Das Erlebnis und die Stimmung: Wilhelm Diltheys ästhetisches und historisches Denken [1 ed.]
 9783737013758, 9783847113751

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Stefan Hajduk

Das Erlebnis und die Stimmung Wilhelm Diltheys ästhetisches und historisches Denken

V&R unipress

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Inhalt

Einleitung. Dilthey und sein Ansetzen beim Leben . . . . . . . . . . . . .

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II. Gestimmte Weltanschauung und objektive Geschichtserkenntnis? 1. Stimmung als ›Lebensbegriff‹? 100 Jahre nach Dilthey . . . . . . 2. Zu-Grunde-Legen der Stimmung im Anschluss an Kant . . . . . 3. Lebensstimmungen und das methodologische Problem ihrer Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das ›Erlebnis‹ – seine Kategorisierung und deren erkenntnistheoretische Insuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Stimmungen in der Wissenschaft und Diltheyforschung . . . . . 1. Das Thema ›Stimmung‹ und die Wissenschaft . . . . . . . . . 2. Stimmungen in Literatur und Philosophie seit der Aufklärung 3. Die Lebensphilosophie und Dilthey heute . . . . . . . . . . . .

III. Ausdrucksverstehen durch ›Lebenskategorien‹ und die Zeit in der Stimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. ›Leben‹ als Ausgangspunkt von Dichtung und die komprehensive Funktion der Stimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stimmungsverhältnisse im Verstehen von Ausdruck . . . . . . . . 3. Die Bedeutungsganzheit des Lebens und die Zeitlichkeit der Stimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Erfahrung von Zeit und das Erleben ihrer Dimensionen in der Stimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Lebenskategorie der ›Bedeutung‹ und die Integrationskraft der Stimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 IV. Hermeneutische Probleme und die Ästhetik objekthafter Stimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das theoretische Potential der Stimmung und Diltheys hermeneutischer ›Irrweg‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der unumgängliche und produktive Verzicht auf Diltheys verstehenstheoretische Pointe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stimmung als ästhetische Disposition zum Verstehen von Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Hin zu einer ästhetischen Hermeneutik? . . . . . . . . . . . . . . 5. Ästhetisches Verstehen von Stimmung versus Diltheys Verstehen von Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. ›Totalstimmung‹ – von der Theorie der Hermeneutik des Lebens zur Praxis in Das Erlebnis und die Dichtung . . . . . . . . . . . . 2. ›Schaffende Stimmungen‹ – zum Verhältnis von Hermeneutik und Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wahrnehmen – Erinnern – Vorstellen. Zum Phänomen der dichterischen Phantasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Poetische und musikalische Stimmungen zwischen Aggregaten des Gefühls und des Werkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das ›Irrlicht‹ des Psychologismus, die drei ersten Gefühlskreise und die Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Von den letzten drei Gefühlskreisen zur Überschreitung von Fechners empirischem Konzept der Ästhetik . . . . . . . . . . . . VI. Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen: Kritik der Bausteine für eine Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Assoziationspsychologie nach Fechner, Versöhnungsästhetik der Harmonie und die transzendente Stimmung der ›Weltsinfonie‹ . 2. Diltheys Vernachlässigung der rezeptionsästhetischen Eindrucksdimension und sein Vertrauen auf poetologische ›Selbstzeugnisse‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wie aus psychischen Bildern poetische Bilder werden – Repräsentation oder Metamorphose? . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ästhetische Innen-Außen-Vermittlung, poetisches Darstellungsmittel und die onto-mediologische Theoriefigur: Weiterentwicklung von Diltheys Stimmungsbegriff . . . . . . . .

Inhalt

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Inhalt

VII. Zeitstimmungen und Geschichtsdenken. Kollektive Bedeutungsdimensionen eines ästhetischen Begriffs . . . . . . . . 1. Allgemeine Stimmungspragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abstrakte Begriffsverwendungen. Funktionale und methodische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wege und Umwege der geschichtlichen Erkenntnisweise . . . . 4. Die Stimmung einer Zeit, Nation, Epoche oder Generation . . . 5. Von der Dichtung zum geschichtswissenschaftlichphilosophischen Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Konzept der Stimmung im Denken von Geschichte . . . . .

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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verwendete Werkausgaben von Wilhelm Dilthey und Siglen . . . . . . .

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Einleitung. Dilthey und sein Ansetzen beim Leben

Wilhelm Dilthey (1833–1911) zählt zu den ›Repräsentanten der Epoche‹ – um gleich eine seiner geschichtstheoretischen Denkfiguren zu verwenden –, in welcher die deutschen Geisteswissenschaften den Zenit ihrer Geltungskraft im Wissenssystem insgesamt erreichten. Mit Diltheys Namen verbinden wir eine methodische Grundlagenreflexion dieser im Plural vereinten historischen Einzelwissenschaften, die ihre philosophische Relevanz bis heute erhalten und seit dem Abklingen der Zwei-Kulturen-Debatte eher noch gesteigert hat.1 Zu dieser breit angelegten, wissenschaftstheoretischen Revisionsarbeit sah sich Dilthey durch die aufstrebende Konkurrenz der Naturwissenschaften und deren – dank technischer Anwendbarkeit und industrieller Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse – inzwischen konsolidierter Vormachtstellung veranlasst.2 Diltheys letztlich transdisziplinärer Vermittlungsperspektivik entsprechend werden mit seinem Namen heute Affinitäten zwischen Philosophie und Literatur, Erkenntnistheorie und Ästhetik, Psychologie und Geschichtswissenschaft und allgemein eine Affinität zwischen Systematik und Geschichtlichkeit wachgerufen. In seinen literatur- und kulturgeschichtlichen Arbeiten manifestieren sich diese Affinitäten in einer methodischen Engführung von historischer und biographischer Rekonstruktion, z. B. in den Schriften zu Lessing, Hamann und Klopstock, Goethe, Schiller und Novalis, Jean Paul und Hölderlin, Leibniz, Hegel und Schleiermacher, sowie zu deutschen Komponisten (Bach, Händel, Haydn, Beethoven), aber auch zu preußischen Staatsmännern (Friedrich der Große, W. v. Humboldt, Hardenberg, Scharnhorst, Gneisenau). 1 Gegenüber Diltheys Differenzierungen zwischen historisch grundiertem Beschreiben und Verstehen der Geisteswissenschaften einerseits und dem kausallogischen Erklären der Naturwissenschaften andererseits, hat es im Anschluss an Snows (1987) Bestandsaufnahme mehr Konfusion und polemische Verhärtung als Klärung und Entwicklung von interdisziplinären Perspektiven gegeben. 2 Über die akademische Wirklichkeit hinaus sickerte das mit den mathematischen Naturwissenschaften verbundene Weltbild zunehmend in die Bewusstseinsstellungen auch breiterer Bevölkerungsschichten in Deutschland ein, nicht zuletzt dank der Popularisierungsbemühungen von Ernst Haeckel und Wilhelm Bölsche.

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Einleitung. Dilthey und sein Ansetzen beim Leben

Berechtigte Zweifel an Diltheys Biographismus wurden schon früh geäußert und haben sich geisteswissenschaftlich festgesetzt. Indes entgleiten seither durchaus weiterhin hergestellte Bezüge auf lebensgeschichtliche Grundlagen von Werkzusammenhängen nicht selten ins methodisch Unreflektierte.3 Mit Diltheys Namen klingt seit einigen Jahrzehnten etwas Geistig-Schwebendes, Zwischenräumliches nach – eine gewisse Unklarheit. Und dies womöglich gerade wegen seiner multilateralen Verbindungen zu Nachbardisziplinen. Diese knüpfen zu können, geht auf Diltheys vielseitiges Studium und Forschungsinteresse zurück, das die christliche Weltanschauung seiner Herkunft auffächert zu einer kulturphilosophischen Sichtweise, die gedanklich Pluralität und Heterogenität sowie perspektivisch Ästhetik und Geschichte zu integrieren weiß. Hingegen weiß heute mancher Fachvertreter nicht so recht – ist Dilthey den Philosophen oder den Philologen, eher den Kulturhistorikern oder den Wissenschaftstheoretikern, mehr der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft – oder doch mehr der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik zuzurechnen? An dieser Zurechnungsschwierigkeit ist der studierte Altphilologe und Theologe, Sohn eines protestantischen Hofpredigers, vorübergehende Gymnasiallehrer, spät promovierte und habilitierte, schließlich einer Reihe von Rufen folgende Philosophieprofessor (nach Basel 1867, Kiel 1868, Breslau 1871, Berlin 1883) nicht ganz schuldlos. Erst wagte er den Ausbruch aus der wissenschaftstheoretisch eingespielten und in ihrer disziplinären Resortverteilung ruhiggestellten Universitätsphilosophie, die er – wie zahlreiche Zeitgenossen – in ihrer Selbstbezogenheit als reine »Kathederphilosophie«4 empfand. Er ließ sich von Kant, Hegel und Schleiermacher, aber auch von Nietzsche und vor allem vom Historismus seiner Studienzeit inspirieren, grenzte sich indes von all diesen auch ab. Er entwarf seine eigene Philosophie näher am ›Leben‹ und markierte seinen Ansatzpunkt für die geplante Sammlung literaturhistorischer Aufsätze vorläufig wie folgt: »Die Frage an das Leben was es sei. Was der Mensch und was das Leben sei: die Frage packt Jeden einmal. Aus dem Leben strebt jeder einmal zur Besonnenheit über dasselbe emporzutauchen. Mit dem Leben ist leichter fertig zu werden wenn man eine souveräne Position über ihm ergreifen kann« (GS XXV 3). 3 Siehe hingegen Diltheys vor allem in Band VII der Gesammelten Schriften die theoretisch anspruchsvolle und auch methodisch gewendete Zusammenführung von Lebensgeschichtlichkeit und den Entwürfen zur ›Kritik der historischen Vernunft‹. 4 Wo nicht anders angegeben wird Dilthey nach folgender Ausgabe zitiert: Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Bernhard Groethuysen, Georg Misch, u. a., von Bd. XVIII an besorgt v. Karlfried Gründer und Frithjof Rodi, 26 Bde. Bd. 5, Stuttgart/Göttingen 1959–2005. Die fortan im laufenden Text hierfür verwendete Sigle ist GS, für den Band die römische Zahl und die arabische für die Seitenangabe, hier also GS VIII 196 et passim. Siehe zu weiteren Ausgaben von Dilthey und den entsprechenden Abkürzungen das Verzeichnis am Ende des Buches.

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Diese Ausrichtung an einem begrifflich kaum zu beherrschenden Phänomenzusammenhang sah sich schon damals – nicht zuletzt aufgrund disziplinärer Unzugehörigkeit – der Kritik zeitgenössisch vorherrschender Denkrichtungen (Neukantianismus, Naturalismus, Positivismus) ausgesetzt. Mit der philosophischen Zentralstellung des Lebensbegriffs und dessen zugleich systematischer wie geschichtlicher Entfaltung war sodann Diltheys methodologische Grundlagenreflexion der Geisteswissenschaften verbunden. Deren Profilierung gegenüber den im 19. Jahrhundert neue Maßstäbe setzenden Naturwissenschaften erfolgte über ein methodisch versiertes Verstehen, das für Dilthey über das individuelle Erlebnis auf ein kulturanthropologisch aufgefasstes Leben überhaupt bezogen war. Das Variantenreiche einer historischen Persönlichkeit wurde so mit dem Konstanten der menschlichen Natur zusammengedacht. Bei Dilthey trat an die abstrakte Exposition des naturwissenschaftlich eingestellten Beobachtens die konkrete Disposition des geisteswissenschaftlich orientierten Beschreibens. Neben den epistemischen Gegenstand ›Natur‹, wie er sich für ihn in der Perspektive von Kants reiner Vernunft konstituiert, trat der objektivierte Zustand des ›Lebens‹, wie er sich in der Perspektive von Diltheys historischer Vernunft darstellt. Während das Methodenideal exakter Wissenschaften auf ein Erklären von in ›äußerer Erfahrung‹ – vermeintlich voraussetzungslos – Identifiziertem hinauslief, entwickelte die Hermeneutik des Lebens, die beim späten Dilthey zur Methodik historischer Humanwissenschaften avancierte, das Verstehen zu einer Analytik ›innerer Erfahrung‹, deren äußere Voraussetzung geschichtlich Gegebenes ist. Mit seiner auf teils vorwissenschaftlichen, teils bereits phänomenologisch avant la lettre gedachten ›Bewußtseinstatsachen‹, auf deskriptiver Psychologie, hermeneutischer Geschichtlichkeit und nicht zuletzt auf der ›Lebendigkeit des ganzen Menschen‹ aufbauenden Theoriebildung gelang es Dilthey nicht nur, namhafte Gegnerschaft auf den Plan zu rufen (Ebbinghaus, Husserl, Rickert u. a.). Er vermochte dieser Gegnerschaft durch seinen praktisch vielseitigen und intuitiv eingängigen Rückbezug auf ›Leben‹ auch theoretisch standzuhalten. Denn anders als etwa bei Henri Bergson war damit keineswegs ein intuitionalistisch verdunkelter und letztlich substanzlogisch gedachter Grundstrom ›unserer‹ Existenz gemeint. Leben fasste Dilthey als ideellen und dann auch systematischen Ausgangspunkt sowohl von philosophischen Systementwicklungen wie von philosophischer Selbstbesinnung auf. So stellte er den aus historischen Aufklärungsbewegungen tradierten Versuchen einer rationalen Auflösung der Welt in einem metaphysisch-weltanschaulich oder wissenschaftlich-naturalistisch vorgestellten Außen die umgekehrte Perspektive entgegen:

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»Die Philosophie muß nicht in der Welt, sondern in dem Menschen den inneren Zusammenhang ihrer Erkenntnisse suchen. Das von den Menschen gelebte Leben – das zu verstehen ist der Wille des heutigen Menschen« (GS VIII, 78).

Und dieser versteht sein Leben durch wechselnde Eindrücke der Wirklichkeit, welche die »Welt in eine neue Beleuchtung« setzen: »indem solche Erfahrungen sich wiederholen und verbinden, entstehen unsere Stimmungen dem Leben gegenüber. Von einem Lebensbezug aus erhält das ganze Leben eine Färbung und Auslegung in den affektiven und grüblerischen Seelen – die universalen Stimmungen entstehen« (GS VIII 81).

Diltheys wissenschaftsphilosophisches Angebot erfolgte im Einklang seiner Zeitdiagnose, nach der sich die Welt dem geschichtlichen Bewusstsein am Ende des 19. Jahrhunderts in moderner Unübersichtlichkeit und Lebensentfremdung darstellte. Es wollte sich aber nicht als vermeintlich intellektuell überlegene Abkehr vom Wust historischer Fehlversuche verstanden wissen. Dies stellte Dilthey bereits 1867 in seiner Basler Antrittsvorlesung angesichts von »Trümmern der Philosophie« klar, die seiner Epoche vom Deutschen Idealismus hinterlassen worden waren, der »den letzten und großartigsten Versuch des menschlichen Geistes« dargestellt habe; »im Unterschied von dem Verfahren der Erfahrungswissenschaften eine philosophische Methode zu finden, auf welche eine Metaphysik gegründet werden könnte« (GS VIII, V; GS V, 13, 355f.). Hingegen verstand sich Diltheys Denkprojekt, »das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen« (GS V, 4), als die historische Chance zu einer nachmetaphysischen Versuchsanordnung. In ihr waren die Vielgestaltigkeit religiöser, metaphysischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Weltdeutungen – allesamt »einseitige, doch aufrichtige Offenbarungen der menschlichen Natur« (Misch 1960, 80) – integrativ sowie approximativ auf eine objektivierbare Erkenntnis von geschichtlicher Wahrheit bezogen. Das Problem der systemischen Vielheit von untereinander inkompatiblen Wahrheitsansprüchen wurde durch Rückkopplung an deren gemeinsame Herkunft aus dem Leben zu lösen versucht: »Die Mannigfaltigkeit der Systeme, welche den Weltzusammenhang zu erfassen strebten, steht nun mit dem Leben in offenbarem Zusammenhang; sie ist eine der wichtigsten und belehrendsten Schöpfungen desselben, und so wird diese Ausbildung des geschichtlichen Bewußtseins, welche ein so zerstörendes Werk an den großen Systemen getan hat, uns hilfreich sein müssen, den harten Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit in jedem philosophischen System und der historischen Anarchie dieser Systeme aufzuheben« (GS VIII, 78).

Dieses Zitat aus der späten Weltanschauungslehre wird hier eingangs deshalb angeführt, um vorab auf den Diltheys Werk von Anfang bis Ende durchziehenden Anspruch auf Systematizität hinzuweisen, der mit dem – anscheinend bloß vorwissenschaftlichen Intuitionen entlehnten – Begriff des Lebens verbunden ist.

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Diltheys philosophischer Lebensbezug ist von einer doppelten Einsicht flankiert: zum einen von der jede absolute Erkenntnis relativierenden Einsicht in die Endlichkeit des eigenen geschichtlichen Bewusstseinsstandpunktes; zum anderen von der Einsicht in die Unverzichtbarkeit eines Ideals von Systematizität, das wissenschaftliche Erkenntnis erst ermöglicht und historisches Bewusstsein letztlich bedingt. Diltheys soeben zitiertes ›Leben‹ scheint zunächst als Schöpfungsinstanz begrifflich an die metaphysische oder sogar theologische Vorstellung von einem transzendenten Einheitsgrund anzuschließen, aus dem jegliche Kulturformen, Denksysteme und ihre Welterklärungen hervorgehen. Sodann jedoch erscheint ›Leben‹ die weniger abstrakte Perspektive zu bilden, in der sich die philosophische und allgemeiner: die kulturelle Mannigfaltigkeit als (›belehrendster‹) Ausdruck einer »individuellen Fülle der Welt« (Misch 1960, 153) und also primordial geschichtlich verstehen lässt. Hierzu bedarf es nicht nur keiner metaphysischen Transzendenz, an der Theologen auf Kosten historischer Tiefenschärfe festhalten. Vielmehr ist seit Diltheys Geschichts- und Philosophiestudium solche Transzendenz gerade auszuschließen zugunsten einer hermeneutischen Immanenz, die nicht nur seit je Theologen verdächtig, sondern besonders Naturwissenschaftlern fremd ist. Restringieren letztere ihren Erfahrungsbegriff doch auf eine äußerlich gegenständliche, sensualistisch zugängliche und theoretisch subjektlose Welt und denken dadurch a priori ungeschichtlich, bevor dies anschließend in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive kompensiert wird. Diltheys wissenstheoretischer Immanenz gemäß wird zwischen Subjekt und Objekt des Verstehens zwar differenziert, aber nur soweit, dass sie als prozedurale Funktionseinheiten erhalten bleiben und so das ›Leben‹ gleichermaßen als Konstitutionsgrund und Erkenntnisgegenstand in den Blick rücken. Die dadurch komplizierte und doch erst ermöglichte »Ausbildung des geschichtlichen Bewußtseins« ist zwar für den Zerfall der tradierten Wissenssysteme mitverantwortlich (›zerstörendes Werk‹). Sie ist aber als historische zugleich die epistemische Basis, auf der denselben samt ihrer (absoluten) Wahrheitsansprüche ihre historische Berechtigung, relative Gültigkeit und kultureller Wert zuerkannt werden können. Solcherart hat Diltheys systemisch immanent verfahrendes Geschichtlichkeitsdenken Leben – sowie das den Vollzugscharakter desselben betonende Erlebnis – sowohl zu seinem inhaltlichen Ausgangs- und Fluchtpunkt, als auch zu seinem formalen Dreh- und Angelpunkt. Diltheys Lebens- oder Erlebnisbegriff ist durchaus nicht vitalistisch oder gar ästhetizistisch geprägt, wenn damit Oppositionssemantiken gemeint sind, die Gefühl gegenüber Verstand, Intuition gegenüber Vernunft oder Formbewusstsein gegenüber Handlungsorientierung in Stellung bringen. Vielmehr verschränken sich in diesem nicht nur individuellen, sondern auch kollektiven Lebens- oder Erlebnisbegriff Bedeutungsdi-

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mensionen des Fühlens und Denkens, des Empfindens und Vorstellens, des Wertens und Wollens zu einem wirklichkeitskonstitutiven Erfahrungskomplex. Und wir werden sehen, dass diese konzeptionelle Überlastung von ›Leben‹ zu einem affektiv-kognitiv-voluntativen Komplex durch den Begriff der ›Stimmung‹ differenziert und in ästhetischen sowie historischen Perspektiven operativ gehalten wird. Dadurch hat dessen Verwendung bei Dilthey teils symptomatischen teils systematischen Charakter. Entsprechend variiert der Stimmungsbegriff zwischen einer Bedeutungsextension, die das generelle Lebensgefühl von Individuen und Generationen umspannt einerseits, und andererseits einer Bedeutungsextension, die produktions-, rezeptions- und werkästhetische Aspekte zusammenhält. Damit ist bereits die Ausrichtung unserer Untersuchung benannt. Sie besteht darin, Diltheys Oeuvre nicht im Namen eines vermeintlichen ›Irrationalismus des Lebens‹ schlechterdings zu verwerfen (Lukacs), oder aber es lebensphilosophisch zu verklären (Bollnow) und so in beiden Fällen die bis heute aktuellen Fragestellungen darin weiterhin zu verkennen. Aktuell könnten etwa die sog. ›Lebenswissenschaften‹ das in ihnen verbreitete biologisch-naturalistische Selbstmissverständnis korrigieren, indem sie von Dilthey lernen, welche epistemologischen Herausforderungen die Berücksichtigung der Geschichtlichkeit des eigenen methodischen Ansatzes einschließlich des Lebensbegriffes selbst bedeutet. Seinerseits hat Dilthey diese Herausforderung wenigstens gesehen, ohne sie konsequent in Formen historischer Anthropologie und philosophischer Phänomenologie auch bereits angenommen zu haben. Zwar bezog er seine Begriffe ›Leben‹, ›Erleben‹ oder ›Erlebnis‹ immer wieder auf denkgeschichtliche Momente der Abwendung von metaphysischer Abstraktion zurück; etwa heißt es von Hegel: »[E]r ergänzte das Schlußverfahren Kants durch die intellektuale Anschauung [und so] entstand ihm auf der Grundlage des Erlebnisses ein in sich geschlossener Zusammenhang der Handlungen des reinen Ich« (GS IV, 48; Hvh. St.H.). Jedoch wurden die Begriffe ›Erlebnis‹, ›Leben‹ und auch ›Stimmung‹ von Dilthey nicht als Termini technici etwa von einer bio-, onto- oder psychologischen Fundierungsebene abgeleitet oder hinsichtlich ihrer Voraussetzungslogik eigens reflektiert. Gleichwohl verwendet er sie – von ihrer theoretischen Funktion her gesehen – durchaus als Konzepte, d. h. als Grundbegriffe mit systematischem Anspruch. Sie bilden selber die Voraussetzung im Sinne eines noch integrierten Ganzen vor seiner Differenzierung in kognitive, emotionale und voluntative Weltbezüge. Diese erkenntnis-, geschichts- und weltanschauungstheoretische Systematizität bei Dilthey nicht zu verkennen, ist umso wichtiger, als dass ›Leben‹ auch ein dem Zeitgeist entsprechendes Schlagwort zu seinen Lebzeiten wurde. Es tauchte nach längerer Inkubationszeit und aus einer Vielzahl geistiger Strömungen im Diskursfeld um 1900 auf und verbreitete sich zumal durch den ästhetischen Stilplu-

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ralismus in einer Zeit beschleunigter Verwissenschaftlichung, Technisierung und Industrialisierung in Deutschland. Wie in den Epochen zuvor ›Geschichte‹, ›Natur‹ oder ›Vernunft‹ konnte ›Leben‹ zum ethisch-ästhetisch überladenen Modewort und schließlich epochemachenden Begriff nur werden, insofern sich in ihm diskursive Richtungsänderungen, kulturelle Entwicklungstendenzen und dem entsprechend gewandelte Wahrnehmungsweisen sowie verschobene Werteinstellungen zu einer zeitgeschichtlich resonanzfähigen Semantik verdichteten. Bekanntlich kann solche Nähe zum Zeitgeist – damals wie heute – der Rezeption eines philosophischen Werkes schädlich, aber auch förderlich sein: erst polemische Exklusion, dann beflissentliche Inklusion auf den Feldern der ausdifferenzierten Subsysteme bewirken. Auch könnte eine vermeintlich positive Aufnahme, wie seinerzeit diejenige Diltheys als feinsinnigem Interpret geistesgeschichtlicher Größen (Das Leben Schleiermachers, Die Jugendgeschichte Hegels, die literaturgeschichtlichen Portraits von Lessing, Goethe, Schiller, Hölderlin, Novalis u. a.), negative Implikationen wie die Ablehnung seines wissenschaftstheoretischen Hauptwerks (Einleitung, Aufbau, Weltanschauungslehre) oder gar ein Absprechen philosophischer Satisfaktionsfähigkeit mitbedeuten. Zeitgeistnähe, wie sie Dilthey um 1900 mit seinem Lebenskonzept aufwies, aber auch – wie wir sehen werden – mit seinem Begriff der Stimmung, der lexikalisch wie ästhetisch im Fin de Siécle ebenfalls Hochkonjunktur hatte, birgt auch die Gefahr eines sachlich unbegründeten Vergessenwerdens zum Nachteil späterer Generationen. Dennoch ist dies Dilthey während der folgenden Zeitgeistvolten im 20. Jahrhundert nur allmählich, am ehesten noch seit Mitte der 1990er Jahre so ergangen. Umso mehr besteht heute ein Aktualisierungsbedarf für die Theoriedebatten über die Grundlagen der Emotionsforschung und der sog. Lebenswissenschaften. In jüngster Zeit sind bereits Anzeichen eines neuen Interesses zu bemerken, was nur teilweise mit dem Abschluss der Edition seiner Gesammelten Werke und dem Publikationsaufkommen anlässlich des 100. Todestages (2011) zu erklären ist. In Zeiten überhandnehmender Bürokratisierung auch der Akademia, zumal in oft unsachgemäßen Formen der Leistungsevaluierung, Effizienzquantifizierung und Wirkungsmessung, drängen hinter dem ökonomistischen Rationalitätsglauben auch wieder die lebensphilosophischen Gefühlsfragen hervor. Nicht nur haben Philosophie wie von den Vorsokratikern bis Schopenhauer, und Geschichte wie von Lukian bis Nietzsche mitunter erneut ›dem Leben zu dienen‹, sondern heute auch Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Auch wenn an systemischen Verselbständigungstendenzen der letzteren kein Zweifel bestehen kann. Ganz allgemein: welche Bedeutung etwas oder jemand für das individuelle oder gesellschaftliche oder gar das planetarische ›Leben‹ hat, scheint mit einem Mal wieder weniger naiv. »Einfallsreichtum für das Leben« ist keine zitierte Überschrift aus einem Lifestyle-Magazin, ist keine Floskel eines esoterischen Thinktanks oder eines

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neureligiösen Veganismus; so lautet auch nicht das Motto einer ökologisch angepassten Unternehmensberatung oder eines Parteitags der Grünen, sondern der Werbeslogan eines globalen Technologiemarktführers aus München (Siemens). Neben einer solchen werbewirtschaftlich-pastoralen Verwendung des Begriffs ›Leben‹ ist seit längerem der des ›Erlebnisses‹ in der zeitdiagnostischen Soziologie in Komposita wie Erlebnisgesellschaft, Erlebnisreisen, Erlebniseinkauf u. ä. alltagssprachlich gegenwärtig (im Englischen als experience). Im Dezember 2017 ist eine wissenschaftliche Konferenz der Wiederkehr des literaturwissenschaftlichen Konzepts ›Erlebnis‹ gewidmet und damit zugleich einer Neubewertung des methodischen Ansatzes von Dilthey.5 Auch, dass 2011 wieder ein Buch mit dem sich wie selbstverständlich einfach gebenden Titel »Wilhelm Dilthey«, dazu mit dem Untertitel »Philosoph des Lebens«6 sowie zuletzt wieder dem Erlebniskonzept gewidmete Studien7 erscheinen, kann beiläufig als Hinweis des Zeitgeistes auf neu zu entdeckende Relevanzen im konnotativen Umfeld des Lebensbegriffes verzeichnet werden. Zum einen greift die mit dem Lebensbegriff einhergehende Tendenz zu einer bei Dilthey alle Wissensformen erfassenden Anthropologisierung einer aktuellen Konjunktur vor, die über die Wissenschaft in den öffentlichen Raum hineinreicht. Heute werden Lebensthemen wie Zeugung und Geburt (künstliche Befruchtung, genetische Selektion), Sexualität und Identitätsentwicklung (Genderforschung, Genealogie, Adoleszenzverlängerung), Selbstverwirklichung und Arbeit (Life and Work Balance, Vereinbarkeit von Kind und Beruf) Mensch-TierDifferenz (Schutz, Sprache, Grundrechte von Tieren) sowie Tod (Sterbehilfe, Cryogenics) hinsichtlich ihrer ethischen und technologischen, gesellschaftlichen und menschheitsgeschichtlichen Bedeutungen debattiert. Zum anderen ist Diltheys wissens-, gefühls- und geschichtstheoretische Anthropologie als ein Vorläufer der gegenwärtigen Ausrichtung der Literatur- und Kulturforschung (historische, literarische, philosophische Anthropologien; poetische Theorien des Wissens, der Kultur und der Geschichte) wiederzuerkennen und auch anzuerkennen, wo sich konzeptuelle Berührungspunkte zu Kontinua im Lebensdenken verdichten. 5 Siehe das Programm zur Freiburger Tagung »Rückkehr des Erlebnisses in die Geisteswissenschaften? Diagnose und Geschichte« in unter folgendem Link: http://www.grk-erzaehlen.uni -freiburg.de/event/tagung-die-rueckkehr-des-erlebnisses-in-die-geisteswissenschaften-diagn ose-und-geschichte/ (zuletzt eingesehen am 4. 6. 2019); ferner den Rückblick auf die Bedeutung Diltheys für die Literaturwissenschaft von Kindt/Müller 2008. 6 Entsprechend ist diese Veröffentlichung weniger an ein Fachpublikum gerichtet als darauf bedacht, auf der Basis allgemeinerer Kontextualisierungen (Antike, Metaphysik, Lebensorientierung) und locker geknüpfter Referenzen neues Interesse an lebensphilosophischen Fragestellungen zu generieren. Überdies stilistisch ist am feuilletonistischen Commonsense orientiert Koreng (2011). 7 Dazu Vellusig (2013); Hiergeist (2014).

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Hier kommt der bei Dilthey auffällig häufigen Verwendung des Begriffes der Stimmung besondere Aufmerksamkeit zu. Denn Stimmungen beherrschen jenen ursprünglichen, bei Dilthey öfter auch mit ›Erlebnis‹ adressierten Wahrnehmungsbereich diesseits des reflexiven Bewusstseins, der noch von Empfindung, Gefühl und Intuition angefüllt ist und doch schon das Wollen, Denken und Handeln vorbestimmt. Gerade wegen ihrer phänomengerechten Verortung in der Disposition zu den – anscheinend ausschließlich – intentional, kognitiv und zweckrational bestimmten Bewusstseinsleistungen sind Stimmungen gegenwärtig en vogue. Über den experimentalpsychologisch restringierten Horizont hinausgehend sind es insbesondere die ästhetischen Stimmungen – solche in Literatur, Kunst, Musik und anderen Medien –, die wissenschaftliches Interesse seit einiger Zeit auf sich ziehen. Heute ist ästhetische Stimmung in ihrer nuancierten Phänomenalität, historischen Breite und philosophischen Tiefe ein genuin geisteswissenschaftliches Thema, das sich über mehr als ein Jahrzehnt über die interdisziplinäre Emotionsforschung hinaus zu einem eigenständigen Untersuchungsfeld entwickelt hat. Aus diesem schält sich momentan ein dem phrasenhaften Alltagsgebrauch entgegengesetzter Begriff von Stimmung heraus. Dessen aktualisierte Extension macht ihn aufgrund ihrer Integration vor allem von erkenntnis- und medientheoretischen sowie von raum- und zeitästhetischen Bedeutungsdimensionen zu einem gegenwartskompetenten Analyseinstrument der Kulturdiagnostik und Literaturwissenschaft. Im Vergleich mit der ›Stimmung‹ kommt jedoch die prominentere Stellung dem Erlebnisbegriff zu, der zurecht mit Diltheys Werk zunächst verbunden wird und gegenwärtig hinsichtlich seiner möglichen Rehabilitation diskutiert wird.8 Wie bei der ›Stimmung‹ so ist für die gegenwärtige Forschungslage beim ›Erlebnis‹ zu bedenken, das Dilthey dieses nicht nur auf biographische und ästhetische Erfahrungen eines individuellen Subjekts bezieht. Vielmehr ist bei ihm auch vom Erlebnis einer Generation oder einer Epoche die Rede, und das Subjekt des Erlebens ist dann ein kollektives Subjekt von Geschichte. Wie Stimmungen sich transsubjektiv auf atmosphärische Qualitäten des Raumes, des Sozialen oder Epochalen erstrecken können, so kann das Erlebnis als innere Erfahrung durchaus die überindividuelle Dimension einer Einheit von bedeutsamer Erfahrung bezeichnen, deren Träger eine Gesellschaft, Kultur oder Zeit ist. Deshalb eignen sich Diltheys Begriffe ›Erlebnis‹ und ›Stimmung‹ dazu, seinem ästhetischen und historischen Denken nachzugehen – und zwar gerade auch dort, wo dieses in den Formen der Kritik der historischen Vernunft bzw. der Einfühlungshermeneutik als gescheitert angesehen wurde. Seitdem die dem szi8 So auch im Vortrag von Rüdiger Campe, Drei Momente in der Formation der Humanities: Vico, Dilthey, Foucault/Kittler auf der Freiburger Tagung zum Thema: »Rückkehr des Erlebnisses in die Geisteswissenschaften? Diagnose und Geschichte«, Freiburg (14.12.–16. 12. 2017).

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entifischen Zeitgeist des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts folgenden Versuche einer Verbannung von nicht streng definierbaren Begriffen in Sackgassen selbstreferentieller Methodenakrobatik endeten, werden flexible Begriffsextensionen zugunsten phänomenadäquater Beschreibungskategorien wieder mehr geschätzt. Diltheys Suche nach ›flüssigen Begriffen‹ zur Überwindung der institutionellen Verhärtungen in der Wissenskultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts findet heutige Entsprechungen in einem von Medialität informierten Denken des Poststruktural-Entgrenzten oder Ästhetisch-Transgressiven, des Systemtheoretisch-Sozialen oder Netzwerkartig-Interkulturellen.

I.

Stimmungen in der Wissenschaft und Diltheyforschung

1.

Das Thema ›Stimmung‹ und die Wissenschaft

Wer Stimmungen wissenschaftlich thematisiert, wie dies in Europa und USA inzwischen seit gut einem Jahrzehnt auf einem interdisziplinären Forschungsfeld getan wird, musste bis vor Kurzem damit rechnen, auf eine Reihe von Widerständen zu stoßen. Diese rührten zum einen vom jeweiligen fachspezifischen Selbstverständnis und von entsprechenden institutionellen Traditionen her. Zum anderen formieren sich noch immer Herausforderungen um das vermeintlich ephemere Phänomen der Stimmung selbst; und sie stellen sich aus der seiner Ungreifbarkeit entsprechenden Begriffsgeschichte. Wo diese sich auf den ästhetischen und poetologischen Begriff bezieht, wie er für die Literaturwissenschaft maßgeblich ist, sind – nach Spitzers (1964 [1944]) wort- und bedeutungsgeschichtlicher Studie Mitte des 20. Jahrhunderts – Anfang des 21. Jahrhunderts von Wellberys (2003) wegweisenden Lexikonartikel die Hauptlinien der historischen Semantik von Stimmung gründlich herausgearbeitet worden. In der daran anschließenden Forschung wird jedoch – wie schon von Dilthey – zumeist nicht oder nicht hinreichend zwischen dem ästhetischen und dem psychologischen Begriff von Stimmung unterschieden. Hinreichend wäre diese Unterscheidung erst, wenn deutlich bliebe, wann von Stimmung als einem Gegenstand psychologischer und wann als einem Gegenstand ästhetischer Erkenntnis die Rede ist und das Interesse sich entsprechend auf typologische oder aber auf ereignishafte Phänomene einstellen kann. Während nämlich die wissenschaftliche Psychologie in systematischer Absicht ein Phänomen wie die Stimmung nach Gesetzen seiner Entstehung und nach Regeln seines Verlaufs erfasst, untersucht die literaturwissenschaftliche Ästhetik Stimmungsphänomene hinsichtlich der Kontingenz ihres Auftauchens und der Einzigartigkeit ihrer Ausprägung. So kann Robert Musils »Skizze der Erkenntnis des Dichters« (1918) gemäß zwischen der Psychologie als Beispiel für das »ratioide Gebiet« und der Ästhetik als Beispiel für das »nicht-ratioide Gebiet« unterschieden werden:

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Stimmungen in der Wissenschaft und Diltheyforschung

»War das ratioide Gebiet das der Herrschaft der ›Regel mit Ausnahmen‹, so ist das nicht-ratioide Gebiet das der Herrschaft der Ausnahmen über die Regel. Vielleicht ist das nur ein gradueller Unterschied, aber jedenfalls ist er so polar, daß er eine vollkommene Umkehrung der Einstellung des Erkennenden verlangt« (GW II, 1028).

Wo die psychologische Emotionsforschung sich wiederholende Stimmungsmuster nach ihrer Funktion im psychischen Apparat klassifiziert, nuanciert die ästhetische Literaturforschung sich ereignende Stimmungsmomente nach ihrer Funktion im literarischen Text. Letztere rechnet geradezu mit der Unberechenbarkeit der hier zu erkennenden Tatsachen: »Die Tatsachen unterwerfen sich nicht auf diesem Gebiet, die Gesetze sind Siebe [bei deren Anwendung die Löcher nicht weniger wichtig sind als das feste Geflecht], die Geschehnisse wiederholen sich nicht, sondern sind unbeschränkt variabel und individuell« (GW II, 1028).

Folgt der heutige Literaturwissenschaftler Musils Umkehrung der Einstellung des Erkennenden, die er selbst auch biographisch vom Experimentalpsychologen zum Schriftsteller vollzogen hat, dann verändern sich mit der Perspektive auf den Erkenntnisgegenstand ›Stimmung‹ auch die Begriffsextension und der Phänomenbestand derselben. An die Stelle teils empirischer teils definitorischer Abgrenzungen vom Gefühls- oder Affekterleben bzw. von den entsprechenden semantischen Feldern – etwa durch Unterscheidung nach Dauer, Intentionalität oder Objekthaftigkeit –, treten z. B. funktionale Differenzierungen von ästhetischen Konfigurationen auf den Ebenen von Wahrnehmung, Darstellung und Reflexion. Zudem variiert dasjenige, was als Stimmung identifiziert wird, je nach erkenntnisleitendem Blickwinkel, also etwa unter Aspekten der Gattungspoetik sowie der Produktion, Rezeption oder auch Motivgestaltung von Texten. Vor allem aber weiß der Stimmungsforscher, was schon Nietzsche wusste: »Alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehen sich der Definition; definierbar ist nur, was keine Geschichte hat« (Nietzsche 1966, 820). Stimmung aber hat eine Wort-, Bedeutungs-, Begriffsgeschichte, in der sie sich nuancenreich als Einheit aus Mannigfaltigkeit darstellt. Darüber hinaus untersucht der Literaturwissenschaftlicher sprachästhetische Phänomene, indem er einen Begriff wie Stimmung, wie es Dilthey vor allem mit Erlebnis tat, systematisch auf (Literatur-)Geschichte bezieht. Während Dilthey ›Erlebnis‹ vor allem als Verstehenskategorie für die historisch-soziale Einfühlung in individuelle sowie kollektive Erfahrung verwendet, fungiert ›Stimmung‹ – ihrerseits sowohl in personaler wie kultureller Deklination – als Verstehenskategorie für die ästhetisch-ethische Disposition zu eben dieser Erfahrung. Dieser ebenso theoretische wie pragmatische Stimmungsaspekt, der bei Dilthey implizit geblieben ist, kann im gegenwärtigen Forschungsklima fruchtbar gemacht werden.

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Dabei muss die ästhetische wie historische Stimmungsforschung bei ihren Übergängen zwischen und der Integration von interdisziplinären Perspektiven zumindest auf begriffliche Diskontinuität, phänomenale Heterogenität und semantische Ambiguität gefasst sein. Dies aber war Dilthey noch keineswegs. Um 1900 machte er in den Bereichen der Literaturgeschichte, der Weltanschauungsphilosophie und Psychologie vom Stimmungsbegriff kaum differenziert aber umso häufiger in Kombination mit ›Leben‹ oder ›Erlebnis‹ Gebrauch und schrieb ihm dadurch bis heute wirksame Bedeutungsassoziationen ein. Dabei ist zu beachten, dass Diltheys beschreibende Psychologie hinsichtlich ihrer Ausrichtung am seelischen Beziehungszusammenhang (einschließlich der aus diesem entspringenden Willensimpulsen, Denkformen und Handlungsmotiven) einer poetischen Psychologie ähnlicher ist als der empirischen Psychologie. In letzterer aber ließ der zitierte Musil sich in Berlin während Diltheys letzten Lebensjahrzehnts ausbilden, um sein Leben dann doch gänzlich der ersteren zu widmen. Anders als Diltheys vorphänomenologischer Ansatz zur Psychologie verfehlt der naturwissenschaftlich orientierte Ansatz schon mit seinen empirischen Methoden das Gegenstandsfeld der »Erkenntnis des Dichters«: »Psychologie gehört in das ratioide Gebiet und die Mannigfaltigkeit ihrer Tatsachen ist auch gar nicht unendlich, wie die Existenzmöglichkeit als Erfahrungswissenschaft lehrt. Was unberechenbar mannigfaltig ist, sind nur die seelischen Motive und mit ihnen hat die Psychologie nichts zu tun.« (GW II, 1029)

Bevor im weiteren Verlauf unserer Untersuchung von Diltheys Werk, das mit der empirischen Ästhetik und Psychologie seiner Zeit in keiner fruchtbaren Auseinandersetzung entsteht, kaum noch auf die naturwissenschaftlich verfahrende Forschung einzugehen ist, sollen hier einige Hinweise auf deren Probleme mit Stimmungen vorangestellt werden. Es handelt sich in diesem nicht-ästhetischen Bereich – oder: in Musils ›ratioidem Gebiet‹ – um ein grundlegendes Problem, das sich der empirischen Emotionspsychologie in Form einer theoretisch-methodischen Herausforderung stellt. Wie die neuzeitliche Wissenschaftlichkeit insgesamt definiert die Emotionspsychologie sich über die Objektivierbarkeit von Erkenntnis und eskamotiert dazu das Subjektive im Methodischen; mit der Folge, dass vor der Subjekt-Objekt-Spaltung konstituierte Phänomene wie die Stimmung für die vorherrschende Episteme konturlos bleiben. In dieser wissenschaftsgeschichtlich und wissenschaftstheoretisch etablierten Perspektivik kennzeichnet etwas wie Stimmung ein doppelter Mangel: sowohl an Theoriefähigkeit als auch an Experimentalfähigkeit. Solche strukturellen Defizite erschwerten der Stimmung den Zugang zum selektiven Kreis epistemischer Gegenstände. An gestalttheoretische Vorarbeiten vor allem der 50er Jahre anknüpfend, nimmt die empirische Stimmungsforschung ihren Aufschwung erst seit den 1980er Jahren, als sich die wissenschaftliche Psychologie verstärkt dem

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Zusammenhang von Kognition und Emotion zuwandte und diesen unter dem Aspekt konstitutiver Wechselbeziehungen seither bestätigte.9 Dabei werden Stimmungen in gedrückte, mittlere und erhöhte oder aber entlang der Achse angenehm/unangenehm eingeteilt, um methodisch einen Ausgangspunkt sowie ein potenzielles Spektrum zu markieren.10 Die bloß grobschematische Aufteilung soll weitergehende Prämissen vermeiden, da solche die Gefahr einer Präjudizierung von Untersuchungsergebnissen mit sich brächten. Dadurch bleibt jedoch nicht nur im Ergebnis die faktische Vielfalt nuancierter Stimmungen ausgeblendet. Vielmehr wird vom Ansatz her eine der Erfahrung von Stimmungen gemäße Betrachtungsweise verfehlt. Im Kern dieses Verfahrensproblems, wie es seit gut einhundert Jahren im Umfeld der experimentellen Psychologie und Emotionsforschung auftritt, geht es um ungelöste Spannungen zwischen definitorischen Voraussetzungen und experimentellen Verifizierungen. Ohne diesen Zusammenhang ausführlich zu explizieren, wie ich dies an anderer Stelle getan habe, soll das Problem hier kurz zusammenfasst werden, das psychologische Forschungsansätze trotz ihrer verstärkten Zuwendung zu Gefühlen und Stimmungen seit den 1980er Jahren nicht losgeworden sind.11 Das Problem besteht darin, dass dasjenige, was in der experimentalen Emotionsforschung gemessen werden kann (z. B. Hautleitfähigkeit, Herzrate oder Hirnarealaktivitäten), nicht oder nicht überzeugend begründet als Stimmung identifiziert werden kann.12 Entweder wird dieses empirische Defizit durch ein

9 Siehe zunächst grundlegend Morris (1989); im Zusammenhang der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung Winko (2003) 69–109, darin zur Psychologie 69–77, zur Stimmung 77–78. Siehe bei Winko (70) auch den Verweis auf psychologisch weiterführende und umfassendere Forschungsüberblicke zum Thema Emotionen von Vogel (1997, 43–106) sowie Alfes (1995, 54–85). Siehe zu begrifflichen Unterschieden und Gemeinsamkeiten sowie Paradigmenwechseln in der Geschichte der Stimmungs- und Emotionsforschung Parkinson u. a. (2000, 16–24); cf. Janke u. a. (2008); Reisenzein und Siemer (2013, 105ff.), darin zum gegenwärtigen Stand der Entwicklung von psychologischen Stimmungstheorien 108–117. 10 Hier könnte die ästhetische Forschung zur einer Ausdifferenzierung des Beschreibungsinventars psychologischer Untersuchungen und insbes. zu den dynamischen Aspekten der Stimmung beitragen. Das Manko semantischer Unterkomplexität psychologischer Stimmungserfassung benennen Parkinson u. a. wie folgt: »Trotz der allgemeinen Schlußfolgerung, daß Stimmungen mehr umfassen als nur Lust-Unlust und Aktivierung, hat man sich bei der Erforschung von Stimmungsvorgängen und ihrer Beziehung zu anderen psychologischen Faktoren speziell auf diese beiden Dimensionen konzentriert, vor allem auf die Dimension angenehm-unangenehm. […] Im Hinblick auf spezifischere Stimmungsqualitäten sind künftig noch weitere begriffliche und methodische Arbeiten erforderlich« (2000, 59). 11 Ausführlich dazu Hajduk (2016, 37–51). 12 Zu Versuchen, Stimmungen über den Hautwiderstand und die Herzschlagfrequenz zu messen Parkinson u. a. (2000, 80); außerdem Janke u. a. (2008). Siehe hierzu den Beitrag, der die Ergebnisse eines Versuches auswertet, bei dem das Lesen von Gedichten als Stimmungsinduktion fungiert und außerdem Spannungen der Gesichtsmuskulatur gemessen werden, um Verbindungen zu verschiedenen Affekten aufzuzeigen: Lüdtke u. a. (2013); cf.

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beträchtliches Maß an theoretischen Ergänzungen in Form von Vorannahmen zur Experimentalanordnung und von Ergebnisinterpretationen kompensiert. Oder aber umgekehrt werden diese nicht-empirisch gestützten Theorienanteile so geringgehalten, dass sie zu wenig aussagekräftig sind; namentlich hinsichtlich desjenigen, was experimentell herausgefunden wird. Beides Mal bleibt ungeklärt, wieso jetzt – d. h. definitorisch vorab oder anschließend resultativ – von Stimmungen gesprochen wird und nicht etwa von (objektgebundenen) Emotionen, (empfindungsinduzierten) Spannungsgefühlen oder (situativen) Affektschwankungen. Dieses Problem taucht gelegentlich auch im Umkreis der literaturwissenschaftlichen Forschung auf – wie etwa bei der cognitive poetics –, wenn an Probanden die emotionale Wirkung in Relation zur ästhetischen Beurteilung oder Reaktionen beim Lesens oder Hören von Stimmungsgedichten experimentell gemessen werden. Wäre demnach das Methodenproblem der empirischen Psychologie zugleich eines, das transdisziplinär Bestand hätte? Dies träfe nur dann zu, wenn man die experimentelle Verfahrenslogik zum wissenschaftlichen Goldstandard verallgemeinerte. Wer dies tut, der lässt die spezifischen Erkenntnismöglichkeiten der historischen Wissenschaften und der ästhetischen Hermeneutik außer Acht, deren philosophische Grundlagenreflexion erstmals auch programmatisch im Werk Diltheys ihren Ort hat. Auch hat derjenige, dem nur Beliebigkeit als Alternative zu methodischem Objektivismus einfällt, erst recht zur Frage der Wahrheitsfähigkeit von Kunst oder gar zu Musils »Erkenntnis des Dichters« keine besondere Meinung; oder einfach keine Erfahrung damit, weil Literatur allein der Unterhaltung zu dienen habe und Kunst letztlich auf ihre ornamentale Funktion reduziert ist. Das hier benannte Methodenproblem des Bezugnehmens auf etwas objektiv sich Entziehendes lässt sich in einer poetologischen Theorie der Stimmung hingegen vermeiden.13 Denn an deren Ausgangspunkt steht das Modell einer ästhetischen Reflexion, die ihren Gegenstand insofern selbst mit hervorbringt, wie sie sich begrifflich auf ihn bezieht. Dies aber funktioniert nur dann, wenn das Phänomen der Stimmung vorreflexiv allerdings gegeben ist. Dies mag bei empirischen Subjekten wie es auch Dichter und Leser sind, der Fall sein. Methodologisch entscheidend jedoch ist die vorthematische Gegebenheit von Stimmungen in literarischen Subjekten, Szenen und Räumen – oder in jeder Form von ästhetischer ›Objektivation‹, wie Dilthey sagen würde. Literaturwissenschaftlich gegenstandsfähig und also untersuchungsmöglich sind Stimmungen methodisch verwandte Versuche am Berliner Forschungszentrum Languages of Emotion wie den von Altmann u. a. (2012). 13 Siehe den Versuch einer methodischen Grundlegung der literaturwissenschaftlichen Stimmungsforschung Hajduk (2016, 61–198), insbesondere die Definition von literarischer Stimmung und ihre anwendungsbezogene Explikation 127–163.

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nicht direkt als psychisches oder vorreflexiv präsentes Phänomen, sondern als ästhetisches, semiotisches und letztlich mediales Phänomen.14 Was in der historischen Literatur- und Kulturforschung vorab als Stimmung in Texten und anderen Medien identifiziert werden kann, bedeutet nicht auch schon, dass dadurch methodisch das Ergebnis von Stimmungsuntersuchungen präjudiziert wird. Anders als im circulus vitiosus kommt es beim hermeneutischen Zirkel – nach Heidegger und Gadamer – durchaus darauf an, wie man in diesen hineinkommt. Diesen Einstieg in die Bewegung des Verstehens selbst und damit die Erschließung eines Zugangs zum Stimmungsphänomen werden wir anhand von Diltheys Hermeneutik noch diskutieren (Kap.III). Von unserer Auseinandersetzung mit Dilthey her wird die Notwendigkeit für die heutige Literaturwissenschaft absehbar, ihren ästhetisch-hermeneutischen Verstehensansatz explizit und operabel zu machen, indem sie den Stimmungsbegriff in eine methodologische Reflexion einbettet. Dadurch wird ein literaturwissenschaftlicher Umgang mit Phänomenen nachvollziehbar, von denen der Forscher, Leser oder auch Autor begründet annehmen darf, dass es sich dabei um Stimmungsphänomene handelt. Eine solche methodisch-theoretische Konturierung von Stimmung stellt eine allenfalls ansatzweise geschlossene Lücke der Forschung dar.15 Denn in der Forschung lässt sich zum einen der Trend zu einer deklarierten Theorieabstinenz erkennen, die implizit dennoch auf theoretische Positionen rekurriert; zum anderen ein Trend zur Ausklammerung der Stimmung aus Methodenfragen. Entsprechend wünschenswert erscheint deshalb die Klärung des diesen Trends zugrundeliegenden Problembewusstseins, von dem die theoretische Herausforderung an die Stimmungsforschung ausgeht.16 Wo sich aufgrund ihres naturwissenschaftlich orientierten Selbstverständnisses die Psychologie mit Stimmungen methodologisch schwertut, da könnte sich die kulturwissenschaftlich revidierte Hermeneutik der mit dem Phänomen selbst gegebenen Herausforderung stellen. Besteht diese doch darin, Zugang zu einem Erkenntnisgegenstand zu finden, der auf dem prätranszendentalen Feld angesiedelt ist. Das heißt Stimmung ist – im Sinne Kants – der kategorialen Reflexion von Ermöglichungsbedingungen für Erkenntnis entzogen. Stimmung fungiert bereits als ein konstituierendes Element der Wahrnehmungsstruktur, also noch vor deren Entfaltung in die Zweiseitigkeit des Wahrnehmenden und Wahrgenommenen. Von ihrem Ursprung im Selbst- und Weltgefühl her begleitet die Stimmung – gewöhnlich unbemerkt – jede einzelne Wahrnehmungsbewe14 Siehe zur literaturwissenschaftlich reflektierten Methodik der Stimmung noch einmal Hajduk (2016, 127–164). 15 Ansätze dazu sind zu finden bei Winko (2003), Gumbrecht (2011), Hajduk (2016); mit epochenübergreifenden Perspektiven Jacobs (2013) und Reents (2015). 16 Cf. meinen grundlegenden Klärungsversuch Hajduk (2016); siehe hingegen Gumbrechts (2011) ambivalente Position; dazu Birnstiel (2017, 333–34), Kaminski (2018, 142).

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gung. Sie färbt nicht erst – wie es bei Bollnow und der ihm weitgehend folgenden Psychologie heißt – jede Ganzheit von Erfahrung(en), sondern grundiert diese bereits und dies zumeist selbstverständlich und unbewusst. Deshalb kann sich das mit Stimmung bezeichnete Gefühl phänomenologisch gerade dadurch auszeichnen, dass es nicht auf etwas gerichtet oder gar auf eindeutig Bestimmtes ausgerichtet ist. Entsprechend ist die Extension des Begriffes Stimmung von einer Flexibilität bestimmt, die semantische Unschärfe garantiert und damit der strukturellen Mannigfaltigkeit entspricht, welche die individuell, situativ und letztlich historisch nuancierten Stimmungen in Literatur auszeichnet. Die flexibel unscharfe Begriffsextension lässt die Bedeutungen von ›Stimmung‹ zwischen anthropologisch generalisiertem Empfinden überhaupt und psychologisch, ästhetisch wie auch kulturell spezifizierten Empfindungsqualitäten flottieren. Der Geschichtlichkeit von Individualität entspricht hier die Unendlichkeit von Variation und beiden entspricht die Differenzialität von Stimmung. Als Gegenstand der Literaturwissenschaft ist somit Stimmung die formale Einheit in der inhaltlichen Vielheit ihrer selbst. Dem zugrunde liegt die phänomenhistorische Entwicklung von Stimmung zu einer wahrnehmungssinnlich grundierten Vollzugsform von Subjektivität. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts verbreitet sich das Phänomen von Stimmung als Modus der Koinzidenz von historischer und ästhetischer Erfahrung sowie von anthropologischer und individueller Erfahrung. Zur gleichen Zeit beginnt der Begriff von Stimmung seine Reise durch die sich ausdifferenzierenden Diskurse der Wissenschaften vom Menschen.17 Die von Herder und Kant über Schiller, Fichte und Humboldt bis Schopenhauer und Nietzsche zu beobachtende Subjektivierung des ästhetischen Stimmungsphänomens knüpfte an die Figur einer von außen affizierten Innerlichkeit an wie sie die Aufklärung seit der Empfindsamkeit weiter eingerichtet und kultiviert hatte. Bereits zum Auftakt des Sturm und Drang hatte Herder die Stimmung im Zusammenspiel mit ›Ton‹ und ›Klang‹ in kulturanthropologische, sprachphilosophische sowie psychogenetische Reflexionsperspektiven gestellt und damit zu einer ästhetischen Theoriefigur gemacht. Ging Stimmung bei Kant noch in der eher technischen Rolle der Koordinatorin der Erkenntnisvermögen auf, so ist sie in Schillers ästhetischer Erziehung bereits die ›freie‹ Choreographin der physischen, logischen und moralischen Gemütskräfte insgesamt.18 Humboldt verortet sie ebenfalls im ästhetischen Sinne des »allgemeinen Zustandes der Seele« – wie später Dilthey – am kreativen Ausgangspunkt des poetischen Produktionsprozesses.19 Nach 1800 schließlich können Schelling, Hölderlin und 17 Siehe hierzu Welsh (2012). 18 Cf. Schillers Rede von ›freier‹ und ›mittlerer Stimmung‹ im Zusammenhang des ästhetischen Zustandes in Schiller (1962, 375). 19 Als solche heißt sie »die subjective Stimmung« bei Humboldt (1904, 318).

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Hegel die Stimmung dem Bewusstsein eines Ich zuschreiben. Dessen ebenso transzendentaler wie naturphilosophischer Idealismus lässt das Ich nicht nur ganz bei sich sein, sondern ermöglicht ihm durch die Stimmung eine poetische »Empfindung des Ganzen«.20 Nach verwundenem Abstand zum Deutschen Idealismus erneuerte sich um 1900 aus den Kulturkrisen des Ich, der Vernunft und der Sprache eine ursprünglichere Bedeutungsdimension von Stimmung. In ihr ist das Gestimmte zunächst Außen, das Stimmende geht von den Dingen und deren wechselnden Ensembles aus. Hier meint Stimmung den atmosphärischen Zusammenhalt der Erfahrungsgegenstände und überzieht oder tränkt als vereinheitlichende Färbung das Feld der kollektiven wie individuellen Wahrnehmung, z. B. Menschenansammlungen auf Plätzen oder in Sälen, Natur- oder Kulturlandschaften, Architektur oder Interieurs. In einer Ernst Machs empiriokritizistischem Ansatz nicht unähnlichen Perspektive schwebt das ästhetisch objektive Ich gleichsam unrettbar in einem Meer von Empfindungen, deren Zusammenspiel als eine wieder aufgetauchte Art sensorium commune die Stimmung ausmacht und deren Subjekt zugleich überflüssig macht. Sofern am empfindenden Subjekt festgehalten wird, indem es sich vom Gesamt der Empfindungstatsachen noch einmal abheben lässt, ist die Stimmung für dasselbe die jedem Augenblick anhaftende Umgebungsqualität. Deren Beschaffenheit kann so oder so, mehr oder weniger beständig, auch unterschiedlich intensiv sein; immer aber ist sie durch eine kontinuierlich sich wandelnde Unbestimmtheit bestimmt. Will man im doppelten Eindruck ihrer andauernden Aktualität und zugleich signifikanten NichtIdentität dennoch etwas Genaueres – oder überhaupt etwas mit Bestimmtheit – über eine Stimmung aussagen, dann verfehlt man leicht gerade dasjenige, was sie ausmacht: ihre phänomenale Diffusität und begriffliche Verschwommenheit. Gerade ihre Ungreifbarkeit als Phänomen qualifiziert die Stimmung schließlich für Dilthey zur Verwendung als ein »flüssiger Begriff« (Bergson 1991, 180), der die seit dem Historismus vakant gewordene Stelle einer idealistischen Vermittlungsleistung zwischen Ich und Welt besetzt. Entsprechend fluid ist der verdeckt systematische Einsatz von ›Stimmung‹ als historischer und ästhetischer Begriff erst in den literaturwissenschaftlichen Schriften und dann auch in der »Philosophie der Philosophie« (GS VIII). Vor allem unter dem Bedeutungsaspekt des Integrativen hinsichtlich von phänomenal Heterogenem bildet der Stimmungsbegriff den Konnex zwischen den systematischen Ansprüchen des Wissenschaftsphilosophen Dilthey einerseits und der historischen Rekonstruktionsarbeit des Philologen Dilthey andererseits. 20 Die Formulierung »Empfindung des Ganzen« verwendet Hegel zur Bestimmung von Liebe im religionsphilosophischen Zusammenhang; siehe diese Stelle zitiert in Diltheys Schrift ›Die Jugendgeschichte Hegels‹ (GS IV 95).

Stimmungen in Literatur und Philosophie seit der Aufklärung

2.

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Stimmungen in Literatur und Philosophie seit der Aufklärung

Aufgrund dieser philosophisch nicht nur interessanten, sondern auch verdächtigen Charakterzüge war die Stimmung ein Je-ne-sais-quoi im Zeitalter der Aufklärung. Aus deren wissenskulturellen Unterströmungen tauchte sie jedoch überhaupt erst als poetische Figuration, dann auch als philosophische Figur auf. Die eigentlich ästhetische Emergenz der Stimmung erfolgt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Sie lässt sich – wie ich in meinem Buch Poetologie der Stimmung gezeigt habe – zunächst im Feld der Literatur beobachten. Nachdem sie sich aus den musikalisch-technischen Bedeutungsschichten hinreichend herausgelöst hatte, konnte ›Stimmung‹ ihre objektzentrierte Funktionalität zu ästhetischer Subjektivität hin erweitern. Und wie umgekehrt schließlich subjektive Reflexion durch Stimmungen durchlässiger für sinnliches Wahrnehmen wird und das Bewusstsein selbst mediale Züge annimmt – dies zeigt sich allerdings weniger in der Philosophie als vielmehr in der Literatur um 1800. In literarischen Stimmungen seit Goethe, Jean Paul, Tieck, Novalis und Hölderlin klingen die musikologischen, kosmologischen und physiologischen Begriffsvalenzen des 18. Jahrhunderts21 nur noch insofern nach, wie sie befreit von systematischen Zwängen umso offener sind für assoziative Neuverbindungen im freien Spiel ästhetischer Zeichen. Besonders in der Literatur boten sich der Stimmung – im Anschluss an die Diskurse über Leidenschaften, Empfindung und schließlich Gefühl – historisch bedingte Freiräume für ihre ästhetische Expansion, namentlich für gattungspoetisches und synästhetisches Experimentieren.22 Mit ihrem Aufstieg – in Verbindung mit Ideen wie ›Transzendentalpoesie‹ – in den konzeptuellen Kernbereich der deutschen Romantik erreichte die Stimmung einen ersten Höhepunkt ihrer kulturellen Karriere. Ihm folgte der internationale und zugleich intermediale Durchbruch in den weltweit nachfolgenden Romantikbewegungen sowie in den anderen Künsten: der Musik, dem Theater, der Oper, der Malerei; im späteren 19. und dann 20. Jahrhundert außerdem in den neueren Medien visueller Bildlichkeit: in der Photographie, der Filmkunst, aber auch in der

21 Dem widmet sich der Sammelband von Moosmüller u. a. (2017); cf. dazu Hajduk (2018). 22 Dilthey verwendet Stimmung explizit mit Bezug auf poetische Synästhesie in seiner Schrift über Jean Paul, namentlich wo dessen »seelische Struktur« sich im dichterischen Umgang mit idyllisch ästhetisierter Landschaft spiegelt: »Er versetzt uns ganz in die Stimmung, welche die Landschaft in uns erweckt […] dieser musikalische Stil will nirgend zuerst und vornehmlich die Gegenstände sehen laßen, sondern er malt das Gefühl, das sie hervorrufen. Musikalisch ist auch die beständige Anwendung harmonischen Zusammenklingens der Eindrücke des Gesichtes, des Gehörs, der Erinnerung, das Verschwimmen und Verwehen der Bestimmtheit in dem so entstehenden Gesamteindruck« (GS XXV 333; cf. 356).

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Bildhauerei, der Architektur, im modernen Tanz oder im digitalen Zeitalter in audiovisuellen Medien. Gleichzeitig zu ihrem Aufkommen als ästhetisches Phänomen – und bemerkenswert ungeachtet ihres künstlerischen Höhenflugs – blieb die Stimmung dann wissenschaftlich weit weniger beachtet und im Abseits des Diskurses virulent. War ihr doch im auch wissenschaftsgeschichtlich langen 19. Jahrhundert mit seinen anti-idealistischen Erfolgen von Positivismus, Materialismus und Naturalismus der epistemologische Index der Gegenstandslosigkeit gleichsam auf die zarte Stirn geschrieben. Diese ebenso strukturelle wie latente Stigmatisierung von Stimmung im kulturellen Wissenssystem ist jedoch nicht auf die historische Epoche der funktionalen Ausdifferenzierung, der evolutionsbiologischen Theoriebildung und der soziologisch-ökonomisch-technisch eingestellten Realismen des 19. Jahrhunderts beschränkt. Auch im 20. Jahrhundert kommt es im Anschluss an die Weltkriege zu neuen Sachlichkeiten als ästhetischpolitische Antworten auf das bellizistische Gemeinschaftspathos und die korrumpierte Massenmoral zur Zeit der Imperialismen und Totalitarismen. Die Konjunktur des Stimmungsbegriffes hängt stark von gesamtkulturellen Entwicklungen ab, die zuerst von der Kulturdiagnostik als Zeitgeist beschrieben und oft erst im Nachhinein sichtbar werden. So folgten auf die historische Hitzewelle und patriotische Hochstimmung der noch einmal metaphysisch überhöhten ›Ideen von 1914‹ eine intellektuelle Kälte und gesellschaftliche Ernüchterung zu neuer Sachlichkeit während der Weimarer Republik. Aber damit hatte das Zeitalter der Extreme (Hobsbawm) mit seinen ideologisch-moralistischen Verspannungen, militärisch-nationalistischen Aggressionen und gruppenaffektiven Mobilmachungen den historischen Kulminationspunkt noch nicht überschritten. Erst der nationalsozialistische Propagandaton, der faschistisch enthemmte Rassenhass sowie die technisierten Tötungs- und Zerstörungsexzesse hinterließen eine zivilisatorische Katerstimmung von welthistorischem Ausmaß. Die Epoche nach 1945 wird so auch unter stimmungsgeschichtlichem Aspekt bezeichnend unter dem Schlagwort des Kalten Krieges geführt.23 Mit Eintritt in die Phase seines kritischen Reflexivwerdens gegen Mitte der 1960er Jahre erfasst dieser zwischen technisch-bürokratischen Sachzwängen und politisch-ökonomistischen Alternativlosigkeiten sich behauptende Zeitgeist eines kühlen Positivismus auch die Geistes- und Sozialwissenschaften. War teilweise 23 Indes war die kulturhistorische Herkunft von ›Stimmung‹ bereits Gegenstand von Spitzers (1963) Untersuchung zu einem Zeitpunkt 1944, als die Zerstörungskraft kollektiver Stimmungen einen historischen Höhepunkt erreichte, nachdem das revanchistische Drama des ›Völkerringens‹ die politische Weltbühne erobert hatte und das historische Umschlagen von nationalsozialistischer Hochstimmung in die Endsiegdelirien und sich ankündigenden Untergangsdepressionen des ›Tausendjährigen Reiches‹ zur Aufführung gebracht wurde.

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bis in die 70er Jahre noch von Stimmungen in Gedichten oder Epochen, in Lebenswerken oder Nationalgeschichten die Rede ohne sich damit dem Verdacht einer unwissenschaftlichen Darstellungsweise, schwammigen Terminologie oder gar reaktionären Gesinnung auszusetzen, – so verstärkt seit dem Generationsbruch um 1970 (cf. Gumbrecht 2011) die geisteswissenschaftliche Disqualifizierung von Themen wie Atmosphäre, Seele, Gefühl, Ahnung und eben auch Stimmung. Was nun tendenziell als irrationale Zumutungen im wissenschaftlichen Diskus diskreditiert war oder zumindest aus dem Forschungsprozess weitestgehend ausgeschieden wurde –, das sollte nach einer weiteren Volte des Zeitgeistes als ästhetische Anmutungen (cf. Böhme 1998) zum Gegenstandsfeld der Neuen Phänomenologie, der philosophisch rehabilitierten Ästhetik und jetzt auch der Kunst- und Literaturwissenschaften werden. Dabei war die szientistische Verwerfung einer zumal für den geisteswissenschaftlichen Bereich wichtigen Themengruppe ebenso zeitgeschichtlich begreiflich – man denke nur an die stimmungspathetische Volk-Seele-RaumRhetorik der nationalsozialistischen Germanistik – wie schließlich vorübergehend. War der zum Szientismus verhärtete Positivismus doch seinerseits durch so etwas vermeintlich Irrationales wie den Zeitgeist mitbedingt, dessen unwissenschaftlichen Umtrieben doch gerade Einhalt geboten werden sollte. Aufgrund ihrer methodischen Vielfalt und Offenheit für neue Theoriehorizonte konnten und können in Fächern wie der etablierten Literaturwissenschaft oder der neu gegründeten Wissenschaftsgeschichte seit Mitte der achtziger Jahre zuvor verdächtige Themen wie Einbildungskraft, Körper, Affekte, Begehren, das Imaginäre, Phantasie, Empfindung, Gefühl und schließlich Stimmung erneut bearbeitet werden. Solche Themen waren in philologischen, psychoanalytischen und phänomenologischen Ansätzen zwar präsent geblieben, erfuhren ihre Rehabilitation zu zentralen Forschungsgegenständen auf breiterer Basis jedoch erst durch das stärkere Aufkommen von Diskursanalyse, Poststrukturalismus und die durch sie und weitere Ansätze wie den New Historicism entfachte Theoriediskussion. Die in der Folge neu angestoßene Historisierung und auch theoretisch erweiterte Kontextualisierung von emotionalen Phänomenen restituierte besonders der Literaturwissenschaft nicht nur einen ihr traditionell zugehörigen Themenbereich (›emotional turn‹), sondern ebnete zugleich deren methodologisch reflektierte Öffnung zu anderen Disziplinen. Daraus entwickelte sich in den 1990er Jahren die bis heute anhaltende Umstrukturierung der Literaturwissenschaften in kulturanthropologischen und wissensgeschichtlichen Perspektiven bis hin zur Etablierung einer neuen Kulturwissenschaft, der seither eine paradigmatische Funktion für die Geisteswissenschaften insgesamt wie auch für die Wissenschaftsgeschichte zuwächst. Diese Hinweise auf den wissenschaftshistorischen Hintergrund samt grober Entwicklungstendenzen seit Beginn des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts

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verorten die gegenwärtige Stimmungsforschung innerhalb einer zeitgeschichtlichen Konstellation, in der sich die Rehabilitation des emotionalen Phänomenbereichs insgesamt vollzieht.24 Speziell die Wiederentdeckung des ästhetischen Stimmungserlebens mit seinen philosophischen Implikationen bliebe indes ohne eine systematisch-historische Rückbindung an Dilthey unvollständig. Denn es ist dessen Erlebnishermeneutik und Weltanschauungslehre, auf welcher der von Heidegger in Sein und Zeit (1927) gesetzte Standard der Begriffsreflexion von Stimmung als verstehendem Daseinsmodus (Befindlichkeit) aufbaut. Dieser begriffliche Reflexionsstandard ist bis heute für die Forschung maßgeblich geblieben, insofern die existentialontologisch deklinierte Stimmung hinsichtlich ihrer methodologischen Bedeutung über den philosophischen Horizont des Seinsdenkens ins Ästhetische hinausreicht.25 Heideggers Entdeckung der Stimmung als ein genuin philosophisches Beziehungsphänomen besteht in deren Verortung im existenzialen Zwischenraum von Ich und Welt. Aufgrund ihrer ontologischen Fundierung als jeweilige Befindlichkeit menschlichen Daseins kann Heidegger die Stimmung zu einem phänomenologischen Begriff entfalten. Dieser bietet als Modus des In-der-Welt-seins schließlich eine Anknüpfungsmöglichkeit für dessen poetologische Transfiguration zu einem Modus des Inder-Literatur-seins. Die damit verbundene ästhetisch-mediale Erweiterung des Begriffes ›Stimmung‹ vom Modus existenzialer Seinserfahrung zum Modus literarisch konfigurierter und damit historischer Erfahrung bildet das Zentrum von dessen gegenwärtiger Aktualisierung und methodologischen Ausarbeitung zu einem Schlüsselkonzept von Literaturwissenschaft.26 Anders jedoch als ein Großteil der heutigen Stimmungsforscher will Heidegger den Stimmungsbegriff aus Bezügen zur antiken Rhetorik der Affekte (Aristoteles) und deren dem für Öffentlichkeit konstitutiven Weltbezug verstanden wissen. Damit verwirft er die Psychologie als phänomengerechten Zugang, wie er anschließend an der Furcht als Phänomen ontologischer und nicht etwa psychologischer Befindlichkeit erläutert (Heidegger 1986, 138–42). Indes ist die Psychologie sowohl heute für die interdisziplinäre Forschung zur ästhetischen Stimmung als auch bereits in Diltheys Stimmungskonzept durch die Orientierung am ›Erlebnis‹ präsent. Anders jedoch als die empirische Emotionspsychologie heute ist Diltheys beschreibende Psychologie von ihren gleichsam vorphänomenologischen Voraussetzungen her offen für die individuell 24 Siehe dazu die auf internationale und interdisziplinäre Konferenzen zurückgehenden Sammelbände von Arburg u. a. (2012), Gisbertz (2011), Reents u. a. (2013), Moosmüller u. a. (2017). 25 Siehe zur ersten systematisch kohärenten Verwendung von ›Stimmung‹ auf philosophischem Begriffsniveau in Heideggers Daseinshermeneutik und deren Rolle für die Modellierung eines präreflexiven Verstehenstypus Hajduk (2016, 67–126). 26 Ausführlich dazu Hajduk (2016, 73–163).

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variablen, historisch einzigartigen Erfahrungen, wie sie Literatur und andere Künste verarbeiten und hervorbringen. Den Ausgangspunkt für die Kunstproduktion bilden bei Dilthey die poetischen Stimmungen, wie wir näher untersucht und kritisch reflektiert haben (Kap.V,4). Diltheys fundamentale Beschreibungskategorie für individuell und zugleich historisch bedeutungsvolle Erfahrungen hingegen ist das Erlebnis, ein dem damaligen Zeitgeist entsprechender Begriff, dem nach seiner Konjunktur um 1900 zuletzt erneut literatur- und geschichtswissenschaftliche Aufmerksamkeit zukommt.27 Auf der Basis seines bedeutungskonstitutiven Erlebnisbegriffes nimmt Dilthey die bei Heidegger existenzialontologisch weitergedachte und nach diesem bei Bollnow philosophisch-anthropologisch unternommene Explikation von Stimmung als verstehende Grundverfassung menschlichen Daseins vorweg. Wo Bollnow die »glücklichen und beruhigten Stimmungen« (1956, 121) schließlich zum Konstitutionsgrund vom – philosophisch abwegigen – Glauben erklärt, da versteht Dilthey Stimmungen jedoch als Subjektivierung des ›objektiven Geistes‹ (Hegel). Diese gleichzeitig ästhetisch und historisch gestimmte Subjektivität liegt bei Dilthey dem Erleben einer bestimmten Weltanschauung sowie dem künstlerischen Ausdruck ursprünglich zugrunde. Seinem spekulativen Weiterdenken experimenteller Ansätze zur Ästhetik (Fechner, Herbart) entsprechend setzt Dilthey auf eine philosophische Positionierung von Stimmung in einem integralistischen Ganzheitsgefühl, womit er spätere und gründlichere Denkweisen der Phänomenologie (Husserls Lebenswelt, Heideggers In-der-Welt-sein) vom Ansatz her antizipiert. Zugleich entgeht Dilthey damit der phänomenologisch-anthropologischen Kritik an der experimentellen Psychologie, der statistische Nivellierungen aufgrund ihrer methodischen Isolierung von Einzelaspekten und deren substitutiven Verwechslung mit dem komplexeren Phänomen Stimmung seinerzeit vorgehalten werden. Ein solcher Vorwurf wurde der ›messenden‹ Psychologie und insbesondere der Weber-Fechnerschen Psychophysik u. a. auch von Helmuth Plessner gemacht. Dessen Ausdruckslehre versuchte hingegen Ausdruckserscheinungen wie Lachen und Weinen »in ihren ursprünglichen lebendigen Zusammenhang zurück[zu]versetzen« (Plessner 1950, 20). Auf eine Integration der Stimmungen an einem psycho-anthropologisch gedachten Ursprung zielte schließlich Friedrich Bollnows Das Wesen der Stimmungen (erste Aufl. 1941) im Anschluss an Heidegger ab. Wie Otto Pöggeler (1956) umgehend herausgearbeitet hat, argumentiert Heidegger jedoch aus einem auf die antike Affektenlehre zurückgehenden Sachzusammenhang, wenn er die Stimmung als Existenzial der Befindlichkeit in die Perspektive des Seins27 Siehe etwa die Freiburger Konferenz Die Rückkehr des Erlebnisses in die Geisteswissenschaften? – Diagnose und Geschichte (Dezember 2017).

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denkens stellt. Letztlich deshalb sei Bollnows Auffassung von Heideggers philosophischer Entdeckung der Stimmung in der Perspektive einer »existenzphilosophische[n] Radikalisierung lebensphilosophischer Bestrebungen« (Pöggeler 1956, 273) vom Ansatz her irreführend. Bei Bollnow wird vom inkommensurablen Erleben von Stimmungen, ihrem apriorischen Konstruktionscharakter und seinsgeschichtlichen Bezug abgesehen. Im Gegensatz zu Heidegger wird eine »universale empirische Erforschung und vergleichende Betrachtung der verschiedensten Stimmungen« (Pöggeler 1956, 277) angestrebt. Die phänomenologische Reduktion auf alltägliche Stimmungsgegebenheit für die faktische Existenz bringt eine Abstraktion ins Typologische mit sich. Dieser Mangel an konkreter Erfahrung wird von Bollnow schließlich durch seine Konzeptualisierung von Stimmungen »als tragender Grund der Seele« (Bollnow 1956, 53) zu kompensieren versucht. Als solcher bilden Stimmungen die emotionale Basis für die Selektion von Erlebnismöglichkeiten sowie für die Spezifikation aller Gefühlsund Kognitionsprozesse.28 Während Bollnows philosophische Anthropologie der Stimmung an die Phänomenologien Husserls und Heideggers anschloss, empfängt die heutige Theoriebildung von der neueren Phänomenologie (u. a. Hermann Schmitz, Bernhard Waldenfels) weiterführende Impulse. Die ›alte‹ und ›neue‹ Phänomenologie bilden die Ausgangsbasis für die psychologische und die ästhetische Stimmungsforschung und deren Theoriebildungen gleichermaßen. Ein phänomenologisch orientierter Forschungsansatz hätte vor dem Hintergrund eines interdisziplinär aufgefächerten Bedeutungsspektrums zu klären, was mit Stimmung gemeint sein kann, bevor die spezifischeren und geschichtlichen Dimensionen des Begriffs ausgeleuchtet und die psychologischen Mechanismen bzw. poetologischen Funktionen von Stimmung herausgearbeitet werden. Vom Ansatzpunkt der eidetischen Reduktion her verfahrende Theoretisierungen lassen eine Beschreibungsdichte erwarten, deren phänomenale Differenziertheit psychologische Skalierungen umfasst und mit der ästhetischen Vielfältigkeit von Stimmungen korreliert werden kann.29 Die ästhetische wie auch die psychologische Betrachtungsweise beruht auf dem phänomenologischen Grund konkre28 Entsprechend betont die untrennbare Verwobenheit emotionaler und rationaler Elemente in der Kognition De Sousa (1987). Mehr den Einfluss von Stimmung auf die Kognition fokussiert Bless (1997). 29 Insbes. kann die ästhetische Forschung zur einer Ausdifferenzierung des Beschreibungsinventars psychologischer Untersuchungen zu den dynamischen Aspekten der Stimmung beitragen. Das Manko semantischer Unterkomplexität psychologischer Stimmungserfassung benennen Parkinson u. a. wie folgt: »Trotz der allgemeinen Schlußfolgerung, daß Stimmungen mehr umfassen als nur Lust-Unlust und Aktivierung, hat man sich bei der Erforschung von Stimmungsvorgängen und ihrer Beziehung zu anderen psychologischen Faktoren speziell auf diese beiden Dimensionen konzentriert, vor allem auf die Dimension angenehmunangenehm. […] Im Hinblick auf spezifischere Stimmungsqualitäten sind künftig noch weitere begriffliche und methodische Arbeiten erforderlich« (2000, 59).

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ter Erfahrungen, seien diese faktual oder fiktional, individuell oder kollektiv gegeben. Mit Dilthey als Untersuchungsfokus beziehen wir uns nicht nur auf die Begriffs- und Theoriegeschichte von Stimmung, die bei ihm im Erlebnis erfahren wird, sondern auch auf die Vorgeschichte der Phänomenologien Heideggers und Husserls. Von Dilthey aus lässt sich eine phänomenologisch orientierte Grundlagenreflexion in der Stimmungsforschung anstoßen, die Berührungsflächen zwischen psychologischen und ästhetischen Perspektiven sichtbar machen kann. Hierbei ist insbesondere an psychologische Theorieansätze zu denken, die sich an zeitlichen, prozessualen oder dynamischen Aspekten der Stimmung orientieren.30 Über die der Phänomenologie zuwachsende Brückenfunktion bleibt die ästhetische Stimmungstheorie offen für interdisziplinäre Anknüpfungen. Zur Seite der literarischen Ästhetik hin weist die Phänomenologie die Gemeinsamkeit beobachteter Wahrnehmungsvollzüge samt ihrer subtilen Verflochtenheit mit leiblichen, räumlichen und zeitlichen Momenten auf. Zur Seite der empirischen Psychologie hin hält die Phänomenologie die Verbindung über ihre Ausgangsbasis in alltäglicher Erfahrung samt deren Common-sense-Begriffen aufrecht. Die von der Phänomenästhetik der Stimmungen her bestehende interdisziplinäre Öffnung kann sich noch erweitern, wenn phänomenologische Konzepte mit kognitivistischen, welche die Emotionsforschung bislang dominierten, noch engere Verbindungen eingehen, als dies gegenwärtig der Fall ist.31 Ohne die Phänomenologie als Schnittstelle zwischen Poetiken und Ästhetiken der Stimmung einerseits und der mit ihr befassten Emotionspsychologie und Kognitionswissenschaft andererseits, wird sich kaum eine interdisziplinäre Perspektive der Stimmungsforschung konsolidieren lassen (cf.. Hajduk 2016, 51f.). Dilthey ist aufgrund seiner deskriptiv-analytischen Psychologie – im Zusammenspiel mit seinen wissenschaftstheoretischen, geistesgeschichtlichen und erlebnishermeneutischen Schriften – als ein Vorläufer der philosophischen Phänomenologie anzusehen. Da er außerdem den Stimmungsbegriff in seinen literatur- und philosophiegeschichtlichen Studien entwickelt hat, ist ein Rückgang auf sein Werk für die humanwissenschaftliche Stimmungstheorie der Gegenwart unverzichtbar.

30 Wie z. B. Parkinson u. a. (2000), sowie Epstein (1983); Larsen (1989). 31 Siehe etwa bei Lüdtke, Jacobs und Meyer-Sickendiek (2013).

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3.

Stimmungen in der Wissenschaft und Diltheyforschung

Die Lebensphilosophie und Dilthey heute

Die Forschung hat Dilthey einerseits als einen Theoretiker der Wissenschaften, insbesondere der Geisteswissenschaften im Unterschied wie auch in Konkurrenz zu den Naturwissenschaften, rezipiert und positioniert. Andererseits hat sie ihn – darin der zeitgenössischen Öffentlichkeit folgend – als einen Interpreten der Geschichte, insbesondere der Literatur- und Philosophiegeschichte zunächst gewürdigt und schon bald marginalisiert.32 Diese beiden Seiten der Diltheyforschung und -rezeption sind bis heute weitgehend unvermittelt geblieben, was angesichts des von Dilthey für die Dichtung wie auch für die Geisteswissenschaften nie preisgegebenen Anspruchs auf Wahrheitsfähigkeit erstaunlich ist.33 Der philosophische und wissenschaftstheoretische Aspekt einerseits, andererseits der poetische und historisch-philologische Aspekt überlagern einander jedoch in Diltheys Hermeneutik, die individuelles Erleben im Zusammenhang der kollektiven Struktur perspektiviert. Der philosophische Konstituierungsgrund von Diltheys Erlebnishermeneutik besteht in demjenigen, was er als »Lebensrätsel«34 in einem durchaus nachmetaphysischen Sinn bezeichnet.35 Denn auch – und in gewissem Sinne erst recht – nach dem Ende einer wissenschaftlich unhaltbar gewordenen Metaphysik bleibt »das Meta-Physische unseres Lebens als persönliche Erfahrung« (GS I 384) virulent; gerade auch dann, wenn es begriffslos erfahren und als Unbegriffenes bis Unbegreifliches verdrängt wird: »Die Wirklichkeit selbst kann in letzter Instanz nicht logisch aufgeklärt, sondern nur verstanden werden. In jeder Realität, die uns als solche gegeben ist, ist ihrer Natur nach etwas Unaussprechliches, Unerkennbares« (GS VIII 178).

Mit ihrem Ausgangspunkt beim »Rätsel des Lebens [als] der einzige, dunkle, erschreckende Gegenstand aller Philosophie« (ebd.) unterscheidet sich Diltheys erlebnishermeneutische Philosophie nicht nur erheblich von der gängigen Universitätsphilosophie, die schon seinerzeit auf Logik sowie historisierend auf sich selbst bezogen war. Vielmehr scheint Diltheys Philosophie, die vor allem als eine

32 Dies gilt besonders für seine Schriften über Schleiermacher, den jungen Hegel und vor allem die Aufsätze in der berühmt gewordenen Buchpublikation Das Erlebnis und die Dichtung sowie die germanistischen Arbeiten in GS XXV. 33 Eine Ausnahme bildet eine Arbeit, die bezeichnenderweise erst in der jüngeren Forschung erschienen ist, die von Mansour (2011). 34 Dieses fasst Dilthey in der Weltanschauungslehre als eine anthropologische und problemgeschichtliche Konstante auf, zu der die verschiedenen »Typen der Weltanschauung« in ein je eigenes Verhältnis treten (cf. GS VIII 80–100). 35 »Wenn die Möglichkeiten der Metaphysik von einer gegebenen Grundlage aus erschöpft sind, scheint die Auflösung des Lebensrätsels in einer nebelhaften Ferne sich zu verlieren« (GS VIII 196; cf. 140 et passim).

Die Lebensphilosophie und Dilthey heute

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»Philosophie des Lebens«36 verstanden wird, auch in einen gewissen Widerspruch zur Absicht seiner Grundlegung der Geisteswissenschaften zu rücken. Besteht diese doch darin, deren Gegenstand mit dem zu identifizieren, was er »das von innen Bekannte« nennt, also gerade nichts Rätselhaftes, »hinter welches nicht zurückgegangen werden kann« (GS VII 359). Wiederum ist hier das »Leben« gemeint, namentlich als »die Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Philosophie bilden muss« (ebd.). Damit gerät Dilthey in zweifacher Weise in die opake Nähe einer Lebensphilosophie, die zwar in programmatischer Abweichung von der damaligen Schulphilosophie Anspruch auf den common sense einer jedem zugänglichen Evidenzerfahrung (›Leben‹) erhebt, zugleich aber das Leben zum großen Unbekannten verdunkelt. Als das nur »von innen Bekannte« ist das Leben einem methodisch sicheren Zugriff der Naturwissenschaften entzogen. Kann es doch nicht experimentell überprüft, identisch wiederholt, gesetzesmäßig erklärt werden – zumindest nicht ohne es um seine Lebendigkeit zu bringen. Diesseits des naturwissenschaftlichen Methodenideals des Erklärens durch epistemische Objektivierbarkeit ist solches Leben jedoch der geisteswissenschaftliche Ansatzpunkt. Dieser meidet die methodisch-theoretische Distanz zum Erkenntnisgegenstand und sucht ihn stattdessen in der Nähe phänomenologischer Wahrnehmung. Leben ist als individuelles Leben Diltheys Subjekt des Verstehens als dessen operative Ausgangsbasis gegeben. Leben ermöglicht erst die Konstituierung des Objekts des Verstehens, namentlich anderes individuelles Leben, indem auf das allgemeine Leben – etwa in gesellschaftlichen oder kulturellen Formen – Bezug genommen werden kann. Die Geschichte der Hermeneutik kennt diese Theoriefigur des Verstehens als das individuelle Allgemeine (Cf. Frank 1977). Diltheys Hermeneutik basiert auf einer Philosophie des Lebens und umgekehrt seine Philosophie auf einer Hermeneutik des Lebens. Während es in der Philosophie Tradition und geradezu bedeutungsgenerativen Grund hat, ihren ursprünglichen Impuls aus Unklarheiten wie metaphysischem Staunen, Zerrissenheit, Endlichkeit, Abgründigkeit oder – mit Dilthey – der Rätselhaftigkeit des Lebens zu erhalten, so hat eine Hermeneutik durchaus Bedarf an einem soliden, klaren und theoretisch belastbaren Ausgangspunkt. Diesen findet Diltheys oft als ›bloße‹ Einfühlungshermeneutik diskreditierte Lehre des Verstehens in dem auch methodisch anspruchsvoll verwendeten Begriff ›Erlebnis‹. Anders als der ins Allgemeine ausgreifende und im Individuellen deklinierbare, der ebenso naturwissenschaftlich relevante wie naturmystisch einschlägige Begriff ›Leben‹ steht der des Erlebnisses von vornherein auf dem Boden der Erfahrung (engl. lived/inner experience).

36 Siehe zu Dilthey als einem – neben Nietzsche und Bergson – Mitbegründer der Lebensphilosophie Albert (1995, 70–85, hier 70f.).

