Das ethische Problem in der Kriminologie, dargestellt am Beispiel einer empirischen Untersuchung über regional erhöhte Kriminalität [1 ed.] 9783428455379, 9783428055371

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Das ethische Problem in der Kriminologie, dargestellt am Beispiel einer empirischen Untersuchung über regional erhöhte Kriminalität [1 ed.]
 9783428455379, 9783428055371

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JOACHIM HELLMER

Das ethische Problem in der Kriminologie

KRIMINOLOGISCHE FORSCHUNGEN Herausgegeben von Prof. Dr. Hellmuth Mayer

t

und Prof. Dr. Joachim Hellmer

Band 14

Das ethische Problem in der Kriminologie dargestellt am Beispiel einer empirischen Untersuchung über regional erhöhte Kriminalität

Von

Prof. Dr. J oachim Hellmer

DUNCKER

&

HUMBLOT

/

BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Rellmer, Joachim: Das ethische Problem in der Kriminologie: dargest. am Beispiel e. empir. Unters. über regional erhöhte Kriminalität / von Joachim Hellmer. - Berlin : Duncker und Humblot, 1984. (Kriminologische Forschungen ; Bd. 14) ISBN 3-428-05537-3

NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1984 Duncker & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1984 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-05537-3

Inhaltsverzeichnis I. Die theoretische Position der Kriminologie als Seinswissenschaft 1. Empirische Bedeutung des Se'insollens ..............................

7

Philosophie und Ethik .............................................. Wissenschaftlichkeit der Frage nach den Sollensgeboten zwischenmenschlichen Verhaltens ............ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empirische Forschung und Wertfrage ............................... Geisteswissenschaftliche Empirie .................................... Verbesserung der ethischen Kultur als Aufgabe der Zeit ............

7

2. Geisteswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Aspekt ..... . ..

"Schuld und Verantwortung" in der Sozialwissenschaft. . .. . ... . .. . .. Gegenwärtig vorherrschende Betrachtung des Menschen ............ Gegentendenzen .................................................... Sozialwissenschaft als Vorstufe geisteswissenschaftlicher Betrachtung

9 10 11 12 13 13 14 15 16

3. Die wissenschaftstheoretische Zulässigkeit normativer Aussagen in der

17 Seinswissenschaftliche Forschung und Gestaltenwollen .............. 17 Nähe von Sein und Seinsollen ...................................... 17 Wissenschaftlichkeit von "Technologien" ............................ 18 Wertbetrachtung und Handlungsanleitung .......................... 18 Diskutierbarkeit von Werturteilen. .. .. . . .. . ... . .. . . . . . . . . ... . . . .... 19 Handlungsanleitung noch Wissenschaft? (Kriminologie - Kriminalpolitik) ........................................................ . . .. 20 Kriminologie .......................................................

4. Die normative Aussage auf empirisch-kriminologischer Grundlage selber . ..................................................... ,. . .. ...

Notwendigkeit einer neuen Ethik ................................... Ethik und "Wertepluralismus" ...................................... Schwierigkeit der Entwicklung einer neuen Ethik ...................

22 22 23 24

5. Zusammenfassende Thesen .........................................

25

11. Das Beispiel: die empirische Untersuchung der erhöhten Kriminalität der Mittelstädte Schleswig-Holsteins 1. Das sozialwissenschaftliche Gutachten für die Regierung ... . ........

Der Forschungsauftrag ............................................. Die Untersuchungsmethode ....................... . ................. Ergebnisse des Gutachtens ......... ................................

27 27 27 28

6

Inhaltsverzeichnis

2. Stellungnahme zu dem Gutachten ..................................

29 29 31

Mensch und "soziale Mängellagen" .................................. Verkürzte sozialwissenschaftliche Betrachtungsweise ................ Mangelnde Berücksichtigung der besonderen Situation in SchleswigHolstein ............................................................ 32 Insonderheit bei der Jugendkriminalität ............................ 34 3. Versuch der Gewinnung einer eigenen Beantwortungsbasis ..........

Kriminalität als kulturelles Phänomen .............. , . .... . ... ... . .. Die Einzeltat als geistiges Phänomen ............... . . . . . . . . . . . . . . . .. Das Anwachsen der Kriminalität .................................... Die "Flucht" in den Diebstahl ...................................... Diebstahl und "Anonymität" ........................................ Kriminalpolitische Folgerung ..................................... ,. Spezifika in Schleswig-Holstein .................................... Integrations- und Identitätsthese .................................... Einmündung ins ethische Problem ..................................

35 35 35 36 37 38 39 40 41 43

m. Kriminalität und ethischer Fortschritt 1. Eignung der untersuchten Kteinkriminalität für eine ethische Aussage überhaupt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

Die technologische Frage .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Freigabe des Diebstahls? ........................................... Nord-Süd-Gefälle .................................................. 2. Ethik des zwischenmenschlichen Verhaltens und Strafgesetz.. . . .....

Situation von Ethik und Recht heute ........... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Einmischung des Staates ............................................ Zwischenmenschliche Ethik und Recht .............................. Umrisse einer "zwischenmenschlichen" Ethik.. . ... . ........ .... . .... Zwischenmenschliche Ethik und Strafrecht .......................... Zusammenfassende Thesen zu Ethik und Recht ...................... 3. Ethischer Fortschritt und das Gesetz der gleichbteibenden Energie . . ..

Fortschrittsstreben und Wandel des Menschen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. "Dionysischer" und "alexandrinischer" Mensch ...................... Wissenschaftsgläubigkeit des modernen Menschen .................. Zentrale Bedeutung geistiger Energie .............................. Jede Zeit hat ihre epochale Leistung .......... '" .... ...... ... . .. ... Abhängigkeit auch ethischer Leistung von geistiger Energie..... ....

44 44 45 46 48 48 49 50 52 53 54 55 55 56 58 59 60 61

1. Die Theoretische Position der Kriminologie als Seinswissenschaft

1. Empirische Bedeutung des Seinsollens Wenn heute kein vernünftiger Zweifel besteht, daß die ethische Frage in einer Welt, die dabei ist, sich selber zu vernichten - und zwar durch zwischenmenschliches Verhalten, d. h. durch Verhalten der einen gegenüber den andern - arg vernachlässigt ist, kommt der Wissenschaft, und hier vor allem den verschiedenen Zweigen der Humanwissenschaft, in verstärktem Maße die Aufgabe zu, sich ihr endlich wieder intensiv zu widmen, nicht nur, weil es keinen anderen gesellschaftlichen Bereich gibt, der die gleiche Kompetenz hierzu hätte (weder Kunst noch Religion vermögen allgemeinverbindliche Antworten zu geben), sondern auch weil zur Gestaltung einer humanen Welt, die uns seit altersher, vor allem in den letzten hundert Jahren, vorschwebt, das Wissen gehört, welche Impulse erforderlich sind, ein erträgliches Leben der Menschen miteinander zu ermöglichen. Dieses Wissen fehlt uns, jedenfalls in seiner konkreten Ausgestaltung, noch immer (was angesichts der technischen Macht des Menschen besonders gefährlich ist), und da Wissen Ziel und Gegenstand der Wissenschaft ist, kann nur wissenschaftliche Anstrengung noch helfen. Philosophie und Ethik Solange Wissenschaft mit Philosophie gleichgesetzt war und Ethik zur Philosophie gehörte, ist an der Kompetenz der Wissenschaft für die Postulierung ethischer Gebote nicht gezweifelt worden. Erst durch die Beschränkung der Wissenschaft auf das Erkennen dessen, was ist, insbesondere durch den Positivismus, ist Wissenschaft mehr und mehr mit Naturwissenschaft und ihren Methoden gleichgesetzt worden und hat sich auch im Bereich der geistig-kulturellen Welt vornehmlich auf bloße Beschreibung des Vorhandenen verlegt!. Diese Entwicklung ist inzwischen so weit gediehen, daß selbst die Humanwissenschaften sich entweder auf Naturwissenschaft beschränken, nämlich soweit der Mensch auch Naturwesen ist (Medizin, Biologie, 1

Vgl. auch Stephan H. Pfürtner, Zur wissenschafts theoretischen Begrün-

dung der Moral, in N. Luhmann 1St. H. ptürtner, Theorietechnik und Moral, Frankfurt/M. 1978, S. 176 ff.

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I. Die Kriminologie als Seinswissenschaft

physiologische Psychologie!, naturwissenschaftliche Anthropologie), oder sich - soweit das nicht mehr füglich behauptet werden kann - auf das Gebiet und zu den Methoden der empirischen beschreibenden Sozialforschung retten (Soziologie, Sozialpsychologie, Kriminologie, Sozialanthropologie), um auch hier dem Druck der eigentlich menschlichen Frage (Auffindung der Verantwortungsquellen für das, was ist) auszuweichen3 • So wird aus Philosophie Soziologie, aus Geschichtswissenschaft historische Sozialkunde" aus Pädagogik Psychologie, aus Ethik Metaethik5 und aus Jurisprudenz Sozialwissenschaft. Bei solcher Beschränkung von Wissenschaft geraten natürlich Disziplinen, die sich mit der Frage beschäftigen, ob sich der Mensch richtig verhalten bzw. wie er sich zu verhalten hat, damit er kulturellen Anforderungen entspricht und sich nicht gegenseitig schädigt oder umbringt, immer mehr ins Abseits und werden schließlich als unwissenschaftlich ausgegliedert (Theologie, Rechtswissenschaft, Ethik, Pädagogik)6. Sollen liegt außerhalb wissenschaftlicher Kompetenz, ist Angelegenheit des Glaubens oder Meinens, in seiner Richtigkeit weder beweisbar noch widerlegbar. Ebenso kann man - nach dieser Auffassung - etwa das kommunistische Manifest oder Goethes Faust zur Grundlage von Wissenschaft machen. Der jüngste Sproß dieser Entwicklung ist die "Wissenschaftstheorie", bei der Wissenschaft nur noch im eignen Saft schmort7. 2 G. Th. Fechner, Elemente der Psychophysik, Berlin 1860 u. W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Leipzig 1874. 3 Karl R. Popper selber bringt das hierfür kennzeichnende Beispiel eines Wissenschaftlers, der sich an der Sachdiskussion einer viertägigen Konferenz von acht Wissenschaftlern mit keinem Wort beteiligt und schließlich erklärt, er habe nur teilgenommen, um das verbale Verhalten der Gruppenmitglieder zu studieren (Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Th. W. Adorno u. a., Hrsg., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 9. Aufl., Darmstadt/Neuwied 1981, S. 103 ff., 109/110). 4 Hans-Vlrich Wehler hat kürzlich in einem sehr abgewogenen Referat die Aufnahme der Wirtschafts- und Sozialgeschichte in die Geschichtswissenschaft dargestellt ("Geschichtswissenschaft heute", in: Jürgen Habermas (Hrsg.), Stichworte zur geistigen Situation der Zeit, 2. Band, Frankfurt/M., 2. Aufl. 1979, S. 709 ff., insbes. S. 734 ff.). Eine solche Erweiterung ist zweifellos als Bereicherung zu begrüßen. Was aber oft - vor allem von sozialwissenschaftlicher Seite - an historischen Einsichten beigesteuert wird, ist ähnlich wie früher eine idealistische - eine materialistische Verengung des Blickfeldes (vgl. dazu näher die Literaturangaben bei H.-V. Wehler, a.a.O. S. 734 Anm. 29). 5 Die sich im Zuge der sprachanalytischen Philosophie nur noch mit der Analyse der Sprache der Moral beschäftigt, während die "eigentliche" Ethik als "normative" Ethik zu einem nichtphilosophischen Gebiet wird. Vgl. Gilbert Harman, Das Wesen der Moral, eine Einführung in die Ethik, Frankfurt/Mo 1981, S. 9 ff. S Gibson Winter, Grundlegung einer Ethik der Gesellschaft. Sozialwissenschaft, Ethik und Gesellschaftspolitik, München u. Mainz 1970 u. St. H. Pfürtner, a.a.O., S. 187 ff. 7 Die Entwicklung der Wissenschaft vom vollen philosophischen Seinsverständnis über Erkenntnistheorie und Positivismus zur Wissenschaftstheorie

1. Empirische Bedeutung des Seinsollens

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Eine so verstandene Wissenschaft hat zur Wertwelt (die auch zum Sein gehört, als "objektiver Geist" oder wie man sonst sagen will) ein labiles Verhältnis und verbannt die Wertdiskussion, also das, was den Menschen menschlich macht, weitgehend (was über Methoden- und Strukturfragen hinausgeht) aus dem Bereich des Forschens und Lehrens. Wenn man eben nur wissen will, was ist, braucht man nicht zu fragen, ob es vernünftig, nachahmenswert, verabscheuungswürdig, gut oder schlecht ist, ob der Mensch seiner Verantwortung gerecht geworden ist oder hätte anders handeln sollen, welches Urteil er und sein Verhalten verdienen. Im Gegenteil, diese Fragen verfälschen dann Wissenschaft, weil Sein, wie es ist und geworden ist, von ihnen unabhängig ist, und weil der Blick des Wissenschaftlers durch die Brille von Wertauffassungen nur getrübt wird.

Wissenschaftlichkeit der Frage nach den Sollensgeboten zwischenmenschlichen Verhaltens Dieser Standpunkt der "Wissenschaft" ist u. Er. jedoch nicht zwingend, nicht ehrlich und nicht der Aufgabe entsprechend, die Wissenschaft heute hat. Zur menschlichen Aufgabe gehört das Nachdenken darüber, welche Gesetze des HandeIns geeignet sind, das zwischenmenschliche Verhältnis erträglich zu gestalten, und was dies Verhältnis schädigen oder sogar zerstören könnte. Es ist bloß die Frage, ob dieses Nachdenken jene Qualität hat, daß Wissenschaft erforderlich ist, sich um es zu bemühen. Diese Frage dürfte aber angesichts der Abhängigkeit ihrer Beantwortung von vielen fachwissenschaftlichen Einzelerkenntnissen und der desolaten Lage, in der sich die Menschheit gegenwärtig befindet, positiv zu beantworten sein. Es gibt heute wohl kein Problem, das dringender nach wissenschaftlicher Reflexion verlangt, als das des "richtigen", d. h. zeit- und situationsangemessenen Verhaltens, und es gibt heute keine wissenschaftliche Frage, die schwieriger zu beantworten ist als die nach den notwendigen Gesetzen gegenwärtigen und zukünftigen zwischenmenschlichen HandeIns. Man kann es allenfalls als utopisch ansehen, sie beantworten zu wollen. Das wäre die einzige verständliche wissenist hier notwendig in fast unzulässiger Verkürzung dargestellt. Vgl. näher u. a. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. (SuhrkampTaschenbuch), 6. Aufl. 1981, S. 88 ff. Die allmähliche Schwerpunktverlagerung der Philosophie auf Erkenntnistheorie durch die aufsteigenden Naturwissenschaften und deren revolutionierende Entdeckungen und die Einschränkung der Wissenschaft auf die Methoden des Erkennens und schließlich auf Selbstreflexion ist ein langer, aber sehr folgerichtiger und immer weiter von der Pflege mitmenschlichen Verhaltens wegführender Weg.

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1. Die Kriminologie als Seinswissenschaft

schaftliche Verweigerungshaltung. Aber sie berührt nicht die Notwendigkeit und Wissenschaftlichkeit der Fragestellung, und selbst Utopien (oder was man anfangs und in Ermangelung intensiver geistiger Bemühung oft dafür zu halten pflegt) sind durch wissenschaftliche Anstrengung schon in Realität verwandelt worden, nicht zuletzt sogar im Bereich der Naturwissenschaften. Wichtig erscheint nur der Impuls, und dieser ist oft ein Kind der Notwendigkeit, an der es heute wirklich nicht fehlt.

Empirische F01·schung und Wertfrage Was weiter die Unehrlichkeit der Beschränkung auf rein empirische Forschung angeht, so wissen auch die kritischen Richtungen in der modernen Wissenschaft längst, daß jeder Forschung, auch der empirischen, notwendigerweise Wertentscheidungen vorausgehen, ja daß diese sogar unersetzbar sind. Schon die Auswahl des Forschungsgegenstandes bzw. Lehrinhalts ist ohne Wertentscheidung nicht möglich. Bei der "kritischen Theorie" kommen solche Wertungen vor allem auf dem Weg über die das Faktensammeln übersteigende Theoriebildung, bei der auch politische Interessen mitspielen8 , zustande; beim "kritischen Rationalismus" auf dem Weg über das Setzen von Prioritäten und die Entscheidung über KonkurrenzenD. Diese Erkenntnis gilt aber für jedes Verhalten, auch das im täglichen Leben. Fast in jeder Sekunde wählt der Mensch zwischen mehreren Möglichkeiten und nimmt seine Wertwelt und seine Wertungsfähigkeit in Anspruch, um zu entscheiden, welche Möglichkeit er realisieren will und an welcher Stelle und in welcher Reihenfolge. Ob er nur seinen Arbeitsplatz ordnet (welche Priorität räumt er dieser Tätigkeit gegenüber andern ein, die noch zur Auswahl stehen? Welche Gegenstände sind wegzuwerfen, welche aufzuheben und wo, usw.?) oder vor der Frage steht, eine Ehe einzugehen, eine Fahrt durchzuführen, einen andern zu besuchen oder ein Haus zu bauen. Schon beim Denken beginnt diese Abhängigkeit von Wertungen; denn ob man über dieses oder jenes nachdenkt, setzt eine Entscheidung des Nachdenkenden voraus. Wer sich entschließt, z. B. über Krieg und Frieden statt über die "Unsitte" des Nacktbadens nachzudenken, hat eine bedeutsame Entscheidung getroffen, die darüber hinaus auch für die sein zukünftiges Verhalten bestimmenden wertabhängigen Prioritäten kennzeichnend ist. 8 M. Horkheimer. Traditionale und kritische Theorie, Frankfurt/M. 1970, S.171. D R. Prim u. H. Tilmann, Grundlagen einer kritisch-rationalen Sozialwissenschaft, 4. Aufl., Heidelberg 1979, S. 111.

1. Empirische Bedeutung

des Seinsollens

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Geisteswissenschaftliche Empirie Es gibt nicht nur eine naturwissenschaftliche Empirie10, oder besser: nicht nur ein Sein der Natur, sondern auch ein Sein des Geistes in der Erfahrungswelt, und zu ihm gehört, daß der Mensch ständig über Seinsollen bzw. Verhaltens ollen reflektiert und beschließt. Indem er den Augenblick handelnd besteht und den nächsten Augenblick denkend hereinholt, geschieht dies notwendig durch Entscheidung zwischen den Möglichkeiten des Seins und Verhaltens unter Berücksichtigung des Achtenswerten, Verbotenen, Erwünschten usw., kurz des Sollens. Dem subjektiven Geist des Individuums ist ständig der objektive Geist der Wertwelt gegenwärtig; die durch Tradition überlieferte bzw. durch Kommunikation lebendig gehaltene Wertwelt hält ihn ständig in der Schwebe, was er als Mensch zu sein, wie er sich als Mensch, als Bür~ ger, als Vater, Ehemann, Freund zu verhalten hat, nötigt ihm Entschlüsse ab, hilft ihm Entscheidungen zu fällen, die ihn befriedigen oder nicht, ist Teil seines Seins und Verhaltens, ehe er es nachträglich reflektiert. Sein und Seinsollen sind untrennbare Teile, ja zwei Aspekte der gleichen Erscheinung, egal welche Methode der Erforschung dieser Erscheinung angemessener ist, etwa die rationalistische, empirische oder hermeneutischell. Daraus ergibt sich auch die Allgegenwart der Wertfrage. Die Sozialwissenschaft hat eine Zeitlang dem Dogma der Wertfreiheit der Wissenschaft gehuldigt, in Anlehnung an die Naturwissenschaft, die sie me~ thodisch nachahmen wollte, und in Erfüllung einer entsprechenden Forderung Max Webers, der dieses Dogma allerdings nur im Sinne einer Freiheit von politischem Druck verstanden hat 1l!. Den Menschen kann man aber nicht wertfrei betrachten, auch die Gesellschaft nicht, wie die kritische Theorie mit Recht dartut13 , weil man, insofern man das Seinsollen hereinnimmt - was unvermeidbar ist, da es zum Sein des Geistes in der Erfahrungswelt gehört - sofort zu Wertungen kommt bzw. den Grund für sie bereitet. Sicher geht es nicht unmittelbar um "gut" 10 Vgl. auch St. H. P!ürtner, a.a.O., S. 190 und die Auseinandersetzung zwischen J. Habermas u. Hans Albert in: H. Albert / E. Topitsch (Hrsg.), Werturteilsstreit, Darmstadt 1971 (darin vor allem die Abhandlung von H. Albert über "Theorie und Praxis", S. 2ooff., 210). 11 Vgl. W" Dilthey, Erleben, Ausdruck und Verstehen, in: S. Oppolzer (Hrsg.), Denkformen und Forschungsmethoden der Erziehungswissenschaft, Bd. 1, München 1966, S. 25 ff. (50). 12 Vgl. ehr. v. Ferber, Der Werturteilsstreit 1909/1959. Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Interpretation, in: Topitsch, E. (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, 5. Aufl., Köln - Berlin 1965, S. 165 ff. (166) u. K.. Lompe, Wissenschaftliche Beratung der Politik, Göttingen 1966, S. 168. 13 M. Horkheimer, Traditionale u. kritische Theorie, Frankfurt/M. 1970, S. 171 (u. passim).

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1. Die Kriminologie als Seinswissenschaft

oder "böse". Es geht aber um die Feststellung, welchen Wertvorstellungen der Mensch gefolgt ist, als er dies gedacht und so oder anders gehandelt hat, und ob er dabei die objektive Wertwelt bzw. eigene Prioritäten beachtet oder vernachlässigt hat. Und diese Feststellung gehört in den Bereich der Erforschung der Realität. Ohne sie ist ein realitätsentsprechendes Bild des Menschen nicht möglich.

