schelling für einen Lösungsweg, der in den Begriffen einer zweiten Natur und eines »Naturgesetzes zum Zwecke der Freiheit« zu einer Harmonisierung von Freiheit und Notwendigkeit führen soll: »Es muss eine zweite und höhere Natur gleichsam über der ersten errichtet werden, in welcher ein Naturgesetz, aber ein ganz anderes, als in der sichtbaren Natur herrscht, nämlich ein Naturgesetz zum Behuf der Freiheit. Unerbittlich, und mit der eisernen Notwendigkeit, mit welcher in der sinnlichen Natur auf die Ursache ihre Wirkung folgt, muss in dieser zweiten Natur auf den Eingriff in fremde Freiheit der augenblickliche Widerspruch gegen den eigennützlichen Trieb erfolgen. Ein solches Naturgesetz, wie das eben geschilderte, ist das Rechtsgesetz, und die zweite Natur, in welcher dieses Gesetz herrschend ist, die Rechtsverfassung, welche daher als Bedingung des fortdauernden Bewusstseins deduziert ist.« 64 Der Staat ist de facto notwendig, doch zugleich sind die Grenzen seiner Wirksamkeit zu beachten. Er muss sich – so Schelling  in seinen Stuttgarter Privatvorlesungen – auf das notwendig zu Regulierende zu beschränken. Er ist nicht mehr und nicht weniger als die Bedingung der Möglichkeit einer freien, durch das Recht limitierten Entfaltung des Individuums: »Will man dem Staat die Kraft-Einheit geben, so verfällt er in den abscheulichsten Despotismus: beschränkt man die oberste Staats-Gewalt durch Verfassung und Stände, so hat er nicht die gehörige Kraft«. 65 Für Schellings Staatsverständnis repräsentativ ist die geschichtstheoretische, das Sündenfall-Motiv aufnehmende Bilanz, die er bereits  zieht: »Die Natureinheit, diese zweite Natur über der ersten, zu welcher der Mensch notgedrungen seine Einheit nehmen muss, ist der Staat, und der Staat ist daher [. . . ] eine Folge des auf der Menschheit ruhenden Fluchs [. . . ] Es ist bekannt, wie viel Mühe man sich, besonders seit der Französischen Revolution und den Kantischen Begriffen

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gegeben hat, eine Möglichkeit zu zeigen, wie mit der Existenz freier Wesen Einheit vereinbar, also ein Staat möglich sei, der eigentlich nur die Bedingung der höchstmöglichen Freiheit sei. Allein dieser ist unmöglich.« 66 Schelling, der ein Vierteljh. länger lebt als Hegel, nimmt um  in der Endzeit des D. I. die neue soziale Kraft des Proletariats wahr, d. h. die Kampfansage nicht mehr allein gegen eine bestimmte staatliche Organisationsform, sondern gegen die bürgerliche Gesellschaft insgesamt. Er kennt den zeitgenössischen Sozialismus und Kommunismus. Nicht auf den Sozialismus der Reformer zielt Schellings Kritik an jenen, die »alle Unterschiede« aufzuheben sich anschickten, »auch die, welche die Sanktionen der Ideenwelt für sich hatte, wie Eigentum und Besitz, wodurch zuerst der Mensch über das bloß Materielle zur Herrlichkeit sich erhebt, die aber, weil Ausschließlichkeit zu ihrer Natur gehört, Ungleichheit einführen, alle diese, vornehmlich aber ›alle Obrigkeit und Gewalt‹ aufzuheben, und damit gleich jetzt, ohne den Herrn zu erwarten, auf dessen Ankunft das Christentum die arme blödsinnige Menschheit vertröstet, den Himmel auf Erden einzurichten«. 67 Der Zeitzeuge der Ereignisse von  erwartet für  »eine neue, noch schrecklichere und tiefer eindringende Revolution«. 68 Seine Prognose lautet, »das Ende der gegenwärtigen Welt-Krisis werde sein, dass der Staat wieder an seine wahre Stelle – als Bedingung, als Voraussetzung, nicht als Gegenstand und Zweck der individuellen Freiheit gesetzt werde«. 69 Hegels Rechtsphilosophie begründet das Prinzip der Vernünftigkeit von Staat und Recht, die Idee des vernünftig wirkenden Staates, dessen Sittlichkeit Korrektiv und Kompensation der Unvernunft der moderner Staaten und der modernen bürgerlichen Gesellschaft ist (diese ist nicht mehr societas civilis, sondern für Hegel modern im Sinne der englischen Nationalökonomie). Hegel denkt in substanziellen ›Begriffen‹, weil seine Philosophie die Realisierung des vernünftigen, den Zwecken menschlicher Freiheit verpflichteten bürgerlich-gesellschaftlichen und staatlichen Handelns als eine objektive Möglichkeit ausweisen will, die zu realisieren noch aussteht. Die substanzieller Vernunft bestimmt den Ton der Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (): Die Rechtsphilosophie hat als Wissenschaft »nur das Geschäft, diese eigene Arbeit der Vernunft

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der Sache zum Bewusstsein zu bringen« (§ ). Ein Zusatz zu §  macht deutlich, warum Hegel diesen Begriff des Rechts und die Idee der Sittlichkeit benötigt, um über den Staat der bürgerlichen Gesellschaft sprechen zu können: »Wenn wir hier vom Rechte sprechen, so meinen wir nicht bloß das bürgerliche Recht, das man gewöhnlich darunter versteht, sondern Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte, die ebenfalls hierher gehören, weil der Begriff die Gedanken der Wahrheit nach zusammenbringt. [. . . ] Die Moralität, wie das frühere Moment des formellen Rechts, sind beide Abstraktionen, deren Wahrheit erst die Sittlichkeit ist. Die Sittlichkeit ist so die Einheit des Willens in seinem Begriffe und des Willens des Einzelnen, das heißt des Subjekts.« Der »Verlust der eigentlichen Sittlichkeit und der substanziellen Einheit« und eine Verfasstheit der Gesellschaft, in der »die Glieder sich [. . . ] als selbständige zueinander [verhalten], indem nur das Band des gegenseitigen Bedürfnisses sie umschlingt«, bilden den Horizont von Hegels Staatskonzeption in Korrelation mit der bürgerlichen Gesellschaft: Die »bürgerliche Gesellschaft hat man häufig für den Staat angesehen. Aber der Staat ist erst das Dritte, die Sittlichkeit und der Geist, in welchem die ungeheure Vereinigung der Selbständigkeit der Individualität und der allgemeinen Substanzialität stattfindet. Das Recht des Staates ist daher höher als andere Stufen: es ist die Freiheit in ihrer konkretesten Gestaltung, welche nur noch unter die höchste absolute Wahrheit des Weltgeistes fällt.« 70 Die Rechtsphilosophie will »nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll«. 71 Die empirische Basis und das zu lösende Problem der Rechtsphilosophie ist die bürgerliche Gesellschaft: Es ist »durch das System der Partikularität, dass das Recht äußerlich notwendig wird als Schutz für die Besonderheit«. 72 Hegel lässt in §  keinen Zweifel daran, dass für die Moderne, das System der Wechselbeziehung von Bedürfnis und Arbeit, eine normative Allgemeinheit des Rechts konstitutiv ist, die sich in allgemeinen Menschenrechten ausdrückt: »Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewusstsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, dass Ich als allgemeine Person aufgefasst werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist. Dies Bewusstsein, dem der Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit, – nur dann mangelhaft,

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wenn es etwa als Kosmopolitismus sich dazu fixiert, dem konkreten Staatsleben gegenüberzustehen.« Doch die bürgerliche Gesellschaft verwirklicht das der ›allgemeinen Person‹ zustehende Recht nicht. Nur der Staat kann die Widersprüche dieser Gesellschaft rechtlich regeln, freilich nicht irgendein Staat, sondern nur ein Staat, der dem ›Begriff ‹ des Rechts entspricht. Eine Bilanz bietet § : »Die Besonderheit für sich, einerseits als sich nach allen Seiten auslassende Befriedigung ihrer Bedürfnisse, zufälliger Willkür und subjektiven Beliebens, zerstört in ihren Genüssen sich selbst und ihren substanziellen Begriff; andererseits als unendlich erregt und in durchgängiger Abhängigkeit von äußerer Zufälligkeit und Willkür sowie von der Macht der Allgemeinheit beschränkt, ist die Befriedigung des notwendigen wie des zufälligen Bedürfnisses zufällig. Die bürgerliche Gesellschaft bietet in diesen Gegensätzen und ihrer Verwicklung das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens dar.« 73 Diese Kritik der bürgerlichen Gesellschaft folgt anderen Einsichten als denen moralischer Wertung. Der Zustand der Gesellschaft hat objektive Ursachen. Hegel sieht sie in der Verfasstheit gesellschaftlicher Arbeit (§ ): Verelendung und Akkumulation von Reichtum kennzeichnen für ihn nicht zwei Seiten der bürgerlichen Gesellschaft, sondern bilden einen wechselseitigen Bedingungszusammenhang. Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben die Tendenz, »Individuen zur Armut herunter[zu]bringen, einem Zustande, der ihnen die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft lässt, und der [. . . ] sie aller Vorteile der Gesellschaft [. . . ] mehr oder weniger verlustig macht« (§ ). Zugleich »vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer [. . . ] auf der einen Seite, wie auf der anderen Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse« (§ ). Hegel bilanziert, »dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern« (§ ). Deshalb ist ein ›sittlicher‹ Staat notwendig, der in der ›Idee des Rechts‹ gründet.

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6 Rezeptionen des Deutschen Idealismus Eine umfassende Geschichte der vielfältigen Rezeptionen des D. I. außerhalb Deutschlands ist noch nicht geschrieben. 74 Es wird in der weiteren Forschung darum gehen müssen, deutlich zu machen, dass der D. I. bereits in der Zeit seiner Entstehung und Entwicklung in zahlreichen europäischen Ländern als intellektuelle Anregung – zustimmend oder als Anlass zu Kritik – wahrgenommen wurde, und darzulegen, in wie unterschiedlichen Formen er unter den jeweiligen Bedingungen nationaler kultureller Konstellationen rezipiert wurde. Die dt. Philosophie hat in der Zeit vom Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft () bis zu dem in den er Jahren entstehenden Neukantianismus eine solche Blüte erlebt, dass Intellektuelle in ganz Europa sich einer direkten Bezugnahme auf die neuesten Ergebnisse der dt. philosophischen Debatte nicht entziehen konnten. England und Frankreich waren die ersten Länder, in denen die Spuren einer Rezeption der Kantschen Philosophie zu finden sind. Die franz. Rezeption erfüllte in der ersten Hälfte des . Jh. eine wichtige, wenn auch durch Missverständnisse dieses philosophischen Denkens belastete Vermittlungsfunktion: Die franz. Übersetzungen, Kommentare und Interpretationen dt. Werke waren die ersten und für lange Zeit die einzigen Quellen, die dem philosophischen Denken in Italien und Spanien den Zugang zur kritischen Philosophie Kants und zu den Systemen Fichtes, Schellings und Hegels eröffneten. Sowohl für den italienischen als auch für den spanischen Bereich war die Bezugnahme auf die dt. Philosophie am Ende des . Jh. ein Mittel, die Intellektuellen zur sozialen, politischen und kulturellen Erneuerung ihrer Länder aufzurufen; vergleichbares gilt u. a. auch für Polen oder für Finnland. Nationale kulturelle Traditionen und Zukunftsperspektiven haben bei den Rezeptionen des D. I. eine große Rolle gespielt und ihm jeweils ein besonderes Profil gegeben. Berücksichtigt man aber auch die wechselseitigen Interaktionen zwischen den nationalen Rezeptionen, so wird über besondere nationale Merkmale hinaus der allgemein europäische Charakter der Wirkung des D. I. deutlich. Im ausgehenden . Jh. war das Interesse am D. I. für eine gewisse Zeit rückläufig. Die nicht zuletzt im Kontext der Analytischen Philosophie, aber auch in Perspektiven von Einzelwissenschaften – z. B.

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an der spekulativen Erkenntnis-, Natur- und Geschichtsphilosophie – formulierte Kritik am metaphysischen Charakter des idealistischen Theorietypus ließ ihn als überholt erscheinen. Gegenwärtig ist ein Umdenken zu verzeichnen: Der D. I. zieht, wie die große Anzahl von ihm gewidmeten Quelleneditionen und Publikationen sowie das Erscheinen des Internationalen Jahrbuchs des D. I./International Yearbook of German Idealism (seit ) zeigt, in Forschung und Lehre neue Aufmerksamkeit auf sich; er ist nicht nur in Europa und Nordamerika 75, sondern weltweit aktuell. Ameriks, K. (Hg.), , Cambridge Companion to German Idealism, Cambridge. – Ameriks, K./J. Stolzenberg (Hg.), , Der deutsche Idealismus und die gegenwärtige analytische Philosophie/German Idealism and Contemporary Analytic Philosophy. In: Internat. Jb. D. Deutschen Idealismus/Internat. Yearbook of German Idealism, Bd. , Berlin. – Beiser, F., , The Fate of Reason: German Philosophy from Kant to Fichte, Cambridge, Ma./London. – Beiser, F., , Enlightenment, Revolution and Romanticism: The Genesis of Modern German Political Thought, –, Cambridge, Ma./London. – Beiser, F. C., , German Idealism. The Struggle Against Subjectivism, –, Cambridge, M A/ London. – Bonsiepen, W., , Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Mathematische vs. spekulative Naturphilos., Fft./M. – Bourgeois, B., , L’idéalisme allemand, Paris. – Braun, H., , Materialismus-Idealismus In: GGb, Bd. . – Bubner, R. (Hg.), , Deutscher Idealismus, Stuttgart. – D’Alfonso, M., , Rezeptionen des Deutschen Idealismus. In: Sandkühler . – Duque, F., , Historia de la Filosofia Moderna. La Era de la Crítica, Madrid. – Durner, M./F. Moiso/J. Jantzen, , Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften –. In: AA, Erg. Bd. z. Werke –, Stuttgart-Bad Cannstatt. – Feuerbach, L., , Kleine philosophische Schriften (–). Hg. v. M. G. Lange, Leipzig. – Frigo, G. F., , Die Natur. In: Sandkühler . – Gamm, G., , Der Deutsche Idealismus. Eine Einf. in d. Philos. v. Fichte, Hegel u. Schelling, Stuttgart. – Gawoll, H.-J./Ch. Jamme (Hg.), , Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um  in Kunst u. Geisteswissenschaften, München. – Giordanetti, P., , Das Schöne und die Kunst. In: Sandkühler . – Henrich, D., , Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen z. d. Grundlagen d. klass. dt. Philos., Stuttgart. – Henrich, D., , Konstellationen. Probleme u. Debatten am Ursprung d. idealistischen Philos. (–), Stuttgart. – Hollerbach, A., , Der Rechtsgedanke bei Schelling. Quellenstudien z. seiner Rechts- u. Sozialphilosophie, Fft./M. – Horstmann, R.-P.,  , Die Grenzen der Vernunft. Eine Unters. z. Zielen u. Motiven d. Deutschen Idealismus, Fft./M. – Horstmann, R.-P./M. J. Petry (Hg.), , Hegels Philosophie der Natur, Stuttgart. – Hühn, L., , Fichte und Schelling oder: Über die Grenzen menschlichen Wissens, Stuttgart/Weimar. – Kerve-

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gan, J.-F./G. Mohr/H. J. Sandkühler, , Freiheit, Moral und Sittlichkeit. In: Sandkühler . – Kervegan, J.-F./G. Mohr/H. J. Sandkühler, a, Das Recht und der Staat. In: Sandkühler . – Lange, F. A.,  (), Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Hrsg. und eingel. v. A. Schmidt,  Bde., Fft./M. – Mauthner, F., , Idealismus. In: ders., Wb. d. Philos. Neue Beitr. z. einer Kritik d. Sprache, München. – O’Connor, B., System und Methode. In: Sandkühler . – Pätzold, D., , Die Vernunft und das Absolute. In: Sandkühler . – Pippin, R. B., , Die Verwirklichung der Freiheit. Der Idealismus als Diskurs d. Moderne, Fft./M. – Plitt, G. L. (Hg.), , Aus Schellings Leben. In Briefen. . Bd.: –, Leipzig. – Pot˛epa, M./L. Knatz, , Die Religion und der Gottesbegriff. In: Sandkühler . – Rosen, M., , Die Geschichte. In: Sandkühler . – Sandkühler, H. J. (Hg.), , F. W. J. Schelling, Stuttgart/Weimar. – Sandkühler, H. J., , Die Geschichte, das Recht und der Staat als ›zweite Natur‹. Zu Schellings polit. Philos. In: Zschr. f. philos. Forschung . – Sandkühler, H. J., , Revolution, bürgerliche Gesellschaft, Recht und Staat. Schelling und Hegel. In: Der Begriff des Staates. Internat. Jb. d. Deutschen Idealismus, . – Sandkühler, H. J. (Hg.), , Handbuch Deutscher Idealismus. In Zusammenarbeit mit M. d’Alfonso, F. Duque, G. F. Frigo, B. Frischmann, P. Giordanetti, J.-F. Kervégan, L. Knatz, G. Mohr, B. O’Connor, D. Pätzold, M. Pot˛epa, M. Rosen u. H. Tavi, Stuttgart/Weimar. – Sandkühler, H. J., a, Der Deutsche Idealismus – Zur Einführung. In: Sandkühler . – Schelling, Fr. W. J., , Die Weltalter. Fragmente. In d. Urfassungen v.  u.  hg. v. M. Schröter, München. – Schelling, F. W. J.,  , System der Weltalter, Münchener Vorl. / in einer Nachschr. v. E. v. Lasaulx. Hg. u. eingel. v. S. Peetz, Fft./M. – Schmied-Kowarzik, W., , ›Von der wirklichen, von der seyenden Natur‹. Schellings Ringen um eine Naturphilos. in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte u. Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt. – Sandkühler, H. J., a, Der Deutsche Idealismus – Zur Einführung. In: Sandkühler . – Schraven, M., , Recht, Staat und Politik bei Schelling. In: Sandkühler . – Siep, L., , Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Fft./M. – Solomon, R. C./K. M. Higgins (eds.), , The Age of German Idealism. Vol. VI of The Routledge History of Philosophy, London/NY. – Stolzenberg, J./H. F. Fulda, , Architektonik und System in der Philosophie Kants, Hamburg. – Vetö, M., Schelling. Stuttgarter Privatvorlesungen. Version inédite, accompagnée du texte des Œuvres, publiée, préfacée et annotée, Torino . – Vetö, M., , Études sur l’idéalisme allemand, Paris. – Voßkühler, F., , Der Idealismus als Metaphysik der Moderne, Würzburg. – Voßkühler, F., , Idealismus. In: EPh, Bd. . – Walch, J. G.,  ( ), Philosophisches Lexicon, Leipzig. – Willaschek, M., , Praktische Vernunft. Handlungstheorie u. Moralbegründung bei Kant, Stuttgart. – Wolff, Chr.,  , Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Fft./M.

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1 Das Folgende beruht auf Sandkühler a. – 2 Vgl. zur Begriffsgeschichte Braun

. – 3 Walch , . – 4 Wolff , Bd. , . – 5 Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes (), M S ., . – 6 Zur Einf. in den D. I. vgl. Sandkühler ; vgl. auch Bubner ; Henrich , ; Siep ; Solomon/Higgins ; Voßkühler ; Gamm ; Duque ; Vetö ; Voßkühler ; Ameriks ; Bourgeois ; Horstmann ; Pippin . – 7 Marx/Engels, Die heilige Familie oder Kritik d. kritischen Kritik (), M EW Bd. ,  u. . Hervorh. Sa. – 8 Marx/Engels, Die Deutsche Ideologie (–/), MEW Bd. , . – 9 Ebd., . Hervorh. Sa. – 10 Lange , . – 11 Mauthner . – 12 Gamm ,  u. . – 13 Vgl. zu Rezeptionen d’Alfonso . – 14 Vgl. die programmatische u. materialreiche Studie Henrich ; vgl. auch Henrich . – 15 Zu neueren, in eine einheitliche Interpretation des D. I. integrierten Forschungsergebnissen vgl. Beiser ,  u. . – 16 Vgl. Sandkühler . – 17 Kant, Vorl. über d. Metaphysik (Pölitz), A A X X V I II, . – 18 Kant, KrV, B  f. – 19 Kant, Prolegomena (), A A I V,  f. – 20 Vgl. Duque , –. – 21 Kant, KrV, A  f. – 22 Fichte, Grundl. d. gesammten Wissenschaftslehre (, WL), S W ,  f. – 23 Fichte, Erste Einl. in d. W L (), S W , . – 24 Fichte, Darstellung d. W L (), S W , . – 25 Schelling, Ideen zu einer Philos. d. Natur (,  ), S W I I, . – 26 Schelling, System d. transzendentalen I. (), S W III, . – 27 Schelling, Philos. Unters. über d. Wesen d. menschl. Freiheit (), S W V II, . – 28 Hegel, Aufs. aus d. Krit. Journal d. Philos., H W , . – 29 Hegel, Wiss. d. Logik I, H W , . – 30 Ebd., . – 31 Feuerbach, Grundsätze d. Philos. d. Zukunft, , § , G W , . – 32 Feuerbach , . – 33 Zur Religionsphilosophie im D. I. vgl. Pot˛epa/Knatz , zur Ästhetik vgl. Giordanetti . – 34 Vgl. Pätzold . – 35 Vgl. O’Connor . – 36 Vgl. Stolzenberg/Fulda . – 37 Vgl. Hühn . – 38 Schelling, Einleit. z. d. Ideen z. einer Philos. d. Natur (), S W I I ;  f. – 39 Hegel, Enzyklopädie II, H W , . – 40 Hegel, Phänomenol. d. Geistes (), H W , . – 41 Vgl. Frigo ; vgl. auch Durner/Moiso/Jantzen ; Bonsiepen . – 42 Vgl. Schmied-Kowarzik . – 43 Vgl. Horstmann/Petry . – 44 Vgl. Rosen . – 45 Kant, A A V II I, . – 46 Ebd., . – 47 Ebd., . – 48 Schelling, System d. transzendentalen I. (), S W I I I, . – 49 Schelling ,  f. – 50 Schelling ,  u. . – 51 Schelling, S W VI I I, . – 52 Schelling , . – 53 Schelling, Philos. Einl. in d. Philos. d. Mythologie oder Darstellung d. reinrationalen Philos., S W XI, . – 54 Vgl. Kervegan/ Mohr/Sandkühler . – 55 Vgl. Willaschek . – 56 Schelling, Vom Ich (), S W I,  f. – 57 Schelling, Neue Deduktion d. Naturrechts (), S W I, . – 58 Ebd.,  f. – 59 Zu Hegels Konzept der Sittlichkeit vgl. d. Art. ›Sittlichkeit‹. – 60 Vgl. Kervegan/Mohr/Sandkühler a; vgl. auch Sandkühler , . – 61 Hegel, Vorl. über d. Philos. d. Weltgeschichte, H W , . – 62 Kant, Ein Reinschriftfragment zu Kants ›Streit der Fakultäten‹ (aus d. Nachlass: bis ), Loses Blatt Krakau. In: Kant-Studien  (/), –. Hervorh. Sa. – 63 Vgl. Hollerbach , Schraven . Zu Fichtes Rechtslehre vgl. Mohr in Kervegan/Mohr/ Sandkühler a. – 64 Schelling, S W I I I,  f. – 65 Vetö ,  f. – 66 Schelling, S W V I I, . – 67 Schelling, S W XI, . – 68 Ebd., . – 69 Schelling an Karl

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[Schelling], . . . In: Plitt , . – 70 Hegel, H W ,  f. – 71 Ebd., . – 72 Ebd., . – 73 Ebd., . – 74 Vgl. materialreiche Beiträge zu dieser Geschichte in d’Alfonso . – 75 Vgl. etwa zum D. I. u. zur gegenw. analyt. Philos. Ameriks/ Stolzenberg .

Hans Jörg Sandkühler

Kulturphilosophie

1 Zum Begriff. Kultur (K.) wird ebenso (i) im Kollektivsingular als die grundlegende, in alle Tätigkeiten der Menschen ausdifferenzierte Funktion der Lebensgestaltung und damit als Inbegriff poietisch-praktischer Selbstauslegung begriffen wie (ii) als der spezifische Bereich der Artikulation verfeinerter geistiger, vorwiegend ästhetischer Ansprüche auf Kreativität, Kommunikation und Unterhaltung, die sich in den hochkulturellen Medien und künstlerischen Spitzenprodukten vergegenständlichen (so in der Rede vom K.angebot einer Stadt, dem K.teil der Zeitung, dem Standortfaktor K. u. ä.); sie tritt überdies (iii) in den Plural, wenn die Individualisierung des universalen K.konzepts (a) in seine einzelnen geografischen und historisch-nationalen Ausprägungsformen gemeint ist (›K. des Abendlandes‹, ›lateinamerikanische K.‹ usw.). Genauer besehen betrifft diese Mehrdeutigkeit jedoch kein Problem der Äquivokation, sondern der Spezifikation: Der Begriff der K. hat verschiedene Dimensionen. Generell bezeichnet er alle Aspekte des gestaltenden Elementes im menschlichen Selbstverhältnis; er ist der »Inbegriff der von Menschen produzierten und reproduzierten menschlichen Lebenswelt« 1 ; im Großen wie im Kleinen realisiert sich in der K. der Anspruch des Menschen, etwas aus den vorgefundenen Bedingungen und aus sich selbst zu machen. Die Leistung der K. ist in der tätigen Vermittlung des Weltbezuges zu sehen. Sie steht damit von Grund auf in einer anthropologischen Dimension – im Kontext einer Reflexion auf das, was Herder terminologiebildend in die Frage nach dem Menschen als einem Mängelwesen gefasst hat. Vor allem aber steht sie im begrifflichen Kontrast zur Natur als dem Gegebenen und in unseren Handlungszusammenhängen zwar notwendig Vorausgesetzten, aber nur begrenzt Verfügbaren. Obwohl sich seit der Antike der rote Faden einer ebenso häufig kritischen wie affirmativen Erörterung der K. verfolgen lässt, ist die Kulturphilosophie (KPh) eine relativ junge Disziplin. Bis heute steht sie unter dem Missverständnis einer Bindestrich-Disziplin, die sich mit dem Spezialinteresse an luxurierenden Phänomenen beschäf-

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tigte, und damit notorisch unter dem Druck der Rechtfertigung. Diese umstrittene Stellung beruht freilich im wesentlichen auf der Mehrdeutigkeit des Begriffs – auf der Identifikation von (ii) als dem Gegenstand der KPh bei mangelnder Reflexion des Zusammenhanges von (ii) mit (i). 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte 2.1 Ursprünge des Kulturbegriffs – Stationen der Problemgeschichte Begriff, Funktion und Problem der K. gehören von Anfang an zu den Gegenständen der Philosophie. Begriffsgeschichtlich gilt die Ableitung vom lat. Verb ›colere‹ für drehen, wenden, bebauen, anbauen, und dem Substantiv ›cultura‹ für Ackerbau, Anbau, Pflege; bei Cicero wird das Wort in der Auszeichnung der Philosophie als cultura animi (Pflege des Geistes) bereits metaphorisch verwendet und in ähnlichen Wendungen in der gesamten Spätantike und Renaissance, ohne den spezifizierenden Genitiv seit Samuel Pufendorf. Erst in der Neuzeit setzt sich der Ausdruck für die Gesamtheit menschlicher Leistungen durch. Problemgeschichtlich aber hat das kulturphilosophische (kph.) Denken schon seit Platon seinen Ursprung in der Kritik der K. als des von Menschen in absichtlicher Tätigkeit Hervorgebrachten. Im Dialog Protagoras, in dem es um die Lehrbarkeit der Tugend geht, wird in einem Mythos erzählt, wie die Technik zu den Menschen gekommen ist 2 : Der Mensch ist bei der Verteilung der natürlichen Güter schlechter weggekommen als alle anderen Lebewesen. Prometheus stiehlt daraufhin den Göttern das Feuer des Hephaistos und die Weisheit der Athene, und damit die Künste des Schmiedens und der Weberei, um sie den Menschen zu bringen. Zeus fügt den Gaben zum Überleben der Menschheit schließlich noch die Scham hinzu und mit ihr die politische Tugend – ob in der Absicht, die unzureichende Fürsorge des Prometheus vorzuführen, oder als abgenötigte Bestätigung von dessen Werk, ist fraglich. In jedem Fall ist im Rekurs auf die sophistische Gegenüberstellung von physis als dem natürlich Gegebenen und thesis als dem von Menschen Gemachten die K. als das begriffen, was ein menschliches Leben in der Gemeinschaft erst ermöglicht – mit Technik, Religion, Sprache und Politik der Inbegriff dessen, was den Menschen zur Kompensation ihrer natürlichen Schwäche von den Göttern zugekommen ist.

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Es ist dieses Motiv, das die gesamte Antike und Neuzeit seitdem beschäftigt: Für den Menschen hat die Natur stiefmütterlich gesorgt (natura noverca). In seiner Beschreibung als eines Mängelwesens und der Kompensation durch entschädigende Göttergaben ist seitdem das Leitmotiv der Auseinandersetzung zu sehen, so dass im Mythos des Protagoras das Modell für die begriffliche Konstruktion der K. und insbes. für die Problematisierung des Spannungsverhältnisses von (menschlicher) Natur und Kultur zu sehen ist. Von hier aus eröffnet sich die grundsätzliche Polarisierung in der Bewertung, die bis in die Moderne zu verfolgen ist: Ist die K. etwas Widernatürliches oder das notwendige Korrelat der Natur? Hat man die Tat des Prometheus kulturpessimistisch als Sündenfall oder kulturoptimistisch als Gnadenakt einer zweiten Schöpfung zu verstehen? Das Thema hat die gesamte Antike und die Renaissance fasziniert (die Kyniker, die Stoa, Plutarch, Laktanz, Seneca, Plotin, Augustinus, u. a.). 3 Epochal ist hier der Florentiner Platoniker Pico della Mirandola, der in seiner theologischen Apologie der Freiheit 4 das erste Beispiel für eine schlechthin positive Bewertung der menschlichen Situation in der Schöpfung gibt, eine emphatische Bejahung der Mangelsituation um der von Gott geschenkten Kompensation durch die Freiheit willen, mit welcher der Mensch seine Lebensform selbst gestalten kann. Daraus folgt eine entschieden positive Bewertung der K., die von den Zeitgenossen geteilt wird. Das Prometheus-Motiv wirkt bis in die Moderne fort, namentlich in der für das K.verständnis exemplarischen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der dichterischen Poesie. Für Shaftesbury hängt die Bestimmung des Menschen an seiner Stellung im Kosmos: In der Schrift Die Moralisten () erörtert er die Lage des Menschen als eines Mängelwesens und den Wert der kompensatorischen Ergänzungen. Auf der Grundlage eines teleologischen Naturbegriffs begreift er die menschliche Intelligenz als Kompensat und entwickelt ein offensives Argument für den Vorteil des physischen Mangels, den der Mensch vor den anderen Lebewesen genießt: »Vernunft und Rede« sind im Vergleich mit der physischen Stärke der Tiere »etwas Besseres anderer Art«. 5 Mit dieser radikalen Umwertung des Mangels verbindet er einen grundlegenden K.optimismus: »Was kann besser sein als ein Mangel, der so viel Gutes hervorruft?« 6 Zu den positiven

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Folgen des Mangels gehören die Bindung an die Gesellschaft und die K. der Geselligkeit, die eheliche Liebe und die Eltern-Liebe, die Liebe zu einem politischen Gemeinwesen und mit dem Bewusstsein der Pflichten auch die Tugenden, die den Menschen auszeichnen. Mit dieser Anthropodizee des K.wesens Mensch geht auch eine emphatische Hochschätzung der Prometheus-Figur einher. Der sublimierte Dichter, dem es nur aufgrund seiner Bildung möglich ist, große Werke zu schaffen, ist »ein andrer Schöpfer, ein wahrer Prometheus unter Jupiter«. 7 Damit bindet Shaftesbury den Begriff des künstlerischen Genies in einer für die Moderne tragenden Pointe an die naturanaloge und darin eigenständige Schaffenskraft. In dieser exemplarischen Auszeichnung aber kulminiert der Gedanke, dass der Mensch durch seine K. nicht aufhört, ein Naturwesen zu sein. Die K. ist vielmehr Element der menschlichen Natur. 2.2 Anfänge der Kulturtheorie – Stationen der Begriffsgeschichte Für das i. e. S., also sachlich wie methodisch reflektierte kph. Denken sind v. a. zwei markante historische Einsatzstellen zu verzeichnen. 2.2.1 Materiale Kulturphilosophie Rousseau und die unmittelbaren Zeitgenossen und Nachfolger der Aufklärung des . wie der Aufklärungskritik des . Jh. beziehen sich kritisch auf eine im Gegensatz oder spekulativ auf eine im Einklang mit der Natur begriffene K. (und Gesellschaft) und betonen mit der Aufmerksamkeit auf alles von Menschen Gemachte (Sprache, Wissenschaft, Technik, politische Institutionen, Künste) zunehmend auch generell das Bewusstsein von seiner Geschichtlichkeit. Auf diese Weise setzt im . Jh., in dem wie die Sprachphilosophie auch die Ästhetik floriert, zugleich mit den Theorien der K. das geschichtsphilosophische Interesse ein (Geschichtsphilosophie). 2.2.2 Formale Kulturphilosophie Quer zur damit einsetzenden material auf die Sache bezogenen Theorienbildung stehen die von Wilhelm Dilthey ausgehenden, im südwestdeutschen Neukantianismus weitergeführten und sich über mehrere Generationen erstreckenden Reflexionen auf die Grundlegungsprobleme der Wissenschaften. Dilthey hatte die K.wissenschaften unter dem

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Titel von Geisteswissenschaften methodisch durch das Verstehen, die Naturwissenschaften durch das Erklären gekennzeichnet. Wilhelm Windelband expliziert diese Einteilung durch den Unterschied der ›idiografischen‹ als historisch-individualisierenden Sätzen der K.wissenschaften und der ›nomothetischen‹ als gesetzmäßig generalisierenden Sätze der Naturwissenschaften (nomothetisch/idiografisch). Beide Denkformen haben nach Windelband und Rickert ihre vorwissenschaftliche Verankerung als Einstellungen in der Lebenspraxis. Das Interesse an der K., die als das geschichtliche Element der stets individuellen Wertschöpfung begriffen wird, steht hier letztlich im Dienst der Bestimmung von Philosophie als der Disziplin, die es im Unterschied zu allen empirischen Einzelwissenschaften mit der wertorientierten Weltanschauung zu tun hat. K. ist demnach »die Gesamtheit der Objekte, an denen allgemein anerkannte Werte haften, und die mit Rücksicht auf diese Werte gepflegt werden« 8 – kurzum: der »Inbegriff der Güter, die wir um ihrer Werte willen pflegen«. 9 In diesen Ansätzen nimmt der Neukantianismus bereits die von Charles Percy Snow behauptete These von den »zwei Kulturen« (Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften 10) vorweg, die von den elaborierten Ansätzen des . Jh. (z. B. Ernst Cassirer) revoziert wird. Obwohl sich derart ein sachlicher Bezug auf die K. ausmachen lässt, ist Wilhelm Perpeet zuzustimmen, der diese Richtung als »formale KPh« einordnet: Im Zentrum steht – von Dilthey über Windelband und Rickert, später von Max Weber bis zu Erich Rothacker – das Interesse an Methodenfragen der Abgrenzung wissenschaftlicher (und philosophischer) Geltungsansprüche. 11 Ad . . Die moderne KPh – und mit ihr die Begriffsgeschichte der K. – setzt im . Jh. ein als radikale Kritik der K. Jean-Jacques Rousseau konzentriert sich in seiner Aneignung des Leitmythos im wesentlichen auf die zerstörerischen Wirkungen des prometheischen Feuers: »Es brennt, wenn man es berührt.« 12 Für ihn besteht, wie er in den beiden kritischen Abhandlungen, dem Discours sur les sciences et les arts () und dem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes () entwickelt, der Effekt der K. in der Entfremdung des Menschen, in seiner Denaturierung und Dekadenz. Von Natur ist der Mensch kein Mängelwesen, sondern das Tier, das trotz seiner geringen Körperkraft und Beweglichkeit »am vorteilhaftesten von allen ausgerüstet« ist. 13 Es ist erst die K., durch die der Mensch sich

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selbst schwächt 14 und die für Rousseau nicht im Zeichen des Aufstiegs und des Fortschritts steht: Die kulturelle Entwicklung der Menschheit ist vielmehr eine Verfallsgeschichte. Zwar wird die Luxusschelte, in der Rousseaus K.kritik gipfelt, stets in der pragmatischen und moralischen Orientierung an Nutzen und Tugend vorgetragen. Doch die Instanz, die im Begriff des Nützlichen wie auch der Moralität mit der Beschwörung der elementaren, unverfälschten Bedürfnisse angerufen wird, ist die Natur, deren Begriff bei aller positiven Emphase unklar bleibt. Der natürliche Mensch, den Rousseau in seiner Vision der »Einfalt, [. . . ] Unschuld und [. . . ] Armut« beschwört, 15 ist – wie er ausdrücklich eingesteht – aus der Not der kulturkritischen Argumentation konstruiert, die Natur selbst eine Idee in normativ-praktischer Absicht. 16 Den Ursprung der K. sieht Rousseau in der Vergesellschaftung, als deren konstitutive Elemente er das Eigentum durch die Aneignung von Land 17, die Arbeitsteilung zwischen Bauern und Handwerkern, die Gewöhnung an die daraus resultierenden Bequemlichkeiten und die Anerkennung individueller Vorzüge im Rahmen anfänglicher Geselligkeit begreift. 18 Schon die bloße Nähe der Menschen zieht durch ihre wechselseitige Abhängigkeit Verfälschungen der Gesinnung und Verwerfungen im Handeln nach sich: Die Gesellschaft, durch die Herrschaft und moralisch-politische Ungleichheit unter die Menschen kommt, ist für Rousseau widernatürlich. 19 Die natürliche Bestimmung des Menschen wäre, »einfach, gleichförmig und allein zu leben«. 20 Vor allem die Wissenschaften und Künste als kulturelle Instanzen vernunftgeleiteter Erleichterung und Verfeinerung des Lebens macht er für das Elend seines Zeitalters verantwortlich. Ihr schädlicher Effekt besteht hauptsächlich in moralischer Korruption: Der Luxus, den sie ermöglichen, zieht zu allem anderen Elend, der Verweichlichung und körperlichen Schwächung, auch die »Lockerung der Sitten« und den »Verfall des Geschmacks« nach sich. 21 Rousseau knüpft daran eine historische Gesetzmäßigkeit, die er mit derselben Determination am Werke sieht wie die Naturgesetze: In dem Maße, in dem die Künste und Wissenschaften (und damit der Luxus) florieren, verfällt die Sittlichkeit. Freilich scheut er sich vor der naheliegenden destruktiven Konsequenz seiner radikalen K.kritik, die ihm seine Kritiker unterstellten: Da der Weg zurück zur Natur grundsätzlich nicht offensteht, findet er im abwägenden Blick auf verschiedene Grade und

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Weisen der kulturellen Verfeinerung zu der moderaten Vorstellung von K.kritik als interner Differenzierung und interessiert sich in der Folge für die Begründung politisch organisierter Sittlichkeit 22 und für das Programm einer Erziehung, durch welche die besten Kräfte des Menschen gemäß seiner Natur zu entfalten wären. Identifiziert man die fundamentalistische Kritik an der K. als Syndrom der Entfremdung mit dem ›Rousseauismus‹, so ist seither ein Auf und Ab zwischen ›Rousseauismus‹ und ›Anti-Rousseauismus‹ – zwischen K.pessimismus und K.optimismus – festzustellen. Insbes. die Romantik und der frühe Marx zeigen sich in ihren kritischen wie utopischen Ansprüchen von Rousseau beeindruckt. Der in seiner Auseinandersetzung beobachtbare – keineswegs konsistent begründete – Übergang von der fundamentalistischen Kritik der K. zur K.kritik als interner Differenzierung hat für das moderne Bewusstsein etwas Exemplarisches: Zwar wird die kulturelle Existenz des Menschen als notwendig eingesehen, doch mit Blick auf die Konzessionen, die sie den Individuen abverlangt, wird K.kritik zum »unvermeidliche[n] und unabschließbare[n] Begleitdiskurs reflexiv gewordener K.en«. 23 Kant stellt Rousseaus  formuliertes Gesetz der Reziprozität von K.entwicklung und Sittenverfall anfänglich auf eine Stufe mit Newtons Entdeckungen der Astrophysik, da jener damit das Problem der Theodizee löst, indem er den Menschen für seine moralische Verderbtheit allein verantwortlich macht. Bereits in den er Jahren aber nimmt er Abstand von Rousseaus K.kritik. Seine eigene Theorie der K. entwickelt er in den geschichtsphilosophischen Schriften der er Jahre über die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbügerlicher Absicht () und im Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte () sowie in der Kritik der Urteilskraft (). K. ist für Kant der Inbegriff positiver Fertigkeiten: »[d]ie Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit)«. 24 So spricht er etwa mit Bezug auf die eigenen »Naturkräfte (Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte)« von deren »Anbau (cultura)«. 25 Unter der Geltung des erst in der dritten Kritik gerechtfertigten teleologischen Begriffs (Teleologie) von einer Zwecke setzenden und produktiven Natur gehört die K., die aus der Vernunftanlage des Menschen entspringt, seine Lebensweise selbst zu bestimmen, bereits im Rahmen seiner teleologischen Geschichts-

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auffassung zur Natur (des Menschen); sie ist geradezu als der Zweck zu begreifen, den die Natur mit der menschlichen Gattung verfolgt. In entwicklungstheoretischer Perspektive stellt sich so die Vernunft als die List einer selbst vernünftig planenden Natur dar – das Mittel, durch das sie den Menschen zu der gewünschten Entwicklung treiben kann: Durch das Leiden an der Entzweiung – an der Ungleichheit und den Antagonismen –, zu der die Vernunftanlage den Menschen notwendig bringt, kommt es zu einer produktiven Herausforderung von Widerstand, ohne den der Mensch nicht zur allseitigen Entfaltung seiner Anlagen käme. Diese gipfelt in der moralischen Verfassung, die den Menschen befähigt, den republikanisch verfassten Staat zu gründen: Für Kant ist »eine vollkommene bürgerliche Verfassung [. . . ] das äußerste Ziel der K.«, 26 weil nur in dieser die Freiheit und Gleichheit der Menschen rechtlich garantiert und damit die Entwicklung aller menschlichen Anlagen und ein ›ewiger‹ Frieden möglich sind. Auf Kant geht auch die terminologische Unterscheidung von K. und Zivilisation zurück, die hier jedoch keine Antithese, sondern – im Blick auf das Ziel der Moralisierung – als Gradeinteilung eine Binnendifferenzierung des kulturellen Entwicklungsstandes meint. Humboldt folgt mit Bezug auf den Bildungsanspruch diesem Verständnis des Unterschieds eines äußerlichen von einem innerlichen Vorgang. Ein Reflex auf dieses Verständnis findet sich noch bei Nietzsche, der in der Zivilisation die bloße »Tierzähmung des Menschen« zu sehen vermag und von einem »abgründlichen Antagonismus von K. und Zivilisation« spricht. Nach solcher Verwerfung des bloß äußeren Aspekts fehlt nicht mehr viel, dass die Unterscheidung – noch bei Spengler im Sinne einer gesetzmäßigen Abfolge von Entwicklungsphasen begriffen (s. u.) – seit Beginn des Jh. in der populären KPh und in der nationalistischen Publizistik zur polemischen Leitmetaphorik bei der Abgrenzung der ›tiefen‹ dt. gegen die ›seichte‹ rom. und westliche Welt werden konnte: Während ›Zivilisation‹ die bloß technischen und institutionellen Aspekte der historischen Entwicklung bezeichnet, kommt in ›K.‹ das wahre Leben des Geistes zum Ausdruck. Die Unterscheidung markiert auch terminologisch den dt. Sonderweg, der mit ihr in der Sache behauptet wurde: Im Frz. und Engl. (und ausdrücklich bei aufklärerischen Denkern wie Freud, Cassirer und Elias) besteht weitgehend synonyme Verwendung der Ausdrücke.

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Jacob Burckhardt hält in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen () den Begriff der K. in der Mitte zwischen ihrem umfassenden poietisch-praktischen Verständnis als Inbegriff aller Lebensgestaltung und dem sektoriellen Verständnis von der Hochkultur. Er fasst sie unter dem von Schelling übernommenen Begriff der Potenz als eine von drei wirklichkeitskonstituierenden Kräften (Religion, Staat, K.), deren jede auf ein genuines Bedürfnis zurückzuführen ist: Der Staat drückt das politische, die Religion das metaphysische, die K. das materielle und geistige Bedürfnis aus. Burckhardt betont den Zusammenhang von Materiellem und Geistigem, indem er den Ursprung der K. in dem »geistigen Überschuss« sieht, der bei allem – auch materiellen – Tun entstehe. 27 Mit dem Ansatz bei einer menschlichen Invariante verbindet er so die Einsicht in die Plastizität und Variabilität der menschlichen Natur und die Rechtfertigung der Arbeitsteilung, indem er die zwangsläufige Modifikation der Bedürfnisse in der Eigendynamik der produktiven Betätigung hervorhebt. Die K., zu der er Sprache, Wissenschaft, Geselligkeit, Sittlichkeit und die Künste rechnet, ist damit begriffen als die Summe der spontanen Entwicklungen des Geistes, in ihrer Vielfalt und Komplexität »ein millionengestaltiger Prozess, in dem sich das ursprüngliche Tun in reflektiertes Können verwandelt«. 28 Friedrich Nietzsche knüpft hier an und fasst kompensationstheoretisch mit Blick auf den Menschen als Mängelwesen 29 den Begriff der K. »als einer neuen und verbesserten Physis«. 30 Genauer ist es ein ästhetisches Konzept von K. als »Herrschaft der Kunst über das Leben« 31, als »Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen« 32, das er im Rahmen seiner frühen »Artisten-Metaphysik« 33 entwickelt. Dabei ist sie für ihn aber keine bloße »Dekoration des Lebens«. 34 Nicht auf eine sektorielle Verengung des K.begriffs im Sinne der schönen Künste (s. o. (b)), sondern umgekehrt auf die fundamentale Ästhetisierung des Lebens im Sinne eines existenziell entgrenzten Kunstbegriffs läuft diese Theorie hinaus. Demnach ist es ein ästhetischer Trieb, der sich diversifizierend und graduell in allen Formen menschlichen Lebens produktiv ausprägt. Näherhin unterscheidet er an diesem künstlerischen »Fundamentaltrieb [. . . ] zur Metapherbildung« 35 das Apollinische – nach Apoll als dem Gott des Lichtes, der traumhaften Vision, der Aufklärung und der bildenden Kunst – und das Dionysische – nach Dionysos

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als dem Gott des Weines, der rauschhaften Verzückung und der Musik. In der Dialektik von Individuierung und Entgrenzung sind beide als komplementäre Prinzipien des Schaffens an aller Gestaltung beteiligt. Die egalitäre Tendenz, die dieser Erklärung des K.schaffens durch den Rekurs auf einen ästhetischen Trieb in allem menschlichen Leben eignet, konterkariert Nietzsche durch den elitären Individualismus einer Betonung der graduellen Unterschiede in der individuellen Ausprägung dieser ›plastischen Kraft‹. Während die K.optimisten des . Jh. im Begriff der K. immer auch das Tröstliche betonen, dass das einzelne sterbliche Individuum durch die kulturelle Kontinuität aufgehoben ist im Fortschrittsschicksal der Gattung, hat für Nietzsche die K. ihren Sinn und Zweck in den Leistungen der großen Individuen – die jedoch in ihrem Einfluss auf andere Individuen wiederum stimulierend und motivierend auf die K. als ganze wirken. Nietzsches lebensphilosophische Kritik an der zeitgenössischen Dekadenz findet sich in Oswald Spenglers Werk Der Untergang des Abendlandes (/) dramatisiert; zugleich generalisiert Spengler die Diagnose durch die Einbindung in ein geschichtsphilosophisches Schema, durch das er die als geschlossene Organismen begriffenen Hochkulturen nach dem Vorbild von Herders Geschichtsmodell in Analogie zu den Lebensaltern des Menschen 36 nach dem Entwicklungsgesetz des Aufstiegs und Niedergangs begreift. Während der Begriff der K. dabei die volle Blüte bezeichnet, markiert die Zivilisation stets die Phase des Niedergangs. Eine dualistische Theorie der kulturellen Dynamik gibt Sigmund Freud in der psychoanalytischen Abhandlung über Das Unbehagen in der Kultur (). Nach Freud bezeichnet »das Wort ›K.‹ die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen [. . . ], in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander«. 37 Freud entwickelt auf der Basis seiner Lehre vom Dualismus der Triebe eine agonale Sicht der K. als »Streit der Giganten«, in dem sich der »Lebenskampf« der Menschen um den Ausgleich zwischen Sexualtrieb (Eros) und Aggressionstrieb (Thanatos) abspielt. 38 Er überträgt das individualpsychologische Modell seiner Lehre vom Aufbau der Seele in Es, Ich und Über-Ich auf das kollektive Subjekt der Menschheit, indem er die Dynamik der Anpassung des Lustprinzips an das Reali-

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tätsprinzip durch Sublimation auf den konstitutiven Krisencharakter von K. anwendet: Im kulturellen Prozess der Sublimierung von Sexualität kommt es zu einer Steigerung des aggressiven Potenzials. Weil die normative Kontrollinstanz des Über-Ich bei der Verarbeitung auch der sekundären Aggressionen, die bei der erotischen Sublimierung entspringen, diese ganz unabhängig davon ahndet, ob sie ausgelebt oder produktiv beherrscht werden, führt selbst deren Beherrschung zu einer Steigerung des Schuldbewusstseins. Auf diese Weise entsteht im kultivierten Menschen unweigerlich jenes ›Unbehagen in der K.‹: Je mehr er sich beherrscht, um so größer wird sein schlechtes Gewissen, weil bereits die Anlässe der Selbstbeherrschung der strengen Kontrolle nicht entgehen. Im double bind der Triebe und des Über-Ichs ist unschwer eine tragische Struktur zu erkennen: Die Mittel der Bewältigung selbst verschlimmern die Krise, der jedoch nach Überzeugung des Aufklärers Freud – anders als es die »befremdliche [. . . ] K.feindlichkeit« vieler Zeitgenossen 39 antirousseauistisch nahelegt – allein in Strategien der Bewusstwerdung gesteuert werden kann. In anderem Sinne spricht Georg Simmel von der »Tragödie der K.«. Für Simmel ist K., wie er im Gleichnis des Weges und der Brücke exemplarisch veranschaulicht, 40 die Vollendung der menschlichen Seele auf dem »Umweg« über die Objekte 41 – der Weg der Seele zu sich selbst »von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit«. 42 Simmel grenzt die K. gegen den natürlichen Kausalnexus ab, sieht ihren Ursprung in der teleologischen Eigenart menschlichen Handelns und stellt die Unabdingbarkeit des anthropozentrischen Fluchtpunktes aller Kultivierung heraus: »Nur der Mensch« ist für Simmel »der eigentliche Gegenstand der K.«. 43 Mit dem normativen Anspruch des K.begriffs betont Simmel ferner das Werk-Kriterium der Objektivierung und meint damit neben den materiellen Dingen, »die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren«, (Kunst und Technik) auch das Recht, die Religion, die Wissenschaft und die Sitte. 44 Im Anschluss an den Werkcharakter versteht sich auch die an Hegels Unterscheidung von subjektivem und objektivem Geist anknüpfende Gegenüberstellung von ›subjektiver K.‹ als dem Zustand, in den sich die Menschen durch den K.prozess zu bringen verstehen und ›objektiver K.‹ als dem, was in der Sachreihe der Hervorbringungen erreicht wird. Der Begriff der objektiven K.

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macht es möglich, auch die Eigendynamik, den Sachzwang an der kulturellen Entwicklung zu fassen – und damit das Konfliktpotenzial insbes. der modernen K. Weil in der ursprünglichen Arbeitsteilung und fortschreitenden Spezialisierung des produktiven Prozesses selbst unweigerlich die antiproduktive Gegentendenz zur Verselbstständigung von sachlichen Geltungsansprüchen – eine Art von Fetischcharakter der K. – entspringt, fasst Simmel das damit verbundene Syndrom der kulturellen Überforderung ausdrücklich als Tragödie der K. Ernst Cassirer, der selbst den agonalen Charakter der K. in »Wettstreit und Widerstreit« hervorhebt 45, weist die tragische Auffassung der K. als Ausdruck einer mystischen Sehnsucht nach der umstandslosen Einheit von Ich und Welt zurück. Nach Cassirer hat man die beklagte Verselbstständigung der Objekte als eine notwendig und immer wieder zu durchlaufende Phase – und was Simmel als die »Tragödie« der K. beschreibt, als »die dialektische Struktur des K.bewusstseins« zu begreifen. 46 Im Werk, das bei aller Bedeutsamkeit doch immer nur ein »Vermittler zwischen Ich und Du« bleibt 47, ist schließlich nicht mehr zu sehen ist »als eine menschliche Tat, die sich zum Sein verdichtet hat« 48 ; Cassirer vertritt mit dieser methodischen Reflexion zwar keinen metaphysischen, wohl aber einen praktischen K.optimismus – einen Humanismus, dem es im Postulat der Spontaneität und Unabsehbarkeit menschlicher Lebensgestaltung gerade im Blick auf die ständige Bedrohung der K. um die Bestärkung des praktischen Selbstbewusstseins des Individuums und um die praktische Konsequenz einer unablässigen Verantwortung zu tun ist. In seiner Philosophie der symbolischen Formen (; ; ) hatte Cassirer auf der Grundlage eines weiten Begriffs von Symbolisierung (Symbol) als sinnlicher Verkörperung von Geistigem seine bedeutungstheoretische Lehre von der K. als der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen dargelegt. Der Mensch ist das animal symbolicum 49, K. das System aller möglichen Weisen der symbolischen Sinnerzeugung, für die Cassirer den Begriff der symbolischen Form prägt. 50 Er untersucht Sprache, Mythos und Religion, Wissenschaft und Kunst, auch Geschichte, Technik, Recht, Moral und Wirtschaft als symbolische Formen und begreift K. damit von Grund auf als systematische Vielfalt, deren Einheit in der allen Formen gemeinsamen Funktion der Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten

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Ausdruck liegt. 51 K. ist somit Form der Freiheit 52 und geschichtlich betrachtet »der Prozess der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen«. 53 Gemeint ist die Freiheit, die in der Selbsttätigkeit entspringt, sich in der Gestaltung des Vorgefundenen realisiert und darin immer auch das Komplement der zunächst epistemisch und poietisch verstandenen Selbstbestimmung enthält. Sie besteht dabei in der Eröffnung von Möglichkeiten, von Spielraum, der sich durch den Effekt des Distanzgewinns vom Verobjektivierten ergibt, das man sich eben damit vom Leibe hält. 54 In systematischer Nähe zu diesem symboltheoretischen Ansatz bewegt sich Hans Jonas mit seiner Vorstellung vom homo pictor als der Synthese aus homo faber und homo sapiens, indem er den Ursprung der K. in der Einbildungskraft an den Bildern exemplifiziert: Durch die Freiheit der Einbildungskraft bringen wir bereits in mentalen, mehr noch in artifiziellen Bildern Eindrücke im tätigen Ausdruck auf Distanz. Wie für Cassirer das Symbol, so ist für Jonas das Bild das anthropologische und kph. Essential. 55 Einen ebenso radikalen wie elaborierten Ansatz vertritt unter den Zeitgenossen nur Helmuth Plessner seit Die Stufen des Organischen und der Mensch (). Die mit Bezug auf die fehlende Instinktsicherheit des Tieres gegebene Bestimmung des Menschen durch seine »exzentrische Positionalität« legt Plessner in drei anthropologischen Grundgesetzen aus, die im Grunde Reflexionsmomente des K.begriffs darstellen 56 : (i) das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit: Es entspricht der Natur des Menschen, sich seine Lebensform selbst zu schaffen; (ii) das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit: Das Bedürfnis nach Ausdruck in Mitteilung und Gestaltung realisiert sich in Beziehungen des Objektbezuges und der Sozialität, die niemand anders herstellt als der Mensch selbst in der »indirekten Direktheit des Bewusstseins« 57 ; (iii) das Gesetz des utopischen Standorts: In der Kultivierung seiner Bedürfnisse ist der Mensch immer schon über sich selbst hinaus und damit auf Transzendenz und Zukunft verwiesen. Die K. ist der mit seiner »Ergänzungsbedürftigkeit« 58 gesetzte »Umweg zu einem zweiten Vaterland«. 59

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3 Der philosophische Begriff der Kultur: Zeitgenössische Ansätze Bedingt durch die Exilsituation beider Theoretiker hat es in der Nachkriegsphilosophie nur sporadische Rezeption dieser richtungweisenden Ansätze gegeben; insbes. die Entdeckung Plessners steht noch in den Anfängen. Neben Susanne K. Langer und Nelson Goodman, die den symboltheoretischen Ansatz Cassirers explikativ und spezifizierend weiterverfolgt haben 60, hat in der Gegenwart Hans Blumenberg im Blick auf die Wirklichkeiten, in denen wir leben 61, den Anschluss an dessen anthropologischen Konstruktivismus gesucht. In seiner lebenswissenschaftlich informierten spekulativen Erzählung von der Menschwerdung als Kryptogenese legt Blumenberg seine Anthropologie als KPh an: »Der Mensch ist mit einem Schlage, oder genauer: mit einem Wurfe entstanden«. 62 Das Werfen eines Steines zur Verteidigung gegen Angreifer wird in seiner komplexen Kontextualisierung – in den Momenten der Selbstaufrichtung, der prekären Gewinnung von Sichtbarkeit, der Dramatisierung von Selbsterhaltung als Selbstbehauptung, der Notwendigkeit, Prävention als Leitmotiv des Krisenbewussteins zu kultivieren – hier zur Urszene der Menschwerdung. Aufgrund dieses exemplarischen Aktes zeichnet Blumenberg den Menschen im Begriff der Körperausschaltung wie im Topos der actio per distans wesentlich aus durch eine Distanz, deren Komplement – von der Nutzung des Wurfgeschosses zur Selbstverteidigung über die Fähigkeit zum Begriff bis zur Ausbildung von entlastenden Institutionen – die Angewiesenheit auf Medialität ist und die in der K. ihren terminus ad quem hat: »Der Mensch ›besteht‹ im Verzicht auf Unmittelbarkeit«. 63 Die Unhintergehbarkeit der von Cassirer betonten K.leistung der tätigen Vermittlung fasst Blumenberg in die Metapher der »Umwege«. Ihre »Funktion der Humanisierung des Lebens« kann die K. demnach nur »in der Auffindung und Anlage, der Beschreibung und Empfehlung, der Aufwertung und Prämiierung der Umwege« erfüllen – mit der Pointe freilich, dass der »kürzeste Weg« nicht gangbar ist: Die Alternative zu den Umwegen – die »Barbarei« – ist nicht auszudenken. 64 Oswald Schwemmer knüpft mit dem Programm, die Leistungen des menschlichen Geistes in der äußeren Welt der kulturellen Symbolismen aufzusuchen, an Cassirers systematische Perspektiven an. Dabei will er in einem ersten Zugriff die »Materialität der Symbole» 65, den

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Körper als »Ort unseres Weltverhältnisses« 66 und die Natur als »Feld« unserer Existenz 67, stärker zur Geltung bringen, und arbeitet an der kulturellen Existenz des Menschen die konstitutive Medialität seines Weltverhältnisses heraus. 68 K. ist für Schwemmer das »Insgesamt« von symbolischen und technischen Gegenständen und ihren Verwendungen 69, in dem sich die unablässige »Verschränkung von Innenwelt und Außenwelt« vollzieht. 70 In der »prozess- und symboltheoretische[n]« Analyse der K. sieht er v. a. die Chance, mit der Einbindung des Menschen in den geschichtlichen Kontext der Gesellschaft zugleich die Tatsache seiner »›unhintergehbaren‹ Individualität« verständlich zu machen. 71 An den exponierten Ansätzen des . Jh. lässt sich eine systematische Einsicht gewinnen: KPh.en sind Anthropologien, die ihren wichtigsten Ertrag im Disziplintitel bekannt geben: Der Mensch ist das Wesen, das aus sich selber etwas macht. 3.1 Kulturkritik ohne Kulturphilosophie 3.1.1 Verwechslung des Spezifikationsgrades Doch neben solchen Erträgen wirkt bis heute jenes hochkulturellspezialistische Missverständnis der KPh als einer feinsinnigen Spezialdisziplin (s. o. .), für das Adorno mit seinem gegen Georg Simmel gerichteten Verdikt über die »Metaphysik mit dem Silbergriffel« die Metapher geprägt hat. Gleichermaßen exemplarisch für diese Richtung der Kritik ist der Vorwurf, den Martin Heidegger in der Davoser Disputation  dem K.philosophen Ernst Cassirer entgegengehalten hat: Die K. markiere den »faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt«. 72 Treffen sich in dieser auf den spezifischen und sektoriellen Begriff der (i. w. S. künstlerischen) Hochkultur bezogenen Kritik die Antipoden Heidegger und Adorno, so kommen bei diesem und im Neomarxismus der Frankfurter Schule (Kritische Theorie) verschiedene Verdachtsmomente auch gegen die K. als Inbegriff humaner Lebensgestaltung hinzu. 3.1.2 Ideologischer Verdacht (i) Nicht allein die kulturkonservative Besetzung des Begriffs nach der Jh.wende, prominent durch Spenglers Untergang des Abendlandes, nährt den Verdacht des Konservatismus gegen alle K. (ii) Herbert

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Marcuses These Über den affirmativen Charakter der Kultur (), dass diese die gesellschaftlichen Widersprüche in einer abgehobenen musealen Sphäre der abstrakt verallgemeinerten Innerlichkeit verkläre, hängt dezidiert an ihrer Auffassung gemäß der Marxschen Lehre vom dialektischen Materialismus als eines Momentes im ›Überbau‹ der Gesellschaft, in dem sich ideologische Funktionen kristallisieren. »Dass die nun seit über vierhundert Jahren befreiten Individuen so gut in den Gemeinschaftskolonnen des autoritären Staates marschieren, dazu hat die affirmative K. ein gut Teil beigetragen.« 73 (iii) Die Entgeisterung darüber, dass in der hochentwickelten K. des Abendlandes Auschwitz möglich war, leitet die Autoren der Dialektik der Aufklärung unter derselben theoretischen Prämisse zu einer genealogischen Rekonstruktion von Homers Odyssee bis zum Völkermord des  Jh. an, nach welcher der prima facie als Zusammenbruch der Zivilisation und »Ausverkauf der K.« beklagte Terror des Faschismus 74 – die Wahrheit über die abendländische Rationalität ist: Es ist dasselbe Prinzip der Herrschaft, das sich seit den mythischen Anfängen der Geschichte konsequent bis in die zeitgenössische Barbarei durchhält und dessen negative Dialektik Adorno in der methodischen Einheit von Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie bis in sein Hauptwerk behaupten wird. Die ideologische Funktion aller K. mit ihren trügerischen humanistischen Werten tritt in der ›K.industrie‹ zutage – in den modernen Massenmedien mit ihrem Unterhaltungsangebot. 75 Mit Blick auf die Herrschaftsverstrickung der K. in beiderlei Bedeutung erklärt der kritische Theoretiker: »Alle K. nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.« 76 Aufgrund solcher Vorbehalte wird in der Frankfurter Schule bis in die er Jahre emphatisch der gesellschaftstheoretische Ansatz als Alternative zum kulturtheoretischen vertreten. Doch diese Kritik ist bereits unter dem Einfluss der Verstärkung kulturanthropologischer und ethnologischer Forschungsinteressen im französischen Strukturalismus wie in der amerikanischen cultural anthropology (Mead, Mauss, Malinowski, Lévi-Strauss, Geertz u. a.) seit den er Jahren einer weitgehenden Akzeptanz des K.begriffs gewichen. Nicht allein in der kulturanthropologisch angeleiteten Reflexion schlechthin auf die Pluralität der K.en, sondern auch in der vertieften Kenntnis über sie findet das vom Paradigma der Gesellschaft eingenommene kritische Denken Anhaltspunkte für die Akzeptanz

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des K.begriffs: In der Friedfertigkeit, Gewaltfreiheit, kontemplativen Genügsamkeit anderer K., in deren mythisch-poetischem Bewusstsein finden die Zeitgenossen ebenso Alternativen zu den Zwängen der abendländischen Rationalität wie in der Erkenntnis von der Bedrohtheit des Fremden durch imperialistische Dominanzansprüche neue Motive der Sensibilisierung für das Andere und der Kritik an der eigenen K. Verstärkt wird diese Tendenz unter dem Eindruck der wissenschaftspolitischen Reorganisation der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften in den er Jahren, die durch den Rückgang des Interesses an den kurzfristig dominierenden Gesellschaftswissenschaften wie durch die Notwendigkeit der Einstellung auf die moderne Mediengesellschaft induziert ist. 77 3.2 Konstitutive Schwierigkeiten in der Sache. Eine systematische Problemskizze Dauerhaft betroffen ist die KPh jedoch vom Vorwurf der Unbestimmtheit ihres Gegenstandes wie der Vagheit ihres Sachbezuges. 78 In der Sache sind es konstitutive Schwierigkeiten in ontologischer (i), in identitätstheoretischer (ii), in handlungstheoretischer (iii) und in praktischethischer Perspektive (iv), auf die sich dieser Vorwurf stützen kann: (i) Das ontologische Problem der K. besteht in der Ambiguität einer materiellen Manifestation geistiger Ansprüche, ohne dass man eines auf das andere zurückführen könnte; es ist somit ein Problem von der Art des Leib-Seele-Problems, das im äußerlichen Medium der K. noch einmal begegnet – und die bekannten Schwierigkeiten bereitet: Im Grunde ist es ein Zustand humanen Selbstverständnisses, in dem K. besteht; aber da dieser trotz seiner Ungreifbarkeit doch nicht gleichsam in der Luft schwebt, sondern sich unweigerlich in der tätigen Gestaltung der Welt artikuliert, ist die K. nicht anders als in Werken dingfest zu machen. Fasst man Werke gleichermaßen poietisch als Gebilde wie praktisch als Taten und Formen des Verhaltens, so wird zum Problem somit zum einen der eigentümliche Status von Dingen, die niemals in ihrem Dingcharakter aufgehen, sondern Träger von Bedeutung sind – zum anderen der Status von Handlungsereignissen, deren Bedeutung sich institutionell verdinglicht. (ii) K. beruht auf Arbeitsteilung, denn anders als in der funktionsspezifischen Konzentration auf stets bestimmte Einzelprobleme ist die

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Aufgabe der bedürfnisdifferenzierten Lebensgestaltung nicht zu bewältigen. Von daher ist die K. von Grund auf als Pluralität von einzelnen Funktionen und Bereichen bestimmt, die nach dem Maß ihrer Differenzierung die Tendenz zur Verselbstständigung gegeneinander mit sich führen. Ein Problem in der Sache liegt deshalb im Verhältnis von Einheit und Vielheit, in der Schwierigkeit, die Integr(al)ität und die nicht selten agonale Pluralität der K. zusammenzudenken. (iii) Zu den konstitutiven Schwierigkeiten gehört – auch unabhängig von schul- und richtungsbedingten Vorbehalten wie unter . – die Differenz von K. und Gesellschaft. Die Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft hat im menschlichen Selbstverständnis die gleiche Funktion wie die Gegenüberstellung von Natur und K. Gemeint ist in beiden Fällen der Charakter der Prägung durch die eigene und ihre eigene Sphäre begründende Gattungsaktivität, die im Vergleich mit dem bloß Vorgefundenen, Naturbelassenen den Aspekt des Artifiziellen hat. Auf der Basis der gemeinsamen Abgrenzung von der Natur (physis/thesis) kommt hierin mit einer handlungstheoretischen Gleichursprünglichkeit zugleich eine handlungstheoretische Differenzierung zum Tragen: ›Gesellschaft‹ bezeichnet den Aspekt der freien Vereinigung zur gemeinsamen Bewältigung des Lebens und damit den vollzugsorientierten kommunikativen Charakter der Schaffung eigener Verhältnisse, ›K.‹ den Aspekt der Hervorbringungen, der objektiven Leistungen – der Werke, die aus dieser kollektiven Lebensbewältigung hervorgehen. 79 Gemeint ist m. a. W. die Unterscheidung zwischen praxis und poiesis. Hannah Arendt hat dies in ihrer Systematik der menschlichen Tätigkeiten in den Unterschied zwischen Handeln und Herstellen gefasst und dabei dem Aspekt der K. einen deutlich untergeordneten Status zugewiesen: Während der homo faber in der Herstellung von Werken eine Welt der dauerhaften Dinge und damit einen Orientierungsraum schafft 80, entspringt im Handeln der Raum der Politik und mit der Würde des homo politicus die eigentlich menschliche Welt der Geschichte. 81 Das damit verbundene Bewertungsgefälle, begründet im aristokratischen, an der antiken Polis orientierten Verständnis vom Handeln als vermeintlich zweckfreien Kommunizieren, steht zur Disposition: Innerhalb des großen Funktionszusammenhanges, in dem eins ins andere greift, dürfte eher eine perspektivische und funktional bestimmte Unterscheidung zwischen systematisch glei-

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chursprünglichen und gleichwertigen Momenten angemessen sein. Im Blick auf die Rolle der Arbeitsteilung kann man sich klarmachen, dass es Gesellschaft ohne K. und K. ohne Gesellschaft nicht geben kann. (iv) Da K. die tätige Selbstauslegung des Menschen ist, für dessen Selbstverständnis normative Ansprüche konstitutiv sind, projizieren wir den evaluativ-normativen Charakter des humanen Selbstverständnisses unweigerlich auf das K.verständnis. Auf dieser durch das Medium des praktischen Selbstbewusstseins bedingten ethischen Affinität der K. beruht es auch, dass das methodische Kernproblem aller Moral, das Verhältnis von Individuum und Allgemeinheit, sich in der Beziehung des Menschen zur K. als seiner Lebenswelt geradezu exemplifiziert – einer Beziehung, die sich immer nur in der – nicht selten leidvollen – Spannung zwischen dem Bewusstsein des Eigenen und der Fremdheit austragen lässt. Von daher ist zu fragen, ob die seit der Auseinandersetzung mit der Pluralität der K. gewonnene Einsicht in deren prinzipielle Gleichwertigkeit tatsächlich zu identifizieren ist mit einer rein deskriptiven Einstellung zum Faktum der K. als solchem. Wenn philosophische Theorien sich von einzelwissenschaftlichen darin unterscheiden, dass in ihnen das Subjekt des Nachdenkens immer auch sein Verhältnis zum Gegenstand reflektiert, ist zudem die Frage, wie eine wertneutrale philosophische Theorie möglich – und ob sie wünschenswert ist. Durch die Einsicht in solche Komplexität, in deren Problematik sich die Varianten auf die Auslegung des humanen Selbstverständnisses als Desiderate kph. Reflexion zu erkennen geben, dürfte klar werden, dass die Bestimmung der K. als »jene[n] Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten« 82 nur scheinbar einer vermeidbaren begrifflichen Diffusion, sondern vielmehr sachlichen Schwierigkeiten geschuldet ist. K. ist, gerade weil darin auch Aufgaben ins einzelne gehender Theoriebildung formuliert sind, in der Definition als alles »das, was die Menschen aus sich und ihrer Welt machen und was sie dabei denken und sprechen« 83, prima facie angemessen erfasst. Adorno, Th. W., () , Negative Dialektik. In: G S , hg. v. Rolf Tiedemann, Fft./M. – Adorno, Th. W., , Prismen, Fft./M. – Adorno, Th. W./Horkheimer, M., () , Dialektik der Aufklärung, Fft./M. – Arendt, H., , The Human Condition, dt.: Vita activa oder Vom tätigen Leben (), München. –

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Cassirer ,  ff.; vgl. Recki . – 4 Pico della Mirandola , – . – 5 Shaftesbury , . – 6 Ebd., . – 7 Shaftesbury ,  f. – 8 Rickert , . – 9 Rickert , . – 10 Snow , in: Kreuzer . – 11 Perpeet , Sp. –. – 12 Rousseau , . – 13 Rousseau , . – 14 Ebd., . – 15 Rousseau , . – 16 Rousseau , ; S.  f.; vgl. auch S. ; S. . – 17 Ebd., . – 18 Ebd.,  f.;  f.;  f. – 19 Rousseau , ; S. . – 20 Ebd., . – 21 Rousseau , . – 22 Rousseau ,  f. – 23 Schnädelbach , ; vgl. Konersmann . – 24 Kant, K U, . – 25 Kant, MdS, . – 26 Kant, , . – 27 Burckhardt , . – 28 Ebd., . – 29 Nietzsche ,  f. – 30 Nietzsche , . – 31 Nietzsche , . – 32 Nietzsche , . – 33 Vgl. Nietzsche , . – 34 Ebd., . – 35 Nietzsche , . – 36 Herder . – 37 Freud ,  f. – 38 Ebd., . – 39 Ebd., . – 40 Simmel , . – 41 Ebd., . – 42 Simmel , . – 43 Simmel , in: ders. , . – 44 Simmel , in: ders. , . – 45 Cassirer , ; . – 46 Ebd., . – 47 Ebd., . – 48 Ebd., . – 49 Cassirer , . – 50 Vgl. Cassirer , . – 51 Cassirer  (EC W ), 3 Siehe

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. – 52 Zum Ursprung dieser These vgl. Cassirer . – 53 Cassirer , . – 54 Vgl. Itzkoff ; Recki . – 55 Jonas , –. – 56 Plessner , – . 57 Ebd., S. . 58 Ebd., S. . 59 Ebd., S. . 60 Vgl. Langer ; Goodman . – 61 Vgl. Blumenberg . – 62 Blumenberg , . – 63 Ebd., . – 64 Blumenberg , . – 65 Schwemmer , . – 66 Ebd., . – 67 Ebd., . – 68 Schwemmer . – 69 Ebd., . – 70 Ebd., . – 71 Ebd.,  f. – 72 Heidegger , . – 73 Marcuse , . – 74 Adorno/Horkheimer , . – 75 Ebd., – . – 76 Adorno , . – 77 Vgl. Hansen ; Konersmann . – 78 Vgl. Konersmann ,  f. – 79 Recki , –. – 80 Vgl. Konersmann . – 81 Arendt , –; vgl. Sennett , –. – 82 Tylor , . – 83 Maurer , .

Birgit Recki

Lebensphilosophie

1 Zum Begriff. ›Lebensphilosophie‹ (L.) ist im letzten Drittel des . Jh. als Sammelbezeichnung für philosophische Aussagen über Sinn, Wert und Führung des menschlichen Lebens aufgekommen. In dieser Bedeutung wird ›L.‹ heute im alltagssprachlichen Gebrauch zur Kennzeichnung einer persönlichen Lebenseinstellung verwandt. Im akademischen Sprachgebrauch dagegen bezeichnet ›L.‹ philosophische Strömungen, die sich auf das Leben als Grundbegriff stützen. 1 Gemeinsam ist den lebensphilosophischen Denkern die Abkehr von der Systemphilosophie, die Aufwertung des Werdens gegenüber dem Sein und die Betonung der Einheit von Körper und Geist. Vom Naturalismus distanziert sich die L. durch die Berücksichtigung der logisch nicht restlos erschließbaren Grenzbereiche des menschlichen Bewusstseins. W. Diltheys programmatische These von der Unhintergehbarkeit des Lebens wird zwar häufig als Beleg für den vermeintlichen Irrationalismus der L. angeführt; er beinhaltet aber die Aufforderung, die nichtkognitiven Tiefenschichten des Bewusstseins freizulegen und in der Erkenntnistheorie zu berücksichtigen. 2 2 Zur Entwicklung der Lebensphilosophie In der Geschichte der neuzeitlichen L. lassen sich drei Epochen unterscheiden. Die erste umfasst die Wende vom . zum . Jh. In dieser Zeit entsteht L. als Komplement zur Schulphilosophie der Aufklärung. Dem Ideal der Freiheit des Denkens wird die Ungezwungenheit des Fühlens zur Seite gestellt. Moralische und ästhetische Selbsterfahrung des Individuums lassen ›Philosophie des Lebens‹ zu einem Programm werden, das an die spätantike Lebenskunst (ars vivendi) anschließt. Aus der Fülle der auch pädagogisch ausgerichteten Literatur ragen die Beiträge zur Philosophie des Lebens () von K. Ph. Moritz heraus, der sich als Psychologe den Entwicklungsstufen des Seelenlebens zuwendet. Die zweite Epoche der L. umfasst die ersten Jahrzehnte des . Jh. bis G. W. F. Hegels Tod. Sie ist weniger an praktischer Lebenskunde

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interessiert und versteht sich als überlegene Alternative zur Systemphilosophie. Als solche tritt die L. nicht von außen an die theoretische Philosophie heran, sondern resultiert aus einer Übersteigerung des Systemdenkens im Deutschen Idealismus selbst. Paradigmatisch für den innersystematischen Ursprung der L. ist der Denkweg F. W. J. Schellings. Die widersprüchliche Natur des Selbstbewusstseins, die im Streit der philosophischen Systeme zutagetritt, versucht Schelling durch die metaphysische Aufwertung des Lebens abzufangen. Aus dem Misslingen dieses Versuchs zieht Fr. Schlegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie des Lebens () die Konsequenz, Philosophie nur noch als Eklektizismus zuzulassen. Die dritte Epoche der L. reicht vom letzten Drittel des . Jh. bis zum Ersten Weltkrieg. Sie tritt, aus dem transzendentalen Idealismus gespeist, mit unterschiedlichem Profil in den europäischen Ländern hervor. Ein allen gemeinsamer Zug ist die Kulturkritik, die sich gegen den naiven Fortschrittsglauben des Positivismus richtet. 3 In Frankreich ist ihr Hauptvertreter H. Bergson. Dessen L. nimmt ihren Ausgang von Analysen des inneren Zeitbewusstseins in Essai sur les donnés immediates de la conscience (, dt. Zeit und Freiheit, ). Für die Beschreibung der unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins weist Bergson die mathematisch-räumliche Begrifflichkeit als unzureichend zurück, da sie dem heterogenen Kontinuum der Bewusstseinszustände nicht gerecht werde. Demgegenüber zieht er Bilder des organischen Wachstums vor, so dass die Strukturaffinität von Bewusstsein und Leben sich aufdrängt. Daraus ergibt sich als methodologische Folge die Annahme der Intuiton als einer eigenen, nicht diskursiven Art der Erkenntnis, die psychologisch der Gestaltwahrnehmung entspricht. In seinem Hauptwerk L’Évolution créatrice (, dt. Schöpferische Entwicklung, ) naturalisiert Bergson seinen bewusstseinstheoretischen Lebensbegriff in Anlehnung an die biologischen und kosmologischen Evolutionstheorien des . Jh. Sein Begriff der Lebensschwungkraft (élan vital ) wird zum ontologischen Grundbegriff einer optimistischen Entwicklungslehre des Menschen, die alle Bereiche des Seins in Werden verwandelt. Ein deutlich pessimistischer gestimmtes Weltbild liegt der L. in Deutschland zugrunde. Sie nimmt ihren Ausgang von A. Schopenhauers Willensmetaphysik, die mit der rationalistischen Ausrichtung

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des transzendentalen Idealismus I. Kants bricht. In Anlehnung an F. W. Schelling geht Schopenhauer vom »Primat des Willens im Selbstbewusstsein« 4 aus und interpretiert den Willen als in sich widersprüchlichen triebhaften Lebensdrang, der nie zur Ruhe kommt. Der »Wille zum Leben« findet laut Schopenhauer seinen stärksten Ausdruck im Sexualtrieb und kann daher als Vorläufer der Libido bei S. Freud interpretiert werden. Daraus zieht Schopenhauer den Schluss, dass Leben wesenhaft Leiden ist. Entsprechend pessimistisch fallen Schopenhauers Beschreibungen der menschlichen Existenz aus. Auf der anderen Seite aber ist Leben ein Umfassendes, in dem sich das Dasein aufgehoben fühlt. Das macht die Doppelseitigkeit des Schopenhauerschen Lebensbegriffs aus. Sie äußert sich in der Sonderstellung des Leibes, in dem sich der Wille objektiviert und den Schopenhauer daher »unmittelbares Objekt« nennt. 5 Der Leib wird von innen und von außen zugleich erfahren. In der inneren Erfahrung, die Schopenhauer »intuitive Erkenntnis« nennt, weiß sich der Mensch mit dem Leben als schöpferischem Ursprung der Welt eins. In der äußeren Erfahrung hingegen erfährt sich das Individuum als isoliertes Subjekt. Infolge der Idealität von Raum und Zeit ist personale Individualität allerdings nur ein Schein. In der Durchbrechung des Scheins durch asketische Verneinung des Willens zum Leben und der damit verbundenen Erlösung vom Leiden sieht Schopenhauer die Aufgabe seiner Mitleidsethik. Erst im ausgehenden . Jh. ist Schopenhauers lebensphilosophische Wende zur Wirkung gekommen. Ihre spektakuläre Weiterentwicklung hat sie bei F. Nietzsche gefunden, der Schopenhauers ›Willen zum Leben‹ zum ›Willen zur Macht‹ steigert. ›Macht‹ ist für Nietzsche allerdings kein politischer Begriff, sondern steht für die schöpferische Produktivität des Menschen, die sich primär in der Kunst äußert, deren dionysischer Ursprung auf die erotischen Antriebe der künstlerischen Lebensart verweist. Die Ausgestaltung des lebensphilosophischen Gedankens nimmt bei Nietzsche stark kulturkritische Züge an, die später als Gegenaufklärung verstanden worden sind, zumal seiner Vision vom Übermenschen rassistische Züge zugeschrieben worden sind. Allerdings bleibt Nietzsche in seiner Rechtfertigung des Lebens durch den Schein einem unpolitischen Ästhetizismus verpflichtet, der seinem Ideal einer elitären Künstlerexistenz entspricht.

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Weniger spektakulär fällt die Rezeption Schopenhauers bei W. Dilthey aus, der i. d. R. als Hauptvertreter der deutschen L. angesehen wird. Ausgehend vom Projekt einer beschreibenden Psychologie bildet Dilthey die Erkenntnistheorie in eine Hermeneutik des Selbstbewusstseins um. Die methodische Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften gründet Dilthey auf den Begriff ›Erlebnis‹, der die gegenständlich nicht restlos analysierbare Zuständlichkeit bezeichnet, in der die Menschen sich ihres individuellen und gesellschaftlichen Lebens bewusst geworden sind. Hierfür prägt Dilthey den Terminus »Lebenskategorien« 6, die ähnlich wie M. Heideggers ›Existenzialien‹ an die Stelle der reinen Verstandesbegriffe treten. Die Lebenskategorien deutet Dilthey pragmatisch, was allerdings nicht verhindert, dass seine L. einen stark resignativen Zug behält. Dazu trägt seine späte Weltanschauungstypologie (Lebens- und Weltanschauung) bei, die trotz der Betonung der Geschichtlichkeit an der Endlichkeit der elementaren Lebensformen des Menschen festhält. Zu den eigenständigen Lebensphilosophen dieser Epoche zählt auch G. Simmel, der nach einer positivistisch-pragmatischen Anfangsphase seit  eine transzendentalphilosophische Wende im Sinne des Neukantianismus vollzieht. Diese mündet seit  unter dem Einfluss Bergsons in eine lebensphilosophische Periode ein. Die L. nimmt bei Simmel die Form einer Kulturphilosophie an, die mit dem Begriffspaar ›Leben‹ und ›Form‹ operiert. ›Form‹ steht für die Regeln und Institutionen, ohne die eine soziale Welt nicht bestehen kann, die aber die Entwicklung neuer Erfahrungen behindern. Diese Dialektik des Lebens setzt Simmel ein, um die Struktur und Entwicklung der Gesellschaft verständlich zu machen. Simmel löst sich damit vom biologischen Lebensbegriff und gelangt zu einem Funktionalismus sozialer Wechselwirkung, der paradigmatisch am Beispiel des Tauschverkehrs erläutert wird. In diesem Sinn kann man Simmels Philosophie des Geldes () als soziologische Variante der deutschen L. lesen. Die angelsächsische bzw. amerikanische Form der L. hat ihren Hauptvertreter in W. James. Er führt den Pragmatismus in eine vom Rationalismus abweichende Richtung, da er Bewusstsein als Strom deutet, der verschiedene Tiefen und Strömungsgeschwindigkeiten aufweist. Das führt zu einer Revision des Wahrheitsbegriffs, die insofern lebensphilosophisch zu nennen ist, als die Übereinstimmung von Vorstellung

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und Gegenstand selbst prozessual gedacht wird. Damit geht James zugleich über den erkenntnistheoretischen Horizont des Empirismus hinaus und eröffnet Perspektiven für einen pluralistischen Weltbegriff (Pluralismus), in dem auch der religiösen Erfahrung ein legitimer Platz eingeräumt wird. Das macht den Optimismus der amerikanischen L. aus, für die Leben den Inbegriff einer jedem Menschen offenstehenden Fülle von Lebensmöglichkeiten darstellt. Alles in Allem kann man die moderne L. als Spielart des postkantischen Transzendentalismus bezeichnen, die anders als die Neukantianer nicht nur den Unterschied zwischen Begriff und Idee, sondern auch den Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand aufhebt. 7 Das aber bedeutet, dass die Synthesis gegebener Vorstellungen erkenntnistheoretisch nicht mehr als die leitende Verstandesfunktion angesehen wird. Mit dem Begriff ›Leben‹ werden für das Erkennen Formen der Selbstreferenz bedeutsam, wodurch die Grenzen der Vernunft als gesetzgebendes Organ deutlich hervortreten. Die L. leitet somit eine Wende der theoretischen Philosophie zur Anthropologie ein, die bei E. Rothacker sowie bei A. Gehlen ihren Höhepunkt erreicht. In moralphilosophischer Hinsicht steht die L. für die Abkehr vom Formalismus Kants und für die Hinwendung zur materialen Wertethik bei M. Scheler. 3 Zur Aktualität der Lebensphilosophie Insbes. in Deutschland prägt die L. nach der Jh.wende das Lebensgefühl der jugendbewegten Epoche. Hier ist R. Eucken mit seinen in vielen Auflagen erschienenen Büchern Der Sinn und Wert des Lebens () und Erkennen und Leben () zu nennen. Die lebensphilosophische Kulturkritik, die sich gegen Rationalisierung und Mechanisierung der modernen Welt richtet, nimmt in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ideologischen Charakter an. H. Rickert hat sich daher veranlasst gesehen, die L. aus neukantianischer Sicht als Modephilosophie zu kritisieren. Seine Kritik richtet sich methodologisch gegen die Aufhebung der Differenz von Erfahrung und Urteil sowie weltanschaulich gegen eine unreflektierte Übertragung vitalistischer Denkformen (Vitalismus) auf die Kultur. Die Kritik ist insofern berechtigt, als der Sonderweg der deutschen Kultur, der von den Ideen der Aufklärung wegführt, die L. zur Aufnahme rassistischen Gedankenguts disponiert. Die irrationalistische Verherrlichung des

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Vitalen in Form von Blut und Boden durch nationalsozialistische Propagandisten hat die L. in Verruf gebracht und es den Denkern aus dem marxistischen Lager leicht gemacht, die L. pauschal als Wegbereiter des Hitlerismus zu brandmarken. 8 Das Verdikt wird aber der Mehrzahl der weltanschaulich konservativen Lebensphilosophen nicht gerecht. Ihre organizistischen Denkformen sind Ausdruck eines in mancher Hinsicht durchaus fortschrittlichen Konservatismus, so etwa die Klagen über die Umweltzerstörung. L. Klages, der die Seele mit dem Leben gleichsetzt und den Geist zum ›Widersacher der Seele‹ erklärt, hat mit seiner Lehre vom ›Zug der Bilder‹ bis heute semantisch noch nicht umgesetzte Beschreibungen des phänomenalen Bewusstseins geliefert. Neben L. Klages sind O. Spengler mit seiner pessimistischen Kulturmorphologie in Der Untergang des Abendlandes () sowie Th. Lessing mit Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen () als Hauptvertreter einer romantisierenden L. zu nennen. Nach dem Ersten Weltkrieg lebt die L. in der Lebensweltphänomenologie (Phänomenologie) sowie in der Existenzphilosophie weiter. M. Heidegger erkennt in Sein und Zeit () das relative Recht und die Bedeutung der L. für seine Ontologie ausdrücklich an. Folgerichtig hat der Dilthey-Schüler G. Misch den Versuch unternommen, L. und Phänomenologie zu versöhnen. Auch M. Schelers philosophische Anthropologie führt die lebensphilosophische Überwindung des Rationalismus weiter. In der französischen Phänomenologie der Gegenwart bietet Radikale Lebensphänomenologie () von M. Henry eine Synthese beider Richtungen. Im Spektrum der Gegenwartsphilosophie kann sich die L. wegen ihrer ideologischen Belastung in Deutschland nur schwer als eigenständige Richtung behaupten. 9 Dennoch ist unübersehbar, dass mit dem Scheitern transzendentaler Letztbegründung und der Hinwendung zur Lebenswelt lebensphilosophische Elemente in fast allen Richtungen der Gegenwartsphilosophie wirksam sind. Das gilt nicht nur für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, sondern auch für sprachanalytische Philosophien, in denen lebensphilosophische Hintergrundannahmen sich zunehmend geltend machen. Das ergibt sich aus der Tradition des Pragmatismus, die durch das Spätwerk L. Wittgensteins Eingang in die analytische Philosophie gefunden hat. Sein Begriff der Lebensform bindet die Sprachanalyse an die ursprünglichen

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Einsichten der L. zurück, so dass der Anschluss an die Phänomenologie und die Kulturphilosophie der Gegenwart möglich wird. Albert, K., , Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács, Freiburg/München. – Bollnow, O. F., , Die Lebensphilosophie, Berlin/Göttingen/Heidelberg. – Dilthey, W., , Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In: G S, Bd. , Stuttgart/Göttingen. – Fellmann, F., , Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Reinbek. – Große, J., , Revitalisierung der Lebensphilosophie? In: Philos. Rundschau Bd. , –; –. – Großheim, M. (Hg.), , Perspektiven der Lebensphilosophie. Zum . Geb. v. Ludwig Klages, Bonn. – Kozljanic, R. J.,  ff. Jahrbuch für Lebensphilosophie, München. – Lersch, Ph., , Lebensphilosophie der Gegenwart, Berlin. – Lersch, Ph., , Grundsätzliches zur Lebensphilosophie. In: Blätter f. Deutsche Philos., Bd. , –. – Lieber, H. J., , Kulturkritik und Lebensphilosophie. Stud. z. dt. Philos. d. Jh.wende, Darmstadt. – Lukács, G., , Die Zerstörung der Vernunft, Berlin. – Rickert, H., , Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der lebensphilosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen. – Schnädelbach, H., , Philosophie in Deutschland –, Fft./M. – Schopenhauer, A., , Die Welt als Wille und Vorstellung I und II, In: W W in  Bde., Bd. , Zürich. 1 Vgl.

Schnädelbach . –

2 Vgl.

Fellmann . – 3 Vgl. Lieber . – I, ,  – 6 Dilthey , – 9 Vgl. Große .

4 Schopenhauer II, ,  ff. – 5 Schopenhauer  ff. – 7 Vgl. Lersch ,  ff. – 8 Vgl. z. B. 

Ferdinand Fellmann

Logik

1 Zum Begriff. Die Logik (L.) – von griech. logos, ›Gedanke‹, ›Vernunft‹, ›Wort‹, ›Rede‹, ›Sprache‹ – ist die Lehre von den Voraussetzungen, Formen und Kriterien korrekten Schließens (Schluss/ Schließen) und Argumentierens (Argument/Argumentationstheorie). Die L. ist auf den Geltungsanspruch folgerichtigen Schließens gerichtet, nicht aber auf Darstellung der Genesis eines dementsprechenden richtigen Denkens oder Argumentierens in einem individual- oder sozialpsychologischen Sinne. Von einem logisch gültigen Schluss wird verlangt, dass aus den Voraussetzungen (den Prämissen) des Schlusses der Schlusssatz (die Konklusion) logisch folgt, d. h. dass für jeden Schluss mit gleicher logischer Form unabhängig vom Inhalt der verknüpften Prämissen und Konklusionen gilt: Wenn sämtliche Prämissen wahr sind, so sind auch die daraus folgenden Konklusionen wahr. Logische Gesetze (oder allgemeingültige Ausdrücke) sind dann solche Ausdrücke, deren Wahrheit unter beliebigen Bedingungen durch ihre logische Form gesichert wird. Die L. hat sich im Laufe ihrer Entwicklung besondere Sprachen (formalisierte Sprachen) geschaffen, die es ihr ermöglichen, die logische Form der im Erkenntnisprozess benutzten sprachlichen Mittel unabhängig vom konkreten Inhalt der in den Schlüssen benutzten Aussagen und Termini in eindeutiger Weise darzustellen. Mit speziellen, auf diesen formalisierten Sprachen aufbauenden Systemen (Kalkülen) prüft die L. die formale Korrektheit von Schlüssen und Schlussformen. Die L. wird deshalb häufig auch als formale L. bezeichnet. Zur Aufgabe der L. gehört es zu bestimmen, welche sprachlichen Mittel und Erörterungen logischen Regeln entsprechend gebildet sind. Sie hat deshalb große Bedeutung für die Behandlung methodologischer Problemstellungen, wie sie in der Definitionslehre (Definition) und Klassifikationstheorie, aber auch in der Wissenschaftstheorie auftreten. Neben der heute etablierten fachwissenschaftlichen Bedeutung von ›L.‹ i. e. S. von ›formaler L.‹ sind abweichende Verwendungsweisen zu

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beachten. In der Philosophie wurde ›L.‹, weit über ihre Bedeutung für die Wissenschaftsmethodologie hinausgehend, auch als Synonym für ›Lehre vom richtigen Denken‹, ›Vernunftswissenschaft‹ oder ›Erkenntnistheorie‹ verwendet. Abweichenden Bedeutungen von ›L.‹ entsprechen auch spezifizierende Verwendungsweisen von ›L.‹ im Deutschen Idealismus, insbes. Hegels ›dialektische L.‹ (Dialektik), aber auch Kants ›transzendentale L.‹, die sich nicht als formale L. verstehen, deren Geltungsansprüche also auch nicht mit denen der formalen L. kollidieren. Von der Auffassung der L. als formaler L. abweichende Bestimmungen klingen auch in der Alltagssprache an, wenn mit dem Prädikat ›logisch‹ das ausgezeichnet wird, was vernünftig, verständlich, klar, einsichtig, durch bestimmte Gesetz- oder Regelmäßigkeiten gestützt etc. erscheint (›L. der Geschichte‹, ›L. der Forschung‹, ›L. der Erziehung‹). Andere Verwendungsweisen heben auf tatsächliche oder vorgebliche Besonderheiten von Denkweisen und geistigen Dispositionen ab (›FrauenL.‹, ›Männer-L.‹, ›L. des Konservatismus‹). Im Prozess der Herausbildung zur Wissenschaft wurde die L. im engeren (formalen) Sinne selbst häufig mit anderen Namen bezeichnet oder im Rahmen von Disziplinen betrieben, die nicht mit ›L.‹ benannt wurden. Begründet durch den Bezug der L. auf schlüssiges Argumentieren, wurde die L. durch Platon als Teil der Dialektik erfasst. Damit verbunden gehörte es auch später zum Aufgabenbereich der L., Paralogismen, logische Fehlschlüsse, aufzudecken und Mittel zu ihrer Vermeidung zu entwickeln. In der Topik des Aristoteles findet die L. als Lehre vom Schließen auf Wahrscheinliches Platz in der Dialektik. Diese Seite der allgemeinen Schlusslehre findet im Rahmen der Bemühungen um eine induktive L. bzw. eine Wahrscheinlichkeits-L. einen dauerhaften Platz in der Geschichte der L. Der Bezug zum Argumentieren. zur sprachlichen Kommunikation, wird im Mittelalter wieder aufgenommen, wenn die L. im Rahmen von Sprachtheorie und Grammatik zusammen mit der auf die Redekunst gerichteten Dialektik und Rhetorik behandelt wird. Für die moderne L. gibt es mit ›formale L.‹, ›Logistik‹, ›Symbolische L.‹, ›Theoretische L.‹, ›Mathematische L.‹ eine Reihe von Bezeichnungen, durch die eine Verbindung der L. mit solchen formalen Methoden und Symbolismen ausgedrückt wird, die einen ansonsten nur aus der

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Mathematik bekannten Grad an Präzision erreichen und zum Teil übertreffen. 2 Zur Geschichte der Logik Die L. in ihrer heutigen Gestalt sieht sich in einer Tradition zur antiken griech. L., die von Aristoteles als Wissenschaft begründet wurde. Zur Geschichte der systematischen Ausarbeitung logischer Problemstellungen gehört aber auch die von der europäischen Entwicklung weitgehend unabhängige außereuropäische Tradition der L., vor allen der indischen (seit dem . Jh. v. u. Z.) und chinesischen L. (seit dem . Jh. v. u. Z.). 2.1 Die Behandlung der Logik in der Antike Die eigentliche Geschichte der abendländischen L. begann im antiken Griechenland und hatte dort ihren Höhepunkt mit den Arbeiten des Aristoteles zur L. Anwendungen logischer Elemente in Argumentationen und an formalen Kriterien orientierte Beweismethoden finden sich bis in die Anfänge der griech. Mathematik und Philosophie hinein, weit vor Versuchen ihrer systematischen Ausarbeitung in formalisierten Sprachen. So wurde schon mit Schöpfung der monistischen Weltbilder von Thales von Milet (etwa  v. u. Z.) und von Anaximander (etwa – v. u. Z.) das Bedürfnis spürbar, neben den allgemeinen Weltgesetzen auch solche des Geistigen (des logos) zu begründen. Besonders durch das Erstarken der Sophistik im . Jh. v. u. Z., deren Hauptvertreter Protagoras (–/– v. u. Z.) und Gorgias (vor  bis nach  v. u. Z.) besonderen Wert auf korrekte Sprachverwendung legten, waren Philosophen und Rhetoriker mit der Frage konfrontiert, gültige Argumentationen von fehlerhaften und irreführenden Argumentationen zu unterscheiden und logisch sicheren Regeln bei der Widerlegung gegnerischer Standpunkte zu folgen. Ein dabei häufig angewandtes Verfahren war das der indirekten Widerlegung, indem aus bestimmten Thesen Schlussfolgerungen gezogen wurden, deren Absurdität offensichtlich war, womit die Ausgangspositionen als widerlegt galten. Sprachlogische Untersuchungen wurden auch durch Platon (/– / v. u. Z.) ausgearbeitet und in seinen Werken eingesetzt. Von

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Platon stammen die ersten Ansätze zur Analyse der für L. und Mathematik fundamentalen Begriffe ›Menge‹, ›Identität‹, ›Unterschied‹ und ›Widerspruch‹. Bei Platon finden sich Ansätze zur Entwicklung der axiomatischen Methode, deren konkrete Ausführung aber in der L. erst mit Aristoteles und in der Geometrie durch Euklid (– v. u. Z.) erfolgte. Zum eigentlichen Begründer der L. als wissenschaftlicher Disziplin wurde Platons Schüler Aristoteles (– v. u. Z.), der für über  Jahre wichtigster Bezugspunkt für die L. blieb. Aristoteles systematisierte Teilbereiche der deduktiven L. und schuf mit der Syllogistik (Syllogismus) das erste System der L. überhaupt, dem er auch eine axiomatische Form gab. Zu den bedeutendsten logischen Neuerungen des Aristoteles gehört die Verwendung von Variablen, die es ihm ermöglichte, die Allgemeinheit logischer Gesetze direkt auszudrücken. Das Hauptgebiet der Aristotelischen L. ist die heute sog. Klassen-L., zu der nicht nur die Syllogistik, sondern auch die von Aristoteles entwickelte Oppositionstheorie und die Konversionstheorie gehören. Nach der Oppositionstheorie stehen universell bejahendes Urteil (›Alle S sind P ‹) und das entsprechende partikular verneinende Urteil (›Einige S sind keine P ‹) im (kontradiktorischen) Widerspruch zueinander. Analoges gilt für universell verneinendes und partikular bejahendes Urteil. Ein Konversionsgesetz ist z. B. folgendes: Wenn kein A B ist, so ist kein B A . Mit seinen Überlegungen zur Formalisierung der Modalitäten ›notwendig‹, ›unmöglich‹, ›möglich‹, ›kontingent‹ und der Erweiterung der Syllogistik um die Theorie der modalen Syllogismen hat Aristoteles einen beachtenswerten Beitrag zur nichtklassischen L. geleistet. Die von Euklid von Megara (ca.  – ca.  v. u. Z.) begründete Megarische Schule hat neben der Aristotelischen Schule v. a. durch eine allgemeinere Fassung des Folgerungsbegriffs und Beiträge zur L. der Modalitäten eine selbständige Bedeutung für die Herausbildung der L. Von dem Megariker Eubulides von Milet (. Jh. v. u. Z.) ist uns die erste Formulierung der Lügner-Paradoxie überliefert, durch die das Problem selbstbezüglicher Aussagen der Art ›Ich lüge‹ oder ›Dieser Satz ist falsch‹ als Gegenstand logischer Überlegungen thematisiert wurde. Der wichtigste Logiker der Megarischen Schule, Diodoros Kronos (gest. um  v. u. Z.), ist v. a. durch seine Formalierungsversuche

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modaler Begriffe bekannt geworden. Von ihm stammt die erste zeitlogische Definition der Modalitäten: Notwendig ist das, was wahr ist und niemals falsch wird, möglich ist das, was wahr ist oder wahr werden wird, unmöglich ist das, was falsch ist und niemals wahr werden wird. Auch Philon von Megara (. Jh. v. u. Z.) trug zur Entwicklung der logischen Modalitätentheorie bei. Philon schloss sich nicht der zeitlogischen Explikation der Modalitäten seines Lehrers Diodorus an, sondern definierte Möglichkeit von A als durch die innere Natur von A gegebene Vereinbarkeit von A mit der Wahrheit. Notwendig ist dagegen das, was seiner inneren Natur nach mit der Falschheit unvereinbar ist. Grundlegende Bedeutung für die klassische Aussagen-L. hat die von Philon vorgenommene Explikation der Wenn-so-Beziehung als Wahrheitsfunktion im Sinne der materialen Implikation: ›Wenn A , so B ‹ ist wahr genau dann, wenn A falsch ist oder B wahr ist. Die megarische Tradition, insbes. die durch Philon eingeführte wahrheitsfunktionale Behandlung der Wenn-so-Beziehung wurde durch die Stoische L. weitergeführt. Im Gegensatz zur termlogischen Schwerpunktsetzung bei Aristoteles entwickelten die Stoiker mit der AussagenL. einen Bereich der L., der die Basis umfassenderer moderner systematischer Aufbauten der L. bildet. Durch Chrysippos (ca.– v. u. Z.) wurden neben der Philonischen Implikation mit der Konjunktion (›A ist wahr und B ist wahr‹), der ausschließenden Disjunktion (›Entweder A oder B‹) und der einschließenden Alternative (›Mindestens A oder B‹) weitere Aussagenverbindungen eingeführt und Versuche der Axiomatisierung (Axiom/ Axiomatik) der Aussagen-L. vorgelegt. Von der weiteren Beschäftigung mit der L. bis ins Frühmittelalter hinein zeugen v. a. Materialsammlungen und Kommentare. Zu nennen sind insbes. die Kommentare Galens (ca.  – ca. ) zu den logischen Konzeptionen von Platon, Aristoteles, Theophrast und Chrysippus. Bedeutung erlangte in diesem Zusammenhang die Einführung in die Kategorien des Aristoteles von Porphyrius (–/). Mit Übersetzungen und Kommentaren logischer Werke trat auch Boethius (–) hervor, der aber auch eigene Beiträge zur Syllogistik, zur Modal-L. und zur aussagenlogischen Wahrheitsfunktionen lieferte.

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2.2 Mittelalterliche Logik Obwohl auf die antike Tradition ausgerichtet, hatte die mittelalterliche L. keinen direkten Zugang zu den Werken des Aristoteles. Wichtigster Vermittler des griech. Gedankengutes zur L. waren die Werke von Boethius (speziell dessen Übersetzungen aus Aristoteles und Porphyrius) und die als Fortsetzerin der griech. Tradition auftretende arabische L. mit ihren Hauptvertretern Abu Nasr al-Farabi (ca. –), Avicenna (= Abu Ibn Sina, –) und Averroes (= Ibn Rushd, –) (Islam und Philosophie). Einer der ersten aus der Reihe der bedeutenden mittelalterlichen Logiker war Peter Abelard (–). Abelard unterschied logisch perfekte Schlüsse, die allein auf Grund ihrer logischen Form gültig sind, von solchen Schlüssen, deren Gültigkeit vom faktischen Inhalt abhängt. Mit seinen Ausarbeitungen zu den Funktionen der Kopula ›sein‹, zu Quantifikationen und zur Negation, die er als Wahrheitsfunktion explizierte, legte er die Grundlagen für Entwicklungen, die im . Jh. unter der Bezeichnung Syncategoremata betrieben wurden. Einflussreiche Lehrbücher der L., der als Lehrdisziplin eine große pädagogische Bedeutung zukam, wurden im . Jh. von William von Sherwood (Shyreswood, /–/) und Petrus Hispanus (gest. ) verfasst. Sherwood bearbeitet in Introductiones in Logicam wichtige Elemente der Aussagen- und Quantoren-L. Weit größere Verbreitung fand Summulae Logicales von Petrus Hispanus, wovon bis zum . Jh. mehr als  (häufig kommentierte) Aufl. erschienen. Wichtige Beiträge zur mittelalterlichen Blütezeit der L. lieferten die Summa Logicae von William von Ockham (ca. –) und das Duns Scotus (Pseudo-Scotus) zugeschriebene Werk Opera Omnia. Hier wurde die Idee einer logica moderna dargelegt, in der die aristotelische L. auf neuen Fundamenten entwickelt wurde: Die aristotelische Namens-L. wurde nun auf Basis einer allgemeinen Bezeichnungstheorie (Suppositionstheorie) dargestellt, während die syllogistischen Schlussregeln innerhalb einer allgemeinen Folgerungstheorie (consequentia) behandelt wurden. Weit über Aristoteles hinausgehend wurden logische Analysen der Modalitäten betrieben. Große Aufmerksamkeit wurde den Paradoxien und Sophismen gewidmet, anhand derer Probleme von Syntax und Semantik diskutiert wurden, darunter neben Lügner-Paradoxien auch die sog. Paradoxien der materialen Im-

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plikation, die auf eine relevanzlogische Kritik der auf der philonischen Implikation beruhenden klassischen Folgerungstheorie hinauslaufen. Bedeutende Leistungen erbrachten Johannes Buridan (ca.  – nach  – Summula de Dialectica, Consequentiae und Sophismata), Walter Burley ( – nach  – De Puritate Artis), Albert von Sachsen (ca.  – ca.  – Summa Logicae) und die Logica Magna des  gestorbenen Paul von Venedig, in der eine umfassende Darstellung der logischen Errungenschaften dieser Periode geliefert wird. Mit seiner Vision des Aufbaus einer Universalkunst (ars universalis), in der die Behandlung von Begriffen auf eine berechenbare (kombinatorische) Basis gestellt werden sollte, wurde Raimundus Lullus (ca. –) zu einem Ideengeber für den Leibnizschen Versuch der Konstruktion einer universellen Charakteristik (characteristica universalis). Nach der mittelalterlichen L. kam es ab Mitte des . Jh. zu einem zwischenzeitlichen Niedergang der L., in dessen Resultat die L. auf eine für Lehrzwecke vereinfachte und didaktischen Ansprüchen unterworfene Darstellung der Syllogistik reduziert wurde. Charakteristisch für diese Periode ist der von rhetorisch-antisystematischen Positionen ausgehende Angriff auf die aristotelische Tradition der L. Einer der Hauptvertreter dieser Bewegung war Peter Ramus (–) mit seinen Animadversiones Aristotelicae (Paris ). Auch die besonders einflussreiche  erschienene Logique ou l’art de penser (Die L. von Port-Royal ) von Antoine Arnauld und Pierre Nicole, die unter dem Einfluss von Blaise Pascal entstanden war, entwickelt gegen Aristoteles gerichtete Tendenzen und markiert zugleich eine Art Startpunkt für die psychologistische Behandlung der L. 2.3 Vorläufer der modernen Logik Der für die moderne L. paradigmatischen Idee der Kalkülisierung der L. näherte sich die von Leibniz geschätzte Logica Hamburgensis () von Joachim Jungius (–), in der Gültigkeitsnachweise für die Syllogismen als eine Art Abfolge von Ableitungsschritten geführt wurden. Die leitende Idee des wissenschaftlichen Programms von Gottfried Wilhelm Leibniz (–) war die Schaffung einer allgemeinen Wissenschaft, der scientia generalis, in der die divergierenden Wissen-

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schaften auf einer einheitlichen logisch-methodologischen Basis in einer Einheit entwickelt werden sollten. 1 Im Rahmen dieses Programms spielte bei der Schaffung einer universellen Wissenschaftssprache, der lingua characteristica, auf die sich später Frege mit seinem Projekt der Schaffung der neuen L. in Form seiner Begriffsschrift bezieht, die Bearbeitung logischer Problemstellungen eine herausragende Rolle. Die Beiträge, die Leibniz im Rahmen der konkreten Ausführung seines Programms zur Schaffung einer universellen Wissenschaftssprache zur formalisierten Behandlung von Denkprozessen lieferte, sind vorrangig auf die kombinatorische und kalkülisierte Lösung logischer Probleme gerichtet. Neben einer extensionalistischen Herangehensweise, bei der kategorische Urteile als Aussagen über das Verhältnis der Menge der unter das Subjekt und der Menge der unter das Prädikat fallenden Gegenstände gedeutet werden, verfolgt Leibniz auch eine intensionale L.konzeption, bei der angenommen wird, die durch das Prädikat ausgedrückte Eigenschaft stehe in einem bestimmten inhaltlichen Verhältnis zu einer dem Subjekt wesentlichen Eigenschaft (Extension/ Intension). Auch Johann Heinrich Lambert (–) vertrat eine intensionale L.auffassung. Und wie Leibniz versuchte auch er, intensionale Begriffsbeziehungen grafisch zu veranschaulichen und anhand dieser Veranschaulichung logische Probleme zu lösen. Er bediente sich dabei durchgängiger und unterbrochener Linien, die er – wie auch Leibniz – den Eulerschen Kreisdiagrammen vorzog, die sich allerdings spätestens in Form der von John Venn vorgenommenen Modifizierung im . Jh. auch für die Behandlung der Syllogistik durchsetzten. Der bedeutendste Logiker des frühen . Jh. ist Bernard Bolzano (–). Besonders beachtenswert ist der von ihm entwickelte Begriff der logischen Ableitbarkeit (der Abfolge) und der Folgerung. Der letztere stimmt mit dem Tarskischen Folgerungsbegriff nahezu völlig überein: Gefordert wird, dass in jedem Falle, in dem sämtliche durch Einsetzung anderer nichtlogischer Terme aus den Prämissen entstandenen Variationen der Prämissen wahr sind, auch die aus den Schlussfolgerungen durch die gleichen Einsetzungen entstandenen Variationen wahr sind. D. h. jedes Modell der Prämissen ist auch ein Modell der Schlusssätze. Bolzano stellt aber noch die Zusatzbedingung für die Rede von Folgerungen, dass sämtliche Prämissen tatsächlich

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wahr sind. Damit unterscheidet er ein Folgern von einem Schließen, in dem diese Zusatzforderung nicht erhoben wird: Schließen oder ›Ableiten‹ (Deduzieren), und dann auch ›Folgern‹ i. w. S. der modernen L. kann man auch aus falschen oder gar widersprüchlichen Prämissen. 2.4 Traditionelle Logik Der Hauptstrom der L. bis ins letzte Viertel des . Jh. hinein entfaltete sich im Rahmen der traditionellen formalen L., die sich der aristotelischen Tradition verhaftet fühlte und sich innerhalb des aristotelischen Paradigmas entwickelte. Zu den in der traditionellen L. etablierten Standardtheorien gehörte in erster Linie die Aristotelische Syllogistik, die Lehre von den logischen Grundgesetzen (Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch, Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten und Gesetz der Identität), zu denen nach Leibniz als viertes Grundgesetz das Gesetz des zureichenden Grundes hinzugefügt wurde. Ausführlich wurden Begriffsverhältnisse und Beziehungen zwischen den in den assertorischen Syllogismen vorkommenden kategorischen Urteilsformen behandelt. Zu einer übersichtlichen Darstellung besonders fundamentaler Begriffs- bzw. Urteilsverhältnisse bediente man sich des sog. logischen Quadrats, das für die kategorischen Urteilsformen ›Alle S sind P ‹ (SaP), ›Einige S sind P‹ (SiP), ›Kein S ist P‹ (SeP) und ›Einige S sind keine P‹ (SoP) folgende Gestalt hat: konträr SeP

subaltern

ko nt

ra di kt or is

ch

is or t k di a r nt o k

ch

SiP

subaltern

SaP

SoP subkonträr

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Aus dem logischen Quadrat kann man leicht folgende logischen Beziehungen zwischen kategorischen Urteilen ablesen: . SaP und SoP (sowie SeP und SiP) stehen im kontradiktorischen Widerspruch zueinander: Nicht beide zugleich können wahr sein und sie können nicht zugleich falsch sein. . SaP und SeP stehen im konträren Gegensatz zueinander: Beide können nicht zugleich wahr sein, wohl aber können beide zugleich falsch sein. . SiP und SoP stehen in einem subkonträren Verhältnis zueinander: Nicht beide können zugleich falsch sein, wohl aber können beide zugleich wahr sein. . SiP ist bezüglich SaP (SoP bezüglich SeP) subaltern, d. h., falls der Begriff S nicht leer ist, gilt: Wenn SaP, so SiP (Wenn SeP, so SoP). Das logische Quadrat wurde auch zum Ausdruck von Begriffsverhältnissen zwischen alethischen Modalitäten (›notwendig‹, ›möglich‹, ›unmöglich‹, ›möglich, dass nicht‹) und zwischen deontischen Modalitäten (›obligatorisch‹, ›erlaubt‹, ›verboten‹, ›erlaubt, dass nicht‹) benutzt. Ihre abschließende Ausprägung im Übergang vom . bis gegen Ende des . Jh. erreichte die traditionelle L. im Anschluss an Immanuel Kant (–). Bedeutende Vertreter der nachkantischen traditionellen L. in Deutschland waren Rudolf Hermann Lotze (–), Christoph Sigwart (–) und Wilhelm Windelband (–), die auch für unterschiedliche logisch-philosophische Grundpositionen stehen: Während Lotze ein wichtiger Vertreter für die in der modernen L. herrschende antipsychologistische L.auffassung ist, entwickelt Sigwart eine gemäßigt psychologistisch-normative L.konzeption. Windelband schließlich vertritt wie Lotze antipsychologistische Positionen, die bei Windelband aber nicht wie bei Lotze mit platonistischen Elementen verbunden sind, sondern aus dem Neukantianismus erwachsen. Eine einflussreiche empiristische Linie, die auch das Vordringen psychologistischer Einflüsse in der L. des . Jh. begünstigte, wurde in der traditionellen L. des . Jh. durch John Stuart Mill (–) begründet. In den einflussreichen Versuchen Mills zur Entwicklung einer induktiven L. im Unterschied zur deduktiven L. findet das besondere Interesse der traditionellen L. für die Wissenschaftsmethodologie, die sich als angewandte L. verstand, besonders klaren Ausdruck.

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2.5 Die Begründung der modernen Logik 2.5.1 Die Algebra der Logik Die unmittelbare Genesis der L. im modernen Sinne und die damit verbundene Überwindung aristotelischer Beschränktheiten der traditionellen L. beginnt mit den Arbeiten englischer Logiker des . Jh. William Hamilton (–) belebte die Diskussion um die L. der kategorischen Urteilsformen durch die von ihm eingeführte Quantifikation des Prädikats, die ihn zu acht unterschiedlichen kategorischen Urteilsformen führte: Alle A sind B./Alle A sind einige B./Einige A sind alle B ./Einige A sind Einige B./Alle A sind nicht alle B./Alle A sind nicht einige B./Einige A sind nicht alle B./Einige A sind nicht einige B . ›Einige‹ ist zu lesen als ›nur einige‹, deshalb können diese Ausdrücke sämtlich als Gleichungen gelesen werden. Auch Augustus de Morgan (–) strebte nach einer Reform und Erweiterung der aristotelischen Syllogistik. Das signifikanteste Hinausgehen über die Syllogistik stellen die de Morganschen Untersuchungen zur Relationen-L. dar, die Bezugspunkt für weitere Entwicklungen auf diesem Gebiet wurden, bei de Morgan selbst aber eng mit der aristotelischen Tradition verbunden sind. George Boole (–) stellte sich der Aufgabe, eine gegenüber der traditionellen L. grundsätzlich neue L. zu schaffen, die in der Art und Präzision ihres Aufbaus den aus der Mathematik bekannten Kriterien genügen sollte. Den Maßstab für diesen Aufbau und auch die symbolischen Mittel für die Darstellung der neuen L. entnahm er direkt der Algebra. Boole wurde damit zum Begründer der algebraischen L. Die von Boole entwickelte Gestalt der L. hatte durch die Analogiebildung zwischen Algebra und L. eine bis dahin nicht gekannte technische Stärke erhalten, konnte aber bestimmte logisch nicht deutbare willkürliche Abweichungen von der algebraischen Behandlung der logischen Formeln nicht befriedigend erklären. Booles Nachfolger ergänzten und entwickelten den algebraischen Ansatz von der Booleschen Analogie zu einer eigenständigen, von Analogiebetrachtungen unabhängigen und voll ausgearbeiteten algebraischen L. Die wichtigsten Beiträge zu dieser Entwicklung wurden von William Stanley Jevons (–), John Venn (–) und Charles Sanders Peirce (–) erbracht. Peirce erlangte besonders durch seine relationslogischen Arbeiten und seine Beiträge zur Quantifikationstheorie Bedeutung. Einen gewissen

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Abschluss der klassischen Herausbildungsetappe der Algebra der L. markiert Ernst Schröder (–), der in seinen Hauptwerken Der Operationskreis des Logikkalküls (Leipzig ) und Vorlesungen über die Algebra der Logik ( Bde., Leipzig –) das Gesamtgebiet der algebraischen L. systematisierte und eine axiomatische Darstellung der Algebra der L. lieferte. 2.5.2 Die Frege/Russellsche Begründung der modernen Logik Die ersten voll entwickelten Systeme der L. in ihrer modernen Gestalt wurden in den Werken von Gottlob Frege (–) geschaffen. Frege ging es darum, mit dem Ziel einer sicheren Begründung mathematischer Theorien nachzuweisen, dass die Arithmetik auf L. zurückführbar ist, also ein Teil der L. ist: »Demnach würde die Arithmetik nur eine weiter ausgebildete Logik, jeder arithmetische Satz ein logisches Gesetz, jedoch ein abgeleitetes sein.« 2 Dieses Programm wird gewöhnlich als das der logizistischen Begründung der Mathematik oder kurz als Logizismus bezeichnet und hatte neben Frege in Bertrand Russell und Alonzo Church (–) seine prominentesten Vertreter. Allerdings war Frege mit der von ihm angestrebten logizistischen Begründung der Arithmetik nicht erfolgreich. Noch vor Erscheinen des zweiten Bandes der Grundgesetze der Arithmetik  musste er nach einem Brief Bertrand Russells 3 vom . Juni  anerkennen, dass in seinem System antinomische Begriffsbildungen (wie die der Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst als Element enthalten – die sog. ›Russellsche Klasse‹) möglich sind, die zur Beweisbarkeit von Widersprüchen im Fregeschen System führen. Dass eine widerspruchsfreie vollständige formale Begründung der Arithmetik prinzipiell nicht möglich ist, konnte erst in den er Jahren durch Kurt Gödel (–) mit seinem berühmten Unvollständigkeitstheorem gezeigt werden 4 : Wenn eine solche Begründung vollständig ist, d. h., auf ihrer Basis tatsächlich alle mit den Mitteln der formalen Arithmetik ausdrückbaren wahren Sätze beweisbar sind, so sind auch Widersprüche beweisbar. Damit war nicht nur das Schicksal des Logizismus als wissenschaftliches Programm besiegelt, sondern mit dem Gödelschen Unvollständigkeitstheorem war auch die Undurchführbarkeit des von David Hilbert (–) initiierten formalistischen Begründungsversuchs der Mathematik nachgewiesen.

