Das russische Drama: Teilband 3 9783412214739, 9783412181017

202 134 4MB

German Pages [552] Year 2012

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Das russische Drama: Teilband 3
 9783412214739, 9783412181017

Citation preview

Das russische Drama

Russische Literatur in Einzelinterpretationen Herausgegeben von Bodo Zelinsky

Band 1: Die russische Lyrik Band 2: Der russische Roman Band 3: Das russische Drama Band 4: Die russische Erzählung

Das russische Drama

Herausgegeben von

Bodo Zelinsky unter Mitarbeit von Jens Herlth

2012 BÖH LAU V E R L A G K Ö L N WEIMAR WIEN

Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte / Neue Folge Begründet von Hans-Bernd Harder (†) und Hans Rothe Herausgegeben von K a r l G u t s c h m i d t , R o l a n d M a rt i , P e t e r T h i e rg e n , L u d ge r U d o l ph u n d B o d o Z e l i n sk y Reihe A: Slavistische Forschungen Begründet von Reinhold Olesch (†) Band 40, 3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: FINIDR s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-18101-7

Inhalt D AS RUSSISCHE D RAMA Von Bodo Zelinsky ........................................................................................

1

D ENIS F ONVIZIN Nedorosl’ – Der Landjunker Von Joachim Klein ........................................................................................ 125 A LEKSANDR G RIBOEDOV Gore ot uma – Verstand schafft Leiden Von Witold Kośny.......................................................................................... 135 A LEKSANDR P UŠKIN Boris Godunov Von Ulrike Jekutsch ...................................................................................... 147 N IKOLAJ G OGOL ’ Revizor – Der Revisor Von Bodo Zelinsky ........................................................................................ 163 I VAN T URGENEV Mesjac v derevne – Ein Monat auf dem Lande Von Peter Thiergen ....................................................................................... 188 A LEKSANDR O STROVSKIJ Les – Der Wald Von Reinhard Ibler........................................................................................ 205 L EV T OLSTOJ Vlast’ t’my – Macht der Finsternis Von Andreas Guski........................................................................................ 218 A NTON Č ECHOV Čajka – Die Möwe Von Jens Herlth............................................................................................. Djadja Vanja – Onkel Vanja Von Richard Peace........................................................................................ Tri sestry – Die drei Schwestern Von Birgit Harreß ......................................................................................... Višnevyj sad – Der Kirschgarten Von Bodo Zelinsky ........................................................................................

230 248 262 279

VI

Inhalt

M AKSIM G OR ’ KIJ Na dne – Nachtasyl Von Birgit Harreß ......................................................................................... 301 A LEKSANDR B LOK Balagančik – Die Schaubude Von Ulrich Schmid ........................................................................................ 318 A LEKSEJ KRUČENYCH Pobeda nad solncem – Sieg über die Sonne Von Christine Müller-Scholle ....................................................................... 330 V LADIMIR M AJAKOVSKIJ Misterija-buff – Mysterium buffo Von Rainer Goldt .......................................................................................... 342 M ICHAIL B ULGAKOV Dni Turbinych – Die Tage der Turbins Von Nikolaus Katzer ..................................................................................... 355 N IKOLAJ Ė RDMAN Samoubijca – Der Selbstmörder Von Angela Martini....................................................................................... 378 I SAAK BABEL ’ Marija Von Bettina Kaibach ..................................................................................... 388 A LEKSANDR V VEDENSKIJ Elka u Ivanovych – Weihnachten bei Ivanovs Von Frank Göbler ......................................................................................... 401 A LEKSANDR V AMPILOV Utinaja ochota – Entenjagd Von Ulrike Lange .......................................................................................... 415 LJUDMILA P ETRUŠEVSKAJA Činzano – Cinzano Von Ulrike Lange .......................................................................................... 427 L ITERATUR UND A NMERKUNGEN ............................................................. 439 N ACHWORT .................................................................................................. 541

Bodo Zelinsky

Das russische Drama Der Protopope Avvakum schildert in seiner „Lebensbeschreibung“ (Žitie, 1669– 1675), wie er einmal in seinem Dorf auf Skomorochen getroffen sei und die wandernden Komödianten, die ihr Publikum auf den Straßen und Marktplätzen fanden und mit Puppentheater, Zauberkunststücken, Bärenvorführungen und ähnlichem unterhielten, voller Empörung auseinandergetrieben habe: „Ich sündiger Mensch ward ergriffen vom Eifer für Christum: Ich vertrieb sie, zerschlug ihnen die Masken, zerschmetterte die Schellentrommeln und nahm ihnen zwei große Bären weg.“1 Avvakum handelte dabei im Bewußtsein, einen Auftrag der Kirche zu erfüllen. Anders als im mittelalterlichen Byzanz, wo Mimen, Schauspieler, Tänzer, Akrobaten und Musiker bei verschiedensten Anlässen weltlicher und religiöser Art die ganze Stadt in eine Bühne verwandelten2, führte die orthodoxe Kirche in Rußland einen erbitterten Kampf gegen alle weltlichen Zerstreuungen. Jede Art von Verkleidung wurde als Teufelswerk verdammt.3 In Byzanz dagegen konnten sogar Kleriker der Hagia Sophia an Feiertagen wie Weihnachten oder Lichtmeß maskiert und als Soldaten, Mönche oder Tiere verkleidet durch die Straßen ziehen und die Menschen zum Lachen bringen. So ist es nicht verwunderlich, daß sich hier auch Ansätze eines echten geistlichen Theaters zeigten. Belegt ist die Existenz von Oster-, Mirakel- und Mysterienspielen ebenso wie die eines gelehrten Lesedramas zum Leiden und Sterben Christi, dessen anonymer Verfasser den Bericht des Neuen Testaments in szenische Bilder und Monologe übertrug. Im alten Rußland fand sich trotz des starken byzantinischen Einflusses auf die Kultur des Kiever Reichs nichts Vergleichbares. Was es allenfalls gab, das waren einfachste, mit dem Gottesdienst eng verbundene Handlungen in der Art eines primitiven Krippenspiels wie die „Fußwaschung“ (Omovenie nog) oder der „Zug auf dem Esel“ (Choždenie na osljati).4 Die umfangreichste war das „Spiel vom Feuerofen“ (Peščnoe dejstvo), die Geschichte von den drei Jünglingen Hananja, Asarja und Misael, die nach dem alttestamentarischen Buch Daniel von den chaldäischen Dienern Nebukadnezars in einen brennenden Ofen geworfen wurden, weil sie sich geweigert hatten, Götzen anzubeten, und die ein Engel vor dem Flammentod bewahrte. Die aus Byzanz überkommene liturgische Zeremonie wurde im Rahmen vorweihnachtlicher Feierlichkeiten alljährlich am 17. Dezember in den Kirchen des Kreml aufgeführt. Der Feuerofen stand dabei in der Mitte der Kirche. In ihm befanden sich, inbrünstig singend, die drei gemarterten Jünglinge, verkörpert durch drei Chorknaben. Die Chaldäer, dargestellt von zwei Schauspielern, meist Skomorochen, trugen Narrengewänder und sprachen in gereimten Knittelversen komische Dialoge. Dazu kamen der rettende Engel, angekündigt durch besondere Effekte wie Sturm und Wind, am Ende des Spiels sowie der Erzähler in Gestalt eines singenden Basses,

2

Das russische Drama

gewöhnlich ein Diakon, den ein männlicher Chor mit einem Zwischenspiel über Psalmen- und Gebetstexte unterstützte.5 Mitte des 17. Jahrhunderts, als sich die traditionell ablehnende Haltung der Kirche gegenüber Spielen jeglicher Art noch einmal verschärfte, die Skomorochen verbannt und selbst eine kirchliche Zeremonie wie das „Feuerofen“-Stück abgesetzt worden war, begannen liberalere Kirchenvertreter fern von Moskau, im Südwesten Rußlands, die Möglichkeiten für theatralische Aufführungen zu missionarischen und pädagogischen Zwecken zu erkunden. Sie orientierten sich dabei am Beispiel des Jesuitenordens, der in dieser Gegend missionierte und wie in den katholischen Ländern Europas auch hier die Theaterkunst zum Zweck religiöser Erziehung nutzte. Die Aufführungen an den Schulen dieses Ordens übten eine große Anziehungskraft auf die Jugend aus, so daß sich die orthodoxe Kirche veranlaßt sah, ihre Antihaltung gegenüber dem Theater abzumildern. Es war der Ukrainer Petro Mohyla, der nach seiner Ausbildung in Polen die westliche Kultur, wie sie sich seit der Renaissance entwickelt hatte, nach Kiev brachte und im besonderen mit der Theorie und Praxis des jesuitischen Schuldramas bekanntmachte. Dieser Dramentyp, der den Anstoß zur Schaffung eines russischen Schuldramas gab, basierte auf den Poetiken der Renaissancehumanisten, vor allem derjenigen von Julius Caesar Scaliger („Poetices sive de arte poetica libri VII“, 1561) und Jacobus Pontanus („Poeticarum institutionum libri tres“, 1594). Die praktische Anschauung lieferten die Werke der römischen Dramatiker Plautus, Terenz und Seneca. Rezipiert wurden aber auch christliche theatralische Formen des Mittelalters wie das Passionsspiel oder das Mirakelund Mysterienspiel, die so als integrale Bestandteile der Schultheaterstücke eine neue Lebendigkeit gewannen. Verfaßt und aufgeführt wurden die Stücke traditionsgemäß in Latein. Daran hielt man sich zunächst auch an der Mohyla-Akademie in Kiev, dem Zentrum der jesuitischen Kultur in der Ukraine. Aus Gründen der religiösen Belehrung und Indoktrination ging man später zum Kirchenslavischen über, durchsetzte aber – um der größtmöglichen Verständigung willen – die offizielle Sprache der orthodoxen Kirche mit landessprachlichen bzw. lokalen mundartlichen Elementen. So stellte das erste Beispiel dieser Art, das anonyme Stück „Aleksej, čelovek božij“ (Alexis, der Mann Gottes, 1673), eine sonderbare Mischung aus Kirchenslavisch, Ukrainisch und Polnisch dar, verfaßt in einem Versmaß, das, aus Polen entlehnt, besser zur polnischen als zur russischen Sprache mit ihrem freien Wortakzent paßte. Trotz solcher Unzulänglichkeiten in Sprache und Vers war der Typus des jesuitischen Schuldramas auf ukrainischem Boden äußerst erfolgreich. Von Simeon Polockij nach Moskau vermittelt, spielte es dann auch eine wichtige Rolle bei der Entstehung des russischen Theaters. I. Das russische Schuldrama Simeon Polockij (1629–1680), der Hauptvertreter der polnisch-westrussischen Kultur, der 1664 nach Moskau kam und seit 1668 die Stellung eines Hofpredi-

Das russische Schuldrama

3

gers und Hofdichters bekleidete, erkannte, daß die Einführung der dramatischen Gattung in die moskovitische Kultur nur unter dem Vorwand religiöser Akte möglich sei. So benutzte er als Stoff für sein Stück „O Navchodonosore care“ (Vom Kaiser Nebukadnezar, 1674) die erwähnte liturgische Kirchenzeremonie von den drei Jünglingen im Feuerofen. Eine Dramatisierung dieser Zeremonie, die bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ihren festen Platz im Ablauf des Kirchenjahres hatte, schien geeignet, die Bedenken des „ängstlich-frommen Zarenhofs“1 gegenüber den „Spielen“ zu zerstreuen. Polockij machte die Gestalt des orientalischen Herrschers zum Protagonisten seiner Bearbeitung, hielt sich aber insgesamt eng an den Geschehensablauf der Vorlage. Er ersetzte lediglich die komischen Dienerfiguren der Chaldäer durch grimmige, antisemitische Krieger und ließ am Ende König Nebukadnezar, tief beeindruckt von der wundersamen Rettung der Jünglinge, zum jüdischen Monotheismus konvertieren. Das kurze, einaktige Stück, das mit einer Lobpreisung des Zaren Aleksej Michajlovič schloß, hatte eine einfache, durchsichtige Komposition und kam in der Darstellung ohne alle schuldramatischen Finessen aus. Statt abstrakter Personifikationen schuf Polockij konkrete Menschen aus Fleisch und Blut. Auf diese Weise gelang es ihm, das Interesse und Verständnis des Hofes für die Gattung zu wecken. Danach konnte er bei seinem zweiten Stück2 auf äußere Begründungen verzichten. Als stoffliche Grundlage wählte er die Parabel vom verlorenen Sohn, die im polnischen jesuitischen Schultheater zu den am häufigsten dramatisierten Quellen gehörte. Von den Autoren des Ordens rein theologisch, als Allegorie menschlicher Verirrung und göttlicher Barmherzigkeit, ausgelegt, erhielt sie in Polockijs Fassung einen aktuellen nationalen Bezug: Die Geschichte von dem Sohn, der seine Familie verläßt und in einem fernen Land sein gesamtes ererbtes Vermögen vergeudet, wird mit dem damaligen Brauch russischer Adliger, ihre Söhne zur Erlangung europäischer Bildung ins Ausland zu schicken, in Verbindung gebracht. Während der Protagonist der biblischen Parabel, auf dem Tiefpunkt angekommen, reumütig zu seinem Vater zurückkehrt, fanden die Adelssöhne nicht selten Gefallen an Europa und beschlossen deshalb, dort zu bleiben. Polockij, der als loyaler Russe dieses Verhalten mißbilligte, benutzte sein Spiel in fünf Akten, um der aristokratischen Jugend seiner Zeit in belehrenden Digressionen einzelner Figuren wie auch im epilogartigen Schlußmonolog des zurückgekehrten Sohns eine ernstgemeinte moralische Lektion zu erteilen. Dem auf dem Prinzip der Silbenzählung beruhenden Vers fehlte bei Polockij zwar noch die angemessene Leichtigkeit, die szenische Handlung entwickelte sich, ohne größere dramatische Wirkungen zu entfalten, und die Dialoge bestanden aus langen, oftmals auch langatmigen Reden, doch mit seinen beiden Stükken hatte der Hofdichter Aleksej Michajlovičs den Bann gebrochen, den Vorbehalt gegen die „Spiele“ abgebaut und den Typus des Schuldramas jesuitischer Provenienz3 in Moskau eingeführt. Bald etablierte sich dieser Dramentypus auch an der 1687 gegründeten Moskauer Geistlichen Akademie, von der er dann auf andere Priesterschulen des Landes, in Rostov Velikij, Jaroslavl’, Novgorod,

4

Das russische Drama

Pskov, Tver’ oder Tobol’sk, übergriff. Als praktische Ergänzung des Rhetorikoder Poetikunterrichts bildete er einen festen Bestandteil des Lehrbetriebs. Das Publikum beschränkte sich daher weitgehend auf die Dozenten und Studenten der Anstalten. Die Stücke, meist zu festlichem Anlaß entstanden, geschrieben in syllabischen Versen und in einem Kirchenslavisch, das von zahlreichen Ukrainismen und Polonismen durchsetzt war (was auf den südwestrussischen Ursprung der Verfasser weist), hatten vor allem die Aufgabe, die orthodoxe Glaubenslehre zu verkünden. Gefertigt nach den Kunstregeln der polnischen Barockpoetiken, die ihrerseits auf den Poetiken der Renaissancehumanisten gründeten, setzten sie Kenntnisse von Literatur und Philosophie, von Geschichte, Religion und Mythologie voraus. Dabei standen, wie im Barock allgemein üblich, christliche und heidnische Motive, Gestalten aus dem Alten und Neuen Testament und aus der Welt der antiken Götter gleichsam selbstverständlich nebeneinander. Ganz barock war in Rußland auch die Aufführungspraxis dieser gelehrten Dichtung. Nachdem sich die Renaissance mit der Horizontalbühne als Ausdruck der Begrenzung auf die menschliche Sphäre begnügt hatte, kehrte das 17. Jahrhundert noch einmal zum transzendenten Kosmos des Mittelalters zurück und erweiterte das dargestellte Geschehen durch die Ausdehnung in die Vertikalität.4 Dementsprechend gliederte sich der Bühnenraum in drei Ebenen, die, durch Stufen verbunden, Himmel, Erde und Hölle symbolisierten. So wurde bereits im Äußerlichen sichtbar, daß das Theater des Barock nicht nur „vollständiges Abbild“, sondern auch „vollkommenes Sinnbild“ der christlichen Welt sein wollte.5 Das russische Schuldrama, von seinem Entstehen an jesuitisch geprägt, folgte aufs genaueste dieser Konzeption. Dazu gehörte auch, daß es als das geistigste Theater zugleich das sinnlichste war. Der Drang nach äußerster Versinnlichung realisierte sich auf den Schultheaterbühnen von Moskau bis Tobol’sk in nicht geringerem Maße als auf denen der polnischen Jesuitenkollegien oder der Kiever Mohyla-Akademie. Er drückte sich im Prunk der Kulissen ebenso aus wie in der Pracht der Kostüme oder in der ganzen Skala der Beleuchtungseffekte. Der Einsatz von Maschinen und Apparaturen erlaubte es, den Luftraum über der Bühne zu erschließen, und ermöglichte, daß Engel von oben herabschweben oder Heilige sich himmelwärts bewegen konnten. Eine Vielfalt visueller und akustischer Wirkungen sollte die Zuschauer in Erstaunen, aber auch in Rührung oder Erschütterung versetzen, um durch die Weckung der Emotionen von der szenisch vermittelten Botschaft zu überzeugen. Die wichtigsten Vertreter dieser religiösen dramatischen Tradition in Rußland nach Simeon Polockij waren Dmitrij Rostovskij und Feofan Prokopovič, beide Inhaber hoher kirchlicher Ämter. Dmitrij Rostovskij (1651–1709), der bis zu seinem Eintritt ins Kloster Daniil Tuptalo hieß und später Metropolit in Rostov wurde, eröffnete, nachdem er zunächst Gedichte, Belehrungen und Lobpreisungen verfaßt hatte, mit seinen Stücken eine „neue Etappe in der Entwicklung des russischen Schultheaters“.6 Diese Stücke waren, anders als bei Polockij, der für den Hof schrieb, für die Bühnen der geistlichen Schulen in Rostov

Das russische Schuldrama

5

und Jaroslavl’ bestimmt. Ganz der Jesuitenpoetik verpflichtet, hoben sie sich andererseits durch eine freiere Auslegung der Regeln von den Werken der meisten russischen Schuldramatiker jener Zeit ab. Was sie vor allem auszeichnete, war ihre große Bühnenwirksamkeit. Dmitrij Rostovskij verstand es, in seinem „Drama von Mariä Himmelfahrt“ (Uspenskaja drama) aus den achtziger Jahren ebenso wie in dem am 24. Dezember 1702 an der „Lateinisch-griechischen Lehranstalt“ von Rostov aufgeführten „Weihnachtsdrama“ (Roždestvenskaja drama)7 die Komposition dynamischer und die Monologe lebendiger als üblich zu gestalten. Hinzu kam, daß es ihm in hohem Maße gelang, nicht nur reale Figuren aus der Bibel wie Jakob, Abraham, Herodes oder den Apostel Thomas, sondern auch klassische allegorische Gestalten von Medusa und Fortuna bis zur Wahrheit, Hoffnung, Liebe, Sanftmut und Barmherzigkeit zu vermenschlichen. Darüber hinaus experimentierte Dmitrij Rostovskij mit Versmaß und Verslänge, wechselte bei der Wiedergabe eines Gebets vom Vers zur Prosa8 und aktualisierte die insgesamt noch archaische, mit Polonismen durchsetzte Sprache durch ihre Annäherung an das gesprochene südrussische Idiom seiner Heimat. Für das zeitgenössische Publikum entstand so der Eindruck einer neuartigen Leichtigkeit und Unmittelbarkeit. So verwundert es nicht, daß die Bühnenwerke dieses hochgebildeten, noch von Gogol’ und Kjuchel’beker geschätzten Autors in Rußland eine beträchtliche Popularität gewannen. Eines von ihnen, „Kajuščijsja grešnik“ (Der reuige Sünder), die an mittelalterliche Mysterienspiele erinnernde Geschichte eines Sünders in der Wüste, der von einem Schutzengel bewacht, mit zwei Scharen von Engeln und Teufeln konfrontiert wird, blieb bis in die klassizistische Zeit hinein lebendig. 1752 wurde es von der ersten professionellen russischen Schauspieltruppe unter der Leitung Fedor Volkovs vor der Zarin Elisabeth gespielt.9 Während Dmitrij Rostovskij bei allen Neuerungen in stilistischer und dramentechnischer Hinsicht bestrebt war, das Schultheater inhaltlich und weltanschaulich im traditionellen Sinn zu bewahren und zu pflegen, öffnete Feofan Prokopovič (1681–1733) den überkommenen Typus den Forderungen der neuen Zeit. Der wohl einflußreichste Kirchenmann der petrinischen Epoche, der vom Abt des Kiever Höhlenklosters zum Bischof von Pskov und Erzbischof von Novgorod aufstieg, hatte nach dem Abschluß an der Mohyla-Akademie seine Studien in Rom fortgesetzt, wo er eine breite humanistische Bildung erwarb und mit den aktuellen Strömungen des europäischen Rationalismus und der neuzeitlichen Wissenschaft in Berührung kam. In seine Heimat zurückgekehrt, wurde er 1705 in Kiev zum Mönch geweiht und für das Studienjahr 1705/06 als Gastprofessor für Poetik an die Akademie berufen. Zu den Aufgaben dieser Professur gehörte die Abfassung eines Schuldramas. Prokopovič schrieb, nach der „Regel des Horaz und dem Beispiel fast aller alten Autoren von Tragödien und Komödien“10, ein fünfaktiges Stück, die Tragikomödie „Vladimir“11, in der er die im ukrainischen und russischen Schultheater übliche biblische Thematik durch einen geschichtlichen Stoff ersetzte. Das nationale Ereignis der Taufe des

6

Das russische Drama

Kiever Fürsten Vladimir I. im Jahr 988 wird zur Darstellung der epochalen Auseinandersetzung zwischen Christentum und Heidentum. Diese Auseinandersetzung erscheint als historische Spiegelung des Streits zwischen dem Autor und seinen zeitgenössischen Kontrahenten. Denn Prokopovič, der sich seit seiner Rückkehr aus Italien für eine Umstrukturierung der russisch-orthodoxen Kirche einsetzte, unter anderem deren stärkere Kontrolle durch die zentrale Regierung fordernd, und in Traktaten und Predigten wortmächtig und streitlustig die Reformen Peters I. unterstützte, war eine „umstrittene Gestalt“12 – von den einen als Verräter an der Orthodoxie, von den anderen als Propagandist der Kulturrevolution und Anhänger der Frühaufklärung verurteilt. Um auch sein Schultheaterstück zu politischer und religiöser Polemik zu nutzen, fügte Prokopovič aktuelle Fragen, die ihn bewegten, in die im 10. Jahrhundert spielende Handlung ein. Dies kulminiert in einer Debatte, die im Zentrum des dritten Akts und damit des ganzen Stücks zwischen einem heidnischen Oberpriester und einem christlichen griechischen Philosophen stattfindet. Der Priester, der den sprechenden Namen Žerivol (Ochsenfresser) trägt und sich vor allem um sein leibliches Wohl und den Erhalt der eigenen Privilegien sorgt, steht für die Ignoranz und Bildungsfeindlichkeit der rückwärtsgewandten, gegenüber Peter I. ablehnend eingestellten Vertreter des orthodoxen Klerus. Dagegen vertritt der Philosoph, der vom byzantinischen Kaiser nach Rußland gesandt wurde, um die christliche Lehre zu erklären, und der wiederholt aus den Predigten Prokopovičs zitiert, den Teil der säkularisierten, reformwilligen Orthodoxie. Nicht nur ideologisch, auch dramaturgisch ist das Stück über die Taufe Vladimirs sorgfältig gebaut. In der Geradlinigkeit der Handlungsführung, der begrenzten Anzahl von Figuren und Auftritten und dem ausgeprägten Sinn für Einfachheit und Klarheit, für Maß und Ordnung weist es bereits auf den Klassizismus voraus. Doch in seiner Längserstreckung, der räumlichen Bewegung von der Hölle über die Erde zum Himmel, ist es noch völlig dem Barock verhaftet. Die Phasen dieser Bewegung, die den ganzen Durchmesser der christlichen Welt umfaßt, stimmen mit der Gliederung des Stücks in fünf Akte überein. Nach einem langen exponierenden Monolog13 verläßt der Geist von Jaropolk, der von seinem Bruder Vladimir um der Thronfolge willen ermordet worden ist, zu Beginn der Handlung seinen Aufenthaltsort in der Hölle und begibt sich zu dem heidnischen Oberpriester Žerivol, um ihn aufzufordern, Vladimirs Absicht der Christianisierung des Landes zu vereiteln. Im zweiten Akt macht sich Žerivol zusammen mit zwei anderen, ebenso gierigen und intriganten Priestern an die Ausführung des Plans. Sie verbünden sich dazu mit höllischen Geistern, den Dämonen der Hoffart, der Gotteslästerung und der Fleischeslust, beleben ihre Idole und sind sich, tanzend und singend, bereits ihres Siegs gewiß. Doch im mittleren Akt erleidet der Oberpriester eine schmachvolle Niederlage, als er sich mit dem Abgesandten des byzantinischen Kaisers, einem hochgelehrten griechischen Philosophen, in einen theologischen Disput einläßt. Die Intrige scheint gescheitert, die Handlung beginnt sich zu wenden. Schon treffen Vladimir und

Das russische Schuldrama

7

seine Söhne Boris und Gleb14, beeindruckt von der Argumentation des Philosophen, in der Eingangsszene des vierten Akts ihre Entscheidung für das Christentum. Da hat der Großfürst eine Vision: In einem singenden Chor rät ihm die Verführung, die einzige weibliche Figur im Stück, nicht auf seinen Harem und die Freuden des Fleisches zu verzichten. Vladimir widersteht der Versuchung. Das Böse ist endgültig besiegt. Im Schlußakt beklagen die Priester das Unvermeidliche. Vladimirs Beamte zerstören die Idole, der Himmel öffnet sich, und es erscheint der Apostel Andreas mit einer Schar von Engeln. Er schildert die zukünftige Geschichte Rußlands und sagt die Siege Peters I. über die Türken und Schweden voraus. Der Bezug zur eigenen Zeit wird in „Vladimir“ jedoch nicht erst am Ende hergestellt. Vielmehr läßt Prokopovič von Anfang an hinter der Titelfigur, dem Großfürsten Vladimir, der den Beinamen „der Heilige“ erhielt, die „Umrisse des Reformzaren“15 sichtbar werden. Solche Transparenz des historischen bzw. religiösen Stoffs im Hinblick auf die Gegenwart findet sich seit Beginn des 18. Jahrhunderts auch bei anderen Autoren des russischen Schuldramas. Vor allem die in Moskau, an der „Slavisch-griechisch-lateinischen Akademie“ und am „Hospital“, der ersten medizinischen Lehranstalt Rußlands, aufgeführten Stücke erweiterten zunehmend die traditionellen biblischen Stoffe um aktuelle weltliche Themen. So propagierten sie die Entwicklung der Wissenschaften, rühmten die politischen und kulturellen Entscheidungen Peters I. und feierten die militärischen Erfolge der Nation im großen Nordischen Krieg. 1724 stellte Fedor Žurovskij, ein Schüler des „Hospitals“ in seinem anläßlich der Krönung Ekaterinas I. entstandenen Drama „Slava rossijskaja“ (Der Ruhm Rußlands)16 die Siege über Schweden, Polen, Persien und die Türkei in den Mittelpunkt. Die dramatis personae dieses Zweiakters, der, in dreizehnsilbigen Versen geschrieben, von einem Prolog eingeleitet und einem Epilog abgeschlossen wird, sind ausschließlich allegorische Figuren, darunter Personifikationen verschiedener Länder. Die Titelfigur, das personifizierte Rußland, kommt zu Beginn der Handlung, die sich weitgehend auf der Ebene der Sprache, in monologartigen Dialogen, vollzieht, zu Justitia und Providentia, um sich über die ihr von äußeren Feinden zugefügten Kränkungen zu beklagen. Neptun, Pallas und Mars sagen ihre Hilfe zu. Als sich Schweden, Polen, Persien und die Türkei mit ihrer Macht brüsten, tritt der Ruhm in Erscheinung und verkündet Rußlands Sieg. Die gegnerischen Länder erkennen die Überlegenheit von Mars und Pallas an und beginnen sich zurückzuziehen. Lobgesänge auf Rußland und die „Krönung der russischen Tugend“, einer allegorischen Umschreibung Ekaterinas I., beschließen das Ganze, das sich als einzige Apotheose des jungen Staats unter der Herrschaft des „Imperators Peter“ versteht. Schuldramen wie dieses, die sich propagandistisch in den Dienst des Zaren stellten, führten zu einer allgemeinen Zurücknahme der religiösen Inhalte und zum weitgehenden Verzicht auf den kirchlichen Standpunkt. Die Säkularisierung der Gattung zeigt sich aber nicht nur in der Zeittendenz zur politischen

8

Das russische Drama

Überformung der Handlung, sondern auch in der wachsenden Bedeutung, die dem Unterhaltungswert der Stücke zugeschrieben wurde. Eine große Rolle spielten dabei die sogenannten „Intermedien“ (intermedii), die schon früh ihren Ort im Schultheater gefunden hatten. Diese kurzen Zwischenspiele zwischen den Akten umfangreicher Dramen hatten die Aufgabe, durch ihren Kontrast zum Ernst des biblischen oder historischen Stoffs dem Zuschauer eine gewisse Zerstreuung zu verschaffen. Das aufmerksame Publikum sollte vorübergehend von den Anstrengungen des geistigen Nachvollzugs der weniger szenisch als dialogisch vermittelten Botschaft entlastet werden. Inhaltlich aus alten Anekdoten, Schwänken, Märchen und Novellen schöpfend, benutzten die unbekannten Verfasser – im Unterschied zur kirchenslavischen Schriftsprache im eigentlichen Stück – die gesprochene Volkssprache und bemühten sich, das Geschehen möglichst realistisch und lebendig zu gestalten. Dazu griffen sie auf Erscheinungen wie Lüge, Betrug, Diebstahl oder Geiz zurück, die zum Urbestand der Komödienkunst gehören, teilweise aber auch, wie Trunksucht, Bestechlichkeit oder Bildungsfeindlichkeit, deutlich auf die eigene Alltagswelt verwiesen. Die banalen Konflikte wurden nicht auf rationale, sondern auf burleske Weise mittels handfester Phänomene wie Prügel, Flucht oder Beschimpfung gelöst. Ein anschauliches Beispiel ist das von drei Spitzbuben handelnde Intermedium „O Letjagi sie“ (Über Letjaga).17 Es gewinnt seinen Realismus aus einer Reihe unmittelbarer Bezüge zur zeitgenössischen russischen Lebenswirklichkeit. Der Held Letjaga, der am Weg einen Sack mit hundert Rubel findet, kennt das Gesetz von 1649, dem Erscheinungsjahr einer großen Gesetzessammlung. Danach steht dem Finder die Hälfte des Werts einer gefundenen Sache zu, allerdings nur, wenn er sie aus dem Wasser oder Feuer gerettet hat. Deshalb bietet Letjaga dem seinen Verlust beklagenden Besitzer des Sacks an, mit weniger als fünfzig Rubel Belohnung zufrieden zu sein. Denn er habe lediglich „geringe Mühe“ gehabt. Lakomec, wie der Besitzer heißt, willigt erfreut ein. Kurz darauf trifft er auf einen zweiten Spitzbuben, der, einfach „Betrüger“ (Obmanščik) genannt, ihm einen Sack mit Zobelpelzen offeriert und dafür dreißig statt vierzig Rubel verlangt. Überzeugt, ein gutes Geschäft zu machen, ist Lakomec einverstanden („Du schweigst, ich schweige“). Als er aber dann den Sack öffnet, muß er feststellen, daß darin gar keine Pelze enthalten sind. Doch nicht genug. Als er anschließend in den anderen, wiedergefundenen Sack schaut, entdeckt er entsetzt nicht den Rest seiner Silberrubel, sondern lediglich billiges Kupfergeld. Münzen aus Kupfer, in Rußland erst nach einem Erlaß Aleksej Michajlovičs vom 8. Mai 1654 geprägt, wurden 1663 wieder aus dem Umlauf genommen und damit völlig entwertet. Entsprechend groß ist die Verzweiflung des Lakomec: „Weh mir, weh! Am Ende bin ich ruiniert!“ Die Klage des doppelt Geprellten wäre überhaupt nicht komisch, hätte er sich nicht selbst als Spitzbube erwiesen. So aber lacht der Zuschauer, nicht ohne Schadenfreude, wie seit jeher über den betrogenen Betrüger. In der zeitlosen Komik enthüllt sich noch einmal ein direkter Zeitbezug, wenn der Titelheld, der durch seine Betrügereien einen be-

Das russische Schuldrama

9

trächtlichen Gewinn gemacht hat, für einen Moment die Spielillusion durchbricht und das Publikum auffordert, ihm „ins Wirtshaus“ zu folgen und dort das „überflüssige Geld“ auszugeben. Die Aufforderung wendete sich gegen den Beschluß der Regierung vom 11. August 1652, die Wirtshäuser abzuschaffen und durch „Schankwirtschaften“ zu ersetzen.18 Die Burleske um Letjaga gehört zu den sieben Intermedien, die in einem handschriftlichen Sammelband von 1737 enthalten waren und von dem späteren Herausgeber Tichonravov 1874 als die „ältesten russischen Intermedien“ bezeichnet wurden. Sie stammen wahrscheinlich aus dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts und weisen, obgleich in russischer Sprache verfaßt, trotz einiger Details aus dem Leben des damaligen Rußland auf ukrainische und polnische literarische Quellen. Jünger und in größerer Zahl erhalten sind die Intermedien zu Aufführungen der halbprofessionellen Liebhabertheater des 18. Jahrhunderts, die einen ausgesprochenen Saisoncharakter hatten und gewöhnlich in der Zeit von Weihnachten bis zum Fest der Heiligen Drei Könige (svjatki), in der Fastnachtswoche (maslenica) und an den anderen Festtagen stattfanden. Der jüngeren Zeit entsprechend stehen diese Intermedien nicht nur in der Tradition des Schultheaters, sondern zeigen auch deutliche Einflüsse der Commedia dell’ arte. In zehn der elf Texte, die der Sammelband von Tichanov enthält19, erscheint die Gestalt Arlecchinos, das eine Mal „Arlikin“ (7,8,9,10), das andere Mal „Charlikin“ (1,2,4,6), das dritte Mal „Gerlikin“ (3,5) genannt. Einerseits besitzt die russische Variante dieses Figurentyps die Eigenschaften des italienischen Vorbilds wie Feigheit, Freßsucht, Rauflust, Schlagfertigkeit, andererseits erscheint sie häufig abgewandelt und russifiziert: nicht als gutmütiger Spaßvogel, sondern als närrische Person, die in ihrer Freude am scharfsinnigen Spott der realen Gestalt des Skomoroch verwandt ist. So nutzt der einheimische Arlecchino jede Gelegenheit, um sich spöttisch über seinen Herrn, meist einen Gutsbesitzer, und dessen Stand zu äußern. Dementsprechend sind die Intermedien 4 und 7–10 in der Sammlung Tichanovs durch das Thema vom Verfall der Sitten des Adels verknüpft. Arlecchino tritt dabei in wechselnden Rollen auf. Im vierten Intermedium gibt er vor, in die Herrin verliebt zu sein, die ihn darauf ins eheliche Bett befördert, in dem bereits ihr „Alter“, wie der Herr genannt wird, schläft. Die Szene endet mit einer Rauferei zwischen den Eheleuten, die Arlecchino dadurch trennt, daß er sie gleicherweise mit Faustschlägen attackiert. In einigen Intermedien ist Arlecchino ein Diener, der scheinbar die Rolle des Kupplers spielt, in Wirklichkeit aber die Amoralität seiner Herrschaft entlarvt. So enthüllt er vor dem Herrn die lasterhafte Lebensweise der Herrin, die dem ertappten Liebhaber in einem Fall befiehlt, sich zu entkleiden und eine Statue darzustellen, und in einem anderen Fall, sich unter ihrem Rock zu verstecken, wobei sie vorgibt, krank zu sein. Es ist die Dynamik der Handlung und die Fülle plötzlicher Wendungen, die, verbunden mit der unwiderstehlichen Komik der Situationen, den Intermedien höchste Bühnenwirksamkeit verleiht. Nachdem sich im neunten Intermedium der Kavalier beim Auftauchen des Herrn in eine „Statue“ verwan-

10

Das russische Drama

delt hat, setzt sich letzterer an die für den Kavalier vorbereitete festliche Tafel und wirft, unzufrieden mit dem Essen, die Speisereste auf die vermeintliche Statue. Der zum Bildwerk Erstarrte hält dies auf die Dauer nicht aus und „läuft springend davon“. Komik, Handlungsdynamik und Typenpersonal gehören zu jenen Eigentümlichkeiten der vielgespielten und weitverbreiteten Intermedien des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, die für die Herausbildung der russischen Komödie als selbständiger Gattungsform von grundlegender Bedeutung wurden. Die Ansätze zu diesem Vorgang, der in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts fällt, liegen noch im Bereich des Schultheaters. Eines der wenigen Beispiele rein komischer Bühnenkunst in einer Theaterform, die ganz auf das Ernste und Lehrhafte abgestellt war, ist ein Stück mit dem Titel „Šutovskaja komedija“ (Die Narrenkomödie).20 Es handelt sich dabei noch nicht um eine original russische Komödie. Das bestätigt sich auch in der Tatsache, daß in ihr so gut wie keine Hinweise auf die Wirklichkeit des zeitgenössischen Rußland zu finden sind. Alle Realien, sofern überhaupt vorhanden, deuten ebenso wie die zahlreichen Polonismen in Lexik und Syntax auf das Nachbarland Polen als Ursprungsgebiet des Textes. Trotz der Wahrscheinlichkeit, daß die zwischen 1730 und 1735 am Moskauer „Hospital“ aufgeführte „Narrenkomödie“ nur die Übersetzung oder Umarbeitung einer polnischen Vorlage ist21, ist die russische Fassung des Stücks entwicklungsgeschichtlich von großer Wichtigkeit. Denn durch sie begegnete das einheimische Publikum zum erstenmal dem Personal der Commedia dell’arte, Figuren wie Arlecchino (= Šut), dem gewitzten, Possen reißenden Diener, Dottore (= Doktor), dem törichten, redseligen Gelehrten, Pantalone (= Pantalon), dem lächerlichen alten Mann bzw. dem zum Opfer eines Streichs werdenden Vater, oder Capitano (= Gišpanec), dem meist spanisch sprechenden, prahlerischen Offizier. Die Aufführung eines Stücks, das gerade diese Figuren enthält, auf einer Moskauer Schultheaterbühne erklärt sich sicher aus den Auftritten einer italienischen Schauspieltruppe, die, vom polnisch-sächsischen König August den Starken nach Rußland geschickt, 1730 am Zarenhof gastierte. Von den genannten traditionellen Figuren ist in „Šutovskaja komedija“ die Titelfigur des Šut sowohl unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion in der Handlung als auch hinsichtlich der in Rußland im Entstehen begriffenen Komödienform die interessanteste und wichtigste. Schon in der italienischen Volkskomödie gehörte Arlecchino, der Diener, zusammen mit seinem weiblichen Gegenstück, der Dienerin Colombina, zu den zentralen Gestalten. Beide schaffen, gemeinsam Verwirrung stiftend und wieder auflösend, einen wesentlichen Teil der Komik. Hatte es die „närrische Person“ (durackaja oder šutovskaja persona) bisher in Rußland nur als ganz nebensächliche Rolle gegeben, rückte sie in „Šutovskaja komedija“ auf einmal in den Mittelpunkt und bot damit ein Muster für die weitere Entwicklung der Gattungsform auf heimischem Boden. So konnte ein künftiger russischer Komödienautor an diesem Stück studieren, wie eine echte Komödie gebaut ist, wie ein dramatisches Spiel aussieht, das Komik nicht

II. Die Anfänge des weltlichen Theaters in Rußland

11

nur als Einlage, sondern als durchgehendes und damit strukturbestimmendes Element enthält. Weitere Anregungen konnte er aus einem Bereich außerhalb der Schuldramatik empfangen, und zwar durch westliche Schauspieltruppen, die seit den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts häufiger in Moskau und Petersburg gastierten. Ihre Auftritte fallen in eine Zeit, in der es inzwischen mehrere Versuche gegeben hatte, in Rußland ein weltliches Theater zu begründen. II. Die Anfänge des weltlichen Theaters in Rußland Derselbe Zar, der 1657 seinen Erlaß über das „Verbot der Spiele“ von 1648 erneuert hatte, beauftragte 1672, nachdem es nicht gelungen war, die englischen Wanderkomödianten oder andere Truppen wie die „Kursächsische Hofkomödiantengesellschaft“ nach Moskau zu holen, den Pastor an einer protestantischen Kirche in der Deutschen Vorstadt, Johann Gottfried Gregory, mit der Gründung eines Hoftheaters (pridvornyj teatr) und der Schaffung eines russischen Dramenrepertoires. Aleksej Michajlovič, der Vater Peters des Großen, im Laufe des Religionsstreits zwischen den Altgläubigen unter Avvakum und den Reformern unter dem Patriarchen Nikon toleranter geworden, entschloß sich zu diesem Schritt unter dem Einfluß seines Hofdichters Simeon Polockij und der Schultheateraufführungen an der Kiever Akademie, aber auch unter dem seiner zweiten Frau Natal’ja Naryškina, die, aufgewachsen bei einem der gebildetsten und weltoffensten Russen der Zeit, dem Leiter des Kollegiums für Auswärtige Angelegenheiten Artamon Matveev, eine Vorliebe für diese Form der Unterhaltung hatte. Der auf dem Gebiet der Theaterkunst nicht unerfahrene Gregory nahm bei der Erfüllung seines Auftrags die Taktik Polockijs vorweg und hielt sich an die Bibel als stoffliche Quelle. In Anlehnung an das Stück „Esther und Aman“, das 1626 am sächsischen Hoftheater aufgeführt worden war, schrieb er, unterstützt durch den befreundeten Leipziger Medizinstudenten Lorenz Rinhuber, das „Spiel von Artaxerxes“ (Artakserksovo dejstvo). Es ist die biblische Geschichte der schönen Esther1, die das Volk Israel vor der Vernichtung bewahrt, indem sie den persischen Herrscher Artaxerxes heiratet. Sobald die Übertragung ins Russische2 vorlag, begann Gregory, unterstützt von Georg Hübner und Johann Palzer, am 21. September 1672 mit der Arbeit an der Inszenierung. Die Uraufführung des „Artaxerxes“-Spiels, die fast zehn Stunden dauerte und an der 56 Personen, meist Studenten und Absolventen der Deutschen Schule in Moskau, mitwirkten, fand mit großem Erfolg am 17. Oktober 1672 in einem geräumigen Holztheater statt. Das Theater, „Komödienhaus“ (komedijnaja chramina) genannt, war aus diesem Anlaß in Preobraženskoe, der Sommerresidenz Aleksej Michajlovičs, errichtet worden. Die Ausstattung der Aufführung muß von verschwenderischer Pracht gewesen sein. Kulissen und Kostüme bestanden aus kostbaren Materialien. Allein für den Theaterhimmel wurden fünfhundert Ellen Seidenstoff verwendet. Das aufwendige Bühnenbild wechselte von Szene zu Szene, und zu der Fülle von Schauspielern, die sich in raschem Wechsel zu immer neuen Gruppierungen vereinig-

12

Das russische Drama

ten, kam eine nicht geringe Zahl von Sängern, Musikern und Tänzern. Für ihre Auftritte war ein eigenes kleines Orchester unter der Leitung des Organisten der Lutherischen Kirche in Moskau zusammengestellt worden. Das höfische Publikum, allen voran der Zar, wollte weniger belehrt als unterhalten werden. Von Aleksej Michajlovič wird berichtet, daß er der zehnstündigen Aufführung bis zum Ende begeistert beigewohnt habe. Doch das Eröffnungsstück des ersten russischen Hoftheaters überzeugte nicht nur als Bühnenspektakel. Trotz seiner beträchtlichen Länge, bedingt durch den Aufbau in sieben Akten mit einer entsprechenden Anzahl belustigender Intermedien, besitzt es viele dramatische Vorzüge. Die Sprache ist anschaulich und expressiv, die Handlungsentwicklung zügig, ohne größere Umwege, die Zeichnung der Charaktere glaubwürdig und in sich stimmig. Obwohl sich Gregory äußerlich eng an die Esther-Geschichte hielt, war er andererseits bemüht, den einfachen Ereignisbericht der Vorlage durch einsichtige psychologische Motivierungen zu vertiefen. So stattete er sowohl Vasthi, die erste Frau des Königs Artaxerxes (Ahasveros), als auch dessen zweite Frau, die Jüdin Esther, mit einem spezifisch weiblichen Bewußtsein aus. Verweigert sich Vasthi aus Stolz der königlichen Anordnung, ihre Schönheit vor den betrunkenen Gästen eines Festbanketts zu präsentieren (in der Bibel heißt es nur, ohne Angabe des Grundes: „Sie wollte nicht kommen“), überwindet Esther, die Sanftmütige, ihre grenzenlose Furcht und erscheint – protokollwidrig – unaufgefordert vor dem Gemahl und Herrscher, um ihn zu einem Nachtmahl einzuladen, auf dem sie das Komplott des Judenfeindes Hamann aufzudecken gedenkt. Im Falle von Vasthis Selbstverweigerung ging Gregory sogar so weit, die stolze Haltung der Königin aus einer betont „feministischen“ Einstellung zu erklären: „Der König fängt schon an, es wundert mich, / mich Königinn zu unterdrücken“, läßt er Vasthi sagen, „Wer weis, wer beßer ist, er oder ich? Und eh’ ich wolte liegen ihm zu Füßen, / so wolt ich lieber sterben jammerlich!“3 Freilich mußten solche Sätze im vorpetrinischen Rußland, wo die Damen der höheren Gesellschaft klösterlich abgeschirmt lebten und selbst die Zarin, der das aufgeführte Stück gewidmet war, lediglich durch einen Schlitz im Vorhang auf das Bühnengeschehen blicken durfte, völlig unverständlich bleiben. Mit der Aufführung als solcher aber war es Gregory gelungen, den Hof für die Schauspielkunst zu interessieren und den Zaren auf Anhieb zum passionierten Theaterbesucher zu machen. So konnte er die begonnene Arbeit fortsetzen und in den folgenden Jahren zusammen mit seinen Mitarbeitern eine Reihe weiterer Stücke auf die Bühne des Hoftheaters in Preobraženskoe bringen. Dazu schöpfte er weiterhin aus der Bibel, was am russischen Zarenhof nach wie vor dringend geboten schien. Zugleich entsprach dies dem Wesen eines Zeitalters, das die „Heilige Schrift“ als unerschöpfliche Fundgrube und „unvergleichliche Schatzkammer göttlichen Reichtums“4 begriff. Auch im nächsten Stück, das bald nach „Artakserksovo dejstvo“, zwischen dem 2. und 9. Februar 1673, aufgeführt wurde, stand eine jüdische Heldin im

II. Die Anfänge des weltlichen Theaters in Rußland

13

Mittelpunkt. Es handelte sich um Judith, die schöne junge Witwe, die nach einem Gelage dem trunkenen assyrischen Feldhauptmann Holofernes mit seinem eigenen Schwert das Haupt abschlägt und durch diese blutige Tat die Stadt Bethulia, einen Vorposten Jerusalems, vor der Fremdherrschaft rettet. Wieder setzte Gregory auf die Bühnenwirksamkeit des Stoffes. Zudem begann er mit „Ijudif“ (Judith) verstärkt, den Unterhaltungswert des Spiels durch spezifisch künstlerische Mittel zu erhöhen. So fügte er umgangs- und vulgärsprachliche Wendungen in den insgesamt kirchenslavisch geprägten Text ein und verwendete das bisher auf die Zwischenspiele beschränkte Komische auch innerhalb der Hauptgeschichte. Hier alterniert es mit dem Ernsten und kann sich sogar in tragischen Situationen bemerkbar machen. Nachdem Judith vor den Augen der Zuschauer den Feldhauptmann enthauptet hat, fragt die anwesende Dienerin Abra: „Was wird der arme Mensch sagen, wenn er aufwacht und feststellt, daß Judith mit seinem Kopf weggegangen ist?“5 Der säkulare Zweck der Unterhaltung – das wußte der deutsche Pastor aus seiner Kenntnis der geistlich-scholastischen Theatertradition – stand nicht im Widerspruch zum heilsgeschichtlichen Wert der Bibel. Nie aber verselbständigt sich der Unernst bei Gregory. Er bleibt stets eingebunden in eine Geschichte, die in ihrem Gesamtverlauf alles andere als komisch ist. Trotz Titel wie „Malaja prochladnaja komedija ob Iosife“ (Die kleine lustige Komödie von Joseph, 1675) oder „Žalobnaja komedija ob Adame i Eve“ (Die erbarmungswürdige Komödie von Adam und Eva, 1675) gibt es die Komödie als solche zu diesem Zeitpunkt in Rußland noch nicht. Die frühesten russischen Bühnenwerke, wie sie in Preobraženskoe zur Aufführung gelangten, waren ausgesprochene Mischformen. Ihre Bedeutung liegt in dem Versuch, das formstrenge Schultheater mit seinen jesuitisch-rationalistischen und moralisch-religiösen Traditionen und die eher formlose „englische Komödie“ mit ihrer im europäischen Barockgeschmack wurzelnden Weltlichkeit zu verschmelzen. Wenn dieser Versuch der Synthese in der Kürze der Zeit auch nicht vollendet werden konnte, so hat er doch eine ganze Reihe folgenreicher Neuerungen hervorgebracht. Das schwerfällige syllabische Versmaß, in dem sich die lyrische Dichtung des 17. Jahrhunderts und die Kiever und Moskauer Schuldramatik noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein auszudrücken pflegte, wurde durch die beweglichere und ausdrucksstärkere Prosa ersetzt. Eine natürliche Diktion trat an die Stelle des pathetisch-deklamatorischen Redestils. Statt abstrakter oder allegorischer Figuren betraten konkrete und lebendige Menschen die Bühne. Die Handlung war nicht mehr der klassischen Aktzahl unterworfen und konnte sich nun freier entfalten. All dies bedeutete einen beträchtlichen Gewinn. Doch zunächst wurde die zukunftsweisende Entwicklung abrupt unterbrochen. 1675, drei Jahre nach der Gründung des Hoftheaters, starb sein Organisator Johann Gottfried Gregory. Zwar übernahm zuerst Georg Hübner und dann der Kiever Geistliche Stepan Čižinskij die Leitung, aber 1676 starb mit Aleksej Michajlovič auch der Initiator und Schutzherr des Ganzen. Sein Nachfolger auf

14

Das russische Drama

dem Thron, Fedor Alekseevič, zeigte kein Interesse an der Schauspielkunst und befahl, die Räume über der Hofapotheke, wo die Vorstellungen in Moskau stattfanden, von, „allen Instrumenten, Dekorationen und Komödiengerätschaften“ zu säubern.6 Es bedurfte erst eines anderen Zeitgeists, ehe die abgebrochene Tradition aufgenommen und fortgesetzt werden konnte. Dieser neue – europäischer Kultur aufgeschlossene – Zeitgeist brach mit der Regierungszeit Peters des Großen an. Peter der Große, der Sohn Aleksej Michajlovičs, war es auch, der 1702 die Anweisung gab, wieder ein „Komödienhaus“ zu errichten. Es sollte kein Hoftheater sein wie bei seinem Vater, sondern ein öffentliches Theater (publičnyj teatr), das jeder besuchen konnte. Zum Leiter wurde der deutsche Theaterdirektor Johann Christian Kunst berufen. Er begann unverzüglich mit den Vorbereitungen, und noch bevor das Haus am Roten Platz fertiggestellt war, fanden im Palast von Franz Lefort in der Deutschen Vorstadt die ersten Vorstellungen statt. Kunst führte mit seiner Truppe aus Wanderschauspielern, teils in deutscher, teils in russischer Sprache, vor allem barokke „Haupt- und Staatsaktionen“ auf, Stücke von Gryphius und Lohenstein im besonderen. Daneben sorgte er sich um die Ausbildung einheimischer Schauspieler. Als er aber bereits 1703 starb, übernahm der Moskauer Goldschmied Otto Fürst die Leitung des Unternehmens. Mit ihm rückte die italienische und französische Komödie ins Zentrum des Spielplans. Am häufigsten wurde Molière gespielt. Den größten Erfolg hatte jedoch die deutsche Bearbeitung einer Komödie Thomas Corneilles unter dem Titel „Prinz Pickelhering oder Jodelet als sein eigener Gefängniswärter“.7 Das russische Publikum erfreute sich der handfesten Komik und sah sich mit einer bislang unbekannten Welt von Intrigen, Verwicklungen und Leidenschaften konfrontiert. Hatte es Aleksej Michajlovič und der Hoftheatergesellschaft noch genügt, in erster Linie unterhalten zu werden, wünschte Peter der Große für sein öffentliches Theater ein Repertoire, das einen informativen und unterweisenden Charakter hat und somit den Bedürfnissen der Zeit entsprach. An die Stelle der übersetzten ausländischen Dramatik sollten deshalb Stücke treten, die auf die zeitgenössische Gegenwart reagierten und einen Beitrag zu der Propagierung seiner Reformen und militärischen Erfolge leisteten. Zwar entstanden Stücke dieser Art, etwa über die ersten Siege im Nordischen Krieg oder über den triumphalen Einzug des Zaren in Moskau, ob sie aber jemals zur Aufführung gelangten, ist nicht bekannt. Erst das Schultheater kam, beginnend mit der Wirksamkeit des Einflusses von Feofan Prokopovič, den Wünschen des Herrschers nach politischer Aktualität stärker entgegen. Dem Theater von Kunst und Fürst fehlte die Zeit, um sich in dieser Richtung entwikkeln zu können; denn das nachlassende Interesse der Besucher führte 1707, fünf Jahre nach der Eröffnung, zur Schließung des Hauses. Trotz der Kürze seines Bestehens ist die Initiative von großer Bedeutung: Mit ihr war die „Idee eines modernen Theaters“8 geboren, und diese Idee ließ sich nicht mehr unterdrücken. So erfolgte bald darauf ein weiterer Vorstoß, durchgeführt von der Prinzessin Natal’ja Alekseevna (1673–1716), der jüngeren Schwester Peters des Großen.

II. Die Anfänge des weltlichen Theaters in Rußland

15

Sie übernahm von dem geschlossenen Theater die Requisiten sowie Teile des Repertoires und richtete 1707/08 in Preobraženskoe erneut ein kleines Hoftheater ein, das später, 1709 oder 1711, nach Petersburg verlegt wurde. Die begabte Prinzessin soll auch eigene Stücke verfaßt haben, meist Wunder- oder Märtyrerdramen, die stofflich auf die Heiligenlegenden in den „Lesemenäen“ Dmitrij Rostovskijs zurückgingen. Mit Sicherheit aber gab sie den Auftrag, Ritterromanzen nach italienischen, spanischen, französischen und deutschen Vorlagen zu dramatisieren.9 Die aus dem Mittelalter stammenden Romanzen weisen bei aller Verschiedenheit ein gemeinsames thematisches und strukturelles Muster auf. Sie handeln fast ausnahmslos von vereitelter romantischer Liebe und damit von einem Thema, das in der russischen Kultur der vorpetrinischen Epoche völlig unbekannt war. Der Held ist stets ein fahrender Ritter, der auf der Suche nach der wahren Liebe und der Bewährung im Turnierzweikampf durch die Welt zieht. Die Heldin, der er unterwegs begegnet, gewöhnlich eine Prinzessin, steht sozial weit über ihm. Aber es ist nicht der Standesunterschied, der die Liebenden trennt, sondern eine Vielzahl anderer, aus der Handlung erwachsender Hindernisse. In einem der populärsten Beispiele dieses theatralischen Typs, der „Komödie von Peter mit den goldenen Schlüsseln“ (Komedija Petra zlatich ključej“)10, einer Dramatisierung der altfranzösischen Romanze „Pierre de Provence“, kommt es zur Trennung, als der adlige Held, auf der Flucht mit der Tochter des Königs von Neapel, in einem Boot einen Raben verfolgt, der den Schmuck seiner Geliebten gestohlen hat. Die um solche märchenhafte Züge erweiterte Welt des mittelalterlichen Rittertums wurde – vom Epischen ins Dramatische übertragen – zu einem Zeitpunkt in Rußland bekannt, zu dem sie in den kulturell höher entwickelten Ländern des Westens kaum noch Beachtung fand. In Rußland aber stieß sie auf lebhaftes Interesse. Ihre Exotik faszinierte und verhalf der Romanze zu anhaltender Popularität. Erst gegen Mitte des 18. Jahrhunderts geriet letztere in Verruf. Die russischen Klassizisten benutzten das Wort für Volksspiel mit Gesang und Tanz, „igrišče“, das früher heidnische Riten bezeichnete, um ihre Verachtung gegenüber dem vermeintlich niederen Genre auszudrücken. Sumarokov gab deshalb künftigen Dramatikern den Rat, keine „igrišča“ zu schreiben: Dies sei nichts für „gebildete Menschen“.11 Für Natal’ja Alekseevna und ihr Hoftheater trugen die dramatisierten Ritterromanzen jedoch wesentlich zur Verwirklichung eines farbigen, vielfältigen Programms bei, das Hohes und Niederes, Geistliches und Weltliches, Heimisches und Fremdes vereint und eine neue, „moderne“ Art des Theaters begründet: handlungsreich, spannungsvoll, romantisch. Kleine und kleinste Privattheater, die jetzt nach dem Vorbild der Prinzessin überall in Rußland entstanden, griffen dieses Ziel auf, und es gelang ihnen, trotz aller Unzulänglichkeiten den durch Peter den Großen geweckten Gedanken von der Notwendigkeit eines nationalen Theaters lebendig zu erhalten. Weitere Impulse kamen von den Schultheater-Bühnen12, die sich unter polnisch-ukrainischem Einfluß von 1701 an in Moskau und später auch in weiteren

16

Das russische Drama

russischen Städten etablierten, sowie durch die Gastspiele ausländischer Schauspieltruppen, die seit den zwanziger Jahren regelmäßig nach Rußland kamen.13 Die erste war die des Deutschen Johann Karl Eckenberg. Von Peter dem Großen persönlich gerufen, trat sie dreimal, 1719/20, 1723/24 und 1727, in Petersburg auf. Was im einzelnen gespielt wurde, ist nicht überliefert. Ähnliches gilt für die französische und die italienische Truppe, die 1728/29 und 1730, anläßlich der Krönung Anna Ioannovnas, in Petersburg auftraten. Vermutlich standen hier vor allem Komödien des jeweiligen Landes auf dem Spielplan. Diese Tendenz setzte sich fort, als zwei private Theaterunternehmen aus Italien zwischen 1733 und 1735 am Zarenhof nachweislich mehr als vierzig längere und kürzere Stücke im Stil der Commedia dell’arte aufführten. Sie prägten damit für lange Zeit den Geschmack des russischen Hofpublikums. Auch Dichter wie Trediakovskij, der einige der gespielten Stücke vom Italienischen ins Russische übersetzte, oder wie Sumarokov, der als Kadett zu den Aufführungen zugelassen war, empfingen bei dieser Gelegenheit nachhaltige Eindrücke vom Typus der Maskenkomödie. Eine andere Art von Komödie, nicht die volkstümliche Maskenkomödie der Commedia dell’arte, sondern die klassizistische französische Komödie, gelangte durch den kurzen Auftritt der berühmten Truppe von Caroline Neuber im Jahre 1740 nach Rußland. Zum Repertoire gehörten unter anderem Werke von Molière, Destouches und Regnard. Den glanzvollen Mittelpunkt des Gastspiels aber bildete die Aufführung von Addisons Tragödie „Cato“ in der deutschen Übersetzung Gottscheds.14 Auch die Komödien aus Frankreich spielte man ausnahmslos auf Deutsch. Molière, der im Theater von Kunst und Fürst in russischer Sprache vorgestellt worden war, wurde erst durch die französische Truppe des Schauspielers Sérigny d. Ä., der 1742 nach Petersburg kam, in der Originalsprache präsentiert. Dieses Ensemble, das sechzehn Jahre in der Morskaja Straße residierte und trotz der fremdsprachigen Aufführungen ein breites Publikum gewann, war auf das komische Genre spezialisiert. Sein Repertoire umfaßte nahezu die gesamte damalige französische Komödienkunst. Zu den Stücken von Molière, Destouches und Regnard, die schon die „Neuberin“ gezeigt hatte, kamen jetzt auch die von Legrand, Dancourt, Lesage, Campistron, Delille und anderen. Und als 1747 die ehemalige Truppe von Sophie Charlotte Schröder, die nun unter der Leitung Konrad Ernst Ackermanns stand, in Rußland eintraf und bis 1754 zuerst in Petersburg und dann in Moskau gastierte, wurden sogar die jüngsten Vertreter der klassizistischen Komödie außerhalb Frankreichs bekanntgemacht: die Autoren der Gottsched-Schule, der junge Lessing und der Däne Ludvig Holberg, der mit seinem Stück „Jacob von Tyboe“ (Bramarbas oder Der prahlerische Offizier), wie zuvor in Deutschland, besondere Aufmerksamkeit fand. So konnte der gebildete russische Zuschauer, der meist, aber keineswegs ausschließlich adliger Herkunft war, im Verlauf der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts professionelle Schauspieltruppen aus Italien, Frankreich und Deutschland kennenlernen, aus jenen Ländern also, die damals

III. Theater und Dramatik im Zeitalter des Klassizismus

17

auf dem Gebiet der Theaterkunst in Europa führend waren. Die Gastspiele hatten alles in allem eine doppelte Bedeutung: Sie vermittelten dem Publikum die Breite und den Entwicklungsstand des modernen westeuropäischen Dramenrepertoires, und sie lieferten dem Schauspieler und dem zukünftigen Autor einen lebendigen Anschauungsunterricht in allen Fragen der Bühnenpraxis. Das gilt, um nur zwei Beispiele zu nennen, für Fedor Volkov, den Mitbegründer und Hauptakteur des ersten russischen Nationaltheaters, genauso wie für Aleksandr Sumarokov, den wichtigsten Vertreter und führenden Dramatiker des Klassizismus in Rußland. Die Vermittlung der praktischen Aufführungstechnik und Schauspielkunst durch die ausländischen Truppen war für letzteren als häufigen Besucher ihrer Vorstellungen nicht weniger prägend als die Kenntnis und Umsetzung der zeitgenössischen Literaturtheorie, das heißt konkret der „Poetik“ Boileaus. III. Theater und Dramatik im Zeitalter des Klassizismus Durch das Schuldrama, die Theatergründungen unter Aleksej Michajlovič und Peter den Großen und die Auftritte der Schauspieltruppen aus dem Westen war der Boden bereitet, auf dem Sumarokov (1717–1777) zum „Vater des russischen Theaters“ werden konnte. Bei allen Neuerungen gegenüber der theaterlosen Zeit vor 1672 fehlte in Rußland immer noch das Wichtigste: eine eigene originale Dramatik. Sumarokov, der schon im Petersburger Kadettenkorps literarisch tätig war, leistete dazu den ersten Beitrag, als er 1747 die Tragödie „Chorev“ schrieb. Die Aufführung bei Hofe drei Jahre später, am 8. Februar 1750, erregte großes Aufsehen1 und gab den eigentlichen Anstoß zu dem Plan, ein russisches Nationaltheater zu gründen. Die theaterbegeisterte Zarin Elisabeth I. ließ zunächst weitere Tragödien Sumarokovs, darunter „Gamlet“ (Hamlet, 1748)2, an ihrem Hoftheater aufführen. Dann erteilte sie Lomonosov und Trediakovskij, den beiden anderen „Gründervätern“3 des russischen Klassizismus, den Auftrag, sich gleichfalls in der tragischen Gestaltungsform zu versuchen.4 Beide waren eher für die lyrische Dichtung prädestiniert, so daß Sumarokov als Sieger aus dem Dramatikerwettstreit hervorging. Als am 30. August 1756 auf Erlaß der Zarin in Petersburg das „Russische Tragödien- und Komödientheater“ gegründet wurde, erhielt er daher die Ernennung zum Direktor. Unterstützt von dem Schauspieler Dmitrevskij und der Truppe des Jaroslavler Kaufmannssohns Fedor Volkov, begann er ein ständiges Ensemble aufzubauen. Im Februar 1757 konnte das Haus eröffnet werden.5 Das größte Problem war von Anfang an der Mangel an geeigneten Texten. Die Stücke des Schultheaters kamen angesichts der fortgeschrittenen Säkularisierung nicht mehr in Frage, und die russische Originaldramatik bestand zu diesem Zeitpunkt erst aus acht Tragödien, fünf von Sumarokov selbst, zwei von Lomonosov, einer von Trediakovskij, sowie aus drei Komödien, die Sumarokov 1750 für die Bühne der Kadettenschule geschrieben hatte. Als schwierig erwies es sich, das Repertoire durch Tragödien zu bereichern; denn diese mußten nach den allgemein gültigen Regeln Boileaus in Versen abgefaßt sein. Bei der Komö-

18

Das russische Drama

die genügte die einfache Prosa. Auch das Übersetzen ging hier schneller. Da Sumarokov, im Widerspruch zur Idee des Nationaltheaters, auf den unerschöpflichen Vorrat westeuropäischer Dramatik angewiesen blieb, beherrschten somit übersetzte Komödien seinen Spielplan. Bereits im Eröffnungsjahr wurden neben Saint-Foix’ „Les grâces“, Lafonts „Les trois frères rivaux“ und Holbergs „Don Ranudo de Colibrados“ allein sieben Stücke Molières gezeigt, darunter einige der bekanntesten: „L’avare“, „Le Tartuffe“, „Le misanthrope“, „Le mariage forcé“, „Les fourberies de Scapin“, „L’école des femmes“ und „L’école des maris“. Die anfängliche Dominanz der Molière-, Regnard- und Destouches-Übersetzungen schuf ein Niveau, das sich auf die Dauer nicht halten ließ. Dem ausgeprägten Unterhaltungsbedürfnis der Zuschauer mußte in wachsendem Maße Rechnung getragen werden. Immer häufiger wurden, wie etwa bei Holberg oder Marivaux, die lustigen Werke den ernsteren, aber besseren vorgezogen. Dennoch: Die heranwachsenden russischen Dramatiker erhielten hier ein reichhaltiges Anschauungsmaterial. Sie hatten Gelegenheit, die Bauformen sowie die personellen und motivischen Möglichkeiten der klassizistischen Komödie zu studieren. Fonvizin bezeugt, daß er durch seine Besuche des Petersburger Theaters im Jahre 1760 wesentliche Anregungen für seine spätere Arbeit als Bühnenautor empfing. Auch Sumarokov selbst hatte hinzugelernt. 1761, fünf Jahre nach Amtsantritt, nahm er seinen Abschied, um sich, ermüdet von der Verwaltungsarbeit und den Mißständen am Theater, wieder verstärkt dem eigenen dramatischen Schaffen zuwenden zu können. Auf dem Feld der Tragödie hatte Sumarokov allerdings den Anschluß an die Entwicklung in Rußland verloren. Er war nur noch in der Lage, Früheres zu wiederholen. Von „Vyšeslav“ (1768) bis zu „Mstislav“ (1774) entwarf er wie schon in „Chorev“ (1747), „Sinav i Truvor“ (1750) oder „Semira“ (1751) ein heroisches, mythisch überhöhtes russisches Altertum und entsprach damit dem patriotischen Geschmack der gebildeten Adelsgesellschaft seiner Zeit. Alle historischen Fakten sind der idealisierenden Grundabsicht unterworfen. Der adlige Protagonist verkündet in wohlklingenden Alexandrinern die Ideen eines aufgeklärten Absolutismus. Die Fabel ist konstruiert. Fast immer liegt ihr eine Dreierkonstellation zugrunde: Auf der einen Seite steht der Herrscher, auf der anderen ein liebendes Paar. Die Liebe dieses Paars wird entweder durch den Anspruch des Herrschers auf die Heldin oder durch die Zugehörigkeit der Liebenden zu verfeindeten Dynastien gestört.6 Einziger Ausweg ist oft der – auf offener Bühne begangene7 – Selbstmord. Ob vollendet oder nur versucht, er erscheint in Sumarokovs Stücken als natürliche Konsequenz einer verabsolutierenden Auffassung der Liebe.8 Liebe, nicht Machtstreben bildet auch die eigentliche Triebfeder der statischen Handlung, die, unbekümmert um Glaubwürdigkeit, streng der klassizistischen Forderung nach Einheit von Zeit und Ort folgt. Am Ende siegt jedoch das Interesse des Staats über das private Glück. Sumarokovs Tragödien sind also in erster Linie Liebestragödien. Die einzige Ausnahme ist „Dimitrij Samozvanec“ (Dimitrij, der Usurpator, 1771): eine Tra-

III. Theater und Dramatik im Zeitalter des Klassizismus

19

gödie politisch-moralischer Art, die in der „Zeit der Wirren“ spielt und vom letzten Tag im Leben des falschen Zaren handelt, der mit Unterstützung seiner polnischen Verbündeten auf den russischen Thron gelangt ist und seitdem eine anhaltende Gewaltherrschaft über Rußland ausgeübt hat. In diesem und den anderen Stücken war Sumarokov stets bestrebt, sich die Merkmale der Dramenkunst Corneilles und Racines anzueignen. Doch der hochpoetische Stil der französischen Vorbilder sinkt bei ihm immer wieder auf die Stufe äußerlicher Rhetorik herab. Lange Monologe wechseln mit endlosen Dialogen. Die Personen, streng geschieden in Gute und Böse, sprechen die gleiche gehobene Sprache. Vor allem aber mangelt es an jener inneren Stimmigkeit und psychologischen Nuancierung, die bei Corneille und Racine in so hohem Grad entwickelt sind. Cheraskov, Majkov und Rževskij, Sumarokovs „Schüler“, waren in dieser Hinsicht bereits ein ganzes Stück weiter. Sie erschlossen der russischen Tragödie neue Themen, schufen eine bewegtere Handlung, entwarfen differenziertere Charaktere und reduzierten den Anteil von Monolog und Botenbericht.9 Auf dem Gebiet der Komödie dagegen gelang es Sumarokov, der schon bald der „nördliche Racine“ genannt wurde, in späterer Zeit über seine klassizistischen Anfänge hinauszukommen. Mit den frühen Komödien aus dem Jahr 1750, dem Dreiakter „Čudovišči“ (Die Ungeheuer) und den beiden Einaktern „Pustaja ssora“ (Ein Streit um nichts) und „Tresotinius“, folgte er zunächst der Theorie in seiner Versepistel „O stichotvorstve“ (Über die Dichtkunst, 1748), die ihrerseits auf Boileaus „L’art poétique“ (1674) basiert. Hier wie dort wird die komische Gattungsform als moralisches Korrektiv verstanden. „Die Eigenheit der Komödie“, definiert Sumarokov, „besteht darin, durch Spott die Sitten zu bessern.“10 Um diese erzieherische Aufgabe zu erfüllen, von der auch schon Kantemir im Rahmen seiner Fontenelle-Übersetzung (1730)11 gesprochen hatte, muß der Komödienautor lasterhafte Handlungen darstellen, das heißt menschliche Verhaltensweisen, die dem Tugend-Vernunft-Ideal der Aufklärung entgegenstehen. Die Darstellung lasterhafter Handlungen erfordert bestimmte typische Charaktere. Als Beispiele nennt Sumarokov: den kaltherzigen Amtsschreiber, den unverständigen Richter, den hochnäsigen Stutzer, den pedantischen Gelehrten, den aufgeblasenen Stolzen, den skrupellosen Geizkragen, den betrügerischen Kartenspieler. Alle der genannten Typen kommen auch in Sumarokovs dichterischer Praxis vor, manche wie der Geizige12 oder wie der Stutzer und der Pedant sogar mehrfach. In dem Einakter „Pustaja ssora“ finden sich zwei Varianten des Stutzertums, eine weibliche und eine männliche. Die Heldin Delamida weist den von der Mutter empfohlenen Bewerber zurück, weil sie die Liebe lächerlich findet und ihr ein geselliges Leben mit extravaganter Kleidung und galanter Konversation vorzieht. In dieser Haltung erinnert sie an die Titelgestalt von Destouches’ „La belle orgueilleuse, ou l’enfant gâté“ (1741). Dagegen weist der Held Djuliž, der sich in Sprache, Geschmack und Gesinnung an Frankreich orientiert, deutlich auf Holbergs Komödie „Jean de France“ (1722). Erzählt wird darin von dem zwanzigjährigen Sohn einer wohlhabenden Kopenhagener Bür-

20

Das russische Drama

gerfamilie, der, nach längerem Aufenthalt in der französischen Hauptstadt heimgekehrt, nur noch ein mit Gallizismen durchsetztes Dänisch spricht, sich stets nach der letzten Pariser Mode kleidet und fortgesetzt versucht, auch alle Personen aus seiner nächsten Umgebung dazu zu bewegen. Vollends entlarvt wird die Torheit dieser Gestalt durch die Intrige der Zofe und des Dieners: Während sich erstere in eine angebliche Pariserin verwandelt, für die sich der Modenarr sogar als Harlekin kostümiert, bringt der letztere ihn zu der Überzeugung, daß man am Hofe in Frankreich jetzt die Kleider auf dem Rücken geknöpft trage. Sumarokov hatte die Figur des gallomanischen Stutzers (russ. petimetr nach frz. petit maître) zuvor schon in „Čudovišči“, in einem der negativen Freier, gestaltet, und damit der russischen Komödienkunst bemerkenswert früh erschlossen. Selbst auf den Bühnen in Westeuropa war der von Holbergs „Jean de France“ ausgehende Figurentypus noch nicht lange präsent. Die erste deutsche Übersetzung des dänischen Originals von 1722 erschien im Jahr 1841. Durch sie angeregt, verarbeiteten Johann Elias Schlegel und die Gottschedin das Thema der Gallomanie in ihren Komödien „Die Pracht zu Landheim“ (1742) und „Die Hausfranzösin“ (1744). So zeigt sich also auch noch bei Sumarokov ein relativ „aktueller Anschluß“.13 Hat dieser das Verdienst, den Stutzer als neuen Typus in die russische Komödie eingeführt zu haben, besteht die Leistung Fonvizins darin, daß er, daran anknüpfend, dem Typus 1769 in „Brigadir“ (Der Brigadier) einen künstlerisch überzeugenden Ausdruck verliehen und somit in Rußland bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Entstehung zahlreicher weiterer Jean-de-France-Komödien14 initiiert hat. Wenn es auch Sumarokov noch nicht gelungen ist, einen so plastischen Charakter wie Fonvizins Ivanuška zu entwerfen, bringt er dafür die Gallomanie seiner Figuren um so deutlicher auf der Ebene der Sprache zur Geltung. Das geschieht vor allem in der Szene, in der die beiden Hauptvertreter dieses Lasters, Delamida und Djuliž, zusammentreffen und sich gegenseitig in der Verwendung französischer Wörter zu übertrumpfen versuchen. So benutzen sie Ausdrücke wie „flatirovat’“ von flatter statt „l’stit’“, „meritirovat’“ von mériter statt „zasluživat’“ oder „panse“ von la pensée statt „mysl’“ und „deessa“ von la déesse statt „boginja“. Die Komik des langen Dialogs, den Delamida nach Djuližs Liebesbekenntnis mit dem Satz „Einen Ehemann lieben! Ha, ha, ha! Das ziemt einem Bauernweib”15 beendet, ist reine Sprachkomik und resultiert als solche aus dem übersteigerten Gebrauch der französischen Sprache und den Entstellungen einzelner französischer Wörter, die sich durch die Russifizierung ergeben. Keineswegs selbstzweckhaft, sondern der Demaskierung dienend, enthüllt die Komik hier die sich in der Sprache verbergende Haltung des Stutzertums. Ein anderes menschliches Laster, das in der klassizistischen Charakterkomödie Sumarokovs wiederholt verspottet und bloßgestellt wird, ist die Pedanterie. Sie steht im Mittelpunkt eines zweiten Einakters aus den Anfängen des Dramatikers und wird von der Figur verkörpert, nach der das Stück benannt ist: Tresotinius. Der Name, abgeleitet von frz. très sot (sehr dumm), signalisiert

III. Theater und Dramatik im Zeitalter des Klassizismus

21

durch die Bedeutung und die künstliche Bildung von vornherein die Negativität seines Trägers. Tresotinius, neben dem Großsprecher Bramarbas, einer der beiden erfolglosen Bewerber um die Hand der Heldin Klarisa, scheitert an der Enge und Starrheit seines Charakters. Vortrag und Lobpreis seiner Ode sind ihm wichtiger als die Werbung um Klarisa; er läßt lieber seine Braut gehen, als daß er einen aufdringlichen Besucher abwiese, und er ist eher bereit, die Unterzeichnung des Ehevertrags zu gefährden, als in der Frage der richtigen Schreibung eines Buchstabens nachzugeben. So bleibt Tresotinius, mit dem Sumarokov seinen literarischen Gegner Trediakovskij karikierte, der, darüber gekränkt, die der Komödie zugrundeliegende Quelle aufdeckte16, bis zuletzt unverbesserlich. Durch Klarisas Trick der Namensvertauschung im Ehevertrag (Dorant statt Tresotinius) am Ende doch noch um die erwünschte Heirat gebracht, zeugt die Drohung des Geprellten, aus Rache eine Invektive über das Vorgefallene zu schreiben, vom Verharren im alten Laster. Wie Molière trennte Sumarokov, sein russischer Nachfolger, das Moralprinzip nicht von der satirischen Intention. Er zeigte die Figuren sowohl in ihrer Lasterhaftigkeit als auch in ihrer Lächerlichkeit. Gegenüber den Intermedien des Schultheaters und ihrem eher derben Spielcharakter ging dies mit einer merklichen Verfeinerung des Stils einher. Zugleich aber kam es im Laufe der Zeit zu einer deutlichen Entleerung von zündender Komik. Denn je mehr die Komödie auf Strafung und Besserung des Menschen zielt, desto entschiedener verflüchtigt sich ihre komische Substanz. Sumarokov scheint diese Problematik gespürt zu haben. Nachdem er 1764 das Komödienschreiben wiederaufgenommen und die neuen Stücke, „Pridanoe obmanom“ (Die erlistete Mitgift) und „Opekun“ (Der Vormund), nach alter klassizistischer Art als Entlarvung eines menschlichen Lasters – des Geizes bzw. der Habgier – angelegt hatte, begann er gegen Ende der sechziger Jahre, sich vorsichtig aktuellen Tendenzen zu öffnen. Zwar gibt es in „Jadovityj“ (Der Giftige, 1768) noch immer die negative Mittelpunktsfigur. Doch um den zynischen Intriganten Gerostrat, der ständig Zwietracht stiftet und seine Freude daran hat, andere ins Unglück zu stürzen, gruppiert sich eine Anzahl empfindsamer, moralisch vorbildlich handelnder und denkender Personen. Sie alle erscheinen als Opfer von Intrigen, Betrügereien und Verleumdungen: Der eingangs zurückkehrende Demifon mußte aufgrund arglistiger Machenschaften viele Jahre außer Landes verbringen, sein treuer Diener, der die gesamte Habschaft des Herrn bewahrt und vermehrt hat, wurde schuldlos inhaftiert, Menedem, Demifons alter Freund, hat durch Täuschung und richterliche Unfähigkeit sein ererbtes Landgut verloren, Angelika, seine Pflegetochter, die sich als totgeglaubte Tochter Demifons erweist, will ihn vor dem Ruin retten und erklärt sich deshalb bereit, den ungeliebten Gerostrat zu heiraten. Menedem aber lehnt das großherzige Angebot ab: Eher wolle man in Armut leben, als ein materiell gesichertes Leben mit dem Verlust der Ehre zu erkaufen. Die Auflösung, die das glückliche Ende ermöglicht, erfolgt von außen, durch das Eingreifen der behördlichen Instanzen; die Entlarvung des sittlich Anstößi-

22

Das russische Drama

gen ereignet sich jedoch schon im Verlauf der Handlung durch die in der Mehrzahl der Figuren verkörperte Tugendhaftigkeit. Indem Sumarokov lasterhafte mit tugendhaften dramatis personae kontrastierte und komische und rührende Elemente mischte, näherte er die satirische Typenkomödie der comédie larmoyante. Er griff damit eine Entwicklung auf, die Michail Cheraskov (1733–1807) unter Einflüssen aus Frankreich und Deutschland 1761 mit dem Stück „Bezbožnik“ (Der Gottlose) eingeleitet hatte. Letztlich blieb er jedoch zu sehr dem Klassizismus verhaftet, um diesen Ansatz zur Schaffung einer neuen, zeitgemäßen dramatischen Form weiter zu verfolgen. Dennoch nahm er vier Jahre später in „Rogonosec po voobraženiju“ (Der eingebildete Hahnrei, 1772) – entgegen der Erwartung, die der Titel weckt – das klassizistische Prinzip der Abstraktion eines Lasters aus dem Zentrum der Komödie und gab dafür der Schilderung des Alltagslebens russischer Gutsbesitzer breiteren Raum. Wieder hatte sich Sumarokov einer aktuellen Richtung angeschlossen: Mit Fonvizins „Brigadir“, einem Stück, das ebenfalls im Gutsbesitzermilieu spielt, war 1769 das erste Beispiel eines Komödientypus ans Licht getreten, dem im Unterschied zu der schon bald als „Tränenkomödie“ verspotteten comédie larmoyante die Zukunft gehörte – der Typus der Milieu- und Sittenkomödie. IV. Vom Rührstück zur Milieu- und Sittenkomödie Bevor Denis Fonvizin zum Schöpfer der russischen Milieu- und Sittenkomödie wurde, erlernte er sein dramaturgisches Handwerk im Kreis um Ivan Elagin, der, Staatssekretär und enger Vertrauter Katharinas II., nach Sumarokovs Rücktritt übergangsweise das Russische Theater leitete und 1766 zum Direktor des Hoftheaters berufen wurde. In diesen Funktionen bemühte er sich jeweils, das vom Drama des Klassizismus bestimmte Repertoire durch jene neuen Formen zu erweitern, die zuerst in Frankreich und dann in Deutschland als Folge der von England kommenden bürgerlichen Empfindsamkeit entstanden waren. Hauptrepräsentant war Philippe Néricault Destouches, von dem Elagin nach Aussage eines Zeitgenossen fast alle Werke übersetzt haben soll. Mit ihm teilte er die Überzeugung, daß entgegen dem klassizistischen Prinzip der Gattungsreinheit in ein und demselben Stück zugleich komische und rührende Szenen ebenso wie lasterhafte und tugendhafte Personen dargestellt werden können. Theoretische Unterstützung konnte er in dieser Hinsicht bei Christian Fürchtegott Gellert finden. Dieser hatte sich in seiner Abhandlung „Pro commedia commovente“, die, von Lessing ins Deutsche übersetzt, 1754 als Antwort auf Chassirons „Réflexions sur le Comiquelarmoyant“ (1749) erschienen war, gegen die Behauptung gewandt, daß Rührung und Verspottung der Laster unvereinbar seien. Es komme lediglich darauf an, das eine mit dem anderen behutsam zu verknüpfen. So dürfe eine lustige Situation nicht unmittelbar auf eine ernsthafte folgen, und einer „gesetzten Person“, die das Gemüt der Zuschauer erregt, sollte nicht eine „allzu lächerliche beigesellet“ werden. Wenn dabei das hervorgerufene Lachen kein „lautes Gelächter“ sei, sondern

IV. Vom Rührstück zur Milieu- und Sittenkomödie

23

von einer „feineren“ Art, die „gleichsam in dem Innersten des Herzens verschlossen“ bleibe, dann könne die rührende Komödie letztlich „heftiger bewegen“ als das um der Gemütserregung willen fast ganz auf Scherz und Spott verzichtende reine Rührstück.1 Mit dem Bekenntnis zu einer Komödienform, die laut Gellert und Lessing durch ihre Mischung von Tugend und Laster, von Rührung und Verspottung „dem menschlichen Leben am nächsten“ kommt2, verband Elagin die Aufforderung an die russischen Schriftsteller seiner Zeit, ihre Werke für das Theater den heimischen Verhältnissen („unseren Sitten“) anzupassen. Mit einer Bearbeitung von Ludvig Holbergs „Jean de France“3 veranschaulichte er 1764 seine Vorstellungen an einem Stück im klassizistischen Stil. Im selben Jahr begannen drei junge Mitglieder seines Kreises die Methode der „Anpassung“ (sklonnost’) auch auf die zeitgemäßere Form des Rührstücks anzuwenden. Denis Fonvizin (1744–1792) bearbeitete – unter dem Titel „Korion“ – Gressets „Sidney“, Bogdan El’čaninov (1744–1770) – unter dem Titel „Nagraždennaja dobrodetel’“ (Die belohnte Tugend) – Voltaires „L’Écossaise“, und Vladimir Lukin (1737– 1794), der Elagins Forderungen theoretisch wie praktisch am entschiedensten umsetzte, schuf mit „Nagraždennoe postojanstvo“ (Die belohnte Beständigkeit) nach Campistrons „L’amante amant“ und mit „Mot, ljuboviju ispravlennyj“ (Der durch die Liebe gebesserte Verschwender) nach Destouches’ „Le Dissipateur“ die ersten zwei von insgesamt mehr als zehn Rührstückanpassungen. Lukin ging es wie Elagin – das geht aus seinem Brief an El’čaninov und den Vorreden zu seinen Komödien in der zweibändigen Werkausgabe von 1765 hervor4 – um die nationale Gebundenheit des russischen Theaters, insbesondere in den komischen dramatischen Formen. Die bisherigen Komödien, stellte er fest, waren entweder mehr oder weniger geschickte Übersetzungen oder plumpe Nachahmungen französischer Stücke.5 Deshalb empfahl er, da er noch nicht an die Fähigkeit der Russen glaubte, originale Werke hervorzubringen, statt Übersetzungen oder Nachahmungen zumindest „Umarbeitungen“ zu schaffen. „Umarbeiten“ bedeute, „daß man etwas hinzufügt oder ausläßt, den Rest aber, das heißt den Hauptteil, beläßt und ihn den eigenen Sitten anpaßt“.6 Anpassung hieß bei Lukin wie bei Fonvizin und El’čaninov zuallererst, den Schauplatz und die Personennamen zu verändern. So wird in „Nagraždennoe postojanstvo“ die Handlung, die bei Campistron in Paris spielt, nach Petersburg verlegt, und die handelnden Figuren heißen – auf der herrschaftlichen Ebene – nicht Timandre, Lucidas, Lucinde und Angélique, sondern Evgraf, Aristorch, Kleopatra und Pul’cherija und – auf der Ebene der Bediensteten – Andrej, Fadej, Nastas’ja und Mar’ja statt L’Ésperance, Jasmin, Justine und Lise. Darüber hinaus betraf die Anpassung das Bemühen, die Figuren nach Herkunft, Stand und Beruf, aber auch im Handeln und Verhalten so weit wie möglich mit der russischen Lebenswirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen. In Rußland gab es keinen Duc oder Vicomte, keine Diener, die philosophische Weisheiten verkündeten und keinen Notar, der Heiratskontrakte aufsetzte und Eheschließungen vornahm. In

24

Das russische Drama

der Beibehaltung solcher landesuntypischer Eigenheiten lag für Lukin nicht nur ein Verstoß gegen das Prinzip der Wahrscheinlichkeit, sondern auch ein Verfehlen des moralisierenden, sittenverändernden Auftrags der Komödie. Wer nur über fremde Fehler lache, verspüre nicht die Neigung, eigene zu verbessern. Die Besserung eigener, das heißt russischer Laster aber hielt Lukin für eine notwendige und dringliche Aufgabe. Dieser Aufgabe schien ihm die lebensnahe rührende Komödie gerechter zu werden als die Typenkomödie des Klassizismus mit ihren – schon in der Antike durch Theophrast beschriebenen – unveränderlichen „Charakteren“ und ihren allgemeinen, zeitlosen Untugenden. In „Mot, ljuboviju ispravlennyj“ griff Lukin mit der Verschwendungssucht eines der ewigen menschlichen Laster auf, aber dieses Laster, das hier als Spielsucht erscheint und seinen Helden, den jungen Adligen Dobroserdov, um das gesamte ererbte Vermögen bringt, bezeichnete er im „Vorwort“ als das in Rußland verbreitetste.7 Während Destouches als ein Rührstückautor, der noch ganz im Bann der klassizistischen Poetik steht, in der Komödie „Le Dissipateur“ den Vorgang der Verschwendung über mehr als vier Akte eingehend darstellt, hat sein Bearbeiter Lukin, der sonst die Vorlage in Handlungsverlauf und Figurenkonstellation eher unangetastet läßt, die traditionelle Lasterdarstellung stark zurückgedrängt, teilweise sogar in die Vorgeschichte verlagert, um statt dessen die Distanzierung des Helden von seinem bisherigen ausschweifenden Leben in den Vordergrund zu stellen. Dank seiner tugendhaften Geliebten Kleopatra erscheint Dobroserdov (der „Gutherzige“) von Beginn an, wie der Titel des Stücks verrät, als der „durch die Liebe gebesserte Verschwender“. Die dramatische Spannung entsteht daraus, daß ein falscher Freund, Zloradov (der „Schadenfrohe“), und eine intrigante ältliche „Fürstin“ mit allen Mitteln versuchen, den Geläuterten vom Weg der Besserung abzubringen. Das im Zuschauer hervorgerufene Mitgefühl steigert sich zu stärkster emotionaler Anteilnahme, als Dobroserdov, durch Verrat seinen Gläubigern ausgeliefert, angesichts des drohenden Schuldgefängnisses keinen anderen Ausweg als den Selbstmord sieht. An diesem Tiefpunkt der Entwicklung erfolgt der Umschlag: Wie aus heiterem Himmel trifft im letzten Moment die Nachricht vom Tod eines reichen Onkels ein. Damit ist der glückliche Ausgang gesichert, und der Heirat des Liebespaars steht nichts mehr im Wege. Das Rührstück erweist sich als rührende Komödie. Ihr Held, zwar leichtsinnig und leichtgläubig, aber, wie sein Name besagt, von Natur aus tugendhaft, kann am Ende „gerettet“ werden, weil er sich zu seiner Schuld bekennt und seine Verfehlungen bereut. Auch Fonvizins Korion, wie Dobroserdov ein junger vermögender Aristokrat, wird eines Tags des glänzenden weltmännischen Lebenswandels überdrüssig, von tiefer Reue über eine vergangene Tat erfaßt: Er hat vor Jahren seine Geliebte verraten und verlassen. Nun beschließt er, nach einem Abschiedsbrief an die Verlassene aus dem Leben zu scheiden, wird aber von seinem Diener daran gehindert, die tödliche Dosis Gift zu nehmen. So gelangten durch die Aneignung ausländischer Rührstückstoffe zum erstenmal empfindsame, innerlich zerrissene Charaktere auf die rus-

IV. Vom Rührstück zur Milieu- und Sittenkomödie

25

sische Bühne. Im Unterschied zur Typenkomödie mit ihrer satirischen Grundintention sollte die moralische Einwirkung auf den Zuschauer jetzt vornehmlich über die Rührung durch Tugend und weniger über die Entlarvung und Verurteilung der Untugend stattfinden. Deshalb blieben die Figuren zunächst vor allem Exponenten einer die Emotionen bewegenden Handlung. Ihre Funktion – etwa als verlassene Geliebte oder als reuiger Liebhaber – dominierte über ihrer Verankerung im nationalen Kontext. Daß Fonvizin in „Korion“ Gressets Gärtner durch einen Bauern ersetzte oder daß Evgraf in Lukins „Nagraždennoe postojanstvo“ der Sohn eines Gutsbesitzers ist und als Hauptmann bei den Dragonern dient, schafft noch kein wirkliches soziales und historisches Kolorit. Das änderte sich erst, als russische Dramatiker, statt Fremdes an Eigenes anzupassen, in den siebziger Jahren begannen, selbst eigene Stücke zu schreiben, und die zugrunde gelegten Stoffe der ihnen vertrauten Lebenswirklichkeit entnahmen. Fonvizin, zunächst ein engagierter Vertreter von Umarbeitung und Anpassung, schuf dafür mit seiner Originalkomödie „Brigadir“ schon 1769 Auftakt und Maßstab. Das fünfaktige Stück führt aufs Land, in die provinzielle Welt der Gutsbesitzer. Diese Welt ist von vornherein geeigneter, russisches Milieu und nationale Sitten zu präsentieren, als die des hauptstädtischen, höfischen Adels, auf die in den Anpassungsstücken, bedingt durch die bearbeiteten Vorlagen, der Akzent gelegt wurde. Hinzu kommt, daß Fonvizins Gutsbesitzer nicht dem Hoch- oder Geburtsadel, sondern als Brigadier und als Rat dem Dienstadel mittleren Rangs angehören. Mit solchen konkreten sozialen Kennzeichnungen, die es bei Sumarokov noch nicht gibt, folgte Fonvizin einer zentralen Forderung Diderots. Der Reformer des französischen Theaters, ja der europäischen Bühne verlangte, daß die „Stände“ an die Stelle der „Charaktere“ treten. In Lessings Formulierung: „Bisher ist in der Komödie der Charakter das Hauptwerk gewesen; und der Stand war nur etwas Zufälliges; nun aber muß der Stand das Hauptwerk und der Charakter das Zufällige werden.“8 Dementsprechend spielt so auch in Fonvizins „Brigadir“ der „Charakter“ durchaus noch eine Rolle. Der Brigadier, der mit Frau und Sohn die befreundete Familie eines Rats besucht, ist ein grober, unkultivierter, zur Großsprecherei neigender Mensch. Doch verspottet wird er nicht nur wegen dieser Charakterzüge, sondern auch und vor allem als Angehöriger des militärischen Stands, den er in korrumpierter Form vertritt. Der „alte verabschiedete Narr“, der sich seinen Rang als Teilnehmer der Türkenkriege (1735–1739)9 verdient hat, verkörpert eine Haltung, in der die hohe Soldatenethik der petrinischen Epoche durch lockere Moral und bequeme Lebensführung verdrängt worden ist. Auch der Rat, der um die Zuneigung der einfältigen Brigadiersfrau wirbt und der seiner Tochter lediglich einen Grund nennen kann, weshalb sie den Brigadierssohn Ivanuška heiraten soll („Geld hat er genug“), steht ungeachtet dieser persönlichen Schwächen in erster Linie für den Stand des zivilen Beamten. Er ist der gierige und bestechliche Richter, der damit prahlt, daß er die Erlasse des Zaren „auf zwan-

26

Das russische Drama

zig verschiedene Arten verdrehen“ könne. Angespielt wird hier auf die zunehmende Korruption in der Epoche Elisabeths I. So weist das Komödienpersonal deutlich auf die Zeit, in der das Stück entstand. Anders gesagt, Fonvizin benutzte charakteristische Phänomene dieser Zeit und ihrer Gesellschaft als Grundlage für die komische und satirische Darstellung. Sogar Ivanuška, der ausgeprägteste Typus, erscheint nicht nur als der überzeitliche gallomanische Stutzer. Er ist auch, im Unterschied zu anderen Stutzern, etwa bei Holberg oder Sumarokov, ein ausgesprochen ungebildeter und unerzogener Mensch, so wie viele Angehörige des damaligen mittleren und niederen russischen Adels. Das Problem von Bildung und Erziehung rückt damit ins Zentrum des Stücks. In „Brigadir“ geht es dabei insbesondere um die Folgen einer Erziehung, die der nationalen Grundlagen entbehrt. Das Thema der durch ausländische, speziell französische Sitten verdorbenen russischen Jugend war nicht neu. Es begegnet seit Sumarokovs „Pustaja ssora“, aber Fonvizin befreite es aus dem bloßen Lächerlichmachen der Gallomanie. Er bezog das Thema stärker auf die russische Wirklichkeit und debattiert die ernsten Folgen, die es für diese Wirklichkeit hat. Von der Entlarvung privater Laster auf das allgemeine Problem der Veränderung der Gesellschaft gerichtet, sah er in der richtigen, das heißt nationalen Bedürfnissen entsprechenden Erziehung das wichtigste Mittel, gesellschaftliche Mißstände zu überwinden. Diese Zeit- und Milieubezogenheit hat ihre darstellungstechnischen Konsequenzen. Charaktere im Sinne der herkömmlichen Typenkomödie sind in Fonvizins „Brigadir“ nur noch in relikthafter Form vorhanden. So wie der Brigadier nicht bloß ein prahlerischer Offizier ist wie Bramarbas in Sumarokovs „Tresotinius“, verkörpert der Rat bei aller Scheinheiligkeit keinen zweiten Tartuffe, und die Brigadiersfrau ist trotz ihrer zum Geiz neigenden Sparsamkeit keine weibliche Variante von Harpagon aus Molières „L’avare“. Ebenso hat die Rätin, die jederzeit bereit ist, ihrem Mann Hörner aufzusetzen, nichts von der geistvollen und spielerischen Leichtigkeit jener Koketten der Pariser Salons, die wie Célimène bei Molière („Le misanthrope“, 1666) oder Silvia bei Marivaux („Le jeu de l’amour et du hazard“, 1730) das französische Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts bevölkern. Fonvizins Figuren haben das abstrakte Gepräge des klassizistischen Komödienpersonals weitgehend verloren und eine neue Konkretheit gewonnen, die sie zugleich repräsentativ für das Ganze sein läßt: Es sind russische Adlige, russische Gutsbesitzer, russische Ehemänner und Ehefrauen, in Sprache, Verhalten und Denkweise an ihre Herkunft, ihr Milieu und ihre Klasse gebunden. Damit entsprechen sie ganz dem, was das 18. Jahrhundert unter dem Begriff der „Sitten“ im Unterschied zu dem des „Charakters“ verstand. „Charakter ist die angeborene Neigung so und nicht anders zu handeln“, definierte Ostolopov in seinem „Lexikon der alten und neuen Dichtung“ (Slovar’ drevnej i novoj poėzii), „unter den Sitten versteht man die Neigung zu handeln gemäß der erworbenen Fertigkeit, der Erziehung, der Vorbilder.“10 So begann mit Fonvi-

IV. Vom Rührstück zur Milieu- und Sittenkomödie

27

zins „Brigadir“ in der russischen Komödienkunst die Herrschaft der Sitten über die Charaktere. Als in den siebziger Jahren – unter dem Einfluß des großen Erfolgs der Moskauer Aufführung von Beaumarchais’ „Eugénie“ im Jahr 1770 – das Genre des Rührstücks und der rührenden Komödie einen neuen Aufschwung nahm, knüpften seine wichtigsten Vertreter, Cheraskov, Potemkin und Verevkin11, unmittelbar an Fonvizins Errungenschaften an. Sie waren bestrebt, die Verhältnisse, in denen sich die dramatische Handlung ereignet, auf ähnlich konkrete und detaillierte Weise darzustellen. Nationale Identität gewann das dargestellte Milieu durch die gleichen Stände, die schon in „Brigadir“ ihre sittenschildernde Eignung bewiesen hatten: Provinzadel, Militär und Beamtentum. Die Protagonisten, durchweg adlige Gutsbesitzer, kommen beruflich – ebenfalls wie bei Fonvizin – aus Offiziers- und Gerichtskreisen. In dem reinen Rührstück, das Cheraskov und Potemkin bevorzugen, ist die Richtergestalt jeglicher Verspottung und Bloßstellung entzogen. So verkörpert Milon in Potemkins „Toržestvo družby“ (Der Triumph der Freundschaft, 1772) nicht den Sumarokovschen Typ von „Richter, der nicht versteht, was in dem Erlaß geschrieben steht“12, sondern den tugendhaften, in seelische Not geratenen Menschen. Dieser ehrenhafte Mann leidet an einer unerlaubten Leidenschaft: Er liebt die türkische Gefangene Zaida, die Braut seines Freundes Modest, der dieser als Angehöriger der Armee in einer Schlacht das Leben gerettet hat. In den rührenden Komödien Verevkins dagegen erscheint der Richter, der auch die hohe Stellung eines Statthalters haben kann, in satirischer Verzerrung. Seine korrupte Behörde bildet in „Tak i dolžno“ (So soll es auch sein, 1773) wie in „Toč’ v toč’“ (Aufs Haar, 1774) die negative Folie für die positiv gezeichnete häusliche Sphäre, die, geprägt vom Standesbewußtsein des Adels und des Militärs, für Tugendhaftigkeit und Vorrang der Pflicht vor der Neigung steht. Die Handlung beginnt jeweils mit der Rückkehr des pflichtbewußten Offiziers zu der treuen Geliebten, gewinnt dann ihre Spannung aus dem Auftreten der Konflikte und der Auseinandersetzung zwischen Tugend und Laster und endet nach der Überwindung aller Hindernisse in der Vereinigung des Liebespaars. Das komödiantische Ziel ist nur im Durchgang durch die Affekte von Rührung und Mitleid selbst mit den verspotteten lasterhaften Figuren zu erreichen. Doch dieser genrebedingte Zwang zur „rührenden“ Wiedergabe des Alltagslebens hat Folgen im Hinblick auf die Milieudarstellung: Die Rührstückautoren der siebziger Jahre haben zwar Fonvizins Methode der Konkretisierung einer gesellschaftlichen Sphäre oder Klasse übernommen, bleiben aber – stets darauf bedacht, jene „anständige Gemütsbewegung hervorzubringen“13, die Gellert als den Zweck der Komödie sieht – in der realistischen Ausgestaltung des Milieus deutlich hinter „Brigadir“ zurück. Dabei sollte Fonvizin über ein Jahrzehnt später, als er nach den Jahren im Dienst der russischen Außenpolitik zum Dramenschaffen zurückkehrte und die Komödie „Nedorosl’“ (Der Landjunker, 1782)14 schuf, die aus der Herrschaft der Sitten

28

Das russische Drama

über den Charakteren resultierende neuartige Realistik des Bühnengeschehens noch einmal steigern. Inzwischen war er auch im Ausland gewesen, wo sein Hauptinteresse dem Theater galt. „Nur wer eine Komödie in Paris gesehen hat“, schrieb er aus Frankreich, „weiß überhaupt, was eine Komödie ist.“15 Nach der Begegnung mit der aktuellsten französischen Komödienkunst bewegten Fonvizin zwei zentrale Probleme: das der vollkommenen „Nachahmung der Natur“ und das der Ensemblebildung aller handelnden Figuren. Das eine war durch die Absage an die Statik der Charaktertypen bereits in „Brigadir“ weitgehend gelöst worden. Das andere verlangte nach einer besseren Lösung. Denn in „Brigadir“ gibt es noch zu viele Szenen, die der bloßen Demonstration von Figuren, insbesondere solchen untergeordneter Art dienen und vorübergehend zum Stillstand der Handlung führen. Der Zusammenhang zwischen den Szenen und den Akten hat daher nicht selten etwas Zufälliges. In „Nedorosl’“ gelang es Fonvizin nun, die Neben- und Randfiguren fester in das Ganze zu integrieren und ihnen in technischer Hinsicht eine Gleichwertigkeit mit den Hauptfiguren zu verleihen. Die Kinderfrau, der Seminarist, der Sergeant, die Lehrer und sogar der Schneider Triška sind mit größter Sorgfalt gezeichnet und wirken ebenso lebendig und anschaulich wie die eigentlichen Handlungsträger. Dies ist auch deshalb so wichtig, weil sich die Figurenzahl gegenüber der Komödie „Brigadir“ fast verdoppelt hat. Dementsprechend erweitert erscheint der soziale Umfang des Stücks. Gruppierte sich die Handlung vorher um zwei dienstpflichtige Adlige im Ruhestand, den Brigadier und den Rat, verteilt sie sich jetzt auf Adlige im militärischen und zivilen Dienst, intellektuelle Adlige und nichtadlige Intellektuelle sowie Gutsbesitzer, Leibeigene und nichtleibeigene Bedienstete. Diese klassenmäßige Erweiterung ermöglichte eine Vervielfältigung der Themen. Die Themen der Erziehung, des Provinzadels, der Leibeigenschaft und des Hoflebens bilden ein komplexes Geflecht vereinzelter und zugleich zusammengehöriger Aspekte. Ob es um die unwürdige Behandlung der Leibeigenen, die Günstlingswirtschaft am Hof oder die Bildungsfeindlichkeit des Provinzadels geht, Fonvizin machte in einer Schärfe und Direktheit wie noch kein Komödiendichter in Rußland vorher vom Recht des Satirikers Gebrauch, gesellschaftliche Mißstände aufzudecken und anzuprangern. Daß er dabei die bereits in „Brigadir“ angesprochene Erziehungsfrage aufgriff und nun zum Hauptthema erhob, war kein Zufall, handelte es sich doch um ein gravierendes Problem der russischen Alltagswirklichkeit. Das Vorrecht der Adligen, ihre Kinder von Privatlehrern unterrichten zu lassen, führte, da diese oft völlig inkompetent waren, zum Bildungsnotstand und zur allgemeinen Verwilderung der Sitten. Fonvizin illustriert das soziale und kulturelle Übel am Beispiel Mitrofans, der Titelfigur, eines verwöhnten, faulen und dummen „minderjährigen“ Adligen, der vor dem Eintritt in den Beamtenstand steht und von drei solcher unfähigen Lehrer unterrichtet wird. Einer von ihnen, ein Deutscher, ist nicht einmal des Russischen mächtig.