Verbesserung der ethischen Kultur als Aufgabe der Zeit Zum dritten und letzten: Wenn eine dem Menschen gewidmete Wissenschaft, die nicht auch die Wertwelt einbezieht, in der er lebt und deren Teil er ist, die Realität notwendig verfehlen muß, so kann sie erst recht nicht die Aufgabe erfüllen, die ihr vermehrt in einer Welt großer Erfolge im Bereich wertneutraler technischer Anstrengungen, aber allgemeiner sittlich-sozialer Orientierungslosigkeit gestellt ist, nämlich Handhaben und Ansatzpunkte zur Beherrschung technischer Macht und zur Bewältigung des ethischen Problems der Vermeidung einer Selbstvernichtung des Menschen zu entwickeln. Daß unsere Zeit und unsere Welt nicht so sehr eine Verbesserung der "technischen, sondern der ethischen Kultur" braucht, ist keine neue Erkenntnis 14• Sie bedeutet aber, daß von der Wissenschaft dringende Hilfe durch Entwicklung von handlungsleitenden Gesetzen erwartet wird. Eine Selbstbeschränkung der Wissenschaft auf die Dingwelt, in einem Bereich, in dem die Realität nun einmal nicht bloß dingweltlich ist, führt daher nicht nur zu einem Realitätsverlust, sondern unter den heutigen Umständen darüber hinaus zu einem gefährlichen Versagen des Menschen gegenüber Forderungen der Bewahrung menschlichen Lebens und damit zur Aufhebung der Bedingungen, unter denen Wissenschaftstreiben überhaupt nur möglich ist. Geistig-technische Anstrengung kann sich vorübergehend und partiell vom "objektiven Geist", von der "Wertwelt" lösen, bzw. sie nicht beachten; wenn eine Wissenschaft, die die volle Realität im Auge hat, aber nicht das Seinsollen zurückholt, ist der Mensch dem Chaos und der Selbstvernichtung preisgegeben, weil die richtungsweisende Orientierung fehlt. An dieser Stelle stehen wir heute.

14 Schlußwort Eduard Sprangers in seiner Vorlesung "Sokrates u. Plato", Wintersemester 1944/45, Universität Berlin, das mir in Erinnerung geblieben

ist.

2. Geisteswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Aspekt

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2. Geisteswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Aspekt

"Schuld und Verantwortung" in der Sozialwissenschaft Dieser Punkt - die Aufgabe der Wissenschaft in der heutigen gesellschaftlichen Situation - bedarf noch einer Verdeutlichung in kategorialer Hinsicht. Zentrales Problem ist das der "menschlichen Verantwortung", ohne die auch Wissenschaft ihre Aufgabe nicht erfüllen kann, ja ohne die die geringste Aktivität oder Wende der gesellschaftlichen Situation nicht möglich ist. Der Mensch hat eine Verantwortung - das ist eine Binsenweisheit. Aber ist sie ein Axiom auch für die Wissenschaften vom Menschen? Die "Geisteswissenschaften", vor allem die Philosophie (soweit sie sich mit dem Menschen befaßt und daher auch mit Handlungsproblemen), haben jahrhundertelang der Verantwortung des einzelnen Menschen besondere Aufmerksamkeit gewidmet, ganz gleich, zu welchen Ergebnissen sie gekommen und an welche Grenzen sie gestoßen sind; die "Sozialwissenschaften" nicht. Die Begriffe "Geisteswissenschaft" und "Sozialwissenschaft" sind inhaltlich nicht restlos festgelegt und gegeneinander abgegrenzt. Sicher ist, daß beide Humanwissenschaften sind, d. h. - im Gegensatz vor allem zur Naturwissenschaft - den Menschen betreffen, einmal als geistiges Wesen, das andre Mal als Gruppenangehörigen. Daß das Problem der menschlichen Verantwortung der Sozialwissenschaft schwerer zugänglich ist als den Geisteswissenschaften - Verantwortung ist eine Funktion des Geistes und daher des einzelnen Menschen ("Kollektivverantwortung" kann es nur als politische Konstruktion geben15 ) - ist zwar verständlich, aber keineswegs zwingend; denn Gesellschaft und Gruppe bestehen immer aus (einzelnen) Menschen, und Verantwortungsgefühl ist sogar eines der stärksten Bindemittel der Menschen in der Gruppe. Trotzdem wird das Problem der (mit-)menschlichen Verantwortung in den Sozialwissenschaften von heute nicht nur weitgehend ausgeblendet, sondern sie mischen sich in die Diskussion über dieses Problem mit unzureichenden Mitteln und in ganz einseitiger Weise ein. Es ist hier der gleiche Vorwurf der Unvollständigkeit der Betrachtung zu erheben wie vorher gegenüber dem einseitigen Verständnis von Wissenschaft überhaupt. Schuld und Verantwortung sind in der Soziologie weitgehend Fremdworte, Erfindungen der Metaphysik, abergläubische Vorstellungen16 • Der Mensch ist total in die Gruppe, ins System einge15 Vgl. F. W,. Rothenpieler, Der Gedanke einer Kollektivschuld in juristischer Sicht, Berlin (Duncker & Humblot) 1982, (Schriften zur Rechtstheorie, Heft 99). 16 Das beginnt bereits bei Durkheim und Paul Fauconnet. Nach Fauconnet, der auf Durkheim zurückgreift, ist Verantwortlichkeit die Eigenschaft derjenigen, die ... "kraft einer Regel als passive Subjekte einer Strafe erwählt werden müssen" (la Responsabilite, Etude de Sociologie, Paris, Alcan 1920,

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1. Die Kriminologie als Seinswissenschaft

bunden, er hat keine persönliche Entscheidungsfreiheit (die ja Voraussetzung für Verantwortung ist), keinen eigenen Spielraum gegenüber der Gesellschaft, und die Frage geht nur noch nach den Ursachen der Abhängigkeit und der Art und Weise des Systems17 • Sowie die Bahn des "Faktenfetischismus" (Fakten meist im dingweltlichen Sinne verstanden) überschritten wird, handelt es sich daher allenfalls um Systemfragen, die erörtert werden 18 • Gegenwärtig vorherrschende Betrachtung des Menschen

Die Abstinenz gegenüber personaler Verantwortung als Anknüpfungspunkt der Betrachtung von Mensch und Gesellschaft ist in der heutigen Wissenschaft evident. Die Naturwissenschaften - also wohl "verlässlichster" und anerkanntester Zweig der gegenwärtigen Wissenschaft - brauchen sich ihrem Gegenstand nach nicht mit menschlicher Verantwortung zu beschäftigen, und die Wissenschaften, die diesen Zentralpunkt eigentlich nicht umgehen dürften, beschränken sich entweder auf das mehr oder weniger anonyme "Kollektiv" oder - soweit sie den einzelnen Menschen zum Gegenstand haben - auf den Teil von ihm, der naturwissenschaftlicher Betrachtung zugänglich istt 9 • Der menschliche Geist als Sitz (individueller und mitmenschlicher) Verantwortung bleibt in jedem Fall ausgespart, mit der tragischen Folge, daß die einzige Quelle menschlicher und damit auch gesellschaftlicher Innovation verschüttet bleibt, in einer Zeit, die so dringend auf Innovation S. 11). "Verantwortlich sein heißt gerechterweise strafbar sein" (a.a.O., S. 7). Die Verantwortlichkeit hat also die Funktion, "die Strafe zu ermöglichen ... ". Hier wird überhaupt nicht gesehen, daß es schon unzulässig ist, Verantwortlichkeit nur auf Strafe zu beschränken. Es gibt doch Verantwortlichkeiten überall, in der Wirtschaft, in der Politik, des Lehrers in der Schule, des Schülers in seiner Gruppe, des Literaten für sein Geschriebenes usw. Aber es ist kennzeichnend, daß gleich und nur das Strafrecht gesehen und daher Verantwortlichkeit in Bausch und Bogen verworfen wird. - Vgl. dazu schon R. Lange, Das Rätsel Kriminalität, Frankfurt/M./ Berlin 1970, S. 99 ff. 17 Vgl. N. Luhmann, Rechtssoziologie, Hamburg 1972; G. Jakobs, Schuld und Prävention, Tübingen 1976; H. Popitz, über die Präventivwirkung des Nichtwissens, Tübingen 1968. Anders F. FUser, Einf. i. d. Kriminalsoziologie, Paderborn 1983, UTB 1217, S. 53 u. 159 ff. 18 Deutlich bei der "kritischen Theorie", der sog. "Frankfurter Schule", die sich der Analyse des Spätkapitalismus widmet, vgl. Th. W. Adorno, gemeins. m. M. Horkheimer: Soziologische Exkurse, Frankfurter Beiträge zur Soziologie, 4, Frankfurt/M. 1956; ders. in: Th. W. Adorno (Hrsg.), Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Stuttgart 1969, S. 17 ff.; M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M. 1967; H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 2. Aufl., 1967; ders., Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969. 18 z. B. "Rattenversuche" in der Motivationsforschung, vgl. C. F. Graumann, Motivation, Einführung in die Psychologie, Bd. 1, Frankfurt/M. u. a. 1969. Kritisch auch R. Lange, a.a.O., S. 241 ff.

2. Geisteswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Aspekt

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angewiesen ist. So haben wir heute einen enormen Wissenschaftsbetrieb und verfügen trotzdem nicht über genügende Ansätze zu einer Bewältigung unserer Lebensprobleme. Im Gegenteil, die Wissenschaft von heute ist eine Legitimationswissenschaft, insofern sie das Bewußtsein der Ohnmacht, das heute allenorts verbreitet ist, wissenschaftlich rechtfertigt 20 • Gegentendenzen

Es gibt Gegentendenzen, Wissenschaftler, die erkannt haben, daß ohne Wiedereinsetzung des Geistes in seine Rolle als Erfindungs- und Leistungsinstrument keine Wissenschaft im Sinne von Erhellung der Welt oder gar Bewältigung der gesellschaftlichen und politischen Probleme des Menschen betrieben werden kann, zuerst in der Naturwissenschaft, besser: in einzelnen naturwissenschaftlich fundierten Bereichen2 !, jetzt auch deutlich in der Erziehungswissenschaft22 • Die Erkenntnis, daß die wertorientierungslose Betreibung der Naturwissenschaften23 die gesellschaftlichen und politischen Probleme verschärft und die Sozialwissenschaften nichts zu ihrer Bewältigung beigetragen haben2 4, 20 Insofern stehen empirische Sozialforschung, wie sie vor allem durch die sog. "Kölner Schule" repräsentiert wird, und "Gesellschaftstheorie" der "Frankfurter Schule durchaus auf der gleichen Seite, auch wenn Th. W. Adorno den Empirikern vordergründige Sicht auf Einzeltatsachen ohne Berücksichtigung des - eher philosophisch faßbaren - gesellschaftlichen Hintergrunds vorwirft; vgl. Th. W, Adomo, Soziologie und empirische Forschung, in: Th. W. Adomo u. a., Hrsg., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, a.a.O., S. 81 ff., insbes. S. 85, S. 87 (dort auch der Satz, wie vorher schon an anderer Stelle, "Soziologie ist keine Geisteswissenschaft") S. 92. 21 So in der Anthropologie, vgl. z. B. Adolf Portmann, Biologie und Geist, 3. Aufl., Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1982, insbes. S. 11 ff. u. S. 315 ff. R. Lange, a.a.O., S. 329 ff. l!! Horst Siebert, Umrisse einer reflexiven Didaktik der Erwachsenenbildung, in: "Zentrale Einrichtung für Weiterbildung der Universität Hannover (Hrsg.), Zielgruppenspeziflsche Umwelterziehung in der Weiterbildung", unveröffentl. Gutachten, Hannover, 1982. s. auch F. FUser, a.a.O., S. 159 ff. 23 Max Born kurz vor seinem Tod: "Ich werde durch den Gedanken geplagt, daß dieser Bruch zwischen Humanismus und Wissenschaft in der menschlichen Zivilisation., begründet durch die Entdeckung der naturwissenschaftlichen Methode, nicht wiedergutgemacht werden könnte. Obgleich ich die Wissenschaft liebe, habe ich das Gefühl, daß sie sehr gegen die Geschichte und Tradition ist, daß sie nicht absorbiert werden kann durch unsere Zivilisation" (zitiert nach Robert Jungk, Albert Einstein, in: "Liebhaber des Friedens", hrsg. v. Hans Jürgen Schultz, Stuttgart 1982, S. 88 ff., S. 92). Vgl. auch die "Karmel-Erklärung zu Technik und moralischer Verantwortung" v. 25. Dez. 1974 (abgedruckt u. a. in: N. Luhmann 1St. H. Pfürtner, a.a.O., S. 253 ff.). U St. H. Pfürtner in: N. Luhmann 1St. H. Pfürtner, a.a.O., weist darauf hin., daß das "Social Responsability Symposium" (1968) mit dem provokativen Satz von Harner eröffnet wurde: "that genocide is not in the professional interests of anthropologists" (S. 191, 192). Pfürtner erwähnt auch., daß bei N. Luhmann, Franz-Xaver Kaufmann, J. Habermas, J. Friedrichs u. R. Laut-

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1. Die Kriminologie als Seinswissenschaft

regt sich allenthalben. Es gibt - freilich zum Teil "spekulative" - Versuche, den Geisteswissenschaften wieder eine zentrale Stellung innerhalb der Wissenschaften einzuräumen, weil der einzelne Mensch eben die zentrale Stellung in der Welt, auch in der Welt von heute hat und eine überwindung des "Systemzwangs" nur von ihm ausgehen kann. Es gibt sogar - noch spärliche, aber hoffnungsvolle - Ansätze zur Erkenntnis, daß eine Umkehr von totaler Abhängigkeit des Menschen nur bei Neubelebung der Wertwelt möglich ist und daß nur der Mensch in der Wertwelt lebt und Verantwortung als Tragenmüssen von Seinsund Verhaltensrisiken kennt.

Sozialwissenschaft als Vorstufe geisteswissenschaftlicher Betrachtung Insofern sind die Sozialwissenschaften nicht überflüssig. Die Analyse der Gesellschaft und der Gruppe ist zur Besinnung des Menschen auf das, was er ist, und zur Klarwerdung über das Chaos, in dem er sich befindet, durchaus nützlich. Aber sie können nur Vorstufe zur Bewältigung der menschlichen Probleme sein; die Bewältigung selber ist Sache des menschlichen Geistes und seiner Selbstfindung. Das ist die Situation, vor der alle Seinswissenschaften, auch die Kriminologie, stehen und von der sie auszugehen haben, wollen sie sich nicht vom Leben und seinen gegenwärtigen Problemen isolieren und einem Wahrheitsideal frönen, das in Wirklichkeit nur Ausflucht ist und die realen Gegebenheiten leugnet. Zentrales Ziel der Humanwissenschaften ist m. E. Erkenntnis der Gesetze und Erträglichmachung des menschlichen Zusammenlebens, und damit durch die jeweilige individuelle, gesellschaftliche und politische Situation vorgegeben. Was wir heute an Wissenschaft brauchen, ist durch die Gefahr der totalen Entfremdung des Menschen vom Menschen umschrieben, die nur durch totale geistige Anstrengungen innerhalb der (realen) Welt der Werte verhinderbar ist. Das gilt für jede Art von Verhaltensweisen des Menschen, im individuellen wie im gesellschaftlichen, ja völkerumspannenden Bereich. Geisteswissenschaftliche Bemühung kann hier von sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen durchaus profitieren, aber sie darf nicht bei sozialwissenschaftlicher Erkenntnis stehenbleiben.

mann moralwissenschaftliche Aspekte in die Soziologie eingeflossen sind (nähere Nachweise dort, S. 231/232). - Weitere Nachweise bei R. Lange, a.a.O.,

S. 117 ff. Bemerkenswert auch F. FiI.ser, a.a.O., S. 159 ff. (161).

3. Zulässigkeit normativer Aussagen

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3. Die wissenschaftstheoretische Zulässigkeit normativer Aussagen in der Kriminologie

Seinswissenschaftliche Forschung und Gestaltenwollen Wissenschaftstheoretisch kann man nicht vom Sein zum Sollen kommen, auch nicht von einem Seinsgesetz zu einem Sollensgebot. Beide befinden sich auf verschiedenen Ebenen. Trotzdem geschehen, worauf Prim und TiZmann zutreffend hinweisen25 , in den Sozialwissenschaften immer wieder solche "naturalistischen Fehlschlüsse". Es ist aber ein Unterschied, ob man Denken und Handeln des oder der Menschen seinswissenschaftlich untersucht, wobei der Wertaspekt, der bei diesem Denken und Handeln nun einmal eine nicht hinwegdenkbare Rolle spielt, nicht unberücksichtigt bleiben darf, oder ob man Gebote, wie gedacht und gehandelt werden soll, entwickeln will. Das eine ist Erkennen der Realität, also seinswissenschaftliche Forschung, das andere Gestaltenwollen der Zukunft.

Nähe von Sein und Seinsollen Trotzdem liegt beides nicht so weit auseinander, wie es nach dieser rein theoretischen - Unterscheidung erscheint. Wissenschaft, die auf den Menschen bezüglich ist, kann niemals nur auf Erkenntnis allein angelegt sein. Erkennen geht notwendig in Handlungsanleitung über. Wenn nämlich Gegenstand seinswissenschaftlicher Forschung in den Humanwissenschaften nicht nur die dingweltliche Existenz des Menschen und seine kausale Reaktion auf natürliche Einflüsse ist - so weitgehend in der heutigen Kriminologie -, sondern auch sein Denken und Handeln aus Werterwägungen, und wenn Humanwissenschaften sich nicht nur mit dem fertigen Produkt in der äußeren Welt, sondern auch mit dem Werden der Handlung aus ihren personalen Quellen und sozialen Umständen beschäftigen, dann kommt die Forschung, über dingweltliche Erscheinungen hinaus, zwangsläufig auch zu Erkenntnissen über die Mitwirkung normativer überlegungen und ihrer Folgen für das Denken und Handeln des Menschen und dann wird notwendigerweise auch über die Rolle und Bedeutung von Sollensgeboten bei menschlichem Verhalten überhaupt eine Aussage gemacht. Um das an einem kriminologischen Beispiel zu erläutern: den Kriminologen interessieren bei einem Mord nicht so sehr die Identität des Täters nach Name, Alter, Wohnort, Geschlecht und Personenstand, die Tatzeit, der Tatort, Tatmittel, Schuldausmaß usw. (das ist Sache der Kriminalistik), sondern eher von welchen Erwägungen der Täter ausgegangen ist, in 25

R. Prim u. H. THmann, a.a.O., S. 109 ff.

2 Hellmer

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I. Die Kriminologie

als Seinswissenschaft

welcher Wertwelt er lebt26 , welche Motive er hatte, wie diese Motive entstanden sind, welche Gesichtspunkte wirksam geworden sind, welche Prioritäten er kennt und wie es kam, daß das Verbot des Tötens nicht wirksam geworden ist, welche Rolle dieses Verbot überhaupt im Zusammenhang mit dieser Tat oder der Mordkriminalität allgemein spielt, ob es in Gefahr ist, hinter anderen Prioritäten, Motiven, Einflüssen zurückzustehen oder gar in Vergessenheit zu geraten, wie es dazu kommt und welche Fehler in der Erziehung möglicherweise gemacht worden sind. Das sind kriminalpolitisch relevante Erkenntnisse, die schon im Vorfeld von Handlungsanleitungen stehen und in solche fast automatisch umschlagen; denn die Erkenntnis der Wertwelt und der Rolle, die sie spielt oder gespielt hat, ist zugleich Basis wissenschaftlicher Handlungsanleitung, die in der Kriminologie den übergang zur Kriminalpolitik bildet.

Wissenschaftlichkeit von "Technologien" Das weiß auch die Wissenschaftstheorie. Der kritische Rationalismus spricht bei solchen Handlungsanleitungen - wenig glücklich, eher in Verdeckungsabsicht - von "Technologien"27. Sie sind eigentlich überall Bestandteil erkennender Forschung und befinden sich bei den Humanwissenschaften in äußerster Nähe zur Ethik. Auf jeden Fall sind es normative Aussagen, die hier zustandekommen, und sogar (in gewissem Grade) Prognosen ermöglichen, und ihr Wissenschaftscharakter hängt nur davon ab, inwieweit sie in seinswissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen gründen, die mit empirischen oder anderen wissenschaftlichen Methoden gewonnen sind. Je weniger das der Fall ist, um so mehr handelt es sich nur um Politik oder Kunst, Empfinden oder Intuition.

Wertbetrachtung und Handlungsanleitung Unsere Gedankenkette verläuft also folgendermaßen: der Mensch handelt unter bestimmten Werterwägungen (immer, auch z. B. schon beim Aufräumen seines Zimmers oder Arbeitsplatzes). Ohne Bewertung fremden und eigenen Tuns bzw. von Gegenständen, mit denen er umgeht, ist er gar nicht in der Lage, etwas Gewolltes zu tun, und die Bewertung erfolgt sowohl nach subjektiven wie objektiven Maßstäben (welch letztere im Augenblick der überlegung subjektiviert werden). 20 Ebenso H. Göppinger, Kriminologie 4. Auf!., S. 326. Im übrigen wird aber gerade dieser Punkt in der Kriminologischen Literatur bezeichnenderweise kaum erwähnt. 21 Prim I Tilmann, a.a.O., S. 104 f, 126 ff.

3. Zulässigkeit normativer Aussagen

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Der Wissenschaftler, der Handeln und Verhalten des Menschen untersucht, stößt daher, wenn er seine Aufgabe umfassend versteht, notwendigerweise auf die Bestandteile des subjektiven und objektiven Geistes, die dieses Handeln vorbereitet und begleitet haben, also auf Bewußtseinsinhalte, Gefühle und überlegungen in bezug auf Sitten, Gebräuche, moralische und juristische Gesetze und sonstige Handlungsanleitungen. Indem er aber darauf stößt, beschreibt er sie nicht nur, sondern ordnet sie zugleich in die bestehende oder eine zu entwickelnde objektive und subjektive Werteskala ein; denn er will ja die Handlung aus ihrem Wertekontext erklären, und der Anlaß hierfür ist - jedenfalls in der Kriminologie - daß die Handlung bereits mit einem Wertzeichen besetzt ist, nämlich mit dem Wertzeichen " schädlich", "verletzend". Bis jetzt befindet er sich vollständig im Bereich der Seinswissenschaft, der Erforschung dessen, was ist (ding- und wertweltlich). Aber nun erfolgt der Sprung von dem, was ist, zu dem, was sein soll, wobei letzteres jedoch nur den Charakter der Quintessenz dessen hat, was festgestellt worden ist, einer Quintessenz, die darüber Auskunft geben will, welche Inhalte und Bestandteile des subjektiven und objektiven Geistes zu sozialschädlichen Verhaltensweisen führen und welche geeignet sind, solche Handlungen zu verhindern oder gar "gute" Handlungen zu fördern. Diese Quintessenz ist Handlungsanleitung, sie ist Ethik, aber seinswissenschaftlich fundierte Ethik, und der Sprung zu ihr ist nur der Sprung aus der Feststellung zur Forderung und vom speziellen zum allgemeinen, aber kein Sprung von einem Inhalt zum anderen oder von einer Bewertung zur anderen. Insofern ist das Schlagwort vom "naturalistischen Fehlschluß" zu modifizieren.