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Die durch Frege geleistete Begründung der modernen L. selbst bleibt aber vom Scheitern seines logizistischen Programms weitgehend unberührt. Schon in seiner Begriffsschrift von  hat Frege ein System der L. in der heute üblichen Form aufgebaut: Zuerst wird der Aussagenkalkül bestimmt, der dann mit dem Prädikatenkalkül zum Gesamtsystem der modernen klassischen L. erweitert wird. Mit seiner im Prädikatenkalkül explizierten Quantifikationstheorie lieferte Frege eine logische Theorie, die zum adäquaten Erfassen logischer Begriffsverhältnisse geeignet ist, die sich nicht nur (wie in der Syllogistik) auf durch einstellige Prädikate vertretene Eigenschaften, sondern mit mehrstelligen Prädikaten auch auf Relationen beziehen. Wesentliche Voraussetzung des Fregeschen Erfolgs beim Aufbau der neuen L. war die Überwindung der aus der traditionellen L. überlieferten Behandlung der L. in Analogie zur Grammatik: Bei Frege ist nicht mehr die grammatische Gliederung der Urteile in Subjekt und Prädikat Basis der logischen Analyse, sondern entsprechend der von ihm entwickelten Auffassung vom Begriff werden als logische Grundbestandteile elementarer Urteile Argument und Funktion herausgehoben. Begriffe werden als spezielle Funktionen (Aussagefunktionen) erfasst, die – wenn sie durch entsprechende Argumente ergänzt werden – Aussagen bilden. Dem klassischen Zweiwertigkeitsprinzip folgend sind die Begriffe scharf begrenzt und liefern als Funktionswerte in Abhängigkeit von den zugeordneten Argumentwerten (das sind die Gegenstände oder Begriffe, auf die sich die Begriffe beziehen) genau einen der beiden Wahrheitswerte wahr oder falsch. Als weiteres Mittel zur Bildung von Aussagen aus Aussagefunktionen führte Frege erstmals in der Geschichte der L. Quantoren ein, mit denen in exakter Weise ausgedrückt werden kann, dass etwas für alle Gegenstände oder Begriffe bzw. einige Gegenstände oder Begriffe gilt. Einen bedeutenden Beitrag zur Klärung der semantischen Grundlagen nicht nur der klassischen extensionalen L., sondern auch einer nichtklassischen L. (wie der Modal-L. und der epistemischen L.) leistet die von Frege eingeführte Unterscheidung von Sinn (›sense‹, ›meaning‹) und Bedeutung (›reference‹) sprachlicher Ausdrücke: »Es liegt nun nahe, mit einem Zeichen (Namen, Wortverbindung, Schriftzeichen) außer dem Bezeichneten, was die Bedeutung des Zeichens heißen möge, noch das verbunden zu denken, was ich den Sinn des Zeichens

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nennen möchte, worin die Art des Gegebenseins enthalten ist [. . . ] Es würde die Bedeutung von ›Abendstern‹ und ›Morgenstern‹ dieselbe sein, aber nicht der Sinn.« 5 Der Sinn eines Aussagesatzes, der Gedanke (die durch den Satz getroffene Aussage, die Proposition), ist dasjenige, was bestimmt, unter welchen Bedingungen der Satz als Bedeutung den Wahrheitswert wahr hat und unter welchen Bedingungen er falsch ist. Der Gedanke, als Sinn des Satzes, ist die Art des Gegebenseins seines Wahrheitswertes. Der Gedanke als Sinn des Satzes ist also objektiv, er ist kein zum Bereich der Psychologie gehöriges Phänomen. Frege hat zwar die moderne klassische L. in präziser Weise begründet und aufgebaut, wissenschaftlich durchgesetzt hat sich die moderne L. aber erst durch die Arbeiten von Bertrand Russell (–), insbes. durch das von ihm gemeinsam mit Alfred Whitehead (–) geschaffene epochale Werk Principia Matematica (), von dem die moderne mathematische L. des . Jh. ihren unmittelbaren Ausgang nimmt. Dieses Werk folgte im wesentlichen den gleichen logischen Grundsätzen wie das Fregesche System, unterscheidet sich aber in zwei Hinsichten grundsätzlich von Frege: Erstens schließt sich Russell nicht der schwer handhabbaren Symbolik von Freges Begriffsschrift an, sondern entwickelt im Anschluss an Giuseppe Peano (–) eine logische Formelsprache, in deren Art alle späteren Symbolsprachen der modernen L. aufgebaut wurden. Und zweitens vermeidet Russell durch seine Theorie logischer Typen die Konstruktion logischer Widersprüche in seinem System, indem er scharf zwischen Begriffen (Klassen) unterschiedlicher Ordnung unterscheidet und die Fregesche Trennung zwischen Funktion (Begriff ) und Gegenstand auf die Trennung zwischen Funktionen (Begriffen) unterschiedlicher Stufe erweiterte: Ein Begriff n-ter Stufe kann als Argumente nicht Begriffe n -ter oder höherer Stufe haben. Somit ist ausgeschlossen, dass ein Begriff Argument für sich selbst sein kann. Dadurch konnten die im Fregeschen System möglichen rückbezüglichen antinomischen Begriffsbildungen, wie die Klasse all der Klassen, die sich nicht selbst als Element enthalten, im Russellschen System nicht mehr ausgedrückt werden.

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3 Gebiete der modernen Logik Die moderne L. umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Richtungen und Darstellungsweisen. Im folgenden werden die Gebiete der L. nicht nach den unterschiedlichen Darstellungsweisen betrachtet, sondern Unterscheidungskriterien sind verschiedenartige semantische Grundauffassungen und inhaltlich-logische Gesichtspunkte, die zur Ausprägung verschiedenartiger Richtungen der modernen L. führen. Zur Behandlung der entsprechenden logischen Theorien kann man sich unterschiedlicher Methoden bedienen, wie z. B. der Methode der Wahrheitswertetafeln, unterschiedlicher Normalformverfahren, der Methode der semantischen Tafeln, dialogischer Verfahren im von Lorenzen eingeführten Sinne, unterschiedlicher deduktiver Systematisierungsverfahren, wie der axiomatischen Methode und der des Aufbaus von Deduktionssystemen als Systeme des natürlichen Schließens und der Gentzenschen Tableau-Methode. 3.1 Klassische Logik Unter der klassischen L. versteht man das Gebiet der modernen L., das in seinen semantischen Grundlagen durch folg. Prinzipien bestimmt ist: . Zweiwertigkeitsprinzip: Eine Aussage hat genau einen der beiden Wahrheitswerte wahr oder falsch. Eine Aussage ist nicht wahr und falsch zugleich (Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch) und sie ist wahr oder falsch, sie hat keinen anderen Wahrheitswert (Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten). . Extensionalitätsprinzip: Die Werte von Zeichenverbindungen werden durch die Werte der in die jeweilige Verbindung eingehenden Zeichen funktional bestimmt. 3.1.1 Die klassische Aussagenlogik Die klassische Aussagen-L. ist die Theorie der zweiwertigen extensionalen Aussagenverbindungen. Aussagenverbindungen werden in der klassischen Aussagen-L. als Wahrheitsfunktionen behandelt, die zu vorgegebenen Wahrheitswerten der in sie eingehenden Argumente (das sind die in der Aussagenverbindung verknüpften Teilaussagen) als Funktionswert der Gesamtaussage wiederum einen Wahrheitswert zuordnen. Entsprechend der Anzahl der verbundenen Teilaus-

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sagen unterscheidet man Aussagenverbindungen nach der Stellenzahl. Offensichtlich existieren in der zweiwertigen extensionalen L. genau n 2(2 ) unterschiedliche n -stellige Wahrheitsfunktionen (d. h. Funktionen mit unterschiedlichem Wertverlauf ), daher 4 unterschiedliche einstellige und 16 zweistellige Wahrheitsfunktionen. Man kann diese Funktionen in tabellarischer Form folgendermaßen zusammenfassen: A

Φ11 (A)

Φ12 (A)

Φ13 (A)

Φ14 (A)

W F

W W

W F

F W

F F

A

B

Φ21

Φ22

Φ23

Φ24

Φ25

Φ26

Φ27

Φ28

W W F F

W F W F

W W W W

W W W F

W W F W

W W F F

W F W W

W F W F

W F F W

W F F F

A

B

Φ29 Φ210 Φ211 Φ212 Φ213 Φ214 Φ215 Φ216

W W F W F W F W W F F W

F W W F

F W F W

F W F F

F F W W

F F W F

F F F W

F F F F

Von diesen möglichen klassischen Wahrheitsfunktionen werden aus pragmatischen und theoretischen Gründen häufig die klassische einstellige Negation Φ13 (A) (›Nicht A‹, ›A ist falsch‹) und die zweistelligen Aussagenverbindungen Konjunktion Φ28 (A,B) (›A und B ‹, ›Sowohl A als auch B sind wahr‹), Alternative Φ22 (A,B) (› A oder B‹, ›Mindestens A oder B ist wahr‹), Implikation Φ25 (A,B) (›Wenn A , so B ‹, ›Wenn A wahr ist, so ist auch B wahr‹) und die Äquivalenz Φ27 (A,B) (› A und B sind äquivalent‹, ›A ist genau dann wahr, wenn B wahr ist‹) hervorgehoben. In Systemen der klassischen Aussagen-L. werden diese Aussagenverbindungen mit spezifischen Symbolen ausgedrückt. Allerdings werden der gleichen Funktion in unterschiedlichen Systemen mitunter unterschiedliche Symbole zugeordnet. Für die Negation von A sind das z. B. ¯ . Die entsprechenden Funktoren werden bei zweistelli∼A , ¬A , A0 , A gen Aussagenverbindungen üblicherweise zwischen die Argumente geschrieben:

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Konjunktion von A und B : A ∧ B, A&B , A · B, AB Alternative von A und B : A ∨ B, A + B Implikation von A und B : A ⊃ B, A → B, A : B Äquivalenz von A und B : A ≡ B, A ↔ B , A = B Aber auch die gewählten Namen für diese Verbindungen variieren: So wird statt von ›Alternative‹ mitunter von ›Disjunktion‹ gesprochen, während am Sprachgebrauch der konstruktivistischen Erlanger Schule von Paul Lorenzen orientierte Logiker statt ›Alternative‹ den Ausdruck ›Adjunktion‹ und statt ›Implikation‹ den Ausdruck ›Subjunktion‹ benutzen. Im folgenden wird am Beispiel der klassischen Aussagen-L. gezeigt, wie ein logisches System als formalisierte Sprache aufgebaut wird und welche Bedingungen von derartigen Konstruktionen zu erfüllen sind. Neben der Unterscheidung von Syntax und Semantik des entsprechenden logischen Systems ist zu beachten, dass wir zur Beschreibung des entsprechenden Aufbaus und der Eigenschaften des Systems eine Sprache benötigen, mit der wir über das System sprechen können. Eine solche Sprache wird üblicherweise Metasprache genannt und umfasst die Sprache des Systems selbst sowie zusätzliche sprachliche Mittel zur Charakterisierung des Systems. Beim Aufbau eines logischen Kalküls muss in einem ersten Schritt bestimmt werden, was die in diesem Kalkül zu behandelnden wohlgeformten Ausdrücke (Formeln) sind: Formeldefinition für den klassischen Aussagenkalkül:  Grundzeichen: . p, q, r, p1 , q1 , r1 , ... (Aussagenvariable) . ∼ , ∧, ∨, ⊃ , ≡ (aussagenlogische Funktoren, logische Konstanten) . (,) (Hilfszeichen)  Formeln: . Einzeln stehende Aussagenvariable sind Formeln . Wenn A und B Formeln sind, so sind auch Formeln: ∼A , (A ∧ B) , (A ∨ B) , (A ⊃ B) , (A ≡ B) . . Formeln sind nur solche Zeichenreihen, die entsprechend der Festlegungen . und . gebildet wurden. Die gegebene Formeldefinition sichert, dass Formeln stets (wenn auch in unterschiedlicher Weise) Wahrheitsfunktionen darstellen, d. h. bei jeder Belegung aller in einer Formel vorkommenden Aussagenvaria-

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blen mit Wahrheitswerten, ergibt sich als Funktionswert genau einer der beiden Werte wahr oder falsch. Unterschiedliche Formeln A und B drücken die gleiche Funktion aus (sind logisch äquivalent), wenn sie bei jeder Belegung der in ihnen vorkommenden Aussagenvariablen mit Wahrheitswerten jeweils den gleichen Funktionswert liefern, wenn A und B also den gleichen Wertverlauf haben. Logisch äquivalent sind z. B. die nach folgenden Schemata gebildeten Ausdrücke: A ist äquivalent mit: ∼∼A (A ∧ B) ist äquivalent mit: ∼(∼A ∨ ∼B) , ∼(A ⊃ ∼B)

(A ∨ B) ist äquivalent mit: ∼(∼A ∧ ∼B) , (∼A ⊃ B) , ((B ⊃ A) ⊃ A) (A ⊃ B) ist äquivalent mit: ∼(A ∧ ∼B) , (∼A ∨ B) (A ≡ B) ist äquivalent mit: ((A ⊃ B) ∧ (B ⊃ A)) , ∼((A ⊃ B) ⊃ ∼(B ⊃ A))

Daraus wird ersichtlich, dass Wahrheitsfunktionen durch andere Wahrheitsfunktionen äquivalent ausdrückbar sind. Beispielsweise kann man, ohne die Ausdrucksstärke des Systems zu verringern, beim Aufbau des klassischen Aussagenkalküls auf die Konjunktion als Grundfunktion verzichten. Zu Abkürzungszwecken könnte man dann die Konjunktion definitorisch einführen, etwa mit Negation und Alternative: (A ∧ B) =df ∼(∼A ∨ ∼B)

Allgemein gilt, dass mit bestimmten Teilmengen der möglichen Wahrheitsfunktionen jede klassische Wahrheitsfunktion beliebiger Stellenzahl äquivalent ausgedrückt werden kann. Solche funktional vollständigen Teilmengen zweiwertiger extensionaler Aussagenverbindungen sind z. B.: {∼, ⊃} , {∼, ∨}, {∼, ∧} , {Φ14 , ⊃} , {Φ11 ,Φ214 } . Allerdings sind nicht alle Mengen aus Negation und einer zweistelligen Wahrheitsfunktion funktional vollständig. Funktional unvollständig ist z. B. die Menge {∼, ≡}. Funktional vollständig ist die Menge {Φ14 , ≡, ∧} . Mit den Funktionen Φ29 (Sheffersche Funktion, Antikonjunktion, symbolisch: | ) und Φ215 (Nicodsche Funktion, Antialternative) existieren andererseits zweistellige Wahrheitsfunktionen, die allein schon funktional vollständig sind. Die Wahrheitsfunk-

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tionen der funktional vollständigen Menge {∼, ∧} können z. B. mit der Shefferschen Funktion allein folgendermaßen ausgedrückt werden: ∼A =df (A|A)

(A ∧ B) =df ((A|B)|(A|B)) .

Alle aufgeführten funktional vollständigen Mengen von Aussagefunktionen sind auch funktional unabhängig, d. h. keine der in ihnen enthaltenen Funktionen ist mit den anderen in ihnen enthaltenen Funktionen äquivalent ausdrückbar. Wichtige logische Eigenschaften von Formeln werden durch folgende semantische Charakterisierungen erfasst: a) Eine Formel ist aussagenlogisch allgemeingültig (oder aussagenlogisch gültig, oder ein aussagenlogisches Gesetz, tautologisch), wenn sie für jede mögliche Belegung den Wahrheitswert wahr annimmt. Zur metasprachlichen Kennzeichnung allgemeingültiger Formeln verwendet man häufig das Symbol |= und liest den metasprachlichen Ausdruck ›|= A‹ als ›Die Formel A ist allgemeingültig (ein logisches Gesetz)‹. b) Eine Formel ist aussagenlogisch erfüllbar, wenn sie für mindestens eine Belegung den Wert wahr annimmt. c) Eine Formel ist eine aussagenlogische Kontradiktion (oder ein logischer Widerspruch), wenn sie nicht erfüllbar ist. d) Formeln, die weder allgemeingültig noch kontradiktorisch sind, werden als logisch neutral bezeichnet. Der für die L. und deren Anwendungen grundlegende semantische Begriff der logischen Folgebeziehung kann folgendermaßen definiert werden: Die Formel B folgt klassisch aussagenlogisch aus der Prämissenmenge {A1 ,A2 ,...,An } (abgekürzt: A1 , A2 , ... , An |= B ) genau dann, wenn nach den in der klassischen L. angenommenen semantischen Festlegungen gilt, dass für jede Wertebelegung, bei der alle Elemente der Prämissenmenge den Wert wahr annehmen, auch die Konklusion B den Wert wahr annimmt. Für die klassische Aussagen-L. existiert eine Vielzahl unterschiedlicher äquivalenter Axiomensysteme. Die historisch erste Axiomatisierung wurde von Gottlob Frege  in der Begriffsschrift vorgelegt. Mit einer von der Fregeschen Symbolik abweichenden heute verbreiteten Syntax und der Aufnahme einer Einsetzungsregel, die von Frege erst

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 in den Grundgesetzen der Arithmetik explizit formuliert wurde, kann dieses System folgendermaßen dargestellt werden: Das axiomatische System BSA: . Formeldefinition: a) Wenn A eines der Zeichen p, q, r, p1 , q1 , r1 , ... ist, so ist A eine Formel von BSA b) Wenn A und B Formeln sind, so sind ∼A und (A ⊃ B) ebenfalls Formeln. c) Nur nach a) oder b) aufgebaute Zeichenreihen sind Formeln. . Axiome: A. (p ⊃ (q ⊃ p)) A. ((p ⊃ (q ⊃ r)) ⊃ ((p ⊃ q) ⊃ (p ⊃ r))) A. ((p ⊃ (q ⊃ r)) ⊃ (q ⊃ (p ⊃ r))) A. ((p ⊃ q) ⊃ (∼q ⊃ ∼r)) A. (∼∼p ⊃ p) A. (p ⊃ ∼∼p) . Schlussregeln: R. (Abtrennungsregel) Aus (A ⊃ B) und A kann auf B geschlossen werden. R. (Einsetzungsregel) Aus A ist die Formel A∗ gewinnbar, die aus A dadurch entsteht, dass ein Zeichen der Art p , q , r , p1 , q1 , r1 , ... an allen Stellen seines Vorkommens in A durch eine Formel B ersetzt wird. . Definitionen: (A ∧ B) =df ∼(A ⊃ ∼B) (A ∨ B) =df ((A ⊃ B) ⊃ B) (A ≡ B) =df ((A ⊃ B) ∧ (B ⊃ A))

. Beweis und Ableitung Unter einem Beweis einer Formel A in BSA versteht man eine A enthaltende endliche Formelfolge, wobei für jedes Glied der Folge gilt, dass es eines der Axiome ist oder aus vorausgegangenen Gliedern der Folge mit den Regeln R oder R gewonnen wurde. Eine Formel A ist beweisbar (abgekürzt: ` A), wenn ein Beweis für A möglich ist. Das Zeichen ` ist aus dem Fregeschen Behauptungszeichen entstanden und wird deshalb auch ›Fregezeichen‹ genannt. Unter einer Ableitung einer Formel B aus einer Prämissenmenge A1 , A2 , ... , An versteht man eine endliche Formelfolge, wobei für jedes

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Glied der Folge gilt, dass es eines der Axiome oder eine der Prämissen A1 , A2 , ... , An ist oder aus vorausgegangenen Gliedern der Folge mit den Regeln R oder R gewonnen wurde, wobei Regel R nur auf solche Glieder der Folge angewandt werden darf, die Axiom sind. Eine Formel B ist ableitbar aus den Prämissen A1 , A2 , ... , An (abgekürzt: A1 , A2 , ... , An ` B ) genau dann, wenn eine Ableitung für B aus A1 , A2 , ... , An möglich ist. Das Fregesche System der klassischen Aussagen-L. erfüllt bestimmte metatheoretische Forderungen: Die in BSA undefinierten Aussagenverbindungen ∼ und ⊃ bilden ein funktional vollständiges und unabhängiges System von Grundfunktionen. Das System ist syntaktisch widerspruchsfrei : a) Syntaktische Widerspruchsfreiheit im klassischen Sinne: Im System BSA ist keine Formel und deren Negation beweisbar (mindestens A oder ∼A sind unbeweisbar). b) Absolute Widerspruchsfreiheit: Im System BSA sind nicht beliebige Ausdrücke beweisbar (mindestens eine Formel ist unbeweisbar). Das System BSA ist syntaktisch vollständig im klassischen und im absoluten Sinne: Wenn zu BSA eine in BSA nicht beweisbare Formel als Axiom hinzugefügt wird, so ist das dadurch entstehende System syntaktisch widersprüchlich im klassischen bzw. im absoluten Sinn. Die von BSA erfüllten syntaktischen Widerspruchsfreiheits- und Vollständigkeitskriterien sind allerdings noch nicht für die inhaltlichlogische Adäquatheit dieses Kalküls hinreichend. Die inhaltliche Adäquatheit im klassisch-logischen Sinne wird durch die Gültigkeit der folgenden Metatheoreme gesichert: Das System BSA ist semantisch widerspruchsfrei bezüglich der klassisch-aussagenlogischen Semantik: Jede in BSA beweisbare Formel ist allgemeingültig. Das System BSA ist semantisch vollständig bezüglich der klassischaussagenlogischen Semantik: Jede allgemeingültige Formel ist in BSA beweisbar. In der Fregeschen Axiomatisierung der klassischen Aussagen-L. sind – entgegen der erklärten Absicht Freges – nicht alle Axiome voneinander unabhängig. Das Axiom A ist nämlich im System BSA mit den dort

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vorhandenen Schlussregeln und den Axiomen A und A beweisbar. Aus dem Fregeschen System kann deshalb ohne Veränderung der Menge der beweisbaren Formeln durch Weglassen des Axioms A ein revidiertes axiomatisches System aufgebaut werden, das mit dem Ausgangssystem deduktiv äquivalent ist: In beiden Systemen sind die gleichen Formeln beweisbar. Łukasiewicz vereinfachte das Fregesche System weiter, indem er die Axiome A–A durch das Axiom AL . ((∼p ⊃ ∼q) ⊃ (q ⊃ p)) ersetzte. 6 Nach Frege wurde neben nichtaxiomatischen Kalkülisierungen auch eine Vielzahl von Axiomatisierungen des klassischen Aussagenkalküls entwickelt, die sich vom Fregeschen System nicht nur durch andere Axiome, sondern auch durch andere Grundzeichen unterscheiden. 7 3.1.2 Die klassische Prädikatenlogik Die klassische Aussagen-L. ist der elementare Teil der klassischen L. Die Prädikaten-L. erweitert die Ausdrucksfähigkeit der Aussagen-L. Die prädikatenlogische Struktur eines Elementarsatzes ›Sokrates ist ein Mensch‹, in dem das Zutreffen einer Eigenschaft P auf den Gegenstand x ausgedrückt wird, kann folgendermaßen ausgedrückt werden: P(x) . Entsprechend steht Q(x,y) für einen Elementarsatz der Art › x und y stehen in der Relation Q zueinander‹ z. B. ›Meyer ist größer als Müller‹. Die durch einstellige bzw. mehrstellige Prädikate P und Q dargestellten Eigenschaften bzw. Relationen beziehen sich dabei stets auf die Bedeutungen der vorkommenden Individuentermini, also auf dasjenige, was durch diese Termini bezeichnet wird. Quantoren werden benutzt, um die Allgemeinheit oder Partikularität des Zutreffens von Eigenschaften oder Relationen auszudrücken. So drückt ∀xP(x) aus, dass alle Individuen die durch das Prädikat P ausgedrückte Eigenschaft haben. ∃xP(x) drückt aus, dass mindestens ein Gegenstand die Eigenschaft P hat. Soll zusätzlich ausgedrückt werden, dass die Eigenschaft P nicht universell ist, so wie etwa in: ›Nur einige Gegenstände haben die Eigenschaft P‹, so könnte dies folgendermaßen symbolisiert werden: ∃xP(x) ∧ ∼∀xP(x).

Das wichtigste logische System der traditionellen L., die Syllogistik, erweist sich als Teilsystem der Prädikaten-L. Genauer ist sie ein Teilsystem des singulären Pädikatenkalküls, in dem lediglich einstellige

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Prädikate vorkommen. Die entsprechenden kategorischen Urteile können prädikatenlogisch folgendermaßen ausgedrückt werden: ›Alle S sind P‹: ∀x(S(x) ⊃ P(x)) ; ›Kein S ist P‹: ∀x(S(x) ⊃ ∼P(x)) ; ›Einige S sind P ‹: ∃x(S(x) ∧ P(x)) ; ›Einige S sind keine P‹: ∃x(S(x) ∧ ∼P(x)). Der Teil der Prädikaten-L., der nur Prädikate erster Stufe enthält, also solche Prädikate, die sich auf Individuen beziehen, nicht aber auf Eigenschaften oder Relationen und in dem keine Prädikate quantifiziert werden, wird Prädikatenkalkül erster Stufe genannt. Durch Einführung der Prädikatenkonstante ›ist identisch mit‹ (meist mit dem Zeichen = dargestellt) wird daraus der Prädikatenkalkül erster Stufe mit Identität gebildet. Höhere Prädikatenkalküle enthalten außer Prädikaten, die sich auf Individuenterme beziehen, auch Prädikate höherer Stufe, die sich auf Prädikate beziehen. Außerdem ist es in höheren Prädikatenkalkülen möglich, Quantoren zu verwenden, die sich auf Prädikatenvariable beziehen, die also z. B. ausdrücken, etwas gelte von allen Eigenschaften, einigen Relationen etc. Das System der Prädikatenlogik . Stufe PK Formeldefinition für das System PK: . Grundzeichen: Zu den aussagenlogischen Grundzeichen werden folgende prädikatenlogischen Grundzeichen hinzugefügt: a) Individuenvariable: x, y, z , x1 , y1 , z1 , ... b) Prädikatenvariable: Pn , Qn , Rn , Pn1 , Qn1 , Rn1 , ... , wobei n ≥ 1 die Stellenzahl des entsprechenden Prädikats ausdrückt. Wenn auch ohne die Angabe von n die Stellenzahl eines Prädikats ersichtlich ist, wird häufig auf die Angabe von n verzichtet. c) Quantoren: ∀ (Allquantor, Generalisator) ∃ (Existenzquantor, Partikularisator) . Formeln: a) Aussagenvariablen sind Formeln von PK b) Wenn Γin ein n -stelliges Prädikat ist und a1 , a2 , ... , an sind (nicht unbedingt unterschiedliche) Individuenvariable, so ist Γin (a1 ,a2 ,...,an ) eine Formel von PK.

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c) Wenn A und B Formeln von PK sind, so sind ∼A, (A ⊃ B), ∀aA , ∃aA ( a ist eine Individuenvariable) ebenfalls Formeln von PK. In ∀aA (bzw. ∃aA) kommt die Variable a an all den Stellen durch den Quantor ∀a (bzw. ∃a) gebunden vor, an denen sie in A vorkommt und sich bei diesem Vorkommen nicht in einem Teilausdruck ∀aB (bzw. ∃aB ) von A befindet. Variablen, die nicht gebunden vorkommen, nennt man auch freie Variablen. Gleiche Variablen können in einer Formel sowohl gebunden als auch frei vorkommen. So ist in der Formel ∀y(P2 (y,x) ⊃ ∃x∃yQ(x,y)) das erste Vorkommen von x frei, während das zweite Vorkommen von x durch ∃x gebunden wird. Das erste Vorkommen von y wird durch ∀y gebunden, das zweite Vorkommen von y ist durch ∃y gebunden. Die Semantik von PK . Freie Individuenvariable sind Variable, denen bei jeder Belegung mit Werten Elemente einer Menge von Individuen, dem Individuenbereich (oder ›Universum‹, ›universe of discourse‹) zugeordnet werden. Eine wichtige Voraussetzung der klassischen L. besteht darin, dass der Individuenbereich nicht leer ist. Bestimmte nichtklassische PrädikatenL., sog. Freie L., lassen in ihren Semantiken auch leere Individuenbereiche und solche Individuenterme zu, die keinen Gegenstand aus dem universe of discourse bezeichnen. Eine weitere wichtige klassische Voraussetzung besteht darin, dass der Individuenbereich für alle Individuenvariablen identisch ist. Werden Individuenbereiche mit unterschiedlichen Sorten von Individuen zugelassen, spricht man von mehrsortigen L. . n -stellige Prädikatenvariable sind Variable, denen als Werte n -stellige Aussagefunktionen zugeordnet werden, die für jede geordnete Menge von n Elementen aus dem Individuenbereich genau einen der beiden Werte wahr oder falsch annehmen. . Der Wert von ∀aA ist bei einer gegebenen Belegung mit Werten für die in ∀aA vorkommenden Prädikatenvariablen und freien Individuenvariablen genau dann der Wert wahr, wenn der Wert der Formel A für jeden möglichen Wert von a der Wert wahr ist. . Der Wert von ∃aA stimmt mit dem Wert von ∼∀a∼A überein.

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. Eine Formel A ist PL-allgemeingültig, wenn für beliebige Wertebelegungen dieser Formel in jedem (nichtleeren) Individuenbereich U gilt, dass die Formel A den Wert wahr annimmt. Eine Formel ist erfüllbar, wenn sie bei mindestens einer Wertebelegung in mindestens einem (nichtleeren) Individuenbereich U den Wert wahr annimmt. Auch für den Prädikatenkalkül erster Stufe mit klassischer Semantik gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher syntaktischer Kalküle, durch die genau die Ausdrücke syntaktisch ausgezeichnet werden, die in der oben angegebenen Semantik allgemeingültig sind. Ein solches System ist das axiomatische System APK: Axiome und Schlussregeln von APK: Zu den Axiomen und Regeln des Systems BSA werden nach den folgenden Axiomenschemata bildbare Formeln als Axiome hinzugefügt: AP . ∀a(A ⊃ B) ⊃ (A ⊃ ∀aB), wobei a nicht frei in A vorkommt AP . ∀aA ⊃ A∗ , wobei A∗ aus A dadurch entsteht, dass alle freien Vorkommen a in A, von denen sich keines in einer Teilformel der Gestalt ∀bB (bzw. ∃bB ) befindet, durch b ersetzt werden. Zusätzliche Schlussregeln: R. Wenn A, so ∀aA R. Wenn A, so A∗ , wobei A∗ aus A durch Ersetzung von ∀aB durch ∼∃a∼B entsteht. Der für das aussagenlogische System formulierte Beweisbegriff wird auf das System APK übertragen. Das so entstehende System ist semantisch widerspruchsfrei und semantisch vollständig bezüglich der angegebenen klassischen prädikatenlogischen Semantik. Das System ist syntaktisch widerspruchsfrei, allerdings nicht syntaktisch vollständig. Z. B. könnte die nicht beweisbare (und wegen der semantischen Vollständigkeit von APK nicht allgemeingültige) Formel P(x) ⊃ ∀xP(x) als Axiom zum System APK hinzugefügt werden, ohne dass das so erweiterte System syntaktisch widersprüchlich würde: Auch in dem so erweiterten System sind nicht zwei Ausdrücke A und ∼A beide beweisbar und es gibt in diesem System mindestens eine Formel, die nicht beweisbar ist. P(x) ist z. B. eine solche Formel. Ein weiterer gravierender Unterschied des klassischen Prädikatenkalküls erster Stufe zum klassischen Aussagenkalkül besteht darin, dass trotz der Effektivität des Beweisbegriffs im Prädikatenkalkül, der Be-

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griff der beweisbaren Formel nicht effektiv ist, d. h., entsprechend dem berühmten Theorem von Church 8 gibt es keine mechanische Prozedur mit der nach endlich vielen Schritten von einer beliebigen Formel gezeigt werden kann, ob diese Formel beweisbar ist oder nicht (entsprechend, ob sie allgemeingültig ist oder nicht). Allerdings konnte das Entscheidungsproblem für Teilbereiche des Prädikatenkalküls positiv gelöst werden. So ist der singuläre Prädikatenkalkül (der nur einstellige Prädikate enthält) entscheidbar. 3.2 Nichtklassische Logik Überlegungen zur Revision bestimmter klassisch logischer Prinzipien durchziehen die gesamte Geschichte der Logik. Schon Aristoteles beschäftigte sich mit Anwendungen der L. zur Analyse von Aussagen über zukünftige Ereignisse, für die das Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch (scheinbar oder wirklich) nicht uneingeschränkt gilt. Auch in der modernen L. ist das Bestreben, differenzierte logische Analysen zu ermöglichen, überwiegend Ansatzpunkt für den Aufbau nichtklassischer L. Da die dabei behandelten Problemstellungen häufig aus der Philosophie stammen, hat sich für die nichtklassische L. auch die Bezeichnung Philosophische L. eingebürgert. Die nichtklassische L. ist das Gebiet der modernen L., auf dem sich gegenwärtig die bedeutendsten Entwicklungen vollziehen. Sie umfasst eine sich ständig erweiternde Vielfalt verschiedenartiger logischer Theorien mit unterschiedlichem semantischen und syntaktischen Ausarbeitungsgrad, die sich von der in ihrer theoretischen Entwicklung im wesentlichen abgeschlossenen klassischen L. durch bestimmte Revisionen der klassisch logischen Grundprinzipien Zweiwertigkeit und Extensionalität abheben. 3.2.1 Intuitionistische Logik So, wie die Entwicklung der modernen klassischen L. eng mit einem Grundlegungsversuch der Mathematik, dem logizistischen Programm, verbunden war, ist auch einer der bedeutendsten modernen Gegenentwürfe zur klassischen L. aus einem auf die Mathematik gerichteten Begründungsprogramm erwachsen. Es handelt sich hierbei um die intuitionistische L., die sich seit den er Jahren in unterschiedlichen Ausprägungen im Geiste des bereits

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Anfang des Jh. entstandenen intuitionistischen Mathematikverständnis entwickelt hat. 9 Mit dem Intuitionismus ist ein gegenüber dem Fregeschen Logizismus und dem Hilbertschen Formalismus grundlegend geändertes Existenzverständnis verbunden. Während für den klassischen Logizisten mathematische und logische Gegenstände objektiv und an sich existieren, Existenz also nicht von der epistemischen Erfassung dieser Existenz abhängig ist, und der Formalismus sich mit der Widerspruchsfreiheit als hinreichendem Kriterium für mathematische Existenz begnügt, ist für den Intuitionismus nur das effektiv Konstruierbare existent. Die intuitionistische Grundkritik an der klassischen L. bezieht sich dabei auf das klassische Zweiwertigkeitsprinzip. Dabei wird das Widerspruchsfreiheitsprinzip, dass eine Aussage nicht zugleich wahr und falsch sein kann, beibehalten. Revidiert wird aber das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten, dass jede Aussage wahr oder falsch sei. Diese Revision ist mit der Spezifik der Existenzauffassung und der Wahrheitsauffassung des Intuitionismus verbunden: Wahr ist eine Aussage nicht in einem für die klassische L. charakteristischen objektiven, von Erkenntnisoperationen unabhängigen, platonistischen Sinne an sich, sondern nur dann, wenn diese Aussage hinreichend epistemisch bestätigt, effektiv verifiziert ist. Und falsch ist eine Aussage im epistemischen Sinne nicht dann, wenn sie nicht wahr ist, sondern wenn sie hinreichend sicher epistemisch widerlegt, effektiv falsifiziert ist. Durch diese Differenz zwischen falsch und nicht wahr, die in der klassischen Wahrheitsauffassung nicht auftritt, ergeben sich in dem auf diesem Wahrheitsverständnis aufbauenden Heytingschen System der intuitionistischen L. 10 gravierende Einschränkungen im Vergleich zur klassischen L.: Weder das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten (A ∨ ∼A), noch das Gesetz der Beseitigung der doppelten Negation (∼∼A ⊃ A), noch das Prinzip des indirekten Beweises (((∼A ⊃ B) ∧ (∼A ⊃ ∼B)) ⊃ A) sind intuitionistisch gültig. Damit ist es auch nicht möglich, daraus, dass aus der Annahme der Nichtexistenz eines Gegenstandes mit bestimmten Eigenschaften Widersprüche folgen, auf die Existenz eines Gegenstandes mit diesen Eigenschaften zu schließen. Für die intuitionistische L. gilt auch nicht, dass Implikation und Negation, Konjunktion und Negation sowie Alternative und Negation funktional vollständige Systeme vom Aussagenverbindungen bilden.

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Zu den Unterschieden im Vergleich zur klassischen L. gehört weiter, dass intuitionistisch eine Alternative nur dann bewiesen werden kann, wenn mindestens eines der Alternativglieder bewiesen werden kann. Zwischen intuitionistischer und klassischer L. gibt es eine Reihe bemerkenswerter Beziehungen: . Die intuitionistische L. bildet ein echtes Teilsystem der klassischen L.: Alle intuitionistisch beweisbaren Ausdrücke sind klassisch allgemeingültig (aber nicht umgekehrt). . Wenn man zum Heytingschen System das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten oder das Gesetz der Beseitigung der doppelten Negation als Axiom hinzufügt, entsteht ein adäquates System der klassischen Aussagen-L. . Das intuitionistische Teilsystem Negation, Konjunktion bildet ein vollständiges System der klassischen Aussagen-L., d. h., alle klassisch gültigen Ausdrücke, die neben Variablen lediglich Negation und Konjunktion enthalten, sind intuitionistisch beweisbar. 11 . Eine Formel A ist klassisch genau dann gültig, wenn ihre doppelte Negation ∼∼A intuitionistisch beweisbar ist. 12 . Eine negierte Formel ∼A ist intuitionistisch genau dann beweisbar, wenn sie klassisch gültig ist. 13 Für die intuitionistische L. gibt es keine endlichwertigen adäquaten Semantiken 14, sondern es können nur unendlichwertige adäquate Semantiken konstruiert werden. 15 Die intuitionistische Aussagenlogik ist trotzdem entscheidbar, d. h., es gibt Verfahren, mit denen nach berechenbar vielen Abarbeitungsschritten entschieden werden kann, ob eine aussagenlogische Formel intuitionistisch beweisbar ist oder nicht. 16 Ein wichtiges Resultat zum Verhältnis von klassischer und intuitionistischer L. fand Kurt Gödel. Während nach dem ursprünglichen Anspruch der intuitionistischen L. die klassische L. logisch nicht gültige Formeln als Gesetze annimmt und deshalb eingeschränkt werden muss, fand Gödel 17, dass sich die intuitionistische L. auch als Erweiterung des klassischen Aussagenkalküls darstellen lässt, indem zum klassischen Aussagenkalkül ein nichtklassischer einstelliger Operator B (›beweisbar‹) hinzugefügt wird. Weiter wird der klassische Aussagenkalkül ergänzt durch die zusätzlichen Axiome ` Bp ⊃ p, ` Bp ⊃ (B(p ⊃ q) ⊃ Bq), ` Bp ⊃ BBp

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und die Schlussregel Wenn ` A, so ` BA (Gödel-Regel). Damit gilt: Eine Formel ist intuitionistisch beweisbar, wenn eine bestimmte Übersetzung dieser Formel in diesem erweiterten System der klassischen Aussagen-L. beweisbar ist. Eine besondere Variante der intuitionistischen L. ist die konstruktivistische L., in der mit der schwachen und der starken Negation zwei unterschiedliche Negationsformen eingeführt werden. Dadurch wird es möglich, die mit der intuitionistischen L. verbundenen logischen Grundpositionen präziser und differenzierter auszudrücken. 18 Das Interesse an der intuitionistischen und speziell der konstruktivistischen L. wurde unter Anwendungsaspekten durch den Aufschwung der Informatik und der modernen Rechentechnik stark gefördert. 3.2.2 Mehrwertige Logik In mehrwertigen L. wird das klassische Extensionalitätsprinzip uneingeschränkt beibehalten, das Zweiwertigkeitsprinzip wird dagegen aufgegeben: Es wird angenommen, dass mehr als zwei Werte (möglicherweise sogar unendlich viele) als Bedeutungen für Aussagen auftreten können. In diesem Sinne verliert das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten in einer mehrwertigen L. seine Gültigkeit. In einem verallgemeinerten Sinne bleibt es aber für n -wertige L. als Gesetz vom ausgeschlossenen (n + 1)-ten Wert gültig. Die ersten ausgereiften Systeme mehrwertiger L. wurden  von Jan Łukasiewicz 19 (–) und  von Emil Post 20 (–) vorgestellt. Łukasiewicz hat in seiner dreiwertigen L. dem zwischen den Werten 1 (wahr) und 0 (falsch) liegenden Wert ½ als möglich eingeführt und ihm damit eine modale Interpretation gegeben. Für diese nicht-aristotelische L. wurden von Łukasiewicz Negation (∼), Implikation (→) und Äquivalenz (↔) folgendermaßen eingeführt: A

∼A



 ½ 

 ½ 

 ½ 

   

½ ½  

  ½ 



 ½ 

  ½ 

½ ½  ½

  ½ 

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Alternative und Konjunktion werden definitorisch eingeführt: A ∨ B =df (A → B) → B und

A ∧ B =df ∼(∼A ∨ ∼B) Die Modaloperatoren N (›Es ist notwendig, dass . . . ‹) und M (›Es

ist möglich, dass . . . ‹) werden von Łukasiewicz 21 folgendermaßen eingeführt: A

NA

MA

 ½ 

  

  

Damit ergeben sich folgende Äquivalenzen: NA ↔ ∼(A → ∼A) und MA ↔ (∼A → A) Eine semantisch adäquate Axiomatisierung für diese L. wurde  von Mordchaj Wajsberg 22 ( – vor Mai ) geliefert. Die Verallgemeinerung seiner dreiwertigen L. zu einer unendlichwertigen L. wurde von Łukasiewicz als Wahrscheinlichkeits-L. interpretiert. Zu den mehrwertigen L. gehören auch die sog. mehrdimensionalen L., in denen Werte als geordnete Mengen von Werten eingeführt werden. Für ein solches durch Wertepaare mit 1 und 0 bestimmtes vierwertiges System hat Łukasiewicz  eine modallogische Interpretation angegeben. Derartige mehrdimensionale L., wie auch Systeme mit Wahrheitswertlücken, fanden auch zur Analyse der Präsuppositionstheorie Anwendung. Wichtige innerlogische Anwendungen findet die mehrwertiger L. beim Führen von Unabhängigkeitsbeweisen, mit denen gezeigt wird, dass eine gegebene Formel (häufig ein Axiom) nicht aus einer bestimmten Formelmenge beweisbar ist. Für die Informatik und die moderne Steuerungstechnik sehr bedeutsame Anwendungen findet die mehrwertige L. auf dem Gebiet der sog. Fuzzy Logic 23 (L. unscharfer Begriffe). Die Fuzzy Logic ist auf die Formalisierung unscharfer Mengen und Prädikate gerichtet, die dadurch charakterisiert sind, dass nicht für jeden Gegenstand eindeutig festgelegt ist, ob dieser Gegenstand die durch das Prädikat ausgedrückte Eigenschaft hat oder ob er diese Eigenschaft nicht hat.

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3.2.3 Modallogik Die Modal-L. ist der Bereich der modernen L., in dem neben dem Wahrheitsprädikat als logischem Grundprädikat und darauf bezogenen Wahrheitsfunktionen und Folgerungsbegriffen die logischen Eigenschaften von Prädikaten und Operatoren untersucht werden, die sich auf die Art des Zukommens oder Zuschreibens des Wahrheitsprädikats zu Aussagen beziehen. Viele (wenn auch nicht alle) dieser Modaloperatoren sind allerdings intensional in dem von Carnap 24 eingeführten Sinne, dass logisch äquivalente Ausdrücke an beliebigen Stellen ihres Vorkommens durch einander ersetzt werden können, ohne dass sich dabei der Wert des Gesamtausdrucks ändern würde. Die Modal-L. i. e. S. ist auf die logische Analyse und den Aufbau entsprechender formalisierter Sprachen und Kalküle für die Modaloperatoren notwendig, möglich, zufällig, unmöglich gerichtet, die üblicherweise als alethische Modalitäten bezeichnet werden. Das erste System einer Modal-L. wurde  von Hugh MacColl (– ) veröffentlicht 25, der die Modaloperatoren certain, variable und impossible einführte. Certain steht dabei für notwendig, variable für zufällig und impossible für unmöglich. Der historische Bezugspunkt für die moderne Modal-L. ist allerdings nicht die Modaltheorie MacColls geworden, sondern die moderne Entwicklungsetappe der Modal-L. versteht sich als in der Tradition der modallogischen Systeme von C. I. Lewis (–) stehend. 26 Die Hauptschwierigkeit in der Behandlung der modallogischen Systeme von Lewis, die ursprünglich lediglich syntaktisch bestimmt worden waren, und der modernen Modal-L. überhaupt lag dabei im Fehlen befriedigender semantischer Explikationen der Modalitäten. Hier wurde erst in den er/er Jahren v. a. durch die Arbeiten S. A. Kripkes ein Durchbruch erzielt. Kripke lieferte mit seinen relationalen modallogischen Semantiken erstmals Raum für eine adäquate semantische Behandlung differenzierter syntaktischer Modalsysteme. In diesen Semantiken wird ein Satz als notwendig in einer bestimmten Welt bestimmt, wenn er in jeder Welt, die bezüglich der gegebenen Welt möglich ist (von dieser erreichbar ist) wahr ist. Neben den alethischen Modalitäten traten nach dem Zweiten Weltkrieg weitere philosophisch interessante Modalitäten ins Zentrum

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logischen Interesses. Zu nennen sind hier insbes. die epistemische L., die deontische L., Raum-Zeit-L. und die Kausal-L. 3.3 Nichtklassische Implikationen und Folgebeziehungen Viele Ansätze zu nichtklassischen L.konzeptionen sind mit einer Kritik an der Gültigkeit sog. Paradoxien der klassischen (oder materialen, philonischen) Implikation verbunden. In dieser Kritik werden Implikation und Folgebeziehung häufig identifiziert und es ist deshalb durchaus angemessen, statt von Paradoxien der materialen Implikation von Paradoxien der klassischen Folgebeziehung zu sprechen: P. p ⊃ (q ⊃ p) (Eine wahre Aussage wird von einer beliebigen Aussage impliziert.) P. p ⊃ (∼p ⊃ p) (Wenn p wahr ist, so gilt, p ist wahr, wenn p falsch ist.) P. ∼p ⊃ (p ⊃ q) (Eine falsche Aussage impliziert jede beliebige Aussage.) P. p ∧ ∼p ⊃ q (Aus Widersprüchen folgt jede beliebige Aussage.) P. q ⊃ p ∨ ∼p (Logische Gesetze folgen aus beliebigen Aussagen.) Attacken auf die Gültigkeit bzw. Ungültigkeit derartiger Formeln sind keine Erfindung moderner nichtklassischer L.konzeptionen. Einen besonderen Höhepunkt hatte diese Diskussion bereits im Mittelalter. In der modernen Entwicklungsphase der L. spielen die genannten Paradoxien sogar eine systemstiftende Rolle. Noch vor der Lewisschen 27 Kritik an den Paradoxien der materialen Implikation P. (p ⊃ (q ⊃ p)) und P. (p ⊃ (∼p ⊃ q)) und den entsprechenden modallogischen Systemen der strikten Implikation ging Hugh MacColl ganz analoge Wege, indem er die von ihm noch vor Frege dargestellte Aussagen-L. durch eine Implikation ergänzt, die als notwendige klassische Implikation definiert wird: ›A impliziert (strikt) B ‹ ( A → B ) wird modallogisch als ›Es ist notwendig, dass A (klassisch) B impliziert‹ eingeführt. 28 Tatsächlich gelten dann für die strikte Implikation sowohl bei MacColl als auch in den Systemen von Lewis weder p → (q → p) noch ∼p → (p → q). MacColl macht allerdings auch auf die Gültigkeit der modallogischen Varianten der

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Paradoxien P. p ∧ ∼p → q und P. q → p ∨ ∼p aufmerksam, die als Paradoxien der strikten Implikation Angriffsziel relevanzlogischer und parakonsistenter L.ansätze sind. Parakonsistente L. stellen sich einer Schwierigkeit, die mit der Anwendung der klassischen Folgebeziehung auf widersprüchliche Satzmengen verbunden ist, aus denen klassisch jeder beliebige Satz folgt: p, ∼p  q. Auf der klassischen L. aufbauende Theorien, haben demnach die Eigenschaft, dass bei Vorliegen eines lokalen Widerspruchs die Theorie absolut widersprüchlich wird und damit jegliche Aussagekraft verliert, da in ihr dann jeder beliebige Satz gültig ist. In parakonsistenten L. gilt das gerade nicht: Auch beim Schließen aus widersprüchlichen Prämissenmengen können nicht beliebige Sätze abgeleitet werden und die Theorie behält inhaltliche Aussagekraft. Relevante L. behandeln die Problematik des Schließens aus widersprüchlichen Prämissenmengen im Rahmen der allgemeineren Problemstellung, solche Schlüsse auszuzeichnen, deren Prämissen und Schlussfolgerungen in bestimmten Relevanzbeziehungen zueinander stehen, die nicht schon durch spezifische Eigenschaften der Prämissen unabhängig von den Eigenschaften der Konklusion (oder umgekehrt) erfüllt sind. Dabei unterscheiden sich einzelne Richtungen der relevanten L. durch verschiedenartige Relevanzkriterien, und die daraus resultierenden Einschränkungen, die der klassischen L. auferlegt werden. In dem auf dem Relevanzsystem E von Anderson/Belnap basierenden System der Tautologischen Folgerungen (tautological entailments) 29 werden diejenigen klassisch gültigen Folgeziehungen als nicht relevant ausgeschlossen, deren Gültigkeit auf den klassischen Voraussetzungen beruht, dass eine Aussage und ihre Negation nicht beide wahr sein können und eines von beiden wahr sein muss. Damit sind all die klassischen Folgebeziehungen ausgeschlossen, die deshalb gültig sind, weil die Konjunktion der Prämissen nicht erfüllbar ist oder die Konklusion allgemeingültig ist. Als nicht relevant wird aber auch die Beseitigungsregel für die Alternative (der sog. disjunktive Syllogismus) ausgeschlossen: Es gilt nicht ∼p ∧ (p ∨ q) → q, denn bei der Begründung dieses Schlusses wird das klassische Prinzip benutzt, dass ∼p und p nicht zugleich wahr sein können und deshalb nicht beide als Voraussetzungen eines Schlusses auftreten können.

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Eine relevante Folgebeziehung anderer Art wird in den Systemen der strengen logischen Folgebeziehung von Alexander Sinowjew und der analytischen Implikation von Parry expliziert. 30 In diesen Systemen wird ein Sinnzusammenhang zwischen Prämissen und Konklusion gefordert, der so bestimmt ist, dass in den Konklusionen außer logischen Operatoren nur solches begriffliche Material vorkommen darf, das bereits in den Prämissen vorkommt. In den Konklusionen wird also der Rahmen dessen, wovon die Prämissen handeln, nicht überschritten. Formal drückt sich diese Relevanzforderung in der folgenden Variablenbedingung aus: In den Konklusionen kommen nur solche Aussagenvariablen vor, die auch in den Prämissen vorkommen. Eine strenge Folgebeziehung A ` B liegt im System von Sinowjew genau dann vor, wenn B aus A klassisch folgt und B nur solche Aussagenvariablen enthält, die auch in A vorkommen. 31 Durch das System der Tautologischen Folgerungen wird eine abgeschwächte Variablenbedingung erfüllt: Wenn A → B eine gültige Tautologische Folgerung ist, so gibt es mindestens eine Aussagenvariable, die sowohl in A als auch in B vorkommt (variable sharing condition). In abgeschwächter Form gilt diese Variablenbedingung auch für die klassische Folgebeziehung: Sie gilt klassisch dann, wenn die Konjunktion der Prämissen erfüllbar ist und die Konklusion nicht allgemeingültig ist. Die bisher dargestellten nichtklassischen Implikationen bzw. Folgebeziehungen waren dadurch gekennzeichnet, dass sie den Rahmen der klassisch gültigen Folgebeziehungen nicht überschritten, sondern durch das Verwerfen bestimmter klassisch gültiger Folgebeziehungen zu Systemen führten, die echte Teilsysteme der klassischen Aussagen-L. sind, in denen nur solche Ausdrücke und Folgebeziehungen gelten, die auch klassisch gültig sind. Im Gegensatz dazu werden in der Konnexen L. Forderungen an die Implikation bzw. die Folgebeziehung gestellt, die durch die klassische L. nicht erfüllt werden. Im wesentlichen laufen diese Forderungen darauf hinaus, dass man konnex aus gleichen Prämissen nicht auf widersprüchliche Konklusionen schließen kann und deshalb in einer konnexen L. die Chryssipus (K, auch BoethiusThese genannt) bzw. Aristoteles (K, K) zugeschriebenen Prinzipien gültig sein müssen:

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K. (p → q) → ∼(p → ∼q) K. ∼(∼p → p) K. ∼(p → ∼p) Beim Aufbau entsprechender Systeme der konnexen L. werden wir zugleich mit einer Ausnahmestellung der klassischen Aussagen-L. konfrontiert: Da die klassische Aussagen-L. syntaktisch absolut vollständig ist, wird jede Erweiterung eines Systems der klassischen Aussagen-L. durch Axiome, die klassisch nicht gültig sind, widersprüchlich sein. Das Hinausgehen über die Grenzen der klassischen Aussagen-L. muss also damit verbunden werden, diese Grenzen auch zu unterschreiten, d. h. das System einer konnexen L. muss so gestaltet sein, dass klassisch gültige Prinzipien verworfen werden. 3.3.1 Weitere Perspektiven Die gegenwärtige Entwicklung der nichtklassischen L. ist durch die enge Verbindung zur Philosophie, zur Linguistik und zu Anwendungen auf den Gebieten der Informatik und der Künstlichen Intelligenz bestimmt. Dadurch werden bereits entwickelte Gebiete der nichtklassischen L. (insbes. die Modal-L., epistemische L., deontische L., parakonsistente und relevante L., Frage-L.) weiter differenziert und es entstehen neue Forschungsrichtungen. Direkt auf Entwicklungen in der Informatik ist die dynamische L. bezogen, die auch als algorithmische L. oder L. der Computer-Programmierung bezeichnet wird und zu deren Anwendungsgebieten u. a. gehört, die formal-logischen Grundlagen für die Prüfung der Korrektheit von Programmen (die Programmverifikation) zu entwickeln. Als besonders perspektivenreich für Anwendungen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz erweist sich die Beschäftigung mit sog. nichtmonotonen L., die u. a. auf Formalisierung von dynamisch sich verändernden Wissenssituationen gerichtet sind, in denen eine Erweiterung der Wissensbasis dazu führen kann, dass ursprünglich akzeptierte Schlussfolgerungen verworfen werden müssen. Ackermann, W., , Begründung der strengen Implikation. In: The J. of Symbolic Logic, vol. . – Agazzi, E. (Hrsg.), , Modern Logic – A Survey. Historical, Philosophical and Mathematical Aspects of Modern Logic and Its Applications, Dordrecht/Boston/London. – Ajdukiewicz, K., , Pragmatic Logic,

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1 Vgl.

Peckhaus ,  ff. – 2 Frege , . – 3 Vgl. Gabriel/Kambartel/Thiel ,  f. – 4 Gödel . – 5 Frege ,  f. – 6 Łukasiewicz/Tarski . – 7 Vgl. Church . – 8 Church . – 9 Vgl. Brouwer . – 10 Heyting . – 11 Gödel b. – 12 Glivenko . – 13 Glivenko . – 14 Gödel . – 15 Jaskowski . – 16 Gentzen , Lorenzen . – 17 Gödel . – 18 Vgl. Markov , Rautenberg . – 19 Łukasiewicz . – 20 Post . – 21 Łukasiewicz . – 22 Wajsberg . – 23 Gottwald . – 24 Carnap . – 25 MacColl . – 26 Lewis . – 27 Lewis . – 28 MacColl . – 29 Anderson/Belnap  und Anderson/Belnap/Dunn . – 30 Vgl. Parry , Parry , Dunn . – 31 Vgl. Sinowjew , Sinowjew/Wessel , Wessel , Stelzner , Weingartner/Schurz , Weingartner , Schurz  und Orlowska/Weingartner .

Werner Stelzner

Metaphysik / Metaphysikkritik

1 Zu den Begriffen. Die unter dem Titel ›Metaphysik‹ (M.) bekannten Bücher des Aristoteles erhielten ihren Namen wohl durch Andronikos von Rhodos ca.  Jahre v. u. Z. Die entsprechenden Werke zur ›Ersten Philosophie‹ (lat.: prima philosophia, griech.: prote philosophia) waren die hinter die Physik geordneten: ›ta meta ta physika‹. Die später gerade auch bei Thomas von Aquin noch unter beiden Titeln behandelten Themen der M. sind bis heute so heterogen wie die Texte des Aristoteles und umfassen philosophische Fragen zur Ontologie, Logik, Semantik und Sprachphilosophie ebenso wie zur Kosmologie und zu einer kosmologischen oder ontologischen Begründung von Theologie. Die Metaphysikkritik (MK) der Neuzeit richtet sich zunächst vorzugsweise gegen ›transzendente‹, d. h. überschwängliche, über- oder hinterweltliche Lehren in der M., etwa auch gegen einen unverstandenen Mentalismus oder theologische Unsterblichkeitsthesen, wie sie insbes. aufgrund traditioneller Lektüren von Platons Phaidon mit einem Ideenplatonismus (Idee) verbunden sind. 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte . Nicht erst der Aquinate hatte aus dem Namen ›Meta-Physik‹ auf eine Lehre über Dinge jenseits der Physik geschlossen. Es ist aber insbes. auch im Blick auf neuere Verwendungen sinnvoll, zwischen M. im Sinne von transzendenter M. und M. in einem allgemeineren Sinn (auch verbal) zu unterscheiden. Denn erst dann wird es möglich, eine kritische M. einer transzendenten M. und eine begriffsreflexive Ontologie einem ontischen, verdinglichenden Seinsverständnis entgegenzusetzen, wie dies von Kant bis Heidegger üblich geworden ist. Dabei rührt der schlechte Rufe der M. (i) aus der Vermutung der beiden Lesarten, (ii) daher, dass aus unglücklich artikulierten oder oberflächlich aufgefassten philosophischen Reflexionen oder Überlegungen zur (wissenschaftlichen) Sprache und zu Prinzipien wissenschaftlicher Erklärungen immer auch ein transzendenter Glaube an ein Reich ewiger Ideen resultieren kann, (iii) aus einem Missbrauch der Wörter

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›metaphysisch‹ und ›philosophisch‹ im . und . Jh., etwa in der Tradition Schopenhauers, in welchem der Eindruck erweckt wird, als seien metaphysische oder philosophische Fragen grundsätzlich von ganz anderem Typ als sprach- oder darstellungstechnische Fragen oder Fragen nach der Methode unseres Wissenserwerbs. Die Zweideutigkeit zeigt sich schon in der M. des Aristoteles, nicht erst in ihrer Rezeption. Denn die dort diskutierten älteren Lehren über die archai, Anfänge, schwanken thematisch zwischen der Frage nach dem Anfang der Welt und den Prinzipien des Weltwissens. 1 Daher werden diese Anfänge auch von Aristoteles und seinen Lesern oft vorzugsweise ontisch, als Behauptungen über den Ursprung der Welt, und nicht methodologisch gelesen, obwohl schon in Platons Phaidon die Möglichkeit der doppelten Lesart durchscheint. Sokrates kritisiert dort nämlich die Annahme eines von Anaxagoras in die Objekte des Wissens, also in die Welt selbst, verlegten nous, als sei dieser eine irgendwie energetisch wirkende Vernunft der Welt jenseits unserer Vernunft. 2 . Die Uneinheitlichkeit der Überlegungen zu den archai liegt also nicht nur an der offenbar ›unfertigen‹ Verfassung der Bücher der Metaphysik, sondern an der Vielfalt der Themen selbst: Kritische Berichte über die Lehren früherer Theoretiker und semantische Passagen, die der Disambiguierung mehrdeutiger Kern-Wörter (z. B. des Wortes ›Gegenstand‹ bzw. des Gräzismus ›Seiendes‹ 3) und der Schaffung klarerer terminologischer Unterscheidungen dienen, stehen neben wissenschaftsmethodologischen Kritiken etwa an einer Überschätzung der Leistung von Mathematisierungen 4 oder an einer Unterschätzung der Erfahrung. 5 Es gibt Passagen zu den Grundprinzipien der Logik und des logischen Schließens wie etwa zum Prinzip des tertium non datur und der reductio ad absurdum und Überlegungen zur axiomatischen Methode (Axiomatik), also zum Beginn des Schließens mit ersten, hoffentlich wahren und gewissen Sätzen. 6 Daneben stehen Berichte, Kritiken und Verteidigungen von Theorien über erste kausale Anfänge und Prinzipien, also auch kosmologische archai. Schon die Entwürfe von Urstofflehren von Thales bis Empedokles und Demokrit sind dabei teils als ontische Spekulationen, teils als methodologische Vorschläge zu einem Projekt der architektonischen Organisation theoretisch gefassten Erfahrungswissens zu verstehen. Insbes. gehört zur M.

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im Sinne des Aristoteles als erster Anfang der ›theoretischen Grundeinsicht‹ und damit als philosophische Grundlage der Wissenschaft die später ›ontologisch‹ genannte Frage nach dem Begriff des Gegenstandes in verschiedenen Rede- und Wissensbereichen. Es handelt sich um die logisch-semantische Frage nach dem ›Seienden als Seienden‹ 7 im Rahmen einer ›Logik des Gegenstandes‹. Diese ist formale Ontologie einer ›metaphysica generalis‹, wie sie später heißen wird. Hinzu kommen Untersuchungen zu einer Bereichsontologie oder ›metaphysica specialis‹. Es geht um die Erklärung der begrifflichen Verfassung oder Konstitution von Gegenstandsbereichen im Allgemeinen und im Besonderen. . Transzendente Gegenstände wie Gott oder die Seele, oder dann auch ein ontisch unterstelltes wirkmächtiges teleologisches Prinzip wie das Streben jedes Gegenstandes nach seinem natürlichen Ort und Ziel 8 kommen ins Spiel, wenn Formen der Darstellung und reflektierende Reden über solche Formen, etwa schon bei Platon in der Ideenlehre, reifiziert oder verdinglicht werden. Aus der Frage nach dem ersten Ursprung der mechanischen Bewegung von materiellen Dingen entsteht z. B. auf bekannte Art der ›Beweis‹ eines Gottes als eines kosmologischen ›ersten unbewegten Bewegers‹. 9 Aber auch Beobachtungen scheinen ›metaphysische‹ Grundsätze zu bestätigen, wie z. B. den, dass alle ›schweren Körper‹ nach unten fallen, alle ›leichten Gase‹ nach oben steigen, eben an ihre ›natürlichen Orte‹. Wenn Körper bewegt sind, haben sie, so scheint es, ebenfalls die ›natürliche‹ Tendenz, in einen Ruhezustand überzugehen. Erklärt werden muss dann immer nur, warum die ›natürliche Bewegung‹ im besonderen Fall nicht stattfindet, warum sie aufgehalten wird, wie z. B. ein Stein durch meine Hand. Auch wenn Augustinus in einem offenbar ganz anderen Kontext von unseren unruhigen Herzen sagt, dass sie Ruhe in Gott suchen, denkt er und denken viele Nachfolger durch und durch kosmoteleologisch und damit aristotelisch. . Die Entwicklung des christlichen Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele und an einen kosmologisch allmächtigen, epistemologisch allwissenden und ethisch allguten Gott kann oder sollte durchaus als eine Art Nebenprodukt der großen Idee der Pythagoreer, Eleaten, Platons und dann auch des Aristoteles angesehen werden, ein möglichst

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verlässliches, in Bezug auf die beschränkte Zeit- und Ortsperspektive der einzelnen Personen invariantes Wissen anzustreben. Ziel ist insgesamt die Verbesserung der Kompetenz zur Führung eines ›guten Lebens‹ in der praxis und polis, in einer kooperativen Gemeinschaft von Menschen. Dabei liegt in der Idee dieser Gemeinschaft schon von Anfang an eine Tendenz der Ausweitung zu einer zunächst übergeschichtlichen, verschiedene Generationen umgreifenden, dann insbes. auch überregionalen Menschheit. Die einzelne Person, die am Projekt einer durch theoretische Argumentation und Wissenschaft gestützten Formung von Praxis teilnimmt, stellt sich am Ende in diesen entgrenzten Rahmen. . Es führt dann insbes. die ontische Reifizierung der metaphorischen Mythen Platons, die seine Rede über die menschliche psyche im Rahmen der Verteidigung der sokratischen Sorge für die eigene Person erläutern sollen, zum Glauben an eine unsterbliche Seele. Dabei ist durchaus nicht klar und wird wohl nie entscheidbar sein, ob für Platon selbst oder nur für spätere Anhänger und Leser die Diagnose der Ontifizierung zutrifft. Der Mythos der Seelenwanderung und Wiedererinnerung 10, der zur Erläuterung der Fähigkeit der unmittelbaren Einsicht in allgemeine Formeigenschaften dient, aber auch zur Erläuterung der Rolle des intersubjektiven Gedächtnisses, wird, wenn er wörtlich genommen wird, jedenfalls zum Argument für die ›wirklich‹ ewige Existenz der Seele. Platons Deutung der Seele als lebendige Wirkkraft scheint es außerdem aus begrifflichen Gründen zu verbieten, dass diese als ewige Energie ›stirbt‹. 11 Platons Fegefeuermythos 12 zur Erläuterung der ethischen Bewertung einer Person im Ganzen, im Rückblick nach ihrem Tod, wird Bestandteil der christlichen Tradition. Platons Bild von einem Gott als einem Weltarchitekten 13 wird ebenfalls verchristlicht. Es diente zunächst ganz offenbar nur der Erläuterung der Methode der Rekonstruktion von Grundstrukturen der Welt, als wären diese göttliche Blaupausen zur Herstellung eines schön geordneten kosmos. Ab der (frühen) Neuzeit wird das Bild wieder dort gebraucht, wo es hingehört, nämlich in wissenschaftsphilosophischen Rekonstruktionen. Das gilt schon für den platonischen Gedanke oder Glauben an einen von Gott wohl geordneten Kosmos bei Kopernikus oder Kepler, aber dann auch für methodologische

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Reflexionen bei Descartes oder Leibniz, bis hin zur Aussage Einsteins, Gott würfle nicht. . Thema der in der griech. Antike projektierten Philosophie und Wissenschaft ist am Ende die gesamte Welt. Paradigma ist zunächst das mathematische Wissen unter Einschluss seiner Anwendbarkeit zur Darstellung der Bewegungsformen der Planeten, musikalischer Harmonien, architektonischer oder dann auch militärstrategischer Planungen und so fort. Das zunächst durchaus auch als handlungsleitende Norm zu verstehende Ideal absoluten Wissens führt zum Ideal absoluter Wahrheit. Die Personifizierung einer möglichen Person, der – wohl schon bei Parmenides und Platon kontrafaktisch – ein absolutes Wissen zugeschrieben wird, führt durch Reifizierung zur Vorstellung eines ›wirklichen‹ Gottes. Dieser Gott verschmilzt schon im Hellenismus (etwa in der Unsterblichkeitslehre des Pharisäismus), dann aber besonders bei Paulus und Augustinus gewissermaßen systematisch mit dem jüdischen Gott. Es ist also kein Zufall, wenn man in der christlichen Theologie gerade auch der Scholastik die antike griech. Philosophie weiterhin nach dem Muster des Augustinus interpretiert, nämlich als Vorläufer und als partielle Unterstützung der eigenen christlich-theologischen Position. Es ist ebenfalls kein Zufall, dass von der Renaissance bis heute die Auseinandersetzung sowohl um die Idee autonomer Wissenschaft als auch um die Idee der Wahrheit bzw. des absoluten Wissens immer zugleich auch Auseinandersetzung mit der Antike und dem Christentum ist. Es geht insgesamt um das rechte, in rechter Weise ›säkularisierte‹ Verständnis eines kulturellen Erbes, und daher um das Anliegen der M. und um MK zugleich. 3 Metaphysikkritik im Empirismus und in der Transzendentalphilosophie . Schon bei Hume, nicht etwa erst in Wittgensteins Tractatus oder in der nachfolgenden Analytischen Philosophie, gibt es dazu das radikale Programm, jeden metaphysischen Glauben an die ungeklärte Existenz von nichtempirischen Gegenständen und Wahrheiten durch Sinnkriterien auszusondern. Was aus definitorischer Festsetzung folgt, sind ›harmlose‹, rein tautologische Wahrheiten. Als ›metaphysisch‹ (bzw. ›transzendent›) kritisiert wird dagegen jeder Glaube an nicht

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bloß tautologische (begriffliche oder formalanalytische) und doch auch nichtempirisch kontrollierbare Aussagen, die als solche, so scheint es, immer über angeblich existente (platonistische) Hinterwelten völlig unkontrollierbare und schon daher sinnleere Behauptungen aufstellen. Um diese sollten wir uns, wenn wir vernünftig sind, nicht weiter kümmern. Die entsprechende Bücher gehörten daher, wie Hume selbstsicher und drastisch erklärt, ins Feuer. 14 . Nicht erstaunlich ist daher, dass bei Anhängern Humes Kants Ausgangsthese als metaphysikverdächtig erscheint, es seien neben den empirisch durch Beobachtung und Experiment zu kontrollierenden Aussagen und neben formalanalytischen Tautologien auch synthetischapriorische Aussagen als sinnvoll anzuerkennen. Besonders in der angelsächsischen Philosophie vermutet man nicht zuletzt aufgrund von Übersetzungsproblemen (die nie vermeidbar sind, aber gewisse Lesarten präjudizieren) einen Rückfall Kants in eine transzendente M. Der Verdacht findet scheinbare Bestätigung in Kants Rehabilitation des Wortes ›M.‹ und dann auch in der weiteren, scheinbaren oder wirklichen, Rehabilitation des Gottesglaubens im Rahmen der Praktischer Philosophie. Mit Kant in ein Boot gesetzt werden dann verständlicherweise auch seine Nachfolger im Deutschen Idealismus. Das Programm einer MK bei Kant, Fichte oder Hegel wird nur als partielle Kritik verstanden und als nicht hinreichend radikal eingeschätzt, wobei manche Leser einen ›Rückfall‹ Hegels hinter Kant ausmachen zu können glauben. . Diese Einschätzungen gehen allerdings von dem Vor-Urteil aus, dass Humes Klassifikation der sinnvollen Sätze und Aussagen in empirische und tautologische ausreiche. Die Gegenthese ist, dass in der Hume-Tradition die interessanteste ›Restklasse‹ von Aussagen nicht angemessen behandelt werde. Es handelt sich um Aussagen und Folgerungen, die sich nicht einfach aus Worterklärungen oder Definitionen ergeben. Es handelt sich um ›synthetische‹ Aussagen, die nicht einfach empirisch kontrollierbar sind und doch für die jeweiligen Wissensund Gegenstandsbereiche ›konstitutive‹ Grundaussagen artikulieren. Beispiele für Kant sind Sätze über Raumverhältnisse und das Prinzip der Stetigkeit von Dingbewegungen, wie sie ideal artikuliert werden

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in einer mathematischen Geometrie und Kinematik. Dabei spielt es für Kants Grundeinsicht übrigens keine Rolle, ob die mathematische Geometrie ›euklidisch‹ verfasst ist oder nicht. Zeitbedingt geht er freilich von der Euklidizität aus. Hier wird die spätere Diskussion anachronistisch, baut zumindest auf eine einseitige Lesart, indem sie synthetisch-apriorische Wahrheiten, noch dazu so ideale wie in der Geometrie, als alternativlose Voraussetzungen jeder Erfahrung und damit jeder Erfahrungswissenschaft ansieht, und nicht als transzendentale Präsuppositionen einer in besonderer Weise verfassten Wissenschaft wie der Newtonschen Mechanik. Kant stellt sich gegen Hume nur insofern, als bei diesem mit der Identifizierung von transzendenter und kritischer M. die klassischen Fragen nach der Konstitution von bestimmten Wissens- und Gegenstandsbereichen und dabei insbes. die Frage nach der Verfassung der Identifikationen (Identifizierung/Unterscheidung) eines physischen Dings als Ding aus der Betrachtung herausfällt. Damit verfehlt Hume nach Kant den begrifflichen Rahmen und die Prinzipien des artikulierbaren Erfahrungswissens mit objektiven Anspruch überhaupt, der physikalischen Kinematik und Dynamik im Besonderen. . Kants Frage, wie eine wissenschaftliche, philosophische M. nach Hume noch möglich sei 15, ist damit klar zu unterscheiden von seiner ebenfalls radikalen Kritik in der transzendentalen Dialektik an jeder (transzendenten) M. Dabei ist seine transzendentale Analytik der Frage nach dem Ding als Ding gewidmet und d. h. nach der präsuppositionslogischen Verfassung unserer Rede über Dinge und unserer Identifizierungspraxis von Dingen in der Erfahrung. Sie ist als solche durchaus als M. im Sinn der Ontologie des Aristoteles zu verstehen. Dass Kant dies selbst so sieht, zeigt sich schon in Buchtiteln wie Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften oder (Grundlegung zur) Metaphysik der Sitten. Dabei spricht Kant, konkreter, von einer ›metaphysischen Erörterung‹, wenn es um eine Erläuterung interner, formeller Geltungskriterien (Geltung) für synthetisch-apriorische Aussagen – z. B. die der Geometrie – geht. Eine transzendentale Erörterung dagegen analysiert den angemessenen funktionalen Gebrauch dieser (begrifflichen oder synthetisch-apriorischen) Aussagen in Bezug auf die durch sie verfassten

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Erfahrungs- und Urteilsbereiche. Nur in diesem Bezug und in dieser Funktion, das ist die kritizistische, antimetaphysische Grundthese Kants, haben die synthetisch-apriorischen Aussagen Sinn und Bedeutsamkeit. Sie sagen also weder etwas über angebliche oder wirkliche mentale Fakten, noch etwas über eine Welt jenseits der Phänomene aus. Die Rede von einem bloßen Noumenon, einem reinen Denkgegenstand oder ›Ding an sich‹ in einem ›mundus intelligibilis‹ dient dabei nur zur Abgrenzung von ontischen Hinterwelten, was aber leider regelmäßig nicht so verstanden wird. Es geht in Kants theoretischer Philosophie um eine immanente logische Bestimmung des Begriffs der physischen Welt, um eine M. des Dinges als Erfahrungsobjekt. . In seiner intuitiven bzw. intuitionistischen Ethik eines insgesamt utilitaristischen moral sentiments verfehlt der Empirismus ebenfalls die zugrunde liegenden Formen des ethischen Urteilens und damit der ›moralischen‹ Wissenschaften vom Menschen. So kann man Kants Kritik anHume, aber auch Rousseau, lesen. Humes MK verdient daher nur in ihrem Ziel der Ablehnung transzendenter M., aber keineswegs in ihren Mitteln und Argumentationsweisen Unterstützung. Sie führt allein schon aufgrund ihrer Analyseform zu einer allzu einfachen Vorstellung vom Begriff des Wissens, nämlich durch die Analogie zur wahrnehmenden Erkenntnis und der darauf folgenden Reaktionen von einzelnen Wesen, Individuen. Erst recht verfehlt wird das Gemeinschaftsprojekt der Wissenschaft mit ihren theoretischen Konstruktionen und Setzungen und ihren empirisch-experimentellen Kontrollverfahren. In seiner M. der Sitten geht es Kant also ebenfalls um die innerweltliche, menschengemachte Verfassung von Moral, Recht, Staat, und der entsprechenden Urteils- und Argumentationsformen, wobei der Religionsphilosophie die Aufgabe zugeschrieben wird, den ethischen Inhalt religiöser Tradition, also die funktionale Rolle religiöser Rede für die Ethik zu säkularisieren (Säkularisierung). Auch hier versucht Kant, wie später auch Hegel, eine allzu schnelle Abrechnung mit der Tradition zu vermeiden. Beide werden eben deswegen von Lesern, die nur einfache begriffliche Verhältnisse oder Lösungen anerkennen, und von einem daher auch verbreiteten on dit bis heute als Anhänger einer transzendenten M. (miss)verstanden.

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4 Heideggers existenzialanalytische Metaphysikkritik und Metaphysik . Heideggers Verdinglichungskritik und seine Kritik an der abendländischen ›Seinsvergessenheit‹ ist ebenfalls radikale MK und zugleich Fortsetzung der Tradition der Überlegungen der M. Kritisiert wird die Tendenz, reflektierende Aussagen über die condition humaine statt als appellative Erinnerungen an unsere praktischen Erfahrungen im Lebensvollzug als Behauptungen zu verstehen und damit in eine Art deskriptive anthropologische Wissenschaft zu überführen. Damit ist die – in der Tat schwer zu begreifende – ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem, z. B. zwischen dem (menschlichen) Dasein als prozessualer Lebensvollzug in seiner Grundform und den einzelnen Menschen (qua Einzel-Lebewesen) angesprochen. Zugleich wird die allgemeine logische Differenz analysiert zwischen dem, wie etwas für sich ist, und wie es von uns gegenständlich besprochen, thematisiert, oder technisch als Objekt behandelt wird. 16 Als Spezialfall der Unterscheidung ergibt sich die Differenz zwischen einer philosophischen Reflexion auf die Seinsweise des Menschen und einer teils empirischen, teils theoretisch-spekulativen Anthropologie bzw. Kognitionswissenschaft als (vermeintlich) bloß gegenständliche Wissenschaft vom Menschen, etwa als Objekt technischer Beobachtung und Intervention in der neuronalen Hirnforschung. Kritisiert wird die Tendenz, die ganze (Lebens-)Welt unter den am Ende immer technizistischen Blick der Wissenschaft und ihrer das prozessuale Wesen und performative Sein etwa des Lebens immer verdinglichenden Theorien zu zwingen. Es geht damit um die Einsicht in die Sinnbegrenzungen wissenschaftlich-technischer Darstellungs- und Erklärungsformen, über Kants Konstitutionsanalyse der Dingwelt hinaus. . Dabei handelt es sich um eine Entwicklung von Husserls Phänomenologie und dessen Kritik an den Reifizierungen der Ideale und Ideen in der abendländischen Wissenschaft. Heideggers MK kritisiert das Unbewusste und Nichtreflektierte in der Entwicklung des abendländischen wissenschaftlichen Weltbilds, besonders auch im Blick auf deren Nebenfolgen, nämlich im Bereich des theologisierten und mentalistischen Platonismus. Neben diese MK stellt Heidegger die seinem Urteil nach eigentlichen Fragen der M., nämlich die nach

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dem ›Sinn von Sein‹ im Allgemeinen, dem Sinn unserer Rede von Wahrheit im Besonderen. Die erste Frage führt zur Frage nach der Verfassung des menschlichen Daseins als Lebensvollzug (also nicht bloß nach dem Einzelwesen im Lebensvollzug). Diese will Heidegger in der Form von Existenzialien‹ analysieren, analog zu den Kategorien der Dingwelt‹. Zu nennen sind z. B. die Seinsformen Zeitlichkeit, Perspektivität aus dem Hier und Jetzt, die Sorge für meine Zukunft, also meine späteren Lebensmöglichkeiten, Leiblichkeit, Stimmungen, und das ›Mitsein‹ mit anderen. Dazu gehört insbes. die Grundstruktur des Verstehens, das mit dem schematischen Auffassen gemäß einer jeweiligen Tradition und ihres ›Man‹ (›man spricht und handelt so‹) beginnt, zu entsprechenden Selbstverständnissen führt und zur Frage nach der eigentlichen Authentizität einer Person. Die Teilnahme an Gemeinschaftsprojekten wie dem der Wissenschaft oder dann auch der Politik fällt nicht aus der Betrachtung heraus, aber Heidegger konzentriert sich auf die vernachlässigten Aspekte der Konstitution des ›subjektiven‹ oder ›individuellen‹ Daseins. Diese Gedanken werden trotz aller verbalen und politischen Differenzen gerade auch von Adorno, Marcuse oder auch Habermas weiter entwickelt. . Heideggers Interpretation von Nietzsche ist insbes. für eine Abgrenzung von einem existenzialistischen Individualismus (Existenzphilosophie) von Interesse. Heidegger unterstützt Nietzsches MK, die sich gegen jeden Hinterwelt-Platonismus und gegen halbherzige oder oberflächliche Säkularisierungen christlicher Ethik richtet, etwa im Utilitarismus oder in einer als (traditionelle) Pflichtethik (miss-)verstandenen kantischen Moralphilosophie. Abgelehnt wird Nietzsches einseitige Stellungnahme für eine zunächst radikalpositivistische und dann radikalinterpretationistische M., in welcher die subjektive Vollzugsperspektive des je einzelnen Lebens und des jeweiligen Hier und Jetzt existenzialistisch überbewertet wird. Auch Heideggers ›Thanatologie‹ ist nicht, wie man oft hört, überzogene Fokussierung auf Tod und Endlichkeit, sondern ergibt sich im Gegenteil aus einer Analyse des gesamten Bereichs der Gestimmtheiten des Daseins, des sich vollziehenden Lebens. Wichtiges Beispiel ist die ungerichtete Angst als gegenwärtigen Zustand mit bloß implizitem Bezug auf die Zukunft. Aus einer Lebensangst im Leben wird im

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Grunde erst über eine Betrachtung meines eigenen Lebens aus der von mir selbst fingierten Perspektive von mir als gedachter dritter Person nach meinem Leben eine gerichtete Todes-Furcht. Die viel besprochene ›Gewissheit‹ der Endlichkeit des Daseins und des Todes ist damit keineswegs unmittelbar, sondern verdankt sich einer ›gemischten‹ Betrachtung seiner selbst: Während die Sorge für das spätere Sein-Können unmittelbar den Lebensvollzug prägt, setzt die Sorge um sein Ende eine Selbstvergegenständlichung voraus, nicht anders als die sokratisch-christliche Sorge um je meine Seele, also um mich als Person im Ganzen, in meiner Teilnahme am Projekt der Menschheit. 5 Zur Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache . Schon von Husserl wurde Freges begriffsschriftliche Konstitutionsanalyse mathematischer Gegenstandsbereiche in ihrer Bedeutung für eine MK erkannt, die sich zugleich gegen den Platonismus und gegen einen mentalistischen Psychologismus richtet. Freges Logizismus gerät aber im Zusammenhang mit der Russellschen Antinomie in Probleme; und nicht für alle Leser ist ein Platonismusrestverdacht gegen Freges Wahrheitswertsemantik hinreichend ausgeräumt. Hilberts Programm einer rein axiomatisch-deduktiven Konstitution von Theorien und ›Strukturen‹ im Rahmen eines erweiterten Konzepts der ›impliziten Definition‹ durch Setzung von (hoffentlich konsistenten) Axiomen ist demgegenüber unverfänglicher und erscheint damit als klarere Kritik an jedem metaphysischen Platonismus. Alle deduzierbaren Aussagen einer formalaxiomatischen Theorie wie etwa der Peano-Arithmetik oder der Zermelo-Mengentheorie können jetzt als ›analytische‹ Folgerungen (i. w. S.) aus den als (holistisch-)implizite Definitionen gedeuteten Axiomen aufgefasst werden. Carnap benutzt diesen Rahmen, um auch Aussagen, die für Kant (und für Frege) aufgrund ihres engeren Definitionsbegriffs noch als nichtanalytisch galten, obwohl sie doch nicht einfach empirisch kontrollierbar sind, als analytische Aussagen (i. w. S.) zu behandeln. Aufgrund einer formallogischen Revision des Begriffs des Analytischen scheint jetzt eine Rehabilitation der MK Humes gegen Kants Kritik möglich. Die sich aus dem Wiener Kreis entwickelnde Analytische Philosophie (i. e. S.) ist die Durchführung dieses Programms der Ret-

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tung des Empirismus gegen Kant. Man behauptet dem entsprechend, neben analytischen Sätzen (i. w. S.) und einer allgemeinen oder bereichsspezifischen metastufigen Formalwissenschaft (zu denen Syntax, Logik, Mathematik, Metamathematik und die formalen Metatheorien der Einzelwissenschaften zählen), gäbe es nur noch empirische Sätze als wissenschaftlich sinnvolle Sätze. Kants Restklasse der synthetischapriorischen Sätze wird damit leer. Kants Kritik an Hume erübrigt sich damit scheinbar, wie auch die Grundfrage seiner M. nach der Möglichkeit und dem Sinn synthetisch-apriorischer Wahrheiten. Stattdessen entwickelt Carnap das Programm der Überführung von teils angeblichen, teils wirklichen Scheinaussagen (über angeblich oder wirklich transzendente Gegenstände) der M. in Aussagen über unsere Sprach- und Schlussformen. In der Tat verwirren uns viele Aussagen, die eigentlich die logische Syntax betreffen, weil wir sie so artikulieren, als wären sie Aussagen über abstrakte Gegenstände. So ist z. B. der Sinn des ›Pseudobjektsatzes‹ »2 ist eine Zahl« (im Wesentlichen) derselbe wie der des metaphysisch harmlosen Satzes »›2‹ ist ein Zahlzeichen«. 17 . Die Analytische Philosophie (i. e. S.) setzt auf diese Praxis der Reduktion von Pseudobjektsätzen auf Aussagen über unterstellte oder zu rekonstruierende implizite Definitionen in axiomatischen Systemen. Insofern ist sie in unauflöslicher Weise mit dem Formalsprachenparadigma der exakten Begriffsanalyse im Rahmen von Kalkülen verbunden, und zwar auch noch überall dort, wo in die Normalsprachenanalyse die Grundthesen der Formalanalyse auf mehr oder minder unbemerkte Weise übernommen werden. Das entsprechende Sinnkriterium besagt, dass es neben empirisch überprüfbaren Aussagen und neben den (analytischen, begrifflichen oder metalogischen) Aussagen der logischen Syntax (Carnap) oder, etwas liberaler, einer ›Philosophischen Grammatik‹ (Wittgenstein), deren ›Gegenstand‹ Regelungen im Sprach- und Folgerungssystem sind, keine sinnvollen Aussagen gibt. Dabei ist es von untergeordneter Bedeutung, ob die empirische Überprüfbarkeit vornehmlich als Falsifizierbarkeit (Falsifikation)(Popper) oder als Verifizierbarkeit (Verifikation) (Schlick) oder, jenseits der einseitigen Alternative, gemischt als pragmatische Fruchtbarkeit auftritt. Der nicht reduzierbare Rest von Aussagen jedenfalls

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wird als unsinnige, transzendente M. ausgesondert, die es weiter zu diskutieren nicht lohne. . Das Problem dieses Vorgehens besteht nicht etwa darin, dass am Nutzen der Überführung von Pseudobjektsätzen in Aussagen über ein Sprach- und Schlusssystem oder in Tautologien und analytische Kontradiktionen zu zweifeln wäre, wo immer eine entsprechende Überführung gelingt. Das Problem besteht in der Beschränktheit der Demarkationsmethode und damit in der möglicherweise zu frühen Begeisterung für die Aussicht, Kants Kritik an Hume durch Hilberts Neudefinition der Analytizität zurückweisen zu können. Denn das Problem der synthetisch-apriorischen Aussagen tritt in neuer Weise auf als Problem der Grundprinzipien einer gesamten Untersuchungsformation und Darstellungsform, die weder einfach empirisch widerlegbar oder begründbar sind, noch einfach als analytische Folgen rein konventioneller Setzungen gelten können. Der spätere Wittgenstein und dann auch Quine kritisieren bekanntlich die Vorstellung des Logischen Empirismus, es gäbe eine scharfe Demarkationslinie zwischen empirischen und tautologisch-analytischen Sätzen. Freilich ist der Bereich von ›begrifflichen‹ Aussagen, der irgendwie dazwischen liegt und damit ein Analogon zu Kants synthetischem Apriori darstellt, auf die zugehörigen Rede- und Wissensbereiche hin zu relativieren und in den Rahmen einer Theoriengeschichte zu stellen – was schon Hegel so sah und was besonders auch über Th. Kuhns Paradigmabegriff klar gemacht werden kann. Außerdem gibt es Reflexionen auf unsere Sprach- und Handlungspraxis, die mit gutem Grund von Metaphern und Analogien Gebrauch machen und damit erhebliche, nicht bloß schematische, Sprachkompetenz, Erfahrung und Urteilskraft beim Leser oder Hörer voraussetzen. Wenn Carnap sich z. B. gegen den metaphysischen Unsinn eines Satzes wie Heideggers »das Nichts nichtet« verwahrt, öffnet er, da dem Autor selbst das Unnormale, Ungrammatische, seines Satzes, der ohnehin nur die Rolle des Wortes ›nichts‹ als Verneinung kommentiert, völlig bewusst war, offene Türen. Carnaps Verdikt ähnelt damit der eher trivialen Feststellung, dass ein offensichtlich ironischer Satz nicht wörtlich zu lesen ist. Wir brauchen deswegen diese ›bildungssprachlichen‹ Form der Reflexion Sätze nicht zu mögen, zumal sie oft zu viel

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an eigenem Mit-Denken verlangen oder (und wenn auch nur nach Meinung bestimmter, wenn auch sehr vieler Leser) zu völlig freien Assoziationen Anlass geben. Zumindest so weit es möglich ist, sollte der Inhalt klar ausgedrückt werden. Die Bedingung in dieser sinnvollen Forderung sollte dabei allerdings nicht vergessen werden. D. h., manches lässt sich (zumindest zunächst) nicht einfacher sagen, ohne die Probleme allzu sehr zu vereinfachen. Weder die Wissenschaft noch die Philosophie schreibt, um es so zu sagen, nur für das Verständnis von -Jährigen. Außerdem gilt: Nur in einer sehr engen Definition des Ausdrucks ›etwas sagen‹ wie in Wittgensteins Tractatus wird es zu einer Tautologie, dass sich alles, was sich sagen lässt, auch klar sagen lässt. Es ist also keineswegs richtig, dass man, wenn man etwas nicht deutlich, d. h. in Bezug auf allgemein bekannte Bedeutungsregelungen unmissverständlich, sagen kann, besser schweigen sollte. Verbesserungen sind gerade im Bereich der Artikulation gemeinsamen Wissens und erst recht gemeinsamer Formenanalyse immer möglich – so dass im Blick auf die idealen Klarheitsnormen der Analytischen Philosophie das Bessere zum Feind des Guten, das Unerreichbare zum Feind des Erreichbaren werden kann. 6 Metaphysik in der Analytischen Philosophie Es scheint zwar so, als habe das Wort ›M.‹ in der Gegenwart keinen einheitlichen Gebrauch mehr. Aber wenn z. B. Popper von der Notwendigkeit einer M. in den Wissenschaften spricht, meint er die Notwendigkeit axiomatischer Setzungen ohne schon zureichende empirische Verifikation beim deduktiv-nomologischen Erklären und Prognostizieren. Hier würde Carnap wohl nicht von ›M.‹ sprechen – ohne deswegen Popper inhaltlich zu widersprechen. Oder wenn P. F. Strawson von seinem Programm einer deskriptiven M. spricht, geht es, thematisch und systematisch gesehen, um eine Rekonstruktion des Kantischen Ansatzes und damit auch der M. Kants in der Sprache der Analytischen Philosophie (i. w. S., also unter Einschluss von normalsprachlich und damit nicht exakt artikulierten Analysen) – soweit eben an der Transzendentalphilosophie noch etwas als haltbar befunden wird. Außerdem sprechen inzwischen manche Logiker oder manche ihrer Kritiker von einer M. oder Ontologie, wenn es um die Anerkennung einer Vorstellung wie der kumulativen Mengenhierachie als

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begründendem Standard-Modell der axiomatischen Mengentheorie geht oder um die Idee eines Reiches möglicher Welten als modellhaftem Interpretationsbereich für modallogische Aussagen. 18 Darüber hinaus gibt es eine neue M., die eine Art Glaubensphilosophie ist und jede MK hinter sich lässt, z. B. die materialistische M. David Armstrongs und anderer Neo-Materialisten. Aristoteles, , Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie, hg. v. F. Schwarz, Stuttgart. – Aristoteles, , Philosophische Schriften –, Hamburg/Darmstadt. – Armstrong, D. M., , Universals and Scientific Realism, Vol. I, Cambridge. – Armstrong, D. M., , Metaphysics and Supervenience. In: Critica . – Carnap, R., , Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis . – Carnap, R., , Scheinprobleme in der Philosophie, hg. m. Nachw. v. G. Patzig, Fft./M. – Crane, T./Farkas,K. (eds.), , Metaphysics. A Guide and Anthology, Oxford. – Heidegger, M.,  , Sein und Zeit, Tübingen. – Heidegger, M.,  , Nietzsche,  Bde., Pfullingen. – Heidegger, M.,  (), Was ist Metaphysik?, Fft./M. – Hume, D., , Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hg. v. H. Herring, Stuttgart. – Inwagen, P. v., , Metaphysics, Boulder. – Kant, I., , ATA, Berlin. – Platon, , W W, –, hg. v. G. Eigler, Darmstadt. – Laurence, S./Macdonald, C. (eds.), , Contemporary Readings in the Foundations of Metaphysics, Oxford. – Lewis, D., , On the Plurality of Worlds, Oxford/London. – Lowe, E. J., , The FourCategory Ontology: A Metaphysical Foundation for Natural Science, Oxford. – Sider, T./Hawthorne, J. et al. (eds.), , Contemporary Debates in Metaphysics, Oxford.– Wolf, U., , Warum sich die metaphysischen Fragen nicht beantworten, aber auch nicht überwinden lassen, In: Dt. Zschr. f. Philos. . 1 Vgl.

z. B. Aristoteles. Met. A, a ff. – 2 Platon, Phaidon, a ff. – 3 Vgl. z. B. Aristoteles, Met. A, b, a. – 4 Vgl. z. B. ebd., A, a,b, a. – 5 Vgl. ebd., b (ff ). – 6 Vgl. z. B. ebd., a. – 7 Vgl. z. B. ebd., b. – 8 Vgl. z. B. ebd., a, b, a, b. – 9 Vgl. z. B. ebd., b, b ff. – 10 Vgl. Platon, Menon, a-e. – 11 Vgl. dazu die Debatte in Phaidon b ff. mit d. Restzweifel in b. – 12 Vgl. Platon, Phaidon, c ff, d ff, Politeia , b ff. – 13 Platon, Timaios, c-c. – 14 Hume  (Schlussabs.), . – 15 Vgl. d. Vorw. zu Kants Prolegomena, ATA IV, –. – 16 Vgl. dazu u. zum folgenden insbes. Heidegger , §§ , –, ,  ff. – 17 Vgl. Carnap , . – 18 Vgl. z. B. Lewis ; Armstrong , .

Pirmin Stekeler-Weithofer

Naturphilosophie

1 Zum Begriff. Naturphilosophie (N.) ist derjenige philosophische Bereich, dessen Gegenstand die Natur, das Wissen von ihr und das Verhältnis des Menschen zu ihr ist. Insofern Natur in erfahrungswissenschaftlicher Hinsicht gefasst wird, können sich die Aufgaben der N. mit denen der Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspilosophie der Naturwissenschaften überschneiden. Im Unterschied zu nichtphilosophischen Disziplinen, die sich mit Natur befassen (Physik, Ökologie, Bioethik etc.), steht in der N. die Bestimmung des Naturbegriffs im Vordergrund. Das erst im . Jh. aufgekommene Wort ›N.‹ ist eine Verdeutschung von ›philosophia naturalis‹, dem seit der Antike gebräuchlichen Namen für die philosophisch-wissenschaftliche Lehre von den sinnlichwahrnehmbaren Dingen. Ursprünglich synonym mit ›Metaphysik der Natur‹ und ›Philosophie der Natur‹ wurde es gegen Anfang des . Jh. zunehmend zur Charakterisierung von spekulativen Naturauffassungen der romantischen und idealistischen Philosophie verwendet. Es wird damit noch heute oftmals gleichgesetzt und hat in dieser Bedeutung als unübersetzter Ausdruck in fremdsprachige Terminologien Eingang gefunden. Im Verlauf dieses Jh. sind vermehrt die Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Bestimmungen der Naturerkenntnis, die Thematisierung nicht naturwissenschaftlicher Naturauffassungen und die praktischen Probleme im Umgang mit der Natur zu ihren Aufgaben gerechnet worden. Durch die beschleunigte Entwicklung der naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnis auf der einen und der Umweltproblematik auf der anderen Seite erhält das bis jetzt nur vereinzelt mit Lehrstühlen vertretene Fach wachsende Bedeutung. Der Disziplinenbezeichnung entsprechen beispielsweise die Ausdrücke ›philosophy of nature‹, ›philosophie de la nature‹ und ›filosofia della natura‹. Der ebenfalls aus ›philosophia naturalis‹ hervorgegangene Ausdruck ›natural philosophy‹ meint hingegen schon in der frühen Neuzeit das mathematisch-experimentelle Verfahren der Naturwissenschaft.

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2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte Die Geschichte der N. wird üblicherweise auf den Kontext der abendländischen Philosophie beschränkt. Während der Begriff der Natur historisch in nahezu allen philosophischen Bemühungen, wenn auch in äußerst unterschiedlichem Umfang, thematisch geworden ist, haben sich philosophische Theorien der Natur in Europa vornehmlich in bestimmten Zeitabschnitten entwickelt. Dabei erfährt die Periodisierung durch die Herausbildung der neuzeitlichen Naturwissenschaft eine charakteristische Zweiteilung: Vereinigte die vorneuzeitliche N. religiöse, philosophische und erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis, so hat die neuzeitliche Naturwissenschaft von Anfang an eine eigenständige Thematisierung beansprucht, die ausgehend von experimentellen Erfahrungen und mathematischen Modellvorstellungen zu Begriffs- und Theoriebildung gelangt. Als große vergangene Epochen der N. gelten die Vorsokratik, die Renaissance und frühe Neuzeit sowie der Deutsche Idealismus. Für die folgende grobe Übersicht ist diese orientierende Einteilung zu ergänzen durch Autoren von überragender historischer Bedeutung (z. B. Platon und Aristoteles) und die Darstellung der in die Gegenwart reichenden Problemlagen des vergangenen und gegenwärtigen Jh. 2.1 Antike Die Vorsokratik, mit der die abendländische Philosophie überhaupt beginnt, ist im Gegensatz zu den anderen beiden genannten Perioden wesentlich N. Ihre Konzeptionen haben auf die spätere Entwicklung nachhaltigen Einfluss genommen. Am Anfang steht die Suche der ionischen Naturphilosophen nach einem einheitlichen Prinzip, von dem her der Wandel der Welt zu verstehen ist. Thales nimmt als Urstoff aller Dinge das Wasser an, Anaximander sieht den Urgrund im Unerschöpflichen, Grenzenlosen und Anaximenes identifiziert das Prinzip mit der Luft, aus der alles andere durch Verdünnung und Verdichtung hervorgeht. Pythagoras legt den Ursprung und das Wesen der Dinge in eine harmonische Ordnung der Zahlen und begründet damit eine erste quantitative Naturlehre. Von nachfolgenden Autoren werden dann bereits paradigmatisch alternative Naturauffassungen formuliert. Für Heraklit besteht die Natureinheit in der Einheit gegensätzlicher, zuweilen allerdings auch

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nur unterschiedlicher Qualitäten, die paarweise polar aufeinander bezogen sind. In Widerspruch zu dieser Naturdialektik, die noch Hegel beeinflusst, steht die wirkungsreichere Leugnung der Wahrheit des Veränderlichen und Vielfältigen durch Parmenides. Insofern Natur mit dem Wandel der sichtbaren Dinge gleichgesetzt wird, bestreitet Parmenides damit jeglichen Geltungsanspruch naturphilosophischer Aussagen. Dieser Herausforderung suchen die Naturphilosophen am Ende der vorsokratischen Periode durch vermittelnde Konzeptionen zu begegnen. Empedokles setzt an die Stelle des heraklitischen Werdens und Vergehens die Mischung und Sonderung der vier Elemente (Erde, Wasser, Luft, Feuer), zwischen denen eine anziehende und eine abstoßende Kraft (Liebe und Hass) wirkt. Leukipp und Demokrit behaupten, auch Nichtseiendes, der leere Raum, existiere, und teilen die parmenideische Substanz in Atome, aus denen sich alles Sichtbare zusammensetze. Erhebliche naturphilosophische Relevanz kommt schließlich der sophistischen Lehre vom Gegensatz zwischen der unabhängig vom menschlichen Wollen bestehenden guten Natur und der sie fesselnden, schlechten künstlich-menschlichen Satzung zu (Antiphon). Auch Platon und Aristoteles nehmen mit ihren Aussagen über Natur nicht mehr auf das Ganze des Seins Bezug. Trotz geteilter Entstehungsbedingungen weisen ihre beiden Naturauffassungen weniger gemeinsame als gegensätzliche Momente auf. Für Platon sind die Ideen das eigentlich Seiende, dem er die Natur als das Werden, Entstehen und Vergehen der wahrnehmbaren Dinge unterordnet. Obwohl es seiner Auffassung nach vom Veränderlichen keine sichere Erkenntnis geben kann, erlangt der einzige Dialog, in dem sich Platon mit ihm ausführlicher befasst, der Timaios, überragende naturphilosophische Bedeutung. Die dort als Mythos erzählte Geschichte von der Weltschöpfung bestimmt nicht nur über Jh. die philosophische Auslegung der Genesis (v. a. Augustinus), sondern hat darüber hinaus in ihren mathematischen Ausführungen später Vorbildfunktion für die neuzeitliche Naturforschung (v. a. die platonische Akademie von Florenz um Marsiglio Ficino und Pico von Mirandola). Platons Kosmos, ein Abbild der Ideen, stellt eine Harmonie von Seelischem und Körperlichem dar. Beide Sphären, die ein Demirurg zu einem beseelten Lebewesen fügt, erhalten ihre Struktur durch mathematische Relationen.

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Was die Ordnung der Welt und die Struktur der natürlichen Prozesse ausmacht, hat in Aristoteles’ Theorie keine abgesonderte Existenz, sondern liegt in den einzelnen Dingen selbst und fällt mit ihrem Wesen zusammen. Die Natur eines Dinges wird hauptsächlich identifiziert mit der Form, die sich in der Materie realisiert. Der teleologische Standpunkt ist vorherrschend. Bewegung wird als Übergang von Potenzialität in Aktualität (Akt/Potenz) verstanden. N. kommt erstmals in den Rang einer eigenständigen Disziplin (philosophia physike), die Aristoteles zusammen mit Theologie und Mathematik zu den theoretischen Wissenschaften zählt. In seinem Werk nehmen Naturbetrachtungen, die Körperliches wie Seelisches umfassen, den größten Raum ein. Seine physikalische Lehre von den Bewegungsprinzipien und -ursachen teilt den Kosmos in die himmlische und sublunare Sphäre und grenzt in letzterer Natur als Gegenbegriff zur Kunst bzw. Technik ab. Bis in die Neuzeit hinein bleiben Wunder ein ernstzunehmendes naturphilosophisches Thema und gelten die mechanischen Grundlagen der Technik als nichtnatürliche Kunstgriffe. 2.2 Mittelalter Platon und Aristoteles spielen eine zentrale Rolle für die N. erst wieder in der Hoch- und Spätscholastik sowie in der Neuzeit. Im hellenistischen Naturdenken (Epikurismus und Stoa) wird stärker auf vorsokratische Konzeptionen zurückgegriffen. Die danach im frühen Mittelalter vorherrschende Jenseitsorientierung verhindert weitgehend naturphilosophisches Denken. Zu einem nachweisbaren Aufschwung kommt es dann mit den über die Vermittlung arabischer Philosophen (Alfarabi, Avicenna, Averroes) in Europa wieder entdeckten Schriften der griech. Antike. Für die etwa seit dem . Jh. entstehenden Ansätze bilden Platon und mehr noch Aristoteles den nahezu unangefochtenen Orientierungsrahmen (Adelard von Bath, Hugo von St. Viktor, Robert Grosseteste, Albert der Große, Roger Bacon und v. a. Thomas von Aquin). Die anschließende Intensivierung der kritischen Auseinandersetzung mit der Tradition betrifft v. a. die aristotelische Lehre, deren Bewegungsbegriff weiterentwickelt wird (Johannes Buridan, Franciscus de Marchia), und erhält zugleich durch den Nominalismus Auftrieb (Wilhelm von Ockham, Nikolaus von Oresme).

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2.3 Renaissance und frühe Neuzeit Im Hervortreten der N. in der Renaissance und der frühen Neuzeit reflektiert sich ein gegenüber dem Mittelalter gewandeltes Verhältnis des Menschen zur Natur. Natur verliert ihre Stellung als Symbolträger beständig gegenwärtiger religiöser Bedeutsamkeit. Zunehmend gerät sie zum einheitlichen und unendlichen Raum, in den menschliches Leben eingelassen und zur Bewährung freigegeben ist. Den Gedanken des Unendlichen entwickelt wegweisend Nikolaus von Kues im Rahmen einer neuplatonischen Mystik, die er um teils mathematische, teils experimentelle Betrachtungen ergänzt. Weil sich für ihn im Studium der menschlichen Natur die ganze Welt erschließt, erhebt Paracelsus die Medizin zur Fundamentalwissenschaft. Abseits von diesen Hauptlinien entwickelt indessen Jakob Böhme eine mystischprotestantische Naturdialektik, in der widerstreitende Tendenzen der allseits kommunizierenden Natur eine eigentümliche Dynamik entfalten, die mit dem statischen Naturbild des Mittelalters weitgehend unvereinbar ist. Die für die Renaissance typische Fortsetzung der Kritik des Aristotelismus findet erste Höhepunkte in der pantheistischen N. Giordano Brunos, in der Grundlegung der experimentellen Naturforschung durch die neue Bewegungslehre Galileo Galileis und in der Himmelsphysik Johannes Keplers, die auf astronomischen Beobachtungsdaten und mathematischen Gesetzen beruht. Die rasche Entwicklung der neuen empirisch-mathematischen Naturwissenschaft ist begleitet von einer emphatischen Zurückweisung der Teleologie, d. h. der Konzeption, dass Naturen zu ihren Zielen tendieren. Programmatischen Ausdruck erhält die neuzeitliche N. in den kontroversen Konzeptionen von Francis Bacon und René Descartes. Bacon begründet die von ihm als ›natural philosophy‹ bezeichnete theoretische und praktische Naturforschung empiristisch und hebt deren Nutzanwendung zur Steigerung der menschlichen Wohlfahrt nachdrücklich hervor. Den Erfahrungsbezug absolut setzend entwickelt Thomas Hobbes hieran anschließend einen materialistisch-mechanischen Naturalismus, der in einer absolutistischen Staatstheorie gipfelt. Descartes’ rationalistische Fundierung ersetzt die alten Gegensatzpaare – Natur vs. Ideen, Natur vs. Gott, Natur vs. Technik – durch den ontologischen Dualismus von Ausdehnung und Denken. Die auf Ausdehnung reduzierte, den Leib umfassende Natur wird auch von

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ihm als vollständig wirkkausaler, dem menschlichen Herrschaftswillen zur Verfügung stehender Mechanismus begriffen. Das Physische wird mit dem Mechanischen identifiziert. Der Atomismus der Antike wird besonders von Pierre Gassendi wieder aufgegriffen. Im Gegensatz zu Descartes ist für ihn das Wesen des Physischen nicht mehr seine Ausdehnung, sondern seine Verfassung aus festen, homogenen und undurchdringlichen Atomen, die sich in der Leere bewegen. Jede Veränderung wird auf Umordnung von unveränderlichen Atomen im Raum zurückgeführt. In Weiterführung von Descartes hebt Baruch de Spinoza den Dualismus von Ausdehnung und Denken in einer pantheistischen N. auf. Gott als die einzig denkbare Substanz ist schaffende Natur (›natura naturans‹), alles, was aus ihm hervorgeht, die davon geschiedene geschaffene Natur (›natura naturata‹), deren beiden Modi, Körper und Seele, sich vollständig parallel entwickeln. Die Grundlagen einer auch mit philosophischem Anspruch auftretenden Naturforschung formuliert am Beispiel der Leitwissenschaft Physik paradigmatisch Isaac Newton. In die nunmehr alle irdischen und himmlischen Bewegungen umfassende Mechanik seiner Philosophiae naturalis principia mathematica gehen sowohl metaphysische als auch empirische Begründungselemente ein. Newtons Naturauffassung reiht sich in physikotheologische Vorstellungen ein, denen zufolge Gott für das Fortbestehen der von ihm geschaffenen und von ihm zeugenden Welt Sorge trägt. Raum und Zeit versteht Newton sogar als das Wo und Wann des Wirkens Gottes, als notwendige Folge seiner Existenz. Im Kontext der philosophischen Disziplin vollzieht sich ebenfalls vom christlichen Standpunkt aus bei George Berkeley eine für die Thematisierung von Natur folgenreiche Wende zur Erkenntniskritik. In seiner Ablehnung des Materialismus bestreitet Berkeley hypothetisch die bewusstseinsunabhängige Existenz einer materiellen Wirklichkeit, ohne die Objektivität und Realität der Erfahrung dabei in Frage zu stellen. Gottfried Wilhelm Leibniz führt die Auffassungen von Descartes und Newton weiter. Seine Lehre von der prästabilierten Harmonie des Physischen und Psychischen, nach der Gott die in sich geschlossene Kausalität des Physischen mit unseren Willensakten synchronisiert, lässt seine Physik noch mechanistischer als die von Descartes erschei-

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nen. Die bei Descartes noch mögliche nicht-mechanische Einwirkung auf die Materie durch das Denken entfällt. Im Zusammenhang der frühneuzeitlichen Kritik der aristotelischen Selbstbewegung wird der Ursprung der Bewegungen im Universum zum Problem. Descartes verlegt die Bewegungsquelle in das einmalige Wirken Gottes, das der unveränderlichen Materie am Anfang eine bestimmte Menge an Bewegungskraft verleiht. Für Newton liegt die Bewegungsursache in einem beständigen Wirken Gottes auf die Körper. Leibniz weist beide Auffassungen zurück und sieht die materiellen Körper mit einer eigenen aktiven Kraft begabt. Materielle Körper entsprechen nichtausgedehnten Monaden, in denen diese Kraft begründet ist. Kraft wird dabei ähnlich wie die aristotelische Entelechie aufgefasst. Neben der Erklärung der Natur aus Wirkursachen wird damit auch wieder ihre Erklärung aus Finalursachen möglich. Außerdem muss der Raum nicht mehr wie bei Newton als absolut und als Ursache oder als Ausdruck und Ort von Gottes Wirken gedacht werden – es genügt, ihn als Relationengefüge der Körper zueinander aufzufassen. 2.4 . Jahrhundert Im . Jh. kommt es zu einer allmählichen Vermischung verschiedener naturphilosophischer Lehren, v. a. der Systeme von Descartes, Newton und Leibniz. Der Erfolg der Newtonschen Physik führt dazu, dass die naturphilosophischen Grundlagen der naturwissenschaftlichen Begriffe allmählich in Vergessenheit geraten. Christaan Huygens und andere übernehmen von Gassendi die Konzeption der festen Atome und geben die Ausgedehntheit als physisches Merkmal der Körperlichkeit auf. Trotz der Kritik von Leibniz wird es damit möglich, den Raum (und damit das Mathematische) als etwas selbständig neben der Materie Existierendes aufzufassen. Wissenschaft des Raumes muss nicht mehr wie bei Descartes Wissenschaft des Wesens von physischen Körpern, nämlich ihrer Ausgedehntheit, sein. Mit dieser Wendung wird der Atomismus von Problemen befreit, die ihm in der Cartesischen Philosophie noch anhingen: Die kontinuierliche Teilbarkeit des Raumes muss sich nicht mehr auf die Körper im Raum übertragen, und der Raum kann als nichtmateriell existierende, unendlich ausgedehnte Leere gedacht werden, in der sich die Atome bewegen. Es geht aber auch die Newtonsche Lehre vom Raum als Inbegriff des Ortes von Gott verloren.

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Am Ende des . Jh. ist die Natur der Physik ein System träger homogener Massenkörper in Raum und Zeit, bewegt von äußeren Kräften. Alle qualitativen Unterschiede werden auf quantitative Verschiedenheit in Raum, Bewegung, Masse zurückgeführt. Natur im Sinne eines immanenten, wesenhaften Prinzips unaufhörlichen Wandels und Werdens der Dinge verlieren im mechanistischen Materialismus der französischen Enzyklopädisten und in der Laplaceschen Physik vollständig ihre Bedeutung. Was übrigbleibt, ist ein säkularisierter, von seinen ursprünglichen naturphilosophischen Intentionen entkleideter Newtonianismus. 2.5 . Jahrhundert Um  entsteht in der romantischen N. eine Gegenbewegung zum Newtonschen Mechanismus, die teilweise verlorengegangene Elemente früherer naturphilosophischer Epochen wieder aufgreift. Immanuel Kant hatte in seinen Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft von  versucht, Materie auf zwei grundlegende, einander entgegengesetzte Kräfte zurückzuführen. Materie erfüllt den Raum durch repulsive Kraft. Ihre dadurch hervorgerufene Zerstreuung in den Raum hemmt und begrenzt die Attraktionskraft. Diese Auffassung wird als ›Dynamismus‹ in Gegensatz zum Atomismus gesetzt und zu einem Forschungsprogramm ausgebaut, das die Natur als das Wirken von positiven und negativen Kräften, besonders der Elektrizität und des Magnetismus, auffasst. In der Kritik der Urteilskraft vertrat Kant die Meinung, dass Organismen nicht vollständig als mechanische Systeme erklärbar sind. Im Begriff des Organismus liegt, dass das damit bezeichnete Ganze nicht nur wie in einer Maschine durch seine Teile bestimmt ist, sondern diese auch zweckmäßig determiniert. Der Organismus organisiert sich dadurch selbst, dass er zugleich Ursache und Wirkung seiner Handlung darstellt. Während es Kant ablehnte, den Zweck als konstitutives Prinzip wieder in die Natur einzuführen, und nur ihren regulativen Gebrauch lehrte, kennen spätere Naturphilosophen diese Skrupel nicht, sondern sehen die Natur im Ganzen als ein autonomes selbstorganisierendes System an. F. W. J. Schelling als der führende Vertreter der N. dieser Zeit versucht, die von J. G. Fichte in Radikalisierung von Kants Idee des Selbstbewusstseins gefundene Struktur des sich selbst organisierenden

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Ichs in die Natur zu verlegen. Er fasst die Natur als einen lebendigen Prozess, der Subjektivität und Selbstbewusstsein im Menschen erst hervorbringt. Seine N. wird zu einem Prototyp vieler ähnlicher Unternehmungen. Es lassen sich verschiedene wiederkehrende Elemente unterscheiden: . Einheit von Natur und Geist: Geist und Natur bilden eine identische Einheit, die es erlaubt, die Gesetze des einen Gebiets aus dem anderen abzuleiten. Aus dieser vom Spinozismus beeinflussten Auffassung entsteht später der sog. psychophysische Parallelismus, der zum einflussreichen Ahnherr der identity theory der analytischen Leib-Seele-Theorie der Gegenwart wird. . Der Organismus als grundlegendes Erklärungsmodell: Die mechanische Erklärungsart der Natur muss durch eine organische ergänzt werden. Die organische Struktur des Universums als ganzes ist früher als sein kausaler Mechanismus. . Einheit der Kräfte: Die Kräfte, mit denen sich Wärmelehre, Chemie, Elektrizität und Magnetismus beschäftigen, sind im Grunde von einer Art und ineinander überführbar. Solche Überlegungen gehen in den später formulierten Energieerhaltungssatz ein. . Erklärung von Bewegung und Entwicklung natürlicher Prozesse aus einem Antagonismus entgegengesetzter Kräfte. In diesem Sinne arbeitet die romantische N. dem späteren Darwinismus vor, der die biologischen Arten nicht als statische Gebilde, sondern als Produkte einer Entwicklung begreift. Auch in Sigmund Freuds Metapsychologie mit ihrer Lehre vom Lebens- und Todestrieb sind naturphilosophische Motive der Romantik zu erkennen. Nach  kommt die romantische N. schnell in Verruf. Hermann von Helmholtz beispielsweise sieht den Hauptfehler dieser Bewegung in der Vermischung von notwendiger kausaler Gesetzlichkeit der Natur mit spontaner Aktivität des Geistes. Die Gesetze der äußeren Natur würden sich nicht aus den ›Gesetzen‹ des Geistes ableiten lassen. Im weiteren Verlauf des . Jh. ist die mechanistische Weltanschauung vorherrschend, die die Newtonsche Mechanik in der vom . Jh. geläuterten Form als Grundwissenschaft versteht. Naturphilosophische Einflüsse leben jedoch untergründig in verschiedenen Bereichen weiter. Vor allem bei Gustav Theodor Fechner führt der Versuch, naturphilosophische Elemente mit der mechanistischen Naturauffassung zu vereinbaren und in sie einzubauen, zu neuen kreativen Entwürfen. Im Laufe des . Jh. mehren sich Zweifel am fundamentalen Cha-

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rakter der Newtonschen Physik. Es zeigt sich immer mehr, dass sich Elektromagnetismus und Thermodynamik nicht auf die Newtonsche Mechanik zurückführen lassen. Das Aufkommen der nichteuklidischen Geometrie macht ein radikal neues Verständnis des Verhältnisses von Mathematik und Erfahrung notwendig. Mit der Darwinschen Evolutionstheorie entsteht schließlich eine ganz neue Sicht auf die belebte Natur und die Stellung des Menschen darin. Charles Sanders Peirce entwickelt in den er Jahren eine evolutionäre Metaphysik, die die probabilistische Verfasstheit von Darwins Theorie der Evolution und Maxwells kinetische Gastheorie ernst nimmt und noch weiter treibt. Peirce denkt damit als einer der ersten den Zufall als irreduzibles und objektives Element des Universums. Der Zufall wird zum treibenden Element eines sich selbst organisierenden Universums. 2.6 . Jahrhundert Die eigentliche Herausforderung für die N. entsteht jedoch erst im . Jh. mit der Relativitätstheorie und Quantentheorie (vgl. ..). Aus diesem Umbruch im Weltbild der Naturwissenschaften resultiert eine veränderte Einstellung gegenüber der N. Die zu sehr an die Romantik erinnernde Bezeichnung ›N.‹ verwendeten zuvor erst wieder L. Boltzmann und W. Ostwald. 1 Der Sache nach ist N. bis zum Ersten Weltkrieg überwiegend entweder als eine philosophische Synthese und Zusammenschau der Ergebnisse der Naturwissenschaften im Sinne einer Weltbildkonstruktion (W. Wundt) oder als ihre Verallgemeinerung, induktive Weiterführung und Vervollständigung (G. T. Fechner; sog. induktive Metaphysik) verstanden worden. Beide Richtungen umfasst Erich Bechers Auffassung von N. als »Vereinigung des für die Weltanschauung Wichtigsten aus den einzelnen Naturwissenschaften zu einer wissenschaftlichen Auffassung der Gesamtnatur«. 2 Im Allgemeinen bilden philosophische Traditionsbestände und abstrakte Prinzipien den Ausgangspunkt für die gewünschte Synthese. Mit dem aufkommenden Logischen Empirismus wird das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft umgedreht. Anstatt so wie die traditionelle Philosophie Übersichten zu konstruieren und die Wissenschaften mehr oder minder voreilig allgemeinen Konzeptionen unterzuordnen, geht es nun darum, die philosophischen Probleme in den einzelnen Wis-

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senschaften (etwa der Relativitätstheorie) hervorzuheben, von innen heraus zu analysieren und zu lösen. Dabei sieht z. B. Hans Reichenbach () das Neue seiner N. nicht in einem neuen Ziel, sondern in einem neuen Weg. Statt abstrakter Spekulation sei der bewusste Anschluss der N. an die Naturwissenschaft der Gegenwart gefordert. Wo man sich von der naturphilosophisch-metaphysischen Tradition abgrenzen möchte, spricht man seit dieser Zeit häufig nicht mehr von ›N.‹, sondern von ›Wissenschaftstheorie‹ oder ›Wissenschaftsphilosophie‹. Inzwischen liegt ein großer Bestand an wissenschaftstheoretischen Einzelanalysen aus den verschiedensten Wissenschaftsbereichen vor. Nachdem eine lange Strecke Weges bewältigt wurde, ist das Bedürfnis gestiegen, auch einmal wieder das Ziel der wissenschaftstheoretischen Bestrebungen näher ins Auge zu fassen. Außerdem ist innerhalb der (eng mit der Wissenschaftstheorie verwachsenen) analytischen Philosophie die Abneigung gegen metaphysische Konzeptionen ziemlich geschwunden, so dass der Weg von der Metaphysik zur Naturwissenschaft ebenso wie der umgekehrte grundsätzlich wieder offensteht. Ferner hat man auch eingesehen, dass sich der Bezug wissenschaftstheoretischer Probleme zu traditionellen Problemen der Philosophie enger gestaltet als gedacht. Auch finden ältere spekulative Ansätze im Lichte der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie neue Bewertung. 3 Nicht zuletzt hat das veränderte Klima der eigenständigen Spekulation über Natur wieder mehr Raum verschafft. Aspekte des praktischen Umganges mit und der ästhetischen Wahrnehmung von Natur haben erst in jüngster Zeit naturphilosophische Beachtung gefunden. 3 Stand der philosophischen Forschung 3.1 Detailliertere Aufgabenbestimmung Zur N. und zu ihren Aufgaben sind bis in die Gegenwart hinein die unterschiedlichsten Positionen vertreten worden. Sie reichen von der grundsätzlichen Ablehnung einer naturphilosophischen Erkenntnis bzw. Disziplin (z. B. Platon, F. Engels) bis zu ihrer Erhebung in den Stand einer philosophischen Fundamentallehre (z. B. Aristoteles, F. J. W. Schelling). Gegenwärtige positive Aufgabenbestimmungen verstehen unter N. oftmals nur eine spezielle Richtung der theoretischen Philosophie. 4 Unter dem Eindruck der Umweltproblematik

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haben verstärkt aber auch die praktischen Fragestellungen Eingang gefunden. 5 Zusätzlich scheint es zweckmäßig, die Thematisierung ästhetischer Erfahrungen von Natur als gesonderten Bereich aufzunehmen. Eine Dreiteilung der naturphilosophischen Aufgaben in einen theoretischen, praktischen und ästhetischen Bereich übernimmt die traditionelle Gliederung der Philosophie. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass N. nur bedingt über einen eigenen Methodenkanon verfügt und deshalb meist als angewandte Philosophie gelten kann. 6 Zur näheren Bestimmung der Aufgaben der N. bedarf es in jedem Bereich einer Gegenstandspräzisierung und einer Abgrenzung zu anderen Disziplinen, die sich ebenfalls mit denselben Gegenständen befassen. 3.2 Theoretische Naturphilosophie Zur theoretischen N. gehören die Bestimmungen des Naturbegriffes sowie der Naturerkenntnis. Größten Raum nehmen dabei die philosophischen Probleme der Erfahrungswissenschaften ein. Im Unterschied zur Wissenschaftstheorie bzw. -philosophie, die sich vornehmlich mit methodologischen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen beschäftigt, stehen in der N. eher inhaltliche bzw. materiale Voraussetzungen und Gehalte einzelner erfahrungswissenschaftlicher Theorien und ihres übergreifenden Zusammenhanges, die in den jeweiligen Fachdisziplinen nicht behandelt werden, im Vordergrund (..–). Im Bestreben, spezialwissenschaftlich getrennte Erkenntnisse zu einem geschlossenen Bild von der Natur zu vereinen, berührt sich dieser Teil der N. mit einem spekulativen, der traditionelle Bestimmungen fortzuentwickeln oder auch zu überwinden sucht (..). Als eine zum experimentellen Wissen alternative Erkenntnis kann die Phänomenologie der Natur angesehen werden (..). 3.2.1 Philosophische Probleme der Erfahrungswissenschaften Namentlich mit den Entwicklungen der Physik und der Biologie sind in der Gegenwart wieder naturphilosophische Überlegungen zu Tage getreten. In der Physik haben v. a. die Relativitätstheorien Einsteins und die Quantentheorie N. Bohrs und W. Heisenbergs in dieser Hinsicht gewirkt. Durch die Zurückweisung der Newtonschen Konzeption der Gleichzeitigkeit, die Relativierung von Raum, Zeit und Masse und der damit einhergehenden Absolutsetzung der Licht-

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geschwindigkeit im Vakuum gerieten auch gängige philosophische Vorstellungen von Raum und Zeit und ihrer inneren Verbindung zu Kausalität und Kosmologie ins Wanken. Weitreichende naturphilosophische Bedeutung hat die allgemeine Relativitätstheorie erlangt, in der das Relativitätsprinzip von inertialen Bezugssystemen auch auf beschleunigte ausgedehnt wird. Der logische Empirismus hat seine eigene Identität hauptsächlich in einer philosophischen Auffassung dieser Theorie gefunden, die sich vom Positivismus Machscher Prägung und dem Neukantianismus gleichermaßen abgrenzt. In der Quantenmechanik erwachsen die philosophischen Probleme daraus, dass die Beschreibungen der mikrophysikalischen Vorgänge als Welle oder als Teilchen gleich fundamental, gleichberechtigt und innerhalb der Theorie gleich notwendig sind. Die subatomaren Objekte besitzen zugleich Welle- und Teilcheneigenschaften, die nicht aufeinander reduzierbar sind. Die Heisenbergsche Unschärferelation zeigt überdies, dass es keinen Sinn hat, ihnen einen exakten Zustand zuzuschreiben. Diese Eigenschaften machen mikrophysikalische Entitäten nicht nur zu von unserer Alltagswelt und von klassischer Physik völlig unterschiedlichen Gegenständen, sondern lassen auch ihre Gesetze in einem grundlegenden Sinne indeterministisch werden. Die überkommenen Auffassungen von Kausalität und Determinismus, Erklärung und Voraussage, Objektivität und Subjektivität müssen sich damit neuen naturphilosophischen Herausforderungen stellen. Im Laufe der Zeit sind alternative Interpretationen der Quantenmechanik geliefert worden, die die klassische Auffassung, die sog. Kopenhagener Interpretation, in Frage stellen. Putnam zeigte , dass eine realistische Interpretation der Quantenmechanik möglich ist, wenn die Logik des Junktors ›und‹ verändert wird. Immer wieder kommt es auch zu Versuchen, die Phänomene der Quantenmechanik als das Wirken einer tieferliegenden Welt zu beschreiben, die klassisch interpretiert werden kann (L. V. de Broglie, D. Bohm). Jedoch sind alle Bemühungen sehr umstritten geblieben und keine hat sich durchgesetzt. Aufgrund der Vereinheitlichungserfolge im . und . Jh. (Energieerhaltung, Zusammenführung von Optik und Elektromagnetismus und Quantenmechanik) wird vielfach die ›Einheit der Physik‹ als letztes Ziel gesehen. So versucht etwa C. F. von Weizsäcker den Aufbau der Physik im Rahmen einer allgemeinen Quantentheorie binärer

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Alternativen (Ur-Objekte) zu verstehen – auch unter Zuhilfenahme transzendentalphilosophischer Argumente im Hinblick darauf, dass der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft bei der Begründung empirischer Wissenschaft grundlegend ist. Neben der Relativitätstheorie und Quantentheorie ist für die Physik zum einen noch die Thermodynamik fern vom Gleichgewicht zu erwähnen, aus der Ilya Prigogine ein neues naturphilosophisches Verständnis von Zeit entwickelt hat. M.-L. Heuser-Kessler bringt solche und ähnliche Versuche wieder mit der N. der Romantik in Verbindung. Zum anderen hat in der Kosmologie das verloren geglaubte teleologische Denken durch das sog. Anthropische Prinzip wieder Eingang gefunden. Mit diesem Prinzip wird von den physischen Bedingungen der Existenz des Menschen als Beobachter im Universum auf das in der Beobachtung zu Erwartende zurück geschlossen. 7 In der Biologie ergeben sich insbes. aus der neodarwinistischen Synthese von Genetik und Selektionstheorie neue naturphilosophische Herausforderungen für die ältere Debatte von der Natur des Lebens, der Stellung des Menschen in der Natur, der Naturalisierung der Intentionalität und dergleichen. Es stellen sich Fragen wie die nach den eigentlichen kausalen Wirkeinheiten im evolutionären Prozess, nach der Natur der Gene und der biologischen Arten, der Bedeutung und Definition der Fitneß, der Übertragbarkeit des Darwinschen Gedankens auf soziale und kulturelle Phänomene und möglicherweise sogar auf das Erkennen (evolutionäre Erkenntnistheorie). 3.2.2 Synthese der Erfahrungswissenschaften Nachdem man sich im . Jh. einem wissenschaftlichen, meist mechanistisch orientierten Weltbild bereits nahe glaubte (L. Büchner, E. Haeckel), ist gegenwärtig die Auffassung verbreitet, dass es sich nicht einmal grundsätzlich entscheiden lässt, ob die Wissenschaften eine Gesamttheorie oder vielleicht auch mehrere Theorien des ganzen, den Menschen umfassenden Seins hervorbringen können. Nur in spekulativer Verallgemeinerung der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisse wird heute die Formulierung solcher Theorien vorgenommen. Die verschiedenen Ansätze sind sich dabei einig, dass ein neues wissenschaftliches Weltbild inhaltlich an die Stelle des alten mechanistischen treten werde. 8 Als neue Leitbilder gelten Evolutions- bzw.