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Stimmungen in der Wissenschaft und Diltheyforschung

Das Erlebnis ist der anthropologisch gemeinsame Nenner einer Theorie und Praxis des Verstehens, wie sie Dilthey in der Perspektivik historischer Vernunft und psychologischer Beschreibung konzipiert. Ist der unauflösliche Fluchtpunkt dieser philosophisch-hermeneutischen Perspektive durch das »Rätsel des Lebens« (GS VIII, 140 et passim) markiert, so ist diese Perspektive selbst über das individuelle Subjekt des Verstehens an das Erlebnis zurückgebunden. In ihm, dem nicht hinterschreitbaren »von innen Bekannte[n]« bündelt sich die Vielfalt der Verstehensperspektiven zur »Grundtatsache« einer Hermeneutik, die bei Dilthey die Methodik der Lebensphilosophie bildet (GS VII 359). Das Erlebnis und – zusammen mit diesem – die Stimmung sind die methodischen Begriffe einer lebensphilosophischen Hermeneutik auf der Basis von Erfahrungstatsachen: »Ausschließlich in der inneren Erfahrung, in den Tatsachen des Bewußtseins, fand ich den festen Ankergrund für mein Denken« (GS I XVII). Indes ist der Begriff der inneren Erfahrung bei Dilthey keineswegs auf die psychischen Anteile des Gesamts an Dingen und Sachverhalten, das die Welt bedeutet, beschränkt. Vielmehr bezieht er über seine methodische Grundlegungsfunktion die materiale und geistige Vielfalt des Lebens in seinem unergründlich verzweigten Zusammenhang mit ein. Dem lebensphilosophisch erweiterten Begriff der inneren Erfahrung, die als »ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung dem Philosophieren zugrunde gelegt« werden soll, korrespondiert »die ganze und volle Wirklichkeit« (GS VIII 171). Dieser »Grundgedanke« Diltheys entfaltet sich in seinen teils biographischen, teils werkbezogenen Studien (u. a. zu Schleiermacher und Hegel, Schiller und Goethe, Hölderlin und Novalis), indem das Erlebnis als methodische Einheit verwendet wird, die den Zugang zur historischen Komplexität der Wirklichkeit öffnet. Da das Erleben eines Individuums und das Zeitgeschehen innerhalb einer historischen Konstellation einen Strukturzusammenhang bilden, lässt sich nicht nur eine Lebens- und Werkgeschichte als Verdichtung von äußerer Wirklichkeit zu innerer Erfahrung verstehen. Auch umgekehrt lässt sich durch Diltheys lebenshermeneutisches Vorgehen die Kultur- oder Geistesgeschichte über das individuelle Erleben eines ›Repräsentanten‹ als Erlebnis einer Generation oder gar als Stimmung einer Epoche verstehen. In dieser in Kapitel VII unserer Untersuchung dargestellten Perspektive konvergieren das Geschichtsdenken von Dilthey und seine Lebensphilosophie. Insofern Lebens- und Kulturgeschichte einander überlagern und sich dadurch wechselseitig erhellen können, sind das Leben und sein Verstehenkönnen, wie auch die Lebendigkeit von Verstehen überhaupt, immer von Geschichtlichkeit erfasst. Dilthey wendet die bis heute in den Kulturwissenschaften etablierte Auffassung von der Irreduzibilität der Geschichtlichkeit gegen Kants Transzendentalismus, um seinen eigenen Ansatz erkenntnistheoretisch abzugrenzen:

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»Das a priori Kants ist starr und tot; aber die wirklichen Bedingungen des Bewußtseins und seine Voraussetzungen, wie ich sie begreife, sind lebendiger geschichtlicher Prozeß, sind Entwicklung, sie haben Geschichte, und der Verlauf dieser Geschichte ist ihre Anpassung an die immer genauer induktiv erkannte Mannigfaltigkeit der Empfindungsinhalte« (GS XIX 44).

Diltheys Auseinandersetzung mit Kant führt schließlich zu der Idee einer zusätzlichen Kritik – einer Kritik der historischen Vernunft.37 Dafür aber bedarf es einer Konzeptualisierung des Vermittlungsgeschehens zwischen individuellem und gesellschaftlichem Leben, zwischen dem Leben des einzelnen Menschen und demjenigen der »Menschenwelt« (GS VI 314). Hier hätten das ›Erlebnis‹ und die ›Stimmung‹ zu einer methodischen Konkretisierung führen können, insofern sie nicht nur zur Strukturierung und Charakterisierung der Innerlichkeit von individueller Erfahrung dienen. Darüber hinaus sind sie Diltheys ästhetische Schlüsselbegriffe bei der Analyse von Objektivationen des Lebens in Form von Werken, insbesondere solchen der Literatur, Kunst und Musik. Der Erlebnis- und der Stimmungsbegriff werden – eher beiläufig als systematisch – zur Vermittlung zwischen psychischem und kulturellem Strukturzusammenhang, zwischen subjektivem und objektivem Geist oder zwischen der Temporalität inneren Erlebens und der Zeit des historischen Geschehens eingesetzt. Insbesondere die Stimmung wird offenbar wegen eines Vermittlungspotenzials geschätzt, das ihr aus einer transzendentalen Ortlosigkeit auf dem Feld der Episteme zuwächst, die für dasselbe zugleich aber Fundierungscharakter besitzt. Auch in dieser Hinsicht konnte Kant als begriffsgeschichtlicher Ausgangspunkt dienen. Schon in Kants Kritizismus kommt der zwischen Einbildungskraft und Verstand ›proportionierenden‹ Stimmung der eigentümliche, transsystematische Status eines temporalisierten Vermittlungskonzepts innerhalb der transzendentalphilosophischen Architektur zu. Über diese ›konstruktivfakultative‹ Vermittlungsleistung hinaus ermöglicht Stimmung in der Kritik der Urteilskraft (1790) die ausgewogenen Bedingungsverhältnisse für ästhetische Urteile und ergänzt damit ihr koordinierendes Funktionsprofil um eine konstituierende Dimension.38 Seinerseits ging es Dilthey um eine Konstituierungsmöglichkeit der Geisteswissenschaften durch eine Hermeneutik, in der deskriptive Psychologie, ästhetisches Verstehen und historische Erkenntnis miteinander verfugt sind. Sein methodologisch systematischer Anspruch hat seinen Stimmungsbegriff zur lebensphilosophischen Weltanschauungslehre hingeführt; ihn zugleich aber nicht weitergeführt auf dem Weg, der von Brentanos Beschreibungspsychologie zur Phänomenologie Husserls führt. 37 Hierzu Otto (1979 und 1982); zum Verhältnis zu Kant siehe Ineichen (1975). 38 Siehe ausführlich dazu Frey (2011).

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Stimmungen in der Wissenschaft und Diltheyforschung

In der Heideggerschen Variante von Phänomenologie schließlich avanciert Stimmung zu einem methodisch und systematisch zentralen Begriff der Daseinsanalytik. Als existenziales Medium des In-der-Welt-Seins vermittelt Stimmung das Seiende in menschlicher Form (Dasein) mit allem anderen Seienden; in ihrer ontologischen Version als Befindlichkeit disponiert sie die Existenz zum Sinn von Sein. Mit Heideggers Entfaltung des existenziellen Vermittlungspotenzials des Phänomens Stimmung erreicht ihr Begriff seine tiefenstrukturelle Extension. Insofern aber durch dieses bedeutungsgeschichtliche Maximum die Stimmung zu einem Begriff des Heideggerschen Seinsdenkens geworden ist und dieses zugleich keine Lebensphilosophie, ja deren eigentlich philosophische Alternative sein will, kommt es zu einer Art Stillstand des Stimmungsdiskurses. Während ›Leben‹ und ›Erlebnis‹ bei Heidegger durch die Reanimation des Begriffes ›Sein‹ liquidiert werden, wird der bei Dilthey mit dem Leben verbundene Begriff ›Stimmung‹ in die daseinsanalytische und fundamentalontologische Begrifflichkeit eingebunden. Erst mit der neuesten, vor allem literaturwissenschaftlichen Forschung ist wieder Bewegung in die Stimmungssemantik gekommen. Um diese nun auch wieder an ihre eigene Geschichte (vor Heidegger) anzuschließen, wollen wir ihre Stellung im Werk Diltheys als demjenigen herausarbeiten, wo der Stimmung vor ihrer letzten Abzweigung zum Aufstieg in die ontologische Höhenlage große Bedeutung zukam. Zunächst fällt auf, dass die Diltheyforschung dem Stimmungsbegriff keine besondere Aufmerksamkeit hat zukommen lassen. Wenn sie ihn überhaupt verwendet oder auf ihn Bezug nimmt – darin Dilthey unreflektiert folgend –, dann zumeist in seiner alltagsprachlichen bzw. lebensphilosophisch vagen Bedeutung, wie dies schon für den Erlebnisbegriff und den auf ihm aufbauenden Biographismus der Literaturwissenschaft galt.39 Mit unserer Verbindung von Stimmungs- und Diltheyforschung wird für erstere ein Werk neu durchleuchtet, das zumeist leichtfertig unter Schlagworten wie Einfühlungshermeneutik, Psychologismus oder gar Irrationalismus verworfen wird.40 Die aktuelle Stimmungsforschung blendet einen Denkansatz weitgehend aus, der ästhetische und historische Wissenschaft verbindet und damit die Herausforderung angenommen hat, der heute zumeist ausgewichen wird: nämlich kognitiv relevante Affektdynamiken sowohl auf individueller wie kultureller Analyseebene zu untersuchen. Umgekehrt soll für die Diltheyforschung ein Beitrag dadurch geleistet werden, dass wir die gängigen Vereinseitigungen auf den Literaturwissenschaftler oder aber den Philosophen, den Pädagogen, Psychologen oder Wissenschaftstheoretiker Dilthey überwinden hel39 Freilich gibt es Ausnahmen, darunter etwa Huxel (2004), mit Bezug auf Dilthey 256–68, 306, 363, 376–78. 40 Siehe hingegen wiederum eine Ausnahme wie Burdorf (2001, 284–300).

Die Lebensphilosophie und Dilthey heute

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fen. Denn unsere Relektüre seines Werkes am Leitfaden von ›Stimmung‹ und ›Erlebnis‹ ermöglicht eine konzeptuelle Zusammenschau der ästhetischen und historischen Hermeneutik in Verbindung mit epistemologischen Problemstellungen, wie sie insbesondere aus der ›Weltanschauungslehre‹ und den ›Bausteinen für eine Poetik‹ rekonstruierbar sind. Damit knüpfen wir u. a. an die Reflexionsarbeit an, die Julia Mansour (2011) hinsichtlich der »starken Interdependenzen« geleistet hat, die »zwischen Diltheys Literaturschriften und seiner (Wissenschafts-)Philosophie bestehen« (198). Wir gehen einen Schritt weiter in Richtung einer Überwindung der zurecht konstatierten Unverbundenheit zweier Forschungsstränge in der Philosophie einerseits und der Literaturwissenschaft andererseits, indem anhand von Diltheys implizitem Stimmungskonzept Übergänge sowie Brüche zwischen dem frühen (literaturwissenschaftlichen), mittleren (wissenschaftstheoretischen) und späten (philosophischen) Werk begrifflich konkretisiert werden. In letzterem zeigt die Perspektive der Verwendung des Stimmungsbegriffes, wie Philosophie als eine Grundlagenreflexion betrieben wird, in der sowohl die wissenschaftstheoretischen Systematisierungsversuche wie auch die literaturwissenschaftlichen Historisierungen konfundieren. Mit Diltheys Begriff einer universalen Lebens-, Grund- oder Totalstimmung (cf. GS VIII 81, XXV 132) geht es um nicht weniger als darum, Verstehen und Fühlen, Denken und Handeln, innere und äußere Erfahrung, subjektiven und objektiven Geist, ästhetisches und historisches Denken zusammenzuführen. Hier ist erstmals der Ansatz zu jenem methodisch-phänomenologischen Stimmungsbegriff erkennbar, wie ihn Heidegger dann auf ontologischer Systematisierungsebene als existenziale Befindlichkeit entwickeln wird.

II.

Gestimmte Weltanschauung und objektive Geschichtserkenntnis?

1.

Stimmung als ›Lebensbegriff‹? 100 Jahre nach Dilthey

Ein Denken, das sich um »schweigendes Denken im Gegensatz zum diskursiven« (GS V 182, cf. 149) drehte und damit gegen Ende 19. Jahrhunderts ›an der Zeit‹ zu sein glaubte, musste sich auf »flüssige Begriffe« (Bergson 1991, 180) einlassen. Diese bildeten sich im anti-intellektualistischen Kielwasser Schopenhauers und Nietzsches41 und verdichteten sich allmählich zu dem, was als Lebensphilosophie eine als philiströs verpönte ›Kathederphilosophie‹ zu umspülen begann.42 Im Unterschied zu dissidenten Lebensdenkern wollte Dilthey beides: eine spürbare Vitalität des Philosophierens und wissenschaftliche Solidität seines Verfahrens.43 Ausgehend von den bekenntnishaften Formeln »Lebens [=] Ganzes« und »Struktur: Zusammenhang dieses Ganzen« (GS VII 238) entwickelte Dilthey Begriffe wie Seele oder Leben sowie deren Kombinationen (›Strukturzusammenhang‹, ›Seelenleben‹, ›Lebenszusammenhang‹, ›psychischer‹ und ›innerer Strukturzusammenhang‹) zu einem Organon, das den mathematischen Naturwissenschaften entgegen und der Geschichtswissenschaft an die Seite gesetzt wurde. Mit ihm sollte sich eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften ebenso bewerkstelligen lassen wie eine integrierte Methodologie des Verstehens von individuellen Lebensäußerungen und historischen Epochen. Im Kontext des systematischen Anspruches, mit dem Dilthey ›Lebensbegriffe‹ zu entwickeln suchte, ist die konzeptionelle Aufwertung von Stimmung zu sehen. Es ist hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen gegenwärtiger Theoriebildung unabdingbar, diesen historisch ersten Versuch einer

41 Cf. zu Schopenhauer Dilthey GS IV 262ff., GS V 371, zu Nietzsche GS III 210, IV 528f., VII 250, VIII 21, 224. 42 Für Dilthey gehören zu dissidenten Lebensdenkern außer den genannten u. a. Marc Aurel, Montaigne, Carlyle, Emerson, Ruskin, Tolstoj, Maeterlinck; cf. GS II 22, 417; IV 517; V 370; VI 317; VIII 163, 179, 192, 200ff. 43 Siehe zu Diltheys Ziel einer Dynamisierung von poetologischen Begriffen Weber (1983, 34).

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Gestimmte Weltanschauung und objektive Geschichtserkenntnis?

philosophischen Positionierung von Stimmung nachzuvollziehen und den damit verbundenen erkenntnistheoretischen Anspruch zu problematisieren. Schon ein oberflächlicher Blick auf die diskursive Verteilung von Stimmungsbegriffen im 20. Jahrhundert führt die theoretische Spurenlese auf das heute nur noch wenig beachtete Werk des 1911 verstorbenen Wilhelm Dilthey zurück.44 In diesem ist der Aufstieg der ›Stimmung‹ zur Höhe eines philosophischen Begriffes zu verzeichnen – ohne auch als ein solcher mit der hinlänglichen Klarheit verwendet worden zu sein. Dennoch erhielt in der Folge das Wort Stimmung in die philosophischen und philologischen Diskurse verstärkt Eingang45, insofern sie von Dilthey als einem Klassiker der Hermeneutik beeinflusst waren.46 Schließlich wurde ›Stimmung‹ als ein die Gefühlssphäre bezeichnendes Wort auch begrifflich ›gefühlsmäßig‹ verwendet und entsprechend trivialisiert. Seine erneute Marginalisierung mit der geisteswissenschaftlichen Methodendiskussion insbesondere der 1960er und -70er Jahre, aus welcher zumal die auf Dilthey zurückgehende geistesgeschichtliche sowie die werkimmanente Methode im Nachhinein als Verlierer hervorgingen, ging einher mit der Diskreditierung von philosophischen Begriffen wie ›Geist‹, ›Wesen‹ oder ›Stimmung‹ sowie von speziell geistesgeschichtlichen Begriffen wie ›Zeitgeist‹, ›Weltanschauung‹ und ›Erlebnis‹.47 Diese erschienen zudem durch die damals noch jüngere »Geschichte einer ›deutschen Wissenschaft‹ kompromittiert« (Anz 1982, 60). Wer einen solcher wissenschaftstheoretisch ›abgeschmackten‹ Begriffe aus seiner philosophiegeschichtlichen Versenkung heraufzuholen sich vornimmt, sollte zumindest 44 Zur Rezeption Diltheys siehe die Bibliographien in den Dilthey-Jahrbüchern für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, Bde. 1–12 (1983–2000), die Forschungsberichte der Dilthey-Forschungsstelle an der Ruhr-Universität Bochum; ferner zur Geschichte der Dilthey-Rezeption bis in die erneuerten Debatten über Hermeneutik der 1960er bis 70er Jahre Zöckler (1975, 79–179). 45 In symptomatischer Weise fällt dies in der italienischen Dilthey-Forschung auf, wo das Wort Stimmung neben solchen wie Gemütszustand oder Weltanschauung unübersetzt Verwendung findet; und zwar sowohl philologisch als »la Stimmung poetica dell’opera di Goethe«, als auch biographisch für lebens- sowie zeitgeschichtliche Selbstbezüge Diltheys in Tagebüchern und Briefen. So bei Bianco (1971, 21, 28, 48, 54, 71, 304). In einer neueren deutschsprachigen Arbeit zu Dilthey kommt dem Stimmungsbegriff bezeichnenderweise keine distinkte Aufmerksamkeit mehr zu, wenn es etwa heißt: »Grundlage blieb in der Poetik die Stimmung, die Lebendigkeit, die affektive Gemütsverfassung, die sich […] recht mechanistisch auffassen lässt«, so Schmitz (2006, 76). 46 Auch deshalb ist es bemerkenswert, dass Forschungsliteratur zu Dilthey und insbesondere zu seiner Hermeneutik keine oder kaum besondere Aufmerksamkeit dem Begriff der Stimmung widmet. Dies ist z. B. bedauerlich bei Rütsche (1999), wo doch »das verschlungene Gewebe des Lebens« (17) durchaus einen eminenten Gegenstand einer Hermeneutik der Stimmung bildet. 47 Den letzten drei Begriffen kommt bei Dilthey auch eine hohe rezeptionsgeschichtliche Bedeutung zu, wie deren Aufnahme insbesondere durch die Vertreter der geistesgeschichtlichen Richtung (u. a. Unger, Gundolf; zum Teil auch noch Viëtor und Staiger) zeigt. Siehe hierzu den Systematisierungsversuch bei Müller-Vollmer (1963, 33–38).

Stimmung als ›Lebensbegriff‹? 100 Jahre nach Dilthey

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einen guten Grund dazu haben, welcher also nicht bloß in einer abermals gewandelten Stimmung des Zeitgeistes zu suchen ist. Im literaturwissenschaftlichen Fall der Stimmung ist ein solcher Grund in der historischen Semantik des Begriffes zu finden. Seit der Romantik hat eine popularisierte Besetzung des Begriffes mit ebenso vergangenheitsmelancholischen wie erlösungsseligen Bedeutungen zu einer sentimentalistischen Vereinfachung geführt, wie sie heute etwa auch den Ausdruck ›romantische Stimmung‹ beherrscht. Solcher zu semantischer Verkümmerung führenden Festlegung auf Gewesenes oder aber Illusionäres kann eine Gegenwart frei setzende Perspektive der Stimmung und deren semantische Öffnung auf Künftiges und Mögliches entgegen gehalten werden. Das lange Zeit in der Latenz verschwundene »Dynamische« (cf. GS VII 281) des Stimmungsbegriffes hinsichtlich seiner gefühls-, wahrnehmungs- und zeitbezogenen Sinndimensionen werden im Laufe unserer produktiv-kritischen Auseinandersetzung mit Dilthey neu eröffnet. Bei letzterem ist nämlich die Aufwertung des Stimmungsbegriffes als eine zu begreifen, die zwar an überkommene Bedeutungen anschließt (›poetische Stimmung‹), durch deren philosophiegeschichtliche Kontextualisierung zugleich ältere Bedeutungsschichten (›proportionierte Stimmung‹) aufgeschlossen werden. Dies aber geschieht implizit, unreflektiert oder beiläufig und wird von Dilthey innerhalb seiner ›Lebensbegrifflichkeit‹ nicht zu einer systematischen Konsolidierung von ›Stimmung‹ genutzt. Die systematische Position, an der Stimmung als zugleich psychologischer und historiologischer Begriff von Dilthey hätte entwickelt werden können, wurde von ihm indes mit dem Begriff des ›Strukturzusammenhangs‹ besetzt. Zunächst soll auf die typologische Weltanschauungslehre (von 1911) und die Schrift Das Wesen der Philosophie (1907) Bezug genommen werden, da es in diesen erstmals zu einer höheren theoretischen Beanspruchung des Stimmungsbegriffes kommt.48 Sodann wird im Zuge der stimmungszentrierten Ausführungen zurückgegangen auf die Versuche der Grundlegung der Geisteswissenschaften (Schrift von 1883), der Etablierung einer deskriptiv-analytischen und vergleichenden Psychologie (Schriften von 1894 und 1895) und der damit verbundenen Erweiterung der Hermeneutik von sprachlich Verfasstem auf individuelle Lebensäußerungen (Schriften von 1890, 1900, 1910). Schließlich werden mit sporadischen Bezügen auf weitere Werkteile die theoretischen Züge von Diltheys Hermeneutik im Zusammenhang seiner Poetik (Schrift von 1878) betrachtet und ins Verhältnis zu seiner hermeneutischen Praxis in Das Erlebnis und die Dichtung (1905) gesetzt.

48 Siehe zum Begriff der Weltanschauung in der Philosophie und insbes. bei Dilthey Heidegger (1996, 229–239; 346–353).

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Gestimmte Weltanschauung und objektive Geschichtserkenntnis?

Erst durch unseren Einbezug dieses weiteren Werkzusammenhanges bis hinein in dessen methodologische Inkonsistenzen lassen sich theoretische Konturen von Stimmung nach Dilthey aufzeichnen. Nach Dilthey heißt: Zum einen den historischen Abstand eines Jahrhunderts zum Abstandnehmen von Diltheys programmatischer Interessenslage zu nutzen. Denn diese Lage zog die Stimmung in die ungelösten Problemzusammenhänge der methodischen Grundlegung hinein. Außerdem platzierte sie die Stimmung in der sprachfernen Nähe eines unhaltbaren Bedeutungskonzeptes und verstrickte sie mit in die Widersprüche einer Hermeneutik des Ausdrucks. Zum anderen heißt nach Dilthey, durchaus seinen erkenntniskritischen Reflexionsimpulsen nachzugehen, ihnen gleichwohl nicht in die methodische Sackgasse eines lebensphilosophischen Holismus zu folgen. Nur so kann die Stimmung von ihrem irrationalistischen Hautgout befreit und für unsere konzeptionelle Bestimmung im erneuerten Rahmen einer ästhetischen Hermeneutik diskutierbar werden.

2.

Zu-Grunde-Legen der Stimmung im Anschluss an Kant

Im Anschluss an Diltheys methodologische Grundlagenreflexion der Geisteswissenschaften rückt auch der Begriff der Stimmung aus seinem poetologischen Kerngeschäft heraus auf in die epistemologische Perspektive des geschichtlichen Verstehens. Dadurch bildet Dilthey das stimmungsphilosophische Bindeglied zwischen Kant und Heidegger. Er bereitet dessen existenziale Grundlegung der Stimmung in Sein und Zeit auf der Basis des in Kants Kritik der Urteilskraft formulierten Verallgemeinerbarkeitsanspruches des ästhetischen Urteils vor. Die nach den Anfängen im Deutschen Idealismus sowie bei Schopenhauer und Kierkegaard49 gegen Ende des 19. Jahrhunderts parallel zur Psychologie in der Philosophie anhebende Diskursivierung von ästhetischen Empfindungen wie auch von Stimmung platziert dieselbe an die vakant gewordene Subjektposition als Grundlage für Weltorientierung.50 Nachdem das Monopol verbindlicher Interpretation dessen, was in der Welt der Fall ist, Wert hat und Wahrheit beanspruchen kann, von der Religion auf die Philosophie und schließlich auf die Naturwissenschaften übergegangen ist, rückt eine persongebundene Stimmung an die Leerstelle metaphysischer Ganzheitserfahrung: Dilthey spricht von »Einer Gemütsverfassung, Einer Grundstimmung«, welche nun die metaphysische »Struktur« trägt, sie »als lebendiges Ganze« hervortreibt, das »als Schöpfung einer Person, in welche diese Alles, ihre Begriffe wie ihre Ideale ergießt«, deren 49 Zum Thema Stimmungen bei Kierkegaard siehe den Beitrag von Klaus Müller-Wille (2012). 50 Zur philosophiehistorischen und speziell raumtheoretischen Relevanz des Sichorientierens siehe Jensen (2003).

Zu-Grunde-Legen der Stimmung im Anschluss an Kant

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Weltanschauung bildet.51 Wie indes solche weltanschaulich ›ergossenen‹ Gedanken aus der sie grundierenden Stimmung geschöpft werden, wodurch das Verhältnis von Gefühlsgrundlage und Gedankengebäude genauer bestimmt ist oder inwiefern sprachgebundene sowie wertbezogene Vernunftakte überhaupt von einer Affektlage geprägt sein können – dies wird bei Dilthey nicht ohne weitere Blicke in sein Werk ersichtlich. Wenn er etwa in Das Wesen der Philosophie davon spricht, dass die »philosophische Weltanschauung« vom »seelische[n] Strukturzusammenhang« bestimmt ist, dann geht es darum zu klären, wodurch jene sich auf die verschiedensten Felder der Kultur erstreckt;52 nämlich durch eine Entäußerung des »seelische[n] Strukturzusammenhang[es]« in den »inneren Beziehungen zwischen der Welterkenntnis, dem Leben und den Erfahrungen des Gemütes und den praktischen Ordnungen, in denen sich die Ideale unseres Handelns realisieren« (Dilthey 1984, 118). Auch diese Auffassung von »Grundstimmung« (GS VIII 33) als seelischer Strukturzusammenhang konstatiert ihre kulturschöpferische Prägekraft, jedoch ohne dass er an dieser Stelle nähere Auskunft darüber gibt, welche innerseelischen Elemente wie zusammenstimmen müssen, um solche artikulationsmächtigen »Lebensstimmungen«53 zu erzeugen. Dennoch kann deren im Ansatz metaphysische Konzeption für unsere Frage nach einer Theorie der Stimmung wichtig werden. Sind in der Lebensstimmung doch eine affektive und eine strukturale Dimension eng miteinander verfugt, wie wir weiter unten mit Blick auf die gegenüber der Weltanschauungslehre frühere Poetik sehen werden.54 Darin führt die affektive Dimension eine ästhetisch ausgesteuerte Gefühlsstimmung auf der Linie Shaftesbury, Herder und Goethe weiter, während die strukturale auf die proportionierte Stimmung des Zusammenspieles der Erkenntnisvermögen bei Kant und Schiller zurückgeht. Diese zweite Dimension soll zunächst in den Blick genommen werden, um dadurch eine genetische Spur zu Diltheys Begriffsverwendung und Theorieansatz freizulegen.

51 Wilhelm Dilthey, »Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie« (1911), in GS VIII 33. 52 In dieser Hinsicht hat Dilthey auf die Wissenssoziologie Karl Mannheims gewirkt, insofern dieser in dessen Konzept der Weltanschauungen deren Basis als »etwas Atheoretisches« vorfindet (1970, 90–154); zit. n. und erörtert bei Plé (1993, 175). 53 GS VIII 92, cf. 81f. auch »universale Stimmungen«. Der Begriff »Lebensstimmung« spielt auch in den literaturhistorischen Portraits eine Rolle, so etwa bezüglich Jean Paul. So ist von einer »Änderung seiner ganzen Lebensstimmung« die Rede oder immer wieder von »seiner Stimmung der Welt gegenüber« (GS XXV 349, 350 et passim). 54 Mit Poetik wird im folgenden die Schrift von 1887 mit dem Titel Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik benannt, in GS VI 103–241.

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Anknüpfend an die herkömmliche Semantik55 verwendet Kant den Stimmungsbegriff scheinbar nur metaphorisch zur Veranschaulichung des Vorgangs der ästhetischen Urteilsbildung, indem das Stimmen von Musikinstrumenten auf das Abstimmen von Einbildungskraft und Verstand aufeinander übertragen wird.56 Gleichwohl erhält Stimmung schon hier systematisches Gewicht dadurch, dass sie als deren »wechselseitige Zusammenstimmung« erst für eine »Belebung« dieser »Gemütskräfte« zu »einhelliger Tätigkeit« sorgt, zu »derjenigen nämlich, die zu einem Erkenntnis überhaupt gehört« (Kant 1974, 57). Diese stimmungsinduzierte Belebung schließlich »ist die Empfindung, deren allgemeine Mitteilbarkeit das Geschmacksurteil postuliert« (ebd., cf. 180, 203). Die subjektive »Empfindung der Wirkung, die im erleichterten Spiele beider durch wechselseitige Zusammenstimmung belebten Gemütskräfte (der Einbildungskraft und des Verstandes) besteht,« ermöglicht überhaupt erst die kommunikative Verallgemeinerbarkeit einer Objektbestimmung, die »unabhängig von Begriffen« allein »in Beziehung auf Lust und Unlust« erfolgt (ebd. 57). Damit sind die Urteilsbildung und Erkenntnismitteilung für Kant freilich nicht »ein bloß subjektives Spiel der Vorstellungskräfte« (ebd. 80f., cf. § 21). Vielmehr bedingt gerade die Notwendigkeit ihrer allgemeinen Mitteilbarkeit eine Abhängigkeit vom Gemütszustand und dessen Mitteilbarkeit. Denn dieser wird von Kant als »die Stimmung der Erkenntniskräfte zu einer Erkenntnis überhaupt« (ebd. 80) aufgefasst. Dabei ist die Stimmung die Proportion der Erkenntniskräfte wie sie die gegenstandsadäquate Vorstellung erfordert. Sie macht »als subjektive Bedingung des Erkennens« (ebd. 80) objektive Erkenntnis und deren allgemeine Mitteilbarkeit erst möglich. Je nach Gegenstand ändert sich die erkenntnisbezogene Proportion der Gemütskräfte. Verschiedenen Objekten entsprechen je unterschiedliche Stimmungen im Subjekt. Damit werden die Dinge des Realen keineswegs von einem Imaginären überformt oder gar geschaffen, sondern sie sind bei Kant notwendig korreliert mit Stimmung als »dieses innere Verhältnis zur Belebung« von sensueller Einbildungskraft und begrifflichem Verstand, welches sich auf den äußeren Bezug der jeweiligen Gegenstandserkenntnis einstellt (ebd. 80). Solche Stimmung aber kann nicht durch Begriffe, sondern allein durch Gefühl bestimmt und als solches in der erkenntnislogischen Perspektive eines ästhetischen »Gemeinsinns« (ebd. 81) mitgeteilt werden. Bei Kant leistet die Stimmung also eine Vermittlung in zweifach geschichteter Hinsicht. Erstens die Vermittlung der Vermögen des Subjekts untereinander und 55 Siehe zur zeitgenössischen Auffassung und musikpraktischen Herkunft von Stimmung den Artikel beim damals maßgeblichen Kunsttheoretiker Sulzer (1794, 464–467). 56 Siehe hingegen Kants Verwendung des Ausdrucks »proportionierte Stimmung« auch mit Bezug auf die ästhetischen Empfindungen von »Harmonie und Melodie« (1974, 186, cf. 58).

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zweitens die Vermittlung des subjektiven Bewusstseins von der empfundenen Gemütswirkung dieser Vermögensstimmung in die objektive Verhältnisbestimmung des Geschmacksurteils hinein. Dieser koordinierte Vermittlungseinsatz der Stimmung innerhalb der urteilenden Empfindungssubjektivität einerseits und für eine verallgemeinerbare Geschmacksobjektivität andererseits, scheint mir die ästhetiktheoretische Urszene zu bilden, welche in Diltheys konzeptueller Tieferlegung implizit ihre Fortschreibung findet.57 Dies geschieht unter eher beiläufigem aber im Kontext explizitem Bezug auf Kant ebenfalls im Zusammenhang mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Allerdings in der Weltanschauungslehre nicht mehr bezogen auf das Geschmacksurteil, sondern auf jede »Art von Metaphysik als wissenschaftlicher Weltanschauung«, und zwar insofern für diese immer ein Widerstreit mit dem »geschichtlichen Bewußtsein« bestehe (GS VIII 3). Dabei taucht zunächst der Begriff des »Lebensgefühls« auf. Dieses bildet das unsichere Gegenspiel einer Metaphysik, die im wissenschaftlichen Zeitalter mit seiner Ausdifferenzierungsdynamik auf einen Rest an Kohärenzstiftung reduziert ist (GS VIII 6). Sodann sind es die Begriffe der »Bewußtseinslage«, der »Gemütsverfassung« und des »psychischen Zusammenhangs«, welche als subjektive Korrelate eines objektiven Wirklichkeitszusammenhangs verwendet werden und als solche »die Art der Verknüpfung des Wissens einer Zeit« bedingen (GS VIII 7, 9). Was bei Kant erkenntniskritisch auf in der Vorstellung gegebene Gegenstände bezogen war, wird bei Dilthey mit Begriffen wie »Weltansicht« und »wissenschaftliches Bewusstsein« erweitert zur konstitutiven Grundlage für Systeme der Metaphysik (GS VIII 8). Dabei geht es bei Dilthey nicht mehr um das Verhältnis der Erkenntniskräfte, welche sich in Abstimmung auf objektiv Gegebenes zueinander proportionieren, sondern um dasjenige der im Gegenstandsfeld der Erkenntnis wirksamen Kräfte wie »das Weltbild, die Ideale und die Zwecke« einer historischen Zeit (GS VIII 32). Indem diese im Hegelschen Sinne des objektiven Geistes vom genialen Dichter oder Philosophen »in deutliches Bewußtsein und in Zusammenhang« zu einander gehoben werden, werde das logische Denken der »gemeinsamen Wurzel des Lebens« ansichtig (GS VIII 32). Während bei Kant mit der analytischen Finesse seines erkenntnistheoretischen Problembewusstseins die Bereiche des Subjekts und Objekts umso genauer voneinander geschieden wie sie aufeinander bezogen wurden, werden dieselben bei Dilthey mit der synthetischen Drift seiner Weltanschauungslehre eingeebnet, um sie gleichsam subliminal als geschichtlich 57 Zu Diltheys Auseinandersetzung mit Kants Geschmacksurteil unter dem Aspekt der Allgemeingültigkeit und seiner »Übertragung aus dem Gebiet der Erkenntnis auf das des Geschmackes« siehe seine Poetik in GS VI 119–126, bes. 120; cf. 79ff.; ferner zu Diltheys philosophischem »Fortgang über Kant« in GS VIII 178f.; GS V 5, VI 6, VII 191f.; siehe auch den Index in GS XIX 456.

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Gestimmte Weltanschauung und objektive Geschichtserkenntnis?

verwurzelte zu fassen. Denn die Formulierung »gemeinsame Wurzel des Lebens« (GS VIII 32) scheint zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten nicht unterscheiden zu wollen. Betont wird das In-eins-Fallen von Subjektivem und Objektivem im geschichtlichen Erkenntnisvollzug zusätzlich, indem unmittelbar anschließend von »diese[n] Wurzeln von Leben und von Wirklichkeit« die Rede ist, in welche das »Licht des logischen Denkens« geworfen werde: »Durch dieses primäre Verhältnis ist die Struktur jedes philosophischen Systems bedingt, wie die Verwicklungen des Denkens den Philosophen auch weiterführen mögen. Immer ist diese logische Energie, die den Zusammenhang und die Wurzeln von Leben und Wirklichkeit aufspürt, das in ihm Wirksame. Wo sie nicht ist, da ist keine philosophische Anlage« (GS VIII 32).

Anders als noch Kant differenzierend dem »Skeptizism« (Kant 1974, 80; cf. 81) eine Ausnahmestellung konzediert, sieht Dilthey die gesamte Denkgeschichte von einer integralen Tendenz auf »ein lebendiges Ganzes« (GS VIII 33) – bzw. einer von diesem logisch abhängig bleibenden Negation – beherrscht: »Skeptizismus, kritisches Bewußtsein, historische Selbstbesinnung haben immer vor sich als Objekt wie als eigenes Leben diese philosophische Richtung auf Zusammenhang und Einheit der Wirklichkeit« (ebd.).

Sei es als Zusammenhang der Dinge, als Struktur des Geistes, als psychischhistorischer Strukturzusammenhang oder als ein zwischen Selbstbewusstsein und Wirklichkeitserkenntnis, zwischen Existenzgefühl und Weltbegriff vermittelndes »lebendiges Gebilde« – immer sei das genuin philosophische Thema dasselbe. Es bilde seit Platons Ideenlehre bis zu den systematisch entfalteten Dualismen der Neuzeit die »Wurzeln der Dinge« (ebd.) und liege zugleich deren begrifflicher Erfassung zu Grunde. Dass ein solches, gewissermaßen über den philosophischen Zaun zwischen Ontologie und Historiologie gebrochenes Denken von strukturierter Einheit zunächst einmal dasjenige von Dilthey selbst war und darüber hinaus eher an dasjenige der Vorsokratiker als an die abendländische Metaphysik anschließbar wäre – das konnte Heidegger nicht entgangen sein. Dessen den vorsokratischen Anruf des Ganzen – verstanden als kairologisch-geschichtliche Erfahrung der Wirklichkeit – wiederaufnehmendes Denken, das um die Zeitlichkeit des Sinns von Sein kreist, ist Dilthey darin verpflichtet, dass es sich zunächst als ein an den Begriff von Existenz als geschichtlichem Lebensvollzug rückgebundenes Procedere des Welterschließens versteht. Als solches, d. h. als ein das faktische Leben von seiner eigenen Geschichtlichkeit her verstehendes Denken, hat es seine Wirkmächtigkeit bis in die philosophische Gegenwart entfaltet. Auch die in Sein und Zeit an methodisch zentraler Stelle verankerte Bedeutung von Stimmung geht auf Dilthey zurück. Bei diesem fungiert der Stimmungsbegriff noch nicht zu

Zu-Grunde-Legen der Stimmung im Anschluss an Kant

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einer fundamentalontologisch, aber zeitlich-geschichtlich gedachten Grundierung eben jener systemischen Struktur, die »vorwärts die Verbindung des Weltbegriffs mit dem praktischen Ideal, rückwärts ein bohrendes Suchen nach den Rechtsgründen, den Erkenntnismöglichkeiten« ist (ebd.). Hier ist bereits die Gegenwendigkeit der Heideggerschen Stimmung zwischen dem (vorobjektiven) Erschließungscharakter von In-der-Welt-sein und der (vorsubjektiven) Geworfenheit des Daseins vorgezeichnet. Die Sprache der Weltanschauungslehre zeigt sich indes phänomenologisch unberührt und greift auf eine vitalistische Metaphorik zurück, in dem sie die Selbst-Welt-Struktur als ein »lebendiges Wesen«, als einen »Organismus«, als »ein Individuum« bezeichnet, das als solches »vom Herzblut eines Menschen genährt sein [muss], wenn es Lebensfähigkeit haben soll« (ebd.). Und dieses lebendige Strukturganze ist »als Schöpfung einer Person, in welche diese Alles, ihre Begriffe wie ihre Ideale ergießt, […] von Einer Gemütsverfassung, Einer Grundstimmung getragen: deren Tiefe und Originalität entscheidet in erster Linie über sein Schicksal. Nie aber hat diese in einem System ihren Ausdruck in folgerichtiger logischer Beweisführung und lückenlosem Zusammenhang erhalten« (ebd.; cf. 7).

Diltheys durch die Vollzüge des Selbst- und Weltverstehens in sich differenziertem Strukturzusammenhang liegt noch einmal etwas zu Grunde, das in seiner Ungreifbarkeit und doch Tragfähigkeit als Grundstimmung bezeichnet wird. Dem entspricht die spätere psychologische Doppelkonzeption von Stimmung als Selbstgefühl und als Weltgefühl.58 Diese komplexe, das vortheoretische SelbstWelt-Verhältnis austarierende Gefühlsstruktur, liegt der epistemologischen Subjekt-Objekt-Dualität ebenso psychologisch voraus wie weltanschaulich zugrunde. Damit konkretisiert Stimmung jene Phänomenkomplexität, um die seit je die Leib-Seele-Debatte kreist und die auch die (neo)naturalistischen Neurowissenschaften nicht erklären können.59 Dieser wissenschaftstheoretische Zusammenhang wird in der Einleitung in die Geisteswissenschaften an »Goethes Leben« exemplifiziert. Dessen schöpferische Leistung sei eben nicht »aus dem Bau seines Gehirns, den Eigenschaften seines Körpers abzuleiten«; bis auf weiteres bleibe es Sache der Geisteswissenschaften, »das Erlebnis unseres Gefühls« zum Erkenntnisgegenstand zu machen, indem es als »innere Erfahrung« in ästhetischen Objektivationen untersucht wird (GS I 9). Die Einheitlichkeit solcher für Mentalität insgesamt stehenden Grundstimmung wird von Dilthey emphatisch betont durch die etwa an Hölderlin erin58 Siehe zur Klassifikation von Stimmungen unter den Aspekten des Selbstgefühls sowie des Weltgefühls Lersch (1954, 279, 296). Zur philosophischen Tradition seit der deutschen Romantik und problemgeschichtlichen Relevanz des Begriffs Selbstgefühl siehe Frank (2002). 59 Siehe hierzu wiederum Manfred Frank mit Fokus auf die Frage nach der Freiheit in Schnabel/ Assheuer (2009).

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Gestimmte Weltanschauung und objektive Geschichtserkenntnis?

nernde Großschreibung des sowohl für ein Zahlwort wie den unbestimmten Artikel stehenden Wortes Einer. Dass dieses nacheinander der Gemütsverfassung und dann der Grundstimmung vorangestellt wird, bringt diese in eine ambivalente Spannung zwischen rhetorischer Wiederholung und semantischer Erweiterung, zwischen Identität und Komplementarität. Es bleibt offen, ob oder inwieweit Grundstimmung über die deutlicher subjektive Gemütsverfassung hinausgeht und etwa ihre Spezifikation mehr aus Anmutungsqualitäten objektiver Gegebenheiten in der geschichtlichen Welt erfährt. Wird bei Kant der Begriff der Stimmung und das Gefühl von ihr innerhalb der analytischen Explikation der Mitteilbarkeit von Geschmacksurteilen verwendet, so bei Dilthey für die Ergründung einer untersten Schicht von Affektwahrnehmung, auf der Welt- und Selbsterfahrungen sich zu etwas Historischem ablagern. Auf dieser unterbewussten Ebene ist der Mensch mit dem »Rätsel des Lebens« (ebd. 80) konfrontiert, an dessen Auflösung sich Religion, Dichtung und Weltanschauungen seit je her versuchen. Im Einzelnen wie auch im gattungsgeschichtlichen Menschen variieren und akkumulieren sich Erfahrungen, es verdichten sich die mannigfaltigen Eindrücke der Welt zu einem gleichermaßen existentiellen wie historischen Sediment. Dieses nennt Dilthey Stimmung. Er erklärt es aber nicht als Semantik des Stimmungsbegriffs, sondern über den diesem auflagernden Begriff ›Strukturzusammenhang‹. Als ›psychischer Strukturzusammenhang‹ und als ›Strukturzusammenhang des Wissens‹ verweist dieser Begriff zurück auf den von Dilthey seit 1886 verwendeten Begriff des erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens samt seiner synonymen Verwendungen als »erworbener Zusammenhang des seelischen Lebens«, »erworbener seelischer Zusammenhang« oder kompakter als »Zusammenhang des Seelenlebens« (cf. Müller-Vollmer 1963, 108). Diese Begriffswendungen stammen aus den poetologischen Vorträgen und Schriften60, werden philosophisch bedacht61 und theoretisch entfaltet in den Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894)62 und finden also von ästhetischen und phänomenologischen Kontexten her Eingang in Diltheys Konzeption des geisteswissenschaftlich-historischen Verstehens. In dieser Konzeption wird die analytische Explikationskraft des Begriffes Strukturzusammenhang epistemisch zu nutzen versucht für formale Bildungen von Einheit in Vielfalt, von Ganzheit aus Partikularem oder von Kohärenz inmitten von Verstreutem. Diese je nach Kontext mehr ästhetischen oder epistemischen Grundoperationen werden bei Dilthey

60 Insbes. Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn (1886) in GS V 90–102 sowie Poetik in GS VI 103–241. 61 Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890), GS V 90–138, im Folgenden abgekürzt Ursprung genannt. 62 GS V 139–240, im Folgenden abgekürzt Ideen genannt.

Lebensstimmungen und das methodologische Problem ihrer Geschichtlichkeit

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also nur indirekt der Stimmung zugerechnet, indem diese als Lebensstimmung der Ausbildung tragfähiger Weltbeziehungen zugrunde gelegt wird.

3.

Lebensstimmungen und das methodologische Problem ihrer Geschichtlichkeit

Dilthey hat mit Shaftesbury einen Vorläufer in dieser grundlegenden Verwendung. In »Ein Brief über den Enthusiasmus« sagt dieser 200 Jahre zuvor von der Stimmung (engl. humour) etwa, dass sie »die beste Grundlage von Frömmigkeit und wahrer Religion« sei, schlechte »Mißstimmung« hingegen die trübe »Ursache des Atheismus« (Shaftesbury 1980, 14). Eine ähnliche Voraussetzungslogik von Stimmungen und eine weitergehende Systematisierung affektbestimmter Grundhaltungen finden sich daraufhin etwa auch schon in den Schriften von David Hume. Ohne an dieser Stelle näher auf einflussphilologische Linien einzugehen, muss für Diltheys Zugrundelegen von Stimmungen in der Ausbildung weltanschaulicher Positionen indes eher an seine Rezeption Schleiermachers und Herders gedacht werden.63 Da Diltheys programmatischer Ehrgeiz aber auf eine erkenntniskritische Grundlegung geistesgeschichtlichen Verstehens abzielt, folgen wir weiter seiner Abgrenzung von Kant.64 Aus ihr heraus ist nachvollziehbar, wie Dilthey der Begriff der Stimmung dazu dient, das »Bildungsgesetz der Weltanschauungen« aus individuell prägenden Erfahrungen dessen abzuleiten, was um 1900 weitläufig mit Leben bezeichnet wurde.65 Die Diskursivierung von ›Leben‹ lässt sich nämlich als Fortführung der Temporalisierung des um 1800 kurrenten Begriffes der Natur besser verstehen und meint dann etwa die subjektivierte Faktizität des Geschichtlichen (ebd. 81). Dessen je nach Art der Erfahrung ästhetisch grundierter »Eindruck« lässt die »Welt in eine neue Beleuchtung« treten: 63 Cf. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik (1900) in GS V 326f. 64 In der historisch-systematischen Perspektive eines theo-ontologischen Diskurses werden die Werke dieser vier Denker zusammengeschaut in der Studie von Huxel (2004); darin werden »Stimmungen« bei Schleiermacher als »Einfluß des Gefühls auf die tätigen Funktionen« aufgefasst (179; cf. 215, 227); cf. die Auffassung von Stimmungen bei Dilthey als »Lebensstimmungen« (257f.) und »Grundstimmungen« (268). 65 GS VIII 81. Henrich (2001) führt zum epochalen Verständnis des Lebensbegriffes zusammenfassend die Erklärung von Simmel in Der Konflikt der modernen Kultur (1918) an. Danach war »für seine Zeit ›Leben‹ der Ausdruck für das […], was als in sich absolut und als zuletzt begründend für alles gilt. Früher verstand man dieses Absolutum als Gott, dann als die Natur und ihre Gesetze, dann als den selbstbewussten Geist, darauf als die Gesellschaft und nunmehr als das Leben. Dies Leben ist als ein Prozeß genommen, der von Vernunftregeln nicht eingefangen werden kann, ein schaffendes Strömen, ein Drang und Puls, der keinen Sinn und Zweck außerhalb seiner hat. Eine ›Urtatsache, die allem Sinn und Maß gibt‹« (17).

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Gestimmte Weltanschauung und objektive Geschichtserkenntnis?

»[I]ndem solche Erfahrungen sich wiederholen und verbinden, entstehen unsere Stimmungen dem Leben gegenüber. Von einem Lebensbezug aus erhält das ganze Leben eine Färbung und Auslegung in den affektiven oder grüblerischen Seelen – die universalen Stimmungen entstehen. Sie wechseln, wie das Leben dem Menschen immer neue Seiten zeigt: aber in den verschiedenen Individuen herrschen nach ihrem Eigenwesen gewisse Lebensstimmungen vor. […] Diese Lebensstimmungen, die zahllosen Nuancen der Stellung zur Welt bilden die untere Schicht für die Ausbildung der Weltanschauungen. In diesen vollziehen sich dann auf Grund der Lebenserfahrungen, in denen die mannigfachen Lebensbezüge der Individuen zur Welt wirksam sind, die Versuche der Auflösung des Lebensrätsels« (GS VIII 81f.).

Bei Kant leistete der Stimmungsbegriff eine grundlegende Vermittlung der Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis überhaupt sowie von Mitteilungsbedingungen des Geschmacksurteils. Bei Dilthey hingegen wäre eher von einer vermittelnden Grundlegung der Erkenntnis von Geschichte sowie der Erfahrung des faktischen Lebens zu sprechen. Denn der Vorrang kommt der Grundlegungsfunktion von Lebensstimmung innerhalb der Weltanschauungslehre zu. Ihr Vermittlungscharakter wird allenfalls im Zusammenhang mit der Sprache als »Medium« der Dichtung deutlicher, wobei letzterer ihrerseits »universale Lebensstimmungen« zugrunde liegen sollen (GS VIII 92). Das vermittelnde Moment, welches für eine medientheoretische Anschließbarkeit interessant wird, ist darüber hinaus nur indirekt erkennbar. Dann nämlich, wenn im beinahe synonymen Gebrauch von »Lebensgefühl«, »Bewusstseinslage«, »Gemütsverfassung«, »psychischer« oder »seelischer Strukturzusammenhang« und »Stimmung«, letzterer samt ihrer Varianten »Grundstimmung« oder »Lebensstimmung« der Vorzug gegeben wird. Dies geschieht offenbar zur ästhetischen Auszeichnung des Lebens- und Weltbezugs sowie um die betont individuelle Zusammenfassung heterogener Erfahrungen zu kennzeichnen. In dieser Hinsicht stiftet Stimmung den seelischen Strukturzusammenhang, den sie gelegentlich auch als Begriff ersetzt. Sodann aber und als solcher wirkt dieser zunächst zur Kennzeichnung innerpsychischer Koordinationsverhältnisse eingesetzte Begriff der Stimmung über seine Komposita der Lebensstimmung und Grundstimmung auch vermittelnd »im Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit« (GS VIII 83). In der Einleitung in die Geisteswissenschaften wird die methodologische Möglichkeit einer »Erkenntnis dieses Ganzen« als dasjenige der »geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit« (GS I 87) erörtert. In der Weltanschauungslehre wird dieses Ganze seinerseits in den Bedeutungen eines gesamtkulturellen Wissenssystems oder als Ergebnis eines mehrstufigen Erkennens als in sich strukturiert, kohärent und weiterhin in Analogie zum Individuum gedacht. Als Zwischenglied fungiert die Weltanschauung, deren Struktur Ausdruck des seelischen Strukturzusammenhangs ist:

Lebensstimmungen und das methodologische Problem ihrer Geschichtlichkeit

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»Sie [d.i. die Struktur der Weltanschauung] ist durch die psychische Gesetzlichkeit bestimmt, nach welcher die Wirklichkeitsauffassung im Lebensverlauf die Unterlage für die Wertung der Zustände und Gegenstände in Lust und Unlust, Gefallen und Mißfallen, Billigung und Mißbilligung ist und diese Lebenswürdigung dann wieder die untere Schicht für die Willensbestimmungen bildet.« (GS VIII 82)

Hier wird mit einem Mal doch ein auch unmittelbarer Bezug zu Kants Geschmacksurteilstheorie sichtbar. Ersetzt man gemäß Diltheys quasi synonymer Verwendung psychische Gesetzlichkeit durch Lebensstimmung, so bildet diese nämlich »die Unterlage für die Wertung der Zustände und Gegenstände in Lust und Unlust« (ebd.). Wie bei Kant das Geschmacksurteil sowohl intern über die Vermögensstimmung organisiert war als auch extern über die Stimmungsempfindung die Verallgemeinerbarkeit solcher subjektiven Objektbestimmung begründete, so ist es bei Dilthey nach innen auf die Stimmung der »Gesetzlichkeit« des »psychischen Lebens« (GS VIII 82) basiert. Nach außen sind wertende Urteile als »untere wirkende Schicht« (GS VIII 83) des Lebens strukturbildend für den Allgemeingültigkeitsanspruch von Weltanschauungen: »[D]ie Beziehungen, die in den Verhaltungsweisen liegen, nach denen ich über Gegenstände urteile, an ihnen Lust habe und auf etwas an ihnen zu Verwirklichendes gerichtet bin, […] konstituieren die Struktur der Gebilde, in denen der ganze Wirkungszusammenhang des Seelenlebens seinen Ausdruck findet« (GS VIII 83).

Die Effekte der Strukturierung und Kohärenzstiftung, die von Grundstimmungen ausgehen, das Bild der Wirklichkeit prägen und darüber auch zur Weltanschauung hinleiten, erläutert er in diesem philosophischen Theoriekontext am Beispiel der Dichtung: »Das lyrische Gedicht zeigt in einfachster Form diesen Zusammenhang – eine Situation, eine Folge von Gefühlen und daraus oftmals hervortretend ein Verlangen, Streben, Handeln. Jedes Lebensverhältnis entwickelt sich zu einem Gefüge, in dem dieselben Verhaltungsweisen strukturell verbunden sind. Und so sind auch die Weltanschauungen regelmäßige Gebilde, in welchen diese Struktur des Seelenlebens sich ausdrückt« (GS VIII 83).

Für eine ästhetische Theorie der Stimmung bedeutsam ist es zudem, dass es die von Stimmungen getragenen und ethisch erweiterten Geschmacksurteile sind, aufgrund welcher Dilthey das Verhältnis der Grundlegung des einen durch das andere, also der Weltanschauung durch die Lebensstimmung, in eine dialektische Spannung versetzt. Denn durch die ästhetischen Urteile und ethischen Wertungen, die nach einem Gefühlsstufenmodell der Wirklichkeitserkenntnis noch durch Wahrnehmungen und Denkleistungen ergänzt werden, »erhalten Zustände, Personen und Dinge im Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit eine Bedeutung, und dieses Ganze selbst erhält einen Sinn. Indem diese Stufen des Gefühlsverhaltens durchlaufen werden, bildet sich gleichsam eine zweite Schicht in der

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Gestimmte Weltanschauung und objektive Geschichtserkenntnis?

Struktur der Weltanschauung; das Weltbild wird Grundlage der Lebenswürdigung und des Weltverständnisses. Und nach derselben Gesetzlichkeit des seelischen Lebens entsteht aus der Lebenswürdigung und dem Weltverständnis eine oberste Bewußtseinslage« (GS VIII 83).

Diese oberste Bewusstseinslage geht aus der Stimmung hervor und geht – ohne dass dies ausdrücklich angemerkt würde – über die »Wirksamkeit der allgemeinen Strukturverhältnisse« (GS VII 185) auf diese zurück. Sie bildet als deren höchste Entwicklungsstufe die Grundlage für die »obersten Grundsätze« der »Weltanschauung« und deren »Ideal der Gestaltung des persönlichen Lebens und der Gesellschaft« (GS VIII 84). Diltheys programmatisch geisteswissenschaftliches Verstehen von Lebensobjektivationen in Religion und Mythos, der in metaphysischen Systemen geformten Weltdeutungen sowie des in künstlerischen Gebilden geformten Ausdrucks führt über Verbindungsstationen wie Weltanschauung, Weltbild, geschichtlicher Wirkungszusammenhang, Erlebnis oder seelischer Strukturzusammenhang wieder zurück auf die Stimmungen. Dies bleibt aber unerwähnt, vermutlich deshalb, weil Dilthey fürchten muss, dass vom Begriff der Stimmung her sein zentrales »Problem des Übergangs von der psychologischen zur hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften« (Gadamer 1990, 228) nicht zu lösen ist. Das Problem besteht in der Unvermitteltheit zwischen der Geschichtlichkeit individueller Lebenserfahrung und der Nicht-Erfahrbarkeit universalgeschichtlicher Wirkungszusammenhänge. Anders noch als 1887 scheut Dilthey an dieser Stelle davor zurück, eine Lösung in Strukturähnlichkeiten zu suchen. Diese bestanden zwischen der Stimmung einer Zeit, Generation, Nation, Epoche oder »der Menschen« mithin eines kollektiven Subjekts der Geschichte einerseits und andererseits der Stimmung eines Individuums, mithin dem Lebenszusammenhang eines Einzelsubjekts.66 Dabei scheint es doch, als könne das Zirkuläre zwischen gestimmter Innenund Außenwelt, zwischen historischer Konstellation und seelischem Strukturzusammenhang mit dem methodologischen Selbstverständnis der von Schleiermacher übernommenen Hermeneutik abgeglichen werden. So spricht Dilthey in Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften mit Blick auf die verschiedenen Wissensgebiete und ihren unterschiedlichen methodischen Zielsetzungen nur sehr vage von der sie gleichwohl einigenden »Grundleistung des Verstehens«, in welcher nämlich »Erleben, Nacherleben und allgemeine Wahrheiten verbunden« werden (GS VII 146). Entsprechend behandelt die hermeneutische Methode textuelle, seelische oder historische Struktur- bzw. 66 Dies war indes angedacht in der Poetik von 1887; cf. im Zusammenhang der »rationalen Ästhetik« Diltheys Rede von einer »Stimmung der Zeit« und einer kulturhistorisch »veränderten Stimmung der Menschen« (GS VI 253f.).

Lebensstimmungen und das methodologische Problem ihrer Geschichtlichkeit

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Wirkungszusammenhänge gleich und bewegt sich »in einer doppelten Richtung« hin auf die Bedeutungsganzheit des Lebens: »In der Richtung auf das Einmalige geht sie vom Teil zum Ganzen und rückwärts von diesem zum Teil, und in der Richtung auf das Allgemeine besteht dieselbe Wechselwirkung zwischen diesem und dem Einzelnen« (GS VII 146).

Für unsere um die Theoriefähigkeit von Stimmung kreisende Fragestellung brauchen wir uns nicht näher mit den theoretischen Problemen der Grundlegung der Geisteswissenschaften, der historischen Erkenntnis und der diesbezüglichen Kritik an Dilthey zu beschäftigen.67 Denn dort bleibt die Begriffsverwendung von Stimmung durchweg auf vorsystematischem Niveau. Dieser ungenaue Stimmungsbegriff wirft allenfalls die Frage auf, ob mit einer Systematisierung – etwa anstelle des erkenntniskritisch reflektierenden »Denkich«68– heute sinnvoll an das unausgeführte Projekt einer Kritik der historischen Vernunft angeknüpft werden könnte. Dilthey jedenfalls präferiert für dieses Vorhaben einer Erweiterung der drei Kantischen Kritiken seinen transzendental gefassten Begriff ›Erlebnis‹.69 Aus der Unmittelbarkeit des Erlebnisses lässt sich für ihn der seelische Zusammenhang als eine Struktur generieren, deren Erkennbarkeit durch die Einebnung der Differenz zwischen Subjekt oder Bewusstsein auf der einen und Objekt oder Gegenstand auf der anderen Seite garantiert ist. Der damit verbundene Verlust an Betrachtungsdistanz scheint aber eher der Nichtintentionalität von Stimmung und ihrer kontingenten Bewusstheit zu entsprechen. Für Dilthey ist Distanzverlust offenbar durch den Gewinn eines fundamentum inconcussum aufgewogen, dessen notwendige Gewissheit hingegen nur dem Erlebnis zukommen mag. Ob aber vom Ausgangspunkt eines selbstgewissen Erlebnisses über die strukturierte Bedeutungsganzheit eines seelischen Zusammenhanges ein sicherer Weg zur objektiven Erkenntnis historischer Wirkungszusammenhänge führt, wird von Dilthey nicht eindeutig beantwortet und soll an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. 67 Hierzu Gadamer (1990, 222–245); Schnädelbach (1983, 74–77); Ineichen (1975). De Mul (1991, 411) bezieht eine Diltheys Ansatz gegenüber Heidegger und Gadamer verteidigende Position, indem die Lebensstimmung als einem Heideggers In-der-Welt-sein verwandter Ausgangspunkt beansprucht wird. 68 Siehe hierzu den großangelegten Versuch von Otto (1982), der in Auseinandersetzung mit Diltheys Projekt einer Kritik der historischen Vernunft auf eine »Theorie des geistesgeschichtlichen Wissens« abzielt, die »zu ihrer Begründung einer Theorie geschichtsauffassender Subjektivität [bedarf], in welcher die Einheit und die Differenz von erlebendem Selbst und Synthesen oder Strukturen setzenden Ich thematisch geworden ist« (58). Vorbereitend dazu Otto (1979), darin das zitierte »Denkich« (251). Siehe kritisch zu Otto die Besprechung von Lessing (1985). Ausführlich zum selben Thema Lessing 1984. Zu wirkungsgeschichtlichen Aspekten von Diltheys Geschichtsdenken siehe Lessing (1983). 69 Zur von Dilthey nur mit »Vorsicht« vorgenommenen Benennung ›Kritik der historischen Vernunft‹ und deren systematischer Stellung im Denken Diltheys siehe Rodi (1985, 141).

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Gestimmte Weltanschauung und objektive Geschichtserkenntnis?

Allerdings muss gegenwärtig bleiben, dass es Dilthey nie exklusiv um Ästhetik oder Poetik geht, wenn von Stimmungen die Rede ist, sondern um ein Verstehen des Geschichtlichen sowie um die Geschichtlichkeit des Verstehens. Sogar im historisch-systematischen Kontext der »deutsche[n] Ästhetik« richtet sich sein Interesse auf das Desiderat einer deskriptiv-psychologischen Methodik zur Erkenntnis des »geschichtliche[n] Wesen[s] des Menschen« (GS VI 123). Noch allgemeiner steht »das Wesen des Geschichtlichen« im Zentrum dieses Ansatzes, der auf der »Idee der Objektivation des Lebens« beruht (GS VII 147). Geschichte kann prinzipiell verstanden werden, weil der Verstehende und das Verstandene geistiger Art – d. h. kulturell gemacht – sind. Bei diesem auf Giambattista Vico zurückgehenden Gedanken sind das Subjekt und Objekt des Verstehens konvertibel: verum et factum convertuntur.70 Die sie jeweils strukturierenden Wirkungszusammenhänge sind genetisch miteinander verknüpft: »Das Verstehen ist ein Wiederfinden des Ich im Du; der Geist findet sich auf immer höheren Stufen von Zusammenhang wieder; diese Selbigkeit des Geistes im Ich, im Du, in jedem Subjekt einer Gemeinschaft, in jedem System der Kultur, schließlich in der Totalität des Geistes und der Universalgeschichte macht das Zusammenwirken der verschiedenen Leistungen in den Geisteswissenschaften möglich. Das Subjekt des Wissens ist hier eins mit seinem Gegenstand, und dieser ist auf allen Stufen seiner Objektivation derselbe« (GS VII 191).

An diesem Zitat aus den Entwürfen zur Kritik der historischen Vernunft wird für das theoretische Profil von Stimmung zunächst deutlich, dass ihre unklare Grundlegungsfunktion für das Lebens- oder Weltverständnis nicht kausallogisch missverstanden werden soll. Die Ansiedlung der Stimmung in der untersten Schicht der Struktur von Weltanschauung heißt nicht, dass diese allein die Wirkung jener wäre und also unter Grundstimmung eine affektive Art von Ursache verstanden würde. Jedenfalls gilt dies nicht in dem kausalen Sinne, dass Stimmung eine notwendige und bereits schon hinreichende Bedingung für die auf ihr aufbauenden Strukturen ist. Offensichtlich bringt nicht jede Stimmung eine Weltanschauung hervor. Wohl aber gilt für Dilthey umgekehrt, dass es keine Weltanschauung ohne eine ihr chronologisch und psychologisch voraus- bzw. zugrundeliegende Stimmung gibt.71 Damit könnte Stimmung bereits als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Ermöglichungsbedingung zu denjenigen ursächlichen Faktoren gezählt werden, die für das Entstehen von Objektivationen des Lebens in Kunst, Religion und Philosophie verantwortlich sind. Gegen eine solche Stimmungs70 Cf. Gadamer (1990, 226); dazu ausführlich Cacciatore (1979); ferner Habermas (1968, 188– 190). 71 Dies wird noch für Heidegger (1996) gelten, der freilich alles Psychologische diskreditiert und durch die existential-ontologische Denkform ersetzt (§§ 32–46, 229–402).

Das ›Erlebnis‹ – seine Kategorisierung und deren erkenntnistheoretische Insuffizienz

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kausalität sprechen indes die im Verstehen qua »Wiederfinden« durchkreuzte Linearität sowie die in der Hermeneutik von Strukturidentität angelegte Reversibilität. Denn Lebensgefühle oder -stimmungen sind ja ihrerseits durch die »Anschauung von der Objektivität des Lebens« (GS VII 146) zumindest beeinflusst, wenn auch nicht bis hinein in ihre Binnenstruktur und jedenfalls nicht verursacht. Grundstimmungen muss gegen Diltheys Intention – aber seinen Ausführungen entsprechend – der »Charakter der Historizität« (GS VII 147) ebenso zukommen wie den Weltanschauungen, Religionen oder der Kunst, die sie mitbestimmen. »Die Lage wird im Gefühl erlebt«, sagt er in der Grundlegung explizit, und »die Struktur des Gefühls« – fährt er in phänomenologischem Duktus fort – liege in einem »Rückgang von den Gegenständen auf das Verhalten. Diese Rückbeziehung, wenn sie auch die leiseren Vibrationen genießt und leidet, ist die Stimmung« (GS VII 48). Wenn aber die Stimmung Rückbeziehung oder Zurückbeugung, Reflexion oder Widerspiegelung ist, kann durch sie hindurch nur wiedererkannt werden, was zuvor schon bekannt gewesen sein muss: »Alles Verstandene trägt gleichsam die Marke des Bekanntseins […] an sich« (GS VII 147). Die historische Erkenntnis der »Objektivation des Lebens« entpuppt sich als Selbstreflexion des Lebens. Ihre Ermöglichungsbedingung, nämlich die strukturelle Homogenität zwischen innerem und »äußere[m] Reich des Geistes«, ist zugleich ihre epistemische Restriktion auf »Manifestationen des Lebens, wie sie in der Außenwelt dem Verständnis sich darstellen« (GS VII 146). Weder der Begriff Außenwelt noch die behauptete Einbettung der Lebensmanifestationen »in den Zusammenhang der Natur« können über die reflexive Immanenz dieses Verstehensmodells hinwegtäuschen. Mit letzterem kann es keine an der Objektivität in der ästhetischen Raumerfahrung orientierte Stimmungstheorie geben; noch kann dieses Modell eine mit dem naturwissenschaftlichen Methodenideal konkurrenzfähige Objektivierbarkeit von historischer Erkenntnis erreichen.

4.

Das ›Erlebnis‹ – seine Kategorisierung und deren erkenntnistheoretische Insuffizienz

Eine auf naturwissenschaftliche Empirie basierte Erforschung der Stimmung hat es indes ihrerseits zu keiner Theorie gebracht, die ausschließlich auf experimentell verifizierte Komponenten aufbaute.72 Für historische Studien zur Stimmung käme letzteres ohnehin nicht in Betracht. Wir können ja z. B. von den Romantikern, Biedermeiern oder Decadents keine Selbstberichte oder sonstige

72 Siehe dazu die Beweisführung in Hajduk (2016, 37–43).

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Gestimmte Weltanschauung und objektive Geschichtserkenntnis?

Versuchsteilnahmen erwarten, sondern können uns nur auf Werke und Dokumente dieser Epochen einlassen und deren zeitgenössischen Diskurskontexte einbeziehen. Ästhetiken und Poetiken der Stimmungen, die etwa deren Historizität, Objektivität sowie Kognitivität mit erfassen wollen, finden schon eher bei Dilthey Anknüpfungspunkte. Diese scheinen sich ausgerechnet aus der methodologischen Schwäche seiner geisteswissenschaftlichen Grundlegungsarbeit zu ergeben, insoweit sich diese Schwäche an einem theoretischen Schwanken zwischen zwei Tendenzen in seinem Werk ablesen lässt. Diese Tendenzen sollen an dieser Stelle resümiert werden, indem deren Relevanz für eine kritische Theoretisierung der Stimmung angedeutet wird. (1) Da ist zum einen der Versuch Diltheys, aus dem ungelösten Problem der Nicht-Objektivierbarkeit spezifisch individueller Erfahrung verstehenstheoretisches Kapital zu schlagen. Denn er macht aus dem epistemologischen Nachteil, dass die Erfahrung des einzelnen innerhalb seines Lebenszusammenhanges nicht verallgemeinerbar, seine Stimmungen nicht für empirische Feststellungen geeignet sind, einen methodologischen Vorteil. Dieser ergibt sich daraus, dass von der inkommensurablen Erfahrung des Individuums gerade nicht abstrahiert wird, um etwa über experimentell reproduzierbare Erfahrungsbedingungen objektive Erkenntnis zu sichern. Umgekehrt wird die in ihrer Singularität inkommensurable Erfahrung als konkrete bewahrt, um kraft ihrer dadurch erwogenen Geschichtlichkeit ein in sich differenziertes Strukturganzes zu erhalten. Erst dieses – also Diltheys von Stimmungen grundierter Strukturzusammenhang – bildet sodann den subjektiven Gegenhalt für eine vergleichend objektivierte Erkenntnis der geschichtlichen Welt in ihrer Komplexität. Damit steht das Erkenntnissubjekt nicht einer faktischen Dispersion historischer Ereignisse auf der festen aber abstrakten Basis isolierter Erfahrungstatsachen beziehungslos gegenüber, sondern es versteht Geschichte als objektiven Wirkungszusammenhang, indem es zu diesem sich ins Verhältnis setzt als seinerseits geschichtlich strukturiertes Relat. Als ein solcher aber kann es sich nur über einen Begriff von Erfahrung positionieren, der deren ganzheitlichen Stimmungscharakter im alltäglichen Sinne von lebensgeschichtlicher Selbstverständigung betont (cf. Gadamer 1990, 226). Dieser Vorteil könnte insofern für die gegenwärtige Forschung zu Stimmungen adaptierbar sein, als dass diese am historischen Material nicht durch Beobachtung isoliert, nach groben Schemata klassifiziert und als pathische Tatsachen untersucht werden müssten. Vielmehr könnten Stimmungen auf individueller Stufe als affektive Dispositionen, psychische Reaktionsbildungen oder mentale Grundhaltungen von vornherein in ihrem (situativen) Beziehungsverhältnis zum Umgebenden, zur Welt oder Wirklichkeit, also als eingelassen in individualisierte Strukturzusammenhänge ins Auge gefasst werden. Könnten solchermaßen integriert-integrierende Stimmungen darüber hinaus

Das ›Erlebnis‹ – seine Kategorisierung und deren erkenntnistheoretische Insuffizienz

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auf kollektiver Stufe in den Blick geraten? Könnten sie etwa als Wahrnehmungsund Darstellungsmedien für epochenspezifische Selbst-Welt-Verhältnisse, für habitualisierte Stellungen zwischen Ich und Du, Individuum und Gesellschaft und damit als Agent in geschichtlichen Wirkungszusammenhängen identifiziert werden? Wer eine solche konzeptuelle Erweiterung von Stimmung um kulturanalytische, mediologische und historiologische Aspekte für sinnvoll oder auch nur für möglich hält, muss sich klarmachen, dass deren methodologische Basis nicht nur von heuristischem, sondern dann auch spekulativem Zuschnitt wäre (cf. Kap.VII).73 (2) Mit diesem allerdings produktiven Aspekt theoretischer Spekulation gerät die zweite Tendenz Diltheys in den Blick. Nämlich in der idealistischen Vorstellung einer strukturellen Entsprechung zwischen begrifflicher Erkenntnis und geschichtlichem Gegenstand nicht einen Vorzug, sondern einen epistemologischen Schwachpunkt zu sehen, den es zu kaschieren gilt. Im Rahmen seiner Ambition, »eine Erkenntnistheorie der Geschichte« (GS VII 192) nach dem Ende reflexions- und geschichtsphilosophischer Spekulation zu entwickeln, muss Dilthey es allerdings vermeiden, dass die unvermeidliche Zirkularität des Verstehens74 – von der Strukturiertheit des Seelenlebens zu derjenigen der Geschichtswirklichkeit und zurück – als Immanenz von Reflexivität erscheint. Der verstehende Zugang zur Geschichte auf dem Weg der Erfahrung droht durch eine Selbstbespiegelung des Geistes in dem von ihm Erschaffenen verstellt zu werden. Aus dieser methodischen Sackgasse herauszuführen ist gewissermaßen der konzeptuelle Auftrag des Diltheyschen Erlebnisses. Auf dessen Faktizität und Geschichtlichkeit bildet sich jene Struktur, die im Lebensverlauf sowohl einen inneren Zusammenhang als auch einen äußeren dadurch knüpft, dass sie sich in symbolischen Formen objektiviert. Diese bilden letztlich den geschichtlichen Wirkungszusammenhang, der in seinem kulturellen Gesamt jedoch vom einzelnen nicht mehr reflektiert oder als Ganzes erlebt, allenfalls in Teilen verstanden werden kann. Zu objektivem Wissen von der Geschichte aber lässt sich ausgehend vom hermeneutischen Erlebnismodell nicht gelangen. Dies sollte Gadamer zur Alternative eines dialogischen Wissens qua historischer Horizontverschmelzung oder daran anschließend Habermas zu seinem Konzept konsensuellen Wissens qua kommunikativen Handelns führen. Bereits Diltheys epistemischer Zugriff auf Geschichte als einem schließlich doch erlebnisunabhängigen Strukturganzen vollzieht sich indes als Überspringen einer methodologischen Bruchstelle. Seine Psychologie verstehenden und vergleichenden Nacherlebens kann sich nur in dem Maße auf kulturelle Totalität 73 Dies ist der Fall bei der Stimmungsarbeit über die Romantik von Pfau (2005). 74 Siehe zum methodologischem Aspekt des hermeneutischen Zirkels bei Dilthey Habermas (1968, 214–233).

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Gestimmte Weltanschauung und objektive Geschichtserkenntnis?

beziehen, wie sie die geschichtliche Bedingtheit ihres eigenen Ausgangspunktes gegen die eigene Intention ignoriert und ihn über den Einbezug der Überlieferung zu einem universalen historischen Bewusstsein dehnt. Eine notwendige Verankerung des Verstehens im Erlebnis eines individuellen Subjekts und die zwecks Erkenntnisobjektivität betriebene Loslösung von dessen Gebundenheit an einen zufälligen Standort aber sind methodologisch nicht konsistent miteinander vereinbar.75

75 Zu Diltheys Bemühen um eine Objektivität von Erkenntnis im Anschluss an Kant und insbes. mit Blick auf das fundamentale Prinzip vom der »Satz der Phänomenalität« siehe hingegen Tool (2007, hier 5).

III.

Ausdrucksverstehen durch ›Lebenskategorien‹ und die Zeit in der Stimmung

1.

›Leben‹ als Ausgangspunkt von Dichtung und die komprehensive Funktion der Stimmung

Für Dilthey »bildet der Ausgang vom Leben und der dauernde Zusammenhang mit ihm den ersten Grundzug in der Struktur der Geisteswissenschaften; beruhen sie doch auf Erleben, Verstehen und Lebenserfahrung« (GS VII 137). Danach richtet sich das »aus den Aufgaben des Lebens selbst« stammende Erkenntnisinteresse der verschiedenen Geisteswissenschaften76 auf »dieselbe große Tatsache: das Menschengeschlecht« (GS VII 79–81). Über den gemeinsamen Erkenntnisgegenstand ›Menschheit‹ samt ihrem gesellschaftlichen Leben in seiner historischen Welt hinaus, dürfe aber im Unterschied zu den Naturwissenschaften nicht vom Subjekt zwecks Objektivierung abstrahiert werden. Denn nur vom verstehenden Selbstverhältnis des Subjekts her wird der »Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen [als] das eigene Verfahren [nachvollziehbar], durch das die Menschheit als geisteswissenschaftlicher Gegenstand für uns da ist. Die Geisteswissenschaften sind so fundiert in diesem Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen« (GS VII 87).

Zumal »der Erlebnischarakter unserer Eindrücke« sowie das »lebendige Gefühl« sollen nicht methodisch ausgeklammert, sondern als Ausgangspunkt der geisteswissenschaftlichen Vorgehensweise reflektiert werden (GS VII 82f.). Treten bei ihr doch die »Phänomene« nicht wie durch »das abstrakte Auffassen« der Naturwissenschaften »im Bewußtsein als von außen […] gegeben«, sondern 76 Dazu zählt er »Geschichte, Nationalökonomie, Rechts- und Staatswissenschaften, Religionswissenschaft, das Studium von Literatur und Dichtung, von Raumkunst und Musik, von philosophischen Weltanschauungen und Systemen, endlich die Psychologie« (GS VII 79). Das Kriterium der Zugehörigkeit wird von Diltheys hermeneutischer Grundformel ersichtlich: »Eine Wissenschaft gehört nur dann den Geisteswissenschaften an, wenn ihr Gegenstand uns durch das Verhalten zugänglich wird, das im Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen fundiert ist« (GS VII 87).

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Ausdrucksverstehen durch ›Lebenskategorien‹ und die Zeit in der Stimmung

»von innen, als Realität und als lebendiger Zusammenhang originaliter« auf (GS V 83, 143). Insbesondere hinsichtlich dichterischer Werke – so Dilthey – gingen die »äußeren naturwissenschaftlichen Methoden« schon deshalb fehl, weil die vergegenständlichende Analyse von Kunst »als ein objektiv Empirisches« zur »Selbstentfremdung des Geistes seinen eigenen Schöpfungen gegenüber« führen müsse: »Die sokratische Selbsterkenntnis würde einer äußeren deskriptiven Methode Platz machen. Die Poetik wäre außerstande, die lebendige Funktion der Poesie in der Gesellschaft zu erkennen und ihr hierdurch ihren Platz und ihre Würde in derselben zu sichern« (GS VI 126).

Dies könnte im Sinne Diltheys hingegen gewährleistet werden durch ein Literaturverständnis, welches die in Dichtung gestalteten Stimmungen als Ausdruck individueller Erlebnisse und kollektiver Lebenszusammenhänge auffasst. Ein solches Erkenntnisinteresse an literarischen Stimmungen würde geradewegs dem Anspruch methodischer Objektivierung widersprechen. Müsste der Objektivierungsanspruch doch den poetischen Gegenstand um seine Sinnkomplexität bringen, namentlich die irreduzible Individualität des Lebens verfehlen, dessen rhizomatische Bedeutsamkeit eindämmen und seine existentielle Vollzugsdimension ausblenden. Literarisch manifeste Stimmungen im Sinne Diltheys in den Blick zu nehmen, hieße hingegen die mannigfaltigen Bedeutsamkeitsbezüge faktischen Lebens und die Subjektivierung geschichtlicher Existenz verstehen zu wollen. Die Besonderheit solchen Vorgehens wird auffälliger, wenn man es als eine existentielle Wende im hermeneutischen Diskurs versteht: weg von der materialen Fixierung auf die Sprache, sei es in mündlicher oder schriftlicher Form, und hin zum Strukturellen der Ausdrucksgestalten von Individualität. Der Fokus des Verstehens ist nicht länger auf die Bedeutungscodierung im Zeichenregime von Schrift und Rede gerichtet, sondern auf den Bedeutsamkeitszusammenhang von geschichtlichen Individuen und Epochen. Nur deren – ihrerseits geschichtlich bedingte – Präferenz für den sprachlichen und insbesondere literarischen Ausdruck bindet das Diltheysche Ausdrucksverstehen zurück an das Sinnverstehen einer Hermeneutik, deren Interpretationstheorie und Textpraxis bekanntlich aus der Tradition der Bibelexegese stammen. Für die vergleichend und historisch verfahrende Geisteswissenschaft heißt Diltheys strukturelle Volte beispielsweise, anhand einer Reihe von Werkanalysen den »einheitlichen Zusammenhang« zu erschließen, »in welchem auf den verschiedensten Lebensgebieten die herrschende Richtung der deutschen Aufklärung zum Ausdruck kommt« (GS VII 183).

›Leben‹ als Ausgangspunkt von Dichtung

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Für geschichtliches Verstehen dieser Art kommt der Kunst eine übergeordnete Funktion zu, insofern sie durch ihre Formgebung die in allen »Lebensgebieten« zum Ausdruck kommende Weltanschauung samt der ihr zugrundeliegenden Stimmung noch verstärkt. Zudem misst Dilthey der Kunst offenbar nicht nur einen hermeneutisch privilegierten Status gegenüber Philosophie, Religion und Wissenschaft zu, sondern auch im Vergleich zu anderen Künsten gilt: »Unter den Künsten hat nun aber die Dichtung ein besonderes Verhältnis zur Weltanschauung. Denn das Medium, in dem sie wirksam ist, die Sprache, ermöglicht ihr lyrischen Ausdruck und epische oder dramatische Darstellung von allem, was erblickt, gehört, erlebt werden kann« (GS VIII 92).

Im Weiteren erläutert Dilthey die Leistungsfähigkeit der Dichtung unter den funktionalen Aspekten ihrer Entlastung sowie Deutung von Wirklichkeit, der imaginären Wunschbefriedigung und Erschließung von Lebensmöglichkeiten, der die reale Erfahrung überschreitenden Selbst- und Horizonterweiterungen und der Eröffnung von vital intensivierten Weltbezügen. Eine solche Sichtweise und Hochschätzung von schöner Literatur ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht ungewöhnlich. Dies gilt auch für die gehäufte Zuordnung des Begriffes ›Leben‹ zur Poesie, deren »Grundverhältnis« zueinander Dilthey dann über den Begriff der Lebensstimmung organisiert sieht: »[D]as Leben ist ihr Ausgangspunkt; Lebensbezüge zu Menschen, Dingen, Natur werden deren Kern für sie; so entstehen die universalen Lebensstimmungen in dem Bedürfnis, die aus den Lebensbezügen stammenden Erfahrungen zusammenzunehmen, und der Zusammenhang des in den einzelnen Lebensbezügen Erfahrenen ist das dichterische Bewußtsein von der Bedeutung des Lebens« (GS VIII 92).

So einleuchtend hier das Leben in der Bedeutung seiner Erfahrungszusammenhänge als Ausgangspunkt der Poesie erkannt und deren Material in den Vollzugsformen der faktischen Weltbeziehung ausgemacht wird, so fraglich erscheint Diltheys oben zitierte Behauptung, dass Dichtung ein verwandtschaftliches Näheverhältnis zur »Weltanschauung« habe. Wo diese zwecks Rahmung, Orientierung und Übersichtlichkeit vom Leben in den Ebenen seines konkreten Vollzugs abstrahiert und aufs Regelhafte Wert legt, gibt jene doch auf Einzelfälle Acht, wendet sich dem gelebten Leben konkreter Situationen zu und schafft »grenzenlose Möglichkeiten« (GS VIII 93) der Vergegenwärtigung und Selbstvergegenwärtigung. Zwar ließe sich mit Recht argumentieren, dass es gerade Diltheys Zusammendenken von Weltanschauung und Dichtung, von Wahrheitsbezug und Poetik sowie die Rückbindung aller zusammen ans Leben es seien, was philosophisch von Belang ist. Jedoch bleibt unklar, wie genau das zusammengehen soll, und umso erklärungsbedürftiger, als die metaphysikkritische Philosophie jener Zeit sich etwa mit der aufkommenden Phänomenologie ähnliche Probleme der Gleichursprünglichkeit von Gegenstandsbezug und Be-

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Ausdrucksverstehen durch ›Lebenskategorien‹ und die Zeit in der Stimmung

wusstseinskonstitution sowie die Verhältnisse von natürlicher Weltbeziehung und transzendentalem Ich oder von der Sache selbst und eidologischer Anschauung verhandelt.77 Entsprechend wirkt Diltheys angedachte Einordnung der Dichtung unter die »Typen der Weltanschauung« (GS VIII 93) forciert. Seine Aussagen, dass »Typen der dichterischen Weltanschauung die der Metaphysik vor[bereiten]« oder dass es von der »innere[n] Form der Dichtung […] nur ein Schritt zu den großen Typen der Weltanschauung« sei, sind mehr suggestiv als explikativ dargelegt.78 Das aus heutiger Sicht Unbefriedigende an Diltheys Überlegungen liegt überwiegend wohl am seinerzeit kurrenten Begriff der Weltanschauung. Dessen erkenntnistheoretische bis ideologische Semantik lässt ihn allzu unmittelbar neben dem der »Lebensanschauung« erscheinen, welche »dem Dichter aus der Natur des Lebens selbst« entstehe (GS VIII 93). Als Vermittlungsbegriff fungiert die Stimmung. Der Ausdruck »universale Lebensstimmung« soll das dichterische Bewusstsein mit metaphysischen Denksystemen verbinden, indem er die »Bedeutung des Lebens« mit der Deutung von Welt verquickt (GS VIII 92). Zur Seite philosophisch reflektierter Weltanschauungen hin ist ein solcher Übergang qua Stimmungsbegriff deren Geschlossenheit unangemessen, theoretisch überbelastet oder zumindest nicht überzeugend ausgearbeitet. Zur Seite poetisch verdichteter Lebensanschauungen hin ist er indes der Offenheit symbolischer Prozesse angemessen, er vermag dem diffusen Zusammenhang der Erfahrungsvielfalt Rechnung zu tragen oder »eine[m] im Leben geschauten Zusammenhang« ästhetisch gerecht zu werden (GS VIII 93). Die universalen Lebensstimmungen haben sogar ihre Genese im oben zitierten Zusammennehmen heterogener Erfahrungen. Sie bilden als deren synthetischer Effekt ein ästhetisch markiertes Erfahrungsgesamt, das auf die Herkunft der Erfahrungen, namentlich die Lebensbezüge, zurückwirkt. Denn die Stimmungen stiften im Durch-, Mit-, Neben- oder Nacheinander alltagsweltlicher Eindrücke und Abläufe zwar nur vorläufige, aber immerhin überhaupt Zusammenhänge. Solche primordiale Kohärenzstiftung besorgt eine wahrnehmungsorganisatorische Basis, auf der dann durch das – zumal dichterische – Bewusstsein hindurch existentielle Bedeutung erzeugt und ›Leben‹ erst auf die Höhe eines philosophischen Begriffs gebracht wird. Es ist dieser Aspekt des Komprehensiven, der Diltheys Stimmungsbegriff für eine literaturwissenschaftliche Neukonzeption desselben anschlussfähig erscheinen lässt. Hierzu ist freilich von der vorsystematischen Einbindung in die me77 Zum schwierigen Verhältnis zwischen Dilthey und der Phänomenologie Husserls siehe Otto (1982, 79–109); Cacciatore (1976, Bd. II, 80); Makkreel und Scanlon (1987, Part I, 1–53). 78 Cf. ebd.; siehe in diesem Zusammenhang mit Bezug auf theoretische und philologische Schriften Diltheys bereits Unger (1917).

›Leben‹ als Ausgangspunkt von Dichtung

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taphilosophische Weltanschauungslehre abzusehen oder aber die protophänomenologische Dimension von ›Weltanschauung‹ zu akzentuieren, wie sie Dilthey selbst hinsichtlich »Wesen und Leistung der Dichtung« über den angrenzenden Begriff der »Lebensanschauung« nahelegt (GS VIII 92). Dann ist zumal der Begriff »universale[r] Lebensstimmung« gerade in seiner Gegenwendigkeit zur Subjektseite (Leben) samt ihrer Wahrnehmungsprozesse und Bewusstseinseindrücke sowie zur Objektseite (Welt) samt der auf ihr Gestalt annehmenden »Menschen, Dinge, Natur« (GS VIII 92) theoretisch wertvoll. Platziert auf der in Weltanschauungen befestigten Grenze zwischen Subjekt und Objekt, transzendentalem Ich und epistemischem Gegenstand oder topologisch zwischen Innen und Außen, macht er eben diese Grenze durchlässiger für wechselseitige Konstitutionsimpulse. Als eine wahrnehmungsästhetische Art präkognitiver Platzhalter lockert die Stimmung gleichsam die Trennungen zwischen solchen epistemologisch bis ontologisch dividierten Gebieten. Es kann mit dem Stimmungsbegriff dann jedoch auch bei Dilthey nicht um wissenschaftlich kontrollierte Wirklichkeitserkenntnis und auch nicht um das Verstehen von Texten über die Auslegung sprachlich erzeugten Sinns gehen. Unter der Ägide der Poesie verwandelt Stimmung jenen epistemisch abgesteckten Grenzbereich in ein protostrukturales Kräftefeld, auf welchem sie »die Bedeutsamkeit des Geschehnisses, der Menschen und Dinge sehen lassen« will (GS VIII 92). Solches Sehen-lassen-Wollen aber ist eine ästhetische Bestimmung und als solche zudem weniger rezeptiv als produktiv. In ästhetisch produktiver Funktion bildet Stimmung jedoch lebensweltliche Bezüge nicht einfach ab oder bildet vorgängig bestehende Strukturen nur nach. Vielmehr erzeugt sie deren jeweiligen Zusammenhang. Hat sich ein solcher Bedeutsamkeitszusammenhang durch die sichtbar machende Stimmung erst einmal im individuellen Bewusstsein hergestellt, kann er anschließend – keineswegs ausschließlich, aber vorzugsweise – in literarischen Formen nach- oder umgebildet werden. Und mit ihm wird dann jene Stimmung ästhetisch aufbereitet, die den Bedeutsamkeitszusammenhang zuvor allererst zur Wahrnehmung und nun auch zur Sprache bringt. Dabei schöpft in Diltheys Weltanschauungsperspektive der »Dichter aus der Natur des Lebens selbst«, und nicht etwa aus reiner Phantasietätigkeit oder aus den Motiv-, Form- und Themenbeständen literarischer Stimmungskonventionen. Wie jedem – angeblich auch dem dichterischen – Typus von Weltanschauung eine Lebensanschauung konstitutiv zugrunde liegt, so jeder poetischen Stimmung eine Lebensstimmung. Und während die ursprünglichere Stimmung Anschauungen ermöglicht, so geht das ›Leben‹ der begrifflichen Bestimmung von ›Welt‹ voraus und bildet den Ausgang der Dichtung. In Diltheys über weite Strecken Entwurf gebliebenem Werk sind solche begrifflichen Hierarchisierungen nicht eindeutig bestimmt, geschweige denn einheitlich durchgehalten. Sie dennoch im Diltheyschen Werksinne hier vorzunehmen ist notwendig, um semantisch vage, (un)sys-

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Ausdrucksverstehen durch ›Lebenskategorien‹ und die Zeit in der Stimmung

tematisch flottierende und überdies diskursgeschichtlich diskreditierte Begriffe wie Leben, Welt oder Stimmung für die gegenwärtige Theoriebildung diskussionsfähig und womöglich fruchtbar zu machen. So haben wir gesehen, dass dem individuell, geschichtlich und konkret aufgefassten ›Leben‹, den mit diesem gebildeten Komposita aber auch der Stimmung der »Lebendigkeit« bei Dilthey eine zentrale Stellung zukommen.79 Und dies obwohl es der Suche und Formulierung des »Bildungsgesetzes der Weltanschauungen« ebenso wie der Poetik vor allem um »Allgemeingültigkeit« geht.80 Dieses Ansetzen des Verstehens beim Individuellen mit dem damit zugleich verbundenen Anspruch, gerade durch das »Studium der Individualität«81 zu einem wahren Verständnis des Allgemeinen zu gelangen, wurde von der Forschung als eine widersprüchliche »Eigentümlichkeit der Diltheyschen Hermeneutik« (Anz 1982, 62) herausgestellt: »Die innere Widersprüchlichkeit dieses Ansatzes besteht darin, daß die erkenntnistheoretische Orientierung der hermeneutischen Fragestellung das Verständnis des Individuellen gar nicht auf die Individualität als Individualität, sondern auf das Allgemeine ausrichtet, als dessen Besonderung das Individuelle erscheint. Die so wirkungsvolle Diltheysche Typenlehre ist die Antwort auf diese Fragestellung, sofern in der Schematisierung des Typus das Individuelle als Allgemeines fassbar wird und zu ausweisbarem Verständnis gebracht werden kann.«82

Die individuellen Lebensbezüge werden also nicht etwa aus rein biographischem, sondern eigentlich aus historiographischem Interesse untersucht und mit erkenntnistheoretischem Anspruch als Ausgangspunkt des hermeneutischen Verfahrens gewählt. Ihre inkommensurable Singularität, Vielfalt und Variabilität in geschichtlicher Konkretion wirkt letztlich auch auf deren Historiographen zurück, indem dieser zur geschichtlichen Relativierung seines Tuns im weitgespannten Reflexionsrahmen der europäischen Philosophie und Wissenschaften veranlasst wird (cf. Anz 1982, 64). Aufgrund der von Dilthey diagnostizierten Lebensferne letzterer und dem damit einhergehenden Kulturmangel an Orientierungswissen und Besinnungspraktiken sieht er sich in seinem Methodenkonzept bestätigt. Die geisteswissenschaftliche Forschungspraxis auf die »Frage nach der wissenschaftlichen Erkenntnis der Einzelpersonen« in ihrem lebens79 GS VIII 8, 9, 162; VIII 189 et passim; cf. dazu Diltheys musikgeschichtliche Studie zu Bach (DM 205–248, bes. 209f.). 80 Siehe hierzu die selbstgestellte »Aufgabe« und »Auflösung« mit Bezug auf Kant: »Die Antinomie zwischen dem Anspruch jeder Lebens- und Weltansicht auf Allgemeingültigkeit und dem geschichtlichen Bewußtsein« (GS VIII 3–9); cf. in der Poetik GS VI 126, 186 et passim. 81 Dilthey, Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96) in GS V 241–316. 82 Ebd.; cf. zum Typischen GS V 279–283; VI 185–188; VIII 75–152; cf. zur methodologischen Problematik des Grundverhältnisses von Individuellem, Besonderem und Allgemeinem Habermas (1968, 200–203).