Diskutierbarkeit von Werturteilen Es bleiben zwei Fragen: wie kommt es zur Qualifizierung einer Handlung als "schädlich", und wie weit gehört die geschilderte Quintessenz noch in den Bereich der Kriminologie? "Schädlich" ist ein Werturteil, das nach wissenschaftstheoretischer Auffassung als weder beweisbar noch widerlegbar, höchstens durch intersubjektive Abstimmung praktisch-faktisch zu legitimieren ist28 • In der Tat sind Werturteile nicht beweisbar. Trotzdem können sie wahr sein. Man kann über sie diskutieren und für und gegen sie argumentieren. Das könnte man nicht, wenn sie der Wahrheit nicht fähig wären. Ihr Wahrheitsgehalt ist schwerer erfaßbar, sie sind aber empirischen oder rationalen Mitteln nicht absolut unzugänglich. Für die Aussage "Krieg ist gut" lassen sich z. B. empirische Argumente finden, wie für die Aussage "Krieg ist 28

2*

Prim / THmann, a.a.O., S. 13 ff.

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I. Die Kriminologie als Seinswissenschaft

schlecht"29. Trotzdem besteht kein Zweifel, daß die Aussage "Krieg ist schlecht" der Wahrheit näher kommt als die gegenteilige Aussage, einfach weil die empirischen Argumente, die gegen den Krieg sprechen, so stark sind, daß die Gegenargumente kaum ins Gewicht fallen. Die Wahrheit einer Aussage ist immer relativ, auf Ort, Zeit und Umstände bezogen, und unter den heutigen Umständen haben beide Aussagen einen derart unterschiedlichen Wahrheitsgehalt, daß man die eine durchaus als der Wahrheit näher denn die andere bezeichnen kann (und muß)30. Ähnliches hat natürlich für das Verhalten einzelner Personen zu gelten. Die Sozialwissenschaften haben Argumente für das Verbrechen bzw. die Kriminalität gefunden31 • Trotzdem überwiegen unter den gegenwärtigen Verhältnissenn die Argumente, die gegen kriminelles Verhalten sprechen so stark, daß man die Aussage, es sei schädlich und daher schlecht, als wahr bezeichnen kann32• Handlungsanleitung noch Wissenschaft? (Kriminologie - Kriminalpolitik)

Die Frage, wie weit die Quintessenz in Form einer Handlungsanleitung noch in den Bereich der Wissenschaft fällt, ist im Grunde bereits bejaht. Zwar handelt es sich, streng genommen, nicht mehr um Kriminologie, sondern um Kriminalpolitik, aber um Kriminalpolitik auf kriminologischer, also seinswissenschaftlicher Grundlage, nicht auf spekulativer politischer Grundlage. über Kriminalpolitik, die auf streng seinswissenschaftlicher Grundlage beruht, kann nur der Kriminologe !9 So spricht z. B. Jacob Burckhardt in seinen weltgeschichtlichen Betrachtungen (IV. Kapitel: die geschichtlichen Krisen) davon, daß sich in langen Friedenszeiten eine Menge schwächlicher und schmarotzerischer Existenzen bilde. Wir selber wissen, daß der Mensch im Krieg durch die Todesgefahr, in der er schwebt, fundamentaler denkt und gemeinschaftsfähiger ist. 30 Popper akzeptiert dies nur für "Erklärungen", indem er davon spricht, daß "der logische Begriff der Annäherung an die Wahrheit unentbehrlich für die situationsanalytischen Sozialwissenschaften" sei (Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Th. W. Adorno u. a., Hrsg., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 9. Aufl., Darmstadt/Neuwied 1981, S. 103 ff., S. 121). 31 Durkheim in: Sack I König (Hrsg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt/M. 1968, S. 3-ff., H. D. Seibel, Kölner Zeitschrift für Soziologie u. Sozialpsychologie, 72, S. 1 ff. 32 Wobei allerdings die Frage der Definition bleibt, vor allem das Problem des Mißbrauchs des Begriffs "Kriminalität" durch den Staat als bloßes Disziplinierungsmittel; näher Hellmer, über die Glaubwürdigkeit des Strafrechts und die Bedeutung des zwischenmenschlichen Verhältnisses für die Kriminalitätsbekämpfung, Juristenzeitung 1981, S. 153. Auch die Frage der Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit der Kriminalitätsbekämpfung, insbesondere der historisch bedingten Form des Strafens und der Sanktion bleibt durchaus offen (vgl. dazu u. a. H. Bianchi, Ethik des Strafens, Neuwied, 1966; P. Reiwald, Die Gesellschaft und ihre Verbrecher, Frankfurt/M. Suhrkamp Taschenbuch, 1973; EHen Stubbe, Seelsorge im Strafvollzug, Göttingen 1978).

3. Zulässigkeit normativer Aussagen

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Auskunft geben, und es hieße, Sachzusammenhänge, die auch für die Wissenschaft gelten, aus rein begrifflichen Gründen auseinander zu reißen, wenn man Kriminologie und kriminologisch begründete Kriminalpolitik so voneinander trennen und dem Kriminologen verbieten wollte, auf der Grundlage seiner kriminologischen Erkenntnisse auch kriminalpolitische Fragen zu beantworten33 • Selbst wenn man also dem Standpunkt H. Mayers nicht folgt, daß man überhaupt von der Kriminalpolitik (und nicht der Kriminologie) ausgehen müsse, weil die heterogenen Handlungen, die als "Kriminalität" zusammengefaßt sind, nur unter dem Gesichtspunkt der Bekämpfung einen einheitlichen Gegenstand bilden34, ist es legitim, Aussagen über Kriminalpolitik, soweit sie auf kriminologischer Forschung beruhen, Sache des Kriminologen sein zu lassen, nicht etwa um dem - nicht ganz unberechtigten - Einwand zu begegnen, es sei wenig sinnvoll, Kriminologie zu betreiben, wenn aus den gewonnenen Erkenntnissen doch keine kriminal politischen Konsequenzen gezogen werden, sondern weil Kriminologie notwendig zu Erkenntnissen führt, deren kriminalpolitische Verwertung nur durch Kriminologen möglich ist (während die "allgemeine" Politik noch andere Gesichtspunkte zu berücksichtigen hat, z. B. verfassungsrechtliche, finanzpolitische, parteitaktische u. a.). Typisches Beispiel dagegen für eine streng seinswissenschaftlich gebundene Kriminologie (Sein im Sinne von natur- oder sozialwissenschaftlich erfaßbar) ist die Kriminologie in den USA, die drei Kennzeichen trägt: umfangreiche Forschung, Scheu vor ethischen Aussagen, Defizit an wirksamer Kriminalpolitik. Das andere Extrem - der Kriminologie wird durch die Kriminalpolitik nicht nur der Forschungsgegenstand vorgegeben, sondern auch das Ergebnis, zu dem sie zu kommen hat - führt zu einer überlastung der Kriminologie mit spekulativen Elementen, wie sie für ideologisch gebundene Wissenschaft typisch ist, und verwässert damit seinswissenschaftliche Forschung. In beiden Fällen erfüllt Kriminologie eine Feigenblattfunktion, entweder für völlige Abstinenz gegenüber handlungsanleitenden Grundsätzen oder für Verdeckung politischer Forderungen.

33 Zu diesem Problem ganz allgemein K. Lompe, Wissenschaftliche Beratung der Politik, Göttingen 1966. Speziell für die Kriminologie Göppinger, Kriminologie, 4. Auf!., S. 18; G. Kaiser, Kriminologie, S. 314. 34 H. Mayer, Kriminalpolitik als Geisteswissenschaft, Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 57 (1938), S. 1 ff. (2).

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I. Die Kriminologie als Seinswissenschaft

4. Die normative Aussage auf empirisch-kriminologischer Grundlage selber Wir haben aufgrund langjähriger empirischer Forschung folgende Erkenntnisse gewonnen, die wir als normative Aussage zur Diskussion stellen: a) Kriminalität ist ein das mitmenschliche Verhältnis verletzendes Verhalten und daher zu bekämpfen. b) Vorbeugende Bekämpfung verletzenden Verhaltens ist erfolgversprechender als nachträgliche35 • c) Vorbeugung gegen verletzendes Verhalten setzt Kenntnis der Entstehungszusammenhänge dieses Verhaltens voraus oo . d) Verhalten beruht auf persönlicher Einstellung, die durch Herkunft, Erziehung und gesellschaftliche Umstände geprägt und beeinfiußt ist. Das wesentliche an der persönlichen Einstellung, die Kriminalität ermöglicht, ist der Mangel an Identitätsbewußtsein mit dem Mit~ menschen37 •

Notwendigkeit einer neuen Ethik Das ethische Problem ist damit nicht etwa erledigt. über Struktur, Begründung und Inhalt einer ethischen Aussage besitzt die Rechtswis~ senschaft keine genügende Kompetenz. Nur folgendes soll gesagt werden, weil es sich von selber bzw. aus dem schon Dargelegten zwingend ergibt. Heute erforderliche Ethik kann nicht einfach durch Rückgriff auf schon früher gewonnene Erkenntnisse gefunden werden. Die Ethik vor dem "technischen Zeitalter" oder aus der Zeit eines überholten Standes der Technik ist weder geeignet noch tauglich, unsere jetzigen Handlungs-Probleme zu lösen. Sittlichkeit in der Nähe der heute be~ stehenden "technischen Kultur" und zur Bewältigung der durch sie heraufbeschworenen Probleme hat sicher ganz anders auszusehen als die vordem bekannte im Sinne z. B. des mittelalterlichen Christentums oder der Aufklärung 38 • Die religiöse Emanzipation des modernen Men~ 35 "Empirischer Untersatz", der durch zahlreiche Untersuchungs ergebnisse belegt ist. 38 "Logisch-rationaler Satz" (nach der Wissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus). 37 Auf empirischen Gemeindeuntersuchungen beruhende Erkenntnis, vgl. Henmer, Identitätstheorie und Gemeindekriminalität, Archiv für Kriminologie, Bd. 161 (1978), S. 1 ff. 38 Daß die Aufklärung allein keinen veredelnden "Einfluß auf die Gesinnung" des Menschen ausüben kann, hat schon der Kantianer Schiller erkannt (über die Ästhetische Erziehung, Kap. "Das gegenwärtige Zeitalter"). Gerade aber auf die sog. "Veredelung" der Gesinnung kommt es heute an.

4. Die normative Aussage selber

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schen, die Radikalität der Herausforderung des Lebens durch die moderne Technik und eine darauf gegründete Politik (anfänglich seine Werkzeuge, die sich aber durch seine moralische Schwäche über ihn gestellt haben) und die Folgen des einseitig geförderten, geistig nicht bewältigten Wohlstands verlangen eine ebenso radikale (oder womöglich noch radikalere) Antwort, für die die historisch-philosophischen Ethikvorstellungen allenfalls Modelle sind. Man denke außer an Kriminalität und die Gefahr der globalen Selbstvernichtung der Menschen nur an Erscheinungen wie die rücksichtslose, gemäß dem Prinzip "nach mir die Sintflut" erfolgende Ausbeutung der Rohstoffquellen der Erde, an die Vergiftung und Verschmutzung der Umwelt, die Zerstörung der Landschaft durch Zersiedlung und überdimensionierten Straßen- und Verkehrsbau, an Austreibung und Entwurzelung von Menschen durch kurzsichtig betriebene Industrialisierung oder Umsiedlung von Industrien, an die Enthumanisierung der Wohnkultur durch architektonischen Wahn, an "Atomabfall und Genmanipulation", an "die Instrumentalisierung der Berufsarbeit, die Mobilisierung am Arbeitsplatz, dIe Verlängerung von Konkurrenz- und Leistungsdruck bis in die Grundschule, die Monetarisierung von Diensten, Beziehungen und Lebenszeiten, die konsumistische Umdefinition des persönlichen Lebensbereichs"39, die Herabwürdigung des Menschen zum bloßen Faktor in der Volkswirtschaft, an Drogensucht, Alkoholismus, Selbstmord und Verhaltensstörungen u. v. a. mehr. Diese Probleme werden wir nicht mit Regeln, Grundsätzen und Geboten in den Griff bekommen, die zu einer Zeit entwickelt worden sind und galten, in der es diese Probleme noch nicht einmal ansatzweise gab. Ethik und" Wertepluralismus" Das in der Nähe dieses Verhältnisses ebenfalls angesiedelte Problem des Wertepluralismus braucht hier nicht näher erörtert zu werden, weil es die Notwendigkeit einer fundamentalen Ethik nicht berührt. Unter "fundamentaler" Ethik verstehen wir eine Ethik, die für den Menschen lebensnotwendig ist, weil nur sie ihn von der Drohung der Selbstvernichtung befreit. Eine solche Ethik kann nicht in den Wertestreit einbezogen werden, weil sie ihn überhaupt erst ermöglicht. Der Wertestreit darf nicht soweit gehen, daß er die Plattform zerstört, auf der er allein ausgetragen werden kann, die Plattform menschlicher Existenz. Ethik hat - gerade heute - diese Existenz zu sichern. 39 Jürgen Habermas in: Einleitung zu J,. Habermas (Hrsg.), Stichworte zur Geistigen Situation der Zeit, a.a.O., Band 1, S. 7 ff. (27).

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I. Die Kriminologie als Seinswissenschaft

In ähnlicher Weise wird auch an anderer Stelle zwischen "pluralisierbaren" und "nicht pluralisierbaren" Werten unterschieden 40 • In der Tat hat sich der Begriff "Wertepluralismus" heute zu einem Schlagwort entwickelt, mit dem vieles abgetötet wird, was erst einmal näher reflektiert werden müßte. Zur wichtigen Aufgabe der Entwicklung einer neuen Ethik wird es daher auch gehören, Differenzierungen zu schaffen und bestimmte Werte als nicht streitfähig in der gesellschaftlichen Basis zu verankern. Zu solchen Werten werden vor allem Werte des zwischenmenschlichen Verhältnisses gehören, die die Würde des Menschen sowohl der Disponibilität durch Politik und Wirtschaft, Behördenwillkür und wissenschaftlichen Mißbrauch wie der intersubjektiven Schädigung entziehen. Schwierigkeit der Entwicklung einer neuen Ethik Die Entwicklung einer Ethik des zwischenmenschlichen Verhältnisses ist heute nicht nur die wichtigste, sondern angesichts einer durch Wohlstandsdenken und Selbstverwirklichungssucht gekennzeichneten Zeit auch eine äußerst schwierig zu erfüllende Aufgabe. Moral (als Kodex mitmenschlichen Umgangs) ist ja ohnehin als "Herrenmoral" bzw. Instrument der Ausnutzung des Menschen durch den Menschen verschrien41 , Hilfsbereitschaft, Altruismus, Rücksichtnahme, Treue, Dienst am Nächsten, Selbstaufgabe teils durch politischen Mißbrauch desavouiert, teils durch Programme der individuellen Emanzipation ersetzt. Ethik des zwischenmenschlichen Verhältnisses steuert dagegen auf Verwirklichung von Werten, die nur durch Selbstbeschränkung im Äußeren erreichbar sind. Dafür garantiert sie ein erträgliches Leben im menschlichen Verband und innere Befriedigung durch Mitmenschlichkeit. Es wird also nahezu eine Umkehr erforderlich sein. Religion, Erziehung und Recht werden dazu Hilfestellung leisten können, entscheidend aber ist der ethische Impuls, der nur durch intensive Beschäftigung mit dem Gegenstand selber hervorgebracht werden kann.

40 So von Hötte, der zu den "nicht pluralisierbaren" Werten diejenigen zählt, die "Voraussetzungen von Kommunikation und Bedingungen einer humanen Konfliktbewältigung" sind. Vgl. Ottried Hötte, Ethikunterricht in pluralistischer Gesellschaft, in: O. Hötte, Ethik und Politik, Frankfurt/M. (Suhrkamp Taschenbuch) 1979, S. 453 ff. 41 Näher W. Weischedel, Skeptische Ethik, Frankfurt/M. 1980 (Suhrkamp Taschenbuch), S. 80 ff.

5. Zusammenfassende Thesen

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5. Zusammenfassende Thesen Ich fasse das bisher Gesagte wie folgt zusammen: 01. Zum Sein des Menschen gehört nicht nur die Dingwelt, sondern auch die Wertwelt. Seinswissenschaften vom Menschen haben sich daher auch mit den Wertvorstellungen des denkenden und handelnden Menschen und der "objektiven" Wertwelt ("objektiver Geist") zu befassen, soweit diese im Handlungskonzept des Menschen eine Rolle spielt oder spielen kann. In den Seinswissenschaften von heute, insbesondere in der Kriminalsoziologie, ist dieser Bereich fast total ausgespart.

02. Die Seinswissenschaft hat die Kompetenz (und im Rahmen dieser Kompetenz sogar die Verpflichtung) zu normativen (handlungsanleitenden) Aussagen, soweit diese aus den Ergebnissen seinswissenschaftlicher Forschung hervorgehen, weil allein der "Fachmann" in der Lage ist, seine Erkenntnisse sach- und fachgerecht zu interpretieren. Erst die Entscheidung, welche Handlungsanleitung sich mit dem Gesamtkonzept der politischen Erfordernisse am besten verträgt, übersteigt die Kompetenz des Wissenschaftlers (als solchem). 03. Das am ungehinderten Anstieg der Kriminalität erkennbare bisherige Versagen der Kriminologie - in fast allen Ländern mit kriminologischer Forschung - liegt mindestens zum erheblichen Teil daran, daß sich Kriminologie nur als Seinswissenschaft - Sein im dingweltlichen Sinne - und an empirische Forschungsmethoden gebunden versteht und keine normative oder als Handlungsanleitung verwertbare Aussage macht, wodurch eine unüberbrückbare Lücke zu praktischer Kriminalpolitik klafft (die sich dann ihre eigenen, zum Teil falschen und gefährlichen Normen schafft).

04. Die normative Aussage, um die es heute in den Seinswissenschaften, hier insbesondere in der Kriminologie, geht, ist eine betont ethische Aussage über die Gesetze der Gestaltung bzw. Mitgestaltung des zwischenmenschlichen Verhältnisses; denn Kriminalität ist (wenn man vom Mißbrauch des Strafrechts zum Zwecke der politischen Disziplinierung des Bürgers absieht) Verletzung des andern, des Mitmenschen (per definitionem nur innnerstaatlich, sinngemäß aber auch außerhalb des Staatsgebildes). 05. über den Inhalt der ethischen Aussage läßt sich hier nichts Genaueres, Abschließendes sagen. Ihm müssen besondere Forschungen gewidmet sein. Nach unseren empirischen Untersuchungen über die Gemeindekriminalität sind Art und Umfang der Kriminalität aber vom Maß des Identitätsbewußtseins der Gemeindemitglieder abhängig, d. h.

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1. Die Kriminologie als Seinswissenschaft

mangelndes Identitätsbewußtsein (mit dem andern) ist conditio sine qua non für kriminelles Verhalten (egal, welche Motive im speziellen Fall hinzutreten). 06. Die ethische Aussage in der Seinswissenschaft, hier insbesondere der Kriminologie, wird es bei der Richtung, in der sie liegt (zwischenmenschliches Verhältnis), und bei dem wachsenden Entfremdungsprozeß, der in der Großgesellschaft von heute obwaltet, schwer haben, in die Tat umgesetzt zu werden, selbst wenn sie näher konkretisiert sein wird (was Aufgabe einer auf voller seinswissenschaftlicher Basis betriebenen Kriminalätiologie und daraus abgeleiteten Kriminalpolitik ist). Praktisch relevante Empfehlungen für partielle Gegensteuerungsmaßnahmen sind aber denkbar und notwendig.

11. Das Beispiel: die empirische Untersuchung der erhöhten Kriminalität der Mittelstädte Schleswig-Holsteins 1. Das Sozialwissenschaftliche Gutachten für die Regierung Der Forschungsauftrag Der Innenminister des Landes Schleswig-Holstein erteilte mir 1979 den Auftrag, für die in seinen Zuständigkeits bereich fallende Arbeit der Polizei ein Gutachten über die Kriminalität derMittelstädte (20000100000 Einwohner) Schleswig-Holsteins zu erstellen. Grund dafür war, daß die Landes-Kriminalstatistik für den Mittelstadtbereich eine im Verhältnis zu den Mittelstädten der andern Bundesländer erheblich höhere Kriminalität auswies 42 • Untersucht werden sollten vor allem folgende Fragen: 1. Welche kriminogenen Umstände kennzeichnen die Mittelstadt? 2. Gibt es täterstrukturelle Besonderheiten in den Mittelstädten? 3. Wie wirkt sich die enge Nachbarschaft zu Hamburg aus? 4. Wodurch unterscheiden sich die Kriminalitätsstrukturen kriminalitätsarmer und -reicher Mittelstädte? 5. Welche Kriminalstrategien erfordern die Erkenntnisse aus den Fragen 1 - 4? Die Untersuchungsmethode Schleswig-Holstein hat 15 Mittelstädte unterschiedlichster Größe (Flensburg mit fast 100000 Einwohnern, Heide mit nur 21000) und Struktur. Die für zwei Jahre eingestellten Untersuchungsführer (eine voll ausgebildete Soziologin als halbe Kraft, ein Jurastudent mit sozialwissenschaftlicher Vorbildung als Hilfskraft) waren natürlich allein nicht in der Lage, das erforderliche Material zusammenzutragen und auszuwerten. Zur Sichtung der von den Polizeibehörden der fraglichen Städte angeforderten polizeilichen Tagebücher wurden Studenten zweier Seminarveranstaltungen (Sommersemester 1980 und 1981) eingesetzt, ebenso zur Befragung von Behörden, Dienststellen, sonstigen Informanten und der Bevölkerung an Ort und Stelle. Auch der Stab des kriminologischen Instituts (5 Personen) wirkte bei der Vorbereitung und Durchführung der Exkursionen und bei der Anleitung der Studenten 4t Häufigkeitsziffer der Mittelstädte (20000 - 100 000 Einw.) Schieswig-Holstein 1980: 10449; Bayern: 6585; Bundesdurchschnitt der Mittelstädte: 6469.