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Selbstorganisations- sowie Chaostheorien. Ihrer integrativen Kraft stehen hauptsächlich die Zersplitterung des empirischen Wissens und die disziplinimmanente wie auch -übergreifende erfahrungswissenschaftliche Theorienvielfalt entgegen. 3.2.3 Spekulative Naturphilosophie Vom Denken, den Voraussetzungen der Erfahrung und den verschiedensten Erfahrungstatsachen ausgehend sucht die spekulative N. Grundzüge der Natur zu bestimmen. Auch wo ihre Entwürfe sich nicht als Fundierung der Naturwissenschaften, sondern als eigenständige Thematisierung verstehen, sind sie in enger, oft kritischer Auseinandersetzung mit den erfahrungswissenschaftlichen Resultaten entstanden, ohne deren Inhalte in Frage zu stellen. Das Spektrum reicht von der Wiederaufnahme antiker Vorstellungen bis zu den Versuchen, traditionelle Dualismen zu überwinden. Während Ivor Leclerc die moderne Naturwissenschaft mit einem aristotelischen Vokabular zu begründen sucht, greifen Ansätze in der Tradition Ernst Blochs gegen die moderne Entfremdung von Natur und Mensch auf die über Schelling auf Spinoza zurückreichende Linie der natura naturans zurück. Überhaupt nimmt die Aufarbeitung der romantischen und idealistischen N. im Bereich der spekulativen N. größten Raum ein. Daneben finden zahlreiche Ansätze aus diesem Jh. Aufmerksamkeit. So die Bemühungen um den Einklang des Naturverstehens mit dem christlichen Glauben, wie Teilhard de Chardins visionäre Welterklärung oder Hans Jonas’ theokosmogonische Naturgeschichte, holistische Ansätze, die zur Überwindung des Gegensatzes von Vitalismus und Mechanismus umfassende Naturtheorien entwickelt haben (John Scott Haldane, Jan Christian Smuts, Adolf Meyer-Abich), sowie die damit verwandte Schichtentheorie von Nicolai Hartmann. Herausragende Beachtung findet ferner Alfred North Whiteheads organische N., die den Anspruch erhebt, die Antithetik aller bisherigen Naturbestimmungen durch eine neue Auffassung der Wirklichkeit als Prozess zu ersetzen. 3.2.4 Phänomenologie der Natur In der Tradition von Edmund Husserl fragt die Phänomenologie der Natur nicht nach den Ursachen von Erscheinungen, sondern nach ihrer subjektiven Gegebenheitsweise. 9 Zum einen betrachtet sie die-

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selben Gegenstände wie die Naturwissenschaften, aber aus anderer Perspektive. Naturobjekte werden in ihrer gestalthaften, sinnlich-anschaulichen Erscheinung erfasst und systematisiert. Beispiele sind die naturwissenschaftlichen Arbeiten Johann Wolfgang von Goethes, daran anknüpfende anthroposophische Ansätze und Adolf Portmanns phänomenologische Naturauffassung. Die Naturphänomenologie thematisiert zum anderen Gegenstände jenseits der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Erfahrung wie das eigene Erleben von Wahrnehmungen, Empfindungen oder Gefühlen. Eine Schlüsselstellung nimmt hierbei die dem Menschen zugehörige, nicht objektivierte Natur, der Leib ein. Ihre phänomenologische Untersuchung steht kategorial zwischen der unmittelbaren Erfahrung der Abhängigkeit und einer partiellen, die Thematisierung von Natur voraussetzende ›Distanzierung vom Leib‹ (G. Böhme). 3.3 Praktische Naturphilosophie Die durch Bevölkerungswachstum und heutige Technologien bewirkten Naturveränderungen sind historisch einmalig. Menschliche Einflussnahmen verändern ökologische Gleichgewichte, die ehemals außerhalb ihrer Reichweite lagen (Klima, Artenvielfalt etc.), mit Geschwindigkeiten, die sich signifikant von vergleichbaren natürlichen Evolutionsprozessen unterscheiden. Mit dieser ›Expansion der Macht‹ (H. Jonas) beginnt die menschliche Gattung über ihre eigenen Lebensbedingungen zu verfügen. Natur wird zum Thema der praktischen Philosophie bzw. menschliches Handeln zum Gegenstand naturphilosophischer Bewertung (K. M. Meyer-Abich). Als Orientierungsinstanz ist Natur seit der Antike angesehen worden. Sich auf sie zu berufen, erhält jedoch neue Qualität, wenn sie nicht mehr als Voraussetzung, sondern als Resultat menschlichen Handelns gilt. Während die theoretische N. v. a. auf Methoden der theoretischen Philosophie zurückgreift, stellt sich für die praktische N. grundsätzlich die Frage, in welchem Umfang Theorien der praktischen Philosophie auf den Umgang des Menschen mit der Natur Anwendung finden können (..). Diese Begründungsproblematik betrifft alle Bereiche der praktischen N., die sich nach ihren Gegenständen gliedern lassen (..–).

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3.3.1 Physiozentrismus vs. Anthropozentrismus Zur Begründung ethischer Prinzipien und zur Diskussion moralischer Probleme des menschlichen Naturumganges hält es der sog. ›Physiozentrismus‹ (u. a. Albert Schweitzer, Hans Jonas, Klaus Michael MeyerAbich, Arne Naess, Val Plumwood, Robin Attfield) für unverzichtbar, der Natur Eigenwerte bzw. -rechte zuzuschreiben, die denen in menschlichen Gesellschaften entsprechen. Angeführt werden unterschiedliche Rechte (auf Existenz, Schutz, Unversehrtheit, Gleichbehandlung etc.) und Bereiche der Natur, auf die diese Rechte zu beziehen sind (leidensfähige Lebewesen, alle Lebewesen, unberührte Natur, Natur als Ganzes etc.). Der Gegenposition zufolge lassen sich Ethik und Moral des Naturumganges nur unter der Voraussetzung behandeln, dass die Natur allenfalls für den Menschen einen Wert hat (u. a. Lothar Schäfer, Gernot Böhme, Martin Seel, Dieter Birnbacher). Sie sei erhaltenswert, weil die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse (Nahrung, Wohnung, gutes Leben etc.) von ihrem Schutz und Bestand abhänge. Moralische Probleme ergeben sich diesem ›Anthropozentrismus‹ zufolge nur aus der Thematisierung von Werten, an denen man das Handeln im Hinblick auf die eigene Lebensführung und auf das Zusammenleben mit anderen, artgleichen Wesen orientiere. 10 3.3.2 Äußere Natur Praktische N. der äußeren Natur, d. h. der gesamten ›Mitwelt‹ (K. M. Meyer-Abich) des Menschen, gliedert sich in die Fragen des Tierschutzes und der Umwelt-, Natur- und Landschaftsgestaltung. Die spezielle moralische Problematik des Tierschutzes entsteht aus der Annahme, dass Tiere – im Unterschied zu Pflanzen – empfindungsfähige Wesen sind und ihnen deswegen ein Status zukommt, der Gemeinsamkeiten mit dem der Menschen aufweist. Massentierhaltung, Tierexperimente, bestimmte Tötungsformen oder überhaupt die Tötung von Tieren sind mit diesem Status nicht oder doch nur bedingt vereinbar. Moralisch gebotene Handlungserfordernisse gegenüber der restlichen Mitwelt betreffen nicht nur Schutzaufgaben, da die jeweiligen Bereiche der Natur meist als bereits vom menschlichen Einfluss abhängige zu gestalten und auch nicht ohne aktive Eingriffe zu bewahren sind. Der Umweltgestaltung, die der Beeinträchtigung der menschlichen Lebensgrundlagen entgegenwirkt und den sog. Naturschutz einbezieht,

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kommt für die Sicherung der Existenzbedingungen menschlicher Gemeinschaften unmittelbare Bedeutung zu. Sie erfordert i. d. R. die Begründung neuer gesellschaftlicher Konventionen. Moralische Argumente (z. B. das Handlungsgebot aus Verantwortung für zukünftige Generationen), die etwa dem Schutz öffentlicher Güter (Luft, Wasser etc.) gelten, sind Teil eines Diskurses, der auf einen Konsens für generalisierbare Regelungen abzielt. In der gegenwärtigen naturphilosophischen Debatte weniger beachtet als Tierschutz und Umweltgestaltung sind die moralischen Fragen der Natur- und Landschaftsgestaltung. Sie haben nicht Individuen, sondern Arten und Ökosysteme zum Objekt, deren Gegenstandsbestimmungen eng mit Art und Begründung der jeweiligen Handlungsziele verbunden sind. Teile der äußeren Natur werden mitunter erst unter Aspekten der Ökologie, der Schutzwürdigkeit vor weiteren Eingriffen, der Renaturierung etc. charakterisierbar. Moralische Probleme der äußeren Natur werden zusammenfassend auch als ›ökologische Ethik‹ bezeichnet. Ihre Bearbeitung fällt sowohl in den Bereich der Ethik als auch in den der N., die in diesem Kontext im engl. Sprachraum auch ›Environmental Philosophy‹ heißt. 11 3.3.3 Leib- und Medizinethik Im Hinblick auf den Leib ergeben sich ethische Fragestellungen, weil das Selbstverständnis des Menschen die eigene Natur umfasst. Für den, der den menschlichen Körper als Maschine betrachtet, stellen sich keine moralischen, sondern allenfalls technische Probleme. Wird die eigene Natur als zum Selbst zugehörig aufgefasst, eröffnen sich Seinsweisen, die das Ich als rationale Instanz relativieren. 12 Allerdings ist der menschliche Körper durch die gesteigerten Eingriffsmöglichkeiten bereits faktisch in erheblichem Umfang ein verfügbarer Teil von individuellen Lebensentwürfen oder Gegenstand gesellschaftlicher Regelungen geworden. Letztere betreffen v. a. das Verhältnis zur medizinischen Technik (Organtransplantation, Reproduktionsmedizin, Gentechnik etc.). 3.4 Naturästhetik Von der Wahrnehmung der Natur, auch im Hinblick auf ihre Schönheit oder Hässlichkeit, ist in der gegenwärtigen (nicht ausschließlich

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naturphilosophischen) Forschung v. a. in drei unterschiedlichen Bedeutungen die Rede: Erstens können die Beziehungen von Naturwissenschaft und dem Phänomen des Schönen gemeint sein. Von seiten der Naturwissenschaften sind als objektive Bedingungen, die uns dazu führen, an etwas Gefallen zu finden, sowohl Ordnungsstrukturen (in der Tradition von Ernst Haeckel) als auch der Übergang von Ordnung zu Chaos (Friedrich Cramer und Wolfgang Kaempfer) angegeben worden. Naturwissenschaftliche Theorien sind aber umgekehrt auch selbst ein ästhetischer Gegenstand. Sie werden nicht nur nach ihrer empirischen bzw. praktischen Leistungsfähigkeit, sondern darüber hinaus nach ihrer Einfachheit, Eleganz, Anschaulichkeit etc. beurteilt. Geschmacksurteile spielen in der Wissenschaft v. a. bei der Bewertung konkurrierender Theorien eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Naturästhetik kann, zweitens, eine (natur-)philosophische Theorie der Schönheit der äußeren Natur heißen. Nach M. Seel untersucht sie die Dimensionen einer »Wahrnehmung, die sich in vollzugsorientierter Aufmerksamkeit an die sinnliche und/oder sinnhafte Präsenz und Prägnanz ihrer Gegenstände hält«. 13 Ein paradigmatisches Beispiel ist der Blick aus dem Fenster auf eine Landschaft. Der distanzierte Betrachter kann in der sinnlichen Präsenz der Dinge aufgehen (›Kontemplation‹), einen anschaulichen Resonanzboden seines eigenen Daseins finden (›Korrespondenz‹) oder eine mit Kunstwerken vergleichbare Erscheinung entdecken (›Imagination‹). 14 Jede dieser Dimensionen enthält außer ihrer ästhetischen auch eine ethische, auf Lebensmöglichkeiten bezogene Bestimmung. 15 Schließlich kann unter Naturästhetik drittens die sinnliche Wahrnehmung als leibliche Anwesenheit verstanden werden (G. Böhme). Im Zentrum des ästhetischen Interesses steht hier »die Beziehung von Umgebungsqualitäten und Befindlichkeiten« sowie die beide verbindende »Atmosphäre«. 16 Atmosphären erfüllen die zwischen Dingen und Menschen befindlichen Räume mit »affektiver Tönung« und bilden »den primären Gegenstand der Wahrnehmung«. 17 Diese ökologisch motivierte Ästhetik zielt auf einen erweiterten Wahrnehmungsbegriff, die Wiederentdeckung leiblicher Erfahrung und die Herstellung von Atmosphären. Sie beansprucht eine ästhetische Erkenntnis durch die Feststellung von experimentell nicht erfassbaren Grundzügen der Na-

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tur (ekstatische, physiognomische, atmosphärische und symbolische Charaktere). 18 3.5 Historische Forschung Ein Großteil der gegenwärtigen naturphilosophischen Forschung befasst sich in und neben den genannten Bereichen schließlich mit der Geschichte der N. In diesem Zusammenhang sind zahlreiche Einzelstudien 19, aber in neuerer Zeit keine umfassenden historischen Darstellungen erschienen. 4 Nichtakademische Naturphilosophie Wie der Begriff der Philosophie nicht in der professionellen Wissenschaft aufgeht, so wird auch der Ausdruck ›N.‹ mit nichtakademischen Konzeptionen und Strömungen verbunden. Im Vordergrund stehen hierbei Fortführungen der sog. ›New Age-Bewegung‹ und ökologisch orientierte Reflexionen auf Natur. Neben holistischen Naturtheorien (vgl. ..) und der von J. Lovelock und L. Margulis entwickelten GaiaTheorie, die die Erde als Quasi-Lebewesen versteht, bildet der Spiritualismus (G. I. Gurdijeff, Rudolf Steiner u. a. m.) den wichtigsten Anknüpfungspunkt für die New Age-Bewegung. Ihr zufolge zeichnet sich in unserer Zeit der epochale Wandel vom gegensätzlich zum harmonisch verfassten Naturbild ab. 20 Ökologische N. ist als nichtakademische anzusehen, wenn sie sich als Teil politischer Bewegungen und als Anleitung zur individuellen Lebensgestaltung artikuliert wie bei der auf Arne Naess zurückgehenden ›Deep Ecology‹ 21 und der besonders in den USA verbreiteten öko-feministischen Richtung. 22 Ariew, A./R. Cummins/M. Perlman (eds.), , Functions: New Essays in the Philosophy of Psychology and Biology, Oxford. – Attfield, R., , Environmental Ethics: An Overview for the Twenty-First Century, Oxford. – Bach, T./O. Breidbach (Hg.), , Naturphilosophie nach Schelling, Stuttgart. – Baggott, J., , The Meaning of Quantum Theory, Oxford. – Baird, D./E. Scerri/L. McIntyre (eds.), , Philosophy of Chemistry: Synthesis of a New Discipline, NY. – Barrow, J. D., , Die Natur der Natur, Heidelberg. – Bartels, A., , Grundprobleme der modernen Naturphilosophie, Paderborn. – Bateson, G., , Geist und Natur: Eine notwendige Einheit, Fft./M. – Bayertz, K., , Naturphilosophie als Ethik. In: Philos. Naturalis, . – Becher, E., , Naturphilosophie, Leipzig/Berlin. – Bird, A., , Nature’s Metaphysics: Laws and Properties, Oxford. – Birnbacher, D., , Ökologie, Ethik und neues Handeln. In: H. Stachowiak

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1 Ostwald

, Boltzmann . – 2 Becher , . – 3 Z. B. Heidelberger , Friedman . – 4 Vgl. Welten . – 5 Vgl. Bayertz . – 6 Vgl. für d. theoretische N. Stöckler . – 7 Leslie . – 8 Jantsch , Rensch , Kanitscheider , Koltermann , Bartels , Mutschler , Drieschner , Esfeld . – 9 Böhme/Schiemann . – 10 Krebs , Düwell . – 11 Pratt , Ott/Gorke , Attfield , Jamieson . – 12 Böhme , . – 13 Seel , . – 14 Ebd.,  ff. – 15 Ebd.,  ff. – 16 Böhme , . – 17 Ebd. und . – 18 Böhme ,  ff. – 19 Böhme , Heiland , Gloy  f. – 20 Schorf , Mutschler . – 21 Sessions . – 22 Merchant , Plumwood .

Gregor Schiemann / Michael Heidelberger

Ontologie

1 Zum Begriff. Der Ausdruck ›Ontologie‹ (O.) – neugriech. und lat. ontologia, franz. ontologie, engl. ontology, vom Partizip on des Verbs einai : sein, Mehrzahl onta: Seiende, und logos: Wort, Lehre – wird oft als ›Lehre vom Sein‹ oder ›Lehre vom Seienden‹ übersetzt (Sein/ Seiendes); er entsteht erst im . Jh., wenn auch die Thematik nicht neu ist, sondern bis in die Antike zurückreicht. Als Namensgeber wird R. Göckel (Goclenius, –) angesehen, der die Bezeichnung ›O.‹ in seinem Lexicon Philosophicum verwendet. 1 Die Erforschung des Seins kann auf zwei ganz unterschiedliche Weisen betrieben werden. Einerseits kann der Schwerpunkt bei grundsätzlichen Fragen liegen, was etwa den Begriff des Seins ausmacht oder was es bedeutet, dass etwas existiert. Andererseits kann spezifischer nach dem Seienden gefragt werden und zwar danach, was existiert bzw. genauer: welche allgemeinsten Arten von Seiendem (Dinge, Eigenschaften, Sachverhalte, Ereignisse, Prozesse etc.) es gibt, was also zum ›Inventar‹ unserer Welt gehört. Prominente Vertreter der ersten, sehr allgemeinen Fragerichtung sind Parmenides und Heidegger, für die zweite Richtung stehen beispielsweise Aristoteles und Quine sowie generell die (sprach-) analytisch orientierte Philosophie des . Jh. (Sprachanalyse). Die O. betrachtet das Seiende aus einer viel grundsätzlicheren Perspektive als die Einzelwissenschaften. Es geht nicht etwa darum, welche Dinge es in der Welt gibt, welche Eigenschaften diese haben oder welche Sachverhalte bestehen; vielmehr lautet die Frage, ob überhaupt Dinge oder Eigenschaften oder Sachverhalte als fundamentale Arten des Seienden, als ›Kategorien‹, angenommen werden sollen. Weiter stellt sich die Frage, was eigentlich ein Ding, eine Eigenschaft oder ein Sachverhalt ist und in welchen Abhängigkeits- und Reduktionsbeziehungen (Reduktion) sie eventuell zueinander stehen. Nach dieser Sichtweise unterscheidet sich O. nur noch graduell von den Einzelwissenschaften, in dem Sinne, dass sie nochmals von den für diese Bereiche spezifischen Objekten abstrahiert, so wie die Einzelwissenschaften auch selbst schon nach allgemeinen Mustern suchen. Dabei

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ist allerdings zu erwarten, dass ontologische Theorien sich nicht einfach an Strukturen unserer Sprache oder an ontologisch relevanten wissenschaftlichen Theorien ablesen lassen, ebenso wie auch einzelwissenschaftliche Theorien durch die Erfahrung unterbestimmt sind. Nicht sehr weit von dieser Sichtweise entfernt ist die Vorstellung, dass die O. als formale Disziplin den Einzelwissenschaften zwar begrifflich vorgeordnet ist, sich an diesen aber letztlich bewähren muss. 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte 2.1 Antike Während die Begriffsgeschichte der O. erst im . Jh. einsetzt, werden die inhaltlichen Probleme bereits in der Antike sowie im Mittelalter intensiv behandelt. Tatsächlich ist die O. der Sache nach sogar der Schwerpunkt der Philosophie in Antike und Mittelalter, während die Neuzeit gerade durch ihre Abwendung von Metaphysik und damit O. zugunsten der dann dominierenden Erkenntnistheorie gekennzeichnet ist. 2 Nach einer berühmten Formulierung von Aristoteles (– v. Chr.), der zwar wie auch Platon nicht den Ausdruck ›O.‹ verwendet, sich jedoch der Sache nach in seiner ›ersten Philosophie‹ ausführlich damit befasst, lässt sich O. charakterisieren als die Untersuchung des Seienden als Seiendem (to on he on). 3 Diese Fragestellung führt zunächst zur sogenannten Kategorienlehre, d. h. der Erforschung der allgemeinsten Begriffe, durch die alles, was (in unserer Erfahrung) existiert, bestimmt bzw. bestimmbar ist. Besonders im Mittelalter werden Kategorien auch als Prädikamente bezeichnet (praedicare ist die lat. Übersetzung des griech. Verbs kategorein). Kategorienlehre ist oft sehr eng an sprachphilosophische Überlegungen geknüpft, und zwar heute noch stärker als in der Antike. Die Erörterung der Frage nach dem ontologischen Status der Kategorienbegriffe, also der Frage, ob diesen Begriffen etwas in der Welt entspricht, schließt sich an die Kategorienlehre an. Dabei geht es etwa darum, ob es nur Einzeldinge oder auch Universalien gibt und ob es eventuell sogar kategorial vollkommen andersartige Entitäten wie z. B. Ereignisse, Prozesse oder Sachverhalte sind, die als fundamental angenommen werden sollten. Eines der wichtigsten Themen der antiken und mittelalterlichen O. ist das sogenannte Universalienproblem, wobei der Ausdruck universale erst im Mittelalter geprägt wurde. Ein universale, oder dt.: eine

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Universalie, ist das, was von mehreren Dingen ausgesagt werden kann. Beispielsweise kann die Eigenschaft des Rotseins von vielen verschiedenen roten Dingen ausgesagt werden. Der Gegenbegriff zu Universalie ist Einzelding. Ein Beispiel für ein Einzelding ist Sokrates, da ›Sokrates-sein‹ nur auf genau eine Entität zutrifft und zutreffen kann. Eine Weise, um das Universalienproblem zu motivieren, resultiert aus Überlegungen zur ontologischen Bedeutung von Klassifizierungen. Unser Sprechen und Denken ist davon durchzogen, dass wir Dinge in bestimmten Hinsichten gruppieren, etwa in schöne Dinge, farbige Dinge oder runde Dinge. Während einige unserer Einteilungen offensichtlich subjektiv sind (z. B. bezüglich unseres Geschmacks) und sich weitere auf unsere physiologischen Relationen zu Dingen beziehen (Farben), scheinen viele Klassifizierungen aber objektive Gemeinsamkeiten der jeweils zusammen gruppierten Dinge wiederzugeben, die unabhängig von uns sind. Die Frage ist nun folgende: Wenn diese Gemeinsamkeiten unabhängig von uns sind, existieren sie dann auch als eigene Entitäten ›zusätzlich‹ zu den Dingen, welche diese Gemeinsamkeiten haben? Eine schlichte Verneinung dieser Frage ist nicht ohne weitere Erläuterung gerechtfertigt. Denn wenn man etwa einer Eigenschaft, die zwei Dinge haben, ihre autonome Existenz abspricht, wie ist es dann zu erklären, dass diese vollkommen getrennten Dinge dieselbe Eigenschaft haben? Wie können zwei getrennte Dinge etwas objektiv gemeinsam haben, wenn es dieses etwas nicht gibt? Philosophen, die an die Existenz solcher allgemeinen Entitäten glauben, also an Entitäten, die mehrfach realisiert sein können, nennt man Universalienrealisten. Wer hingegen bestreitet, dass es außerhalb unseres Geistes und unserer Sprache allgemeine Entitäten gibt und damit den Standpunkt vertritt, dass nur Einzeldinge existieren, wird als Nominalist bezeichnet (Nominalismus). Platon (– v. Chr.) ist der Ahnherr der radikalsten Form von Universalienrealismus, die in einer sehr plastischen mittelalterlichen Formulierung mit der Formel universalia sunt ante res beschrieben wird. Universalien existieren also nach Platon vor den Dingen, was bedeuten soll, dass Universalien keine Dinge benötigen, in denen sie realisiert oder ›instantiiert‹ sind. Die Universalie Rotheit existiert auch, wenn es nichts in der Welt gibt, was rot ist. Vielmehr sind die Dinge in der raum-zeitlichen Welt des Werdens und Vergehens die

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Abbilder der ewigen Universalien oder ›Ideen‹, wie Platon sich ausdrückt. Damit vertritt Platon eine Zwei-Welten-Lehre, in welcher der raum-zeitlichen Welt des Werdens eine Welt des wahren Seins jenseits von Raum und Zeit entgegensteht, welche auch als Platonischer Ideenhimmel bezeichnet wird. 4 Gemäß der Platonischen Ideenlehre (Idee) stehen zwei Dinge, welche die Eigenschaft F haben, jeweils in Beziehung der Teilhabe (griech.: metexis) zur F -heit. Dennoch nimmt Platon an, dass die konkreten Dinge durch eine Kluft (chorismós) vom Allgemeinen getrennt sind. Der wohl charakteristischste, aber auch provokanteste Aspekt des Platonischen Universalienrealismus besteht darin, dass auch nicht-instantiierte Universalien als existent angenommen werden (in der nichtwahrnehmbaren Welt der ewigen ›Ideen‹). Einhornsein wäre ein Beispiel für eine Universalie, die faktisch nicht instantiiert ist, aber gemäß der Platonischen Sicht auch außerhalb unseres Denkens und unserer Sprache wirklich existiert. Ein Argument für diesen Standpunkt bezieht sich auf die Existenz bedeutungsvoller allgemeiner Ausdrücke, ein weiteres Argument besagt, dass wegen der Unperfektheiten in der realen Welt beispielsweise die Idee des Kreises genau genommen gar nicht instantiiert ist, man jedoch die Sachhaltigkeit der Mathematik nur verstehen kann, wenn man davon ausgeht, dass in ihr Erkenntnisse über abstrakte Gegenstände wie Zahlen und geometrische Gebilde gewonnen werden. Ein wesentliches Problem für Platoniker besteht darin, dass wegen der Behauptung der Existenz nicht-instantiierter Universalien die Konzeption der Instantiierung stark erklärungsbedürftig wird, da nach der platonischen Sichtweise Universalien nicht in Raum und Zeit, sondern in einem ›separaten‹ Reich existieren. Die Instantiierungsrelation muss damit zwei grundverschiedene Bereiche verbinden und viele halten diesen großen Graben für unüberwindbar. Bereits Aristoteles kritisierte die platonische Spielart des Universalienrealismus und setzte dagegen, dass nur solche Universalien existieren, die in konkreten Dingen instantiiert sind. Für Aristoteles gibt es keine zweite Welt der Ideen wie bei Platon, Universalien sind aber trotzdem nicht nur von uns gebildet, sondern existieren in den Dingen (universalia sunt in rebus). Für diesen gemäßigten Universalien-Realismus entsteht damit allerdings das Problem, dass nun ein und dieselbe Entität, eine Universalie, Teil

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verschiedener Dinge zu sein scheint. Im unten folgenden systematischen Teil werden das Universalienproblem sowie das Spektrum der Lösungsansätze noch einmal grundsätzlich aufgerollt (s. ..). Ein zweites großes Thema der antiken und auch mittelalterlichen O. dreht sich um den Begriff der Substanz (ousia), welche bei Aristoteles die wichtigste Kategorie des Seienden ausmacht. Die Hauptbeispiele für aristotelische Substanzen sind ganz gewöhnliche Alltagsdinge wie Pferde, Menschen und Stühle. Trotz der Einfachheit und Vertrautheit dieser Beispiele zeigt sich, dass es ausgesprochen schwierig ist, eine Liste notwendiger und hinreichender Kriterien dafür aufzustellen, dass etwas eine Substanz ist. Da diese Debatte außerdem begrifflich noch voraussetzungsreicher ist als die Universaliendebatte, wird sie gänzlich im systematischen Teil behandelt werden. Schon bei Platon und Aristoteles, wie auch heute, haben ontologische Überlegungen ihren Wert nicht nur in sich selbst, sondern sind von zentraler Bedeutung für andere Themen. So ist Platons ontologische Zwei-Welten-Lehre Grundlage für seine Erkenntnistheorie, z. B. für die Konzeption der Wiedererinnerung der Seele an vor ihrem Eintritt in den Körper erworbenes Wissen. 5 Und bei Aristoteles finden sich aus gutem Grunde einige der prägnantesten ontologischen Diskussionen in den beiden Einführungskapiteln seines Hauptwerkes zur Naturphilosophie (der Physik), u. a. als Vorbereitung seiner Suche nach der ›Anfangsgründen‹ bzw. den grundlegenden Entitäten der physischen Welt. 6 Weitere naturphilosophische Themen der Antike, für welche die O. eine entscheidende Grundlage bildet, betreffen die generelle Möglichkeit von Veränderung und Bewegung sowie die Existenzweise von Raum und Zeit. Schließlich spielen ontologische Aspekte in der Antike, mehr noch aber im Mittelalter, eine entscheidende Rolle für philosophisch-theologische (und auch machtpolitische) Fragen, wie etwa in der Dreifaltigkeitslehre, die einen platonischen Universalienrealismus vorauszusetzen scheint. 7 2.2 Mittelalter Während die antike O. durch den Widerstreit verschiedener universalienrealistischer Ansätze bestimmt ist, werden im Mittelalter erstmals auch nominalistische Positionen formuliert. Gleichwohl ist auch im Mittelalter der Universalienrealismus weiter vorherrschend und findet

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so prominente Vertreter wie Thomas von Aquin (–), der für einen gemäßigten Universalienrealismus aristotelischer Prägung einsteht, und Duns Scotus (–), der sogenannte Doctor subtilis, der eine der subtilsten Positionen im Mittelalter vertrat, die bis in die Gegenwart viel diskutiert wird. Eine wichtige Rolle spielen in der O. von Thomas von Aquin die sogenannten Transzendentalien (lat. transcendere : übersteigen), Grundbegriffe, die allem Seienden zukommen und die aristotelischen Kategorien in dem Sinne überschreiten, als sie diesen nicht zugeordnet, sondern auf sie angewendet werden können. Während Kategorien den Zweck haben, dass Seiende einzuteilen, werden Transzendentalien zur Charakterisierung von Entitäten in allen Kategorien verwendet. Bei Thomas von Aquin finden sich als Transzendentalien Einheit (unum), Gutheit (bonum) sowie Wahrheit (verum). Aus moderner Perspektive kann man beispielsweise auch Wirklichkeit (bzw. Aktualität), Existenz und Möglichkeit als Transzendentalien betrachten (s. .). 8 Der Universalienstreit wurde im Mittelalter u. a. deswegen besonders intensiv ausgefochten, weil dem Universalienrealismus zunehmend ernsthafte nominalistische Positionen gegenüberstanden. 9 Eine besonders extreme, aber auch erklärungsarme nominalistische Position geht auf Roscelin (–/) zurück, der beispielsweise Weißsein für ein bloßes Wort hält, welches nichts weiter mit der Realität zu tun hat als ein Stimmhauch zu sein. Abälard (–) dagegen vertritt einen Klassen-Nominalismus, der von der Grundidee her insbes. im . Jh. bedeutende Anhänger findet (vgl. ..). Der Spätscholastiker W. v. Ockham (–) schließlich gilt als einer der historisch bedeutsamsten Gegner des Universalienrealismus und als ein Hauptvertreter des gemäßigten Nominalismus. Er hat u.a in seinem Hauptwerk, der Summe der Logik, nachzuweisen versucht, dass wir in unserer Sprache letztlich immer nur auf Einzeldinge Bezug nehmen, nie jedoch auf als allgemeine Entitäten verstandene Eigenschaften, sprich Universalien. 10 Ockham zeigt beispielsweise, dass wir uns bei der Verwendung von Allgemeinausdrücken nicht auf eine besondere Kategorie von allgemeinen Entitäten beziehen, sondern lediglich die allgemeine Prädizierbarkeit von Eigenschaften aussprechen. 11 Hierbei weist Ockham darauf hin, dass Sprache und Welt deutlich voneinander abzugrenzen sind in dem Sinne, dass nicht unreflektiert eine Eins-zu-

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eins-Korrespondenz zwischen sprachlichen Ausdrücken, wie etwa ›die Röte‹, und entsprechenden außersprachlichen Entitäten angenommen werden darf. Andernfalls können Probleme ohne sachlichen Gehalt entstehen. Folgerichtig ist die Idee von Ockhams zentralem Ökonomieprinzip, oft als ›Ockhams Rasiermesser‹ bezeichnet, denn auch nicht darin zu sehen, dass irgendwelche existierenden Entitäten mit dem Rasiermesser abzuschneiden seien, sondern vielmehr darin, dass wir uns der Grenzen unserer Sprache bewusst sein müssen, um nicht Sprachprobleme mit realen Sachproblemen zu verwechseln. Trotz seiner Ablehnung nicht-einzeldinglicher Entitäten (also Universalien) ist Ockham kein extremer Nominalist, da er ›lediglich‹ betont, dass sich Eigenschaften nicht auf von Einzeldingen separate extramentale Entitäten, eben die Universalien, beziehen, sondern immer nur in Anbindung an Einzeldinge Bedeutung haben. Es ist weit verbreitet, Ockhams Position als ›Konzeptualismus‹ (lat. conceptus: Gedanke, Begriff ) einzuordnen 12, wonach – in einer Lesart – Allgemeinbegriffe mental real sind (universalia in mente) und in diesem Sinne auch ohne ein (seinsmäßiges) Korrelat in der außermentalen Welt existieren können. Ockham als Konzeptualisten zu bezeichnen ist allerdings sehr problematisch, da der Ausdruck erstens sehr uneinheitlich verwendet wird und zweitens die Gefahr einer Verwechslung mit der subjektivistischen Position von Locke, Berkeley und Hume besteht, welche Begriffe für rein psychologische Gebilde im Denken halten und ebenfalls oft als Konzeptualisten oder auch als ›Begriffsnominalisten‹ (engl. concept nominalists) bezeichnet werden. Ockham dagegen ging davon aus, dass alle Menschen dieselbe mentale Sprache entwickeln, so dass Allgemeinbegriffe einen intersubjektiven Status haben. 13 2.3 Neuzeit Der Begriff ›O.‹ kommt erst Anfang des . Jh. auf und breitet sich nach und nach aus, bis er schließlich in der ersten Hälfte des . Jh. von Chr. Wolff (–) kanonisiert und damit zur Standardbezeichnung wird. Nach der klassischen philosophischen Systematik, welche sich in diesem Zeitraum der sogenannten Schulphilosophie herausbildet und in Wolffs Werk ihren Höhepunkt findet, fällt die O. zusammen mit der allgemeinen Metaphysik (metaphysica generalis). 14 Die spezielle Metaphysik (metaphysica specialis) hingegen thematisiert Gott, Seele und

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Welt und umfasst dementsprechend die Disziplinen der natürlichen (oder ›rationalen‹) Theologie, der Psychologie sowie der Kosmologie. Der Zusatz ›natürlich‹ dient dabei der Abgrenzung zu übernatürlichen Quellen wie den Offenbarungen in den heiligen Schriften. Charakteristische Fragen der speziellen Metaphysik betreffen die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele sowie den (zeitlichen) Anfang der Welt. Während die spezielle Metaphysik sich also mit bestimmten ›Gegenstandsbereichen‹ (Gott, Seele, Welt) beschäftigt, ist die allgemeine Metaphysik bzw. die O. mit dem Seienden im Allgemeinen befasst. Für F. Suárez (–) und Wolff ist O. eine rein deduktiv verfahrende Disziplin, ähnlich der Geometrie, in welcher alle Einsichten aus grundlegenden Prinzipien, den sogenannten ›ersten Prinzipien‹ folgen. Am fundamentalsten ist das Prinzip des Widerspruchs, gemäß dem für alles Seiende gilt, dass keine Entität eine Eigenschaft zum selben Zeitpunkt sowohl haben als auch nicht haben kann. Nach Wolff folgt aus dem Prinzip des Widerspruchs das Prinzip des zureichenden Grundes, wonach es immer einen zureichenden Grund dafür geben muss, dass etwas existiert und nicht eher nicht existiert. Da sämtliche Erkenntnisse der O. aus ersten Prinzipien abgeleitet sind, hat die O. nichts mit der kontingenten Ordnung der Welt zu tun, sondern beschäftigt sich ausschließlich mit notwendigen Wahrheiten. Im Gegensatz insbes. zu Aristoteles’ deskriptiver O.-Konzeption verfolgen viele Ansätze in der frühen Neuzeit revisionäre Ziele, indem sie versuchen, eine »bessere Struktur« zu ersinnen als diejenige, die sich etwa in unserer Sprache oder den landläufigen Meinungen über die Verfasstheit der Welt niederschlägt. 15 Prominente revisionäre O. werden etwa durch R. Descartes (–), B. de Spinoza (–), G. W. Leibniz (–) sowie G. Berkeley (–) formuliert und sind in verschiedenen Zusammenhängen bis heute von systematischem Interesse. Der Substanzdualismus Descartes’ ist u. a. wegen der gegenwärtig sehr stark betriebenen Philosophie des Geistes ein viel diskutierter, wenn auch selten tatsächlich eingenommener Standpunkt. Descartes fasst den immateriellen Geist einerseits und die unbeseelte Materie andererseits als zwei ganz verschiedene Grundtypen von Substanzen auf. Da das zentrale Merkmal des Geistes das Denken sei und das zentrale Merkmal der Materie bzw. des Körpers die Ausgedehntheit, spricht Descartes bei diesen beiden Arten von Substanzen

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von res cogitans (›denkendes Ding‹) und res extensa (›ausgedehntes Ding‹). 16 Im Anschluss daran hat Spinoza einen der originellsten und revisionärsten Ansätze der O. ausgearbeitet. Nach Spinozas substanzontologischem Monismus besteht die Welt aus einer einzigen Substanz und alles Weitere sind lediglich ›Eigenschaften‹ dieser einen Substanz – präziser gesagt: Modi der unendlich vielen Attribute der unendlichen Substanz (identisch mit Gott), von denen die zwei erkennbaren Attribute Denken und Ausdehnung (bzw. Geist und Materie) sind. Im Lichte der modernen Physik hat diese monistische Grundidee im Rahmen einer substantialistischen Auffassung von Raum und Zeit sowie angesichts der Holismusproblematik der Quantenphysik eine gewisse Plausibilität, wenn man Materie als Eigenschaften der Raumzeit (der einen Substanz) auffasst. 17 Eine weitere Idee, die bis in die Gegenwart Anhänger findet, geht auf J. Locke (–) zurück, welcher einen Gegenstand als ein Komplex aus eigenschaftslosem Substrat (welches man nach Abstraktion von allen Eigenschaft geistig ›erhält‹) sowie Attributen auffasst, wobei Locke auch den Ausdruck ›Substanz‹ mitunter in dem Sinne verwendet, für den heute durchgehend die Bezeichnung Substrat oder auch bare particular verwendet werd. Da Locke nicht nur Empirist, sondern auch überzeugter Nominalist ist, kann seine Position auch im Sinne einer relativ unorthodoxen Variante der in der Gegenwart viel diskutierten Tropen-O. gedeutet werden und zwar nicht in der gängigen Bündelvariante, sondern in Kombination mit einer Modifikation der klassischen Substanz/Attribut-Konzeption von Gegenständen (s. ..). 18 Durch I. Kant (–) erfährt die Konzeption von O. als eines deduktiven Systems notwendiger Wahrheiten eine radikale Kritik. Beispielsweise bestreitet Kant die Zulässigkeit des ontologischen Gottesbeweises, der die Existenz Gottes aus seinem Wesen (essenzia) ableitet, und begründet dies damit, dass Existenz kein Prädikat sei und folglich zur Idee Gottes nichts hinzufüge. 19 Kant ersetzt die O. im Sinne einer Lehre vom Seienden an sich durch die transzendentalphilosophische Erforschung der Bedingungen, an die jedes auf sinnliche Erfahrung angewiesene Subjekt gebunden ist, um mögliche Gegenstände in ihrer Gegenständlichkeit zu erfassen (Transzendentalphilosophie). Hierzu gehören insbes. die raum-zeitlichen Formen der Anschauung sowie die reinen Verstandesformen, sprich: die Ka-

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tegorien, welche vor Kant sprachlich-grammatische sowie teilweise auch ontologische, aber nie erkenntnistheoretische Bedeutung hatten. Diese Bedingungen der Möglichkeit von Gegenstandserfahrung sind zwar im Sinne von Intersubjektivität objektiv gegeben, aber über ihren Zusammenhang mit einer unabhängig von unserer menschlichen Erkenntnis existierenden, und in diesem Sinne ›objektiven‹ Welt lässt sich nach Kant nichts aussagen. Diese Sichtweise wird heute auch als konstruktivistische O.-Konzeption bezeichnet, im Gegensatz zu der insbes. mit Aristoteles verbundenen realistischen Konzeption. Nach dem konstruktivistischen Ansatz sind die einzigen uns zugänglichen ›Grundstrukturen des Seienden‹ die ›Konstrukte‹ der menschlichen Erkenntnisweise, was allerdings nicht als psychologische Aussage missverstanden werden darf, sondern sich auf unsere notwendigen Urteilsformen bezieht. Kant drückt dies so aus, dass »der stolze Name einer Ontologie [. . . ] dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen« muss. 20 Dies bedeutet zwar, dass auch Kant Kategorienlehre betreiben kann. Während jedoch etwa Aristoteles davon ausgeht, dass unsere Sprache und folglich unsere kategorialen Grundbegriffe einen Wegweiser zur ›objektiven‹ (d. h. erkenntnisunabhängigen) Beschaffenheit der Welt bilden, sind die Kategorien für Kant als apriorische Denkformen unhintergehbarer Bestandteil unserer Erkenntnisweise. Werden die Kategorien also nach Kant von uns an die Dinge herangetragen, damit diese überhaupt Teil unserer Erfahrung sein können, ist Aristoteles der Überzeugung, dass die Kategorien im Wesentlichen Strukturen der äußeren Welt widerspiegeln. Trotz dieses fundamentalen Unterschiedes haben allerdings sowohl Aristoteles als auch Kant im Gegensatz zu vielen anderen Philosophen (s. o.) deskriptive Ziele. Sie beschränken sich also darauf zu beschreiben, wie unser Denken über die Welt tatsächlich strukturiert ist. 21 Nach Kant wird die Bezeichnung ›O.‹, außer in der Neuscholastik, zunächst kaum noch verwendet und erst durch E. Husserl wieder aufgegriffen. G. W. F. Hegel (–) etwa bearbeitet klassische Themen der O. im Rahmen seiner ›Logik‹. 22

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2.4 . Jahrhundert Während Aristoteles oft mit der Frage beginnt, wie sich die ontologische Verfasstheit der Welt in den faktischen Grundstrukturen unserer Erkenntnismethoden und unserer Rede über Seiendes widerspiegelt, hat sich die O. im Rationalismus der Neuzeit zu einer rein apriorischdeduktiven Disziplin bezüglich erster Prinzipien entwickelt. Obwohl Kant diesen überzogenen Erkenntnisanspruch zurückgewiesen hat, konzipiert er die O. dennoch weiterhin als apriorische Disziplin, bei der die Erfahrung zwar mittels der transzendentalen Reflektion auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit eine Rolle spielt, jedoch keinerlei Inhalte der Erfahrung von Bedeutung sind. Im . Jh. schließlich haben verschiedenste ontologische Ansätze gemeinsam, dass sie die O. wieder an (empirisch) Gegebenes anbinden, womit sie in einem ganz anderen Sinne ›metaphysikkritisch‹ sind als Kant (Metaphysik/Metaphysikkritik). Indessen sind die Methoden sowie die Vorstellungen davon, welches Gegebene den Ausgangspunkt bilden soll, bei diesen Ansätzen radikal unterschiedlich. 2.4.1 Phänomenologische und phänomenologiekritische Richtungen Eine der bis in die Gegenwart wirkungsmächtigsten O.-Konzeptionen geht auf E. Husserl (–) zurück. 23 Die wohl wichtigste und noch heute oft aufgegriffene Unterscheidung ist die von formaler O. einerseits und verschiedenen materialen, oder ›regionalen‹, O. andererseits. Während die formale O. universale Gültigkeit hat, beschreiben materiale O. nur bestimmte Sachbereiche oder ›Regionen‹ wie etwa die Natur, den Menschen oder die Geschichte. Die ›formale O.‹ ist in dem Sinne formal, als die in ihr untersuchten formalen Kategorien bzw. Begriffe (z. B. Gegenstände, Einheit, Vielheit, Abstrakta, Konkreta, Individuen) keine obersten Seinsgattungen darstellen, sondern mit konkretem Inhalt gefüllt werden müssen, welches die materialen O. liefern. Anders als man zunächst erwarten könnte, gehen nach Husserl nicht nur die formale O., sondern auch materiale O. a priori vor. Dies liege darin begründet, dass es nicht die Aufgabe der materialen O. sei, empirisch überprüfbare oberste Verallgemeinerungen bezüglich bestimmter Seinsgebiete zu finden, sondern entsprechend den Vorgaben der formalen O. überhaupt erst die Grundlagen für die einzelnen Wissenschaften zu schaffen. An dieser Stelle kommt der phänome-

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nologische Aspekt (Phänomenologie) von Husserls Ansatz zur vollen Geltung, genauer seine Vorstellung einer ›phänomenologischen Reduktionsmethode‹. 24 Danach soll die ›Welt der natürlichen Einstellung‹ (in Raum und Zeit) ›eingeklammert‹ werden (gr. epoché : Sichenthalten), was u. a. bedeutet, alle Theorien und Meinungen abzulegen, sich aller Existenzurteile zu enthalten und stattdessen die unmittelbar gegebenen Sachen sprechen zu lassen. Weitere entscheidende Komponenten der Einklammerungsmethode sind die ›eidetische Reduktion‹ sowie die ›transzendentale Reduktion‹, wobei letztere den Rahmen der O. verlässt und zur Metaphysik führt. Die Methode der O. ist also die eidetische Reduktion, oder ›Ideation‹, welche darin besteht, geistig vom Tatsächlichen auf das Wesen (eidos) umzustellen, also z. B. von einem individuellen Vorkommnis von Rot auf das Wesen Rot. 25 Dabei geht Husserl (anders als Kant) davon aus, dass es neben der sinnlichen auch eine kategoriale Anschauung gibt, welche es erlaubt, kategoriale, oder ›ideale‹, Gegenstände in evidenter Weise zu erkennen. Da es Husserl um eine Wesensschau geht, bezeichnet er die materialen O. auch als ›Wesenswissenschaften‹. Von zentraler Bedeutung für Husserls Überlegungen sind die Allgemeinbegriffe. Eine Stoßrichtung ist dabei gegen den zu Husserls Zeiten herrschenden ›logischen Psychologismus‹ gerichtet, welcher logische Begriffe als rein psychische Gebilde ansah. In diesem Zusammenhang wendet sich Husserl außerdem scharf gegen die Nominalisten und bezeichnet sich selbst als Konzeptualisten (s. .), wobei seine Position allerdings auch als Universalienrealismus verstanden werden könnte. Husserl argumentiert gegen den Nominalismus, dass die auch von Nominalisten verwendete Redeweise von sich gleichenden Dingen unvermeidbar darauf hinauslaufe, auch eine Hinsicht angeben zu müssen, in der sich diese Dinge glichen. Damit sei aber die Spezies angegeben, unter der die sich gleichenden Dinge stehen. Dies wiederum bedeute bereits die Anerkennung von Allgemeinbegriffen, welche sich nicht auf nominalistische Weise durch alleinigen Bezug auf Einzeldinge eliminieren ließen. Außerdem beweist nach Husserl die Tatsache, dass Wahrheiten über ideale Gegenstände (z. B. Zahlen) evident einsichtig sind, dass diese Gegenstände auch existieren und keine bloßen Fiktionen sind. Wie sich unter .. zeigen wird, lässt sich Husserls Argumenten gegen den Nominalismus durchaus begegnen. Da Hus-

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serls Idee einer Wesensschau die Existenz von idealen Wesenheiten voraussetzt, drohen seinem Programm ernste Probleme, falls sich diese Annahme nicht halten ließe. 26 Vor dem Hintergrund des Neukantianismus sowie der Phänomenologie propagiert N. Hartmann (–) einen Neubeginn der O., der sich von traditionellen apriorischen Ansätzen sowohl der rationalistischen Deduktion aus Begriffen als auch der phänomenologischen Wesenslehre scharf abgrenzt und die O. auf eine streng empirische Grundlage zu stellen versucht. 27 Hartmann strebt eine realistische O. an, die etwas von der Wirklichkeit zu erfassen versucht, die unabhängig vom Erkennenden besteht. Dabei ist er sich jedoch – angesichts der kantischen Kritik – der prinzipiellen Grenzen eines solchen Unterfangens bewusst und geht mit seinem Programm des kritischen Realismus nicht von der ›naiv‹ vorkantischen Vorstellung einer unmittelbaren und vollständigen Erkennbarkeit der Welt an sich aus. Obwohl Hartmanns Ansatz zunächst eine materialistische Tendenz aufweist, wird diese durch seine Annahme von realem und idealem Sein wieder stark relativiert. Beim realen Sein unterscheidet Hartmann vier Schichten oder ›Stufen‹ (das Physisch-Materielle, das Organische, das Seelische und das Geistige), während für ihn das ideale Sein das Gebiet des ›objektiven Geistes‹ umfasst (Mathematik, Wissenschaft, ethische Werte). Die Methode zur Erforschung dieser Schichten nennt Hartmann ›Kategorialanalyse‹. Obwohl die durch den phänomenologischen Ansatz Husserls sowie den kritischen Realismus Hartmanns erneuerte O. sich in Abwendung von der Transzendentalphilosophie sowie vom deutschen Idealismus durch die Hinwendung zum Objektiven, zu den ›Sachen selbst‹ auszeichnet, liegt hier kein naiver Rückfall hinter Kant vor, da die ›neue O.‹ vor dem Hintergrund einer intensiven Auseinandersetzung mit kantischen Überlegungen formuliert wird. Ein weiterer prominenter Versuch, die Fragen der O. zu rehabilitieren, ist M. Heideggers (–) phänomenologischer Ansatz einer sogenannten ›Fundamental-O. ‹. 28 Der Grundgedanke besteht darin, das Verhältnis des Menschen (›Dasein‹) zum Sein in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen. Damit bewegt sich die O. nicht mehr im Rahmen einer Metaphysik, die Aussagen über das Wesen der Dinge zu machen versucht, sondern bekommt eine radikal neue Ausrichtung, die oft als ›anthropologisch‹ bezeichnet wird. Heidegger selbst indessen

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wehrte sich gegen diese Einordnung, da er seinen Ansatz gerade nicht im Sinne einer Regional-O. (vom Menschen) verstanden wissen wollte, sondern als Untersuchung der strukturellen Möglichkeitsbedingungen des Seinsbezugs. Damit aber steigt Heidegger gänzlich aus der Begriffstradition der O. aus; in seinem späteren Werk tritt der Begriff ›O.‹ schließlich auch stark zurück. J. P. Sartre (–) greift in seinem Hauptwerk L’être et le néant Heideggers Idee einer Fundamental-O. wieder auf, wobei die Philosophie Hegels sowie eine modifizierte Fassung von Husserls Phänomenologie weitere Grundpfeiler bilden. 29 2.4.2 Analytische Richtungen Innerhalb der eher (sprach-)analytisch geprägten O. lassen sich drei Hauptströmungen unterscheiden, die sich als (i) naturalistisch, (ii) phänomenologisch und (iii) deskriptiv kennzeichnen lassen. 30 Quine und Davidson sind die Hauptvertreter der naturalistischen Richtung, die historisch insbes. auf R. Carnap (–) zurückgeht. Carnap, der zeitweise bei Husserl gelernt hat, übernimmt dessen Begrifflichkeit von formaler vs. materialer bzw. regionaler O. in seinen frühen Werken kommentarlos. Obwohl Carnap sich  schließlich ausdrücklich von dem ›Zwischenreich‹ der Phänomenologie lossagt, wirken phänomenologische Ideen unterschwellig weiter. So ist Carnaps gesamte Philosophie stark geprägt von Husserls oben beschriebener Idee der Einklammerung von Wirklichkeitsansprüchen, die bei beiden Denkern zu einer gewissen Gleichgültigkeit bezüglich der Auseinandersetzung zwischen realistischen und idealistischen Positionen führte. 31 Ein zentraler Punkt bei Carnap ist dann auch die Unterscheidung von internen und externen Existenzfragen. 32 Während sich interne Existenzfragen darauf beziehen, ob innerhalb eines gegebenen sprachlichen Rahmens (etwa demjenigen der Arithmetik) eine Entität als existent angesehen werden soll (z. B., ob es zwischen  und  eine Primzahl gibt), thematisieren externe Fragen die Existenz dieses Rahmens selbst (z. B., ob Zahlen existieren). Für Carnap sind solche externen Existenzfragen, welche die O. seiner Meinung nach typischerweise stellt, ohne kognitiven Gehalt, da es sich bei der Akzeptanz eines Sprachrahmens um die praktische Frage seiner Nützlichkeit handelt. Im logischen Empirismus galt O. nach der Generalabrechnung von Carnap generell als sinnlos.

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Erst W. V. O. Quines (–) berühmter Aufsatz On what there is () machte die O. im wissenschaftstheoretisch geprägten Lager der analytischen Philosophie wieder salonfähig. 33 Quine unterzieht Carnaps intern/extern-Unterscheidung einer grundsätzlichen Kritik. In ähnlicher Weise lastet Quine Carnap die analytisch/synthetischDichotomie als eines der angeblichen ›Dogmen des Empirismus‹ an. Gleichwohl behält Quine Carnaps naturalistische Grundausrichtung bei, indem er sich in seiner O. ebenfalls stark an den Naturwissenschaften orientiert. Quine erachtet die besten verfügbaren naturwissenschaftlichen Theorien als für die O. maßgeblich und sieht die Akzeptanz einer O. durch ähnliche Prinzipien geleitet wie die Akzeptanz einer wissenschaftlichen Theorie etwa in der Physik: »we adopt [. . . ] the simplest conceptual scheme into which the disordered fragments of raw experience can be fitted and arranged«. 34 Damit wird O. zu einer durch Empirie bestimmten Aufgabe, die sich von einzelwissenschaftlichen Untersuchungen lediglich durch größere Allgemeinheit unterscheidet, nicht jedoch durch ihre grundsätzliche Art. Nach Quine ist ›die O.‹ einer Theorie oder Sprache (im Sinne der damit als existierend angenommenen Entitäten) gegeben durch den Wertebereich derjenigen Variablen, welche in dieser Theorie/Sprache durch Quantoren gebunden sind. Das Fürwahrhalten beispielweise der Aussage ›Einige Hunde sind weiß‹ verpflichtet lediglich zu der Annahme (›ontologische Verpflichtung‹), dass es einige Dinge gibt, die Hunde sind und auch weiß sind. Nur über diese Dinge wird in der Aussage quantifiziert, nicht jedoch über Hundheit oder Weißheit. Damit gehören diese Allgemeinbegriffe nicht in den Wertebereich der Variablen, über die mit dem Operator ›es gibt einige‹ quantifiziert wird, so dass es keinen Grund gibt, sie in die O. aufzunehmen. 35 Inhaltlich ist Quines O. insbes. durch ihre stark reduktionistische Tendenz ausgezeichnet, die sich darin manifestiert, nach Möglichkeit alles Existierende auf nur eine Kategorie von Grundentitäten zu reduzieren, und die bei ihm in einen strengen Klassen-Nominalismus mündet. Im Anschluss an Quine wird der Ausdruck ›O.‹ insbes. in der analytischen Philosophie heute oft ohne weiteren Kommentar in zweifacher Weise verwendet, nämlich einerseits als Disziplinbezeichnung und andererseits, wie oben beschrieben, als Bezeichnung für die Gesamtmenge der Entitäten, an deren Existenz man sich durch das Fürwahrhalten bzw.

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die Akzeptanz der Theorie eines Wirklichkeitsbereiches oder einer Sprache bindet. Die phänomenologischen Richtungen (ii) in der analytisch geprägten O. sind zunächst einmal durch Rückgriffe auf ihre historischen Vorläufer F. Brentano (–) und dessen Schüler Husserl bestimmt. Dabei orientiert sich etwa R. Chisholm (–) mit seiner Betonung des Primats des Intentionalen deutlich an Brentano, während P. Simons (*) sowohl methodisch als auch inhaltlich stark auf Husserl rekurriert. 36 Im Gegensatz zum Naturalismus Quines sind die phänomenologischen Richtungen dezidiert anti-reduktionistisch, was auch schon bei Husserls zentralem Konzept der ›regionalen O.‹ zum Ausdruck kommt. Insbes. bei Vertretern phänomenologischer Richtungen der Analytischen O. lässt sich eine große Spannweite verschiedener Einstellungen zur Realismusdebatte um Universalien feststellen. Das Spektrum reicht von extremem Universalien-Realismus (Chisholm) bis zum Universalien-Antirealismus (Simons). Die Strömung (iii) innerhalb der analytischen O. bilden die deskriptiven Richtungen, die v. a. durch P. Strawson (–) geprägt sind, welcher an die deskriptiven Ansätze von Aristoteles und Kant anschließt. 37 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Philosophen des . (und .) Jh. über ansonsten sehr verschiedene Lager hinweg die Ansicht teilen, dass für die O. (empirisch) Gegebenes von zentraler Bedeutung ist, wobei sich die Überlegungen der O., insbes. im Vergleich zu den Einzelwissenschaften, durch ihr Höchstmaß an Abstraktion auszeichnen. 3 Das Verhältnis der Ontologie zu anderen Bereichen 3.1 Ontologie, Metaphysik, Erkenntnistheorie und Sprache Ebenso wie im Laufe der Philosophiegeschichte diverse verschiedene O.konzeptionen entwickelt wurden, hat es auch bezüglich des Verhältnisses von O. und Metaphysik zahlreiche, mitunter stark divergierende Bestimmungsversuche gegeben 38. Husserl beispielweise versteht O. und Metaphysik, wie oben ausgeführt, als unterschiedliche Komponenten der phänomenologischen Reduktionsmethode. Eine weitere Alternative besteht darin, die Metaphysik als apriorisch bzw. deduktiv zu charakterisieren und die O. als deskriptiv, wobei abhängig von der erkenntnistheoretischen Grundeinstellung fundamentale Uneinigkeit bezüglich der Frage besteht, ob eine erkenntnisunabhängige

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Wirklichkeit oder die Grundstrukturen unsere Erkenntnisweise selbst beschrieben werden. Insbes. unter analytisch orientierten Philosophen wird O. heute nicht selten mit Metaphysik gleichgesetzt. Insgesamt ist jedoch wohl nach wie vor die traditionelle Sicht am gängigsten, Metaphysik als die umfassendere Disziplin zu verstehen. Im Verhältnis von O. und Erkenntnistheorie hat die Kantische Wende zu einer relativ klaren Einteilung in zwei entgegengesetzte philosophische Lager geführt mit den Konstruktivisten (z. B. Kant und Strawson) auf der einen Seite und den Realisten (Aristoteles, Armstrong) auf der anderen Seite. Nichtsdestotrotz können konstruktivistisch und realistisch eingestellte Ontologen sinnvoll miteinander sprechen, da der radikale erkenntnistheoretische Unterschied sich in den Inhalten der O. gar nicht niederschlagen muss – auch wenn der jeweilige Erkenntnisanspruch gänzlich unterschiedlich ist. 39 Die Aussagen der O. werden lediglich anders verstanden. Während der Realist davon ausgeht, dass die O. die Grundstrukturen des Seienden im Wesentlichen so erfasst, wie sie an sich sind, bestreitet der Konstruktivist jeglichen überprüfbaren Zusammenhang der O. mit einer an sich bestehenden Welt. Die O. beschreibt für den Konstruktivisten nur die Grundstrukturen des erfahrungsabhängigen Seienden bzw. unser conceptual scheme von der Welt. Unabhängig davon, ob angenommen wird, dass die O. die Grundstrukturen des Seienden an sich zu beschreiben versucht oder die Grundstrukturen des Seienden, so wie wir Menschen es erfahren, gehen die meisten Ontologen – Realisten wie Konstruktivisten – davon aus, dass sich diese Grundstrukturen in der Sprache widerspiegeln. Damit wird die Sprache zu einem entscheidenden Erkenntnisinstrument der O. In der modernen sprachanalytischen Tradition der O., der ›analytischen O.‹, ist der Zusammenhang von O. und Sprache am augenfälligsten. Allerdings spielt einerseits auch vor dem Aufkommen der ›analytischen Philosophie‹ im . Jh. die Sprachanalyse schon eine wichtige Rolle für die O. und andererseits ist in der gegenwärtigen ›analytischen Philosophie‹ die Sprachanalyse keineswegs mehr so dominant wie in ihrer Anfangszeit. Dass die Sprache eine zentrale Rolle für die O. spielt, ist also kein Charakteristikum, welches sich auf die ›analytische O.‹ beschränken würde. Und auf der anderen Seite beschäftigt sich insbes. die gegenwärtige ›analytische Philosophie‹ ohne Berührungs-

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ängste – allerdings weiterhin mit der ihr eigenen argumentativen und begrifflichen Sorgfalt und Klarheit – mit fast dem gesamten Spektrum ›klassischer‹ ontologischer Fragen. Damit erscheint die Gegenüberstellung von klassischer und analytischer O. heute nur noch begrenzt angemessen. 3.2 Ontologie, (Natur-)Philosophie und Einzelwissenschaften Sowohl innerhalb der Philosophie als auch in den Einzelwissenschaften finden die sehr allgemeinen Überlegungen der O. diverse Anwendungen und dies ist auch der primäre Nutzen der O. Nicht selten wird insbes. die Naturphilosophie als die ontologische bzw. metaphysische Reflektion über die einzelwissenschaftlichen Ergebnisse bezüglich der verschiedenen Wirklichkeitsbereiche charakterisiert, also den Forschungsstand etwa der Physik, Kognitionswissenschaften oder Psychologie. 40 In der Philosophie des Geistes etwa finden diverse ontologische Grundbegriffe an zentraler Stelle Verwendung. Beispiele sind Kategorien wie Eigenschaften, Ereignisse, Propositionen und Sachverhalte, aber auch kategorienübergreifende Begriffe wie Identität und ontologische Reduzierbarkeit. Und vieldiskutierte Positionen in der Philosophie des Geistes wie der cartesianische Substanzdualismus (s. .) sowie der Monismus stellen Behauptungen auf, die sich nur mit der Begrifflichkeit der O. klar erfassen lassen. Ein weiteres Beispiel sind naturphilosophische und wissenschaftstheoretische Analysen (insbes. zur Philosophie der Physik) zum Materiebegriff, zu Raum und Zeit sowie zu Naturgesetzen, wofür die ontologischen Untersuchungen über Substanzen, Ereignisse und Universalien einen wichtigen Beitrag leisten. Für die Interpretation moderner Theorien der Physik, wie der Relativitätstheorie und der Quantenfeldtheorie, spielen diese Überlegungen eine unverzichtbare Rolle. In der Philosophie der Sozialwissenschaften beschäftigt sich die Sozial-O. 41 z. B. mit folgenden Fragen: In welcher Weise existieren soziale Gruppen, sozialer Status und Institutionen? In welcher Beziehung stehen z.B, soziale Entitäten zu natürlichen und geistigen Entitäten? Sogar in der Ethik ist die O. – insbes. aus einer naturalistischen Perspektive – von Bedeutung, denn die »ontologische Fragestellung ist [. . . ] unumgänglich, weil wir die unleugbare Existenz normativer Phänomene mit dem, was wir über die Beschaffenheit der Welt wissen, zusammenbringen müssen«. 42

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Außerhalb der Philosophie kommen Überlegungen der O. ebenfalls zum Einsatz. Seit den er Jahren wird der Ausdruck ›O.‹ auch in der Forschung zur ›künstlichen Intelligenz‹, der Bioinformatik sowie weiteren Fächern verwendet, wobei häufig eine intensive Interaktion mit Philosophen stattfindet. Gerade in letzter Zeit gibt es vielversprechende Ansätze, um philosophische Überlegungen zur O. etwa für die Bioinformatik, die Biomedizin sowie allgemeines Wissensmanagement fruchtbar zu machen. 43 4 Aktuelle Debatten und Gesamtentwürfe Im Folgenden werden die wichtigsten systematischen Themen der O. etwas genauer und im Zusammenhang beleuchtet. Nicht thematisiert werden dagegen Interpretationen oder Weiterentwicklungen bestimmter Philosophen bzw. philosophischer Ansätze. Als Auswahlkriterium dienen die gegenwärtig meist diskutierten systematisch orientierten Gesamtdarstellungen der O. bzw. Metaphysik. 44 4.1 Metaontologische Vorbemerkungen Eine der klassischen Aufgaben der O. ist die Einteilung in grundlegende Begriffe bzw. damit evtl. korrespondierende ›Gegenstände‹ in der Welt. Als ontologische Kategorien bezeichnet man dabei die allgemeinsten Einteilungsbegriffe für Seiendes. Kategorien werden oft in einer nichtüberlappenden ontologischen Hierarchie angeordnet, veranschaulicht z. B. in einem Baumdiagramm, wobei sich in den Verästelungen die weniger fundamentalen Kategorien befinden. 45 Fundamental ist eine Kategorie, wenn sie sich nicht mithilfe anderer Kategorien charakterisieren lässt. 46 Dies bedeutet allerdings, dass unter Ontologen kein Konsens zugunsten einer bestimmten Hierarchie von Kategorien bestehen kann, denn welche Kategorie(n) als fundamental angesehen werden (bzw. wird), ist ein zentraler Aspekt des jeweiligen ontologischen Systems. In den folgenden Abschnitten werden diverse alternative Ansätze auftauchen. Um Kategorien angemessen charakterisieren zu können, benötigt man ein anspruchsvolles begriffliches Repertoire, welches in . systematisch eingeführt wird. Dabei wird es sich als sehr nützlich erweisen, mit dem in der mittelalterlichen Scholastik geprägten Kunstwort ›Entität‹ einen Ausdruck zur Verfügung zu haben, der es gestattet,

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ganz allgemein über Seiendes zu sprechen, ganz gleich, ob es für sich bestehen kann oder in einem starken Sinne von anderen Entitäten (existenziell) abhängig ist, ob es wirklich ist oder nur möglich. Der Ausdruck Entität bezeichnet also selbst noch keine Kategorie, da er keinen Einteilungsbegriff darstellt. 47 Alles, was unter eine der im Folgenden diskutierten Kategorien fällt, ist eine Entität. Der ›Entität‹ ist somit der neutralste Ausdruck, den es in der O. gibt. (Wenn manche Philosophen gelegentlich doch spezieller von ›Entitäten-O.‹ sprechen, so verwenden sie den Ausdruck abweichend vom gängigen Gebrauch spezifischer im Sinne von ›Ding‹ oder ›Substanz‹.) 4.2 Ontologische Grundbegriffe 4.2.1 Einzeldinge und Universalien Obwohl die Unterscheidung von Einzeldingen und Universalien die wohl wichtigste in der O. ist, herrscht diesbezüglich in diversen Hinsichten kein Konsens. Zunächst gibt es Uneinigkeit über die jeweiligen Definitionen, was insbes. daher rührt, dass diese stark abhängig vom Standpunkt bezüglich des Universalienstreits sind (s. ..). Ebenso standpunktabhängig sind die Antworten auf die Fragen, ob es sich überhaupt um eine brauchbare Unterscheidung handelt sowie, ob überhaupt Entitäten aus beiden Kategorien vorkommen. Schließlich herrscht Uneinigkeit darüber, ob Entitäten aus einer der beiden Kategorien auf Entitäten der jeweils anderen Kategorie reduzierbar sind. 48 Trotz dieser Kontroversen hält die Mehrheit der Ontologen zumindest die Unterscheidung an sich für sinnvoll und wichtig. Und unter den Philosophen, welche die Unterscheidung von Einzeldingen und Universalien machen, besteht ein einmütiger Konsens, dass diese beiden Kategorien sich erstens wechselseitig ausschließen und zweitens zusammen genommen alle Entitäten ausschöpfen. Mit anderen Worten, jede Entität ist entweder partikulär oder universell bzw. ist entweder ein Einzelding oder eine Universalie, wobei das ›entweder/oder‹ als ausschließendes ›oder‹ zu verstehen ist. Gemäß dem raum-zeitlichen Ansatz zur Unterscheidung von Einzeldingen und Universalien sind Einzeldinge im Gegensatz zu Universalien durch ihre raum-zeitliche Position individuiert. An derselben raumzeitlichen Position können keine zwei Einzeldinge (derselben Art) existieren und kein Einzelding kann an disjunkten Orten – d. h. in

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räumlichen Gebieten ohne Schnittmenge – gleichzeitig existieren, außer in dem Sinne, dass verschiedene räumliche Teile eines ausgedehnten Einzeldings in unterschiedlichen Gebieten liegen können. Für Universalien dagegen ist gemäß diesem raum-zeitlichen Charakterisierungsvorschlag beides möglich. An derselben raum-zeitlichen Position können mehrere Universalien existieren, da Gegenstände ja in aller Regel gleichzeitig diverse verschiedene Eigenschaft haben. Außerdem können Universalien – wenn man denn an ihre Existenz glaubt – ›in Gänze‹ zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten auftreten. 49 Daher können Universalien auch als ›Wiederholbare‹ (repeatables) und Einzeldinge als ›Nicht-Wiederholbare‹ (nonrepeatables) charakterisiert werden. 50 Ein Nachteil dieses zunächst attraktiv erscheinenden raum-zeitlichen Ansatzes kann darin gesehen werden, dass bereits die begriffliche Unterscheidung von Einzelding und Universalie die starke metaphysische Annahme enthielte, dass es nur raum-zeitliche Entitäten gibt, da ja die Unterscheidung von Universalien und Einzeldingen alle Entitäten ausschöpfen soll. Aber wie sieht es mit Einzeldingen aus, die zwar zeitlich aber nicht materiell sind, z. B. Seelen, sowie mit abstrakten Einzeldingen wie mathematischen Objekten (Zahlen, Mengen)? Die Eigenschaften solcher abstrakter Einzeldinge (z. B. Eigenschaften einer Menge) wären in jedem Fall weder räumlich noch zeitlich. Nun kann sicherlich bestritten werden, dass nicht-materielle sowie abstrakte Einzeldinge überhaupt existieren. Für die Diskussion ist es jedoch problematisch, die Antwort auf diese Frage bereits in der Definition der Grundbegriffe zu fixieren. Ein alternativer Vorschlag zur Unterscheidung von Einzeldingen und Universalien besteht darin zu sagen, dass Universalien in anderen Entitäten instantiiert (oder ›realisiert‹) sein können – sowie auch selbst Instanzen von Universalien höherer Ordnung sein können – während Einzeldinge nie in anderen Entitäten instantiiert sein können, sondern immer nur selbst Instanzen sind. 51 So gibt es keine weiteren Instanzen des Einzeldings Franklin D. Roosevelt als ihn selbst. Die Universalie ein-Präsident-der-USA-sein ist jedoch auch noch in vielen anderen Entitäten instantiiert, z. B. in Barack Obama.

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4.2.2 Abstraktheit und Konkretheit Üblicherweise werden Entitäten dann als konkret bezeichnet, wenn sie entweder in Raum und Zeit existieren oder wenigstens in der Zeit. Damit sind auch Ereignisse wie der . Sept.  konkret, obwohl sie sich nicht räumlich lokalisieren lassen. Neben Zeitlosigkeit und Unveränderlichkeit werden auch Nicht-Wahrnehmbarkeit und Unwirklichkeit als Kriterien für Abstraktheit diskutiert. 52 (Campbells () Bezeichnung von Tropen als ›abstrakten Einzeldingen‹ basiert auf einem vom gängigen Gebrauch abweichenden Verständnis des Ausdrucks ›abstrakt‹.) Beispiele für abstrakte Gegenstände sind mathematische Objekte wie Zahlen und Mengen, aber auch Propositionen und Sachverhalte werden oft dazu gezählt. Außerdem würden die meisten Philosophen – allerdings nicht alle (s. ..) – ohne Zögern auch Universalien als abstrakt einordnen. Die konkreten Gegenstände lassen sich aufteilen in Substanzen (z. B. Organismen und Artefakte) und Nicht-Substanzen (z. B. Ereignisse und ›Massen‹, z. B. Stoffe wie Wasser). Nach der Unterscheidung von Einzeldingen und Universalien liefert die Gegenüberstellung von konkreten und abstrakten Entitäten das wohl wichtigste Begriffspaar, um ontologische Kategorien zu charakterisieren. Abstrakta und Konkreta werden zuweilen sogar als fundamentalste Aufteilung alles Seienden angesetzt. 53 4.2.3 Ontologische Unabhängigkeit Ganz grob gesagt versteht man unter existenzieller oder ontologischer (im Gegensatz z. B. zu logischer) Unabhängigkeit die Fähigkeit, ›alleine zu existieren‹. Aristoteles’ Paradebeispiel für eine in diesem Sinne unabhängige Entität ist ein Pferd. Im Kontrast dazu sind z. B. Eigenschaften, Zustände und Grenzen existenziell abhängige Entitäten, da sie prinzipiell nicht alleine existieren könnten. Dies stimmt faktisch auch für ein Pferd, die alleinige Existenz eines Pferdes ist aber in einer Weise vorstellbar, wie dies etwa für eine Grenze nicht der Fall ist. Um diesen Unterschied genauer dingfest zu machen, ist es nützlich, verschiedene Arten von Unabhängigkeit zu differenzieren. 54 Im Folgenden spielen diese Überlegungen insbes. im Zusammenhang mit der für Substanzen charakteristischen ontologischen Unabhängigkeit eine entscheidende Rolle. 55

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Ein Einzelding E1 ist schwach abhängig von einem Einzelding E2 , wenn es notwendigerweise der Fall ist, dass, wenn E1 existiert, dann auch E2 existiert. Entsprechend ist E1 im schwachen Sinne unabhängig, wenn es von keinem bestimmten Einzelding abhängig ist, außer von sich selbst. Beispielsweise sind Dinge mit essenziellen Teilen schwach existenziell abhängig, nämlich von ihren Teilen, etwa eine Stradivari-Geige von ihrem einzigartigen Resonanzkörper. Ein Einzelding E1 ist dagegen stark abhängig von einem Einzelding E2 , wenn es notwendigerweise der Fall ist, dass, wenn E1 existiert, dann auch E2 existiert, wobei E2 weder E1 noch ein Teil von E1 ist. Entsprechend gilt, dass E1 im starken Sinne unabhängig ist, wenn es von keinem bestimmten Einzelding abhängig ist, außer von sich selbst oder Teilen von sich. Die Grundidee der Unabhängigkeit im starken Sinne ist, dass keine Abhängigkeit von etwas Äußerem besteht. Schließlich ist es noch nützlich, den Begriff der generischen Abhängigkeit einzuführen. Ein Einzelding E1 ist generisch abhängig, wenn es notwendigerweise der Fall ist, dass, wenn E1 existiert, dann auch irgendein E2 existiert, welches von einer bestimmten Art ist. Unter Verwendung dieser Begrifflichkeit lässt sich nun präzise sagen, dass Zustände, Grenzen, Eigenschaften etc. stark abhängig sind, da sie nur existieren können, wenn etwas existiert, dessen Zustand z. B. sie sind und dieses etwas ist offensichtlich kein Teil von ihnen noch sind sie es selbst. Substanzen dagegen sind zwar generisch abhängig (beispielsweise von den chemischen Elementen, aus denen sie bestehen) und schwach abhängig (von ihren Teilen), sie sind aber nicht im starken Sinne von irgendetwas abhängig, also von nichts bestimmtem Äußerlichen abhängig. (Die Nahrung und Atemluft, die das oben erwähnte Pferd braucht, um zu existieren, sind gerade nichts bestimmtes Äußerliches, da es nur irgendwelche Nahrung und Atemluft braucht). In diesem Sinne wird unten bei der Klärung des Substanzbegriffs das Charakteristikum der Unabhängigkeit Verwendung finden. 4.2.4 Ähnlichkeit und Identität In diversen ontologischen Überlegungen spielt die Unterscheidung von qualitativer und numerischer Identität eine zentrale Rolle. Wenn zwei Kinder das gleiche Fahrrad haben, mit denen man sie um die Wette fahren sieht, so hat man es mit Identität im weiteren Sinne, mit

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qualitativer Identität zu tun. Noch eindeutiger kann man in diesem Fall von exakter Ähnlichkeit sprechen. Erfährt man nun, dass die beiden Kinder dieselbe Mutter haben, so ist diesmal strikte Identität gemeint. Man nennt dies auch numerische Identität, da es sich um ein und dieselbe Person handelt, welche die Mutter dieser Kinder ist. Numerische Identität unterliegt dem Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Identischen, d. h. sind x und y numerisch identisch, so haben sie exakt dieselben Eigenschaften. Zwei Themen der O., in denen diese Begrifflichkeit wichtig ist, ist erstens die Debatte um das Fortbestehen eines Gegenstandes in der Zeit und zweitens die Universaliendebatte. In der ersten Debatte geht es um die sogenannte diachrone Identität oder ›Persistenz‹. Anders als bei der synchronen Identität ist die Frage, wie es zu verstehen ist, dass ich derselbe bin wie derjenige, der letzte Woche auf diesem Stuhl saß, obwohl ich mich in der Zwischenzeit natürlich verändert habe. Vertreter der traditionellen Position des Endurantismus sagen, Persistenz bedeute strikte Identität. Damit ergibt sich jedoch ein Konflikt mit dem Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Identischen, worauf die Endurantisten wiederum mit Hilfe der Unterscheidung von essenziellen (oder ›permanenten‹) und nichtessenziellen (oder ›akzidentiellen‹) Eigenschaften kontern können: es gibt einen diachron identischen Kern von essenziellen Eigenschaften. Perdurantisten dagegen versuchen, Persistenz als Zugehörigkeit von Teilen zu einem Ganzen zu erklären, also mit Hilfe der Teil-Ganzes-Relation. Ich, der ich hier jetzt sitze, bin derselbe wie derjenige von vor einer Woche, weil dies verschiedene ›zeitliche Teile‹ (temporal parts) von mir sind. 56 Der zweite oben erwähnte Zusammenhang, in welchem Identität eine zentrale Rolle spielt, ist die Universaliendebatte. Auch hier gibt es wieder zwei Positionen, die sich in analoger Weise wie bei der Persistenzproblematik gegenüberstehen. Die Universalienrealisten behaupten, dass Gleichheit in einer Eigenschaft strikte Identität bedeute, d. h. dass zwei sich in einer Eigenschaft gleichende Dinge ein und dieselbe Eigenschaft haben (in dem Sinne, dass sie dieselbe Universalie instantiieren). Die Nominalisten dagegen verstehen – analog zu den Perdurantisten – Gleichheit in einer Eigenschaft (also das Vorliegen von mehreren tokens desselben types) als Zugehörigkeit von Teilen zu demselben Ganzen: Zwei rote Dinge sind Elemente derselben Klasse (s. ..). 57

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4.2.5 Möglichkeit und Notwendigkeit Die Leitfrage der O. ist: ›Was gibt es?‹ Stellt man sich nun eine ontologische Theory of Everything vor, die alles auflistet, was in der Welt existiert, so stellt sich unvermeidlich die Frage, ob in dieser Liste auch aufgeführt werden müsste, was objektiv auch anders hätte sein können. Dass alle Junggesellen unverheiratet sind, hätte nicht anders sein können. Aber war es notwendig, dass die Sowjetunion zerfällt oder hätte sich die Weltgeschichte auch anders entwickeln können? Mit diesen Überlegungen stößt man zu einem klassischen und sehr wichtigen Thema der O. vor, nämlich der Bedeutung von sogenannten Modalaussagen und -begriffen, die unser gesamtes Reden und Denken im Alltag sowie in den Wissenschaften durchzieht: ›Es ist möglich, dass Peter noch nicht gestorben wäre, wenn er gesünder gelebt hätte, aber er hätte nicht ewig leben können, da er als menschliches Wesen notwendigerweise sterblich ist.‹ Die hier auftretenden Begriffe ›Möglichkeit‹ und ›Notwendigkeit‹ sind die beiden zentralen Modalbegriffe. 58 Chisholm () vertritt sogar die Auffassung, dass die Gegenüberstellung von kontingenten (s. u.) und notwendigen Entitäten die fundamentalste Aufteilung alles Seienden darstellt. ›Modal‹ bezieht sich auf die Art, wie etwas eine Eigenschaft besitzt. Allgemeiner gesagt, ist die Frage nicht, wie die Dinge tatsächlich sind, sondern wie sie sein könnten oder gewesen sein könnten. Weitere wichtige modale Entitäten sind Dispositionen (Beispiel: Wasserlöslichkeit) sowie Kontrafakte (Beispiel: Peter wäre nicht gestorben, wenn . . . Er ist aber gestorben.) Nach heute vorherrschender Meinung können modale Aussagen am besten verstanden werden im Sinne einer Quantifizierung über mögliche Welten, die in einem noch zu diskutierenden Sinne existieren (modaler Realismus). Dabei ist zu beachten, dass der modale Realismus seiner hohen Erklärungskraft wegen akzeptiert wird, und zwar trotz weitgehender Übereinstimmung, dass es sich um eine auf den ersten Blick kontraintuitive Position handelt. Einige Beispiele sollen nun zeigen, wie die Semantik modaler Ausdrücke unter Rekurs auf mögliche Welten bestimmt werden kann. Eine Aussage ist notwendig wahr, wenn die mit der betreffenden Aussage korrespondierende Menge von möglichen Welten, also die Menge der möglichen Welten, in der die Aussage zutrifft, alle möglichen Welten enthält. Anders ausgedrückt, eine Aussage ist dann notwendig

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wahr, wenn sie in allen möglichen Welten zutrifft. Eine Aussage ist möglicherweise wahr, wenn die mit der betreffenden Aussage korrespondierende Menge von möglichen Welten nicht leer ist. Weiter ist eine Aussage zufällig wahr, wenn die korrespondierende Menge von möglichen Welten die sogenannte ›aktuale Welt‹ (s. u.) enthält, aber nicht alle möglichen Welten. Und schließlich ist im Falle einer notwendigerweise falschen Aussage die korrespondierende Menge von möglichen Welten leer. Die heutige Debatte um mögliche Welten dreht sich primär um die Frage, in welchem Sinne mögliche Welten existieren, während es früher in erster Linie um das Ob ging (ein prominenter Gegner möglicher Welten war Quine). Die beiden heute wichtigsten Positionen zum ontologischen Status möglicher Welten sind erstens der Aktualismus 59 (A. Plantinga) und zweitens der Possibilismus 60 (D. Lewis). Aktualisten bestehen auf der relativ moderaten Position, dass nur Objekte in der tatsächlichen (actual ) Welt als gewöhnliche konkrete Objekte existieren und nichtaktuale mögliche Welten zwar existieren, jedoch nur als abstrakte Entitäten. Unsere Welt ist also vor anderen möglichen Welten als tatsächlich (›aktual‹) ausgezeichnet. Die Possibilisten dagegen behaupten, dass alle möglichen (possible) Welten im gleichen Sinne existieren. Keine Welt ist als tatsächlich (›aktual‹) ausgezeichnet. Aktualität zeichne eine Welt genauso wenig aus wie auch andere indexikalische Ausdrücke wie ›hier‹ und ›jetzt‹ keine Stellen in Raum und Zeit auszeichnen, sondern nur etwas über die Position des Sprechenden aussagen. 4.2.6 Wirklichkeit und Existenz In engem Zusammenhang zu dem eben diskutierten Thema Modalität stehen die Begriffe Wirklichkeit (Aktualität) und Existenz. Nach der (Mehrheits-)Meinung des Aktualismus (s. ..) existieren zwar alle möglichen Welten, nur eine von Ihnen ist aber aktual/wirklich. Die Aussage, dass etwas wirklich (aktual) ist, ist also stärker als die Aussage, dass etwas existiert, da alles Wirkliche existiert, aber nicht alles Existierende auch wirklich ist.

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4.3 Fundamentale Entitäten und Kategorien Während in den oben beschriebenen Debatten begriffliche Fragen im Vordergrund standen, liegt der Fokus im Folgenden darauf, welche fundamentalen Entitäten es gibt, was das ›Alphabet des Seienden‹ ist. 61 Seit der Antike zählen hierzu die Fragen nach dem ontologischen Status von Eigenschaften sowie die Frage nach der Verfasstheit von Dingen oder ›Substanzen‹ und zwar insbes. die Frage, in welchem Zusammenhang Substanzen zu (ihren) Eigenschaften stehen. Jüngeren Datums sind Diskussionen z. B. über Sachverhalte, Tatsachen, Ereignisse und Prozesse. Ein Großteil der folgenden Themen wird in der Literatur auch unter dem Titel ›kategoriale O.‹ behandelt, also der Suche nach den fundamentalen Kategorien des Seienden. 62 Dabei geht es um die Existenz, Reduzierbarkeit und gegebenenfalls die Verfasstheit etwa von Eigenschaften/Universalien, Substanzen und Sachverhalten sowie den Zusammenhang dieser Kategorien zueinander. 4.3.1 Eigenschaften Einen (neben dem unter . skizzierten) weiteren Einstieg in das Universalienproblem liefert die Frage nach den Referenzobjekten (Referenz) der Subjekt-Prädikat-Sprechweise, in Sätzen wie z. B. »Der Lieblingsbecher von Stefan ist orange« (S). Der Ausdruck ›Der Lieblingsbecher von Stefan‹ (eine definite Kennzeichnung) hat offensichtlich ein außersprachliches Referenzobjekt, nämlich einen speziellen Becher, also ein Einzelding. Die Frage ist nun aber, worauf sich der Ausdruck ›orange‹ bezieht? Eine erste Möglichkeit wäre zu sagen, dass sich ›orange‹ ebenfalls auf den Becher bezieht. Der Nachteil dieser Antwort ist jedoch, dass der Ausdruck ›orange‹ in jedem Fall seiner Verwendung ein anderes Referenzobjekt hätte. Eine Alternative wäre es zu antworten, dass sich der Ausdruck ›orange‹ auf eine weitere Entität bezieht, nämlich auf das Orangesein allgemein und nicht nur auf diesen speziellen Becher. Der Vorteil dieser Antwort wäre, dass sie eine stabile Referenz des Ausdrucks gewährleisten würde. Der Nachteil ist indessen, dass nun die Bedeutung des gesamten Satzes (S) unklar wird, da die naheliegenden Verständnisweisen scheinbar alle ausgeschlossen werden können. Die Identität von ›Der Lieblingsbecher von Stefan‹ und Orangesein ist offensichtlich nicht gemeint. Es macht aber auch keinen Sinn, den Satz so zu verstehen, dass der Becher ein Teil von Orangesein ist, da es

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sich um ganz verschiedenartige Arten von Entitäten handelt. Während der Becher etwas Konkretes in Raum und Zeit ist, scheint Orangesein nur als eine abstrakte Entität aufgefasst werden zu können. Und auch für die dritte Alternative, nämlich Orangesein als einen echten Teil des Bechers anzusehen, sieht es nicht gut aus, denn dann gäbe es entweder nur einen orangefarbenen Gegenstand oder Orangesein müsste gleichzeitig auch Teil von anderen Dingen sein und wie soll ein und dieselbe Entität vollständig an ganz verschiedenen Orten sein? Schließlich lässt sich unter Rückgriff auf die Peircesche type/tokenUnterscheidung das Universalienproblem noch folgendermaßen einführen 63 : Man stelle sich ein Blatt Papier vor, auf dem zweimal das Wort ›Das‹ geschrieben steht. Die Frage ist nun, wie viele Wörter auf dem Blatt stehen. Der Universalienrealist gibt zur Antwort, dass nur ein Wort auf dem Blatt steht, welches zweifach instantiiert ist. Der Nominalist dagegen antwortet, dass zwei Wörter auf dem Blatt stehen. Das Universalienproblem besteht also darin zu erklären, was es ontologisch bedeutet, dass mehrere tokens desselben types auftreten. Alle Varianten des Nominalismus (N.) eint die Ansicht, dass es nur Einzeldinge, aber keine Universalien gibt. Über diesen Grundkonsens hinaus existiert jedoch ein großes Spektrum rivalisierender Konzeptionen, worauf bereits die Vielzahl von Bezeichnungen in der Literatur hinweist 64, wie etwa Prädikats- oder Begriffs-N. (universalia post res), Klassen-N., Ähnlichkeits-N., Konzeptualismus, asketischer N., metalinguistischer N., zeichentheoretischer N. sowie Tropen-N. Die Grundidee des Klassen-N. (wichtige Vertreter u. a. Abälard, Quine, Lewis) besteht in der Behauptung, dass sich eine Eigenschaft wie Rundsein identifizieren und in diesem Sinne eliminieren lässt mittels der ›natürlichen Klasse‹ von Einzeldingen, welche diese Eigenschaft haben. Dass die Welt in solche natürlichen Klassen zerfällt, wird als eine nackte Tatsache (›brute fact‹) angesehen, die keiner weiteren Erklärung bedarf. Der Zusatz ›natürlich‹ bedeutet, dass die Klasseneinteilung ein objektiver Zug der Welt ist und nicht erst durch unsere Erkenntnisweise erzeugt wird. Die Gegenargumente gegen den Klassen-N. sind Legion. 65 Z. B. fallen Eigenschaften, die kontingenterweise auf dieselben Dinge zutreffen, wie Ein-Herz-Haben und Eine-Niere-Haben, in eine Eigenschaft zusammen, da sich die ihnen jeweils korrespondierenden natürlichen Klassen nicht unterscheiden. Neben solchen

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kontingenterweise koextensionalen Eigenschaften (d. h. mit derselben Extension) bereiten auch mehrstellige Relationen (›x ist y ähnlicher als z‹) sowie Eigenschaften höherer Ordnung (›Rot ist eine Farbe‹) dem Klassen-N. erhebliche Probleme. D. Lewis ist es gelungen, im Rahmen seines modalen Realismus viele Argumente gegen den Klassen-N. auszuhebeln, 66 wobei aber nur wenige bereit sind, ihm in seiner ontologischen Großzügigkeit bezüglich der Existenz möglicher Welten zu folgen. Ein weniger aufwendiger Versuch, die nominalistische Grundidee zu retten, besteht im Ähnlichkeits-N., welcher die Zugehörigkeit von Einzeldingen zu einer natürlichen Klasse (anders als der Klassen-Nom.) als analysierbar betrachtet. 67 Die Idee dabei ist, dass Elemente einer natürlichen Klasse in einer Ähnlichkeitsrelation zueinander stehen und dass es das Vorliegen dieser Relation ist, welches ein primitives, d. h. nicht weiter analysierbares Faktum ist. Es basiert also insbes. nicht darauf, dass sich die Elemente einer natürlichen Klasse in einer bestimmten Hinsicht ähnlich wären, was die Annahme von Eigenschaften bedeuten und die Position damit zirkulär machen würde, da Eigenschaften ja gerade auf Ähnlichkeitsklassen reduziert werden sollen. Ein berühmtes Argument (Russell, Vorläufer: Mill und Husserl) gegen den Ähnlichkeits-N. besagt, dass ein sogenannter Ähnlichkeitsregress auftritt, denn das Verhältnis zwischen zwei Fällen der Ähnlichkeitsrelation (z. B. (i) eine weiße Feder und ein weißes Blatt, (ii) eine weiße Hose und ein weißer Ball) ist wieder eine Ähnlichkeitsrelation und so weiter ad infinitum. 68 Daraus scheint eine ungebremste Vervielfältigung von Entitäten zu folgen, die angesichts des Prinzips der ontologischen Sparsamkeit inakzeptabel ist. Obwohl dieses hochgelobte Argument, welches eine für die O. sehr wichtige und typische Struktur aufweist, fatal für den Ähnlichkeits-N. erscheint, wird es durch zwei Erwägungen, die ebenfalls wichtig und typisch sind, stark relativiert bzw. ganz entkräftet. Das allgemeine Schema des Argumentes – der ›Regress der fundamentalen Relation‹ – fußt auf folgender Frage: Wie geht der jeweilige Lösungsansatz des Universalienproblems mit der ihm eigenen fundamentalen, d. h. nicht weiter analysierbaren Relation um? Konkrete Beispiele für solche fundamentalen Relationen sind z. B. Mengenzugehörigkeit (Klassen-N.), Ähnlichkeit (Ähnlichkeits-N.) sowie Instantiierung (Universalienrealismus). Das

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Drohen eines Regress-Argumentes ist also kein spezifisches Problem nominalistischer Positionen, sondern alle Lösungsansätze zum Universalienproblem sind damit konfrontiert, und zwar insbes. auch der Universalienrealismus. Genauere Überlegungen zeigen sogar, dass das Argument gerade beim Ähnlichkeits-N. letztlich harmlos ist, denn die Ähnlichkeitsrelation superveniert (Supervenienz) über zwei Fällen der Ähnlichkeitsrelation, da Ähnlichkeit eine interne Relation ist, d. h. etwas, das aus der Natur der Relata folgt, in dem Sinne, dass dies in jeder möglichen Welt so ist. Es liegt also zwar ein Regress vor, er zwingt aber nicht zur Annahme weiterer Entitäten, die sich nicht auf die bereits angenommenen reduzieren ließen. Schließlich zeigt sich, dass das Regress-Argument für den Universalienrealismus sogar besonders schwerwiegend ist, denn mehrere Instantiierungen derselben Universalie instantiieren wiederum eine Instantiierungsrelation. Und gemäß der Position des Universalienrealisten ist die Instantiierungsrelation keine interne Relation, da aus der Natur eines Gegenstandes sowie aus der Natur einer Universalie im Allgemeinen nicht folgt, dass der Gegenstand die Universalie instantiiert. Bleibt zu ergänzen, dass damit nicht das letzte Wort gegen den Universalienrealismus gesprochen ist. Es zeigt sich aber bereits deutlich, wie in der O. typischerweise argumentiert wird und außerdem wird nachvollziehbar, wieso viele ontologische Debatten bis heute nicht zum Stillstand gekommen sind. Nach dieser exemplarischen Darstellung eines Argumentationskomplexes muss eine dritte nominalistische Position – der Tropen-N. – noch vorgestellt werden, da diese Variante seit einigen Jahren zu besonders lebhaften Diskussionen führt, was u. a. daher rührt, dass selbst eingefleischte Universalienrealisten (Beispiel: Armstrong) hierin eine Position sehen, die sowohl erklärungsstark als auch ontologisch sparsam ist. Beim Tropen-N. handelt es sich um einen gemäßigten Ansatz, welcher zwar die Existenz von Eigenschaften zugesteht, ihnen jedoch nur den Status von (abhängigen) Einzeldingen zuerkennt und nicht denjenigen von Universalien. 69 Um diese unkonventionelle ontologische Einordnung von Eigenschaften zu betonen, verwendete D. C. Williams () erstmals den Begriff ›Tropen‹ als Bezeichnung für als Einzeldinge aufgefasste Eigenschaften, wie z. B. das Weißsein von Sokrates.

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Die Tropen-O. bricht also die Dichotomie von Nominalismus und Universalienrealismus durch einen moderat-nominalistischen Vorschlag auf. Sie ist insofern nominalistisch, als in der Kategorie der Eigenschaften nur Einzeldinge zugelassen werden. Gleichzeitig ist dies aber auch eine Position, die dem Universalienrealismus so stark entgegen kommt wie es einem Nominalisten nur möglich ist, da Eigenschaften volle Realität zugebilligt wird – nur eben nicht als Universalien, sondern als Einzeldingen. Das Weißsein des Sokrates ist also eine reale Entität, sie kommt aber nur dieses eine Mal vor. Bei dem Weißsein eines anderen weißen Objektes handelt es sich um eine andere Entität. Daneben gibt es aber nicht noch eine Universalie Weißsein, die mehrfach instantiiert sein könnte. Der Wortschöpfer Williams () unterscheidet in seinem ›Alphabet des Seienden‹ einerseits grobe Teile (gross parts) eines Objektes, nämlich seine konkreten Teile und andererseits feinere oder diffusere Teile, die er als abstrakte Teile charakterisiert und als erster mit dem Ausdruck ›Tropen‹ bezeichnet hat. Daneben gibt es diverse alternative Bezeichnungen für sowie Kennzeichnungen von Tropen 70, wie etwa ›Adhärenzen‹ (Bolzano), ›individuelle Momente‹ (Husserl), ›abstrakte Einzeldinge‹ (Campbell), abhängige konkrete Einzeldinge (Simons) und Moden (Lowe). Zur Demonstration der Vorteile der Tropen-O. gegenüber strengeren Nominalismus-Varianten (z. B. Klassen-N.) sei nochmals das obige Beispiel der koextensionalen Eigenschaften (Herz/Niere-Haben) kurz durchgespielt. Der Tropenontologe hat mit der Unterscheidung solcher Eigenschaften keine Probleme mehr, da sich in den Klassen, mit Hilfe derer Universalien eliminiert werden, nicht ganze konkrete Dinge mit all ihren weiteren Eigenschaften befinden, sondern lediglich diejenigen partikularisierten Eigenschaften, um die es geht, also z. B. nur die Eigenschaften der jeweiligen individuellen Lebewesen, ein Herz zu haben. Zum Abschluss der Diskussion des Universalienproblems sei ergänzend zu den Abschnitten . und . der historischen Darstellung nochmals kurz auf die klassischen Positionen des Universalien-Realismus eingegangen. Zum Zwecke der anschließend erfolgenden Unterscheidung verschiedener Varianten eignet sich als Kriterium, ob das Prinzip der Instantiierung erfüllt ist, wonach jede Universalie instantiiert sein

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muss. Während Platon dieses Prinzip klar verletzt, ist seine Beachtung ein wesentliches Kennzeichen der aristotelischen Position. Des Weiteren sei noch eines der heute als am stärksten angesehenen Argumente zu Gunsten des Universalienrealismus erwähnt, wonach die Annahme von Universalien als die einzige Möglichkeit angesehen wird, um die Allgemeingültigkeit von Naturgesetzen zu verstehen. 71 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Spektrum der Positionen in der Universaliendebatte sich erstreckt vom extremen UniversalienRealismus (Platon, der frühe Russell, N. Hartmann) über den gemäßigten Universalien-Realismus (Aristoteles, Thomas von Aquin, Armstrong) zur Mittelposition des Tropen-N. (bei Ockham als ein Versatzstück; Campbell, Simons) und dann weiter über den Ähnlichkeits-N. (evtl. Carnap; Price) bis schließlich zum Klassen-N. (Abälard, Quine), welcher die extremste nominalistische Position darstellt. Von diesen fünf Hauptpositionen behaupten die ersten drei die Existenz von Eigenschaften, während die letzten drei Positionen die Existenz von Universalien bestreiten. An der Mittelposition des Tropen-N. sieht man, dass es eine konsistente Alternative ist, sowohl Eigenschaften anzuerkennen als auch Universalien abzulehnen. Weiter wird in der angegebenen Reihung der Positionen die (eigenständige) Existenz von Eigenschaften/Universalien immer weniger betont bzw. die alleinige Existenz von Einzeldingen immer stärker betont. 4.3.2 Substanzen Während es sich in der Universaliendebatte darum dreht, was Eigenschaften sind und welcher ontologische Status Ihnen zukommt, so geht es im Folgenden zentral um die Frage, in welchem Verhältnis gewöhnliche Dinge zu den Eigenschaften stehen, die sie (nach üblichem Sprachgebrauch) ›haben‹. Gewöhnliche Dinge sind etwa der Stuhl, auf dem ich jetzt sitze und der Monitor, in den ich jetzt schaue, also Entitäten, die insbes. in Raum und Zeit, also konkret sind und außerdem zu (relativ) unabhängiger Existenz fähig sind. Je nachdem, was genau man unter Dingen oder ›Substanzen‹ verstehen will, kann die Bezeichnung auch auf Engel, Seelen, Zahlen und Mengen zutreffen, zweifellos sind dies aber keine g ewöhnlichen Dinge. Weiterhin sind z. B. der Rand meines Monitors und der Zustand meines Kaffees auch Einzel dinge (der engl. Begriff particulars passt hier besser), aber

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keine Substanzen, da sie nicht unabhängig von dem Monitor bzw. dem Kaffee existieren können. Da die Kontrahenten in der Debatte um Dinge/Substanzen und (ihre) Eigenschaften in der Regel bereits einen festen Standpunkt bezüglich des ontologischen Status’ von Eigenschaften haben, ist es wichtig, sich den Zusammenhang der beiden Thematiken vor Augen zu führen. Während die Frage nach dem ontologischen Status von Eigenschaften das Verhältnis einer Eigenschaft zu den vielen verschiedenen Dingen betrifft, die diese selbe Eigenschaft haben bzw. instantiieren (›one over many‹), geht es bei der Debatte um Dinge und (ihre) Eigenschaften um das Verhältnis eines Dinges zu seinen Eigenschaften. Obwohl klar unterschieden, hängen diese beiden Themen auf vielfältige Weise zusammen. Eine der wichtigsten Verbindungen besteht darin, dass die Antwort auf die Frage nach dem ontologischen Status von Eigenschaften die vertretene Theorie des Verhältnisses von Dingen und (ihren) Eigenschaften nicht konterkarieren darf (und auch andersherum). Anders ausgedrückt muss sich die Antwort auf die erste Frage bei der Beantwortung der zweiten Frage bewähren. Dies gilt besonders für die Tropen-O., welche zunächst als Standpunkt in der Universaliendebatte formuliert wird, aber primär bei ihrer Beantwortung der zweiten Frage angegriffen wird – während die klassischen nominalistischen Positionen dagegen unmittelbar bei ihrer Antwort auf die erste Frage angegriffen werden. Man kann hieraus den Schluss ziehen, dass es attraktiv sein könnte, den für die meisten Tropenontologen selbstverständlichen Zusammenhang der beiden Fragen zu entkoppeln. So nimmt etwa Lowe zwar die Existenz von Tropen an, ist aber kein Bündeltheoretiker, wie es Tropenontologen fast immer sind. Auch Ockham, Locke und C. B. Martin haben versucht, eine ›Tropenantwort‹ auf die erste Frage mit einer klassischen Antwort auf die zweite Frage zu verbinden. Hat man damit das Beste beider Welten verbunden. Zumindest bei Lowe ist das insofern nicht der Fall, als er Tropen nicht zur Lösung des Universalienproblems annimmt, sondern zusätzlich zu Universalien. Nach dieser etwas ausführlicheren Diskussion des Zusammenhangs mit der Universaliendebatte soll nun die Frage nach Dingen und (ihren) Eigenschaften genauer erörtert werden. Insbes. muss geklärt werden, was man unter Dingen oder ›Substanzen‹ verstehen will. Hier

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stellt sich auch schon sofort das erste Problem, denn es gibt keinen allgemein akzeptierten Substanzbegriff. Besonders prägnant ist die bereits oben verwendete Möglichkeit, Substanzen als unabhängige konkrete Einzeldinge zu charakterisieren 72. Mit Hilfe dieser Kurzcharakterisierung lässt sich schnell durchspielen, welche Entitäten keine Substanzen sind. Da ›Einzelding‹ den Gegenbegriff zu Universalie darstellt, ist unmittelbar klar, dass Universalien keine Substanzen sind – wobei allerdings bestimmte natürliche Arten wie Menschen mitunter als substanzielle Universalien 73 eingeordnet werden und sie bereits bei Aristoteles unter der Bezeichnung ›zweite Substanzen‹ auftauchen 74. Ein weiteres Beispiel für eine ›Nicht-Substanz‹ ist die Nullmenge, welche zwar ein Einzelding ist und auch unabhängig von anderen Entitäten existieren kann, welche aber als abstrakter Gegenstand gängiger Weise nicht als Substanz angesehen wird. Noch klarere Beispiele für ›Nicht-Substanzen‹ sind ein-elementige Mengen, welche nicht nur abstrakte, sondern auch (existenziell) abhängige Einzeldinge sind, da sie nur existieren, wenn ihr Element existiert. Ein letztes Beispiel für Nicht-Substanzen sind Tropen, welche zwar wie Substanzen konkrete Einzeldinge sind, allerdings erfüllen sie das Kriterium der (existenziellen) Unabhängigkeit nicht, da sie in der Regel nur zusammen mit anderen Tropen in einem Bündel auftreten können, welches dann eine Substanz darstellt – wobei Tropenontologen im Gegensatz zu Aristotelikern Substanzen wegen ihrer Reduzierbarkeit auf Tropen nicht als fundamentale Entität anerkennen. Seit Aristoteles’ Kategorienschrift ist es gängig, Substanzen durch eine Liste von kategorialen Bestimmungen (im Engl. oft als category features bezeichnet) zu charakterisieren, wobei Aristoteles selbst in der Kategorienschrift und der Metaphysik so viele Punkte aufzählt, dass der Begriff wohl überbestimmt wäre, wenn man einfach die Konjunktion bilden würde. Stattdessen entscheiden sich praktisch alle Autoren dazu, nur eine bestimmte Auswahl als den Substanzbegriff bestimmend zu werten und zwar sowohl, was die Interpretation von Aristoteles anbetrifft als auch in rein systematischer Ansicht. 75 Die am meisten diskutierten kategorialen Bestimmungen von Substanzen sind Unabhängigkeit, Identität und Individualität. 76 Weitere diskutierte Charakteristika von Substanzen – wie z. B. Einheit, Persistenz in der Veränderung, letztes Subjekt der Prädikation zu sein oder Bestimmt-

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heit – hängen mehr oder weniger direkt mit den drei erstgenannten zusammen. Während von Unabhängigkeit und Identität bereits oben im Zusammenhang mit anderen ontologischen Grundbegriffen ausführlicher die Rede war, soll Individualität erst an dieser Stelle diskutiert werden, da die darauf folgenden Erörterungen unmittelbar an diesen Punkt anschließen. Individualität ist ein wesentliches Kriterium für Substanzen, da etwas dafür verantwortlich sein muss, dass eine Substanz ein Individuum ist, denn eine Menge von (universalen) Eigenschaften könnte auch zweimal realisiert sein. Und die Möglichkeit der mehrfachen Realisierung von Universalienbündeln ist das zentrale Argument gegen den Ansatz des frühen Russell, gewöhnliche Einzeldinge mit Bündeln von Universalien zu identifizieren. Wesentlich für dieses Gegenargument ist das nicht ganz unkontroverse LeibnizPrinzip der Identität von Ununterscheidbarem (principium identitatis indiscernibilium), welches besagt, dass zwei in keiner Eigenschaft unterscheidbare Dinge auch numerisch identisch sind, formal: ∀x∀y [∀P (P (x) ↔ P (y)) → x = y] . Der wesentliche Punkt ist, dass man kein Individuum ›erhält‹, wenn man lediglich eine Reihe von universellen Eigenschaften zusammengruppiert. Im Laufe der Philosophiegeschichte wurden diverse Vorschläge zur Charakterisierung von Individualität gemacht, angefangen von Aristoteles’ erster Materie über Duns Scotus’ haecceitas oder Diesheit bis hin zu Strawsons raumzeitlicher Lokalisierung 77 und schließlich Russells und Bergmanns bare particulars 78, welche zur Lösung des obigen Individuationsproblems der Universalienbündeltheorie ins Spiel gebracht wurden. Die Konzeption der bare particulars (›bar jeder Attribute’) ist es auch, die in der gegenwärtigen Diskussion und dementsprechend im Folgenden eine besondere Rolle spielen wird. Nachdem nun erstens der Zusammenhang mit der Universaliendebatte beleuchtet und zweitens der Begriff der Substanz näher bestimmt wurde, geht es im dritten und letzten Teil um verschiedene Theorien zum Verhältnis von Substanzen und Eigenschaften. Ein konzeptionell besonders klarer und zumindest als Kontrastfolie sehr wichtiger – wenn auch hochumstrittener – Ansatz basiert auf der oben erwähnten Idee der bare particulars, was meist synonym mit der älteren Bezeichnung Substratum verwendet wird. Substratum ist die lat. Übersetzung des

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griech. hypokeimenon (das Zugrundeliegende). Die Grundidee der bare particular- oder Substratumstheorie startet mit der Überlegung, dass ein Gegenstand derselbe bleiben kann, auch wenn sich einzelne Eigenschaften ändern. Abstrahiert man nun von allen Eigenschaften, so bleibt das übrig, was die Identität eines Gegenstandes ausmacht, nämlich das Substratum, dem alle Eigenschaften zukommen. Ein Gegenstand wird also als zusammengesetzt aus Eigenschaften und eigenschaftslosem Substratum gedacht. Armstrong bezeichnet das Substratum auch als thin particular und den Komplex aus Substrat und Eigenschaften als thick particular. 79 Zunächst erscheint es als unklar, was ein Substrat von einem anderen Substrat unterscheidet, wenn beide als völlig eigenschaftslos angenommen werden. Die Erwiderung der Substratumstheoretiker ist, dass die Individuierungsfunktion von Substrata ein primitives, nicht weiter analysierbares Faktum ist. Diese zunächst befriedigend wirkende Antwort kann so allerdings nicht stehen bleiben. Individuierung kann nicht die einzige Rolle von bare particulars/Substrata sein, denn ansonsten würden sie individuieren, weil sie individuieren und solche ad hoc-Argumente sind wenig überzeugend. Bare particulars/Substrata müssen also wenigstens einen weiteren explanatorischen Zweck erfüllen. Der Standardkandidat hierfür ist ihre Fähigkeit, Träger von Eigenschaften zu sein, was natürlich der Hintergrund für die ältere Bezeichnung Substratum ist. Bare particulars hätten damit, neben ihrer individuierenden Funktion, wenigstens ein weiteres Attribut, nämlich ihre Fähigkeit, Träger von Eigenschaften zu sein. Damit ergibt sich aber ein ernstes Problem, da bare particulars nicht mehr so nackt wären, wie sie ursprünglich konzipiert waren. Und ein zweites Problem folgt daraus, dass bare particulars als Träger von Eigenschaften nun all die Eigenschaften haben, die ihre Nacktheit gerade ausschließen soll bzw. von denen abstrahiert wird: Bare particulars haben Eigenschaften, da sie Träger von Eigenschaften sind, und sie haben keine Eigenschaften, da sie als bare konzipiert sind. Die bare particular-Position kann hiergegen jedoch verteidigt werden. 80 ›Nackt‹ (›bare‹) bedeutet lediglich, keine essenziellen Eigenschaften zu haben. Damit ist der obige Widerspruch aufgelöst, denn das Haben bzw. Nichthaben von Eigenschaften besteht auf zwei unterschiedliche Weisen, da keine der Eigenschaften, die ein bare particular

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als Träger von Eigenschaften hat, eine essenzielle Eigenschaft dieses bare particulars ist. Gegen diese Verteidigung kann allerdings der Einwand erhoben werden, dass das andere Problem dennoch bestehen bleibt und sogar noch deutlicher wird: Träger von Eigenschaften sein ist eine essenzielle Eigenschaft der bare particulars und genau dies ist ja auch die Essenz des synonymen Ausdrucks Substratum. Dieser Folgeeinwand lässt sich evtl. durch die Überlegung entkräften, dass der Status der Eigenschaft Träger von Eigenschaften sein anders ist als der gewöhnlicher Eigenschaften. Es handelt sich nämlich um eine Meta-Eigenschaft, wie auch im Falle von ›eigenschaftslos sein‹ und ›mit sich identisch sein‹. Als Zwischenfazit aus dieser exemplarischen Debatte kann man ziehen, dass die Nichthaltbarkeit der bare particular/Substratum-Position nicht so klar ist wie es zunächst erscheint. In eine ganz andere Richtung als die Substratumstheorie geht der Ansatz des Neo-Aristotelikers Loux, der argumentiert, dass die Tatsache, dass ein Gegenstand strukturiert oder ›komplex’ ist, kompatibel damit ist, dass er ontologisch fundamental ist, sich also nicht in Bestandteile wie Eigenschaften und Substrata zerlegen lässt, die ontologisch fundamentaler wären. 81 Dieselbe Kritik üben Aristoteliker auch an den sogenannten Bündeltheorien, nach denen ein Gegenstand als ein Bündel von Eigenschaften analysiert wird. Wichtigster, früher Vertreter einer Bündeltheorie im . Jh. ist Russell, der Dinge als Bündel von Universalien ansieht, welche in der Relation der Kopräsenz (compresence) zueinander stehen. Aus Sicht der Aristoteliker ist an diesem Ansatz zwar zu loben, dass anders als bei der Substratumstheorie Eigenschaften eine wesentliche Rolle für die Identität eines Gegenstandes spielen, unglücklich sei an der Bündeltheorie jedoch, dass sie das Verhältnis eines Gegenstandes zu seinen Eigenschaften fälschlicherweise als Teil/Ganzes-Beziehung konzipiert. Umgekehrt begrüßt der Aristoteliker an der Substratumstheorie, dass sie richtigerweise betone, dass Eigenschaften ein Subjekt brauchen, dem sie zukommen, wobei die Substratumstheorie dann allerdings in der Hinsicht versage als sie dieses Subjekt als Teil eines Gegenstandes verstehe. Diese neoaristotelischen Bewertungen lassen sich in folgender Weise zusammenfassen. Der Bündeltheoretiker wird für seinen ›Ultraessenzialismus‹ kritisiert, da jede Eigenschaft essenziell für die Identität eines Gegenstandes ist, wenn ein Gegenstand nichts als ein Bündel

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von Eigenschaften ist. Dagegen wird dem Substratumstheoretiker ›Antiessenzialismus‹ angelastet, da keine Eigenschaft essenziell für die Identität eines Gegenstandes ist, wenn seine Identität allein durch das Substrat gegeben ist. Es gibt verschiedene Vorschläge für einen Mittelweg zwischen den beiden Extrempositionen Bündel- und Substratumstheorie, der die jeweiligen Vorzüge beibehält und gleichzeitig die Probleme vermeidet. Wie oben bereits erwähnt, argumentieren Aristoteliker, dass einige Eigenschaften essenziell für einen Gegenstand sind, nämlich diejenigen, welche mit seiner Zugehörigkeit zu einer natürlichen Art zu tun haben. Alle anderen Eigenschaften sind nicht essenziell und können sich ohne Verlust der Identität ändern. Dabei geben Aristoteliker aber zu beachten, dass auch die essenziellen Eigenschaften keine Teile eines Gegenstandes sind, sondern immer über den Gegenstand selbst bestimmt sind, dessen Identität von seiner Zugehörigkeit zu einer natürlichen Art (z. B. Menschen) herrührt. Nach dieser Sicht wäre das Individuierende also die Artzugehörigkeit. Ein weiterer (nämlich tropenontologischer) Lösungsvorschlag zwischen den beiden Extrempositionen der klassischen Bündeltheorie einerseits und der Substratumstheorie andererseits folgt in ... 4.3.3 Sachverhalte, Propositionen, Ereignisse und Prozesse Zu den neben Substanzen und Eigenschaften (insbes. unter Universalienrealisten) am meisten diskutierten ontologischen Kategorien gehören die sogenannten Sachverhalte bzw. Tatsachen (s. auch ..). Nach Armstrong ist ein Sachverhalt die Instantiierung einer Eigenschaft (z. B. dass dieser Ball rot ist), so dass die letzten Bestandteile von Sachverhalten Dinge und Eigenschaften sind. 82 Werden, anders als bei Armstrong, sowohl Tatsachen als auch Sachverhalte angenommen, so sind Sachverhalte platonischen Universalien vergleichbar, da sie auch dann (als abstrakte Gegenstände) ewig und notwendig existieren, wenn sie nicht als Tatsachen in der konkreten Welt bestehen. Eine Kritik an dieser traditionellen Sicht ist, dass Sachverhalte von Propositionen kaum mehr zu unterscheiden wären. 83 Unter Propositionen (z. B. Der Schnee ist weiß.) versteht man sprachund denkunabhängige abstrakte Gegenstände, welche die Referenten von Dass-Aussagen und damit mögliche Objekte propositionaler Einstellungen (z. B. Überzeugungen und Wünsche), also auch mögliche

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Inhalte unseres Denkens sind. Propositionen gelten traditionell als Wahrheitswertträger (Frege, Moore) – d. h. etwas, das wahr oder falsch sein kann – wobei Tatsachen/Sachverhalte ihre Wahrmacher sind, also das, was wahre Propositionen wahr macht. Ein weiteres vieldiskutiertes Thema der O. sind Ereignisse, wobei sowohl große Uneinigkeit darüber besteht, was Ereignisse sind als auch darüber, ob sie eine eigene Kategorie von Entitäten bilden. Zwei der einflussreichsten Ansätze gehen auf D. Davidson (–) und J. Kim (*) zurück. Während nach Davidson Ereignisse durch ihre kausale Rolle individuiert sind 84, konzipiert Kim Ereignisse als Exemplifikationen von Eigenschaften. 85 In beiden Fällen stellt sich wieder die Frage der Abgrenzung von Tatsachen bzw. Sachverhalten. Die begriffliche Nähe dieser Konzepte legt es nahe, nicht alle diese Entitäten (und gar zusätzlich noch Propositionen) als unabhängige Kategorien anzunehmen, sondern bestimmte Reduktionen bzw. Identifizierungen vorzunehmen. Viele Ontologen stimmen aber darin überein, dass es unverzichtbar ist, wenigstens bei einem dieser Begriffe eine entsprechende fundamentale ontologische Kategorie anzunehmen. Abschließend erwähnt seien noch prozessontologische Ansätze des . (und .) Jh. (Whitehead, Sellars, Seibt), die am radikalsten mit dem substanzontologischen Paradigma brechen, wobei Prozesse allerdings auch schon bei Aristoteles (wenn auch in weniger radikaler Weise) eine Rolle spielen. Ein Grundgedanke hierbei ist, dass die geläufige ›Ding-Metaphysik‹ – der auch viele revisionäre Ansätze in ihrer Tiefenstruktur verhaftet blieben – beispielsweise subjektlose Aktivitäten wie ›es schneit‹ nicht angemessen einfinge. 86 Neben solchen dynamischen würden auch stoffartige und soziale Entitäten in der traditionellen O. durchgängig vernachlässigt. 4.4 Beispiele aktueller ontologischer Gesamtentwürfe Während bisher diverse Grundbegriffe sowie ontologische Kategorien mehr oder weniger gesondert voneinander diskutiert wurden, geht es im Folgenden um zusammenhängende Gesamtbilder der ontologischen Grundstrukturen. Dabei werden neben dem Streben nach Konsistenz auch Überlegungen zur ontologischen Verfasstheit verschiedener Wirklichkeitsbereiche (etwas der fundamentalen Physik) angestellt.