›Leben‹ als Ausgangspunkt von Dichtung

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und kulturgeschichtlichen Zusammenhang zu zentrieren, entspricht dann dem wissenschaftstheoretischen Desiderat der Rückgewinnung des konkreten Daseinsvollzugs als einem auch methodisch relevanten Gegenstand (GS V 317). Das Verstehen fremden Lebens, wie es bereits zur sozialen Alltagspraxis der Verständigung und Selbstverständigung gehört, wird bei Dilthey – wie später unter anderen auch bei Ortega y Gasset83 – systematisch aufgewertet zur erkenntnistheoretischen Grundlage der wissenschaftlichen Praxis geschichtlichen Verstehens. Innerhalb dieser philosophischen Grundlegung des Verstehens durch seinen aus vorwissenschaftlicher Erfahrung gewonnenen Begriff des Lebens kommt dem Stimmungsbegriff eine wichtige Vermittlungs- und eine noch einmal tiefere Grundlegungsfunktion zu. Wie wir im Zusammenhang der Weltanschauungslehre gesehen haben, taucht er häufig in Verbindung mit dem Lebensbegriff auf. Er liegt dort als »universale Lebensstimmung« der Herausbildung von Weltanschauung aus einer Lebensanschauung zugrunde. Stimmung scheint eine Art protostrukturale Schicht zu sein, auf der die Eindrücke aus den Welt- und Lebensbezügen sedimentieren. Indem sie diese Eindrücke untereinander Verbindungen eingehen lässt und ihre Empfindungen in einen selektiv und affektiv geknüpften Zusammenhang setzt, leitet Stimmung einen Vorgang ein, der noch nicht Erkennen ist und der Intentionalität von Gefühl oder gar Bewusstsein vorgängig ist. Dilthey spricht vom Zusammennehmen der »aus den Lebensbezügen stammenden Erfahrungen« und identifiziert das Resultat dieses Vorgangs als »das dichterische Bewußtsein von der Bedeutung des Lebens« (GS VIII 92). Auf dieser untersten, noch prätranszendentalen Ebene leistet Stimmung offenbar eine elementarästhetische Komprehension der Weltbeziehungen ihres Subjekts. Sie verlängert sich im Idealfall – namentlich dem des Dichters – zur poietischen Zusammenhangsstiftung. In dieser wird das aus den Lebensbezügen (passiv) Erfahrene, noch sinn- und konturlos Schlummernde zusammengenommen und auf Lebensbedeutsamkeit hin aktiviert. Stimmung ist also ihrer genetischen Struktur nach basale Wahrnehmung oder eben ›Zusammennehmung‹ und leistet als solche die kontinuierliche Vermittlung ihrer selbst mit der Selbst- und Weltdeutung. Als ein solches passives und zugleich aktives Wahrnehmungsmedium ist Stimmung dasjenige, woraus Bedeutsamkeit (engl.: significance oder relevance im Unterschied zu meaning) entsteht. Deren inneren Zusammenhang als Wirklichkeit des Daseinsvollzugs inmitten von Weltbeziehungen nennt Dilthey das Leben. Eine vom Lebensbegriff ausgehende Analyse der Stimmung und ihrer Funktion führt – wie wir noch sehen werden – immer wieder an Diltheys methodische 83 Siehe zum Verhältnis von Ortega y Gasset zu Dilthey und speziell zwischen den Konzepten der vitalen Vernunft und der historischen Vernunft Babolin (1985, 407–417).

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Ausdrucksverstehen durch ›Lebenskategorien‹ und die Zeit in der Stimmung

Präferenz für die Produktion von Ausdruck gegenüber dessen Manifestation in Werkgestalt und dessen Rezeption heran.84 An Diltheys Verwendung des Stimmungsbegriffs lässt sich sein eigentlich philosophisches Anliegen erkennen, das in einem einfühlungsästhetischen Verstehen von Ausdruck – genauer: von dessen Hervorbringung besteht. Denn mit dem Fokus auf die jeder Ausdrucksproduktion zugrunde gelegten Stimmung werden das Ziel und Verfahren dieses Ausdrucksverstehens erkennbar: es zeigt sich nicht etwa als Auslegung von Sinn (meaning), sondern als Nachvollziehen des Prozesses künstlerischer Sinnstiftung innerhalb seiner historischen Möglichkeitsbedingungen.

2.

Stimmungsverhältnisse im Verstehen von Ausdruck

Den konzeptionellen Kern von Diltheys Hermeneutik bildet demnach kein Sinnverstehen am Text, sondern die Sichtbarmachung der Herausbildung von Ausdrucksbedeutung am historischen Individuum. Ohne die diesbezügliche Funktionsbedeutung der Stimmung herauszustellen spricht Anz von der »gänzlich unhermeneutisch[en]« Behandlung des hermeneutischen Problems: »Damit ist gemeint, daß die ›Analysis des Verstehens‹ nicht vom Verstehen seinen Ausgang nimmt und primär gar nicht danach fragt, was es heißt, Sinn oder Bedeutung zu verstehen, sondern daß die Analysis der Entstehung von ›Bedeutsamkeit‹, der Hervorbringung von Ausdruck nachgeht und ›Verstehen‹ nur als einen im Verhältnis zur ursprünglichen Konstitution von Ausdruck abgeleiteten Modus zum Thema macht« (Anz 1982, 63).

Dies führt Anz zufolge zu einer theoretischen Inkonsistenz, die sich insbesondere daran zeige, dass Dilthey nie zu einer begrifflichen Klärung von ›Verstehen‹ gelangt. Denn Diltheys geisteswissenschaftliche »Grundlegung« geht – wie wir im Vorausblick auf die spätere Weltanschauungslehre gesehen haben – zu unterst auf die Stimmung und »nur scheinbar auf die ursprüngliche Erfahrung des Verstehens zurück; tatsächlich überspringt sie das Verstehen, indem sie, aus dem vorherrschenden Interesse an der Individualität heraus, der Genesis von Individualität als eines gelebten Bedeutungszusammenhanges, als einer sich im jeweiligen Lebenslauf herausbildenden Ausdrucksgestalt nachfragt« (ebd.).

Und Dilthey praktiziert dieses Nachfragen in den seine öffentliche Wahrnehmung bestimmenden Studien zur Literaturgeschichte, indem er diese nicht auf eine sprachgebundene Sinneinheit, sondern auf eine lebensgeschichtliche »Stim84 Siehe zum historischen Kontext des ästhetischen Diskurses über die poetische Produktion Sauerland (1972).

Stimmungsverhältnisse im Verstehen von Ausdruck

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mungseinheit« (ED 10) hin ausrichtet. In Das Erlebnis und die Dichtung kommt Stimmung in zumindest zweifacher Bedeutung zur Geltung. Zum einen mit subjektiver Schlagseite als der noch nicht Ausdruck gewordene dichterische Erlebniszusammenhang. Hierbei meint ›Ausdruck‹ zunächst eine elementare Verbindung von Expression und Gestalt und dann erst die auch sprachlich fixierte Objektivation individuellen Erlebens im literarischen Werk. Zum anderen mit objektiver Schlagseite als (unartikulierter) »Geist der Zeit«, der als Wirklichkeitszusammenhang einer historischen Konstellation die Weltverhältnisse in den »universalen Stimmungen« abbildet (ED 10, 14). Indem die Stimmung zwischen Natur und Gefühl, zwischen Weltlichkeit und Innerlichkeit sowie zwischen Geschichte und Individualität ihren Ort hat, suspendiert sie die raumschematische Trennung, wie sie für die epistemologische Rationalität grundlegend ist. An deren Stelle tritt mit der Stimmung eine ästhetische Raumstruktur hervor, deren dynamische Vermittlungsleistung als Lebendigkeit geschichtlicher Existenz erfahren und als solche Inhalt und Form des künstlerischen Ausdrucks be-stimmt. Der hermeneutische Zugriff auf denselben hat es also nicht allein mit Gefühl, Innerlichkeit oder Individualität zu tun. Es sei denn man versteht Individualität bereits gemäß Diltheys Auffassung, wie sie Cacciatore herausarbeitet: »Sie kann sich nun nicht mehr in einer ausschließlich philosophisch-kognitiven Betrachtung erschöpfen, sondern sucht vielmehr ihre Begründung auf dem Gebiet der Anthropologie und der Psychologie. Damit verliert die Individualität jedes idealistischromantische Erbe und wird zumindest in der Diltheyschen Perspektive zur Wissenschaft der Individualität, zur Wissenschaft dessen, was den Stoff der Geschichte und die Lebenserfahrung formt« (Cacciatore 2013, 55).

Das Verstehen des Ausdrucks von Individualität ist bei Dilthey erweitert zur Vergegenwärtigung des Wirklichkeitszusammenhangs, d. h. es ist strukturell bedingt auch ein Erschließen von Natur, Welt und Geschichte: »Neben den Gefühlen und Leidenschaften, die aus persönlichen Schicksalen der Menschen hervorgehen, machen sich jederzeit die universalen Stimmungen geltend, die aus dem Verhältnis des Menschen zum Leben und zur Welt stammen« (ED 14).

Solche universalen Stimmungen, die gleichsam transversal ihr Subjekt und Objekt so eng miteinander verbinden, dass sie an der Stelle von deren Zweiheit eine bipolar strukturierte Einheit bilden, sind bei Dilthey der genuin geisteswissenschaftliche Gegenstand. Sein historisch-epistemisches Verfahren, nämlich den »Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« zu rekonstruieren, setzt am kreativen Moment des Verstehens »als ein Nachbilden des Schaffens« von Aus-

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Ausdrucksverstehen durch ›Lebenskategorien‹ und die Zeit in der Stimmung

druck an.85 Dabei ist dieser als die elaborierte Form von Lebensstimmung anzusehen. Dadurch soll »das Leben selber zugänglich werden« und methodisch in ein historisches Vernunftkonzept integriert werden, das die Lebensferne bis Lebensfeindschaft der seit Nietzsche desavouierten rationalistischen Vernunftkonzepte hinter sich lässt.86 In seinen zu Lebzeiten unveröffentlichten Werkplänen beschreibt Dilthey am Beispiel des »musikalische[n] Verstehen[s]«, wie solches Zugänglich-werden vor sich geht: »Im Erleben war uns das eigene Selbst weder in der Form seines Abflusses, noch in der Tiefe dessen, was es einschließt, erfaßbar. Denn wie eine Insel erhebt sich aus unzugänglichen Tiefen der kleine Umkreis des bewußten Lebens. Aber der Ausdruck hebt aus diesen Tiefen heraus. Er ist schaffend« (GS VII 220).

Ausdruck wird nicht nur von Künstlern geschaffen, sondern der Ausdruck selbst »ist schaffend«. Diltheys nachbildendes Verstehen des künstlerischen Ausdrucks richtet sich über dessen eigendynamische Kreativität an einem unbewussten Tiefenselbst aus. Dieses ist seinem Subjekt ebenso unzugänglich wie es dem Hermeneutiker wäre, der es unmittelbar erfassen wollte. Aber auch der Zugang über den Ausdruck kann nur über dessen Materialisierung »in Noten, in Buchstaben, in einem Phonogramm« oder Text erfolgen (GS VII 220). Der Hermeneutiker habe es mit einem »Werk« zu tun, dessen zeitliches Bestehen von seiner räumlichen Fixierung abhängt, die »ursprünglich in einem Gedächtnis« geschieht (GS VII 220). Was dort und dann in den Werkstrukturen fixiert wird, nennt Dilthey die »Idealdarstellung eines Verlaufes, eines musikalischen oder dichterischen Erlebniszusammenhanges« (GS VII 220f.). Um einen solchen Zusammenhang über seine eigene Entstehung zu verstehen, scheint diese selbst als ein ästhetischer »Vorgang des Verstehens« 85 Cf. Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, Erster Teil: Erleben, Ausdruck und Verstehen, Zusätze in GS VII 220. 86 Diese polemische Stoßrichtung von Diltheys lebensphilosophisch grundierter Grundlegung der Geisteswissenschaften ist explizit gegen die transzendentale Vereinseitigung des Subjekts zur Vernunftinstanz und zum Erkenntnisgaranten gerichtet: »In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend und fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde legen, ob die Erkenntnis gleich diese ihre Begriffe nur aus dem Stoff von Wahrnehmungen, Vorstellen und Denken zu weben scheint. […] Nicht die Annahme eines starren a priori unseres Erkenntnisvermögens, sondern allein Entwicklungsgeschichte, welche von der Totalität unseres Wesens ausgeht, kann die Fragen beantworten, die wir alle an die Philosophie zu richten haben« (GS I XVIII). In diesem von Dilthey an den Beginn der Einleitung in die Geisteswissenschaften platzierten programmatischen Anspruch feiert Ortega y Gasset »die fundamentale Idee Diltheys«, die er in ihren systematischen Zusammenhängen erläutert und der er sein eigenes Denken verpflichtet weiß (2008, 275–331, hier 296, 301f.).

Stimmungsverhältnisse im Verstehen von Ausdruck

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verstanden werden zu müssen (ebd.). Dilthey versucht dies in Anlehnung an die naturwissenschaftliche Induktion zu erklären. Zwar gehe es nicht um die Ableitung allgemeiner Gesetze aus Fallreihen, wohl aber um die Strukturbildung aus einzelnen Elementen, die der Hermeneutiker eben so wie der Komponist oder Dichter und wie schon der Erlebende »als Teile zu einem Ganzen zusammennimmt« (ebd.). Induktion wird hier aufgefasst als das jedes Verstehen leitende Verfahren der Verknüpfung von in der Zeit sich reihendem oder entwickelndem Einzelnen zu etwas Zusammenhängendem; seien dies Erlebnisse zum Erlebniszusammenhang, »Worte zu einem Sinn« oder Töne zu einer Melodie: »Induktionen dieser Art sind den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften gemeinsam. Durch eine solche Induktion entdeckte Kepler die elliptische Bahn des Planeten Mars. Und wie nun hier eine geometrische Anschauung eingesetzt wird, welche eine einfache mathematische Regelmäßigkeit aus den Beobachtungen und Berechnungen ableitete, so muß auch alles Probieren im Verständnisvorgang die Worte zu einem Sinn und den Sinn der einzelnen Glieder eines Ganzen zu dessen Struktur zusammennehmen« (GS VII 220f.).

Was Dilthey hier aus offenbar emanzipatorischem Interesse gegenüber der neuzeitlichen Naturwissenschaft als geisteswissenschaftliche Induktion bezeichnet, nämlich ein tentatives Zusammennehmen von Partikularem, dafür steht in der Begriffssystematik der Weltanschauungslehre – wie wir oben gesehen haben – die Stimmung. Dort bezeichnete sie unterhalb der Welt- und Lebensanschauungsebene die Wahrnehmungsschicht, in der die heterogenen Eindrücke, Erfahrungen und Gefühle zu einem Strukturzusammenhang ›zusammengenommen‹ werden. Auch im literaturwissenschaftlichen Kontext von »Phantasie und Dichtung« wird Stimmung sowohl als stilistisch relevant (»nach einem musikalischen Gesetz durch Stimmung oder Farbe vermittelten Gleichnisse«), als auch mit Bezug auf einen synästhetischen »Gesamteindruck« verwendet (GS XXV 333, 344, 356). Synästhetisch generierte Stimmung bildet für Dilthey eine besondere Art von poetischer Stimmung. Im Aufsatz-Konzept zu Jean Paul definiert er sie unter der Notiz »Die Entstehung neuer Stimmungen« folgendermaßen: »Jean Paul entdeckt den Zauber derjenigen Stimmungen, in welchen Eindrücke verschiedener Art zu derselben Gefühlsweise zusammenwirken, so daß das Erlebte durch die umgebenden Eindrücke traumhaft wird, die verschiedenen Arten von Eindruck in einander fließen und verzittern und das Gefühl sich weit ausbreitet wie ins Grenzenlose« (GS XXV 356).

Hingegen wird im hermeneutischen Zusammenhang des beiläufigen Theorieentwurfs einer Formalisierung des Verstehens von sprachlicher Mitteilung in Text oder Rede der Begriff der Stimmung nicht verwendet. Allerdings lassen sich deren funktionale Aspekte des Semantisch-Konstruktiven und des Struktural-

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Ausdrucksverstehen durch ›Lebenskategorien‹ und die Zeit in der Stimmung

Integrativen auch auf dieser sprachlich elementaren Ebene vorwissenschaftlichen Verstehens wiederfinden, auch ohne wortverwandtschaftliche Nähebeziehungen semantisch zu aktivieren, wo begrifflich kein Zusammenhang besteht (Be-Stimmung): »Gegeben ist die Folge der Worte. Jedes dieser Worte ist bestimmt-unbestimmt. Es enthält in sich eine Variabilität seiner Bedeutung. Die Mittel der syntaktischen Beziehung jener Worte zueinander sind ebenfalls in festen Grenzen mehrdeutig: so entsteht der Sinn, indem das Unbestimmte durch die Konstruktion bestimmt wird. Und ebenso ist dann der Kompositionswert der aus Sätzen bestehenden Glieder des Ganzen in bestimmten Grenzen mehrdeutig und wird vom Ganzen aus festgelegt. Eben dieses Bestimmen unbestimmt-bestimmter Einzelheiten…« (ebd. 220).

Wie schon der vergleichende Bezug auf die Naturwissenschaft deren Methodik nicht gerecht wurde, so ist auch die hier angedeutete Darstellung von sprachlicher Bedeutungsentstehung rudimentär. Sie bricht abrupt ab, wo der Rekurs auf die Sprachlichkeit das Problem berührt, dass das Bedeutungsganze die »unbestimmt-bestimmte[n] Einzelheiten« gar nicht näher bestimmen kann. Denn es erhält selber über jene gegebenen Einzelheiten erst seine Bestimmung und so bleibt seine Bedeutung durch eine unabgeschlossene »Folge der Worte« hindurch unbestimmt. Von der Unabgeschlossenheit der Worte – und in deren Folge vom Ganzen – muss nicht aufgrund einer Art poststrukturalen Sprachauffassung oder Totalitätsaversion avant la lettre ausgegangen werden. Vielmehr aufgrund des Diltheyschen Hermeneutikkonzepts, in welchem das Verhältnis von Teilen und Ganzem nicht wie hier die Genese von sprachlicher, sondern von lebensgeschichtlicher Bedeutung modelliert.

3.

Die Bedeutungsganzheit des Lebens und die Zeitlichkeit der Stimmung

Lebensgeschichtliche Bedeutung ist als das strukturelle »Ganze« der fortlaufenden Einzelerlebnisse erst am »Ende des Lebensverlaufes« zu haben, wenn »in der Todesstunde« die existenzielle Zeitlichkeit aussetzt, welche bislang alle festen Bedeutungen der Erlebnisse unausgesetzt korrumpierte (GS VII 233). Bis dahin aber ist das Lebensganze kein fester Bestimmungsgrund, allenfalls ein vorläufiger Einheitsbezug für die Bedeutung der lebensgeschichtlichen Einzelheiten. Umgekehrt halten diese als ›unbestimmt-bestimmte‹ Teile die Bedeutung des Ganzen offen, das doch von seiner Vergegenwärtigung in einem jeweilig bestimmten Lebensmoment abhängig ist. Das in jedem Teil-Erlebnis virtuell enthaltene Lebensganze aber ist für Dilthey mehr als die paradoxale Summe aller Teil-Erlebnisse. Es wird als eine gewissermaßen gestalttheoretisch gedachte

Die Bedeutungsganzheit des Lebens und die Zeitlichkeit der Stimmung

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»Bedeutung« aufgefasst, die »dem Leben […] als die eigentümliche Beziehung [einwohnt], die zwischen seinen Teilen obwaltet«.87 Dilthey versucht das Beziehungsverhältnis von den Teilen des Lebens zu dessen Ganzem über einen Begriff von Bedeutung zu organisieren, deren Einheit mit jedem Augenblick im Fluss der Zeit liquidiert zu werden droht. Denn die relative Einheit eines Bedeutungs- als Lebenszusammenhanges ist der endlichen Zeitlichkeit des Vollzugscharakters ausgesetzt, der den einzelnen Momenten des Lebenslaufs anhaftet. Sowohl das Beziehungskontinuum zwischen den Einzelerlebnissen als auch deren jeweiliges Verhältnis zum Beziehungsganzen eines individuellen Lebens soll von einer einheitlichen Bedeutungsstruktur durchzogen sein. Dilthey spricht vom »Lebenszusammenhang [, der] nicht eine Summe oder ein Inbegriff aufeinanderfolgender Momente, sondern eine durch Beziehungen, die alle Teile verbinden, konstituierte Einheit« ist.88 Allein diese Einheit in der Zeit zu problematisieren, ist keine philosophische Selbstverständlichkeit. Denn noch Shaftesbury lässt seine Moralisten »dieses unser Ich [als] etwas seltsam Einfaches [bezeichnen], das in Wirklichkeit immer dasselbe ist, obgleich kein Atom des Körpers, keine Leidenschaft, kein Gedanke unverändert bleibt« (Shaftesbury 1980, 150). Anstelle eines von Sprachlichkeit abgelösten und dadurch hermeneutisch ohnehin problematischen Begriffes von Bedeutung hätte sich Dilthey derjenige der Stimmung für die Knüpfung des Zusammenhangs von Lebensmomenten angeboten. Hat er den Stimmungsbegriff doch selbst mit einem Erlebensaspekt ausgestattet und das Erlebnis im Verbund mit der relativ überdauernden Stimmung aus seiner situativen Begrenzung herausgeführt. Der Begriff der Lebensstimmung scheint ja in resultativem Sinn einen größeren Zeitraum voll vergangener Erlebnisse zusammenzunehmen, in affektivem Sinn das Erleben der Gegenwart zu intensivieren und in prospektivem Sinn einen größeren Zeitraum künftigen Lebens offen zu halten. Dadurch eignete er sich dazu, die »Konstanz des Lebens« durch die Verbindung seiner Teile zu einer »Struktur« zu wahren und daraus jene »dynamische Einheit« (GS VI 315) herzustellen, die den »erworbene[n] Zusammenhang« des Lebens auszeichnen und es als Ganzes »in der Zeit« überhaupt erfahrbar machen soll (GS VII 233). Anders als in der sprachtheoretisch assoziierten ›Bedeutung‹ ist in der ›Stimmung‹ das individuelle Erleben durchgängig existent und kommt zugleich mit Zeitlichkeit in Berührung, die für Diltheys Hermeneutik des Lebens von zentraler Bedeutung ist.89 Nach 87 GS VII 73; cf. den hermeneutiktheoretischen Zusammenhang bei Anz (1982, 73). 88 GS VII 140; cf. die Zitatstelle bei Anz (1982, 73). 89 Zum Thema Zeitlichkeit bei Dilthey siehe Makkreel und Scanlon (Hg. 1987, Part III, 125–158); Carr (1987) sieht Dilthey zusammen mit Heidegger und Husserl als im weitesten Sinne der Phänomenologie zugehörig an und fasst den ihnen gemeinsamen Ansatz zur Konzeptualisierung von Zeitlichkeit in die Formel: »The focus is not simply time, but the intersection of

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Ausdrucksverstehen durch ›Lebenskategorien‹ und die Zeit in der Stimmung

Dilthey ist im »Leben […] als erste kategoriale Bestimmung desselben, grundlegend für alle anderen, die Zeitlichkeit enthalten. Dies tritt schon in dem Ausdruck ›Lebensverlauf‹ hervor.«90 Die zeitliche Struktur der Stimmung, in der eine Vergegenwärtigung von Endlichkeit mit relativer Dauer verschränkt ist, vermittelt dem Leben die Erfahrung der Zeit als »rastlose[s] Fortrücken, in welchem das Zukünftige immerfort ein Gegenwärtiges wird und dieses ein Vergangenes« (GS VI 315). Zugleich ermöglicht die Stimmung als ein solcher »Querschnitt im Strom« der Zeit – ohne dass Dilthey sie hier so auffasst – dem Subjekt die »Erfüllung mit Realität« (GS VI 315). Im Erleben der Stimmung ist die »Korruptibilität jedes Vorgangs« sistiert und so macht sie »einen Zusammenhang [erfahrbar und tendenziell produktiv], der das zeitlich voneinander Getrennte in eine innere Verbindung setzt« (GS VII 325). Dilthey spricht an anderer Stelle durchaus nicht von einer melancholischen Stimmung, in der Vergänglichkeit und Transzendenz sich die Waage halten. Vielmehr stimmen im »Lebenszusammenhang […] Schmerz über die Endlichkeit, die Tendenz seiner Aufhebung, Streben nach Realisation und Objektivierung, Verneinung der vorhandenen Schranke und Aufhebung derselben, Trennung und Verbindung« zusammen (GS VII 238, cf. ED 126f.). Letzteres veranschaulicht Diltheys Konzept der »Poesie [als] Darstellung und Ausdruck des Lebens« im Sinne der »lebendigste[n] Erfahrung vom Zusammenhang unserer Daseinsbezüge«, wo dann auch ausdrücklich von »Stimmungen« die Rede ist, die etwa im Fall Goethes anderseits auch »alles Wirkliche um[schaffen]« (ED 126f.). So wirft ein zeitästhetisch gefasster Begriff der Stimmung phänomenologisch Licht in den von Dilthey konstatierten »merkwürdigen Sachverhalt«, welcher das »Leben« als jenen »Verlauf […] zu einem Ganzen [spürbar macht], der in der Zeit beginnt und in ihr endet« (GS VI 313). Im Unterschied zum Erlebnis, welches Dilthey an dieser Stelle selbst mit einem Fragezeichen versieht, ist die jeweilige time and human experience, where time is human und human experience is temporal« (125). Auf dem gemeinsamen Grund einer Phänomenologie der erlebten Zeit weist Carr Präferenzen für je eine Dimension zu (Husserl/Gegenwart, Heidegger/Zukunft, Dilthey/Vergangenheit), um diese anschließend in ihrer kontextabhängigen Berechtigung phänomenologisch zu relativieren. Dabei konzediert er, dass Heideggers vorlaufende Entschlossenheit einen antizipierten Vergangenheitsbezug formiert, übersieht jedoch, dass Dilthey seinerseits einen reflexiven Zukunftsbezug zu denken versucht, der in Form des Innewerdens für die Erfahrung der Einheit des Lebenszusammenhangs konstitutiv ist: »Aber im Leben allein umschließt die Gegenwart die Vorstellung von der Vergangenheit in der Erinnerung und die von der Zukunft in der Phantasie, die ihren Möglichkeiten nachgeht, und in der Aktivität, welche unter diesen Möglichkeiten sich Zwecke setzt. So ist die Gegenwart von Vergangenheiten erfüllt und trägt die Zukunft in sich« (GS VII 232). 90 GS VII 192; cf. zur systematischen Bedeutung von Diltheys Denken der Zeit für seine philosophisch-historische Gesamtkonzeption unter dem Aspekt der »Kontinuität« Rodi (1985, 148–153).

Die Erfahrung von Zeit und das Erleben ihrer Dimensionen in der Stimmung

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Aktualität der Stimmung zu Kontinuität hin offen, wie auch die ereignishafte Singularität von Stimmungen durch Wiederholungen ihresgleichen im Verlauf des Lebens scheinbar dementiert wird: »jeder Teil desselben [ist] in einem Bewußtsein mit den anderen Teilen durch ein irgendwie charakterisiertes Bewusstsein (Erlebnis?) von Kontinuität, Zusammenhang, Selbigkeit des so Ablaufenden [verbunden]« (GS VI 313). Hinsichtlich Diltheys Hermeneutikkonzept soll die kontrafaktische Überlegung, seinen Stimmungsbegriff anstelle desjenigen der Bedeutung für die Funktion der lebensganzheitlichen Kohärenzstiftung einzusetzen, noch etwas weitergeführt werden. Dies ist aus mehreren Gründen interessant. Erstens weil die Stimmung als eine im Sinne Diltheys ›erlebte Erfahrung‹ diese Funktion besser ausüben kann. Zweitens, weil dadurch die systematischen Probleme hätten vermieden werden können, die schon von Diltheys Zeitgenossen und bis in die Hermeneutikdebatten der 1980er Jahre als Aporien in dessen Hermeneutik herausgestellt worden sind.91 Und drittens, weil dadurch das theoretische Potential der Stimmung sichtbar wird, welches Dilthey ungenutzt gelassen hat, für eine gegenwärtige Theoriebildung aber umso aufschlussreicher ist.

4.

Die Erfahrung von Zeit und das Erleben ihrer Dimensionen in der Stimmung

Betrachten wir zunächst die Qualifikation der Stimmung für die Herstellung eines dynamischen Strukturzusammenhangs zwischen einzelnen Erlebnissen und dem Lebensganzen. Hier haben wir bereits die Zeitstruktur der Stimmung als eine Kombination aus Erstreckung zum Andauern und Sammlung im Augenblick angeführt. Denn darin liegt die Perspektive einer zwischen- bzw. außerzeitlichen Verwindung dessen, was Dilthey die »Korruptibität«92der Zeit nennt, also die imaginative Möglichkeit, jenes »rastlose Vorrücken der Gegenwart« zu arretieren, welches »dies beständige Versinken des Gegenwärtigen« bewirkt.93 An Diltheys Explikation der »konkreten Zeit« zeigt sich die poetologische Überlegenheit des Begriffes der Stimmung gegenüber dem von Dilthey präferierten Begriff des Erlebnisses. Der Stimmungsbegriff ist geeigneter für die 91 So in überzeugender Weise etwa von Anz (1982). Ein weiterer Beitrag zur Dilthey-Forschung bemüht sich – freilich weniger überzeugend – sogar darum zu zeigen, dass der »Kern der Diltheyschen Philosophie« im Aufweisen der Nichtigkeit des Gegenstandes des Verstehens bestehe, so Heinen (1974, hier 192). 92 GS VII 229, 325, 72 et passim; »Korruptibilität jedes Glücks und des Lebens selber« (GS VIII 140); cf. Bollnow (1955, 110–112). 93 GS VII, 72, cf. 192ff., VI, 315f. Die Hinweise auf die alternativen Textstellen aufgefunden bei Anz (1982, 71).

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Ausdrucksverstehen durch ›Lebenskategorien‹ und die Zeit in der Stimmung

»Bestimmung der Zeitlichkeit des Lebens«, die »in dem Lebenslauf« enthalten und für Diltheys der Sache nach einer phänomenologischen Begründung der Poetik zentral ist. Während beide, ›Erlebnis‹ und ›Stimmung‹, aufgefasst werden müssen als die Form der »Erfüllung mit Realität […], die in fortrückender Zeit kontinuierlich und immer besteht«, kann allein die Stimmung außerdem auf »das« konstitutiv bezogen werden, »was den Inhalt des Erlebens ausmacht« und sich »beständig ändert« (GS VII 72). Wo der »Präsenz«-Charakter des Erlebnisses gegenüber dessen Realitätsqualitäten indifferent bleibt, besteht derjenige der Stimmung zu ihren Realitätsqualitäten in einem Näheverhältnis, welches sie wechselseitig bestimmt. Im Unterschied zum Erlebnis haftet die Stimmung an dem in ihr Erlebten und wandelt sich mit ihm in Raum und Zeit. Stimmung ist die prozessuale Einheit von Form und Inhalt, indem sie als Form des Erlebens von dessen Inhalten geprägt wird, welche sie selber erst zur Erscheinung gebracht hat. So birgt die Zeitlichkeit des Stimmungserlebens eine Erfahrung von Zeit als existenziell dimensionierter Gegenwart. In Stimmungen schließen sich Vergangenes und Zukünftiges qua Vergegenwärtigung zu einem zyklisch prozessierenden Zeitbewusstsein zusammen.94 Dies entspricht Diltheys Konzept der realen, »konkreten« oder »wirklichen Zeit«95 des individuellen Erlebens. Danach ist Zeit »nicht nur eine Linie, die aus gleichwertigen Teilen bestünde, ein System von Verhältnissen, von Sukzessionen, Gleichzeitigkeit, Dauer« (GS VII 72). Hingegen ist Zeit im Erleben »fortrückende Erfüllung mit Realität […], die den Charakter der Gegenwart ausmacht« (GS VII 72, cf. 193). Solche aus den fortlaufend sich auflösenden Jetztpunkten der linearen Zeit heraus gehobene Gegenwart aber ist die erlebte Zeit der Stimmung. Nur die im Wechselmodus von Sein und Werden von Stimmung erfahrene Zeit kann jene scheinbar überzeitliche ›Realität‹ auch als konkrete Selbstgegebenheit der Weltbeziehung perpetuieren. Denn im Sinne von Diltheys eigener Verortung der (Grund-) Stimmungen noch unterhalb der lebens- und weltanschaulichen Schichten müsste die Stimmung auch dem Erleben zugrunde liegen, wo dieses als emphatische Wirklichkeitserfahrung auf dem »Fluß der Zeit, der seine Ufer mitführt« (Musil 1978, 445), dahingleitet: »Gegenwart ist immer und überall, wo wir auf diesen Wellen sind, leiden, erinnern oder hoffen, kurz wo wir in der Fülle unserer Realität leben« (GS VII 73). Dass die Stimmung noch gegenüber dem Erlebnis grundlegend und also für eine Poetik der Zeitlichkeit die eher entscheidende Kategorie ist, sieht man auch daran, dass in ihr nicht nur Gegenwart und in dieser Seiendes, sondern auch 94 Solche kreative Vergegenwärtigung führt Nietzsches Denken geschichtlicher Zeitlichkeit in eine Art transzendenten Relativismus, der im Gedanken der ewigen Wiederkehr nicht nur gipfelt, sondern auch seine eigene Grundlage, die Geschichtlichkeit, verlässt. 95 GW VII 72. Cf. zu Diltheys Unterscheidung der realen oder wirklichen Zeit von der mathematischen oder linearen Zeit Bollnow (1955, 109f.).

Die Erfahrung von Zeit und das Erleben ihrer Dimensionen in der Stimmung

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Vergangenheit und in dieser Gewesenes sowie Zukunft und in dieser erst Werdendes erfahrbar sind. Mitunter erinnert man gar nicht ein bestimmtes Erlebnis, sondern nur eine gewisse Stimmung. Auch wenn der gesamte Inhalt vergangener Erlebnisse vergessen ist, kann oft noch die Stimmung, in der etwas – um nicht zu sagen: irgendetwas oder gar nur jene Stimmung selbst – erlebt wurde, vergegenwärtigt werden. Oder solche damalige Stimmung holt einen wieder ein, ist plötzlich und einfach wieder da, ähnlich wie bei Dejà-vu-Erlebnissen der sie auslösende Gegenstandsbezug hinter den Vollzug erneuten Erlebens zurücktritt. Anders als Erlebnisse können Stimmungen nicht nur auch »Erinnerung« heraufführen und mitunter zugleich ausfüllen, sondern sie begleiten zudem alles »Wünschen, Hoffen, Erwarten, Fürchten« und bilden so die Grundlage »eines Erlebbaren für die Zukunft« (GS VII 72). Hingegen ist Diltheys ›Erlebnis‹ exklusiv auf die »Gegenwart [als] Erfüllung eines Zeitmomentes mit Realität« bezogen und bindet so die Erfahrung von »Lebensfülle« an die emphatische »Zeiterfüllung« eines Jetzt (GS VII 72). Ohne ihre Explikation im phänomenalen Modus der Stimmung wäre die Zeitlichkeit nichts als das »Fortrücken« (GS VII 72) eines solchen Jetzt, aus dessen Erleben keine zeitlichen Dimensionen erschließbar sind. So erhält Zeitlichkeit bei Dilthey kein existentiales Moment, sondern bleibt nur ein unbestimmt-bestimmtes Element des Strukturzusammenhanges individuellen Lebens, dessen Dunkelheit sie mit erhellen soll. Tatsächlich aber zählt Dilthey Zeitlichkeit ebenso wie das in eben zitierter Stelle auftauchende Leiden – aber auch Tun, Gestalten und Schaffen, Wesen, Kraft und Entwicklung, Zweck, Ideal, Wert und das Gute – zu den »Kategorien der geistigen Welt […], die vom Erleben ab aufgehen«, kurz: den »Kategorien des Lebens«.96 Diese sollen im Aufbau der Geisteswissenschaften auf der Basis der Erfahrung des Lebens dasselbe aus sich heraus verstehen lassen, und zwar von vornherein als strukturierten Zusammenhang. Damit sind sie keine Kategorien im herkömmlich erkenntniskritischen Sinne, dass sie konstitutive Formen eines Gegenstandsbezuges sind, wobei der ihnen äußerliche Gegenstand in diesem Fall das Leben wäre. Es ist von entscheidender Bedeutung, »daß diese Kategorien nicht a priori auf das Leben als ein ihm Fremdes angewandt werden, sondern daß sie im Wesen des Lebens selber liegen« (GS VII 232). Im Gegensatz zu Kants reinen Verstandeskategorien sind Diltheys Lebenskategorien ›unrein‹. In einem vorgängigen Zusammenhang mit dem stehend, was nur sie zu verstehen vermögen, ist gleichsam ihre Apriorität durch Aposteriorität, nämlich die Erfahrung überhaupt kontaminiert. Sie sind Möglichkeitsbedingungen einer Erfahrung, deren Gegenstand diese selbst ist. Solche Erfahrung ist 96 GS VII 192, 232, 203, 228–245; XIX 359ff.; cf. die Aufzählung der Kategorien des Lebens in GS VII 362.

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Ausdrucksverstehen durch ›Lebenskategorien‹ und die Zeit in der Stimmung

ohne eigentlichen, d. h. in objektivierender Distanz vorgestellten Gegenstand und doch nicht gegenstandslos. Die Stelle des Gegenständlichen wird in Diltheys unausgearbeiteter Lebenskategorienlehre eingezogen ins Da-Sein von Lebensäußerungen, deren »Zeichen« nur aus dem Leben und als »Ausdruck« desselben verstanden werden können: »Das Leben selber bedeutet nicht etwas anderes […] außer ihm selbst« (GS VII 234). Damit sind die Lebenskategorien – auch im Unterschied zu Kants transzendentalästhetischen Anschauungsformen (Raum und Zeit) – keine »hinzutretende[n] Arten der Formung, sondern die strukturellen Formen des Lebens selbst in seinem zeitlichen Verlauf kommen in ihnen zum Ausdruck auf Grund der formalen, in der Einheit des Bewusstseins gegründeten Operationen« (GS VII 203). Sie sind also die Formen, aus denen Lebensanschauungen das Leben aus diesem selbst heraus anschauen. Bei Dilthey haftet der Immanenz solchen Selbstverstehens vor allem deshalb ein Mangel an Anschaulichkeit an, weil er seiner Reihe von Kategorien des Lebens auch abstrakte oder aber von anderen Kontexten her theoretisch mitbesetzte Begriffe wie Zweck, Wert, Kraft oder eben Bedeutung eingliedert. Mehr noch aber, weil er auch Struktur, Bedeutsamkeit oder Zusammenhang dazu zählt, während diese doch zugleich das zu Explizierende darstellen, namentlich das als Bedeutsamkeits- oder Strukturzusammenhang erfahrene Leben. Eine Beschränkung auf phänomenologisch immerhin annäherungsweise beschreibbare Lebenskategorien (z. B. Zeitlichkeit, Leiden, Schaffen) hätte der Eigenart des selbstbezüglichen Verstehens des individuellen Lebensvollzugs und -verlaufs einige Evidenz verschafft. Dies geschieht eine Generation später in Sein und Zeit, wo die auf das menschliche Dasein und dessen spezifischen Seinszugang bezogenen Verstehenskategorien Existenzialien genannt werden.97 Unter diesen findet sich bei Heidegger auch die Stimmung, welche Dilthey hingegen eigenartigerweise nicht zu den Lebenskategorien rechnet. Eigenartig schon deshalb, weil die ›Stimmung‹ in besonderem Maße dazu geeignet scheint, die benannte Eigenart selbstbezüglichen Verstehens auf die Höhe eines (lebens)philosophischen Begriffs zu bringen. Zumal mit Diltheys eigenem Begriff der Lebensstimmung ließe sich eine Unterscheidung zwischen Begreifendem (Stimmung) und Begriffenem (Leben) vornehmen und doch die hermeneutische Besonderheit des Selbstverstehens erfassen. Denn wenn die Stimmung topologisch – wie Dilthey sie im Spätwerk selber verortet – eine vorgängig konstituierende, vorbewusst strukturierende Grundschicht des Lebens ist, dann wäre Stimmung hermeneutisch weniger der Ort wo als vielmehr die Art und Weise wie sich das Leben aus ihm selbst versteht – ohne selbst das Leben zu sein. Danach wäre Diltheys hermeneutische Formel »Leben erfaßt hier Leben« (GS VII 136) zu 97 Zum Verhältnis von Diltheys Lebenskategorien und Heideggers Existenzialien siehe Pöggeler (1986–87).

Die Erfahrung von Zeit und das Erleben ihrer Dimensionen in der Stimmung

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modifizieren: ›Stimmung erfasst hier Leben‹ und zwar in der Präsenzform desselben als relatives Kontinuum. Obwohl sich die Lebens-, Grund- oder Lebensgrundstimmung also zur Entfaltung zu einem hermeneutischen Begriff anbietet, fasst Dilthey sie nicht auch terminologisch als Kategorie des Lebens auf. Dabei hätte Stimmung – über den Aspekt der Zeitlichkeit hinaus – von ihrer eigenen Struktur her phänomenologische Beschreibungsmöglichkeiten bereitgestellt, die schon für Diltheys frühen Versuch der Verankerung des geisteswissenschaftlichen Verstehens im individuellen Verlauf und alltäglichen Vollzug des Lebens nützlich gewesen wären. Letzteren, die nicht an wissenschaftlichen Methodenstandards orientiert sind, sucht Diltheys psychologisches Grundlegungsverfahren in ihre aller Sprachlichkeit und Objektivierbarkeit vorgängige Sphäre zu folgen, die traditionell mit metaphysischen Gestalten und Gehalten angefüllt war. Diese seit der naturwissenschaftlich angeführten Moderne zunehmend leerer sich anfühlende, wie auch transzendentalphilosophisch verödete Sphäre der »Lebendigkeit« (GS VII 8, 9, 162; VI 6 et passim) zu beschreiben, bedarf es Kategorien. Diltheys deskriptive Psychologie bedient sich hierfür einer Grundbegrifflichkeit, die gleichermaßen verdeckten Mystiktraditionen ebenso verpflichtet ist wie auch einer offenen Konträrkonzeption zur Experimentalpsychologie, wenn sie etwas wie »innere Wahrnehmung« (GS XIX 48, 195–227) und »innere Erfahrung« zum Ausgangspunkt ihrer Frage nach dem seelischen Strukturzusammenhang als transzendentalem Konstitutionsgrund macht.98 Hier hätte die Stimmung mit ihrer Offenheit hin zur äußeren Wahrnehmung und Erfahrungswirklichkeit der Subjektivierungstendenz ausgleichend entgegenwirken können, wie sie dem Selbstverstehen des Lebens anhaftet. Dieses ist in den Dimensionen des »Innewerdens« (GS XIX 66) der Faktizität von dessen Vollzug wie auch als dessen Orientierung gebende »Selbstbesinnung« (GS VIII 192) der zentrale Vorgang, deren Nachvollzug Gegenstand und Praxis von Diltheys Hermeneutik ausmachen.99 Zugleich bildet es den Bedeutungskern von seinem Erlebnisbegriff. Im Erlebnis koinzidieren die Erfahrung des sich seiner »Inne-Sein[s]« (GS VII 27; cf. Anz 1982, 67) und die Selbstpraxis der Besinnung. Für sich genommen, d. h. ohne hermeneutiktheoretischen Anspruch, wäre erstere Meditation, zweitere Kontemplation. In Diltheys dann systematisch aufgebautem Begriff des Erlebnisses bleiben die »innere Erfahrung« (GS V 171, 406) als lebensnahe Vorstufe methodischen Verstehens und die »Selbstbesinnung« (GS I 98 GS V, 171, 406; cf. Anz (1982, 66f.). Dilthey versteht die wissenschaftliche »Analysis der inneren Wahrnehmung« im Sinne einer desideraten Ergänzung zu derjenigen der äußeren Wahrnehmung als die entscheidende Aufgabe, von deren »Lösung die Sicherheit der Geisteswissenschaften« abhänge (GS XIX 195). 99 Damit löst die Hermeneutik der Selbstbesinnung auch Diltheys werkgeschichtlich frühere Präferenz der Psychologie für epistemologische Begründungsversuche ab.

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Ausdrucksverstehen durch ›Lebenskategorien‹ und die Zeit in der Stimmung

139, 178f.; VIII 183ff., 192; XIV/1 463f.; cf. Anz 1982, 66) des Lebens als Modellpraxis für philosophisches Nachdenken kopräsent. Seine am Erlebnis ausgerichtete Hermeneutik insgesamt bleibt so begrifflich-systematisch zurückgebunden ans Konzept der beschreibenden Psychologie. Das darin von ihm entwickelte, dynamische Verständnis des Seelenlebens als innerem Strukturzusammenhang trägt letztlich auch Diltheys theoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften (cf. Anz 1982, 66f.) Im psychologisch fundierten und dann hermeneutisch angesetzten Erlebnisbegriff aber zirkuliert die semantische Energie einer als vorwissenschaftliche Tatsache innewerdenden »Realität« von »konkrete[r] Zeit«.100 Deren Erfahrbarkeit sahen wir im Modus der Stimmung als instabiles Kontinuum gegeben, als es um die Diltheysche Dialektik von erfülltem Augenblick und kontinuierter Lebensganzheit ging. Dilthey sagt nicht Stimmung oder – wie später Heidegger – Gestimmtheit, sondern »Erlebnis« oder Lebendigkeit, wenn es um die durch Selbstevidenz »unterschieden charakterisierte Art« geht, »in welcher Realität für mich da ist« (GS VI 313, VII 27f.; cf. Anz 1982, 67). Wie oder als Stimmung konkretisiert die Lebendigkeit die Phänomenalität der Welt- als Selbsterfahrung. Dilthey fährt fort: »Das Erlebnis tritt mir nämlich nicht gegenüber als ein Wahrgenommenes oder Vorgestelltes; es ist uns nicht gegeben, sondern die Realität Erlebnis ist für uns dadurch da, daß wir ihrer innewerden, daß ich sie als zu mir in irgendeinem Sinn zugehörig unmittelbar habe. Erst im Denken wird es gegenständlich« (GS VI 313).

Anders als in erkenntnistheoretischen Diskursen der ontologischen, rationalistischen, sensualistischen oder transzendentalistischen Philosophietradition wird hier nicht das Primat von Geist oder Sinnesreiz, von transzendentalem Ego oder Gegenstandsgegebenheit verhandelt. Vielmehr sucht die erlebnispsychologische Beschreibung unterhalb der Ebene epistemologischer Objektkonstituierung anzusetzen. Zugleich hinterschreitet sie das konstitutive Subjekt auf eine ihm vorgängige Unmittelbarkeit von Realität, wo es ein bloßes ›Dasein‹ ist, wie Heidegger deshalb anstelle von ›Subjekt‹ sagen wird. Dasein aber ist Zugehörigsein zu jener Realität, die für mich da ist. Solche erlebend sich innewerdende Daseinsrealität ist noch – oder besser: gerade in seiner Nichtgegenständlichkeit »die fundamentale Tatsache, hinter die ›das Denken nicht zurückgehen‹ kann« (Anz 1982, 67; cf. GS V 5, VIII 184, 193).

100 GS VII 72, 192f. Pöggeler nimmt Diltheys angedachte, aber nicht ausgeführte »Lehre von der Realität der Zeit« zum Ausgangspunkt einer Infragestellung des systematischen Grundkonzepts. Dessen zentralen »blinden Fleck« markiert Pöggeler mit der Frage, »wie der Zeit Realität zugesprochen, die Realität der Zeit von der Realität der Außenwelt unterschieden werden kann« (1985, 105–139)?

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In bewusstseins- oder reflexionsphilosophischen Konzepten des Selbst der neuzeitlichen Denkgeschichte wurde dem Subjekt ein absoluter Status zugesprochen, dessen cogito es als ontologisch unbezweifelbar, der es in ähnlichem Sinn einer fundamentalen Tatsache als unerschütterbar, als Erkenntnisgaranten oder Reflexionsinstanz nicht hinterschreitbar erscheinen ließ. Sogar der LockeSchüler und doch ›etwas‹ von Stimmungen ›haltende‹ Shaftesbury lässt vor dem atomistischen, platonischen und stoischen Referenzhintergrund der antiken Philosophie einen seiner Moralisten sagen: »So akzidentiell auch mein Leben, oder so blindlings auch die Laune, die es regiert, sein mag, so weiß ich schließlich nichts so Reelles oder Substanzielles als mein Selbst« (Shaftesbury 1980, 152). Auf vernünftige Weise nicht bezweifelbar sei »dieses unser Ich ein einfaches, unzertrennliches Eins« (ebd. 150). In deutlichem Gegensatz zu solchem einfachen Einssein eines sich selbst substanzlogisch denkenden und in einer allgemein gegebenen Realität vorfindlichen Ich steht nun die komplexe Einheit der dem Ichbewusstsein vorgängigen, präreflexiven Realität des Diltheyschen Erlebnisses. Während das herkömmliche Selbst aufgrund der Evidenz seiner Substantialität selber und fraglos für die Einheit seines akzidentiell und launenhaft vervielfältigten Lebens einsteht, muss das neu entdeckte Erlebnis um den Zusammenhang mit allen anderen Erlebnissen und um die Einheit des Lebens insgesamt besorgt sein. Anders als beim per se einheitskompetenten Selbst als Instanz der Zusammenhangsknüpfung, wo eine reflektierte Realität die Identität des Selbst garantiert, ist beim Erlebnis, das erst aus dem »Innewerden« (GS XIX 66) von Realität überhaupt hervorgeht, die Einheit des Lebens als Bedeutsamkeitszusammenhang das Ergebnis eines temporalen Strukturgeschehens. Dieses Strukturgeschehen stellt die im Erlebnis gegebene Einheit her und kann seinerseits nur von einer differenzierten Beschreibung eben dieser Einheit her verstanden werden. Deshalb geht Diltheys deskriptive Psychologie, welche das Seelenleben als dynamischen Zusammenhang von Beziehungselementen analysiert, über in eine Hermeneutik des Erlebens von Einheit, das als innegewordene Realität gegeben ist und nun den Ausgangspunkt für das Verstehen des Lebens als eines in sich bewegten Strukturzusammenhanges bildet. So richtet sich das Verstehen individuellen Lebens auf etwas, was ihm von diesem selbst her, nämlich als Erlebnisrealität bereits vertraut ist. Das Leben muss nur noch »von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter« (GS V 143; cf. Anz 1982, 68) aufgefasst und anhand von Kategorien beschrieben werden, die aus ihm selbst gewonnen werden, um die angestrebte Grundlegung leisten zu können.

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5.

Ausdrucksverstehen durch ›Lebenskategorien‹ und die Zeit in der Stimmung

Die Lebenskategorie der ›Bedeutung‹ und die Integrationskraft der Stimmung

Unter den von Dilthey entwickelten Lebenskategorien findet sich – wie wir oben festgestellt haben – die Stimmung nicht. Warum sie somit gegen Dilthey an dessen Denken herangeführt und zugleich mit ihm im Sinne seiner Lebenskategorien gedacht werden soll, ist in der theoretischen Absicht vorliegender Untersuchung begründet. Diese besteht ja darin, den in Diltheys Gesamtwerk an verschiedenen wichtigen und doch systematisch uneinheitlichen Stellen auftauchenden Stimmungsbegriff über seinen analytischen Charme hinaus auf seine kultur- und literaturwissenschaftliche Brauchbarkeit hin zu untersuchen. An dieser Stelle soll näher gezeigt werden, wieso die Stimmung in der systematischen Funktion einer Lebenskategorie die gleichen oder sogar sachlich bessere Dienste geleistet hätte als die bei Dilthey am stärksten zum Tragen kommende Kategorie der Bedeutung. Dabei kann es nicht um einen Nachweis der Ersetzbarkeit von Begriffen und mithin eines Mangels an argumentativer Stringenz aufgrund terminologischer Beliebigkeit gehen. Hingegen soll an einer in der Forschung ausgemachten Bruch- oder doch Schwachstelle von Diltheys Hermeneutik, nämlich der lebensphilosophisch-strukturalen statt sprachtheoretisch-semantischen Auffassung der Bedeutungskategorie, die theoretische Explikationskraft des Stimmungsbegriffs erprobt werden. Hierzu werden semantische Aspekte desselben aktiviert, die ästhetikgeschichtlich bereits zu Lebzeiten Diltheys etabliert waren, von ihm aber unberücksichtigt blieben oder nur implizit in seiner Theoriebildung zu Geltung kommen. Hinsichtlich derselben steht nun folgende systematische Frage zur Debatte: Wie kann im Innewerden101 der Erlebnisrealität das Leben sich als ursprünglicher Zusammenhang erfahren? Und dies, obwohl es doch aus einer unabgeschlossenen Reihe von Einzelerlebnissen besteht, die sich nur vom Ende des Lebens her zu einem Gesamterlebthaben integrieren ließen? Solange »das Ende des Lebensverlaufes« (GS VII 233, cf. 237) nicht abgewartet ist, kann es kein Ganzes geben, von welchem her die Teile des Lebens ihre Bestimmung erhielten und umgekehrt: solange die Lebensteile sich als Glieder einer Kette eines ans andere fügen, können diese nicht ein Ganzes bestimmen. Allenfalls lassen sie sich zu einem vorläufigen Gesamt mit integraler Ganzheitsperspektive zusammenfügen. Dessen fortgesetzte Revisionsbedürftigkeit wird spätestens »im letzten Augenblick eines Lebens« einsichtig, während frühestens »in der Todesstunde« also die 101 Die Bedeutung dieses Begriffes bei Dilthey wird bündig zusammengefasst von Makkreel: »For Dilthey, Innewerden involves an immediate Für-mich-da-sein, that is, an awareness of a content as being-there-for-me. There is no separation between an act of consciousness and its content« (1987, 144); cf. GS XIX 62, 66.

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Spekulation auf ein Ganzes in die Realisation desselben eingeht (GS VII 233, 237). Die offene Struktur eines prozessualen Beziehungsverhältnisses zwischen Teilen untereinander hin auf ein Ganzes lässt sich mit der Stimmung als ästhetischem Begriff durchaus erfassen. Während hierfür der Begriff der Bedeutung aus seinen angestammten sprach- und zeichentheoretischen Kontexten herausgelöst werden muss, braucht derjenige der Stimmung nur in seiner semantischen Bandbreite etwas weiter entfaltet werden als Dilthey es tut. Wo dieser die Stimmung in geologischer Metaphorik auf die Basisfunktion einer untersten Schicht festlegt, auf der sich die Lebens- und Weltanschauungsgebäude erheben, lässt sie sich unter Rückbezug auf seine zergliedernde und beschreibende Psychologie für die Funktion der Kohärenzstiftung im individuellen Lebensprozess gewinnen. Denn zunächst zeichnet die Stimmung eine Erlebensqualität aus, welche die Bedeutung erst durch ihre Applikation aufs Leben (Bedeutung für/als) oder ihre lebensphilosophische Konversion zur Bedeutsamkeit erreicht. Stimmung wird als die jemeinige sowohl in konkreter Situation der alltäglichen Lebenspraxis als auch im Sinne einer Grundstimmung über längere Abschnitte oder bezogen auf den Gesamtverlauf eines individuellen Lebens immer erlebt. Sodann lassen sich die einzelnen Erlebnisse oder Situationen, Abschnitte und Phasen des Lebens durch Stimmungen, sei es durch deren erlebten Wandel oder ihr spürbares Gleichbleiben hindurch, miteinander verbinden. Kleinste wie größere Elemente des Erlebens gehen in der Stimmung Verbindungen ein, die nur für den besonderen Moment halten, aber auch für den generellen Ablauf eines individuellen Lebens Bestand haben können. Und schließlich kann ein einzelner Stimmungsaugenblick das ganze Leben – imaginativ, enthusiastisch oder poetisch – umfassen. In jedem Fall jedoch ist im Stimmungserleben dessen kleinste Untereinheit präsent. Umgekehrt bildet das Leben als Obereinheit aller seiner Teile ein integrales Ganzes, das als solches nur in einem Augenblick erlebnishafter Stimmung existiert. Was für den kategorialen Zugriff über Bedeutung widersprüchlich ist, scheint für denjenigen über Stimmung unproblematisch zu sein: im ästhetischen Spiel der Stimmung kann das einzelne Erlebnis das Leben selbst enthalten nicht obwohl, sondern da es ein Teil des Ganzen ist. Sprachlich realisieren dies rhetorische Pars-pro-toto-Figuren wie Synekdoche oder Metonymie. Dilthey jedoch versucht mit der Absicht, seine lebensphilosophische Hermeneutik nahe genug an verstehenstheoretischer Begrifflichkeit zu halten, die für sein Erlebniskonzept wichtige Teil-Ganzes-Relation mithilfe der ›realen‹ Kategorie der Bedeutung zu erklären. Als solche nämlich »wohnt« die Bedeutung – wie wir oben bereits angeführt haben – »dem Leben […] ein als die eigentümliche Beziehung, die zwischen seinen Teilen obwaltet« (GS VII 73). So treffend der vorphänomeno-

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logische102 Sprachduktus (›einwohnen‹) den inneren Beziehungszusammenhang beschreibt, der jene Einheitlichkeit des Lebens im Erlebnis gewährleisten soll, so fragwürdig bleibt doch der Begriff der Bedeutung hier. Denn im Erlebnis ist noch nichts artikuliert, semantisch manifest oder gar sprachlich kommuniziert, was als Einheit verstanden oder wenigstens als mögliche Bedeutung objektivierend anvisiert werden könnte. Wie das Leben, insofern es verstanden werden soll, nicht vollständig vollzogen sein kann, ist die Bedeutung im Erlebnis, solange sie selbst vollzogen wird, niemals ganz verstanden (cf. Anz 1982, 73). Ein solches im Erlebnis als greifbare Entzogenheit erfahrenes Lebensganze lässt sich hingegen mit Stimmung umschreiben, wenn diese nicht nur als psychologischer, sondern darüber hinaus als ästhetischer Begriff entfaltet wird. Denn neben dem ichhaften Erlebensbezug, in welchem bereits disparate Elemente der Welt- und der Selbsterfahrung einen lockeren Verband eingehen, gehört zur Stimmung die elementarästhetische Dynamik des In-BeziehungSetzens von Teilen zu einem Ganzen. Dank dieses objekthaften Erbes aus ihrer musikpraktischen Genealogie vermag die Stimmung auch auf formaler Ebene für die Herstellung komplexer und prozessual offener Beziehungsverhältnisse einzustehen. So wie Dilthey das Verhältnis von Teil und Ganzem als strukturbildend für den im Erlebnis präsenten Zusammenhang des individuellen Lebens ansetzt, lässt es sich freilich besser mit dem Begriff der Stimmung als mit dem der Bedeutung bestimmen. Im Gegensatz zur Bedeutung, die nur um den Preis ihrer lebensphilosophischen Expatriierung aus der Sprach- oder Zeichentheorie ins Leben integriert werden kann, ›wohnt‹ die Stimmung dem Leben in seinem vorreflexiven Vollzug gleichsam immer schon ›ein‹. Diese psychologische und zudem ästhetisch sensible ›(Ur-)Einwohnerin‹ des Lebens lässt sich tatsächlich als die – wie Dilthey sagt – »eigentümliche Beziehung, die zwischen seinen Teilen obwaltet«, verstehen (GS VII 73). Denn kraft ihrer formalästhetischen Kompetenz kann Stimmung die Teile des individuellen Lebens auf verschiedenen Stufen zum Bild eines Ganzen integrieren, indem sie Entwicklungsstadien, Erlebnisse und noch kleinste Elemente des Erlebens zueinander in ein instabiles, aber dafür stets für Modifikationen offenes Strukturverhältnis setzt. Von diesem zeitlich-relativen, formal unabgeschlossenen Strukturganzen erhalten die Teile und deren Elemente wiederum ihre Bestimmung und werden fortlaufend in ihrem Verhältnis untereinander sowie zum ausstehenden Ganzen abgestimmt.

102 Husserls anfänglich kritische, aber uneigenständige Ablehnung Diltheys wandelt sich zur Anerkennung von dessen Werk als eine »geniale Vorschau und Vorstufe der Phänomenologie« (1950, Bd. IX, 35); zit. n. und im wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang erläutert bei Lembeck (1993, 20).

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Eine solche wechselseitige Verhältnisbestimmung, wie sie Dilthey zur Erklärung der mit der Realität des Erlebnisses gegebenen Einheit individuellen Lebens heranzieht, lässt sich von der dynamischen Struktur der Stimmung her denken, ohne dass deren Begriff – wie im Fall der Bedeutung – zu diesem Zweck semantisch umorganisiert und also bloß terminologisch aufgefasst werden müsste. Anders als Diltheys ›Bedeutung‹ ist der Stimmung ein phänomenologisches Integrationspotential eigen, das sie psychologisch und ästhetisch dazu qualifiziert, jenen »Lebenszusammenhang« praktisch erfahrbar und theoretisch denkbar zu machen, der »nicht eine Summe oder ein Inbegriff aufeinanderfolgender Momente [sein soll], sondern eine durch Beziehungen, die alle Teile verbinden, konstituierte Einheit.«103

103 GS VII 140. Cf. die Zitatstelle sowie im Zusammenhang wiederum Anz (1982, 73).

IV.

Hermeneutische Probleme und die Ästhetik objekthafter Stimmungen

1.

Das theoretische Potential der Stimmung und Diltheys hermeneutischer ›Irrweg‹

Wenn hiermit anstelle von Bedeutung die Stimmung als eine Diltheysche Lebenskategorie eingesetzt wird, die der Funktionsweise einer solchen nach adäquater erscheint, dann stellt sich die Anschlussfrage, ob damit auch das systematische Interesse weiterverfolgt werden kann, welches Dilthey mit seiner strukturalen Fassung des Bedeutungsbegriffs im Auge hatte. Dieses bestand darin, eine theoretische Übergängigkeit von der Analytik der deskriptiven Psychologie zur Hermeneutik fremder Individualität zu gewährleisten. Hier schien sich in der Kandidatenreihe der Lebenskategorien, welche diese Übersetzbarkeit von der Struktur des Seelenlebens ins Modell des Ausdrucksverstehens leisten sollten, diejenige der Bedeutung besonders anzubieten. Denn »die Kategorie der Bedeutung« habe – so Dilthey – »offenbar einen besonders nahen Zusammenhang zum Verstehen« (GS VII 234, Hvh. W.D.) einerseits, und die Bedeutung müsste dann andererseits – so ließe sich Diltheys theoretische Überlegung vervollständigen – nur auch noch als die privilegierte Form psychischer Strukturbildung für die Einheit im individuellen Leben ausgezeichnet werden. Damit ließe sich dem Ziel einer methodischen Grundlegung der Geisteswissenschaften näherkommen, insofern diese im Unterschied zu den erklärenden Naturwissenschaften ja etwas verstehen sollen, was als Gegenstand nur in dem Maße konturierbar ist, wie es im Verstehenden selbst konstitutiv angelegt ist (cf. Apel 1985). Als psychisch angelegt gedacht wird die Bedeutung nun von Dilthey über ihre Auffassung als ein strukturaler Begriff, der jene in der Realität des Erlebnisses gegebene Einheit des individuellen Lebens herstellt. Wenn aber dieses erlebnisreale Einheitsmoment im Ausdruck erscheint – etwa von Objektivationen der Dichtung, Musik oder Philosophie – und als solcher Erlebnisausdruck – und nicht etwa als Text, Tongebilde oder Gedankengebäude – zum Gegenstand des Verstehens wird, dann ist aus der psychischen schon eine her-

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Hermeneutische Probleme und die Ästhetik objekthafter Stimmungen

meneutische Struktur geworden. So wird unter der Hand des Hermeneutikers Dilthey die ›Bedeutung‹ als Kategorie des Lebens eine Kategorie des Verstehens.104 Und solches Verstehen ist keines von Sinn, es verfährt nicht als Auslegung von Texten und Reden, nicht als Interpretation von bildlichen oder tonalen Materialien. Ist es doch am Begriff jener nicht-sprachlichen Bedeutung ausgerichtet, die zusammen mit den anderen Lebenskategorien (Zeit, Kraft, Zweck, Ideal, Gestalt u. a.) hermeneutisch gewendet wird und so die Möglichkeitsbedingungen des einfühlenden Verstehens von Erlebnissen anderer Individuen schaffen soll. Ohne den materialen Umweg über Sprachlichkeit zu nehmen oder äußere Kommunikationsformen als Medien zu bemühen, richtet Verstehen sich hier auf psychische Strukturen fremder Individualität, indem diese mit generellen Strukturen des Verstehens kurzgeschlossen werden. Was so direkt verständlich und hermeneutisch umstandslos verstanden werden soll, ist also nicht das Individuelle, sondern das Allgemeine des Lebens, nichts Inhaltliches einer fremden Individualität, sondern Formales der eigenen Individualität und zwar als eine generative Struktur von Bedeutung überhaupt.105 Dies wäre gewissermaßen die transzendentallogische Basis des Diltheyschen Verstehens, von der es ausgehen könnte, um sich dann auch inhaltlichen, konkreten oder individuellen Bedeutungen etwa in den sprachlichen Objektivationen der Dichtung und Philosophie zuzuwenden. Es müsste dafür zwischen dem basisstrukturalen Begriff der Bedeutung als Lebenskategorie und einem semantischen Begriff von Bedeutung als eigener Verstehenskategorie unterschieden werden. Genau das aber tut Dilthey nicht. Er entwickelt einen solchen sprachkommunikativen Bedeutungsbegriff auch nicht auf einer zweiten Stufe, wohl um seiner Hermeneutikversion nicht die lebensphilosophische Pointe zu nehmen. Auch nutzt er die lebenskategoriale Basis nicht zum eigentlich hermeneutischen Geschäft des Text- und Sinnverstehens. Hingegen bleibt sein Verstehen letztlich fixiert auf die psychischen Strukturformen fremder Individualität, und zwar bestimmt von der Weise, wie diese im Erlebnis zum Ausdruck kommen und kaum vom Ausdruck des Erlebnisses im Werk unterschieden werden. Mit dieser systematisch bedingten Indifferenz zwischen erlebnishaft-psychischem und werkhaft-materialem Ausdruck erliegt Dilthey seiner eigenen Theoriesuggestion, dass Kultur- als Selbstverstehen einer sprachlichen oder semioti104 In der Forschung wird deshalb das Nichtzustandekommen einer Bedeutungstheorie bemängelt, was vor allem an Diltheys »eigentümlicher Aufnahme von Edmund Husserls Logischen Untersuchungen« deutlich sei (Anz 1982, 85, Anm. 81). Siehe hier den vergleichenden Verweis auf Ineichen (1976), Kapitel 8; ferner auch Ineichen (1983). 105 In solcher Hinsicht spricht von einem »ontologischen Strukturalismus« Eco (1972); cf. Anz (1982, 70).

Das theoretische Potential der Stimmung und Diltheys hermeneutischer ›Irrweg‹

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schen Mediatisierung nicht bedürfe, wenn erst das sich verstehende Leben seiner inneren Struktur nach selbst als hermeneutisch verfasst erkannt sei. Mit der Ontologisierung seines psychodynamischen Strukturmodells läuft Diltheys Theoriebildung auf eine lebensphilosophische Naturalisierung von kulturellem Verstehen hinaus. Dies hat wirkungsgeschichtlich einerseits Heideggers an Phänomenen des Lebensvollzugs orientierte Daseinshermeneutik in Sein und Zeit ermutigt und in der Folge zu Gadamers philosophischer Hermeneutik hingeführt. Andererseits hat es vor allem die germanistische Philologie auf einen Weg gebracht, der über biographistische, psychologistische und existenzphilosophische Strecken hinweg, mit teils mehr textimmanent, teils mehr geistesgeschichtlich orientierten Abzweigungen zuletzt in eine literaturwissenschaftliche Sackgasse geführt hat. Diese Einschätzung hat sich spätestens in der Methodendiskussion der 1960er und 70er Jahre durchgesetzt. Sie hat eine Reihe von Transformationsversuchen hervorgebracht, wie etwa durch die Rezeptionsästhetik (Jauß, Iser) und Philosophie (Gadamer, Henrich, Frank, Stegmüller), ohne dass die Hermeneutik dadurch sich wissenschaftstheoretisch stabilisiert hätte.106 Nachhaltiger hingegen wirkte die Diskreditierung geist-, lebens- und existenzphilosophischer Ansätze, sodass Diltheys Hermeneutikkonzept insgesamt verworfen wurde.107 In den Theoriedebatten der letzten dreißig Jahre spielt aber auch seine damit verbundene Grundlagenreflexion der »Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und Geschichte«108 keine wichtige Rolle mehr, obwohl seit der kulturwissenschaftlichen Wende das Bemühen um methodische Konsolidierung historischer und philologischer Forschung aktueller denn je ist. Nicht nur ist das methodische Ansetzen beim Studium der Individualität (1895/96, GS V 241–316) aus der systematisch-historischen Kontextualisierung in der Literaturforschung weitestgehend verschwunden. Vielmehr bleiben auf der schwierig gewordenen Suche 106 Nach teils explizit anti-hermeneutischen Theoriehaltungen der letzten Jahrzehnte könnte ein neues Interesse an der Methode und Geschichte der Hermeneutik entstehen. So war etwa der von Carlos Spoerhase und Katja Mellmann organisierte Marbacher Sommerkurs 2012 »Neuen Ansätzen der Hermeneutik« gewidmet. Dabei stand deren Verhältnisbestimmung zu Forschungsansätzen »aus den Bereichen der Literaturtheorie, der Philosophie, der Linguistik und der Kognitionspsychologie« im Blickpunkt, um nach Relevanz der Hermeneutik »für die Literaturwissenschaften und die Intellectual History« zu fragen (zit. aus der Tagungsankündigung vom 23. 11. 2011). 107 Es gibt bis heute diskussionswürdige Ausnahmen, darunter mit systematischem Anspruch auf methodische Geltung Fellmann (1991). Darin wird der Versuch gemacht, Habermas’ und Apels Kritik an Gadamers angeblich wirklichkeitsferner Traditionsverhaftetheit fruchtbar zu machen für eine »pragmatische Wendung der Hermeneutik« hin zu einem »imagic turn der Philosophie« in der »Postmoderne« (12); siehe außerdem Jung (1996); darin auch einige wenige Bezüge zu »Stimmungen und Gefühle[n]« als »nicht-kognitive Aspekte des bewußten Erlebens« (115). 108 Siehe Einleitung in die Geisteswissenschaften in GS I 3–120; cf. GS VII, XIX.

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nach einem methodisch legitimierbaren Zugriffsort im Prozess des Geschichtlichen die Erkenntnismöglichkeiten unausgelotet, welche der Rückbezug auf existentielle Vollzugsformen des geschichtlichen und künstlerischen Lebens bieten könnte. Schließlich war die von Dilthey beeinflusste Germanistik von Gundolf und Korff bis Vietor und Staiger (cf. Anz 1982, 60 Anm. 11) – bei aller berechtigten, auch untereinander geübten Kritik – durchaus in der Lage, literaturgeschichtliche Zusammenhänge und historische Lebenswirklichkeiten eindringlich und auch wissenschaftlich fruchtbar zu vergegenwärtigen. Die Neuthematisierung der Stimmung zielt – wenn auch kritisch gesehen – durchaus auf eine theoretisch fundierte Rückgewinnung des preisgegebenen Terrains einer vorwissenschaftlichen Selbstverständigung über individuelle und kollektive Befindlichkeiten innerhalb ihrer geschichtlichen Erfahrungswirklichkeit. Nur müssen dabei die Fehler vermieden werden, die Diltheys emanzipatorisch überzogenem Anspruch geschuldet sind, eine philosophische Grundlegung der ›verstehenden‹ Geisteswissenschaften im methodologischen Unterschied zu den ›erklärenden‹ Naturwissenschaften zu leisten.109 Deshalb richtet unsere Aufmerksamkeit sich hier nicht auf Diltheys kulturhistorischen Weitblick in der hermeneutischen Praxis, die ihm vor allem mit Das Erlebnis und die Dichtung die Bewunderung seiner Zeitgenossen sicherte, sondern seine hermeneutische Theorie. In ihr verengt sich seine systematisch eingestellte Sichtweise auf die aus der Einsicht in die Faktizität der Erlebnisrealität hervordrängende Faszination: diese nämlich gibt Dilthey als die Evidenz einer nicht weiter hinterschreitbaren Tatsachenwirklichkeit aus, um sie im weiteren zum methodischen Fundament seiner Lebenshermeneutik zu machen. Ein folgenreicher Fehler kann insbesondere darin gesehen werden, dass die noch nicht gegenständliche »Realität Erlebnis« (GS VI 313) in oder besser: trotz ihrer (vermeintlichen) Unmittelbarkeit als eine sinnhafte Erfahrung aufgefasst wird, die als vorreflexives »Innewerden« (GS XIX 66) vollzogen wird und dennoch mit dem Begriff der Bedeutung belegt wird. Wir haben gesehen, dass Diltheys hermeneutische Denkbewegung nicht wieder zu einem semantisch-kommunikationsfähigen Begriff von Bedeutung zurückfindet, nachdem dieser erst einmal für das strukturale Verhältnis zwischen Teilen und dem Ganzen des individuellen Lebenszusammenhanges eingesetzt worden ist. Dies hat für das Verstehen samt seiner Theoretisierung zur Folge, dass es bzw. diese nicht wieder 109 Es gibt bis heute diskussionswürdige Ausnahmen, darunter mit systematischem Anspruch auf methodische Geltung Fellmann (1991). Darin wird der Versuch gemacht, Habermas’ und Apels Kritik an Gadamers angeblich wirklichkeitsferner Traditionsverhaftetheit fruchtbar zu machen für eine »pragmatische Wendung der Hermeneutik« hin zu einem »imagic turn der Philosophie« in der »Postmoderne« (12); siehe außerdem Jung (1996); darin auch einige wenige Bezüge zu »Stimmungen und Gefühle[n]« als »nicht-kognitive Aspekte des bewußten Erlebens« (115).

Das theoretische Potential der Stimmung und Diltheys hermeneutischer ›Irrweg‹

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aus der Immanenz selbstbezüglicher Explikationsformen herausführt und damit die Hermeneutik fremder Individualität in eine Hermeneutik genereller Strukturalität abdriftet. Dies aber könnte vermieden werden, wenn anstelle des Begriffes Bedeutung derjenige der Stimmung eingesetzt wird: namentlich um das »Bestimmen unbestimmt-bestimmter Einzelheiten« (GS VII 220, cf. 227) zu jener Einheit des inneren Strukturzusammenhanges plausibel zu machen, die im Erlebnis vorgängig faktisch und zugleich doch der antizipierte Effekt des vollendeten Lebenslaufs eines Individuums sein soll. Denn wie wir gesehen haben, eignet sich die Stimmung (1.) von ihrer temporalen Struktur her dazu, Augenblickserleben mit der Zeiterfahrung von relativer »Konstanz des Lebens« (GS VII 233; cf. »Kontinuität« VI 315) zu synchronisieren. (2.) Infolgedessen und kraft ihrer elementarästhetischen Integrationsdynamik kann die Stimmung außerdem die strukturbildende »Wechselwirkung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen« (GS VII 235) leisten, die den individuellen »Lebenszusammenhang [als] konstituierte Einheit« (GS VII 140) aus Beziehungselementen hervorbringt. Auf strukturaler Stufe wird die Stimmung also in phänomenalen Qualitäten beansprucht, welche die semantischen Eigenschaften ersetzen, die Dilthey der Bedeutung in Funktion einer psychologischen Analysedimension terminologisch zuschreibt. Das aber musste er schon deshalb, um die Bedeutung zu einer systematischen Gelenkstelle machen zu können, an der ihre kategoriale Konvertibilität gesichert ist, d. h. an der sie von der entscheidenden Lebenskategorie zur basalen Verstehenskategorie und umgekehrt gefasst werden kann. Dies kann und soll mit der Stimmung nicht nur nicht ebenso gemacht, sondern gerade als Kategorienfehler vermieden werden. Da Stimmung sich aufgrund ihrer zeitstrukturellen Phänomenalität und formalästhetischen Integrativität zur Beschreibung der Modalität von Einheitskonstituierung im individuellen Lebenszusammenhang so gut eignet – und zwar sachgemäßer als Diltheys ›Bedeutung‹ – , ist sie ungeeignet für ihre funktionale Transformation in ein lebensphilosophisch unmittelbares, d. h. auch nicht zeichenvermitteltes Verstehen. Auf letzteres aber ist Diltheys Begriff von Bedeutung programmatisch angelegt. Bedeutung muss deshalb sich ins Leben einfühlend nachgebildet – um nicht zu sagen: ›nachgesummt‹ – werden, statt verstanden werden zu können: »Das Leben ist wie eine Melodie, in der nicht Töne als Ausdruck der realen dem Leben einwohnenden Realitäten auftreten. In diesem selbst liegt die Melodie.«110 Stimmung kann eine psychologische, eine phänomenologische und eine ästhetische Kategorie und dadurch auch eine Diltheysche Lebenskategorie sein: 110 Cf. GS VII 234; cf. GS XIX 353 und: »Die Melodie sagt uns mehr vom Leben als alle Definitionen desselben. In ihr ist Tatsache eine Einheit, die nicht vor den Teilen, sondern in, mit und durch sie besteht« (GS XXV 261).

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Hermeneutische Probleme und die Ästhetik objekthafter Stimmungen

nicht aber eine hermeneutische Kategorie, die in Diltheyscher Manier eine funktional konvertierte Lebenskategorie wäre und deshalb das Leben unmittelbar aus ihm selbst zu verstehen vermag. Anstelle der hermeneutischen Unmittelbarkeit von lebensstrukturaler ›Bedeutung‹ wäre mit der ›Stimmung‹ eine hermeneutische Mittelbarkeit von dann wieder zeichengebundener Bedeutung theoretisch angezeigt. Durch den begrifflichen Einsatz der Stimmung als phänomengerechter Kategorie des Lebens wird systematisch Platz geschaffen für eine begriffliche Verwendung von Bedeutung als Kategorie des Verstehens in sprachlichen Mitteilungsformen wie sie üblich und zumal für die philologische Praxis grundlegend ist. Mithilfe des Stimmungsbegriffs kann so der hermeneutiktheoretische Irrweg einer Entdifferenzierung von Bedeutung (sinnbezogen) und Bedeutsamkeit (lebensbezogen) vermieden werden. Dieser Irrweg, der eine ideale Abkürzung zu lebensphilosophischer Wahrheit zu sein meint, ist gekennzeichnet durch ein erkenntnistheoretisches Kurzschließen zwischen innerer Erfahrung und äußerer Wirklichkeit. In der methodischen Verschmelzung von epistemisch objektivierter Wirklichkeit und der Wirklichkeit als individuellem Lebenszusammenhang sieht Dilthey ein Desiderat der Denkgeschichte geradewegs in seiner eigenen Philosophie münden: »Noch niemals ist bisher die ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung dem Philosophieren zugrunde gelegt worden, mithin noch niemals die ganze, volle Wirklichkeit« (GS VIII 175). So hat Dilthey seinen hermeneutisch irreführenden Denkweg im Bewusstsein genialer Innovation wie auch in der systematischen Absicht der Eröffnung eines genuin geisteswissenschaftlichen Verstehenszugangs zur im Erleben als vorgängig gegebenen Einheit des Lebenszusammenhanges eingeschlagen. Umgekehrt bildet letztere doch das sachliche Fundament seines methodischen Grundlegungsversuches, die Geisteswissenschaften in einem psychologischen Konzept (Erlebnis) zu begründen.

2.

Der unumgängliche und produktive Verzicht auf Diltheys verstehenstheoretische Pointe

Demnach stellt sich gegen und zugleich mit Dilthey die Frage, ob dieser hermeneutische Zugang, der bei ihm einen kategorialen Übergang impliziert, erhalten bleiben kann. Wenn die systematische Doppelbödigkeit des Bedeutungsbegriffs aufgegeben wird, müsste nach unserer theoretischen Intervention der Stimmungsbegriff nicht nur – wie anhand der Zeitlichkeit und Integrationsleistung gezeigt – die Beschreibung des psychischen Strukturzusammenhangs als eines dynamischen Wirkungszusammenhangs erlauben. Vielmehr müssten dadurch auch – und zwar zugleich – die Ermöglichungsbedingungen

Der unumgängliche und produktive Verzicht

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des Verstehens desselben gewährleistet bleiben. Jedenfalls solange man versucht, Diltheys Anspruch aufrecht zu erhalten, den »Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und Geschichte« (GS I, 3–120; VII, XIX) mit der beschreibenden Psychologie als historisch-strukturaler Erkenntnistheorie eine philosophische Grundlegung zu verschaffen. Mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte der letzten einhundert Jahre aber sollte dieser Anspruch in seiner wissenschaftsphilosophischen Verallgemeinerung aufgegeben werden. Es kann heute nicht mehr darum gehen, einen für die Geisteswissenschaften als Gesamt der Philologien, der Philosophie, der Geschichts- und Sozialwissenschaften gemeinsamen methodischen Ausgangspunkt festlegen zu wollen. Erst recht nicht, wenn dieser in der vorwissenschaftlichen Erfahrung von Einheit im Lebenszusammenhang wurzeln soll – ganz gleich, ob deren Konstitution dann über die Kategorie der Bedeutung oder über die der Stimmung erschlossen würde. Unsere Bemühung um eine theoretische Renovation der Stimmung zielt auf deren Herauslösung aus lebensphilosophischen Bindungen und nicht auf eine Rettung von Diltheys Hermeneutik aus deren begründungstheoretischen Fallstricken, Widersprüchen oder Systematisierungszwängen. Diese sollen umgekehrt zum Anlass genommen werden, die vorwissenschaftliche Erfahrung – etwa von Ganzheit der Wirklichkeit, von Realität des Erlebens, der Vorgängigkeit von Einheit des Lebens-, Wirkungs- oder Strukturzusammenhanges – von ihrer erkenntnistheoretischen Überhöhung auf ihre phänomenale Basis herunter zu holen. Die transzendentallogische Überbelastung psychischer Strukturformen ist zurückzunehmen, indem diese nicht als Möglichkeitsbedingungen selbstbezüglichen Verstehens abstrakt gefasst, um in Kategorien des Lebens umgewandelt zu werden. Dieses Rückgängigmachen der aporetischen Verquickung von Lebens- mit Verstehenskategorien kann exemplarisch anhand der Ersetzung der strukturpsychologisch bestimmten Bedeutung (Bedeutsamkeit) durch die phänomenologisch bestimmte Stimmung vollzogen werden. Bevor wir sehen wollen, welche theoretischen Folgen dieses Auseinanderhalten von Strukturpsychologie und Hermeneutik bei Dilthey – aber gegen seine Intention – für den Begriff der Bedeutung sowie für das Konzept des Ausdrucksverstehens hat, ist zunächst näher zu betrachten, wie sich der innerhalb von Diltheys Werk ›umgepfropfte‹ Stimmungsbegriff im Umfeld anderer Lebenskategorien verhält. Wir haben diesbezüglich bereits gesehen, wie die Stimmung in der systematischen Position der Bedeutung die Einheitsbildung des Lebenszusammenhanges über die Lebenskategorien ›Teil-Ganzes‹ und ›Zeitlichkeit‹ organisiert. Letztere sorgt über die in der Stimmung erlebte Beziehung von Momentaneität und Kontinuität für eine erlebnishafte Dimensionierung des formalen Verhältnisses (Teil-Ganzes) im individuellen Lebenszusammenhang. Formal aufeinander abgestimmt (im Sinne Diltheys einander ›bedeutend‹) werden die Teile des Lebens

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Hermeneutische Probleme und die Ästhetik objekthafter Stimmungen

als Stimmung (im Sinne Diltheys als Bedeutsamkeit) des Ganzen des Lebens gegenwärtig. Hinzu kommt nun, dass Dilthey diesen der ›Bedeutsamkeits‹Stimmung eigenen Charakter von Präsenz durch eine Konstanz gekennzeichnet sieht, die er auf seinen lebensphilosophischen Begriff der Kraft zuführt. Zum einen dynamisiert das »Fortbestehen und Fortwirken« (Anz 1982, 74; cf. GS VI 315) dieser ›Kraft‹ die binnenstrukturalen Verhältnisse der präsentischen Einheit zu einem relativen Bedeutungs- bzw. Stimmungskontinuum, das den Lebenszusammenhang als Wirkungszusammenhang bestimmt. Zum anderen lässt die als Lebenskategorie angesetzte ›Kraft‹ durch ihre vollständige Entfaltung jenen Präsenzcharakter als eine eigene Qualität erscheinen (cf. Anz 1982, 74), die ihn aufgrund von deren Wandelbarkeit eher zur Stimmung als zur Bedeutsamkeit zugehörig bestimmt. Besser zu einer erlebten Stimmung als zu einer nur lebensbezogenen Bedeutung passt auch die Charakterisierung jener kontinuierten »Präsenz« oder präsentischen »Kontinuität« als »ganze Fülle«, der als solcher Erlebensqualität dann Wert im Sinne einer Lebenskategorie zugeschrieben wird (GS VI 313–316; cf. Anz 1982, 74). Zur fortbestehenden Wirkung der »Kraft« oder aber zum »Wert«, der aus deren gänzlicher Entfaltung zur Erlebnisfülle entsteht, muss noch etwas hinzukommen, um den individuellen Lebenslauf insgesamt zu einer strukturdynamischen Einheit zu verbinden: »Erst wenn die ›immanente Teleologie‹ der Kraft in die Bestimmung aufgenommen wird, nicht nur im Sinne von ›Zweckmäßigkeit‹, sondern auch von ›Vollkommenheit‹, läßt sich das die Bedeutung bestimmende Prinzip angeben: die ›teleologische Harmonie‹, in der individuelles Leben – nicht bloß als Ablauf, sondern als Streben gefaßt – seinen angemessenen Zustand erreicht, angemessen im Hinblick auf seine vitale Einheit und Fülle« (Anz 1982, 74; cf. GS VI 310, VII 329f.).

An dieser von Anz konzis gefassten Bestimmung Diltheys dessen, was die zeitlich erstreckte, qualitativ wandelbare und doch als Einheit fortgesetzt gegenwärtige Bedeutung des Lebenszusammenhangs ausmacht, fällt auf, dass deren Charakteristika ästhetische sind. Vollkommenheit, Harmonie und Einheit gelten seit der griechischen Antike als klassische Eigenschaften des Kunstwerks und werden als solche in der im 18. Jahrhundert als philosophische Disziplin entstehenden Ästhetik diskutiert. Die Begriffe Teleologie und Zweckmäßigkeit lassen zudem erkennen, dass Dilthey – wie wir oben bereits gesehen haben – von Kants Kritiken her denkt, hier insbesondere von der dritten, die eine Grundlegung der Ästhetik unternimmt. Sie sollte die theoretische mit der praktischen Vernunftkritik am Leitfaden der Idee der Zweckmäßigkeit verbinden. In deren erstem Teil, der ›Kritik der ästhetischen Urteilskraft‹, ist Zweckmäßigkeit (›ohne Zweck‹) für das Schöne bzw. das Geschmacksurteil und also subjektiv bestimmend. In deren zweitem Teil, der ›Kritik der teleologischen Urteilskraft‹, ist Zweckmäßigkeit

Der unumgängliche und produktive Verzicht

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hingegen objektiv bestimmend, auf die Natur und die sie – immanent teleologisch – organisierende Kraft bezogen. An diesem knappen Hinweis lässt sich bereits erkennen, woher Diltheys Kategorienbildung nicht nur für die ›Kritik der historischen Vernunft‹, sondern gerade auch für die Hermeneutik des individuellen Lebens ihren systematischen Impuls erhalten hat. Zumal die universalistische Aufladung der Kategorien des Lebens insgesamt zu strukturpsychologischen Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens fremder Individualität erfolgt mit einem kantianischen Denkgestus architektonischer Grundlegung. Aber auch einzelne Lebenskategorien wie Zeitlichkeit, Zweck, Wert, Kraft, Entwicklung oder Ideal hat Dilthey in Kants erkenntniskritischen, ethischen und ästhetischen Kontexten vorgebildet gefunden. In der ›Kritik der teleologischen Urteilskraft‹ ist es die Relation Teil-Ganzes. Dort ist sie bezogen auf den Organismus, dessen Teile sich nur über ihre Beziehung zu dessen Funktionieren als Ganzes verstehen lassen. Bei Dilthey ist sie als Kategorie – wie gezeigt – auf den Strukturzusammenhang des individuellen Lebenslaufs angewandt, indem dessen Teile auf sein Ganzes als einer Einheit aus Beziehungselementen bezogen sind. Und wie bei Kant im Reich der Natur dem Organismus eine Kraft innewohnt, die nicht allein mechanisch, sondern überdies als immanent bildend zu verstehen ist, so ist bei Dilthey die Einheit individuellen Lebens als ein strukturiertes Ganzes nur zu verstehen, wenn sie als Ergebnis eines Schaffens, als Wirkung einer gestaltenden Kraft gedacht wird. Dieser in Analogie zur Natur konzipierten Kraft ist nach Dilthey jene – eben zitierte – Teleologie immanent. Sie soll den Begriff ›Bedeutung‹ ungeachtet seiner transzendentallogischen Überformung durch einen phänomenalen Gehalt bestimmen, namentlich durch die im Erlebnis wahrnehmbare Präsenz. Dem diffusen Erleben von Präsenz einer Kraftfülle unterhalb des Artikulationsniveaus kann indes nur mit begrifflicher Umständlichkeit die Kategorie der Bedeutung zugeordnet werden.111 Hingegen wäre dies mit der Kategorie der Stimmung schon von deren eigenem Phänomengehalt her angemessen. Die phänomengerechtere Platzierung der Stimmung anstelle der Bedeutung wird aus Diltheys eigenem Bemühen um deren analytische Bestimmung deutlich. Die hierzu eigens lebensphilosophisch aufbereitete Teleologie wird ihrerseits noch einmal zurückgebunden an ein nicht etwa linguistisches, sondern an ein ästhetisches Prinzip: das der Harmonie. Denn es ist letztlich die »teleologische Harmonie« (GS VI 310), kraft welcher der zielstrebige Lebensverlauf sich zum Ganzen einer gegenwärtigen Sinnfülle rundet.