IV. Vom Rührstück zur Milieu- und Sittenkomödie

29

Von ähnlicher Brisanz ist das Thema der Leibeigenschaft, das vor allem an der Gestalt der Mutter Mitrofans veranschaulicht wird. So zärtlich die Prostakova zu ihrem Sohn ist, so despotisch waltet sie im Haus und auf dem Hof, überzeugt, daß man als Gutsherrin das Recht habe, seine leibeigenen Untergebenen „ein bißchen zu prügeln“. Die Amme, die Mitrofan ebenso liebt wie dessen Mutter, klagt, sie erhalte von der Herrin nach vierzig Jahren treuer Dienste „fünf Rubel im Jahr und fünf Ohrfeigen am Tag“. So erschreckte Fonvizin seine Zeitgenossen durch die Darstellung ungeahnter Brutalität und Animalität im mitmenschlichen Umgang. Wenn er einen Gutsbesitzer, der sich der Schweinezucht verschrieben hat, Skotinin nennt (skot = Vieh), signalisiert er bis in die Namensgebung hinein, daß hier Menschen auf die Stufe des Tierischen herabgesunken sind. Ostrovskijs „Reich der Finsternis“ kündigt sich erstmals an. Gogol’ sah in „Nedorosl’“, dieser düsteren Komödie, ein „ungeheuerliches Zerrbild des Russischen“, an dem „nichts karikiert“, sondern „alles der Natur nachgebildet“ sei.16 Für den Autor war, wenn die Heranbildung eines verantwortungsvollen Geschlechts unterblieb, die ganze Aufklärung in Gefahr. Deshalb ließ er am Ende durch den Mund des Räsoneurs Starodum, eines Verfechters aufklärerischer Ideen, der sich mit dem idealistischen Gouvernementssekretär Pravdin, dem Vollstrecker einer menschenfreundlichen Obrigkeit, über Bildung und Erziehung unterhält, die Ideen von Humanität und Sittlichkeit, von Menschenrecht und Bürgerpflicht verkünden. Fonvizin hatte eine deutliche Botschaft. Aber er vergaß darüber nicht seine künstlerische Aufgabe: die Entfaltung wirksamer Komik. Ob es sich um Komik der Sprache, des Charakters, der Handlung oder der Situation handelt, die Komik in „Nedorosl’“ ist nie selbstzweckhaft, sondern steht immer im Dienst der zeit- und gesellschaftskritischen Aussage. Wenn Fonvizin seinen jungen Helden bekennen läßt „Ich will nicht lernen, ich will heiraten“17 bringt er die Ignoranz und Bildungsindifferenz, ja Bildungsfeindlichkeit der Provinzadligen auf den Punkt und gibt damit diese Schicht der Lächerlichkeit preis. Und in Prostakovas Äußerung „Von uns, der Familie Prostakov, kommen eigentlich alle im Schlaf zu Rang und Würden“18 deckt er nicht nur den Müßiggang und die Faulheit einzelner Personen auf, sondern auch die zeittypische Erscheinung, nach der im 18. Jahrhundert russische Adlige den Staats- und Militärdienst nur pro forma ableisteten, durch Beziehungen aber dafür Sorge trugen, daß sie bei Beförderungen nicht übergangen wurden.19 Keine russische Komödie war bisher so komisch und keine so „unverhüllt aktualisierte Theaterkunst“20. Dieser doppelte Aspekt erklärt die Begeisterung des Publikums bei der Petersburger Premiere des Stücks am 24. September 1782 und die große Zahl der weiteren Aufführungen, die in den folgenden Jahren in der Hauptstadt wie in verschiedenen Orten der Provinz stattfanden. Begeistert waren auch viele der jungen russischen Dramatiker. Fonvizin machte ihnen deutlich, daß die Aufgabe der Komödie nicht mehr darin bestand, aus dem Fundus ewiger menschlicher Schwächen zu schöpfen, sondern die Grundmängel der eigenen Zeit auf die Bühne zu bringen. Außerdem ließ sich an

30

Das russische Drama

„Nedorosl’“ studieren, wie man diese Mängel in Figuren konkretisiert und die Figuren weniger durch Beschreibung in Form von Gesprächen als durch ihre Handlungs- und Verhaltensweisen charakterisiert. Vorher wurden Handlungen auf der Bühne – das gilt auch noch für „Brigadir“ – vor allem als Mittel benutzt, Gelächter durch komische Effekte nach Art einer Farce oder Burleske hervorzurufen.21 In „Nedorosl’“ haben sie jetzt die Funktion, über sich hinauszuweisen. Wenn einmal Mitrofan von Skotinin verprügelt wird und ein anderes Mal Skotinin von der Prostakova, dann enthüllen die emotionsgeladenen Prügelszenen in ihrer starken Situationskomik die Verrohung der Charaktere. Gezeigt werden Menschen, bei denen das Prinzip des Faustrechts dominiert, sobald es gilt, Konflikte auszutragen und persönlichen Interessen Nachdruck zu verleihen. Hinzu kommt noch die Sprache, die Fonvizin als ein die Komik verstärkendes und die Entlarvung intensivierendes Mittel einsetzt. Die Reden der negativen Figuren sind so primitiv wie ihre Vorgehensweisen. Skotinin zu Mitrofan: „Ach, du verfluchtes Jungschwein.“ Prostakova in Richtung Skotinin: „Ich muß ihm eins in die Fresse geben.“ Auch die bis ins Unflätige gehende Derbheit der sprachlichen Äußerungen war neu auf der russischen Bühne. Angesichts dieser und der anderen Neuerungen verwundert es nicht, daß Fonvizins „Nedorosl’“ eine große Zahl direkter und indirekter Nachahmungen fand. Dem Vorbild am nächsten steht – thematisch wie strukturell – Petr Kropotovs „Fomuška, babuškin vnuček“ (Fomuška, Großmutters Enkelchen, 1785).22 Der hier von der Großmutter, statt von der Mutter, verwöhnte und verzogene Titelheld ist ebenso einfältig, ungebildet und stumpfsinnig wie Mitrofan bei Fonvizin. Träge und bequem, hat auch er keinerlei geistige Interessen. Von Mitrofan unterscheidet er sich nur durch seine Schüchternheit und einen geringeren Grad an innerer Verdorbenheit. Sonst gehen die Übereinstimmungen bis in motivische Einzelheiten. So kehrt die Prüfungsszene, in der Mitrofan seine grenzenlose Dummheit enthüllt, leicht abgewandelt und auf Fomuška übertragen wieder. Doch nicht nur das Grundthema der Erziehung verbindet Kropotovs Stück mit „Nedorosl’“, sondern auch die Lebensnähe der Figuren, die Plastizität der Sittenbilder und die Deutlichkeit der Kritik an der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit der Zeit. Dabei ist es besonders das Gerichtswesen, das wie schon in einigen Rührstücken der siebziger Jahre, wegen seiner Mitverantwortung an manchen Mißständen in der russischen Gesellschaft angeprangert wird. Im Unterschied zu Kropotovs „Fomuška, babuškin vnuček“ beschränkten sich andere Komödien in der Nachfolge von Fonvizins „Nedorosl’“ auf die Entlehnung einzelner Motive und Gestalten, die dann als Bestandteile eigenständiger Konzeptionen erscheinen. Auffallend ist dabei, daß die Vertreter des Politischen wie überhaupt des Gedanklichen bei Fonvizin, also Starodum und Pravdin, kaum nachgeahmt werden. Nachgeahmt werden fast ausschließlich die Repräsentanten des provinziellen adligen und nichtadligen Milieus. Die Beispiele einer solch eher äußerlichen Anknüpfung entstammen meist schon einer

V. Die russische Komödienkunst am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts 31

späteren Zeit. Dazu gehören vor allem Kopievs „Obraščennyj mizantrop“ (Der bekehrte Misanthrop, 1794), Plavil’ščikovs „Sgovor Kutejkina“ (Die Verlobung Kutejkins, 1799) und Gorodčaninovs „Mitrofanuška v otstavke“ (Mikrofanuška im Ruhestand, 1800). Noch 1807 erschien eine anonyme Komödie, die diese Linie der Fonvizin-Anknüpfungen fortsetzte: „Mitrofanuškiny imeniny“ (Mitrofanuškas Namenstag), ja im Jahr 1840 kam von einem gewissen Navrockij ein Stück mit dem Titel „Novyj nedorosl’“ (Der neue Landjunker) heraus und wurde zweimal im Aleksandrinskij teatr gezeigt, ehe man dann nie wieder etwas von ihm hörte.23 V. Die russische Komödienkunst am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts In den achtziger und neunziger Jahren entstand eine Vielzahl von Komödien, die zwar nicht direkt von Fonvizins „Nedorosl’“ oder „Brigadir“ abhängig waren, ohne diese beiden Werke aber auch kaum vorstellbar sind. Wie selbstverständlich griffen sie Zeittypisches auf, um es strengster Kritik zu unterwerfen. Nicht das zeitlose Laster des einzelnen bildete ihr Interesse, es waren stets die konkreten Mißstände des Ganzen, die zur Debatte standen. Hatte Fonvizin die Handlung in die Provinz verlegt, wo er die Unwissenheit und Unbildung unter dem gutsbesitzenden Adel aufdeckte und die allgemeine Verwilderung der Sitten vor Augen führte, wurden jetzt von der russischen Komödie – ebenfalls aus aktuellem Anlaß – weitere Milieus erschlossen, vor allem das der Kaufleute und das der Spieler.1 In der Dramatik der fünfziger und sechziger Jahre begegnet der Kaufmann nur als Randfigur. In den siebziger Jahren gelegentlich stärker hervortretend, erscheint er seit Beginn der achtziger Jahre als eigentlicher Handlungsträger und als Mittelpunkt eines Milieus, das in seinem extremen Materialismus und Amoralismus auf die entsprechenden Stücke Ostrovskijs vorausweist. Spottet Vasilij Kolyčev in „Dvorjanjuščijsja kupec“ (Der adlig werdende Kaufmann, 1780) über den reichen, aber groben und ungebildeten Emporkömmling, der sich von seinem Stand lossagt und danach strebt, ein Adliger zu werden, entlarvt Osip Černjavskij in „Kupeckaja kompanija“ (Die Kaufmannsgesellschaft, 1780) den Kaufmann als Betrüger und gewissenlosen Wucherer, der Geld nicht nur zu hohen Zinsen, sondern auch, wie aus dem Bericht eines leibeigenen Mädchens hervorgeht, gegen den Pfand lebendiger Menschen leiht. Anders als die Gestalt des Kaufmanns hatte die des Spielers, als sich die Komödie ihrer annahm, bereits eine längere literarische Tradition. Sie findet sich vereinzelt schon im 17. Jahrhundert, vor allem in der satirischen Erzählliteratur, die der Alltagswirklichkeit am nächsten stand, aber auch in Polockijs Schuldrama „Komedija pritči o bludnom syne“ (Die Komödie der Parabel vom verlorenen Sohn, 1678). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tauchte die Spielerthematik dann häufiger auf den Bühnen Rußlands auf. Dies hing damit zusammen, daß das Kartenspiel, das in der petrinischen Epoche eingeführt worden war, zur Zeit Katharinas in höheren Kreisen weiteste Verbreitung fand und

32

Das russische Drama

schließlich geradezu zu einer gesellschaftlichen Plage wurde. Spielklubs wurden eröffnet, Falschspieler traten auf den Plan. Adlige verspielten riesige Vermögen – so wie der rührende Held in Lukins „Mot, ljuboviju ispravlennyj“, der beim Kartenspiel seine ganze Erbschaft verliert. Ging es hier – 1764 – vorrangig noch um den „Charakter“ des Spielers, der, „durch die Liebe gebessert“, am Ende seine Sucht überwunden hat und sein Glück in der Liebe findet, gaben Pavnutij Baturin 1782 in „Igroki“ (Die Spieler) und Dmitrij Efim’ev 1790 in „Prestupnik ot igry, ili Bratom prodannaja sestra“ (Verbrecher durch Spiel oder Die vom Bruder verkaufte Schwester) eine genaue, auf persönlichen Erfahrungen beruhende Darstellung des Milieus von Spiel und Spielern. Die Aufführungen und anschließenden Buchausgaben der beiden Komödien waren außergewöhnlich erfolgreich. Efim’evs „Prestupnik ot igry“ wurde zwischen 1790 und 1821 nicht weniger als viermal aufgelegt. So ist es kein Zufall, daß Gogol’ noch in den dreißiger Jahren mit seinem Einakter „Igroki“ (Die Spieler) auf das Thema zurückkam. An der Kaufmanns- und Spielerthematik zeigt sich, daß die russische Komödie, die sich nach ihrem Beginn bei Sumarokov im Jahr 1750 zunächst relativ langsam entwickelt hatte, seit dem Auftreten Fonvizins aber immer auf der Höhe der Zeit war, ausgangs des 18. Jahrhunderts als die lebendigste, weil aktuellste aller literarischen Gattungsformen erschien. Das bestätigt sich auch darin, daß sie ein weiteres brisantes Problem der Zeit, die Inkompetenz und Korruption im Rechtswesen, aufgriff und einer immer schärfer werdenden satirischen Kritik unterzog. Darin spiegelte sich die Enttäuschung aufgeklärter Kreise über das Versagen gerade der für Recht und Ordnung im Staat zuständigen Instanz. Der Umfang der Kritik, die in Sumarokovs „Čudovišči“ nur am Rande anklang, weitet sich in Stücken wie „Lichoimec“ (Der Wucherer, 1770) von Vasilij Bibikov oder „Sudejskie imeniny“ (Der Namenstag des Richters, 1782) von Ivan Sokolov und erreicht in Kapnists 1798 uraufgeführter Komödie „Jabeda“ (Die Prozeßschikane) ihren absoluten Höhepunkt. Die Entlarvung der Institution Gericht wird zur Entlarvung der Bürokratie des Landes insgesamt.2 Vasilij Kapnist (1758–1823) ging von der ihm aus eigener Erfahrung bekannten Tatsache aus, daß damals ständig Prozesse geführt wurden, weil man um die Käuflichkeit von Richtern und Justizbeamten wußte und sich deshalb mit Hilfe gefälschter Dokumente und durch Verleumdung und Bestechung auf illegale Weise riesige Güter aneignen konnte. Die dramatische Handlung kommt in Gang, als sich der junge, aus dem Krieg zurückgekehrte Oberstleutnant Prjamikov mit den vermeintlichen Ansprüchen des pensionierten Staatsbeamten Pravolov auf seinen Familienbesitz konfrontiert sieht. Der prozeßerfahrene Beamte, der auch in Liebesdingen zu Prjamikovs Rivalen wird, versteht es, die Richter durch entsprechende Mittel für seine Sache zu gewinnen. Der redliche Oberstleutnant, der darauf verzichtet, sich sein Recht auf ungesetzlichem Weg zu verschaffen, gerät in eine immer hoffnungslosere Lage. Da trifft ein unerwarteter Senatsbeschluß ein und verhilft ihm zu seinem Recht, während Pravolov als bösartiger Intrigant

V. Die russische Komödienkunst am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts 33

entlarvt wird. Danach steht der Verlobung mit der Tochter des besiegten Gerichtspräsidenten Krivosudov, der so korrupt ist wie seine Untergebenen, nichts mehr im Wege. Vorher aber zeichnet Kapnist den damals endlos langen Instanzenweg vom Amtsgericht über das Stadt- und Kreisgericht bis zum Senat als der höchsten Instanz detailliert nach. Zu dieser Schilderung gehört auch das typische Gerichtspersonal wie Sekretär, Assessor, Prokurator oder Präsident sowie die Vielzahl der negativen Erscheinungen in der Rechtspflege jener Zeit: die Langsamkeit der Verfahren, die bewußte Prozeßverschleppung, die allseitige Korruption, die Willkür der Entscheidungen.3 Mit großer Sorgfalt und in völliger Übereinstimmung mit der Wirklichkeit entwirft Kapnist die Sphäre des russischen Provinzgerichts, in dem alles, von der untersten Ebene bis zur obersten Spitze, zutiefst verdorben ist. Wenn der Präsident, die Verkörperung der Spitze, als geldgierig, jagdbesessen und dem Trunk und Kartenspiel ergeben beschrieben wird, dann handelt es sich dabei weniger um persönliche Schwächen als um den Ausdruck verbreiteter gesellschaftlicher Phänomene. Der glückliche Ausgang des Stücks, der nur noch durch einen wie aus heiterem Himmel eintreffenden höheren Erlaß zustande kommt, kann zwar als Tribut an die traditionelle Komödienpoetik oder als Verneigung vor der Weisheit der souveränen Herrscherin gelesen werden, er verdeckt jedoch keineswegs, daß Kapnist hier schärfste Kritik am politischen Zustand Rußlands unter Katharina II. übt und letztlich das gesamte absolutistische Staatssystem in Frage stellt. Die Zensur hat dies jedenfalls so gesehen; denn sie verfügte, die satirische Komödie nach vier begeistert aufgenommenen Vorstellungen in Petersburg vom Spielplan abzusetzen.4 Trotz einzelner klassizistischer Formelemente wie der direkten Charakterbeschreibung, der Technik der sprechenden Namen5 und der Einhaltung der drei Einheiten selbst zu Lasten der Wahrscheinlichkeit ist Kapnists „Jabeda“, geprägt von naturalistischer Wirklichkeitstreue und gesellschaftskritischer Brisanz, ein typisches Beispiel der nachklassizistischen Dramatik. Auch in ästhetischer Hinsicht überzeugend, kann das Stück als das eigentliche Bindeglied zwischen der Milieu- und Sittenkomödie Fonvizins und der Gesellschaftskomödie Gogol’s und Ostrovskijs gelten. Zugleich weist es auf einen der Gründe, weshalb die Komödie im ausgehenden 18. Jahrhundert zur dominierenden und beim Publikum beliebtesten dramatischen Gattungsform geworden war. Der russische Zuschauer, überdrüssig, immer nur sich selbst mit seinen Untugenden wie in einem Spiegel zu erblicken, fand es in der veränderten politischen Situation zeitgemäßer, die Zustände und Mißstände im Lande, unter denen er ständig zu leiden hatte, auf der Bühne angeprangert zu sehen. In Knjažnins „Chvastun“ (Der Prahler, 1791) war es die höfische Günstlingswirtschaft, in Sandunovs „Soldatskaja škola“ (Die Soldatenschule, 1794) die Unsittlichkeit der Gutsbesitzer und adligen Offiziere im Kontrast zur Sittlichkeit der Bauern und Soldaten bäuerlicher Herkunft, die so schonungslos wie die Gerichtspraxis bei Kapnist bloßgestellt und beißendem Spott preisgegeben wird. Lachen war jetzt ein Ver-

34

Das russische Drama

lachen. Und der Autor, der es hervorrief, verschärfte es noch, indem er meist auf die entlastende Wirkung rührender Elemente verzichtete. Das Rührstück, das bei der Ablösung der Charakterkomödie eine wichtige Rolle gespielt hatte, begegnet in dieser Zeit nur noch vereinzelt. Allein nach der Jahrhundertwende erlebte es, angeregt durch die massenhafte Übersetzung und Aufführung der Theaterstücke Kotzebues6, eine vorübergehende Renaissance. Zwar gab es auch Komödienautoren, die kein ausgeprägt kritisches Verhältnis zur zeitgenössischen Wirklichkeit hatten, wie Nikolaj Ėmin, Osip Kozodavlev, Andrej Bucharskij oder die Gräfin Daškova.7 Doch ihre Werke sind künstlerisch ohne Belang und hatten somit keinen Einfluß auf die Entwicklung der russischen Komödie. Höheren Wert besitzen dagegen die Komödien Katharinas II. (1729–1796). Die Herrscherin war 1772 mit drei Stücken im Stil der Charakterkomödie hervorgetreten8, in denen sie treffsicher und mit viel Gespür für bühnenwirksame Effekte verschiedene Frauentypen karikierend porträtierte. Suggeriert wird dabei, daß diese bigotten, eitlen, habgierigen, verschwenderischen, einfältigen oder launenhaften Frauen, die, der aktuellen Komödienentwicklung entsprechend, in ihrer Bindung an ein bestimmtes Milieu gezeichnet werden, voraufklärerischen Zeiten entstammen und daß es nur vernünftiger, aufgeklärter Ideen bedürfe, um aus ihnen ein neues, zukunftsweisendes Menschengeschlecht zu formen. Nachdem die „Schülerin“ Montesquieus und Briefpartnerin Voltaires, Diderots und D’Alemberts ihre Aufklärungspolitik aus Furcht vor den nationalen Folgen revidiert hatte, benutzte sie die späteren Komödien, zum Beispiel die Trilogie „Obmanščik“ (Der Betrüger), „Obol’ščennyj“ (Der Verführte) und „Sibirskij šaman“ (Der sibirische Schamane) aus den Jahren 1785–1786, um mit Andersdenkenden wie Fonvizin, dem Verfasser satirischer Komödien, oder Novikov, dem Herausgeber satirischer Zeitschriften, abzurechnen und Bewegungen wie Mystizismus und Freimaurerei trotz bedeutender sozial-philantropischer Initiativen zu diskreditieren. Kritik gibt es hier nur als Polemik gegen Auffassungen, die das einforderten, was Katharina selbst einst in Aussicht gestellt hatte: Gedankenfreiheit, Druckfreiheit und Freiheit des Wortes. Nie aber richtete sich die Kritik gegen die Zustände im Land, in dem sich Korruption, bürokratische Willkür, soziales Unrecht und Unterdrückung der Bauern immer weiter ausbreitete. Dieses Land und diese Zustände, die Katharina nicht als allgemeine gesellschaftliche Mängel, sondern lediglich als verzeihliche menschliche Schwächen sah9, meinten dagegen nicht nur Kapnist in „Jabeda“, sondern auch Plavil’ščikov in „Bolyl’“ (Der arme Bauer, 1790) oder Klušin in „Smech i gore“ (Lachen und Weinen, 1793) sowie ein junger Schriftsteller, der später zum größten russischen Fabeldichter werden solle: Ivan Krylov (1768–1844). Dessen frühe Stükke sind von „Sočinitel’ v prichožej“ (Der Dichter im Vorzimmer, 1786) bis zu „Prokazniki“ (Die Schelme, 1793) letztlich nichts anderes als negative Illustrationen der gescheiterten geistigen Erneuerung Rußlands von oben. Die Protagonisten dieser „Komödien auf schlechte Sitten“, wie Krylov in einem Brief an

V. Die russische Komödienkunst am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts 35

Knjažnin seine Werke gattungsgemäß charakterisierte10, erscheinen in ihrer moralisch-gesellschaftlichen Lasterhaftigkeit als lebendiger Widerspruch zu Katharinas Rede vom „neuen Menschengeschlecht“, das unter ihr herangewachsen sei. Als Paul I. nach dem Tod Katharinas II. eine Phase rigoroser Reaktion einleitete, gewann Krylovs Komödienkunst noch einmal an satirischer Schärfe, und zwar mit dem Stück „Trumf“ (Trumpf), das zwischen 1798 und 1800 entstand, aber erst 1859 außerhalb Rußlands, in Leipzig, gedruckt und in Rußland selbst nicht vor Beginn des 20. Jahrhunderts öffentlich aufgeführt wurde. Inoffiziell allerdings wurde es in Privattheatern und auf der Bühne der Petersburger Theatralischen Lehranstalt gezeigt, wo es Griboedov und Puškin sahen. Darüber hinaus kursierte es in Abschriften.11 Doch das Neue von „Trumf“ ist nicht die zum Aufführungsverbot führende schonungslose Anklage des Herrschaftssystems Pauls I. Darin setzte Krylov nur die politisch-gesellschaftskritische Traditionslinie Fonvizin-Kapnist fort. Was die eigentliche Bedeutung dieses Stücks, das auch ungedruckt und unaufgeführt in literarischen Kreisen gut bekannt war, ausmacht, kündigt sich im Untertitel „šuto-tragedija“ (Scherztragödie) an. Der Begriff meint nicht, daß es sich bei Krylovs Komödie, an der Puškin die „unerschöpfliche Heiterkeit“ hervorhob, um eine „Tragikomödie“ (komedo-tragedija) handelt, eine in der Schulpoetik begegnende, in der Poetik des Klassizismus als Mischtypus verbotene Gattungsform. Vielmehr weist der Untertitel darauf hin, daß „Trumf“ eine Parodie auf die Tragödie, insbesondere die klassizistische sein will. Parodiert wird eines der geläufigsten Tragödienschemata: das Muster, nach dem der tyrannische Herrscher die Liebe der Heldin fordert, die bereits an einen heldenhaften Geliebten gebunden ist. Indem Krylov den Prinzen Trumf, der um die Zarentochter Podščipa wirbt, als brutalen Machtmenschen zeichnet, ausgestattet mit „preußischen Tugenden“ und deutschem Akzent, und in der Abkehr von der gewohnten Vorstellung das Liebespaar, die eitle Podščipa und den stammelnden Fürsten Sljuncaj, aller edlen Züge entkleidet, demonstriert er, wie lächerlich sowohl der Tyrann als auch die Liebenden sind. Damit diese Lächerlichkeit zu ihrer vollen Entfaltung kommt, dürfen sich die Schauspieler keiner natürlichen Diktion bedienen. Vielmehr muß der Text deklamiert werden, mit pathetisch überhöhter Stimme, akzentuiert durch die Hervorhebung sämtlicher Laute.12 Es war nicht nur der parodistische Aspekt, der Krylovs Komödie unter Kennern eine so anhaltende Beliebtheit verschaffte. Hinzu kam die Anknüpfung an das russische Volkstheater, das der Klassizist Sumarokov noch verachtet und die Vertreter der Empfindsamkeit von Cheraskov bis Karamzin zumindest vernachlässigt hatten. Wie in „Car Solomon i maršalki” (Zar Solomon und die Marschälle) oder „Komedija o care Maksimiliane i ego nepokornom syne Adol’fe“ (Komödie vom Zaren Maximilian und seinem ungehorsamen Sohn Adolph) tragen die Figuren bei Krylov teils märchenhafte, teils groteske Züge, und die Mittelpunktsfigur, der Zar Vakula, erscheint als bornierter, boshafter und launischer Regent, der, umgeben von unfähigen Beratern, nicht die geringste Lust zum Re-

36

Das russische Drama

gieren hat, sich dafür aber die meiste Zeit mit seinem Lieblingsspielzeug, einem Kreisel, beschäftigt. Es sollte noch bis zum 20. Jahrhundert dauern, ehe mit Zamjatins „Blocha“ (Der Floh, 1925) in Rußland wieder ein Bühnenwerk erschien, dessen Verfasser eine ähnliche Aneignung der Tradition des Volkstheaters mit der entsprechenden satirischen Darstellung des Zaren gelang. Die relative kulturpolitische Liberalität der NĖP-Periode machte es möglich, daß sich die scheinbar auf ferne Zeiten beziehende, in Wirklichkeit aber auf die Gegenwart zielende dramatisierte Legende von den Handwerkern aus Tula und dem stählernen Floh ohne Unterbrechung zwei Jahre lang auf dem Spielplan des Moskauer Künstlertheaters halten konnte. Krylov dagegen war es trotz wiederholter Versuche nicht vergönnt, die Zensur zur Freigabe seines Stücks zu bewegen. So scheint er als Dramatiker resigniert zu haben; denn die einige Jahre nach „Trumf“ entstandenen Komödien, etwa „Modnaja lavka“ (Der Modesalon, 1806) oder „Urok dočkam“ (Eine Lektion für Töchter, 1807), zeichnen zwar realistisch, aber ohne große satirische Schärfe bekannte Charaktertypen: die adlige Modepuppe, die grausame Gutsherrin, den angeblichen französischen Marquis. Es handelte sich um einen Rückfall in die Typenkomödie, die durch Fonvizin überwunden zu sein schien. Dieses Bekenntnis zur Konventionalität blieb nicht auf Krylov beschränkt. Es ist paradigmatisch für die Zeit. Die Entwicklung der russischen Komödie, die nach ihren Anfängen im Jahr 1750 verhältnismäßig dynamisch verlaufen war, begann nach der Jahrhundertwende zu stagnieren. Zwar traten neue Komödienautoren in Erscheinung, zwar wurden nicht wenige ihrer Werke aufgeführt und veröffentlicht, doch Ansätze zu etwas wirklich Neuem sind kaum zu erkennen. Vor allem entstand vorerst keine Komödie, die einen ernsthaften Versuch unternahm, die Prinzipien der Milieu- und Sittenkomödie weiterzuentwickeln und sich endgültig aus der Abhängigkeit von der klassizistischen Poetik zu befreien. Im Gegenteil. Um Fürst Aleksandr Šachovskoj (1777–1846), eine der einflußreichsten Persönlichkeiten des Petersburger Theaterlebens im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, gruppierte sich eine Reihe von Autoren, darunter Zagoskin, Chmel’nickij, Katenin und Pisarev, die sich eine Erneuerung des Klassizismus unter aktuellen Vorzeichen zum Ziel gesetzt hatten. Šachovskoj diente diesem Ziel in seinen vielfältigen Funktionen als Theaterleiter, Regisseur, Schauspiellehrer, Übersetzer und nicht zuletzt als Verfasser Dutzender von Komödien. 1808 gründete er zudem die Zeitschrift „Dramatičeskij vestnik“ (Der dramatische Sendbote), das erste Organ für Angelegenheiten des Theaters in Rußland. Darin verteidigte er die klassizistischen Grundlagen gegenüber den empfindsamen Strömungen mit ihrem Vorrang von Gefühl und Larmoyanz. Einige Hauptrepräsentanten der Empfindsamkeit parodierte er in eigenen Stücken, um sie auf diese Weise der Lächerlichkeit preiszugeben, so Karamzin in „Novyj Stern“ (Der neue Sterne, 1805) oder Žukovskij in „Urok koketkam, ili Lipeckie vody“ (Eine Lektion für Koketten oder Kurbad Lipeck, 1805). Am vehementesten aber wandte sich Šachovskoj gegen August von Kotzebue, durch dessen

V. Die russische Komödienkunst am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts 37

gewaltigen Einfluß er die nationale Eigenständigkeit des russischen Theaters gefährdet sah. Die Befreiung der heimischen Bühne von ausländischer Überfremdung gehörte zu seinen erklärten Zielen.13 Was er darüber hinaus am bürgerlichen Lustspiel Kotzebues wie auch an der französischen Salonkomödie bemängelte, waren der „schlechte Geschmack“ und die „Sittenverderbnis“.14 Dem hohen Anspruch, der sich in seinen kritischen und polemischen Positionen verbirgt, wurde Šachovskoj als Bühnenautor nur bedingt gerecht. Der Vorwurf der Vielschreiberei, den er gegen Kotzebue erhoben und als Ursache aller Mängel bezeichnet hatte, fällt letztlich auf ihn selbst zurück. Schon der sechzehnjährige Puškin sah in ihm einen „mittelmäßigen Dichter“, den er mit den Worten beschrieb: „ein nicht dummer Mensch, der in Gesellschaften alles Komische und Witzige beobachtet, zu Hause alles notiert und nachher, wie es gerade kommt, in seine Komödien einfügt“.15 Dabei gelangen Šachovskoj mitunter durchaus einige, wenn auch nicht innovatorische, so aber doch lebendige Beispiele spätklassizistischer Komödienkunst. Anders als seine Epigonen Zagoskin und Chmel’nickij16 verstand er es in seinen besten Stücken, die Handlung – bei geschickter Verwendung der Intrige – nicht durch die Dominanz der Figurenzeichnung und die Absicht der Lasterenthüllung in den Hintergrund treten zu lassen. Zudem war er bemüht, die Träger der Handlung im gesellschaftlichen Kontext der Zeit zu verankern, so daß die Charaktertypen zugleich als Sozialtypen erscheinen. So geht der geckenhafte Graf Ol’gin in „Urok koketkam, ili Lipeckie vody“, der männliche Widerpart zu der koketten Gräfin Leleva, zwar auf den pedantischen Philosophen der französischen Komödie des 18. Jahrhunderts und letztlich auf den Dottore der Commedia dell’arte zurück. Dergestalt wurde er zweifellos auch vom zeitgenössischen russischen Theaterpublikum rezipiert. Doch Šachovskoj stattete den überkommenen Typus mit erkennbar aktuellen Zügen aus. Denn hinter dessen oberflächlicher Bildung, die er mit der Gräfin teilt (beide ziehen französische Journale gehobener russischer Literatur vor), enthüllt sich ein scharfer Intellekt liberaler Prägung. Ol’gin benutzt seinen Verstand, um bestimmte negative Erscheinungen in der Gesellschaft anzuprangern. In der Art und Weise, wie er nicht ohne Pose intellektuellen Hochmuts von der Meinungsfreiheit, „der Aufklärung bestes Geschenk“17, Gebrauch macht, zeigt er sich als Vertreter eines der beiden Lager, in die sich der russische Adel nach dem Krieg gegen Napoleon aufspaltete: des Lagers der Liberalen, die von der konservativen Gegenseite für unpatriotisch gehalten wurden, weil bei ihnen althergebrachte Werte wie Bescheidenheit, Selbstdisziplin, Pflichterfüllung oder Gerechtigkeitssinn nicht die höchste Stelle einnahmen. Deshalb läßt Šachovskoj, ein eher bewahrender Geist, die kritischen Äußerungen Ol’gins durch die positive Figur des Fürsten Cholmskij als „freidenkerischen Unsinn“18 abtun. In einer Hinsicht war der Dramatiker Šachovskoj doch noch zukunftsweisend. Er befreite, Krylovs Bemühungen fortsetzend, die Verssprache in der Komödie von ihrer bisherigen Schwerfälligkeit. Der dramatische Vers wurde durch

38

Das russische Drama

ihn deutlich leichter, ja gewann sogar nicht selten eine gewisse Eleganz. Nur einer sollte Šachovskoj darin noch übertreffen: Aleksandr Griboedov (1795– 1829), der jüngste seines Kreises. Griboedov, der zunächst, zum Teil zusammen mit Katenin, Chmel’nickij und Šachovskoj, wenig bemerkenswerte Stücke verfaßt hatte19, schrieb zwischen 1822 und 1824 mit „Gore ot uma“ (Verstand schafft Leiden)20 ein Werk, das nicht nur die russische Sprach- und Verskunst auf einen neuen Gipfel führte, sondern auch die Gattungsform Komödie als solche erneuerte. Vier Jahre nach dem frühen Tod des Verfassers in einer stark zensierten Fassung erstmals veröffentlicht, ist „Gore ot uma“ in einem Vollendung und Überwindung des Klassizismus auf der Bühne. Klassizistisch ist bereits der Titel. Er erinnert in seiner aphoristischen Lehrhaftigkeit an Titel, die – wie „Nesčastie ot karety“ (Das Unglück durch die Kutsche) oder „Prestupnik ot igry“ (Verbrecher durch das Spiel) – für die ältere Komödie charakteristisch waren. Mit ihm wird der Grundton des Stücks angeschlagen, der sich im Stil der schnellen, leichten Repliken, der bündigen Sentenzen und der moralisierenden, philosophischen Monologe ebenso äußert wie in der Dynamik, Variabilität und Schwerelosigkeit von Vers und Sprache21, die, geschult an den Fabeln Krylovs, vor Witz, Geist und Ironie sprühen. Altes so vollendend, führte Griboedov auch gänzlich Neues ein. Im Unterschied zur herkömmlichen klassizistischen Komödie ist die Sprache bei ihm jetzt fähig, selbst in ihrer metrischen Gebundenheit, ein lebendiges, gesprochenes, idiomatisches Russisch aufzunehmen. Kaum ein Kirchenslavismus findet sich noch. Nur die pathetischen Reden Čackijs, des jungen, idealistischen Helden, sind um der feierlichen Überhöhung willen nicht nur mit vielen rhetorischen Figuren, sondern auch mit einigen Archaismen angereichert. Denn jede Gestalt spricht ihre eigene, dem Charakter angemessene Sprache. Sof’ja, die jugendliche Heldin, wechselt je nach Stimmung und Gefühlslage zwischen sentimentaler Klischeehaftigkeit, epigrammatischer Bissigkeit und volkstümlicher Derbheit. Ihr Vater, der angesehene Aristokrat Famusov, greift zu ausgesucht höflichen Floskeln, wenn er auf den hochrangigen Militär Skalozub trifft, und verfällt in einen groben Umgangston, sobald er es mit Untergebenen wie dem Sekretär Molčalin zu tun hat, der seinerseits seine Diensteifrigkeit in geschäftig-bürokratischen Wendungen zum Ausdruck bringt. Eine ähnliche Variabilität kennzeichnet Griboedovs Versgestaltung. Lediglich knapp die Hälfte der Verse22 ist im Alexandriner, dem traditionellen Metrum der klassizistischen Komödie, geschrieben. Der größere Rest besteht aus fünf-, vier-, drei-, zwei- und gelegentlich sogar einhebigen Jamben. Es war Šachovskoj, der 1818 in „Ne ljubo – ne slušaj, a lgat’ ne mešaj“ (Du brauchst ja nicht hinzuhören, aber halte mich nicht vom Lügen ab) nach französischem Vorbild23 den freien Vers mit freier Reimstellung eingeführt hatte. Doch erst durch Griboedov fand er in Rußland allgemeine Verbreitung. Der fortgesetzte Wechsel von Lang- und Kurzversen, bedingt durch die unterschiedliche Hebungszahl, ermöglichte eine dynamischere und lebendigere Dialogführung als der starre,

V. Die russische Komödienkunst am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts 39

zwar fließende, aber monotone Alexandriner. In der großen Ballszene, auf dem Handlungshöhepunkt, wird so das Gespräch der Gäste zu einer ungezwungenen umgangssprachlichen Plauderei, in der die verfeinerte Petersburger Salonsprache mit dem derben, unverstellten Moskauer Jargon alterniert. Die metrischen Freiheiten waren auch geeignet, Pointen zu setzen, Resultate sentenzhaft zusammenzufassen, epigrammatische Zuspitzungen und sprichwörtliche Verdichtungen vorzunehmen oder von argumentativ-vernünftiger Rede zu subjektiv-emotionaler Äußerung überzuwechseln. Griboedovs Herkunft aus dem Klassizismus äußert sich in der Wahrung der drei Einheiten, die offensichtlich noch als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Alles, was geschieht, ereignet sich an ein und demselben Ort, im Haus Famusovs, wenngleich die ersten drei Akte im Wohnzimmer und der vierte Akt im Entree spielen. Zeitlich wird der obligatorische Rahmen von vierundzwanzig Stunden nicht überschritten: Der Beginn liegt am frühen Morgen, das Ende am späten Abend. Und die Handlung, die sich auf einer privaten und einer allgemeinen Ebene abspielt, weshalb Gončarov von „zwei“, gleichsam ineinandergebetteten „Komödien“ sprach24, erhält ihre Einheit durch die Liebe zwischen Čackij und Sof’ja und den ideologischen Konflikt zwischen Erneuerung und Beharrung, vertreten durch den Idealisten Čackij und die reaktionäre höhere Moskauer Gesellschaft mit Famusov an der Spitze. Im Gegensatz aber zur Zeit- und Raumgestaltung, die das Haus Famusovs als eine geschlossene Welt kennzeichnet, in der Čackij als der von außen kommende Held zum Störenfried wird, zeichnet sich die Handlung durch eine unklassizistische Offenheit aus. Je weiter das Stück fortschreitet, desto selbständiger werden einzelne Szenen und Episoden. Mehr gereiht als verknüpft, folgen sie dem Prinzip der Parataxe, nicht dem der Hypotaxe. Verständlich, daß Zeitgenossen von Pisarev bis Vjazemskij, an die konventionelle Funktionalität der Teile gewöhnt, den Vorwurf mangelnder Kausalität erhoben. Griboedov begegnete solcher Kritik mit dem Hinweis: „Es liegt in der Natur aller Ereignisse, der wichtigen und weniger wichtigen, daß sie um so stärker die Neugier reizen, je unerwarteter sie eintreten. Wenn ich in der ersten Szene die zehnte errate, fange ich an zu gähnen und laufe aus dem Theater.“25 Den Kriterien der Spannung und der Überraschung verpflichtet, ließ Griboedov sein Stück auch nicht in den traditionell erwarteten Schluß münden. Bereits im dritten Akt des Vierakters (die Reduktion der Aktzahl von fünf auf vier war ein weiterer Verstoß gegen klassizistische Prinzipien) erkennt Čackij, daß sich Sof’ja, Famusovs Tochter, unwiderruflich von ihm abgewandt hat und Famusovs Sekretär Molčalin bevorzugt. Doch der Held, ein kluger, witziger, wortgewandter junger Aristokrat, der, idealistisch und romantisch gesinnt, nach dreijährigem Auslandsaufenthalt zurückgekehrt ist und nun die Erfüllung privaten Glücks erwartet, scheitert nicht nur als Liebender, sondern auch als Kritiker und Aufklärer. Als er, auf dem Ball mit den Vertretern der Moskauer Gesellschaft konfrontiert, seinen großen anklagenden Monolog hält, wird er nicht ernstgenommen und – aufgrund eines von Sof’ja in die Welt gesetzten Gerüchts – für

40

Das russische Drama

verrückt gehalten. Unverstanden und völlig isoliert, verläßt Čackij, vereinsamt, verbittert und verzweifelt, noch im vierten Akt fluchtartig Haus und Stadt. Anfangs von aufrichtigem Gefühl erfüllt, ist er am Ende wie Molières Alceste zum Menschenfeind geworden. Damit entfällt auch seine Eignung für die Rolle des Räsoneurs. Da zudem die strafende Instanz fehlt, durch die der glückliche Ausgang der Komödie erst zustande kommt, wird die Ignoranz Famusovs und seiner gleichgesinnten Umgebung nicht geahndet. Alles bleibt beim Alten. Die Gutsherren werden weiter ihre Leibeigenen tyrannisieren, die Richter willkürliche Urteile fällen, die hohen Staatsbeamten nach Titeln und Reichtum streben, ausschweifende Feste feiern und sich für das Militär begeistern, die Militärs die hoffnungsvolle, aufklärerische Jugend reglementieren. In der Unabgeschlossenheit der Handlung und des Schicksals der Figuren, die zwar noch sprechende Namen tragen, aber im Vergleich zu Fonvizin und seinen Nachfolgern weitaus konsequenter aus ihrer früheren Funktion als Träger bestimmter Leidenschaften herausgelöst sind, entfernte sich Griboedov ebenso vom Klassizismus in der Komödie wie am Stückausgang mit dem Verzicht auf die Beseitigung der Unordnung und die Wiederherstellung der Ordnung. Diese Entfernung wird um so deutlicher, als sie unter Verwendung einzelner klassizistischer Strukturelemente erfolgt. Danach war es fast nicht mehr möglich, hinter Griboedov zurückzufallen. So vergingen dann auch zehn Jahre, ehe ein Werk erschien, das „Gore ot uma“ künstlerisch und gattungsmäßig noch einmal übertraf: Gogol’s „Revizor“ (Der Revisor, 1835). Die dargestellte Welt ist hier erweitert und damit ungleich düsterer geworden. Steht bei Griboedov die Familie eines hohen Beamten für die adlige Gesellschaft, so bei Gogol’ eine Stadt in der Provinz für ganz Rußland. Die Liebesintrige, die in „Gore ot uma“ noch vorhanden ist, obgleich sie nicht zum Happy-End führt, ist im „Revizor“ vollends abgeschafft, und der Held, dort ein Mann von scharfem Verstand und moralischer Integrität, der seinen reformfeindlichen Stand schonungslos entlarvt, ist hier ein Scharlatan und Aufschneider und somit nicht besser als das Kollektiv der Gauner, auf das er zufällig und unwissentlich trifft. Die Erweiterung der Milieu- und Sittenkomödie zur Gesellschaftskomödie, die Griboedov nach ihrem Anfang bei Fonvizin fortgesetzt hatte, war durch Gogol’ zu einem vorläufigen Abschluß gebracht worden. Im Zuge dieser Gattungserweiterung hatte die Komödie in wachsendem Maß ernste und sogar tragische Funktionen übernommen. Bezeichnenderweise bemerkte Vladimir Odoevskij 1849, anläßlich einer Lesung der ersten Komödie Ostrovskijs, Rußland besitze bis jetzt nur drei echte Tragödien, Fonvizins „Nedorosl’“, Griboedovs „Gore ot uma“ und Gogol’s „Revizor“. Nun aber sei mit Ostrovskijs „Bankrot“ (Der Bankrott) eine vierte hinzugekommen.26 Schon vorher hatte Gogol’, seinerseits lediglich eine „scharfsinnige Wendung“ Vjazemskijs aufgreifend, die Stücke Fonvizins und Griboedovs als „moderne Tragödien“ bezeichnet. Ihr Tragödiencharakter lag für ihn darin, daß nicht mehr das Vergehen des einzelnen, sondern die Krankheit der ganzen Gesellschaft aufgedeckt wird. „Die beiden Komödien ziel-

VI. Die spätklassizistische Tragödie und ihre Überwindung im Schaffen Puškins

41

ten auf zwei verschiedene Epochen“, heißt es, „die eine zeigte die Krankheit, die durch fehlende Aufklärung, die andere die Krankheit, die durch falsch verstandene Aufklärung entstanden ist.“27 So war die Komödie in Rußland gleichsam zur Ersatzform der Tragödie geworden. Das hing zuallererst damit zusammen, daß letztere, im Klassizismus neben dem Epos und der Ode die ranghöchste Dichtungsart, durch das Aufkommen des Sentimentalismus in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts ihre führende Stellung zu verlieren begann. Diese Bedeutungsverschiebung, die in Frankreich schon früher eingesetzt hatte, spiegelt sich auch statistisch wider: Wurden zwischen 1760 und 1785 in Petersburg und Moskau 47 originale russische Komödien aufgeführt, fanden im gleichen Zeitraum nur 20 Aufführungen originaler russischer Tragödien statt. Bei den gedruckten Texten ist der Unterschied mit 188 zu 52 sogar noch deutlicher.28 Die durch den Epochenwandel bedingte Bevorzugung der Komödie entsprach dem Publikumsgeschmack. Katharina II. war unter den immer zahlreicher werdenden Theaterbesuchern nicht die einzige Person, die sich auf der Bühne lieber heitere als ernste Vorgänge ansah. VI. Die spätklassizistische Tragödie und ihre Überwindung im Schaffen Aleksandr Puškins Der Begründer der russischen Tragödie, Aleksandr Sumarokov, hatte 1771 mit dem Staatsstück „Dimitrij Samozvanec“ noch einmal versucht, den Niedergang der dramatischen Hauptgattung des Klassizismus aufzuhalten. Doch so erfolgreich dieses Werk über den als absolut bösen Tyrannen dargestellten falschen Zaren auch beim Publikum war, auf die Richtung, in die sich die Literatur in Rußland entwickelte, konnte es keinen Einfluß nehmen. Selbst die Autoren der „Sumarokov-Schule“1, die mit Cheraskov als Mittelpunkt im Umkreis der Moskauer Universität einen Gesinnungs- und Freundschaftsbund pflegten, hatten bereits begonnen, sich neuen, und das heißt vor allem empfindsamen Tendenzen zu öffnen. Ansätze dazu ließen sich sogar bei ihrem Lehrmeister finden, der in seinen Liebestragödien den Protagonisten, Racine folgend, viel Raum zu leidenschaftlicher Gefühlsaussprache gibt und unter den auf den Zuschauer einwirkenden Affekten das „Mitleid“ stärker betont als die „Furcht“. Cheraskov sah keinen Widerspruch darin, an klassizistischen Regeln festzuhalten und zugleich der von England und Frankreich kommenden Gefühlskultur der Empfindsamkeit seinen Tribut zu zollen. Noch bevor er zu Beginn der sechziger Jahre mit „Bezbožnik“ das erste Beispiel der comédie larmoyante in Rußland schuf, führte er 1758 in „Venecianskaja monachinja“ (Die Nonne von Venedig) das Rührende als zentrales Wirkungselement in die Tragödie ein. Die Handlung war so konstruiert, daß sie den Zuschauern die Tränen in die Augen trieb: Zameta, die Heldin, tritt aus Trauer über den totgesagten Geliebten ins Kloster ein; als dieser zurückkehrt, hält sie an ihrem Gelübde fest; Korans, der Held, wird nach Verlassen des Klosters von der Wache eines ausländischen Gesandtschaftsgebäudes festgenommen und von einem Richter, seinem eigenen Vater, zum Tode verur-

42

Das russische Drama

teilt, weil er, wegen der Unerreichbarkeit der Geliebten des Lebens überdrüssig, sich des Hochverrats bezichtigt; seine Begnadigung erfolgt zu spät; Zameta, die das Urteil schon vollstreckt glaubt, sticht sich in ihrer Verzweiflung die Augen aus, worauf Korans, aller Hoffnung beraubt, sich selbst tötet. Daß um der Rührung willen die Leidenschaften auf die Spitze getrieben werden und Mißverständnisse und verspätete Nachrichten verhängnisvolle Folgen haben, weist über Racine hinaus auf Voltaire als neues Vorbild. Noch offensichtlicher ist der Voltaire-Einfluß bei Jakov Knjažnin (1742– 1791), der, ebenfalls ein Schüler Sumarokovs, wiederholt motivische Fragmente aus den Stücken des französischen Schriftstellers entlehnte und 1786 dessen Tragödie „Sophonisba“ dichterisch bearbeitete. Obgleich der klassizistischen Herkunft verhaftet, strebte Knjažnin nicht, wie noch Sumarokov in der Nachfolge Racines, durch Minimierung der äußeren Handlung nach einem Höchstmaß an seelischer Bewegung und psychologischer Nuancierung. Statt dessen versuchte er, das Geschehen auf der Bühne so dramatisch wie möglich zu gestalten. Er folgte dabei der Empfehlung Voltaires, wiederum im Unterschied zu Racine und Sumarokov, weniger die Liebe als andere Leidenschaften, etwa Tugendhaftigkeit, Freiheitsstreben oder politischen Ehrgeiz, zu den handlungsbewegenden Elementen zu machen. So verliebt sich zwar der junge adlige Held seiner Tragödie „Rosslav“ (1784), als er in die Gefangenschaft der Schweden gerät, in die schöne schwedische Prinzessin Zafira, doch im Mittelpunkt stehen nicht die privaten Gefühle, sondern die hohen moralischen Werte von Pflicht und Ehre. Da sich Rosslav ihnen verpflichtet fühlt, triumphiert er am Ende einer ereignisreichen, mit Aufruhr-, Gefängnis- und Hinrichtungsszenen, mit Schloßaudienzen und Parade- und Massenauftritten ausgestatteten Handlung, während der König von Schweden und sein Feldherr einen schmählichen Tod erleiden.2 Auch bei Knjažnin ist – wie einst bei Sumarokov – der Stoff der Tragödie noch völlig unhistorisch. Immerhin gewann die ins beginnende 16. Jahrhundert verlegte „Rosslav“-Geschichte vor dem Hintergrund der aktuellen Spannungen zwischen Rußland und Schweden einen sichtbaren Zeitbezug. Noch stärker war die staatspolitische Aktualisierung eines uralten apokryphen Stoffs, den Knjažnin 1788/89 unter dem Eindruck des inzwischen ausgebrochenen russisch-schwedischen Kriegs und der gleichzeitigen revolutionären Bewegung in Frankreich zu der Tragödie „Vadim Novgorodskij“ (Vadim von Novgorod) verarbeitete. Als Gegenentwurf zu Katharinas am Hof aufgeführten historisch-allegorischen Schauspiel „Istoričeskoe predstavlenie iz žizni Rjurika“ (Geschichtliche Darstellung aus dem Leben Rjuriks, 1786) konzipiert3, wo Rjurik als weiser, gütiger Herrscher und Retter des Volks in der Not erscheint, zeigt Knjažnins Stück den warägischen König bei aller Weisheit und Güte vor allem als Tyrannen. Er besiegt den Helden Vadim, den Kämpfer für die Befreiung Novgorods von der Fremdherrschaft, offeriert ihm aber großmütig, die Macht in der Stadt zu übernehmen. Vadim weist als stolzer Republikaner das Geschenk des tyrannischen Regenten zurück und begeht Selbstmord. Seine Tochter Ramida, die

VI. Die spätklassizistische Tragödie und ihre Überwindung im Schaffen Puškins

43

Rjurik liebt, folgt ihm ohne Zögern in den Tod. Die sich hier bietende Gelegenheit zu explizit rührender Gestaltung wird von Knjažnin nur bedingt genutzt. Im Sinne Voltaires getragen von erhabenen Ideen und erfüllt von republikanischer Gesinnung, stand der Verfasser von „Vadim Novgorodskij“ und „Rosslav“ den empfindsamen Zeittendenzen äußerst zurückhaltend gegenüber. Anders als Petr Plavil’ščikov (1760–1812), der sich als Schauspieler, Dramatiker und Leiter des Petersburger Hoftheaters nachdrücklich für die Sentimentalisierung der heroischen Tragödie einsetzte4, hatte er nicht die vorrangige Absicht, mit seinen Stükken starkes Mitleid zu erregen und das Publikum zu Tränen zu rühren. Auch verschloß er sich der Forderung Plavil’ščikovs, auf Morde, Selbstmorde, Begräbnisse und dergleichen zu verzichten, damit durch die Vorgänge auf der Bühne nicht zuviel an Furcht und Schrecken verbreitet werde. So war es nicht Knjažnin, sondern Vladislav Ozerov (1770–1816), der zum eigentlichen Repräsentanten der sentimentalen Tragödie in Rußland wurde. Dazu genügten ihm fünf Stücke, verfaßt innerhalb eines Dezenniums: „Jaropolk i Oleg“, (Jaropolk und Oleg, 1799), „Ėdip v Afinach“ (Ödipus in Athen, 1804), „Fingal“ (1805), „Dimitrij Donskoj“ (1807) und „Poliksena“ (Polyxene, 1809). Die Stoffe entstammen der russischen Geschichte, der antiken Mythologie und der keltischen Sagenüberlieferung. Doch das verarbeitete Material hat hier lediglich untergeordnete Bedeutung. Es diente in erster Linie zur Darlegung der politisch-ethischen Ansichten des Autors und seines Blicks auf Mensch und Welt aus der Perspektive eines Vertreters der Empfindsamkeit. Ozerov drängte, wie Knjažnin formal am Klassizismus festhaltend, im Vergleich zu dem Genannten den Anteil der Bühnenaktion zurück und verlagerte das Schwergewicht von den wirkungskräftigen Situationen und den Äußerungen starker Leidenschaften auf die szenische Realisierung von Gefühl und Stimmung. Er suchte nicht mehr die große Geste, sondern war bestrebt, die feineren Schwingungen der Seele zu erfassen und verborgene Bewegungen des Herzens aufzudecken. Bei dieser Psychologisierung der dramatis personae orientierte er sich an dem zeitgenössischen französischen Epigonen Jean-François Ducis, der von der doctrine classique abgerückt war und in seinen Dramen mit großem Erfolg beim Publikum den Gegensatz zwischen dem Theater der französischen Klassik und der Tragödienkunst Shakespeares zu überbrücken versuchte. „Ėdip v Afinach“ geht stärker auf Ducis’ „Œdipe chez Admète“ als auf das Original von Sophokles zurück. Hier lernte Ozerov, daß die Tragik nicht nur aus der griechischen Schicksalsidee oder der Unlösbarkeit des Racineschen Konflikts von Pflicht und Neigung hervorgehen muß, sondern auch natürlichen menschlichen Empfindungen und Beweggründen wie vor allem der Liebe entspringen kann. Deshalb wird bei ihm die Liebe – im Gegensatz zu Sumarokov, der darin Racine folgte – nicht den höheren Interessen des Staats geopfert. Es ist vielmehr sie selbst, die das Opfer bringt. Eine andere Quelle der Anregung fand Ozerov in dem angeblichen Epos des gälischen Sängers Ossian, das James Macpherson 1760 unter dem Titel „Frag-

44

Das russische Drama

ments of Ancient Poetry, collected in the Highlands of Scotland“ veröffentlicht hatte. Als Vorwurf für seine Tragödie „Fingal“ wählte er nicht zufällig den dritten Gesang der Ossianischen Heldendichtung vom Kampf des Schottenkönigs Fingal gegen die Wikinger und Iren. Denn dieser war mit den Schilderungen nebliger, in diffuses Mondlicht getauchter Landschaften und durch die Intensität der weltschmerzlichen, melancholischen Gefühlsbespiegelung besonders geeignet als Muster für die Erfassung und dramatische Vergegenwärtigung von Atmosphäre, Stimmung und Emotionalität. Was schon Goethe so begeistert hatte, daß er seinen Werther sagen ließ, „Ossian“ habe in seinem Herzen Homer verdrängt5, begeisterte jetzt auch das Publikum in Moskau und Petersburg. Ozerov hatte noch ein übriges getan, um die Wirkung des Stücks auf den empfindsamen Zuschauer zu steigern: Er ergänzte die Dialoge und lyrischen Monologe der Figuren durch die Auftritte eines Chors (ein Element, das sich aus seiner Vertrautheit mit dem griechischen Theater erklärt) und begleitete unter Einbezug von Sängern und Tänzern das Bühnengeschehen durch Musik und pantomimisches Ballett.6 Nicht weniger erfolgreich war Ozerov, als er sich nach der „Ossian“-Rezeption in „Fingal“ 1809 der eigenen nationalen Geschichte zuwandte. Der Fünfakter über den moskovitischen Großfürsten Dimitrij, der die Tataren in der Schlacht am Don vernichtend schlug, löste – aufgeführt im Jahr des russischen Siegs bei Preußisch-Eylau – höchste patriotische Begeisterung aus. Dabei war Ozerovs Gestaltung frei vom Heroismus der älteren Dramatik. Während Alexander I., ebenso begeistert wie das Theaterpublikum, den Autor beglückwünschte, erreichte die Kritik von neoklassizistischer Seite ihren Höhepunkt. In dem sentimentalisierenden Verfahren sah man eine Bedrohung für die Gattungsform Tragödie und damit für einen Eckpfeiler der Poetik und Dichtung des Klassizismus. Trotzdem hatte Aleksandr Šachovskoj, einer der prominentesten Neoklassizisten, alle Stücke Ozerovs in Petersburg zur Aufführung gebracht und so ihre anhaltende, sich bis in die Provinz ausbreitende Bühnenpräsenz eingeleitet. Noch Aleksandr Puškin (1799–1837) konnte in den sentimentalen Tragödien, die einen bedeutenden Schritt hin zur Romantik darstellten, manche Anregung finden, als er sich Ende 1824 nach mehreren vorausgegangenen Versuchen ernsthaft mit der dramatischen Gattung zu beschäftigen begann. Die zentralen Prinzipien des klassizistischen Theaters – Gattungsreinheit, Geschlossenheit der Komposition und Einheit von Handlung, Ort und Zeit – waren auch in den zwanziger Jahren, wie das Beispiel von Griboedovs „Gore ot uma“ zeigt, noch fast unvermindert gültig. Puškin betrachtete diese Prinzipien als Widerspruch zu dem Begriff der Wahrscheinlichkeit, der von Anfang an die Grundlage seiner Dramaturgie bildete. Er bejahte die große Bedeutung, die das Gefühl bei Ozerov besaß, verlangte aber eine „Wahrscheinlichkeit der Gefühle unter angenommenen Umständen“.7 Unwahrscheinlich war für ihn die Bindung der Handlung an die Einheit der Zeit und des Ortes: Wenn Staatsgeschäfte, Verschwörungen, Feierlichkeiten und Liebeserklärungen in ein und demselben

VI. Die spätklassizistische Tragödie und ihre Überwindung im Schaffen Puškins

45

Raum vonstatten gehen, entstehen Ungereimtheiten, und es kommt zu einer unnatürlichen Raschheit und Gedrängtheit der Geschehnisse, die ebenso wie die konstruierte Rolle der Vertrauten jeglicher Vernunft widersprechen.8 Auf eine Bestätigung seiner Ansichten traf Puškin bei der Lektüre von August Wilhelm Schlegels „Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur“ (1808). Auch Schlegel, der eine im Vorgemach des Fürsten angezettelte und innerhalb weniger Stunden ausgeführte Verschwörung für ganz und gar unglaubhaft hält, legt den Maßstab der Wahrscheinlichkeit zugrunde: „Um einer vermeinten Unwahrscheinlichkeit zu entgehen, die in dem Überspringen von einer Zeit und einem Ort zum andern liegen sollte, hat man sich nicht selten in wirkliche und bedeutende Unwahrscheinlichkeiten verwickelt.“9 Die glaubhafte Handlung, die im klassizistischen Theater oftmals höheren Prinzipien geopfert wurde, fand Puškin wie schon Schlegel in den Dramen Shakespeares. Hier entdeckte er darüber hinaus noch mehr, was ihm vorbildhaft erschien: Volkstümlichkeit, komplexe Charaktere, ungezwungene Komposition, natürliche Sprachgebung, Wechsel von Vers und Prosa, Vermischung des Komischen und des Tragischen. All das gelangte zur Anwendung, als er den rätselhaften Stoff von der Auseinandersetzung zwischen dem Zaren Boris Godunov und dem Falschen Dimitrij, den zuvor schon Sumarokov und Schiller gestaltet hatten, den 1824 erschienenen Bänden 10 und 11 von Karamzins „Istorija gosudarstva Rossijskogo“ (Geschichte des russischen Staats) entnahm und zu einer „romantischen Tragödie“ verarbeitete. Das Wort „romantisch“ hatte für Puškin nichts mit Schwermut oder Schwärmerei zu tun. Es verwies bei ihm wie bei den Brüdern Schlegel auf den Gegensatz zur Antike und zu der aus der Antike resultierenden Tradition des Klassizismus. Romantiker sind danach Dante und Ariost, Calderon und Cervantes, Shakespeare und Goethe. Puškin fühlte sich mit diesen Dichtern durch das Moment der „Freiheit“10 verbunden, der Freiheit in den Formen und der Freiheit in den Inhalten. Von hier aus forderte er die Dramatiker seiner Zeit auf, sich an der „romantischen Schule“ zu orientieren: einer Schule, die alle Regeln ablehnt, ohne die Kunst preiszugeben.11 Die Aufnahme der Tragödie „Boris Godunov“12, die, am 7. November 1825 vollendet und seit 1826 wiederholt in literarischen Zirkeln vorgetragen, aus Zensurgründen erst 1831 veröffentlicht wurde, war naturgemäß äußerst zwiespältig. Von klassizistischer Seite vermißte man eine vernünftige Komposition und sah zudem fast sämtliche Regeln und Gesetze verletzt. Doch auch die Anhänger des Shakespeareschen Dramas waren enttäuscht. Sie vermißten einen Haupthelden, eine Handlung, die sich um einen zentralen Konflikt entfaltete, und eine planvolle Entwicklung der Charaktere. Dabei übersahen die Kritiker, daß sich Puškin zwar an Shakespeare orientierte, sich aber keineswegs bloß als dessen Nachahmer verstand. Gerechter wurde ihm deshalb Ivan Kireevskij. Dieser stellte 1831, anläßlich der Veröffentlichung von „Boris Godunov“, treffend fest: „Puškins Tragödie zeigt die Folgen einer bereits vollbrachten Tat, und das Verbrechen des Boris erscheint nicht als Handlung, sondern als Macht, als Ge-

46

Das russische Drama

danke, der nach und nach offenbar wird: im Flüstern der Hofleute, in den stillen Erinnerungen des Einsiedlers, in den einsamen Träumen Grigorijs, in der Macht und den Erfolgen des Usurpators, in dem Murren der Bojaren, in der Erregung des Volks, schließlich in dem furchtbaren Sturz des Herrscherhauses.“13 Indem Puškin seinen Helden von Beginn an in die tragische Krise stellt und die Charakter- und Handlungsentwicklung durch das „allmähliche Emporwachsen der Grundidee in verschiedenartigen Ereignissen“ ersetzt, behauptet er seine Selbständigkeit gegenüber dem Vorbild Shakespeare. Ein weiterer Unterschied liegt darin, daß das Volk, bei Shakespeare allenfalls Statist, jetzt eine tragende Rolle spielt. Es wird zur politisch aktiven Kraft. In der Bedeutung, die dem Volk als bewegendem Faktor der Geschichte zugewiesen wird, unterscheidet sich Puškin sogar von Karamzin, an den er sich sonst bis in Einzelheiten hält, selbst dort, wo dieser Zweifel an der Richtigkeit seiner Darstellung äußert. So folgte er ihm ebenso in der Annahme, daß Boris Godunov den Zarewitsch Dimitrij ermorden ließ wie in der Meinung, der Falsche Dimitrij sei in Wirklichkeit der entlaufene Mönch Grigorij Otrep’ev. Der äußere Stoff war Puškin nicht mehr so „gleichgültig“ wie Schiller, der die Auffassung vertrat, daß die Dichtung diesen „niemals so brauchen kann, wie sie ihn findet“. Die „Behandlungsweise“ sei das, „was den Dichter und Künstler macht“.14 Während sich Shakespeare nur auf alte Chroniken stützen konnte, stand Puškin eine Quelle zur Verfügung, mit der in Rußland die wissenschaftliche Geschichtsschreibung beginnt. Geschichte wird bei Karamzin, der zunächst lyrischer und vor allem epischer Dichter war, zwar erzählt, aber das anschaulich und meist auch spannend dargebotene historische Material ist sorgfältig recherchiert und gründlich kommentiert. Den Godunov-Stoff konnte Puškin so, kritisch erschlossen und künstlerisch zubereitet, in Handlungsablauf und Figurenkonstellation unverändert übernehmen. Es bedurfte nur noch seiner dialogischen Umsetzung, durch die sich das äußere Geschehen um ein inneres erweiterte, und damit war die Grundlage für die Entfaltung des tragischen Konflikts geschaffen. In der Deutung dieses Konflikts ging Puškin dann doch noch über Karamzin hinaus. Das Scheitern Boris Godunovs ist jetzt nicht nur ein Beispiel für den Fluch der bösen Tat: die höhere Rache des gemordeten Zarewitsch an seinem Mörder, sondern auch ein Beleg für das Walten des Irrationalen in der Geschichte, bedingt durch das Zusammentreffen emotionaler Faktoren (der Widerstände des Volks) und des historischen Zufalls (der Ankunft des Falschen Dimitrij).15 Damit verschob sich in Puškins dramatischer Vergegenwärtigung des Stoffs die Tragik stark von der persönlichen Ebene, auf der die Titelfigur unter Gewissensqualen leidet und in ihrer Entschlußkraft gelähmt wird, zu einer allgemeinen Ebene, auf der das Stück an „moralisierender Eindeutigkeit“ verliert, aber eine neue „gesellschaftspolitische und geschichtsphilosophische Dimension“ gewinnt.16 Für diese Erweiterung reichte die klassizistische Dramenform nicht mehr aus. Um Geschichte nicht nur wie bei Racine oder Sumarokov als dialogisch entfaltete Interaktion weniger politisch Handelnder darzustellen, son-

VI. Die spätklassizistische Tragödie und ihre Überwindung im Schaffen Puškins

47

dern als geistigen Konflikt zwischen Rationalität und Irrationalität zu zeigen, in dem das Volk die treibende Kraft und das zentrale Prinzip historischer Selbstverwirklichung bildete, verwarf Puškin die ursprünglich geplante traditionelle Fünfaktigkeit und ersetzte sie durch eine an Shakespeare orientierte lockere, reihende Struktur. Daß die scheinbar so einfache lineare Abfolge von 23 Szenen einem strengen Formbewußtsein entspringt, das sich in einer Vielzahl von Symmetrien und Korrespondenzen äußert17, blieb zunächst unbemerkt. Der Bruch mit der bisherigen Theatertradition kam zu unerwartet und war offensichtlich zu radikal, um unmittelbare Nachahmung zu finden. Das Aufführungsverbot, das auch nach der Veröffentlichung des Textes fortbestand und erst 1870 aufgehoben wurde, trug noch zusätzlich dazu bei, daß Puškins „romantische Tragödie“ keine große Vorbildwirkung gewann. Zwar behielt der rätselhafte Stoff seine Faszinationskraft: Faddej Bulgarin verarbeitete ihn zu dem Roman „Dimitrij Samozvanec“ (Dimitrij, der Usurpator, 1830), Aleksandr Ostrovskij legte ihn seiner dramatischen Chronik „Dmitrij Samozvanec i Vasilij Šujskij“ (Dmitrij, der Usurpator, und Vasilij Šujskij, 1867) zugrunde, und Aleksej Konstantinovič Tolstoj formte 1870 aus ihm den abschließenden Teil seiner Herrschertrilogie, in der Ivan Groznyj den grausamen, aber gerechten, Fedor Ivanovič den gütigen, aber politisch schwachen und Boris Godunov den aufgeklärten, aber tragisch scheiternden Zaren verkörpert.18 Doch diese und alle anderen Gestaltungen gehen eher auf die Anregung durch Karamzins Historiographie als durch Puškins Dichtung zurück. „Boris Godunov“ war in wirkungsgeschichtlicher Hinsicht zu lange ohne theatralische Veranschaulichung geblieben und so, teils zensur-, teils strukturbedingt, vornehmlich zum Lesestück geworden. Daran änderten auch die gelegentlichen Inszenierungen vor und nach der Jahrhundertwende wenig. Erst in der Opernfassung und Vertonung Musorgskijs eroberte Puškins Geschichtsdrama die Bühne. Nachdem die Erstaufführungen in Petersburg (1874) und in Moskau (1889) Mißerfolge waren, gelang einer Aufführung am Petersburger Konservatorium 1896, zu der Rimskij-Korsakov die Musik völlig neu instrumentiert hatte, der Durchbruch in Rußland. Die epochale Dresdner Aufführung mit Robert Burg in der Titelrolle verschaffte der Oper dann 1927 ihre bis heute anhaltende Weltgeltung. Glücklicher verlief die Aufführungs- und Wirkungsgeschichte von Puškins zweiter vollendeter Bühnenarbeit, des Zyklus „Malen’kie tragedii“ (Kleine Tragödien), der, angeregt durch Barry Cornwalls „Dramatic Scenes“ (1829), neben vielen anderen Werken im produktiven Herbst des Jahres 1830 in Boldino entstand. Die vier kurzen, in Frankreich, Österreich, Spanien und England spielenden Stücke, die Dostoevskij in seiner Puškin-Rede 1880 als Beispiele für ein einzigartiges „Vermögen der Anverwandlung fremder Nationalitäten“ rühmte19 und die Valerij Brjusov in einem Aufsatz anläßlich ihrer Inszenierung am Moskauer Künstlertheater 1915 als Quintessenzen des Dramas überhaupt verstand20, wurden immer wieder aufgeführt und publiziert und hatten dementsprechend in Rußland eine nachhaltige literarische und kulturelle Wirkung.21 Noch zu sowje-

48

Das russische Drama

tischer Zeit erlangten sie eine neue Aktualität, als sie in den Kunstdiskussionen der zwanziger Jahre eine wichtige Rolle spielten.22 Der Unterschied zwischen ihnen und der Tragödie „Boris Godunov“, die Brjusov als zu shakespearisierend empfand, könnte kaum größer sein. Entwirft Puškin dort ein breites Epochengemälde aus der „Zeit der Wirren“ mit dem Hochadel, der Geistlichkeit und dem Volk als den bewegenden politischen und geistigen Kräften, gestaltet er hier Einzelpersonen im Bann einer beherrschenden Leidenschaft. Dazu genügen ihm zwei bis drei Szenen. Die Kriterien, die er einst (1822) für die Erzählprosa formuliert hatte und dann in den „Povesti Belkina“ (Die Erzählungen Belkins) zur Anschauung brachte, „Genauigkeit“ und „Kürze“23, übertrug er nun zur gleichen Zeit auch auf die dramatische Gattung. Anna Achmatova sprach voller Bewunderung von der „atemberaubenden Kürze“ und dem „schwindelerregenden Lakonismus“ der Stücke.24 Erreicht wurde dies vor allem dadurch, daß die dargestellten Leidenschaften – von Geiz und Neid über Liebe und Eifersucht bis zu Lebensekel und Todesmut – nicht in ihrem Entstehen und ihrem Wachsen gezeigt werden. Sie sind das, was von Beginn an gegeben ist. Als das Gegebene und Unveränderliche bestimmen sie die Handlungsgegenwart und erklären die nur in Andeutungen rekapitulierte Vorgeschichte. Der alte Baron in „Skupoj rycar’“ (Der geizige Ritter) ist durch lebenslange bittere Enthaltsamkeit zu Ansehen und Reichtum gelangt. Don Juan in „Kamennyj gost’“ (Der steinerne Gast) hat das wilde Leben eines Abenteurers und Verführers geführt, und Sal’eri in „Mocart i Sal’eri“ (Mozart und Salieri) hat schon früh beschlossen, auf alle Freuden des Daseins zu verzichten, um sich in grenzenloser Hingabe und Ausschließlichkeit der Kunst zu verschreiben. Wenn die Handlung expositionslos einsetzt, befinden sich die Protagonisten in einer Ausnahmesituation. Diese Situation, in der die Beteiligten zu Tätern oder Opfern oder zu beiden zugleich werden, steht jeweils im Zeichen des Todes. Der Geizige steigt in den Keller hinab, öffnet eine Schatztruhe nach der anderen und berauscht sich im Kerzenlicht am Glanz des Goldes. Im selben Augenblick aber entsetzt ihn der Gedanke an die eigene Sterblichkeit und im besonderen an die Vorstellung, daß sein verschwenderischer Sohn Al’ber das hart errungene Vermögen innerhalb kürzester Zeit verschleudern wird. So wirft er ihm am Ende den Fehdehandschuh hin, und nur ein tödlicher Schwächeanfall verhindert, daß der Vater den Sohn oder der Sohn den Vater tötet. Don Juan wartet in Mönchskleidung am Grabmal des Komturs, den er im Duell erstochen hat, auf das Erscheinen von dessen Gattin Doña Anna. Mit gekonnter Beredsamkeit beginnt er diese zu umschmeicheln, gewinnt ihr Vertrauen und ihre Zuneigung, und als er Doña Anna am Abend des folgenden Tags in ihrem Haus besucht, erscheint er verwandelt. Der mondäne Abenteurer und professionelle Verführer liebt zum erstenmal aufrichtig, bereut sein vergangenes Leben und ist glücklich, doch im Moment höchster Seligkeit erfolgt, anstelle der Rettung, der Tod durch die Statue des Komturs.25 Die schuldbehaftete Vergangenheit fordert in Gestalt des steinernen Gasts trotz Läuterung schicksalhaft-unerbittlich ihren

VI. Die spätklassizistische Tragödie und ihre Überwindung im Schaffen Puškins

49

Tribut. Sal’eri, der italienische Komponist und Wiener Hofkapellmeister erkennt, bislang vom Erfolg verwöhnt, in Mozart nicht nur das unerreichbare Genie, sondern auch die Bedingtheit der eigenen Schöpferkraft. Mozarts Tod wird als die einzige Lösung erkannt. Mit dem Verschwinden der alles relativierenden Ausnahmeerscheinung glaubt Salieri sich wieder als Genie fühlen zu können. Aber Mozart beweist seine Macht auch über den Tod hinaus. Was er arglos über die Unvereinbarkeit von Genie und Bosheit sagt, trifft Sal’eri erst nach dem Vollzug der bösen Tat. Am Ende beherrscht die Tat den Täter. In der Vernichtung Mozarts vernichtet Sal’eri sich selber. Puškins „Malen’kie tragedii“ erscheinen so nicht nur als eine Art Phänomenologie menschlicher Leidenschaften26, sondern auch als szenische Veranschaulichungen unterschiedlicher Möglichkeiten des Tragischen. Ist „Skupoj rycar’“ eine Tragödie des Geizes und „Kamennyj gost’“ eine Tragödie der Vergeltung, stellt sich „Mocart i Sal’eri“ als Tragödie der Empörung dar. Sal’eri, der den dramatischen Raum halb für sich, halb für das Publikum in der Schwebe zwischen Monolog und Prolog erschließt, eröffnet das Stück mit einer Klage, die in sich bereits schärfste Anklage ist: „Alle sagen, es gibt keine Gerechtigkeit auf Erden. / Aber auch höher gibt es keine Gerechtigkeit.“ Der Kläger maßt sich an, die Rolle des Empörers gegen Gott zu übernehmen. Aus dieser Rolle leitet er das Recht ab, an dem, der von der Natur begünstigt wurde, Vergeltung zu üben und durch seine Auslöschung die scheinbar gestörte Ordnung wiederherzustellen. Am Ende aber muß er erfahren, daß der Mensch nicht ungestraft das Amt der ewigen Gerechtigkeit beanspruchen darf. In „Pir vo vremja čumy” (Das Gelage während der Pest) zeigt Puškin ein anderes Beispiel für Schuld durch Anmaßung. Bei einem Fest, das die überlebenden Bewohner einer Stadt, in der die Pest wütet, an einer Tafel auf offener Straße feiern, lobt und preist der „Vorsitzende“ Val’singam die tödliche Epidemie. Er begreift die Katastrophe als persönliche Herausforderung und als neuartige Möglichkeit zu kollektiver Genußsteigerung im Angesicht totalen Grauens. Verblendet wie Sal’eri, der nicht zwischen Kunst und Moral zu trennen vermag, will Val’singam die Grenze zwischen Leben und Tod aufheben und beides in einer höheren exzessiven Erlebniswirklichkeit vereinen. Niemand folgt dem Aufruf des Geistlichen, in die Häuser zurückzukehren und sich in christlicher Demut auf das Jenseits vorzubereiten. Alle setzen das Festmahl fort, das zugleich ein Totenmahl ist. In den vier kleinen Tragödien, die wie die Form der Tetralogie in der altgriechischen Dramatik als künstlerische und gedankliche Einheit konzipiert sind, gelang es Puškin, in äußerster Verdichtung und Konzentration tiefste menschliche Problematik sichtbar zu machen und im Licht ethisch-philosophischer Fragestellungen zu erörtern. Trotz der Ausrichtung der Protagonisten auf eine dominierende Charaktereigenschaft sind die als konkrete Persönlichkeiten fest in Raum und Zeit verankerten dramatis personae geistig und psychologisch von erstaunlicher Vielschichtigkeit. Die Gattungsform des Einakters erhielt so eine ganz neue Qualität. Außerdem: Mit dem Verzicht auf eindeutige Lösungen, und

50

Das russische Drama

das heißt mit dem bewußten Offenlassen entscheidender Fragen wies Puškins Zyklus bereits über seine Zeit hinaus in die Moderne.27 Es sollte aber noch bis zum Erscheinen Anton Čechovs dauern, ehe am Ende des Jahrhunderts dieser Verweis aufgenommen und weiterentwickelt wurde. VII. Die Komödienkunst Gogol’s und ihre Nachwirkung bei Ostrovskij und Suchovo-Kobylin Nach Puškin war es zunächst Nikolaj Gogol’ (1809–1852), der sich der Form des Einakters widmete. Schon während der Nežiner Gymnasialzeit in Schüleraufführungen von Stücken Fonvizins, Knjažnins, Kotzebues oder Molières als theatralisches Talent hervorgetreten, drängte es ihn im Anschluß an den Erfolg seiner beiden Erzählungsbände „Večera na chutore bliz Dikan’ki“ (Abende auf einem Weiler nahe Dikan’ka, 1831/32), die komischen Seiten des russischen Lebens auch auf die Bühne zu bringen. 1832 begann er mit der Arbeit an der Komödie „Vladimir tret’ej stepeni“ (Der Vladimir-Orden dritter Klasse), in der der Held, der Beamte Ivan Barsukov, alle Anstrengungen unternimmt, um den Vladimir-Orden zu erhalten, bis er schließlich dem Wahn verfällt, selbst der Orden zu sein. Nachdem das Stück unvollendet geblieben war, verarbeitete Gogol’ das Material zu vier selbständigen, jeweils aus wenigen Szenen und Figuren bestehenden Texten. Diese Einakter erinnern in ihrer Kürze und Reduktion an Puškins „Malen’kie tragedii“. Von Gogol’ zweifellos als Gegenstücke zu den Possen und Vaudevilles verstanden, die das zeitgenössische Theater dominierten1, nahmen sie in ihrer szenisch reihenden Struktur und ihrer Funktion der Beschreibung gesellschaftlicher Erscheinungen die „physiologische Skizze“ (očerk) vorweg, jene Erzählform der vierziger Jahre, mit der in Rußland die frührealistische Wirklichkeitserfassung begann. Statt traditioneller Ereignismuster der einaktigen Komödie werden hier in ironischer Brechung charakteristische Gesprächssituationen aus dem beruflichen und familiären Alltag von Vertretern der bürgerlichen Mittelschicht vorgeführt. In „Utro delovogo čeloveka” (Der Morgen eines vielbeschäftigten Mannes) erhält ein „vielbeschäftigter Mann“ am frühen Morgen den Besuch eines „ebenfalls vielbeschäftigten Mannes“. Die im Arbeitszimmer stattfindende Unterhaltung dreht sich, unterbrochen vom Eintritt des Schreibers, der zwei Schriftstücke zur Unterschrift hereinreicht, und später erweitert durch die hinzukommende Hausherrin, im Widerspruch zu der Vielbeschäftigtheit der beiden Protagonisten fast ausschließlich um triviale Themen wie das Kartenspiel vom vorhergehenden Abend, die Seilakrobatik eines Jungen im Zirkus oder die Anwendung homöopathischer Mittel im Krankheitsfall. Die einzige Ausnahme bildet die Bitte des Hausherrn an den Besucher, sich bei der Exzellenz wegen eines „Ordens am Hals“ für ihn zu verwenden. Nach der Zusage, diese Bitte „mit dem größten Vergnügen“ zu erfüllen, folgt am Ende im Fürsichsprechen des weggehenden Besuchers, der, obwohl fünf Jahre länger im Dienst, noch für keinen Orden vorgeschlagen worden ist, die Enthüllung der wahren Absicht: „Da bist du an die richtige Adresse gera-

VII. Die Komödienkunst Gogol’s und ihre Nachwirkung

51

ten, mein Lieber! Ich werde dir schon die Suppe versalzen.“2 Entlarvt Gogol’ in diesem Fall das weitverbreitete Bittstellertum, deckt er in einem anderen den Brauch auf, Prozeßverlauf und Gerichtsurteil durch Beziehungen oder Bestechung zu beeinflussen: Als in „Tjažba“ (Ein Rechtsstreit) ein Besucher den Senatsobersekretär Proletov um Unterstützung bei seinem Prozeß gegen den eigenen Bruder bittet, der sich die Erbschaft der Tante erschlichen hat, ist der Angesprochene, nicht ohne Eigeninteresse, sofort bereit, „all diese Musikanten vom Senat zu einem Orchester zu vereinen“.3 Als „Physiologien“ der russischen Gesellschaft beziehen Gogol’s dramatische Skizzen auch den Stand der Untergebenen ein. „Lakejskaja“ (Die Dienstbotenstube) spielt durchweg im „Vorzimmer“ eines herrschaftlichen Hauses und zeigt drei Diener eines Herrn im Gespräch untereinander sowie jeweils einzeln mit einem „fremden Diener“, einem „Herrn im Pelz“, dem Stubenmädchen und dem „dickbäuchigen Haushofmeister“, der als oberster Lakai die Aufsicht über die Hauswirtschaft und das Gesinde hat. Es sind typische Bedienstetengespräche, die, unendlich fortsetzbar und im einzelnen austauschbar, einen Einblick in den Arbeitsalltag und die Denkweise einer gesellschaftlichen Gruppe geben. Sie setzen keinerlei Handlung in Gang. Wie in „Utro delovogo čeloveka” und in „Tjažba“ wird auch hier lediglich ein Zustand beschrieben. Selbst wenn es um eine Intrige geht, kommt diese nicht zur Durchführung, sondern bleibt Gegenstand gesprächshafter Erörterung wie in „Otryvok“ (Ein Fragment), wo eine „Dame in vorgerücktem Alter“ ihrem Sohn, der sich in ein „liederliches Frauenzimmer“ verliebt hat, durch die Heirat mit einer Fürstin den Aufstieg vom Titularrat zum Offizier der Garde ermöglichen will und deshalb für 2000 Rubel einen professionellen Intriganten engagiert. Das Stück ist beendet, ehe der „Halunke“ in Aktion getreten ist und die Frage nach dem Gelingen oder Mißlingen des Plans beantwortet werden kann. Den offenen Schluß teilt „Otryvok“ mit den drei anderen Zustandseinaktern.4 Dadurch verlagert sich die Spannung vom Ausgang auf den Verlauf des Ganzen und somit auf die physiologische Darstellung selbst. Auch Gogol’s Komödien von umfangreicherer Art, die, straffer komponiert, nicht mehr den Charakter dramatischer Skizzen haben, der längere, aus 25 Szenen bestehende Einakter „Igroki“ (Die Spieler, 1836), der Zweiakter „Ženit’ba“ (Die Heirat, 1835) und der Fünfakter „Revizor“ (1835)5, sind durch die Offenheit am Ende und die damit verbundene Spannungsverlagerung gekennzeichnet. Mit ihnen setzte Gogol’, an Griboedov anknüpfend, die Dekonstruktion der Gattungsform fort. Seit altersher hatte die Liebesintrige das Grundelement der Komödienhandlung gebildet.6 Wird sie nun wie in „Ženit’ba“ und „Revizor“ nur noch in unernster bzw. parodistischer Gestalt verwendet oder wie in „Igroki“ gänzlich getilgt, entfällt auf der Geschehensebene das verbindliche HappyEnd und auf der Sinnebene der sich im Fest artikulierende Gedanke der allseitigen Versöhnung. Damit bleibt zugleich das befreiende Lachen aus, und zwar sowohl für die Figuren auf der Bühne als auch für das Publikum im Theater.

52

Das russische Drama

Zuvor aber hat der Zuschauer, vom Ausgang auf den Verlauf der Komödie verwiesen, nichts anderes getan, als unentwegt über die komischen Charaktere, Verhaltensweisen und Situationen zu lachen. Gogol’ nutzte, um dies zu erreichen die vielfältigsten Mittel von der Übertreibung über die Verzerrung bis zur Verkehrung, und er scheute sich nicht vor der Verwendung selbst einfachster, ja gröbster Effekte. Das so erzeugte Lachen erhielt die Funktion des Korrektivs, das auch in einer Komödie ohne Räsoneur und andere positive Figuren keineswegs abgeschafft, sondern nur nach außen, ins Bewußtsein des Zuschauers verlegt ist. Von der einzigen „ehrlichen und anständigen Person“7, wie Gogol’ unter Bezug auf seinen „Revizor“ das Lachen einmal nannte, erwartete er eine reinigende Wirkung. Die Reinigung sollte, analog zur Tragödie, im Durchgang durch den Schrecken erfolgen. Von hier aus ist es kein Zufall, daß Gogol’s Revisor-Komödie von Zeitgenossen wie Vladimir Odoevskij als „Tragödie“ bezeichnet wurde.8 Daß es Komisches und Tragisches, im Klassizismus strikt getrennt, zu vermischen gelte, ist ein Grundpostulat der Romantik. Puškin war der erste, der, August Wilhelm Schlegel folgend, diese Forderung in Rußland mit Nachdruck vertrat. In den Artikeln „O tragedii“ (Über die Tragödie) und „O narodnoj drame i drame ‚Marfa Posadnica’“ (Über das Volksdrama und das Drama „Marfa Posadnica“) verlangte er die wechselseitige Annäherung von Komödie und Tragödie, wie sie bereits in der Vergangenheit im Werk Shakespeares und Molières beispielhaft realisiert worden sei. Eine zeitgemäße dramatische Handlung läßt sich für Puškin nicht mehr allein auf Mitleid und Furcht und auch nicht ausschließlich auf dem Lachen aufbauen. Diese Affekte seien vielmehr die drei zusammengehörigen „Saiten unserer Einbildungskraft, die durch den Zauber des Dramas bewegt werden“9. Es gehört zum unklassizistischen Charakter von „Boris Godunov“ und des Zyklus „Malen’kie tragedii“, daß Puškin hier bestrebt war, im Zuschauer die genannten Saiten anzuschlagen. In „Skupoj rycar’“, dem Auftakt des Zyklus, hat er deshalb den Helden, anders als Molière in seiner Komödie „L’avare“, nicht nur als Typ konzipiert, sondern das Typenhafte in menschlicher Tiefe und Substanz aufgehen lassen. Der alte Baron wird eingangs aus der Sicht des Sohns, der das Leben des Vaters als ein einziges Sklaven- und Kettenhunddasein beschreibt, zur lächerlichen Gestalt herabgestimmt: Er hause in ungeheizter Hütte, trinke nur Wasser, nähre sich von trockener Rinde, durchwache die Nächte und laufe hin und her und belle.10 In der Selbstdarstellung des großen Monologs im zweiten der drei Auftritte bricht zunehmend das Tragische in das Komische ein. Der Held, komisch in der Unangemessenheit von unbedingter Leidenschaft (Geiz) und nichtigem Gegenstand (Geld), szenisch visualisiert durch sein ins Rituellhafte gesteigertes Gehabe vor den Schatztruhen, wird in der Verkennung der Realitäten zum tragischen Helden. Die Illusion, durch Gold zu herrschen, nimmt traurig-groteske Ausmaße an. Der sich als Herrscher Fühlende ist der eigentlich Beherrschte.

VII. Die Komödienkunst Gogol’s und ihre Nachwirkung

53

Legte Puškin bei der Vermischung des Komischen und des Tragischen das Schwergewicht auf das Tragische, so rückte Gogol’ entschieden das Komische in den Vordergrund. Er war offensichtlich der Überzeugung, daß das Chaotische unserer Welt nur auf diese Weise bewältigt werden kann. „Uns kommt nur noch die Komödie bei“, sagte Friedrich Dürrenmatt11 um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Ebenso hätte sich auch Gogol’ ausdrücken können. Für Tragik im Sinne der alten Tragödie fehlten inzwischen die Voraussetzungen: Leid, Schuld, Freiheit, Verantwortung, Wert. In dem durch und durch anonym und bürokratisch gewordenen Staat, den Gogol’ in seinen Erzählungen wie in seinen dramatischen Werken zeigt, gibt es keine sichtbare Macht und keine Freiheit der Entscheidung. Es gibt weder Schuldige noch Verantwortliche. Kollektivschuld ersetzt die Einzelschuld. Nirgendwo ist ein verbindlicher Sinnhorizont zu erkennen. So gelangte Gogol’ zu einer Einsicht, die weit voraus in die Moderne weist, zu Autoren wie Dürrenmatt, Ionesco oder Beckett: daß das Tragische, nachdem es als solches unmöglich geworden ist, „aus der Komödie heraus“12 erzielt werden kann. Es erscheint dann als ein Hervorbrechen des Schrecklichen, als das Sich-Öffnen des Abgrunds. Lachend verliert der Betrachter den Boden unter den Füßen. Und genau das ist es, was uns Gogol’ in seinen Komödien erfahren läßt, am stärksten und unmittelbarsten in der vom falschen Revisor. Die „fünfaktige Komödie“, die Gogol’ „im Handumdrehen“ zu schreiben gedachte, als er sich am 7. Oktober 1835 mit der Bitte um eine „echt russische Anekdote“ an Puškin wandte, basiert auf der Verwechslung eines Regierungsbeamten. Aus dieser Grundsituation des Stücks, die sich auf Vorkommnisse in der damaligen Lebenswirklichkeit zurückführen läßt, fließt eine Fülle komischer Elemente. Vom derb Burlesken bis zum feinsten Sprachwitz ist alles enthalten. Gogol’ hielt, was er Puškin in seinem Brief versprochen hatte: „Ich schwöre, die Komödie wird komischer sein als der Teufel.“13 Doch die Komik, so ausgelassen sie ist, vollzieht sich auf dunklem Grund. Das Wirklichkeitssujet erzeugt jene „Macht der allgemeinen Angst“, von der Gogol’ in seinem „Hinweis für alle, die den ‚Revizor’ richtig spielen wollen“ (Preduvedomlenie dlja tech, kotorye poželali by sygrat’ kak sleduet „Revizora“) spricht.14 Von Anfang an unterschwellig und dann immer offener vorhanden, bildet sie die bedrohliche Folie, die für alle komischen und grotesken Mißverständnisse verantwortlich ist. Nachdem der Traum des Stadthauptmanns von den „zwei ungewöhnlichen Ratten“ die Angst als seelisches Motiv eingeführt hat, begleitet sie die Beamten einer kleinen Provinzstadt, in der ein Fremder angekommen ist und für den erwarteten Revisor gehalten wird. Mit der Darstellung der emsigen Bemühungen seitens der städtischen Würdenträger, die Mißstände von der Verwahrlosung in den Institutionen bis zu den Fällen von Bestechung, Erpressung und Unterschlagung zu vertuschen, wird die russische Komödie zum erstenmal zu einer wirklichen Gesellschaftskomödie. Die mißlichen Verhältnisse, die das Stück nach und nach zur Sprache bringt, weisen über den provinziellen Schauplatz hinaus: Sie de-

54

Das russische Drama

monstrieren, daß nicht nur die Provinz, sondern auch ganz Rußland aus den Fugen geraten ist. Diese Verallgemeinerung fehlt bei Gogol’s Vorgängern weitgehend. Selbst in Fonvizins und Griboedovs Komödien geht es mehr um den Ausschnitt der jeweiligen Familien als um die Gesellschaft als Ganzes. Im „Revizor“ hingegen treten die dramatis personae als Inhaber staatlicher Ämter und Ränge auf, und auch die Gestalt, in dessen Haus die Handlung fast ausnahmslos spielt, ist zunächst das Oberhaupt der Stadt und erst darauf das der Familie. Doch als gesellschaftliche Wesen und bei allem satirischen Ernst, der damit verknüpft ist, sind die Figuren dieses Stücks in erster Linie komische Figuren. Deshalb griff Gogol’ auch zur Auflösung der Verwechslungsgeschichte auf das uralte Komödienmotiv vom betrogenen Betrüger zurück. Auf dem Höhepunkt, als die Beamten mit dem Stadthauptmann an der Spitze glauben, gesiegt zu haben, tritt – wie in der Tragödie – die Peripetie ein: Die sich selbst Feiernden müssen im Augenblick des vermeintlichen Triumphes erfahren, daß sie einem einzigen Mißverständnis erlegen sind. Aus den Worten des Hauptgauners, des Stadthauptmanns Skvoznik-Dmuchanovskij, spricht die Wut und Verzweiflung des betrogenen Betrügers, und als danach auch noch der richtige Revisor angekündigt wird, versteinert die ganze Gruppe in einer „Stummen Szene“. Gogol’ hat in dem szenischen Kommentar „Razvjazka ‚Revizora’“ (Die Lösung des „Revizor“, 1846) den großen Ernst dieses Schlusses hervorgehoben. Das Erscheinen des Gendarmen, der „wie ein Henker“ in der Tür steht, und die Meldung von der Ankunft des „auf höchsten Befehl aus Petersburg eingetroffenen Beamten“, der alle „vernichten“ wird, seien „unsagbar schrecklich“. „Keine einzige Tragödie“, läßt er eine Person im Gespräch mit den Schauspielern einer „Revizor“-Aufführung sagen, „hat bei mir ein so trauriges, so bedrückendes, so trostloses Gefühl hinterlassen.“15 Die Empfindung des Bedrückend-Trostlosen erklärt sich aus dem Wissen um den trügerischen Zustand der Welt. Dieses Wissen liegt nicht nur dem „Revizor“, sondern auch „Ženit’ba“ und „Igroki“ zugrunde, und es prägt Gogol’s Erzählen vom „Dikan’ka-Zyklus“ an bis zu dem Roman „Mertvye duši“ (Die toten Seelen, 1842). Als der Stadthauptmann erkennt, daß er sich in bezug auf den Revisor getäuscht und einen „Grünschnabel und Waschlappen für eine wichtige Persönlichkeit gehalten“ hat, kann er dies kaum fassen und gerät völlig „außer sich“: „Schaut her, schaut alle her, die ganze Welt, die ganze Christenheit, seht, wie man den Stadthauptmann zum Narren gemacht hat!“16 Ebenso reagiert in „Igroki“ der professionelle Falschspieler Icharev, der zuerst einer Gruppe anderer Falschspieler mit Hilfe präparierter Karten 80000 Rubel abnimmt und dann durch eine vom Anführer dieser Gruppe geschickt eingefädelte Intrige um die zuvor gewonnene Geldsumme gebracht wird. Für Icharev ist damit eingetreten, was ihm vorher unmöglich schien: betrogen zu werden. Er verdammt, was er für das einzig Wahre hielt: den Betrug. Und er möchte anrufen, was er als Betrüger nicht kann: das Gesetz. Derjenige, der eben noch den Sinn des Lebens in

VII. Die Komödienkunst Gogol’s und ihre Nachwirkung

55

der Kunst des Betrügens erblickte, vergrößert sein persönliches Unglück, kunstvoll betrogen worden zu sein, zum Weltverhängnis und klagt von hier aus das Ganze der Welt an: „Zum Teufel! Ist das eine schwindlerische Welt!“17 Aus der Komödiengestalt spricht der Autor selbst. Für Gogol’ sind Trug und Schein ein Weltgesetz, das sich von der Tat des einzelnen her kaum erklären läßt. „Bedenken Sie“, schreibt er noch in einem seiner späten Briefe, „daß alles in der Welt Betrug ist, daß uns alles anders erscheint, als es wirklich ist.“18 Keine andere Gattungsform ist so geeignet, diese Sicht zu vermitteln, wie die Komödie, kommt doch ein Großteil ihrer komischen Wirkung dadurch zustande, daß ihre Figuren ständig zu Objekten von Täuschung, Verwechslung und Verhüllung, von Intrige, Streich, Betrug und Lüge werden. Während aber früher die allgemeine Verwirrung, die aus diesen die Spielstruktur der Komödie potenzierenden Elementen entsteht, aufgelöst und zum glücklichen Ausgang geführt wird, ist sie bei Gogol’, der seine Bühnenwerke als Spiegelungen des modernen Weltzustands versteht, unauflösbar geworden. Nicht nur am Ende von „Igroki“ und „Revizor“ steht daher das von den Betroffenen zutiefst beklagte Umsonst. Auch „Ženit’ba“ bestätigt das Von-Vorn-Anfangen als Gogol’s wichtigstes Kompositionsprinzip. Kočkarev hat alle Mitbewerber seines Freundes, des Hofrats Podkolesin, um die Hand der Kaufmannstochter Agaf’ja Tichonovna nach und nach trick- und fintenreich aus dem Feld geschlagen und sogar schon für die nächste Stunde die kirchliche Trauung anberaumt, da sieht der Held keine andere Möglichkeit, der zugleich erwünschten und gefürchteten Heirat zu entgehen, als den Sprung durchs Fenster.19 Die abschließenden Worte Kočkarevs, „Ich laufe zu ihm und hole ihn zurück“, thematisieren die Rückkehr der Komödie in den Anfang. Mit der Kreislaufstruktur als Ausdruck der Vergeblichkeit alles Tuns und der Abschaffung der Liebesintrige als zentralem Handlungsmotiv hatte Gogol’ die Komödie – von Menander bis zu Molière eine relativ konstante Kunstform – auf grundlegende Weise verändert. Im Rahmen der nationalen Literatur vollendete er damit die Herausbildung der Gesellschaftskomödie, ein Prozeß, den Fonvizin eingeleitet und Griboedov fortgesetzt hatte, und eröffnete gleichzeitig eine Entwicklungsperspektive in die Moderne, hin zur Groteske und zum Absurden Theater. Kein Dramatiker von Rang konnte sich in Rußland fortan diesen Errungenschaften verschließen. Und einige unter ihnen, die unmittelbarsten Nachfolger Gogol’s wie Ostrovskij und Suchovo-Kobylin im 19. Jahrhundert und Nikolaj Ėrdman im 20. Jahrhundert, kamen dem Typus der welthaltigen Komödie am nächsten, die der „Revizor“ unübertroffen verkörpert: in der die Unvernunft und die Nichtigkeit walten, Mißverständnisse die treibenden Kräfte bilden und die Unergründlichkeit der Angst die alle erfassende Emotion ist. Auf die besten Stücke dieser Art trifft zu, was der russische Denker Vasilij Rozanov über Gogol’s Werke sagte: Wenn man sie liest, „hört man auf, der Wirklichkeit zu vertrauen“.20

56

Das russische Drama

Aleksandr Ostrovskij (1823–1886), mit dem die bis weit ins 20. Jahrhundert – zu Majakovskij, Ėrdman, Bulgakov, ja selbst noch Vampilov – reichende Wirkungsgeschichte der Komödien Gogol’s einsetzt, hat von letzterem, der ihm erste Ratschläge erteilte, immer wieder Motive, Situationen, Spracheffekte und bühnentechnische Einzelheiten übernommen, dabei aber das Übernommene durchaus auf eigene, dem Wandel der Zeiten angepaßte Art und Weise variiert. Das beginnt mit der um 1847 konzipierten Komödie „Bankrot“ (Der Bankrott), die, als sie 1850 unter dem Titel „Svoi ljudi – sočtemsja“ (Es bleibt ja in der Familie) erschien, schon vorher durch zahlreiche öffentliche und private Lesungen bekannt geworden war. Es handelt sich um eine Gaunerkomödie, die das herkömmliche, über Gogol’s „Revizor“ bis auf die Intermedien des 17. Jahrhunderts wie etwa „O Letjagi sie“21 zurückzuverfolgende Motiv vom betrogenen Betrüger an einem aktuellen Stoff demonstriert: Der Kaufmann Bol’šov überträgt, um sich durch eine Bankrotterklärung zu bereichern, sein gesamtes Vermögen auf seinen Gehilfen und Schwiegersohn Podchaljuzin. Als er jedoch vor die Alternative gestellt wird, entweder seine Schulden durch Teilzahlung zu tilgen oder ins Schuldgefängnis geworfen zu werden, muß er erfahren, daß sowohl sein Schwiegersohn als auch die eigene Tochter nicht bereit ist, ihn vor dem Gefängnis zu bewahren. Bereits mit diesem Erstlingswerk führte Ostrovskij das für seine Komödien so typische Kaufmannsmilieu ein und zeichnete es als eine Welt, die nicht weniger korrupt ist als die der Beamten bei Gogol’. Dafür schuf er ein bestimmtes Figurenensemble, bestehend aus dem ungebildeten, despotischen Vater, dem sogenannten „samodur“, der beschränkten Mutter, der gefallsüchtigen Tochter und dem habgierigen, gerissenen Ladengehilfen, der mit der Tochter und dem Geld ihres Vaters verschwindet. Alle Gestalten sind ausnahmslos negativ gezeichnet. Ostrovskij folgte auch hier Gogol’, der als erster auf die für die frühere Komödie obligatorischen Verkörperungen menschlicher Integrität verzichtete. Später allerdings ist er gelegentlich, vor allem wenn es Schauspieler darzustellen galt, von der Ausschließlichkeit dieses Negativprinzips abgewichen. Der Fünfakter „Les“ (Der Wald, 1870)22, ein Höhepunkt in Ostrovskijs Komödienschaffen, bildet dafür ein anschauliches Beispiel. Ihm liegt ein Handlungsschema zugrunde, das Ostrovskij in Gogol’s „Revizor“ vorgefunden, dann aber weiterentwickelt hat: das Schema vom Fremden, der als Störenfried in ein Kollektiv eindringt. Zwei Jahre vorher hatte er es in der auch in Deutschland unter dem Titel „Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste“ vielgespielten Komödie „Na vsjakogo mudreca dovol’no prostoty“ (In jedem Weisen ist Einfalt genug) schon einmal benutzt und sich dabei noch stärker an das Gogol’sche Muster gehalten. Wie der Petersburger Beamte Chlestakov, den es in die Provinz verschlägt, wo er mit dem angekündigten, inkognito reisenden Regierungsbeamten verwechselt wird, ist Glumov, der Held dieses Stücks, ein „junger Mann“, und er ist zunächst ähnlich erfolgreich. Nur beruht sein Erfolg auf ganz anderen Voraussetzungen. Er hat sich vorgenommen, in der Moskauer guten Gesellschaft zu reüssieren.