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4.4.1 ›Neoaristotelische‹ Ontologie nach Lowe In seiner vergleichsweise ›verschwenderischen‹ vierkategorialen O. geht E. J. Lowe von zwei Kategorien universaler Entitäten sowie zwei Kategorien individueller Entitäten aus. 87 Die universalen Entitäten sind substanzielle Universalien oder ›Arten‹ (kinds) und nicht-substanzielle Universalien, nämlich Eigenschaften und Relationen. Die beiden Kategorien individueller Entitäten sind erstens individuelle Substanzen oder ›Gegenstände‹ und zweitens ›individuelle Eigenschaften‹ oder ›Tropen‹. Substanzielle Universalien (Arten) und nicht-substanzielle Universalien (Eigenschaften) werden jeweils instantiiert durch individuelle Substanzen (Gegenstände) bzw. individuelle Eigenschaften (Tropen). Substanzielle Universalien und individuelle Substanzen sind jeweils charakterisiert durch nicht-substanzielle Universalien bzw. individuelle Eigenschaften/Tropen. Schließlich werden substanzielle Universalien exemplifiziert durch Tropen und nicht-substanzielle Universalien werden exemplifiziert durch individuelle Substanzen. Lowes vierkategoriale O. erinnert stark an Aristoteles’ Position in den Kategorien sowie seiner Metaphysik. Insbes. die aristotelische Aufteilung der Kategorie der Substanzen in Individuen (erste Substanzen) und Arten und Gattungen (zweite Substanzen) entspricht Lowes zwei Kategorien der individuellen Substanzen und der substanziellen Universalien. 88 Neu ist u. a., dass Lowe eine parallele Zweiteilung auch innerhalb der Eigenschaften vornimmt, und zwar in Tropen sowie nicht-substanzielle Universalien (Eigenschaften im klassischen universalienrealistischen Sinn). Damit trägt Lowe den seit ca.  sich etablierenden Argumenten zu Gunsten einer eigenständigen Kategorie von Tropen Rechnung. Allerdings führt Lowe, entgegen der ursprünglichen Idee von Tropenontologen (Williams, Campbell) Tropen nicht anstatt, sondern zusätzlich zu Eigenschaftsuniversalien ein. Dies ist allerdings auch genau der Punkt, wo Lowes vierkategoriale O. an erster Stelle der Kritik ausgesetzt ist. Sie scheint das Prinzip der ontologischen Sparsamkeit deutlich zu verletzen, da sie Kategorien, die eigentlich als natürliche Rivalen erscheinen, ›einfach‹ nebeneinander aufnimmt, nämlich erstens Tropen plus Universalen und zweitens Tropen plus Substanzen. Lowes Verteidigung geht dahin, dass sein vierkategorialer Ansatz nicht verschwenderisch sei, da bei sparsameren O. unvermeidlich Probleme aufträten. Insbes. richteten sich die stärksten Argumente gegen Tropen

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nicht gegen Tropen per se, sondern lediglich gegen Tropen als alleinige Kategorie (s. ..). 4.4.2 Tropen-Ontologie nach Simons Neben dem oben skizzierten – ebenfalls neoaristotelischen – Ansatz von Loux (s. ..) gibt es im Rahmen der Tropen-O. noch eine ganz andere Möglichkeit, die Vorteile von Bündel- und Substratumstheorie zu vereinen und die jeweiligen Nachteile zu vermeiden. 89 Nach Simons’ ›Nukleartheorie‹ sind Substanzen, wie auch laut Bündelund Substratumstheorien, auf fundamentalere Entitäten reduzierbar. Der Ultraessenzialismus der klassischen Bündeltheorie wird aber dadurch vermieden, dass nur eine Kernmenge (nucleus) der gebündelten Tropen essenziell für die Identität einer Substanz sei, wobei dieser Kern essenzieller Tropen die Funktion eines Substrates erfülle. Dabei fällt der Ansatz jedoch nicht in den Antiessenzialismus der Substratumstheorie zurück, da es ja wirkliche Eigenschaften sind, die das identitätsstiftende Wesen einer Substanz ausmachen. Die Hauptkritik an der Tropen-O. richtet sich gegenwärtig weniger gegen Tropen als Kategorie, sondern primär gegen einkategoriale Tropenbündeltheorien, also gegen die Idee, dass konkrete Gegenstände nichts als Bündel von kopräsenten (d. h. raum-zeitlich zusammen existierenden) Tropen sind. 90 So wird etwa kritisiert, dass sich Tropen nur über den Gegenstand individuieren lassen, an dem sie vorkommen. Dazu reiche es aber nicht, Gegenstände als Bündel von Tropen zu konzipieren. Eine weitere Kritik bezieht sich auf den evtl. universalienartigen Status der Kopräsenzrelation, in dem die Tropen eines Bündels stehen sollen, um überhaupt ein Bündel zu sein. Tropenontologen können darauf erwidern (so etwa Simons), dass es sich hierbei um eine interne Relation handele, die zu keinen zusätzlichen ontologischen Annahmen führt. Obwohl die Tropenontologie nach wie vor von vielen Philosophen scharf kritisiert wird„ hat die Formulierung dieser Position in jedem Fall viele Debatten der O. seit dem Ende der er Jahre bis in die Gegenwart auf produktive Weise belebt und auch Universalienrealisten als Sympathisanten gewonnen (Armstrong) oder zur Anerkennung von Tropen als eigener ontologischer Kategorie bewogen (Lowe). Schließlich stößt die Tropen-O. in dem mit der Physik befassten Teil der Naturphilosophie nach wie vor auf spezielles

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Interesse, wie auch Überlegungen zur O. der Quantenwelt bereits bei Simons () eine wesentliche Rolle spielen. 91 Ein Grund für dieses Sonderinteresse besteht darin, dass die Individualitätsproblematik im Quantenbereich anders gelagert zu sein scheint als bei gewöhnlichen Alltagsdingen (Philosophie der Physik). 4.4.3 Sachverhalts-Ontologie nach Armstrong »Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.« 92 Dieser berühmte Satz am Anfang von L. Wittgensteins (–) Tractatus drückt prägnant die Grundbehauptung der Sachverhalts-O. aus. Danach sind Tatsachen (Wittgenstein) bzw. Sachverhalte (Armstrong) die Grundbausteine der Welt (s. ..). 93 Während Wittgenstein unter ›Tatsachen‹ bestehende Sachverhalte versteht, verwendet Armstrong bereits den Terminus ›Sachverhalt‹ synonym mit Wittgensteins ›Tatsache‹. 94 Für den dezidierten Nicht-Platoniker Armstrong existieren nicht-bestehende Sachverhalte nicht in irgendeinem Ideenhimmel, sondern sie existieren einfach nicht. Nach Armstrong (, , ) sind Sachverhalte konkrete und kontingente Einzeldinge (anders in Armstrong !). Was bewegt Armstrong nun dazu, zusätzlich zu Dingen und Eigenschaften (d. h. hier: Universalien) auch noch Sachverhalte anzunehmen? Würden lediglich alle Dinge und alle Eigenschaften aufgezählt, wäre noch überhaupt nicht gesagt, was in der Welt tatsächlich der Fall ist. Wenn ich annehme, dass der oben erwähnte Ball existiert und außerdem die Eigenschaft Rot existiert, ist damit noch gar nicht festgelegt, dass es dieser Ball ist, der rot ist und nicht jenes Buch vor mir. Es muss etwas in der Welt geben, einen ontologischen Grund (›ground ‹) bzw. eine Basis, die dafür verantwortlich ist, dass die Proposition, dass dieser Ball rot ist, wahr ist. 95 Als die ontologische Basis, welche diese Wahrheit garantiert, sieht Armstrong den entsprechenden Sachverhalt an. Armstrong bezeichnet dies als das ›Wahrmacher-Argument‹ für die Notwendigkeit, Sachverhalte anzunehmen. Und noch weitere Überlegungen sprechen dafür, Tatsachen bzw. Sachverhalte ontologisch ernst zu nehmen. So ist es beispielsweise weder das Wasser, welches das Garen der Nudeln verursacht, noch die Eigenschaft kochend, sondern es ist das Kochen des Wassers, also die Instantiierung einer Eigenschaft, sprich: ein Sachverhalt. Kausal wirksame Entitäten, die

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nicht auf etwas Fundamentaleres reduziert werden können, sollten aber wohl Teil unserer O. sein. Ein weiteres Argument zu Gunsten der Annahme von Sachverhalten bzw. Tatsachen als konkreten Entitäten lässt sich im Rahmen einer Korrespondenztheorie der Wahrheit formulieren. Meine Überzeugung, dass Schnee weiß ist, wird durch die Tatsache wahr gemacht, dass Schnee weiß ist. Die Wahrmacher meiner Überzeugungen sind damit weder Gegenstände (wie Schnee), welche ihre Eigenschaften in der Regel nur kontingenterweise haben, noch Propositionen (Der Schnee ist weiß), welche keine Entitäten in der konkreten Welt sind, sondern Tatsachen. 96 Die Argumente für eine Sachverhalts-O. sind nicht für alle Ontologen überzeugend. Für Klassen- und Ähnlichkeits-Nominalisten etwa besteht keine Notwendigkeit, Sachverhalte anzunehmen, da das Rotsein eines Balles einfach in seiner Mengenzugehörigkeit zur Klasse der roten Dinge besteht und diese Zugehörigkeit ist eine interne Relation, d. h. sie ergibt sich aus der Natur der Relata (Klasse und Ball). 97 Neben den Nominalisten gibt es aber auch Universalienrealisten, die bestreiten, dass Sachverhalte die Grundbausteine der Welt sind. Hierzu gehört beispielsweise der Neoaristoteliker Lowe (s. ..), welcher in der Sachverhalts-O. einen der Hauptrivalen seines eigenen Ansatzes sieht. Adams, M. McC. , William Ockham ( Bde.), Notre Dame. – Aristoteles, /, Physik, übers. v. H. G. Zekl,  Bde., Hamburg,. – Aristoteles, , Metaphysik, übers. v. H. Bonitz, bearb. v. H. Seidl, Hamburg. – Aristoteles, , Kategorien, übers. v. E. Wolfes, Hamburg. – Armstrong, D. M., , What is a Law of Nature, Cambridge. – Armstrong, D. M., , Universals – An Opinionated Introduction, Boulder. – Armstrong, D. M., , A World of States of Affairs, Cambridge. – Armstrong, D. M., , Truth and Truthmakers, Cambridge. – Armstrong, D. M., , Reply to Rissler. In: Australasian J. of Philosophy, Bd. / (Special Issue: The Philosophy of D. M. Armstrong) – Beckmann, J. P., , Wilhelm von Ockham, München. – Bergmann, G., , Realism, Madison. – Blasche, S., , Hegelsche Logik. In: EPhW, Bd. . – Carnap, R., , Empirismus, Semantik und Ontologie. Dt. Übers. in: Sukale, M.,  (Hg.), Moderne Sprachphilosophie, Hamburg,. – Campbell, K., , Abstract Particulars, Oxford. – Chisholm, R., , A Realistic Theory of Categories, Cambridge. – Davidson, D., , Handlung und Ereignis, Fft./M. – Detel, W., , Grundkurs Philosophie. Bd. : Philosophie des Sozialen, Stuttgart. – Divers, J., , Possible Worlds, London. – Esfeld, M., , Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, Fft./M. – Flasch K.,  , Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart. – Goclenius, R.,  (), Lexicon Philosophicum, Fft./M. –

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 (), . – 2 Grundmann , Kap. . – 3 Aristoteles, Met. a . – 4 Graeser . – 5 Platon, Menon. – 6 Aristoteles, Physik. – 7 Vgl. Flasch , –. – 8 Meixner , Kap. I I I. – 9 Libera . – 10 Ockham  (/). – 11 Beckmann , Kap.. – 12 Adams . – 13 Lahey ; Beckmann , Kap., vgl. auch Wolterstorff , Kap. . – 14 Wundt . – 15 Strawson , . – 16 Perler , Kap. V. – 17 Vgl. Esfeld , ., .. – 18 Martin , Armstrong , –. – 19 Kant, KrV B –. – 20 Ebd., B . – 21 Vgl. Strawson . – 22 Blasche . – 23 Husserl /, Husserl . – 24 Stegmüller , Kap. I I (bes. –). – 25 Vgl. Künne , Kap. . – 26 Stegmüller ,  f. – 27 Hartmann , ; Stegmüller , Kap. V I. – 28 Heidegger . – 29 Sartre . – 30 Runggaldier/Kanzian . – 31 Mormann ,  f. – 32 Carnap . – 33 Vgl. Tugendhat . – 34 Quine  (), . – 35 Ebd., . – 36 Chisholm , Simons . – 37 Strawson . – 38 Vgl. ›Metaphysik‹ in dieser Enzykl. – 39 Meixner , Kap. . – 40 Vgl. Esfeld . – 41 Detel , Kap. . – 42 Stemmer , . – 43 Munn/Smith , Jansen/Smith . – 44 Armstrong , Loux , Lowe , , Meixner , Runggaldier/Kanzian . – 45 Vgl. d. Überblick in Westerhoff , Kap. I. – 46 Lowe , . – 47 Meixner ,  f. – 48 Lowe , Kap. . – 49 Vgl. Armstrong ,  f. – 50 Armstrong , . – 51 Lowe , –. – 52 Künne , Kap. . – 53 Hoffmann/Rosenkrantz . – 54 Vgl. Schnieder in Trettin . – 55 Simons  und . – 56 Loux , Kap. . – 57 Armstrong , . – 58 Divers , Loux , Melia . – 59 Plantinga . – 60 Lewis . – 61 Williams . – 62 Tegtmeier , Runggaldier/Kanzian . – 63 Armstrong , –. – 64 Armstrong , , Loux  so-

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wie Beckmann . – 65 Wolterstorff , –, Armstrong , Kap. . – 66 Lewis , . – 67 Rodriguez-Pereyra . – 68 Russell , Armstrong , –. – 69 Williams , Campbell , Simons . – 70 Vgl. Schnieder ,  f. – 71 Armstrong . – 72 Simons , . – 73 Lowe , Kap. . – 74 Aristoteles, Kategorien a, –. – 75 Hoffmann/Rosenkrantz , Lowe , Schnieder , Trettin . – 76 Simons . – 77 Strawson . – 78 Bergmann . – 79 Armstrong , . – 80 Vgl. Hofmann in Trettin . – 81 Loux , Kap. . – 82 Armstrong ,  ff. – 83 Loux , Kap. . – 84 Davidson . – 85 Kim . – 86 Seibt in Trettin . – 87 Lowe . – 88 Siehe z. B. Höffe , Kap. . – 89 Simons , Simons in Trettin . – 90 Martin , Heil , Kap. . – 91 Wittgenstein  (), Satz .. – 92 Armstrong , , Westerhoff . – 93 Kuhlmann . – 94 Wittgenstein  (), Satz ; Armstrong , . – 95 Armstrong , . – 96 Grundmann , . – 97 Armstrong , .

Meinard Kuhlmann

Phänomenologie

1 Zum Begriff. Im Allgemeinen bezeichnet ›Phänomenologie‹ (Ph.) die Lehre von den Erscheinungen bzw. des Wissens dessen, was sich zeigt. Diese allgemeine Wortbedeutung von Ph. findet durch die Verbindung zu den griech. Wörtern phainomenon und logos etymologisch ihre Bestätigung. Der griech. Terminus phainomenon leitet sich vom Verb phainestai ab, das auf das Sichtbarwerden von etwas verweist, wie das Vorhandensein der Wurzel pha- des Wortes phos (Licht) in phainomenon belegt. Auf diese Weise wird auf die Sichtbarkeit der Erscheinungen Bezug genommen und der den Griechen zufolge grundlegende und vorrangige Charakter der visuellen Erfahrung für den Erwerb von Erkenntnis wiedergegeben. Das Hauptmerkmal von ›Ph.‹ ist ihre Zugangsweise zu den Phänomenen im Sinne von Gegebenem und die durchweg geforderte Methode eines genauen Hinsehens, Beschreibens und Analysierens. Auch wenn dieser Ausdruck seit dem . Jh. 1 verstärkt Anwendung findet, nimmt er erst zu Beginn des . Jh. einen präzisen philosophischen Sinn an. 2 Das Wort wurde auch zuvor in der Philosophie verwendet, aber ohne spezifische Bedeutung; dies belegt die Tatsache, dass ›Ph.‹ in vielen philosophischen Wörterbüchern zu Beginn des . Jh. nicht vorhanden ist. Eine besondere Bedeutung nimmt der Begriff erst im Denken Edmund Husserls an und bezeichnet v. a. eine Untersuchungsmethode einer bestimmten Denkrichtung. 3 Später nimmt er die Bedeutung der empirischen Beobachtung qualitativer und/oder makroskopischer Merkmale von Gegenständen oder Ereignissen an, die auf einer mikroskopischen und fundamentaleren Ebene theoretisch beschrieben werden können. 4 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte Der Begriff tauchte zuerst  bei J. H. Lambert auf. Er verstand unter ›Ph.‹ eine »Theorie des Scheins«, in der die Ursachen und Quellen sowie verschiedene Arten von Schein zu untersuchen waren und v. a. die Rolle geklärt werden sollte, die der Schein bei der Bildung richtiger und unrichtiger Urteile spielt. 5 Spätere Verwendungen des Begriffs knüpf-

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ten daran an. Doch weitete sich seine Bedeutung bald aus, ohne dass es zu neuen terminologischen Fixierungen gekommen zu sein scheint. Der seit Kant erkenntnistheoretisch wegweisend gewordene Begriff der ›Erscheinung‹ ließ zwar die Bedeutung von ›Schein‹ nicht verschwinden, schwächte aber negative Konnotationen wie Irrtum und Fehlerhaftigkeit ab. Unterschiedliche Oppositionsbegriffe – Erscheinung vs. Ding an sich (Kant), Erscheinung vs. Absolutes (Fichte, Hegel) – lösten zwar den Zusammenhang von Schein und Erscheinung nicht auf, ließen aber begriffliche Unterschiede hervortreten. So hat Fichte ›Ph.‹ als »Erscheinungs- und Scheinlehre« bestimmt. Bei Hegel steht der Titelbegriff seines groß angelegten Werkes Phänomenologie des Geistes () für die Erfahrung, die das Bewusstsein auf dem Wege seines Wissens, angefangen von der unmittelbaren sinnlichen Gewissheit eines erscheinenden Gegenständlichen über die subjektive Gewissheit von sich bis hin zu einem stufenweise dialektisch fortschreitenden absoluten Wissen seiner selbst, gewinnt. Nach Hegel verlor der Begriff der Ph. an Profil. Offenbar hat er ganz allgemein alles umfasst, was mit ›Phänomen‹ in der weiten und vagen Bedeutung von ›Erscheinendem‹ gemeint war. Es möglichst genau zu registrieren und zu beschreiben, wurde zur methodischen Maxime für ein Philosophieren, das sich diesseits aller metaphysischen Spekulation zu halten gedachte. Zu einer schärfer ausgeprägten Verwendung des Ausdrucks ›Ph.‹ kam es, als die Psychologie nach wissenschaftlicher Eigenständigkeit strebte und intensive Reflexion auf ihr Forschungsgebiet wie auf ihre Methodik verlangte. Durch die Einteilung F. Brentanos in kausal erklärende und deskriptive oder phänomenologische (phän.) Psychologie erhielt der Begriff der Ph. neue programmatische Bedeutung: In der Zergliederung und Beschreibung der »psychischen Phänomene« als der in sog. innerer Wahrnehmung zweifelsfrei gegebenen Bewusstseinsvorgänge sollte die Psychologie ihre empirische Grundlage erhalten. 6 Darüber hinaus sollte sie nach Brentano auch Grundlagenwissenschaft für die Philosophie werden. Außer anderen Psychologen wie C. Stumpf, A. v. Meinong und W. Twardowski hat auch E. Husserl Ansätze Brentanos aufgenommen. In seinem phän. Erstlingswerk Logische Untersuchungen (/) hat er die Ph. zunächst ebenfalls noch als »deskriptive Psychologie« bezeichnet. 7 Doch lehrten ihn seine eingehenden Analysen der Beziehung

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zwischen Bewusstseinsakten und ihren Bezugsobjekten, die Brentano als intentionale Beziehung gekennzeichnet hatte (Intentionalität), sehr bald, dass es sich dabei keineswegs nur um eine psychologische Beziehung handelte. Vielmehr stieß Husserl in ihr auf das Schlüsselproblem der Erkenntnistheorie. So wurden die Logischen Untersuchungen zum Grundbuch einer Ph., die zu einer vielgestaltigen phän. Bewegung führen sollte. ›Ph.‹ ist seither zunächst ein Titel für Untersuchungen, deren Thematik nach Vielfalt und Reichweite prinzipiell unbegrenzt ist, und die Unterschiedlichkeit der Schulen und Richtungen lässt eine einzige Definition von Ph. nicht zu. Das galt bereits für den Göttinger Kreis um den frühen Husserl und seinen Schüler und Kollegen A. Reinach und für herausragende Einzelrepräsentanten wie Max Scheler, der mit seinen Untersuchungen des Gefühlslebens und seinen Beziehungen zu Gütern und Werten zum Begründer einer phän. Ethik geworden ist. Noch weniger lassen sich die späteren Freiburger Schüler Husserls, wie u. a. R. Ingarden, E. Fink, L. Landgrebe, die durch kritische Fortführung der Husserlschen Spätphilosophie wie auch durch Neubefragung seiner zahlreichen Forschungsansätze zu eigenständigen Umbildungen gelangt sind, einer gemeinsamen Richtung zuordnen. 8 Was die Phänomenologen insgesamt eint, sind Haltung und Stil eines Forschens, das in möglichst unvoreingenommener Hingabe an die Phänomene zu Einsichten spezifischer Art führen soll. Als ›Wesenseinsichten‹ reklamiert, stehen sie unter einem methodischen Grundpostulat, das eine bestimmte Kultivierung des Sehens im weitesten Sinn verlangt. Dass dieses anfänglich bis hin zu einer »Wesensschau« gehen sollte, hat die Ph. vornehmlich als Wesens-Ph. auf den Weg gebracht. Der dagegen vielfach vorgebrachte Einwand eines fragwürdigen Essenzialismus oder Wesensontologismus schien nicht unberechtigt. Husserl hatte ihm mit seiner ersten rohen Beschreibung von »Wesensintuition« (Intuition) als einer »ideierenden Abstraktion« (Ideation) Vorschub geleistet und ihm auch später so lange nicht wirksam zu begegnen vermocht, ehe er nicht Wesensaussagen durch ein bestimmtes eidetisches Verfahren prüfbar machen und den Wesensbegriff essenzialistischer Kritik entziehen konnte. Doch wurde die Ph. durch ihren Begründer über mehr als drei Jahrzehnte auch zu einer umfassenden phän. Philosophie, die nicht bloß als

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eidetische, sondern insbes. als transzendentale Ph. schließlich alle traditionellen philosophischen Fragen nach Subjekt und Objekt, Mensch und Welt, Natur und Geschichte in sich beschließen sollte. Aus ihr separierte sich Ende der er Jahre kraft einer neuen Grundfragestellung durch M. Heidegger eine anders gelagerte ›hermeneutische Ph.‹. 9 Teils im Spannungsfeld, teils im Zusammenwirken der Husserlschen und Heideggerschen Ansätze bewegt sich die Ph. bis heute, sowohl bei ihrer fortdauernden und vertiefenden Aneignung als auch in kritisch distanzierten Umbildungen in Europa wie in vielen westlichen und fernöstlichen Kulturen. 3 Die Phänomenologie Husserls . Husserls Leitthema der Ph. war die Intentionalität des Bewusstseins. Während die meisten Vertreter v. a. der frühen phän. Bewegung sich gegenständlichen Phänomenen widmeten, verlangte die Analyse von Bewusstseinsstrukturen ab ovo korrelativ anzulegende Untersuchungen, nämlich der intentionalen Bewusstseinserlebnisse, Akte oder ›Bewusstseinsweisen‹ und der ihnen korrespondierenden ›Gegebenheitsweisen‹ von Gegenständlichem. Das führte bei tieferem Eindringen in Aufbau und Funktionsweise der Akte zu der erkenntnistheoretisch grundlegenden Differenz von intentionaler und intendierter Gegenständlichkeit. Ein intentionaler Gegenstand ist jedem Akt strukturell zugehörig, wenngleich er als einer und derselbe erst in spezifischen Aktsynthesen gegeben sein kann. Doch ist nicht er als ein bewusstseinsimmanenter Gegenstand der eigentlich intendierte; gemeint ist vielmehr ein wirklicher, bewusstseinstranszendenter Gegenstand. Das macht das Erkenntnisproblem phän. als ein Relationsproblem zweier Arten von Gegenständlichkeit sichtbar, die in ihrer jeweiligen Beziehbarkeit auf ihre entsprechenden Bewusstseinsweisen zu untersuchen sind. Da die Differenz zwischen dergestalt gegenständlicher Immanenz und Transzendenz oder von Gegenständlichkeit im Bewusstsein und außerhalb seiner aber selber in das intentionale Bewusstsein fällt, und da für die Klärung ihrer Relation ein Standpunkt außerhalb des Bewusstseins nicht eingenommen werden kann, ist mithin auch über Bewusstseinstranszendentes nur im Wege der Gegebenheitsweisen von Transzendenz, und zwar vermittels intentionaler Gegenstände, zu entscheiden.

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Bedenken, ob auf diese Weise bewusstseinstranszendentes, wirkliches Sein überhaupt erreicht, getroffen oder gar bewiesen werden könne, erweisen sich dabei als sinnlose Fragen. Phän. vertretbar sind nicht Beweisversuche für die Realität der Welt außerhalb des Bewusstseins; vielmehr geht es allein um die Frage, was der Sinn der Rede von Wirklichsein und dementsprechend auch von Unwirklichsein sei, von Realsein oder Idealsein, Sein in Fiktion und in Phantasie, und wie derartige Seinsmodi, die jedwedem Gegebenen gegenständlich, wenngleich in aller Regel unausdrücklich, zugesprochen werden, zu verstehen seien. Für die Beantwortung dieser Frage nach dem Sinn von Sein dienten Husserl einige reduktive Maßnahmen. . Die wichtigste der Husserlschen Reduktionen ist die transzendentale Reduktion oder phän. Reduktion im eigentlichen Sinne. 10 Um den Seinssinn eines Seienden, der ihm offenbar nicht in der Weise sonstiger Bestimmtheiten eigenschaftlich zukommt, überhaupt wahrnehmen zu können, postuliert Husserl zunächst die »Einklammerung« seines Seinsmodus resp. korrelativ die »Inhibierung« seiner Seinsmeinung. Damit soll diese aus allen sonstigen Bestimmungen eines Gegenstandes herausgehoben und für die phän. Analyse thematisch gemacht werden. Die mit keinem anderen reduktiven Vorhaben vergleichbare Besonderheit dieser Reduktion liegt darin, dass diese nicht bloß an einzelnen intendierten Gegenständen, sondern universal für jegliches Sein durchzuführen ist. Das gilt also für die Welt im ganzen wie in eins damit auch für das Sein des Bewusstseinssubjekts. Dieses erfährt sich im Vollzug der Reduktion offenbar in einer denkwürdigen Doppelung: als Menschenwesen Seiendes in der Welt und somit auch mit anderen seinesgleichen in vielfältigen intersubjektiven Verflechtungen stehend, findet es sich als Vollzugssubjekt einer solchermaßen universalen Reduktion doch auch in einer eigentümlichen Weise der Welt gegenüber. Als Subjekt dieses Vollzuges ist es nach Husserl transzendentales Subjekt: Es thematisiert in einer als ›Epoché‹ gekennzeichneten Umwandlung seiner natürlichen Einstellung den Seinssinn der Welt wie auch den seiner selbst, indem es alles vormals real Gegebene nunmehr als ein ›als‹ real ›Vermeintes‹ in den Blick nimmt. Husserl hat für die intentionale Analyse derartiger Seinsmeinungen im Rahmen der Epoché seinen frühen, lediglich aktphän. orientier-

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ten Begriff der Intentionalität bemerkenswert ausgeweitet bis zu dem späteren eines intentionalen Lebens. Sein phän. Rüstzeug wurde mehrmals verfeinert in einer Konstitutionsanalyse, die schließlich auch bis in die sog. passive (vorprädikative) Genesis intentionaler Aktivitäten reichte. Sie ergab in summa, dass Sein jedweder Art und Form als konstituiert begriffen werden müsse insofern, als der Sinn, in dem es als dieses oder jenes Sein erscheint, auf »sinnstiftende Leistungen« der transzendentalen Subjektivität zurückgeht. Diese ist in ihrer weltlichen Konkretion jeweils geschichtlich verfasste Intersubjektivität. So fungiert sie sinnkonstituierend nicht weniger als für die Welt als Universum der Dinge und dinglichen Vorgänge auch für die Lebenswelt. 11 Diese erweist sich zu allerletzt als ursprünglicher, weil nicht weiter hintergehbarer Konstitutionszusammenhang von menschlichen Subjekten, in dem die Konstitution aller ihrer Objekte fundiert ist. Die transzendentale Ph. Husserls stellt damit vor die Aufgabe, die Welt in all ihren Sondergestaltungen als Gebilde sinnstiftender subjektiver Leistungen zu verstehen, und zwar von ihren ersten sinngenetisch erschließbaren Ursprüngen her bis hinauf zu denen der Wissenschaften, damit von daher sowohl die Sinnfrage der Welt und alles ihr Zugehörige verstanden als auch die ihren Sinn stiftende Subjektivität so weit wie möglich durchsichtig werden kann. Eine weitere, eidetische Reduktion ist in allen Analysen Husserls von Anfang an wirksam gewesen. Mit ihrer Explikation hat er jene »ideierende Abstraktion« korrigiert, die in den Logischen Untersuchungen das Wesen einer Sache angeblich bereits sollte erschaubar machen können, indem in einer einzigen exemplarischen Einzelanschauung lediglich von ihrem faktischen hic et nunc abgesehen wurde. Dagegen postulierte Husserl später ein Verfahren, das unter dem Namen eidetische Variation verlangt, ein gegebenes Faktum frei umzufingieren und alle möglichen phantasiemäßigen Abwandlungen seiner Beschaffenheiten, versuchsweise auch bis an die Grenzen des Denkunmöglichen, zu durchlaufen. Als sein Wesen ist dann festzuhalten, was sich in allen derartigen Variationen als invariant erweist. Da aber diese einen Spielraum nicht abschließbarer Möglichkeiten eröffnen, bleiben danach auch Wesensaussagen für ihre Modifizierung und Korrektur prinzipiell offen. Überdies haben sich dergleichen Wesen für Husserl ebenfalls als Resultate sinnkonstituierender Aktivitäten des Subjekts erwiesen, so

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dass auch damit von einem Wesensontologismus in seiner Ph. nicht mehr die Rede sein kann. Das Verfahren der eidetischen Variation 12 ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Ph. im ganzen, insofern sie die Allgemeingültigkeit ihrer Erkenntnisse betrifft. Denn der Typus der von der Ph. reklamierten Allgemeinheit ist kein anderer als der einer Wesensallgemeinheit. Weder ein formal Allgemeines wie in der Logik und Mathematik noch ein Gesetzesallgemeines wie in den positiven Gesetzeswissenschaften will und kann die Ph. beanspruchen, denn allenfalls ein spezifisch Allgemeines kann für anderes Allgemeine als fundierend fungieren. 4 Weitere Entwicklungen 4.1 Die Phänomenologie Heideggers Die wichtigsten Entwicklungen in der phän. Bewegung sind dem Werk Martin Heideggers, des bekanntesten Mitarbeiters Husserls, zuzuschreiben. V. a. durch die zwei grundlegenden Werke, Sein und Zeit () und den Brief über den Humanismus () hat das Denken Heideggers einen großen Teil der Rezeption der Ph. des . Jh. bestimmt. Auch wenn er sich öffentlich auf die Positionen Husserls berief und auf die Kontinuität zwischen beiden Denkmodellen hinwies 13, ließen die Ergebnisse seines Philosophierens den Abstand zu Husserl erkennen. Ausgehend von theoretischen, theologisch orientierten Neigungen, die den von Husserl auf dem Gebiet der Mathematik ausgebildeten Interessen fern waren, teilte Heidegger zwar den Ansatz der Logischen Untersuchungen, v. a. den antipsychologischen und deskriptiven Charakter der Analyse wie auch die Berufung auf die Anschaulichkeit als Zeichen der Bestätigung für die Gegenstände, die die Aufmerksamkeit des Phänomenologen in Anspruch nehmen sollten. Dennoch verlor die Anschaulichkeit in Heideggers Ansatz die ihr von Husserl zugeschriebenen Bewusstseinsmerkmale. Insbes. betrachtete es Heidegger als irreführend, die Anschaulichkeit oder auch die Gegenständlichkeit des Denkens vom Standpunkt der Korrelation zwischen Noema und Noesis aus zu behandeln. Die Betonung der Noesis führe infolge ihres Charakters der Apperzeption, der sich auf die sinnlich wahrnehmbaren Gegebenheiten auswirkt, wieder Elemente des Psychologismus in die phän. Beschreibung ein 14 ; außerdem verleihe das Noema als Objektivität, die der Noesis strukturell innewohnt, der Ph. die Merkmale einer

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subjektivistisch ausgerichteten und für die Gefahren des Solipsismus offene idealistischen Philosophie, deren Hauptauswirkung der Verlust der Beziehung zwischen Individuum und Welt sei. Das Individuum bliebe in sein eigenes Bewusstsein ›eingeschlossen‹. Schon in seinen frühen Schriften – in der Sprache der Logischen Untersuchungen – lehnt Heidegger jegliche Berufung auf geistige Handlungen und Ereignisse zur Erklärung und Beschreibung ideeller Entitäten, logischer Gesetzmäßigkeiten und des Verstehens von Bedeutungen ab, weil dies einer Übernahme von Positionen, die vom Zeitgeist nahe gelegt seien (Zeitalter der Psychologie), und einem Zugeständnis an die ›Naturalisierung des Bewusstseins‹ (Naturalismus) gleichkomme. 15 Heideggers Interesse orientiert sich an dem, was seiner Meinung nach Hauptgegenstand der Philosophie sein soll: das Verstehen und Beschreiben des menschlichen Lebens in seiner Besonderheit. Diese Besonderheit besteht darin, dass es schon von jeher unmittelbar in eine Welt voller Sinn und Bedeutung eingetaucht ist, für deren Verstehen es nicht notwendig ist, auf die Reflexivität des Bewusstseins zurückzugreifen. Um diese ursprüngliche ›Geworfenheit‹ des Individuums in die Welt zu beschreiben, gibt Heidegger die traditionelle Terminologie (Subjekt, Bewusstsein usw.) auf und verwendet den Begriff ›Dasein‹. 16 Sinn und Bedeutung erscheinen vor ihrer theoretischen Erfassung und ihrer begrifflichen und objektivierenden Beschreibung. Sie ergeben sich intuitiv, d. h. sie sind in gewisser Weise dem Individuum präsent, jedoch nicht als ›Gegenstände‹, als Extensionen, die unter Begriffen fallen, oder als im Geist des Individuums vorhandene ›Repräsentationen‹. Ihre Intuitivität kann nicht mittels eines Rückgriffs auf das Bewusstsein und seine konstitutiven Verfahren erklärt werden. Für Heidegger gehören Sinn und Bedeutung zum Wissen, das das Leben in Bezug auf sich selbst besitzt; um sie in ihrer Ursprünglichkeit erfassen zu können, muss man das Lebens selbst ausgehend von seiner Faktizität interpretieren. Diese Interpretation soll darauf abzielen, die innersten Strukturen des Lebens zu begreifen, die den Sinn ihres Seins (Ontologie) bestimmen. 17 Sind diese Strukturen erst einmal erfasst, müssen sie zur Sprache gebracht werden, ohne dass ihr Sinn aufgrund des Gebrauches einer unpassenden Terminologie für ihre Beschreibung verfälscht wird. Heidegger interessiert sich für Themen, die denen der dt. Lebensphilosophie nahe

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sind. Er weist der Philosophie die Aufgabe zu, die eigene Terminologie neu zu definieren, um das Leben in seiner Grundbeweglichkeit, die seinen tiefsten ontologischen Sinn bestimmt, beschreiben zu können. Die Philosophie muss das Leben beschreiben, ohne es zu ›entleben‹. 18 Das Bewusstsein verliert bei Heidegger die Rolle als ursprünglicher Boden für die Bildung des Untersuchungsgegenstands des Phänomenologen; und die Erscheinungen ›entformalisieren‹ sich und verlieren die Spezifizität, die Husserl ihnen zuerkennt. Die Modifizierung des theoretischen Kontexts erfordert eine Neudefinition der Bedeutung von Ph.: Heidegger weist ihr den Status einer ›reinen Methode‹ der philosophischen Untersuchung zu, zusammen mit dem Status der ›reinen Möglichkeit‹ des Denkens im Allgemeinen. 19Er begründet diese Neubestimmung mittels einer Neuinterpretation des griech. Stammwortes von Ph. Phainomenon spielt auf das Sich-selbst-Zeigen an, aber nicht nur in seiner Offenkundigkeit für das Bewusstsein, sondern auch als das, was nicht unmittelbar vorhanden ist. Es zeigt sich in seinem Verborgensein. Mit dieser Neubestimmung (insbes. die Revision des Begriffs der Ph. als ›reine Möglichkeit‹) entfernt sich Heidegger im Gebrauch von ›Ph.‹ von Husserls Auffassung. Diese Entfernung wird durch die Neufestlegung zweier grundlegender methodologischer Prinzipien begründet: (i) das ›Prinzip aller Prinzipien‹, weshalb die Analyse der Phänomene auf der Ebene und in den Grenzen von dem bleiben muss, was sich »uns in der ›Intuition‹ originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet« 20 ; und (ii) die ›phän. Fundamentalbetrachtung‹, wonach die phän. Analyse von der Epoché ausgeht, durch die die naiven, spontanen und alltäglichen Eigenarten der Welterfahrung ›ausgeklammert‹ werden. 21 Auch der Logos-Begriff wird von Heidegger neu interpretiert und auf seine Bedeutung im vorsokratischen Griechenland zurückgeführt: reden. Er bringt daher kein formalisiertes und rationales Wissen zum Ausdruck, sondern Merkmale wie Unmittelbarkeit und Spontaneität, die dem gewöhnlichen Reden eigen sind, in dem sich der Sinn von Sein als Identitätszuschreibung zeigt. Dennoch ist das spontane Sichergeben von Seinssinn infolge der fortschreitenden Spezialisierung der Sprache allmählich verloren gegangen. Jedoch zeigt sich nach Heidegger im Alltag und im alltäglichen Sprechen weiterhin die Objektivität der Dinge, mit denen das Leben ›überwiegend‹ spontan in Kontakt kommt, und

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sie wird verstanden. Heidegger formuliert eine eigene Theorie des ›hermeneutischen Zirkels‹, weshalb die Welt der Erfahrung nicht auf der Grundlage ihrer wahrnehmbaren Vorstellung gegründet ist: Sie zeigt sich, weil sie ursprünglich sprachlich verstanden wurde. Hier unterscheidet Heidegger einen uneigentlichen Sinn des Sich-zeigens des Seinssinns der Dinge von einem eigentlichen Sinn: uneigentlich ist das Identitätsmerkmal, das von der Sprache als Struktur verliehen wird, die aus wörtlichen und abstrakten Bedeutungen besteht; eigentlich ist das, was aus der vorsprachlichen und unreflektierten Praxis hervorgeht. Auch das Verstehen wird in eine authentische und in eine uneigentliche Ebene unterteilt: uneigentlich ist das Verstehen, das den Dingen Identität aufgrund von Inhalten verleiht, die durch Sprache überliefert und unkritisch übernommen wurden; eigentlich ist das Verstehen, das sich auf den Wert der Praxis stützt und das den Sinn des Seins vom Kontakt des Individuums mit den Dingen der Welt aus bezieht und die sprachliche Vermittlung soweit wie möglich vermeidet. Das authentische Verstehen wird als Art und Weise des Erwerbs von ursprünglichem und spontanem Wissen beschrieben, die ohne theoretische Vermittlung vor sich geht. Um die besonderen Eigenschaften des Verstehens auszudrücken, führt Heidegger den Ausdruck ›formale Anzeige‹ ein, der auch eine wesentliche Veränderung der phän. Methode darstellt. 22 Das Verstehen richtet sich nicht auf etwas, um es als Gegenstand, als eine Gesamtheit von bestimmten Eigenschaften zu erfassen, die es ermöglichen, die Dinge unter betreffende Begriffe anzuordnen; das Verstehen bietet ›Anzeigen‹ auf die Eigenschaften, die dem Erfassten nicht zugewiesen werden sollen. Der ›formale‹ Charakter des Anzeigens drückt also eine Negativität aus: das heißt eine ›Leere‹ fester und typisierender Strukturen, die die begriffliche Erfassung und Vorstellung ermöglichen. Das, was das Verstehen versteht, ist – nach Heidegger – der Sinn des Seins der Dinge als etwas, das sich nicht in Begriffen und Definitionen erschöpft, die es ›unbeweglich machen‹ und es ein für alle Mal objektivieren. Für Heidegger kommt der Wortschatz des Phänomenologen mit Ausdrücken voran, die nicht den Charakter der formalisierenden Beschreibung haben, die von Husserl vertreten wurde; dieser Wortschatz muss durch eine Analyse der unmittelbaren Lebenserfahrung gebildet werden. Heideggers Ansatz trennt das philosophische Wissen von anderen Wissensfor-

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men und macht die von Husserl der Ph. zugewiesene Funktion als Fundamentaldisziplin für andere Wissenszweige fruchtlos. Dieser Ansatz lenkt die Aufmerksamkeit des Phänomenologen radikal auf die Sprache und ihre grundlegende Funktion gegenüber der Gegenstandskonstitution des Denkens. Als Trägerin der Kriterien für die Ermittlung der Dinge (Kategorie) wird die Sprache sozusagen zum Ort der Intentionalität: Nach Heidegger beherrscht die Sprache die Wahrnehmung bis zu dem Punkt, dass »wir sehen, was man über die Sache spricht«. 23 Die Struktur des Objekts wird als Ergebnis der sozialen Eigenschaften der Sprache interpretiert; sie wird nämlich zuerst als Medium der naiven Ontologie 24 der Welt beschrieben, danach als »Haus des Seins«. 25Die Aufmerksamkeit, die Heidegger auf die Sprache lenkt, hat eine philosophische Mode hervorgebracht: die Kritik der Philosophie der Gegenwart, in die jede Kritik an der Form der Begriffsdefinition als begriffsmäßig in sich entfremdende Objektivierung, die nicht in der Lage ist, einen angemessenen Zugang zum Wesen des Seins zu begründen, eingeschlossen ist. 4.2 Andere phänomenologische Strömungen in Deutschland .. Eine erste Entwicklungsphase der Ph. in Deutschland ist bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinein dadurch gekennzeichnet, wie die ersten Schüler und Mitarbeiter Husserls die Einführung des Begriffs der phän. Reduktion und der Korrelation von Noesis und Noema in die Ph. aufgenommen und interpretiert haben. Von vielen wurde die Einführung der phän. Reduktion als übertriebene idealistische Wende angesehen, die, über die Annäherung des Denkens Husserls an Kant und Berkeley hinaus, die Aufgabe jenes grundlegenden ›Realismus‹ implizierte, der die Logischen Untersuchungen gekennzeichnet hatte. Zu den Skeptikern in Bezug auf die idealistische Wende Husserls zählten die Angehörigen des so genannten phän. Zirkels in Göttingen und München, der dazu tendierte, die Unabhängigkeit der Gegenstände von den konstitutiven Verfahren der Subjektivität zu unterstreichen. 26 Zu den, wenn auch kritischen, Befürwortern der Einführung der phän. Reduktion gehörten Edith Stein und Max Scheler. Max Scheler hielt zwar die Vorstellung der Wesensschau als zentral aufrecht, betrachtete jedoch die Ph. im Unterschied zu Husserl nicht als eine Disziplin, die das Wissen im Allgemeinen begründe, sondern als eine der vier

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von ihm theoretisch ausgearbeiteten Stufen des Wissens, die als propädeutisches Moment einer theologisch ausgerichteten Metaphysik fungiert. Für Scheler macht die phän. Intuition die Ebene einer immanenten Gegebenheit zugänglich, die das Subjekt entdeckt und nicht konstituiert; diese Entdeckung immanenter Gegebenheiten, wobei für Scheler die gefühlsmäßige Gegebenheit einen besonderen Wert besitzt, beweist die Unmittelbarkeit des Kontakts des Subjekts mit der Welt und seiner Teilhabe an ihr. Scheler verwendete seine phän. Beschreibung v. a. im Bereich der Ethik und der Anthropologie. .. Die Entwicklungen in der phän. Philosophie der Nachkriegszeit sind stark von den Positionen Heideggers beeinflusst, v. a. was seine Kritik an der Ph. Husserls als subjektivistische, solipsistische und idealistische Theorie betrifft. Diese Einstellung hat eine erste Phase der Rezeption des phän. Denkens als ›Maßnahme zur Abhilfe‹ eines vermeintlichen Husserlschen Subjektivismus und Solipsismus gekennzeichnet. Die Betonung, die Heidegger auf die Sprache als Instrument für den Zugang zur Welt und auch zu der Tiefenstruktur der Menschen legt, hat, v. a. was die geschichtlichen und sozialen Aspekte betrifft, stark auf die Entwicklung und die Rezeption der Hermeneutik H.-G. Gadamers eingewirkt. Dennoch haben in der Nachkriegszeit die Irrationalismusvorwürfe, die gegen die Philosophie Heideggers aufgrund seiner Verwicklung in den Nationalsozialismus erhoben wurden, die Forschung und Ausarbeitung innerhalb der phän. Theorie implizit zu einer Wiederaufnahme der Verbindungen zwischen Heideggers Denken und der Philosophie Husserls veranlasst, die als herausragendes Beispiel für ein rationalistisches Denken betrachtet wurde. Diese Richtung nahmen die Forschungsarbeiten einiger der letzten Mitarbeiter Heideggers wie z. B. E. Tugendhat, O. Pöggeler und F.-W. von Herrmann, weshalb sich die theoretisch-philosophische Ausarbeitung eng mit einer – auch historiografischen – Interpretation des Verhältnisses zwischen Husserl und Heidegger verbunden hat. In einer ersten Phase wurde versucht, die Kontinuität zwischen den Werken Husserls und Heideggers in einer Perspektive zu zeigen, die die Heideggersche Ph. als kohärente Entwicklung und als ›Korrektur‹ der idealistischen und solipsistischen Grenzen des Husserlschen Ansatzes erscheinen lassen sollte. Diesen Weg schlug Tugendhat ein, der

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seine Aufmerksamkeit auf die sprachlichen und sozialen Merkmale des Begriffs der Intentionalität konzentrierte und eine erste Annäherung zwischen der hermeneutischen Philosophie Heideggers und der sprachlichen Analyse der Intentionalität in der analytischen Tradition brachte. 27 Dieser Vergleich führte zu einer ersten Annäherung zwischen Ph. und Positionen, die eine Abhängigkeit der Denkinhalte von der Sprache sehen; hierzu gehört der sog. ›zweite Wittgenstein‹. In diesem Zeitraum wurde auch die sog. ›hermeneutische Wende‹, die Heideggers Ph. kennzeichnet, als Kontinuität ausgelegt, als Verdeutlichung schon vorhandener – und noch implizit gebliebener – Faktoren in der Forschung Husserls. Der interpretierende Charakter des Verstehens, der für Heidegger die Konstitution von Welt kennzeichnet, wurde als Verdeutlichung des ›Apperzeptionscharakters‹ der Noese verstanden, weil diese den sinnlichen Bestandteil der Wahrnehmungen (die hyletischen Gegebenheiten) ›im Voraus interpretieren‹. 28 Dieser Interpretationstradition zufolge hatte Heidegger eine erste theoretische Periode der Nähe zu Husserl durchlaufen (die ›phän. Dekade‹ Heideggers) 29, um sich dann allmählich von ihm zu entfernen. Nach Pöggeler ist die Einführung des Primats des Verstehens das Ergebnis einer Reihe von ›logischen Untersuchungen‹ Heideggers – Resultat einer produktiven Aneignung der Ph. Husserls. 30 Eine zweite Interpretationsrichtung, auch im Gefolge der Herausgabe der noch unveröffentlichten Schriften Heideggers, hat Mitte der er Jahre zur Anerkennung der Unterschiede im methodologischen Ansatz der beiden Autoren geführt. V. a. mit dem Werk von F.-W. von Herrmann verändert sich die Hypothese von der Kontinuität zur Hypothese der Komplementarität. Heideggers Einführung des Begriffs der ›formalen Anzeige‹ wird als eine ›Neuheit‹ seiner Position in Bezug auf Husserls Auffassung angesehen, die beide v. a. im Bezug auf ihre Einstellung zur Vorstellbarkeit der Gegenstände des Denkens voneinander entfernt. Die Ph. Husserls sei eine ›Ph. des Formalen‹, die mit der Analyse der dem wachen und denkenden Bewusstsein gegenwärtigen Denkinhalte in ihrer Evidenz und Vorstellbarkeit verbunden sei. Der Heideggersche Ansatz stelle hingegen eine ›Ph. des Nichtformalen‹ dar, die mit den nichtvorstellbaren Aspekten der menschlichen Erfahrung verknüpft sei. 31 Die Interpretation der emotionalen Bestandteile im Heideggerschen Verstehenskonzept bekommt eine

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wichtige Rolle: Aufgrund ihres rational nicht kontrollierbaren Wesens und der Tatsache, dass sie sich einer Objektivierbarkeit entziehen, berechtigen sie zu Untersuchungen, die die Heideggersche Analyse neben die Psychoanalyse Freuds und Lacans stellen. Dieselben Eigenschaften hatten schon die Aufmerksamkeit Binswangers erregt, der die Positionen Heideggers in die psychosomatische Medizin und die psychiatrischen Anthropologie vermittelte. 32 In diesem Kontext entstehen Positionen von größerer theoretischer Originalität, die fast alle mit der Interpretation des Begriffs der phän. Reduktion verbunden sind. Es handelt sich um vorrangig ontologische Untersuchungen, die sich am Heideggerschen und nicht am Husserlschen Ansatz orientieren. So z. B. die kosmologische Ontologie Eugen Finks, dessen Philosophie der Geschichte zufolge die abendländische Philosophie seit der vorsokratischen Zeit aufgrund des ›objektivierenden‹ Charakters des wissenschaftlichen Fortschritts von einer Art ›Weltvergessenheit‹ gekennzeichnet ist. Ein starker Einfluss des Heideggerschen Denkens findet sich auch in den Arbeiten Rombachs, Schmitz’ und Waldenfels’. Rombach folgt z. T. den Deutungen, die Heideggers Denken an die Psychoanalyse und die Tiefenpsychologie annähern, und er betrachtet den Heideggerschen Ansatz als besonders geeignet, den Charakter der ›Anwesenheit in der Abwesenheit‹ auszudrücken, der ein wichtiges Element der Grundstrukturen der menschlichen Psyche bildet: Auch diese zeigen sich, indem sie sich verbergen. Rombachs Analyse nimmt die Heideggersche Wendung der Aufmerksamkeit auf das Bewusstsein zu anderen Aspekten der Existenz auf. 33 Die Arbeit von Hermann Schmitz, die von ihm selbst als ›neue Ph.‹ definiert wird, folgt einem eklektischen Ansatz und gestaltet sich als Versuch einer radikalen und systematischen Neubestimmung der abendländischen Philosophie im Ganzen. Diese Philosophie ist von einer reduktionistischen Metaphysik beherrscht, die sich durch die Interpretation des menschlichen Subjekts als Wesen mit einer ›Innerlichkeit‹ auszeichnet, welche Gegenstand der Beschreibung mit den Mitteln der Psychologie und anderer Naturwissenschaften war. Das herausragende Merkmal des menschlichen Subjekts besteht in seinem Gefühlsvermögen; auf diesen Punkt konzentriert sich die Arbeit Schmitz’ und sein Versuch, die Methode der phän. Beschreibung neu zu bestimmen und sie mit jenen besonderen Arten von Objekten

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kompatibel zu machen, die affektive Erscheinungen sind. 34 Waldenfels ist daran interessiert, eine Brücke zwischen Husserls Begriff der ›Lebenswelt‹ und den Kategorien des Marxismus zu schlagen 35 ; er hat mit psychoanalytischen und soziologischen Mitteln seine eigenen Untersuchungen über die Strukturen der Leiblichkeit und der Dynamiken der Aufmerksamkeit vertieft und eine systematische ›Ph.‹ der Fremdheit als Erfahrung der Konstituierung dessen, was sowohl im sozialen als auch im psychischen Sinn als ›fremd‹ erscheint, entwickelt. 4.3 Phänomenologie in Frankreich Im Kontext der franz. Philosophiedebatte spielt die Ph. eine wichtige Rolle; sie artikuliert sich in sehr unterschiedlichen Positionen. 36 Schon seit der ersten Hälfte des . Jh. ist die Ph. in der franz. Philosophie präsent, nicht zuletzt aufgrund der Werke Emmanuel Lévinas’ und J. P. Sartres, Hörern der Vorlesungen Husserls und Heideggers. 37 Die franz. Ph. ist ursprünglich von synkretistischen Annäherungsversuchen beider beeinflusst; sie entwickelt kaum Forschungsrichtungen, die mit Interpretationsfragen ›philologischer‹ Natur verknüpft sind. Anfänglich orientiert sich die franz. Diskussion an den Positionen Lévinas’ und Sartres, die ein besonderes Interesse am Versuch Heideggers zeigen, das menschliche Individuum als schon immer unmittelbar in die Welt eingetaucht zu denken, für dessen Verstehen der Rückgriff auf Methoden der Reduktion nicht notwendig ist. Dieses Element fördert besondere Aufmerksamkeit auf Themen der Existenzphilosophie und der ethischen Reflexion, die zu jener Zeit in Frankreich besonders Gehör fanden. Lévinas versteht unter phän. Philosophie eine Philosophie, die sich der Intuition als Schlüssel zum Erlebten als Ort des Auftretens grundlegender Erscheinungen bedient. Das Erlebte konstituiert jedoch keine Materie, die durch begriffliche Interpretation Sinn erhält; es zeigt den eigenen Sinn unmittelbar von selbst, ohne dass eine Vermittlung des theoretischen Bewusstseins notwendig wäre. Aufgrund seiner Empfänglichkeit für Heideggersche Themen konstruiert Lévinas eine Philosophie metaphysischer und ethischer Ausrichtung, die das ›Antlitz‹ als intuitiven Ort der Erfahrung des ursprünglichen und direkten Kontakts des Subjekts mit der Erscheinung zweier Formen von Alterität analysiert: das Fremde und das Andere.

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Auch wenn J.-P. Sartre es immer abgelehnt hat, sich als Phänomenologe zu verstehen, hat seine Interpretation der Husserlschen Begriffe ›Vorstellung‹ und ›Intentionalität‹ zur Verbreitung des Denkens Husserls in Frankreich beigetragen. Für Sartre entspricht jedoch die Ph. nicht einer genauen Untersuchungsmethode, sondern einem fundamentalen Antidogmatismus, der Intentionalität und Bewusstsein als etwas betrachtet, das nie definitiv konstituiert wurde. Diese ›unorthodoxe‹ Spur in der französischen Ph.-Tradition findet bei anderen, neueren Autoren wie Jean-Luc Marion und Michel Henry ihre Bestätigung, bei denen der phän. Wortschatz sich mit dem der religiösen Tradition verknüpft. Jean-Luc Marion schlägt eine eigene Version der These der Kontinuität zwischen dem Husserlschen und dem Heideggerschen Ansatz vor, die den Begriff der Reduktion in den Mittelpunkt stellt, welcher allmählich an Bestimmtheit verliert: Mit ›Reduktion‹ wird nicht mehr die Reflexion auf die Erlebnisse des Bewusstseins gemeint, durch die die Möglichkeitsbedingung der Erscheinung der Welt analysiert wird. Unter ›Reduktion‹ wird die Überwindung der Bewusstseinsgrenzen bei der Analyse der Intentionalität verstanden; damit wird die phän. Forschung zur Forschung nach den Bedingungen der Offenbarung der Welt; Endziel der Philosophie ist die Suche nach dem Seinssinn als ›Gabe‹ dessen, was die rationalen Fähigkeiten des Subjekts übersteigt. Auch Michel Henry entwickelt eine Auslegung, die trotz Beachtung der sinnlich wahrnehmbaren und materiellen Sphäre mit theologischen Untersuchungsergebnissen verwandt ist. Ph. ist für ihn die Suche nach dem geeignetsten Denkobjekt; das Denken ist authentisches Denken, das zum Inneren des Individuums gehört, und das, was dieses ausdrückt, offenbart und zur Sprache bringt, ist eine Selbstoffenbarung des ›Lebens‹, der Individualisierung des ursprünglichen ›lebendigen Geistes‹. 38 Beide Denkmodelle spiegeln die Verschiebungen wider, die Heidegger bei der Ph.-Methode vorgenommen hatte: vom formalen Charakter der Reduktion zum informalen Charakter des Verstehens. Spuren von Heideggers Betonung der Ph. als Kritik der Gegenwart können in den Versionen der phän. Tradition in Frankreich ausfindig gemacht werden, die noch weniger orthodox sind: Paul Ricoeur und Jacques Derrida. Ricoeur nähert sich aufgrund seines Interesses an der Hermeneutik an die Ph. an; seine Position unterscheidet sich sowohl von Husserl als auch von Heidegger; er teilt die ›idealistische Wende‹

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in Husserls Ansatz nicht, die zur Aufgabe des ursprünglichen phän. Realismus geführt hatte, den er im Begriff des ›Verstehens des Textes‹ als Begegnung des Anderen in seiner Andersartigkeit wieder findet; mit Heidegger teilt er die Unterschätzung der Sprache als Textsprache nicht. Auf diese Weise weist sich die Ph. Ricoeurs als eine Tiefenhermeneutik aus, die die Textualität zum Ort der Erscheinung des Objekts philosophischer Forschung macht. Derrida entwickelt in konstanter und instrumenteller Auseinandersetzung mit der Philosophie Husserls eine eigene philosophische Position (›Dekonstruktivismus‹); er interpretiert die Philosophie Husserls als eine Form des Repräsentationalismus und subjektivistischen Idealismus, die von einer exzessiven ›Philosophie der Gegenwart‹ angetrieben wird. Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Sprache als Bedingung der allgemeinen Denkbarkeit und Manifestierbarkeit der Dinge und ihres Sinns, weshalb sie nicht zur Sphäre der Sinne und/oder der Wahrnehmung gehört. 39 Dieser langen nichtorthodoxen Auslegungstradition stellt sich – nur zum Teil – eine Interpretationslinie entgegen, die von der Deutung der Ph. durch Maurice Merleau-Ponty ausgeht. Dieser lenkte die Aufmerksamkeit der franz. Ph. zurück auf die charakteristischen Merkmale der phän. Methode und auch auf die Wahrnehmung als grundlegendes Moment der Konstituierung jener Anschaulichkeit, von der die Beschreibung des Phänomenologen ihren Ausgang nehmen soll. Einerseits verwandte er wieder die für Husserl fundamentale Analyse der wahrnehmenden Erfahrung, andererseits verlegte er sie in die menschliche Leiblichkeit als lebendiges Wahrnehmungsfeld und bliebt so in Nähe der radikalen ›Geworfenheit‹ in die Welt des Individuums, die von Heidegger zur Distanzierung von der phän. Reduktion als formales Analyseverfahren ausgearbeitet worden war. Die Beachtung, die Merleau-Ponty der Wahrnehmung und der Leiblichkeit schenkt, bringt die phän. Analyse dazu, sich auf die Strukturierung der Objekte in der Wahrnehmung zu konzentrieren und öffnet die Tür für Verschmelzungen zwischen phän. Beschreibung der Wahrnehmung und deren Analyse, wie sie in den Kognitions- und Neurowissenschaften durchgeführt wird. Hier sind gegenwärtig die interessantesten Entwicklungen der phän. Philosophie in Frankreich zu verzeichnen, die insbes. dem Verhältnis zwischen Formen des Bewusstseins und der Wahrnehmung Beachtung schenkt. 40

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4.4 Phänomenologie in den U S A In die USA hat die Ph. vornehmlich durch die beiden Freiburger Husserl-Schüler A. Schütz und A. Gurwitsch Eingang gefunden und durch deren Schülergenerationen eine intensive Weiterentwicklung erfahren, auch dank der von Marvin Farber gegründeten Zeitschrift Philosophy and Phenomenological Research, die die analytische Philosophie der Sprache (Sprachanalyse, Sprachphilosophie) anfangs mit Themen aus der Ph. in Kontakt gebracht hat. Die phän. Forschung hat sich in den USA an drei das Denken Husserls fortführenden Schwerpunktthemen produktiv und kritisch orientiert: an der Intersubjektivitätstheorie, mit weitreichenden Auswirkungen auf die phän. Grundlagen der Sozialwissenschaften 41, am ›Lebenswelt‹-Konzept des späten Husserl sowie an Husserls Programm der konstitutionsphänomenologischen Begründung der exakten Wissenschaften; dies hat auch zu Begegnungen der Ph. mit der Wissenschaftsphilosophie sowie zur Erweiterung von Fragestellungen der analytischen Philosophie geführt. 42 Hier hat die Ph. Auch die Philosophie des Geistes beeinflusst, soweit es die Debatte über den Begriff des geistigen Inhalts betrifft (Noema/Noesis). 5 Aktuelle Problemfelder In der heutigen phän. Forschung lassen sich zwei Haupttendenzen unterscheiden. (I) Eine erste entwickelt sich in Kontinuität mit dem Merleau-Pontyschen ›Synkretismus‹: bei dem Transzendentale Ph. und phän. Hermeneutik als eine einzige Theoriefamilie angesehen werden. (II) Eine zweite konzentriert sich auf die ursprünglichen methodologischen Bestandteile des Husserlschen Denkens und wird vom Interesse an den konkreten Anwendungsmöglichkeiten der Husserlschen Methode begleitet. I. Was die erste angesprochene Forschungslinie angeht, können die wichtigsten Entwicklungen in der anglophonen Debatte gefunden werden, in welcher der Begriff ›Ph.‹ in einem technischen Sinne zumeist mit Bezug auf das Denken Husserls und in Verbindung mit ›Existenzphilosophie‹ verwendet wird. Zu den einflussreichsten Positionen in diesem Zusammenhang gehören die Arbeiten D. Zahavis zur Intersubjektivität und zu emphatischen Erscheinungen 43, die Untersuchungen S. Gallaghers, die sich der Entwicklung einer neuen Theorie des Verhältnisses Geist/Körper nach dem Vorbild Merleau-

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Pontys widmen 44, der ›enaktive‹ Ansatz von E. Thompson und die ›Neuro-phän.‹ von F. Varela. 45 In diesem Kontext wird mit dem Begriff der phän. Analyse keine spezifische formalisierte Untersuchungsmethode assoziiert; 46 hier wird ›phän. Beschreibung‹ als Beschreibung von ›Bewusstseinsformen‹ verstanden und findet im Bereich der Psychopathologie, der Intersubjektivitätstheorie und der interkulturellen Philosophie Verwendung. 47 Dieser Ansatz hat sich v. a. über Zeitschriften wie Philosophy, Psychiatry & Psychology; Journal of Consciousness Studies, Phenomenology and Cognitive Science durchgesetzt. II. Was die zweite Tendenz betrifft, ist ihr Erfolg v. a. auf die Herausgabe unveröffentlichter Manuskripte Husserls zurückzuführen, die – v. a. seit Ende der er Jahren – von den Husserl-Archiven in Löwen, Köln und Freiburg betreut wird. Lebendig ist heute das Interesse an der Ph. (i) als Analyse des Ursprungs der subjektiven Denkinhalte und der objektiven Strukturen, in denen sich die Welt zeigt; sie regen das Interesse an Mathematik und Naturwissenschaften an; (ii) als Analyse des Ursprungs der spezifisch menschlichen Form des Denkens; sie stimuliert das Interesse an anthropologischen Themen; (iii) als Analyse des Ursprungs der Sprache und ihrer Funktion für das Denken; sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Theorie des Bewusstseins, die Epistemologie und die Philosophie des Geistes; (iv) als Analyse des Ursprungs des gemeinsamen Empfindens der Welt und der Erfahrungen der Individuen untereinander; sie gibt den Anstoß zu einer vertieften Analyse der grundlegenden Elemente der Intersubjektivität. 48 Gegenstand des Interesses ist der Begriff von ›Konstitution‹ (v. a. der Gliederung der Schichten und Felder der inneren Bewusstseinsaktivität, in denen die Genese der Denkgegenstände zustande kommt), sowohl als Konstitution der ›objektiven‹ Inhalte des sozialen Wissens, als auch als Konstitution der ›subjektiven‹ mentalen Gehalte. Daher öffnet sich die Ph. auch der geschichtlichen Dimension der Kulturobjekte und Kulturwissenschaften (die sog. ›generative‹ Ph.). Sie öffnet sich auch für Untersuchungen, die auf die Modalität und die Funktionen konzentriert sind, welche den Ursprung der Konstitution selbst innerhalb des geistigen Lebens des in seiner Konkretheit angenommenen Subjekts ausmachen. Die Wiederentdeckung der Tiefe und der Besonderheit, mit der Husserl dem Thema der ›Genesis‹ vom ersten Jahrzehnt des . Jh. an Beachtung geschenkt hat, hat

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das Interessen an solchen Untersuchungen angeregt. Es handelt sich um eine ›radikalere‹ Dimension der phän. Forschung, die zu einer ›Dynamisierung‹ verschiedener Schlüsselbegriffe der Ph. führt, u. a. der Begriffe ›Intentionalität‹, ›Intuition‹ und ›Vorstellung‹. In diesem Zusammenhang rückt die Bewusstseinsanalyse erneut in den Mittelpunkt, die jetzt als eine dynamischere Perspektive angesehen wird, und folglich gewinnt der Begriff ›Reduktion‹ seine ursprüngliche, zentrale Stellung in der phän. Forschung zurück. Die Beachtung, die dem Thema der ›Konstitution‹ geschenkt wird, drängt den Einfluss der Heideggerschen Interpretation zurück, weshalb die Ph. (i) nicht mehr als eine ›destruktive‹ Kritik des wissenschaftlichen Wissens und seiner Sprache angesehen wird; (ii) erlangt sie das Bewusstsein für ihr Verhältnis – aber auch ihres Unterschieds – zur wissenschaftlichen Forschung wieder. Die phän. Analyse befreit sich von der nur negativen Rolle des ›kritischen Bewusstseins‹, die sie v. a. in der Philosophie der Technologie und im Bereich der Philosophie der kognitiven Wissenschaften und der künstlichen Intelligenz gespielt hatte: Ihre als negative bewertete Funktion fiel mit der Betonung der Grenzen einer rein komputationalistischen, abstrakten und formalen Erforschung des menschlichen Denkens und der Formen des individuellen und sozialen menschlichen Lebens zusammen. 49 Die Ph. gewinnt den Kontakt zur empirischen und wissenschaftlichen Forschung zurück, zusammen mit ihrem grundlegenden methodologischen Anspruch, als philosophische ›Validierung‹ des wissenschaftlichen Wissens, seiner Inhalte und seiner Methoden zu fungieren. Die Suche nach einer ›phän. Validierung‹ in der Perspektive, in der die Bewusstseinsaktivität die begrifflichen Korrelate der wissenschaftlichen Forschung bestätigt und zugänglich macht, hat die strukturellen Merkmale der mentalen Präsentationen der Objekte wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Phänomenologen gerückt und die Analyse der Art der Sinnesstrukturen und -informationen, über die der menschliche Geist in der Strukturierung der eigenen Objekte verfügt, vertieft. So hat sich eine spezifische Forschungsrichtung durchgesetzt (die sog. ›phantasmatische‹ Ph.), die den verschiedenen Arten von Präsentationen, durch die der Geist die Denkinhalte für sich selbst anschaulich darstellt, Aufmerksamkeit widmet: Diese Forschungsrichtung bedient sich der Ergebnisse aus der klinischen Psychologie,

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sowohl psychodynamischer als auch neurologischer Ausrichtung. 50 Die Ph. öffnet sich auf diese Art und Weise in dreifachem Sinne in Richtung Interdisziplinarität: (i) Interdisziplinarität ist notwendig, damit der Phänomenologe Kompetenz in Bezug auf die wissenschaftlichen Konstrukte erwirbt, die er ›validieren‹ soll; (ii) Interdisziplinarität ist notwendig, um Hinweise auf die ›objektiven‹ Korrelate für die Beschreibungen des Phänomenologen zu erhalten, und weiter ist sie (iii) notwendig, um auf die ›Gebiete‹ in der Bewusstseinsforschung hinzuweisen, die seitens der Wissenschaften noch nicht identifiziert und untersucht wurden, v. a. die Funktion des Wissens der Erste-PersonPerspektive als notwendige Bedingung, um überhaupt Bewusstseinsinhalte haben und somit auch um Erkenntnis erwerben zu können. 51 Andler, D., , Phenomenology in Artificial Intelligence and Cognitive Science. In: H. L. Dreyfuss/M. Wrathall (eds.), A Companion to Phenomenology and Existentialism, Cambridge, M A. – Becke, A., , Der Weg der Phänomenologie, Hamburg. – Boi, L./P. Kerszberg/F. Patras (eds.), , Rediscovering Phenomenology. Essays on Mathematical Beings, Physical Reality, Perception and Consciousness, Dordrecht/Berlin/NY. – Bokhove, N. W., , Phänomenologie. Ursprung und Entwicklung des Terminus im . Jahrhundert, Utrecht – Brentano, F., , Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. I I, Hamburg. – Caputo, J. D., , Husserl, Heidegger and the Question of a Hermeneutic Phenomenology. In: Husserl Studies, . – Claesges, U., , Phänomenologie. In: HWbPh, Bd. . – Cobb-Stevens, R., , Husserl and Analytic Philosophy, Dordrecht/ Boston/London. – Condrau, G., , Heidegger’s Impact on Psychotherapy, Vienna. – Gallagher, S., , How the Body Shapes the Mind, Oxford. – Gallagher, S./D. Zahavi, , The Phenomenological Mind. An Introduction to Philosophy of Mind and Cognitive Science, Oxford. – Grathoff, R./B. Waldenfels (Hg.), , Sozialität und Intersubjektivität, München. – Hackermeier, M., , Einfühlung und Leiblichkeit als Voraussetzung für die intersubjektive Konstitution, Hamburg. – Heidegger, M., , Frühe Schriften. In: G A, Bd. , Fft./M. – Heidegger, M., , Mein Weg in der Phänomenologie. In: ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen. – Heidegger, M., a (), Sein und Zeit. In: G A, Bd. , Fft./M. – Heidegger, M., b, Brief über den Humanismus. In: G A, Bd. , Fft./M. – Heidegger, M., , Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, In: G A, Bd. , Fft./M. – Heidegger, M., , Zur Bestimmung der Philosophie. In: G A, Bd. /, Fft./M. – Heidegger, M., , Ontologie. Hermeneutik der Faktizität. In: G A, Bd. , Fft./M. – Herrmann, F. W. v., Hermeneutik und Reflexion, Fft./M. – Herrmann, F. W. v., , Subjekt und Dasein, Fft./M. – Herrmann, F. W. v., , Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, Fft./M. – Hopkins, B., , Intentionality in Husserl and Heidegger, Boston/London Husserl, E., , Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenolo-

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gischen Philosophie, . Halbbd., Den Haag. – Husserl, E., , Logische Untersuchungen, Bd. II/I, Den Haag/Boston/Lancaster – Huth, M., , Responsive Phänomenologie, Fft./M. – Imdahl, G., , Das Leben verstehen, Würzburg. – Kisiel, Th., , The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley/LosAngeles/Boston. – Lembeck, K.-H., , Einführung in die phänomenologische Philosophie, Darmstadt. – Lohmar, D., , Die Phänomenologische Methode der Wesensschau und ihre Präzisierung als eidetische Variation. In: Phänomenol. Forschungen. – Lohmar, D., , Phänomenologie der schwachen Phantasie. Unters. d. Psychologie, Cognitive Science, Neurologie u. Phänomenologie z. Funktion d. Phantasie in d. Wahrnehmung. Dordrecht/Berlin. – Lohmar, D./D. Fonfara (Hg.), , Interdisziplinäre Perspektive der Phänomenologie, Dordrecht. – Moran, D., , Introduction to Phenomenology, Abingdon. – Petitot, J./F. J. Varela/B. Pachoud/J.-M. Roy, , Naturalizing Phenomenology, Stanford. – Pöggeler, O., , Der Denkweg Martin Heideggers, Tübingen. – Pöggeler, O., , Heideggers logische Untersuchungen. In: S. Blasche (Hg.), Martin Heidegger. Innen- und Aussenansichten, Fft./M. – Regenbogen, A., , Phänomenologie. In: E E, Bd. . – Rombach, H., , Strukturanthropologie, Freiburg/München. – Schmitz, H., , Was ist neue Phänomenologie?, Rostock. – Schuhmann, K., , ›Phänomenologie‹: Eine begriffsgeschichtliche Reflexion. In: Husserl Studies . – Sebbah, F.-D., , French Phenomenology. In: H. L. Dreyfuss/M. A. Wrathall (eds.), A Companion to Phenomenology and Existentialism, Oxford. – Smith, D. W./A. L. Thomasson (eds.), , Phenomenology and Philosophy of mind, Oxford. – Spiegelberg, H.,  , The Phenomenological Movement, Den Haag. – Steinbock, A. J., , Grenzüberschreitungen, Fkf/München. – Ströker, E. (Hg.), , Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie Edmund Husserls, Fft./M. – Ströker, E./Janssen, P., , Phänomenologische Philosophie, Freiburg/ München. – Tawney, P., , Martin Heideggers Phänomenologie der Welt, Fft./ M./München. – Thiel, C., , Phänomenologie. In: EPhW, Bd.  – Thompson, E., , Mind in Life: Biology, Phenomenology and the Sciences of Mind, N Y. – Tugendhat, E., , Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin. – Tugendhat, E., , Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Fft./M. – Varela, F., , Neurophenomenology: a Methodological Remedy fort he Hard Problem. In: J. of Consciousness Studies, . – Varela, F./J. Shear (eds.), , The View from Within. First Person Approaches to the Study of Consciousness, Bowling Green. – Varela, F./E. Thompson/E. Rosch, , The Embodied Mind: Cognitive Science and Human Experience, Cambridge, M A. – Waldenfels, B., , Phänomenologie in Frankreich, Fft./M. – Werhan, H., , Die neue Phänomenologie und ihre Themen, Rostock. – Zahavi, D., , Husserl und die transzendentale Intersubjektivität, Dordrecht. 1 Zum

Ursprung des Wortes ›Ph.‹ vgl. Bokhove , –. – 2 Spiegelberg ,  ff. – 3 Claesges ,  ff. – 4 Regenbogen ,  f.; Thiel , . – 5 Schuhmann . – 6 Brentano ,  ff.,  ff. – 7 Husserl , , . – 8 Husserl ,  f.; vgl. Ströker/Janssen ,  ff. – 9 Herrmann . –

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10 Husserl

, , ,  ff.; vgl. Ströker/Janssen ,  ff. – 11 Ströker , insbes.  ff.;  ff.;  ff.;  ff.;  ff. – 12 Lohmar . – 13 Heidegger a, V, –, ; Heidegger , ; Heidegger , –. – 14 Heidegger , . – 15 Heidegger , . – 16 Herrmann . – 17 Trawny ,  ff.;  ff. – 18 Heidegger , . – 19 Heidegger a, . – 20 Husserl , . – 21 Husserl ,  ff. – 22 Imdahl ,  ff. – 23 Heidegger , ; hierzu Hopkins, ,  ff. – 24 Heidegger ,  ff.;  ff. – 25 Heidegger b, . – 26 Spiegelberg ,  ff.; Lembeck ,  ff. – 27 Tugendhat ,  ff.; Tugendhat ,  ff.;  ff.;  ff. – 28 Caputo ,  ff. – 29 Kisiel ,  ff. – 30 Pöggeler ; Pöggeler ,  ff. – 31 Herrmann, . – 32 Condrau . – 33 Rombach ; vgl. Becke ,  ff. – 34 Schmitz ; vgl. Werhan . – 35 Hackermeier ; Huth . – 36 Vgl. Waldenfels . – 37 Spiegelberg  ff.;  ff.; Moran  ff.;  ff. – 38 Sabbah ,  f.;  f.;  ff. – 39 Moran ,  ff. – 40 Sabbah ,  ff.; Moran , ; Spiegelberg , . – 41 Vgl. Grathof/ Waldenfels . – 42 Vgl. Cobb-Stevens . – 43 Zahavi . – 44 Gallagher ,  ff.;  ff. – 45 Varela ; Varela/Thompson/Rosch ; Petitot/Varela/Pachoud/Roy . – 46 Gallagher/Zahavi ,  ff. – 47 Varela/Shear ,  ff.;  ff.;  ff.; ff; Gallagher/Zahavi ,  ff. – 48 Vgl. die Texte in Boi/Kerzsberg/Patras  u. in Smith/Thomasson . – 49 Vgl. bzw. Steinbock ,  ff.;  ff.;  ff.; Andler ,  ff. – 50 Lohmar ,  ff. – 51 Vgl. Lohmar/Fonfara , insbes.  ff.;  ff.;  ff.

Elisabeth Ströker (†) / Luigi Pastore

Philosophie des Geistes

1 Zum Begriff. Die Philosophie des Geistes (PhdG) – engl. ›philosophy of mind ‹ – umfasst die philosophische Psychologie, die Philosophie der Psychologie sowie den Teil der Metaphysik, in dem es um die Frage nach der ontologischen Natur des Geistigen geht. Diese Frage wird unter dem Stichwort ›Leib-Seele-Problem‹ behandelt. Zu den metaphysischen Problemen, mit denen sich die PhdG beschäftigt, gehören außerdem das Problem der Willensfreiheit und das Problem personaler Identität. 2 Probleme der philosophischen Psychologie In der philosophischen Psychologie geht es darum, die Begrifflichkeit zu analysieren, mit der wir im Alltag über mentale Phänomene reden. Dazu gehört die Analyse einzelner mentaler Begriffe wie Wahrnehmen, Erinnern, Empfinden, Bewusstsein, Gefühl, Überzeugung, Absicht und Überlegen. Dazu gehört aber auch der Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob es ein spezifisches Merkmal des Mentalen gibt. Schließlich geht es in der philosophischen Psychologie darum, welche Hauptarten mentaler Phänomene man unterscheiden kann und wie diese charakterisiert sind. 2.1 Gibt es ein Merkmal des Mentalen? Die Frage, ob es ein charakteristisches Merkmal des Mentalen gibt, das es erlaubt, mentale Phänomene eindeutig von physischen Phänomenen zu unterscheiden, ist in der PhdG immer wieder gestellt worden. Dabei wurden insbes. die folgenden Antworten diskutiert. (i) Mentale Phänomene unterscheiden sich von physischen Phänomenen dadurch, dass sie bewusst sind. 1 Dass ein mentaler Zustand M bewusst ist, kann zumindest zweierlei heißen: erstens, dass eine Person, die im mentalen Zustand M ist, auch weiß, dass sie in M ist; spätestens seit Freuds ›Entdeckung des Unbewussten‹ wird kaum noch bestritten, dass nicht alle mentalen Zustände in diesem Sinne bewusst sind; es kann zweitens aber auch

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heißen, dass der Zustand M einen phänomenalen Charakter besitzt, d. h. dass es sich auf eine bestimmte Weise anfühlt, in diesem Zustand zu sein. Auch hier ist zumindest zweifelhaft, dass dies für alle mentalen Zustände gilt. (ii) Mentale Phänomene unterscheiden sich von physischen Phänomenen dadurch, dass sie nicht räumlich sind. 2 Die Annahme, dass das Mentale im Gegensatz zum Physischen nichträumlich ist, hat nur einen Sinn, wenn man den Bereich des Mentalen als einen Bereich von Gegenständen auffasst. Denn von Eigenschaften oder Zuständen zu sagen, sie seien nicht-räumlich, ist ebenso sinnlos wie zu sagen, sie seien räumlich. Unabhängig von der Frage, ob es überhaupt mentale Gegenstände gibt, gilt diese Annahme also sicher nicht für den gesamten Bereich des Mentalen. (iii) Mentale Phänomene unterscheiden sich von physischen Phänomenen dadurch, dass unser Wissen um unsere eigenen mentalen Zustände unkorrigierbar ist. Wenn unser Wissen über unsere eigenen mentalen Zustände unkorrigierbar wäre, würde das heißen, dass wir uns in diesem Bereich nicht irren können, dass also generell gilt: Wenn eine Person glaubt, in einem mentalen Zustand M zu sein, dann ist sie auch in M . Es ist zweifelhaft, ob es auch nur einen mentalen Zustand gibt, für den dies der Fall ist. Auf jeden Fall gilt es aber nicht generell. Denn natürlich kann sich jemand z. B. darüber irren, dass er in eine andere Person verliebt ist, dass er ehrgeizig ist oder dass er gerade versucht, seinen Nachbarn zu beeindrucken. (iv) Mentale Phänomene unterscheiden sich von physischen Phänomenen durch das Merkmal der Intentionalität. Ein Phänomen wird ›intentional‹ genannt, wenn es sich auf etwas anderes bezieht, d. h. wenn es einen intentionalen Gegenstand oder Inhalt hat. Wenn wir glauben, glauben wir etwas, wenn wir wünschen, wünschen wir etwas, wenn wir befürchten, befürchten wir etwas, usw. In diesem Sinne sind also Überzeugungen, Wünsche und Befürchtungen intentional. Die These, dass Intentionalität das entscheidende Merkmal des Mentalen ist, wurde besonders von Franz Brentano vertreten. 3 Es ist aber durchaus zweifelhaft, dass tatsächlich alle mentalen Phänomene über dieses Merkmal verfügen. Wenn ich mich z. B. unwohl fühle, wenn ich nervös, erfreut oder einfach er-

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schöpft bin, dann haben diese Zustände zwar i. d. R. einen Grund oder Anlass, aber sie sind nicht auf diesen Grund gerichtet, sie haben ihn nicht als intentionalen Gegenstand. (v) Mentale Phänomene unterscheiden sich von physischen Phänomenen dadurch, dass sie privat sind. Privatheit ist das meistdiskutierte Merkmal des Mentalen. Dabei ist die Annahme, mentale Phänomene seien privat, ebenso vieldeutig wie umstritten. Grundsätzlich kann man sagen, dass etwas – sagen wir x – privat ist, wenn sein Besitzer eine privilegierte Beziehung zu x hat, d. h. eine Beziehung, die kein anderer zu x hat oder haben kann. Die Frage ist allerdings, wie diese besondere Beziehung zwischen einer Person und ihren mentalen Zuständen genau definiert werden kann. Ein erster Sinn von ›privat‹ wird deutlich in Aussagen wie »Mehrere Personen können dasselbe Auto besitzen. Aber meine Schmerzen kann nur ich haben«. Es ist jedoch fraglich, ob diese Art von Privatheit auf Mentales beschränkt ist. Denn in demselben Sinne kann man auch sagen »Meine Grippe kann nur ich haben«. Eine andere Person kann die gleiche Krankheit haben, aber nicht meine Grippe. Genauso kann eine andere Person die gleichen Schmerzen haben wie ich, aber nicht meine Schmerzen. Ein verwandter, aber doch verschiedener Sinn von ›privat‹ zeigt sich in der Aussage »Nur ich kann meine Schmerzen fühlen«. Diese Aussage wird oft damit in Zusammenhang gebracht, dass wir zu unseren mentalen Zuständen einen privilegierten epistemischen Zugang haben. Dies mag durchaus sein; aber es ist fraglich, ob es für alle mentalen Zustände in derselben Weise gilt. Ein dritter – auf noch deutlichere Weise epistemischer – Sinn von ›privat‹ ergibt sich aus der Aussage »Nur ich kann wissen, ob ich Schmerzen habe; andere können dies höchstens vermuten«. Auch dies ist umstritten. Wittgenstein etwa hat versucht nachzuweisen, dass eine solche Aussage der Grammatik des Wortes ›wissen‹ widerspricht. 4 Viertens schließlich sehen viele einen engen Zusammenhang zwischen der Privatheit mentaler Zustände und ihrer Subjektivität, d. h. der schon erwähnten Tatsache, dass zumindest einige mentale Zustände dadurch charakterisiert sind, dass es sich auf eine bestimmte Weise anfühlt, in diesen Zuständen zu sein. Denn dieser qualitative Charakter ist, wie manche sagen, mit einer bestimmten Erfahrungsperspektive (einem bestimmten point of view) verbunden. Zu verstehen, was es

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heißt, in einem solchen Zustand zu sein, setzt voraus, dass man selbst bestimmte Erfahrungen machen und insofern eine bestimmte Erfahrungsperspektive einnehmen kann. 5 Bei objektiven Zuständen, z. B. dem Zustand,  kg schwer zu sein, ist das anders. Jedermann kann verstehen, was es heißt, in diesem Zustand zu sein; hier ist das Verständnis nicht an eine bestimmte Erfahrungsperspektive gebunden. Selbst wenn es richtig ist, dass manche mentalen Zustände einen qualitativen Charakter haben, der in diesem Sinne subjektiv ist, ist jedoch zweifelhaft, dass Subjektivität ein generelles Merkmal des Mentalen ist. Wenn man die Diskussion der fünf vermeintlichen Merkmale des Mentalen zusammenfasst, kommt man also zu dem Ergebnis, dass es tatsächlich kein Merkmal gibt, das auf alle und nur auf mentale Phänomene zutrifft. 2.2 Hauptarten mentaler Zustände Auch wenn es kein generelles Merkmal gibt, das die mentalen Phänomene eindeutig von physischen Phänomenen unterscheidet, sind unter den diskutierten Merkmalen doch zwei, für die zu gelten scheint: (a) Jeder mentale Zustand besitzt zumindest eines dieser Merkmale. (b) Beide Merkmale können als kritisch bezeichnet werden, da es – zumindest prima facie – schwierig zu sein scheint, Zustände, die diese Merkmale besitzen, auf physische Zustände zurückzuführen (Leib/ Seele .). Bei diesen beiden Merkmalen handelt es sich um die Merkmale Subjektivität und Intentionalität. Analog zu der Unterscheidung zwischen diesen Merkmalen ist es heute allgemein üblich, zwei Haupttypen von mentalen Zuständen zu unterscheiden: Empfindungen und intentionale Zustände. 6 Zu den Empfindungen sollen körperliche Empfindungen wie Schmerzen, Kitzel oder Übelkeit ebenso gehören wie Wahrnehmungseindrücke – wie etwa der Eindruck einer bestimmten Farbe, des Klangs einer lauten Trompete und des Geschmacks einer süßen Birne. Zwischen diesen beiden Gruppen von Empfindungen gibt es zwar eine Reihe von Unterschieden. Trotzdem ist es sinnvoll, sie zusammenzufassen. Denn alle Empfindungen sind auf den ersten Blick durch ihren qualitativen Charakter definiert, durch das, was man erlebt oder fühlt, wenn man eine Empfindung hat, die Art, wie es ist, eine solche Empfindung zu haben.

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Intentionale Zustände wie Überzeugungen, Wünsche, Befürchtungen und Erwartungen sind demgegenüber dadurch charakterisiert, dass sie auf etwas gerichtet sind, dass sie einen Inhalt haben. Man glaubt, dass etwas der Fall ist, man wünscht sich einen bestimmten Gegenstand, man hofft oder befürchtet, dass ein bestimmtes Ereignis eintreten wird. Aus diesem Grund werden intentionale Zustände i. d. R. unter Verwendung von ›dass‹-Sätzen zugeschrieben. Wir schreiben einer Person A eine bestimmte Überzeugung zu, indem wir sagen »A glaubt, dass es morgen regnen wird«, und wir schreiben ihr eine bestimmte Erwartung zu, indem wir sagen » A erwartet, dass diese bestimmte Mannschaft Fußballmeister wird«. Auch innerhalb der Gruppe der intentionalen Zustände gibt es erhebliche Unterschiede – z. B. zwischen kognitiven Einstellungen wie Überzeugungen auf der einen und Einstellungen, die ein Element des Antriebs zum Handeln beinhalten oder die auch eine gefühlsmäßige Komponente besitzen, wie Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen auf der anderen Seite. Allen intentionalen Zuständen ist aber gemeinsam, dass sie durch zwei Aspekte gekennzeichnet sind: durch die Art des Zustandes – sie sind Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen, etc. – und durch ihren Inhalt, d. h. durch das, was geglaubt, gewünscht oder gehofft wird. Die Linie zwischen Empfindungen und intentionalen Zuständen ist nicht überall trennscharf. Nicht nur im Bereich der emotional gefärbten intentionalen Zustände, wie etwa der Befürchtungen und Hoffnungen, gibt es Zustände, die sowohl einen qualitativen als auch einen inhaltlichen Aspekt haben. Daneben gibt es auch Zustände wie Zorn oder Trauer, die zunächst eher auf die Seite der Empfindungen zu gehören scheinen, die aber trotzdem häufig auf ein Objekt gerichtet sind und insofern einen intentionalen Inhalt besitzen. Neben der Tatsache, dass sie einen Inhalt haben, sind für intentionale Zustände folgende Merkmale charakteristisch: (a) Intentionale Zustände sind opak; d. h. Zustände derselben Art, die mit sinnverschiedenen ›dass‹-Sätzen zugeschrieben werden, sind verschieden. Die Überzeugung, dass Mark Twain ein guter Schriftsteller war, ist also verschieden von der Überzeugung, dass Samuel Clemens ein guter Schriftsteller war. Denn die Ausdrücke ›Mark Twain‹ und ›Samuel Clemens‹ bezeichnen zwar dieselbe Person, tun dies aber auf verschiedene Weise und sind daher sinnverschieden. (b) Kausalbeziehungen zwischen

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intentionalen Zuständen respektieren häufig Rationalitätsprinzipien bzw. semantische Beziehungen zwischen ihren Inhalten. Wünsche und Überzeugungen verursachen oft genau die Handlungen, die im Hinblick auf sie rational sind. Und für Überzeugungen gilt in vielen Fällen, dass eine Überzeugung eine andere Überzeugung genau dann verursacht, wenn es rational ist, die zweite Überzeugung zu haben, wenn man die erste hat. So verursacht die Überzeugung, dass Fido ein brauner Hund ist, im Allgemeinen die Überzeugung, dass Fido ein Hund ist, und die Überzeugung, dass die Erde ein Planet ist, die Überzeugung, dass es (mindestens einen) Planeten gibt. Viele Philosophen sind deshalb der Meinung, dass die Zuschreibung intentionaler Zustände die Zuschreibung bestimmter Mindeststandards an Rationalität voraussetzt. 7 (c) Intentionale Zustände sind produktiv. Genauso wie man unendlich viele verschiedene Sätze verstehen bzw. selbst formulieren kann, kann man unendlich viele Überzeugungen, Wünsche und Erwartungen haben. (d) Intentionale Zustände sind systematisch. D. h., die Fähigkeit, bestimmte Überzeugungen zu haben, ist notwendig mit der Fähigkeit verbunden, auch andere Überzeugungen zu haben. Wer glauben kann, dass Hardy kommt, wenn Marianne kommt, kann auch glauben, dass Marianne kommt, wenn Hardy kommt. 3 Probleme der Philosophie der Psychologie Die Philosophie der Psychologie ist Teil der Wissenschaftstheorie. Sie untersucht, was Psychologen über mentale Phänomene zu sagen haben und wie sich die Psychologie zu den anderen Natur- und Sozialwissenschaften verhält. Besonders beschäftigt sie sich jedoch mit den Grundannahmen, die der psychologischen Theoriebildung zugrunde liegen. Auch nachdem sich die Psychologie Ende des ., Anfang des  Jh. institutionell von der Philosophie gelöst hatte, gab es vielfältige Beziehungen zwischen Entwicklungen in der Psychologie auf der einen und Entwicklungen in der Philosophie auf der anderen Seite. Beispielhaft für diese Beziehungen ist der Behaviorismus in der Psychologie, so wie er von Watson, Tolman, Hull und Skinner entwickelt wurde. 8 Der psychologische Behaviorismus – in einem strikten Sinn – geht von folgenden Annahmen aus: (i) Aufgabe der Psychologie ist die Erklärung von Verhalten. (ii) Verhalten zu erklären heißt, die unab-

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hängigen Variablen (›Stimuli‹) anzugeben, von denen das Verhalten (als abhängige Variable) funktional bestimmt wird. (iii) Sowohl die abhängigen als auch die unabhängigen Variablen müssen mit Hilfe experimenteller Methoden spezifiziert werden können. Mentale, nur durch Introspektion zugängliche Zustände können daher in psychologischen Erklärungen keine Rolle spielen. Theoretisch steht die folgende Idee im Mittelpunkt behavioristischer Überlegungen: Alles Verhalten kann auf die Lerngeschichte des jeweiligen Individuums zurückgeführt werden – d. h. auf Prozesse der selektiven Verstärkung oder Auslöschung vorhandener Verhaltensdispositionen durch (klassische oder operante) Konditionierung. Der psychologische Behaviorismus ist also dezidiert anti-mentalistisch. Mentale Zustände wie Überzeugungen, Wünsche und Erwartungen oder Gefühle und Empfindungen spielen für ihn weder als Explananda noch als Explanantia eine Rolle – sie sollen in der Psychologie weder erklärt werden noch kommen sie in psychologischen Erklärungen vor. Die Grundannahmen des psychologischen Behaviorismus stehen in einem engen Zusammenhang zu bestimmten sprachphilosophischen und wissenschaftstheoretischen Thesen des Logischen Positivismus. Für Vertreter dieser Position gibt es nur zwei Arten von sinnvollen Sätzen: Analytische Sätze, die allein aufgrund der Bedeutung der in ihnen vorkommenden Ausdrücke wahr oder falsch sind, und Sätze, die sich aufgrund von Erfahrung verifizieren (bzw. falsifizieren) lassen. Aus dieser Grundannahme ergibt sich für viele Logische Positivisten, dass Sätze nur dann sinnvoll sein können, wenn die Begriffe, die in ihnen vorkommen, entweder selbst Beobachtungsbegriffe oder zumindest mit Hilfe von Beobachtungsbegriffen definierbar sind. Wissenschaftstheoretisch hat sich aus dieser Annahme die Position des Operationalismus entwickelt, der zufolge ein wissenschaftlicher Begriff nur dann sinnvoll ist, wenn mit Hilfe eines experimentellen Verfahrens festgestellt werden kann, ob ein Gegenstand unter ihn fällt oder nicht. 9 Da alle experimentellen Verfahren letzten Endes auf der Beobachtung physikalischer Größen beruhen, bedeutet dies, dass nur solche Begriffe wissenschaftlich sinnvoll sind, die sich in physikalischer Sprache definieren lassen. Und das heißt für die Psychologie: »All psychological statements which are meaningful, that is to say, which are in principle verifiable, are translatable into statements

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which do not involve psychological concepts, but only the concepts of physics.« 10 Im selben Maße, in dem in den er und er Jahren die Unhaltbarkeit des Logischen Positivismus zu Tage trat, sank in der Psychologie der Stern des Behaviorismus. Allgemein wurde immer klarer, dass auf der einen Seite so zentrale Begriffe der Physik wie ›Elektron‹, ›Masse‹ und ›Ladung‹ sicher nicht operational definiert werden können, dass auf der anderen Seite bei der Erklärung des komplexen Verhaltens physikalischer Systeme auf diese Begriffe aber keinesfalls verzichtet werden kann. In der Psychologie wurde zur selben Zeit deutlich, dass behavioristische Erklärungen nur bei relativ simplem Verhalten befriedigend funktionieren, dass aber komplexe Verhaltensweisen – wie etwa das Sprachverhalten von Menschen – nicht einfach auf den Einfluss von Umweltstimuli oder auf wiederholte Verstärkung und Auslöschung zurückgeführt werden können. Vielmehr lassen sich komplexe Handlungsabläufe nur erklären, wenn man nicht nur Stimuli und Verhalten, sondern auch die internen Prozesse betrachtet, die zwischen Wahrnehmung und Handlung vermitteln. Dabei kommt man jedoch nicht umhin, diese Prozesse als Prozesse des Planens, Überlegens und Nachdenkens aufzufassen. Das Scheitern des Behaviorismus führte somit zu einer kognitiven Wende in der Psychologie. Begriffe wie ›Hypothese‹, ›Plan‹, ›Strategie‹, ›Erwartung‹, ›Absicht‹, ›Information‹ und ›Meinung‹ wurden wieder akzeptiert. Und das in doppeltem Sinne: Sie durften wieder zur Erklärung von Verhalten herangezogen werden, und sie durften auch selbst wieder Gegenstand psychologischer Erklärungen werden. Die kognitive Wende in der Psychologie beinhaltete somit zugleich eine Rückkehr zum Mentalismus, d. h. zu der Auffassung, dass es mentale Phänomene gibt und dass diese Phänomene in psychologischen Erklärungen eine zentrale Rolle spielen. (Der Mentalismus besagt nicht, dass mentale Phänomene nicht auf physische Phänomene zurückgeführt werden können, sondern nur dass mentales Vokabular unverzichtbar ist, d. h. dass mentale Begriffe nicht in physikalischer Sprache definiert werden können.) Die kognitive Wende in der Psychologie wurde entscheidend unterstützt durch die Entwicklung der ersten leistungsfähigen Computer. Da diese Maschinen Aufgaben lösen können, deren Lösung bei Menschen Intelligenz voraussetzt, lag die Annahme nahe, dass alle Prozesse des

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Planens, Nachdenkens und Überlegens auf Symbolverarbeitungsprozessen beruhen. Diese Annahme hat zugleich den Vorteil, kognitiven Prozessen die Aura des Unnatürlichen zu nehmen und sie damit naturalistisch akzeptabel zu machen. Aus diesem Grunde hat der Symbolverarbeitungsansatz, demzufolge alle kognitiven Prozesse auf der Erzeugung und Veränderung mentaler Repräsentationen beruhen, bis heute eine große Anhängerschaft in der kognitiven Psychologie. Aber nicht nur in den Kognitionswissenschaften, auch in der Philosophie hat die kognitive Wende und insbes. der Symbolverarbeitungsansatz eine große Rolle gespielt. Offensichtlich beeinflusst durch entsprechende Entwicklungen in den Kognitionswissenschaften hat Fodor seit  seine Repräsentationale Theorie des Geistes entwickelt, die besagt, dass intentionale Zustände nur mit Hilfe strukturierter mentaler Repräsentationen realisiert sein können. 11 Genauer gesagt besteht Fodors Theorie aus drei Thesen: (i) Für jedes Wesen O und jede Art A intentionaler Zustände gibt es eine (funktionale/computationale) Relation RA , so dass gilt: O ist genau dann in einem intentionalen Zustand des Typs A mit dem Inhalt p , wenn sich O in der Relation RA zu einer mentalen Repräsentation r befindet, die die Bedeutung p hat. (ii) Mentale Repräsentationen sind strukturiert ; ihre Teile sind ›transportierbar‹; und mentale Repräsentationen haben eine kompositionale Semantik, d. h., die Bedeutung komplexer Repräsentationen ergibt sich in regelhafter Weise aus der Bedeutung ihrer Teile. (iii) Die Kausalbeziehungen zwischen intentionalen Zuständen beruhen auf struktursensitiven Symbolverarbeitungsprozessen. Das Hauptargument für die Repräsentationale Theorie des Geistes ergibt sich für Fodor aus der Tatsache, dass seiner Meinung nach nur die Thesen (i)–(iii) erklären können, dass intentionale Zustände die für sie charakteristischen Merkmale besitzen, d. h. dass sie einen Inhalt haben, dass sie opak sind, dass Kausalbeziehungen zwischen ihnen häufig Rationalitätsprinzipien bzw. semantische Beziehungen zwischen ihren Inhalten respektieren und dass sie produktiv und systematisch sind. Trotz der Gründe, die für den Symbolverarbeitungsansatz in den Kognitionswissenschaften und für die Repräsentationale Theorie des Geistes in der PhdG sprechen, sind beide Theorien besonders von Vertretern des Konnektionismus heftig kritisiert worden. 12 Die Grund-

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annahme des Konnektionismus lautet, dass kognitive Leistungen nicht auf Symbolverarbeitungsprozessen, sondern auf den Verschaltungen neuronaler Netze beruhen. Diese Netze bestehen aus einer Reihe von Einheiten, die unterschiedlich aktiviert sein können. Einige dieser Einheiten sind mit anderen verbunden, wobei gilt: wenn a mit b verbunden ist, wird die Aktivation von b durch die Aktivation von a beeinflusst. Die Stärke dieses Einflusses erhält man, indem man den Aktivationsgrad von a mit dem Gewicht der Verbindung multipliziert. Der Aktivationsgrad von b zum Zeitpunkt t2 ergibt sich aus dem Aktivationsgrad von b zum Zeitpunkt t1 sowie aus dem Einfluss, den die mit b verbundenen Einheiten zum Zeitpunkt t1 auf b ausüben. (Die Summe dieser Einflüsse wird als Nettoinput bezeichnet.) Eine zentrale Eigenschaft neuronaler Netze ist ihre Lernfähigkeit. Mit Hilfe geeigneter Lernalgorithmen können sie dazu gebracht werden, auf bestimmte Input-Muster mit bestimmten Output-Mustern zu reagieren. Dabei werden die Gewichte der Verbindungen zwischen den Einheiten schrittweise solange verändert, bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist. Gegen den Symbolverarbeitungsansatz bzw. die Repräsentationale Theorie des Geistes und damit für den Konnektionismus scheinen im Augenblick hauptsächlich zwei Argumente zu sprechen: (i) Der Symbolverarbeitungsansatz hat sich im Hinblick auf bestimmte kognitive Leistungen als Sackgasse erwiesen. Im Rahmen dieses Ansatzes lassen sich viele Wahrnehmungsleistungen – zumindest bisher – ebenso wenig erklären wie etwa die Fähigkeit, im Laufen einen fliegenden Ball zu fangen. Im Rahmen des Symbolverarbeitungsansatzes lässt sich das Weltwissen nicht befriedigend modellieren, das z. B. beim Sprachverstehen eine zentrale Rolle spielt. Und im Rahmen des Symbolverarbeitungsansatzes hat sich bisher keine Lösung für das frameProblem finden lassen – für das Problem, bei der Handlungsplanung nur relevante Handlungsfolgen zu berücksichtigen. (ii) Der Symbolverarbeitungsansatz scheint biologisch unplausibel. Es gibt bisher keinerlei Anzeichen dafür, dass unser Gehirn genauso arbeitet wie ein digitaler Computer. Gegen den Konnektionismus ist auf der anderen Seite insbes. von Fodor und Pylyshyn eingewandt worden, dass er keine Erklärung für die Produktivität und Systematizität intentionaler Zustände liefert. 13

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insbes. Descartes, Meditationen. – 2 Vgl. auch zu diesem Merkmal Descartes, Meditationen. – 3 Brentano ,  f. – 4 Wittgenstein , §§ –. – 5 Nagel , . – 6 Vgl. z. B. McGinn ,  ff. – 7 Dennett , a, b; Davidson . – 8 Watson , , ; Tolman ; Hull , ; Skinner , . Zur Beziehung zw. psychol. Behaviorismus u. Philos. vgl. Smith . – 9 Bridgeman . – 10 Hempel . – 11 Fodor , , , ; vgl. eine ausführliche Darstellung u. Diskussion dieser Theorie in Beckermann , Kap. . – 12 Vgl. z. B. Bechtel/Abrahamson . – 13 Fodor/Pylyshyn .

Ansgar Beckermann

Philosophische Anthropologie

1 Zum Begriff. 1.1 Anthropologie im allgemeinen. Unter ›Anthropologie‹ (A.). versteht man die ›Lehre vom Menschen‹ (von griech. anthropos – Mensch, logos – Lehre); »anthropologia est doctrina humanae naturae« 1, und zwar mittlerweile so allgemein, dass durch zusätzliche Bestimmungen in der Regel anzugeben ist, unter welchem Gesichtspunkt der Mensch zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung gemacht wird. Zu den in diesem Zusammenhang naturwissenschaftlich orientierten Wissenschaften gehören die als Teil der Biologie und zuvor schon der Medizin auftretenden Disziplinen der physischen A. (z. B. Anthropo-Morphologie, Humangenetik) unter Einschluss der stammesgeschichtlichen Untersuchungen zur biologischen Art homo sapiens in der Paläoanthropologie. Ihnen stehen die grundsätzlich kulturwissenschaftlich vorgehenden Wissenschaften der am Paradigma der Ethnologie orientierten Disziplinen der KulturA. gegenüber (z. B. Ur- und Frühgeschichte, Sozialanthropologie), wobei die Auseinandersetzung um die dabei zu verwendende Methode, eine systematisch-erklärende oder eine historisch-verstehende, insbes. im Zusammenhang der am linguistischen Strukturalismus orientierten strukturalen A. (C. Lévi-Strauss), die Geschichte der Kultur-A. begleitet. 2 Aber damit sind die anthropologischen Disziplinen keineswegs erschöpft, zumal historisch im Zuge der Auffassung von der ›Doppelnatur‹ des Menschen (Leib-Seele-Problem) der physischen A. eine moralische A. gegenübergestellt worden ist 3, die bei Immanuel Kant unter dem Titel ›Anthroponomie‹ 4 nichts anderes als praktische Philosophie ist. Es gibt außer anwendungsbezogenen A.n, z. B. einer der (humanen) Bioethik dienenden medizinischen A. auf der Grundlage physischer A. 5, noch zwei weitere, ebenfalls Fragen der Moral einbeziehende anthropologische Disziplinen: In der einen ist man mit der im jüdisch-christlichen Kontext überlieferten und noch heute – dann aber unter Berücksichtigung auch empirischen Wissens über den Menschen – besonders in den christlichen Theologien fortgesetzten (›moraltheologischen‹) Entfaltung der biblischen Formel

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vom Menschen als Ebenbild Gottes (imago dei) befasst 6, die andere stellt eine noch junge, als Brücke zwischen den Wissenschaften der physischen A. und der Kultur-A. geeignete, wenn auch noch selten so auftretende, Wissenschaft dar, nämlich die auf den Menschen bezogene (auch Moral meist als ein bloß natürliches Phänomen studierende) Verhaltensforschung (Verhalten) oder Humanethologie. 7 1.2 Philosophische Anthropologie Neben dieser Fülle anthropologischer Disziplinen wird unter einer philosophischen A. (ph. A.) gegenwärtig im wesentlichen zweierlei verstanden: Man betreibt ph. A. entweder als eine reaktive Disziplin, wie Naturphilosophie oder Geschichtsphilosophie – »sie begründen die Wissenschaften nicht mehr, sie verarbeiten sie« 8 –, oder aber als eine der Grundlegung jeder Rede vom Menschen und damit auch der Philosophie im Ganzen dienende reflexive Disziplin, wie sie schon I. Kant zu unterstellen ist, wenn er es als den Endzweck der menschlichen Vernunft ansieht, »die ganze Bestimmung des Menschen« 9 zu geben, und zwar unbeschadet der Tatsache, dass Kant unter dem Titel ›A.‹ nur Vorlesungen über Menschenkunde gehalten hat. Wenn er dabei die Physiologie aus der A. verbannt, was ihm Ludwig Feuerbach vorwirft, wenn er »den Menschen mit Einschluss der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie – die Anthropologie also, mit Einschluss der Physiologie, zur Universalwissenschaft« 10 erklärt und dabei sogar so weit geht, von der Aufgabe der »Verwandlung und Auflösung der Theologie in die A.« 11 zu sprechen, so ist dies ein Hinweis darauf, dass Kant unter Reflexion (oder eben der Tätigkeit der Vernunft) nur das Verfahren der Selbstbestimmung versteht, also die Aufgabe der praktischen Philosophie oder ›Anthroponomie‹, ohne dabei auch das Gewahrwerden eines (durch Natur und Kultur) bereits Bestimmtseins einzuschließen. 12 Johann Gottfried Herder schon hatte diese einseitige Festlegung des Vernunftbegriffs Kant vorgeworfen und darauf bestanden, dass die »Vernunft des Menschen [. . . ] ihm nicht angeboren« 13 ist, vielmehr selbst etwas Erworbenes. In der Selbstbesinnung sind Selbstbestimmung und Gewahrwerden eines Bestimmtseins miteinander verwoben. Die sich im . Jahrhundert als eine zentrale Disziplin herausbildende ph. A. kann als eine ausdrücklich auf die Rede vom Menschen

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bezogene Fortsetzung der verschiedenen, im . Jahrhundert unter Anknüpfung an ältere, schon auf die Antike, insbes. die Sophistik, zurückgehende heterodoxe Traditionen sich formierenden, Gegenbewegungen zur klassischen philosophischen Tradition von PlatonAristoteles über Descartes-Locke bis Kant-Hegel aufgefasst werden – Gegenbewegungen in der Existenzphilosophie (von Sokrates über Augustin und Pascal bis Kierkegaard und Nietzsche), im Pragmatismus (von Protagoras bis Peirce), im Materialimus (von Demokrit bis Marx), im Historismus (von Gorgias und Prodikos über Vico und Herder bis Dilthey) und im Positivismus (ebenfalls von Sokrates über Leibniz, Reid und Comte bis Russell und Moore). 2 Problematisierung der philosophischen Anthropologie im . Jh. . Die beiden Begründer der ph. A. im . Jh., Max Scheler (– ) und Helmuth Plessner (–), verstehen sie als eine reaktive Disziplin, die auf schon bereitliegendem Wissen über den Menschen aufbaut. Dabei versucht Scheler, einen ›spekulativen‹ Zusammenhang nichtempirischer Aussagen über den Menschen herzustellen, dem sich entnehmen lässt, dass er ph. A. für nichts anderes als Philosophie hält, bei der das Subjekt philosophischer Leistungen explizit gemacht worden ist. Seinen Plan, diese Absicht nicht nur programmatisch (Die Stellung des Menschen im Kosmos, ) sondern monographisch zu entwickeln, konnte er jedoch nicht mehr verwirklichen. Plessner wiederum erklärt in seinem, zur gleichen Zeit wie Schelers Programmschrift erschienenen, anthropologischen Hauptwerk (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 14) die ph. A. zu einer ›integrativen‹ Disziplin, in der das von den anthropologischen Disziplinen – v. a. der physischen A. – bereitgestellte empirische Wissen über den Menschen zu einem Menschenbild zusammenzufassen ist. Beide Autoren aber stimmen darin überein, dass es ein die Selbsteinschätzung des Menschen von der Antike bis heute – und zwar nicht nur in unserem eigenen Kulturkreis – bestimmendes Merkmal gibt, das den Menschen nichtempirisch (Scheler) bzw. empirisch (Plessner) auszeichnet: die Fähigkeit zur Rationalität, zum Vernünftigsein. Scheler charakterisiert die Fähigkeit zur Rationalität als Fähigkeit zu »vollendeter Sachlichkeit« 15 : Der Mensch ist Träger des auf die Evolution des Lebens nicht mehr zurückführbaren ›Prinzips Geist‹

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und damit in der Lage, frei von inneren und äußeren Umweltbindungen ›weltoffen‹ aufzutreten. Plessner hingegen bestimmt die Fähigkeit zur Rationalität als Selbstbewusstsein und damit als Fähigkeit zur Selbstreflexion, durch die Selbstdistanz – bei Plessner die ›exzentrische Positionalität‹ – erzeugt wird: »Der Mensch lebt nur, indem er sein Leben führt« 16 ; er muss »sich zu dem, was er schon ist, erst machen«. 17 . Die Alternative einer reflexiv vorgehenden ph. A. wird zeitgleich mit Scheler und Plessner von zwei Autoren vertreten, die dabei jedoch beide, wenngleich unterschiedlich argumentierend und mit unterschiedlichen Konsequenzen, die Gleichsetzung des reflexiven Verfahrens mit dem Verfahren einer Grundlegung auch der Philosophie im Ganzen, wie sie Kant im Zusammenhang einer Bestimmung der ph. A. geleitet hat, zurückweisen. Es handelt sich in diesem Fall um Martin Buber (–) und Martin Heidegger (–). Buber gibt der Tatsache, dass Kant unter dem Titel ›A.‹ gerade nicht die ›Bestimmung des Menschen‹ abhandelt, die fragwürdige Deutung 18, dass Kant selbst schon bemerkt habe, eine ph. A. vermöge die Rolle einer Grundlegung der Philosophie nicht zu spielen, und zwar deshalb nicht, weil vom Menschen nie prinzipiell, sondern nur ihn in seiner Vielfalt beschreibend die Rede sein könne. 19 Buber bleibt also bei der die Tradition, zumindest in ihrem rationalistischen Zweig, beherrschenden Auffassung, dass Philosophie, entgegen ihren Ursprüngen im Argumentierenkönnen, Prinzipienforschung in dem Sinne betreibe, dass allein das objektiv Seiende und das allgemein Geltende in Frage stehe. Aus Sorge, konkret vorgebrachte Argumente könnten unüberlegt und deshalb unsachlich sein, was sich aber wiederum nur durch Argumente erhärten oder zurückweisen ließe, wurde in der Tradition eine strenge Schranke errichtet zwischen dem, was nur de facto, und dem, was de iure, also ›rechtmäßig‹, anerkannt ist. Zu den Folgen gehört es, dass Reflexion auf die conditio humana unter ausdrücklicher Berufung auf eine konkret gegebene Situation unter Einschluss der Menschen, die in ihr leben, für eine nicht im strengen Sinne philosophische Tätigkeit gilt. In der Überzeugung, dass ein Anfang des Nachdenkens inmitten von etwas Gegebenem allenfalls für den Aufbau von Einzelwissenschaften, nicht aber für eine ausschließlich an Prinzipien orientierte Philosophie tauge, ist sich Buber mit seinem Kontrahenten Heidegger

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einig. Eine reflexiv verfahrende ph. A. mit der Aufgabe, eine immer wieder neue Selbstbesinnung des Menschen in Gang zu setzen und aufrecht zu erhalten, kann daher weder für Buber noch für Heidegger wirklich Philosophie sein. Während Buber daraufhin seine in Das Problem des Menschen () als Selbstbesinnung auftretende ph. A. nicht als ein Stück Philosophie im strengen Sinne verstanden wissen will, wandelt Heidegger in seiner in Kant und das Problem der Metaphysik () geführten Auseinandersetzung mit Kant die philosophisch, also reflexiv, betriebene A., soll sie doch die Aufgabe einer Grundlegung der Philosophie erfüllen können, in eine neue, von ihm selbst erst geschaffene ›wirklich‹ philosophische Disziplin um, die Fundamentalontologie: »Keine A., die ihr eigenes Fragen und dessen Voraussetzungen noch versteht, kann beanpruchen, auch nur das Problem einer Grundlegung der Metaphysik zu entwickeln, geschweige denn, sie durchzuführen. Die für eine Grundlegung der Metaphysik notwendige Frage, was der Mensch sei, übernimmt die Metaphysik des Daseins«. 20 3 Philosophische Anthropologie als anthropologische Philosophie . Will man angesichts dieser Lage gleichwohl ph. A. als eine reflexive Disziplin, als Selbstbesinnung im Sinne Herders, betreiben, so kann das nur gelingen, wenn Selbstbesinnung in ihrem Vollzug die Grenzen beachtet, die sie dabei an ihrem Gegenstand, dem Menschen, wahrnimmt. Die im Zuge ihres Erwerbs stattfindende Entdeckung der Vernunft ist zugleich eine Entdeckung ihrer Grenzen: »La raison est donc ce qui constitue la limite, ce qui nous donne une demeure«. 21 Selbstbesinnung setzt in der Lebenswelt des Alltags ein, und dazu gehören auch die Meinungen der verschiedenen Wissenschaften vom Menschen und die Meinungen der philosophischen Tradition, soweit sie das gegenwärtige Leben im Denken, Sprechen und Handeln beeinflussen oder als Spuren vergangener Beeinflussung erhalten geblieben sind. Der mit diesen Meinungen verbundene Geltungsanspruch wird dabei von einer ph. A. in reflexiver Einstellung nicht einfach übernommen, vielmehr ist er für sie nur der Anlass, die Bildung dieser Meinungen und der zu ihrer Stützung vorgebrachten Gründe noch einmal aufzusuchen, und zwar wiederum nicht bloß historisch im Sinne bloßer ›unbeteiligter‹ empirischer Feststellung, sondern systematisch

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im Sinne einer für den philosophischen Anthropologen einsichtigen rationalen Rekonstruktion, die er auch selbst zu vertreten in der Lage ist. . Den entscheidenden Schritt zu einer reflexiv verfahrenden ph. A. in Gestalt einer anthropologisch fundierten Philosophie ist Ernst Cassirer (–) in seinem Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen (–) gegangen. Die von ihm in der Formel ›animal symbolicum‹ zusammengefasste These, dass der Mensch sich im Akt der Selbstbesinnung als zeichenerzeugendes und zeichenverwendendes Lebewesen versteht, hat er kurz vor seinem Tod im amerikanischen Exil in Vorlesungen wie folgt erläutert: »if there is any definition of the nature [. . . ] of man, this definition can only be understood as a functional one, not a substantial one [. . . ] Man’s outstanding characteristic [. . . ] is not his metaphysical or physical nature – but his work [. . . ]. [In a] ›philosophy of man‹ [. . . ] we seek not a unity of effects but a unity of action; not a unity of products but a unity of the creative process«. 22 Ihm gelingt es, mit Wendungen wie ›der Mensch unterhält sich ständig mit sich‹ darauf aufmerksam zu machen, dass Handlungen als Zeichen oder ›Symbole‹ für ihren Sinn sich erst erschließen, wenn sie ›dialogisch‹ und das heißt, als Bestandteile von Interaktionen verstanden werden. Allerdings muss einschränkend darauf hingewiesen werden, dass Cassirer Handlungen erst unter Bezug auf ihre ›kulturale‹ Zeichenfunktion für typisch menschlich hält; die ›naturale‹ Seite von Handlungen bleibt auf eine bloße Trägerfunktion symbolischen Handelns beschränkt und wird nicht ebenfalls dialogisch verankert. Daher sind auch die ›Werke‹ des Menschen, von denen Cassirer spricht, für ihn nur in ihrer semiotischen und nicht schon in ihrer pragmatischen Rolle anthropologisch relevant. Im übrigen bedarf jedoch die Einsicht in die dialogische Verankerung des symbolischen Universums, in dem der Mensch lebt, zu ihrer freien Entfaltung auch noch der Aufmerksamkeit auf den Weg, der, geleitet vom Dialog, zum symbolischen Universum führt. Dieser Weg besteht in nichts anderem als dem immer wieder erneuerten Versuch, den in einer ph. A. bloß dargestellten und zudem notgedrungen nur einseitig geführten Dialog mit der weit verzweigten philosophischen Tradition und mit den Meinungen der verschiedenen Wissenschaften vom Menschen in seiner von der Ich-Perspektive herrührenden Verzerrung

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und damit in der begrenzten Reichweite seiner Ergebnisse sichtbar zu machen. Nur durch differenzierende Ausbildung von Ich und Du – und damit die Rückbindung der Werke des Menschen an die in ihnen verkörperten Prozesse der Individuation und der Sozialisation – können Menschen ein Bild von sich ausbilden und so durch Integration von Ich-Rolle und Du-Rolle zu Personen werden. Daher sind auch die Werke sowohl semiotisch (Du-Rolle) als auch pragmatisch (IchRolle) zu begreifen, und Cassirers funktionales Verständnis des Menschen ist durch ein von ihm für überwunden gehaltenes substanziales Verständnis wieder zu ergänzen. Beides lässt sich aufgrund und mithilfe dialogisch aufgebauter Handlungs- und Redezusammenhänge schrittweise entwickeln. 23 4 Der Mensch im Handeln und Reden . Die im . Jh. wieder aufgegriffene, v. a. im alten Griechenland und im alten China – insbes. im Schulstreit über die Natur des Menschen zwischen Mengzi (Menzius, Meng-tzu [ca. – v. u. Z.]: der Mensch ist von Natur gut und muss dies durch Selbsterziehung gegen Bedrohung von außen bewahren) und Xunzi (Hsün-tzu [ ca. – v. u. Z.]: der Mensch ist von Natur böse und muss durch Erziehung erst Menschlichkeit ausbilden) 24 – reflektierte Selbsteinschätzung des Menschen durch sich sprachlich äußernde, moralisches Unterscheidungsvermögen und damit Sozialität einschließende Rationalität ist von der Tradition meist um den Anteil Sozialität verkürzt verstanden worden, so dass oft, und das sogar noch heute, Verfügenkönnen über Sprache im engeren, wortsprachlichen Sinne allein schon für eine den Menschen kennzeichnende und zudem beobachtbare Eigenschaft gehalten wird. Schließlich wird im Griech. ›Sprache‹ und ›Vernunft‹ zunächst einmal durch denselben Ausdruck ›logos‹ wiedergegeben, der eigentlich ein In-ein-Verhältnis-Setzen bedeutet, woran z. B. noch immer die Bezeichnung ›rationale Zahlen‹ erinnert. Dabei ist ›logos‹ von Hause aus der Titel für den Vollzug von Unterscheidungen und deren Beurteilung und nicht für den Besitz einer Anlage dazu. Nur in der Ausübung sind Vernunft und Sprache wirklich, und das Wissen darum ist dabei stets eingeschlossen. Aus diesem Grund haben Vernunftvermögen und Reflexionsvermögen als gleichwertig zu gelten. Und genau dieses Verständnis liegt ursprünglich auch der

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klassischen Definition des Menschen als ›vernünftiges Lebewesen‹ (animal rationale) zugrunde, wiewohl sie schon bald bloß als eine beschreibende Charakterisierung verstanden wurde – Vernunft gehört in diesem Verständnis zur biologischen Ausstattung des Menschen wie andere Merkmale auch – und nicht primär als eine Selbstzuschreibung, die nur im Zuge der Ausübung von Vernunft berechtigt ist. Noch Carl von Linné hat in seinem Systema Naturae () den Menschen nicht schlicht in seine Klassifikation der Arten eingeordnet, ihn vielmehr durch das eine Selbstzuschreibung ausdrückende ›nosce te ipsum‹ charakterisiert 25, während in der heute üblichen und natürlich beschreibenden biologischen Nomenklatur die (Sub-)Spezies des Jetztmenschen durch ein mittlerweile nur noch ironisch lesbares ›homo sapiens sapiens‹ bezeichnet wird. . Nun gibt es mittlerweile gute Gründe, auch anderen biologischen Spezies Fähigkeiten zuzuschreiben, die sich als ›Sprachkompetenz‹ charakterisieren lassen 26, wenngleich zu beachten ist, dass für einen Sprachbeobachter es genau solange unmöglich bleibt, die beobachtete sprachliche Interaktion von einem (nichtsemiotischen) Reiz-ReaktionsZusammenhang zu unterscheiden, als er selbst nicht zugleich ein Teilnehmer an der sprachlichen Interaktion geworden ist. Sieht man von diesem Sachverhalt, Sprachkompetenz grundsätzlich nur teilnehmend ›von innen‹, nicht aber allein beobachtend ›von außen‹ ausmachen zu können, einmal ab, so sind an einem von beobachtbarer Sprachverwendung abgeleiteten Verständnis von Rationalität zumindest noch zwei Korrekturen anzubringen. Erstens ist Rationalität nicht allein an Verbalsprache gebunden, sondern kann sich auch anderer semiotischer Mittel, z. B. sogar gewöhnlich nicht-semiotisch ausgeübter Handlungen, etwa beim Vormachen von etwas, bedienen, und zweitens sollte sie auch dann nicht bloß für eine mehr oder weniger allgemein verbreitete ›positive‹ Eigenschaft gehalten werden, deren Vorliegen sich beobachten lässt; vielmehr wird mit ›rational‹ immer auch eine Selbstzuschreibung in dem Sinne vorgenommen, dass jemand rational ist, weil er sich als rational versteht, und das heißt, weil er als ›Ich‹ kraft Distanzierung von sich selbst und damit auch in Du-Rolle sein Gegenüber als ein zur Ich- und zur Du-Rolle fähiges Alter-Ego anerkennt, was mit der Wendung ›rationales Verhalten Zeigen‹ irrtümlich für das

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Feststellen einer beobachtbaren Eigenschaft gehalten werden könnte: Rationalität ist sowohl eine positive als auch eine reflexive Bestimmung. Als positive Bestimmung beschreibt ›rational‹ das Vermögen zu ›vollendeter Sachlichkeit‹ im Sinne Schelers, gibt also die Eigenschaft wieder, durch Ausblenden der je individuellen Perspektive den Platz mit jedem anderen Menschen folgenlos für das Handeln und Reden tauschen zu können: Der im positiven Sinn ›rationale‹ Mensch tritt als ›allgemeines Ich‹ auf. Davon unterschieden artikuliert die reflexive Bestimmung ›rational‹ die in selbst gewählten einzelnen Lebensvollzügen verwirklichte Fähigkeit zur Selbstbestimmung, wie sie nur in der Distanzierung, also der Entwicklung einer Perspektive – auch sich selbst gegenüber –, ihre Gestalt findet: Rationales Verhalten dokumentiert sich in gegenseitiger Abgrenzung durch immer besser verwirklichte Individualität, im besonderen durch Argumentieren-Können. . Jenseits dieser allein auf die Ebene des Zeichenhandelns, insbes. des Redens, bezogenen Erläuterung von Rationalität, gibt es natürlich auch auf der Ebene des gewöhnlichen Handelns eine den Menschen auszeichnende Rationalität. Dabei handelt es sich weder um Zweckrationalität – das Vermögen, den ›besten‹ Weg zu einem gegebenen Ziel wählen zu können – noch um Moralität – das Vermögen, die Handlungsziele selbst wählen zu können, und zwar so, dass die Wahlen verschiedener Personen nicht miteinander in Konflikt geraten. Sowohl Zweckrationalität als auch Moralität kommen zu ihrer Bestimmung nicht ohne den Bezug auf eigenständige Zeichenhandlungen aus, weil Handlungsziele nur in Gestalt geeigneter Repräsentationen für die erst noch zu schaffenden Situationen zur Verfügung stehen. Bei dem auf der Ebene gewöhnlichen Handelns gleichsam als Basis für Rationalität, Zweckrationalität und Moralität auftretenden typisch menschlichen rationalen Verhalten handelt es sich um Sozialität. Wiederum haben wir es mit einem Fall einer nicht bloß beobachteten ›positiven‹ Eigenschaft zu tun; vielmehr verdankt sich auch Sozialität darüber hinaus einem durch Selbstzuschreibung bewusst vollzogenen Selbstverständnis. Mit der reflexiven Bestimmung ›sozial‹ wird Verbundenheit artikuliert, ein Sich-im-anderen-Erkennen, wie es wirklich wird, wenn die eigenen Handlungsvollzüge als dem Typ nach mit fremden Handlungsvollzügen übereinstimmend begriffen sind. Sozialität als positive

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Bestimmung hingegen beschreibt das Eingebundensein der Menschen sowohl in kausale Ursache-Wirkung-Zusammenhänge als auch in intentionale Mittel-Zweck-Zusammenhänge, wie sie den Gegenstand jeweils der Disziplinen der physischen A. und der Kultur-A. bilden. In der Antike galten ursprünglich beide Bestimmungen: animal sociale und animal rationale – und Aristoteles war vermutlich der letzte, dem dies noch selbstverständlich war 27 – in ihrem reflexiven Verständnis als gleichwertig, verbarg sich dahinter doch die Entdeckung der Vernunft als Selbstentdeckung und Selbsterfindung des Menschen: seiner zwei Seiten, der (aktiven) Selbsttätigkeit (Sozialität, = praktische Rationalität) und des (passiven) Dieses-Gewahrwerdens bzw. DarumWissens (theoretische Rationalität). Selbstbesinnung wird in Handlungszusammenhängen und in Redezusammenhängen wirklich. . Der im Griech. fehlenden begrifflichen Trennung zwischen Sprachvermögen und Vernunftvermögen – eben weil beide als reflexive und nicht als positive Bestimmungen verstanden wurden – ist es zuzuschreiben, dass praktische und theoretische Rationalität als Fertigkeiten galten, deren Ausbildung ausdrücklich auf Sprache angewiesen ist: Praktische Rationalität erweist sich im Ziele-Setzenkönnen, theoretische Rationalität im Gründe-Gebenkönnen. So kam es schon bei Platon auf der einen Seite zur Gleichsetzung von praktischer Rationalität und Moralität, und auf der anderen Seite galten die technischen (= poietischen) Fertigkeiten und damit das, was man heute ›zweckrationales‹ Verhalten nennt, einem Bereich noch vorrationaler, von bloßer Kunstfertigkeit einschließlich dem Verfügen über religiöse Riten geprägter Lebensweise zugehörig, der als noch nicht spezifisch menschlich zu gelten hat; so ist es im Kulturentstehungsmythos des Protagoras in Platons gleichnamigem Dialog auseinandergesetzt. 28 Hannah Arendt hat darauf aufmerksam gemacht 29, dass mit der lat. Wiedergabe des griech. ›politikon‹ durch ›sociale‹ – und Entsprechendes ist bei der Übersetzung des griech. ›logon echon‹ durch lat. ›rationale‹ passiert – die Bestimmung des Menschen als ›Gemeinschaft bildendes Lebewesen‹, dem praktischen Gegenstück zur theoretischen Bestimmung als ›vernünftiges Lebewesen‹, von einer grundsätzlich reflexiven in eine grundsätzlich positive Bestimmung verwandelt wurde. Der in ihren historischen Folgen fatalen Gleichsetzung dieser bei-

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den Bestimmungen je mit dem Handeln und Reden, durch welche sie vorgenommen werden, war damit Tor und Tür geöffnet. Rationalität wurde auf beiden Ebenen als ein bloß natürliches Merkmal aufgefasst, das zur biologischen Ausstattung des Menschen gehört wie andere auch, anstatt sie auch reflexiv als Titel für den Vollzug von (praktischen) Unterscheidungen und ihrer (theoretischen) Beurteilung zu begreifen. So konnte es im Zuge des Verlusts des Wissens um die Äquivalenz der ›animal-rationale‹-Bestimmung mit der Bestimmung des Menschen als Gemeinschaft bildendes Lebewesen und der damit einhergehenden Verschmelzung des antiken Erbes mit christlicher Theologie geschehen, dass die aristotelische Erklärung, der ›vernünftige Seelenteil‹ (Seele) oder der ›Geist‹ sei, anders als alles Natürliche, frei von Potenzialität und deshalb ›unsterblich‹ 30, als ein Votum für die Doppelnatur des Menschen missverstanden wurde. . Die Doppelnatur aus Leiblichem und Geistigem – ›Leib und Seele‹ – wurde von René Descartes in der ersten Phase der neuzeitlichen Philosophie im Dualismus von ›ausgedehnter Substanz‹ (res extensa) und ›denkender Substanz‹ (res cogitans) kanonisiert 31, von Kant hingegen, in der letzten Phase der neuzeitlichen Philosophie, in die Rede vom Menschen als Angehörigem zweier Reiche überführt: Als Sinnenwesen (homo phaenomenon) oder empirisches Ich gehört der Mensch zum Reich der Natur, als Vernunftwesen (homo noumenon) oder transzendentales Subjekt gehört er dem Reich der Freiheit an, d. h. er weiß kraft Vernunft um diese Zugehörigkeit. 32 Allerdings stehen schon bei Descartes beide res nicht mehr auf der gleichen Stufe, da ich zwar eine res cogitans ›bin‹, einen Körper jedoch ›habe‹, und es Gott sei, der garantiere, dass die Ideen von Körpern, die in mir hervorgerufen werden, grundsätzlich zuverlässig sind. Der einzelne Mensch könne sich nur seines Denkens im Vollzug gewiss sein, die Gegenstände des Denkens, sofern sie nicht das Denken selbst betreffen, bleiben unerreichbar und sind nur über das zirkelhafte Postulat und dessen Konsequenzen zu sichern, dass jeder eine ihm von Gott eingepflanzte Idee Gottes habe. Denken allein mache das ›Wesen‹ eines Menschen aus. Damit ist Denken als Tätigsein – die Erscheinungsweise der Vernunft – zwar wiederentdeckt, aber um sein Sich-auf-etwas-richten, sofern es sich nicht

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auf sich selbst richtet, betrogen worden. Es ist bei Descartes keine Rede davon, dass auch am gewöhnlichen Tätigsein Denken beteiligt ist. . Zwei Antworten auf die Probleme, die durch Descartes’ Behandlung der Doppelnatur des Menschen erzeugt wurden, blieben bis Kant und über ihn hinaus wirksam 33 und bestimmen in Gebieten wie z. B. der Philosophie des Geistes grundsätzlich noch heute die philosophische Diskussion. Es sind die materialistische Reduktion des Bewusstseins auf Körperliches bei Thomas Hobbes 34 und die Beschränkung des Vernünftigen auf Eigenschaften eines allgemeinen und in diesem Sinne ›gottgleichen‹ Subjekts bei Baruch de Spinoza. 35 Hobbes ebenso wie Spinoza bleiben bei der bewusstseinstheoretischen Auszeichnung der res cogitans gegenüber der res extensa: Die inneren Zustände unseres Geistes sind bei beiden ihrerseits erforschbare Gegenstände, zugleich aber sind sie Erscheinungen äußerer Gegenstände (Hobbes) beziehungsweise richten sich auf solche (Spinoza). Beide Philosophen gehen anschließend jedoch verschiedene Wege. Hobbes entwirft das Programm einer logisch-kausalen Erklärung dafür, wie es zu den Erscheinungen (phantasmata), eben den Vorstellungen von Körpern, kommt, während Spinoza einen Begriff adäquater Erkenntnis dazu verwendet, die Aufspaltung in leidenschaftliches und vernünftiges Verhalten als eine Folge unvermeidlicher inadäquater Erkenntnis zu verstehen. Im Entwurf von Hobbes sind mechanische Bewegungsgesetze im Sinne der Physik seiner Zeit für das Aufeinanderwirken von Körpern, zu denen auch Menschen und ihre Vergesellschaftungen in ›sozialen Körpern‹ gehören, für das Auftreten auch der Vorstellungen von Körpern verantwortlich. Der Entwurf Spinozas wiederum kennt nur eine einzige existierende Substanz, nämlich ›Gott‹; der Mensch ist lediglich ein Modus Gottes, und zwar Geist (mens), wenn Gott unter dem Attribut Denken (cogitatio) begriffen wird, hingegen Körper (corpus), wenn dies unter dem Attribut Ausdehnung (extensio) geschieht. Die Substanz Gott ist allein durch Vermögen (potenzia, griech.: dynamis) charakterisiert und nicht, wie bei Aristoteles und Leibniz, der Aristoteles hier folgt, durch ›Ins-Werk-Setzen‹ (actus, griech.: energeia).