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11. Untersuchung der Mittelstädte

mit. Das dadurch gesammelte, sehr umfangreiche, aber längst nicht erschöpfende Material wurde sodann von den beiden Untersuchungsführern unter verschiedenen Gesichtspunkten ausgewertet, wobei ich ihnen weitgehend freie Hand ließ, um nicht in den Verdacht zu geraten, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse juristisch zu verzerren oder zu verkürzen. Ich beschränkte mich im wesentlichen darauf, Anleitungen zu geben und immer wieder darauf hinzuwirken, daß der Blick vor allem auf die für eine allgemeine Erkenntnis wichtigen Spezifika SchleswigHolsteins gerichtet bleibt und die vom Innenministerium bzw. der Polizei gestellten Fragen untersucht (und nicht nur ideologische Vorgaben konkretisiert) wurden.

Ergebnisse des Gutachtens Inhalt und Ergebnisse des Gutachtens sollen nicht noch einmal referiert werden. Nur einige markante Punkte sind in unserem Zusammenhang hervorzuheben. Die Verfasser bekennen sich gleich am Anfang zu einer sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise, die "Kriminalität" als "Symptom spezifischer Mängellagen" sieht, marginalisieren die "alltagstheoretischen Vorstellungen der breiten Öffentlichkeit über das Problemfeld "Kriminalität" als nicht realitätsgerecht, weil sie vor allem von den Kriminalitätsdaten der Polizei geprägt seien, die mit der offiziellen Statistik ihre Handlungslegitimation selber produziere, stellen die vorhandene Kriminalität, die fast ausschließlich bagatellhaft sei, als in keiner Weise sicherheitsbedrohend hin und verneinen schließlich jegliche Verantwortung irgendwelcher Personen, die nur "zugeschrieben" werde, weil es nun einmal einem menschlichen Bedürfnis entspreche, für schwer zu erklärende oder zu beseitigende Phänomene Ursachen, womöglich Schuldige zu finden. In der Sache selbst wird die "Zentralfunktionsthese" eingeführt, wonach Mittelstädte mit den Funktionen einer Zentrale für das Umland eine höhere Kriminalität haben als Mittelstädte, die selber zum Einzugsbereich einer Stadt mit Zentralfunktionen gehören (woraus sich z. B. erklärt, daß in der Nachbarschaft von Hamburg liegende Städte wie Wedel, Reinbek, Geesthacht nicht eine erhöhte, von Hamburg übergreifende Kriminalität haben, sondern im Gegenteil durch Hamburg von Kriminalität entlastet werden. Im übrigen wird aber mehr das Anzeigeverhalten der Bevölkerung, auf dem allerdings die Kriminalstatistik fast ausschließlich beruht, gesehen und neben Versicherungseffekten, z. B. beim Fahrraddiebstahl, ein zunehmendes Bestreben registriert, Konftiktfälle, die früher intern erledigt wurden, mit Hilfe der Polizei zu lösen, insbesondere bei Körperverletzungen.

2. Stellungnahme zu dem Gutachten

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Auch die in Schleswig-Holstein erhöhte Jugendkriminalität 43 wird vor allem auf "Zuschreibungsprozesse" zurückgeführt. Hohe Anteile Nichterwachsener an der Kriminalität eines speziellen Delikts oder Ortes würden mit niedriger Aufklärungsquote einhergehen; wo die Aufklärungsquote hoch sei, falle der Anteil Nichterwachsener an der Gesamtzahl der ermittelten tatverdächtigen Personen sogleich zurück. Außerdem entsprächen die absoluten Zahlen keineswegs dem durch die relativ hohen Prozentzahlen vorgetäuschten Bild. Wo es sich aber um "echte" Kriminalitätshäufung handele, sei die Ursache wieder in "sozialen Mängellagen" zu sehen. Demgemäß werden die Ansatzpunkte für kriminalpolitische Gegenmaßnahmen - soweit diese bei der "gänzlich unbedenklichen" Situation überhaupt erforderlich erscheinen - vor allem in der Rücknahme möglicher Kriminalitätsprovokation durch polizeilichen (Schwerpunkt-) Einsatz, insbesondere gegenüber Randgruppenangehörigen (Jugendliche, Ausländer, Obdachlose, sozial Schwache), ferner in der Korrektur städteplanerischer und jugendpolitischer Fehlleistungen gesehen. Gerade in letzterer Hinsicht müßten erweiterte sozialpädagogische Anstrengungen unternommen werden, gefährdete Jugendliche an (bisher zu sehr mittelschichtorientierte) Jugendzentren heranzuführen und durch Streetwork und "mobile" Jugendarbeit zu gewinnen. Eine weitere Möglichkeit, die Kriminalität zu vermindern und die Kriminalstatistik zu entlasten, bestehe in der Entkriminalisierung von Bagatelldelikten, wie Laden- und Fahrraddiebstahl, die einen großen, sogar den größten Anteil an der registrierten Kriminalität hätten und vor allem von jüngeren Personen verübt würden. 2. Stellungnahme zu dem Gutachten

Das Gutachten ist, wie ich meine, in zweierlei Hinsicht unvollständig: es geht weder auf die Zentralfigur des Geschehens, den Menschen, noch auf die besonderen Verhältnisse in Schleswig-Holstein ein, die doch Ausgangspunkt der Fragestellung und mögliche Quelle einer allgemeinen Erkenntnis sind.

Mensch und "soziale Mängellagen" Was zunächst den Menschen als Zentral figur auch des Geschehens auf dem Gebiet der Kriminalität betrifft, so geht der bloße Hinweis auf Zuschreibungsprozesse und soziale Mängellagen an ihm und seiner 43 Der Anteil der Nichterwachsenen an der Gesamtzahl der ermittelten Tatverdächtigen betrug 1979 in S.-H. 38,5 % (1978 sogar 41,1 %, inzwischen durch den Geburtenrückgang - 1981 auf 37,7 Ofo gefallen), in Rheinland-Pfalz 34,8 G/o, in Bayern 32,3 %, in den meisten Mittelstädten S.-Hs. aber zwischen 40% und 50 G/o!

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II. Untersuchung der Mittelstädte

Veranwortungslast vorbei. Schließlich hat ihm bisher noch kein gesellschaftliches System auf der Welt Lebensbedingungen bieten können, unter denen er nicht in der Lage und auch versucht wäre, Straftaten zu begehen, d. h. den andern, den Mitmenschen zu verletzen, und es gibt auch keine Gesellschaft, die grundsätzlich von "Zuschreibung" absieht. Das wäre auch gar nicht möglich, weil solche Gesellschaft nicht funktionieren könnte. Fiele der einzig mögliche Veranwortungsträger für Tun oder Unterlassen fort, würde ein Chaos entstehen. Der einzelne Mensch hat die Verpflichtung - entsprechend seiner grundsätzlich vorhandenen Fähigkeit - mit widrigen Umständen fertig zu werden, ohne andere zu verletzen oder zu schädigen. Die Toleranz gegenüber äußeren Tatanreizen ist eines der Kennzeichen des geistbegabten Wesens Mensch, und nur die unvollständige dingweltliche Betrachtung, die alles so nimmt, wie es sich äußerlich und als fertiges Produkt ex post darstellt, kann daran vorbeigehen. Auch daß menschliches Verhalten wesentlich auf Interaktion aufbaut, ändert hieran nichts. Die Interaktion nimmt den interagierenden Personen nicht die Verantwortung für ihr Verhalten. Interagieren können immer nur Personen, und Personen bestimmen allein, ob und mit wem, in welcher Weise und mit welchem Ergebnis sie interagieren. Eine gesellschaftliche Einrichtung, die dem einzelnen die Verantwortung für die Form und die Ergebnisse des Interagierens abnimmt, gibt es ebensowenig wie eine Einrichtung, die Verantwortung für Tun oder Unterlassen ersetzt. Was heißt also "soziale Mängellagen"? Mängellagen sind entweder Grenzen der Zumutbarkeit oder Herausforderungen. Um Grenzen der Zumutbarkeit, die überschritten werden müßten, um einen andern nicht zu verletzen, handelt es sich bei Kriminalität nur in den (schon weitgehend vom Gesetz berücksichtigten) Ausnahmefällen, gerade in einer Gesellschaft, die dem Einzelnen die Sorge um seine Existenz fast vollständig abgenommen hat. Herausforderungen durch Mängellagen sind aber natürlich geblieben, und diese Herausforderungen sind ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Alltags; in allen Gesellschaften. Sie sind weder positiv noch negativ zu bewerten, sie sind einfach da, lassen sich nicht ausschließen und halten den Menschen gewissermaßen im geistigen und sozialen Training. Es scheint sogar so, als ob die Fähigkeiten des Menschen, Herausforderungen zu begegnen und Mängellagen zu beherrschen, mit dem Umfang der Herausforderung und der Größe der Mängellage wächst 44 • Was in diesem Zusammen44 Dafür gibt es zahlreiche Beispiele in der Kriminologie, z. B. das Verhalten von Menschen in Not u. Todesgefahr, der Flüchtlinge in der Nachkriegszeit, der Rentner, der Gastarbeiter (mindest~ns der ersten ~neration), also unterprivilegierter Gruppen, der Angehörigen ärmerer Völker, die womöglich ständig ums Überleben kämpfen müssen. Sie alle haben eine extrem geringe Verbrechensrate.

2. Stellungnahme zu dem Gutachten

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hang allenfalls eine Rolle spielen kann, ist die "provozierende" Situation. Hier ist einen Augenblick zu verweilen. Wie wir aus dem Gutachten ersehen, nehmen Laden- und Fahrraddiebstähle einen besonders breiten Raum in der Kriminalität (Schleswig-Holsteins und überhaupt Norddeutschlands, nicht so sehr in den süddeutschen Ländern)45 ein. Wenn jemand ein Fahrrad braucht und er hat keines und sieht eines ungesichert an der Straße stehen - ist er dann durch die Situation provoziert und darf er dieser Provokation nachgeben? Ähnlich liegt es beim Laden- bzw. Kaufhausdiebstahl. Verkürzte sozialwissenschaftliche Betrachtungsweise Bei unvollständiger Betrachtung ergibt sich einfach, daß der Mensch nach dem Gegenstand greift, weil er ihn nicht selber besitzt, aber gerne besitzen möchte, und daraus wird eine provozierende "soziale Mängellage" gemacht, wenn andere diesen Gegenstand besitzen. Daß diese Betrachtungsweise unvollständig ist, weiß jeder Mensch, auch der Täter selber. Aus ihr können auch keine richtigen kriminalpolitischen Folgerungen gezogen werden. Sie umfaßt nicht die ganze Realität. Eine umfassende Betrachtung hätte ergeben, daß der Täter wohl gewußt hat, daß er nicht allein auf der Welt lebt, daß es Gesetze gibt, die das zwischenmenschliche Verhältnis regeln, daß er selber Eigentum hat, das er nicht verletzt haben möchte, daß der Gegenstand, der ihm ins Auge sticht, einem andern gehört und daß er diesen andern im Falle der Wegnahme schädigen und damit das zwischenmenschliche Verhältnis verletzen würde. Und die Betrachtung hätte weiter ergeben, daß er alle diese ihm gegenwärtigen Tatsachen nicht genügend beachtet bzw. aus egoistischen Gründen bewußt übergangen hat. Ein Vergleich des Bewußtseins- und Besitzstandes von Täter und Opfer oder Täter und anderen Personen der Bevölkerung, der der sozialwissenschaftlichen Konstruktion einer provozierenden "Mängellage" zugrundeliegt, ist demgegenüber gar nicht möglich, weil zu einem solchen Vergleich - soll er einigermaßen gerecht ausfallen - Details gehören, die erst durch langwierige und umfassende Ermittlungen erfaßbar wären. Die sozialwissenschaftliche Betrachtungsweise des Verbrechens ist nicht falsch. Es gibt tatsächlich kausale Zusammenhänge zwischen bestimmten sozialen Situationen und Häufung von Verbrechen, z. B. in Läden und Kaufhäusern, auf der Straße, in Gasthäusern, Lokalen, Diskotheken, Badeanstalten, Parks pp. und Häufung von Verbrechen bei bestimmten Personengruppen (z. B. Männern oder Jugendlichen). 45 Vgl. auch "Kriminalitätsatlas der Bundesrepublik Deutschland und WestBerlins", Wiesbaden (BKA) 1972, S. 43, 105 - 107, 119.

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11. Untersuchung der Mittelstädte

Die sozial wissenschaftliche Betrachtung kann damit sogar gewisse kriminalpolitische Folgerungen nahelegen, z. B. Waren in Kaufhäusern und Fahrräder auf der Straße besser abzusichern, Häuser einbruchsicherer und Jugendlichen attraktivere Freizeitangebote zu machen. Aber diese Folgerungen müssen Stückwerk bleiben, weil die Betrachtung bei der Aufdeckung dieser rein dingweltlichen Zusammenhänge stehen bleibt, also unvollständig ist. Die daraus gezogenen Folgerungen können daher auch nie zu einem durchschlagenden Erfolg führen 46 • Ein solcher Erfolg wäre nur möglich, wenn die ganze seinswissenschaftlich erfaßbare Realität in die Betrachtung mit einbezogen würde, auch die wertweltlichen Bezüge, z. B. die Werterwägungen der handelnden Personen. Eine Folgerung aus der in diesem Sinne realitätsgerechten Betrachtung wäre z. B., daß neben der Verbesserung der äußeren Situation (Absicherung von Wertobjekten, Einrichtung von Jugendzentren pp.) auf die innere Einstellung potentieller Täter in der Weise einzuwirken wäre, daß die Verletzungsfolge stärker hervortritt und sich gegenüber dem Gedanken an den eigenen Vorteil durchsetzt. Dies würde zu umfassenderen kriminalpolitischen Maßnahmen führen, die Sozial-, Gemeinde- und Kulturpolitik nicht außer acht ließen. Nur so wäre ein die Mühen und Aufwendungen wissenschaftlicher Erforschung der Kriminalität sinnvoll machender Erfolg zu erzielen.

Mangelnde Berücksichtigung der besonderen Situation in Schleswig-Holstein Was den zweiten Punkt angeht, der im Gutachten nicht genügend berücksichtigt ist, nämlich die besondere Situation in Schleswig-Holstein, bzw. die Frage, ob sie für eine allgemeine Erkenntnis gut ist und wenn ja, worin sie besteht, so ist von substanzieller Bedeutung eigentlich nur die Zentralfunktionsthese. Weder die Bagatellhaftigkeit der meisten Delikte47 noch die Situation der Randgruppen ist ein Spezifikum Schleswig-Holsteins, noch weniger die angebliche Kriminalitätsprovokation durch die Polizei48 • Die Zentralfunktionsthese wird von den 4S Das wird gerade wieder bei dem von der Sozialwissenschaft entdeckten Zusammenhang zwischen Architektur und Kriminalität deutlich, vgl. Detlev Frehsee, Fördert der moderne Städtebau die Kriminalität?, in: H. Kury (Hrsg.), Ist Straffälligkeit vermeidbar? Möglichkeiten der Kriminalprävention, Bochum (Brockmeyer) 1982, S. 262 ff. 47 Der Anteil der Bagatelldelikte (Schaden unter 25,- DM bzw. unter 100,- DM) an der (registrierten) Gesamtkriminalität betrug 1979 in Schleswig-Holstein 49,8 ~/o (18,7 + 31,1) im Bundesdurchschnitt 50,0 Ofo (22,8 + 27,2). 48 Auch die Polizei selber erklärt das höhere Niveau der Gesamtkriminalität in diesem Lande damit, daß die Bevölkerung mehr anzeige als in anderen Bundesländern, weil der Weg zur Polizei kürzer sei. Abgesehen davon, daß dann der Anteil der Bagatelldelikte an der Gesamtkriminalität in S.-H. höher sein müßte als woanders (s. vorige Anmerkung), weil die angezeigten

2. Stellungnahme zu dem Gutachten

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Verfassern durch einen Vergleich mit der Situation in Rheinland-Pfalz untermauert, wo die Mittelstädte erheblich geringer belastet sind, weil sie nicht die gleichen Zentralfunktionen hätten wie in Schleswig-Holstein. Dieser Vergleich überzeugt nicht ganz, weil es in RheinlandPfalz aus diesem Gesichtspunkt ebenso viele Argumente für eine erhöhte Kriminalität gibt, z. B. das größere Umland (R. P. ist erheblich größer als S. H.). Man müßte, um hier zu tragenden Feststellungen zu gelangen, die sozialstrukturelle, historische und ethnologische Gesamtsituation beider Bundesländer miteinander vergleichen (was aber eine erheblich aufwendigere Forschung erfordern würde). Trotzdem hat die Zentralfunktionsthese einiges für sich, vor allem im Vergleich der Mittelstädte Schleswig-Holsteins miteinander. Hier ergibt sich nämlich tatsächlich, daß die Mittelstädte, die relativ hoch belastet sind, von Zentren höherer Ordnung weiter entfernt sind und daher eher ein eigenes Zentrum bilden als die geringer belasteten, so die Städte Heide, Husum, Rendsburg im Gegensatz z. B. zu Wedel, Reinbek, Geesthacht49 • Bei einem Vergleich der Mittelstädte Schleswig-Holsteins mit den Mittelstädten anderer Bundesländer muß dagegen noch berücksichtigt werden, daß in Schleswig-Holstein das Kriminalitätsniveau insgesamt höher ist als in andern Bundes-(flächen)ländern, auch auf dem flachen Land 50, so daß hier der "Verschiebungseffekt", von dem man bei großem Gefälle zu sprechen pflegt und der in gewisser Weise auch der Zentralfunktionsthese zugrundeliegt, sich schon im Ausgangspunkt anders darstellt. Dieses Spezifikum Schleswig-Holsteins wird noch dadurch unterstrichen, daß hier die Häufigkeitsziffer für die im Vorfeld der Mittelstadt liegende Kleinstadt (10000 - 20000 Einwohner) 1980 bereits bei 7034 lag und 1981 gar auf 8949, also auf fast 9000 kletterte (die HZ für Delikte aus dem verbliebenen Dunkelfeld geholt werden und sich im Dunkelfeld hauptsächlich Bagatelldelikte befinden, gilt nach unseren bisherigen Untersuchungen eher das Gesetz der Kongruenz als das der Reziprozität, d. h. wo das Hellfeld groß ist, ist auch die Gesamtkriminalität (unter Einschluß des Dunkelfeldes) groß und wo das Hellfeld (Tegistrierte Kriminalität) klein ist, ist auch die Gesamtkriminalität (Hell- u. Dunkelfeld zusammen) klein (vgl. Hellmer, Identitätstheorie u. Gemeindekriminalität, Archiv f. Kriminologie, Bd. 161 (1978), S. 1). 49 Allerdings gibt es auch hier Abweichungen: Elmshorn ist erheblich höher belastet als z. B. Itzehoe, obwohl es eher zum Einzugsbereich Hamburgs gehört als dies, ähnlich ist Eckernförde höher belastet als Schleswig, obwohl es näher am Oberzentrum Kiel liegt. Hier sind eben noch andere Faktoren (z. B. Garnison, Fabrikstadt o. ä.) maßgebend, die die Zentralfunktionsthese aber nicht entkräften. 50 In Schleswig-Holstein lag der Anteil der Kriminalität in Gemeinden unter 20000 Einwohner an det" (registrierten) Gesamtkriminalität in den letzten Jahren bei etwa 42 % (gegenüber 22,6 Ofo im Bundesdurchschnitt), was auch auf die Häufigkeitsziffer durchschlägt. 3 Hellmer

II. Untersuchung der Mittelstädte

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Tabelle 1

Häufigkeitsziffern nach der polizeilichen Kriminalstatistik für 1980

in den Wohnbereichen insgesamt

Schleswig-Holstein Rheinland-Pfalz Bundesdurchschnitt Bayern Baden-Württemberg

7243 5008 6198* 4500 5065

bis unter 20000 Einw.

20000 bis unter 100000 Einw.

100000 bis unter 500000 Einw.

5177 3508 3565 3175 3108

10449 7580 6469 6585 6142

9840 8074 8952 7238 9082

* einschI. Stadtstaaten! Mittelstädte dagegen "nur" von 10449 auf 11 304)51. Es ist also schon zweifelhaft, ob die Frage nach besonderen Ursachen der relativ hohen Mittelstadtkriminalität in Schleswig-Holstein richtig gestellt ist, ob man nicht erst einmal dem insgesamt höheren Kriminalitätsniveau in Schleswig-Holstein auf den Grund gehen müßte.

Insonderheit bei der Jugendkriminalität Unbeantwortet ist im Gutachten auch die wichtige Frage geblieben, warum gerade in Schleswig-Holstein der Anteil der Nichterwachsenen (Kinder, Jugendliche und Heranwachsende) an der Gesamtheit der ermittelten Tatverdächtigen höher liegt 52 • Mit Doppelzählungen und Zuschreibungsprozessen, die überall vorkommen, läßt sich das nicht erklären. Gewiß ist bei Betrachtung von Tätergruppen immer äußerste Vorsicht geboten, weil die sie betreffenden Zahlen von der von Region zu Region völlig unterschiedlichen Aufklärungsquote abhängen. Aber das gilt für die gesamte Bundesrepublik, ist also kein Spezifikum Schleswig-Holsteins. Entweder beteiligen sich in Schleswig-Holstein 51 Schon bei der Kleinstadt übersteigt in Schleswig-Holstein also der Anteil der Kriminalität (an der Kriminalität des Landes) den Anteil der Bevölkerung (an der Gesamtbevölkerung des Landes): 16,5 ~/o : 23 % (Polizeiliche Kriminalstatistik für Schleswig-Holstein, herausgegeben vom Innenminister des Landes Schleswig-Holstein). 52 Auffällig vor allem der Anteil der Kinder, der 1979 in S.-H. bei 10,0 lag; in Bayern dagegen bei 6,0; in Baden-Württemberg bei 4,8; in Hessen bei 4,6; in Rheinland-Pfalz bei 6,4; im Saarland bei 6,3 (in Niedersachsen als norddeutschem Land aber auch bei 9,7!).

3. Versuch der Gewinnung einer eigenen Beantwortungsbasis

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also tatsächlich mehr Kinder schon kriminell als anderswo oder die Jagd auf Kinder ist hier besonders ausgeprägt. Beides wäre einer Erklärung wert, natürlich weniger aus rein dingweltlicher Sicht, die wieder nur rein äußerliche Kausalitäten zutage fördern könnte, als aus umfassender seinswissenschaftlicher, also auch und gerade hier wertweltlicher Sicht. 3. Versuch der Gewinnung einer eigenen Beantwortungsbasis Entsprechend meiner Kritik am Gutachten sind zwei Gesichtspunkte zusätzlich zu berücksichtigen: personaler Bezug des verletzenden Verhaltens und besondere Situation (des zwischenmenschlichen Verhältnisses?) in Schleswig-Holstein.