111 Daraus u. a. scheint Gumbrecht (2004) die Konsequenz zu ziehen, sein Plädoyer für »Präsenz« mit einer Abkehr von hermeneutischem Sinnverstehen zu verbinden; mit Bezug auf Stimmung und Dilthey cf. Gumbrecht (2008).

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Die mit Stimmung begriffsgeschichtlich sehr eng verbundene Harmonie (cf. Spitzer 1963) scheint zuletzt als der elementarästhetische Konstitutionsgrund dessen durch, was Dilthey mit Bedeutung meint: ein mit ethischen Implikationen zielorientierten Handelns und zweckhaften Schaffens (›teleologisch‹) aufgeladener, von bio- und kulturanthropologischen Wirkungskräften durchzogener, die korrumpierende Zeitlichkeit in Ausdrucksgestaltungen verwindender Zusammenhang des individuellen Lebens. Durch die Momente der Gliederung, der Kraftentfaltung, der Transformation, der Zeitigung sowie der Einheitsbildung wird dieser Bedeutungszusammenhang als ein dynamischer ›Strukturzusammenhang‹ ausgewiesen. Er ist durch seine unausgesetzten Beziehungsbewegungen hindurch, also auf elementarer Ebene niemals während, bestenfalls am Ende des Lebens als ganzheitlich geschlossen erlebbar. Das permanente Ausstehen seines Sichschließens zu einer finalen Sinnstruktur des Lebens heißt aber nicht, dass der solchermaßen strukturell ungeschlossene Bedeutungszusammenhang nicht erlebt wird oder werden kann. Im Gegenteil ist das Erleben von Bedeutung als offener Strukturbewegung – wie es phänomenologisch nachvollziehbarer das Erleben von Stimmung als präreflexivem Wahrnehmungsprozess auszeichnet – seinerseits (ko)konstitutiv für den Bedeutungszusammenhang, der es ermöglicht und von welchem her Bedeutung sich erst verstehen lässt. Solche als Entdeckung hermeneutischer Zirkularität ausgegebene Wechselseitigkeit von Expliziertem und zu Explizierendem läuft hier darauf hinaus, dass das fortgesetzte Bedeutungserleben selber der Prozess ist, der die Erlebnisbedeutungen hervorbringt, deren Zusammenhang als vorgängige Einheit gegeben und doch als Endprodukt des Lebensprozesses strukturell ausständig sein soll. Wer wie Dilthey auf eine Logifizierung elementarer psychischer Prozesse und deren Transposition in methodisches Verstehen aus ist, findet sich rasch in Schleifen argumentativer Selbstvoraussetzungen wieder oder ›verheddert‹ sich auf dem Weg in solche. Schon deshalb ist es für unsere Zwecke unausweichlich, auf die theoretische Pointe von Diltheys Hermeneutik des sich aus sich selbst verstehenden Lebens zu verzichten. Diese besteht in der Ausarbeitung einer systematisch fragwürdigen, aber umso virtuoser variierten Verschränkung der strukturpsychologischen Ebene von Lebenskategorien mit der methodischen Ebene von Verstehenskategorien. Sie sollte die Verständlichkeit von individuellem Leben in konkreter Bedeutsamkeit sichern und wertbezogene Individualität als strukturbedingt Sinnhaftes konstruieren. Strukturen ohne Sprache sowie Bedeutungen ohne Zeichen haftet aber kein Sinn an, über den sie sich dann auch verstehen ließen. Die mit der Strukturalisierung der Individualität und sprachlosen Ontologisierung zusammenfallende Desemiotisierung von Bedeutung lässt aus der kategorialen Ebenenverschränkung nichts hervortreten, was man als Sinnhaftes verstehen könnte. Mit kritischem und zugleich konstruktivem Blick auf Dilthey

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sollte zusammen mit dessen Idee einer psychologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften sein Versuch verworfen werden, die Totalität des individuellen Lebenszusammenhangs zum Ausgangspunkt des epistemologischen Verfahrens zu machen. Denn der methodologische Rückgang in die Einheit des Subjekts verstanden als ganzem Menschen führt dazu, die Differenzen zwischen strukturellen und erklärenden Zusammenhängen, Phänomenalem und Transzendentalem, Faktizität und Methodologie, Individualität und Objektivation sowie zwischen Erleben und Verstehen zu sehr einzuebnen. Damit die Kategorien des Lebens nicht kurzerhand mit solchen des Verstehens identifiziert werden können, sollten die Ebenen des Struktural-Psychischen und des Hermeneutischen voneinander getrennt bleiben. Auf der ersten Ebene – in ihrer vorthematischen Opazität streng systematisierenden Zugriffen ohnehin weitgehend entzogen – eröffnen sich wissenschaftlichen Herangehensweisen Felder der psychologischen, philosophischen und kulturwissenschaftlichen Forschung. In der vorwissenschaftlichen Praxis ist sie ebenso selbstverständlicher Bestandteil des alltäglichen Lebensvollzugs wie sie natürliches Material für die Kunstproduktion bereitstellt. Sie ist zudem die inkommensurable Ebene, auf der die Kunstrezeption einsetzt bevor sie zur ästhetischen Reflexion anhebt. Wir haben sie bei Dilthey auch als die Schicht kennengelernt, der die Grund- oder Lebensstimmungen eingelagert sind, auf der sich die Ausdrucksgestalten erheben und in diverse Formen der Objektivation übergehen. Während letztere in ihrer zeichenhaften Manifestation sich prinzipiell verstehen lassen, bleibt die ihnen vorgängige Ebene heterogener Strukturbewegungen allein phänomenologischen Annäherungen zugänglich. Diese können durch Beschreibungen zu erhellen versuchen, was sich (noch) nicht verstehen lässt. Phänomenbeschreibungen auf dieser Ebene gehören durchaus zur theoretischen Grundlagenreflexion hermeneutischer Praktiken. Sie sind aber selber nicht hermeneutisch, d. h. prozedural nicht auf Verstehen mit Wahrheitsanspruch angelegt wie es Diltheys Handhabung der Lebenskategorien anstrebt.

3.

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Gerade in ihrer hermeneutischen Entzogenheit indes ist diese präsemiotische Ebene für Literatur, Musik und andere Künste ›bedeutsam‹. Denn sie liegt deren spezifisch ästhetischer Verständlichkeit zugrunde, insofern diese es mit den Ambiguitäten, Allusionen, Verweisungen, Leerstellen bis Paradoxien aufnimmt, die den künstlerischen Codierungen von offenen Strukturformen wie derjenigen der Stimmung eingeschrieben sind. Deren ästhetische Grundierung in den

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temporalen und formalen Vollzugsmomenten der psychischen Strukturebene heißt aber nicht, dass letztere an sich schon bedeutsam wäre und also zum Gegenstand wahrheitsfähigen Verstehens avancieren könnte. Dies aber tut sie bei Dilthey durch ihre Ausfaltung zu einem Tableau von ›Kategorien des Lebens‹, über welche verstanden werden soll, was allem Verstehen – ihm zugrundeliegend – entzogen bleiben muss. Hier zeigt sich, dass der Anspruch, die geisteswissenschaftliche Grundlegung am Erkennen des ›ganzen Menschen‹ auszurichten, ins methodische Verkennen der seine Individualität erst ausmachenden Teilaspekte führen muss. Dass Dilthey hierfür durchaus ein Problembewusstsein hatte, zeigt u. a. seine inkonsequente Begriffsverschiebung von Bedeutung hin auf Bedeutsamkeit, womit der auf semantische Kontexte angewiesene Sinnaspekt abgelöst werden soll durch den auf einen strukturalen Zusammenhang verweisenden Relevanzaspekt. Der entscheidende Fehler der Theoriebildung liegt indes in dem Versuch, die Analytik des psychischen Strukturzusammenhanges dazu nutzen zu wollen, denselben zum transzendentallogischen Fundament geisteswissenschaftlicher Erkenntnis auszubauen. Stattdessen sollte er als prätranszendentale Schicht bloß phänomenologisch mitlokalisiert werden, wie wir an anderer Stelle skizziert haben (Hajduk 2016, 97–126). Gleichwohl bleibt es Diltheys Verdienst eben diese Schicht, die unterhalb der Schwelle zum Bewusstsein wirksam ist und dessen Leistungen mit vorbereitet, in ihrer kognitiven Relevanz philosophisch wiederentdeckt zu haben. Allerdings konsolidieren sich auf dieser Wahrnehmungsstufe die (psycho)strukturalen Verhältnisse des Erlebens nicht zu bereits verstehbaren ›Bedeutungen‹ eines Lebenszusammenhangs. Sehr wohl aber verdichten sie sich dort zu den lockeren Perzeptionsverbänden und transitorischen Erlebenseinheiten der Stimmungen, die als solche zur Erfahrung von Bedeutsamkeit, zur Realisierung von Bedeutungen und sogar zum Verstehen von Sinn disponieren. Anders als etwa die unbestimmteren Eindrücke oder einzelnen Empfindungen sind Stimmungen hinreichend komplex, um nah genug an die kognitionspsychologische Schwelle heranzuführen, hinter der die bis dahin tentativ integrierten Verweisbezüge und vorläufigen Strukturbildungen durch Reflexion und Intentionalisierung in die Prozesse des Wahrnehmens, Erfahrens, Erkennens oder Verstehens von etwas eintreten. Diese Funktionsbeschreibung passt durchaus zu Diltheys späterer Verortung der Stimmung als lebendiger Grundschicht im Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften und er hätte ihr auch im Kontext seiner ›zergliedernden und beschreibenden Psychologie‹ zustimmen können.112 Gerade des112 So sagt er etwa mit Bezug auf die Psychologie des ästhetischen Vorgangs: »Unsere Sinne sollen ausgefüllt werden durch den Gefühlsgehalt der Empfindungen sowie durch die aus ihren Beziehungen entspringenden Stimmungen« (GS VI 192).

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halb jedoch musste er den Stimmungsbegriff aus seiner Hermeneutik möglichst heraushalten. Denn im Gegensatz zu Bedeutung oder Bedeutsamkeit – die Verstehbarkeit noch suggerieren, wo Sinnhaftes nicht anzutreffen ist – hätte die Stimmung gerade die Ungreifbarkeit der jene Strukturebene bestimmenden pathischen Phänomene auffällig gemacht. Dadurch aber wäre eine hermeneutische Kategorisierung des ›Lebens‹ samt dem damit verbundenen Systematisierungsanspruch als unmögliches Unterfangen in Erscheinung getreten. Eben dies soll für unsere Revision Diltheys gegenwärtig gehalten werden, indem wir die Stimmung – gleichsam als Gegenprobe zu seinem Theorieentwurf – anstelle der Bedeutung als Zentralkategorie des Lebens eingetragen haben. Die Profilierung von Stimmung vor dem Referenzhintergrund von Diltheys Theoriebildung bestätigt für letztere also den negativem Befund, den die Forschung als »die Aporien einer Hermeneutik« benannt hat, »der in ihren systematischen Grundbegriffen das hermeneutische Problem selbst entglitten ist.«113 Daneben hat sie zu dem positiven Befund geführt, dass die Stimmung die entscheidenden Funktionen auszuüben vermag, die nach Diltheys kategorialen Vorgaben der Bedeutung im historischen Verstehen fremder Individualität zukommen soll. Dank der in ihrem Begriff zusammentreffenden psychologischen und ästhetischen Semantik kann sie das sogar besser als der seine linguistische Provenienz zugleich leugnende (psychostrukturale statt sprachliche Verfasstheit ihres Referenten) und weiterhin bemühende (Verstehen individuellen Lebens) Bedeutungsbegriff. Die formalästhetische Organisation strukturaler Verhältnisse in einem als Einheit gegebenen Lebenszusammenhang (›Teil-Ganzes‹) oder die temporale Kohärenzstiftung zwischen Präsenz- und Konstanzerleben auf elementarer Ebene (›Zeitlichkeit‹) lassen sich mit dem phänomenologisch gefassten Begriff der Stimmung erhellen, während sie durch den lebensphilosophisch gefassten Begriff der Bedeutung eher verdunkelt werden. Durch die Implementierung der Stimmung anstelle der Bedeutung in Diltheys grundlegender Explikationsebene wird dieselbe von der operativen Verstehensebene abgetrennt. Solchermaßen befreit von hermeneutischen Beanspruchungen wird die erste Ebene in der ihr eigenen, sich dem semantischen Verstehen prinzipiell entziehenden Infixibilität von Strukturbewegungen ihrerseits deutlicher erkennbar. Damit ist der zweite positive Befund benannt, der sich aus einer kritisch und zugleich produktiv gehaltenen Auseinandersetzung mit Diltheys hermeneutischer Position für die Entfaltung eines literatur-, musik- und kunstwissenschaftlichen Stimmungsbegriffs ergibt. Es ist die theoretische Sichtbarwerdung des für den Umgang mit Literatur, Kunst und Musik elementaren Terrains, auf dem sich die protoästhetischen Prozesse zeitlicher wie räumlicher 113 So die Konklusion im für die Theorie der Hermeneutik einschlägigen Beitrag von Anz (1982, hier 82).

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Dimensionierungen, transitorischer Kohärenzbildungen sowie der Formierung dynamischer Einheiten abspielen. Für eine im Weiteren dann auch praxisrelevante Wiedergewinnung dieses Terrains darf es zunächst – weshalb wir es mit dem ästhetischen Begriff von Stimmung bezeichnen wollen – nicht mit an Intentionalität gebundenen Begriffen wie Erfahrung (von), Bewusstsein (von) oder im engen Sinne auch Wahrnehmung (von) kontaminiert werden. Seine Neuerkundung muss, wie wir von Diltheys gescheiterten Grundlegungsversuch gelernt haben, vor dem vorschnellen Zugriff epistemologischer Systematisierung bewahrt bleiben, um nicht hinsichtlich seines Phänomenbestands unversehens verdeckt zu werden. Umgekehrt ist dieses Elementarterrain ästhetischer Stimmung wenig geeignet zur Aufrichtung von Theoriegebäuden in ihm, insofern auf seinem opaken Grund schon die Begriffe gleichsam ›unaufgefordert zu tanzen‹ anfangen.114 Auch das lässt sich von Dilthey lernen. Anders als bei Dilthey sollte die tiefenstrukturale Stimmungsebene des Ästhetischen vom eigentlich hermeneutischen Geschäft des Sinnverstehens zunächst getrennt werden; aber nur, um sie ihm eigenständiger und sachgemäßer zu Grunde zu legen. Eigenständiger, insofern sie dem Verstehen nur disparat, d. h. ihm selber unzugänglich zugrunde liegt; und sachgemäßer deshalb, weil sie nicht in ihrer disparaten Unmittelbarkeit, sondern allenfalls aus dieser heraus verstanden werden kann, d. h. mittelbar über Objekte, die ihrerseits ästhetisch konstituiert sind. An diesen und nur an ihnen, insofern sie zeichenvermittelt sind, können Stimmungen als Bedeutungen von wie auch für Subjektivität verstanden werden. Und indem Diltheys Begriff der Bedeutung als Lebenskategorie von uns durch denjenigen der Stimmung abgelöst wird, steht ›Bedeutung‹ – befreit von lebensphilosophischen Explikationsaufgaben – wieder zur exklusiven Verfügung für das Verstehen von Wörtern und Sätzen, von Tönen und Tonfolgen oder von Zeichen und Symbolen bereit. Mit der hermeneutisch revidierten Kategorie der Bedeutung lässt sich die Stimmung also ihrerseits nicht als Elementarstruktur des menschlichen Erlebens oder eines individuellen Lebenszusammenhanges verstehen, wohl aber als inhalts- und formsensibles Element im sprachlichen und künstlerischen Ausdruck. Konkreter: nicht ›an sich‹ sind Stimmungen bedeutsam oder bedeuten etwas, sondern in Texten, Bildern, Musik, Tanz oder Theater können Stimmungen zum Gegenstand des Verstehens avancieren. Etwa indem sie unter thematischen, motivischen, zeittheoretischen, topologischen und poetologischen, unter wirkungsästhetischen, intertextuellen oder intermedialen, unter ikonologischen, rhythmischen oder melodischen, unter figuralen, kompositionellen oder cho114 Siehe etwa hierzu Diltheys Versuch die »ästhetischen Elementargesetze« aus seiner Gefühlspsychologie abzuleiten (GS VI 148–156, cf. 139–148).

Hin zu einer ästhetischen Hermeneutik?

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reographischen, unter bühnenbildnerischen, tonalen oder rhetorischen und anderen Aspekten untersucht werden. Ihre spezielle Machart und Resonanzfähigkeit, Funktion und insofern Bedeutung im künstlerischen Werk sowie für dessen Rezeption können und sollen verstanden werden; nicht aber ihre generelle Konstitutionsart und individuelle Erlebensweise, also nicht ihre Funktion und Bedeutung im ›psychischen Apparat‹. Statt ihrer Topologie im Wesen des Menschen, wo Bollnow sie anvisiert115, kann heute wieder der Ort von Stimmungen in Werken der Literatur und dort auch die poetische Räumlichkeit erkundet werden. Aber ist eben dies nicht auch bei Dilthey der Fall, wenn er den Lebenszusammenhang über den Ausdruck, Erlebnisse in der Dichtung oder Objektivationen von Lebensstimmungen untersucht?

4.

Hin zu einer ästhetischen Hermeneutik?

Dilthey historisches Verstehen richtet sich letztlich nicht auf literarische oder philosophische Objektivationen, sondern nur vermittels derselben auf fremde Individualität. Aus Diltheys historisch-philologischem Selbstverständnis gilt dies freilich auch umgekehrt: das Nachvollziehen des individuellen Lebensverlaufs eines Lessing, Klopstock, Goethe, Schiller, Hölderlin oder Schleiermacher soll deren Werke und ihre Zeit erst verständlich machen. Denn nach Diltheys Hermeneutik verdichten sich biographisch bedeutsame Erlebnisse zu einer Struktur, die ihrerseits das Verstehen des individuellen Lebens als Bedeutungszusammenhang ermöglicht. Die internen Beziehungen der Diltheyschen Struktur entfalten eine gegenwendige Explikationskraft, die den Lebenszusammenhang im Lichte von Bedeutsamkeit erscheinen lässt sowie Bedeutsamkeit qua Lebendigkeit erfahrbar macht. Die frühe Forschung zu Dilthey spricht von »konstruktive[n] Hypothesen« bezüglich seiner lebensbegrifflichen »Konzeptionen: der Struktur als Lebensquerschnittes, des Lebensverlaufs als Längsschnittes und des erworbenen Zusammenhanges als Lebenshintergrundes«.116

115 Hingegen spricht Bollnow (1955) in seinem Buch über Dilthey von Stimmung als dem ursprünglichen Medium der Erkenntnis und der ihr deshalb zukommenden Wahrheit im Hinblick auf den »Lebensbezug«: »Dieser als ganzer wird von der Stimmung getragen und zusammengehalten, d. h. das Verhältnis von Leben und Welt als Ganzes ist gestimmt. Damit wird die Stimmung zum Medium, in dem allererst die Dinge der Welt erscheinen können« (82, cf. 83). 116 Stein (1926); cf. zum Bild des Querschnitts die bei Stein nicht angegebene Stelle bei Diltheys Zeitkonzeption: »In diesem beständigen kontinuierlichen Strom, den wir Zeit nennen, ist Gegenwart ein Querschnitt, der als solcher keine Ausdehnung hat«; jedoch sei »Gegenwart als ein Erfahrbares […] nicht jener Querschnitt, sondern die Erfüllung mit Realität, welche im Zeitverlauf kontinuierlich fortrückt« (GS VI 315).

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Hermeneutische Probleme und die Ästhetik objekthafter Stimmungen

Was davon in Werkgestalt vor allem zum Ausdruck kommt und als solcher zum Gegenstand des Verstehens wird, ist seinerseits das Erzeugnis eines eigendynamischen »Nexus der Vorgänge« (GS VII 330; cf. Anz 1982, 74), in welchem Struktur, Bedeutung und Leben diffundieren. Dieser Nexus ist als das Momentum anzusehen, das die ›Kraft‹ freisetzt, welche die Selbstbezüglichkeit des sich verstehenden Lebens in die Ausdrucksgestaltung eines sich darstellenden Lebens überführt. Das Selbstverstehen des Lebens vollzieht sich durch seine Selbstdarstellung im Ausdruck. Und erst in seiner ästhetischen Gestaltwerdung vollendet sich der Ausdruck als »Explikation« (GS VI 316; VII 232) jenes Bedeutungszusammenhangs, der in der »Realität Erlebnis« (GS VI 313) als Struktureinheit des individuellen Lebensverlaufs antizipiert wird: »Was der Jüngling von Saïs entschleiert, ist Gestalt und nicht Leben.«117 Scheint also der ästhetische Gestaltcharakter des dargestellten Selbstverstehens des Lebens am Ende doch auf die Unverzichtbarkeit einer zeichenhaften Manifestation von Ausdrucksbedeutung zu verweisen? Allerdings vermeidet Dilthey es, den von ihm selbst gelegten hermeneutischen Spuren hin zu einer semiotisch oder linguistisch gestützten Theorie von Bedeutung nachzugehen; wahrscheinlich weil er davon keine Festigung, sondern eine Schwächung seines struktur-mentalistischen Modells von Bedeutung erwarten muss. Letztlich will er nicht Sprachliches als geäußertes Leben, sondern Nicht-Sprachliches im lebendigen Ausdruck verstehen. Die externe Referentialität sprachlicher Ausdrücke würde schließlich mit der internen Referentialität von Ausdrucksbedeutung konkurrieren und gefährdete somit die methodologische Pointe seines lebenshermeneutischen Strukturmodells. Folglich bleibt Diltheys »Begriff der Bedeutung« entfernt von einer semiologischen Verankerung und gleichsam expressiv freischwebend; denn er »enthält nur eine Beziehung eines Äußeren, Sinnfälligen zu dem Inneren, dessen Ausdruck es ist« (GS VII 235; cf. Anz 1982, 75). Die Materialität von Zeichen muss sich im idealistischen Geist konstruktiver Immanenz auflösen, wo ›Bedeutung‹ im Gegenspiel einer dialektischen Selbstbeziehung aufgehen soll. Wie in den vorangehenden Abschnitten mit Bezug auf die Teil-Ganzes-Kategorie erläutert wurde, so zeigt sich einmal mehr an der »Beziehung« von »Äußerem« und »Innerem«, dass Dilthey seinen Begriff ›Bedeutung‹ für die Bestimmung gleichermaßen vitaler wie formaler Verhältnisse reserviert. Und auch hier gilt, dass der ästhetische Begriff der Stimmung dazu viel geeigneter wäre. Ist dieser doch seit seiner semantischen Übersiedelung ins Grenzgebiet zwischen dem objektiv »Sinnfälligen« und subjektiv Erfahrenen auf das Austarieren äußerer und innerer Beziehungsgewichtungen gewissermaßen spezialisiert. Indes stehen sich die Begriffe der Stimmung und des Lebens im Sinne Diltheys zu nahe, 117 GS VII 195; Zitatstelle bei und cf. im Kontext Anz (1982, 74).

Hin zu einer ästhetischen Hermeneutik?

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als dass der erste zur Explikation des zweiten Entscheidendes beitragen könnte. Um seine Hermeneutisierung des Lebens als Selbstverhältnis aber plausibel zu machen, benötigt Dilthey Begriffe, die fest genug in Verstehenspraktiken etabliert sind (Be-Deutung) und deren historische Semantik zugleich hinreichend offen ist für ihre Transposition in ein anderes systemisches Milieu. Deshalb aber ist ›Bedeutung‹ im Kontext der Diltheyschen Lebenshermeneutik nicht als bloße Metapher abzutun. Dafür ist die auf sie zentrierte Organisation der das ›Leben‹ verstehbar machenden Kategorien zu systemrelevant: »Bedeutung ist die umfassende Kategorie, unter welcher das Leben auffaßbar wird« (GS VII 232). Die Entfremdung des Begriffs Bedeutung von seinen sprachtheoretischen Verhältnissen ist nicht eine beiläufige sondern eine forcierte. Sie ist weniger als ein vermeidbarer Schwachpunkt anzusehen, sondern eher als ein kalkuliertes Risiko, das einzugehen der Gewinn an hermeneutischer Substanz für seine Theoriebildung Dilthey drängte. Die sinnferne Künstlichkeit seines auf Strukturales restringierten Bedeutungsbegriffes freilich muss Dilthey in Kauf nehmen – aus seiner Sicht zugunsten einer lebensnahen Natürlichkeit desselben. An dieser Verfugung von ›Bedeutung‹ mit strukturpsychologischen Prozessen und lebensphilosophischen Vollzugsformen wird deutlich, dass Dilthey aus systematischen und nicht etwa okkasionellen Gründen das hermeneutische Primat des Textes, des Kunstwerks oder der ›Gestalt‹ aufgibt. Um dieses Primat für eine ästhetische Hermeneutik restituieren zu können, haben wir unsere Revision von Diltheys Position auf die Rückgewinnung des Begriffes der Bedeutung konzentriert. Indem wir letztere an sprachliche Äußerungsformen, zeichenhafte Materialien und ästhetische Objekte zurückbinden, ziehen wir auch das Verstehen von der Unmittelbarkeit des Diltheyschen Erlebnisses sowie von der Einheit des Lebenszusammenhangs ab und wenden es (erneut) der Mittelbarkeit von Sinn samt dessen Vielheit, Zerstreuung oder Entzug in Literatur zu. Nur was in einem solchermaßen vermittelten – gleichwie positiven oder negativen – Sinnbezug steht, soll – vor allem jedoch: kann – verstanden werden. Dies gilt auch für Stimmungen. Als psychologische können diese auf vortheoretischer Basis klassifiziert, abgeleitet, gemessen oder erklärt werden, nicht aber wie Dilthey es will – analytisch verstanden und auf psychologische Ganzheit hin gedeutet werden. Erst als literarische können Stimmungen auf ästhetischer Basis analysiert, gedeutet und eben auch verstanden werden. Der Ausdruck ›ästhetische Basis‹ steht hier wieder für jenes protostrukturale Terrain vorreflexiver Welt- und Selbstbeziehungen, welches vom Vollzugsbereich des Denkens und Handelns, des Erkennens und Verstehens getrennt ist, diesem aber seiner Genese nach zugrunde liegt. Es ist der blinde Fleck epistemischer Verräumlichung und als (gleichsam) unbotmäßiges Gebiet durch Bewusstseinsleistungen nicht erschließbar. Wohl aber ist dieses denkbar unzugängliche,

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Hermeneutische Probleme und die Ästhetik objekthafter Stimmungen

nicht-topisch zu denkende Gelände in den tentativen Wahrnehmungsmodi der ästhetischen Erfahrung gegenwärtig. Sodann wird es in aus diesen entwickelten, entsprechend experimentellen Darstellungsformen zu vergegenwärtigen gesucht. Erst in letzteren kann sich das Elementarästhetische zu – dann ästhetisch genannten – Objekten soweit konsolidieren, dass es in diesen allenfalls zum Gegenstand einer ihrerseits ästhetischen Hermeneutik zu werden vermag. Diese muss eine ästhetische Hermeneutik genannt werden, insofern – und nur wenn – sie sich auf das gewagte Verstehen von etwas einlässt, das über die Sinne (Wahrnehmung) und durch Sinnhaftes (Zeichen) zugleich vermittelte Objektstrukturen aufweist, zwischen deren Elementen eine Bedeutung oszilliert, welche auch für das Selbstverhältnis von Subjektivität aufschlussreich ist.

5.

Ästhetisches Verstehen von Stimmung versus Diltheys Verstehen von Ausdruck

Ästhetisches Verstehen nimmt es also mit der strukturellen Bewegtheit und prozessualen Offenheit von Bedeutung in ästhetischen Objekten samt deren Verbindung zum rezeptiven Subjekt auf. Und zwar mit seinerseits offenem Ausgang für die eigenen Erfolgschancen und für die Überzeugungskraft seiner Ergebnisse. An ästhetischen Objekten aufweisbare Stimmungen können nur als solchermaßen materialisierte zum Gegenstand methodischen Verstehens und dessen subjektlogischen Voraussetzungen werden. Hingegen sind die fließenden Strukturgefilde ihrer elementarästhetischen Herkunft – außerhalb der Kunstobjekte – allenfalls der vorsichtig tastenden Sprache phänomenologischer Beschreibungen zugänglich, welche die rezeptions- und produktionsästhetischen Dimensionen beleuchtet. Dies aber ist es, was die Thematisierung von Stimmungen in Literatur, Musik und Kunst interessant und analytisch aufschlussreich macht: auch die an konkreten Objekten dargestellte Phänomenalität von Stimmungen lässt sich beschreiben. So kann das Verstehen textuell oder anderswie materiell manifester Stimmungen verbunden werden mit dem Beschreiben der spezifischen Phänomenstruktur derselben. Das an Deutungen von Kunstwerken mitvollziehbare Verstehen von Stimmungen erlaubt eine Beschreibung letzterer am konkreten Objekt. Umgekehrt konkretisiert die Beschreibung objekthafter Stimmungen deren Deutung in der Kunst und macht diese auch in ihrem exzentrischen Bezug zur Subjektivität nachvollziehbar. Unter der methodologischen Voraussetzung, dass die Differenz zwischen deutendem Verstehen und analytischem Beschreiben beachtet wird, können Stimmungen in der Literatur, Musik oder Kunst phänomenologisch verstanden werden. Der Vollzug eines solchermaßen methodisch disziplinierten und zu-

Ästhetisches Verstehen von Stimmung versus Diltheys Verstehen von Ausdruck

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gleich poetologisch erweiterten Verstehens von Stimmungen sensibilisiert das Subjekt dieses Verstehensvollzugs zudem für die Wahrnehmung der disparaten Provenienz derselben. Diese liegt – besser: kommt auf der Schwelle zum Transsubjektiven nicht zum Erliegen. Vielmehr stimuliert sie fortwährend ein Wahrgenommenwerden der gleitenden »Übergänge« zwischen Innen und Außen sowie der für das Erleben des Strukturzusammenhanges entscheidenden »Übergänge eines Zustandes in den anderen, das Erwirken, das von einem zum anderen führt« (GS V 206). So geht die mit dem Verstehen von ästhetischen Objekten zugleich gemachte ›äußere‹ Erfahrung von Stimmung über in eine »innere Erfahrung« (GS V 206) von Stimmung. Diese führt an den Ort des genuin Ästhetischen heran, d. h. wo Aisthesis und Noesis noch nicht getrennt, aber auch noch nicht bewusst sind, wo sinnliche Erfahrung und intellektuelle Anschauung gleichursprünglich, aber noch nicht intentional sind. Dieses Quellgebiet des Elementarästhetischen, wo wir die Stimmungen ihrer Herkunft nach phänomenologisch verorten, sie aber ohne die Vermittlung über ästhetische Objekte nicht verstehen können, sucht Dilthey hingegen zum Gegenstandsfeld seiner Hermeneutik zu machen. Und zwar indem er es durch die synonym gebrauchten Begriffe Erlebnis und Erleben sowie den Begriff des Lebens selbst erfasst sieht. Im ›Leben selbst‹ sei bereits die Tendenz zum Verstehen von Wirklichkeit angelegt. Wie das Erlebnis von sich aus schon auf Anderes verweist trägt das Erleben der Einheit des Lebenszusammenhangs die Kraft ihrer Entäußerung in sich. Während wir Stimmungen in der Literatur und über an dieser vorgenommene Phänomenbeschreibungen verstehen wollen, will Dilthey das Leben aus dem Leben selbst verstehen und über Kategorien explizieren, die aus dessen Vollzug gewonnen werden. Deshalb müssen bei ihm die Möglichkeitsbedingungen des Verstehens primär im Vollzug, Verlauf und Zusammenhang von individuellem Leben gefunden und dürfen nur sekundär in objektbezogenen Vorgängen und Verhältnisbestimmungen gesucht werden. Um seine Theorie geisteswissenschaftlicher Methodik auf eine als elementar gedachte Verbindung von Leben und Verstehen hinauslaufen lassen zu können, entwickelt Dilthey – wie wir gesehen haben – den Begriff der Bedeutung zur zentralen Kategorie einer Hermeneutik, die ohne einen semiotisch getragenen Objektbezug auskommen muss. Letzterer nämlich bleibt in der Konzeption dessen, was bei ihm Ausdruck heißt, dem Subjektbezug als hermeneutischem Selbstverhältnis nachgeordnet. Nicht das Verstehen der Bedeutung von Wörtern oder Sätzen, und auch nicht das Auslegen von Sinn in Texten oder Reden ist es, worauf Diltheys Hermeneutiktheorie aufbaut und aus ist, sondern ein Verstehen der Bedeutung von Ausdruck. Nicht der sprachliche Ausdruck ist gemeint, vielmehr der geschichtliche, teleologische und ganzheitliche Ausdruck von individuellem Leben. Ausdruck ist die Repräsentation des sich darstellend entäußerten Selbstverstehens des Lebens, der Fixierung der strukturellen Bewegung

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Hermeneutische Probleme und die Ästhetik objekthafter Stimmungen

seines Verlaufs und seiner Aufgipfelung im Erlebnis seiner Einheit als Bedeutungszusammenhang. Diese maximalistische Ausdehnung dessen, was ausgedrückt wird, nämlich die lebendige Sinnganzheit des Lebens selbst, bringt eine performative Überdehnung desjenigen mit sich, was ausdrückt.118 So ist ›Ausdruck‹ Medium der Darstellung des Verstehens von Leben und zugleich der Vollzug solchen Verstehens dieser Darstellung. Als solches Vollzugsmedium ist ›Ausdruck‹ eine vitale Steigerungsform des Lebens. Diltheys Formel »Leben [=] Ganzes« (GS VII 238) erweist sich hier als eine methodologische Spielart von Holismus. Sein hermeneutischer Begriff von Ausdruck integriert formale, mediale, performative, kommunikative, explikative und produktive Aspekte. Auf diese Weise soll dem geisteswissenschaftlichen Ansetzen beim ›ganzen Menschen‹ – bereits eine epistemische Idee des 18. Jahrhunderts – auch im methodischen Sinne eines Grundlegungsanspruches entsprochen werden. Als Repräsentation ›von etwas‹ funktioniert Diltheys ›Ausdruck‹ ähnlich wie die idealistische Form ästhetischer Erfahrung, insofern diese ihren eigenen Gegenstand reflexiv selber hervorbringt. Der Ausdruck macht angeblich nicht nur etwas vorgängig Dagewesenes (wieder) präsent. Vielmehr schafft er Dilthey zufolge etwas »Neues« (GS VI 317; cf. Anz 1982, 76), indem er aus der Eigendynamik des Darzustellenden, namentlich aus der teleologischen Binnenstruktur der Lebensbewegung, die ›Kraft‹ schöpft, etwas qua Darstellung, d. h. es repräsentierend erst zu erzeugen. So leiste der Ausdruck als schöpferisch vergegenwärtigende Expression wesentlich mehr »als jede Introspektion gewahren kann. Er hebt aus Tiefen, die das Bewußtsein nicht erhellt«.119 Hier wird deutlich, wie der ›Ausdruck‹ als Schlüsselmoment der Diltheyschen Hermeneutik des Lebens fungiert. Zusammen mit ›Bedeutung‹ ist er herausgelöst aus der Zeichengebundenheit sprachlicher Ausdrucks- und Sinnmodelle und vermag wie diese deshalb (und nicht etwa trotzdem) in die bewusstseinstranszendenten »Tiefen« hineinzureichen, aus denen die Stimmungen hervorgehen, die Kunst schöpft und aus denen Dilthey das Leben selbst verstehen will. Auf tiefenstrukturaler Ebene zeigt sich ihm das Leben über »Energiebegriffe«120 und nicht etwa über reine Verstandesbegriffe bestimmt. Denn er begreift die »Funktion des Denkens in ihrem Zusammenhang mit der Funktion und Struktur des Lebens selber«.121 Energiebegriffe sind keine Ideen, mit welchen das Leben aus seiner intellektuellen Ungreifbarkeit heraus doch noch verstandesgemäß erhellt wird. Sie sind vielmehr als Kategorien des Lebens selbst zugleich funk118 Siehe hierzu Gadamer (1990, 474–476) und Anz (1982, 75). 119 GS VII 206. Zit. bei und cf. im Kontext Anz (1982, 76). 120 GS VII 333; cf. 203, 280. Siehe im Zusammenhang Gadamer (1990, 230) und Anz (1982, 70, 76). 121 Zit. n. Stein (1926, 33); cf. dazu Diltheys Begriff des »schweigenden Denkens« bei MüllerVollmer (1963, 115).

Ästhetisches Verstehen von Stimmung versus Diltheys Verstehen von Ausdruck

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tional und ontologisch erfasst. Im Ausdruck nun werden diese Energiebegriffe in solche des Verstehens übersetzt, indem ihre fließende Semantik sistiert wird. Der Lebensverlauf wird der Zeitlichkeit symbollogisch enthoben, der innere Lebenszusammenhang äußerlich fixiert und das diffuse Erleben von Bedeutung verwandelt sich in explizites Verstehen: »Was im Erleben ohne Besinnen auftritt, wird im Ausdruck desselben gleichsam herausgeholt aus den Tiefen des Seelenlebens. Denn der Ausdruck quillt aus der Seele unmittelbar, ohne Reflexion und hält dann durch seine Festigkeit dem Verstehen stand; so enthält er mehr vom Erlebnis, als Selbstbeobachtung auffinden kann« (GS VII 328f.).

Der Ausdruck stellt also das Bindeglied zwischen der Strukturebene des spontanen Erlebens, des vorbegrifflichen Seelenlebens und der infixiblen Stimmungen zum einen und zum anderen der Verstehensebene hinreichend verfestigter Bedeutungen dar. Hielte sich das Verstehen an die semiotisch zu denkende »Festigkeit« des Ausdrucksmaterials, ließe es sich zu einer theoretischen Position konsolidieren, wie es uns im benannten Sinne einer ästhetischen Hermeneutik von Stimmungen als Desiderat erscheint. Verstehen schränkt sich bei Dilthey jedoch nicht auf die einmal auf begrifflicher Höhe gleichsam ausgekühlte Bedeutungslava ein, die vom Ausdruck aus den implizit vulkanisch metaphorisierten Tiefen »herausgeholt« wurde. Vielmehr klammert es sich an das Prozesshafte des Ausdrucks, also an dessen ›unmittelbares Aus-der-Seele-Quellen‹. Für Dilthey heißt Verstehenwollen, das Äußerungsmoment des Hervortreibens von Ausdruck aus seinem Strukturzusammenhang mitzuvollziehen und so seiner Bedeutung inne zu werden. Entsprechend zielt die literarisch-hermeneutische Versuchsanordnung darauf ab, »aus dem Leben des Dichters seine Dichtungen zu erklären, das Zusammenklingen von inneren Erfahrungen in seiner Phantasie mit feinem Gehör zu vernehmen, in welchem Motive und Charaktere sich bildeten« (GS XXV 129). Dieses einfühlungsästhetisch anspruchsvolle Verstehensmodell gilt nicht allein für individuelles Leben und den Ausdruck von subjektivem Geist, wie es Benjamin (1974, 234) übrigens als »bloße Neugier« verwarf. Es wird übertragen auf kollektives Leben und den Ausdruck von »objektivem Geist«122, in welchem der subjektive aufgehoben ist wie das Individuelle im Allgemeinen (cf. Kap.VII). Denn

122 GS VII 150; zu Diltheys Verwendung des Begriffes ›objektiver Geist‹ und seinem Verhältnis zu Hegel siehe Gadamer (1990, 231ff.). In gleicher Hinsicht wie Gadamer, aber mit Akzentuierung der Geschichtlichkeit des objektiven Geistes anstelle des absoluten Geistes, cf. Fütterer (1985, 33). Die Diskontinuität von Diltheys Denken vom ›Leben‹ her gegenüber dem geistphilosophischen Denken Hegels thematisiert Homann (1995). Siehe zu Dilthey selbst in seinem Verhältnis zu Hegel Das geschichtliche Bewußtsein und die Weltanschauungen in GS VIII 70f.

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Hermeneutische Probleme und die Ästhetik objekthafter Stimmungen

»weil wir diesen Strukturzusammenhang, welcher alle Leidenschaften, Schmerzen und Schicksale des Menschenlebens in sich faßt, inne werden, darum verstehen wir Menschenleben, Historie, alle Tiefen und Abgründe des Menschlichen« (GS V 206).

Wenn Dilthey Verstehen auf das Nachvollziehen des Entstehens von Ausdruck als den Lebensäußerungen eines historischen Individuums ausrichtet, dann blickt er darüber hinaus auf die gattungsgeschichtliche Dimension kulturellen Verstehens. Dieses procediert nach dem gleichen Strukturschema, indem es dieses auf der Basis seiner individualgeschichtlichen Applikation reproduziert: »Aus dem Inbegriff der Data, welche ich habe, stelle ich den ganzen Zusammenhang einer seelischen Struktur her; um diese handelt es sich immer. Struktur ist alles. Und unvermeidlich ist der Zirkel, in welchem ich das Einzelne aus dem Ganzen, das Ganze aus dem Einzelnen interpretiere«.123

Die Betonung der methodischen Bedeutung seines Strukturbegriffes erklärt Diltheys fließendes Wechseln der Ebenen, welche er durch ihn weniger analytisch differenziert als untereinander verbunden sieht.124 Das Verstehen von Individualität als Lebenszusammenhang wie dasjenige von ›Historie‹ als Wirkungszusammenhang ist weniger an spezifisch qualitativen und quantitativen Merkmalen interessiert. Vielmehr an dem sie gleichermaßen bestimmenden Strukturzusammenhang, insofern mit diesem die individuell bzw. historisch besondere Art und Weise des Verknüpftseins von relevanten Elementen ins Licht rücken. Nicht diese selbst sind für Dilthey hermeneutisch aufschlussreich, sondern ihre formalen Verhältnisse unter- und zueinander – im ästhetischen Sinne ihr Gestimmtsein. Stimmung und Struktur erscheinen in der abstrakten Perspektive integraler Relationierung entlang kategorialer Linien wie Teil-Ganzes oder Innen-Außen funktionsäquivalent. Solange sich diese Struktur in ihren formalen Beziehungs- oder eben Stimmungsverhältnissen in Bewegung befindet, wird sie im »Typus« der Individualität als dynamische Einheit des Lebenszusammenhanges ›nur erlebt‹, respektive in der »Sphäre der Gemeinsamkeit« (GS VII 209) als historische Einheit des Wirkungszusammenhanges vorwissenschaftlich erfahren. Verstanden werden können solche Strukturen anscheinend auch bei Dilthey erst – soweit ähnlich wie wir es von Stimmungen in literarischer Form behaupten –, wenn sie zur »Einordnung in ein Gemeinsames« (GS VII 209) und dadurch zur oben zitierten ›Festigkeit‹ im Ausdruck gelangen. Zwar reicht der ›Ausdruck‹ zur Seite seiner Gestaltqualität an die ›feste‹ Ebene heran, jedoch untergräbt er diese sofort wieder und liquidiert die kaum ge123 Zit. aus Diltheys Nachlass bei Stein (1926, 32). 124 Zu Diltheys Strukturdenken und dessen diskurshistorischen Kontexten in Psychologie und Physiologie Krausser (1968). Zu Diltheys Übernahme des Strukturbegriffes von der zeitgenössischen Biologie siehe Fellmann mit Verweis auf Merleau-Ponty: »Verhalten und Struktur gehören im Bewußtsein zusammen« (1991, 49); cf. Merleau-Ponty (1976).

Ästhetisches Verstehen von Stimmung versus Diltheys Verstehen von Ausdruck

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wonnene Gestalt, indem er sich auf die Seite seiner Äußerungskraft fallen lässt. Dabei haben wir gesehen, dass ›Ausdruck‹ das theoretisch entscheidende Verbindungsstück zwischen der strukturpsychologischen Ebene und der hermeneutischen Ebene bildet. Allerdings verbindet es diese beiden Ebenen so, dass sie nicht mehr analytisch unterschieden werden (können). Ihre für uns ›entscheidende‹ methodologische Differenz wird eingeebnet. Nämlich insoweit der nur tentativ zu beschreibende Phänomenbereich der vorreflexiven Stimmungen für Dilthey als derjenige des vorbegrifflichen Seelenlebens dem Verstehen strukturpsychologisch zugänglich gemacht werden soll. Namentlich durch den ›Ausdruck‹, der deshalb als Energiebegriff über die archäologische Metaphorik des ›Aus-der-Tiefe-Hebens‹ so dynamisch konzipiert ist, weil er die unbewussten »Tiefen des Erlebens« (GS VII 328) mit den reflexiven Höhen des philosophischen Begriffs zu verbinden hat. Die expressionslogische Akzentuierung des Ausdrucksbegriffs erfolgt dabei um den Preis seiner sprachlogischen Entwurzelung. Dies hat zur Folge, dass Diltheys lebensphilosophische Vertiefung des Ausdrucksbegriffs seine Theorie des Verstehens auf eine methodisch unkontrollierbare Ebene herunterzieht, auf der es auch praktisch nichts mehr, nämlich kein Sinnhaftes zu verstehen gibt.125 Für unsere literaturwissenschaftliche Praxis ist daraus die auch theoretische Konsequenz zu ziehen, dass die heutige Interpretationsarbeit in den Rahmen einer ästhetischen Hermeneutik eingepasst wird, die das Verstehen von Stimmungen allein als eines von textuell manifesten Stimmungen konzipiert. Dies bedeutet nicht die prinzipielle Abstinenz von einem psychostrukturellen Begriff der Stimmung. Allerdings muss dieser am Text aufweisbar sein und kann nur innerhalb von dessen Verweisstrukur auf individuelle Subjektivität bezogen werden. Beispielsweise können Die Leiden des jungen Werthers nicht als Ausdruck des psychischen Zustands ihres Autors untersucht, also nicht Goethes Stimmungen verstanden werden.126 Wohl aber können die Stimmungen Werthers verstanden werden, insofern der Verfasser der Briefe sie in denselben als narrativen Ausdruck seiner Seelenlage zu besprechen 125 Bereits im noch zeitgenössischen Umkreis der frühen Dilthey-Rezeption wurde dieser Einwand gegen das psychologisch reduktive Verstehenskonzept erhoben und diskutiert. Dilthey gehe »zur Bestimmung des Begriffes der ›Bedeutung‹ und des ›Sinnes‹ und damit zur Bestimmung des Begriffs ›Verstehen‹ über die Sphäre der Erlebnisse im Prinzip nicht hinaus. Und da er selbst die Sphäre der Erlebnisse als die des ›Psychischen‹ bezeichnet […], so liegt der Vorwurf nahe, Dilthey verwechsle die psychischen Akte des Verstehens mit dem verstandenen Sinn« (Stein 1926, 67). 126 Indem Dilthey dies aber anstrebt, sucht er in ›seinem‹ Goethe die vitale Bestätigung des theoretischen Wertbezugs von Lebensfülle: »Ja, das Leben wäre das vollkommenste, in welchem jeder Moment mit dem Gefühl eines selbständigen Wertes erfüllt wäre. Der Zauber, mit welchem Goethes Leben uns umfängt, liegt eben in diesem. Dieser macht ihn auch zum größten Lyriker aller Zeiten« (GS V 218).

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Hermeneutische Probleme und die Ästhetik objekthafter Stimmungen

weiß. Über eine solche textuell organisierte Subjektivität von Stimmung kann diese also auch weiterhin als psychische Struktureinheit literaturwissenschaftlich in Betracht kommen.

V.

Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

1.

›Totalstimmung‹ – von der Theorie der Hermeneutik des Lebens zur Praxis in Das Erlebnis und die Dichtung

Dilthey will nicht literarische Subjektivität als ästhetische Gestaltqualität verstehen, sondern die in letzterer zum Ausdruck kommende Persönlichkeit eines Dichters. Anstelle von im literarischen Textzusammenhang objektivierbarer Erkenntnis steht bei ihm das Verstehenwollen von Poesie als Objektivation eines psychischen Strukturzusammenhanges. Nach seinem Verständnis von Kunst, Musik und insbesondere Dichtung findet in diesen Formen die historische Individualität zu ihrer vollendeten Ausdrucksgestalt. Weitestgehend entlastet von kommunikativen Funktionen ist die poetische Sprache das vorrangige Darstellungsmedium des reinen Ausdrucks (cf. Gadamer 1990, 234). Der Dichtung wie überhaupt der Kunst kommen keine weiteren Vermittlungsaufgaben zu, als dass in ihnen sich das Leben darstellt und versteht. Sie dienen als »Organ des Lebensverständnisses« (GS V 274), sind also selbst nicht unmittelbar zum Verstehen, sei es als dessen Gegenstand oder Herausforderung. Es geht Dilthey nicht um eine der Kunst und Literatur eigene Wahrheit. Sie versuchen nur »auszusprechen, was das Leben sei«, indem sie namentlich die »ganze Individuation der menschlich-geschichtlichen Welt […] zum Verständnis« bringen, »lange bevor die Wissenschaft sie zu erkennen strebt« (GS V 280). Über Wahrheit könnte »man« sich und andere »täuschen, nicht [ jedoch] über den Gehalt des eigenen Innern, der in Werken ausgedrückt ist.«127 Auch in nicht-künstlerischen Ausdrucksformen gelangt das Leben zu einem wissenden Selbstbezug und schon im vorkünstlerischen »Innewerden« (GS XIX 66) des Erlebnisses weiß es um seine Realität: »Das Wissen ist da, es ist ohne Besinnung mit dem Erleben verbunden« (GS VII 18; cf. Gadamer 1990, 239). Für die philosophisch kaum noch diskursivierbare Position Diltheys ist es bezeich-

127 Dilthey (1922, S. XXXI), dort nicht aufgefundenes Zitat n. Gadamer (1990, 234).

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Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

nend, dass in seiner Hermeneutik Erleben, Erlebtes und Leben von sich aus dazu tendieren, mit Wissen, Bedeutung und Wahrheit zu konvergieren. Dies erscheint einerseits als eine Folge des konsequent geschichtlich gedachten Bedingungsverhältnisses zwischen der in ihre Ausdrucksformen eingelassenen historischen Individualität. Andrerseits infolge der gesamtkulturellen »Welt des objektiven Geistes« in seinen Ausdrucksformen, deren »Gebiet von dem Stil des Lebens, den Formen des Verkehrs zum Zusammenhang der Zwecke, den die Gesellschaft sich gebildet hat, zu Sitte, Recht, Staat, Religion, Kunst, Wissenschaft und Philosophie« reicht (GS VII 208f.; cf. Anz 1982, 80). Außerhalb des Bereichs der Kunst findet der Erlebnisausdruck jedoch zu keiner vollständigen Gestalt, insofern diese ihre festen Konturen einzubüßen droht, weil dort der individuelle Lebenszusammenhang hinter den allgemeinen Wirkungszusammenhang des ›objektiven Geistes‹128 zurücktritt. Allein in den großen Werken der Kunst und vor allem der Poesie gelangt das Leben zur vollen Selbstpräsenz seiner Bedeutung als Ganzes. Denn das »Verfahren des Dichters, der das persönliche Erlebnis ausspricht, […] beruht auf dem Strukturzusammenhang zwischen dem Erleben und dem Ausdruck des Erlebten. Das Erlebte geht hier voll und ganz in den Ausdruck ein. Keine Reflexionen trennen seine Tiefen von ihrer Darstellung in Worten. Die ganze Modulation des Seelenlebens, die leisen Übergänge in ihm, die Kontinuität in seinem Ablauf werden so durch den Ausdruck dem Verständnis zugänglich gemacht« (ED 165f.).

Einmal mehr ist es der Begriff des Strukturzusammenhanges, der den in Frage stehenden Sachverhalt erklären soll. Hier ist es aber nicht eine vorgängige Einheit psychologischen Kohärenzerlebens, die allenfalls beschreibbare Phänomenalität des Seelenlebens oder die Tatsächlichkeit des Erlebnisses als vom Denken nicht hinterschreitbare Gegebenheit. Vielmehr wird dem poietischen Vorgang, den Dilthey als Umsetzung von Erlebnis in Ausdruck verstanden wissen will, ein Strukturzusammenhang als dessen Ermöglichungsbedingung zu Grunde gelegt. Wenn es zum vollständigen Eingehen des Erlebten in seinen Ausdruck nur auf der produktionsästhetischen Basis des Strukturzusammenhanges kommen kann, dann muss dieser auch das Verhältnis zwischen Geistigem und Symbolischem, Bedeutung und Zeichen oder zwischen den psychisch abgründigen »Tiefen« und materiell fixierenden »Worten« erklären. Dass dies nicht der Fall ist, ist symptomatisch für eine Hermeneutik, deren Theorie des Verstehens psychologisch restringiert ist, um die Praxis des Verstehens in die Unmittel128 Dies aber ist im Gegensatz zu Hegel für Diltheys Denken problematisch, weil darin dem Leben gegenüber dem Geist der Vorrang zukommt. Cf. dazu Schnädelbach: »Die wesentliche Differenz gegenüber Hegels Philosophie des objektiven Geistes besteht darin, daß bei Dilthey der Geist vom Leben umgriffen ist, während bei Hegel Leben ein defizienter Modus des Geistes ist« (1983, 76).

›Totalstimmung‹

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barkeit des Erlebens vordringen zu lassen. Die »künstlerisch« Gestalt gewonnene und durch diese mitgeteilte »Gemütsverfassung« wird so zum Gegenstand des Verstehens.129 In »Ueber die Einbildungskraft der Dichter« wird die Stimmung auch begrifflich zum medialen Aggregat produktionsästhetischer Phantasie; und darüber hinaus zum Medium des im 19. Jahrhundert sich verbreitenden Kunstevangeliums: »Die Kunst entwickelt im Menschengeschlecht die verschiedenen Formen dieser Gemütszustände und ihre höchste Aufgabe ist eine Schule dieser höheren Betrachtungsweise zu sein; denn der Natur und dem Leben gegenüber entwickelt sich diese Stimmung schwerer als dem Kunstwerk gegenüber, die großen Dichter aber lehren uns die Welt mit Seherauge gewahren. Die Grundform der dichterischen Einbildungskraft ist also Gestaltung des in der Erfahrung Enthaltenen unter der Einwirkung einer bestimmten Art affectiver Verfassung« (GS XXV 143).

Problematisch ist für unseren Zusammenhang hier weniger das Idealistische; es ist eher das Primat des Psychischen unter Ausblendung der Materialität der Kunstformen bzw. der Zeichengebundenheit der »Gestaltung« von schöpferischer Stimmung.130 Denn der angeblich von keinen ›Reflexionen‹ entstellten Darstellung der ›Tiefen des Erlebten‹ entspricht die von keinem Zeichenmaterial entstellte Gestalt eines ›reinen‹ Ausdrucks. Wo durch letzteren »die ganze Modulation des Seelenlebens, die leisen Übergänge in ihm, die Kontinuität in seinem Ablauf […] dem Verständnis zugänglich gemacht« (ebd.) sein soll, da muss solches Verstehen ohne die Vermittlung von Zeichen auskommen. Sein Gegenstand – die Unmittelbarkeit des Erlebens – soll allein über einen seinerseits unmittelbaren Ausdruck unmittelbar verstanden werden, so dass dem Erlebten selbst – und nicht erst seiner Darstellung – Bedeutung zukommt. Das Reduktionistische dieses Verstehensmodells ist – darin dem Intuitionismus anderer Lebensphilosophien um 1900 verwandt – dem hermeneutisch verkappten Idealismus des Lebensbegriffes geschuldet und verbindet sich mit diesem im Essentialismus von Diltheys ›Struktur‹: »So ist diese Struktur ein höchst realer, kernhafter Zusammenhang, ja der Kern des Lebens selber, jenseits dessen es für uns nichts Kernhaftes gibt, wofern wir nicht durch die Analogie des Lebens Kern vermuten. In diesem Kern ist der Sitz von Individualität, Glück und Kraft« (GS XIX 353).

129 Damit ist zugleich ein Hauptgrund der heute zumeist ablehnenden Sichtweise von Diltheys Poetik benannt, die sich mehr für das Schöpferische als den Rezeptionsprozess interessiert. Siehe indes eine ausgewogenere Sichtweise etwa bei Pott (2004, 231ff.). 130 Das idealistische Moment spielt in der heutigen Forschung keine Rolle mehr, auch nicht mehr als Vorwand zur Verwerfung produktionsästhetischer Problemstellungen. Stattdessen werden letztere einer kulturanthropologischen Kontextualisierung und Historisierung unterzogen, z. B. in Begemann/Wellbery (2002).

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Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

Solche ›kernhafte Struktur‹ durch ihre »Verschmelzung [mit dem] Keim einer Dichtung« (ED 169) im Ausdruck zu verstehen, ist das Ziel der hermeneutischen Praxis in Das Erlebnis und die Dichtung. Vor allem am Beispiel Goethes will Dilthey zeigen, wie die deutschen Dichter, aber »auch unsere Musik und Philosophie« um 1800, sich »in letzte Tiefen […] eingegraben haben« (ED 169). Hierzu gilt es, die hermeneutische Aufmerksamkeit ganz auf den Entstehungsprozess dieser ›Schöpfungen‹ zu richten. Nicht das sinnhafte Resultat, sondern »der dichterische Vorgang« selber soll durch dessen philologisch aufbereiteten Nachvollzug verstanden werden: »Ein Gemütszustand wird mit der ganzen äußeren Situation, mit allem, was ihn an Vorstellungen, Zuständen, Gestalten umgibt, mächtig erlebt, und indem nun dem innerlich bewegten Dichter ein äußerer Vorgang entgegentritt, der geeignet ist, Gefäß für diese Herzenserfahrungen zu werden, entsteht in dieser Verschmelzung der Keim einer Dichtung, der alle charakteristischen Züge, die Totalstimmung, die Linien des Ganzen schon in sich enthält« (ED 169; Hvh. St.H.; GS XXV 132).

Anstelle von ›Strukturzusammenhang‹ zur Bezeichnung der miteinander korrelierten Verhältnisse im Erlebten einerseits und dessen Ausdruck andererseits, verwendet Dilthey hier den Begriff ›Totalstimmung‹ (ED 165, GS XXV 132). Dieser ist ebenfalls nicht nur auf die »inneren Vorgänge«, »Selbstbeobachtung« oder das »Seelenleben« bezogen, sondern bereits auf die Dichtung als Erlebnisausdruck. Zunächst bezeichnet er hier die vitale (›mächtig erlebte‹) Verfugung von Dualstrukturen wie Innen/Außen, Gemütszustand/Situation, Individuum/ Umgebung, welche das Erleben tragen. Sodann umfasst ›Totalstimmung‹ den sich öffnenden Übergang von innerer Bewegung zum ›äußeren Vorgang‹, das potentielle Eingehen von Erfahrungsinhalten ins dichterische ›Gefäß‹. Schließlich integriert dieser Begriff das Erleben des strukturierten Selbst-Welt-Verhältnisses und die schöpferische Urszene poetischer ›Keim‹-Bildung zu einem Ganzen, das zur Hälfte noch Erlebnis, zur Hälfte schon Dichtung ist und doch nur als die beiden gemeinsame Gestaltqualität besteht. An dem so verwendeten Begriff der ›Totalstimmung‹ lässt sich Diltheys hermeneutische Praxis durchaus im Einklang mit seiner Theorie des Ausdrucksverstehens nachvollziehen. Beide nämlich wollen durch die historische Persönlichkeit hindurch zu einem typologischen Verständnis ihrer Individualität vordringen, um so in einem ins Allgemeine aufgespreizten Erlebnisausdruck etwas wie »Menschennatur«, »Menschendasein« oder »die Kraft und den Sinn des Lebens« zu verstehen (ED 161). Entsprechend generalisierend ist in den Studien zur Geschichte des deutschen Geistes die Rede von »allgemeinen Seelenstimmungen«, »menschlichen Stimmungen« oder »allgemein menschliche[n] Stimmungen« (DM 210f.). Wie Diltheys hermeneutische Theorie und Praxis konvergieren, wird indes besonders deutlich in dem bekannten Essay Goethe und die

›Schaffende Stimmungen‹ – zum Verhältnis von Hermeneutik und Poetik

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dichterische Phantasie, wobei letztere als »Mittelpunkt aller Literaturgeschichte« (ED 124) angesehen wird. Bevor Dilthey sein auf lebendig gestimmte Totalität ausgerichtetes Verstehenwollen an Goethe exemplifiziert und mit dessen eigenem Verstehen und Darstellen wie auch Denken und Dichten interpretatorisch abgleicht, macht er einige theoretische Vorgaben unter allgemeinen Überschriften wie (1.) »Das Leben«, (2.) »Dichterische Phantasie« sowie (3.) »Erlebnis und Dichtung«. In diesen Abschnitten kommen der Stimmung unterschiedliche Bedeutungen zu, wenn es um die Bestimmung der allgemeinen Verhältnisse zwischen Leben, Einbildungskraft und Poesie geht.

2.

›Schaffende Stimmungen‹ – zum Verhältnis von Hermeneutik und Poetik

Der Anfang des ersten Abschnittes (Das Leben) soll zusammenhängend zitiert werden, weil er das Diltheysche Verfahren insgesamt in nuce repräsentiert und den phänomenologischen Aspekt der Stimmung in ihm sichtbar macht: »Poesie ist Darstellung und Ausdruck des Lebens. Sie drückt das Erlebnis aus, und sie stellt die äußere Wirklichkeit des Lebens dar. Ich versuche die Züge des Lebens in der Erinnerung meiner Leser wachzurufen. Im Leben ist mir mein Selbst in seinem Milieu gegeben, Gefühl meines Daseins, ein Verhalten und eine Stellungnahme zu Menschen und Dingen um mich her; sie üben einen Druck auf mich oder sie führen mir Kraft und Daseinsfreude zu, sie stellen Anforderungen an mich und sie nehmen einen Raum in meiner Existenz ein. So empfangen jedes Ding und jede Person aus meinen Lebensbezügen eine eigene Kraft und Färbung« (ED 125f.).

Die Erklärung dessen, was Poesie ist, macht zunächst von einer Aufgabenteilung zwischen Darstellen und Ausdrücken Gebrauch, nach der ersteres auf äußere Wirklichkeit, zweites auf inneres Erleben bezogen sei. Diese Differenzierung wird aber weder in der Praxis, noch in der Theorie aufrechterhalten. Die anfangs eigenständig aufgeführte ›Darstellung‹ der äußeren Lebenswirklichkeit ist nur der ins Allgemeine verlängerte Ausdruck des inneren Lebenszusammenhanges, welcher über seine Wirklichkeitsbezüge den fremden »Personen, Dingen, Situationen, Begebenheiten ihre Bedeutung« gibt (ebd.). ›Ausdruck‹ nämlich wird schon in der Theorie in »zweifache[r] Relation« verstanden: einmal vom Inneren eines Einzelnen her, »aus der Enge und Subjektivität des Erlebens«, und einmal vom Besonderen hin aufs Äußere, »in die Region des Ganzen und des Allgemeinen« (GS VII 143). Das Individuelle wird aber zum bloßen Fall des Allgemeinen, wenn der Ausdruck seines Inneren Bedeutung erst in der »Sphäre der Gemeinsamkeit« (GS VII 209) gewinnt, wie es beim »Verstehen anderer Personen

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Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

und ihrer Lebensäußerungen«131 geschehen soll. Umgekehrt findet das Allgemeine nicht etwa politisch, soziologisch oder kulturell zur Darstellung, sondern wird seinerseits vom Individuellen und von dessen Lebensäußerungen her bestimmt. Wie letztlich auch dieses erhält das Allgemeine Bedeutung erst im Ausdruck des ›objektiven Geistes‹, der in seinen Äußerungsformen des Lebens aber nicht individuallogisch, sondern anthropologisch und gattungstheoretisch als allgemeine Natur und geschichtliches Dasein des Menschen gedacht wird. Ebenso das In-Erinnerung-Rufen im zweiten Satz des Zitats muss durchaus auf solche allgemein-menschlich deklinierten »Züge des Lebens« eines Individuums bezogen verstanden werden, die dann also gleichermaßen dem »Leser« wie der untersuchten historischen Persönlichkeit zugehörig wären. Denn Dilthey fährt im Duktus eines phänomenologischen Jemeinigkeitsbezugs (›mir‹, ›mein‹, ›mich‹) fort, ›das Leben‹ und seine es im Verstehen strukturierenden Kategorien zu beschreiben. Zwar nicht wörtlich, wohl aber sachlich kommt der Begriff der Stimmung zum Tragen, wenn von einer eigenen »Kraft und Färbung« aller Dinge, Personen oder Menschen die Rede ist. Gemeint ist damit die gestimmte Art und Weise der Lebensbezüge, in der »mir mein Selbst in seinem Milieu gegeben« und überhaupt erst »Raum in meiner Existenz« eröffnet wird (ebd.). Das »Gefühl meines Daseins« wird aber vor allem über die auch theoretisch veranschlagte Kategorie der Zeitlichkeit vermittelt. Sie garantiert nicht nur jene »Korruptibilität unseres Lebens« (GS VII 72; cf. 229, 325; VIII 79, 140), sondern auch die Möglichkeit der Erfahrung von relativer Konstanz und schärft sogar den Sinn des Seins für eine Selbsttranszendierung ins Erhabene: »Die Endlichkeit des von Geburt und Tod umgrenzten, vom Druck der Wirklichkeit eingeschränkten Daseins erweckt in mir die Sehnsucht nach einem Dauernden, Wechsellosen, dem Druck der Dinge Entnommenen, und mir werden die Sterne, zu denen ich aufblicke, zum Sinnbild einer solchen ewigen, unanrührbaren Welt. In allem, was mich umgibt, erlebe ich nach, was ich selbst erfahren habe« (ED 126).

Hier zeigt sich, dass die von uns in der Theoriediskussion vorgenommene Ersetzung des Begriffs der Bedeutung durch den der Stimmung in der Praxis von Dilthey selber – jedenfalls der Sache nach – vorgenommen wird. Im Hinblick auf die Erfahrungsmöglichkeit von Einheit im zeitlich ebenso erstreckten wie zerfaserten Lebenszusammenhang setzten wir auf strukturaler Ebene die Stimmung als das kohärenzbildende Moment ein, welches das aus der Zeit fallende Augenblickserleben mit der Konstanzerfahrung relativer Lebensdauer verband. Während Dilthey theoretisch die Kategorie der Zeitlichkeit unter dem Aspekt der Bedeutung zu explizieren versuchte, beschreibt er sie nun als ein 131 Siehe unter diesem Titel die Ausführungen im ›Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹, Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft in GS VII 205–227.

›Schaffende Stimmungen‹ – zum Verhältnis von Hermeneutik und Poetik

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Erleben von Stimmung. Zunächst in der Stimmung von ›Endlichkeit‹, welche aus dem Rückbezug auf die eigene Geburt und über den Vorausbezug auf den Tod die Begrenztheit imaginieren, aber auch die Ganzheit des Lebensverlaufs vorstellen lässt. Struktural fungiert Stimmung hier als verhältnismäßiges aufeinander AbStimmen von anthropologischen Abstrakta wie Geburt und Tod; phänomenal ist Stimmung das Spüren der von ihr untereinander abgestimmten Ganzheit und Begrenztheit des konkreten ›Daseins‹. ›Endlich gestimmt‹ ist das Dasein zudem durch den auf es einwirkenden ›Druck der Wirklichkeit‹, dem gegenüber es sich als Widerstand behauptet und dabei als ›eingeschränkt‹ empfindet. Die existenzielle Spannung, die aus dieser Endlichkeits- und Druck-Widerstand-Stimmung entsteht, entlädt sich in der ›Sehnsucht‹ nach zeit- und realitätsenthobener Transzendenz. Mit Blick auf die Poesie wird dieser Zusammenhang von Dilthey nicht als metaphysische Weltanschauung theoretisch aufgefasst, sondern gemäß dem Unter-dem-SternenzeltTopos als Erfahrung der Stimmung des Erhabenen beschrieben. In dieser Erfahrung erhabener Daseinsstimmung wird nur in einem gesteigerten Augenblick spürbar, was den alltäglichen Lebensvollzug als hermeneutische Selbstpraxis ohnehin bestimmt, nämlich das Nacherleben eigener Erfahrungen ›in allem, was mich umgibt‹. Dieser Vorgang des Nacherlebens ist für alle »höheren Formen des Verstehens«132 von gleichermaßen grundlegendem wie akribischem Charakter.133 Gerade auch bezogen auf fremde Individualität kann »Verstehen« nur als ein »intellektueller Prozeß von höchster Anstrengung, der doch nie ganz realisiert werden kann« (GS VII 227), zur Erkenntnis eines anderen Lebenszusammenhanges führen. Es ist für Dilthey das Leben schlechthin, was als dessen Bedeutsamkeit psychologisch theoretisiert und hier als Erlebnis idyllisch illustriert wird: der seit dem 18. Jahrhundert als Stimmungsszene etablierte Blick des Wanderers durch die Natur, der vom sanften Hügel ins Tal einer Kulturlandschaft hinabsehend das ›Licht‹ seines ›Daseins‹ in der ›Abenddämmerung‹ erblickt: »Ich sehe in der Abenddämmerung hinab auf eine stille Stadt zu meinen Füßen; die Lichter, die in den Häusern nacheinander aufgehen, sind mir der Ausdruck eines ge-

132 GS VII 207–220, hier 210; siehe zur ›höheren‹ Form im Unterschied zur ›elementaren‹ Form des Verstehens sowie zu einem umfassenden Verständnis Diltheys Bollnow (1955, hier 202– 209). 133 Dilthey erläutert diese Herausforderung so: »Die Stellung, die das höhere Verstehen seinem Gegenstande gegenüber einnimmt, ist bestimmt durch seine Aufgabe, einen Lebenszusammenhang im Gegebenen aufzufinden. Dies ist nur möglich, indem der Zusammenhang, der im eigenen Erleben besteht und in unzähligen Fällen erfahren ist, mit all den in ihm liegenden Möglichkeiten immer gegenwärtig und bereit ist. Diese in der Verständnisaufgabe gegebene Verfassung nennen wir ein Sichhineinversetzen, sei es in einen Menschen oder ein Werk« (GS VII 213).

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Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

schützten friedlichen Daseins. Dieser Gehalt an Leben in meinem eigenen Selbst, meinen Zuständen, den Menschen und Dingen um mich her bildet den Lebenswert derselben, im Unterschied von den Werten, die ihnen durch ihre Wirkungen zukommen. Und dies und nichts anderes ist es, was die Dichtung zunächst sehen läßt. Ihr Gegenstand ist nicht die Wirklichkeit, wie sie für einen erkennenden Geist da ist, sondern die in den Lebensbezügen auftretende Beschaffenheit meiner selbst und der Dinge« (ED 126).

Darin sieht Dilthey das »Bedeutsame« (ED 126), welches der Dichter darstellend zum Ausdruck im literarischen Werk bringt und sein Interpret nur nachbildend zum Verständnis in diskursiver Sprache bringen kann. Was in der hermeneutischen Theoriebildung als Einheit des inneren Strukturzusammenhanges psychologisch begründet ist, wird in der Dichtungstheorie zum Gegenstand der Darstellung und als ›Gehalt an Leben‹ expressionslogisch erklärt. Verstanden aber wird im Nachvollziehen der dichterischen Zuwendung zum ›Bedeutsamen‹ nicht das Besondere oder das einzelne Individuelle, sondern das allgemeine Individuelle.134 Nämlich insofern dieses die Strukturform des Erlebens ist, in welcher die Vielfalt der Selbst- und Weltbezüge zum einheitlichen »Ausdruck einer Lebensstimmung« (GS XXV 257) kommt. Von der »Sphäre der Gemeinsamkeit« (GS VII 209) her betrachtet richtet das »höhere Verstehen« (GS VII 207–16) von dichterischem Ausdruck sich ebenfalls nicht auf ein nicht(mit)teilbares In-Dividuelles. Allerdings auch nicht auf den ›objektiven Geist‹, wie es das »elementare Verstehen« im nicht-ästhetischen »Medium [tut], in welchem sich das Verständnis anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen vollzieht« (GS VII 208). Sondern es richtet sich immer auf das Strukturelle am Individuellen, auf den generellen Bedeutsamkeitszusammenhang »unserer Daseinsbezüge«, also derjenigen des Lesers wie des Dichters. Dies gilt zumal für die große Dichtung, wo »die Erinnerung, die Lebenserfahrung und deren Gedankenwelt diesen Zusammenhang von Leben, Wert und Bedeutsamkeit in das Typische erheben, wenn das Geschehnis so zum Träger und Symbol eines Allgemeinen wird und Ziele und Güter zu Idealen, dann kommt auch in diesem allgemeinen Gehalt der Dichtung nicht ein Erkennen der Wirklichkeit, sondern die lebendigste Erfahrung vom Zusammenhang unserer Daseinsbezüge in dem Sinn des Lebens zum Ausdruck. Außer ihr gibt es keine Idee eines poetischen Werkes und keinen ästhetischen Wert, den die Dichtung zu realisieren hätte« (ED 126f.).

Dilthey betrachtet seine strukturale Auffassung von Hermeneutik gespiegelt in seiner Poetik des Ausdrucks, deren überhistorische Geltung er zum »Grund-

134 Siehe unter umgekehrtem Titel zur wissenschaftsgeschichtlichen und -theoretischen Bedeutung der Hermeneutik Frank (1977 und 1989).

Wahrnehmen – Erinnern – Vorstellen. Zum Phänomen der dichterischen Phantasie

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verhältnis zwischen Leben und Dichtung [verallgemeinert], von dem jede historische Gestalt der Poesie abhängt« (ED 127). Unverständlich wirkt deshalb, wie er im unmittelbar Folgenden »Goethes Poesie ganz von der Aufklärungsdichtung« getrennt sieht, nur weil erstere angeblich anders als letztere »aus einer außerordentlichen Energie des Erlebens erwächst« (ED 127). Als würde sich dadurch Entscheidendes an jenem Grundverhältnis ändern, das doch für alle, also auch für die Dichtung der Aufklärung gelten müsste. Offenbar soll Goethes Intensität des Erlebens durchaus keine generelle, wohl aber eine spezifische Differenz in der Geschichte von Literatur ausmachen, welche jedenfalls nur als struktureller Ausdruck individueller Lebenszusammenhänge angemessen verständlich zu machen sei. Denn das schöpferische Moment in der künstlerischen Lebensäußerung, das auch Diltheys Theorie der Ausdruckshermeneutik berücksichtigt, erhält bei Goethe eine epochemachende Gewichtung – und zwar ausgehend von seinen Stimmungen: »Seine Stimmungen schaffen alles Wirkliche um, seine Leidenschaften steigern Bedeutung und Gehalt von Situationen und Dingen ins Ungemeine, und sein rastloser Gestaltungsdrang wandelt alles um sich in Form und Gebilde. Sein Leben und seine Dichtung sind hierin nicht unterschieden, seine Briefe zeigen diese Eigenschaften gerade so wie seine Gedichte« (ED 127).

Die Dichtung durch das Leben oder das Leben durch die Dichtung verstehen, wie es Diltheys hermeneutischen Ansatz theoretisch wie praktisch kennzeichnet, führt in einen gattungstheoretischen Relativismus, für den ästhetische und nichtästhetische Rede ebenso gleich sind wie Wirklichkeit verändern und Bedeutung steigern, wie Kunst schaffen und Mensch sein. Hingegen sollte eine Neuausrichtung der Hermeneutik im Anschluss an Dilthey darauf abzielen, wie Stimmungen textuell aufgebaut sind, wie sie als ästhetische »Bedeutung und Gestalt von Situationen und Dingen« nicht im Leben, sondern in der Kunst entstehen und wie sie als »Form und Gebilde« von poetischer Sprache verstanden werden können (ED 127).

3.

Wahrnehmen – Erinnern – Vorstellen. Zum Phänomen der dichterischen Phantasie

Statt Textphänomenen und erst über diese auch Vollzügen ästhetischer Subjektivität nachzugehen, lenkt Dilthey die Aufmerksamkeit auf die »Phantasie […] als Wunder, als ein von dem Alltagstreiben der Menschen gänzlich verschiedenes Phänomen«, das die psychische Organisation einer historischen Persönlichkeit auszeichnet (ED 127). Seine Erklärung der gleichermaßen vitalen wie künstlerischen Genialität eines Goethe, Shakespeare, Dickens, Jean Paul oder

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Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

auch Wolfram von Eschenbach setzt er auf jener strukturalen Ebene an, auf der die psychologischen Mechanismen des Menschen mit den »allgemeinen Gesetzen« des »geistige[n] Leben[s]« verkoppelt sind und die Selbst-Welt-Verhältnisse einer vorreflexiven Sichtung unterzogen werden (ED 127). Es sei die »Stärke bestimmter elementarer Vorgänge«, welche den Unterschied zum »Gewöhnlichen« ausmache (ED 127). In der obigen Auseinandersetzung mit Diltheys theoretischem Werk spezifizierten wir die protoästhetische Stimmung als einen solchen elementaren Vorgang, der die strukturalen Verhältnisse zwischen Innen und Außen, Teil und Ganzem oder zwischen Einzelerlebnissen und Lebenszusammenhang bestimmte. Als solche wirkt die Stimmung auch in den aisthetischen Prozess hinein, indem sie wahrnehmungssinnliche Reize mit imaginativen, memorialen und physiologischen Impulsen verbindet. Dilthey macht die Stimmung als eines unter anderen Elementen aus, welche die Struktur bilden, aus welcher die Wahrnehmung zur dichterischen Phantasie abhebt: »Schon wenn die Wahrnehmung aus gleichzeitigen Empfindungen Gestalten im Raum oder aus ihrer Abfolge Rhythmen, Melodien, Lautgebilde aufbaut, macht sich dabei die Eigenart des Dichters geltend; vor allem wirken in ihm auf die Wahrnehmungsbildung mit ursprünglicher Macht seine Lebensbezüge, Stimmungen, Leidenschaften« (ED 127).

Diese fundamentalästhetische Beschreibungsebene macht deutlich, dass auf ihr nicht nur die imaginative »Eigenart des Dichters«, sondern auch die des Komponisten, Malers und eigentlich jedes Künstlers zum Tragen kommt.135 Auf ihr ist »überall freie Möglichkeit«, heißt es in einem der bereits oben angeführten »Zusätze« im theoretischen Werk, der »das musikalische Verstehen« erklärt.136 Auf der Basis des Erlebniszusammenhanges kommt es zu einem freien Zusammenspiel von Eindrücken und Emotionen, von Empfindungen und Vorstellungen, von Erinnerung und Wahrnehmung. Im Unterschied zur »angesammelten Erfahrung« macht die »frei schaffende Phantasie« von den im ›seelischen Strukturzusammenhang‹ gegebenen Bedingungsverhältnissen einen schöpferischen Gebrauch (ED 128): »Nirgends in diesem Bedingen eine Notwendigkeit. Es ist ein freies Einverständnis sich zustrebender und wieder abwendender Gestalten. Kein Gedanke, daß wir irgend etwas 135 Im Fall von Jean Paul ist ebenfalls häufig, aber anders die Rede vom Zusammenhang der Stimmung mit dichterischer Phantasie. Einmal ist das »Spiel« der Phantasie von »Stimmung beherrscht«, ein anderes Mal ist allgemeiner von einer »zerrissenen Seelenstimmung« oder von »zerrissene[r] skeptische[r] Stimmung« oder auch von »graue[r] zerrissene[r] Stimmung der Welt gegenüber« die Rede, »deren Ausdruck seine Satiren sind« (GS XXV 336, 337, 346, 348). 136 Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, Erster Teil: Erleben, Ausdruck und Verstehen, Zusätze in GS VII 220. Zur Bedeutung der Musik für Dilthey unter philosophischen wie auch biographischen Aspekten siehe Marini (1973).

Wahrnehmen – Erinnern – Vorstellen. Zum Phänomen der dichterischen Phantasie

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davon wüßten, warum ein zweites Glied gerade so auf das erste folgt mit dieser neuen Nuance der Harmonie oder umgesetzt in diese Variation, ausgeschmückt mit dieser Figur« (GS VII 221).

Was Dilthey hier über die Musik sagt, klingt in Das Erlebnis und die Dichtung so ähnlich, weil es ihm stets um das Verstehen und seine Grenzen bezogen auf strukturale Verhältnisse geht, wie er sie schon für die Einheitskonstituierung des Lebenszusammenhanges theoretisch veranschlagt.137 Er führt hier Stimmung – wie gesagt – als eines der Strukturelemente an, entfaltet jedoch nicht die in ihrem ästhetischen Begriff angelegte Semantik einer transitorischen Organisation eben solcher Elemente hinsichtlich ihres strukturalen Verhältnisses untereinander. Dilthey konzentriert sich nicht, wie wir es wollen, auf die Funktion von Stimmungen im Kunstwerk, sondern auf dessen Hervorgehen aus den »im Leben« enthaltenen »Kräfte[n], welche […] in der Phantasie wirken«, wozu u. a. auch die Stimmungen zählen (ED 127). Deshalb bespricht er den »ganz verschiedenen Grad von Helle und Stärke, von Sinnfälligkeit und Bildlichkeit« nicht etwa mit Bezug auf Malerei oder Photographie, sondern auf »Erinnerungsbilder« (ED 127). Er lässt sich auf eine kreativitätspsychologische Spekulation über »Vorstellungen als farb- und lautlose Schatten bis zu den im Sehraum bei geschlossenen Augen projizierbaren Gestalten der Dinge und Menschen« ein, nicht aber auf deren konkrete »Formen der Reproduktion« im Kunstwerk (ED 127f.). Damit scheint Dilthey nur dem theoretisch gehaltenen ersten Abschnitt zur dichterischen Phantasie zu entsprechen. Jedoch gilt dies für Diltheys philologische Praxis insgesamt, da sein folgendes Bezugnehmen auf Werke immer wieder über sein Verständnis derselben als Ausdruck von Lebenserfahrung in strukturpsychologische Erklärungen zurückfällt.138 Er folgt darin der eigenen programmatischen »Auffassung der Literatur«, wenn er jedem »Historiker der Poesie [empfiehlt], sich der feineren Einsichten der Psychologie« zu bedienen (ED 128). Zunächst geht er deshalb der Frage nach, was die erinnernde »Reproduktion« von der künstlerischen »Schöpfung« unterscheide, indem er die »deskriptive Methode ohne jede Einmischung erklärender Hypothesen« anwendet (ED 128). Mit einem Seitenblick auf das von Dilthey ungenutzte Sinn-

137 Siehe hierzu das »Verhältnis der Operationen im Verstehen durch die Beziehung des Äußeren auf ein Inneres, des Ganzen auf Teile usw. Ein Bestimmt-Unbestimmtes, ein Versuchen des Bestimmens, ein Niezuendekommen, ein Wechsel zwischen Teil und Ganzem« (GS VII 227). 138 Damit entspricht er freilich dem Grundtheorem seiner Poetik vom »Zusammenhang des Seelenlebens und die von ihm aus erwirkten Bildungsprozesse«, wie er es in Die Einbildungskraft des Dichters entwickelt. Siehe vor allem das 2. Kapitel Versuch einer psychologischen Erklärung des dichterischen Schaffens in GS VI 139–177, hier 142. Siehe außerdem die philologischen Arbeiten in DM.

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Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

potential von ›Stimmung‹ lohnt es sich, die Entwicklung seiner Fragestellung mitzuvollziehen. Er spricht mit Bezug auf die schöpferische »Phantasie« und die hier synonym gebrauchte »Einbildungskraft«139 einerseits, die erfahrungsbasierte »Assoziation« oder erinnernde »Reproduktion« andererseits, von zwei »großen psychischen Tatsachen« (ED 128). Deren Unterschied wird vorläufig über ihren Umgang mit »gegebenen Elementen« bestimmt: einmal werden diese in einer ebenfalls »gegebenen Verbindung zur Vorstellung wieder zurück[ge]ruf[en]« (Assoziation); ein anderes Mal werden aus ihnen »neue Verbindungen her[ge]stellt« (Einbildungskraft) (ED 128). Er belässt es aber nicht bei dieser Unterscheidung der Phänomene, sondern die folgende Beschreibung soll ihre »wirkliche Beziehung« zueinander klären (ED 128). Zunächst wird in Analogie zum Frühling, der gleiche, aber keinesfalls dieselben Blätter auf den Bäumen wachsen und ›sehen lässt‹, festgestellt, dass Vorstellungen im »seelischen Verlauf« gleichartig auftauchen, aber nie identisch sind (ED 128). Schon die mit dem Schließen der Augen in eine Vorstellung übergegangene Wahrnehmung eines Gegenstandes repräsentiert letztere(n) nur teilweise. Solche »seelenlos« und selektiv verfahrende »Erinnerung« zeigt aber bereits eine kreative Tendenz, wenn sie in eine »versuchende Nachbildung« übergeht, die auf eine vollständige Wiedervergegenwärtigung im Vorstellungsbewusstsein zielt (ED 128). Diese Tendenz des erinnernden Vorstellens zu Selektivität und Kreativität verstärkt sich noch, wenn seine Reproduktion des Wahrnehmungsgegenstandes vom Auftauchen anderer Bilder begleitet und überlagert wird. Unter diesen veränderten Bedingungen werden nämlich die einst mit der Wahrnehmung gegebenen Elemente nur mehr »als Baumaterial« (ED 129) verwendet. Auf diese ›materiale‹ Weise fungieren die im Imaginationsprozess raffinierten Wahrnehmungselemente – ohne dass Dilthey den Begriff hier verwendet – als Stimmungen. Denn sie »erteilen dem Bilde seine Gefühlsbeleuchtung durch die Beziehung zu dem gegenwärtigen Gemütszustand in Ähnlichkeit und Kontrast; wie denn in Zeiten schmerzlichster Unruhe das Bild eines sonnigsten Friedens vor uns auftauchen kann« (ED 129). Dieser zuletzt zitierte, zum Gleichnis ausgeführte Vergleich nimmt noch einmal das Ineinanderübergehen von Wahrnehmungsgegenständen in Vorstellungsinhalte sowie deren Abgleichen mit Affektzuständen auf und verbindet dies mit dem Auseinanderhervorgehen von gegensätzlichen Stimmungen. Schließlich wird dieser Transformationsprozess, den Dilthey im Abschnitt zuvor an Goethes Kreativität als ›Umschaffen alles Wirklichen durch Stimmungen‹ hervorhob, nicht mehr nur auf den Wandel perzeptiver »Einzelein139 Siehe zu diesem Begriff und seiner systematischen Bedeutung im Werkzusammenhang Rodi (1959).

Wahrnehmen – Erinnern – Vorstellen. Zum Phänomen der dichterischen Phantasie

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drücke« zu affektgeladenen Erinnerungsbildern bezogen (ED 129). Vielmehr charakterisiert er die mnemotechnische Gegenstandskonstituierung als eine ganzheitliche, d. h. als eine Integration von »Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen, deren jede den Gegenstand in allen seinen von uns wahrgenommenen Lagen repräsentiert« (ED 129). Spätestens hiermit sieht Dilthey die psychische Genese gewöhnlicher Vorstellungsbilder nicht mehr auf den Aspekt »toter Reproduktion« reduziert, sondern in die Nähe der »künstlerischen Nachbildung« gerückt: »Kurz: wie es keine Einbildungskraft gibt, die nicht auf Gedächtnis beruhte, so gibt es kein Gedächtnis, das nicht schon eine Seite der Einbildungskraft in sich enthielte. Wiedererinnerung ist zugleich Metamorphose. Und diese Erkenntnis läßt den Zusammenhang zwischen den elementarsten Vorgängen des psychischen Lebens und den höchsten Leistungen unseres schöpferischen Vermögens sichtbar werden« (ED 129).

›Diese Erkenntnis‹ bestätigt Diltheys psychologische Grundlegung der Hermeneutik und rechtfertigt zugleich sein Verfahren, geistige Objektivationen als lebendigen Ausdruck psychischer Strukturzusammenhänge zu verstehen und insbesondere Kunstwerke als kreativen Gipfel dieses reproduktiven »Bildungsproze[sses]«140 zu feiern: »Sie [diese Erkenntnis] läßt in den Ursprunge jenes mannigfachen, an jedem Punkte ganz individuellen und nur einmal so vorhandenen, beweglichen geistigen Lebens blicken, dessen glücklichster Ausdruck die unsterblichen Geschöpfe der künstlerischen Phantasie sind« (ED 129).

Entsprechend ist die Phantasie – oder die synonym für sie eingesetzte Einbildungskraft – nur die Abwandlungs-, Steigerungs- und Überschreitungsform der Erinnerung, in der die bereits im Nachbilden einsetzende ›Metamorphose‹ zur eigendynamischen Produktion und »Umformung der Bilder und bildlichen Zusammenhänge« avanciert (ED 130). So entsteht für Dilthey das »Neue« in der Kunst, wird deren »Freiheit« als »Selbsttätigkeit« der Phantasie gewürdigt – und doch kann die Kunst samt dieser mit ihr verbundenen idealistischen Begriffe in seinem hermeneutischen Konzept des Ausdrucksverstehens erklärt werden (ED 130). Nicht mitzuvollziehen ist daran für unser neuhermeneutisches Konzept der Stimmungsästhetik diese letzte Wendung ins Erklärliche, die in den hermeneutischen Zirkel zurückführt. Dilthey führt Kunst, Musik und Dichtung auf ihr wahrnehmungspsychologisches Entstehen, auf ihre Wurzel in den »untersten Vorgängen des Seelenlebens« zurück, um sie als dessen Ausdruck verstehen zu können, der als zweckfrei hervorgebrachter und überzeitlich fixierter Ausdruck seinerseits die Verstehbarkeit des »ganzen seelischen Zusammenhang[es]« er140 Cf. dazu die theoretischen Ausführungen in GS VI 142f.

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Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

möglicht (ED 130). Dadurch werden künstlerische Gebilde bis hinein in ihre historische Gestalt, das dazugehörende ästhetische Bewusstsein und die sie durchwebenden Stimmungen nach Maßgabe ihrer Erklärbarkeit als psychologische Phänomene aufgefasst. Es ist dieses Kunst und Leben wechselseitig erhellende Ausdrucksverstehen, was – zumindest für Dilthey – die Attraktivität dieser Art Hermeneutik ausmacht. Nach heutigem Verständnis indes muss es gerade wegen ihrer zirkulären Immanenz unbefriedigend wirken.

4.