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. Die von Hobbes betriebene konsequente Vergegenständlichung der mentalen Tätigkeiten führt zu einer Theorie des Menschen als Teil einer verallgemeinerten Physik, in der auch selbst gesetzte ZweckMittel-Zusammenhänge schließlich auf Ursache-Wirkung-Zusammenhänge zurückgeführt sind. Das bleibt auch dann richtig, wenn man in den Wissenschaften vom Menschen auf der methodologischen Unterscheidung besteht zwischen einerseits naturwissenschaftlichen Verfahrensweisen, die kausale Erklärungen beibringen (Kausalität), und andererseits kulturwissenschaftlichen Verfahrensweisen, die intentionale Regelmäßigkeiten zu verstehen suchen (Intentionalität), aber nicht selbst Zweck-Mittel-Zusammenhänge setzen. Die ursprünglich als Selbstbestimmung vorgetragene Auszeichnung des Menschen durch Vernunft ist zu einem bloßen Faktum des Theorienbildens im Sinne neuzeitlicher Wissenschaft geworden, das reflexiv nicht mehr eingeholt werden kann. Da Spinoza, wenn es um den Menschen geht, ebenso konsequent auf der Ebene des Aufstellens von Erkenntnissen und diese Begründens bleibt, wie Hobbes auf der Ebene der Gegenstände, über die er Theorien bildet, sehen seine Schlussfolgerungen anders aus. Nur in dem Maße, in dem der Mensch adäquate Erkenntnisse hat, also neben dem Wissen über die Beschaffenheit der Gegenstände auch noch die Ursachen dieser Beschaffenheiten kennt, was nach Spinoza nur sein kann, wenn der Mensch selbst kraft seiner Handlungen diese Ursache ist, darf er vernünftig heißen. Soweit dies nicht der Fall ist, erleidet er seine Handlungen, und das bedeutet, dass er von Leidenschaften beherrscht ist, weil er die außer ihm selbst liegenden Ursachen dieser Affekte nicht adäquat erkennt. Leidenschaften vereinzeln, sich der Leitung der Vernunft zu unterstellen macht hingegen gleich. 36 Auf der Ebene der adäquaten Erkenntnisse gibt es keine Möglichkeit mehr, allein mit ihrer Hilfe einen einzelnen Menschen, ihn als Individuum, zu charakterisieren. Die faktisch nicht eliminierbare Abweichung von allgemeiner Übereinstimmung bleibt ein Zeichen der unaufhebbaren körperlichen Individuierung. Die Doppelnatur des Menschen ist in die Gegenüberstellung des allgemeinen und deshalb ›vernünftigen‹ Ich zum einzelnen empirischen und deshalb bloß ›natürlichen‹ Ich überführt worden, so dass ein einzelner Mensch zwar nie völlig vernünftig, aber auch nie völlig unvernünftig sein wird.

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. Kant hat angesichts dieser Lage seine radikalen Konsequenzen gezogen. Die res cogitans wird sowohl entsubstanzialisiert und heißt dann ›Vernunftvermögen‹ als auch entindividualisiert zum ›transzendentalen Subjekt‹, der nur noch formalen Einheit aller Äußerungen des Vernunftvermögens. Zugleich wird die Differenz der res cogitans zur res extensa nicht mehr darauf gegründet, dass erstere letztere zum Gegenstand hat, sondern darauf, dass sich die res cogitans mit dem Bereich des Sollens befasst – »der Einheit der Verstandesregeln und der Prinzipien« 37 –, während die res extensa als Einheit der Erscheinungen den von den Verstandesregeln bestimmten Bereich des Seins bildet. Kant beansprucht, die von ihm noch der metaphysischen Tradition zugerechnete ›erkenntnistheoretische Relation‹ zwischen dem Denken und dem Objekt des Denkens ihrerseits als Leistung der Vernunft zu begreifen, und er erreicht dies durch die doppelte Ausstattung des transzendentalen Subjekts: Es ist unmittelbar die Fähigkeit zur Reflexion (= Vernunftvermögen) und mittelbar die Fähigkeit zum Denken (= Verstandvermögen). So kann die von David Hume entdeckte logische Unabhängigkeit des Sollens vom Sein von Kant auf die logische Überordnung des Vernunftvermögens über das Verstandvermögen zurückgeführt werden. Für seine Rede vom Menschen als einem Angehörigem sowohl des Reichs der Natur als auch des Reichs der Freiheit haben diese Überlegungen die Konsequenz, dass der Mensch als Sinnenwesen unter Naturgesetzen steht: Seine – genau genommen, nur als ›Bewegungen‹ anzusehenden – Handlungen werden von ›sensiblen‹ Ursachen, also von einem Sein, als kausal bestimmt betrachtet. Als Vernunftwesen hingegen steht der Mensch unter Gesetzen der Freiheit. Das sind Regeln, die er sich selbst gibt. Seine Handlungen werden von ›intelligiblen‹ Ursachen, also von einem Sollen, nämlich einen Zweck zu verwirklichen, als intentional bestimmt betrachtet. 38 Kein einzelner Mensch kann mehr Träger der Vernunft sein, weil er vernünftig nur insofern zu heißen verdient, als er ein Sprachrohr des allgemeinen Ich ist. Das jeder äußeren oder inneren Erfahrung entzogene transzendentale Subjekt spielt eine ausschließlich normative Rolle, so dass es unmöglich ist, vom philosophierenden Ich verschiedene Menschen ›als Menschen‹, d. h. als ebenfalls vernünftige Wesen, zu erkennen.

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. Wieder hat die Sorge, Rationalität könnte als eine bloß positive Bestimmung missverstanden werden, dazu geführt, das Reflexionsvermögen jeder ›sinnlichen‹ Erfahrbarkeit zu entziehen, bei Kant um den Preis, in einer ›Transsubjektivität‹ 39, der Freiheit »von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit« 40, das Wesen der ursprünglich zu Sozialität und Individualität führenden Selbstbestimmung als eine das Wissen um ein immer auch schon Bestimmtsein einschließende zu sehen, eben als Selbstbesinnung. Selbstbestimmung in Gestalt einer Bestimmung der Zugehörigkeit zur sittlichen Gattung Menschheit ist bei Kant von jeder Erkenntnis des Abhängigseins von den Kräften und Einflüssen der Natur sowie von jeder Erfahrung des Bedingtseins durch Traditionen und Forderungen der jeweiligen Gesellschaft gereinigt. Vernunft als Vermögen der Selbstbestimmung erscheint jedoch weder als eine ›Freiheit von der Natur‹ – ein Mensch als Person wäre stets Anfang einer kausalen Ursache-Wirkung-Kette – noch als eine ›Freiheit von Herrschaft‹ – ein Mensch als Person wäre stets Ende einer intentionalen Mittel-Zweck-Kette –, vielmehr verwirklicht sie sich – und so sollte man die Zugehörigkeit zum Reich der Freiheit entgegen Kants Absicht lesen – im Wissen um die Zugehörigkeit zum Reich der auch die Kultur einschließenden Natur im weiteren Sinne. Dies wiederum bedeutet nichts anderes als beschränktes Erkennen der naturalen Einschränkungen ebenso wie beschränktes Erfahren der kulturalen Bedingtheiten, wobei beides jeweils erst auf der Folie begrenzten Kompensieren-Könnens naturaler Einschränkungen und begrenzten Sich-zur-Wehr-setzen-Könnens gegen kulturale Bedingtheiten sichtbar wird. Albert Camus hat diese Einsicht in die Gestalt einer in der Revolte entdeckten Grenze des Denkens und Handelns gebracht, durch die das Maß der Dinge und des Menschen (mesure des choses et de l’homme) 41 ganz im Sinne der aristotelischen ›Lehre vom Mittleren‹ (mesot¯es) sichtbar wird. 42 Die in immer neuen Handlungsund Redezusammenhängen als ein Können entdeckte menschliche Selbständigkeit gegenüber den von kausalen Gesetzmäßigkeiten und intentionalen Regelmäßigkeiten beherrschten Situationen, in denen Menschen leben, darf weder auf ein (auch für Kant) logisch unmögliches bloßes Erkennen eigener Unabhängigkeit von diesen Situationen (= Zugehörigkeit zum Reich der Freiheit) noch umgekehrt auf ein bloßes (faktisch stets unvollständiges) Erkennen der Abhängigkeit von

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ihnen (= Zugehörigkeit zum Reich der Natur) gegründet werden. Können fundiert Sein und Sollen, nicht umgekehrt. Die Weltoffenheit, positiv verstanden als Fähigkeit zu ›vollendeter Sachlichkeit‹ (Scheler), ist stets von Umweltbindung, dem Ausgeliefertsein an (naturale) Einschränkungen und (kulturale) Bedingtheiten – und das schließt die Bindung an die eigene psychophysische Verfassung ein –, begrenzt. Erst als Reflexionsbestimmung entfaltet auch Weltoffenheit ihren vollen Sinn, nämlich als Titel für das Vermögen des Menschen, in immer neue Umwelten eintreten und damit seine Bindungen ändern zu können: Im Rhythmus von ›Behaustheit‹ und ›Hauslosigkeit‹ (Buber) erst verwirklicht sich Selbstbesinnung und damit sowohl Selbstentdeckung als auch Selbsterfindung des Menschen. 5 Natur und Kultur des Menschen . Die Entdeckung der Vernunft sowohl theoretisch als auch praktisch bedeutet nichts anderes als reflektierend die Unterschiedenheit zu entdecken zwischen dem, was von selbst geschieht und schließlich unter Berufung auf kausale Ursache-Wirkung-Zusammenhänge erklärt wird, auf der einen Seite, und dem, was auf menschlichem – zunächst: eigenem – Eingriff beruht und daher unter Bezug auf intentionale Mittel-Zweck-Zusammenhänge sich schließlich verstehen lässt, auf der anderen Seite. Diese Entdeckung der Unterschiedenheit von ›Natur‹ und ›Kultur‹ als Entdeckung (theoretischer und praktischer) menschlicher Selbstständigkeit gegenüber einer Situation ist keine Entdeckung zweier Gegenstandsbereiche, wie die älteste Gestalt der Natur-KulturUnterscheidung immer wieder nahezulegen schien: die antike Gegenüberstellung von ›Natürlichem‹ (physis) und ›Zugeteiltem‹ (nomos). 43 Schon die einschlägigen anthropologischen Auseinandersetzungen der Antike waren seit der Sophistik davon bestimmt, entweder den Nomos in die Physis zu verlagern, mit der Konsequenz, der Mensch solle der Natur folgen, die allein das Notwendige und zugleich ihm Zuträgliche hervorbringt, oder den Nomos als die eigentliche Physis des Menschen anzusehen, eine These, die als treibende Kraft insbes. hinter der Philosophie Platons steht. Um gleichwohl die reflexive Rolle der Vernunft und damit die Pointe der Unterscheidung zwischen Physis und Nomos nicht zu verlieren, hat Platon auf der rechtfertigenden Rolle der Vernunft bestanden, dem Begründungen-Geben (logon

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didonai), während Aristoteles erklärt, dass der vernünftige Seelenteil (to logistikon meros t¯es psych¯es) oder Geist (nous) reine Tätigkeit (energeia) und deshalb anders als alles Natürliche unsterblich sei. Die Unterscheidung zwischen dem Vonselbst-Entstandenem und dem Selbsterzeugten, zwischen Natur und Kultur, beruht vielmehr auf der Entdeckung zweier Rollen gegenüber Situationen, einer passiv-erleidenden und einer aktiv-tätigen – eine Entdeckung, an die Feuerbach nachdrücklich erinnert hat. Dies wird deutlich, wenn man neben dem Unterschied zwischen dem Vonselbst-Entstandenen und dem Selbsterzeugten noch die eigentümliche Ambivalenz ins Visier nimmt, die für das Vonselbst-Entstandene und für das Selbsterzeugte charakteristisch ist: Das Selbsterzeugte tritt einerseits im Vollzug meiner Tätigkeit auf, zugleich aber auch als Resultat deiner Tätigkeit – der Blick zurück auf meine eigene bereits vergangene Tätigkeit ist dabei eingeschlossen –, und es ist dann ein Vonselbst-Entstandenes; das Vonselbst-Entstandene wiederum ist im handelnden und redenden Umgang mit ihm – und anders könnte es nicht auftreten – in Selbsterzeugtes eingebettet. Kultur wird in der Distanzierung auch als Natur erfahren, Natur in der Aneignung auch als Kultur erlebt. Und es ist distanzierte Kultur allein, die als Gegenstand kulturwissenschaftlicher, auf die Untersuchung intentionaler Regelmäßigkeiten spezialisierter Disziplinen auftreten kann (Kulturphilosophie), während naturwissenschaftliche, zur Untersuchung kausaler Regelmäßigkeiten entworfene Disziplinen ihrerseits wiederum eine typische Gestalt angeeigneter Natur bilden (Naturphilosophie). . Die beiden gegenläufigen Prozesse der mit Zeichenbildung (für das Vergegenständlichte) einhergehenden Distanzierung – Semiotisierung als Weg vom Vollzug zum Wissen (um ihn) – und der durch Überführung (der Gegenstände) in Handlungszusammenhänge charakterisierten Aneignung – Pragmatisierung als Weg vom Wissen zum Vollzug – lassen sich erst durchsichtig machen, wenn die Selbstbesinnung, d. i. die Wirklichkeit der Vernunft, durch einen dialogischen Prozess wiedergegeben wird, in dem das Selbst in Gestalt einer Ich-DuDyade auftritt. Diesen Prozess hat bereits Herder im Zuge seiner Kritik an Kant, er habe es versäumt, zum Ursprung des Besitzes der Vernunft zu gehen 44, als einen ›Bildungsprozess‹ des Voneinander-Lernens be-

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schrieben, in dessen Verlauf zugleich Sozialisation und Individuation vorangetrieben werden. Aktiv, in der Rolle von Ich, findet Selbstbestimmung statt, passiv, in der Rolle von Du, das Erkennen, dass ›wir‹ zugleich durch Natur und Kultur bereits bestimmt sind. Das dialogische Modell der Erziehung durch Lehren und Lernen schließt dabei auf der ›aktiven‹ Seite des Lehrens ausdrücklich auch die Konstruktion von grundsätzlich sprachlichen Darstellungen (= Distanzierungen) ein, auf der ›passiven‹ Seite des Lernens hingegen ebenso ausdrücklich die Dekonstruktion von Darstellungen (= Aneignungen) mit Hilfe von Interpretationen bis hin zu konkreter Tätigkeit. Jeder Mensch übernimmt stets beide Rollen, die aktive Ich-Rolle und die passive Du-Rolle, sowohl im Handeln als auch im Reden oder anderem Zeichenhandeln. Ein Handelnder verfügt nämlich beim Handeln (IchRolle) stets auch über ein ›Bild‹ seiner Handlung (Du-Rolle) ebenso wie ein Redender (Ich-Rolle) sich darauf berufen können muss, was er ›gemeint‹ hat (Du-Rolle). Sowohl Aktion und Reaktion als auch Rede und Gegenrede lassen sich im Kontext eines Voneinander-Lernens zureichend erst analysieren, wenn jeder der beiden Beteiligten in seinen beiden Rollen beachtet wird: als jemand, der etwas tut (Ich-Rolle) und als jemand, der weiß, was er tut (Du-Rolle). Auf der pragmatischen Ebene des Handelns werden die beiden Rollen durch die Kategorien ›Tun‹ und ›Leiden‹ erfasst, auf der semiotischen Ebene des insbes. verbalen Zeichenhandelns lassen sich die Ich-Rolle durch (sinnvolles) Sprechen und die Du-Rolle durch (Sinn erfassendes) Hören artikulieren. Herder benutzt die Termini ›Freiheit‹ und ›Vernunft‹, um auf die jeweils in den beiden Rollen – die Ich-Rolle des Tätigseins in Gestalt ›organischer Kräfte‹, die Du-Rolle des Geprägtseins in Gestalt von ›Tradition‹ – sich äußernden Handlungs- und Zeichenhandlungsmöglichkeiten hinzuweisen. Es gehört dabei zu seiner der klassischen Tradition widerstreitenden Pointe, dass auch im Handeln Vernunft (d. i. die im Wissen um das Handeln verkörperte Du-Rolle neben der für das Handeln ohnehin in Anspruch genommenen Ich-Rolle) und im Zeichenhandeln Freiheit (d. i. die für das Erzeugen von Bedeutungen verantwortliche Ich-Rolle neben der für das Erfassen der Bedeutungen maßgeblichen Du-Rolle) am Werke sind. Der Bereich der Kultur als das von Menschen im Handeln und Zeichenhandeln Hervorgebrachte tritt aufgrund der beiden Rollen bei jedem

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Menschen in Gestalt von praktischen und theoretischen Kenntnissen auf, die dabei in einem sich fortwährend umbildenden Traditionszusammenhang stehen. Daher bezieht sich Sozialität – Herders ›Freiheit‹ – nicht mehr auf einen Kampf zwischen individuellen Interessen, weder kultural in Gestalt eines ›Kampfes um Macht‹ noch natural in Gestalt in Gestalt eines ›Kampfes ums Überleben‹, sondern auf den sozialen Zusammenhang kleinerer oder größerer Gruppen im Handeln und Zeichenhandeln, wie er kooperativ, durch Zusammenwirken, mithilfe individueller Beiträge hergestellt wird: Nur dadurch, dass man seine eigene Weltansicht und Lebensweise ausbildet, ist auch eine Entwicklung von Sozialität möglich. Ganz entsprechend bezieht sich Rationalität – Herders ›Vernunft‹ – nicht mehr auf den Willen, allein allgemeinen Interessen zu folgen, sondern auf die jeweils ein Individuum auszeichnenden Kräfte, die kompetitiv, im Wettbewerb, bei gemeinsamem Hintergrund ein spezifisches Können ausbilden: Nur wer der Verankerung seiner Lebensweisen und Weltansichten in einer ein Stück weit geteilten Basis gewahr wird, verwirklicht auch einen Schritt zur Individualität. . Im Bildungsprozess des Voneinander-Lernens stehen sich nicht ›fertige‹, mit Wünschen (engl.: preferences) und Überzeugungen (engl.: beliefs) bereits ausgestattete Individuen gegenüber, denn dann gäbe es nur externe Beziehungen der gegenseitigen Einflussnahme zwischen ihnen; vielmehr ist der dialogische Zusammenhang des VoneinanderLernens ein interner, weil die Individuen durch ihn überhaupt erst gebildet werden. Beide Seiten der dialogischen Dyade entwickeln im Zuge der Ausbildung einer weiteren Stufe von Individuation und Sozialisation ihre Lebensweisen und Weltansichten um und weiter. Voneinander-lernen als Entwicklung interner Relationen ist gegenseitige Selbsterziehung und keine Erziehung, deren Dynamik ›von außen‹, entweder intentional durch vorgegebene Erziehungsziele oder kausal durch spezielles ›social engineering‹, gesteuert wird. Beide Seiten erwerben in der Selbsterziehung zugleich ein ›Selbstverhältnis‹, lernen also, mit der Ich-Du-Dyade selbst umzugehen. Dies geschieht aus der Ich-Perspektive aneignend: sich selbst auf diese Weise zu einem ›Subjekt in der ersten Person‹ machend, das in Ich-Rolle und in Ich-und-Du-Rolle aufzutreten vermag; aus der Du-Perspek-

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tive geschieht dies distanzierend: das Gegenüber unter Einschluss von sich selbst zu einem ›Subjekt in der dritten Person‹ machend, einem besonderen, in Du-Rolle und in Er/Sie-Rolle auftretenden ›Objekt‹. Die Unterscheidung von Ich- und Du-Rolle in den Handlungs- wie in den Redezusammenhängen macht es im Kontext der Selbsterziehung möglich, den Übergang von einer Betrachtung des Zusammenhangs der Menschen als interne Beziehung zu ihrer Betrachtung als externe Beziehung durch ›Objektivierung‹ und den Übergang in umgekehrter Richtung durch ›Subjektivierung‹ zu artikulieren. So werden auch die Einseitigkeiten überwindbar, die bei bloß verhaltenstheoretischen (= pragmatischen) oder bloß zeichentheoretischen (= semiotischen) Analysen von Interaktionen auftreten und die Artikulation des Übergangs vom Handeln zum Reden – im symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead () z. B. auf dem Wege einer schlichten, den Unterschied der Ich-und-Du-Rolle von der Er/Sie-Rolle vernachlässigenden Übernahme der Du-Rolle (›Me‹) durch Ich (›I‹) 45 – behindern: Bei einer rein pragmatischen Analyse wird die Rollendifferenz allein als Differenz zwischen Beobachter (Du-Rolle) und Beobachtetem (Ich-Rolle) beachtet, die Handlungsbilder der Interagierenden sind ausgeblendet; bei einer rein semiotischen Analyse wiederum werden alle Handlungen, um als Handlungen zu gelten, gleich auf die Stufe von Redehandlungen gehoben, haben also einen ›Sinn‹, der zu ermitteln ist – die Unterscheidung zwischen Intention und Sinn bleibt unscharf. . Es führt weiter, auf die mit der Subjektbildung einhergehende Ich-Erfahrung zurückzugehen und sich klar zu machen, dass es sich dabei um eine Ich-Du-Erfahrung handelt, weil das Wissen um die IchErfahrung kraft des am Du gespiegelten Ich dazugehört. Der Schritt vom vollzogenen Wissen zum vergegenständlichten Wissen geschieht dabei empirisch beim Übergang vom Ich-Sagen in der frühen Kindheit zum Ich-Erleiden in der Pubertät, sei es von einem, häufig männlich konnotierten, Selbstverständnis durch Abgrenzung zum Lernen von Sozialität, d. h. Lernen, nicht alles zu tun, was man selber möchte, sei es von einem, häufig weiblich konnotierten, Selbstverständnis durch Verbundenheit in ein Lernen von Individualität, d. h. Lernen, die

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eigene Antwort auf das zu finden, was die anderen von einem selbst möchten, mündet. 46 Das vergegenständlichte Wissen, ein ›Wissen des Wissens‹, lässt sich auf zwei Weisen artikulieren: Zum einen befinde ich mich im Versuch, (Verhaltens-)Abhängigkeiten zu beheben, z. B. meines Temperaments, meiner Herkunft, zum anderen sehe ich mich einen (Handlungs-)Spielraum entdecken, z. B. gegenüber meiner Begabung, gegenüber meiner Umgebung. Und der Versuch, sich durch geistige Leistungen von den Abhängigkeiten zu befreien, ist zugleich eine Bestimmung der naturalen Mängel, die auf diese Weise kompensiert werden sollen. Ganz entsprechend geht mit der Entdeckung eines Spielraums der natürlichen Ausstattung ein Bestimmtsein durch kulturale Mängel einher, die das, was man können wird, begrenzen. Wird dabei die Ich-Erfahrung um ihren Du-Anteil betrogen, so hält sich ein Mensch für individuell den naturalen Abhängigkeiten unterworfen, aber im Wissen um die Zugehörigkeit zum Reich der Natur für einen allgemeinen Träger des Geistes, ein ›Vernunftwesen‹, das zu Kulturleistungen verpflichtet ist. Des weiteren glaubt er, sich individuell, auf der Suche nach seiner eigenen Natur, gegen die kulturalen Bedingtheiten, denen er sich sozial als unterworfen erfährt, ›in Freiheit‹ zur Wehr setzen zu können. Vernunft und Freiheit sind jedoch, wie Herder in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache () auseinandergesetzt hat, nur im Kontext ihres dialogischen Bildungsprozesses verfügbar. 47 Was ich brauche, wird Anlass zu fragen, was man soll, und wird objektorientiert durch Arbeit mit dem Aufbau eines Bereichs ›ideeller‹ Kulturleistungen aufgrund naturaler Fähigkeiten beantwortet. Diese Kulturleistungen dienen der Kompensation der naturalen Mängel: Der Mensch ist ein Mängelwesen, was schon die Antike wusste und in der Neuzeit von Herder wieder aufgegriffen wurde. 48 Mit Arbeit werden auf der Handlungsebene Bedürfnisse befriedigt, auf der Zeichenhandlungsebene Konflikte bewältigt. Insofern dafür allein die Ich-Rolle maßgebend ist, wird für die Bedürfnisbefriedigung der hantierendhervorbringende Aspekt von Handlungen in Anspruch genommen und für die Konfliktbewältigung ihr in Zeichenhandlungen objektivierter theoretisch-artikulierender Aspekt. Da man mit den durch Arbeit erbrachten, zunächst alltäglichen, später wissenschaftlichen Kulturleistungen (Wissenschaft) – es sind insbes. die Bereiche der Technik

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einschließlich Wirtschaft und der Politik – hantierend die naturalen Abhängigkeiten und artikulierend die kulturalen Bedingtheiten zu mindern sucht, mithin der mängelfreie Zustand als handlungsleitende Idee auftritt, heißen diese Kulturleistungen ›ideell‹. Bei Arnold Gehlen werden alle kulturellen Phänomene zusammen mit den sie tradierbar machenden Institutionalisierungen (Institution) als derart ideelle Leistungen behandelt. Das liegt daran, dass er in seinem Werk nur die Erfahrung des Menschen als Mängelwesen und die sich daraus ergebenden Kompensationsleistungen entfaltet mit dem Ergebnis, seine These, der Mensch sei von Natur ein Kulturwesen, in die Bestimmung ›der Mensch – das handelnde Wesen‹ münden zu lassen. 49 Für eine Erörterung der dem Handeln und Zeichenhandeln neben der Ich-Rolle ebenfalls innewohnenden Du-Rolle ist bei Gehlen kein Platz. Es kommt nämlich hinzu: Was wir schon können, wird Anlass auszuprobieren, wozu ich überdies noch fähig bin, und führt durch Entwicklung der je eigenen natürlichen Ausstattung in Muße zum Aufbau ›sensueller‹ Kulturzeugnisse. Gelingen sie in den teils vorgegebenen, teils erworbenen Grenzen, so sind in ihnen die Subjekte – auch ich mir – sinnlich zugänglich, und zwar aufgrund der eingesetzten kulturalen Fähigkeiten, die zu Chancen der ›Selbstverwirklichung‹ werden: Der Mensch ist ein Fähigkeitswesen, was ebenfalls in der Antike geläufig und von Herder in Gestalt der Beobachtung, dass der Mensch zur Traditionsbildung fähig ist, klar erkannt war. In Muße werden auf der Handlungsebene Fertigkeiten erworben, auf der Zeichenhandlungsebene Erfahrungen gemacht. In diesen zunächst mythischen, später künstlerischen Ausdrucksformen (Ästhetik, philosophische) sensueller Kulturzeugnisse, wie sie sich in den Bereichen der Religion im weitesten Sinn und der (Selbst-)Erziehung einschließlich Sport zeigen, ist die Du-Rolle des Handelns maßgebend. Deshalb wird für das Fertigkeiten-Erwerben nur der praktisch-vermittelnde Aspekt von Handlungen, wie er im Lehren und Lernen verselbständigt auftritt, in Anspruch genommen und für das Erfahrungen-Machen ihr in Zeichenhandlungen objektivierter sinnlich-wahrnehmender Aspekt. Der Kulturprozess enthält daher eine zweifache Bewegung. Er führt fort von den natürlichen Mängeln zu den geistigen Leistungen, aber ebenso geht er immer wieder zurück von den traditionellen Fertigkeiten zu den natürlichen Ausstattungen. Die Selbstbesinnung als

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die Aneignung der Selbsterziehung, im Unterschied zu ihrer Vergegenständlichung als Kulturprozess, kann daher auch so verstanden werden, dass sich ein Ich im Du erkennt. Mein Gegenüber – das schließt auch mich ein, wenn ich mich von mir distanziere – wird als ein Zeichen für mich, mich bezeichnend, begriffen. Dieses Sichim-Anderen-Erkennen ist aber weder eine Aufforderung zur Herstellung einer allgemeinen Übereinstimmung in den Weltansichten und Lebensweisen noch gar die Feststellung einer im Grunde längst bestehenden solchen Übereinstimmung. Es bleibt bei dem Prozess der ›Selbst‹-Erziehung, seinem Vollzug in der Aneignung und seiner Erkenntnis in der Vergegenständlichung. 6 Gegenwärtige Probleme der Forschung In jüngster Zeit erlebt die ph. A. eine Renaissance. Vor allem die Philosophien von Cassirer und Plessner werden wieder und in neuer Weise entdeckt. Dabei wird Cassirers A. primär als Kulturphilosophie diskutiert 50 ; Plessners Philosophie dagegen steht für die Aktualität der A. im engeren Sinne, wobei der Zusammenhang einer ph. A. mit den einschlägigen empirischen Wissenschaften (der Biologie, der Soziologie, der Ethologie u. a.) und ihre Abgrenzung von anderen philosophischen Richtungen bzw. Traditionen (der Lebensphilosophie, des Pragmatismus, der Phänomenologie u. a.) eine besondere Rolle spielen. 51 Apostel, L., , Pragmatique praxéologique. Communication et action. In: Le langage en contexte. Études philosophiques et linguistiques de pragmatique, hg. v. H. Parret, Amsterdam. – Arendt, H., , The Human Condition, Chicago; dt.: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München . – Böhme, G., , A. in pragmatischer Hinsicht, Fft./M. – Brüning, W., , Philosophische Anthropologie. Historische Voraussetzungen und gegenwärtiger Stand, Stuttgart. – Buber, M., , Das Problem des Menschen, Heidelberg. – Byrne, E. F./Maziarz, E. A., , Human Being and Being Human. Man’s Philosophy of Man, NY. – Caillois, R., , Les jeux et les hommes (Le masque et le vertige); Paris, dt.: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, München . – Camus, A., , L’homme révolté, Paris. In: Essais, hg. v. R. Quilliot, Paris ; dt.: Der Mensch in der Revolte, Hamburg . – Cassirer, E., , An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven (Conn.); dt.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg . – Cassmann, O., , Psychologia anthropologica sive animae humanae doctrina. Secunda pars anthropologiae. – Clark, S. R. L., , Aristotle’s Man. Speculations upon Aristotelian Anthropology, Oxford. – Dewey, J., , Human Nature and

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. – 2 Vgl. Mühlmann . – 3 Vgl. Walch, Artikel ›A.‹. – 4 Kant,

MS A . – 5 Vgl. z. B. v. Gebsattel . – 6 Vgl. z. B. Pannenberg . – 7 Vgl. z. B. Eibl-Eibesfeldt . – 8 Habermas , . – 9 Kant, KrV A . – 10 Feuerbach b, §. – 11 Ebd., hier §; vgl. Feuerbach a. – 12 Vgl. Marquard , . – 13 Herder , . Buch, . Kap. – 14 Zugänglich in Plessner  ff, GS IV. – 15 Scheler , . – 16 Plessner GS IV [], . – 17 Ebd., . – 18 Vgl. Marquard ,  f. – 19 Vgl. Buber ,  ff. – 20 Heidegger , . – 21 Flam , . – 22 Cassirer ,  f., . – 23 Vgl. Lorenz ; . – 24 Vgl. WeberSchäfer . – 25 Vgl. Lepenies/Gustafsson . – 26 Vgl. z. B. Sebeok . – 27 Vgl. z. B. Pol. a. – 28 Prot. c–c. – 29 Vgl. Arendt ,  ff. – 30 Vgl. De anima a. – 31 Vgl. bes. Meditatio II, sect.–, und VI, sect. –. – 32 Vgl. bes. Kant, MS A . – 33 Vgl. Erdmann . – 34 Vgl. insbes. Elementorum Philosophiae I (De corpore). – 35 Vgl. insbes. Ethica ordine geometrico demonstrata. – 36 Spinoza, Ethica IV, Lehrsätze  und . – 37 Kant, KrV A . – 38 Kant, KrV A  ff. – 39 Vgl. Kambartel . – 40 Kant, KrV B . – 41 Camus, Essais , . – 42 Aristoteles, Eth. Nic. b ff und a ff. – 43 Vgl. Heinimann . – 44 Herder , . Kap. – 45 Vgl. Mead , Part III (Identity); und Lorenz , –. – 46 Vgl. Gilligan . – 47 Heintel , ; vgl. Lorenz , – . – 48 Vgl. Lorenz ,  ff. – 49 Vgl. z. B. Gehlen ,  u. ö.; Gehlen , . – 50 Vgl. etwa Schwemmer , Sandkühler/Pätzold , Hartung . – 51 Vgl. etwa Lessing , Fischer , Krüger/Lindemann .

Kuno Lorenz

Philosophische Ästhetik

1 Zum Begriff. Ästhetik (Ä.) ist die philosophische Disziplin, die sich mit den auf reflektierter Sinneswahrnehmung und Gefühl beruhenden Erfahrungen, insbes. mit den intensiven Eindrücken von Natur und Kunst wie dem Schönen und Erhabenen befasst. Als selbstständige Disziplin ist die Ä. eine relativ späte Errungenschaft, und das Interesse an ihren Fragen muss bis heute gegen das Vorurteil verteidigt werden, man bewegte sich damit in der Domäne des Luxus und der Moden. Dabei beschäftigen die Themen der Ä. das philosophische Denken seit Anbeginn – im Rahmen von Metaphysik und Ontologie, Erkenntnislehre und praktischer Philosophie, Poetik und Rhetorik. Seit der Antike – und verstärkt noch seit der Renaissance – sind sie durchweg ein Ort der Artikulation eines humanen Selbstverständnisses. Zwei der großen Menschheitsfragen haben ihren Ort seither immer wieder auf dem Boden der Ä. gehabt: die im weitesten Sinne erkenntnistheoretische Frage nach dem Anteil der Sinnlichkeit an unseren Erfahrungen aller Art, die sich – häufig in der Frage nach dem Charakter des ästhetischen Scheins – auf die ästhetische Wahrnehmung und das ästhetische Gefühl richtet, und die gleichermaßen praktische wie metaphysische Frage nach dem Status und Wert des von Menschen Gestalteten im Ganzen der Welt, die ihren exemplarischen Fall in der Kunst hat. Obwohl sich beide Fragen in der Geschichte der philosophischen Ä. in vielfältiger Weise ergänzen und verschränken, markieren sie doch zugleich die bis in die Gegenwart immer wieder ausgespielte systematische Alternative zwischen Ä. als Theorie der ästhetischen Erfahrung und Ä. als Theorie der Kunst. 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte 2.1 Ursprünge der Ästhetik in der Antike In der Sache beginnt die Ä. in beiderlei Sinn bei Platon, der in der Politeia die Kunst als eine Weise der Darstellung (mimesis) kritisiert und in der Frage nach deren Kriterien grundsätzlich am schönen Schein der Kunst den trügerischen Charakter zum Problem macht. 1 Doch

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im Rahmen eines differenzierten Gesamtbildes der Künste 2 ist für die Beurteilung ihres Wertes entscheidend, was dargestellt wird: Im günstigen Fall kann die Kunst, etwa die Musik, die Platon zur Erziehung der Wächter im Staat für unabdingbar hält, dem »besonnenen und gutem Gemüt verschwistert [. . . ] und dessen Darstellung« sein. 3 Künstlerische Darstellung ist keineswegs auf das Äußere der Dinge beschränkt, auch Intelligibles wie seelische Zustände, das rechte Maß 4 und das Schöne 5 können zur Darstellung kommen und durch ihre Wirkung auf die Seele den Menschen zum Guten disponieren. Im Interesse an der gerechten Ordnung im Staat will Platon die Kunst unter die politische Kontrolle stellen und verweist gerade damit kritisch auf ihre ambivalente Macht. Im Symposion geht es um die Macht des Eros. Hier bestimmt Platon das Schöne als das angemessene Medium lebendiger Produktivität 6 und zeichnet es in seiner konstitutiven Verbindung mit dem Guten 7 als den Gegenstand des erotischen Strebens aus. Im Phaidros wird mit der besonderen Rolle der Idee des Schönen 8 auch die transzendente Bedeutung der sinnlichen Schönheit herausgestellt: Das Schöne ist das Liebreizendste (erasmiotaton) und das Hervorleuchtendste (ekphanestaton) 9 ; sein Anblick, vorzüglich in der Gestalt des Geliebten, erinnert die Seele an die göttliche Sphäre, in der sie vor ihrer irdischen Existenz sein reines Urbild schaute; wir fühlen uns gleichsam beflügelt, dem himmlischen Zustand wieder nahezukommen 10 – Schönes wirkt Gutes. Auch Aristoteles, der die sinnenhafte Erkenntnis (episteme aisthetike; aisthesis) systematisch ernst nimmt, geht vom mimetischen Charakter der Kunst aus. Er zeigt in seiner Poetik an der Kunst der Tragödie v. a. ein ethisches Interesse. Er fasst ihre Wirkung auf den Menschen grundsätzlich als positiv, indem er den therapeutischen Effekt eines sublimierten Auslebens der Affekte würdigt: In der Erschütterung durch Furcht (phobos) und Mitleid (eleos) im Nachvollzug des tragischen Scheiterns erfährt der Zuschauer eine Läuterung seines Zustands (katharsis). Die Antike und das Mittelalter betonen generell die theoretische und praktische Einheit des Guten, Wahren und Schönen. 11

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2.2 Das Zeitalter der Ästhetik Im . Jh. tritt der genuine Sinn ästhetischer Fragen ins Bewusstsein. Es ist A. G. Baumgarten, der mit seiner Aesthetica  den Begriff prägt. Innerhalb zweier Generationen erweist sich, dass er damit eine neue philosophische Disziplin benannt hat: Der Ausdruck wird für die Lehre vom Schönen und von der Kunst in Umlauf gebracht, obgleich daneben noch die alte Bedeutung einer erkenntnistheoretischen Wahrnehmungslehre erhalten bleibt. So ist es bei Lambert und auch bei Kant, der in der ›transzendentalen Ä.› der Kritik der reinen Vernunft seine Lehre von Raum und Zeit als Formen reiner Sinnlichkeit darlegt, in der Kritik der Urteilskraft  aber unter dem Titel einer Geschmackslehre (s. u.) in der Sache eine Ä. im modernen Wortsinn vorlegt. Schon  kann sich Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik mokieren: »Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Ästhetikern.« Nicht zufällig vollzieht sich die sachliche und methodische Verselbstständigung der Ä. in der Zeit der Aufklärung: Philosophisch fordert die Bestimmung der Leistungen und Grenzen der menschlichen Vernunft bei allem Unterschied in den Traditionen und Gewichtungen überall systematisch das Interesse am Status von Sinnlichkeit und Gefühl – als Element, Komplement oder Widerpart – heraus. Vor allem das Bewusstsein von der konstitutiven Differenz der menschlichen Bedingungen zu einem jeden denkbaren Absoluten schärft mit dem Sinn für die Stellung des Menschen in der Welt auch die Aufmerksamkeit auf die Rolle der Sinnlichkeit. 12 Diese Aufklärung steht im Wechselverhältnis mit der Bewegung, in der die Künste, insbes. Literatur und Musik, sich von den Normen der traditionellen Regelwerke emanzipieren und zu jener Autonomie finden, durch die sie dem Selbstbewusstsein des modernen Menschen zur Darstellung verhelfen. Dabei ist das erstarkende Interesse an den Problemen der Ä. im . Jh. ein europäisches Syndrom. Gefragt wird überall mit zunehmender Eindringlichkeit nach der Wahrnehmung der Sinne, der produktiven Einbildungskraft, dem verfeinerten Urteil des Geschmacks, den Werken des Genies, dem Schönen und Erhabenen in Natur und Kunst, der Vollkommenheit der Gestalt(ung), der Bedeutung des reflektierten Gefühls für das vernünftige Selbstverständnis. In England und Schottland wird unter dem Einfluss des Sensualismus John Lockes in anthropologischem, psychologischem und erkennt-

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nistheoretischem Interesse nach den Begriffen von Schönheit und Tugend, den Prinzipien des moralischen Urteils und des Geschmacks, dem Schönen und Erhabenen gefragt (Shaftesbury, Hutcheson, Hume, Burke u. a., s. u.). In Frankreich setzt sich der neue Begriff mit Verspätung durch. Freilich gibt es dort seit der Querelle des anciens et des modernes 13 längst Theorien des Geschmacks und des Schönen (Crousaz, André, Boileau, Diderot), die jedoch weithin unter dem cartesischen Primat der ratio und den Normen der Klassik stehen. Diese franz. Ä. des . Jh. ist überwiegend rationalistisch und der antiken mimesis-Lehre verpflichtet. Im dt. Sprachraum betont man dagegen die Rolle von Einbildungskraft, schöpferischer Phantasie, Gefühl und (religiöser) Inspiration, durch die den Werken der Künstler Authentizität zukommt (Bodmer, Breitinger, Sulzer, Herder, Hamann, Lessing). Baumgarten erweitert mit der Ä. den Rahmen der rationalistischen Schulphilosophie für eine Besonderheit menschlicher Einstellung auf die Wirklichkeit, indem er im Vergleich zur Verstandeserkenntnis der sinnlichen Erkenntnis (cognitio sensitiva) ihren Rang zuweist, begreift aber vorerst – ganz aus der Perspektive der theoretischen Vernunft – die sinnliche Wahrnehmung als eine undeutliche Weise des Erkennens, die Schönheit in Analogie zum rationalen Optimum des Verstandes als sinnliche Vollkommenheit, die Ä. insgesamt als Lehre vom niedrigen Erkenntnisvermögen (gnoseologia inferior). 2.3 Geschmack und Genie Charakteristisch für weite Bereiche der Ä. des . Jh. ist die Polarität von Geschmack und Genie, in der sich die Perspektiven der Rezeption und der Produktion komplementär gegenüberstehen. Der Geschmack wird verstanden als das Vermögen zur wohlunterschiedenen Wahrnehmung, in der mit der verfeinerten Empfindung des Gefallens und Missfallens auch der geistige Zustand und der kulturelle Anspruch des ganzen Menschen zum Ausdruck kommt. Der ursprünglich auf das Schmecken beschränkte Terminus, schon seit der Antike auf das Erkenntnis- und Urteilsvermögen, auf die Rede und das Benehmen übertragen (z. B. Cicero), wird etwa Mitte des . Jh. ein Begriff der Ethik (Gracián, franz. Moralistik), wenig später auch der Kunst- und Literaturkritik. Im . Jh. steigt er in ganz Europa zum tragenden

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Begriff der Ä. auf 14, mit dem sich vielfach auch Ansprüche der Erkenntnis und der Moral verbinden. In breitem Konsens wird der Geschmack als eine natürliche Anlage begriffen, zu deren Ausprägung es jedoch der Erfahrung, Bildung und Übung bedarf – und die dann auch zur Entfaltung von Maßstäben des Urteils kommen kann. In Frankreich kommt es im Streit über die antiken und modernen Kunstideale (Querelle des anciens et des modernes), insbes. aber in der Aufnahme sensualistischer Einflüsse (z. B. Dubos) und im Rückgang auf das Normenideal der Klassik (Voltaire) zu einem verstärkten Interesse am Geschmack; in der cartesischen Tradition dominiert hier eine rationalistische Vorstellung, die den Geschmack auf den Verstand gründet (La Bruyère, Montesquieu, Boileau u. a.). Von hier gehen starke Anregungen für die rationalistische Schule in Deutschland aus (Gottsched; König; Gellert). In England ist es Shaftesbury, der den Geschmack zu einem Grundbegriff des ästhetischen Philosophierens macht. Ihm folgen Dennis, Hutcheson, Gerard, Addison, Hume, Burke, Home u. a. In den elaborierten erkenntnistheoretischen Ansätzen auf die Sinnlichkeit, insbes. auf die Einbildungskraft gegründet (Baumgarten, Hume), wird der Geschmack in der Frage nach den Möglichkeiten der freien, spontanen Äußerung des Subjekts als eine eigene oder besondere Fähigkeit der Wahrnehmung, Unterscheidung und Wertung durch Empfindung und Gefühl von der reinen Rationalität der Begriffe abgegrenzt; er ist ein geistig-sinnliches Vermögen, das in der Unmittelbarkeit des Gegenstandsbezuges und in der Vermittlung zwischen den Sinnen und den Verstandeskräften auch die Verbindung des Individuellen mit dem Allgemeinen leistet. Die Gegenstände des Geschmacks werden vorwiegend in den Künsten und in der schönen Natur gesehen (Baumgarten, Sulzer, Kant, Herder) – aber auch in Fragen der moralischen Einstellung, dem Charakter, den Handlungen, den Sitten. Bei Shaftesbury stimmen taste und moral sense überein (s. u.; ähnlich Sulzer, Rousseau), und auch in der Unterscheidung des Richtigen vom Falschen (Dennis, Gellert), in der Beziehung auf Tugend (Gerard) und Glück (Hume) oder in der motivierenden Freude an Zusammenhang und Ordnung (Hume) hat der Geschmack eine Affinität zur Moral (Kant). Nachdem noch Baumgarten im ästhetischen Geschmacksurteil die undeutliche Erkenntnis der Vollkommenheit als Schönheit der

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Erscheinung gesehen hatte, spricht Kant im Begriff des Geschmacks die ästhetisch reflektierende Urteilskraft an, die er ausdrücklich als ein autonomes Vermögen und als einen sensus communis (Gemeinsinn) begreift. 15 Er gibt dem Geschmacksurteil damit im Rahmen seiner Vernunftkritik eine erkenntnistheoretische Grundlage, indem er es in Abgrenzung von der begrifflichen Bestimmung der Erkenntnis als ästhetische Reflexion fasst: Im freien und harmonischen Zusammenspiel von Verstand und Einbildungskraft bezieht es sich allein durchs Gefühl und doch mit einem Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit auf das Schöne in Natur und Kunst (s. u.). In der Frage nach dem Geschmack geht es im . Jh. stets um ein zentrales Problem des menschlichen Selbstverständnisses. Die scholastische Weisheit De gustibus non est disputandum bekommt im systematisch erkundeten Horizont der Vernunft einen neuen, kritischen Sinn: Im Verhältnis von Natur und Kultur wird ästhetisch auch die Beziehung von Sinnlichkeit und Vernunft konkretisiert. Zum Thema wird die Innerlichkeit und Intensität von Erfahrungen, die von der ratio allein nicht vermittelt werden können. In Opposition, Korrektur und Ergänzung des Anspruchs der Vernunft auf objektive Geltung, wie er sich im Ideal der Wissenschaft zuspitzt, wird der Geschmack als Domäne der Subjektivität ausgezeichnet, die ihr Recht – auch auf Individualität und Vielfalt – in der Kultur der Empfindungen und Gefühle geltend macht. Dem Geschmack als rezeptivem Vermögen der Beurteilung wird vielfach – komplementär oder kritisch – die Produktivität des Genies gegenübergestellt (Dubos, Batteux, Diderot, Shaftesbury, Addison, Baumgarten, Meier, Sulzer, Kant u. a.): Als das Vermögen der freien Entdeckung und produktiven Hervorbringung ist es die Gabe des schöpferischen Menschen. Im Anschluss an Leibniz’ Vorstellung von der göttlichen Wahl möglicher Welten wird das Genie als Entbinder unrealisierter Möglichkeiten stilisiert (Bodmer, Breitinger). Mehr noch als die Beachtung des Geschmacks ist die große Aufmerksamkeit des . Jh. auf den Begriff des Genies auch dazu angetan, das Vorurteil von der bloßen Verstandeskultur der Aufklärung zu korrigieren: Denn in ihm wird – teils in integrativer, teils in kritischer Absicht – zunehmend die naturgegebene, spontane und gefühlsbetonte Anlage der Kreativität vor dem Moment der vernunftgeleiteten

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Regelmäßigkeit ausgezeichnet. Mit der Betonung des Genies geht eine Aufwertung der Einbildungskraft einher, die hier nicht mehr nur als reproduktives, sondern als produktives Vermögen begriffen wird. Im Begriff des Genies verbinden sich die Ansprüche auf geistiges Wagnis, schöpferische Phantasie, Unmittelbarkeit des Ausdrucks, Produktivität und Vorrecht des Gefühls, Originalität des Schaffens, Nähe zur Natur und – Freiheit. So kann Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl, um es den Menschen zu geben, zur mythischen Verkörperung des Genies werden (Shaftesbury, Goethe u. a.). Es ist insbes. das Werk Shakespeares, an dessen Ursprünglichkeit sich das Zeitalter ein künstlerisches Beispiel nimmt. Für Kant, der das Genie ausdrücklich nur im Künstler am Werke sieht, lässt sich in seiner schöpferischen Leistung exemplarisch die Vermittlung von Natur und Freiheit aufweisen: Indem es sich durch eine besonders glückliche Fügung seiner natürlichen Anlagen auszeichnet, gibt im Genie »die Natur der Kunst die Regel«. 16 Es steht damit exemplarisch für die Möglichkeiten des Menschen als eines sinnlich-vernünftigen Wesens. 2.4 Der Ursprung der ästhetischen Moderne: Schönheit und Freiheit Es ist Kant, der später im Rahmen der Vermögenslehre seiner Vernunftkritik auch die Eigenständigkeit des Ästhetischen begründet. Er macht mit der Kritik der Urteilskraft  Epoche durch die Begründung seiner Eigenart: Die ästhetischen Urteile über das Schöne (und Erhabene) haben als Leistungen der Urteilskraft ihr eigenes Prinzip in einem aus der Reflexion entspringenden Gefühl der Lust (oder Unlust) an der bloßen Form der Gegenstände. Die Lust am Schönen ist ein interesseloses Wohlgefallen, das sich in einem – von Vorgaben des erkennenden Verstandes wie der praktischen Vernunft – »freien Spiel« zwischen sinnlichem und rationalem Erkenntnisvermögen (Einbildungskraft und Verstand) einstellt. 17 Weil zu einem solchen Gefühl im Prinzip jedes Subjekt fähig ist, können die Urteile, in denen es geäußert wird, auch ohne Bestimmung durch Begriffe mit einem Anspruch auf allgemeine und notwendige Geltung einhergehen. An die ästhetischen Gefühle, die somit im Rahmen des vernünftigen Selbstverständnisses als etwas gleichermaßen Sinnliches und Vernünftiges ernst genommen

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werden, knüpft Kant die höchsten spekulativen Erwartungen: Das Erleben des Schönen lässt dem Menschen in der inneren Harmonie der lustvollen Anschauung bewusst werden, dass er sich auch harmonisch in die – teleologisch (Teleologie) gedachte – Natur einfügt: »Die Schönen Dinge zeigen an, dass der Mensch in die Welt passe«. 18 Da in der Reflexion der Erkenntniskräfte eine Freiheit erlebt wird, die per Analogie auf die praktische Vernunftidee der Freiheit verweist, vermittelt sie im Medium des Gefühls das integrale Selbstverständnis des vernünftigen Wesens: Das Schöne ist »Symbol des Sittlich-Guten«. 19 Vor allem an diesen Gedanken schließt Friedrich Schiller mit seinem Programm der ästhetischen Erziehung an. Unzufrieden mit Kants rein formalem Kriterium der Schönheit im »Lebensgefühl« des Subjekts 20, hatte er im Briefwechsel mit Körner noch nach deren objektiven Begriff gesucht und schien ihn – auf der Folie eines in die gesamte Natur projizierten Freiheitsverständnisses – in der Bestimmung durch »Freiheit in der Erscheinung« gefunden zu haben. 21 , in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, gründet er dieselbe Bestimmung transzendentalphilosophisch auf die Vermittlung des menschlichen Stofftriebes und Formtriebes im Spieltrieb, eine Vorstellung, in der trotz der von Fichte inspirierten Triebterminologie das Kantische Modell der Vermittlung von Einbildungskraft und Verstand in der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft – und deren Effekt in einem freien Spiel – erkennbar ist. Für Schiller ist der Mensch »nur da ganz Mensch, wo er spielt« 22 – das heißt auch: nur da ganz fähig zur praktischen Selbstbestimmung –, und es ist das Schöne, das die Leistung des Spieltriebs auslöst. 2.5 Ästhetik und Ethik – Gefühl und Kunst im Dienst von Moral und Gesellschaft Bezeichnend für die verstärkte Aufmerksamkeit auf alles Ästhetische ist auch die Rolle, die den emotionalen Regungen in der Frage des moralischen Handelns zuerkannt wird. In Schottland begründet zu Beginn des . Jh. Shaftesbury die Ä. avant la lettre durch die Frage nach der Motivation durch die großen Gefühle 23, nach der poetischen Einbildungskraft des Genies, der Rolle von Witz, Humor und Geschmack für eine auch ästhetische Kultur der Sittlichkeit. 24 In seiner (neu)platonischen Überzeugung von der teleologischen Harmonie des

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Kosmos begreift er das ästhetische Gefühl für das Schöne (taste) und das moralische Gefühl für das Gute (moral sense) letztlich als eins. Insbes. dieser Ansatz beim moral sense wirkt prägend für die gesamte engl.-schottische Schule, so für Hutcheson, der die Moral auf das Gefühl für die Schönheit der Handlungen gründet und die Prinzipien des Handelns und des Urteilens in Wohlwollen und Wohlgefallen erkennt 25, wie für Hume und Smith, die zwar keinen besonderen ›moral sense‹ annehmen, aber die Moral auf Gefühlsregungen zurückführen, welche zuletzt auf Sympathie beruhen. 26 Unter dem Einfluss des Sensualismus erinnert um die Mitte des Jh. Rousseau durch die Betonung von Mitleid 27, Gewissen 28 und ästhetischem Geschmack die einseitige franz. Vernunftaufklärung an die grundlegende Rolle des Gefühls. Er verstärkt damit auch den zeitweiligen Einfluss der moral-sense-Lehren auf Kant, der sich ihnen in den er Jahren auf der Suche nach dem Prinzip der Moral zuwendet. 29 Auch Schillers Programm einer ästhetischen Erziehung durch die Kunst, begründet im Gedanken von der »Ausbildung des Empfindungsvermögens« und als Korrektiv eines jeden bloßen Rationalismus auf den Weg gebracht, steht ganz in der ästhetisch-ethischen Tendenz des Zeitalters. Nach Schiller führt der Weg zur moralischen Selbstbestimmung über die ästhetische Sensibilisierung, zu der es durch die Aktivierung der spielerischen Anlage des Menschen kommt. 30 Es ist die darin enthaltene Vorstellung von einer den ganzen Menschen und seine gesellschaftlichen Verhältnisse ergreifenden Wirkung des ästhetischen Eindrucks, die Schiller freilich allein der autonomen Kunst zutraut, durch welche die ästhetische Moderne – – bis ins . Jh. geprägt ist. Neben Dichtern und bildenden Künstlern sind es seit Mitte des . Jh. insbes. die Gründungsväter des modernen Designs (J. Ruskin, W. Morris, die Arts-and-Crafts-Bewegung, H. van de Velde, A. Loos, die Wiener Werkstätte, P. Behrens, W. Wagenfeld, die Ulmer Schule u. a.), die sich in gesellschaftskritischer Wendung gegen die verrohenden Tendenzen ihrer Zeit die Idee der ästhetischen Erziehung zu eigen machen. In ihrem entnervten Aufbegehren gleichermaßen gegen die nachlässige Gestaltung wie gegen sinnentleerten Pomp, protzige Materialschlachten und schmarotzendes Ornament, wie sie es im Viktorianischen und Wilhelminischen Zeitalter vor Augen haben, steht durchweg mehr auf dem Spiel als der gute Geschmack. Die Kritik ge-

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gen die Verhässlichung der Welt richtet sich auch gegen die »Tyrannei des Utilitarismus und des Dilettantismus« 31, damit gegen die moderne Industriearbeit und den Kapitalismus, dessen profitorientierte Produktionsweise wie Morris auch Van de Velde dafür verantwortlich macht, dass die Welt nicht so aussieht, wie sie aussehen könnte. »Wir müssen dies Land, das jetzt dem schmutzigen Hinterhof einer Werkstatt gleicht, in einen Garten verwandeln« 32, so lautet der Anspruch, der zuletzt auf die sozialistische Gesellschaft zielt. Selbst »Kohlenmeilern und Fabriken muss ihr verunstaltender Charakter genommen werden, was es auch kosten mag«. Mit dem geschmackskritischen Ideal der Zweckmäßigkeit von Gebrauchsformen verbindet sich bei den Klassikern des Designs durchweg die Überzeugung, dass die ästhetischen Eindrücke von den Dingen der Umgebung und des Gebrauchs nach Art einer Infektion den ganzen Menschen und vermittelt über seine Lebensführung auch das gesellschaftliche Zusammenleben ergreifen. 33 Künstlerische Gestaltung darf so als »das erste Heilmittel gegen die Barbarei« 34 begriffen werden. Ein halbes Jh. später wird Loos in seinem »drang nach einfachheit« alles Schmückende in Bausch und Bogen verwerfen: »Das ornament wird nicht nur von verbrechern erzeugt, es begeht ein verbrechen«, so formuliert der streitbare Wiener . 35 In diesem Sinne betont noch Mitte des . Jh. Wagenfeld, dass es »fördernde und hemmende Eindrücke, niedere und hohe Stimmungen, Auffassungen und Gewohnheiten« sind, die wir »aus den Dingen der häuslichen Umgebung und des alltäglichen Gebrauches« erfahren und »die unbewusst unser Leben prägen und beeinflussen«. 36 Ebenso wie an Schillers Aufforderung an den Künstler, die Menschen »mit edeln, mit großen, mit geistreichen Formen« zu umgeben, »bis der Schein die Wirklichkeit und die Kunst die Natur überwindet« 37, so scheinen sich die Pioniere des modernen Designs auch an die bei Platon metaphorisch ausgedrückte Einsicht zu halten, schöne Eindrücke seien gutes, hässliche dagegen schlechtes Futter für die menschliche Seele. Noch die Hoffnung, die ein der Frankfurter Schule nahe stehende Denker wie Herbert Marcuse auf die »neue Sensibilität« und die schöpferische Phantasie setzt, auf die Möglichkeit der Entgrenzung ästhetischer Prinzipien zu einer befreienden Umgestaltung der Gesellschaft, trägt die Züge des Schillerschen Modells. 38

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2.6 Das Erhabene Neben dem Schönen, dessen grundlegende Bedeutung für die ästhetische Erfahrung die Klassiker der modernen Ä. bestätigen, spielt bei Schiller wie bei Kant und generell in der Ä. ihrer Zeit der Begriff des Erhabenen eine zunehmend wichtige Rolle. Er bezeichnet die Erfahrung von Gegenständen, die durch ihre (räumlich-physische wie metaphysische) Größe, Kraft oder Vollkommenheit dem Menschen seine eigene Erhebung und dabei häufig zugleich die Grenze seines Fassungsvermögens bewusst werden lassen. In der Antike wurde bei der Auseinandersetzung mit dem dichterischen Enthusiasmus das E. im Begriff des hypsos (Höhe) als einer Kategorie der Poetik und Rhetorik erörtert: Bei Platon, Aristoteles, Aristophanes, Pseudo-Longinos u. a. geht es um die kritische Reflexion auf die sachliche Angemessenheit sprachlicher Techniken der Seelenerhebung in Dichtung, öffentlicher Rede und philosophischer Darstellung. Doch seine eigentliche Konjunktur hat auch das E. im . Jh. Aufgrund der Zuwendung zu ästhetischen Fragen überhaupt gewinnt es mit der reisenden Erschließung Europas noch zusätzlich an Interesse: Insbes. mit der Entdeckung der Alpen als einer ästhetisch erfahrbaren Landschaft tritt das E. ins Bewusstsein des gebildeten Publikums. Bei Shaftesbury, Addison, Burke, Kant, Schiller u. a. bezeichnet es den Gegenstand eines ästhetischen Gefühls, das im Kontrast zum reinen und ruhigen Wohlgefallen an der schönen Form den Charakter von Faszination, Ergriffenheit und Überwältigung hat und mit Furcht und Schrecken einhergehen kann. Edmund Burke führt das Schöne, das im Menschen ästhetisches Vergnügen (pleasure) auslöst, auf den Trieb zur Geselligkeit zurück – das Erhabene, dem die Reaktion eines durch die Beseitigung von Unlust beruhenden Gefühl des Frohseins (delight) entspricht, auf den Selbsterhaltungstrieb. Auf dieser vermögenspsychologischen wie triebtheoretischen Grundlage gibt er eine reiche Phänomenologie erhabener Eindrücke. 39 Kant charakterisiert in seinem ästhetisch-anthropologischen Debut  das Schöne durch Reiz, das Erhabene durch Rührung und erörtert beide Begriffe in der Anwendung auf Gegenstände der Natur und der Kultur 40 ; in der Kritik der Urteilskraft  wird das Erhabene der Ä. der Natur vorbehalten. In der methodischen Konzentration auf die Analyse der subjektiven Vermögen wird es hier aus einer Dynamik des Scheiterns der Einbildungskraft

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(und damit des Verstandes) und der (kompensierenden) Totalisierung der Vernunft erklärt, durch deren Analyse Kant den Begriff der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft um ein Gefühl erweitert, das – anders als das Schöne in der Harmonie des Spiels der Erkenntniskräfte – im »Widerstreit« der Vermögen entspringt. Kant unterscheidet das Mathematisch-Erhabene vom Dynamisch-Erhabenen: In einer »Geistesstimmung« 41 von lustvoller Unlust, simultaner Abstoßung und Anziehung wird dem Menschen angesichts einer Größe, die nicht ad hoc in einer Vorstellung repräsentiert werden kann, mit dem Ungenügen des eigenen Anschauungsvermögens die Größe der eigenen Vernunft bewusst – angesichts einer Macht, die ihn in seiner physischen Zerbrechlichkeit zerstören könnte, seine moralische Freiheit als das Vermögen zu einer »Selbsterhaltung von ganz andrer Art«. 42 In dieser inneren Dialektik positiver und negativer Momente ist das Erhabene von Grund auf ein Grenzbegriff der ästhetisch-moralischen Selbstvergewisserung. Das Kantische Spektrum der Naturphänomene – der bestirnte Himmel in seiner unendlichen Größe 43, drohende Felsen, tobendes Gewitter auf offener See 44 – ist mit dem naturschwärmerischen Rousseau um den tiefen Wald in seiner kulturentrückten Einsamkeit zu ergänzen. 45 Schiller übernimmt und erweitert Kants Analyse, indem er das Theoretisch-Erhabene vom Praktisch-Erhabenen unterscheidet, überträgt den Begriff aber von der Natur auf die Tragödie als den Ort ästhetisch-moralischer Selbstvergewisserung in der Identifikation mit dem tragischen Helden. 46 An die damit entwickelte Kategorie eines ›gemischten Gefühls‹, eines in Kunst, Literatur und Architektur vermittelten Lebensgefühls der Überwältigung von faszinierender Negativität, kann im letzten Drittel des . Jh. die sog. Postmoderne anknüpfen in ihrer Bemühung, den ästhetischen Geist der Epoche auf den Begriff zu bringen (Baudrillard, Lyotard, Welsch u. a.). 2.7 Natur und Kunst In seiner Schrift Les beaux arts reduits à un mème principe entwickelt Batteux  eine Lehre von der Kunst, derzufolge diese nichts Selbstständiges hervorbringt, aber auch keine bloße Kopie, sondern eine selektive und gänzlich artifizielle Nachahmung des Schönen in der Natur ist. Damit ist ein Thema andauernder Auseinandersetzung angesprochen. Für Kant ist die Kunst nicht auf Nachahmung (Mimesis)

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zu verpflichten, sondern eine autonome Hervorbringung. Und doch behauptet er – wenngleich auf der Basis einer ganz anderen Begründung als etwa Rousseau – den ästhetischen Primat der Natur. Während dieser im Rahmen seiner fundamentalistischen Kulturkritik (Kultur) in der Kunst nur ein Luxusphänomen der Entfremdung und eine ideologische Funktion im Dienst einer korrupten Gesellschaft erkennen kann 47 und insbes. mit seiner Streitschrift gegen das Theater quasi eine Anti-Ä. entwickelt 48, setzt er alles auf die ästhetische Wirkung der Natur: Er sieht die Moralität auf die unmittelbaren Gefühlsregungen von Mitleid und Gewissen als natürlichen Dispositionen gegründet (s. o. ..) und bewertet die Wirkung der schönen und erhabenen Eindrücke äußerer Natur entsprechend hoch. In anderer Weise begründet Kant den ästhetischen Primat der Natur: In den Schönheiten der Natur sieht er das metaphysische Indiz für deren zweckmäßige Verfassung und damit den entscheidenden Hinweis auf die Einheit von Natur und Freiheit. Da für Kant die Kunst auf die Leistung des Genies zurückgeht, dessen glückliche Disposition nicht anders denn als eine »Naturanlage« zu verstehen ist, erfährt sie durch diesen Naturprimat nur vordergründig eine Abwertung: Gerade in ihren Werken lässt sich die gesuchte Bestätigung der Vermittlung von Natur und Freiheit finden. Kant begreift damit in Erweiterung seines erkenntnistheoretischen Ansatzes die »Natur als Kunst« – als Prinzip einer zweckmäßigen Produktivität. 49 Es ist dieser Gedanke, der in der Philosophie Epoche gemacht hat und dabei auch zu einem Leitmotiv der modernen Kunst geworden ist. Schelling braucht ihn in seiner kunstphilosophischen Schrift von  nur noch auf das hergebrachte Problem der Nachahmung der Natur zu projizieren und macht damit in Anwendung der aristotelischen Unterscheidung von natura naturata und der natura naturans auf den produktiven Doppelsinn der mimetischen Formel aufmerksam: Nicht nach der Natur, sondern selbst wie die Natur arbeitet demnach der große Künstler. 50 Es hat daraufhin nichts Überraschendes, dass wir dem Gedanken in der Künstlerästhetik des . und . Jh. wiederbegegnen; seit Cézanne sind es v. a. die reflektierenden Künstler der klassischen Moderne (Klee, Kandinsky u. a.), die gerade im Anspruch auf die Autonomie ihres Werks die Analogie ihres freien Schaffens zur unverfügbaren Produktivität der Natur herausstellen. Unbehelligt von der Zumutung,

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Natur als vorgegebenes Inventar fertiger Gegenstände bloß abzubilden, bewahren sich die Künstler der klassischen Moderne eine Faszination von der Natur als Vorbild unerschöpflichen Einfallsreichtums, ja als konkurrierende Instanz der Produktivität und damit als Element des eigenen Selbstverständnisses. Cézanne hat mit seinem berühmten Wort von der Kunst als einer »Harmonie parallel zur Natur« auch den Aspekt einer ›Produktivität analog zur Natur‹ im Sinn. Das Interesse von Paul Klee ist stets auf die »formenden Kräfte« der Natur gerichtet: auf das, was er als »das Wesen des natürlichen Schöpfungsprozesses« begreift 51 – als das »Gesetz [. . . ], nach dem die ›Natur‹ funktioniert«. 52 Im Aufspüren dieser Kräfte, dieses Wesens, dieses Gesetzes besteht nach Klee die Aufgabe der autonomen Kunst. Er sieht in ihr eine »Freiheit, die lediglich ihr Recht fordert, ebenso beweglich zu sein, wie die große Natur beweglich ist«. 53 Auf der Folie dieser analogischen Auffassung von Kunst und Natur ist freilich nicht mehr das einzelne Bild – sondern »die Kunst« als solche ist das »umgeformte Abbild« der Natur. 54 »Kunst verhält sich zur Schöpfung gleichnisartig. Sie ist jeweils ein Beispiel, ähnlich wie das Irdische ein kosmisches Beispiel ist.« 55 Ähnlich bekommt nach Kandinsky der abstrakte Maler seine Anstöße nicht mehr »von einem x-beliebigen Stück Natur, sondern von der Natur im Ganzen« 56, so dass die Kunst zwar »die ›Haut‹ der Natur, aber nicht ihre Gesetze« verlässt 57 ; Matisse, der zwar ausdrücklich »von der Imitation loskommen« will 58, kann zugleich in einem anderen Sinne sagen, »die Kunst ahme die Natur nach: nämlich wegen des Lebens, das ein Künstler dem Kunstwerk einflößt.« 59 Picasso, der sich aus der »Zwangsjacke der Natur« befreien will 60, bringt schließlich am klarsten und einfachsten die pan-naturalistische Einsicht seiner Zeitgenossen auf den Begriff: »Wie ich oft gesagt habe, versuche ich nicht, die Natur auszudrücken. Ich versuche eher [. . . ], wie die Natur zu arbeiten.« 61 Exemplarisch wird dies für das Selbstverständnis auch der modernen Literatur an einem geheimen Klassiker der modernen Ä., an Paul Valérys Eupalinos-Dialog von . 62 In der Erörterung des Verhältnisses von Natur und Kunst bemühen die Gesprächspartner sich auch um ein Kriterium der Unterscheidung zwischen Naturdingen und Kunstwerken, das auf der Ebene der ästhetischen Rezeption nicht eindeutig auf der Hand liegt, weil die Produktivität von Natur und Kunst verwechselbare Werke zeitigt. 63

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2.8 Das . Jahrhundert Für Hegel ist das Naturschöne von untergeordnetem ästhetischem Wert, da es keine durch den menschlichen Geist erzeugte Bedeutung hat. Ästhetisch knüpft Hegel nach  gleichermaßen an Kant und Schiller wie an die Autonomisierung der Künste an mit seiner ins Konkrete der Geschichte und der Gegenwart gehenden Theorie der Kunst als einer Form des lebendigen – menschlichen wie göttlichen – Geistes. Die schöne Kunst ist hier als eine Manifestation des Göttlichen in der Form menschlicher Freiheit begriffen. Sie leistet die Darstellung des Absoluten im Medium des sinnlichen Scheines. Im Verhältnis zum Ideal der Entsprechung von absoluter Idee und sinnlicher Gestalt durchläuft sie die drei Phasen der symbolischen, der klassischen und der romantischen Kunst, die er im Blick auf die Künste vom Altertum bis in seine eigene Gegenwart als das Erstreben, das Erreichen und das Überschreiten dieses Ideals auslegt. Mit der romantischen Kunst des christlichen Mittelalters hat die Kunst nach Hegels geschichtsphilosophischem Modell aufgehört, die angemessene Ausdrucksform des Geistes zu sein; diese Funktion übernimmt zunächst die Religion, schließlich die Philosophie. Es ist ein Schüler Hegels, der nach dessen spekulativer Konzentration auf das geistige Schöne in der Kunst die erste Monographie über das Hässliche schreibt. In der Antike und im Mittelalter war dies eine ontologische und theologische Kategorie zur Bezeichnung von Maßlosigkeit und privativer Defizienz gewesen; in den Kunstlehren der Renaissance war es zur Abgrenzung des Ideals der Perfektion erwähnt worden, und die Kunstlehren und Ä.en des . Jh. ließen es zu unter der Bedingung seiner Bändigung durch die ästhetische Form. 64 Noch Kant hatte in seiner Analytik des Schönen das Wohlgefallen als prägnante Reflexionslust eingehend behandelt, und dabei ohne jede sachliche Bestimmung das begriffliche Komplement einer ästhetischen Unlust (in dem eher der Ausblick auf die Analytik des Erhabenen als die systematische Lokalisierung des Hässlichen vermutet werden darf ) in bloß konventioneller Erwähnung mitgeführt. Prägnanten Zuschnitt gewinnt das Problem zum ersten Mal, als im Laokoon-Streit zwischen Lessing, Herder, Hirt und Schiller im Blick auf die charakteristische Deformation des Hässlichen die Möglichkeiten und Grenzen des Ausdrucks in der bildenden Kunst problematisiert werden. Rosen-

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kranz nun erklärt zwar das Hässliche zur ästhetischen Kategorie, doch begreift er es weiterhin als defizienten Modus: Ihm komme in der Kunst die Funktion zu, »das reine Bild des Schönen um so leuchtender« erscheinen zu lassen. 65 Erst mit Nietzsche und der künstlerischen Entwicklung des späteren . Jh. kommt es zu jener Freisetzung des ästhetischen Blicks für die Eigenart des Hässlichen, an welche die Diskussion über Die nicht mehr schönen Künste in den er Jahren und die zeitgenössischen Bemühungen um einen autochthonen Begriff des Hässlichen systematisch anschließen konnte. 66 Neben der Konzentration der Ä. auf das Schöne in der Kunst bei Hegel, Schelling und Solger und neben Schopenhauers Bestimmung der Musik zum Komplement einer pessimistischen Weltanschauung zeigt sich in den ästhetischen Theorien des . Jh. auch eine Tendenz zur Loslösung von der Exklusivität der Kunst: Kierkegaard bestimmt in seiner Existenzphilosophie das Ästhetische durch die hedonistische Einstellung und kritisiert es in allen Formen im Namen der moralischen und der religiösen Haltung 67 ; für Nietzsche dagegen ist die Welt nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt. 68 Er entgrenzt in seiner »Artisten-Metaphysik« der frühen er Jahre den Begriff der Kunst, indem er diese als das große Stimulans des Lebens bestimmt und die ästhetische Produktivität zum Prinzip der Wirklichkeit erklärt. Es ist demnach ein ästhetischer Trieb, der sich – nach dem Modell der Kunstgottheiten Apoll und Dionysos – in der Dialektik von Individuierung und Entgrenzung auslegt 69 und in allen Formen menschlichen Lebens produktiv ausprägt. 70 Die Menschen sind immer schon Künstler und sollen angesichts der Tragik des Lebens durch die Aufnahme dieser – in der Hoffnung auf Steigerung durch Bewusstwerdung eingeschärften – Einsicht zu kreativeren Künstlern werden. Seit der zweiten Jh.hälfte und im Übergang ins . Jh. setzen die Klassiker des modernen Designs (s. o. ..) in der programmatischen Betonung des künstlerischen Charakters von Architektur und Gebrauchskunst aller Art das ins Werk, wofür sie in ihren theoretischen Beiträgen zugleich argumentieren: die Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben – ein Programm, das sich mit dem der künstlerischen Avantgarden zu Beginn des neuen Jh. (Futurismus, Dada, Surrealismus u. a.) trifft. Von einer ›Ästhetisierung der Lebenswelt‹ wird mit Blick auf die hier entspringende Tendenz zur Gestaltung

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aller Lebensbereiche unter Preisgabe der ästhetischen Exklusivität der Kunst später polemisch die Rede sein. Die Kritiker beanstanden an dem unterstellten »paradoxe[n] Versuch, den Alltag zum permanenten Fest zu machen« 71, mit der Ausbreitung einer generellen Freizeitgesinnung ebenso den Prägnanzverlust ästhetischer Erfahrung durch Verflachung und Trivialisierung 72wie den komplementären Effekt sozialer Desensibilisierung. 73 2.9 Das . Jahrhundert Als wichtigster philosophischer Kronzeuge dieser Entgrenzung des Kunstbegriffs im Interesse der Kontinuität von Kunst und Leben darf im . Jh. der amerikanische Pragmatist John Dewey angesprochen werden, der die große Kunst vom Sockel herab und ins Leben zurückholen will. Er begreift Kunst durch die Fundierung auf Erfahrung jeglicher Art, in der immer schon ästhetische Momente wirksam sind und auf ästhetische Erfahrung, in der diese Momente um ihrer selbst willen reflexiv genossen werden. In der Kunst ist somit nur in besonderer Intensität erfahrbar, was bereits in allen möglichen unscheinbareren Formen wirksam ist. 74 In komplementärer Argumentationsrichtung fragt Arthur C. Danto ein halbes Jh. später mit Blick auf die Selbstreflexivität der modernen Kunst nach den Bedingungen der »Verklärung des Gewöhnlichen« 75 und stellt sich damit in die Reihe von zeitgenössischen Denkern, die Ä. wesentlich als Theorie der Kunst begreifen. Dazu gehören auch Ernst Cassirer, Martin Heidegger, Hans Georg Gadamer und Theodor W. Adorno, die sich bei aller Unvereinbarkeit der sachlichen wie methodischen Einstellung einig sind in dem Anspruch, die Kunst als Ort einer in der ästhetischen Erfahrung eigentümlich vermittelten Wahrheit auszuzeichnen, ohne damit den ästhetischen Kognitivismus der zeichen- und informationsästhetischer Ansätze (N. Goodman, C. Morris u. a.) nahezulegen. Cassirer betont im Rahmen seiner symboltheoretisch begründeten Philosophie der Kultur mit der epistemischen Rolle der Kunst als einer genuinen Weise der Entdeckung und der gefühlssublimierenden Intensivierung von Erfahrungen zugleich auch ihre befreiende Wirkung. 76 Sein Beitrag hat sich als anschlussfähig erwiesen für ein ganzes Spektrum zeichenund symboltheoretischer Ansätze (S. K. Langer, N. Goodman, U. Eco u. a.) Kunstphilosophisch darf insbes. die Kompensationstheorie der

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Kunst, wie sie durch die geschichtsphilosophische Fortschrittsorientierung seiner Theorie der Kultur erforderlich zu werden scheint 77, als wichtiger Einfluss auf die Ä. des . Jh. gelten. 78 Für Adorno ist die Kunst die gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft. Durch die Autonomie der ästhetischen Gestaltung – deren Prinzip Adorno in die Formel fasst: »Nichts unverwandelt« – wirkt in der Kunst ein herrschaftsfreies Prinzip der Erfahrung. In einer Gesellschaft, die der kritische Theoretiker im Konstrukt einer nur noch negativen, d. h. entwicklungslosen Dialektik als den totalen Verblendungszusammenhang begreift, wird das Kunstwerk damit – als einzig verbliebenes Subjekt des Widerstandes und als Statthalter einer herrschaftsfreien Praxis – zum Träger einer kontrafaktischen Wahrheit. Wie es hier im Rahmen einer gesellschaftskritisch motivierten negativen Geschichtsphilosophie noch einmal zu einer unüberbietbaren spekulativen Auszeichnung der großen Kunst kommt, so auch in Heideggers existenzialontologisch begründeter Sicht der Kunst als eines ursprünglichen Wahrheitsgeschehens 79 und in Gadamers Auszeichnung der Kunst durch die anthropologischen Bestimmungen der Ä.: Spiel, Symbol und Fest, in denen sich die – auch im rezeptionsästhetisch markanten Sinne: prozessreflexive – ›Aktualität‹ des Schönen vollziehen. 80 Deren doppelsinnige Behauptung gewinnt gegenwärtig ihrerseits an Aktualität: Nachdem in den letzten vier Jahrzehnten des . Jh. mit geschichtsphilosophischen und ideologiekritischen Argumenten im Zeichen der ›nicht mehr schönen Künste‹ wie der Aktualität des Erhabenen der Kategorie des Schönen ihr überkommener Geltungsanspruch in der Ä. streitig gemacht worden war, lässt sich gegenwärtig die Rückkehr des Schönen in die philosophische Ä. verzeichnen. 81 Dabei dominieren in der zeitgenössischen Ä. neben den Ansätzen zu einer die Gegenstandsbereiche spezifisch abgrenzenden und zugleich integrierenden Theorie der ästhetischen Erfahrung (so bei Jauß 82, Bubner 83, Seel 84, Henrich , Liessmann  u.a) die kleinteiligen sprach- und argumentanalytischen Beiträge und Debatten 85 zu Fragen der Kriterien, des Verstehens, der emotionalen Aufnahme und der Bewertung von Kunst 86 und die im Zeichen ›post-moderner‹ (Moderne/ Postmoderne) Pluralität stehende Bemühung, die Ä. im Rekurs auf den aristotelischen Begriff der aisthesis als sinnlicher Wahrnehmung als die Fundamentaldisziplin der Philosophie auszuweisen (Welsch u. a.).

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An diese Option schließt sich freilich ebenso ein kritischer Rekurs auf die spezifischen Differenzen an, 87 wie die integralen Tendenzen von Theorien der ästhetischen Erfahrung 88 neuerlich wieder das Interesse an der Ontologie der Kunst herausfordern. Im Hinblick auf die Vermittlung zwischen kunstontologischen (als prozessontologischen) und rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten stellt die Ä. der Performanz einen neuen und vielversprechenden Ansatz dar. 89 Ausgehend vom Paradigma des Theaterstücks, der Inszenierung von Handlungen, richtet sich das systematisch auf alle anderen Künste übertragene performanzästhetische Interesse auf den Vollzug all derjenigen Handlungen – der Künstler wie der Rezipienten –, die das Kunstwerk als Wirkungszusammenhang konstitutieren. 90 Für die weiterführende Auseinandersetzung bietet die simultane Präsenz diametraler Positionen gegenwärtig die Chance differenzierter Klärung. Nachdem mit wenigen Ausnahmen (Béla Balàcz, Rudolf Harms, Walter Benjamin, Erwin Panofsky, André Malraux, André Bazin, Siegfried Kracauer) die Denker der philosophischen Ä. sich zugetraut haben, Theorie der Kunst wie der ästhetischen Erfahrung zu betreiben, ohne dem Leitmedium des . Jh. Beachtung zu schenken, darf das seit den er Jahren und bis heute immer noch erstarkende Interesse an der Ä. des Films (Gilles Deleuze, Stanley Cavell, David Bordwell, Serge Daney, Karl Sierek, Gertrud Koch, Ludwig Nagl, Josef Früchtl u. a.) als ein Aufbruch zu neuen Horizonten begrüßt werden. Nicht allein für die Ä. und die Kulturphilosophie, sondern auch für die Epistemologie der Wahrnehmung und des Denkens sind von der Erforschung der Möglichkeiten des neuen Mediums wichtige Einsichten zu erwarten. Adorno, Th. W., , Ästhetische Theorie, Fft./M. – Aristoteles, Poetik. – Batteux, Ch., () , Les beaux arts reduits à un mème principe; dt. ND Hildesheim. – Baumgarten, A. G., (/) , Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der ›Aesthetica‹ (/) hg. v. H. R. Schweizer, Hamburg. – Bubner, R., , Ästhetische Erfahrung, Fft./M. – Burke, E., () , Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, hg. v. W. Strube, Hamburg. – Cassirer, E., () , Sprache und Mythos. Ein Beitr. z. Problem d. Götternamen. In: ECW , Hamburg. – Cassirer, E., () , Die Philosophie der Aufklärung. ECW , Hamburg. – Cassirer, E., () , Essay on Man; dt.: Versuch über den Menschen, Fft./M. – Danto, A. C., , Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie d. Kunst, Fft./M. – Danto, A. C., , The Abuse of Beauty. Aesthetics and the Concept

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of Art, Chicago/La Salle, Ill. – Dewey, J., () , Art as experience; dt.: Kunst als Erfahrung, Fft./M. – Feagin, S./Maynard, P. (eds.) , Aesthetics, Oxford/ NY. – Fischer-Lichte, E., , Ästhetik des Performativen, Fft./M. – Franke, U., , Häßliche (das). In: HWbPh, Bd. . – Gadamer, H.-G., () , Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol u. Fest. In: Ders., Kunst als Aussage, Tübingen. – Hegel, G. W. F., () , Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Nachschr. H. G. Hotho, hg. v. A. Gethmann-Siefert, Hamburg. – Heidegger, M., () , Holzwege, Fft./M. – Henrich, D./Iser, W. (Hg.) , Theorien der Kunst, Fft./M. – Henrich, D., , Versuch über Kunst und Leben, München. – Hoffmann, J., (), Arbeitsprogramm der Wiener Werkstätte; ders., (),  Jahre Wiener Werkstätte; beide in: Wiener Werkstätte. Modernes Kunsthandwerk von –. Ausstellungskatalog , Wien. – Hume, D., () Enquiry concerning the Principles of Morals, dt.: , Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, hg. v. C. Winckler, Hamburg. – Hutcheson, F., , An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue; dt.: , Eine Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen von Schönheit und Tugend. Über moralisch Gutes u. Schlechtes, hg. v. W. Leidhold, Hamburg. – Jauß, H. R. (Hg.), : Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München. – Jauß, H. R., , Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung, Konstanz. – Jauß, H. R., , Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Fft./M. – Kandinsky, W., , Essays über Kunst und Künstler, Bern. – Kant, I., , Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. In: AA Bd. II, Berlin. – Kant, I., Kritik der Urteilskraft, . In: AA Bd. V, Berlin. – Kierkegaard, S., () , Entweder – Oder, München. – Klee, P., (–) , Tagebücher (–) (Textkrit. Neued.), hg. v. d. Paul-Klee-Stiftung, Bern. – Klee, P., () , Über die moderne Kunst, Bern. – Klee, P., , Schöpferische Konfession. In: Schr., Rez. u. Aufs., hg. v. Ch. Geelhaar, Köln. – Klein, H., , There is no disputing about taste. Unters. z. engl. Geschmacksbegriff im . Jh., Münster. – Klemme, H. F./Pauen, M./Raters, M.-L. (Hg.), : Im Schatten des Schönen. Die Ästhetik des Häßlichen in historischen Ansätzen u. aktuellen Debatten, Bielefeld. – Kreuzer, J., , Pulchritudo. Vom Erkennen Gottes bei Augustin, München. – Loos, A., , Sämtliche Schriften, Wien. – Liessmann, K. P., , Reiz und Rührung. Über ästhetische Empfindungen, Wien. – Lüdeking, K., , Analytische Philosophie der Kunst, Fft./M. – Marcuse, H., , Versuch über die Befreiung, Fft./M. – Marquard, O., , Aesthetica und Anaesthetica. Philos. Überlegungen, Paderborn – Matisse, H., () , Der Weg der Farbe. In: Ders.: Über Kunst, Zürich. – Matisse, H., () , Das Leben mit den Augen eines Kindes betrachten. In: Ders.: Über Kunst, Zürich. – Menninghaus, W., , Das Versprechen der Schönheit, Fft./M. – Morris, W., , Die Kunst und die Schönheit der Erde. – Morris, W., , Kunstgewerbliches Sendschreiben. – Morris, W., , Wie wir leben und wie wir leben könnte. Vier Essays, Köln. – Mothersill, M., , Beauty restored, [. . . ] – Nehamas, A., , The Return of the Beautiful. Morality, Pleasure, and the Value of Uncertainty. In: The J. of Aesthetics and Art Criticism,  (). – Nehamas, A., , Only a Promise

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of Happiness. The Place of Beauty in a World of Art, Princeton. – Nietzsche, F., () /, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: ders., , Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. In: KSA, hg. v. G. Colli/ M. Montinari, Bd. , Berlin/NY. – Picasso, P., , Über Kunst, Zürich. – Platon, , Phaidros. In: WW in  Bde. Griech. u. Dt., . Bd., hg. v. G. Eigler, Darmstadt. – Platon, , Symposion (Das Gastmahl) In: WW in  Bde. Griech. u. Dt., . Bd., hg. v. G. Eigler, Darmstadt. – Platon, , Der Staat. In: WW in  Bde. Griech. u. Dt., . Bd., hg. v. G. Eigler, Darmstadt. – Recki, B., , Ästhetik der Sitten. Die Affinität v. ästhetischem Gefühl u. praktischer Vernunft bei Kant, Fft./M. – Recki, B., , Herabkommen ins Sichtbare. Eine Apologie d. Schönheit in pragmatischer Hinsicht. In: Konersmann, R. (Hg.), Das Leben denken – Die Kultur denken. Bd. : Leben, Freiburg. – Recki, B./Wiesing, L. (Hg.), , Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, München. – Ritter, J., , Landschaft. Zur Funktion d. Ästhetischen in d. modernen Gesellschaft. In: Ders., , Subjektivität. Sechs Aufsätze, Fft./M. – Rosenkranz, K., (), , Ästhetik des Hässlichen, mit einem Vorw. z. Neudruck v. W. Henckmann, Darmstadt. – Rousseau, J.-J., , Discours sur les sciences et les arts. – Rousseau, J.-J., , Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. (dt. beide in: , Schriften zur Kulturkritik. Über Kunst u. Wissenschaft (). Über den Ursprung der Ungleichheit unter der Menschen () eingel., übers. u. hg. v. Kurt Weigand, Hamburg.) – Rousseau, J.-J., () , Brief an d’Alembert über das Schauspiel. In: Schr. Bd. , hg. v. H. Ritter, Fft./M. – Rousseau, J.-J., () Emile ou de l’éducation, dt.: Emil oder über die Erziehung. – Rousseau, J.-J., (a) , Vier Briefe an Malesherbes. In: Schr. Bd. , hg. v. H. Ritter, Fft./M. – Scarry, E., , On Beauty and Being Just, Princeton University Press. – Schelling, () , Das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur. In: Schellings WW (. Ergbd.: Zur Philosophie der Kunst, –), hg. v. M. Schröter, München. – Schiller, F. (/) , Vom Pathetischen und Erhabenen. Ausgew. Schr. z. Dramentheorie, hg. v. K. L. Berghahn, Stuttgart. – Schiller, F., () , Kallias oder über die Schönheit. Fragment aus d. Briefwechsel mit Körner, Stuttgart. – Schiller, F. () , Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen, Stuttgart. – Schopenhauer, A., , Die Welt als Wille und Vorstellung, . Buch, Leipzig. – Schmücker, R., , Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München. – Schümmer, F., , Die Entwicklung des Geschmacksbegriffs in der Philosophie des . und . Jh. In: Arch. f. Begriffsgesch. I. – Schröder, W., , Querelle des anciens et des modernes. In: EE, Bd. . – Seel, M., , Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff d. ästhetischen Rationalität, Fft./M. – Seel, M., , Eine Ästhetik der Natur, Fft./M. – Seel, M., , Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung. In: Recki/Wiesing . – Seel, M., , Ästhetik des Erscheinens, Fft./M. – Shaftesbury, A. A. C., (), A letter concerning enthousiasm; dt.: , Ein Brief über den Enthusiasmus, hg. v. W. H. Schrader, Hamburg. – Shaftesbury, A. A. C., (), The Moralists; dt.: , Die Moralisten, hg. v. W. H. Schrader, Hamburg. – Shaftesbury, A. A. C., (a), Sensus communis; an Essay on the

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Freedom of Wit and Humour; dt. in: , Der gesellige Enthusiast. Philosophische Essays, hg. v. K.-H. Schwabe, München/Leipzig u. Weimar. – Smith, A., , The Theory of Moral Sentiments, hg. D. D. Raphael/A. L. Macfie, Oxford . – Tatarkiewicz, W., //, Geschichte der Ästhetik.  Bde., Basel/Stuttgart. – Valéry, P., () , Eupalinos oder der Architekt, Fft./M. – Van de Velde, H., , Kunstgewerbliche Laienpredigten, Leipzig. – Wagenfeld, W., () , Wesen und Gestalt der Dinge um uns; Reprint Worpswede. – Welsch, W., , Ästhetisches Denken, Stuttgart. – Welsch, W., , Erweiterungen der Ästhetik. Eine Replik. In: Recki/Wiesing . – Wirth, Uwe (Hg.), , Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Fft./M. – Zimmermann, J., , Sprachanalytische Ästhetik. Ein Überblick, Stuttgart-Bad Cannstatt. 1 Platon,

Politeia X  a –  b. – 2 Ebd., III. – 3 Ebd., III  a. – 4 Ebd.,  cd. – 5 Platon, Nomoi  b. – 6 Platon, Symposion  e. – 7 Ebd.,  c. – 8 Platon, Phaidros  b –  d. – 9 Ebd.,  d. – 10 Ebd.,  b-c. – 11 Siehe Tatarkiewicz //; Kreuzer . – 12 Siehe Cassirer ,  ff. – 13 Vgl. Schröder . – 14 Siehe Schümmer ; Klein . – 15 Kant, KU,  ff. – 16 Ebd., . – 17 Kant, KdU,  f. – 18 Kant  (Refl. a, AA , ). – 19 Kant, KdU, . – 20 Ebd., . – 21 Schiller ,  f. – 22 Schiller , . – 23 Shaftesbury ; ; . – 24 Shaftesbury a. – 25 Hutcheson . – 26 Hume ; Smith . – 27 Rousseau ,  ff. – 28 Rousseau ,  ff. – 29 Kant . – 30 Schiller , . – 31 Morris , . – 32 Morris , . – 33 Morris , . – 34 Morris , . 35 Loos . – 36 Wagenfeld . – 37 Schiller, Über die ästhetische Erziehung, . Brief, ; H. v. m. – 38 Marcuse . – 39 Burke , –. – 40 Kant ,  ff. – 41 Kant, KdU, . – 42 Ebd., . – 43 Ebd., . – 44 Ebd., KdU, . – 45 Rousseau ,  ff. – 46 Schiller /. – 47 Rousseau, , . – 48 Rousseau . – 49 Kant ,  ff.,  f.,  ff. – 50 Schelling , . – 51 Klee , . – 52 Klee , . – 53 Klee , . – 54 Ebd., . – 55 Klee , . – 56 Kandinsky , . – 57 Ebd., . – 58 Matisse , . – 59 Matisse ,  f. – 60 Picasso , . – 61 Ebd., . – 62 Valéry . – 63 Ebd., . – 64 . Franke , –. – 65 Rosenkranz , . – 66 Jauß ; vgl. Klemme/Pauen/Raters . – 67 Kierkegaard . – 68 Nietzsche , . – 69 Ebd.,  ff. – 70 Nietzsche . – 71 Bubner . – 72 Marquard . – 73 Welsch . – 74 Dewey . – 75 Danto . – 76 Cassirer , –. – 77 Cassirer . – 78 Ritter ; Marquard  u. a. – 79 Heidegger . – 80 Gadamer . – 81 Scarry ; Danto ; Nehamas ; ders., ; Recki . – 82 Jauß . – 83 Bubner . – 84 Seel ; ders. . – 85 Vgl. Henrich/Iser ; Zimmermann ; Lüdeking . – 86 Siehe Feagin/Maynard . – 87 Z. B. Seel . – 88 Vgl. Seel . – 89 Vgl. Fischer-Lichte . – 90 Fischer-Lichte , ; Schmücker .

Birgit Recki

Politik / politische Philosophie

1 Zum Begriff. Weite und Vielfalt des semantischen Raumes, den der Begriff ›Politik‹ (P.) umfasst, erschweren eine Definition 1 des Wesens der P. 2 Wer gegenüber einer eher metaphysischen Bestimmung des Politischen skeptisch ist, bleibt auf die Vielfalt der Phänomene, die als ›politisch‹ bezeichnet werden, zurückverwiesen auf die Tatsache, dass P. ein radikal historisches Phänomen ist, das sich nur in dieser Dimension – und also auch stets nur fragmentarisch – zeigt. Das Wort ›P.‹ entstammt der klassischen Kultur des antiken Griechenland. Dort war es die zusammenfassende Bezeichnung für alles (Handeln, Institutionen, Prozesse) was sich auf die Polis bezog, d. h. auf die gemeinsame Praxis der Bürger (polites) in den griech. Stadtstaaten. Im Sprachgebrauch der Gegenwart wird das Wort ›P.‹ hingegen v. a. mit Kategorien wie ›Macht‹ und ›Herrschaft‹ sowie den Strategien ihres Erwerbs oder ihrer Erhaltung insbes. im staatlichen oder zwischenstaatlichen (internationalen), mehr und mehr aber auch im nicht-staatlichen Bereich gebraucht, so dass die Bedeutung des Wortes ›P.‹ sich der Bedeutung von ›Strategie‹, einem berechnenden, zielgerichteten Verhalten, annähert. Dieser Bedeutungswandel hat eine jahrhundertelange Geschichte, die spätestens mit dem Beginn der Neuzeit einsetzt. 3 Aus der vom P.begriff erfassten sachlichen Vielfalt hat Sternberger drei Bedeutungskomplexe herausgearbeitet: »P. als das Staatliche, Öffentliche, Gemeinsame, als bürgerliche Verfassung, als geordneter Zustand; P. als subjektives Kalkül, als kluge Ausübung von Führung und Herrschaft, als schlaue Planung der Mittel zum vorteilhaften Zweck des Handelns; P. als Vorgang der gesellschaftlichen Veränderung und als diejenige Art Tätigkeit, welche diesen Vorgang auflöst, fördert und antreibt.« 4 In der politischen Wirklichkeit wie in der Theorie der P. sind diese hier analytisch getrennten Momente vielfach miteinander verschlungen, und dennoch ist i. d. R. jeweils eines dieser Momente vorherrschend. Sternberger hat der institutionellen, der strategischen und der intentionalen Bedeutung des Politischen je ein klassisches Werk der politischen Philosophie resp. Wissenschaft

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zugeordnet (Aristoteles’ Politik; Machiavellis Fürst, Augustinus’ Gottesstaat). Mit etwa dem gleichen Recht – wenn auch mit vergleichbarer Begrenztheit und Fragwürdigkeit – könnte man ihnen die historischen Epochen der politischen Theorie zuordnen – der Antike und dem Mittelalter die Frage nach der ›guten Ordnung‹, der Renaissance und der Neuzeit die strategische Frage nach der souveränen Macht, der Moderne die Auffassung von P. als Gesellschaftsveränderung. 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte 2.1 Politik in der Antike – Von der Polis zum römischen Weltreich Die These ›die Griechen‹ hätten die P. – ebenso wie etwa auch die Demokratie – ›entdeckt‹ 5, ist gewiss eine Übertreibung. In beiden Fällen ist es allerdings von Bedeutung, dass die antiken Griechen diesen Phänomenen Namen gegeben haben und sich also deren Besonderheit bewusst geworden sind. Politische Praxis hat es gegeben, seit es politische Gemeinschaften (Staat) gibt; sie war aber in ihren historischen Anfängen noch eng mit anderen Praxisformen der menschlichen Kultur und Lebensweise, v. a. mit der gemeinschaftlichen ›Ökonomie‹ und der ›Religion‹ verknüpft. P. als besondere gemeinschaftliche Praxis der Bürgerschaft hat das alltägliche wie das theoretische Bewusstsein der Mitglieder der Polis ebenso geprägt wie die gesamte Kultur. Die demokratische Praxis und die Schlüsselbegriffe der antiken Demokratie und P. 6 haben den aristokratischen Mythos von der Überlegenheit des Adels und vom göttlichen Ursprung seiner Herrschaft verdrängt; sie sind zu selbstverständlichen Bestandteilen des gesellschaftlichen Bewusstseins, der Sprache und der spezifischen Rationalität des griech. Denkens geworden. 7 2.1.1 Begründung der politischen Philosophie/ Wissenschaft in der Krise der Polis (Platon und Aristoteles) Eine umfassende Reflexion des Politischen beginnt allerdings erst mit der Krise der Polis-Demokratie. In den sozialen und politischen Klassenauseinandersetzungen Athens des . und . Jh. v. u. Z. gewann die Frage der Staatsform, d. h. v. a., wer als Mitglied der Polis zu gelten habe, und wer dort mit welchen Gründen und Mitteln herrschen solle, Reiche oder Arme, bzw. einer, wenige, viele oder gar alle, eine

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entscheidende Bedeutung. Mit Platon und Aristoteles treten in dieser Entwicklungsphase der Polis zwei der bedeutendsten Philosophen der Antike zugleich als Theoretiker der P. und – wenn auch in unterschiedlichem Maße – als Kritiker der Demokratie auf. In seinem politisch-philosophischen Hauptwerk Der Staat (Politeia) geht es Platon v. a. um die Frage nach dem guten und zugleich gerechten Staat. Ausgangspunkt seiner dialogisch vorgetragenen Überlegungen ist die Idee einer vollkommenen Polis-Gemeinschaft und das sie konstituierende Prinzip der Arbeitsteilung. »Es entsteht also, [. . . ] eine Stadt (polis), wie ich glaube, weil jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern vieler bedarf.« 8 Daraus konstruiert er das Modell einer ›harmonischen Ordnung‹, in der »Jeder das Seinige verrichtet«, indem er diejenigen Aufgaben übernimmt, »wozu seine Natur sich am geschicktesten eignet.« Keinesfalls dürfe der Einzelne sich einmischen in Angelegenheiten, für die er nicht befähigt sei. Platons wichtigstes Argument gegen die Polis-Demokratie war die bei den gesellschaftlichen Oberschichten Athens seit langem verbreitete Überzeugung, das Volk sei zur Führung der Polis-Geschäfte ungeeignet. Aufgabe der P. ist nach Platon die gerechte Führung der Polis. Sie erfordere die Erkenntnis des Guten, eine spezifische Weisheit, Besonnenheit und Tugend, die keineswegs allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung stehe. P. sei somit vernünftigerweise eine Angelegenheit derjenigen, die dazu am besten geeignet seien, der ›Weisen‹, und ›Tugendhaften‹, d. h. der ›Philosophen‹. 9 Natürliche Ungleichheit der Menschen und das organisierende Prinzip der Arbeitsteilung sind somit die Prämissen von Platons Ideal des ›Philosophen-Königtums‹. Platon schlägt damit eines der großen Themen der späteren Politischen Wissenschaft an, und er entwickelt eines der Hauptargumente aller gesellschaftlichen Eliten gegen die Herrschaft des Volkes, als einer Herrschaft der ›ungebildeten Massen‹. In Platons Idealstaat ist die Erziehung und Bildung der Jugend neben der P. eine der Hauptaufgaben der ›Philosophen‹ und der ›Wächter‹; diese Erziehung wird aber ausdrücklich auf die Kinder der herrschenden Oberschicht beschränkt, um sie für ihre Aufgaben als künftige Lenker oder ›Wächter‹ des Staates vorzubereiten. Aristoteles’ politische Theorie kann – wie seine Philosophie überhaupt – in vieler Hinsicht als Kritik an Platon verstanden werden. In einer Grundfrage ist er sich mit seinem Lehrer aber einig: Alle Un-

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tersuchung der P. erfolgt in normativ-praktischer Absicht ; politische Philosophie und Wissenschaft befasst sich mit der Frage nach der besten politischen Ordnung. Gegenstand der P. ist nach Aristoteles zunächst das Zusammenleben der Menschen in der Polis, als einer neben Ehe, Familie, Haushalt, Dorf usw. besonderen Form der menschlichen Gemeinschaft. Die Polis ist die höchste Form dieser Gemeinschaften weil sie aus diesen ursprünglicheren Formen als deren Endziel hervorgegangen ist und sie allesamt umfasst. Erst in der Polis kann der eigentliche Zweck aller Vergemeinschaftung, die ›Selbstgenügsamkeit‹ (›autarkeia‹), verwirklicht werden. Nur in ihr vermag schließlich auch der Mensch, als ein von Natur zur politischen Gemeinschaft strebendes Wesen (›zoon politikon‹) sich selbst zu verwirklichen. Anders als Platon lässt Aristoteles die untergeordneten Formen der Gemeinschaft, insbes. Familie, Haushalt usw. in ihrer relativen Selbständigkeit und Eigenart bestehen. Das Prinzip der Polis ist nicht die Einheit, sondern die gegliederte Vielheit, erklärt er in seiner Kritik an der platonischen Gütergemeinschaft. 10 Wenngleich Familie und Haushalt historische Voraussetzung und zugleich Bestandteile der Polis sind, und deren Untersuchung daher auch mit jenen ihren Ausgangspunkt zu nehmen habe, dürfe doch die Hausverwaltung (oikonomia) nicht mit der P. verwechselt werden, ebenso wenig wie die Beziehungen der Menschen in Familie und Haushalt mit denen in der Polis. Jeder vollständige Haushalt (oikos) bestehe aus Freien und Sklaven, ihre Beziehungen zueinander seien notwendigerweise Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse. Die Polis hingegen bestehe aus Freien, die demnach auch prinzipiell als Gleiche gelten müssten. Die Herrschaft im Hause sei daher sowohl inhaltlich als auch der Form nach von der Regierung in der Polis zu unterscheiden. Während die Herrschaft über Sklaven ihrem Wesen nach unbeschränkt sei (despoteia), sei die Regierung über Freie (arche) notwendig begrenzt und nur in Form von Gesetzen zulässig. 11 Das gegenüber Platon grundlegend neue, Philosophie und Wissenschaft verbindende Moment der aristotelischen Politik ist die Verknüpfung der ethisch-politischen Fragestellung nach der ›guten Ordnung‹ des Staates mit den konkreten, empirisch-›soziologischen‹ Voraussetzungen der jeweiligen Polis-Gesellschaft. Daher kommt Aristoteles bei seiner Untersuchung der Verfassungen und Gesetze auch nicht zu der einen besten Staatsform, sondern gleich zu mehreren, die er

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schließlich zu einer Typologie erweitert. Je nachdem die oberste Regierungsgewalt (Souveränität) in den Händen eines einzelnen, von wenigen oder des ganzen Volkes liegt, gibt es folgende Verfassungsformen: ›Königtum‹, ›Aristokratie‹, und ›Politie‹; sie sind alle drei, je nach den konkreten Umständen, ›gute‹ Staatsformen, weil in ihnen das ›Gemeinwohl‹, die ›Glückseligkeit aller‹ oder die ›Autarkie‹ als oberster Zweck herrscht. Jede dieser drei zunächst bloß nach einem quantitativen Kriterium unterschiedenen Formen kann ›entarten‹, das Königtum zur ›Tyrannis‹, die Aristokratie zur ›Oligarchie‹ und die Politie zur ›Demokratie‹. Dies ist stets dann der Fall, wenn der Zweck des Staates nicht mehr das Gemeinwohl, sondern der besondere Nutzen der jeweils Herrschenden (eines Einzelnen, der ›Reichen‹ oder der ›Armen‹) ist. Erwähnt sei, dass Aristoteles verschiedentlich die Tyrannis oder auch die beiden anderen ›schlechten‹ Staatsformen, weil eigentlich ohne Verfassung und also eher Despotien, aus dieser Typologie ausschließt. Aristoteles unterscheidet zwar nicht systematisch, aber doch an vielen Stellen eindeutig zwischen ›Herrschaft‹ und ›Regierung‹; letztere ist eine Beziehung zwischen Freien und Gleichen oder doch zumindest ›Ähnlichen‹ (›homoioi‹); insofern entspricht die Unterscheidung der ›guten‹ und der ›schlechten‹ Staatsformen etwa dem Unterschied von ›Regierungsformen‹ und ›Herrschaftsformen‹; dabei ist für Aristoteles’ Wertung meistens die Frage der Existenz oder Nichtexistenz einer gesetzlichen Ordnung entscheidend. 2.1.2 Hellenismus und römisches Reich (Polybios, Cicero, Augustinus) Mit dem Untergang der Polis als Staatstyp (Stadtstaat) und der Entstehung der großen Territorialstaaten oder Weltreiche (Makedonien, hellenistische Staaten, Rom) geht die gesamte Polis-Kultur und damit auch die klassische Phase der P. als Wissenschaft zu Ende. »Nach Aristoteles ist uns aus der griech. Antike keine zusammenhängende Abhandlung zur P. mehr überliefert. Zenons und Diogenes’ Bücher unter dem Titel Politeia sind verloren, ebenso Dikaiarchs politische Schriften. Obwohl die hellenistische Philosophie nur bruchstückhaft überliefert ist, scheint klar zu sein: Die Problematik von Polis und Bürger-Leben war im wesentlichen durchgespielt, und eine umfassende politische Theorie der monarchisch regierten Reiche ist nicht

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gelungen, vielleicht auch nicht versucht worden.« 12 Dennoch erschien das Dasein in den neuen Großstaaten keineswegs problemlos, und der Verlust der Orientierung an den Normen und Werten der Polis wird in der hellenistischen Philosophie (Stoa, Epikureer, Skeptiker) durchaus als moralisch-ethische Krise des auf sich selbst zurückgeworfenen Individuums reflektiert. Daneben gibt es immerhin Ansätze zu einer Staats- bzw. Gesellschaftstheorie, insbes. in der älteren Stoa (Zenon) und auch bei Epikur. 13 Die röm. Republik hat eine gewisse Belebung des politischen Denkens hervorgebracht. Von Bedeutung ist der Historiker Polybios, der in seiner ›Weltgeschichte‹ (Historien) den Aufstieg Roms zum Weltreich zur Aufhaltung des Zerfalls der hellenistischen Kultur als historisch notwendig zu legitimieren suchte. Theoriegeschichtlich wirksam wurde Polybios mit seiner These von der gesetzmäßigen Zyklizität der Staatsformen, die bei ihm mit dem Auf- und Abstieg eines Staates und einer Kultur verbunden ist. Als beste Verfassung, mit den meisten Chancen, den staatszerstörerischen Folgen der Zyklizität zu entgehen, sieht er eine Mischverfassung aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie an, wie er sie im republikanischen Rom vorzufinden glaubte. 14 Die erste staatstheoretische Schrift in lat.r Sprache ist Ciceros Über den Staat (De re publica). Auch Cicero geht es darum, die Mischverfassung der Republik als die dem röm. Imperium angemessenste Staatsform darzustellen. ›Ausgeglichenheit‹, ›Sicherheit‹ und ›Eintracht der Stände‹ als besondere Leistung der Mischverfassung, – darin besteht eine theoriehistorische Traditionslinie von Aristoteles, über Polybios und Cicero bis zu Montesquieu. Die röm. Kaiserzeit bot nicht viel Gelegenheit zu politischer Theoriereflexion; nicht einmal eine Theorie der Monarchie wurde entwickelt, weil der Übergang von der Republik zum Prinzipat bewusst als bloße Modifikation der republikanischen Staatsform verschleiert worden war. Eine gewisse Berücksichtigung politischer Fragestellungen findet sich in der frühen Kaiserzeit allenfalls bei dem Historiker Livius und im Rahmen von Untersuchungen zur Ethik bei Seneca. Historisch am Ende des röm. Reiches steht mit Augustinus der erste christliche Autor, der sich den Problemen der P. und des Staates ausführlich widmet. Mit seinem Werk Vom Gottesstaat (De Civitate Dei) versuchte er »das christliche Denken aus der Verbindung mit dem

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politischen Rom [zu] lös[en] und damit jeder Art von politischer oder Ziviltheologie den Boden (zu entziehen). Er will zeigen, das die civitas dei als Gemeinschaft der von Gott Erwählten auf irdische Reiche nicht angewiesen ist.« 15 Augustinus unterscheidet zwei Gemeinwesen, den ›irdischen Staat‹ (›civitas terrena‹) und den ›Gottesstaat‹ (›civitas dei‹). Beide ›Reiche‹ existieren nebeneinander, und die Menschen können beiden zugleich angehören. Das ›Heil‹ für die Seelen ist dem ›Gottesstaat‹ vorbehalten. Zur Sicherung ihres physischen Lebens sind die Menschen aber auf den ›irdischen Staat‹ angewiesen. Daher war das politisch-praktische Resultat der augustinischen ›Zweireichenlehre‹, trotz ihres anti-politischen 16 Grundzugs, die Anerkennung der faktischen Autorität des ›irdischen‹ Staates wie der bestehenden ›irdischen‹ Herrschaftsverhältnisse, selbst noch der Sklaverei, der Herrschaft des Mannes über die Frau usw. 17 Hiermit war die politisch-theologische Voraussetzung geschaffen für die Fortwirkung des Christentums als Institution ›Kirche‹ neben den ›weltlichen Mächten‹ und als Herrschaftslehre des aufkommenden Feudalsystems. 2.2 Staat und Kirche im Mittelalter (Thomas von Aquin, Marsilius von Padua) Das Verhältnis von Kirche und Staat, von Papsttum und Kaisertum, war das große Thema der mittelalterlichen P. Das Karolingerreich hatte eine gewisse Symbiose beider Institutionen zustande gebracht, die später das sog. Hochmittelalter, die ›Blütezeit des Lehnswesens‹, vom . bis zum . Jh. ermöglichte. Kaisertum und Papsttum bildeten eine – wenngleich widersprüchliche – Einheit, die in dem christlich-mittelalterlichen Reichsbegriff zum Ausdruck kommt, mit dem allerdings nur mühsam und vorübergehend der Dualismus der augustinischen Zweireichen-Lehre verdeckt werden konnte. Mit dem ›Investiturstreit‹ (. Hälfte des . Jh.) und vergleichbaren Vorgängen in Frankreich und England kam es dann zu den großen Auseinandersetzungen um die Hegemonie zwischen Kaisertum, Königtum und Papsttum. Spätestens im . Jh. schien das Papsttum endgültig den Sieg davongetragen zu haben. Die politische Macht des Kaisertums war nach dem Tode Friedrichs II. () gebrochen, die westeuropäischen Königtümer waren, zwar aufstrebend, noch nicht auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung begriffen und mit inneren Autoritätsstreitigkeiten

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beschäftigt, so dass die Kirche ihren hierokratischen Anspruch auf universelle Oberhoheit nunmehr unübersehbar anzumelden gedachte. »Innozenz IV. verkündet, dass der Papst eine generalis legatio besitze, die sich auf alle menschlichen Unternehmungen erstrecke und ihm erlaube, Befehle zu erteilen, wann immer er wolle. Er habe im besonderen das Recht, zu binden, und zwar nicht nur alle Dinge, sondern auch alle Menschen, den Kaiser inbegriffen. Durch seine Auslegung des Bibelverses super gentes et regna unterstreicht er, dass der Papst nicht nur über den Nationen, sondern auch über den Königreichen und Königen steht«. Wenig später wurde gar die Lehre von der Trennung und Gegenüberstellung zweier Gewalten (Gewaltenteilung) – der geistigen und der weltlichen – als manichäische Häresie verdammt. 18 Freilich waren die spezifischen Mittel des Papsttums nicht primär ›materieller‹ (oder gar militärischer), sondern vorwiegend ›geistiger‹ Natur. Die scholastische Theologie erreichte mit Albertus Magnus und seinem Schüler Thomas von Aquin in diesem Zeitraum ihren unbestrittenen Höhepunkt, und dies v. a. deshalb, weil die Scholastiker begonnen hatten, sich in der Auseinandersetzung mit inner-christlichen Häresien wie auch mit ihren islamischen Widersachern, etwa in Spanien, der klassischen Philosophie, insbes. des Aristoteles, zu bedienen. Die ›Taufe‹ des Aristoteles durch Thomas von Aquin hatte auch für das politische Denken des Hoch- und Spätmittelalters erhebliche Folgen. Nicht nur die antiken Quellen waren mit allerhöchster Autorität wieder zugänglich geworden, sondern nunmehr stand ein umfangreiches, bisher weitgehend unbekanntes intellektuelles Arsenal an empirischer und historischer Erfahrung sowie an theoretischen Kategorien zur Verfügung, mit denen u. a. auch die gesellschaftliche Wirklichkeit erforscht und gedeutet werden konnte. Thomas hatte in seinen Aristoteles-Kommentaren wie in seinem theologischen System der Ethik, Ökonomik und P. einen relativ selbständigen Platz eingeräumt, so dass sich hieran überhaupt erst einmal eigenständige theoretische Bemühungen anschließen konnten. Auf dieser Basis wurde die in der Antike schon angelegte Theorie des Naturrechts wiederbelebt und systematisch entwickelt; ebenso die ›Fürstenspiegel ‹, die von Thomas u. a. als kirchliches Disziplinierungsinstrument gegenüber den weltlichen Herren konzipiert waren. Die scholastische Instrumentalisierung der Vernunft hat allerdings im Zusammenhang mit der Krise des Feu-

