Das Elsass: Ein Buch von seiner Geschichte, Art und Kunst [Reprint 2019 ed.] 9783111692487, 9783111304892

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Das Elsass: Ein Buch von seiner Geschichte, Art und Kunst [Reprint 2019 ed.]
 9783111692487, 9783111304892

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Borspruch
Zwei Jahrhunderte elsässischer Kulturentwicklung
Preis der deutschen Sprache
Straßburg
Auf dem Straßburger Münster
Geisteskultur im Elsaß
Elsässische Städte
Deutsche Kunst im Elsaß
Was braucht man auf dem Bauerndorf, Volkslied
Bau, Tracht und Art im elsässischen Ackerland
Nachtgruß an das Elsaß
Die Geschichte vom sterbenden Kirschbaum, Skizze
Dem werdenden Elsaß
Die Vogesen
Spinnerlied
Maiandacht
E bissel Franzeesch
Elsässische Sprichwörter
Neue Kunst im Elsaß
Wanderer in den Vogesen
Frühling im Elsaß
Bogesennächte
Die Wirtschaft des Reichslandes in Vergangenheit und Gegenwart

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Das Elsaß Ein Buch von seiner Geschichte, Art und Kunst

herausgegeben von

G.Anrich. §r. Schultz. W.Mttich.

Straßburg Verlag von Karl I. Trübner 1918.

C. A Wagners Hof- und Universitüls-Duchdruckerei, Freiburg i. B.

Inhaltsverzeichnis. Seite

Dorspruch von Karl Hackenschmidt.............................................................. 1 Zwei Jahrhunderte elsässischer Kulturentwicklung, von Gustav Anrich 3 Preis der deutschen Sprache, Gedicht von Adolf Stöber........................... 25 Straßburg, von Niklaus Bruck..........................................................................27 Auf dem Straßburger Münster, Gedicht von August Stöber .... 39 Geisteskultur im Elsaß, von Franz Schultz..................................................... 41 Elsässische Städte, von Kurt Schede................................................................ 59 Deutsche Kunst im Elsaß, von Ernst Polaczet................................................69 Was braucht man auf dem Bauerndorf, Volkslied......................................78 Bau, Tracht und Art im elsässischen Ackerland, von Friedrich Kaufmann 80 Nachtgruß an das Elsaß, Gedicht von Friedrich Lienhard......................... 100 Die Geschichte vom sterbenden Kirschbaum, Skizze von Hans Karl Abel 101 Dem werdenden Elsaß, Gedicht von Christian Schmitt.............................. 107 Die Vogesen, von G. E. Grucker........................................................................108 Spinnerlied, Gedicht von GustavStostopf..................................................... 130 Maiandacht, von Maria Hart........................................................................131 E bissel Franzeesch, von L. W. Doeltzel........................................................ 135 Elsässische Sprichwörter....................................................................................... 135 Neue Kunst im Elsaß, von EduardReinacher................................................ 136 Wanderer in den Vogesen, Gedicht von D. S. Diehl................................... 143 Frühling im Elsaß, Gedicht von O. S. Diehl.............................................. 143 Dogesennächte, Gedicht von Gertrud Fauth................................................... 144 Die Wirtschaft des Reichslandes in Vergangenheit und Gegenwart, von Werner Wittich.................................................................................. 145

Zeichnungen und Initialen von Carl Spindler, H. Solveen, E. Ries.

Schrift desselben Verfassers: Deutsche und französische Kultur im Elsaß. — Das Gedicht: Spinnerlied ist dem Bande G. Stoskopf, Luschtig's üs'm Elsaß, das Gedicht: E bisiel Franzeesch dem Bande L. W. Voeltzel, Min Heimetland (Verlag von Paul Schweikhardt, Straßburg) entnommen.

Vorspruch. Im heißen Tiegel liegt mein Vaterland.

Daß ihm die Glut zur Läuterung gereiche. Daß es verjüngt dem Flammengrab entsteige. Dies füge des allmächtigen Schmelzers Hand. K. Hackenschmidt.

Dal Elsaß.

1

Zwei Jahrhunderte elsässischer Kulturentwicklung. Don Gustav Aurich.

L Oange Jahrhunderte hindurch hatte das Elsaß, «inst von den “V deutschen Stämmen der Alemannen und Franken besiedelt, zu den blühendsten Gebieten deS deutschen Reiches gezählt. Seine Burgen, seine mittelalterlichen Baudenkmäler sind redende Zeugen von alter deutscher Ritter- und Städte­ herrlichkeit, von den Zeiten, da Barbaroffa in der Ättifer« Pfalz zu Hagenau Hof hielt und Straßburg mit KAn um die Palme rang unter den deutschen Städten. Glänzende Namen stehen vor uns auf, von Meister Ermin und Gott­ fried von Straßburg zu den Künstlern des Unterlinden­ museums, zu den Männern des elsässischen Humanismus und

der Straßburger Reformation. Sie geben uns das Recht, von einer elsässischen Kultur zu reden. Nicht in dem Sinne freilich, als ob das Elsaß, in sich abgeschlossen, sie ledig­ lich aus sich erzeugt hätte. Darin vielmehr wurzelte seine Kraft, daß es empfangend und gebend mit dem Ganzen der deutschen Kulturwelt verbunden war, als gesunder Organis­ mus Kräfte an sich ziehend und ausstrahlend. Wie ein Ulmer und ein Kölner Meister unsere einzige Münsterpyramide schu­ fen, im reformatorischen Straßburg neben den elsässischen Größen die Niederdeutschen Johannes Sturm und Sleidan wirkten und der Schwabe Hans Baldung malte, an der alten Straßburger Hochschule Gelehrte aus ganz Deutschland nebst einzelnen Ausländern tätig waren, so wirkte hinwiederum ein Wimpfeling in Heidelberg und Freiburg, war Straßburgs Stättmeister Jakob Sturm der Berater der deutschen Fürsten, der Wortführer der deutschen Reichsstädte, Straßburgs Refor­ mator Martin Bucer der Führer des oberdeutschen Pwtestantismus, wurde der Elsässer Philipp Jakob Spener in Deutsch­ land ein Erneuerer von Luthers Werk. Mit der gesamten jungen deutschen Kultur hat je und je auch das Elsaß bedeut­ same Einflüsse seitens der älteren Kultur des Westens und des Südens erfahren, ja eine wichtige Eingangspforte für sie ge­ bildet. Aber was von außen kam, wurde in einer Weise inner­ lich angeeignet und fortgebildet, daß es zum eigenen Besitze wurde. So war und blieb die elsässische Kultur deutsche, ge­ nauer oberdeutsche Kultur mit bodenständiger Eigenart. II.

Da setzte sich in den Stürmen des Dreißigjährigen Krieges Frankreich im Elsaß fest, das längst keine Einheit mehr bildete, vielmehr in eine Unzahl von größeren und kleineren Terri­ torien zerfiel. Für die Zustände, die die französische Besitzergreifung schuf, ist die Art ihres Vollzugs von grundlegender BÄeutung. Seit den Verhandlungen von Nymwegen im Jahre 1678 hat

Frankreich stets mit der staatsrechtlichen Fiktion operiert, es sei ihm im Westfälischen Frieden das ganze Elsaß überlasten worden. In Wirklichkeit war es viel weniger, was ihm da­ mals ausdrücklich zugespvochen wurde, nämlich einmal die aus­ gedehnten österreichischen Besitzungen und Oberhoheitsrechte im Oberelsaß, dazu die Reichslandvogtei im Elsaß, die an wirk­ lichem Inhalte die unmittelbare Herrschaft über einige vierzig Dörfer und gewisse, nicht ganz fest umschriebene Rechte in den zehn elsässischen Reichsstädten Colmar, Hagenau, Schlettstadt usw. in sich schloß. Aus diesem seiner Unbestimmtheit wegen sehr brauchbaren Begriff der Landvogtei ward dann zunächst die volle Oberherrschaft über die Städte hergeleitet und deren Widerstand schließlich 1673 mit Gewalt gebrochen, bis zuletzt, in immer weiterer Ausdehnung eben dieses Begriffes der Land­ vogtei, der Conseil souverain d’Alsace im Jahre 1680 ganz Ober- und Unterelsaß als unter die Souveränität des Königs von Frankreich fallend erklärte und im folgenden Jahre Über­ fall und Kapitulation von Straßburg das Werk krönten. Nicht durch Krieg und Sieg und einen anerkannten inter­ nationalen Friedenstraktat hat sonach Frankreich den größten Teil des Elsaß erworben, sondern, gestützt auf seine europäische Machtstellung, durch die Künste seiner Diplomatie und einer in den Dienst der Politik gestellten Rechtsauslegung, die einem Vorgehen, das einen Rechtsbruch darstellte und von den elsässi­ schen Ständen als solcher beurteilt wurde, den Schein des Rechts verleihen mußte. Mochte man aber hierbei den Begriff der Landvogtei noch so ausweiten, immer ließ sich aus ihm nur eine Oberherrschaft herleiten. So machte gerade die Behauptung, mit der Besetzung von ganz Elsaß nur Rechte wahrzunehmem die sich auf den gesetzlichen Boden des Westfälischen Friedens gründeten, in Verbindung mit der politischen Gesamtlage die gewaltsame Beseitigung der bestehenden Territorialgewalten zur Unmöglichkeit. Dementsprechend wurde der neue Zustand geregelt auf dem Wege des Kompromisses, geregelt durch Ver­ träge, welche Frankreich mit den elsässischen Territorialmächten

schloß, derart, daß letzteren gegen Anerkennung der französischen Oberhoheit, ähnlich wie bei der Kapitulation von Straßburg, von ihren bisherigen Freiheiten und Gerechtsamen daS meiste verbrieft wurde. Wohl ward also die RegierungSgewalt des königlichen Intendanten, die Verordnungsgewalt und Obergerichtsbavkeit des Conseil souverain aufgerichtet, für den neuen Landesherrn ein neues System von direkten Steuern eingeführt; als Unterbau aber Blieb das ganze bisherige bunte Gefüge der alten städtischen, fürstlichen, herrschaftlichen und geistlichen Gebiete, blieben die alten Obrigkeiten, die alten Verfaffungen, die alte Gerichtsbarkeit, die alten Territorialkirchentümer, blieb fast das ganze krause Gewirre von Feudalrechten und Feudallasten. Unter solchen Umständen war für Frankreich eine orga­ nische Einverleibung deS Elsaß nicht möglich. Sie war auch gar nicht beabsichtigt. Ganz ausdrücklich wurde vielmehr das Land als fremde Provinz geführt, province effectivement ätrangöre, die als solche außerhalb des französischen StaatSverbandes wie der Zollgrenze gelegen war. Und wäh­ rend eben die Zollgrenze wie der fast wegelose Vogesenwall nur schwache Handelsverbindungen mit Frankreich aufkommen ließen, gehörte das Elsaß nach wie vor zum oberrheinisch-deut­ schen Wirtschaftsgebiet, und Straßburg blieb der große WarenumschlagSplatz, von wo die als Wagenftacht aus dem Oberland anlangenden Güter rheinabwärts verschifft wurden. Wichtiger noch als für die politische Entwicklung mußte dieS alles für die Kultur deS Landes fein. Denn mochte die neue Regierung noch so geschickt die wirkliche Leitung der Dinge an sich zu ziehen wissen — ein Land, das wirtschaftlich gegen Deutschland offen und gegen Frankreich geschloffen war, ein Land, dessen alte VerfaffüngS-, VerwaltungS- und Rechts­ ordnungen in der Breite deS täglichen Lebens weit stärker in Erscheinung traten als daS neue Regiment, dessen Adel nach wie vor zur deutschen Reichsritterschaft zählte und auf all ihre

Vorrechte Anspruch hatte, dessen bedeutendste weltliche Gebiete eben jetzt durch Erbgang an reichsdeutsche Fürsten, den Land­ grafen von Hessen-Darmstadt, die Herzoge von Württemberg und von Pfalz-Zweibrücken, gefallen waren — ein solches Land mußte in dem allgemeinen Bewußtsein seiner Bewohner ein deutsches Land bleiben. So konnte ihm die ererbte deutsche Kultur auch weiterhin sein Gepräge geben. Deutsch blieben Sprache und Literatur, deutsch Sitte und Tracht, deutsch die Rechtsprechung der alten Gewalten, deutsch das Schulwesen, deutsch vor allem die Kirche, abgesehen von einem durch die französische Einwanderung bedingten französischen Einschlag des katholischen Kirchentums der größeren Städte. Und hier überall hat die neue Regierung kaum einge­ griffen. Ihre hohen Beamten traten als französische Grand­ seigneurs auf, ihr Conseil souverain ließ französische Verord­ nungen ausgehen und übte seine Gerichtsbarkeit in französischer Sprache nach französischem Recht. Bewußte französische Sprachund Kulturpolitik, Kampf gegen die deutsche Sprache und Art lag der Regierung im übrigen fern. Welches Maß von Verständnis für fremde Eigenart und von schonender Zurückhaltung! So wird, unter durchsichtiger Anspielung auf die Gegenwart, von manchen geurteilt, wohl unter weiterem Hinweis darauf, daß sogar die mit dem Jahre 1685 im ganzen Königreich einsetzende Protestantenverfolgung an den Grenzen des Elsaß habe Halt machen müssen. Indes, der Grund solcher Zurückhaltung liegt zunächst darin, daß es überhaupt nicht dem Wesen des Machtstaates der alten Zeit entspricht, eroberte Gebiete mit fremdem Volkstum sich sprach­ lich und kulturell anzugleichen; und für Frankreich war eben das Elsaß eine fremde Provinz. Sodann aber: was im 19. Jahrhundert als sog. Nationalismus uns entgegentritt, wirkt sich in früherer Zeit vielfach auf einem anderen Boden aus, dem der Religion. Nun war für das Elsaß die rechtliche Stellung des Protestantismus gesichert durch den Westfälischen Frieden, auf den sich gerade Frankreich als Rechtsgrundlage

fort und fort berief, gesichert durch die Kapitulation von Straß­ burg und die den übrigen Ständen ausgestellten Patentbriefe. Einen offenen Bruch dieser Verpflichtungen konnte Frank­ reich schon um seiner europäischen Politik willen schlechterdings nicht wagen. So hat es wenigstens durch ein raffiniertes Sy­ stem von Zurücksetzungen und Rechtsbenachteiligungen der Protestanten i>ie „Religion du Roi“ zu fördern gesucht. Es hat also, soweit gesamtpolitische Rücksichten es zuließen, die französische Regierung nationale Kulturpolitik getrieben in der Form einer über vertragsmäßig gesicherte Rechte unbedenk­ lich sich hinwegsetzenden Religionspolitik, wie denn auch die Begünstigung französischer Einwanderung und die Errichtung je eines, französischen Jesuiten anvertrauten College royal in Straßburg und Colmar aus diesem Gesichtspunkt der Re­ ligionspolitik zu verstehen ist.

III.

Blieb nun auch das Elsaß ein Land deutscher Sprache uno Sitte, so konnte es freilich nicht ausbleiben, daß auch franzö­ sisches Wesen Einfluß zu üben begann. War es doch überhaupt die Zeit, da die französisch-höfische Kultur mit ihrer Form­ vollendung und Geschlosienheit Deutschland in ihren Bann­ kreis zwang, da mit dem neuen Ideal weltmännischer Bildung französische Gesellschaftssitte und Tracht, französische Sprache und Literatur in den höheren Kreisen als d i e Kultur gewertet wurden und auch auf das Bürgertum ihren Einfluß übten. Wie dieser allgemeine Zug der Zeit auf unserem Boden sich auswirkte und wie damit nach drei Menschenaltern französischer Herrschaft die Dinge sich gestalteten, soll uns ein Blick auf Straßburg veranschaulichen, um die Zeit, da der junge Goethe hier ein entscheidendes Jahr verbrachte. Auch das Straßburg des 18. Jahrhunderts ist im wesent­ lichen eine deutsche Stadt. Wie einst beraten die Zünfte auf ihren Zunftstuben, tagen im deutschen Renaiffance-Rathaus der Große und der Kleine Rat unter Ammeister und Stätt-

meistern. Die einheimische Bürgerschaft hat, aufs Ganze gesehen, ihre alte Art bewahrt. Deutsch ist für sie die selbstver­ ständliche Umgangssprache, deutsche Literatur die wichtigste Geistesnahrung, deutsch die Sprache der Kirche wie der Schule; hat doch sogar das städtische Gymnasium den französischen Unterricht erst 1751 in seinen Lehrplan ausgenommen und nie anders als in deutscher Sprache erteilt. Vor allem hat Straß­ burgs Kleinod, seine alte Hochschule, in Organisation und Lehr­ betrieb die Art einer deutschen Universität bewahrt. Dank der Kapitulation von 1681 in ihren Rechten und Freiheiten be­ lassen, ohne Zusammenhang mit französischen Lehranstalten, unterhält sie wissenschaftliche und persönliche Verbindungen mit ihren rechtsrheinischen Schwestern, vor allem der damals be­ rühmtesten, der Göttinger Georgia Augusta, und die Männer, deren Namen einen letzten Glanz über sie breiten, ein Schoepflin und Koch, ein Oberlin und Schweighäuser, ein Lobstein und Hermann, sind Gelehrte deutscher Art. Aber neben dem Deutschen steht nun allerdings das Fran­ zösische. Im Angesichte des Münsters erhebt sich als Prunk­ stück französischer Baukunst das Rohanschloß; Darmstädter und Zweibrücker Hof und Intendantur sind Denkmäler derselben Kunstrichtung. Eine bedeutende französische „Kolonie" ist in der Stadt ansässig; neben dem deutschsprachigen Soldaten der Fremdregimenter belebt der französische Offizier und Soldat ihre Straßen. Im Stadtregiment hat der Königliche Prätor so sehr die Führung, daß die zum oligarchischen Familien­ klüngel erstarrten alten Obrigkeiten von den verbrieften alten Freiheiten nicht viel mehr als den äußern Schein in ihren Händen halten. Die Salons des Fürstbischofs, des General­ kommandanten, des Prätors, der Chefs der Regimenter sind Brennpunkte französischer Bildung und Lebensart. Sie darf keinem fremd sein, der zu diesen Kreisen irgend Beziehungen hat. Für den in Versailles hoffähigen elsässischen Adel ist die französische Kultur jetzt vielfach d i e Kultur. Und hatte, dem Zuge der Zeit entsprechend, schon vor 1681 die Kenntnis der

französischen Sprache im Bürgertum Eingang zu finden be­ gonnen, so ist jetzt, wo Gründe praktischer Notwendigkeit hin­ zutreten, diese Kenntnis J6i8 hinab zum Handwerker und Krä­ mer verbreitet. In Tracht, Hausbau, Möbelstil und vielen Dingen der äußeren Kultur machen sich französische Einflüsse geltend. Von den Vornehmsten abgesehen, rührt freilich dies alles noch nicht an den deutschen Wesenskern. Nicht Doppelkultur, vielmehr das Nebeneinander zweier Bevölkerungen und zweier Kulturen macht die Eigenart des damaligen Straßburg aus. Aufs neue ist es dadurch zur Adelsuniversität geworden. Was neben Deutschen und Franzosen von Stand vornehme Balten, Dänen und Schweden, Russen und Engländer hierherzog, war neben dem europäischen Rufe der Staatsrechtslehrer Schoepflin und Koch die Möglichkeit, sich in deutscher Umgebung zu be­ wegen und zugleich bei allerhand Privatlehrern in französischer Sprache und Sitte sich auszubilden und bei den Spitzen der Gesellschaft den französischen guten Ton kennen zu lernen. Dasselbe Straßburg, in dem ein Goethe „allen französischen Wesens bar und ledig" geworden zu sein bekennt, war für vor­ nehme Herren eine Vorschule oder ein Ersatz für Paris. — Mochte nun auch noch ein beträchtlicher Teil der Bürger­ schaft alles „Welsche" verabscheuen, die letzten beiden Jahrzehnte vor der Revolution zeigen immerhin, wie die französische Kultur, zunächst vorwiegend als äußere Kultur, in friedlicher Eroberung vorzudringen begann. Der Zauber feiner Bildung und wohlwollender Urbanität, der ebendamals manchen hohen Würdenträger auszeichnete, trug zur Überbrückung der Gegen­ sätze nicht minder bei wie der Einschlag weltbürgerlichen Emp­ findens in der Bildung der Aufklärungszeit. Bedeutsamer noch wirkte, daß der Elsässer jetzt zur französischen Obrigkeit etwas wie ein inneres Verhältnis gefunden hatte. Es war dies der natürliche Dank dafür, daß hundert Jahre französischer Herrschaft dem Lande nicht nur eine lange Frie­ denszeit geschenkt, sondern auch eine Wohlhabenheit, ein Wachs-

tum der Bevölkerung und eine Rechtssicherheit beschert hatten, wie sie rechts deS Rheines damals nicht bestanden. Und der Elsäffer konnte darum ohne Verleugnung der eigenen deutschen Art ein Verhältnis zum französischen Königtum finden, weil damals nur Sprache und Kultur, nicht nationalpolitisches Zusammengchörigkeitsgefühl den Deutschen zum Deutschen machte und weil es über die Liebe zur Heimat und die Anhänglichkeit an die angestammte Herrschaft hinaus ein bewußtes deutsch­ nationales Empfinden im Elsaß so wenig gab wie in ganz Deutschland, wo es erst unter dem Druck der napoleonischen Zeit machtvoll aufflammen sollte. So konnte damals in der Straßburger Bürgerschaft Ludwig XVI. aufrichtige Verehrung genießen und dabei niemand Gegenstand einer so schwärmeri­ schen Begeisterung sein als Friedrich der Große. Darum, daß sie den König von Frankreich verehrten, fühlten sich die El­ sässer mit Nichten als Franzosen. „Deutsche unter französischer Botmäßigkeit", so definiert damals einer der führenden Män­ ner, der Theologe Blessig, die Lage der Elsäffer.

IV. Da brachte die Revolutionsperiode eine völlig neue Ge­ staltung der Dinge. Mit Begeisterung ist im Elsaß das Morgenrot einer neuen Zeit begrüßt worden; schien sie doch vor allem den Protestanten die ersehnte bürgerliche Gleichberechtigung zu bringen; und diese Begeisterung bildete ein neues Einheitsband zwischen Frankreich und dem Elsaß. Mochte indes auch ein Friedrich von Dietrich, Straßburgs erster Maire, durch seine französische Bildung zum politischen Idealisten französischen Gepräges wer­ den, mochten andere, wie Rühl und Reubell, im Sturm und Drang der Zeit als Vertreter des leidenschaftlichsten Radikalis­ mus in die Pariser Entwicklung einmünden — mit aller Deut­ lichkeit tritt doch zutage, daß im Elsaß ein wesentlich anderer Geist herrschte als in Frankreich. Zu fest war der Elsäffer in seinen alten Traditionen festgeankert, als daß er sie zugunsten

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„systematischer Gleichmacherei" hätte preisgeben wollen. Es sollen dem Elsaß alle Privilegien einer wirklich fremden Provinz gewahrt und erweitert werden: so lautete der Auftrag, den man den Straßburger Abgeordneten zur Nationalver­ sammlung mitgab; und gegen die Beschlüsse des 4. August hat die Stadt mit der Erklärung protestiert, daß sie „eine Ver­ letzung des Kontrakts bedeuteten, der die freie Stadtrepublik mit Frankreich verbinde". Der leidenschaftliche Widerspruch gegen die Vorrückung der Zollgrenze an den Rhein wollte lange nicht verstummen. Aus demselben Geiste heraus hat Koch durch meisterliche Diplomatie das protestantische Kirchenvermögen und die der Universität dienenden Stiftungen gerettet, sind die Straßburger Professoren nicht müde geworden, die Wieder­ aufrichtung der Universität, und zwar unter Beibehaltung ihres bisherigen Charakters als deutscher Hochschule, zu fordern. „Wir bleiben wir", erklärte damals ihr Wortführer Blessig. Das Aufkommen der Schreckensherrschaft im Elsaß be­ deutet denn auch einen Sieg des französischen über das ein­ heimische Element. Die Pariser Delegierten Saint Just und Lebas, der zum Maire von Straßburg erhobene Savoyarde Monet und ihre Kreaturen, das sind die Größen, denen der Ruhm verbleibt, alle namhaften Männer eingekerkert, den Statuenschmuck des Münsters vandalisch zerstört und die Kir­ chen zu Heumagazinen und Viehställen gewandelt zu haben. Kein Wunder, daß in diesen Kreisen ein wilder Nationalismus die „Hydra des Deutschtums" zu zertreten begehrte. Man sprach die Schließung der „noch nicht nationalisierten" Uni­ versität aus; man forderte das Verbot der deutschen Sprache in sämtlichen Schulen; man verfehmte die deutsche Tracht der Bürgersfrauen; man machte allen Ernstes den Vorschlag, unter Begünstigung elsässischer Abwanderung ins Innere die beiden Rheindepartemente zur Hälfte mit echten Franzosen zu be­ siedeln, deren Sprache und Sitte eine Scheidewand gegen das rechte Rheinufer darstellen würden. Als dergestalt fremder Radikalismus seine Orgien feierte.

die Religion geächtet war und die eidweigernden Priester ver­ folgt wurden, da war es im Elsaß mit der Begeisterung für die Revolution gründlich vorbei. Ihre bleibende Bedeutung liegt auf anderem Felde: sie liegt in der großen Aufräumungs­ arbeit, die sie vollzogen hat. Wo eben noch das bunte Gemisch von Grafschaften, Herrschaften und freien Städten sich breitete, liegen jetzt die beiden Departements Oberrhein und Nieder­ rhein. Verschwunden sind die alten Verfassungen, Privilegien und Privilegierte, Feudalrechte und Feudallasten; verschwun­ den das alte Gerichts- und Steuerwesen so gut wie die alt­ geheiligten Diözesangrenzen und die protestantischen Territorialkirchentümer. Wie eine Riesenwalze ist über das Land gegangen und hat alle geschichtlich gewordenen, bodenständigen Institutionen, Absterbendes und Entwicklungsfähiges zugleich, eingeebnet. Dieser größte Bruch, den das Elsaß seit den Zeiten der Völkerwanderung erlebt hat, bedeutete zugleich daS Ende seiner bisherigen Sonderstellung, seine organische Einverlei­ bung in das im Werden begriffene neue französische Staats­ wesen. Zu voller Auswirkung ist dieser neue Zustand allerdings erst gekommen, als nach dem Chaos der Revolution das Kaiser­ reich den staatlichen Neubau wirklich zu fugen vermochte. Es gab dem schwergeprüften Elsaß den innern Frieden wieder. Es richtete ein neues Staatskirchentum auf. Der Katholik konnte Kirche und Staat wieder gleicherweise Treue halten, der Protestant war nicht mehr Staatsbürger minderen Rechts. Hervorragende Präfekten wußten das Land rasch zu neuer Blüte zu bringen; ja infolge der Sperrung der Häfen erlebte Straßburg als wichtigster Ausfuhr- und Einfuhrplatz von ganz Frankreich eine an seine mittelalterliche Glanzzeit erinnernde Handelsblüte. Vor allem aber: Frankreich steht im Zenit seines Glanzes als die siegreiche, über Europa ge­ bietende „grande Nation". An ihrem Waffenruhm hat das Elsaß hervorragenden Anteil; Kleber, Kellermann, Rapp sind Söhne des elsässischen Volkes. Altererbter alemannischer Sol-

datengeist läßt den Elsässer der siegreichen Trikolore zujubeln. Noch auf lange hinaus ist der Veteran, der vom Kaiser und der großen Armee erzählt, auf dem Lande der wichtigste Verbreiter nationalfranzösischen Geistes. Diese Zeit der Größe, des Ruhmes und der Wohlfahrt ist es gewefen, welche die Einver­ leibung des Elsaß innerlich vollendet hat. V. Mochte nun auch die politische Zugehörigkeit zum fran­ zösischen Staatswesen fortan für den Elsäffer eine Selbstver­ ständlichkeit oder ein Gegenstand des Stolzes sein, mochte sie den bisher schlummernden Staatsgedanken erst geweckt und damit sofort in bestimmte Bahnen geleitet haben, so bedeutete dies alles an sich kein Aufgeben heimischer deutscher Art und Sitte. Aber die Kulturentwicklung stand jetzt unter völlig anderen Bedingungen als vor der Revolution. Denn der neue französische Staat war ein straff zentralisierter Einheitsstaat. AuS dem Kampf gegen das geschichtliche Recht geboren, konnte er Rücksichten auf geschichtlich berechtigte Eigentümlichkeiten einzelner Landschaften und Volksteile nicht kennen. Als mo­ derner Nationalstaat mußte er vielmehr so Trieb als Willen haben, alles möglichst mit dem eigenen Geiste zu erfüllen, auszuswßen, was als wesensfremd seine Einheit störte. Mußte ein so gearteter Staat nicht mit innerer Notwendigkeit dem Elsaß gegenüber eine Mission empfinden, in dem Gefühl, daß ein Land deutscher Zunge und Art erst durch Übernahme der natio­ nalen Sprache und Kultur restlos in Frankreich aufgehen würde? Kein Wunder, wenn fortan seine PräfÄten und Aka­ demierektoren, mit geringen Ausnahmen landfremd und meist nicht einmal der deutschen Sprache mächtig, nur ein höchstes Ziel kennen, die „Nationalisierung" des Elsaß. Dazu war nun der Zusammenhang mit der deutschen Ver­ gangenheit des Landes jäh unterbrochen. Die alten auS dieser Vergangenheit stammenden Institutionen waren hinweggefegt. Die sich jagenden Ereigniffe und Stürme der Zeit hatten die

beiden letzten Jahrzehnte in ihren Wirkungen ebensovielen Menschenaltern gleichgemacht und eine Scheidewand gegen früher aufgerichtet. Für den Elsässer beginnt seitdem die Welt von heute mit dem Jahre 1789; waS dahinter liegt, wirkt nicht mehr als lebendige Tradition. Gelockert war nicht minder der bisherige Zusammenhang mit Deutschland. Der Rhein war jetzt Zollgrenze, Handel und Industrie auf die Verbindung mit Frankreich gewiesen. Revolution-- und KriegSwirren hatten in einer Zeit höchster Schöpferkraft der deutschen Dichter und Denker den geistigen Austausch mit Deutschland unterbunden. Das Elsaß hat seitdem mit der geistigen Entwicklung in Deutschland nicht mehr eigentlich Schritt zu halten vermocht. Unter diesen Umständen konnte der Nationalstaat eine solche Kraft der Anziehung und Angleichung entfalten, daß die von ihm erstrebte Fusion sich in der Hauptsache von selbst, wie mit innerer Notwendigkeit, vollzog.