VII. Die Komödienkunst Gogol’s und ihre Nachwirkung

57

Das heißt, ihm fehlt das Absichtslose und Spielerische, das Gogol’s Held auszeichnet. Er handelt von Anfang an völlig bewußt und geht ebenso zweckgerichtet wie zielstrebig vor. Als er durch Schmeichelei und Betrügerei fast am Ziel, einer hohen Stellung und reichen Heirat, angelangt ist, fällt sein Tagebuch, das alles offen und schonungslos festgehalten hat, in die Hände derjenigen, die ihn bisher protektionierten. Die Auflösung der Handlung erinnert erneut an den „Revizor“. Was dort der Brief Chlestakovs leistet, die Selbstentlarvung des Fremden und die Entlarvung des Kollektivs, leistet hier das ebenfalls laut verlesene Tagebuch Glumovs. Auch hier erkennt jeder sich selbst und seine Fehler, und auch hier fällt es jedem schwer, die Wahrheit zu ertragen. Das Tagebuch zeigt einerseits den Schreiber so, wie er wirklich ist und sich im Verlauf der Handlung präsentiert: als jemand, der um des eigenen Vorteils willen mit fast jedem Mittel arbeitet, sei es Schmeichelei, seien es Verstellung oder Täuschung, Lüge oder Intrige. Andererseits zeigt das Tagebuch, daß diejenigen, die Glumov mit solchen Mitteln hintergeht, keineswegs besser sind, ja daß es sich um ihre eigenen Mittel handelt. Zu Recht hält Glumov – der Gescheiteste, der auch einmal eine Dummheit macht (indem er ein Tagebuch führt und es sich entwenden läßt) – dieses Nicht-besser-Sein den anderen vor. So kommt es, daß die Gesellschaft, in die der Held als Außenseiter eingedrungen ist, den Eindringling nicht verstoßen kann. Widerwillig erkennt und akzeptiert das Kollektiv, daß der Störenfried einer der ihren ist. Er hat gleichsam die Aufnahmeprüfung bestanden. Ein typisch Gogol’sches Finale: Nichts hat sich geändert; alles bleibt beim alten. Es gibt keine Wiederherstellung der Ordnung wie in der älteren Komödie, sondern nur die Fortsetzung und Befestigung der Unordnung und Schlechtigkeit dieser Welt. Entlarvt in „Na vsjakogo mudreca dovol’no prostoty“ das Übel durch seine Darstellung sich selbst, übernimmt in „Les“ eine der Figuren des Stücks in Wort und Tat die Entlarvung. Ostrovskij variiert hier das Schema vom Fremden und dem Kollektiv. Der von außen Kommende ist jetzt ein rechtschaffener Charakter. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei um einen Schauspieler; denn Ostrovskij, der wie kein anderer russischer Dramatiker sein ganzes Leben dem Theater widmete, nicht nur in schriftstellerischer, sondern auch in organisatorischer und administrativer Hinsicht, war von größter Hochachtung und Wertschätzung gegenüber Beruf und Person des Schauspielers erfüllt. Davon zeugt eine Reihe von Stücken, die den Schauspieler und sein Milieu in den Mittelpunkt rücken. Hervorgegangen aus Ostrovskijs lebendigem Umgang mit einigen der bedeutendsten Bühnenkünstler seiner Zeit, wie er sich durch den 1865 gegründeten „Moskauer Schauspielzirkel“ (Artističeskij kružok) ergab, feiern diese Stücke die moralische Überlegenheit ihrer Protagonisten. Geht es in „Talanty i poklonniki“ (Talente und ihre Verehrer, 1882) um das traurige Schicksal einer jungen talentierten Schauspielerin, die das Opfer der männlichen Lebewelt wird, so in „Bez viny vinovatye“ (Schuldige ohne Schuld, 1884) um die bewegende Wiederbegegnung einer großen Schauspielerin mit ihrem unehelichen

58

Das russische Drama

Sohn, den sie seit langem aus den Augen verloren hat und der nun wie sie selbst zur Bühne gehört. Anders als hier bildet in „Les“ das Schauspielermilieu nicht die alleinige Welt der Komödie, sondern kontrastiert mit der gänzlich andersartigen Welt der Gutsbesitzer und Kaufleute. Dabei steht beides nicht nebeneinander. Vielmehr erscheint gleichsam das eine im anderen. Das heißt: Die beiden stellungslosen Wanderschauspieler Gennadij und Arkadij, die sich zu Beginn zufällig im Wald treffen, begeben sich gemeinsam auf das Gut von Raisa Gurmyžskaja, der reichen Tante des ersteren. Das Gut wird zum eigentlichen Schauplatz und damit zugleich zur Bühne, auf der Gennadij, der Vertreter des tragischen Fachs („der Unglückliche“), und Arkadij, der Vertreter des komischen Fachs („der Glückliche“), als angebliches Herr-Diener-Paar auftreten und zunehmend die Initiative ergreifen, nachdem sie festgestellt haben, in welche Welt der Heuchelei, Besitzgier und Amoralität sie geraten sind. Sie durchkreuzen die Pläne der Gurmyžskaja, die ihre arme Ziehtochter Aksin’ja mit dem gescheiterten Gymnasiasten Bulanov verheiraten will, um sich auf diese Weise einen jungen Liebhaber zu sichern, und zwingen den Kaufmann und Holzhändler Vosmibratov die Summe von 1000 Rubel zurückzugeben, um die er vorher die Gutsherrin betrogen hat. Am Ende ermöglicht Gennadij noch die bis dahin aussichtslose Verbindung zwischen Aksin’ja und Vosmibratovs Sohn Petr, indem er den Geldbetrag, mit dem ihn seine Tante anstelle berechtigter Erbansprüche abspeist, als Mitgift zur Verfügung stellt. Danach verabschiedet er sich mit einer großen Anklagerede, in der er den Wald, zuvor Handelsobjekt und stellenweise Ort der Handlung, zum Symbol für die vorgefundene Welt erhebt. Diese Welt, undurchdringlich wie ein Urwald, werde von Menschen bewohnt, die wilden Tieren gleichen. Indem das Stück so ausklingt, zeigt es, daß sein Verfasser keineswegs wieder hinter Gogol’ und Griboedov zurückfällt. Zwar führt er das in „Revizor“ und „Gore ot uma“ verworfene Heiratsmotiv erneut ein; aber das gute Ende gilt nur für die Liebenden. Die Bestrafung der Missetäter findet wie bei Griboedov und Gogol’ nicht mehr statt. In der bitterbösen Schlußtirade von Ostrovskijs tragischem Schauspieler erklingt keine Hoffnung auf Änderung der Gegebenheiten. Die Welt ist aus den Fugen geraten, und es gibt keine höhere Instanz, auch nicht in der Form stellvertretender Gestalten wie der des Räsoneurs Starodum und des Staatsdieners Pravdin in Fonvizins „Nedorosl’“, die daran etwas ändern und Ordnung und Gerechtigkeit wiederherstellen könnten. Es gibt nur noch die verzweifelten Ankläger wie Griboedovs Čackij und wie Gennadij bei Ostrovskij. Daß das Stück „Les“ trotz dieser negativen Botschaft von der Unverbesserlichkeit des üblen Kollektivs und der schmerzlichen Einsicht des integren Störenfrieds in die eigene Ohnmacht eine echte Komödie ist, an vielen Stellen sogar „von einer fast aristophanisch wilden Heiterkeit“23, ergibt sich aus seiner Struktur. Alles dramatische Gewicht und die ganze Spannung – das hat Ostrovskij von Gogol’ gelernt – liegt auf dem Ablauf des Ganzen.

VII. Die Komödienkunst Gogol’s und ihre Nachwirkung

59

Nicht die Auflösung, sondern der Prozeß bildet den Inhalt des komödiantischen Vorgangs. Und dieser Prozeß besteht darin, daß von Gennadijs Eintreffen auf dem Gut an hier jeder eine Rolle spielt: die Gutsherrin die Rolle der Tugendhaften, Pflichtbewußten und Selbstlosen, der Händler Vosmibratov die des ehrenwerten und korrekten Geschäftsmanns, der ehemalige Gymnasiast die des „jugendlichen Liebhabers“ der reichen Witwe. Gennadij, der mittellose Wanderschauspieler, gibt sich als vornehmer Herr aus, der Kollege vom komischen Fach als der ihn begleitende Diener. Gemeinsam ist allen, daß sie – bis auf Gennadij – ihre Rolle zum eigenen Vorteil nutzen. Doch Ostrovskij führt nicht nur ein allseitiges Rollen- und Maskenspiel seiner Figuren vor, sondern erhebt auch auf einer zweiten, die Handlung überwölbenden Ebene der Reflexion dieses Spiel zum durchgehenden Thema. Dazu gehört, daß die Figuren selbst darauf aufmerksam machen, wenn jemand eine Rolle angenommen hat. Als die Gurmyžskaja behauptet, ihre beabsichtigte Eheschließung mit dem jungen Bulanov bedeute für sie ein großes „Opfer“, nennt Milanov, ein reicher Nachbar, die Gutsbesitzerin eine „Heldin“, was Bodaev, einen anderen reichen Nachbarn, sofort zur Korrektur veranlaßt: „Was denn, Heldin? Spielt Komödie.“24 Wie Gogol’s „Revizor“ ist Ostrovskijs „Les“ somit eine Komödie, in der fortgesetzt nochmals eine Komödie stattfindet. Diese Verdoppelung der Spielstruktur stellt bei aller Unterhaltsamkeit für den Zuschauer keinen Selbstwert dar. Sie dient, abgesehen davon, daß sie auf das problematische Verhältnis von Sein und Schein verweist, der moralischen und gesellschaftlichen Entlarvung der Figuren und ihrer Welt. Diese Welt – darin besteht die Pointe des Stücks – erscheint als eine verkehrte Welt: Hier spielen nicht die Künstler, zu deren Beruf das Spiel gehört, sondern die normalen Bürger. „Ihr seid die Komödianten“, ruft Gennadij ihnen am Ende zu, „die Narren, nicht wir“25. Das heißt, diejenigen, die wie die Gurmyžskaja aufgrund ihrer vermeintlichen Sittenstrenge wahres Menschentum zu verkörpern scheinen, erweisen sich als Komödianten, und die Komödianten wie Gennadij, der sein letztes Geld hingibt, damit Aksin’ja glücklich wird, erweisen sich als die wahren Menschen. Letztlich zielt Ostrovskij wieder über die soziale Satire hinaus ins Grundsätzliche und Allgemeingültige. Ostrovskijs Freude an der Entfaltung eines Spiels im Spiel kehrt bei Aleksandr Suchovo-Kobylin (1817–1903) wieder und sogar in deutlich gesteigerter Form. Kein anderer Dramatiker vor Nikolaj Ėrdman und den „Obėriu“-Künstlern Charms und Vvedenskij in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hat wie er die transrationalen Verfahrensweisen Gogol’s so konsequent fortgeführt, ja geradezu auf die Spitze getrieben. Seine Dramentrilogie „Kartiny prošedšego“ (Bilder aus der Vergangenheit), die von Betrügern, Heiratsschwindlern, bestechlichen Ministerialbeamten und der Unheimlichkeit der bürokratischen Maschinerie handelt, ist zunächst einmal eine satirische Darstellung der Justiz und des verbreiteten Betrugswesens im zeitgenössischen Rußland und als solche einer der schärfsten Angriffe auf den Beamtenapparat des Zarenreichs überhaupt. Suchovo-Kobylin treibt dann aber durch eine neuartige

60

Das russische Drama

Vermischung der Stilmittel und der Gattungsformen das Realistisch-Satirische bis ins Grotesk-Phantastische. In den drei Stücken der Trilogie, die, inhaltlich durch das Betrugsthema geeint, strukturell so verknüpft sind, daß die Handlung des vorhergehenden Teils den Ausgangspunkt für die Intrige des folgenden bildet, erscheint die Welt nicht nur verzerrt, sondern auch total verfremdet, und dies in stetiger Steigerung. Im ersten Stück „Svad’ba Krečinskogo“ (Die Hochzeit Krečinskijs, 1855), versucht der verarmte Adlige Krečinskij seine Lage durch die Heirat mit der Tochter des vermögenden Gutsbesitzers Muromskij zu verbessern. Seine Hochstapelei wird aufgedeckt, trotzdem verliert Muromskij einen großen Teil seines Geldes. In einen Prozeß verwickelt, rückt er im zweiten Stück, „Delo“ (Der Prozeß, 1861), ins Zentrum des immer turbulenter werdenden Geschehens. So wie vorher keine Hochzeit stattfand, wird jetzt kein Gerichtsurteil gesprochen. Der ehrenhafte Gutsbesitzer stirbt, nachdem man ihn auch noch um den Rest seines Vermögens gebracht hat. Damit ist das Grundmotiv des letzten Stücks, „Smert’ Tarelkina“ (Der Tod Tarelkins, 1869) angeschlagen. Hier wird selbst der Tod noch zum Betrug. Der Kollegienrat Tarelkin, in der Kanzlei tätig, die Muromskijs Sache behandelt hat, und für die Erpressung des Gutsbesitzers verantwortlich, meldet sich als verstorben, um den Nachstellungen der Gläubiger zu entgehen, und lebt unter anderer Identität als Hofrat Sila Kopylev weiter. Die notwendigen Mittel für die neue Existenz hofft er von seinem Vorgesetzten, dem Staatsrat Varrarin, zu erpressen, der sich an Muromskij bereichert hat. Nach der Auseinandersetzung zwischen dem Guten und dem Bösen in „Delo“ geht es in „Smert’ Tarelkina“, nachdem mit Muromskijs Tod das Gute aus der Welt verschwunden ist, um die alleinige Herrschaft des Bösen, aufgespalten in zwei Vertreter, die sich unter der Maske der Anständigkeit intrigenreich bekämpfen. In diesem „tückischen Spiel der Dämonen“26 verliert die Welt, dargestellt mit allen Mitteln der Verzerrung und der Verfremdung, befreit von den Gesetzen der Logik, ihre Stabilität und damit ihre Vertrautheit. Lange vor dem Auftreten von Charms und Vvedenskij vermittelt Suchovo-Kobylin ein Gefühl von der Absurdität des Daseins. Vsevolod Mejerchol’d, der Regisseur der berühmten „Revizor“-Aufführung von 192627, hat offensichtlich etwas von diesem Daseinsgefühl eingefangen, als er 1922, zum zweitenmal nach 1917, den Schlußteil der Trilogie inszenierte und dabei die Exzentrik der Handlung in die Mechanik von Maschinen und die Akrobatik der Schauspieler übertrug. So hatte Suchovo-Kobylin den von Gogol’ eingeschlagenen Weg des russischen Dramatikers in die literarische Moderne fortgesetzt und auf eine neue Stufe der Entwicklung geführt. Über die Grotesken Koz’ma Prutkovs, in denen die dialogische Redekontinuität aufgegeben ist28, und die frühen, zwischen 1885 und 1889 verfaßten Farcen Anton Čechovs mit ihrer Störung der logischen und kausalen Verknüpfung der Vorgänge29 wurde dieser Weg dann konsequent weiterverfolgt. Im Bereich der ernsten Dramatik blieb man dagegen stärker der Tradition verhaftet. Nachdem sich schon Puškin in „Boris Godunov“ über zentrale

VIII. Die Renaissance der Tragödie in der Epoche des Realismus

61

Forderungen der klassizistischen Poetik hinweggesetzt hatte, erfolgte durch die Wiederbelebung der tragischen Gattungsform am Ende der fünfziger Jahre eine Rückkehr zu alten Prinzipien wie der Fünfaktigkeit, der pyramidalen Komposition und der Erzeugung finaler Spannung. VIII. Die Renaissance der Tragödie in der Epoche des Realismus Im Frührealismus der vierziger Jahre gab es einen starken Vorbehalt gegenüber der Tragödie, die von Belinskij noch als „höchste Stufe und Krone der Kunst“1 bezeichnet worden war. Der Grund lag nicht nur in der Ablehnung des Regelzwangs, der sich seit alters her mit dieser Gattungsform verband, sondern auch in der Überzeugung, daß der tragische Schicksalsbegriff und der moderne Fortschrittsgedanke unvereinbar seien. Erst im Verlauf der Herausbildung des Realismus scheinen sich die Vorbehalte verringert zu haben; denn von den acht Stücken, die 1860 der Jury für die Verleihung des Uvarov-Preises der Akademie der Wissenschaften eingereicht wurden, bestand die Hälfte aus Tragödien. Zwei von ihnen, Ostrovskijs „Groza“ (Das Gewitter) und Pisemskijs „Gor’kaja sud’bina“ (Ein bitteres Los), beide 1859 entstanden, wurden mit dem Uvarov-Preis ausgezeichnet und leiteten damit eine Renaissance der Tragödie ein, die sich nicht zuletzt aus dem Überdruß des Publikums an den die russische Bühne von den dreißiger bis zu den fünfziger Jahren beherrschenden Formen des Melodramas und des Vaudevilles erklären läßt. „Auf der Sprechbühne“, schrieb Gogol’ 1836 in „Peterburgskie zapiski“, „haben sich das Melodram und das Vaudeville breitgemacht, zugereiste Gäste, die im französischen Theater die Herren waren, im russischen aber eine höchst merkwürdige Rolle spielen.“2 Der „zugereisten Gäste“ überdrüssig, erwartete der Zuschauer jetzt von der Bühne nicht mehr bloße Zerstreuung, er verlangte nach Stücken, die wie die Werke der neuen realistischen Erzählliteratur durch ihren Zeit- und Wirklichkeitsbezug das gewachsene Informationsbedürfnis befriedigten. Ostrovskij und Aleksej Pisemskij (1820–1881), der wie der erstere zunächst Komödien geschrieben hatte, zum Beispiel die Charakterkomödie „Ipochondrik“ (Der Hypochonder, 1852), entsprachen den allgemeinen Erwartungen, als sie sich Ende der fünfziger Jahre der Tragödie zuwandten und das tragische Geschehen entgegen der Tradition nicht an hohen Standespersonen, sondern an Vertretern sozial niedrigerer Schichten exemplifizierten. Ostrovskijs Heldin Katerina Kabanova ist eine junge Kaufmannsfrau, die im Haus ihrer tyrannischen Schwiegermutter lebt, gefesselt an einen schwachen, ängstlichen Ehemann, der sie zwar liebt, aber vor der Brutalität der Familie nicht zu schützen vermag. Der Konflikt entsteht aus der Untreue der Heldin. Ihre Hingabe an einen sanften jungen Mann, dem schon seit langem ihre geheime Zuneigung gilt, empfindet Katerina als Befreiung aus einer unerträglichen Gefangenschaft. Dennoch bekennt sie sich unter dem Eindruck eines Gewitters öffentlich schuldig. Die Familie, die den Ehebruch als schwere Sünde betrachtet, treibt die „Sünderin“ in den Selbstmord. Pisemskijs Held ist ein leibeigener Bauer, gleichwohl ein nicht un-

62

Das russische Drama

vermögender Händler, der einmal nach der Rückkehr aus Petersburg feststellen muß, daß ihn seine Frau mit dem Gutsbesitzer Čeglov, seinem Herrn, einem Idealisten und Schwächling, betrügt. Ananij, ein starker Charakter, deckt die Verfehlung Lizavetas nach und nach auf, tötet am Ende das Kind, das der illegitimen Verbindung entstammt, und liefert sich danach freiwillig dem Gericht aus. Dem Fehlen der Fallhöhe durch die Ersetzung des aristokratischen Protagonisten steht eine Zunahme an Vermenschlichung gegenüber – bei Pisemskij noch stärker als bei Ostrovskij, der erstmals in der russischen Dramatik die Natur nicht nur als Hintergrund der Handlung benutzt, sondern fest ins Gesamtgeschehen integriert, so daß sie das Seelendrama der Heldin reflektiert und symbolisch die bevorstehende Reinigung von Atmosphäre und Gewissen verkündet. Pisemskij entwickelt, bei geringerer Larmoyanz als Ostrovskij, aber mit um so größerer psychologischer Überzeugungskraft sowohl den Konflikt zwischen der Macht des Gutsbesitzers und der Würde des Untergebenen als auch den Konflikt zwischen dem Recht auf eheliche Treue und dem Anspruch auf freie Liebe (denn Čeglov und Lizaveta sind einander tatsächlich tief verbunden), und er verschärft die Verdoppelung des Konflikts noch, indem er im Zuschauer gleichzeitig Sympathie für die unrechtmäßig Liebenden und Verständnis für den verletzten Ehemann weckt. In beiden Stücken fehlt der Katastrophe die zwingende Notwendigkeit. Das Geschehen ist traurig, aber nicht wirklich tragisch im strengen Sinn des Begriffs. Was die tradierte Gattungsform an Höhe einbüßt, gewinnt auf der anderen Seite ihr (neuer) Held: Das „unterprivilegierte Subjekt“ erhält eine „eigene Geschichte“, ein „Schicksal“ und somit erstmals auch ein eigentliches „Menschsein“.3 Diese bei Ostrovskij und Pisemskij zu beobachtende Entwicklung der Tragödie, die Stärkung der ordo naturalis also zu Lasten der ordo artificialis4, erreichte im Spätwerk Lev Tolstojs (1828–1910) ihren Höhepunkt und Abschluß. Tolstoj hatte unter dem Einfluß früher Komödien Ostrovskijs wie „Bankrot“ oder „Bednaja nevesta“ (Die arme Braut, 1852) und „Bednost’ ne porok“ (Armut schändet nicht, 1854), an denen er, mehr noch als an Gogol’s „Revizor“, die Authentizität des dargestellten Milieus und die Eindringlichkeit der szenischen Bilder bewunderte, zunächst in den fünfziger und dann in den sechziger Jahren erste Versuche auf dramatischem Gebiet unternommen.5 Erst in den achtziger Jahren, nach Abschluß der großen Romane „Vojna i mir“ (Krieg und Frieden, 1863–1869) und „Anna Karenina“ (1873–1877), kehrte der Epiker Tolstoj auf dem Umweg über die Beschäftigung mit dem Volkstheater zu ernsthafter Bühnentätigkeit zurück. Erschüttert von der Armut eines nicht unbeträchtlichen Teils der Stadtbevölkerung und der Not in den Arbeitshäusern und Nachtasylen, entdeckte er im April 1884, während des Jahrmarkttreibens vor dem Jungfrauenkloster, die Begeisterung einfachster Menschen für theatralische Darbietungen. Das brachte ihn auf den Gedanken, Stoffe aus der Volksliteratur, Märchen, Schwänke, Legenden, szenisch zu bearbeiten.6 Theater als Lebenshilfe und In-

VIII. Die Renaissance der Tragödie in der Epoche des Realismus

63

strument der Erziehung – das war die Aufgabe, die sich Tolstoj stellte und die nach jahrelangem Schreibverzicht seine Rückkehr zur Literatur rechtfertigte. Diese Vorstellung ging auch in seine künstlerischen Bühnenwerke ein, die seit 1886 entstanden. Gleich im ersten, dem fünfaktigen Drama „Vlast’ t’my“ (Macht der Finsternis)7, ist sie deutlich zu erkennen. Dennoch handelt es sich um echte Dichtung. Tolstoj gelang es jetzt, die beklemmende Düsterkeit jener Welt zu erzeugen, ja sogar zu übertreffen, die Ostrovskij, an die satirische Tradition des 18. Jahrhunderts anknüpfend, dem russischen Publikum nach 1850 erschlossen hatte. Nur entfaltete sich die Düsterkeit nicht im Milieu der Moskauer Kaufmannschaft, sondern in der Sphäre der einfachen Landbevölkerung. „Vlast’ t’my“ ist wie Pisemskijs „Gor’kaja sud’bina“ eine Bauerntragödie. Auch die zentralen Handlungselemente des Stücks von 1850, dem Tolstoj unmittelbare Anregungen verdankt, kehren hier wieder: der Ehebruch, die Kindestötung, die Selbstauslieferung. Und doch entstand etwas ganz Neues. Die Motivationen, die Leidenschaften und die Zielsetzungen der Menschen haben sich geändert. Vor allem aber hat das Ungeheuerliche zugenommen. Dabei kommt der Stoff direkt aus dem Leben. Tolstoj entnahm ihn den Akten des Tulaer Kreisgerichts. Ein siebenunddreißigjähriger Bauer, der mit einer fünfzigjährigen Witwe verheiratet war, gestand am Hochzeitstag seiner Stieftochter vor den anwesenden Gästen, er habe mit der Braut ein Verhältnis gehabt und das aus diesem Verhältnis hervorgegangene Kind getötet. Nicht genug: Nach dem Geständnis schlug er in blinder Erregung auch noch seine legitime sechsjährige Tochter nieder. Tolstoj ließ den Mordversuch an der Tochter weg. Dafür erfand er die Vergiftung des ersten Ehemanns hinzu. Ein weiteres Lebensmoment, das unverändert in die Handlung einging, lieferte die Begegnung mit einem alten Mann, der darüber klagte, daß sein Sohn ein Mädchen verführt habe, das gegebene Eheversprechen jedoch unter keinen Umständen halten wolle. Die eigentlichen Veränderungen nahm Tolstoj an den Personen vor. Auffällig ist dabei die extrem negative Zeichnung der Frauen. Matrena, die Mutter des jungen Knechts Nikita, und Anis’ja, die Ehefrau des reichen Bauern Petr, begehen gemeinsam ein Verbrechen, die eine aus Geldgier, die andere aus sinnlicher Leidenschaft. Obwohl nur Anstiftende, nicht Ausführende, erscheint Matrena als der aktivere Teil. Sie bringt das Pulver, mit dem Anis’ja ihren kränklichen Mann vergiftet, um Nikita, ihren heimlichen Liebhaber, heiraten zu können. Sie drängt darauf, daß Anis’ja dem Sterbenden das ersparte Geld entwendet, bevor dessen herbeigerufene Schwester eintrifft. Sie verkuppelt die schwangere Akulina, die sechzehnjährige Tochter Petrs aus erster Ehe, die ihre Stiefmutter mit ihrem Stiefvater betrogen hat, an einen der Brautwerber. Und sie vollendet den von Nikita vollzogenen Kindsmord, indem sie das getötete Neugeborene im Keller verscharrt. So bewahrheiten sich die Worte von Nikitas Vater, einem einfachen, gottesfürchtigen Mann: „Sünde hängt sich an Sünde, eine zieht die andere nach sich.“8 Daß Böses Böses erzeugt, daß aus Schuld neue Schuld entsteht, liegt als Grundgedanke bereits antiken Tragödien zugrunde. Tolstoj nimmt die uralte Vorstellung, ins Christliche

64

Das russische Drama

und persönlich Moralische gewendet, wieder auf. Sein Held, genauer Anti-Held, ist das Opfer jener Zwangsläufigkeit, die das einmal begangene Vergehen, der Ehebruch und keineswegs erst der Giftmord, in Gang setzt. Nikita zeigt sich der Tat nicht gewachsen, zu der er von Anis’ja und Matrena getrieben wird. Seine Schuld liegt darin, daß er dem im Weiblichen verkörperten Prinzip des Bösen9 zu wenig Widerstand geleistet hat. Als er das schließlich erkennt, übernimmt er die Verantwortung nicht nur für die eigenen Verfehlungen, sondern auch für die Verfehlungen der anderen. Tolstojs Bauerntragödie, die zugleich Ehedrama und Sozialdrama ist, mündet am Ende in ein Drama der Läuterung. Dieser Schluß mit seiner zutiefst christlichen Lösung entzieht das Stück der kompromißlosen Härte der antiken Tragödie. Zwar findet sich wie dort die Kausalkette der bösen Tat, die hier bezeichnenderweise „Sünde“ genannt wird. Doch die Zwangsläufigkeit erweist sich als scheinbar. Sie ist keineswegs schicksalhaft verhängt. Der einzelne verfügt über die Freiheit, sich für oder gegen das Böse zu entscheiden. Deshalb herrscht auch keine vollständige Determinierung des Menschen durch Erbanlagen, Milieu oder physiologische Eigenheiten, obwohl Gerhart Hauptmann seine Wendung zum Naturalismus auf die Bekanntschaft mit „Vlast’ t’my“ im Jahr 1888 zurückführte.10 Was Hauptmann und andere naturalistische Dramatiker bis hin zu Eugene O’Neill in erster Linie bei Tolstoj studieren konnten, war weniger der Umgang mit der Kategorie des Tragischen als die Anwendung des Realismus, das heißt seine Übertragung von der erzählenden Literatur auf die Bühne und ihre Gesetzmäßigkeiten. So hatte schon der Romanschriftsteller Theodor Fontane in seiner Besprechung der deutschen Uraufführung von „Vlast’ t’my“ am 26. Januar 1890 an der Berliner Freien Bühne festgestellt: „Die moderne realistische Kunst hat nichts Besseres und trotzdem wir überall in Nacht blikken, nichts heilig Leuchtenderes aufzuweisen als dieses Stück.“11 Als problematisch erwies sich, nicht nur für Tolstoj, das Verhältnis des realistischen Theaters zum Tragischen. Die Kategorie der klassisch-idealistischen Ästhetik, die nach Hegels Tod zu einem der Hauptkritikpunkte der linken Kritik geraten war (in Rußland vornehmlich bei Černyševskij und Dobroljubov), ließ sich schwer mit der Darstellung unverblümter Alltagswirklichkeit in Übereinstimmung bringen. Deshalb versuchten Ostrovskij und Pisemskij, nachdem sie 1859 mit „Groza“ und „Gor’kaja sud’bina“ der russischen Literatur die Gattungsform Tragödie zurückgewonnen hatten, Tragik im Sinne der Antike als unabwendbares Schicksal durch die Gestaltung geschichtlicher Stoffe zu erzeugen. Sie sahen darin zugleich eine nationale Aufgabe. In den dreißiger Jahren hatte Nestor Kukol’nik mit patriotischen Schauspielen im theatralisch-rhetorischen Stil über die „Zeit der Wirren“ (smuta) wie „Ruka Vsevyšnego otečestvo spasla“ (Die Hand des Allmächtigen hat unser Vaterland gerettet, 1834) oder „Knjaz’ Michail Vasilevič Skopin-Šujskij“ (Fürst Michail Vasilevič Skopin-Šujskij, 1835), die ein naives Publikum begeisterten, den Verfall der russischen Dramatik nach dem Gipfelpunkt von Puškins „Boris Godunov“ dokumentiert.

VIII. Die Renaissance der Tragödie in der Epoche des Realismus

65

Nicht nur Kukol’nik, sondern auch das gesamte bisherige Tragödienschaffen in Rußland bis zurück auf Sumarokov verwerfend, verfaßte Pisemskij zwischen 1864 und 1868 eine Anzahl Stücke, die „Schwellenperioden der nationalen Geschichte“ gestaltend12, den Versuch unternahmen, an die Leistungen der Antike anzuschließen: „Samoupravcy“ (Die Tyrannen), „Poručik Gladkov“ (Oberstleutnant Gladkov), „Miloslavskie i Naryškiny“ (Die Miloslavskijs und die Naryškins), „Byvye sokoly“ (Die altgewordenen Falken) und „Ptency poslednogo sleta“ (Die letzten Jungvögel verlassen das Nest). Doch diese historischen Tragödien, die Pisemskij im Sinne einer Selbstfeier der Nation verstand, entsprachen nur bedingt seinem eigenen Anspruch. Zu wenig war die Tragik festverwurzelt in Handlung und Charakter, zu sehr überwucherten szenische Effekte und melodramatische Wirkungen von Duellen und Messerstechereien bis zu Wahnsinnsmonologen und dem Motiv der Blutschande den Ablauf des Geschehens13 und verhinderten die wahre Erschütterung des Zuschauers durch die dargestellten Schicksale. Maßvoller war in dieser Hinsicht der erfahrene Bühnenkünstler Ostrovskij. Bisher Verfasser von Gegenwartsstücken, hatte er sich, angeregt durch den großen Erfolg der Aufführung von Lev Mejs Historiendrama „Pskovitjanka“ (Die Frau von Pskov, 1860), 1862 entschlossen, wie Pisemskij der Zeittendenz folgend, russische Geschichte mit den Mitteln der Dichtung zu gestalten und damit das allgemeine Bedürfnis nach nationaler Identität zu befriedigen. Nicht zufällig begann Lev Tolstoj 1863 mit der Arbeit an „Vojna i mir“ und der Darstellung seiner Sicht des Vaterländischen Kriegs. Ein Jahr zuvor war als Fortsetzungsfolge in Katkovs Zeitschrift „Russkij vestnik“ (Der russische Bote) der historische Roman „Knjaz’ Serebrjanyj“ (Fürst Serebrjanyj) von Aleksej Konstantinovič Tolstoj erschienen, der, von der Leserschaft bis hin zur Zarin begeistert, von der Kritik zurückhaltend aufgenommen, am Beispiel der fiktiven Gestalt eines edelmütigen Bojaren die Zeit der Schreckensherrschaft Ivans IV. schildert. 1867– 1870 folgten, daran anschließend, unter den Titeln „Smert’ Ivana Groznogo“ (Der Tod Ivans des Schrecklichen), „Car Fedor Ioannovič“ und „Car Boris“, drei historische Tragödien, die sich mit der Gestalt Boris Godunovs als dem einheitsstiftenden Helden zu einer Trilogie über die „Zeit der Wirren“ rundeten.14 Im Unterschied zu Tolstojs ausgreifender Epochendarstellung beschränkte sich Lev Mej, der es verstand, Strenge der Form mit lyrischer Ausdruckskraft und volkstümlich-epischer Motivik zu verbinden, in „Pskovitjanka“ auf einen Ausschnitt: das Liebesverhältnis Ivans IV. zu einer Bojarin, aus dem das schöne Bojarenmädchen Ol’ga hervorging, allerdings mit der Absicht, eine Antwort auf die ungelöste Frage der Geschichtsschreibung zu geben, weshalb der Herrscher 1570 zwar zwei Städte, Pskov und Novgorod, des Verrats verdächtigte, aber nur die zweite bestrafte.15 Ostrovskij griff im Vergleich zu Mej stofflich und thematisch weiter aus. Die sechs Stücke, in denen er das dramatische Geschehen von der Gegenwart in die Vergangenheit verlegte, zuerst „Minin“ (1862) und „Voevoda“ (Der Statthalter,

66

Das russische Drama

1865), dann die Trilogie um den Falschen Dimitrij und Vasilij Šujskij (1867), schließlich „Vasilisa Melent’eva“ (1869), alles mehr chronicle plays als reine Tragödien, schöpften ihre Stoffe und Themen aus der smuta-Periode, einer Zeit, die reich war an sozialen und politischen Konflikten und daher von sich her voller äußerer Spannung. Kein Zweifel, daß Ostrovskij die dargestellte Geschichte auch vor dem eigenen Zeithintergrund sah, den sechziger Jahren mit den Reformen, den Unruhen und den zahlreichen nach Lösungen drängenden Problemen. Wie Puškin in „Boris Godunov“, an dessen „shakespearescher“ Technik er sich orientierte, nutzte er die Rolle des Volks als bewegender und verantwortungsvoller Kraft und ließ die historischen Ereignisse oft unmittelbar aus dem privaten Leben und dem alltäglichen Sein von Menschen niederer und mittlerer Schichten hervorgehen.16 Das Volk will „sich orientieren“, bemerkte SaltykovŠčedrin zu Ostrovskijs historischer Dramatik, und „seine Lage klären“.17 Fand früher der tragische Konflikt allein in der Seele des Helden oder der Heldin statt wie im romantischen Drama bei Pogodin, Rozen und Kukol’nik18 oder wie selbst noch bei Ostrovskij einige Jahre zuvor in „Groza“, erfaßt er nun auch das kollektive Bewußtsein einer Schicht, die dabei ist, sich gesellschaftlich zu Wort zu melden. Der Rückgriff auf die Historie war also bei Ostrovskij, im Unterschied zu epigonalen Autoren jener Jahre wie Nikolaj Čaev und Dmitrij Averkiev19, alles andere als eine Rechtfertigung der bestehenden Ordnung. Zensurschwierigkeiten ergaben sich daher fast zwangsläufig und erforderten vor der Genehmigung der Aufführungen mehr oder weniger starke Überarbeitungen des Textes. Nachdem sich auch die Bühnenerfolge in Grenzen hielten, kehrte Ostrovskij 1869 als Dramatiker in die eigene Zeit und auf sein eigentliches Terrain zurück: das der Komödie. In „Bešenye den’gi“ (Tolles Geld) aktualisierte er die alte Figur des Kaufmanns, indem er sie im Gewand des modernen Geschäftsmannes zeigte. Von nun an war die Welt der Komödie bei Ostrovskij eine Welt des Kommerzes. Wieder schloß sich Pisemskij an. Seine Zeitstücke aus den siebziger Jahren, Komödien wie „Chiščniki“ (Raubtiere, 1873) oder Tragödien wie „Vaal“ (Baal, 1873) und „Prosveščennoe vremja“ (Die aufgeklärte Zeit, 1875), sind bevölkert von den typischen Gestalten des auch in Rußland prosperierenden Kapitalismus: Unternehmer, Bankrotteure, Aktionäre und Spekulanten.20 „Finansovyj genij“ (Das Finanzgenie) lautet bezeichnenderweise der Titel eines Stücks von 1876. Ostrovskij und Pisemskij hatten, in die Gegenwart zurückkehrend, erkannt, daß die Bühnenkunst, zumal im Zeitalter des Realismus mit seinem Wirklichkeitsanspruch, ein geeignetes Medium war, um auf gesellschaftliche Entwicklungen und allgemeine Zeitströmungen unmittelbar reagieren zu können. Ihr Einfluß auf Lev Tolstoj in dieser Hinsicht ist unbestritten, insbesondere als der große Epiker, Mitte der achtziger Jahre zur Literatur zurückgekehrt, wieder anfing, für das Theater zu schreiben. 1886, als er an „Vlast’ t’my“ arbeitete und die Gesellschaftskomödie „Plody prosveščenija“ (Früchte der Bildung) in Angriff nahm, beschäftigte er sich erneut intensiv mit Ostrovskij, den er schon 1857 in einem

VIII. Die Renaissance der Tragödie in der Epoche des Realismus

67

Brief an Botkin einen „genialen Dramatiker“21 genannt hatte. Auch Pisemskij gewann in diesem Zusammenhang, vor allem als Autor der Bauerntragödie „Gor’kaja sud’bina“, noch einmal eine unmittelbare Bedeutung. Was Tolstoj von den beiden Exponenten des russischen realistischen Theaters lernte, war nichts anderes als das, was dann die Naturalisten um Gerhart Hauptmann so sehr bei ihm bewunderten: die Ungeschminktheit und Wahrhaftigkeit in der Wiedergabe des Lebens, die Genauigkeit der detailliert protokollierenden Zustandsschilderung, die Intensität der psychologisch differenzierten Beschreibung seelischer Vorgänge sowie die Individualisierung und Nuancierung des Redestils der dramatis personae. Auf das letztere richtete sich Tolstojs besondere Aufmerksamkeit als Dramatiker, verständlich bei einer Kunstform, die durchweg aus Dialogen besteht, und bei der sich die Figuren aus dem geschriebenen Wort lösen, um auf der Bühne selbst redend und handelnd in Erscheinung zu treten. Die Sprache war jetzt für Tolstoj nach eigener Aussage das „wesentliche, wenn nicht einzige Mittel der Darstellung von Charakteren“.22 Jede Figur müsse eine „eigene, ihrem Charakter entsprechende Sprache sprechen“.23 Deshalb notierte sich Tolstoj, was er unterwegs an Redewendungen, geläufigen Sprichwörtern, berufs-, fach- und klassenspezifischen Ausdrücken hörte. „Ich habe meine Notizbücher geplündert“, äußerte er sich während der Entstehung von „Vlast’ t’my“, um das Stück „schreiben zu können“.24 Als Tolstoj im Anschluß an die Bauerntragödie in „Plody prosveščenija“, einer Satire auf den religiösen Aberglauben der „gebildeten“ höheren Gesellschaftskreise, die Welt der Bauern mit der Welt des Adels kontrastierte, ergab sich ein noch ergiebigeres Experimentierfeld der Sprache. Nicht genug, daß die eine Personengruppe die mit französischen Floskeln durchsetzte Salonsprache benutzt und die andere die niedere Volkssprache mit ihren Vulgarismen, Lakonismen und Dialektismen. Vielmehr spricht jeder, bei aller Bindung an die stilistische Tonart seiner Klasse, auf eine Weise, die sichtbar im charakterlichen Sosein wurzelt.25 Zvezdincev, der liebenswürdige Adlige und gastfreundliche Hausherr, beherrscht die Wendungen gesellschaftlicher Höflichkeit; aber seine dürftigen Sätze, die sich durch Nachlässigkeit, Zufälligkeit und Zusammenhangslosigkeit auszeichnen, sind das Ergebnis fehlender Disziplin im Denken und verraten einen ausgeprägten Mangel an Substanz. Krugosvetlov, ein Professor, höflich, korrekt, beherrscht in Umgangsform wie sprachlichem Verhalten, redet meistens so, als hielte er eine Vorlesung, wobei er durch gelehrte Termini und kunstvolle syntaktische Fügungen eine phantastische Gedankenwelt eröffnet, an deren Existenz keine Zweifel geduldet werden. Auch bei den Bauern, die alle die gleiche derbe, ungelenke Sprache des ländlichen Alltags benutzen, zeigen sich Unterschiede bereits im Reden. Der eine, dem das städtische Milieu nicht ganz fremd ist, kennt die Titel der Angestellten des herrschaftlichen Hauses und verwendet mit Vorliebe gehobene Ausdrücke und unbewußt entstellte Fremdwörter. Ein anderer, der ein kritischeres Verhältnis zur höheren Gesellschaft hat, übersetzt das, was der erstere sagt, ins Allgemeinver-

68

Das russische Drama

ständliche und belebt seine ebenso einfachen wie klugen Ausführungen durch Sprichwörter und witzige Redensarten. An diese Technik der individualisierenden und nuancierenden Sprachgebung knüpfte Tolstoj an, als er nach dem Ausflug ins Komödiantische und längerer Unterbrechung des dramatischen Schaffens zugunsten des epischen auf das Feld des ernsten, tragischen Schauspiels zurückkehrte. Auch jetzt wurde die dramatische Figur von ihrer Sprache her entworfen. Deshalb kritisierte er 1903, im Rahmen seines berühmten Shakespeare-Traktats, den großen englischen Dramatiker: „Alle Gestalten bei Shakespeare sprechen nicht ihre eigene, sondern immer ein und dieselbe geschraubte und unnatürliche Sprache“.26 Drei Jahre vorher, im Januar 1900, hatte Tolstoj beim Besuch einer Aufführung von Čechovs „Djadja Vanja“ durch das Moskauer Künstlertheater den Anstoß zur Verwirklichung eines Plans erhalten, der erstmals in einer Tagebuchnotiz des Jahres 1897 auftaucht. Es handelt sich dabei um den Plan zu dem Drama „Živoj trup“ (Der lebende Leichnam). Grundlage war wieder ein Fall, mit dem sich die russische Justiz beschäftigen mußte. Nikolaj Gimmer, ein Trinker und Herumtreiber, trennte sich nach zweijähriger Ehe von seiner Frau, die ihn einige Zeit später bat, Selbstmord vorzutäuschen, damit sie erneut heiraten konnte. Der Betrug kam heraus, und beide wurden zu Gefängnisstrafe und Zwangsarbeit verurteilt. Zwar trieb Tolstoj, ehe er an die Niederschrift ging, wie für „Vlast’ t’my“ genaue Milieustudien, diesmal in Kneipen und in Nachtasylen; doch das fertige Werk erinnert kaum noch an die voraufgegangene Bauerntragödie. Aus den engen Grenzen der Tolstojschen Morallehre gelöst, gewann es, sechsaktig, vielfigurig, auch in dramaturgischer und konzeptioneller Hinsicht eine neue Freiheit. Wie bei Čechov gibt es keine Statik der Figuren, keine ausgeprägte Charakterdominante, keine Verteilung von Gut und Böse. Statt dessen finden sich nur widersprüchliche Naturen, die zwischen Tugend und Laster schwanken. Fedja Protasov, wie Nikolaj Gimmer im Stück heißt, erscheint trotz seiner Willensschwäche und seinem Hang zu zügellosem Leben als der eigentlich moralische Mensch. Er durchschaut die Verkehrtheit der gesellschaftlichen Mechanismen und flüchtet, Rettung suchend in einer einfachen, unkomplizierten Daseinsweise, aus Haus, Hof – und Leben. Seinen Freitod simulierend, wird er zum „lebenden Leichnam“. Als der Betrug entdeckt wird, kommt seine Frau, die er durch seine vorgebliche Tat „befreien“ wollte und die inzwischen einen anderen Mann geheiratet hat, als Bigamistin vor Gericht. Das Tragische für den Helden besteht darin, daß die Gesellschaft, der er entflohen ist, ihm nicht erlaubt, auf seine Weise aus dem Leben zu entschwinden, sondern ihn durch ihre Rechtsprechung zwingt, sich nun tatsächlich selbst zu töten; denn nur so kann er seine frühere Frau und ihren neuen Mann vor der Haft und der anschließenden Verbannung nach Sibirien bewahren. Im Kontrast zu Protasov, der sich um anderer willen opfert, zeigt sich Viktor Karenin, der zweite Ehemann, ein strenger Hüter herrschender Moral, zunehmend in seiner Selbstgefälligkeit und Verfallenheit an die allgemeine Lebenslüge.

IX. Die Revolutionierung der dramatischen Gattung durch Anton Čechov

69

Die Verlagerung des Schwerpunkts von der Handlung auf die innere Dramatik der komplizierten seelischen Vorgänge – eine weitere Gemeinsamkeit mit Čechovs Theaterkonzeption – setzte Tolstoj in einem ebenfalls autobiographisch lesbaren Stück fort, das er für sein wichtigstes hielt: „I svet vo t’me svetit“ (Und das Licht leuchtet in der Finsternis). Er nannte es sein „großes“, sein „eigenes“ Drama und arbeitete, sporadisch seit 1890, verstärkt nach 1900, insgesamt zwanzig Jahre daran, ohne zu einem wirklichen Abschluß zu gelangen. Tolstoj wollte hier, wie vorher in den Gestalten Bezuchovs aus „Vojna i mir“, Levins aus „Anna Karenina“ und Nechljudovs aus „Voskresenie“ (Auferstehung), nur umfassender, seine ureigensten Erfahrungen und Erlebnisse, seine Kämpfe, Leiden und Überzeugungen thematisieren. Tatsächlich entsprechen die Prinzipien, von denen sich Nikolaj Ivanovič Saryncev, die Hauptgestalt, leiten läßt, den Gedanken, die Tolstoj seit den späten siebziger und frühen achtziger Jahren in Abhandlungen, Tagebüchern und Gesprächen entwickelt hat. Unter anderem sind das die Idee der Selbstvervollkommnung, die Einsicht in die Notwendigkeit, sich den Forderungen des Staats und der Kirche zu entziehen, und der Glaube an die Sündhaftigkeit persönlichen Eigentums. Auch der Handlungskonflikt, Saryncevs Absicht, seinen Landbesitz unentgeltlich den Bauern zu übereignen, und der aus der Sorge um die Kinder erfolgende Widerstand seiner Frau, geht auf die Wirklichkeit in Jasnaja Poljana zurück. Solch Streben nach weitgehender Übereinstimmung von Lebenswahrheit und künstlerischer Gestalt, das seinen Ausdruck auch in neuen Formen wirklichkeitsnaher Dialogführung findet wie dem Gleichzeitigsprechen und dem Aneinandervorbeireden, führte zu noch stärkerer Abkehr vom traditionellen Dramenaufbau als schon in „Živoj trup“. Die Vielzahl der oft übergangslos gereihten szenischen Bilder, nicht die begrenzende und ordnende Einheit der Akte, erscheint als grundlegendes Kompositionsprinzip. Es ist die offene Form, die Čechov kurz zuvor in die russische Dramatik eingeführt hatte. Der alte Tolstoj war einer der ersten, der ihre zukunftsweisende Bedeutung erkannte und trotz grundsätzlicher Vorbehalte, sich einige ihrer Elemente anzueignen begann. IX. Die Revolutionierung der dramatischen Gattung durch Anton Čechov „Wenn ein betrunkener Arzt auf dem Sofa liegt und es draußen regnet, so wird das nach Meinung Čechovs ein Theaterstück und nach Meinung Stanislavskijs – Stimmung. Meiner Ansicht nach wird das nur furchtbar langweilig, und auf dem Sofa liegen kann man, solange man will – eine dramatische Handlung wird daraus nie“1, so polemisierte Tolstoj im Frühjahr 1903 und erfaßte dabei genau den Kernpunkt in Čechovs Erneuerung der Gattung. Čechov hatte seit den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit Stücken wie „Ivanov“ (1887) und „Lešij“ (Der Waldschrat, 1889) begonnen, den Aristotelischen Grundsatz, das Drama gründe weniger auf den Menschen als auf der Handlung, ins Gegenteil zu verkehren. Er setzte damit Versuche Turgenevs aus den vierziger Jahren fort, die dieser wegen der anhaltenden Verständnislosigkeit von Kritik und Publikum

70

Das russische Drama

zu Beginn der fünfziger Jahre abgebrochen hatte, um sich seitdem, beginnend mit dem Erzählzyklus „Zapiski ochotnika“ (Aufzeichnungen eines Jägers, 1852), erfolgreich der Epik zuzuwenden. Ivan Turgenev (1818–1883) war in Rußland der erste, der in seinen – meist „Szenen“ (sceny) genannten – Ein- und Mehraktern2, in bewußter Abkehr vom handlungsbetonten Theater Gogol’s und Ostrovskijs, das Schwergewicht von den äußeren auf die inneren Vorgänge, das heißt auf das Seelische verlagerte. Ihren vollkommensten Ausdruck fand diese Umstrukturierung in der fünfaktigen Komödie, die, angeregt durch Balzacs „La Marâtre“, ein „Intimes Drama“ von 1848, zwischen 1848 und 1850 unter dem Titel „Student“ (Der Student) entstand und 1855 umgearbeitet unter dem neuen Titel „Mesjac v derevne“ (Ein Monat auf dem Lande)3 veröffentlicht wurde. Während andere Stücke Turgenevs wie „Nachlebnik“ (Der Kostgänger, 1848) oder „Cholostjak“ (Der Junggeselle, 1849) bei allem Verzicht auf eine Intrige als Handlungskern einen Rest an geläufiger dramatischer Spannungserzeugung bewahren, entfällt hier selbst dieser Rest, obwohl durchaus noch eine Fabel erkennbar ist: Die neunundzwanzigjährige, mit dem sieben Jahre älteren reichen Gutsbesitzer Islaev verheiratete Natal’ja Petrovna verliebt sich, des bisherigen Hausfreunds, des Intellektuellen Rakitin, überdrüssig, in den Erzieher ihres Sohns, den Studenten Beljaev. Als sie bemerkt, daß sich auch ihre siebzehnjährige Pflegetochter Vera in diesen verliebt hat, verkuppelt sie unter Vermittlung des Doktors Špigel’skij ihre Rivalin mit dem ältlichen Gutsnachbarn Bol’šincov. Am Ende reisen Beljaev und Rakitin enttäuscht ab. Natal’ja bleibt allein zurück. Die Fabel bedeutet wenig in diesem Fall. Vor allem aber weckt sie keine Spannung auf den Ausgang. Ihre Funktion besteht darin, die in jeder Phase gleich wichtige Vorführung eines menschlichen Konflikts zu ermöglichen. Die Akte verlieren dabei ihre zäsurierende Kraft. Das Ende unterscheidet sich nicht prinzipiell vom Anfang. Wo das Einmalige und Ungewöhnliche entfällt und Brüche und Umschwünge ausbleiben, stellt sich der Eindruck von Zuständlichkeit her.4 Einen großen Anteil an der Entstehung dieses Eindrucks haben die Gespräche, die, scheinbar absichtslos und oberflächlich, den längst eingetretenen Zersetzungsprozeß kaum ahnen lassen, aber auch die Art und Weise des Sprechens: von der kurzen, oft banalen Replik über das andeutende und verbergende Wort bis zum wiederholten Verstummen und Verharren im Schweigen. Čechov hat dies alles und noch weitere Einzelheiten wie die gleichzeitige Präsenz verschiedener Figurengruppen oder die Ausführlichkeit und Genauigkeit der Bühnenanweisungen aufgenommen und jeweils in selbständiger Weise weiterentwickelt. Dazu gehört auch, daß er, von „Ivanov“ an, den bei Turgenev funktionslos gewordenen Fünfakter durch den Vierakter ersetzte. Der traditionelle fünfaktige Bau mit seiner Kulmination im mittleren Akt verkörpert das „Modell einer künstlichen Zeit“.5 Das Leben wird in ihm eingeengt und schematisiert. Die Vieraktigkeit dagegen befreit das Leben und bringt das Verstreichen der Zeit zur Geltung. Čechovs Grundfrage „Was ist Zeit?“ kann so jedes Mal neu

IX. Die Revolutionierung der dramatischen Gattung durch Anton Čechov

71

gestellt und anders beantwortet werden. Das geschieht vor allem in den vier großen Stücken: „Čajka“ (Die Möwe, 1896), „Djadja Vanja“ (Onkel Vanja, 1897), „Tri sestry“ (Die drei Schwestern, 1901) und „Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten, 1904).6 Die drei Dimensionen der Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, greifen dabei zunehmend ineinander. Zeit, das ist bei Čechov im wesentlichen Zwischenzeit. Seine Menschen leben zwar in der Gegenwart, aber „ihre Gegenwart wird erdrückt von Vergangenheit und Zukunft“.7 Die Protagonistinnen von „Tri sestry“, Ol’ga, Maša und Irina, die mit ihrem Bruder Andrej seit elf Jahren in einer abgelegenen Garnisonsstadt leben, sind beherrscht von dem Verlangen nach einem sinnerfüllten Dasein, das sich in dem Wunsch ausdrückt, dorthin zurückzukehren, wo sie ihre Kindheit verbracht haben: nach Moskau. Die Sehnsucht nach der Zukunft ist nichts anderes als die Sehnsucht nach der Vergangenheit. Der Ruf „Nach Moskau, nach Moskau!“, der sich leitmotivisch durch das ganze Stück zieht, ertönt zu Beginn noch hoffnungsvoll, dann aber erklingt er immer sehnsüchtiger, zugleich auch verzweifelt, und am Schluß wird er lediglich resignierend geäußert. Jahre vergehen zwischen Anfang und Ende des Stücks. Doch es ändert sich nichts. Denn keine Vorstellung und keine Erwartung der Figuren findet ihre Erfüllung. So lebt „Tri sestry“, wie alle Dramen Čechovs, nicht von den Relikten der Handlung, die, scheinbar beziehungslos nebeneinandergesetzt, ohne eigentliche Aussage sind, sondern von dem, was durch sie deutlich wird: die Umkehrung von Hoffnung zu Hoffnungslosigkeit, von der Illusion menschlicher Bindung zur Erkenntnis vollkommener Einsamkeit. Überall findet sich bei Čechov dieses Wissen um die Unaufhaltsamkeit der Zeit, um den Beginn des Alters bereits in der Jugend und um die endgültig verlorenen Hoffnungen. Wer aber unter den Dramenfiguren die Glückserwartungen nicht ganz aufgibt, und dies sind nicht wenige, projiziert sie in eine unbestimmte und ferne, ja fernste Zukunft. Für den Arzt Astrov in „Djadja Vanja“ wie für den Oberstleutnant Veršinin in „Tri sestry“ bricht das „unvorstellbar schöne Leben“ erst „nach hundert oder zweihundert“ oder „nach zweihundert und dreihundert, möglicherweise nach tausend Jahren“ an. „Die Zeit“ fügt Veršinin hinzu, „spielt hierbei keine Rolle“. Das Hier und Jetzt jedoch muß von allen gelebt werden, und es läßt sich oft nur noch durch die Gedanken an jene verheißungsvolle Zeitenferne bewältigen. „Die Gegenwart ist mir zuwider“, sagt Andrej, „wenn ich dagegen an die Zukunft denke, dann ist alles gut!“ Ist die Zeit das eine Grundproblem in Čechovs Werk (und zwar im dramatischen Schaffen noch ausschließlicher als im erzählerischen), so stellt das Leben das untrennbar damit verknüpfte andere dar. „Dieses verfluchte, unerträgliche Leben...“. Mašas Stoßseufzer könnte als Motto über allen Stücken stehen. Er bezeichnet exakt das in ihnen herrschende Lebens- und Daseinsgefühl. Es geht bei Čechov nicht mehr in erster Linie um das Schicksal von Einzelfiguren, auch wenn diese bis hin zu Randgestalten – man denke nur an den alten Firs in „Višnevyj sad“, den in der Schlußszene von seiner Herrschaft im Haus zurückgelassenen treuergebenen Diener – äußerst lebendige, unverwechselbare

72

Das russische Drama

und somit auch unvergeßliche Charaktere sind, sondern immer um das Ganze, als dessen Exponenten die weniger handelnden als reflektierenden dramatis personae erscheinen: um das Leben, das Dasein, den Weltzustand. Kein Wort wird daher von Čechovs Figuren so häufig in den Mund genommen wie das Wort „Leben“ (žizn’). Alle fragen sich unentwegt, wie das „verfluchte, unerträgliche Leben“ zu ertragen sei. Keiner weiß eine Antwort. Aber nur einer, der junge Dichter Treplev in „Čajka“, zieht nach Ivanov, dem Helden des frühesten vollendeten Stücks, noch einmal die Konsequenz des Selbstmords. Die anderen halten fest am Leben als Wert an sich und setzen auf die verändernde Zeit. Die letzten Worte der drei Schwestern, die, nach der Nachricht vom Duelltod des Barons Tuzenbach eng aneinandergeschmiegt im Garten ihres Hauses stehen, haben hier, zusätzlich betont durch die exponierte Stellung am Stückende, paradigmatische Bedeutung. Maša: „Einer ist ganz von uns gegangen, ganz und auf immer, und wir sind allein geblieben, um unser Leben von neuem zu beginnen. Wir müssen leben... Wir müssen leben...“ Irina, ihren Kopf an Ol’gas Brust lehnend: „Die Zeit wird kommen, da werden wir alle erkennen, warum das alles, weshalb diese Leiden, da wird es keine Rätsel mehr geben, bis dahin jedoch müssen wir leben...“ Und Ol’ga, während sie beide Schwestern umarmt: „Unser Leben ist noch nicht zu Ende. Wir werden leben!... Nur noch eine kleine Weile, und wir werden erfahren, warum wir leben und warum wir leiden...“. Leben in Čechovs Welt heißt leiden. Alle, nicht nur Ljubov’ Andreevna, die Protagonistin von „Višnevyj sad“, die sich schuldig fühlt am Tod ihres Sohns, tragen einen „Mühlstein“ um den Hals. Jeder lebt mit einer „verdeckten inneren Tragödie“8, die nur selten nach außen dringt oder sich in Handlung umsetzt. Das gilt auch für die vielen einseitigen Liebesbeziehungen. In „Djadja Vanja“ liebt Sonja den Arzt Astrov, dieser aber liebt Elena, die junge Frau des Professors Serebrjakov, die Astrov ebenso zurückweist wie Vojnickij, der sie gleichfalls liebt. Eine ganze Kette derartiger Beziehungen bestimmt auch die Figurenkonstellation in „Čajka“: Medved’ev, der Lehrer, liebt Maša, Maša liebt Treplev, Treplev liebt die Schauspielerin Nina Zarečnaja, Nina Zarečnaja liebt Trigorin, den Schriftsteller. Jedoch: Mehr noch als an dem anderen oder an sich selbst leiden alle am Leben. Dieses Leben ist erfüllt von lastender Langeweile. Dabei handelt es sich nicht um eine Empfindung von der Art, wie Elena sie hat, als sie zu Beginn des dritten Akts von „Djadja Vanja“ sagt: „Ich sterbe vor Langeweile“. Dies ist die Äußerung einer Frau von siebenundzwanzig Jahren, die sich während des Aufenthalts auf dem Landsitz ihres weitaus älteren Mannes nach Abwechslung sehnt. Wenn Astrov im Eingangsdialog mit der alten Kinderfrau, dem – weniger im Hinblick auf die Handlung des Stücks als im Hinblick auf den besagten Weltzustand – eine expositionelle Funktion zukommt, die Feststellung trifft „Das Leben ist an und für sich langweilig“, dann ist damit nichts Momentanes, Vorübergehendes, sondern etwas Dauerhaftes, Unaufhebbares, Endgültiges gemeint. So muß auch die Bemerkung Serebrjakovs gegenüber Vojnickij, dem Verwalter seines Guts, am Ende des gleichen Akts verstanden werden:

IX. Die Revolutionierung der dramatischen Gattung durch Anton Čechov

73

„Wie langweilig es für Sie sein muß zu leben! Ach, wie langweilig!“ Langeweile bei Čechov ist keine subjektive Empfindung, sondern eine allgemeine Gestimmtheit, eine Grundbefindlichkeit des Menschen. Sie bezeichnet hier nichts Geringeres als die Beschaffenheit des Daseins selber. Gegen die erdrückende Langeweile, aus der sich die Bewältigung der Zeit als Aufgabe stellt, setzen die Figuren, sofern sie nicht wie Tuzenbach überzeugt sind, daß das Leben „auch nach einer Million von Jahren genauso sein wird, wie es war“, das Ethos der Arbeit. Sonja und Vojnickij kehren, sobald Serebrjakov und Elena abgereist sind, unverzüglich zu der Wirtschaftsführung des Guts zurück, an der sie durch die Anwesenheit der Besucher gehindert wurden, wissend: „Wir müssen leben! (Pause) [...] Wir werden leben. Wir werden eine lange, lange Reihe von Tagen und von langen Abenden durchleben; wir werden geduldig die Prüfungen ertragen, die uns das Schicksal schicken wird; wir werden für andere arbeiten, sowohl jetzt als auch im Alter.“9 Auch der Batteriekommandeur Oberstleutnant Veršinin weiß, daß allein in der Arbeit die Rettung liegt: „Wir müssen nur arbeiten und arbeiten.“ Ebenso wissen dies die drei Schwestern. Das letzte Wort Irinas, der jüngsten, gilt der Notwendigkeit der Arbeit: „Wir müssen arbeiten, nichts als arbeiten! Morgen werde ich allein wegfahren, ich werde in der Schule Unterricht geben und mein ganzes Leben denen widmen, die es vielleicht nötig haben. Jetzt ist es Herbst, bald kommt der Winter, der alles mit Schnee bedeckt, ich aber werde arbeiten, arbeiten...“.10 Arbeit heißt für die Schwestern, wie schon für Sonja und Vojnickij, nicht für sich, sondern „für andere“ arbeiten. Der Entwurf einer Welt, in der die Menschen ohne Hoffnung auf Erfüllung ihrer Wünsche und Sehnsüchte, allein auf ihre Arbeit als letzten Ausweg verwiesen, in einer durch die Vergangenheit und die Zukunft belasteten freudlosen und glücklosen Gegenwart leben, verlangte nach einer neuen dramatischen Ausdrucksform. Čechovs Abkehr von der auf Aristoteles zurückgehenden abendländischen Dramenpoetik manifestiert sich nicht allein in der äußeren Ereignislosigkeit, die die Intrige ebenso wie das Moment von Streit und Kampf überflüssig macht und damit den Wegfall solcher Kompositionselemente wie Steigerung, Höhepunkt und Peripetie bedingt. Was an Ereignishaftem verbleibt, der Schuß, mit dem sich Treplev tötet, das Duell zwischen den Offizieren Solenyj und Tuzenbach oder die Versteigerung von Gut und Kirschgarten ist hinter die Bühne verlegt. Die Zurücknahme der Handlung findet ihre Entsprechung und Fortsetzung in der Zurücknahme der Sprache als Mittel der Verständigung und der Kommunikation. Čechovs Figuren sprechen mehr zu sich als zu den anwesenden anderen. Der Dialog, zusammen mit der Handlung, bislang das wichtigste konstituierende Element der Gattung Dramatik, tendiert bei Čechov zum Monolog. Die Replik verliert den Charakter der direkten Entgegnung und erst recht ihre – besonders von der barocken und klassizistischen Tragödie genutzte – Eignung als Instrument des Wortgefechts. Das bedeutet, daß auch auf der sprachlichen Ebene wie schon auf der Ebene der Handlung keine eigentliche

74

Das russische Drama

Auseinandersetzung stattfindet. Statt dessen reflektieren und analysieren die Figuren fortgesetzt ihre unbefriedigende Situation und die Unabänderlichkeit des gegebenen Weltzustands. Die resignierenden Selbstreflektionen und Lebensanalysen, die bei aller Bindung an den jeweiligen Sprecher im Prinzip auswechselbar sind, lassen geistigen Austausch kaum noch zu. Die Kommunikation endet gänzlich, wenn die Sprache versiegt und die Figuren verstummen. Das Verstummen, markiert durch den Hinweis „Pause“ oder durch drei Punkte, ist beredter als das Sprechen. In ihm erfährt der Čechovsche Mensch sich selbst und zugleich, so intensiv wie in keiner anderen Situation, seine als quälend empfundene Gegenwart. Es war ebenfalls Turgenev, der Jahrzehnte zuvor die dramatische Bedeutung des Schweigens entdeckt hatte. Im Vergleich mit „Tri sestry“ oder „Višnevyj sad“ wirkt „Mesjac v derevne“ jedoch wie ein psychologisches Kammerspiel. Dort geht es noch primär um die Verwirrungen des Herzens. Bei Čechov wird dagegen, auf das absurde Theater Ionescos oder Becketts vorausweisend11, die Härte der Existenz und die Unbegreiflichkeit des Daseins sichtbar. Und so enthalten die ständigen Pausen letztlich die Leere, die Mensch und Welt durchdringt. Wenn der Mensch schweigt, meldet sich unüberhörbar das Nichts zu Wort. Die Pause ist das wesentlichste, nicht aber das einzige Ausdrucksmittel12, das Čechov einsetzt, um die Zurücknahme von Handlung und Sprache zu kompensieren und eine andere – verfeinerte, verinnerlichte – Dramatik zu schaffen. Nie zuvor spielte in der Literatur das Nichtgesagte eine so bestimmende Rolle. Durch eine Vielzahl von Regieanweisungen vermittelt und detailliert beschrieben (eine ungewohnte Herausforderung für die Regisseure jener Zeit), bedeutet es einen Einbruch des Erzählerischen in den Dramentext13 und die Wirklichkeit der Bühne. Die Wirksamkeit der nonverbalen Mittel beginnt bei der Beschreibung des Bühnenraums, dessen Ausstattung ebensowenig zufällig ist wie der Verweis auf die klimatischen Bedingungen („trübes Wetter“) oder die Feststellung, um welche Jahres-, Tages- oder Uhrzeit es sich handelt. Das gleiche gilt für die Aufteilung der Bühne in eine vordere und eine hintere Zone, was die Doppelung der Geschehens- bzw. Gesprächsebenen ermöglicht. So spielt der erste Akt von „Tri sestry“ im Salon des Hauses Prozorov, der durch Säulen im Vordergrund von einem großen Saal im Hintergrund getrennt ist. Während hier die Schwestern sitzen oder stehen und sich anläßlich des ersten Todestags ihres Vaters an frühere Zeiten erinnern, gehen dort der Arzt Čebutykin, der Stabshauptmann Solenyj und der Oberleutnant Tuzenbach im belanglosen Geplauder, von Zeit zu Zeit laut auflachend, hin und her. Auch diesen Kunstgriff hatte Turgenev antizipiert. Zum Auftakt von „Mesjac v derevne“ sind zwei jeweils für sich beschäftigte Figurengruppen auf der Bühne, die eine links am runden Tisch (Natal’ja Petrovna stickend und Rakitin ein Buch in den Händen haltend), die andere rechts am Kartentisch (Islaevs Mutter, die Gesellschafterin und der deutsche Erzieher Preference spielend), wobei das Nebengespräch der Spieler immer wieder in das Hauptgespräch auf der linken Seite eindringt. Bei Turgenev

IX. Die Revolutionierung der dramatischen Gattung durch Anton Čechov

75

wie bei Čechov wird bereits durch die räumliche Anordnung sinnfällig, daß die Menschen, selbst wenn sie gleichzeitig anwesend sind, nicht mehr miteinander reden, und es wird darüber hinaus von Anfang an deutlich, daß nicht hohe und erhabene Themen, sondern die Trivialität des Alltäglichen im Mittelpunkt des Stücks stehen. Die Dramatik ist damit keineswegs verschwunden. Sie verbirgt sich nur unter der Oberfläche des Lebens und tritt erst allmählich im Verlauf des ereignislosen Geschehens zutage. Ebenso wichtig wie der Bühnenraum als Mittel des Nichtsprachlichen, wenn nicht noch wichtiger, sind Kleidung und Gegenstände der Figuren. Daß Irina weiß und Maša schwarz gekleidet ist und Ol’ga das dunkelblaue Uniformkleid der Lehrerin eines Mädchengymnasiums trägt, deutet auf die unterschiedlichen Rollen und Charaktere der drei Schwestern und sagt zudem etwas über ihr Wesen und ihre innere Einstellung aus: Irina, die jüngste, verkörpert, zumindest anfänglich, die Reinheit und Unbeschwertheit der Jugend, Maša, ganz rückwärts gewandt, verharrt in der Trauer um den verstorbenen Vater, und Ol’ga, die älteste, setzt Ordnung und Selbstdisziplin an erste Stelle und geht völlig in Arbeit und Berufsalltag auf. Nicht nur die Maša in „Tri sestry“, auch die Maša in „Čajka“ geht „immer in Schwarz“, wie der Lehrer Medvedenko gleich zu Beginn des Stücks vermerkt.14 Nach dem Grund befragt, antwortet sie: „Das ist die Trauer um mein Leben. Ich bin unglücklich.“ Später, zu Beginn des zweiten Akts kommt sie noch einmal auf die Aussage zurück und vergleicht ihr Leben mit einer „endlosen Schleppe“, die sie hinter sich herzieht. „Und oft habe ich überhaupt keine Lust mehr zu leben.“ Wenn Nina Zarečnaja im selben Stück bei der Liebhaberaufführung am Anfang „ganz in Weiß“ auftritt, verweist die Farbe des Gewands, die ihrerseits über die Metapher der „Weltseele“ mit dem Bild der getöteten weißen Möwe verknüpft ist, symbolisch auf die Leere und Einsamkeit, die sowohl die in dem Spiel im Spiel entworfene Welt in ferner Zukunft als auch die unmittelbare Gegenwart der Bühnenfiguren bestimmt. Welche Bedeutung Čechov der äußeren Erscheinung und ihrem Zusammenhang mit dem Charakter der Figur beimaß, erhellt die Antwort, die er Stanislavskij gab, als dieser ihn fragte, ob seine schauspielerische Interpretation der Gestalt Trigorins aus „Čajka“ angemessen sei. „Ja, großartig gespielt, aber Sie müssen Löcher in den Schuhen haben und karierte Hosen tragen!“ Dementsprechend kommt in „Tri sestry“ Natašas Hang zur Geschmacklosigkeit, aber auch ihre fehlende Bereitschaft, sich in Haus und Familie der Prozorovs einzuordnen, darin zum Ausdruck, daß sie ein „rosa Kleid mit grünem Gürtel“ trägt. Mit dem grünen Gürtel, der Ol’gas Mißfallen erregt, verstößt die Trägerin gegen die Etikette der Zeit; denn dieser war als Zeichen von Tugendhaftigkeit und ehelicher Treue allein verheirateten Frauen vorbehalten.15 Indem Nataša ihn selbstbewußt und nicht ohne provokative Absicht trägt, demonstriert sie, auf die kommende Entwicklung vorausdeutend, das angestrebte Ziel der Eheschließung mit Andrej, das zugleich dessen Unterwerfung umfaßt.

76

Das russische Drama

Die gleiche charakterisierende Funktion wie die Kleidungsstücke haben jene Gegenstände, die Čechov einer Figur als typische, meist leitmotivisch wiederkehrende Accessoires zuordnet. Daß Nataša, inzwischen verheiratet, nachts mit der Kerze durch die Zimmer geht („à la Lady Macbeth“)16, signalisiert ihr Inbesitznehmen des Hauses der Geschwister. In der Angewohnheit Čebutykins, ständig Zeitung zu lesen, oder der Mašas und Andrejs, sich in ein Buch zu vertiefen, spiegelt sich ein gestörtes Verhältnis zur Realität, das zur wachsenden Flucht in eine andere Welt führt. Dagegen drücken die Tabakdose, aus der die andere Maša fortwährend schnupft, und das Wodkaglas, zu dem Astrov zum Kummer Sonjas allzu oft greift, eher die Unzufriedenheit mit sich selbst und der persönlichen Lebenssituation aus. Was bei Astrov das quälende Gewissen angesichts ärztlicher Unzulänglichkeiten ist, ist bei der unerwidert liebenden Maša die ausweglose Monotonie des Ehealltags. Weshalb Solenyj bei jedem Auftritt ein Parfumflakon aus der Tasche zieht, um sich damit zu besprühen, erklärt er am Ende selbst: „Einen ganzen Flakon habe ich heute verbraucht, aber meine Hände riechen immer noch. Sie riechen nach Leiche.“17 Doch der Versuch, die eigene Skrupellosigkeit und todbringende Gefährlichkeit zu überwinden, mißlingt. Kurz darauf tötet der Stabshauptmann, der „sich einbildet, er sei ein Lermontov“18, Oberleutnant Tuzenbach im Duell. So gibt es bei Čechov kaum eine Gestalt, die nicht durch irgendeinen Gegenstand näher bestimmt ist. Mehr noch, zum vollständigen Bild einer Čechovschen Dramenfigur gehört fast immer auch deren Charakterisierung durch Mimik und Gestik, durch Bewegung und Sprechweise – weitere Ausdrucksmittel des Nonverbalen, die, früher den Schauspielern und Regisseuren überlassen, jetzt vom Autor festgelegt werden. Werden sie nicht beachtet oder willkürlich abgeändert, bedeutet dies einen schwerwiegenden Eingriff in die Figurenkonzeption und das Menschenbild Čechovs. Wenn in Čechovs Stücken bestimmte Gesten öfter wiederkehren oder auch mehreren Figuren gemeinsam sind, weisen sie meist über sich hinaus und gewinnen eine symbolische Bedeutung. Mehr als über den einzelnen sagen sie dann über die Welt aus, in der der einzelne lebt. Der körperliche Vorgang des „Gähnens“ und „Sich-Räkelns“ verbildlicht die Langeweile, die die Menschen ununterbrochen empfinden und der sie sich nicht zu entziehen vermögen. Der verbreitete „Blick auf die Uhr“, bei Treplev in „Čajka“, bei Andrej, Veršinin und Čebutykin in „Tri sestry“ oder bei Lopachin in „Višnevyj sad“, versinnbildlicht die verstreichende Zeit, an der alle leiden, und die allgemeine Unfähigkeit, in der Gegenwart zu leben. Von der gleichen offensichtlichen Symbolik sind die vielfältigen Geräusche, die so unabdingbar zu der Welt der Čechovschen Dramen gehören wie ihr Gegenteil, die absolute Stille. Ob sie reine Naturlaute sind wie der Schrei der Eule in „Ivanov“ oder von Menschen erzeugt werden wie das Klopfen des Nachtwächters in „Djadja Vanja“ – es handelt sich nur scheinbar um realistische Theatermittel. Sie haben nicht die Aufgabe, eine bloße Illusion der Wirklichkeit zu schaffen. Hier lag das anfängliche Mißverständnis Stanislavskijs, der, um der Erzeugung von Stimmung und Atmosphäre willen, zusätz-

IX. Die Revolutionierung der dramatischen Gattung durch Anton Čechov

77

liche Laute zu erfinden pflegte und bei der Uraufführung von „Višnevyj sad“ im zweiten Akt außer dem Pfeifen der Lokomotive noch das Quaken der Frösche und das Gezwitscher aller möglichen Vögel hören lassen wollte, ehe er von Čechov eines Besseren belehrt wurde. Schon die Art vieler Laute – nicht nur das Schreien der Eule und das Klopfen des Nachtwächters, sondern auch die „Sturmglocke anläßlich eines Feuers“ im dritten Akt von „Tri sestry“ oder die „dumpfen Axthiebe“, mit denen die Bäume des Kirschgartens gefällt werden – macht deutlich, daß es keineswegs um rein stimmung- und atmosphäreschaffende Elemente geht. Die Geräusche, die Čechov mit äußerster Bewußtheit an bestimmten Stellen seiner Dramen einführt, sollen die Menschen aufwecken, beunruhigen und wie im Falle jenes „Tons einer gesprungenen Saite“ bis zum Entsetzen verstören. Der zweimal, mitten im zweiten Akt und ganz am Ende von „Višnevyj sad“ erklingende Ton, so „entfernt“, als käme er „vom Himmel“, läßt Ljubov’ Andreevna, die tragikomische Heldin des Stücks, „zusammenfahrend“ ausrufen: „Irgendwie unheimlich.“19 Und in der Regieanweisung wird der merkwürdige Ton in beiden Fällen mit den Worten „ersterbend, traurig“ charakterisiert. Auch die akustischen Elemente tragen so bei Čechov dazu bei, das Dasein in seiner Unheimlichkeit und Unbegreiflichkeit zu erfahren. Nicht zufällig folgt dem Ausruf Ljubov’ Andreevnas die Angabe „Pause“. Im Verstummen bricht die Angst auf und beginnt sich auszubreiten. Nicht nur in den neuen Formen und Techniken, sondern auch in der Gestaltung jener Stimmungslagen und Befindlichkeiten, die dann im Zentrum der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts stehen, die Angst, die Verzweiflung, die Schwermut und die Langeweile20, wurde Čechov zum Begründer des modernen Theaters. Tolstoj, ganz im 19. Jahrhundert verwurzelt, hatte, obwohl offen für die neuen Formen, dafür noch keinen Sinn.21 Die Dramatiker aber, die um die Jahrhundertwende an die Öffentlichkeit traten, waren sich der innovatorischen Leistung Čechovs in ihrem vollen Umfang von Beginn an bewußt. „Ich liebe Ihren Dichter“, bekannte Arthur Schnitzler nach einem Gastspiel des Moskauer Künstlertheaters 1906 in einem Interview mit dem russischen Publizisten Oskar Norvežskij, „das ist einer der besten modernen Schriftsteller.“22 Und Gerhart Hauptmann notierte im April 1907 in seinem Tagebuch: „Das Drama Tschechows ist das modernste.“23 Seitdem gibt es kaum noch einen Dramatiker, der sich dem Verfasser von „Čajka“ und „Djadja Vanja“, von „Tri sestry“ und „Višnevyj sad“ nicht verpflichtet fühlt. George Bernard Shaw meinte 1916: „Ihm gegenüber komme ich mir wie ein Anfänger vor.“24 Und Edward Albee bestätigte noch 1984: „Čechov steht am Beginn aller dramatischen Dichtung des 20. Jahrhunderts.“25 Unter den russischen Schriftstellern war Maksim Gor’kij (1868–1936) einer der ersten, der die überragende Bedeutung Čechovs als Bühnenautor und Theatererneuerer erkannte. Nach dem Besuch einer Aufführung von „Djadja Vanja“ im Herbst 1898 schrieb er in einem Brief an Čechov, das sei eine „völlig neue Art der dramatischen Kunst“, ein „schwerer Hammer“, mit dem der Autor „dem

78

Das russische Drama

Publikum auf die leeren Köpfe“ schlage.26 Gor’kij, bis dahin mit Skizzen und Erzählungen hervorgetreten, wandte sich unter dem Eindruck der „Djadja Vanja“-Aufführung, von Čechov selbst ermutigt, ab 1901 der Bühne zu. Sein erstes Stück, „Meščane“ (Die Kleinbürger) steht als Familiendrama noch ganz in der Nachfolge von Tolstojs „Vlast’ t’my“. Nur ist die betonte didaktische Grundhaltung der wertenden auktorialen Instanz dort moralistisch und hier ideologisch. Der Zusammenstoß zwischen dem Obermeister der Malerinnung Vasilij Bessemenov und dem als Kostgänger in seinem Haus lebenden Lokomotivführer Nil wird als Klassenkonflikt dargestellt: als Kampf des besitzlosen Proletariats gegen die wohlhabende Bourgeoisie. Die auftretenden Figuren sind jeweils einer der beiden Welten zugeordnet, die in diesem Kampf aufeinanderprallen. Dabei bildet die Arbeit – bei Čechov das einzige, was das unerträgliche Leben ertragbar macht und den Menschen bis zum Anbruch einer fernen verheißungsvollen Zukunft ausharren läßt – die Grundlage für das erwachende Selbstbewußtsein einer Klasse und die Entstehung eines neuen optimistischen Welt- und Menschenbilds. „In diesem Haus bin ich auch Herr“, erklärt Nil, „Herr ist, wer arbeitet.“27 Noch Tolstoj nahe, andererseits schon auf die Ideologie seines späteren Schaffens vorausweisend, übernahm Gor’kij in „Meščane“ auch die Prinzipien der Čechovschen Dramatik. Die Entscheidung für die Vieraktigkeit bedingte den Verzicht auf die Kulmination im Mittelakt und damit auf das Modell einer künstlichen Zeit, in das das Leben eingefügt wird. Als Folge tritt die Handlung als solche zurück. Nicht die Dynamik ihrer Entwicklung, sondern die Statik eines Zustands, einer Atmosphäre, einer Grundstimmung ist wie bei Čechov das, was das Stück insgesamt bestimmt. Immer noch erscheint die bürgerliche Welt als das Unveränderliche, erfüllt von den Klagen über die Eintönigkeit und Langeweile des Lebens und die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz. Auch der kämpferische Repräsentant der aufsteigenden Klasse bleibt bis zuletzt an die Welt gebunden, gegen die er revoltiert. Die Selbstbefreiung des sozialistischen Helden erfolgt bei Gor’kij nicht im frühen Dramenwerk, sondern in dem politischen Tendenzroman „Mat’“ (Die Mutter, 1906) mit den Gestalten der Arbeiterwitwe Pelageja Vlasova und ihrem Sohn Pavel im Zentrum, die sich beide der revolutionären Bewegung anschließen und aktiv am Kampf gegen die Zarenherrschaft beteiligen. In Gor’kijs Anfängen als Dramatiker geht es dagegen nicht um den herausgehobenen einzelnen, sondern – wie schon die Werktitel verraten – um gesellschaftliche Gruppen: um die „Kleinbürger“ in „Meščane“, die „Sommergäste“ in „Dačniki“ (1904), die „Feinde“ in „Vragi“ (1906) oder die, die „am Boden des Lebens“ sind, wie der ursprüngliche Titel von „Na dne“28 lautete. „Na dne“, Gor’kijs zweites Stück, nach der mäßigen Resonanz, die das erste hatte, 1902 am Moskauer Künstlertheater und 1903 an Max Reinhardts Kleinem Theater in Berlin jeweils mit großem Erfolg aufgeführt, zeigt den Bodensatz der Gesellschaft: Heruntergekommene, Ausgestoßene, Verlorene. Sie alle, unter ihnen ein

IX. Die Revolutionierung der dramatischen Gattung durch Anton Čechov

79

Dieb und ein Mörder, ein namenloser Baron, der sein Erbe durchgebracht hat, und ein Schauspieler, der dem Alkohol verfallen ist, ein Landstreicher und eine Prostituierte, versammeln sich, trinkend, spielend, redend, im Keller eines Hauses, der, „einer Höhle ähnlich“, von einem geldgierigen Kleinbürger und seiner Frau als Nachtasyl betrieben wird. Entgegen dem äußeren Anschein und der seinerzeitigen Inszenierungspraxis handelt es sich um kein naturalistisches Milieustück. Gor’kij hatte sich inzwischen von Tolstoj entfernt, dafür aber, noch mehr als zuvor, Čechov angenähert. Die Bauform der vier Akte ist jetzt sogar weit stärker in eine Reihe locker verbundener Szenen und Bilder aufgelöst. So ergibt sich „fast keine Entwicklung, also das, was man Handlung nennt“, wie die zeitgenössische Kritik29 zu Recht bemerkte, jedoch zu Unrecht als künstlerische Schwäche bewertete. Der Vorwurf der Bühnenunwirksamkeit, der schon Čechov anläßlich der Uraufführung von „Čajka“ im Jahr 1896 gemacht worden war, kehrte wieder, und er wurde immer noch vom Standpunkt der Aristotelischen Poetik mit dem Fehlen einer geschlossenen, stringenten Handlungsentwicklung begründet. Die traditionelle Einheit der Spannung erzeugenden Geschichte wird ersetzt durch eine Vielzahl unterschiedlicher Schicksale, die nur das eine gemeinsam haben: daß sie zutiefst traurig sind, wie das des Mützenmachers Bubnov, den seine Frau mit seinem Gesellen betrogen und um die gutgehende Kürschnerwerkstatt gebracht hat, oder das des achtundzwanzigjährigen Pepel, der als Sträflingskind gesellschaftlich nicht Fuß fassen konnte und sich als Dieb und Taugenichts durchs Leben schlagen mußte. Geprägt durch das eigene Schicksal, bewahrt jeder Asylbewerber in der ausweglosen, gleichförmigen Situation, in der sich alle befinden, seine unverwechselbare Persönlichkeit. Keiner aber kann, wie bei Čechov, den Anspruch erheben, Hauptfigur des Stücks zu sein. Die gleichberechtigten Figuren erscheinen so geordnet, daß sich verschiedene Gruppierungen ergeben, die eigene Beziehungen unterhalten und jeweils eigene Zwecke verfolgen: Da sind der Polizist Medvedev und die Pastetenhändlerin Kvašnja, der Schlosser Klešč und seine Frau oder der Herbergswirt Kostylev, seine Frau Vasilisa, deren Schwester Nataša und Pepel. Aus diesen Gruppenbildungen erwachsen kleinere Ereigniseinheiten. Kvašnja, von Medvedev begehrt, gibt am Ende dem geduldigen Werben nach und gelangt dadurch in den Besitz des Nachtasyls. Klešč, der seine Frau krank geschlagen hat, läßt sie unter den teilnahmslosen Blicken der anderen qualvoll sterben. Die schöne Vasilisa versucht zunächst vergeblich, ihren früheren Liebhaber Pepel für die Tötung ihres Mannes zu gewinnen (sie nennt dies „Befreiung“ von einer Last), und erreicht das Ziel erst, als sie Kostylev anstachelt, ihre Schwester, auf die Pepel jetzt ein Auge geworfen hat, brutal zu mißhandeln. Solche Geschehensrelikte aber werden ganz überlagert von den „ewigen“ Gesprächen der Figuren: über den Sinn des Lebens und das Elend des Sterbens, die Verlorenheit der Existenz und die Nichtigkeit der Träume, Hoffnungen, Erwartungen, aber auch über die Banalitäten und Trivialitäten des Alltags. In diesen Gesprächen wird nichts bewegt, stets kreist alles in sich selbst. Und wenn

80

Das russische Drama

jemand wie der durchziehende „Pilger“ Luka, ein Landstreicher ohne Papiere und mit unbestimmter Vergangenheit, ein wenig Trost und Hoffnung in die Düsternis des erniedrigenden Asyldaseins und die innere Not des existentiellen Stillstands bringt, erweisen sich seine Worte schon im Aussprechen als trügerisch: Dem Dieb Pepel suggeriert er die Möglichkeit eines Neuanfangs im wirtschaftlich aufstrebenden Sibirien, dem trunksüchtigen Schauspieler die einer kostenlosen Kur in einer komfortablen Entziehungsanstalt; der Dirne Nastja vermittelt er den Glauben an die große Liebe, der sterbenden Anna die Aussicht auf ein besseres Jenseits. Die Trostlügen Lukas, die, eher in einem allgemeinen Empfinden der Mitmenschlichkeit als in rein christlicher Nächstenliebe wurzelnd, über die Härte der tatsächlichen Gegebenheiten hinwegtäuschen wollen, repräsentieren eine subjektive Wahrheit. Sie streben danach, dem einzelnen gerecht zu werden. Im Gegensatz zu ihnen steht die objektive Wahrheit, die Bubnov, der Mützenmacher, vertritt, wenn er fordert, das Unabänderliche zu akzeptieren und sich nicht irrealen Phantastereien hinzugeben. Die beiden konträren Haltungen treffen sich in einem Punkt: Sie bedeuten eine Flucht, ein Ausweichen vor den Problemen der Realität und ihrer Bewältigung. Weder zu der einen noch zu der anderen Wahrheit fähig, flüchten die dramatis personae von „Na dne“ ins Trinken, ins Spielen – ins Reden. Sie alle reden und reden. Selten hört der eine dem anderen wirklich zu. Gor’kij nutzt, um die gestörte oder gar verlorengegangene Kommunikationsfähigkeit des modernen Menschen zu veranschaulichen, wiederum Techniken Čechovs. Das reicht vom abruptem Themenwechsel innerhalb ein und derselben Replik und der Rückkehr zu bereits vorher geäußerten Gedanken über häufige Pausen und plötzliches Verstummen bis zum simultanen Sprechen mehrerer gleichzeitig anwesender Figuren bzw. Figurengruppen. Während Pepel und Nataša auf der einen Seite der Bühne über das Sterben reden, führt Bubnov, mit dem Flicken einer alten Schirmmütze beschäftigt, auf der anderen Seite seine Selbstgespräche.30 Zu Beginn des zweiten Akts teilt sich die Bühne gleich in drei Bereiche: In dem einen unterhalten sich, auf einer Pritsche neben dem Ofen sitzend, Satin, der Baron und die beiden Lastträger Tatarin und Krivoj Zob beim Kartenspiel, in dem anderen Bubnov und Medvedev beim Damespielen, und in dem dritten sitzt Luka auf einem Schemel neben Annas Lager und versucht, die Sterbende zu trösten. In der Gleichzeitigkeit und Vielstimmigkeit der Dialoge kommt nicht nur die bis zum Verlust gehende Störung der zwischenmenschlichen Kommunikation zum Ausdruck, sondern auch die Unterschiedlichkeit der Standpunkte seitens der Asylbewohner, ihrer Einstellungen zur Welt und zum Leben, die um die Pole von Wahrheit und Lüge, Glauben und Unglauben, Wunschtraum und Desillusion kreisen. Aus der fortgesetzten Konfrontation der Gegensätze folgt jedoch bis zum Ende keine Lösung. „Na dne“ ist ein „Diskussionsstück“31 ohne Resultat, ein „philosophisches Drama“32 ohne Erkenntnis. Der Selbstmord des Schauspielers, der seine verzweifelte Hoffnung vergeblich auf den Pilger gesetzt hat, bildet den entsprechenden symbolischen Schlußpunkt. Ebenso be-

IX. Die Revolutionierung der dramatischen Gattung durch Anton Čechov

81

zeichnend ist die Reaktion der Figuren, als der Baron in der Tür auftaucht und den Vollzug der Verzweiflungstat meldet, den Gor’kij, auf den szenischen Effekt verzichtend, wie Čechov in „Ivanov“ und „Čajka“ hinter die Kulissen verlegt: „(Schweigen). Alle blicken auf den Baron. Hinter seinem Rücken erscheint Nastja, die langsam, mit weit geöffneten Augen auf den Tisch zugeht.“ Satin: „(leise) Ach... muß der uns das Lied verderben... der Narr!“ Dann fällt der Vorhang. Das Leben geht weiter. Auch in den Stücken der folgenden Jahre, „Dačniki“, „Deti solnca“ (Die Kinder der Sonne, 1905) und „Varvary“ (Barbaren, 1906), stellte Gor’kij das dahinfließende russische Leben in seiner Unveränderlichkeit und Ausweglosigkeit dar. Immer noch stand er im Bann der Čechovschen Dramenpoetik. Das signalisiert schon die Kennzeichnung der Werke im Untertitel als „Szenen“. Auf Čechov weist auch die Einführung der städtischen Intelligenz als neues Personal, das jetzt die kleinbürgerliche Familie aus „Meščane“ und die Randgestalten der Gesellschaft aus „Na dne“ ersetzt. An Max Reinhardt, der eine Aufführung von „Dačniki“ erwog, schrieb Gor’kij im Dezember 1904 erläuternd: „Ich wollte jenen Teil der russischen Intelligenz darstellen, der demokratischen Schichten entstammt, und nach Erreichen einer relativ hohen sozialen Stellung die Verbindung mit dem Volk verloren hat.“33 Diese Intelligenz, die „einsam zwischen dem Volk und der Bourgeoisie“ stehe, sei „ohne Einfluß auf das Leben, ohne Kraft“, ja sie empfinde „Angst vor dem Leben“. Genauso hatte schon Čechov sie beschrieben. In „Deti solnca“ zeigt Gor’kij, wie ein hochbegabter, aber weltfremder Wissenschaftler, der Chemiker Pavel Protasov, der in seinem rastlosen Forscherdrang seine Frau und die Menschen seiner Umgebung vernachlässigt, sich durch die Loslösung vom Volk in eine tragische Situation bringt. Dagegen tritt in „Dačniki“, wo die Trennungslinie zwischen den mit der Bourgeoisie und den mit dem Volk verbundenen Intellektuellen durch die Familie des Gastgebers, des Advokaten Basov, und die versammelten Landhausgäste geht, mit der Ärztin Mar’ja L’vovna eine Gestalt gegenteiliger Art in Erscheinung. Ihr Monolog im vierten Akt, den Gor’kij als Höhepunkt des Stücks betrachtete34, ist ein leidenschaftlicher Aufruf an die Intelligenz, sich der „Blutsverwandtschaft mit der Masse des Volks“ bewußt zu werden und verantwortlich zu fühlen für die „uns nahestehenden, Tag für Tag nur schuftenden, in Schmutz und Finsternis erstickenden Menschen“. Der zuerst mit gedämpfter Stimme, dann mit immer größerem Nachdruck vorgetragene Appell Mar’ja L’vovnas, der die einen aufmerksam zuhören, während sich die anderen demonstrativ abwenden, gipfelt in den Worten „Sie haben uns vorausgeschickt, damit wir für sie den Weg zu einem besseren Leben finden“.35 Hier erklingt, fast unbemerkt, ein neuer Ton, der dann seit „Vragi“ nicht mehr zu überhören war, so daß der Zensor die Aufführung mit der Begründung verbot, hier werde „äußerst kraß die unversöhnliche Feindschaft zwischen Arbeitern und Arbeitgebern gezeigt, wobei erstere als standhafte Kämpfer geschildert werden, die bewußt das gesteckte Ziel – die Vernichtung des Kapitals – ver-

82

Das russische Drama

folgen, während letztere als engstirnige Egoisten erscheinen“.36 In der Tat stellte Gor’kij, ausgestattet mit den Erfahrungen der ersten Russischen Revolution, am Beispiel dreier Gruppen, repräsentiert durch eine reaktionäre Fabrikbesitzerfamilie, einen liberalen Unternehmer und Vertretern sowie Sympathisanten der revolutionären Arbeiterschaft, die offene Konfrontation der Klassen dar. Damit war die passive Lebenseinstellung, wie sie in Čechovs Dramen herrschte, endgültig überwunden und wurde nun ersetzt durch eine engagierte, kämpferische Haltung, die auf die grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Gegebenheiten zielte. Die neue Akzentsetzung führte Gor’kij im weiteren Verlauf seines dramatischen Schaffens zurück zum vorčechovschen Heldentheater, jetzt aber unter eindeutig sozialistischem Vorzeichen. Kulminierend in den Stücken der dreißiger Jahre, in „Egor Bulyčev i drugie“ (Egor Bulyčev und die anderen, 1932), „Dostigaev“ (1933) oder der zweiten Fassung von „Vassa Železnova“ (1936), zeitigte diese Entwicklung infolge ihrer ideologischen Ausrichtung einen deutlichen Verlust an künstlerischer Substanz. Gor’kij, der sich anfänglich an den Neuerungen Čechovs orientiert hatte, verfolgte den eingeschlagenen Weg hin zum modernen Theater nicht weiter. Dies taten an seiner Stelle andere, und zwar diejenigen, die er in „Dačniki“ als Dekadenzler karikierte und denen er später vorwarf, „neblige und unschöne Bilder“ zu entwerfen und „nervlich kranke Verse“ zu verfassen, „die jeder soziologischen Bedeutung entbehren“37: die russischen Symbolisten. X. Spielarten des modernen Theaters in Rußland Am 30. Dezember 1906 kam im Theater Vera Kommissarževskajas, wo ein Jahr zuvor Gor’kijs „Deti solnca“ aufgeführt worden war, unter dem Titel „Balagančik“ (Die Schaubude)1 ein Stück heraus, das, teils begeistert begrüßt, teils heftig abgelehnt, im äußersten Gegensatz zu der im Realismus wurzelnden Dramenkunst Gor’kijs und Čechovs stand. Es handelte sich um das erste Bühnenwerk Aleksandr Bloks (1880–1921), mit dem der bis dahin ausschließlich als Lyriker hervorgetretene Autor Brjusovs Forderung nach einem anti-illusionistischen Theater2 aus dem Jahr 1902 aufgriff und umsetzte, und Vsevolod Mejerchol’d war wie kein anderer Regisseur der Zeit prädestiniert, einen Text auf die Bühne zu übertragen, der in der Zerstörung traditioneller dramatischer Grundsätze noch über Čechov hinausging, indem er auf die Einteilung in Akte und Szenen und auf die Kausalität der Handlungsverknüpfung ebenso verzichtete wie auf vertraute psychologische Argumentation und herkömmliche moralische Kategorien. Die Inszenierung von Bloks „Balagančik“ ermöglichte ihm, sein Konzept des „bedingten Theaters“3 zu verwirklichen. Dieses Konzept, nach dem auf den Brettern der Bühne die Wirklichkeit nur „bedingt“, das heißt durch Kunst vermittelt, abgebildet werden soll, will vor allem eines nicht: Erzeugung von Illusion. Deshalb soll die Rampe aufgegeben und die Dekoration und die Theatermaschinerie abgeschafft werden. Aus solchen Bezügen gelöst, kann sich der Schauspieler frei entfalten und sein Spiel ganz auf dem Rhythmus der Diktion

X. Spielarten des modernen Theaters in Rußland

83

und der Bewegung gründen. Letztlich schwebte Mejerchol’d eine Annäherung von Schauspiel und Tanz im Geist der Antike vor. Der Umsetzung dieses inszenatorischen Konzepts und der damit intendierten Erneuerung des Theaters kam Bloks Text weitgehend entgegen. Bereits der Auftakt von „Balagančik“ stört mit dem unvermittelten Aufeinandertreffen gegensätzlicher Welten die Illusionserwartung des Zuschauers: Drei zeitgemäß gekleidete Mystiker warten auf die Ankunft des Todes; statt dessen erscheint Pierrot, eine Figur aus der Commedia dell’arte, um dann seinerseits auf die geliebte Colombina, eine andere Typengestalt der alten italienischen Volkskomödie, zu warten. Als die Mystiker in dem weißgewandeten Mädchen die ersehnte „stille Erlöserin“ sehen, Pierrot aber die sehnsüchtig erwartete Braut erkennt, kommt es zu einem Dialog, der, ehe er sich illusionswirksam entwickelt, durch das Auftauchen Harlekins unterbrochen wird. Der schöne Jüngling entführt Colombina, die gerade entschlossen war, Pierrot zu folgen. Dieser beklagt in einem Monolog sein Liebesleid, dann sinken er und die Mystiker in sich zusammen und hängen als leblose Marionetten über den Stühlen. Von nun an erweist sich alles als Fassade. Wie in der Welt von Gogol’s Komödien gibt es nichts, was nicht trügerisch ist. Colombina, so stellt sich heraus, ist nur eine Puppe aus Pappmaché. Leblos vom Schlitten des Entführers gefallen, wird sie auf dem anschließenden Maskenball von Pierrot und Harlekin in gemeinsamer Trauer lachend umtanzt. Drei maskierte romantische Liebespaare, von denen sich eins in einer Kirche wähnt, decouvrieren sich als parodistische Selbstverspottung Bloks in dichterischer wie in biographischer Hinsicht. Ein als mittelalterlicher Ritter Verkleideter versetzt einem Bajazzo, der ihm die Zunge herausgestreckt hat, mit seinem hölzernen Schwert einen Hieb auf den Kopf. Daraufhin stürzt dieser von der Bühne und verblutet in dem Moosbeerensaft, der aus seinem Schädel spritzt. Währenddessen hält ein Fackelchor Einzug, aus dem Harlekin als Koryphäe hervortritt und sich dann anschickt, das frühlingshaft erwachende Leben begrüßend, durch das Fenster zu springen. Doch die sichtbare Ferne besteht aus bemaltem Papier, und der Sprung geht ins Leere. Aus der Leere aber kommt der Tod, auf den die Mystiker eingangs gewartet haben. Er nähert sich in Gestalt eines schönen bleichen Mädchens, das mit zunehmender Morgenröte immer belebter wird und sich schließlich in Colombina verwandelt. Als Pierrot die Hand der Geliebten ergreifen will, schaltet sich der „Autor“ ein – nicht zum erstenmal. Schon vorher war er zweimal auf die Bühne getreten und hatte sich, ehe ihn eine Hand am Kragen packte und hinter den Vorhang zurückzog, an das „hochverehrte Publikum“ gewandt, darüber empört, daß die Aufführung seine „Autorenrechte grausam verspottet“ und er „nicht für die Schaubude geschrieben“, sondern ein „eindeutig realistisches Stück verfaßt“ habe.4 Jetzt ist er zufrieden, weil die „Liebe zwischen zwei Herzen“ doch noch ihre Erfüllung gefunden hat. In dem Moment aber, als er seine Freude über den glücklichen Ausgang äußert, heben sich die Kulissen in die Luft, die Maskierten laufen davon, und nur Pierrot bleibt allein

84

Das russische Drama

zurück, in seinem weißen Kittel mit den roten Knöpfen hilflos auf dem leeren Bühnenboden liegend. Bis zuallerletzt betont Blok das Theaterhafte des Stücks. Dazu gehört zunächst, daß er das Gesamtgeschehen segmentiert, die Charaktere entindividualisiert und entpsychologisiert und die Figuren zu disparaten Gruppen arrangiert (Mystiker; Pierrot, Colombina, Harlekin; Maskenpaare), ohne diese mit den Konfigurationen der drei Handlungssegmente (Szene mit den wartenden Mystikern, Maskenball und Einzug des Fackelchors) in Übereinstimmung zu bringen. Dazu gehören dann aber auch die fortgesetzte Auflösung und Verwandlung der Spielfiguren sowie die wiederholten Auftritte der spielexternen Instanz des kommentierenden „Autors“, durch die ebenso wie durch die Requisiten vom Papphelm und Holzschwert bis zum papierenen Fenster der Bühnen-Schein entlarvt und die Entstehung einer einheitlichen Illusion bereits im Ansatz verhindert wird. Dies alles und weiteres wie die Potenzierung der Fiktionsebenen durch das freie Verfügen über Zeit und Raum5 oder die Auflösung der Identität einer Figur (wenn sich der sinnenfrohe Harlekin als alter ego des elegischen Pierrot erweist) sind bühnentechnische und theaterästhetische Neuerungen, die Blok ohne unmittelbare Vorbilder, avantgardistische Verfremdungstechniken antizipierend, in einem genialen Zugriff auf knappstem Textraum realisierte. Die Radikalität, mit der er nach dem Verstummen Čechovs, gestützt auf die volkstümlich-derbe Darbietungsform der Schaubude mit ihren Standardtypen aus der Commedia dell’ arte und unter Verspottung der populären symbolistischen Einakter Maeterlincks sowie der theosophischen und mystisch-eschatologischen Zirkel in Moskau und Petersburg, auf der Grundlage eines Stücks die russische Dramatik erneuerte, erinnert an den Traditionsbruch der Futuristen, ist aber anders als später bei Chlebnikov, Kručenych und Majakovskij nicht begleitet von der Lust an der Provokation und der Absicht, das Publikum zu schockieren. Blok wußte, daß er mit „Balagančik“ eine „Bresche“ schlug „in das tote Fossil“, wundersam verjüngend den „dürren alten Gaul“6, doch seine Revolution ist zurückhaltender und eher privater Natur. Inzwischen war er nicht nur der eigenen Liebesmystik à la „Stichi o Prekrasnoj Dame“ (Verse von der Schönen Dame, 1905) überdrüssig geworden7, sondern begann auch an der Lyrik überhaupt und ihrer Bedeutung für seine Zeit zu zweifeln: „Die Lyrik gehört nicht zu jenen Bereichen des künstlerischen Schaffens, die das Leben lehren.“8 Hingegen sah er, wie er im Dezember 1906 an Mejerchol’d schrieb, in der dramatischen Gattung einen „Ausweg aus der lyrischen Abgeschlossenheit“9, und das hieß: die Möglichkeit, die existierende Trennung von Kunst und Leben zu überwinden. So wies er dem Theater, jener „Wiege der irdischen Leidenschaft“10, in der sich Kunst und Leben auf das engste berühren, einen hohen Stellenwert und eine zentrale Aufgabe zu: in der Epoche der Krise des Individualismus11 beizutragen zur Aufhebung der Vereinzelung des Menschen und seiner Herausführung aus dem Zustand der Dekadenz mit ihrer seelischen Verflachung und Verödung.