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dalsystems und den neu aufstrebenden bürgerlichen Schichten in den Städten eine ungeahnte Subversivkraft des Vernünftigen offenbart, die sich schließlich gegen ihre irrationalistische Zweckentfremdung, deren höchster Ausdruck die Inquisition gewesen ist, selbst kehrte. Gegen die Hegemonie des Papsttums richtete Marsilius von Padua seine flammende Kampfschrift Der Verteidiger des Friedens (Defensor pacis). Sie enthält die Proklamation der politischen und geistigen Unabhängigkeit der italienischen Stadtrepubliken und anderer Staaten und sie ist damit – obwohl Kaiser Ludwig dem Bayern gewidmet – gegen die alte Reichsidee überhaupt gerichtet. Marsilius sieht, wie später auch Hobbes, in den politischen Machtansprüchen der Kirche die Hauptursache allen Unfriedens in der Welt. Mit der Überordnung des Staates über die Kirche gilt er als der ›erste Theoretiker des laizistischen Staates‹. 19 2.3 Politik in der Neuzeit: Der Nationalstaat 2.3.1 Staatsgründung, Souveränität und Gewaltmonopol (Machiavelli, Bodin, Hobbes) Die politische Theorie der Neuzeit ist nicht weniger ein Kind der Krise als die antik-klassische P.theorie. Die Krise der oberitalienischen Stadtrepubliken im ., die französischen Konfessionskriege des ., wie die englische Revolution des . Jh. kennzeichnen in ihrem jeweiligen historisch-geografischen Rahmen frühe Etappen des Übergangs vom Feudalsystem zum modernen Staatstyp, dem Nationalstaat. Seine Gründung und Rechtfertigung ist der Hauptgegenstand der P. und der politischen Theorie des . bis . Jh. in Europa. Machiavelli gilt allgemein als Begründer der modernen politischen Wissenschaft. Dabei werden im italienischen Text seiner Schrift Il Principe (Der Fürst) die Wörter ›politica‹ oder ›politico‹ nicht ein einziges Mal verwendet. Er spreche vielmehr bewusst von ›arte dello stato‹, also von ›Staatskunst‹, was etwas anderes sei als P., nämlich ›die Technik der Gewinnung und Bewahrung von Herrschaft‹ (Sternberger). Sternberger verkennt allerdings, dass es Machiavelli nicht um Herrschaft als Selbstzweck, sondern um die Gründung eines Staates, ja eines neuen Staatstyps zu tun ist, die in der bisherigen Geschichte niemals ohne List und Gewalt sich vollzogen hat, und dass daher die Reflexion

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dieser Phänomene notwendiger Bestandteil des politischen Denkens in solchen Phasen des politischen Formwechsels sein musste. Machiavelli hat seinen Interpreten zahlreiche Rätsel aufgegeben; als eines der größten Rätsel aber ist den meisten erschienen, dass der Autor des Fürsten nahezu gleichzeitig unter dem Titel Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (dt. Discorsi: Gedanken über die P. und Staatsführung) ein inhaltlich scheinbar gegensätzliches Werk verfasst hat. Dieser ›Gegensatz‹ wird jedoch relativiert, wenn man sich nicht so sehr auf das bisweilen brutale und zynische Moment in Machiavellis Ratschlägen an den Fürsten konzentriert, sondern sich sein eigentliches Ziel vor Augen hält: die Gründung eines italienischen ›Nationalstaates‹. In diesem Ziel stimmen der Schluss des Fürsten mit dem Beginn der Discorsi völlig überein. 20 Die Gründung eines neuen Staates kann sich naturgemäß nicht im Rahmen der bestehenden Ordnung vollziehen. Von daher ist sie vom Standpunkt des alten Staates stets ein Verbrechen. Machiavelli war durch eigene Erfahrung als ›Außenpolitiker‹ der Republik Florenz und dem Studium klassischer Texte zu der Überzeugung gelangt, »dass der, welcher einem Staatswesen Verfassung und Gesetze gibt, davon ausgehen muss, dass alle Menschen schlecht sind und dass sie stets ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben«. 21 Aus alledem ergab sich für ihn die Zweitrangigkeit moralischer Bedenken gegenüber den einzelnen Handlungen eines Staatsgründers; entscheidend sei vielmehr der Erfolg. In den Discorsi knüpft Machiavelli aber klare Bedingungen an die Legitimität des Erfolgs eines Staatsgründers. Nur wer nicht eigensüchtige Herrschaftsinteressen verfolge, sondern dem ›Allgemeinwohl‹, dem ›gemeinsamen Vaterland‹ diene, wer die Gewalt also nicht missbrauche, um zu zerstören, sondern gebrauche, um ›aufzubauen‹, dem werde man auch die unmoralische Tat entschuldigen. 22 Die These, dass der Zweck die Mittel heilige, war zu allen Zeiten problematisch; sie mag unter den historischen Bedingungen Italiens im frühen . Jh. nicht ganz ohne Recht gewesen sein; spätestens nach den Erfahrungen des . Jh. muss sie als endgültig diskreditiert gelten. In einer historisch und politisch anderen Situation befand sich wenige Jahrzehnte später der Franzose Jean Bodin, der mit seiner Theorie der Souveränität als der klassische Theoretiker des absoluten Staates gilt. Bodins Theorie reflektiert die Erfahrung, dass mit der Herausbildung

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eines einheitlichen Territorialstaates noch keineswegs alle partikularistischen Reste und Ansprüche des zu Ende gehenden Feudalismus beseitigt waren. Die ›Religionskriege‹ um die Mitte des . Jh. in Frankreich stellten eine große Gefahr für die Existenz des Einheitsstaates dar. Zu seiner Verteidigung sind in dieser Epoche eine Gruppe von Intellektuellen (Juristen) angetreten, die sich alsbald den Schimpfnamen ›Les Politiques‹ zuzogen. Sie sprachen sich im Interesse der Einheit für das Prinzip der Toleranz und der religiösen Neutralität des Staates aus; damit sind sie zu den ersten Propagandisten der Trennung von Kirche und Staat geworden. Jahrzehnte vor Hobbes haben sie aus einer vergleichbaren Lage – gegen die Monarchomachen (Bekämpfer des legitimen Königtums) jeglicher Provenienz – die Forderung nach einem starken Staat (Monarchie) aus der Notwendigkeit der Überwindung des Bürgerkriegs und dem Bedürfnis nach innerem Frieden und Sicherheit abgeleitet. In seinem umfangreichen Hauptwerk Sechs Bücher über den Staat (Les Six livres de la République) hat Bodin, der theoretische Kopf der ›Politiques‹, diese Forderungen mit dem gelehrten Rückgriff auf die antike wie mittelalterliche (christlich-scholastische) Literatur zu begründen versucht. In mancher Hinsicht scheint er damit bisweilen hinter Machiavelli zurückzufallen. Bodins spezifische Modernität zeigt sich aber nicht nur in der expliziten Begründung des Souveränitätsbegriffes, sondern in dessen Verknüpfung mit der staatlichen Funktion des Schutzes des bürgerlichen Eigentums, womit er zum Vorläufer so ausgesprochen modern-bürgerlicher Staatsdenker wie Hobbes und Locke wird. Einerseits erscheint der Staat als Rechtsordnung (Rechtsstaat), wodurch er sich allererst von einer »Räuberbande« (Augustinus) unterscheide. Andererseits stehe aber die souveräne Gewalt des ›Fürsten‹ als höchste Gewalt auf Erden nicht nur über den Lehnsherren und Ständen, sondern notwendigerweise auch über dem Gesetz, das sich ja erst aus ihr herleiten ließe. Der souveräne ›Fürst‹ kann daher Gesetze jederzeit suspendieren, ändern usw. Ist die Souveränität in diesem weltlichen Sinne ›absolut‹, so unterliegt sie nach Bodin doch dem »Gesetz Gottes und der Natur«. Der wohlgeordnete, an der Gerechtigkeit orientierte Staat, um den es ihm geht, hat die Pflicht, diese höheren Gesetze, zu denen auch das Eigentumsrecht gehöre, zu achten. »Ist folglich der souveräne Fürst nicht befugt, die

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Grenzen der Naturgesetze und des Gesetzes Gottes, dessen Ebenbild er ist zu überschreiten, so hat er auch nicht die Befugnis, fremdes Eigentum ohne vernünftigen rechtfertigenden Grund zu entziehen.« 23 Absolute Souveränität des ›Fürsten‹, d. i. des Staates, und privates Eigentumsrecht schließen sich bei Bodin daher nicht nur nicht aus, sondern bilden einen unmittelbaren Zusammenhang. Mehr noch als für Bodin ist für Thomas Hobbes der politischen Ordnung, also v. a. die Vermeidung des Bürgerkriegs das große, wenn nicht das einzige Thema der politischen Philosophie. Seine These wie ihre Begründung ist ebenso einfach wie problematisch: Nur der Staat vermag den Bürgerkrieg zu verhindern. Damit der Staat dies aber auch tatsächlich leisten kann, muss er stärker sein als jeder seiner Bürger. Der Preis, den die Bürger für den inneren Frieden zu zahlen haben, ist ihre politische Machtlosigkeit gegenüber dem Staat. Hobbes’ Furcht vor dem Bürgerkrieg ist so stark, dass er empfiehlt, lieber die schlimmste Tyrannei hinzunehmen, als Widerstand gegen den Staat zu leisten. Schon mit seiner Fragestellung stellt Hobbes die gesamte bisherige politische Philosophie gewissermaßen auf den Kopf: Nicht das Glück der Menschen, nicht der ›gute‹, ›gerechte‹ usw. Staat ist ihr vornehmster Gegenstand, sondern das Verhindern des größten aller Übel, des Bürgerkriegs. Nicht weniger ›revolutionär‹ als die Fragestellung sind Methode und Inhalt von Hobbes’ Argumentation. Hobbes versuchte seiner ›more geometrico‹ entwickelten Argumentation dadurch zwingenden Charakter zu verleihen, dass er seiner Auffassung nach ›unbezweifelbare Prämissen‹ voraussetzte (gewissermaßen als ›Axiome‹ der politischen Wissenschaft, die er gleichwohl in systematisch vorhergehenden Arbeiten Vom Körper, Vom Menschen sorgfältig zu begründen suchte). Dazu zählte v. a. seine Auffassung von der Natur des Menschen und dem daraus hervorgehenden gesellschaftlichen Naturzustand. Hobbes fasst die menschlichen Individuen als egoistische, sich nur nach ihrem eigenen Vorteil richtende Wesen auf, deren natürliches Verhältnis zueinander sich als »Krieg aller gegen alle« darstellt. 24 Dieser Krieg komme v. a. deshalb nicht zum Stillstand, weil die Menschen nach Hobbes ihrer Natur nach sowohl in körperlicher als auch in geistiger Hinsicht gleich sind, und somit keiner endgültig als Sieger feststeht. »In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann; und folglich gibt es keinen

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Ackerbau, keine Schifffahrt, [. . . ], keine bequemen Gebäude, [. . . ], keine Künste, keine Literatur, keine gesellschaftlichen Beziehungen, und es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes – das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz.« 25 Allein um dieser Lage zu entrinnen sind die Menschen bereit, auf ihr »natürliches Recht auf alles« (Naturrecht) zu verzichten und mit anderen Verträge einzugehen (Gesellschaftsvertrag), in denen sie sich wechselseitig Rechte und Pflichten übertragen und ihr Leben und Eigentum garantieren. Im »reinen Naturzustand« bleiben aber solche Verträge stets ungesichert. Es bedarf also einer den Vertragspartnern übergeordneten Gewalt, die das Recht und die Macht besitzt, beide Partner zur Einhaltung des Vertrages zu zwingen und damit für eine Friedensordnung zu sorgen, in der allein sich eine prosperierende bürgerliche Gesellschaft entfalten könne – eine solche, allen übergeordnete Gewalt ist der Staat. 26 Wie aber soll der Staat als übergeordnete Macht konstituiert werden? Jeder Versuch, ihn aufgrund eines Vertrages zwischen dem Volk und einem Herrscher als konstituiert zu denken, führt nach Hobbes unvermeidlich zu einem regressus in infinitum, bedarf doch auch dieser Vertrag wieder einer ›übergeordneten Macht‹, um wirksam zu sein, usf. Logisch einwandfrei kann das Konstitutionsproblem des Staates nach Hobbes einzig durch die Form eines ›Begünstigungsvertrages‹ (Fetscher) gelöst werden. »Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen [. . . ], liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können. [. . . ] Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, dass du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat«. 27 Die durch

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diesen Vertrag aller mit allen begünstigte Person oder Versammlung wird somit zum Souverän, alle anderen aber zu dessen Untertanen. Der Souverän entscheidet über die Gesetze (›Befehle‹), wie über die Rechtsprechung, über Frieden und Krieg mit anderen Völkern, wie über die Höhe und Verausgabung der Steuern; und selbst über die »Meinungen und Lehren«, die dem Volk gelehrt, die Bücher, die veröffentlicht werden sollen (Zensur); »denn die Handlungen der Menschen entspringen ihren Meinungen, und eine gute Lenkung der menschlichen Handlungen, die Frieden und Eintracht unter ihnen bewirken soll, besteht in einer guten Lenkung ihrer Meinungen.« 28 All diese Rechte des Souveräns ergeben sich aus dem ›Begünstigungsvertrag‹, mit dem der Staat gegründet worden ist. Wenn der Staatszweck erreicht werden soll, ist jeder einzelne verpflichtet, alle Handlungen und Befehle des Souveräns als eine eigenen anzusehen; jeder Widerstand ist in sich widersprüchlich und muss als Unrecht begriffen und entsprechend behandelt werden. Die Souveränität findet ihre Grenzen allerdings notwendig in dem Zweck, zu dem der Staat gegründet wurde. Erweist der Souverän sich nicht in der Lage, den Frieden zu sichern, und d. h. v. a. das Leben der Untertanen zu schützen, ist niemand zum Gehorsam verpflichtet. 29 2.3.2 Gewaltenteilung oder Politik als Klassenkompromiss (Locke, Montesquieu) John Locke hat man als den Theoretiker der ›glorreichen‹ Revolution von  bezeichnet. 30 Wie diese ›Revolution‹ in ihrem Kern nichts anderes war als die endlich gefundene Kompromissformel zur Beilegung des Konflikts zwischen den beiden, gegen Ende des Jh. sozial weitgehend angenäherten Hauptkontrahenten des englischen ›Bürgerkriegs‹, so Lockes Konzeption der auf der Basis einer Philosophie des bürgerlichen Eigentums formulierte Kompromiss zwischen Monarchie und Parlamentarismus. Lockes politisches Hauptwerk Zwei Abhandlungen über die Regierung (Two Treatises of Government) erschien ; es war lange zuvor im holländischen Exil konzipiert und geschrieben worden. Beide Abhandlungen sind von historisch ganz unterschiedlicher Bedeutung. Die erste ist als Kampfschrift gegen Robert Filmer gerichtet, einen Apologeten des Stuartschen Absolutismus; sie ist wegen ihrer ausschließlich

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zeitgeschichtlichen Bezüge heute kaum noch von Belang. Die zweite Abhandlung hingegen, ist trotz ihrer ›tagespolitischen‹ Hauptaufgabe, der Legitimation der ›Glorious Revolution‹, eine der Hauptquellen der politischen Theorie des Liberalismus geworden. Jedenfalls ist sie das erste Werk in der Geschichte der politischen Theorie, in dem der Schutz des privaten Eigentums ausdrücklich als der eigentliche Staatszweck bezeichnet wird. »Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist [. . . ] die Erhaltung ihres Eigentums.« 31 Diesem »großen Ziel« sei nicht nur die staatliche Ordnung im allgemeinen, sondern auch die Gesetzgebung im besonderen und die konkrete P. im einzelnen unterzuordnen. Vor allem aber dürfe die Staatsgewalt niemals, weder als Legislative noch als Exekutive, das Eigentum des ›Volkes‹ antasten. Ein solcher Vorgang, bei Hobbes als Möglichkeit im Einzelfall nicht ausgeschlossen, ist nach Locke in jedem Falle illegitim und rechtfertigt den Widerstand, weil er dem eigentlichen Staatszweck entgegenstehe. Das hier mit einem ausdrücklichen Widerstandsrecht ausgestattete ›Volk‹ ist damit freilich beschränkt auf die Klasse(n) der Eigentümer, es umfasst keineswegs die besitzlose Masse der Land- und Manufakturarbeiter, die schon zu Lockes Lebzeiten weit mehr als die Hälfte der englischen Bevölkerung ausmachten. Ein Staat kommt zustande, wenn eine »Anzahl von Menschen darin eingewilligt hat, eine einzige Gemeinschaft oder eine Regierung zu bilden«, wodurch sie »einen einzigen Körper« erzeugt hat, »in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen mitzuverpflichten.« 32 Anders als bei Hobbes hat die Staatsgründung bei Locke nicht den Charakter eines ›Begünstigungsvertrages‹, sondern eher den einer »Treuhänderschaft«. 33 Damit bleibt die Souveränität letztlich beim ›Volk‹, d. h. den Eigentümern, das jedoch als ›einziger Körper‹ nur handeln kann, wenn das Mehrheitsprinzip gilt. Das Mehrheitsprinzip ist nach Locke freilich mit den verschiedensten Staatsformen (Monarchie, Oligarchie, Demokratie oder auch Mischformen) zu vereinbaren, entscheidend ist hierbei nur, dass die Mehrheit sich für eine dieser Formen entschieden hat. Die einmal gewählte Staatsform muss dann aber – wenigstens unter normalen Bedingungen, d. h. außerhalb des Widerstandsfalls – als »geheiligt und unabänderlich« beibehalten werden. Die Staatsformen unterscheiden sich nach Locke durch die spezifische

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Organisation der Staatsgewalt 34, die in sich funktionell gegliedert ist, in gesetzgebende, vollziehende, föderative (nach Außen, über Frieden und Krieg, Bündnisse usw. entscheidende) Gewalt; daneben besteht noch die ›Prärogative‹, eine Art Notverordnungsrecht der Exekutive, das diese jedoch ausschließlich zum ›Wohl der Gesellschaft‹ einsetzen darf. Entscheidend für die Staatsform ist die Organisation der Legislative, als der höchsten Staatsgewalt. Die Notwendigkeit der Gewaltenteilung oder einer ›ausbalancierten Regierungsgewalt‹ ergibt sich nach Locke aus den Schwächen der menschlichen Natur, es wäre eine »zu große Versuchung, wenn dieselben Personen, die die Macht haben, Gesetze zu geben, auch noch die Macht in die Hände bekämen, diese Gesetze zu vollstrecken« 35. In »wohlgeordneten Staaten« – wozu Locke v. a. die »gemäßigten Monarchien« zählt 36 – ist daher die gesetzgebende von der vollziehenden Gewalt getrennt. Lockes Schriften zählten im . Jh. zu den meistgelesenen und wohl auch historisch einflussreichsten Werken der philosophischen und politischen Literatur. Als der theoretisch einflussreichste Propagandist des englischen Regierungsmodells nach Locke gilt Charles-Louis de Montesquieu. Sein Ruhm »gründet sich auf einen ebenso wichtigen wie schmalen Ausschnitt« aus seinem Hauptwerk Vom Geist der Gesetze (De l’Esprit des Lois), »auf die Würdigung der englischen Verfassung im sechsten Kapitel des elften Buches, in dem die Gewaltenteilung dargelegt und zur Forderung erhoben wird. [. . . ] Über der fast ausschließlichen Zentrierung des Interesses auf dieses Kapitel ist das Gesamtwerk in einem Grade vernachlässigt worden, dass man ohne große Übertreibung feststellen kann: der Esprit des Lois gehört zu den zwar bekanntesten, aber am wenigsten gelesenen Büchern der Weltliteratur.« 37 Theoriegeschichtlich und politisch-praktisch wirksam wurde Montesquieu eben v. a. mit seiner Interpretation der zeitgenössischen englischen Verfassung als eines Systems der Gewaltenteilung – auch wenn ausgerechnet diese Deutung – oder was man dafür hielt – von den meisten Kennern der Materie als sachlich unzutreffend angesehen wird. Tatsächlich unterscheidet Montesquieu »in jedem Staat [also nicht nur in England] [. . . ] drei Arten von Gewalt«, gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt. Die Freiheit, ja »alles wäre verloren, wenn derselbe Mensch oder die gleiche Körperschaft der Großen, des Adels oder des Volkes diese drei Gewalten ausüben würde: die

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Macht, Gesetze zu geben, die öffentlichen Beschlüsse zu vollstrecken und die Verbrechen oder die Streitsachen der einzelnen zu richten.« 38 Montesquieu wendet sich also gegen die Vereinigung oder Zentralisierung der Staatsgewalt, die er für ein Merkmal des Despotismus hält. Andererseits kann aber von einer strikten Trennung der Gewalten bei ihm nicht gesprochen werden. Schon die Rede von den drei Gewalten ist in gewisser Hinsicht problematisch, weil die richterliche für Montesquieu eigentlich keine ›Gewalt‹ sein sollte; sie sei als Gewalt »in gewisser Weise gar nicht vorhanden«, da die Urteilssprüche »niemals etwas anderes sind als eine genaue Formulierung des Gesetzes [. . . ] Es bleiben also nur zwei übrig«. 39 Auch die beiden ›echten‹ Gewalten sind bei ihm auf vielfältige Weise ineinander verflochten. Der Exekutive wird ein Vetorecht gegenüber der Legislative eingeräumt, die Legislative kann die Exekutive kontrollieren, indem sie »Rechenschaft über ihre Verwaltung« abzulegen verlangt usw. Es handelt sich hier keineswegs um ein logisch konstruiertes Modell, sondern um die Deskription, oder besser vielleicht: um die Präskription eines Systems, das Montesquieu aus der historischen Erfahrung destillierte und für besonders geeignet hielt, die Freiheit in einem großen Flächenstaat zu wahren. Allerdings ist Montesquieus Freiheitsbegriff nicht mit dem politischen Ideal des Bürgertums zu verwechseln, wie es später in der Französischen Revolution proklamiert worden ist. Es handelt sich vielmehr um ein ›seigneurales‹ Verständnis von Freiheit, das von der Existenz gesellschaftlicher Ungleichheit und aristokratischen Privilegien ausgeht, und diese mit der Forderung nach ›Freiheit‹ gegen den Zugriff des absoluten Königtums gerade zu bewahren sucht. Das gleiche gilt für Montesquieus Konzeption einer ›gemäßigten Regierung‹, der Mischverfassung, des ›Gleichgewichts‹ der Kräfte usw.; bei allen diesen Begriffen handelt es sich eher um politisch-›soziologische‹ Kategorien als um staatsphilosophische oder gar staatsrechtliche, d. h. es geht um die Ausbalancierung der politischen Macht zwischen den führenden Klassen (Hofadel, Amtsadel und Bürgertum) der Gesellschaft des Ancien Régime in Frankreich. 40 2.3.3 Die politische Revolution des Bürgertums (–) »Die Französische Revolution hat den Bereich des ›Politischen‹ ungeheuer ausgedehnt, auf breite Massen [. . . ], für die P. zu einer we-

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sentlichen Dimension ihrer sozialen Praxis geworden ist«. In gewisser Hinsicht ließe sich gar behaupten, die Französische Revolution habe »die P. als objektive Realität erfunden [. . . ], als unumgängliche Problematik, welche alle Mitglieder der nationalen Gemeinschaft anspricht, . . . «. 41 P. als »wesentliche Dimension«, »objektive Realität« und v. a. als »unumgängliche Problematik« der sozialen Praxis für »breite Massen« oder gar für »alle Mitglieder der nationalen Gemeinschaft« – das ist in der Tat eine historisch neue Qualität des Politischen, die seit der Französischen Revolution ein Grundtatbestand des gesellschaftlichen Lebens, zunächst nur in einigen wenigen fortgeschrittenen Ländern, spätestens am Ende des . Jh. aber praktisch weltweit geworden ist. Tatsächlich spielten die Volksmassen seit jeher eine Rolle in der P.; die Kämpfe zwischen ›Armen‹ und ›Reichen‹ in der athenischen Polis oder zwischen ›Plebejern‹ und ›Patriziern‹ in Rom sind nur prominente frühe Beispiele, deren Reihe sich beliebig verlängern ließe. Die entscheidende Frage ist, ob und inwieweit die Volksmassen sich in diesen sozial-politischen Aktivitäten ihres Charakters als Subjekt(e) der P. bewusst geworden sind. Diese Frage ist schlüssig wohl nur im Einzelfall zu beantworten und in vielen Fällen gewiss strittig. Es spricht vieles dafür, die Französische Revolution, auch im Vergleich zu vorausgegangenen historischen Ereignissen, wie etwa den frühbürgerlichen Revolutionen des . und auch noch der englischen Revolution des . Jh., trotz der Leveller- und Digger-Bewegung, als die eigentliche Geburtsstunde des politischen Bewusstseins der modernen Volksmassen zu betrachten. 42 Dabei war es wichtig, dass die vorrevolutionäre bürgerliche Kultur dieser Selbstbewusstwerdung der Massen durch die immanente Entwicklung ihrer eigenen anti-aristokratischen P.theorie vorgearbeitet hatte. ... Die Theorie der direkten Demokratie (Rousseau) In der großen politischen Theorie der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit spielte das eigentliche ›Volk‹, d. h. die Masse der ›freien‹, aber besitzlosen Unterschichten – von Sklaven, Leibeigenen u. ä. gar nicht zu reden – wenn überhaupt, dann zumeist eine passive oder gar negative Rolle. In der Regel wurden ihm als potenziellem Unruhestifter und/oder wegen angeblicher moralischer bzw. intellektueller

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Minderwertigkeit keinerlei oder nur geringe politische Rechte (Bürgerrechte) eingeräumt. Insofern machte es Epoche, wenn der Begriff des Volkes im politischen Sinne die Masse der Besitzlosen nicht mehr prinzipiell ausschließt und die Demokratie als Staatsform nicht mehr nur negativ besetzt wird. Dies ist erstmals ausdrücklich der Fall bei Rousseau. Allerdings war Rousseau keineswegs ein Theoretiker der besitzlosen Massen. In der Verteidigung bzw. Proklamation der sozialen Volksrechte bleibt er weit hinter den eigentlichen Vertretern dieser Volksschichten, wie etwa Müntzer, Winstanley oder später Babeuf zurück; diese gehören jedoch nicht so sehr in die Theoriegeschichte der P. als vielmehr in die des Sozialismus/Kommunismus. Obwohl Rousseau alles andere als ein praktischer Revolutionär war, hielt er – anders als etwa Locke – konsequent fest an den zentralen Prinzipien der neuzeitlich-bürgerlichen Staatstheorie: ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹. Damit geriet er freilich über die Grenzen des klassischen bürgerlichen Staats- und P.verständnisses hinaus und wurde zum Revolutionär in der politischen Theorie. In seiner geschichtsphilosophischen Schrift Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes) hatte Rousseau die Gesellschaft des Ancien Régime heftig kritisiert. Nicht in der ›Natur des Menschen‹, sondern in der Institution des Eigentums glaubte er die Hauptquelle aller gesellschaftlichen Übel entdeckt zu haben. Mit der Einführung des privaten Eigentums, die Rousseau als einen Akt der gewaltsamen Usurpation darstellt, entwickelt sich die gesellschaftliche Ungleichheit der Menschen. Die Gesellschaft spaltet sich in ›Arme‹ und ›Reiche‹, und es entspinnt sich zwischen ihnen ein allgemeiner ›Kriegszustand‹. Wenngleich in diesem Krieg ein jeder sein Leben riskiert, stellt er sich für die ›Reichen‹ doppelt ›unvorteilhaft‹ dar, denn sie haben außer ihrem Leben auch noch ihr Eigentum zu verlieren. Daher entwarfen sie den »ausgeklügelsten Plan, den jemals der menschliche Geist ausbrütete«: Sie erfanden den Staat, indem alle Mitglieder einer Gesellschaft sich wechselseitig verpflichteten, das Leben und das Eigentum eines jeden anderen nicht anzutasten und damit in ewigem Frieden miteinander zu leben. So zerstörten sie »unwiderruflich die angeborene Freiheit, setzten für immer das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit fest, machten

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aus einer listigen Usurpation ein unaufhebbares Recht und zwangen von nun an das gesamte Menschengeschlecht für den Gewinn einiger Ehrgeiziger zur Arbeit, zur Knechtschaft und zum Elend«. 43 Zwischen diesem – offenkundig gegen Locke gerichteten – pessimistischen Ende der Abhandlung über die Ungleichheit und Rousseaus politischem Hauptwerk Über den Gesellschaftsvertrag (Du contrat social ), in dem es um die Konstituierung einer politischen Gesellschaft geht, in der »jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor« 44, scheint eine unüberbrückbare Kluft zu bestehen. Tatsächlich handelt es sich bei Rousseaus Gesellschaftsvertrag in gewissem Sinne um eine Utopie, und er ist skeptisch gegenüber der Möglichkeit ihrer Realisierung, insbes. in den damals fortgeschrittenen Gesellschaften, in denen mit der großen Ungleichheit der Vermögen gleichzeitig die gesellschaftlichen Sitten verdorben worden sind. Voraussetzung für die Gründung einer politisch freien Gesellschaft ist nämlich ein möglichst geringer Grad an materieller Ungleichheit 45 und ein tugendhaftes Verhalten der Bürger (Patriotismus). 46 Schließlich kommt es noch auf die richtige Konstruktion des Staates selbst an, wenn die Freiheit aller Bürger dauerhaft gesichert werden soll. Es gibt für Rousseau unabänderliche Grundsätze, ohne die der Gesellschaftsvertrag »nichtig und wirkungslos« wäre. »Diese Bestimmungen lassen sich bei richtigem Verständnis sämtlich auf eine einzige zurückführen, nämlich die völlige Entäußerung jedes Mitgliedes mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes.« Der wesentliche Inhalt des Gesellschaftsvertrages besteht daher in dem folgenden Wortlaut: »Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.« Durch diesen Zusammenschluss aller mit allen entsteht der Staat als eine »sittliche Gesamtkörperschaft«, die aus den Individuen als ihren Gliedern besteht. 47 Der im Wortlaut des Gesellschaftsvertrages als »oberste Richtschnur« bezeichnete ›Gemeinwille‹ (volonté générale) ist der Souverän und als solcher unveräußerlich, unübertragbar und unteilbar. Der ›Gemeinwille‹ ist nichts anderes als der Wille des Volkes, insofern er sich auf die »gemeinsamen Interessen aller«, auf das »Wohl des Gemein-

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wesens« richtet. Er ist gewissermaßen der Wille des Volkes als eine einzige Person, als »gemeinschaftliches Ich« gedacht. Er hat daher stets das ›Gemeinwohl ‹ zum Inhalt und dieses ist zugleich das Wohl aller Einzelnen »weil es unmöglich ist, dass die Körperschaft allen ihren Gliedern schaden will . . . « Vom ›Gemeinwillen‹ zu unterscheiden ist der ›Gesamtwille‹ (la volonté de tous); er ist das unverbundene Aggregat des Willens aller einzelnen, insofern er sich auf deren Sonderinteressen als ›Privatmenschen‹ (›homme‹ im Gegensatz zum ›citoyen‹, dem einzelnen, der sich an der Gemeinschaft orientiert) bezieht. Unter den von Rousseau für den Gesellschaftsvertrag vorausgesetzten Bedingungen relativer Gleichheit der Gesellschaftsglieder und allgemeiner Tugendhaftigkeit kompensieren sich jedoch die vielen privaten Interessen wechselseitig und »so bleibt als Summe der Unterschiede [aller Sonderwillen] der Gemeinwille.« 48 Der wichtigste Akt des Gemeinwillens ist die Gesetzgebung. Sie erfolgt aufgrund der angedeuteten Prinzipien in öffentlicher Versammlung aller Glieder des Gemeinwesens nach gründlicher Diskussion schließlich durch Abstimmung, wobei im allgemeinen das Mehrheitsprinzip entscheidet. 49.Die wichtigsten Institutionen des Staates sind das Volk und die Regierung. Das Verhältnis beider zueinander ist im Prinzip einfach: das Volk ist der Souverän und die Regierung ist lediglich der vom Volk eingesetzte ›Geschäftsführer‹, der dafür zu sorgen hat, dass die Gesetze durchgeführt bzw. eingehalten werden. Die Regierung ist daher dem Volk unmittelbar verantwortlich und jederzeit abberufbar. Als ›Diener‹ des Souveräns darf der Wille der Regierung sich niemals gegenüber dem Volk verselbständigen. Dies ist eine Gefahr, die den Staatskörper von seiner Entstehung an zu zerstören droht. Gegen diese Gefahr hilft nur die institutionelle Stärkung des Souveräns durch regelmäßige Volksversammlungen. »In einem gut geführten Staat eilt jeder zu den Versammlungen«, denn sie sind das »Schutzschild der politischen Körperschaft und der Zaum der Regierung«, sie »waren zu allen Zeiten der Schrecken der Oberhäupter«. 50 In diesem Zusammenhang kommt Rousseau zu einer radikalen Kritik des Repräsentativsystems, die ihn über die Grenzen des bürgerlichen Demokratieverständnisses hinaustreibt. Wenn es z. B. infolge der Größe eines Landes nicht möglich sei, eine einzige allgemeine Volksversammlung einzuberufen, wählt das Volk Abgeordnete, die in seinem

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Auftrag die Gesetze beraten, keinesfalls aber beschließen. »Jedes Gesetz, dass das Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein Gesetz.« Die Abgeordneten sind daher keine Repräsentanten des Volkes; sie dürfen niemals an seine Stelle treten. »Die Souveränität kann aus dem gleich Grund, aus dem sie nicht veräußert werden kann, auch nicht vertreten werden; sie besteht wesentlich im Gemeinwillen, und der Wille kann nicht vertreten werden.« 51 Mit dem Modell einer direkten oder unmittelbaren Demokratie hat Rousseau nahezu alle Prinzipien vorformuliert, die in den nachfolgenden Volks- und Arbeiterrevolutionen mehr oder minder spontan durchzusetzen versucht worden sind. Er ist dafür auch als einer der theoretischen Begründer der »totalitären Demokratie« gescholten worden. 52 ... Die politische Revolution: Volksdemokratie und Jakobinismus »Ach wenn er [Rousseau] Zeuge dieser Revolution hätte sein können, deren Vorläufer er war, und die ihn zum Panthéon geführt hat! Wer könnte zweifeln, dass seine edle Seele mit Begeisterung die Sache der Gerechtigkeit und Freiheit vertreten hätte«, rief Robespierre in seiner Rede zum nationalen Fest des ›höchsten Wesens‹ kurz vor seinem Tode aus. Die Bedeutung, die Rousseau – oder auch andere hervorragende Vertreter der Aufklärung wie Montesquieu, Voltaire oder die Enzyklopädisten – für die Konstitution oder auch Legitimation der politischen Ideen einzelner ›Köpfe‹ oder auch ganzer ›Parteien‹ der Revolution hatten, ist unbestritten. Weniger bekannt war bisher ihr Einfluss auf das politische Bewusstsein des Volkes. »Die Popularität Jean-Jacques Rousseaus ist eine unbestreitbare Tatsache. Sie erklärt sich durch die Arbeit der ›kulturellen Vermittler‹: Pädagogen, Journalisten, politisch Aktiven, die überall durch Reden und Schriften die Ideen verbreitet haben, welche ihnen zur Sicherung des Gemeinwohls nützlich erschienen«, heißt es in einer neueren Untersuchung dass dabei »die Philosophie des Meisters [. . . ] einige Verfremdungen über sich (hat) ergehen lassen müssen« 53 leuchtet ein.

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... »Was ist der Dritte Stand?« oder Das Bürgertum als Nation (Sieyès) Dass dem Bürgertum – und nicht dem ›Volk‹ – die Souveränität gehöre, war allerdings schon zu Beginn der Französischen Revolution proklamiert worden. Dies schien sich im Verlaufe der Revolution – nach einem vorübergehenden ›Umkippen‹ (Furet) der Revolution auf die Seite des Volkes – bloß zu bestätigen. Das theoretische Manifest der Souveränität des Bürgertums hatte Sieyès mit seiner Flugschrift Was ist der Dritte Stand? (Qu’est ce que le Tiers Etat?) veröffentlicht. Der eigentliche Charakter der Schrift war eine gewisse Zeit dadurch verdeckt gewesen, dass Sieyès sich einerseits mit der Kategorie des ›dritten Standes‹ zunächst noch im System des ›Ancien Régime‹ zu bewegen und andererseits sich mit der Berufung auf Bauern, Handwerker, Kaufleute und Intellektuelle auf das ganze arbeitende Volk zu beziehen schien. Der ›dritte Stand‹ ist ihm identisch mit der bürgerlichen Gesellschaft und bildet damit eine vollständige Nation. Soweit schien Sieyès durchaus mit Rousseau übereinzustimmen, zumal er am Ende seiner Schrift vehement die absolute Souveränität (incl. des Rechts auf Verfassungsgebung, ›pouvoir constituant‹) jener Nation gefordert hatte. Die entscheidende Differenz liegt freilich darin, dass Sieyès im geraden Gegensatz zu Rousseau davon überzeugt war, dass die Souveränität als der ›Wille der Nation‹ nur durch das Prinzip der Repräsentation realisiert werden könne. Der Begriff der Repräsentation 54 wird nun das theoretische Einfallstor für die Identifikation des Bürgertums mit der Nation: »Alle können die Vorteile der Gesellschaft genießen, aber allein diejenigen, die zur öffentlichen Gewalt etwas beitragen, sind gleichsam die eigentlichen Aktionäre des großen gesellschaftlichen Unternehmens. Sie allein sind die wahren Aktivbürger, die wahren Glieder der Gesellschaftsverbindung.« 55 Obwohl diese Idee so wenig originell war wie die Formulierung selbst, bei Locke finden sich ähnliche Stellen, wurde Sieyès – der von sich einmal gesagt haben soll, »la constitution, c’est moi« (›die Verfassung bin ich‹) – zu einem der einflussreichsten ›Verfassungsväter‹ zu Beginn der Revolution (/) und an ihrem Ende ().

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2.4 Politik und Revolution in Deutschland Dass das deutsche Volk keine erfolgreiche politische Revolution zustande gebracht hat, ist vielfach als Grund für Deutschlands politische Misere in der ersten Hälfte des . Jh. angesehen worden. Tatsächlich aber liegt das Problem historisch weiter zurück, und die ›deutsche Misere‹ ist eher die Ursache für das Scheitern der bürgerlichen Revolution im . Jh. als dessen Folge. Reformation und Bauernkriege in Deutschland, nicht ohne Recht als ›frühbürgerliche Revolution‹ bezeichnet, erinnern daran, dass Deutschland zu Beginn der Neuzeit durchaus nicht das ökonomisch, politisch und kulturell rückständige Land in der Mitte Europas war, zu dem es dann in der Folge des jährigen Krieges bis ins . Jh. hinein werden sollte. Seit der Mitte des . Jh. beginnt mit dem ›aufgeklärten Absolutismus‹ eines Friedrich II. eine gewisse ›Modernisierung‹ der deutschen Gesellschaft und des Staates, v. a. in Preußen. In Berlin hatte sich im Gefolge der Aufklärung und nach den Erfahrungen der amerikanischen Revolution in den er Jahren ein zwar zahlenmäßig schwaches, aber intellektuell und politisch durchaus nicht einflussloses räsonierendes Publikum herausgebildet. Dort gedachte man, das ›neue Denken‹ auf dem Wege allmählicher, ›von oben‹ verordneter Reformen auch im Staat immer weiter zu verwirklichen. Mit dem Beginn der Französischen Revolution steht diese Gruppe, und darüber hinaus praktisch die gesamte bürgerliche Intelligenz Deutschlands, an der Seite der Franzosen. Dies änderte sich freilich mit der Radikalisierung der Revolution sehr rasch. Nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. schrumpfte die Zahl der Revolutionsanhänger merklich. Selbst die wenigen, die weiterhin, wenn nicht zu den Taten des französischen Volkes im einzelnen, so doch immerhin zu den Prinzipien der Revolution standen, wie der vorsichtige Kant und der radikale Fichte, waren davon überzeugt, dass die Ziele dieser Revolution in Deutschland auf friedlicherem Wege, mit Hilfe der ›Weisheit der Fürsten‹ (d. h. v. a. ihrer Berater und Beamten), also ›von oben‹, zu realisieren seien, als dies bei den angeblich so ›heftigen‹ Franzosen der Fall gewesen war. Unter dem Aspekt einer Begriffs- und Theoriegeschichte der P. muss der deutsche Beitrag zur Theorie der bürgerlichen Revolution gemessen und eingeordnet werden in den welthistorischen Prozess des Übergangs zur Demokratie. In diesem konkret-politischen Sinne bleibt

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selbst die große Philosophie der Epoche hinter ihrer selbstdefinierten Aufgabe – nämlich ihre Zeit und deren Möglichkeiten in Gedanken zu fassen – weit zurück. Die klassischen deutschen Philosophen haben in ihren besten Momenten gerade in der P. allenfalls das gedacht, was andere ihr vorgetan haben, sie haben der politischen Wirklichkeit aber keineswegs vorgedacht – wie etwa Rousseau. Davon ausgenommen sind freilich die herausragende Rolle, die Kant für die Idee des Rechts und des Rechtsstaats gespielt hat, und die Bedeutung seiner Schrift Zum ewigen Frieden für die Idee einer internationalen Friedensordnung, die bis in die Gegenwart wirkt. Entscheidend für die politische Entwicklung Deutschlands zu Beginn des . Jh. waren jedoch letztlich nicht so sehr die Ideen der Staatsreformer und Philosophen als vielmehr der von dem expansiven Frankreich ausgehende objektive ›Modernisierungsdruck‹. Für Deutschland war zunächst einmal wichtig die formelle staatsrechtliche Auflösung des alten Reiches, dessen desolater Zustand schon der junge Hegel in seiner Schrift über Die Verfassung Deutschlands beklagt und heftig kritisiert hatte. Dass sich Hegel mit der konstitutionellen Monarchie (Preußens) versöhnte und sie gar auf seine Weise zu begründen suchte, ist eine Tatsache, die jedoch vielfach missverstanden worden ist. Hegels Theorie der konstitutionellen Monarchie steht, wie ihr wohl schärfster Kritiker anerkennt, alles in allem selbst mit der europäischen Wirklichkeit der er/er Jahre noch »al pari« 56, denn Hegel war ein entschiedener Gegner der altständischen Verfassung, deren Kern das ›monarchische Prinzip‹ sein sollte. Bei allen ›Konzessionen an die Zeit‹, zu denen Hegel bereit war, hätte er doch niemals die reaktionäre Fassung des monarchischen Prinzips akzeptiert, wie sie von Stahl noch  gegen die Ansprüche auf Volksvertretung in Preußen vorgebracht worden ist. Nun ist andererseits aber auch nicht zu leugnen, dass für Hegel der Staat – allerdings nicht der ›Machtstaat‹ und auch nicht der empirisch existierende Staat in Preußen, sondern der nach der ›Architektonik des Vernünftigen‹ konstruierte Staat der Rechtsphilosophie – »die Wirklichkeit der sittlichen Idee« ist, die alle natürliche Sittlichkeit der Familie und die auf dem System der Arbeitsteilung beruhende, spontan aber auseinanderstrebende bürgerliche Gesellschaft und deren Widersprüche überwölbt und in sich aufhebt. ›Sittlichkeit‹ ist bei He-

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gel niemals identisch mit ›Macht‹ schlechthin, sie beruht vielmehr auf der Macht der Vernunft und der Freiheit. 57 Die Macht der Vernunft und der Freiheit, auf der Hegel stets insistiert, hat die Hegelsche Rechte 58 ebenso irritiert, wie die Hegelsche Linke inspiriert. 59 Diese Linke, d. h. der Liberale Gans und der Demokrat Ruge, die Junghegelianer Bauer, Marx usw., formuliert in den er/er Jahren die eigentlich bürgerlich-revolutionäre und radikal-demokratische politische Theorie des Vormärz. 60 Weite Verbreitung fanden im Besitz- und Bildungsbürgertum die Auffassungen des gemäßigten Liberalismus von K. v. Rotteck und R. v. Mohl oder konservativen Liberalen wie F. Chr. Dahlmann u. a. Sie orientierten sich nicht an der Französischen Revolution, sondern am engl. Modell des Klassenkompromisses von /, das sie auf die dt. Verhältnisse des . Jh. zu übertragen gedachten. Dahlmanns Hauptwerk Die Politik erwies sich im Verlauf der er Revolution als ebenso einflussreich wie letztlich verhängnisvoll für die Sache der bürgerlichen Revolution. Dahlmann galt allgemein als einer der Begründer der ›Vereinbarungstheorie‹, nach der die Vertreter des Volkes mit dem König gemeinsam die Verfassung zu beraten und zu beschließen haben. Dabei hatte er sich auf das Vorbild der ›glorreichen‹ Revolution Englands berufen. Er hatte vergessen, dass auch dieser ›Revolution‹ die wirkliche engl. Revolution von – vorausgegangen war, unter deren Eindruck die Oberschichten / ›vereinbart‹ hatten, sich die Macht zu teilen. 2.5 Nation, Machtpolitik und Imperialismus Nach der Niederlage der er Revolution waren der Hegelianismus philosophisch und selbst der vorsichtige Liberalismus politisch ›tot‹. ›Realpolitik‹ und später ›Machtpolitik‹ waren die Schlag- und Schlüsselworte der jetzt in Deutschland anbrechenden Epoche, und von allem Anfang an war der Begriff der ›Realpolitik‹ mit den Kategorien ›Macht‹/›Herrschaft‹/›Gewalt‹ verknüpft. L. A. von Rochaus Grundsätze der Realpolitik sind charakteristisch für die jähe ›geistig-moralische Wende‹ im P.verständnis des deutschen Bürgertums nach : »Die Erörterung der Frage: wer da herrschen soll, ob das Recht, die Weisheit, die Tugend, ob ein Einzelner, ob Wenige oder Viele, diese Frage gehört in den Bereich der philosophischen Spekula-

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tion; die praktische P. hat es zunächst mit der einfachen Tatsache zu tun, dass die Macht allein es ist, welche herrschen kann. Herrschen heißt, Macht üben, und Macht üben kann nur der, welcher Macht besitzt. Dieser unmittelbare Zusammenhang von Macht und Herrschaft bildet die Grundwahrheit aller P. und den Schlüssel der ganzen Geschichte.« 61 Von hier aus führt der Weg geradeaus zur ›Kapitulation des Liberalismus‹ vor der ›Blut- und Eisen-P.‹ Bismarcks, wie sie in der Selbstkritik Baumgartens, einem der Gründungsdokumente des Nationalliberalismus, zum Ausdruck kommt, und darüber hinaus schließlich zum unverblümten Kultus von Macht und Gewalt in der Geschichtsschreibung und P. eines H. v. Treitschke. 2.6 Politik als Weltmachtpolitik (Max Weber) Der repräsentative Theoretiker und Propagandist der P. als Macht ist in Deutschland eine Generation später Max Weber. Zu Beginn des »Zeitalters des Imperialismus« (Mommsen) erklärte er unumwunden: »Wir müssen begreifen, dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte.« 62 P. als Weltmachtpolitik, hierin liegt das politisch Neue an Webers Konzeption gegenüber seinen borussisch-bornierten Vorläufern, und an dieser Grundeinstellung hat er zeitlebens festgehalten. Zumindest in seiner frühen Periode war Weber auch in der verbalen Radikalität, mit der er dieses Konzept vertrat, kaum von einem Treitschke oder Sybel zu unterscheiden. »Nicht Frieden und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art.« P. sei »ein hartes Geschäft, und wer die Verantwortung auf sich nehmen will, einzugreifen in die Speichen des Rades der politischen Entwicklung des Vaterlandes, der muss feste Nerven haben und darf nicht zu sentimental sein, um irdische P. zu treiben. Wer aber irdische P. treiben will, der muss vor allen Dingen illusionsfrei sein und die eine fundamentale Tatsache, den unabwendbaren ewigen Kampf des Menschen mit dem Menschen auf der Erde [. . . ] anerkennen.« 63 Weber hat sich später gegen jede biologistische (sozialdarwinistische) Deutung des gesellschaftlichen Lebens gewendet, nicht jedoch gegen

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die von Hobbes übernommene und imperialistisch weiterentwickelte Vorstellung des ›Kampfes‹ als einem Grundzug des menschlichen Zusammenlebens, zumindest im Kapitalismus und v. a. auf dem Felde der internationalen P. Als soziale Subjekte dieses Kampfes gelten ihm nach Innen v. a. die sozialen Klassen und Schichten, die im wesentlichen durch ihre Stellung zum Eigentum und die dadurch weitgehend bedingten Erwerbschancen definiert sind, und nach Außen hin die Nationen. Weber erweist sich gerade darin als ein prononcierter Theoretiker einer imperialistischen P., dass er den inneren Kampf der Klassen zurücktreten lässt bzw. zurückdrängen möchte gegenüber dem Kampf der Nationen, ja dass er den inneren ›Burgfrieden‹ als Voraussetzung für eine deutsche Weltmachtpolitik zu einer Zeit propagierte, als der . Weltkrieg noch in weiter Ferne lag. Im Zentrum von Webers politischem Wertesystem steht eindeutig der Begriff der Nation: »war doch die ›Nation‹, die Machtstellung des eigenen nationalen Staatswesens, für ihn letzter Wert, dem er in rationalistischer Konsequenz alle anderen politischen Zielsetzungen unterordnete« 64 – auch die politische Wissenschaft. »Die Wissenschaft von der Volkswirtschaftspolitik ist eine politische Wissenschaft. Sie ist eine Dienerin der P., nicht der Tagespolitik der jeweils herrschenden Machthaber und Klassen, sondern der dauernden machtpolitischen Interessen der Nation.« 65 Die Nation, nicht als mystische Einheit, sondern »die weltliche Machtorganisation der Nation«, d. h. der Nationalstaat, ist das Subjekt der P. als Weltmachtpolitik. Den Weltmachtanspruch Deutschlands, »mitzusprechen bei der Entscheidung über die Zukunft der Erde«, ein Recht, dass in der historischen Wirklichkeit nur mächtigen Nationen und »Herrenvölkern« zukomme, hat Weber niemals aufgegeben, auch wenn ihm dies nach der militärischen Niederlage von  nur noch als ein langfristig zu erreichendes Ziel erschien. Die Bedeutung Webers für die Entwicklung der Sozialwissenschaft(en) des . Jh. kann schwerlich überschätzt werden. Für Deutschland kommt hinzu, dass er einen Begriff der P. formuliert und eine Theorie des politischen Prozesses entwickelt hat, die weit über den wissenschaftlichen Bereich hinaus bis in die praktische P. hinein gewirkt haben; schließlich gilt er nicht nur als Propagandist der Weltmachtrolle Deutschlands, sondern auch als einer der theoretischen Väter der Weimarer Reichsverfassung von .

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In einem Vortrag zum Thema Politik als Beruf, den Weber im Jahre  vor Münchener Studenten während der Zeit der Räterepublik gehalten hat, wird das Verhältnis von politischer Wissenschaft und praktischer P. bei Weber deutlich. Zunächst definiert er ›P.‹ mit wissenschaftlicher Objektivität und scheinbar werturteilsfrei als: »Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt. [. . . ] Wenn man von einer Frage sagt: sie sei eine ›politische‹ Frage, [. . . ], so ist damit immer gemeint: Machtverteilungs-, Machterhaltungs- oder Machtverschiebungsinteressen sind maßgebend für die Beantwortung dieser Frage [. . . ] Wer P. treibt, erstrebt Macht, – Macht entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele – idealer oder egoistischer – oder Macht ›um ihrer selbst willen‹: um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu genießen.« 66 Da sich Weber aber niemals als bloß kontemplativer Wissenschaftler verstanden hatte, führt er seinen Vortrag, als ›wertender‹ Politiker fort. Die ›eherne‹ Tendenz zur Bürokratisierung (›Gehäuse der Hörigkeit‹), die ihm als Merkmal des modernen Kapitalismus, v. a. aber des Sozialismus erschien (»Sozialismus ist Verwaltung«), gefährde die ökonomische und politische Freiheit und Initiative des einzelnen. Hier habe nun die Figur des ›Politikers‹ ihr eigentliches Recht. Der große (charismatische) Politiker sei infolge seines überdurchschnittlichen Ehrgeizes und seines ›Machtinstinktes‹ ein natürliches Korrektiv zur bloß sachlich-instrumentellen Rationalität der Bürokratie. Seine Persönlichkeit zeichne sich aus durch ›Leidenschaft, ›Verantwortungsgefühl‹ und ›Augenmaß‹. Diese Eigenschaften aber fehlten gerade den Führern der Münchner Räterepublik ebenso wie den der deutschen und zuvor schon russischen Revolution. Sie zeichneten sich hingegen im allgemeinen durch Dilettantismus und bestenfalls durch ›gesinnungsethisches‹, nicht aber durch ›verantwortungsethisches‹ Handeln aus. P. sei aber nicht ›gesinnungsethischer‹ Revolutionarismus, sondern verantwortungsbewusstes »starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich«. 67 Weber hat es, wie kaum einen anderen Sozialwissenschaftler zuvor in Deutschland, in die praktische P. gedrängt; daher sind auch Zahl und Themen seiner ›tagespolitischen Schriften‹ Legion. Bemerkenswert hieran ist, dass alle diese Arbeiten eingebettet sind in den Rahmen

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seines großen strategischen P.entwurfs; sie dürfen daher auch nicht von diesem getrennt betrachtet werden. Weber hat sich stets, in der Wissenschaft wie in der P., als bewusster Vertreter des Bürgertums begriffen. Allerdings war er gegenüber dem deutschen Bürgertum, so wie es sich in das Bismarck-Reich und noch viel mehr wie es sich im Wilhelminischen Reich eingeordnet hatte, im höchsten Maße kritisch. Er hielt die deutsche Wirtschaft, und zwar die Industriellen, Bankiers usw. ebenso wie die Arbeiterschaft, prinzipiell für fähig, eine ökonomische Weltmachtstellung zu erobern und in der Konkurrenz mit den Weltmächten England oder den USA zu behaupten. Die entscheidende Schwäche Deutschlands in dieser Auseinandersetzung sah er im bisherigen politischen System. Weber hielt die politische Organisation des Kaiserreiches für überholt und das in ihm politisch nach wie vor tonangebende Junkertum für eine historisch und ökonomisch überlebte Klasse, und in seiner ganzen hinterwäldlerischen Provinzialität für völlig ungeeignet, Weltpolitik zu treiben oder überhaupt nur zu begreifen. Aber auch das Bürgertum hatte nach Webers Ansicht durch die Unterwerfung unter Bismarck seinen politische Führungsanspruch aufgegeben und in der Folgezeit seine Führungsfähigkeit weitgehend eingebüßt. ›Industrialismus oder Feudalismus‹, das schien ihm die große sozialpolitische Alternative. 68 Als Befürworter des ›Industrialismus‹ propagiert er einen historisch weitreichenden Kurswechsel in der P. des Bürgertums gegenüber den anderen Klassen der Gesellschaft. Nicht dem Bündnis zwischen Bourgeoisie und Junkertum, sondern allein noch einem Bündnis zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse gehöre die Zukunft. Dabei war es aber für Weber selbstverständlich, dass die Arbeiterklasse, geführt durch eine ›sozial-politische‹ Elite in Gewerkschaft und Sozialdemokratie, nur als Juniorpartner dieses Bündnisses auftreten könne, und dabei von ihren sozialistischen Zielvorstellungen abrücken müsse, zugunsten einer Beteiligung an den materiellen und ideellen Resultaten der Weltmachtpolitik. Zum Zwecke dieses Bündnisses müsse das Drei-Klassen-Wahlrecht in Preußen aufgehoben und die Parlamentarisierung des Reiches vorangetrieben werden. Webers Bemühungen um die Demokratisierung des Reiches und gegen die Bürokratie, seine Befürwortung der politischen Konkurrenz der Parteien und der parlamentarischen Debatte

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als Ausleseprozess für das politische Führungspersonal und schließlich sein Vorschlag eines plebiszitär legitimierten (›cäsaristischen‹) Reichspräsidenten mit weitgehenden Vollmachten, wie er teilweise in die Weimarer Verfassung aufgenommen worden ist, haben aufgrund ihrer ausschließlich funktionalistischen Bedeutung für die Herausbildung einer neuen Führungselite stets noch das Ziel einer künftigen Weltpolitik Deutschlands vor Augen; sie offenbaren damit die Kontinuität der politischen Gedankenwelt Webers vor und nach dem ersten Weltkrieg. Nach  hat man lange Zeit versucht, die Diskussion um Webers theoretische und in einem gewissen Maße auch politische Verantwortung für die Entwicklung der Weimarer Republik und v. a. für den Exzess der Machtpolitik und die Weltherrschaftspläne des deutschen Faschismus zu unterdrücken oder ihn von jeglicher Verantwortung hierfür freizusprechen. 69 W.+J. Mommsen hat das Tabu mit seiner Untersuchung Max Weber und die deutsche Politik gebrochen und im Zusammenhang mit dem Problem der von Weber propagierten ›plebiszitären Führerdemokratie‹ auch die Frage nach Webers Verhältnis zum Nationalsozialismus aufgeworfen. 70 2.7 Politik als Weltherrschaftspolitik (Nationalsozialismus – Carl Schmitts Begriff des Politischen) Der deutsche Nationalsozialismus hat keine eigenständige Theorie der P. hervorgebracht. Allerdings kann die Theorie des Politischen, wie sie von Carl Schmitt – in eigenwilliger Fortführung von M. Weber – entwickelt wurde, in ihrem Kern als Legitimierung des nationalsozialistischen Herrschaftssysteme incl. seines Weltherrschaftsanspruchs gelten. Der ›Parade-Jurist des Nationalsozialismus‹ (Bracher) hatte sich schon während der Weimarer Zeit in einer Vielzahl von Schriften für eine ›plebiszitäre Führerdemokratie‹ in der besonderen Form einer Diktatur des Reichspräsidenten ausgesprochen und sich dabei auch auf Weber berufen. In der Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus behauptete Schmitt einen grundlegenden Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie. Während der Parlamentarismus auf Prinzipien wie ›Pluralismus‹, ›Öffentlichkeit und Diskussion‹ sowie ›Gewaltenteilung und Repräsentation‹ beruhe, liege das Wesen

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der Demokratie in ›Homogenität‹, ›Akklamation und Dezision‹ sowie ›Identität‹. Nun plädiert Schmitt nicht etwa, wie vielfach behauptet worden ist, für eine direkte Demokratie im Sinne Rousseaus. 71 Er verkehrt vielmehr alle Kategorien des Rousseauschen Modells in ihr Gegenteil, indem er erstens die ›Homogenität‹ durch »Vernichtung des Heterogenen« 72 herzustellen vorschlägt, zweitens ›öffentliche Diskussion‹ in Form einer Volksversammlungsdemokratie in einem modernen Großflächenstaat für unmöglich hielt und stattdessen die ›Akklamation‹ des Volkes durch Plebiszite für die einzig noch mögliche demokratische Methode erklärt, und drittens, indem er das Prinzip der Identität von Regierenden und Regierten durch das Prinzip der ›Identifikation‹ der Regierten mit den Regierenden ersetzt – so dass, alles zusammen genommen, die plebiszitär legitimierte cäsaristische Diktatur eines einzelnen Führers als die historisch und politisch allein noch mögliche Form der Demokratie erscheinen soll. Nun lassen sich alle diese und noch eine Vielzahl weiterer Elemente der Kritik Schmitts am politischen System der Weimarer Republik durchaus als Radikalisierungen einzelner Seiten der Weberschen politischen Soziologie begreifen und sie konnten in einem gewissen Sinne auch nur theoretisch und politisch wirksam werden, weil ihnen durch Weber partiell vorgearbeitet war. Dennoch erlangt insbes. der Begriff der P. durch seine Radikalisierung bei Schmitt eine durchaus neue Qualität, die Schmitt – und keineswegs etwa Weber – zu einem der prägnantesten politischen Theoretiker des Faschismus machen; ganz unabhängig davon, welche konkrete Stellung er in der nationalsozialistischen Partei im Laufe der Zeit eingenommen hat. »Die eigentlich politische Unterscheidung ist die Unterscheidung von Freund und Feind «, heißt es lapidar in der entwickeltsten Fassung von Schmitts Schrift Der Begriff des Politischen. Sie »bezeichnet die äußerste Intensität einer Verbindung oder Trennung«. 73 Es ist für Schmitt kennzeichnend, dass er zur Kategorie des ›Freundes‹ in der P. nichts zu sagen weiß. Seine ganze Konzeption kreist um die Kategorie des ›Feindes‹; sie ist bei ihm die konstitutive Kategorie des Politischen, denn »die Möglichkeit spezifisch politischer Beziehungen ist dadurch gegeben, dass es nicht nur Freunde – Gleichgeartete und Verbündete –, sondern auch Feinde gibt«. 74 In immer neuen Anläufen beschwört Schmitt geradezu die Kategorie des Feindes: »Der politische Feind

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braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch hässlich zu sein [. . . ] Er bleibt aber ein Anderer, ein Fremder. [. . . ] Der Feind ist in einem besonders intensiven Sinne existenziell ein Anderer und Fremder, mit dem im extremen Fall existenzielle Konflikte möglich sind. [. . . ] Den extremen Konfliktsfall können [. . . ] nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen; insbes. kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfall die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft werden muss, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu retten.« 75 Das politische Feindverhältnis ist niemals ›privat‹. »Feind ist nur eine wenigstens eventuell, d. h. der realen Möglichkeit nach, um ihre Existenz kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht. Feind ist also nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche kämpfende und sich durchsetzende Gesamtheit von Menschen, insbes. auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird.« 76 Schließlich hat das Politische nach Schmitt keinerlei substanzielle Gegenständlichkeit; jeder Gegensatz zwischen Menschengruppen wird »um so politischer, je mehr [er] sich dem äußersten Punkte der Freund-Feind-Gruppierung nähert«. 77 Die fast monomanische Logik der Schmittschen Argumentation führt ihn schließlich zu der These: »Alle politischen Begriffe, Vorstellung und Worte haben einen polemischen Sinn; sie haben eine konkrete Gegensätzlichkeit im Auge, sind an eine konkrete Situation gebunden, deren letzte Konsequenz eine (in Krieg oder Revolution sich äußernde) Freund-Feind-Gruppierung ist [. . . ] Worte wie Staat, Republik, Gesellschaft, Klasse, ferner: von Gottes (im Gegensatz zu Papstes oder Volkes) Gnaden, Souveränität, Rechtsstaat, Absolutismus, Diktatur, Plan, neutraler oder totaler Staat, Marxismus, Proletarier und Arbeiter sind unverständlich, wenn man nicht weiß, wer in concreto durch ein solches Wort getroffen, bekämpft, negiert und widerlegt werden soll. Auch was ›Recht‹, ›Ordnung‹ und ›Frieden‹ bedeutet, ist konkret durch den Feind bestimmt.« 78 Die Konsequenz aus alledem ist der Krieg, nach Außen wie nach Innen (als Bürgerkrieg oder Revolution), je nach der konkreten Bestimmung des Feindes. »Zum Begriff des Feindes gehört die im Bereich des Realen liegende Eventualität eines bewaffneten Kampfes, das bedeutet hier

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eines Krieges. [. . . ] Krieg ist bewaffneter Kampf zwischen organisierten politischen Einheiten, Bürgerkrieg bewaffneter Kampf innerhalb einer (dadurch aber problematisch werdenden) organisierten Einheit. Das wesentlich an dem Begriff der Waffe ist, dass es sich um ein Mittel physischer Tötung von Menschen handelt. [. . . ] Die Begriffe Freund, Feind und Krieg erhalten ihren realen Sinn dadurch, dass sie insbes. auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten. Der Krieg folgt aus der Feindschaft, denn diese ist seinsmäßige Negierung eines anderen Seins. Krieg ist nur die äußerste Realisierung der Feindschaft.« 79 Mit dieser radikalen Konsequenz steht Schmitt freilich nur an dem äußersten denkbaren Punkt einer theoretischen Bestimmung der P. als Gewalt, wie sie tatsächlich für die Neuzeit seit Machiavelli charakteristisch ist. Dass damit tatsächlich ein Endpunkt erreicht war, zeigt die politische Praxis des deutschen Faschismus. Es gibt kaum ein Dokument, in dem das Programm des ›totalen Krieges‹ und der totalen Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz prägnanter vorformuliert wurde, als in Schmitts Schrift Der Begriff des Politischen. Es ist vielfach, und mit Recht, darauf hingewiesen worden, dass der Nationalsozialismus sich nicht auf eine bloß negative Apokalypse reduzieren lässt, weil er zugleich ein ›positives‹ Programm der Weltherrschaft verfolgte und insofern in der Kontinuität der deutschen Geschichte seit  stand. 80 Auch Schmitt hatte sich an einer solchen Programmatik beteiligt. 81 Im . Weltkrieg hat sich schließlich gezeigt, dass der nationalsozialistische Anspruch auf Weltherrschaft doch notwendigerweise in einer solchen Apokalypse enden musste. Das Ende des Begriffs der P. als Weltmacht- oder Weltherrschaftspolitik trat für Deutschland mit der bedingungslosen Kapitulation von  offen zu Tage; v. a. aber ist er mit dem Namen ›Ausschwitz‹ belegt. In welthistorischer Perspektive ist es über dieses Symbol des Schreckens hinaus jedoch erst die technische Entwicklung der Macht- und Gewaltmittel selbst, die das Ende aller nationalen Weltherrschaftspläne markiert, die Atombombe und die Namen der Städte Hiroshima und Nagasaki. Von hier aus führt die Logik des Politischen vor die unerbittliche Alternative, entweder den Weltfrieden zu sichern oder die (Selbst-)Vernichtung der Menschengattung zu riskieren. Natürlich sind Macht und Gewalt als Momente der P., ebenso wie der Krieg, und

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in ihrer Fixierung an die nationalstaatliche Organisation menschlicher Gemeinschaften in absehbarer Zukunft nicht völlig zu verdrängen, aber sie sind in ihrer historisch relativen Bestimmung als das Wesen oder der Kern bzw. als Organisationsform des Politischen seit der Mitte des . Jh. weltgeschichtlich überholt (vgl. weiter unten . und .). 2.8 ›Kritik der Politik‹ (Marx und der marxistische Sozialismus/ Kommunismus) Eine eigentümliche Wendung nimmt der Begriff der P. bei Marx. Der Autor, dessen Werk auf die praktische P. des . Jh. vermutlich mehr Einfluss hatte als das eines jeden anderen, verhält sich im höchsten Maße skeptisch gegenüber dem Politischen. Sternberger spricht sogar von Marx’ »kategoriale[r] Blindheit gegen das Politische«, mit »furchtbare[n] weltgeschichtlichen Folgen«, der totalen bolschewistischen Parteiherrschaft an Stelle des Staates. Sternberger hat gewiss Recht, wenn er bemerkt, dass Marx zwar häufig von Gesellschaft und Revolution, doch kaum je positiv von P. spricht, und dennoch ist es grundfalsch, wenn er die These vertritt, Marx habe eine »apolitische Theorie der Veränderung« formuliert. 82 Marx’ Begriff der P. hat sich von den frühen er Jahren bis zu den späten er Jahren entwickelt.  formuliert Marx erstmals das Programm einer – nie ausgeführten – systematischen ›Kritik der P.‹ 83 und obwohl es bei ihm theoretisch substanzielle Gründe für das Aufgeben dieses Programms gibt, hat er doch wesentliche Momente dieser frühen ›Kritik‹ bis in die späten er Jahre vertreten und konkretisiert. Das Prinzip der P. ist nach Marx der Wille (der herrschenden bzw. der revolutionären Klasse, wie er später hinzufügen wird); ihr (letztes) Mittel die Gewalt, ihre höchste Form der Kampf der gesellschaftlichen Klassen um die Macht im Staate – hierin liegen für Marx sowohl die historische Notwendigkeit als auch die Grenzen des Politischen. Der ›politische Verstand‹ der Demokraten, der ausschließlich in der ›Form der P.‹ denke, erblicke den Grund aller Missstände stets im Willen (einer herrschenden Klasse) und alle Mittel zu ihrer Beseitigung in der staatlichen Gewalt. »Der politische Verstand ist eben politischer Verstand, weil er innerhalb der Schranken der P. denkt. [. . . ] Je einseitiger, das heißt also, je vollendeter der politische Verstand ist, um so mehr glaubt er an die Allmacht des Willens, um so blinder ist er gegen die

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natürlichen und geistigen Schranke des Willens, um so unfähiger ist er also, die Quelle der sozialen Gebrechen zu entdecken.« 84 Das klassische Modell war die Französische Revolution. Der jakobinische Konvent (›das Maximum der politischen Energie, der politischen Macht und des politischen Verstandes‹), und dessen demokratischer Terrorismus scheiterte – übrigens ebenso kläglich wie später der Despotismus Napoleons oder das repräsentative englische Parlament – bei dem Versuch, den Pauperismus mit politischen Mitteln (exekutivem Terror oder parlamentarischen Gesetzen) zu beseitigen. Die Wurzel der ›sozialen Übel‹ liege jenseits der politisch-rechtlichen Institutionen und des Willens der politischen Agenten im ›Sklaventum der bürgerlichen Gesellschaft‹ selbst, welches das ›Naturfundament‹ jener Institutionen und P. sei, und diesen daher prinzipiell nicht zugänglich. Der politische Wille, die politischen Ideen und die ihnen entsprechenden rechtlichen und staatlichen Institutionen, sind demnach bloße Abstraktionen, ›verhimmelte Bewusstseinsformen‹, ›illusorische Verdoppelungen‹ usw. realer Bedürfnisse der gesellschaftlichen Klassen. Die P. ›protokolliere‹ lediglich die aus der ökonomischen Entwicklung herauswachsenden gesellschaftlichen Bedürfnisse, wie Marx es wenig später gegen Proudhon formuliert hat. Unabhängig oder gar gegen die ökonomische Entwicklung ›blamiere‹ sich der politische Wille stets, wie die politischen, moralischen, philosophischen Ideen, die sich unabhängig vom materiellen Interesse glaubten. Es ist offenbar nicht der Wille und das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, »sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt«, wie es später formuliert wird. 85 Während Marx sich also einerseits gegen die ›Schranken des politischen Verstandes‹ bei den revolutionären Demokraten wendet, bekämpft er zugleich den politischen Indifferentismus der Sozialisten (von SaintSimon bis Proudhon). Die ›menschliche Emanzipation‹ (d. h. Sozialismus, Kommunismus) erfordere den Willen des Proletariats zur Revolution. In jeder wirklichen Revolution ständen sich schließlich der Wille der alten herrschenden Klasse und der Wille der revolutionären Klasse im offenen Kampf um die Macht antagonistisch gegenüber. Auf diesem Punkt ist die Revolution, wie F. Engels es später formulierte, der höchste Akt der P. Jede Revolution habe aber einen doppelten Aspekt, sie stürze die alte Gewalt, zerbreche deren Staatsapparat usw.,

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insofern sei sie politisch, und sie organisiere eine neue gesellschaftliche Ordnung, insofern sei sie sozial. Mit der Betonung des ›umstürzenden‹ politischen Aspektes wendet sich Marx gegen die ›unpolitische‹ Position der Sozialisten, mit der Betonung des organisierend sozialen Aspektes richtet er sich gegen die ›nur-politischen‹ Demokraten. Beide ›Aufgaben‹ des Proletariats in der Revolution wird Marx in der Folgezeit im Rahmen seiner ›Kritik der P.‹ weiter konkretisieren. Es ist charakteristisch für das anti-utopische und anti-spekulative Denken von Marx, dass er darauf verzichtet, zu prognostizieren oder gar logisch zu deduzieren, wie der politische Umsturz der alten Ordnung, das ›Zerbrechen des alten Staatsapparates‹ geschehen und v. a. welche (Selbstverwaltungs-)Organe des Volkes an seine Stelle treten sollen. Zur Erkenntnis dieser Formen bedürfe es der historischen Erfahrung der schöpferischen Phantasie revolutionärer Volksmassen, wie sie Marx schließlich beispielhaft dem ›heroischen‹ Versuch der Kommunarden von  entnommen hat. Die Kommune war für Marx der Gegensatz zu allen bisherigen Staatsformen, »die Rücknahme der Staatsgewalt durch die Volksmassen selbst, die an die Stelle der organisierten Gewalt der Unterdrückung ihre eigene Gewalt schaffen.« 86 Noch ›politische Form‹, weil organisierte Gewalt, aber schon kein eigentlicher ›Staat‹ mehr, weil kein von der Gesellschaft abgetrenntes und ihr scheinbar übergeordnetes Organ. Die Pariser Kommune war gescheitert, an objektiven wie subjektiven Faktoren; sie war nach Marx ›Vorbote einer neuen Gesellschaft‹. Sie hatte demnach zwar nicht die ›endgültige Form‹, wohl aber Ansätze (›Keimformen‹) und Prinzipien einer künftigen Organisation der Befreiung der Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens hervorgebracht. Sie erschien Marx und Engels als eine »durch und durch ausdehnungsfähige politische Form«, und zwar nicht nur im bloß räumlichen Sinne, als Nation und auf internationaler Ebene, sondern auch im Sinne sozial-historischer Entwicklungsfähigkeit. Jede spätere proletarisch-sozialistische Revolution muss sich daher unter revolutionstheoretischem Aspekt daran messen lassen, in welchem Sinne und in welchem Maße sie über jene prototypischen ›Keimformen‹ hinausgekommen, oder hinter ihr zurückgeblieben ist, bzw. inwieweit sie sogar deren völligen Verlust bedeutete.

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2.9 Gewalt statt Kritik der Politik (Oktoberrevolution, Stalinismus und Sowjetsystem) Die russische Oktoberrevolution () löste bei den unteren Volksschichten wie bei zahlreichen Intellektuellen in weiten Teilen der Welt große, teils utopische Hoffnungen auf ein weltweit bevorstehendes Ende von Unterdrückung, Ausbeutung und Elend aus. In dieser Hinsicht ähnelte sie – auch in ihrer internationalen Dimension – der Französischen Revolution von  ff. Dabei waren die objektiven Voraussetzung für den Erfolg der Revolution im Sinne ihrer Anhänger noch bei weitem schlechter als bei ihrem großen historischen Vorbild. Russland war ein wirtschaftlich und kulturell zurückgebliebenes Land, das Volk, aus wenigen Großbauern (Kulaken), in seiner überwältigenden Mehrheit aber aus armen Bauern bestehend, die zum großen Teil erst seit einer oder zwei Generationen aus der Leibeigenschaft entlassen worden waren, war seit Jh. von dem despotischem Regime des Zarismus mit ›Knute und Kutte‹ politisch in absoluter Unmündigkeit gehalten. Die kapitalistische Entwicklung hatte allenfalls in einigen großstädtischen Zentren mit der europäischen Entwicklung einigermaßen Schritt gehalten und eine zahlenmäßig geringe bürgerliche Klasse sowie eine zwar nach absoluten Zahlen durchaus nicht unbeträchtliche Arbeiterklasse hervorgebracht, die aber im Vergleich zu den ländlichen Massen immer noch eine fast verschwindende Minderheit darstellte. Zwei Jahre nach Beginn der Revolution waren große Teile des Landes westlich des Urals, die noch am weitesten fortgeschritten waren, immer noch durch den Weltkrieg und den nachfolgenden Bürgerkrieg (einschl. der militärischen Intervention des Auslandes) verwüstet.  war die Industrie nahezu vollständig zerstört, die landwirtschaftliche Produktion auf die Hälfte des ohnehin niedrigen Niveaus von  geschrumpft, im Winter / erlebte das Land die größte Hungersnot seit Jahrzehnten. In dieser Situation suchten die Bolschewiki mit Lenin und Trotzki an der Spitze das schiere Überleben, nicht nur der Revolution, sondern der Bevölkerung überhaupt, mit den Mitteln der militärischen Organisation (›Kriegskommunismus‹) zu sichern – hier hat die spätere systematische P. der Gewalt des Stalinismus einen ihrer Ursprünge. 87 Die führenden Köpfe der Revolution waren zunächst davon überzeugt, dass die in Russland begonnene Revolution lediglich das Präludium

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einer bevorstehenden sozialistisch-kommunistischen Weltrevolution sei, die in den kapitalistischen Zentren des Westens ihren Höhepunkt erreichen würde. Als diese Weltrevolution nach einem guten Jahrfünft noch immer ausgeblieben war, schien eine grundsätzliche Entscheidung über den weiteren Verlauf der Revolution historisch unabweisbar. Lenin hatte eine vorsichtige Wiederzulassung und Förderung privat-kapitalistischer Produktion in Landwirtschaft und Kleinindustrie (›Neue Ökonomische P.‹) befürwortet. Nach seinem Tod () setzte sich unter der Führung Stalins jedoch die Losung ›Aufbau des Sozialismus in einem Land‹ mittels einer forcierten Industrialisierung durch. Die nun einsetzende ›ursprüngliche sozialistische Akkumulation‹ nach dem Modell der sog. ursprünglichen Akkumulation des Kapitals ist wie diese »in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer«. 88 Obwohl die von Stalin seit den späten er Jahren betriebene Industrialisierungspolitik getarnt wurde durch die Losung der ›Verschärfung des Klassenkampfes auf dem Lande‹ gegen das ›Kulakentum‹, bedeutete sie in der Praxis vielfach nicht nur die gewaltsame Unterdrückung bis hin zur physischen Vernichtung der Groß- und Mittelbauern, sondern zugleich auch die maßlose Ausbeutung der Bauernmassen zugunsten des Aufbaus der Industrie – die Ausbeutung des Landes durch die Stadt. Gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft, Zwangsdeportation der ländlichen Arbeitskraft und ihre Verwendung in der Industrie, ›Disziplinierung‹ der bäuerlichen Arbeitermassen durch militärischen Drill in der Industrie, Massenzwangsarbeit usw., bis hin zum organisierten Bürgerkrieg 89 – dies waren die hauptsächlichen Methoden und Formen, in denen der Aufbau des Sozialismus in Russland und der ganzen Sowjetunion erfolgen sollte. Die Bolschewiki hatten spätestens unter Stalin ›vergessen‹, dass nach Marx die wichtigste Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst ist und ihre Entwicklung nur als freie Selbstentfaltung der Individualität jedes einzelnen ihrer Mitglieder denkbar ist, niemals aber durch äußeren Zwang. Die Gewalt, nicht als Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft – insofern schien sie auch Marx als notwendiges Moment jeder Revolution –, sondern die Gewalt oder deren Androhung gegen die arbeitenden Klassen selbst als ›ökonomische Potenz‹ im sozialistischen Umwandlungsprozess der Gesellschaft, das war die

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grundlegende theoretische Konfundierung des stalinistischen Bolschewismus. Nach dem . Weltkrieg wurde dieses Modell schließlich, mit gewissen nationalen und kulturellen Modifikationen, auf die im politischen Machtbereich der Sowjetunion – nicht zuletzt durch die Rote Armee – entstehenden sozialistischen Länder übertragen. Auch wenn der unmittelbare physische Terror nach Stalins Tod () an Bedeutung verlor, war er niemals völlig beendet worden, zumal die Existenz des Systems durch Volksaufstände (wie  in der DDR,  in Ungarn) oder durch demokratisierende Reformen ( in der CSSR) verschiedentlich bedroht zu sein schien. Die weniger gewaltsamen aber weiterhin höchst undemokratischen ›administrativ-befehlenden Leitungsmethoden‹ (Gorbatschow) der ›Stagnationsperiode‹ seit den er Jahren setzte die prinzipielle Fehlentwicklung im gesamten Lager des ›real existierenden Sozialismus‹ fort. Der daraus entstehende Widerspruch fand seinen praktischen gesellschaftlichen Ausdruck in der Herausbildung einer neuen herrschenden Klasse (M. Djilas), der ›sozialistischen‹ Bürokratie (Nomenklatura), und damit einer neuen Form des Staates, der Diktatur des Parteiapparates und der sozialistischen Staatsbürokratie. In ihrer Frühphase trat diese Diktatur, entsprechend dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte und der politischen Kultur, in vorwiegend ›personaler Form‹ auf – als ›Stalinismus‹, wobei es keinen wesentlichen Unterschied macht, ob es sich um die persönliche Diktatur des jeweiligen Generalsekretärs oder um die des Politbüros handelt –, später in vorwiegend ›anonymer Form‹, als ›Bürokratismus‹. Die Differenz beider Grundformen besteht v. a. darin, dass in der personalen Form der politische Wille sein eindeutiges Zentrum im Kreis des politischen Führungspersonals hat, während sich dieses Zentrum in der anonymen Form mehr und mehr auf einen ungeheuer aufgeblähten bürokratischen Verwaltungsapparat, einschließlich sog. ›Sicherheitsapparate‹ (GPU, ›Staatssicherheit‹) verlagert hat. Stets aber war diese Diktatur Ausbeutungs- und Herrschaftsinstrument einer faktisch über die Produktionsmittel und einen ausgedehnten staatlichen Zwangsapparat verfügenden Politiker- und Bürokratenklasse über das arbeitende Volk; mit der Folge einer weitverbreiteten Apathie, wenn nicht gar des passiven Widerstands des Volkes gegenüber dem ökonomischen und

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politischen System eines angeblich real existierenden Sozialismus. In dem Maße, wie nun aber die weitere Entwicklung von Wissenschaft und Technik auch in der sozialistischen Ökonomie den Übergang von einer vorwiegend extensiv erweiterten Reproduktion zu einer vorwiegend intensiv erweiterten Reproduktion erforderlich machte (Akkumulation; wissenschaftlich-technische Revolution), erwiesen sich die tradierten Leitungs- und Herrschaftsmethoden als völlig ungeeignet. Die Krise der sozialistischen Ökonomie und P. weitete sich seit Anfang der er Jahre mehr und mehr zu einer Anfang der er Jahre unübersehbar gewordenen Systemkrise aus. Das auf Gewalt und Unterdrückung beruhende P.-Modell des ›real-sozialistischen‹ Aufbaus auf der Basis bürokratisch-zentralisierter Staats- und Parteigewalt war endgültig gescheitert. Hieran vermochte auch der späte Reformversuch unter Gorbatschow (›Perestroika‹) nichts mehr zu ändern. 2.10 Politik als Reform – Das sozialdemokratische Zeitalter Nach den erfolgreichen bürgerlichen Revolutionen in England, den USA und Frankreich war für das dortige ›Bürgertum an der Macht‹ die Zeit der großen P.- und Staatsentwürfe zunächst einmal Vergangenheit. P. war nun nicht mehr wesentlich Kritik und Konstruktion einer neuen Form (staats-)bürgerlicher Gemeinschaft, sondern Organisation und ›Management‹ der errungenen Macht ; Integration der auseinanderstrebenden Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, durch zielbewusste Veränderung, Anpassung, und Entwicklung mit den Mitteln der Staatsmacht, also durch gesetzliche Reform. In Deutschland ist dieser Weg, wie erwähnt, zum Zwecke der Vermeidung einer Revolution von weit- und vorsichtigen Vertretern einer verbürgerlichten Aristokratie (Stein, Hardenberg, Humboldt) konzipiert und unter dem äußeren Druck der napoleonischen Macht auch partiell realisiert worden (preußische Reformen). Reform der Staatsverfassung und der gesellschaftlichen Ordnung als P. zur Erhaltung und Verbesserung eines bestehenden Systems, das ist der wesentliche Kern des konservativen Reformismus seit E. Burke. Das reformistische P.verständnis hat seither durchaus auch eine bürgerliche Tradition. Zwei Hauptlinien lassen sich dabei unterscheiden: Bei der ersteren steht die Erhaltung historisch tradierter Formen (und ggf. Privilegien, in jedem Fall aber der Erhalt der bestehenden

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Eigentumsverhältnisse) im Vordergrund; es ist dies die von Burke begründete Tradition des Konservatismus, die in ihrer ›sozialen‹ Variante in Deutschland etwa von L. v. Stein (›soziales Königtum‹) vertreten wurde, gelegentlich aber auch in anti-revolutionäre Reaktion umschlagen konnte (Gentz); bei der zweiten handelt es sich um die mehr oder minder bewusste Veränderung von Teilen der konstitutiven Elemente des politisch-gesellschaftlichen Systems einschließlich des Verzichts auf politische Privilegien (etwa beim Wahlrecht) zugunsten bisher unterprivilegierter Gruppen, mit dem Ziel der Stabilisierung des strukturellen Kerns des Systems bürgerlicher (Vor-)Herrschaft. Es ist dies das Konzept des liberalen oder sozialliberalen Reformismus, das sich auf A. de Tocqueville und J. St. Mill zurückführen lässt. 90 Die eigentlich repräsentative Kraft des Konzepts der P. als Reform ist jedoch der sozialreformerische Flügel der Arbeiterbewegung. Seit den Anfängen der Arbeiterbewegung lassen sich in ihr revolutionäre und reformerische Konzepte der Gesellschaftsveränderung nachweisen, ohne dass beide notwendig voneinander getrennt auftreten müssen. In der vorwiegend marxistisch orientierten deutschen Arbeiterbewegung des letzten Drittels im . Jh. sind – zumindest theoretisch – beide Momente in einer revolutionären Perspektive bewusst miteinander verknüpft gewesen. Die englische Arbeiterbewegung hatte hingegen von allem Anfang an überwiegend den Weg allmählicher und kontinuierlicher Reformen der ökonomischen (Gewerkschaften) und politischen (Chartisten) Lage der Arbeiter betreten und dabei nach langen und mühevollen Kämpfen durchaus Erfolge (Normalarbeitstag, Wahlrecht) erzielt. Gegen Ende des . Jh. schienen sich in der internationalen Arbeiterbewegung im wesentlichen zwei unterschiedliche Traditionen herausgebildet zu haben, wobei die deutsche, vorwiegend politisch organisiert, eher den theoretisch-revolutionären Flügel, die englische aber, vorwiegend gewerkschaftlich (trade-unionistisch) organisiert, eher den praktisch-reformerischen Flügel repräsentierte. Dieses Bild war freilich eine grobe Vereinfachung und es täuschte v. a. über den wahren Charakter der damaligen deutschen Sozialdemokratie. Es war nicht zuletzt dadurch erzeugt, dass die Partei unter der Herrschaft Bismarcks über ein Jahrzehnt in die Illegalität gedrängt worden war und sich gerade in dieser Zeit zur größten nationalen politischen Organisation der

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europäischen Arbeiterbewegung hervorgearbeitet hatte und mit dem marxistisch inspirierten Erfurter Programm von  auch über eine theoretisch relativ anspruchsvoll begründete Zielvorstellung verfügte. Tatsächlich tat sich aber zwischen der alltäglichen politischen Praxis der damaligen Sozialdemokratie und dem programmatischen Zukunftsziel ›Sozialismus‹ eine immer größere Kluft auf, die nach dem Tode von Friedrich Engels von seinem ehemaligen Schüler Eduard Bernstein in einer Aufsatzreihe unter dem Titel Probleme des Sozialismus erstmals thematisiert wurde. Dadurch wurde eine Kontroverse ausgelöst, die bis weit in die Zeit des . Weltkriegs hineinreicht und  mit der Spaltung der Sozialdemokratie ein vorläufiges Ende fand. Bernsteins Schrift Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie () wurde das Gründungsdokument des später sog. Revisionismus, und damit zugleich das erste theoretische Fundament des Reformismus in der Arbeiterbewegung. Bernsteins Kritik des Marxismus war vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet eher dürftig. Seine parteiinternen Kritiker, Karl Kautsky und Rosa Luxemburg, hatten wenig Mühe, sie auf dieser Ebene abzuwehren. Entscheidend aber war, dass Bernsteins Revisionismus in den Augen vieler sozialdemokratischer Parteipolitiker und Gewerkschaftsfunktionäre eine Legitimation für ihre alltägliche Praxis bot. »Wir setzen heute durch Stimmzettel, Demonstration und ähnliche Pressionsmittel Reformen durch, für die es vor hundert Jahren blutiger Revolutionen bedurft hätte.« 91 Bernstein propagiert den Verzicht auf Gewalt in der P. zu einem Zeitpunkt, zu dem die politischen Vordenker des deutschen Bürgertums, wie etwa Max Weber, Machtstreben und Gewaltsamkeit geradezu zum Kriterium des Politischen erhoben haben; Weber hat daher auch auf die meisten Politiker der zeitgenössischen deutschen Sozialdemokratie mit Hochmut als auf ›Leute ohne Machtinstinkt‹ herabgeblickt, was sich beim Ausbruch des . Weltkrieges als ebenso realitätsnah erwiesen hat, wie später in der Novemberrevolution  und in der Weimarer Republik. Während dieser Ereignisse erwies es sich, dass der Hauptflügel der deutschen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften sich für den politischen und sozialen Kompromiss mit dem Bürgertum, für die parlamentarische Republik und den Acht-Stundentag, die Anerkennung der Gewerkschaften, Betriebsräte, bei weitgehendem

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Sozialisierungsverzicht usw., und gegen eine sozialistische Räterepublik entschieden hatte. Eine gewisse Belebung der sozialdemokratischen Reformdiskussion brachte  die von R. Hilferding, F. Naphtali, H. Sinzheimer u. a. auf der Grundlage von Ideen zur ›industriellen Demokratie‹ der englischen ›Fabier‹ entwickelte Konzeption der Wirtschaftsdemokratie, deren Realisierung aber wiederum in der großen Weltwirtschaftskrise unterging. An diese und ähnliche Konzepte haben schließlich Gewerkschaften und Sozialdemokratie der Westzonen nach dem zweiten Weltkrieg mit der Konzeption der Mitbestimmung angeknüpft, deren ursprünglich relativ weitgehenden Intentionen nun aber umgekehrt nicht an der Krise, sondern angesichts der ungeahnten Prosperität der als ›soziale Marktwirtschaft‹ bezeichneten kapitalistischen Restauration in der Bundesrepublik gewissermaßen ›abgestorben‹ sind. Den Endpunkt der programmatischen Entwicklung des Reformismus in der Arbeiterbewegung markiert das Godesberger Programm der SPD von , in dem die Partei nicht nur den formellen Abschied vom Marxismus beschlossen, sondern auch das Selbstverständnis einer reformorientierten Klassenpartei zugunsten der Konzeption einer reformistischen Volkspartei aufgegeben hat. 92 2.11 Reform und Gegenreform (Sozial-Liberalismus, Neo-Liberalismus) Es ist ein wesentliches Merkmal des sozialdemokratischen Reformismus, dass er seine eigentliche Legitimation nicht so sehr in theoretischen Reflexionen als vielmehr in der Alltagspraxis des gesellschaftlichen Lebens, in der Verbesserung der unmittelbaren Lebensbedingungen der unteren Volksschichten findet. Für die pragmatische Orientierung des sozialdemokratischen P.verständnisses als Sozialreformismus hat der ›kritische Rationalismus‹ K. R. Poppers schließlich doch noch eine theoretische Begründung gegeben. Aber schon wenige Jahre nach der Regierungsübernahme der Sozialdemokraten in der Bundesrepublik Deutschland schienen die Energien bzw. die Finanzen, und schließlich auch die Ideen für eine traditionell sozialdemokratische Reformpolitik erschöpft. Die Weltwirtschaftskrise leitete (ab ) einen allgemeinen Umschwung ein, der nicht nur das vorläufige Ende sozialdemokratischer Regierungen in Europa bedeutete, sondern

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allgemein als ›Ende des sozialdemokratischen Zeitalters‹ (Dahrendorf ) angesehen wurde. Es begann nun die Ära des Neo-Liberalismus, und mit ihm nahm die Karriere des Begriffs der Reform eine jähe Wende. Theoretisch gesehen ist der Neo-Liberalismus ein heterogenes Gemisch aus ökonomischen und politischen Ideen, die um die Begriffe ›Freiheit‹, ›Eigentum‹ und ›Markt‹ gruppiert sind; insofern erscheint er gegenüber dem traditionellen Liberalismus wenig originell. Bemerkenswert ist allenfalls die Radikalität, mit der liberale Werte und Argumentationsmuster vorgetragen und bisweilen weiterentwickelt wurden – so etwa die Theorie der Eigentumsrechte von Locke zur Verabsolutierung der ›property-rights‹ durch R. Nozick. 93 Am ehesten lässt sich der NeoLiberalismus negativ bestimmen durch die Angabe seines Hauptgegners: des ›Wohlfahrts-‹ oder ›Sozialstaats‹. Stattdessen propagieren Neo-Liberale den ›Minimalstaat‹ (Nozick), der sich auf die Rolle eines ›Spielleiters‹ (Friedman) beschränkt, ein Grund, warum sie auch als ›libertarian anarchists‹ bezeichnet wurden. 94 Zu den wichtigsten Vertretern dieser Schule zählen F. A. Hayek, M. Friedman und R. Nozick. Die Bedeutung des Neo-Liberalismus ist freilich weniger theoretischer als politisch-praktischer Natur. In den letzten beiden Jahrzehnten des . Jh. dominierten neo-liberale P.konzepte die Regierungen (›Thatcherismus‹, ›Reagonomics‹) nahezu aller größeren westlichen Staaten und v. a. auch die internationalen Beziehungen. Faktisch bedeutete dies eine Unterordnung der P. unter die anonymen Imperative des Marktes (›Marktfundamentalismus‹) im Namen von ›Freiheit‹ und ›Individualität‹. Der Begriff der ›Reform‹ war auf die Zurücknahme staatlicher Regulierung und den Abbau vorangegangener sozialer Reformen (›Deregulierung‹, ›Schlanker Staat‹), d. h. in eine Programmatik der ›Gegenreform‹ verkehrt worden. Diese Tendenz hat sich um die Mitte der er Jahre abgeschwächt, wenngleich wohl noch nicht wieder umgekehrt zugunsten einer »Erneuerung der sozialen Demokratie« auf einem »dritten Weg«. 95 Anders als in der Ökonomie konnten sich die Neo-Liberalen oder ›Libertäre‹ in der politischen Theorie nicht gegen die in dieser Hinsicht anspruchsvollere Konkurrenz des ›egalitären‹ (Dworkin) oder ›politischen‹ (Rawls) Liberalismus einerseits und gegen den zwischen Konservatismus und Sozialreformismus schwankenden ›Kommuni-

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tarismus‹ andererseits durchsetzen. Der Streit der beiden zuletzt genannten Strömungen dominierte die politiktheoretische Debatte in den er und er Jahren. In dieser Debatte ging und geht es v. a. um die ›moralischen Grundlagen‹ moderner Gesellschaften 96 um das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft oder Gemeinschaft und politischer Ordnung, um Fragen von Tugend (Bellah u. a., MacIntyre) Gerechtigkeit (Rawls, Walzer, Höffe) und demokratischer Partizipation (Barber) und nicht zuletzt um das Verhältnis von Philosophie und Demokratie (Dewey, Rorty). 2.12 Eine Renaissance von Macht und Gewalt in der Politik? (Neo-Konservatismus) Die theoretische – keineswegs praktische – Vorherrschaft der politischen Philosophie eines sozial engagierten Liberalismus ging – zunächst in den USA – seit der zweiten Hälfte der er Jahre zu Ende. Sie wurde spätestens mit dem Regierungsantritt des republikanischen Präsidenten George W. Bush  und den Terroranschlägen des . September des gleichen Jahres von einem spektakulären und medienwirksam inszenierten Aufschwung 97 neo-konservativer P.konzepte 98 abgelöst. Zwar waren neo-konservative Theorieansätze – v. a. aus dem Umkreis von Leo Strauss an der Universität von Chicago – schon in den er Jahren entwickelt worden; politischen und schließlich auch wissenschaftlich dominierenden Einfluss erhielten sie aber erst in der Folge der weltpolitischen Ereignisse seit den späten er Jahren, als die optimistischen Hoffnungen der Liberalen auf eine ›neue Welt(friedens)ordnung‹ – die nach dem Ende des ›Kalten Krieges‹ entstanden waren – in den Balkankriegen und dem Aufstieg des islamistischen Terrors politisch widerlegt schienen. Als dem Anspruch nach theoretische Grundlage der politischen Praxis der Bush-Administration erwies sich der Neo-Konservatismus – ganz abgesehen von individuellen Unterschieden zwischen einzelnen Vertretern (Fukuyama, Huntington, Kristol, Podhoretz u. a.) – keineswegs als einheitliche Doktrin, sondern eher als Konglomerat unterschiedlicher, teils unvereinbarer P.konzeptionen. Mit dem traditionellen Konservatismus teilt der Neo-Konservatismus zwar eine Reihe normativer Grundwerte (wie Religion, Familie, Nation, Tradition, Autorität), in der praktischen Wirtschafts- und Sozialpolitik

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überließen die Neo-Konvervativen jedoch den Neoliberalen weitgehend das Feld, zumal auch sie das System der Marktwirtschaft und des freien Unternehmertums zu den unverzichtbaren traditionellen amerikanischen Werten zählen. In den Fragen der internationalen P. nahmen sie vielfältige Anleihen bei zuvor etablierten Vertretern einer ›realistischen‹ Außenpolitik (Brzezinkski, Kissinger). Der ›Realismus‹ der Neokonservativen beruft sich zunächst auf den klassischen Realismus in der P. (Thukydides, Machiavelli) und teilt mit der jüngeren realistischen Schule der internationalen P. (Morgenthau, Waltz) die Überzeugung, dass P. wesentlich als ›Kampf um die Macht‹ im Innern des Staates und auf internationaler Ebene zwischen (National-)Staaten zu begreifen sei (s. o. .). Wenn nun im Zeitalter der wirtschaftlichen Globalisierung zahlreiche kleine und mittelgroße Nationalstaaten faktisch ihre Souveränität verlören, müsse an die Stelle des alten Systems der Völkerrechts und seiner Institutionen (z. B. der Vereinten Nationen und ihres Sicherheitsrates) eine neue Weltordnung (Empire America 99) treten, in der allein die USA (als ›wohlwollender Imperialist‹) die Rolle eines Garanten oder Schiedsrichters spielen könne. Neo-Konservative sind – wie ihre ›realistischen‹ Partner – grundsätzlich skeptisch gegenüber der Möglichkeit friedlicher oder gar diskursivkonsensueller Konfliktregulierung, v. a. auf dem Feld der internationalen P. Neu an der Position der Neo-Konservativen ist die auf Leo Strauss und seine Schüler zurückgehende Betonung der (moralischen) Kultur als (politisches) Wertsystem einerseits und als Machtfaktor bzw. Konfliktfeld andererseits – dies gelte sowohl für die Innen- wie für die Außen-P. Auf dem zuletzt genannten Feld sieht etwa Huntington im ›Kampf (Clash) der Kulturen‹ die Grundlage für die Neugestaltung der Welt-P. im . Jh. 100 Zentraler Bestandteil des Neo-Konservatismus ist die Überzeugung von der universellen Geltung ›westlicher Werte‹ (nach Strauss das Erbe von ›Athen‹ und ›Jerusalem‹, von griech.r Philosophie und P. und jüdisch-christlicher Religion 101) und der Notwendigkeit ihrer weltpolitischen Mission – wodurch sich politische Philosophie tendenziell in politische Theologie verwandelt. Von daher erklärt sich auch der manichäische Sprachgebrauch in Verlautbarungen von Politikern (›Achse des Bösen‹ u. ä.).

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Der nach dem . September  ausgerufene ›Krieg gegen den Terrorismus‹ weitete sich daher rasch zu einem Projekt der Durchsetzung von Freihandel (nicht zuletzt im Interesse der Energiesicherheit), politischen Menschenrechten und der Demokratisierung der Welt nach amerikanischen Vorbild aus. Neo-Konservative betonten, damit an eine lange und im Interesse der ganzen Menschheit gute Tradition amerikanischen Sendungsbewusstseins anzuknüpfen. Bei der Herstellung einer neuen, politisch-moralisch fundierten Weltordnung könne allerdings auf militärische Gewalt (etwa zum Zweck eines ›Regimewechsels‹ in ›Schurkenstaaten‹) und ggf. auch auf die politisch ›edle‹ Lüge – beides hatte Strauss unter Bezug auf Machiavelli (Il Principe) und Platon (Politeia  b–d) grundsätzlich zu rechtfertigen versucht 102 – nicht verzichtet werden; ein Umstand, der bekanntlich bei der Begründung und Durchführung des (zweiten) Irak-Krieges eine wichtige Rolle spielte. 3 Ausblick Das praktische Scheitern der neo-konservativen P. der USA um die Mitte des ersten Jahrzehnts im . Jh. – sowohl gegenüber dem internationalen Terrorismus (Al Qaida, Taliban) als auch bei der militärisch gestützten Demokratisierung des Irak oder Afghanistans – führte schon bald zu Streitigkeiten innerhalb der Gruppe der (ehemaligen) Neo-Konservativen und zur Distanzierung einiger ihrer Protagonisten (Huntington, Fukuyama, Frum) von der offiziellen Regierungspolitik, während andere (etwa Podhoretz) sie als angeblich erfolgreich weiterhin unterstützten, und wieder andere (Perle) eine Aufweichung oder gar Abkehr vom authentischen Neo-Konservatismus beklagten. Aufstieg und Fall des amerikanischen Neo-Konservatismus bestätigen eindrucksvoll die seit alters her bekannte Tatsache, dass die Wissenschaft der P. (einschl. ihrer Theorie und Philosophie) in hohem Maße von den Konjunkturen der praktischen P. abhängig ist. Es bedarf daher keines besonderen Scharfsinns, um für die absehbare Zukunft erneute politische und politikwissenschaftliche Paradigmenwechsel vorherzusagen. Angesichts eines als irreversibel anzusehenden Prozesses fortschreitender ›Globalisierung‹ wird die überkommene Trennung von ›Innen‹ und ›Außen‹ auch und gerade in der P. weiter schwinden. Das Wiederaufleben des traditionellen Nationalismus hat sich –

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inmitten einer grundsätzlich ›postnationalen Konstellation‹ (Habermas) – als historisch kurzfristiges Phänomen erwiesen, das v. a. aus der Auflösung des sowjetischen Imperiums resultierte. Zugleich hat das Scheitern des Versuchs der USA, mit vorwiegend militärischer Gewalt eine uni-polare Weltordnung zu schaffen, jedoch erneut die Unvermeidbarkeit der Pluralität des Politischen erwiesen. Dabei waren aber auch die Schwächen oder gar die Ohnmacht des bisherigen Völkerrechts und seiner Institutionen deutlich geworden. Ob sich die Autorität dieses auf langer und leidvoller historischer Erfahrung beruhenden Dispositivs der bisherigen Weltordnung für die Zukunft wiederherstellen und weiterentwickeln lässt, oder von einem multipolaren Herrschaftssystem – nach dem Modell der G-/-Staaten, vielleicht ergänzt um die aufsteigenden Weltmächte China, Indien und Brasilien – abgelöst wird, lässt sich nicht vorhersagen. Der nationalstaatliche – im Falle Europas auch der supra-nationale (EU) – Rahmen wird weiterhin für die Lösung zahlreicher politischer Probleme als Konflikt- und Entscheidungsfeld von Bedeutung bleiben. Sicher ist jedoch, dass zukünftige P.ansätze die internationale bzw. globale Dimension aller politischen Grundprobleme des . Jh., zu denen außer den traditionellen Fragen nach der guten, friedlichen und zugleich gerechten Ordnung menschlichen Zusammenlebens nun auch immer dringender die nach einem ausgewogenen Verhältnis der Menschen zu ihrer eigenen Natur (Bio-P., Genetik, Hirnforschung) wie zu ihren außermenschlichen natürlichen Lebensgrundlagen (Energie, Ökologie) getreten ist, nicht außer Acht lassen können. Diese Fragen können freilich auch in Zukunft national und global nur in einem politisch kontroversen Diskurs aller Beteiligten und Betroffenen und daher auch immer nur in der Form eines prinzipiell falliblen Konsenses oder eines vorübergehenden Kompromisses, keinesfalls aber mit polizeilicher bzw. militärischer Gewalt oder anti-politischen Mitteln, etwa der ›unsichtbaren Hand‹ des (Welt-)Marktes oder eines ›unfehlbaren‹ Rates der Weisen beantwortet werden. Abendroth, W.,  , Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie, Fft./M. – Althusser, L., , Machiavelli. Montesquieu. Rousseau, Berlin. – Arendt, H., , Was ist Politik? München. – Barber, B., , Starke Demokratie, Hamburg. – Bellah, R. N. u. a., , Gewohnheiten des Herzens. Köln. – Beyme, K. v.,  , Theorie der Politik im . Jh., Fft./M. – Bernstein, E., 

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(), Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Hannover. – Cohen, J. J./A. Areto, , Civil Society and Political Theory, Cambridge (MA). – Dewey, J.,  (), Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, Darmstadt. – Dworkin, R., , Bürgerrechte ernst genommen, Fft./M. – Elleinstein, J., , Geschichte des ›Stalinismus‹, Berlin/W. – Fetscher, I., , Einleitung. In: Th. Hobbes, Leviathan, Darmstadt/Neuwied. – Fetscher, I., , Politikwissenschaft, Fft./M. – Finley, M. I., , Antike und moderne Demokratie, Stuttgart. – Fischer, F., , Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität d. Machtstrukturen in Deutschland –, Düsseldorf. – Fischer, F., , Hitler war kein Betriebsunfall, München. – Forsthoff, E., , Vorwort. In: ders. (Hg.), Montesquieu. Vom Geist d. Gesetze, Tübingen. – Friedman, M., , Kapitalismus und Freiheit, Stuttgart. – Fukuyama, F., , Das Ende der Geschichte, München. – Gablentz, O. G. v. d., , Texte zur Gesellschaftsreform, Fft./M./Berlin/ Wien. – Gaspard, C., , Die Rousseau-Rezeption während der franz. Revolution. In: Dialektik , Köln. – Giddens, A., , Der dritte Weg. Die Erneuerung d. sozialen Demokratie, Fft./M. – Goldschmidt, W., , Politik. In: EE, Bd. , Hamburg. – Habermas, J., , Die neue Unübersichtlichkeit, Fft./M. – Habermas, J.,  , Strukturwandel der Öffentlichkeit, Fft./M. – Habermas, J., , Faktizität und Geltung, Fft./M. – Habermas, J., , Die Einbeziehung des Anderen, Fft./M. – Hayek, F. A., , Die Verfassung der Freiheit, München. – Hayek, F. A.,  (), Der Weg zur Knechtschaft, München. – Held, D. (Hg.), , Political Theory Today, – Höffe, O., , Politische Gerechtigkeit, Fft./M. – Hofmann, W., , Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie d. Ost-West-Konfliktes, Fft./M. – Honneth, A. (Hg.), , Kommunitarismus. Eine Debatte über d. moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Fft./M. – Huntington, S. P., , Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im . Jh., München/Wien. – Jaspers, K., , Max Weber. PolitikerForscher-Philosoph, München. – Kymlicka, W., , Politische Philosophie heute, Fft./M./NY. – Laslett, P., , Introduction. In: J. Locke, , Two Treatises of Government, Cambridge (MA). – Le Goff, J., , Das Hochmittelalter. Fischer-Weltgeschichte , Fft./M. – Leibholz, G., , Die Repräsentation in der Demokratie, Berlin/NY. – Löwith, K., , Von Hegel zu Nietzsche, Hamburg. – Lübbe, H., , Politische Philosophie in Deutschland, München. – Lührs, G. et al., , Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, Berlin/Bonn-Bad Godesberg. – Maier, H., , Augustin. In: H. Maier/H. Rausch/H. Denzer (Hg.), , Bd. . – Mazauric, C., , Einige neue Wege für eine politische Geschichte der Französischen Revolution. In: Die Französische Revolution, , hg. v. E. Schmitt, Köln. – Macintyre, A., , Der Verlust der Tugend, Fft./M. – Meier, C., , Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Fft./M. – Meier, C., , Politik. In: HWbPh, Bd. , Basel/Stuttgart. – Meister, R., , Studie zur Souveränität, Berlin. – Mommsen, W. J.,  , Max Weber und die deutsche Politik (–), Tübingen. – Mommsen, W. J., , Das Zeitalter des Imperialismus, Fft./M. – Moore, B., , Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie, Fft./M. – Mossé, C., , Der Zerfall der athenischen Demokratie, Zürich/Mün-

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chen. – Müller, R., , Polis und Res Publica, Weimar. – Münkler, H.,  , Imperien. Die Logik d. Weltherrschaft vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin. – Nozick, R., , Anarchie, Staat, Utopia, München. – Pepperle, H. u. I., , Die Hegelsche Linke, Leipzig. – Rauch, H., , Nachwort. In: Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens, Stuttgart. – Rawls, J., , Eine Theorie der Gerechtigkeit, Fft./M. – Rawls, J., , Politischer Liberalismus, Fft./M. – Rochau, L. A. v.,  (), Grundsätze der Realpolitik, Fft./M./Berlin/ Wien. – Rorty, R., , Solidarität oder Objektivität, Stuttgart. – Rudé, G., , Ideology and Popular Protest, London. – Sabine, G. H./T. L. Thorson,  , A History of Political Thought, Hindsdale/Ill. – Schmitt, C.,  , Der Begriff des Politischen, Hamburg. – Schmitt, C.,  , Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin. – Schmitt, C., , Frieden oder Pazifismus. Arbeiten z. Völkerrecht u. z. int. Politik –, Berlin. – Sellin, v., , Politik. In: GGb, Bd. , Stuttgart. – Speck, U./N. Sznaider (Hg.), , Empire Amerika. Perspektiven einer neuen Weltordnung, München. – Sternberger, D., , Drei Wurzeln der Politik, Fft./M. – Sternberger, D., , Herrschaft und Vereinbarung, Fft./M. – Strauss, L., , The City and Man, Chicago. – Strauss, L, , Athens and Jerusalem, Some Preliminary Reflections. In: ders., Jewish Philosophy and the Crisis of Modernity, N Y. – Talmon, J. l., , Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln und Opladen. – Vernant, J. P., , Die Entstehung des griech. Denkens, Fft./M. – Volkert, B., , Der amerikanische Neokonservatismus. Entstehung – Ideen – Intentionen. Münster. – Walzer, M., , Sphären der Gerechtigkeit, Fft./M./N Y. – Weber, M.,  , Gesammelte Politische Schriften, Tübingen. 1 Vgl.

Goldschmidt ,  f. – 2 Arendt . – 3 Sellin . – 4 Sternberger , . – 5 Finley ; Meier . – 6 Ausführlicher Goldschmidt . – 7 Vernant . – 8 Platon: Politeia b. – 9 Ebd.,  ff. – 10 Aristoteles: Politik a. – 11 Ebd., b. – 12 Meier , . – 13 Müller ,  f. – 14 Polybios: Historien, Bd. . – 15 Maier , . – 16 Sternberger ,  ff. – 17 Augustinus: Gottesstaat, Kap. ,  ff. – 18 Le Goff , . – 19 Rauch , . – 20 Machiavelli: Fürst,  und Discorsi, Vorw. – 21 Ebd., Discorsi , . – 22 Ebd., Discorsi , . – 23 Bodin: Sechs Bücher über den Staat I, . – 24 Hobbes: Vom Bürger, Vorwort; Leviathan, Kap. . – 25 Ders., Leviathan Kap. . – 26 Ebd., Kap. . – 27 Ebd., Kap. . – 28 Ebd., Kap. /. – 29 Ebd., Kap. . – 30 Laslett ,  ff. – 31 Locke: Zweite Abh., § . – 32 Ebd., § . – 33 Fetscher , . – 34 Locke, Zweite Abh., §§ –. – 35 Ebd., § . – 36 Ebd., §  – 37 Forsthoff , V I. – 38 Montesquieu, Geist, Buch XI, Kap. . – 39 Ebd. – 40 Althusser . – 41 Mazauric , . – 42 Moore ; Rudé . – 43 Rousseau, Ungleichheit. – 44 Rousseau, Gesellschaftsvertrag Buch I, Kap. . – 45 Ebd., Buch II, Kap. . – 46 Ebd., Buch II, Kap. ; Buch I V, Kap. . – 47 Ebd., Buch I, Kap. . – 48 Ebd., Buch I, Kap. ; Buch II, Kap. . – 49 Ebd., Buch I V, Kap. . – 50 Ebd.,.Buch I I I, Kap. –. – 51 Ebd., Buch. I I I, Kap. . – 52 Talmon . – 53 Gaspard ,  f. – 54 Leibholz . – 55 Sieyès, Einl. z. Verfassung. – 56 Marx in: M EW

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, . – 57 Hegel, Rechtsphilosophie §. – 58 Lübbe . – 59 Löwith . – 60 Pepperle . – 61 Rochau: Realpolitik , I. – 62 Weber a, . – 63 Ebd., ,  f. – 64 Mommsen , ; Hervorh. WG. – 65 Weber a, . – 66 Weber a,  f. – 67 Ebd., . – 68 Mommsen ,  ff. – 69 Jaspers . – 70 Mommsen ,  ff. – 71 Schmitt ,  ff. – 72 Ebd., . – 73 Schmitt , . – 74 Ebd., . – 75 Ebd. – 76 Ebd., . – 77 Ebd., . – 78 Ebd. – 79 Ebd.,  ff. – 80 Fischer , . – 81 Vgl. Schmitt . – 82 Sternberger ,  f. – 83 M EW EB , . – 84 MEW , . – 85 M EW , . – 86 M EW , . – 87 Vgl. hierzu und im Folgenden: Elleinstein . – 88 M EW , . – 89 Hofmann , . – 90 V. d. Gablentz , – 91 Bernstein, Voraussetzungen, Vorw. – 92 Abendroth . – 93 Nozick . – 94 Kymlicka ,  ff. – 95 Giddens . – 96 Honneth . – 97 Project for a New American Century . – 98 Volkert . – 99 Vgl. Speck/Sznaider ; Münkler . – 100 Huntington . – 101 Strauss . – 102 Strauss .

Werner Goldschmidt

Rechtsphilosophie

1 Zum Begriff. ›Recht‹ (R.) – griech. dike, lat. ius, franz. droit, ital. diritto, span. derecho – bezeichnet in einer Verwendungsweise eine spezifische Form der Ordnung menschlicher Verhältnisse. Dies ist eine Ordnung anhand von Normen, die von autorisierten Instanzen gemäß festgelegter Verfahren erlassen wurden oder den für die Ordnung der Verhältnisse relevanten Überzeugungen bzw. Gewohnheiten der betroffenen Menschen entsprechen oder aus einem übergeordneten regulativen Prinzip abgeleitet sind – oder mehrere dieser Bedingungen zugleich erfüllen. Man spricht dann von objektivem R. (droit objectif etc.). Im Engl. wird hierfür das Wort law verwendet, entsprechend einem in manchen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten gepflogenen Gebrauch von lat. lex, Gesetz, der sich auch in der gehobenen dt. Sprache findet, wenn ›das Gesetz‹ als Inbegriff rechtlicher Regelung von den einzelnen in einer R.ordnung geltenden Gesetzen unterschieden wird. In der Verwendung ›ein R. auf . . . ‹ bezeichnet ›R.‹ dagegen einen durch eine Form objektiven R. begründeten Anspruch auf etwas. Man spricht dann von subjektivem R. (droit subjectif etc.), engl. right, in der genannten lat. Literatur als ius von der lex als dem objektiven R. unterschieden, so etwa bei Gerson 1, aber auch bei Thomas Hobbes in seiner Unterscheidung von ius naturale, dem natürlichen Anspruch jedes Menschen auf alles 2 und der lex naturalis als natürliches Gesetz (R. im objektiven Sinne 3). Rechtliche Regeln sind in der heutigen westlichen Zivilisation durch ihre allgemeine Verbindlichkeit von solchen des Brauchtums, durch ihre Beschränkung auf die äußeren Handlungen (Legalität) von denen der Moral und durch ihren säkularen Ursprung von solchen der Religion unterschieden. Dagegen nahmen z. B. archaische R.systeme wie der Hammurabi-Kodex und ebenso das biblische R. eine enge Verbindung zur göttlichen Autorität in Anspruch. Die heute oft als ›islamisches Recht‹ bezeichnete Scharia bedeutet die von Gott gesetzte normative Ordnung. 4

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Eine wesentliche Rolle bei der Herausbildung des R. als dominanter und eigenständiger Form der Sozialregulierung spielte im Abendland das römische R., welches bis ins . Jh. in vielen Teilen Europas Gültigkeit besaß. Daneben, doch nicht davon isoliert, entwickelte sich das Kirchenrecht. Während im angelsächsischen Raum ferner das Common Law bis weit ins . Jh. wirkt, wird die kontinentaleuropäische Entwicklung wesentlich durch die aus naturrechtlichen Traditionen hervorgegangenen großen Kodifikationen wie das Allgemeine Landrecht in Preußen (), den Code Civil in Frankreich () und das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch in Österreich () geprägt. 5 Die Relationen zwischen dem R. und der Religion, der Moral und dem Brauchtum waren und sind ein Gegenstand der Rechtsphilosophie (Rph.). Ein anderer sind die Methoden und Prinzipien der in der R.praxis und der R.wissenschaft angewandten Begründungsverfahren. Es scheint sich indes der Sprachgebrauch herauszubilden, dass man von R.theorie spricht, sofern der Schwerpunkt der Untersuchung bei Fragen der juristischen Methodik und Analyse empirischer R.systeme liegt, während die Rph. sich stärker allgemeineren Grundlagenfragen zuwendet und engen Kontakt zur politischen Philosophie hält. Beispielhaft für einen emphatischen Anspruch der Rph. ist die Äußerung Kants, dem R.gelehrten bleibe »das Kriterium, woran man überhaupt R. sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne, [. . . ] verborgen«, wenn er nicht »die Quellen jener Urteile in der bloßen Vernunft« suche. »Eine bloß empirische Rechtslehre ist [. . . ] ein Kopf, der schön sein mag, nur Schade! dass er kein Hirn hat.« 6 Konsens besteht zwischen rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Positionen, dass man eine Antwort darauf zu geben habe, ob es über das positive R., also über das von den zuständigen Stellen gesetzte R. hinaus etwas gibt, das den Namen ›R.‹ verdient oder jedenfalls in rechtlichen Erwägungen beachtet werden muss, etwa als moralisches Fundament des R. Somit geben rechtsphilosophische Positionen explizit oder implizit auch eine Antwort auf die Frage, was R. ist. Man kann als Gegenpositionen in einer ersten Skizze ›Naturrechtslehren‹ (Naturrecht) – charakterisiert durch ihr kritisches Potenzial und/ oder ihre Begründungsfunktion gegenüber tatsächlich bestehenden R.ordnungen – rechtspositivistischen Überzeugungen gegenüberstellen, als deren wesentliches Erkennungsmerkmal die ›Trennungsthese‹ von

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Moral und Recht gilt. Diese impliziert, dass auch moralisch falsche R.anordnungen geltendes, daher im Prinzip zu achtendes R. sind. Gemäß der zeitlichen Abfolge werden Naturrechtslehren im folgenden primär historisch, positivistische Auffassungen im Kontext der Gegenwartsdiskussion präsentiert. 2 Zur Geschichte der Naturrechtslehren Die folgende Skizze der Naturrechtsgeschichte als Aufeinanderfolge eines R. aus der Natur, eines R. aus der Natur des Menschen und eines R. aus der Natur des R. ist stark schematisiert. Für die Konzeption dessen, wie R. zu verstehen sei, waren sie neben dem röm. R. und den anderen R.formen konstitutiv. Die Bedeutung des Naturrechts im röm. R. wird eher niedrig angesetzt. Man unterscheidet zwischen dem ius civile, das nur für römische Bürger gilt, und dem ius gentium, das nach natürlichen Maßstäben gefunden wird und überall gilt, daher auch ius naturale heißt. 7 Eine systematische Differenzierung zwischen Natur- und Völkerrecht entsteht in Europa erst im . Jh., v. a. in der Spanischen Scholastik. 8 2.1 Das Recht der Natur und das Recht Gottes Erste rechtsphilosophische Reflexionen in Form einer Gegenüberstellung von menschlichem und natürlichem R. bietet im europäischen Kulturkreis die griech. Sophistik. In Reaktion auf die Erfahrung unterschiedlicher Formen von Gesetzen und Sitten bei Griechen und Barbaren sowie die Möglichkeit, bei der Neugründung von Kolonien unterschiedliche politische Organisationen zu installieren, suchte man nach einem stabilen Maßstab für die Richtigkeit von Regelungen und fand ihn in der Natur (physis), die man menschlicher Kunstfertigkeit (techne) auf dem Sektor von R. und Moral gegenüberstellte. Einige Sophisten deuteten das menschliche R. als widernatürliche Unterdrückung der Schwachen durch die Starken, andere als Zähmung der Starken durch die Schwachen, wodurch die Starken um den aus ihrer Stärke resultierenden natürlichen Vorteil gebracht würden. 9 Gegenüber der sophistischen Kritik möchte Aristoteles zeigen, dass die Polis (Politik) und ihr R. von Natur aus, damit auch der Natur gemäß ist. Dies geschieht durch eine Art induktiven Aufbaus der Polis aus ihren Einzelbestandteilen: Mann und Frau, Herr und Knecht,

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Eltern und Kinder, Beziehungen, die für alle Beteiligten nach Aristoteles lebensnotwendig sind und gemeinsam das Haus bilden. Daraus entstehen auf Kult und gegenseitiger Hilfe basierende Dörfer. Die erste autarke Gemeinschaft ist die Polis. Das Argument für die Naturgemäßheit der Polis lautet nun, der Staat müsse von Natur bestehen, da er das Ziel der von Natur bestehenden kleineren Gemeinschaften sei und das Ziel eines Dinges sei eben die Natur. 10 Der hier verwendete teleologische Naturbegriff war über lange Zeit fundamental für die Naturrechtstradition. Heute ist er eher umstritten, da man einen naturalistischen Fehlschluss vermutet. Markant in der Geschichte des Naturrechts ist die Figur der Antigone in Sophokles’ gleichnamiger Tragödie, die gegen den ausdrücklichen Befehl des Stadtherren Kreon ihren im Kampf gegen Theben gefallenen Bruder beerdigt und sich, vom Herrscher zur Rede gestellt, auf das Gesetz der Götter beruft, an welchem der menschliche Herrscher nicht rühren könne. Naturrecht kann in diesem Sinne das ewige Gesetz einer göttlichen Allnatur oder die Anordnung einer personal verstandenen Gottheit sein, oder man deutet das ewige Gesetz der Allnatur als Anordnung der Gottheit. An dieser Stelle treffen die Begriffe des R. und des Gesetzes, dann aber auch die des natürlichen und des juristischen Gesetzes zusammen. Typisch ist die Definition und Erklärung des Gesetzes bei Thomas von Aquin, die auf der stoischen Vorstellung vom ewigen Weltgesetz der göttlichen Allnatur fußt, welches auch das Gesetz unserer Natur ist. Thomas fügt die stoische Naturrechtslehre in ein neuplatonisch-christliches Weltbild ein. Er definiert das Gesetz als eine »Anordnung der Vernunft zum allgemeinen Wohl, von jenem, der für die Gemeinschaft sorgt, verkündet« (quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet, promulgata). 11 Bemerkenswert ist, dass er das Gemeinwohl auf das Wohl der Individuen zurückführt und die Menge als Gesetzgeber vorsieht. Thomas unterscheidet die lex aeterna, die vollkommene Regelung des Universums durch die göttliche Vernunft, von der lex naturalis, der Teilhabe des ewigen Gesetzes in einem vernünftigen Geschöpf, wodurch dieses seine natürliche Neigung zum gesollten Tun und Ziel besitzt. Die menschlichen Gesetze entstehen beim Umgang der menschlichen Vernunft mit dem natürlichen Gesetz. Sie erarbeitet

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aus seinen allgemeinen und unbeweisbaren Prinzipien konkretere, auf die gegebenen Voraussetzungen bezogene Vorschriften, welche den Bedingungen eines Gesetzes genügen. Neben natürlichem und menschlichem Gesetz bleibt die lex divina bestehen, etwa zur Regelung der letzten, übernatürlichen Dinge, aber auch, um Verbrechen zu ahnden, die vom weltlichen Richter übersehen wurden. Dieses begriffliche Raster wird – manchmal mit deutlichen Neugewichtungen der Bestandteile – bis ins . Jh. weiter getragen. Immer stärker wird jedoch hervorgehoben, dass zum Gesetz im strengen Sinn eine Anordnung an ein zurechnungsfähiges Wesen gehört (Zurechnung). 12 Dem voluntaristischen Naturrecht des Ioannes Duns Scotus zufolge gelten naturrechtliche Forderungen an die geistliche wie weltliche Herrschaft, weil sie von Gott befohlen wurden und deshalb gut sind (nulla lex est recta nisi quatenus a voluntate divina acceptante est statuta). 13 Der Inhalt des Naturrechts wird bei Duns Scotus extrem reduziert. Er unterscheidet ein von Gott als Urheber der Natur geschaffenes Naturrecht und ein von Gott gesetztes positives R., welches von ersterem verschieden, da nicht zu allen Zeiten gültig ist (Tieropfer, Sakramente, etc). Natürliches Gesetz sind streng genommen nur die ersten Prinzipien, die aus den in ihrer Formulierung auftauchenden Termini notwendigerweise folgen, weil die Negation dieser Prinzipien selbstwidersprüchlich wäre. Diese Bedingung wird nicht einmal von den Geboten auf der zweiten Tafel des Dekalogs (du sollst nicht töten, stehlen, ehebrechen etc.) erfüllt. Es gibt nur ein solches notwendiges Prinzip: Man soll Gott lieben und verehren. Die Gebote der zweiten Tafel sind deshalb Naturgesetze, weil sie in herausragender Weise mit dem ersten Prinzip übereinstimmen. Angesichts dieser inhaltlichen Reduktion und der Bindung des R. an den Willen Gottes wird dem Voluntarismus eine wichtige Rolle bei der Abkehr vom teleologischen Naturrecht zugeschrieben. 2.2 Das Recht aus der Natur des Menschen Hier lassen sich zwei fundamental verschiedene Ansätze ausmachen. Dies ist erstens die aristotelische Bestimmung des Menschen als zoon politikon. Sie bildet manchmal die Grundlage, manchmal die Gegenposition, jedenfalls den Ansatzpunkt für die meisten folgenden Theorien über die politische oder apolitische Natur des Menschen.