An Intensität wie Breite ständig zunehmend, ist diese EntWicklung in sieben Jahrzehnten ihrem Ziele entgegengereift. Französisch ist in der Kaiserzeit und darüber hinaus neben Verwaltung und Justiz nur die Spitze des Unterrichtswesens. Die Fakultäten der neuen Acad&nie de Strasbourg haben französischen Zuschnitt und Unterrichtssprache; alS einziges Vollgymnasium ist ein völlig französisches Lycfe imperial er­ richtet. Das sonstige Schulwesen ist deutsch, auch daS alte Sturmsche Gymnasium nebst ähnlichen Anstalten noch 25 Jahre eine deutsche Schule. Und dank Kochs Bemühungen ist ein „Protestantisches Seminar" gegründet, eine theologische Schule mit philosophisch-philologischem Unterbau, die, rechtlich wie geistig die Erbin der alten Hochschule, den deutschen Betrieb der Wisienschaft in alter Weise weiterführt. „Wer etwa von Karlsruhe nach Straßburg reist, der meint nicht in Frankreich einzutreten, sondern auS der Fremde in eine rechte deutsche, heimatliche Stadt zu kommen, so vertraut sehen einen Menschen und Häuser an": so urteilt Jakob Grimm

im Jahre 1814. Die Sprachenpolitik der Regierung war vor­ erst äußerst maßvoll. Muttersprache sei Muttersprache, sagte Laumond, der erste napoleonische Präfekt; man müsse sich be­ gnügen, die französische Sprache auf gleichen Fuß mit ihr zu setzen, das weitere sei ein Werk von Jahrhunderten. Nur um so leichter kam dabei die Entwicklung von selbst in Gang. In­ sonderheit wandte sich der neue gesellschaftlich führende Stand der Notabeln, ein Stand ohne Tradition, als Stand nicht auf Geburt und nicht auf Mldung, sondern lediglich auf Besitz be­ ruhend, von der Regierung bevorrechtet und herangezogen, völlig der französischen Kultur zu. Im Zeitalter des Julikönigtums hielten sich deutsche und französische Kultur einigermaßen die Wage. Der wirtschaftliche Aufschwung im Zeitalter der Eisenbahnbauten, in der großen Zeit der damals durch Charaktergestalten von ausgeprägter Eigenart getragenen oberelsässischen Industrie, verbunden mit dem vom elsässischen Bürgertum begrüßten politischen Um­ schwung, knüpfte die Bande mit Frankreich fester. Die fran­ zösische Sprache begann auch in wohlhabenden Bürgerkreisen heimisch zu werden. Nun alle höheren Schulen französisch waren, auch am Straßburger Gymnasium 1825 die französische Unterrichtssprache eingeführt worden war, wurde die Nationali­ sierung der bisher rein deutschen Volksschule ringeleitet. Wenn im Jahre 1838 Eduard Reuß die Worte schreiben konnte: „Wir reden deutsch, heißt ja nicht bloß, daß wir unsere Muttersprache nicht abschwören wollen, sondern es heißt, daß wir in unserer ganzen Art und Sitte, in unserm Glauben, Wollen und Tun deutsche Kraft und Treue, deutschen Ernst und Gemeingeist be­ wahren wollen", so sind sie bezeichnend für das, waS damals noch war, wie für den Umschwung, der sich ankündigte. Konnte doch in ebendemselben Jahre ein Ludwig Spach, desien deutsche Jugenddichtungen das Feinste sind, was damals im Elsaß ge­ dichtet wurde, es für seine Pflicht halten, offen auszusprechen — und er tut dies so, daß man ihm innere Kämpfe und schmerzliche Resignation anmerkt —, daß nunmehr der Ge-

Tafel 1

Jakob Sturm.

brauch der französischen Sprache und Form im Elsaß die ein­ zige literarische Zukunft-möglichkeit darstelle. In der Tat begann mit dem Jahre 1848 da- Übergewicht der französischen Art einzusetzen. Die neue Welle patriotischer Begeisterung im Revolution-jahr, unter deren Druck z. B. das Protestantische Seminar für alle Pflichtvorlesungen fortan die französische Sprache vorschrieb, trug hierzu nicht minder bei wie die durch den hohen Flor von Landwirtschaft und Industrie mitbedingte Volkstümlichkeit der Napoleonischen Regierung. Für den Geist dieser Zeit ist nicht- bezeichnender al- die systematische Durchführung einer äußerst straffen nationalen Schulpolitik. Der besonders begünstigten Kleinkinderschule ward die nationale Mission zugewiesen, den Kleinsten das Französische unmittelbar al- lebende Sprache beizubringen und damit ein neue-, ftanzösisch sprechendes Geschlecht heranziehen zu helfen. Für die Volksschule ward 1853 das Französische zur Unterrichtssprache erhoben, 1859 der fortan in französischer Sprache zu erteilende deutsche Unterricht auf täglich 35 Mi­ nuten beschränkt; sonst war nur der Religionsunterricht noch teilweise deutsch. Offiziell bekannte man sich zum Prinzip der Zweisprachigkeit der Schule; das war's auch, was man im Elsaß selbst fast allgemein begehrte. Indes, die berechnet stief­ mütterliche Behandlung deS Deuffchen, der Zorn auf die deut­ schen Religionsunterricht verlangende Geistlichkeit, die zeit­ weilige gänzliche Unterdrückung deS deutschen Unterrichts im Schulprogramm für die deuffchsprachigen Gebiete Lothringens, alles zeigt klar, daß die völlige Nationalisierung der Volks­ schule nur mehr eine Frage der Zeit war.

VI. So bietet sich uns am Vorabend deS deutsch-ftanzösischen Krieges folgendes Bild: Französische Sprache und Kultur hat, von oben nach unten vordringend, sämtliche Schichten deS Volkes, wenn auch in sehr verschiedener Weise, ergriffen und entfettet eine vorher nicht ge-

Da- Elsaß.

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—17-

kannte werbende Kraft. In den Streifen der Notabeln und der höheren Bourgeoisie ist französische Bildung herrschend ge­ worden, vorerst noch mit sehr merklichen Resten deutsch-elsäs­ sischen Wesens. Die Generation, die in den sechziger Jahren ihre entscheidenden Jugend- und Bildungseindrücke empfängt, ist die erste von ausgesprochen französischem Gepräge. Klein­ bürgertum und Arbeiterschaft sind noch vorwiegend deutsch, nehmen aber für sich und erst recht für ihre Kinder ftanzösische Art und Sprache begierig auf als die Sprache des öffentlichen Lebens, der Bildung, deS Vorwärtskommens. Selbst der sei­ nem Wesen nach kerndeutsche Bauer bildet sich unendlich viel darauf ein, daß seine Kinder französische Schulbildung erhal­ ten; deutsch brauchen sie ja nicht erst zu lernen, daS können sie von Hause. Deutsch war nur noch eine Großmacht des Volkslebens, Kirche und Religion. Bibelwort und Kirchenlied, deutsche Pre­ digt und Religionsunterricht waren in Stadt und Land der letzte Hort der deutschen Kultur; das Hochdeutsche blieb annoch für viele die geweihte Sprache des Gottesdienstes und des Ge­ bets. Mit dem Volksleben am innigsten verwoben und ver­ traut, hat, aufs Ganze gesehen, die Geistlichkeit die alte deutsche Art am längsten bewahrt. Von der Geistlichkeit beider Bekenntnisie ist der Protest gegen die Schulpolitik der Regierung getragen gewesen. Dieser Widerstand ist allerdings zuletzt matter geworden, teils weil man seiner Nutzlosigkeit sich bewußt wurde, teils weil die allgemeine Wandlung sich auch in der Geistlichkeit bemerkbar zu machen begann. Da es auf die Dauer doch unumgänglich sei, so meinten jetzt manche, so sei es, um einem unerträglichen Zwittertum zu entgehen, das Beste, wenn die Kirche dem allgemeinen Kulturumschwung sich möglichst rasch und entschlosien anbequeme, und sei es um den

Preis der Opferung einer Generation. Im übrigen sind es nur kleinere Kreise gewesen, die sich zu dem allgemeinen Zuge der Kulturentwicklung in bewußten Gegensatz stellten. Da waren sinnige Dichternaturen wie die

Brüder August und Adolf Stöber, wie EandiduS, Mühl uud andere, die in ihrem Schaffen an die deutschen Dichterheroen sich anlehnten und die Sagen und Erinnerungen der elsässischen Vorzeit Pietätvoll sammelten. Sie haben Feines und Zartegesagt, und das Bewußtsein, das heilige Kleinod der Mutter­ sprache zu hüten, gab ihrem Dichten die Weihe; auf dem lauten Markte des Lebens verhallten ihre Klänge fast ungehört. Da waren einige evangelische Theologen um Eduard Reuß, die im Gefühl, mit ihrem ganzen innern Sein in deutschem Geistes­ leben und deutscher Frömmigkeit zu wurzeln, die fortschreitende „Berwelschung" als charakterlose Verleugnung des eigenen besten Erbes empfanden. Da war eben in der Zeit, da die Jugend sonst mehr in französische Bahnen lenkte, ein Kreis von jungen Leuten, die mit deutscher Studentensitte und -Sang auch deutschen Sinn pflegten. Den allgemeinen Gang der Entwicklung haben diese Männer, die alle die große Wendung des Jahres 1870 freudig begrüßt haben, nicht zu beeinflussen vermocht. Das Elsaß wies jetzt ein Doppelgesicht auf; eine sogenannte Doppelkultur mit jeweils unendlich verschiedener Mischung von deutschen und französischen Elementen gab ihm sein Gepräge. Bestand doch damals keinerlei Abneigung, geschweige Feind­ schaft gegen Deutschland als Kulturnation. Voller Hochachtung sprach man von seinen Dichtern und Denkern, und die franzö­ sische Kultur fand mit deshalb so leicht Eingang, weil ihre Annahme nicht gepaart war mit bewußter Abstoßung der deut­ schen. Man empfand keinen Bruch; man hielt es für daS hohe Vorrecht des Elsässers, an deutschem und französischem Geistes­ leben in gleicher Weise Anteil zu haben; ja man redete gern von einer besonderen Mission des Elsaß, zwischen beiden Völ­ kern und Kulturen zu vermitteln, und erblickte dementsprechend in der Doppelkultur das eigentliche elsässische Kulturideal. Vermittlungen auf einzelnen Gebieten haben denn auch stattgefunden, und auS den besonderen Verhältnissen der Zeit

erwuchs manche besondere Mission. Eduard Reuß z. B., der Vertreter deutscher Art, konnte in Frankreich als Bahnbrecher wirken, weil er der von der Zeitlage ihm gestellten besonderen Aufgabe sich nicht versagte, dem französischen Protestantismus die deutsche Bibelwissenschaft zu vermitteln. Eine Rechtferti­ gung der Doppelkultur als Ziel, als Prinzip und Ideal be­ deuten solche Vermittlungen mit Nichten. Eine Doppelkultur, die eine wirklich harmonische innere Verbindung oder gar einen höheren Ausgleich beider Kulturen dargestellt hätte, hat es denn auch in keiner Gesellschaftsschicht gegeben; wenn überhaupt, was nicht ohne Einschränkungen zu bejahen ist, hat nur bei einigen wenigen Höchstgebildeten etwas von diesem Ideal Ge-, stakt gewonnen. Es war die elsässische Doppelkultur auch nie eine irgend einheitliche und ausgereifte Größe; immer standen vielmehr nebeneinander Menschen und Kreise, in denen die deutsche, und solche, in denen die französische Art wesensbestim­ mend war. Mit einem Worte, die Doppelkultur war — und ist — die Mischkultur einer Übergangszeit; sie stellte einen Übergangszustand dar, der als solcher allerhand besondere Auf­ gaben in sich schloß, aber so wenig von Dauer sein konnte wie jeder Schwebezustand. Fraglos hatte diese Mischkultur für die äußeren Lebensbeziehungen ihre Vorteile. Aber wie das Reden, Denken und Fühlen in zwei Sprachen von ganz verschiedenem Genius ein Leben in zwei Welten bedeutete, das auch für die Tüchtigsten eine gewifle Zwiespältigkeit des inneren Seins zur Folge hatte und die Entfaltung der Persönlichkeit zu kraftvoll geschlossener Einheit mindestens gefährdete, so bedeutete für das Ganze in Hinsicht auf wahre innere Bildung, auf geistige und seelische Kraft die Doppelkultur fraglos Hemmung, Ver­ flachung, Veräußerlichung. An dem ungemeinen Bildungs­ tiefstand in vielen Schichten des Bürgertums, an dem zu­ nehmenden Mangel an charakterfesten Persönlichkeiten ist die Doppelkultur mitschuldig. Wie klagten damals die Urteils­ fähigen, daß der Arbeiter und Bauer seine Muttersprache nicht mehr schreiben und die in der Schule angeeignete Fremdsprache

nur halb noch verstehen und sprechen könne. Auch wird es kaum Zufall sein, daß das Elsaß im 19. Jahrhundert zwar große Generale und große Männer der Industrie, aber auf dem Gebiete des Geisteslebens keinen schöpferischen Genius aufweist, keinen wirklich großen Dichter, Schriftsteller, Musiker, Künstler und nur einige wenige bedeutende Gelehrte. Vor allem aber laßen gerade die sechziger Jahre mit voller Deutlichkeit erkennen, wohin diese ganze Entwicklung mit in­ nerer Notwendigkeit führen mußte, ohne daß die meisten Zeit­ genoffen sich davon Rechenschaft gegeben hätten: Nicht auf ein schönes Gleichgewicht oder eine harmonische Verbindung der beiden Kulturen waren sie eingestellt, vielmehr auf den vollen und ausschließlichen Sieg der französischen Kultur. In den oberen Schichten hätte derselbe nicht mehr sonderlich lange auf sich warten laffen. Wäre das Jahr 1870 nicht gekommen, es würden unsere Söhne Goethe und Schiller nicht anders lesen als der gebildete Deutsche Pascal und Moliöre liest. Vor der Schule und der Gesellschaft hätte über kurz oder lang auch die Kirche in der Sprachenfrage schrittweise kapitulieren müßen. Von hochdeutscher Sprache und Schrifttum abgeschnitten, wäre das Elsäfferdeutsch in Arbeiterkreisen ohne besonders zähen Widerstand einem zweifelhaften Französisch gewichen, während es sich auf dem Lande wohl noch eine beträchtliche Zahl von Generationen hindurch als altertümliches, mehr und mehr ver­ achtetes Patois behauptet hätte. Unser Volk ohne sein deutsches Volks- und Kirchenlied, ohne seine Lutherbibel, seine Mutter­ sprache alS die Sprache der Unbildung betrachtend — man mag nicht ausdenken, welche Gefühls- und Gemütswerte dadurch zerstört, welche Kleinodien der Volksseele angetastet worden wären! Jedenfalls: mit der behaupteten kulturellen Vermitt­ lungsmission des Elsaß wäre es gründlich auS gewesen. Und wenn heute die Doppelkultur wieder alS das eigentliche elsäs­ sische Ideal gepriesen wird, sei eS von überzeugten, ehrlichen Kulturidealisten, sei es von solchen, die ihre Pflege bewußt oder unbewußt anderen Zielen dienstbar machen, so geben sich wohl

die einen so wenig wie die anderen davon Rechenschaft, daß sie heute von Doppelkultur nicht reden toütbcn, wenn das Elsaß im Jahre 1870 nicht wieder deutsch geworden wäre. VIL

Die weltgeschichtliche Wendung des Jahres 1870 hat, fast im letzten Augenblick, das Steuer herumgeworfen. Neue schwie­ rige Probleme politischer und kultureller Art waren damit für Generationen gegeben. Die Lebensfrage für das Elsaß war und ist, den inneren Anschluß zu finden an den deutschen Na­ tionalstaat, weil dieser der zusammenfassende Träger auch der deutschen Kultur geworden und unter Feindschaft oder partikularistischer Abschließung ihm gegenüber ein fruchtbarer innerer Anschluß an die deutsche Kulturgemeinschaft nicht möglich ist. Weit entfernt, voneinander unabhängig zu sein, bedingen die politisch-nationale Frage und die Kulturfrage einander gegen­ seitig aufs stärkste, und mit darin liegen die Schwierigkeiten der Entwicklung. So unendliche Differenzierungen und so polare Gegensätze indessen die letzten Jahrzehnte in der Stellung zu dieser Lebens­ frage aufgewiesen haben mögen und so selbstverständlich es ist, daß auf den Gebieten der Außenkultur und der Gesellschafts­ schichtung eine zweihundertjährige Verbindung mit Frankreich unvergängliche Spuren zurücklassen muß — eins tritt doch immer wieder zutage, wie grunddeutsch jeglichem Firnis zum Trotz unser elsässisches Volkstum seinem innersten Wesen nach geblieben ist, und wie sich bei ihm dieser WesenSkern mit echt alemannischer Zähigkeit behauptet hat. Wohl- wie übelwollenden gegenüber müssen wir Elsässer uns deshalb entschieden dagegen verwahren, als ein Fremd­ volk im Gefüge des deutschen Nationalstaates angesprochen zu werden. Das Problem „Fremdvolk und Nationalstaat" ist durch die ftanzösischen Lothringer und die Polen gegeben, im Elsaß besteht es nicht. Für uns gilt's im Gegenteil Neuent­ faltung des eigenen deutschen Wesenskernes durch innere Ber-

bindung mit dem Ganzen eben der Volksgemeinschaft, deren Glied zu sein ein unverlierbares Anrecht unserer Geburt ist. Und weil dem so ist, so bliebe für den Angehörigen eines deut­ schen Volksstammes ein sogenannter lediglich politischer An­ schluß an Deutschland unter dauernder bewußter Bevorzugung einer anderen Kultur ein lahmer, eigennütziger, des Idealis­ mus entbehrender Anschluß, eine in sich widerspruchsvolle Stel­ lung, von der in schwerer Zeit kein Weg aufwärts führt zu den Menschen und Volksgemeinschaft adelnden hehrsten sitt­ lichen Leistungen des Opfers, der Selbsthingabe, des unbe­ dingten Eintretens für das Ganze. Von der hohen Warte einer weltgeschichtlich entscheidenden Zeit haben wir heute das Recht, über allerlei Niederungen hin­ weg in die Ferne zu blicken. Wir sehen im Geiste unser Elsaß als Glied der großen deutschen Volksgemeinschaft zu neuer Blüte emporwachsen. Wir sehen eine elsässische Kultur, ein­ heitlich in ihrer Gesamtorientierung, die verschiedenen Schich­ ten gemeinsam umspannend, unseres Volkes innerstes Wesen neu erschließend; ein organisches Glied der deutschen Gesamt­ kultur und doch ein Eigenwesen mit landschaftlicher Eigenart und heimatlichem Erdgeruch; ein Quell traulich-inniger Hei­ matliebe wie entschlossener Hingabe an das große Vaterland; nach guter deutscher Art allen großen Geistern und allen wirk­ lichen Kulturerrungenschaften der Nachbarvölker gegenüber auf­ geschlossen, dabei aber in sich selbst so einheitlich und stark, daß sie, wie das lebendige Erbe des Altertums, so die Kulturgaben der Nachbarn in das eigene Wesen einzuschmelzen und zur Be­ reicherung und Erhöhung der eigenen Art dienen zu lassen die Kraft hat. Ideal einer fernen Zukunft! In der Tat, vieles davon kann nur die Zeit schaffen. Mögen sich Hindernisse wegräumen und Schädlinge entfernen, mag sich Widerspruch ersticken lassen, das positiv Wertvolle läßt sich nicht erzwingen, es kann nur von innen heraus sich gestalten. Aber wie wir der Zuversicht

sind, daß unser Elsaß, in furchtbaren Kriegsjahren durch so viel edles deutsches Blut aufs neue für Deutschland gerettet und vor unerhörter Vergewaltigung seines BolkStumS bewahrt, inskünftig Reichsland sein wird in dem höheren Sinne eines weithin leuchtenden Symbols von des Deutschen Reiches Un­ besiegbarkeit und Größe, so leben wir auch deS Glaubens, daß nach Überwindung der Nöte, Unsicherheiten und Zwiespältig­ keiten einer langen Übergangszeit unser Land als lebendiges und bewußtes Glied des deutschen Volkes und Reiches sein eigenstes deutsches Wesen mit neuer Kraft, Eigenart und Ge­ schlossenheit noch einmal zur Entfaltung und Blüte bringen wird.

Adolf Stoeber (1810—1892).

Preit der deutschen Sprache. ^Muttersprache deutschen Klanges, o8 braucht man auf dem Bauerndorf? -sV Was braucht man auf dem Dorf? Juche! Ein Bürgermeisteramt, Daselbst ein guter Mann. Und einen Wirt, der seinen Wein nicht tauft. Und einen Kellner, der sich nicht besauft.

|: Was braucht man auf dem Bauerndorf? Einen Schneider, der fest näht Und einen Bauer, der gut säet, Und eine Frau, die recht schelten kann. Und einen Meister, der kein strenger Mann.

I: Was braucht man auf dem Bauerndorf? Einen Schmied, der gut schmiedt Und einen Weber, der gut tritt, Und einen Metzger, der die Wurst' gut macht Und keine Geis für ein'n Hammel schlacht. |: Was braucht man auf dem Bauerndorf? Ein Ofen in der Stub Und eine kleine Kinderpupp, Und ein Mädchen, das die Strümpfe strickt, Und eine Frau, die die Sachen flickt.

: | Was braucht man auf dem Bauerndorf? Stuhl und Tisch Und in dem Faß Stockfisch, Spitzbub, der alles wiedergibt Und einen Knecht, der die Magd nicht liebt. I: Was braucht man auf dem Bauerndorf? Ein Doktor, der's versteht Und gleich zum Kranken geht. Und ein Krämer, der gut borgen kann, Und eine Frau, die gut kocht dem Mann. |: Was braucht man auf dem Bauerndorf? Töpfe für die Milch Und einen Unterrock von Zwilch, Und ein Bett für gut zu schlafen drin, Und eine Wiege mit einem Kind darin.

|: Was braucht man auf dem Bauerndorf? Steine für zum Bauen Und Kaffee für die Frauen, Käs, Butter und Fleisch genug. Vom Wein da werden die Bauern klug. |: Was braucht man auf dem Bauerndorf? Hühner mit dem Hahn, Und Fäffer mit dem Krahn, Und ein Schwein, das recht fett ist, Und eine Magd, die den Rahm nicht frißt.

|: Was braucht man auf dem Bauerndorf? öl und auch Wichs, Hell und auch Feuerfixe, Und ein Müller, der nicht stehlen kann. Und zum Eierbacken eine Schmälzpfann. |: Das braucht man auf dem Bauerndorf, Das braucht auf dem Dorf, Juche!

Bau, Tracht und Art im elsässischen Ackerland. Don Friedrich Kauffmann. I. ei der letzten großen Anstrengung des Tages fiel ein Reservist auf, der zu einer Friedens­ übung enrgezogen war. Bielen anderen, auch arbeitsgewohnten Männern, stand die Mü­ digkeit im Gesichts Er dagegen warf seine langen Beine allen voraus, als steckten keine vierzig Kilometer Tagesmarsch form, und als ob es keine sandbepackten Tornister gäbe. Beim nächsten Halt stellte ihn der Oberst. „Wo sind Sie her?" — „Ich bin ein unter­ elsässischer Bauer auS dem Kreis Zabern." — „Seht, Leute", rief der Oberst, „der hat noch Murr in den Knochen. Der stapfte vor drei Tagen noch über seine Ackerschollen!"

Zwischen den lehmigen Schollen des unterelsässischen Acker­ landes ist diese Art aufgeschossen. So glatt und fest wie die Rinde der Apfelbäume in dieser Gegend sich um den Stamm legt, so zäh und kernhaft ist alles, was auf diesem Boden steht und lebt. Er liegt ungefähr zwischen der Zorn und der Moder, beide an den Randufern überschreitend, im Osten bis in das Straßburger Borland sich erstreckend, gegen Westen durch die Nordvogesen begrenzt, deren waldige Wand die Dörfer sich lang­ strecken heißt, die Dorfftraße verengt und daS ungehemmte SichauSbreiten der einzelnen Gehöfte nicht mehr gestattet. Mitten in die alte Grafichaft Hanau-Lichtenberg muß man sich hinein­ stellen, wo man keinen Eisenbahnpfiff mehr hört, wo Klee­ äcker, Getreidefelder und Kartoffelstücke in bunter Reihe schnell

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miteinander abwechseln, und die graublauen Ränder deS Was­ gau und des Schwarzwaldes sich fern und unauffällig als letzte Einrahmung des Bildes erheben. Dann braucht man nur dem Feldweg zu folgen, der in die Landstraße einmündet, und bald schaut hie und da aus dem Gezweig alter Nußbäume ein weißer Giebel, von dunkeln Runzeln durchzogen, in den länd­ lichen Frieden. Unter der starken Augenbraue des zweimal stumpfwinklig gebrochenen Daches steht ernst und still das Auge eines offenen Bodenfensters. Der Geist einer durch Jahr­ hunderte sich treu bleibenden Volksart spricht aus ihm. Das Grün der vorgelagerten Obstgärten bildet zwischen den Senk­ rechten der Straßenbäume eine Schleierwand, aber noch ein paar Schritte weiter, und ein aufspringender, langgestreckter, buckliger Dachfirst verrät etwas von der Weitläufigkeit der Dorfanlage und der einzelnen Gebäulichkeiten. Da liegt die Dorfstraße vor uns. Die Häuser scheinen frei und natürlich an sie heranzutreten, als ob sie alle, jede- von seinem Grundstück aus, nach dem Dorfausgang blickten, um zu erfahren, wer denn da von draußen daherkommt. Ist das eine etwas weiter vorgerückt, so schiebt das nächste die eine Eckschulter unwillkürlich vor, ein drittes zeigt seine Giebelfwnt ohne perspektivische Verkürzung, ein viertes bewahrt trotz der geringeren Breite seinen persönlichen Stolz; ein jedes hat einen eigenen Ausdruck, und doch sind sie alle von einem einzigen Ge­ präge und von reiner Rasie. Das Charaktervolle eines jeden Baues macht sich bemerkbar, ohne doch den Typus zu stören. Ohne diese Höfe wäre die Dorfstraße nicht das, was sie ist. Es würde ihr der bezeichnende Schwung und Sprung fehlen, der eigenwillige Rhythmus, mit dem sie an den zwanglos und zu­ fällig sich staffelnden Giebeln, den überdachten Hoftoren, den vorstehenden Ecken, den gelegentlich eingeschobenen Latten­ zäunen, hinter denen noch ein Gewürzgärtlein gedeiht, vorüber­ zieht. Sie ist kein Stollen, der sich in einen schwerfälligen Häuserblock mühsam einbohrt, sie ist auch kein breites, gleich­ gültiges Niemandsland, das gegenüberliegende Häuserreihen in Da» «saß.