X. Spielarten des modernen Theaters in Rußland

85

In den Kontext dieser Überlegungen gehören auch zwei weitere Stücke aus dem Jahr 1906, „Korol’ na ploščadi“ (Der König auf dem Platz) und „Neznakomka“ (Die Unbekannte), die Blok 1907 mit „Balagančik“ zur Trilogie zusammenfaßte. Im Vorwort zu der Buchausgabe heißt es, die Helden der drei „lyrischen Dramen“, der arme Pierrot, der moralisch schwache und der in Träumerei und Rausch versunkene Dichter, entsprächen verschiedenen Seiten einer menschlichen Seele, glichen aber einander in ihrer Sehnsucht: „Sie suchen das Leben, ein schönes, freies und helles Leben, das allein die unerträgliche Bürde der lyrischen Zweifel und Widersprüchlichkeiten von ihren schwachen Schultern stoßen kann.“12 Doch das schöne, freie, helle Leben, für alle verkörpert in Abbildern des Ewig-Weiblichen, in Colombina, in der Tochter des Baumeisters und in der Unbekannten, entzieht sich dem Zugriff. Traum und Ideal brechen zusammen, so wie Colombina auf der Stelle zur Puppe wird, gefertigt aus Papier und Karton. Blok begegnet der Verzweiflung angesichts des tragischen Zusammenbruchs, einer Verzweiflung, die aus den Tiefen eigenen Empfindens rührte, durch die künstlerischen Mittel des Spotts und der Ironie. Dadurch unterscheiden sich seine Stücke von echten Tragödien, wie sie Annenskij und Vjačeslav Ivanov, die Altphilologen unter den russischen Symbolisten, im Rückgriff auf antike Vorbilder bis in kompositionelle, stilistische und metrische Feinheiten neuzubeleben und so ihrer Zeit zu erschließen versuchten. Bezeichnenderweise verwendete Blok den Begriff des „lyrischen Dramas“ – Ausdruck für eine Gattungsform, die im Unterschied zu den Formen von ungebrochener Kontinuität immer in Epochen gesteigerter Empfindsamkeit entsteht: im Sentimentalismus, in der Romantik, im Symbolismus und Expressionismus.13 Für den Lyriker Blok erwies sich die ursprünglich aus der Oper, dem Singspiel und dem Oratorium heraus entstandene Form als das geeignetste Ausdrucksmittel. Einsträngig, intrigenlos, ohne eigentliche Handlungsentwicklung, gestattete sie, die Entwicklung aus der Handlung ins Innere des Menschen, in die Gefühls- und Erlebniswelt der Figuren, zu verlegen. Wo es um den Tod geht, und das ist in den lyrischen Dramen meist der Fall, steuern diese Werke nicht wie die Tragödie umweglos auf das Unvermeidliche zu, vielmehr spielen sie, wie Maeterlincks „L’Intruse“ (1890) oder Hugo von Hofmannsthals „Der Tor und der Tod“ (1894) zeigen, in der knappen Zeitspanne, die dem zum Sterben Bestimmten noch bis zu seinem Ende verbleibt. Auch die Stücke von Bloks Trilogie haben jeweils den Charakter des Endspiels. Nur ist die Gewißheit des Todes, die in den lyrischen Dramen der Zeitgenossen Maeterlinck und Hofmannsthal herrscht, ersetzt durch die Erfahrung der Leere und die quälende Aussicht auf das Nichts. Ein tragisches Weltgefühl kam hier zum Ausdruck, das weit über die Entstehungszeit der dramatischen Trilogie hinaus wies und sich nicht mehr in die engen Grenzen des traditionellen Tragödienverständnisses fassen ließ. Das letztere gilt auch für ein Werk, an das zu gleicher Zeit ein anderer Autor, Leonid Andreev (1871–1919), große Hoffnungen knüpfte: „Žizn’ čeloveka“ (Das Leben des Menschen). Das im Oktober 1906, als Blok die Uraufführung

86

Das russische Drama

von „Balagančik“ vorzubereiten begann, innerhalb von zwölf Tagen entstandene Stück bildet eine weitere wichtige Etappe auf dem Weg der russischen Dramatik in die Moderne. Die nach „K zvezdam“ (Zu den Sternen, 1906) und „Savva“ (1906) dritte Theaterarbeit des symbolistischen Erzählers, die am 22. Februar 1907 wie Bloks „Balagančik“ im Kommissarževskaja-Theater von Mejerchol’d inszeniert wurde, war eine Art Experiment. Es ist der Versuch einer Wiedergeburt der Tragödie. Während die Tragödien Vjačeslav Ivanovs wie „Tantalos“ (1905) oder „Prometej“ (Prometheus, 1919) und Annenskijs 1906 entstandene und 1919 veröffentlichte Tragödie „Famira-Kifarėd“ (Thamyras, der Kytharaspieler), die Erzählung vom stolzen Spieler, der die Musen herausfordert und dafür mit dem Verlust des Augenlichts bestraft wird, wegen ihrer ausschließlichen Gründung auf antiken Mythen und ihrer strengen Anlehnung an Sophokles und Euripides, lediglich philologisches Interesse beanspruchen können, gelang es Andreev, mit „Žizn’ čeloveka“ und daran anschließend mit „Car’ Golod“ (Zar Hunger, 1908), „Černye maski“ (Schwarze Masken, 1908) und „Anatėma“ (Anathema, 1909), einen Typus abstrakt-allegorischer Dramatik zu entwickeln, zugleich Techniken erprobend, die spätere Vertreter der Moderne aufgriffen und weiterentwickelten. Dazu gehört vor allem ein Konzept, das als eine Vorform des epischen Theaters angesehen werden kann. Andreevs Dramatik, die gegen die am Moskauer Künstlertheater gepflegte Milieu- und Stimmungskunst in der Inszenierung von Stücken Turgenevs, Čechovs oder Gor’kijs gerichtet ist und von Mejerchol’d als „antitheatralisch“, mehr für die Lektüre als für die Bühne bestimmt14, charakterisiert wird, will nicht darstellen, sondern zeigen, vorführen, beweisen. Sie ist argumentativ, nicht szenisch bildhaft. Ihre Werke sind Thesenstücke. So tritt in „Žizn’ čeloveka“ ein Sprecher auf, der, ehe er allgegenwärtig die Bühne beherrscht, als „Jemand in Grau“ nach dem Muster der mittelalterlichen Moralitäten im Prolog, eingeleitet durch ein aufforderndes „Schauet und höret“, das Programm des Stücks darlegt: „Vor euch wird das ganze Leben des Menschen ablaufen mit seinem dunklen Anfang und seinem dunklen Ende...“.15 Nach dieser Ankündigung und der darauf folgenden eingehenderen Vorausschau werden in fünf „Bildern“, anstelle von Akten, die Lebensstadien einer Figur von der Geburt über die Liebe, die Armut und den Wohlstand bis zu erneuter Armut und schließlich zum Tod vorgeführt. Der Held, ein russischer Intellektueller, der es nach schwerer Jugend als Architekt zu Ansehen und Besitz bringt, von unerwarteten Schicksalsschlägen heimgesucht aber in totaler Vereinsamung stirbt, repräsentiert das Gattungswesen Mensch und ist deshalb nur mit einer umrißhaften Biographie und wenigen persönlichen Zügen ausgestattet. Auch die übrigen Figuren, die Mutter, die Ehefrau, der Sohn, die Ballgäste, die Erben, sind nichts anderes als Demonstrationsobjekte. „Die Frage einzelner Individualitäten ist überholt“, war Andreev überzeugt, „ich neige dazu, die bunte Palette der Individualitäten, selbst wenn sie sich noch so sehr widersetzen sollten, mit dem Allgemeinen, Menschlichen zu verbinden.“16

X. Spielarten des modernen Theaters in Rußland

87

Die entindividualisierte, verfremdende Art der Menschendarstellung korrespondiert mit dem Fehlen eines Handlungskontinuums. Jedes der fünf „Bilder“ steht für sich, hat sein eigenes Thema, und der Übergang von einem zum anderen erfolgt nicht fließend, sondern sprunghaft. Was sich in der nichtdargestellten Zwischenzeit an Wesentlichem ereignet, wird vorausgesagt oder nachträglich berichtet wie der das späte Unglück einleitende Tod der Ehefrau. So bleibt die Bühnengegenwart frei von äußeren Höhepunkten. Die Handlung, nicht mehr wie früher aus dem Widerstreit gegensätzlicher Kräfte resultierend, ist weitgehend entdramatisiert. Selbst der Vorgang des Sterbens, auf den alles zuläuft, wird nicht szenisch vergegenwärtigt, sondern vom Sprecher lakonisch mitgeteilt: „Ruhe! Der Mensch ist gestorben!“17 Von Anfang an tritt der Bericht neben dem monologischen Sprechen in den Vordergrund und drängt den Dialog zurück, der seit alters her in Verbindung mit der Handlung das Wesen des Dramas ausmacht. Die noch vorhandenen Gespräche aber haben die Funktion verloren, Gedanken und Empfindungen zu vermitteln, oder werden wie diejenigen unter den Gästen auf dem Ball und den Trinkern in der armseligen Kellerkneipe, wo der vereinsamte Held stirbt, in einer Sprache geführt, die ans Groteske und Absurde grenzt. Die Redeweise der Figuren ist so undramatisch wie die gesamte Komposition. Alles steht im Dienst einer belehrenden Aussage, die das konkrete menschliche Einzelleben zum allgemeingültigen Regelfall erhebt. Danach folgt der Mensch mehr leidend als gestaltend seinem vorherbestimmten Weg. Ganz im Sinne der antiken Tragödie erfährt er, der neuzeitliche Mensch, daß auch in götterloser Zeit das Aufbegehren gegen die Mächte des Schicksals vergeblich ist. Unzufrieden mit der pessimistischen Lebensauffassung Schopenhauerscher Provenienz, überarbeitete Andreev das Schlußbild seines Stücks und ließ den Helden, der jetzt nicht mehr in der Kneipe, sondern zu Hause im Kreis von Verwandten und Freunden stirbt, zur Erkenntnis der Welt in all ihrem Grauen gelangen. In der stolzen Absage an die Welt vollzieht der Wissende sterbend jenen Akt der Befreiung, der nach Schopenhauer den lebenslang an das Rad des Ixion geflochtenen Menschen dem „Sklavendienst des Willens“ entreißt und in den „schmerzlosen Zustand“ versetzt, „den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries“.18 Blok, selbst zu Pessimismus und tragischem Weltgefühl neigend, war begeistert: Andreev zeige, daß der Mensch „keine Puppe“ ist, „kein bedauernswertes, zur Verwesung bestimmtes Geschöpf“, sondern ein „wunderbarer Phönix, der den ‚eisigen Wind des grenzenlosen Raums’ überwindet“.19 So ist es sicher kein Zufall, daß er sich an Andreevs Stück orientierte, das er in seiner Abhandlung „O drame“ (Über das Drama, 1907) ausführlich gewürdigt hatte, als er in den Jahren 1907/08 daran ging, ein fast ebenso weites Thema wie das des Lebens zum dramatischen Vorwurf zu machen: das „Thema Rußland“. In einem Brief an Stanislavskij vom 3. Dezember 1908 nannte er dieses Thema die „vordringlichste, lebenswichtigste, realste Frage“.20 Sie umfaßte vor allem das Schicksal und die Sendung Rußlands, die Beziehung von Volk und Intelligenz, den Verfall

88

Das russische Drama

der Adelskultur und die Entstehung der städtischen Massenzivilisation sowie das Verhältnis von Individuum und Kollektiv angesichts der bevorstehenden Umwälzungen. Das Stück, in dem Blok diese – ihn selbst und seine Zeit bewegenden – Probleme dichterisch verarbeitete, trägt den Titel „Pesnja sud’by“ (Das Lied des Schicksals), erschien 1909 in der ersten, 1919 in der zweiten, endgültigen Druckfassung, gelangte aber, allen Bemühungen zum Trotz, nie auf die Bühne. Künstlerisch eher mißlungen, ist es dennoch von Bedeutung, zum einen als „autopoetologisches Schlüsselwerk“21, als solches Brjusovs „Zemlja“ (Die Erde, 1907) und Chlebnikovs „Zangezi“ (1922) vergleichbar, zum anderen als der erste Versuch, Elemente von Andreevs Technik des epischen Theaters aufzugreifen. Um der Weite des Themas gerecht zu werden, übernahm Blok die Stationenstruktur als äußeres Bauprinzip und gliederte das Ganze in vier Akte (1. Fassung) bzw. sieben Bilder (2. Fassung). Was bei Andreev der Weg des Menschen von der Geburt zum Tod ist, ist hier der Weg Rußlands, veranschaulicht am Passionsweg des Helden, des Künstlers German. Und die Aufgabe, die Andreevs „Jemand in Grau“ erfüllt, nämlich als eine Art Spielleiter die Handlung zu erklären und zu kommentieren und als Verkörperung des Fatums die Unabänderlichkeit der vorbestimmten Geschehnisse zu verdeutlichen, übernimmt jetzt eine die Stationenstruktur überlagernde interpretierende Ebene. So wird der Held, figural wie auch auktorial charakterisiert, aus doppelter Perspektive wahrgenommen, wobei zuweilen die eine die andere konterkariert. In dieser Spannung und wechselseitigen Beleuchtung vollzieht sich der symbolische Weg Germans22, der, schon vor Beginn der Handlung menschgeworden und auf die Erde herabgestiegen, am Ende des ersten Bilds die familiäre Sphäre des weißen Hauses auf einem Hügel, wo er mit seiner Mutter und seiner Frau wohnt, verläßt und zum ruhelosen Wanderer und Sucher wird. Sein Unterwegssein wird zur Voraussetzung für die Begegnung mit dem rauschhaft Elementaren in Gestalt der Sängerin Faina, die im dritten Bild, in einem elektrisch beleuchteten Kulturpalast, dem Sinnbild der Künstlichkeit, im engen schwarzen Gewand, das den Körper wie eine Schlangenhaut umhüllt, mit einer Peitsche in der Hand das „Lied des Schicksals“ singt. Die Begegnung, die aus der Innensicht der Figuren in der „heiligen Hochzeit“ gipfelt, damit den Endpunkt ihres „Dramas“ bildend, erscheint von höherer Warte aus lediglich als Durchgang zu weiteren Stationen. Fainas Heilssehnsucht findet keine Erfüllung. German ist nicht der „mystische Bräutigam“, der erwartete Erlöser. Er selbst erkennt sich als einen Gezeichneten, zum Leid Bestimmten – als Christus-Dionysos.23 Das „Drama“ geht weiter, im realen wie im übertragenen Sinn. Die Vereinigung zwischen dem Hinabsteigenden, der zur Hypostase des leidenden Christus wird, und der Verkörperung Rußlands ist im Hier und Jetzt gescheitert, aber dem Scheitern folgt die Verheißung einer Wiederbegegnung im Raum des persönlichen und kollektiven Schicksals. Es war das eigene mythische Weltbild, das Blok in „Pesnja sud’by“ gestaltete und aus der Abgeschlossenheit der Lyrik und der raumzeitlichen Enge der ly-

X. Spielarten des modernen Theaters in Rußland

89

rischen Dramen in die Weite Rußlands mit seiner Unendlichkeit von Raum und Zeit transferierte. Diese Ausweitung führte aber nicht zu der beabsichtigten stärkeren Lebensnähe und größeren Weltfülle. Die Privatheit des zugrunde gelegten Mythos, der durch vielfältige literarische, philosophische, religiöse und mythologische Bezüge gestützt wurde, verlieh dem Werk den Eindruck des Esoterischen, der Regisseure wie Stanislavskij abschreckte und zeitgenössische Kritiker von „realer Mystik“ und „mystischem Realismus“24 sprechen ließ. Dennoch ist Bloks Stück, das sein Thema, das „Thema Rußland“, ganz bildhaft eingekleidet, also symbolisch behandelt, unabhängig von der ästhetischen Bewertung ein aufschlußreiches Theaterstück25; denn es belegt, daß der Symbolismus nicht nur eine rückwärts gewandte, der Romantik verpflichtete, sondern auch eine vorausweisende, die Moderne mitbegründende Erscheinung war. Selbst die Vertreter der Avantgarde, die Kubofuturisten um Majakovskij und Chlebnikov, die am heftigsten gegen die Symbolisten und Aleksandr Blok im besonderen polemisierten, verwendeten im futuristischen Theater Verfahrensweisen, die im symbolistischen entwickelt worden waren. Hier wie dort ging es zuallererst darum, in ausdrücklicher Wendung gegen die Tradition, den literarischen Text zu verrätseln und zu verfremden, um so den Leser und Zuschauer zu irritieren und zu eigener Kreativität bei der Rezeption des Textes zu aktivieren.26 Daß Blok und Andreev diese Absicht erreichten, zeigt die verständnislose Haltung eines Großteils des Publikums nach der Uraufführung von „Balagančik“ und „Žizn’ čeloveka“. Das futuristische Theater, auf die Ästhetik des Schocks angelegt, unterschied sich nur durch die größere Provokationskraft. Entsprechend lauter reagierten die im Saal Anwesenden, die zudem nicht selten von der Bühne herab beschimpft wurden. Der Auftakt zu diesem Theater, ein Zweiakter mit Prolog und Epilog, der den Namen des Autors Vladimir Majakovskij (1893–1930) zum Titel hat, weist noch eine erkennbare Nähe zum Symbolismus auf. Er ist, nicht anders als bei Blok und Andreev, ganz Ausdruck eines persönlichen Lebensgefühls. Wie in Bloks „Korol’ na ploščadi“ und „Neznakomka“ steht ein Dichter im Mittelpunkt. Sich eingangs als den „letzten Dichter“ bezeichnend, bildet er, ein poetisches alter ego Majakovskijs, die einzige wirkliche Person. Alle anderen Figuren, ein „gewöhnlicher junger Mann“, ein „Mensch ohne Ohr“ oder ein „Greis mit Katzen“, sind masken- und marionettenhafte Wesen und als solche den entpersönlichten allegorischen Gestalten Bloks und Andreevs verblüffend ähnlich. Die „Bekannte“ des Dichter-Ichs ist eine Puppe, die von der Menge zwischen die Kulissen geschleudert wird. Von hier aus ergibt sich ein direkter Bezug zu der Figur der Colombina in „Balagančik“, die im Schneesturm als Puppe vom Schlitten fällt. Nur stehen Majakovskijs Schemen, auch wo sie wie im letzteren Fall parodistische Funktionen haben, anders als bei Blok in enger Beziehung zur sozialen Wirklichkeit. Es handelt sich um körperlich und seelisch Verkrüppelte, um Beschädigte im doppelten Sinn des Wortes. Der eine hat ein langgezogenes Gesicht, der andere ist ohne Kopf, dem dritten fehlen ein Auge und ein

90

Das russische Drama

Bein. Die Mißbildungen wurden in der Inszenierung auf Pappkarton aufgemalt, die die Schauspieler wie Schutzschilde vor sich hertrugen. Majakovskij ging mit diesen Auftritten noch ein Stück weiter als die symbolistischen Maskeraden, Clownerien und Narreteien. Aus dem Narren in „Korol’ na ploščadi“, der sich in sprichwortreicher Rede zum guten Hirten der menschlichen Herde erklärt, wird der tausendjährige Greis, der die Menschen auffordert, ihre Wohnungen zu verlassen und sich zu den Katzen zu begeben, und aus den kleinen roten Stimmen, die in den Staubwolken hüpfen, werden zwei Küsse, die ein Mann geschenkt bekommt, und die sich, nachdem dieser sie lustlos weggeworfen hat, zu riesigen, fetten lachenden Wesen verwandeln, um im nächsten Moment als KußKinder zu erscheinen, die ihre Tränen auf der Bühne niederlegen. Die Figuren, denen bei Majakovskij das eine oder andere Körperteil abhanden gekommen ist, sind groteske Steigerungen jener „maskenhaften Gesichter mit maßlos vergrößerten oder verkleinerten Teilen“, die im fünften Bild von „Žizn’ čeloveka“ in Erscheinung treten, „Gesichter, die ganz Nase sind und Gesichter ohne Nase, andere mit weit aufgerissenen Augen, die fast heraustreten, und wieder andere, die an Stelle der Augen winzige Schlitze und Pünktchen haben“.27 Hieran anknüpfend, zugleich aber auch auf Gogol’ zurückweisend, in dessen Erzählung „Nos“ (Die Nase, 1836) die Nase des Kollegienassessors Kovalev eines Morgens das Gesicht verläßt und sich als selbständige Person auf eine Wanderung durch Petersburg begibt, erschafft Majakovskij, seinerseits auf den Surrealismus vorausdeutend28, schockierende Bilder wie das von dem Bein, das einer Figur fehlt und ihr in der Nachbarstraße hinterherläuft.29 In solchen Fällen der Belebung des Dinglichen wie auch umgekehrt der Verdinglichung des Belebten gelangt die futuristische Verfremdungstechnik an die Grenzen ihrer szenischen Darstellbarkeit. Demzufolge kommt sie weniger in der Handlung als in der Figurenrede zur Geltung, in Dialogen, die gegenüber dem Symbolismus fast vollends zu Monologen geworden sind. Hier, im Bereich der Sprache, ist jede Verwandlung möglich, hier kann der Schrei gekreuzigt werden, die Langeweile erhängt in den Alleen schaukeln und die Gasse die Ärmel aufkrempeln, um eine Schlägerei anzufangen.30 Noch ausschließlicher reines, ja reinstes Sprach- und Sprechstück ist „Pobeda nad solncem“ (Sieg über die Sonne)31 von Aleksej Kručenych (1886–1968), ein Werk in sechs Bildern und einem Prolog von Velimir Chlebnikov (1885– 1922), das im Herbst 1913 an zwei Abenden, abwechselnd mit Majakovskijs „Vladimir Majakovskij“, im Petersburger Luna-Park-Theater aufgeführt wurde. Während Majakovskij noch ein deutliches Anliegen hat und von seiner eigenen Zerrissenheit als Dichter spricht, macht Kručenych die futuristische Sprache und die Verfahren des Futurismus zum eigentlichen Thema. Schon im Prolog, „Schwarzschaffende Neuigkeiten“ überschrieben, bringt Chlebnikov zum Ausdruck, daß der Futurist, den er „budetljanin“ (Mensch der Zukunft) nennt, eine neue Sprache benötigt, und er demonstriert dies, indem er die gewachsenen Strukturen des Russischen verändert und, Wortwurzeln und Suffixe nach klang-

X. Spielarten des modernen Theaters in Rußland

91

lichen und rhythmischen Prinzipien zusammenfügend, noch nie gehörte Neologismen schafft. „Schauspiel“ und „Theater“ heißen jetzt „sozercog“ und „sozercavel’“, abgeleitet jeweils von „sozercat’“ (anschauen). Aus „oblik“ (Gesicht) und „menjat’“ (wechseln) entsteht das Wort für den Schauspieler („oblikmen“), von dem gesagt wird, er werde, „gelenkt durch den Befehl des Zauberers der Spiele“, in wunderbaren Verkleidungen (rjaževye) mit „gewaltigwortigen, schnell prophezeienden Stücken des Zukünftigen (iduty)“ den Zuschauer erschüttern.32 Dieses Theater ist gemäß seines Selbstverständnisses im Rückgriff auf Uraltes, auf archaische, mythische Verhältnisse, ganz zukunftsgewandt. Der Dichter erklärt sich zum Magier und Seher, der den Zuschauer verzaubern und zugleich zur Erkenntnis seiner selbst und der Welt bringen will. Das wichtigste Mittel dazu ist die wortschöpferische Sprache. Sie wurde bei der Uraufführung von „Pobeda nad solncem“ unterstützt durch die atonalen Kompositionen Matjušins und die kubistischen Bühnendekors Malevičs, der hier den Grundstein zu seiner Malerei des Suprematismus legte. Das Stück, in das Chlebnikovs Prolog programmatisch einführt und das Kručenych, stärker als die Symbolisten und sogar als Majakovskij mit den Gesetzen der dramatischen Form brechend, ohne zielgerichtete Handlung, ohne Konflikt und ohne Spannung in sechs unverknüpften Bildern entfaltet, erstrebt die Verbindung von Wort, Bild und Ton. Deshalb wird es auch im Untertitel als „Oper“ bezeichnet, allerdings in der Absicht, die damit geweckte Vorstellung von Beginn an zu zerstören. Wie Majakovskijs „Tragödie“, die keinen Konflikt, keine Peripetie und keine Katastrophe kennt, ist Kručenychs „Oper“ lediglich die Dekonstruktion einer Gattungsform. Text, Musik, Kulissen und Ausstattung33 basieren nicht auf dem Gedanken des harmonischen Zusammenklangs aller künstlerischen Elemente. Jede Kunstform formt vielmehr auf selbständige Weise ihr Material und eröffnet damit einen jeweils eigenen Zugang zu der Ideenwelt des Stücks.34 So ist der Text hier kein Text zur Musik, kein Libretto, das als Vorgabe des Handlungsverlaufs seinen Zweck erst außerhalb seiner selbst, in der Vertonung, erfüllt, sondern ein Gebilde von der gleichen Autonomie wie das auf der Bühne hinzukommende musikalische und malerische Element. Die entdramatisierte Handlung vollzieht sich in „Pobeda nad solncem“ – deutlicher noch als bei Majakovskij – in den Grenzen der Sprache, und zwar jener „sperrigen“ Sprache35, die Kručenych und Chlebnikov in ihrem Manifest „Slovo kak takovoe“ (Das Wort als solches, 1913) postulierten und die hier durchsetzt ist mit Wörtern, die sinnwidrig kombiniert, in Silben, Buchstaben und Lauten zerlegt oder nichts anderes als reinste Lautmalerei sind, aller geläufigen Semantik entledigt. In dieser auf sich selbst verweisenden Sprache verlieren die Figuren nicht nur, wie seit dem Symbolismus üblich, ihre individuelle Einzigartigkeit, sondern auch den Rest ihrer Bindung an die vertraute Wirklichkeit und die gewohnten Kategorien von Zeit und Raum. Bestimmte Eigenschaften anstelle von Charakterzügen verkörpernd, sind die einen, „Nero und Caligula in einer Person“, der „Fette“, der „Streitsüchtige“ oder „Irgendeiner mit schlechten Absichten“,

92

Das russische Drama

der Vergangenheit verhaftet und die anderen, der „Reisende“, der „Pilot“, die „Sportler“ oder die „Kraftmenschen“, auf die Zukunft gerichtet. Ihre kurzen schnellen Auftritte, die keiner Notwendigkeit eines Handlungsablaufs entspringen, und ihre zu lyrischen Monologen tendierenden Dialoge, die sich mehr an das Publikum als an das Gegenüber auf der Bühne wenden, sind nicht durch Konflikte im Sinne von Interaktionen zwischen zwei Instanzen motiviert: Sie sind nichts anderes als Sprachkonflikte. Der Kampf gegen die Sonne erscheint als Kampf der Worte. Was der Zuschauer, dem der Prologsprecher zuruft „Sei Gehör (großohrig), und sei Betrachter“, staunend vernimmt, ist Wort-Spiel, Wortakrobatik, Wortschöpfung. Nach dem Sieg über die Sonne hat sich mit dem Erreichen des „Zehnten Landes“ das sprachliche Konzept des Futurismus erfüllt. Das Wort wird nicht länger vom Licht der alten Ästhetik erhellt, es lebt, selbstwertig, aus eigener Energiequelle. „Unser Licht ist in uns“, sagt „Einer“, und der Chor singt „Wir sind frei.“36 Beides gilt auch für das futuristische Wort. Vom gleichen Geist radikaler Freiheit geprägt ist eine Szenenfolge, die Chlebnikov 1922, im Jahr seines Todes, zusammenstellte und nach der zentralen Gestalt, dem Bindeglied der scheinbar disparaten Teile, „Zangezi“ nannte. Das als „Übergeschichte“ (sverchpovest’) bezeichnete Montagewerk, eine im Vergleich zu „Pobeda nad solncem“ noch stärkere Abstraktion und Versprachlichung der Wirklichkeit, besteht aus insgesamt einundzwanzig Teilen, sogenannten „Ebenen“ (ploskosti) oder genauer „Blöcken von Wortebenen“ (Koloda ploskostej slova), von unterschiedlicher Länge und unterschiedlichem Charakter, teils eher lyrisch-persönlich, teils betont theoretisch und exemplarisch. Verbindendes Element ist neben der Gestalt Zangezis selbst die Lehre, die dieser Eremit, Prophet und Prediger, Chlebnikovs unmittelbares Mundstück, nach dem Muster von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ verkündet: eine hermetische Sprach-, Zeit-, Zahlen- und Schicksalstheorie. Abstrakt und poetisch, rational und intuitiv zugleich, will der durch keine Gegenrede unterbrochene, nur von knappen Einwürfen, Fragen und Ausrufen begleitete litaneiartige Vortrag die Zuhörer innerhalb und außerhalb des Textes in den Bannkreis mythisch-halluzinatorischer Vorstellungen ziehen. Dazu schöpft Zangezi aus dem „Wörterbuch der Sternensprache“, prägt Neologismen, erzeugt lautmalerische Effekte, benutzt Metaphern, Symbole, Ziffern und mathematische Formeln und Gleichungen. Alles dient der Beschwörung einer magischen Welt, die zur Rettung auf der Flucht vor der „schrecklichen Zeit“ der geschichtlichen Gegenwart werden soll. Diese Welt läßt sich in einem Stück ohne Schauplatz und ohne antagonistisch Handelnde nur noch vernehmen, aber nicht mehr zeigen. Chlebnikovs „Zangezi“ erweist sich als „Hör-Spiel“, als „Wort- und Klangkunstwerk mit zwangsläufigem Verzicht auf Sichtbarkeit“.37 Die Eignung für die Bühne, im Falle von „Vladimir Majakovskij“ gerade noch gegeben, ist damit fraglich geworden. Als Vladimir Tatlin das Anti-Stück 1923 im Leningrader Museum für Bildende Künste aufführte, übertrug er, außerstande, dramatische Handlungen darzustel-

X. Spielarten des modernen Theaters in Rußland

93

len, die akustischen Wortblöcke und Sprachebenen in die Visualität geometrischer Formen und verschiedenartiger Materialien. Mit Chlebnikovs Vermächtnis, der „Übergeschichte“ unter dem Titel „Zangezi“, war die russische Moderne auf dem Gebiet des Theaters an einem Endpunkt angelangt. Gegründet auf einer predigtartigen Redesituation, der keine gedanklich und psychologisch profilierten Gegenstimmen entgegengesetzt werden, hatte das Drama jegliche Welthaltigkeit verloren und sich als eigenständige Form aufgelöst. Dieser Gefahr begegnete die Künstlergruppe „Obėriu“, die gegen Ende der zwanziger Jahre, als die Literatur in Rußland unter den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen längst zur realistischen Methode zurückgekehrt war, noch einmal mit dem Anspruch der Erneuerung nicht nur des Theaters, sondern auch der Poesie, der Bildenden Kunst und des Films auftrat, indem sie den von Majakovskij über Kručenych bis zu Chlebnikov zunehmend verlorengegangenen Bezug zur Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit der Welt und des Lebens wieder in den Vordergrund stellten. Dazu gehörte ein anderer Umgang mit der Sprache. „Als bis ins Mark reale und konkrete Menschen sind wir die ersten Feinde derjenigen, die das Wort kastrieren und in einen kraftlosen und bedeutungslosen Bastard verwandeln“, verkündeten, unverhüllt gegen die Kubofuturisten polemisierend, die Mitglieder der Gruppe in der ersten programmatischen Erklärung vom Beginn des Jahres 1928.38 Das Wort soll, statt auf sich selbst zu verweisen, seine primäre Aussagefunktion behalten und, bedeutungsmäßig erweitert und vertieft, die Aufgabe übernehmen, den dargestellten Gegenstand von der „alten literarischen Vergoldung“ zu befreien. Auf das Theater angewandt, meint dies, daß der Zuschauer alles vergessen soll, was er bisher auf der Bühne gesehen hat. „Wir nehmen ein dramatisches Sujet“, heißt es, „anfangs entwickelt es sich einfach, dann wird es plötzlich von scheinbar abseitigen, unsinnigen Momenten unterbrochen. Sie sind erstaunt. Sie suchen nach der gewohnten logischen Gesetzmäßigkeit, die Sie im Leben zu sehen meinen. Aber Sie finden sie hier nicht. Weshalb nicht?“ Die Antwort: „Deshalb, weil der Gegenstand und die Erscheinung, aus dem Alltag auf die Bühne übertragen, ihre ‚Alltags’-Gesetzmäßigkeit verlieren und eine andere gewinnen – die Gesetzmäßigkeit des Theaters.“39 Die Oberiuten, vor allem Daniil Charms (1905–1942) und Aleksandr Vvedenskij (1904–1941), die Dramatiker unter ihnen, wollten dem Theater seine ureigene Qualität zurückgeben, das Theatralische, das sich im Futurismus durch das Primat der Sprache und im Sozialistischen Realismus unter dem Diktat der Ideologie verflüchtigt hatte. Daher nannten sie die Schaubude als ihr Vorbild und den Verzicht auf die Logik des Alltäglichen als das Hauptmittel. Oberiutisches Theater entsteht bereits, wenn zwei Personen die Bühne betreten, nichts sagen, aber sich mit Zeichen etwas erzählen und dabei triumphierend die Bakken aufblasen. Ganz bei sich ist es dann in der folgenden Situation: „Auf der Bühne erscheint ein Stuhl, auf dem Stuhl steht ein Samowar. Der Samowar beginnt zu brodeln. Doch statt des Dampfes kriechen unter dem Deckel zwei

94

Das russische Drama

nackte Hände hervor.“40 Normalität kann jederzeit in Absurdität, Realität in Surrealität umschlagen. Dieser Umschlag bedeutet keine Aufhebung der Wirklichkeit, im Gegenteil. Wie Charms mit „Elizaveta Bam“ illustriert, dem ersten Beispiel des oberiutischen Theaters, das am 24. Januar 1928 nach der Vorstellung des Programms der Gruppe im Leningrader Haus der Presse aufgeführt wurde, glaubte man, wie später die Vertreter des westlichen Absurden Theaters von Ionesco bis Beckett, einer absurd gewordenen Wirklichkeit nur noch mit den Mitteln des fortwährenden Verstoßes gegen die Gesetze der Logik beikommen zu können. Das keiner Handlungsteleologie verpflichtete Bühnengeschehen von Charms’ Stück wird vom träumenden Bewußtsein der Protagonistin hervorgebracht. Elizaveta Bam, ihrer Verhaftung harrend, ohne sich irgendeines Vergehens bewußt zu sein, ist, von bodenloser Angst erfaßt, in eine Situation gestellt, die zwischen den vier Wänden ihres engen Zimmers keinen anderen Ausweg zuläßt als die Flucht in den Traum. Die unsichtbaren Verfolger, die in der einleitenden Szene die Atmosphäre anonymer Bedrohung begründen, erscheinen in der nächsten als die Invaliden Ivan Ivanovič und Petr Nikolaevič und verwandeln sich im Fortgang während allerlei Kunststücken, Harlekinaden und clowneske Possen noch mehrere Male. Mit dem einen erträumt sich Elizaveta Bam erotische Beziehungen, dem anderen schickt sie, in die Rolle des Kindes geschlüpft, den Vater als Märchenrecken und Herausforderer zum Säbelduell. Doch die Flucht in den Traum wird, noch bevor am Ende die Verhaftung erfolgt, zu einem einzigen Alptraum. Was Entlastung bringen sollte, ist voll erschrekkender Bilder des Todes: ein Hemd und ein Strick, ein Henker und ein Sargmacher, ein Soldat auf einem Rappen, der monotone Ton einer Glocke, ein Seiltanz im Wipfel einer Kiefer, eine Küchenschabe, die wie vorher Petr Nikolaevič ein Beil in der Hand hält. Der Alptraum weist in seinem Entsetzen erregenden Irrationalismus und seiner beklemmenden Lustigkeit auf die Realität jenseits des Textes, aus der er sich letztlich speist. Diese Realität, die Welt des nachrevolutionären Rußland mit ihrer staatlichen Willkür, die das Individuum seiner Freiheit und seiner Würde beraubt und dem ständigen Gefühl existentieller Gefährdung aussetzt, bildet den stets gegenwärtigen Untergrund und Bezugspunkt der oberiutischen Grotesken, und zwar auch dann, wenn Charms in „Komedija goroda Peterburga“ (Die Komödie der Stadt Petersburg, 1926) die Zeiten und Räume vermengt, das zaristische Sankt Petersburg und das sowjetische Leningrad ineinssetzend, so daß ein imaginäres Irgendwo entsteht, wo Peter der Große und Nikolaj II. in einen Disput geraten und Famusov aus Griboedovs „Gore ot uma“, zum Leben erwacht, sich freundschaftlich mit dem Komsomolzen Vertunov unterhält, oder wenn Vvedenskij mit „Minin i Požarskij“ (Minin und Požarskij, 1926) in die „Zeit der Wirren“ nach dem Tod Boris Godunovs führt und diese Epoche als totale Anarchie und Schreckensherrschaft beschreibt, veranschaulicht durch paradigmatische Gestalten wie Nero, Sten’ka Razin und Robespierre und durch die Auflistung drastischer Kampfmittel, Todesarten und Praktiken des Tötens.

X. Spielarten des modernen Theaters in Rußland

95

Nichts ist im zeitkritischen Theater Obėrius, der „Vereinigung für eine reale Kunst“, realer als die Allgegenwart des Todes in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen. Dabei erscheint der Tod oft, anders als in „Elizaveta Bam“, wo er angstvoll erwartet wird, als überraschender Einbruch ins Alltägliche, Familiäre, ja Idyllische. In einem Minidrama Vvedenskijs aus der Szenenfolge „Nekotoroe količestvo razgovorov“ (Eine gewisse Anzahl Gespräche, 1936/37) sitzen drei Menschen, die Hände gefaltet, in völliger Ruhe auf dem Dach. Über ihnen fliegen Spatzen. Da nimmt der erste einen Strick, der zweite zieht eine Pistole, und der dritte blickt auf ein Eisloch im Fluß. Dann springt der erste vom Hocker („Die Schlinge strafft sich. Ich ersticke“), der zweite spannt den Hahn, die Kugel im Lauf („Die Kugel trifft mich. Ich habe alles verloren“), und der dritte springt ins Wasser („Das Wasser überflutet mich. Ich verschlucke mich“). Anschließend heißt es: „Sie saßen auf dem Dach in völliger Ruhe. Über ihnen flogen Spatzen. ERSTER Ich bin gestorben. ZWEITER Ich bin gestorben. DRITTER Ich bin gestorben.“41 Der Unterschied zwischen Leben und Tod ist aufgehoben, der Tod wird dem Leben vorgezogen. So beschließt in Vvedenskijs letztem Stück „Elka u Ivanovych“ (Weihnachten bei Ivanovs, 1941)42, das noch einmal alle Themen und Techniken des Autors zusammenfaßt, eine ganze Familie, Vater, Mutter und sechs Kinder im Alter von einem bis 82 Jahren, am Heiligen Abend im Lichterglanz des Tannenbaums zu sterben. Vorher dreht sich das Ganze, vier Akte lang, um die Vorbereitung auf das Weihnachtsfest und die Frage, wie der Mord der Amme, die dem zweiunddreißigjährigen Kind Sonja den Kopf abgeschlagen hat, zu ahnden ist. Der Tod verliert in dieser Umgebung, wo alles, Tun, Sprache und Gestik, banal, obszön und ohne Tabus ist, seinen Schrecken. Er ist so unwirklich wie die gesamte Handlung. Irreal sind auch die Schauplätze und die Kategorie der Zeit. Die Kinder, im Personenverzeichnis „einfach Teufel“ genannt, werden in einer Wanne gebadet, die ebenso „aufgemalt“ ist wie die Gerichtsverhandlung, bei der die Richter in Perücken und auf Krücken, zwischen schlafenden Gendarmen und umherhüpfenden Insekten die Amme zum Tod durch Erhängen verurteilen. Und von der Uhr, links der Tür, heißt es als letztes Wort des Textes, daß sie „leer“ ist. Die Zeit wird jetzt anders, von den Tieren definiert: „Die Uhr läuft / Wie die Herden der Schafe / Wie die Herden der Stiere / Wie der Knorpel der Störe.“43 Wie unbestimmt in zeitlicher und in räumlicher Hinsicht die Stücke von Charms und Vvedenskij auch sind, wie akausal die Komposition und zerstückelt die Handlung, wie entpersönlicht und entkörperlicht die Figuren und wie exzentrisch die Sprache mit ihrem hohen Anteil an Nonsenswörtern, widersprüchlichen Fügungen und surrealen Bildern, immer geht es um den Ausdruck vehementer Kritik an der eigenen Zeit und Gesellschaft. Diese Stücke entspringen der Erfahrung von Isolation und Willkür und sind geprägt vom Wissen um die Unaufhebbarkeit der persönlichen Gefährdung. So vermittelt sich in den gestörten Formkategorien eine private Angst, die ihrerseits die kollektive Angst einer ganzen, vom Untergang bedrohten Generation reflektiert.

96

Das russische Drama

Wie Čechov zeichnen Charms und Vvedenskij das Leben auf, das sie umgibt. Dazu benutzen sie völlig andere Mittel, aber auch sie kennen keinen Ausweg. Nur: Wenn Čechov, um der Verzweiflung zu entgehen, auf eine ferne Zukunft setzte, flüchten Charms und Vvedenskij, aller Hoffnungen beraubt, in den reinen Un-sinn, im Zuschauer ein bodenloses Gelächter hervorrufend. Allerdings blieb der Zuschauer zu ihren Lebzeiten und noch lange darüber hinaus eine imaginäre Größe; denn keines ihrer Stücke wurde publiziert, und nur eines, „Elizaveta Bam“, gelangte aus einmaligem Anlaß zur Aufführung. So gerieten sie vollständig in Vergessenheit. Desto nachhaltiger war ihre Wirkung, vor allem unter den Vertretern der nichtkonformen Literatur der sechziger bis achtziger Jahre, als die den widrigen Zeitläuften zum Trotz geretteten Manuskripte auf einen Hinweis von Lidija Čukovskaja im Jahr 1960 nach und nach wieder aufgefunden werden. Mit Vladimir Kazakov (1938–1988), der 1966 die Bekanntschaft Kručenychs machte, beginnt unter unveränderten politischen Bedingungen die Wiederentdeckung und schöpferische Aneignung der futuristischen und oberiutischen Tradition. In Kürzestprosa und Szenen und Dialogen aus dem Alltagsleben wie „Utoplennik“ (Der Ertrunkene, 1968), „Fabričnye okrestnosti“ (Fabrikgelände, 1970) und „Voskresenie“ (Auferstehung, 1970) veranschaulicht Kazakov mittels Verfremdungstechnik und Aufhebung logischer Bezüge die Seelenlosigkeit einer normierten Welt und bestätigt somit seiner eigenen Zeit die Gültigkeit von Charms’ und Vvedenskijs Ausgangsthese, daß die Welt durch die Vernunft nicht zu begreifen ist. Dieser Überzeugung waren auch noch Venedikt Erofeev (1938–1990) und Iosif Brodskij (1940–1996) am Vorabend der Perestrojka, als beide, der Erzähler und der Lyriker, 1986 ihre erste und einzige Theaterarbeit veröffentlichten. In Erofeevs „Valpurgieva noč’“ (Die Walpurgisnacht) ist der Spielort die psychiatrische Klinik, in Brodskijs „Mramor“ (Marmor) die Zelle eines Gefängnisses. Beide Male sind es Orte des Todes wie alle Schauplätze bei Charms und Vvedenskij. Die Entwicklung der russischen absurden Dramatik, die durch die Gleichschaltung der Literatur im Zeichen des Sozialistischen Realismus und die Ermordung ihrer Hauptexponenten gewaltsam abgebrochen worden war, hatte damit eine Wiederaufnahme gefunden. Zugleich war der Grundstock gelegt für ihre Weiterentwicklung im Rahmen der Postmoderne, repräsentiert durch das Schaffen von Autoren wie Dmitrij Prigov, Vladimir Sorokin, Viktor Korkijas oder Aleksej Šipenko. XI. Vom epischen zum sozialistischen Theater Prinzipien der Moderne verhaftet blieben nach 1917 zum Teil auch noch jene Dramatiker, die, getragen vom Schwung der Ereignisse, ihr Schaffen bewußt als Instrument revolutionärer Aufklärung einsetzten und damit im Unterschied zu den Symbolisten und vor allem den Vertretern des Absurden Theaters eine entschieden positive Botschaft vermittelten. Erst als unter dem Druck der Verhältnisse der Zwang zu eindeutiger Stellungnahme im Sinne der neuen Machthaber überhandnahm, wurde das Experimentieren mit Formen und Techniken zuneh-

XI. Vom epischen zum sozialistischen Theater

97

mend schwieriger und schließlich vollends unmöglich. Majakovskij aber, der im Sommer 1918 mit „Misterija-buff“ (Mysterium buffo)1 das erste Bühnenwerk der sowjetischen Literatur verfaßte, schloß noch ganz an seine eigene Vergangenheit der futuristischen Befreiung des Wortes und der ästhetischen Provokationen an. Nach wie vor zeigt sich seine Lust an der Sprache – im Spiel mit Präfixen und Suffixen, im Einsatz von Fremdwörtern und den rhetorischen Figuren der Hyperbel und des Oxymerons oder in kunstvollen Arrangements von Klängen durch Binnenreim, Silbenwiederholung und Kasusdeklination. Gleichzeitig griff er, bei der Suche nach der für den revolutionären Inhalt geeigneten Gattungsform, auf Neuerungen des symbolistischen Theaters zurück, auf die Commedia dell’arte-Elemente und die folkloristischen Formen der Gaukler und Schausteller wie Puppen- und Stegreifspiele, die Blok in seinen lyrischen Dramen verwendet hatte, sowie auf Andreevs Ansätze zur Episierung der Bühne, dramaturgisch realisiert durch die Stationenstruktur und die Mittel des Monologs, des dialogisierten Berichts und der Zeitraffung. Um „Misterija-buff“ dem Untertitel gemäß zur umfassenden „heroischen, epischen und satirischen Darstellung unseres Zeitalters“ zu machen, gingen Majakovskijs Anleihen noch bis weit hinter die literarische Moderne und das Avantgardetheater zurück. Wie auf der mittelalterlich-barocken Bühne in den Formen der christlichen Moralität, insbesondere im Passionsspiel, treten, nachdem ein Prolog das Ganze eröffnet hat, in buntem Wechsel Selige und Heilige neben Engeln und Teufeln, Hanswurste, Krämer, Handwerker und Bürger neben Jüngern und Propheten auf, und wie dort klingt die Aufführung im gemeinsamen kultischen Gesang von Darstellern und Zuschauern aus.2 Was im Passionsspiel „Christ ist erstanden“, ist in „Misterija-buff“ die Internationale. Alle Elemente der christlichen Tradition sind so umgeformt im Hinblick auf die kommunistische Lehre von einer besseren Welt im Diesseits. Sintflut und Bau der Arche am Anfang des Stücks erscheinen als Allegorien für den Zusammenbruch der alten und den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Nach der Beseitigung der Unterdrücker, verkörpert durch sieben Paar „Reiner“, darunter ein russischer Kaufmann, ein deutscher Offizier, ein türkischer Pascha, ein indischer Maharadscha, führt der proletarische Marsch der sieben Paar „Unreiner“, unter ihnen ein Schmied, ein Chauffeur, ein Landarbeiter, ein Zimmermann, ein Schornsteinfeger, auf dem Weg zum prophezeiten Paradies zuerst durch die Hölle und dann durch den Himmel. Die Hölle kann die aus inhumaner Klassenherrschaft Kommenden nicht erschrecken, und der Himmel erweist sich als eine einzige Enttäuschung. So entscheiden sich die „Habenichts-Proletarier“, das Paradies zertrümmernd, gegen die Transzendenz und begeben sich weiter auf die Suche nach dem „Gelobten Land“. Im sechsten und letzten Aufzug ist es erreicht und wird in naiv-grandioser Bildersprache als technisch perfekte klassenlose Gesellschaft beschworen, als das Neue Jerusalem des Kommunismus, wo sich Häuser und Fabriken bis zum Himmel türmen, Maschinen durch Motoren mit einer Kraft von einer Million PS angetrieben werden und die Dinge verlebendigt aus

98

Das russische Drama

den Schaufenstern treten und, „geführt von Hammer und Sichel, mit der Ehrengabe von Brot und Salz“, den aller sozialen und ökonomischen Zwänge enthobenen Menschen ihre Dienste anbieten.3 Gestützt auf die marxistische Gesellschaftstheorie mit ihrer Forderung nach Vernichtung der alten Produktionsverhältnisse und erfüllt vom Optimismus der Bejaher der Revolution wollte Majakovskij mit dem Versdrama „Misterijabuff“, das in der Modernität seiner Mittel und der Irrealität seiner allegorischen Struktur weit entfernt war von den künftigen Normen des Sozialistischen Realismus, das Vertrauen des russischen Proletariats in die eigenen gesellschaftlichen und technischen Produktivkräfte stärken. Damit war, wenngleich im spätavantgardistischen Gewand und auf hohem literarischen Niveau, in Rußland der Schritt hin zum Agitationstheater und zur tagespolitischen Gebrauchskunst mit vorrangig erzieherischen Zwecken vollzogen. Mit Hilfe des ersten sowjetischen Volksbildungskommissars Anatolij Lunačarskij gelang es zwar, das laut Programmheft von 350 Schauspielern realisierte Riesenspektakel in der Inszenierung Mejerchol’ds und der Bühnendekoration Malevičs am 7. November 1918, dem Ersten Jahrestag der Oktoberrevolution, im Musikdramatischen Theater Petrograds uraufzuführen; aber die Massen, an die es sich richtete, wurden nicht erreicht. Nach drei Vorstellungen erklärte eine zuständige Kommission das Stück als unverständlich für Proletarier und setzte es deshalb vom Spielplan ab. Die Genehmigung für eine Freilichtaufführung am 1. Mai 1919 auf dem Ljubjanskaja-Platz in Moskau, um die sich Majakovskij bemühte, wurde nicht erteilt.4 Dafür beeinflußte „Misterija-buff“ die sogenannten „inscenirovki“, die Inszenierungen und Aufführungen des Volks, die zwischen 1919 und 1921 im nachrevolutionären Rußland trotz Bürgerkrieg, Verwüstung, Hunger und täglicher Not allenthalben, vor allem aber in den Hauptstädten, stattfanden, auf den Straßen und Plätzen, vor Palästen und auf Treppenaufgängen, in Schulen, Fabriken und Kasernen. Umzüge, Aufmärsche, Parteiversammlungen – alles konnte sich in Schauspiel verwandeln. „Rußland spielt Theater, deklamiert“, schreibt der Zeitzeuge Viktor Šklovskij. „Es vollzieht sich ein spontaner Prozeß der Umwandlung des Lebens in Theater.“5 Die Einheit von Bühne und Publikum, die Majakovskij am Ende von „Misterija-buff“ mit der Regieanweisung „Alle Zuschauer steigen auf die Bühne“ und im chorischen Sprechen und Singen begeisternder Verse erreicht, ist in den Massenschauspielen im Freien6 wie bei dem am 1. Mai 1920 unter Mitwirkung von zweitausend Personen aufgeführten Volksstück „Misterija osvoboždennogo truda“ (Das Wunder von der befreiten Arbeit) von Beginn an gegeben. Entsprechend Majakovskijs Zweiteilung der Figuren in „Reine“ und „Unreine“ standen die Repräsentanten der Herrschaft (ein orientalischer Monarch, ein Sultan, ein Mandarin, der Papst, der Börsenkönig, ein russischer Kaufmann und der Eroberer Napoleon) ohne große Bewegung, abwartend, zur Flucht bereit, im klassizistischen Säulengang der Petrograder Börse, während unterhalb der breiten Treppe ein endloser Zug Unterdrückter und Ausgebeuteter vorüberzog. Zwischen

XI. Vom epischen zum sozialistischen Theater

99

den Säulen aufgehängte riesige Leinwände gaben eine erste Anschauung vom Gelobten Land, das schon in „Misterija-buff“ den Zielpunkt der Handlung bildete. Bei der Aufführung von „Vzjatie Zimnego dvorca“ (Die Einnahme des Winterpalasts) am Dritten Jahrestag der Oktoberrevolution, dem aufwendigsten Theaterspektakel dieser Art mit mehr als zehntausend beteiligten Personen unter der Gesamtleitung von Nikolaj Evreinov, wurde die Aufspaltung in zwei Gruppen noch durch deren räumliche Trennung betont, so daß die Antithetik des Spiels bereits von vornherein optisch sichtbar war. Gegenüber dem Winterpalast gab es zwei Bühnen, eine rote links und eine weiße rechts. Auf der einen agierten die proletarischen Helden, auf der anderen die bürgerlichen Masken, wie bei Majakovskij, die einen ungeschminkt und in einfachen Arbeitsanzügen, die anderen grell geschminkt und grotesk kostümiert. Dementsprechend trug das Geschehen dort heroische und hier farcenhafte Züge. Von den beiden Bühnen, die durch eine gewölbte Brücke verbunden waren, führten breite Treppen auf den Platz, wo die feindlichen Lager mehrfach im Kampf aufeinandertrafen. Scheinwerfer folgten dem wechselnden Geschehen und lenkten so die Blickrichtung des Betrachters. Auf dem Höhepunkt, bei der Eroberung des Palasts, hoben sich die Kämpfenden als Schattenspiele von den erleuchteten Fenstern ab. Das Visuelle des Lichts, der Kostüme, der Kulissen, der Flaggen verband sich mit dem Akustischen der Schreie, Gesänge, Märsche, Sirenen, Schüsse und Detonationen. Es wurde nicht nur gesprochen und gesungen, sondern auch getanzt. Balletteinlagen nahmen einen breiten Raum ein, ebenso Clowneskes, Pantomimisches und Artistisches. Fast alle Künste waren beteiligt. Selbst filmische Effekte wie Abblendungen oder Überschneidungen fehlten nicht. Szenen wurden wiederholt, Bewegungen verlangsamt, Figuren vervielfältigt. Bis zu dreißig Personen verkörperten gleichzeitig die beiden Protagonisten, die Gegenspieler Lenin und Kerenskij, wobei der letztere am Schluß in Frauenkleidern, quer über den Platz flüchtend, gezeigt wurde. Selten kam ein Unternehmen der Idee des Gesamtkunstwerks so nahe wie die Massenveranstaltung am Abend des 7. November 1920 auf dem Petrograder Schloßplatz. Für einige Stunden war die Trennung von Kunst und Leben aufgehoben, und alle, Mitspielende und Zuschauende, vereinigten sich in einem einzigen großen Fest. Mit dem Nachvollzug des zentralen Ereignisses der Revolution in einer Darbietung von gigantischen Ausmaßen war der Höhepunkt der theatralischen Straßenfestlichkeiten erreicht. Die Forderungen des Tages und die weitere Verschlechterung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage ließen Vorhaben dieser Art immer weniger zu. Auch Majakovskij gelang es nicht mehr, „Misterija-buff“, das Stück, das die Volksschauspiele so stark inspiriert und in ihren Strukturen geprägt hatte, im Freien zu zeigen. Nachdem schon die geplante Aufführung auf dem Moskauer Ljubjanskaja-Platz nicht zustande gekommen war, blieb auch der Plan des georgischen Regisseurs Kote Mardžanišvili, Majakovskijs heroisch-satirisches Welttheater 1924 auf einer natürlichen Bühne im Davidsgebirge vom Volk spielen zu lassen, ohne Aussicht auf Verwirklichung. „Dem Theater

100

Das russische Drama

war es nicht gelungen, auf die Straße zu kommen und sein ästhetisches emotionalisierendes Wesen in Aktion aufzulösen“, schrieb Tret’jakov rückblickend im Jahre 1927. „Die Konfrontation von ‚Leben’ und ‚Kunst’ war vorüber.“7 So kehrte das Schauspiel, das auf dem Weg war, sich dort einzurichten, wo die Revolution begonnen und Lenin seine begeisterten Reden gehalten hatte, auf den Straßen und Plätzen, in die Institution des Theaters und damit in die Obhut der Professionalität zurück. Die der Tradition verhafteten Bühnen wie das Künstlertheater, das Malyj teatr und das Aleksandrinskij zögerten zunächst, den Forderungen des Tages zu entsprechen und sich zum „Instrument direkter aktiver Einwirkung“8 zu machen. Lunačarskij hatte den Theatern die Freiheit gelassen, Richtung und Programm selbst festzulegen. So waren es vorerst die Avantgardebühnen und die Neugründungen, die sich der Sache der Revolution annahmen. Sie folgten Vsevolod Mejerchol’d, der, 1920 zum Leiter der Abteilung Theater im Volkskommissariat für das Bildungswesen ernannt, den „Theateroktober“ verkündet und die Intendanten aufgerufen hatte, sich mit ihren Mitteln in den politischen Kampf einzuschalten. Die Ideen des Kommunismus sollten auf der Bühne in der Direktheit und Deutlichkeit von Parteierlässen und propagandistischen Losungen vermittelt werden. Das Hauptproblem aber bestand darin, daß es noch keine aktuellen Stücke gab. So bearbeitete Mejerchol’d, zusammen mit Valerij Bebutov, Émile Verhaerens „Les Aubes“ und verwandelte das symbolistische Theaterstück, durch Einfügung politischer Schlagworte und Anspielungen auf gesellschaftliche Probleme im jungen Sowjetstaat sowie durch die Verlesung neuester Nachrichten von der Bürgerkriegsfront, während der Vorstellung in eine Stegreifkomödie revolutionären Inhalts.9 Mejerchol’ds Fassung und Inszenierung des Stücks, das am 7. November 1920 im Ersten Theater der RSFSR, dem ehemaligen Operettentheater in der Moskauer Sadovaja Straße, unter primitivsten Umständen10 uraufgeführt wurde, löste eine Folge hitziger Diskussionen über das Theater in den Zeiten der Revolution aus. Einvernehmen herrschte darüber, daß ein Umarbeiten älterer Texte auf Dauer nicht genügen konnte. Solange es jedoch keine neuen, zeit-, ja tagesbezogenen bühnentauglichen Werke gab, blieb man vorerst weiter auf dieses Verfahren angewiesen, und so bearbeitete und inszenierte Mejerchol’d, nachdem er im Mai 1921 ein zweites Mal Majakovskijs „Misterija-buff“ auf die Bühne gebracht hatte, zunächst Fernand Crommelyncks tragische Farce „Le cocu magnifique“ (25. April 1922) und danach eine Reihe klassischer Texte der russischen dramatischen Literatur des 19. Jahrhunderts: Suchovo-Kobylins „Smert’ Tarelkina“ (24. November 1922), Ostrovskijs „Les“ (19. Januar 1924), Gogol’s „Revizor“ (9. Dezember 1926) und Griboedovs „Gore ot uma“ (12. März 1928). Für diese Aufführungen entwickelte der einzige überzeugte Kommunist unter den führenden russischen Regisseuren der Zeit, nach wie vor interessiert am theatralischen Experiment und nicht gewillt, die Ästhetik gänzlich der Ideologie zu unterwerfen, einen völlig neuartigen Bühnen- und Inszenierungsstil. Dieser bestand in der Übertragung von

XI. Vom epischen zum sozialistischen Theater

101

Grundprinzipien des Konstruktivismus auf die Ausstattung der Bühne und in einer Technik der Schauspielerführung, die sich die Gesetze der „Biomechanik“ nutzbar machte. Auf der hell ausgeleuchteten, zur Rückwand und zu den Seiten hin geöffneten Bühne ohne illusionsschaffende Kulissen und ohne komplizierte Requisiten gab es nur abstrakte Gerüste und Gestelle, funktionale Gerätschaften und Apparaturen. Prototyp dieser Konstruktionen war der „bizarre Komplex“ aus Rampen und Rädern, Laufstegen und Gleitbahnen“11, den Ljubov’ Popova für die Crommelynck-Aufführung entworfen hatte und der, von Varvara Stepanova variiert, auch in der Suchovo-Kobylin-Aufführung das räumliche und inszenatorische Zentrum bildete. Die konstruktivistische Gestaltung des Bühnenraums hatte neben den Aufgaben der Desillusionierung und der Entpsychologisierung vor allem die Funktion, die biomechanische Spieltechnik in der Vielfalt ihrer ans Akrobatische grenzenden Bewegungsmöglichkeiten zu anschaulicher Entfaltung zu bringen. Die exakt kalkulierte Choreographie aus Sprüngen, Drehungen, Streckungen und Beugungen, begleitet von mechanisierter Gestik und maskenhaft erstarrter Mimik, erhob die Beredsamkeit des Körpers zu einem der sprachlichen Äußerung in Dialog und Monolog gleichwertigen, wenn nicht übergeordneten Ausdrucksträger. All dies bewirkte eine Verringerung der Distanz zwischen der Welt des Theaters und der Welt der Arbeit, und darauf kam es Mejerchol’d auch an. Der neue Typ des Schauspielers sollte sich am Arbeitsprozeß und an den Bedingungen der Produktion orientieren. Bezeichnend für Mejerchol’d ist, daß diese Forderung weniger sozial als ästhetisch begründet wird. Bei dem erfahrenen Arbeiter, dessen Bewegungen von „tänzerischer Leichtigkeit“ seien, so daß die Arbeit die „Grenze zur Kunst“ erreiche, könne der Schauspieler das Folgende beobachten und für sich nutzbar machen: „1. das Fehlen überflüssiger, unproduktiver Bewegungen, 2. Rhythmik, 3. ein richtiges Gefühl für den Körperschwerpunkt, 4. Ausdauer“.12 Das auf diesen Grundlagen aufgebaute Bewegungstheater, in dem das Spiel des Schauspielers in Übereinstimmung mit der modernen Arbeitsgesellschaft als „Produktion“ betrachtet wird, setzte einen Text voraus, der den Charakter und die Freiheit einer Partitur besaß. Dazu zerlegte Mejerchol’d die Stücke der Klassiker, spaltete sie auf in eine Vielzahl einzelner Szenen die er dann neu montierte, im Falle der „Revizor“-Fassung sogar unter Verwendung so zahlreicher Motive und Passagen aus anderen Werken Gogol’s13, daß Andrej Belyj von einer „Vergegenständlichung des ‚Revizor’ vor dem Hintergrund von Gogol’s ‚Gesammelten Werken’“ sprach.14 Die nach dem Prinzip der epischen Reihung geordneten Szenen schlossen sich bei ihrer Umsetzung auf der Bühne – wie Filmsequenzen – in zügigem Rhythmus wieder zu einem einheitlichen Ganzen zusammen. Dieses Verfahren der „Filmisierung des Theaters“ (kinofikacija teatra) wurde auch von anderen Regisseuren wie Kozincev, Trauberg oder Ėjzenštejn übernommen. Der letztere wandte es erstmals auf Ostrovskijs Komödie „Na vsjakogo mudreca dovol’no prostoty“ an, die er im

102

Das russische Drama

März 1923 unter dem Titel „Mudrec“ (Der Weise) am Ersten Arbeitertheater des Proletkul’t inszenierte. Der spätere Filmregisseur, der 1922 die Regiekurse Mejerchol’ds besucht hatte und mit den Konzepten von Konstruktivismus und Biomechanik in Berührung gekommen war, sprengte die Textvorlage und schuf aus den Fragmenten eine lockere Folge eigenwertiger, willkürlich ausgewählter „Nummern“ voller staunenswerter Einfälle. Dazu gehörten extravagante, zirkus- und varietéartige Darbietungen mit Clownsauftritten, akrobatischen Akten und Kunststücken zu Pferd und am Trapez, begleitet von Tänzen, Gesängen, Liedern und den Rhythmen eines „Lärmorchesters“. Diese sogenannte „Montage der Attraktionen“, die Ėjzenštejn als Mittel zur Verwirklichung eines „aggressiven Theaters“ verstand, das sich auf direktestem Weg an die Sinne und Empfindungen des Zuschauers wandte15, bedeutete eine starke Verselbständigung gegenüber dem zugrundeliegenden Text. Lunačarskij, dem dies zu weit ging, gab daraufhin im April 1923 die Parole „Zurück zu Ostrovskij“ aus. Als die Forderung auf die heftige Kritik der „linken“ Regisseure traf und als Angriff auf die Revolutionskunst verstanden wurde, erläuterte er seinen Aufruf: „Ich meinte, daß wir, die zeitgenössischen Dramatiker, ähnlich wie Ostrovskij, das uns umgebende Leben aufmerksam beobachten müssen, und, echte Theatralik, ich würde sogar sagen maximalen Effekt anstrebend, mit genauem, in das Wesen der Dinge eindringendem Realismus ein konstruierendes und deutendes Spiegelbild unserer Zeit geben.“16 Neorealistisch in Lunačarskijs Sinne verfuhren Tairov und Stanislavskij, als der eine 1924 Ostrovskijs „Groza“ auf fast leerer Bühne vor einer kargen funktionalen Holzkonstruktion aufführte und der andere 1926 „Gorjačee serdce“ (Ein leidenschaftliches Herz) trotz karnevalistischer Elemente psychologisierend, auf der Grundlage intuitiver Schauspielkunst in Szene setzte.17 Mejerchol’d dagegen, uninteressiert an striktem Bühnenrealismus, steigerte in seiner Inszenierung von Ostrovskijs „Les“ durch eine Vielfalt clownesker, pantomimischer, slapstickartiger und anderer theatralischer Effekte die Komik des Textes ins Groteske und verwandelte die alten Figuren in zeitgenössische Typen, in „soziale Masken“18, mit ihren grünen, roten und gelben Perücken und in ihren grellen Kostümen, anstelle grauer leinener Arbeitskleidung wie in der „Tarelkin“Aufführung, an die „Reinen“ in „Misterija-buff“ oder die Karikaturen auf den „ROSTA“-Plakaten19 erinnernd. Anders als die Demontagen Ėjzenštejns standen die Bearbeitungen Mejerchol’ds bei aller Modernisierung und Aktualisierung nie im Widerspruch zu den Intentionen des Autors. Mejerchol’ds Hinwendung zu den russischen Klassikern, die, Irritation und Enttäuschung in Avantgardekreisen auslösend, das Gegenteil ehrfurchtsvoller historischer Redekonstruktion war, entsprang nicht nur dem Fehlen maßgeblicher Zeitstücke, sondern auch dem Anliegen, durch die Aufführung „genialer Kunstwerke“, die „Situationen, Typen und Bilder von Ewigkeitswert“ aufweisen20, das künstlerische Niveau des sowjetischen Theaters zu heben. Im Unterschied zu den an zweit- und drittrangigen Häusern gespielten Revolutions-

XI. Vom epischen zum sozialistischen Theater

103

stücken, in denen sich, so Mejerchol’d, stets zwei Kräfte bekämpfen, die Roten und die Weißen, und „es außer diesem Schema nichts gibt, keine lebenden Menschen, keine lebendigen Situationen, einfach nur das Schema – Klassenkampf und sonst nichts“21, könnten die Werke Gogol’s und Ostrovskijs, Griboedovs und Suchovo-Kobylins „niemals zu abgegriffenen Münzen“22 werden. Das erste unter den neuentstandenen Bühnenwerken, das Mejerchol’ds ästhetischen Ansprüchen genügte und zugleich dem allgemeinen Verlangen nach Thematisierung von Problemen aus dem sowjetischen Alltag entsprach, stammte von einem jungen Autor, der Anfang der zwanziger Jahre nach Moskau gekommen war und sich einer Gruppe ebenfalls junger Theaterschriftsteller angeschlossen hatte, zu der Aleksandr Afinogenov, Nikolaj Pogodin, Aleksej Fajko und andere gehörten: Nikolaj Ėrdman (1902–1970). Nach kleineren Arbeiten, Sketchen, Parodien und agitatorischen Texten, schrieb dieser 1924 in bester russischer Komödientradition sein erstes abendfüllendes Stück, die Satire „Mandat“ (Das Mandat). Am 20. April 1925 von Mejerchol’d uraufgeführt, bildete der turbulente Dreiakter, der mit seinem funkelnden Sprachwitz und seinem bissigen Spott auf die der vorrevolutionären Ordnung Nachtrauernden bei Kritik und Publikum einhellige Zustimmung fand und schon ein Jahr später seine hundertste Aufführung erlebte, den Auftakt zu weiteren satirischen Darstellungen des Kleinbürgers der NĖP-Periode. Die auf dem X. Parteitag im März 1921 zur Wiederbelebung der Wirtschaft eingeführte Neue Ökonomische Politik, die durch die Teilrestituierung privaten Unternehmertums nach den jahrelangen Entbehrungen wieder Geld und materiellen Besitz zu erstrebenswerten Zielen machte, führte in der Bevölkerung zu Gewinnstreben, Skrupellosigkeit und Vergnügungssucht und lieferte somit der Literatur vielfältigen Stoff für entlarvenden Spott. Daher beteiligten sich jetzt auch von der Prosa her kommende Schriftsteller, die für Satiriker ideale Situation nutzend, an dem Trend, die unter den Bedingungen der neuen Wirtschaftspolitik eingetretenen Mißstände nicht nur in der bisher bevorzugten Form der Kurzgeschichte, sondern auch auf der Bühne mit ihren Möglichkeiten unmittelbarer Wirkung anzuprangern. Bulgakov zeigt in „Zojkina kvartira“ (Zojkas Wohnung, 1926), einer Komödie mit tragifarcenhaften Zügen, Repräsentanten der alten Gesellschaft, die, gruppiert um eine skrupellos-geschäftstüchtige Witwe aus uraltem Adel, in der ständigen Erinnerung an vergangenen Glanz und Besitz leben, sich zwar mit den veränderten Gegebenheiten zu arrangieren versuchen, aber insgeheim wissen, daß sie Entwurzelte sind. Die Wohnung der Witwe, einziger Schauplatz des Stücks, zugleich Schneiderei, Modesalon und Bordell, ist eine Welt der verlorenen Illusionen, eine theaterhafte Scheinwelt, in der auch die handelnden Figuren einen unwirklichen Charakter annehmen. Zoščenko dagegen zielt in „Uvažaemyj tovarišč“ (Verehrter Genosse, 1929) auf die Repräsentanten der sozialistischen Gesellschaft. Die Titelfigur, der Genosse Barbarisov, ist Parteimitglied allein um der Privilegien und der Möglichkeit willen, andere wie seine Frau und seine Nachbarn auszu-

104

Das russische Drama

nutzen und sich über sie zu erheben. Aufgrund seiner kleinbürgerlichen Herkunft fällt es ihm schwer, die privilegierte Rolle zu spielen, und so empfindet er den Ausschluß aus der Partei als befreiend. Doch er zeigt sich unfähig, die erlangte Freiheit zu genießen. Leonid Leonov schildert in „Usmirenie Badadoškina“ (Die Bändigung Badadoškins, 1929) am Beispiel eines Fischhändlers die Borniertheit und spießige Lebensweise einer Moskauer Krämerfamilie. Der Nutznießer der Neuen Ökonomischen Politik, der stolz ist, daß sogar der Kreml seine Waren bezieht, füllt raffgierig sein Haus mit sinnlosem Plunder und strebt in Gedanken nach der Würde eines Feldmarschalls. Als er schon ganz Rußland unter dem eigenen Firmenschild sieht, läßt er sich von seinem Sohn übertölpeln. Die durch die Turbulenz der Zeitumstände geweckte Lust an gesellschaftlicher Satire brachte zwar in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre eine Reihe ebenso kritischer wie unterhaltsamer Stücke hervor, auf die Theater und Publikum gewartet hatten. Allerdings verhinderte nicht selten, wie im Falle Zoščenkos oder Leonovs23, die staatliche Zensur, daß sie auf die Bühne gelangten, besonders nachdem der XV. Parteitag im Dezember 1927 das Ende des NĖPExperiments beschlossen hatte. So bat Mejerchol’d wiederholt bekannte Autoren, für sein Theater (GosTIM) aktuelle Zeitstücke zu schreiben, darunter vor allem Bulgakov und Zamjatin. Beide hatten 1925/26 große Erfolge am Künstlertheater, bei seinem Antipoden Stanislavskij, gefeiert, ersterer mit dem Drama „Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins)24, der Dramatisierung seines Bürgerkriegsromans „Belaja gvardija“ (Die weiße Garde, 1924), letzterer mit der Komödie „Blocha“ (Der Floh), der szenischen Adaption von Leskovs „Levša“ (Der Linkshänder, 1881) im Stil der Commedia dell’arte und des russischen Schaubudentheaters. Statt wie erhofft, von Bulgakov oder Zamjatin, erhielt Mejerchol’d 1928 ein Stück von Nikolaj Ėrdman, „Samoubijca“ (Der Selbstmörder)25, das, Satire und Groteske in einem, ihn derart begeisterte, daß er sofort die Inszenierung für die nächste Spielzeit ankündigte und gleichzeitig Stanislavskij zum sozialistischen Wettbewerb bei der Realisierung dieses Vorhabens herausforderte. Beide scheiterten nach langer Probenarbeit und mehrjährigen Hoffnungen, trotz der Fürsprache Gor’kijs, an dem Widerstand der Funktionäre und dem Aufführungsverbot durch die Zensurbehörde. Mehr Glück hatte Mejerchol’d mit zwei Werken, die Majakovskij zwischen Herbst 1928 und Sommer 1929 verfaßte und vertragsgemäß26 dem Theater zur Verfügung stellte. Obwohl „Klop“ (Die Wanze), eine „phantastische Komödie in neun Bildern“, und „Banja“ (Das Schwitzbad), ein „Drama in sechs Akten mit Zirkus und Feuerwerk“, von kaum geringerer Brisanz und satirischer Schärfe waren als Ėrdmans „Samoubijca“, gelang es Mejerchol’d diesmal, allen Schwierigkeiten und Anfeindungen von dogmatischer Seite zum Trotz, jeweils die Erlaubnis zur Aufführung zu erhalten. Dabei steht auch jetzt der sozialistische Spießer als negative Zeitfigur im Mittelpunkt der Handlung. Bei Ėrdman war es ein arbeitsloser Invalide ohne Zukunftsperspektive, ein unauffälliger Bürger, der, weder für noch gegen die Revolution, weder Kommunist noch Antikommunist, nichts anderes

XI. Vom epischen zum sozialistischen Theater

105

wünscht als seine Ruhe und ein bescheidenes Auskommen. „Ich will so wenig für mich“, erklärt sich Podsekal’nikov. „Unseren Aufbau, sämtliche Errungenschaften, Weltbrände, Eroberungen, das könnt ihr alles behalten. Gebt mir nur ein stilles Leben und ein anständiges Gehalt.“27 Indem Ėrdmans Held darauf verzichtet, sich zu engagieren und durch besondere Taten und ungewöhnliche Ideen zum Aufbau der Gesellschaft beizutragen, also jegliche Vorbildhaftigkeit für andere vermissen läßt, erfüllte er nicht die Anforderungen, die man jetzt aus Sicht der Partei an eine tragende literarische Figur stellte. Verständlich, daß es Mejerchol’d wenig nützte, als er versuchte, seine Inszenierung als Abrechnung mit dem kleinbürgerlichen Spießertum auszugeben. Zu deutlich war das düstere Welt- und Menschenbild, das Ėrdman entwarf. Ein Jahrzehnt nach dem Sieg der Revolution erwiesen sich alle Hoffnungen und Erwartungen als Illusion. Das Hochgefühl der Anfänge war verschwunden. Es herrschten Rechtsunsicherheit und Verkehrung der Werte und Normen. Denunziantentum und Opportunismus breiteten sich aus. Angst griff um sich und ließ die Menschen nicht mehr los, besonders wenn sie, wie der russische Jedermann Podsekal’nikov, sich weigerten, in der Masse aufzugehen, und den Anspruch auf alte Ideale wie Meinungsfreiheit, privates Glück und menschliche Würde erhoben. Der passiven Variante des NĖP-Protagonisten bei Ėrdman stellte Majakovskij in „Klop“ die aktive gegenüber. Der Arbeiter Prisypkin, der durch die Heirat mit einer Friseurstochter die Grenzen seiner Klasse überschreitet, nutzt wie Zoščenkos Parteigenosse Barbarisov die neuen gesellschaftlichen Möglichkeiten, um aus ihnen persönliche Vorteile zu ziehen. Genuß- und vergnügungssüchtig, verkörpert er die Auswüchse der Politik, die von der sowjetischen Regierung zwischen 1921 und 1927 zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und des Lebensstandards der Bevölkerung betrieben wurde. Dabei verliert er die Ziele der Revolutionskämpfe aus dem Blick. Bereits das Auftaktbild, das den Klassenflüchtling, in Proletarier-Würde umherstolzierend, begleitet von seiner kleinbürgerlichen zukünftigen Schwiegermutter, inmitten von Scharen fliegender Händler bei den Einkäufen zu der bevorstehenden Hochzeit zeigt, ist von demaskierender Kraft. Die darauf folgende Szene im ärmlichen Wohnheim, aus dem Prisypkin kommt und jetzt herausstrebt, setzt mit den täppischen Tanzversuchen des Aufsteigers, diesen lächerlichen Mühen der Anpassung an Höheres, die Entlarvung nicht minder wirkungsvoll fort. Das Komische der Gestalt, die, repräsentativ für eine historische Entwicklungsphase, Person und Personifikation zugleich ist, entspringt dem alten Kontrast zwischen Wollen und Können, hier zwischen den dünkelhaften Ansprüchen und der Unbeholfenheit und Plumpheit des Verhaltens. Molières Bürger als Edelmann ist, in den sozialistischen Kontext versetzt, der Proletarier als Bürger. Doch Majakovskij, Theaterrevolutionär wie sein Regisseur Mejerchol’d, beschränkte sich nicht auf bewährte Schemata. Mit der Darstellung der Kleinbürgerhochzeit, in der der erste Teil effektvoll kulminiert, erweiterte er, die Komik ins Groteske steigernd, die reale, gegenwärtige Ebene zu einer surrealen und utopischen. Erst damit wird

106

Das russische Drama

das Stück seinem Untertitel „Eine phantastische Komödie“ gerecht: Bei der Hochzeitsfeier geht das Haus in Flammen auf. Alle Gäste kommen um, außer Prisypkin, der unter dem Wasserstrahl der Feuerwehrleute „eingefroren“ und fünfzig Jahre später, von Arbeitern als Eisblock in einem Keller entdeckt, wieder aufgetaut wird. Auch in Ėrdmans „Samoubijca“, wo die Handlung ebenfalls eine bizarre Wendung nimmt, erscheint der Tod in einer Form, die etwas Spielerisches, Experimentelles hat. Wenn dagegen Tarelkin bei Suchovo-Kobylin vorgibt, verstorben zu sein, geschieht dies aus ganz konkreten materiellen Erwägungen. Er versucht, sich auf betrügerische Weise von den berechtigten Forderungen der Gläubiger zu befreien. Podsekal’nikov findet in der Ankündigung, daß er sich mit seinem Revolver erschießen werde, eine andere Art von Freiheit, nämlich die ihm bisher versagte, seine Meinung zu äußern. Auf die Idee dazu hat ihn ein Vertreter der alten Intelligenz gebracht: „In unserer Zeit, Bürger Podsekal’nikov, kann das, was ein Lebender denkt, nur von einem Toten ausgesprochen werden“.28 Und so ruft der Todeskandidat im Kreml an und teilt mit, er habe Marx gelesen, aber Marx habe ihm nicht gefallen. Was aber noch wichtiger ist als die neue Freiheit des Wortes, ist die Tatsache, daß die Rolle des potentiellen Selbstmörders von der existentiellen Angst befreit: „Ich habe vor niemandem Angst. In der Sowjetunion leben hundertvierzig Millionen Menschen, Genossen, und jede Million hat vor irgend jemandem Angst, nur ich nicht.“29 So fremd wie für Ėrdmans Held die sowjetische Gegenwart der zwanziger Jahre ist die Zukunftswelt des Jahres 1979 für Prisypkin in Majakovskijs „Klop“, als er, aufgetaut aus dem Eisblock im Keller des einst abgebrannten Hauses, zu neuem Leben erwacht: eine perfekt organisierte, hochtechnisierte Gesellschaft, in der elektrische Geräte die medizinische Versorgung genauso regeln wie politische Willensäußerungen und persönliche Gefühle. In diesem sozialistischen Weltstaat, wo es nichts gibt, was spontan und unberechenbar ist, erscheint der in frühere Alltagsgewohnheiten verfallende – trinkende, rauchende, tanzende – NĖP-Repräsentant als Störenfried, und er wird deshalb in einen Käfig gesperrt, in dem er, zusammen mit einer Wanze, dem einzigen lebendigen Wesen, wie ein exotisches Tier von Besuchern aus aller Welt besichtigt werden kann. Wenn er sich am Ende, gleich dem Stadthauptmann in Gogol’s „Revizor“, nach altem anti-illusionistischen Kunstgriff in verzweifelter Apostrophe an das Publikum wendet und mit den Worten „Warum sitze ich allein im Käfig? Meine Lieben, Brüder, kommt doch zu mir! Wofür leide ich denn?“30 unser Mitleid zu erregen versucht, wird er dennoch kaum auf Anteilnahme stoßen. Zu eindeutig ist, daß Majakovskijs entlarvende Satire ebenso auf den Kleinbürger und seine eigensüchtigen und beschränkten Lebensinteressen wie auf die stalinistische Parteibürokratie mit ihren revolutionären Phrasen über eine menschliche, klassenlose Gesellschaft der Zukunft zielt.31 Noch schonungsloser wird die Bürokratie in „Banja“ an den Pranger gestellt. Stellvertretend für die Gesamtheit des Apparats steht das Amt des hohen Funkti-

XI. Vom epischen zum sozialistischen Theater

107

onärs Pobedonosikov und seines phlegmatischen Sekretärs Optimistenko, von dem es ironisch heißt: „Direktiven werden befolgt, Zirkulare umgesetzt, Rationalisierungen durchgeführt, Schriftstücke liegen jahrelang ordentlich gestapelt. Für Gesuche, Beschwerden, Eingaben läuft ein Fließband.“32 In diesem „Musteramt“, einem „wahren Winkel des Sozialismus“, werden alle innovativen Pläne und Projekte verzögert oder sogar verhindert, so auch der Antrag des Erfinders Čudakov auf Finanzierung einer Zeitmaschine, die den Blick voraus in die Zukunft und aus der Zukunft zurück in die Gegenwart gestattet. Erst als die Maschine auf Pobedonosikovs Türschwelle explodiert und ihr die „phosphoreszierende Frau“ entsteigt, die, aus dem Jahr 2030 kommend, jeden, der es wünscht, mit rasender Geschwindigkeit in die Zukunft befördert, versucht der mächtige Bürokrat die Situation zum eigenen Vorteil auszunutzen. Der Amtsgewalt beraubt, preist er der „phosphoreszierenden Frau“, die jetzt hinter seinem Schreibtisch sitzt, seine bürokratischen Fähigkeiten an, in der Hoffnung, damit Posten und Privilegien auch in der Zukunft sichern zu können. Kaum aber ist die Maschine, die sein Erfinder mit der „lumineszierenden Phantasie H. G. Wells’“ und dem „futuristischen Gehirn Albert Einsteins“ in Verbindung bringt33, unter dem Zerplatzen von Knallkapseln und dem Aufflammen von Feuerrädern gestartet, wirft die geheimnisvolle Apparatur, dieses teuflische Rad der Zeit, das im Unterschied zu der sorgfältigen Beschreibung in dem Roman „The Time Machine“ selbst nie gezeigt wird, seinen Ballast wieder ab. Pobedonosikovs Clique fällt arg ramponiert auf die Erde zurück. Im Vergleich zu „Klop“ erweiterte Majakovskij in „Banja“ die satirische Stoßrichtung, indem er nicht nur die Schädlichkeit der Sowjetbürokratie aufdeckte, sondern auch gegen die angepaßten akademischen Theater polemisierte und mit jenen Repräsentanten des kulturellen und wissenschaftlichen Lebens abrechnete, die ihn und Mejerchol’d zunehmend in der Arbeit behinderten. Der dritte Akt wird in dieser Hinsicht zur reinen Literatursatire, zur Komödie in der Komödie. Majakovskij läßt einen „Regisseur“ die Bühne betreten, der die Handlung vorübergehend anhält und die Figuren nach ihrer Meinung über das Stück befragt. Das gab ihm die Möglichkeit, die Einwände, die von offizieller Seite gegenüber dem Stück und der Inszenierung zu erwarten waren, ironisierend vorwegzunehmen. „Das ist alles zu dick aufgetragen“, meint Pobedonosikov, „solche Menschen gibt es bei uns gar nicht – das ist unnatürlich, lebensfremd, unähnlich!“ und fordert deshalb: „Das muß man umarbeiten, mildern, poetisieren, abrunden.“ Später wird er noch konkreter: „Man muß auch die hellen Seiten unserer Wirklichkeit zeigen, irgend etwas Vorbildliches herausgreifen, zum Beispiel die Institution, in der ich arbeite.“ Und Madame Mezal’jansova, seine Geliebte fügt hinzu: „Natürlich, die Kunst muß das Leben widerspiegeln, das schöne Leben, schöne lebende Menschen. Zeigen Sie uns schöne, lebhafte Menschen in schöner Landschaft.“34 Majakovskijs Stück war noch nicht aufgeführt, als es auch schon unter diesen Prämissen angegriffen wurde. Die heftigsten Angriffe kamen aus der Richtung der „Russischen Assoziation

108

Das russische Drama

proletarischer Schriftsteller“ (RAPP). Außerstande, die ästhetischen Neuerungen Majakovskijs zu erkennen, warf man ihm eine einseitige, ja verfälschende Darstellung der gesellschaftlichen Situation vor. Die Figuren seien unglaubwürdig, der Held Pobedonosikov verkörpere eine „Entartung der Partei“, aber keine typische Erscheinung der Bürokratie. Mejerchol’d, der sich in die Angriffe eingeschlossen sah, setzte, obwohl zutiefst beunruhigt, die begonnenen Proben fort. Von „Banja“ noch begeisterter als von „Klop“, stellte er diese „Theater-Phantasmagorie“, was Witz, Leichtigkeit und Sprachkunst betrifft, auf eine Stufe mit den Komödien Molières.35 Seine Klassikerinszenierungen, die zunächst soviel Befremden hervorgerufen hatten, gewannen im nachhinein einen tieferen Sinn. Anschließend an die große satirische Tradition in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, im besonderen an die Komödien Griboedovs, Gogol’s und Ostrovskijs, entwickelten Mejerchol’d und Majakovskij in engstem künstlerischen Austausch eine neue Form des agitatorischen Theaters: das aktuelle gesellschaftliche und politische Theater. Majakovskij ersetzte die abstrakten sozialen Masken aus „Misterija-buff“ durch konkrete soziale Typen, und Mejerchol’d fand, unterstützt durch den Ausstatter Sergej Vachtangov und den Kostümbildner Aleksandr Dejneka, die adäquaten Mittel der szenischen Umsetzung. Als Majakovskijs „Banja“, ungeachtet aller Anfeindungen, nach Überwindung aller Schwierigkeiten am 16. März 1930 uraufgeführt wurde, war die eigentliche Zeit der Satire vorbei. Allenfalls war es noch möglich, kleinere Mißstände oder normwidrige Verhaltensweisen von Einzelpersonen anzuprangern. Ėrdman und Majakovskij aber hatten, wie einst Gogol’, in „Mandat“ und „Samoubijca“ sowie in „Klop“ und „Banja“, diesen Höhepunkten des satirischen Theaters der zwanziger Jahre, die gesellschaftliche Ordnung insgesamt schonungsloser Kritik unterworfen und damit das staatliche System selbst in Frage gestellt. Wer sich jetzt nicht konform verhielt, konnte wie Nikolaj Ėrdman 1933 unter einem Vorwand verhaftet und in jahre- oder jahrzehntelange Verbannung geschickt werden. Manche starben in der Haft, so Charms und Vvedenskij, ebenso Mejerchol’d, dessen Theater 1938 geschlossen worden war. Das Manuskript zu Ėrdmans „Zasedanie o smeche“ (Eine Sitzung über das Lachen) wurde beschlagnahmt. Selbst die satirischen Märchenkomödien von Evgenij Švarc (1896–1958), die sich eindeutig gegen Hitler und den Nationalsozialismus richteten, stießen auf Ablehnung bei den Zensoren in den Repertoire-Komitees und in den Staatsverlagen, ließ sich die Kritik an der fremden Diktatur doch genauso gut auf die eigene anwenden.36 So erhielten „Golyj korol’“ (Der nackte König, 1934) und „Drakon“ (Der Drache, 1944) keine und „Ten’“ (Der Schatten, 1940) nur eine kurzfristige Aufführungsgenehmigung. 1920 hatte Lunačarskij geschrieben: „Wir leben in einem Land, das hungert und friert, das noch unlängst von den Feinden in Stücke gerissen wurde, und doch höre ich oft Lachen: Ich sehe lachende Gesichter auf den Straßen, ich höre Arbeiter und Rotarmisten im Theater oder Kino fröhlich lachen. Ich habe schallendes Gelächter auch dort gehört, an der Front, wo wenige Werst entfernt Blut floß.“37 Zehn Jahre danach

XI. Vom epischen zum sozialistischen Theater

109

war von der befreienden Aufbruchsstimmung kaum noch etwas zu spüren. Auch das Lachen, dieses „Anzeichen von Kraft“ und „Anzeichen des Siegs“, erklang jetzt nur ganz selten, und es schwand vollends, als in den dreißiger Jahren der Terror einsetzte und viele der besten Kräfte aus dem Bereich der Kultur den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fielen. Ėrdman hatte deshalb schon ausgangs der zwanziger Jahre seine Komödie „Samoubijca“ mit dem Satz des Dichters Viktor beschlossen: „Podsekal’nikov hat recht. Es lohnt sich wirklich nicht zu leben.“38 Nachdem die Stimmen der Satiriker nach und nach zum Verstummen gebracht worden waren, wurde der Auftrag für die Literatur und das Theater immer fordernder, entsprechend den Losungen der Partei über die Schwierigkeiten beim Aufbau des Sozialismus hinwegzutäuschen und im Sinne der offiziellen Ideologie optimistische Stimmungen zu verbreiten und positive, vorbildhaft handelnde Figuren zu entwerfen. Die Organisation RAPP, in der die Partei die Exekutive ihrer Literaturpolitik sah, verlangte in einer Resolution vom 4. Mai 1931, daß jeder proletarische Schriftsteller ab sofort die „Helden des Fünfjahresplans darzustellen“ und den „Fortschritt des Vollzugs in zwei Wochen zu melden“ habe.39 Ausgerechnet der RAPP-Funktionär und Politagitator Vsevolod Višnevskij (1900–1951) hielt sich nicht an diese Forderung, als er 1932 mit „Optimističeskaja tragedija“ (Optimistische Tragödie), der Geschichte einer Anarchistengruppe, die sich unter dem Einfluß der Partei, repräsentiert durch eine Kommissarin, zu einem regulären Marineregiment der Roten Armee entwickelt, auf die heroische Zeit des Bürgerkriegs zurückgriff. Entsprechend negativ war die Resonanz auf die Kiever Uraufführung 1933. Višnevskij, durch Krieg und Revolution geprägt, erfüllt von der „Romantik der Revolution, ihrer Dekrete und Aufrufe“40, fühlte sich mißverstanden und verteidigte sein Werk gegen den Vorwurf des Anachronismus. Schon 1929 hatte er mit dem Stück „Pervaja konnaja“ (Die erste Reiterarmee) die Form des episch-dramatischen Massenschauspiels aus den Jahren 1919–1921 wieder aufgenommen. Der Mensch besaß für ihn kein individuelles Schicksal. Sein und Handeln des einzelnen sind von den Konflikten der Masse bestimmt. Um dies zu veranschaulichen, sollten in „Optimističeskaja tragedija“ mindestens hundert bis hundertfünfzig Personen auftreten. Eine noch weit größere Zahl wird eingangs in der Vorstellung des Zuschauers evoziert: „Wir waren fünfundachtzigtausend baltische und vierzigtausend Schwarzmeermatrosen.“41 Višnevskijs ins Monumentale strebende Bühnenwerk, an dessen Inszenierung so prominente Regiekünstler der Revolutionszeit wie Mejerchol’d, Ėjzenštejn und Tairov ihr Interesse bekundet hatten, war noch einmal ein Beispiel für episches Theater42 im Stil von Majakovskijs „Misterijabuff“, als solches aber zu Beginn der dreißiger Jahre unzeitgemäß sowohl im Hinblick auf die Thematik als auch im Hinblick auf die formalen Mittel. „Misterija-buff“ dagegen war 1918 als episches Theater eine seiner Zeit entsprechende Ausdrucksform. Zur Feier des Ersten Jahrestags der Oktoberrevolution verfaßt, als Massenschauspiel für die Darbietung auf der Straße konzipiert,

110

Das russische Drama

unter Wegfall der Rampe und Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben wie die im Titel assoziierten mittelalterlichen Mysterienspiele die Glaubensinhalte einer Gemeinschaft vermittelnd, steht das anti-illusionistische, zirzensische Unterhaltung und marxistische Belehrung verbindende Revolutionsstück an einer gesellschaftlichen, politischen und theatergeschichtlichen Wende. Im Verlauf der zwanziger Jahre verlor es seine Aktualität und geriet deshalb verständlicherweise fast völlig in Vergessenheit. Der Sieg der Arbeiterklasse über die Bourgeoisie, von dem es handelt, war gesellschaftliche Realität geworden, und seine neuen, verfremdenden Stilmittel wie die karikaturistische Überzeichnung der Ständevertreter gehörten inzwischen zur gängigen Bühnenpraxis. Für Sergej Tret’jakov (1892–1939), den Mitarbeiter Ėjzenštejns im Theater des Proletkul’t und Mejerchol’ds im GosTIM, war der in „Misterija-buff“ dargestellte revolutionäre Kampf bereits 1923, als er mit eigenen Stücken hervorzutreten begann, durch die Entwicklung überholter Vergangenheitsstoff. Wie Majakovskij, mit dem er in der Zeitschrift LEF zusammenarbeitete, erstrebte er ein erzählendes, rationales, auf die Natürlichkeit der Illusionsbühne verzichtendes Agitationstheater, für das er als erster den Begriff „episches Drama“ (ėpičeskaja drama)43 prägte, war dabei aber, dem wirklichen Leben näherstehend als der zur Romantik neigende Majakovskij, ganz auf die unmittelbaren praktischen Probleme seines Landes gerichtet. In „Dramaturgovy zametki“ (Notizen eines Dramatikers) bezeichnete er die „soziale Tagesaufgabe“ als die vordringlichste Aufgabe des zeitgenössischen Theaterschriftstellers.44 Nachdem er in „Slyšiš’, Moskva?!“ (Hörst Du, Moskau?!, 1923) mit dem Hamburger Aufstand von 1923 zunächst ein ausländisches Ereignis aufgegriffen hatte, wandte er sich 1925 im Anschluß an seinen China-Aufenthalt – dem 1926 das vielbeachtete, national wie international erfolgreich aufgeführte Dokumentarstück „Ryči, Kitaj!“ (Brülle, China) über den chinesischen Klassenkampf und die amerikanische Kanonenbootpolitik in Ostasien entsprang – in „Choču rebenka“ (Ich will ein Kind haben) einer brisanten aktuellen Problematik im Sowjetrußland der NĖP-Periode zu, einer Problematik, die aus der Auflösung der alten Gesellschaftsordnung resultierte: der Abwertung der Familie als sozialer Institution, der Gleichbehandlung registrierter und nichtregistrierter Ehen, der Rechtsunsicherheit im Falle legitimer und illegitimer Kinder, der Verwahrlosung elternloser Kinder und ihrer Kriminalisierung sowie dem allgemeinen Sitten- und Werteverfall. Auf der Realität und ihren Tatsachen beruhend, sollte „Choču rebenka“ nach Tret’jakovs eigener Aussage ein „Stück zur Diskussion“ sein: „Das heißt, die Schlußfolgerungen der jeweiligen Variante werden dem Zuschauer zur Erörterung vorgelegt.“45 Dieser Absicht entsprechend ist das Stück nicht als logisch konstruierter Mehrakter, sondern als lockere Folge von vierzehn zusammenhangslos aneinandergereihten Szenen komponiert, wobei es weder eine zielgerichtete Handlung noch ein zeitliches Kontinuum oder vorstellbare Schauplätze gibt.46 Und die Figuren sind, wie Mejerchol’d sofort erkannte, „Schemata“, aber keine „lebendigen Menschen“. Deshalb richtete der Regisseur sei-