Poetische und musikalische Stimmungen zwischen Aggregaten des Gefühls und des Werkes

Der konzeptionelle Unterschied unseres Ansatzes zu dem Diltheys kann – gerade wegen mancher Verwandtschaft – nicht deutlich genug hervorgehoben werden. Er besteht – verkürzt gesagt – darin, dass Stimmungen nicht als psychologisches, sondern als ästhetisches Phänomen zum Erkenntnisgegenstand werden. Ihr Vorkommen in Literatur (respektive Kunst und Musik) wird eben nicht aus der historischen Schöpfung derselben und damit die Stimmung selbst als Wirkung des produktionsästhetischen Prozesses angesehen, der so etwa für ihre Transposition vom Psychischen ins Poetische sorgt. Was z. B. an Werthers, Wilhelm Meisters oder Fausts Stimmungen methodisch verstanden werden kann, hat literaturwissenschaftlich nichts mit Goethes Stimmungen zu tun. Namentlich ihre motivischen und thematischen Inhaltsbezüge, ihre rhetorischen und narrativen Darstellungsformen sowie ihre poetologischen und ästhetischen Wirkungsweisen sind in den Texten selber anzutreffen, von diesen her zu explizieren und sind nur für diese aufschlussreich innerhalb der Kontexte ihrer historischen Konstellation, ihrer Gattung oder etwa Motiv- und Werkgeschichte. Eine solche von Diltheys Psychologismus und allem Biographismus sich absetzende Verfahrensweise bedeutet freilich nicht, dass unser revidierter Begriff von Stimmung dessen individuallogische, phänomenologische und psychologische Sinndimensionen ausgrenzt oder gar ausblenden müsste. Sie müssen an ihm nur innerhalb der textuellen Gestaltung von Figuren und ihrer Entwicklung, von Situationen und ihrer Geschichte abgelesen und gedeutet werden; dürfen also nicht – wie Dilthey es tut – unter Rückbezug auf den Autor in eine expressionslogische Erklärungsperspektive eingepasst werden. Deshalb können wir auch Diltheys phänomenologisch zutreffender Beschreibung der ›psychischen Tatsachen‹ (Erinnerung und Phantasie) und der elementaren »Vorgänge von Wahrnehmung, Gedächtnis, Reproduktion« (ebd. 129) beistimmen. Jedoch nur soweit, wie sie nicht zur psychologischen Begründung seiner Poetik des Erleb-

Poetische und musikalische Stimmungen

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nisausdrucks und seiner Hermeneutik des Ausdrucksverstehens herangezogen werden. Von dieser Einschränkung bleibt unsere veränderte Auffassung des Phänomens der Stimmung nicht nur nicht unberührt, sondern wird in ihrer systematischen Unterschiedlichkeit erst recht deutlich. Spricht Dilthey doch von Stimmungen des Autors Goethe, die er mutatis mutandis mit denen seiner Figuren abgleichen kann, insofern diese doch nur Ausdrucksgestalten von dessen Persönlichkeit sind. Und das Individuelle letzterer ist bei ihm nur der historische Idealfall des Allgemeinmenschlichen, sodass von Stimmungen stets in einem generellen Sinne die Rede ist, der sie in die strukturpsychologischen »Kräfte« einreiht, die »aus den Tiefen des Gemüts [stammen], das vom Leben mannigfach zu Lust, Leid, Stimmung, Leidenschaft, Streben bewegt wird« (ED 130, Hvh. St.H.). Hingegen differenzieren wir heute zwischen der Stimmung als einem psychologischen und einem ästhetischen Phänomen. Als psychologisches Phänomen kann sie auf strukturaler Ebene – wie etwa bei Dilthey jener Komplex Wahrnehmen-Erinnern-Vorstellen – ebenfalls, und zwar auch unter elementarästhetischem Aspekt, beschrieben, jedoch nur abstrakt gefasst werden. Als ästhetisches Phänomen in der manifesten Form eines Kunstwerks jedoch kann Stimmung auf analytischer Ebene lokalisiert und konkret erfasst werden. Perspektiviert in dieser Position eines ästhetischen Objekts, oder als Teil eines solchen, kann sie dann – und nur dann – auch als psychologisches Phänomen konkretisiert werden. Dadurch wird verständlich, warum für uns nicht Goethes »dichterische Stimmung« (ED 137) – wie bei Dilthey –, sondern allenfalls die Stimmung seiner Figuren auch unter psychologischen Aspekten gedeutet werden können, d. h. wenn deren literarische Gestaltung dies denn nahelegt. Während für Dilthey »Grundstimmungen« (ED 159) bei Goethe in gleicher Weise in dessen Leben und Werken umstandslos identifiziert und der Poetik des Erlebnisausdrucks entsprechend konvertiert werden können, halten wir uns heute ausschließlich an die Werke, d. h. ohne spekulativen Rückbezug auf den Autor und seinen Schaffensprozess. Allerdings kann auch darin auf Dilthey, der unsere Insistenz auf Differenzierung begreiflicherweise hätte pedantisch finden können, immerhin Bezug genommen werden. Gelegentlich lenkt er in Das Erlebnis und die Dichtung die Aufmerksamkeit auf das »dichterische Gebilde«, dessen Gattungsunterscheidungen und Analysekriterien. Zu letzteren zählt er neben »Stoff […], Motiv, Fabel, Charaktere und Darstellungsmittel« auch die »poetische Stimmung« (ED 140f.; cf. GS VI, 216, 228). In seiner Poetik gibt es ein – weiter unten von uns näher zu untersuchendes – Kapitel ›Die poetische Technik‹, in welchem Dilthey erläutert, was er darunter versteht:

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Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

»Poetische Stimmungen, Aggregate von Gefühlen, die nicht heftig wirken, aber andauern und sich allen Vorgängen mitteilen, bewirken die Veränderungen in den Bildern nach den dargestellten Gesetzen. Die Mannigfaltigkeit solcher Gefühlsaggregate ist unbegrenzt. Aber die geschichtliche Kontinuität in der dichterischen Technik hat zur Folge, daß an bevorzugten Punkten dieser Mannigfaltigkeit, welche für dichterisches Schaffen und Genießen besonders günstig sind, poetische Stimmungen festgehalten, ausgebildet und durch Werke überliefert werden. Sie stellen sich in den ästhetischen Kategorien des Ideal-Schönen, Erhabenen, Tragischen, in welches dann das Häßliche gemischt sein kann, andererseits des Rührenden, des Komischen und des Anmutigen oder Zierlichen dar« (GS VI 213).

Anschließend erläutert Dilthey kurz in der Tradition Burkes und Kants, wie sich Stimmungen in diesen ästhetischen Kategorien darstellen und erklärt es zur gemeinsamen Aufgabe von »Psychologie und Literaturgeschichte«, die »Zusammensetzung dieser poetischen Stimmungen, dann deren Beziehungen zueinander und besonders ihre Wirkung auf den Stoff« zu untersuchen (GS VI 213). Obwohl er die psychologisch als Gefühlsaggregate definierten Stimmungen gleichermaßen für »poetisches Schaffen und poetischen Eindruck geeignet« erklärt, konzentriert er seine Poetik auf ersteres. Durchaus jedoch gibt es Hinweise in seinem Werk, die an die Möglichkeit einer objektiven Stimmungsästhetik denken lassen, wenn es in den Zusätzen zur Grundlegung der Geisteswissenschaft heißt: »Ein Aggregat von Eindrücken löst sich von seiner Umgebung los und bewegt sich im Raume« (GS VII 303). Aber wohl aufgrund der zentralen Stellung von Individualität auch im geschichtstheoretischen und lebensphilosophischen Zusammenhang gibt Dilthey dem individuellen Subjekt die prioritäre Position in der Poetik. Von dieser aus zielt er vor allem auf das »höchste Verständnis eines Dichters« – und nicht so sehr auf dasjenige seiner Dichtung unabhängig von dessen »Lebenserfahrung« (ED 141). Er sieht die literarischanalytischen Aspekte in unvermittelter Abhängigkeit vom »Inbegriff der Bedingungen in ihm und außer ihm, unter denen die sein Schaffen bestimmende Modifikation des Erlebens, Verstehens, Erfahrens entsteht« (ED 141). An Goethe interessiert Dilthey letztlich nur, wie dieser es als »dichterische Aufgabe« löst, was er selber als hermeneutisches Grundtheorem zu begründen sucht, nämlich »das Leben aus ihm selber zu verstehen« (ED 142; cf. 273). In seinem theoretischen Werk findet sich jedoch eine in den Zusätzen versteckte Stelle, die wenn nicht auf eine ›objektive‹ Wende, so doch auf Bedenken gegen den strukturalen Subjektivismus seines eigenen Ansatzes deutet. Es handelt sich dabei nicht um die weiter oben bereits angesprochene Einbeziehung einer ins Prinzipielle verallgemeinerten »Welt des objektiven Geistes« (GS VII 209) in den Vorgang des Selbstverstehens des Lebens. Es ist vielmehr die materiale Basis von dessen Entäußerung in Ausdrucksgestalten, welche gegenüber dem psychischen Strukturgeschehen einen durchaus eigenständigen Anteil an

Poetische und musikalische Stimmungen

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der Konstitution von Kunst und ihrem Verstehen zu gewinnen scheint. Nicht die Poesie und ihr Verstehen als Ausdruck bildet den theoretischen Kontext, sondern zunächst die Musik und das »musikalische Verstehen«: »Das Objekt des historischen Studiums der Musik ist nicht der hinter dem Tonwerk gesuchte Seelenvorgang, das Psychologische, sondern das Gegenständliche, nämlich der in der Phantasie auftretende Tonzusammenhang als Ausdruck« (GS VII 221).

Als wenn die stärkere Akzentuierung der Objektseite mit einem Mal die Theorie des Ausdrucksverstehens falsifizieren könnte, wird mit dem zweiten Nebensatz die Subjektseite gleich wieder verstärkt, indem er das Gegenständliche in die Phantasie zurückholt und den Tonzusammenhang auf den Ausdruck re-duziert.141 Und wie zur Abwehr aufkeimender Zweifel am erlebnishermeneutischen Ausdruckskonzept relativiert er das angedachte Primat der »Tonmittel« im anschließenden Satz noch ein zweites Mal: »In einem weiteren Sinne ist auch Musik Ausdruck eines Erlebnisses. Erlebnis bezeichnet hier jede Art von Verbindung einzelner Erlebnisse in Gegenwart und in Erinnerung, Ausdruck einen Phantasievorgang, in welchem das Erlebnis hineinscheint in die historisch fortentwickelte Welt der Töne, in der alle Mittel, Ausdruck zu sein, sich in der historischen Kontinuität der Tradition verbunden haben« (GS VII 221).

Um auch das am Tonmaterial orientierte musikalische Verstehen im ausdruckspsychologischen Konzept zu fundieren, macht Dilthey hier das Erlebnis selber zum ›Inbegriff‹ strukturaler Verhältnisse, während es zuvor aus solchen heraus seinerseits und zwar über Lebenskategorien (u. a. Bedeutung, Zeitlichkeit) erklärt werden sollte. Zugleich wird die materiale Gestalt des Ausdrucks wieder an die psychologische Vorgängigkeit der Phantasie zurückgebunden. So wird die subjektive Sphäre des Erlebnisses zur objektiven »Welt der Töne« dimensioniert und das Verstehen individueller Lebensverläufe zur Matrix des Verstehens historischer Entwicklungen ausgeweitet. Ist der Generationen von Musikern übergreifenden Musikgeschichte als Ausdifferenzierung von Formen und Transformation von Material erst einmal das psychodynamische Modell des Ausdrucks zugrunde gelegt, dann – so meint Dilthey widerspruchslos sagen zu können – lässt sich auch von der eigendynamischen Entwicklung der »musikalische[n] Welt mit den unendlichen Möglichkeiten von Tonschönheiten und von Bedeutung derselben« sprechen (GS VII 221). 141 Diltheys theoretisches Zurückweichen vor dem Formalen und Materialen der Kunst noch dort, wo er diese Aspekte selber berührt, wird verkannt von Müller-Vollmer (1963). Dieser versucht in seiner Darstellung von Diltheys Poetik Einwände gegen dieselbe zu entkräften, die eine Vernachlässigung des Problems der künstlerischen Form beanstanden (cf. 121). Dabei wird zuletzt die auch poetologisch grundlegende Bedeutung des Psychologischen bei Dilthey gering veranschlagt, die mit dessen hermeneutischem und lebensphilosophischem Denken zusammenhängt.

128

Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

Die psychologistische Reduktion von Musik (respektive Kunst und Poesie) auf ihren Aspekt der »Phantasieschöpfung« ist eine erlebnishermeneutische Theorielast, die Dilthey daran hindert, ein »rhythmisches Gebilde«, eine »Melodie« von anderem als zunächst »vom Erlebten« sprechen zu hören (GS VII 221). Erst dann löst sich der hermeneutiktheoretische Begründungszwang und lässt die Möglichkeit eines ästhetischen Surplus im musikalischen Verstehen aufscheinen: »und doch ist alles mehr als Ausdruck« (GS VII 221). Wie aber einerseits »der Musiker« – zumal das »Genie« – in der »Tonsphäre« und »nicht in seinem Gefühl« leben kann, andererseits aber erst dadurch, dass sein »Erlebnis hineinscheint« (!) in diese Tonsphäre, es Musik überhaupt erst gibt – diesen Widerspruch erkennt oder erklärt Dilthey jedenfalls nicht (GS VII 221f.). Stattdessen verklärt er die Unmittelbarkeit des Erlebens und Schaffens von Musik, indem er behauptet, dass es da »keine Zwiefachheit von Erlebnis und Musik, keine doppelte Welt, kein Hinübertragen aus der einen in die andere« gebe (GS VII 222). Die größte Freiheit »in der seelischen Regung« und das strengste Gebundensein an »technische Regeln« koinzidieren im musikalischen Schaffen von Musik, das prinzipiell vom »Erleben zur Musik« seinen dennoch nicht »bestimmten Weg« nehme (GS VII 222). Diltheys Loyalität zu seinem ausdruckshermeneutischen Theoriekonzept gerät nirgends so sehr ins Schwanken wie bei seiner emphatischen Bestimmung vom Musikerleben, welches er »einmal von einer rhythmischen Erfindung, ein andermal von einer harmonischen Folge ausgehn oder dann wieder vom Erleben« selbst seinen Ausgang nehmen lassen »mag« (GS VII 222). Immer wenn in Diltheys Ausführungen die Erfahrung vom »musikalischen Gebilde« her ihren Phänomengehalt zu beziehen scheint, bindet er sie rasch zurück ans »Selbst« einer »musikalischen Seele« und erklärt Musik erneut zu dessen »kristallklare[m] Ausdruck« (GS VII 222; cf. ED 151). Dieses Sichannähern an die Objektseite des Ästhetischen und postwendend Ausweichen vor den theoretischen Konsequenzen durch Zurückziehen auf die Subjektseite lässt sich an Diltheys unentschiedener Verwendung des Wortes Stimmung ablesen. Auf der einen Seite kennzeichnet es das Erleben von Musik, in welchem »Erinnertes, flatternde Bilder, einst vergangene unbestimmte Stimmungen, die in sie hineinreichen, mitten in die Entzückungen des Schaffens« (GS VII 222, Hvh. St.H.). Hier gehören die Stimmungen zunächst einem Subjektiven als vergangenem Erlebten an, bevor sie ins Objektive der Musik ›hineinreichen‹ und schließlich auch dem Hervorbringen derselben zugeschrieben werden. Auf der anderen Seite ist die Musik »als Rhythmus, Melodie, Harmonie […], als Formen des Ablaufs, des Steigens und Sinkens der Stimmung« die ausgezeichnete Möglichkeit, »das Ununterbrochene, Stetige, die in der Harmonie beruhende Tiefendimension« auszudrücken (GS VII 223, Hvh. St.H). Hier scheinen die Stimmungen der Musik anzugehören, wenn diese nicht immer schon als Lebens-

Das ›Irrlicht‹ des Psychologismus, die drei ersten Gefühlskreise und die Musik

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entäußerung gälte und solchermaßen Ausdruck des »dynamische[n] Verhältnis[ses]« wäre, das zuvor in den »Tiefen« oder »im Dunkel der Seele« als Bewegung »bestand« (GS VII 222f.). Diese für ästhetische Kategorien bezeichnende Ambivalenz der Zugehörigkeit zwischen Subjekt und Objekt, Innen und Außen oder Dichterseele und Textkörper zeigt sich z. B. auch in der germanistischen Arbeit über die »ritterliche Lyrik«, wenn dort vom ›äußeren‹ »Rhythmus« der Lyrik und sogleich wieder von »innere[r] Rhythmik des Seelenlebens« die Rede ist (DM 90).142

5.

Das ›Irrlicht‹ des Psychologismus, die drei ersten Gefühlskreise und die Musik

Diese theoretische Fundierung der Musik in der hermeneutischen Konzeption des Ausdrucksverstehens hat zur Folge, dass – wie in der Dichtungstheorie – das Ästhetische fast ausschließlich von seiner Produktion her gedacht wird. Wo Dilthey einmal wie im oben zitierten Beispiel von der Rezeption, nämlich vom Erleben der Musik ausgeht, da werden die darin auftauchenden Stimmungen gleich wieder den »Entzückungen des Schaffens« zugeschlagen (GS VII 222). Diltheys auf den Ausdruck fokussierte Ästhetik lässt sich theoretisch nur entfalten, wenn das »Werk« nicht von seiner Wirkung auf den Leser oder Hörer her verstanden wird, sondern es »uns gegenständlich macht, was als Gemüt im Künstler wirkte« (GS VII 222). So ließe diese Ästhetik sich heute als eine lebensphilosophische Nachzüglerin der Genieästhetik einordnen. Dilthey selber sieht seine Poetik der ›Einbildungskraft des Dichters‹ als Fortsetzung einer »deutsche[n] Ästhetik«, die »überall den Seelenzustand, der ein Dichtungswerk hervorbringt, zu der Form, die ihm eigen ist in kausales Verhältnis« setzt (GS VI 122). Gegenwärtige Ästhetiken aber, die eine Integration von empirischen Produktions- und Rezeptionsaspekten anstreben oder aber kunstwerkspezifische Aspekte fokussieren, werden Diltheys kreativitätspsychologisch auf den überlegenen Künstler zentrierten Ansatz als unzeitgemäß übergehen. Auch heute noch interessante Perspektiven ergeben sich allein aus Diltheys theoretischer Unruhe. Denn diese führt sein hermeneutisches Denken vom Ausdruck her über die psychologischen Grenzen der Produktionsästhetik hinaus an das »Objekt« der »Interpretation« als »ein Gegenständliches« heran: »Nicht psychologische, sondern musikalische Verhältnisse bilden den Gegenstand des Studiums von musikalischem Genie, Werk und Theorie.«143 Das soeben an der 142 Eine andere Stelle, wo Stimmung mehrfach eine Qualität des Gegenstands bezeichnet, findet sich mit Bezug auf Gedichte Schillers (SCH 13). 143 GS VII 222; cf. zur »musikalischen Gegenständlichkeit« (GS VII 52).

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Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

Unsicherheit der begrifflichen Situierung von ästhetischer Stimmung abgelesene »Herüber und Hinüber« zwischen Subjektivem und Objektivem lässt Dilthey nicht nur den »Sitz alles Schöpferischen« feiern (GS VII 222). Er spricht diesbezüglich nicht nur hermeneutisch triumphal, sondern auch implizit selbstkritisch vom »nie ganz zu entschleiernde[n] Geheimnis, wie Tonfolgen, Rhythmen etwas bedeuten, was nicht sie selbst sind« (GS VII 222). Letztere sind also mehr als sie selbst. Sie sind – hermeneutisch aufgefasst – Lebensausdruck, aber doch auch etwas anderes als bloß materialisierte Psychodynamik: »Das ist nicht ein psychologisches Verhältnis zwischen seelischen Zuständen und einem Darstellen derselben in der Phantasie: wer dieses aufsucht, geht einem Irrlicht nach. Vielmehr ist es ein Verhältnis eines objektiven musikalischen Werkes und seiner Teile als einer Schöpfung der Phantasie zu dem, was dasselbe bis in jede Melodie hinein bedeutet, d. h. was es dem Hörer sagt über ein Seelisches, das nach den Beziehungen zwischen Rhythmus, Melodie, harmonischen Verhältnissen und dem Eindruck eines Seelischen, das daraus redet, besteht« (GS VII 222, Hvh. W.D.).

In dieser ästhetiktheoretisch einschlägigen Passage entfernt Dilthey sich anscheinend von seiner psychologischen Begründung der Hermeneutik.144 Indes warnt er nicht nur davor, dem »Irrlicht« einer psychologistischen Reduktion nachzugehen. Vielmehr bemerkt er an seiner folgenden Richtigstellung nicht, dass die eigene hermeneutische Theoriebildung einem anderen »Irrlicht« folgt, nämlich dem des Ausdrucksverstehens. Denn dieses leitet noch dort zurück ins »Dunkel der Seele« des »Künstlers«, wo das ästhetische Verstehen nach einer Orientierung an Bedeutungen sucht, welche den Werkstrukturen anhängen und vom Rezipienten realisiert werden. Nicht nur knüpft Dilthey an jeden seiner Bezüge auf kunstwerkspezifische Qualitäten die Erinnerung an deren Herkunft aus dem Seelenleben. Er leistet der theoretischen Vereinseitigung seiner Erlebnishermeneutik unreflektiert Folge, indem er wirkungsästhetische Verhältnisse noch dort unter dem Aspekt des Ausdrucks des »Seelischen« eines Künstlers meint verstehen zu müssen, wo er schließlich doch auf den »Eindruck eines Seelischen« beim »Hörer« zu sprechen kommt (GS VII 222). Nichts aber sagt Dilthey hier darüber, wieso dieses »Seelische«, was aus der Kunst ›redend gehört‹ werde, erlebnishafter ›Ausdruck‹ sein muss und nicht etwas sein sollte, was aus dem Rezeptionsprozess und dessen Subjekt hervorgeht – nämlich ästhetischer »Eindruck«. Dabei erkennt er an anderer Stelle, namentlich in seiner Poetik, dem Zusammenhang von »ästhetischen Eindrücke[n]« und »Gefühlseindrücke[n]« durchaus 144 Cf. dazu Diltheys hermeneutisch grundsätzlichen Widerstand gegen »Psychologie« als geisteswissenschaftlichen Erkenntnisbereich: »Das Verstehen dieses [des objektiven] Geistes ist nicht psychologische Erkenntnis. Es ist der Rückgang auf ein geistiges Gebilde von einer ihm eigenen Struktur und Gesetzmäßigkeit« (GS VII 84f.).

Das ›Irrlicht‹ des Psychologismus, die drei ersten Gefühlskreise und die Musik

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hohe theoretische Bedeutung zu, deren Erschließung er aber zur Aufgabe der »experimentelle[n] Psychologie« erklärt (GS VI 161).145 Bezüglich dieser ist Diltheys Position verdeckt und doch auffällig ambivalent. Ungeachtet seiner ausweichenden bis ablehnenden Haltung gegenüber der damaligen »Psychophysik« (GS VI 149) zentriert er seine Beschreibung der »Gefühlskreise« auch dort auf ästhetische Wahrnehmung, wo es angeblich um die Analyse der »Verwicklung« der Gefühle im künstlerischen Schaffensprozess geht: »Wie ein Wahrnehmungsbild sich aus einer großen Mannigfaltigkeit von Empfindungsinhalten zusammensetzt, so ist auch ein Gefühlszustand aus elementaren Gefühlen entstanden, welche die Analysis aufzusuchen hat. Ich stehe vor einem Gemälde; die einzelnen Farben haben ihren Gefühlston; dann tritt das Gefühl der Farbenharmonie, der Kontraste in den Farben, der Schönheit in den Linien, des Ausdrucks in den Personen hinzu: aus solchem allem entsteht das Gefühl, mit welchem Raphaels Schule von Athen mich ganz erfüllt und befriedigt. Und zwar treten die Gefühle in Formen [Freude, Wehmut, Haß] auf, welche durch eine bestimmte Art von Zusammensetzung aus Elementargefühlen gebildet sind« (GS VI 148).

Ausgehend von der behaupteten Vergleichbarkeit der Komplexionen eines Wahrnehmungsbildes mit solchen des Gefühlszustandes zeigt die Beispielsituation, wie formalästhetische Qualitäten des Objekts mit elementarästhetischen Qualitäten des Subjekts konfundieren. Wie beim Begriff der Stimmung pendeln im Kontext ästhetischer Erfahrung die Semantiken von ›Farbe‹ und ›Ton‹, ›Harmonie‹ und ›Schönheit‹ sowie von ›Form‹ und ›Gefühl‹ zwischen der objektiven und subjektiven Sphäre hin und her, wodurch letztere sich wechselseitig beleuchten. Dieses ästhetische Transfergeschehen zwischen der Objekthaftigkeit der Empfindungsinhalte und der Subjektivität der Gefühlsgehalte führt zu einer Vielzahl wahrnehmbarer »Formen«, welche jedoch »untereinander in keinem ersichtlichen Zweckzusammenhang [stehen] und sich nicht in einem System ordnen« lassen (GS VI 148f.). Dies dennoch zu erreichen ist das Ziel des Entwurfs von ›Gefühlskreisen‹, auf welche die mannigfaltigen Gefühle nach »elementaren Vorgänge[n]« verteilt werden (GS VI 149). Ungeachtet seiner reservierten Haltung gegenüber Fechner, greift Dilthey hier durchgängig in systematischer Absicht und sachlicher Abhängigkeit auf dessen Vorschule zur Ästhetik zurück: »Wie einer Reizklasse ein Kreis von Sinnesqualitäten entspricht, so entspricht einer bestimmten Klasse von Antezedenzien des Gefühls ein bestimmter Gefühlskreis. So

145 Dilthey sieht sich schließlich veranlasst, dem von ihm als zweitrangig angesehenen Aspekt ein relativierendes Kapitel ›Würdigung der Analysis des ästhetischen Eindrucks‹ zu widmen: Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe (1892) in GS VI 242– 287, hier 263–266.

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Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

kann ich die elementaren Gefühle nach Kreisen ordnen, und sie bilden in diesem Sinne eine übersehbare Mannigfaltigkeit« (GS VI 149).

Im Unterschied zu Fechners experimentalwissenschaftlich angelegter Wahrnehmungsästhetik, welche er selber nur im mangelhaften Entwicklungsstand von Messtechniken begrenzt sah, basiert die Gefühlsästhetik Diltheys letztlich auf dessen transzendentallogischem Grundlegungsdenken. In diesem meint ›Erfahrung‹ nicht die konkrete eines empirischen Individuums, sondern die von einem solchen abstrahierte Erfahrung eines anthropologisch verallgemeinerten Subjekts. Dessen »seelische Vorgänge« untersucht er als die »Antezedenzien der Gefühle« (GS VI 149). Denn vom physiologischen Vorgang eines empirischen Erfahrungssubjekts aus könne der »Übergang« zum Gefühl »natürlich so wenig fassbar gemacht werden als der zur Empfindung« (GS VI 149). Psychophysische Untersuchungen bleiben danach auf »Reizvorgänge« und Sinnesempfindungen beschränkt, die eben »ohne die Vermittlung dadurch angeregter Vorstellungen nur Antezedenzien der sinnlichen Lust- und Schmerzgefühle« sind (GS VI 149). Erst die dynamische Verbindung gegebener Empfindungs- oder Vorstellungsbestände mit elementaren Gefühlen führt dazu, dass dem Erfahrenen Wert zugeschrieben werden kann. Dadurch wird die ästhetische Erfahrung außenweltlicher Gegenstände hinsichtlich ihrer Qualitäten ergänzt durch das von diesen her erwirkte Selbstverhältnis der Subjektivität: »Wie wir in den Empfindungen die äußere Wirklichkeit erfahren, so in den Gefühlen Wert, Bedeutung, Steigerung oder Minderung des Daseins in uns oder in etwas außer uns« (GS VI 150). Es fällt nun auf, wie rasch Dilthey die ersten drei, gleichsam äußersten Gefühlskreise abhandelt, die von der sinnlichen Wahrnehmung und den durch sie bewirkten Empfindungsinhalten beherrscht werden. Wo, wie im ersten Gefühlskreis, der physiologische Vorgang entscheidend bleibt und wie im zweiten sinnliche Reize allenfalls die elementaren Gefühle erst in Gang setzen, sieht Dilthey für sich nicht mehr als oberflächliche Anknüpfungspunkte, wie etwa im Verhältnis zwischen Tonmaterial und Gefühlston, welches doch eigentlich das größte Interesse verdient hätte. Erst wo strukturelle Verhältnisbestimmungen greifen, werden die Grundlagen seiner Poetik berührt. So gehen die Gefühle des dritten Kreises aus den in Wahrnehmungen aufeinander bezogenen »Sinnesinhalten« hervor, welche etwa »Ton« und »Farbe« durch »Kontrast« und auf »Harmonie« hin bestimmen (GS VI 151). So können naturästhetische Erfahrungen zum Beispiel das Gefühl des Erhabenen erzeugen. Dilthey geht aber nicht auf die Entstehung desselben ein (und benennt es auch nicht), namentlich wie es aus dem ›übergängigen‹ Verhältnis zwischen der Wahrnehmungsempfindung der »Weite« des »Meeres« oder »Himmels« einerseits und andererseits der entsprechenden Körperempfindung von Weitung hervorkommt (GS VI 151). Hierzu vor allem bedarf es der Kategorie der Stimmung. In Bezug auf Jean Pauls idyl-

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133

lische Darstellung der »Isolabella auf dem Lago maggiore« etwa verwendet Dilthey »Stimmung« in einer dreifachen Bindung an die Ästhetiken der Landschaft, der Musikalität sowie der »Subjektivität« im rezeptiven Sinn von »Zusammenzittern und –klingen der Gefühle« (GS XXV 333). Hingegen in einem allgemeineren Sinn spricht Dilthey vom »Raumgefühl« des »Wohlgefallen[s] an der Symmetrie« und vom »Zeitgefühl« des Wohlgefallens am »Rhythmus« als Beispiele für elementare Gefühle (GS VI 151). Von der Poesie werden letztere angeregt durch die »Beziehungen der Töne zueinander in ihrem sprachlichen Material, ganz abgesehen von der Bedeutung der einzelnen Worte« (GS VI 151). Seine Poetik aber sieht im Folgenden von dieser materialen Seite der Sprachkunst weitgehend ab und untersucht elementare Gefühle wie diejenigen für Rhythmus und Symmetrie auf ihren »Ursprung« hin (GS VI 151). Dieser wird im »Lebensgefühl« angesetzt, wie auch biologische Funktions- und zyklische Bedingungszusammenhänge des menschlichen Körpers (Herzschlag, Atmung, Schlaf, Nahrung, Bewegung) auf ihre »psychische Bedeutung« hin in Frage kommen (GS VI 151). Von diesem dritten Gefühlskreis, der für das Studium von Musik, Tanz und Poesie wichtig ist und von dem her sich Melodik, Rhythmik und Metrik untersuchen lassen, wird das ästhetische Prinzip der »wohlgefälligen Verhältnisse der Empfindungen« hergeleitet (GS VI 152; Hvh. W.D.). Diese an die platonischpythagoreische Sphärenharmonie erinnernde Verhältnisbestimmung von Empfindungen in der Musik taucht wiederholt in Diltheys literaturwissenschaftlichen Arbeiten, besonders bei der Charakterisierung von Jean Paul auf, der »seine Romane componirt wie der Musiker eine Symphonie« (GS XXV 333). Darüber hinaus stellt Dilthey generalisierend fest, »daß Musik einen die dichterische Stimmung begünstigenden Einfluß hat. Wir wissen von Otto Ludwig und von Heinrich v. Kleist, daß die Musik in dem Aufbau ihrer Dramen und Erzählungen eine wichtige Rolle spielte, und Niemand kann die berühmten Stellen Shakespeare’s über die Musik lesen, ohne das besonders innige Verhältniß dieses Dichters zu der Kunst der inneren Welt zu bemerken« (GS XXV 369).

Das Zitat fährt an dieser Stelle mit Bezug wiederum auf Goethe und implizit auf Herder fort: »Denn das Gehör ist für uns das Thor, durch welches die inneren Zustände außer uns vorwiegend in unser eigenes Inneres eintreten. Weil in der Sprache […] ein bewegtes Innere in den Variationen des Tones, seinen Hebungen und Senkungen klingt und unser Gehör sich von Kind an gewöhnt, die Beziehungen solcher Unterschiede auf Gemüthszustände aufzufassen und, was untrennbar damit zusammenhängt, mitzuempfinden, empfängt die Musik Schemata solcher Beziehungen und wirkt in ihnen schöpferisch. Diese so gestiftete Verbindung zwischen Tonverhältnissen und den Bewegungen des Inneren macht das Wesen der Musik aus« (GS XXV 369).

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6.

Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

Von den letzten drei Gefühlskreisen zur Überschreitung von Fechners empirischem Konzept der Ästhetik

Entgegen einem bis heute aus der Rezeptionsgeschichte herrührenden Vorurteil richtet Diltheys theoretisches Interesse sich streckenweise durchaus auf wahrnehmungsästhetische Grundlagen der Kunst, ihre formalen Aspekte und verbindet sie über wirkungsästhetische Perspektiven mit inhaltlichen Aspekten. Allerdings gibt er letzteren nicht erst in der Interpretationspraxis, wo formalästhetische Perspektiven fast vollständig ausgeblendet bleiben, das wesentlich größere Gewicht. Denn auch die poetische Rezeptionslust am künstlerisch Formalen stammt der Poetik zufolge größtenteils aus dem Erlebnis, welches über das Ausdruckskonzept mit dem verbunden ist, was Dilthey ›Bedeutung‹ nennt. Und es sind die kognitiv bestimmten »Assoziationen, die vom Inhalt her dem Rhythmischen und den Lautverbindungen eine Bedeutung geben« (GS VI 152). Sie leiten über zu dem vierten Gefühlskreis, in welchem Gefühle »aus der denkenden Verknüpfung unserer Vorstellungen entspringen und abgesehen von dem Verhältnis ihres Gehaltes zu unserem Wesen durch die bloßen Formen der Vorstellungs- und Denkvorgänge angeregt werden« (GS VI 152, Hvh. W.D.). Bezeichnenderweise ist dieser von ästhetischen Denkfiguren wie derjenigen der Einheit in Mannigfaltigkeit (aber auch Verstandesangemessenheit, der Witz, das Komische, das Gleichnis, die Antithese u. a.) ausgefüllte Gefühlskreis für Diltheys philosophisch geprägte Poetik der wichtigste. Aus ihm nämlich wird deren Akzentuierung des Schöpferischen angestoßen, wie sie für die weiteren Ausführungen der ›Einbildungskraft des Dichters‹ maßgeblich wird. Gleichwohl nimmt auch diese Akzentsetzung ihren Ausgang nicht im Aufzeigen von Komplexionen im Vorgang oder Resultat des poetischen Ausdrucks, sondern im »poetischen Eindruck« (GS VI 152). Die in Analogie zu Fechners Korrespondenzmodell von Reizklassen und Sinnesempfindungen entworfenen Gefühlskreise lassen sich nicht leicht aus der empirischen Bindung ihres Vorbildes herauslösen und in ein Ausdruckskonzept einfügen, in welchem sie sich um das Erlebnis als einem transzendentalen Schema im Sinne Kants146 drehen und es psychologisch fundieren sollen. So zeige die auf der Beobachtungsbasis des poetischen Eindrucks vorgenommene »Zergliederung in Elementargefühle« bereits die »große Verflechtung derselben«, welche später dem poetischen Ausdruck auf der Erlebnisbasis als 146 Im Sinne Kants für Dilthey als ein »Drittes […], was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muss und die Anwendung der ersteren auf die letztere möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muss rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transcendentale Schema« (Kant 1971, 134); cf. diese Stelle bei Müller-Vollmer (1963, 149).

Von den letzten drei Gefühlskreisen zur Überschreitung

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originäre Leistung der Einbildungskraft des Dichters zugeschrieben wird (GS VI 152). Allerdings ergebe sich die wirkungsästhetische Kraft von Poesie schon aus dem psychodynamischen Zusammenschließen der ersten vier Gefühlskreise, in denen die Inhaltsebene von Dichtung noch gar keine Rolle spielt. Die innerpsychische Mechanik einer Synthese von Elementargefühlen erklärt hier den rezeptionsästhetischen »Effekt […], durch welchen auch ein leidvoller Inhalt in ein Medium von Wohlklang, Harmonie, Rhythmus, unterhaltenden und erhebenden Formen des Vorstellens und Denkens tritt« (GS VI 152). Daran erkenne »man« – suggeriert Dilthey – wie die »Form in der Poesie ein Zusammengesetztes und gerade vermöge der Zusammensetzung der Gefühle höchst Wirksames ist« (GS VI 152). Dabei bleibt es durchaus schwer erkennbar, in welcher Art von Beziehung das Formalpoetische und Gefühlspsychologische stehen. Kann jenes durch dieses allein deshalb wirksam sein, weil beide kein ursprüngliches Ganzes, sondern je ein Zusammengesetztes sind? Was Dilthey ohne eine vergleichbare Empirie wie die der experimentellen Psychophysik hier fehlt, ist eine Methodik des Aufzeigens und Nachweisens, dass poetische sich in psychische Formen übersetzen, wie der Transfer zwischen Dichtung und Gefühlen stattfinden kann oder allgemein: wie formalästhetische Prinzipien in der Kunst mit elementarästhetischen Gesetzen der Subjektivität korreliert sind. Da er dieses bis heute virulente methodische Problem nicht durch eine (gefühls)psychologische Systematik lösen kann, welche auf Fechners Ästhetik aufbaut, lässt er zusammen mit deren experimentellen Vorgaben auch deren Orientierung an der Rezeption hinter sich.147 Entsprechend entwickelt Dilthey seine Erklärung der Korrelation zwischen dem Kompositionellen von Kunst, Musik und Poesie einerseits, der »Zusammensetzung der Gefühle« (GS VI 152) andererseits, auf der spekulativen Basis des verstehenden Nachbildens der Hervorbringung von Kunst. Das Seelenleben und der vom Erlebnis her gedachte Bedeutungszusammenhang im Produzenten (und nicht im Rezipienten) von Kunst weist bereits jene Komplexität auf, die dann durch jenen als Lebensentäußerung gedachten ästhetischen Ausdruck ins Kunstwerk gelangt. Diltheys analytischer Begriff der Struktur steht fortan für die Konnexion zwischen Psychischem und Poetischem. Er bildet anstelle des formalästhetisch bzw. gefühlspsychologisch bloß Zusammengesetzten ein integrales Ganzes, das mehr und etwas qualitativ anderes ist als die Summe von Elementen. Wie im ›psychischen Strukturzusammenhang‹ des Dichters das Partikulare seines Erlebens zu einer ›Totalstimmung‹ konfundiert, so finden sich

147 Siehe jedoch eine beiläufige Bemerkung wie: »Die Worte und Sätze einer Dichtung gleichen den Farbenklexen auf einem späten Rembrandt: erst die mitwirkende Einbildungskraft des Hörers oder Lesers gestaltet daraus Figuren« (GS VI 220).

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Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

in seiner als ›Erlebnisausdruck‹ verstandenen Dichtung deren verschiedenen Formelemente zu einem poetischen Strukturganzen organisiert. So wird das noch im vierten Gefühlskreis nach Fechner neben anderen reformulierte »Prinzip der einheitlichen Verknüpfung des Mannigfaltigen« (GS VI 153) aus seinem rezeptionsästhetischen Kontext in den produktionsästhetischen Kontext der ›Einbildungskraft des Dichters‹ gestellt. Die beiden letzten und zugleich innersten Gefühlskreise erfassen nunmehr die »aus dem Gehalt der Dichtung stammenden Wirkungen« samt der »Formen« in »allen Künsten« nach ihrer schöpferischen »Abstammung«, d. h. »aus dieser Mächtigkeit eines kernhaften Menschen« (GS VI 155). Dilthey meint trotz dessen wahrnehmungsästhetischer Grundausrichtung »mit Fechner Prinzipien (Gesetze)« formulieren zu können, »welche das Schaffen regeln und in dem Schönen verwirklicht sind« (GS VI 155). So ändert er Fechners »Prinzip der Wahrheit« kurzerhand ab in eines der »Wahrhaftigkeit, im Sinne einer mächtigen Wirklichkeit der dichterischen Person und der elementaren Antriebe in ihr« (GS VI 155). Letztere werden als künstlerische Verwandlung von »das ganze Leben hindurchgreifenden materialen Antrieben« aufgefasst, die den fünften Gefühlskreis abstecken (GS VI 154). Aus diesem greift die Poesie den »elementaren Stoff« des natürlichen Lebens, wie es unter kulturellen Bedingungen samt der unter deren Regime stehenden biologischen Trieben (u. a. Selbsterhaltung, Nahrung, Fortpflanzung) und sozialen Gefühlsgruppen (Sympathie, Mitleid, Liebe; Stolz, Scham, Missgunst usw.) erscheint (GS VI 154). Auch diesbezüglich wird vom rezeptions- auf den produktionsästhetischen Blickwinkel umgestellt: »Das Erleben der großen elementaren Antriebe der menschlichen Existenz, der aus ihnen entspringenden Leidenschaften und der Schicksale derselben in der Welt, nach ihrer kernhaften psychologischen Mächtigkeit, ist die eigentliche Basis alles dichterischen Vermögens« (GS VI 154).

An dieser Stelle gibt Dilthey eine Begründung für seine Präferenz des ästhetischen Schaffens und dem damit verbundenen Abrücken von der empirischen Grundlage der Fechnerschen Wahrnehmungsästhetik.148 Diese nur scheinbare Begründung besteht im Aufrufen der romantischen Vorstellung von einer anthro-poetologischen Superiorität des genialen Auserwählten, der überhaupt erst jene Kunst schafft, deren Wirkungen dann in der experimentellen Ästhetik beim rezeptiven Sterblichen untersucht werden: »Es macht zunächst der Grundlage nach den großen Dichter, daß in seiner viel mächtigeren Seele diese Antriebe breiter, massiver wirken als in den Seelen seiner Leser oder Zuhörer; von da entsteht die Erweiterung und Steigerung der ganzen Lebendigkeit,

148 Siehe ausführlicher zum bis heute wichtig gebliebenen Ansatz Fechners Heidelberger (1993).

Von den letzten drei Gefühlskreisen zur Überschreitung

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welche die am meisten elementare Wirkung aller Poesie auf diesen Leser oder Hörer ist« (GS VI 154f.).

Der sechste Gefühlskreis schließlich ergänzt den fünften um das Innewerden der »allgemeinen Eigenschaften der Willensregungen« und um deren »Wert«, wie er in einer eigenen Gruppe von Gefühlen (u. a. Kraft, Charakter, Konsequenz, Treue, Mut, Verehrung) samt ihrer »Transzendenz« zum »Lebensideal« erfahren wird (GS VI 155f.). Diese im Anschluss an Johann Friedrich Herbarts »sittliche Ideen« versammelten Gefühle und Selbst(wert)gefühle sieht Dilthey in der poetischen Gestaltung von Charakteren und Handlung am Werk. Das nach ihnen formulierte ›Prinzip der Idealität‹ gelte für die »Kunstwirkung« insgesamt, insofern sich am poetischen »Vorgang der Idealisierung« zeige, wie sich Strukturen des »Gefühlslebens« den »Formelementen« der Kunst »mitteil[en]« (GS VI 156f.). Dilthey meint mit seinen nach Gefühlskreisen geordneten »Prinzipien (Gesetze)« eine psychologische Ableitung dessen geleistet zu haben, was »Fechner aus der empirischen Betrachtung der ästhetischen Wirkungen abstrahiert hat« (GS VI 157). Angesichts der irreduziblen Vielzahl möglicher Verbindungen zwischen Reizen und Sinnesempfindungen, Vorstellungen und Gefühlen sowie zwischen unterschiedlichen Gruppen von Gefühlen muss allerdings mit einer unbegrenzten Vielzahl auch der ästhetischen Wirkungsmöglichkeiten gerechnet werden. Entsprechend ist die Zahl ästhetischer »Prinzipien, Normen oder Gesetze […] unbestimmt« (GS VI 157). Dennoch glaubt Dilthey »festen Fuß in dem Umkreis der ästhetischen Gesetze« gefasst zu haben (GS VI 157). Denn diese erhalten »unabhängig vom Wechsel des Geschmacks und der Technik« ihre »beständige Gültigkeit« aus dem, was Dilthey auch seiner ausdruckshermeneutischen Theorie als fundamentum inconcussum zugrunde legt: eine transzendental verfasste Subjektivität »der immer gleichen menschlichen Natur« (GS VI 157). Damit beansprucht Dilthey die systematische Problemkonstellation der modernen Poetik überwinden zu können, wie sie sich historisch seit dem »Gegensatz von Herder und Kant« ergab (GS VI 157). Zum einen wird der Geschichtlichkeit individuellen und kollektiven Lebens und dessen Ausdruck in der Dichtung Rechnung tragen, zum anderen werden aus der psychologischen »Analysis der menschlichen Natur« überhistorische Elementargesetze gewonnen, »welche unabhängig vom Wechsel der Zeit den ästhetischen Eindruck wie das dichterische Schaffen bestimmen« (GS VI 157). Dieses sowohl historisch als transzendental bestimmte Konzept soll also dadurch möglich sein, dass die Poetik zwar durch die »Bewußtseinslage in einem Volke zu einer gegebenen Zeit bedingt« ist (GS VI 157). Jedoch sei diese Begrenzung der Gültigkeit einer Regelpoetik ihrerseits begrenzt: nämlich durch die von Dilthey nun psychologisch begründeten aber zugleich anthropologisch generalisierten

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Die Poetik der Einbildungskraft und ihre psychologische Grundlegung

»Prinzipien, die so allgemeingültig und notwendig den Geschmack und das Schaffen beherrschen wie die logischen das Denken und die Wissenschaft« (GS VI 157). Soweit sieht es nach einem historisch-systematischen Ausgleich aus, der zwischen einer poetiktheoretischen Position, die durch geschichtlichen Relativismus gekennzeichnet ist (Herder), und einer anderen, die durch transzendentalen Prinzipialismus gekennzeichnet ist (Kant), zu vermitteln versucht. Diese von Dilthey sich selbst gestellte Aufgabe steht in Verbindung zu seinem philosophischen Anspruch auf eine methodologische Grundlegung historischen Verstehens. Dabei arbeitete Dilthey sich an Kant, dessen historische Bedeutung er für die Wissenschaftstheorie fast durchweg positiv vermerkte, ein Leben lang vergeblich ab.149 Strebte er doch eine Objektivität der Geschichtserkenntnis an, die dem Kantschen Modell der Naturerkenntnis verpflichtet ist und es zugleich überwindet. Auf das die Erkenntnistheorie wie die Philosophie überhaupt betreffende Problem der »Geschichtlichkeit« macht ihn sein Freund Graf Yorck von Wartenburg in einem Brief aufmerksam: »Ist doch die ganze unkritische Kritik Kants nur geschichtlich zu verstehen, also zu überwinden. Das Selbstverhalten und die Geschichtlichkeit sind wie Atmen und Luftdruck – und – es mag dies einigermaßen paradox klingen – die Nicht-Vergeschichtlichung des Philosophierens erscheint mir in methodischer Beziehung als ein methodischer Rest.«150

In Diltheys geisteswissenschaftlichen Grundlegungsversuchen wirkt ein solcher ›methodischer Rest der Nicht-Vergeschichtlichung‹ in einer Tendenz zur epistemischem Generalisierung nach. Wir haben das an Stellen bereits gesehen, wo Dilthey das Verstehen von bestimmter Individualität zum Verstehenwollen von Individualität überhaupt geriet; und wie das Verstehen geschichtlichen Lebens ›aus dem Leben selbst‹ auf ein Verstehen typologischen Lebens über einen strukturalen Ausdrucksbegriff hinauslief.151 Ähnliches ist nun in dem an die 149 Siehe z. B. dazu seine Antrittsvorlesung in Basel (1867) »Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770–1800« und auch die Antrittsrede in der Akademie der Wissenschaften (1887) in GS V 10–27, insbes. 12f., 27. Siehe hingegen kritisch noch den jungen Dilthey, der bezüglich der Geschichtlichkeit der Anschauungsformen und Erkenntnisweisen ambivalent bleibt: »Das a priori Kants ist starr und tot; aber die wirklichen Bedingungen des Bewußtseins und seine Voraussetzungen, wie ich sie begreife, sind lebendiger geschichtlicher Prozeß, sind Entwicklung, sie haben ihre Geschichte, und der Verlauf dieser Geschichte ist ihre Anpassung an die immer genauer induktiv erkannte Mannigfaltigkeit der Empfindungsinhalte. Das Leben der Geschichte ergreift auch die scheinbar starren und toten Bedingungen, unter welchen wir denken. Nie können sie zerstört werden, da wir durch sie denken, aber sie werden entwickelt« (GS XIV, 44). 150 Graf Yorck von Wartenburg (1923, 69); zit. n. Cacciatore (2013, 65). 151 Dies scheint Cacciatore (2013) zu unterschätzen, wenn er Dilthey »nicht im Zeichen einer einschränkenden und deterministischen Anwendung der Identität Leben/Geschichte« gelesen wissen will; stattdessen betont er Diltheys Absicht, blendet die damit verbundenen Probleme aber aus, wenn er dessen »Auffassung der psycho-anthropologischen Indivi-

Von den letzten drei Gefühlskreisen zur Überschreitung

139

Klassifikation der ›Gefühlskreise‹ anschließenden Kapitel zu beobachten, in welchem ›Die Gleichförmigkeiten im Kausalzusammenhang des Gefühlslebens und einige aus ihnen stammende höhere Gesetze der Poetik‹ behandelt werden. Denn die hypothetische Vermittlung der benannten poetikhistorischen Positionen (›Gegensatz von Herder und Kant‹) droht in eine aporetische Überblendung der ersten durch die zweite zu münden. Die Geschichtlichkeit der je aktuellen »Bewußtseinslage«, welche deren Subjekte individualisiert und überkommene Regelpoetiken modifiziert, verschwindet unter der Transzendentalität unveränderlicher Subjektstrukturen, in denen »unsere Gefühle […] in der Unterschiedslosigkeit des Gemein-, des Lebensgefühls« verschmelzen (GS VI 158).

dualität als Lebenszusammenhang, als Materie von vielfachen und einzelnen Erfahrungen, die immer auf das Ganze des Lebens zurückführbar sind« (65) erklärt und so allenfalls simplifizierende Fehldeutungen von Diltheys Denken korrigiert.

VI.

Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen: Kritik der Bausteine für eine Poetik

1.

Assoziationspsychologie nach Fechner, Versöhnungsästhetik der Harmonie und die transzendente Stimmung der ›Weltsinfonie‹

Auch auf der elementarästhetischen Gefühlskreisebene von Diltheys Poetik verengt sich deren Interessenkreis auf die theoretische Grundlegung von dem, was seine Philosophie insgesamt als »Erlebnis« fixiert und »welches den kernhaften Gehalt aller Dichtung bildet« (GS VI 161). Hierzu werden die experimentellen Befunde Fechners als die empirische Basis zu benutzen versucht, auf der sein theoretischer Entwurf von Gefühlskreisen aufbaut, die sich in der ästhetischen Erfahrung und Produktion dynamisch miteinander verbinden. Dabei geht es nicht mehr um einen empirisch konkretisierbaren Prozess des Übergangs von einem bestimmten Gefühl zu einem diesem entsprechenden »Versmaß, Rhythmus und Reim« oder umgekehrt (GS VI 158). Stattdessen geht es um die »Art, wie elementare Gefühle sich verbinden« und im ästhetischen Eindruck eine Struktur bilden, die sich zur »Stärke des Totaleffektes, die wir wie eine Einheit fühlen«, verdichtet (GS VI 158). Dies entspricht mutatis mutandis Fechners »Prinzip der ästhetischen Schwelle«, welches im Sinne einer Gestalttheorie avant la lettre ein »größeres Lustresultat« unter ästhetischer Wirkung verzeichnet, »als daß es als Summe der Einzelwirkungen erklärt werden könnte«.152 Dilthey »ersetzt« Fechners Prinzip durch dasjenige »der Totalwirkung, nach welchem ein mannigfaches elementares Gefühl sich zu einer Totalstärke summiert, welche durch die Beziehungen dieser elementaren Gefühle aufeinander noch erhöht wird, da aus diesen ein die Totalsumme des Gefallens vermehrendes Gefühl hinzuwächst« (GS VI 158f.).

Ausgehend von den bei Fechner durch äußere Reize ausgelösten Sinnesempfindungen gilt Diltheys Aufmerksamkeit weniger dem daraus analogisch ge152 Fechner (1876, 50); zit. n. Dilthey (GS VI 158f.).

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Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen

schlossenen Verhältnis zwischen ursächlichem Reiz und bewirktem Gefühl, sondern sie gilt der strukturalen Einbettung des neuen Gefühls in sein psychisches Milieu aus bereits vorhandenen Gefühlen und hinzukommenden Reizen. Dilthey spricht diesbezüglich vom Prinzip der »Relativität der Gefühle«, welches wiederum auf Fechnersche ästhetische Prinzipien, namentlich diejenigen des »ästhetischen Kontrastes« und der »ästhetischen Folge«, aufbaut und von diesen abstrahiert (GS VI 159). An die diesen Prinzipien zugrundeliegenden Beobachtungen von wirkungsästhetischen Bedingungszusammenhängen knüpft Dilthey seine dynamische Auffassung dessen an, was er Strukturzusammenhang nennt. Wie wir weiter oben (Kap.II) gesehen haben, spielt dieser Begriff nicht nur für die Analytik des Seelenlebens und die darauf aufbauende Poetik der Einbildungskraft eine wichtige methodische Rolle, sondern auch für den ›Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹ insgesamt. Sein Auftauchen in verschiedenen Schriften signalisiert meistens eine theoretische Scharnierstelle zwischen der Sphäre des ›seelischen Lebens‹ und der des ›objektiven Geistes‹, zwischen Psychologie und Historizität oder zwischen Ästhetik und Wissen.153 Diltheys Begriffe ›Struktur‹ und ›Zusammenhang‹, vor allem aber deren Kompositum tragen die Signatur eines Denkens, das analytischen und synthetischen Impulsen gleichermaßen nachzugeben geneigt ist, um so einer phänomengerechten Differenzierung und zugleich ganzheitlichen Konturierung seiner Erkenntnisgegenstände Rechnung zu tragen. In der Folge kommt es freilich zu nicht immer klar unterscheidbaren Begriffsverwendungen, wie wir im Kontext der Weltanschauungslehre (Kap.II) gesehen haben. Dort konnte die für eine Weltanschauung als konstitutiv angesetzte Ebene etwa »Gemütsverfassung«, »psychischer« oder »seelischer Strukturzusammenhang« oder aber »Stimmung« heißen, um gelegentlich doch noch von einer ›untersten Schicht‹ namens ›Grundstimmung‹ oder ›universale Lebensstimmung‹ getragen zu sein. Wenn letztere dort ein tiefenstrukturales »Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit« (GS VIII 83) organisierten, so konnten sie pauschal die Stimmung einer Zeit oder Epoche meinen, also auf individuelle wie auch auf kollektive Subjekte bezogen sein – wie z. B. im Fall der »Nation« oder einer »moralisch politischen Grundstimmung« (GS XXV 324). Dies gilt ebenso für den dann von Lebens- oder Grundstimmung kaum unterscheidbaren Begriff der »Bewußtseinslage« (GS VI 305). Bedingte er in der Weltanschauungslehre »die Art der Verknüpfung des Wissens einer Zeit« (GS VIII 7, 9, cf. 83), so steht er in der Poetik für eine subjektive »Bewußtseinslage«, 153 Bezeichnend hierfür ist die Verwendung von Ausdrücken wie ›psychischer Strukturzusammenhang‹, ›Strukturzusammenhang des Wissens‹ sowie auf den dazwischenliegenden des ›erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens‹.

Assoziationspsychologie, Versöhnungsästhetik und die transzendente Stimmung

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die unter der »Totalwirkung«, welche von der Verknüpfung elementarer Gefühle im ästhetischen Eindruck ausgeht, eine »Veränderung« erfährt (GS VI 159). Ähnlich wie der Begriff ›Strukturzusammenhang‹ eine Übergängigkeit der Betrachtungsperspektive etwa zwischen Subjektivem und Objektivem indiziert, so öffnet derjenige der ›Bewußtseinslage‹ an dieser Stelle den Blick vom Elementaren aufs Strukturelle. Nicht mehr von einem distinkten Reiz im wirkungsästhetisch konkreten Sinne Fechners ist die Rede, sondern abgehoben von dessen empirischer Grundlage spricht Dilthey allgemein von einem »Lebensreiz« (GS VI 159). Dessen Auftreten mache die »Gefühlslage« sowie die von dieser hier nicht unterschiedene »Bewußtseinslage« – es könnte ebenso vage ›Stimmungslage‹ heißen (cf. GS VI 181) – in einem »neuen Gefühl« erlebbar (GS VI 159). Ohne Fechners Präzision die psychophysische Zweiseitigkeit betreffend geht Dilthey weiter von dessen Vorschule aus, wenn schließlich das darin entwickelte ästhetische Prinzip der Versöhnung154 zu einem der ›höheren Gesetze der Poetik‹ erhoben wird: »Da die Kunst vielfach nur im Zusammenhang mit Unlustreizen die Lustreize ins Spiel setzen kann, [können] bei richtiger Anordnung Unlustreize durch nachfolgende Lustreize kompensiert werden; so wird ein disharmonischer Akkord in einem harmonischen aufgelöst, und eine Lage voll Gefahr und Not wird in der Dichtung zu glücklichem Ende geführt: in dieser nachfolgenden Lust schwindet die Unlust« (GS VI 159).

Die experimentalwissenschaftliche Terminologie der ›Lust-/Unlustreize‹ leitet an dieser Stelle über zu Diltheys Versuch, in »ein sehr dunkles Gebiet« (GS VI 160) mit möglichst sicheren methodischen Schritten vorzudringen. Es handelt sich dabei um die Problemstellung, wie schon einmal dagewesene Gefühle sich erneuern können, wie sie durch Erinnern reproduziert werden und damit verbunden: wie sie in die materialen Settings von Kunstwerken gelangen. Neben der Frage nach den ursprünglichen Entstehungsbedingungen, inneren und äußeren Lebensumständen oder Situationen, in denen bestimmte Gefühle erstmals oder wiederholt aufgetreten sind, ist für das Verständnis der Reproduktion von Gefühlen Fechners Prinzip der Assoziation155 von großer Bedeutung. In besonderem Maße sind Assoziationen im ästhetischen Eindruck wirksam, wo sie Empfindungen mit Gefühlen in Berührung bringen, diese sich untereinander verbinden und aufeinander folgen lassen, und sie zu einem mehr oder weniger weit gespannten Gefühlsnetz verknüpfen. 154 Fechner (1876, Bd. II, 238); zit. n. Dilthey (GS VI 163). 155 Dilthey zitiert die Formulierung bei Fechner (1876, Bd. II, 94): »nach Maßgabe, als uns das gefällt oder mißfällt, woran wir uns bei einer Sache erinnern, trägt auch die Erinnerung ein Moment des Gefallens oder Missfallens zum ästhetischen Eindrucke der Sache bei, was mit anderen Momenten der Erinnerung und dem direkten Eindruck der Sache in Einstimmung oder Konflikt treten kann« (GS VI 163).

144

Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen

Im Fall des Musikerlebens führt dies vom »sinnlichen Wohlgefallen an den Tönen« zum »Prinzip der Bedeutung von Tönen und Rhythmen, da der Wechsel in Stärke und Höhe der Töne oder in Schnelligkeit ihrer Abfolge psychologisch zu dem Wechsel der Gefühle in gesetzmäßiger Beziehung steht« (GS VI 161). Während die Untersuchung solcher Gesetzmäßigkeiten ins »fruchtbare Gebiet experimenteller Psychologie und Ästhetik« gehört, erklärt Dilthey die Bedeutung des Assoziationsprinzips für die Poetik an seinem zentralen Begriff des Erlebnisses: »Denn das Erlebnis, welches den kernhaften Gehalt aller Dichtung bildet, enthält immer einen Gemütszustand als ein Inneres und ein Bild oder einen Bildzusammenhang, Ort, Situation, Personen, als ein Äußeres: in der ungelösten Einheit beider liegt die lebendige Kraft der Poesie. Daher repräsentiert nun das Bild selber oder ein ihm verwandtes einen Gemütsgehalt; der Gemütsgehalt versinnlicht sich in diesem oder einem verwandten Bilde. Jede Art von dichterischem Gleichnis, von dichterischer Symbolik läuft an diesem Faden« (GS VI 161).

Allerdings folgt Diltheys eigener interpretatorischer Umgang mit literarischen Werken dann nicht nur, aber doch eher dem Faden lebensgeschichtlicher Rekonstruktion im Kontext des ›objektiven Geistes‹ einer Epoche und deren Zeitstimmung. Wie die nur vage spürbare Stimmung einer Zeit aber im künstlerischen Ausdruck mit der genau gespürten Gemütsstimmung eines Dichters verbunden oder besser: abgestimmt sein könnte, das lässt sich anhand der eben zitierten Passage begreiflich machen.156 Deren stimmungstheoretischer Gehalt liegt dabei nur implizit vor und erschließt sich vor dem Referenzhintergrund der von uns oben mit einbezogenen Schriften. Das darin explizierte ›Erlebnis‹ kennen wir aus dem hermeneutischen Theoriefeld als ein Aggregat, in welchem die Strukturzusammenhänge des psychischen Lebens eines historischen Individuums einerseits und des kulturellen Wissens einer Zeit andererseits ineinander übergreifen. Der solchermaßen psychologisch und wissensgeschichtlich konstituierte Strukturzusammenhang wurzelt in einer der subjektiven Reflexion kaum zugänglichen Grundschicht, die Dilthey ›universale Lebensstimmung‹ nennt. Im Kontext des Entstehens von schöner Literatur spricht Dilthey von ›poetischer Stimmung‹. Sie bildet darin die elementarästhetische Sphäre, aus der heraus das dichterische ›Erlebnis‹ zu seinem Ausdruck findet. Im obigen Zitat fällt das Wort ›Stimmung‹ nicht, aber die Bedeutung ihres poetischen Begriffes wird als die dynamische ›Einheit‹ erfasst, aus welcher die Poesie ihre ›lebendige Kraft‹ schöpft. Durch diese protostrukturale Einheit der Stimmung hindurch sind nämlich jene beiden Seiten voneinander ›ungelöst‹, in welche das ›Erlebnis‹ sich ›als ein Äußeres‹ und ›als ein 156 Gelegentlich wird sogar ›Gemütsstimmung‹ auf kollektive Subjekte bezogen – wie z. B. »die deutsche Gemütsstimmung« (DM 96). Siehe dazu ausführlich Kap.VII.

Assoziationspsychologie, Versöhnungsästhetik und die transzendente Stimmung

145

Inneres‹ auseinander faltet: hier das Erleben seelischer Befindlichkeit in einem ›Gemütszustand‹; dort das Erleben um- und mitweltlicher Befindlichkeit an einem ›Ort‹, in einer ›Situation‹, mit sich und anderen ›Personen‹. Diese mit der Innenseite abgestimmte Außenseite des als Kerngehalt ›aller Dichtung‹ aufgefassten ›Erlebnisses‹ aber bezeichnet Dilthey in unserem Zitat als ›ein Bild oder einen Bildzusammenhang‹.157 Dadurch wird das ästhetische Prinzip der Assoziation in und durch Bilder zurückgebunden an den psychologischen Mechanismus der Assoziation; das dichterische Erlebnis wird als Spezialfall des gewöhnlichen Erlebnisses kenntlich gemacht. Im Unterschied zu letzterem indes vermag das Erlebnis des Dichters sich Ausdruck zu verschaffen im Werk, indem es im Kunstschaffen zur Objektivation seiner Subjektivität gelangt. Diesen Transfer der ›Lebendigkeit‹ aus den psychologischen Formen der assoziativen Bilder in die materialen Formen der ästhetischen Bilder aber kann die Poesie nur kraft jener ihr zugrundeliegenden Stimmung leisten. Denn diese ermöglicht es ihr, die erlebnishafte Dualität von Subjekt und Objekt, Innerem und Äußerem und auch von Urbild und Abbild zur ›ungelösten Einheit‹ der elementarästhetischen Komplexion aufzuheben. Im Gegensatz zur bloß psychologischen ›assoziiert‹ die poetische Stimmung auch Inneres mit Äußerem, Imaginäres mit Imaginativem, Imagines mit transsubjektiven Bildern – in Diltheys Worten: ›das Bild selber oder ein ihm verwandtes repräsentiert einen Gemütsgehalt; der Gemütsgehalt versinnlicht sich in diesem oder einem verwandten Bilde.‹ Die Bildlichkeit der poetischen Sprache spiegelt hier die Bildhaftigkeit der dichterischen Einbildungskraft. Die Kreativität des Künstlers überträgt sich in diejenige der Sprache; etwas Geistiges ›versinnlicht‹ sich zu Materiellem. Metaphorik im weiten Sinne (›jede Art von dichterischem Gleichnis‹) bis hinein in die Spontaneität semantischer Innovation wird so deutlich oder doch deutbar als materialer Reflex von Subjektivität im Ausnahmezustand der Phantasietätigkeit. Dilthey aber sieht diesen Zusammenhang von Imagination und Sprachbildlichkeit hier nicht, da er sich auf das ›Gefühlsleben‹ und seine innerpsychische Gesetzlichkeit konzentriert. Das von ihm angeführte Illustrationsbeispiel Shakespeares verschleiert diese psycho-tropologische Deutungsperspektive sogar noch, indem es nur die psychologische Seite, »die innere Gebundenheit der Seele Hamlets an den Schatten seines Vaters« (GS VI 161) in den Blick nimmt. Einmal mehr geht es nur um »diese inneren Zuständlichkeiten«, denen »äußere Bilder vor die Seele« (GS VI 161) gespiegelt werden, nicht aber um deren theoretisch vorerst unbeleuchteten Übergang in Sprachbilder. Gleichwohl ist der Übergang vom Psychischen in eine Objektivation desselben die Grundlage von Diltheys Konzept des Ausdrucks, das

157 Zur Bedeutung dieser Begriffe innerhalb von Diltheys poetischem Denken siehe Rodi (1969).

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Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen

die Hermeneutik auf das Verstehen von Leben und die Poetik auf die Perspektive des Schaffens festlegt. Letztere bleibt auch bestimmend für die Diltheys Behandlung der poetischen Technik, in der die Analyse der sprachlichen Darstellungsmittel der Einbildungskraft aber durchaus als Aufgabe formuliert wird: »Die Poetik hat zu zeigen, wie die im Kern der Fabel wirksame Natur des dichterischen Schaffens sich zuletzt in diesen Darstellungsmitteln [bildlicher Ausdruck, Figur, Tropus, Metrum, Reim] kundgibt« (GS VI 226; Hvh. W.D.).

Aus den Traditionen der Rhetorik und Poetik seit der Antike bis in die französische Klassik hinein, in denen der Formaspekt »mustergültig entwickelt worden« ist, sieht Dilthey das Desiderat erwachsen, eine »dynamische Betrachtungsweise« zu entwickeln (GS VI 226; Hvh. W.D.). Hier jedoch geht es um die psychologischen Grundlagen, wie Dilthey sie »für die Lösung dieser Aufgabe« legen möchte (GS VI 226). Der Schnittpunkt zwischen Psychologie und Poetologie wird nicht unter sprachästhetischem, sondern unter assoziationspsychologischem Aspekt beleuchtet. Dadurch sollen die unmerklichen und oft in mehrere Richtungen gleichzeitig geöffneten Übergänge innerhalb sowie zwischen den Relationsebenen der Sinnesempfindungen, der Gefühle, der Triebe, der Vorstellungen, der Erinnerungen, der Gedanken und des Willens theoretisch sichtbar gemacht werden. Zunächst absehend vom Ästhetischen wird aus dieser prozessualen Gemengelage der Übergang vom Innewerden von Gefühlen zu Willensvorgängen herausgehoben und unter einem psychologischen Gesetz gesehen: »wir streben, die Lustgefühle festzuhalten und von den Unlustgefühlen aus mindestens in eine Gleichgewichtslage zu gelangen« (GS VI 162). Demgemäß ziele der Wille auf die Herstellung innerer und äußerer Bedingungen, die das Leben in ein möglichst harmonisches Stimmungsverhältnis zur Wirklichkeit versetzen. In historischer Perspektivierung sieht Dilthey in der Entwicklungstendenz hin zu einer »innerliche[n] Religiosität« der »Versöhnung mit dem Unbezwinglichen« ein psychokulturelles Pendent dazu (GS VI 162). Die psychologische Drift heraus aus Unlustzuständen in solche der Lust findet Dilthey auch im Bereich von Musik und Dichtung wieder und sieht dieses gar nicht kunstspezifische Phänomen verwirklicht im von Fechner übernommenen ästhetischen Prinzip der Versöhnung (Fechner 1876, II 238). Die Phantasiereiche der Kunst indes erlauben ein Höchstmaß der Freiheit, die begehrte ›Gleichgewichtslage‹ imaginativ einzunehmen. Entsprechend laufe »jedes Dichtwerk« auf einen »versöhnenden Endzustande« hinaus, »läge auch dieser Endzustand nur in dem Gedanken, der über das Leben erhebt« (GS VI 162).158 So wird aus der

158 Für diese Sicht insbes. auf Literatur wurde Dilthey kritisiert von Wellek (1959, 426f.); siehe

Assoziationspsychologie, Versöhnungsästhetik und die transzendente Stimmung

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Psychodynamik des künstlerischen Schaffens die Ästhetik eines erbaulichen Erhabenen abgeleitet, die in der »Rückkehr in den Frieden« oder in »versöhnte[r] Einheit« ihren imaginären Schlussstein gesetzt sieht (GS VI 163). Sie findet Dilthey zufolge ihre Illustration in den poetischen Meisterwerken Goethes und Shakespeares wie auch im »metaphysischen Mythos« eines »Plotin oder Spinoza oder Schopenhauer« (GS VI 163). Eine solche aus psychologischem Verlangen auf harmonischen Ausgleich setzende, mit metaphysischen Vorstellungen von ursprünglicher Einheit sowie finaler Ganzheit gleichermaßen ausgestattete Erhabenheitsästhetik korrespondiert eine bestimmte Sinndimension des deutschen Wortes Stimmung. Die in diesem seit der Antike nachklingende Metaphysiktradition hat Spitzer (1963 [1944]) in seiner begriffsgeschichtlichen Untersuchung bis hinein in ihre mentalitätsgeschichtlichen Sedimentierungen nachgezeichnet. Das nach dieser historischen Semantik des Stimmungsbegriffes mit aufgerufene Resonanzspektrum innerhalb der abendländischen Kultur hat seinen Ursprung im platonisch-pythagoreischen Philosophem der Sphärenmusik oder Weltharmonie. Auf dieses metaphysische Stimmungskonzept ist Diltheys Ästhetik implizit bezogen. Hingegen beruft sich seine psychologische Ableitung ›höherer Gesetze der Poetik‹ explizit auf Fechners ästhetische Prinzipien. Damit geht sie von einem empirischen Ansatz für eine sehr allgemeine Kunstbetrachtung aus und endet mit formalen Schematisierungen von Dichtung und ihren Gattungen. Dabei geht sie ohne methodologische Skrupel vom Ideal induktiver Methodik über zum Normativismus regelpoetischer Verfahren und gerät in die Nähe der kosmotheologischen Spekulation auf sphärenharmonische Transzendenz: »Auch die epische Dichtung großer Form, als welche in irgendeiner Art die ganze Welt und deren Ordnung erblicken läßt, muß einer Sinfonie gleichen, in welcher eine Disharmonie nach der anderen sich auflöst und schließlich in mächtigen harmonischen Akkorden das Ganze ausklingt« (GS VI 163).

Die während der letzten Jahre von Diltheys Lebenszeit anhebenden Kunstavantgarden der Moderne haben bekanntlich solchen den klassischen Kunstidealen entsprechenden Prinzipien ganzheitlicher Versöhnung, harmonischer Auflösung und Einheit in Mannigfaltigkeit hiervon abweichende Prinzipen entgegengesetzt. Danach führt das elementarästhetische Zusammenspiel von Sinnesempfindungen, Gefühlsvorgängen, Vorstellungsinhalten, Willens- und Erinnerungsprozessen nicht mehr geradewegs auf einen impressionistischen Gipfel, »der über das Leben erhebt« (GS VI 163). Vielmehr führt dessen Dynamik oft zwangsläufig seitwärts in expressionistische Abgründe, die das Leben in sich hingegen Welleks allgemeinere Anerkennung der Bedeutung Diltheys für die Literaturwissenschaft in Wellek/Warren (1995, 13, 86, 120, 122, 195).

148

Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen

selbst hineinziehen und unter die Schwelle zum Ungeheuren drücken. So haben die modernen Wirkungsästhetiken des Hässlichen, Schockierenden, Disparaten oder Heterogenen schließlich die Kunstpraxis im 20. Jahrhundert und noch deren postmoderne Theorierevisionen im Zeichen der Differenz weitgehend bestimmt. Dadurch wurde auch der den Poetikentwurf von Dilthey bestimmende Versuch einer Integration von transzendentalpsychologisch formulierter Elementargesetzlichkeit und historisch variabler Darstellungstechnik seine Grenze gesetzt. Und zwar ausgerechnet in demjenigen, was die Diltheysche Lebensphilosophie und Hermeneutikkonzeption als ihr unhintergehbares Grundtheorem umkreist hat: die Geschichtlichkeit noch der eigenen Position.

2.

Diltheys Vernachlässigung der rezeptionsästhetischen Eindrucksdimension und sein Vertrauen auf poetologische ›Selbstzeugnisse‹

Dilthey sieht es als entscheidenden Fortschritt seiner Poetik an – in Abgrenzung etwa zu Fechner und Herbart, die vom ästhetischen Eindruck ausgingen – sich mit seinem Zentralbegriff »Erlebnis« ganz auf »das dichterische Schaffen« zu konzentrieren (GS VI 190).159 In seiner Poetik, deren Titel Die Einbildungskraft des Dichters bereits ihren theoretischen Fluchtpunkt festschreibt, wird die Vernachlässigung des Rezeptiven etwas nachvollziehbarer. Dort nimmt er auf die »ästhetischen Methoden des 18. Jahrhunderts« Bezug und stellt Herbart und Fechner in die Tradition des schottischen, englischen und französischen Empirismus (GS VI 254). In ihr hat die »Analysis des Eindrucks, welchen das ästhetische Objekt hervorruft«, ihre Provenienz (GS VI 256; Hvh. W.D.). Demgegenüber sieht Dilthey ein Grundtheorem der ›deutschen Ästhetik‹ darin, »daß im ästhetischen Eindruck nur gemindert derselbe zusammengesetzte Vorgang vorliegt wie im ästhetischen Schaffen«.160 Zwar beansprucht er gegenüber dem metaphysischen Zug der »idealistischen Ästhetik« für sich »das Prinzip einer empirischen und darum psychologischen« Ästhetik (GS VI 232).

159 Dilthey erklärt den historischen Ansatz seiner Poetik in bewusster Opposition zu Fechners »aus Wirkungselementen summierende[n] Ästhetik« auch in seinen Ausführungen zur »Geschichtlichkeit der poetischen Technik«, deren erster Grundsatz lautet: »Aus den Prinzipien des poetischen Eindrucks und aus den wirksamen Möglichkeiten der Verknüpfung eindrucksvoller Bestandteile zu einer inneren Form entsteht der technische Zusammenhang des dichterischen Werkes, indem ein geschichtlich erwachsener Gehalt mit diesen Mitteln die ihm zugehörige Form ausbildet« (GS VI 228f.). 160 So Dilthey zur Begründung des von ihm so genannten »Schillerschen Gesetzes« (GS VI 118, cf. 117).

Diltheys Vernachlässigung der rezeptionsästhetischen Eindrucksdimension

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Dennoch steht er zur deutschen, idealistischen Ästhetik, »die im Grunde eine metaphysische ist« (GS VI 232), in einem Nachfolgeverhältnis, insofern er deren Primat des Schaffens aufrechterhält, namentlich dass das ›Seelische‹ in der Kunst allein vom Künstler her verstanden werden können soll. Sei der ästhetische Eindruck doch nichts weiter als nachgebildeter Ausdruck, »das abgeblaßte Abbild jenes schöpferischen Vorganges«, der Prozess der ästhetischen Rezeption also allenfalls sekundär zur Produktion (GS VI 191). Nicht erklären lässt sich auf diesem Weg indes Diltheys zur methodischen Grundlegung ausgebaute theoretische Präferenz des Erlebnisses. Aus dieser ergibt sich immerhin die Akzentuierung des Momentes der Äußerung im Ausdrucksbegriff gegenüber dessen Bedeutungsaspekt der Gestalt. Daraus wiederum ergibt sich das Naheliegen einer letztlich doch psychologischen und nicht ›kunsthermeneutischen‹ Grundlegung – wie es Diltheys Theoriebildung insgesamt bestimmt hat. Aus Schillers ästhetischen Briefen übernimmt Dilthey dessen Auffassung vom ästhetischen Vorgang als einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis von Gestalt und Leben und bringt es auf die ausgewogene Formel einer ständigen »Übersetzung von Erlebnis in Gestalt und von Gestalt in Erlebnis« (GS VI 117). Noch im musikalischen Verstehen ist entsprechend davon die Rede, dass das, »was psychologisch im Künstler wirksam ist, Gang von Musik zum Erlebnis oder von diesem zur Musik oder beides abwechselnd sein [kann]« (GS VII 222). Jedoch bleibt der Gang von Musik zum Erlebnis theoretisch ebenso unbeleuchtet wie die Übersetzung von Gestalt in Erlebnis ästhetiktheoretisch nicht ernst genommen wird. Die ästhetische Gestaltqualität von Musik oder Dichtung, die im idealistischen Denken noch objektiver Gegenhalt der subjektiven Reflexion und Weltgehalt der Selbsttätigkeit war, wird von Dilthey der psychologischen Lebensentäußerung nachgeordnet und – ohne Gründe anzugeben – depotenziert. Dies scheint der Preis zu sein für die methodologische Aufwertung der Subjektposition, von der er sich den Rückgewinn einer »tieferreichende[n] Einheit« für die Ästhetik verspricht (GS VI 232). Damit wendet er sich insbesondere gegen Verfahren der formalistischen und experimentellen Ästhetik, die er als »bloße Aufzählung von beziehungslosen ästhetischen Ideen bei Herbart, oder von beziehungslosen Prinzipien der Lustwirkung bei Fechner« abtut (GS VI 232). Dies ist umso unverständlicher, als dass Dilthey – wie wir gesehen haben – von der Psychophysik die ästhetische Grundlage für sein Konzept der »Gefühlskreise und die aus ihnen stammenden ästhetischen Elementargesetze« (GS VI 148–57) bezieht. Die in letzterem entwickelte Reihe von ästhetischen Prinzipien geht schließlich vollständig auf Fechner und seine Vorgänger zurück. Sie verschaffen Diltheys Poetik überhaupt erst eine auf Erfahrung basierte Perspektive, die in der Wahrnehmungssinnlichkeit ihren Fluchtpunkt fände. Von Fechner her hätte Dilthey auch seinen Anspruch auf Empirie für seine »Bildungsprozesse« einlösen können. Voraus-

150

Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen

gesetzt, er hätte die dem Anspruch nach experimentell fundierte Formalästhetik nicht wiederum als Empirismus verworfen; namentlich zugunsten einer idealistischen Überhöhung der »Stellung des künstlerischen Schaffens im Zusammenhang des Seelenlebens« (GS VI 144). So beschränkt er die »Analysis des Gefühls« auf die Suche nach dem »Schlüssel für die Erklärung des künstlerischen Schaffens« (GS VI 148), statt sie zugleich für die Rezeption von Kunst fruchtbar zu machen. Und dies, obwohl es bei Diltheys Untersuchung der »Bildungsprozesse […] unter Einwirkung der Gefühle« um die Formulierung eines anthropologischen Grundgesetzes geht, das für die »Individualexistenz« ebenso wie für die »Menschheit« insgesamt, insbesondere aber für die Kunst als Vermittlerin von Gefühlen gilt: »daß Vorstellungen, die von einer Gefühlslage aus geformt sind, wiederum diese regelmäßig hervorrufen können. Insbesondere suchen die gesteigerten Gefühlslagen gleichsam eine Entladung in Gebärden, Lauten und Vorstellungsverbindungen, die dann als Symbole dieses Gefühlsgehalts im Betrachter oder Hörer das Gefühl wieder anregen. So ruft ein Sinken oder Heben der Stimme, ein bestimmtes Tempo, Wechsel in Stärke oder Tonhöhe oder Geschwindigkeit, wie sie aus der Gefühlslage hervorgehen, auch wieder ein entsprechendes Gefühl hervor; die Schemata entstehen, deren sich die Musik bedient« (GS VI 147).

An dieser Stelle deutet sich unter psychologischem Aspekt an, wie Affekte wirksam sind, Gefühle vermittelt werden oder Stimmungen mitreißen können. Unter ästhetischem Aspekt werden die Gefühlslage oder Stimmungsdisposition als die Produktionsbasis von Kunst und zugleich als deren Rezeptionsmedium denkbar. Der Begriff »Stimmung« steht bei Dilthey hierbei für eine genuin ästhetische Suspension der Affektdynamik, wodurch eine interesselose Äquidistanz zum »Willen« einerseits und zur »äußeren Wirklichkeit« andererseits eingenommen wird (GS VI 147). Aus solcher die eigene Aufmerksamkeit steigernden »Gleichgewichtslage des Gefühls« heraus entfaltet die »Stimmung« ihre stärkste Kraft, indem sie »alle Vorstellungen sich zu unterwerfen [strebt], soweit die Gemütslage ein Verhältnis zur Wirklichkeit mit einschließt« (GS VI 147). Obwohl Dilthey die aus der Sphäre von Vorstellen, Denken und Wollen anhebende Stimmungsverbreitung auf ihr Zusammenspiel mit »festen Formen der Geselligkeit, der Festesfreude und der Kunst« bezogen sieht, geht er nicht weiter auf die darin angelegte Dimension der sozialen und ästhetischen Kommunikativität von Stimmung ein (GS VI 148). An den in gehobener oder aber gedrückter Stimmung »entstehenden Bilder[n]« interessiert ihn stattdessen deren »die Grenze der Wirklichkeit« überschreitende Macht, wie er sie im Begriff der künstlerischen oder dichterischen Einbildungskraft zu fassen sucht (GS VI 148).

Diltheys Vernachlässigung der rezeptionsästhetischen Eindrucksdimension

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Dilthey sieht sich in diesem Ansetzen beim kreativen Subjekt, welches er anders als Kant als das eines geschichtlichen Bewusstseins versteht, durch »Selbstzeugnisse des ästhetischen Schaffens« bestätigt: sie sprechen allesamt von »Stimmung, Gefühlslage […] als Ausgangspunkt des Vorgangs« (GS VI 181; Hvh. W.D.).161 Er zitiert Schiller aus Briefen an Körner und Goethe, in denen dieser vom »unbestimmte[n] Drang nach Ergießung strebender Gefühle« und vom poetischen Entstehungsfunken spricht: »Bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Grundstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir die poetische Idee.«162

Ferner führt er »Selbstbekenntnisse« Otto Ludwigs an, welche wiederum »eine musikalische […] Stimmung« an den Beginn des kreativen Verfahrens setzen, in welchem diese in Farben und Choreographien übergeht (GS VI 182). Dabei übergeht Dilthey jedoch, dass die »Stimmung« darin zugleich als Ermöglichungsbedingung ästhetischer Rezeption und dies sogar im Zusammenspiel mit dichterischer Produktion dargelegt wird (GS VI 182f.). Aber allein in letzterer zeige sich eine auch im Vergleich zu allen anderen Künsten »größere Leidensfähigkeit« (GS VI 317). Insbesondere das dichterische Erlebnis »fixiert« die »Leiden« und »macht sie zu dauernder Stimmung« (GS VI 317). So kann es als programmatischer Hinweis verstanden werden, wenn Diltheys berühmteste Veröffentlichung Das Erlebnis und die Dichtung in ihrem Titel zuerst das Erlebnis und dann die Dichtung nennt. War in der Poetik von Poesie als »einem Organ des Weltverständnisses« (GS VI 116) die Rede, so spricht Dilthey mit Bezug auf Goethes Dichtungsauffassung nun sogar vom »Organ eines objektiven Weltverständnisses« (ED 182). Was dort mit dem Selbstverstehen des Lebens in systematischen Einklang gebracht werden und in einen strukturalen Psychologismus163 führen musste, kann hier in suggestionsreicher Sprache frei 161 Cf. zum Problem der analytischen Verwendung von Selbstzeugnissen Mansours kritische Ausführungen (2011, hier 162–170). 162 Neben Schiller führt er mit ähnlich lautenden poetologischen Stimmungsäußerungen Jean Paul, Richard Wagner, Iwan A. Gontscharow, Otto Ludwig und Goethe an (GS VI 178–184, hier 181f.). 163 Diltheys immer wieder auf das Erlebnis und dessen (deskriptive) Psychologie zurückgehende Denken steht insgesamt der Lebensphilosophie, Phänomenologie, Anthropologie oder Erkenntnisanthropologie nahe, so dass der pauschal erhobene Vorwurf des Psychologismus fraglich bleibt. Diltheys Festhalten an psychologischen Gesetzmäßigkeiten zur wissenschaftlichen Grundlegung von Geisteswissenschaften und Poetik hat indes den Psychologismusvorwurf bis heute nicht ganz unberechtigt fortbestehen lassen. Letzteres wird auch nicht bedacht beim hierzu einschlägigen Artikel von Rodi (1987, 110). Dieser Artikel ist insbesondere für ein historisch angemessenes Verständnis von Diltheys Begriff der Struktur wichtig. Siehe hingegen die schon früh einsetzende Kritik an Dilthey (wie etwa auch an Nietzsche und Bergson) von Rickert (1922).

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Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen

miteinander kombiniert werden. Es ist sowohl mit als auch ohne Bezug auf Musik164 von »Dissonanzen und Harmonien des Lebens« (ED 182), von der »Melodie der Sprache« oder »des Lebens« (ED 134, 165) oder des »Daseins« (ED 141, 179), vom »gestimmt[en]« Seelenleben, von der »Rhythmik der seelischen Bewegung« (ED 183f.) und immer wieder von »Stimmungen«165 die Rede, die ein Mal mehr dem Subjekt, ein anderes Mal mehr einem Objekt zugehören. Befreit vom methodischen Grundlegungsanspruch samt seinen theoretischen Begründungszwängen, überwindet Dilthey gelegentlich die Enge seines produktionsästhetischen Ausdruckskonzepts hin zu einer Erweiterung um die rezeptionsästhetische Eindrucksdimension. Dies geschieht unter Verwendung des Begriffes der Stimmung, wenn er etwa von Goethe sagt, »daß seine dichterische Sprache noch heute im Leser jede Stimmung hervorzurufen vermag« (ED 134). Dann wieder jedoch – und ebenfalls mit Bezug auf Goethe – heißt es, »daß er wie kein Künstler vor ihm Stimmungen seines Lebens […] in ihrer isolierten Bedeutsamkeit zu Welten für sich gemacht hat« (ED 181). So nutzt Diltheys hermeneutische Praxis – ohne Vermittlung mit seiner Theorie – das semantische Potential des ästhetischen Begriffes der Stimmung als eines, das im Medium der poetischen Sprache den Ausdruck des Künstlers mit dem Eindruck des Lesers verbindet. Dieser ebenso vertraute, fast naheliegende wie auch theoretisch schwer zu fassende, auch bis heute nur spekulativ erschlossene (Stichworte u. a. Spiegelneuronen, Empathie) Sachverhalt einer Mitteilbarkeit oder Vermittelbarkeit von Stimmung ist von Dilthey am genauesten noch im Nachlass und dort in den Notizen zur Poetik formuliert: »Wir nennen ein Aggregat von Gefühlen…. eine Stimmung….. poetische Stimmungen. Die Stimmung, die in der Hervorbringung eines Werkes wirkt, wird auch durch das Auffassen desselben hervorgerufen. [Hvh. W.D.; weiter mit linkem Einzug] Poetische Stimmungen, Aggreate von Gefühlen, die nicht heftig wirken, aber andauern und sich allen Vorgängen mittheilen, bewirken die Verändrungen in den Bildern nach den dargestellten Gesetzen. Die Mannigfaltigkeit solcher Gefühlsaggregate ist unbegrenzt. Aber die geschichtliche Continuität in der dichterischen Technik hat zur Folge, dass an bevorzugten Punkten dieser Mannigfaltigkeit, welche für dichterisches Schaffen und Geniessen besonders günstig sind, poetische Stimmungen festgehalten, ausgebildet und durch Werke überliefert werden. Sie stellen sich in den ästhetischen Kategorien des Ideal-Schönen,

164 Siehe Dilthey zu Melodien, Rhythmen und Harmonie mit Bezug auf »Instrumentalmusik« und deren Wirkung im Sinne eines »Stimmungsablaufes« (GS VII 52). 165 ED 10, 14, 127, 130, 132, 134, 137, 141, 151, 159, 169, 172, 181 et passim. Siehe auch die vielfältige Verwendung von Stimmung mit Bezügen auf die allgemeine Menschennatur ebenso wie auf Religiosität, auf Individuen wie Gemeinschaften, ein Zeitalter oder die »innere Rhythmik des Seelenlebens« in DM 90; allgemeiner in biographischen, ästhetischen und historischen Kontexten GS XXV 34, 40, 269, 294, 331, 368, 385f. et passim.

Diltheys Vernachlässigung der rezeptionsästhetischen Eindrucksdimension

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Erhabenen, Tragischen, in welches dann das Hässliche gemischt sein kann, andrerseits des Rührenden, des Komischen und des Anmutigen oder Zierlichen dar« (Nachlass, Kladde 159 [19.4.] 445).166

Es ist dieser bei Dilthey zwar wissenschaftstheoretisch unscharfe, hermeneutisch inkonsistente, aber poetologisch aufschlussreiche Gebrauch des Stimmungsbegriffes, der für die gegenwärtige Literaturästhetik anschlussfähig ist. Gerade der historische Mangel an terminologischer Festgelegtheit erlaubt es, in der ›Stimmung‹ nicht nur rezeptions-, produktions- und werkästhetische Aspekte zusammenzublenden, sondern auch die in Literatur objektivierten, erkenntnistheoretischen Zusammenhänge zwischen Wahrnehmen, Verstehen und Wissen neu zu beleuchten. Damit nehmen wir von Dilthey zwei Denkanstöße auf und verbinden sie zu einem theoretischen Impuls für die gegenwärtige Forschung. Denn in ihr wird der Sache nach neu verhandelt, wie sich eine (explizite) Sichtweise von Literatur als »einem Organ des Weltverständnisses« (GS VI 116) zur (impliziten) Sichtweise von »Stimmung als Organ der Weltauslegung«167 verhält – indem Stimmungen in der Literatur untersucht werden (Gumbrecht 2011, Jacobs 2013, Reents 2015, Hajduk 2016). Bedenkt man zudem, dass auch für Dilthey nichts »flüchtiger, zarter, veränderlicher als die Stimmung des Menschen gegenüber dem Zusammenhang der Dinge« (GS V 379) ist, so formiert sich unser Interesse um Fragen wie diese: Wie bringt Literatur Stimmung zur Darstellung? Kann ein solches ephemere Phänomen überhaupt sprachlich fixiert werden? Auch diese Fragerichtung lässt sich von Dilthey aus einschlagen, wenn man seine Poetik zunächst nicht unter der Optik seiner Hermeneutik betrachtet. Hierzu werden wir von Diltheys philologischer Applikation seiner eigenen Poetik weitgehend absehen und uns nun den bildtheoretischen Kapiteln und dann denjenigen zu poetischen Darstellungsmitteln zuwenden.