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feindliche Parteien trennt. Sir vermittelt ein freundliches Hin­ über und Herüber und tut jedem einzelnen Gehöft die Ehre an, seinen Linien zu folgen. Von den Zufälligkeiten deS Tages, die schon einmal vorübergehend größere Lasten auf der Straße absetzen, und von bestimmten Tageszeiten abgesehen, die Men­ schen und Tiere nicht nur vereinzelt vor das Hoftor führen, bleibt sie in ihrem Aussehen ungestört. Wenn das Auge lange genug der gezackten und gezähnten Fluchtlinie gefolgt ist, hat es überall Gelegenheit, im rechten Winkel an hohen Sockeln und weißen Mauern emporzusteigen, hinter denen das häus­ liche Leben sich abspielt. Um die reiche Schönheit und Wohnlichkeit einer elsässischen Dorfttraße für immer zu lieben, muß man mit der Erinnerung an sie durch ein lothringisches Dorf gegangen sein. Dort fließen die Straßenränder über in Vorplätze, die ebenso breit wie die Straße sind und den Häusern verwehren, die Straße zu be­ hüten. Sie wird dadurch flach, einsam, kulturarm und ein wenig schamlos für jeden, der nicht geborener Lothringer ist. Sie gibt alle die Dinge, denen der elsässische Hof eine ge­ pflegte Unterkunft innerhalb seiner Mauern, Scheunen, Schuppen und Schöpfen gewährt, den Blicken preis: den für die lothringische Straße charakteristischen Düngerhaufen, die Wagen und die landwirtschaftlichen Geräte. Ein Verlangen, das Innere der breitseitig sich darbietenden grauen flachdachigen Gebäude zu betreten, wird nicht lebendig. Das ein­ zelne Haus ist ein Teil einer trostlos langen Wand, die keine Gelegenheit zu liebevoller, künstlerischer Beschäftigung mit Einzelheiten gibt. Das ist die keltisch-römische Wohnungs­ kultur, die sich auf Lothringens Boden durch alle politischen Zeiten hindurch erhalten hat. Sie ist künstlerisch unproduktiv geblieben bis auf den heutigen Tag. Das elsässische Dorf hingegen liegt in einer ganz anderen Welt. Hier sind die kleinsten Einzelheiten durchgebildet und haben ihren besonderen Stil gefunden. Den an der Straße stehenden, weißgetünchten, von eichenem Fachwerk belebten Gie-

bei kennen wir schon. Er ist das Gesicht des »Hofes". Zwei­ oder dreimal wird er von einem schmalen, vorstehenden Regen­ dach durchquert, das über den Kreuzstücken hinlaufend die Stock­ werke deutlich voneinander abgrenzt. Die oberste Fensterreihe kann sich auch zu einem luftigen Altan verflüchtigen. Steigt dann von der Mitte des von Balustern durchbrochenen Ge­ länders eine typisch elsässisch profilierte Tragsäule unter daS vorspringende Dach, so sieht man in der richtigen Entfernung zwei ewig wache ernste Augen über dem Hause offen stehen. Auch das Dach hat seine besondere Art. Die Starre des Ge­ bälks wird dadurch gelost, daß es vom First nicht in gleich­ bleibendem Winkel abstürzt, sondern kurz bevor es auf die Mauer stößt, seinen Fall durch ein leichtes Ausbiegen aufhält, so daß die Krempe des Hutes sich etwas aufwirft. Die Giebel­ spitze ist oft abgeschrägt: ein rechtschaffener Hut muß auch seinen individuellen Kniff haben. Neben dem Giebel steht das hohe Hoftor. Sein stärkster Sinn deutet nach innen. Es schließt den Hof ab. Hinter seinem Hoftor ist der Bauer daheim. Er will allein sein. Das Regen­ dachmotiv wiederholt sich und reitet keck über den Torbogen weg. Bei kleineren Höfen ist in daS große Tor noch eine Tür für den kleinen Verkehr eingelaffen, bei größeren steht die Tür als besondere Konstruktion neben dem Tor. Schweres Eichen­ holz, durch geometrische Figuren gemustert; am beliebtesten sind auf die Spitze gestellte Quadrate, die sich in bald größe­ ren, bald kleineren Ausmesiungen nebeneinander wiederholen oder ineinander schieben. An die mächtige Einfahrt schließt sich als Ergänzung zum Wohnhausgiebel die wiederum mit Fachwerk durchsetzte Wand eines Schuppens oder eine Scheune. Wir treten ein und bleiben überrascht stehen. Eine wohl­ tuende Abgeschlosienheit legt sich um den viereckigen, meist ge­ räumigen, oft großartigen Hof. Auf der einen Seite streckt sich das Wohnhaus hin, durch die anstoßende Scheune, Lager­ räume und Kleintierställe fortgesetzt. Ihr gegenüber befinden sich unter einem einzigen langhin laufenden Dach die Ställe

für das Großvieh. Die dritte der Einfahrt entsprechende Wand wird durch Wagenschuppen, Remisen, Brennstübchen und ähnliche Räume gebildet, zu denen auch eine WerksEtte gehört, in der eine selbstgebaute Schnitzbank steht, und von der der elsässische Bauernstil seinen AuSgang genommen hat. Je nach den örtlichen Verhältniffen kann die Anordnung der Unter­ abteilungen etwas verschieden ausfallen, in den Grundlinien herrscht die gleiche Strenge der Gesamtanlage vor. Sie ist vor tausend Jahren schon so gewesen und hat im zähen und er­ folgreichen Ringen der Bewohner mit dem schweren Acker die heutige Wohlhäbigkeit im Ablauf der Jahrhunderte ange­ nommen. Ein Blick in einen elsässischen Bauernhof, und die „elsäs­ sische Frage" ist ein für allemal entschieden. Zorn und Scham­ röte über die ästhetische und politische Unwahrhaftigkeit, mit welcher französische Agenten unter dem Vorwand der Heimat­ liebe über ein solches Hofbild schrieben: „Interieur d’une ferme d’Alsace“ weichen der Gewißheit: hier wohnen nun und nim­ mer Franzosen. Und mag auch in der großen Stube das „Bulletin de recrutement“ noch hängen, die Nummer, die der Großvater unter französischer Herrschaft bei der Rekrutenaus­ hebung zog, der Großvater ist kein Franzose. Was wir hier vor uns sehen, das ist die in Süddeutschland übliche fränkisch­ alemannische Hofanlage, die ihren Grundriß von den ersten Alemannen erhalten, als sie auf dem von keltisch-römischer Art gesäuberten Boden heimisch wurden. Blättert nur in einem neuzeitlichen Werk über das deutsche Dorf, ohne auf die Unter­ schriften zu achten, und es wird euch schwer werden, ohne be­ sondere Kenntnis der Einzelheiten einen Unterschied zwischen Württembergischen, fränkisch-bayrischen und elsässischen Ansichten herauszufinden. Das elsässische Dorf ist fraglos ein deutsches Dorf. Da wo heute feste Mauern den Hof abstecken, lief beim Beginn der deutschen Geschichte ein Ring von schnell aufge­ schichteten Feldsteinen oder ein rauh zusammengefügtes Gatter von Baumpfählen, die dem Gehöft den Frieden vor feindlichen

Überfällen verschafften. Die Umftiedung wuchs mit den Be­ dürfnissen des Hauses und wurde schließlich die Außenwand von allerlei Nutzgebäuden. Es schob sich im Lauf der Zeit ein geschloffener Hof an den andern, aber stets wohnte der Bauer in seiner eigenen Gerechtigkeit und hinter seinem eigenen Hoftor. Klare und reinliche Ordnung herrscht im Innern des Hauses. Die Haustüre gliedert sich in zwei gleichgroße Hälften, einen oberen und einen unteren Teil. Ist der untere geschloffen und der obere steht offen, so läßt sich's leicht von der Küche aus einen Befehl dem Knecht oder der Stallmagd zurufen, und dem Geflügelvolk, das von der Bäuerin das Futter erwartet, ist der Einlauf in den „Hausehre" genannten Vorplatz doch verwehrt. An Melk- und Tränkkübeln, Rübenkorben und bei Regenwetter auch an Holzschuhen vorbei, treten wir rechts in die große Stube. Sie ist die beste, aber nicht „die gute Stube". Sehr oft im Tage gehen die Insassen aus und ein, hier werden die Mahlzeiten eingenommen, hier spielt sich das Fa­ milienleben ab. Sie liegt breit und still da, ein in der Mitte freier Raum, nicht allzu hoch, damit der Bauer seinen regen­ nassen Rock noch an den obersten der Ofenstecken hängen kann, die den runden Bummerofen ober den Niederbronner Platten­ ofen von der Decke herab umziehen. Um die Wände läuft ein halbhohes Getäfel, auf dem die weißgetünchte Wand aufsitzt. Oder steigt, wie das oft vorkommt, die Verkleidung bis zur gebeizten und altersbraunen Holzdecke, so haben wir einen ruhigen, fast feierlichen, warmen, friedevollen Wohnraum vor uns von traulichem Reiz. Es ist, als ob die Freiheit und die Weite des Ackers mit ins Haus genommen wären, dessen Festig­ keit von den ehrlichen Deckbalken gepriesen wird. Wohnen tut man mehr an den Seiten und Wänden. In die Ecke, auf die die Fensterreihen zulaufen, ist der schwere, rechteckige Tisch geschoben. Die große Schublade bewahrt den Brotlaib, die kleinere nebenan Löffel, Gabeln und Salzbüchschen. Das Messer zieht der Bauer zur Mahlzeit aus der Tasche. Eine über den Tisch hinaus- und unter den Fenstern hinlaufende

Bank füllt die Ecke aus. Ist ihr Sitz beweglich und der untere Raum mit Getäfel abgeschlossen, so ist die Bank zur Truhe geworden. Der Ofen wird von der Küche aus geheizt. Neben ihm steht in unverdorbenen Häusern ein Armsessel von nicht städtischer Herkunft. Die fensterlose Längsseite des Zimmers ist durch eine davorgestellte, von zwei bettgroßen Öffnungen unterbrochene Holzwand abgetrennt. Dieser „Alkoven", der durch unverwüstliche „kelschene" Vorhänge für fremde Blicke geschlossen werden kann, dient den Eheleuten als Schlafgemach. In die Mitte der Alkovenwand ist ein zweitüriger Kleider­ schrank eingesenkt, ebenso ist die Uhr mit den Ziehgewichten bis auf das Zifferblatt den Blicken entzogen, so daß die Ruhe des Raumes in der Hauptsache nur belebt wird durch den gewichtigen Tisch und den treuen Ofen. Ein anderes Schränk­ chen schmiegt sich als Eckkänsterle in eine Ecke hinein und stört weiter nicht. In dieser Stube ohne Weiche Bequemlichkeit, aber von ehrlichem und dauerhaftem Material wohnt der Hausgeist. Selbstverständlich ist er religiös verankert. Entweder neh­ men ihn der gekreuzigte Herrgott oder die Muttergottes in ihre Obhut, oder es zeugen in evangelischen Häusern Bibelvers und die in bäuerlichem Geschmack ausgeführten Leichentexte Verstorbener von der Verehrung des Gotteswortes. Zwischen zwei Fenstern neigt sich der Spiegel in die Stube. Bei dem ersten Zeichen erscheint am Sonntag morgen in seinem Rahmen erst das eingeseifte Gesicht deS Bauern, dann der Scheitel der Bäuerin, wenn sie die langen schmalen Zöpfe flicht. Und die umschwärmende Schar von Photographien schaut mit feierlichen Mienen zu. Der Kamm nimmt wieder seinen Platz in der Strähllade ein. Der „Hinkende Bote" oder der „Gute Bote" schließt nach unten die Anordnung ab. An der Türe hängt langgestreckt und steif das von roten Rippen durch­ brochene Handtuch, die Zwele, Gegenstand der Sehnsucht für Städterinnen, die sich ihrer bäuerlichen Abstammung mit Stolz bewußt sind und die Zweien zu einem Prunkstück für große

Gelegenheiten zusammennähen. Solch gediegene Arbeit liefern nicht einmal die Webereien von Gnadenfrei. Die altertümliche Elle neben dem Handtuch und auf dem Fensterbrett das deko­ rative Weinkrügel mit dem roten Gockelhahn machen das Still­ leben vollständig. Auf der anderen Seite des Hausganges liegt die kleine Stube. Die Bauersleute sind noch jung, Eltern sind keine mehr am Leben, da mag sie als Nebenraum dienen, in dem allerhand Hausrat und Gerät abgestellt wird. Ein solcher Ort ist nötig, wo man so mancherlei an der Hand haben muß, das nicht in die Augen zu fallen braucht. Da stehen Säcke mit Saatgut, Kleie und Hühnerfutter. Ein zusammengestürzter Holzkübel, der auf eine ruhigere Stunde wartet. Waschkörbe, Marktkörbe, Bogenkörbe und Zuber. Da hängen Bündel von noch nicht ausgelesenen Zwiebel- und Lauchsamen, getrocknete Kräuter, Lindenblust und Tausendgüldenkraut, Fenchel und Kamillen. In einer Ecke eine Auswahl derber Stöcke, die der Bauer am Feuer gebogen, gespannt und gebrannt hat. An anderen, die gerade geblieben sind, hat er an einem stillen Winterabend der seltsamen Form der Wurzel mit dem Messer etwas nach­ geholfen und einen Tierkopf oder eine Vogelgestalt heraus­ geholt. Maienwürfe lehnen an der Wand, die Drahtnetzgitter, die das geschnittene Korn schön auf den Boden breiten. Gurten und Stränge, Riemen und Zäume, Geißelstöcke und Treib­ schnüre, Garbenbänder und Strohseile. Kirschenhacken, Kirschenkrättel, die Luzerne und das Weinlogel, das unter dem Wagen hängt, wenn weit hinterm Hüneburg Holz geholt wird. Ein kunstvoll gedrehtes Spinnrädchen und eine Haspel. Wein­ heber, Faßbrand und Unschlittkerze vertragen sich auch gut. Ein alter Mutzen und Schaffblusen. Ungebleichtes Leinen, ein großer Steinkrug Kirschenwasser und ein anderer mit Drusen­ branntwein zum Einreiben, wenn man das Reißen in den Gliedern hat. Säckchen mit gedörrten Zwetschgen, Äpfel- und Birnenschnitzen. Krauthobel und breitrandige Feldstrohhüte, die eher von älteren Frauen als von jungen Mädchen getragen

werden. Ruckkörbe und Sandreiter. ES gibt schwere Arbeits­ tage auf dem Land. Alle diese Dinge verschwinden aber in einer der vielen Kammern oder in einem leeren Futtergang, wenn der Groß­ vater nur noch so viel bebauen will, als die Kräfte zulasten, und in die Kleinstube hinüber zieht. Ein Gegensatz in der LebenSrichtung wird damit nicht geschaffen. Zwischen die beiden Lebensalter tritt verbindend im Hintergrund des Flures die Küche. Über den auS Backsteinen aufgeführten weitläufigen Herd, den manchmal schon der eisen­ emaillierte der Großstadt verdrängt, stülpt sich der mächtige Kaminschoß. Er nimmt den patriarchalischen, heimweherwekkenden Rauch deS Reisig- und Rebholzes auf und läßt am Rande auf einer Lattenschiene viele runde Topfdeckel in ab­ fallender Größe hintereinander herlaufen, von den Köstlich­ keiten seines nie leeren Inneren jetzt ganz zu schweigen. Ein lautes Lob gehört dem Backofen, besten geschwollener Bauch zur Hinterwand herauShängt, ob er nun dicht an den Herd anschließt oder sich vornehmer in eine eigene angrenzende Back­ stube zurückgezogen hat. Nicht nur wegen der erwartungsvollen Stimmung, die mit der Backmulde und dem Borteig sich überall einstellt. Sie ist allgemein menschlich, sonst hätte der Heiland den Laib Brot nicht mitten auf den Tisch deS Vaterunsers gesetzt. Hat aber die raffinierte Straßburger GänSleberpastete unS einen französischen Geschmack im Urteil aller Genießer an­ gehängt, so soll der ehrliche Flammenkuchen, wie er nur aus einem elsässischen Bauernbackofen hervorgeht, und der gleich­ wertige Zwiebelkuchen unsere deutsche Abstammung und Ge­ sinnung rechtfertigen. Leider hat noch keiner von ihnen weder im alten noch im neuen Elsäster Schatzkästlein seinen Dichter gefunden. Zurückbehaltener Brotteig wird auf einem möglichst großen Kuchenblech so dünn wie ein Laubblatt auSgewahlen, mit einer Schicht von mit Rahm verdünntem Quark bestrichen und in den Backofen geschoben, wenn daS zusammensinkende Scheitfeuer etwas auf die Seite gerückt ist. Schlagen die

Flammen vorschriftsmäßig über den schnellgebackenen Kuchen hin, so haben dunkle Blacken und Streifwolken den Kuchen marmoriert, daß es ein wahrer Staat ist. Und stehen die grünen Rohren der jungen Saatzwiebeln etwas dick im FrühjahrSbeet, so wäre ohne Zwiebelkuchen der Backtag nur ein halbes Fest. Die RLHrenzwiebeln werden kleingeschnitten, im Fett geschweißt, mit Rahm verdünnt und erkaltet aufgestrichen, das Ganze in die Gähhitze eingeschossen. Die Ölflächen und die Stückchen von gestreiftem Speck beleben nachher an­ genehm die braune Fläche. Während dieser Vorgänge wartet die Familie bei einer geschlachten, dicken Kartoffelsuppe mit Spannung auf das Erscheinen der Kuchen, die warm verzehrt sein wollen. Die Suppe hatte allein weitergÄköchelt und es der Bäuerin möglich gemacht, ihre Kraft und Aufmerksamkeit dem Backen zuzuwenden. Zuletzt, wenn die Sechspfünder ein­ geschoben sind, erscheint sie selber mit erhitztem Gesicht. Aber die allgemeine Genugtuung ist ihr süßer Lohn. So etwas muß man erlebt haben! Wer das kleinbürgerliche Leben lieb hat, der über­ rascht wohl einmal in einem Bäckerladen der Kleinstadt, vor­ mittags zehn Uhr, eine kleine Gesellschaft von alten Herren und Handwerkermeistern, die bei einem auch erreichbaren Viertel Rotwein im Stehen diese unvergeßlichen Jugendeindrücke er­ neuern. Um nicht im naiven Realismus zu versinken, müßen wir weitergehen. Nur so viel sei noch verraten, daß das Quetschelschleckel am besten wird, wenn es dreimal auf achtundvierzig Stunden in den Ofen eingestellt wurde, aber nur in einem großen irdenen Rutfchhafen. Ganze Schinken, in Brotteig ein­ geschlagen und gebacken .... jedoch schweig still, mein Herz! Eine ungebrochene Treppe führt hinauf zum Oberstock und in einen Bereich von besonderer Stimmungskraft. Wir machen eine Türe auf und noch eine: Kammern, stille Kam­ mern, sofort nach ihrer Bestimmung erkennbar. Das hier ist die Kornkammer. Jeder Schweißtropfen hat sich in ein Korn verwandelt. Es müßen viele gewesen sein — Sack lehnt fest an Sack, zwei, drei Reihen übereinander. Jedes Korn ein Lob

des heißen Sommers. Nimm aus dem angebrochenen Stumpen Weizen eine Handvoll Körner und lasse sie langsam und fromm durch die Finger rieseln. So schön glatt, sauber und kühl, wie sie sind! Dieser Mehlsack enthält Mulzer, das Brotmehl, eine erprobte Mischung von Korn und Weizen. Jener dort Aus­ zugsmehl, Doppelnull, von dem die Matschen und Kugelhöpfe so schön haben. Alle Schönheit ruht hier in der Sachlichkeit und aller Reichtum in der wortlosen Güte. Durch eine andere Kammer läuft ein enger Fußpfad. Er ist natürlicherweise dadurch entstanden, daß bis hierher aus Winkeln und Ecken keine Äpfel mehr gekollert sind, deren Haufen an den Wänden emporstreben. In geringeren Jahren und bei einem kleineren Bestand von Obstbäumen gibt es doch eine Äpfelkammer, die ihren Namen beibehält, auch wenn in einer Ecke auf einem Strohlager Prachtstücke von Birnen ihrer letzten Vollendung entgegenreifen, oder an ausgespannten Schnüren Edeltrauben bis zum Dreikönigstag aufbewahrt werden. In der nächsten Kammer müßen wir uns länger auf­ halten; denn hier hinein hat sich das ältere Volkstum geflüchtet. Aus dem ruhigen Raum, dem wohltuend die dummen Kleinig­ keiten der städtischen Wohnungen fehlen, schlägt uns eine leb­ hafte Buntfarbigkeit entgegen. Die wenigen, elementar ge­ bauten, eichenharten Möbel — Bett, Schrank und Truhe — breiten eine gedämpfte Wärme und Freude aus. Sie reden mit der gütigen Überlegenheit alter Dinge vom Glück, der Liebe, den Hoffnungen einer längst verstorbenen Altmutter des Hofes, zu deren Brautgut diese Stücke einst gehörten. Keine Stelle, die nicht von Farbe bedeckt wäre. Den Grund der Möbel -füllt ein sattes Blau, aus dem rote Borten und Zierleisten, Helbe Tulpen, flammende Sterne und Herzen herausjauchzen. Und alles ohne Schablone gemalt. Die freie Unregelmäßigkeit der Zeichnung zeugt von Selbstbewußtsein, und die Hochach­ tung, die wir vor dieser ursprünglichen Farbenfreude empfin­ den, läßt das Lächeln über das Naive der bäuerlichen Kunst -so-

nicht aufkommen. Die Bettpfosten sind einfach vierkantig und ragen über das hochgetürmte Federdeckbett noch einen halben Meter hinaus. An der Kopfwand steht in Majuskeln geschrieben, daß Anna Maria Katharina Würth im Jahre 1835 den Georg Michel Hamann geheiratet hat. Der Schrägbalken im großen N läuft zwar verkehrt, von unten links nach rechts oben, aber das ist ja perfönlich ganz reizvoll. Erwacht man am Morgen eines dem Berufsräderwerk entrissenen Ferien­ tages zwischen dem groben Leintuch und dem ungeheuren Deck­ bett — zweites Leintuch und Decke sind unbekannt —, so hat man alle Muße, den alten Kleiderschrank einer künstlerischen Würdigung zu unterziehen. Wundervoll, wie sicher die weißen Urnen die vier Türfelder ausfüllen! Rührend und an mittel­ alterliche Freskenmalerei erinnernd, wie die aufsteigenden roten Tulpen sich so brav in das grüne Blattwerk hineinstellen, daß ja jede einzelne gesehen wird und dem Blick die volle Breitseite sich darbietet! Und wie freudig knallt das Rot zwischen dem gehaltenen Blau und Grün, während die strengen weißen Rippen der Schale die Verteilung der Stengel besorgen! Das letzte Stück schließlich, die freistehende Truhe, stammt noch aus der Zeit, wo der türige Schrank noch nicht so stark zum Be­ dürfnis geworden war. In gut gefühlten Maßverhältnissen gebaut, ist sie eine tiefe Lade, wie sie die deutsche Kunstgeschichte schon längst kennt, und bietet zugleich eine einladende Sitz­ gelegenheit. Als Ofenbank neben dem gedrungenen grünen Kachelofen kann man sie hin und wieder in einer städtischen Studierstube antreffen, auch ein Beweis des Zuges vom Lande nach der Stadt. . . . Unter dem tiefhängenden, mit Biber­ schwanzziegeln gedeckten Dach ist nicht nur Platz für die in weiter Fläche ausgebreiteten gelben und roten Zwiebeln. Es ist immer noch eine Kammer vorhanden, die einen unerwarteten Gast beherbergen kann. Der Reichtum eines Hauses läßt sich in stets bereiten Betten ausdrücken.

II. Beim Betreten des in sich abgeschloffenen HofeS fällt uns eine über den Stalltüren hinlaufende Holzgalerie auf, die die Langweiligkeit der langen Zeile der Nutzgebäude auf daS wir­ kungsvollste aufhebt. Die Balkonwand setzt sich auS reich­ gegliederten, scharfprofilierten, ziemlich dicken, niederen Säulen zusammen, die im Volksmund Balustern heißen. Diese Art von Holzarchitektur ist für unsere Landschaft geradezu charakte­ ristisch und weist auf ein Verlangen nach Gestaltung und Durch­ bildung hin, wie wir es auf Schritt und Tritt im Innern des HauseS bei den unscheinbarsten Gebrauchsgegenständen immer wieder antreffen. Der Bauer, der frei und ungehindert draußen auf dem Acker zu stehen gewohnt ist, würde sich schämen, wegen jeder Kleinigkeit, die er selber besorgen kann, zum Schmied oder zum Wagner zu laufen. Er schnitzt sich nötigenfalls einen Kerzenhalter oder Käsabtropfer selber, und bei seiner besinn­ lichen Art kommt dabei etwas Originelles zustande, das den Stempel seines Wesens an sich trägt. Selbstgezimmerte Kin­ derwiegen, die auch in der neuesten Zeit die alte bäuerliche Überlieferung fortsetzen, sind durchaus nichts Seltenes, wenn auch die alten Käsetellerställe, die Plotzständle und Salzfäffer nach und nach verschwinden. Und erwacht eines Tages im Erstgeborenen die Freude am Pferd, so gibt es heute noch junge Väter genug, die es unternehmen, freihändig und ohne jede Vorlage ein Schaukelpferd zusammenzubasteln. Unter dem Schuppen liegt trockenes Holz genug. Der Knebel, mit welchem die Schlinge deS Garbenseiles angezogen wird, reizt zum Ein­ schneiden von Ringen und Kerben; sogar die Faßriegel aus alter Zeit weisen eine phantastische Ornamentik auf. Aus all diesem spricht zu einem empfänglichen Menschen der Geist des freien Germanen, der unter dem Himmel zuhause ist und mit der Erde vertraut, der die innerste Natur des Materials kennt und weiß, was man aus ihm herausholen kann. Dieselbe unbewußte Freude am Gegenständlichen liegt