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Dies ist zweitens Thomas Hobbes’ Charakterisierung des Menschen als trotz seiner sozialen Lebensform vereinzeltes Lebewesen, welches aufgrund seiner Sprachfähigkeit vom künftigen Hunger hungrig und damit gefährlicher wird als jedes Tier. In der Argumentation für die Behauptung, der Staat sei von Natur aus, legt Aristoteles dar, warum und in welchem Sinne der Mensch von Natur ein zoon politikon, ein staatenbildendes Lebewesen ist, so dass der außerhalb der Polis Lebende mehr sein muss als ein Mensch oder weniger als ein Mensch in seiner vollständigen Entwicklung, ein Gott oder ein Tier. Der Mensch ist nach Aristoteles mehr zoon politikon als die anderen Staaten bildenden Lebewesen, weil er nicht nur, wie die Tiere, Stimme (phone) besitze, um das Angenehme und das Unangenehme, sondern auch argumentierende Rede (logos) um das Nützliche und Schädliche, das Gerechte und Ungerechte mitzuteilen. Die Gemeinschaft in diesen Dingen aber schaffe erst Haus und Staat. 14 In der Naturrechtstradition wurde die aristotelische Lehre von der natürlichen Geselligkeit der Menschen oft als These von der Natürlichkeit der faktisch vorhandenen Staaten gedeutet, was zumindest nicht zwingend ist. Thomas Hobbes wendet die resolutiv-kompositive Methode der Naturwissenschaft auf das Gebiet der politischen Wissenschaft an. Der als Resultat einer gedachten Auflösung der staatlichen Beziehungen angenommene hypothetische Naturzustand ist für Hobbes der Krieg aller gegen alle, da die Menschen aufgrund der durch ihre Sprachfähigkeit bewirkten Furcht vor zukünftiger Not stets bereit sind, einander zu töten. 15 Um diesem Zustand zu entrinnen, unterwerfen sich die Menschen in einem wechselseitigen Unterwerfungsvertrag einem Souverän. Wie die menschliche Gewalttätigkeit auf den Verstand des Menschen zurückzuführen ist, entspringt somit auch die Unterwerfung unter die Gewalt des Souveräns einer rationalen Entscheidung. Gemäß ihrer Gleichheit und Bedrohtheit haben die Menschen zunächst ein natürliches R. – ein ius naturale – auf alles, inklusive aller dazu erforderlichen Mittel. Allerdings nützt den einzelnen dies im Naturzustand nichts, da alle anderen dasselbe R. haben. Daher lehren ihn die natürlichen Gesetze, die leges naturales, wie er aus diesem Zustand entrinnen kann. Das erste davon lautet, dass man den Frieden suchen soll, solange dies möglich ist, ansonsten aber sich nach Hilfe für den

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Krieg umsehen muss. Direkt aus ihm wird ein anderes abgeleitet, demzufolge man das natürliche Recht in einem Unterwerfungsvertrag mit den anderen künftigen Untertanen zugunsten eines Souveräns aufgibt, der seinerseits als Begünstigter kein Vertragspartner ist, sondern sein natürliches R. auf alles behält. Das objektive staatliche R. ist demnach das subjektive R. des Souveräns auf alles, das ihm im Naturzustand zu eigen war. 16 Man erkennt am Beispiel des Thomas Hobbes sehr deutlich, dass die Begründung von Widerstandshandlungen seit jeher nur eine Verwendungsweise für naturrechtliche Argumentationen ist. Ebenso wichtig ist die Legitimation staatlicher Zwangsgewalt. Im Mittelpunkt von Samuel Pufendorfs auf Verbindung beider Konzeptionen bedachter Naturrechtslehre steht nicht das R., sondern die Pflicht des Menschen. 17 Sie resultiert aus seiner Schwäche (imbecillitas) und der damit verbundenen Angewiesenheit auf andere Menschen. Um die allgemeine Beachtung dieser Pflichten zu sichern, bedarf es einer staatlichen Zwangsordnung. Die durch die Vernunft aufzeigbare essenzielle Rolle des Naturrechts für die socialitas, die Geselligkeit, ist zugleich sein Geltungsgrund. Positives R. verdankt dagegen seine Geltung dem Willen des Souveräns, göttliches R. dem Willen Gottes. Die Gesetze des letzteren werden daher durch die Offenbarung ermittelt, die des Naturechts durch die Vernunft. Wichtig für das Naturrecht in Deutschland ist der an der Universität Halle lehrende Christian Thomasius, der zwar nicht den Vertrag als Grundlage des R. anerkennt, da ein Vertrag für sich nicht verpflichte, sondern nur, wenn er mit dem Naturrecht oder mit dem positiven R. übereinstimme, wie Hobbes jedoch das positive R. als Befehl des Herrschers erklärt (lex pro jussu sumitur, non doctoris, sed imperantis). 18 Die Signifikanz des anthropologischen Naturrechts besteht heute darin, dass R.systeme und R.theorien zunächst jedenfalls für die in absehbarer Zeit lebenden Menschen gemacht werden und heute klar sein dürfte, dass kurzfristige Umerziehungsmaßnahmen wenig Erfolg versprechend sind. Allerdings braucht man kein differenziertes Wissen darüber, wie die Menschen eigentlich sein könnten, sondern es genügen leicht verifizierbare Beobachtungen über ihr zu erwartendes Verhalten, auf die auch H. L. A. Hart und J. Rawls rekurrieren (vgl. .).

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2.3 Das Recht aus der Natur des Rechts Im ausgehenden . und im . Jh. beginnt eine intensive Diskussion über das Grundprinzip des Naturrechts. Dazu gibt es naturrechtliche Untersuchungen zu einzelnen Fragestellungen, etwa des Strafrechts, die sich als theoretisch enorm fruchtbar erweisen. Bei der Suche nach dem letzten Prinzip des Naturrechts, welches als Obersatz für einen Syllogismus zur Begründung konkreter moralischer Forderungen taugen und zudem so einfach sein sollte, dass auch der Mann auf der Straße seine konkreten moralischen Probleme subsumieren konnte, entstanden heute noch vertraute Vorschläge. Einer fordert, so zu handeln, dass möglichst viel Gutes und für so viele wie möglich erreicht »und soviel Glück verbreitet wird, wie die Natur der Dinge es zulässt«. Autor dieses lange Zeit J. Bentham und später F. Hutcheson zugeschriebenen utilitaristischen Grundsatzes ist G. W. Leibniz. 19 Weitere Wege hin zu einem Grundprinzip des Naturrechts waren der Verweis auf die Goldene Regel (»Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu!«) und das Prinzip der Verallgemeinerung, wonach das, dessen allgemeine Unterlassung zum Untergang der Menschheit führen würde, vom Naturrecht geboten und das, dessen allgemeine Durchführung zum Untergang der Menschheit führte, vom Naturrecht verboten ist. Diese Prinzipien fanden Eingang in Kants erste Formulierung des kategorischen Imperativs: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«. 20 Doch übte das Vernunftrecht des . Jh. auch einen immensen Einfluss auf die umfangreichen Kodifikationsunternehmen in Preußen, Österreich und Frankreich aus, die gegen Ende des . und zu Beginn des . Jh. ihren Abschluss fanden. Hier war unbestritten das Werk Christian Wolffs von herausragender Bedeutung. Die R.lehre aus Kants Metaphysik der Sitten kann in ihrer Präzision und methodischen Durchdringung als Höhepunkt und Paradigma der vernunftrechtlichen Argumentationsweise angesehen werden. Kant will anhand der ›bloßen Vernunft‹ die Grundlage einer möglichen positiven Gesetzgebung erschaffen. Dies ist möglich, da alle R.sätze Vernunftgesetze und daher apriorisch sind. Er definiert das R. als »Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit

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zusammen vereinigt werden kann.« Es geht dabei um ein äußeres Verhältnis von Personen, um deren Handlungen, nicht um ihre Absichten und Wünsche. 21 Das R. ist ferner nach einem Satz apriori mit der Befugnis zu zwingen verbunden. Diese Verbindung von R. und Zwang einerseits, von R. und Freiheit andererseits führt zur Formulierung des einzigen natürlichen subjektiven, wie Kant sagt »angeborenen« R. auf Freiheit im Sinne der »Unabhängigkeit von eines Andern nötigender Willkür«, da nur wechselseitiger Zwang nach Gesetzen als rechtlicher akzeptiert werden kann. 22 Kant teilt das R. ein in Privatrecht und öffentliches R. oder Staatsrecht. Das Privatrecht ist eine Regelung des äußeren Mein und Dein, also im wesentlichen ein Besitzrecht »Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter R.gesetzen. So fern diese als Gesetze a priori notwendig, d. i. aus Begriffen des äußeren R. überhaupt von selbst folgend, (nicht statutarisch) sind, ist seine Form die Form eines Staats überhaupt, d. i. der Staat in der Idee, wie er nach reinen R.prinzipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient.« 23 Auch für Hegel ist philosophisches R. oder Naturrecht, sofern man den Namen aus historischen Gründen beibehalten möchte, wesentlich Vernunftrecht, wofür es einer philosophischen R.wissenschaft bedarf, die sich mit der Idee des R. befasst. 24 Doch warnt er, dessen Verschiedenheit vom positiven R. »darein zu verkehren, dass sie einander entgegengesetzt und widerstreitend sind, wäre ein großes Missverständnis«. 25 Zwar lässt sich die Frage, ob eine R.bestimmung vernünftig ist, legitimerweise stellen. Als Reaktion auf ihre Unvernünftigkeit scheint Hegel jedoch weniger an eine Korrektur nach einem überall gültigen Maßstab, denn an eine sinnvolle Fortentwicklung unter Berücksichtigung des Zweckes, der Zeit, der Rahmenbedingungen etc. zu denken. Dies ist ein Aspekt in Hegels Versuch, R. und Moral in der Sittlichkeit aufzuheben. 3 Varianten des Rechtspositivismus und die aktuelle Diskussion Seinen Namen verdankt der R.positivismus den Theorien, für die nur das von staatlichen Instanzen gesetzte R. als solches zu gelten hat, Theorien, die man unter dem Titel etatistischer Positivismus zusammenfasst. Zentral für die meisten rechtspositivistischen Theorien ist

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die ›Trennungsthese‹, wonach kein notwendiger Zusammenhang zwischen R. und Moral besteht, noch weniger zwischen R. und Religion. Ein Leitgedanke für den Versuch, naturrechtliche, vernunftrechtliche und Sittlichkeitserwägungen etc. aus dem Recht herauszuhalten, ist der Wunsch, das R. wissenschaftlich bearbeitbar und damit zuverlässiger, von subjektiven Momenten wie den individuellen Wertüberzeugungen des Richters weniger abhängig zu machen. 26 3.1 Methodologischer Positivismus Das Ideal wissenschaftlichen Vorgehens ist im rechtlichen Kontext die rein logische Deduktion der richterlichen Entscheidung aus dem Gesetzestext und den festgestellten Tatbestandsmerkmalen. Um eine solche bemüht sich der methodologische Positivismus, der auch ›wissenschaftlicher Positivismus‹ oder ›Begriffsjurisprudenz‹ genannt wird und v. a. im . Jh. große Bedeutung in verschiedenen juristischen Traditionen Europas gewann. Dem Programm streng logischer Deduktion steht jedoch die Vagheit der Sprache des R. entgegen. Das R. ist zudem kein kohärentes und vollständiges deduktives System. Die im . Jh. von Gesetzespositivisten wie K. Bergbohm angenommene Vollständigkeit des R.systems entspricht nicht der Realität. Es gibt eine nicht unerhebliche Zahl von Fällen, in denen eine richterliche R.fortbildung in der einen oder anderen Form, bis hin zur contra-legem-Entscheidung unerlässlich ist. Die Ablehnung der Begriffsjurisprudenz dürfte einer der wenigen Punkte sein, in denen in der aktuellen Diskussion weitgehend Einigkeit besteht. 27 3.2 Der etatistische Positivismus R. ist nach Auffassung der als ›etatistischer Positivismus‹ bezeichneten, auf Thomas Hobbes, vielleicht bereits auf Marsilius von Padua zurückgehenden Richtung ein sanktionsbewehrter Normenkatalog. Charakteristisch sind dabei die Nicht-Anerkennung überstaatlicher, z. B. religiöser Autoritäten als weltliche Machthaber und, damit verbunden, die Ersetzung der Frage nach der Richtigkeit des Gesetzes durch die nach dem legitimen Gesetzgeber. Der Gesetzespositivismus der letzten Jh.wende steht paradigmatisch für dieses zweite Charakteristikum. Nach Auffassung klassischer Vertreter wie Bergbohm und

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G. Anschütz ist es nicht die Aufgabe des Juristen, rechtliche Stellungnahmen über die moralische Qualität eines Gesetzes abzugeben, sofern es formell korrekt erzeugt ist. Der Bentham-Schüler John Austin ist indessen eines der markantesten Beispiele dafür, dass R.positivismus nicht mit moralischem Relativismus oder auch nur Nonkognitivismus verknüpft sein muss. Grundbegriff des R. ist nach Austin der Befehl eines Mächtigeren gegenüber einem Untergebenen, ein Befehl, der mit der Androhung eines Übels bei Nichtbefolgung verbunden ist. Eine R.norm ist ein generalisierter Befehl, der sich nicht auf Einzelsituationen, sondern auf Handlungstypen bezieht. Um zu wissen, was R. ist, muss man lediglich die Befehle des Souveräns kennen. Allerdings kann es moralisch erlaubt, sogar geboten sein, sich gegen das geltende R. zur Wehr zu setzen. 28 Im Unterschied zu Austins Befehlstheorie des R. sowie zum psychologischen und soziologischen Positivismus tritt Hans Kelsen unter Berufung auf den Neukantianismus für eine strikte Trennung von Sein und Sollen ein. Er bemüht sich um eine Reinigung der R.wissenschaft von allen empirischen, insbes. soziologischen Implikationen und Verknüpfungen und fordert »den Verzicht auf die eingewurzelte Gewohnheit, im Namen der Wissenschaft vom R., unter Berufung also auf eine objektive Instanz, politische Forderungen zu vertreten, die nur einen höchst subjektiven Charakter haben können, auch wenn sie im besten Glauben, als Ideal einer Religion, Nation oder Klasse auftreten«. 29 Geltungsgrund einer Norm kann nur eine andere Norm sein. Auf der untersten Ebene des in seiner Reinen Rechtslehre angenommenen »Stufenbaus der R.ordnung« stehen z. B. Zwangsakte wie die Vollstreckung eines Gerichtsurteils, die dadurch zum R.akt wird, dass eine »individuelle Norm« (sc. das Gerichtsurteil) als rechtliches »Deutungsschema« fungiert. Geltungsgrund einer individuellen Norm ist eine generelle Norm (z. B. ein Gesetz), der wiederum eine Norm höherer Stufe als Geltungsgrund dient usf. Letzter Geltungsgrund, der u. a. die Geltung der Verfassung sichert und die Einheit und Geltung der R.ordnung gewährleistet, ist eine hypothetische, vorausgesetzte »Grundnorm«. Das durch die Grundnorm begründete rechtliche Sollen steht in keinerlei Zusammenhang mit irgendeiner Moral. Wissenschaftliche Betrachtungsweise ist mit der Annahme einer absolut gültigen Moral

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angesichts der Vielzahl vorhandener Moralsysteme unvereinbar. Es gibt auch nicht so etwas wie ein sämtlichen Moralsystemen gemeinsames Minimum wie etwa die Forderung nach Frieden. Dieses Dogma von der prinzipiellen Unwissenschaftlichkeit aller moralischen Argumentation in Verbindung mit der Ablehnung der Begriffsjurisprudenz lässt ihn die Gerichtsentscheidung als ›Willensakt‹ im freien Ermessen des Richters deuten. Dies entspricht jedoch nicht der Art und Weise, in der gerichtliche Entscheidungsfindungen in modernen R.systemen gewöhnlich ablaufen. Das Ziel, die R.wissenschaft völlig von soziologischen und psychologischen Elementen zu reinigen, scheint angesichts der engen Verflechtung von R.wirksamkeit und R.geltung ferner ebenso verfehlt wie unerreichar. Der Anspruch schließlich, positive R.systeme wissenschaftlich zu beschreiben, erscheint unvereinbar mit der Schöpfung einer Konstruktion namens ›Grundnorm‹, die weder präzise formulierbar, noch den meisten Juristen bekannt, außerdem moralisch inhaltsneutral, dennoch der normative Grund für deren R.anwendung sein soll. 30 3.3 Psychologischer und soziologischer Positivismus In der intensiven rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Diskussion des . und . Jh. entwickelten sich verschiedene Theorien, die weder naturrechtliche Argumentationen noch eine Befehlstheorie des R. zu akzeptieren bereit sind. R. identifizieren sie entweder mit den Bewusstseinsinhalten, Überzeugungen der R.unterworfenen und dem von ihnen wechselseitig als R. Anerkannten (E. R. Bierling, G. Jellinek, skandinavischer Realismus), oder sie machen das sprachliche und nichtsprachliche Verhalten bestimmter Gruppen – wie von Richtern und anderen Amtspersonen – und soziologische Interessenkonstellationen zur Basis dessen, was R. ist (E. Ehrlich, M. Weber, Th. Geiger, amerik. R.pragmatismus). Beide Richtungen, die man auch unter dem Titel ›R.realismus‹ zusammenfasst, wollen das R. durch Fakten beschreiben und erklären. Sie halten rechtliches und moralisches Sollen für einen unwissenschaftlichen Mythos, ein Relikt aus naturrechtlich geprägten Urzeiten. R.geltung ist allein als sozialpsychologisches bzw. soziologisches Faktum von wissenschaftlichem Interesse. 31 Eine prinzipielle Schwierigkeit solcher Reduktionen von präskriptiven auf deskriptive Sätze besteht darin, dass Sollenssätze, also Forderun-

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gen, eine andere semantische Struktur besitzen als Seinssätze. Wir machen bei Sollenssätzen in dem Fall, dass der Satz nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, nicht den Satz, sondern die Wirklichkeit verantwortlich. Wir sagen nicht, wir hätten uns geirrt, sondern wir sagen, wir müssten versuchen, den betreffenden Zustand zu ändern. 3.4 Harts Deutung des Rechts als Einheit von primären und sekundären Regeln H. L. A. Harts Kritik der Befehlstheorie benennt zunächst die ›extensionalen‹ und inhaltlichen Unterschiede von R.normen und Befehlen: Staatliche Regeln beziehen sich auf einen allgemeinen Verhaltenstypus und auf eine allgemeine Personenklasse und sind außerdem gewöhnlich auf Dauer angelegt. R.regeln werden großenteils auch ohne unmittelbaren Zwang beachtet. Es gibt Normen, die private Befugnisse erteilen und das Vorgehen in bestimmten Situationen regeln, etwa welche Bedingungen Wechsel, Verträge, Testamente erfüllen müssen, um gültig zu sein. Es gibt zudem Normen, die Zuständigkeiten von Behörden, Gerichten und Gesetzgebungsorganen regeln. Diese beiden Typen von Normen bezeichnet Hart als sekundäre Regeln. Sie geben nicht unmittelbar Anweisungen, die zu befolgen sind, sondern regeln Zuständigkeiten, Verfahrensmodi etc. Hart unterscheidet sie von primären Regeln, die tatsächlich allgemein bestimmte Verhaltensweisen gebieten oder verbieten. Ferner kann eine Theorie, die R. als Befehl des Souveräns definiert, nicht die Kontinuität der gesetzgeberischen Autorität über mehrere Gesetzgeber hinweg erklären, ebenso wenig die Geltung der Gesetze über den Tod des Gesetzgebers hinaus, somit weder die Geltung primärer noch sekundärer Regeln. Besser als durch das Konzept des Befehls lässt sich das R. durch die Verbindung von primären, verhaltensregulierenden und sekundären, Befugnisse erteilenden Regeln beschreiben. Dass da, wo es Recht gibt, das Verhalten der Menschen nicht beliebig, sondern obligatorisch ist, sollte ferner nicht durch Zwang, sondern durch die Rede von einer Verpflichtung erklärt werden, da die Rede vom Zwang faktisches Verhalten beschreibt, inklusive der Feststellung, dass jemand auch tat, wozu er gezwungen wurde. Verpflichtet sein konnte er auch zu etwas, das er nicht tat.

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Beim R. wie auch bei der Moral kann man zwischen einem internen und einem externen Aspekt der Regeln unterscheiden. Ersterer besteht in der Auseinandersetzung mit dem verpflichtenden Charakter einer Regel, den man akzeptieren oder auch angreifen kann, doch stets mit Argumenten über ihre Berechtigung oder Nicht-Berechtigung, mit präskriptivem Vokabular also. Für den externen Aspekt genügt die bloße Feststellung, dass die Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft eine bestimmte Regel beachten, ohne dass damit über die Berechtigung dieser Praxis etwas gesagt würde. Zur Identifikation der R.regeln dient nach Hart die Erkenntnisregel (rule of recognition), die festlegt, wie R.regeln als solche identifiziert werden. Da dies in modernen R.systemen die gesamte Praxis der R.gewinnung ist, spricht Hart hier von einer sozialen Regel, deren Existenz nur noch festgestellt werden kann, die man nicht mehr durch eine allgemeinere Regel rechtfertigen kann. Sie tritt in seiner Theorie an die Stelle von Kelsens ›Grundnorm‹ und existiert »nur als komplexe, aber normalerweise koordinierte Praxis der Gerichte, Beamten und Privatpersonen, wenn sie mit Hilfe gewisser Kriterien identifizieren, was R. ist«. 32 Da Hart für eine Trennung von R. und Moral und, als Konsequenz daraus, für die Beibehaltung der Rede von R. auch im Falle ›pathologischer‹, offenkundig ungerechter, R.systeme plädiert, sieht auch er sich, trotz aller Kritik an früheren positivistischen Konzeptionen, als Positivist. 3.5 Wiederbelebung des Naturrechts und Vereinigungsversuche Spätestens mit Hart finden auch Versatzstücke naturrechtlicher Argumentation wieder ihre Anwendung. So gründet er im Anschluss an Hobbes und Hume seinen minimum content of natural law auf einige truisms, banale, kontingente Feststellungen über die Menschen. Er nennt Verletzlichkeit, approximative Gleichheit, begrenzten Altruismus, begrenzte Mitte, begrenztes Verstehen und begrenzte Willensstärke, die ein mit Zwangsbefugnis ausgestattetes R.system und eine Eigentumsverteilung notwendig, aber auch möglich machen. 33 Diese anthropologischen Fundamente benutzt auch John Rawls bei seiner Wiederbelebung des zentralen Vehikels der neuzeitlichen Naturrechtsdiskussion, der Vertragsmetapher, die für über  Jahre ein nur noch historisch interessantes Stück Theoriegeschichte war. Rawls geht

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es in A Theory of Justice weniger um die Legitimation von Herrschaft als um die Verhältnisbestimmung von Freiheit und Gerechtigkeit der Güterverteilung. Er nennt zwei Prinzipien: Erstens muss jeder und jede die größtmögliche Freiheit haben, die sich mit der Freiheit der anderen vereinbaren lässt. Zweitens können ungleiche Güterverteilungen nur insofern akzeptiert werden, wie sie auch diejenigen, die dabei am schlechtesten wegkommen, absolut gesehen besser stellen, als es ihnen bei einer Gleichverteilung ginge; die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu politischen Ämtern müssen stets gewährleistet bleiben. 34 John Finnis bezeichnet als Naturrecht die vorausgesetzten normativen Standards, die Annahmen hinsichtlich dessen, was für das menschliche Leben gut ist etc., die jede – auch jede positivistische – R.theorie zumindest implizit anwenden muss, um ihren Zweck erfüllen zu können. 35 Der institutionalistische Positivismus Neil MacCormicks und Ota Weinbergers versucht, in theoretischer Nähe zu Hart die Schwierigkeiten beider Konzeptionen zu vermeiden. Aus den Ansätzen, die in den letzten Jahrzehnten den Versuch machten, die Kluft zu unterlaufen oder einzuebnen sei die R.hermeneutik genannt (G. Radbruch, A. Kaufmann, W. Hassemer). 36 Am international einflussreichsten in dieser Richtung ist derzeit Ronald Dworkin, der R. als interpretativen Begriff deutet. Zweck der Interpretation, wie Dworkin sie sieht, ist jedoch nicht das Verstehen von Texten, Autoren, Kulturen etc., sondern eine durch die Zwecke des Interpreten mitbestimmte, aktiv gestalterische Auslegung des vorliegenden Materials. Durch solch eine kreative Auslegung der relevanten R.quellen unter Verwendung anerkannter Grundsätze erarbeiten wir die R.lage für den konkreten Fall. Dworkin begründet ferner seine Zweifel an der Trennbarkeit von R. und Moral, damit einen Angriff auf die Kernthese des Positivismus, indem er die Existenz eines moralunabhängigen Herkunftstests für R.regeln in Frage stellt. Zum Recht gehören für ihn nicht nur Regeln, die er als klare Relation zwischen Tatbestand und Folgen versteht, sondern auch Prinzipien und politische Ziele. Prinzipien sind generelle R.grundsätze wie der, dass niemand aus einer Straftat legalen Nutzen ziehen soll. Wenn Prinzipien in der juristischen Argumentation herangezogen werden, so geht es nicht um die zumeist gegebene Anwendbarkeit, sondern um die Gewichtung im Einzelfall.

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Falsch an seiner Kritik an Hart ist, dass er den Charakter der Erkenntnisregel als soziale Regel im Sinne Wittgensteins, die Prinzipien problemlos zu umfassen vermag, nicht genügend berücksichtigt. Allerdings ist es tatsächlich etwas eigenwillig, wenn nicht irreführend von Seiten Harts, einen derart verschlungenen Komplex von Institutionen als eine Regel zu bezeichnen. Und trotz seines Missverständnisses trifft Dworkin etwas Wesentliches: Entweder umfasst die Erkenntnisregel alle juristisch relevanten Rechtfertigungsgründe, also auch die moralischen. Dann taugt sie zumindest nicht zur klaren Abgrenzung. Oder sie umfasst sie nicht, dann taugt sie nicht zur vollständigen Beschreibung des R.systems. Was das R. ist, bestimmt sich nach Dworkin durch eine kreative und richtige Interpretation der vorhandenen R.quellen, zu denen auch solche moralischer Natur zählen. Allerdings spricht Dworkin nicht so sehr die Moral im Allgemeinen an, wenn er das Wort verwendet – etwa im Sinne der Aufklärungs-Moralität –, als vielmehr die Moral einer Gemeinschaft, die er als die beste kreative Interpretation der bestehenden Institutionen versteht. Die beste Interpretation qualifiziert sich dadurch, dass sie am ehesten dem Integritätsideal entspricht, dem Ideal einer fairen, gerechten und fürsorglichen Gemeinschaft, das in Gesetzgebung und R.sprechung umgesetzt werden soll. Dem Richter etwa hält er ein idealisiertes Modell namens Herkules vor, welches durch eine holistische Sichtung, Auswahl und Interpretation der relevanten R.quellen dieses Integritätsideal am besten umzusetzen vermag. 37 3.6 Die Diskussion um die Trennungsthese Wer – um damit zu beginnen – beschreiben will, was von öffentlichen Autoritäten in bestimmten Gegenden zu bestimmten Zeiten als R. festgesetzt bzw. was von größeren Teilen der Bevölkerung als solches angesehen wird, sollte nicht seine Beobachtungen mit seinen – wenn auch noch so begründeten – Überzeugungen darüber, wie R. auszusehen habe, vermengen. Aus externer Perspektive scheinen die Vertreter der Trennungsthese daher recht zu haben. 38 Seit dem . Jh. 39 trennt man ferner zwischen einem Bereich des persönlichen Bemühens um das individuelle Glück und der öffentlichen Sphäre des R., in welcher Handlungen berücksichtigt werden, soweit sie gesetzwidrig in das Leben anderer eingreifen. Die Motive für den

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R.gehorsam sind nicht mehr Gegenstand des R. Diese Trennung von Legalität und Moralität dient nicht so sehr der Immunisierung staatlicher Organe gegen öffentliche Kritik, sondern eher dem Schutz des einzelnen vor staatlicher Gewissenskontrolle. Bei der Bestimmung dessen, was R. ist, kommen allerdings immer wieder moralische Argumentationen zum Tragen, wie Dworkin gegenüber Hart hervorhob. Man kann eine in gewissem Sinne notwendige Verbindung zwischen einem R.system und moralischen Argumenten kaum bestreiten, wenn diese ein Bestandteil der R.findungsverfahren sind. Auch der Positivist Hart weist zudem darauf hin, dass in der R.sprechung der Anspruch auf Richtigkeit der richterlichen Entscheidung erhoben wird, besonders, wenn die Gerichte rechtsschöpfend bzw. rechtsfortbildend tätig werden müssen. Umstritten ist, ob dieser ›interne Aspekt‹ des R. von moralischen Forderungen abgekoppelt werden kann und soll. Nach dem von allen etatistischen Varianten des R.positivismus für die Trennungsthese vorgebrachten Argument der R.sicherheit garantiert erst die Loslösung von Recht und individueller oder gruppenspezifischer Moral den inneren Frieden. Spätestens seit Locke hält man dagegen, ab einem gewissen Maß an Ungerechtigkeit könne der Bürgerkrieg das geringere Übel sein. In weniger martialischer und weniger individuenbezogener Ausdrucksweise besagt die ›Radbruchsche Formel‹ Ähnliches, derzufolge auch ungerechtes positives R. Gültigkeit beanspruchen kann, »es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ›unrichtiges R.‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat«. 40 Wer aber soll bestimmen, was ein unerträgliches Maß an Ungerechtigkeit ist? Trotz aller Versuche, allgemein verbindliche Kriterien zu finden, muss während einer Unrechtsherrschaft die letzte Entscheidung dem und der einzelnen nicht nur überlassen, sondern auch zugemutet werden. Schließlich kann das Individuum im Falle der Ablösung eines Unrechtsregimes durch eine andere Regierung erst von der einen, dann von der anderen Seite, nicht selten sogar von beiden, zur Rechenschaft gezogen werden. Die häufig vertretene Ansicht, der R.positivismus habe das nationalsozialistische Unrecht befördert, ist zwar zumindest missverständlich, weil die führenden Positivisten nicht daran beteiligt, wenn nicht gar

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von den Nationalsozialisten verfolgt waren, und ein Unrechtsregime mit einem inhaltlich neutralen, formal jedoch konsequenten positivistischen System denkbar schlecht bedient ist. Trotzdem scheint es angesichts der empfehlenden Wirkung, welche das Wort ›R.‹ im gewöhnlichen Sprachgebrauch offensichtlich unauslöschbar mit sich trägt, leichter, besonders krassen staatlichen Verstößen gegen die Gerechtigkeit zwar nicht vom externen, wohl aber vom internen Standpunkt aus den R.charakter abzusprechen, als diesen Sprachgebrauch zu verändern. Durch die unvermeidliche Verzahnung der juristischen Sprache mit der Umgangssprache hat R. Alexys schwache Verbindungsthese gegenüber der Trennungsthese den Vorteil, dass sie keine schwer durchführbare Revision des Sprachgebrauchs und der mit ihm verknüpften Alltagsüberzeugungen in Angriff nehmen muss. Die Frage, ob R. und Moral getrennt werden können und sollen, wird jedoch für unterschiedliche Formen der Moral verschieden zu beantworten sein. So wird man auf die im Naturrecht der Aufklärung wurzelnde Moralität oder Minimalmoral, die auf Prinzipien wie Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit und jenes, dass jeder Mensch nicht nur Mittel, sondern auch Zweck an sich selbst sein soll, rekurriert, zurückgreifen und zurückgreifen müssen, während regionale Sitten aufgrund ihrer Partikularität und religiöse Moralkodizes aufgrund ihrer Bindung an höhere Glaubenswahrheiten hinter dem R. in den Bereich des Privaten zurücktreten müssen. Gerade in einer liberalen Demokratie kann man indessen das R.system nicht völlig aus den moralischen Auseinandersetzungen heraushalten. Wichtig ist, dass es gegenüber bestimmten Veränderungen durch Festschreibung der individuellen Bürger- und Menschenrechte immunisiert wird. 3.7 Subjektive Rechte, Menschenrechte, Bürgerrechte Weil das Insistieren auf natürlichen individuellen R.en oftmals als antidemokratisch und unmoralisch gebrandmarkt wurde, gilt es, die Rede von Menschenrechten sorgfältig von der von subjektiven R. im Allgemeinen zu trennen, die mit extremen Formen der Gruppen- und Statusprivilegierung bis zum R. auf Sklavenhaltung vereinbar sein kann. Wenn von Menschenrechten die Rede ist, so legt der Begriff nahe, dass sie erstens dem Menschen, insofern er ohne jede weitere Qualifikation Mensch ist, und zwar jedem Menschen ohne Rücksicht

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auf Geschlecht, Hautfarbe, Rasse, Stand zustehen, dass sie zweitens nicht willkürlich aufgegeben werden können und unverzichtbar sind. Man hat sie, weil man Mensch ist und solange man Mensch ist. Man kann Menschenrechte einteilen in Abwehrrechte gegen den Staat, politische Partizipationsrechte und R. auf soziale Rücksichtnahme; ein anderer Weg ist die Unterscheidung von Bürgerrechten, deren Beachtung ein Staat allen seinen Bürgern, aber eben nur seinen Bürgern schuldet, und Menschenrechten, die er allen Menschen gegenüber zu bewahren hat. 41 Der Ursprung des subjektiven R. wie der Menschenrechte geht wohl auf die Werke der sog. Dekretisten, also von Kirchenrechtlern des . Jh. zurück, wo sich der Schwerpunkt des Naturechtsbegriffs von einer alles beherrschenden allgemeinen Ordnung im Sinne der stoischen lex aeterna zu der dem Menschen eigenen Fähigkeit, richtig und falsch zu unterscheiden, verschiebt. Es entsteht die Rede vom (subjektiven) R. als Bereich, in dem man sich entscheiden kann, in dem es erlaubt ist, etwas zu tun oder nicht zu tun, ganz nach freier Entscheidung. Doch ist auch von partikulären R.ansprüchen wie dem R. des Papstes auf Einflussnahme bei Bischofswahlen und dgl. die Rede. 42 Es gibt seit der Entstehung des subjektiven R.begriffs die weitere Verwendung als aus irgendeinem Regelsystem abgeleitete Verfügungsgewalt (ius in re, etwa des Eigentümers) oder als Anspruch (ius ad rem, etwa des Arbeiters auf den Lohn), jedoch auch einen spezielleren Gebrauch im Sinne eines allen Menschen als Menschen zustehenden natürlichen Anspruchs auf Lebensunterhalt und Freiheit von unnötiger Bevormundung. In dieser Bedeutung kann man von Menschenrechten mit den entsprechenden demokratischen Implikationen sprechen. Im . und . Jh. werden aus diesen generell den Menschen zugestandenen R.en auf Gemeinbesitz und persönliche Freiheit, die gewöhnlich hinter die R.ordnung zurücktraten, politische Forderungen, die gegen jeden Staat erhoben werden. Zuerst dürfte Spinoza festgehalten haben, dass ein Mensch gar nicht auf das Recht, frei von Furcht zu sein, seine Emotionalität zu leben und seine Urteile zu haben, verzichten könne, weshalb die Macht der höchsten Gewalt nicht unumschränkt sein könne, dass vielmehr den Untertanen im Interesse des Gemeinwohls diese Rechte eingeräumt werden müssten. 43 Wichtig für die zunehmende Bedeutung der Menschen-

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rechte war, dass sie vom wirtschaftlich mächtigen, politisch jedoch zunächst rechtlosen Bürgertum als Waffe gegen den Absolutismus benutzt wurden. Neben die im . Jh. zentralen Rechte auf Schutz vor staatlicher Willkür und Teilhabe an der Entscheidungsfindung traten im . Jh. als sog. zweite Generation die sozialen Rechte, die gegenwärtig im Kontext internationaler Gerechtigkeit nochmals besondere politische Brisanz erhalten. 44 Die ›dritte Generation‹ der kulturellen Rechte bleibt insoweit umstritten, als man sie mitunter als Gefahr für die Rechte der Mitglieder bestimmter Kulturen, v. a. der Frauen, ansieht. 45 Ob es Menschenrechte natürlicherweise gibt, lässt sich nicht in der Weise beantworten wie die Frage, ob es weiße Tiger gibt. Rechte werden nicht gesucht und eventuell vorgefunden. Genauso wenig gibt es diese natürlichen R. so, wie es etwa unendlich viele Primzahlen gibt. Die Annahme, es gebe sie nicht, führt nicht in jedermann evident nachweisbare Widersprüche. Doch ist es nach Kriterien der Minimalmoral gerechtfertigt, jeden auf der Welt, der andere zu beherrschen beansprucht, insbes. natürlich die im eigenen Lande Herrschenden zu bestimmten Rücksichten gegenüber denen, die gehorchen sollen, zu verpflichten, ganz gleich, wie die positive R.lage im Einzelfall sei, und sie dann, wenn sie diese Rücksichten nicht einhalten, in angemessener Weise zu bekämpfen. Diese Bedingungen der Legitimität von Herrschaft kann man als natürliche R., Menschenrechte oder Bürgerrechte bezeichnen. Natürliche R. sind daher schon aufgrund ihres normativen Status ontologisch etwas anderes als Hexen, mit denen A. MacIntyre sie gleichsetzt. 46 3.8 Völkerrecht Im Völkerrecht wirken seit jeher naturrechtliche und positivrechtliche Strukturen zusammen. Es wurde seit der Neuzeit auch als R. zwischen Staaten interpretiert. Man kann dabei die Unterschiede zum staatlichen R. nivellieren und nach einer überstaatlichen gemeinsamen R.ordnung zwischen gleichen Staaten suchen, oder man kann sie herausstreichen und ein Beziehungsgeflecht zwischen wenigen Hegemonialmächten und von ihnen abhängigen Staaten konzipieren. Im . Jh. entwickeln sich beide Ansätze neben- und gegeneinander. Die Entwicklung des Völkerrechts im . Jh. bein-

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haltete erstens eine Globalisierung und Entkolonialisierung, zweitens die Einführung eines erst partiellen, dann generellen Kriegsverbotes und schließlich sogar eines Gewaltverbotes. Letzteres wird seit den er Jahren durch die Möglichkeit einer humanitären Intervention im Falle eines im Gang befindlichen oder unmittelbar drohenden Völkermordes relativiert. 47 Drittens kamen außer den anerkannten Staaten neue R.subjekte, zunächst das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, später sogar NGOs, zudem überstaatliche Verbünde wie die EU, aber auch die UN hinzu. 48 Da sich neben dem zwischenstaatlichen Völkerrecht zunehmend ein supranationales und ein transnationales (v. a. ökonomisches) Völkerrecht entwickeln 49, stellt sich rechtsphilosophisch nicht mehr die lange dominierende Frage, ob man einem Dualismus von staatlichem und Völkerrecht das Wort reden, oder einen Monismus anstreben solle, sondern vielmehr, wie man normativ mit dem Faktum des R.pluralismus umzugehen habe. 3.9 Die Herausforderung des Rechtspluralismus Der vermutlich von J. Gilissen u. a. 50 bereits  geprägte Begriff ›R.pluralismus‹ wird in den letzten Jahrzehnten vermehrt von Seiten der R.ethnologie eingesetzt, insbes. um die rechtliche Situation zahlreicher postkolonialer Staaten zu beschreiben, die sich partiell indessen auch in den sog. westlichen Staaten findet. Es geht darum, dass das im Anschluss an die Kolonialzeit erlassene, teilweise noch von dieser beeinflusste staatliche R.system in Konkurrenz tritt mit wieder erstarkten, z. T. rekonstruierten R.traditionen, die sich in manchen Gegenden mit der Scharia verbinden, ferner mit dem Recht der UN mit der Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte und auf Umsetzung dieser Forderungen drängenden NGOs. 51 National wie auf internationaler Ebene lässt sich dazu wohl sagen, dass einerseits das Gegeneinander konkurrierender R.systeme nicht problemlos hinnehmbar ist, andererseits die Vorstellung einer vereinheitlichenden rechtlichen Setzung wohl eher dem gemeinsamen Aushandeln einer konsensfähigen Lösung nach anerkannten Kriterien zu weichen hat, von denen der Schutz der Menschenrechte das Wichtigste sein dürfte.

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Gerson, De potestate eclesiastica (). In: Gerson , . – 2 Hobbes, De cive . ff. – 3 Ebd., . ff. – 4 Vgl. z. B. Elger . – 5 Coing , S. ff. – 6 Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung § B, A AVI  f. – 7 Vgl. z. B. Honsell ,  f. – 8 Vgl. Suárez, De legibus ac Deo legislatore, I I, Kap. –. – 9 Diels/Kranz  Bd. ,  Antiphon B , Platon, Gorgias e-c. – 10 Aristoteles, Politik, I , b  ff. – 11 Summa Theologica Teil – (IaIIae),  art  co, für d. folg. Text vgl. qu.  art.  co. art.  co., qu.  art. –, co. u. art.  ad . – 12 Suárez, De legibus I, Kap. . – 13 Ordinatio I d., Vaticana VI  ff., ed. Wolter ,  ff., für d. folg. vgl. Ordinatio I V, dist. , ed. Wolter,  ff., Ord. I II dist. , suppl., ed. Wolter,  ff. – 14 Aristoteles, Politik I. a ff. – 15 Hobbes, Leviathan , De cive . ff. De cive .. De cive ..ff. – 16 De cive . ff., Lev. Kap. , . – 17 De officio hominis et civis (), Pufendorf , De iure naturae et gentium libri octo (), Pufendorf . – 18 Fundamenta iuris naturae et gentium I V § XX V, I V I § X V I I, I I V § XCI X Thomasius , , , . – 19 Opera IV, ed. Dutens,  ff., Hruschka ,  ff., Hruschka ,  ff. – 20 Kant, GMS, AA IV . – 21 Kant, MdS, R L Einl. § B A A VI  f. – 22 Kant, AA V I . – 23 Kant, R L § , A A VI . – 24 Hegel, Grundlinien d. Philos. des Rechts §§ , , . – 25 Zippelius ,  ff.; vgl. Koller ,  ff. – 26 Ott  §§ –. – 27 Zippelius ,  ff.; vgl. Koller ,  ff. – 28 Bergbohm , ; vgl. Ott , ,  ff. §§ –; Austin , I S.  ff. – 29 Kelsen , X I. – 30 Kelsen , ,  ff.,  ff. S.  ff.; vgl. Dreier ,  ff.,  ff.,  ff. – 31 Vgl. Ott ,  ff.,  ff.; Bjarup ,  ff.; Summers ,  ff.; Rea-Frauchiger . – 32 Hart , . – 33 Hart , I X.. – 34 Rawls , § , ,  f.; vgl. Kersting , Kap. I X. – 35 Finnis , , . – 36 A. Kaufmann ,  ff. – 37 Dworkin , Kap. –, Dworkin ,  ff.,  ff. – 38 Vgl. M. Kaufmann , S. ff.; Alexy , Kap. .I I I. – 39 Thomasius , . – 40 Locke, Second Treatise XIX §§ ff,  ff.; Radbruch  S. . – 41 Lohmann ; Koller . – 42 Tierney ,  f.,  f.; Weigand , ,  u. a. – 43 Spinoza Tractatus Theologico-Politicus Cap. . – 44 Vgl. Pogge ,  ff. – 45 Vgl. Benhabib ,  ff. – 46 Macintyre , . – 47 Vgl. Holzgrefe/Keohane . – 48 Grewe , Ziegler . – 49 Tomschat , v. Vitzthum . – 50 Gilissen  – 51 v. Benda-Beckmann  u. .

Matthias Kaufmann

Religion / Religionsphilosophie

1 Zu den Begriffen. »Religion« (R.) – von lat. religio – wurde in der Antike unterschiedlich hergeleitet: von relegere ›gewissenhaft beobachten‹ oder von religare ›anbinden‹. Im röm. Sprachgebrauch implizierte religio immer einen Gegensatz zu superstitio (›Irrglaube‹) bzw. magia. 1 Diesen normativen Status bewahrte der Begriff auch noch im Christentum. Während aber heidnische Römer (z. B. Cicero) das Normative in der sorgfältigen Ausführung des Götterkultes sahen – in der Sphäre des Handelns also –, sahen es Christen (z. B. Lactantius) in der Bindung an den einzigen biblischen Schöpfergott – also in der Sphäre der Glaubensanschauung. 2 Diese dem Begriff innewohnende kritische Reflexion auf die ›richtige‹ R. hat seine Geschichte noch lange nach der Antike bestimmt. Von ihr nahm auch die europäische Religionsphilosophie (Rph.) ihren Ausgang. In Abgrenzung von einer theologischen Bejahung (Deismus, Theismus) einerseits und einer atheistischen Verdammung andererseits (Atheismus) hielten Philosophen ›R.‹ für eine rational begründbare Kategorie. Damit verbunden war die »Duplizität« (E. Feil) 3 des neuzeitlichen R.begriffs, der nicht nur eine Institution bezeichnete, sondern in Spannung dazu auch einen innerlichen Sachverhalt. Diese philosophische Tradition hat sich auf die wissenschaftlichen Definitionen von R. ausgewirkt. Man hat insgesamt über fünfzig Definitionen von R. gezählt. 4 Faßt man sie in vier Haupttypen zusammen, kann R. definiert werden: () intellektualistisch als ›belief in supernatural beings‹; () funktionalistisch als die Macht sozialer Integration; () ästhetisch als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit; () lebenspraktisch als Bezug auf außeralltägliche Werte. Jede dieser Definitionen markiert an den historischen R.en, was an ihnen verbindlich ist. Sie setzen letztlich das röm. Konzept einer ›richtigen‹ im Unterschied zu einer ›falschen‹ R. voraus, wobei die Philosophie Vorarbeit geleistet hatte.

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2 Historische Religionen im philosophischen Diskurs Thomas Hobbes (–) setzte wegen der Glaubenskriege seiner Zeit das Thema ›Religion‹ auf die philosophische Tagesordnung. Es war die Verbindung von politischer Erfahrung und grundsätzlicher Reflexion, die Jacob Taubes zu der Aussage brachte: »Das . Jh. ist die erste Periode der modernen Geschichte, wo wir Land sehen. In den Konstellationen dieses Jh. erkennen wir uns und unsere Probleme wieder. Hobbes hat diese Periode bewusst und denkend erlebt«. 5 Die Glaubenskriege in Europa waren aus Hobbes Sicht die Folge des Irrtums, die Kirche sei mit dem Reich Gottes identisch und dürfe vom Bürger unbedingte Loyalität verlangen. In seinem Hauptwerk Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates () sah Hobbes nur eine Lösung für das Problem: Der Staat müsse zum ›sterblichen Gott‹ werden, um die Kirche in Schach halten zu können. Hobbes kannte zwar neben der staatlichen R. eine private, sprach ihr aber das Recht auf Öffentlichkeit ab. »Es gibt öffentliche und private Verehrung. Die öffentliche Verehrung ist im Hinblick auf den ganzen Staat frei, hinsichtlich des einzelnen Menschen jedoch nicht. Die private Verehrung ist im Verborgenen frei, aber vor Augen einer Menge ist sie nie ohne gewisse Einschränkungen, die sich entweder aus den Gesetzen oder den Ansichten der Menschen ergeben«. 6 Die private R. muss, falls sie mit der öffentlichen in Konflikt gerät, geheim gehalten werden. Scharfe Distinktionen zwischen innerem und äußerem Glauben, fides, und confessio, veritas und auctoritas, Moral und Politik dienten Hobbes dazu, eine ›Entpolitisierung‹ (C. Schmitt) 7 von Glauben zu begründen. David Hume (–) unterschied in seiner Naturgeschichte der Religion () die »Grundlage der Religion in der Vernunft« von der ihres »Ursprungs in der menschlichen Natur«. Auf die erste Frage hatte er schon früher die Antwort gegeben: »Die gesamte Struktur der Welt verrät einen intelligenten Urheber«. 8 Die zweite revolutionär neue Frage wurde Thema seiner Naturgeschichte. Der faktische Gottesglaube könne gar nicht aus der Erkenntnis der Ordnung des Weltalls hervorgegangen sein 9, wie der Deismus meine. »Die ersten religiösen Vorstellungen [rührten] nicht von einer Betrachtung der Werke der Natur her, sondern von der Sorge um das tägliche Leben und von den unaufhörlichen Hoffnungen und Ängsten, die den menschlichen Geist

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bewegen«. 10 Die Störungen der Natur, nicht aber ihre wunderbare Regelmäßigkeit erfüllten die Menschen mit religiösen Gefühlen. 11 Die Präsenz der röm. Tradition ist spürbar. Die historischen R.en sind »superstitions« (P. Harrison). 12 Dem, was Hume auf diese Weise aus der Vernunftreligion herausnahm, gab er einen Platz in der R.geschichte. Die R.geschichte verlaufe nach einem anderen Gesetz als dem der Vernunft. Zwangsläufig müsse immer wieder der Theismus einem Polytheismus weichen. Wenn nämlich der eine Gott zu weit entrückt sei, gingen Menschen dazu über, Mittlerwesen zu verehren. Wenn sie aber die Machtlosigkeit der Mittlerwesen erkannt hätten, würden sie erneut einen einzigen übermächtigen Gott verehren. So wechselten in der R.geschichte Theismus und Polytheismus wie Ebbe und Flut. ›Gezeiten‹, ›Pendel‹, ›Oszillation‹ sind weitere Metaphern Humes für diese Dynamik 13, die nicht ohne Wirkung auch auf die politischen Verhältnisse bleibe. Polytheismus fördere Toleranz, Monotheismus Intoleranz. Für Hume war nicht die private R. als solche verdächtig und auch nicht die staatliche verordnete R. als solche vernünftig wie für Hobbes. Der innere Frieden eines Gemeinwesens war abhängig vom Pendel der R.geschichte in Richtung Polytheismus. Humes Rph. hat dem R.diskurs dauerhaft eine neue Richtung gegeben. 14 Denn nun wurde es möglich, R. anthropologisch zu begründen. Langfristig eröffnete dies die Möglichkeit, dass sich das Bürgertum mit einer eigenen religiösen Legitimationen vom klerikalen Ständestaat emanzipierte. 15 Für Jean-Jacques Rousseau (–) gehörte R. gleichfalls der Welt der Gefühle an, wobei er damit jedoch eine andere Wertung verband. Was Hobbes der R. abgesprochen hatte – eine verbindliche Gewissensinstanz für politisches Handeln sein zu können –, gab Rousseau ihr ausdrücklich wieder zurück. Besonders beeindruckend sein Plädoyer für die R. des Menschen. Brillant polemisierte Rousseau im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars im Emile () 16 gegen die ›natürliche Religion‹ der Philosophen und die ›Offenbarungsreligion‹ der Theologen. »Um eine Religion richtig zu erkennen, darf man nicht die Bücher ihrer Anhänger durchstudieren«. 17 »Der wesentliche Gottesdienst ist der des Herzens«. 18 Um ihn zu kennen, brauche der Mensch weder Philosophen noch Theologen. Nicht die Urteile seines Verstandes, sondern die Empfindungen seines Herzens seien die

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besten Lehrmeister. »Die wahren Pflichten der Religion (sind) von menschlichen Institutionen unabhängig«. 19 R. ist das stärkste soziale Band überhaupt, das Menschen miteinander verbinde, – nichts mehr von Hobbes Bedenken; im Gegenteil: R. wurde bei Rousseau zu einer geradezu unfehlbaren Instanz, die die Maximen des sozialen Handelns verlässlich und verbindlich vorschreibt. Undenkbar, dass Atheisten gute Bürger sein könnten: »Das Vergessen aller Religion führt zum Vergessen der Menschenpflichten«. 20 Doch wo war Hobbes’ Problem geblieben: die Intoleranz der christlichen Religion? Rousseau stellte sich ihm in dem bekannten . Kapitel des Contrat Social »Über die zivile Religion«. 21 Alle politischen Gemeinschaften seien von Beginn der Geschichte an religiös legitimiert gewesen. Jeder Staat habe seine eigenen Götter verehrt, Kriege seien im Auftrag der Götter geführt worden. Diese Situation habe sich erst mit dem Christentum geändert, das den Polytheismus entmachtet habe. Jedoch sei ein neues Problem entstanden. Das Christentum habe zwar die politischen von den religiösen Loyalitäten getrennt. Aber jetzt erhoben Kirche und Staat konkurrierende Ansprüche auf die Loyalität der Menschen. Eine nicht abreißende Kette von Bürgerkriegen sei die Folge gewesen. Hobbes habe das richtig gesehen. Als Lösung dieses Problems dachte Rousseau an einen Gesellschaftsvertrag. Die Bürger müssten ihn abschließen, wenn sie eine vernünftige politische Gemeinschaft bilden wollten. Allerdings dürfe diesem Vertrag weder die R. des Menschen noch die des Bürgers zu Grunde liegen. Die eine löse die Herzen der Menschen vom Staat, die andere befördere einen dauernden Kriegszustand mit anderen Völkern. Nur eine zivile R. könne beides vereinen: in allen Menschen Brüder zu sehen und zugleich das Vaterland zu lieben. Die positiven Sätze dieser Zivilreligion müssten sein: die Existenz einer Gottheit; ein zukünftiges Leben; eine Belohnung der Gerechten; eine Bestrafung der Bösen; die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze. »Es gibt nur einen negativen Satz: Unduldsamkeit. Sie gehört den Kulten an, die wir ausgeschlossen haben«. 22 So findet sich bei Rousseau nach wie vor ein Bewusstsein des Problems, dass R. gerade in ihrer Eigenschaft als Quelle sozialer Bindung die Gefahr unkontrollierter Intoleranz heraufbeschwört. Immanuel Kants (–) R.theorie arbeitete an der Problemformulierung Rousseaus weiter, allerdings von einem anderen Ausgangspunkt

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her: von der Erkenntniskritik. In seiner Kritik der reinen Vernunft () argumentierte er, es handele sich bei dem Begriff ›Gott‹ erkenntnistheoretisch um eine transzendentale Idee, die jede mögliche Erfahrung übersteige und deshalb grundsätzlich nicht bewiesen werden könne. Kant schloss daraus aber nicht, dass derartige metaphysische Ideen überflüssig und als Illusionen entbehrlich seien. 23 Die praktische Vernunft könne auch eine Anerkennung von nicht beweisbaren Behauptungen verlangen. Drei solcher Postulate kannte Kant: dass Gott existiert, dass die Seele unsterblich ist und dass wir im Blick auf unser Handeln frei sind. Diese unbeweisbaren Postulate erfüllten notwendige regulative Funktionen im sozialen Leben. 24 »Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote«. 25 Kant hatte mit dieser Argumentation das Begründungsverhältnis von Ethik und R. umgedreht. Jetzt musste sich die R. vor der Ethik rechtfertigen, nicht mehr umgekehrt. Wie diese Rechtfertigung zu geschehen habe, hat er in seiner Schrift Streit der Fakultäten () behandelt. Es sei Aufgabe der Fakultät der Philosophie, staatlich sanktionierte Schriften wie das bürgerliche Gesetzbuch oder eben auch die Bekenntnisschriften und die Bibel unter dem Gesichtspunkt der Vernunftgründe kritisch zu prüfen. 26 Auf diese Weise könnte aus dem partikularen kirchlichen Glauben die Grundlage einer vernünftigen öffentlich verbindlichen Moral werden. Kant (und Rousseau) hatten die Spannung zwischen kirchlicher Tradition und kritischer Vernunft so auf die Spitze getrieben, dass nicht zufällig in Auseinandersetzung mit ihnen eine diametral entgegengesetzte Auffassung vorgebracht wurde. Johann Gottfried Herder (– ) stellte den historischen R.en ein gutes Zeugnis aus. Er nahm sich des Themas u. a. in seiner Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit () an. Sein Ausgangspunkt dabei war die Sprache, die in die Anschauungen der Menschen einen Geist einschreibe. Unter einem solchen Gesichtspunkt konnte der Vergleich von Sprachen neue Erkenntnisse hervorbringen und die unterschiedlichen Konkretisierungen des menschlichen Geistes bezeugen. »Der schönste Versuch über die Geschichte [. . . ] des menschlichen Verstandes und Herzens wäre also eine philosophische Vergleichung der Sprachen: denn in jede derselben ist der Verstand eines Volkes und sein Charakter gepräget«. 27

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In den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (/) attackierte Herder die Annahme mancher Aufklärer, der Mensch sei alles das, was er sei, durch sich selber geworden. Gerade auch im Blick auf sein geistiges Vermögen sei der Mensch keineswegs ein Selbstgeborener. 28 »Die Philosophie der Geschichte [. . . ], die die Kette der Tradition verfolgt, ist eigentlich die wahre Menschengeschichte, ohne welche alle äußere Weltbegebenheiten nur Wolken sind oder erschreckende Missgestalten werden« 29. In dieser »Kette der Bildung« hat R. einen Ehrenplatz, selbst die R. der wilden Völker. »Woher kam nun Religion diesen Völkern? Hat jeder Elende sich seinen Gottesdienst etwa wie eine natürliche Theologie erfunden? Diese Mühseligen erfinden nichts; sie folgen in allem der Tradition ihrer Väter. [. . . ] Tradition ist also auch hier die fortpflanzende Mutter, wie ihrer Sprache und wenigen Kultur, so auch ihrer Religion und heiligen Gebräuche«. 30 Während Staaten, Wissenschaften und Künste erst spät entstanden seien, habe es R. bereits bei den Wilden gegeben. R. sei die älteste und heiligste Tradition der Erde und Ursprung aller Kultur. »Eine Art religiösen Gefühls unsichtbarer wirkender Kräfte im ganzen Chaos der Wesen« sei allen Verstandesbegriffen vorausgegangen. Da vergangene und fremde R. die menschlichen Empfindungen besonders treu bewahrt hätten, nahmen sie bei Herder einen besonders hohen Rang ein. Schließlich seien diese in der kalten Welt Europas verloren gegangen. 31 Die Machtergreifung des Verstandes sei ursächlich schuld an der Mechanisierung des Lebens und an der damit verbundenen seelischen Verarmung. 32 Friedrich Schleiermacher (–) wusste, wie sehr die positiven R. von vielen Gebildeten verachtet wurden. 33 Noch hatten sie nicht vergessen, was für schreckliche Verfolgungen und blutige Kriege es in ihrem Namen gegeben hatte. In seiner Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern () räumte Schleiermacher mit der Vorstellung auf, R. sei im Wesen Metaphysik (Transzendentalphilosophie) und/oder Moral. 34 »Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen«. 35 R. stellt, richtig verstanden, neben Denken und Handeln eine eigene

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dritte Kompetenz dar. Sie ist ganz und gar unabhängig von irgendwelchen Lehren oder ethischen Forderungen. Selbst wenn man an Gott und Unsterblichkeit zweifelte, wäre sie nicht verschwunden. 36 Denn nicht Gott, sondern das Universum ist ihre Quelle. Man dürfe nur das Unendliche nicht außerhalb des Endlichen suchen. 37 Da es keine irgendwie endgültige und verbindliche Offenbarung des Unendlichen geben könne, manifestiert es sich notwendiger Weise immer nur in individuellen Variationen. Folge ist eine unendliche Vielfalt der Offenbarungen des Universums in der Geschichte. Schriften sind nicht wirklich imstande sind, R. adäquat zu repräsentieren. Wenn irgend etwas repräsentieren kann, dann sind es ›Reden‹. Erst durch die Rede wird ein gemeinsames Band aller derer geschaffen, die sich vom Universum ergriffen fühlen. Schleiermachers Bestimmung von R. als Gefühl traf auf den scharfen Widerspruch Georg Wilhelm Friedrich Hegels (–). Er erlaubte sich die böse Bemerkung: Sei R. nur auf ein Gefühl der Abhängigkeit, so wäre der Hund der beste Gläubige 38. Die Unmittelbarkeit einer Beziehung sei doch nichts anderes als eine Natürlichkeit, der das Bewusstsein fehle. »Die Unmittelbarkeit ist das Natürliche; das Bewusstsein ist aber Erheben über die Natur«, erklärte er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Die R. – abgesehen von den Naturreligionen – bezeugten eine »Entzweiung des Bewusstseins«. 39 Hegel interessierte die Frage, wo und wie in der Geschichte der Menschheit das Bewusstsein einer Differenz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Geist und Natur aufgekommen ist. Als er  genauere Kenntnisse über die indische Philosophie erhielt, revidierte er die Ansicht der Romantiker, die eine Zeitlang auch seine gewesen war, die Orientalen hätten in einer Art harmonischer Einheit mit der Natur gelebt. 40 Dies sei »ein oberflächlicher und schiefer Ausdruck«. Denn, so begründete Hegel seinen Tadel, »diese wahrhafte Einigkeit enthält wesentlich das Moment der Negation der Natur, wie sie unmittelbar ist. [. . . ] Das Geistige ist nur so eins mit der Natur, als in sich seiend, und zugleich das Natürliche als negativ setzend«. 41 Hegel erkannte, dass das indische Denken sehr wohl die Differenz von Subjekt und Objekt, Geist und Natur kannte und infolgedessen ein eigenes Kapitel in der Philosophiegeschichte verdiene. Allerdings habe diese Differenz andere praktische Folgen gehabt als in der griechisch-christlichen R.:

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Das Individuum habe sie nicht dadurch realisiert, dass es gegenüber der Natur zum Subjekt geworden sei, sondern dass es im Substanzhaften kontemplativ aufgehe. Das sei aber ein Mangel. 42 Die göttliche Substanz kenne in der indischen R. keine innere Differenzierung und trete nicht als Verneinung der Welt aus sich heraus, um sich – wie in der christlichen R. – im autonomen Subjekt noch einmal neu zu konstituieren. Damit werde die andere Möglichkeit, nämlich die einer Spannung zur Welt, nicht realisiert. Die vorgefundene Kastenordnung werde nicht angetastet. Das erlöste Individuum verlöre sich in der Kontemplation und werde eins mit der metaphysischen Substanz. Das von der Welt erlöste Individuum befinde sich außerhalb der Welt, nicht in ihr, wie im Christentum. 43 So sah Hegel in den großen historischen R.en einen Prozess der Entzweiung am Werk: von Geist und Natur, von Subjekt und Objekt. Während Indien die Spannung von Geist und Natur durch Kontemplation überwinden wolle, habe der Westen sie statt dessen kultiviert. So hat Hegel das Prinzip der Entzweiung von Natur und Geist aus der R.geschichte hergeleitet. Was Hegel als universalhistorische Divergenzen des menschlichen Geistes konzipierte, machte sein Gegner Arthur Schopenhauer (–) zu individuellen Optionen, wobei er allerdings die Vorzeichen umkehrte. Indien wurde ihm ein Beispiel dafür, wie Menschen sich von einem falschen Anspruch auf Subjektivität befreien könnten. Mit Schopenhauer kehrte sich die Philosophie noch entschiedener als bei Hegel der R.geschichte zu. Schopenhauer war nicht nur davon überzeugt, »dass der Einfluss der Sanskrit-Literatur nicht weniger tief eingreifen wird als im . Jh. die Wiederbelebung der griech.«. 44 Er meinte, von dieser Entdeckung sei besonders das ›logische Ich‹ Kants tangiert, das unserem Anschauen und Denken Einheit geben und bleibender Träger aller unserer Vorstellungen sein solle. Es könne doch nicht auch noch selber vom Bewusstsein bedingt sein, argumentierte er. Ihm müsse etwas anderes vorangehen. »Dieses sage ich, ist der Wille«. 45 Der Wille zum Leben gehe als praktisches Weltverhältnis der Subjekt-Objekt-Differenzierung voraus. Der nächste Schritt war dann: Die Welt verdankt ihre Existenz einem blinden, unstillbaren Willensdrang. Es ist daher falsch, sie mit Leibniz die beste aller möglichen Welten zu nennen. Sie ist »die schlechteste unter den möglichen«. 46 Dennoch gibt es aus dieser Welt ein Entkommen: Das principium individuationis ist die Quelle allen

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Hasses und Leidens. Wenn der Mensch dies durchschaut, kann er den Schleier der Maya, das Blendwerk der Täuschung zur Seite schieben und den egoistischen Unterschied zwischen der eigenen und der fremden Person überwinden. Dann wird die »Erkenntnis des Ganzen, des Wesens der Dinge an sich zum Quietiv«. 47 Schopenhauer nennt diese Weltablehnung ›Askesis‹. Er findet sie nicht nur in Zeugnissen indischer Religiosität, sondern auch in der deutschen Mystik. Selbst das Christentum kenne die Askese, wenn es die Selbstverleugnung fordere. Allerdings sei diese Forderung durch den jüdischen Anteil am Christentum verdunkelt worden. Scheide man ihn wieder aus, finde man das gleiche, was in den uralten Werken der Sanskritsprache beschrieben werde: eine Bereitschaft zum freiwilligen Tod, die uns ganz geworden fremd sei. 48 Unübersehbar ist Schopenhauers Ablehnung von Hegel. Doch bleibt auch festzuhalten, dass er die indischen Quellen aus demselben Blickwinkel interpretierte wie sein Antipode. Was Hegel jedoch für deren Mangel hielt, hielt Schopenhauer für deren Gewinn. Friedrich Nietzsche (–) radikalisierte die Argumentation Schopenhauers. In der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik von  enthüllte er in der griech. R. zwei entgegengesetzte Prinzipien, die miteinander rangen: das Apollinische und das Dionysische. Zwei Formen von Kunst: die bildende Kunst und die Musik, würden aus diesen beiden Quellen gespeist. Sie stünden für zwei menschliche Vermögen: Apollo für den Traum, Dionysos für den Rausch. Zwar meinte Nietzsche, er habe das Phänomen des Dionysischen entdeckt. Jedoch ist der Nachweis nicht schwer gefallen, dass es sich hierbei um eine rhetorische Übertreibung handelte. Schon J. J. Winkelmann hatte seine Maxime des Klassischen als »edle Einfalt und stille Größe« an einem Vergleich des besonnen Apollo mit dem leidenschaftlichen Dionysos entwickelt. 49 Und seit dem Zeitalter von ›Sturm und Drang‹ sah man in Dionysos die ungestüme schöpferische Kraft des Dichters verkörpert, die gegen die lähmende Mechanisierung durch den kalten Verstand bestehen könne. 50 Ein noch einmal anderes Bild machten sich romantische Dichter, Philosophen und Archäologen von Dionysos (Romantik). Für sie verkörperte er die Erfahrung des rauschhaften Aufgehens des Menschen im Universum 51, war er Exponent für den romantischen Wunsch nach unbegrenzter Entfaltung der inneren schöpferischen Kräfte des Menschen, ja sogar nach Tod und

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Selbstzerstörung. So hatte Dionysos unter den Bedingungen der aufgeklärten vernunftgläubigen Zivilisation eine steile Karriere gemacht. Aus Dionysos war das Dionysische geworden. 52 Allerdings war damit eine totale Umwertung verbunden. Aus dem ›Freudebringer‹ war das selbstzerstörerische dionysische Prinzip geworden. Dies alles war vorausgegangen, als Nietzsche sich des Stoffes annahm. Für ihn stand Apollo für den Traum, Dionysos für den Rausch ein. Um ihr Wirken im menschlichen Leben anschaulich zu machen, griff er auf Schopenhauer zurück. Der hatte eine suggestive Metapher geschaffen für den Menschen, der in Illusionen über die Wirklichkeit befangen sei. »›Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegrenzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuations‹ [SchopenhauerZitat]. Ja, es wäre von Apollo zu sagen, dass in ihm das unerschütterte Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des ›Scheines‹, samt seiner Schönheit, zu uns spräche. An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnisformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint«. 53 Schopenhauer sah in der Individuation des Menschen eine Illusion, die ohne jeden Grund und daher falscher Schein war. Erst wenn der Schleier der Maya falle, verschwände der egoistische Unterschied zwischen den Individuen. 54 Maya ist in der indischen Philosophie die Bezeichnung für Illusion. Als solche erscheint in den Upanischaden und Vedanta die materielle Welt, die nur solange als real gilt, bis diese falsche Ansicht durch die höhere Erkenntnis der All-Einheit Brahmans aufgehoben wird. Folgen wir Nietzsche, dann kann nur ein selbstzerstörerischer Rausch, bei dem der Mensch sich den Naturgewalten ergibt, diesen falschen Schein zerstören. »Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde

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des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird« 55. »Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur ein Bund zwischen Menschen und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Jetzt zerbrechen alle die starren feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder ›freche Mode‹ zwischen den Menschen festgesetzt haben« 56. Gegen die Illusion einer Vernunft, die meint, der Einzelne könne seine Subjektivität unabhängig von der Welt ausbilden, hilft allein der Sturz in an das tosende Leben. Nietzsche verbreitete in einer Welt des Optimismus seine nihilistische Botschaft wie ein biblischer Prophet. Es sei seine »Kriegs-Praxis«, siegreiche Sachen anzugreifen. 57 In Die Fröhliche Wissenschaft bringt er die Parabel vom tollen Menschen, der den anderen Menschen klar macht, dass sie die Nachricht vom Tode Gottes nicht begriffen haben. Auch Nietzsches Atheismus will mehr als den Tod Gottes verkünden. Er will die Folgen bewusst machen. »Ich sah Niemanden, der eine Kritik der moralischen Wertgefühle gewagt hätte«, auch nicht Kant, Hegel oder Schopenhauer. 58 Das berühmte Bild vom Hammer, mit dem Nietzsche philosophiert (Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert), ist anders zu verstehen, als man häufig meint. Es ist nicht der Schmiedehammer, der alles zerschlägt: Es ist ein Hämmerchen wie ein Stimmgabel, mit dem der Philosoph an die anerkannten und gefeierten Werte und Normen seiner Zeit klopft, um zu merken: sie sind alle hohl. Nietzsches große Kriegserklärung besteht im Aushorchen der Götzen. 59 Überblickt man die Positionen, die Philosophen von Thomas Hobbes bis Friedrich Nietzsche zu den historischen R. eingenommen haben, kann man von einer allmählichen Umkehrung der Ausgangsposition sprechen. Am Anfang stand die rigorose Abwertung aller historischen R. durch eine reflektierende nachdenkliche Vernunft. Am Ende wurden die historischen R. zu einer dem aufgeklärten Denken überlegenen Quelle von Selbst- und Weltverständnis.

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3 Religionsgeschichte in der Wissenschaftstheorie Religionswissenschaftliche Theorien wurden in einer Zeit ausgebildet, in der der Historismus seinen Siegeszug hielt. Nach dem Scheitern der Französischen Revolution und ihrem Programm einer traditionsfreien politischen Ordnung gab die neue nationale Geschichtsschreibung dem politischen Handeln die benötigte Orientierung. Was zu Anfang ihre große Stärke war – der nationale Fokus –, wurde im Laufe der zweiten Hälfte des . Jh. jedoch zu ihrer Schwäche. Die Prozesse der Modernisierung durchdrangen alle vertrauten Lebensverhältnisse. Der Historismus, der in politischen Fragen durchaus zu orientieren imstande war, konnte zum Verständnis dieser Prozesse keine Hilfe leisten. Plötzlich wurde die Geschichtlichkeit selber ein Problem. Friedrich Nietzsche hat  in Vom Nutzen und Nachteil der Historie die Krise des Historismus drastisch diagnostiziert. »Jetzt regiert nicht mehr allein das Leben und bändigt das Wissen um die Vergangenheit: sondern alle Grenzpfähle sind umgerissen, und alles was einmal war, stürzt auf den Menschen zu. So weit zurück es ein Werden gab, soweit zurück, ins Unendliche hinein, sind auch alle Perspektiven verschoben. Ein solches unüberschaubares Schauspiel sah noch kein Geschlecht, wie es jetzt die Wissenschaft des universalen Werdens, die Historie, zeigt«. 60 In dem gleichen Maße, in dem die nationale Geschichtsschreibung versagte und kein Orientierungswissen mehr zu liefern vermochte, wuchsen Erwartungen an die R.geschichte. Die Erschließung alter religionsgeschichtlicher Quellen schien verlässliche Informationen über das menschliche Leben vor der modernen Gesellschaft in Aussicht zu stellen. Je stärker man der Industrialisierung, der Verwissenschaftlichung, der Bürokratisierung und der Individualisierung des Lebens misstraute und in ihnen eine Bedrohung menschlichen Lebens sah, um so größer wurde das Interesse an der Geschichte von Religion. Der Philosoph Wilhelm Dilthey (-) hatte die R. unter solche Wissenschaften eingereiht, die als ihren gemeinsamen Nenner das menschliche Leben hätten. Geschichte, Nationalökonomie, Rechtsund Staatswissenschaften, R.wissenschaft, Literaturwissenschaft und Philosophie und Psychologie bezögen sich alle auf das menschliche Leben. Diese Gemeinsamkeit begründe eine ihnen eigene Weise des Erkennens. Während die Naturwissenschaften den Menschen als Naturobjekt studierten, liege diesen Wissenschaften ein anderer Sachverhalt

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zugrunde: Der Mensch erlebe sein Leben, bringe dieses Erleben zum Ausdruck und teile es anderen mit. Folgerichtig unterschied Dilthey drei fundamentale Aspekte, die die Grundlage dieser Wissenschaften bildeten: Das Erleben des Lebens, den Ausdruck, den der Einzelne seinem Erleben gebe, und das Verstehen dieses Ausdrucks durch andere. Fest miteinander verbunden bildeten sie die Struktur der Geisteswissenschaften. 61 ›Leben‹ war in dieser Erkenntnislehre der Fundamentalbegriff. Er begründete die besondere Konstellation von Gegenstand und Erkenntnissubjekt in diesen Wissenschaften. Max Scheler hat  diesem Philosophieren die Bezeichnung »Lebensphilosophie« gegeben. »Leben ist nicht etwas, das sich ›anpaßt‹ oder auch ›angepaßt‹ wird. Leben, das ist vielmehr eine Tendenz zur Gestaltung, zur Formung, ja zur herrschaftlichen Überwältigung und Einverleibung eines Materials [. . . ]. ›Leben‹ – das wird für Nietzsche im Kleinsten und Größten so etwas wie ein waghalsiges Unternehmen, ein metaphysisches ›Abenteuer‹, ein kühner Vorstoß in Möglichkeiten des Seins, die sich erst im Gelingen zu einem Sein gestalten – zu dem, was dann alle mögliche ›Wissenschaft‹ betrachtet. Leben – das ist der Ort vor dem Dasein, an dem sich Dasein und Nichtdasein allererst entscheidet«. 62 Philosophie des Lebens, so erläuterte M. Scheler das Vorhaben, sei keine Anwendung von Philosophie auf das Leben, sondern eine Philosophie aus der Fülle des Erlebens des Lebens heraus. W. Dilthey war wie F. Nietzsche erklärter Gegner einer mechanischen Auffassung menschlichen Lebens. Das moderne Weltbild habe Grundbegriffe der Mechanik auf die menschliche Seele übertragen und sie zu einer Maschine äußerer Wahrnehmung und Erkenntnis erniedrigt. Dadurch habe man den inneren Zusammenhang und die Eigengesetzlichkeit geistiger Vorgänge aus dem Blick verloren. Was die Formen des Erlebens betraf, unterschied Dilthey ohne Anspruch auf systematische Vollständigkeit: Kunst und Dichtung, Religion, Philosophie, Wissenschaften. Hierbei handele es sich um »Weltanschauungen« bzw. »Kultursysteme«. Für Dilthey brachte R. – in Anlehnung an Friedrich Schleiermacher – das Erleben der »mystischen« Einheit des Menschen mit dem Unendlichen zum Ausdruck. R. sei daher in zwei empirischen Gegenstandsbereichen wissenschaftlich zugänglich: im religiösen Erleben und in dessen Ausdruck. »Religion ist ein seelischer Zusammenhang, der [. . . ] im religiösen Erlebnis und

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den Objektivationen desselben auf doppelte Weise gegeben [ist]. Das Erlebnis bleibt immer subjektiv: erst das im Nacherleben begründete Verstehen der religiösen Schöpfungen ermöglicht ein objektives Wissen von der Religion«. 63 Das Verstehen von R.geschichte erzeuge in ein- und demselben Vorgang sowohl verlässliches historisches Wissen wie eine lebenspraktische Orientierung. Hinter Dilthey taucht nicht zufällig Friedrich Schleiermacher auf, zu dessen Renaissance er selber mit seiner Biografie Leben Schleiermachers maßgeblich beigetragen hat. Was Dilthey noch relativ entfernt von der religionsgeschichtlichen Arbeit entwickelt hatte, hat Rudolf Otto (–) einige Jahre später in der R.wissenschaft etabliert. ›R.phänomenologen‹ griffen den Ansatz auf und postulierten ebenfalls eine Art vorsprachlicher religiöser Erfahrung, die in der modernen Zivilisation ein eigenes Existenzrecht behalten würde. 64 W. Dilthey stand mit seinem wissenschaftstheoretischen Zugang zur R. keineswegs allein. Damals vollzog die Philosophie in Deutschland ganz allgemein die Wendung zur Wissenschaftstheorie. Wilhelm Windelband (–) hatte  in einer Rektoratsrede zu Straßburg mit dem Titel ›Geschichte und Naturwissenschaft‹ der Philosophie die Aufgabe zugewiesen, Wissenschaftstheorie zu betreiben. Sie solle aufhören, nur ihre eigene Geschichte zu studieren oder Psychologie zu werden. Statt dessen solle sie sich den Erkenntnisvorgängen in den Wissenschaften zuwenden. »Niemals ist eine fruchtbare Methode aus abstrakter Konstruktion oder rein formalen Überlegungen der Logiker erwachsen: diesen fällt nur die Aufgabe zu, das erfolgreich am Einzelnen Ausgeübte auf seine allgemeine Form zu bringen und danach seine Bedeutung, seinen Erkenntniswert und die Grenzen seiner Anwendung zu bestimmen«. 65 Doch was war die geeignete Form für das erfolgreich Praktizierte? Die gängige Einteilung der Erfahrungswissenschaften in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften war es nicht. Eine Einteilung des Wissens dürfe nur nach formalen methologischen Erkenntniszielen vorgenommen werden, nicht aber nach dem überholten ontologischen Schema Natur-Geist. Zu diesem Zweck schlug W. Windelband vor, die Erfahrungswissenschaften in solche zu unterteilen, die im Wirklichen das Allgemeine in Form eines Naturgesetzes, und in solche, die im Wirklichen einzelne Tatsachen oder Ereignisse suchten. Die einen seien ›nomothetische‹ Gesetzeswissenschaften (Na-

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turwissenschaften), die anderen ›idiografische‹ Ereigniswissenschaften (Historik). Nicht der Inhalt des Wissens, sondern die Behandlung des Wirklichen begründe den Unterschied zwischen beiden. Windelband gab der R. ihren Ort in der Historik.  ließ er in einem bewundernswert klaren Beitrag die Geschichte der Rph. noch einmal Revue passieren: Kant habe den religionsphilosophischen Standpunkt von der theoretischen Vernunft – dem Wissen und Erkennen – in die praktische Vernunft – die Ethik – vergelegt. Schleiermacher habe ihn danach in die ästhetische Vernunft verlagert. Mit allen diesen Operationen war Windelband nicht einverstanden. Die Rph. dürfe das Heilige nicht in einer gesonderten Sphäre suchen, sondern müsse ihren Ausgang von demjenigen Grundverhältnis nehmen, das dem kognitiven (»logischen« sagt Windelband), dem ethischen und dem ästhetischen Bewusstsein gemeinsam sei. Dieses sei die Antinomie des Bewusstseins: der Widerspruch zwischen dem Sollen und dem Sein, der Norm und dem Naturgesetz. Der Mensch besitze kraft seines Gewissens die Möglichkeit, sich gegen gültige Normen aufzulehnen und statt dessen auf andere transzendente zu berufen. Wenn diese transzendenten Normen ›heilig‹ genannt würden, hieß dies nur, dass diese Normen letztlich unbestimmbar und unaussagbar seien. Sie seien heilig, weil sie weder Produkte des persönlichen Seelenlebens noch des empirischen Gesellschaftsbewusstseins seien, sondern Wertinhalt einer transzendenten Wirklichkeit. Neben und zusammen mit Wilhelm Windelband hat Heinrich Rickert (–) den Weg zu einer R.theorie bereitet, die auf dieser Wissenschaftstheorie basierte. Beide gehörten zu der sog. Südwestdeutschen Schule, die selber ein Teil der breiten Strömung des Neukantianismus war. Streitpunkt mit anderen zeitgenössischen Philosophen, insbes. Wilhelm Dilthey, war der Vorgang des Verstehens. Rickert verwarf die Behauptung, Verstehen könne auf einem direkten Nacherleben fremden Lebens beruhen. Das Leben des Lebens und das Erkennen des Lebens seien zwei ganz und gar verschiedene Sachverhalte. 66 Wenn wir das Leben auf Gesetzmäßigkeiten hin beschrieben, erkennten wir es als Natur; wenn auf Werte und Sinngebung, dann als Kultur. Leben, das uns fremd ist, nehme wie wir selber zur Welt Stellung und beziehe sich dabei auf Deutungssysteme. Diese Deutungssysteme (Sinn und Wert) seien selber nicht real, sondern nur in der Form transzendenter

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Werte vorhanden. So kann sich das Verstehen immer nur auf einen »irrealen Sinngehalt« richten, nie aber auf das Leben an sich. 67 Max Weber (–) hatte sich die entsprechenden Überlegungen von W. Windelband und dessen Schüler H. Rickert zu eigen gemacht. »In welchem Sinn gibt es ›objektive gültige Wahrheiten‹ auf dem Boden der Wissenschaften vom Kulturleben überhaupt?« fragte er . Kulturleben heißt: der Mensch muss zur Welt Stellung nehmen und ihr einen Sinn verleihen. Dieser Sinn kann nicht aus seinen Erfahrungen hervorgehen. Um sich die mögliche Skala typischer Sinngebungen zu erkennen, studierte Weber die R.geschichte. Der Abschnitt ›Religionssoziologie‹ aus Wirtschaft und Gesellschaft aus den Jahren – sowie die Aufsätze zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen haben das getan. 68 Sie haben in der R.geschichte Systeme von Sinndeutung identifiziert, die bleibende Voraussetzungen des Handelns darstellen. Einen noch einmal anderen Zugang zur Fundierung einer R.wissenschaft t finden wir bei Emile Durkheim (–). Schon vor seinem Besuch deutscher Universitäten  hatte Durkheim sich gründlich mit Kant befasst. In Deutschland faszinierte den jungen Durkheim ein neuer Ansatz von Wilhelm Wundt und einiger anderer deutscher Wissenschaftler in der Moralforschung. Sie hatten mit der mächtigen Tradition gebrochen, ethische Handlungen als Folgen reflektierter Entscheidungen des Einzelnen anzusehen. »Die Moral ist kein abstraktes Regelsystem, das der Mensch in sein Gewissen geschrieben findet. [. . . ] Sie ist eine Sozialfunktion oder vielmehr ein System von Funktionen, das sich allmählich unter dem Druck kollektiver Bedürfnisse herausgebildet und gefestigt hat«. 69 Die moralischen Regeln können sich daher dem direkten Bewusstsein der Handelnden entziehen. Da Moral kein Inhalt des Bewusstseins ist, sondern sozialer Tatsächlichkeit, kann sie nur durch Beobachtung von Handlungen erkannt werden. Es ist aussichtslos, sie ohne Bezug auf Sozialsysteme finden zu wollen. Im Gegenteil: »Es gibt genauso viele Moralsysteme wie es Gesellschaftstypen gibt, und die Moral der niederen Gesellschaften ist genauso eine Moral wie jene der höherentwickelten Gesellschaften«. 70 Diese Auffassungen bildeten das Fundament von Durkheims R.analyse. Im Vorwort zum . Bd. seiner Zeitschrift ›L’Année Sociologique‹ / erklärte er, warum man der R. bei der Untersuchung der Gesellschaft Vorrang einräumen müsse. »Die Religion enthält in sich im Prinzip,

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aber in einem noch ungeklärten Zustande, alle die Elemente, die dadurch, dass sie sich trennen, sich festlegen, sich auf tausendfache Weise miteinander verbinden, die verschiedenen Manifestationen des kollektiven Lebens hervorgebracht haben«. 71 4 Globalisierung des wissenschaftlichen Religionsbegriffs Der R.begriff steht gegenwärtig im Mittelpunkt der Diskussion. Dabei geht es nicht mehr um die richtige Definition von Religion. Eine andere Frage ist dringlicher geworden: die nach der Wirkung des wissenschaftlichen Begriffes von R. auf die R.geschichte der Moderne. 72 R.wissenschaftler haben nicht nur vernachlässigt, dass R. eine Kategorie der subjektiven Vorstellungskraft ist. 73 Sie haben auch wenig Sensibilität dafür entwickelt, dass ihr R.begriff weltweit Verbreitung gefunden hat. J. Derrida hat von einer Global-Latinisierung des Begriffes ›R.‹ gesprochen. 74 Es ist keine Selbstverständlichkeit, Christentum, Judentum, Islam oder Hinduismus ›R.‹ zu nennen. Einem Soziologen, Friedrich H. Tenbruck, blieb die Bemerkung vorbehalten, dass die R.wissenschaftler auf dem Glauben beharrten, sie seien bloße Beobachter, obgleich die Geschäftsgrundlage für eine solche Behauptung längst geschwunden sei. »Unter dem steten Druck der Religionswissenschaften ist die moderne Religion in eine ganz neue Lage und Verfassung geraten«, für die »die beidseitige Verflochtenheit von Religion und Religionswissenschaft« typisch sei. 75 Der wissenschaftliche R.begriff hat zu einer Strukturierung von disparaten Traditionen zu praktischen Maximen und theoretischen Prinzipien geführt. Für diesen R.begriff ist Autonomie charakteristisch, allerdings in einer anderen Weise als von R.phänomenologen konzipiert: nicht als ein selbständiges Gebiet neben Moral und Erkennen, sondern als das Prinzip der Entzweiung von Norm und Realität, als Prinzip der »Entzauberung« der Wirklichkeit. 76 Die Leistung des westlichen R.begriffs ist im Blick auf alle großen Weltreligionen die »Distanzierung von einer übermächtigen Wirklichkeit« (H. Blumenberg). 77 Bäumer, M. L., , Die romantische Epiphanie des Dionysos. In: Monatshefte . – Bäumer, M. L., , Das moderne Phänomen des Dionysischen und seine ›Entdeckung‹ durch Nietzsche. In: Nietzsche-Studien . – Bakker, H., , Die indische Herausforderung. Hegels Beitrag zu einer europäischen kulturhistorischen Diskussion. In: H. Bakker/J. Schickel/B. Nagel, Indische Philosophie

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 S.  ff. – 2 Feil , –. – 3 Ebd., S.. – 4 Leuba

, S.–. – 5 Taubes , . – 6 Hobbes ,  f. – 7 Schmitt , S.– . – 8 Hume , . – 9 Ebd., . – 10 Ebd., . – 11 Ebd.,  f. – 12 Harrison , S.–. – 13 Hume ,  ff. – 14 Weber , –. – 15 Matthes , S.–. – 16 Rousseau , –. – 17 Ebd., . – 18 Ebd.,S. –, Zitat S. . – 19 Ebd.,S. . – 20 Ebd.,S. . – 21 Rousseau , –. – 22 Ebd.,S. . – 23 Kant ,  ff. – 24 Kant , Bd. VI I S. – 25 Ebd., Bd. VI I I S. . – 26 Ebd., Bd. X I, . Zur Religionsphilosophie bei Fichte und Schelling vgl. Sandkühler , Kap. I X : Die Religion und der Gottesbegriff. – 27 Herder , . – 28 Ebd.,  f. – 29 Ebd., . – 30 Ebd., . – 31 Herder , . – 32 Birkner . – 33 Schleiermacher ,  f. – 34 Ebd., . – 35 Ebd., ; Gladigow . – 36 Ebd., . – 37 Ebd., . – 38 Hegel, W W , . – 39 Ebd., WW ,  ff. – 40 Bakker . – 41 Hegel, W W , . – 42 Ebd., . – 43 Dumont . – 44 Schopenhauer , Bd. , . – 45 Ebd., Bd. ,  f. – 46 Ebd., Bd. , . – 47 Ebd., Bd. , . – 48 Ebd., Bd. , . – 49 Baeumer , . – 50 Gründer , Sp.  f. – 51 Baeumer . – 52 Henrichs , . – 53 Nietzsche , Bd. ,  f. – 54 Schopenhauer,  Bd.  § . – 55 Nietzsche , Bd. , S.. – 56 Ebd., Bd.  S. . – 57 Kaufmann ,  f. – 58 Ebd., S.. – 59 Ebd., S.. – 60 Nietzsche ,Bd.  S. . – 61 Dilthey , -. – 62 Scheler , . – 63 Dilthey , . – 64 Kippenberg  S. –. – 65 Windelband ,  f. – 66 Rodi/Lessing , . – 67 Schnädelbach , f;

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–. – 68 Weber ; ; /. – 69 Durkheim , S.. – 70 Durkheim, , . – 71 Durkheim , . – 72 Feil ; Despland ; Despland/ Vallée . – 73 Smith  S.–. – 74 Derrida/Vattimo  S. .  f. – 75 Tenbruck , S.–. – 76 Kippenberg  S. . – 77 Blumenberg , .

Hans Gerhard Kippenberg

Sozialphilosophie

1 Zum Begriff. Wie alle Gebiete theoretischer Erkenntnis, so war auch die Philosophie in den letzten zweihundert Jahren einem Prozess der Ausdifferenzierung unterworfen, der zur Entstehung einer Vielzahl von Unterdisziplinen und Sonderbereichen geführt hat. Zwar sind die Lehrpläne und Einführungstexte auch heute noch häufig von der klassischen Dreiteilung in theoretische Philosophie, praktische Philosophie und Geschichte der Philosophie – bzw. gelegentlich: Ästhetik – bestimmt, aber in der Praxis des akademischen Betriebes haben sich längst Aufgabenverteilungen eingespielt, die sich dem alten Schema kaum mehr einzupassen vermögen. V. a. auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, ursprünglich eine Disziplin, die nur die Ethik sowie die Staats- und Rechtsphilosophie umfasste, hat die neuere Entwicklung zu einer Disziplinenvielfalt geführt, innerhalb deren die Grenzen zwischen den einzelnen Wissensbereichen immer unklarer zu werden beginnen; kaum jemand weiß heute noch mit Sicherheit anzugeben, wo die Trennungslinien zwischen der Moralphilosophie, der politischen Philosophie, der Geschichtsphilosophie oder der Kulturphilosophie im einzelnen verlaufen. In diesem unübersichtlichen Terrain hat die Sozialphilosophie (SPh.) im deutschsprachigen Raum inzwischen mehr und mehr die Rolle einer Residualdisziplin übernommen: In ihrem Verhältnis zu den benachbarten Wissensfeldern unbestimmt, übt sie je nach Bedarf das eine Mal die Funktion einer übergreifenden Dachorganisation für alle praktisch orientierten Teildisziplinen aus, das andere Mal die Funktion eines normativen Ergänzungsstücks zur empirisch verfahrenden Soziologie, ein weiteres Mal schließlich die Funktion eines zeitdiagnostisch angelegten Deutungsunternehmens. 1 In den angelsächsischen Ländern hingegen hat sich seit den Zeiten des frühen Utilitarismus ein Verständnis der SPh. herausgebildet, das weitgehend dem angenähert ist, was hierzulande unter ›politischer Philosophie‹ zusammengefasst wird: Im Zentrum stehen dort die normativen Fragen, die sich an den Stellen ergeben, wo die Reproduktion der zivilen Gesellschaft auf

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Eingriffe des Staates angewiesen ist (Eigentumsordnung, Strafpraxis, Gesundheitsfürsorge usw.). 2 Hat diese Begriffsfestlegung den großen Vorteil einer relativ klaren Aufgabenbestimmung, so geht mit ihr zwangsläufig aber auch der Nachteil eines gewissen Identitätsverlustes einher: Die SPh. besitzt nicht mehr einen eigenständigen Gegenstandsbereich oder eine distinkte Fragestellung, sondern ist zu einer Art von Seitenstrang der politischen Philosophie (Politik) geworden. Werden diese beiden Entwicklungstendenzen im Zusammenhang betrachtet, so ist unschwer auszumachen, dass sich die SPh. heute in einer prekären Situation befindet: Während sie sich im dt. Sprachraum durch eine Überdehnung ihres Aufgabenfeldes zu einer Verlegenheitsdisziplin zu entwickeln droht, ist sie in den angelsächsischen Ländern umgekehrt durch eine Einschränkung ihres Aufgabenfeldes schon so sehr zu einer Unterdisziplin der politischen Philosophie geworden, dass sie eigenständige Züge kaum mehr zu besitzen scheint. Um beiden Gefährdungen entgegenwirken zu können, ist es sinnvoll, sich bei der Aufgabenbestimmung der SPh. eher an ihre traditionelle Herkunft zu erinnern; dann nämlich wird deutlich, dass es darin über einen langen Zeitraum im wesentlichen um eine Bestimmung und Erörterung von solchen Entwicklungsprozessen der Gesellschaft gegangen ist, die sich als Fehlentwicklungen oder Störungen, eben als ›Pathologien des Sozialen‹, begreifen lassen. 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte: Von Rousseau bis zur Kritischen Theorie. Die Entstehung der sozialphilosophischen Fragestellung Wenn es auch Th. Hobbes war, der in der Mitte des . Jh. der Disziplin ihren Namen gab 3, so ist die SPh. im eigentlichen Sinn doch erst hundert Jahre später durch J.-J. Rousseau ins Leben gerufen worden. Hobbes hatte sich unter dem Titel der ›social philosophy‹ für die rechtlichen Bedingungen interessiert, unter denen der absolutistische Staat das Maß an Stabilität und Autorität gewinnen konnte, das zur Befriedung des religiösen Bürgerkriegs vonnöten war. Seinem Lösungsvorschlag in der Vertragskonstruktion des Leviathan (Gesellschaftsvertrag) lag als leitender Gesichtspunkt einzig und allein die Frage zugrunde, wie unter der sozialen Voraussetzung allgegenwärtiger Interessenkonflikte das bloße Überleben der staatlichen Ordnung gesi-

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chert werden konnte. Als Rousseau sich in der Mitte des . Jh. an die Abfassung seines Diskurses über die Ungleichheit machte, war ihm dieser Gesichtspunkt schon beinahe gleichgültig geworden; ihn interessierten weniger die Voraussetzungen, unter denen die bürgerliche Gesellschaft sich zu erhalten vermochte, als vielmehr die Ursachen, die zu ihrer Degenerierung geführt haben sollten. In den hundert Jahren, die zwischen den beiden Fragestellungen lagen, war der Prozess der kapitalistischen Modernisierung schon so weit fortgeschritten, dass sich im Schatten des absolutistischen Staates eine zivile Sphäre der privaten Autonomie hatte herausbilden können; im Binnenraum einer frühbürgerlichen Öffentlichkeit, die in Frankreich die aufgeklärten Vertreter des Adels mit einschloss und noch ohne jede politische Einflussmöglichkeit war, wurden jene Verhaltensweisen einstudiert, die später sowohl für die demokratischen Institutionen als auch für den kapitalistischen Warenverkehr den lebensweltlichen Rahmen abgeben sollten. 4 Damit trat eine Form des sozialen Lebens in Erscheinung, die für Hobbes als solche noch gar nicht zu erkennen gewesen war: Unter dem wachsenden Druck der ökonomischen und sozialen Konkurrenz wuchsen Handlungspraktiken und Orientierungen heran, die auf Täuschung, Verstellung und Neid gegründet waren. Es ist die Lebensform gewesen, die mit diesen Verhaltensmustern entstand, auf die Rousseau mit dem übersteigerten Sensorium des isolierten Einzelgängers den Blick gerichtet hat. An ihr interessierte ihn v. a., ob sie im ganzen noch die praktischen Voraussetzungen enthielt, unter denen die Menschen ein gutes, ein gelingendes Leben führen können. Mit der Einstellungsveränderung, die Rousseau damit gegenüber Hobbes vollzogen hatte, war das neuzeitliche Unternehmen einer SPh. erst eigentlich auf den Weg gebracht; im Unterschied zur politischen Philosophie fragte sie nicht länger nach den Bedingungen einer richtigen oder gerechten Gesellschaftsordnung, sondern erkundete die Beschränkungen, die die neue Lebensform der Selbstverwirklichung des Menschen auferlegt. 2.1 Rousseau Schon in einer Schrift, die fünf Jahre vor seinem Diskurs über die Ungleichheit in Genf erschienen war, hatte sich Rousseau von einer solchen sozialphilosophischen Problemstellung leiten lassen: Die Preisfrage der Akademie von Dijon, »ob die Wiederherstellung der

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Wissenschaften und Künste etwas zur Läuterung der Sitten beigetragen habe«, bot ihm zum ersten Mal Gelegenheit, seine zivilisationskritischen Überlegungen (Zivilisation) in einer kleinen Abhandlung zusammenzufassen. 5 Der Text, voller Pathos, aber ohne schlüssige Argumentation, enthält in Rohform bereits all die Beobachtungen, die später zum Material von Rousseaus ausgearbeiteter Theorie werden sollten: Mit der zivilisatorischen Entwicklung geht ein Prozess der Bedürfnisverfeinerung einher, der den Menschen in Abhängigkeit von künstlich erzeugten Begehrlichkeiten versetzt und ihn daher in wachsendem Maße seiner ursprünglich gegebenen Freiheit beraubt; die Ablösung von der naturnahen Verhaltenssicherheit führt darüber hinaus zu einem Verfall der öffentlichen Tugenden, weil mit der notwendig gewordenen Arbeitsteilung auch das Bedürfnis nach wechselseitiger Distinktion ansteigt, so dass am Ende Hochmut, Eitelkeit und Heuchelei vorherrschen; und die Künste und die Wissenschaften übernehmen in diesem Prozess schließlich bloß noch die Rolle von verstärkenden Instanzen, weil sie dem individualisierenden Hang zur Prahlerei nur immer neue Ausdrucksmöglichkeiten verschaffen. 6 Die negative Antwort, zu der Rousseau somit im Hinblick auf die Preisfrage gelangt, enthält freilich noch kaum einen Hinweis auf die Kriterien, die ihm bei seiner kritischen Bewertung zur Verfügung stehen. Zwar macht der Text unmissverständlich deutlich, dass es die Bereiche der individuellen Freiheit und der öffentlichen Tugend sein sollen, an deren Zustand sich die sittliche Qualität des sozialen Lebens bemessen lässt; aber wie die Idealformen beider Sphären vorzustellen wären, um im Vergleich mit ihnen einen Prozess des ›Verlustes‹ oder des ›Verfalls‹ behaupten zu können, bleibt hier weitgehend ungeklärt. Dieses normative Defizit bleibt bestehen, bis Rousseau in seinem Diskurs über die Ungleichheit eine wesentlich erweiterte und nunmehr theoretisch auch gehaltvolle Fassung seiner Zivilisationskritik vorlegt. 7 In dieser Schrift, erneut entstanden als Antwort auf eine Preisfrage der Akademie von Dijon, findet sich die Spannung zwischen historischem und anthropologischem Bewertungsmaßstab aufgelöst zugunsten der zweiten Option: Es ist jetzt eine bestimmte, nämlich naturgegebene Form der menschlichen Selbstbeziehung, die als kritischer Bezugspunkt in der Diagnose der modernen Lebensweise fungiert. Obwohl die neue Ausschreibung der Akademie dieses Mal nach den Ursachen fragt, die

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zu den »ungleichen Bedingungen unter den Menschen« geführt haben sollen, nutzt sie Rousseau doch wiederum zu einer Kritik nicht nur des sozialen Unrechts, sondern einer ganzen Lebensform. Dabei ist eine äußere Schicht der Kritik von ihrem innersten, sozialphilosophischen Kern zu unterscheiden: Auf einer ersten, gewissermaßen offiziellen Ebene, die der Aufgabe einer Beantwortung der ausgeschriebenen Preisfrage nachkommt, umreißt Rousseau mit dem Scharfsinn eines frühen Soziologen, inwiefern das Verlassen der natürlichen Lebensweise zur Entstehung von sozialer Ungleichheit hat führen müssen; denselben Vorgang interpretiert er aber auf einer zweiten, eher verborgenen Ebene zugleich als den Anfangspunkt eines Prozesses, durch den der Mensch in ein Verhältnis der Selbstentfremdung getrieben wurde. In beiden Fällen ist es das Aufbrechen der monologischen Selbstbeziehung, was der kritisierten Entwicklung den Weg bereitet hat, aber der Stellenwert dieses Ereignisses ändert sich jeweils mit dem Gesichtspunkt, unter dem Rousseau seine kritische Diagnose unternimmt. Auf der Basis der Beschreibung, die Rousseau vom Naturzustand gegeben hat, ist es nur konsequent, wenn er dessen Ende schon mit den ersten Schritten der Vergesellschaftung zusammenfallen lässt: Ist die natürliche Lebensweise des Menschen nämlich durch eine Form der individuellen Selbstbeziehung geprägt, die frei von allen intersubjektiven Orientierungen ist, so muss diese sich bereits in dem Augenblick aufzulösen beginnen, in dem mit der Familie oder dem Sippenverband elementare Kommunikationsbeziehungen entstehen. Wie unzureichend auch immer die Erklärungen daher sind, die Rousseau für die Herausbildung solcher frühen Formen der Vergemeinschaftung anbietet, mit ihnen sieht er den menschlichen Naturzustand definitiv als beendet an. Die Folgen, die sich aus der veränderten Lebenssituation für das individuelle Verhalten ergeben, werden dem Leser in einem Gedankengang auseinandergesetzt, dessen negativistische Zuspitzung nicht frei von persönlichen Affekten ist: Sobald die Subjekte sich wechselseitig aufeinander beziehen müssen, wie es mit dem Entstehen erster Interaktionsverhältnisse der Fall ist, verlagert sich der Orientierungspunkt ihres Handelns zwangsläufig nach außen. Statt den Empfehlungen der eigenen Bedürfnisnatur (Bedürfnis) zu folgen, richten sie sich nunmehr an den Erwartungen aus, die ihnen die Kommunikationspartner entgegenbringen. An die Stelle, die zuvor

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die Sicherheit über die eigenen Wünsche eingenommen hatte, tritt dementsprechend jetzt die Unruhe der permanenten Selbstdarstellung. Denn in der Angst, die intersubjektiven Erwartungen nicht erfüllen zu können, ist jedes Subjekt um eine Präsentation seiner selbst bemüht, die mehr verspricht, als faktisch einlösbar ist. Sobald dieses Stadium der Vergesellschaftung einmal erreicht ist, entsteht eine soziale Dynamik, an deren Ende der unaufhörliche Kreislauf von Geltungssucht und Prestigegehabe steht: Wechselseitig begegnen sich die Individuen nur noch mit der Absicht, Talente und Kräfte vorzutäuschen, die ihnen ein höheres Maß an sozialer Anerkennung verschaffen können. 2.2 Hegel Als Hegel an der Wende zum . Jh. seine ersten Schriften verfasste, stand er nicht weniger im Bann der Problemstellung Rousseaus als vierzig Jahre später der junge Karl Marx. Freilich hatte sich das empirische Anschauungsmaterial, an dem zunächst Hegel, erst recht dann aber Marx ihr Unbehagen an der bürgerlichen Gesellschaft festmachten, gegenüber der Mitte des vorangehenden Jh. schon erheblich geändert. Nicht nur das Ereignis und die Nachwirkungen der Französischen Revolution, sondern v. a. auch die Begleiterscheinungen der rapide voranschreitenden Industrialisierung waren es, auf die sie beide mit ihren theoretischen Entwürfen reagierten. Rousseau war zum Kerngedanken seiner SPh. durch leidvolle Erfahrungen gelangt, die er im sozialen Leben einer frühbürgerlichen Öffentlichkeit in der Stadt Paris hatte machen müssen. All das, was er dort an Konkurrenzdruck, Prestigezwang und Distinktionsgehabe erleben musste, war von ihm auf die beiden Entwicklungstendenzen des Freiheitsverlustes und des Tugendverfalls zurückgeführt worden; und diese Prozesse wiederum hat er mit Hilfe des Deutungsmusters einer ›Verkehrung‹ und ›Entfremdung‹ als die notwendigen Folgen der Loslösung von einer anthropologisch gegebenen Ausgangssituation interpretiert. Für Hegel hingegen ist die Gesellschaft seiner Zeit durch nichts weniger charakterisiert als durch einen Verlust an subjektiver Freiheit. Was er als pathologisch am sozialen Leben erfährt, ist ganz im Gegensatz zu Rousseau die zerstörerische Wirkung, die von dem Prozess einer maßlosen Steigerung des individuellen Partikularismus ausgeht. Die empirischen Phänomene, die ihm dabei plastisch vor Augen stehen,

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sind soziale Vereinzelung, politische Apathie und ökonomische Verelendung. Mit Rousseau aber teilt Hegel die Sicht, dass diese historischen Fehlentwicklungen deswegen eine soziale Gefährdung darstellen, weil sie den Bedingungen eines guten Lebens zu große Beschränkungen auferlegen. Im Sinn einer solchen ethischen Grundproblematik bildet auch sein Werk eine wesentliche Stufe in der Entfaltung der neuzeitlichen SPh. Von Anfang an sieht Hegel als das zentrale Problem seiner Gegenwart die Herausbildung einer sozialen Sphäre an, in der die Bürger sich nur noch über das dünne Band von rechtlichen Regelungen aufeinander beziehen. Sowohl sein Bild von den Nachwirkungen der Französischen Revolution als auch sein Blick auf die politischen Verhältnisse in Deutschland sind von der Überzeugung geprägt, dass mit der rechtlichen Freisetzung der Einzelsubjekte zugleich die Gefahr einer Atomisierung des gesamten Gemeinwesens einhergeht: In der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ mit den abstrakten Befugnissen einer Rechtsperson (Person) ausgestattet, genießt das Individuum nun zwar ein vorher nicht gekanntes Maß an subjektiver Freiheit; deren bloß negative Bestimmung aber führt zu keiner sozialen Bindung mehr, die über rein instrumentelle Orientierungen hinausweisen könnte. Zu einem Sozialphilosophen im hier gemeinten Sinn wird Hegel freilich erst, weil er in diesem Prozess eines Gemeinschaftsverlustes mehr als nur ein politisches Steuerungsproblem erblickt; seine geschichtsphilosophischen Überzeugungen erlauben es ihm vielmehr schon früh, darin zugleich eine Krise angelegt zu sehen, die das soziale Leben im ganzen in Mitleidenschaft zieht. 8 Mit der Herausbildung des bürgerlichen Tauschverkehrs, so ist Hegel nicht anders als viele seiner Zeitgenossen überzeugt, wird auch eine Form der sittlichen Totalität zerstört, wie sie unter natürlichen Bedingungen oder im antiken Griechenland einmal existiert haben muss; die Weise, in der darin das individuelle Leben und die öffentlichen Tugenden miteinander verschränkt waren, gab dem einzelnen die Chance, sich im übergreifenden Allgemeinen stets als ein konstitutives Element einbezogen zu wissen. Insofern diese Bedingungen nun die Voraussetzung eines gelingenden Lebens abgeben sollen, kann Hegel die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft als Resultat einer geschichtlichen Entzweiung begreifen, deren Folgen weitaus umfassender sind, als am Zustand der politischen Desintegration allein zum Ausdruck kommt: Sobald die Individuen sich

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unter Ausnutzung ihrer neu gewonnenen Freiheiten nur noch auf sich selber zu beziehen beginnen, droht mit dem sozialen Band auch das allgemeine Medium aufgelöst zu werden, in dessen Horizont sie eine vernünftige Identität zu entwickeln vermögen. Das soziale Leben, das Hegel vor Augen hat, ist daher durch einen Verlust an Allgemeinheit gekennzeichnet, der sowohl für die Subjekte als auch für das Gemeinwesen pathologische Folgen hat: im einzelnen Individuum stehen sich, weil es nicht mehr konstitutiv in die öffentliche Sphäre einbezogen ist, Pflicht und Neigung ebenso abstrakt gegenüber wie in der Gesellschaft die atomisierten Mitglieder den leblos gewordenen Institutionen. War es für Rousseau mithin ein Zustand der möglichst extremen Autarkie des einzelnen, so ist es für Hegel nun also die wechselseitige Verpflichtung auf ein gemeinsames Gut, was jeweils als Voraussetzung für eine Form von Gesellschaft gilt, die ihren Mitgliedern Selbstverwirklichung ermöglichen kann. Zeit seines Lebens musste Hegel daher, wie Rousseau sonst nur in seinem Contrat Social, nach einem sozialen Medium Ausschau halten, das unter den Bedingungen der modernen Freiheitsprinzipien noch einmal zur Quelle der sittlichen Integration werden konnte. (Auf das komplizierte Verhältnis, in dem Rousseaus Gesellschaftsvertrag 9 zu seinen kulturkritischen Schriften steht, ist hier nicht einzugehen; entgegen der weitverbreiteten Überzeugung, dass zwischen den beiden Werkkomplexen ein einfacher Gegensatz besteht, sei betont, dass sich der intersubjektivitätstheoretische Negativismus der Kulturkritik in der Tendenz der politischen Schriften widerspiegelt, allen Formen der gesellschaftlichen Assoziation, ja sogar der sozialen Interaktion entgegenzuwirken.) Hegels frühe Idee einer dem Urchristentum entlehnten Volksreligion, das kurzlebige Programm einer ästhetischen Mythologie, die Orientierung am Vorbild der antiken Polis und schließlich das reife Konzept einer staatlich geregelten Sittlichkeit sind die verschiedenen Lösungen, die er im Zuge der Entwicklung seines Werkes für die von ihm selbst aufgezeigte Krise entworfen hat. 10 2.3 Marx Nur am Rande ist das Bild, das der späte Hegel vom sozialen Leben seiner Zeit skizziert, schon von Phänomenen der ökonomischen Verelendung bestimmt. Erst mit dem Werk seines Schülers Marx treten sie

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ins Zentrum der SPh. In den fortgeschrittensten Ländern des Westens hatte sich der Prozess der kapitalistischen Industrialisierung inzwischen so stark beschleunigt, dass die lebensweltlichen Folgen unübersehbar geworden waren; die Erfahrung von wirtschaftlichem Elend und sozialer Entwurzelung ist es daher, die der Theorieentwicklung von Marx den Anstoß gibt. Aber auch er nimmt die Phänomene, die ihn an der Gesellschaft seiner Zeit empören, nicht einfach als soziale Konsequenzen eines moralischen Unrechts wahr. Wie vor ihm Rousseau und Hegel deutet Marx die kritisierten Tendenzen von Anfang an als gesellschaftliche Entwicklungen, die dem Ziel der menschlichen Selbstverwirklichung entgegenstehen. Allerdings enthält nun der teleologische Begriff des Menschen, den Marx seinen Überlegungen zugrundelegt, von vornherein eine inhaltliche Zuspitzung, die sowohl Rousseau als auch Hegel noch vollkommen fremd gewesen war: Entsprechend der historischen Erfahrung, die seine Aufmerksamkeit auf das Wirtschaftsleben lenkt, aber auch nicht unabhängig von den romantischen Einflüssen, denen er in seiner Jugend unterliegt, gelangt für Marx das menschliche Subjekt allein durch den Prozess einer selbstbestimmten Arbeit zur Selbstverwirklichung. 11 Die kritische Diagnose, die er sich zum Ziel gesetzt hat, muss daher den Versuch unternehmen, am Kapitalismus diejenigen Bedingungen zu identifizieren, die der Entfaltung einer solchen Form von Arbeit strukturell im Wege stehen. In seinen Frühschriften gibt Marx diesem Unternehmen die Gestalt einer Kritik der sozialen Entfremdung. In ihrer methodischen Form ist diese Entfremdungskritik noch weitgehend dem Modell verhaftet, das Rousseau in seinen zivilisationstheoretischen Schriften entwickelt hat. Um von ›Entfremdung‹ reden zu können, muss auch Marx zunächst einen ursprünglichen Zustand umreißen, der den Menschen ein gutes Leben hat führen lassen. Von der damit bestimmten Idealsituation hat er in einem zweiten Schritt dann zu zeigen, inwiefern sie durch die gesellschaftlichen Entwicklungen zerstört oder in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Freilich ist Marx theoretisch schon so vorsichtig geworden, dass er jede, und sei es auch bloß methodisch gemeinte Anspielung auf einen Naturzustand vermeidet. Statt dessen spricht er nur noch von Möglichkeiten, die der menschlichen Gattung aufgrund ihrer natürlichen Ausstattung zukommen sollen. Wird diese Differenz berücksichtigt, dann lässt sich die Argumentation der Ökonomisch-

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philosophischen Manuskripte, die im Jahre  entstehen 12, in formaler Analogie zum Diskurs über die Ungleichheit nachvollziehen: Das, was die zentrale Eigenschaft des Menschen ausmacht, ist die Fähigkeit, sich im Produkt seiner Arbeit zu vergegenständlichen; nur im Vollzug einer solchen Vergegenständlichung erhält das einzelne Subjekt die Chance, sich der eigenen Kräfte zu vergewissern und dementsprechend zu Selbstbewusstsein zu gelangen; daher bildet die Möglichkeit, frei und ungezwungen den Vollzug des Arbeitens als Selbstverwirklichung erleben zu können, die entscheidende Voraussetzung eines guten Lebens unter Menschen; mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise jedoch wird diese Bedingung zerstört, weil sie in Form der Lohnarbeit dem Handelnden jede Kontrolle über seine Tätigkeit nimmt; insofern stellt der Kapitalismus eine soziale Lebensform dar, die den Menschen in einen Gegensatz zu seinem eigenen Wesen bringt und ihn damit aller Aussichten auf ein gutes Leben beraubt. Die Folgen, die sich aus der skizzierten Entwicklung für das einzelne Individuum ergeben, listet Marx in vier Formen der sozialen Entfremdung auf: Das Subjekt wird nicht nur an der Verwirklichung seiner humanspezifischen Eigenschaften gehindert, sondern damit zugleich seiner eigenen Person, dem Produkt seiner Arbeit und allen Mitmenschen entfremdet. In anderen Schriften derselben Zeit finden sich leicht veränderte Bestimmungen der Entfremdungssituation, die häufig eher verständlich machen können, warum die Verunmöglichung der individuellen Vergegenständlichung auch zu einer Distanzierung zwischen den Subjekten führen soll. 13 Bei allen Unterschieden im einzelnen aber behält der junge Marx stets die Perspektive bei, im wirtschaftlichen Elend allein den äußeren Ausdruck einer sozialen Lebensform zu sehen, die den Menschen vom Potenzial der ihm eigenen Fähigkeiten entfremdet hat – der Kapitalismus soll als eine Pathologie und nicht bloß als ein Unrecht der gesellschaftlichen Verhältnisse verstanden werden. An dieser sozialphilosophischen Orientierung der Kapitalismuskritik ändert sich auch nichts, nachdem Marx den entfremdungstheoretischen Ansatz seiner Frühschriften fallengelassen hat. Mit der Vertiefung seiner Kenntnis der politischen Ökonomie wächst bei ihm zwar die Einsicht, dass die kapitalistische Produktionsweise nur dann angemessen zu kritisieren ist, wenn sich an ihren Bewegungsgesetzen selbst ein

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struktureller Widerspruch nachweisen lässt. Und mit der verstärkten Ausrichtung am methodischen Vorbild der Wissenschaften mag er sich auch zu der Überzeugung durchgerungen haben, dass die Rede von der ›sozialen Entfremdung‹ viel zu starke Anleihen bei einem spekulativen Konzept der menschlichen Gattungseigenschaften (Gattung) macht. Aber die Transformation seines Ansatzes in das wissenschaftliche Programm einer Kritik der politischen Ökonomie führt nicht etwa dazu, dass Marx seine Kapitalismusanalyse fortan ohne jede sozialphilosophische Orientierung belässt. Auch jetzt geht es ihm um wesentlich mehr als bloß darum, die innere Gesetzmäßigkeit herauszuarbeiten, mit der die Verwertungslogik des Kapitals in die wirtschaftliche Krise treibt. Vielmehr soll von demselben Prozess auch weiterhin gezeigt werden können, dass er deswegen eine soziale Fehlentwicklung darstellt, weil er ein befriedigendes Leben unter Menschen unmöglich macht. Um dieses Ziel erreichen zu können, bedient sich Marx in dem neuen Kontext v. a. der Kategorie der ›Verdinglichung‹. Mit ihr wird das Konzept der Entfremdung durch ein Vorstellungsmodell ersetzt, das zwar sparsamer im anthropologischen Gehalt, aber ebenso aussagekräftig im Hinblick auf die Bestimmung sozialer Pathologien ist. 14 Unter ›Verdinglichung‹ versteht Marx den Vorgang, durch den der Verwertungszwang des Kapitals bewirkt, dass die Subjekte zu einer Art von permanentem Kategorienfehler gegenüber der Wirklichkeit genötigt werden: unter den ökonomischen Druck geraten, stets von allen nicht verwertbaren Phänomenen abzusehen, können sie am Ende gar nicht mehr anders, als die Realität im ganzen nach dem Schema von dinglichen Entitäten wahrzunehmen. Zu einem kritikbedürftigen Tatbestand wird dieser Vorgang für Marx freilich erst, weil mit ihm auch die Bedingungen zerstört sein sollen, unter denen der Mensch zu einer Verwirklichung seiner selbst gelangen kann: denn sobald seine Umwelt auf einen Zusammenhang von bloßen Dingen reduziert ist, fehlt ihm jede Möglichkeit, sich der eigenen, lebendigen Kräfte im Medium einer äußeren Wirklichkeit zu vergewissern. Wie schon der letzte Gedankengang zeigt, kommt natürlich auch dieses neue Kritikmodell nicht ohne den systematischen Bezug auf anthropologische Bestimmungen aus. Marx muss einige, recht starke Annahmen über die Strukturen der menschlichen Selbstverwirklichung vorausschicken, um den Vorgang der Verdinglichung als ein Hindernis für das gute Le-

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ben kritisieren zu können; und auf einer davor geschalteten Ebene hat er selbstverständlich erst einmal nachzuweisen, dass es sich bei einer objektivierenden Sicht auf die Wirklichkeit tatsächlich um eine Art von Kategorienfehler handelt. Aber auf substanzielle Annahmen über die Bedürfnisnatur des Menschen, wie sie noch das Entfremdungskonzept verlangt hatte, kann Marx nunmehr verzichten; denn was sein neues Kritikmodell an Angaben über die Struktur der menschlichen Selbstverwirklichung voraussetzt, bezieht sich nicht auf deren Ziele oder Absichten, sondern nur auf notwendige Vollzugsbedingungen. 2.4 Entwicklungen nach Marx In der zweiten Hälfte des . Jh. zeichnen sich in einigen Ländern des Westens erste Schritte einer politischen Demokratisierung ab (Demokratie). Unter dem moralischen Druck der Arbeiterbewegung, die sich bereits auf den weitgehend institutionalisierten Gleichheitsgrundsatz berufen kann, werden die liberalen Freiheitsrechte auf neue Gruppen ausgeweitet und zugleich um spezifisch politische Elemente ergänzt. 15 Im Zusammenhang mit dem Prozess der Verstädterung lösen diese Egalisierungstendenzen in bestimmten Kreisen des Bürgertums alsbald negative Reaktionen aus; nicht lange dauert es, bis das Schlagwort der ›Vermassung‹ (Masse) entsteht, mit dem die Bedrohungsängste auf einen einzigen Nenner gebracht werden. 16 Hinzu tritt, zumal in Deutschland, ein wachsendes Unbehagen an den Folgen, die im Bereich der Alltagskultur mit dem Prozess der Industrialisierung einhergehen: als verödet, ja als sinnentleert wird die soziale Lebenswelt erfahren, weil ihr jede Kraft zu authentischer Größe und Originalität zu fehlen scheint. Schon Tocqueville hatte zu der Zeit, als Marx seine Ökonomisch-philosophischen Manuskripte verfasste, vor den Gefahren einer kulturellen Verarmung gewarnt, die durch die soziale Gleichstellung hervorgerufen werden könnte. 17 Kaum dreißig Jahre später ist es John Stuart Mill, der in seiner Schrift Über die Freiheit die wachsende Tendenz eines allgemeinen Konformismus beklagt. 18 Aber erst Nietzsche gelangt in seinem Werk zu einer theoretischen Perspektive, in der alle diese Entwicklungsphänomene so zusammengeführt werden, dass sie als kulturelle Symptome einer einzigen, umfassenden Krise in Erscheinung treten: Was seine Zeitgenossen das eine Mal als Wildwuchs des Egalitarismus beschwören, das andere Mal als Resultat einer sozia-