166 Im veröffentlichen Werk kommen dieser Formulierung der theoretischen Reichweite ästhetischer Stimmung Stellen am nächsten, an denen Dilthey von Stimmungen im Zusammenhang der poetischen Technik sagt: »Die Stimmung, die in der Hervorbringung eines Werkes wirkt, wird auch durch das Auffassen desselben hervorgerufen« (GS VI 213); oder: »Diese Stimmung teilt sich dem Leser mit« (GS XXV 260). Wie genau das passiert oder möglich ist, wird nicht näher erklärt. 167 Bollnow (1955) erkennt – wie vor ihm Heidegger – diese implizite Bedeutung der Stimmung bei Dilthey und ordnet sie dem allgemeinen Zusammenhang der »Weltauslegung im Gefühlsverhalten« (81) ein.

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3.

Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen

Wie aus psychischen Bildern poetische Bilder werden – Repräsentation oder Metamorphose?

Diltheys Blick auf Fragen der Ästhetik ist bestimmt von der philosophischen Grundeinsicht in die Geschichtlichkeit von kulturellen Objektivationen. Er sieht seine Position darin unterschieden von der normativen Tradition von Poetiken und Rhetoriken, die in der Nachfolge des Aristoteles bis mindestens ins zweite Drittel des 18. Jahrhundert maßgeblich blieben. Vor den relativistischen Konsequenzen einer radikalen Historisierung der Poetik wähnt Dilthey sich bewahrt durch die transzendentale Verankerung ästhetischer »Gesetze« in einer universalistisch gefassten »Natur des Menschen« und in einer anthropologisch verallgemeinerten »Einbildungskraft« (GS VI 102). Deshalb gelingt es ihm auch nicht – wie es für eine nie realisierte Neuversion der Poetik geplant war – den produktionsästhetischen vom werkästhetischen Bereich theoretisch zu trennen. Entsprechend werden Stimmungen wie auch Gefühlskreise, Erlebnisgehalte oder die Bewusstseinslagen in schöner Literatur letztlich nicht aus ihrer kreativitätspsychologischen Bindung herausgelöst, wenn sie gelegentlich auf ihre Korrelationen mit sprachlich Formalem, Rhythmus oder Melodie hin bedacht werden. Einmal mehr erklärt Dilthey auch das, was er unter poetischer Technik versteht, auf der erkenntniskritisch präsentierten Grundlage seiner deskriptiven Psychologie. Letztere sieht die vielfältigen Vorgänge des Empfindens, Erinnerns, Vorstellens, Wollens usw. notwendig auf eine psychodynamische Einheit bezogen. Diese hat als Gestalt der Wahrnehmung jene prozessuale Vielheit vorläufig integriert, welche von fortlaufend eintreffenden Sinneseindrücken angestoßen wurde. Eine solche über die Teil-Ganzes-Dialektik gedachte Entstehung von ganzheitlicher Struktureinheit gilt bei Dilthey – wie wir gesehen haben – nicht nur für den einzelnen kognitiven Prozess. Vielmehr auch für den Lebenslauf insgesamt, in welchem der ›erworbene seelische Zusammenhang‹ den Umgang mit immer neuen Erfahrungen reguliert und sie zur Herausbildung von individueller Identität im Fluss der Lebenszeit verwendet.168 Der abstraktere Begriff des Strukturzusammenhangs169 wird über das Seelenleben hinaus schließlich auf den geschichtlichen Aufbau der geistigen Welt in kulturhistorischer Perspektive bezogen (cf. Kap.VII).

168 Siehe zu Diltheys Konzept der Lebenszeit und deren Verhältnis zur Zeitlichkeit, der Kategorie, die »grundlegend für alle andern« (GS VII 192) ist, Tessitore (2013, 49): Das Leben in seiner Zeitlichkeit und in seiner Koexistenz (cf. VII 243f.) artikuliert sich kategorial als Realisierung der Geschichte, um sich in seiner Individualität zu vertiefen, bis es »sich selbst Gegenstand wird« (VII 242). 169 Cf. »Der psychische Strukturzusammenhang« und »Der Strukturzusammenhang des Wissens« in GS VII 3–69.

Wie aus psychischen Bildern poetische Bilder werden

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In der Poetik tritt neben den Strukturzusammenhang der Bildzusammenhang. Er meint seinerseits nicht werkästhetisch manifeste, sondern psychische Bilder im Prozess ihrer Entstehung. Dadurch wird das Hervortreten von Einheit aus dem Mannigfachen der Kognition, Emotion und Volition mit der Einbildungskraft im Allgemeinen, im Besonderen aber mit derjenigen des Dichters verbunden. Dieser wird als kreativer Sonderfall des Normalmenschen angesehen, in welchem der kontrollierte Bewusstseinsprozess des letzteren so intensiviert ist, dass er sich am ehesten als eine eigendynamische Bildproduktion erfassen lässt, die ständig in poetische Bildtransformation übergeht. Darunter versteht Dilthey »eine freie Gestaltung der Bilder und ihrer Verbindungen, uneingeschränkt von den Bedingungen der Wirklichkeit« (GS VI 93, 165). Wie beim »Träumer« sich die innerpsychische Bildproduktion losgerissen von den Regulationsmechanismen des Tagesbewusstseins entfacht, so sei die zweckfreie »Entfaltung der Einbildungsvorstellungen« des Dichters durch eine »außergewöhnliche Energie und Leichtigkeit in den Geistesprozessen« insgesamt zu verstehen (GS VI 92). Um die geisteswissenschaftliche Bedeutung der Poetik als das systematisch zu rekonstruierende »Wirken der psychologischen Vorgänge in den geschichtlichen Produkten« (GS VI 109) nicht zu gefährden, muss die poetische Einbildungskraft allerdings von psychologischer Traumbildproduktion und pathologischer Halluzination unterschieden werden. Im Unterschied zum Träumer oder Irren »ruft der Poet absichtlich die Entfaltung der Bilder« auf der Basis der modalen Differenz zwischen wirklichem Sein und »schöne[m] Schein« hervor (GS VI 98). Die Kunst ist kein Wahn, sie ist Spiel. Sie verliert sich nicht im Irrealen, sondern formt eine »Traumsphäre […], innerhalb deren im Augenblick der Begeisterung die Bilder volle Realität haben« (GS VI 98). Hierbei stiftet die poetische oder musikalische Stimmung »die Beziehung von Gefühl und Bild, Bedeutung und Erscheinung, innen und außen« (GS VI 275; Hvh. W.D.), und sie geht selber erst aus solcher Beziehung hervor. Diese für das »ästhetische Auffassen und Schaffen« zentrale Übersetzungsleistung von »Seelenbewegungen« in die »festen symbolischen Verhältnisse sinnlich äußerer Formen« ist indes nicht nur an den hochkulturellen Stimmungen der Kunst, Musik und Literatur beobachtbar (GS VI 275). Vielmehr schon an den natürlichen »Stimmungen des Kindes« in ihren »gesetzmäßigen Beziehungen« zu »Höhe und Tiefe der Töne, Stärke und Schnelligkeit in ihrer Abfolge und selbst der Vokalfolge« (GS VI 179; cf. 275). Das »Spielen des Kindes mit dem Tonwechsel« (GS VI 179; Hvh. W.D.) erscheint hier als Modell für die ästhetische Objektivierung von Stimmung im Ausdruck, wenn es etwa heißt: »welche Stimmung […] atmet diese Schrift« (GS XXV 349). Über den Vergleich mit der spielerischen Naivität des Kindes – ein Nachklang romantischer Topoi – erblickt Dilthey im schöpferischen »Genie« schließlich »keine pathologische

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Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen

Erscheinung, sondern de[n] gesunde[n], de[n] vollkommene[n] Mensch[en]« (GS VI 94, 98; cf. 172). Bereits in der soeben zitierten Rede »Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn« (von 1886) wendet sich Dilthey gegen die auf die Antike zurückgehende Auffassung, dämonologisches Halluzinieren, poetischen Enthusiasmus und im 19. Jahrhundert das künstlerische Genie auf ihre »Verwandtschaft mit Traum und Geisteskrankheit« festzulegen (GS VI 91). Das Kriterium, mit welchem sich Genie und Wahnsinn scheiden lassen, bildet die Funktion des zu Beginn dieses Abschnitts erneut angeführten erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens. Ist letzterer stellenweise gelockert, erheblich vermindert oder gänzlich kollabiert, dann entsprechen ihm verschiedene Formen und Grade psychischer Störungen eines gesunden Weltbezugs und regulierten Abgleichens mit der Wirklichkeit. Ist jener ›Zusammenhang des Seelenlebens‹ hingegen persistent, überdurchschnittlich gesteigert oder virtuos präsent gehalten, dann entspricht ihm die imaginative Produktivität des Genies. Diese hält das »harmonische Verhältnis zur Außenwelt« (GS VI 94) nicht nur stabil, sondern überformt es ästhetisch und bringt es so zu höherem Bewusstsein. Künstlerische Schöpfungen entspringen dem noch in den Turbulenzen der Sinneseindrücke, Vorstellungsbilder, Wahrnehmungsakte, Gefühlsverbindungen und Willensimpulse gegenwärtig gehaltenen Seelenzusammenhang. Diesen hat das geniale, wie auch jedes andere Subjekt zwar lebensgeschichtlich erworben. Anders aber als Durchschnittsmenschen vermag es denselben auch aus unbewussten Tiefen und im Wandel der Zeit als kreativ anschließbar hervorzurufen. Der Geisteskranke unterschreitet die Bewusstseinsschwelle zur Wirklichkeit, indem er deren äußeren Zusammenhang aus Mangel eines innerseelischen Zusammenhangs verliert. Das Genie hingegen verfügt über einen Überfluss an intelligenten Anknüpfungspunkten seines seelischen Zusammenhangs und überschreitet aus diesem Beziehungspotential heraus den Wirklichkeitszusammenhang hin auf die in diesem uneingelösten Möglichkeiten anderer Wirklichkeiten. Während der Schizoide ins Disparate, Partikulare und Halluzinatorische abdriftet, erschließt der Künstler äußere Gegebenheiten durch innere Realität und verdichtet Imaginäres mit Symbolstrukturen zu ästhetisch Kohärentem. Wenn Dilthey ganz allgemein »unser Leben« bestimmt als »beständige Wechselwirkung zwischen unserem Eigenleben und dem Milieu, in dem es atmet, leidet und handelt« (GS VI 95), dann lässt sich die Stimmung als das existentielle Medium dieser lebendigen Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Natur, Selbst und Welt oder Seele und Realität begreifen. Denn dieser erworbene »Zusammenhang des Seelenlebens« (GS VI 95) ergibt und erhält sich nur durch ein fortgesetztes Ab- oder Zusammenstimmen mit der Wirklichkeit, die als objektiver Zusammenhang ihrerseits von subjektiven Bezugnahmen abhängt. Er wirkt »in einer sehr feinen und doch kraftvollen Weise regulierend« und

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»erhält das feste Verhältnis zu der ganzen erarbeiteten Einsicht in die Wirklichkeit. Mindert sich seine Energie, dann verliert der Geist die Kontrolle gegenüber willkürlichen Auslegungen des auf ihm lastenden Gefühlsdrucks, gegenüber auftretenden Halluzinationen« (GS VI 95).

Dilthey ergänzt seine psychologischen Erklärungen der Funktion und Dysfunktion des seelischen Zusammenhangs als einen beim Gesunden und Genie mehr, beim Träumer und Geisteskranken weniger intakten psychischen »Regulierungsapparat« durch gehirnanatomische und neurophysiologische Erkenntnisse seiner Zeit (GS VI 95f.; cf. 168–172).170 In der benannten Rede vor Ärzten soll dies wohl auch der Akzeptanzerhöhung seiner ästhetischen Theoriebildung vor einem naturwissenschaftlichen Publikum dienen. Systematisch indes stützt das physiologische Argument die psychologische Unterscheidung zwischen pathologischen Symptomen und ästhetischen Phänomenen. Die zum Teil wörtlichen Reformulierungen in der eigentlichen Poetikschrift jedoch zielen auf eine feinere Differenzierung. Sie akzentuieren nuancierte Übergänge zwischen Irrsinn und »Gleichgewichtslage«, zwischen Traum und Poesie oder zwischen Wahngebilden und »höchsten Lebensäußerungen der Menschennatur« (GS VI 162f.): »Aber auch in den gesundesten Leistungen eines Dichters zeigen die folgenden Züge eine Verwandtschaft mit Zuständen der Seele, die von der Norm des wachen Lebens abweichen. Vorstellungsbilder erhalten den Charakter von Wirklichkeit und erscheinen in dem Gesichtsfelde oder dem Außenraum des Gehörs; so nähert sich das Bild im Dichter der Halluzination. Die Bilder erhalten dann in einem Vorgang der Metamorphose eine von der Wirklichkeit abweichende Gestalt, und auch so umgeformt, sind sie von einer Illusion begleitet. Und zwar wandeln sich die Bilder unter dem Einfluß der Gefühle um; sie nehmen die Gestalt der Affekte an, wie dem Wanderer im nächtlichen Walde die unsicheren Linien der Felsen und Bäume unter dem Einfluß des Affektes sich verändern« (GS VI 166).

Bei diesem Bezug auf Schilderungen Goethes spricht Dilthey sogar von der nichtschizophrenen, vielmehr genuin ästhetischen Möglichkeit, »eine Art von Spaltung des Selbst, eine Umwandlung in eine andere Person stattfinden« zu lassen (GS VI 166). Er stellt es als »Kennzeichen des poetischen Genies« heraus, »nicht nur die Erfahrung überzeugend abzuschreiben […], sondern mit einer Art von 170 »Es ist natürlich, daß das Wirken dieses ganzen Zusammenhangs in seiner so großen Zusammensetzung auf die Veränderungen im Bewußtsein die schwierigste und damit höchste Leistung des Seelenlebens ist. Sie fordert auch die größte Energie und Gesundheit der Gehirnfunktionen; in der Großhirnrinde sind die Bedingungen für die Reproduktion von Vorstellungen und ihren Verbindungen angesammelt; nur die höchste Energie des Gehirnlebens vermag eine so breite Wirksamkeit dieses ganzen Apparats zu ermöglichen, daß die entlegensten Vorstellungen in Berührung und Benutzung treten können« (GS VI 168; Hvh. W.D.).

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konstruktiver Geistesmacht eine Gestalt hervorbringen« zu können, die »in keiner Erfahrung ihm gegeben sein konnte und durch welche dann die Erfahrungen des täglichen Lebens begreiflich und dem Herzen bedeutsam werden« (GS VI 166). Als die ›konstruktive Geistesmacht‹ in Verbindung mit der kommunikativen Funktion ihrer Materialität lässt sich diejenige der Bilder ausmachen, die sich aus der freien Einbildungskraft des Dichters über die Erfahrungswirklichkeit hinaus entfalten und textuell organisieren. Erst die ästhetisch durchgestalteten Bilder leben »in der Menschheit« fort, und zwar in Form von »Gestalten, Situationen oder Handlungen, welche den Horizont der gewöhnlichen Erfahrungen ganz überschreiten« (GS VI 166). Dilthey spricht in oben genannter Rede von einer »triebartige[n] Energie« des Bildes und setzt es in den stimmungsmetaphorischen Rahmen einer morphologisch-jahrzeitlichen Zyklik: »Es ist Leben, Vorgang. Es entsteht, entfaltet sich und erlöscht wieder. Dasselbe Bild kehrt so wenig wieder, als ein abgefallenes Blatt im neuen Frühling« (GS VI 99). Wie Erinnerungsbilder immer selektive Variationen der ursprünglichen Wahrnehmungsbilder darstellen, so werden in der poetischen Bildformation von der Wirklichkeit abgezogene Vorstellungsbilder aus ihren phantasielosen Rahmen gesprengt, in ihrer Komposition moduliert und imaginativ zum Spiel mit dem »Unwirklichen« (GS VI 172) als illusionärer Realität gesteigert. Diltheys bildtheoretische Überlegungen bleiben zurückgebunden an seine psychologische Grundlegung der Poetik. Sie sind nicht etwa auf die Figuralität der poetischen Sprache, sondern auf das ästhetische »Urphänomen der Einbildungskraft« des Dichters fokussiert, wie er es paradigmatisch in Goethes Selbstbeobachtung des kreativen Vorgangs ausmacht (GS VI 100). Wie auch in den bereits angeführten und weiteren Selbstzeugnissen anderer Dichter – wie z. B. Shakespeare, Jean Paul, Dickens, Alfieri, Freytag (in GS XXV) – hat dort die »innere produktive Kraft« (GS VI 100) ihren Ausgangspunkt in einer poetischen Stimmung, die als biographisches Situationsgefühl von der historischen Bewusstseinslage mitbestimmt ist. Nicht nur in der Einbildungskraft des Dichters erhalten die aufsteigenden Bilder ihre phantastische Ausleuchtung, auch in der Vorstellungskraft und Erinnerungstätigkeit des Normalmenschen verleiht die jeweilige Stimmung deren Bildern eine spezifische Färbung und damit eine sonst nur wahrnehmungssinnlich herstellbare Präsenzqualität. Diese anthropologisch phänomenale und dann poetologisch reflektierte Stimmung findet sich schließlich auf der Darstellungsebene wieder. Etwa wenn Goethe in den Wahlverwandtschaften »überall die physiologische Bedingtheit der höchsten Gemütsvorgänge ausspricht«, indem er zum Beispiel »seine Ottilie zwischen Schlaf und Wachen den abwesenden Geliebten in wechselnden Situationen innerhalb eines erleuchteten Raumes gewahren« lässt (GS VI 100). Allerdings ließe sich dies als eine bloß inhaltliche Thematisierung von Stimmung erklären, ohne dabei auf form-

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ästhetische Prinzipien rekurrieren zu müssen, welche von der psychologischen zur poetologischen Ebene überleiten. Wie aber kommt es zur Transposition der Stimmung aus dem Seelenleben des Dichters in die Form des Werkes, aus der in der »Physis« verwurzelten Einbildungskraft (GS VI 91) in die Sprache oder aus dem psychischen Strukturzusammenhang in den materialen Textzusammenhang? Diese poetologische Grundfrage, an welche auch die Bausteine für eine Poetik immer wieder unausgesprochen aber sachgemäß heranführen, wird von Dilthey zu stellen vermieden. Vielleicht wollte er sie in einer systematisch gefassten Poetik oder Ästhetik, wie er sie noch bis in die letzten Lebensjahre geplant hatte, beantworten. Darauf deuten zumindest Stellen wie in der Abhandlung über Charles Dickens und das Genie des erzählenden Dichters, die von einer »inductive[n] Aesthetik« sprechen, deren Grundlagen im Sinne einer »exacten Wissenschaft der Künste« einerseits in der »Physiologie der Sinne«, andererseits im »vergleichenden Studium der Kunstwerke aller Zeiten und Völker« bestehen müsse (GS XXV 365). Jene dafür zentrale Frage nach dem Übergang oder der Vermittlung zwischen Psychischem, Subjektivem, Lebensgeschichtlichem einerseits und Physischem, Objektivem und Kulturellem andererseits lässt sich indes ohne die Fertigstellung einer Integration der fragmentarischen Bausteine zumindest spekulativ beantworten, wenn man Diltheys psychologisches Denken des Bildes am Leitfaden der Stimmung weiterdenkt zu einer ästhetischen Konzeption des Bildes. Demgemäß verschiebt sich die ontologische Perspektive vom Geschaffenwerden des Kunstwerks zu dessen Wirksamsein, vom Ausdruckwerden (ästhetischer) Subjektivität zum Objektstatus (ästhetischer) Materialität. Dadurch gerät eine Übergängigkeit zwischen bioanthropologisch konzipierter Psychologie und kulturhistorisch verfahrender Geisteswissenschaft in den Blick, insofern letztere als systematische »Verbindung des Generellen und der Individuation« (GS V 258) aufgefasst werden kann. Wir konzentrieren uns zunächst auf Diltheys ästhetisches Denken des Bildes. Ist »in dem realen Seelenleben das Schicksal eines Bildes, d. h. einer unzerlegten Einzelvorstellung, von den Gefühlen und der Verteilung der Aufmerksamkeit abhängig« (GS VI 99), so wäre in einem gegebenen Kunstwerk die Wirkung eines Bildes, d. h. eines einzelnen Darstellungselementes, von anderen Bildern und von seiner differentiellen Stellung im Strukturgefüge der Darstellungselemente insgesamt abhängig. So erhielte das Bild nicht eine »triebartige Energie« – wie Dilthey sagt –, sondern eine ästhetische Energie. Das Bild wäre weiterhin »Vorgang«, aber mehr Kunst als »Leben« (GS VI 99). Und vom Bildvorgang gezeitigte Stimmungen hätten ihren genuin ästhetischen Ort nun im Textkörper statt im Seelenleben. Eine solche von der ausdruckspsychologischen Bildgestaltung durch den Dichter emanzipierten Bildlichkeit von literarischer Sprache samt der damit

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verbundenen Autonomie textdynamischer Prozesse geraten jedoch nicht näher ins theoretische Blickfeld von Diltheys Bilddenken. Allenfalls wird die von Goethe her bedachte ›inkalkulable‹ Wirkung wiederum jener »mächtige[n] Lebendigkeit« wahrer Dichtung zugeschrieben, welche auf »psychologische Gesetze« zurückzuführen sei (GS VI 101). Nach diesen verfährt die dichterische Einbildungskraft. Sie verwandelt psychische in poetische Bilder, die wiederum als psychische vom Leser oder Hörer reproduziert werden und damit zu historischem Material werden: »Wie diese Werke aus dem Gefühl gestaltet sind, erregen sie es wieder« (GS VI 101). Was für Dilthey – im Gegensatz zu Goethe – letztlich nur ›inkalkulabel‹ bleibt, sind nicht die Werke und ihre Wirkung auf den Rezipienten, sondern nur der künstlerische Schaffensprozess. Genau genommen nicht einmal dieser. Zwar wird das Genie idealistisch überhöht, jedoch wird sein Schaffen durchaus verstanden, um nicht zu sagen berechenbar. Nämlich nach der psychologischen »Gesetzmäßigkeit, mit welcher die Einbildungskraft in dem Dichter wirkt [und] das Typische, das Idealische hervorbringt« (GS VI 101). Im historischen Abstand zum kunstreligösen Unendlichkeitskonzept der romantischen Transzendentalpoesie, aber auch noch deutlich entfernt von den ästhetischen Entgrenzungen der Kunstavantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, lässt Dilthey den Gedanken einer radikalen Geschichtlichkeit von Dichtung gar nicht erst aufkommen. Seine transzendentalpsychologische Grundlegungsidee sieht nur einen engen »Kreis« von »typischen Bilder[n]« vor, innerhalb dessen eine überhistorisch gedachte »Menschheit die großen festen Symbole des Mythos, der Metaphysik, der Poesie« hervorbringt: »Und wenn das Leben dieser Erde erstarrte und irgendwo entstände neue Menschheit aus denselben Keimen: es würde wieder dieselbe beschränkte Zahl von Motiven, Situationen und Typen entstehen; das Wesenhafte von Faust, Richard, Hamlet, Don Quixote müsste sich wiederholen; von neuem sähe man den bescheidenen Jüngling, Wilhelm Meister […] sich aus einfachen Anfängen durch widrige Verhältnisse zur Freiheit des Lebens emporarbeiten: denn das ist doch unsere moderne Ilias und Odyssee. Das alles müsste wiederkehren. Denn dieselben Gesetze beherrschen überall die Einbildungskraft und die Natur des Menschen« (GS VI 101f.).

Mit der in großer Dichtung Gestalt annehmenden Einbildungskraft und Natur des Menschen sind sowohl der »Stil des bildenden Künstlers« wie auch der sprachliche Stil des Dichters verbunden (GS VI 99). Bei ersterem seien es »Gewöhnungen der Phantasie […], die schon sein Sehen leiten« (GS VI 99). Beim Dichter leiten sie sein Erfinden von Figuren, Motiven und Situationen. Wodurch aber erfolgt dieses Geleitetwerden künstlerischen Sehens und poetischen Erfindens? Wie kann die Phantasiegewöhnung beim Genie zu Kreativität führen und also die Phantasietätigkeit des Durchschnittsmenschen überflügeln? Dies lässt sich auch nicht mit einer über das Normale hinaus gesteigerten Regulierungs-

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leistung des erworbenen seelischen Zusammenhangs erklären, insofern dessen Einwirkung auf die äußere Wirklichkeit selber von der Vorstellungs- und Einbildungskraft gespeist wird. Das Umschlagen letzterer ins Schöpferische wird von Dilthey erklärt – wie wir gesehen haben – durch regere ›Geistesprozesse‹. Diese feuern den psychischen Apparat zu höheren Erinnerungsleistungen, gesteigerter Übertragungstätigkeit, schnellerer Kombinationsfähigkeit von Wahrnehmungs- und Vorstellungsbildern mit aktuellen Realitätseindrücken und Empfindungen an. Im Unterschied zum Träumer oder Wahnsinnigen entwickelt das Künstlergenie jedoch dabei aus seiner Einbildungskraft eine Bilderflut, die das Wirkliche nicht ins Wirre überschreitet. Vielmehr vermag die bildhafte Reorganisation von Erfahrung im Kunstwerk trotz und kraft der imaginativen Überschreitung von Wirklichkeit das Verständnis derselben für jedermann zu vertiefen. Leitend für dieses mögliche Verständnis von in Kunst und Literatur dargestellter Wirklichkeit samt ihrer Erfahrung aber ist – unserer These gemäß – die poetologische Stimmung. Hier zunächst als eine von den Werkstrukturen getragene und im Rezeptionsprozess reanimierte Stimmung. Als solche freilich bleibt sie bei Dilthey aufgrund seiner Fokussierung auf den Schaffensprozess theoretisch weitgehend ausgeklammert. Doch vermag gerade diese werk- und rezeptionsästhetische Stimmung Diltheys ›strukturalem‹ Denkgestus gemäß die kognitiven Effekte von Kunst und Literatur zu erklären. Insofern nämlich deren technisch und formal komplexen Darstellungen alles Wirklichen durch ein Einbinden desselben in einen Wahrnehmungszusammenhang von Eindrücken, Empfindungen, Vorstellungen und Gefühlen erfolgt, der als solcher gar nicht analysierbar ist. Dieser im Kunstwerk fiktive oder virtuelle Wahrnehmungszusammenhang wird zu einem empirischen oder sinnlichen allenfalls erst (wieder) in der Rezeption. Sein mediales Vehikel ist indes die ästhetische Stimmung. Diese bietet sich als Kategorie deshalb an, weil sich mit ihr eine strukturale Einheit bezeichnen lässt, deren Elemente sowohl psychisch als auch physisch, imaginativ wie materiell, inhaltsund auch formbezogen sein können. Das Zusammenspiel dieser Elemente kann in der Natur oder in der Kunst wahrgenommen, dem Subjekt oder dem Objekt zugewiesen, in einem Innen oder Außen lokalisiert werden. Vor allem aber ist dieses kategorial übertragbare und medial übertragende Zusammenspiel von Stimmungselementen jederzeit offen für Veränderungen, Umstellungen oder Neuordnungen. Es kann so von seiner Anfangsformation übergehen in einen eigendynamischen Transformationsprozess und sich in eine autopoetische Spiralbewegung steigern. Mit unserer derart als offenem Strukturgeschehen gefassten Stimmung lässt sich der von Dilthey selbst ungeklärte Transfer von Bildern der Phantasie in solche der poetischen Sprache sowie von der schöpferischen in die rezeptive Einbildungskraft angemessen nachvollziehen. Denn die Stimmung als Transfermedium gewährt hinreichend ästhetischen

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Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen

Spielraum für die vom literarisch-künstlerischen Material bedingte sowie die intra- und intersubjektiv sich vollziehende »Metamorphose der Bilder« (GS VI 171, 194).171 Hierzu muss Diltheys phänomenologische Beschreibung der »Lebendigkeit der Bilder« (GS VI 99) angeführt werden: »Bilder verändern sich, indem Bestandteile ausfallen oder ausgeschaltet werden. […] Bilder verändern sich, indem sie sich dehnen oder zusammenschrumpfen, indem die Intensität der Empfindungen, aus denen sie zusammengesetzt sind, sich verstärkt oder vermindert. […] Bilder und ihre Verbindungen ändern sich, indem in ihrem innersten Kern neue Bestandteile und Verbindungen eintreten und so diesen ergänzen. Assoziationen leiten vielfach solche Veränderungen ein« (GS VI 99; Hvh. W.D.).

Solche bildprozessualen Veränderungen sind umstandslos integrierbar in das ästhetische Konzept der Stimmung, nicht aber in andere Konzepte wie etwa das der Repräsentation (cf. GS VI 161, 185 et passim). Wie Diltheys Hermeneutik des Ausdrucksverstehens so leidet auch seine Poetik des Ausdruckschaffens an der einseitigen Bindung an psychologisch ausgerichtete Erklärungsmodelle. Denn diese legen es nahe, den von ihm doch beinahe als ein Eigenleben führend beschriebenen Bildvorgang im Vorstellungsschema der Repräsentation stillzustellen. Demnach werden Bilder, die der im psychischen Strukturzusammenhang wurzelnden Einbildungskraft entspringen, zunächst als mentale Repräsentationen von Wahrnehmungsbildern aufgefasst, welche die Sinne aus der Erfahrung von lebensweltlicher Realität generiert haben. Durch ihre affektive Anreicherung und Einpassung in Gefühlsformen sind die Wahrnehmungsbilder zur inneren Erfahrung äußerer Gegebenheiten geworden. Diese kognitiv ver- und überarbeiteten Bilder sind sodann das Material, aus dem die dichterische Einbildungskraft schöpft und die »Repräsentation der Wirklichkeit in deren wahren Bedeutung« (GS VI 278; cf. 185) erzeugt. Was in der Bildlichkeit der poetischen Sprache zum Ausdruck gebracht wird, lag im Dichter bereits als mentale Repräsentation vor (GS VI 161). Deren Umformung in eine verbale Repräsentation entspricht bei Dilthey dem künstlerischen Ausdruck des inneren Erlebnisses. Im Bild spiegelt sich das Leben. Das Problem dabei ist, dass nach diesem Repräsentationsmodell im Ausdruck nur sprachlich wiederkehren kann, was zuvor mental gegenwärtig oder gar ursprünglich Eindruck war. Re-präsentiert kann schließlich nur werden, was schon einmal präsent gewesen ist. Auf diese Weise kann zwar das oben als Wirkung von Kunst angesprochene tiefere Verstehen der Wirklichkeit als Wiedererkennen vorgängig vertrauter Gegebenheiten in ästhetischem Gewand erklärt werden. Freilich wäre hierbei das ›Tiefere‹ des Verstehens zum bloßen Evidenzeffekt einer 171 Zur Vorstellung der ›Metamorphose‹ der Bilder unter Einfluss von Johannes Müller ausführlich Rodi (1969).

Wie aus psychischen Bildern poetische Bilder werden

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Kunst trivialisiert, die Verhüllungen von Wahrheiten inszeniert, um das Leben an seine Vertrautheit mit sich selbst zu erinnern. Jedoch nicht erklärt werden kann so die vom ästhetischen Bildvorgang her gedachte schöpferische Einbildungskraft des Dichters, wenn diese mehr schaffen soll als ein Umformen von der einen in die andere Präsenzform. Denn von einer »freie[n] Entfaltung der Bilder« kann im Rahmen der Bildrepräsentation keine Rede sein (GS VI 98). In diesem blieben alle Bilder zurückgefaltet auf ihre kognitiven Vorbilder und gelangten also nicht »über das Wirkliche hinaus« (GS VI 98). Erst recht erfasst die Repräsentationslogik nicht die Bildlichkeit der poetischen Sprache samt der semantischen Innovativität der Metapher, der Eigendynamiken der Symbol- und Zeichenprozesse bis hin zur figuralen Drift ins Selbstreferentielle. »Was im Kunstwerk mehr sei« lässt sich repräsentationslogisch nicht »aussprechen«, wie der »kernhafte Inhalt« der Poesie nicht im sprachlosen, also buchstäblich infantilen »Gemüt« allein zu suchen ist (GS VI 130). Diltheys letztlich repräsentationslogisches Ausdruckskonzept steht einem genuin ästhetischen Denken des Bildvorgangs im Wege, welchen er doch als »für die Poesie entscheidend« erkannt wissen will (GS VI 99). Dabei stand ihm mit dem Begriff der poetischen Stimmung eine Kategorie zur Verfügung, welche zu erklärenden Beschreibungen des Übergangs zwischen dem psychologischen und poetologischen Bereich geeigneter ist. Dilthey selbst bezieht Stimmung nicht nur auf die Gefühlslage einer inneren Erfahrung: auch »in jeder äußeren Anschauung des Poeten wirkt lebendige, die Anschauung erfüllende und gestaltende Stimmung« (GS VI 131). Er vermeidet es jedoch, die Stimmung im angeschauten Außen auszumachen. Stattdessen macht er auf das Übertragungsmoment uneigentlicher Rede aufmerksam, indem er »eine Natur poetisch [nennt], welche, auch ohne zu schaffen, uns diese schöne Lebendigkeit immer genießen läßt. Daher nennen wir das Werk einer anderen Kunst poetisch, dessen Seele Erlebnis, Lebendigkeit ist, die in Farben oder Linien, in plastischen Formen oder Akkorden als ihren Mitteln zu uns spricht« (GS VI 131).

Bemerkenswert ist zunächst, dass Dilthey die poetische Natur als natura naturata und ausdrücklich nicht als natura naturans verstanden wissen will. Sodann scheut er sich nicht, einem Kunstwerk eine ›Seele‹ zuzusprechen und es als durch seine Darstellungsmittel ›zu uns sprechend‹ auffasst, ohne ihm auch die Stimmung als internes Gestaltungsmoment zuzuerkennen. Das »Primäre« der Poesie bleibe ihre »Funktion […], daß sie diese Lebendigkeit in uns erhält, stärkt und wachruft« (GS VI 131). In der ästhetischen Rezeption wird also eine Lebendigkeit reproduziert, welche eigentlich ohnehin ›in uns‹ ist, und im Werk nur uneigentlich ist, insofern sie dort als Ausdruck eines Inneren erscheint, das selbst wiederum vor allem eines ist: Lebendigkeit. Ästhetische Rezeption wird einmal mehr in Diltheys idealistischem Sinne deutlich als schwächere, da sekundäre

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Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen

Version ästhetischer Produktion.172 Diese psycho-poetologische Zirkularität wiederholt die Immanenz des im hermeneutischen Zirkel kreisenden Ausdrucksverstehens. Darin wird der von Kunst und Poesie eröffnete Wahrnehmungs- und Weltbezug in die Erkenntnisschleife einer ästhetischen Reflexion des Selben überführt. In ästhetischen Objektivationen sich reflektierend ›erhält‹ das Subjekt seine ›Lebendigkeit‹, die es als die seine nur als eine vorgängig ihm bekannte (erneut) erfahren kann. Solcher konzeptuellen »Innigkeit des Blicks« auf den ästhetischen Prozess entspricht schließlich eine essentialistische Rede vom »Wesen der Kunst« und der holistisch gespreizte Erlebnisbegriff (GS VI 130f.). Das Erlebnis könne durch »Verallgemeinerung und Herstellung der Beziehungen, mit dem Ganzen des menschlichen Daseins in Verhältnis gesetzt und so in seinem Wesen, d. h. seiner Bedeutung verstanden werden. Erlebnis in diesem Verstande – aus ihm setzt sich alle Poesie zusammen, aus demselben bestehen die Elemente derselben wie ihre Verbindungsformen« (GS VI 131).

Zusammengesetzt werden sie durch die »gestaltende Stimmung« des Dichters, dessen psychische »Organisation« erst eine »starke Resonanz für die Töne des Lebens hat«, bevor sein »Lebensgefühl […] in Klang und Wort und Bild [austönen]« wird (GS VI 130f.). Empfänglich für eine solche Kunst als Produkt von Stimmung ist aber auch der Leser oder Hörer, wenn Dilthey dem entsprechend dessen ästhetische Disposition anthropologisch verallgemeinert: »Wie unser Leib atmet, so verlangt unsere Seele nach Erfüllung und Erweiterung ihrer Existenz in den Schwingungen des Gemütslebens« (GS VI 130f.). So ist die Stimmung also doch sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetisch bei Dilthey angelegt. Dilthey meint sogar »folgerichtig« von der Stimmung in der Rezeptionserfahrung des Kunstbetrachters auf die Stimmung »in der productiven Phantasie« schließen zu können (GS XXV 141). Mitunter taucht Stimmung in begrifflicher und funktionaler Konkurrenz mit dem Erlebnis, dem Gemütszustand, der Bewusstseins- oder Gefühlslage auf. Systematisch einheitlich wird der Stimmungsbegriff auch hier nicht verwendet. Wo er theoretisch fruchtbar gemacht werden könnte, bleibt er der Poetik allenfalls implizit. Dies gilt zumal für das in diesem Abschnitt mitbehandelte und für Diltheys ästhetisches Denken besonders wichtige Bildkonzept.

172 »Die schöpferische Phantasie des Dichters tritt uns als ein das Alltagsleben der Menschen ganz überschreitendes Phänomen gegenüber. Dennoch ist sie nur eine mächtigere Organisation gewisser Menschen, die aus der ungewöhnlichen Intensität und Dauer bestimmter elementarer Vorgänge in denselben entspringt« (GS VI 131f.; cf. 118).

Weiterentwicklungen von Diltheys Stimmungsbegriff

4.

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Ästhetische Innen-Außen-Vermittlung, poetisches Darstellungsmittel und die onto-mediologische Theoriefigur: Weiterentwicklung von Diltheys Stimmungsbegriff

Wie wir gesehen haben, versucht Dilthey das Bild unter psychologischem Aspekt als »eine triebartige Energie« zu verstehen, unter ästhetischem Aspekt als einen dynamischen »Vorgang« (GS VI 99; cf. 176). Diese beiden Aspekte konfundieren in der philosophischen Perspektivierung des Bildes als »Leben« (GS VI 99). Diesen zunächst vor psychologischem Hintergrund ausgebreiteten Zusammenhang erklärt er sodann als einen lebendigen Bildvorgang, wie er »für die Poesie entscheidend« sei (GS VI 99). Wie bei der eben zitierten Stimmungsdisposition im ästhetischen Schaffen und Rezipieren verallgemeinert er auch hier in anthropologischer wie auch poetologischer Hinsicht: »In unserem psychophysischen Wesen ist uns die Beziehung eines Innen und Außen gegeben, und diese übertragen wir überall hin. Wir deuten oder versinnlichen unsere Zustände durch äußere Bilder, und wir beleben oder vergeistigen Außenbilder durch innere Zustände. Hier ist eine mächtige Wurzel des Mythos, von Metaphysik, vor allem aber von Poesie. Die kernhafte Idealität des Kunstwerks liegt in dieser Symbolisierung eines ergreifenden inneren Zustandes durch Außenbilder, in dieser Belebung äußerer Wirklichkeit durch einen hineingesehenen inneren Zustand« (GS VI 99f.).

Was Dilthey hier und an weiteren Stellen ähnlich (cf. GS VI 175) als zentralen Vorgang vor allem von Poesie beschreibt, nämlich eine auf psychophysischer Basis anhebende Übertragungsbewegung zwischen mentalen Zustands- und sinnlichen Wahrnehmungsbildern, deckt sich der phänomenologischen InnenAußen-Struktur nach mit der ästhetischen Stimmung. Aus der »Belebung der Empfindungsaggregate« aufsteigend, ist sie es nach unserer Lesart, die bei Dilthey dem Dichter »eine Erweiterung oder Projektion des eignen Lebensbefundes« ermöglicht (GS VI 175). Dadurch wird die Stimmung ihrerseits im Prozess der Symbolisierung jener Übertragungsbewegung im Kunstwerk objektiviert und bildet dessen ideellen ›Kern‹.173 In diesem und um ihn herum sind also jene psychischen Bilder verdichtet und neu formiert, welche durch die Einbildungskraft des Dichters in ihren Elementen verändert und imaginativ ergänzt worden sind.

173 Siehe zu Diltheys Auffassung des Symbolischen seine Verallgemeinerung im Abschnitt ›Das Typische in der Dichtung‹: »Und da in der Poesie überall Erlebnis, überall ein Innen, das in einem Äußeren sich darstellt, oder ein äußeres Bildliches, das durch eine Innerlichkeit beseelt ist, Stoff und Ziel der Darstellung bildet, so ist alle Dichtung symbolisch. Ihre Urform ist das Bildliche, das Gedicht, das einen innerlichen Vorgang in einer Situation zeigt, das Gleichnis. In diesem Verstande ist das Symbolische die Grundeigenschaft, die aller Poesie von ihrem Stoffe her eigen ist« (GS VI 187).

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Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen

Der ästhetische Begriff von Stimmung organisiert seit seiner diskursgeschichtlichen Entfaltung (cf. Welsh 2003, 2006, 2009; Wellbery 2004) in der kulturellen Konstellation um 1800 jene beziehungsdynamische »Einheit von Innen und Außen«, welche Dilthey im Anschluss an Schiller als die »im Gefühl genossene Lebendigkeit in der Gestalt« bezeichnet (GS VI 117). In der Poetik versucht er die psychologische Begründung für diesen ästhetischen Vorgang zu geben, ohne dabei den Stimmungsbegriff für die Benennung der »Formel der Einheit von Innen und Außen, von Lebendigkeit und Gestalt« zu verwenden (GS VI 117). Wir haben aber bereits gesehen, dass Dilthey in seiner Weltanschauungsphilosophie mit Stimmung später die ›unterste Schicht‹ der Weltanschauungen und philosophischen Systeme namhaft macht, oder wie er den eben zitierten Mythos und die Metaphysik aus einer Lebens- oder Grundstimmung entstehen lässt (cf. Kap.II). Analog dazu fungiert in Diltheys historischem Rückblick die Strukturformel der bildhaften Innen-Außen-Vermittlung als Grundlage des Dichtens und Philosophierens um 1800: »Die ästhetische Weltansicht entstand, angeregt durch die Besinnung auf die poetischen Vorgänge, insbesondere auf das in Goethe gewaltig Wirkende, vermittelt durch Schillers Energie der Reflexion, und durch Schelling in Zusammenhang der Spekulation gebracht. Das ästhetische Vermögen erhebt das in uns erlebte Verhältnis von Innen und Außen zu lebendiger Energie und verbreitet es auch über die dem Denken tote Natur« (GS VI 117).

Begreift man nun – wie dies ihrem Begriff nach sachgemäß ist – die Stimmung als »dies erlebte Verhältnis«, so wird deren wirkungsästhetische Komplexität deutlicher. Zum einen als ein Phänomenbezug, der auf der Schwelle zwischen Innen und Außen diesseits und jenseits derselben ausgreift. Zum anderen im Sinn eines Spürbarmachens des Schnittes zwischen Subjekt und Objekt als eines solchen, der diese zugleich (epistemologisch) teilt und (topologisch) miteinander verfugt. Schließlich somit auch als eine Entgrenzung zwischen Ich und Welt, welche diese umso lebendiger aufeinander bezieht, wie ihre je eigene Grenze als Übergang zu struktureller Offenheit erfahrbar wird. Dieser Gegenwendigkeit von ästhetischer Stimmung entsprechend denkt Dilthey jene Einheitsformel des ausgehenden 18. Jahrhunderts sowohl als ein Selbstverhältnis als auch als ein Naturverhältnis. Die »lebendige Energie« wird von innen nach außen auf eine »tote Natur« übertragen, wo sie den »Grund und Zusammenhang der Welt« konstituiert (GS VI 117). Aber auch umgekehrt: »so konnte dann natürlich diese Formel rückwärts wieder als objektives Prinzip für die Ableitung der Schönheit in der Natur und des sie heraushebenden und steigernden Schaffens im Künstler benutzt werden.« (GS VI 117). Einmal erlaubt die ›Formel‹ dem naturphilosophischen Identitätsdenken die Verlebendigung

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der Natur, einmal dem ästhetischen Denken die Verlebendigung der Einbildungskraft, welche im Sinne Goethes mit der Kunst eine zweite Natur erschafft. Wenn Dilthey die Stimmung hier noch nicht als Namen für diese ästhetische Formel verwendet, dann entspricht das der begriffshistorischen Lage, welche er hier mit den Namen Herder, Moritz, Kant, Schiller, Humboldt, Körner, Goethe, Schelling, den beiden Schlegel, Schleiermacher und Hegel abgesteckt sieht. Denn erst allmählich rückt in den Werken der Genannten das Wort Stimmung in eine semantische Position ein, welche die begriffliche Lücke füllen wird, welche die »deutsche Poetik dieser Zeit« (GS VI 116) spürbar gemacht hat. Aus letzterer heraus entwickelt der Stimmungsbegriff seine ästhetische Semantik, welche sich in der Romantik konsolidiert und über Hegels Nachfolger wie auch über Schopenhauer zu Dilthey gelangt. Bei diesem wird der Stimmungsbegriff zwar nur versuchsweise oder aber implizit verwendet, während die mit ihm zu bezeichnenden ästhetischen Sachverhalte psychologisch perspektiviert werden. Bevor die Stimmung auch als Begriff – wenn auch nicht systematisch einheitlich – in der Weltanschauungslehre philosophisch in Stellung gebracht wird, wird ihr eine erste poetologische Bedeutung zugewiesen. Dies erfolgt in Diltheys Systematik unter dem Gliederungspunkt der poetischen Technik. Was Dilthey unter poetischer Technik in erster Linie versteht, ist jedoch durchaus nicht historisch gewachsener Umgang mit überlieferten Formen der ästhetischen Rede als sprachlichem Material. Die »Geschichtlichkeit der poetischen Technik« ist das Abbild der Geschichtlichkeit der Einbildungskraft des Dichters in dem Maße und der Weise wie der »technische Zusammenhang des dichterischen Werkes« Ausdruck des erworbenen Zusammenhangs des seelischen Lebens ist (GS VI 229). Dilthey will seine Auffassung von poetischer Technik im »Gegensatz gegen jede formalistische, aber auch gegen jede im Sinne Fechners aus Wirkungselementen summierende Ästhetik« verstanden wissen (GS VI 229). Er leitet sein Konzept dennoch – wie wir schon beim ästhetischen Ausdruck gesehen haben – aus den »Prinzipien des poetischen Eindrucks« (GS VI 229) ab, fügt es jedoch in die Subjektivität des Schaffensprozesses ein. Poetische Technik ist »Technik des Dichters« (GS VI 197), von diesem kreativ gewendete Psychologie. Sie ist »Transformation des Erlebten zu einem nur im Vorstellen des Hörers oder Lesers bestehenden Ganzen, welches Illusion erzeugt« (GS VI 198). Mit diesem mehr psychotechnischen als sprachtechnischen Ansatz ist zunächst der Abstand zu der auf Redefiguren und Stilformen konzentrierten Rhetorik betont sowie zu der mit ihr im Traditionszusammenhang stehenden Poetik des Aristoteles, die aus dem Materialbestand ihrer Zeit Formprinzipien und deren Wirkungsmöglichkeiten ableitete. Die seit dem 18. Jahrhundert einsetzende Absetzbewegung von jeder Art Regelpoetik zugunsten einer Wirkungsästhetik sieht Dilthey mit der psychodynamischen Verankerung seiner

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Poetik fortgesetzt. Seine Verwerfung eines »jeden allgemeingültigen Begriff[es] des Schönen« (GS VI 198) wird indes durch einen allgemeingültigen Begriff von der »Natur des Menschen« ersetzt. Dessen semantischen Kern bildet das Erlebnis. Dieses produziert Bilder, welche die Sprache als Mittel zu ihrer Übertragung nutzt, welche ursprünglich »rhythmische Äußerung der Gefühle« sei (GS VI 198). Die Nachbildung dieser Gefühle in ihrem Stimmungszusammenhang erzeugt während des Lesens oder Hörens die Illusion, das zuerst im Schaffen sich Ausdruck verschaffende Erlebnis im poetischen Eindruck selber zu erleben. Dieser ästhetische Vorgang bildet für Dilthey die »Basis aller echten Kunst« (GS VI 198). Seine psychologische Begründung entfaltet er zur theoretischen Verallgemeinerung von Ästhetik als Imaginationsanthropologie. Die »Natur des poetischen Vorgangs« dient ihm als der »feste Punkt« zur epistemologischen Verankerung seiner Theoriebildung (GS VI 189f.). Aus Diltheys wissenschaftstheoretischem Selbstverständnis überbietet er damit die bloße Beschreibungspraxis der historischen Schule mit einem erneuerten Erkenntnisanspruch, der sich ebenso psychologisch wie historisch begründet sieht. Denn die transzendentale Ableitung »allgemeingültige[r] Prinzipien oder Normen« aus der »Tiefe der menschlichen Natur selber« findet ihren methodischen Gegenhalt in der Einbettung der Poetik in den »Zusammenhang des geschichtlichen Lebens« (GS VI 189, 190). Mit der Problemkonstellation von »Geschichtlichkeit und doch zugleich Allgemeingültigkeit der poetischen Technik« zeige sich eine paradigmatische Bedeutung von Poetik und »überhaupt der Ästhetik für das gesamte Studium der geschichtlichen Erscheinungen« (GS VI 190). Denn Dilthey meint die Problemlösung darin gefunden zu haben, dass er das ästhetische Schaffen und seine poetische Technik als historisch bedingte einer »kausale[n] Erklärung« (GS VI 190) zuführt. Das Entstehen von Ausdruck ist der empirischen Forschung der Literaturgeschichte zugänglich, das Entstehen von Ausdruck kann aus Gesetzen erklärt werden, die die psychischen Prozesse allgemein bestimmen. Innerhalb dieser Erklärung der poetischen Technik erhalten die Stimmungen eine sprach- und wirkungsästhetische Rahmung. Sie bleiben indes Diltheys ›dynamischer Betrachtungsweise‹ entsprechend in der Psychologie, der Einbildungskraft sowie in den »Lebensmomenten des Dichters« verwurzelt (GS VI 212). Zunächst definiert er die Stimmung psychologisch als »ein Aggregat von Gefühlen, dessen Bestandteile nicht heftig und stark auftreten, aber längere Dauer und große Expansivkraft haben« (GS VI 212f.). Dann nennt er die »Gefühlsverbindungen solcher Art« aufgrund ihrer »Eigenschaften für poetisches Schaffen und poetischen Eindruck geeignet« (GS VI 213). So sei »poetische Stimmung« dadurch bestimmt, dass sie sowohl »in der Hervorbringung eines Werkes wirkt«, als auch »durch das Auffassen desselben hervorgerufen« werde (GS VI 213).

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Bemerkenswert, wenn nicht paradoxal ist es nun, dass ausgerechnet die in psychologischen Gesetzmäßigkeiten erkennbare ›Natur des Menschen‹, die doch Diltheys Denken transzendentallogischen Halt geben soll, die Stimmungen einer historisch-relativistischen Drift aussetzen: denn die »Mannigfaltigkeit solcher Gefühlsaggregate ist unbegrenzt« (GS VI 213). Gewissermaßen umgekehrt sorgt nun der geschichtliche Prozess selbst für eine Suspendierung von Kontingenz, indem die Beliebigkeit des imaginativen Formenspiels durch »Kontinuität in der dichterischen Technik« notwendig eingedämmt wird (GS VI 213). Dies heißt, dass die auf psychologischer Basis unbegrenzte Vielfalt an Stimmungen nach Maßgabe von deren Eignung für die poetische Praxis und der tatsächlichen Ausformung in deren Überlieferungszusammenhang vereinheitlicht wird.174 Und zwar so weit, dass im geschichtlich aufgeblendeten Spektrum poetischer Stimmungen das Bild der ›Menschennatur‹ erscheint. Diese historisch-anthropologische Grundlegungsfunktion der ihre eigene Psychologie transzendierenden Stimmungen bedeutet eine neuartige Aufwertung derselben und des Ästhetischen insgesamt. Demgegenüber fällt die anschließende Klassifikation poetischer Stimmungen eigenartig grobschematisch aus, was Dilthey anscheinend selbst so vorkam.175 Denn sie folgt darin konventionellen Unterscheidungen, von denen allerdings fraglich bleibt, ob sie an die von Dichtern innerhalb der Stimmungsmannigfaltigkeit »bevorzugten Punkte« (GS VI 213) historisch anschließbar und systematisch abgleichbar sind. Danach stellen die poetischen Stimmungen sich »in den ästhetischen Kategorien des Ideal-Schönen, Erhabenen, Tragischen, in welches dann das Häßliche gemischt sein kann, andererseits des Rührenden, des Komischen und des Anmutigen oder Zierlichen dar« (GS VI 213). Auch die nähere Beschreibung dieser Kategorien hält sich an die inhaltlichen Differenzierungen, welche seit dem Aufstieg der Ästhetik zur philosophischen Disziplin im 18. Jahrhundert von Schotten, Engländern, Franzosen und Deutschen entwickelt wurden.

174 »Innerhalb dieser geschichtlichen Variabilität der dichterischen Form und Technik sowie ihres Eindrucks, sonach des Geschmacks treten feste gesetzliche Verhältnisse auf, welche die Literaturgeschichte allmählich durch vergleichende Verfahren feststellen wird. […] Die poetischen Stimmungen drücken sich in großen Werken aus und werden durch dieselben nicht nur auf das Publikum, sondern auch auf die nachfolgenden Dichter übertragen« (GS VI 235; Hvh. W.D.). 175 Dazu seine Bemerkung: »Psychologie und Literaturgeschichte werden gemeinsam die Aufgabe lösen müssen, die Zusammensetzung dieser poetischen Stimmungen, dann deren Beziehungen zueinander und besonders ihre Wirkung auf den Stoff nach den dargestellten Gesetzen zu untersuchen. Bei dieser nüchternen Arbeit begegnen sie der Dialektik von Hegel, Solger, Weisse usw., die natürlich in diesen nachgiebigen, elastischen Tatsachen den ergiebigsten Stoff fand« (GS VI 213).

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Sie erfassen die jeweiligen Verhältnisse zwischen auffassendem Subjekt samt dessen Vermögen und gegebenem Objekt samt dessen Eigenschaften – nach Maßgabe etwa von Angemessenheit von Größen, Störung von Zuständen oder Mischungen von Gefühlen. Mehr oder weniger bestimmte Proportionen von Lust und Unlust, Erhebung und Furcht, Befriedigung und Schrecken, Staunen und Mitleid bilden dabei auf der Subjektseite ein emotionales oder affektives Profil. Diesem entsprechen auf der Objektseite gegenständliche Konturen und Eindrucksqualitäten, örtliche Gegebenheiten und Entzüge, dingliche Ensembles und Abwesenheiten oder bilden damit gerade keine Entsprechung. Dilthey verwendet bei der Beschreibung dieser ästhetischen Komplexionen den Stimmungsbegriff bezeichnenderweise nicht für die objektiven Strukturen, ihre elementaren Zusammensetzungen oder für räumliche Beziehungen. Poetische Stimmungen behalten bei ihm eine subjektive Schlagseite, namentlich zum Seelenleben oder zu Gemütszuständen und haften als Gefühlsaggregate mehr am Fühlenden als dass sie das je Gefühlte kennzeichnen. Entsprechend – und nicht etwa: dennoch – ist immer wieder die Rede davon, dass in Stimmungen etwas (das Schöne, Erhabene, Tragische, Komische, Anmutige, Naive, Kleine usw.,) »poetisch hingestellt oder genossen wird« (GS VI 215). Diese stärkere Akzentuierung ästhetischer Subjektivität ist durchaus nicht selbstverständlich, wenn wir uns an die idealistische Formel der Einheit von Innen und Außen erinnern, an welche Dilthey sein psychologisches Konzept des Bildes als Vorgang und Leben angeschlossen hat. Denn auch in seiner Typologie poetischer Stimmungen übernehmen diese die Funktion der Vermittlung der »Diskrepanzen des Äußeren und Inneren, der Ansprüche und des Wertes, des Ideals und der Erscheinungen« (GS VI 215). Dieser funktionale Status der Stimmung in dem ontologischen Zwischen eines Mediums wird von Dilthey aber theoretisch nicht durchgehalten. Stattdessen lässt er diese selber als Grenze zwischen Innen und Außen zu verstehende Stimmung sich zuletzt wieder »in einen ästhetischen Seelenzustand auflösen« (GS VI 215). Damit wird die Möglichkeit vergeben, poetische Stimmung als ein drittes Glied innerhalb der epistemologischen Gliederung in Duale wie Innen und Außen oder Subjekt und Objekt theoretisch zu etablieren. Anstelle einer genuin ästhetischen Sichtweise von Stimmungen meint Dilthey deren poetologische Funktion in einer gesetzespsychologischen »Kausalbetrachtung« resümieren zu können: »Die idealische Stimmung erwirkt Ausschaltungen, die erhabene Steigerungen, das Zierliche genießen wir, indem wir es noch herabmindern: ein weites Feld psychologisch ästhetischer Forschung tut sich hier auf« (GS VI 215). Seinen Beitrag zu dieser Forschung sieht Dilthey vor allem in einer »psychologische[n] Elementarlehre der Poesie« (GS VI 185), welche eher das Gegenstück als eine Ergänzung der rhetorischen Formenlehre bildet. Anders als diese geht sie nicht von einem historisch erreichten Bestand an Lexik, Grammatik, Stilfiguren

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und Darstellungsformen in Werken aus, die auf ihre Zusammenhänge, Wirkungen oder Gattungsfragen hin bedacht werden. Vielmehr lässt Dilthey seiner Ausdruckshermeneutik und Schaffenspsychologie gemäß die poetische Sprache samt ihrer Formenvielfalt und rhetorischen Figuralität aus dem seelischen Zusammenhang samt seiner Gestalttransformationen und teleologischen Kräfte gleichsam naturhaft hervorgehen. Aus Empfindungskomplexen, Gefühlsaggregaten und Stimmungsverbindungen macht die »dichterische Formation« alle Formen der Darstellung bis hin zur »Anordnung der Tonqualitäten« und den sprachlichen »Rhythmus« (GS VI 209). Das »Spiel seelischer Zustände« bestimmt die poetische »Wortfolge« wie auch die »Energie des Gefühls die metrischen Verhältnisse bedingt« (GS VI 209). Mit seiner Ausdruckspoetik zielt Dilthey auf eine Überschreitung des aristotelischen Mimesiskonzepts. Erst seine eigene psychologische Grundlegung zeige die Mittel, mit welchen »poetische Bilder, die doch zunächst ein innerlicher Besitz des Dichters sind, auch für einen Leser oder Hörer sichtbar werden« (GS VI 209). Dabei geht er allerdings auf die bedingende Materialität der künstlerischen Medien nur insofern ein, als dass er diese zur unmittelbaren Ausdrucksform von Erlebtem, Gefühlen und Stimmungen erklärt. Wie das genau vor sich geht, erklärt er keineswegs an medialen Formqualitäten. Vielmehr geht Dilthey mit der Beschreibung von psychologischen Gesetzmäßigkeiten zugleich von einem Entsprechungsverhältnis aus, welches die psychischen Prozesse in der Einbildungskraft des Dichters mit denen »in der Phantasie des Hörers oder Lesers« prinzipiell gleichschaltet (GS VI 209). Was im ästhetischen Ausdruck und gleichermaßen – wenn auch weniger intensiv – im ästhetischen Eindruck an Gefühlen und Stimmungen hervorbracht wird, ›tritt‹ – gewissermaßen unversehens – in den Formen, Inhalten und der Sprache der Poesie wieder ›hervor‹: »Das Gefühlsmäßige der Handlungen und Charaktere tritt auch in dem Darstellungsmittel der Sprache, und zwar durch die Einbildungskraft gesteigert, hervor. Es besteht ein ursprüngliches Verhältnis zwischen den Bewegungen der Gefühle, den Spannungen des Willens, dem schnelleren oder langsameren Ablauf der Vorstellungen und dem Ton, seiner Stärke, Höhe, schnellen oder feierlichen Abfolge, seinem Steigen oder Fallen. Die Stärke und Beschaffenheit der Gefühle, die Energie der Willensspannung, der leichte, ja sich überstürzende Fluß der Vorstellungen in gehobener Stimmung, das Stocken derselben im Schmerz stehen in festen physiologisch bedingten Verhältnissen zur Höhe, Stärke und Geschwindigkeit der Töne. Diese werden erfahren in der betonten Rede« (GS VI 209f.).

Die Annahme ›fester‹ Verhältnisse zwischen psychischem Vorgang und ästhetischem Ausdruckskorrelat muss bei Dilthey im weiteren Zusammenhang seines anthropologischen Philosophems der Innen-Außen-Beziehung als einer wechselseitigen »Beseelung und Versinnlichung« gesehen werden (GS VI 226). Von diesem her wird nicht nur das Erlebnis als der »reale Kern der Poesie« aufgefasst,

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sondern das »oberste Prinzip des Weltverständnisses« hergeleitet (GS VI 227). Dieses liegt – wie wir oben beim Bildkonzept gesehen haben – »in der psychophysischen Natur des Menschen, welche er auf die ganze Welt überträgt« (GS VI 227). Und so entsteht für Dilthey alles Sprachliche und Mythologische, Symbolische und Metaphysische einfach durch »feste gesetzmäßige Beziehungen zwischen inneren Zuständen und äußeren Bildern« (GS VI 227; Hvh. W.D.). Diese ›festen‹ Innen-Außen-Beziehungen oder polaren Welt-Selbst-Verhältnisse werden in ihrer ›Gesetzmäßigkeit‹ nicht anders erklärt, als dass sie philosophisch als ›unser‹ Leben bezeichnet, hermeneutisch über das Ausdrucksverstehen entfaltet, ästhetisch durch Bildrepräsentation verdoppelt und grundlegend psychologisch als Übertragungsmechanismus beschrieben werden.176 So ist es nicht anders zu erwarten, dass sie schließlich poetologisch als bloßes Hervortreten, Sich-Kundgeben oder Wirksamwerden von seelischer Bedeutsamkeit in der Sprache gedacht werden. Wenn von der poetischen Sprache als »Symbolbilden«, »Lautfolge« oder »bildliche Sichtbarkeit«, von tropologischen Figuren wie »Personifikation«, »Metapher«, »Synekdoche«, »Hyperbel« bis hin zu »Reim«, »Metrum« und »Stil« die Rede ist, dann wird Poesie dennoch exklusiv als Ausdrucksform »für das flüchtige Seelische« verstanden (GS VI 226–228). Die rhetorische »Formbetrachtung« und »Lehre von den Darstellungsmitteln« im Sinne einer materialen Poetik erklärt Dilthey als vorbildlich erledigt durch die griechisch-römische Antike und deren neuzeitlichen Nachfolger. Unerledigt bleibt allein die »schöne Aufgabe, in diesem Gebiete auf der Grundlage der Sprachwissenschaft Kausalerkenntnis, gleichsam eine dynamische Betrachtungsweise, durchzuführen« (GS VI 226). Und hier allein sieht Dilthey seinen Beitrag, indem er die »Prinzipien für die Lösung dieser Aufgabe in [seiner] psychologischen Grundlegung entwickelt« habe (GS VI 226). Was noch auszuführen bliebe, wäre eine Poetik, welche die antike Stilfigurenund Formenlehre mit der modernen Wirkungsästhetik systematisch verfugt. Dilthey selbst legt diese aber jener nur ›kausal‹ zugrunde. Sprachliche Formen geraten als ästhetisches Material gar nicht erst in den Blick. So wird dem Performativen der Sprachästhetik keine eigenständige Bedeutung zugemessen, wie sie sich von den symbolischen, semiotischen oder figuralen Prozessen für die literarische Schreibpraxis oder auch aus der Geschichte der Literatur als kollektivem Werkzusammenhang ergeben. Dilthey reduziert die noch zu leistende Ausführung einer wissenschaftlichen Poetik einmal mehr auf seine transzendentalpsychologische Perspektive, indem er eine anthropologisch verallgemeinerte ›Natur des dichterischen Schaffens‹ zum Primat aller weiteren Theorie176 Siehe über diesen Sachverhalt hinaus zur für die Epoche um 1900 insgesamt zentrale Thematik des Panpsychismus und anderer Monismen die historisch und kulturanthropologisch gründliche Darstellung von Riedel (1996).

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bildung erklärt. Deren »Anwendung« nämlich möchte er von folgendem Satz »geregelt« wissen: »Die Natur des dichterischen Schaffens, die Motive, Fabel, Personen und Handlung aus dem Stoff gestaltet, wirkt auch in den einzelnen Mitteln der Darstellung, ja bis in jeden Laut derselben, und aus ihr müssen die Formen, welche die klassische Rhetorik und Poetik aufzählt, interpretiert werden« (GS VI 226).

Bezeichnend oder doch auffällig ist an diesem programmatischen Hinweis, dass die Stimmung darin nicht mit aufgeführt wird unter demjenigen, was die Dichternatur aus dem gegebenen Stoff gestaltet. An ähnlichen Stellen indes wird poetische Stimmung zusammen mit »Motiv«, »Fabel«, »Charaktere[n]«, »Handlung« und sowie »Stoff« und »Darstellungsmittel[n]« genannt (GS VI 228, 216 et passim). Geht es an diesen anderen Stellen jedoch um die Charakterisierung des Werkes oder seines Stoffes, so hier um diejenige der Dimension poetischen Schaffens. Die von Dilthey durchweg privilegierte Schaffensdimension lässt sich als Primat einer ästhetischen Theoriebildung nur auf der herkömmlichen Basis von Dualen plausibel machen, wie sie die logische Zweiwertigkeit, ontologischen Dichotomien oder metaphysischen Ordnungsfiguren bereitstellen. Die Auslegung poetischer Formen und rhetorischer Figuren ›aus‹ der ›Natur des dichterischen Schaffens‹ hat, wie das künstlerische Ausdruckwerden von innerer Erfahrung überhaupt, die duale Schematisierung Innen/Außen zur Voraussetzung. Diltheys Konzept der Objektivierung subjektiven Erlebens insgesamt, das seine Konstellation von Erlebnis und Dichtung als Entäußerung von Innerlichkeit organisiert, ist begrifflich und logisch von der dualen Komplementarität von Subjekt und Objekt abhängig. Dies hat für den Begriff der Stimmung und seine Verwendung in Diltheys Poetik zweierlei zur Folge. Zum einen wird er – wie an eben zitierter Stelle – im Zusammenhang der ›Ausdrucks‹-Semantik vermieden, wo es aus systematischem Interesse auf zweigliedrige Unterteilungen wie Innen/Außen, Seele/Milieu oder Subjekt/Objekt ankommt. Der idealistischen Tradition gemäß werden hierbei der Erstposition (Innen, Seele, Subjekt) mehr Eigenschaften und wichtigere Funktionen als der Zweitposition (Außen, Milieu, Objekt) zuerkannt. Zum anderen wird die poetische Stimmung im Bereich subjektiver Zustände definiert und bleibt damit auf den Bereich objektiver Verhältnisse allenfalls ihrerseits ausdruckslogisch bezogen, indem sie etwa als Gefühlsaggregat »ihr Gepräge« in den nachgeordneten Gegenstandsqualitäten findet (GS VI 213, 229). Poetische Stimmungen werden so zwar auch im ausdruckspsychologischen Sinne Diltheys durch Kunstwerke »überliefert«, indem sie in diesen »festgehalten« und sogar »ausgebildet« werden (GS VI 213). Nicht aber wird diesen Stimmung als objektive Qualität zugeschrieben, wie es die historische Semantik des Stimmungsbegriffes in der Perspektive ›gestimmter‹ Strukturverhältnisse erlauben würde.

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Ästhetische Konzepte und poetische Stimmungen

Durchweg bleibt Diltheys Stimmung an die Subjektposition gebunden, während die herkömmlichen Begriffe des Schönen, Erhabenen oder Tragischen in ästhetischen Urteilen auch objektbezogen verwendet werden können. Die Explikation der poetischen Stimmungen über ihr ›Sichdarstellen‹ in diesen traditionellen Kategorien dient letztlich sogar nur einer psychologischen Neubeschreibung derselben als typologische Figurationen von ästhetischer Subjektivität. So gesehen fällt der Begriff der Stimmung – trotz seiner tentativen Aufwertung in Diltheys Gesamtwerk – in dessen Poetik unter das zuvor bereits erreichte Reflexionsniveau der philosophischen Ästhetik zurück. Während Dilthey selbst anmerkt, dass die »Dialektik von Hegel, Solger, Weisse usw. […] natürlich in diesen nachgiebigen, elastischen Tatsachen den ergiebigsten Stoff fand« (GS VI 213), fasst er die hier mitgemeinten Stimmungen reduktiv als psychische Tatsachen auf. Als solche stehen sie angeblich in ›festen gesetzesmäßigen‹ Verhältnissen zu physikalischen Tatsachen um sie so dem ausdrucksästhetischen Konzept seiner Poetik einpassen zu können.177 Verspielt wird damit die dem semantischen Potential des Stimmungsbegriffes inhärente Möglichkeit, die Zweigliedrigkeit ästhetischer Theoriefiguren wie in der Subjekt-Objekt-Dialektik um ein drittes Glied zu ergänzen. Dies kann mit einer – durch den philosophisch aufgewerteten Begriff von Stimmung zu bezeichnenden – Akzentuierung des Prozesscharakters des Verhältnisses zwischen Innen und Außen geschehen, welches Dilthey ja bereits als wechselseitige Bildübertragung aufgefasst hat. Somit wäre das strukturale Dual Innen/Außen zur prozessualen Triade einer Innen-Außen-Beziehung zu erweitern, die sich topologisch als Spatium eines Dazwischen bewegt. Die Betonung der Eigenständigkeit des dritten Gliedes, also der Beziehung, lässt sich terminologisch als InnenAußen-Stimmung kenntlich machen. Damit fungierte die Stimmung weiterhin als Vermittlung zwischen zwei Entitäten und wäre außerdem selbst ontologisch erfasst. Eine solche Überschreitung der Dialektik von Verhältnissen wie zwischen Subjekt/Objekt, Seele/Milieu oder Innen/Außen im theoretischen Rahmen des Stimmungsbegriffes lässt sich mit Dilthey nur anvisieren, nicht aber vollziehen. Erst die theoretische Umstimmung von dessen psycho-poetischer Stimmung zu einer onto-mediologischen Stimmung macht diese zu einem ästhetischen Begriff, mit welchem sich der Bereich der Objekte, der Milieus oder des Außen schärfer in den Blick rücken lässt. Die Eigenschaften der Dinge – seien es künstliche oder natürliche –, der Umgebungen – seien es lebensweltliche oder systemische –, des 177 Siehe hingegen auch die positiven Befunde aus der Rekonstruktion von Diltheys Poetikschrift von 1887 Mansour (2011, 149–161). Das Thema der Stimmungen spielt bei Mansour keine Rolle. Statt Diltheys produktions- und rezeptionsästhetischer Auffassung von Stimmung nachzugehen, verwendet sie einen psychologisch reduktiven Stimmungsbegriff (cf. 141).

Weiterentwicklungen von Diltheys Stimmungsbegriff

175

Außen – sei es ein metaphysisches oder raumphysikalisches –, ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Was aber mit unserem onto-mediologisch gefassten Stimmungsbegriff für das poetologische Denken gewonnen wird, sind neue Perspektiven auf die Potenziale von Kunst: auf ihre materialgebundene Wirksamkeit, auf die Medialität von Literatur und die raum-zeitliche Phänomenalität im Ästhetischen. Die mit solcher ästhetischen Perspektivik einhergehende Depotenzierung von Subjektivität aber ist mit den theoretischen Vorgaben von Diltheys Ansatz nicht vereinbar. Denn sie dementiert dessen Primatstellungen des »unwillkürliche[n] Schaffen[s]« gegenüber dem rezeptiven Nachbilden, des »psychischen Prozesse[s]« gegenüber dem symbolischen Prozess oder des »ganzen erworbenen Zusammenhang[s] des Seelenlebens« gegenüber dem literarischen Textzusammenhang und seinen Teilen (GS VI 185). Nicht die aus poetischen Stimmungen des Dichters anhebende Ausgestaltung einer »inneren Form« (GS VI 228f.)178, sondern die äußeren Formen inhärente Gestalt von poetischen Stimmungen im Werk sind es, denen in der solchermaßen kritischen Nachfolge Diltheys die Präferenz unseres theoretischen Interesses gilt. An die Stelle der ›Einbildungskraft des Dichters‹ tritt die Dynamik der In-Formation, welche in Texten deren ästhetische Konstitution prozessiert. Aus ihr sind die ›Bausteine‹ für eine Poetologie der Stimmung zu entwickeln (cf. Hajduk 2016, 127–164).

178 Siehe dazu Diltheys an Humboldt angelehnte Definition: wir nennen »die Verteilung der Veränderungen, welche an Erlebnissen […] stattfinden, sonach Neubildungen der Bestandteile, entstehende Verhältnisse von Betonung, Stärke und Ausdehnung sowie umgeschaffene Beziehungen die innere dichterische Form« (GS VI 201, Hvh. W.D.).

VII. Zeitstimmungen und Geschichtsdenken. Kollektive Bedeutungsdimensionen eines ästhetischen Begriffs

1.

Allgemeine Stimmungspragmatik

Unsere Relektüre von Diltheys Werk am Leitfaden des darin verwendeten Begriffes der Stimmung hat an verschiedenen Stellen die Frage nach kollektiver Stimmung berührt ohne dass wir näher dort darauf eingegangen wären. Freilich gibt es gute Gründe, dieser Frage auszuweichen oder sie auszublenden, wie dies in der gegenwärtigen Forschung zumeist der Fall ist. Ziehen Fragen nach Kollektivsubjekten und ihrer Geschichte doch eine ganze Reihe von Anschlussfragen nach sich, auf die sich weder bei Dilthey selbst, noch in der bis heute weiterentwickelten Historiographie befriedigende Antworten finden. So drängt sich rasch die Frage auf, wer denn das Subjekt einer kollektiven Stimmung sein soll? Reichen dafür schon zwei Individuen oder erst kleinere, mittlere oder größere Gruppen von Individuen? Kann etwa die Bevölkerung einer ländlichen Gegend, einer Stadt, einer ganzen Region, eines Staates, eines Kontinents oder gar der Erde Träger (von) einer Stimmung sein? Wie kann von der Stimmung im ›Volk‹ die Rede sein, zumeist dem Volk einer Nation zu einer bestimmten Zeit; oder auch im Sinne der zu beherrschenden Masse in einer bestimmten politischen Lage? Kann beispielsweise von der Stimmung vor der französischen oder auch der industriellen Revolution; von der Stimmung im Vielvölkerstaat der zu Ende gehenden Habsburgermonarchie gesprochen werden? Oder etwa von Stimmungen im Europa der Zeit vor, in, zwischen oder nach den Weltkriegen? Bevor man Fragen wie diese auch nur einigermaßen begründet beantworten, präzisieren, verneinen oder über die Ermöglichungsbedingungen kollektiver Stimmungen reflektieren kann, ist zuzugeben, dass von solchen politischen, historischen oder kulturellen Großsubjekten der Stimmung immer wieder gesprochen wird; und das nicht nur im schlechten Journalismus oder neurechten Milieu, in den social media oder in Lageberichten von Militärs, Kampagnenmanagern oder Analysten der Finanz- und Rohstoffmärkte. Auch in der seriösen Publizistik und in akademischen Zirkeln, in den Qualitätsmedien oder der Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und Rundfunks wird z. B.

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

von der Stimmung nach einem Terrorakt oder nach einem Spiel in der Kabine, an der Börse, im Wahlkampf oder Festsaal, in der Partei oder der Vorweihnachtszeit gesprochen. Kollektive Zuschreibungen wie bei der Stimmung von Konsumenten, Wählern oder Unternehmensmanagern sind gang und gäbe, ohne deshalb unter den Verdacht unverantwortlicher Verallgemeinerungen zu geraten. Weniger selbstverständlich ist es jedoch, dass dies für die wissenschaftliche Geschichtsschreibung gilt. Schaut man etwa in die zuletzt in großer Zahl zum Ersten Weltkrieg erschienenen Bücher von international beachteten Historikern (Herfried Münkler, Christopher Clark, Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz), so findet man – wie schon vor hundert Jahren – kollektive Begriffsverwendungen wie: die »Stimmung und Kultur im Wien des frühen 20. Jahrhunderts«, »die antibritische Stimmung in Frankreich« oder die »Abschwächung der antideutschen Stimmung in der britischen Politik« und immer wieder die »Stimmung der Bevölkerung«, die »öffentliche Stimmung« oder »die Stimmung im Land«.179 Zu Diltheys Lebzeiten (bis 1911) sprach im Umkreis des Neukantianismus Ernst Cassirer, ein Schüler Wilhelm Windelbands (1848–1915), z. B. von »einer neuen Stimmung und Tönung des gesamten Weltgefühls« (Cassirer 1927, 197), womit sich der Beginn der Neuzeit angekündigt habe. Also nicht nur mit diagnostischem Blick auf die aktuelle Zeitgeschichte, sondern auch im Rückblick auf historische Makroepochen wie etwa der beginnenden Neuzeit, der späten Renaissance, des hohen Mittelalters oder der ausgehenden Antike, findet der Begriff Stimmung Verwendung. Berechtigte Einwände sind hier wissenschaftlich naheliegend, namentlich dass dadurch die breitangelegten Materialsichtungen, kritischen Quellenerschließungen und aufwendigen Detailanalysen der historischen Arbeit zu wenig berücksichtigt, womöglich leichtfertig übersprungen oder gar fahrlässig verabsäumt werden. Wenn dies unbedacht geschieht oder einfach der Fall ist, erfolgt schon seit dem Historismus des 19. Jahrhunderts dafür die wissenschaftliche Disqualifikation. Werden indes die mikrohistorische Präzisionsarbeit unterlassen, deren Ergebnisse vorausgesetzt oder auf eine differenziertere Darstellung bewusst verzichtet, um dadurch geschichtsphilosophische Modelle, grobschematische Aussagen oder suggestive Thesenbildungen zu ermöglichen, dann gerät die Rede von der Stimmung einer Zeit, Generation oder Epoche unvermeidlich unter Irrationalitätsverdacht. Dies ist z. B. hinsichtlich 179 Diese Beispiele sind aus der deutschen Übersetzung des viel rezipierten Buchs von Clark (2012) gewählt, um anzudeuten, dass es sich hier gerade nicht um eine terminologische (Stimmung, engl. mood) oder gar kulturelle Eigenart in deutschsprachigen Ländern handelt (162, 216, 235, 299, 300, 301, 302; cf. weitere Beispiele 114, 288, 297, 306, 314, »pazifistische und antimilitaristische Stimmung« 384, »gefährliche Eskalation der Stimmung« 445, 461, 462, 470, 492, »gefasste« und »Alarmstimmung« 565, »kriegerische Stimmung« 572; et passim).

Allgemeine Stimmungspragmatik

179

Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918/1922) der Fall gewesen. Im Unterschied zu dessen spekulativer Kulturdiagnostik, sorgt bei dem ebenfalls als Formdenker des Geschichtlichen rezipierbaren Ernst Cassirer das Symbolkonzept für eine Objektivierung von emotional codierten Wissensbeständen und kulturellen Stimmungen. Wo auch nach dem Abschied von Hegels Konzept von Geschichte als Entwicklungsgeschehen des zu sich kommenden Weltgeistes nach Möglichkeiten gefahndet wird, eine Zeit in die sie prägenden Gedanken und Gefühle zu fassen, dort entsteht das systematische Selbstverständnis, historische Zusammenhänge auf den Begriff zu bringen. An die Stelle der teleologischen Perspektivik treten wirkungsgeschichtliche Linien, welche die im 19. Jahrhundert aufkommende Geistesgeschichte in epochalen Abschnitten samt Überlappungen nachzeichnen wird. Als generative Ordnungsmuster fungieren dabei die philosophische Ideenwie auch die künstlerische Stilgeschichte. Für geistesgeschichtliche Darstellungen ganzer Epochen bleibt auch bei hohem Differenzierungsniveau kein geringer Bedarf an summarischer Reflexion und begrifflicher Integration bestehen, so dass historische Rekonstruktionen von Dilthey über Cassirer bis Kondylis immer wieder auch von der Stimmung oder der Atmosphäre einer Zeit, dem Lebensgefühl oder Geist einer Epoche oder einer ihrer Episoden sprechen.180 Mehr noch als für von der Philosophie ausgehende Darstellungen gilt dies für solche, die Epochen oder kulturelle Konstellationen mit dem Fokus auf die Literaturgeschichte beschreiben.181 Für die oft noch heute gut lesbaren denk- bzw. literaturgeschichtlichen Arbeiten des 19. und 20. Jahrhunderts gilt gleichermaßen, dass sie prinzipiell alle – wenn auch mehr oder weniger diszipliniert – auf der methodischen Grundlegung des Historismus aufbauen; unabhängig davon, ob sie der positivistischen, geistesgeschichtlichen oder ideengeschichtlichen Strömung zuzurechnen sind. Ihren Autoren wäre – trotz aller von ihnen selbst geteilten Vorbehalte gegenüber idealistischen Philosophemen – die angestrebte Vermeidung, mitunter pole180 Siehe den bislang noch nicht zitierten Kondylis (1986, 542, 562 et passim); bei Dilthey (GS XXV 11, IV 564 et passim); mit Bezug auf Schiller verwendet Dilthey auch einmal folgende Formulierung: »da er doch selber in eine ganz ungeschichtliche, stagnierende Atmosphäre eingetaucht war« (SCH 51). Die semantische Nähe zwischen Atmosphäre und Stimmung wird einmal besonders auffällig, wo Dilthey den einen Begriff zur Erklärung des anderen verwendet: »Die so entstehende Stimmung, welche Deutschland in Sturm und Drang ergriffen hatte, bildete die Atmosphäre der jungen Goethe und Schiller« (SCH 8). 181 Hier wäre eine lange Reihe von Arbeiten von ungefähr der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus bis in die Gegenwart anzuführen, an deren Stelle ich eine Auswahl von Namen setze: Hermann Hettner, Rudolf Haym, Wilhelm Dilthey, Wilhelm Scherer, Erich Schmidt, Oskar Walzel, Rudolf Unger, Friedrich Gundolf, Paul Kluckhohn, Georg Lukács, Fritz Strich, Hermann August Korff, Karl Viëtor, Walther Rehm, Emil Staiger, Walther Killy, Gerhard Kaiser.

180

Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

misch flankierte Verwerfung von Begriffen wie ›Zeitgeist‹ oder ›Epochenstimmung‹ wohl unverständlich geblieben, wie sie seit einigen Jahrzehnten vor allem bei Vertretern der Wissenschaftsgeschichte erfolgt ist. Denn nicht nur wegen, auch trotz ihrer wort- und begriffsgeschichtlichen Herkunft aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhundert, ihrer Etablierung im Deutschen Idealismus und der Essenzialisierung durch die Romantik haben sie anschließend einen heuristischen Gebrauchswert sowie eine summarisch-integrale Funktionalität für die historischen Wissenschaften angenommen. Diese erhalten sie auch heute noch etwa in der zeit- und kulturdiagnostischen Psychohistorie Peter Sloterdijks oder der von existenziellen Stimmungsmotiven informierten Biographik Rüdiger Safranskis, um nur besonders breit rezipierte Autoren zu nennen. Deren Erfolg ist auch als Indiz dafür zu werten, dass unsere Gegenwartsmoderne sich hinsichtlich ihres Bedarfs an geistiger Orientierung, an historischem Durchblick und reflektiertem Überblick keineswegs von vorangehenden (Neu-)Zeiten unterscheidet. Nur scheint heute der Wert von »einschlägig sorgfältiger Nachlässigkeit im Genauen« (Odo Marquard) mitunter vergessen zu sein, den das Bonmot vergegenwärtigt, dass wer Übersicht will auch vieles übersehen muss. Als bei Herder erstmals von Stimmung (Journal meiner Reise von 1769)182 und von ›Zeitgeist‹ (Auseinandersetzung mit Klotz) gesprochen wurde, trafen diese Ausdrücke ›einen Nerv der Zeit‹, um es mit einem ihnen verwandten metaphorischen Ausdruck zu sagen. Schon bald intellektuell durchgesetzt haben sich diese Ausdrücke mit Hegels Geschichtsphilosophie und ihren kritischen Nachfolgetheorien. Diskursübergreifend verbreitet haben sie sich mit dem kulturellen Siegeszug des Historismus und dem unter modernen Bedingungen weiter angestiegenen Bedarf an gesellschaftlicher Verständigung und geschichtlicher Selbstdeutung. Seit man sich in historische Individuen und Gruppen von Individuen hineinversetzt, um sie und dann auch sich selbst besser zu verstehen; seit man Kulturen zunehmend als Organismen imaginiert, ihre Entwicklung evolutionsgeschichtlich statt heilsgeschichtlich denkt; seit die Aufklärung den intellektualistischen Rationalismus mit seinem ehemaligen Gegenspieler, dem sensualistischen Empirismus vereint hat – seither hat das Geschichtsdenken sein hermeneutisches Arsenal um Begriffe wie Zeitstimmung und Zeitgeist, Lebensund Epochengefühl erweitert.183 Denn deren teils echt historische teils bloß metaphorische Semantik ist dazu geeignet, herkömmlich duale Sphären wie Innen/Außen, Geist/Materie, Seele/Körper, Mensch/Masse, Bürger/Staat epistemisch neuartig zu integrieren. Dadurch lässt sich das Verstehen von allzu abstrakt erscheinenden Gebilden wie Nation, Gesellschaft, Kultur, Menschheit und 182 Sie hierzu Hajduk (2016, 184–195). 183 In diesem Sinne spricht etwa Gadamer (1991) vom »Ausdruck jener spätantiken Zeitstimmung« (410).

Allgemeine Stimmungspragmatik

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Geschichte als Universalgeschichte potenzieren. Schließlich greifen begriffliche Extensionen des Individuellen, Persönlichen, Psychischen über aufs Allgemeine, Soziale, Somatische und dehnen sich von dort auf Staatenbünde, Kulturkreise und Anthropologie aus. Die funktional gewendete Pragmatik des kollektiv verwendeten Stimmungsbegriffs prädestiniert ihn freilich auch zu seinem ideologischen Missbrauch. Nicht nur hilft er historisch alte oder kategorial neue Kollektivgrößen wie Reich und Nation, Volk und Bevölkerung, Gemeinschaft und Gesellschaft deskriptiv zu konkretisieren, indem er sie mit zeitgeschichtlichen Erfahrungspotentialen auflädt. Vielmehr erlaubt der kollektive Stimmungsbegriff auch Suggestionen von politischen und kulturellen Erfahrungswirklichkeiten, wenn dieselben in Wahrheit von Chimären beherrscht, von Propaganda umgedeutet oder heute etwa von algorithmischer Stimmungsmache erst hervorgebracht werden sollen. In dem rationalen Maße wie die Rede von kollektiver Stimmung (der Nation, im Volk, oder »der bürgerlichen Klassen« GS XXV 34) die pragmatische Funktion einer Gegenstandskonturierung ermöglicht, indem sie Abstraktionen zu versinnlichen erlaubt, so anfällig ist sie auch für irrationalistische Übernahmen und politische Ideologisierungen, – nämlich indem sie dieselben Abstraktionen gerade aufgrund der Ausblendung welthaltiger Konkretheit zu funktionalisieren erlaubt. Der Preis dafür, dass mit Kollektivbegriffen wie der ›Stimmung‹ einer Zeit, Epoche, Bevölkerung usw. eine auch wissenschaftlich produktive Spekulation Einzug in die Makrohistorie und Kulturdiagnostik, aber auch in die Politikanalyse und Sozialwissenschaft erhält, ist die unvermeidliche Offenheit für unwissenschaftliche Interpretationen ihrer Ergebnisse. Deshalb sind wiederholte Versuche der Vermeidung, Diskreditierung oder gar Ächtung eines wissenschaftlichen Gebrauchs dieser Begriffe verständlich. Damit entgeht man jedoch nicht nur den Gefahren, die mit begrifflicher Ungenauigkeit und unwissenschaftlichen Verfahrensweisen einhergehen. Solche Gefahren werden auf gesamtgesellschaftlicher Ebene möglicherweise verstärkt, wenn man die Verwendung von Begriffen, die neben oder sogar wegen ihrer starken Suggestivität doch offenbar ein hohes Maß an Verständlichkeit besitzen, anderen überlässt und damit ihren Missbrauch eher noch fördert als bekämpft. Denn die zumeist politisch radikal orientierten Lager derjenigen, die Begriffe und Phänomene wie Stimmungen mit ihren Inhalten und Zwecken zu besetzen wissen, nutzen damit nicht nur deren bestehendes Potenzial an kommunikativer Funktionalität und emotionaler Bindung. Vielmehr können sie dasselbe zu ›postfaktischen‹ Bedeutungsexklusionen erweitern und damit faktisch ein politisch-mediales Deutungsmonopol entwickeln. So wünschenswert eine wissenschaftlich begründete Abstinenz von ›schwammigen‹ Begriffen in der Kulturforschung ist, so kontraproduktiv kann sie sein, wenn damit ein diskursives

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

Vakuum im kulturellen Wissenssystem entsteht. Denn dieses Vakuum könnte dann von irrationalistischen Praktiken ideologisch gefüllt werden, wie es z. B. die emotional geschickte Stimmungspolitik vor und im ›Dritten Reich‹ vorgemacht hat. Diskursstrategisch sinnvoller scheint es da zu sein, aus dem de facto ohnehin weit verbreiteten, aber auch in seriösen Geschichtsbüchern nachweisbaren Gebrauch von ›kollektiven‹ Begriffen einen ungedeckten Bedarf an Kategorien zu erkennen. Denn ›Stimmung‹, ›Geist‹ oder auch ›Lebensgefühl‹ und ›Bewusstseinslage‹ ermöglichen es mitunter überhaupt erst, im historiographischen Gegenstandsfeld auftauchende Phänomene zu benennen und auch aus der Distanz begrifflicher Reflexion weiter zu beobachten. Immer wieder nimmt der Historiker gegenüber seinen eigenen minutiösen Detailuntersuchungen einen methodisch-kritischen Abstand ein, der eine Ermöglichungsbedingung für sein Verstehen und Darstellen von ereignishafter Nähe eines vergangenen Geschehens bildet. Dabei verfährt er wie der ein (noch) gegenwärtiges Geschehen analysierende Zeitdiagnostiker nicht akribisch, indem er die Überfülle möglicher empirischer Befunde weiter zu explizieren sucht. Vielmehr reflektiert er dann die zuvor am verstreuten Material aufgewiesene Evidenz von Erfahrungswirklichkeit in Begriffen, die verallgemeinern (müssen), um Aussagen über historische Konstellationen treffen und erst recht die Zusammenschau epochaler Zusammenhänge leisten zu können. Der spezifische Gewinnzug solch methodisch notwendiger Verallgemeinerung, wie sie die Verwendung des kollektiven Stimmungsbegriffs kennzeichnet, liegt darin, etwas als einen historisch exemplarischen Zusammenhang zu erfassen, das aus Affekt-, Gefühls- oder Stimmungslagen besteht, die von Individuen als diffus ganzheitliche erlebt wurden. Entscheidend ist aber nun von Dilthey zu lernen, dass solche erlebten Stimmungen nicht direkt vom Individuum auf seine Zeit übertragbar und als solche historisch rekonstruierbar sind. Hierzu müssen sie überdies in medialer Form – vorzugsweise in ›Dichtung‹, aber auch Musik und anderen Künsten – artikuliert worden sein und dem Historiker als Quellenmaterial vorliegen. Auf die Erfassung des eigentlich Historischen an oder in solchen ästhetischen Objektivationen ist Diltheys philosophische Suche nach ›flüssigen Begriffen‹ (Bergson 1991, 180) gerichtet. Er ist damit bei demjenigen der ›Stimmung‹ fündig geworden, wenn er ihn in seinen literargeschichtlichen Arbeiten ebenso wie in seiner Weltanschauungstheorie im Sinne des Erlebens einer Zeitsituation ins Kollektive wendet. Keineswegs sind darin kategorielle Laxheit, begriffliche Verlegenheit oder lebensphilosophischer Irrationalismus zu sehen. Diltheys Verwendung von kollektivierenden Begriffen wie Stimmung, Geist oder Generation ist kein Symptom spekulativer Verblasenheit, auch wenn er im philosophisch Unergründlichen, im hermeneutisch ›Unfaßlichen‹ (›Lebensrätsel‹)

Abstrakte Begriffsverwendungen. Funktionale und methodische Aspekte

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das ›Entscheidende‹ der Geisteswissenschaften und letztlich deren eigentlich geistesgeschichtliche Basis verorten mag. Denn zugleich nimmt er durch sein theoretisches und praktiziertes Eintreten für begriffliche Generalisierungen die methodisch-konzeptuelle Herausforderung der historischen Geisteswissenschaften an, es mit sozialen Großgebilden in generationenübergreifenden Ausmaßen zu tun zu haben, deren materiale Gegenständlichkeit von sich aus keine Begrenzungen hat und doch anschaulich konturiert werden muss, um darstellbar zu sein. Sei es in synchroner Perspektive auf eine Gesellschaft oder Kultur in einem bestimmten Raum-Zeit-Segment, sei es in diachroner Perspektive auf deren Wandel in zeitlicher Erstreckung – historiologisch geht es Dilthey nie allein um bloße Beschreibungen singulärer Tatsachen, sondern immer um eine systematische Bewältigung von deren Vielfalt. Daraus ergibt sich auch heute noch die Notwendigkeit analytischer Erklärungen, synthetischer Bündelungen und sachgemäßer Gliederungen der historischen Vielfalt in kleinere oder größere Zusammenhänge von solchermaßen objektiv reflektierten Tatsachen. Dieser methodologisch-systematische Anspruch von Historiographie aber ist es, der Dilthey zu einer wissenschaftstheoretischen Grundlagenreflexion führte, wie sie sein Gesamtwerk bis in den Nachlass prägen und vom Jahrhundert der Ausdifferenzierung der Natur- und Geisteswissenschaften aus der Philosophie geradezu gefordert wird.