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in den Zeichnungnen des Geschirrs. Der graue Milchhafen aus Steingut muß ein blaues Bändchen und Tupfen tragen, der braune glasierte Kaffeetopf ist gelb gefleckt. Das Grünkohl­ gericht erscheint auf einer breiten irdenen Platte, deren Boden ein Ningelmuster bedeckt. Seit der Städter die Bauernkunst entdeckt hat, ist die Nachahmung des guten Tafelgeschirres ge­ radezu Mode geworden. Beliebt ist besonders das Muster, welches bei großen Hochzeiten und Kindtaufschmäusen auf Tel­ lern, Platten und Schüsseln sich immer wiederholt. Entweder sind es gefüllte rote Rosen, deren Blätter mit einem breiten, sicher ausgezogenen Pinselstrich hingesetzt sind, von kurzem grünen Laub umgeben. Oder es ist ein einfacher, offener Spä­ nen- oder Weidenkorb mit zwei Henkeln, dem Astern und Tulpen entquellen; obendrauf thront stolz zwischen Vergißmeinnichten der zum Symbol oder Wappentier gewordene Gockelhahn, oder er steht zwischen schwertweise gekreuzten Rechen und Sensen. Und wenn ein kritischer Geist vergebens nach den angewandten Sätzen der Perspektive frägt, so kann ein weniger gründliches Gemüt daran seine Freude haben, wie der gewal­ tige Sichelbusch das Gleichgewicht ungefähr wiederherstellt. Die urnenförmige Suppenschüssel, das prunkvollste Stück des Tafel­ gerätes, steht wie eine gütige Fürstin unter dem Landvolk des niederen Geschirrs. Von hier aus ist bis zur Durchbildung der Tracht nur ein Schritt. Der Mann ist auf diesem Gebiet ebenso zurückhaltend wie sonstwo. Am Werktag hat die Kleidung gar nichts Auf­ fälliges, nur die gelegentlich übergeworfene blaue Bluse aus Weberzeug ist auf den Achseln mit einem je nach der Gegend verschiedenen Geschnörkel in rotem oder weißem Garn geschmückt. Sie ist so genäht, daß sie links und rechts getragen werden kann. Am Sonntag hingegen wird ein Anzug aus schwerem dunkeln Stoff von einfach strengem Schnitt getragen, der unter dem Gesicht ein weißes Dreieck freiläßt. Bei alten Männern ragen oft noch die zwei langen Spitzen der selbstgebundenen schwarzen Halsbinde seitlich hervor, ein letzter Ausläufer der

verschwindenden „Vatermörder". Junge Burschen begnügen sich mit der genähten Krawatte, die auch bunt geblümelt sein kann. Die Jacke ist von hinten so kurz und zweckmäßig wie die der Matrosen, unter dem Kinn schlagen zwei gleichschenklige Drei­ ecke nach links und rechts aus. Auch der Bauer ist ein Frei­ luftmensch, er macht am Sonntagnachmittag einen Gang durch den Bann und sicht nach dem Stand der Felder und Rchen, er muß sich ungchindert bewegen können und erträgt an sich nichts Herumflatterndes. Als Feierkleid tritt in der Gegend von Mietesheim und Engweiler an Stelle der kurzen Jacke der über die Änie reichende, langschössige „Anglers". Dann ist es überaus reizvoll, wie ftisch die mohnrote Weste aus schwerem Tuch und die zwei Reihen dicht aufgesetzter goldener Knöpfe aus dem offenen Oberkleid herauszünden. Der Gesamteindruck ist schwarzweißrot. Haare werden im Gesicht nicht gchuldet, nur vereinzelt pflegt ein junger Bauer noch eine Zeitlang seinen Reservistenschnurrbart. Der schwarze Hut ist niedrig gewölbt, breitrandig und von großer Dauerhaftigkeit. Daß er erneuert werden muß, wird im Leben nicht allzuoft vorkommen. Von der Frauentracht ist mehr zu sagen. Zur Arbeit wird ein Kleid aus Waschstoff getragen, das aus zwei Teilen, Rock und Jacke, besteht. Bei letzterer wird der untere Rand nicht in den Rockbund mit hineingenommen, er hört bald unter den Schulterblättern auf und rückt die Taille ziemlich hoch hinauf. „Kassawek" sagen unsere Leute dazu. Das Haar wird in der Mitte gescheitelt, die langen Zöpfe legen sich um den Kopf, und die so entstehende Krone wird mit einem schwarzen Samtband noch einmal betont. Bei Feldarbeiten schützt vor der prallen Sonne ein Weißes dreieckiges Tuch, das sonst auch als Unter« halstüchel verwendet wird. Am Sonntag aber ist aus dem Aschenbrödel ein „Siedebriedel" geworden, über ein grobes Linnenhemd ohne Spitzen und Einsätze werden mehrere Unter­ röcke, die das städtische Damenunterbeinkleid noch nicht haben austommen lassen, geworfen, von denen die ersten an Achsel­ trägern niederhängen, die übrigen über den Hüften festgebun-

den sind. Damit ist die quadratische Silhouette auch junger Frauen hinreichend erklärt. Uns ist ein wattierter Unterrock besonnt, den eine Braut als Aussteuer mitbekam, nachdem er lange Jahre Dienst getan hatte, und der zur Kinderbettdecke umgearbeitet, jedesmal das jüngste aus einer großen Kinder» schar nächtlich zudeckte und dann noch einmal den ersten Enkel. Die Oberkleidung ist von einem Farbenreichtum und einer Kostbarkeit deS Materials, die jedes künstlerische Augen ent­ zücken muß. Zu den schwarzen Halbschuhen stehen die weißen Zwickelstrümpfe in einem lebhaften Gegensatz. Welche Liebe der frauliche Sinn darauf verwandt hat, davon zeugt der Reich­ tum der Strickmuster, deren Bezeichnungen der Natur und dem bäuerlichen Leben entnommen sind, sprachlich ebenso intereffant wie kunstgewerblich. Da gibt es einen Tannenzapfen-, Quetsche!-, Grasblümel- und Trauerwiedelzwickel. Bei ande­ ren Mustern wechseln Fischschüppel und Fischgrätle, Fischgrätle und Zöpfle miteinander ab. Pfauenfederle oder Gerstenkörnle, große Ecksteinle oder Rosenblättle bedecken das Bein. Ein be­ sonders reiches Muster nennt sich Hochzittszwickel oder 's Herzel mit dem doppeltgeschlängelte Fischgräte!. Jmmenhiesle mit Lächle, Rosmarinel zwischen zwei Ochsenbrunz, 's Feuerwerk, 's Herzel und Mücke! erfordern eine ganz besondere Strickfer­ tigkeit. Der Strumpf hört unter dem Änie auf und ist oben mit einem Reifel und Kränze! abgeschloffen. Darüber erhebt sich der wichtige Rock. Weit und an den Hüften viele Falten schlagend, kommt er in allen Farben vor, weiß und gelb ausgenommen, wobei im allgemeinen die katho­ lischen Dörfer sich durch eine größere Vorliebe für helle Farben auszeichnen. So sind z. B. die Röcke (und die Schlupfkappen) der alten Tracht von Geispolsheim knallrot, wozu weiße Schür­ zen und Umschlagtücher treten. Ob diese Farbenzusammenstel­ lung geschichtlich mit den Wappenfarben von Straßburg, die gern als elsässische angesehen werden, in Verbindung zu bringen oder den liturgischen Gewändern des katholischen Kultus ent­ lehnt ist, soll hier nicht entschieden werden. So viel ist sicher.

daß in einem grünen Flanellrock unfehlbar eine protestantische Bäuerin steckt. Der untere Rand ist mit einigen Reihen Nestel verziert, deren dunkler Samtgrund von vielen farbigen Seiden­ blümchen durchsetzt ist. Doch bevor wir weiter fortfahren, muffen wir die künst­ lerische Betrachtung mit einer sehr nüchternen, geschichtlichen Bemerkung unterbrochen: da, wo der Schließgürtel anliegt, da läuft für die elsässische Kostümkunde auch die Grenze zwi­ schen Einst und Jetzt. Früher ragte aus dem Rockbund zur Brust herauf ein mit Metallplättchen, Sternen und Sonnen übersäter, bunter dreieckiger Vorstecker, der die Wirkung der blütenweißen Spitzenärmel erst recht zur Geltung brachte. Und um Hals und Brust schlang sich, leicht und lose geknüpft, ein köstliches, seidenes Halstüchlein, dessen lange seidene Troddeln und Zöpfchen am weißen Oberhemdchen niederrieselten. Leider ist dieser Teil bäuerlicher Tracht unwiederbringlich unter den Einflüssen der Neuzeit verschwunden. Geblieben ist nur die große seidene, mit phantasievollen Blumen und Rankwerk durch­ wirkte Schürze und die Schlupfkappe, deren äußere Maßverhältnisse nicht nur, deren volkstümliche Bedeutung auch in der neusten Zeit noch wachsen und zunehmen. Dafür, daß Mieder und Spitzenhemd von dem in Schnitt und Güte veredelten Kafsawek verdrängt wurden, hat sich die Bauersfrau durch die weitere Pflege der Schlupfkappe entschädigt. Als in der städti­ schen Mode die Anbringung flatternder Schleifchen verschwun­ den war, brachte es das Kopfband im Bauernschlupf zu einer Auferstehung und einem noch viel schöneren, zweiten Leben. Die heutigen Großmütter haben diese ungeahnte Entwicklung mitgemacht. In der Jugend trugen sie einen Scheitelschlupf, dessen Schleifen und Enden auf dem Haar auflagen. Breite und Länge wuchsen nach und nach. Erst hingen die Enden bis zu den Ohren, dann bis zu den Schultern herunter, und heute wallen sie schleierartig bis zur Taille hinab, während die Breite des mächtigen steifseidenen Kopfschmuckes die der Schultern noch um ein gut Stück übertrifft. Alle Würde des Sauern«

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standes ist in der Schlupfkappe ausgedrückt, die auch das kleine Schulmädchen mit ernster Miene trägt. In katholischen Dörsern werden Helle Farben und Farbenzusammenstellungen be­ vorzugt. Das seidene, bis zu 40 Zentimeter breite, gerippte steife Band ist dann entweder schottisch gemustert oder von großblättrigen Blumen überdeckt. In protestantischen Gegen­ den herrscht das feierliche Schwarz unbedingt. Dort ist dann oft auch die ganze Kleidung schwarz und nur der Glanz der Seide und Sammetnestel und der stumpfe Ton des schwarzen Tuches bringen in ihren Lichtwirkungen einige stille Reize hervor. Billig ist diese Tracht nicht. Die Schlupf­ kappe allein kam in Friedenszeiten bis auf hundert Mark zu stehen. Bei der Augenfälligkeit dieser Kopftracht ist es kein Wun­ der, wenn sie zum Plakat und Sammelbegriff für elsässische Art geworden ist. Sie hat nicht nur das Titelbild hergegeben für Marie Harts köstliche „G'schichtle un Erinnerungen üs de sech­ ziger Johr", die in einem Landstädtchen spielen, wo nie Tracht getragen wurde; sie eröffnete nicht nur die Sondernummer der Leipziger Illustrierten über das Elsaß; auch Niklaus Brucks Straßburger Kriegsroman „Ich warte" zeigte als Umschlags­ zeichnung ein elsässisches Büremaidel mit der unvermeidlichen Schlupfkappe. Sogar von den Straßenecken Groß-Berlins lud dieses uns vertraute Heimatssymbol ein zum Besuch des elsässi­ schen Films: der Antiquar. Und es ist ein Beweis für unsere Heimatliebe, wenn selbst großstädtisch erzogene reiche Bauern­ töchter zu einem im übrigen modernen Kleid mit sichtlichem Stolz doch noch die Schlupfkappe tragen. So bekannt aber in der künstlerisch interessierten Welt die elsässische Bauerntracht sein mag, so gering ist die wahre Kenntnis vom Charakter des elsässischen Bauern. Der elsässische Bauernroman fehlt noch, obgleich der kulturelle Reichtum un­ seres Landes, seine geschichtliche Vergangenheit, die Mannig­ faltigkeit von Sitten und Gebräuchen geradezu darnach ver­ langen. Wohl hat das Elsässische Theater Bauerntypen auf die DaS Elsaß.

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Bühne gestellt, meistens aber in dem Bedürfnis, Lustspiel­ figuren zu gewinnen, und gerade dazu eignet sich der elfässische Bauer am allerwenigsten. Und auch unter unseren elsässischen Malern gibt es nur einzelne, die dem Bauernvolk so nahe stehen, daß sie seiner Seele tiefsten Grund aufdecken können. Was man in der Postkartenindustrie und in Holzeinlege­ arbeiten an Elsäsierinnen oft antrifft, das sind nichtssagende Allerweltsfigürchen, geschleckt und gehobelt, in ein Kostüm ge­ steckt, deren Anblick uns nur traurig stimmt. Ganz und gar verlogen ist die ihnen angefälschte Eleganz und der aufgetragene Hauch einer lockenden Freundlichkeit und Sinnlichkeit. Herb und ernst sind die Züge unseres Landvolks, auch bei Mädchen und jungen Frauen, die von frühster Jugend an zu schwerer Arbeit angehalten werden. Ihre Hand ist schwielig und ihre Haut von Sonne und Wind ledern geworden. Ihr Wesen ist spröd und zurückhaltend. Bricht die Natur durch, so tritt sie mit elementarer Gewalt auf, nie aber verliederlicht sie in Tän­ delei und Berechnung. Und in allen übrigen Stücken sind Mann und Frau innerlich gleich geschaffen. Der elsässische Bauer ist kurz und karg mit seinen Worten. Er ist gewohnt sich zu beherrschen. Er weiß Freude und Schmerz still in sich zu verbergen. Er ist stark im Ertragen und findet sich ohne viel Worte auch in schwierigen Verhältnissen zurecht. Er schämt sich der Tränen, er renommiert nicht, er spricht nicht von seinem Besitz, wenn die Sachlichkeit es nicht verlangt. Er achtet und pflegt die Sitte und Ordnung und beugt sich gehor­ sam vor der Überlieferung. Er liebt das feierliche Herkommen. Es herrscht Selbstdisziplin unter unsern Bauern, ohne daß sie dieses Wort kennen. Bank für Bank verlassen die getrennt sitzenden Altersklassen die Kirche, das gemessene Wesen hört auch hinter dem eigenen Hoftor nicht auf. Gastfreundlich zu sein, ist ihm etwas Selbstverständliches. Das Weinkrügel, Brot, Butter und Rauchfleisch werden angeboten, sobald der Gast die Stube betritt. In der Behauptung seines irdischen Besitzes nimmt er es aber sehr genau, und selbst den eigenen Kindern gegen-

über liebt er in diesem Stück rechtlich festgelegte Abgrenzungen. Allen Neuerungen steht er lange beobachtend gegenüber. Er ist konservativ im ethischen Sinn und meistens auch im religiösen. Er achtet die Obrigkeit auch da, wo er staatliche Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt seiner persönlichen Interessen be­ trachtet. „Gegen das Wetter und die Regierung soll man nichts sagen, denn sie machen doch, was sie wollen." Zu dem aufgeregten gallischen Wesen bildet er den Gegenpv'. Geriet er je einmal verschuldet oder unverschuldet in den Bann fremd­ ländischen Wesens, so kam seine urdeutsche Art doch aus allen Knopflöchern hervor. Die zweihundert Jahre französischer Fremdherrschaft haben in seinem Charakter, in seiner Sprache und Gemütslage auch nicht die geringste Spur hinterlassen. Es liegt ihm nicht, sein Inneres aufzudecken. Vaterländische Begeisterung zeigt er deshalb nicht, weil er überhaupt nie seine Gefühle aufschäumen läßt. Aber er weiß und fühlt es bis ins innerste Herz: Wir sind keine Welschen. Und für die tiefe, nie zu überbrückende Kluft zwischen ihm und welschem Wesen ist nichts so bezeichnend als die Tatsache, daß er alles windige, hohle Wesen auch zu französischer Zeit mit dem Wort abzutun pflegte: Diß sin Plän vun Paris! Jeder Dachfirst aber und jeder Lattenzaun, jede Runzel im Gesicht und jede Regung in der Seele sind ein beredtes Zeugnis für die deutsche Vergangenheit unseres Elsässer Landes.

Nachtgruß an das Elsaß. Don Friedrich Lienhard.

(>n schwerer, zuckender Stille der Nacht, O In ferner Kriegsgewitter Glut, Mein Elsaß, wie hab^ich an dich gedacht! Mein Elsaß, wie innig war ich dir gut! Bin ich dein Sohn und darf dich besingen? Oder trennt mich mein Wandern und Ringen? Der ich den Stimmen Alldeutschlands geglaubt. Der ich, die Glocken der Westmark im Haupt, Ausgegangen, um das zu erfangen. Was mir die Stimmen der Ferne sangen: Ward ich ein Fremder und weniger echt. Weniger echt als die seßhaften andern? Hab' ich im suchenden Sehnen und Wandern Jemals verleugnet mein heimisch Geschlecht, Jemals vergessen mein Land am Rhein?

So hab ich, im fernen Donner der Schlacht, Deutsche Westmark, an dich gedacht, Elsaß, umschimmert vom Jugendschein! Ich grüße dich und weiß mich dein! Ich grüße dich, mein Glockenland, Mein wetterumsprühter Wasgaurand, Wo auf den Lügeln, herdstlich-still. Mancher Kirchhof mich mahnen will. Daß einst auch mir nach Wanderns Frist Elsässische Scholle beschreden ist. Ich grüße dich! Dort bin ich erwacht. Dort hab ich oer Mutter ins Auae gelacht. Dort hat mich der Vater durchs Felo geführt, Erste Liebe hab ich gespürt Und frühe gefunden die süße Braut, Die sich als Weib mir anvertraut. Dort hab' ich mein Schloß mir auferbaut, Mein Geistesschloß, freistehend und front------O deutsches Elsaß, habe Dank!

Die Geschichte vom sterbenden Kirschbaum. Von Lans Karl Abel.

Freitag Morgens, den 14*«* August 68.*) töte dich nicht an dem Dintenkleks der auf dem l.sten Theile meines Briefes liegt; es ist nicht meine Schuld: meine Frau, scheint es, wollte ihn durchgehen, in der Nacht obgleich sie es nicht gestehen will, und hat das Dintenfaß umgestoßen. Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, so würde ich Alles wieder angefangen haben. Aber Amelie geht schon nach 7 Uhr nach Münster (Munster) u. soll ihn auf die Post tragen, da du ihn auf diese Weise einen Tag früher er­ halten wirst. Diese digression ist auch Schuld daß ich vermuth­ lich noch, ein 3tes Blatt brauchen werde. — Also gestern Abend, als ich zu Bette gieng, sagte ich dir von meiner mention honorable. Du wirst sie auch im courrier schon Ende Julius gelesen haben; ich habe die Meldung auch im Bulletin acadömique. Letzten Sonntag hat mir auch BäckeFritz Glück gewünscht, auf einer Visitenkarte, die er mir ge­ schickt. Hr Hatt hat die Sache auch schmeichelhaft hervorgehoben. Aber was du nicht weißt, ist daß ich den lOten Julius, an einem Freitage, eine hohe, höchst unerwartete, seltene Visite gehabt habe, eine solche, die man in dieser Gegend noch nie erlebt. Eben an diesem Tage, als ich um 3 Uhr noch draußen war mit meinen Schülern, während der Sortie, bekomme ich von einem Schüler von Luttenbach ein zusammengelegtes Pa­ pier; wie ich es öffne, so erkenne ich die Hand des Hn Heinrich, inspecf. lr. Es war folgenden Inhalts: Veuillez garder vos *) Originalbrief eines elsässer Lehrers.

enfante et ceux des deux autres ecoles jusqu’ä ce soir. Vous aurez la visite de Mr 1’Inspecteur general Villemereux. Wie mir zu Muthe war, kannst du dir leicht denken. Ich berichte die MUe und die Schwester und wir warten. Endlich, 6 minutes nach 5 Uhr, treten diese 2 Herren zu mir ein von Luttenbach in einem Ge­ fährte kommend; sie sind 5 Viertelstunden bei mir gewesen bis nach 6 Uhr und 20 Minuten. Von mir gierig es nach der Mäd­ chenschule und dann erst zu der Schwester; aber sie haben sich dort in jeder nur halb so lang aufgehalten als bei mir, und sind um halb acht fortgefahren; es kam ein Gewitter, und da haben sie, scheint es noch abgekürzt. Es war mir lange genug wie du dir einbilden kannst (so 5 Viertelstunden) I Herr Villemereux ist ein großer schlanker Mann mit einem rothen ge­ funden Gesicht und Habichtsnase; er trägt eine Brille, und mag wohl stark in den Fünfzigen seyn. Er ist der auteur einer Lefemethode, die er auch bei sich hatte, und worin er die kleinen Kinder lesen machte. Ich fand die Methode vortrefflich, (auf einen Wink des Herrn Heinrich) und fragte ihn wo ich sie haben konnte; da ist er gleich bereit gewesen und hat mir eines dieser Büchelchen geschenkt: Tenez, la voilä, je vous la donne. Das hat einen guten Eindruck gemacht. Nachher ist es an das Lesen der andern Klassen gegangen (er machte ganze Klassen mit­ einander lesen und syllabiren; neben der lecture courante). Dies kann sein Gutes haben; aber die Regel daraus zu machen, wäre eine monotone Sache, ein Schlendrian. Es wurden als­ dann explications de mots gemacht, ein wenig grammaire; calcul, besonders addition und soustraction orale, und haupt­ sächlich systfeme metrique. Auch die cahiers wurden genau durchgesehen. Gut, daß ich das Deutsche seit einiger Zeit nur mehr oral gemacht hatte; denn Herr Villemereux, wie ich nachher erfuhr, hatte in Luttenbach bei MUe Leonard die deutschen Hefte zerrissen und auch in der Knabenschule gescholten, da er des Deutschen ansichtig wurde. Diese Franzosen sind doch in dieser Hinsicht alle gleich, so gelehrt als sie sonst auch seyn mögen. Sie können unsere Lage nicht begreifen und sich nicht

in den Kopf setzen, daß man von den Deutschen auch etwas lernen könne —. Die französische Eitelkeit läßt es nicht zu. Und da diese Herren nicht eainement, par voie de comparaison urtheilen können so sind auch ihre Ansichten in dieser Hinsicht irrig und falsch, und sie überschätzen sich und geben sich immer den Isten Rang. La nation civilisee, la grande Nation ect. ect. Herr Heinrich war ganz auf meiner Seite; er sagte mir gleich (ä part): Ne vous troublez pas, je suis lä et je vous ai porte pour une recompenee. Er gab mir auch verschiedene Winke, sagte den Kindern, sie sollten die deutschen cahiers nicht zeigen, * * *

iebenundvierzig Jahre später. Der alte, siebenundsiebenzigVy jährige Schulmeister wohnt nicht mehr im Großtal; er hat sich längst pensionieren lasten und lebt bei einer Tochter in einem Dorfe vor Münster, aber einen kleinen Vertrauens­ posten versieht er noch: die ihm liebgewordene Turmuhr regu­ liert er ganz allein. Das hat er sich auserbeten. Ihm klingt ihr Schlag durch seine schlaflosen Nächte wie die Stimme einer alten Freundin, einer Schicksalsgenossin. Keiner darf ihm an das Werk, und nie vergißt er es, sie nach einer bestimmten Reihe von Tagen aufzuziehen. Nun ist der Krieg hereinge­ brochen, und der Herr Ortskommandant hat ein strenges Ver­ bot ertasten müssen, daß kein Bewohner um die Mittagszeit auf die Straße darf. Erst wenn es dunkelt, dürfen die Bürger ihre Häuser verlassen. Daran denkt der alte Schulmeister nicht, als es gilt, die Uhr zur gewohnten Stunde zu besorgen. Sie läuft um Mittag ab. Daher macht er sich auf den Weg nach der Kirche. Es fällt ihm auch nicht auf, daß er keinem Menschen begegnet, 's ist der Krieg! Auf dem Marktplatz hält ihn eine Patrouille an und schickt den Alten mit einer Verwarnung heim. Der ist ganz unglücklich, daß seine Freundin nun im Laufe des Nachmittags verstummen wird. Er kann's kaum erwarten, bis sich die Dämmerung auf das Dorf herabsenkt.

Dann steigt er, mit einer brennenden Kerze versehen — denn er ist schlecht zu Fuß und die Treppe ist im Finstern gefähr­ lich — in den Glockenturm hinauf. Auf einmal dröhnen Kolbenschläge drunten wider die Tür, die er von innen verriegelt hat. Was ist das? Die holperige Treppe herauf stolpern Soldaten. Endlich haben sie ihn ertappt, den Spion, der den Franzosen im Gebirge droben das Zeichen gibt, wann sie herabschießen sollen! Er wird gefesselt, so wie er geht und steht, und in seinen Hausschuhen nach Münster gebracht. Dort ist die Hauptwache. Er wird unbarmherzig erschossen werden. Dem alten Manne geht vieles auf dieser Wanderung durch den Sinn. Er denkt auch an seinen schönen alten Kirschbaum daheim in Mühlbach, den er einst selbst am Hügelhange ge­ pflanzt, als er noch ein junger Lehrer war und dort wohnte. Ob die Deutschen wohl auch diesen Baum gefällt oder die Fran­ zosen ihn umgeschossen haben? Ach, wie schlimm, wie schlimm ist es doch, wenn man seine Wurzeln in Elsässererde hat! — Auf der Wache hat man den Greis verhört und wieder freigelaffen. Nein, dieser alte Schulmeister ist kein Spion. Es sind gutmütige Schwaben, Blut von seinem Blute. Sie schenken ihm ein gutes Gläschen ein und noch eins, und er singt zuletzt mit ihnen deutsche Lieder. Die Lieder, die er seine Schulkinder einst gelehrt, als er seinen Kirschbaum pflanzte, und das deutsche Münstertal noch welsch war. ♦



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Eine feindliche Granate hatte um dieselbe Zeit den alten Baum zur Hälfte entwurzelt. Einst stand er jung und stark in den Münstertäler Bergen. Tief unter ihm brauste die Fecht durchs Tal, hoch über ihm dunkelte der Wald, der geheimnisvoll ihr Rauschen an seinem Saume widerhallen ließ. In seinem Wipfel sang der Wind seine Lieder, und die Gräser am Wiesenhange lauschten auf das, was ihnen der Baum erzählte, wie Kinder, denen der

Lehrer eine Geschichte erzählt. Sie hatten alle Respekt vor ihm. Wenn der Regenwind durch seine Zweige sauste, bückten sie sich furchtsam vor ihm nieder, und kamen die Winterstürme, dann waren sie froh, wenn sie der Schnee vor dem grollenden Baum verbarg. Schön war er anzusehen, wenn er in der Mondnacht seine dunkle Krone in den lichten Himmel emporhob, und der Mond dahinter verschwand. Nebelschleier glitten dann über die Wasser im Tal, stiegen hoch aus den Gründen und mischten sich mit den Wolken, die unter dem Monde dahinzogen, und der einsame, schwarze Baum auf der Bergeshöhe erschien so groß, so gewaltig, als dürfte er über all dem wesenlosen Gewoge dem lieben Gott selbst die Hand reichen. Und so war es auch beim Sonnenaufgang, wenn sein Geäst sich im flammenden Morgen­ himmel verlor. Der junge Kirschbaum war ein froher Geber. Stand er im Blütenschnee, dann besuchten ihn die geschäftigen Bienen nicht umsonst bis tief in die Dämmerung hinein; prangte er im Schmucke seiner vielen roten Früchte, dann war es ein Fest für die Vögel und für die Kinder. —

Du alter Baum in der Heimat, wie bist du nun zerstückt und zerschunden! Du neigst dich, zum Sturze bereit, an die letzten Wurzeln geklammert, über den Rain. Kein Hirtenfeuerrauch kräuselt in blauen Wölkchen mehr neben dir hoch von der Wiese, keine Glocke tönt von der weidenden Kuh mehr herüber vom verlassenen Abhang. Vier bitterharte Winter hast du so über­ dauert, halbentwurzelt, halbverdorrt, und wenn der Frühling dir inwendig die Sehnsucht weckt zum Grünen und Blühen, er­ grünst und erblühst du nicht mehr. Ein morscher Ast nach dem andern bricht und stürzt — sie dürfen nicht in deinem Schatten schlafen, der Sturm fegt sie hinweg. ♦



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halbe Jahrhundert ist voll. Er braucht die Turmuhr A/ nicht mehr aufzuziehen, sie haben die Glocke geholt. Sie haben das Dorf geräumt. Als sie ihn fortschleppen wollten, da hat er sich an die Pfosten der Kellertüre geklammert, hinter denen er sich verproviantiert hatte, weil er nicht fort wollte. Sie mußten ihn buchstäblich losreißen. Zur selben Stunde barsten die letzten Wurzeln an seinem Kirschbaum, und der Stamm vergrub sich am Hügelhang in seine krachenden Äste. In einer

schauerlichen Gewitternacht wälzte sich der Strom der Fliehenden zum Tal hinaus, und mitten in dem Gewühl der Menschen und der Tiere starb er. Er starb, an einen fremden Karren voll fremden Hausrats gelehnt, der herrenlos stehen geblieben war; die knochigen Hände zu Fäusten geballt gegen die Sündflut, die aus dem Welschland über sein Tal hereinbrach, geballt gegen sein Schicksal. Das ist die Geschichte von dem sterbenden Kirschbaum, der ein Wohltäter war in der Heimat. Die Geschichte von dem deutschen Dorfschulmeister im Münstertal.

Dem werdenden Elsaß. Von Christian Schmitt, schöne Heimat, wie so viel Dunkles Leid hast du getragen! Rauhster Zeitenstürme Ziel Warst du schon in frühsten Tagen. Wie viel Wetter haben schwer Ausgetobt auf deinen Auen! Wie viel Brände flammten her über dich voll Angst und Grauen! Aber wenn das Licht die Spur Finstrer Mächte ließ zerfließen. Sahn wir reiner, reicher nur Deine Segenskräste sprießen. Immer stark und gut und mild Trugst du deines Schicksals Nöte, Daß im Schmerz auch dein Gefild Jedem Lust und Freude böte. Einmal wirst du tief und ganz, Wenn der Völker Haß geschieden, Sonnen dich in Glück und Glanz Und in ungeschrecktem Frieden. Nach dem letzten Donnerstteich, Wenn die Wolken fliehn, die fahlen, In der Krone läßt das Reich Dich als Edelperle strahlen.