XI. Vom epischen zum sozialistischen Theater

111

nen Inszenierungsplan47 vom 15. Dezember 1928 ganz auf die bestmögliche szenische Verwirklichung von Tret’jakovs Intentionen aus: „Früher versuchte ich, aus dem Stück lebendige Menschen zu machen. Jetzt sehe ich, daß das nicht geht. Das heißt, man muß es als ein Stück zur Diskussion aufführen.“ Dazu sollte der Zuschauerraum bis auf die Bühne verlängert werden. Es war vorgesehen, daß die Diskussionen mit den Zuschauern sowohl nach der Aufführung als auch während der Aufführung stattfanden. „Die Personen des Stücks“, stellte sich Mejerchol’d vor, „werden sich als Schemata den Rednern demonstrieren – wie die Studenten in der Anatomie Körper sezieren. Dann haben wir die Garantie, daß keine der vom Autor schief gestellten oder beantworteten Fragen falsch ankommt.“ Und die Diskussion selbst? Sie sollte sich „in dialektisch angeordneten Repliken aufbauen, die richtige Ausgangspunkte für die zu erwartende Debatte am Schluß der Aufführungen setzen“. Mejerchol’d hatte alles bis ins kleinste Detail geplant. Er beabsichtigte, einen Teil der Eintrittskarten an Organisationen zu verkaufen, als Redner die Leute auszuwählen, auf die Verlaß ist, und provokatorische Fragen einbauen zu lassen, um die Gegner des Stücks bloßzustellen. Schließlich hatte er sogar die Idee, daß der Autor Tret’jakov gelegentlich aus dem Zuschauerraum auf die Bühne kommt, einem Schauspieler sagt „Das sprechen Sie nicht ganz richtig“ und dann selber den einen oder anderen Satz spricht. Theaterästhetisch wollte Mejerchol’d die Improvisationskunst der Commedia dell’arte wiederbeleben, zeitgeschichtlich waren seine Vorstellungen im Zusammenhang mit der Inszenierung von Tret’jakovs „Choču rebenka“ bedeutsam als der Versuch, auch das Theater zu dem zu machen, was Rußland in seinen Fabriken, Schulen, Redaktionen, Arbeiterklubs und Parteilokalen seit dem Ausbruch der Revolution überall war: ein Ort unentwegter, stürmischer Diskussionen und Debatten. Es scheint, als seien seine Ideen zu kühn gewesen, ebenso wie die provokanten Thesen, drastischen Milieubeobachtungen, schockierenden Obszönitäten und sprachlichen Derbheiten Tret’jakovs im Stück. Denn die sorgfältig vorbereitete und mit großen Erwartungen verbundene Aufführung kam wie diejenige von Ėrdmans „Samoubijca“ nicht zustande. In den krassen Zeitbildern, die Tret’jakovs Protagonisten zwar zugespitzt, aber durchaus realitätsnah entwerfen, wollten sich die meisten nicht gespiegelt sehen. „Was ist denn jetzt? Chaos. Zufall. Die Menschen paaren sich da, wo sie sich gerade treffen: ein Wagen – gut, also im Wagen; eine Kanzlei – gut, also in der Kanzlei; ein Asyl – gut, also ein Asyl“, sagt der Chemiker und Erfinder Diszipliner und fährt dann fort: „Soll man sich da wundern, daß die Kinder der Narkotiker, Syphilitiker, Alkoholiker als Idioten, Epileptiker, Neurastheniker zur Welt kommen?“48 Wurde die Geschlechterthematik in lustspielhafter Form behandelt, gab es keine Schwierigkeiten, das Stück auf die Bühne zu bringen. Das belegt der große Erfolg von Valentin Kataevs „Kvadratura kruga“ (Die Quadratur des Kreises, 1928). Der Dreiakter, eine harmlos-amüsante Situationskomödie, handelt von zwei jung „registrierten“, das heißt verheirateten Paaren, die zusammen in ei-

112

Das russische Drama

nem kleinen Kellerzimmer wohnen. Schon nach kurzer Zeit stellt sich heraus, daß trotz „gleicher Interessen und Parteizugehörigkeit“ weder das eine, das bürgerliche Paar, noch das andere, das intellektuelle, miteinander glücklich ist. Nach heftigen Kämpfen, die ihre Komik durch die Parallelität der bis in wörtliche Wiederholungen gehenden Auseinandersetzungen gewinnt, bestehen Lösung und Happy-End in Partnertausch und Neuregistratur. Der selbstzweckhaft wirkende komische Spielverlauf mit den bewährten Techniken des Mißverständnisses oder des Aneinandervorbeiredens nahm der Satire ihre Schärfe und milderte die Kritik an bestimmten gesellschaftlichen Erscheinungen, die den Alltag des Sowjetbürgers während der zwanziger Jahre bestimmten, wie etwa die Wohnungsnot, die Abschaffung des Privateigentums, der Zwang zur Befolgung des Partei-Ehrenkodex oder die Leichtigkeit, Eheschließungen zu widerrufen und umzuwandeln. Komödien dieser Art, in denen die Sehnsucht nach bürgerlichem Leben und privatem Glück zugleich anerkannt und verdammt wird, fehlt die bissige Aggressivität der Grotesken Ėrdmans und Majakovskijs. Heiter, unterhaltsam, beschwingt, täuschten sie über die wahren Probleme der zeitgenössischen Wirklichkeit hinweg und erfreuten sich der Aufmerksamkeit des Publikums. Sobald sich aber die Satire verschärfte, ernster und grimmiger wurde, wie im Falle von Bulgakovs „Zojkina kvartira“ oder „Bagrovyj ostrov“ (Die Purpurinsel, 1927), mußten auch genehmigte Aufführungen von einem Tag auf den anderen wieder aus dem Programm genommen werden. Manchmal, wie bei Afinogenovs „Lož“ (Die Lüge, 1933), einem Stück, das die Auswirkungen der zwangsläufigen Lügen unterer Parteifunktionäre auf das System deutlich macht, schaltete sich Stalin persönlich ein und verbot die Aufführung. In anderen Fällen konnte durch Umarbeitung des Textes eine Wiederaufnahme erreicht werden. So brachte Višnevskij die ersehnte Moskauer Aufführung von „Optimističeskaja tragedija“, nach der resonanzlosen ersten im fernen Kiev, nur dadurch zustande, daß er formale Kühnheiten wie den zwischen Publikum und Spielern vermittelnden Chor oder die Interludien mit literarischen Debatten eliminierte. Die Anpassungsbereitschaft des einstigen Theateravantgardisten Tairov trug dann durch die Inszenierung noch zur weiteren Verflachung des Textes bei. So beherrschten immer mehr die Werke solcher Autoren die Spielpläne, die sich eindeutig und vorbehaltlos für die Interessen von Partei und Staat engagierten. Einer der bekanntesten, zugleich auch produktivsten von ihnen war der spätere Stalin- und Leninpreisträger Nikolaj Pogodin (1900–1962). Von 1934 bis zu seinem Tod im Vorstand des Schriftstellerverbands der UdSSR, 1951–1960 Chefredakteur der Zeitschrift „Teatr“, begann er wie viele sowjetische Schriftsteller als Journalist und hatte bereits über 200 Beiträge für die „Pravda“ geschrieben, als 1929 aus einem journalistischen Besuch des Stalingrader Traktorenwerks sein erstes Drama „Temp“ (Tempo) entstand. Es folgte im Jahr darauf das Stück „Poėma o topore“ (Poem von der Axt), in dem es um die erstmalige Herstellung korrosionsfreien Stahls durch einen sibirischen Betrieb geht. Pogodin verstand es von Anfang an, mit den Mitteln der Bühne auf die jeweils aktu-

XI. Vom epischen zum sozialistischen Theater

113

ellen Fragen der Entwicklung des Landes zu reagieren.49 Seine Bühnenwerke aus der Zeit des Ersten Fünfjahresplans, lockere szenische Reihungen ohne direkte durchgehende Handlung, halten mit dem Anspruch dokumentarischer Genauigkeit entscheidende Augenblicke und wichtige Stationen des sozialistischen Aufbaus fest. 1934 widmete er sich in „Aristokraty“ (Aristokraten), wie 1931 schon Afinogenov in „Strach“ (Angst), einem anderen zentralen Thema der Zeit: der Umerziehung Andersdenkender zu überzeugten Regimeanhängern, in diesem Fall durch schwere körperliche Zwangsarbeit am Eismeerkanal. Nicht weniger erfolgreich und mit Anerkennung von höheren Stellen bedacht, war – für ein Jahrzehnt, bis er 1937 verhaftet und 1938 in der Haft liquidiert wurde – Vladimir Kiršon (1902–1938). Wie Višnevskij aktiver Bürgerkriegsteilnehmer auf bolschewistischer Seite, seit 1920 Mitglied der Kommunistischen Partei, dann Parteifunktionär in Rostov am Don und ab 1925 RAPP-Sekretär in Moskau, gelangte er nach künstlerisch anspruchslosen Agitationsstücken für Laienspielbühnen über das Drama „Konstantin Terechin“ (1926), das er gemeinsam mit Andrej Uspenskij geschrieben hatte, 1927 zu selbständigem dramatischen Schaffen.50 In „Rel’sy gudjat“ (Die Schienen dröhnen) beschreibt er den Aufstieg eines Proletariers zum Direktor einer großen Fabrik und gibt damit ein anschauliches Beispiel für die Schaffung des neuen Menschen. In „Chleb“ (Brot, 1930) dagegen geht es um den Vorgang der Kollektivierung in der Landwirtschaft, in „Čudesnyj splav“ (Die wunderbare Legierung, 1934) am Beispiel eines Instituts der Flugzeugindustrie um die Rolle der Forschung bei der Herausbildung der Sowjetunion zur Industriegesellschaft. Die Dramatiker der dreißiger Jahre waren gezwungen, wenn sie sich gespielt sehen wollten, die Forderung vom „sozialen Auftrag“ der Kunst ernst zu nehmen. Dem Produktionsroman trat so das Produktionsdrama gleichwertig zur Seite. Selbst die Versuche, in Erinnerung an die Zeit der heldenhaften Kämpfe das Massen-Agitationstheater auf die Bühne zurückzuholen, fand nur noch geringe Zustimmung. Kiršon nutzte 1933 seinen Auftritt auf einer Plenartagung des Organisationskomitees, das die Gründung des sowjetischen Schriftstellerverbands vorbereitete, zu ausdrücklicher Polemik gegen Višnevskijs Bürgerkriegsdramen. Er verwarf das epische, anti-illusionistische Theater und sah die geschlossene Form des Milieu- und Charakterdramas als repräsentativ für die Epoche des Aufbaus. Damit wandte er sich zugleich gegen Pogodin, der ein vielfiguriges, dezentriertes Handlungsdrama mit einem kollektiven Helden vertrat und der danach trachtete, nicht nur im geschriebenen Text die Grenze zwischen Erfindung und Dokumentation verfließen zu lassen, sondern auch wie zuvor Majakovskij und Mejerchol’d bei der Aufführung die Trennung von Fiktion und Realität außer Kraft zu setzen. So hatte dieser in „Temp“ die Betriebsversammlung eines Stahlwerks szenisch so angelegt, daß der fiktive Versammlungsraum auf der Bühne nahtlos in den realen Zuschauerraum übergeht. Die Art Drama, die Kiršon in seiner Kritik an Pogodin und Višnevskij postulierte und die inzwischen von den meisten vertreten wurde, bedeutete die Rückkehr

114

Das russische Drama

zu Realismus, Psychologie und Illusionserzeugung. Diese Entwicklung kulminierte in der Entstehung des intimen Kammerspiels mit seiner durchstrukturierten Form und einer Handlung, die sich ganz auf die Entfaltung der privaten, familiären Sphäre der dramatis personae konzentrierte.51 Wohnzimmer, Küche, Veranda, Garten bildeten die Schauplätze, treu sorgende Mütter und Ehefrauen, strenge, aber gerechte Väter, hoffnungsvolle Kinder das konstante Personal. Nur scheinbar unpolitisch, entsprachen solche Stücke bewußt dem stalinistischen Kult der Familie. Leonovs „Polovčanskie sady“ (Die Gärten von Polovčansk, 1938) ist dafür ein exemplarisches Beispiel. Einem anderen Kult wurden die Dramen gerecht, die 1937 aus Anlaß des zwanzigsten Jahrestags der Oktoberrevolution entstanden. Auch wenn in ihnen meist wie in Trenevs „Na beregu Nevy“ (Am Ufer der Neva), Rachmanovs „Bespokojnaja starost’“ (Stürmischer Lebensabend) oder Pogodins „Čelovek s ruž’em“ (Der Mann mit dem Gewehr), dem ersten Teil einer Lenin-Trilogie52, Lenin nur als Nebenfigur auftritt, trugen sie, die „Genialität und Weisheit des Führers der Revolution“ feiernd, zu dem stetig wachsenden, nun auf Stalin übertragenen Herrscherkult bei. Die sowjetischen Dramatiker hatten so im Verlauf der dreißiger Jahre in ihrer Mehrheit die Anpassung an jene Theorie vollzogen, die von 1934 an in der Sowjetunion für alle Bereiche der Kunst obligatorisch war. Der „Charakter“, der nach Kiršon anstelle von Kollektiv und Masse im Zentrum der dramatischen Handlung stehen sollte, war der in dieser Theorie und ihrer realistischen Methode geforderte positive Held. Jedoch, als ein „Held, den das Licht des idealsten Ideals verklärt“, als ein „nachahmenswürdiges Vorbild für alle, ein ‚Menschenberg von dessen Gipfel man die Zukunft sieht’“53, ist dieser literarische Typus lediglich eine bloße Abstraktion und somit eine für die Gattung Dramatik völlig untaugliche Figur. Denn diese Gattung lebt von wirklichen Menschen, und ihre Spannung geht aus einem echten Konflikt hervor. Der Sozialistische Realismus als Methode aber wurde gerade um die sogenannte „Theorie der Konfliktlosigkeit“ erweitert. Hier scheint auch einer der Gründe zu liegen, weshalb das sowjetische Drama gegen Ende der dreißiger Jahre, eintönig und gleichförmig geworden, in eine Phase der Erschöpfung geriet. Die der Erneuerung fähigen Kräfte waren zu diesem Zeitpunkt längst zum Verstummen gebracht, und nicht wenige von ihnen, wie Tret’jakov, Babel’54 oder Charms und Vvedenskij, fielen gar der „großen Säuberung“ zum Opfer. XII. Die Situation der sowjetischen Bühne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die stagnierende Entwicklung des sowjetischen Dramas nahm zu Beginn der vierziger Jahre eine unerwartete Wendung. Zwar mußte der Spielbetrieb der Theater infolge der Kriegsereignisse stark eingeschränkt werden, aber gleichzeitig entstand in der Zeit zwischen 1941 und 1945 eine riesige Zahl von Stükken1, die, weniger für die Bühnen als für ein lesendes Publikum bestimmt, auf die ständig wechselnden, jeweils aktuellen Situationen reagierten. Strukturell

XII. Die sowjetische Bühne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

115

knüpfte das Kriegsdrama2 an den geschlossenen Formtypus der dreißiger Jahre an. Wie im Kammerspiel dominiert der Dialog gegenüber der Aktion. Informationen über die Vorgänge auf den Kriegsschauplätzen erfolgen durch die klassischen Mittel von Botenbericht und Mauerschau. Im Unterschied zum Vorkriegsdrama aber wurde die dramatische Spannung jetzt aus antagonistischen Konflikten gewonnen, wie sie sich durch den Zusammenstoß zwischen Deutschen und Russen oder die Tätigkeit von Verrätern auf der russischen Seite ergaben. Aus der Menge mehr oder weniger schematischer und künstlerisch mittelmäßiger Werke heben sich in dieser Hinsicht neben Konstantin Simonovs Kriegsstücken, darunter dem bekanntesten, „Russkie ljudi“ (Russische Menschen, 1942)3, einer teils unter deutschen Besatzern, teils unter Soldaten der Roten Armee spielenden Episode an der Südfront, vor allem zwei Dramen Leonid Leonovs heraus, die von Anfang an durch ihren psychologischen Tiefgang und einen ins Symbolische überhöhten Realismus auffielen. Beide behandeln das Thema des Partisanenkampfs im besetzten Gebiet. Das eine, „Našestvie“ (Invasion, 1942), ein Drama der Läuterung, zeigt einen aus der Haft entlassenen, zum Zyniker gewordenen Arztsohn, der, als er nicht unter die Partisanen aufgenommen wird, auf eigene Faust mehrere deutsche Offiziere tötet, und, nachdem er den Entschluß gefaßt hatte, sich in einem Akt seelischer und geistiger Wiedergeburt anstelle des Partisanenführers von den Deutschen festnehmen zu lassen, mit anderen Gefangenen gehängt wird. Das andere Stück, „Lenuška“ (1943), eine „Volkstragödie in vier Akten“, kontrastiert die Geschichte eines Verräters in einer hinter den Linien der Besatzungsmacht agierenden Partisanenabteilung mit der Liebe einer Partisanin zu einem gutaussehenden Panzerleutnant, der ihr eines Tages als halbverbrannte Leiche ins Hauptquartier in den Wäldern gebracht wird. Wie Simonov verstand es Leonov, der für jedes der beiden Stücke mit dem Stalinpreis ausgezeichnet wurde, im Unterschied zu den meisten Autoren der im Dienst des Kriegs stehenden Literatur – durch die Individualisierung und Entheroisierung seiner Figuren – die Gefahr von zu großem Pathos und übertriebener Melodramatik zu vermeiden. Brutalitäten wie heroische Taten sind bei ihm hinter die Bühne verlegt. Die in extreme Situationen von Gewalt und Tod gestellten Figuren erscheinen als lebendig gezeichnete Charaktere, die nur noch wenig vom Schematismus der Aufbauhelden aus den Produktionsdramen der Vorkriegsjahre besitzen. Dieser Heldentypus kehrte jedoch sofort nach Kriegsende wieder in die Literatur zurück. Pogodins „Sotvorenie mira“ (Die Erschaffung der Welt) aus dem Jahr 1945 war das erste in einer langen Reihe neuer Produktions- und Kolchosdramen. Es folgten unter anderem „Chleb naš nasuščnyj“ (Unser täglich Brot, 1947) von Nikolaj Virta, „Makar Dubrava“ (1948) von Aleksandr Kornejčuk und „Moskovskij charakter“ (Der Moskauer Charakter, 1948) von Anatolij Sofronov. Mit der Rückkehr des positiven Helden schwand auch das Moment des antagonistischen Konflikts, das, bedingt durch die historischen Umstände, der Kriegsdramatik zugrunde gelegen hatte. Die „Konfliktlosigkeit“ wurde jetzt

116

Das russische Drama

vom Schriftsteller sogar ausdrücklich gefordert und als Theorie in den Rang einer Staatsdoktrin erhoben. Ždanov, der Leiter der Propaganda-Abteilung beim Zentralkomitee, nach dem die ganze Spätphase des Stalinismus benannt ist, lieferte 1947 dafür die Begründung: „In unserer sowjetischen Gesellschaft, in der die antagonistischen Klassen liquidiert worden sind, vollzieht sich der Kampf zwischen Altem und Neuem und folglich die Entwicklung vom Niedrigen zum Höheren nicht, wie im Kapitalismus, in Form des Kampfes antagonistischer Klassen und Kataklysmen, sondern in Form von Kritik und Selbstkritik.“4 Erlaubt war danach nur der „Konflikt zwischen dem Guten und dem Besseren“, von dem Afinogenov 1935 gesagt hatte, er stehe auf einer qualitativ höheren Stufe als der traditionelle Konflikt zwischen dem Guten und dem Bösen.5 Allerdings lebte der letztere, nachdem er mit dem Kriegsende bereits erledigt zu sein schien, dann doch noch einmal auf, und zwar auf der ideologischen Ebene im „Feldzug gegen den ‚dekadenten Westen’“.6 Die westlichen Demokratien mit Amerika an der Spitze gerieten, der „kapitalistischen Einkreisung“ beschuldigt, ins Visier der Propaganda, und die Sowjetliteratur, die während des Ersten Fünfjahresplans in den Dienst der Industrialisierung gestellt worden war, erhielt den Auftrag, die Kampagne zu unterstützen. Wie die Erzähler und sogar die Lyriker hielten sich auch die Dramatiker an die politische Direktive. Simonovs „Russkij vopros“ (Die russische Frage, 1946), Virtas „Zagovor obrečennych“ (Die Verschwörung der Verdammten, 1948), Lavrenevs „Golos Amerika“ (Die Stimme Amerikas, 1949) oder Pogodins „Missurijskij val’s“ (Der Missouri-Walzer, 1949) sind nur einige der zahlreichen Bühnenwerke mit dezidiert antiwestlicher Tendenz. Die Anklagepunkte waren immer die gleichen: Kriegstreiberei, Allmacht des Kapitals, neofaschistische Bestrebungen, schädliche Einflüsse auf die sowjetische Wissenschaft, Literatur und Kunst. Häufig wurde in diesem Zusammenhang auch, wiederum in Übereinstimmung mit der Parteilinie, der Vorwurf des Kosmopolitismus erhoben. Er wog besonders schwer, wie Sergej Michalkov in „Il’ja Golovin“ (1949) am Beispiel eines bildenden Künstlers demonstriert. Die Kritik an allem „Ausländischen“ hatte zugleich die Funktion, die Überlegenheit des eigenen Systems, den Sieg des Sozialismus über die bürgerliche Welt zum Ausdruck zu bringen. „Wie ein Leuchtturm in der Nacht weist uns die Sowjetunion den Weg zum Glück“, läßt Nikolaj Virta am Schluß von „Zagovor obrečennych“ eine seiner Figuren sagen.7 Mit Aussagen dieser Art entsprachen die Dramatiker, ungeachtet ihrer tatsächlichen eigenen Meinung, den Erwartungen, die das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei gerade an die Institution des Theaters knüpfte. In der Resolution „Über das Repertoire der Schauspielhäuser und Maßnahmen zu seiner Verbesserung“ vom 26. August 1946 war nach der Feststellung, daß nur in 25 der gespielten 117 Stücke aktuelle gesellschaftliche Themen behandelt wurden, an den Sowjetischen Schriftstellerverband die Aufforderung ergangen, sich auf die Schaffung eines zeitgenössischen nationalen Theaterrepertoires zu konzentrieren. „Die Dramatiker und Theater sollen in den Schauspielen und Auf-

XII. Die sowjetische Bühne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

117

führungen das Leben der Sowjetgesellschaft in ihrer unaufhörlichen Vorwärtsbewegung wiedergeben“, lautete die genaue Anweisung, „und die weitere Entwicklung der besten Charakterzüge des Sowjetmenschen, die während des Großen Vaterländischen Krieges besonders stark zutage getreten sind, auf jede Weise fördern.“8 Die Züge des Charakters, die im besonderen der Jugend vermittelt werden sollten, bestanden darin, „optimistisch“, „lebensfroh“, „der Heimat ergeben“ und vom „Sieg der Sache“ überzeugt zu sein. „Gleichzeitig ist das Sowjettheater berufen zu zeigen“, heißt es weiter, „daß diese Eigenschaften nicht auserwählten Leuten“, einzelnen Helden, sondern vielen Millionen Sowjetmenschen wesenseigen sind.“ Die Umsetzung der in der Resolution erhobenen Forderungen führte zu einer beschönigenden Darstellung der Wirklichkeit, die, idealisiert wie die Gestalt des Parteivorsitzenden in den vielen Stalindramen von Virtas „Velikie dni“ (Große Tage, 1947) bis zu Višnevskijs „Nezabyvaemyj 1919-j“ (Das unvergeßliche Jahr 1919, 1949), selbst etwas ausgesprochen Theaterhaftes hatte. Die Lebensferne der sowjetischen Nachkriegsdramatik war zu Beginn der fünfziger Jahre so deutlich geworden, daß in einem Leitartikel der „Pravda“ vom 7. April 1952 der Begriff des „Konflikts“ rehabilitiert und seine Verwendung für die Übergangsperiode vom Sozialismus zum Kommunismus empfohlen wurde. Der Ausruf, in den der Artikel mündete: „Wir brauchen Gogol’s und Ščedrins!“, wurde Ende des Jahres zur Hauptthese von Malenkovs Grundsatzreferat auf dem 19. Kongreß der KPdSU. Doch die Versuche, diesen neuen sozialen Auftrag zu erfüllen, bargen die Gefahr, daß die Verfasser allzu kritischer Satiren als Verleumder der Sowjetgesellschaft gebrandmarkt wurden. So passierte es Leonid Zorin sogar noch zu Beginn der Tauwetterperiode, ein Jahr nach Stalins Tod, als er es 1954 wagte, in „Gosti“ (Die Gäste) auf drastische Weise den moralischen Verfall der bürokratischen Oberschicht darzustellen. Das Stück wurde nach zwei Aufführungen verboten. Dafür war es aber möglich geworden, daß das Moskauer Satirische Theater am 6. Dezember 1953 erstmals nach einem Vierteljahrhundert wieder Majakovskijs „Banja“ in einer Neuinszenierung zeigen konnte. Doch es dauerte noch eine Zeitlang, bis sich nach der kontroversen Diskussion über die provozierenden Thesen Pomerancevs in dem Artikel „Ob iskrennosti v literature“ (Über die Aufrichtigkeit in der Literatur, 1953)9 der neue Zeitgeist auch in der Entstehung neuer Dramen äußerte. Pomerancev hatte das „Verschweigen alles Schlechten und Widerwärtigen“ als eine der Hauptursachen für die Verzerrung der Wirklichkeit in den Werken der sowjetischen Schriftsteller bezeichnet. Der größte Bedarf an verschwiegenen Themen bestand im Bereich des Alltäglichen und Persönlichen, und so gelangten nach und nach, ohne daß Lenins Prinzip der Parteilichkeit und das Dogma des Sozialistischen Realismus offiziell außer Kraft gesetzt worden wären, private und berufliche Probleme, Gefühlskonflikte und erotische Verwirrungen zur Darstellung, nicht nur in Romanen, Erzählungen und Verspoemen, sondern auch in den ernsten und heiteren Formen der dramatischen Gattung. Nikolaj Pogodin, der es verstand,

118

Das russische Drama

jede kulturpolitische Richtungsänderung mitzuvollziehen, schildert in seinem Stück „Sonet Petrarki“ (Das Petrarca-Sonett, 1956) die platonische Liebe zwischen einem älteren Wirtschaftsfunktionär und einem jungen Mädchen, die durch das taktlose Eingreifen von Parteisekretären und den Klatsch und die Böswilligkeit der „tugendhaften“ Umgebung zerstört wird. Wenngleich immer häufiger das Familien- und Eheleben oder die Freuden und Enttäuschungen in der Liebe thematisiert wurden und untreue Ehemänner und -frauen, illegitime Kinder, Verführer, Trinker und Spieler anstelle von Helden der Arbeit die Bühne bevölkerten, so verfügten erst drei Dramatiker auch über die künstlerischen Mittel, die aufgezeigten Konflikte zu inneren zu verwandeln und die dramatischen Vorgänge um die psychologische Dimension der Figur zu erweitern, auf diese Weise die schablonenhafte Präsentation des positiven Helden früherer Zeiten vergessen lassend: Aleksej Arbuzov (1908–1986), Viktor Rozov (1913–2004) und Aleksandr Volodin (1919–2001). Arbuzov und Rozov hatten als Dramatiker schon lange vor dem „Tauwetter“ begonnen, der eine mit „Klass“ (Die Klasse, 1930) und vor allem dem Stationendrama „Tanja“ (1939), der Entwicklungsgeschichte einer Frau von der verliebten Studentin über Ehe und Ehekrise bis zur Tätigkeit als verantwortungsbewußte Ärztin, der andere mit dem Kriegsstück „Večno živye“ (Die ewig Lebenden, 1943), das nicht wie üblich an der Front oder im besetzten Gebiet unter Partisanen spielt, sondern das Schicksal einer jungen Frau behandelt, die während des Fronteinsatzes ihres Geliebten von einem Pianisten verführt wird, diesen heiratet und sich in der glücklosen Ehe ihrer Liebe zu dem inzwischen gefallenen Geliebten bewußt wird. Als eine auf persönliches Leid ausgerichtete Darstellung des Kriegs hatte dieses Stück, ohne positiven Helden und frei von Heroismus und Patriotismus, lange keine Aussicht auf Veröffentlichung oder Aufführung. 1956, zur Eröffnung des Moskauer Theaters Sovremennik zum erstenmal gezeigt, wurde es 1957 in der Verfilmung unter dem Titel „Letjat žuravli“ (Wenn die Kraniche ziehen) zum Welterfolg. Rozov und Arbuzov besaßen große praktische Bühnenerfahrung, und so zeichneten sich ihre Werke von Anfang an nicht nur durch ungewöhnliche Lebensnähe, sondern auch durch differenzierte Charakterzeichnung und lebendige Dialogführung aus. Ihre Fähigkeit, mit hohem psychologischen Einfühlungsvermögen aus alltäglichen Situationen ethische Konflikte in dramatischer Zuspitzung zu entfalten, fand in der politisch gewandelten Sphäre der nachstalinistischen Jahre die notwendigen Voraussetzungen. Bereits das erste Stück, das von Rozov im November 1954 aufgeführt wurde, „V dobryj čas“ (Guter Start), traf den Nerv der Zeit und machte den Autor schlagartig berühmt. Von Publikum und Kritik gleichermaßen begeistert aufgenommen, weckte es wie Ėrenburgs und Kaverins Romane „Ottepel’“ (Tauwetter, 1954) und „Poiski i nadeždy“ (Suchen und Hoffen, 1956) schon von der Symbolik des Titels her die Hoffnung auf den Anbruch einer neuen, angstfreien Epoche. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Siebzehnjähriger, der auf eine

XII. Die sowjetische Bühne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

119

schwere, durch den Kriegstod des Vaters bedingte Kindheit zurückblickt und sich nun nach dem Schulabschluß über seinen weiteren Lebensweg nicht im klaren ist. Auch die Arbeit in einer sibirischen Traktoren-Station bringt keine Lösung. Sie bietet lediglich die Möglichkeit der Selbsterprobung. Mit der Gestalt des unfertigen Jugendlichen, die als eine für ihre Zeit „wahrhaft künstlerische Entdeckung“10 gerühmt wurde, nahm Rozov den Helden der „Jeans Prosa“ der sechziger Jahre vorweg, der in den Erzählungen Aksenovs, Gladilins, Vojnovičs oder Jurij Kazakovs als der nach dem Krieg Heranwachsende im Konflikt mit der Generation der Väter steht und im Aufbegehren gegen etablierte Lebensformen gezeigt wird.11 Vom Typ des jugendlichen Oppositionellen, der das Klischee des idealen, von der Schule für das Leben gerüsteten Komsomolzen ersetzt und auch in weiteren Stücken Rozovs begegnet, war es nicht weit bis zum Thema der Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit. In „Zatejnik“ (Der Kulturleiter, 1966) wird am Fall von zwei ehemaligen Schulkameraden, die sich nach vierzehn Jahren wiedertreffen und von denen der eine dem anderen in der Stalinzeit durch Ausübung politisch-psychologischen Drucks die geliebte Frau genommen hat, die bis in den intimsten Bereich des Privaten gehende Auswirkung von Machtwillkür aufgedeckt.12 Durch die Verlegung der dramatischen Kollision ins Zwischenmenschliche ermöglichte Rozov dem zeitgenössischen Theaterbesucher, sich mit den Exponenten seiner stets der Gegenwart entnommenen Stoffe zu identifizieren und sich in deren Schicksalen wiederzuerkennen. Die Höhe der Besucher- und Aufführungszahlen zeigt, wie groß das allgemeine Bedürfnis in dieser Hinsicht war. „Zatejnik“ wurde im ersten Jahr an 45 Theatern 1269 mal gespielt. „Gnezdo glucharja“ (Das Nest des Auerhahns), ein Stück, das auf eine jüngere Funktionärsschicht zielte, die, skrupellos und hemmungslos, ausschließlich an materiellem Erfolg interessiert, alle Werte einschließlich der ideologischen Überzeugungen aufgegeben hatte, ging zwischen 1981 und 1983 vor 1055400 Zuschauern 1804 mal über die sowjetischen Bühnen.13 Hatte einst Gogol’ von der Aufgabe des Theaters als moralischer Anstalt geträumt, so ging dieser Traum hundert Jahre nach seinem Tod eine Zeitlang in Erfüllung. Denn auch weitere „Tauwetter“-Dramatiker feierten in jenen Jahren beträchtliche Bühnenerfolge, so beispielsweise Aleksandr Štejn mit „Personal’noe delo“ (Die Personalakte, 1954), Samuil Alešin mit „Odna“ (Die Eine, 1956), „Točka opory“ (Die Stütze, 1960) oder „Palata“ (Das Krankenzimmer, 1962) und vor allem Aleksandr Volodin, der von „Fabričnaja devčonka“ (Das Mädchen aus der Fabrik, 1956) über „Pjat’ večerov“ (Fünf Abende, 1959) bis zu „Moja staršaja sestra“ (Meine ältere Schwester, 1961) immer wieder die Doppelmoral in der Sowjetgesellschaft aufdeckte und für die Zukurzgekommenen, die Schwachen, Leidenden und Verfolgten das Wort erhob. Übertroffen in der Publikumsresonanz aber wurden alle, selbst Rozov, durch Aleksej Arbuzov. Sein psychologisches Drama „Irkutskaja istorija“ (Irkutsker Geschichte, 1959), das wie sein Vorkriegsstück „Tanja“ die Reifung einer Frau behandelt, diesmal vor dem Hintergrund einer Angara-Baustelle und in der Stel-

120

Das russische Drama

lung zwischen zwei Männern, erlebte 1960/61 mehr als 9000 Aufführungen. Diese Erfolge setzten sich fort mit „Moj bednyj Marat“ (Mein armer Marat, 1965), „Skazki starogo Arbata“ (Märchen des alten Arbat, 1970), „Staromodnaja komedija“ (Eine altmodische Komödie, 1975) und „Žestokie igry“ (Grausame Spiele, 1978). Die Befreiung der Dramatik aus der Klammer der Ideologie, die Wiederentdeckung des Individuums, die Öffnung der Bühne für die Probleme des Alltags, die Bemühungen um Aufrichtigkeit und die Fragen nach Gerechtigkeit und Verantwortung – all das, was Arbuzov mit Rozov und Volodin verband, war nach Stalins Tod neu und zog ein breites Publikum in seinen Bann. Doch dessen Interesse und hohe, sich in Besucherrekorden äußernde Aufmerksamkeit und Sensibilität darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese realistische Dramatik nur in seltenen Fällen das Niveau des russischen Dramas vor und nach der Revolution erreichte und zur Entwicklung der Gattung in Rußland – trotz der Tendenz zur offenen Form, besonders bei Rozov – nichts Entscheidendes beitrug. Ihre Bedeutung ergibt sich ganz aus der historischen Situation und liegt in der Auseinandersetzung mit dem Postulat der Konfliktlosigkeit, in der Formulierung bislang verbotener Themen und in der Aufdeckung des Machtmißbrauchs von Personen und Institutionen. Zu Versuchen der Gattungserneuerung kam es erst im Übergang von den sechziger zu den siebziger Jahren, als eine jüngere Generation zu der Feststellung gelangte, daß im Zuge der Entlarvung und Aufklärung die Existenz eines bindenden ethischen Wertesystems verlorengegangen war. Um das Gefühl der Leere und der Ziel- und Sinnlosigkeit des Daseins zum Ausdruck zu bringen, entwickelten Vasilij Aksenov (1932–2009), Andrej Amal’rik (1938–1980) und Aleksandr Vampilov (1937–1972), am westlichen Absurden Theater orientiert, eine moderne Form des Dramas, die inzwischen unter dem Begriff des Postmodernismus subsumiert wird.14 Während die „phantastisch-symbolische Groteske“ Aksenovs15, die in der Traditionslinie des Kunsttheaters von Čechov über die Symbolisten bis zu Bulgakov und anderen liegt, und die „Alltagsgroteske“ Amal’riks16, die an das experimentelle Theater der Futuristen und der Oberiuten um Charms und Vvedenskij anschließt, meist unpubliziert und unaufgeführt, nur ein Randpublikum erreichten, gehörte Vampilov, der, von Rozov und Arbuzov gefördert, 1965 mit dem Universitätsstück „Proščanie v ijune“ (Abschied im Juni) bekannt wurde, bis zu seinem frühen Unfalltod zu den meistgespielten sowjetischen Gegenwartsautoren, ehe er dann wegen seiner negativen Sicht des Lebens für mehr als ein Jahrzehnt fast vollständig von der Bühne verschwand. Ihm geht es weniger um die Aufdeckung real existierender Mißstände wie die Korruption in der Hochschule als um die Darstellung von Situationen, die den Menschen in der Krise zeigen und zur Entscheidung zwingen. Wie entscheidet sich zum Beispiel der Student Kolesov, als ihm der Rektor nach bestandener Prüfung eine Aspirantur anbietet, aber als Gegenleistung den Verzicht auf die Liebe zu seiner Tochter verlangt. Auch der Held von „Utinaja ochota“ (Die Entenjagd, 1970)17, ein lethargischer, innerlich abgestorbener Charakter, der, unfä-

XII. Die sowjetische Bühne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

121

hig, Bindungen einzugehen und Verantwortung zu übernehmen, allem gegenüber gleichgültig ist außer der Erfüllung eigener Bedürfnisse, steht in einer Krisen- und Entscheidungssituation: Soll er in Fortsetzung des makabren Scherzes der Freunde, die ihm einen Trauerkranz zu seiner Beerdigung gesandt haben, Selbstmord begehen? Der Selbstmord findet nicht statt, aber er wird auch nicht ausgeschlossen. In Anknüpfung an Chlebnikovs „Mirskonca“ (Weltvomende, 1912) gibt Vampilov eine realistisch wirkende Variante des „fröhlichen Todes“. Seine Stücke, die wie vormals die Dramen Čechovs nichts lösen und keine Rezepte bieten, sind stets in der alltäglichen Wirklichkeit verwurzelt, doch ihr Realismus wird durch das Versagen psychologischer Kategorien und den Einsatz alogischer Elemente wie der bestimmenden Rolle des Zufalls ständig ausgehöhlt. Am Ende gibt es nur noch das Erschrecken über die Trostlosigkeit des Lebens und die Verlorenheit des Menschen in einer fremd gewordenen Welt. Bei Vampilov hatte die sowjetische Dramatik eine existentielle Tiefe erreicht, die sie weit über die bloße Beschreibung der unmittelbaren gesellschaftlichen Gegebenheiten hinaushob. Verständlich, daß nicht nur Ljudmila Petruševskaja (1938) begeistert war und ihr bedeutendstes Stück, „Činzano“ (Cinzano, 1978)18, unter dem direkten Eindruck von „Utinaja ochota“ schrieb. Auch die anderen Vertreter der „Neuen Welle“ (Novaja volna), die in den siebziger und achtziger Jahren „auf der Suche nach dramaturgischen Neuansätzen“19 waren, wie Viktor Slavkin, Vladimir Arro, Aleksandr Galin oder Aleksej Kazancev, sind ohne das Vorbild Vampilov nicht denkbar. Der Begriff des „Postvampilovschen Theaters“, den die Kritik geprägt und die Wissenschaft übernommen hat, bringt dies deutlich zum Ausdruck. In Stücken wie „Utinaja ochota“ oder „Prošlym letom v Čulimske“ (Letzten Sommer in Čulimsk, 1971), in denen Vampilov die Desillusionierung und die Verzweiflung seiner Generation, der Dreißigjährigen, thematisiert, fanden die Angehörigen der „Gruppe der Vierzigjährigen“ ihre eigene Weltsicht bestätigt. Hier fanden sie auch die poetologische Grundlage, auf der sie die Darstellung des Lebens in seinem Schmutz, seiner Häßlichkeit und seiner Roheit, aber auch in seiner Aussichtslosigkeit und Sinnentleertheit noch einmal verstärkten. Dazu führten sie die Figur des outsider als bevorzugten Helden ein, intellektuelle Aussteiger, philosophierende Ärzte, verrückte Künstler, und begrenzten den Wirklichkeitsausschnitt, in der räumlichen Enge von Küche, Dachgeschoß, Keller oder Treppenabsatz die geistige Enge symbolisierend. Der Zuschauer sollte schockiert und so in der Lethargie der Jahre vor der Perestrojka aufgerüttelt werden. Doch die meisten dieser Stücke passierten nicht die Zensur oder mußten vorzeitig wieder abgesetzt werden. Das änderte sich erst mit Beginn der Perestrojka. Schon 1985/86 standen gleichzeitig sechs Dramen von Aleksandr Galin (1947) auf den Spielplänen Moskauer Theater, in der Saison 1987/88 waren es sogar acht. Dieser Erfolg erklärt sich nicht allein aus dem Interesse der Zeitgenossen, die hier ihre Probleme, Sorgen und Ängste wiedererkannten. Er gründet auch wesentlich auf der handwerklichen Fertigkeit der Stücke, in der sich die Erfahrung des Autors als

122

Das russische Drama

Schauspieler, Regisseur und Leiter des Theaterstudios an der Leningrader Universität niederschlägt. Galin versteht es, nach Schürzung des Knotens die Handlung spannend und dynamisch zu entwickeln, komplexe, psychologisch überzeugende Bühnenfiguren zu entwerfen und lebendige, nicht selten witzig zugespitzte alltagsnahe Dialoge zu erschaffen, in denen seine kritisch-ironische und zugleich menschlich anteilnehmende Haltung gegenüber den Protagonisten einen adäquaten Ausdruck findet. Die Menschen, die er auf die Bühne bringt, sind zwar nicht glücklich, aber auch nicht verzweifelt, sondern wie er selbst nur aller Illusionen beraubt. Ohne Freundschaften, ohne familiäre Geborgenheit, ohne Erfüllung in Liebe und Beruf, sind sie, ausgestattet mit einem nüchternen Blick auf die Welt und die Dinge, Unbehauste im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Das spiegelt sich meist schon in den Schauplätzen, auf denen die Handlung stattfindet: Hotels, Restaurants, Wohn- und Invalidenheime, eine Baracke oder ein verwildertes Stadion.20 Hier durchdringt sich Öffentliches und Privates, Alltägliches und Gesellschaftliches. Ihre eigentliche Bedeutung aber erhalten die Stücke Galins dadurch, daß sie sich nicht in der Darstellung der letzten Jahre der sowjetischen Stagnation erschöpfen, sondern durch das Aufwerfen grundsätzlicher Fragen der menschlichen Existenz wie Angst, Einsamkeit, Krankheit und Tod einen weiten Horizont eröffnen. Dabei steht der Ernst dieser Fragen keineswegs im Widerspruch zur Komik der Form. In „Retro“ – 1981 das meistaufgeführte Stück in der Sowjetunion21 – entfalten sich der Generationenkonflikt und das Problem von Alter und Angst vor dem Tod im Rahmen einer boulevardesken Situation und gelangen gerade im Kontrast zu den komischen Szenen und lächerlichen Verhaltensweisen erst zur vollen Wirksamkeit: Der Witwer Chmutin, ein früherer Dorf-Dachdecker, der von seiner in der Stadt lebenden Tochter und ihrem Mann aufgenommen wird, fühlt sich, der vertrauten Welt entrissen, in der neuen Umgebung unbehaglich und beginnt sich zu langweilen. Es kommt zu Reibereien, Mißverständnissen, Streitigkeiten, bis die Idee entsteht, den alten Herrn wieder zu verheiraten. Der Anblick der drei versehentlich gleichzeitig auftretenden Bewerberinnen, eine Krankenschwester, eine Nachtwächterin und eine Ballerina, reißt Chmutin aus seiner Niedergeschlagenheit, ändert aber nichts an dem Entschluß, aufs Dorf zurückzukehren. Der Gegensatz zur städtischen Zivilisation und zur materialistischen Lebensweise der Jüngeren ist so beständig wie die Isolation und das Gefühl der Überflüssigkeit im Alter. Galin gibt keine Rezepte zur Lösung der zwischenmenschlichen Konflikte, noch weniger macht er Vorschläge zur Änderung der kritisch gesehenen gesellschaftlichen Zustände. Darin trifft er sich mit den anderen Autoren seiner Richtung. Sie alle beschreiben – wie einst Čechov – das Leben einfach so, wie es ist. Und schon das war, in Anbetracht der Zeitverhältnisse, etwas Neues. Es war überhaupt Čechov, der mit seinem nüchternen Blick auf das Leben und mit seiner Dialogkunst, in der das Ungesagte oft mehr ausdrückt als das Gesagte, für die in den achtziger Jahren an die Öffentlichkeit tretenden Drama-

XII. Die sowjetische Bühne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

123

tiker zum wichtigsten Vorbild wurde. In ganz besonderer Weise gilt dies für Vladimir Arro (1932), dem neben Aleksandr Galin populärsten Bühnenautor der Zeit. Der Schüler Rozovs, der über das Verfassen von Filmszenarien zum Theater kam, und neben Čechov auch Ibsen, Shaw, Bulgakov und Tennessee Williams als Vorbilder nennt, legt in seinen Stücken den Akzent – bei einem Minimum an äußerer Handlung – noch entschiedener als andere auf die inneren Vorgänge in den Figuren. Alltäglichen Konflikten ausgesetzt, die in ihrer Banalität so wenig auflösbar sind wie die großen Konflikte der alten Tragödie, verkörpern diese Figuren zutiefst gebrochene Charaktere. Weder gut noch böse, bewegen sie sich, jeglicher Schwarzweißzeichnung entzogen, zwischen den Extremen, bald von Hoffnung, bald von Hoffnungslosigkeit erfüllt, hin und her gerissen zwischen den Bindungen an das Alte und den Forderungen des Neuen. In „Sad“ (Der Garten, 1979) und „Smotrite, kto prišel“ (Seht, wer da kommt, 1981), zwei seiner vieldiskutierten, meist mit tragikomischen Zügen ausgestatteten Schauspiele griff Arro auf die Čechovschen Motive des Gartens und des Landhauses zurück, um dieses Schwanken zu veranschaulichen und an den dramatis personae die Verhaltens- und Denkweisen von Menschen seiner Zeit und seiner Generation zu analysieren. In dem einen Stück geht es um einen vernachlässigten städtischen Garten, der zur Konfrontation zweier Gruppen führt. Die eine, die „romantische“, plädiert im Namen von Schönheit, Tradition und Nostalgie für die Erhaltung, die andere, die „pragmatische“, fordert die Parzellierung, damit durch die private Nutzung der Lebensstandard des einzelnen verbessert werden kann. Argumente stehen gegen Argumente. Jeder hat recht und unrecht zugleich. In dem anderen Stück muß die Frau eines verstorbenen Schriftstellers ihre Datscha verkaufen. Der erste Interessent ist ein junger Meisterfriseur, ein erfolgreicher Aufsteiger à la Lopachin, der sich von seiner wohlhabenden Kundschaft „King“22 nennen läßt, der aber, sensibel, aufgeschlossen, vielseitig interessiert, bestrebt, die gesellschaftlich-moralischen Gegensätze zwischen den Schichten zu überwinden, den Vorschlag macht, nach Erwerb des Hauses den Angehörigen der Witwe ein Wohnrecht einzuräumen. Doch ehe der Vorschlag, der von den Familienangehörigen verächtlich zurückgewiesen wird, realisiert werden kann, stellt sich heraus, daß zwei Freunde des Friseurs, ein Barkeeper und ein Bademeister, den Kauf bereits hinter seinem Rücken getätigt haben. Der Fall dient Arro als Anlaß, erneut zwei soziale Gruppen einander gegenüberzustellen. Hier die trägen, orientierungslosen Intellektuellen, die hochmütig hinter einer morschen Fassade der Wohlanständigkeit leben, dort die energiegeladenen, frei von Skrupeln rücksichtslos nach oben drängenden Geschäftstüchtigen. Die einen entlarven sich selbst in ihrer kollektiven Überflüssigkeit, die anderen zeichnen sich durch eine an sich positive Tatkraft aus, die aber eigensüchtigen Motiven entspringt und, an die längst vergangene NĖP-Periode erinnernd, in der Spätphase der sowjetischen Gesellschaft eigentlich gar nicht mehr möglich sein dürfte. So deckte Arro die Widersprüche einer Zeit auf, von der Galin sagte: „Es war die Zeit, als

124

Das russische Drama

den Menschen ihre Würde genommen wurde, sie zu völliger Teilnahmslosigkeit am gesellschaftlichen Leben verurteilt waren.“23 Viktor Slavkin (1935), der in seinem Drama „Serso“ (Cerceau), das ab 1984 am Theater an der Taganka zum jahrelangen Erfolgsstück avancierte, gezeigt hat, wie in der statischen Epoche der Brežnev-Ära alle Auf- und Ausbruchsversuche von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, faßte die Leistung der „Neuen Welle“ so zusammen: „Die ‚Neue Welle‘ hat sich immer mit der Erforschung der Probleme des gewöhnlichen Mannes von der Straße befaßt, der morgens mit der Metro zur Arbeit fährt und abends wieder heimkehrt.“ In solchen Menschen habe sich der Zuschauer wiedererkannt, anders als in den „Akademiemitgliedern, Helden der sozialistischen Arbeit, Fabrikdirektoren, Rayonskomiteesekretären“, von denen die Literatur des Sozialistischen Realismus fast ausschließlich handelt. „Mehr noch, er hat gesehen, daß das Leben, das er lebt, dem er vielleicht nicht einmal besondere Bedeutung beimißt, voller Dramatik ist.“24 Mit der Abschaffung der Zensur zu Beginn der neunziger Jahre hatten diese Texte, die stofflich aus einer inzwischen überholten Wirklichkeit schöpften, ihre Aufgabe erfüllt. Neue Autoren traten in Erscheinung. Neben Ljudmila Razumovskaja (1946), die schon am Ende der achtziger Jahre mit „Dorogaja Elena Sergeevna“ (Liebe Elena Sergeevna) auch international bekannt geworden war und im Jahr 2000 mit „Žitie Jury Koročkina i ego bližnich“ (Das Leben Jura Koročkins und seiner Nächsten) am Beispiel einer zum Spekulationsobjekt gewordenen Gemeinschaftswohnung die wachsende Skrupellosigkeit im Prozeß der Umwandlung von Staats- in Privateigentum aufzeigt, waren dies vor allem Vladimir Sorokin (1955), Nikolaj Koljada (1957), Evgenij Griškovec (1967) und Vasilj Sigarev (1977).25 Mit ihnen begann auf der Bühne eine Ära fortschreitender Enttabuisierung in ideologischer, moralischer und ästhetischer Hinsicht. Alle Aspekte des Lebens wurden nun zur Sprache gebracht: von Armut, Krankheit und Behinderung über Sexualität, einschließlich der Homosexualität, bis zu Gewalt, Kriminalität und Drogensucht.26 Während Sorokin wie in seinen Romanen auf Schock- und Sensationswirkung zielt und durch Fäkalsprache und Sexual- und Gewaltphantasien provoziert, bleibt Koljada, der bekannteste und produktivste zeitgenössische Bühnenautor Rußlands, trotz grotesker Verfremdungen der Wirklichkeit wie in „Ujdi – ujdi“ (Geh weg, geh weg, 1999) letztlich im Rahmen eines psychologischen Realismus. Das gilt auch für Vasilij Sigarev, der in dem im In- und Ausland vielgespielten, mit dem „Anti-BookerPreis“ ausgezeichneten Stück „Plastilin“ (2000) sowie in anderen Werken die Welt sozial deklassierter, von Aggressivität, Spracharmut und Kommunikationsunfähigkeit geprägter Jugendlicher thematisiert. Inzwischen zeigen die befreienden Provokationen und kalkulierten Tabubrüche erste Abnutzungserscheinungen. Die russische Dramatik ist wieder auf der Suche nach neuen Formen. Im Land eines ins Groteske gesteigerten Kapitalismus wäre ein Bühnenautor gefordert, nach dem schon in der NĖP-Periode gerufen worden war: ein neuer Gogol’. Doch dieser ist ebensowenig in Sicht wie ein neuer Čechov.

Joachim Klein

Denis Fonvizin: Nedorosl’ (Der Landjunker) In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestand ein Hauptproblem des russischen Theaterlebens darin, daß die Produktion der einheimischen Autoren bei weitem nicht ausreichte, um die wachsende Nachfrage nach Theaterstücken zu decken. Der übergroße Teil des Repertoires mußte nach wie vor mit ausländischen, meist Werken aus Frankreich bestritten werden. Das war eine äußerst unbefriedigende Situation, und dies galt um so mehr, als sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Rußland ein zunehmender Überdruß am Vorherrschen der französischen Kultur Luft machte. Eine typische Figur des satirischen Schrifttums war der gallomane Modegeck (petit-maître) mit seiner Verachtung für alles Russische. Unter diesen Umständen formulierte Vladimir Lukin eine Forderung, die sicherlich einem großen Teil des russischen Publikums aus dem Herzen sprach: Wenn es schon so wenige Originalstücke gab und man auf Übertragungen angewiesen war, so sollten doch wenigstens die Übersetzer auf die Bedürfnisse des russischen Publikums eingehen und ihre ausländischen Vorlagen nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich russifizieren, um sie auf diese Weise „unseren Sitten anzupassen“.1 Lukin begründete seine Forderung mit Blick auf den moralischen Nutzen der Komödie: Sie könne ihre volkspädagogische Aufgabe nur dann wahrnehmen, wenn sie auch vom Leben in Rußland handle. Die Zuschauer, denen das Leben fremder Länder vorgeführt werde, hätten davon keinerlei sittlichen Vorteil; denn sie müßten denken, daß sich der Spott des Autors nicht gegen ihre eigenen Schwächen, sondern gegen die der anderen richte.2 Unter den russischen Autoren gelang es vor allem Fonvizin mit den beiden Komödien „Brigadir“ (Der Brigadier, 1769) und „Nedorosl’“3 (1782), den von Lukin formulierten Anspruch zu erfüllen. In seinen Lebenserinnerungen erzählt er, mit welchen Worten Graf Nikita Panin, sein hochgestellter Gönner und späterer Vorgesetzter, gegen Ende der sechziger Jahre seinen „Brigadir“ gelobt habe. Besonders gut habe Panin die Ehefrau des Titelhelden gefallen: „Ich sehe, sagte er mir, daß Sie unsere Sitten sehr gut kennen; denn mit der Brigadirša sind wir alle verwandt; niemand kann sagen, er hätte nicht so eine Akulina Timofeevna als Großmutter, Tante oder als Schwägerin.“4 Das Bestreben, das Besondere und Unverwechselbare des russischen Lebens zu erfassen, zeigt sich auch in „Nedorosl’“.5 In gewisser Weise konnte Fonvizin dabei an die Komödien Katharinas II. anknüpfen. Als Satiriker interessierten sich beide Autoren für ein besonderes Milieu der russischen Gesellschaft – das Milieu des traditionsverhafteten Adels. In „Brigadir“ und in Sumarokovs später Komödie „Rogonosec po voobraženiju“ (Der eingebildete Hahnrei, 1772) deutet sich dieses Thema nur an. Zur vollen Entfaltung kommt es in Katharinas erster Komödie „O vremja!“ (O Zeiten!, 1772) und dann, mit ungleich mehr Überzeugungskraft, auch in

126

Denis Fonvizin

„Nedorosl’“. Bei Katharina geht es um die rückwärtsgewandte Gesinnung des Moskauer Adels. Auf ganz ähnliche Weise handelt Fonvizins Komödie vom Landadel tief in der russischen Provinz. In „Nedorosl’“ wird damit ein Thema eingeführt, das auch in der Literatur des 19. Jahrhunderts noch eine große Rolle spielen sollte, etwa in Gogol’s Erzählung „Starosvetskie pomeščiki“ (Altväterliche Gutsbesitzer) oder in Gončarovs Roman „Oblomov“. Es ist kein literarhistorischer Zufall, wenn sich der Erzähler im Kapitel „Oblomovs Traum“ an Fonvizins „Nedorosl’“ erinnert.6 Eine Satire auf die Rückständigkeit Mit dem Milieu des altertümlichen Adelslebens entschieden sich Katharina und Fonvizin für ein Thema, wie es „russischer“ kaum sein konnte und das die Eigenart und den wunden Punkt der nationalen Kulturverhältnisse im 18. Jahrhundert zielsicher ins Auge faßte: Es ist das leidige Thema der Rückständigkeit Rußlands im Verhältnis zu den westlichen Ländern. Maßgeblich ist dabei die historische Perspektive jenes erbitterten Kulturkampfs, den Zar Peter der Große als Schöpfer eines „neuen“ Rußland zu Beginn des Jahrhunderts im Zuge seiner Europäisierungspolitik gegen die „finsteren“ Kräfte der altmoskauer Vergangenheit begonnen hatte – ein Konflikt, der auch im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts noch nichts von seiner Aktualität verloren hatte. In den Komödien Katharinas und Fonvizins findet die petrinische Kulturrevolution ihre literarische Fortsetzung. Ebenso wie Katharina fühlte sich Fonvizin als russischer Aufklärer, auch er wollte als Komödiendichter den zivilisatorischen Fortschritt seines Landes fördern. Wie im 18. Jahrhundert üblich, läßt sich die satirische Intention schon an den Namen der Helden ablesen: Prostakov (prostak = Dummkopf) und Skotinin (skot = Vieh). Der Titelheld des Stücks ist der fünfzehnjährige Mitrofan, familiär Mitrofanuška genannt, der faule und gefräßige Sohn des Hauses Prostakov. In diesem Haus lebt auch die tugendhafte und gebildete Waise Sof’ja. Nach dem Tod von Sof’jas Eltern üben die Prostakovs, die mit ihr verwandt sind, die Vormundschaftsgewalt aus. Sof’ja hat ein gutes Erbteil zu erwarten. Die Prostakova will sie daher mit ihrem geliebten Mitrofanuška verheiraten. Mitrofanuška ist allerdings nicht der einzige Bewerber um Sof’jas Hand – sein Onkel Skotinin, der Bruder der Prostakova, hat ebenfalls ein Auge auf die junge Erbin geworfen. Sof’ja liebt jedoch den jungen Offizier Milon (milyj = lieb, sympathisch), und auch Milon ist ihr aufrichtig zugetan. Das glückliche Ende kommt durch das unverhoffte Auftauchen von Sof’jas Onkel Starodum (= einer, der nach der rechten alten Weise denkt) zustande. Er erfüllt die Aufgabe eines deus ex machina: Als nächster Verwandter Sof’jas kann er über ihr Schicksal entscheiden, und der Heirat mit Milon steht nun nichts mehr im Wege. Die Funktion dieser konventionellen, nicht sehr geschickt aufgebauten, von Zufällen geprägten und mit wenig Spannung dargebotenen Liebeshandlung besteht vor allem darin, daß sie den negativen Figuren Gelegenheit gibt, sich in ih-

„Nedorosl’“ (Der Landjunker)

127

rer ganzen Dummheit und Gemeinheit auf der Bühne bloßzustellen. Einen positiven Kontrast bietet neben Sof’ja, Milon und Starodum auch Pravdin (pravda = Gerechtigkeit). Er hat mit der Liebeshandlung nichts zu tun. Als offizieller Vertreter einer aufgeklärten Obrigkeit ist es seine Aufgabe, die umliegenden Landgüter zu inspizieren und Mißstände aufzudecken. Der kompositionsbeherrschende Gegensatz der positiven und negativen Figuren zeigt sich prägnant in der Sprachgestaltung. Aus heutiger Sicht ist die volkstümlich-derbe und reichdifferenzierte Ausdrucksweise der negativen Figuren, besonders der Prostakova, ein Hauptreiz des Stücks. Die wohlgesetzte und verständige Rede der positiven Figuren wirkt dagegen farblos. Gleichwohl ruht der negative Akzent eindeutig auf der Sprache der Prostakovs und Skotinins. Sie ist Ausdruck dessen, was sich aus der Sicht des Satirikers als altmoskovitische Barbarei darstellt – auf der Bühne hört man solche Invektiven wie „Bestie“ (bestija), „Vieh“ (skot), „Mistvieh“ (sobač’ja doč’), „alte Kuh“ (staraja chryčovka), „Gaunerfresse“ (vorovskaja charja) und anderes mehr. Die Bildungsfeindlichkeit des russischen Provinzadels und des „minderjährigen“ Mitrofanuška ist ein satirisches Hauptthema des Stücks (seit der petrinischen Zeit galten alle jungen Adligen als „minderjährig“, die ihre Prüfung zum Eintritt in den Staats- oder Militärdienst noch nicht abgelegt hatten). Das gleiche Thema findet sich in Katharinas Komödie „O vremja!“, hier mit dem besonderen Akzent auf der Frauenbildung.7 In einer sprichwörtlich gewordenen Wendung will Mitrofanuška „nicht lernen, sondern heiraten“ (III, 7). Seine Mutter, die ihn abgöttisch liebt und nach Kräften verwöhnt, bestärkt ihn in diesem Wunsch. Zwar hat die Prostakova, wie es scheint, die Zeichen der neuen Zeit erkannt und für Mitrofanuška nicht weniger als drei Hauslehrer eingestellt, darunter einen Deutschen. Im Grunde aber teilt sie die Bildungsverachtung ihrer Vorfahren und unterstützt die Faulheit ihres Sohns, wobei ihr der deutsche Hauslehrer nach Kräften zur Seite steht – ein ehemaliger Kutscher, der den vielsagenden Namen Vral’man (vrat’ = schwatzen) führt und dessen schlechtes Russisch zur Erheiterung des Lesers in phonetischer Schreibweise wiedergegeben wird (in der deutschen Übersetzung von 1787 verwandelt er sich in einen Franzosen und heißt nun Du Bavard, zu Deutsch etwa: von Schwätzigen). Die Ergebnisse dieser Erziehung zeigen sich vor allem in der achten Szene des vierten Akts. Als Bewerber um die Hand der Sof’ja unterwirft sich Mitrofanuška hier auf Bitten seiner irregeleiteten Mutter einer Wissensprüfung durch Starodum. Die Szene wird zu einem der komischen Höhepunkte des Stücks: Schon mit den einfachsten Fragen aus Grammatik, Geschichte und Geographie ist der junge Held hoffnungslos überfordert und gibt – zur Genugtuung der stolzen Prostakova – die haarsträubendsten Antworten. An anderen Stellen der Komödie vergeht dem Zuschauer jedoch das Lachen, oder es vermischt sich mit Grausen. Im fünften Auftritt des dritten Akts unterhält sich die Prostakova mit Starodum und erzählt ihm – erneut in aller Harmlosigkeit – von ihrem Elternhaus: „Mein seliger Vater heiratete meine selige Mut-

128

Denis Fonvizin

ter. Sie stammte aus der Familie Priplodin [das russische Wort „priplod“ bezieht sich auf die Jungen eines Tieres, die satirische Konnotation des sprechenden Namens ist also eine „viehische Fruchtbarkeit“]. Wir Kinder waren zu achtzehn; außer mir und meinem Bruder leben durch Gottes Willen alle nicht mehr. Manche von ihnen hat man tot aus dem Badehaus gezogen. Drei sind daran gestorben, daß sie Milch aus einem Bleikessel getrunken haben. Zwei sind zur Karwoche vom Glockenturm gefallen; und die übrigen, mein lieber Herr, sind von selbst gestorben.“ Dasselbe Motiv der „viehischen Fruchtbarkeit“ findet man wiederum in Katharinas Komödie „O vremja!“8 Fonvizin gehört nicht zu den zahnlosen Satirikern, im Gegenteil. In der makaber-aggressiven Komik der zitierten Passage spürt man die haßerfüllte Atmosphäre des petrinischen Kulturkampfs. In der Sprache des 19. Jahrhunderts ausgedrückt, macht Fonvizin ausgiebig vom „Recht“ des Satirikers Gebrauch, das „Laster in seiner ganzen Widerwärtigkeit darzustellen, damit jedermann sich davon abgestoßen fühle“.9 Die negativen Figuren, allen voran die „bitterböse Furie“ Prostakova (II, 1), sind in ihrer Dummheit und Gemeinheit unverbesserlich. Man vergleiche dagegen beispielsweise Lukins Komödie „Mot, ljuboviju ispravlennyj“ (Der durch die Liebe gebesserte Verschwender), die auf den Typus der erbaulichen comédie moralisante zurückgeht. Bei Fonvizin stellt der sprechende Name Priplodin Mensch und Tier auf eine Stufe. Dasselbe gilt für den Namen Skotinin. Dieses Verfahren gehört zum traditionsgeheiligten Inventar satirischer Literatur (und alltäglichen Schimpfens). In „Nedorosl’“ fungiert es als satirisches Leitmotiv. Auf die eine oder andere Weise kommt die Wesensverwandtschaft von Mensch und Tier immer wieder zur Sprache.10 Besonders kraß zeigt sie sich an dem Gutsbesitzer Skotinin. Er hat nur ein Lebensinteresse – seine Schweine, die ihm viel mehr am Herzen liegen als jeder Mensch. Das verbindet ihn mit seinem Neffen Mitrofanuška. Seine leibeigenen Bauern beutet er bis zum letzten aus. Die Prostakova bewundert ihn wegen der Meisterschaft, zu der er es in dieser Kunst gebracht hat (I, 5). Sie selber steht ihrem Bruder jedoch kaum nach: Die feindselige Willkür, mit der sie ihr leibeigenes Gesinde behandelt, bildet ein zweites Hauptthema des Stücks und zeigt sich schon in der Eingangsszene, dort allerdings noch auf erheiternde Weise. Später stellt die Prostakova im Gespräch mit Starodum voller Empörung ihre berühmte Frage: ob man denn als Adliger noch nicht einmal das Recht habe, nach Belieben seine Leibeigenen „ein bißchen zu prügeln“ (V, 4). Besonders schwer hat es die alte Eremeevna, Mitrofanuškas frühere Amme. In dieser Gestalt zeigt Fonvizins satirische Komödie eine Affinität zur literarischen Empfindsamkeit. Die Eremeevna liebt ihren Schützling nicht weniger als dessen Mutter und ist bereit, mit Zähnen und Klauen für ihn einzustehen. Ihre Hingabe bringt ihr jedoch nur Undank ein, und die Prostakova läßt sich auch durch ihre Tränen nicht erweichen (II, 6). Etwas später beklagt sich die Alte wiederum unter Tränen: Für ihre treuen Dienste von vierzig Jahren erhalte sie von der Prostakova „fünf Rubel im Jahr und fünf Ohrfeigen am Tag“.

„Nedorosl’“ (Der Landjunker)

129

Der Einklang zwischen Staat und Literatur Mit der ungerechten Behandlung von Leibeigenen hat Fonvizin ein aktuelles Thema der Epoche aufgegriffen, das sich ebenfalls schon in Katharinas Komödie „O vremja!“ findet.11 Angesichts des adligen Widerstands hielt die Zarin die Befreiung der russischen Leibeigenen zwar für ein aussichtsloses und sogar staatsgefährdendes Unternehmen12, war jedoch der Auffassung, daß man wenigstens einen humanen Umgang mit den Leibeigenen verlangen und entsprechende Exempel statuieren sollte. Großes Aufsehen erregte im Jahre 1762 der Fall der Moskauer Gutsbesitzerin Saltykova, abfällig auch Saltyčicha genannt, die für die unmenschliche Behandlung ihrer Leibeigenen zunächst zum Tode verurteilt, dann aber mit lebenslanger Kerkerhaft bestraft wurde.13 Mit seiner Gestaltung des Themas „Leibeigenschaft“ folgt Fonvizin also der Regierungspolitik – als Adliger auch selber Besitzer von Leibeigenen (es waren über Tausend), tritt er nicht für ihre Befreiung ein, wohl aber für ihre anständige Behandlung. Daß Fonvizin in seinem Stück weithin mit der Regierungspolitik konform geht, ist kein Zufall. Die russische Aufklärung hat dem französischen Vorbild viel zu verdanken. Gleichwohl gibt es große Unterschiede. In Frankreich befinden sich Voltaire, Diderot, D’Alembert und die anderen Aufklärer in Opposition zur Regierung. Voltaire selber hatte Bekanntschaft mit der Bastille gemacht und mußte einige Jahre im englischen Exil verbringen. In Rußland dagegen fühlten sich die Schriftsteller nicht als Gegner, sondern als Bundesgenossen der staatlichen Obrigkeit. Was sie mit dieser Obrigkeit und insbesondere mit der Zarin Katharina verband, war die Tradition der petrinischen Kulturrevolution und das humanitäre Pathos der europäischen Aufklärung. Ein grundlegendes Merkmal der russischen Aufklärung ist das Bündnis zwischen „Macht und Geist“. Dieses Bündnis zerfiel erst in den letzten Jahren von Katharinas Herrschaft, besonders nach 1789, im Gefolge der Französischen Revolution. Der für die russische Aufklärung kennzeichnende Einklang zwischen Staat und Literatur erhält am Ende von Fonvizins Komödie eine besonders eindrucksvolle Bestätigung. Pravdin fungiert hier als Vollstrecker einer humanen Obrigkeit: Als sich die Prostakova in einem Anfall blinder Wut anschickt, ihr Gesinde zu mißhandeln, entzieht er ihr im Namen der Provinzregierung die Verfügungsgewalt über ihr Landgut und die dazugehörenden Leibeigenen. Gleichzeitig muß die Prostakova die Folgen ihrer übertriebenen Mutterliebe tragen. Als sie ihre wohlverdiente Strafe erhält und ins Unglück gerät, will ihr einziger Sohn Mitrofanuška nichts mehr von ihr wissen. Abermals erweist sich, daß Unbildung und Gemeinheit Hand in Hand gehen. Starodum und die petrinische Utopie Die politische Bedeutung von „Nedorosl’“ steht in engstem Zusammenhang mit der Gestalt des Starodum. Dessen Funktion beschränkt sich nicht auf die eines deus ex machina. Als Räsoneur soll er vielmehr auch die Lebensauffassungen des Autors verkünden. Dasselbe tut später Milon im Gespräch mit Starodum.

130

Denis Fonvizin

Diese umfangreichen Tiraden stehen im Zeichen von Vernunft und Tugend (was aus der Sicht der Aufklärung dasselbe ist). Sie sind durchweg kritisch-lehrhafter Natur und zielen auf die Verbesserung der schlechten Wirklichkeit. Zu solchen didaktischen Partien konnte sich Fonvizin durch das französische Vorbild ermutigt fühlen. Aber selbst vor diesem Hintergrund ist Starodum eine auffallende Erscheinung. Seine lehrhaften Ausführungen sind viel umfangreicher als die der französischen Räsoneurs, und deshalb setzte sich der Autor Fonvizin der Gefahr aus, die Geschlossenheit des literarischen Kunstwerks im Namen seiner ideologischen Ziele zu sprengen. In aller Ausführlichkeit richtet Starodum seine Lehren zunächst an Pravdin, dann an Sof’ja. Ihrerseits beschränken sich diese Zuhörer im wesentlichen darauf, daß sie ihm zustimmen und Stichwörter für weitere Ausführungen liefern. Eigentlich könnte er seine Ansichten auch in Form eines Monologs und frontal zum Publikum entwickeln. Mit Hilfe der dialogischen Einbettung, so notdürftig diese auch anmutet, wird jedoch viel nachdrücklicher als in der direkten Gegenüberstellung mit den Zuschauern die Vorstellung nahegelegt, als stünde Starodum mit seinen Auffassungen nicht allein, sondern spreche als Mitglied einer aufgeklärten Gemeinschaft. Man vergleiche dagegen später die ideologische Einsamkeit des aufgeklärten Helden in Griboedovs „Gore ot uma“ (Verstand schafft Leiden). Im Gegensatz zu Čackij ist Starodum kein romantischer Held, kein einsamer Rufer in der Wüste. Er fühlt sich als Träger einer Vernunft, die sich im Konsens der Gleichgesinnten zeigt und bewährt. Als Mitglied einer aufgeklärten Gemeinschaft kann er hoffen, das Publikum des 18. Jahrhunderts zu überzeugen. Die Tatsache, daß eine solche Gemeinschaft existiert, gibt Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Derselbe Optimismus äußert sich in dem glücklichen Ende des Stücks. Besonders deutlich zeigt sich das Moment aufgeklärter sociabilité bei Starodums Begegnung mit Milon im sechsten Auftritt des vierten Akts. Starodum erkennt sogleich die weltanschauliche Verwandtschaft, die ihn mit dem Jüngeren verbindet. Gegenüber dem rückständigen Landadel fühlen sich beide als Mitglieder einer Gesinnungspartei, die außer ihnen auch Sof’ja und Pravdin umfaßt. Und diese Partei ist um so geschlossener, als ihre Prinzipien in einer Weise verkündet werden, die jeden Zweifel ausschließt: In Rußland vollzieht sich im 18. Jahrhundert die Aufklärung nicht als dialogisch geprägter und prinzipiell offener Prozeß der Wahrheitssuche, sondern als Vermittlung von Lehrsätzen, die eine selbstverständliche Geltung beanspruchen und keiner Diskussion bedürfen. Die guten Lehren, die in Fonvizins Komödie erteilt werden, betreffen ganz unterschiedliche Gegenstände und lösen sich immer wieder vom eigentlichen Inhalt des Stücks. Oft sind sie rein moralischer Natur, in anderen Fällen spielen sie hinüber ins Politische. Das gilt vor allem für Starodums Kritik am Zarenhof. Sein Urteil ist schonungslos: Unter den Höflingen herrsche nur Habsucht, Karrierismus und Intrige; eine Aussicht auf Besserung gebe es nicht; als ehrlicher

„Nedorosl’“ (Der Landjunker)

131

Mann kehre man dieser Welt am besten den Rücken. Der Autor läßt Starodum hier die Erfahrung wiedergeben, die er selbst machte, als er während seiner Dienstzeit im Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten mehr als genug Gelegenheit hatte, das Leben bei Hofe mit allen seinen Schattenseiten kennenzulernen – für ihn war das eine „Hölle“.14 Was Starodum besonders erbittert, ist die Günstlingswirtschaft. Dieser Mißstand herrscht nicht nur am Zarenhof, sondern auch in der Armee. In seinem Gespräch mit Pravdin berichtet Starodum, wie er als junger Offizier zugunsten eines unfähigen Konkurrenten bei der Beförderung übergangen worden war. Auf den weiteren Inhalt von Starodums Auslassungen brauchen wir nicht weiter einzugehen. Wesentlich ist hier die Tatsache, daß sich mit diesen Digressionen die politische Perspektive des gesamten Stücks verschiebt. Wie schon hervorgehoben, stellt sich Fonvizin mit seiner Satire auf die Rückständigkeit des russischen Landadels in eine Tradition, die letztlich auf den petrinischen Kulturkampf und den Gegensatz des Alten und des Neuen zurückgeht. Die gleiche Perspektive äußert sich in der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts häufig – zum Beispiel in der I. Satire Kantemirs und in den satirischen Zeitschriften Novikovs. Auffällig ist Fonvizins Nähe zu Katharina II. und ihrer Komödie „O vremja!“: Hier wie dort geht es nicht nur um adlige Bildungsfeindlichkeit und „viehische Fruchtbarkeit“, sondern auch um die unmenschliche Behandlung der leibeigenen Dienerschaft. Bei Katharina fügt sich die Satire jedoch ohne Schwierigkeiten in das überkommene Gegensatzschema vom Alten und vom Neuen Rußland. Wie am sprechenden Namen des Starodum deutlich wird, liegen die Dinge bei Fonvizin jedoch nicht mehr so einfach. Starodum beharrt auf den Werten einer „guten, alten Zeit“. Für ihn ist diese Vergangenheit jedoch nicht identisch mit dem Alten Rußland der moskovitischen Epoche (das wäre die Auffassung der Prostakovs und Skotinins), sondern mit der Zeit Peters I. Sein Vater hatte dem Zaren als Offizier gedient, und er selber, Starodum, wurde im petrinischen Geist erzogen. Die Konventionen einer glatten Höflichkeit sind ihm zuwider. Er strebt nach Aufrichtigkeit und spricht ohne Umschweife, in knappen Sätzen. Seine Redeweise ist die eines Soldaten, nicht eines Höflings. Auch zählt für ihn nicht der formelle Rang eines Menschen, sondern nur dessen innerer Wert, und er spricht von einer staatlichen Ordnung, in der man allein durch Verdienst und nicht durch Liebedienerei oder Geld zum Erfolg käme. Was ihm vorschwebt, ist eine petrinische Utopie: die Alleinherrschaft des Leistungsprinzips. In der Epoche Peters I. verkörpert sich für Starodum ein Ideal, das er in kritischer Absicht der Gegenwart vorhält. Auf seine Weise reproduziert er somit den Mythos des Großen Zaren, so wie dieser von dessen eigener Propaganda geschaffen und von den nachfolgenden Regierungen in wiederum propagandistischer Absicht aufgegriffen und je nach Maßgabe der eigenen Bedürfnisse verändert wurde. Dies gilt für die Zarin Elisabeth ebenso wie für Katharina II.15 Zu der Zeit, als Fonvizin seine Komödie schrieb, strebte dieser offizielle Kult

132

Denis Fonvizin

um den Großen Zaren einem Höhepunkt zu16: der feierlichen Enthüllung von Falconets berühmtem Reiterstandbild Peters I., die am 6. August 1782 auf dem Petersburger Senatsplatz mit großem Aufwand inszeniert wurde. Die Statue trägt die lateinische und russische Inschrift „Petro Primo Catarina Secunda – Petru Pervomu Ekaterina Vtoraja“. Mit dieser lapidaren Formel präsentierte sich die Zarin ihren Untertanen als ebenbürtige Nachfolgerin des großen Vorgängers. Das war kein geringer Anspruch. De facto war Katharina jedoch davon überzeugt, daß sie ihrem Vorgänger in mancher Hinsicht nicht nur ebenbürtig, sondern auch überlegen sei. In dieser Auffassung wurde sie von ihren Anhängern bestärkt, nicht zuletzt von Voltaire, der in einem seiner Briefe an die Zarin dem „großen“ Peter die „größere“ Katharina gegenüberstellte.17 Mit der Gestalt des Starodum gibt Fonvizin seinem Publikum zu verstehen, daß er eine andere Auffassung vertritt. Er will das schöne Bild, das Katharina von ihrer Herrschaft entworfen hatte, Lügen strafen. In einem wesentlichen Punkt wendet er sich somit gegen die offizielle Propaganda. In letzter Instanz läuft dies auf einen politischen Affront gegen die Zarin hinaus. Unter den positiven Gestalten der Komödie findet man außer Starodum jedoch auch Pravdin, der am Ende des Stücks als Vertreter einer gerechten Obrigkeit auftritt. Molières „Tartuffe“ schließt auf eine ganz ähnliche Weise, und ein solches Ende findet sich auch in der satirischen Komödie „Jabeda“ (Die Prozeßschikane, 1798) von Fonvizins talentiertem Nachfolger Vasilij Kapnist. Hier wie dort handelt es sich keineswegs um eine dramaturgische Verlegenheitslösung; vielmehr äußert sich im Auftreten des deus ex machina bei allen drei Autoren die Hoffnung auf eine wohlwollende und gerechte Obrigkeit, die wie eine Vorsehung über ihren Schutzbefohlenen wacht – eine Hoffnung, die auch Fonvizin offenbar noch nicht verloren hatte. Bei Griboedov wäre ein solches dénouement schon nicht mehr überzeugend gewesen. Insgesamt ergibt sich so ein zwiespältiges Bild: Das Bündnis von Geist und Macht wird von Fonvizin nicht aufgekündigt, aber es zeigen sich die ersten Risse. In den letzten Jahren von Katharinas Regierung sollten sich diese Risse vertiefen. Man befand sich nun am Anfang einer Entwicklung, die im Dezember des Jahres 1825 in dem sogenannten Dekabristenaufstand aufgeklärter Offiziere auf dem Petersburger Senatsplatz gipfeln sollte. Nur ein politischer Skandal? Man kann vermuten, daß Fonvizins kritische Haltung gegenüber der Regierung Katharinas II. seinerzeit an höchster Stelle zur Kenntnis genommen wurde. Fonvizins frühere Komödie „Brigadir“ war bei Hofe, am Ende der sechziger Jahre, noch mit Begeisterung aufgenommen worden. Davon konnte jetzt nicht mehr die Rede sein (das gilt trotz der apokryphen Anekdote von Potemkin, der nach der Aufführung von „Nedorosl’“ zu Fonvizin gesagt haben soll: „Stirb jetzt, Denis, oder schreib nichts mehr!“18). Ursprünglich war geplant, die Premiere im Petersburger Hoftheater stattfinden zu lassen19; dies aber ließ sich vor-

„Nedorosl’“ (Der Landjunker)

133

erst nicht verwirklichen. Die Gründe sind nicht ganz klar. Es scheint jedoch, als habe es Widerstände seitens der Hofgesellschaft gegeben, die sich durch die Tiraden des Starodum angegriffen fühlte. Ein Zeitgenosse spricht von „bösen Pfeilen“, die von „allen Seiten“ auf das Stück abgeschossen worden seien.20 Mit einiger Verzögerung wurde es dann am 24. September 1782 an einem anderen Ort aufgeführt, auf der Bühne eines Petersburger Theaterunternehmers, und zwar mit großem Erfolg. Die begeisterten Zuschauer warfen ihre Geldbörsen auf die Bühne.21 Im Vorfeld der Moskauer Erstaufführung gab es jedoch erneut Schwierigkeiten, die diesmal vom örtlichen Zensor ausgingen. Dagegen konnte Fonvizin geltend machen, daß es für die Petersburger Aufführung eine „schriftliche Erlaubnis der Regierung“ gegeben hatte22 (was ein Licht auf die aufgeklärte Toleranz wirft, die in den Jahren vor der Französischen Revolution im Zeitalter Katharinas II. noch herrschte). So konnte die Moskauer Aufführung nach einigem Hin und Her am 14. Mai 1783 doch noch stattfinden, wiederum mit großem Erfolg. Jahre später, am 1. September 1787, wurde das Stück endlich auch im Petersburger Hoftheater gegeben, und zwar in Gegenwart der Zarin. Man kann jedoch annehmen, daß Katharinas politische Langmut in dieser Aufführung nicht allzusehr auf die Probe gestellt wurde; denn offenbar hatte zu dieser Zeit schon jene „Tradition der Kürzungen“ eingesetzt23, die für die weitere Aufführungsgeschichte von „Nedorosl’“ kennzeichnend sein sollte. Über diese Praxis hat Fonvizin selbst bittere Klage geführt. Anhand eines erhaltenen Regieexemplars läßt sich feststellen, welche Partien des Textes betroffen waren. Wie man sich denken kann, waren das an erster Stelle die Auftritte des Starodum, wobei es freilich nicht ganz klar ist, ob und in welchem Maße diese Kürzungen politisch oder vielleicht auch ästhetisch begründet waren. Im letzteren Fall hätte man die „didaktische Prosa“ des Starodum einfach als „langweilig“ empfunden.24 Allerdings gilt es, die historische Perspektive zu beachten. Es ist ja keineswegs ausgemacht, daß jener Verdruß, den ein modernes Publikum bei den Ausführungen des Starodum empfindet, von den russischen Zuschauern des 18. Jahrhunderts geteilt wurde. Im Gegenteil: Fonvizin war davon überzeugt, daß er den Erfolg seiner Komödie der Gestalt des Starodum verdanke, dem das Publikum „heute noch mit Vergnügen lauscht“.25 Auch hatte der seinerzeit führende und mit Fonvizin befreundete Schauspieler Ivan Dmitrevskij die Rolle des Starodum für interessant genug gehalten, um sie in der Petersburger Uraufführung, einer Benefizveranstaltung zu seinen Gunsten, selber zu übernehmen – der Erfolg gab ihm recht. In den folgenden Jahrzehnten haben sich russische Autoren die Gestalt des Starodum denn auch häufig zum Vorbild genommen: Von allen Figuren des Stücks hatte sie die „zahlreichste literarische Nachkommenschaft“.26 Andererseits gilt es jedoch hervorzuheben, daß Starodums Beispiel bei den bedeutendsten Nachfolgern Fonvizins auf dem Gebiet der satirischen Bühnenkunst im 18. Jahrhundert keine Schule gemacht hat, eher im Gegenteil. Das gilt nicht nur für Knjažnin, sondern auch für Kapnist. Daß Kapnist mit „Jabeda“ in

134

Denis Fonvizin

der Nachfolge Fonvizins steht, ist nicht zu verkennen. Der Gegenstand seiner Satire ist die Korruption der Rechtspflege in der russischen Provinz – ein Thema, das sich auch für ihn mit der Vorstellung vorpetrinischer Rückständigkeit verbindet. Ebenso wie Fonvizin orientiert sich Kapnist am Ideal eines Neuen Rußland. Vom glücklichen Ausgang seiner Komödie war schon die Rede: Auch hier ist er dem Eingreifen einer aufgeklärten Obrigkeit zu verdanken. Andere Gemeinsamkeiten betreffen einzelne Motive und Figuren. Die Ehefrau des Richters zum Beispiel ist eine offenkundige Verwandte der „bitterbösen Furie“ Prostakova. Um so auffälliger sind andererseits die Unterschiede der formalen Gestaltung. Aus dieser Sicht erscheint „Jabeda“ als Versuch, einer gattungsgeschichtlichen Fehlentwicklung gegenzusteuern. In deutlicher Abkehr von Fonvizin und ebenso wie vor ihm schon Knjažnin orientiert sich Kapnist an der geschlossenen Form der grande comédie. Jene Tendenz zur ästhetischen Aufwertung der Komödie, die sich in Lukins Fünfakter „Mot, ljuboviju ispravlennyj“ abgezeichnet hatte, setzt sich bei Kapnist fort. Er schreibt nicht mehr in Prosa, vielmehr in Versen wie Knjažnin, und er verwendet große Sorgfalt auf die Handlung seines Stücks, die bei ihm nicht nur als kompositorisches Vehikel fungiert, sondern in ihrem Aufbau auf entscheidende Weise zur Verwirklichung der satirischen Intention beiträgt. Das Didaktische liegt auch Kapnist nicht fern, aber er vermeidet lehrhafte Abschweifungen, womit er die Kritik des 19. Jahrhunderts an den didaktischen Exzessen Fonvizins vorwegnimmt. Mit seiner Komödie hatte Fonvizin auf eklatante Weise gegen das klassizistische Formbewußtsein verstoßen, so wie es im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts auf eine auch für Rußland maßgebliche Weise begründet worden war. Bei Knjažnin und bei Kapnist bringt sich dieses Formbewußtsein erneut und mit Nachdruck zur Geltung. Aus dieser Perspektive konnten die Tiraden des Starodum auch schon im 18. Jahrhundert nicht nur als politischer, sondern auch als ästhetischer Skandal empfunden werden.