Kriminalität als kulturelles Phänomen Kriminalität als gesellschaftliche Erscheinung ist ein kulturelles Phänomen, weil der Mensch hier gegen Gesetze verstößt, die er sich zur Aufrechterhaltung seiner Kulturordnung gegeben hat. Weder unter Sachen noch unter Tieren gibt es Kriminalität, weder physikalisch noch biologisch läßt sich Kriminalität erklären. Auch eine "Naturerscheinung" ist Kriminalität nicht, sie wird nur auf der Basis des Menschen als gesellschaftliches Wesen möglich, erkennbar und erklärbar. Deshalb sagt Hellmuth Mayer auch sehr richtig, für die Kriminalpolitiker handele "es sich vor allem um die Entstehung und geschichtliche Wandlung der Moralbegriffe und der moralischen Praxis, die Entstehung und den Inhalt einer Gruppenmoral innerhalb eines Volkes". Rückschlüsse aus den Handlungen eines Kriminellen auf seine Psyche seien erst dann möglich, wenn wir die soziologische Gruppe, der er angehöre, und deren moralische Verfassung kennen würden 53 •

Die Einzeltat als geistiges Phänomen Auch das einzelne Verbrechen ist Ausdruck einer geistigen Leistung54, eine Wertentscheidung, eine Entscheidung über zwischenmenschliche Werte, konkreter: über die Identität des verletzten Rechtsgutes. Wer das Rechtsgut eines andern verletzt, erkennt dessen Identität mit den S3 H. Mayer, Kriminalpolitik als Geisteswissenschaft, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 57 (1938), S. 1 ff. (S. 7). 5' Wie immer man "geistig" auch verstehen mag, als "unmateriellen überbau" oder als "besondere Aktivität des Menschen, der zur Führung seines Daseins das Mittel des beherrschten Ausdrucks schafft und in Sprache und Mythos, Theorie, Kunst und Religion eine Ordnung aufbaut, die der Bewältigung seiner Daseinsführung dient" (Ad. Portmann, a.a.O., S. 44).

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11. Untersuchung der Mittelstädte

eigenen Rechtsgütern nicht an. Das Verbrechen setzt insofern mangelndes Identitätsbewußtsein voraus, und dieser Mangel ist ein einzelmenschliches Phänomen, auch wenn ihm gesellschaftliche Entfremdungsprozesse zugrunde liegen55 • Freilich muß dieser Begriff des Verbrechens auf Verhaltensweisen beschränkt werden, die sich auf einen andern bzw. andere Menschen (einschI. der ihnen zugebilligten Güter) beziehen, nicht auf irgend welche Institutionen oder Behörden, die von Gesetzen künstlich opferfähig gemacht sind und vom Begriff des Verbrechens bzw. der Kriminalität profitieren, um dem Staat disziplinierende Wirkung zu ermöglichen. In unserm Zusammenhang spielt diese Problematik allerdings keine oder nur eine geringe Rolle, weil es bei unsern Straftaten hauptsächlich um Diebstahl, Betrug, Körperverletzung und Sachbeschädigung geht, also Individualdelikte, die zum größten Teil auch persongebunden sind und - selbst wenn wir damit nicht auf den umstrittenen Begriff des "natürlichen Verbrechens" abhebenin allen Gesellschaftssystemen der Welt begangen werden und unter Strafe stehen, so daß man auch nicht von einer Abhängigkeit von Ideologien oder Oberschichtstrategien sprechen kann.

Das Anwachsen der Kriminalität Auf der Basis dieses Verständnisses von Kriminalität und Verbrechen gewinnen zwei Tatsachen Bedeutung, die sofort ins Auge springen: das enorme Anwachsen krimineller Verhaltensweisen in den letzten dreißig Jahren und die "Flucht" in den Diebstahl. Kriminologen, die unter Hinweis auf die seit der Jahrhundertwende stagnierende Verurteiltenziffer jede Zunahme der Kriminalität bestreiten, übersehen die in den letzten Jahrzehnten völlig veränderte Strafverfolgungspraxis: während früher in einem Gesamtklima größerer "Rechtstreue" mehr Straftaten angezeigt und durch die überall präsente Polizei ermittelt wurden, hat sich das Dunkelfeld inzwischen erheblich ausgeweitet und werden heute selbst von den aufgeklärten Straftaten nur noch etwa 25 % weiter verfolgt 56 - eine eben durch die Zunahme der Straftaten erforderlich gewordene Praxis, die früher unbekannt war. Die enorme Zunahme der Kriminalität als epochaler Vorgang ist also nicht zu leugnen. Was aber ist hier geschehen? Warum haben sich die Dinge so gewandelt? Das muß man einmal fragen. Haben sich die Le55 Näher meine Schrift "Verdirbt die Gesellschaft", Zürich (Edition Interfrom) 1981. 58 Eine Gerichtsentscheidung ergeht nach bisherigen Erkenntnissen schon seit mehr als zehn Jahren nur noch in etwa 12 % der angezeigten Straftaten, vgl. E. Blankenburg / K. Sessar / W. Steffen, Die Staatsanwaltschaft im Pl'ozeß strafrechtlicher Sozialkontrolle, Berlin 1978, S. 2 ff., 303 ff.; zu diesem Problem auch G. Kaiser, Kriminologie, 5. Aufl., 1981, S. 99 ff.

3. Versuch der Gewinnung einer eigenen Beantwortungsbasis

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bensbedingungen des Menschen so verschlechtert, daß er in größerem Umfang kriminell werden muß, um sein Leben zu fristen, oder liegen hier geistige Vorgänge, Umwälzungen in der Einstellung des Menschen zugrunde? Die Frage stellen heißt, sie beantworten: die Lebensbedingungen, jedenfalls die materiellen, haben sich nicht verschlechtert, schon gar nicht in den letzten dreißig Jahren, eher ist das Gegenteil der Fall. Angesichts dieser Tatsache auf soziale oder gar wirtschaftliche "Mängellagen" rekurrieren, ist verfehlt, ja gefährlich, weil eine darauf aufgebaute Kriminalpolitik an den eigentlichen Gründen des Kriminalitätswachstums vorbeigehen würde. Diese können nur in einer Wandlung der geistigen Einstellung des Menschen liegen, und in der Tat hat sich, wenn wir Kriminalität als Störung im zwischenmenschlichen Verhältnis definieren, dieses Verhältnis in den letzten Jahrzehnten erheblich geändert, nämlich verschlechtert. Jeder, der die letzten dreißig oder gar fünfzig Jahre bewußt miterlebt hat, wird dies bestätigen. Die "Flucht" in den Diebstahl

Diese Vermutung verdichtet sich noch, wenn wir die andere auffällige Erscheinung betrachten: die "Flucht" in den Diebstahl. Diebstahl war, soweit er früher verfolgt wurde, ein Notdelikt. Denken wir nur an den Holzdiebstahl des vorigen Jahrhunderts 57 und an die Lebensmittel- und Brennstoffdiebstähle in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Der Zusammenhang zwischen Not und Kriminalität, insonderheit Diebstahl, war so evident, daß Untersuchungen über die Auswirkungen von Konjunktur und Krise auf die Kriminalität58 , speziell des Getreidepreises auf die Bewegung des Diebstahls angestellt wurden und zu positiven Ergebnissen kamens8 • Erst Beobachtungen des Verhaltens Arbeitsloser60 und der Verbrechensrate ärmerer Völker61 ließen Zweifel 57 Bei dem allerdings auch noch ein Stück Protest gegen ungerechte Macht-, Verteilungs- und Besitzverhältnisse mitschwingt, vgl. D. Blasius, Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität, Göttingen 1976, S. 23 ff. 5B Vgl. nur Br. Gleitze, Die KonjunktUlI'kriminalität, 1941. Näher R. Lange, a.a.O., S. 196 ff. 58 Näher hierzu Fr. Exner, Kriminologie, 3. Aufl., 1949, S. 73 ff. 60 Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld, Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal, 3. Aufl., Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1980, S. 62. Daß Arbeitslosigkeit auf die Statistik der Kriminalität keinen fördernden Einfluß hat, belegt die neuere Arbeit von U. Martens, Wirtschaftl. Krise, Arbeitslosigkeit u. Kriminalitätsbewegung, Wiesbaden (BKA) 1978. 61 z. B. Portugals, Spaniens, Griechenlands, der Türkei usw., die erheblich niedriger liegt (was auch in der Kriminalitätsrate der aus diesen Ländern stammenden Gastarbeiter, mindestens der ersten Generation, zum Ausdruck kam). Vgl. United Nations Report "Social and Economic Development" Nr. 3, 1966 u. Manuel Lopez-Rey, Crime - an analytical appraisal, London 1970, S. 185 ff.

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II. Untersuchung der Mittelstädte

an der Absolutheit dieses Zusammenhangs aufkommen. Als dann in den letzten dreißig Jahren die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung immer besser, ihre Diebstahlskriminalität aber immer größer wurde, erkannte man endlich, daß nicht Not allein das Begehren nach dem Gut des andern fördert, sondern daß es Diebstahl ebenso unter Bedingungen des Wohlstands gibt, ja daß sein Vorkommen hier sogar erheblich zunehmen kannG2 • Es änderte sich nur das Objekt: nicht mehr Gegenstände des notwendigen täglichen Bedarfs sind begehrt (Lebensmittel, Kleidung, Brennstoffe), sondern Luxusgegenstände (Autos, Elektrogeräte, Kosmetika, Kleidung) und Genußmittel (Alkoholika und andere Rauschmittel, Schokolade, Zigaretten). Der Diebstahl läßt sich daher nicht mehr nur als Notdelikt definieren, auch der Kaufhaus- und Ladendiebstahl nicht mehr (was allerdings mitunter noch versucht wird)tl3. Diebstahl und "Anonymität"

Dafür tritt eine andere Besonderheit des Diebstahls hervor: er wird durch die Unpersönlichkeit bzw. Anonymität des Opfers (bzw. des Täters, was mitunter dasselbe ist) begünstigt (Wegnahme auf der Straße stehender Autos, Mopeds, Fahrräder, Aneignung von Waren im Kaufhaus oder Selbstbedienungsladen) und kommt kriminalgeographisch vor allem dort vor, wo der soziale Zusammenhang der Bevölkerung besonders gering ist, also in der Stadt (im Gegensatz zum Land) und in Gegenden mit großer Bevölkerungsfluktuation (Durchgangsverkehrsund Feriengebiete, Hafengegenden, Industriebezirke mit starkem Zuzug)64. Daran lassen sich einige wichtige Aussagen knüpfen. Zunächst, daß das Motiv des Diebstahls heute eher im Bedürfnis an noch mehr Bequemlichkeit, Ausstattung, Sozialprestige, als im "überleben wollen" liegt. Dieser Umstand, mit dem gegenwärtig fast jede Gesellschaft zu kämpfen hatii5 , soll und muß klar gesehen werden. Ferner, daß beim Täter durchaus eine Angst vor Entdeckung vorhanden ist, Angst, dem Opfer persönlich zu begegnen, von ihm zur Rede gestellt, als Dieb gebrandmarkt zu werden, daß also das Unrechtsbewußtsein keineswegs 82 Manuel Lopez-Rey, a.a.O., u. H. Mannheim, Vergleichende Kriminologie, Bd. 2, Stuttgart 1974, S. 688 ff. 83 Vgl. J. Wagner, Ladendiebstahl Wohlstands- oder Notkriminalität?, Heidelberg 1979 (Kriminologische Schrütenreihe, Bd. 70). 64 Vgl. Kriminalitätsatlas der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins, Wiesbaden (BKA) 1972, S. 46, 72, 119 ff. 65 Auch die sozialistische. Nach der Kriminalstatistik für 1980 entfallen von insgesamt 129270 registrierten Straftaten allein 54657 auf Diebstahl (Statistisches Jahrbuch 1981 der DDR, Berlin 1981, S. 379 - 381).

3. Versuch der Gewinnung einer eigenen Beantwortungsbasis

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geschwunden ist, nur überspielt wird durch die nicht mehr unbegründete Hoffnung, unerkannt zu bleiben. Zum Motiv des Diebstahls tritt damit eine wichtige Bedingung, ohne die er nicht begangen wird, die Hemmungen und Rücksichten abbauende, den Menschen verstärkt auf seine subjektiven Bedürfnisse zurückwerfende Fremdheit des Opfers. Die Bereitschaft zum Diebstahl wächst mit dem Grad der Entfernung und Unpersönlichkeit zwischen Täter und Opfer, und der Diebstahl nimmt als Massendelikt mit der Verbreitung der "unpersönlichen Verhältnisse" zu. Kriminalpolitische Folgerung

Aus der Abhängigkeit des Diebstahls vom Grad der Unpersönlichkeit des Verhältnisses zwischen Täter und Opfer lassen sich wichtige kriminalpolitische Folgerungen ableiten: es genügt nicht, daß Fahrräder und Autos besser abgesichert und Waren besser bewacht werden, was die Polizei fordert66 ; es genügt auch nicht, dem Bedürfnis an begehrten Waren durch größeres Gewährenlassen oder Abbau von "Mängellagen" entgegenzukommen, was die sozialwissenschaftliche Betrachtung nahelegen könnte; es genügt schließlich auch nicht, potentielle Täter durch verschärfte Strafdrohung abzuschrecken oder kleinere Delikte zu entkriminalisieren; sondern es muß etwas getan werden, der weiteren "blinden" Akkumulation und Institutionalisierung von Eigentum und Vermögen und dem weiteren gesellschaftlichen Entfremdungsprozeß zu begegnen, die menschlichen Verhältnisse wieder mehr zu personalisieren, die starren Behörden-, Eigentums- und Besitzstrukturen aufzulösen und wieder durchsichtiger, überschaubarer zu machen67 • Es müssen dringend Anstrengungen unternommen werden, Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sich die Menschen wieder mehr treffen, miteinander sprechen, vom andern mehr erfahren, dessen Sorgen kennenlernen, daß der andere wieder mehr zum Mitmenschen wird, daß erkannt wird, daß er die gleiche (gesellschaftliche, individuelle, rechtliche) Position B6 Polizeiliches "Vorbeugungsprogramm" im Fernsehen und in der Presse, das sehr nützlich ist, aber eben nicht von durchschlagender Bedeutung sein kann. 67 Was die "hoheitliche" Verwaltung angeht, habe ich einige Worte schon in meinem Buch "Verdirbt die Gesellschaft", Zürich (Edition Interfrom) 1981, S. 53, 100 ff., gesagt und werden immer wieder Entkrampfungsversuche von Politikern gemacht, die aber bald im Sande verlaufen. Was das von der Wirtschaft repräsentierte Eigentum und Vermögen angeht, so treten die freiheitlichen Bestrebungen demokratischer Strukturierung der Gesellschaft entgegenlaufenden - Konzentrationen immer stärker hervor (auch schon durch die zunehmende Umwandlung von Personalgesellschaften in juristische Personen), obwohl man gerade heute in der Wirtschafts flaute sehen kann, daß die Undurchsichtigkeit von Unternehmen einer der hauptsächlichen Faktoren von Pleiten ist.

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11. Untersuchung der Mittelstädte

hat wie man selber, daß Verhältnisse, Situationen, Gelegenheiten, Bedingungen begünstigt werden, durch die sich "Identitätsbewußtsein" bildet. Der Bürger hat - ohne Hilfe von Wissenschaft und Politik, z. T. sogar gegen den Widerstand der letzteren - bereits einen Anfang gemacht, die desolaten Verhältnisse wieder zu sanieren, neue Vergesellungsformen zu finden, "Gemeinschaftserlebnisse" zu haben, starre institutionelle Grenzen und Verkrustungen zu durchbrechen, sich durch anonyme Besitzverhältnisse nicht mehr ohne weiteres von vernünftigen Lösungen sozialer und wirtschaftlicher Probleme abhalten zu lassen, wieder mehr zusammenzurücken. Stadtteilfeste, Straßengemeinschaften, Abenteuerreisen, Bürgerinitiativen, Kontaktkunstßs , W ohngemeinschaften, selbst Hausbesetzungen zeigen, daß ein funktionaler Personalisierungsprozeß bereits im Gange ist, der zwar manche rechtlichen Probleme aufwirft, aber die schwer verständliche sozialwissenschaftliche Diskussion um Möglichkeiten erzieherischen Einwirkens auf den Menschen in heutiger Zeitß9 bereits überholt haFo. Spezifika in Schleswig-Holstein

Nun zu den Spezifika Schleswig-Holsteins. Hier sogleich vom socialre action-Ansatz auszugehen und die höhere Kriminalität mit Eigenheiten der strafrechtlichen Verfolgungspraxis zu erklären, wie es sowohl die Polizei Schleswig-Holsteins11 als auch das Gutachten tut, führt, wie bereits gesagt, in die Irre; in ihnen liegen keine nachweisbaren Beson68 Zu letzterem vgl. o. AZmstadt, M. Barmann, H.- W. KaZkmann, KontaktKunst, 10 Jahre Aktionen der Hildesheimer Bildhauergruppe, Hannover (Postskriptum Verlag) 1980. 69 Vgl. z. B. N. Luhmann, K. E. Scharr, Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik, in: Luhmann / Scharr (Hrsg.), "Zwischen Technologie und Selbstreferenz, Fragen an die Pädagogik", Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1982, S. 11 ff. 70 Vor allem bei der "Hausbesetzung" ist der Aspekt des in dem Protest gegen die "Kahlschlags- und Erneuerungsideologie" liegenden Bestrebens, vorhandene Sozialstruktur zu erhalten, damit der Vertrautheitsgrad der behausenden Umwelt nicht ganz verlorengeht, bisher durch einseitige Betonung der juristischen und wirtschaftlichen Aspekte praktisch übersehen worden. Die "Hausbesetzung" trifft nicht ganz zufällig mit dem "Vergnügen an historischen Gegenständen" des Menschen von heute zusammen (vgl. u. a. Hermann Lübbe, Der Fortschritt und das Museum, über den Grund unseres Vergnügens an historischen Gegenständen, London, Institute of Germanic studies, 1982 u. ders., zwischen Trend und Tradition, Zürich 1981; ferner Benedikt Huber, Irrationale Faktoren in der Stadtplanung, Neue Zürcher Zeitung, 11. August 1974 [Nr. 368], S. 29), sondern fügt sich mit ihm zu einer Gesamttendenz der Abneigung gegen einen "änderungstempobedingten kulturellen Vertrautheitsschwund" (H. Lübbe, Der Fortschritt usw., S. 18). Daran ändert nichts, daß auch bloße "Krawallmacher" an Hausbesetzungen beteiligt sind. 71 Mit ihrer These vom "kleineren Dunkelfeld" infolge größerer Anzeigetätigkeit der Bevölkerung wegen intensiveren Kontaktes mit der Polizei.

3. Versuch der Gewinnung einer eigenen Beantwortungsbasis

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derheiten Schleswig-Holsteins. Auch ethnologische Faktoren dürften als Erklärung für die höhere Kriminalität ausscheiden. Man könnte einen Augenblick meinen, die angesichts ihrer (ländlichen) Sozialstruktur auffällig hohe Belastung gerade der Westküstenkreise Schleswig-Holsteins beruhe vielleicht auf einem labileren Verhältnis der dort ansässigen (nordfriesischen und dithmarscher) Bevölkerung zum Gesetz, das historisch bedingt ist ("Seeräubermentalität": Anlocken und Ausrauben fremder Schiffe, wie es durch Jahrhunderte praktiziert worden ist). Aber es werden sich schwerlich Belege finden lassen, daß sich dergleichen bis heute auswirkt7 2 • Anders verhält es sich mit substantiellen Erklärungsversuchen, z. B. der "Ferienkriminalitätsthese": durch den enormen Ferienverkehr (Schleswig-Holstein ist das einzige Land der Bundesrepublik, in dem sich - selbst auf das ganze Jahr umgerechnet - ständig mehr Menschen aufhalten als nach der Statistik Einwohner vorhanden sind) tritt gewiß eine zusätzliche Entfremdungs-Wirkung ein. Wir haben diese These in jahrelangen empirischen Untersuchungen auf ihre Richtigkeit überprüft und sind zu dem Ergebnis gelangt, daß der Ferienverkehr zwar eine strukturelle Belastung der Gemeinden bedeutet, daß er aber allein das volle Ausmaß der erhöhten Kriminalität Schleswig-Holsteins nicht erklären kann73 •

Integrations- und Identitätsthese Immerhin ist mit der Ferienverkehrsthese der entscheidende Punkt, nämlich der gesellschaftliche Entfremdungsprozeß, angesprochen. Es ist nämlich die grundsätzliche Frage, ob die regionalen Unterschiede in der Kriminalität andere Ursachen haben als die epochalen, d. h. ob die Erklärung für die erhöhte Kriminalität z. B. Schleswig-Holsteins woanders liegt als für die Zunahme der Kriminalität in den letzten dreißig Jahren überhaupt. Diese Frage glauben wir nach allem, was wir festgestellt haben, verneinen zu können. Wie das Maß der Kriminalität grundsätzlich vom Grad des Entfremdungsprozesses abhängt, so hängen auch die epochalen und regionalen Schwankungen der Kriminalität, insbesondere der Diebstahlskriminalität, vom Grad der an diesem Ort bzw. in dieser Zeit obherrschenden Entfremdung ab. Somit sprechen die auffällig hohen Diebstahlszahlen in Norddeutschland, speziell in 72 Einzelfälle betrügerischer Machenschaften ganzer Gemeinden, wie Angabe von Sturmflutschäden, die gar nicht entstanden sind (Hörnum auf Sylt, 1981), dürften überall vorkommen, auch in andern Bundesländern. 73 Vgl. Uwe Behder, Die Saison-(Urlaubs-)Kriminalität in Schleswig-Holstein 1972/73, in: "Forschungsreihe Kriminalwissenschaften", herausgegeben von Friedrich Geerds, Wiesbaden 1979; Detlev Frehsee, Kriminalität in einem fremdenverkehrsintensiven Nordseebad, in: Hellmer u. a. (Hrsg.), Beiträge zur Kriminalgeographie, Berlin (Duncker & Humblot) 1981, S. 81; J,. Hellmer, Der Einfluß des Fremdenverkehrs auf die Kriminalität, ebenda, S. 64.