2.

Abstrakte Begriffsverwendungen. Funktionale und methodische Aspekte

Zu der anfangs des letzten Abschnitts angedeuteten Reihe von Fragen, die mit derjenigen nach kollektiver Stimmung verbunden sind, gehört – wie wir gesehen haben – auch diejenige nach der Funktion der vom individuellen Gefühlserleben abstrahierenden Begriffsverwendung. Sie besteht darin, so haben wir gesagt, etwas als einen historisch exemplarischen Zusammenhang zu erfassen, das aus Affekt-, Gefühls- oder Stimmungslagen besteht, die von Individuen als diffus ganzheitliche erlebt und in medialer Form – vorzugsweise in ›Poesie‹ aber auch Musik und anderen Künsten – artikuliert und objektiviert wurden. Mit Blick auf Diltheys Werk insgesamt, erkennen wir unter systematischem Aspekt diejenige Funktion wieder, die den ursprünglich sozial- und naturwissenschaftlichen Ordnungsbegriffen wie ›Struktur‹, ›Gesetz‹, ›Milieu‹, ›Gattung‹, ›Zweck‹ und ›Typus‹ in der Geschichtswissenschaft zukommt. Diesen systematisierenden Geschichtsbegriffen entsprechen wiederum die Beschreibungsbegriffe der ›zergliedernden Psychologie‹, welche in Diltheys Theorierahmen der Geisteswis-

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

senschaft methodisch mit der Geschichtswissenschaft verbunden ist: ›Lebenszusammenhang‹, ›psychischer‹, ›seelischer‹ bzw. ›innerer Strukturzusammenhang‹, ›Zusammenhang des ganzen menschlichen Seelenlebens‹. Diese Begriffe haben wir weiter oben bereits hinsichtlich des methodologischen Problems der Geschichtlichkeit von Lebensstimmungen untersucht, wo das individuelle ›Lebensganze‹ sich aus einem »erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens« ergibt, der seinerseits eine Typologisierung der »Menschennatur und Individuation« (GS V 259–303) in der Perspektive gattungsgeschichtlicher Totalität erlaube (Kap.V,1/VI,4). Die methodische Auffassung von individueller Lebensganzheit als beobachtbare und psychologisch zu beschreibende »Wirklichkeit« (GS V, 168) bildet für und nach Dilthey die erfahrungswissenschaftliche Ausgangsbasis aller historischen Geisteswissenschaften. Von den »inneren« Wahrnehmungen (GS V 169– 172, 243–248) des Einzelnen, denen stets äußere, von anderen geteilte Erfahrungen korrespondieren, könne soweit abstrahiert werden, dass durch die Optik einer historischen Persönlichkeit die Physiognomie der Epoche zur Erscheinung kommt, die diese Persönlichkeit geformt hat. Da und insofern Individuum und Epoche einen historischen Strukturzusammenhang bilden, kann von einer Stimmung ihrer Zeit oder überhaupt von Zeitstimmungen gesprochen werden.184 Diese Art von kategorialer Abstraktion bildet den operativen Grundzug von Diltheys Geschichtsdenken, das schon seit der Einleitung in die Geisteswissenschaften immer auch um die historiographische Konstituierung kollektiver Subjekte kreist. Sie macht die methodische Bedeutung von Struktur- oder Ordnungsbegriffen aus und ist solchermaßen auch für die Kollektivierung des Stimmungsbegriffs kennzeichnend. Sie wird innerhalb von dessen Extension gewissermaßen im Stile einer verdeckten Metonymie ausgeführt, mit der die systematische Teil-Ganzes-Relation semantisch mobilisiert wird. So bewirkt die Abstraktion vom Individuellen (Hegels subjektiver Geist) zum Allgemeinen (Hegels objektiver Geist) gerade umgekehrt eine Konkretion des Allgemeinen. Das historisch Einzelne in seiner »irrationale[n] Faktizität« (GS VII, 270, 288) wird zum historisch Besonderen der Kritik der historischen Vernunft, wie sie Dilthey konzipierte. In diesem Besonderen konvergieren die Lebens- oder Totalstimmung eines Menschen als Ausdruck seines psychischen Zusammenhangs mit der Lebens- oder Totalstimmung einer Epoche als Ausdruck ihres universalhistorischen Zusammenhangs.

184 Den Strukturzusammenhang von Geist/Welt (anima/mondo), Individuum/Gesellschaft (individuo/società) bzw. Bewusstsein und Geschichte (coscienza/storia) beleuchtet Marini (2013, 388f.), indem er die systematische Bedeutung des Begriffs der Zeit (nicht der Stimmung) bei Dilthey (Einleitung in die Geisteswissenschaften) und Heidegger (Sein und Zeit) vergleicht.

Abstrakte Begriffsverwendungen. Funktionale und methodische Aspekte

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Deshalb kann der teils individuell teils kollektiv gebrauchte Stimmungsbegriff in Diltheys eigenen, auch Quellenstudien einschließenden, historischen Arbeiten (GS II, III, XIII, XIV, XV, XXV und exemplarisch in ED) neben die und mitunter an die Stelle der eigentlich ›geschichtlichen Kategorien‹ wie Entwicklung, Zweck, Ideal, Wert, Bedeutung oder Konzepte wie »Biographie« (GS IV 564) oder »Zwischenräume« (GS VII 263) treten. Während letztere dem Historiker Aussagen ermöglichen, welche auf der Erfahrungsbasis des eigenen geschichtlichen Daseins die »allgemeingültigen synthetischen Urteile der Geschichte« reflektieren, erlauben ihm die Kategorien wie Stimmung oder »Erleben«– ausgehend vom »umfassenden und gleichförmigen Zusammenhang des ganzen menschlichen Seelenlebens« – psychohistorische Zusammenhänge einer Epoche in Begriffe zu fassen (GS VII 243, 252–262, 278, 308). In beiden Fällen bezieht sich der Historiker auf bloß epistemische Dinge, nämlich insofern es sich nicht um empirische Objekte, sondern um diskursive Gegenstände handelt. Der Konstruktcharakter dessen, wovon Historiker dank wissenschaftlicher Kategorienbildung reden (können), stellt indes nicht nur kein Problem – etwa in Form selbstreferenzieller Diskursivität – dar. Vielmehr ist er als Ermöglichungsbedingung für den propositionalen Gehalt von Aussagen über Geschichte anzusehen. Aus dem irrationalen Strom des Geschehens, der alogischen Abfolge von Ereignissen oder dem sinnfreien Spiel der Gegebenheiten muss die geschichtswissenschaftliche »Bedeutungseinheit« überhaupt erst geschaffen werden, die den Gegenstand des Verstehens mit ausmacht (GS VII 270). Diese reflexive Gegenstandskonstituierung, die derjenigen der idealistischen Ästhetik wie auch derjenigen der neueren Kulturwissenschaft verwandt ist, bedeutet für Dilthey freilich keine konstruktivistische Preisgabe eines objekthaften Wahrheitsanspruches. Wie die mathematischen Naturwissenschaften sollen die historischen Geisteswissenschaften phänomenologisch und ontologisch auf im Realen Gegebenes bezogen bleiben, indem ihr »Denken« sehr wohl »aus der Textur der Erscheinungen die Ordnung hervor[zieht], die darin steckt« (GS XX 350). Die »Unterscheidung in Natur- und Geisteswissenschaften« sei keine erkenntnistheoretische, sondern eine »des Inhaltes« (GS V 253). Gemeinsam ist den Wissenschaften die Konstituierung ihrer Erkenntnisgegenstände durch Bezugnahme auf »verschiedene Systeme von Beziehungen« und deren Verbindung mit »Tatsachen« (GS V 253). Während es Dilthey im Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (GS VII) kaum überzeugend gelingt, seinen theoretischen Realismus erkenntnislogisch darzulegen, erzeugen seine Anwendung von Ordnungsbegriffen wie Lebens- oder Totalstimmung in der Darstellung von historischer Wirklichkeit ein hohes Maß an hermeneutischer Evidenz. Dem Wissenschaftsphilosophen musste es verwehrt bleiben, die Objektivität historischer Erkenntnis in einer methodologisch schlüssigen Theorie der Geisteswissenschaften positi-

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

vistisch zu fundieren. Hingegen hätte der Literaturhistoriker von seinem psychoanthropologischen Ansatz her eine strukturelle »Verbindung des Generellen und der Individuation« (GS I 45; V 258; XVIII 172), eine tragfähige Integration von physischer und ›geistiger Welt‹ sowie von Kultur- und Bewusstseinstatsachen erreichen können. Hierzu hätte Dilthey seine allenfalls implizit systematische Verwendung des Stimmungsbegriffes in einer Theorie der Stimmungen explizit machen müssen, in der das epistemologische Subjekt-Objekt-Dual zugunsten einer Phänomenologie der Wahrnehmung aufgelöst ist. Denn in einer Wahrnehmungsphänomenologie der Stimmung lassen sich die ereignishafte Koinzidenz von ästhetischer und historischer Erfahrung als ein mediologisch konstitutives Wechselspiel auf der Innen-Außen-Schwelle erklären, wie ich es in meinem Buch über die Goethezeit konzipiert und begründet habe (Hajduk 2016). Dilthey indes lässt das Theoriepotenzial des Phänomens und Begriffs der Stimmung ungenutzt oder nutzt es nur intuitionistisch in seiner philologischen Praxis. Dort freilich verwendet er ›Stimmung‹ unter individuellem wie kulturellem Aspekt als einen Ordnungsbegriff, der jene »Bedeutungseinheit« (GS VII 270) in der Geschichtsschreibung mithervorbringt, die deren Gegenstände als solche der Erkenntnis konturiert. Der Anwendung beim späten Dilthey gemäß erhielt der Historiker durch die Beschreibungskategorie der Stimmung Zugang zu den Übergängen zwischen innerer und äußerer Erfahrung sowie zwischen ›Gefühlsgrundlage und Gedankengebäude‹, wie wir es hinsichtlich Diltheys Zugrundelegen der Stimmung im Anschluss an Kant angesprochen haben (cf. Kap.II,2). Mit solcher Reflexion seiner strukturalen Tätigkeit würde der praktizierende Historiker auf die individualpsychischen Wirkungszusammenhänge und sozialen »Bewegungskräfte« zugreifen können, und überwände somit auch die theoretische Schwierigkeit, »für gewisse Erscheinungen das richtige Subjekt zu finden« (GS XX 64; GS XVIII 111; zit. n. Thielen 1999, 170). Die semantische Offenheit des Stimmungsbegriffs erlaubt seine Zuordnung zu kulturellen wie persönlichen Phänomenen, droht aber auch die Differenzen zwischen Sozial- und ›Einzelpsychologie‹ einzuebnen. Zwar ist die Stimmung eines Individuums nicht ohne weiteres mit derjenigen einer Gruppe von Individuen oder gar einer Generation, Kultur oder Epoche gleichzusetzen. Jedoch versäumt es Dilthey, die der Psychologie von Stimmungen eigene Mitteilbarkeit und Kontagiösität für eine Erklärung der »Zusammengehörigkeiten historischer Art« zu nutzen und so eine »Überschreitung« des Strukturzusammenhangs vom »Selbst« zum Kollektivsubjekt theoretisch tragfähig zu machen (GS VII 262f.). Während der historiographischen Rede von einer Gemeinschaft, Nation oder Kultur keine reale Entität als Referenz entspricht, ließe sich eine solche über die psychosoziale Dynamik der Ansteckung durch Stimmungen durchaus herstellen. Denn Stimmungen sind sowohl bio- und kulturanthropologisch in ihrer kollektivpsychischen Wirksamkeit empirisch nachweisbar als auch »wo Objektiva-

Abstrakte Begriffsverwendungen. Funktionale und methodische Aspekte

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tionen des geistigen Lebens als Fertiges, gleichsam Ruhendes analysiert werden« (GS VII 157). Anders als ein Volk, Staat oder Kultursystem ist die zeitlich, örtlich und medial begrenzte Stimmung im selben Volk, Staat oder Kultursystem nicht mehr nur der »logische […] Träger von Aussagen«, sondern auch der psychologische Träger eben dieser transpersonalen Stimmung.185 Anstelle einer solchen empiriefähigen Rückbindung historischer Begriffe zur Erklärung, wie ein kollektives Subjekt entstehen könnte, stützt Dilthey sich einmal mehr auf die geschichtstheoretischen Abstrakta. Thielen (1999) bemerkt hierzu kritisch an: »Lediglich die bekannten Begriffe von Zweckmäßigkeit, Funktion und Struktur zieht er hier zu Rate; die Struktur ist, so heißt es in einer Nachlaßnotiz, ›die Grundform auch für das collective Bewußtsein‹« (171).

Es müsse sich also, so Thielen weiter, um mehr handeln als ein Ensemble von Individuen, was »das Zusammenwirken in Massenerscheinungen«, in »Kultursystemen, Richtungen, Bewegungen, Organisationen« ausmacht. Solche »Gemeinschaftlichkeit[en]« seien selbst »Subjekte von Werthen, die nicht einfach als Werthsummen […] aufgefaßt werden können« (ebd.). Statt solche kollektiven »Träger von Zwecken« (GS XX 64; GS XVIII 111; GS VII 262, 285; zit. n. Thielen 1999, 170) hinsichtlich ihres sozialpsychologischen Gestaltcharakters als Träger und Überträger von Stimmungen zu erläutern, kennzeichnet Dilthey sie bloß dadurch, dass »sie strukturiert und organisiert sind [und] ihre Leistung und ihr Fortschritt über die Einzelnen hinaus einen Werth hat« (zit. n. Thielen 1999, 171). Anders als in der Weltanschauungslehre und der Literaturgeschichte verwendet Dilthey in geschichtstheoretischen, soziologischen und kulturphilosophischen Kontexten die ›Stimmungen‹ nicht, um Kollektivphänomene oder andere geschichtliche Tatsachen in Begriffe zu fassen. Dennoch ließe sich nach Dilthey, d. h. ungeachtet seiner geschichtstheoretischen Terminologie und zugleich mit demselben in seiner Literaturgeschichtsschreibung (u. a. in ED, Von deutscher Dichtung und Musik, Die große Phantasiedichtung und andere Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte, GS XXV), die kollektive Stimmung als eine historische Kategorie im Sinne Diltheys 185 In dieser Richtung einer Konkretisierung des Kollektiven, indes ohne den Begriff der Stimmung zu verwenden, erwägt Dilthey mit Bezug auf Schleiermacher eine erfahrungsbasierte »Ausdehnung des Begriffes Person auf Familie und Volk«: »Überall, wo in einem Dasein die Vernunfttätigkeiten vereint sind, wo dieses sich als ein Ganzes zugleich rezeptiv und produktiv verhält, und wo es in seiner bestimmten Abgrenzung Familiengeist schafft eine solche Einheit. In dem Bewußtsein einer Nation über ihre Zusammengehörigkeit entsteht eben eine solche. Und die Menschheit selber wird Person, indem dies Bewußtsein von Zusammengehörigkeit sich in ihr entwickelt […] Es ist ein bestimmbarer, meßbarer Grad von Zusammengehörigkeit, der in einem solchen Naturganzen besteht« (GS XIV/1, 307); cf. diesen Stellenfund ohne Theoriebezüge bei Thielen (1999, 170).

188

Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

auffassen. Denn sie fungiert de facto als Schnittstelle zwischen subjektivem und objektivem Geist, zwischen Individuellem und Generellem, Personalem und Kulturellem – wie wir in unserer Analyse von Diltheys Hermeneutikkonzept als Verstehen der Herausbildung von Ausdrucksbedeutung durch das historische Individuum gezeigt haben (Kap.III,2). Die bei »großen historischen Menschen« (GS VII 186) schon vor ihrer objektivierten Verfasstheit – vor allem in Kunstwerken – biographisch und zugleich historisch entstehende Bedeutsamkeit ist weniger selbstverständlich als es in Diltheys Darstellungen von Lessing, Goethe, Schiller, Novalis, Hölderlin oder auch Bach, Leibniz, Friedrich II., Hegel und Schleiermacher erscheinen soll. Es bedarf einer Übersetzung zwischen lebensund kulturgeschichtlichem Bedeutungszusammenhang, einer Vermittlung zwischen psychischem und sozialen Wirkungszusammenhang, einer wechselseitigen Transfiguration von subjektivem und objektivem Geist – und einer Erklärung solcher Umcodierungen, Medienwechsel und Sphärenüberschreitungen. Sieht der Geisteswissenschaftsphilosoph Dilthey doch selbst eine unreflektierte »Überschreitung« der Grenzen zwischen Sozial- und »Einzelpsychologie«, zwischen Entwicklungsprozessen der Geschichte und solchen einer Persönlichkeit als »verwerflich« an (GS XX 64; XVIII 111; VII 262, 285; zit. n. Thielen 1999, 170). Denn es ist auch für Dilthey in geschichtstheoretischer Hinsicht gerade die Frage, wie aus dem psychischen Wirkungszusammenhang eines Individuums und einer Gruppe von Individuen ein »Subjekt« von (makro-)historischem Format »entstehen« kann, das dann als Generation, Nation oder Zeitalter »tut und leidet wie ein Selbst« (GS VII 262). Eben diese in Frage stehende Vermittlungs- und Übersetzungsleistung schreibt allerdings der Literaturhistoriker – methodologisch unreflektiert – der Stimmung zu, indem er diese verallgemeinert und dabei oft in zwei Schritten vorgeht. In einem ersten Verallgemeinerungsschritt wird die zunächst als psychischer Wirkungszusammenhang, individuelles Lebensgefühl oder persönliche Seelenverfassung gedachte Stimmung einer historischen Anthropologisierung und kulturellen Typologisierung unterzogen; sodann in einem zweiten Verallgemeinerungsschritt auf eine Nation oder die Kultur einer Epoche tendenziell universalisiert.186 Über die aus persönlichen Lebensumständen einzelner »Menschen« erwachsenen Stimmungen hinaus »machen sich die universalen Stim-

186 Ein als exemplarisch anzusehender Textbeleg ist folgender: »Der schönste Ausdruck dieser alle Stimmungen der Menschennatur umfassenden religiösen Idealität waren Bach und Händel; auch sie schufen unvergängliche Typen idealer Innerlichkeit, welche Stimmungen und Regungen der Seele in freier Lebendigkeit umfaßt. Der Reflex dieser Seelenverfassung in der wissenschaftlichen Welt ist die große astronomische Epoche des 16. Jahrhunderts von Kopernikus und Kepler bis Galilei, in welcher die deutschen [sic] Führer gewesen sind« (SCH 7).

Wege und Umwege der geschichtlichen Erkenntnisweise

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mungen geltend, die aus dem Verhältnis des Menschen zum Leben und der Welt stammen« (ED 14). Was Dilthey hier als das ›Verhältnis zum Leben und der Welt‹, zumal das eines zeit- und gattungsgeschichtlich generalisierten ›Menschen‹, bezeichnet, muss sodann analytisch als eines von Beziehungen in beide Richtungen verstanden werden. Dabei kommt der solchermaßen protophänomenologisch angesetzten Stimmung die Funktion einer beidseitig permeablen Berührungsfläche zu. Unter diesem funktionalen Aspekt nimmt Diltheys universale Stimmung des SelbstWelt-Verhältnisses (bzw. Mensch-Leben-Verhältnisses) die methodische Bedeutung vorweg, die ihr in der Fundamentalontologie Heideggers für das räumlich und zeitlich existenziale In-der-Welt-Sein zufällt. Um der solchermaßen als strukturell offenes Beziehungsverhältnis gedachten Stimmung auch als einem ästhetischen Phänomen gerecht zu werden, muss sie über Dilthey und Heidegger hinausgehend mediologisch konzipiert werden, wie ich es an anderer Stelle mit Blick auf die Literatur getan habe (Hajduk 2016, 127–198).

3.

Wege und Umwege der geschichtlichen Erkenntnisweise

Weiter oben haben wir die Stimmungsverhältnisse im Verstehen von Ausdruck (Kap.III,2) dahingehend untersucht, dass Dilthey mit ihnen das wissenschaftstheoretische Desiderat der Rückgewinnung des konkreten Daseinsvollzugs als einem auch methodisch relevanten Gegenstand erfüllt (cf. GS V 137). Das Verstehen fremden Lebens, wie es bereits zur sozialen Alltagspraxis der Verständigung und Selbstverständigung gehört – so haben wir gesagt – wird bei Dilthey systematisch aufgewertet zur erkenntnistheoretischen Grundlage der wissenschaftlichen Praxis geschichtlichen Verstehens. Zuletzt ist die Rolle der Stimmung darin deutlicher geworden als jenes auch wahrnehmungssinnlich gegründete Verhältnis, das die Beziehungen des Selbst zur Welt und umgekehrt der Welt zum Selbst organisiert. Dank der Offenheit von Stimmung hinsichtlich der in sie einströmenden Wahrnehmungsstimuli einerseits und der sie mitgestaltenden Ausdrucksimpulse andererseits, kann sie jene Vermittlung leisten, die für eine geschichtswissenschaftliche Erklärung des Überschreitens der Psychologie des Einzelsubjekts hin zur Konstitution kollektiver Subjekte gefragt ist. Denn fasst man Stimmung – wie Dilthey – als eine universale Stimmung, dann gestaltet sich das Beziehungsverhältnis zwischen Mensch und Leben, Selbst und Welt, Individuum und Gesellschaft als ein konstitutives Wechselspiel zwischen diesen Relaten.187

187 Darüber hinaus wird eine Generationsspanne später »Stimmungskameradschaft« sogar als

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Zum einen soll – gleichsam auf dem Erkenntnisweg von innen nach außen – durch verstehendes »Nachbilden des Schaffens« von Ausdruck als formalisierte Lebensstimmung »das Leben selber zugänglich werden«; aus diesem individuellen Selbst lässt sich dann dasjenige im übertragenen Sinne eines Kollektivs verstehen, das »tut und leidet wie ein Selbst« (GS VII 262). Die in der Perspektive der Stimmungen eines einzelnen Menschen erschlossene Welt oder Epoche, die von ihm mit gestaltete Gesellschaft oder Zeit, die durch ihn geprägte Kultur oder Nation werden nun ihrerseits als Kollektivsubjekte derselben Stimmung bzw. als historiographische Subjekte kollektiver Stimmung behandelt. Gleiches gilt für den kollektivierten Geistbegriff, wenn z. B. Schiller, »ein Dichter, welcher die Verwirklichung der Ideen, das Ideal herbeizuführen als Werk seines Lebens ansah, den eigensten Geist des 18. Jahrhunderts ausspricht« (SCH 28). Zugleich ist es im ›Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹ die Geschichte, die in ihrem »tiefste[n] Wesen […] den Geist der Gemeinschaft« objektiviert (GS VII 259). Deshalb gilt zum anderen – gleichsam auf dem Erkenntnisweg von außen nach innen –, dass der »Mensch sich nur in der Geschichte, nie durch Introspektion [erkennt]« (GS VII 279). Denn vermittelst ›universaler Stimmungen‹ – so müsste der Literaturhistoriker den Geschichtstheoretiker Dilthey ergänzen – empfängt »alles individuelle Leben aus der Tiefe des geschichtlichen Prozesses seinen wesentlichen Gehalt«, der für den einzelnen Menschen »in großen Buchstaben [der Geschichte] zu lesen« ist (GS XVIII 183). Nicht nur muss vom historischen Individuum und dem Nachschaffen von dessen Ausdruck ausgegangen werden, wer eine Epoche, Nation oder Kultur verstehen will. Es muss auch anders herum von letzteren als einem historischen Strukturzusammenhang ausgegangen werden, der von »wirtschaftlichen Verhältnissen, Veränderungen der Verfassungen, Machtbeziehungen der Staaten« (GS VII 287; zit. n. Thielen 1999, 153) oder kurz: vom soziokulturellen Wirkungszusammenhang bestimmt ist, wer ein historisches Individuum verstehen will. Denn noch der »einzelne Mensch in seinem auf sich selber ruhenden individuellen Dasein ist ein geschichtliches Wesen« (GS VII 135) und entsprechend sind es auch seine Stimmungen. Deshalb lässt sich in diesen sowohl der Ausdruck von Individualität als auch die Manifestation von Geschichtlichkeit untersuchen. Stimmungen sind über ihre gefühlspsychologische Basis hinaus das ästhetisch-historische Medium anthropologischer Offenheit: »Wir sind der Möglichkeit offen, daß Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen. Aber nicht im Einzelmenschen, sondern im geschichtlichen Menschen. Denn der Mensch ist ein Geschichtliches….« (VII 291). soziales Phänomen in der Wissenschaftsgeschichte eine kognitive Funktion übernehmen bei Fleck (1980).

Wege und Umwege der geschichtlichen Erkenntnisweise

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Ob nun der Historiker den Weg vom Individuum zur Kultur oder von der Kultur zum Individuum, vom psychischem zum sozialen Wirkungszusammenhang oder umgekehrt geht, er benötigt in beiden Richtungen ein Medium, durch das die Teil-Ganzes-Beziehungen sich als Momente seines Verstehens vollziehen können. Wo der Geschichtstheoretiker Dilthey auf die »Kategorie der Bedeutung« als Vollzugsmedium des Verstehens setzt, dort geht es formal darum, dass »das bloße Nebeneinander, die bloße Unterordnung der Teile des Lebens« überwunden werden (GS VII 202). Der Sache, nicht dem Wort nach ist es die genealogisch aus musikalischen Verhältnissen kommende Stimmung, die das geschichtliche Leben begreiflich macht, ohne es rational auflösen zu können: »Es ist wie ein Chaos von Harmonien und Dissonanzen. Jede von diesen ist ein Tongebilde, das eine Gegenwart erfüllt« (ebd.). An dieser für die implizite Stimmungskategorie einschlägigen Stelle führt Dilthey zur Verbindung der Begriffe Wert, Erinnerung und Bedeutung aus: »Und wie Geschichte Erinnerung ist und dieser Erinnerung die Kategorie der Bedeutung angehört, so ist diese eben die eigenste Kategorie geschichtlichen Denkens« (ebd.). Um diese Art geschichtliche Bedeutungskategorie zu verstehen, muss man sich Diltheys Konzept von Erinnerung über den Vollzug des Erinnerns vergegenwärtigen, wie dies Tessitore (2013) tut: »Die Erinnerung ist nicht die reine Anamnese des Gewesenen, weil sie – insofern sie Lebensmoment und Lebensbedingung ist – mit der Beweglichkeit und der Prozessualität des Lebens betraut ist und sich im Verhältnis verwirklicht, welches die Beziehung zwischen Unmittelbarkeit und Objektivation des Unmittelbaren ist« (46).

Unklar bleibt angesichts solcher an den Lebensvollzug und die Existentialisierung von Zeitlichkeit gekoppelten Erinnerung wie deren Verhältnis zu ›Bedeutung‹ bestimmbar ist. Denn Bedeutungen müsste zumindest eine relative Identität zukommen, die sie in der Zeit oder im Verlauf des Lebens bewahren. Noch die Möglichkeit des Wandels von Bedeutungen, seien diese geschichtlich oder sprachlich formiert, hängt schließlich von der Bedeutungskonstituierung durch Wiederholbarkeit ab – auch in der Wiedererinnerung. Zwar mag theoretisch manches für Diltheys Überlegung einer Verfugung von Erinnerung und Bedeutung sprechen, wie sie sich in der Perspektive historischer Vernunft einstellt. Nur folgt Dilthey seinen eigenen Überlegungen praktisch nicht, namentlich wo er auf ›Lebendigkeit‹ im geschichtlichen Denken und Darstellen abzielt, d. h. auf eine Vergegenwärtigung von Gewesenem in seinem einst präsentischen Wirklichkeitszusammenhang. Deshalb wäre schon wegen ihres Mangels an sinnlicher Konkretion anstelle von ›Bedeutung‹ treffender von ›Stimmung‹ die Rede, wo es um eine Kategorie geschichtlichen Denkens geht, die der Erinnerung ›angehört‹. Werden doch normalerweise und zunächst nicht Bedeutungen erinnert, sondern eher Stimmungen als präsemantisch unfeste

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

Formen des Bedeutens. Oder es wird durch Stimmungen etwas erinnert, das dann allmählich Bedeutung annimmt. Ausgehend von Stimmungsanalysen anhand ästhetischer Objektivationen wäre das von Dilthey angestrebte »Mitdurcherfahren der Vergangenheit« (XX 121) zumindest annähernd möglich, um daran anschließend historische Rekonstruktionen auch der Bedeutung von Vergangenem anzugehen. Wie Stimmung ihrerseits mit Bedeutung – oder wie Dilthey oft terminologisch schwankend sagt: mit ›Bedeutsamkeit‹ – aufgeladen sind, haben wir weiter oben in unserer Analyse der Lebenskategorien diskutiert (Kap.III,5). Dort haben wir im Duktus kontrafaktischer Überlegungen Bedeutung durch Stimmung ersetzt, da letztere den strukturierenden Auftrag der Lebenskategorie ›Bedeutung‹ besser als diese erfüllt. Zugleich sollte dadurch ›Bedeutung‹ für semantisches Verstehen im Unterschied zur ›Bedeutsamkeit‹ für existenzielles Bewerten reserviert werden und so für eine bessere theoretische Anschlussfähigkeit von Diltheys Hermeneutik sorgen. Die Stärkung der Stimmung als einem am ästhetischen Prozess hervortretenden Strukturmoment hätte Diltheys geisteswissenschaftliche Hermeneutik schließlich vor deren erkenntnistheoretischer Ausrichtung bewahren können. Denn dieser am Objektivismus der Naturwissenschaften orientierten Theoretisierung des Verstehens wird namentlich Gadamer seine aus dem Vollzug des Verstehens heraus konzipierte Hermeneutik entgegensetzen – statt Diltheys geisteswissenschaftliches Methodenkonzept fortzusetzen.188 Auch für Diltheys Theorie von Geschichte (bzw. Geschichtsschreibung) wäre es von Vorteil, wenn sie die »Kategorie der Bedeutung« wo nicht ersetzte, dort um diejenige der Stimmung ergänzte, die sie gleichsam nachhegelianisch vom epistemologischen Kopf auf ästhetische Füße stellt. Anders als jene ist diese sinnlich konkret mit der Psychologie der subjektiven Wahrnehmung und Emotion des Individuums samt dessen Lebensgeschichte verbunden – und zugleich an die Phänomenologie der objektiven Wahrnehmung und Faktizität der Lebenswelt samt deren Kulturgeschichte gekoppelt. Deshalb spricht Dilthey selbst nicht mehr – wie er es als Theoretiker tut – von Bedeutungseinheit, mit der die geschichtswissenschaftliche Methode prozessiert, sondern von »Stimmungseinheit« (ED 10), wenn er als Historiker das Leben eines Individuums und durch dasselbe die Epoche verstehen will, die es zu ihrem Repräsentanten machte. Für hermeneutische und mediale Vermittlungs- oder Übersetzungsleistungen zwischen dem subjektiven Geist der Selbsttätigkeit eines Individuums einerseits und andererseits dem objektiven Geist des Geschichtsprozesses einer Epoche (Generation, Nation, Kultur), ist die »Kategorie der Bedeutung« aufgrund ihrer 188 Siehe zum hermeneutikgeschichtlichen Verhältnis zwischen Dilthey und Gadamer die philosophisch reflektierende Arbeit von Krüger (2007). Ferner Homann (1992), der die Kritik an »dem verfehlten Ziel der ›Objektivität‹« (408) rekonstruiert.

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historiologischen Abstraktheit nicht gut geeignet. Zumal Diltheys Verwendung von ›Bedeutung‹ zwischen zwei begrifflichen Schichten und entsprechend zwischen kategorialen Funktionen schwankt (engl. significance/relevance), wie wir im Untersuchungszusammenhang der Lebenskategorien gesehen haben (Kap.III). Der Einwand freilich ist naheliegend, dass die Geschichtswissenschaft solcher Vermittlungs- oder Übersetzungsleistungen gar nicht bedürfe. Sie käme ohnedies bei Untersuchungen von sozialen, ökonomischen oder politischen Wirkungszusammenhängen auf das Subjekt des Handelns, Denkens und Empfindens, also auch auf das Leben eines Individuums in seiner historischen Konstellation zu sprechen. Und umgekehrt – wo einzelne Personen primärer Gegenstand des Erkenntnisinteresses sind, dort rückten über die Lebensumstände gleichsam wie von selbst die epochen- und kulturspezifischen Verhältnisse in der Ästhetik, Episteme und Gesellschaft – also alles Kontextuelle und Konstitutionelle einer Lebensgeschichte mit in den Fokus. Allerdings ist es gerade der hermeneutische Anspruch von Diltheys geschichtswissenschaftlichem Ansatz, mit der Überzeugungskraft konkreter Lebensnähe das eine ausgehend vom anderen – und umgekehrt – erklären zu können. Andernfalls blieben »der objektive Geist und die Kraft des Individuums« als die beiden epistemischen Säulen unverbunden nebeneinanderstehen, während sie nur »zusammen die geistige Welt [bestimmen]. Auf dem Verständnis dieser beiden beruht die Geschichte« (GS VII 213). Da Dilthey das Verständnis beider und zwar zusammen will, muss er sie auch methodisch zusammendenken können und dazu wird eine Vermittlungskategorie benötigt. Diese muss eine aus historischer sowie aus persönlicher oder ästhetischer Erfahrung geformte Individualität verständlich machen und zugleich eine Identifikation von deren lebensgeschichtlich entfalteter Ausdrucksgestalt mit der Physiognomie eines Zeitalters plausibel machen können.189 Hierzu ist im Gegensatz zu Diltheys ›Bedeutung/Bedeutsamkeit‹ der Begriff der Stimmung geeignet, insofern dieser 189 Siehe Cacciatore (2013) zu Diltheys vermeintlich innovativer Auffassung von Individualität, die im Spätwerk die lebensphilosophische Zentrierung der Kritik der historischen Vernunft begründet: »Die Individualität, die keineswegs mit der isolierten Singularität zu verwechseln ist, ihre psychologische und kognitive Struktur, ihre begründende ethische Dimension und damit ihre eigene Identifikation im Verstehensprozess der geschichtlich-hermeneutischen Andersheit des Selbst, des Wir und der Welt, ist die notwendige philosophische Voraussetzung für den ständigen und wechselseitigen Übergang vom Leben zur Geschichte« (55). So treffend Cacciatores Charakterisierung von Individualität im positiven Sinne ist, so ist doch deren historische Abgrenzung fraglich. Nicht einmal auf Leibniz trifft ohne Weiteres zu und erst recht nicht auf »Schleiermachers Lehre von der Individualität« (GS V 25), was hier wie auch an anderer Stelle von Cacciatore als irreführendes Konzept kontrastiert wird. So wenn er betont, dass die Individualität »nicht mehr eine isolierte Monade, eine metaphysische Abstraktion [ist], sondern Strukturzusammenhang, zugleich epistemisches und praktisches Subjekt, das die vielfältige Realität dank all ihrer sinnlichen, willentlichen und erkennenden Fähigkeiten erfährt« (65f.).

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nicht nur als ästhetische Kategorie, sondern auch als historische herangezogen wird. Dabei ist es ihre begriffsgeschichtliche Herkunft aus dem ästhetischen Diskursfeld des ausgehenden 18. Jahrhunderts, welche die Stimmung zur Vermittlung von lebensgeschichtlicher Individualität und realhistorischem Kulturprozess qualifiziert. Denn es sind vor allem mediale Qualitäten des Phänomens der Stimmung, die ihrem Begriff seit seinem Auftauchen bei Herder und Goethe, dann bei Moritz, Humboldt, Fichte und der Romantik zu einer ästhetikgeschichtlichen Karriere im 19. und 20. Jahrhundert verhalfen. Im Anschluss an Kants – ältere musikpraktische Bedeutungsvalenzen übertragende – Verwendung von »proportionierter Stimmung« im Zusammenspiel der Erkenntnisvermögen (Kap.II,2), spricht Schiller von mittlerer Stimmung zur Erklärung, wie es zum freien Spiel der Gemütskräfte in seiner Ästhetik kommt: »Das Gemüt geht also von der Empfindung zum Gedanken durch eine mittlere Stimmung über, in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zur gleichen Zeit tätig sind« (SCH 30). In dieser von Dilthey selbst angeführten Stelle fungiert Stimmung zum einen und zunächst als ein psychodynamisches Übergangsstadium zwischen der Aktivität der Wahrnehmungssinnlichkeit und derjenigen des Intellekts. Damit wäre sie als Intervall vor allem zeitlich angesetzt, also ihrer musiktheoretischen Tradition seit dem pythagoreischen Komma verpflichtet und entsprechend weder der »Empfindung« noch dem »Gedanken« als objektive Bestimmung zugehörig. Zum anderen und sodann setzt Schiller Stimmung als »mittlere« aber auch räumlich ein. Sie bildet ein Dazwischen, das der Selbsttätigkeit zweier Erkenntnisvermögen gleichzeitig Raum gibt und sie dadurch in eine prozessuale Nähe bringt, die sie in die Lage versetzt, sich miteinander abzugleichen – um nicht zu sagen aufeinander abzustimmen. An diesem philosophischen Kontext bei Schiller, dessen Werk Dilthey sehr gut kannte, zeigt sich schlaglichtartig der bedeutungsgeschichtliche Hintergrund von ›Stimmung‹, vor dem ein Vermittlungspotenzial sichtbar wird, das aus ihrem Phänomenbestand abrufbar ist. In dieser Hinsicht ist Schillers Wortgebrauch als exemplarisch für die Diskurskonstellation um 1800 anzusehen, insofern er Stimmung als einen ästhetischen Begriff mit innovativem Auftrag in Szene setzt. Lässt dieser doch die traditionell als untere und höhere hierarchisierten Erkenntniskräfte Sinnlichkeit und Verstand zeitlich und räumlich umstandslos zusammen auftreten, während in der Kritik der reinen Vernunft die Aufwertung der Sinnlichkeit zur Partnerin des Verstandes noch einer architektonisch aufwendigen Proportionierung durch Stimmung bedurfte. Was dann in der Kritik der Urteilskraft bereits als freies Spiel der Erkenntnisvermögen gedacht wurde, erhält bei Schiller einen ebenso spielerischen wie systematischen Ort. Schließlich ist die mittlere Stimmung keine – wie in der heute üblichen psychologischen Minimaldifferenzierung – zwischen gehobener/guter und gedrückter/schlechter

Wege und Umwege der geschichtlichen Erkenntnisweise

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angesiedelte Stimmung; sondern eine mittlere, i. S.v. vermittelnder, Stimmung. Als epistemologische ›Mittlerin‹ – so können wir festhalten – gibt die ästhetische Stimmung hier der Abfolge von Empfindung zum Gedanken nicht nur die benötigte Zeit, sondern auch den Resonanzraum des Erkenntniskräftespiels. Eine solche Begriffsverwendung von Stimmung als multifunktionales Medium (Chronologisierung/Verräumlichung; Synchronisierung/Transzendierung; Koordinierung/Kommunikation; Wahrnehmung/Reflexion u. a.) wäre für Diltheys theoretische – und das heißt bei ihm immer auch erkenntnistheoretische – Begründung der Geschichtswissenschaft (»Erkenntnistheorie der Geschichte«, GS VII 192) zweckdienlich gewesen. Mit diesem Hinweis geht es nicht um historisch belanglose Gedankenspiele der Kontrafaktizität, sondern darum, die Semantik des Strukturellen, wie sie Diltheys gesamtes geisteswissenschaftliches, psychologisches und folglich auch historisches Denken prägt, auf einen ästhetischen Begriff zu bringen. Noch dazu mit einem solchen, der durch seine zentrale Stellung in den Literaturstudien und in der Weltanschauungslehre seinerseits über das Diltheysche Werk und seine disziplinären Bindungen hinaus wortgeschichtlich stark gemacht wurde, gerade indem ästhetische mit historischen Bedeutungsaspekten kombiniert werden. Die Verwendung des Begriffes ›Struktur‹ selbst gibt nicht hinreichend zu erkennen, wie weitgehend das Motiv der Struktur Diltheys Geschichtsdenken durchzieht und trägt.190 Dass ›Stimmung‹ für die semantische Konkretisierung von ›Struktur‹ besonders geeignet ist, liegt daran, dass sie begriffslogisch und ihrem wortgeschichtlichen Bedeutungspotenzial nach die verschiedenen Strukturaspekte umfasst, die für die Diltheyschen Kernbereiche grundlegend sind: für die der beschreibenden Psychologie (›psychischer Wirkungs-, Bedeutungs- oder Strukturzusammenhang‹), für die der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik (›Kohärenzstiftung durch Lebenskategorien‹, ›Zusammennehmen von Partikularem‹, Leben-Ausdruck-Verstehen-Zusammenhang), für die der philosophischen Weltanschauungslehre (Erlebniszusammenhang, Lebendigkeit im SelbstWelt-Verhältnis) und für die der Literaturgeschichte (poetischer Gefühlszusammenhang, ästhetische Produktion/Rezeption, affektive Bewusstseinstypen, atmosphärische Raum-Zeit-Verhältnisse) und für die der Historiographie (›Bedeutsamkeit des objektiven Geistes‹, ›Mitgefühl mit Werten‹, ›Verhältnisse Teil/ Ganzes, Erfahrung/Totalität und Zweck/Bedeutung, Lebenseinheit-Milieu-Beziehungen‹). Für die ersteren Bereiche haben wir bereits gesehen, wie die Stimmung – in unterschiedlichen Rollen – als ebenso spontan wie universal praktizierte Phänomenologie, als lebensgeschichtlich vollzogenes Kunstwerk oder als struktu190 Siehe zur wissens- und fachgeschichtlichen Bedeutung des Strukturbegriffes nicht nur bei Dilthey auch folgende Arbeiten: Rüsen (1993), Rüsen (1984), von Einem u.a (1973).

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

relle Integration von ausdruckshermeneutischen Elementen aufgetreten ist. Für letzteren, die Historiographie, haben wir auch schon sagen können, dass Stimmung aufgrund ihrer sinnlich-konkreten, imaginativ-anthropologischen oder existenziell-anschaulichen Qualitäten Strukturbegriffe wie ›Wirkungszusammenhang‹ für die Praxis des nachvollziehenden Sichhineinversetzens griffiger macht und so auch die grundlegende ›Kategorie der Bedeutung‹ sinnvoll ergänzt. Weiter mit Blick auf das strukturale Geschichtsdenken Diltheys wollen wir nun seinen Umgang mit oben erwähnten, aber nicht näher betrachteten Kollektivsubjekten wie Zeitalter oder Epoche, Nation, Volk und Generation erläutern. Denn mit deren begrifflicher Klärung innerhalb von Diltheys Geschichtstheorie wird die Vermittlungsleistung deutlicher, die durch eine funktionale Erweiterung der ›Stimmung‹ von einer ästhetischen Kategorie auf individueller Ebene zu einer historischen Kategorie auf kultureller Ebene erzielt wird. Letzteres – wie gesehen – praktiziert Dilthey als Literaturhistoriker und Weltanschauungsphilosoph, freilich ohne dass dies vom theoretischen Bewusstsein seiner geschichtswissenschaftlichen Kategorienbildung begleitet gewesen wäre.

4.

Die Stimmung einer Zeit, Nation, Epoche oder Generation

So abwegig die epistemische Vorstellung von einer über die Psyche der Person ausgedehnten Stimmung sein mag – zumindest für an objektivistische Realismen Gewöhnte –, so selbstverständlich ist doch in unserem kulturellen Wissenssystem insgesamt ihre alltägliche Auffassung als einem kollektiven Affekt- oder Gefühlsphänomen. Wie wir oben zusammenfassend erläutert haben, reicht die Rede von kollektiven Stimmungen von der Informations- und Unterhaltungspublizistik über populärwissenschaftliche Gattungsformen bis in die der erfahrungsbasierten und evidenzgesättigten Forschungsergebnisse der historischkulturellen ›hard sciences‹. Kollektivische Begriffsextensionen von vermeintlich ursprünglich individualpsychischen Phänomenen sind in vergleichbarer Gewöhnlichkeit u. a. von Affekt, Bewusstsein, Charakter, Erfahrung, Gefühl, Geist, Idee, Wille, Traum, Physiognomie, Entwicklung und Leben bekannt, oft auch in Komposita mit Situation, Lage oder Zustand. Kulturgeschichtlich prominent ist seit der Antike zumal die transpersonale Dimension von Seele z. B. als »Weltseele« (GS V 23) in der Antike und Renaissance, neuzeitlich mitunter auch als Seele einer Gemeinschaft, Sekte, Nation oder Kultur. So ist auch heute noch oder wieder, vor allem in gemessenem Abstand zum akademisch disziplinierten Diskurs, von »deutsche[r]« und »orientalische[r] Stimmung« die Rede.191

191 So in einem kulturdiagnostischen Sinne Demuth (2016, 27).

Die Stimmung einer Zeit, Nation, Epoche oder Generation

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Lange bevor der späte Freud sich phantasmatischen Stimmungen bzw. kollektiven Bewusstseinslagen und religiösen Illusionssystemen zuwandte, spricht Dilthey in solch allgemeinem Sinn außer von der »Gesamtstimmung« (VII 283) eines Zeitalters oder Volkes auch vom Erlebnis einer Nation, Epoche oder Generation.192 Ging er anfangs mitunter noch davon aus, dass das »Studium des Psychischen« umstandslos an »logische Probleme der Geschichte« heranführe (GS XVIII 88), so stellen sich ihm später die erkenntnislogischen Verhältnisse zwischen Allgemeinem, ohne das ein Epochenkonzept nicht auskommt, und Individuellem in ihrer dynamischen Vertracktheit dar: »Alle Begriffe, durch welche ein Zeitalter charakterisiert wird, bezeichnen qualitativ bestimmte Richtungen. Denn ein Zeitalter ist immer in Veränderung begriffen, kann also nicht durch Zustands-, Seins-Begriffe ausgedrückt werden. Sie bezeichnen [ein] der Masse der Individuen Gemeinsames, sind also konkret abstrakt, sie grenzen ab, indem sie Zusammenhang ausdrücken, und drücken ihn aus, indem sie abgrenzen« (Dilthey zit. n. Thielen 1999, 170).

In einer an Schleiermacher erinnernden Weise wird hier im Nachlass das individuelle Allgemeine eines Zeitalters als ›konkret abstrakt‹ aufgefasst; konkret wie die Unteilbarkeit der einzigartigen Erfahrung des Individuums, abstrakt wie das allen (Individuen) Gemeinsame dieser besonderen Erfahrung.193 Hier könnte die Stimmung eine Kategorisierung der ein Zeitalter charakterisierenden ›Richtungsbegriffe‹ leisten, indem sie einerseits konkret immer die jemeinige Stimmung (individuell) ist, andererseits abstrakt die gemeinsame Stimmung (kulturell) bezeichnet. Dabei würde die Mitteilbarkeit der Stimmung – etwa durch massenpsychologische Ansteckung in räumlich-zeitlicher Näheerfahrung oder durch technische Massenmedien – für deren Transpersonalisation von der Unteilbarkeit (cf. wörtlich: In-dividuum) zum allen Gemeinsamen (cf. wörtlich: Allgemeinen) sorgen. Zugleich entspräche die Wandelbarkeit des Stimmungsphänomens der permanenten ›Veränderung‹ des Zeitalters. Das Transitorische des mentalen Zustandes ›Stimmung‹, ihr ›Werdens‹-Begriff und ihre kommunikative Funktion würden Dilthey also eine phänomenadäquate Bestimmung des hier in Frage stehenden Historisch-Allgemeinen bis hinein in dessen strukturell beweglichen Wirkungszusammenhang ermöglichen. 192 Zumal den Begriff ›Generation‹ reflektiert Dilthey unter Einbezug geschichtstheoretischer Aspekte in der 1875 entstandenen Schrift ›Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat‹ in GS V 31–73. Zuvor verwendet er den Generationsbegriff bereits in seinen historisch-biographischen Arbeiten vor allem über Schleiermacher und Novalis. 193 Cf. oben ›Schaffende Stimmungen‹ (Kap.V,2), wo unter verstehenstheoretischem Aspekt das ›allgemeine Individuelle‹ zum Gegenstand wird. Siehe dort auch die Kritik von Anz (1982) an Diltheys Konzept, das Allgemeine durch das Individuelle zu verstehen, und die daraus zu erklärende Bedeutung der Typenlehre.

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

Schließlich geht es ihm mit den Begriffen Zeitalter, Epoche wie auch Generation nicht allein um klassifikatorisch-chronologische Abgrenzungen, sondern um historisch-systematische Struktureinheiten. In diesen muss ein »Mannigfaches an partikularen Tatsachen« über deren oberflächlich kausales »Verhältnis von gegenseitiger Abhängigkeit« hinaus als »innere Zusammengehörigkeit« sichtbar gemacht werden (GS VI 229). Letzterer wird z. B. als derjenige der Frühromantik durch »die Betrachtung eines einzelnen Mannes« erkennbar, insofern das Werk und Leben des Novalis »eine Einsicht in die allgemeinen Motive der intellektuellen Kultur seiner Generation eröffnen« (GS XXV 200). Es besteht eine doppelte Herausforderung für den Historiker, die geistig-epochale Einheit in der Vielheit sachgerecht durch Begriffe zu fassen. Zum einen nämlich muss dem historischen Eigensinn der Individuen, Tatbestände, Lebensumstände und der Gesellschaftszustände – also der partikularen Faktizität Rechnung getragen werden, ohne dass Aussicht auf eine summarisch abschließende Vollständigkeit bestünde. Zum anderen muss dem historischen »Eigenwesen« der Generation, Kultur, Zeit und der Kräfteverhältnisse – also einer übersummativen, gestalthaften »Totalität« Geltung verschafft werden. Dies ist zwar nicht unter dem fundamentalen Aspekt eines allein tragenden »Grundgedanken[s] ausdrückbar«, jedoch in der integralen Perspektive von »Stimmungen in einer Nation« (GS VII 286, 185; ED 269–271). Dem »Problem der Historie«, namentlich des Übergangs zwischen der Geschichtlichkeit des Einzelnen und der »Erkenntnis dieses Ganzen« (GS I 87) einfach auszuweichen, indem das historische Interesse entweder auf die analytisch minuziöse Arbeit am Individuellen oder auf die synthetisch morphologische Arbeit am Allgemeinen vereinseitigt wird, führt den Historiker entweder in ein quellenphilologisches Labyrinth oder in die geschichtsphilosophische Spekulation. Wer nicht auf welthaltige, wirklichkeitsvergegenwärtigende oder psychokulturelle Perspektiven in historischen Studien und insbesondere bei der Rede von Epochen, einer Zeit oder Generation verzichten will, muss für einen hinreichend empirisch fundierten Gegenhalt im Feld der singulären Tatsachen sorgen.194 Erst dadurch, in Diltheys hermeneutischer Terminologie: durch die »enge Bindung zwischen Erlebnis und Ausdruck«, wie Giovanni Matteucci (2013, 268) erklärt, »ist die geistige Welt [als] die anthropologische Explikation eines historisch-materiellen Apriori« begründbar. Allerdings sind die auf historischen Tatsachen gründenden »Bedingungen, welche auf die intellektuelle Kultur einer Generation einwirken […] [g]anz unzählig und grenzenlos« (zit. n. Thielen 1999, 164). Deshalb muss der Historiker 194 Siehe zu Diltheys erkenntnistheoretischem Terminus »dato empirico« als einem komplexen Strukturbegriff im Unterschied zur englischen Tradition (»Empirie, nicht Empirismus«, GS XIX 17) Marini (2013, 389).

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eine »begrenzte Reihe« auswählen und mit Blick auf den kulturellen Traditionszusammenhang und die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse »nur aus den hervorragensten Bedingungen« die »Totalität« seiner Epochendarstellung erklären (ebd.). Letztere zielt auf den in einem bestimmten Raum-Zeit-Segment rekonstruierbaren Geschichtsverlauf, dem der psychostrukturelle »Zusammenhang zwischen den Tendenzen des Lebens selbst« (GS VII 185) entspricht. Denn der »Begriff eines Zeitalters« umfasst nach Dilthey die »Struktur einer Lebenseinheit […] welche die Erscheinungen eines solchen Zeitalters in Verhältnisse setzt« (GS XX 318). Wie in der Hermeneutik so ist es auch in der Historik der Lebensbegriff, der Diltheys Kategorienbildung über Psychologie hinaus an eine (Proto-)Phänomenologie des individuellen Blicks zurückbindet. In dessen Perspektivik bündeln sich die zahllosen Erscheinungen und verstreuten Tatsachenpartikel in einem Fluchtpunkt, der eine strukturelle Einheit gewährleistet ohne die elementare Vielheit auszublenden. So spricht Dilthey auch vom »Lebenshorizont« einer Zeit, der »herrschende, große, durchgehende Tendenzen« als ihr »Gepräge« versammelt und sie dadurch »in sich selbst zentriert« (GS VII 154, VI 229). Ein solchermaßen kenntlicher »Geist der Zeit« bildet indes »ein kompliziertes Ganzes«, das die heterogenen »Richtungen, Strömungen, Bewegungen« nicht homogenisiert, sondern deren Gegenläufigkeit in sich austrägt (GS VIII 173). Denn »[n]eben der herrschenden […] Tendenz, die der Zeit ihren Charakter gibt, bestehen andere, die sich ihr entgegensetzen. Sie streben Altes zu konservieren, sie bemerken die nachteiligen Folgen der Einseitigkeit des Zeitgeistes und wenden sich gegen ihn; wenn dann aber ein Schöpferisches, Neues hervortritt, das aus einem anderen Gefühl des Lebens entspringt, dann beginnt mitten in diesem Zeitraum die Bewegung, die bestimmt ist, eine neue Zeit herbeizuführen. Jede Entgegensetzung vorher bleibt auf dem Boden des Zeitalters oder der Epoche; was in ihr sich entgegenstemmt, hat auch zugleich die Struktur der Zeit selbst. In diesem Schöpferischen beginnt dann erst ein neues Verhältnis von Leben, Lebensbezügen, Lebenserfahrung und Gedankenbildung« (GS VII 178).

So wird hier und an anderen Stellen (z. B. GS VII 186, VIII 173, XI 218f.) eine generelle Charakteristik von Zeitaltern samt ihrem Zeitgeist und Zeitstimmungen entworfen. Geistes- wie auch stimmungsgeschichtliche Epochen werden über vorherrschende Tendenzen zeitlich eingrenzbar. Zugleich werden sie durch in beständigem Wandel befindliche Bedeutungseinheiten erfasst, die ereignishafte Entgegensetzungen erlauben. Dieses Vorgehen hat seine ›strukturellen‹ Entsprechungen in Diltheys philosophischer Konzeption von »Grundstimmungen«, »Lebensstimmungen« oder auch »universalen Stimmungen« (GS VIII 33, 81f., 92). Vergleichbar der ›Struktur der Zeit‹, die als ein Multiversum miteinander verbundener, einander entgegengesetzter und aufeinander reagierender Ele-

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mente besteht und vergeht, ist die Struktur von Stimmung durch eine Multipolarität der in ihr wirksamen Empfindungen, widerstreitenden Gefühle und konfluierenden Wahrnehmungselemente gebildet. Wie im Zeitgeist werden in der Stimmung – sei es eine individuelle oder kollektive – ›Einseitigkeiten‹ gegengewichtet, Entgegensetzungen integriert und ›Neues‹ anverwandelt, bis die Impulse eines anderen »Lebensgefühls« (GS VI 158) einen Wandel der Stimmung wie eine andere Zeit hervorbringen. Gemeinsam ist dem historischen Begriff des Zeitalters (oder der Epoche) einschließlich des Zeitgeistes und dem ästhetischen Phänomen der Stimmung also eine inhärente Strukturbewegung, deren Eigendynamik eine transitorische Einheit ihres Bestands ebenso gewährleistet wie eine konstitutive Offenheit für ›Neues‹. Es gibt allerdings Vorzüge des kollektiven Gebrauchs von ›Stimmung‹ im Sinne von Stimmung anstelle von »Geist einer Zeit« (GS VII 177) oder auch von »Bewußtseinslage« (GS VI 158, 181) einer Epoche.195 Sie ergeben sich aus einer mindestens zweidimensionalen Semantik, die sowohl die Lebendigkeit subjektiver Epochenerfahrung evozieren wie auch die Strukturalität der objektiven Zeitverhältnisse adressieren kann und oft beides zumindest anzudeuten vermag. (1.) Zum einen verweist Zeitstimmung die abstrakte Struktureinheit auf die konkretere ›Lebenseinheit‹. Sie erinnert den im objektiven Tatsachenzusammenhang nach Kausalerklärungen suchenden Historiker an seinen Ausgangspunkt, den das »Erleben mit seinem Milieu« als die »Urzelle der Geschichte« bildet (GS XXIV 270). Zudem hält Zeitstimmung die strukturpsychologische Basis der Kategorie des Wirkungszusammenhanges präsent, dessen begriffliche Übergängigkeit von der Psyche des Einzelnen zum System der Kultur allen historischen Kollektivsubjekten eingeschrieben ist. Im Individuum verdichtet sich aus dem Zusammenspiel des Wirkens der Strukturgesetze mit dem Gesamt an äußerer Erfahrung seine Lebensstimmung. Diltheys transindividueller Übertragung auf Epochen gemäß kommt es homolog zur »Konzentration der ganzen Kultur eines solchen Zeitraumes in sich selbst, so daß in der Wertgebung, den Zwecksetzungen, den Lebensregeln der Zeit der Maßstab für Beurteilung, Wertschätzung, Würdigung von Personen und Richtungen gelegen ist, welcher einer bestimmten Zeit ihren Charakter gibt« (GS VII 177). Dass aber dieser Zeitcharakter sich auf die lebensweltliche Wirklichkeitserfahrung auswirkt und wie er sich für menschliches In-der-Epoche-sein angefühlt haben mag, also das Lebensgefühl eines historischen Kollektivsubjekts – bezeichnet der Begriff 195 Wohl aufgrund der zwar spekulativen, zugleich aber griffigen Qualität des Stimmungsbegriffes verwendet ihn auch Musil (1978) in seinem vom Ganzen der Epoche vor dem 1. Weltkrieg handelnden Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Siehe etwa das Kapitel 61 über die »Utopie des exakten Lebens«, worin von der »Stimmung und Bereitschaft eines Zeitalters« (245) die Rede ist.

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›Zeitstimmung‹. Dies macht seine erste, die subjektive Bedeutung aus. Sie ist bestimmt durch eine erfahrungsphänomenologische Dimension. (2.) Die zweite, objektive Bedeutung des Zeitstimmungsbegriffes entfaltet sich in einer koordinativ-funktionalen Dimension. Denn zum anderen wird mit ›Stimmung der Zeit‹ die historisch-materielle Substanz der »kulturelle[n] Struktur« (GS VI 230, VII 177–186, 335) sondiert und dabei deren ephemerer Phänomencharakter miterfasst. Dazu werden die in der Stimmung seit ihrer begriffsgeschichtlichen Transposition vom musikpraktischen zum ästhetiktheoretischen Feld abgelagerten Bedeutungsschichten einer objektiven »Koordination« reanimiert, wie sie Dilthey im »System«-Charakter der »Wechselwirkungen und Verwandtschaften« in einer Epoche erkennt (GS VI 229f.). So versucht die Rede von der Stimmung »eines Zeitalters« den historiographischen »Blick in sein inneres Wesen« zu schärfen; und zwar gerade weil dieses im ständigen Wechsel der Erscheinungen »unwägbar« bleibt, sich »überall modifiziert und doch immer dasselbe« ist (GS XIII/1, 451). Um eine Streuung von Ereignissen, die Unverbundenheit von Tatsachen und die »irrationale Faktizität« des Geschichtlichen in ihrem epochalen Wirkungszusammenhang zu fassen, bedarf es nicht nur historischer Begriffe (Zweck, Wert, Bedeutung usw.), sondern auch eines ästhetischen Begriffes mit historischem Engagement. Als ein solcher übernimmt ›Zeitstimmung‹ die Choreographie jener Strukturbewegung, die eine Epoche »in sich selbst zentriert« (GS VII 154) und als relationale Bedeutungseinheit gleichsam lebendig erscheinen lässt: »So ist der ganze Wirkungszusammenhang des Zeitalters durch den Nexus des Lebens, der Gemütswelt, der Wertbildung und der Zweckideen desselben immanent bestimmt. Jedes Wirken ist historisch, das in diesen Zusammenhang eingreift; er macht den Horizont der Zeit aus, und durch ihn ist schließlich die Bedeutung jedes Teiles in diesem System der Zeit bestimmt« (GS VII 186).

Zusammengenommen qualifizieren die erfahrungsphänomenologische (subjektive) und die koordinativ-funktionale (objektive) Bedeutungsdimension von ›Stimmung einer Zeit‹ diesen Begriff zur Bezeichnung dessen, was Diltheys Konzeption der Epochen oder Zeitalter ausmacht. Dies gilt insbesondere für deren Entwicklung in der Perspektive seiner Übertragung des strukturpsychologisch fundierten Wirkungszusammenhangs des Individuums in seinem Milieu – auf die überindividuellen Gebilde historischer Kollektivsubjekte in ihrem jeweiligen Kultursystem. Der hermeneutischen Transfiguration des individuellen Subjekts des Erlebens zur kulturellen »Urzelle der Geschichte« (XXIV 270) korrespondiert die historiographische Extension des Stimmungsbegriffs von seiner personalen zur kollektiven Semantik. In dieser pragmatischen Hinsicht einer historiographischen Kollektivierung ähneln sich freilich die Begriffe Zeitstimmung und Zeitgeist. Doch dieser von

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

Hegel popularisierte Begriff – zusammen mit dessen »Welt des objektiven Geistes« (GS VII 209) – dient in Diltheys Geschichtsdenken vor allem dazu, den epistemischen Strukturzusammenhang einer Epoche im Sinne ihrer überindividuellen »Bewußtseinslage« (GS VI 159) zu beschreiben. Demnach sind die Ermöglichungsbedingungen für die Entstehung des Zeitgeistes hauptsächlich im kulturellen Wissenssystem auf dem jeweiligen Stand von dessen Entwicklung zu finden.196 Während in Hegels Konzept des objektiven Geistes »Leben ein defizienter Modus des Geistes ist«, bleibt bei Dilthey »der Geist vom Leben umgriffen« (Schnädelbach 1983, 76). Bezogen auf die psychohistorischen Kategorien von Diltheys Epochenkonzept heißt dies, dass anstelle von Zeitgeist phänomengerechter von Zeitstimmung gesprochen werden muss. Denn im Sinne Diltheys ist auch der Zeitgeist nicht über das Leben erhaben, sondern von diesem – um Schnädelbachs an Jaspers erinnernden Ausdruck zu wiederholen – umgriffen. Dieses Vom-Leben-Umgriffen-sein des Zeitgeistes realisiert die Zeitstimmung. Was im Unterschied zur Zeitgeistgenese beim Aufkommen der Zeitstimmung für Dilthey eine ebenso wichtige Rolle wie die wissenssystemischen Strukturbedingungen spielt, sind die kreativen Momente der »großen historischen Menschen« (GS VII 186). Kraft ihrer Ideen, Taten, Werke – und namentlich ihrer Stimmungen – geben sie einer Epoche ihre Prägung. Dies gilt auch dann, wenn Philosophen und Dichter nur »dem Leibe nach« als Bürger für ihre Zeit einstehen wollen, »sonst aber dem Geiste nach« durchaus »zu keinem Volke und zu keiner Zeit zu gehören, sondern im eigentlichen Sinne ein Zeitgenosse aller Zeiten zu sein« wünschen (Jaspers 1971, 15). Nach Dilthey repräsentieren sie gerade darin den Geist der Aufklärung. Historisch bedeutsame Persönlichkeiten stellen für Dilthey epochale »Führer« (ebd.) dar, aus denen der »geschichtliche Geist« selbst spricht: »Ihr Schaffen geht nicht in geschichtliche Ferne, sondern schöpft aus den Werten und dem Bedeutungszusammenhang des Zeitalters selbst seine Ziele. Die produktive Energie einer Nation in einer bestimmten Zeit empfängt gerade daraus ihre höchste Kraft, daß die Menschen der Zeit auf deren Horizont eingeschränkt sind; ihre Arbeit dient der Realisierung dessen, was die Grundrichtung der Zeit ausmacht. So werden sie zu Repräsentanten derselben« (GS VII 186).197

Zugleich ›schaffen‹ diese Epochenrepräsentanten nicht nur innerhalb des ›Horizonts‹ und aus dem ›Bedeutungszusammenhang‹ ihrer Zeit, sondern auch aus ihrer ›Lebensstimmung‹. Indem letztere schöpferisch zum Ausdruck kommt, 196 Siehe neuerdings und sehr ausführlich zu den begriffs- und diskurshistorischen Entstehungszusammenhängen des Begriffes Zeitgeist Oergel (2019). 197 An anderer Stelle spricht Dilthey auch vom »Leben der Zeit« oder »Erlebnis der Zeit« in einem historischen Sinn (DM 80, 166).

Die Stimmung einer Zeit, Nation, Epoche oder Generation

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wird sie auf andere übertragen, wird zunehmend kollektiv und schließlich zur Zeitstimmung. So haben wir anhand der Weltanschauungslehre gesehen, dass die »Schöpfung einer Person, in welche diese Alles, ihre Begriffe wie ihre Ideale ergießt, [von] Einer Grundstimmung getragen« ist (GS VIII 33). Gegenüber dem Philosophen kommen beim Dichter weniger Begriffe und Ideale als vielmehr Gefühle und Situationen und dadurch der Geist einer Zeit im Modus der Stimmung zum schöpferischen Ausdruck. Doch stammen Rationales wie Emotionales aus einer Lebensstimmung, die nicht allein durch ihren ›Ausdruck‹ in die Zeitstimmung einfließen; also weil »poetische Stimmungen festgehalten, ausgebildet und durch Werke überliefert werden« (GS VI 213). Sie tun dies zusätzlich noch dadurch, dass »Stimmungen« ihrerseits schöpferischen Charakter haben, indem sie – wie im Fall Goethes198 – »alles Wirkliche um[schaffen]« (ED 127). Deshalb soll der Literaturhistoriker, wie wir oben gezeigt haben (Kap.V,1), auch den dichterischen Schöpfungsvorgang in seiner ›Totalstimmung‹ und nicht nur dessen Resultat im Werk verstehen. Die eigentliche Kunst des Verstehens aber – so muss Dilthey seinerseits verstanden werden – bestünde in der historischen Rekonstruktion beider Strukturzusammenhänge, desjenigen des Lebens des Dichters (Lebensstimmung) und desjenigen des Wissens seiner Zeit (Zeitgeist). Indem diese zusammen den »Keim einer Dichtung« bilden, der deren »Totalstimmung, die Linien des Ganzen schon in sich enthält« (ED 169), vermittelt sich dem Leser etwas von jener epochalen Totalität, die in der Stimmung einer Zeit konfiguriert ist (cf. Kap.V,1/2). Wie schon in der Weltanschauungslehre dem Philosophen, so fiele auch dem Literaturwissenschaftler die Aufgabe zu, die historische und ästhetische Pluralisierung von Stimmungen auf einer anthropologisch relativ konstanten Basis zu untersuchen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass unter der Stimmung einer Zeit oder Epoche die maximale Größe eines Aggregats von sozioökonomischen, psychokulturellen und wissensgeschichtlichen Erfahrungs- und Lebensbedingungen zu verstehen ist. Als solches stellt sie sich indes keineswegs von selbst, etwa bereits auf der Wahrnehmungsebene dar – weder dem ästhetisch hellwachen Zeitkritiker noch dem philosophisch reflektierten Historiker. Zeitstimmung ist ein ephemeres Kollektivphänomen, das als Gegenstand zeitkritischer bzw. historischer Erkenntnis sich entzieht und doch der (zeit-)geschichtlichen Wahrnehmung ›konkret abstrakt‹ aufdrängt. So taucht sie bei Dilthey als ein ebenso tiefenstrukturell relationales wie oberflächlich diffuses Gesamt von Tatsachen und Empfindungen, Erkenntnissen und Gefühlen, Werten und Erlebnissen auf. 198 In Goethe verkörpert sich für Dilthey zum einen bereits die später etwas leichtfertig nach demselben benannte Epoche (Goethezeit); zum anderen auf exemplarische Weise die »schöpferische Macht und Selbstherrlichkeit des Genies« (GS VI 94), das die überindividuellen Strukturen seiner Zeit in sein Werk zu übersetzen weiß und dadurch sich auch als Person historisch versteht. Siehe oben zu Diltheys Geniekonzept (Kap.V,3).

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

Bei der Vermittlung von Zeitstimmungen kommt nach Dilthey der Literatur – dank ihres Mediums Sprache – unter den Künsten eine gewisse Vorzugsstellung zu. Wie die poetischen so drücken sich auch die epochalen Stimmungen »in großen Werken aus und werden durch dieselben nicht nur auf das Publikum, sondern auch auf die nachfolgenden Dichter übertragen« (GS VI 235). Gleichwohl ist von der Stimmung und dem »Geist einer Zeit« (GS VII 177) jedes Individuum potenziell geprägt, indem sie allen Ausdrucksformen von Individualität etwas Präqualitatives vorgeben, was Dilthey durch die intuitionistischen Begriffe der Energie und der Grundrichtung zu fassen sucht: »Alles hat in einem Zeitalter seine Bedeutung durch die Beziehung auf die Energie, die ihm die Grundrichtung gibt. Sie drückt sich aus in Stein, auf Leinwand, in Taten oder Worten. Sie objektiviert sich in Verfassung und Gesetzgebung der Nationen. Von ihr erfüllt, faßt der Historiker die älteren Zeiten auf, und der Philosoph versucht, von ihr aus den Sinn der Welt zu deuten« (GS VII 186).

5.

Von der Dichtung zum geschichtswissenschaftlichphilosophischen Selbstverständnis

Diltheys Schriften zur Literaturgeschichte zeigen immer wieder ein Bild vom Dichter als dem ästhetisch-ethisch hochsensiblen und zugleich philosophisch zeitkritisch eingestellten Seismographen des jeweiligen Kultursystems.199 Darin schwingt noch etwas von der überkommenen Vorstellung vom poetischen Seher-, Priester- oder Prophetentum nach, die spätestens 1918 mit dem doppelten Ende monarchisch-dynastischer Reiche und des bürgerlichen Zeitalters verblasst. Sie hatte vielleicht in Stefan George ihren letzten, teils intensiv bewunderten teils als prätentiös empfundenen Nachzügler. Dass Dilthey den Begriff der Stimmung auch im kollektivpsychologischen, zeitdiagnostischen und historiographischen Sinne außer in der Weltanschauungsphilosophie vor allem mit Bezug auf Dichterbiographien und Literaturgeschichtsepochen verwendet, kann als eine traditionelle Kompetenzzuschreibung gedeutet werden. Literarischen Autoren wird danach als höheren Beobachtern des Zeitgeschehens, die zumeist an soziale Distanz als Verstehensbedingung gewöhnt sind, am ehesten eine kulturelle Wahrnehmungsschärfe zugetraut, welche die verbreiteten Befangenheiten im Alltäglichen wie auch die naturalistischen Naivitäten von Gegenwartspositivismen durchdringt. Entsprechend gilt hinsichtlich der komplexen Herausforderung des authentischen Darstellens von Stimmungspräsenzen und mit ihnen der mentalitätsgeschichtlichen Lage der Dinge in ihrer Zeit die ›hohe‹ unter der ›schönen‹ Literatur als Expertin. Dank der »dichterischen Technik« ist 199 Siehe insbesondere Dichter als Seher der Menschheit zusammengestellt in GS XXV.

Von Dichtung zum geschichtswissenschaftlich-philosophischem Selbstverständnis

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sie eher dazu in der Lage, die »Mannigfaltigkeit« der Stimmungen und des Geistes einer Zeit in »Gefühlsaggregate« (GS VI 213) zu verdichten als dies der diskursiv schwerfälligen Sprache der Philosophen und Historiker möglich wäre. Ungeachtet der sprachlichen, analytischen und methodischen Schwierigkeiten sind nach Rousseaus, Herders, Fichtes und Hegels Aufbringen von ›Zeit‹Kategorien wie Zeitkritik, Zeitbewusstsein, Zeitgeist oder Zeitstimmung die Einsichten im philosophischen Diskurs gewachsen, dass mit der Universalisierung aufklärerischer Fortschrittsideale ein akuter Bedarf an zeit- und kulturdiagnostischer Reflexion entstanden ist. Dieser generelle Reflexionsbedarf ist in der Moderne um 1900, als Dilthey den Stimmungsbegriff philosophisch-kollektiv erweitert benutzte – also nach Kierkegaard und Nietzsche, aber noch vor Heidegger –, bereits chronisch geworden. Dies zeigt sich in den Jahren nach Diltheys Tod (1911) an der breiten Diskussion von Werken wie Walter Rathenaus »Zur Kritik der Zeit« (1912), Oswald Spenglers »Der Untergang des Abendlandes« (1918–22) oder Karl Jaspers’ »Die geistige Situation der Zeit« (1931). Dabei überwiegt bei der spekulativ beflügelten Rede von Zeitstimmungen den Nachteil, über ein vorsystematisches Niveau nicht hinauszukommen, der Vorteil, ephemere Kollektivphänomene überhaupt ansprechen zu können – und nicht von ihnen schweigen zu müssen, nachdem man sie im Jenseits des Diskurses doch wahrgenommen hat. Es sind jedoch keineswegs nur darstellungstechnische und -ökonomische Zwänge, die Zeitkritiker und Kulturhistoriker zur Begriffsverwendung von ›Stimmung der Zeit‹ oder ›Geist der Zeit‹ führen. Wie wir oben im letzten Abschnitt an Diltheys geschichtswissenschaftlicher Grundlagenreflexion gesehen haben, sind nicht erst bei der Komplexitätsreduktion von empirischer »Mannigfaltigkeit« durch Kollektivsubjekte (Generation, Kultur, Nation, Gesellschaft usw.) begriffliche Abstraktionen unvermeidlich. Dies ist bereits der Fall, wo es um die Bildung historischer Kategorien (Zweck, Wert, Bedeutung usw.) und deren methodologische Verankerung in einer »Erkenntnistheorie der Geschichte« (GS VII 192) geht. Auch wo das methodische Verfahren historischer Rekonstruktionsarbeit an empirischen Tatsachen orientiert ist, kann deren »irrationale Faktizität« (GS VII, 270, 288) nicht ohne die rationale Funktionalität von Begriffen systematisiert werden. Diltheys Versuchen einer Grundlegung der historischen Geisteswissenschaften insgesamt ist lange Zeit eine erkenntnistheoretische Ambivalenz eingeschrieben, die sich erst beim späten Dilthey zugunsten einer hermeneutischen Historik tendenziell auflöst. Einerseits und vor allem anfangs wird der Anspruch auf kausalgesetzliche Erklärung von materiellen Wirkungszusammenhängen erhoben. Andererseits und später wird zunehmend die Methodik des ausdruckshermeneutischen Verstehens von geistigen Wirkungszusammenhängen begründet. Diese Ambivalenz findet sich indes nicht nur im Hauptwerk, sondern

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

schreibt sich – man möchte sagen unvermeidlich – in den Entwürfen zur Kritik der historischen Vernunft fort. Zwar hat dort die methodologische Systematik der Kritik der reinen Vernunft Vorbildfunktion, zugleich aber wird die Theoriefähigkeit vom naturwissenschaftlichen Rationalitätstypus abgezogen und in einem anderen Erfahrungsbereich begründet. Die Vernunfterkenntnis soll gewissermaßen ›rein‹ bleiben und doch ihren Gegenstand selbst reflexiv mithervorbringen können, wenn der Mensch »sich selber und die von ihm geschaffene Gesellschaft und Geschichte zu erkennen« vermag (GS I 116). Vom jungen bis zum späten Dilthey ist sowohl die mit Kant verbundene Autorität erkenntnistheoretischer Analytik von Einfluss auf sein Denken, als auch der Anspruch auf eine Überwindung des damit verbundenen Ganzheitsverlusts im philosophischen Selbst-Welt-Verhältnis. Auf der einen Seite behauptet sich schließlich der wissenschaftliche Positivismus des 19. Jahrhunderts, auf der anderen Seite macht sich bereits ein epistemologischer Relativismus geltend. Auch im Umgang mit dem Begriff und Phänomen der Stimmung zeigt sich etwas von diesem Spannungsbogen unter welchem Dilthey selbst gewissermaßen repräsentativ für seine Zeit steht. Biographisch charakteristische Lebensstimmungen werden aus dem individuellen Wirkungszusammenhang teils milieubedingt erklärt, aber größtenteils strukturpsychologisch beschrieben. Hingegen werden kulturell kennzeichnende Grundstimmungen aus dem überindividuellen Wirkungszusammenhang überwiegend wissensgeschichtlich perspektiviert und kaum sozialpsychologisch erklärt. Dies mag mit Verschiebungen des Darstellungsinteresses im Werkkontext zusammenhängen, insbesondere wenn Lebensoder Grundstimmungen in die Nähe zu kollektiven Stimmungen rücken und dadurch zumindest implizit auch geschichtstheoretisch belastbar sein müssen. Dabei müssten der Philosoph Dilthey und der Historiker Dilthey grundsätzliche Fragen diskutiert haben. Z. B. wie kann ein emotionspsychologisches Phänomen, dessen Subjekt der Erfahrung ein menschliches Individuum ist, als ein kollektivpsychologisches Phänomen behandelt werden? Was rechtfertigt eine Übertragung der Erfahrungssituativität von individueller Konkretion auf kollektive Abstraktion? ›Als ob‹ eine kollektiv-abstrakte Einheit wie Epoche, Generation oder Nation das individuelle Subjekt eines Gefühls wie der Stimmung, einer Wahrnehmung wie der von Atmosphäre oder einer Erfahrung von Lebenswelt als Situation sein könnte.200 200 Die Frage des Als-ob, der Übertragungsrichtung oder nach Metaphorizität überhaupt wird ebenso aufgeworfen bei der Verwendung des Begriffes Atmosphäre sowohl für Texte als auch für Autoren. So spricht Dilthey auch von der »Atmosphäre des ganzen Gedichtes« (DM 159), der »Atmosphäre des Nathan, der ersten Schillerschen Dramen« sowie von einer Atmosphäre, die »um den jungen Dichter« entstand (GS XXV 346, 350). Entsprechend wird Hugo von Hofmannsthal in seinem Nachruf auf Dilthey sagen: »Nie war die Atmosphäre eines Lebenden verwandter mit der Atmosphäre einer Dichtung« (DM, S. VIII).

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Vergleichbar den epistemologisch nützlichen Fiktionen innerhalb der pragmatisch fundierten Wissenstheorie des Zeitgenossen Hans Vaihinger (1911), dessen Philosophie des Als Ob im Todesjahr von Dilthey erschien, kommen bei letzterem – auch als Historiker – der Kollektiv- oder Totalstimmung eine pragmatische Funktion zu. Danach ist es für die historische Wahrheit irrelevant, ob sie mithilfe metaphysischer oder sonstwie unhaltbarer Prämissen zustande kam, wenn diese sich nur als zielführend erwiesen haben sollten. Solange die Verwendung des kollektiven Stimmungsbegriffes kraft seiner Abstraktionsleistung zum richtigen Verstehen einer historischen Epoche samt der in derselben objektivierbaren Tatsachen führt, stellt die Nichtobjektivierbarkeit kollektiver Stimmungen selbst kein logisches Problem dar. Diese mehr wahrheitsstrategische als wahrheitstheoretische Einstellung hinsichtlich der Nützlichkeit ›flüssiger Begriffe‹ ungeachtet dessen, ob die mit ihnen bezeichneten Phänomene als Tatsachen feststellbar sind, entwickelte sich bei Dilthey aus der biographischen Engführung seines Denkens von Geschichte und der Philosophie.201 Der junge Dilthey verstand sich nämlich als »Historiker von Profession« (Misch 1960, 115) und noch der spätere Philosoph als »von der Geschichte hergekommen« (GS V 10). Auch nach dem wissenschaftlichen Selbstmissverständnis des Historismus sind Geschichte und Philosophie nicht voneinander zu trennen, sondern einander wechselseitig konstituierend aufzufassen, wie der berühmte Historiker Leopold von Ranke festhält: »Überhaupt sollten beide immer verbunden sein, Geschichte und Philosophie. Ohne Geschichte wird aus Philosophie nur Sekten- und Formelwesen, ohne Philosophie ist die Geschichte nur ein Haufe von Materialien ohne Einheit, Zweck und Resultat«.202

Von philosophischer Seite wird später – neben dem subjektivitätsvergessenen, vorgeblich bloß ›realistischen‹ Positivismus – der Neukantianismus für Dilthey zur Herausforderung seiner erkenntniskritischen Grundlegungsarbeit für die historischen Geisteswissenschaften. Ihr begegnet er durch einen realistisch orientierten »Rückgang auf das Leben und Erleben«, wie Gunter Scholtz erklärt: »Dieses Prinzip des Lebens, hinter welches nicht zurückgegangen und welches nicht überschritten werden kann, steht im Dienst der Realitätserkenntnis und einer Wissenschaftstheorie, die sowohl den Natur- als auch den Geisteswissenschaften gerecht zu werden vermag. Denn Dilthey zeigt für die Geisteswissenschaften, dass sie ebenfalls Erfahrungswissenschaften sind, und zwar solche, die es nicht nur mit Phänomenen, sondern mit einer bestimmten Form der Realität selbst zu tun haben. Und er zeigt für 201 Siehe zu der für Diltheys intellektuelle Entwicklung schon früh zentralen Stellung des Verhältnisses von Geschichte und der Philosophie Thielen (1999, 7–81). 202 Ranke (1964, 488); der diesen Aspekt zum Leitfaden seines Buches machende Thielen (1999) erläutert diese Stelle als »ein Exzerpt aus Schlegels literarhistorischen Vorlesungen« und zitiert das Original von Schlegel (1961, 338f.).

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

die Naturwissenschaften, dass ihre Objekte zwar stets nur Phänomene, nämlich Phänomene der Außenwelt sind, diese aber die Dinge jenseits des Bewusstseins zumindest repräsentieren. Während nämlich Kant durch seine ›falsche Intellektualisierung‹ ein Ding an sich postulierte – für Dilthey ein ›Nonsens‹ –, kann durch den Rückgang auf das Erlebnis der Widerstandserfahrung unser Glaube an die Existenz der Außenwelt als unausweichlich gezeigt werden.«203

Diese hinsichtlich der Wissenschaftstheorie als objektiver Idealismus bezeichnete realistische Grundausrichtung des Erlebnisbegriffes wird schließlich auch für Diltheys Geschichtsdenken entscheidend, wenn er das Selbsterleben des Historikers als »ein geschichtliches Wesen« zur »Bedingung für die Möglichkeit der Geschichtswissenschaft« erklärt (GS VII 243, 252–258, 308, 278, 291). Diltheys kantianische Formulierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Erhebung des Erlebnisbegriffs – im Gegensatz zu den Verstandeskategorien – auf einen quasi-apriorischen Status dazu dient, einen erfahrungsbasierten Zugriff auf die ›Dinge an sich‹ zu ermöglichen. Das damit verbundene Problem einer historiologischen Generalisierung von kontingentem Singulären begegnete Dilthey auch bei seiner Rezeption des Neukantianers Wilhelm Windelband. Was dieser als die idiographische Logik der Geschichtswissenschaft – im Gegensatz zur nomothetischen Logik der Naturwissenschaft, die das Allgemeine in Gesetzesform artikuliert – bezeichnet, bringt nur zur Sprache »was einmal war« (nicht etwa »was immer ist«), indem sie von der Partikularität einer Erfahrungstatsache abstrahiert und somit generalisierend von einem »Ereignis« handelt. Windelbands Versuch einer Stabilisierung der systematisch-logischen Unterscheidung von »Geschichte und Naturwissenschaft« schlägt indes insofern fehl, als dass die historische »Ereigniswissenschaft« ihr »Ziel« (»der singuläre, assertorische Satz«) nur erreicht, wenn sie auch empirisch Einzelnes – wie z. B. die Stimmung eines Individuums – zum Besonderen eines Allgemeinen erklärt – wie z. B. die Stimmung der Bevölkerung, Nation oder Epoche (Windelband 1894). Anders als die Naturwissenschaften, die im 19. Jahrhundert zunehmend erfolgreich ihre Forschungsobjekte dem experimentellen Ordnungsraum definitorisch einpassen und dadurch beherrschbar machen204, müssen die Geschichtswissenschaften ihre Forschungsobjekte im lebensweltlichen Erfahrungsraum methodisch-positivistisch unberührt und dadurch gleichsam unkontrollierbar vernetzt und das heißt realistisch: wirklich und viel zu komplex sein lassen, als dass sie ohne materiale Selektion und begriffliche Reduktion zu bearbeiten möglich wären. Deshalb kreist Diltheys Geschichts203 Scholtz (2008, 26); siehe auch Dilthey, System der Philosophie in Grundzügen (1899–1903) in GS XX 235–331, hier 274ff.; cf. GS V 98ff.; GS IXX 17–38; GS VIII 171ff. 204 Zu den dadurch zugleich eröffneten Spielräumen für Erweiterungen des wissenschaftlichen Versuchsobjekts siehe Rheinberger/Hagner (1993).

Von Dichtung zum geschichtswissenschaftlich-philosophischem Selbstverständnis

209

denken um systematische Möglichkeiten einer historischen Komplexitätsbewältigung, die zugleich den Eigensinn des Individuellen wie auch das Ereignishafte des Geschehens zur Darstellung und Geltung bringen. Dabei kommt den oben im Kontext des Erlebnis- und Ausdrucksverstehens erläuterten Begriffen des ›Wirkungszusammenhangs‹ und ›Strukturzusammenhangs‹ methodische Bedeutung zu. Diese auf Erklärungen des geschichtlichen Ganzen zielenden Begriffe – so meine These hier – werden durch diejenigen der ›Lebens- oder Totalstimmung‹ aus ihrer Abstraktheit ans Konkrete der menschlichen Erfahrung zurückgebunden. Erfahrung aber bildet für Dilthey die methodische Basis der historischen Geisteswissenschaften, die diese mit den Naturwissenschaften teilen. Gegen Windelbands Dissoziation von erklärender ›Gesetzeswissenschaft‹ (Naturwissenschaft) und beschreibender ›Ereigniswissenschaft‹ (Geschichtswissenschaft) verweist Dilthey auf deren methodische Gemeinsamkeiten ohne die Unterschiede zu missachten. Scholtz führt dazu aus: »Weil das menschliche Leben zum Teil selbst Natur ist und auch das geistige Leben oft den Naturprozessen sehr ähnlich sieht, gelten für die geschichtliche Welt zum Teil durchaus eben die Methoden, die in den Naturwissenschaften sich bewähren, und nur das Verstehen und die Kritik kommen noch hinzu.«205

Um dualistischen und antinaturalistischen Missdeutungen von Diltheys Geschichtskonzeption und der Verwerfung von dessen Auffassung der Geisteswissenschaften als irrationalen Idealismus entgegenzutreten, führt Scholtz weitere Belege für Diltheys Versuch an, die Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften hinsichtlich des nomothetischen Anspruchs gleichzustellen. Im gleichen Jahr, als im Hauptwerk Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) das Verstehen ins methodische Zentrum gerückt wird, spricht Dilthey von der »Aufgabe« und dem »Ziel«, die Geschichte als »Verlauf des gesellschaftlichen Lebens […] zu erklären«, indem die Geschichtswissenschaft »Erkenntnistheorie und Psychologie sowie die Einzelwissenschaften auf den Verlauf der Geschichte anwendet« (GS XX 133). Es gehe demnach auch den historischen Wissenschaften um ›Kausalerklärung‹ und Gesetze, auch wo sie notgedrungen nur nach Gleichförmigkeiten und Regeln in der Geschichte suchen können. Um nicht angesichts der Komplexität des geschichtlich Realen wissenschaftlich kapitulieren zu müssen, ist für den Historiker die Kategorienbildung mit abstrahierenden Begriffen (Zweck, Bedeutung usw.) unumgänglich. Im Gegenzug zu dieser methodisch notwendigen Abstraktion rekurriert Dilthey außerdem auf das Erleben der geistigen Realität, wie sie in Form von Be205 Scholtz (2013, 133); der Referenztext ist an dieser Stelle Dilthey, Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96) in GS V, 259–269, bes. 262.