Die Vogesen. Von E. Drucker. ^U>och hallt der Donner des Weltkriegs zwischen den Berg» vV wänden der Südwestecke des Reichs, noch ziehen sich durch

die Wälder zwei Festungen, die eine zur Abwehr der andern. Eines Tages aber werden in den beiden Schützengräben wieder Heide, Fingerhut und Glockenblume wachsen. Wenn dann einige Änderungen an unseren Landkarten vorzunehmen sein werden, wird hoffentlich bei dieser Gelegenheit auch die Wort­ mißgeburt „Vogesen" verschwinden. Hätte man den „Wasichen Walt" des Nibelungenliedes, den mons vosegue Cäsars, wenigstens stilgerecht in „Vosegen" oder „Wosgen" umgetauft! Jetzt aber, wo nicht nur Siegfrieds Blut bei jener letzten, leid­ vollen Jagd, wo das kostbare Blut ungezählter deutscher Helden den Moosboden zwischen den dunklen Tannen gerötet hat, jetzt muß die uralte Bezeichnung „Wasgenwald" wieder zu Ehren kommen. Sie allein paßt zu dem Heldenhain, in dem Waltaris Schwert Günter und Hagen trotzte, in dem Karolinger und Hohenstaufen Keiler, Bär und Auerochs jagten, in dem

hundert Gipfel vom Donon bis zum Hartmannsweilerkopf von einem Männerringen künden, gegen welches alle Kämpfe der Vorzeit Kinderspiel waren. Jedes der deutschen Mittelgebirge hat seine besonderen land­ schaftlichen Reize, aber im Wasgenwald begegnen sie uns alle wieder. Was suchst du, Wanderer? Burgen und alte Wall­ fahrtskirchen? Du kannst bequem ein Dutzend an einem Tag besichtigen. Lockt dich der Buchwald, in dem neckische Sonnen­ lichter spielen? Ziehst du die schlanken Tannen vor, die, von den Silberschlangen rauschender Bäche umschmeichelt, aus dem Moosgrund steigen, oder die wetterharten Gesellen mit den wildzerrissenen Flechtenbärten, die auf der Hohe ihre Wurzeln um die Felsen geschlungen haben? Liebst du Alpenpoesie, sonnige grüne Matten, auf denen nur das melodische Geläut der Halsglocken weidender Rinder die Feierstille unterbricht; wo die grauen Blöcke umherliegen, als hätten die Riesenkinder der Vorzeit hier Ball gespielt? Suchst du phantastische Felsen­ paläste, deren zackige Zinnen sich in kleinen, geheimnisvollen Bergseen spiegeln? Alles, alles ist da. Du brauchst nicht wie drüben im Schwarzwald stundenlange Märsche zu machen und zuletzt einen Aussichtsturm zu ersteigen, um einen weiten Blick zu haben; im Wasgenwald hast du diesen Genuß tagelang, fast unaufhörlich. Selbst wenn ein Dunstschleier die Alpen ver­ hüllt, dem auf dem Sammetmantel der freien Kuppen Schrei­ tenden bietet sich fortwährend die wundersamste Fernsicht über den Fruchtgarten der Ebene vom Straßburger Münster bis zu den Türmen Basels und hinüber in das französische Nachbar­ land, den grüßen fern und nah alte Bekannte unter den Bergen, in immer neuen Gruppierungen und von einem ewig wechseln­ den Hintergrund sich abhebend. Und da in den Tälern der Wald selten ganz nahe an Bachufer und Straße herantritt, lasten sich auch hier die Bergzüge in ihrer ganzen Stattlichkeit bewundern, von den felsgekrönten Gipfeln bis zu den Wald­ schluchten, aus denen die zahllosen Wasteradern rauschen. Was aber neben den Schönheitsgebilden der Natur den

Hauptreiz unseres Gebietes ausmacht, ist der Duft einer großen Geschichte, der auf allem liegt, die reichen Reste der Vergangen­ heit und der Efeu von Sagen und Märchen, der sich um sie gerankt hat. Ob wir im Hochwald auf Druidenaltäre stoßen oder auf die Mauern eines „Heidenlagers", ob wir auf den Turm einer Burg klettern oder die Kunstschätze eines alten Klosters bewundern, auf Schritt und Tritt wird die Phantasie angeregt, eine Fülle bunter Bilder aus ferner Zeit zu schauen. Selbst in den winkeligen Gassen kleiner Talstädte, wo die moderne Industrie mit ihren qualmenden Schloten und ras­ selnden Maschinen längst den Bergfrieden gestört hat, gibt es noch genug altertümliche Häuser, an denen reichgeschnitzte Türen, Skulpturen der Pfosten, rebenumrankte Galerien, wasserspeiende Dachrinnenfratzen und alte Inschriften von der deutschen Vergangenheit des Landes erzählen. „Drey Schlaffer auf Einem Berge, drei Kirchen auf Einem Kirchhoffe, drey Stätt in Einem Tal — ist das ganze Elsaß überall." ♦

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Wasgenwald ist einsamer als der Schwarzwald. Wohl sind Gebirgsrand und Talsohlen dicht wie die Ebene be­ völkert, aber selten nur finden sich Siedelungen auf den Höhen. Auch die Kelten, welche die Trümmer umfangreicher Befesti­ gungen zum Schutz ihrer Heiligtümer im Wald zurückgelaffen haben, hatten ihre Wohnsitze in der Ebene. Schon vor der Römerzeit aber begann die germanische Einwanderung, und wenn Cäsars Sieg über Ariovist dieser vorläufig auch ein Ende machte, vom 3. Jahrhundert ab drangen die Alemannen von neuem über den Rhein, während vom Norden her die Franken kamen. Die Kelten wurden fast vollständig aufgerieben. Nur ein kleiner Rest flüchtete sich in abgelegene Täler. Aber auch diese kelto-romanischen Siedelungen wurden, durch den hohen Gebirgskamm von Frankreich abgeschloffen und auf den wirt­ schaftlichen Anschluß nach Osten hin angewiesen, zum großen

Teil früh germanisiert. So ist in den Tälern der Fecht, der Lauch, der Tur, der Doller und im unteren Breuschtal keltische Sitte und Sprache längst verschwunden. Der immer noch weit verbreiteten Vorstellung gegenüber, als sei das Französische die Muttersprache der Elsässer, kann nicht oft genug betont werden, daß bei aller Blutmischung in den Bergen und Städten des Grenzlandes 98% der Bevölkerung seit Urväter Zeiten sich der deutschen Mundart — eines Zweiges des Alemannischen, das sich nach Norden zu dem Niederdeutsch-Fränkischen nähert — bedient. Ebenso sind Sitten, Eigenart, Volkscharakter, alles, was für die nationale Zugehörigkeit entscheidend ist, so ur­ deutsch, daß die Franzosen den Stammesnamen der elsässischen tdtes carräes zur Bezeichnung aller Deutschen gemacht haben. Nur in den oberen Teilen des Bechine-, Weiß-, Leber- und Weilertales haben sich bei der winzigen Minderheit jener ro­ manischen Urbevölkerung das Gepräge ihrer Rasse und ihre Mundart erhalten. Die Zahl dieser Patoissprechenden macht im Oberelsaß kaum 1%, im Unterelsaß 2% aus. Ihre Mund­ arten weisen nicht nur manche Bezeichnung auf, welche die Franzosen längst nicht mehr kennen, sondern diesen sind selbst die ihrer Sprache ähnlichen Worte wegen der merkwürdigen Betonung, der schleppenden Sprechweise und mancher Laut­ umwandlung nur schwer verständlich. Charakteristisch ist das italienische tsch (tschardin — jardin, dschwa — cheval, dschaseou — chasseur). Lustig hören sich die aus dem Deut­ schen herübergenommenen Ausdrücke an (la chelöfkappe — Schlafmütze, chelte — schelten, erfahre — erfahren). Durch Schule und Militärdienst ist die junge Generation seit Jahren des Hochdeutschen kundig. Am Gebirgsrand spielt der Wein eine große Rolle und hat den schwerfälligen Alemannen ein wenig in der Richtung des Rheinländers umgemodelt. Man muß das lustige Völkchen zur Zeit der Weinlese sehen, wenn es zu allen Tollheiten auf­ gelegt ist. Sind sie des Lachens müde, so wird stundenlang gesungen: die altererbten hochdeutschen Volkslieder von armen

-in—

Waisen und reichen Grafen, vom Scheiden und Meiden, von heißer Liebe und frühen Gräbern, vom Kaiser und vom Krieg, Weisen, wie sie genau so in Thüringen zu hören sind. Nun kommt der Winter, der die Familienglieder einander näher rückt. Der Mann trinkt wohl am Sonntag seinen Schoppen, um ein bedächtiges Wort mit seinesgleichen zu reden, oder macht noch lieber mit einem Freund im verschwiegenen Keller von Faß zu Faß die Stichprobe, wobei bisweilen das National­ laster der Deutschen sein Opfer fordert; aber Frau, Familie, Heimstätte stehen ihm so hoch, daß in dieser Beziehung auch nicht eine Spur des lockeren französischen Wesens sich hat ein­ schleichen können. Wenn dann der Schneesturm ums Haus pfeift und die Frauenhände sich fleißig rühren, erzählt der Großvater die alten gruseligen Geschichten vom wilden Jäger und von der weißen Frau, vom Teufel und von den Hexen, von Riesen und von Zwergen. In der Weihnachtszeit huscht der zottige, bärbeißige „Hanstrapp" mit Schellengeläut und Kettengerassel durch die Gasten, neben ihm das weißverschleicrte Christkind, und wie überall in Deutschland suchen die Kinder am Ostermorgen bunte Eier, die der Hase gelegt hat. Festlich wird in den Südvogesen die Johannisnacht begangen: da schwingen die Burschen beim Krachen der BLllerschüste auf den Bergnasen Pechfackeln dreimal ums Haupt, um sie dann auf den Holzstoß zu schleudern, und bald lodern, soweit das Auge reicht, die Sonnwendfeuer auf den Felsenstirnen, die gespen­ stisch aus schwarzer Tannennacht auftauchen. Daneben stanimeln Schulknaben die herkömmlichen Vaterunser oder helfen einem alten Mütterchen glühende Kohlen in den Topf sammeln, die ihr Hüttchen vor Blitz und Feuer schützen sollen. Spielt doch wie überall in den deutschen Bergen, wo die geheimnis­ vollen Stimmen der Natur die Phantasie einfacher Menschen anregen, auch in den Vogesendörfern der Aberglaube eine große Rolle. Während die Häuser der Weindörfer am Gebirgsrand das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden wissen, macht das

Tafel 8.

Ulrichsburg in den Vogesen.

Bauernhaus der Hochvogesen einen fast ärmlichen Eindruck. Die Handwerker wohnen zu weit, und die Zufuhr des Mate­ rials macht Schwierigkeit. Dazu lohnt sich bei dem rauhen Klima nur der notwendige Feldbau, so daß Scheuern entbehr­ lich sind. Den wichtigen Stall aber will man wie den Heuboden recht nahe haben, und so wird alles unter einem Dach ver­ einigt. Nur selten hat sich die alte Strohdeckung erhalten; häu­ figer sind Dach und Wetterseite mit altersgrauen Schindeln gedeckt. Oft bilden nur Kirche, Schule, Pfarrhaus, Post, Wirts­ haus und Schmiede eine zusammenhängende Häusergruppe^ während die übrigen Häuser malerisch zerstreut auS dem Wie­ senteppich aufsteigen oder an den Waldsaum sich schmiegen. Die einsamen, oft in den Berg hineingebauten Sennhütten des Hochgebirges haben neben dem großen Stall nur einen kleinen Raum, Käserei und Wohnzimmer zugleich, in dessen Mitte der mächtige Kupferkessel vom Balken herabhängt, und wenn der Rauch des unter diesem angezündeten FeuerS mit der Zeit auch allem seinen Stempel aufdrückt, die Sauberkeit ist doch so groß, daß der Wanderer gern beim Sennen rastet. An das Gebirge haben diejenigen sicher nicht gedacht, die im Mittelalter das Elsaß die „Kornkammer und Schmalz­ gruben des Reichs" nannten. Der Ertrag der paar Felder, die alle zwei Jahre von der Gemeinde neu verlost werden, reicht kaum zur Ernährung der Dorfgenoffen. Dagegen gedeiht auf den 34000 ha Weideland der Kuppen und Hänge eine blühende Rinderzucht. Auch diese Sommerweiden sind meist Gemeindeeigentum. Reichen Gewinn werfen die gewaltigen Wälder für Staat und Gemeinden ab. Die Woche über hausen die Holzhauer in ihren Blockhäusern, deren Dach durch Steine beschwert und deren Ritzen mit Moos verstopft sind, und nur am Sonntag wandern sie heim, um Weib und Kind zu sehen und Lebensmittel zu holen. Gefährlich ist der Transport der Scheite, der auch im Sommer auf Schlitten vor sich geht. Eine riesige Kraft gehört dazu, um die turmhoch beladenen Fahr­ zeuge über die spiegelglatt gefahrenen Geleise ohne Unfall zu

bringen. Daß in den Nordvogesen der schon im Mittelalter durch seine Schönheit und Haltbarkeit beliebte Buntsandstein in vielen hundert Steinbrüchen behauen wird, versteht sich von selbst. Auch der Granit der Südvogesen gelangt bei Bauten zur Verwendung. Will der Talbewohner weder im Steinbruch noch in der Sennhütte, weder im Wald noch in der Sägmühle sein Brot suchen, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich tagsüber in eine Fabrik einsperren zu lassen. Dir elsässische Textilindusttie wanderte vor Jahrzehnten schon in die Täler, wo sie nicht nur billige Arbeitskräfte fand, sondern auch die reichlich vorhandene Wasserkraft ausnutzen konnte. Durch die Umwandlung der landschaftlich so wundervoll gelegenen Berg­ seen in Stauweiher hat die deutsche Regierung das ihrige dazu getan. Neben der Baumwollverarbeitung und der Sei­ denweberei hat auch die Wollindustrie Eingang gefunden, und int Kleinbetrieb wird Hanf und Lein aus der Rheinebene ver­ arbeitet. Endlich verfertigen etwa 20 000 Frauen und Mädchen im Winter jene Haarnetze, die fast in allen Ländern der Erde verkauft werden. Dieses summarische Bild erhält selbstverständlich seine be­ sondern Lichter und Schatten, je nachdem wir in Nord-, Mittel­ oder Südvogesen wandern, ja, in jedem einzelnen Tal haben Geschichte und Verhältnisse der Bevölkerung einen eigenartigen Stempel aufgedrückt.

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Ztttn oberflächlicher Blick auf die Karte genügt, um zu sehen, daß, wie das ganze Elsaß, so auch seine Berge, in den Auf­ bau der Landschaft gehören, die heute Deutschland ausmachen.

Wie zwei langgestreckte, aus ungeheuren Felsblöcken gemeißelte Sphinxe liegen Vogesen und Schwarzwald am südwestlichen Eingangstor zum Reich einander gegenüber. Beide Gebirge fallen schroff zur Rheinebene ab, zeigen dagegen auf der dem großen Strom abgekehrten Seite eine sanftere, stufenförmige Abdachung; beide steigen im Süden rasch zu ihren höchsten Er-

Hebungen an, während sie nach Norden zu allmählich niedriger werden, um dann jenseits von Einsenkungen wieder etwas größere Höhen zu erreichen. Schon diese äußere Ähnlichkeit verrät die gemeinsame Herkunft und Geschichte. Ein ungeheures Alpengebirge, das sich in ununterbrochener Kette bis zum Böhmer Wald erstreckte, barg sie einst in seinem Mutterschoß. An den Hängen dieses Urgebirges stieg das Meer empor, bis auch die letzten Eiszacken unter den Wellen verschwunden waren. Als die Wasser ihre nagende Arbeit ge­ tan hatten und wieder fielen, stiegen zwei mächtige, plateau­ artige Gewölbe aus dem nassen Grab, ein höheres südliches, das die Gebiete der jetzigen Vogesen und des Schwarzwalds umfaßte, und ein nördliches, welches der heutigen Hardt und dem Odenwald entsprach. An diese rohen Riesenblöcke setzte die Schöpferhand den Meißel an. Sprünge entstanden von Süd nach Nord, und die mittleren Landteile sanken ein zu einem breiten Graben, an dessen Seiten links Vogesen und Hardt, rechts Schwarzwald und Odenwald stehen blieben. Der Graben in der Mitte aber ward eine weit nach Norden vorspringende Bucht des Mittelländischen Meeres, dessen versteinerte Be­ wohner man heute noch am Gebirgsrand aufheben kann. Frei­ lich, noch ehe die Waffermaffen sich zwischen Bingen und Bonn ein Tor gebrochen hatten, muß, wie erneute Süßwafferbildungen zeigen, die Bucht zum See geworden sein. Als der Damm brach und der Rheinstrom seine Fluten nach Norden wälzte, ward die Tiefebene endgültig trocken gelegt. Hatten die See­ bäche inzwischen die Riffe im Gebirge zu Tälern ausgewaschen, so setzten in der diluvialen Eiszeit Gletscher diese Arbeit fort. Noch zeugen im Süden Moränen, Rundhöcker, ausgewaschene Töpfe und gekritztes Geschiebe von dieser eisigen Vergangen­ heit. Das Gebirge zwischen dem Zorntal und der burgundi­ schen Pforte wird durch Breusch und Gießen, deren Quellen nur durch einen schmalen Sattel getrennt sind, in Nord-, Mittel- und Südvogesen zerlegt.

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Geologisch bleibt im Norden die Zaberner Senke, welche einst jene Gewölbe der Kreidezeit getrennt hat, die naturgemäße Scheidelinie zwischen Wasgenwald und Hart. Der volkstüm­ liche Sprachgebrauch zählt freilich wie die Heldengesänge des Mittelalters daL Bergland bis zur Queich zum Was­ genwald. Und es ist der Mühe wert, dieses Plateau mit den aufgesetzten Pyramiden zu besuchen, in dem der Sandstein die seltsamsten Formen angenommen hat, so daß die Volks­ phantasie in diesen von Mutter Natur gemeißelten Statuen, die bald hier, bald dort über die Waldkronen schauen, alle mög­ lichen Gestalten vom Drachen bis zur Napoleonbüste zu er­ kennen glaubt. Und zwischen dem Felsgewirr wandelt das Märchen. Da ist der Krötenstuhl, auf dem, wie Jakob Grimm erzählt, die verwunschene Prinzessin auf das Sonntagskind wartet, das, sein Grauen überwindend, sie mit einem Kuß er­ lösen wird. Dort murmelt der Maidebrunnen, an dem Kräuterweiblein eine weiße Jungfrau gesehen haben wollen, die lächelnd ihre Hände wusch, um dann plötzlich aufweinend in die Trümmer der Sickingenschen Hohenburg zu fliehen. Ganz übersät ist dieses Bergland von Burgen. Das schönste dieser roten Felsennester, bei denen der eigentümlich verwitterte Bundsandstein nicht nur als Verteidigungsmittel, sondern als Wohnung gedient hat, ist der Fleckenstein. In die übereinander geschichteten Platten sind die Treppen und Kam­ mern gehauen, und die Decken sind auf wuchtige Pfeiler gestützt, die man beim Aushauen im Felsen einfach stehen gelaffen hat. Noch mehr aber wird es jeden Deutschen zu dem unvergeßlichen Bild ziehen, das Viktor Scheffel auf einer Wanderung mit Anton von Werner gesehen und im „Gaudeamus" besungen hat: „(£in Pfad biegt von des Maimont Gipfeln In ein elsässisch Waldtal ein, Und braunrot starrt aus grünen Wipfeln Der Doppelklotz des Wasgenstein".

Wie läßt es sich vor den efeuumschlungenen Quadern dieser malerischen Burg im schweigenden Hochwald träumen vom Ge-

tose des Kampfes, den Walter hier gegen Hagen und Gunter ausgefochten haben soll. Das Dorf Obersteinbach, das inmitten dieser burgen­ gekrönten Waldhöhen liegt, ist längst ein Dorado der Maler geworden. Wer in ihm keinen Platz mehr findet, zieht an den jetzt schlafenden Eisenwerken des Jägertals vorbei nach Bad Niederbronn, besten eisenhaltige Kochsalzquellen die Römer schon benutzt haben. Die Aussicht von der Wasenburg über das schmucke Städtchen hinaus zur Schwarzwaldkette hat unser Dichterfürst in „Wahrheit und Dichtung" gepriesen. Sie wird noch übertroffen durch den Rundblick vom Turm der Feste Lichtenberg, auf der einst die Fürsten des Hanauer Ländels, das heute noch die kernigsten Bauern des Elsasses großzieht, hausten. Auf den Spuren der Sieger von Wörth, denen sich diese Feste nach eintägiger Belagerung ergab, geht's dann, vor­ bei an den letzten Höhlenbewohnern Europas im Grauftal, nach Pfalzburg, der in den Freiheitskriegen wie 1870 bekämpf­ ten Festung. Und wer zählt erst die bunten Schatten, die über die Schlangenlinien der berühmten „Steige" neben uns hin­ unter nach Zabern wandern.

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Mit Zaberns reicher Vergangenheit kann sich nur noch die Straßburgs mesten. In den tres Tabemae Caesaris sammelte der kaiserliche Philosoph Julian seine Legionen gegen Chnodomar. An den Mauern des Bischofssitzes prallte ein Jahr­ tausend später die Sturmflut der Armen Gecken ab, und vor seinen Toren bleichten 1525 die Knochen von 18000 erschlage­ nen Bauern. Kaiser und Könige wohnten in dem Schloß des Halsbandkardinals Rohan, das heute eine deutsche Kaserne ist. Aber ehrwürdiger als das alte Städtchen und das stolze Hohbarr, das „Auge des Elsaß", auf der Felsenstirn zu seinen Häupten, bleibt uns die über der altberühmten Abtei MauersMünster im Laubwald versteckte Burg Geroldseck. Die Ge-

wölbe dieses elsässischen Kyffhäuser beherbergen nach der Sage nicht nur Barbarossa, sondern alle die „uralten teutschen Helden Ariovistus, Arminius, Hürnin Siegfried ...", und Moscherosch hat geschildert, wie die Recken im Bärenfell mit grimmigem Humor einem kläglichen Gecken, der sich zu ihnen verirrt hat, die verwelschte Haut zerzausen. Der Sandsteinzug der Nordvogesen verläuft in einem schwachen Bogen von Zabern bis nach St. Dis. An diesen wasserscheidenden Bergzug lehnt sich im Norden ein Plateau, dem Dagsburg den Namen gibt, ein von einer Wallfahrtskirche auf mächtiger Felsenplatte überragter Höhenluftkurort, in dessen Umgebung man schon eine Vorahnung von der Wald­ schönheit der Südvogesen bekommt. Der Mittelpunkt eines zweiten, südlicheren Plateaus ist Wangenburg, ebenfalls eine beliebte Sommerfrische, deren Häuser wie die eines Alpdorfs auf dem grünen Teppich eines weiten Kessels zu Füßen des sagenumwobenen Schneeberg gebettet sind. Scheu spricht das Volk von den Hexenorgien auf der heidebewachsenen Kuppe dieses elsässischen Blocksberges, besten wilder Felsenkopf aus dem wunderbarsten Weißtannenmantel nach den lothringischen Seen hinüberschaut. Die schönste, einsamste Waldwanderung — und wohl die weiteste, die in deutschen Bergen überhaupt möglich ist — bietet der breite, hohe Querrücken, der vom Hauptkamm der Nordvogesen nicht weit vom Donon nach Osten abzweigt. Bei Nideck mag man sie beginnen, der nicht gerade riesenhaften Burgruine, die, „der Sage wohlbekannt" und von Chamiffo, Rückert, Grimm dichterisch verklärt, wie ein Geheimnis auf einer hohen Porphyrwand, über welche ein Wasserfall seinen Staubregen gießt, sich hinter die Stämme zu ducken scheint. Und nun führt der Pfad durch ein Wäldermeer von unbeschreib­ licher Schönheit, da und dort nur unterbrochen durch ein Wirr­ nis von Zyklopensteinen, aus denen die Nideckriesen eine Brücke über das Breuschtal bauen wollten, bis sie vor dem siegreich einziehenden Chriftengott flüchteten, oder von den glitzernden

Lachen eines Hochmoors, in dem Edelhirsche des kaiserlichen Jagdgebietes ihre Spuren eingedrückt haben. Nur das Rieseln der Quellen, das Balzen des Auerhahns, der Schrei des Falken unterbricht die Bergstille der Urwaldwildnis, die unS bis zum Donon, dem stolzesten Riesen der Hauptkette, geleitet (1002 m). Überreste aus vorgeschichtlicher Zeit, die auf dem höchsten der beiden Donongipfel in einem von Säulen getragenen Tempelchen aufbewahrt werden, künden, daß hier ein Heiligtum der Urbevölkerung war. Uns ist der Sagenberg für alle Zeiten geweiht durch das blutige Ringen der deutschen Helden, die jeden Schritt durch das Tannendunkel bis zur Felsenkrone er­ kämpfen mußten, deren viele jetzt neben König Faramunt, welcher mit fabelhaften Schätzen auf dem Gipfel bestattet sein soll, schlafen.

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In den Mittelvogesen nimmt das fast ganz aus Granit aufgebaute Hochfeldmassiv den größten Raum ein. Ein Kranz von Wettertannen, denen der Sturm die Kronen abgerissen und die wunderlichsten Formen gegeben hat, umgibt die mächtige, flachgewölbte, blumenreiche Kuppe. Im Sommer leuchten auf dem kahlen Riesenrücken wie weiße Falter die Kopftücher armer Frauen, die Preißelbeeren suchen, und im Herbst mischt sich in die wallenden Nebel der Rauch vom Feuer der Hirten, die die Rinderherden einsamer Gehöfte an den Hängen hüten. Im Winter aber tummeln sich die Skiläufer über die weite Hochfläche. Vom Hohenloheturm auf dem höchsten Gipfel schweift der Blick hinab ins Breuschtal, daS manchem Sohn einer deutschen Mutter zum Friedhof geworden ist, und in ihrer Mitte ruht, wie ein Heiliger verehrt, der evan­ gelische Pfarrer Oberlin, der aus den Halbwilden des Steintals eine gesittete, wohlhabende Bevölkerung gemacht hat. Nach Norden zu sehen wir über ein Tannenmeer — wenn auch die von Rückert besungene „Schöne Tanne" längst gefällt ist, noch steht eine Menge benannter und namenloser Riesenmaste —

auf die zerstreuten Häuser des Luftkurorts Hohwald. Wie die Finger einer Hand strahlen vom Hochfeldmassiv kleine Seiten­ kämme nach allen Seiten, deren Enden wunderbare Kronen tragen: weithin sichtbare Berge wie den dachförmigen Climont und den Waldkegel des Ungersbergs, — herrliche Ruinen wie Girbaden und die eine von der Kaiserin Richardis gegründete Abtei hütende, doppeltürmige Andlau, — und vor allem den Odilienberg. Wer zählt die Burgen, Druidengräber, Opfersteine, Hexen­ plätze, die an allen Pfaden zum Kleinod des Elsaßes im Sonnenschein von der wilden Jagd träumen, die in Sturm­ nächten ihren Spuck auf dem „Heiligen Berg" treibt! Und immer wieder stößt man in der Waldeinsamkeit auf „eines der kolossalsten Denkmäler vorgeschichtlicher Zeit auf dem viel­ durchpflügten Boden Europas", auf die Heidenmauer, deren Quadern oft 3 m übereinander getürmt sind. Inmitten der geheimnisvollen Mauer steht das Odilienkloster auf gewaltiger Sandsteinplatte. Wir malen uns die braunen Gestalten auS, die im Steinkreis Schutz vor den Alemannen suchten oder in Vollmondnächten Opfer schlachteten, die römischen Legionen in ihrem Kastell und die Merowinger in ihrer Burg und das Frauenkloster, durch dessen Tor Barbaroßa mit seinen Recken ritt, in dem Herrad von Landsberg für ihre Novizen den hortus deliciarum mit seinen köstlichen Miniaturen schrieb, das erste Konversationslexikon, von dem die Literaturgeschichte weiß. Und zur Geschichte gesellt sich die Legende von der blinden Tochter des Herzogs Attich, der Schutzpatronin des Elsaßes, der das Taufwaßer die Augen öffnete. Ungezählte Pilger besuchen jahraus jahrein ihre Gebeine. Aber das schönste, was der „Heilige Berg" bietet, ist der Blick vom weit vorspringenden Felsenaltan in den lachenden Garten der Rheinebene. Goethe hat ihn, den er in der Jugend genossen, noch im Alter nicht vergeßen können: Hunderte von Städten und Dörfern, soweit das Auge reicht. Und dort, ganz nahe Rosheim mit seinem Heidehaus, einem Jagdschloß Karls des

Großen, und seiner herrlichen Basilika. Hier die Türme und Kapellen von Oberehnheim, einst ein Hofgut der Merowinger, später Pfalz der Hohenstaufen und freie Reichsstadt; noch er­ innern der Salhof unter den uralten Linden, in dem die Herrscher Recht sprachen, spitzgiebelige Häuser und vorsprin­ gende Erker in allen Gasten an die große Vergangenheit. Im Norden der Turm der Schlettstadter Fideskirche, in der die Hohenstaufen am Grab ihrer Stammutter Hildegard beteten.