H. Untersuchung der Mittelstädte

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Schleswig-Holstein dafür, daß hier ein erhöhter Grad von Desintegration der Bevölkerung oder - wie wir sagen - mangelnden Identitätsbewußtseins vorhanden ist. Diese Deutung wird dadurch bestätigt, daß in Schleswig-Holstein - ähnlich wie im ebenfalls rein norddeutschen Bundesland Niedersachsen - der Anteil Nichterwachsener an der Zahl der Tatverdächtigen relativ groß ist, wie wir schon sahen74 • Beide Erscheinungen - hoher Anteil des Diebstahls an der Gesamtkriminalität und hoher Anteil Nichterwachsener an der Zahl der Tatverdächtigen stehen offensichtlich in Zusammenhang miteinander; denn der Anteil des Diebstahls an der Gesamtkriminalität einer Altersgruppe ist um so größer, je jünger die Altersgruppe ist7 5, ohne daß entschieden zu werden braucht, welche der beiden Erscheinungen primär und welche abgeleitet ist. Die entscheidende Stütze der "Identitäts-" bzw. "Desintegrationsthese" liegt darüber hinaus in den Ergebnissen unserer Gemeindeuntersuchungen: Gemeinden mit geringer Kriminalität sind solche, in denen der Grad des Identitätsbewußtseins ihrer Mitglieder relativ hoch ist; Gemeinden mit großer Kriminalität solche, in denen er gering ist (etwa weil Städter mit anderer "Kultur" in sie "eingebrochen" sind oder aus sonstigen Gründen Gruppenspannungen bestehen: "Junge" und "Alte", Fremde, womöglich Ausländer, und Einheimische, Besitzende und Sozialschwache o. ä.)16. An dieser Deutung ändert sich selbst dadurch nichts, daß man nur von den Anzeigen ausgehen kann, die erstattet worden sind (weil die Kriminalitätszahlen ja auf ihnen beruhen): da die Anzeige ebenfalls in gewissem Grad mangelndes Identitätsbewußtsein voraussetzt, jedenfalls wenn - wie in der Regel - Täter ein Gemeindeangehöriger ist, sind Gemeinden mit hoher (registrierter) Kriminalität zugleich Gemeinden mit relativ hoher Anzeigebereitschaft (weil geringem Identitätsbewußtsein) und Gemeinden mit geringer (registrierter) Kriminalität Gemeinden mit geringer Anzeigebereitschaft (weil hohem Identitätsbewußtsein)17. Von dieser Basis aus muß u. Er. auch die erhöhte Mittelstadtkriminalität Schleswig-Holsteins gesehen werden. Damit tritt auch hier die "Integrationsthese" in den Vordergrund: die Bevölkerung der Schleswig-Holsteinischen Mittelstädte weist einen Desintegrationsgrad auf, der dem der Großstadtbevölkerung in anderen Bundesländern entspricht, wenn man - wie wir das tun Umfang der Kriminalität bzw. Grad der Anzeigebereitschaft und Anteil s. Anm. 43 und 52. Zahlen in meiner "Jugendkriminalität", 4. Auf!., 1978, S. 19/20. 76 Näher meine Abhandlung "Identitätstheorie und Gemeindekriminalität", Arch Krim 161 (1978), S. 1. 77 Näher HeHmer, Kriminalität und Anzeigeverhalten aus der Sicht der Identitätstheorie, in: "Der Kriminalist" 1981, S. 492. H

75

3. Versuch der Gewinnung einer eigenen Beantwortungsbasis

43

des Diebstahls an der Gesamtkriminalität als Indikatoren für diesen Desintegrationsgrad ansieht. Hier ist insbesondere ein Vergleich mit den Mittelstädten der süddeutschen Bundesländer aufschlußreich, die durchweg geringer belastet sind. Zwischen Nord- und Süddeutschland müssen also in diesem Wohnbereich und in den unteren Wohnbereichen überhaupt erhebliche sozialstrukturelle Unterschiede vorhanden sein. Diese Erklärung steht überdies nicht im Gegensatz zur Zentralfunktionsthese; denn Zentralfunktion einer Stadt heißt ja erhöhte Fluktuation und größere Anonymität, also geringeres Identitätsbewußtsein mit dem andern. Zentralfunktionsthese und Integrationsthese liegen daher in der. gleichen Richtung, sie weisen beide letzten Endes auf die Bedeutung von Störungsfaktoren im zwischenmenschlichen Verhältnis hin.

Einmündung ins ethische Problem Damit ist die erhöhte Mittelstadtkriminalität Schleswig-Holsteins einer Ethik des zwischenmenschlichen Verhältnisses nicht nur zugänglich, sondern ohne sie gar nicht verständlich. Wie eine kriminologische Aussage über die Entstehung von Verbrechen ohne Berücksichtigung der Wertwelt, in der der Mensch und die ihn prägende Gesellschaft leben, nicht möglich ist, so muß diese (objektive und subjektive) Wertwelt (einschließlich ihrer Geltungsprobleme) auch bei Beantwortung der Frage nach den bestimmenden Faktoren einer (epochal oder regional) erhöhten Kriminalität (als gesellschaftliche Erscheinung) und erhöhter krimineller Bereitschaft des Einzelnen berücksichtigt werden. Vermehrte Kriminalität und erhöhte Bereitschaft des Einzelnen, den andern zu verletzen, weisen auf einen erhöhten Gestörtheitsgrad im zwischenmenschlichen Verhältnis und auf einen verstärkten Einbruch in die Wertwelt des zwischenmenschlichen Verhaltens hin. Dieser Folgerung kann man nicht durch Beschränkung der Betrachtung auf rein verfolgungspolitische oder dingweltliche Bezüge, wie Präsenz der Polizei oder soziale Mängellagen, ausweichen, ohne die Betrachtung in ihrer Vollständigkeit und damit ihrem Realitätsgehalt zu beeinträchtigen.

III. Kriminalität und ethischer Fortschritt 1. Eignung der untersuchten Klein-Kriminalität für eine ethische Aussage überhaupt

Die technologische Frage Der Fortschrittsgedanke beherrscht heute weitgehend die gesellschaftliche, politische und zum großen Teil auch wissenschaftliche Diskussion. Wenn wir die Situation der Ethik beschreiben und normative und "technologische" Aussagen machen wollen, kommen wir an ihm nicht vorbei. Alle unsere Aussagen erhalten eigentlich ihren Sinn erst durch die "technologische" Frage: was folgt aus unseren Feststellungen? Wie wird es weitergehen? Wie sieht die Zukunft aus? Was können wir tun, um sie nicht aus dem Blick zu verlieren? Ist ein ethischer Fortschritt, wenigstens eine Bewegung in ethischen Dingen möglich? Inwiefern und wie weit? Zweifelhaft ist zunächst, ob die von uns beschriebene Klein-Kriminalität in ihrer Alltäglichkeit überhaupt geeignet ist, die ethische Frage aufzuwerfen. Wie das Gutachten zeigt, besteht sie zum größten Teil aus Diebstahl, Körperverletzung und Sachbeschädigung. Ich fasse noch einmal die wichtigsten Zahlen zusammen, wie sie sich aus den neuesten Kriminalstatistiken ergeben 78 • Die Zahlen zeigen zunächst die absolut beherrschende Stellung des Diebstahls. Es folgen in weitem Abstand Sachbeschädigung und Körperverletzung79 • Von den Diebstählen in Schleswig-Holstein entfallen allein rund 27000 auf Fahrraddiebstahl und knapp 14000 auf Ladendiebstahl. Dieses Phänomen ist für ganz Norddeutschland typisch. 78 Polizeiliche Kriminalstatistik 1981, herausgegeben vom Innenminister des Landes Schleswig-Holstein, Kriminal-Polizeiamt. Die entsprechenden Zahlen für Bayern wurden hinzugesetzt, um zu zeigen, welche Unterschiede zu einem süddeutschen Land bestehen. Bayern hat ungefähr eine über viermal so große Bevölkerung (2,5 Millionen zu 10 Millionen). a Die Zahlen für einfache (nicht schwere und nicht gefährliche) Körperverletzung, die dieses Delikt insgesamt zum häufigsten nach Diebstahl u. Sachbeschädigung machen, sind hier wegen Registrierungsmängeln weggelassen. Auch Straßenverkehrsdelikte fehlen. Sie sind bekanntlich seit über 20 Jahren nicht mehr in der Kriminalstatistik enthalten. Dabei würde auch und gerade ihre enorme Zunahme zeigen, wie der Mensch von heute mit seinem Mitmenschen umgeht.

1. Klein-Kriminalität und ethische Aussage

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Tabelle 2 Ausgewählte Straftaten nadl polizeilicher Kriminalstatistik 1981 in Schieswig-Hoistein und Bayern

Bayern

Schleswig-Holstein

Diebstahl insgesamt Betrug Gefährl. und schwere Körperletzung Sachbeschädigung Raub, räuberische Erpressung Vergewaltigung Sexueller Mißbrauch von Kindern

erfaßte Fälle

Häufigkeitszüfer

erfaßte Fälle

Häufigkeitszüfer

143036 10729

5468 410,2

277057 39341

2532 359,6

3158 19366

120,7 740,4

9980 48189

91,2 440,5

1152 320

44,0 12,2

2912 800

26,6 7,3

581

22,2

1492

13,6

Freigabe des Diebstahls? Man überlegt daher seit geraumer Zeit, wie man den Diebstahl, insbesondere den Bagatelldiebstahl, "entkriminalisieren" kann80 • Wenn man von der Art der Sanktionierung ausgeht, die heute stattfindet, ist dieses Bestreben durchaus verständlich. Es ist wenig sinnvoll, das Strafrecht mit seinem schwerfälligen Verfahrensgang und dem Gewicht von Freiheits- oder Geldstrafe in so massenhaftem Umfang anzuwenden. Geht man aber von der Handlung aus, der unberechtigten Wegnahme, erscheint eine "Entkriminalisierung" im heutigen Sinne bedenklich; denn der Diebstahl ist, wie wir gesehen haben, der Prototyp einer selbstbezogenen, das zwischenmenschliche Verhältnis verletzenden Handlungsweise, und wenn man sie freigibt, erklärt man dieses zugleich für nicht mehr relevant. Dabei kommt es weniger darauf an, ob es sich bei dem Objekt der Wegnahme um einen geringer- oder höherwertigen Gegenstand handelt - wer seinem Freund ein unter Opfern erworbenes Fahrrad stiehlt, verletzt das zwischenmenschliche Verhältnis ebenso wie jemand, der in eine Kirche einbricht und eine wertvolle Madonna entwendet - als auf die Handlungsweise selber und gewisse 80

Vgl. Alternativ-Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl, 1974 u.

W. Naucke, Empfiehlt es sich, in bestimmten Bereichen der kleinen Eigen-

tums- und Vermögenskriminalität, insbes. des Ladendiebstahls, die strafrechtlichen Sanktionen durch andere, z. B. zivilrechtliche Sanktionen abzulösen, gegebenenfalls durch welche? Gutachten D zum 51. Deutschen Juristentag, München 1976.

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II!. Kriminalität und ethischer Fortschritt

begleitende Umstände, wie Ausnutzung von Vertrauen, Rücksichtslosigkeit bei der Durchführung, Störung des Gemeindefriedens, Mißachtung von Bedürfnissen auf der Opferseite pp. Die kriminalpolitische Forderung, sog. "Bagatelldiebstähle" zu entkriminalisieren, sollte sich daher eher auf die Form der Sanktionierung beziehen81 , nicht auf die Handlung an sich, und sie sollte auf der Basis, daß jeder Diebstahl eine Verletzung des zwischenmenschlichen Verhältnisses ist, sich verstärkt darum bemühen, dieses Verhältnis unter den - sehr schwierigen - Bedingungen der Massengesellschaft zu retten, es wieder durchsichtiger, persönlicher, enger zu gestalten, damit Situationen selber Ansätze zur Wachrufung von Identitätsbewußtsein besitzen und eine erhöhte Hemmschwelle entsteht. Nur so wäre man auf dem Wege zu einem "echten" kriminalpolitischen Erfolg, nämlich der Verringerung von massenhaften und damit ethisch neutralisierten Verletzungen des zwischenmenschlichen Verhältnisses (und nicht zum "unechten" Erfolg der Verdrängung solcher Verletzungen aus dem gesellschaftlichen Tabubereich, mit der sicheren Folge der weiteren Zunahme solcher Verletzungshandlungen und der gefährlichen weiteren Neutralisierung des zwischenmenschlichen Verhältnisses). Wenn Diebstähle sich dort massieren, wo das zwischenmenschliche Verhältnis so unpersönlich geworden ist, daß es praktisch nicht mehr in Erscheinung tritt (Kaufhaus- und Selbstbedienungsladendiebstahl), dann liegt die Rettung nicht in einem Hinwegsehen und weiterem Absenken der Hemmschwelle, sondern in der Beseitigung der Bedingungen, die für die massenhafte Verletzung des zwischenmenschlichen Verhältnisses entscheidend sind. In unserer täglichen Lebenswirklichkeit und in der sie lediglich beobachtenden Sozialwissenschaft tritt das zwischenmenschliche Verhältnis immer mehr zurück 82, worauf schon hingewiesen wurde. Nord-Süd-Gefälle

Was wir eigentlich belegen wollen: der Diebstahl, auch von - objektiv gesehen - geringwertigen Gegenständen, ist durchaus geeignet, eine ethische Aussage zu machen, einmal durch sein Geschehen an sich, 81 z. B. Festleglmg einer Wiedergutmachungsverpflichtung (statt reiner Repression); vgl. Detlev Frehsee, Für weniger Strafrecht - und ein Hinweis auf Alternativen, der Kriminalist 1982, S. 313 ff. (mit weiteren Hinweisen auf die internationale Literatur); W,. Naucke, a.a.O., S. u. K. F. Rähl, Alternativen zur Justiz?, DRiZ 1979, S. 33 u. J. Hellmer, Identitätsbewußtsein und Wiedergutmachungsgedanke, JZ 1979, S. 41. 82 Was Auswirkungen nicht bloß im Bereich der Kriminologie hat: Wer heute einen Diebstahl begeht, verletzt meist einen abstrakten Eigentumsträger. Wer heute eine Waffe gebraucht, trifft eine abstrakte Zahl von mehr oder weniger unpersönlich bleibenden Opfern, so daß die Entwicklung von Identitätsbewußtsein schon von der Situation her schwierig ist.

1. Klein-Kriminalität und ethische Aussage

47

ferner aber auch durch seine Häufung zu einer bestimmten Zeit oder in einer bestimmten Region, z. B. Norddeutschland83 , speziell SchleswigHolstein. Ein Vergleich der Zahlen in Schleswig-Holstein mit Bayern zeigt, daß der Diebstahl in Schleswig-Holstein, auf die Bevölkerung umgerechnet, mehr als doppelt so häufig ist (was sich nicht mit Unterschieden in der Anzeige- und Verfolgungspraxis erklären läßt; letztere ist in Süddeutschland im Gegenteil strenger, wie sich aus dem Verhältnis zwischen Häufigkeitsziffer und Verurteiltenziffer ergibt)S4. Bei der Körperverletzung ist die Höherbelastung Schleswig-Holsteins nicht ganz so groß, aber noch immer deutlich, obwohl dieses Delikt - mehr als der Diebstahl - von ethnologischen Eigenheiten und Gebräuchen abhängt (Raufsitten!)85. Auf der Basis der gleichen historischen Situation - weitgehende Entpersönlichung des Verhältnisses zwischen Täter und Opfer - zeigt die stark unterschiedliche Häufigkeit des Diebstahls je nach Region, daß die Sozialstruktur der Bevölkerung (im Sinne von gesellschaftlicher Integration des Einzelnen) nicht überall gleich intakt ist. Vor allem zwischen Nord- und Süddeutschland bestehen starke Unterschiede. In Süddeutschland scheint das Integrationsniveau erheblich höher zu sein als in Norddeutschland (was nicht bloß in der geringeren Belastung mit Diebstahl, sondern auch bei den meisten andern Delikten zum Ausdruck kommt). Bei der Frage nach den bestimmenden Faktoren hierfür wäre es irrig, gleich auf äußere, rein ding weltliche Erscheinungen auszuweichen, wie Bruttosozialprodukt, Bevölkerungsdichte, Ferienverkehr, Industriebesatz u. ä. Einmal erklären diese Erscheinungen die Diebstahlsverteilung zwischen Norden und Süden Deutschlands schon deshalb nicht, weil es sie sowohl im Norden wie im Süden gibt. Darüber hinaus ist z. B. das Vorkommen begehrenswerter, nicht genügend gesicherter Objekte - ein in der Kriminologie beliebter Bezugspunkt ("Gelegenheitsstruktur") - ebenfalls kein regionales Charakteristikum. Die Erklärung für die Unterschiede kann letztlich nur in der "Einstellung" des Menschen gefunden werden, im Ausmaß seines mitmenschlichen Identitätsbewußtseins, das - wie sich auch in andern Bereichen (z. B. Siedlungsstruktur) zeigt - in Süddeutschland offenbar anders ist als in Norddeutschland. Der süddeutsche Mensch scheint - trotz der 83 Man kann ähnliche Beobachtungen auch in anderen Ländern machen, z. B. Italien, Frankreich, den USA; vgl. Kriminalitätsatlas der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlins, Wiesbaden (BKA) 1972, S. 15 ff. (mit weiteren Hinweisen). 84 Näher dazu Kriminalitätsatlas (vorige Anm.), S. 84. 85 Darauf ist auch zurückzuführen, daß Bayern bei der Körperverletzung im Verhältnis zu Sch1eswig-Holstein ungünstiger dasteht als bei der Gesamtkriminalität (1981: 517 000 zu 213000).

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III. Kriminalität und ethischer Fortschritt

allgemeinen Bevölkerungsvermischung nach dem zweiten Weltkrieg auch heute noch mehr in historischen, kulturellen, stammespsychologisch bedingten Verflechtungen zu leben, ihm scheint es weniger auf Freiheit und Emanzipation (wie man diese auch immer verstehen mag) als auf Gemeinschaft mit dem "anderen", auf Solidarität anzukommen, auch wenn sie erhöhte Bindung bedeutet; der nördliche Mensch scheint dagegen mehr nach Selbstverwirklichung, individuellem Wohlstand und Unabhängigkeit (auch vom "andern"), zu streben, er kommt sich "aufgeklärter" vor und findet schwerer zum Nächsten, weil der Nächste für ihn keine so wichtige Rolle spielt86 • Weiteres wäre Sache der Stammespsychologie. Uns lag nur daran, Diebstahls-, d. h. Verletzungsbereitschaft auf individuelle (dabei weitgehend gesellschaftlich geprägte) Einstellung zurückzuführen. Kennzeichnendes Merkmal dieser Einstellung ist das Maß des Identitätsbewußtseins. Identitätsbewußtsein ist der begründende Tatbestand, auf dem auch die Formel "Rechtsbewußtsein" beruht. Rechtsbewußtsein an sich ist nichts, weil "Recht" ein ausfüllungsbedürftiger Blankettbegriff ist und Rechtsbewußtsein ohne Grund, ohne tragfähige Basis nicht existieren kann. Identitätsbewußtsein kann Ausfüllung und Basis zugleich sein: Ausfüllung, indem es die leitende inhaltliche Komponente darstellt (Bewußtsein der Identität der Güter des "andern", sowohl der ideellen wie der materiellen), und Basis, indem es Herkunft und Verankerung von Rechtsbewußtsein bedeutet.

2. Ethik des zwischenmenschlichen Verhaltens und Strafgesetz

Situation von Ethik und Recht heute Sowohl "Rechtsbewußtsein" wie "Identitätsbewußtsein" sind ethische Begriffe. Beide gehören der Wertwelt an, nicht der Dingwelt, sind nicht sichtbar, greifbar, meßbar. Die Ethik tut sich heute schwer. Das hat vor allem historische Gründe. Seit Nietzsche die Moral als Herrenmoral angeprangert hat und ethische Werte von politischen Instanzen zu bedingungsloser Gefolgschaft mißbraucht worden sind, versucht man in der Wissenschaft, wie bereits dargetan, auf formale Begleitprinzipien 88 Interessant ist eine Stelle bei Nietzsche (Menschliches, Allzumenschliches, Werke in 3 Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, 2. Aufl., 1960, Bd. 1, S. 435 ff., S. 688 [Nr. 478]): "Fleiß im Süden und Norden ... Die Handwerker im Süden werden fleißig, nicht aus Erwerbstrieb, sondern aus der ständigen Bedürftigkeit der andern. Weil immer einer kommt, der ein Pferd beschlagen, einen Wagen ausbessern lassen will, so ist der Schmied fleißig ... - Der Fleiß englischer Arbeiter hat dagegen den Erwerbssinn hinter sich: er ... will mit dem Besitz die Macht, mit der Macht die größtmögliche Freiheit und individuelle Vornehmheit. "

2. Ethik des zwischenmenschlichen Verhaltens und Strafgesetz

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auszuweichen, z. B. auf Linguistik und MetaethikS7, und gilt Moral im Alltag als muffig und verstaubt ("und die Moral von der Geschicht: ärgere Deine Mutter nicht") und ist bei der Jugend als reaktionär bzw. anpasserisch verrufen. Dadurch sind Verhaltensweisen wie Hilfe für andere, Zurückstecken eigener Wünsche zugunsten der Erreichung eines gemeinsamen Ziels, Rücksichtnahme, "einfache Anständigkeit" als tragende Säulen täglichen Handeins gefährdet, gelten weithin als "dumm", jedenfalls hinderlich und haben allenfalls noch als Ware Bedeutung: jeder noch so unbedeutende Dienst, jede Freundlichkeit, jedes Entgegenkommen müssen geldwert erkauft werden, sonst "läuft" heute nichts mehr. Auf dieser Grundlage können natürlich keine tragenden zwischenmenschlichen Strukturen entstehen, und Recht allein kann dem Druck, der von einem solchen zwischenmenschlichen Chaos ausgeht, nicht standhalten. Das Recht ist ja selber verdächtig geworden, wird als "schichtabhängig" und einer überholten Mentalität entsprossen, mitunter sogar als kapitalistisch verseucht desavouiert, und Richter sind erhöhter Kritik und Ablehnung ausgesetzt 88, weil sie einer Emanzipation des Individuums im Wege stehen - Recht hindert eben an asozialer Ungehemmtheit, die vielfach mit "Wertepluralismus" umschrieben wird - und der "Macht" dienens8 • Einmischung des Staates

Wenn man Recht und Richter mit solcher Begründung auch nicht gerecht wird, so gibt es doch einen ernsten Kritikpunkt, von dem schon die Rede war: Die Einmischung des Staates ins Recht, das das zwischenmenschliche Verhältnis schützen soll, schwächt die moralische Unanfechtbarkeit und überzeugungskraft unseres Rechts empfindlich, insofern als der Staat nicht nur als Schirmherr auftritt - was durchaus legitim wäre -, sondern außerdem als Partei, die ganz massiv strafrechtlichen Schutz für sich in Anspruch nimmt. Dadurch ist das Strafrecht politisch und somit für echte ethische Inhalte beinahe untauglich 87 Vgl. Gilbert Harmann, Das Wesen der Moral, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1981, S. 9. Es ist natürlich die Frage - die hier aber nicht erörtert werden kann - inwiefern eine zeitlos gültige Ethik (wie z. B. bei Kant) mehr oder weniger formal sein muß, und inwiefern eine materiale Ethik (wie z. B. bei Heget, Grundlinien der Philosophie des Rechts, oder bei Max Scheter, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik) zeit- und glaubensabhängig ist. Das ist ein Problem, das hier nur insofern angesprochen werden soll, als wir heute eine materiale, wenn auch zeitabhängige Ethik brauchen. 88 Man denke nur an die Figur des bornierten, von Dummheit und Lebensuntüchtigkeit strotzenden Juristen bei Gerhart Hauptmann, den Amtsvorsteher Werhahn im "Biberpelz" z. B., den Assesor Schnabet und den "Bräutjam" Quantmeyer der Liese Bänsch in "Michaet Kramer". 8V D. Peters, Richter im Dienste der Macht, Stuttgart 1973.