Witold Kośny

Aleksandr Griboedov: Gore ot uma (Verstand schafft Leiden) In seiner kritischen Studie „Mil’on terzanij“ (Millionen Qualen, 1872) hat Ivan Gončarov der gesellschaftskritischen Komödie „Gore ot uma“ in der virtuellen Ruhmeshalle der russischen Literatur einen Platz zugewiesen, den sie nie werde räumen müssen.1 Mit seiner Autorität bestätigte der Verfasser von „Oblomov“ die ungebrochene Popularität des Stücks und trug entscheidend zu dessen Kanonisierung bei. „Gore ot uma“ steht am Beginn der modernen Lustspielgeschichte Rußlands und gehört neben Gogol’s „Revizor“ (Der Revisor, 1835) zu den meistgespielten Komödien. 1824 fertiggestellt, wurde das Stück zunächst in Abschriften, Autorlesungen und privaten Inszenierungen verbreitet und fand bald in publizistischen und epigrammatischen Auseinandersetzungen eine breite öffentliche Resonanz.2 Nach der Uraufführung im Jahr 1831 gelangte es ins ständige Bühnenrepertoire und gehört seit 1861 bis auf den heutigen Tag zur schulischen Pflichtlektüre. Es gilt als kaum zu überbietender Höhepunkt der russischen Verskomödie und als „Muster der russischen künstlerischen Sprache“3. Aus den in freien Jamben verfaßten Dialogen sind zahlreiche Aphorismen, Epigramme und Sentenzen in den alltagssprachlichen Gebrauch eingegangen.4 Die Eigennamen einiger dramatischer Figuren dienen zur Bezeichnung bestimmter Charakter- und Verhaltenstypen. Der Fabelverlauf: Der junge Adlige Čackij kehrt nach dreijähriger Abwesenheit nach Moskau zurück und eilt geradewegs ins Haus des zur Elite der Stadt gehörenden Aristokraten Famusov, um dessen Tochter Sof’ja seine noch nicht erloschene Liebe zu bekennen. Sof’ja hat sich inzwischen einem anderen zugewandt, dem armen, nichtadligen Molčalin, der dem Vater als Sekretär dient. Während der Zuschauer von Anfang an um diese Liebschaft weiß, bleibt der aufklärerischen Ideen völlig hingegebene Čackij erstaunlich lange ahnungslos. Selbst als ihm Sof’ja ihre neue Liebesbeziehung eingesteht, kann und will er nicht glauben, daß sie einem Kriecher und Weichling den Vorzug und ihm selbst als einem aufrechten und mannhaften Menschen den Laufpaß geben könnte. Erst in der vorletzten Komödienszene erkennt er, daß sie ihn nicht liebt, mehr noch, daß sie das im Salon des Hauses Famusov während eines Balls begierig aufgenommene und genüßlich weitergereichte Gerücht in Umlauf gebracht hat, er – ein Adept der allmächtigen Vernunft – sei nicht ganz bei Verstand. Daß die Moskauer Gesellschaft Čackij für einen Geisteskranken hält, liegt daran, daß er sich von Beginn an mit allen anlegt: Von der hohen moralischen Warte rationalistischer Anschauungen aus attackiert er schonungslos die persönlichen und gesellschaftlichen Schwächen seiner selbstzufriedenen Umwelt. Diese, aus ihrer Ruhe und Ordnung aufgeschreckt, reagiert auf bezeichnende Art: Den gefährli-

136

Aleksandr Griboedov

chen, von der öffentlichen Meinung abweichenden Außenseiter erklärt sie kurzerhand zum anormalen Eindringling. Der von Sof’ja und ihrer Entourage enttäuschte und verletzte Čackij zieht aus seinem doppelten Scheitern die Konsequenz und kehrt Moskau den Rücken. Die langandauernde, immer wieder aktualisierte literarische und politische Brisanz ist der Komödie selbst und dem Zeitpunkt ihres Erscheinens zu verdanken. Mit Griboedovs „Gore ot uma“ wurde die literarische Öffentlichkeit bekannt, als die Auseinandersetzung zwischen Klassizisten und Romantikern gerade entbrannt war. Da das Stück in vielfacher Hinsicht die noch dominierenden Vorstellungen einer klassizistischen Poetik verletzte, wurde es von den Anhängern der Romantik wegen seines aufbegehrenden jungen Helden und trotz des scheinbar noch ungebrochenen aufklärerischen Impetus zu einem beispielhaften Werk der neuen Schule erklärt und geriet somit ins Schußfeld der literarischen „Altgläubigen“. Die Komödie erschien zudem am Vorabend des Dekabristenaufstands (1825) in einer nervösen und explosiven gesellschaftlichen Atmosphäre von Krise und Kritik. Ihre Dialoge bezogen sich auf tagesaktuelle, öffentlich und in Geheimbünden diskutierte politische und soziale Themen. Dabei zeichnet sich Čackij, der als alter ego des Autors verstanden wurde, in seinen Tiraden und bissigen Repliken als scharfsichtiger und scharfzüngiger Ankläger herrschender Denkweisen und Machtstrukturen aus. Die Zensurbehörden nahmen dies zum Anlaß, die umstrittene Komödie auf den Index zu setzen und sie weder drucken noch aufführen zu lassen. Von einem fragmentarischen Abdruck in dem Theateralmanach „Russkaja Talija“ (Russische Thalia) und wenigen Liebhaberaufführungen abgesehen, erreichte „Gore ot uma“ zu Lebzeiten Griboedovs weder die Druckpresse noch die Theaterbühne. Das Renommee einer verbotenen Frucht ließ das Interesse des engeren Kreises von politischen und literarischen Parteigängern und Gegnern auf ein breiteres Publikum überspringen, dessen Wißbegier durch mündliche Propaganda angefacht und durch die organisierte Anfertigung und Verbreitung handschriftlicher Exemplare gestillt wurde. Erst die Druckfreigabe in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts beendete die halblegale Distribution. Die frühzeitig zum Klassiker gestempelte Komödie zeigte sich den wechselnden literarischen und gesellschaftlichen Epochen und Publikumsschichten gegenüber erstaunlich resistent. Das verdankte sie der seit der Entstehungszeit vorherrschenden instrumentalen Lesart, die ästhetische Gesichtspunkte zugunsten weltanschaulicher, politischer und moralischer Aspekte zurückstellte und zu periodisch wiederkehrenden Aktualisierungen führte. Das Augenmerk der Intelligenz unterschiedlicher Couleur richtete sich vor allem auf Čackij, der je nach Argumentationsbedarf als Umstürzler oder Maulheld, als Slavophiler oder Westler, als Konservativer oder Liberaler, als echter russischer Mensch oder als Kosmopolit beansprucht wurde. Oft setzte man den Protagonisten in Beziehung zur Biographie des Autors Griboedov, der, anders als die von ihm entworfene Figur, nicht gegen das bestehende System aufbegehrte, sondern darin eine bis

„Gore ot uma“ (Verstand schafft Leiden)

137

zum Ministeramt führende Beamtenkarriere einschlug, also eher Molčalin, dem dienstbaren Aufsteiger, entsprach. Die Alternative Čackij oder Molčalin als zwei mögliche Verhaltensweisen des russischen Intelligenzlers einer repressiven staatlichen Macht gegenüber gab der publizistischen wie auch der theatralischen und literarischen Rezeption wiederholt Anlaß, die Komödie nicht als Abbild einer historischen Epoche zu konservieren, sondern auf ihre Gegenwartsbezogenheit hin zu deuten.5 „Gore ot uma“ als Thema und Entwurf Der russische Titel der Komödie ruft mit den polysemen Wörtern „um“ (Vernunft, Verstand, Denkvermögen, gesunder Menschenverstand)6 und „gore“ (Gram, Kummer, Leid, Leiden, Unglück, Unheil) den kulturellen Kontext von Aufklärung und Rationalismus auf, die mit dem Fortschreiten der Vernunft persönliches Glück und allgemeines Wohl zu sichern glaubten. Zugleich prognostiziert er, daß sich dieser enge Konnex hier zumindest als suspekt, wenn nicht gar als falsch erweist. Der Fabelverlauf bestätigt, daß nicht nur Čackij als der Verstandesmensch und Aufklärer Leid erfährt und den anderen Kummer bereitet, auch die anderen, mit jeweils unterschiedlichem Denkvermögen ausgestatteten Personen sind keineswegs gegen Unglück gefeit: Sof’ja wird von ihrem Liebhaber Molčalin getäuscht, Molčalin erwartet der Hinauswurf, und Famusov, der Herr des Hauses, fürchtet am Ende den Verlust an öffentlichem Ansehen: „Was wird nur Fürstin Mar’ja Alekseevna dazu sagen?“ (IV, 15). Über die strukturbildende Funktion von „um“ gibt ein Brief Griboedovs an Pavel Katenin vom Januar 1825 Auskunft: „Ein keineswegs dummes Mädchen zieht einen Toren einem klugen Menschen vor (nicht etwa, daß Klugheit bei uns Sterblichen üblich wäre, nein! auch in meiner Komödie gibt es 25 Dummköpfe auf einen vernünftig denkenden Mann); und dieser Mann sieht sich in Widerspruch zu der ihn umgebenden Gesellschaft, niemand versteht ihn, niemand verzeiht ihm, daß er ein wenig über den anderen steht.“7 Čackij steht als einzelner der ihn umgebenden Gesellschaft gegenüber, die ihm, dem Vertreter der Vernunft, mit Unverständnis und Feindlichkeit begegnet. Was ihn von den anderen Teilnehmern des Konflikts zwischen Vernunft und Unvernunft – Famusov, Skalozub, Molčalin, aber auch Sof’ja, die Čackij durch das von ihr gestreute Gerücht den Ballgästen ausliefert – unterscheidet, ist nicht das Denkvermögen, über das diese Personen auch verfügen, sondern seine Gesinnung. Am Schluß seines Monologs „Ein Franzmann aus Bordeaux…“ bekennt er, „sich zu erkühnen“, Mißverhältnissen mit Kritik zu begegnen und seine „gesunden Ideen […] öffentlich zu verkünden“ (III, 22). Das ist eine deutliche Erinnerung an die Aufforderung, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“, die Kant seiner Definition der Aufklärung folgen läßt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Un-

138

Aleksandr Griboedov

mündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“8 Čackijs Antagonist in dem „Kampf der beiden Lager auf Leben und Tod“9 ist, so gesehen, nicht Famusov, der Statthalter des „vergangenen Zeitalters“ (II, 2) und Besitzstandswahrer, sondern der „selbstverschuldet unmündige“ Molčalin, dessen Name bereits anzeigt (molčat’ = schweigen), daß nicht Lautdenken seine Sache ist, sondern Schweigen. Der laut Čackij „Sprachlose“10 wagt es nicht, ein eigenes Urteil zu äußern. Und der aus dem Aufeinandertreffen von Vernunft und Unvernunft entstehende Meinungsstreit ist nicht allein als Generationenkonflikt zu verstehen, er erfaßt die gesamte Moskauer Gesellschaft. Ihr Verzicht, sich des Verstands „ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, ist evident bei der Ausbreitung des Gerüchts über Čackij, das von den Ballgästen gerne aufgegriffen wird, weil es die eigenen Vorurteile bedient, ein selbständiges Urteil erspart und als öffentliche Meinung den Störenfried ins soziale Abseits stellt. Griboedov hat – in dem zitierten Brief an Katenin – Sof’ja als ,,nicht dumm“ bezeichnet und aus der Schar der „Famusovščina“ herausgehoben. Die aus klassizistischer Sicht geäußerte Kritik Puškins, daß diese Gestalt keinem Rollenfach zuzuordnen sei („weder eine Nutte noch eine Moskauer Kusine“11), wird ihr insofern nicht gerecht, als sie sich intellektuell, emotional und dramaturgisch als gleichwertige Partnerin Čackijs und als seine Gegenspielerin in dem Konflikt zwischen Herz und Verstand erweist, auf den der Held selbstkritisch anspielt: „So sind denn meine Worte immer ätzend? / Und wirken auf die anderen verletzend? / Wenn dem so ist, dann sind Verstand und Herz im Streit“ (I, 7). Aus der unterschiedlichen Gewichtung von Gefühl und Verstand erklärt sich Sof’jas Entscheidung für Molčalin und Čackijs Unverständnis für diese Wahl. Sof’ja projiziert auf Molčalin das Ideal eines zurückhaltenden, bescheidenen und verständnisvollen Liebhabers; Čackijs analytischen und kritischen Verstand legt sie – nicht ganz zu Unrecht – als Herzlosigkeit aus.12 Čackij erkennt in Molčalin nur heuchlerische Liebedienerei und berechnende Dienstfertigkeit und einen unwürdigen Mann, den Sof’ja nicht lieben könne. Sein Mangel an Empathie hindert ihn daran, Sof’jas Verhalten zu begreifen. Beide scheitern am Ende mit ihren Entwürfen. Čackijs fluchtartige Abreise, um „auf Erden einen Winkel dem beleidigten Gefühl zu suchen“ (IV, 14), kann als Eingeständnis der bei ihm fehlenden Harmonie von Herz und Verstand gelesen werden, auf deren Suche er sich nunmehr begibt.13 Anders als der Misanthrop Alceste in Molières Komödie, mit der „Gore ot uma“ wiederholt verglichen worden ist14, scheint Čackij durch sein Wissen um die Grenzen der Vernunft nicht unbelehrbar zu sein. Konflikte und Handlung Den Handlungszusammenhang für das Austragen der beiden Kontroversen liefert ein für Komödien unerläßlicher Liebeskonflikt. Seine Teilnehmer – Sof’ja,

„Gore ot uma“ (Verstand schafft Leiden)

139

Molčalin, Čackij und Famusov – gehören jeweils zu den Akteuren. Schürzung und Lösung der Liebesgeschichte entsprechen nicht ganz den üblichen Gattungserwartungen. Dem verliebten Paar, Sof’ja und Molčalin, stehen als Rivale Čackij und als Widersacher Famusov gegenüber, der als Vater des Mädchens einen dritten Bewerber, den hohen Militär Skalozub, ins Feld führt. Die Entscheidung, welcher Kandidat reüssiert, bleibt bis in die letzten Szenen des Stücks in der Schwebe. Als sich dann Sof’ja von Molčalin und Čackij von Sof’ja getäuscht sieht, endet alles im Desaster. Sof’jas bereits am Anfang des Stücks getroffene Vorausdeutung, daß „schon an der nächsten Ecke das Unheil wartet“ (I, 5), erfüllt sich spätestens hier. Die äußere Einteilung in vier Akte mit einem Zwischenvorhang nach III, 3 korrespondiert nicht mit der inneren Gliederung des Handlungsablaufs, die rudimentär einem Fünfakter folgt.15 Die klassizistischen Einheiten von Zeit und Ort werden strikt eingehalten. Was aber die Konzentration auf die einheitliche Handlung betrifft, so weicht Griboedov von der Forderung der normativen Poetik ab. Mit dem Liebeskonflikt und dem Konflikt zwischen Čackij und der Moskauer Gesellschaft gibt es zwei einander gleichberechtigte Handlungsstränge, die nicht parallel verlaufen, sondern durch die an beiden Konflikten maßgeblich beteiligten Figuren miteinander verknüpft sind. Dem Vorwurf der Klassizisten, es fehle der Aufbau einer ganzen Handlung, weil die einzelnen Teile nicht zielgerichtet auf den Schluß hin geordnet seien, ist Griboedov mit dem Bekenntnis zu einer größeren Natürlichkeit des Handlungsverlaufs und wirksameren Spannungserzeugung begegnet: „So wie es in der Natur aller Ereignisse, der kleinen und der wichtigen, liegt: Je überraschender, desto mehr Neugier nehmen sie in Anspruch. Ich schreibe für jene, die mir gleichen, und ich gerate ins Gähnen, wenn ich aus der ersten Szene die zehnte errate, und ich mache, daß ich aus dem Theater komme.“16 Und in der Tat, was in den ersten Szenen als stereotype Komödienhandlung beginnt, wird im weiteren Verlauf durch das Anhäufen von Hindernissen in Gestalt von Gegenspielern des Liebespaares und durch weltanschaulich diskrepante Ansichten stetig kompliziert, um dann schließlich durch eine an einen coup de théâtre erinnernde Lauschszene ein unerwartetes Ende zu finden, in dem keine Entscheidungen fallen. Ein solcher Schluß verzichtet auf die normative Forderung nach Auflösung der Konflikte im Sinne der ,,poetischen Gerechtigkeit“, wodurch ,,alle ethischen Konflikte im Dramenausgang durch die Belohnung der normkonformen und die Bestrafung der die Norm verletzenden Figuren entschieden werden.“17 Im dramaturgischen Sinne entbehrt „Gore ot uma“ nicht der Handlung, wenn auch die Überführung der Ausgangs- in die Endsituation nicht den intendierten Zielen der Hauptfiguren entspricht. So zielt die Absicht Čackijs, seine Umgebung zu überzeugen, ins Leere, und im Liebeskonflikt ist weder er noch ein anderer erfolgreich. Diese Erfolg- und Aussichtslosigkeit hat bereits Zeitgenossen bewogen, der Komödie Handlungslosigkeit zu unterstellen. Dem arbeitet auch

140

Aleksandr Griboedov

die häufige narrative Vermittlung von Außerszenischem zu. In den monologartigen Repliken von Čackij, Famusov oder Repetilov, die vor allem der satirischen Anklage oder Selbstentlarvung dienen, werden Raum und Zeit zum Nachteil der szenischen Handlung episch erweitert. Porträts, Charaktere und Typen Anders als die hohe Zahl von Bedeutungsnamen nahelegt, folgt Griboedov auch in der Figurendarstellung nicht ausschließlich alten Vorbildern. Auf den Einwand seines Freundes und klassizistischen Kritikers Katenin, daß die ,,Charaktere porträthaft“ seien, antwortete er selbstbewußt: „Jawohl! Und wenn ich auch nicht das Talent eines Molière besitze, so bin ich doch wenigstens aufrichtiger als er; Porträts und nur Porträts gehören zum Bestand von Komödien und Tragödien, darin finden sich trotz allem auch Merkmale, die vielen anderen Personen eigen sind oder sogar der menschlichen Art insgesamt, insofern nämlich, als jeder Mensch seinen zweibeinigen Genossen ähnlich ist. Karikaturen hasse ich, in meinem Gemälde findest Du nicht eine einzige. Da hast Du meine Poetik […] Noch eines möchte ich zu den Charakteren Molières bemerken: ‚Der Bürger als Edelmann‘, ‚Der eingebildete Kranke‘ sind Porträts und ganz hervorragende; ‚Der Geizige‘ ist ein Anthropos eigener Machart und unerträglich.“18 Griboedov benutzt einen der zentralen Vorwürfe klassizistischer Poetiken gegen eine unzureichende Charakterdarstellung, die Porträthaftigkeit der Figuren, als Grundlage seiner Figurenkonzeption. Unter Porträt verstanden die Klassizisten die Darstellung eines vereinzelten, partikularen Benehmens, die künstlerisch weniger wertvoll sei als der Charakter, der eine verbreitete, allgemeine Verhaltensweise repräsentiert. Dem Porträt wurden die Eigenschaften real, aber nicht ideal, dem Charakter dagegen die Merkmale ideal, aber nicht real zugeordnet. Um es mit einem in der aufklärerischen ,,L’Avare“-Diskussion gängigen Vergleich zu verdeutlichen: Das Porträt war die Abbildung eines geizigen Mannes, der Charakter verkörperte dagegen die Leidenschaft des Geizes. In „Gore ot uma“ liegen den als Porträts gestalteten Figuren überlieferte literarische Typen zugrunde, die durch soziale, psychologische und sprachliche Differenzierung gleichsam individualisiert werden. Bei Čackij greift Griboedov auf den Typus des „Vernünftlers“ (umnik) zurück, eines jungen Mannes, der, modischen Ideen verfallen, sich durch seine Kritteleien und Boshaftigkeiten gegen die Gesellschaft und ihre Mitglieder ins Abseits stellt. Vom satirischen Objekt eines maliziösen Schwadroneurs früherer russischer Komödien wandelt er sich in „Gore ot uma“ zum positiv besetzten sprachgewaltigen und liebesfähigen Satiriker, dessen Reden und Verhalten ihn zum Dekabristen stilisieren.19 Sof’ja, die auf die Rolle der ersten Liebhaberin aus der Typenkomödie zurückgeht, erhält charakteristische Merkmale einer Sentimentalistin, von der sie sich durch den emanzipatorischen Impetus ihres Auftretens gegen die Vorstellungen ihres patriarchalischen Vaters und des ihre Zuneigung stürmisch einfordernden Liebhabers Čackij absetzt. Famusov ist der père de famille aus den Dramen

„Gore ot uma“ (Verstand schafft Leiden)

141

eines Diderot oder Mercier, der seiner Familie aber nicht mehr das Glück sichern kann, weil er in diesen Zeiten der Unruhe sogar im eigenen Haus die Orientierung verloren hat. Molčalin, der Typus eines betrügerischen Liebhabers und opportunistischen Sekretärs beruft sich auf die Tugenden „Mäßigkeit und Akkuratheit“ (III, 3), die den der russischen Bürokratie dienenden Deutschen nachgesagt wurden. Skalozub, der an den miles gloriosus, den bramarbasierenden Krieger der antiken Komödie, erinnert, wird als militärische Stütze des Arakčeev-Systems aktualisiert. Die im Vergleich zu früheren russischen Komödien höhere Textkomplexität kann man besonders gut an der Zahl der Funktionen ermessen, die dem Haupthelden Čackij zufallen. In der ersten originalrussischen gesellschaftssatirischen Komödie, Fonvizins „Nedorosl’“ (Der Landjunker, 1782), deren Erbe schon im Verständnis der Zeitgenossen „Gore ot uma“ angetreten hatte, werden die Funktionen, die Čackij allein in sich bündelt, auf drei Figuren verteilt. Starodum und Pravdin sind Träger der ideologischen und moralischen Norm, von der aus das Geschehen und das Verhalten der Figuren bewertet werden, Milon spielt im Liebeskonflikt die Rolle des Liebhabers. Čackij ist nicht nur Verkünder der Norm und der daraus fließenden Urteile, sondern nimmt auch am Liebeskonflikt teil. Die in der zitierten Briefstelle aufgestellte Behauptung Griboedovs, in seiner Komödie fänden sich keine Karikaturen, trifft nicht auf alle Figuren zu. Unter den zahlreichen Ballgästen gibt es um der komischen und satirischen Wirkung willen in Aussehen, Manieren und Sprache hyperbolisch deformierte Gestalten. Dazu ist die Familie des schwerhörigen Fürsten Tugouchovskij zu rechnen, von dem nur unartikulierte Laute zu hören sind, und dessen Ehegespons für die verschrobenen sechs Töchter unter den Anwesenden nach Heiratskandidaten Ausschau hält. Der im Text insgesamt gesehen tatsächlich nur geringen Karikaturhaftigkeit der Figuren hat die Theatertradition durch Maske und Kostüm nachgeholfen und auf Figuren ausgedehnt, die vom Autor anders konzipiert worden sind. Zwischen Klassizismus und Romantik „Gore ot uma“ wurde im selben Jahr bekannt, in dem Vjazemskijs Vorwort zu Puškins Poem „Bachčisarajskij fontan“ (Der Springbrunnen von Bachčisaraj) erschien und einen Höhepunkt in der Auseinandersetzung zwischen Klassizisten und Romantikern markierte. An den offensichtlichen Abweichungen vom klassizistischen Regelwerk der Griboedov-Komödie schieden sich die in Streit geratenen Geister: Für die einen gehörte sie zur neuen romantischen Dichtung, andere hielten sie für ein mißglücktes klassizistisches Werk. Die Nähe zur Romantik äußert sich am augenfälligsten im rebellischen und selbstreflexiven Čackij, dem leidenschaftlich gegen die feindliche Gesellschaft aufbegehrenden Individuum. In ihm verkörpert sich der romantische Kult der Jugend, dem das Alter als Hort des Stillstands und Rückschritts gilt. An Čackij zeigen sich auch bereits Symptome des (romantischen) Krankens an der Gesellschaft. Als ihm eröffnet

142

Aleksandr Griboedov

wird, er sei krank, akzeptiert er diese Diagnose, allerdings anders als sie gemeint war: „Ja, unerträglich die Millionen Qualen / Der Brust durch freundschaftlich Umarmen, / Den Füßen durch das Scharren, den Ohren durch entzücktes Kreischen, / Dem Kopf am ärgsten durch das blöde Geschwätz. (Nähert sich Sof’ja) Hier fühlt mein Geist von Leid sich eingeengt. / Verloren bin ich in der Menschenmenge, nicht mehr ich selbst. / Nein! Moskau kann mich nicht zufrieden stellen“ (III, 22). Čackij beschreibt seine Krankheit nicht als Verrücktheit, wie das Gerücht lautet, sondern als psychische Empfindung der „Einsamkeit in der Menge“ und als Entfremdung vom eigenen Ich, die körperlichen Schmerz verursachen. Die Andersartigkeit gilt ihm als Zeichen richtigen Verhaltens: „Ich, sonderbar? Wer ist es nicht? / Der, der allen Dummen ähnlich sieht!“ (III, 1). Wer sich in diese Gesellschaft integrieren läßt, geht als Individuum verloren. Neben diesen thematischen und motivischen Reminiszenzen in der dargestellten Welt bekunden auf der Ebene der Darstellung zahlreiche Verfahren die Auflösung rigider klassizistischer Vorstellungen: die Mehrsträngigkeit der Handlung, die Episierung durch narrative Vermittlung außerszenischer Welten, die Suspension der Entscheidungen und die Ambivalenz der Lösung, die Umdeutung des zu erwartenden guten Schlusses durch das Scheitern des Helden und die ausbleibende poetische Gerechtigkeit, was zur Schwächung der Komik und zum Eindringen von Ernst und Pathos führt. Die aufgeführten Merkmale reichen aber nicht aus, um das Stück der Romantik zuzuordnen. Wie die Gestaltung von Figuren, Handlung oder Vers zeigen, bewegt sich der Text zwischen Erfüllung und Verletzung des normativen Regelwerks, wobei die alte Poetik nicht ersetzt, sondern nur teilweise neu interpretiert wird. Sein Autor erweist sich als ein den neuen Tendenzen gegenüber aufgeschlossener Klassizist. Puškins kritische Einwände zeigen, daß auch er Griboedovs satirische Gesellschaftskomödie als ein im Grunde der alten Poetik verpflichtetes Werk gelesen hat. Sein „Evgenij Onegin“ annonciert bereits durch den Untertitel „Roman in Versen“ den Bruch mit der herrschenden Gattungserwartung. Griboedovs Wahl dagegen, seine Komödie in Versen (und nicht in Prosa) zu schreiben, bedeutete die Anknüpfung an eine lange, aber bereits in die Kritik geratene Tradition. Anders jedoch als die Klassizisten forderten, entschied er sich gegen den Alexandriner und für den freien Jambus. Über die Hälfte der Verse weist noch den sechsfüßigen Jambus auf, den Rest aber stellen fünf- bis einfüßige Jamben. So verwirft Griboedov zwar die Prosa als die größtmögliche Annäherung an die Normalsprache, versucht aber mit Erfolg, sich ihr durch den für die gesprochene Rede charakteristischen Wechsel von Intonationseinheiten unterschiedlicher Länge anzunähern. Er konnte sich dabei auf die in Ivan Krylovs Fabeln erprobte und von Aleksandr Šachovskoj in die Komödie eingeführte Praxis stützen. Diese hat er zu solcher Perfektion geführt, daß Belinskij zu Recht behaupten konnte, Griboedov habe mit seiner Verskunst „für lange Zeit jegliche Möglichkeit einer russischen Verskomödie ausgeschlossen“.20

„Gore ot uma“ (Verstand schafft Leiden)

143

Die Dialoge in „Gore ot uma“ bilden verschiedene Redeformen ab: Smalltalk, Liebesbekenntnisse, Rededuelle, Schimpfreden, anekdoten- und balladenhaftes Erzählen. Dementsprechend ist die Figurenrede in Ausdruck, Stil und Artikulation thematisch, sozial und situativ differenziert. Durch eine besonders hohe Variabilität zeichnet sich die Sprache Čackijs aus, in die Stilelemente der Lyrik (Elegie, Ode), Satire, Rhetorik und Publizistik einfließen. An dem Verhältnis von Komik und Satire ist zu erkennen, daß „Gore ot uma“ mehr auf die didaktische als auf die unterhaltende Funktion setzt. Die Gesellschaftskomödie als Korrektiv sozialen Zustands und Verhaltens sollte das Publikum ,,zum Lachen bringen, erheitern, unterhalten“ und ,,zum Denken, zum Fühlen und zum Handeln“ veranlassen.21 Komik und Satire, als ästhetische Bürgen dieser Ziele, hätten im Idealfall in einem ausgewogenen Verhältnis zu stehen. Von einem Ungleichgewicht drohte Gefahr: Entweder lief der „komische Effekt in seiner autonomen Zielsetzung der satirischen Absicht“ zuwider, so daß die ,,Erkenntnisbereitschaft“ durch die ,,Lachbereitschaft“ verdrängt wurde22, oder der satirische Effekt war so stark, daß die komische Wirkung verblaßte und die Lachbereitschaft zugunsten der Erkenntnisbereitschaft verkümmerte. Schon der Titel „Gore ot uma“ verspricht keine ausgelassene Komik und läßt zu Recht vermuten, daß Griboedov mehr auf die Erkenntnis- als auf die Lachbereitschaft setzte. Das gilt vor allem für die von Čackij mit hohem Ernst, rhetorischem Einsatz und satirischer Schärfe vorgetragenen Tiraden gegen die adligen Schmarotzer der Gesellschaft (I, 7), gegen die Relikte des „vergangenen Zeitalters“ (II, 2), gegen die Autorität der faktisch und moralisch korrumpierten Entscheidungsgewalten („Und wer sind die Richter?“ II, 5) oder gegen die unpatriotische Nachahmung alles Fremden („Ein Franzmann aus Bordeaux“, III, 22). Starke komische Wirkung entwickeln hingegen die satirischen Selbstentlarvungen wie Famusovs Elogen auf die gute alte Zeit, das pseudoliberale Geschwätz Repetilovs, der coram publico seine Mitgliedschaft in Geheimbünden verkündet, oder die leeren Sprüche der Ballgäste. Die gegen die starke Präsenz des Satirischen eingesetzte Komik gewinnt ihre Potenz hauptsächlich aus der Sprache – aus schlagfertigen Repliken, humorigen Anekdoten, ausgesuchten Wortspielen – und nicht aus der von Klassizisten bevorzugten Charakterkomik. Sparsam eingesetzt werden komische Verfahren der Mimus-Tradition. Zu nennen wären ein auf die Bühne stürzender, leicht alkoholisierter Ballgast sowie die Verständigungsschwierigkeiten aufgrund physiologischer Gebrechen und unangemessener Sprachgebrauch. Čackij – Räsoneur und positiver Held? In seinem Brief an Aleksandr Bestužev, in dem er über seine kritische Lektüre von „Gore ot uma“ berichtet, weist Puškin in scherzhafter Form darauf hin, daß bei Čackij eine auffällige Nähe zwischen der figuralen und der auktorialen Perspektive besteht: „Und weißt Du eigentlich, was Čackij ist? Ein junger, anständiger und sympathischer Brausekopf, der einige Zeit mit einem sehr klugen

144

Aleksandr Griboedov

Menschen (mit Griboedov nämlich) zugebracht hat und sich an dessen Gedanken, Witz und spitzen Bemerkungen satthören durfte. Alles, was er sagt, ist sehr klug.“23 Demzufolge ist Čackij der althergebrachte Räsoneur, dem es die „Bekanntschaft“ mit dem Autor gestattet, dessen Anschauungen über eine Vielfalt von Themen mitzuteilen. Und tatsächlich lassen sich die Meinungen des Helden, die sich auf Moral als höchster Richtschnur des Verhaltens im privaten wie öffentlichen Leben berufen und diesen als einen an der Aufklärung geschulten Bürger („citoyen“, im Russischen „graždanin“) ausweisen, ohne weiteres auch Griboedov zuschreiben. Puškin hat sich ausdrücklich nicht am Inhalt der Aussagen Čackijs gestoßen, ihn störte der Unverstand, der die Borniertheit der Adressaten nicht in Rechnung zieht: „Das ist unverzeihlich. Das erste Zeichen eines vernünftigen Menschen ist es, auf den ersten Blick zu erkennen, mit wem man es zu tun hat, und keine Perlen vor die Repetilovs u. ä. m. zu werfen.“24 Für Puškin ist Čackij in doppelter Hinsicht ein Fehlgriff: künstlerisch als Sprachrohr des Autors, lebenspraktisch als enthusiasmierter, über die Köpfe hinweg predigender Aufklärer. Diese fundamentale Kritik verweigert sich der vom Stück nahegelegten, durch die Rezeption weitgehend beglaubigten Auffassung des Protagonisten als positive Figur. Ihre Akzeptanz als solche setzt allerdings die Übereinstimmung mit deren dezidierten weltanschaulichen Positionen und bilderstürmerischem Verhalten voraus. Fehlen diese Voraussetzungen, dann gerät Čackij in die ideologiekritische Diskussion. Dazu gibt seine Wendung gegen den „Franzmann aus Bordeaux“ (III, 22) besonderen Anlaß. An der durch den Protagonisten vorgetragenen Anklage der blinden Nachahmung alles Ausländischen und der damit angesprochenen nationalen Entfremdung entzündete sich die Diskussion, ob der Anschluß Rußlands an die modernen Zeiten mit Berufung auf die eigene Tradition und im Vertrauen auf das eigene Potential zu schaffen sei oder ob auf westeuropäische Modelle zurückgegriffen werden müsse. Die Komödie ließ keine eindeutigen Antworten zu. So bemerkte Nikolaj Gogol’, daß der „Zuschauer im Ungewissen darüber bleibt, was der russische Mensch sein muß“.25 Gončarov nannte Čackij dagegen „einen von Kopf bis Fuß russischen Menschen“.26 Griboedov hat Čackij keineswegs als nicht zu hinterfragende positive Figur entworfen. Zwar gilt ihr die auktoriale Sympathie, doch zeigt sich im Verlauf des Stücks, daß dem laut denkenden Aufklärer der ihm eigene Glaube an die realitätsverändernde Macht des gesprochenen Wortes durch die offensichtliche Erfolglosigkeit abhanden zu kommen scheint. Mehr noch: Seine Wortgläubigkeit, seine Überzeugung, daß nur das, was gesagt, was ausgesprochen wird, wirklich ist, verstellt ihm die Sicht auf die Realität, daß Sof’ja nicht ihn, sondern Molčalin favorisiert. Seine faktische Niederlage ist zugleich der Sieg des „Schweigers“, der das Prinzip der Maskierung zur Lebensmaxime erhoben hat. Čackijs düstere Einsicht „Die Molčalins werden glücklich sein auf dieser Welt“ kündet vom Ende des Aufklärungsoptimismus und dem damit verbundenen Ver-

„Gore ot uma“ (Verstand schafft Leiden)

145

zicht auf den öffentlichen Gebrauch der Vernunft. Im Scheitern des Aufklärers gibt sich die Krise der Aufklärungsphilosophie zu erkennen. Zwischenmenschliche Kommunikation als gesellschaftliches und künstlerisches Problem Lizas Klage über das harthörige Liebespaar, „Sie hören, wollen aber nicht verstehen“ (I, 1), gibt bereits in der ersten Szene ein wichtiges Thema der Komödie vor: die Dysfunktion der sprachlichen Kommunikation in einer verunsicherten Gesellschaft. Daß Verständigungsschwierigkeiten aufgrund von sprachlichen Defekten vorgeführt werden, überrascht in einer Komödie nicht. Daß aber das „Gespräch“ zwischen dem tauben und sprachlosen Grafen Tugouchovskij („Taubohr“) und der schwerhörigen gräflichen Großmutter Chrjumina („Grunzig“) das Gerücht über Čackijs Geisteszustand mit neuen Argumenten nährt (III, 20), zeigt, es geht hier nicht allein um den Lacheffekt. Das Gerücht hatte Sof’ja als Intrige gegen Čackij eingesetzt, um ihm die gehässige Behandlung Molčalins heimzuzahlen. Die rasche Verbreitung der Fama unter den Ballgästen, die mit ihren Auslassungen über Čackij seinen pathologischen Zustand quasi bestätigen, gibt außerdem zu erkennen, wie eine Gesellschaft gegen ein aufbegehrendes, mißliebiges Individuum vorgeht. Sie begreift ihren Habitus und ihre Wertvorstellungen als Normalität und stempelt den Außenseiter zum Anormalen. Als pervertierte öffentliche Meinung bedarf das Gerücht, wie das obige Gespräch zwischen den gräflichen Partnern zeigt, nicht einmal der Sprache als Mittel der Verständigung. Man versteht sich blind. Oder in den Worten Lizas: Sie hören nicht, aber sie verstehen sich dennoch. „Ich höre, doch versteh’ ich’s nicht“, klagt Čackij in der vorletzten Szene, als er erfährt, daß ihm Molčalin vorgezogen wird und daß es Sof’ja war, die das Gerücht in die Welt gesetzt hat (IV, 14). Das bezieht sich nicht nur auf seine momentane Verwirrung, sondern auch auf sein beharrliches Mißverstehen der wahren Absichten Sof’jas, obwohl sie ihm deutlich gemacht hatte, daß und warum sie Molčalin liebe (III, 1). Das Mißverständnis entsteht dadurch, daß beide Partner verschiedene „Sprachen“ sprechen: Sof’ja ist ganz von der „Sprache des Gefühls“ eingenommen, Čackij weiß sich völlig der „Sprache des Verstands“ verpflichtet. Er überträgt seine Ansichten vom kühnen und gewandten Verstand auf die Sphäre des Gefühls, das leidenschaftlich und heftig sein müsse. Sie setzt Besonnenheit, Zurückhaltung und Güte des Gefühls dagegen und sieht im rechten Schweigen, in Nachgiebigkeit, Bescheidenheit und Sanftheit Zeichen des Verstands. Nicht mangelnde Sprachkompetenz, nicht ungenügende Verfügbarkeit über sprachliche Mittel sind Ursachen der Verständnisschwierigkeiten, sondern die Befangenheit in einer bestimmten Denkweise, die sich durch voneinander abweichende Codes verdeutlicht. Diese Codes sind konkret historisch die der Empfindsamkeit und der Aufklärung. Čackijs Frage an Sof’ja, ob

146

Aleksandr Griboedov

Molčalin ihrer wert sei (III, 1), stößt ebenso auf Unverständnis wie Sof’jas Antwort an Čackij, daß Gott sie und Molčalin zusammengeführt habe (III, 1). Das Gespräch zwischen Famusov und Čackij (II, 2–3) endet in einer Reihe sich ablösender beziehungsloser Repliken. Ist beim Thema Brautwerbung zwischen beiden noch ein funktionierender Dialog in Frage-und-Antwort-Form möglich, so führt aufgrund gegensätzlicher moralischer und politischer Ansichten der Vergleich zwischen dem ,,vergangenen und gegenwärtigen Zeitalter“ zur Verweigerung der sprachlichen Kommunikation. Famusovs Ausruf „Genug, ich halte mir die Ohren zu“ und sein zweimaliges „Ich hör nicht zu“ machen den Zusammenbruch der Verständigung sinnfällig. In seiner „Bemerkung aus Anlaß von ‚Gore ot uma’“ plädiert Griboedov für eine bewußte Erschwerung der Kommunikation zwischen Autor und Rezipient, um den semantischen und ästhetischen Wert des Kunstwerks zu erhöhen. Die Wirkung auch eines dramatischen Werks dürfe sich nicht auf das einseitige Einwirken des Autors auf den Rezipienten beschränken, sondern müsse sich aus dem Zusammenwirken beider ergeben. Das erfordere von dem einen ,,Begabung“ und ,,Kunst“, von dem anderen ,,Empfänglichkeit“ und ,,Aufmerksamkeit“. So entstehe ein Kunstwerk, in dem ,,vieles erraten werden muß“: Die „nicht zur Gänze ausgedrückten Gedanken oder Gefühle“ würden dann bereits durch die Anspielungen ,,verständlich, klar und deutlich“.27 Dieses Angebot an den Rezipienten, den vom Autor gemeinten Sinn mitzukonstituieren (,,zu erraten“) – ein zusätzliches Indiz für Griboedovs Offenheit gegenüber der neuen Kunstauffassung –, findet seinen Niederschlag in der Ambiguität des Textes, die eine Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten eröffnet. Daß Griboedov auf eine solche Ambiguität zielte, zeigen die polysemen Titelwörter und die Ersetzung des ursprünglich eindeutigen Titels „Weh’ dem Verstand“ („Gore umu“) durch die mehrdeutige Endversion. Dazu gehören ebenso die Ambivalenz der Figuren Sof’jas und Čackijs und vor allem die Doppeldeutigkeit der Lösungen. Diese ergibt sich durch die Konfrontation polarer Wertsysteme. Auf der einen Seite steht die Unvernunft, die durch Amoralität geprägt wird und faktische Macht besitzt, auf der anderen die Vernunft, die sich durch moralische Integrität auszeichnet, ohne aber über faktische Macht zu verfügen. Doch ist die Macht der Vernunftverächter nicht mehr unbegrenzt. Sie kann nicht über den Außenseiter Čackij verfügen, der aus eigener Entscheidung Moskau verläßt. Allerdings ist auch die Wirkung des Moralischen nicht stark genug, um sich in der Gesellschaft Gehör zu verschaffen oder wenigstens einzelne ihrer Mitglieder zu überzeugen. Das Stück endet nicht mit dem Fallen des Vorhangs, künftigen Rezipienten bleibt die Aufgabe, den nicht verwirklichten Schluß „zu erraten“: Kommt es je zu einer Versöhnung von Geist und Macht, von Individuum und Gesellschaft auf der Basis von Vernunft und Moral?

Ulrike Jekutsch

Aleksandr Puškin: Boris Godunov Puškin schrieb „Boris Godunov“, sein einziges größeres dramatisches Werk, zwischen Ende 1824 und November 1825 in der Verbannung auf dem Familiengut Michajlovskoe. Obwohl auf den Bühnen Rußlands nie wirklich etabliert, bildet es eines der kanonischen Stücke der russischen Literatur und gilt als ihre Nationaltragödie. Behandelt wird ein Stoff, der die Regierungszeit des Zaren Boris Godunov von seiner Wahl zum Herrscher 1598 bis zu seinem plötzlichen Tod 1605 und zur Machtübernahme durch den Falschen Dimitrij (Lžedimitrij) umfaßt. Die historischen Ereignisse sowie ihre Deutungen und literarischen Bearbeitungen1 sind auch heutzutage noch allgemein bekannt. Der Dichter hatte ein Material gewählt, dessen Kenntnis er beim Publikum seiner Zeit voraussetzen konnte, es aber auf völlig neue Weise gestaltet, und zwar in mehrfacher Hinsicht: in Hinsicht auf die Konzeption der Gegenspieler Boris und Dimitrij, auf die Struktur des Stücks und auf die Präsentation der Geschichte. Der historische Stoff In der Geschichtswissenschaft gilt Boris Godunov als Zar einer Zwischenzeit, die durch mehrere aufeinanderfolgende Thronwechsel nach der Ära der ersten russischen Dynastie der Rjurikiden gekennzeichnet ist. Am Ende seiner Regierungszeit begann die „Zeit der Wirren“ (smuta), eine etwa zehn Jahre umfassende Phase kriegerischer Auseinandersetzungen und ausländischer Interventionen, an deren Ende die zweite imperiale Dynastie der Romanovs (1613) begründet wurde.2 Boris Godunov war ein Emporkömmling tatarischer Abstammung. Er hatte sich unter dem Zaren Ivan Groznyj verdient gemacht und war in den ersten Jahren der Regierungszeit des wohl geistig behinderten Zaren Fedor (1584–1598) zum Regenten aufgestiegen. Damit besaß er, dessen Schwester mit dem Zaren Fedor verheiratet war, de facto die Regierungsgewalt im Moskauer Reich. Seit 1587 wurde er in offiziellen Dokumenten mit dem Titel „des großen Herrschers Schwager und Regent“ bezeichnet.3 Mit dem Tod Fedors, der kinderlos im Jahre 1598 starb, und dem seines Stiefbruders Dimitrij, der 1591 im zehnten Lebensjahr in Uglič auf ungeklärte Weise umgekommen war, erlosch die regierende Linie des Hauses der Rjurikiden. Boris, der die Regierung seit Jahren ausübte, wurde von der entsprechend den Gesetzen des Moskauer Reiches einberufenen Reichsversammlung zum Zaren gewählt und vom Metropoliten gekrönt und gesalbt. Die Jahre der Regentschaft Boris Godunovs waren wirtschafts- und außenpolitisch überaus erfolgreich. Wie schon Karamzin hervorhob4, hatte Boris das von Ivan Groznyj zerrüttete Reich konsolidieren und als ein ausgesprochen moderner Herrscher für Europa öffnen können. Mit seiner Krönung zum Zaren allerdings, die vor allem in der Schicht der zum Teil aus Seitenlinien der Rjuri-

148

Aleksandr Puškin

kiden stammenden Bojaren nicht nur auf Zustimmung stieß, begann sich die positive Stimmung ihm gegenüber zu wandeln. Dies hängt zum einen mit seinem Mißtrauen gegenüber den Bojaren zusammen, das sich im Aufbau eines Spitzel- und Denunziationssystems äußerte, und zum anderen mit den immer stärker werdenden Gerüchten, der Tod des letzten Rjurikiden, des zehnjährigen Dimitrij, sei ein von ihm veranlaßter Auftragsmord gewesen. Obwohl die 1591 noch unter Zar Fedor eingesetzte große Untersuchungskommission zu dem Ergebnis gekommen war, es habe sich um einen Unfall gehandelt5, war die gegenteilige Vermutung nie ganz verstummt. Aufkommende Gerüchte über Wunderheilungen am Grab Dimitrijs, die als Beweis für dessen Märtyrertod – und somit für die These der Ermordung – aufgefaßt werden konnten6, fanden schließlich neue Verbreitung in den Jahren 1601–1603, in denen durch aufeinanderfolgende Mißernten große Hungersnöte herrschten. Diese führten vor allem unter den Bauern und entlaufenen Leibeigenen zu Unruhen und Aufständen. In dieser Zeit hörte man in Moskau auch vom Auftauchen eines Mannes in Polen, der sich als der auf wunderbare Weise dem Mordanschlag entkommene Zarewitsch Dimitrij und damit als der genealogisch rechtmäßige Thronfolger ausgab. Die tatsächliche Identität dieses Thronprätendenten konnte nie sicher festgestellt werden. Am wahrscheinlichsten gilt nach wie vor die Meinung, es habe sich um den entlaufenen Mönch Grigorij Otrep’ev gehandelt. Im August 1604 schließlich begann dieser Mann, unterstützt von polnischen und litauischen Adligen, einen Feldzug aus dem Ausland gegen Boris. Die russische Seite hatte rein zahlenmäßig eine überwältigende Übermacht aufzuweisen, doch der Krieg zog sich mit wechselndem Ausgang in die Länge, da sich einzelne russische Städte dem vermeintlichen Thronprätendenten anschlossen. Boris erlag unerwartet am 13. April 1605 einem Schlaganfall. Sein sechzehnjähriger Sohn Fedor trat die Nachfolge an, wurde jedoch bald von den auf die Seite des Falschen Dimitrij wechselnden Gefolgsleuten seines Vaters und den Bojaren verraten und ermordet. Der Falsche Dimitrij bestieg den Moskauer Thron, wurde anderthalb Jahre später gestürzt und durch den Bojaren Vasilij Šujskij ersetzt. Die Geschichte der „Zeit der Wirren“ erhielt 1824 neue Aktualität. In diesem Jahr erschienen die mit Spannung erwarteten Bände 10 und 11 von Nikolaj Karamzins monumentaler „Geschichte des russischen Staats“ (Istorija gosudarstva Rossijskogo), in denen die Zeit Fedors, Boris Godunovs, seines Sohns und des Falschen Dimitrij behandelt wird. Karamzins Darstellung der russischen Geschichte von den frühesten Anfängen bis zur „Zeit der Wirren“ kann als eine fortlaufende Erzählung von anekdotischen Einzelereignissen mit eindeutiger moralischer Wertung und Deutung gekennzeichnet werden. In den Fußnoten aber werden Quellen und auch gegenteilige Urteile und abweichende Darstellungen mit großer Genauigkeit angegeben.7 Gerade diese Eigenart, die Andrew Wachtel als die Nebeneinanderstellung zweier Schreibweisen bzw. Gattungen im Rahmen eines Textes bezeichnet, aus der ein „intergeneric discourse“8 entstehe, hat zeitgenössische und spätere Schriftsteller fasziniert, so daß sie sich

„Boris Godunov“

149

immer wieder von neuem mit Karamzins Darstellungen einzelner Themen auseinandersetzten. Dessen Werk wurde von Anfang an nicht nur als wissenschaftliche, aufgrund eigener gründlicher Quellenstudien erarbeitete Geschichtsdarstellung, sondern vor allem auch als künstlerischer Text gelesen.9 Boris Godunov ist bei Karamzin ein kluger und begabter, aber durch Mord auf den Thron gelangter Herrscher, der von seinen Gewissensbissen verfolgt und schließlich eingeholt wird, wobei aus den Anmerkungen zum Text allerdings deutlich hervorgeht, daß Godunovs Schuld am Tod Dimitrijs nicht bewiesen werden konnte. Ebenso eindeutig wird der aus Polen auftauchende Thronprätendent als der entlaufene Mönch Grigorij Otrep’ev identifiziert, obwohl auch die Identität des historischen Usurpators nie ganz geklärt werden konnte. Erneut geben die Anmerkungen die Zweifel wieder. Obwohl die historische Quellenlage bis heute keine eindeutige Festlegung zu Schuld oder Unschuld Godunovs erlaubt, entspricht Karamzins Bewertung der beiden Figuren der in Rußland damals und später diskursiv gültigen: Boris gilt als Auftraggeber des Mordes am letzten Rjurikiden Dimitrij und der Thronprätendent als der Mönch Grigorij, der sich mit polnischer Unterstützung als der auf wunderbare Weise dem Mordanschlag entkommene rechtmäßige Thronfolger ausgegeben hat. Die Präsentation des Handlungsablaufs Puškin übernahm die chronologische Schilderung der Ereignisse, wie sie das – im offiziellen Hofauftrag geschriebene und gebilligte nationale Geschichtswerk10 – vorgab und hielt sich eng an die dort geschilderten Fakten.11 Sein Stück beginnt im Jahre 1598 mit der Wahl von Boris zum neuen Zaren (Szene 1–4) und endet mit der Ermordung Fedor Godunovs im Jahre 1605. Die ersten drei Szenen demonstrieren die Bemühungen der Bojaren, des Volks und der Geistlichkeit, den zögernden Boris zur Annahme der erfolgten Wahl auf den Zarenthron zu bewegen. In der ersten Szene treten mit Šujskij und Vorotynskij zwei Vertreter der Bojaren auf, die ihre Ressentiments und heimliche Opposition zum neuen Zaren äußern: Beide stammen aus Seitenlinien der Rjurikiden und hätten daher nach dynastischem Recht einen größeren Anspruch auf den Thron als Boris, den sie als tatarischen Emporkömmling betrachten. Šujskij bewertet dabei das lange Zögern Godunovs als Taktik und berichtet in diesem vertraulichen Gespräch unter vier Augen über die von ihm geleitete gerichtliche Untersuchung zum Tod des Zarewitsch Dimitrij im Jahre 1591: Er habe damals den später als Unglücksfall deklarierten Tod als Mord im Auftrag des Boris erkannt, sei aber von dessen Verstellungskünsten so verwirrt worden, daß er die Unfallversion beglaubigt habe. Boris ist damit bereits in der ersten Szene als Mörder des letzten Vertreters der ersten russischen Herrscherdynastie benannt. Obwohl sich Šujskij als Augenzeuge des Vorfalls darstellt, wird deutlich, daß er erst nach dem Todesfall an den Unglücksort kam, seine Informationen somit auf Hörensagen beruhen und definitive Beweise für eine Schuld Boris Godunovs nicht vorliegen. Er erhebt seine Anschuldigung mit dem erklärten Ziel, eine Ver-

150

Aleksandr Puškin

schwörung zu initiieren. Diese widerruft er Vorotynskij gegenüber in der dritten Szene nach Bekanntgabe der Annahme der Wahl durch Godunov und diskreditiert sich damit selbst. Die Ausgangssituation des Stücks präsentiert so den legalen Aufstieg des vorherigen Regenten zur höchsten Macht im Staat aus einer Seitenperspektive, die dessen Rechtmäßigkeit in genealogischer wie in persönlicher Hinsicht als zweifelhaft darstellt. Die Zweifel, mit denen der Zuschauer bereits vor dem ersten Auftreten des Titelhelden konfrontiert wird, werden nur in einem vertraulichen Gespräch geäußert. Sie stellen Gerüchte dar, die jedoch im Stück bewirken, daß der Zuschauer alle Äußerungen des erst danach auftretenden Boris Godunov vor diesem Hintergrund aufnimmt. Somit ist die Thronrede, mit der letzterer in der vierten Szene als gewählter Herrscher im Kreis der Würdenträger erstmals auf der Bühne erscheint und in der er sich als jemand präsentiert, der die schwere Verantwortung des Amts nur mit Widerstreben auf sich genommen habe und eine gerechte Herrschaft zum Wohl aller anstrebe, von vornherein unter den Verdacht der Heuchelei gestellt. Boris selbst nimmt weder hier noch später Stellung zu den Vorwürfen. Hinweise auf seine mögliche Schuld werden außer über die Wiedergabe der Gerüchte über seine Worte und Körpersprache gegeben: Er scheint sich an einigen Stellen selbst zu verraten, so in dem Monolog der siebten Szene, wo er über die Erfahrung bereits mehrjähriger Machtausübung reflektiert und von der Last des schlechten Gewissens spricht. Er tut dies allerdings in allgemeiner Weise. Selbst seine Beschreibung der Anzeichen für ein schuldiges Gewissen unter anderem mit den Worten „und blutige Knaben in den Augen“ ist nicht eindeutig – greift er doch hier auf die regional verbreitete, ein Augenleiden bezeichnende Redewendung „Knaben in den Augen“ (mal’čiki v glazach) zurück. Im weiteren Verlauf des Geschehens reagiert er mehrfach mit Körperzeichen auf Nachrichten vom Auftauchen des Falschen Dimitrij und von Wunderheilungen am Grab des echten Zarewitsch. Über die Anzeichen der Heiligkeit des toten Dimitrij wird Boris zweimal unterrichtet, einmal in der zehnten Szene von Šujskij und dann vom Patriarchen in der 15. Szene. Beide Male reagiert er ausgesprochen auffällig. Seine offenkundige Verstörung äußert sich nur in körperlichen Reaktionen, über die Regieanweisungen und andere Figuren berichten: Das Blut steigt ihm zu Kopf, Schweiß bricht aus, er verstummt.12 Die Gründe für diese körperlichen Reaktionen werden weder von ihm selbst noch von anderen ausgesprochen. Eine mögliche Erklärung wäre, daß sein bisher unterdrücktes Schuldgefühl als Mörder durch die Erkenntnis der Heiligkeit des Ermordeten verstärkt wird und aufbricht.13 Doch Boris spricht zwar mehrfach von der niederdrückenden Gewissenslast, bekennt sich aber an keiner Stelle explizit des Mordes an Dimitrij schuldig. Er handelt, als ob es diese Vorwürfe nicht gebe. Die Gegenhandlung, die zum Sturz des nunmehr rechtmäßig gewählten Zaren führen wird, beginnt in der fünften Szene. Hier erfährt der seit seiner Kindheit im Kloster lebende, sich nach dem weltlichen Leben sehnende Mönch Gri-

„Boris Godunov“

151

gorij Otrep’ev durch den alten Chronikschreiber Pimen die Geschichte vom Tod des Zarewitsch Dimitrij. Pimen beschreibt diese Geschichte als Mord im Auftrag Boris Godunovs und flößt damit unabsichtlich Grigorij den Gedanken zum Handeln ein.14 Der nach der fünften Szene aus dem Kloster entlaufende Grigorij flieht nach Polen mit dem Ziel, sich als Dimitrij auszugeben und zurückzukehren, um Boris zu bestrafen. Die aktiven Maßnahmen gegen Boris beginnen ab der elften Szene von außen, von dem traditionell feindlichen Nachbarn Polen her: Der dort als Sohn Ivans IV. anerkannte Falsche Dimitrij verbindet sich mit Marina, der Tochter des ihn unterstützenden polnischen Wojewoden Mniszek, sammelt ein Heer aus Polen, Kosaken, europäischen Söldnern und einigen russischen Emigranten und zieht an dessen Spitze gegen Rußland. Das Stück demonstriert in den Szenen 15, 18 und 19 das wechselnde Schlachtenglück des Kriegs. In Szene 20 kann Boris von einer vernichtenden Niederlage des angeblichen Dimitrij berichten, doch ist dies, wie er weiß, nur der Gewinn einer Schlacht, nicht des Kriegs. Sein Sturz geschieht in derselben Szene nicht durch äußere Einwirkungen, sondern durch einen plötzlichen Schlaganfall. Dieser findet hinter der Bühne statt, und es bleibt offen, wodurch er ausgelöst wurde. Berichtet wird über einen Sturz vom Thron: „Auf dem Thron saß er und fiel plötzlich – /Blut spritzte aus Mund und Ohren“ (89). Boris fällt – in direktem Wortsinn – vom Thron.15 Er wird im Stuhl liegend noch einmal auf die Bühne getragen und stirbt als Zar nach dem Empfang der traditionellen Mönchsweihe. Im Angesicht des Todes übergibt er seinem Sohn die Herrschaft und läßt die Bojaren den Treueeid auf ihn schwören. Es wird deutlich: Ihn beherrscht die Sorge um seinen Sohn, den er als „unschuldig“ bezeichnet, und um den Fortbestand der Dynastie. Sein körperlicher Fall und natürlicher Tod, der anscheinend ohne konkreten Anlaß erfolgt und der von seinem Gegenspieler, dem Falschen Dimitrij, in der darauffolgenden Szene als Gottesurteil interpretiert wird, ist der Anfang vom Ende der Dynastie Godunov. Der vorher nur potentielle Verrat der Bojaren wird am neuen, nach dem Erbrecht inthronisierten Zaren Fedor Godunov verwirklicht. Das Volk begrüßt die Ankündigung des triumphalen Einzugs Dimitrijs in Moskau (Szenen 21–22). In der letzten Szene des Stücks ermorden Bojaren die gefangengenommene Frau und den Sohn Godunovs. Das Volk – und das Publikum – erlebt diesen Mord auf der Straße vor dem Haus indirekt mit und hört anschließend den folgenden Bericht: „Leute! Marija Godunov und ihr Sohn Fedor haben sich vergiftet. Wir haben ihre Leichen gesehen“ (98). Diese Aussage widerspricht allem, was das Volk in den letzten Minuten miterlebt hat. Sie kann nur falsch sein. Die einzige mögliche Schlußfolgerung ist, daß Mutter und Sohn auf Befehl des neuen Zaren ermordet wurden. Wieder wird ein Zarenmörder den Thron besteigen. Mit der Verweigerung der anschließend geforderten Hochrufe versagt das Volk nicht nur dem neuen Zaren seine Zustimmung, sondern auch der offiziellen Version der Ereignisse.

152

Aleksandr Puškin

Ebensowenig Glauben fand am Anfang die offizielle Version vom Unfalltod Dimitrijs. Das Stück ist wieder zum Ausgangspunkt zurückgekehrt, die Geschichte wiederholt sich, mit anderen Figuren, auf andere Weise: Auch der neue Zar ist der Mörder eines jungen, rechtmäßigen Throninhabers, zudem ist er ein Hochstapler. Im Gegensatz zu Boris und Fedor fehlt ihm jede Legitimation. Sein künftiger Sturz, der außerhalb der Textgrenzen liegt, ist bereits bei seinem ersten Auftritt in der Klosterszene (Szene 5) angedeutet worden. Dimitrij berichtete dort Pimen über einen Traum von Aufstieg und Fall, der ihn dreimal heimgesucht habe: „Mir träumte, daß eine steile Treppe / Mich auf den Turm führte; von der Höhe / Schien mir Moskau wie ein Ameisenhaufen; / Unten auf dem Platz schäumte das Volk / Und zeigte auf mich mit Gelächter, / Und Scham und Schrecken überkamen mich -- / Und, kopfüber fallend, erwachte ich... / Und dreimal träumte mir derselbe Traum“ (19). Der Sieg des Falschen Dimitrij bedeutet nicht die Wiederherstellung von Recht und Ordnung, sondern die Machtübernahme durch einen jeglicher Rechtmäßigkeit entbehrenden Gewaltherrscher. Das Stück endet stumm, mit der Regieanweisung „Das Volk schweigt“, die nicht nur auf die damit erfolgende Verweigerung der Zustimmung zum neuen Herrscher verweist, sondern auch auf das Fehlen von Worten: Sie läßt den Text an einer Nullstelle enden.16 Damit wird impliziert, daß „letzte Worte“ nicht existieren, daß sie immer nur den Status einer fiktiven, willkürlichen Endsetzung haben können. Der Text der Geschichte wird weitergeschrieben werden. Figurenkonzeption und Rezeptionslenkung Die Zeitgenossen und auch spätere Rezipienten verstanden Puškins „Boris Godunov“ als Dramatisierung der konservativen zarentreuen Geschichtsinterpretation Karamzins. Insbesondere der Historiker und Schriftsteller Nikolaj Polevoj wandte sich gegen Puškins so verstandene Darstellung Godunovs. Er beschuldigte ihn der Rückständigkeit und der Nichtbeachtung neuerer zeitgenössischer Arbeiten, die die Zweifel an der Schuld Godunovs betonten.17 Puškin, so behauptete er, lasse außer acht, daß die Geschichtsschreibung es nicht wage, Boris direkt und uneingeschränkt als Zarenmörder zu bezeichnen.18 Dieser Lesart des Textes sind auch spätere Rezipienten gefolgt, die sich durch die dem Text in der Druckfassung 1831 vorangestellte Widmung an Nikolaj Karamzin bestätigt fühlen konnten: „Dem den Russen teuren Gedenken an Nikolaj Michajlovič Karamzin widmet diese von seinem Genius inspirierte Arbeit in Ehrfurcht und Dankbarkeit Alexander Puškin“ (3). Auch in privaten Briefen und Gesprächen wies Puškin auf die Bedeutung des Karamzinschen Prätextes hin und behauptete sogar, sein Stück könne ohne diesen Bezug nicht gelesen werden.19 Liest man den Text allerdings genauer, wird die Deutung, Puškin zeige Boris eindeutig als Verantwortlichen für den Mord am Zarewitsch Dimitrij, doch etwas fraglich. Dies sei im folgenden an den drei Figuren Boris, Grigorij und Pimen demonstriert.

„Boris Godunov“

153

Puškins Szenenabfolge stellt den Rezipienten des Stücks hinsichtlich des Titelhelden Boris in die Situation, in der sich die Geschichtsschreibung befindet20: Es gibt keine Augenzeugen der Tat. Alle sogenannten Zeugen berichten aus zweiter oder dritter Hand, der Beschuldigte äußert sich nirgends direkt zu der Anklage, auch nicht in seinem ersten großen Monolog in der siebten Szene. Gerade hier aber, wo er das erste Mal allein auf der Bühne ist, erwartet der Zuschauer nach den Gattungskonventionen der Tragödie ein Geständnis der Schuld oder Unschuld. Da Godunov hier wie in den folgenden Szenen den Mord weder zugibt noch abstreitet, entsteht der Eindruck, er verstelle sich. Zugleich wird er in fast allen Auftritten ausgesprochen positiv gezeichnet: Er erscheint als kluger, für das Wohl des Volks sorgender Staatsmann und als liebevoller Familienvater; er äußert die Absicht, mit Milde gegen die Anhänger seines Kontrahenten vorzugehen; sterbend übergibt er seinem Sohn das Reich mit Ratschlägen für eine tugendhafte Regierungsführung. Vor dem Hintergrund der Informationen anderer Figuren aber stellt er sich damit dem Rezipienten als Heuchler dar. Sein anscheinend ausweichendes Verhalten gegenüber dem eigentlichen Vorwurf wird als Geständnis interpretiert. Er verhüllt sich und seine Gedanken und Absichten, er scheint ständig, auch vor sich selbst, zu heucheln. Das eigene Schweigen und die negativ wertenden Aussagen anderer steuern die Rezeption Godunovs. Puškin demonstriert somit, daß dieser von seiner Umgebung für schuldig gehalten wird, und integriert die Nichtbeweisbarkeit der Schuld in seine Darstellung. Im Falle Grigorijs, des Falschen Dimitrij, der erst in Polen die nötige Unterstützung gewinnt, entscheidet sich Puškin in Übereinstimmung mit der russischen traditionellen Figurenkonzeption und den Ergebnissen der Geschichtswissenschaft für eine eindeutige Festlegung des Thronprätendenten als eines bewußten Betrügers.21 Dessen soziale und gesellschaftliche Herkunft erhält im Stück keine entscheidende Bedeutung. Wichtiger werden vielmehr die individuellen Charakterzüge. Grigorij wird als Abenteurer entworfen, der sein Glück versucht und alles auf eine Karte setzt. Als solcher ist er mit durchaus positiven und sympathischen Merkmalen versehen wie Wagemut, Geschicklichkeit oder der Fähigkeit, unterschiedlichste Gesprächspartner schnell einzuschätzen und ihren jeweiligen Erwartungen entgegenzukommen. Caryl Emerson hat den Abenteurer Grigorij überzeugend als eine Figur interpretiert, die keine eigene Identität besitzt, die sich jeder an sie gerichteten Erwartung sofort anpassen kann.22 In der ersten in Polen spielenden Szene sehen wir, wie der angebliche Dimitrij mit dem Jesuitenpater verhandelt, wie er russische und polnische Kampfgenossen begrüßt und für jeden, auch für den Dichter, die richtigen Worte findet. Nie allein auf der Bühne, spielt er immer die angenommene Rolle, mit einer Ausnahme: als er Marina im Garten begegnet. Allein hier fällt er aus der Rolle; denn er erwartet nicht einen Verbündeten, sondern Liebe. Obwohl er also fast immer eine Rolle spielt, wird er vom Rezipienten als aufrichtig wahrgenommen, scheint er doch keine Geheimnisse zu haben. Er stellt sich als kühn

154

Aleksandr Puškin

und großzügig dar. Seine Erfolge in Rußland scheinen eher auf seinem Glück und der ihm entgegengebrachten Sympathie als auf Intrigen oder bloßer Heeresstärke zu beruhen. Mit dieser Zeichnung weicht Puškin von der russischen Tragödientradition ab, die den Falschen Dimitrij stets als negative Figur entworfen hatte.23 Daneben werden aber auch Züge der tradierten Figur des Rächers und damit das Motiv der Rache und des Gottesurteils aufgerufen: Grigorij erhebt den Anspruch, die Ermordung Dimitrijs am Zaren zu rächen und diesen zu bestrafen. Er stellt sich als Werkzeug Gottes dar. Sein Betrug liegt so offen vor aller Augen. Die Version von der Schuld Godunovs wird im Stück vor allem durch den Chronikschreiber Pimen beglaubigt. Er erscheint in der fünften Szene als sanfter, abgeklärter, unparteiischer Greis, der in der Weltabgeschiedenheit des Klosters die wahre Geschichte der von ihm selbst erlebten Ereignisse niederschreibt. In dem einleitenden Monolog dieser Szene stellt er sich als ein Mann an der Schwelle des Todes vor, dessen letzte Lebensaufgabe in der Vollendung der von ihm begonnenen Chronik mit der Geschichte des Mords am Zarewitsch Dimitrij bestehe. Diese allein durch die Lebenssituation schon Wahrhaftigkeit suggerierende Selbstbeschreibung wird einmal durch die Äußerungen seines Gesprächspartners bestätigt. Der junge Grigorij beschreibt ihn als „ruhig“, „demütig, erhaben“, als „ehrwürdigen Vater“ und vergleicht ihn mit einem ergrauten Richter, der vollkommen über den Dingen stehe und unbeeindruckt von Gut und Böse sein Urteil spreche. Eine weitere Bestätigung kommt in der sechsten Szene, „Palast des Patriarchen“, vom Abt des Čudov-Klosters. Diese explizite, auf sympathisierende Identifikation angelegte Rezeptionslenkung aber wird durch die Reden Pimens selbst zumindest teilweise widerlegt.24 Zunächst ist der sanfte Greis bei der Erzählung von der Ermordung Dimitrijs, die er seiner Aussage nach als Augenzeuge miterlebt hat, alles andere als abgeklärt. Er schildert das Ereignis als Auftrag Godunovs, bezeichnet diesen direkt als „Zarenmörder“ und kündigt Gottes Strafe für den Frevler an. Seine Erregung widerspricht der angeblichen Unparteilichkeit. Zudem gibt es in seiner Geschichte eine Reihe von Ungereimtheiten: Er war kein wirklicher Augenzeuge der Tat, wie er suggeriert, sondern kam erst danach – zusammen mit der Volksmenge – in den Hof des Palasts, wo der Zarewitsch den Tod fand. Wenn er beschreibt, wie die vom Volk spontan als Mörder gefangenen Männer vor die Leiche geschleppt wurden und der tote Körper sich zum Zeichen des Erkennens bewegt habe, berichtet er von einem Wunder (historisch belegt sind Zuckungen des Körpers vor dem Tod). Pimens Geschichte ist eine bereits veränderte Gedächtnisversion der Ereignisse.25 Und das Gedächtnis des Greises kann, wie er in seinen Eingangszeilen zu verstehen gibt, nicht mehr sehr zuverlässig sein: „Das Vergangene“ ist „nun wortlos und ruhig, / Nicht viele Gestalten hat mein Gedächtnis bewahrt, / Nicht viele Worte gelangen wieder zu mir, / Und das übrige ist unwiederbringlich verloren“ (17).

„Boris Godunov“

155

Pimen bezeichnet die Geschichte, die er niederschreibt und erzählt, als „skazanie“ bzw. „povest’“ (Erzählung) und als „slovo“ (rhetorische Rede). Damit charakterisiert er sie als literarische Gattung. Er gibt keinen unmittelbaren Augenzeugenbericht, sondern entwirft seinen Text über ein elf Jahre zurückliegendes Ereignis. Zudem zeichnet er ein einseitiges Bild von dem Zarenmörder Boris. Am Ende der Szene nennt er seine Geschichte daher auch eine „schreckliche Denunziation“. In dem unmittelbaren Redekontext aber, in dem Grigorij den Mönch, der in seiner stillen Klosterzelle als einziger den Mordvorwurf niederzuschreiben wagt, mit dem scheinbar unangreifbaren, mächtigen Mörder Boris Godunov kontrastiert, wird die Zweideutigkeit des Wortes „donos“ (Bericht und Denunziation) deakzentuiert und daher häufig übersehen.26 Somit gilt für Pimen Ähnliches wie für Boris: Die Strategie der expliziten Rezeptionslenkung durch die Art der Informationsvergabe bestimmt die Aufnahme der Figurenrede – bei Boris negativ, bei Pimen positiv. Die positive Charakterisierung der einen Figur wird jedoch wie auch die negative der anderen durch die jeweils eigenen Äußerungen teilweise widerlegt. Zu Gattung und Struktur des Stücks Eine adäquate Lektüre erschwerte auch die innovative Poetik des Stücks, das in Anknüpfung an die damals von der russischen Literatur entdeckte Dramenpoetik Shakespeares27 bewußt als neue Form konzipiert wurde. Puškin schrieb mit „Boris Godunov“ ein Werk über eine historische Ereigniskette, die dem zeitgenössischen Leser vertraut war.28 Er strebte ein neuartiges Drama in der Art des chronicle play William Shakespeares an. In seinen Entwürfen für ein geplantes, aber nicht publiziertes Vorwort zum Text heißt es: „Das Studium Shakespeares, Karamzins und unserer alten Chroniken gab mir den Gedanken ein, eine der dramatischsten Epochen der neueren Geschichte in dramatische Form zu gießen. Unbeeindruckt durch irgendeinen weltlichen Einfluß, ahmte ich Shakespeare in seiner freien und breiten Darstellung der Charaktere nach, in der ungekünstelten, einfachen Zusammensetzung der Typen, Karamzin folgte ich in der klaren Entwicklung der Ereignisse, in den Chroniken bemühte ich mich, die Gedankengänge und die Sprache der damaligen Zeit zu enträtseln.“29 Puškin begann die Arbeit an „Boris Godunov“ mit der erklärten Absicht, eine nationale russische Tragödienform zu finden, die mit der zu seiner Zeit in Rußland gültigen Tradition der klassizistischen französischen Tragödie brach. Dabei knüpfte er bewußt an Shakespeare an. Dessen Werke hatte er in der französischen Prosaübersetzung Letourneurs kennengelernt, die er in der damals neuesten Ausgabe von François Guizot und Amédée Pichot besaß.30 Die Einleitung Guizots zu dieser Ausgabe gilt als Beginn der romantischen ShakespeareRezeption in Frankreich.31 In Rußland wird sie in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts zum vielzitierten Standardwerk.32 Guizot analysiert die dramatischen Prinzipien Shakespeares, wobei er zunächst die Mischung von Komischem und Tragischem hervorhebt, die er für natürlicher hält als die strenge

156

Aleksandr Puškin

Trennung dieser Bereiche in der französischen klassizistischen Tragödie, und zwar deshalb, weil Shakespeare damit die Menschennatur in allen ihren Kontrasten habe zeigen können. Bei Shakespeare stehe der Mensch im Zentrum des Interesses. Die Handlung strebe bei aller Diversität zur Einheit des Eindrucks. Diese Einheit, von Guizot als das dominante kohärenzstiftende Strukturelement bei Shakespeare betrachtet, subordiniere die beiden Einheiten des Orts und der Zeit und hebe sie teilweise sogar auf.33 In großer Ausführlichkeit erörtert Guizot dann die komplexen Charaktere Shakespeares, die nicht wie nach den Regeln des Klassizismus der vorher entworfenen Handlung angepaßt würden, vielmehr entwickle sich die Handlung stets aus den Charakteren. Dieser Gedanke stellt eine grundlegende These der Shakespeare-Debatte des gesamten 19. Jahrhunderts dar Im Laufe der Arbeit an seinem Stück brach Puškin, der nach Shakespeares Vorbild komische und tragische Situationen, Vers- und Prosasprache mischte, mit der traditionellen Akteinteilung35 und entschied sich für eine Folge nichtnumerierter Szenen, die nur durch die Angabe des Orts, manchmal der Zeit und teilweise der auftretenden Personen voneinander getrennt werden. Das letzte Manuskript aus dem Jahr 1830 enthält 23 Szenen36 unter dem Titel „Boris Godunov“. Ein Untertitel mit Angabe der Gattungsform37 fehlt ebenso wie ein vorangestelltes Personenverzeichnis, das einen Überblick über die auftretenden dramatis personae geben könnte. Im Unterschied zu dem in russischen Tragödien damals üblichen Alexandriner verwendete Puškin den Blankvers, den kurz zuvor erstmals Žukovskij bei seiner Übersetzung von Schillers „Jungfrau von Orleans“ benutzt hatte. Dieser Vers erleichterte durch seine Reimlosigkeit und Beweglichkeit die Übergänge zwischen Vers und Prosa.38 Puškin wandelte ihn jedoch ab, indem er zum Teil an semantisch hervorgehobenen Stellen Endreim und in den in Polen spielenden Szenen entsprechend der polnischen metrischen Tradition stellenweise Paarreim setzte. Vor allem aber führte er – nach dem Muster des französischen décasyllable – eine feste Zäsur nach dem zweiten Versfuß ein und installierte damit eine feste Grenze im Versinneren.39 Die Grenzen zwischen den einzelnen Versen dagegen ließ er durch häufige Enjambements und Sprecherwechsel inmitten der Zeile verschwimmen. Der Vers oszilliert dadurch zwischen einer deklamatorischen und einer intimen Intonation.40 Das klassische Postulat der Einheit von Ort und Zeit wird von Puškin nicht mehr beachtet: Die Zeit umfaßt sieben Jahre, der Ort kann von einer Szene auf die andere zwischen Polen und Moskau, zwischen Zarenpalast und Kneipe wechseln. Die Einheit der Handlung ist – mit Puškins eigenen Worten – „kaum bewahrt“.41 Ein zentraler Konflikt fehlt. Es gibt nicht nur einen, sondern zwei Helden, wobei der Titelheld in sechs, sein Gegenspieler in neun Szenen auftritt. Die beiden Kontrahenten begegnen sich nicht, sie scheinen in getrennten Welten zu leben. Boris stirbt plötzlich und eher zufällig durch einen Blutsturz. Das Stück endet offen mit der Inthronisierung des Gegenspielers und der Andeutung von dessen künftigem Ende. Eine Liebesintrige wird nicht entwickelt, da Mari-

„Boris Godunov“

157

na weder an der Liebe noch an der wahren Identität Dimitrijs, sondern einzig am Zarenthron interessiert ist. Die offene Struktur des Dramas, seine scheinbare Konfliktlosigkeit und Nichteignung für die Bühne hat die Rezipienten von Anfang an irritiert.42 Erst im 20. Jahrhundert hat man begonnen, diese als bewußten Aufbau des Textes und nicht als Fehler des Autors zu interpretieren.43 Die innovative Form erwies sich als schwierig für die Zeitgenossen: Sie vermißten, als das Stück 1831 endlich im Druck erschien, den Zusammenhang zwischen den einzelnen Szenen. Nicht nur der erste Zensor fühlte sich an „herausgerissene Blätter aus einem Roman Walter Scotts“ erinnert.44 Pavel Katenin erklärte, dies sei „überhaupt kein Drama mehr, sondern ein in kleine Gesprächsstücke zerschlagenes Stück Geschichte“.45 Es schien eine durchgehende Handlungslinie zu fehlen, jede Szene ein abgeschlossenes Ganzes darzustellen und für sich allein zu stehen. Alle diese von der zeitgenössischen Kritik als formale und inhaltliche Mängel aufgezählten Punkte verweisen aber auf die Empfindung des radikalen Bruchs mit allen vertrauten Tragödien- und Dramenkonventionen. Vereinzelt gab es auch andere Stimmen. Bereits 1831 vertrat Ivan Kireevskij in einer der ersten Rezensionen die Meinung, daß es dem Text keineswegs an innerer Einheit fehle, daß hier nicht ein historisches Ereignis, sondern die Folgen eines Ereignisses, des politisch bedingten Mordes an einem Kind, dem rechtmäßigen Thronfolger Dimitrij, das Thema des Stücks bilde, um das sich alle Szenen drehen.46 Die Forschung hat später immer wieder auf die dem Stück zugrundeliegende Folie der traditionellen Einteilung in fünf Akte hingewiesen47, die sich leicht einfügen ließe und zumindest in deutschen Übersetzungen des 19. Jahrhunderts auch eingefügt wurde.48 Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, daß die klassizistische Tragödie nicht den positiven, sondern den negativen Bezug darstellt: Puškin hat im Laufe der Arbeit am Text alle anfangs durchaus noch vorgesehenen formalen Merkmale dieser Dramenform getilgt. Dmitrij Blagoj und Rudolf Neuhäuser sprechen von einer spiegelsymmetrischen Struktur: In den Szenen 1–3 treten nur Volk und Bojaren auf, ebenso in 21–23, der Ort dieser Szenen ist Rußland; die drei in Polen spielenden Szenen 11–13 bilden die Mittelachse, die sieben Szenen 4–10 sind wiederum um ihre Mitte, die Szene 7, aufgebaut, ebenso die sieben Szenen 14–20.49 Ein Jahrhundert später verwies Jurij Tynjanov auf das Prinzip der Filmmontage als Merkmal des Stücks.50 Dies ist in den letzten Jahrzehnten von der Forschung im einzelnen untersucht und vertieft worden.51 Die scheinbar isolierten Szenen werden durch Gleich- und Gegenüberstellung miteinander verkettet, die Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln präsentiert. Es kommt dadurch zur Überlagerung mehrerer Strukturen und Ebenen. So folgt zum Beispiel auf jede Szene mit Boris mindestens eine mit seinem Gegenspieler. Ereignisse und Handlungen spielen sich zum größten Teil hinter der Bühne ab; auf der Bühne werden sie dann kommentiert und reflektiert. Zum Teil wird ein und dasselbe Ereignis sogar innerhalb derselben Szene aus unterschiedlicher Perspektive gezeigt.52

158

Aleksandr Puškin

Dazu ein Beispiel. In der Szene „Platz vor der Kathedrale in Moskau“ unterhält sich das Volk über die gerade ablaufende Veranstaltung im Inneren der Kathedrale, die ihm die Unrechtmäßigkeit der Ansprüche des Thronprätendenten demonstrieren soll. Einer aus dem Volk berichtet: „Ich hörte, wie der Diakon rief: Griška Otrep’ev – Anathema.“ Darauf ein anderer: „Sollen sie sich selbst verfluchen, der Zarewitsch hat nichts mit Otrep’ev zu tun.“ Die Nachricht „Und dem Zarewitsch singt man eine Totenmesse“ wird entsprechend umgedeutet in den Ausruf: „Eine Totenmesse für einen Lebenden!“ (76). Zwei Auffassungen über den Thronprätendenten werden so einander kontrastiert, stehen nebeneinander, eine Kommunikation zwischen ihnen kommt nicht zustande.53 Im weiteren Verlauf der Szene sagt der Narr in Christo Nikol’ka dem Zaren, wie man ihn im Volk beurteilt: „Du hast den kleinen Zarewitsch getötet“, und bezeichnet ihn als „König Herodes“ (78).54 Dieses Urteil widerspricht einem der beiden Kommentare zum Geschehen in der Kathedrale: Wenn Boris den Zarewitsch töten ließ, wer ist dann der sich als Dimitrij ausgebende Thronprätendent? Die Figuren gehen von vorgefaßten Meinungen aus; sie kommentieren das Geschehen aus ihrer Sicht. Im Volk, das am Anfang für die Wahl Boris Godunovs zum Zaren gestimmt hat, kursieren zwei Gerüchte: 1. Der von Boris ermordete Zarewitsch Dimitrij ist zum Heiligen geworden, an seinem Grab geschehen Wunder. 2. Der Zarewitsch ist auf wunderbare Weise dem Mordanschlag entkommen und kehrt zurück, um Godunov zu bestrafen und den ererbten Thron zu besteigen. Diese sich widersprechenden Versionen aber heben sich nicht gegenseitig auf, sondern existieren nebeneinander und scheinen sich sogar zu unterstützen. Beide setzen ein bestimmtes Maß an Wunderglauben voraus. Die Gerüchte werden als Meinung des Volks jedoch erst dann historisch und politisch wirksam, als die äußeren Voraussetzungen dafür gegeben sind: Boris führt das zahlenmäßig weitaus überlegene Heer (50000 gegen noch nicht einmal 8000 Mann), doch er stirbt in einem Moment, als der Thronprätendent zwar besiegt, aber noch nicht vernichtet ist. Sein siebzehnjähriger Sohn Fedor, der ihm auf dem Thron nachfolgt, ist noch so schwach, daß die Bojaren die Gelegenheit gekommen sehen, das „unedle“ Geschlecht der Godunovs zu stürzen. In Szene 21 versucht der vor Boris zu Dimitrij geflohene Gavrila Puškin55 den obersten Heerführer Fedors, Basmanov, zum Verrat zu überreden. Sein wesentliches Argument ist nicht das größere Recht des angeblichen Dimitrij auf die Krone (dieses wird von beiden bezweifelt), sondern die Volksmeinung: Das Volk glaube an Dimitrij, laufe überall kampflos zu ihm über und liefere seine Herren an ihn aus. Der irrationale Glaube des Volks an einen heiligen Wundertäter und zugleich wunderbar geretteten Zarewitsch wird von den Bojaren benutzt und zu ihren Zwecken eingesetzt. Erst dadurch erlangt die Volksmeinung aktive Kraft. In der darauffolgenden Szene „Sevsk“ urteilt umgekehrt ein gefangener Russe über den Usurpator.56 Aufgefordert zu berichten, was das Volk von ihm halte, sagt er: „Man sagt, du seist [...] zwar ein Betrüger, aber ein ganzer Kerl“ (80).

„Boris Godunov“

159

Held und Gegenspieler werden in aufeinanderfolgenden Szenen mit der sie entlarvenden Meinung des Volks konfrontiert. Beide reagieren auf verschiedene Weise großmütig: Boris schützt den Christusnarren vor der Ergreifung durch die Bojaren. Dimitrij lacht.57 Sowohl der innere Aufbau der Szenen als auch ihre spiegelsymmetrische Anordnung zielen weniger auf die Entwicklung der Handlung ab als auf ein Vorführen verschiedener Betrachtungsweisen eines Ereignisses und einer Gestalt, das heißt, auf deren Lesarten und ihre Interpretationen gemäß der Innenperspektive des jeweiligen Sprechers.58 Die einzelnen Perspektiven ergeben ein Mosaik von Augenblicken, Bildern und Meinungen, die den Verlauf der geschichtlichen Vorgänge in seiner Prozeßhaftigkeit veranschaulichen. Puškin ging demnach in diesem Stück weit über seine Vorbilder Shakespeare und Kаramzin hinaus. „Boris Godunov“ bricht nicht nur in formaler Hinsicht mit den Traditionen der Gattung Tragödie, sondern auch in bezug auf die Figurenkonzeption. Dies gilt für den Titelhelden und seinen Gegenspieler ebenso wie für Pimen, die Figur, die die Wahrheit der Anschuldigungen gegen Boris bestätigt und den Gegenspieler einführt. Pimen erweist sich als voreingenommener, tendenziöser Berichterstatter. Eine Liebesintrige wird nicht entwickelt: Boris Godunovs Frau wird erst in der letzten Szene, aus Anlaß ihrer Ermordung, erwähnt; die Szene zwischen dem Falschen Dimitrij und Marina kann geradezu als Parodie auf herkömmliche Liebesszenen gelten.59 Neu sind die angedeutete Ringstruktur und der offene, „stumme“ Schluß. Auf der Mikroebene kommt die Nichtkommunikation zwischen den Gesprächspartnern hinzu60, ferner der Wechsel zwischen deklamatorischer und privater Intonation. Wie neu dieser Textaufbau war, ist auch an den späteren russischen Bearbeitungen des Stoffs ablesbar. Obwohl sich alle – positiv oder negativ – auf Puškins Stück beziehen, greifen sie auf die traditionelle Akteinteilung zurück und lassen Boris ein eindeutiges Geständnis ablegen. Die einzigen Stücke, die sich auf der russischen Bühne etablieren konnten, sind Aleksej Konstantinovič Tolstojs „Boris Godunov“-Trilogie und die Oper Musorgskijs. Gegenüber Puškins offener Geschichts- und Textauffassung stellen diese Dramen eine Rückkehr zu vertrauten Konventionen dar. Die genannten Verfahren der inneren Dialogisierung und der Perspektivierung der Repliken bewirken in Verbindung mit dem Fehlen eines Personenverzeichnisses, einer Akteinteilung und Szenennumerierung eine Tendenz zur Episierung, die möglicherweise auch durch die zur Entstehungszeit von „Boris Godunov“ in Rußland einsetzende Rezeption der historischen Romane Walter Scotts inspiriert wurde.61 In einem von Aleksandr Bestužev übersetzten und 1825 in „Syn Otečestva“ (Sohn des Vaterlands) publizierten Artikel aus der „Revue encyclopédique“ wurde der Bedeutung der Geschichte für die neueste Literatur ein hoher Rang eingeräumt und Walter Scott als Vorbild für historische Dichtung und Geschichtsschreibung genannt: „Der historische Roman aber, wie ihn Walter Scott schuf, wurde wahrhafter als die Geschichte, indem er das vorstellte, was sie nie ausgesprochen hatte, das heißt das private Leben der Natio-

160

Aleksandr Puškin

nen, ihre Sitten, das Dunkel ihrer Gebräuche, Glaubensvorstellungen und Begriffe, die den Charakter eines Volks und die Physionomie des Jahrhunderts bilden.“62 Walter Scott erschien aber nicht nur als Vorbild für einen historischen Roman, der wahrhafter sei als die Geschichtsschreibung, sondern auch für die neue Tragödie: „Frankreich sucht jetzt eine historische Tragödie: W. Scott gab das Muster dafür. Sein in höchstem Grade dramatischer Genius gibt allen Gestalten Leben und Handlung. Bei ihm ist alles in Bewegung, alles geschieht vor unseren Augen, und sogar diese so sehr kritisierten langen Gespräche dienen immer der Erklärung der Charaktere oder Situationen. Er hat als erster die Poesie aus der Spekulation herausgezogen, in der sie ertrunken war.“63 Auch Puškin zeigt in „Boris Godunov“ wie Scott die Figuren vorrangig in privaten Situationen, in häuslicher Umgebung bzw. in alltäglichem Geschehen, in das die politischen Aktionen einfließen, relativ selten dagegen in offiziellen, öffentlichen Handlungen. Und er entwirft Boris und Otrep’ev als völlig verschiedene Charaktere, deren Eigenheiten (Offenheit und Abenteuerlust vs. staatsmännische Klugheit und Zurückhaltung) ihr Schicksal im Drama bestimmen. Bereits 1826 hatte der anonyme Zensor – explizit64 wie implizit – durch die Aussage, das Ziel von Puškins Stück sei es, „die historischen Ereignisse in natürlicher Gestalt, in den Sitten ihres Jahrhunderts zu zeigen“65, Bezugslinien zu Walter Scott gezogen. Er formulierte damit eine Aussage, die zu den Grundaussagen der russischen Scott-Rezeption gehört, und er schlug vor, das Stück in einen Roman in Scottscher Manier umzuschreiben. Im Zusammenhang mit den in Rußland beginnenden Diskussionen um den historischen Roman sollten auch die Auseinandersetzungen um die Differenz von Geschichtsschreibung und fiktionalen Texten geführt werden.66 Zeitgenössische Kontexte, politische Aktualität Puškins Hinwendung zu dem historischen Stoff im Jahre 1824 ist nicht nur in Verbindung mit der Lektüre von Karamzins „Istorija gosudarstva Rossijskogo“, sondern auch im aktuellen politischen Kontext der Zeit zu sehen. Den Dichter, der seit 1820 in den russischen Süden strafversetzt und nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst 1824 auf das Familiengut Michajlovskoe verbannt worden war, beschäftigte zunehmend das Thema der Relation von Macht und Moral, von rechtmäßiger und unrechtmäßiger Herrschaft. Der regierende Zar Alexander I. war nicht der erste russische Monarch, der durch die Ermordung seines Vorgängers auf den Thron gelangte. Dasselbe galt für seine Großmutter, Katharina II. Dennoch hatten beide Anerkennung gefunden: Katharina als die Große, die Gesetzgeberin, Alexander als Sieger über Napoleon und „Retter Europas“. Beide bewiesen augenfällig, daß die ethisch-moralische Forderung nach Einheit von Macht und Moral keine Vorbedingung erfolgreicher Herrschaft war. Beispiele dafür gab es auch in der europäischen Geschichte, in der Frankreich zwischen 1789 und 1815 das Schauspiel der Revolution, des Sturzes und der Hinrichtung seiner gekrönten Häupter, des Aufstiegs Napoleon Bonapartes

„Boris Godunov“

161

zum Alleinherrscher und seines zweimaligen Falls geliefert hatte. Puškin, der in seinen frühen Texten zunächst Alexander I. als „strahlenden Zar des Nordens“ und Repräsentant gesetzmäßiger Herrschaft gegen Napoleon als Usurpator des Bourbonenthrons und gesetzlosen Tyrannen gestellt hatte67, war während seiner Strafversetzung in den Süden, wo er in engem Kontakt zu dem Kišinever Dekabristenzirkel, den Brüdern Turgenev und anderen, stand, zu einem differenzierteren Napoleonbild gelangt. 1821, im ersten Jahr seines Aufenthalts in Kišinev, hatte er Napoleon in dem gleichnamigen Gedicht aus Anlaß seines Todes ambivalent als einen zur höchsten Macht gelangten und wieder gestürzten großen und zugleich verbrecherischen Mann gezeichnet, als Genie, dessen Ruhm mit Blut und Schande bedeckt sei, und ihm dabei Alexander I. noch als gerechten und die Interessen des Volks vertretenden Herrscher gegenübergestellt. Die Unterschiede in der Konzeption beider Herrscher nivellierten sich jedoch bei Puškin in den nächsten Jahren, in denen er wegen seiner „aufrührerischen“ Gedichte strafversetzt68, die Figur des gerechten Herrschers im Licht des Verhältnisses von Macht und Moral immer problematischer sah. Damit steht nicht mehr der Kampf zwischen einem Tyrannen und einem gerechten Herrscher im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Frage nach der Natur jeglicher Macht und den Mitteln zu ihrer Erlangung und Ausübung. Der Herrscher und sein Gegenspieler, nicht mehr als oppositionelle, einander entgegengesetzte Figuren darstellbar, werden zu Varianten ein- und derselben Figur. Als solche beanspruchen und erhalten beide dasselbe Maß an Interesse. Dies wird in „Boris Godunov“ durch die Gleichbehandlung von Titelheld und Gegenspieler realisiert. Neben diese Angleichung des Mächtigen und seines Widersachers, der jetzt weniger ein Vertreter der gerechten Forderungen der Opfer ist als ein Mensch, der seine eigenen Interessen verfolgt, tritt nun der Aspekt der Reaktion der Beherrschten als der eigentlichen, gegen die Mächtigen gerichteten Kraft und damit auch der eines eventuellen Aufstands der Untertanen gegen eine als nicht gerecht erkannte Herrschaft. Diese Diskussion, die mit zunehmender Restauration monarchischer Gewalt zu Beginn der zwanziger Jahre in Rußland sehr aktuell war, wurde vor allem unter den Mitgliedern der Geheimgesellschaften der späteren Dekabristen entwickelt. Ihre Debatten und Schriften waren von zwei Fragen beherrscht: Die erste betraf den Widerspruch zwischen Recht und Unrechtmäßigkeit, in die sich ein Aufständischer gegen eine legitime Herrschaft begibt, die zweite das Schicksal, das die Teilnehmer eines mißlungenen Aufstands erwartet.69 Zeitgleich mit „Boris Godunov“ gestaltete Puškin 1825 in dem Gedicht „André Chénier“ die Figur eines nicht selbst die Macht begehrenden, sondern uneigennützig, um der Freiheit und Gesetzmäßigkeit willen handelnden aufständischen Dichters, der für seine Ideale, für die Wahrheit in den Tod geht. Chénier hatte die Französische Revolution zunächst begrüßt und unterstützt, sich dann jedoch gegen die jakobinischen Ausschreitungen gewandt und endete als Opfer Robespierres unter der Guillotine. Hier erscheint bereits als Nebenmotiv der

162

Aleksandr Puškin

Gedanke, daß der Sturz eines Tyrannen zur Etablierung des nächsten führen kann. In „Boris Godunov“ baute Puškin diesen Gedanken weiter aus und wandte sich dem Thema des Machtkampfs zwischen dem Mächtigen und dem nach Macht Strebenden zu. Dabei beschäftigte ihn, wie seine Lektüre und seine Notizen belegen, insbesondere das Problem des politischen Mords zur Absicherung einer Herrschaft.70 Es war ein gefährliches Thema; denn es betraf auch den regierenden Zaren Alexander I., der durch die Ermordung seines Vaters auf den Thron gekommen war. In diesem Kontext wird die Geschichte für Puškin interessant. Er hatte also gute Gründe, die Aktualität des Stücks durch den offenbar gemachten Bezug auf Karamzins Geschichtswerk zu camouflieren. Rezeption Obwohl sich Puškin seit seiner „Rehabilitierung“ durch Nikolaj I. 1826 um eine Druckerlaubnis für sein Stück bemühte, konnte der Text erst nach der dritten Vorlage die Zensur passieren und im Jahr 1831 schließlich in gekürzter Fassung erscheinen. 1870 erstmals in stark zensierter Form aufgeführt, ist „Boris Godunov“ seitdem nur selten gespielt worden und auch später – unzensiert – ohne große Erfolge geblieben. Ein Grund dafür liegt wohl im Ausnahmecharakter des Stücks, das in seiner formalen Gestaltung keine Nachfolger in der russischen Literatur gefunden hat. Alle folgenden Dimitrij- bzw. Boris-Dramen des 19. Jahrhunderts setzen sich zwar mit Puškins Stoffkonzeption auseinander, weisen aber eine traditionelle Dramenstruktur auf. Die wenigen Aufführungsversuche von „Boris Godunov“ im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert waren historisierend angelegt. Erst Jurij Ljubimov versuchte 1982 am Taganka-Theater eine neuartige Inszenierung, die die Universalität der Problematik akzentuierte und dabei das theatrale Potential des Textes sichtbar machte.71 Er akzentuierte den karnevalesken Aspekt und die politische Aktualität des Themas Machtergreifung und Machtbewahrung bzw. -verlust, die im Jahr 1982 durch den Tod Leonid Brežnevs und die Wahl Jurij Andropovs zu seinem Nachfolger zusätzliche Brisanz erhielt und entscheidend zum Verbot der Aufführung beitrug. In der Zeit der Perestrojka konnte Ljubimov diese Inszenierung wieder auf die Bühne bringen, doch wurde Puškins „romantische Tragödie“ in diesem Zusammenhang als ein Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung rezipiert.

Bodo Zelinsky

Nikolaj Gogol’: Revizor (Der Revisor) Am 7. Oktober 1835 wandte sich Gogol’ an Puškin und bat um „ein Sujet“, um „irgendeine komische oder nicht komische, aber echt russische Anekdote“. Und er fügte hinzu: „Im Handumdrehen wird daraus eine Komödie in fünf Akten, und ich schwöre, sie wird komischer sein als der Teufel.“1 Ob Puškin der Bitte entsprach2, ist trotz Gogol’s späterer Behauptung „Die Idee zum ‚Revizor’ stammt von ihm“ nicht belegt. Auf jeden Fall meldete er zwei Monate später, in einem Brief an Michail Pogodin vom 6. Dezember 1835, das Stück sei fertig und werde „zum Abschreiben“ gegeben.3 Es handelte sich dabei bereits um die zweite Fassung. Im Unterschied zur ersten, die noch ganz den Charakter eines Entwurfs hatte, waren jetzt Handlungsverlauf und Figurenkonstellation vollständig festgelegt. Dennoch arbeitete Gogol’, wie er Pogodin am 21. Februar 1836 schrieb, „unaufhörlich“ weiter am Text.4 Neben stilistischen Überarbeitungen nahm er vor allem Straffungen in der Dialogführung und in der Komposition der Szenen und Akte vor. So strich er nicht nur Anna Andreevnas Erzählung vom Stabshauptmann Stavrokopytov in III, 3 oder die Schilderung „wie seltsam Puškin dichtet“ und andere Passagen aus Chlestakovs großem Monolog in III, 6, sondern auch ganze Auftritte wie den Rastakovskijs (IV, 6), Gibners (IV, 8), Pogonjaevs (V, 6) und der noch einmal zurückkehrenden Kaufleute (V, 7). Die zweite Fassung erschien, zuerst am 2. März und dann am 14. April von der Zensur freigegeben, am 19. April 1836 im Druck, an dem Tag, an dem die Komödie im Petersburger Aleksandrinskij teatr uraufgeführt wurde. Wie sich Pavel Annenkov erinnert5, hat Gogol’, gereizt wegen der überaus negativen Reaktion des Premierenpublikums, das ihm nach der Vorstellung überreichte Exemplar der Erstausgabe wütend zu Boden geworfen und seine Enttäuschung anschließend in die Worte gefaßt: „Wenn ein oder zwei geschimpft hätten, dann in Gottes Namen, aber es waren doch alle, alle…“ Auch die Moskauer Inszenierung im Malyj teatr mit dem berühmten Ščepkin in der Rolle des Stadthauptmanns konnte, obwohl etwas positiver aufgenommen, nichts mehr an Gogol’s resignativer Grundstimmung ändern. „Mein Stück ist mir zuwider“, heißt es in „Otryvok iz pis’ma, pisannogo avtorom vskore posle pervogo predstavlenija ‚Revizora’ k odnomu literatoru“ (Auszug aus einem Brief, den der Autor kurz nach der Uraufführung des „Revizor“ an einen Schriftsteller geschrieben hat).6 Nachdem Gogol’, „seelisch und körperlich erschöpft“, wenig später Rußland verlassen und sich im Ausland neuen Aufgaben wie der Arbeit an dem Roman „Mertvye duši“ (Die toten Seelen, 1842) zugewandt hatte, dauerte es fast drei Jahre, ehe er zu dem inzwischen verhaßten Stück zurückkehrte. Ende 1838 begann er, einige noch für unfertig gehaltene Szenen zu überarbeiten. Als sich die Publikation einer verbesserten Neuauflage nicht so schnell wie erhofft verwirk-

164

Nikolaj Gogol’

lichen ließ, brach er die Überarbeitungen zunächst ab, nahm sie dann aber im Januar und Februar 1841 in Rom um so intensiver wieder auf. Anfang März sandte er sämtliche Änderungen an Pogodin, den Herausgeber der zweiten Buchausgabe, die bald nach der Zensurgenehmigung vom 27. Juli erschien. Was Gogol’ veranlaßt hatte, die Ausgabe von 1836 so stark zu überarbeiten, war weniger die enttäuschende Resonanz bei der Uraufführung des „Revizor“ als die schon während der Vorstellung gewonnene Erkenntnis, daß der Text noch einige Unzulänglichkeiten vor allem in kompositioneller Hinsicht enthalte. Der Anfang des vierten Akts schien ihm etwas „farblos“ zu sein. „Es scheint so“, erläuterte er, „als ob hier der bis dahin leichte Fluß des Stücks unterbrochen wird.“7 Bei der Überarbeitung gelang Gogol’ eine szenisch äußerst wirkungsvolle und zugleich dem Gesamtvorgang gemäßere Verbesserung: Nicht Chlestakov bittet jetzt die Beamten um Geld, sondern die Beamten bieten es ihm, nacheinander vor den vermeintlichen Revisor tretend, von sich aus an. Den Anstoß zu einer erneuten Textdurchsicht gaben die Vorbereitungen zur ersten Ausgabe der gesammelten Werke. Nach einem kurzen Rußlandaufenthalt unterzog Gogol’ im Juni und Juli 1842 zuerst in Frankfurt am Main und dann in Bad Gastein das handschriftliche Exemplar der Erstausgabe des „Revizor“ einer gründlichen Überarbeitung. Die von einem Schreiber angefertigte Reinschrift dieses Exemplars diente als Vorlage für die am 30. September 1842 genehmigte Drucklegung. Die in Band IV der ersten Werkausgabe abgedruckte Fassung, die vierte insgesamt8, sollte die endgültige sein. Sie wurde deshalb auch – mit einigen Varianten versehen – unverändert in die beiden posthumen Werkausgaben von 1855 und 1856 übernommen. Nur die Theater benutzten noch bis 1870 die Bühnenfassung aus dem Jahr 1836. Mit der vierten Fassung war, wie Nikolaj Brodskij formuliert, aus der „farcenhaften Anekdote der frühen Entwürfe“, der „Alltagskomödie“ und der „Sittenkomödie einzelner sozialer Gruppen“ eine „Charakterkomödie voller dramatischer Dynamik und ausgefeilter Bühnentechnik“ geworden.9 Gogol’ aber betrachtete seine Arbeit am „Revizor“ damit noch keineswegs als beendet. Er fuhr jetzt verstärkt fort, die Komödie durch kommentierende Texte zu ergänzen. Dem schon in der Einzelausgabe von 1841 als Anhang enthaltenen „Auszug aus einem Brief, den der Autor kurz nach der Uraufführung des ‚Revizor’ an einen Schriftsteller geschrieben hat“ fügte er als Abschluß der Werkausgabe von 1842 einen Kommentar in szenischer Form hinzu: „Teatral’nyj raz’’ezd posle predstavlenija novoj komedii“ (Aufbruch aus dem Theater nach der Aufführung einer neuen Komödie). Die gedruckte Fassung geht auf eine ungedruckte aus dem Jahr 1836 zurück, betont jedoch weniger die kritische Rezeption als die immanente Ästhetik des Werks. Mit dem nächsten, im Oktober 1846 entstandenen Kommentar, ebenfalls in szenisch-dialogischer Form, ging Gogol’ noch ein Stück weiter und erhob den Anspruch die „Lösung“ (razvjazka), das heißt den Schlüssel zum Verständnis des „Revizor“ zu liefern.10 Doch trotz der Genehmigung durch die Zensur konnte er sich, offenbar angesichts der heftigen Kritik,

„Revizor“ (Der Revisor)

165

die seine damals gerade erschienene Sammlung „Vybrannye mesta iz perepiski s druz’jami“ (Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden) gefunden hatte, nicht zur Veröffentlichung entschließen. Auch hier fürchtete er, falsch verstanden zu werden. „In diesem Stück“, gestand er deshalb dem Schauspieler Ščepkin, „habe ich mich so ungeschickt angestellt, daß der Zuschauer unwillkürlich folgern muß, ich hätte aus dem ‚Revizor’ eine Allegorie machen wollen. Diese Absicht hatte ich jedoch nicht.“11 Selbst die auf den Schluß von „Razvjazka Revizora“ beschränkte Überarbeitung bewirkte keine grundsätzliche Änderung der Gesamtkonzeption. Dagegen ist der etwa zur gleichen Zeit verfaßte Text „Preduvedomlenie dlja tech, kotorye poželali by sygrat’ kak sleduet ‚Revizora’“ (Hinweis für alle, die den ‚Revizor’ richtig spielen wollen) frei von jeglicher allegorisierenden Tendenz. Ganz auf die Theaterpraxis bezogen, beschreibt Gogol’, an „Otryvok iz pis’ma, pisannogo avtorom vskore posle pervogo predstavlenija ‚Revizora’ k odnomu literatoru“ anknüpfend, sowohl die Haupt- als auch die Nebenfiguren der Komödie und erklärt, wie sie nach seiner Ansicht von den Schauspielern verkörpert werden sollen. An den Anfang stellte er einen Satz, der einen Hauptmangel der Uraufführung und zugleich eine Grundforderung für jede Inszenierung des „Revizor“ benennt: „Vor allem ist darauf zu achten, daß man nicht ins Karikieren verfällt.“12 Wie Čechov gehört Gogol’ zu den Dramatikern, die eine ganz klare und präzise Vorstellung von der Übertragung ihrer Stücke auf die Bühne hatten. Das erklärt auch das Ausmaß seiner Enttäuschung über die ersten Aufführungen des „Revizor“ in Petersburg und Moskau. Stoff und Tradition Obwohl ein eindeutiger Beleg fehlt, daß es Puškin war, dem die stoffliche Grundlage zum „Revizor“ zu verdanken ist, spricht einiges für eine Anregung von dieser Seite. Der Dichter hatte die Art von Verwechslung, auf der Gogol’s Komödie basiert, am eigenen Leib erfahren, als er sich 1833 in Orenburg aufhielt und Material zu einer Geschichte des Pugačovschen Aufstands sammelte. Diese Materialsammlung, so war vom Verfasser eines vertraulichen Schreibens behauptet worden, sei „nur ein Vorwand“, in Wahrheit diene die Reise dem Ziel, „insgeheim die Tätigkeit der Orenburger Beamten einer Überprüfung zu unterziehen“.13 In einem anderen, ebenfalls von Puškin berichteten Fall gab sich ein Reisender für einen Ministerialbeamten aus und zog auf diese Weise den Bewohnern der Stadt Ustjužna im Gouvernement Novgorod das Geld aus den Taschen.14 Der Schriftsteller Sollogub war überzeugt, daß Gogol’, der seinerseits einmal, aus der Ukraine kommend, vorgegeben hatte, ein Adjutant des Zaren zu sein, um die Abfertigung auf den Poststationen zu beschleunigen, die beiden Begebenheiten gekannt und für den „Revizor“ fruchtbar gemacht hat. Das hieße, die wichtigste Quelle seiner Komödie war die Wirklichkeit selbst. Tatsächlich kam es im damaligen Rußland nicht selten vor, daß jemand für eine höhere Persönlichkeit gehalten wurde. Dies hing mit der verschärften Kontrolle der provinziellen Verwaltungsorgane unter Nikolaj I. zusammen. Mit unerwarteten

166

Nikolaj Gogol’

Revisionen mußte immer gerechnet werden. Jeder Fremde konnte daher ein getarnter Revisor sein. Doch nicht nur aus dem Leben, sondern auch aus der Literatur war Gogol’ der zeittypische Irrtum in bezug auf Rang und Absichten eines unbekannten Reisenden vertraut. 1827 hatte sein ukrainischer Landsmann Grigorij Kvitka-Osnov’janenko dargestellt, welche Verwirrungen entstehen, wenn die Honoratioren einer kleinen Provinzstadt irrtümlich glauben, der angekommene Petersburger Beamte sei der erwartete Revisor. Der „Ankömmling aus der Hauptstadt“ (Priezžij iz stolicy), wie der Titel15 der Komödie den Helden umschreibt, nimmt zuerst größere Geldbeträge entgegen und wirbt dann mit Erfolg um die Nichte des Stadthauptmanns. Die Fabel hat – abgesehen von der traditionellen Liebesgeschichte, die es bei Gogol’ nicht mehr gibt – bis in die doppelte Verwendung des Briefs als Konflikt schaffendes und Konflikt lösendes Element hinein größte Ähnlichkeit mit der des „Revizor“.16 Nur wird das Mißverständnis aufgedeckt, bevor der Verwechselte abreisen kann. Der eigentliche Unterschied zwischen den beiden Komödien liegt in der Figur des Helden. Kvitkas Pustolobov ist ein bewußter Betrüger wie Molières Tartuffe, der Frömmigkeit heuchelt, um es im Hause Orgons zu Ansehen und Macht zu bringen. Und wie Tartuffe wird er am Ende entlarvt und bestraft. Gogol’s Chlestakov trägt vorsätzlich nichts zu seiner Verwechslung bei, ja er merkt bis zum Schluß nicht einmal, daß er für einen Revisor gehalten wird. Er wird zwar entlarvt, aber, da er vorher abgereist ist, nie bestraft. Das Milieu, mit dem Gogol’ seinen Helden, den aus Petersburg kommenden Fremden, konfrontiert, Provinz und Beamtentum, findet sich nicht erst bei Kvitka. Es war schon in der russischen Ständesatire des 18. Jahrhunderts verwendet worden. Das bedeutendste Muster hatte ein anderer Landsmann Gogol’s geschaffen. Zwischen 1791 und 1798 entwarf Vasilij Kapnist in seiner Komödie „Jabeda“ (Die Prozeßschikane) aus eigener, in einem langjährigen Erbschaftsprozeß gewonnenen Erfahrung die typische Atmosphäre des Provinzgerichts, einschließlich des dazugehörigen Gerichtspersonals vom Assessor und Prokurator über den Richter bis zum Präsidenten. Die vielfältigsten Laster, Geldgier, Trunksucht, Ausschweifung, Spielleidenschaft, Jagdbesessenheit, sind hier vereint. Kaum ein Mißstand wird verschwiegen, sei es die Bestechlichkeit der Beamten, die Verschleppung der Prozesse oder die Willkür der Urteile und Bescheide. Wie Kapnist wollte Gogol’ in seinem Stück alles Schlechte versammeln. Zu diesem Zweck vergrößerte er die Zahl der Personen und der Amtsbereiche. Das Gericht bildet nur noch eine Institution unter anderen. Hinzu kamen zivile Verwaltung, Polizei, Schule, Post, Armenanstalten und indirekt auch Kirche und Militär. Die Laster und Mißstände blieben im Prinzip die gleichen, stehen jetzt aber stärker für die Stadt als Ganzes. Was bei Kapnist fehlt, die Konfrontation der Provinzler mit dem hauptstädtischen Fremden, konnte Gogol’ nicht nur bei Kvitka, sondern auch bei August von Kotzebue studieren, der um 1800 in Rußland ebenso populär wie einfluß-

„Revizor“ (Der Revisor)

167

reich war.17 Dessen berühmtestes, 1804 ins Russische übersetztes Lustspiel „Die deutschen Kleinstädter“ ist die karikierende Beschreibung der Bewohner von Krähwinkel mit ihrer Vetternwirtschaft, ihren antiquierten Verhaltensregeln, ihrer Lust am Klatsch und ihrer Sucht nach Titeln. Anlage und Wirkung des Stücks beruhen darauf, daß die Entlarvung der Gruppe in der Gegenüberstellung mit einer von außen kommenden Einzelgestalt erfolgt. Olmers, der für einen Minister gehaltene „Fremdling“ aus der „großen Residenz“, stört durch sein Erscheinen die Ruhe einer Gemeinschaft und zwingt zu Reaktionen unterschiedlicher Art, wodurch er Zug um Zug den negativen Charakter des pluralen Helden enthüllt. Doch selbst der vernünftige Einzelne, der seinen Titel, den eines Geheimen Kommissionsrats, bis zuletzt verschweigt, stellt keine Alternative zur Unvernunft der Gruppe dar. Der Gruppe ist nicht zu helfen, auch nicht durch den Vertreter von Autorität und Obrigkeit. Olmers kennt nur eine Lösung für das private Leben. Er heiratet die Tochter des Bürgermeisters und kehrt in die Residenzstadt zurück. Kotzebues Bekenntnis zur Konvention des glücklichen Komödienausgangs kann das Ungelöste der nach Lösung verlangenden öffentlichen Situation nicht völlig verdecken. Bei Gogol’ entfällt dieser Kompromiß. Mit dem Verzicht auf die Idee von Liebe und Heirat bleiben die aufgebrochenen Widersprüche am Ende ungemildert bestehen. Sie bleiben auch deshalb bestehen, weil der vermeintliche Revisor keineswegs besser ist als die Beamten eines Städtchens in der russischen Provinz. Im Grundschema und in vielen Einzelheiten der Handlung, der Figuren und der Zustände stimmen Gogol’s „Revizor“ und Kotzebues „Deutsche Kleinstädter“ auffällig überein. Eine Quelle im engeren Sinne ist das letztere Stück jedoch ebensowenig wie die anderen Stücke, von denen sich Gogol’, ein Kenner der russischen Literatur, aber auch der Weltliteratur, bewußt oder unbewußt inspirieren ließ. Gerade der Blick auf die Tradition verdeutlicht die Selbständigkeit und Einzigartigkeit einer Komödie, die auf eine Stufe mit den besten Beispielen ihrer Gattung gestellt werden darf. Alles Entlehnte, von Motiven18 und Situationen über Charakterzüge bis zu Komikverfahren19 und Bühneneffekten, ist hier restlos ins Eigene verwandelt. Verwechslungskomödie Auch strukturell steht Gogol’s „Revizor“ in einer Tradition, der Tradition der Verwechslungskomödie, die so alt ist wie die Gattungsform selbst. Dennoch verkörpert das Stück auch in dieser Hinsicht etwas ganz und gar Neues. Normalerweise bildet die Situation der Verwechslung eine kleine Ereigniseinheit.20 Hier aber bestimmt sie die Handlung vom Anfang bis zum Ende. Das Ganze ist auf ein einziges großes Mißverständnis gestellt: Ein Petersburger Beamter wird bei seinem Aufenthalt in einem russischen Provinzstädtchen für den angstvoll erwarteten Revisor gehalten. Aus der Tatsache, daß man den Verwechselten für wichtiger hält, als er in Wirklichkeit ist, ergibt sich ein Bezug zu zwei inhaltlichen Hauptvarianten der herkömmlichen Verwechslungskomödie. In der ersten,

168

Nikolaj Gogol’

die von der Commedia dell’arte bis zu Molières „Les précieuses ridicules“21 häufig begegnet, benutzt ein Diener die Kleidung seines Herrn, um als Angehöriger eines höheren Standes zu erscheinen. Die zweite Variante, charakteristisch für die nachmolièresche Zeit, stellt einen Hochstapler in den Mittelpunkt. Meist handelt es sich dabei um einen falschen Grafen, der am Schluß als Abenteurer, Mitgiftjäger oder gewissenloser Freigeist entlarvt wird. Eines der vielen Beispiele, Brueys’ „L’Important de la cour“, benutzte Knjažnin 1791 als Vorlage für seine Komödie „Chvastun“ (Der Prahler). Die Titelfigur, der Pseudograf Vercholet, regte 1827 Kvitka zu seinem Pseudorevisor Pustolobov an. So schließt sich der Kreis. Gogol’s Komödienheld Chlestakov, literarisch Pustolobovs unmittelbarer Nachfolger, ist kein hochstaplerischer Graf und kein als Herr verkleideter Diener. Trotzdem besitzt er etwas von beiden. Er ist ein kleiner Kanzleiangestellter, ein Beamter von niedrigem, ja niedrigstem Rang22, der jedoch einen aufwendigen Lebensstil liebt und zuerst unbewußt, dann immer bewußter den Eindruck erweckt, einen hohen Rang zu bekleiden, und der auf dem Gipfel seiner Prahlereien vorgibt, mit Ministern und Gesandten vertrauten Umgang zu pflegen. Auf diese Weise füllt Chlestakov, und das macht ihn so unverwechselbar, eine Rolle aus, die er nicht selbst geschaffen hat, sondern ihm von außen aufgedrängt wird. Aus dem Widerspruch, daß er keineswegs ist, was er zu sein scheint, entsteht eine wachsende Folge von Irrungen und Wirrungen und legt sich als ein dichtgewebtes Geflecht über das gesamte Geschehen. Damit löste Gogol’ seine Forderung „Die Schürzung des Knotens muß alle Figuren umfassen“23 beispielhaft ein. In dieser Hinsicht hatte er seine beiden bedeutendsten Vorgänger, Fonvizin und Griboedov, zu Recht getadelt. Die Komödien „Nedorosl’“ (Der Landjunker, 1782) und „Gore ot uma“ (Verstand schafft Leiden, 1825), die er wegen ihrer Milieutreue und ihrer satirischen Schärfe rühmt, werden seiner Überzeugung nach im Kompositionellen den „Ansprüchen der Bühne“ weniger gerecht als das trivialste Boulevardstück: „Der Knoten der Handlung ist weder fest geknüpft noch mit Geschick entwirrt.“24 Gerade im Knüpfen und Entwirren des Handlungsknotens zeigt sich Gogol’ als ein an französischer Formkunst geschulter Meister. Das beginnt mit der Korrespondenz des allerersten und des allerletzten Satzes. Im ersten teilt der Stadthauptmann seinen Beamten mit: „Ein Revisor kommt zu uns.“ Im letzten meldet ein Gendarm: „Der auf höchsten Befehl aus Petersburg eingetroffene Beamte fordert Sie unverzüglich zu sich.“ Die Mitteilung am Anfang und die Meldung am Ende stimmen in ihrer Aussage fast überein. Sie beziehen sich beide auf dieselbe Person. Nur geht es dort um die bevorstehende und hier um die tatsächliche Ankunft. Dazwischen aber ereignet sich das, was den Inhalt des Stücks ausmacht: die Verwechslung eines zufällig im Gasthof abgestiegenen Fremden mit dem erwarteten Revisor, der im Rang eines Senators die Gouvernements bereist. Der Fremde ist dann, ohne es zu wissen, für zwei „tolle Tage“25 der Erwartete. Den Irrtum, der aus der Mitteilung des Stadthauptmanns resultiert, korrigiert nicht erst die Meldung des Gendarmen. Das geschieht, eine Sze-