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ufdem nordöstlichen Eckpfeiler der Südvogesen thront X* die Hohkonigsburg. Wer gern in altem Burggemäuer umherklettert, wird dem Kaiser dankbar sein, daß er durch den Wiederaufbau dieser Ruine der schaffenden Vorstellungskraft eine mächtige Hilfe gegeben hat. Mehr als jedes Buch über mittelalterliche Baukunst belehrt ein Gang durch die Tore, Zwinger, Säle, Türme des gewaltigen Bergschlostes. Und was für Bergansichten bieten sich dem Auge im Rahmen jedes Fensters! Wir schauen in das märchenhafte Felsgewirr auf dem trapezförmigen Tänpelrücken hinein, und wir ahnen die Urwaldschönheit des Königstuhls, zwischen besten moosbepelz­ ten, zottelbärtigen Riesentannen der Wildbach donnert und der Auerhahn balzt. Dann schweift der schönheitstrunkene Blick hinüber zum tief eingesattelten Birschberg (1228 m), wo auf dem Weg zur Grenze die Stämme, des Kampfes mit den Stürmen müde, immer gedrückter und gekrümmter werden, bis sie der Heide das Feld überlasten. Oder wir verfolgen vom Bergfried der Kaiserburg den Lauf des Weiler- und Lebertals, in dem 1914 blutige Kämpfe hin- und herwogten, bis die Franzosen das Jndustriestädtchen Markirch, das wie eine un­ geheure Steinzange die schroff aufsteigenden Wände der Grenz­ berge umschließt, räumten und die Paßstraßen nach der St. Dideler Höhe und nach Diedolshausen zurückwogten. Dort waren sie schon eher in ihrem Element. Denn die oben Gasten des

in den Heeresberichten oft genannten Grenzdorfes an kahler Kuppe, die zweirädrigen Maultierkarren, die klappernden Holz­ schuhe der Bauern, das südlich lebhafte Patoiswelschen der Frauen geben dem Ort schon französisches Gepräge. Und doch ist es ein seit 1324 dem Hause Österreich gehörendes Schloß, dessen spärliche Ruinen im Hintergrund des Dorfes mit den steilen, zwischen Gneis und Granit eingespannten Schiefer­ selsen wie verwachsen sind. Finster, wild, herb, drohend sieht dieser kahle Felsen aus, so ganz anders als die lichten Sandsteinkolosse der Nordvogesen. Wir sind hier auf dem Haupt­ kamm der Südvogesen. Scharf verläuft er bis zum Endpfeiler des Welschen Belchens. Nur einmal, beim Luschbacher Sattel, bricht das Rückgrat ab, um fortan die Rolle der Wasserscheide dem von der Hohkönigsburg herkommenden Höhenzug zu über­ lassen. Der Grenzkamm ist meist kahl. Nur ab und zu taucht ein Trupp zwerghafter Bergkiefern oder Arven auf. Zwischen dem kurzen Almengras aber nicken in der stets bewegten Luft zahl­ lose bunte Alpenblumen von entzückend zierlicher Gestalt; da wiegen sich farbenprächtige Schmetterlinge und zirpen rot­ geflügelte Bergheuschrecken. Dann wird wieder jedes Leben verdrängt durch mächtig sich auftürmende Blöcke des Hellen, feinkörnigen Kammgranits. Sennhütten tauchen auf mit ihren grauen Schindeldächern. Von den Almen trägt der Wind­ hauch leises, melodisches Halsglockengebimmel ruhevoll weiden­ der Herden und von dem Wäldermeer der Osthänge den heiseren Schrei eines kreisenden Raubvogels herüber. Sonst aber — tiefe Stille, ein unbeschreiblich wohltuendes Schweigen. Aus den sonnigen Rebhügeln und wogenden Ährenfeldern, aus den Städten und Dörfern, die das Auge weit, weit da drunten wie einen wunderlichen Traum sieht, darf kein Laut den Sonn­ tagsfrieden dieser Höhen stören. Wie in Andacht versunken gehen Grenzwächter oder Senne, stumm grüßend, an uns vor­ über; es ist ja alles so klein, was Menschen sich zu sagen haben. Tagelang dauert diese Wanderung nach Süden, aber man wird

sie nie satt. Sie wird auch nie einförmig. Immer neue Bilder in der Nähe und in der Ferne. Wir schauen hinüber in die tückische Tiefe des weißen Sees, um den die Granitblöcke deReisberges sich zu einer ungeheuren Burg getürmt haben. Fast wilder noch ist die Hochgebirgsromantik um bett schwarzen See, das zweite jener Karbecken, die neben den gewölbten Ballonformen der Gipfel so charakteristisch für den Grenzkamm sind. Jenseits des Schluchtpaffes steigt die Riesenkuppe des Großen Hohneck (1361 m) in die Lüfte, berühmt durch seine Alpenflora wie durch seine wilden Felsenschluchten. Und wieder schauen die stillen Augen der Stauweiher zwischen Wetter­ tannen und Granitzacken aus der Tiefe. Drei Straßen klettern in unzähligen Schleifen die steilen Osthänge herauf und führen ins Mosel- und Moselottetal. Und zwischen den Püffen steigen immer neue drohende Wände auf, der große Winterung, der Drumont, der rote Wasen, die Domkuppel des Rimbachkopfes, an dessen Brust der kreisrunde Sternsee wie ein Kleinod ruht, der Obere Bers, die Steinwildnis des Rundkopfes und wie die Ballons alle heißen. Vom Welschen Belchen (1245 m) können wir noch einmal zurücksehen auf die Parade der hehren Grenz­ wächter, denen hinter kahlen Stirnen die Tannenschöpfe ins Genick hängen. „Marie, protegez la France“, so lautet die Inschrift unter dem Muttergottesbild auf dem Rücken des letzten Grenzriesen. Dichterisch veranlagte Gemüter haben solchen Schutz, wenn sie vom Luschbacher Sattel zum welschen Belchen wanderten, für Deutschlands Westmark kaum für nötig gehalten. Läßt sich eine idealere Grenze denken als dieser von der Natur gezogene Kammscheitel? Aber der Weltkrieg hat uns die Augen geöffnet. Von dem „irdischen Paradeisz" im Osten, aus dem nur kurze Täler an den Fuß der steilen Granitwand führen, wendet sich der Blick nach dem sanft abfallenden Hochplateau der Westseite, und — wir wissen, daß es kommen mußte, wie es gekommen ist. Diese Kammlinie läßt sich nicht verteidigen, aber „sie bildet kein Hindernis für den, der sie von West nach Ost überschreiten

will". Wenn es bei der „natürlichen Grenze" bleibt, werden auch nach dem Krieg die französischen Forts, die nur wenige Kilometer jenseits dieser Grenze ihre Zähne weisen, mit ihrer Artillerie Altkirch, Thann, Gebweiler, Kalmar, Mülhausen be­ herrschen, und das Elsaß wird nicht aus der Angst heraus­ kommen, heut oder morgen wieder Kriegsschauplatz zu werden. Aus reicher Sachkenntnis heraus hat Dr. Kiesel in dem lesens­ werten Buch „Petershüttly" der Forderung nach einer mili­ tärisch notwendigen Verschiebung der Grenze in das einst von den alemannischen Hirten des Münstertals besiedelte, nur dünn­ bevölkerte und für Frankreich nur als Brücke ins Elsaß wert­ volle lothringische Bergland eine geschichtliche und geographische Grundlage gegeben.

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die Kriegsereignisse sind die Täler der Weiß, Fecht, Lauch, Doller und die vier vom Grenzkamm abzweigen­ den Querrücken, die sie trennen, bekannter geworden als im Frieden durch ihre Naturschönheiten. Und doch sind hier schon die Städtchen am Gebirgsrand Kleinode, wie sie Deutsch­ land so dicht beieinander nur noch an der Rheinstraße von Singen nach Koblenz besitzt. Zwischen endlosen Weingärten, über welchen die „drey Burgen auf Einem Berge" thronen, umschlingt Rappoltsweiler die Bergsohle wie eine steinerne Schlange. Erker, überhängende Stockwerke, Tortüren, schmucke Laufbrunnen, humorvoller Dachrinnenschmuck und vor allem das „Pfisterhaus" halten die Erinnerung an die Zeit wach, in der die „fahrenden Leute" des Reichs sich hier sammelten, um unter Gefiedel und Gedudel im Schutz ihres Pfeiferkönigs und der lieben Frau von Dusenbach vergnügte Tage zu erleben. Die gleiche Fülle mittelalterlicher Herrlichkeit wie dieser Geburtsort Speners, des „Vaters des Pietismus", bergen die Weinorte Hunaweier mit seinem burgartigen Got­ teshaus, Zellenberg und Reichenweier — in letzterem stand die Wiege des Helden von Hauffs „Lichtenstein" —, Siegolsheim

und Kienzheim mit seiner totentanzberühmten Kirche, in wel­ cher der Landsknechtsführer Lazarus Schwendi begraben liegt. Der Preis in dieser Perlenschnur aber gebührt Kaysersberg am Ausgang des Weißtales. Diese ehemalige freie Reichsstadt, die Geiler durch seine Predigten weltbekannt gemacht hat, macht mit ihren Toren und schießschartenbewehrten Brücken, Gassen und Winkeln, Schenken und Brunnen einen so urdeutschen Eindruck, daß man erstaunt ist, fast bis an ihr Weichbild die durch Derwandtenheiraten und Fabriksklaverei körperlich her­ untergekommenen Bewohner des hofübersäten Weiß- und Bechinentals Patois sprechen zu hören. Das Behagen der mittelalterlichen Reichsstadt breitet sich auch heute noch über Türkheim, das den Eingang zum schönsten der Vogesentäler abriegelt. In seinen Gaffen lagen die Er­ schlagenen der letzten Schlacht, in der einst das ohnmächtige Reich die Franzosen aus dem Elsaß zu drängen suchte. Furcht­ barer, nur mit jenen in den Karpathen vergleichbar, waren die Kämpfe, die sich 1915 in diesem Tal abspielten. Die Stadt Münster, die ihm, das sich hier in Groß- und Kleintal gabelt, den Namen gibt, schmiegt sich breit und stattlich um den Mönchsberg. Welcher Deutsche kennt heute nicht die Namen der jetzt nur von Feldgrauen bewohnten Taldörfer Metzeral und Stoßweier, Breitenbach und Sulzern! Aber das wiffen die wenigsten, daß Münster mit seinen neun Talgemeinden schon vor Jahrhunderten der Schauplatz von Kämpfen war, wert, von einem Tellsänger besungen zu werden. Schottische Mönche gründeten in der nur von Bären und Auerochsen be­ völkerten Wildnis ums Jahr 600 eines der ältesten Klöster Deutschlands, und Alemannen der Ebene rodeten ihnen den Wald. Diese Sennen und Jäger verbanden sich lang vor dem Rütlischwur zu einer Eidgenoffenschaft, die ihre Mannen immer wieder durch das Stierhorn zusammenrief, um mit den geist­ lichen Herren um die Freiheit zu streiten. Nirgends wurden die diese mühsam errungene Freiheit bedrohenden Franzosen so ver­ wünscht wie in dieser Talrepublik mit den Rechten einer freien

Reichsstadt. Wie jubelten die Sennen 1674 dem Sohn des großen Kurfürsten und seinen Dragonern zu, die ihr Land „denen welschen Geherskrallen entreißen" sollten. Und als das Reich sie im Stich ließ, leisteten sie in einer Mondnacht am höchsten See der Vogesen auf die Bibel den Eid, daß sie „verlassen trotz aller Treu vom teutschen Reich und betrogen von dem meineidigen welschen König, rechtloser als der Falk, der über der Höhe seine Kreise zieht, mit Hilfe des gerechten Herrgotts sich selber befreien wollten". Bitter ließ sie der fran­ zösische Eroberer ihr Löcken gegen den Stachel büßen. Nach welcher Richtung man auch von Münster aus in die Berge ziehen mag, ob zu einem der wildromantischen Karseen am Grenzkamm oder zu einem der tosenden Wasserfälle, ob in die Schlucht des Frankentalkesiels oder in das Felsenchaos des „Nächsten Bühl", ob zu den Sennereien, die auf den steilen Matten hängen wie Schwalbennester an glatter Wand, oder in die endlosen Tannenwälder, deren Domsäulen die blaue Him­ melskuppel zu tragen scheinen, überall stoßen wir auf eine Fülle geschichtlicher Erinnerungen. Die der neuesten Geschichte kommen jetzt hinzu. Nur auf einer guten Reliefkarte sind die Schluchten und Kuppen, die der Schauplatz eines wilden Rin­ gens waren, zu entwirren. Aber man muß sie gesehen haben, den waldigen, steilen Reichsackerkopf, den geröllübersäten Bar­ renkopf, um sich ein Bild von den unsäglichen Mühen und erstaunlichen Leistungen unserere Truppen zu machen, die im Kugelregen, der aus den dichten Zweigen der Tannen sich über sie ergoß, diese schnee- und eisbedeckten Hänge hinauf­ kletterten. Wie muß das geheimnisvolle Dunkel, in dem das Schratzmännle, der Berggeist der Melker, hauste, gelichtet und von Granaten zerpflügt sein. Der Tag wird kommen, an dem die Feinde knirschend ihre letzte Kanone über den Schluchtpaß ziehen, an dem die heimwehkranken Münstertäler heimkehren werden. Ihr Wohlstand ist dahin, ihre Häuser sind zerschossen, ihre Bergkühe, aus deren Milch sie die in alle Länder der Erde verschickten Käse bereiteten, sind in den dumpfen Ställen der

Ebene eingegangen. Aber das neue Reich wird sie nicht im Stich lassen wie das alte ihre Väter. Die stolzesten Wasgenberge ragen in dem Querkamm, der sich bei dem mächtig gewölbten Breitfirst abzweigt. Der Ebene zu wird der Waldmantel dieser Kolosse immer dichter, nur die kahlen Schädel schauen aus dem Tannendüster. König ist der Große Belchen (1424 m). Umschau haltend in seinem weiten Reich hat er seine Arme auf die Kuppen des Molkenrain und des blutgetränkten Hartmannsweilerkopfes, die sich allein noch zwischen ihn und das Zwergvolk der Vorhügel schieben, gestützt. Und es ist überirdische Herrlichkeit, die er sieht, wenn die letzten Sonnenstrahlen ihr Feuer über die Schneehäupter vom Säntis bis zum Montblanc werfen. Dem König zu Füßen schmiegt sich Gebweiler, einer der industriellen Mittelpunkte des Ober­ elsasses, über dem ringsum an den Hängen der Kniebrecher Kitterle in der Augustsonne kocht. Berauschen kann aber den schönheitsdurstigen Wanderer auch der Anblick der Abteikirche Murbach, die deutsche Mönche unter fehdelustigen Fürstäbten in ein Seitental gebaut haben. Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll, den geheimnisvollen Waldrahmen oder die edlen Formen des Gotteshauses oder den Germanengeist, der fremde Art so unübertrefflich zu verdeutschen wußte. Trümmer und Granattrichter werden heute die Landstraße säumen, die am Gebirgsrand von Gebweiler über Uffholz, Sennheim, Steinbach nach Thann führt. Auf dem Ochsen­ oder Lügenfeld hat Ariovist gegen die Legionen Cäsars ge­ stritten, haben die Söhne Ludwigs des Frommen ihren Vater verraten, und der Volksmund weiß von stillen Mondnächten zu erzählen, wo aus unterirdischen Gewölben, in denen Kaiser Rotbart schläft, das Waffengeklirr eines Geisterheeres herauf­ klingt. Mit Recht aber urteilt das Volk vom Thanner Münster mit seinem schlanken durchbrochenen Turm: „S'Stroßburger Münster isch s'höchscht, s'Friburger s'dickscht, awer 8'Thanner s'fienscht." Das Thurtal, an dessen Eingang Thann wacht, das längste des Gebirges, bietet wundervolle Bergansichten aus

der Tiefe. Für den Geologen aber sind noch sehenswerter die kegelförmigen Granitklippen, die wie unförmige Warzen auf einem sonst glatten, anmutigen Gesicht mitten auS der Talsohle steigen. Wo der glattgeschliffene Felsenknochen die Haut der Vegetation durchbricht, sind deutlich die Staumoränen zu et« kennen, an denen sich vor undenklichen Zeiten daS Gletscher­ geschiebe gebrochen hat. Ein ungeheurer EiSwurm kroch in der Quartärzeit durch daS lachende Tal und streckte seine glatten Arme in die Quertäler, in denen jetzt die silbernen Schlangen um die Felsen und Tannen sich ringeln. Die beiden Querkämme, die das südliche Vogesental um­ säumen, weisen überall dasselbe Bild auf: Smaragdgrüne Matten, über denen der Rauch von Melkereien sich kräuselt, umrandet von herrlichen Tannenwäldern, die über die steilen Hänge bis in die Talsohle heruntersteigen. Im Hintergrund, wo nach jedem Gewitter hundert Wildbäche von den steilen Wänden des Grenzkamms herunterstürzen, sammelt in einer Umgebung von alpiner Schönheit der eingestaute Alfeldsee die Wasser, die sich, kaum den Schleusen entronnen, von neuem in schäumenden Fällen über haushohe Felsen und abgerisiene Äste in die Waldschlucht stürzen. Erst im langen Sewensee bringen sie den nötigen Ernst auf, um in den Spinnereien und Webereien nützliche Arbeit zu verrichten. Der Mittelpunkt der Taldörfer ist das schmucke Maßmünster, das Maso, einem Enkel des Elsaßherzogs Etticho, seinen Namen verdanken soll, und in seinen Häusern herrscht trotz der Nähe der Grenze die Sprache und Behaglichkeit des deutschen Elsaffes.

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Es ist deutsches Land, das wir durchwandert haben. Deutsch sind die mittelalterlichen Städtchen, die Berge und Burgen, die Kirchen und Klöster, die Geschichte, die Sagen und Märchen. — In den Südvogesen steht eine kernige Tanne, die Bismarcktanne. So fest hat der Riese seine Wurzeln um die Felsen geschlungen, daß er im Jahr 1870 einem wütenden

Tie Voqesen mit Burgruine Treutein.

Tafel 9

Sturm Trotz bieten konnte, während um ihn her die Menge der

erschlagenen Recken das Schlachtfeld deckten.

Da sagten die

Holzhauer ehrfurchtsvoll: „Die Tanne ist ein Bismarck, nichts kann sie fällen."

Diese Zuversicht haben wir zum deutschen

Koloß, der sich gegen den halben Erdball wehrt: „Nichts kann ihn fällen." Was Bismarck dem Reich wieder angeschmirdet hat, werden die Enkel sich nicht entreißen laffen. Sie werden

den Wasgenwald, den sie zum zweitenmal mit ihrem Blut

bezahlen, neu erwerben, um ihn für immer zu besitzen.

Da- Elsaß.

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Spinnerlied. Von G. StoSkopf.

Hfräbel schnurr, vv Rädel surr, Rädel, Rädel tummel dich. Denn d'r Hansl wart uff mich, Radel spinn de Fade scheen, No will ich zuem Wewwer gehn, Un ich saa zuem Wewwer no: Wewwe m'r diß Linne do. Rädel schnurr, Rädel surr, Rädel, daß i ferti wurr! Rädel schnurr, Rädel surr, Wewwer, Wewwer tummel dich. Denn d'r Hanfl wart uff mich, Wewwer webb de Fade guet. Daß nun Linne haue thuet, Wewwer webb ne guet un fin, Wewwer webb nun Lieb au mit! Rädel schnurr, Rädel surr, Rädel, daß ich ferti wurr! Rädel schnurr, Rädel surr, Rädel, Rädel tummel dich, Denn d'r Hans'l wart uff mich Wenn min Linne ferti isch. Decke m'r de Hochzittstifch, Un ich kreji no minne Hans — Mi Lyt müen do zuem Tanz: Rädel schnurr, Rädel surr, Rädel daß i ferti wurr! —

Maiandacht. Skizze von Marie Lart.

^ytXaiereije, mach mich grüß! singe d' Kinder, laufe nüs vvV uf d' Strooß UN Ion sich d' warme Tropfen uf de Kopf falle. Ja, Maiereije macht grüß! M'r sieht's an d'r Madamm Gall ihre Bohne, die sin in eim Daa in d' Höh g'schofse; un e ganz! Rehj Schwertlilie im Garte vun de katholische Schweschtern sin üwer Naacht ufgange un leujen üwer's Drohtgitter nüs e su frisch wie d'r Maiemorje selwer. Awer gejen Owe were se—n—abg'schnitte un in d' Kirich gebroocht, wo se—n—uf'm Altar vun d'r Mueder Gottes verbluehje were. „Kumme Se mit zue d'r Maiandacht?" „Ei ju, w'rum nit? — Wann fangt's denn an?" „Hit Owed am aachte." „C’est ca; do könne m'r e bissel frühjer esse; hole Se mich ab." Es reift als noch, wie m'r z' Oweds am aachte in d' Kirich gehn. Es isch awer ken langwieliger oder trüüriger Reife;

er patscht luschtig uf d' weiche, neie Blätter, 's Gras glänzt wie Smaragd, in de Gärte schiene d'rute Gichtruse durich's Grün, un üwerall singe d' Amsle. Es fangt awer schun an, e bissel düschter ze were, wie m'r durich de bluemige Kirichhoft in d' Kirich nin gehn. En ungewisses Dämmerliecht isch drinne; b* ganz Kirich isch nuer erhellt durichs Muedergottesbild, dies strahlt in hun­ dert Liechter un isch ganz ingerahmt vun wiße Blueme. Nuer uf'm Hauptaltar d'rnewe brenne noch Kerze, schunsch isch d' ganz Kirich im Dunkle drinne. M'r kann d' Mensche, wie durich's Wit offe Tor heringehn, nit erkenne; wie Schatte beweje se sich vorwärts; im Mittel­ gang verneige se sich tief vor'm Allerheiligschte un hüsche noo still an ihri Plätz. Do sitze se—n—Alli im Finschtere un sehn uf de milde Glanz, wie vun d'r Muedergottes üsgeht. D' Origel spielt schun, un baal fange se—n—an 's Ave Maria singe. Bim erschte Tun spiert m'r schun 's Herz unruehig klopfe un d' Sehnsucht verwacht. Sie Han sich ju Alli üs de Schmerze, de Sorje, oder wenischtens üs 'm Einerlei vum Alledaa dohere g'flücht, for ihrer Seel ze genn, was ihri Seel begehrt. WaS het d' Seel vum e Mann wie d'r alt Scholler d'heimen in ftm Hüs for Nahrung? Johrüs, johrin mueß er am vieren ufstehn, in de Stall, d' Roß fuedere, putze, anspanne, un noo! Jüü! un Hott! sini Waawe fahre, bi Wind un Wetter, un alle Daa de nämliche Weis. Oweds, wenn er gesse het, schlooft er glich in; un nuer am Sunndaa, do findt sini Seel au e mol ihr Reecht. Sie isch b'scheide Ware, un duckt sich, un verlangt nit viel; un doch, wenn er in d'r Kirich knejt un sieht die Bluemen un Liechter glänze, un hört die fromme Stimme singe, noo spiirt er, wie sich's mächtig in ihm rejt; es wurigst n'en ebs im Hals, er leist de Kopf in d' Händ un murmelt: Heilige Maria, bitt für uns, bitt für uns! Ora pro nobis I singe se—n—uf d'r Origel, un unte klingt's in alle Herze nooch.

D' rich Madamm Kromeyer, wie en eijene mit Sammet gepolsterte Stuehl in d'r Kirich het, die halt ihre Körper huch in Ehre. Sie Pfleijt n'e, sie hüllt n'en in schön! Kleider, sie git ihm guet zen efle, un er gedejht Prächtig d'rbi. Doch ihn Seel isch ganz verkümmert. Awer jetz, in dem Dämmerliecht, wo ken Mensch ihre schöne, siidene Rock sehn kann, bi de Kläng vun dem heilige G'sang, rejt sich uf einmol im hinterschte Winkel ihri arm, unterdrückt Seel. Sie flattert ängschtlich un will sich in d' Höh ringe, un zwingt die stolz Frau niederzekneje un 's G'sicht in d' Händ ze vergrawe. Ganz ditlich sieht se jetz d' Vergänglichkeit vun allem Ir­ dische: ihr Körper Word v'rgehn, ihre Richtum mueß se zerückIon, un wie steht noo ihri arm Seel do? Sie hebt de Kopf in d' Höh un leujt n'üwer zuem strahlende Muedergottesbild als e Verheißung un e Truscht, un sie bet inbrünschtig mit den Andere: Ora pro nobia! Un nit Wit d'rvun, zelli jung Frau im Leid, die vergießt bitteri Tränen in ihre Rusekranz. Sie het ihr Kind verlöre, un kummt mit ihrem wunde Herze zuer Muedergottes. Denn, ach! nuer e Muederherz, vun siewe Schwerter durichbohrt, kann 's ganz Leid vun d'r Menschheit ermesse. Un dies jung Maidel, wie morje sine Liebschte hieroote soll, dies bringt sin Glück an ihren Altar. Denn wieder nuer e Mueder, wie 's Jesuskind an ihr Herz gedrückt het, kann d' ganz Freid vun d'r Menschheit teile! In ihrem Schmerz un ihrer Freid sin se—n—Alli glich. Es git ken Ranges- un Standes-Unterschied Hit Owed in d'r Kirich. Als schwarz! Schatte sitze se—n—in d'r Dunkelheit; ob schön, ob wuescht, ob jung, ob alt, ob ärmlich oder rich angetan, m'r kann nix erkenne. Nuer d' Muedergottes steht do im himmlische Glanz un leujt mild uf se herunter. Un was alles in n'e drängt un ringt, dies Word in d'r Müsik offebar.

Ave Maria, Gracia plena! kummt's sehnsuchtsvoll vun owen herunter. Doch baal Word d' Musik unruehiger; sie drängt, sie fleht in liedeschaftliche Tön: Maria, Maria! ora pro nobis in hora mortis nostrae! Bitt für uns in unserer Todesstunde! Es geht e Zittere durich d' Kirich; alles lejt uf de Knej, alli Seele sin verwacht: Wann Word mini Tudesstund schlaawe? ------------- Bum Kirichhoft drüße summt e Windstuß durich's offe Tor in d' Kirich nin. D'r Reije brüüst in d'r Luft, 's isch wie wenn e Wimmere tät lüt teere vun den arme Seele, wie drüße unterm Gras un de Blueme schlösse. Wie oft sin se selwer in d'r Kirich drinne g'sesse, wie se noch uf d'r Erd gewandelt sin! Was for schöni Striß het als 's Blanke Marie for den Altar gebroocht! Wie het d'r alt Herr Hunsinger sich als in sinere Gerechtig­ keit g'sunnt, denn er het nit zue de Sünder g'hört. Wie het's Dorne Julie do drinne geplärrt wie sin Schatz 's het sitze Ion! Wie schön isch d' Mamsell Elles als Huchzidere vorm Altar g'stande, un was Han 's Bernauers for e Freid g'het, wie se den erschte Sühn Han taife Ion!--------B'rbei un vergeße! Es redt nieme meh vun n'e! Wie lang noch, un es Word uns au e su gehn? O heilig! Muedergottes! bitt for uns in unserer Tudes­ stund! Amen, amen! tönt's feierlich un getraawe. Langsam verklingt 's Origelspiel, langsam verhallt d'r G'sang. D' Liechter teeren üsgelöscht un es Word ganz dunkel. Stumm gehn m'r zue d'r Kirich nüs. Awer jetz isch's au drüße schun finschter, doch kann m'r d' Kritz un d' Grabstein noch unterscheide. Es isch en unruehige Naacht: d'r Wind fahrt durich d' Baim, b* Blueme Ion schwer ihri Köpf hänge, vun alle Grallekränz falle grußi Tropfe, un durich de Kirichhoft geht's wie e Sifze: Ora, ora pro nobis.

E bissel Franzeesch. Von L. W. Voeltzel.

Am Rhin isch zee franzeescher Zitt,

Wil zelle mools halt beesi Lit Als Kunterbant gedriwwe Henn,

E Schildwacht g'sinn sor Acht -e genn. „Qui vive?" so het sie lüt gebrüelt Un d'Flint genumme un gezielt. —

E Wäschere kommt spoot von Kehl,

Word, wie sie dis hört, kittegäl

Un git: „La Wasch" zuer Antwort schnell. — „Böte!" saat do druf die Sandinell.

D' Frau denkt an d'Wäsch un an de Hans, Zejt üs em Sack de Rosekranz Un macht wie wenn sie bette dät.

s'isch doch guet, wer Franzeesch versteht!

(Sb Elsässer Sprichwörter. D'r Wolf frißt au gezeichti Schoof.

Mer mueß d'Schwin nit mit Speck mäschte.

Im e bese Hund mueß mer zwei Schtueck Brod gen.

Wenn m'r sich uf de Mondschin verloßt, ze kummt m'r in der Nacht haam.