4 Hellmer

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111. Kriminalität und ethischer Fortschritt

geworden und mit dem Verdacht belastet, der Durchsetzung staatlicher Zwecke und politischer Würdenträgerschaft zu dienen 90 • Falls wir eine neue zwischenmenschliche Ethik entwickeln wollen - und es besteht kein Zweifel, daß wir sie entwickeln müssen, um zu überleben - ist es notwendig, den Staat in Form abstrakter undurchsichtiger Herrschaft über den Menschen erst einmal aus der Ethik auszuklammern und Inhalte allein aus dem Verhältnis zwischen Mensch und Mensch zu finden (die dann auch das Verhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Gruppe ausfüllen, ohne daß von der Gruppe von oben Werte und Inhalte festgelegt werden, was wieder zum Aufbau von Macht ohne genügende Rücksicht auf das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch führen würde). Zwischenmenschliche Ethik und Recht Einer solchen Entwicklung hätte das Recht freie Bahn zu gewähren. Recht kann zwischenmenschliche Ethik nicht selber schaffen. Der Inhalt einer neuen ethischen Aussage ist auch nicht etwa vom Recht, insbesondere rechtlichen Verboten abhängig oder durch sie begrenzt. Das Recht ist umgekehrt jeweils Ausfluß der aus den Zeitverhältnissen zu findenden ethischen Aussage und muß daher an ihr ausgerichtet sein und - insofern das nicht der Fall ist - entsprechend korrigiert werden. Das heutige Recht ist in diesem Sinne - trotz der vielen kleinen Reformen, die ständig stattfinden (und für den Rechtsanwender eine verwirrende Situation schaffen) - in hohem Maße korrekturbedürftig. 90 Näher meine Abhandlung "über die Glaubwürdigkeit des Strafrechts und die Bedeutung des zwischenmenschlichen Verhältnisses für die Kriminalitätsbekämpfung", Juristenzeitung 1981, S. 153. Wie es gekommen ist, daß sich der moderne Staat immer mehr des Rechts als Herrschaftsinstrument, vor allem des Strafrechts, bemächtigt hat, ist eine Frage, auf die es noch immer keine, alle Entwicklungslinien umfassende Antwort gibt. Liest man z. B. die Studie von Stejan Breuer / H. Treiber / Manjred Walther über die "Entstehungsbedingungen des modernen Anstaltsstaates, überlegungen im Anschluß an Max Weber, St. Breuer / H. Treiber (Hrsg.), Entstehung und Strukturwandel des Staates, Opladen (Westd. Verlag) 1982, S. 75 ff., so könnte man meinen, der moderne Staat sei vor allem ein Werk der Juristen, der Bürokratie, und zwar der kapitalistisch initiierten und verfestigten Bürokratie. Auf die Vergottung des Staates bei HegeL (Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. G. Lasson, Leipzig 1921, §§ 257 ff.), seine Förderung durch Nationalismus und Imperialismus im vorigen Jahrhundert und weitere Machtsteigerung (vor allem nach innen) durch die gigantische Umverteilungsmaschinerie des Sozialismus ist hier gar nicht eingegangen. Hinsichtlich gerade des Gebrauchs des Strafrechts zur Durchsetzung wohlfahrts-, polizeistaatlicher u. sozialistischer Tendenzen vgl. schon Otta v. Gierke, Naturrecht u. Deutsches Recht, Frankfurt/M. 1883, in: W. Maihajer (Hrsg.), Begriff u. Wesen des Rechts, Darmstadt 1973, S. 244 ff., 262 ff.; und neuestens auch W. Naucke, Die Kriminalpalitik des Marburger Programms 1882, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 94 (1982), S. 525 ff.

2. Ethik des zwischenmenschlichen Verhaltens und Strafgesetz

51

Es hat gewisse Erscheinungen, in denen Ansätze einer neuen Ethik liegen oder ethische Impulse vorhanden sind, nicht in sich aufgenommen, steht ihnen hilflos und verunsichert gegenüber, glaubt sie mitunter sogar bekämpfen zu müssen91 • Hierin liegt ein besonderes Problem des heutigen Rechts und ein Irrtum mancher, die annehmen, daß sich menschliche Handlungsanleitung am Recht zu orientieren hat, ja daß Recht etwa die Ethik der breiten Masse ist. Es hat die Bedingungen herzustellen und aufrecht zu erhalten, unter denen sich zwischenmenschliche Ethik bilden und fortentwickeln kann, und es ist von zwischenmenschlicher Ethik abhängig, es muß ihre Inhalte übernehmen, soweit sie Allgemeingut geworden sind, es darf sich von diesen Inhalten nicht distanzieren oder ihnen womöglich entgegenarbeiten. Die heutige scharfe Trennung zwischen Recht und Moral92 (hier im Sinne von zwischenmenschlicher Ethik) ist also insofern berechtigt, als Recht nicht von sich aus in die Bildung von Moral eingreifen darf; sie ist aber insofern unberechtigt, als Recht von Moral nicht gänzlich freigehalten werden kann. Recht kann nur von moralischen Inhalten leben, vor allem das Strafrecht93 , und so weit es sich von diesen Inhalten entfernt, soweit es aus dem Schatten der Moral heraustritt und sich selber zur Lichtquelle macht, verliert es an überzeugungskraft und wird leerer Schein. Das ist heute in kaum noch zu vertretendem Umfang schon der Fall, und insofern sind die Begriffe "Verbrechen" und "Kriminalität" mit Vorsicht zu gebrauchen. Es wäre interessant, im einzelnen zu untersuchen, wo das Strafrecht seine Aufgabe, dem Aufbau einer neuen zwischenmenschlichen Ethik zu dienen, erfüllt und wo das nicht der Fall ist. Das kann in dieser Abhandlung nicht geschehen, aber es ist sicher, daß rein politische Inhalte des Strafrechts9 4, wie auch die Umfunktionierung ursprünglich dem zwischenmenschlichen Verhältnis gewidmeter Bestimmungen in solche, die die Disziplinierung 81 Ein Beispiel dafür ist das sozialpolitisch motivierte Hausbesetzerproblem, s. Anm. 70. 92 Zwischen den Begriffen "Moral" und "Sittlichkeit" wird in dieser Abhandlung - im Gegensatz z. B. zur Hegelschen Terminologie (Grundlinien der Philosophie des Rechts, ed. Lasson, Leipzig 1921, § 106 u. passim) - nicht unterschieden, worauf zur Verdeutlichung hingewiesen werden soll. 93 Anders z. B. Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, mit Einleitung u. internationaler Bibliographie zur Rechtssoziologie von Paul Trappe, Neuwied 1964 u. ders., Rettens Emancipation fra moralen, Statsvetenskaplig Tidskrift 1945, S. 195 ff.; vgl. auch die Kurzdarstellung von Klaus A. Ziegert, Nach der Emanzipation des Rechts von der Moral: gesellschaftliche Wirkungschancen der Moral, in: N. Luhmann / St. H. Pfürtner (Hrsg.), a.a.O., S. 146 ff. (147 ff.). Auf die Widersprüche in Geigers Werk soll hier nicht näher eingegangen werden (z. B.: sind Recht und Moral völlig verschiedene Dinge oder liegt nur eine Emanzipation vor?). 94 So die meisten Bestimmungen der §§ 81 - 140 StGB.

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111. Kriminalität und ethischer Fortschritt

des Bürgers im Auge haben95 , der Bildung einer solchen Ethik eher im Wege stehen als ihr dienenoo .

Umrisse einer "zwischenmenschlichen" Ethik Selbstverständlich müßte für einen Vergleich zwischen der hier für erforderlich gehaltenen zwischenmenschlichen Ethik und dem Strafgesetz auch in etwa umrissen sein, was unter "zwischenmenschlicher Ethik" (im Unterschied zur Ethik überhaupt) verstanden wird. Der vollständige Inhalt einer solchen Ethik kann hier noch nicht dargelegt werden, weil er sich erst aus den Antworten des Menschen auf die Fragen der Zeit ergeben kann und diese Antworten erst gefunden werden müssen. Aber die Umrisse stehen insofern fest, als es keine Ethik der Selbstverwirklichung sein wird und auch keine Ethik des Gehorsams gegenüber einem (mehr oder weniger abstrakten) Kollektiv97 , sondern eine Ethik zwischen einzelnen Individuen, und zwar eine Ethik der Hilfe und des solidarischen Beistands, der Achtung des "anderen", der Anerkennung seiner Selbigkeit in menschlicher und rechtlicher Hinsicht, d. h. keine auf eine kollektive Schimäre verweisende Heilslehre und auch nicht nur eine formale Maxime, sondern ein inhaltlich ausgefülltes und praktische Handlungsanleitung gewährendes Gesetz, das im 95 Typische Beispiele dafür: Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Begünstigung, Urkundenfälschung, Nötigung u. a. 96 Thomas Hobbes, Leviathan, 28. Kapitel: Von Strafen und Belohnungen (Reclam-Ausgabe, Stuttgart 1980, S. 258): "Strafe ist ein übel, welches dem übertreter eines Gesetzes von seiten des Staates in der Absicht zugefügt wird, daß die Bürger abgeschreckt und zum Gehorsam bewogen werden." In welche, das zwischenmenschliche Verhältnis mißachtende, ja es vernichtende Strafpraxis der reine Abschreckungsgedanke führen kann, zeigt u. a. Dietrich Güstrow, Tödlicher Alltag (strafverteidiger im Dritten Reich), Berlin 1981, an Hand eigener Erlebnisse. 81 Auch hier liegt ein erhebliches Manko der Sozialwissenschaften, in Sonderheit solcher Theorien vor, die - wie etwa die von der "moralischen Autorität" Durkheims - Moral und Sittlichkeit als gesellschaftlichen Zwang abtun. Moral wird doch im Gegenteil erst dort erheblich, wo sie sich gegen kollektiven Zwang auflehnt und (sei es nur in einem Einzelfall) durchsetzt. Jean Piaget hat eindrucksvoll nachgewiesen, daß die Moral des jungen Menschen aus zwei Quellen gespeist wird: die Meinung der Älteren und die Zusammenarbeit (das Zusammenspiel) mit Gleichaltrigen. Die erstere Quelle ist fremdbestimmt und erzeugt das Gefühl der Pflicht, die letztere ist autonom und beruht auf eigenem Akt (Das moralische Urteil beim Kinde, Frankfurt/ M., 4. Aufl., 1981, S. 378 u. passim); Piaget schreibt u. a.: "Die Gefahr der soziologischen Erklärung ... besteht darin, daß sie die Moral in der Staatsraison, der allgemeinen Meinung oder dem kollektiven Konservativismus untergehen läßt, kurz, in allem, was die größten moralischen Erneuerer ständig im Namen des Gewissens bekämpft haben" (a.a.O., S. 389). Gerade diese Kontroverse zwischen Soziologie und (geisteswissenschaftlich-experimenteller) Psychologie zeigt, wie wenig erstere geeignet ist, die Wirklichkeit des einzelnen Menschen, gerade auch des Kindes, zu erfassen und die Quellen für eine mögliche Lösung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Probleme aufzutun.

2. Ethik des zwischenmenschlichen Verhaltens und Strafgesetz

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intersubjektiven Verhältnis seinen Schwerpunkt hat. Hierin liegt der Hauptunterschied zu anderen materialen Entwürfen der gegenwärtigen Philosophie, die zwar umgreifender, aber weniger pointiert sind, wie etwa der "skeptischen Ethik" Wilhelm Weischedels, die auch Werte enthält, die nicht unbedingt das zwischenmenschliche Verhältnis betreffen98• Eher schon wird sich eine betont "zwischenmenschliche" Ethik an die materiale Wertethik Max Schelers anlehnen können, die u. a. dadurch gekennzeichnet ist, daß in der Rangordnung der Werte die Nächstenliebe höher steht als die Gerechtigkeit (i. Gegens. z. B. zu Nietzsche)9o. Ob die Tugenden, die z. B. R. Inglehart dem "postmaterialistischen" Zeitalter zuschreibt, dem zwischenmenschlichen Verhältnis dienlich sind, erscheint dagegen zweifelhaft. Wenn im gleichen Atemzug Werte wie Selbstverwirklichung, Solidarität, Meinungsfreiheit und nicht mehr vom "Privatismus" geprägte Tugenden genannt und gegen die "klassischen bürgerlichen Tugenden" des Fleißes und der Disziplin gestellt werden 1oo, darf man fragen, ob nicht auch der Faschismus und andere totalitäre Ideologien gegen vom Privatismus geprägte Tugenden Front machen, und ob Selbstverwirklichung nicht der ärgste Feind von Solidarität ist und Meinungsfreiheit nicht einen gewissen Privatismus voraussetzt. Jeder Kollektivismus und (rücksichtslose) Individualismus sind die Grenzen das zwischenmenschliche Verhältnis fördernder Tugenden101 • Zwischenmenschliche Ethik und Strafrecht

Um es für unseren Bereich zu konkretisieren: wer sich an einem andern in einer dessen Rechtsgüter verletzenden Weise bereichert, verW. Weischedel, Skeptische Ethik, a.a.O., Taschenbuchausgabe, S. 188 ff. Vgl. auch die Entwürfe von Knud E. Legstrup, Die ethische Forderung, 4. Aufl., Tübingen 1959 u. O. F. Bollnow, Einfache Sittlichkeit, Göttingen 1957. Weitere Hinweise bei St. H. Pfürtner, a.a.O., S. 213 ff. 100 Wie es z. B. J. Habermas unter Berufung auf R. Inglehart tut; vgl. J. Habermas, Einleitung zu "Stichworten zur Geistigen Situation zur Zeit", a.a.O., S. 7 ff. (26). 101 Damit ist noch nichts über die Art und Weise gesagt, wie eine solche Ethik zustandekommt, insbes. heißt "zwischenmenschliche Ethik" nicht etwa, daß sie nur durch reale zwischenmenschliche Kommunikation gefunden werden könnte (vgl. zum Begründungsproblem u. a. Otfried Höfte, a.a.O., S. 243 ff.) - dann bisse sich die Katze in den Schwanz: es gibt keine genügende zwischenmenschliche Kommunikation, die eine ein erträgliches zwischenmenschliches Verhältnis schaffende zwischenmenschliche Kommunikation herstellt -, sondern zwischenmenschliche Ethik heißt vorerst (alles weitere muß der philosophischen Diskussion vorbehalten bleiben, die hier nur angestoßen werden soll) vor allem, daß der Wert der zu findenden Grundsätze sich allein danach bemißt, wie weit sie das zwischenmenschliche Verhältnis fördern und auf eine feste positive (in den entscheidenden und äußersten Punlden nicht mehr destruktive) Basis stellen und konsensfähig (vielleicht sogar konsensnotwendig) sind. gs

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III. Kriminalität und ethischer Fortschritt

stößt gegen den Grundsatz zwischenmenschlicher Ethik ebenso wie derjenige, der bei seinem Handeln nur das Kollektiv sieht und sein Verhältnis zum andern dieser Sicht schlechthin unterordnet. Wer dagegen sein Verhältnis zum andern zur Richtschnur seines HandeIns macht, entspricht dem Grundsatz zwischenmenschlicher Ethik selbst dann, wenn er in Befolgung dieser Priorität eine strafbare Handlung begeht (z. B. einen von Schmerzen geplagten, unrettbar Verlorenen tötet oder Landesverrat begeht, um einen Angriffskrieg zu verhindern). Die innere Einstellung, die zu solchem Verhalten befähigt, haben wir Identitätsbewußtsein genannt, Identität aber weder im Sinne von Ich-Identität, noch von Gruppenidentität, sondern von Wir- (besser) Ich-Du-Identität. Diese Identität entspricht nicht immer dem, was das Strafrecht fordert, und kann dem auch nicht voll und ganz entsprechen, aber sie ist Leitlinie für alles soziale Handeln, auch für dasjenige, das dem Strafrechtsgebot zugrunde liegt, selbst wenn es im speziellen Fall mit ihm kollidieren mag; denn das Strafrecht setzt Identitätsbewußtsein voraus, um überhaupt funktionieren zu können, und die Kollision im speziellen Fall ist das Opfer, das der Einzelne der Priorität des zwischenmenschlichen Verhältnisses und der Erträglichkeit der Ordnung des Ganzen zu bringen hat. Danach regelt sich auch das Verhältnis zwischen Rechtsbewußtsein und Identitätsbewußtsein. Soweit Rechtsbewußtsein Identitätsbewußtsein bedeutet, ist es tragende Säule der generell auch dem Recht, insbesondere dem Strafrecht zugrundeliegenden Ethik; soweit es dagegen ohne Identitätsbewußtsein ist, von diesem womöglich abweicht, mag es bei entsprechend günstigen äußeren Verhältnissen zu formalem Wohlverhalten führen, das zwischenmenschliche Verhältnis bleibt aber in ständiger Gefahr, verletzt zu werden (Extremfälle: Freisler, KZ-Mörder, Atomkriegs-Politiker).

Zusammenfassende Thesen zu Ethik und Recht Ich fasse meine Überlegungen zusammen: 01. Ethik und Recht sind heute nicht nur durch überwiegende sozialwissenschaftliche Betrachtung des Menschen marginalisiert, sondern auch hinsichtlich ihrer Geltung im praktischen Leben vielfachen Widerständen ausgesetzt.

02. Strafrecht und Ethik sind zwei verschiedene Dinge. Keins kann das andere ersetzen. 03. Die Glaubwürdigkeit des Strafrechts leidet, sofern dieses nicht das zwischenmenschliche Verhältnis betrifft, sondern nur den Gehorsam gegenüber dem staatlichen Machtanspruch und staatlichen Nützlichkeitsgeboten.

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04. Insoweit beide, Ethik und Strafrecht, das zwischenmenschliche Verhältnis betreffen, hat Strafrecht einmal die Bedingungen zu schaffen und zu sichern, daß Ethik sich bilden und fortentwickeln kann, und ferner allgemeingültige und grundlegende ethische Inhalte zu übernehmen. 05. Wenn danach auch generell kein Widerspruch zwischen Strafrecht und Ethik bestehen kann, so sind im einzelnen Fall doch Kollisionen möglich, einmal beim Durchbruch neuer ethischer Vorstellungen, denen die Gesellschaft noch abwartend gegenübersteht, ferner wenn Identitätsbewußtsein die Abweichung vom Strafrechtsgebot fordert (Atomkriegverhinderung; Sterbehilfe).

06. "Rechtsbewußtsein" ist eine Leerformel, wenn und soweit es nicht Identitätsbewußtsein zum Grund und Inhalt hat. Anknüpfungspunkt für die Kriminalpolitik ist daher nicht Rechts-, sondern Identitätsbewußtsein (i. S. von Ich-Du-Identität).

3. Ethischer Fortschritt und das Gesetz der gleichbleibenden Energie Ich will zum Schluß versuchen, meine Position unter wissenschaftsgeschichtlichem Aspekt einzuordnen. Der Harvard-Physiker Thomas S. Kuhn hat mit seinem Werk "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen"102 gewisse Tendenzen der Entwicklung der Wissenschaft verdeutlicht. Danach gibt es lange Zeiten ein- und desselben Paradigmas, bis dieses ermüdet und im Sinne eines plötzlichen Fortschritts, einer Art Revolution, durch ein neues Paradigma abgelöst wird. Dies gelte für sämtliche Wissenschaften, auch die Naturwissenschaft. Kuhns Gedanke ist an sich nicht neu, er wurde schon vor ihm von andern Wissenschaftlern, auch von Literaten (z. B. Arthur Koestler, der göttliche Funke) vertreten; neu ist nur, daß Kuhn eine umfassende, in sich geschlossene Theorie daraus macht (auf die hier allerdings nicht näher eingegangen werden kann).

Fortschrittsstreben und Wandel des Menschen In der Tat ist die Wissenschaftsgeschichte ein erregendes, bisher noch kaum geschriebenes Kapitep03. Uns interessiert sie nur insofern, als die 102 Frankfurt 1976. Vgl. auch ders., Die Entstehung des Neuen, Frankfurt/Mo 1977; Dudley Shapere, the structure of scientific revolutions, philosophical Review 73, 1964, S. 383 U. ders., the paradigm concept, science, 172 (1971), S. 706.