„Revizor“ (Der Revisor)

169

ne vorher, durch die Verlesung des Briefs, den Chlestakov vor seiner Abreise geschrieben und den der Postmeister wie alle Briefe geöffnet hat. Zu der ersten Korrespondenz tritt damit eine zweite. Denn auch am Anfang steht ein Brief, das Warnschreiben eines Freundes, dem der Stadthauptmann seine Kenntnis von dem drohenden Kontrollbesuch verdankt. Zwei Briefe „flankieren“ so den Geschehensverlauf.26 Der erste, der zu „vorbeugenden Maßnahmen“ rät, löst bei aller Hektik eine Vielzahl überlegter Anordnungen und gezielter Vertuschungen aus. Der zweite, der die Beamten als „sonderbare Käuze“ porträtiert, zwingt zu der Einsicht, daß die scheinbar erfolgreichen Bemühungen letztlich doch vergeblich waren. Mehr noch: Man erkennt sich als betrogene Betrüger. Und am schlimmsten: Man ist weder auf einen Revisor noch auf einen Betrüger hereingefallen, sondern auf eine Person, der man selber die Rolle des Revisors und Betrügers aufgezwungen hat. In dieser Situation, die bereits einen wirkungsvollen Abschluß gebildet hätte, erscheint, genau kalkuliert, der Gendarm und meldet, was jetzt niemand erwartet und sich wünscht. Dem Brief des falschen Revisors folgt als „leibhaftiges Postskriptum“ der richtige Revisor.27 Kein Schreiben warnt dieses Mal und kündigt das Kommen an. Die Meldung besagt: Der Revisor ist schon da und bittet auf der Stelle zum Rapport. Ein „Donnerschlag“ – wie die Eingangsworte des Stadthauptmanns, aber um ein Vielfaches stärker – beendet das Ganze. Den überraschten Personen bleibt nur noch die Erstarrung. „Stumme Szene“ nennt Gogol’ das, was auf die „Letzte Szene“ folgt, der Schluß des Schlusses, in dem alles, Sprache, Mimik, Gestik, Bewegung, einfriert und eine „versteinerte Gruppe“ ergibt. Der Virtuose der Form begnügt sich nicht mit einer Pointe, der Auflösung der Verwechslung in der Enthüllungszeremonie des reihumgehenden Chlestakovschen Briefs. Er setzt auf die erste eine zweite, knappere und schlagendere Pointe, die im Botenbericht erfolgende Einführung des richtigen Revisors, die nach dem Vorgefallenen wie die Ankündigung eines drohenden Strafgerichts wirkt. Nicht genug. Ein besonderer Schlußeffekt kommt noch hinzu: die Visualisierung der Reaktion des Kollektivs in einem Tableau wortlosen Erschreckens. Selbst der Zuschauer hört auf zu lachen. Er spürt, jetzt begänne der Ernst, wäre die Komödie nicht zu Ende. So kehrt am Ende die Ausgangslage unter veränderten Vorzeichen wieder. Die Ausgangslage heißt: „Ein Revisor kommt zu uns.“ Dieser Satz, der, gefolgt von den Erstaunen und Erschrecken äußernden echoartigen Fragen „Ein Revisor?“, „Ein Revisor?“, das Stück wie ein Donnerschlag eröffnet, setzt die Handlung umweglos in Gang und begründet zugleich das alles tragende Moment der Verwechslung. Denn der Revisor pflegt, so die Zusatzinformation des Stadthauptmanns, „inkognito“ zu reisen. Anderenfalls könnte er kaum verwechselt werden. Zu diesem objektiven Faktum gesellt sich das subjektive der Furcht.28 Die Furcht verleitet die Beamten dazu, den ersten besten Fremden für den angekündigten Revisor zu halten. Als die städtischen Gutsbesitzer Bobčinskij und Dobčinskij, die wie die beiden Klatschbasen in Kotzebues „Deutschen Klein-

170

Nikolaj Gogol’

städtern“ fortwährend auf der Jagd nach den letzten Neuigkeiten sind, hereinstürzen und, sich ständig gegenseitig unterbrechend, atemlos berichten, daß seit zwei Wochen ein junger Mann, ein Beamter aus Petersburg, Ivan Aleksandrovič Chlestakov, im hiesigen Gasthof wohnt, den Gasthof jedoch nie verläßt und bislang noch keine einzige Rechnung bezahlt hat, da genügt dieser – durch die Komik des sich pausenlos Ins-Wort-Fallens geprägte – Bericht bereits als Beweis. Die anderen lassen sich von den hastigen Beobachtungen und voreiligen Schlußfolgerungen des erregten „Zwillingspaars“29 sichtlich beeindrucken. Sofort sind alle der Meinung: „Er ist es“ (I, 3). Die Komik liegt im entlarvenden Zirkelschluß: Man erwartet einen Revisor, den man nicht kennt; ein Unbekannter ist angekommen; also muß der Unbekannte der Revisor sein.30 Dabei hat niemand so wenig von einem Revisor an sich wie der Aufschneider, Selbstinszenator und Lebenskünstler Chlestakov, der seine Tage mit Spazierfahrten, Plaudereien, Einladungen, Theaterbesuchen und allerlei sonstigen Vergnügungen verbringt und der nur das Beste liebt, das beste Essen, das beste Getränk, die beste Kleidung, die beste Gesellschaft, und diesen Anspruch auch in den regelmäßig wiederkehrenden Momenten äußerer Not aufrechterhält. So wird Chlestakov am Beginn des zweiten Akts, alter Komödientradition entsprechend, aus der Perspektive des monologisierenden Dieners vorgestellt, und so tritt er dann in den folgenden Gasthofszenen persönlich – handelnd und redend – vor das Publikum. Wie wenig diese Gestalt einem Revisor gleicht und wie unbegreiflich daher die Verwechslung ist, muß der Stadthauptmann am Ende, nach der Erkenntnis des Irrtums und der Gewißheit, sich lächerlich gemacht zu haben, wider Willen eingestehen: „Einen Grünschnabel und Waschlappen habe ich für eine wichtige Persönlichkeit gehalten!“ Und kurz darauf voller Schmerz: „Was hatte denn dieser Windbeutel mit einem Revisor gemein? Nichts, absolut nichts. Nicht mal sein kleiner Finger erinnerte an einen Revisor. Aber plötzlich schrien alle: der Revisor, der Revisor!“ (V, 8). Anfangs genügen winzige Details, ein Wort, eine Geste, ein Blinzeln, um in dem Fremden den inkognito reisenden Revisor zu erkennen. Je sicherer man ist, den Regierungsbeamten, ja sogar den hohen Regierungsbeamten vor sich zu haben, desto mehr verfestigt sich das Moment der Verwechslung, was zur stetigen Zunahme der Täuschungen, Verkennungen und Mißdeutungen führt, und desto weniger können schließlich alle die mitten in die Festlichkeit hineinplatzende Mitteilung des Postmeisters fassen: „Der Beamte, den wir für einen Revisor gehalten haben, war gar kein Revisor“ (V, 8). Was Chlestakov in den Augen der Stadthonoratioren am sichersten als Revisor ausweist, das ist das bereitwillige Entgegennehmen des angebotenen Gelds. Mehrmals im Stück wechselt ein Bündel Banknoten den Besitzer. Zuerst in II, 8, als der Stadthauptmann ängstlich das Gasthofzimmer betritt, wo ihn Chlestakov ebenso ängstlich erwartet. Beide bringen nur mühsam und nur „stotternd“ die ersten Sätze über die Lippen, wobei fast jedes Wort vom jeweiligen Gegenüber falsch verstanden wird, so daß sich die Konfusion hier wie dort ge-

„Revizor“ (Der Revisor)

171

radezu ins Unerträgliche steigert. Bei diesem Auftritt täuscht sich wie auf Klees berühmter Radierung „Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend“31 der eine im Rang des anderen. Chlestakov glaubt, der Stadthauptmann, der einen Wechsel der „Unterkunft“ vorschlägt, sei gekommen, um ihn wegen der unbezahlten Rechnungen zu verhaften, und der Stadthauptmann meint, Chlestakov, der sich als „Beamten aus Petersburg“ bezeichnet und auf den „Minister“ persönlich beruft, habe den Auftrag, ihn für seine eigennützige Amtsführung zur Rechenschaft zu ziehen. In dieser Situation des völligen Aneinandervorbeiredens und -denkens, wo sich die Sprache selbst zum ästhetisch-geistreichen Spielmittel verselbständigt und die Komik der Figuren und Kontraste akzentuiert, kann nur noch das unmißverständliche und daher von beiden Seiten sofort verstandene Stichwort „Geld“ die Wendung bringen. Es verschafft auf beiden Seiten die größte Erleichterung. Das Mißverständnis ist damit aber nicht beseitigt. Im Gegenteil, es hat sich vertieft und garantiert die Fortsetzung der Handlung auf der Grundlage der Verwechslungsstruktur. Die Bestechlichkeit aller Staatsdiener voraussetzend, ist der Stadthauptmann überzeugt, die drohende Gefahr mit den üblichen Mitteln abzuwenden, und Chlestakov, eben noch vom Hunger geplagt und ohne Aussicht auf eine ordentliche Mahlzeit, ist schon damit zufrieden, daß man ihm Gastfreundschaft gewährt und „Ergebenheit und Achtung, Achtung und Ergebenheit“ erweist. In seiner Zufriedenheit kommt er, zumindest vorläufig, nicht auf den Gedanken, er könnte verwechselt werden. Deshalb „übernimmt“ er auch keine Rolle, wie es in Komödien immer wieder der Fall ist. Er „spielt“ zwar eine, „aber diese ist nicht identisch mit der, in der man ihn wähnt“.32 Als er schließlich die Verwechslung bemerkt (IV, 8), denkt er nur, er werde für eine „Person in hoher Staatsfunktion“33 gehalten. Für etwas Höheres zu gelten, gefällt ihm sehr. Deshalb hat sein Diener Osip, der die Entdeckung fürchtet34, große Mühe, ihn zur Abreise zu bewegen. Abgereist, wird Chlestakov sein Leben lang nicht erraten, daß er für zwei Tage als Revisor galt und eine ganze Provinzstadt in Angst und Schrecken versetzt hat. Der Komödienheld Chlestakov übernimmt weder die Rolle des Revisors noch die einer anderen Person, weil er kein bewußter Betrüger ist wie Icharev in dem Einakter „Igroki“ (Die Spieler, 1836) oder Čičikov in dem Roman „Mertvye duši“. Das zeigt sich im dritten Akt und sogar im vierten, obwohl er dort laufend Geld entgegennimmt. Dabei wird die Diskrepanz zwischen dem, was man in ihn hineinprojiziert, und dem, was er tatsächlich ist, immer größer. Nach dem großen Auftritt Chlestakovs im mittleren der fünf Akte sind alle – tief beeindruckt – der Meinung, nicht nur einem Revisor oder einem höheren Regierungsbeamten gegenüberzustehen, sondern einer Persönlichkeit allerhöchsten Ranges. „Ich glaube“, sagte Dobčinskij, „er ist sicher General“, und Bobčinskij verbessert: „Und ich glaube, General, das reicht nicht einmal. Und wenn er General ist, dann mindestens der Generalissimus selbst“ (III, 7). In der bisherigen Komödie war es stets

172

Nikolaj Gogol’

der einzelne, der als Subjekt oder Objekt von Mißdeutungen und Verwechslungen den Ablauf des Geschehens bestimmte.35 Jetzt, bei Gogol’, ist es die Gruppe, die mißdeutet und verwechselt. Das liegt einerseits an den Beamten und der Gemeinsamkeit ihres schlechten Gewissens wie ihrer Furcht vor der Bestrafung, und das liegt andererseits an Chlestakov und seiner Genialität und unerschöpflichen Produktivität als Lügner. Lügen hat bei Chlestakov, anders als bei den Beamten, nichts mit dem Verbergen von Wahrheit zu tun.36 Deshalb ist er auch so überzeugend. Er lügt nicht absichtlich. Er will nur Eindruck machen und sich ins rechte Licht setzen. Doch selbst diese Absicht vergißt er im Verlauf des Lügens. Denn er gerät zunehmend in einen Rausch von Worten und Bildern und verliert sich schließlich in der Bodenlosigkeit der Phantasie.37 Chlestakov beginnt zögernd (III, 6). Er begnügt sich zunächst, nachdem das Stichwort „Petersburg“ gefallen ist, mit dem Hinweis, er sei „keineswegs ein kleiner Schreiber“, vielmehr stehe er „mit dem Abteilungsleiter auf freundschaftlichem Fuß“. Dabei vergißt er jedoch nicht, und das ist kennzeichnend für sein weiteres Vorgehen, das Gesagte durch knappe szenische Ausgestaltungen zu veranschaulichen: „Der Abteilungsleiter klopft mir zuweilen auf die Schulter und sagt: ‚Komm doch mal zum Essen, mein Lieber’. […] Und der Portier läuft mir auf der Treppe mit der Bürste hinterher. ‚Erlauben Sie, Ivan Aleksandrovič’, pflegt er zu sagen, ‚daß ich Ihnen die Stiefel putze’.“ Dann erzählt Chlestakov, wie er einmal „für den Oberkommandeur gehalten“ wurde und die Soldaten aus der Wache stürzten und ihr Gewehr vor ihm präsentierten. Als er den wachsenden Respekt seiner Zuhörer bemerkt, wechselt er das Thema und behauptet, er kenne „reizende Schauspielerinnen“, habe „mehrere Vaudevilles“ verfaßt und treffe sich „häufig mit Schriftstellern“. „Mit Puškin bin ich eng befreundet“, steigert er sich weiter, „gelegentlich sage ich zu ihm: ‚Nun, mein lieber Puškin, wie geht es?’ – ‚so einigermaßen, mein Freund’, antwortet er, so einigermaßen! Wirklich ein Original.“ Chlestakov kümmert sich nicht um eigene Widersprüche. Ebensowenig läßt er sich durch Einwände von außen irritieren. Im Gegenteil. Die berechtigten Zweifel Mar’ja Antonovnas, der Tochter des Stadthauptmanns, spornen ihn an. Sie provozieren seine Erfindungsgabe und steigern seine Erfindungslust. Einfall jagt Einfall. Erdachtes gründet auf Erdachtem. Chlestakov, von Natur aus ein homo aestheticus, wird immer mehr zum Künstler. Als solcher glaubt er an seine Erfindungen, und der Glaube wächst mit der Zunahme der Unwahrscheinlichkeiten. Ganz und gar unwahrscheinlich, und deshalb in einem tieferen Sinne wahr, ist Chlestakovs abschließende Schilderung von Petersburg. Diese Schilderung, Gesellschaftsbild und Ich-Apotheose in einem, basiert auf der durchgängigen Verwendung der Hyperbel. Und noch im hyperbolischen Sprechen kommt es zu einer Steigerung. Chlestakov, der sein Haus als „das erste in Petersburg“ bezeichnet, behauptet, auf den Bällen, die er besuche oder selbst gebe, serviere man „Wassermelonen für siebenhundert Rubel“ und „Suppe“, die „in einer Kasserolle per Schiff direkt aus Paris“ gebracht werde. Wenn er nicht auf Bällen sei, spiele er mit dem „Außenminister“ und

„Revizor“ (Der Revisor)

173

dem „französischen, englischen und deutschen Botschafter“ eine „Partie Whist“ oder empfange zu Hause „Grafen und Fürsten“, die sich in seinem Vorzimmer drängten und „wie die Hummeln“ summten. Eines Tages, fährt Chlestakov fort, während sich der Stadthauptmann und die übrigen Personen ehrfürchtig von ihren Stühlen erheben, habe man einen Nachfolger für den spurlos verschwundenen Direktor einer Ministerialabteilung gesucht: „Viele Generäle waren interessiert, aber wenn sie die Sache dann näher betrachteten, hieß es meist: hol’s der Teufel, zu verzwickt! Sie sahen, da war nichts zu machen, also wandten sie sich an mich. Und sofort jagten Kuriere durch die Stadt, Kuriere, Kuriere, Kuriere… Können Sie sich das vorstellen? Fünfunddreißigtausend Kuriere! ‚Was gibt es?’ frage ich. ‚Ivan Aleksandrovič, übernehmen Sie die Leitung des Departements!’“ Damit ist das große Lügengebilde fast vollendet. Es folgt nur noch Gestammel, darunter die Behauptung, die Ernennung zum „Feldmarsch…“ stehe unmittelbar bevor. Dann bricht der Lügner, der alles, was man gewöhnlich lügen nennt, längst hinter sich gelassen hat, total erschöpft zusammen. Kein Wunder, daß es den Anwesenden die Sprache verschlägt und Bobčinskij später meint, General sei zu wenig, das müsse mindestens ein Generalissimus sein. Und der Stadthauptmann, der Klügste und Gerissenste von allen, der immer etwas tiefer und weiter blickt als die anderen, kommentiert: „Wie, wenn auch nur die Hälfte von dem, was er gesagt hat, wahr ist? Und weshalb sollte es nicht wahr sein?“, und er fügt bezeichnenderweise hinzu: „Natürlich hat er ein wenig gelogen, aber ohne ein wenig zu lügen, kann man überhaupt keine richtige Unterhaltung führen“ (III, 9). Da die Honoratioren um den Stadthauptmann voraussetzen, daß der Fremde als Beamter – wie sie selbst – notwendig lügt, glauben sie ihm unter Abzug der Übertreibungen alles, was er sagt. In Furcht und Ehrfurcht erstarrt, sind sie außerstande, Chlestakovs Lüge als „poetische Lüge“38 zu erkennen. Wie sehr diese dem künstlerischen Schaffensvorgang entspricht, äußert sich schon vorher, zu Beginn des zweiten Akts, als sich Chlestakov in der Form eines Monologs vorstellt, nachdem er noch früher, in II, 1, aus der Perspektive seines Dieners eingeführt worden ist. Von Hunger gequält, nahe daran, seine Kleidung zum Trödler zu bringen, um sich ein Essen leisten zu können, entwirft er, unterstützt durch passende Gestik, mit den Mitteln eines Erzählers szenisch und dialogisch ein utopisches Gegenbild zu der bedrängenden Realität: „Schade, daß mir Jochim keine Kutsche geliehen hat. Teufel noch mal! Wie schön wäre es, in einer Kutsche nach Hause zu kommen und mit Laternen und Osip in Livree hintendrauf bei einem benachbarten Gutsbesitzer vorzufahren. Was das für eine Aufregung geben würde: ‚Wer ist denn gekommen? Was ist los?’ Und dann geht der Lakai in Goldlivree hinein (nimmt Haltung an und ahmt einen Lakaien nach) und meldet: ‚Ivan Aleksandrovič Chlestakov aus Petersburg. Geruhen Sie, ihn zu empfangen?’“ (II, 5). Wie solche Phantasieentwürfe entziehen sich auch die poetischen Lügen Chlestakovs – im Unterschied zu den pragmatischen Lügen der Provinzbeamten – jeglicher mora-

174

Nikolaj Gogol’

lischen Bewertung und Verurteilung. Es fehlt ihnen das Moment des Schadenwollens.39 Darin liegt auch ihre Gemeinsamkeit mit der Dichtung. Chlestakov verkörpert jedoch nicht nur den Typus des Künstlers, insofern er, beflügelt durch die eigene Phantasie und inspiriert von den äußeren Reaktionen, immer kühnere Produkte dichterischer Einbildungskraft erschafft. Im gleichen Maße ist er auch ein ausgeprägter Hedonist. „Ich liebe gutes Essen“, bemerkt er nach der Bewirtung durch den Stadthauptmann, „schließlich lebt man vor allem, um die Blüten des Genusses zu pflücken“ (III, 5). Dieser Maxime huldigt Chlestakov sogar im Reden. „Er lügt mit Gefühl“, kommentierte Gogol’, „in seinen Augen drückt sich der Genuß aus, den er dabei empfindet.“40 Merežkovskij entdeckte bei ihm eine Lust am Wort, die deutliche Züge der Wollust trägt. In der Tat: Chlestakov gibt sich dem Reden hin, wie er sich allem, was er liebt, hingibt, sei es dem Auswählen der Mahlzeit, sei es dem Zusammenstellen der Kleidung. Stets nach der neuesten Mode gekleidet, dabei ganz auf das eigene Ich konzentriert, hat er zudem etwas von einem Narziß. Chlestakov sieht wie in einem Spiegel immer nur sich selbst. Dieser Selbstverliebtheit entspringt auch sein Verhalten im Gasthof, als er, außerstande, seine Rechnungen zu bezahlen, auf dem Anspruch beharrt, weiterhin das feinste Essen serviert zu bekommen (II, 6). Gogol’s Held ist eine komplexe Gestalt, die sich nicht mehr auf einen traditionellen Figurentypus reduzieren läßt. Mehrere Züge greifen hier, fast ununterscheidbar, ineinander und bedingen und steigern sich wechselseitig. Chlestakov repräsentiert ein gelebtes Künstlertum, das ebenso hedonistisch wie narzißtisch und erotizistisch ist. Wie alle großen Lügner in der Literatur, Kleists Dorfrichter Adam zum Beispiel, enthüllt er sein wahres Wesen, indem er die Unwahrheit sagt. Das Wesen Chlestakovs, das sich im dritten Akt, selbst in Anwesenheit anderer, vornehmlich monologisch äußert, tritt im vierten Akt zunehmend dialogisch in Erscheinung. Das entspricht der veränderten Situation. Die Geschlossenheit des Kollektivs, das bislang immer als Ganzes gegenwärtig war, beginnt sich allmählich aufzulösen. Bezeichnenderweise ist der „Kopf“, der Stadthauptmann Anton Antonovič Skvoznik-Dmuchanovskij, fast den gesamten Akt hindurch abwesend. Eingangs noch einmal „im Halbkreis“ versammelt und zu „militärischer Haltung“ ermahnt, treten die Beamten, der Richter, der Postmeister, der Schulinspektor, der Kurator der Armenanstalten und die beiden Gutsbesitzer Bobčinskij und Dobčinskij, anschließend jeweils einzeln vor den vermeintlichen Revisor (IV, 3–7). Jeder betont seine Verdienste, seine Stellung, seine Wichtigkeit, und jeder hält, von der Bestechlichkeit des Fremden überzeugt, einige Geldscheine hinter dem Rücken. Jeder versucht, furchterfüllt, zunächst sich selbst zu retten. Nur der Kurator, der vorgibt, stets „dem Vaterland zu dienen“, denunziert dabei zugleich die anderen. Damit bricht er die (fragwürdige) Intaktheit einer Gemeinschaft auf, die von der Überzeugung „keiner“ sei „ohne Sünden“, zusammengehalten wird. Die Entlarvungsszene, in der jeder gegen jeden steht, kündigt sich hier an. Chlestakov jedoch merkt nichts und begreift nichts.

„Revizor“ (Der Revisor)

175

Er merkt nicht, daß die Beamten vor Furcht zittern, und er begreift nicht, daß er als Revisor bestochen werden soll. Zwar nimmt er das Geld, das ihm geradezu aufgedrängt wird, aber in einem gewissen Sinne glaubt er tatsächlich, man „leihe“ es ihm, was keineswegs bedeutet, er denke im Ernst an eine Rückzahlung. Bestechen läßt er sich jedenfalls nicht, und zwar deshalb, weil er kein Revisor ist und auch zu keinem Zeitpunkt ahnt, daß er mit einem Revisor verwechselt wird.41 Statt dessen nutzt er das Erscheinen jeder neuen Person zu einem eigenen kleinen Auftritt. Wie bei seinem großen Auftritt im dritten Akt verwandelt er den Raum mühelos in eine Bühne, auf der er dann entgegen den Erwartungen nicht sozial, sondern ästhetisch agiert. Je fordernder die soziale Wirklichkeit an ihn herantritt, desto stärker bringt er sein hedonistisch, narzißtisch und erotizistisch geprägtes Künstlertum zur Geltung. Anders gesagt: Chlestakov spielt, und er spielt, charakterbedingt, wo die Gegenseite höchsten Ernst voraussetzt. Das bestätigt sich in seinen Begegnungen mit drei weiteren Gruppen. Interessierte es Chlestakov schon vorher wenig, daß der Kurator der Armenanstalten den Dienst „mit großem Eifer“ versieht, der Postmeister laufend „Sendungen zurückhält“, der Richter nichts als die „Hasenjagd im Kopf“ hat und der Schulinspektor die Jugend zur „Freigeisterei“ erzieht, so sind ihm jetzt auch die Sorgen der Kaufleute (IV, 10) genauso gleichgültig wie die Klagen der Schlossersfrau und der Unteroffiziersfrau (IV, 11). Ohne etwas zu verstehen, verspricht er umgehende Hilfe, geschmeichelt durch die Aufmerksamkeit, die seiner Person zuteil wird. Eine noch bessere Gelegenheit, sich in Szene zu setzen, bietet Chlestakov die zufällige Begegnung mit der Tochter und der Ehefrau des Stadthauptmanns (IV, 12–15). Das Erotische erlaubt hier eine ebenso wesensgemäße Selbstentfaltung wie zuvor das Lügnerische. Beides entzieht sich im gegebenen Fall gesellschaftlicher Bedingtheit. Sinjavskijs geistreiche Wendung „Nicht als Lovelace, sondern als Revisor greift Chlestakov unter die Röcke“42 verfehlt deshalb das Eigentliche. Zwar ist dieser in der Tat kein Verführer, obwohl er bereits anfangs betont, daß er „sogar mit einer Kaufmannstochter Blicke gewechselt“ habe (II, 7)43; aber er gibt auch nicht vor, ein Revisor zu sein. Wohl darf er, für eine höhergestellte Person gehalten, mit dem Entgegenkommen der beiden Frauen rechnen. Doch weder hier noch an anderer Stelle definiert er sich von den Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft her. Chlestakov ist die Verkörperung der Privatheit in einer durch und durch öffentlichen Welt. Deren Schlechtigkeit entspricht seine Einfalt, deren Nützlichkeitsdenken antwortet sein Spieltrieb.44 Als Spieler wirbt er, affektiert, zuerst um Mar’ja Antonovna und dann um Anna Andreevna, verwirrt die eine durch herausforderndes Verhalten und entzückt die andere durch preziöses Sprechen, ehe er, auf den Knien, zuerst der Mutter und dann der Tochter einen Heiratsantrag macht. Das alte Komödienmotiv der Rivalität zwischen Mutter und Tochter45, bereits am Ende des ersten Akts eingeführt (I, 6), ist in Gogol’s Fassung durch den Parallelismus der Liebeserklärungen und der pathetischen Übersteigerung des erotisch-empfindsamen Vokabulars46 von einer neuartigen grotesken Komik. Diese erreicht ihren Gipfel,

176

Nikolaj Gogol’

als Chlestakov „mit flammendem Herzen“ um die Hand der Stadthauptmannsfrau bittet und Anna Andreevna, weder überrascht noch empört, fast entschuldigend entgegnet, sie sei doch „in gewisser Weise“ verheiratet, was Chlestakov nicht im geringsten irritiert und davon abhält, in seiner Werbung fortzufahren. „Das macht nichts. Die Liebe kennt keinen Unterschied“, erwidert er, „Ihre Hand, ich bitte um Ihre Hand“ (IV, 13). Das Ganze ist reines, ja reinstes Spiel, weil Chlestakov nichts anderes will als Spielen. Außerhalb liegende Zwecke wie Erfüllung in der Liebe oder Bereicherung durch vorteilhafte Eheschließung werden nicht verfolgt. Deshalb kann Chlestakov gleichzeitig um Mutter und Tochter werben, und deshalb entfernt er sich, als er den väterlichen Segen des Stadthauptmanns empfangen hat, unter einem Vorwand und dem Versprechen baldiger Rückkehr vom Ort des Geschehens. Hinter der Mutter-Tochter-Episode, mit der sich Chlestakov seiner Natur entsprechend spielerisch verabschiedet, steht eine ernsthafte poetologische Absicht. Gogol’ parodiert hier das wichtigste Bauelement der Gattungsform: die Liebesintrige.47 Vor Gogol’ besaß die Komödie in der Regel einen oder mehrere Liebhaber, die als Freier auftraten und nach Überwindung verschiedener Hindernisse schließlich das erstrebte Ziel der Heirat oder Verlobung mit der Heldin erreichten. Auch Griboedov hatte schon in „Gore ot uma“ auf das Erreichen dieses Ziels verzichtet. Die Bewerber um die Hand der Heldin, Molčalin und Čackij, sind aber noch vorhanden, und sie lieben Sof’ja Pavlovna, jeder auf seine Weise, nur werden beide abgewiesen, der eine früher, der andere später. In Gogol’s „Revizor“ dagegen gibt es nicht einmal mehr den Liebhaber. Es gibt lediglich eine Gestalt, die den Liebhaber spielt. Gesellschaftskomödie Indem Gogol’ die Liebesintrige abschafft und zugleich dem parodierenden Verstand ausliefert, bereitet er das Fehlen des versöhnenden und befreienden Schlusses vor. Das Fest, das sonst Versöhnung und Befreiung symbolisiert, findet zwar als solches statt, doch nur, um auf dem Höhepunkt abrupt unterbrochen zu werden. Nachdem der Stadthauptmann, der sich schon als General in Petersburg sieht, und seine Gäste einander beglückwünscht haben, müssen sie erfahren, daß sie die ganze Zeit einem grundlegenden Mißverständnis erlegen waren. Da die Mitteilung der Verwechslung auf dem Fest erfolgt, ist die Blamage von vornherein öffentlich und erfaßt alle und alles. Als dann auch noch der richtige Revisor gemeldet wird, mündet der Schluß endgültig in den Anfang ein. Eine Kreisform entsteht, die den konventionellen Pyramidenaufbau der Handlung umschließt, nicht jedoch ersetzt, wie es häufiger in der modernen Dramatik geschieht.48 Der Kreis, der seit altersher als die dauerhafteste und vollendetste aller Figuren gilt, ist ein Sinnbild der Harmonie. Harmonisch kann man aber in Gogol’s Komödie nichts nennen, weder den Zustand, der im Verlauf des Geschehens, also innerhalb der Kreisbewegung, dargestellt wird, noch das Ergebnis, das am Ende erreicht ist, als sich der Kreis schließt. Es gibt keine übliche

„Revizor“ (Der Revisor)

177

Wiederherstellung der Ordnung. Denn wer glaubt schon, daß der endlich eingetroffene Regierungsbeamte diese Wiederherstellung leistet – auch wenn der Dichter Vjazemskij seinerzeit gegenüber dem Vorwurf, es gäbe im „Revizor“ keine einzige ehrliche und anständige Person, behauptete, die einzige „ehrliche und anständige Person“ sei die „Regierung“.49 Gogol’ wollte den Staat zwar nie durch Umsturz verändert sehen, Wohlgeordnetheit konnte er ihm aber nicht bescheinigen.50 So legte er seiner Komödie eine Anekdote zugrunde, die voller sozialer Implikationen war. Zum erstenmal hatte er vor, wie er an Žukovskij schrieb, einen „Einfluß auf die Gesellschaft“ auszuüben.51 Stärker als in seinen Einaktern wie „Igroki“ oder sogar dem Dreiakter „Ženit’ba“ (Die Heirat, 1835), wo der Selbstwert des Spiels ganz im Vordergrund steht52, heißt Komödie jetzt vor allem Gesellschaftskomödie. In dieser Hinsicht sah sich Gogol’ mehr in der heimischen als in der abendländischen Tradition.53 Aristophanes habe, seiner „persönlichen Laune“ folgend, meistens das „Vergehen eines einzelnen Menschen“ gegeißelt; die russischen Komödienautoren dagegen ließen sich weniger von „eigenen“ als von „sozialen Motiven“ leiten: Sie richteten sich nicht gegen eine Person, sondern gegen eine Fülle von Mißständen, gegen das „Abweichen der Gesellschaft vom rechten Weg“. Gogol’ nennt als Beispiele die Namen Knjažnin, Kapnist, Ozerov, Šachovskoj, Chmel’nickij, Zagoskin und Pisarev, um in diesem Zusammenhang dann die überragende Bedeutung Fonvizins und Griboedovs hervorzuheben. Die Verfasser der Komödien „Nedorosl’“ und „Gore ot uma“ beschränkten sich seiner Ansicht nach nie auf oberflächlichen Spott. Mit schonungsloser Ironie enthüllten sie an der Gesellschaft nicht nur die „lächerlichen Seiten“, sondern auch die tiefsten „Wunden“ und innersten „Krankheiten“. Auf verschiedene Epochen zielend, zeige der eine die durch Unbildung entstandene Verwilderung der menschlichen Sitten und der andere die durch falsch verstandene Aufklärung verursachte Abwendung von den wesentlichen Dingen des Lebens. Zweifellos betrachtete Gogol’ die beiden Komödien, die er „moderne Tragödien“ nannte54, als die eigentlichen Vorläufer des „Revizor“. Die höhere Entwicklungsstufe, auf der Gogol’s „Revizor“ gegenüber den Stücken Fonvizins und Griboedovs erscheint, manifestiert sich vor allem in der gewandelten Gestalt des Fremden. Bei Fonvizin ist dies noch der Räsoneur der klassizistischen Komödie, der, integer und unbestechlich, in einen Kreis von Schurken und Narren gerät und zum Vergnügen des Publikums allen eine lange Strafpredigt hält. Unangenehme Wahrheiten verkündet auch Čackij bei Griboedov. Auch er fungiert als Sprachrohr des Autors. Doch dieser Spötter ist bereits eine gebrochene, zutiefst problematische Figur. Als ein Mensch mit scharfem Verstand neigt er im Emotionalen zu Kälte und Gleichgültigkeit. Wegen seiner Kompromißlosigkeit zunehmend auf sich selbst verwiesen, wird er immer einsamer, verbitterter, verzweifelter, um schließlich, an Puškins Onegin wie an Molières Alceste erinnernd, vollends zum Zyniker und Menschenverächter zu werden. Ein Schritt weiter, und der Fremde hat alle Integrität und Souveränität

178

Nikolaj Gogol’

verloren: Gogol’s Chlestakov ist nur noch ein Schwätzer und Scharlatan, als solcher „nicht gerade der Klügste“, wie es in den „Anmerkungen für die Schauspieler“ heißt, aber durchaus fähig, eine vorteilhafte Situation zu erkennen und zu nutzen. Als ein Mensch ohne geistige und moralische Werte unterscheidet er sich kaum von der Welt, die er vorübergehend betritt und durch seine bloße Anwesenheit in Unordnung bringt. Von Fonvizin über Griboedov bis zu Gogol’ hat eine stetige Verringerung der Distanz zwischen dem einzelnen und dem Kollektiv stattgefunden. Der Verringerung entspricht auf der anderen Seite eine Zunahme der Komik. Diese Zunahme entzündet sich an den inhumanen, denaturierten Verhältnissen in der russischen Provinz, an denen auch die im Auftrag der Regierung durch die Gouvernements reisenden Revisoren nichts grundsätzlich zu ändern vermochten. An der pars-pro-toto-Funktion der dargestellten Stadt kann kein Zweifel bestehen.55 Fonvizins „Nedorosl’“ und Griboedovs „Gore ot uma“ besaßen noch nicht diesen Grad von Verallgemeinerung. So sehr sie schon das gesellschaftliche Ganze in den Blick fassen, letztlich geht es doch mehr um den Ausschnitt der jeweiligen Familien, dort der Prostakovs, hier der Famusovs. Im „Revizor“ dagegen ist jeder Teil der polis. Das zeigt sich besonders darin, daß alle als Inhaber von Ämtern und Rängen auftreten. Die Ämter und Ränge spiegeln die strenge Hierarchie, nach der diese Gesellschaft funktioniert. Deshalb sagt der Schulinspektor, ehe er vor Chlestakov tritt: „Offen gestanden bin ich so erzogen, daß ich vor Angst fast sterbe und meine Zunge wie gelähmt ist, wenn jemand mit mir spricht, der auch nur einen Rang höher steht als ich“ (IV, 1). Bis in die Anredeformen sind Gogol’s Komödienfiguren der hierarischen Ordnung unterworfen, die sich aus der 1722 von Peter dem Großen eingeführten „Rangtabelle“ ergibt.56 Wie sehr sich die Honoratioren der Stadt über diese Ordnung definieren, kommt darin zum Ausdruck, daß sie, vor den vermeintlichen Revisor tretend, um ihn zu bestechen, nicht nur ihren Namen nennen, sondern mit dem Namen auch ihr Amt und ihren Rang. Die mittleren Beamten vom Titularrat Chlopov, dem Schulinspektor (9. Rangklasse), und Kollegienassessor LjapkinTjapkin, dem Richter (8. Rangklasse), über die Hofräte Špekin und Zemljanika, den Postmeister und Kurator der Armenanstalten (7. Rangklasse), bis zum Stadthauptmann Skvoznik-Dmuchanovskij im Rang eines Oberst oder Major57 (6. Rangklasse) repräsentieren eine Stadt, die sich im Unterschied zu Kotzebues Krähwinkel nicht als „rückständige Enklave“ einer sonst annehmbaren Umwelt darstellt, sondern als „bösartiges Provinznest“, korrumpiert in sozialer, wirtschaftlicher und moralischer Hinsicht.58 Dementsprechend hat jetzt das Geld die Herrschaft übernommen. Überall ist es sichtbar und unsichtbar beteiligt, bei Bestechung, Erpressung und Unterschlagung, bei Glückspiel und bei Zechprellerei. Als Motiv zu Beginn des zweiten Akts eingeführt59, dient es zunächst vor allem der Charakterisierung Chlestakovs. „Unterwegs hat er seine ganze Barschaft durchgebracht“, ist das erste, was der vom Hunger gequälte Diener Osip über seinen Herrn sagt, um anschlie-

„Revizor“ (Der Revisor)

179

ßend festzustellen: „Und wie nötig hätten wir das Geld für die Postpferde gebraucht“ (II, 1). Vorgestellt wird hier ein Mensch, der ständig über seine Verhältnisse lebt. Der darunter leidende Diener ist verzweifelt: „Was soll man bloß mit ihm machen? Schickt sein Vater Geld, gibt er es gleich mit vollen Händen aus, statt damit hauszuhalten.“ Die Folge ist, daß Chlestakov regelmäßig den neuen Frack auf den Trödelmarkt bringen läßt und nach üppigem Mahl, außerstande die Rechnung zu bezahlen, den einzigen Ausweg darin sieht, das Wirtshaus durch die Hintertür zu verlassen. Auch diesmal ist er nahe daran, sich heimlich davonzustehlen, als der Stadthauptmann unerwartet sein persönliches Erscheinen ankündigt. Schon als sich die Türklinke bewegt, wird Chlestakov „blaß“ und „sinkt in sich zusammen“. Im Glauben, das Oberhaupt der Stadt sei gekommen, um ihn wegen seiner Schulden zu inhaftieren, ahnt er nicht, daß der Eintretende ebenso „am ganzen Körper zittert“ wie er selbst. Den Ausweg aus der verzweifelten Lage weist das Geld, das der eine offeriert und der andere akzeptiert. Als Chlestakov versichert, seine Schulden bezahlen zu wollen, denkt der Stadthauptmann „Ganz schön raffiniert! Darauf will er also hinaus“ und erwidert laut: „Wenn es Ihnen an Geld oder irgend etwas anderem mangelt, bin ich Ihnen jederzeit zu Diensten“ (II, 8). Daß der Vorschlag ohne Zögern akzeptiert wird, bringt die letzte Gewißheit. Denn wer so bereitwillig 400 Rubel (das Doppelte der erbetenen Summe) annimmt, ist bestechlich, und wer bestechlich ist, folgert der Stadthauptmann – übereinstimmend mit der seit petrinischer Zeit in Rußland allgemein herrschenden Auffassung60 –, muß ein Beamter sein. Die Erleichterung ist daher hier nicht geringer als dort: „Gott sei Dank!“ atmet der Stadthauptmann auf. „Er hat das Geld genommen. Die Sache scheint jetzt vorwärts zu gehen“ (II, 8). In der Sicherheit, daß von nun an alles planmäßig verlaufen wird, ist das weitere Handeln Dmuchanovskijs erneut, wie schon vor der Entsetzen auslösenden Mitteilung, der Angekündigte sei bereits eingetroffen, von rationalen Überlegungen geleitet. Ein erster Brief bereitet den Kurator der Armenanstalten, ein zweiter das eigene Haus auf den Besuch des Gasts vor. Währenddessen zeigt sich Chlestakov hochzufrieden. Sein pekuniäres Problem hat eine überraschende Lösung gefunden, und man bietet, was er vom Leben verlangt: die Möglichkeit zur Selbstinszenierung des Ichs. Das genügt. Chlestakov nimmt unwissentlich, unter Verzicht auf jegliche Reflexion, die Rolle an, in die er hineingedrängt, ja fast hineingezwungen wird, weil sie ihm äußerlich gelegen kommt und weil sie seinem Naturell entspricht. In ihr kann er sein Wesen ausspielen, kann er, wozu nicht immer die Gelegenheit besteht, ganz er selber sein. So wächst er allmählich in die Revisorrolle hinein, füllt sie immer besser und später auch bewußter aus. Am besten aber ist er, wo er unbewußt spielt, wo er sein Sein im reinen, zweck- und nutzlosen Spiel verwirklicht wie in der großen Prahl- und Lügenszene des dritten Akts, in der er sich, angeregt durch den reichlich genossenen Alkohol, bis ins Maßlose steigert.

180

Nikolaj Gogol’

Auch im folgenden Akt, der am Morgen des nächsten Tages einsetzt und in dem das Geldmotiv wieder ganz in den Vordergrund tritt, erscheint Chlestakov, entzückt über die bisher erfahrene „Gastlichkeit“ (IV, 2), noch einmal in höchster Spiellaune. Nacheinander empfängt er die Honoratioren der Stadt (IV, 3–7), die in der Szene zuvor (IV, 1) beratschlagt hatten, wie sich die geplante Übergabe des Geldes kaschieren ließe, damit sie nicht nach Bestechung aussieht. Ein Vorschlag war dabei absurder als der andere. Während der Richter Ljapkin-Tjapkin empfiehlt, das Geld als „Spende des Adels für irgendein Denkmal“ zu deklarieren, rät der Postmeister Špekin zu sagen, es sei „mit der Post gekommen“ und niemand wisse, „wem es gehört“. Schließlich folgt man dem Rat Artemij Filipovičs, des Kurators der Armenanstalten, und tritt „einzeln“, sich an Ängstlichkeit gegenseitig übertreffend, zu einem Gespräch „unter vier Augen“ vor Chlestakov. Dieser, in bester Stimmung, weil er so umsorgt wird, entdeckt sogleich, daß der den Reigen eröffnende Richter Ammos Fedorovič in seiner Hand ein Bündel Geldscheine verbirgt. Als der daraufhin angesprochene Kollegienassessor und Inhaber des Vladimir-Ordens vierter Klasse zu Tode erschrocken die Scheine fallen läßt, wird Chlestakov durch den Anblick des Geldes spontan auf einen Gedanken gebracht, den er sofort, nicht ohne Nachdruck, formuliert: „Wissen Sie was? Leihen Sie mir es doch...“ (IV, 3). Von nun an „leiht“ er sich von jedem, der nach dem Richter kommt und sich vorstellt, eine Summe Geld, deren Höhe er selbst bestimmt und die von 300 Rubel bei Postmeister und Schulinspektor über 400 Rubel beim Kurator auf 1000 Rubel bei Bobčinskij und Dobčinskij wächst. Was Chlestakov treibt, das ist vor allem die Lust am Spiel. Deshalb reagiert er auch gelassen, als ihm die beiden Gutsbesitzer nur 65 statt der geforderten 1000 Rubel geben können („Macht nichts. War nur eine Frage“, IV, 7). Er hat sein Vergnügen gehabt, und dieses Vergnügen hat darüber hinaus noch etwas eingebracht. Und was so gut funktioniert, praktiziert Chlestakov gleich noch einmal, als die städtischen Kaufleute zu ihm kommen, um sich über die Willkürhandlungen des Stadthauptmanns zu beschweren. Als sie ihrer Beschwerde durch Geschenke Nachdruck verleihen wollen, lehnt er, inzwischen ahnend, daß er für eine „Person in hoher Staatsfunktion“ (IV, 8) gehalten wird, „Bestechungsgeschenke“ ausdrücklich ab, greift aber zugleich auf sein bewährtes Rezept zurück: „Etwas anderes wäre es allerdings“, räumt er ein, „wenn Sie mir, sagen wir mal, dreihundert Rubel leihen würden. Leihweise kann ich etwas nehmen“ (IV, 10). Wieder sind beide Seiten zufrieden. Doch Sein und Schein stehen erneut im Widerstreit. Auch wenn in dem Auftritt der Kaufleute, nicht anders als in der Szenenfolge mit den Beamten, gar keine Bestechung vorliegt, weil dafür die Voraussetzungen fehlen, wird hier wie dort das Ausmaß der Korruptheit einer auf der Bestechung als gängiger Praxis beruhenden Gesellschaft deutlich. Nicht weniger schlimm als die allgemeine Korrumpierung des Menschen durch die neue Macht des Geldes sind die konkreten Mißstände in den Institutionen. Auf der Post herrscht die größte Unordnung. Briefe werden geöffnet und

„Revizor“ (Der Revisor)

181

gelesen, Pakete zurückgehalten oder unterschlagen. In der Schule unterrichten Lehrer, die sich zweifelhaftester Methoden bedienen. Der eine schneidet Grimassen, sobald er das Katheder betritt, der andere zertrümmert Stühle, um seine Ausführungen anschaulicher zu machen. Die Armenanstalten ersticken fast im Schmutz. Von angemessener Pflege und Beaufsichtigung kann keine Rede sein. Der Arzt ist taubstumm, und die Kranken, die wie Schmiede aussehen, rauchen ständig starken Tabak. Das Gericht erinnert an alles andere als an eine Behörde. Auf dem Flur kommen dem Besucher schnatternde Gänse entgegen. Im Sitzungszimmer hängen die verschiedensten Jagdutensilien, und der Beisitzer des Richters riecht schon von weitem nach Alkohol. Am schlimmsten aber ist die oberste amtliche Instanz. Willkür und Eigennutz treten nirgendwo so ausgeprägt zutage wie hier. Der Stadthauptmann kränkt und verletzt und schikaniert, wo er nur kann. Er packt einen Kaufmann am Bart, läßt die Unteroffiziersfrau auspeitschen, schickt den Schlosser vorzeitig zu den Soldaten. Bei der Erhebung von Abgaben ist er unersättlich. In den Geschäften nimmt er mit, was ihm gefällt. Und auch vor größeren Unternehmungen schreckt er nicht zurück. „Wenn man wissen will, weshalb neben den Armenanstalten noch immer nicht die Kirche steht, für die das Geld bereits vor fünf Jahren angewiesen wurde, so soll man nicht vergessen zu sagen“, schärft der Stadthauptmann eingangs seinem Reviervorsteher ein, „die Kirche sei im Bau gewesen, dann aber abgebrannt. Ich habe darüber einen Bericht vorgelegt. Sonst erzählt vielleicht noch einer aus lauter Dummheit und ohne zu überlegen, wir hätten mit dem Bau gar nicht angefangen“ (I, 5). Die Vertuschung wird zur Selbstentlarvung. Ebenso entlarvend ist es, wenn der Stadthauptmann die Anweisung gibt, der Polizist Deržimorda möge sich vorläufig „mit seinen Fäusten zurückhalten“. Die Untergebenen sind kaum besser als ihr Vorgesetzter. Selbst die Kaufleute, die nicht ohne Grund bei Chlestakov über das Oberhaupt der Stadt klagen, müssen sich nach Chlestakovs Abreise, von dem Angeklagten zur Rede gestellt, unter anderem vorhalten lassen: „Ihr schließt mit dem Staat einen Vertrag und begaunert ihn dann um hunderttausend, indem ihr vermodertes Tuch liefert“ (V, 2). Betrüger also, wohin man sieht. Das erklärt, weshalb die „Revizor“-Komödie nicht mehr den im 18. Jahrhundert verbreiteten Typus der Ständesatire verkörpert. Daß sich ganze Stände empörten, weil sie sich an den Pranger gestellt sahen, war ein zeitgenössisches Mißverständnis, gegen das sich schon Gogol’ nachdrücklich zur Wehr gesetzt hat. Weder die Beamtenschaft noch die Kaufmannschaft im besonderen, sondern die Gesellschaft insgesamt bildet die Zielscheibe des Stücks. Deren Ordnung wird als bloße Scheinordnung entblößt. Dies geschieht durch die Störenfriedformel, die Kotzebue noch zur „Feier des Status quo“61 benutzt hatte, wobei der tiefere Witz von Gogol’s Komödie darin besteht, daß die Funktion der Entblößung einem jungen Mann von 23 Jahren zufällt, zudem einem jener „Menschen, die in den Kanzleien als Hohlköpfe bezeichnet werden“.62 Chlestakov fehlt sowohl die Klugheit als auch die Rechtschaffenheit, durch die sich ein

182

Nikolaj Gogol’

positiver Störenfried wie der Geheime Kommissionsrat Olmers in Kotzebues „Deutschen Kleinstädtern“ auszeichnet. Wäre er klug, würde es nicht so lange dauern, bis er herausfindet, weshalb er derart hofiert wird, und wäre er rechtschaffen, würde er gegen das entdeckte Übel vorgehen oder zumindest die Stadt verlassen, anstatt, Osips Rat zur Abreise mißachtend, die Kaufleute und die Schlossers- und Unteroffiziersfrau zu empfangen und darauf noch das selbstgefällige Werbungsspiel um die beiden Frauen des Hauses zu eröffnen. Auf der anderen Seite hätten die Beamten, wären sie wenigstens klug63, wo sie schon nicht rechtschaffen sind, sehr früh merken müssen, daß Chlestakov keinesfalls der angekündigte hohe Regierungsvertreter sein kann. Diese Einebnung der Parteien hat eine starke Zunahme und Vertiefung der Komik zur Folge. Der Fremde, bei Fonvizin als der Tugendhafte dem Spott des Autors entzogen, bei Griboedov als der Problematische bereits vereinzelt ausgesetzt, ist bei Gogol’, moralisch auf dem Stand des verwerflichen Kollektivs angekommen, zum Brennpunkt des komödiantischen Geschehens geworden. Kurssturz der Tugend und Kulmination des Lachens Als der Fremde bildet Chlestakov das Zentrum, um das sich alle anderen Figuren des Stücks gruppieren. Unter ihnen ist niemand, der nicht seine „kleinen Schwächen“ hat, wie sich der Verfasser des Warnschreibens euphemistisch ausdrückt (I, 1). Johannes von Guenther übersetzte drastischer, der Wahrheit näherkommend: Jeder hat „etwas Dreck am Stecken“.64 Menschlich Positives wurde von Gogol’ endgültig aus der Welt der Komödie verbannt. Die durchgängige Negativität impliziert keineswegs die Abschaffung des Korrektivs. Das Korrektiv ist nur nach außen, ins Bewußtsein des Zuschauers verlegt. Deshalb sagt Gogol’ die einzige „ehrliche und anständige Person“ im „Revizor“ sei das Lachen.65 Kein anderer Komödienautor – darüber besteht Übereinkunft – hat in Rußland ein lauteres Gelächter ausgelöst66, und dies, obwohl das Dargestellte an Düsterkeit und Ausweglosigkeit alles Voraufgegangene übertraf. Was wie ein Widerspruch wirkt, ist die Konsequenz aus der Aristotelischen Erkenntnis, daß wir immer nur über das Schlechte, Gemeine, Niedrige im Menschen lachen, über jede Art von Verfehlung, sofern sie nicht unmittelbar ins Verderben führt.67 Genau dies aber droht dem Kollektiv am Schluß. Die Mitteilung, daß der eingetroffene Revisor die Beamten unverzüglich zu sich fordere, läßt alle nach einem „einzigen Schrei der Überraschung“ vor Schreck erstarren. Veranschaulicht wird diese Erstarrung über einen Zeitraum von „fast anderthalb Minuten.“ Da im Anschluß daran nichts mehr folgt, bleibt es offen, ob der plurale Held durch den Vertreter der Regierung überführt und bestraft wird, so wie der schuldige Dorfrichter durch den Gerichtsrat Walter in Kleists „Zerbrochnem Krug“, oder ob es ihm gelingt, nachdem er aus der vorübergehenden Bewegungslosigkeit erwacht ist, zu neuer Aktivität zu finden und sich der Überführung und Bestrafung zu entziehen. Die Meinungen in dieser Frage sind bis heute geteilt.68 Für Gogol’s eigene Zeit erwies sich das Offenhalten des Ausgangs als genialer

„Revizor“ (Der Revisor)

183

Kunstgriff; denn er ließ, entsprechend der jeweiligen weltanschaulichen Position, zwei grundsätzliche, einander ausschließende Lesarten zu. Die Anhänger des bestehenden Regimes, einschließlich des Zaren Nikolaj I., konnten die Ankunft des echten Revisors nicht anders sehen, als daß jetzt die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Die Kritiker der herrschenden Verhältnisse, die in der Regierung die Ursache allen Übels sahen, mußten bezweifeln, daß deren Abgesandter imstande bzw. überhaupt gewillt war, die Mißstände zu beheben. Weshalb sollte der richtige Revisor nicht sein, was die Figuren bei dem falschen voraussetzten: bestechlich. Das Karussell des Amtsmißbrauchs wird sich daher immer weiterdrehen. Gogol’ suggeriert die Wahrscheinlichkeit der zweiten Lesart, ohne die Möglichkeit der ersten auszuschließen (was ihm sowohl die Aufführungs- als auch die Druckerlaubnis einbrachte). In der einen Lesart kam sein Realsinn, in der anderen seine utopische Hoffnung zum Ausdruck. Letztlich glaubte Gogol’ an den Staat und die Möglichkeit, ihn zu reformieren. Deshalb beschloß er, als er mit der Arbeit am „Revizor“ begann, in diesem Stück „alles Schlechte“, das es nach seiner Kenntnis in Rußland gab, zusammenzutragen und „mit einem Schlag dem Gelächter preiszugeben“.69 Dabei registrierte er an sich selbst eine deutliche Veränderung: „Ich spürte, daß mein Lachen nicht mehr das von früher war, daß ich in meinen Werken nicht mehr derselbe sein konnte wie bisher und daß selbst das Bedürfnis, mich durch unschuldige, sorglose Szenen zu zerstreuen, zusammen mit meinen Jugendjahren sein Ende gefunden hatte.“70 Als Gogol’ seinen Spott weniger auf den einzelnen als auf das gesellschaftliche Ganze zu richten begann, wie dies im „Revizor“ der Fall ist, war nach eigener Aussage das Gelächter, das in ihm aufstieg, noch nie so machtvoll, aber auch noch nie von einer solch „heftigen Erschütterung“ begleitet.71 Die gleiche Wirkung wollte er im zeitgenössischen Zuschauer hervorrufen. Daher die Anhäufung von Schlechtigkeiten, Gemeinheiten, Niedrigkeiten. Daher der rapide „Kurssturz der Tugend“72 im Vergleich zu den Komödien von Fonvizin und Griboedov. Gogol’ hatte die dezidierte Absicht, die Bühne, die er in den dreißiger Jahren zu einem „Spielzeug“ erniedrigt sah, „ähnlich den Klappern und Rasseln, mit denen man Kinder lockt“, wieder zu einer „Lehrkanzel“ zu erheben, „von der aus einer ganzen Masse lebendige Lektionen erteilt werden“.73 Er bekannte sich damit zu der Auffassung vom Theater als „moralischer Anstalt“ und begriff die Komödie als eine Erscheinung, „wo bei einmütigem Lachen ein zwar bekanntes, aber sich verbergendes Laster zur Schau gestellt wird und wo, während lautlos die Stimme allgemeinen Mitfühlens spricht, bekannte, doch sich schamhaft versteckende erhabene Empfindungen zutage treten“.74 Aus der anspruchsvollen, gegen die Unterhaltungstendenzen des zeitgenössischen Theaters gesetzten Komödienkonzeption Gogol’s folgt, daß sich der „Revizor“ nicht in der kritischen Darstellung der gesellschaftlichen Zustände erschöpft, sondern von dem als Motto vorangestellten Sprichwort an („Schimpf nicht auf den Spiegel, wenn du in eine Fratze blickst“) auf das Menschliche und Existentielle

184

Nikolaj Gogol’

zielt. Der Appell des Stücks ist dementsprechend doppelter Art. Er lautet gewiß: Notwendig ist die „Regeneration der Gesellschaft durch gründliche Reformen“.75 Er lautet aber auch und vor allem: Notwendig ist die Regeneration des Menschen durch den Menschen. Erst muß der Mensch geändert werden, war Gogol’ überzeugt, dann kommt die Änderung der Gesellschaft von allein. Mit dem „Revizor“ glaubte er in dieser Hinsicht einen Beitrag zu liefern. Daß er dabei die Kräfte des Dramatikers und die Bedeutung des Theaters überschätzte, mindert nichts an der überragenden literarischen Größe und bleibenden Gültigkeit seiner Komödie. Gemäß dem Eingangsmotto soll sich der Zuschauer in dieser Komödie wie in einem Spiegel wiedererkennen. Die Komödie ist für ihn, was Chlestakovs Brief an einen befreundeten Petersburger Journalisten für die dramatis personae ist. Alle, diejenigen im Parkett und diejenigen auf der Bühne, erblicken ihr eigenes Spiegelbild. Keiner will jedoch das Erblickte wahrhaben, zu groß scheint die Entstellung zu sein. Nicht zufällig dehnt Gogol’ den Augenblick der Enthüllung, der für die betroffenen Komödienfiguren zu der Erfahrung einer schmerzlichen Selbstenthüllung wird. Er macht aus dem Verlesen des Briefs, in dem Chlestakov hochbelustigt, aber ohne tiefere Einsicht die korrupten Honoratioren porträtiert, ein „grausam lächerliches Rondo“, das bei aller Verzerrung an die äußere Form bestimmter Opernfinale erinnert.76 Nur: Am Ende von „Don Giovanni“ oder „Falstaff“ lösen sich die Akteure befreit aus dem Geschehen, während sie hier, empört und gekränkt, immer tiefer im Geschehen versinken, unfähig, dem Vorgefallenen ein Fazit abzugewinnen. Jeder verliest den vom Postmeister abgefangenen Brief bis zu der Stelle, an der er sich mit boshafter Treffsicherheit charakterisiert findet. Dann versucht der Betreffende durch allerlei listige Manöver, wie durch den Hinweis auf die angebliche Unleserlichkeit der Handschrift, die Kundgabe der eigenen Beschreibung zu verhindern, dringt aber, als dies mißlingt, jeweils am eifrigsten darauf, daß die Beschreibung des nächsten laut und vernehmlich zu Gehör gebracht wird. Nachdem das entlarvende Schriftstück reihumgegangen ist und alle Anwesenden erfaßt hat, wird der bisher erfaßte Personenkreis beträchtlich erweitert. Die Entlarvung greift über die Bühnenrampe hinweg, dorthin, wo die Zuschauer sitzen. Das geschieht in den Worten des Stadthauptmanns, der als der am meisten Betroffene am heftigsten reagiert: „Alles ist aus! Ich bin erledigt, erledigt, völlig erledigt. Ich sehe nichts mehr. Statt Gesichter sehe ich nur noch Schweinerüssel. Sonst nichts“ (V, 8). Der Zuschauer kann nicht umhin, sich angesprochen zu fühlen. In der Tat ist er ebenso gemeint wie die versammelte Festgesellschaft. Das wird noch deutlicher, wenn der Stadthauptmann zornerfüllt fragt „Worüber lacht ihr denn?“ und darauf nicht ohne Schadenfreude antwortet „Ihr lacht über euch selbst!“ (V, 8). Diese Ausweitung über den Kreis der auf der Bühne Anwesenden, die nach dem Muster der Parabase in der antiken Komödie eine vorübergehende Durchbrechung der Spielillusion impliziert77, entspricht der Wut und Verzweiflung des betrogenen Betrügers. Je wütender und verzweifelter der Stadthauptmann wird,

„Revizor“ (Der Revisor)

185

desto weiter schweift sein Blick. Schließlich genügt ihm selbst der Zuschauerraum nicht mehr, und er ruft außer sich geratend: „Schaut her, schaut alle her, die ganze Welt, die ganze Christenheit, seht, wie man den Stadthauptmann zum Narren gemacht hat!“ Derjenige, der hier die „ganze Welt“ apostrophiert, fürchtet andererseits nichts so sehr, als daß sich die Blamage, die schon coram urbe erfolgte, auch noch coram orbe fortsetzt. Denn das könnte, wie er weiß, auf dem Weg über die Komödie geschehen: „Nicht genug, daß ich zum Gespött werde – es findet sich bestimmt ein Federfuchser und Tintenkleckser, der mich zum Helden einer Komödie macht“ (V, 8). Am Ende, kurz vor ihrem Abbruch, thematisiert sich Gogol’s Komödie selbst. Der „Federfuchser und Tintenkleckser“ hat sich in Gestalt des Autors Gogol’ bereits gefunden, und die lächerliche Geschichte vom Provinzkollektiv, das auf den Unbekannten aus der Hauptstadt hereinfällt, ist längst ins Werk gesetzt. So erweist sich die Klage SkvoznikDmuchanovskijs, der sich dem kränkenden Spott der Nachwelt ausgeliefert sieht, als ein Beispiel romantischer Ironie. Komödie der menschlichen Existenz Was dem Stadthauptmann die Vorstellung, literarisch verewigt zu werden, so entsetzlich erscheinen läßt, ist die Erkenntnis, daß er, den bislang keiner betrügen konnte, kein Kaufmann, kein Unternehmer, kein noch so gerissener Gauner, von einem „Grünschnabel und Waschlappen“ (V, 8) betrogen worden ist. Das erschüttert die Grundlagen seiner Weltsicht und seines Selbstverständnisses. Auf „Rang und Würden“, also das, was ihn immer geschützt hat, wurde zum erstenmal „keine Rücksicht genommen“ (V, 8). So erfährt er auf das Schmerzlichste den Verlust der früheren Sicherheit. Das alte Motiv des betrogenen Betrügers ist damit deutlich ins Existentielle vertieft. Einen wichtigen Anteil an dieser Vertiefung hat Gogol’s Auffassung des Gegenspielers und eigentlichen Komödienhelden. Chlestakov erscheint gegenüber vergleichbaren traditionellen Typen der komischen Literatur grundlegend verändert. Er ist kein Betrüger, kein Hochstapler, kein Schelm, nicht einmal ein Lügner. Mit der mangelnden Bewußtheit seines Handelns fehlt ihm auch der Wirklichkeitsgehalt als Person. Er ist, durch und durch, ein Gaukler und Blender. Der ästhetische Grund seines Wesens entzieht ihn jeglicher Greifbarkeit. So unerwartet, wie er auftaucht, so überstürzt und für alle überraschend verschwindet er wieder78, nicht ohne sich in der Hast des Aufbruchs vom Stadthauptmann noch einmal vierhundert Rubel „geliehen“ zu haben (IV, 16). Chlestakov, das ist die reinste Fiktion, ein Phantom, ein „Traumstück“ (dream play) wie Nabokov79 sagt. Bezeichnenderweise wird er für einen Revisor gehalten, obwohl seine Unähnlichkeit mit einem hohen Regierungsbeamten, der im direkten Auftrag des Zaren handelt, nicht größer sein könnte. Die fassungslosen Gesten der düpierten Provinzler deuten an, daß niemand eine Erklärung für das Mißverständnis hat. Nur Artemij Filipovič vermutet: „Da muß der Teufel seine Hand im Spiel gehabt haben“ (V, 8).

186

Nikolaj Gogol’

Diese Vermutung hat innerfiktional die größte Wahrscheinlichkeit. Denn das ganze Stück hindurch ist ständig vom Teufel die Rede. Jeder führt permanent das Wort im Mund80, so als ob er spüre, daß der Apostrophierte bereits ganz in der Nähe ist. Am Ende ist man sich seiner Präsenz gewiß. „Der Teufel hat uns verführt/verwirrt“ (čort poputal), lautet wörtlich übersetzt die Mutmaßung des Kurators zu der Frage, wer der Verursacher jener Verwirrung ist, die seit der Ankunft des Fremden in der Stadt herrscht. Die Aussage scheint auf Chlestakov zu weisen. Dieser aber ist zu absichtslos, um selbst der Teufel oder auch nur dessen Inkarnation zu sein.81 Zwar kommt es durch sein Erscheinen in der tiefsten russischen Provinz82 zu einer Konfusion, die kaum geringer ist als diejenige, die ein echter Teufel in Bulgakovs „Master i Margarita“ (Der Meister und Margarita, 1928–1940) namens Voland im Moskau der dreißiger Jahre hervorruft. Aber er ist nicht der Initiator, sondern lediglich der Anlaß der Konfusion. Während bei Bulgakov der „Spezialist für Schwarze Magie“ mit seinem teuflischen Gefolge in strategischer Konsequenz und schonungsloser Unerbittlichkeit menschliches Fehlverhalten, wo immer er es findet, aufdeckt, bestraft und korrigiert83, bringt Gogol’s Held durch sein bloßes Da-sein ein korruptes Gemeinwesen dazu, sich selbst zu entlarven. Jede Maßnahme, die zur Vertuschung der Mißstände ergriffen wird, enthüllt ein weiteres Stück der Verkehrtheit der dargestellten Welt. Chlestakov, kein Teufel, allerdings durchaus diabolischer Natur, hat seine Freude an der unwissentlich erzeugten Konfusion und ist ihr erster Nutznießer. Der Teufel aber, für die Figuren auf der Bühne eine reale, gestalthaft vorstellbare Größe und der Erklärungsgrund für das Unerklärliche, bildet in der Sicht des Autors dieser Komödie eine Chiffre für den Trugcharakter der Welt. Daß der Mensch sich dauernd täuscht, weil die Dinge den Menschen täuschen, gilt als Werk des Teufels. Trug und Schein sind für Gogol’ ein Weltgesetz, das sich von der Tat des einzelnen her kaum erklären läßt. „Bedenken Sie, daß alles in der Welt Betrug ist, daß uns alles anders erscheint, als es wirklich ist“, schrieb er in einem seiner späten Briefe84, und schon in der Erzählung „Nevskij prospekt“, die zwei Jahre vor dem „Revizor“ entstand, heißt es am Ende: „Der Dämon selber zündet die Laternen an, um alles anders zu zeigen, als es in Wirklichkeit ist.“85 Wie dort „lügt“ man auch hier in der Komödie „zu jeder Zeit“. Auch hier gilt wie dort: „Alles Trug, alles Traum“ und „Alles ist nicht das, was es zu sein scheint“.86 So täuscht man sich fortgesetzt in dem, was der andere ist. Das Kollektiv täuscht sich in dem Fremden, der Fremde im Kollektiv. Die Verwechslung, die dem Stück insgesamt und im einzelnen zugrunde liegt, erweist sich als ein Problem der Identität.87 In Shakespeares „Comedy of Errors“ oder den verschiedenen „Amphitryon“-Fassungen von Plautus über Molière bis zu Kleist fragten sich die Figuren deshalb schließlich: „Wer bin ich?“ und „Bin ich überhaupt noch ich?“ Chlestakov stellt sich als Verkörperung des Scheins und Instrument des Weltverführers solche Fragen nicht. Anders sein Gegenspieler, der Stadthauptmann, als er das ganze Ausmaß seiner Verblendung erkennt. In diesem Mo-

„Revizor“ (Der Revisor)

187

ment der Erkenntnis erregt er trotz allem unser Mitleid.88 Hinter dem Fratzenhaften leuchtet das Menschliche auf. Wir spüren, wie der Aus-der-Rolle-Fallende den Boden unter den Füßen verliert und zu ahnen beginnt, daß das, was ihn bisher trug, auf einmal nicht mehr trägt. Die Angst, die gleich zu Beginn der Traum des Stadthauptmanns von den beiden „ungewöhnlichen Ratten“ setzt und die dann im Verlauf des Stücks die konkrete Furcht der Beamten vor einer strengen Urteilsinstanz begleitet, wächst ins Unendliche und greift auf sämtliche Mitspieler über. Ihre Ausdehnung endet im Schlußbild der Komödie mit der Verwandlung ins Sichtbar-Anschauliche. Daß hier, wo alle in stummer Versteinerung erstarren, eine der Figuren die Haltung eines Fragezeichens annimmt, kennzeichnet die Ausgangssituation, die zugleich die allgemeine Spielsituation ist. Wie die Beispiele des Absurden Theaters, zu dem Gogol’ lange vor Čechov als erster hinüberführt, stellt der „Revizor“ einen Zustand dar, der „in der Frage verharrt“.89 Was könnte unheimlicher sein als die unvermittelte Konfrontation des fragenden Menschen mit der schweigenden Welt.

Peter Thiergen

Ivan Turgenev: Mesjac v derevne (Ein Monat auf dem Lande) Ivan Turgenev, der sich zeit seines Lebens als „unverbesserlichen Westler“ und Deutschland als sein „zweites Vaterland“ bezeichnet hat1, war ein Kenner der antiken und westeuropäischen Literatur. Früh gelangte er daher zu der Ansicht, daß Rußland zwar eine hochrangige Lyrik, aber keine quantitativ oder qualitativ konkurrenzfähige Dramen- und Romanliteratur besitze. So stellte er sich die Aufgabe, diese „Lücken“ zu füllen. In den vierziger Jahren gab er die Produktion (reichlich epigonaler) Lyrikdichtungen auf und wandte sich der Erzähl- und Dramenliteratur zu. Seiner Enttäuschung über die damalige russische Bühnendichtung hat Turgenev wiederholt Ausdruck verliehen. Außer Gogol’, den er als den Begründer des neueren russischen Dramas anerkannte2, konnte er kein echtes dramatisches Talent entdecken: Gogol’ sei ohne Nachfolger geblieben. 1847 konstatierte er apodiktisch: „Wir haben noch keine Dramenliteratur und noch keine Dramenschriftsteller.“3 Dieser vermeintliche Mangel mußte Turgenev um so stärker schmerzen, als das Drama in der Ästhetik des Idealismus (zuerst bei Hegel, später bei Vischer) an der Spitze der Gattungen stand und noch vom Hegel-Schüler Belinskij als ideale Synthese von Epik und Lyrik, ja als „höchste Stufe“ der Dichtung und als „Krone der Kunst“ bezeichnet worden war.4 Turgenev hat Belinskij als literaturkritischen Ratgeber hoch geschätzt und ihn den „russischen Lessing“ genannt. Mit Lessing selbst und seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ war Turgenev vertraut. Von den westeuropäischen Dramenautoren stellte er Shakespeare an die Spitze, aber auch das antike, spanische, deutsche und vor allem französische Theater fand seine Aufmerksamkeit. Früh übertrug er Teile von Shakespeares „Othello“ und „King Lear“ sowie aus Byrons „Manfred“ und Goethes „Faust“ ins Russische. Er adaptierte ein Stück Mérimées und schrieb eine Reihe ausführlicher Dramenrezensionen, darunter zu einer russischen „Faust“-Übersetzung von 1844 und zu Ostrovskijs „Bednaja nevesta“ (Die arme Braut) von 1852. Innerhalb der russischen Dramengeschichte befaßte sich Turgenev, abgesehen von Gogol’, in erster Linie mit Griboedov, Puškin und Lermontov. Dem historischen Drama und den modischen Vaudevilles stand er zwar kritisch gegenüber, übernahm aber besonders aus letzteren manches in seine eigenen Stükke. Als er 1843 die Sängerin Pauline Viardot kennenlernte, beschäftigte er sich zunehmend mit Opern- und Librettokunst. Zu vielen Schauspielern unterhielt er persönliche Beziehungen.5 Spezielle Abhandlungen zu Dramentheorie und Theaterpraxis hat Turgenev nicht geschrieben. Ohnehin ist kaum anzunehmen, daß er seine Bühnenwerke von einer bewußt und früh entworfenen Dramenkonzeption her verfaßt hat,

„Mesjac v derevne“ (Ein Monat auf dem Lande)

189

auch wenn seine Stücke durchaus ein „poetisches System“ besitzen. Dieses ist eher Ausdruck seiner gesamten Literaturauffassung. In einschlägigen Stellungnahmen äußert er sich meist zu Stoffen und Themen, weniger zur Technik des Dramas. Zudem gibt es gewisse Widersprüche zwischen seinen theoretischen Aussagen und seiner literarischen Praxis.6 Nach einem dramatischen Jugendwerk, dem 1834 entstandenen, zu Lebzeiten ungedruckten Versdrama „Steno“, einer Byron-Imitation, hat Turgenev zwischen 1842 und 1852 zehn Bühnenwerke geschaffen, von denen die meisten Einakter oder kürzere Szenenfolgen sind. Nur „Mesjac v derevne“ hat mit fünf Akten abendfüllenden Umfang. Hinzu kommen aus dem gleichen Zeitraum mehrere Fragmente und Dramenentwürfe. Die Geschichte der vollendeten Stükke ist alles in allem eine Geschichte des Mißerfolgs. Entweder verzögerte sich – oft um Jahre und manchmal um Jahrzehnte – die Veröffentlichung oder die Uraufführung oder beides. Erst 1849 kam es zu Premieren, und erst Ende 1850 hat Turgenev die Aufführung eines seiner Stücke, des Dreiakters „Cholostjak“ (Der Junggeselle, 1849) persönlich miterlebt. Viele Premieren stießen beim Publikum auf Ablehnung oder fanden keine oder nur geteilte Resonanz. Selbst Turgenev wohlgesonnene Kritiker wie Družinin, Grigor’ev oder Aksakov fällten zum Teil vernichtende Urteile. Als sich die Mißerfolge 1851/52 häuften, gab Turgenev seine Ambitionen als Dramenautor auf und wandte sich endgültig der Epik zu. 1852 wurde die Buchausgabe des Erzählzyklus „Zapiski ochotnika“ (Aufzeichnungen eines Jägers) zu seinem ersten großen Literaturerfolg, und 1856 leitete „Rudin“ seinen Ruf als kommender Romancier Rußlands ein. Erst Jahre später, 1869, erschien im Rahmen einer größeren Werkausgabe eine erste Sammeledition seiner Dramen unter dem Titel „Sceny i komedii“ (Szenen und Komödien). In einem Vorwort sprach sich der resignierte Autor „dramatisches Talent“ und seinen Stücken jegliche Bühnenwirksamkeit ab.7 Für Turgenevs Schwierigkeiten als Bühnenautor lassen sich Gründe nennen. Häufige Eingriffe der Zensur erzwangen substantielle Textänderungen oder verhinderten die Aufführung. Gerade das Drama aber setzt, wie es Friedrich Theodor Vischer formulierte, einen „freien Geist“ in einer „befreiten Welt“ voraus. Wo „Despotie“ herrscht, krankt die ganze Gattung.8 Die Entstehung der Dramen fällt zudem in eine literarische Übergangsepoche. In der „Natürlichen Schule“ (Natural’naja škola, ca. 1842–1852) lösten sich die Normen der Romantik auf, ohne daß sich der Realismus schon etabliert hatte. Da Turgenev außerdem von den traditionellen Dramenregeln abwich und eine neue Schauspielkunst als Verbindung von Professionalität mit Natürlichkeit und Einfachheit verlangte9, fand er um so weniger Verständnis. Dazu richtete sich das Interesse zunehmend auf Ostrovskij, dessen Werke die Gattungserwartung der Akteure und des Publikums weniger verletzten als diejenigen Turgenevs. Turgenev, der fürchtete, gerade sein neues Stück „Mesjac v derevne“ werde „unter den Zuschauern schreckliche Langeweile“ verbreiten, war später sogar mit dem Vorschlag einverstanden, Ostrovskij solle sein Schauspiel „bühnenwirksam adaptieren“ und

190

Ivan Turgenev

entsprechend auf Plakaten als Koautor genannt werden! Sogar zu Kürzungen gab er sein Einverständnis.10 Schließlich hat auch Turgenevs bekannte Unsicherheit bezüglich seiner literarischen Begabung – die von den Theaterkritikern noch gefördert worden war – zu der Abwendung vom Drama beigetragen. Es blieb der Čechov-Zeit und ihrem verfeinerten Dramenverständnis vorbehalten, Turgenevs Beitrag zur russischen Theatergeschichte neu zu würdigen. Text- und Aufführungsgeschichte Die erste Fassung von „Mesjac v derevne“ entstand von 1848 bis 1850 in Paris und trug den Titel „Student“ (Der Student). Der Untertitel lautete „Komedija v pjati dejstvijach“ (Komödie in fünf Akten).11 Als die Petersburger Zensur das Erscheinen verbot, wollte Turgenev das Stück (wohl in überarbeiteter Form, das Autograph ist verschollen) unter dem neuen Titel „Dve ženščiny“ (Zwei Frauen) in Moskau herausbringen, scheiterte jedoch wieder an der Zensur. Ende 1854 überarbeitete er, unter Beachtung der Zensureinwände, den Text abermals. 1855 erfolgte dann in der Januarnummer von „Sovremennik“ (Der Zeitgenosse) der Erstdruck mit dem Titel „Mesjac v derevne“. Die Publikation wurde von der Kritik kaum beachtet. 1868 hat Turgenev, ausgehend vom Urtext „Student“, eine nochmals modifizierte Fassung erarbeitet, die viele Zensureingriffe der Veröffentlichung von 1855 rückgängig machte. Diese Neufassung ist 1869 in dem Band „Sceny i komedii“ (Szenen und Komödien) erschienen und bildet bis heute den Standardtext letzter Hand. Als roter Faden aller Überarbeitungen ist eine Milderung des Gesellschaftskonflikts zugunsten des psychologischen Spiels zu erkennen. Die Uraufführung Anfang 1872 im Moskauer Malyj teatr war, wie Turgenev selbst sagte, ein „Fiasko“. Ähnlich äußerten sich die Kritiker („viel zu lang und langweilig“). Erst die Neuinszenierung am Petersburger Aleksandrinskij teatr 1879 wurde, getragen von einem vertieften Spürsinn für die psychologische Dimension und vom nachhaltigen Spiel Marija Savinas (1854–1915) in der Rolle der Vera, zu einem Erfolg und zum ersten Durchbruch der Turgenevschen Bühnenkunst in Rußland. Turgenev, der einer der Aufführungen beiwohnte, sah sich als Dramenautor doch noch bestätigt. Seitdem gehört das Stück zum weiteren Repertoire der russischen Bühnen. Ein besonderer Höhepunkt war die Aufführung Stanislavskijs am Moskauer Künstlertheater 1909. Hier hat Stanislavskij, selbst in der Rolle Rakitins, seine Erfahrung mit Čechovs Dramenkunst zu einem bleibenden Theatererfolg für Turgenev genutzt.12 Ähnlichen Rang hatte später, im Jahre 1977, die Moskauer Inszenierung von Anatolij Ėfros.13 Eine erste deutschsprachige Aufführung erfolgte 1884 unter dem Titel „Natalie“ in Eugen Zabels Übersetzung am Wiener Burgtheater. 1889/90 folgten Inszenierungen unter anderem in Berlin, Leipzig, Weimar und Hamburg. Eine der Berliner Aufführungen hat Theodor Fontane in der „Vossischen Zeitung“ 1889 als „erste Novität“ der Saison besprochen. Er verglich das Stück mit Ibsen, nannte es in stofflicher Hinsicht „nicht sehr originell“, beschei-

„Mesjac v derevne“ (Ein Monat auf dem Lande)

191

nigte ihm aber psychologische Feinheit und einen „durchschlagenden Erfolg“.14 Später haben bedeutende Interpretinnen wie Helene Thiemig, Maria Becker, Ingrid Bergmann oder Helen Mirren die Natal’ja gespielt. Heutige Aufführungen zeigen, mal mehr, mal weniger, Einflüsse des „modernisierenden“ Regietheaters. Irritation rief die 1998 am Moskauer Teatr Leninskogo komsomola veranstaltete Inszenierung von Vladimir Mirzoev mit dem Titel „Dve ženščiny“ hervor, der man unangemessene Karikierung und Sexualisierung vorgeworfen hat.15 Eine Aufführung an den Kammerspielen Meiningen in der Saison 2008/09 vernachlässigte Turgenevs Feinheiten des hintergründigen Spiels zugunsten von eher vordergründigen Effekten wie dem Einsatz von Rollstuhl, Hometrainer oder Sonnenliegen, von Kalauerisierung und Obszönisierung der Sprache, englischen Chansoneinlagen und ähnlichem. Wenn außerdem die als drall-erotische Figur besetzte Natal’ja permanent ihr künstlich verlängertes Haar zupft und ihre Gesprächspartner betatscht oder sexuell anspringt, geht das auf Kosten der von Turgenev intendierten Spielanlage des verhaltenen Andeutens und des indirekten Appells. Pseudorequisiten und Eindeutigkeitsgestik verfehlen Turgenevs Dramenkunst. Ein Grundsatz des großen Čechov-Interpreten Otto Sander lautet: „Don’t act. Don’t perform. Just be“. Personen und Inhalt Die Handlung spielt auf einem russischen Landgut zu Beginn der vierziger Jahre. Die neunundzwanzigjährige Natal’ja Petrovna, die in unerfüllter Ehe mit dem ganz in Arbeit aufgehenden Gutsbesitzer Islaev verheiratet ist und seit längerem in platonischer Beziehung zu dem „Hausfreund“ Rakitin steht, hat für ihren Sohn Kolja einen neuen Lehrer engagiert: den einundzwanzigjährigen Studenten Beljaev. Dieser bringt, ungewollt und anfänglich ahnungslos, für einen Monat Unruhe in das festgefahrene Beziehungsfeld der Adelsnestbewohner. Das Geschehen um die Hauptpersonen entwickelt sich wie folgt: Akt I. Der nach kürzerer Abwesenheit auf das Gut zurückgekehrte Rakitin muß feststellen, daß sich Natal’ja verändert hat und ihm mit aggressiver Anspannung begegnet. Natal’ja deutet an, daß ihr die Entsagungsrolle der Puškinschen Tat’jana nicht mehr genügt. Auslöser dieser Veränderung ist Beljaev, der Natal’ja nicht gleichgültig ist, davon aber nichts weiß. Kompliziert wird das Beziehungsgefüge durch Natal’jas siebzehnjährige Pflegetochter Vera, mit der sich Beljaev, ohne erotische Hintergedanken, gut versteht. Natal’ja überlegt, ob sie das Mädchen dem ältlichen Gutsnachbarn Bol’šincov, dessen Werbung um Vera sie bisher abgelehnt hat, zur Frau geben soll: Sie könnte so rechtzeitig eine mögliche Rivalin entfernen. Akt II. Während Natal’jas Interesse an Beljaev zunimmt, verliebt sich auch Vera in den Studenten. Natal’ja entwickelt auf Vera und Rakitin auf Beljaev Eifersucht. Zugleich wachsen die Spannungen zwischen Natal’ja und Rakitin. Islaev bleibt ahnungslos.

192

Ivan Turgenev

Akt III. Die nunmehr zwischen drei Männern stehende Natal’ja gerät in einen zunehmenden Widerstreit ihrer Gefühle. In einem raffinierten Verhör-Dialog entlockt sie Vera das Bekenntnis, Beljaev zu lieben. Soll sie dennoch Vera mit Bol’šincov verheiraten, oder soll sie Beljaev zur Abreise bewegen? Als Natal’ja hilfesuchend an Rakitins Schulter weint, wird Islaev Zeuge und entwickelt seinerseits (fälschlich nur gegen Rakitin gerichteten) Argwohn. In einem Vertrauensbruch teilt Natal’ja Beljaev mit, daß er von Vera geliebt wird, erfährt jedoch zu ihrer Überraschung, daß er Veras Gefühle nicht erwidert. Soll er gleichwohl das Gut verlassen, oder ist nunmehr Natal’jas Weg zu Beljaev frei? Akt IV. Es folgen weitere Erklärungen und Geständnisse. Beljaev teilt Vera mit, daß er sie nicht liebt, worauf diese ihm offenbart, daß er von Natal’ja geliebt wird. Zugleich durchschaut Vera das Intrigenspiel Natal’jas (das entlockte Liebesgeständnis, den Verheiratungsplan) und erklärt ihr, nicht mehr Pflegetochter, sondern Rivalin zu sein. Darauf gesteht Natal’ja Beljaev ihre Liebe, der seinerseits das Geständnis überraschend erwidert. Eine erste Umarmung wird durch das plötzliche Auftreten Rakitins verhindert, dem Natal’ja die Rolle des Hausfreundes aufkündigt. Beljaev dagegen soll bleiben. Akt V. Nach einer Aussprache mit Islaev verkündet Rakitin, er wolle das Landgut verlassen, hofft jedoch insgeheim, bleiben oder zurückkehren zu können. Zugleich bringt er Beljaev mit einer scheinheiligen Argumentation zu dem Entschluß, ebenfalls abzureisen. Unterdessen hat Vera, die das vermeintliche Glück Beljaevs mit Natal’ja nicht ertragen kann, Bol’šincovs Antrag angenommen. Unmittelbar danach teilt ihr Beljaev seine Abreise mit und übergibt ihr einen Abschiedsbrief an Natal’ja. Diese bleibt, verlassen von Beljaev, Rakitin und Vera, allein mit Islaev auf dem Gut zurück. Die künstlich geordnete Verwirrung ist zu Ende gegangen, ohne für die Hauptpersonen etwas zu lösen. Mit der ereignisarmen Haupthandlung sind mehrere subplots verbunden. Die wichtigste Nebenfigur ist Špigel’skij, der Hausarzt der Islaevs. Er fungiert als Brautwerber Bol’šincovs und heiratet am Ende die Gesellschafterin der Islaevs, die damit das Gut ebenfalls verlassen wird. Vor allem komische und reliefgebende Funktion haben die Randfiguren Šaaf, der deutsche Hauslehrer Koljas, sowie Matvej und Katja, die Diener der Islaevs. In der Kritik wird bis heute kontrovers diskutiert, wieviel Hauptfiguren das Stück habe: zwei, drei oder vier? Lediglich Natal’ja Petrovna und Rakitin wird dieser Status eindeutig zuerkannt. Für Vera sprechen ihre Rivalitätsposition zu Natal’ja und die noch heute gelegentlich verwendete Titelvariante „Dve ženščiny“. Beljaev wiederum fungiert als Perturbator und Katalysator. Nach ihm hieß das Stück, wie erwähnt, ursprünglich „Der Student“. Zur Quellenfrage 1844 schreibt Turgenev in ironischer Abwandlung eines Verses aus Puškins „Evgenij Onegin“ im Vorwort zu einem geplanten Drama: „Wir imitieren da und hie / Irgend etwas irgendwie.“16 Es kann in der Tat kein Zweifel sein, daß

„Mesjac v derevne“ (Ein Monat auf dem Lande)

193

Turgenevs Dramen zahlreiche Anklänge und genetische Verbindungen zu fremden Texten besitzen. So hat die Forschung auch früh nach Vorbildern für „Mesjac v derevne“ gesucht. Nachdem Eugen Zabel (sicher unzutreffend) auf Eugène Scribe verwiesen hatte, lenkte Leonid Grossman die Aufmerksamkeit auf Balzacs Drama „La Marâtre“, das 1848 in Turgenevs damaligem Aufenthaltsort Paris uraufgeführt worden war. Grossman zog aus einer Reihe von Ähnlichkeiten in Fabel, Personenkonstellation und szenischen Details den Schluß, daß Turgenev das Balzac-Stück nachgeahmt habe, freilich unter Weglassung melodramatischer Effekte. Dieser Ansicht haben sich viele Interpreten angeschlossen. In jüngster Zeit allerdings melden sich Gegenstimmen. Am entschiedensten weist Carmen Culianu-Georgescu den Einfluß Balzacs zurück: „The similarity between Balzac’s play and ,Mesjac v derevne‘ is, in fact, minimal; ,La Marâtre‘ is definitely not the example which Turgenev has imitated.“17. Auch Lidija Lotman ist skeptisch gegenüber Grossmans These und erörtert neben „La Marâtre“ Racines „Phèdre“ (1677) als potentiellen Prätext.18 Koschmal wiederum weist auf die Möglichkeit, in Natal’ja einen „Gegenentwurf zur griechischen Antigone“ zu sehen.19 Die Quellenfrage ist freilich ein eher philologisches Problem, das nicht überschätzt werden sollte. Zur Erhellung der innovatorischen Dramenkunst Turgenevs trägt es nur dann etwas bei, wenn vor allem die Unterschiede zur „Vorlage“ herausgearbeitet werden. Wenig ergiebig ist auch die Frage, inwieweit „Mesjac v derevne“ in Turgenevs eigenen Werken Anknüpfungspunkte hat. Die Rivalität zweier Frauen ist zum Beispiel schon in Turgenevs frühem, von Mérimée angeregten Dramenfragment „Dve sestry“ (Zwei Schwestern, 1844) vorgegeben, und Beljaev hat in dem Studenten Andrej Kolosov aus der gleichnamigen Erzählung (ebenfalls 1844) einen Vorläufer. Für Natal’ja Petrovna soll sogar ein historisches Vorbild existiert haben, während in Rakitin autobiographische Züge Turgenevs, etwa sein Verhältnis zu Pauline Viardot, zu vermuten sind.20 Heldentypologie und Figurenkonstellation Aufschlußreicher als die Quellenfrage ist das typologische Arrangement der Figuren. Sie lassen sich nach einer sozialen, psychologischen und rollenhistorischen Typologie ordnen. Die soziale Ebene wird von der Opposition Adel (die Islaevs, Rakitin, Bol’šincov) vs. Rasnotschinzen-Intelligenz (Beljaev, Špigel’skij, mit Vorbehalt Šaaf) bestimmt. Das ist zugleich eine Opposition reich/unabhängig gegen arm/abhängig. In die letztere Kategorie gehört auch Vera. Die soziale Schichtung vermittelt einen repräsentativen Ausschnitt aus der russischen Gesellschaft, auch wenn Bauern und Geistlichkeit fehlen. Die Ansicht mancher Interpreten, Turgenev habe mit seinem Drama vor allem Sozialkritik üben wollen, ist allerdings höchst zweifelhaft. Die soziale Problematik ist weder eine notwendige noch hinreichende Bedingung des Spiels: Sie ergänzt es, aber trägt es nicht.21

194

Ivan Turgenev

Dem Sozialen übergeordnet sind Typologie und Struktur der Charaktere sowie deren Konstellation. Dabei ist von den Rand- über die Neben- zu den Hauptfiguren eine Abnahme der typologischen Eindeutigkeit und eine Verlagerung von der Komik zur Tragik hin erkennbar. Die Randfiguren entsprechen traditionellen Komödienrollen: Bol’šincov verkörpert den tölpelhaften Freier, Šaaf den komischen Hauslehrer, die Gesellschafterin das späte Mädchen. Der Arzt Špigel’skij ist als Nebenfigur nicht nur ein eigennütziger Kuppler, sondern zugleich zynischer Diagnostiker und Kommentator, was auch sein sprechender Name anzeigt. Islaev, der sich für einen „einfachen Menschen“ hält (381), ist der gutgläubige und arbeitsbesessene Ehemann, dessen wirtschaftliche Erfolge als Gutsherr durch einen Mangel an geistiger und erotischer Sensibilität in Frage gestellt werden. Gutsbesitzeraktivität und emotionale Passivität überlagern sich in ihm. Er heißt zwar Arkadij, agiert aber unarkadisch. Rakitin vereint umgekehrt kultivierte Reflexion und erotisches Taktieren mit Mangel an entschlossenem Handeln. Als theoretisierender Zauderer gehört er zu Turgenevs Variationen der Hamlet-Typologie und des sogenannten „überflüssigen Menschen“. Beljaev wiederum ist als Praktiker und Naturbursche konzipiert. Als naiver Jüngling und unschuldiger Herzensbrecher wird er im Rankünespiel erst zum reinen Toren, dann zum moralisch Handelnden. Insofern besitzt er Anklänge an Turgenevs Don Quijote-Typologie.22 Seine geistig-psychologischen Fähigkeiten sind beschränkt, auch wenn er „progressive“ Zeitschriften liest. Vera ist ihm in ihrer Unbekümmertheit und anfänglichen moralischen Integrität verwandt. Zunächst kindliche Naive, macht sie einen Erfahrungsprozeß durch, der sie erst zur Liebenden und Rivalin, am Ende aber im überstürzten Heiratsentschluß aus Berechnung und Sozialnot zum Opfer werden läßt. Natal’ja Petrovna schließlich ist eine der ersten problematischen Frauengestalten Turgenevs von Rang. Als unglückliche Gattin, potentielle Verführerin und gescheiterte Liebende steht sie im Mittelpunkt23, ohne eine feste Typologie zu besitzen. Sie trägt Züge sowohl einer Leidenden als auch einer femme fatale, der Intrigantin als auch der Entsagenden. Neben Vera rückt sie als einzige Figur des Dramas in die Nähe von Tragik.24 Während also die Randfiguren rollentypologisch eindimensional festgelegt sind, zeigen Neben- und Hauptfiguren eine Komplizierung konventioneller Typik, auch wenn sie insgesamt eher statisch konzipiert sind. Vor allem Natal’ja und Rakitin werden zu komplexen Gestalten mit analytischen Fähigkeiten und unsicherem Handeln. In dieser Differenzierung steckt ein Zugewinn an psychologischem Realismus, der später im Personenarsenal der Turgenevschen Romane wiederkehrt. Alle wichtigen Figuren sind eingesponnen in ein Geflecht sich ergänzender Oppositionssysteme. Neben der sozialen Polarität dominieren vor allem die Gegensätze Jugend vs. Alter, Gefühl vs. Ratio, Tat vs. Taktik, Integrität vs. Intrige, Naturnähe vs. Kulturüberfeinerung.25 In die erste Rubrik gehören jeweils Beljaev und die anfängliche Vera, in die zweite Špigel’skij, Rakitin und Natal’ja (obwohl letztere, wenn auch vergeblich, um einen Wechsel bemüht ist). Die

„Mesjac v derevne“ (Ein Monat auf dem Lande)

195

Figurenkonstellation wird damit wesentlich von den Prinzipien der Parallelität und des Kontrasts bestimmt. Turgenev vermeidet jedoch einen bloßen Schematismus, indem er etwa Islaev eine Zwischenposition zuweist. Da Islaev die gleiche Praxisnähe und Integrität wie Beljaev besitzt, wird die soziale Polarität durch charakterliche Parallelität überlagert. Abkehr vom geschlossenen Drama Als Gustav Freytag 1863 seine „Technik des Dramas“ veröffentlichte, ging er davon aus, „daß einige Grundgesetze des dramatischen Schaffens für alle Zeit Geltung behalten werden“26. Zu diesen Grundgesetzen zählte er „starke Seelenbewegungen“, „Wichtigkeit und Größe“ der Handlung, den möglichst fünfaktigen „pyramidalen Bau“ mit Aufstieg, Umkehr und Katastrophe sowie die „innere Notwendigkeit“ der Ereignisfolge. Nicht Zufall, Statik und offener Schluß, sondern „tatenreiches Dasein“ mit „Kampf und Spannung“ und einer „gänzlich vollendeten Handlung“ sollten das Drama bestimmen. Dessen Aufgabe sei, einen „vernünftigen Weltzusammenhang“ hervorzubringen. Freytags idealtypische Definition macht deutlich, wie weit sich Turgenev von den Normen des tektonischen Dramas entfernt hat. Obwohl „Mesjac v derevne“ äußerlich dem fünfaktigen Aufbau folgt, fehlt dem Stück der „pyramidale“ Spannungsbogen. Von den Einheiten der Zeit und des Orts kann ohnehin, wie schon der Titel andeutet, nach strengem Maßstab keine Rede sein. Eine geschlossene Handlung mit Aufgipfelung und lösender Katastrophe ist ebensowenig erkennbar. Natal’ja und Rakitin, die ohne Gift, Ehebruch oder Duellforderung auskommen, besitzen zu wenig voluntaristische Energie, um das von Freytag geforderte „Werden der Tat“ realisieren zu können.27 Auch Beljaevs Abreise und Veras Heiratsentschluß schaffen keine eigentlichen Umkehrsituationen. Statt klassischer Peripetien dominieren Zustandsbeschreibungen, und Änderungen der Zustände werden im wesentlichen nur als theoretische Möglichkeit ins Auge gefaßt, nicht jedoch in die Tat umgesetzt. So stagniert die zentrale Handlung, und wir sehen eine „erstarrte Welt“, der die Langeweile zum Konversationsthema wird.28 Retardation ist hier nicht Zwischen-, sondern Dauerzustand. Am deutlichsten ist der Verlust von Dynamik und Entwicklung mit dem Schicksal Natal’jas verbunden. Zunächst scheint die Ankunft Beljaevs eine spannende Ereignisfolge einzuleiten, doch am Ende ist keine Zustandsänderung, sondern eine Zustandsverfestigung eingetreten: Natal’ja lebt nach wie vor mit dem ungeliebten Islaev (der seinerseits, wie seine Mutter, unverändert ist) und hat obendrein Rakitin und Vera verloren. Das neue Leben bleibt eine Illusion. Zwischen An- und Abreise Beljaevs liegt eine Kreisbewegung. Die Handlung verläuft weniger final als zirkular und mündet in Iterativität. Natal’ja steht am Ende da, wo sie schon zu Beginn gestanden hat, und der Kreislauf wird für sie zum Leerlauf. Sie ist in eine zyklische Zeitkonzeption gebunden. Ähnlich hofft der abreisende Rakitin auf baldige Rückkehr und Perpetuierung des früheren Zustands. Auch der mit Arbeitsplänen nach Moskau fahrende Beljaev hat – man

196

Ivan Turgenev

denke an seine „verfluchte Faulheit“ (323) – kaum mehr als eine ungewisse „implizierte Zukunft“ vor sich.29 So ist der Wechsel von der zentripetalen Bewegung (Ankunft Beljaevs, Rückkehr Rakitins) zur zentrifugalen Bewegung (ihre Abreise, der Weggang Veras und der Gesellschafterin) kein Indiz für eine handlungsbegrenzende Lösung, sondern eher Folie für die Statik um Natal’ja. Ohnehin haben die Akte I, III und V die gleiche Situierung und „Dekoration“, und ohnehin liegen beide Bewegungsvorgänge, was typisch für das offene Drama ist, jeweils vor bzw. nach der Bühnenhandlung. Turgenev verdeutlicht die aus dem Zusammenfall von Anfang und Ende resultierende Aporie durch signifikante Wiederholungen. Rakitin bemerkt zu Natal’jas Wandlung im ersten Akt: „Was ist denn das? Der Anfang vom Ende oder einfach das Ende? (Nach kurzem Schweigen) Oder der Anfang?“ (303). Später konstatiert Natal’ja: „[…] das geht so schnell vorüber, wie es gekommen ist“ (337), und Beljaev sagt im Schlußakt zu Vera: „Sehen Sie denn nicht, daß alles zu Ende ist. Alles. Aufgelodert und erloschen wie ein Funke“ (392). Turgenev legt den Akzent nicht auf den Ausgang, sondern auf den Gang selbst und auf das Psychologisch-Prozeßhafte der Handlung. Anfang und Ende werden austauschbar, und die Helden können ihre Vereinzelung nicht durchbrechen. Diese Verbindung von Passivität und Isolierung sowie das Fehlen von linearer Progression, eindeutiger Zäsur und sicherer Zukunftsperspektive entfernen das Stück vom tektonischen Drama und rücken es in die Nähe der offenen Situationskomposition. Die Dramaturgie der Pyramide geht in die Dramaturgie des Kreises über.30 Turgenev nimmt hier das moderne Drama vorweg. Die berühmten Eingangssätze von Samuel Becketts „Endspiel“ lauten: „Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende.“31 „Inneres Geschehen“ und „Sprechhandlung“ Die Reduktion der äußeren, final-abgeschlossenen Handlung wird aufgewogen durch eine Zunahme des „inneren Geschehens“.32 Vor allem Natal’ja und Rakitin, aber auch Špigel’skij, beherrschen das Wechselspiel von Introspektion und Insinuation. Sie drehen sich im Kreis der Selbstanalyse, des Auskundschaftens und der lancierten Verdächtigungen. Nicht Taten, sondern Bewußtseinsvorgänge kommen zur Darstellung, und die Intrige bleibt im wesentlichen auf das psychologische Taktieren beschränkt. Turgenev löst das Aktionsdrama zugunsten der inneren Handlung auf: „Das eigentliche Drama spielt sich im einzelnen selbst ab.“33 In diesem Zurücktreten der äußeren Handlung zugunsten des inneren Konflikts liegt der Grund, weshalb „Mesjac v derevne“ als das „erste psychologische Drama des russischen Theaters“ bezeichnet worden ist.34 Turgenev selbst sprach davon, er habe sich in seinem Stück eine „ziemlich schwierige psychologische Aufgabe“ gestellt, und schon damalige Kritiker maßen seinem Drama eine „rein psychologische Bedeutung“ zu.35 Mit der Betonung des inneren Spiels hängen auch die üblichen Einordnungen als Stimmungsdrama, Kammertheater oder Konversationsstück zusammen.