Neue Kunst im Elsaß. Don Eduard Reinacher. Elsässer unterscheidet sich vielleicht von einer MehrAD heit seiner deutschen Reichsgenosten dadurch, daß er über

solche Dinge nicht zu sprechen liebt, die ihn im Innersten be­ wegen. Dieser Hang, über die Triebkräfte des eigenen Han­ delns und Lebens eine Decke des Verstummens gebreitet zu lasten, so sehr seine sittlichen Untergründe und Folgerungen als Werte anzuschlagen sein mögen, hat doch viel dazu beige­ tragen, über das Elsaß und die Art seiner Bewohner unzu­ treffende Vorstellungen festwerden zu lasten. Noch heute ist für allzuviele die Aufklärung darüber nötig, in welchem Umfang das geistig schaffende Elsaß schon vor Jahren mit der entschiedensten Wendung zum Anschluß an die deutsche Kultur­ gesamtheit übergegangen war. Gewiß ist es gut und notwendig, immer wieder an das deutsche Elsaß der Jahrhunderte bis zu dem großen Krieg zu erinnern. Das deuffche Herzogtum Elsaß, das Land Etichos und der Etichonen, das Land, in dem die Wunder der deut­ schen Heiligen Odilia heute wie je lebendig sind. Es ist eine Reihe von leuchtenden Namen des mittelalterlich deuffchen Kulturlebens, deren ein Kenner der Geschichte gedenkt, wenn er im Geist das Elsaß durchwandert, was ja an anderer Stelle in diesem Buche geschehen ist. Wir wollen deshalb hier nur die neuere Zeit betrachten. Vor 1871 glich das Elsaß darin den andern französischen Pro­ vinzen, daß es für das Wachstum einer eigenen geistigen Blüte kein Boden mehr war; was Entwicklungskeime in sich trug, wurde von Paris aufgesogen. Die andern, die im Lande blie­ ben, verkümmerten bei aller Sympathie für das deuffche

Stammland, mußten verkümmern, weil die politische Grenze eine Abschnürung von den damals reichlich mit Politischem durchsetzten Lebensinteressen des werdenden Reich- bewirkt hatte. Und die Erlösung von 1871 war nicht eine Erlösung von heute auf morgen. Die Elsässer sind am allerwenigsten so beschaffen, daß sie einen noch so starken GlückSfall bejubeln könnten, wenn sie dadurch gezwungen sind, einige ihrer Ge­ wohnheiten zu ändern. Und diesen starken Trägheitskoeffi­ zienten halten wir trotz allem und allem, was er in Verbin­ dung mit unglücklichen Umständen verschuldet haben mag, für ein günstiges Moment in der Zusammensetzung der Formel elsässischen Charakters. Denn Trägheit in diesem Sinne heißt Liebe zur Stetigkeit, übrigens waren es doch gar nicht wenige Gewohnheiten, denen die Generation nach 1870, und das nicht nur im Elsaß und nicht nur in Deutschland, zu entsagen hatte. Auch die Alten, die nach Paris gingen, und die Jungen, die ihnen aus kurz zuvor französierten Eltern­ häusern folgten, fanden dort eine andere Luft als daheim: Paris und Straßburg oder Kalmar, das war auch zur Zeit der französischen Volksschulen Napoleons III. im Elsaß ein ganz anderer Unterschied als etwa Paris—Bordeaux. — Das Elsaß hat sich nicht in einem Rausch und Taumel der Wiedervereinigung dem kulturellen Deutschland in die Arme geworfen. Wenn es, wie wir sehn werden, bis zum Jahr­ hundertanfang in die deutschen Zusammenhänge wieder hin­ eingewachsen ist, so haben wir als Vergleich dazu viel eher einen vegetabilischen als einen andern Vorgang anzunehmen. Es ist das einfache, jeder Pathetik fernstehende, dafür aber in seiner Verwirklichung nicht zu hemmende Naturgesetz, das gewaltet hat. Industrie, Landwirtschaft und Weinbau, das ganze Wirtschaftsleben fand — suchend oder nichtsuchend — den Anschluß an Deutschland. Und so mußte das geistige Zielen und Streben dieselbe Richtung finden überall da, wo nicht — aus subjektiv ehrenwerten oder nicht ehrenwerten Gründen — ein objektiv unheilvoller Zwiespalt gewünscht war.

Durch den Nachwuchs, der um die Mitte der neunziger Jahre in die Tätigkeit eintrat, überwand das künstlerische und literarische Elsaß den toten Punkt. Gleichzeitig hatte sich der wirtschaftliche Sinn so weit entwickelt, daß das Künstlertum nicht mehr inmitten einer Bürgerschaft ersticken mußte, die im Bilderkauf keine Kapitalanlage erblickte. Lothar v. Seebach toirlte zwar seit Jahren im Lande, indem er im stillen nach seiner Art Vortreffliches schuf; Antonie Boubong in einem nicht immer gleich großen Abstand des künstlerischen Rangs neben ihm. Das war bis 1895 die Künstlerwelt Straßburgs. Nun traten Joseph Sattler und Joseph Spindler mit ihren „elsässischen Bilderbogen" hervor: einem Unternehmen, wo­ durch das Heimisch-Bodenständige der im deutschen Zusam­ menhang sicherer gewordenen Kunstbestrebung demonstriert wurde. Der Bildhauer Marzolff und der Maler L. Hornecker schloffen sich an, bald erweiterte sich die Gruppe, und Gustav Swskopf fand Aufgaben für sein Organisationstalent. Man tat sich zu einem kleinen Ausstellungssalon bei Bader-Notin zusammen. Die Zahl der Mitstrebenden wuchs. Hier und da wurde der Sache kein rechter Glaube geschenkt; Straßburg als Kunststadt? Das war man nicht gewöhnt! Aber die Ausstel­ lung elsässischer Kunst, die 1898 im Alten Schloß veranstaltet wurde, zeigte allzuviel Vortreffliches und Lebendiges, das nicht totgezweifelt werden konnte. Die Gruppe Straßburger Künstler wurde gefestigt und fand bald den natürlichsten An­ schluß nach außerhalb durch den Beitritt zum Verein der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein, dessen Ausstellungen in Köln, Düsseldorf, Darmstadt und Stuttgart seither vom Elsaß aus reichlich beschickt werden. Daneben fiel z. B. in der großen Berliner Kunstausstellung eine markante Gruppe von El­ sässern auf. Auch im Kunstgewerbe begann das Eis zu brechen. Spindler beschickte die Dresdener Kunstgewerbeausstellung mit seinen Marketerien, die ihm, nebenbei gesagt, in Paris und St. Louis höchste Auszeichnungen eingetragen haben. Die

Maler Braunagel und Cammissar wandten einen Teil ihrer Kraft der Glasmalerei zu, F. Eichinger versuchte es in Sufflenheim mit neuer Keramik. Die „Elsässischen Bilderbogen" waren inzwischen zur „El­ sässischen Rundschau" erweitert worden. Diese Zeitschrift sollte das Organ der elsässischen Künstlerwelt sein und als solches auch hochhalten helfen, was von Vergangenheit, geschichtlicher Erinnerung und bodenständiger Eigenart im Lande lebendig war. Wie es der in letzter Zeit wieder genannte Dr. Bucher verstanden hat, sich in die Schriftleitung dieses Blattes ein­ zudrängen und durch Geldmachinationen schon nach zwei Jahren den Einfluß der Gründer bei der Gestaltung des Blattes auf nichts zu beschränken: das ist ein besonderes Ka­ pitel der von Frankreich geleiteten, sogenannten kulturellen, aber im Grunde rein politischen Propaganda. Das Blatt, in dem sich zuerst Alberta von Puttkammer mit Fritz Lienhard und dem Schriftstellerkreis vom Elsässischen Theater, zusam­ mengefunden hatte, bekam ein mehr und mehr zweifelhaftes Gesicht und diente auch durch die vorzügliche technische Durch­ gestaltung nur einem Zweck der Störung und Zerstörung. Die Kunstgewerbeschule in Straßburg, aus der 1870 Vorge­ fundenen Zeichenschule herausgebildet, bestrebte sich, für Nach­ wuchs zu sorgen. Die dort oder sonstwie für die Kunst oder für das Kunstgewerbe Vorgebildeten gingen zur weiteren Aus­ bildung nach Berlin, München, Düffeldorf ober Leipzig. Andererseits hörte die Abwanderung nach Westen auf, die el­ sässische Künstlergruppe in Paris blieb ohne Nachwuchs. Statt deffen fanden die elsässischen Talente, die nicht vom Studien­ ort nach der Heimat zurückkehrten, in rechtsrheinischen Län­ dern Anerkennung und Förderung. Waderö und Feuerstein, um einige zu nennen, wurden in München Professoren, der eine an der Kunstgewerbeschule, der andere an der Akademie, Comes wurde Kunstgewerbeschuldirektor in Bückeburg. Im Jahre 1908 wurde es notwendig und möglich, der Straßburger Künstlergruppe, die sich zum „Verband Straß-

Burger Künstler" zusammenschloß, ein eigenes Ausstellungs­ heim zu -runden. So entstand das elsässische Kunsthaus in der Brandgaffe. Dort sind jahraus, jahrein Werke der über achtzig schaffenden Mitglieder deS Verbands ausgestellt. Und dort ist die beste Gelegenheit, sich über die Elternschaft deutscher Kunst jeder Richtung zur jung- und jüngstelsässischen Kunst zu unterrichten — ebenso wie darüber, daß der Ein­ schlag von westlichen Stilelementen hier nicht stärker ist als in München, trotzdem kein Bestreben da war, sich dem Ausblick nach Westen zu verbinden, und obwohl mancher der Jungen sich auch in Paris gründlich umgesehen hat. In der Literatur haben die Traditionen des Stöberschen Kreises, die ja 1870 noch lebendig waren, ebenfalls erst nach 1890 eine Auferstehung auf höherer Ebene erlebt, als Fritz Lienhard im weitern, Christian Schmitt in engerem Umfang ihren künstlerischen Willen auf die Güter der deutschen Klas­ sikerzeit und auf ihr Heimatgefühl zugleich zu gründen wußten, um von solchen Grundlagen aus den Weg in daS Reich der idealistischen Dichtung zu finden. So entstanden Christian Schmitts Gedichtsammlungen und Friedrich Lienhards man­ nigfaltige lyrische, epische und dramatische Schöpfungen, deren volkserzieherischen Wert wir darin sehn, daß sie in der elsässi­ schen Bildungsschicht das Bewußtsein der Abkömmlingschaft von überm Rhein geweckt, gestärkt und erhalten und in diesem Sinn für die werdenden Jüngeren und Jüngsten ein ver­ ehrungswürdiges Vorbild bedeutet haben. Im Zusammenhang damit wäre die Tätigkeit des um die literarische Zeitschrift „Erwinia" gruppierten Kreises zu würdigen. Neben Lienhard hat das 1898 von Dr. Greber, G. Stos­ kopf und Genoffen gegründete Elsässische Theater den kultur­ politischen Wert gehabt, in Deutschland weitere Kreise auf das deutsch sprechende, deutsch bodenständige Elsaß aufmerksam zu machen. In derselben Zeit, als der „Türmer" sich für Lien­ hard einzusetzen begann, unternahm das Elsässische Theater vielbeachtete Gastreisen nach Berlin, Stuttgart. Karlsruhe

und andere Städte. Man kann sagen, daß sich die elsässische Dialektliteratur um das Elsässische Theater gruppiert hat. Vor allen Dingen die Dramatik der Stoskopf, Bastian, Dr. Greber, Hans Karl Abel, Lina Ritter, Dr. Dinter, Hang. Aber auch der Zusammenhang mit der Gebrüder Mathis, F. 3E. Neukirchs, Emma Müllers und Marie Harts Lyrik und Epik ist nicht zu verkennen, wenn auch hier die Fäden oft in tieferen Tiefen verknüpft sind. Einer der wenigen, die sich mit gleichem künstlerischem Ernst des Dialekts wie des Hoch­ deutschen bedient haben und bedienen, ist H. K. Abel. Sonst standen sich die Gruppen ziemlich verbindungslos gegenüber: die „Stürmer" R. Schickele, E. Stadler, O. Flake, Berndt Jsemann, Wendel und Leonardus betonten schroff ihre durch­

aus unlokalen künstlerischen Intentionen, denen allein die hoch­ deutsche Sprache in einer möglichst modernen Prägung angemeffen schien. Außerhalb der Gruppen stand Hermann Stege­ mann, dessen starke und ergreifende Familienromane im Krieg leider wenig würdige Nachkommenschaft gefunden habm, abge­ sehn von Niklaus Brucks und Anselma Heines Büchern. Eine neue Generation von durchaus deutscher Prägung, die hinter den Stürmern etwa um ein Jahrzehnt im Alter zurück ist, machte sich nach 1910 bemerkbar. Als Vermittlung zwischen ihr und den Alteren aller Richtungen mochten wir Desirs Müntzers Talent nach der Seite des Heimatlichen wie des Modernen hin in Anspruch nehmen. Ihr stärkster und in Deutschland zur bis jetzt tiefsten Wirkung gelangter Vertreter ist Oskar Wöhrle aus St. Ludwig: ein vollblütiges Kind von jenem elsässischen Boden, wo das alemannische Blut noch un­ vermischt fließt. Der zarten Lyrik R. K. Balkes steht das hitzige Temperament des Kolmarers Siegfried Diehl gegen­ über, dessen Wertung als Theaterdichter einmal tiefer gehn wird als die des technisch tüchtigen Münchners W. C. Stücklen aus Straßburg. Wir sprechen vom kulturellen Anschluß des Elsasses an Deutschland: da gehört zu den schwerwiegendsten Tatsachen

doch wohl auch die, daß der Bürgermeister Schwand« Hans Pfitzn« für Straßburg zu gewinnen vermocht hat. Von el­ sässischen Musikern sind unter diesem Gesichtspunkt vor allem Klingler und Wendling zu nennen, die in Deutschland be­ rühmte Quartette leiten, dann Scharrer und Lorenz, die als Kapellmeister Namen erworben haben. Als einer, der in der Entwicklung d« modernen Musik auch produktiv, und zwar hauptsächlich und mit Ehren pro­ duktiv darin steht, lebt in Straßburg: Josef Maria Erb, deffen von dem jungen Stoskopf geschriebene Oper „Abendglocken" Mottl seinerzeit in Karlsruhe dirigiert hat, weil « hier einen Musiker fand, „an dem etwas zu entdecken sei". Soviel ist in größter Raumbeschränkung über neue Kunst im Elsaß zu sagen, wenn man sich darauf beschränkt, die zu nennen, die hervorgetreten sind. Aber es regt sich auch unter der Oberfläche der Tagesblätter und der Buchveröffentlichungen da und dort und wieder und wieder. Die geistige Aufregung der Zeit ist unter Empfangenden und Schaffenden im Elsaß wie drüben über dem Rhein lebendig. Und wenn ein anderer Asmodi Briefumschläge oder Buchhüllen durchsichtig machte, die mit der Post herüber- und hinübergehn, ber würde Fäden innigster Beziehungen hin- und herlaufen sehn, er würde sehn, daß es ein Gewebe von großdeutscher Art ist, das am Web­ stuhl dieser Zeit von elsässisch-heimatlichen Lebensspulen ge­ woben wird.

Frühling im Elsaß. Von O. S. Diehl. Äonne atmet lauter Duft, Ist das Elsaß nur ein Garten Zwischen weiter Himmelsklust Schwebend frei für selige Fahrten! In den Händen goldne Zäume, O wie groß wird Mut und Drang! Lachend werf ich Wunsch und Träume, Einen Lerchenchor voll Klang Nach dem Glück aus, übern Rand — Blüh auch du, von meiner Hand Treu gesegnet, heilig Land!

Wanderer in den Vogesen. Von O. S. D i e h l.

steigt ein Wandrer morgens einsam, schaudernd In der schreckhaft tigeräug'gen Stille, Durchs Gebirge, mit den Winden plaudernd, Die ihm heimlich eine Wolkenhülle Dunkeltürmend um die Wipfel schlagen. Hebt er, irrgegangen, an zu klagen. Plötzlich hört er über sich ein Rauschen, Doch er sieht nicht, wie, zu hoch beschwert. Sich ein Eimer flüß'gen Golds entleert. Das nun auf die Wolkenwände klopft: Herzerschrocken muß der Wandrer lauschen, Bis das Licht ihm auf die Füße tropft.

Vogesennächte. Don Gertrud Fauth. I.

(T^o3 bäuerische Haus, gekauert im Winkel der Lichtung; Silbergrün weidet der Mond vom Waldrand über die Hänge; Wiesen gleiten zu Tal wie breitbetreßte Schabracken. — -------- Lallen nicht Kinder? — Nein ... nein ... Im ausgetiesten Leib eines Baumes Fängt sich des Quells verzückte gurrende Stimme... — Immer wieder bricht er in Stammeln aus: „Nacht, silberbeschüttete Nacht."

II. ^iefblauer Enzian, die Nacht, Blüht über schwarzgrün erstarrten Wogen der Wälder. Sprachlos schweigen sich an Gebirge und Himmel. „Du, o du", schweigt ttef in Träumen das Waldmeer, „Du überwölbst mich. Höher steige ich auf bis zu dir." — „Du, o du", schweigt fern die schwebende Kuppel, „Du überttefst mich; Zärtlich senke ich nieder die schweigende Weite, Senke sie ab, hinab in den Fall deiner Wogen." — „Wie ich dich liebe", beten Gebirge und All zueinander. Und sie umschlingen sich beide und singen voll Inbrunst, — Hört ihr es, Menschen — das Lied der seligen Sttlle.

Die Wirtschaft des Reichslandes Elsaß-Lochringen in Vergangenheit und Gegenwart. Von Werner Wittich. vor dem Kriege an einem klaren Wintertage von XXz dem Gipfel des höchsten Vogesenberges, des Sulzer Bel­

chens, die gewaltige Rundsicht aufmerksam und nachdenklich betrachtete, dem bot sich gerade an dieser Stelle ein sehr lehr­ reiches Bild von der Oberflächengestaltung des Landes, dessen Wirtschaft wir in ihrem Werdegang und ihrer heutigen An­ sicht im folgenden kennen lernen wollen. Weithin bdjnt sich die mit Städten und Dörfern übersäte, reichbebaute rheinische Tiefebene. Deutlich scheidet der silberglänzende Lauf des Rheins den elsässischen Teil derselben von dem badischen Nach­ barland, das nur einen relativ schmalen Saum der Ebene beherrscht, während sie im Elsaß in allerdings wechselnder Breite von 20—40 Kilometern einen guten Teil des ganzen Territoriums einnimmt. Die verhältnismäßige Breite der Da« Elsaß.

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elsässischen Rheinebene gibt Raum für einen zweiten, dein Lauf des Rheins parallel gerichteten Fluß, die Jll, die, im elsässischen Jura entspringend, die wichtigsten Vogesengewässer aufnimmt und erst nördlich von Straßburg sich in den Rhein ergießt. Wenden wir unsern Blick nach Süden, so erscheint ein hügeliges, von blitzenden Teichen und kleinen Seen bedecktes Gebiet, das weiterhin zu einem wellenförmigen Gebirgsland, dem Jura, aufsteigt. Es ist der sogenannte Sundgau, die süd­ lichste, in ihrer Eigenart ziemlich abgeschlossene Landschaft des Elsasses. Zwischen den letzten schroff abfallenden Vogesen­ bergen und dem Jura eröffnet sich die Völkerpforte von Belfort, eine weite Einsenkung, die seit Jahrtausenden den Verkehr zwischen Frankreich und dem oberrheinischen Deutschland ver­ mittelt. Auch heute überschreitet die Eisenbahnlinie und der Rhein-Rhonekanal hier die Wasserscheide zwischen Nordsee und Mittelmeer. Schauen wir nun auf das Gebirge selbst, so läßt sich ein ziemlich nordsüdlich gerichteter Hauptkamm oder Zug unterscheiden, der die höchsten Gipfel, meist unbewaldete Wei­ den, trägt. Von diesem Hauptkamm strahlen nach Osten ge­ richtete Höhenzüge aus, die im Süden des Landes ziemlich un­ vermittelt in die Rheinebene niederfallen, während sie in der Mitte und besonders im Norden in einem reicher gegliederten Hügelland zur Ebene verlaufen. Tiefeingeschnittene Täler, eines der größten, das Amarintal, können wir vom Belchen­ gipfel aus fast in allen seinen Verzweigungen verfolgen, führen von der Ebene in geringer Steigung bis zum Hauptkamm des Gebirges, das in schroffem Abfall häufig in sogenannten Zirkusbildungen den Abschluß bildet. Während das Gebirge nach Osten zu steil in die rheinische Tiefebene abstürzt, verläuft es nach Westen zu sanft in die lothringische Hochebene, die im nordwestlichen Abfall zum Tal der Mosel niedersteigt, in ihren höheren Lagen weit ausge­ dehnte Bergwälder, dann aber in schwerstem Ackerboden reiche Getreideernten trägt. Auch diese Hochebene, die in vielen Be­ ziehungen vom Elsaß verschieden ist, können wir von unserem

hohen Standpunkte aus wahrnehmen. Sie erscheint als langgestreckte blaue Linie in den tiefen Einschnitten der Vogesen­ täler am westlichen Horizont unserer Rundschau. So haben wir in einem einzigen Überblick einen deutlichen Begriff von der Oberflächengestaltung des Reichslandes gewonnen: die vom Rhein durchströmte Tiefebene, das Hügelland der Vogesen und des Jura, das Gebirge mit steilansteigenden Bergen und tief­ eingerissenen Tälern und endlich die weite lothringische Hoch­ ebene, die halbmondförmig das ganze Elsaß einschließt, aller­ dings nur in ihrem nördlichen Teil dem heutigen Reichsland angehört. Eng an diese Oberflächengestaltung schließt sich nun die landwirtschaftliche Beschaffenheit und Benutzung des Lan­ des an. In der Tiefebene Getreidebau und Anbau der ver­ schiedenartigsten Handelsgewächse, im Hügelland der südlichen und mittleren Vogesen vorwiegend Weinbau, im nördlichen Hügelland vorwiegend Ackerbau, im Hügelland des Sundgaus entsprechend der relativ hohen Lage Getreidebau und Vieh­ zucht, im Gebirge endlich Waldwirtschaft und Viehhaltung zur Käsebereitung auf den Sommerweiden der Hochvogesen. Die lothringer Hochebene zeigt ebenfalls diese Unterschiede der Bodenbenützung. Viehzucht und Holzgewinnung in den höheren Lagen, Getreidebau im größeren Hauptteil, Wein- und Obstbau in den milderen Flußtälern der Mosel und der Seille. Jedoch sind die Gegensätze hier weniger scharf ausgeprägt als im Elsaß, wie ja auch die lothringer Landschaft keine schroffen Übergänge austveist. So wie das Land seiner natürlichen Beschaffenheit nach die mannigfaltigsten Möglichkeiten landwirtschaftlicher Produk­ tion darbietet, so besitzt es in reichstem Maße die verschiedensten Bodenschätze, die als wichtige Rohstoffe gewerblicher Arbeit und Hilfsstoffe landwirtschaftlicher Produktion gelten. -Seit alter Zeit wichtig war der große Holzreichtum der Gebirgswälder, deren sich Lothringen und das Elsaß erfreuten. Dazu kommt der Mineralbesitz, in Lothringen Eisenerz, Steinkohle und KoH> salz, im Elsaß Petroleum und Asphalt und ganz neuerdings im

Oberelsaß die für den Ackerbau so wichtigen Kalisalze. Auch die Wafferkräfte der Gebirgsbäche des Elsasses haben in der Industrie des Landes zeitweise eine maßgebende Rolle gespielt. Nicht weniger günstig als die Bedingungen der Ionbtoittschaftlichen und gewerblichen Produktion sind endlich die Verkehrslage und die natürlichen Verkehrsmittel des Reichslandes. Inmitten der fortgeschrittensten und reichsten Wirtschafts­ gebiete Europas, der Schweiz, Frankreichs, der Niederlande und Südwestdeutschlands, gelegen, hat es zu allen Zeiten den gewaltigen Güterverkehr zwischen diesen Ländern vermittelt, hat in seiner Produktion von den Nachbargebieten die größte Anregung erhalten, hat sie mit seinen Produkten versehen und von ihnen mannigfache Erzeugnisse bezogen. Zu diesem leb­ haften Austausche hat aber nicht nur die Nachbarschaft, sondern auch die Menge der natürlichen und künstlichen Verkehrswege beigetragen, deren sich das Land erfreute. In älterer Zeit waren es vor allem die natürlichen Wasserstraßen des Rheins und der Jll, der Mosel und der Saar, die den Verkehr trugen. Später kamen Landstraßen und Kanäle und schließlich die Eisenbahnen hinzu. In abwechselnder Stärke haben alle diese Verkehrsmittel der Wirtschaft des Landes gedient. Bald trat das eine, bald das andere mehr hervor, so daß heute die älteste Verkehrsstraße des Landes, der Rhein, der jahrelang völlig verlassen war, im Begriff ist, zum wichtigsten Handelsweg des Reichslandes zu werden. So sehr sich nun die Wirtschaft des Reichslandes auf diesen Produktions- und Verkehrsbedingungen aufbaut, gewisser­ maßen aus ihnen hervorwächst, ebenso sehr haben die politischen Schicksale unseres Gebietes und seiner Bewohner die Richtung und Natur dieser Wirtschaft bestimmt, indem sie bald ihre ur­ sprüngliche Tendenz beförderten und sie zur höchsten Blüte brachten oder aber diese Entwicklung zerstörten, zurückhielten oder im Keime erstickten. Ein Blick auf die politische Geschichte des Landes ist daher zum Verständnis seiner Wirtschaft not­ wendig. Als politische Bildung, als Staat, ist das Reichsland

bekanntlich eine Schöpfung der neuesten Zeit. Als solcher Staat ist es heute ein Bestandteil des Deutschen Reiches, seine Wirtschaft ist ein Teil der deutschen Volkswirtschaft. Bei seiner Lostrennung von Frankreich war eS dem französischen Staate und seiner Volkswirtschaft eng verbunden. Aber diese wirt­ schaftliche Zugehörigkeit der Gebiete des heutigen Reichslandes zu Frankreich war, wie wir sehen werden, anderer Art als die gegenwärtige Verbindung Elsaß-Lothringens mit Deutschland. Vor allem war sie viel jünger als die politische. Sie datiert erst aus dem Beginn der französischen Revolution. Während die politische Herrschaft Frankreichs mit einer Ausnahme im ganzen heutigen Gebiet des Reichslandes im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts befestigt war, haben dieselben Landschaften noch lange in wirtschaftspolitischer Beziehung außerhalb der französischen Volkswirtschaft gestanden. Erst in der französi­ schen Revolution (1790) wurden die Zollgrenzen bis zur Lan­ desgrenze vorgeschoben, und so Elsaß und Lothringen auch wirt­ schaftlich völlig mit Frankreich vereinigt. Es fallen demgemäß die Epochen der modernen Wirtschaftsgeschichte des Reichslandes nicht mit den Epochen seiner politischen Entwicklung zusammen. Frankreich hat beide Gebiete zunächst politisch erobert, dann aber wirtschaftlich sie viele Jahrzehnte lang sich selbst überlasten. Nur Mülhausen ist, allerdings sehr spät, 1798, politisch und wirtschaftlich gleichzeitig dem französischen Staate einverleibt worden. Während der Ausbildung der modernen Volkswirtschaft bleiben beide Gebiete mit Frankreich vereinigt. Sie erlaben in dieser Verbindung den merkwürdigsten wirtschaftlichen Um­ schwung der modernen Zeit, die Entstehung der Großindustrie. Gerade das Elsaß wird von dieser Umwälzung besonders stark ergriffen. Als nun diese Entfaltung der Großindustrie in Frankreich ihren Höhepunkt erreicht hatte, werden beide Ge» biete, das Elsaß völlig, Lothringen zu einem guten Teil im Jahre 1871 von Frankreich abgetrennt und mit dem neuen Deutschen Reiche als Reichsland vereinigt. Seitdem sind sie

in immer engere Verbindung mit der deutschen Volkswirt­ schaft hineingewachsen. Da Deutschland, ein Land jüngerer wirtschaftlicher Kultur als Frankreich, seine industrielle Ent­ faltung in der Hauptsache erst seit 1871 begonnen hat, so macht das Reichsland mit der jüngeren Volkswirtschaft zum zweiten Male diese wichtige Entwicklungsphase durch. Bei dieser Ge­ legenheit wird das Unterelsaß industrialisiert und die nächst der Textilindustrie wichtigste Industrie des Landes, die loth­ ringer Eisenindustrie, steigt zu ihrer heutigen Stellung empor. Wir können demgemäß in der ökonomischen Entwicklung drei Epochen unterscheiden. Die vorfranzösische Zeit, die bis 1790 dauert. Die französische Epoche von 1790—1871. Die deutsche von 1871 bis zur Gegenwart.

Aus dieser Entwicklung wollen wir nun die wichtigsten Episoden herausheben und im einzelnen betrachten. Wir wer­ den damit nicht nur einen Begriff von der ökonomischen Ver­ gangenheit des Landes bekommen, sondern es wird sich uns auch die tiefere Einsicht in das Werden, die Grundlagen und Lobensbedingungen seiner gegenwärtigen Wirtschaft eröffnen.

Die vorfranzösische Periode (18. Jahrhundert bis 1790).