103 So auch Hans-UlTich Wehler, Geschichtswissenschaft heute, in: J. Haber(Hrsg.), Stichworte zur Geistigen Situation der Zeit, Frankfurt/M., 2. Band, 2. Aufl., 1979, S. 709 ff. (S. 745). Vgl. aber z. B. I. Lakatos / A.. Musgrave

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Frage zu stellen ist, wie es zur Verdrängung, ja Ausklammerung des ethischen Problems, also zu einer Art gesamtwissenschaftlichem Paradigmawechsel von den Geistes- zu den Naturwissenschaften gekommen ist. Wir sehen eine der Hauptursachen hierfür im Aufkommen und in der Fehlleitung des Fortschrittsstrebens in den letzten hundert Jahren. Das Fortschrittsstreben beruht auf dem Fortschrittsglauben und dieser auf dem Optimismus, durch Wissenschaft alles ergründen zu können, was dem Menschen (noch) verborgen ist. Damit wird die Erkenntnis zur Universalmedizin des Menschen und der theoretische Mensch, wie ihn laut Nietzsche kein anderer in reinerer Form verkörpert als Sokrates, zur höchsten Inkarnation des Menschlichen104. Der mittelalterliche Mensch hat noch eine andere Einstellung. Er kennt noch die Ehrfurcht vor dem Göttlichen, die auch ein ungestörteres Verhältnis zur Welt und zum Mitmenschen bedeutet. Sein höchstes Ziel ist es, Gott und seinen Geschöpfen zu dienen. Wir fragen uns heute manchmal, wie die herrlichen Bauwerke des Mittelalters zustandegekommen sind. Das Symbol und die Frucht menschlicher Energie ist der Bau des Gotteshauses, der Kathedrale. Solche Werke entstehen aus einer anderen Befindlichkeit und vermitteln ein anderes Gefühl als es z. B. der heutigen Zersiedelung der Landschaft durch Einfamilienhäuser, stupide Wohnsilos und eintönige Bank- und Versicherungspaläste zugrundeliegt.

"Dionysischer" und "alexandrinischer" Mensch Man kann die Einstellung des Menschen und ihre entscheidende Wandlung nicht allein mit begrifflichen Kategorien erfassen, schon gar nicht im Sinne der heutigen kritischen Theorien, bei der der Wissenschaftler "im Grunde Bibliothekar und Korrektor ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet"105. Der Weg des ehrfürchtigen, bewundernden (dionysischen) Menschen, dem "Kommunikation" noch kein Problem ist - sein größter Kommunikand ist Gott und der Glaube an ihn - und der noch Geborgenheit besitzt, geht durch Gefühl und Kreativität in die Kunst, nicht unbedingt die "große" schon die Laienkunst des Mittelalters, der Minne- oder Bänkelsänger, im "Hauptberuf" Ritter, der Liebhaber-Schauspieler (Shakespeare, Mom~re), der Schuster als Laienspieldichter (H. Sachs), vielleicht auch (Hrsg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt, Braunschweig 1974; Werner Diederich (Hrsg.), Theorien der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt/M. 1974; Etisabeth Ströcker, Wissenschaftsgeschichte als Herausforderung, Frankfurt/M. 1976. 104 Vgl. Friedrich Nietzsehe, Die Geburt der Tragödie, in: "Werke in 3 Bänden, herausgegeben von Kart Schtechta", 2. Aufl., 1960, Bd. 1, S. 7 ff., insbes. S. 83 ff. (Kap. 15 - 18). 105 Fr. Nietzsehe, a.a.O., S. 103.

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der Nebenamts-Provinztheaterdirektor (Goethe) sind Beispiele - und allenfalls noch in die der Religion nahestehende "praktische" Philosophie, als welche die Ethik heute etwas herablassend angesehen wird 108 • Der Weg des von Erkenntnisdrang besessenen, die Umwelt wütend entlarvenden (alexandrinischen) Menschen dagegen führt in die von allen religiösen und sittlichen Fesseln emanzipierte moderne Wissenschaft, zunächst die Naturwissenschaft, deren Erkenntnisakte zwar z. T. noch kreative Eruptionen, aber doch schon wertfreie Produkte sind, so dann die Sozialwissenschaften, die zwar zum Menschen zurückkehren, aber nicht mehr zu seiner Ganzheit als Geist- und Gefühlswesen, sondern nur noch zu seiner Existenz als Glied der Gruppe, deren Einflüssen er mehr oder weniger hilflos ausgeliefert istt 07 • Nicht größere Fähigkeiten und vermehrte Intelligenz sind die tragenden Pfeiler naturwissenschaftlicher Entdeckungen und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse, wie sie vornehmlich in den letzten hundert Jahren gemacht wurden, sondern "Befreiung" aus religiösen und menschlichen Bindungen, wissenschaftlicher Ehrgeiz, persönliche Eitelkeit108 und das Gebanntsein von der Vorstellung, durch neue Entdeckungen das Weltbild zu verändern, gleich in welcher Richtung, wobei zunächst noch Phantasie und Intuition mitwirken10u , also Kennzeichen umfassend angelegter Persönlichkeiten, dann aber durch einseitige Ausbildung des Intellekts immer mehr reine Technik gepflegt und kleinere Münze geprägt wird. Was dabei herausgekommen ist, ist allerdings eine Veränderung des Menschen- und Weltbildes, die aber mehr Probleme geschaffen als gelöst hat, weil jede machtschaffende bzw. machterhöhende neue Erfindung, der nicht ein ethisches Prinzip entgegengesetzt wird, das normative Gleichgewicht, in dem der Mensch lebt, ins Schwanken bringt. Die Naturwissenschaft hat machterhöhende Entdeckungen gemacht, und die Sozialwissenschaft hat den Menschen seiner individuellen und kollektiven Verantwortung dafür entschlagen. Beides zusammen wirkt sich höchst gefährlich aus, weil es in gleicher Richtung liegt: machterhöhend und hemmungsvermindernd l1O • lOG Vgl. z. B. Ot/ried Hötte, Ethik und Politik, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1979, insbes. S. 38 ff. 107 Vgl. u. a. FriedheLm Neidhardt, Das innere System sozialer Gruppen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31 (1979), S. 639 ff. (" ... Gefühle, ein für Soziologen eigenartig unheimliches Thema" ... , S. 650). 108 In dem Buch von MichaeL J. Mahoney, "the scientist: Anatomy of the truth merchant", ist das Verhalten großer Wissenschaftler geschildert, die alles unternommen haben, sich selbst - gegen Konkurrenten - in den Vordergrund zu bringen (bekannt ist z. B. das wenig kollegiale Verhalten von Newton und Darwin). lOg Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, a.a.O., S. 125. Moderne Beispiele dafür sind Planck, Einstein, Born, Heisenberg u. a. 110 Auch hier sind die Worte Nietzsches fast prophetisch: "Das ist ja das Merkmal jenes ,Bruches' ... daß der theoretische Mensch vor seinen Konse-

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Wissenschaftsgläubigkeit des modernen Menschen Heute fließen die meisten geistigen Energien eindeutig in die Wissenschaft, nicht etwa in Kunst, Religion, Ethik; man kann nahezu von einer "Flucht in die Wissenschaft" sprechen. Der moderne Mensch, der sich sehr aufgeklärt vorkommt und alles nicht meßbare als Aberglauben verachtet, dabei aber immer kränker und einsamer wird, flieht in die Wissenschaft, um Erlösung von den vielen Problemen zu finden, die ihn zunehmend belasten. Er vermehrt das wissenschaftliche Personal, gründet neue Universitäten und Hochschulen, vergibt Gutachten, läßt alles und jedes, woran er gern glauben würde, empirisch nachprüfen, und schickt seine Jugend nicht ins praktische Leben, wo sie früh Verantwortung tragen lernt, sondern in die Bildung, unter dem Motto: Wissen wird uns helfen, Theorie wird die Probleme bewältigen, Bildung weiß den Weg aus dem Jammertal. Aber seine Situation wird dadurch nicht besser, eher trostloser. Sie muß es werden; denn die Wissenschaft, die er anruft, ist entweder hauptsächlich auf technische Erfindungen angelegt (wobei die Kriegs- und Medienindustrie besonders breiten Raum einnehmen) oder darauf beschränkt zu untersuchen, wie die Wirklichkeit aussieht (wobei als Wissenschaft heute schon die bloße Ermittlung von Ansichten der Bevölkerung zu bestimmten Fragen gilt)111. Keine Suche nach Handlungsanleitung, nach einem Leit- oder Weltbild, das den Menschen seelisch stützt, ihm Orientierung in der Wertwelt anbietet, keine Regeldiskussion über mögliche Modelle menschlichen Zusammenlebens, nicht einmal Anknüpfung am Bedürfnis des Menschen, sich mit dem "andern" auszutauschen, wieder Gefühle zu entwickeln, besondere Wege zu sehen und gehen zu lernen, das eigene Gewissen im sozialen Kontext zu beleben und zu schärfen, Werte gegeneinander zu stellen und zwischen ihnen zu entscheiden, für etwas da zu sein, eine Aufgabe, eine Verantwortung zu haben, einen Sinn zu erleben, der innerlich befriedigt, Alternativen zum Bestehenden zu entwickeln, Maßstäbe für Neues zu schaffen. Das alles bleibt der "praktischen" Philosophie überlassen, die vom theoretischen Wissenschaftler und theoriegläubigen Menschen gemieden wird, weil sie nicht genügend Begriffliches hergibt oder nicht wenigstens noch quenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt, sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen ... Dazu fühlt er, wie eine Kultur, die auf dem Prinzip der Wissenschaft aufgebaut ist, zugrunde gehen muß, wenn sie anfängt, unlogisch zu werden, d. h. vor ihren Konsequenzen zurückzufliehen ... " (a.a.O., S. 102). Was bleibt denn uns heute anderes übrig, als vor den Konsequenzen unserer Wissenschaft zurückzufliehen ? 111 Z. B. zu Todesstrafe, Steuern, Schulreform, Strafvollzug, Wohnungsbau, Ost-West-Beziehungen, Arbeitslosigkeit, Bafög, Aufrüstung, Wahlen, Wirtschaftswachstum, Ausländerpolitik usw. Zu dieser aus der Marktforschung stammenden "Wissenschaft" vgl. auch Th. W. Adorno, Soziologie und empirische Forschung, in: Th. W,. Adorno u. a. (Hrsg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, a.a.O., S. 81 ff.

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größere Bequemlichkeit für den Einzelnen und Macht für den Staat verbürgt.

Sterilität auf Phantasie- und Handlungsebene Bezeichnend für diese höchst einseitige Energieleistung der Gegenwart ist auch, daß es bei uns keine Berührung zwischen Philosophie und Politik mehr gibt. Ich meine nicht, daß es an Professoren mangelte, die Regierungsämter übernehmen, sondern daß es in der Politik keine wirklich bahnbrechenden Leistungen mehr gibt. Die Wissenschaftler sitzen abgeschieden in ihrem theoretischen Bereich, die Politiker modeln in der Handlungsszene herum, mit Berufung allein auf ihre Sachkenntnis, die anstelle unbefangener Betrachtung der heutigen Situation und anstelle auch persönlichen Verantwortungsgefühls für das Wohl der Menschheit zur hauptsächlichen Legitimation ihres ständigen Miteinanderkonferierens geworden ist, und ohne Anleitung und Kontrolle durch "praktische" Philosophie. Erkennen und Handeln mögen zweierlei sein, vielleicht sogar zum Teil gegeneinandergerichtet112 , aber die höhere Stufe, auf der beide in ein sich gegenseitig befruchtendes Verhältnis zueinander treten können, die Stufe des auf eine erlösende Erkenntnis gegründeten Entschlusses, die nur schöpferischer Phantasie entwachsen kann, wird heute nirgends erreicht, weil es keine schöpferische Phantasie mehr gibt, auch in der Wissenschaft nicht, und die "praktische" Philosophie als nur halb wissenschaftlich - und daher auch nur des halben Einsatzes wert - angesehen wird 1l3 • Wenn man die Entwicklung der Wissenschaft in den letzten zweihundert, ja dreihundert Jahren, und wenn man auch den Umschwung im Menschen- und Weltbild vom Mittelalter zur Neuzeit betrachtet, kann man u. Er. drei für uns sehr wichtige Dinge feststellen:

Zentrale Bedeutung geistiger Energie Alle Veränderung der Welt (im Sinne von "Mensch und Gesellschaft", nicht im Sinne von "Kosmos", neuestens allerdings auch möglicherweise in diesem Sinne) beruht auf geistiger Energie des einzelnen 112 Fr. Nietzsehe, a.a.O., Kap. 7 (S. 48): "In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Ähnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge getan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln ... Die Erkenntnis tötet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion ... " 113 übrigens ist diese Kritik keineswegs neu. Richard G. Olson weist mit Recht darauf hin (Wissenschaftler lernen Bescheidenheit in "Wissenschaftskritik", Sonderdruck aus "Psychologie heute", Weinheim u. Basel (BeltzVerlag) 1978, S. 17 ff., 18), daß schon Rousseau am wissenschaftlichen Denken (der damaligen "Aufklärung") u. a. bemängelte, daß es die Aufmerksamkeit von wichtigeren Dingen ablenke, z. B. von Politik und Ethik.

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oder einzelner Menschen, mag sie von Gott oder andern Instanzen gesteuert oder beeinflußt sein. Wahrscheinlich finden Rückkoppelungen zwischen dem Einzelnen und der Gruppe statt, in der der Einzelne lebt, und werden Ideen aus Interaktionen geboren. Aber die Quelle von verändernder Energie ist und bleibt der Mensch selber, nicht etwa die sozialen oder sonstigen Verhältnisse. Geistige Energien äußern sich meist in Ideen. Die Idee ist das eigentlich menschliche Agens in der Welt, ein Produkt geistiger Beschäftigung mit einer Frage, einem Problem 114 • Sie ist die Frucht entweder langwierigen Nachdenkens oder plötzlicher Eingebung oder von beidem und kommt nur unter Mitwirkung eines gehörigen Quantums von Phantasie, also von Abweichung aus bisherigen Bahnen, Modellen, Bildern, Vorstellungen zustande 116 • Die gleiche oder ähnliche Idee kann auch bei mehreren Personen zu gleicher Zeit auftreten und daher, je nac..1" dem Einfluß dieser Personen und nach der Gunst der sie umgebenden Verhältnisse, bei einem eine größere Durchschlagskraft entwickeln als beim andern. Geistige Energien können auch in die Verwirklichung von Ideen investiert werden. Meist handelt es sich dann um soziale Umwälzungen auf Grund von Ideen anderer, die aufgenommen werden und um die gekämpft wird. Auch unterhalb der Stufe epochaler Ideen gibt es also schöpferische Leistungen.

Jede Zeit hat ihre epochale Leistung Das Quantum an geistiger Energie, über das eine Epoche verfügt, bleibt gleich, ungeachtet des Bereichs, in das es fließt. Entwickelt eine Weltbevölkerung von drei Milliarden Menschen eine größere geistige Energie als eine Weltbevölkerung von einer Milliarde, oder macht das Energiequantum etwa Sprünge, gibt es lange Zeiten einer verminderten und kurze Zeiten einer vermehrten geistigen Energie, wie die Arbeit von Thomas S. Kuhn nahelegen könnte? Ich glaube, nein. Die kurzen Zeiten einer scheinbar vermehrten geistigen Energie, also die Epochen, in denen große Ideen geboren, Erfindungen oder Entdeckungen gemacht werden oder in denen plötzliche soziale Umwälzungen stattfinden, sind Zeiten des Aus- oder Durchbruchs von Energien, die sich in einer mehr oder weniger langen "stillen" Vorbereitungsphase angestaut haben. Man wird nicht an seinem Geburtstag ein Jahr älter, 114 Idee nicht im Sinne der platonischen Philosophie, sondern der hermeneutischen Geschichtsschreibung, etwa bei Gervinus, Ranke, Carlyle, vgl. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1981, S. 101 ff. (118 ff.). 115 Th. W. Adorno (Anm. 111, S. 97): "Das Jähe dessen, was Researchtechniker herablassend Intuition nennen, markiert den Durchbruch der lebendigen Erfahrung durch die verhärtete Kruste der communis opinio ... ce (Hier befindet sich Adorno nicht mehr weit ab von hermeneutischer, geisteswissenschaftlicher Betrachtung).

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obwohl es so scheint, sondern ständig, von Sekunde zu Sekunde. Man darf seinen Blick auch nicht auf die Wissenschaft beschränken. Geistige Energien können in die verschiedensten Bereiche fließen: Kunst, Architektur, Wissenschaft, Religion, ethische Leistungen, Politik, Philosophie, Technik, Wirtschaft, soziale Neuerungen; und interessant wäre es, das Zusammen- bzw. Wechselspiel der Entwicklungen auf allen Gebieten als Ganzes zu erfassen und daraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten1!l. Es gibt wohl keine Zeit ohne irgend welche epochale Leistung. Ja, es scheint, als habe jede Zeit "ihre" Leistung und dann für die Entwicklung von Energien auf anderen Gebieten keine genügende Kraft mehr, als überrage sie auf einem Gebiet, weil dafür gerade die Verhältnisse günstig sind oder weil eine Notwendigkeit dafür besteht oder weil es gerade in Mode ist, sich diesem Gebiet zu widmen. In diesem (erweiterten) Sinne würden wir den von Kuhn verwendeten Begriff des Paradigmawechsels anwenden. Genauso wie der Einzelmensch sich zu gleicher Zeit nicht mit gleicher Energie verschiedenen Dingen widmen kann, sondern eine Auswahl trifft, die meist auch von der äußeren Situation, in der er lebt, mitbestimmt wird, ist ein und dieselbe Epoche nicht in der Lage, auf verschiedenen Gebieten Gleichgroßes zu leisten. Die Aufklärung ist eine Epoche vor allem der Philosophie, die Klassik und Romantik eine der Kunst, das Mittelalter eine der religiösen Leistungen, die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine der Naturwissenschaft und Technik, und es sieht aus, als würde das letzte Drittel dieses Jahrhunderts eine Epoche der Sozialwissenschaften werden, die unter dem wachsenden Druck der Verhältnisse und der Notwendigkeit von neuen Initiativen in eine Epoche verstärkter ethischer Bemühungen übergehen mag. Abhängigkeit auch ethischer Leistung von geistiger Energie Was damit schon angedeutet ist und was wir vor allem zum Ausdruck bringen wollten: auch die Pflege des zwischenmenschlichen Verhältnisses, die Entwicklung von Ideen, Impulsen und Initiativen, hier zu einem Fortschritt zu kommen, ist Sache geistiger Energie. Das scheint weitgehend vergessen oder verdrängt zu sein. Man spricht seit Jahrhunderten vom Fortschritt117 - neuestens, etwas materialisiert, 118 Was wohl eher eine Angelegenheit der Geschichtsphilosophie wäre als der empirrischen Geschichtswissenschaft (vgl. Wilhelm Dilthey, a.a.O., S. 129). 111 Mindestens seit der Aufklärung, die sich selber als gegenüber den vorangegangenen Epochen sehr fortschrittlich empfand, vgl. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (in der Ausgabe Nürnberg 1948, Verlag Jacob Mendelsohn, S. 64). Burckhardt bezweifelt allerdings - wohl nicht zu Unrecht, wenn man das letzte Jahrhundert betrachtet - daß der Mensch Fortschritte gemacht hat: "Aber die Argumentation mit Bestechlichkeit, Liederlichkeit und besonders mit "Gewalttätigkeit" der vergangenen Zeiten

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auch von "Wachstum" - auf allen möglichen Gebieten, der Mensch ist schlechthin fortschrittsgläubig geworden, das Gebiet der Ethik, der eigentlich menschlichen Leistung, scheint davon ausgeschlossen zu sein. Hält man Ethik nicht für fortschrittsfähig, nicht für abhängig von geistigen Leistungen? Das wäre unlogisch und verhängnisvoll. Daß gerade dieser Bereich auf stärkste menschliche Energien angewiesen ist, sollte doch schon die desolate Situation im zwischenmenschlichen Bereich von heute zeigen. Ohne entschiedene Hinwendung zu ihm, ohne die Entwicklung von Kreativität und Phantasie - gegen die Eintönigkeit und Festgefahrenheit professionalisierter PolitikuS und gegen die Resignation der breiten Masse der Politikopfer - , ohne daß endlich die notwendigen geistigen Voraussetzungen für bahnbrechende Ideen und Leistungen auf diesem Gebiet geschaffen werden, sind wir heute dem heraufziehenden Chaos ausgeliefert, nachdem jahrhundertelang "die" menschlichen Energien in andere Bereiche geflossen sind und auf diesem Gebiet nicht nur kein Fortschritt, sondern erhebliche Rückschritte zu verzeichnen sind. Wenn es einen "Druck der Verhältnisse" gibt, der zu erlösenden Leistungen führt, dann ist er heute vorhanden. Ob ein Anfang solcher Leistungen bereits in den vielen kleinen Aktivitäten zu sehen ist, die heute von sich reden machen, wie Bürgerinitiativen, Jugendtreffen, Friedensbewegung, Formen des zivilen Ungehorsams und der Verweigerung gegenüber unmoralischen politischen Ansinnen, oder ob noch die große epochale Entdeckung erforderlich ist, die "soziale Erfindung" (wie ich sie nennen will), wird die Zukunft lehren. Aber eine Wende, ein neues "Paradigma" ist erforderlich, mag es auf leisen Sohlen kommen oder mit einem Paukenschlag. oder bei den Barbaren mit Grausamkeit, Treulosigkeit usw. sind irrig ... Was man also für Fortschritt der Sittlichkeit zu halten pflegt, ist die ... durch die enorm gesteigerte staatsmacht herbeigeführte Bändigung des Individuums, welche bis zur förmlichen Abdikation desselben gedeihen kann, zumal bei einseitigem Vorherrschen des Gelderwerbs, der zuletzt alle Initiative absorbiert ... " Wenn man Heget folgt, müßte diese Bändigung des Individuums durch die enorm gesteigerte Staatsmacht zur Verwirklichung höherer Sittlichkeit geführt haben. Aber das Gegenteil ist der Fall. Nicht nur daß der Mensch durch diese Bändigung keineswegs weniger aggressiv geworden ist (die Kriminalität z. B. hat allenthalben zugenommen), sondern die gesteigerte Staatsrnacht hat sogar zu gesteigerter kollektiver Aggressivität geführt, wie die Weltkriege dieses Jahrhunderts zeigen. Man kann also - bisher jedenfalls - nicht finden, daß Fichte mit seiner Auffassw1g von der "Kultivierung der Menschheit" im Lauf der Geschichte recht hat (vgl. dazu auch W. DHthey, a.a.O., S. 129), wohl aber, daß wahrscheinlich doch ein "göttlicher Weltplan" über der Geschichte waltet, und zwar insofern, als der Mensch für seine mangelnde Anstrengung, sich zu kultivieren, ja für sein völliges Versagen auf diesem über alles entscheidenden Gebiet die Folge der Selbstvernichtung in Kauf nehmen muß. 118 Die z. B. von Menschenrechten und ihrer Durchsetzung spricht, gleichzeitig aber Waffen zur Vernichtung von Menschen in gigantischem Ausmaß produzieren läßt.