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len Vermassung hinstellen, führt er in genialer Vereinfachung allein auf die geistige Konstellation des modernen Nihilismus zurück. Ganz im Gegensatz zu Tocqueville und Mill, die bei aller Kulturkritik in den beschriebenen Tendenzen doch nur die korrigierbaren Nebeneffekte eines ansonsten entschieden zu verteidigenden Demokratisierungsprozesses sehen, nimmt Nietzsche das soziale Leben seiner Zeit als durch und durch gestört wahr. Die nihilistische Grundstimmung, die die moderne Welt ereilt hat, weil jede Orientierung an lebensbejahenden Werten inzwischen unter reflexivem Vorbehalt steht, ist für ihn kein bloßes Randphänomen in einem im ganzen intakten Sozialgeschehen, sondern der symptomatische Ausdruck einer kulturellen Pathologie. 19 So wird auch Nietzsches Gegenwartsdiagnose zu einem zentralen Bildungselement in der Entwicklung der neuzeitlichen SPh. 2.5 Die Entstehung der Soziologie Wie die SPh. des . Jh. in starker Abhängigkeit von der Kulturkritik Rousseaus stand, so befand sie sich nämlich nun an der Wende zum . Jh. vollkommen im Bann der intellektuellen Konstellation von Marx und Nietzsche. Kaum ein Problem, kaum ein Thema ist in ihr anzutreffen, das nicht aus einer Verarbeitung der Spannung zwischen jenen beiden Denkern hervorgegangen wäre. Allerdings hat sich der Schwerpunkt dieser geistigen Auseinandersetzung inzwischen von dem Ort ihrer Entstehung abgelöst und auf ein anderes Feld verlagert: Es ist nicht mehr die Philosophie oder eines ihrer außerakademischen Randgebiete, in der die Pathologien der modernen Welt theoretisch verhandelt werden, sondern die im Entstehen begriffene Soziologie. Wie noch häufig in ihrer Geschichte, erhält die SPh. für einen kurzen Augenblick die entscheidenden Impulse von einer empirischen Wissenschaft. Freilich bietet sich damals gerade die Soziologie in einem besonderen Maße für die Fortbildung der SPh. an, weil sie sich entgegen ihrer zukünftigen Entwicklung noch ganz selbstverständlich an einer ethischen Fragestellung orientiert. Die Gründerväter der neuen Wissenschaft sind alle ohne Ausnahme zutiefst davon überzeugt, dass die moderne Gesellschaft von einer moralischen Auszehrung bedroht ist, die zu massiven Störungen in der sozialen Reproduktion führen muss: Mit dem institutionellen Übergang von der traditionalen zur modernen

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Sozialordnung, so lautet die allgemeine Diagnose, hat das soziale Wertgefüge jene ethische Gestaltungskraft verloren, die es dem einzelnen bislang erlaubte, sein Leben sinnvoll auf ein gesellschaftliches Ziel hin auszudeuten. Als eine Antwort auf die damit entstandene Pathologie kann nun die Soziologie deswegen aufgefasst werden, weil sie übereinstimmend noch ganz unspezialisiert als eine ›moral-‹ oder ›kulturwissenschaftliche‹ Unternehmung begriffen wird: ihre Aufgabe soll es sein, wie weder Tönnies noch Simmel, weder Weber noch Durkheim je in Zweifel gezogen haben, durch Erklärung ihrer Genese auch zur praktischen Behebung der ethischen Krise beizutragen. Ist bis hierhin das Programm der ersten Soziologengeneration durchaus noch mit der Zielsetzung vergleichbar, von der auch Hegel in seiner Philosophie ausgegangen war, so unterscheidet es sich davon wesentlich erst durch die inhaltlichen Bestimmungen, die zur Charakterisierung der drohenden Gefahr herangezogen werden: Nicht mehr durch ein Anwachsen von Atomisierung und Entzweiung, sondern durch einen Verlust an ethischen Orientierungen überhaupt soll der Prozess gekennzeichnet sein, der in der ethischen Krise der Gegenwart zum Ausbruch kommt. In diesem zeitdiagnostischen Bild haben sich auf Wegen, die von heute aus nicht mehr leicht zu rekonstruieren sind, theoretische Einflüsse sowohl von Nietzsche als auch von Marx niedergeschlagen. In ihrer Jugend waren alle die genannten Soziologen mit Ausnahme Durkheims, für den Bergson allerdings eine ähnliche Rolle gespielt haben mag, durch Nietzsches Nihilismusdiagnose auf nachhaltige Weise geprägt worden; ihr hatten sie die Vorstellung entnehmen müssen, dass mit dem Zerfall der objektiven Wertordnungen auch jene ethischen Zielsetzungen untergegangen waren, an denen die Subjekte ihr Leben sinnvoll orientieren konnten. 20 Zugleich hatte aber auch die ökonomische Theorie von Marx auf diese erste Generation von akademischen Soziologen einen bestimmenden Einfluss ausgeübt; auf dem Weg einer Verallgemeinerung seiner Kapitalismusanalyse war zu lernen gewesen, in welchem Maße die neue Wirtschaftsweise zu einer Form der menschlichen Beziehungen führte, die statt auf persönlichen Bindungen auf zweckrationalen Erwägungen beruhte. 21 So bedurfte es schließlich nur noch des kleinen Schrittes, beide Vorstellungskomplexe zu einem einzigen Erklärungsmuster zu verschmelzen, um zu der These zu gelangen, die an der Schwelle zum . Jh. die

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soziologische Zeitdiagnose beherrschte: Dass nämlich die institutionellen Ursachen für das Anwachsen ethischer Orientierungslosigkeit, des Nihilismus also, in der Durchsetzung der kapitalistischen Erwerbswirtschaft zu finden waren. In der einen oder anderen Weise bildete diese Behauptung den Kern der verschiedenen Deutungsmuster, die damals zur Erklärung des Übergangs zur modernen Gesellschaftsordnung herangezogen wurden: ob Simmel von der Versachlichung der persönlichen Beziehungen sprach, Tönnies die Auflösung sozialer Gemeinschaftsbindungen in den Blick rückte, Weber die Aufmerksamkeit auf die radikale Entzauberung der Welt lenkte oder Durkheim schließlich die Herausbildung von Formen der organischen Solidarität untersuchte, stets sollte es sich dabei um den geschichtlichen Prozess handeln, der gemeinsam mit der Etablierung der neuen Wirtschaftsordnung zu einer moralischen Entleerung der sozialen Lebenswelt geführt hatte. 22 An dieser Stelle nun mussten die Soziologen auf ein methodisches Hindernis stoßen, das als ein solches erst durch die Ergebnisse ihrer eigenen Forschung zum Vorschein hatte kommen können. Wenn nämlich in Verlängerung der Kulturdiagnose Nietzsches davon auszugehen war, dass sich die Gesellschaft in einem nihilistischen Zustand der ethischen Beliebigkeit befand, dann konnte es umgekehrt auch kaum mehr eine gerechtfertigte Möglichkeit geben, für den eigenen Bewertungsmaßstab objektive Gültigkeit zu beanspruchen; jede Auszeichnung von menschlichen Zielen, wie sie eine Diagnose sozialer Pathologien erforderlich machte, musste vielmehr als eine ethische Setzung gelten, die ebenso willkürlich wie alle anderen war. Es war nicht zuletzt diese Frage, die allmählich dazu führte, dass die SPh. wieder auf das Gleis ihrer ursprünglichen Disziplin zurückgelenkt wurde. Die äußerst produktiven Gründerjahre der Soziologie hatten zwar eine Reihe von Deutungsmustern hervorgebracht, die die sozialen Pathologien des expandierenden Kapitalismus so schlüssig und zugleich erfahrungsnah zu erklären vermochten, dass sie auch in den kommenden Jahrzehnten kaum etwas von ihrem Anregungspotenzial einbüßen mussten; ja, die Rationalisierungsthese von Weber sollte sogar im deutschen Sprachraum bald ebenso zum zentralen Bezugspunkt aller Weiterentwicklungen in der SPh. werden wie in Frankreich die Religionssoziologie Durkheims. Aber was sich im Rückgriff auf diese

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soziologischen Deutungsmuster an neuen Tendenzen herausbildete, vollzog sich zunächst doch weitgehend wieder im gewohnten Rahmen der Philosophie. Nur sie allein schien noch die methodischen Mittel bereitzuhalten, mit deren Hilfe der wachsenden Herausforderung des ethischen Relativismus etwas entgegengesetzt werden konnte, das Halt in universalistischen Prämissen versprach. Für eine solche Aufgabe kamen allerdings in dem historischen Zeitraum, der durch das Ende des Ersten Weltkrieges eröffnet wurde, überhaupt nur zwei philosophische Positionen in Betracht. Auf der einen Seite war inzwischen mit der philosophischen Anthropologie eine theoretische Schule zum Durchbruch gelangt, die unter Einbeziehung empirischer Forschungen die schon bei Rousseau, Herder und Humboldt angelegte Frage klären wollte, durch welche universalen Eigenschaften der Mensch gegenüber tierischen Lebewesen ausgezeichnet sei. 23 Auf der anderen Seite hatte sich, sicherlich auch ausgelöst durch die Verunsicherungen des Weltkrieges, ein neues Interesse an jener Form eines geschichtsphilosophischen Denkens entwickelt, das durch den Historismus längst für überwunden gehalten worden war. Schon immer hatten, wie zu sehen war, anthropologische und geschichtsphilosophische Begründungsfiguren innerhalb der SPh. eine wichtige Rolle gespielt; aber erst jetzt, in den er Jahren, bildeten sich theoretische Strömungen heraus, die sich explizit entweder auf die eine oder die andere der beiden Denkformen zu stützen versuchten, um wieder auf den sicheren Boden universalistischer Prämissen zurückkehren zu können. Bei Rousseau waren anthropologische Bestimmungen und negative Geschichtsphilosophie noch in einer einzigen Argumentationskette ausgewogen aufeinander bezogen gewesen: Ausgehend von einer Skizze der vorsozialen Natur des Menschen sollte gezeigt werden, wie der Prozess der Vergesellschaftung zwangsläufig zu einer Denaturierung führt, an deren Ende der Prestigekampf aller gegen alle steht. Schon Hegel hatte, indem er die menschliche Geschichte zu einem Medium des Fortschritts machte, das methodische Gleichgewicht zugunsten des zweiten Elements aufgelöst: bei ihm überwiegt die Geschichtsphilosophie die Anthropologie, weil die wahren Eigenschaften des Menschen nicht mehr am natürlichen Anfang, sondern am historischen Ende plaziert sein sollen. Zu Beginn des . Jh. schließlich sind die beiden Denkformen bereits so weit auseinander getreten, dass sie sich als

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exklusive Alternativen gegenüberstehen, deren Differenz sich an der unterschiedlichen Stellung der menschlichen Universalität bemisst: Während die philosophische Anthropologie einen allgemeinen Begriff der Lebensform des Menschen durch Rückgang auf seine natürliche Ausgangslage gewinnen will, entnimmt ihn die Geschichtsphilosophie einem als notwendiges Ziel begriffenen Endzustand der menschlichen Entwicklung. 24 Beide Modelle bieten sich nun für eine Überwindung der entstandenen Krise deswegen in einem besonderen Maße an, weil sich durch sie jede Bezugnahme auf ethische Normen überhaupt zu erübrigen scheint und die Gefahr des Relativismus von vornherein vermieden werden kann: Wo die SPh. an die erste Denkform anknüpft, um zu allgemeinen Kriterien einer Bestimmung sozialer Pathologien gelangen zu können, ist sie nur auf eine hinreichend komplexe Beschreibung der menschlichen Ausgangslage angewiesen; wo sie mit demselben Ziel hingegen an die zweite Denkform anzuknüpfen versucht, bedarf es nicht mehr als einer deskriptiven Vorwegnahme des gesellschaftlichen Zustandes, in dem die menschliche Geschichte mit Notwendigkeit ihren Abschluss finden wird. Die beiden Bücher, in denen diese entgegengesetzten Formen der SPh. exemplarisch Gestalt angenommen haben, erscheinen im Abstand von nur einem Jahr:  veröffentlicht Georg Lukács Geschichte und Klassenbewusstsein,  folgt Helmuth Plessners bedeutende, aber lange vergessene Studie über die Grenzen der Gemeinschaft. 25 Im Grunde genommen bleiben die beiden Begründungsfiguren, die diesen beiden zentralen Studien auf dem Gebiet der SPh. in diesem Jh. zugrunde liegen, auch in der sich daran anschließenden Fortentwicklung maßgeblich erhalten: So können Freuds Studien zur Kulturtheorie etwa als Fortsetzung der anthropologischen Begründungsform gelten, während auf der anderen Seite Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes 26 als das äußerst fragwürdige Beispiel einer geschichtsphilosophisch begründeten Pathologiediagnose gelten kann; so repräsentiert die Dialektik der Aufklärung, von Horkheimer und Adorno unter dem Eindruck des Faschismus geschrieben, den kühnen Versuch einer Weiterführung der geschichtsphilosophischen Linie der SPh., während Hannah Arendts Studien über den Totalitarismus 27 in gewisser Weise eine anthropologische Rückversicherung zugrunde legen. Allerdings operieren alle diese Studien gewissermaßen

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noch unter den Bedingungen einer methodischen Naivität, die darin liegt, dass die ethischen Prämissen der eigenen Diagnose als durch die geschichtsphilosophischen oder anthropologischen Konstruktionen selber gerechtfertigt angesehen werden; bevor aber die theoretischen Probleme ganz kurz umrissen werden, mit denen die SPh. nach dem Verlust solcher sekundären Sicherheiten heute konfrontiert ist, soll zunächst in Form eines systematischen Rückblicks die bislang nur historisch erläuterte Begriffsbestimmung der SPh. in Grundzügen zusammengefasst werden. 3 Diagnose sozialer Pathologien: das systematische Erkenntnisinteresse der Sozialphilosophie Der Zeitpunkt der Entstehung jener Unternehmung, die wir von heute aus ›SPh.‹ nennen können, legt es nahe, sie als Statthalter eines philosophischen Problems zu betrachten, das aufgrund methodischer Bedenken zunächst aus dem neuzeitlichen Denken ausgeschieden worden war. Schon Hobbes schwört der klassischen, auf Aristoteles zurückgehenden Tradition der politischen Philosophie konsequent ab, indem er ihren überschwenglichen Erkenntnisanspruch preisgibt und sich auf eine einzige Frage konzentriert: Nicht mehr, wie ein Gemeinwesen zugleich das gute und das gerechte Leben seiner Mitglieder garantieren könne, sondern allein noch, wie es zur Errichtung einer allgemein zustimmungsfähigen Ordnung in der Lage sei, ist das von ihm behandelte Problem. In dieser Einschränkung der Fragestellung zeichnet sich innerhalb der politischen Philosophie bereits jene Abtrennung der Moral von der Ethik ab, die Kant später für die Moralphilosophie offiziell begründet hat: Nur die Probleme, die sich auf die Gerechtigkeit sozialen Handelns beziehen, sollen von der Philosophie beantwortbar sein, während die Bedingungen des guten Lebens so wenig einer allgemeinen Bestimmung zugänglich sind, dass sie aus ihrem Rahmen ausgeschlossen bleiben müssen. Dass aber die ethische Frage zumindest mit Bezug auf das gesellschaftliche Zusammensein nicht einfach beiseite gelegt werden kann, sondern unter den Voraussetzungen der wissenschaftlichen Aufklärung nur eine andere Form anzunehmen hat, ist die Position, die Rousseau in seinen kulturkritischen Schriften vertritt. Natürlich will er ebensowenig wie vor ihm Hobbes oder nach ihm Kant die Perspektive der

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aristotelischen Tradition bloß wieder aufleben lassen, so dass der Staat als das von vornherein feststehende Ziel der menschlichen Selbstverwirklichung verstanden werden müsste, aber umgekehrt will er doch die Organisation des gesellschaftlichen Lebens daraufhin befragen, ob sie so beschaffen ist und die Bedingungen enthält, dass unter den Menschen ein gelungenes Leben möglich wird. Zwei theoretische Veränderungen sind es, die Rousseau diese Transformation der ethischen Frage erlaubt haben: Zum einen wird der aristotelische Gesichtspunkt insofern radikal formalisiert, als nicht mehr von den naturgegebenen Zwecken der menschlichen Selbstverwirklichung, sondern nur noch von ihren universalen Ermöglichungsbedingungen die Rede ist; und außerdem soll es nicht mehr der Staat, sondern die sich erst allmählich von ihm ablösende Gesellschaft sein, die auf die Voraussetzungen hin befragt wird, die dem menschlichen Lebensvollzug zur Verfügung stehen. So entsteht die SPh. als Statthalter einer ethischen Perspektive im Neuland der sich konstituierenden Gesellschaft. Allerdings ist mit diesem Blick auf ihre Entstehungsbedingungen die Struktur und Funktion der SPh. nur im Ansatz bestimmt. Was das zentrale Anliegen der neuen Disziplin ausmacht, zeigt sich vollständig erst bei Berücksichtigung einer weiteren Auffälligkeit, die bereits an Rousseaus Kulturkritik, deutlicher aber noch an den Entwürfen seiner Nachfolger zu beobachten ist. Nirgends tritt die SPh., ob nun bei Marx oder Nietzsche, bei Plessner oder Hannah Arendt, als eine positive Lehre in Erscheinung; stets handelt es sich zunächst und v. a. um die Kritik eines gesellschaftlichen Zustands, der als entfremdet oder sinnlos, verdinglicht oder gar krank empfunden wird. Wie diese kritische Intention mit der zuvor entwickelten Perspektive einer formal gedachten Ethik zusammenhängt, gibt jener Begriff zu erkennen, auf den die SPh. von Beginn an mehr oder weniger direkt zugeschnitten ist: Von einer ›Pathologie‹ des gesellschaftlichen Lebens kann sinngemäß nur dann gesprochen werden, wenn bestimmte Annahmen darüber vorliegen, wie die Bedingungen der menschlichen Selbstverwirklichung beschaffen sein sollen. Sowohl der Begriff der ›Diagnose‹ als auch der ›Pathologie‹, die beide aufs engste mit dem Erkenntnisinteresse der SPh. verknüpft sind, entstammen dem Bereich der Medizin. Unter ›Diagnose‹ wird hier zunächst das genaue Erfassen und Bestimmen einer Krankheit verstan-

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den, von der der menschliche Organismus befallen ist. Als der Maßstab, an dem solche anormalen Erscheinungen gemessen werden, dient eine klinische Vorstellung von Gesundheit, die einfachheitshalber häufig auf die bloße Funktionstüchtigkeit des Körpers zugeschnitten ist. 28 Komplementär zu diesem Begriff der ›Diagnose‹ verhält sich derjenige der ›Pathologie‹. Wurde mit ihm anfänglich nur die Lehre von den Krankheiten bezeichnet, so sind damit heute v. a. die anormalen Zustände selber gemeint. 29 Eine Pathologie stellt mithin genau die organische Fehlentwicklung dar, die in der Diagnose erschlossen oder bestimmt werden soll. Schon die Übertragung beider Begriffe auf das Gebiet seelischer Störungen stößt nun auf große Schwierigkeiten, weil klare Normalitätswerte für das psychische Leben eines Menschen in der klinischen Forschung bislang kaum auszumachen sind; in der medizinischen Psychologie und der Psychoanalyse gilt daher gegenwärtig eine breite Diskussion der Frage, wie ein unzweideutiges oder zumindest plausibles Konzept der seelischen Gesundheit zu formulieren wäre. 30 Um wie vieles schwieriger dann aber die Ausweitung jener beiden Begriffe auch noch auf das Feld gesellschaftlicher Phänomene sein muss, ist allein schon daran zu erkennen, dass hier nicht mehr einfach das einzelne Individuum den Bezugspunkt bilden darf. Um von einer sozialen Pathologie sprechen zu können, die nach dem Vorbild der Medizin einer Diagnose zugänglich sein soll, bedarf es vielmehr einer Vorstellung von Normalität, die auf das gesellschaftliche Leben im ganzen bezogen ist. Welche immensen Probleme mit einem derartigen Ansinnen verknüpft sind, hat das Scheitern jener sozialwissenschaftlichen Ansätze deutlich gemacht, die die Funktionserfordernisse von Gesellschaften nur durch externe Beobachtung festlegen wollten: Weil in sozialen Zusammenhängen das, was als Entwicklungsziel oder als Normalität gilt, stets kulturell definiert ist, lassen sich auch Funktionen oder ihre entsprechenden Störungen allein unter hermeneutischem Bezug auf das interne Selbstverständnis von Gesellschaften bestimmen. 31 Insofern besteht eine defensive Möglichkeit, von Pathologien des Sozialen zu sprechen, in einem kulturalistischen Begriff von Normalität; ihm zufolge können wir uns nur auf eine empirische Beschreibung dessen beschränken, was eine gegebene Kultur als eine Störung ansieht. Weil dies für ihre Zwecke aber zu wenig sein muss, hat die SPh. von Anfang an jenen anderen Weg eingeschlagen, der in die Richtung einer

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formalen Ethik weist. Als Inbegriff der Normalität einer Gesellschaft müssen dann kulturabhängig die Bedingungen gelten, die ihren Mitgliedern eine unverzerrte Form der Selbstverwirklichung erlauben. Bevor die Schwierigkeiten weiterverfolgt werden, die diese Alternative aufwirft, ist kurz zu klären, inwiefern mit ihr die Richtung tatsächlich angemessen bestimmt ist, die die Entwicklung der SPh. nach Rousseau genommen hat. Wie zu sehen war, handelt es sich bei den vorgestellten Ansätzen stets um Versuche einer Kritik an gesellschaftlichen Zuständen, die als sinnlos, verdinglicht oder gar krank empfunden werden. Was als sozialer Missstand gilt, liegt demnach nicht einfach auf der Ebene der Verletzung von Gerechtigkeitsgrundsätzen; vielmehr sollen Störungen kritisiert werden, die mit psychischen Krankheiten die Eigenschaft teilen, dass sie Lebensmöglichkeiten einschränken oder deformieren, die als ›normal‹ oder ›gesund‹ vorausgesetzt werden. Diesem Ziel der SPh. dienen Begriffe, die für die Stufe des gesellschaftlichen Lebens genau dasselbe bezeichnen, was in Hinblick auf die individuelle Psyche mit dem Begriff der ›Pathologie‹ gemeint ist: In der ersten Phase, die wir verfolgt haben, sind das Kategorien wie ›Entzweiung‹, ›Verdinglichung‹, ›Entfremdung‹ oder auch ›Nihilismus‹; bald nach der Entstehung der Soziologie treten stärker empirisch gefärbte Begriffe wie ›Gemeinschaftsverlust‹, ›Entzauberung‹, ›Entpersönlichung‹ und ›Vermarktung‹ hinzu; in jüngster Zeit schließlich macht Sartre mit demselben Ziel sogar direkt vom Begriff der ›kollektiven Neurose‹ Gebrauch. 32 Wenn nun untersucht wird, was die Vorstellungen von gesellschaftlicher Normalität gemeinsam haben, auf die alle diese Begriffe indirekt verweisen, so muss ein sehr abstrakter Bezugspunkt gewählt werden, um nicht einige von ihnen auszuschließen: Nicht jeder der implizit vorausgesetzten Idealzustände ist etwa durch das Vorhandensein einer Form von Ganzheit charakterisiert, nur wenige zeichnen sich durch eine bestimmte Art von Natürlichkeit aus, wieder andere scheinen mit einem höheren Maß an sozialer Intensität oder Nähe ausgestattet. Wie auch immer die Bestimmungen im einzelnen vorgenommen werden, sie befinden sich auf einer Stufe der Konkretion, auf der keine Eigenschaft anzutreffen ist, die für alle der aufgelisteten Begriffe gleichermaßen typisch wäre. Eine solche Gemeinsamkeit tritt hingegen hervor, wenn als Bezugspunkt nicht das Wie der jeweiligen Idealzustände, sondern ihr

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Worumwillen herangezogen wird; ohne Ausnahme verweisen die verschiedenen Negativbegriffe nämlich indirekt auf soziale Bedingungen, die dadurch ausgezeichnet sein sollen, dass sie den Individuen ein volleres oder besseres, kurz: ein gelingendes Leben ermöglichen. Insofern stellt eine ethische Vorstellung von gesellschaftlicher Normalität, die auf die Ermöglichungsbedingung von Selbstverwirklichung zugeschnitten ist, den Maßstab dar, an dem soziale Pathologien gemessen werden. Formal ist diese ethische Hintergrundkonzeption in dem Sinn, dass nur die sozialen Voraussetzungen der menschlichen Selbstverwirklichung, nicht aber deren Ziele normativ herausgehoben werden sollen. Zwar gibt es bei Hegel und Marx gewisse Tendenzen in Richtung eines ethischen Perfektionismus, die dazu führen, dass dem Menschen nach aristotelischem Muster ein bestimmtes Telos vorgegeben wird. Ebenso sind auch Nietzsche und H. Arendt nicht frei von der Versuchung, sehr spezifische Ziele ins Auge zu fassen, wenn sie gelingende Weisen des menschlichen Lebensvollzugs zu schildern versuchen. Doch auch diese gegenläufigen Tendenzen lassen sich bei gutwilliger Interpretation noch so verstehen, dass sie in der missverständlichen Form von Zielvorgaben nur Aussagen über die sozialen Bedingungen machen wollen, unter denen die Menschen allein zur Verwirklichung ihrer selbst gelangen können. So muss für Marx die unentfremdete Arbeit nicht unbedingt ein ethisches Ziel des Menschen bedeuten, sondern mag nur die unhintergehbare Voraussetzung darstellen, die es ihm erlaubt, ein befriedigendes Selbstverhältnis zu entwickeln 33, und ebenso lässt sich z. B. für H. Arendt behaupten, dass sie den Einsatz in der Praxis der demokratischen Willensbildung v. a. deswegen ethisch ausgezeichnet hat, weil er den Individuen zu einem Bewusstsein ihrer eigenen Freiheit verhilft. Der Fehler derartiger Ansätze besteht nicht darin, dass sie dem menschlichen Leben bestimmte Ziele vorgegeben haben und damit einem unbegründbaren Perfektionismus aufgesessen sind; was sie hat in die Irre gehen lassen, ist vielmehr die Neigung, als universale Bedingungen der menschlichen Selbstverwirklichung solche Tätigkeitsformen zu betrachten, deren Hochschätzung sich häufig nur höchst selektiven und meistens zeitbedingten Lebensidealen verdankt. Wenn auch nicht der individuellen Absicht nach, so doch sicherlich ihrer methodischen Anlage nach ist die SPh. daher seit ihrer Entstehung

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in einer ethischen Perspektive verankert, mit der nur formale Ansprüche hinsichtlich einer Explikation des ›Guten‹ verknüpft sind. Diese These muss sich freilich noch an zwei weiteren Auffälligkeiten bewähren, die in der zuvor gegebenen Skizze der Entwicklung der SPh. hervorgetreten sind. Zum einen ist nicht ganz klar, wie sich die verschiedenen Entwürfe auf eine einzige ethische Grundlage zurückführen lassen sollen, wenn sie doch ganz unterschiedliche Vorstellungen der gesellschaftlichen Normalität hervorgebracht haben. Schon der Überblick über die sozialphilosophischen Schlüsselbegriffe hat gezeigt, dass das Spektrum der normativen Ideale von radikal individualistischen bis hin zu eher kommunitaristischen Modellen reicht: Während Rousseau oder Plessner eine soziale Lebensform als normal ansehen, die zwischen den Subjekten eine größtmögliche Distanz schafft, gilt für Hegel, Durkheim oder Hannah Arendt insofern das Gegenteil, als sie in der Existenz starker Gemeinschaftsbindungen die Voraussetzung gesellschaftlicher Normalität erblicken. Um diese Differenzen angemessen verstehen zu können, ist es angebracht, sich den formalen Aufbau der sozialphilosophischen Diagnosen noch einmal genau vor Augen zu führen. Den Bezugspunkt aller hier vorgestellten Versuche, einen Maßstab für die Normalität gesellschaftlicher Verhältnisse zu gewinnen, stellen die sozialen Lebensbedingungen des individuellen Subjekts dar: Als gelungen, ideal oder ›gesund‹ werden stets die Organisationsformen des Sozialen eingeschätzt, die dem einzelnen eine unverzerrte Verwirklichung seiner selbst erlauben. In gewisser Weise ist daher der formale Begriff des Guten, der der SPh. als ein kritischer Maßstab zugrundeliegt, auf das Wohlergehen des einzelnen gerichtet, soweit dieses in den Ermöglichungsrahmen der Gesellschaft fällt. Bereits an der Frage, wie weit eine solche Zuständigkeit des Sozialen reicht, zeichnen sich nun zwischen den Ansätzen grundlegende Differenzen ab: Je nachdem, für wie stark der Einfluss gehalten wird, den das soziale Leben im Hinblick auf das individuelle Wohlergehen besitzt, muss der anvisierte Idealzustand entweder eher individualistische oder eher kollektivistische Züge annehmen. Sind damit die beiden Pole des Spektrums möglicher Lösungen benannt, so bemessen sich alle weiteren Unterschiede an den konkreten Voraussetzungen, die im einzelnen für die Selbstverwirklichung als notwendig angesehen werden; hier spielt dann eine zentrale Rolle, ob es etwa eine kommunitäre

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Form von Sittlichkeit oder eine distanzschaffende Öffentlichkeit ist, die unentfremdete Arbeit oder der mimetische Umgang mit der Natur, wodurch dem Individuum innerhalb der Gesellschaft ein gelingendes Leben möglich sein soll. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass die Bestimmung sozialer Pathologien in der SPh. stets mit Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen erfolgt, die dem einzelnen zur Selbstverwirklichung verhelfen können; dass sich gleichwohl ein ganzes Spektrum höchst unterschiedlicher Bewertungsmaßstäbe zeigt, wenn die Ansätze miteinander verglichen werden, hängt mit Differenzen nicht in der formalethischen Perspektive, sondern im jeweils zugrunde gelegten Konzept der persönlichen Selbstverwirklichung zusammen. In dieser letzten Bemerkung klingt schon die weitere Auffälligkeit an, die an der Geschichte der SPh. ins Auge springt; mit ihr geraten wir in das Umfeld der methodischen Probleme, auf die sich heute die Diskussion v. a. konzentriert. Wenn näher untersucht wird, wie in den verschiedenen Ansätzen die sozialen Bedingungen der Selbstverwirklichung jeweils festgelegt worden sind, so zeigt sich, dass dabei im wesentlichen auf zwei entgegengesetzte Denkfiguren zurückgegriffen wurde: Was der Mensch für ein gelingendes Leben von seiten der Gesellschaft benötigt, sollte sich entweder im Rückgang auf seine natürliche Ausgangslage oder im Vorgriff auf sein Wissen in einer erwartbaren Zukunft zeigen – die erste Möglichkeit nimmt methodisch bereits bei Rousseau Gestalt an und gelangt zu exemplarischer Form in der deutschen Tradition der philosophischen Anthropologie, die zweite Möglichkeit hingegen wird durch Hegel vorbereitet und findet in Lukács’ Schrift Geschichte und Klassenbewusstsein ihre geradezu paradigmatische Gestalt. Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass diese beiden Alternativen erst nach dem Dazwischentreten Nietzsches die methodische Funktion erhalten, die wir heute weitgehend mit ihnen assoziieren. Sowohl Rousseau als auch Hegel, obwohl der erste durch Vico, der zweite durch Herder schon eines Besseren hätte belehrt sein können, 34 sind sich der Gleichaltrigkeit aller menschlichen Kulturen noch so sicher, dass sie an dem universalistischen Gehalt philosophischer Aussagen keine ernsthaften Zweifel hegen; daher gehen sie wie selbstverständlich davon aus, dass ihre Einsichten in die Voraussetzungen persönlicher Freiheit auf jeden Menschen unterschiedslos Anwendung finden müssen. Nachdem Nietzsche aber aus der Tatsache

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eines Pluralismus der Kulturen die radikale Konsequenz seines Perspektivismus gezogen hatte, konnte die SPh. nicht länger in einer solchen Selbstgewissheit verharren. Von nun an war es notwendig, so haben wir bereits gesehen, jede Aussage über menschliche Eigenschaften oder soziale Regelmäßigkeiten gegen den Vorwurf der Kulturabhängigkeit methodisch zu verteidigen. So erst entsteht die theoretische Situation, in der anthropologische oder geschichtsphilosophische Denkfiguren gezielt die Aufgabe übernehmen, den universalistischen Anspruch sozialphilosophischer Diagnosen zu rechtfertigen: Durch Rekurs auf die Natur des Menschen oder eben durch Vorgriff auf sein zukünftiges Wissen soll sich zeigen, dass das individuelle Leben tatsächlich über alle Kulturschranken hinweg genau auf die sozialen Voraussetzungen angewiesen ist, die als Inbegriff eines gesellschaftlichen Ideals den Maßstab der Kritik abgeben. 4 Jenseits des Essentialismus: Zur aktuellen Lage der Sozialphilosophie Von hier aus führt ein Weg des sich schrittweise radikalisierenden Zweifels bis an die Schwelle der Diskussion, von der heute die Lage der SPh. bestimmt ist. Nicht lange hat es gedauert, bis die Argumentation von Geschichte und Klassenbewusstsein als eine Konstruktion durchschaut war, die mit jeder Form von Geschichtsphilosophie den Ausgang von einer in sich unbegründeten Wertüberzeugung teilte. Die geschichtliche Entwicklung konnte nämlich nur deswegen teleologisch auf ein einziges Ziel hin bezogen werden, weil zuvor stillschweigend eine normative Perspektive eingenommen wurde, unter der sich das heterogene Material zu einem sinnvollen, narrativ darstellbaren Ganzen fügte. 35 Und was für die Geschichtsphilosophie gelten musste, konnte sich schnell auch für die philosophische Anthropologie als begründet erweisen: Warum sollten nicht deren empirische Ausgangsbestimmungen in derselben Weise nur dadurch zustande gekommen sein, dass die unreflektierten Wertprämissen einer bestimmten Kultur in die natürliche Ausstattung des Menschen hineinprojiziert wurden? Unter dem Druck derartiger Fragen musste sich die Diskussion bald auf das methodologische Problem zuspitzen, ob nicht jede sozialphilosophische Diagnose letztlich in einem ethischen Urteil darüber begründet ist, was als geeignete Bedingung für die menschliche Selbstverwirklichung

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zu gelten habe; dann jedoch würde es kein externes Mittel mehr geben, mit dem der Versuch einer Bestimmung sozialer Pathologien vor dem Einwand zu schützen wäre, nichts als der beliebige Ausdruck einer kulturabhängigen Sichtweise zu sein. Bevor aber diese letzte Stufe der Problematisierung erreicht war, setzte sich die SPh. in den er Jahren noch einmal auf der Basis anthropologischer Grundannahmen fort: In Hinblick auf Hannah Arendt hat sich schon gezeigt, dass sie ihre Kritik der industriellen Welt auf Prämissen stützte, in denen eine naturgegebene Angewiesenheit des Menschen auf Praktiken der kommunikativen Freiheit behauptet wurde; in demselben Zeitraum entwickelt Arnold Gehlen eine konservativ gefärbte Zeitdiagnose, die gezielt auf den Ergebnissen seines anthropologischen Hauptwerkes aufbaute 36 ; und auch Habermas schließlich geht zunächst von empirischen Bestimmungen einer invarianten Interessenlage des Menschen aus, um seiner Kritik an der Technisierung der sozialen Welt eine universalistische Grundlage zu geben. 37 Inzwischen aber ist, nicht zuletzt durch das Dazwischentreten von bedeutsamen Ansätzen einer Kritik des anthropologischen Essentialismus (Foucault, Rorty), der letzte Rest an Vertrauen in eine derartige Form der SPh. geschwunden; insofern hängt heute die Fortexistenz einer solchen philosophischen Disziplin, wenn sie überhaupt durch ein distinktes Erkenntnisinteresse gekennzeichnet sein soll, vollständig von der Begründbarkeit einer formalen Ethik ab, die allgemeine Maßstäbe für die Intaktheit sozialen Lebens zu rechtfertigen vermag. Von Rousseau über Hegel und Marx bis zu Plessner und Hannah Arendt war die SPh. stets durch anthropologische oder geschichtsphilosophische Denkfiguren geprägt, aus denen die ethischen Kriterien für soziale Pathologien sich so übergangslos ergaben, dass sie als solche gar nicht zu erkennen waren; durch Nietzsche mit großer Konsequenz vorbereitet und durch Foucault für unsere Gegenwart schließlich noch einmal dramatisch zugespitzt, ist diese äußere Schale der SPh. aber inzwischen so vollständig zertrümmert, dass ihr ethischer Kern offen zutage liegt. Insofern hängt die Zukunft der SPh. heute im ganzen von der Möglichkeit ab, ethische Urteile über die notwendigen Voraussetzungen menschlichen Lebens auf überzeugende Weise zu rechtfertigen. Drei Alternativen sind es, die sich für eine Lösung der damit umrissenen Aufgabe im Augenblick anzubieten scheinen.

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() Die erste Alternative der Rechtfertigung von ethischen Urteilen der Art, wie sie die SPh. benötigt, besteht im Versuch der Prozeduralisierung der Ethik. Schon in neueren Schriften von Habermas zeichnet sich der Gedanke ab, die Klärung ethischer Fragen in derselben Weise als Aufgabe von praktischen Diskursen zu betrachten, in der dies bislang nur für Gerechtigkeitsfragen für möglich gehalten wurde 38 : Was als ›normal‹ oder ›ideal‹ angesehen werden muss in Hinblick auf eine soziale Lebensform, würde sich dann erst in dem Maße zeigen, in dem die Gesellschaftsmitglieder selber in einer demokratisch organisierten Willensbildung zu einem Konsens über die Wünschbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen gelangen. Zwar hätten für ethische Diskurse solcher Art, weil sie an die Voraussetzung einer begrenzten Wertegemeinschaft gebunden sind, andere, nämlich eingeschränktere Gültigkeitsbedingungen zu gelten als für praktische Diskurse der herkömmlichen Art; aber im Prinzip scheint es möglich und aussichtsreich, die Klärung ethischer Fragen von einem spezifisch gefassten Verfahren abhängig zu machen. 39 Der Nachteil dieser Alternative aber bestünde ganz offensichtlich darin, dass sich mit ihr die SPh. als ein theoretisches Unternehmen gewissermaßen selbst auflöst; denn ihre Deutungskompetenz ginge restlos an die Betroffenen selbst über, die als Mitglieder einer konkreten Gesellschaft alleine darüber entscheiden, was als ›pathologisch‹ an ihrer sozialen Lebensform zu gelten hat. () Wie um dieser Entmächtigung der SPh. vorzubeugen, findet sich im Werk von Habermas noch eine andere Begründungsstrategie angelegt, die heute als zweite Alternative der Rechtfertigung ethischer Urteile zu betrachten ist. In der Theorie des kommunikativen Handelns wird nämlich der Gesellschaftstheorie selber zugetraut, die kritische Schwelle anzugeben, jenseits der das Eindringen von Systemimperativen in die soziale Lebenswelt als eine gesellschaftliche Pathologie betrachtet werden muss (System/Lebenswelt); die Argumente, mit denen die Unterscheidung von ›normal‹ und ›pathologisch‹ hier gerechtfertigt wird, entstammen in dem Sinn einer schwachen, nur noch formalen Anthropologie, als sie in einer Universalpragmatik verankert sind, die eine originäre Form der menschlichen Redepraxis als notwendige Voraussetzung der gesellschaftlichen Reproduktion nachzuweisen versucht. 40 () Eine zweite Alternative der Begründung ethischer Urteile besteht daher gegenwärtig im Entwurf einer möglichst sparsamen Anthropo-

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logie, die einige wenige, aber elementare Bedingungen menschlichen Lebens rekonstruiert; dafür finden sich Beispiele in jüngster Zeit etwa in den neueren Schriften von Martha Nussbaum 41, v. a. aber in den groß angelegten Untersuchungen von Charles Taylor. 42 Seine Studien zur modernen Welt lassen sich neben den Werken von Habermas und Foucault gegenwärtig wohl als dritter großer Beitrag zu einer SPh. der Gegenwart begreifen. Obwohl Taylor in seiner philosophischen Anthropologie von der These ausgeht, dass der Mensch ein sich selbst interpretierendes Wesen ist, dessen Lebensformen und Existenzmöglichkeiten sich daher an je hervorgebrachten Deutungssystemen bemessen, will er dennoch ethische Urteile über soziale Pathologien nicht vollständig von den historisch jeweils gegebenen Interpretationen abhängig machen; vielmehr soll die Möglichkeit, sich selber ungezwungen und produktiv zu artikulieren, an die Voraussetzung einer Reihe von sozialen Bedingungen geknüpft sein, die sich als zentrale Bestandteile einer formalen Ethik begreifen lassen. Für Taylor würde sich daher der Bewertungsmaßstab, der eine Diagnose sozialer Pathologien erlaubt, aus einer formalen Anthropologie ergeben, die die allgemeinen Bedingungen einer ungezwungenen Artikulation menschlicher Lebensideale umreißt. Freilich steht diese anthropologische Alternative schon im Werke Taylors selber im Konflikt mit einer weiteren Begründungsstrategie, die sich insgesamt heute als eine dritte Rechtfertigung der SPh. begreifen lässt. 43 In seiner Schrift Sources of the Self legt Taylor in gewisser Weise eine historisch relativierte Begründung der Ethik zugrunde 44 : denn erst die hermeneutische Rückbesinnung (Hermeneutik) auf die ethischen Werte, von denen sich die Moderne in ihrem kulturellen Selbstverständnis leiten lässt, soll Auskunft darüber geben, welche gesellschaftlichen Entwicklungen als soziale Pathologien zu begreifen sind. Es ist diese dritte Begründungsform, die am ehesten im Einklang mit den Absichten Foucaults steht: Der Bewertungsmaßstab, mit dessen Hilfe die SPh. gesellschaftliche Störungen diagnostiziert und erörtert, besitzt insofern nur eine historisch eingeschränkte Geltung, als er nur auf die geschichtliche Epoche Anwendung finden kann, deren ethische Vorentscheidungen er zwangsläufig übernehmen muss. Zwar würde eine solche, historisch relative Begründungsform nicht das Unternehmen der SPh. im ganzen in Frage stellen; in Zukunft wäre sie vielmehr als

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eine Reflexionsinstanz zu begreifen, in deren Rahmen auf der Basis historisch gegebener Werte und ihrer entsprechenden Lebensideale soziale Störungen diskutiert werden könnten. Aber um den klassischen Anspruch der SPh., bestimmte Entwicklungen des sozialen Lebens mit kontexttranszendierendem Anspruch als Pathologien zu bewerten, wäre es geschehen. Daher hängt ihr Überleben in der Form, die hier in einer historischen Vergegenwärtigung offengelegt worden ist, von dem Erfolg ab, mit dem sich der Anspruch einer schwachen, formalen Anthropologie in Zukunft rechtfertigen lässt. Arendt, H., , Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Fft./M. – Baumgartner, H. M., , Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik u. Metakritik d. hist. Vernunft, Fft./M. – Berking, H., , Masse und Geist. Stud. z. Soziologie in d. Weimarer Republik, Berlin. – Berlin, I., , Vico and Herder. Two Stud. in the Hist. of Ideas, London. – Brose, K., , Sklavenmoral. Nietzsches Sozialphilosophie, Bonn. – Danto, A. C., , Analytische Philosophie der Geschichte, Fft./M. – Dellavalle, S., , Hegels dreieinhalb Modelle zum Bürger-Staat-Verhältnis. In: Hegel-Jb. – Diemer, A./Frenzel, I. (Hg.), , Philosophie. FischerLexikon, Fft./M. – Durkheim, E.,  , Über soziale Arbeitsteilung, Fft./M. – Eder, K., , Geschichte als Lernprozess? Zur Pathogenese politischer Modernität in Deutschland, Fft./M. – Feinberg, J., , Social Philosophy, Englewood Cliffs (N J). – Forschner, M., , Mensch und Gesellschaft. Grundbegriffe der Sozialphilosophie, Darmstadt. – Gehlen, A., , Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in d. industriellen Gesellschaft, Reinbek. – Gehlen, A., , Der Mensch: Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Fft./M. – Giddens, A., , Marx, Weber und die Entwicklung des Kapitalismus. In: C. Seyfarth/W. M. Sprondel (Hg.), Seminar: Religion und gesellschaftliche Entwicklung, Fft./M. – Graham, G., , Contemporary Social Philosophy, Oxford. – Habermas, J., , Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt/Neuwied. – Habermas, J., , Technik und Wissenschaft als Ideologie, Fft./M. – Habermas, J., a, Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. In: Habermas . – Habermas, J., , Theorie des kommunikativen Handelns, Fft./M. – Habermas, J., , Zur Logik der Sozialwissenschaften, Fft./M. – Habermas, J., a, Ein Literaturbericht: Zur Logik der Sozialwissenschaften. In: Habermas . – Habermas, J., , Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Fft./M. – Habermas, J., a, Überlegungen zur Kommunikationspathologie. In: Habermas . – Habermas, J., , Erläuterungen zur Diskursethik, Fft./M. – Habermas, J., a, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft. In: Habermas . – Hennis, W., , Max Webers Fragestellung, Tübingen. – Hobbes, Th., , Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Fft./M. – Honneth, A., , Arbeit und instrumentales Handeln. In: Ders./U. Jaeggi (Hg.), Arbeit,

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, Authentizität und Anerkennung. Zu Ch. Taylors neuen Büchern The Ethics of Authenticity und The Politics of Recognition. In: Dt. Zschr. f. Philos., . – Taylor, Ch., , Hegel and Modern Society, Cambridge. – Taylor, Ch., , Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge (MA). – Taylor, Ch., , The Ethics of Authenticity, Cambridge (M A). – Theunissen, M., , Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Zur Kritik gegenwärtigen Bewusstseins, Berlin/N Y. – Tocqueville, A. de, , Über die Demokratie in Amerika, Zürich. – Tönnies, F., , Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt. – Tugendhat, E., , Probleme der Ethik, Stuttgart. – Weber, M., , Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: G A z. Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen. – Wildt, A., , Die Anthropologie des frühen Marx. Studienbrief d. Fernuniv. Hagen. – Zander, J., , Ferdinand Tönnies und Friedrich Nietzsche. Mit einem Exkurs: Nietzsches Geburt der Tragödie als Impuls zu Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft. In: L. Clausen/F. U. Pappi (Hg.), Ankunft bei Tönnies, Kiel. 1 So

etwa der Art. ›Sozialphilosophie‹ in Diemer/Frenzel . Vgl. zur neueren Diskussion Horster . – 2 Vgl. etwa Feinberg ; Graham ; im dt. Sprachraum hat sich dieser Begriffsbestimmung angeschlossen: Forschner . – 3 Hobbes  – 4 Vgl. Habermas , Kap. I I I, §§  u. . – 5 Rousseau, Abh. über d. v. d. Akad. zu Dijon gestellten Fragen. In: Rousseau ,  ff. – 6 Vgl. die Zusammenfassung unter Berücksichtigung von christlichen und platonischen Motiven zu diesem Text: Spaemann ,  ff. – 7 Rousseau, Abh. über d. Ursprung u. d. Grundlagen d. Ungleichheit unter d. Menschen. In: Rousseau ,  ff. – 8 Vgl. zwei besonders eindrückliche Darstellungen: Taylor ; Theunissen . – 9 In: Rousseau ,  ff. – 10 Zur Unterscheidung von »dreieinhalb« Modellen im Hegelschen Werk für eine Lösung der Aufgabe der sittlichen Integration vgl. Dellavalle . – 11 Vgl. zusammenfassend Honneth . – 12 Marx, Ökonomisch-philoso. Manuskripte aus d. Jahre . In: M EW, Erg.Bd. I,  ff. – 13 Vgl. etwa Marx, Auszüge aus James Mills Buch. In: M EW, Erg.Bd. ,  ff.; zur Kritik des Entäußerungsmodells der Arbeit, das sich hinter der Entfremdungskonzeption des jungen Marx verbirgt, vgl. Lange . – 14 Vgl. dazu die Rekonstruktion von Lohmann , v. a. Kap. I, der statt des Begriffs der ›Verdinglichung‹ den der ›Indifferenz‹ ins Zentrum stellt. – 15 Vgl. Marshall . – 16 Vgl. überblicksartig: Hughes ; vgl. Berking . – 17 De Tocqueville . – 18 Mill . – 19 Vgl. stellvertretend Nietzsche . Aus der Literatur zu Nietzsche sind für die hier verfolgte Fragestellung besonders wichtig: Löwith ; bes. I I. Tl.; Brose . – 20 Zum Einfluss Nietzsches auf Simmel vgl. exemplarisch: Lichtblau ; zum Einfluss auf M. Weber vgl. v. a. Hennis , Kap. ,  ff.; Peukert ,  ff.; zum Einfluss auf Tönnies schließlich Zander . – 21 Der große Einfluss von Marx auf Weber ist unbestritten; vgl. Löwith ; Giddens ,  ff.; zur Marx-Rezeption von Tönnies vgl.: Rudolph ,  ff. – 22 Vgl. Simmel , Tönnies , Weber ,  ff., Durkheim . – 23 Zur dt. Tradition der philos. Anthropologie vgl. Honneth/Joas ; Rehberg . – 24 Vgl. u. a.

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Marquard ,  ff. – 25 Lukács ; Plessner ,  ff. – 26 Spengler . – 27 Horkheimer/Adorno ; Arendt . – 28 Zur Begriffsgeschichte: Kudlien ; Sp.  f.; zum Problemgehalt vgl. Lohmann ,  ff. – 29 Zur Begriffsgeschichte vgl. Probst , Sp.  ff.; zum Problemgehalt vgl. Habermas a, bes. –. – 30 Aus philosophischer Sicht: Tugendhat ,  ff.; aus psychoanalytischer Sicht: Kubie . – 31 Vgl. Habermas a,  ff., bes.  ff.; mit Blick auf die Schwierigkeit, einen Maßstab für gesellschaftliche Pathologien zu bestimmen, vgl. Eder ,  ff. – 32 Sartre , v. a. Bd. . – 33 Vgl. etwa Wildt . – 34 Zur Begründung des kulturellen Pluralismus durch Vico und Herder vgl. Berlin . – 35 Vgl. etwa Danto ; Baumgartner . – 36 Gehlen ; Gehlen stützt sich auf: Gehlen . – 37 Habermas a,  ff. – 38 Habermas a,  ff. – 39 Vgl. als ein Vorschlag etwa: Richardson . – 40 Vgl. Habermas . – 41 Vgl. etwa Nussbaum, . Kritisch dazu Scherer ,  ff. – 42 Vgl. etwa: Taylor ; Taylor . – 43 Zu diesem Zwiespalt vgl. Steinfath ,  ff. – 44 Taylor .

Axel Honneth

Sprachphilosophie

1 Zum Begriff. Man kann einen Bereich der Philosophie ausgrenzen, indem man die für ihn grundlegende Frage angibt. Die grundlegende Frage der Philosophie der Sprache ist: Was heißt es, dass Ausdrücke etwas bedeuten? Was heißt es, sprachliche Ausdrücke zu verstehen und verwenden zu können? Diese beiden Fragen fallen zusammen, denn dass ein Ausdruck etwas bedeutet, besagt, dass man ihn verstehen kann und er in bestimmter Weise verwendet wird. Die Form und Praxis des Sprachgebrauchs 1 sieht Aristoteles als die differentia specifica des Menschen an. Indem wir den Begriff sprachlichen Verstehens aufzuklären suchen, suchen wir uns daher darüber aufzuklären, wer wir sind, wir, die Tiere, die sprechen. 2 Eine andere, engere, methodische Orientierung für eine Sprachphilosophie (SPh.) liegt vor, wenn der ›Semantik‹ genannte Bereich der mathematischen Logik als der paradigmatische Teil der SPh. angesehen wird, eine wieder andere, wenn Theorien oder Theorienschemata einer als Naturwissenschaft verstandenen Linguistik zur SPh. gerechnet werden. Die SPh. klärt den Begriff des sprachlichen Verstehens. Damit steht sie neben anderen Bereichen der Philosophie, die sich auf andere Begriffe richten, wie etwa der Erkenntnistheorie, die den Begriff des Wissens, oder der Rechtsphilosophie, die den Begriff einer gerechten gesetzlichen Ordnung zu klären suchen. Eine bestimmte sprachphilosophische These jedoch, die der Ausgangspunkt der modernen mit Frege beginnenden SPh. ist 3, gibt der SPh. eine herausgehobene Bedeutung. Die These betrifft das Verhältnis von Sprechen und Denken, wobei ›Denken‹ hier alle Einstellungen umfassen soll, deren Gehalt mithilfe eines Satzes zum Ausdruck gebracht werden kann, also z. B. auch hoffen, dass . . . , sehen, dass . . . , sich erinnern, dass . . . , usw. Solche Einstellungen werden häufig propositionale Einstellungen genannt. Man kann sich vorstellen, dass jemand einem Satz eine bestimmte Bedeutung verleiht, indem er einen Gedanken mit ihm verbindet. Dann

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kann er seinen Gedanken jemand anderem mitteilen, wenn dieser dem geäußerten Satz denselben Gedanken zuordnet. Die Sprache fungiert wie ein Code, in dem Gedanken von einer Person zu einer anderen übertragen werden. Das setzt voraus, dass die Fähigkeit zu denken (im angegebenen weiten Sinn von ›denken‹) unabhängig ist von der Fähigkeit, Gedanken sprachlich auszudrücken. Die angekündigte sprachphilosophische These besagt, dass diese Voraussetzung falsch ist, dass die Fähigkeit zu denken mit der Fähigkeit zu sprechen weitgehend zusammenfällt. Dass jemand einen Gedanken fassen kann, dass er ein mögliches Element seines geistigen Lebens ist, heißt, dass er in der Lage ist, ihn auf die eine oder andere Weise sprachlich auszudrücken. Gedanken werden danach nicht nachträglich mit Ausdrücken verknüpft, sondern sind ursprünglich in der Form des Verstehens und Verwendens sprachlicher Ausdrücke gegeben. Diese These von der sprachlichen Natur des Denkens gibt der SPh. eine herausgehobene Bedeutung. Denn wenn sie richtig ist, muss jede philosophische Untersuchung die sprachliche Form ihres Gegenstands (z. B. naturwissenschaftlicher Theorien im Fall der Wissenschaftstheorie, schriftlich niedergelegter Gesetze im Fall der Rechtsphilosophie, etc.) methodisch reflektieren. Im Licht der These von der sprachlichen Natur des Denkens erscheinen klassische Texte der Philosophie implizit mit der Form und den Bedingungen sprachlichen Verstehens befasst. Die sprachphilosophische Aneignung von z. B. Aristoteles’ Metaphysik 4, I. Kants Kritik der reinen Vernunft 5, G. W. F. Hegels Wissenschaft der Logik 6 ist eine weitere Form, in der auf dem Boden der genannten These die SPh. eine herausgehobene Bedeutung erlangt. 2 Zur Begriffs- und Problemgeschichte Vorläufer der modernen, analytischen Reflexion auf die Sprache sind etwa Platon, Aristoteles, T. Hobbes, J. G. Herder, Humboldt oder die SPh. in der Phänomenologie und Hermeneutik (E. Schapp, M. Heidegger, H.-G. Gadamer). Man kann in der modernen SPh. zwei Traditionslinien unterscheiden: die transzendentalphilosophische (.), die mit G. Frege beginnt und sich in Wittgensteins Tractatus und seiner späteren Philosophie fortsetzt (sie wird von D. Davidson, M. Dummett, B. Brandom, in Deutschland von K. Lorenz oder E. Tugendhat u. a. fortgeführt), und die empiristische (.) mit B. Russell und

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W. V. O. Quine. Quine markiert den Umbruch vom Empirismus zum Naturalismus, wie ihn heute F. Dretske, R. Millikan u. a. vertreten. 2.1 Transzendentale Sprachphilosophie 2.1.1 Frege Freges Bedeutung für die moderne SPh. ist vielfältig. Zwei Aspekte stechen hervor: Die sprachphilosophische Deutung der Kantischen Frage danach, wie Gegenstände gegeben sind (...) und die Entwicklung einer logischen Syntax, die mehrfache Verallgemeinerung beherrscht 7 (...). ... Die erste Frage formuliert Frege in Die Grundlagen der Arithmetik so: »Wie soll uns denn eine Zahl gegeben sein?« 8 Die Frage entspricht der Kants »Wie sind uns Gegenstände der Erfahrung gegeben?« Dass uns Gegenstände der Art X gegeben sind, heißt (für Frege und für Kant), dass wir über solche Gegenstände urteilen. Die Frage, wie sie gegeben sind, fragt dann danach, was es ermöglicht, dass solche Urteile sinnvoll sind. In Übereinstimmung mit Kants Sprachgebrauch kann man eine solche Frage transzendental nennen (Transzendentalphilosophie). Wird die Frage, wie X-Gegenstände gegeben sind, empirisch-psychologisch verstanden, so nennt eine Antwort eine Relation zwischen X-Gegenständen und Personen, in der das Gegebensein der Gegenstände besteht. Die Antwort ist also ein Urteil über X-Gegenstände und somit eines der Urteile, von denen transzendental gefragt wird, was sie sinnvoll macht. Auf die transzendentale Frage kann man nicht antworten, indem man ein Urteil über X-Gegenstände fällt. Man tritt hinter diese Urteile zurück und fragt, was sie ermöglicht. Frege fragt, wie uns Zahlen gegeben sind. Frege versteht diese transzendentale Frage als eine sprachphilosophische : Uns sind Zahlen gegeben, indem wir Sätze verstehen, die sich auf Zahlen beziehen. Frege erklärt deshalb, wie Zahlen gegeben sind, indem er angibt, was solche Sätze sinnvoll macht, d. i. wie der Sinn solcher Sätze bestimmt werden kann. »Es wird also darauf ankommen, den Sinn eines Satzes zu erklären, in dem ein Zahlwort vorkommt.« 9 ... Freges Logik in der Begriffsschrift besteht wesentlich aus einer Notation, in der die Wahrheitsbedingungen von Sätzen entlang ihres

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syntaktischen Aufbaus bestimmt werden können. Relativ zu einer solchen Syntax lassen sich zwei Klassen von Sätzen unterscheiden: elementare Sätze, deren Wahrheitswert ohne weiteres festgelegt ist, und nicht-elementare Sätze, deren Wahrheitswert in Abhängigkeit von Wahrheitswerten elementarer Sätze bestimmt ist. Die entscheidende Idee der Begriffsschrift ist die funktionale Deutung elementarer Sätze. Der Satz ›Peter spielt‹ ist in dem Sinne komplex, dass man ›Peter‹ durch einen anderen Namen, etwa ›Hans‹, ersetzen kann und wieder einen Satz erhält. Frege versteht den Wahrheitswert eines Satzes wie ›Peter spielt‹ als den Wert, den eine bestimmte Funktion, dem das Prädikat entspricht, dem Peter zuordnet. Ein Prädikat wie ›x spielt‹ macht Namen zu Sätzen, den Namen ›Hans‹ etwa zum Satz ›Hans spielt‹. 10 Die Begriffsschrift gebraucht drei Grundformen nicht-elementarer Sätze: Die Bedingung ordnet zwei Sätzen › p ‹ und › q ‹ einen Satz ›wenn p, dann q‹ zu, der genau dann falsch ist, wenn der erste wahr und der zweite falsch ist; 11 die Verneinung ordnet einem Satz › p ‹ einen Satz ›nicht p ‹ zu, der genau dann wahr ist, wenn jener falsch ist; 12 die Allgemeinheit ordnet einer Funktion von Namen auf Sätze (einem Prädikat) einen Satz zu, der genau dann wahr ist, wenn jeder Wert der Funktion wahr ist. 13 Frege sieht die Bedeutung der Begriffsschrift darin, dass in ihr »alles, was für die richtige Schlussfolge nötig ist, [. . . ] voll ausgedrückt [wird].« 14 Das lässt sich so erläutern: Ein Satz folgt formal logisch aus einem anderen, wenn er folgt, gleich welche Wahrheitswerte den (explizit vorkommenden oder bloß durch elementare Satzformen ausgedrückten) elementaren Sätzen zugeordnet werden. ›Elementar‹ und ›folgt logisch‹ sind dabei relativ zur Syntax zu verstehen. Frege macht so zum einen die logisch-inferenziellen Eigenschaften von Sätzen, die mehrfach verallgemeinern (Sätze wie ›Für alle . . . , gibt es ein . . . , so dass . . . ‹), transparent. Wenn solche Sätze begriffsschriftlich notiert sind, ist ihre Rolle im logischen Schließen an ihrer syntaktischen Form ablesbar. Zum anderen lassen sich mithilfe mehrfacher Verallgemeinerung gegebene Begriffe aus elementareren Begriffen aufbauen. Aus diesem Grund behauptet Frege, dass seine Begriffsschrift »einen Inhalt [. . . ] in genauerer und übersichtlicherer Weise zum Ausdruck [bringt], als es durch Worte möglich ist«. 15 Unter dem Inhalt eines Satzes versteht Frege seine inferenziellen Eigenschaften. 16 Durch die

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begriffsschriftliche Notation werden logisch-inferenzielle Eigenschaften erstmals am syntaktischen Aufbau der Sätze ablesbar und in diesem Sinn »in übersichtlicher Weise zum Ausdruck« gebracht. 17 2.1.2 Wittgenstein Der Tractatus Wittgensteins verallgemeinert Freges Frage, wie der Sinn arithmetischer Sätze bestimmt ist, auf Sätze, die die Welt beschreiben, die ausdrücken, dass ein Sachverhalt besteht oder dass etwas eine Tatsache ist. 18 Ein solcher Satz ist wesentlich wahr oder falsch, und das heißt, er ist sinnvollw (das Subskript zeigt an, dass ›sinnvoll‹ in dem angegebenen begrenzten Sinn verwendet ist). Die Welt ist im Gebrauch von Sätzen gegeben. Bedingungen des sinnvollenw Gebrauchs von Sätzen sind deshalb Bedingungen, die jede Welt, gleich welche Sachverhalte in ihr bestehen, erfüllt. »Das Wesen des Satzes angeben, heißt, das Wesen aller Beschreibung angeben, also das Wesen der Welt.« 19 Sätze, die Bedingungen des sinnvollenw Gebrauchs von Sätzen spezifizieren – und dazu zählen alle Sätze des Tractatus – sind ihrerseits sinnlosw . 20 Ein Satz kann nicht die Welt als soundso beschaffen darstellen und zugleich angeben, was eine Welt als wie immer beschaffen darstellbar macht. Ein sinnloserw Satz ist nicht in jeder sinnvollen (ohne Subskript) Verwendung von ›Sinn‹ sinnlos. Dass die Aussagen des Tractatus sinnlosw sind, heißt, dass sie nicht zu denjenigen gehören, deren Sinnbedingungen der Tractatus untersucht. Der Sinnw eines Satzes liegt in den Bedingungen, die notwendig und hinreichend für seine Wahrheit sind. Man kennt seine Wahrheitsbedingungen, wenn man weiß, was aus einem Satz folgt und woraus er folgt. 21 Ein Satz ist genau dann sinnvollw verwendet, wenn seine inferenzielle Rolle bestimmt ist. Der Tractatus trifft nun folgende Festlegung: Alle Schlüsse sind logische Schlüsse, logisch gemäß der Syntax der Begriffsschrift. Wenn immer etwas der Fall sein muss, weil etwas anderes der Fall ist, wenn man also dieses aus jenem schließen kann, ist der Schluss ein logischer Schluss. »Es gibt nur eine logische Notwendigkeit.« 22 Daraus folgt: (i) Die inferenzielle Rolle jedes Satzes ist durch seinen syntaktischen Aufbau aus Elementarsätzen vollständig bestimmt (Logizismus). (ii) Elementarsätze sind voneinander inferenziell unabhängig. Wenn ein Satz aus einem anderen folgt, können nicht beide Elementarsätze sein (Atomismus). (iii) Dass ein Satz ein Elemen-

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tarsatz ist, ist eine absolute Bestimmung dieses Satzes. Ein Satz wird nicht das eine Mal als elementar, ein anderes Mal als nicht elementar verwendet. (iv) Elementarsätze lassen sich nicht anhand ihrer inferenziellen Rolle unterscheiden. Ihr (differenzieller) Sinn ist bestimmt kraft ihrer anschaulich ausgewiesenen Anwendung, in die exemplarisch eingeführt werden muss (Transzendentaler Empirismus). 23 Aus (i) bis (iv) ergibt sich: »Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze.« 24 (Man beachte die beiden bestimmten Artikel.) Das Wesen des Satzes und also das Wesen der Welt sind bestimmt durch die Gesamtheit der Elementarsätze und die mit ihnen gegebene logische Syntax. (i) bis (iv) folgen aus der Festlegung, dass alle gültigen Schlüsse logisch gültig sind im Sinne der Begriffsschrift. Was motiviert diese Festlegung? Nehmen wir an, der Sinn von Sätzen sei durch materiale (das heißt hier und im folgenden: nicht logisch gültige) Schlüsse bestimmt. Welche materialen Schlüsse gelten, kann dann nur innerhalb einer konkreten (lokalen) Aussagepraxis bestimmt sein. Die inferenzielle Rolle – der Sinn – von Sätzen wäre dann nur innerhalb einer solchen Praxis bestimmt. Indem in dieser Praxis Sätzen Wahrheitswerte zugeordnet werden, würde in einem Zug festgelegt, was der Fall und was sinnvollw ist. Das Wesen des Satzes – der Welt – wäre dann keine Form, die jede Aussage notwendig exekutiert, sondern umgekehrt das Produkt einer konkreten Aussagepraxis. In Über Gewißheit zieht Wittgenstein diese Konsequenz tatsächlich: »Meine Urteile selbst [. . . ] charakterisieren das Wesen des Urteilens.« 25 Dass im Tractatus alle Schlüsse logische Schlüsse sind, schließt dagegen aus, dass Welt oder Wirklichkeit konkreten Praktiken immanent ist. Man kann vermuten, dass es eben das ausschließen soll. Hier erscheint der Gebrauch von sinnvollenw Sätzen – der Bezug auf Wirklichkeit – noch als Verbindung von reinem Anschauen und logischem Schließen. In seiner späteren Philosophie sieht Wittgenstein dagegen den Gebrauch von Sätzen bestimmt durch ihre Zusammenhänge mit anderen, die sich nicht in rein logischen oder ›analytischen‹ Folgerungsbeziehungen erschöpfen. Wittgenstein nennt einen Redebereich, der durch (material) normative Beziehungen strukturiert ist, ein Sprachspiel (das ist eine von mehreren Verwendungen von ›Sprachspiel‹). Das Wesen des Satzes (der Aussage) a priori bestimmen zu wollen, wird jetzt als unsinnig eingesehen. Das Wesen des Satzes ist vielmehr durch das

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festgelegt, was in einem Sprachspiel als Kandidat für eine Bewertung als richtig (›wahr‹) oder falsch behandelt wird. Die normative Struktur des Sprachspiels ist die Form der Darstellung. Unter bestimmten Umständen und für bestimmte Zwecke kann es sinnvoll sein, strukturelle Aspekte des Sprachspiels ausdrücklich zu machen. Wittgenstein nennt entsprechende Aussagen grammatische Bemerkungen. Grammatische Bemerkungen müssen sich bewähren als eine Möglichkeit, sich im fraglichen Sprachspiel zu orientieren. Eine logische Syntax ist ein, aber nur ein, Mittel, sich in einem Sprachspiel zu orientieren. Die Verbindlichkeit solcher Mittel bleibt relativ auf ihre praktische Bewährung, sie ist nicht a priori verbürgt. Modellsprachspiele sollen sichtbar machen, dass die Verwendung sprachlicher Ausdrücke im nichtsprachlichen Handeln verankert ist, und dass ihr Ort im gemeinsamen Handeln die Bedingungen ihres sinnvollen Gebrauchs bestimmt. 26 2.2 Empiristische Sprachphilosophie 2.2.1 Russell Nach Russell ist das, was uns instand setzt, einen Ausdruck zu verstehen, die Tatsache, dass wir mit dem bekannt (acquainted ) sind, was der Ausdruck dann aufgrund dieser geistigen Beziehung bezeichnet. 27 Was uns in erster Linie bekannt ist, sind Sinnesdaten, ihre Qualitäten und Verhältnisse. Sinnesdaten sind die Gegenstände von Wahrnehmungserlebnissen, jedoch nicht diejenigen, von denen man alltagssprachlich sagt, dass man sie z. B. sieht. Im von Russell gemeinten Sinne ist man nicht bekannt mit einem Haus in der Abendsonne, sondern mit dem, was man seinen Anblick nennen kann. Während das Haus im Verlauf der Zeit dasselbe bleibt, wird sein Anblick – das Sinnesdatum – ein anderer, wenn z. B. das Licht sich ändert oder man es aus einer anderen Richtung betrachtet. 28 Russell erneuert Humes Auffassung, nach der einfache Ideen ihren Gehalt einer direkten Beziehung zu Sinneseindrücken verdanken, während komplexe Ideen vermittels verschiedener Formen der Verknüpfung aus einfachen aufgebaut werden. Analog sieht Russell jeden sinnvollen Satz aus Sätzen über Sinnesdaten aufgebaut. Zwei logische Instrumente sind dabei zentral: der syntaktisch-semantische Aufbau nicht-elementarer Sätze und die Konstitution abstrakter Gegenstände

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durch Klassenabstraktion. Ein Haus zu einem bestimmten Zeitpunkt etwa ist eine Klasse von (möglichen) Sinnesdaten (informell gesprochen: die Klasse der Anblicke, die das Haus zu diesem Zeitpunkt bietet), das Haus in seiner zeitlichen Dauer eine Reihe solcher Klassen. Russells empiristische Deutung des Sinns von Aussagen beruht auf einer empiristischen Erkenntnistheorie. Um einen Satz zu verstehen, muss ich wissen, was es heißt, dass er wahr ist. Das weiß ich anhand von Situationen, in denen ich seinen Wahrheitswert bestimmen kann. Das aber tue ich in letzter Instanz immer auf der Grundlage von Sinnesdaten. Aussagen über Sinnesdaten sind also die, die ich als erste als wahr oder falsch bestimmen kann und die also als erste sinnvoll sind. Alle anderen Sätze kann ich nur insofern als wahr oder falsch verstehen, als ihre Wahrheit durch die Wahrheit von Sätzen auf der ersten Ebene bestimmt ist. 29 Es ist aufschlussreich zu vergleichen, wie Atomismus und Empirismus im Tractatus und bei Russell miteinander zusammenhängen. Für Russell steht der Empirismus als erkenntnistheoretische Doktrin am Anfang und begründet seine Deutung des Sinns elementarer Sätze. Der Atomismus ist eine Folge des Empirismus. Ein Sinnesdatum ist als solches ohne notwendige Verknüpfung mit anderen. Der syntaktische Aufbau komplexer Sätze und Klassenabstraktion dienen dann dazu, die empiristische Auffassung plausibel zu machen, indem Sätze über Sinnesdaten konstruiert werden, die den begrifflichen Inhalt von Sätzen über physische Gegenstände imitieren. Der Tractatus hingegen fragt nach Bedingungen, unter denen Sätze überhaupt sinnvoll sind. Seine Festlegung, dass allein die Logik diese Bedingungen setzt – da sie nicht von einer konkreten Aussagepraxis abhängen können – erzwingt den Atomismus und dieser die (transzendental-)empiristische Deutung des Sinns elementarer Sätze, die aber eben deswegen ohne erkenntnistheoretische Bedeutung ist. 2.2.2 Quine Nach Quine muss die Reduktion von Sätzen über physische Gegenstände auf Sätze über Sinnesdaten scheitern, weil der Sinn nicht atomistisch, sondern holistisch bestimmt ist (Holismus). Sätze über physische Gegenstände sind nicht allein dadurch sinnvoll, dass sie an etwas sinnlich Gegebenes angekoppelt sind, sondern ebenso dadurch,

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dass sie Elemente in einem Netz inferenzieller Zusammenhänge sind. Das, was gegeben ist und was also ein anschaulich ausgewiesener Satz aussagt, ist intern durch die inferenziellen Beziehungen bestimmt, die u. a. den Sinn des Satzes konstitutieren. Diese Beziehungen gehören, im Idiom des Tractatus, zur Form der Darstellung, und nichts kann außerhalb einer solchen Form gegeben sein. Wenn aber der Sinn von Sätzen über physische Gegenstände nicht atomistisch bestimmt ist, dann ist es unmöglich, Wahrheitsbedingungen dieser Sätze in einer Sinnesdatensprache festzulegen. 30 Im Unterschied zum späteren Wittgenstein hält Quine an der empiristischen Vorstellung fest, nach der der ›objektive‹ Gehalt eines Satzes in seiner Verknüpfung mit etwas Gegebenem liegt, das in seinem Wesen durch keine konkrete Aussagepraxis bestimmt ist. Das führt ihn dazu, dieses Gegebene zu ›naturalisieren‹ (Naturalismus): Er versteht das Gegebene nicht mehr psychologisch, als Sinnesdatum, sondern physiologisch, als Reizung der Nervenenden. Ein Satz hat dann einerseits einen Sinn kraft seiner inferenziellen Beziehung zu anderen Sätzen, und er hat eine ›objektive‹ Bedeutung, die in der Klasse der Reizmuster besteht, die eine Bejahung des Satzes auslösen. Quine nennt das seine Reizbedeutung. Die Reizbedeutung hat nichts mit dem zu tun, was der Satz, der in Reaktion auf den Reiz geäußert wird, aussagt. 31 Die Reizbedeutung soll nach Quine sowohl in erkenntnistheoretischer wie in semantischer Hinsicht die Rolle des empirisch Gegebenen übernehmen. Erkenntnistheoretisch: Auf Reize konditionierte Äußerungen bilden die Grundlage aller Erkenntnis. Semantisch: Dass Sätze auf bestimmte Reize konditioniert sind, verleiht diesen Sätzen empirischen Gehalt. Der Gehalt aller anderen Sätze liegt in ihren inferenziellen Beziehungen zu jenen. 32 3 Probleme Man kann die Antworten und Positionen, die gegenwärtig zu den Grundfragen der SPh. vertreten werden, anhand zweier Gesichtspunkte ordnen. In welches Verhältnis werden sprachliche Bedeutung und der Gehalt propositionaler Einstellungen gesetzt? Und: In welchen Begriffen wird der Begriff sprachlicher Bedeutung erläutert? Zum ersten Punkt lassen sich eine linguistische und eine mentalistische Position unterscheiden: Nach der linguistischen ist die Fähigkeit,

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einen propositionalen Gehalt zu fassen, im wesentlichen identisch mit der Fähigkeit, ihn sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Dann gibt es nicht zwei unterschiedene Fragen, ›Was heißt es, dass sprachliche Ausdrücke etwas bedeuten?‹ und, ›Was heißt es, dass Einstellungen Gehalt haben?‹ Jede Antwort auf die eine ist notwendig eine Antwort auf die andere. Nach der mentalistischen Position ist der Begriff einer gehaltvollen Einstellung dem Begriff einer sinnvollen Äußerung vorgeordnet. Die sprachphilosophische Frage wird dann in zwei Schritten bearbeitet. Im ersten Schritt gibt man an, was es heißt, dass ein Ausdruck etwas bedeutet, und zwar so, dass man sich auf den Gehalt von Einstellungen stützt, im zweiten, was es heißt, dass eine Einstellung Gehalt hat. Zum zweiten Punkt stehen sich die normativistische und die naturalistische Position gegenüber: Die erste spezifiziert die Bedingungen dafür, dass ein Ausdruck etwas bedeutet, in normativen Begriffen. Die Bedeutung eines Ausdrucks liegt in der normativen Signifikanz entsprechender Äußerungen, darin, dass sie als richtig oder falsch gelten, auf andere Äußerungen verpflichten, sie als richtig ausweisen, usw. Die zweite Position spezifiziert die Bedingungen für Bedeutung in modalen Begriffen. Die Bedeutung einer (generischen) Äußerung (oder, sofern in zwei Schritten vorgegangen wird, der Gehalt einer Einstellung) liegt in ihren modalen Eigenschaften, darin, welche Umstände sie gewöhnlich verursachen, welche kausale Rolle sie in der Verhaltensökonomie eines Organismus oder in der Evolution einer Gattung spielt, usw. Den Positionen liegen verschiedene Auffassungen von Sprache und also von SPh. zugrunde. Die normativistische versteht Sprachverwendung als freie Praxis, in der Bedingungen bestimmt sind, unter denen Äußerungen als sinnvoll oder sinnlos gelten. Die SPh. soll über diese Bedingungen und die Art ihrer Verbindlichkeit Rechenschaft geben. Die naturalistische sieht Sprachverwendung und geistiges Leben als komplexen Ablauf, der kraft seiner kausalen Organisation Bedeutungen festlegt. Die SPh. soll erklären, wie das vor sich geht. Normativistische und naturalistische Positionen setzen die beiden beschriebenen Traditionslinien fort. Die einen fragen in der transzendentalen Perspektive von Frege und Wittgenstein, wie kraft der normativ artikulierten Verwendung von Ausdrücken Wahrheitsbedingungen bestimmt und die Rede über eine objektive Wirklichkeit verfasst ist. Die anderen setzen die von Quine eingeleitete Naturalisie-

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rung fort, lassen dabei jedoch seine empiristische Herkunft hinter sich. Nicht nur kausale Beziehungen, die als naturalisierte Form empirischer Bestätigung verstanden werden können, sondern alle möglichen kausalen Verhältnisse kommen als bedeutungskonstitutiv in Frage. Je zwei Auffassungen zu zwei Gesichtspunkten ergeben vier mögliche Positionen. Im Folgenden werde ich mich jedoch auf die Darstellung und Diskussion mentalistisch-naturalistischer (.) und linguistischnormativistischer (.) Positionen beschränken. Mentalistisch-normativistische Position sind heute nicht sehr verbreitet; R. Heck argumentiert für die Möglichkeit einer solchen Position. 33 P. Horwich und G. Harman vertreten jeweils einen linguistisch-naturalisitschen Ansatz, in dem die Bedeutung eines Wortes durch die Beschreibung einer in nicht-normativen Begriffen bloßer Regelmäßigkeit charakterisierbaren Praxis seines Gebrauchs definiert wird. 34 Da die Gestalt dieser Theorien mit dem zweiten Schritt mentalistisch-naturalistischer Theorien (..) vergleichbar ist, werde ich im Folgenden nicht weiter auf sie eingehen. 3.1 Naturalistische Positionen 3.1.1 Der erste Schritt: Bedeutung in Begriffen propositionaler Einstellungen Das Programm der Intentionalistischen Semantik ist die Reduktion sprachlicher Bedeutung auf propositionale Einstellungen. Sie geht in zwei Schritten vor: Erstens definiert sie die Bedeutung einzelner Äußerungen unter Bezug auf die die Äußerung bestimmende Absicht (...). Zweitens definiert sie die Bedeutung einer generischen Äußerung (eines Ausdrucks) unter Bezug auf die Bedeutung einzelner Äußerungen (...). ... Die Intentionalistische Semantik, begründet von P. Grice, geht von einem Sprechakt aus, den man ›jemandem mitteilen, dass . . . ‹ nennen kann. (Grices Ausdruck ist ›to (nonnaturally) mean that . . . ‹. 35) Wenn man jemandem etwas mitteilt, dann will man gelegentlich, dass er aufgrund dieser Mitteilung glaubt, dass es sich so verhält. Nach Grice ist das eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass jemand einem anderen etwas mitteilt. Es gilt also: S teilt H mit seiner Äußerung von r mit, dass p , genau dann wenn: S äußert r in der Absicht, dass

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(G) H glaubt, dass p , (G) H erkennt, dass S beabsichtigt, dass (G), (G) H glaubt, dass p , weil (G). Die Entwicklung der Intentionalistischen Semantik ist durch einen Einwand P. F. Strawsons bestimmt, nach dem die genannte Bedingung nicht hinreichend ist. » S intends by a certain action to induce in H the belief that p : so he satisfies condition (G). He arranges convincing-looking ›evidence‹ that p , in a place where H is bound to see it. He does this knowing that H is watching him at work, but knowing also that H does not know that S knows that H is watching him at work. He realizes that H will not take the arranged ›evidence‹ as genuine or natural evidence that p , but realizes, and indeed intends, that H will take his arranging of it as grounds for thinking that he, S , intends to induce in H the belief that p . That is, he intends H to recognize his (G) intention. So S satisfies condition (G). He knows that H has general grounds for thinking that S would not wish to make him, H , think that p unless it were known to S to be the case that p ; and hence that H ’s recognition of his ( S ’s) intention to induce in H the belief that p will in fact seem to H a sufficient reason for believing that p . And he intends that H ’s recognition of his intention (G) should function in just this way. So he satisfies condition (G). [. . . ] H will indeed take S to be trying to bring it about that H is aware of some fact; but he will not take S as trying, in the colloquial sense, to ›let him know‹ something (or to ›tell‹ him something).« 36 S will nicht, dass H erkennt, dass er beabsichtigt, dass (G). S will H darüber täuschen, wie er ihn zu der Überzeugung, dass p , zu bringen sucht. Wesentlich für eine Mitteilung aber ist, dass genau das offen zutage liegt. Man könnte die Bedingung anfügen: S beabsichtigt, dass (G’) H erkennt, dass S beabsichtigt, dass (G). (Mit (G) H glaubt, dass p , weil (G’).) Aber möglicherweise will S H darüber täuschen, dass er (G’) beabsichtigt. Dann müsste man eine weitere Bedingung (G”) anfügen, usw. Man kann zwei Antworten auf dieses Problem, das Problem der Offenheit, unterscheiden. Nach der ersten hat S eine unendliche Reihe aufeinander aufbauender Absichten, dass heißt, er hat eine Absicht*. S beabsichtigt*, dass p , genau dann wenn: (*) S beabsichtigt, dass p ,

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(*) wenn S beabsichtigt, dass X , dann beabsichtigt S , dass H erkennt, dass S beabsichtigt, dass X . S teilt H mit seiner Äußerung von r mit, dass p , genau dann wenn: S äußert r in der Absicht*, dass H glaubt, dass p , weil er S s Absicht* erkennt. 37 Die zweite Antwort verlangt, dass S beabsichtigt, dass (G), (G), (G), und dass S keine Absicht hat, die damit unvereinbar ist, dass er beabsichtigt*, dass (G). 38 Ein Einwand gegen die erste Antwort ist, dass es unmöglich scheint, etwas zu beabsichtigen*. Darauf antwortet G. Meggle, der Begriff der Absicht* sei ein rationaler oder idealer Begriff. Wirkliche Menschen approximieren eine Absicht*, wenn ein gewisses Stück der unendlichen Reihe von Absichten, in der eine Absicht* besteht, vorliegt. 39 Da ›Mitteilung‹ mithilfe von ›Absicht*‹ definiert ist, folgt, dass auch ›Mitteilung‹ ein idealer, real nicht erfüllbarer Begriff ist. Die Offenheit der Mitteilung aber, die den Stern (*) erzwingt, ist kein ideales, real nicht erfüllbares Merkmal. Es wird ideal, indem ›teilt mit, dass . . . ‹ auf ›beabsichtigt, dass . . . ‹ reduziert wird. Das spricht gegen eine solche Reduktion, und nicht für die Idealität von Mitteilungen. Ein verwandter Einwand gegen die zweite Antwort (er lässt sich auch gegen die erste richten) ist der folgende: Nennen wir R die Menge der Absichten, die jemand hat, der beabsichtigt*, dass . . . Es ist ausgeschlossen, dass man Grund hat zu behaupten, dass S keine Absicht hat, die mit einer Absicht aus R unvereinbar ist, anstatt schwächer zu behaupten, dass er keine Absicht hat, die mit einer Absicht aus einer endlichen Teilmenge von R unvereinbar ist. Also hat man niemals Grund zu behaupten, dass S etwas mitteilt. Für den Begriff der Mitteilung, den die zweite Antwort definiert, haben wir keine Verwendung. Er kann nicht unser Begriff der Mitteilung sein. 40 Eine andere Klasse von Einwänden bestreitet, dass Grices Bedingungen notwendig sind. So ist es vielleicht nicht notwendig, dass man, wenn man jemandem etwas mitteilt, ihn dazu bringen will, es zu glauben. Man kann darauf so antworten, dass man einen Sprechakt ›mitteilenx ‹ definiert, der diejenigen Mitteilungen umfasst, in denen man den anderen zu der entsprechenden Überzeugung bringen will. Dann wird das eigentliche Problem sichtbar: Es gibt eine Reihe (indikativischer) Sprechakte, für die (G) und (G) nicht notwendig sind.

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Man kann etwas behaupten, auch wenn man sich sicher ist, dass es der andere nicht glauben wird. Und man kann mit sich selbst sprechen oder sprachlich geleitet denken, seine Gedanken aufschreiben, um sie zu klären, ohne sich darin an eine andere Person zu wenden. Die Intentionalistische Semantik muss behaupten, dass man sprachliche Ausdrücke in diesen Weisen nur verwenden kann, weil und insofern man sie in Mitteilungenx verwendet. Es ist unklar, wie diese These begründet werden könnte. ... Die Bedeutung generischer Äußerungen wird unter Bezug auf die Bedeutung einzelner Äußerungen expliziert. Die geläufige Strategie stützt sich dazu auf den Konventionsbegriff von D. Lewis. 41 Ein sprachlicher Ausdruck r hat in einer Sprachgemeinschaft M die Bedeutung, dass p , genau dann wenn: (S) r von Personen in M regelmäßig dazu verwendet wird, um mitzuteilen, dass p , (S) alle Personen in M glauben, dass (S), (S) Personen in M r verwenden, um mitzuteilen, dass p , weil sie glauben, dass (S), (S) (S) – (S) gemeinsames Wissen aller Personen in M sind, Nach (S) bis (S) ist die Verwendung von r zur Mitteilung, dass p , eine sich selbst stabilisierende Regularität. ›Gemeinsames Wissen‹ in (S) ist so definiert: A und B wissen gemeinsam, dass p , genau dann wenn: (GW)A weiß, dass p , und B weiß, dass p , (GW)wenn A weiß, dass X , dann weiß B , dass A weiß, dass X , und umgekehrt. (S) gibt der Bedeutung von Ausdrücken eine ähnliche Offenheit wie Absichten* der Bedeutung einzelner Äußerungen. Sie ist analogen Einwänden ausgesetzt. 3.1.2 Der zweite Schritt: Naturalistische Semantik für mentale Zustände Die Intentionalistische Semantik setzt voraus, dass man den Begriff einer propositionalen Einstellung klären kann, ohne auf sprachliche Bedeutung bezugzunehmen. Eine naturalistische Semantik will diese Voraussetzung einlösen. Zwei Ansätze sind prominent, der informationstheoretische und der teleologische.

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Informationstheoretische Semantik: Ein Stück Eisen rostet nur, wenn es in seiner Umgebung feucht ist. Daraus, dass das Eisen rostet, kann man schließen, dass es an einem feuchten Ort liegt. Da es rostet, muss der Ort, an dem es liegt, feucht sein. Nach Dretske heißt das, dass das Rosten des Eisens die Information vermittelt, dass es in seiner Umgebung feucht ist. Allgemein: Wenn, da ein bestimmtes Ereignis eingetreten ist, p der Fall sein muss, vermittelt das Ereignis die Information, dass p . 42 Eine (Hirn-)Struktur hat den semantischen Gehalt, dass p , genau dann wenn sie die maximale Information, dass p , vermittelt. 43 Eine solche Hirnstruktur ist eine Überzeugung, dass p , genau dann wenn sie das Verhalten des Organismus reguliert. 44 Teleologische Semantik 45 : Ein repräsentationaler Zustand markiert nach Millikan eine Schnittstelle zwischen dem System, das ihn nutzt (der Zustand ist sein Input), und dem System, das ihn produziert (der Zustand ist sein Output). Ein beliebtes Beispiel ist der Frosch: Sein Wahrnehmungsapparat produziert einen Zustand, der vom Bewegungsapparat so genutzt wird, dass die Zunge des Frosches hervorschnellt. Was dieser Zustand repräsentiert, ist durch die biologische Funktion (›proper function‹) des Bewegungsapparats (allgemein: des ›representation-consumer‹) und des Wahrnehmungsapparats (allgemein: des ›representation-producer‹) bestimmt. 46 Millikans Definition von ›proper function‹ ist komplex. 47 Das Wesentliche lässt sich so zusammenfassen: Eine Struktur hat die Funktion, eine bestimmte Leistung zu erbringen, wenn die Tatsache, dass sie diese Leistung erbringt, erklärt, weshalb sich die Struktur reproduziert. Repräsentationaler Gehalt ist dann so bestimmt: Ein Zustand repräsentiert X , nur wenn er zusammen mit X auftreten muss, damit der Nutzer des Zustands seine Funktionen erfüllen kann. Und er repräsentiert X , nur wenn es die Funktion des Produzenten ist, Zustände zu produzieren, die zusammen mit X auftreten. (Diese Erklärung kann auch auf äußere Zeichen bezogen werden, etwa auf einen Signalruf, der von einem Organismus produziert und von einem anderen genutzt wird.) Diese beiden zusammen hinreichenden Bedingungen legen im Beispiel fest, dass der fragliche Zustand eine vorbeifliegende Fliege repräsentiert (Repräsentation). Gegen den informationstheoretischen Ansatz wird eingewendet, seine Gehalte seien zu grobkörnig, um Gehalte propositionaler Einstellungen zu sein. Wenn › p ‹ und › q ‹ nomologisch äquivalent sind (wenn

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sie in modalen Kontexten salva veritate ersetzbar sind), dann vermittelt jeder Zustand, der die Information, dass p , vermittelt, auch die Information, dass q , und vice versa. Nomologische Äquivalenz ist aber nicht hinreichend für Ersetzbarkeit salva veritate im Skopus propositionaler Einstellungen. Jemand der glaubt, dass p , muss nicht auch glauben, dass q . 48 Dieser Einwand lässt sich auch gegen den teleologischen Ansatz richten. 49 Ein zweiter Einwand gegen eine informationstheoretische Semantik ist, dass daraus, dass eine Struktur den semantischen Gehalt, dass p , hat, folgt, dass p . Es ist also ausgeschlossen, dass ihre Wahrheitsbedingungen nicht erfüllt ist. Das bedeutet, dass solche Strukturen keine Überzeugungen sind, denn die können falsch sein. Dretske antwortet, indem er eine Teilklasse L der Token einer Struktur, die demselben Typ angehören, auszeichnet (Type/token). Token vom Typ T haben den semantischen Gehalt, dass p , genau dann wenn T -Token aus L die (maximale) Information, dass p , vermitteln. Token aus L können nicht falsch sein. Sie fixieren den Gehalt der Struktur, kraft dessen dann andere ihrer Token im Spielraum von richtig und falsch stehen. Dretske bestimmt L-Token als die, die in einer Lernsituation erzeugt werden. Lernsituationen sind dadurch gekennzeichnet, dass für optimale epistemische Bedingungen gesorgt wird. 50 Wenn aber, wie anzunehmen ist, optimale epistemische Bedingungen nicht unabhängig vom zu erkennenden Gehalt bestimmt werden können, wird die Antwort zirkulär: L wird unter Bezugnahme auf den Gehalt der Struktur bestimmt, der erst kraft der Begrenzung von L bestimmt ist. Der biologische Begriff der Funktion scheint ein naturalistisch akzeptabler – und dennoch normativer Begriff. Man sollte annehmen, dass deshalb der teleologische Ansatz der Normativität semantischen Gehalts eher Rechnung tragen kann. Betrachten wir den nach Fliegen schnappenden Frosch. Wenn der Zustand, der als Input des Bewegungsapparats fungiert, zusammen mit einer Fliege auftritt, kann der Apparat seine Funktion erfüllen, dem Frosch Nahrung zu verschaffen. Und die Funktion des Wahrnehmungsapparats ist es, Zustände zu produzieren, die zusammen mit Fliegen auftreten. Der Zustand repräsentiert also eine Fliege. Wenn eine schwarze Kugel vorbeifliegt, die keine Fliege ist, und der Zustand produziert wird, dann ist das eine Fehlrepräsentation.

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Dagegen lässt sich einwenden, dass nach Millikans Regeln der Zustand ebenso gut ein kleines schwarzes bewegliches Ding repräsentiert wie eine Fliege. Das wird dadurch verdeckt, dass man es nahe liegend findet zu sagen, der Bewegungsapparat solle den Frosch mit Fliegen versorgen und nicht mit kleinen schwarzen Dingern. Unter normalen Umständen jedoch sind die meisten schwarzen Dinger, die am Frosch vorbeifliegen, Fliegen. Daher erfüllt der Bewegungsapparat seine Funktion, wenn der Frosch nach schwarzen Dingern schnappt. Es ist kein Einwand, dass er seine Funktion nicht erfüllen würde, wenn die Umstände nicht normal wären, denn das gilt in jedem Fall. 51 In dieser Weise lässt sich jede vorgebliche Fehlrepräsentation zum Verschwinden bringen. Ein prinzipieller Einwand gegen jede Form naturalistischer Semantik besagt, dass modale Begriffe intentionale Begriffe nicht erläutern können, weil sie umgekehrt durch diese erläutert werden müssen. Nach Quine beschreiben modale Aussagen keine objektiven Merkmale der Wirklichkeit. Im Rahmen strenger Wissenschaft sind sie nicht zugelassen. 52 A fortiori sind modale Begriffe keine mögliche Grundlage begrifflicher Analyse. Naturalistische Autoren erwidern, dass die Legitimität modaler Begriffe dadurch ausgewiesen sei, dass sie in den Naturwissenschaften de facto verwendet werden. 53 Das klärt jedoch noch nichts. Quines Annahme, nicht-modale Aussagen bildeten einen semantisch autonomen Redebereich, ist ebenfalls nicht zu halten. (Ein Redebereich heiße semantisch autonom genau dann, wenn Aussagen in diesem Bereich sinnvoll sein können, ohne dass Aussagen außerhalb dieses Bereichs sinnvoll sind.) Tatsächlich hat jede deskriptive Aussage über materielle Gegenstände modale Implikationen. Man kann nicht beschreiben, was ist, ohne sich festzulegen in Bezug auf das, was sein muss, was sein kann, und was wäre, wenn. Das liegt daran, dass die Bedeutung deskriptiver Aussagen durch materiale inferenzielle Beziehungen konstitutiert ist. Dass es richtig ist, von › p ‹ auf › q ‹ zu schließen, lässt sich so ausdrücken: p macht es notwendig, dass q . Die modalen Implikationen deskriptiver Aussagen lassen sich nicht eliminieren, weil ihr Sinn durch ihre inferenzielle Rolle bestimmt ist. (Diese Einsicht, die schon auf Kant zurückgeht, wurde wiederbelebt durch W. Sellars, Strawson und Davidson. 54) Wenn das der Grund ist, aus dem Naturwissenschaftler (und andere) modale Begriffe verwenden, dann folgt, dass eben deswegen semantischer Gehalt nicht in

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modalen Begriffen erläutert werden kann. Modale Aussagen kodifizieren materiale Schlussregeln und artikulieren damit den Gehalt der involvierten Begriffe. Man spannt den Karren vors Pferd, wenn man diesen Gehalt durch modale Sachverhalte determiniert sieht. 3.2 Normativistische Positionen 3.2.1 Radikale Interpretation: Davidson Um den Begriff sprachlicher Bedeutung zu klären, ist es nach Davidson hilfreich, sich eine Situation vorzustellen, in der ein Interpret eine Bedeutungstheorie für einen Sprecher aufstellt, d. i. eine Theorie, die die Bedeutung aller Sätze, die der Sprache des Sprechers angehören, angibt. Dabei soll der Interpret bei Null anfangen, dass heißt, er weiß zu Beginn nichts darüber, was die Sätze des Sprechers bedeuten, was der Sprecher glaubt oder will, usw. Davidson nennt eine solche Interpretation eine radikale Interpretation. Weshalb trägt die Idee der radikalen Interpretation zur Klärung des Begriffs sprachlicher Bedeutung bei? Bei Davidson finden sich zwei Antworten, die erste herrscht in den frühen, die zweite in den späteren Texten vor. Zunächst zur ersten. Davidson vergleicht die Bedeutungstheorie einer bestimmten Sprache mit einer naturwissenschaftlichen Theorie. Eine solche Theorie verwendet theoretische Begriffe, die sich nicht in empirischen Begriffen definieren lassen. Sie beziehen sich jedoch insofern auf die erfahrbare Wirklichkeit, als die Theorie im Ganzen von empirischen Belegen bestätigt wird. Durch ihre Beziehung zu den Belegen haben sie nicht einzeln, sondern in ihrem theoretischen Zusammenhang empirischen Gehalt. In der radikalen Interpretation stehen dem Interpreten nur nicht-semantische Belege zur Verfügung. Eine Analyse seines Vorgehens zeigt deshalb, wie eine Bedeutungstheorie durch solche Belege bestätigt werden kann. Auf diese Weise werden semantische Begriffe zwar nicht in nicht-semantischen Begriffen definiert, aber doch holistisch in ihnen verankert. 55 Wie geht der radikale Interpret vor? Die Bedeutungstheorie des radikalen Interpreten hat nach Davidson die Form einer Tarskischen Wahrheitstheorie. 56 Eine solche Theorie legt für alle Sätze rekursiv, entlang ihres syntaktischen Aufbaus (die Syntax ist die der Prädikatenlogik erster Stufe) und ausgehend von Basisklauseln, die die Referenz

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elementarer Namen und Prädikate bestimmen, Wahrheitsbedingungen fest. Davidson meint, dass ihre Theoreme (W-Sätze) › s ist wahr genau dann wenn p ‹ unter geeigneten Bedingungen die Bedeutung von s angeben. Der Junktor ›genau dann wenn‹ wird in der Wahrheitstheorie wahrheitsfunktional verwendet. Das heißt, › p genau dann wenn q ‹ sagt, dass entweder › p ‹ und › q ‹ wahr sind oder beide falsch. Es sagt nicht, dass p wahr ist, weil q . Ein solcher Zusammenhang muss aber bestehen, wenn die Wahrheitsbedingung als Bedeutung gelten soll. Die geeigneten Bedingungen sollen sicherstellen, dass er besteht. Welches sind diese Bedingungen? Nach Davidson muss die Wahrheitstheorie die »optimale Passform« in Bezug auf ihre Belege haben. 57 Was sind die Belege und wann hat die Theorie die optimale Passform? Die Belege sind allgemeine G-Sätze (die ihrerseits auf singulären GSätzen beruhen): ›Der Sprecher S hält s dann und nur dann für wahr wenn p .‹ Auf der Grundlage dieser G-Sätze bestimmt der radikale Interpret Wahrheitsbedingungen so, dass S Sätze möglichst nur für wahr hält, wenn sie wahr sind. Dieses Prinzip heißt ›Principle of Charity‹. 58 G-Sätze lassen sich am einfachsten für Sätze aufstellen, deren Wahrheitswert anschaulich bestimmbar ist. Dass Sätze, die S für wahr hält, gemäß der Wahrheitstheorie auch wahr sein sollen, gilt jedoch in gleicher Weise für inferenziell mit diesen verknüpfte Sätze und die Inferenzen selbst. Wenn etwa S von s auf r schließt, sollten s und r so interpretiert werden, dass der Schluss vernünftig ist. Mithilfe des Principle of Charity macht der Interpret den Übergang von G-Sätzen zu WSätzen. Indem die Sätze des Sprechers gemäß der logischen Syntax der Prädikatenlogik erster Stufe geschrieben werden, werden die W-Sätze in eine Tarskische Wahrheitstheorie integriert. Da G-Sätze die einzigen empirischen Belege der Wahrheitstheorie sind, und da sie allein kraft der Anwendung des Principle of Charity Belege für W-Sätze sind, ist die Passform der Wahrheitstheorie in Bezug auf die Belege umso besser, umso weitergehend das Principle of Charity angewendet wird. Davidsons Projekt ist auf eine Reihe von Einwänden gestoßen: Nach Davidson lässt sich unsere Fähigkeit, andere zu verstehen, rational rekonstruieren, indem sie als Resultat einer radikalen Interpretation, d. i. der Formulierung einer durch nicht-semantische Belege bestätigten Wahrheitstheorie, dargestellt wird. Das bestreiten (mit sehr verschiedenen Gründen) J. Fodor und E. Lepore 59 und Brandom (..).

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Die Syntax der Prädikatenlogik erster Stufe wird in Davidsons Bild zur apriorischen Form sinnvoller Rede. Aussagen, die nicht in diese Notation überführt werden können, können nicht in eine Tarskische Wahrheitstheorie eingehen. Da Davidson den Bedeutungsbegriff unter Bezugnahme auf eine solche Theorie erläutert, folgt, dass solche Aussagen aus begrifflichen Gründen bedeutungslos sind. Spezieller kann man auf eine Reihe von Aussagen verweisen (indirekte Rede, Kausalaussagen, Zitate, Demonstrativa, Performativa), die, wie es scheint, nicht in die verlangte Notation übertragen werden können. Davidson und andere haben Analysen für solche Aussagen entwickelt, die zeigen sollen, dass dieser Anschein trügt. 60 Die optimale Passform soll gewährleisten, dass die von der Wahrheitstheorie implizierten W-Sätze Bedeutungen angegeben. Es ist bezweifelt worden, dass sie das tut. 61 Man kann drei verschieden starke Versionen dieses Zweifels unterscheiden: Davidsons Kriterium diskriminiert nicht zwischen Wahrheitstheorien, die W-Sätze (› s ist wahr genau dann wenn p ‹) liefern, in denen › p ‹ durch (a) extensional äquivalente, (b) nomologisch äquivalente, (c) logisch äquivalente Sätze ersetzt ist. Man kann antworten, dass extensional und nomologisch äquivalente Sätze, insofern sie nicht dieselben inferenziellen Eigenschaften haben, durch das Principle of Charity unterschieden werden. Logisch äquivalente Sätze kann das Kriterium der optimalen Passform nicht unterscheiden. Aber vielleicht ist das kein Mangel. Es ist nicht klar, ob man mit › p und ( q oder nicht q )‹ etwas anderes sagt als mit › p ‹. Nach der oben beschriebenen Deutung ist die Idee der radikalen Interpretation sprachphilosophisch aufschlussreich, weil sie zeigt, wie eine Bedeutungstheorie durch nicht-semantische Belege bestätigt werden kann. Die zweite Deutung tritt in den Vordergrund, wenn klar wird, dass in Wahrheit von einer empirischen Bestätigung nicht die Rede sein kann. Eine Wahrheitstheorie ist bestätigt, wenn sie die optimale Passform in Bezug auf die Belege hat. Das bedeutet, dass sie den Sprecher als möglichst vernünftig in seinen Schlüssen und verlässlich in seinen Wahrnehmungen darstellt. Der Interpret, der einen Schluss des Sprechers als vernünftig, ein Wahrnehmungsurteil als zutreffend charakterisiert, hält jedoch nicht empirische Daten fest. Er bewertet die Aussagen des Sprechers in Bezug auf ein Ideal, das Ideal des richtigen

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Schließens und Urteilens. Damit setzt er sich in diejenige symmetrische, normative Beziehung zum Sprecher, in der er seine Aussagen und die des Sprechers einem gemeinsamen Maßstab unterstellt. 62 Es ist jedoch nicht nur so, dass man sich im Interpretieren auf ein Ideal objektiver Richtigkeit des Urteilens und Schließens bezieht. Nach Davidson hat der Bezug auf dieses Ideal wesentlich die Form des Interpretierens. Man versteht sich im Urteilen nur als diesem Ideal unterworfen, indem man sich in der Weise normativ auf andere bezieht, wie man es im Interpretieren tut. 63 Das macht die Interpretation in einer anderen Weise sprachphilosophisch wichtig, denn auf die Frage, was es heißt, dass Aussagen wahr oder falsch und also sinnvoll sind, ist jetzt die Antwort: Aussagen sind wahr oder falsch genau dann, wenn sie Elemente der normativen Interaktion von Sprecher und Interpret sind. Man kann einwenden, dass sich dieser Gedanke – dass Aussagen sinnvoll sind, weil und insofern sie Elemente einer normativ strukturierten intersubjektiven Praxis sind – klarer fassen lässt, wenn er vom Bild der radikalen Interpretation abgelöst wird. Dies Bild diente dazu, die Idee einer empirisch bestätigten Bedeutungstheorie zu erläutern. Je mehr die zweite Deutung, nach der der Begriff der Bedeutung kein empirischer, sondern ein normativer Begriff ist, in den Vordergrund rückt, umso weniger aufschlussreich erscheint die Orientierung an diesem Bild. 3.2.2 Effektive Entscheidbarkeit: Dummett Auch Dummett will die Form einer Theorie bestimmen, die die Bedeutungen aller Ausdrücke einer Sprache spezifiziert. Zur Klärung des Begriffs sprachlicher Bedeutung trägt das nach seiner Meinung jedoch nur bei, wenn diese Bedeutungstheorie anspruchsvoll (full-blooded ) und nicht bescheiden (modest) ist. Eine anspruchsvolle Bedeutungstheorie kodifiziert das Wissen, kraft dessen jemand über die in der Sprache ausgedrückten Begriffe verfügt. Eine bescheidene Theorie kodifiziert ein Wissen, das nur jemand haben kann, der diese Begriffe bereits beherrscht. Die Theorie des radikalen Interpreten ist bescheiden: Um zu wissen, dass s dann und nur dann wahr ist, wenn p , muss der Interpret › p ‹ (die in › p ‹ und also in s verwendeten Begriffe) schon verstehen. 64 Dass er › p ‹ versteht, kann aber nicht darin liegen, dass er einen weiteren, › p ‹ betreffenden W-Satz kennt, sondern nur darin,

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dass er › p ‹ verwenden kann. Eine anspruchsvolle Bedeutungstheorie seiner Sprache macht die Fähigkeit, in der das Verstehen der Begriffe besteht, explizit, so dass jemand, der die Theorie kennt, kraft dieser Kenntnis über die Begriffe verfügt. Dummett bestimmt die Fähigkeit, in der das Verstehen eines Satzes besteht, zunächst so: Einen Satz zu verstehen, heißt, seine Wahrheitsbedingungen zu kennen. Jemandem (u. a. sich selbst) eine Kenntnis von Wahrheitsbedingungen eines Satzes zuzuschreiben, hat jedoch nur dann einen Sinn, wenn sich diese Kenntnis in seiner Verwendung manifestiert. Für Dummett manifestiert sich die Kenntnis der Wahrheitsbedingungen in der Fähigkeit, den Satz effektiv zu entscheiden. Man kann einen Satz genau dann effektiv entscheiden, wenn man über ein Verfahren verfügt, das nach einer endlichen Anzahl von Schritten zu einer Situation führt, in der der Satz entschieden werden kann. Jemand, der die Wahrheit eines Satzes nur unter günstigen Umständen entscheiden kann, manifestiert darin nicht die Kenntnis seiner Wahrheitsbedingungen. 65 Dummetts These hat radikale Konsequenzen. Nur wenige Sätze sind effektiv entscheidbar. Nur in Bezug auf solche Sätze aber kann man in Dummetts Sinn sagen, wir wüssten, was es heißt, dass sie wahr oder falsch sind. Wenn wir andererseits einen Satz nur unter bestimmten Umständen entscheiden können, dann wissen wir nicht, was es heißt, dass er wahr ist, gegeben dass diese günstigen Umstände nicht vorliegen. Wir können den Satz, so meint Dummett, dann nicht so verstehen, dass ihm ein Wahrheitswert zugeordnet ist, auch wenn die Umstände, unter denen wir ihn in kontrollierter Weise bestimmen, nicht vorliegen. Wir würden dann vorgeben, den Satz in einer Weise zu verstehen, die sich in unserer Verwendung, soweit sie die Bewertungskontrolle betrifft, nicht manifestiert. Dummett leitet daraus eine antirealistische Deutung des von diesen Sätzen ausgedrückten Inhalts ab. 66 J. McDowell hat eingewendet, dass Dummetts Idee einer anspruchsvollen Bedeutungstheorie inkonsistent ist. Entweder sie beschreibt das Sprachverhalten behaviouristisch. Dann ist sie keine Bedeutungstheorie. Oder sie nennt psychisch repräsentierte Regeln, an denen sich der Sprecher in seiner Verwendung sprachlicher Ausdrücke orientiert. Dann verfügt der Sprecher über die in seiner Sprache ausgedrückten Begriffe unabhängig davon, dass er sie sprachlich ausdrückt,

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und die Bedeutungstheorie ist nicht anspruchsvoll. 67 Die Konsequenz ist, die Forderung nach einer anspruchsvollen Bedeutungstheorie im Sinne Dummetts aufzugeben. Mit ihr fällt auch Dummetts Antirealismus. 68 3.2.3 Normative Praxis: Brandom Brandom 69 übernimmt von Davidson die These, dass die Idee objektiver Richtigkeit ihre Grundlage in der normativen und symmetrischen Beziehung von Subjekten aufeinander hat, in der sie sich in ihren Aussagen einem gemeinsamen Maßstab unterworfen sehen. Von Dummett übernimmt er die Auffassung, dass Verstehen im grundlegenden Fall nicht die Form eines expliziten Interpretierens hat, sondern die Form einer Fähigkeit, mit Ausdrücken umzugehen. Brandom geht von einer intersubjektiven Praxis aus, in der Äußerungen von Teilnehmern als richtig oder falsch, erlaubt oder verboten behandelt werden. Wenn und nur wenn eine solche Praxis eine bestimmte anzugebende Struktur hat, sind die Äußerungen Behauptungen. Deren Gehalt liegt dann in ihrer normativen Signifikanz innerhalb der Praxis, d. i. in der Weise, in der sie beeinflussen, was als richtig/falsch, erlaubt/verboten gilt. Zu den anzugebenden strukturellen Merkmalen der Praxis gehören solche, kraft derer die Angemessenheit einer Äußerung den Sinn objektiver Richtigkeit erhält. Brandoms Grundbausteine sind Äußerungen, mit denen man eine Einstellung zu einem deontischen Status einnimmt. Es gibt zwei deontische Status, Verpflichtung und Berechtigung. Und es gibt zwei Einstellungen: Man übernimmt bzw. beansprucht eine Verpflichtung bzw. Berechtigung und man schreibt sie zu. Die Struktur, die eine deontische Praxis aufweisen muss, um als diskursive Praxis zu qualifizieren, ist die folgende: () Mit jeder Äußerung übernimmt man eine Verpflichtung. () Dass man jemanden als berechtigt sieht, sich so zu verpflichten, heißt, dass man auf seine Äußerung so antwortet, dass man dieselbe Verpflichtung übernimmt. () Indem man eine Verpflichtung übernimmt, beansprucht man, dazu im Sinn von () berechtigt zu sein. D. h. man hält es für angemessen, dass andere auf die eigene Äußerung so antworten, dass sie dieselbe Verpflichtung übernehmen.

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() Verpflichtungen können in den folgenden drei Weisen aufeinander bezogen sein: (a) Indem man die eine übernimmt, hat man die andere übernommen. (b) Indem man zu der einen berechtigt ist, ist man zu der anderen berechtigt. (c) Indem man die eine übernimmt, kann man zu der anderen nicht berechtigt sein. () Wenn A eine Verpflichtung übernimmt, die mit einer, die B übernommen hat, inkompatibel ist, bestreitet er damit dessen Berechtigung, sich so zu verpflichten. Das Verhältnis ist symmetrisch, B bestreitet die Berechtigung von A. Äußerungen, die auf diese Situation antworten, haben den Sinn, die eigene Berechtigung auszuweisen (und also den anderen zu zwingen, seine Verpflichtung zurückzunehmen). Man kann seine Berechtigung auf zwei Weisen ausweisen: Man übernimmt eine weitere Verpflichtung, die im Verhältnis (a) oder (b) zur angegriffenen steht, oder man verweist auf einen anderen, kraft dessen Berechtigung man sich (gemäß ()) verpflichtet hat. Die erste Art des Ausweises nennt Brandom inferenziell, die zweite deferentiell. () Beziehungen zwischen Verpflichtungen der Form (a), (b) und (c) sind abstrahiert von der Rolle, die entsprechende Äußerungen in der Praxis des Ausweisens wie in () beschrieben spielen. Eine solche Praxis institutiert diese Beziehungen. Nach Brandom ist eine Praxis, die gemäß ()–() normativ strukturiert ist, eine diskursive Praxis. Äußerungen in dieser Praxis sind Behauptungen, Beziehungen zwischen Äußerungen gemäß () sind inferenzielle Beziehungen. Der Gehalt einer Behauptung liegt in ihrer normativen Signifikanz in dieser Praxis, d. i. in der Gesamtheit inferenzieller und deferentieller Beziehungen, die die Praxis institutiert. Die Bedingungen, unter denen man berechtigt ist, sich auf eine Behauptung zu verpflichten, haben den Sinn objektiver Bedingungen der Richtigkeit. Indem man sich auf etwas verpflichtet, beansprucht man, berechtigt zu sein, d. i. man beansprucht die Autorität festzulegen, worauf man (d. i. jeder) sich verpflichten soll (nach ). Deshalb beziehen sich Teilnehmer in der Weise aufeinander, dass sie sich diese Berechtigung wechselseitig bestreiten (nach ). Das bedeutet, dass sie sich in der Frage, worauf man sich verpflichten soll, einem gemeinsamen, für alle verbindlichen Maßstab unterworfen sehen. Die Implikationen von Brandoms Theorie werden deutlich, wenn man sie mit den Positionen Davidsons und Dummetts vergleicht.

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Dass man jemanden versteht, besagt auf der begrifflich ersten Ebene nicht, dass man die Bedeutung seiner Worte erkennt und sie ihnen explizit zuschreibt. Man versteht einen anderen, indem man auf seine Aussagen in normativ signifikanter Weise antwortet (gemäß  und ). An einer gemeinsamen Praxis des Ausweisens beteiligt zu sein, ist die grundlegende Weise, in der man Äußerungen anderer versteht. In eine diskursive Praxis können (müssen jedoch nicht) explizit interpretierende Aussagen eingeführt werden. Solche Aussagen artikulieren die normative Signifikanz der interpretierten Aussage. Sie sind ein Mittel, sich in der Frage nach sinnvollen Antworten auf diese Aussage explizit zu orientieren. Solche expliziten Orientierungen bleiben in ihrem Sinn von der zugrunde liegenden Praxis abhängig. Es widerspricht der begrifflichen Ordnung, dieser Praxis selbst die Form eines expliziten Interpretierens zuzuschreiben. Die gehaltskonstitutive Praxis unterscheidet sich von der, die Dummett ins Auge fasst, darin, dass sie holistisch und intersubjektiv ist. Materiale Schlüsse konstitutieren den Gehalt der involvierten Behauptungen. Das ist für Dummett ausgeschlossen, weil die Beherrschung materialer Schlüsse nicht als Manifestation der Kenntnis der Wahrheitsbedingungen zählen kann. Nach Brandom aber kann die Idee von Richtigkeit, die solche Schlüsse bestimmt, genau deshalb als Idee objektiver Richtigkeit verstanden werden, weil diese Schlüsse in einer intersubjektiven Praxis des Ausweisens verankert sind. Man kann Brandoms Vorgehen also als eine Art des divide et impera (›teile und herrsche‹) beschreiben: Während Dummett in einer Fähigkeit den Gehalt und dessen Objektivität verankern will, bringt Brandom zwei Dimensionen normativer Beziehung ins Spiel: normative Beziehungen zwischen (generischen) Behauptungen, die deren Gehalt bestimmen (nach ), und normative Beziehungen zwischen Personen (nach  und ), in denen dieser Gehalt als objektive Richtigkeitsbedingung verstanden ist. Brandom erweitert die eben umrissene Struktur einer diskursiven Praxis so, dass sowohl Wahrnehmungsurteile als auch Handlungen als Einstellungen zu Verpflichtungen und Berechtigungen dargestellt werden können. Nach McDowell ist das missglückt. Die Idee eines wahrnehmenden Zugangs zur Wirklichkeit – und damit die Idee empirisch gehaltvoller Aussagen – lässt sich nach seiner Meinung mit

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Brandoms Mitteln nicht artikulieren. 70 Ist diese Kritik zutreffend, so ist Brandoms Projekt, unser semantisch und intentionales Vokabular in logisch unabhängigen normativen Begriffen zu erklären, als gescheitert anzusehen. Bennett, J., , Linguistic Behavior, Cambridge (MA). – Blackburn, SPh., , Spreading the Word, Oxford. – Brandom, R., , Making It Explicit, Cambridge (MA). – Davidson, D., , Radical Interpretation. In: Ders., Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford . – Davidson, D., , Thought and Talk. In: Ders., Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford . – Davidson, D., , The Structure and Content of Truth. In: The J. of Philos. . – Davidson, D., , Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv. In: Ders., Dialektik und Dialog, Fft./M. – Davidson, D., , Laws and Cause. In: Dialectica, . – Dennett, D., , Darwin’s Dangerous Idea, N Y. – Dretske, F., , Knowledge and the Flow of Information, Cambridge (M A). – Dretske, F., , Explaining Behavior, Cambridge (MA). – Dummett, M., , Frege. Philosophy of Language, London. – Dummett, M., , What is a Theory of Meaning (I). In: Ders., Seas of Language, Oxford . – Dummett, M., , What is a Theory of Meaning (II). In: Ders., Seas of Language, Oxford . – Dummett, M., , What do I Know when I Know a Language? In: Ders., Seas of Language, Oxford . – Dummett, M., , What does the Appeal to Use Do for the Theory of Meaning? In: Ders., Seas of Language, Oxford . – Dummett, M., , Realism. In: Synthese, . – Dummett, M., , Origins of Analytical Philosophy, Cambridge (M A). – Frege, G., , Begriffsschrift, Halle. – Frege, G., , Über den Zweck der Begriffsschrift. In: Sitzungsber. d. Jenaischen Ges. f. Medizin u. Naturwiss. N D in: I. Angelelli (Hg.), Frege, Begriffsschrift und andere Aufsätze, Darmstadt . – Frege, G., , Die Grundlagen der Arithmetik, Breslau. – Fodor, J., , A Theory of Content, Cambridge (M A). – Fodor, J., , Deconstructing Dennett’s Darwin. In: Mind and Language, . – Fodor, J./Lepore, E., , Is Radical Interpretation Possible? In: R. Stöcker (ed.), Reflecting Davidson, Berlin/N Y. – Fodor, J./Lepore, E., , Meaning, Holism and the Problem of Extensionality. In: G. Preyer/F. Siebelt/A. Ulfig (eds.), Language, Mind and Epistemology, Dordrecht/ Boston/London. – Gates, G., , The Price of Information. In: Synthese, . – Grice, H. P., , Meaning. In: Philos. Rev. . – Grice, H. P., , Utterer’s Meaning and Intentions, Philos. Rev., . – Harman, G., , Conceptual Role Semantics. In: Notre Dame J. of Formal Logic,  – Heck, R, , Use and Meaning. In: R. E. Auxier/L. E. Hahn (eds.), The Philosophy of Michael Dummett, Chicago. – Horwich, P., , Meaning, Oxford. – Horwich, P., , Reflections on Meaning, Oxford. – Kemmerling, A., , Utterer’s Meaning Revisited. In: R. Grandy/R. Warner (eds.), Philos. Grounds of Rationality, Oxford. – Kornblith, H., , Naturalism: Both Metaphysical and Epistemological. In: Midwest Stud. in Philos., . – Lorenz, K, , Elemente der Sprachkritik. Eine Alternative z. Dogmatismus u. Skeptizismus in d. Analyt. Philos., Fft./M. – McDowell, J., ,

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. – 2 Brandom ,  ff. – 3 Dummett ,  ff. – 4 Tugendhat . – 5 Strawson . – 6 Stekeler-Weithofer . – 7 Vgl. Dummett . – 8 Frege , § . – 9 Ebd. – 10 Frege , § . – 11 Ebd., § . – 12 Ebd., § . – 13 Ebd., § . – 14 Ebd., § . – 15 Frege, , . – 16 Frege , § . – 17 Vgl. Frege , Tl. III. – 18 Wittgenstein a, . – 19 Ebd., .. – 20 Vgl. ebd. passim. – 21 Vgl. ebd., . f. – 22 Ebd., .. – 23 Ebd., . f.; vgl. Stekeler-Weithofer . – 24 Wittgenstein a, . – 25 Wittgenstein c, .; vgl. ebd.,

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. – 26 Vgl. ebd., . – 27 Russell ,  ff. – 28 Ebd.,  ff. – 29 Ebd., Vorlesung V III. – 30 Quine . – 31 Quine , Kap. . – 32 Quine . – 33 Heck, . – 34 Harman, , Horwich, ; Horwich ,  ff. – 35 Grice . – 36 Srawson ,  f. – 37 Meggle a; vgl. ders., ; Schiffer . – 38 Grice ; Bennett , § ; Kemmerling . – 39 Meggle b,  f. – 40 Vgl. Schiffer , . – 41 Lewis , Schiffer . – 42 Dretske ,  ff. – 43 Ebd.,  ff. – 44 Ebd.,  ff. – 45 Millikan ; vgl. Papineau ; Dretske ; Dennett . – 46 Millikan ,  ff.; vgl. dies., ,  ff. – 47 Millikan . – 48 Vgl. Gates . – 49 Fodor . – 50 Dretske ,  ff.; vgl. Stalnaker . – 51 Fodor ,  ff.; vgl. Putnam ,  ff. – 52 Quine . – 53 Kornblith . – 54 Sellars , Strawson , Davidson , vgl. auch Lorenz ,  ff. – 55 Davidson ,  f; ,  ff. – 56 Davidson ; vgl. Tarski . – 57 Davidson , . – 58 Davidson ,  ff.; ders., ,  ff. – 59 Fodor/Lepore . – 60 Vgl. die Nachweise in Davidson , . – 61 Fodor/Lepore . – 62 McDowell . – 63 Davidson , . – 64 Dummett . – 65 Dummett ,  f.; vgl. der, . – 66 Dummett . – 67 McDowell . – 68 McDowell . – 69 Brandom . – 70 McDowell .

Sebastian Rödl