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

wusstseinstatsachen der inneren Erfahrung gegeben ist. Davon verspricht sich Dilthey zum einen – wie oben zitiert – eine Erfüllung der »erste[n] Bedingung für die Möglichkeit der Geschichtswissenschaft«, nämlich die methodische Selbstreflexion des Historikers auf seine Doppelfunktion. Und diese bestehe darin, dass derjenige, »welcher die Geschichte erforscht, derselbe ist, der die Geschichte macht« (GS VII 243, 252–258, 308, 278). Zum anderen führe der Rekurs auf das geschichtliche Erleben zu einer Verlebendigung eben dieser abstrakten Einsicht des Historikers, dass er als Mensch in der Geschichte zugleich Geschichte wissenschaftlich untersucht. Der Ausgangspunkt beim ›ganzen Menschen‹ soll letztlich einen – in diesem selbstreflexiven Sinn – geschichtsphilosophischen Zugriff aufs Ganze der Geschichte ermöglichen. Diese muss als Universalgeschichte der Menschheit freilich unabgeschlossen bleiben, solange es diese gibt. Während die Philosophie in ihrer eigenen Geschichte sich durch unterschiedliche Weltanschauungen hindurch wandelt, führt Dilthey deren Formation auf universale Grundstimmungen zurück. Neben dieser oben beleuchteten Grundlegungsfunktion (Kap.II,2) für die Philosophie kommt Stimmungen bei Dilthey eine Art hermeneutische Scharnierfunktion für seinen Umgang mit Literatur als Ausdrucksmedium von historischen Strukturen zu. Dies zeigt sich nicht erst in der späten Publikation von Das Erlebnis und die Dichtung (Kap.V,1). Bereits von seinen akademischen Anfängen als Schüler Rankes an sieht Dilthey in der Beschäftigung mit Literatur und ihrer Geschichte das Schlüsselmoment seines eigenen Denkansatzes: »An der Literaturgeschichte entfaltete sich bei uns die philosophische Geschichtsschreibung« (GS VI 109). Dabei werden vor allem bei Novalis, Schiller und Goethe »Grundstimmungen der Phantasie« identifiziert, deren Typologisierung dazu verhilft, die »Urzelle der Geschichte« philosophisch zu kultivieren (GS XXV 149; XXIV 270). Letztere ist nicht nur geistig, sondern durchaus biologisch als Energie zu verstehen: »wir sind selber Natur«, sagt Dilthey, »und die Natur wirkt in uns, unbewußt, in dunkeln Trieben« (GS V 80). Im Medium der Literatur wird das milieubedingte Leben des Menschen als Kultur und diese als zweite Natur reflektiert.

6.

Das Konzept der Stimmung im Denken von Geschichte

Grundlegend ist Literatur als ein philosophisches Reflexionsmedium verbunden mit Diltheys Denken von Geschichte, worunter zweierlei zu verstehen ist. Zum einen ist mit Denken von ›Geschichte‹ gemeint, was Geschichte denn ist, also das Gegenstandsfeld wissenschaftlicher Forschung. Zum anderen ist mit Denken von ›Geschichte‹ gemeint, wie dieser Erkenntnisgegenstand erforscht werden kann – also ›Geschichte‹ als geisteswissenschaftliche Fachdisziplin. Für Dilthey hängen

Das Konzept der Stimmung im Denken von Geschichte

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diese beiden Fragerichtungen, die ontologische und die methodologische, auf Engste zusammen. Mit Bezug auf Diltheys Auseinandersetzung mit Kant und Hegel erläutert Fulvio Tessitore (2013, 44) diesen Zusammenhang wie folgt: »Die Geschichte (besser die geschichtliche Erkenntnis, die Erkenntnis der Geschichte, die Geschichtsschreibung) ist das, was eine umgrenzte Erkenntnis von Zusammenhang, des Zusammenhangs von Erfahrung und Erkenntnis, der verschiedenen und punktuell unterschiedlichen Formen der Erkenntnis der Erfahrungsmannigfaltigkeit zulässt. Die Geschichte und die Geschichtsschreibung sind jeweils das Sichverwirklichen des Werdens und die Erkenntnis, wie das Werden sich verwirklicht. Sie sind die Tatsache und die Erkenntnis der Tatsache. Oder auch das Sichverwirklichen (das Sichvollenden) der Realität, die verschiedenen Segmente (die Zusammenhänge) der Realität, die zusammen gehören, die miteinander verbunden sind – insofern die ›Lebenseinheit‹ die ›Beziehung des Äußeren zum Inneren‹, die ›Objektivationen des Lebens‹ repräsentiert« (Hvh. F.T.).

In Diltheys von Tessitore philosophisch perspektiviertem Geschichtsdenken konvergieren ontologische (Werden) und methodologische (Tatsachenerkenntis) Aspekte in einer kulturwissenschaftlichen Theorie von Erkenntnis des Vicoschen Wahrheitstypus (verum et factum convertuntur; s. oben Kap.II,3). Danach spiegeln im Erkannten sich die Züge des Erkennenden – zum konstitutiven Vorteil beider. Da Geschichte vom Menschen »geschaffen« (factum) ist, kann sein »Geist« das von ihm Hervorgebrachte wiedererkennen (verum) (GS VII 148). Bei der reflexiven Abhängigkeit des Gegenstandes historischer Erkenntnis handelt es sich allerdings um eine wechselseitige, denn umgekehrt gilt: »Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte« (GS VIII 226). Aus diesen Grundüberzeugungen leitet Dilthey die gesamtkulturelle Relevanz der Geisteswissenschaften ab, in deren Methode »die beständige Wechselwirkung des Erlebnisses und des Begriffs« liegt (GS V 341): »In dem Nacherleben der individuellen und kollektiven Strukturzusammenhänge finden die geisteswissenschaftlichen Begriffe ihre Erfüllung, wie anderseits das unmittelbare Nacherleben selbst vermittels der allgemeinen Formen des Denkens zu wissenschaftlicher Erkenntnis erhoben wird. Wenn diese beiden Funktionen des geisteswissenschaftlichen Bewußtseins zur Deckung gelangen, dann erfassen wir das Wesenhafte der menschlichen Entwicklung. Kein Begriff soll in diesem Bewußtsein sein, der sich nicht geformt hat an der ganzen Fülle des historischen Nacherlebens, kein Allgemeines soll in ihm sein, das nicht Wesensausdruck einer historischen Realität ist. Nationen, Zeitalter, geschichtliche Entwicklungsreihen – [wir] suchen in ihnen [diesen Formungen] das Wesenhafte der Menschen und der Völker zur Klarheit zu erheben« (GS V 341).

So verschaffen die Geisteswissenschaften einem Volk überhaupt erst Geschichte, einer Kultur Überlieferung, ja der Menschheit Gattungsbewusstsein. Und dadurch öffnen sie der Menschheit als ganzer sowie dem einzelnen Menschen den

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

anthropologisch-historischen Horizont der Selbstreflexion, der Selbsterkenntnis – primordial: ein symbolisch konstitutives Selbstverhältnis. In erkenntnistheoretischer Fortschreibung Vicos und Kants zielt Diltheys Idee einer Kritik der historischen Vernunft darauf ab, die Bedingungen der Möglichkeit von Verstehen mit denen des Gegenstandes von Verstehen abzugleichen.206 Dabei wird freilich die transzendentalphilosophische Pointe in eine geschichtsphilosophische Pointe umgebogen und gewissermaßen im Objekt selbstbezüglich. Kants abstrakte Erkenntnisinstanz, das Subjekt, wird vom Objekt Geschichte eingeholt und gleichsam hermeneutisch versenkt, insofern Dilthey den Historiker konkret als Menschen und diesen selbst als ein abgrundtief »geschichtliches Wesen« (GS VII 277f., 291) verstanden wissen will. Damit aber droht Diltheys objektiver Idealismus in einen historistischen Relativismus abzugleiten, in dem alles, auch die geschichtswissenschaftliche Erkenntnistheorie selbst, aufgrund der Unbegründbarkeit von Geltungsansprüchen haltlos werden müsste.207 Will man Dilthey vor dem Vorwurf eines relativistischen Historismus bewahren, so ließe sich für die Vergeschichtlichung noch des Geschichte denkenden und schreibenden Menschen ein Realismus der geisteswissenschaftlichen Erfahrung anführen, der die Reflexion im phänomenologischen Wahrnehmen der Außenwelt verankert. Darin zeigt die wissenschaftsphilosophisch problematische Auflösung der epistemischen Subjekt-Objekt-Dichotomie, wie sie in der Konsequenz von Diltheys Geschichtsdenken liegt, ihre positive Seite, wie sie dann von Heidegger durch das In-Sein des Daseins in einer als existenzialer Raum erschlossenen Welt produktiv gemacht wird. Diese präduale Nochganzheit von Subjekt/Objekt, die noch kein transzendentalphilosophisches Innen und Außen eines nihilistischen ›Dings an sich‹ kennt, sondern nur eine protostrukturale Sphäre der sie konstituierenden Stimuli und Resonanzen – ist die Stimmung. Als solche ist sie das wahrnehmungsästhetisch zu Ende gedachte ›Erlebnis‹ Diltheys. Zwar aufgeboten als weitgefasster Erfahrungsbegriff zur Verwindung der zeitgenössischen Widersprüche von neukantianischem Idealismus einerseits und naiv-positivistischer Subjektlosigkeit anderseits, verlor das Diltheysche ›Erlebnis‹ doch erkenntnistheoretische Genauigkeit im Diskursmilieu lebensphilosophischer Vitalismen. Geht man hingegen von der dem ästhetischen Phänomen gemäßen Begriffserweiterung von Stimmung bei Dilthey aus, dann erscheinen sein oft der Irrationalität bezichtigtes Denken und die systematischen Inkohärenzen in seiner Hermeneutik und Historik in einem günstigeren Theorielicht, 206 Dilthey verstand sein Unternehmen einer »Kritik der historischen Vernunft« zusammenfassend darin, »die Natur und die Bedingung des geschichtlichen Bewußtseins zu untersuchen« (GS V 9). 207 In diese Richtung weisen die Diltheykritiken von Husserl und Windelband, wie angedeutet wird von Scholtz (2008, 19); cf. Husserl (1911, 41ff.); Windelband (1919, 132f.).

Das Konzept der Stimmung im Denken von Geschichte

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insofern stattdessen sachnahe Nichtgeschlossenheit und phänomengerechte Offenheit erkannt werden können. Nicht länger ist darin Stimmung wie bei Kant allein subjektzentrisch verortet, indem sie die ›proportionierte Stimmung‹ der Erkenntnisvermögen bildet, während sich stimmungslose Dinge (›an sich‹) in gespenstischer Unbezüglichkeit verlieren. Als Erleben nun dehnt sich Stimmung vielmehr über die Subjektgrenzen hinaus. Sie färbt das persönliche »Leben in seinem Milieu«, ist inmitten von Dingen und anderen und vermittelt als übergängig sich ergießendes Raumgefühl208 zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung. Und Stimmung greift sogar auf die Strukturen des objektiven Geistes über. In dieser auch für Diltheys Geschichtsdenken relevanten kognitiv-ästhetischen Begriffsdimension haben wir oben die Lebens- und Grundstimmungen als kollektive Stimmungen einer Zeit erörtert und sie als mediologisch funktionale Bedeutungseinheiten verstanden, in denen sich psychische und überindividuelle Wirkungszusammenhänge vermitteln. Wo Stimmungen die subjektive und objektive Sphäre von »großen Menschen« (GS XXV 284) durchdringen, die Dilthey als »Repräsentanten« ihres Zeitalters (z. B. Lessing, Goethe, Schiller, Schleiermacher) untersucht, entfaltet sich die epistemische Stimmungsdimension unter theoretischen Aspekten der Geschichtswissenschaft. Insoweit nämlich Stimmung bereits auf dem prätranszendentalen Feld des Wahrnehmens ›da‹ ist, sich sodann im Empfinden, Wollen, Fühlen und Denken ›von etwas‹ mitausbreitet, ist sie auch die kognitive Szene, auf der Diltheys historisch-philosophische Wahrnehmungsfiguren ineinandergreifen. Kraft ihrer medialen Qualität gibt Stimmung den Transfigurationen Raum, die sich vom Spüren zum Wunsch, vom Gefühl in den Gedanken, von der Erfahrung zur Idee – in Diltheys Begrifflichkeit: vom Erlebnis in den Ausdruck vollziehen. In diesem frühen Entwicklungsstadium der – übrigens auch psychogenetisch erklärbaren – »Urzelle der Geschichte« (XXIV 270) bildet die Stimmung das gleichsam wahrnehmungsästhetische Plasma derselben. Als solches konkretisiert sie das abstrakte Teil/Ganzes-Verhältnis zu existenziell deklinierbaren Beziehungen wie Ich/Andere, Individuum/Gesellschaft oder Person/Kultur. Dilthey benutzt zu solcher Konkretisierung die Rückbindung der historischen Kategorie ›Bedeutung‹ an das ›Leben‹: »Der Zusammenhang der Geschichte ist der des Lebens selber, sofern dieses unter den Bedingungen seines natürlichen Milieus Zusammenhang hervorbringt« (GS VII 262). Entfalten wir das explikative Bedeutungspotential von Stimmung weiter, dann ist sie für das ›Leben‹ das ›natürliche Milieu‹, das dessen Wachstum durch Sti208 In diesem Sinne hat Hermann Schmitz (1965–1994) dem Diskurs über Gefühle, Stimmungen und Atmosphären in der Philosophie der Neueren Phänomenologie einen systematischen Ort verschafft.

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

muli fördert, dessen Realitätssinn durch Widerstände weckt und für Resonanzen auf seine Regungen sorgt.209 Dadurch ist diese Milieustimmung die Ermöglichungsbedingung dafür, dass das ›Leben‹ wiederum den ›Zusammenhang hervorbringt‹, der Geschichte konstituiert. Sie ist die Matrix historischer Bedeutung, insofern sie Diltheys logischen ›Zirkel‹ zwischen Leben und Geschichte in die Gegenwendigkeit eines konstitutiven ›Zusammenhangs‹ übersetzt.210 Kommt es dann im späteren Entwicklungsstadium der »Urzelle der Geschichte« (XXIV 270) zum – in welcher Form auch immer – Ausdruck der bis dahin im individuellen Wirkungszusammenhang konsolidierten Erfahrung (›Erlebnisse‹), dann bildet dieser als Objektivation des Lebens ein Grundelement der Bedeutungsstruktur jenes Ganzen, das bei Dilthey ›Gesellschaft‹ und in deren zeitlichen Verlauf ›Geschichte‹ heißt.211 Dieses strukturierte Ganze212 bildet als Sphäre des objektiven Geistes, des Wirkungs- oder Traditionszusammenhangs dann das kulturelle Milieu, das – nun verstanden als kollektive Stimmung – wiederum für die Individuen und das historische Verstehen derselben konstitutiv ist. Leistet Stimmung auf individuell-subjektiver Stufe die Integration der Wahrnehmungsfiguren, ohne die in Diltheys Geschichtskonzept Leben oder Erlebnisse nicht zum Ausdruck oder zur Objektivation kämen, so auf kulturellobjektiver Stufe eine Integration von Reflexionsfiguren, die Dilthey über die Kategorie ›Bedeutung‹ in Teil-Ganzes-Relationen koordiniert.213 Wie das individuelle Leben sich in seinem spezifischen Milieu entwickelt – Diltheys Figur der »Urzelle der Geschichte« (XXIV 270) –, so reflektiert sich das individuelle Allgemeine solchen Lebens in jenem generellen Milieu auf höherer Stufe, das Dilthey als Kultursysteme bezeichnet. Mit Blick auf jenes, das individuelle Leben und sein spezifisches Milieu, spricht Dilthey als Literaturhistoriker von Le209 In diese Verbreitungs- oder Ansteckungsfähigkeit ist die Stimmung dem Modell der Resonanz verwandt, wie es Rosa (2016) theoretisiert hat. 210 Dilthey selbst sieht aus »diesem Zirkel« nur einen »einfachen Ausweg, wenn es unbedingte Normen, Zwecke oder Werte gäbe, an denen die geschichtliche Betrachtung, Auffassung einen Maßstab hätte« (GS VII 262). 211 »Ein Glied, welches zum Zusammenhang des Ganzen gehörig ist, hat in bezug auf dieses Ganze eine Bedeutung, sofern es ein im Leben enthaltenes Verhältnis zu diesem Ganzen realisiert. Denn im Verhältnis des Ganzen zum Teil liegt an sich nicht, daß der Teil eine Bedeutung für das Ganze habe. Hierin liegt zunächst ein, wie es scheint, unauflösliches Rätsel. Wir müssen aus den Teilen das Ganze aufbauen, und in dem Ganzen muß doch das Moment liegen, durch welches Bedeutung zugeteilt wird und sonach dem Teil seine Stellung zuweist« (GS VII 262). 212 Siehe zu diesem Grundmotiv von Diltheys Denken ausführlich Rodi (2003). 213 Ohne explizite, gleichwohl mit impliziten Bezügen zu Diltheys Stimmungskonzept, und der Sache nach in systematisch tiefgreifender und historisch breit angelegter Form entwickelt Sloterdijks Sphären-Trilogie eine Theorie kultureller Befindlichkeiten als Allgemeine Immunologie (Sloterdijk 1999–2004).

Das Konzept der Stimmung im Denken von Geschichte

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bensstimmungen; bezogen auf dieses, das kollektive Leben einer allgemeinen Kultur, kann entsprechend von Zeitstimmungen gesprochen werden. Wenn das Aufeinanderübergreifen der Ebenen der Reflexion nicht als unhistorisch »verwerfliche Überschreitung« (GS VII 285) vom Inhaltlich-Konkreten aufs FormalAbstrakte, sondern als geschichtswissenschaftlich probate Verstehensfigur angesehen wird, dann kann dies bei Dilthey als Effekt seiner lebensphilosophisch irrationalen Ausdrucksweise, damit aber auch als ein Problem verzeichnet werden. Besser und auch heute noch nachvollziehbar wird dies jedoch als konzeptueller Gewinnzug der Übertragung von Stimmung aus dem persönlichen in den kulturellen Bereich, vom historischen Individuum auf dessen Zeitalter. Den Stimmungsbegriff aber hat der Theoretiker Dilthey nicht eigens zu einer historischen Kategorie erhoben. Darin spiegelt sich eine zentrale Problematik Diltheys. Sie durchzieht sein gesamtes Werk als eine nie aufgelöste Spannung. Diese herrscht zwischen der frühen Vermutung, dass das »Studium des Psychischen« das »logische Problem der Geschichte« ausmacht, und der doch folgenden Überzeugung, dass die Geschichte ihre eigenen Gesetze habe und von überindividuellen Prozessen bestimmt ist, die von denjenigen der »Einzelpsychologie« strukturell verschieden sind (GS XVIII 88). Diltheys Einsicht fasst einen Aspekt dieser Problematik ins Auge, wenn er mit kritischem Blick auf »den Wendepunkt der Kantischen Spekulation zur transzendentalen konstruktiven Methode« (GS VII 285) einen Übertragungsfehler moniert. Dieser bestehe im »Schluß« von der »Allgemeingültigkeit im Denken und Sollen auf ein überempirisches Subjekt, das sich im Einzelbewußtsein manifestiert« (GS VII 285). Wenn nun davon ausgehend dem begrifflich hergestellten Strukturzusammenhang ein »Realzusammenhang« unterlegt wird, dann führe dies mangels »Sichhineingraben in die angegebenen Wirklichkeiten durch fruchtbare historische Begriffe« zum »Tod der Geschichte« (GS VII 285). Dies wäre allerdings ein guter Grund, warum Dilthey den Begriff der Stimmung nicht zu einem historischen Begriff auch theoretisch erklärt. Könnte doch sein kollektiver Gebrauch (Stimmung der Zeit, Nation, Generation) als die verwerfliche »Überschreitung« missverstanden werden, »welche den Zusammengehörigkeiten historischer Art in irgendeinem Sinne reale Subjekte unterlegt, anstatt sie als logische Subjekte zu Trägern von Aussagen zu machen, welche von denen der Einzelpsychologie unterschieden sind« (GS VII 285).

Jedoch dürfte jedem, der »Zusammengehörigkeiten historischer Art« mit Zeitstimmung oder Zeitgeist namhaft macht, klar sein, dass deren Subjekt kein empirisches, sondern ein logisches, namentlich als Träger historiographischer Aussagen ist. Hat Dilthey hier auf dem Hintergrund der transzendental-, geistund geschichtsphilosophischen Tradition Vorsicht walten lassen und der Gefahr eines Wörtlichgenommenwerdens der uneigentlichen Rede (von Stimmung

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Zeitstimmungen und Geschichtsdenken

einer Zeit, Nation, Generation) vorbeugen wollen? Dagegen spricht seine Expertise als Literaturhistoriker, dem die weitgehend unproblematische Rezeption von sprachlicher Figuralität vertraut ist. Zudem dürfte ihm die verbreitete Metaphorizität in den Naturwissenschaften bekannt gewesen sein. Dies könnte indes auch eine Warnung davor gewesen sein, dass oft genug die Verwendung von sprachlichen Ausdrücken im übertragenen Sinn, wie sie in Beschreibungen von Beobachtungen, Auswertungen von Experimenten und Theoriebildungen vorkommen, zur Identifikation von erklärendem Modell und wirklicher Welt führen. Indes spricht am stärksten gegen eine bloße Vorsichtsstrategie Diltheys bezüglich einer Theoretisierung von Stimmung als historischem Begriff, ihre auffällig häufige und vermeintlich unbedenkliche Verwendung in seinen eigenen literarhistorischen Studien und der Weltanschauungsphilosophie, wie wir sie diskutiert haben (Kap.II). Sodann haben wir mit Blick auf »schaffende Stimmungen« (Kap.V,2) deren phänomenologischen Aspekt innerhalb der Poetik erörtert und dabei den Beginn von Goethe und die dichterische Phantasie zitiert. Darin zeigte sich, dass Dilthey zusammen mit dem Stimmungsbegriff tatsächlich jene Verstehensfiguren (Teil/Ganzes, Leben/Milieu, Zusammenhang/Ausdruck u. a.) in der Literaturgeschichtsschreibung anwendet, die wir oben aus dem Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften analysiert haben. Da ist Poesie »Ausdruck des Lebens«, sie »stellt die äußere Wirklichkeit des Lebens dar« und diese zugleich als die Gegebenheit des »Milieus« (ED 126). Das »Selbst« als »Gefühl meines Daseins« erscheint als Effekt dieses Milieus, insofern es die Realität als ganze figuriert, von der »Druck«, formende »Kraft und Daseinsfreude« zugeführt werden (ebd.). Dass ein gegebenes Milieu als räumlichformende Stimmung aufzufassen ist, verrät die atmosphärische Formulierung, dass in ihr »jedes Ding und jede Person […] eine eigene Kraft und Färbung« empfangen (ebd.; cf. Kap.V,2). Dass Stimmungen keineswegs nur die Realität des Milieus unter bloß ästhetischem Aspekt reflektieren, sondern für dieselbe von konstitutivem Charakter sind, zeigt sich auf der nächsten Seite, wo es von ihnen heißt, dass sie »alles Wirkliche um[schaffen], Bedeutung und Gehalt von Situationen und Dingen« betreffen (ED 126). Der solchermaßen philosophisch erweiterte Stimmungsbegriff wird an dieser Stelle auf Goethe bezogen, der für Dilthey den Fall des Genies exemplifiziert. Bei diesem bringt die poetisch schaffende Stimmung historisch repräsentative Objektivationen hervor, die als solche das typologisch höchste Entwicklungsstadium von ›Ausdruck‹ darstellen. In künstlerisch elaborierter Form ist solcher Stimmungsausdruck aber nicht nur der geisteswissenschaftliche Erkenntnisgegenstand des praktizierenden Literaturhistorikers. Vielmehr macht er in der Hermeneutik und zugleich der Geschichtswissenschaft, wie sie sich in der Perspektive ›historischer Vernunft‹

Das Konzept der Stimmung im Denken von Geschichte

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darstellen, den Gegenstand des Verstehens auch theoretisch greifbar, ohne dass Dilthey dies explizit und auch wohl sich selbst nicht hinreichend klargemacht hat. So lassen sich der Historiker und der Philosoph Dilthey ›gut-hermeneutisch‹ besser verstehen als diese sich selbst: nämlich indem deren geschichtsphilosophisches Selbstmissverständnis, Geschichte als Ausdruck des Menschen und letzteren zugleich aus der Geschichte verstehen zu wollen, einer theoretischen Klärung durch die Bedeutungsentfaltung des ästhetischen Stimmungsbegriffs zugeführt wird.

Schluss

1.

Fazit

Einen Ausgangspunkt unserer Untersuchung bildete Diltheys häufige Verwendung des Wortes ›Stimmung‹ sowie der Komposita Lebens-, Grund- oder Totalstimmung. In Abgrenzung von der selbstbezüglichen »Kathederphilosophie« des 19. Jahrhunderts, aber auch vom seinerzeit »herrschenden Kant-Kultus« wendet sich Dilthey gegen zu eng gefasste Rationalitätskonzepte und überzogene Erwartungen an die Leistungsfähigkeit empirisch verfahrender Vernunft (GS VIII 175, 194). Diese skeptische Grundhaltung zeigt sich an der philosophischen Aufwertung der Begriffe Leben, Erleben und Erlebnis. Deren Verwendung soll nach Dilthey dazu dienen, so können wir jetzt sagen, empirische um historisch vergleichende Aspekte der methodischen Erkenntnis zu ergänzen (cf. GS VIII 232f.). Denn diese Lebensbegriffe weisen über die bloße Subjektivität des Erlebenden auf den »Zusammenhang des Lebens und der Welt« (GS VIII 168) hinaus. Einerseits konkretisieren sie den Erfahrungszusammenhang einer historischen Wirklichkeit in ästhetischen Objektivationen, andererseits erweitern sie die Grenzen des vom Verstand kontrollierbaren Bereichs um vorwissenschaftliche Erfahrungsmomente. Wie andere, unter dem Begriff Lebensphilosophie versammelte Denker (Schopenhauer, Nietzsche, Bergson, Simmel, Klages, Spengler, Keyserling, Ortega y Gasset), sucht Dilthey nach beweglicheren Begriffen zur Bestimmung der »flüssigen Übergänge« (GS VIII 170) zwischen individuellem und kulturellem Leben, zwischen der Geschichtlichkeit psychischer- und sozialer Strukturformen, zwischen literarischer Hermeneutik und historischer Anthropologie. Zwar blieben die Begriffbestimmungen der ›Grundstimmung‹, ›Lebensstimmung‹ und ›Gemütsstimmung‹ auf vorsystematischen Ebenen stecken, insofern es zunächst um eine psychologische Durchdringung ehemals metaphysischer Schichten des Philosophierens ging. Jedoch führt die Subjektivität der Stimmung (Gemütsverfassung, Gemütsvorgang) die ästhetische Hermeneutik an die Schnittstelle zwischen historischer Persönlichkeit und Epoche, zwischen psy-

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Schluss

chischer Singularität und gesellschaftlicher Formation heran. Mit dem ästhetischen Stimmungsbegriff lässt sich Diltheys historischer Erkenntnisbegriff des Strukturzusammenhangs insbesondere hinsichtlich seiner ganz unmetaphysischen Lebendigkeit besser verstehen: »So macht dieser Strukturzusammenhang, als eine einheitliche Kraft, dies Wort ohne jede metaphysische Substantialisierung genommen, den lebendigen Wirkungszusammenhang innerhalb des Seelenlebens und der geschichtlichen Welt wenigstens innerhalb eines gewissen Umfangs verständlich« (GS V 238). Mit ihrer Funktion der Erhellung geschichtstheoretischer Begriffe markiert die von Dilthey unsystematisch verwendete Stimmung die systematische Stelle, an der die das Frühwerk noch weitgehend bestimmende Psychologie als epistemologischer Begründungsansatz abgelöst wird von einer Anthropologie, die anstelle von biographischer die historische Rekonstruktion des Wirklichkeitszusammenhangs anstrebt.214 Stimmungen avancieren zu einer Art transitorischem Ort, an dem die Grundbedingungen für spezifische Weltbezüge erkennbar werden – seien diese in einem individuellen oder kollektiven Imaginären verwurzelt. Entsprechend deutet Dilthey Stimmungen in der Literatur- und Philosophiegeschichte als Objektivationen des persönlichen wie des zeitgeschichtlichen Lebens, d. h. als ästhetische Verarbeitungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit einer Epoche. Ohne es begrifflich explizit zu machen, fungieren Stimmungen bei Dilthey als das Hegelsche Medium einer »volle[n] wirkliche[n] Intelligenz« eines ebenso lebenswie gattungsgeschichtlich zu verstehenden Subjekts. Diese gleichermaßen individuelle wie kulturelle »Intelligenz« einer Totalstimmung übersetzt den »geschichtlichen Vorgang der Abstraktion«, aus dem »sich das abstrakte Denken, Erkennen, Wissen« bildet, in die konkrete »Wirklichkeit« von »Lebensakten« zurück, »welche alle auch die Seiten des Willens und der Gefühle haben« (GS VIII 176). Für diese implizite Stimmungskonzeption nahm Dilthey zunächst von Kant den transzendentalphilosophischen Grundlegungsanspruch auf, dessen Explikation durch das Gefühl der Stimmung als Zusammenwirken der Gemüts- bzw. Erkenntniskräfte geleistet wird. Anders als Kant ging es Dilthey dabei nicht mehr 214 Dies lässt sich schon aus Diltheys Nachlass-Notizen in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erkennen, die auf eine Revision der wissenstheoretischen Fundierung der Geisteswissenschaften bezogen sind. In Diltheys Nachlass, Kladde 145, heißt es etwa zur Philosophie als Theorie des Wissens: »Das einzelne individuell geartete Seelenleben in seiner Entwicklung bildet den Stoff der psychologischen Forschung, ihr nächstes Ziel ist aber die Feststellung des Gemeinsamen in diesem Leben der Individuen« (12). Dieses Gemeinsame sucht Dilthey nicht mehr wie die Psychologie im psychischen Apparat und dessen Mechanismen, sondern im Leben der Individuen als historischer Strukturzusammenhang ihres Erlebens von Realität.

Fazit

221

um die allgemeingültige Mitteilung ästhetischer Urteile, sondern um eine prätranszendentale Grundlegung der Stimmung als eine ihrerseits geschichtliche Möglichkeitsbedingung für Weltanschauungen, Religionen oder Kunstwerke. Die Ansätze zu einer Kritik der historischen Vernunft haben allerdings zu keiner Klärung zwischen transzendentallogischem Begründungsanspruch einerseits und dem Theorem konsequenter Geschichtlichkeit andererseits geführt. Von systematischer Inkonsistenz bleibt auch Diltheys methodologisches Denken behaftet, wo es die Spannung zwischen psychologischer Erklärung und hermeneutischer Konzeptualisierung des Verstehens zu lösen versucht. Gleichwohl kam dabei der strukturell geschichtliche Grundzug von Stimmungen zum Vorschein, der zwischen dem »Verständnis fremden Seelenlebens« und dem »Verstehen in der Hermeneutik« vermittelt (GS VIII 178). Dieser Grundzug stimmt unter phänomenologischem Aspekt mit dem ephemeren Charakter von Stimmung überein, welcher die »Wirklichkeit […] unter wechselnde[n] Beleuchtungen vom Innenleben her« (GS V 378f.) erscheinen lässt. Dass sich auf eine solche Stimmung in ihrer flüchtigen Wandelbarkeit keine rational konsistente Erkenntnistheorie bauen lässt, musste auch Dilthey einsehen. Allerdings ist nur die Gefühlsqualität der solchermaßen geschichtlich offenen Stimmungen variabel und ihr Nuancenreichtum inkommensurabel. Nicht jedoch steht ihr kontinuierliches Vorhandensein im psychischen Erleben überhaupt in Frage; wie ja auch die Schwierigkeit, Stimmungen im sozialen oder kulturellen Raum empirisch und nicht nur statistisch zu erfassen, keineswegs zur Leugnung ihres Vorhandenseins führt. Entsprechend haben wir gesehen, dass Dilthey sowohl seine Theorie als auch seine Praxis der Hermeneutik nicht auf das Individuelle einer historischen Person, sondern auf das Besondere von deren phänomenologisch aufgefasster Individualität als einem anthropologisch verallgemeinerten Strukturzusammenhang des Seelenlebens einer historischen Zeit gründete. Für das in der elementaren Verbindung von subjektivem Erleben und objektivem Geist wurzelnde Verstehen ist nicht das Wie-Gestimmtsein, sondern ein Dass-Gestimmtsein maßgeblich. Erst die vom Konkreten, Einzelnen und Situativen abstrahierende Stimmung und umgekehrt die das Allgemeine, Gesellschaftliche und Zeitbedingte hinreichend konkretisierende (Stimmungs-) Erlebnis könnten zusammen zum kategorialen Aufbau einer geisteswissenschaftlichen Methodik beitragen. Denn nur die ontologisch und ästhetisch gedachte Geschichtlichkeit von Stimmung als einem generalisierten Erfahrungsmodus von ›Erlebnis‹ oder ›Leben‹ wäre nicht vom Perspektivismus jeweiliger Befindlichkeit und der Kontingenz alles Historischen überschattet. Deshalb sprach Dilthey von ›universalen Lebensstimmungen‹ als einem komprehensiven Strukturprinzip, das die Mannigfaltigkeit der Selbst-Welt-Beziehungen als elementarästhetische Einheit erfahrbar macht. Durch »unsere Stimmungen dem Leben gegenüber« (GS VIII 81; cf. DM 93)

222

Schluss

erhält dasselbe sein Medium, durch welches es sich ursprünglicher selbst versteht, als es etwa der Hegelsche Geist vermochte. Obwohl Dilthey also die kohärenzstiftende und auch mediale Basisfunktion der Stimmung vermerkte, arbeitete er diese nicht zu einem tragfähigen und expliziten Konzept oder auch nur zu einer seiner ›Lebenskategorien‹ aus. Stattdessen hielt er sich in seiner Erlebnishermeneutik wie auch in seiner Poetik an die programmatische Vorgabe, das Leben aus ›dem Leben selbst‹ zu verstehen noch dort, wo die Abstraktheit des Lebensbegriffes der Sache nach von der Stimmung in konkrete Ganzheitserfahrung überführt wird: »Von einem Lebensbezug aus erhält das ganze Leben eine Färbung und Auslegung in den affektiven oder grüblerischen Seelen – die universalen Stimmungen entstehen« (GS VIII 81; Hvh. St.H.). Zur semantischen Ambiguität und doch zugleich auch kognitiven Potenzialität von Diltheys Stimmungsbegriff trug weiterhin die Grundtendenz seines hermeneutischen Denkens bei, in dem ihm übergeordneten Begriff des Lebens individuelle sowie kollektive Erfahrungen zu vereinen (Kap.VII). Im Lebensbegriff sollten schließlich der subjektive und objektive Geist ohne geschichtsphilosophischen Absolutheitsanspruch und mit dem ontologischen Index des Werdens zusammengeführt werden. Dies trug dem ohnehin vagen Konzeptrahmen von ›Erlebnis und Stimmungen‹ eine dynamische Geschichtlichkeit ein, die sich in letzter Konsequenz schlecht mit vereinheitlichenden Färbungen hin auf ein Lebensganzes vertrugen. Der systematische Riss, der sich durch Diltheys Theorieversuch einer erkenntniskritischen Grundlegung der Geisteswissenschaften ging, zog sich auch durch seine Idee der Stimmung. Die ungelösten Probleme von Diltheys lebensphilosophischem Verstehenskonzept ergaben sich letztlich aus dessen ausgeweitetem Anspruch auf eine methodische Grundlegung von historischer Erkenntnis überhaupt. Sie zeigten aber auch in seiner Poetik die fragile theoretische Belastbarkeit von Begriffen wie Erlebnis, Lebensgefühl oder Grundstimmung, wenn diese außerhalb idealistischer Ästhetikkonzepte, die den Gegenstand ihrer Reflexion selber hervorbringen, systematisch zum Zug kommen sollen. Wie unsere Auseinandersetzung mit Diltheys Poetik samt ihrer Ausführung in Das Erlebnis und die Dichtung gezeigt hat (Kap.V–VI), lässt sich das hermeneutische Potential solch rational ungreifbarer sowie semantisch nicht fixierbarer Phänomene besser und vielleicht nur im ästhetischen Verstehen derjenigen Ausdrucksformen entfalten, in welchen sie sich objektivieren. Dort aber sind sie transzendentallogischen und epistemologischen Zugriffen im Namen wissenschaftlicher Verallgemeinerung weitgehend entzogen. Daraus ließe sich für heutige Theorien der Stimmung und des Erlebnisses lernen, dass Ansprüche methodologischer Konzeptualisierung zurückzuschneiden wären auf eine Systematik und Pragmatik historischer Untersuchungen, in denen die Thematik, Rhetorik, Repräsentation, Medialität, Phänomenologie oder Kognitivität von Stimmungen in Literatur, Kunst, Musik,

Fazit

223

Architektur, Theater, Tanz oder Film den Gegenstand bilden. Wenn es dabei primär um künstlerisch-expressiv erzeugte Einsichten und allenfalls sekundär um wissenschaftstheoretisch reflektierte Wahrheiten geht, so kann die Forschung zu Ästhetiken der Stimmung und des Erlebens der kulturhistorischen Rekonstruktion der europäischen Wissensgeschichte innovative Impulse geben. Stimmungsforschung kann ausgehend von Dilthey jene seit Kants Bereichsarchitektonik verdeckte Verbindung restituieren helfen, die zwischen dem faktischen »Zusammenhang des eigenen Bewußtseins« und dem wahrnehmungssinnlichen »Zusammenhang des Wirklichen« besteht (GS VIII 184). Dilthey selbst macht diese auch im Sinne Kants genuin philosophische Vermittlungsleistung im Namen des »einheitliche[n] Mensch[en] (Wirklichkeitserkenntnis, Wertbestimmung, Zwecksetzung)« (GW VIII 180) allerdings nicht mit dem Begriff der Stimmung namhaft. Stattdessen spricht er von einer Bindung »an den in der Lebendigkeit der Person enthaltenen Zusammenhang« und konstatiert: »Hinter das Leben kann das Erkennen nicht zurückgehen, d. h. es kann keinen Zusammenhang machen, der nicht in der eigenen Lebendigkeit gegeben ist« (GW VIII 184). Diese epistemologisch aufgeladene Lebendigkeit kann von der Forschung heute, namentlich im Anschluss an Heideggers fundamentalontologische Platzierung existenzialer Befindlichkeit und an das Raumdenken der Neuen Phänomenologie, als Stimmung identifiziert werden. Denn bereits Diltheys (vor)phänomenologische »Philosophie der Selbstbesinnung oder des Lebens« erkennt in der Stimmung eine »psychophysische Lebenseinheit« (GW VII 86, VIII, 179, 182). Lokalisiert in einer protostrukturalen Schicht, konfundieren in der Stimmung formalästhetische Eindrücke und Willensimpulse mit epistemischen und historischen Lebensbezügen (Kap.V). Daraus entsteht im universalen Zuge des Geschichtsverlaufes der »Zusammenhang, der in der Struktur des Menschen gelegen, nun auch die Struktur eines Zeitalters ausmacht« (GS VIII 180). Allerdings bleibt der hermeneutische Zugriff auf den ›psychischen Strukturzusammenhang‹, wie er Dilthey über biographische oder andere historische Zeugnisse ohne weiteres zugänglich schien, unter wissenschaftstheoretischem Aspekt problematisch. Allein Stimmungen in der Kunst, wie sie sich als gestalteter Gehalt etwa eines literarischen Werkes rezipieren lassen, kann als ein Gegenstand untersucht werden, der den objektiven Weltbezug individueller oder kollektiver Subjekte darstellt. Nicht Erlebnisse eines Autors oder einer Autorengruppe, nicht die »Bewußtseinsstellung« (GS II 315) einer Weltanschauung oder gar der Geist einer Epoche können im Anschluss an unsere Relektüre Diltheys direkt erfasst werden (Kap.VII). Dies kann nur approximativ, durch Abgleichen mit diskushistorisch breitgestreutem Quellenmaterial und mit dem Fokus auf ästhetische Stimmungsanalysen methodisch kontrollierbar geschehen.

224

Schluss

Unsere versuchsweise Substitution von Diltheys Lebenskategorie der Bedeutung durch ›Stimmung‹ hat deutlich machen sollen (Kap.III–IV), dass diese als Analysekategorie für ästhetische Phänomene zu leisten vermag, was jene nur um den Preis des Ausfalls einer hermeneutiktauglichen Bedeutungstheorie zu Stande bringen sollte. Namentlich strukturale Verhältnisse (Teil-Ganzes), phänomenologische Beziehungsbewegungen (Zeitlichkeit/Topologie) oder die antizipierte Einheit offener Prozesse (Lebensverlauf) können anhand des ästhetischen Begriffes der Stimmung besser expliziert werden als mit einem von Sprachlichkeit abstrahierten Begriff der Bedeutung im Diltheyschen Sinne von Lebensrelevanz. Unsere kritische Auseinandersetzung mit Diltheys Hermeneutik hat zu dem produktiven Befund geführt, dass durch die Theoretisierung von Stimmung ein den rationalen Verstehensvollzügen ansonsten unzugängliches Terrain einsehbarer wird. Namentlich jenes für künstlerische Praktiken fundamentale Gebiet, auf dem die protoästhetischen Prozesse ablaufen, wo Dimensionen von Raum und Zeit imaginativ erfahren werden und sich zu generativen Perspektiven auf transitorische Kohärenz und relative Einheit hin dynamisieren (Kap.III). Ein kritischer Abstand zu Dilthey hat sich dadurch verdeutlicht, dass für den heutigen Methodenstandard in Lebenswerken durchgestimmte Selbst-Welt-Bezüge weder theoretisch noch psychologisch einfach gegeben und einfühlungshermeneutisch nachvollziehbar, sondern nur sprachlich dargestellt und poetologisch wirksam sind. Stimmungen können als Konkretionen von Figuren oder Räumen, als Selbstentfaltung von existentiellen oder interpersonalen Konstellationen, als Ganzheitswahrnehmung von Gefühlslagen oder Situationen sowohl zur Subjektseite als auch Objektseite hin literarisiert oder anderswie künstlerisch gestaltet sein. Zum einen wären sie als dargestellte manifest auch mit Dilthey als »Stimmung[en] des Menschen gegenüber dem Zusammenhang der Dinge« (GS V 379) oder als subjektive »Stimmungen dem Leben gegenüber« (GS VIII 81) interpretierbar. Zum anderen kann über Dilthey hinausgehend ihre textuell oder auch kompositionell organisierte Bedeutung aufgewiesen werden in der sozialen Räumlichkeit einer »gegenständlichen Stimmung«, der kulturellen »Situation« des »Daseins« oder als eine in objekthafter »Anschauung […] lebendige, die Anschauung erfüllende und gestaltende Stimmung« (GS VI 131). Während Diltheys Stimmung vom Erleben einer historischen Persönlichkeit, der Lebendigkeit des individuellen Erlebnisausdrucks und von der Unmittelbarkeit des sich verstehenden Lebens her zur Kategorie des Verstehens aufsteigt, kann Stimmung heute nur als Disposition zu einem Verstehen aufgefasst werden, welches zumindest mit dem Eigensinn ästhetischer Gebilde rechnet. Insbesondere innerhalb der Theorie und Praxis der Interpretation, wo elementarästhetische Subjektivität oder Objektivität in künstlerischer Vermittlung den Gegenstand von Untersuchungen bilden. Auch wo Dilthey Stimmung als einen ganz-

Fazit

225

heitlichen Weltbezug des Kunst Schaffenden ins Auge fasst, der von außen her »alle Vorstellungen sich zu unterwerfen [strebt]« (GS VI 147), muss solcher Weltbezug heute durch ästhetische Objektivität mit epistemischer Dimension gegenständlich vermittelt sein. Es kann z. B. die kognitiv relevante Stimmung in der Literatur – wie diese selbst – als anthropologisches Phänomen, als Form vorwissenschaftlicher Selbstverständigung oder als protoreligiöse Weltbeziehung thematisiert werden. Etwa in Hinsicht auf individuelle und kollektive Befindlichkeiten in geschichtlichen, respektive fiktiven Zusammenhängen, auf Integrations- oder Zerfallserfahrungen von Wirklichkeit; hinsichtlich der Realität oder Surrealität des Erlebens, der vorgängigen Einheit oder Irre eines Lebensverlaufs oder hinsichtlich der räumlich-zeitlichen Strukturbewegungen in der ästhetischen Konstituierung von Wahrnehmung oder Bedeutung. Unserem von der Poetik auf Das Erlebnis und die Dichtung verlängerten Blick hat sich eine Verdoppelung von Diltheys subjektlogisch konzipierter Stimmung gezeigt, indem deren produktionsästhetischer um einen rezeptionsästhetischen Aspekt ergänzt wurde. Zwar ging es auch in Diltheys philologischer Praxis um den verstehenden Nachvollzug von ästhetischem Ausdruck in historischen Kontexten, jedoch musste dafür der theoretisch nachgeordnete ästhetische Eindruck berücksichtigt werden (Kap.V). Einmal zur Erklärung des Schaffens des Künstlers auf der vorgängigen Basis empfangener Eindrücke, ein zweites Mal zur Erklärung der Wirkung von Dichtung und Musik auf den Leser oder Hörer. Die poetische, respektive musikalische Stimmung ist es, aus welcher heraus künstlerische Schöpfung anhebt, welche sich im Werk manifestiert und welche im Rezeptionsprozess nachgebildet und als ästhetischer Eindruck nachempfunden wird (Kap.VI). Diese die produktions-, werk- und rezeptionsästhetischen Perspektiven vereinende Stimmung bleibt auch für deren literatur-, musik- und kunstwissenschaftliche Neukonzeption von heute anschlussfähig. Allerdings muss dazu folgendes bedacht werden: erstens, dass bei der Transposition aus einem psychischen Aggregatzustand in den anderen die Stimmung sich wandeln kann – zumal zwischen Individuen und erst recht bei solchen aus historisch und kulturell differierenden Kontexten; zweitens, wie die vorübergehend materialisierte Konstitution der Stimmung im symbolischen Prozess überhaupt zustande kommt; und drittens, dies in einer solchen Weise erfolgt, die sie im Wechsel der systemischen Milieus zwischen Psyche und Kunst noch als dieselbe Stimmung (wieder)erkennbar bleiben lässt. Denn bei Dilthey ist problematisch, dass er Stimmung auf ihrer Wanderung aus dem Seelenzusammenhang des Künstlers in den Werkzusammenhang und schließlich in den Seelenzusammenhang des Rezipienten als mit sich identisch bleibend vorstellte. Dies ist umso erstaunlicher, als dass er das ›Getriebe‹ seelischen Lebens ebenso ganzheitlich wie mannigfaltig auffasste und im fortlaufenden Eindruck neuer Empfindungen die permanente Transformation von Vorstellungen, Gefühlen

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Schluss

und Stimmungen betonte, wenn auch mit unterschiedlichen Zeitmaßen derselben. Den Grund für Diltheys beiläufig gehaltene Annahme einer in sich stabilen Transmission von identischen Stimmungen haben wir in seiner Konzeption des Bildvorgangs nach dem Schema der Repräsentation gefunden (Kap.VI). Danach betrifft die Metamorphose der Bilder bei ihrer Übertragung zwischen Wahrnehmung und Vorstellung, Außen und Innen, Seele und Dichtung sowie im ästhetischem Ausdruck und Eindruck nur ihr Repräsentationsformat, nicht aber ihren Stimmungsgehalt. Das relative Eigenleben der Bilder im Zeichenspiel der poetischen Sprache verkannte Dilthey ebenso wie die differentielle Spannung, welcher die Stimmungen im ästhetischen Medialisierungsprozess insgesamt ausgesetzt sind. Dies ist der theoretische Preis, der für den Gewinn einer psychologisch-anthropologischen Explikationsbasis zu entrichten war. Dadurch blieb Diltheys Stimmungsbegriff doch wieder in einem Subjektdenken befangen, dessen transzendentallogischen, metaphysischen und empiristischen Fallstricken er doch durch eine Verlebendigung philosophischer Erkenntnis zu entkommen glaubte. Nämlich indem er dieser, wie auch der Erklärung der Poetik und der geschichtlichen Erfahrung in den Geisteswissenschaften, den »ganzen Menschen [als] dies wollend fühlend vorstellende Wesen« zugrunde legte (GS I, Seite XVIII). Dieser auch von der sich bald darauf entwickelnden Phänomenologie ausgemachte Ansatzpunkt wurde von Dilthey begrifflich besetzt mit dem ›Erlebnis‹, welches – wie die Stimmung – dem für Erkenntnis grundlegenden Auseinandertreten in Subjekt- und Objektsphäre vorausliegt. Dennoch wurde die Stimmung zusammen mit dem Erlebnis durch die psychologische Grundlegung dann im theoretischen Umkreis von Subjektivität zentriert, während das Feld der Objektivität zur Darstellungsebene des Erlebnisausdrucks und Übertragungsfläche für mentale Stimmungsbilder schrumpfte. Wie Dilthey den Begriff Leben und mit ihm den der Stimmung emphatisch erfahrungsnah wie auch als zur überindividuellen Sphäre des Geschichtlichen gehörig dachte, so komplex und abstrakt begründete er sie als Struktur und führte sie kategorial ins Psychologische zurück. Heute hingegen zielt die ästhetiktheoretische Revision der Stimmung, insofern sie deren Funktion für die Literatur diskursiviert, auf deren phänomengerechtere Platzierung auf den schwellenartigen Übergängen zwischen Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Selbst und Welt.215 Dadurch kann die bei Dilthey im Anschluss an die idealistische Einheitsformel von der Innen-Außen-Vermittlung in ihrer ästhetischen Bedeutung verkannte Stimmung auch ontologisch ernst genommen und innovativ gefasst werden. Insofern sie nämlich weder auf die 215 Hajduk (2016); aus diesem Buch sind theoretische Einsichten ins vorliegende Fazit in revidierter Form eingearbeitet (cf. dort die Seiten 61–67).

Fazit

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eine, noch die andere Seite gehört, und als die Insistenz eines dritten Gliedes die disjunktive Zweigliedrigkeit der überlieferten Ontologie und Epistemologie hinter sich lässt. Als lebendige Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Natur, Selbst und Welt, Seele und Realität oder zwischen Ich und Milieu ist die Stimmung also nicht nur das Medium einer wie auch immer ›lebendigen‹ Selbstverständigung des Subjekts mit sich oder eines Verstehens des Lebens aus ihm selbst. Vielmehr kann die ästhetische Stimmung als ein solches Medium aufgefasst werden, das existentielles Verstehen mit materiellem Darstellen zu einem ko-intelligenten Verfahren verbindet. Darin deckte sich das Stimmungsmedium mit der weder vorgängig seienden noch logisch nicht-seienden Figur eines Dritten, welche die hermeneutischen und ästhetischen Prozesse aus ihrem subjektivistischen Selbstrekurs ebenso herauslöst, wie es sie vor objektivistischer Illusionierung bewahrt. Denn wie die topologische Bahnung etwa auf der Oberfläche eines Möbiusbandes216 bewegt sich ästhetische Stimmung stets auf der Innenseite, deren Außenseite sie konstitutiv verwindet. Die Alternative zu Diltheys Verständnis von Dichtung, Kunst oder Musik als Ausdrucksformen für künstlerisches Schaffen ist nicht deren konzeptuelle Fetischisierung zum autonomen Material. Das Primat des Subjekts kann nicht einfach zum Primat des Objekts verkehrt werden, um aus Diltheys poetischer Imaginationsanthropologie eine autopoetische Stimmungslogik zu machen. Auch darf die phantasmatische Dichte der Innerlichkeit keineswegs ins delirante Offene eines allzuständigen Außen extrovertiert werden. Vielmehr kann an der Stelle von Diltheys festen Kausalbeziehungen zwischen Seelenstoff und Sprachform, welche das Erlebnis zum Ausdruckmedium im Sinne eines psychischen Vehikels machten, die ästhetische Stimmung selbst etabliert werden. Nämlich als Wahrnehmungs- und Darstellungsmedium, welches gleichermaßen der Subjektivität wie der Sprachlichkeit, Bildlichkeit oder Musikalität angehört und diese künstlerisch als voneinander wechselseitig bedingt ausweist. Eine solche ästhetische Konzeption von Stimmungspoetologie überschreitet die zweiwertiger Logik folgenden Unterscheidungen wie Geist/Material, Seele/Form, Subjekt/ Objekt, Innen/Außen oder Ich/Milieu. Und zwar zugunsten einer Aufmerksamkeit für transsubjektive Spontaneitäten und damit für ein Verständnis von Information, die nicht Ausformierung der Einbildungskraft ist, sondern ereignishaft im Wahrgenommenen selbst steckt und von der poetischen Sprache prozessiert wird. Dass sich zur theoretischen Entfaltung einer solchen Ästhetik als tragender Begriff die Stimmung anbietet, liegt in dem mit diesem semantisierten Zusam216 Cf. zum raumtheoretischen Charme dieser und ähnlicher Illustrationsfiguren (cross-cap, Innenacht), freilich ohne Bezug zum Stimmungsphänomen, Lacans Thematisierungen derselben und deren Darstellung bei Wegener (2007, 235–250).

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Schluss

menhang von Grenzphänomenen begründet. Hinzukommen historische Gründe, nach denen die Entwicklung des Stimmungsbegriffes aus einem dezidiert ästhetischen Reflexionsbedarf erfolgte, wie er sich am Ende des 18. Jahrhunderts in der deutschen Literatur und Philosophie artikulierte. Während dort, zumindest in ihren poetischen Anfängen bei Herder und Goethe, die Stimmung sich noch ihrer Vereinseitigung entweder zu entziehen wusste oder aber die damit verbundenen Probleme sichtbar werden ließ, hat sich ihre seit der Romantik stärker subjektive Konzeptualisierung bei Dilthey ausgewirkt. Auch infolge von dessen wirkungsmächtiger Prominenz im poetischen Diskurs des 20. Jahrhunderts klang beim Gebrauch von Stimmung immer etwas von dem der Lebensphilosophie zugeschriebenem Irrationalismus oder doch metaphysischem Subjektivismus mit. Das hat schließlich eine Distanzierung und ein terminologisches Ressentiment der Literaturwissenschaften hervorgetrieben, das erst in der Forschung unserer Gegenwart abgearbeitet wird. Unsere Relektüre von Diltheys Hermeneutik und Poetik am Leitfaden von Stimmung und Erlebnis hat indes gezeigt, dass die zentrale Stellung des Stimmungsbegriffes nur aus seinen diskursiven Verfestigungen etwas gelöst werden muss, um für den aktuellen Stimmungsdiskurs anschlussfähig zu sein. Möglich ist dies dank eines Verzichts auf die psychologischen Grundlegungsabsichten, welche Dilthey die poetischen Stimmungen eng an die Einbildungskraft zurückbinden ließ, wie unsere Analyse seiner »Bausteine« gezeigt hat (Kap.VI). Messen wir Diltheys psychologischer Diskursivierung von Stimmungen, die vor allem zur methodologischen Begründung der Geisteswissenschaften gehört und ab 1900 auch darin gegenüber der historischen Hermeneutik zurücktritt217, nicht 217 Dilthey versucht psychologisches Missverstehen von dem selbst auszuräumen, was das »Innere« von Zusammenhängen, auch im Feld des objektiven Geistes, betrifft: »Hier ist es nun ein gewöhnlicher Irrtum, für unser Wissen von dieser inneren Seite den psychischen Lebensverlauf, die Psychologie einzusetzen. Ich versuche diesen […] Irrtum aufzuklären. […] Das Verstehen dieses Geistes ist nicht psychologische Erkenntnis. Es ist der Rückgang auf ein geistiges Gebilde von einer ihm eigenen Struktur und Gesetzmäßigkeit. […] Vor mir liegt das Werk eines Dichters. Es besteht aus Buchstaben, ist von Setzern zusammengestellt und durch Maschinen gedruckt. Aber die Literaturgeschichte und die Poetik haben nur zu tun mit dem Bezug dieses sinnfälligen Zusammenhanges von Worten auf das, was durch sie ausgedrückt ist. Und nun ist entscheidend: dieses sind nicht die inneren Vorgänge in dem Dichter, sondern ein in diesen geschaffener, aber von ihnen ablösbarer Zusammenhang. Der Zusammenhang eines Dramas besteht in einer eigenen Beziehung von Stoff, poetischer Stimmung, Motiv, Fabel und Darstellungsmitteln. […] So ist der Gegenstand, mit dem die Literaturgeschichte oder die Poetik zunächst zu tun hat, ganz unterschieden von psychischen Vorgängen im Dichter oder seinen Lesern. Es ist ein geistiger Zusammenhang realisiert, der in die Sinnenwelt tritt und den wir durch den Rückgang aus dieser verstehen« (GS VII 84). Grundlegungscharakter für die Geisteswissenschaften haben für den späten Dilthey also historische und ästhetische Analysen, nicht psychologische – geschweige denn naiv einfühlungspsycholgische. Cf. zu dieser werkgeschichtlichen Wende Harrington (2001, 316– 320).

Ausblick

229

mehr Bedeutung zu als ihr in dessen eigener deskriptiver Absicht zukommt, so drängt sich die Ergänzung des poetischen Stimmungsbegriffs durch denjenigen der Weltanschauungslehre auf. Von dieser epistemologisch und zugleich geschichtsphilosophisch reflektierten Seite her erhält Diltheys zunächst ästhetisch verfasste ›Stimmung‹ ihre historische Fundierung (Kap.II). Das heißt erstens begriffsgeschichtlich erhält sie eine Erweiterung zur denkgeschichtlichen Beschreibungskategorie; d. h. zweitens historisch-hermeneutisch wird sie zum Vermittlungsmedium zwischen dem psychischen Strukturzusammenhang eines Individuums und »der inneren Einheit in den Lebensäußerungen eines Zeitalters« (GS IV 165). Durch solche Öffnungen von ›Stimmung‹ hin auf räumlichzeitliche sowie kulturelle und mediale Phänomenstrukturen lässt sich das semantische Potential ihres Begriffes für historische und ästhetische Analysen gleichermaßen nutzen, wie sie für die gegenwärtigen Problemstellungen in den kulturanthropologisch und wissensgeschichtlich revidierten Geisteswissenschaften unverzichtbar sind.

2.

Ausblick

Das in der humanwissenschaftlichen Forschungsdiskussion mitunter immer noch vernehmbare und als solches in der Einleitung erwähnte Störgeräusch, das den Namen ›Dilthey‹ mitunter begleitet, verschwindet auch dann nicht, wenn das Stichwort historische, philosophische oder literarische ›Hermeneutik‹ fällt. Dies gilt zumindest dann, wenn mit Hermeneutik auch nach ihrer modernen Emanzipation nicht ausschließlich Verfahren einer allenfalls um profane Textauslegungen erweiterten Bibelexegese gemeint sind, sondern eine philosophisch reflektierte Verstehenslehre und literaturwissenschaftlich elaborierte Interpretationskunst. Dilthey hat dieser Entwicklung der Hermeneutik, nachdem er sie selbst zunächst bloß als Theorie von Interpretation oder Auslegung aufgefasst hatte, maßgeblich vorgearbeitet, sich selbst aber durchaus nicht als ›Hermeneutiker‹ verstanden. Diese Identitätszuschreibung konnte erst im Nachhinein erfolgen, speziell im Anschluss an die »hermeneutische Wende in der Philosophie« – so der Titel eines jüngst erschienenen Sammelbandes zur Diltheyforschung (Kühne-Bertram/Rodi 2008). Es liegt indes keineswegs an den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geführten Theoriedebatten über historische Hermeneutik218, wenn heute Dilthey gegenüber manchmal Unklarheit und mitunter Reserviertheit bestehen. Es ist 218 Siehe außer der Kritik an Dilthey, etwa vonseiten Gadamers oder auch Habermas’, die produktive und vielbeachtete Forschungsdiskussion, wie sie sich in den Kolloquien und Bänden der Gruppe von Poetik und Hermeneutik von 1963 bis 1994 artikuliert hat.

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Schluss

dies eher durch eine zwischen heterogenen Interessenslagen und wissenschaftsgeschichtlichen Filiationsansprüchen verfahrene Rezeption seines Werkes erklärbar. In der Auseinandersetzung um die Wissenschaftlichkeit akademischer Disziplinen bildete Diltheys Denken im 19. Jahrhundert – nach anfänglichen Neigungen zum Positivismus – ein Korrektiv, das zwischen dem subjektivistischen Pol der Idealismen auf der einen Seite, und dem objektivistischen Pol der Naturalismen auf der anderen Seite moderierte. Seine reflexive Vermittlungsarbeit setzte der Entwicklungsdynamik epistemischer Ausdifferenzierung in Subsysteme partikularen Wissens den ›ganzen Menschen‹ entgegen, wie er seit der Aufklärung zum Subjekt und zum Objekt von Erkenntnis sich erhoben hatte. Blicken wir auf die Thematisierung von Stimmungen bei Dilthey zurück, so setzt sie bei dieser zweifachen – um nicht zu sagen zwiespältigen – Positionierung des Menschen in einem reflexiven und zugleich vergegenständlichten Beziehungsverhältnis an. Seine doppelte Stellung zu sich und Einstellung zur Welt machte dem menschlichen Selbstverständnis seit der Auffaltung der neuzeitlichen Episteme zu schaffen, steigerte den philosophischen Reflexionsbedarf und führte schließlich zur Neuentdeckung prätranszendentaler Schichten der Wirklichkeitskonstitution. Unter diesem erkenntnistheoretischen und wissensgeschichtlichen Aspekt ihrer der Subjekt-Objekt-Dichotomie vorgelagerten Topologie kommt den Stimmungen neue Relevanz in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion zu, die im interdisziplinären Feld von Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaften geführt wird. Vor dem aktuellen Hintergrund dieser ästhetische, phänomenologische und psychologische Sachverhalte diskutierenden Forschung ist Diltheys Verwendung der Begriffe Stimmung und Erlebnis im doppelten Sinne von ästhetischer und zugleich historischer Extension zu begreifen. Ungeklärt bleibt bei Dilthey freilich, wie ästhetische und historische Erfahrung als zusammenhängend gedacht werden können oder müssen. Diesbezüglich scheint uns Diltheys Stimmungsbegriff – im welthaltigen Sinne mehr noch als der des ›Erlebnisses‹ – als eine experimentelle Art shifter zu fungieren. Das hieße auf vortheoretischem Niveau, dass ›Stimmung‹ durch ihre Bewegung Stellen der Inkohärenz (Subjektphilosophie) markiert und zugleich Hinweise gibt, woran das liegen könnte (terminologische Begriffsfixierungen), um sich selbst als Teil der Lösung (Geschichtsästhetik) und nicht als Teil des Problems (Kohärenzmangel) anzudeuten. Wir haben über diese nur vage andeutbaren Konturen eines Diltheyschen Stimmungskonzepts hinaus ansatzweise versucht, Diltheys Begriffsverwendung in ihren philosophie-, poetik- und werkgeschichtlichen Kontexten zu unterscheiden. Dabei war zu bemerken, wie Ansprüche an terminologische Konsistenz immer wieder der Suggestivkraft semantischer Integration hin auf eine »Wirklichkeit« zu weichen hatten, die der späte Dilthey als bezeichnend für »Totalität

Ausblick

231

der Menschennatur« (GS VIII 176) ansah.219 In einem phänomenologischen Sinne avant la lettre ist Diltheys fundamentalästhetischer Stimmungsbegriff der Welt als Vorläufer von Heideggers genuin philosophischem Stimmungsbegriff in Sein und Zeit (1927) anzusehen. In den Jahrzehnten nach seinem Tod (1911) wurde Dilthey aufgrund des Bucherfolges von Das Erlebnis und die Dichtung aber vor allem als Vorreiter der geistesgeschichtlichen Literaturwissenschaft gesehen oder auch vereinnahmt. Indes bewirkte in der Philosophie das vom Neukantianismus und Husserls Phänomenologie geltend gemachte Modell transzendentallogisch zu sichernder Erkenntnis zunächst eine Diskreditierung historischer Hermeneutik und philosophischer Anthropologie als Einfallstore für uferlosen Historismus und Relativismus, Skeptizismus und Subjektivismus. Gegenüber solcher Kritik sicherten schließlich Diltheys Schüler (Groethuysen, Misch, Frischeisen-Köhler, Spranger) nicht nur seiner späten Weltanschauungsphilosophie und deren Fundierung im geschichtlichen Bewusstsein wissenschaftliche Anerkennung. Vielmehr arbeiteten die Schüler Diltheys bei der beginnenden Herausgabe des Gesamtwerkes dessen gedankliche und teilweise auch begriffliche Kohäsion heraus, wie sie sich nicht zuletzt in expliziten Systematisierungsversuchen zeigte (cf. GS VIII, 176–184). Der sich kraft des Philosophems einer ebenso individuellpsychologischen wie gesellschaftlich-kulturellen Geschichtlichkeit entfaltende Einfluss Diltheys lässt sich bei Plessner, Marcuse oder Horkheimer, bei Heidegger, Gadamer oder Ricoeur, bei Bollnow, Habermas oder Krausser beobachten.220 Dabei vollzog sich diese bis in die Gegenwart reichende Wirkungsgeschichte überwiegend im doppelten Modus eines teilweisen Weiterführens, Ausbauens, Zustimmens oder Übertragens, sowie eines teilweisen Verwerfens, Einklammerns, Widerspruchs oder Abwandelns.221 Bis in die 1990er Jahre setzte sich überdies eine starke Konjunktur der Rezeption fort, die zumal im Umfeld der Edition der Gesammelten Werke (Rodi, Kühne-Bertram, Lessing, Scholtz), aber auch in Nordamerika (Makkreel, Grondin), in Südamerika (de Camargo Pacheco Amaral) und besonders in Italien (Cacciatore, Giugliano, Giammusso, Mezzanzanica) Dilthey als Philosophen zu etablieren suchte. Im Zuge dieser konstruktiven Wirkungsgeschichte wurden 219 Eine typische Formulierung aus dieser Zeit und in diesem philosophisch großzügigen Sinne lautet: »Nichts ist flüchtiger, zarter, veränderlicher, als die Stimmung des Menschen gegenüber dem Zusammenhang der Dinge, in dem er sich findet, die Vorstellungen, die in ihm über den Zusammenhang des Lebens und der Welt entstehen« (GS VIII, 168). 220 Dabei steht der Einfluss auf Heidegger, sicher auch wegen des starken Einflusses desselben seinerseits, im Zentrum des Interesses. Siehe zuletzt etwa Scharff (2013), Fagniez (2013), Makkreel (2004). 221 Siehe zur Diskussion der letzten Jahre unter wirkungsgeschichtlichen, wissenschaftstheoretischen und geschichtswissenschaftlichen Aspekten den Sammelband von Scholtz (2013).

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Schluss

nicht nur Vorwürfe wie der eines lebensphilosophischen Irrationalismus (Lukács bis Stegmüller) ausgeräumt oder doch in ihrer Polemik weitestgehend relativiert, sondern vor allem Diltheysches Denken ausgehend von seiner psycho- und phänomenologischen, wissens- und geschichtstheoretischen Informiertheit und Integrationskraft fruchtbar gemacht. Voraussetzung dafür ist ein Ausräumen des Vorwurfs, Dilthey habe eine naive Einfühlungshermeneutik vertreten. In diesem aktuellen Sinn steht Diltheys Rehabilitation auch im Zusammenhang des neuen wissenschaftlichen Interesses an Emotionen, Aufmerksamkeit und Empathie.222 Auch die für Diltheys historisches und ästhetisches Denken zentralen Begriffe Leben und Erlebnis finden weiterhin Beachtung, wo über wissenschaftstheoretische Grundlagen und deren bis in die Gegenwart ungelösten Krisenmomente nachgedacht wird.223 Die im Anschluss an seinen einhundertjährigen Todestag (2011) erschienenen Sammelbände (d’Anna u. a. 2013; Scholtz 2013) leuchten das weite Spektrum der jüngsten Forschung aus, in dem vor allem die wissenschafts- und geschichtstheoretischen Impulse von Diltheys Denken bis heute sichtbar sind. Darin machte Cacciatore (2013) die Behauptung Diltheys noch einmal deutlich, »dass im Leben der einzelnen Individualität immer ein Sinn des Daseins erkennbar ist, der sich in der Neigung zur Universalität und Einheit zeigt. Diese Neigung kann sich in religiösen und auch nur metaphysischen Inhalten zeigen, so wie sie sich in der Definition und der Bildung von Einzelwissenschaften einer Kultur und Geschichtsepoche ausdrücken kann. Welcher Weg auch immer zur Erfassung der Universalität oder Einheit führen mag, er wird immer mit der ›Stellung des Bewusstseins‹ verbunden sein, das heißt mit etwas, das immer endliche und relative Erscheinung der Lebenserfahrung ist« (69).

Diese Passage aus der jüngeren Forschung teilt mit unserem Anliegen die Fokussierung auf die für Diltheys Grundgedanken entscheidende Übergängigkeit, die Cacciatore mit ›Stellung des Bewusstseins‹ zitiert. Denn nur eine kognitiv um Emotion erweiterte Alternative zu diesem Ausdruck stellen ›Lebens- oder Grundstimmung‹ dar, wie unsere Ausführungen zu Diltheys Begriffsverwendung gezeigt haben (Kap.II). Auch wenn im Vergleich zum ›Bewusstsein‹ bei der ›Stimmung‹ die Drift auf ganzheitliche Wahrnehmung verstärkt ist, so bleibt deren ›Stellung‹ funktional dieselbe: nämlich zwischen zwei Strukturkomplexen zu vermitteln, die sich auf die Pole von Individuum, Seele, Persönlichkeit, Ich einerseits, von Gesellschaft, Kultur, Zeitgeschichte, Welt andererseits verteilen 222 Siehe übersichtlich dazu etwa Harrington (2001). 223 Siehe zum Erlebnis (engl. lived experience) z. B. Harrington (2001, 326); zum Begriff ›Leben‹ Kirsten Huxel (2004, 256f.); sowie von Gadamer her denkend und die Bezüge zu Dilthey genau entfaltend Krüger (2007, bes. 111f., 126–28, 176, 182f., 194, 214).

Ausblick

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und historisch wechselseitig aufeinander bezogen bleiben. Anders als für den (frühen) Dilthey der Einleitung in die Geisteswissenschaften (GS I), der nach einer methodologischen Begründungsmöglichkeit in deskriptiver Psychologie suchte, besteht für den (späten) Dilthey von Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (GS VII) die Grundlage geisteswissenschaftlicher Forschung im historischen Verstehen. Noch in der heutigen Forschungsdiskussion – auch wo Dilthey nicht erwähnt wird – stellt die Historisierung der Untersuchungsgegenstände eine methodologische Grundbedingung geisteswissenschaftlicher Erkenntnis dar. Scheinbar unbeeindruckt von den Theoriedebatten des 20. Jahrhunderts hat dieser epistemische Goldstandard sich durch die Konjunkturen der Ismen oder gar neuen paradigmatischen Wenden hindurch erhalten. Zumeist geht die Historisierung möglichen Wissens auf den Feldern der Philosophie und Philologie, zwischen denen Dilthey als ein Grenzgänger in aestheticis sich bewegt224, Allianzen mit bioanthropologischen bzw. kulturanthropologischen Fragestellungen ein. Dabei findet bis heute eine der systematischen Bedingungen der Möglichkeit von historischer Erkenntnis erstaunlich wenig Beachtung und noch weniger allgemeine Geltung, nämlich eine theoretisch belastbare Verbindung zwischen der Subjektivität individueller Geschichtlichkeit und der Objektivität sozialer Geschichtlichkeit (Kap.VI). Diese für Dilthey virulente Zusammenhangsfrage, namentlich zwischen psychischem und historischem Strukturzusammenhang, ist erst wieder seit der jüngsten, einmal mehr überraschenden Volte des Zeitgeistes in Form von (sub-) kultureller Identitätspolitik und digitalem Stimmungsmanagement auf die intellektuelle Tagesordnung gerückt.225 Damit aber teilt unsere Gegenwart eine Denkherausforderung mit Diltheys Gegenwart, dass nämlich die vergangenheitsbezogene Kulturanalytik und die gegenwarts- bis zukunftsorientierte Zeitdiagnostik gleichermaßen akuten Bedarf an flexiblen Formen des Verstehens von kollektiver Affektivität und historischer Subjektivität haben. Dass die Wechselbeziehung letzterer vor dem Hintergrund des ›Ganzen der Geschichte‹ wohl am ehesten über die Medialität ästhetischer Stimmungen konzipierbar ist, war Diltheys Intuition –, während sein Grundgedanke die Geschichtlichkeit als dynamischen Wirklichkeitszusammenhang erfasste. Zeitlebens suchte Dilthey nach Übergängen von der Lebensgeschichte des Einzelmenschen zur Weltgeschichte des Gattungsmenschen sowie umgekehrt 224 Dilthey besaß akademisches Vermittlungstalent, das ihn seinen Weg zwischen der seiner Zeit etablierten Universitätsphilosophie, der Geschichtswissenschaft und Germanistik finden und doch an Schleiermacher, Nietzsche und die Stimmungskultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts anschließen ließ (s. oben Kap. Einleitung). 225 In der Diltheyforschung hingegen ist dies nie aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verschwunden; siehe z. B. Cacciatore (2003).

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vom epochalen Kollektiv zum historischen Individuum – und erprobte sie in seinen geistes- und literaturgeschichtlichen Schriften. Dabei mag der mehr beiläufig markierte als explizit gemachte Ausgangspunkt seiner historischen Hermeneutik dasjenige sein, was bei Schleiermacher als »psychologische Gesamtwurzel« des geschichtsphilosophischen Prozesses erkannt wurde (GS VIII, 174). Sein eigenes psychologisches Ansetzen bei der persönlichen Zeiterfahrung – namentlich im doppelten Sinne einer zeitgeschichtlichen sowie zeitphänomenologischen Erfahrung – hat ihn zu einer Figur des Verstehens geführt, in der die Reflexion des Gewesenen mit der Antizipation des Künftigen miteinander verschränkt sind: »Der Verlauf der Zeit, der Lebenslauf ist das Verhältnis der Teile zu einem Ganzen« (VII 252). Lebensgeschichtliche Vergangenheit lässt sich danach als Teil des Lebens nur über dessen Bezug zum Ganzen des Lebensverlaufs verstehen und dadurch zugleich mit Bedeutsamkeit aufladen. Zugleich erschließt sich dieses Lebensganze als etwas Bedeutsames erst über die Antizipation des Zurückblickens auf das Leben von dessen vorgestelltem Ende her (Kapitel II). Diese Verstehensfigur wird dann bei Heidegger im existentialen Modus des ›Vorlaufens in den Tod‹ philosophische Prominenz erreichen, indem sie die temporalisierte Perspektivierung der Seinsgeschichtlichkeit vom ekstatischen Dasein aus ermöglicht. Bei dem in dieser Hinsicht als Vorläufer Heideggers zumeist unterschätzten Dilthey ist die hermeneutische Aktivierung eines imaginären Lebensganzen, das vom Schlusspunkt eines sich vorläufig noch zeitigenden Lebensverlaufes aus integriert wird, sowohl weniger abstrakt als auch weniger entwickelt. Konkreter als das spätere Denken der Seinsgeschichte226 ist Diltheys Denken von Geistesgeschichte unter ideen- und wirkungsgeschichtlichen Aspekten, ohne dabei politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Dimensionen auszublenden. Weniger entwickelt – und allenfalls implizit über die Affektdynamik weltanschaulicher Grundstimmungen begriffen – ist zugleich die geschichtstheoretische Übergängigkeit zwischen subjektivem und »objektivem Geist« (GS VII 148– 52), zwischen persönlicher und »kultureller Struktur« (GS VII 177, 180, 335, VI 230), zwischen individuellem und »collektivem Bewußtsein« (VII 262f.). Im Horizont persönlicher Erfahrung kann zwar die Ganzheit eines Lebens einschließlich seiner Selbstentwürfe und historischen Bedingungen als ein Strukturzusammenhang erschlossen werden. Problematischer ist dies jedoch hinsichtlich einer Ganzheit der überpersönlichen Kultur in deren historischem Prozesscharakter (Kap.VII). Das Ganze der Geschichte ist bei Dilthey auch nicht mit dem »von Hegel entdeckten Begriff vom objektiven Geiste« (GS VII 150) erfassbar, sondern bleibt in der Vielheit des subjektiven Geistes verstreut. Wenn die Erkenntnis des historischen Gegenstands schon nicht vollständig objekti226 Siehe zu Heidegger hier Sloterdijk (2016, 209–252).

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vierbar ist – so ließe sich Dilthey aktualisierend verstehen –, dann sollten ihre subjektiven Anteile wenigstens kenntlich gemacht und bewusst um spekulative Anteile ergänzt werden. Erst im epistemologischen Bund mit der Einbildungskraft kann die historische Vernunft die auf dem Feld der Empirie verstreuten Tatsachen ›einsammeln‹ (griech. legein). Dadurch kann historische Vernunft – so ließe sich Dilthey rückblickend zuendedenken – die im Sinne Kants vermögenstheoretisch kooperativ hergestellten Fakten (Kap.III) hermeneutisch lesbar machen. Für die epistemische Funktion einer Bündelung des im Modus der Faktenverstreutheit entzogenen Wissens standen Dilthey außer dem noch zu Lebzeiten zunehmend diskreditierten ›Geist‹ der Geschichtsphilosophie jedoch keine brauchbaren Begriffe zur Verfügung. Angesichts dieser Verlegenheit setzt Diltheys Suche nach beweglichen Begriffen ein, die für eine ästhetisch-epistemologische Kategorienbildung geeignet sein könnten (Kap.I). Deshalb haben wir die von Dilthey hierzu aufgebotenen Begriffe ›Erlebnis‹ und ›Stimmung‹ ins Zentrum dieses Buches gestellt. Denn anhand ihrer konnten wir die Möglichkeiten und Grenzen von Diltheys ästhetischem sowie geschichtlichem Verstehen auf der Grundlage individueller wie auch kollektiver Erfahrung nachvollziehen. Hier ist der Begriff der ›Stimmung‹ noch bedeutsamer als der des Erlebnisses, insofern darin nicht nur persönliche und kulturelle Erfahrungen einander überlagern, sondern auch die geschichtlichen mit den ästhetischen Aspekten des Verstehens verschränkt sind. Zwar ist auch Stimmung, wie wir eingangs gesehen haben, ein ›Lebensbegriff‹, mit dem Dilthey Abstand zur ›blutleeren Kathederphilosophie‹ sucht. Im Unterschied zum ›Erlebnis‹ entwickelt er ›Stimmung‹ jedoch in seiner Weltanschauungslehre zu einem erkenntnistheoretischen Grundbegriff, der auf eine historische Typologie des Denkens abzielt (Kap.I). Das Wort ›Stimmung‹ durchzieht, wie wir ferner gesehen haben, das gesamte Werk Diltheys. Es tritt darin mitunter gehäuft auf und besetzt in unterschiedlichen Bedeutungsfeldern Schlüsselstellen zu dessen Gesamtverständnis (Kap.I). Dies gilt insbesondere für theoretische Kontexte, in denen das Stimmungserleben – sei es das subjektive einer historischen Persönlichkeit, sei es das kollektive einer epochemachenden Generation – die Beziehungen zwischen geistesgeschichtlichen Ideen und deren Verhältnis zur gesamtgeschichtlichen Situation auf den Begriff zu bringen versucht. In solchem historiographisch anspruchsvollen Sinn haben die Begriffe Erlebnis, Erleben und Stimmung Versuchscharakter. Sie deuten auf einen bis und um 1900 angestiegenen Reflexionsbedarf in den Grenzbereichen von Geschichtstheorie und Psychologie sowie von Episteme und Ästhetik. Ihre individuelle Bindung an die Biographie und persönliche Grundierung in der Psyche qualifiziert sie dort, wo sie als Diltheysche Objektivationen des Lebens Werkcharakter annehmen, zum Verstehen von geschichtlich »bestimmte[m] Einzeldasein« (GS VII 253). Jedoch bleibt das Problem »des

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Verhältnisses zwischen Leben und Geschichte« weiterhin ungelöst, insofern der Erlebnis- oder Stimmungsbegriff zwar auf kollektiv geteilte Gefühle und Affektdynamiken verweisen kann, nicht aber zu geschichtlichen »Kategorien des Wirkens« und der überindividuellen »Wechselwirkung mit anderen Kräften« theoretisch kohärent ausgearbeitet wird (GS VII 253f.). Zwar haben wir bei Dilthey konsistente Begriffe vom Erlebnis und insbesondere von poetischer Stimmung als Ausgangspunkt produktions- und rezeptionsästhetischer Prozesse im Werkzusammenhang seiner Poetik und Hermeneutik rekonstruieren können (Kap.II–V). Jedoch hat Dilthey keine Theorie der Stimmung oder des Verstehens von Erlebnissen anderer soweit explizit gemacht, dass sich die Frage nach kollektiver Stimmung oder nach dem Erlebnis einer Generation, Nation oder Epoche unter methodisch abgesichterte Vorzeichen stellen ließe (Kap.VII). Gleichwohl ist mit Diltheys teils impliziten teils spekulativen Verbindungen zwischen historischer Strukturanalyse und kollektiven Stimmungen, die sogar an eine Typologie von Weltanschauungen denken lassen (Kap.I), deutlicher geworden, warum bis heute die Geschichtsschreibung, Zeitund Kulturdiagnostik Begriffe wie Zeitstimmung, Zeitgeist oder »Atmosphäre von der Zeit« (GS IV 564) bzw. einer Epoche weder terminologisch zureichend definieren noch auf sie konsequent verzichten kann – und sogar wieder zunehmend zurückgreift. Denn Diltheys Ausgangsfrage der Kritik der historischen Vernunft, wie die empirische Dispersion des Faktischen in begrifflicher Komplexität gebündelt und damit zu Erkenntnis geführt werden kann, ist auch Anfang des 21. Jahrhunderts noch eine relevante Problemstellung für Historiker, Philosophen und Literaturwissenschaftler. Lange nach dem Ende der Geschichtsphilosophie und dem Historismus des 19. Jahrhunderts besteht noch heute für die Geisteswissenschaften insgesamt der erkenntnistheoretische Nachteil der Vergangenheit für die Gegenwart. Damit bleibt es auch eine Herausforderung für die gegenwärtige Forschungskultur, wie angesichts der Übermacht an dunkler Materie historischen Nichtwissens ein vernunftkritisch aufgeklärtes Licht der Tatsachenerkenntnis methodisch gesichert, populärwissenschaftlich vermittelt und gesamtkulturell etabliert werden kann. Ohne ein geschichtliches Denken, das zugleich ästhetisch informiert ist – soviel lässt sich von Dilthey lernen – wird es wohl nicht gehen, wie gegenwärtige Theorieanstrengungen bestätigen.227 Um aber einen für die ›Gemachtheiten‹ von Faktizität (lat. facere) und Poetizität (griech. poiein) gleichermaßen offenen Prozess des Wahrnehmens und Reflektierens als Grundlage wissenschaftlicher Methodenstandards zu konsolidieren, bedarf es der weiteren Arbeit an Begriffen wie der Stimmung. Insbesondere müssen dabei deren historisch-epistemische Integrationspotenziale, die von Dilthey teils implizit erfasst, teils hermeneutisch 227 Siehe den diesbezüglich z. B. tonangebenden Latour (2014).

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verdeckt wurden, explizit gemacht werden. Was unsere begriffliche Spurensuche und Relektüre von Dilthey diesbezüglich erreichen konnte, ist ein Auflesen dieses zwischen den Werkteilen und mitunter zwischen den Zeilen verstreuten Integrativen, das der ästhetikgeschichtlichen Semantik von ›Stimmung‹ eingeschrieben ist.228 Dadurch konnten wir die Bausteine zu einer Poetik neu und kritisch beleuchten sowie mit der prima vista kaum verbundenen Weltanschauungslehre zusammenschauen. In diesem werkgeschichtlichen Zusammenhang wurde die Stimmung als Phänomen und Begriff im Übergangs- bzw. Verbindungsbereich zwischen Diltheys wissenschaftsphilosophischer Grundlagenreflexion und seiner literaturwissenschaftlichen Ästhetik erstmals sichtbar gemacht. Die schon bei Diltheys Zeitgenossen wie etwa Alois Riegl und Georg Simmel, Hugo von Hofmannsthal und Ernst Cassirer deutlicher und zugleich eingeschränkter durchdachte ›Stimmung‹ ist nach ihrer Verwendung auf philosophischem Begriffsniveau bei Heidegger für längere Zeit eingeschlafen.229 In den letzten beiden Jahrzehnten, in denen nicht zufällig parallel der Durchbruch zur breitenwirksamen Digitalisierung stattgefunden hat, wodurch zumal das Herstellen eines kommerzialisierbaren Imaginären sowie von politischen Affektdynamiken durch soziale Medien möglich geworden ist, hat sich ein neuer Diskurs über solche Phänomene und Begriffe wie ›Stimmung‹ und ›Erlebnis‹ entwickelt. Sieht man von Ausnahmen ab, so geschieht dies immer noch weitgehend in getrennten Bereichen der psychologischen Emotionsforschung und der humanwissenschaftlichen Kulturforschung.230 Künftige Versuche der Weiterentwicklung einer integralen Theorie von Stimmung, insbesondere als ästhetischem, psychologischen und sozialem Phänomen, sollten sich Diltheys poetologische Bausteine (Kap.V) und geschichtstheoretische Bruchstücke (Kap.VI) zunutze machen. Denn diese Fragmente einer Theoriesprache der Lebensstimmungen markieren kritische Ansatzpunkte für eine wissenschaftsphilosophische Grundlagenreflexion unserer Gegenwart. Indem diese Theoriefragmente für Diltheys Versuch, »die ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung dem Philosophieren zugrunde« zu legen, charakteristisch sind, bilden sie ein Korrektiv nicht nur gegenüber spekulativem Intellektualismus; sondern mehr noch gegenüber einem abstrakten Empirismus, dem 228 Siehe entgegen unserer Auffassung vom Fragmentarischen und Impliziten der Diltheyschen Poetik z. B. Heinen (1974). 229 Ihr insgesamt wenig beachtetes Fortleben im (neu)phänomenologischen Diskurs bei Hermann Schmitz, Gernot Böhme und Bernhard Waldenfels – um nur die bekannteren Namen zu nennen, ist erst wieder bewusst geworden, nachdem die Literaturwissenschaftler Wellbery und Gumbrecht eine Renaissance des Themas angestoßen haben, die seit etwa 2004 anhält. 230 Siehe aber erste Zusammenführungen bei Reents (2013) und Welsh (2003, 2006, 2009, 2012); zu einer Zusammenschau von ästhetischen und nicht-ästhetischen Ansätzen, vor allem aus der der empirischen Psychologie und der Literaturwissenschaft Hajduk (2016, 30–60).

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»eine verstümmelte, von vornherein durch atomistische theoretische Auffassung des psychischen Lebens entstellte Erfahrung zugrunde« liegt.231 Angesichts noch heutiger Tendenzen zu naturalistischen, objektivistischen Vereinseitigungen von Erfahrung und Rationalität z. B. in den biochemisch dominierten Lebenswissenschaften, in der kognitionspsychologisch orientierten Emotionsforschung wie auch in der sprachlogisch restringierten analytischen Philosophie, sind Diltheys ganzheitlich synthetische Denkimpulse für eine historische Philosophie, für die gattungsgeschichtliche »Intelligenz« eines Kollektivsubjekts Menschheit und für eine Hermeneutik der »empirischen Relationen« von »Lebensstimmungen [in] der modernen Kultur« erstaunlich aktuell (GS VIII, 169).232 Deshalb ist die im szientistischen Zeitgeist sozialphilosophischer Positivismen lancierte Verwerfung von Einfühlungsästhetik durch Schlagworte wie Psychologismus oder Irrationalismus als eine polemische Rezeption zu beenden. Statt Dilthey als bloß intuitionistischen Historiker und literarischen Feingeist zu marginalisieren, kann sein ästhetisches und historisches Denken als genuin philosophisches Experimentieren wiederentdeckt werden, das den Fallstricken und Phantasmen von Subjektivismus oder aber Objektivismus gleichermaßen zu entkommen sucht.233 Um die psychokulturellen Grundlagen der Gegenwartsmoderne samt der in ihr sich politisch verschärfenden Krisenerfahrungen verstehen oder auch nur benennen zu können, benötigt man ›flüssige Begriffe‹ wie Erlebnis oder Resonanz, Atmosphäre oder Stimmung. Deren ansatzweise Konzeptualisierung in Diltheys ästhetischem und historischem Denken kann dazu genutzt werden, die zeitgeschichtlich brisante und sich zumal in sozialen Medien verhärtende Frontstellung zwischen Diskursoffenheit, argumentativer Rationalität und Überzeugenwollen einerseits – und anderseits Ressentiment, ansprechender Emotionalität und Beeinflussenwollen, zu überwinden. Wer wie Dilthey Stimmungen nicht etwa nur einfühlungspsychologisch, sondern epistemologisch als prä-reflexives Verstehen ernstnimmt, hat eine sachgemäßere Ausgangsbasis für 231 Ganz im lebensphilosophischen Geist der Epoche fährt das Zitat aus der »Grundgedanke meiner Philosophie« fort: »kein voller und ganzer Mensch läßt sich in diese Erfahrung einschränken. Ein Mensch, der auf sie eingeschränkt wäre, hätte nicht für Einen Tag Lebenskraft!« (GS VIII 175). 232 So ist die jüngste Generation des philosophischen Denkens aufgrund der identitätspolitischen Verwerfungen der Gegenwart wieder mehr an Wir-konstitutiven Prozessen im sozialen und medialen Raum interessiert, wie sich z. B. bei Gracia (2018) zeigt. Mit historisch unausgeleuchtetem Abstand eines Jahrhunderts taucht hier das Wir-Erlebnis eines authentischen Stimmungskollektiv aus dem Geist der Utopie von Ernst Bloch (1918/23) wieder auf. Zur unmittelbar politischen Relevanz von Stimmungen und Affekten in der europäischen Kulturgeschichte siehe Sloterdijk (2006); und in der gegenwärtigen Krise liberaler Demokratien Mishra (2017). 233 Diese Zielrichtung einer ebenso kritischen wie überfälligen Rehabilitation Diltheys ist in der Forschung nicht unbekannt und wird z. B. von James Reid (2001, 11) verfolgt.

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Phänomenbeschreibungen und Analysen in einer Weltlage, die von digital entgrenzten und affektiv enthemmten Formen der emotionalen Kommunikation zugespitzt erscheint.

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Verwendete Werkausgaben von Wilhelm Dilthey und Siglen

GS

Wilhelm Dilthey 1959–2005. Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Bernhard Groethuysen, Georg Misch, u. a., von Bd. XVIII an besorgt v. Karlfried Gründer und Frithjof Rodi, 26 Bde. Stuttgart: Teubner/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Für den jeweiligen Band wird die römische Zahl und die arabische für die Seitenangabe verwendet.

ED

Wilhelm Dilthey 1985. Das Erlebnis und die Dichtung. 16. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

DM

Wilhelm Dilthey 1957. Von deutscher Dichtung und Musik. Aus den Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. 2., unveränderte Auflage. Stuttgart: Teubner / Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

SCH

Wilhelm Dilthey 1957. Schiller. Mit einem Nachwort von Herman Nohl. Stuttgart: Teubner/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Wilhelm Dilthey 1984. Das Wesen der Philosophie. Stuttgart: Reclam. Wilhelm Dilthey 1922. Leben Schleiermachers. 2. Auflage vermehrt um Stücke der Fortsetzung aus dem Nachlass des Verfassers. Hrsg. v. Hermann Mulert. Berlin/ Leipzig: de Gruyter. Wilhelm Dilthey. Aus dem Nachlass im Berlin-Brandenburgischen Archiv der Wissenschaften. Einleitung in die Geisteswissenschaften, 2. Band, Pläne des Ganzen, W.D.: Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Sitzungsberichte der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften, Gesamtsitzung vom 16. März 1905, XIV, Erste Studie, Mittheilung vom 2. März; und Kladde 159.