Beginnen wir mit der ersten vorfranzösischen Periode, so war die wichtigste ökonomische Tatsache die Lage beider Ge­ biete außerhalb der französischen Zollgrenzen. Das Gebiet der fünf großen Steuerpachten (cinq grosses fermes) endigte an der Westgrenze des alten Herzogtums Lothringen, Bar le Duc war die letzte lothringische Grenzstadt gegen das franzö­ sische Territorium. Da das Herzogtum Lothringen das Elsaß halbmondförmig einschloß, so grenzte dieses nur im Süden an das französische Zollgebiet auf verhältnismäßig kurzer Strecke, auf der größten Länge feiner Grenzen war es durch herzogliche und andere Territorien von der innerfranzäsifchen Zollinie getrennt. Daraus ergab sich für beide Gebiete ein Abschluß von dem durch Colbert geschaffenen französischen Volkswirt-

schaftskörper, am stärksten für das Elsaß, weniger für das direkt unter den französischen Zollmauern liegende Lothringen. Beide Territorien lagen in einem relativ freien Verkehrsgebiet, das von Italien bis zur Nordsee sich erstreckte und die ökono­ misch höchststehenden Staaten der damaligen Zeit in sich schloß. Im Lande selbst bestanden in wirtschaftlicher Hinsicht Über­ gangszustände, in denen sich in seltsamer Weise wichtige Be­ standteile der mittelalterlichen Wirtschaftsverfafsung mit neue­ ren ökonomischen Bildungen verbanden. Noch herrschte auf dem Lande wie in den Städten in wichtigen Beziehungen die Naturalwirtschaft, viele Produkte des täglichen Konsums ver­ ließen nicht die Wirtschaft, in der sie erzeugt worden waren. Auch in den größten Städten des Landes spielten Acker- und Weinbau eine wichtige Rolle, alle erheblichen Gewerbe waren streng zünftig organisiert. Stadt und umgebende Landschaft bildeten in ungleich höherem Maße als später nach außen ab­ geschlossene Verkehrsgebiete, die ein sich selbst genügendes Sonderdasein führten. Aber andererseits lagen das Elsaß wie auch Lothringen in dem erwähnten freien Verkehrsgebiet. Seit vielen Jahrhunderten zog ein gewaltiger, den Norden mit dem Süden Europas verbindender Verkehr im Rheintal seine Straße. Der Verkehr Frankreichs mit dem Osten und Norden bewegte sich teils durch die burgundische Pforte ins Elsaß, teils durch Lothringen hindurch über die Steige von Zabern oder nach den natürlichen, sämtlich nordwärts führenden Wasserstraßen von Saar und Mosel. Straßburg war der Endpunkt der oberrheinischen Schiffahrt, die Jll verband als natürlicher Schiffahrtskanal die wichtigsten elsässischen Städte untereinander. Dabei war das Elsaß reich an Korn und Wein und besonders im Unterelsaß zu allen Spezialkulturen wohl geeignet. Lothringen aber erzeugte ebenfalls über seinen Be­ darf hinaus Getreide und von Erzeugnissen der Urproduktion vor allem Holz, Salz und Eisen, an Fabrikaten Eisenwaren, Glas und Fayencen. Aus diesen Produktions- und Verkehrs­ verhältnissen waren schon früh die Neuerungen erwachsen, die

sich mit den noch lebendigen älteren Wirtschaftsbestandteilen zu dem mannigfaltigen Bilde vereinigten, daS die Wirtschaft des Elsasses und Lothringens int 18. Jahrhundert darbot. Uralt war der Export des edelsten Landesproduktes, des Weins, nach Norden und Süden. Dazu kam im llnterelsaß der Anbau von Handelsgewächsen wie Tabak, Hanf und Krapp, ihre fabrik­ mäßige Verarbeitung in den Städten und ihre Ausfuhr durch städtische Händler. Im Elsaß wie in Lothringen bildete das Getreide in guten Jahren einen wichtigen Ausfuhrartikel in die benachbarten Gebiete. DaS Herzogtum Lothringen insbesonders exportierte seine erhebliche Produktion an Holz, Salz, Eisenwaren und Glas vorzugsweise nach Norden und Osten, brachte aber einzelne Fabrikate (Glasflaschen für die Cham­ pagne) und besonders gewerbliche Rohstoffe auch über die durch hohe Zölle geschützte französische Grenze. Ein lebhafter, in Straßburg und den größeren lothringer Städten domizilierter Handel vermittelte diesen Export der einheimischen Produkte und führte fremdländische Erzeugniffe, Baumwolle, Wolle, Ko­ lonialwaren und Zucker, französische Waren aller Art dem Lande zu. Aus den benachbarten deutschen Staaten und aus der Schweiz bezog das Elsaß lebendes Vieh und Produkte der Viehzucht. Der Handel beschränkte sich aber nicht auf die Aus­ fuhr der Landesprodukte und die Versorgung des Inlandes mit ausländischen Erzeugnissen. In Lothringen und im Elsaß beteiligte er sich mit Erfolg an dem großen das Land nach allen Richtungen durchziehenden Transitverkehr, besonders in Straß­ burg bot sich dazu günstige Gelegenheit, da hier der Umschlag der Waren vom Schiff auf die Achse und umgekehrt stattfand. So waren die Pvovinzen Elsaß und Lothringen zwar damals wir heute nach ihren natürlichen Anlagen und Erzeugniffen ganz verschieden, aber in ihrer wirffchaftlichen Stellung gerade im 18. Jahrhundert durchaus ähnlich und ganz int Gegensatz zu dem abgeschlossenen innerftanzösischen Wirtschaftsgebiet offen im fteien Verkehr nach allen Seiten hin gebend und von überall her empfangend. Die Richtung dieses Verkehrs war

entsprechend dem Zug der Hauptwasserstraßen südnördlich und nordsüdlich, auch nach Osten war er schon der alten völkischen Beziehungen halber lebhafter als nach Westen. Die mächtige Wasserstraße des Rheins verband beide Gebiete mit den nieder­ ländischen Seehäfen. Also auch der Anschluß an den Seeverkehr erfolgte außerhalb der französischen Grenzen. Allerdings er­ goß sich ein Strom hochwertiger Fabrikate und Naturprodukte aus der merkantilistischen Volkswirtschaft Frankreichs in unsere Provinzen wie nach allen europäischen Ländern, aber der Import war durch Einfuhrverbote oder hohe Zollschranken fast unmöglich gemacht, nur Rohswffe und Nahrungsmittel aus Lothringen gingen in erheblichen Mengen über die franzö­ sische Grenze. Die erste der großen Industrien, die offenbar in ihrer Entstehung und Entwicklung durch die Exportmöglichkeit nach Frankreich bedingt wurde, war die Jndiennefabrikation des Oberelsaffes, die Vorläuferin der heutigen Textilgroßindustrie. Ihr Produkt waren die damals vielbegehrten, nach indischer Art bunt bedruckten Baumwolltücher, die sogenannten Jndiennes. Das Baumwollgewebe war der Rohswff, die Fabri­ kation bestand in dem kunstreichen Bedrucken und Färben der Gewebe. Die erste Fabrik dieser Art wurde von drei Mül­ häuser Bürgern, Schmalzer, Dollfus und Köchlin, im Jahre 1745 oder 1746 in der damals freien, der Eidgenossenschaft zu­ gewandten Stadt Mülhausen begründet. Der Erfolg dieser Unternehmung war so groß, daß bereits 1768 fünfzehn solcher Manufakturen in der Stadt gezählt wurden. Der Baum­ wollendruck machte komplizierte Betriebsmittel unb eine weit­ gehende Arbeitsteilung notwendig. Der Betrieb erfolgte daher in der Form der geschlossenen Manufaktur, er war von Anfang an großkapitalistisch. Der kapitalistische Charakter der Unter­ nehmung und die völlige Neuheit der Technik stellten das Ge­ werbe von Anfang an außerhalb des Kreises der zünftigen Regelung. Die Gewebe kamen anfangs aus der Schweiz, bei dem wachsenden Bedarf an Tüchern ließen die Fabrikanten das

Garn durch ländliche Hausindustrielle spinnen und durch zünf­ tige Weber zu Geweben verarbeiten, da ihnen der Betrieb eigener Webstühle verboten war. Zeit, Ort und Art der Ent­ stehung reihen diese Industrie den durchaus gleichartigen Unter­ nehmungen an, die schon früher, etwa seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, vielfach durch vertriebene Hugenotten in den westschweizerischen Gebieten von Genf und Neuenburg haupt­ sächlich zum Zweck der Einfuhr nach Frankreich gegründet wor­ den waren. Nach der Vertreibung der Hugenotten hatte man in Frankreich den Baumwollendruck zu gunsten der heimischen Seiden- und Wollverarbeitung untersagt und auch die Einfuhr der Jndiennes verboten. Aber die Mode der bedruckten Kat­ tune erhielt sich allen Verboten zum Trotz, und in der Nähe der französischen Zollgrenze entstanden zahlreiche Kattunfabriken, deren Erzeugnisse auf dem Wege des Schmuggels nach Frank­ reich eingeführt wurden. Als man die Nutzlosigkeit des Ver­ botes erkannt und die Jndiennefabrikation sowie die Einfuhr im Jahre 1760 erlaubt hatte, waren die bestehenden Manufak­ turen bereits erstarkt und jeder Konkurrenz gewachsen. ES ent­ standen nun auch im französischen Elsaß, und zwar besonders in den Vogesentälrrn, wo Wasserkraft und billige Arbeiter zurVerfügung standen, zahlreiche Jndiennemanufakturen. Spinnerei und Weberei bleiben auch hier zunächst Hausindustrien, erst unter dem Einfluß der großen technischen Erfindungen in Eng­ land trat seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts der konzen­ trierte Maschinenbetrieb, der die Arbeiter in der Fabrik ver­ einigte, an ihre Stelle. Der Absatz ging nach Aufhebung der Einfuhrverbote und Erleichterung der Zollbelastung vorwiegend in das innere Frankreich, zu einem kleineren Teil auch nach allen Orten des freien Verkehrsgebietes, besonders nach Deutsch­ land und der Schweiz.

Die französische Periode 1790—1871. Das gewaltige Ereignis der großen Revolution zog nun im Jahre 1790 den Zollanschluß beider Provinzen an Frank-

reich, den Eintritt Mülhausens in den französischen Staats­ verband und eine völlige Umwälzung aller bestehenden poli­ tischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältniffe nach sich. Die ganze alte Ordnung der Dinge, die städtische Zunftverfassung, die Trennung zwischen Stadt und Land, die grundherrlichen Lasten des Bauernstandes, die Patrimonialherrschaften der deutschen Reichsstände in Elsaß und Lothringen, die lothringer Seigneurie, die geistlichen Herrschaften, der geistliche Grund­ besitz überhaupt, die Autonomie der Städte, kurz der ganze komplizierte Bau des ancien regime verschwand, um einem auf Menschen- und Bürgerrecht, Privateigentum und National­ souveränität beruhenden Rechtszustand Platz zu machen. Es ist unmöglich, in diesem kurzen Überblick die ökonomischen Folgen dieser Umwälzung auch nur annähernd erschöpfend dar­ zustellen. Wir beschränken uns daher darauf, die Folgen der Einbeziehung von Elsaß und Lothringen in den französischen Zollverband ausführlicher zu betrachten. Die Angliederung beider Gebiete an Frankreich bedeutete die Einverleibung zweier freihändlerischer Territorien in eine schutzzöllnerische Volks­ wirtschaft mit Exportbeschränkungen nach außen und Staats­ monopolen im Innern. Daher mußte zunächst der Handel den völligen Wechsel aller staatswirtschaftlichen Grundsätze emp­ finden. Der Getreideexport wurde beschränkt, zeitweise ganz verboten, der Durchfuhrhandel untersagt. Im Jahre 1810 führte Napoleon I. das Tabakmonopol ein, verbot den Tabak­ import und -export und vernichtete die blühende Straßburger Tabaksabrikation und den Tabakhandel. Der Anbau der Tabak­ pflanze wurde allerdings dem niederrheinischen Departement erlaubt und in strenger Begrenzung durch die französische Regieverwaltung zugemessen. Die ganze Produktion wurde von der staatlichen Manufaktur zu Straßburg angekauft. Allerdings brachte die Zeit der Kontinentalsperre dem Straß­ burger Handel eine kurze, glänzende Blüte, aber die Grund­ lagen seines Gedeihens waren mit dem Eintritt in das französische Zollgebiet vernichtet. Zu Anfang unserer Epoche

war Straßburg gewissermaßen der Hafen deS Elsaßes gewesen. Alle Kolonialwaren und die so wichtige Rohbaumwolle kamen zu Schiff oder per Achse rheinaufwärts ins Land. Diese Stel­ lung änderte sich seit 1816 völlig. Damals wurde die Einfuhr aller Kolonialwaren, also besonders von Zucker und Baum­ wolle, über die Landgrenzen zu gunsten der französischen See­ häfen verboten. Dieses Einfuhrverbot dauerte für die Kolo­ nialwaren außer Rohbaumwolle bis zum Abschluß des hol­ ländisch-französischen Handelsvertrages im Jahre 1840. Dieser Vertrag ließ die Einfuhr von Kolonialwaren über Straßburg wieder zu, soweit sie aus holländischen Häfen auf holländischen Schiffen zugeführt wurden. Das Einfuhrverbot für Rohbaum­ wolle dauerte bis 1848, und auch dann wurde sie nur zu einem um ein Drittel höheren Zoll als in den Seehäfen zugelaffen. Man kann also behaupten, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Import von überseeischen Waren zu gunsten der Seehäfen monopolisiert war. Als später Erleich­ terungen zu gunsten Straßburgs eintraten, war die Stellung der Seehäfen nicht mehr zu erschüttern, zumal die Entwick­ lung des Eisenbahntransports die billige Versorgung von den Seehäfen aus ermöglichte, und die Nähe Straßburgs bei den Hauptkonsumtionszentren längst nicht mehr die wirtschaftliche Bedeutung wie in der eisenbahnlosen Zeit besaß. Ebenso wie mit dem Jmporthandel Straßburgs ging es auch mit den Ex­ portgütern des Elsaffes, den mannigfachen Landesprodukten, besonders dem wichtigsten, dem Wein. Teils unterlagen sie Ausfuhrverboten zu gunsten deS inneren Konsums, teils schloffen sich die alten Aufnahmegebiete wegen der übertrieben hohen französischen Schutzzölle gegen ihre Einfuhr ab. Aber wie der Zollanschluß die alten Wirtschaftsbeziehungen und wichtige ErwerbSzweige deS Landes zerschnitt und ver­ nichtete, so schuf er auch neue und verhalf gerade den wich­ tigsten Industrien deS Landes zu einer Blüte, die den Nieder­ gang zahlreicher kleinerer Gewerbe vielfach aufwog. Vor allem gewann Lothringen, das schon früher in engerer Beziehung zu

Frankreich gestanden hatte, für seine Hauptindustrien einen ge­ waltigen freien Markt. Damals erlebte die Eisenindustrie, neubegründet und zu Großbetrieben entwickelt von Männern wie Franyois de Wendel, ihre erste Blüte. Die alten domanialen Salinen kamen als Nationalgüter in die Hand privater Unternehmer, die die erste chemische Großindustrie (Sodafabri­ kation) auf ihnen begründeten. Glashütten und Fayence­ fabriken wurden hochstehende Kunstgewerbe. Für alle diese Gewerbszweige waren zwei Tatsachen von ausschlaggebender Bedeutung. Einmal die französische Zollpolitik, die diesen durch die englische und belgische Konkurrenz stark bedrohten Produktionen den inneren Markt unbedingt sicherte, und ferner die Berkehrspolitik, Eisenbahn- und Kanalbau, die diese an der äußersten Grenze des Staates gelegenen Schwerindustrien mit den Hauptkonsumtionszentren des Südens und der Mitte in enge Beziehung brachten. In ähnlicher Weise erhielt auch Straßburg einen Ersatz für den Verlust seiner Handelsstellung. Der Zollanschluß eröffnete ihm den Markt für seine Lebens­ mittelindustrie , deren wichtigste, die Brauerei, sich vermöge dieser Absatzbedingungen im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Großbetrieb entwickelte. Auch mancherlei Staatslieferungen kamen hier der Leder-, Textil- und Maschinenindustrie zugute. Am schärfsten aber kam diese Wirkung des Zollanschluffes in der Entwicklung der wichtigsten Industrie des Landes, der oberelsässischen Textilindustrie, zum Ausdruck. Wir haben ge­ sehen, wie sie in der Epoche des freien Verkehrs als Baumwoll­ druckerei in Mülhausen entstanden war und sich dann auf das Landgebiet des Oberelsaffes ausgedehnt hatte. Schon damals ging der größere Teil ihrer Produktion nach Frankreich. Mit dem Eintritt in das französische Zollgebiet wird diese Kunstund Luxusindustrie zur Textilindustrie im wahren Sinn des Wortes, gewaltige Spinnereien und Webereien erstehen in Mülhausen und den Vogesentälern, die nicht nur wie bisher den Bedarf der Druckerei an Tüchern erzeugen, sondern darüber hinaus Halbfabrikate (Feingarne) und Güvebe herstellen.

Während die benachbarten, einst unter gleichen Bedingungen begründeten schweizer Jndiennefabriken zu Beginn des 19. Jahr­ hunderts sämtlich eingingen, steigt die oberelsässer Kattun­ manufaktur zur Textilgroßfabrik empor, eben dank der Absatz­ gelegenheit auf dem zollgeschützten großen französischen Markt. Die Stoffdruckerei, der qualitativ höchststehende Zweig der elsässischen Produktion, entwickelte sich nach Eintritt in die französische Volkswirtschaft zur Weltindustrie, da sie vermöge des tonangebenden Einflusses der Pariser Mode ihre Erzeugnisse nach allen Ländern Europas und selbst in fremde Welt­ teile ausführte. So war die Lage am Ende der französischen Periode die folgende: Die wichtigsten gewerblichen Produktionen waren völlig in die französische Volkswirtschaft einbezogen worden. Sie hatten durch Eröffnung eines sehr aufnahmefähigen, großen Marktes eine vielseitige Anregung und bedeutende För­ derung erfahren. Dagegen hatten Landwirffchaft und Handel große Einbußen erlitten. Besonders der Handel Straßburgs war durch Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen und durch die Begünstigung der Seehäfen schwer geschädigt worden, und die landwirtschaftlichen Spezialkulturen, allen voran der Weinbau, hatten infolge der französischen Schutzzollpolitik ihre alten Ab­ satzgebiete verloren. Einen Ersatz erhielt die Landwirtschaft durch die infolge der gewerblichen Entfaltung gesteigerte Auf­ nahmefähigkeit des inneren Marktes. Der Handel blieb auf die Vermittlung der immerhin nicht unbedeutenden Ein- und Ausfuhr des französischen Zollgebietes beschränkt und befand sich in dauerndem Rückgang. Trotz dem unverkennbaren ge­ werblichen Auffchwung des Landes blieben bis zum Ende der Periode das Unterelsaß und Lothringen überwiegend agrarisch, nur im Oberelsaß kann man von einem vorherrschend industriel­ len GÄiete reden. Ferner war die Verflechtung in die Volksund Weltwirtschaft so beschaffen, daß nur die gewerbliche Pro­ duktion für diese arbeitete, und nur sie ihre Produktionsmittel von außen bezog, während die Ernährung in der Hauptsache

durch die lokale landwirtschaftliche Produktion erfolgte. End­ lich waren die Beziehungen zum inneren Frankreich derart, daß eine erhebliche Abwanderung dorthin nur aus den höheren so­ zialen Klaffen stattfand, die Maffe dauernd im Lande blieb und vor allem eine nennenswerte Einwanderung von Frank­ reich her völlig fehlte. Es war also in allen Klaffen die alt­ einheimische Bevölkerung, die den Übertritt in die französische Volkswirtschaft vollzog.

Die deutsche Periode. Der Übergang des Elsasses und eines Teils von Loth­ ringen an das Deutsche Reich bedeutete für das Land und fein Volk eine ähnliche Umwälzung aller Verhältnisse wie das Er­ eignis der französischen Revolution. Verhältnismäßig am leichtesten gelang der Übergang in die deutsche Volkswirtschaft der oberelsässischen Textilindustrie. Während eines kurzdauern­ den Übergangsprovisoriums, das ihr beide Märkte offen ließ, gelang es ihr, einen ungeheuren Export im Werte von 350 Millionen Franken nach Frankreich zu werfen. Dann nahm sie eine Reihe von Produktionsänderungen vor, die hauptsäch­ lich durch die deutschen Markt- und Zollverhältnisie bedingt waren, und entwickelte einen ganz neuen Zweig, die Kamm­ garnspinnerei von Wolle, zu hoher Blüte. In gewiffen Spe­ zialitäten, wie Zeugdruckerei und Nähgarnfabrikation, hielt sie den Export ins Ausland, sogar nach Frankreich, erfolgreich aufrecht. Auch ihr kam die Schutzzollpolitik des Fürsten Bis­ marck und der gewaltige Auffchwung der deutschen Volkswirt­ schaft sehr zu statten und erleichterte ihr den Übergang in die neuen Verhältnisse. Auch der elsässische und lothringische Wein­ bau zog aus der Wiedergewinnung der alten Absatzgebiete er­ hebliche Vorteile, so daß sich die Anbaufläche, die vor dem Kriege in starkem Rückgang war, wieder beträchtlich ausdehnte. Im Unterelsaß und in Lothringen dagegen gingen zahlreiche gewerbliche Produktionen, die ganz auf den französischen Markt angewiesen waren, zugrunde oder hielten sich nur mühsam auf-

recht. Die straßburger Nahrungsmittelindustrie erlitt schwere Einbußen, die Bierbrauerei verlor ihren französischen Markt und konnte in Deutschland nicht Fuß fassen, die wichtigste In­ dustrie Lothringens, die Eisenindustrie, kam infolge ungün­ stiger Verkehrs- und Transportverhältniffe und aus technischen Gründen fast zum Erliegen. Auch die Landwirtschaft litt schwer unter der allgemeinen Depression der Getreidepreise, und der Handel Straßburgs, das nicht mehr Grenzstadt war, ging damals bis auf geringe Reste unter. Der Wiederaufbau vollzog sich zunächst infolge der poli­ tischen Neugestaltung des Landes, die gerade für das Unter­ elsaß und Straßburg bedeutsame wirtschaftliche Wirkungen hatte. Straßburg wurde aus einer französischen Provinzial­ stadt Landeshauptstadt mit stark vergrößerter Garnison. Die zahlreiche, von Deutschland her einwandernde Bevölkerung schuf eine bedeutende Nachfrage nach Wohnungen und sonstigem Lebensbedarf. Auch die Wiederherstellung der Kriegsschäden und die Truppen erzeugten eine dringende Nachfrage. Alle diese Umstände regten die bestehenden Gewerbe zu neuer Tätig­ keit an und ließen neue Produktionen entstehen. Zunächst nahm das Baugewerbe einen bedeutenden Aufschwung, es ent­ standen Leder- und Eisenkonstruktionsfabriken. Die alteinhei­ mische Tabakindustrie blühte wieder auf. Bald lenkten auch Handel und Verkehr in die alten Bahnen der nordsüdlichen und südnordlichen Bewegung wieder zurück. Zuerst war es der Kohlenhandel, der sich in Straßburg ansiedelte. Schon in fran­ zösischer Zeit hatte das Saarbecken Elsaß und Lothringen mit dem immer wichtiger werdenden Brennstoff versehen. Daher errichteten zunächst die Saarkohlenhändler ihre Niederlassungen in Straßburg. Bald erschien auch die qualitativ viel höher stehende Ruhrkohle auf dem elsässischen Markt. Anfangs er­ folgte der Transport auf Eisenbahnen und Kanälen. Seit dem Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts aber begann die Rheinschiffahrt wieder aufzuleben und nach Vollendung der Straßburger Hafenanlagen nahm sie einen nie dagewesenen

Aufschwung. Sie führte dem Lande vor allem Massengüter. Kohle und Getreide, dann aber auch alle anderen Waren zu und rief ihrerseits wieder bedeutende Industrien inS Leben, unter denen die straßburger Mühlenindustrie besonders hervorzu­ heben ist. Auf diese Weise hat sich der Wiederaufbau der unter­ elsässischen Wirtschaft vollzogen. Manche alte Industrie, wie Brauerei und Pastetenfabrikation, sind wieder aufgeblüht, viele sind untergegangen. An ihre Stelle aber ist ganz wie seiner­ zeit beim Zollanschluß an Frankreich eine dorthin gerichtete, jetzt eine völlig nach Deutschland orientierte Großindustrie und ferner ein dem Lauf des Rheins folgender Verkehr ge­ treten. Der Unterschied zwischen beiden Prioden besteht nur darin, daß schon im Unterelsaß dieser Neuaufbau der Wirt­ schaft nicht ausschließlich von einheimischen Elementen wie in der französischen Periode erfolgte, sondern zu einem guten Teil von Eingewanderten ausging, die ihrerseits wieder eine zahlreiche altdeutsche Gehilfen- und Arbeiterschaft nach sich zogen. In weit höherem Maße trat nun diese Erscheinung bei der Neugründung der lothringer Wirtschaft hervor. Die weitaus wichtigste Industrie Lothringens, die Eisenindustrie, hatte nach dem Übergang des Landes an Deutschland schwe­ ren Schaden gelitten. Die Ursachen dieses Rückganges waren ökonomischer und technischer Natur. Zunächst verlor die Indu­ strie unter deutscher Herrschaft den weitgehenden Zollschutz, den Frankreich allen seinen Hauptindustrien gewährt hatte. Ferner verschlechterten sich die Verkehrsverhältnisse für die Produktion und den Absatz der fertigen Produkte erheblich, wodurch gerade die Eisenindustrie als Schwerindustrie empfindlich getroffen wurde. Entscheidend scheint aber die Umwälzung der Technik gewesen zu sein. Die lothringer Eisenwerke stellten vor allem Schmiedeeisen aus phosphorhaltigem Erze her. Der für die Qualität des Produkts schädliche Phosphor wurde durch das sogenannte Puddelverfahren ausgeschieden. Nun gelang es dem Engländer Bessemer, das flüssige Roheisen durch Zu­ führung von Luft direkt in Stahl zu verwandeln. Infolge

dieser Verbilligung der Stahlproduktion nahm die Stahlver­ wendung erheblich zu. Das lothringer Roheisen war nun für den Bessemer Prozeß unverwendbar, da in diesem nicht wie im Puddelverfahren der Phosphor ausgeschieden wurde, sondern phosphorhaltiger Stahl entstand. Alle diese ungünstigen Um­ stände, am meisten wohl der letztere, schädigten die Industrie derart, daß sie mit Ausnahme der großen Werke der Firma de Wendel zum Erliegen kam. Erst die Entdeckung des sogeannten Thomasverfahrevs im Jahre 1878 ermöglichte es, phosphorhaltiges Roheisen im Bessemerprozeß in phosphor­ freien Stahl zu verwandeln. Damit war der Wiederaufbau der lothringer Eisenindustrie entschieden. Bereits 1882 wurde das Thomasverfahren auf den de Wendeischen Werken zu Hayingen eingeführt. Aber da die Ungunst der Verhältnisse zu Anfang der deutschen Periode die einheimische Unternehnmngslust völlig gelähmt hatte, geriet in der Folgezeit die ganze neu entstehende Eisenindustrie in die Hand altdeutscher Unternehmer, die entweder das Erz oder das im Hochofen ge­ wonnene Roheisen in ihren Stahlwerken im Ruhr- und Saar­ gebiet weiterverarbeiteten oder aber an Ort und Stelle große Stahlwerke errichteten. Es vollzog sich hier, nur in weit groß­ artigerem und durchgreifenderem Maße derselbe Vorgang, den wir bereits im Unterelsaß beobachtet haben, die Verdrängung des einheimi chen Unternehmertums durch Reichsdeutsche in der Zeit des Übergangs. Die lothringer Eisenindustrie aber wurde auf diese Weise völlig in die deutsche Volkswirtschaft einbezogen, sie bildet heute mit einem Drittel der deutschen Roheisen­ produktion eines der wichtigsten Glieder der wichtigsten deut­ schen Industrie, der Stahlindustrie. In ähnlicher Weise hat sich die Kohlengewinnung in Lothringen unter deutscher Herr­ schaft entwickelt und auch die jüngste Bergwerksindustrie, der Kalibergbau im Oberelsaß, zeigt die gleiche Entwicklungs­ geschichte. Das Kali ist von einem Altelsäffer gefunden worden. Aber da die altelsässer Kapitalisten der neuen, im Lande wenig bekannten Industrie gegenüber große Zurückhaltung zeigten, —IW—

sind in wenigen Jahren fast sämtliche Grubenfelder und fer­ tigen Schächte an die großen altdeutschen Kalikonzerne über­ gegangen. So ist die Wirtschaft deS heutigen Reichslandes in die deutsche Volkswirtschaft einbezogen worden, vielfach in ähn­ licher Weise, wie ihre Angliederung an Frankreich erfolgte, aber auch mit bezeichnenden Unterschieden. Die Eigenart der deut­ schen Periode besteht vor allem darin, daß die Verkehrsenttvicklung vielfach auf vorfranzösische Zustände zurückgreift, daß daS Rheintal und vor allem der Rhein selbst wieder zum Haupt­ verkehrsweg des Landes werden, und damit das Land wieder dem Rheingebiet eng verbunden wird, dem es ja wirtschaftsgeographisch von jeher angehört hat. Ferner ist bei dem Wieder­ aufbau der reichsländischen Wirtschaft nach dem Kriege das alt­ deutsche Element in Unternehmer-, Beamten- und Arbeiter­ schaft ungleich stärker beteiligt gewesen, als jemals daS inner­ französische zur Zeit der französischen Herrschaft. Die Wirt­ schaft des Landes hat ihre eingeborene Leiter- und Unter­ nehmerschaft zu einem guten Teil verloren, und neue reichs­ deutsche Männer sind an ihre Stelle getreten. Endlich hat die Industrialisierung des ganzen Landes seit seinem Eintritt in die deutsche Volkswirtschaft gewaltige Fortschritte gemacht, die Bevölkerung lebt nicht mehr ausschließlich von dem Ertrag deS Landes, sie ist auch mit ihrem täglichen Konsum, nicht mehr wie früher bloß mit ihrer Produktion in die Weltwirtschaft verflochten.