„Mesjac v derevne“ (Ein Monat auf dem Lande)

197

Besonders aufschlußreich für die innere Handlung ist die Redeweise der Figuren. Mit der Vorherrschaft des psychologischen Geschehens erhält nicht nur das analytische Denken ein besonderes Gewicht, sondern auch die Rede selbst wird zur „Sprechhandlung“ und der Dialog zur neuen „Konstruktionsdominante“ des Dramas.36 Der Leser bzw. Zuschauer muß die Sprecherabsicht der einzelnen Figuren erkennen, um das psychologische Spiel zu durchschauen. Dabei geht es um eine weitere Oppositionsbildung innerhalb der Figurenkonstellation. Auf der einen Seite stehen mit Beljaev, Vera und Islaev (sowie den Randfiguren) die Vertreter der eindeutig-expliziten Redeweise. Sie meinen, was sie sagen, sprechen also in der Regel offen, spontan und ohne geheime Absichten. Ihre Redeinhalte müssen nicht relativiert werden, da ihr Ziel eine „störungssichere Verständigung“ ist. Wenn sie dennoch zweideutig reden, geschieht das unbewußt. Auf der anderen Seite stehen mit Natal’ja, Rakitin und Špigel’skij die Vertreter der gezielt zweideutig-impliziten Rede.37 Ihre Sprechhandlung ist häufig von Andeutung, Anspielung, Doppelbödigkeit, Verheimlichung, Unaufrichtigkeit und ähnlichem bestimmt. Sie wechseln sprunghaft das Thema, unterbrechen einander oder hören einander nicht zu. In ihrer Rede steckt eine verborgene Absicht, und das Gesagte ist nicht immer das Gemeinte. Damit wird ihr Gespräch zum Aneinander-vorbei-reden bzw. zum „kommunikationsgestörten Dialog“. Nicht erst bei Čechov, sondern schon bei Turgenev kann die äußerlich dialogische Rede zur „Autokommunikation“ werden und damit in monologische Sprechhandlungen zerfallen.38 Eine wichtige Funktion im psychologischen Spiel kommt den Sprechpausen zu. „Mesjac v derevne“ besitzt etwa neunzig Anweisungen wie „Schweigen“, „kurzes Schweigen“, „hält inne“, „verstummt“. Da sie fast alle als Ausdruck der inneren Handlung fungieren, sind sie ganz überwiegend den Hauptfiguren zugeordnet. Natal’jas Rede wird über dreißigmal durch Pausen unterbrochen, die zumeist Unausgesprochenes signalisieren.39 Auch das ist Vorläuferschaft zu Autoren wie Beckett, der von der „Pause“ geradezu exzessiven Gebrauch macht. Neben den Pausenanweisungen sind zahlreiche Askriptionen zum mimisch-gestischen Spiel und zur Sprechtextnuancierung Ausdruck des inneren Geschehens. Auch das Spiel mit Requisiten (Beljaevs Drachen, Špigel’skijs Tabaksdose, Natal’jas Schirm usw.) kann zum Indikator seelischer Vorgänge werden.40 Eine subtile Spiegelung des inneren Geschehens wird außerdem durch die Überlagerung von Dialogstücken aus getrennt voneinander agierenden – aber gleichzeitig auf der Bühne befindlichen – Personengruppen erreicht. Vielzitiertes Beispiel hierfür ist die Eingangsszene des ersten Akts. Die erste Kommunikationsgruppe bilden die Kartenspieler, Islaevs Mutter Anna, ihre Gesellschafterin sowie Šaaf, die zweite Natal’ja und Rakitin, der ihr aus Dumas’ „Le comte de Monte-Cristo“ vorliest. Nach einer Frage Natal’jas an Rakitin kommt es zu folgender Wechselrede: RAKITIN Ich bin ganz Ihrer Meinung.

198

Ivan Turgenev

NATAL’JA PETROVNA Wie langweilig!… Immer sind Sie meiner Meinung. Lesen Sie. RAKITIN Ah! Sie wollen also, daß ich Ihnen widerspreche… Bitte sehr. NATAL’JA PETROVNA Ich will... Ich will!... Ich will, daß Sie wollen... Lesen Sie, habe ich gesagt. RAKITIN Zu Befehl. (Nimmt wieder das Buch) ŠAAF Herz. ANNA SEMENOVNA Wie? Schon wieder? Das ist unerträglich! (Zu Natal’ja Petrovna) Nataša... Nataša... NATAL’JA PETROVNA Was ist? ANNA SEMENOVNA Stell dir vor, Šaaf spielt uns in Grund und Boden... Dauernd hat er sieben oder acht Herz. ŠAAF Wieder sieben Herz. ANNA SEMENOVNA Hörst du? Es ist entsetzlich. NATAL’JA PETROVNA Ja... entsetzlich (288). Dieser Redeausschnitt enthält eine Reihe versteckter Botschaften. Er signalisiert, daß Rakitin eben kein Graf von Monte Christo, kein Abenteurer und Verführer, sondern ein bloß passiv-reaktiver Causeur als Echo-Figur ist. Die Herzfarbe liefert dazu den ironischen Kontrast. Wenn Natal’ja das (lediglich aufs Spiel bezogene) „entsetzlich“ Anna Semenovnas wiederholt, kommentiert sie damit ihre eigene Situation der fehlenden Lebenserfüllung. Ihr „Wie langweilig!“ und Anna Semenovnas „Das ist unerträglich!“ sind ebenfalls austauschbar. Die Sinnentleerung der Existenz manifestiert sich in beiden Sprechergruppen zwar auf verschiedenen Ebenen, Vordergrunddialog und Hintergrundäußerung bilden aber ein kommunizierendes System, was der in impliziter Rede erfahrenen Natal’ja wohl bewußt ist, den nur eindeutig sprechenden Kartenspielern aber nicht. Diese Montage verschiedener Kommunikationstexte und die Einführung des „Mehrgesprächs“ beleuchten ein weiteres Mal Turgenevs Verfeinerung der Sprechhandlung und Dialogstruktur.41 Die latent-verweisende Rede kennzeichnet auch sonst den Text. Hierzu ein weiteres Beispiel in Form von unbewußter Selbst- und Situationscharakteristik. Islaev, der ganz mit dem Bau eines Deichs beschäftigt ist, beklagt sich bei Rakitin über fehlendes Verständnis und mangelnde Arbeitsliebe der Bauern und fügt dann hinzu: „Das ist es eben, keine Liebe“ (303). Zugleich stellt er fest, daß ihm wegen der Arbeitsfülle „die Zeit davonläuft“. Diese Äußerungen können als eine ungewollte Selbstbeschreibung Islaevs gelesen werden: Er errichtet einen Damm gegen die Liebe, versteht Natal’ja nicht und verliert seine Zeit mit womöglich unwichtigen Dingen. Das gilt dann zugleich auch für die anderen Hauptfiguren. Schlüsselwörter Die Dominanz des inneren Geschehens, welche äußere Statik zur Folge hat, konkretisiert sich sprachlich im leitmotivischen Gebrauch bestimmter Schlüs-

„Mesjac v derevne“ (Ein Monat auf dem Lande)

199

selwörter. Natal’ja und Rakitin nennen sich selbst oder andere Personen in den ersten Akten immer wieder „träge“, „müde“, „traurig“ oder „langweilig“ (287, 289, 297, 299 f., 316 f., 321 u. ö.). Energie bringen sie nur zur „scharfsichtigen“ Beobachtung auf. Wenn Šaaf seinem Schüler Kolja das Sprichwort „Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute“ entgegenhält (299), wirkt das wie eine ironisch-spiegelnde Glosse zu den verschiedenen Lethargieebenen. Selbst Beljaev attestiert sich „verfluchte Faulheit“, mit der er „geboren“ sei (312, 321, 323). Andererseits verkörpert er Jugend, während Natal’ja sich und Rakitin als „alt, sehr alt“ einstuft (319, 324 u. ö.). Dieser Gegensatz erfährt eine Steigerung in der Antithese gesund – krank. Zunächst bezeichnet Natal’ja sich und Rakitin jeweils als „krankhaftes Wesen“ (318), später konstatiert Rakitin: „Höchste Zeit, diese krankhaften, diese schwindsüchtigen Beziehungen abzubrechen“ (394). Die wiederholten Bemerkungen des Arztes Špigel’skij zu Natal’jas Gesundheitszustand bilden hierzu den wiederum ironischen Kommentar. Ein weiteres Schlüsselwort ist das Adjektiv „fremd“ (346, 350 u. ö.), das in denotativ-konnotativer Doppelung auf den Zustand der Entfremdung weist. Turgenevs Verwendung dieser Beiwörter ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil Adjektive in klassischen Dramentexten zumeist eine untergeordnete Rolle spielen.42 Auffallend ist weiterhin die signifikante Häufung der Verben „beobachten/observieren“, „fintieren“ und „ausforschen“. Sie gehören vor allem zum Wortschatz Natal’jas und Rakitins und bezeichnen ihre müßige, ereignislose Existenz. Auch Špigel’skij wird damit charakterisiert. Wenn Rakitin von Natal’ja als „Herr Beobachter“ (317) und Špigel’skij als „Herr Diplomat“ (298, 331) angeredet wird, ist das fast schon eine (ironische) Typisierung.43 Ehe Natal’ja Beljaev ihre Liebe gesteht, muß sie sich ausdrücklich dazu durchringen, ihr bisheriges Versteckspiel zu beenden (371). Beljaev, Vera und Islaev dagegen ist taktisches Kalkül fremd. Nachdem Vera das Ränkespiel durchschaut hat, fordert sie Natal’ja auf, das Taktieren und Aushorchen zu lassen (370, 388). Und Islaev sagt von sich selbst: „Diplomatische Feinheiten passen nicht zu mir“ (380) bzw. „Fintieren kann ich nicht“ (381). Die Vertreter der eindeutigen Rede sind keine Finasseure. Natal’ja und Rakitin wissen um die Fragwürdigkeit ihres Daseins. Unter Bezug auf Natal’jas Wort vom „Herrn Beobachter“ stellt Rakitin fest: „Sie hat die Wahrheit gesagt: Von morgens bis abends beobachtet man Lappalien und wird dabei selber läppisch“ (320). Später bezeichnen beide ihr Tun als „Banalitäten“ (351, 376, 385), und Rakitin nennt sich einen „Schwätzer“ (394). Sie sind weniger Akteure als Räsoneure. Rakitin ist kein Lovelace und Natal’ja keine George Sand (320, 323). Deshalb darf auch das redundante Wortfeld „Veränderung“ nicht mißverstanden werden. Es benennt immer nur die transitorische Änderung von Absichten, Mimik und Verhalten, nie die bleibende Konsequenz der Tat. Diese Relativität faßt Špigel’skij am Ende von Akt II, als Rakitin seine Zurücksetzung hinter Beljaev mit dem Bild der „Nachhut“ umschreibt, in die iro-

200

Ivan Turgenev

nische Bemerkung: „Die Avantgarde, wissen Sie, wird sehr leicht zur Arrièregarde... Alles hängt von der Änderung der Marschrichtung ab“ (332). Vier der fünf Aktschlüsse enden mit dem Motiv der Nachhut, der Richtungsänderung oder des Wegfahrens. Damit wird sowohl e contrario die Statik um Natal’ja als auch abermals die Vorstellung eines afinalen Bewegungsablaufs evoziert. Das Wortfeld „Veränderung“ hat eine desinformierende Komponente. Trotz Kommens und Gehens verharrt die Handlung auf der Stelle. Figurenkonzeption, Menschenbild, Tragikomödie Der Verlust von Entwicklung und Finalität steht in Verbindung mit Turgenevs „statischer Figurenkonzeption“.44 Statische Figuren, die sich als fertige Charaktere während der Handlung kaum oder nicht mehr ändern, begegnen häufig in Komödien. Die Komik resultiert wie bei Bol’šincov oder Šaaf aus der Verhaltensautomatik. Statische Dramenfiguren können zugleich aber auch Ausdruck einer ideologischen Determination sein.45 Hinter ihnen stehen dann Menschenbild und Weltanschauung des Autors. Zu Turgenevs Überzeugungen gehörte der feste Glaube an die Unveränderlichkeit des menschlichen Charakters. Im Epilog des Romans „Rudin“ heißt es: „Jeder bleibt der, zu dem ihn seine Natur gemacht hat.“46 Bezüglich dieser Natur gab sich Turgenev keinen Illusionen hin. Mit größter Skepsis begegnete er den Theorien der Willensfreiheit und sittlichen Vollkommenheit. Der Mensch ist für ihn ein schwaches, verführbares, immer irrendes Wesen, dessen Ziel nur darin bestehen kann, zur „Ruhe im Leiden“ und zur „Resignation in die Notwendigkeit“ (Schiller) zu finden. Ganzheitliche Charaktere gibt es ebensowenig wie ein glückliches Leben, und Turgenev sah in nahezu jedem Menschenleben „etwas Tragisches“ verborgen. Häufigste Ursachen des Leidens sind die unaufhebbare Nichtigkeit des Erdendaseins, das Versagen in der Liebe und die Herrschaft des Zufalls. Turgenev teilte mit Schopenhauer, der seit den fünfziger Jahren sein Lieblingsphilosoph war, die Überzeugung: „So ist jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte.“47 „Mesjac v derevne“ stellt eine Fülle von Paarbeziehungen vor, aber nicht eine davon ist glücklich. Obwohl sich alles „um die Liebe dreht“, sehen wir nur Stationen und Kreisläufe des halben oder ganzen Scheiterns. In bitterer Paradoxie ist der Seelenverkäufer Špigel’skij der einzige „Sieger“ des Stücks.48 Selbst Beljaev und Vera, der nach ihrer Heirat möglicherweise die Rolle einer zweiten Natal’ja bevorsteht, werden nicht in der Bewährung eines besseren Lebens gezeigt. Daher kann es auch bei ihnen nicht um die Entwicklung, sondern nur um das Aufdecken des (gewiß noch unfertigen) Charakters gehen. Der Glaube an die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur verhindert eine dynamische Figurenkonzeption. Es ist dann auch nicht notwendig, den Aktanten eine regelrechte Vorgeschichte zuzuordnen. Mit der Statik der Figuren hängt zusammen, daß ihnen die tragische Größe und ihrer Handlung die innere Notwendigkeit im Sinne Freytags fehlen. Wir ha-

„Mesjac v derevne“ (Ein Monat auf dem Lande)

201

ben keine Tragödie mit katastrophischer Fallhöhe vor uns. Aber um eine „Komödie“ im engeren Sinn, wie der Untertitel nahelegt, handelt es sich ebensowenig, auch wenn Natal’ja und Rakitin ihr Tun und Lassen als „Komödienspiel“ bezeichnen (372, 384). Turgenevs Stück ist eine Tragikomödie, die das theatrum mundi einer genarrten und sich narrenden Gesellschaft vorführt.49 Für diese Gesellschaft trifft Schopenhauers Definition des Lebens als einer „Tragikomödie“ oder „tragischen Farce“ haargenau zu: „Das Leben jedes Einzelnen ist, wenn man es im Ganzen und Allgemeinen übersieht und nur die bedeutsamsten Züge heraushebt, eigentlich immer ein Trauerspiel; aber im Einzelnen durchgegangen, hat es den Charakter des Lustspiels [...] So muß, als ob das Schicksal zum Jammer unseres Daseyns noch den Spott fügen gewollt, unser Leben alle Wehen des Trauerspiels enthalten, und wir dabei doch nicht einmal die Würde tragischer Personen behaupten können, sondern, im breiten Detail des Lebens, unumgänglich läppische Lustspielcharaktere seyn.“50 In eben diesem Sinn hat auch Turgenev das Dasein wiederholt als „Tragikomödie“ bezeichnet, und dementsprechend vermittelt „Mesjac v derevne“ den von Rakitin diagnostizierten Triumph des Läppischen mit der schmerzlichen Identität von Tragik und Komik. Die Feststellung von Karl S. Guthke, daß die Faszination des Tragikomischen primär „weltanschaulicher Natur ist“, weil das Leben selbst als „tragische Posse“ begriffen wird51, kennzeichnet auch Turgenev. Triumph des Allianzdispositivs Die in einem Drama zutage tretende Weltanschauung bzw. Weltdeutung kann mit seiner Dramenstruktur in Verbindung gebracht werden. Wir ziehen dazu Michel Foucaults Theorie vom Sexualitätsdispositiv heran. Foucault konstatiert für die Neuzeit und besonders für das 19. Jahrhundert eine rasant zunehmende Sexualisierung von Bewußtsein, Beziehungen und Darstellungsformen, weil neben den „Natur-Sex“ ein regelrechter „Diskurs-Sex“ getreten sei.52 Im Sexualitätsdispositiv wird zunächst das Recht des Körperlichen, der legitimen Konkupiszenz, der emotionalen Individualität und gegebenenfalls der Emanzipation durch Abnormitätsbekenntnis betont. Lust ist nicht mehr von der Pflicht zur Reproduktion abhängig. Typologien wie die femme fatale, die unbefriedigte Gattin, der impotente oder perverse Ehemann, das frühreife Kind, der lustvolle Ehebrecher oder der homoerotische Entwurf erhalten wachsende Aufmerksamkeit und gewisse Akzeptanz. Damit aber werden herkömmliche Ordnungs- und Disziplinierungssysteme untergraben. Was wiederum zur Folge hat, daß auch im Sexualitätsdispositiv neue Domestizierungsmaßnahmen wie Moralisierung, Pädagogisierung oder Psychiatrisierung sowie gezieltes Streben nach Diskurshoheit eingesetzt werden.53 Auch Selbstzensur durch Gewissen bleibt aktuell. Zugleich erhält damit das sogenannte Allianzdispositiv eine erneute Aufwertung, weil es als dämmendes Schutzsystem gesehen wird: Es soll mit Standesheirat und Lob der Vernunftehe, stabilen Besitzverhältnissen und Erbfolgen, traditioneller Monogamie- und Moralorientierung sowie Statusdenken konservierende Kräfte

202

Ivan Turgenev

entfalten. Statusdenken schützt Status-quo-Systeme. Das Allianzdispositiv hält damit Ehe- und Familienstrukturen auch dann noch in formaler Stabilität, wenn Liebe und Zuneigung instabil geworden sind. Passion und „plaisir“ sehen sich dem Korrelativ bzw. Korrektiv von Freundschaft und „amor rationalis“ ausgesetzt.54 Es ist evident, daß das Sexualitätsdispositiv in Nähe zu dramatischen Peripetiemustern, das Allianzdispositiv dagegen eher in Nähe zu veränderungsresistenten Perpetuierungsstrukturen steht. Turgenevs „Mesjac v derevne“ ist ein Drama, dessen Geschehen den Einbruch des Sexualitätsdispositivs abwehrt und das restaurative Allianzsystem triumphieren läßt. Liebe und Passion bleiben, um mit Luhmann zu formulieren, einem stratifikatorischen, nicht einem funktionalen System verpflichtet. Die Subversion des sexuellen Begehrens führt nicht zu Normbruch und Skandal, das Stück bleibt ohne Klimax und Zäsur. Obwohl sich alles um erotische Triebkräfte dreht und obwohl Natal’ja Petrovna nichts so sehr wünscht wie ein „Gewitter“ mit Umkehrexplosion (301), kommt es fünf Akte lang zu keinem wirklichen Liebesakt. Man treibt ein gefahrloses „Katz- und Mausspielchen“ (293 f.), und das „Spiel mit dem Feuer“ (355) führt zu keiner wirklichen Brandstiftung. Die „nervösen Damen“, von denen Natal’ja wie Foucault spricht (318), bleiben ohne „Natur-Sex“. Es dominiert das episch-serielle, psychologisch-innere Optionsspiel, nicht das evasiv-umstürzende Tatdrama. Restauration und atektonische Dramenanlage spiegeln einander. Der Triumph des Allianzdispositivs bedeutet zugleich, daß von den drei Freundschaftsarten, die Aristoteles unterschieden hat, bestenfalls die Nutzfreundschaft überdauert, die Lust- und Tugendfreundschaft aber auf der Strecke bleiben.55 Die Nutzfreundschaft trägt dazu bei, Dauer- und Übergangsgesellschaften zu konservieren, während Lustfreundschaften eher zu Katastrophen- und Untergangsgesellschaften passen. Wenn sich Vera doch noch mit Bol’šincov verbindet, die Gesellschafterin bei Špigel’skij landet, Islaevs Mutter ihr Ambiente behält und Natal’ja bei ihrem Ehemann bleibt, werden die Grundsätze der Vernunft- und Traditionsallianzen als Ausdruck von Nutzfreundschaftsprinzipien bestätigt. Insofern präsentiert „Mesjac v derevne“ am Ende doch wieder die alte geschlossene Adelsnest-Welt, auch wenn die offene Gesellschaft kräftig an die Tür geklopft hat. Ein Tableau mit „happy few“-Konstellation ist nicht in Sicht. Turgenev und Čechov. Nachwirkung Die voranstehenden Ausführungen sollten nicht zuletzt schon deutlich machen, daß Turgenev als Vorläufer Čechovs anzusehen ist.56 Bereits er hat „wider alle Regeln der dramatischen Kunst“ – so Čechov über „Čajka“ (Die Möwe) – geschrieben. Seine Aufnahme beim Publikum ist dadurch freilich stärker beeinträchtigt worden als später diejenige Čechovs, da Normerwartung und Gattungspurismus nach wie vor vom geschlossenen Drama ausgingen. Das begann sich erst gegen Ende des Jahrhunderts zu ändern. Stanislavskij hat in seinen Erinnerungen bestätigt, daß Turgenevs Dramatik nicht die „üblichen Darstellerma-

„Mesjac v derevne“ (Ein Monat auf dem Lande)

203

nieren“, sondern eine „besondere Art des Spielens“ verlangt, um die „psychologische Filigranarbeit“ und die „geistigen Feinheiten“ in den „kleinsten und verborgensten Falten mühelos zu entziffern“.57 Hierzu paßt, daß Fontane in seiner bereits erwähnten Besprechung zu „Natalie“ 1889 prophezeit hat, Turgenevs Stück werde „besonders von einem modernen, an Ibsenschen Stücken und Ibsenscher Sprache geschulten Publikum“ aufgenommen werden. Spätere Stücke, die schon von der Titelwahl her auf Turgenev verweisen – wie Aleksandr Vampilovs banal-komischer Monolog „Mesjac v derevne, ili Gibel’ odnogo lirika“ (Ein Monat auf dem Lande oder Bankrott eines Lyrikers, 1958) oder Vladimir Sorokins provokantes Schauspiel „Mesjac v Dachau“ (Ein Monat in Dachau, 1990) –, haben mit solchen Raffinessen nichts mehr zu tun. Eher schon Brian Friels gelegentlich auch auf deutschen Bühnen gespielte Adaption „A Month in the Country: After Turgenev“ von 1992. Besonders nahe kommt dem Turgenevschen „Als ob“ eine elegisch-anrührende Erzählung des 1946 geborenen englischen Schriftstellers Julian Barnes, die in der deutschen Übersetzung den Titel „Aufleben“ trägt.58 Sie thematisiert, ausgehend von „Mesjac v derevne“ und Turgenevs Beziehung zu Marija Savina, die Verfehlung einer Liebe. Wie später bei Čechov steht der Begriff „Komödie“ bei Turgenev für die Sache der Tragikomödie. Die Überlagerung von Komik und Tragik, die sich wesentlich aus der Divergenz von Schein und Wirklichkeit, von Wollen und Vermögen ergibt, ist beiden Dramenautoren genauso gemeinsam wie die Darstellung von Entfremdung und Langeweile. Beide bringen „schwindsüchtige Beziehungen“ auf die Bühne. Für Natal’ja und Rakitin ist die Zeit ähnlich gedehnt wie für die wartenden Figuren Čechovs, und Beljaev wird mit seinem Entschluß, zur Arbeit nach Moskau zu fahren, in einer ebenso rein theoretischfuturischen Perspektive gezeigt wie viele Čechovsche Helden. Man denke an das „nach Moskau“ der Schwestern in „Tri sestry“. Der Skeptiker Turgenev stellt wie der Skeptiker Čechov nicht einen „vernünftigen Weltzusammenhang“, sondern viel eher die Welt als Gegenspieler des Menschen dar.59 Anders als Ostrovskij verzichten beide auf Lösungen und strenge Finalität. Der Zuschauer sieht keine „gänzlich vollendete Handlung“ (Freytag), sondern weit eher „den Vorhang zu und alle Fragen offen“ (Brecht). Die Konturen von Gattungsgrenzen innerhalb der Dramentypologien, von Haupt- und Nebenfiguren, von Spiel und Gegenspiel verschwimmen. Desgleichen verschwimmen die Grenzen von Monolog und Dialog, von expliziter und impliziter Rede, von Ein- und Zweideutigkeit, von Stimmung und Verstimmung. Inneres Geschehen, ja Sprache und Dialog selbst werden zur Dominante der Handlung. Nicht Zäsur, Wendepunkt und katastrophische Kollision, sondern Moratorium und Retardation bestimmen den (Nicht-)Handlungsgang. Kairos und Katharsis bleiben aus, weil Option statt Aktion dominiert. Auch das Čechovsche „Nicht-zu-Ende-Sprechen“ samt Desinformationsspiel ist bei Turgenev vorgebildet, ebenso die Zunahme der Sprechpausen und der Anweisungen zur Deklamation und mimisch-gestischen Nuancierung. Turge-

204

Ivan Turgenev

nevs Text ist zudem von einem Netz leitmotivischer, symbolischer und thematischer Korrespondenzen überzogen60, die in dieser Dichte erst bei Čechov wiederkehren. Diese Akzentverlagerung von der äußeren Handlung zur Innerlichkeit sowie zur Sprechhaltung und konnotativen Sprache macht es in der Tat nicht einfach, den Text in eine adäquate Bühnendarbietung umzusetzen. Hier liegt auch der Grund, weshalb „Mesjac v derevne“ als Lesedrama bezeichnet werden kann. Der Leser hat zu dem beziehungsreichen Gewebe des Textes und seiner Wiedergabe von Stimmungen einen leichteren Zugang als der Zuschauer.61 Nur der Leser zum Beispiel kann die zahllosen Gedankenpunkte erkennen und ausfüllen, die als „Leerstellen“ einen Appell an die aktive Mitarbeit des Rezipienten richten. Zugleich wird einsichtig, daß Turgenevs Drama zu den frühen russischen Varianten des epischen Theaters gerechnet werden kann. Nicht zufällig hat Turgenev in einer Vorbemerkung zur Erstveröffentlichung 1855 und dann so ähnlich in Briefen wiederholt geschrieben: „Das ist eigentlich keine Komödie, sondern eine Erzählung in dramatischer Form.“ Entsprechend betrachteten zeitgenössische Kritiker das Stück als „bloß dialogisierte Erzählung“. 1869 bemerkte Turgenev im Vorwort zu „Sceny i komedii“, seine Dramen seien nicht für die Bühne, sondern nur zur Lektüre geeignet.62 In diesem Bewußtsein der Gattungsinterferenz liegt eine weitere Parallele zu Čechov, der seine Stücke ebenfalls mit epischen Formen verglichen hat und der von „Čajka“ sagte, es sei „eine Erzählung herausgekommen“, weil er „kein Schauspieldichter“ sei.63 Nach der mißglückten Uraufführung von „Čajka“ im Oktober 1896 klagte er im übrigen, die Schauspieler hätten „abstoßend und dumm“ gespielt.64 Wenn Čechov von Szondi, Kesting, Klotz und anderen zu Recht als Repräsentant des offenen oder epischen, zumindest „modernen“ Dramas herangezogen wird, so sollte künftig auch sein von den Dramenanalytikern ignorierter Vorläufer Turgenev beachtet werden. Seine End- und Endlosspiele liegen fünfzig Jahre vor Čechov und hundert Jahre vor Becketts Warteschleife-Dramatik.65 1965 schrieb ein englischer Kritiker zu „Mesjac v derevne“: „It’s the best Chekhov play that Chekhov never wrote.“66

Reinhard Ibler

Aleksandr Ostrovskij: Les (Der Wald) Die russischen Bühnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden bis zum Auftreten Čechovs von einem Autor beherrscht, der sich wie kaum ein anderer in Rußland ausschließlich dem dramatischen Schaffen widmete. Aleksandr Ostrovskij schrieb 47 eigene Stücke, war bei einigen weiteren als Mitautor beteiligt und trat auch als Übersetzer, vor allem aus der englischen, italienischen und spanischen Dramatik, hervor.l Darüber hinaus veröffentlichte er zahlreiche Schriften zum Theater2, für das er sich in vielfältiger Weise engagierte, war er doch von dessen aufklärerischer und moralischer Wirkung zutiefst überzeugt. Ostrovskij, der seine ersten Stücke in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre verfaßte und sich selbst in der Tradition Fonvizins, Griboedovs und Gogol’s sah3, ist der bedeutendste Dramatiker des russischen Realismus. Neu ist bei ihm zunächst die Darstellung des Milieus der reichen Kaufleute, die in der damaligen russischen Gesellschaft zunehmend an Macht und Einfluß gewannen.4 Aufgewachsen im Moskauer Kaufmannsviertel Zamoskvoreč’e, lernte er dieses Milieu nicht zuletzt durch seine spätere Tätigkeit an verschiedenen Moskauer Gerichten bestens kennen, und die vielen Familien-, Standes- und Besitzkonflikte unter den Kaufleuten, die dort verhandelt wurden, lieferten ihm Stoff für seine Dramen. Deren thematisches Spektrum weitete sich in der Folge auf die Welt der Industriellen, Gutsbesitzer, Beamten und Künstler aus. Diese Vielfalt, die charakteristisch für das Œuvre des Autors ist, läßt sich auch in bezug auf die verwendeten Gattungsformen konstatieren. Ostrovskij schrieb Tragödien, historische Dramen, dramatische Szenen und Märchenstücke.5 Seine Vorliebe galt jedoch eindeutig der Komödie: Rund die Hälfte seiner Werke gehört dieser Gattungsform an.6 Ließen die Komödien der vierziger und fünfziger Jahre noch deutliche Anleihen bei Griboedov und Gogol’ erkennen, so legte Ostrovskij mit mehreren seiner späteren Stücke, von denen beispielsweise „Na vsjakogo mudreca dovol’no prostoty“ (Eine Dummheit macht auch der Gescheiteste, 1868) oder „Volki i ovcy“ (Wölfe und Schafe, 1875) auch über die Grenzen des Landes hinaus bekannt wurden, originelle und eigenständige Beiträge zur Entwicklung der Gattungsform in Rußland vor. Dies gilt in besonderem Maße für die Komödie „Les“, die bis heute zu seinen meistgespielten Werken gehört. Erstmals 1871 in der Zeitschrift „Otečestvennye zapiski“ (Vaterländische Annalen) veröffentlicht und im selben Jahr am Petersburger Aleksandrinskij teatr uraufgeführt, ist sie neben Turgenevs „Mesjac v derevne“ (Ein Monat auf dem Lande) eines der wichtigsten Beispiele im Prozeß der Herausbildung der modernen russischen Komödie vor Čechov. Der innovative Charakter des Stücks kommt nicht nur in der behandelten Thematik, sondern vor allem auch in der dramatischen Struktur zum Ausdruck.

206

Aleksandr Ostrovskij

Titel, Untertitel, Personenverzeichnis Der Titel „Les“ erscheint auf den ersten Blick konkret und wirklichkeitsbezogen und damit im Einklang mit den Forderungen realistischer Kunst. In der Tat hat der Wald eine zentrale Funktion in der Handlung, und zwar als zeitweiliger Ort des Geschehens. Allerdings erschöpft sich die Bedeutung des Titels keineswegs darin. Vielmehr treten weitere – vor allem mythische und symbolische – Sinnaspekte hinzu, so daß der Titel eine Mehrdeutigkeit erlangt, wie sie später für das moderne Drama, etwa bei Čechov, charakteristisch ist. Der Untertitel „Komödie in fünf Akten“ stellt das Stück in einen spezifischen Gattungskontext, läßt also eine Handlung mit komischen Elementen erwarten, wobei mit der Fünfaktigkeit das seit dem Klassizismus gängigste Einteilungsprinzip der Komödiengattung gewählt wird, was zunächst auf ein konventionelles Kompositionsverfahren hindeuten könnte. Jedem Akt ist das Verzeichnis der jeweils handelnden Figuren sowie eine kurze Beschreibung der Szenerie vorangestellt. Die Figuren werden dabei in unterschiedlicher Ausführlichkeit vorgestellt: Teils erhalten wir ein relativ plastisches Bild von deren Alter, Aussehen, Beruf, gesellschaftlicher Stellung und ähnlichem, teils werden nur einzelne Merkmale genannt. Das Stück ist in einem Milieu angesiedelt, das gerade für die russische Komödie des 18. und 19. Jahrhunderts überaus typisch ist. Es spielt auf einem Landgut irgendwo in der Provinz. Handlungsentwicklung und Konfliktstruktur Ort des Geschehens im ersten Akt ist ein Saal auf dem Gut von Raisa Pavlovna Gurmyžskaja, einer reichen Witwe, die bereits die Fünfzig überschritten hat. Den einleitenden Dialog führen Aksin’ja (Aksjuša), eine arme junge Frau um die Zwanzig, die eine entfernte Verwandte der Hausherrin ist, und der Lakai Karp. In diesem Gespräch geht es um den Plan der Gurmyžskaja, Aksin’ja mit Aleksej Sergeevič Bulanov zu verheiraten. Bulanov, der Sohn einer wenig begüterten Freundin der Gurmyžskaja, ist ein gescheiterter Gymnasiast und lebt wie Aksin’ja auf dem Gut. Die junge Frau hat an ihm jedoch nicht das geringste Interesse und klagt Karp nun ihr Leid. An dieser Stelle kommt das Titelmotiv erstmals ins Spiel. Wir erfahren, daß die Gutsbesitzerin einen Teil ihres Waldes verkaufen will, um Aksin’ja eine Mitgift geben zu können. Bulanov, der sich gleich als arroganter, hochmütiger, ausgesprochen egoistischer junger Mann einführt, drängt Aksin’ja, des Geldes wegen auf die Verheiratungspläne der Gutsbesitzerin einzugehen. In der darauffolgenden Szene prahlt die nunmehr persönlich in Erscheinung tretende Gurmyžskaja vor ihren Gutsbesitzernachbarn, dem Zyniker Bodaev und dem sentimentalen Milonov, mit ihrer Selbstlosigkeit und Mildtätigkeit. Dabei erwähnt sie einen Neffen, den sie einst erzog, von dessen Aufenthaltsort und derzeitiger Tätigkeit sie aber nichts weiß. Ganz offensichtlich will sie von ihm auch nichts wissen, ist er doch der einzig rechtmäßige Erbe ihres Besitzes, dem sie überdies einen größeren Betrag schuldet. Ihre ständige Geldnot, die sie mit ihrer karitativen Einstellung erklärt, die je-

„Les (Der Wald)“

207

doch – wie schnell klar wird – eher auf ihren luxuriösen Lebensstil zurückzuführen ist, hat sie schon früher wiederholt zu Waldverkäufen an den geldgierigen Kaufmann und Holzhändler Vosmibratov veranlaßt, von dem sie dabei stets übervorteilt wurde. Dieser kommt zusammen mit seinem Sohn Petr, den Aksin’ja liebt, zu dem Gespräch der Gutsbesitzer hinzu. Er bietet an, einer Hochzeit Petrs und Aksin’jas zuzustimmen, wenn er das zum Kauf angebotene Waldstück als Gegenleistung erhält. Die Gurmyžskaja klärt Vosmibratov darüber auf, daß das Mädchen bereits Bulanov versprochen ist und somit eine Heirat mit Petr nicht in Frage kommt. Daraufhin erklärt sich der Kaufmann bereit, das Objekt für 1500 Rubel zu erwerben. Nach einem heftigen Streit mit Aksin’ja, die sich gegen die geplante Verheiratung mit Bulanov sträubt, bekundet die Gurmyžskaja im Gespräch mit ihrer Beschließerin Ulita, daß sie selbst Gefühle für den rund dreißig Jahre jüngeren Bulanov hege. Dies ist zum Schluß des Akts ein echter „Paukenschlag“, der eine Wende in das Geschehen bringt und die Spannung auf den Fortgang der Handlung erhöht. Im zweiten Akt wechselt die Szenerie. Es ist der einzige Akt, der nicht unmittelbar auf dem Gut spielt, sondern in einem nahegelegenen Waldstück. Damit kommen dem Titelmotiv, das im ersten Akt vor allem unter dem Gesichtspunkt ökonomischer Interessen behandelt wurde, neue Funktionen zu. Der Wald wird zu einer Art Gegenschauplatz, der den Blick von außen auf das Gut ermöglicht, das nunmehr auch konkret benannt und lokalisiert wird. Es heißt Pen’ki und liegt in der Nähe einer Kreisstadt namens Kalinov.7 Die besondere Stellung dieses Akts wird zudem dadurch unterstrichen, daß er über nur zwei Auftritte verfügt (dagegen umfaßt der erste Akt acht, der dritte Akt zwölf, der vierte Akt acht und der fünfte Akt neun Auftritte). Der erste Auftritt führt ein Paar zusammen, das aus dem ersten Akt bereits bekannt ist: Aksin’ja und Petr treffen sich heimlich im Wald, weil sie dazu auf dem Gut keine Gelegenheit haben. Ihre Liaison ist dort nicht erwünscht. Sie versichern sich gegenseitig ihrer Liebe, haben aber aufgrund ihrer Armut und Abhängigkeit kaum Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Der Wald ist hier also der schützende Raum, der den Austausch echter Gefühle zuläßt. Eine Art mythische Funktion als Ort schicksalhafter Begegnungen erfüllt er im zweiten Auftritt desselben Akts, führt er doch genau an der Stelle, an der gerade die Liebenden ihr Stelldichein hatten, zwei alte Bekannte zusammen: die Wanderschauspieler Gennadij und Arkadij. Mit ihnen bringt Ostrovskij den Typus des armen, idealistischen und freiheitsliebenden Künstlers ins Spiel, der bis dahin im russischen Drama eine eher marginale Rolle innehatte. Zudem repräsentieren diese Figuren die beiden Pole der Kunst: Gennadij, der den Beinamen „Nesčastlivcev“ (der Unglückliche) trägt, die ernste bzw. tragische Kunst, Arkadij hingegen, der auch „Sčastlivcev“ (der Glückliche) genannt wird, das Komödiantentum. Obwohl sich beide im Schauspielerberuf nicht etablieren konnten und nur mäßigen Erfolg hatten, haben sie den Traum von der großen Karriere noch nicht aufgegeben. Im Verlauf ihres langen Gesprächs entwickeln sie die Idee, eine eigene Truppe zu gründen.

208

Aleksandr Ostrovskij

Schließlich stellt sich heraus, daß Gennadij der Neffe der Gurmyžskaja ist. Er möchte seine Tante besuchen und schlägt seinem Kollegen vor, ihn auf das Gut zu begleiten. Der dritte Akt knüpft zunächst thematisch an das Ende des ersten an. Im Garten ihres Guts kommt es zur Annäherung der Gurmyžskaja an Bulanov. Gerade als sie ihm ihre heimliche Hoffnung gesteht, Gennadij möge nie mehr wiederkehren, da sie seine Erbansprüche befürchtet, platzt die Nachricht von dessen Ankunft herein. Dieser schämt sich, seinen wahren Beruf zu nennen, gibt sich statt dessen als Hauptmann a. D. aus und präsentiert Arkadij als seinen Lakaien. Bald macht er sich nützlich, indem er Vosmibratov zwingt, seiner Tante eine Summe von 1000 Rubel auszuhändigen, um die sie der Kaufmann betrogen hatte. Mit dem unverhofften Geldsegen könnte sie nun Gennadij auszahlen, dem sie exakt den gleichen Betrag aus einer alten Verbindlichkeit schuldet. Da dieser aber unter Verweis auf seinen angeblichen Reichtum keine Forderungen erhebt, schenkt sie es Bulanov, der sich damit neu einkleiden soll. Der vierte Akt findet in einem anderen Teil des Gartens statt. Arkadij wirft Gennadij Dummheit vor, weil er auf das Geld verzichtet hat. Zudem verrät er der Beschließerin Ulita, die Sympathien für ihn hegt, ihre wahre Identität. Aksin’ja und Petr setzen ihre ganze Hoffnung auf Gennadij und dessen vermeintlichen Reichtum. Als letzterer dem Mädchen seine eigene bittere Armut gesteht, will sie aus Verzweiflung ins Wasser gehen, wovor er sie allerdings zurückhalten kann. Er macht ihr den Vorschlag, mit Arkadij und ihm eine Schauspielertruppe zu gründen. Ulita berichtet der Gurmyžskaja, daß Aksin’ja verschwunden ist, und verrät ihr darüber hinaus, welcher Tätigkeit Gennadij und Arkadij in Wirklichkeit nachgehen. All diese Nachrichten kommen den Plänen der Gurmyžskaja sehr gelegen. Sie gesteht Bulanov nunmehr offen ihre Liebe. Dies ist ein weiterer Höhepunkt im erotischen Sujet, der wiederum aus Gründen der Spannungserzeugung am Ende des Akts plaziert ist. Die Szenerie im letzten, fünften Akt ist dieselbe wie im ersten, was der Handlungsentwicklung eine zyklische Dimension verleiht. Bulanov spielt jetzt offen den Herrn im Haus und läßt Gennadij, der sich von der Gurmyžskaja verabschieden will, zunächst nicht zu ihr vor. Die Gutsherrin möchte Aksin’ja loswerden, da sie diese als Konkurrentin fürchtet – wofür es aber gar keinen Grund gibt. Gennadij erklärt der Gurmyžskaja zum Abschied, daß er Aksin’ja mit sich nehmen werde, und fordert jetzt die Begleichung der alten Schuld. Nach Erhalt des Geldes schmieden er und Arkadij Pläne von einer gemeinsamen Schauspielerzukunft mit Aksin’ja. Aksin’ja aber hat inzwischen neue Hoffnungen auf eine Heirat mit Petr geschöpft, da dessen Vater jetzt nur noch 1000 Rubel für sein Einverständnis verlangt. Sie bittet Gennadij daher, noch einmal ein gutes Wort bei der Gurmyžskaja einzulegen, die jedoch – nicht zuletzt auf Bulanovs Druck hin – jegliche Zahlung verweigert. Daraufhin überläßt Gennadij Aksin’ja selbstlos seine eigenen 1000 Rubel, das heißt er ermöglicht ihr unter Verzicht auf eine Verbesserung seiner materiellen Situation die Heirat.

„Les (Der Wald)“

209

Angewidert vom egoistischen Verhalten der Menschen verlassen die beiden Schauspieler das Gut – zu Fuß, wie sie gekommen sind. Dieses Muster von Kommen und Gehen, aber auch die „Wanderung von eintausend Rubeln durch viele Hände“8 zurück zu ihrem Ausgangspunkt (Vosmibratov) sowie die Identität des Handlungsorts im ersten und letzten Akt signalisieren eine besondere Art von zyklischer Geschlossenheit des Dramas, damit auch das Fehlen einer Entwicklung und letzten Endes sogar Stillstand.9 Die Handlung von „Les“, in deren Zentrum eine doppelte Liebesgeschichte steht, entfaltet sich also aus dem Aufeinanderprallen unterschiedlicher Interessen und Wertvorstellungen, die sich zu einem großen Teil auf die Situation im zaristischen Rußland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die sich darin vollziehenden gesellschaftlichen Veränderungen beziehen. Die ersten beiden Akte präsentieren in ihrer räumlichen Geschiedenheit (Landgut vs. Wald) zwei diametral gegenüberstehende Wertsysteme: die Welt der Besitz- und Machtinteressen und die Welt der Ideale (Liebe, Kunst). Während erstere durch innere Oppositionen (arm vs. reich, abhängig vs. unabhängig, gesellschaftliche vs. ökonomische Macht) strukturiert ist, erweist sich der Wald als eine Art Idyllenraum, der Gegensätze zusammenführt: Das gemeinsame Schicksal und die Liebe verbinden Aksin’ja und Petr, die zwar beide aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären stammen, die aber zum Spielball in den Interessenkonflikten zwischen diesen Sphären geworden sind; und die unterschiedlichen Kunstauffassungen der beiden Schauspieler (Tragik vs. Komik) werden hier relativiert und durch das Schmieden gemeinsamer Zukunftspläne miteinander verknüpft. Gestattet letzteren der Wald durch die Träume und Phantasien von einem besseren Leben eine zeitweilige Entlastung von den Mühen des Daseins, werden sie auf dem Landgut schnell mit der Realität und ihren eigenen Möglichkeiten und Grenzen konfrontiert. Es ist nicht zuletzt das schauspielerische Talent Gennadijs, das ihn zum erfolgreichen Helfer seiner Tante im Konflikt mit dem betrügerischen Vosmibratov werden läßt. Derselbe Gennadij muß aber dort die beschränkten Möglichkeiten seiner Kunst eingestehen, wo ihm seine eigene Armut im Wege steht. Der Sieg der reinen Liebe (Aksin’ja/Petr) wird im fünften Akt mit dem Verzicht der Künstler auf eine zeitweilige materielle Entlastung erkauft. Es ist am Ende auch nur ein Teilsieg, weil ihm keine „Bestrafung“ der Opponenten gegenübersteht. Denn die groteske, auf Geltungssucht bzw. materiellen Ansprüchen gründende Beziehung zwischen der Gurmyžskaja und Bulanov findet ebenfalls ihre Erfüllung. Mit der Einbeziehung der Schauspieler schafft Ostrovskij einen für die russische Komödie neuen, im Hinblick auf die Handlungsentwicklung und Sinnkonstituierung wesentlichen Motivbereich. Während in der traditionellen Komödie binäre Strukturmodelle vorherrschen, kommt durch diese Figuren eine zusätzliche Dimension ins Spiel. Die Schauspieler sind zwar arm, aber unabhängig, womit sie sich keiner der beiden Sphären eindeutig zuordnen lassen, die durch das Provinzmilieu repräsentiert werden. Grob gesprochen, lassen sich in

210

Aleksandr Ostrovskij

Ostrovskijs „Les“ drei Gruppen von Figuren ausmachen: die Mächtigen, die Abhängigen und die Unabhängigen. Die Gruppe der Mächtigen Unter den Mächtigen ragt eindeutig die Gestalt der Gurmyžskaja heraus. Sie repräsentiert jene in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend dem Verfall ausgesetzte Klasse von Adligen, deren Autorität sich vorwiegend auf ererbtes bzw. durch Heirat erworbenes Vermögen stützte, die jedoch mit den neuen wirtschaftlichen Entwicklungen in Handel und Industrie nicht mehr mithalten konnten und ihren vormaligen Status als potente ökonomische Schicht immer mehr einbüßten. An der weiblichen Hauptfigur zeigt sich dieser Konflikt unter anderem darin, daß sie auf der einen Seite im Personenverzeichnis als „sehr reiche Gutsbesitzerin“ vorgestellt wird und daß auf dem Gut auch alles nach ihrer Pfeife tanzt, daß sie sich andererseits aber offensichtlich schon seit längerer Zeit in Liquiditätsproblemen befindet, die sie nur mit dem Verkauf von immer neuen Teilen ihres Waldbesitzes vorübergehend bewältigen kann. Diese Unsicherheit hat auch zu zahlreichen Widersprüchen tragikomischer Art in der Persönlichkeitsstruktur der Gurmyžskaja geführt. Der äußeren Bescheidenheit – sie ist laut Personenverzeichnis schlicht gekleidet und trägt ständig Arbeitsutensilien mit sich herum – steht ein luxuriöser Lebenswandel gegenüber, von dem man auf dem Gut lediglich mit vorgehaltener Hand spricht. Die von ihr selbst behauptete altruistische und karitative Einstellung ist mit der harten Haltung gegenüber den Armen (Aksin’ja, Petr, Gennadij), denen sie mit bescheidenen Mitteln helfen könnte, nicht in Einklang zu bringen. Der Tugendhaftigkeit und sittlichen Strenge, der sie sich immer wieder rühmt, widersprechen verschiedene Fakten: Sie läßt zum Beispiel ihre Beschließerin Ulita für sich auf dem Gut spionieren; sie bringt im Gespräch mit Bulanov ihre Abneigung gegenüber Gennadij offen zum Ausdruck; sie macht Aksin’ja erbarmungslos deutlich, wie abhängig sie von ihr ist; sie läßt sich auf eine Beziehung mit einem erheblich jüngeren Tunichtgut ein usw. Besonders der erotische Konflikt offenbart das gespaltene Wesen der Gurmyžskaja. Denn auf der einen Seite ist sie mit allen Mitteln zum Kampf gegen die vermeintliche Nebenbuhlerin Aksin’ja bereit, auf der anderen Seite haßt sie die junge Frau gerade deswegen, weil diese ihr deutlich zu verstehen gibt, daß zur Eifersucht nicht der geringste Anlaß besteht. Die Gutsbesitzerin wird so zum tragikomischen Sinnbild für ihre an Einfluß und Zukunftsperspektiven verlierende Klasse. Ergänzt wird das wenig optimistische Bild vom russischen Landadel durch die beiden karikaturhaft gezeichneten Nebenfiguren Milonov und Bodaev. Durch sie tritt die Krisensituation noch schärfer in ihrer allgemeinen, sozialen Dimension hervor. Während Bodaev die Schuld für die Krise vor allem im Verlust der patriarchalischen Ordnung sieht und sich über die neuen Entwicklungen mit Spott und Sarkasmus lustig macht, ist Milonov ein Schwärmer und Schöngeist, der die Verrohung der Sitten beklagt und einen Kult der Gefühle beschwört.

„Les (Der Wald)“

211

Repräsentieren die Gutsbesitzerfiguren also die alte, an wirtschaftlicher Stärke und gesellschaftlichem Einfluß einbüßende Klasse des Landadels, steht ihnen in dem Kaufmann und Holzhändler Vosmibratov ein Vertreter jener Klasse gegenüber, die sich damals anschickte, nach und nach ihren Platz einzunehmen. Die neue ökonomische Klasse bestand nicht selten aus Abkömmlingen ehemals niederer Gesellschaftsschichten bis hin zu Leibeigenen. Daß das traditionelle Ständedenken zu diesem Zeitpunkt noch nicht überwunden war, zeigt sich im Umgang der Gutsbesitzer mit Vosmibratov, dessen Eintreffen die Gurmyžskaja gegenüber ihren Nachbarn mit den Worten entschuldigt: „Entschuldigen Sie, meine Herren, daß ich in Ihrer Gegenwart den Bauern empfange“ (I, 4). Als Vosmibratov erscheint, behandelt man ihn geringschätzig und nicht als gleichberechtigten Gesprächspartner. So fordert die Gurmyžskaja Milonov auf, er solle sich beim gerade begonnenen Vorlesen eines Briefs nicht von Vosmibratovs Anwesenheit ablenken lassen: „Lesen Sie ruhig weiter, der stört nicht“ (I, 5). Vosmibratov nimmt am Verhalten, das man ihm entgegenbringt, keinerlei Anstoß. Zu sehr wird sein eigenes Denken noch von den alten gesellschaftlichen Hierarchien bestimmt. Zudem ist er, der im Gegensatz zu den Gutsbesitzern mit ihrem gepflegten Russisch ein auffällig volkssprachlich geprägtes Idiom spricht, sich seiner bildungsmäßigen und kulturellen Unterlegenheit gegenüber den Gutsbesitzern bewußt.10 Deshalb begegnet er ihnen mit großem Respekt und der gebotenen Hochachtung. Andererseits weiß er aber, daß sein vergleichsweise niederer gesellschaftlicher Stand durch seinen Reichtum und die damit verbundene ökonomische Macht mehr als kompensiert wird und daß letztlich die anderen von ihm abhängig sind. Alles, was mit Geschäften zu tun hat, weiß er in einer Mischung aus Bauernschläue, Habgier und Unnachgiebigkeit zum eigenen Vorteil zu wenden. Vor allem der günstige Erwerb von immer neuen Teilen des Waldbesitzes der Gurmyžskaja kommt ihm sehr gelegen; denn mit dem Fällen der Bäume und dem Verkauf des Holzes lassen sich gute Gewinne erzielen. Die Gurmyžskaja hingegen muß zusehen, wie sie mit jedem Waldstück an Eigentum und Einfluß verliert. Selbst die Verheiratung seines Sohns sieht Vosmibratov ausschließlich unter ökonomischem Gesichtspunkt. Allerdings nötigt die grausame patriarchalische Strenge, mit der er seine Familie beherrscht, den Gutsbesitzern durchaus Respekt ab. Auf Bodaevs Einwand, daß man vor Vosmibratovs Gaunereien auf der Hut sein müsse, reagiert die Gurmyžskaja mit den Worten: „Wissen Sie, er ist so ein guter Familienvater“ (I, 4). Das Festhalten an konservativen Wertvorstellungen eint die alte und die neue ökonomische Macht. Die Gruppen der Abhängigen und der Unabhängigen In welchem Maße Vosmibratov seine Familie beherrscht, zeigt sich an Petr, der uns gewissermaßen in zweierlei Gestalt entgegentritt, je nachdem, ob sein Vater anwesend ist oder nicht. Im ersten Akt ist Petr körperlich präsent (er hat seinen Vater zur Gurmyžskaja begleitet), aber er spricht im Verlauf des Auftritts kein

212

Aleksandr Ostrovskij

einziges Wort. Ganz im Gegensatz dazu ist er im zweiten Akt, in der Szene mit Aksin’ja im Wald, überaus gesprächig. Zwar beklagt er bitter seine Abhängigkeit („Ich bin wie ein Zuchthäusler, an Armen und Beinen für immer unauflöslich festgekettet“; II, 1), doch er verfügt über genügend Phantasie, um sich ein besseres Leben zusammen mit Aksin’ja vorstellen zu können. Freilich sind beide realistisch genug, um einzusehen, daß dies nur mit illegalen Mitteln oder sehr viel Glück möglich ist. Aksin’jas Lage ist noch komplizierter. Obwohl sie mit der Gurmyžskaja verwandt ist, hat sie auf dem Gut letztlich nur den Status einer geduldeten Kostgängerin. Zudem ist die junge Frau zunehmend zur Projektionsfläche für die Eifersuchtsphantasien der Gutsbesitzerin geworden, was dieser eine zusätzliche Motivation gibt, Aksin’ja unter moralischen Druck zu setzen und sie ihre Abhängigkeit spüren zu lassen. Allerdings haben die Entbehrungen der Kindheit und das keineswegs leichte Leben auf dem Gut Aksin’ja eine gewisse Härte verliehen, die es ihr ermöglicht, selbstbewußt all denen gegenüberzutreten, die sie erniedrigen oder ausnutzen wollen. So macht sie Bulanov mit Entschiedenheit klar, daß sie trotz aller Aussicht auf materielle Sicherheit und Wohlstand nicht bereit ist, mit ihm eine Ehe einzugehen. Auch der Gurmyžskaja gegenüber betont sie dies ohne Umschweife, wohl wissend, daß sie damit ihrer Herrin nicht nur den Gehorsam verweigert, sondern auch deren Gefühle als Frau zutiefst verletzt. Gleichwohl treibt die Aussichtslosigkeit der Lage die junge Frau, die nach eigenen Aussagen nur „der Seele etwas Zeitvertreib gönnen und für sich einen kleinen Feiertag haben wollte“ (IV, 5), immer mehr in die Verzweiflung. Als ihr Gennadij seine eigene Armut gesteht und damit ihre letzte Hoffnung erlischt, will sie sich sogar das Leben nehmen. Nur Gennadijs Vorschlag, sie als Wanderschauspielerin mitzunehmen, sowie seine großmütige Reaktion am Schluß, als er ihr sein – selbst dringend benötigtes – Geld für die Hochzeit mit Petr überläßt, geben ihr wieder eine gewisse Perspektive. Einen ganz anderen Umgang mit seiner Abhängigkeit legt Bulanov an den Tag. Das Scheitern am Gymnasium hat ihn zu der Erkenntnis geführt, daß er über wenig Spielraum verfügt, sein Leben aus eigener Kraft zu gestalten, und deshalb ist er zum Schmarotzer geworden. Er ist zu allem bereit und läßt alles mit sich geschehen, um sich den Traum von einem Leben in Unabhängigkeit und Wohlstand zu erfüllen. Obwohl er an Aksin’ja offensichtlich kein erotisches Interesse hat, versucht er sie aus rein materiellen Gründen zu überreden, auf die Verheiratungspläne der Gurmyžskaja einzugehen. Etwaige moralische Bedenken wischt er beiseite: „Und hier liegt ein angenehmes Leben vor uns… Für Geld verpfänden die Leute dem Teufel ihre Seele, und wir sollten wirklich verzichten?“ (I, 2). Als er erkennt, daß die Gurmyžskaja selbst eine Beziehung mit ihm eingehen möchte, zeigt er auch hier keine Skrupel. Er schmeichelt sich ein und spielt schon bald den Herrn des Hauses. Wie sehr ihm Armut und Abhängigkeit widerwärtig sind, drückt sich auch in seinem Umgang mit dem Dienstpersonal aus, das er stets von oben herab behandelt.

„Les (Der Wald)“

213

Eine eigene Gruppe bilden die beiden Schauspieler. Zwar teilen sie mit den Abhängigen das Los der fehlenden materiellen Sicherheit, aber im Gegensatz zu ihnen führen sie ein freies, selbstbestimmtes Leben. Über die näheren Lebensumstände Arkadijs wird im Drama wenig ausgesagt. Er tingelt mit mäßigem Erfolg als Wanderschauspieler durch Rußland, ist vom früheren Darsteller von Liebhaberrollen zum Komödianten geworden und muß sich sein kärgliches Brot mitunter sogar als Souffleur verdienen. Da er einer niederen gesellschaftlichen Schicht entstammt, siezt er Gennadij, den Adelssproß und rechtmäßigen Erben des Vermögens der Gurmyžskaja, während er von ihm geduzt wird. Allerdings hat sich Gennadij, von seiner Tante einst für die militärische Laufbahn vorgesehen, schon früh deren Einfluß entzogen, um sich seinen Traum von einer Schauspielerkarriere zu erfüllen. Doch auch ihm war der große Erfolg versagt, weshalb er ebenfalls als Wanderschauspieler durch die Lande zieht. Im Unterschied zu Arkadij ist er seinem Anspruch treugeblieben, nur tragische Rollen zu verkörpern. Während für Arkadij die Perspektiven aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung von vornherein wenig günstig waren, hat Gennadij auf die Sicherheiten einer Karriere, die ihm seine Herkunft geboten hätte, verzichtet und ist seinen Neigungen gefolgt. Gleichwohl hat er sich von den Konventionen seines Standes nicht vollständig lösen können; denn er wagt es beispielsweise nicht, seiner Tante die Wahrheit über seine Berufswahl mitzuteilen, sondern täuscht ihr eine standesgemäße Position vor. Und wo es im Sinne von Gerechtigkeit und Moral ist – etwa um die Betrügereien Vosmibratovs zu entlarven oder um Bulanovs Dreistigkeiten zu begegnen –, nutzt er die Autorität seines früheren Standes. Die Entscheidung, Aksin’ja am Schluß sein Geld zu überlassen, demonstriert hingegen seine moralische Überlegenheit über alle anderen Figuren des Stücks. Sie entspringt einzig dem Ethos der Solidarität unter den Armen. Das Lebensmodell des (armen, erfolglosen) Künstlers und Idealisten hat somit immerhin einen Teilsieg errungen. Die Welt der Reichen und Mächtigen ist zwar nicht bestraft worden; denn die Gurmyžskaja und Bulanov heiraten, und Vosmibratov erhält sein Geld für die Hochzeit Petrs, aber ihre Repräsentanten stehen am Schluß vor dem Leser bzw. Zuschauer als Menschen ohne Moral da. Die Gruppe der unabhängigen, für ihre Kunst lebenden Menschen hat im Drama also eine ganz spezifische Funktion als moralisches Korrektiv in einer zunehmend von Materialismus und Machtstreben beherrschten Welt. Der Wald Es hat sich gezeigt, daß das Titelmotiv eine ganze Reihe unterschiedlicher semantischer Nuancierungen enthält. Als Objekt wie auch als Subjekt des Handelns ist es, offen oder latent, im Geschehen ständig präsent. Als Handlungsort hat der Wald die Funktion einer idyllisch-idealen Gegenwelt zum chaotischapokalyptischen Treiben auf dem Gut, als mythischer Raum ist er mit Erinnerungen und Geheimnissen verbunden. Eine besondere Rolle spielt er innerhalb des zentralen Konflikts als materieller Besitz und Handelsobjekt, da sich hieraus

214

Aleksandr Ostrovskij

auch weitergehende, allgemeine Schlußfolgerungen ableiten lassen. Das Verhältnis der Gurmyžskaja zu ihrem Wald, der trotz bereits erfolgter umfangreicher Verkäufe noch einen beträchtlichen Teil ihres Landbesitzes ausmacht, ist gespalten. Auf der einen Seite scheut sie sich nicht, immer neue Parzellen zu verkaufen, wenn sie Geld benötigt, um ihren Lebensstandard aufrechterhalten zu können. Dennoch hat sie andererseits Skrupel, der Aufforderung Vosmibratovs zu folgen, ihm gleich den gesamten Wald zu verkaufen. Sie verbindet mit diesem Teil ihres Besitzes durchaus auch andere Werte als rein materielle, wenngleich sie das nur indirekt zum Ausdruck bringt: „Nein, den ganzen verkaufe ich jetzt nicht; was ist ein Gut schon ohne Wald! Das ist nicht schön“ (I, 6). Zwar geht der Gurmyžskaja jenes sentimentale Verhältnis ab, das die in Kindheitserinnerungen schwelgende Ranevskaja zu ihrem Kirschgarten in Čechovs gleichnamigem Stück hat. Dennoch weiß sie, daß mit dem vollständigen Verkauf des Waldes ein Stück ihrer gesellschaftlichen Stellung und damit ihres eigenen Selbst verlorenginge. Ein russisches Landgut ohne Wald kann auch sie sich nicht vorstellen. Insofern ist sie hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl der Sicherheit, sich kurzfristig und auf bequeme Weise die benötigten Mittel beschaffen zu können, und dem Bewußtsein eines fortschreitenden Traditions- und Identitätsverlusts. Somit wird der Wald zum Symbol des grundlegenden gesellschaftlichen Wandels, der sich damals in der russischen Gesellschaft vollzog. Für die neuen Herren gelten die alten Werte nichts mehr, sie kennen nur noch materielle Interessen. Der Holzhändler Vosmibratov, der es immer wieder versteht, die in geschäftlichen Dingen unerfahrene Gurmyžskaja zu übervorteilen, kauft den Wald einzig und allein zu dem Zweck, ihn abzuholzen und das Holz zu verkaufen. Čechov ging in dieser Hinsicht bereits einen Schritt weiter. Das Abholzen des Kirschgartens dient dem Bau einer Landhaussiedlung, das heißt den alten Werten stehen neue, in die Zukunft weisende Perspektiven gegenüber. Symbolisiert der Wald im Prozeß der Ablösung der vormals tonangebenden Gutsbesitzerklasse durch eine Schicht rein ökonomisch denkender Menschen einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, hat er für die Schauspieler, für die Reichtum und Macht eher negative Werte sind, eine ganz andere Bedeutung. Über den Wald gelangen sie in jene chaotische, apokalyptische Züge tragende Welt, aus der sie schließlich nur mehr entfliehen können. Dies führt dazu, daß sie diese Welt mit dem Wald gleichsetzen, was aus Gennadijs vernichtendem Urteil hervorgeht, wenn er sich am Schluß des Stücks mit folgenden Worten an Arkadij wendet: „Wie sind wir nur in diesen Wald geraten, in diesen feuchten undurchdringlichen Wald? Warum, Bruder, haben wir die Eulen und Uhus aufgeschreckt? Wozu soll man sie stören? Sollen sie doch leben, wie sie wollen. Hier ist alles in Ordnung, Bruder, wie dies im Wald sein muß. Alte Frauen heiraten Gymnasiasten, junge Mädchen gehen ins Wasser, weil ihnen das Leben bei ihren Verwandten bitter geworden ist: So ist der Wald, Bruder“ (V, 9).

„Les (Der Wald)“

215

Das Leben auf dem Gut ist für die beiden Schauspieler geheimnisvoll, von eigenen Gesetzen geprägt und undurchschaubar wie das Dasein der Geschöpfe des Waldes. Der Wald repräsentiert in diesem Sinne eine alte, überlebte Welt, deren Regeln dem Außenstehenden verborgen bleiben. Aus der Sicht von Moral und Freiheit, wie Gennadij und Arkadij sie als Künstler vertreten, handelt es sich um eine Welt ohne Werte. Gepackt vom heiligen Zorn gegenüber Chaos und Ungerechtigkeit, beschwört Gennadij ihre apokalyptische Dimension, indem er frei die berühmten Worte Karl Moors aus Schillers „Räuber“11 zitiert: „Menschen, Menschen! falsche, heuchlerische Krokodilbrut! Eure Augen sind Wasser! Eure Herzen sind Erz! Küsse auf den Lippen! Schwerter im Busen! Löwen und Leoparden füttern ihre Jungen, Raben tischen ihren Kleinen auf dem Aas, und sie, sie!… Ist das Liebe für Liebe? Oh, könnte ich eine Hyäne sein! Oh, könnte ich alle blutrünstigen Bewohner der Wälder wider dies teuflische Geschlecht anhetzen!“ (V, 9). Die Frage der Gattung Gennadijs Worte hinterlassen wenig Eindruck bei den Beschimpften, und die Gurmyžskaja reagiert auf die bitter-sarkastische Verurteilung des „Waldes“ und seiner Bewohner achselzuckend mit dem Wort „Komödianten“ (V, 9). Darauf Gennadij: „Komödianten? Nein, wir sind Künstler, edle Künstler, und die Komödianten seid ihr. Wenn wir lieben, lieben wir auch richtig; wenn wir nicht lieben, dann streiten wir uns oder raufen; wenn wir helfen, dann tun wir dies mit unserem letzten, sauer verdienten Groschen. Und ihr? Euer ganzes Leben redet ihr vom Wohl der Allgemeinheit, von der Liebe zum Menschen. Und was habt ihr getan? Wen habt ihr gespeist? Wem habt ihr eine Freude bereitet? Ihr ergötzt euch nur selbst, euch selbst amüsiert ihr. Ihr seid die Komödianten, die Narren, nicht wir“ (V, 9). Nicht nur diese Aussage, nach der auf dem Gut die Rollen zwischen wirklichem Leben und Schauspielerei vertauscht sind12, sondern auch die Diskussionen zwischen dem „Tragöden“ Gennadij und dem „Komödianten“ Arkadij zeigen, daß dem Drama eine implizite Gattungserörterung eingeschrieben ist. Da das Stück selbst im Untertitel eindeutig als Komödie ausgewiesen ist, erhebt sich die Frage nach den Bezügen zur Geschichte dieser Gattungsform sowie der Abgrenzung zu anderen Formen, insbesondere der Tragödie. Der Ausgang des Stücks läßt viele Fragen offen. Zwar wird die Heirat Aksin’jas und Petrs ermöglicht, also jenes Paares, das eindeutig positiv gezeichnet ist. Aber dem steht die Tatsache gegenüber, daß die mit deutlich negativen Charaktermerkmalen ausgestattete Gurmyžskaja, die in der gesamten Handlung eine unrühmliche Rolle spielt, ihren Willen durchsetzen und den ebenfalls negativ dargestellten Bulanov ehelichen kann. Zwar wird die Welt des „Waldes“ von der zentralen moralischen Instanz Gennadijs in einer flammenden Rede an den Pranger gestellt, eine Bestrafung, wie wir sie aus der klassizistischen Komödie kennen, erfolgt jedoch nicht. Am Schluß haben sich innerhalb der Figurenkon-

216

Aleksandr Ostrovskij

stellation einige Verschiebungen ergeben, aber an der Gesamtsituation hat sich so gut wie nichts geändert. Nun waren in der russischen Literatur die Zeiten, da eine Komödie mit der Belohnung der positiven und der Bestrafung der negativen Figuren enden mußte, schon mit dem Ende des Klassizismus unweigerlich vorbei. Bekanntlich hat bereits Griboedov in „Gore ot uma“ (Verstand schafft Leiden, 1824) die einstige typische Schwarzweißmalerei durch ein wesentlich differenzierteres Modell ersetzt und vor allem auf ein positives Ende, nämlich den Sieg der fortschrittlichen Ideen über den verstockten Konservatismus der Moskauer Gesellschaft, verzichtet. Und Gogol’ gestaltet in „Revizor“ (1836) ausschließlich negative Charaktere, wobei es am Schluß ebenfalls offen bleibt, ob die lasterhafte Welt wirklich zur Rechenschaft gezogen wird. Ostrovskij hat sich in dieser Hinsicht zunächst ganz als Schüler Gogol’s erwiesen. Man denke nur an Stücke wie „Svoi ljudi – sočtemsja“ (Es bleibt ja in der Familie, 1850) oder „Bednaja nevesta“ (Die arme Braut, 1853). In „Les“ ist dies dann anders. Hier gibt es eine deutliche Trennung in positive und negative Figuren. Gleichwohl findet am Ende nur eine partielle „Belohnung“ der ersteren (Aksin’ja, Petr) statt, wohingegen die treibende moralische Kraft (Gennadij) bei ihren Bemühungen leer ausgeht und – ähnlich wie Čackij in „Gore ot uma“ – am Schluß frustriert und desillusioniert die Szene verläßt. Mit dieser moralistischen und zugleich skeptizistischen Lösung entspricht Ostrovskij der realistischen Kunstkonzeption: In einer chaotischen Welt, in der Macht- und Geldgier vorherrschen, sind positive Werte wie Moral, Anstand oder Ehrlichkeit vorhanden, können sich aber gegen die negativen Kräfte (noch) nicht durchsetzen. Damit fügt sich Ostrovskijs „Les“ in das – bei Griboedov begonnene – tragikomische Konzept der russischen Komödie ein. Nach diesem Konzept wird die aus den Fugen geratene Welt aus komisch-satirischer Distanz beleuchtet, wobei auf die (Wieder-)Herstellung der Ordnung, das heißt auf eine „glückliche Lösung“, verzichtet wird. Komödientypisch ist dabei nicht zuletzt, daß viele in der Gattungstradition gewachsene Charakteristika wie komische Figuren (die karikaturhaft gezeichnete Gutsbesitzerin), komische Situationen (die eigenartige Beziehung zwischen der Gurmyžskaja und Bulanov) oder die komische Sprache (der blasierte Stil Bulanovs, die bäuerliche Ausdrucksweise Vosmibratovs) benutzt werden, um die Lächerlichkeit des kritisierten Milieus zur Schau zu stellen. Allerdings stehen dem auch zahlreiche „tragische“ Momente gegenüber: Es besteht keine Aussicht auf Besserung der negativen Figuren, die Macht des Geldes wird eher zunehmen und die Träger des moralischen Prinzips sind zu schwach, um ihre Wertvorstellungen durchzusetzen. Damit kann Ostrovskij gerade mit „Les“ als einer der wichtigsten Wegbereiter jener tragikomischen Ambivalenz gelten, die wenige Jahrzehnte später bei Anton Čechov zu einem der wichtigsten Züge des modernen Dramas wird.13 Besonders die Parallelen zwischen „Les“ und „Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten, 1904) sind frappierend; denn in beiden Fällen symbolisiert das Titelmotiv den Über-

„Les (Der Wald)“

217

gang von der alten Epoche des Adels zu der neuen kapitalistischen Phase.14 Der Verkauf sowohl des Waldes als auch des Kirschgartens bedeutet für die einen den Verlust traditioneller Werte und für die anderen finanziellen Gewinn. Der grundlegende Unterschied zwischen dem Stück aus dem Jahr 1871 und dem des Jahres 1904 besteht jedoch darin, daß der Wald noch an der Peripherie des Landguts gelegen ist und sein Verkauf somit erst ein frühes Signal für den Verlust des Ganzen ist, wohingegen das Ende des – zentral gelegenen – Kirschgartens bereits mit dem Ende des Landguts zusammenfällt. Bei Ostrovskij deutet sich also an, was bei Čechov schließlich in Erfüllung geht.

Andreas Guski

Lev Tolstoj: Vlast’ t’my (Macht der Finsternis) In der Phase seiner Erstrezeption gegen Ende des 19. Jahrhunderts war „Vlast’ t’my“ weniger ein russisches als ein europäisches Ereignis. Dies ist insofern keineswegs selbstverständlich, als das Stück ein Ergebnis der in den achtziger Jahren vollzogenen Neuorientierung Lev Tolstojs an einem nichtintellektuellen, bäuerlichen und damit in erster Linie russischen Publikum ist. Im Herbst des Jahres 1886 binnen weniger Wochen unter dem Eindruck eines tatsächlichen Kriminalfalls im Gouvernement Tula geschrieben, konnte es schon 1887 in mehr als 100 000 Exemplaren im Druck erscheinen. Doch nach dem energischen Einspruch des Heiligen Synod untersagte Zar Alexander III. die Aufführung, obwohl er sich zuvor durchaus wohlwollend über Tolstojs Stück geäußert hatte. Die bereits angelaufenen Proben wurden abgesagt. Erst 1895 durfte „Vlast’ t’my“ in Rußland inszeniert werden. Die Welturaufführung fand 1888 unter dem Titel „La Puissance des ténèbres“ am Pariser „Théâtre Libre“ von André Antoine statt, einer Bühne, die auf die damalige europäische TheaterAvantgarde (Ibsen, Strindberg, Hauptmann) spezialisiert war. 1890 schuf Hans Meery eine Inszenierung für die Mitglieder des Berliner Theatervereins „Die Freie Bühne“. Doch für öffentliche Aufführungen erteilte die deutsche Zensur erst zehn Jahre später die Freigabe.1 In Paris und Berlin wurde Tolstojs Schauspiel als sozialkritisches Milieudrama inszeniert und als solches zu einem der „Paradestücke des kämpferischen französischen und deutschen Naturalismus“.2 Gerhart Hauptmann, der wichtigste naturalistische Dramatiker in Deutschland, hat sich nachdrücklich zum Einfluß Tolstojs bekannt. Auch in Rußland, wo Konstantin Stanislavskij und das Moskauer Künstlertheater 1902 für einen durchgreifenden Bühnenerfolg von „Vlast’ t’my“ sorgten, wurde das Stück als ein Beispiel für die Macht des Geldes, das heißt als ein Werk mit antikapitalistischer Tendenz verstanden, was später insbesondere für die Rezeption in der Sowjetperiode gilt.3 Der Naturalismus war das massenwirksamste literarische Paradigma der Jahrhundertwende. Doch er bildete nicht die einzige Ursache der wohlwollenden Aufnahme von „Vlast’ t’my“ in Westeuropa. Hinzu kam das Interesse an der exzeptionellen „literarischen Persönlichkeit“ Tolstojs.4 Dieser faszinierte nicht nur durch seine großen Romane „Vojna i mir“ (Krieg und Frieden, 1863– 1869) und „Anna Karenina“ (1873–1877), sondern auch als ein Autor, der mit der gleichen Urgewalt, mit der er literarische Meisterwerke hervorbrachte, seit Beginn der achtziger Jahre die schöne Literatur, das literarische Leben und den Lebenswandel der privilegierten Klassen radikal in Frage stellte. Seine „Beichte“ (Ispoved’, 1882) hatte den Nerv jener intellektuellen Strömungen getroffen, die in die von Nietzsche und Bergson inspirierten Aufbruchbewegungen des

„Vlast’ t’my“ (Macht der Finsternis)

219

frühen 20. Jahrhunderts mündeten. Tolstoj faszinierte als Aussteiger, als Prophet der Umkehr und des Unmodernen.5 „Beichte, Sündenbekenntnis, Seelenwandlung und Tolstoi: das waren eine Zeitlang fast wesensgleiche Begriffe. Denn erst durch das seltsame Büchlein ,Meine Beichte‘ war der russische Dichter Leo Tolstoi aus einem russischen Romanschriftsteller zu einer europäisch interessanten, manche mochten denken kuriosen, Persönlichkeit geworden.“6 Beichte und Umkehr als Schlüsselmotive Das Motiv der Umkehr hatte für die Vertreter der zivilisationskritischen Bewegungen der Jahrhundertwende deshalb so starke Anziehungskraft, weil die von ihnen erhoffte Erneuerung der europäischen Kultur nicht Sache des Staats oder anderer Institutionen, sondern der einzelnen Persönlichkeit sein sollte. Im Hegel verpflichteten Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts, an dem sich auch der europäische Naturalismus orientiert, verspricht man sich die Lösung wesentlicher Probleme der Menschheit, insbesondere des Problems der Selbsterkenntnis, also der Identität. Die Zeit bis zum Erreichen eines mehr oder weniger weit entfernten Zielpunkts dient der schrittweisen Verbesserung gesellschaftlicher Einrichtungen und damit der Menschen.7 Dem Modell des Fortschritts steht kulturtypologisch das der Umkehr gegenüber. Biographisch ist es geprägt durch den einen entscheidenden Wendepunkt, den kairós, die Situation der Erleuchtung oder der Erkenntnis. Klassische Beispiele für das Motiv der Umkehr sind die Wandlung des Saulus zum Paulus oder die Bekehrung des heiligen Augustinus vom Manichäismus zum Christentum. Der Topos der Umkehr ist ein Schlüsselmotiv der christlichen, insbesondere der orthodoxen Hagiographie. Man denke nur an die Vita Vladimirs des Heiligen, die zu den zentralen Gründungsmythen der Kiever Rus’ gehört. Auch Tolstojs „Ispoved’“ weist die Grundelemente einer durch Umkehr geprägten Vita auf. Als junger Mann, schreibt der Verfasser, habe er sich aus Leichtsinn mehr und mehr in Sünden verstrickt. Unfähig, sein Leben zu ändern, wollte er diesem ein Ende setzen, bis er schließlich erkannte, daß nicht das Leben als solches, sondern die Art, wie er seines geführt habe, ein Übel sei. Ursache des falschen Lebens sei die Furcht vor schonungsloser Selbsterkenntnis; denn „die Menschen lieb[t]en die Finsternis mehr als das Licht“8, da ihre Taten böse seien und kein Licht auf sie fallen solle. Der Kern aller moralischen Selbstbesinnung, schreibt Tolstoj, bestehe in der Erkenntnis, „daß der Mensch seine Seele rette[n]“ müsse.9 Mit dieser Einsicht freilich sei ihm nichts wirklich Neues offenbart worden. Vielmehr habe es sich um eine Rückkehr zur „Anschauung“ seiner „Kindheits- und Jünglingsjahre“ gehandelt.10 Alle Phasen und Leitsymbole dieses Lebenswegs – Leichtsinn, Laster, Lebensüberdruß, Selbstmordgedanken, Gewissensbisse und zuletzt die Selbstfindung in der Sorge um die Rettung der eigenen Seele – finden sich in der Vita des Helden von „Vlast’ t’my“ wieder. Der über den Erzählzusammenhang gestiftete Sinn von „Ispo-

220

Lev Tolstoj

ved’“ und dem Drama läßt sich also auf das identische Narrativ einer Wandlungsgeschichte zurückführen. Die Handlung Im Mittelpunkt des dramatischen Geschehens steht der Landarbeiter Nikita (25 Jahre alt), der sich bei dem wohlhabenden, aber kränkelnden Bauern Petr (42) als Knecht verdingt und ein Liebesverhältnis mit dessen Frau Anis’ja (32) begonnen hat. Zuvor hatte Nikita die Kantinenköchin Marina (22) verführt, ohne das ihr gegebene Eheversprechen einzulösen. Aus diesem Grund ist jetzt Nikitas Vater Akim (50) auf Petrs Hof erschienen. Er fordert den Sohn auf, Marina zu heiraten, um ihre Ehre zu retten. Akims Absicht wird von seiner Frau Matrena (50) hintertrieben. Diese erhofft sich materiellen Gewinn aus einer nach Petrs Tod möglichen Liaison ihres Sohns mit Anis’ja. Um schneller an dieses Ziel zu gelangen, rät sie Anis’ja, Petrs Tee ein Pulver beizumischen, das sein Ableben unauffällig beschleunigt. Ein halbes Jahr später, zu Beginn des zweiten Akts liegt Petr im Sterben. Matrenas Pulver hat gewirkt. Petr bittet Anis’ja, seine Schwester Marfa aus dem Nachbardorf zu holen, da er ihr vor seinem Tod noch etwas mitzuteilen habe. Matrena will dies um jeden Preis verhindern. Sie argwöhnt, daß Petr der Schwester seine Ersparnisse anvertrauen und ihren Plan so vereiteln will. Dem soll Anis’ja zuvorkommen, indem sie Petr mit einer tödlichen Dosis Gift den Rest gibt, um sich seines Geldes bemächtigen zu können. Matrenas Plan geht auf. Petr stirbt einen qualvollen Tod, und Anis’ja kann sein Geld noch rechtzeitig vor Marfas Ankunft an sich bringen. Zwischen dem zweiten und dem dritten Akt vergehen neun Monate. Nikita, inzwischen mit Anis’ja verheiratet, ist nun Herr im Haus. Er hat aufgehört zu arbeiten, sich mit dem ehemaligen Soldaten Mitrič einen Knecht zugelegt und lebt auf großem Fuß vom Geld des verstorbenen Petr, das er in der Stadt bei einer Bank deponiert hat. Seine Liebe zu Anis’ja ist längst erloschen. Dafür hat er mit Akulina (16) angebandelt, Petrs Tochter aus erster Ehe. Anis’ja ist wegen ihres Verbrechens an Petr, von dem Nikita und Akulina wissen, gegen die sexuelle Wirkung ihrer Stieftochter ebenso machtlos wie gegen die Mißhandlungen durch Nikita. Sie wird von den beiden um den Preis des Stillschweigens erpreßt. Akim tritt auf, um sich von Nikita Geld für ein neues Pferd zu leihen. Er äußert seinen Unwillen darüber, daß sein Sohn, anstatt zu arbeiten, in Saus und Braus lebt. Als Nikita angetrunken mit Akulina aus der Stadt zurückkehrt, wo er Luxuswaren eingekauft und gezecht hat, und dem Vater großtuerisch Geld anbietet, lehnt dieser ab. Akim verläßt angewidert das Haus des Sohns und ermahnt ihn, an sein Seelenheil zu denken und der Stimme des Gewissens zu folgen. Im vierten Akt, nachdem weitere neun Monate vergangen sind, ist Akulina von ihrem Stiefvater Nikita schwanger und steht kurz vor der Niederkunft. Zur Vermeidung eines Skandals muß sie schleunigst unter die Haube gebracht werden. Während Matrena noch mit den Brautwerbern verhandelt, bringt Akulina

„Vlast’ t’my“ (Macht der Finsternis)

221

ihr Kind zur Welt. Nikita will es ins Findelhaus tragen, doch Anis’ja befiehlt ihm, die angebliche Totgeburt im Keller zu verscharren. Nikitas Widerstand gegen den Plan der Frauen wächst, als er merkt, daß das Baby lebt. Dennoch gibt er dem Drängen seiner Mutter und der vor Wut rasenden, nach Rache dürstenden Anis’ja nach und tötet das Neugeborene im Keller mit einem Brett. „Wie es gewimmert hat […] Wie es unter mir geknirscht hat“, schildert Nikita schaudernd (IV, 14). Tolstoj hat zu diesem Vorgang eine weniger drastische Variante geschrieben, in der das grausame Geschehen hinter die Kulissen verlegt und gefiltert wird durch die akustischen Wahrnehmungen und Mutmaßungen des alten Knechts Mitrič und der kleinen Anjutka (10), der Tochter Petrs und Anis’jas. Der fünfte Akt zeigt im Hintergrund die Feierlichkeiten zu Akulinas Hochzeit. Nikita hat den Mord an seinem eigenen Kind nicht verwunden. Immer mehr quält ihn das Gewissen. Als Brautvater wäre es seine Pflicht, dem Brautpaar den christlichen Segen zu erteilen. Doch diese Sünde will er nicht auch noch auf sich laden. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch gesteht er vor der versammelten Hochzeitsgesellschaft sein Verbrechen. Dabei nimmt er nicht nur die Tötung von Akulinas Kind, sondern auch den Mord an Petr auf sich. Vergeblich beschwören ihn Matrena und Anis’ja zu schweigen. Akim dagegen ermuntert ihn, schonungslos die ganze Wahrheit zu sagen: „Gott wird dir vergeben!“ Nikita wird gefesselt und abgeführt. „Vlast’ t’my“ als Tragödie? Das Finale weist Parallelen zur Schlußszene von Aleksej Pisemskijs Bauerndrama „Gor’kaja sud’bina“ (Ein bitteres Los, 1859) auf, das seinerzeit zusammen mit Aleksandr Ostrovskijs Erfolgsstück „Groza“ (Das Gewitter, 1859) als gelungener Versuch gefeiert worden war, die klassische Tragödie auf russischem Boden heimisch zu machen. Wie dort die öffentliche Reue des Kindsmörders Ananij, so ließe sich hier Nikitas Schuldbekenntnis vor der Dorfgemeinschaft im Sinne der tragischen Konfliktaufhebung als Wiederherstellung jenes allgemeinen Rechts deuten, das der Mörder verletzt hat. Dennoch ist Tolstojs Drama so wenig eine Tragödie wie das von Pisemskij. Generell hatte der Realismus mit dieser Gattung Probleme.11 Nachklassische Versuche wie die von Friedrich Hebbel, der Tragödie eine neue Grundlage zu geben, blieben Ausnahmen und für das realistische Drama praktisch folgenlos. Man mag das Schicksal des vierten Standes an sich als Tragödie begreifen, und Autoren wie Zola und Hauptmann taten dies auch. Tolstojs „Vlast’ t’my“ jedoch, obwohl immer wieder als Tragödie verstanden12, ist die Kategorie des Tragischen letztlich fremd. Nikitas Weg ins Verbrechen läßt nicht nur die soziale Unausweichlichkeit und das agitierende Moment vermissen, das im politischen Tendenzdrama den Untergang der Helden kennzeichnet, sondern überhaupt die gesamte „soziologisch-naturalistische Problemstellung“13 des sozialen Dramas. Noch mehr fehlt dem Knecht die hybride Größe, die den Helden der antiken Tragödie ins „Wechselspiel der

222

Lev Tolstoj

Kräfte und Gewalten der supranaturalen Sphäre“14 verstrickt. Völlig fremd schließlich sind ihm jene verzehrenden Leidenschaften, denen die Heldinnen und Helden Shakespeares oder Racines erliegen. Matrena ist keine Lady Macbeth15, Anis’ja keine Phaedra, Nikita kein Hippolyt. Dieser verstrickt sich in Schuld, ohne besondere Leidenschaften zu entwickeln. Seine Beziehung zu Frauen ist oberflächlich und weit entfernt von echter Passion. Hierin kommt einerseits Tolstojs Abneigung gegen Affektposen zum Ausdruck, die sich in den verfremdenden Theaterszenen seiner Romane ebenso äußert wie in seiner Antipathie gegen Shakespeare, dessen Figuren er für „schokkierend unnatürlich“16 hielt. Vor allem jedoch erklärt sich das Fehlen einer heroisch-tragischen Dimension aus der inneren Ordnung der in „Vlast’ t’my“ dargestellten Welt. Der Untertitel des Dramas kündigt diese Ordnung mit dem Sprichwort an „Steckt die Kralle in der Falle, ist der Vogel ganz verloren“. Ein Text, dessen Welt über Sinnsprüche dieser Art regulierbar erscheint, kann nicht tragisch sein, schon gar nicht, wenn die Grundlage dieser Regeln das Neue Testament ist. Das Christentum ist eine wesentlich antitragische Weltanschauung; denn es „bietet dem Menschen die Gewißheit der künftigen Sicherheit und Ruhe in Gott. Es führt die Seele zum Gericht und zur Auferstehung“.17 Die Handlung in „Ispoved’“ hatte exemplarischen Charakter. Am Beispiel des Autors lieferte sie Beispiele vom rechten und vom falschen Leben. Eine solche Exempelstruktur weist auch „Vlast’ t’my“ auf. Ein junger Mann kommt auf die schiefe Bahn und sinkt so tief, daß es für ihn irgendwann nur noch den Freitod oder die Umkehr gibt: Er wählt das letztere und findet zurück zu jenen Werten, die ihn sein Vater gelehrt hat. Als symbolische Heimkehr stellt die Umkehr des Helden eine Variante des Gleichnisses vom verlorenen Sohn dar.18 Daß dieser Stoff auch einem der ältesten überlieferten russischen Bühnenstücke zugrunde liegt, nämlich Simeon Polockijs „Komedija o bludnom syne“ (Komödie vom verlorenen Sohn, 1685), ist wohl kein Zufall. Tolstojs „Ispoved’“ markierte einen Umkehrpunkt nicht nur in moralischer, sondern auch in literarischer Hinsicht. Mit der von Tolstoj angestrebten Rolle des Lehrers, also eines vormodernen Schriftstellertypus, geht ein Interesse an einfachen, archaischen, in der christlichen Literaturtradition Rußlands stehenden Gattungsformen einher, das von Zeitgenossen wie Dostoevskij und Leskov geteilt wird. In diesen Formen soll die Literaturhaftigkeit des Textes weitgehend reduziert werden, da dieser die „einfachste Frage des Lebens“ zu beantworten hat, die auch in „Ispoved’“ von zentraler Bedeutung ist: „Was ist gut und was schlecht?“19 Das Böse Das auf das Lukas-Evangelium20 zurückgehende Bild der Finsternis als Titelmotiv des Dramas steht nicht nur für die Macht des Bösen selbst, sondern auch für die Angst des Menschen vor der Beantwortung der Frage nach dem Bösen. Bezeichnenderweise kommen für Tolstoj deterministische Erklärungen des Bösen und damit auch Entlastungen des sündigen Menschen mit Faktoren wie psychi-

„Vlast’ t’my“ (Macht der Finsternis)

223

sche Veranlagung oder gesellschaftliche Verhältnisse, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblich waren21, nicht in Frage. Vielmehr wird das Böse durch zwei – aus Tolstojs Sicht elementare – niedrige Triebe repräsentiert: sexuelles Begehren und Geldgier. Das Thema der Geschlechtsliebe war für den Autor seit dem Roman „Anna Karenina“ fast zu einer moralischen Obsession geworden. Der zunehmend liberalen Eheauffassung der gesellschaftlichen Eliten Rußlands glaubte er ein christliches Ideal entgegensetzen zu müssen, das „Anna Karenina“ und der Erzählung „Krejcerova sonata“ (Kreutzersonate, 1891) durch dasselbe Motto aus Matthäus 5, 28 eingeschrieben ist: „Ich aber sage euch: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.“ Gleich drei Personen brechen in „Vlast’ t’my“ die Ehe: Nikita, der Marina die Heirat verspricht, sie verführt, aber dann sitzen läßt und ein Verhältnis mit der Frau seines Herrn beginnt; Anis’ja, die ihren siechen Mann vor dessen Augen betrügt; Akulina, die ihrer Stiefmutter den Liebhaber ausspannt. Tolstoj vertritt in puncto sexto einen rigorosen „Sittenabsolutismus“22, der schon die Zeitgenossen irritierte. Dies erklärt sich daraus, daß er die Erneuerung der europäischen Zivilisation als eine moralische Aufgabe verstand, die Verzicht auf Genuß und Beschränkung auf Lebens- bzw. Überlebensnotwendiges – beim Geschlechtstrieb mithin auf die Fortpflanzung – verlangte. Erheblichen Einfluß auf diese asketische Moral hatte die im Rußland der Nachreformperiode wirkungsmächtige Philosophie Arthur Schopenhauers, der eine Überwindung des an sich sinnlosen Trieblebens und das Heraustreten des sich seiner selbst bewußt werdenden Menschen aus dem Kraftfeld des Willens forderte.23 Eine zweite Erscheinungsform des Bösen in „Vlast’ t’my“ ist das Geld, dem Tolstoj in seinem Traktat „Tak čto že nam delat’?“ (Was sollen wir denn tun?, 1886) ein langes Kapitel widmet.24 Darin setzt er gegen die Auffassung der Nationalökonomie, Geld sei als neutrales Medium eine natürliche Bedingung des sozialen Lebens, die These, daß jede Art von Geldwirtschaft mit Herrschaft, ja Sklaverei verbunden sei und deshalb eine Hauptursache des Bösen in der Gesellschaft darstelle. In „Vlast’ t’my“ wird vor allem Matrena mit ihrer Devise „Geld regiert die Welt“ (II, 18) auf niedere Erwerbs- und Besitzinstinkte fixiert. Zu den Besonderheiten von Tolstojs Kunst gehört es dabei, daß diese Gier – ebenso wie ihr Gegenteil, die Verachtung des Geldes – in körperliche Gesten und Aktionen übersetzt, also dramaturgisch konkretisiert wird. Einen Spannungshöhepunkt des Stücks bildet so Matrenas und Anis’jas fieberhafte Suche nach Petrs Barschaften, einen zweiten der fast zum unwürdigen Zweikampf zwischen Vater und Sohn ausartende Versuch Nikitas, Akim einen Zehnrubelschein aufzunötigen. Auch die gespenstische Szene des vierten Akts, in der Nikita sein eigenes Baby töten und verscharren soll, hat eine subtile Beziehung zum Geldthema. Der Keller, in dem sich das grausige Geschehen abspielt, ist eine Variante des Unterwelt-Topos. Das dramaturgische Potential dieses locus horribilis darf sich kein Regisseur entgehen lassen. In der Schlußszene des

224

Lev Tolstoj

zweiten Akts nimmt Nikita den Geldbeutel des ermordeten Petr von Anis’ja mit der Bemerkung an sich „Wovor hast du denn Angst? Ich vergrab’s so tief, daß ich’s selbst nicht mehr finde“ (II, 20). Der Keller als Hort des versteckten Geldes und als Grab der im Geld verdinglichten Arbeit ruft intertextuell Puškins Drama „Skupoj rycar’“ (Der geizige Ritter, 1830) auf, das zum Bezugspunkt der meisten Auseinandersetzungen mit dem Geldthema in der russischen Literatur geworden ist. Wenn das Geld des ermordeten Petr an gleicher Stelle vergraben wird wie das ermordete Kind, so ergibt sich daraus die symbolische Nachbarschaft nicht nur von Großvater und Enkelkind, sondern auch von Geld und Tod.25 „Vlast’ t’my“ als realistisches Drama Wenn Tolstojs Drama als ein „Paradestück des europäischen Naturalismus“ rezipiert wurde, so vor allem wegen seiner realistischen Elemente, die sich mit denen des naturalistischen Theaters größtenteils decken. Dies betrifft zunächst das soziale Milieu, in dem die Handlung spielt. Das russische Dorf der Nachreformperiode, an dessen Horizont sich die Stadt als Ort des Finanzkapitals, aber auch des Proletariats und mit ihr der Fluchtpunkt der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung abzeichnet, ist in die gleiche „Finsternis“ gehüllt wie das Milieu des deutschen Proletariats bei Gerhart Hauptmann. Die Beziehungen zwischen Eheleuten sind hier ebenso zerrüttet wie die zwischen den Kindern und den Eltern; Mitglieder ein und derselben Familie verhalten sich zueinander wie wilde Tiere. Diese Verwilderung äußert sich in Liebes- und Haßgefühlen, die einerseits zu Verzärtelung (Matrena/Nikita) und – rechtlich gesehen – zu Inzest (Nikita/Akulina), andererseits zum Gatten- und Kindsmord führen. Die allgemeine Aggressivität artikuliert sich darüber hinaus in der ständigen Bereitschaft zu körperlicher und verbaler Gewalt. Als ein typisch naturalistisches Verfahren läßt sich auch die Veralltäglichung des Bösen begreifen. Indem das Böse die Erscheinungsformen der Routine, der habitualisierten Gemeinheit annimmt, wird es zu einem Element des Milieus. So wie der Alltag Handlungs- und Sprachspiele der unterschiedlichsten Art in sich vereint, steht auch in „Vlast’ t’my“ das Böse in direkter Nachbarschaft mit dem Banalen. Es tritt in Erscheinung, ohne andere Alltagselemente zu überragen. Matrena mag an zielstrebiger Bosheit kaum zu übertreffen sein; dennoch fehlt ihr das Grandiose einer Shakespeareschen Schurkin. Man kann nicht einmal sagen, daß sie primär von der Gier nach Geld getrieben wird; denn letztlich handelt sie aus einer pervertierten Form mütterlicher Fürsorge heraus, die sie blind macht für den Unterschied zwischen Gut und Böse. Wie eng und gleichsam mechanisch bei ihr das böse Tun mit anderen, ethisch neutralen Routinehandlungen verwoben ist, zeigt sich im vierten Akt, als sie darauf besteht, daß das Baby getauft wird, bevor Nikita es tötet. Das für Tolstojs Charaktere typische Nebeneinander von widersprüchlichen Motiven wirkt sich am markantesten in der Figur Anis’jas aus, die in ihrer Beziehung zu Nikita hin- und herge-

„Vlast’ t’my“ (Macht der Finsternis)

225

rissen ist zwischen Liebe, Furcht, Haß und Verachtung, weshalb sie denn auch zu einer der begehrtesten Frauenrollen des nationalen Repertoires geworden ist. Maßgeblichen Anteil an der szenischen Vergegenwärtigung des Milieus hat im realistischen und noch mehr im naturalistischen Drama die Sprache. Bei Hauptmann leistet dies der Dialekt der schlesischen Weber oder des Berliner Proletariats, bei Tolstoj die bäuerlich geprägte Mundart der Figuren. Zwar sind dessen Dialoge nicht so dialektgesättigt wie die Figurenrede in den Texten einiger Narodniki-Autoren, doch übersteigt ihre Dialektfärbung bei weitem die der Bauerndramen eines Pisemskij oder Potechin, wo die dörflichen Helden teilweise noch sprechen wie in einem Schäferspiel des 18. Jahrhunderts.26 Obwohl Tolstoj, der sich seit Ende der siebziger Jahre mit Morphologie, Lexik und sprichwörtlichen Wendungen des Dorfes intensiv beschäftigt hatte, in der Sprache der Bauern das schlechthin Andere der russischen Literatursprache sah, vermied er jede Art von pastoraler Stilisierung des bäuerlichen Idioms. Ebensowenig erlag er der Versuchung, den Text zum Sammelbecken von Volksliedern und Spruchweisheiten zu machen, wie sie der russischen Oper des 19. Jahrhunderts als folkloristisches Beiwerk dienen. Bezeichnenderweise verwendet Matrena, die in der Terminologie Vladimir Propps die Funktion des „Schädlings“ hat, dreimal so viel Sprichwörter wie ihr Mann und Gegenspieler Akim27, dem die Rolle des „Helfers“ und „Ratgebers“ zufällt. Dem Sprichwort wird damit jene Absolutheit genommen, die ihm seit der Romantik als einem Naturkind des Geistes zugesprochen wurde. So wenig wie das Dorf selbst sind seine Sprache, seine Redensarten und Spruchweisheiten Werte an sich. Charakteristisch für die meisten Sprechhandlungen in Tolstojs Stück ist ihre Koppelung an bestimmte Gesten und Handlungen, die für die bäuerliche Lebenswelt typisch sind und die teilweise das von Stanislavskij praktizierte Verfahren der „vierten Wand“ vorwegnehmen. Die Schauspieler verharren bis zu ihrem nächsten Stichwort nicht reglos auf der Bühne, sondern tun, was man bei Alltagsgesprächen üblicherweise nebenbei erledigt: Sie richten den Samowar her oder nehmen Wäsche ab, essen oder trinken, gehen zwischendurch auf den Hof, um das Vieh zu füttern oder um Wasser zu holen. Die fast kinematographische Präzision der Regiehinweise hat ihre Entsprechung im realistischen Roman, der ja in vieler Hinsicht die Erzähl- und Imaginationstechniken des Kinos vorwegnimmt. So wie in „Vlast’ t’my“ die Dialoge an körperliche Gesten gekoppelt werden, die die Information der jeweiligen Äußerung unterstreichen, ergänzen, differenzieren oder auch in Frage stellen, wird auch im Roman durch das Nebeneinander von Figurentext (Replik) und Erzählerkommentar das mimisch-gestische Verhalten des Sprechers ins Bild gebracht. Nimmt man jene zahlreichen Nebentext-Elemente hinzu, die den räumlichen Kontext des Geschehens einschließlich der offstage-Räume präzisieren, so läßt sich in „Vlast’ t’my“ eine Tendenz zum Epischen feststellen, die das Drama des Realismus und des Naturalismus generell kennzeichnet.28 Am deutlichsten tritt diese epische Haltung in Regiehinweisen zutage, die ein spezielles Blickverhalten der Figur

226

Lev Tolstoj

vorschreiben, das vom Publikum aus größerer Distanz zur Bühne überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden kann.29 Episch sind nicht zuletzt die großen Zeitabstände von bis zu neun Monaten zwischen den einzelnen Akten. Durch sie ist die Handlung der Einwirkung von Faktoren ausgesetzt, die außerhalb des dramatischen Prozesses und seiner Logik liegen. Verweisen die zahlreichen Nebentext-Elemente auf das Vorhandensein eines vermittelnden Kommunikationssystems, das die Absolutheit des klassischen Dramas30 aufhebt, so widersprechen die langen Zeitspannen zwischen den Akten dem klassischen Formprinzip der dramatischen Konzentration, das ein hohes Maß an Selektivität und den weitgehenden Ausschluß von Kontingenz verlangt. „Vlast’ t’my“ und die Utopie einer angstfreien Gesellschaft Nikitas Schuldbekenntnis gibt der Handlung eine abschließende Versöhnungsperspektive, die weder literarisch noch ideologisch ins Konzept des Realismus bzw. des Naturalismus paßt und mit der sich auch das zwiespältige Echo der europäischen Sozialisten auf Tolstojs Werk erklärt.31 Ein (post)moderner Regisseur unserer Tage könnte versucht sein, entweder dem Schluß das christliche Pathos zu nehmen oder die Szene ganz zu streichen. Doch um diesen Preis wäre Tolstojs „Vlast’ t’my“ nicht zu haben. Denn zu einem sinnhaften Ganzen wird das Geschehen überhaupt erst durch Nikitas Bekenntnis, das ihn zugleich zum Helden des Dramas macht. Würde er schweigen, bliebe Nikita lediglich ein Objekt eigener und fremder Begierden und selbst als Mörder eine vergleichsweise blasse Figur. Im Licht des Finales erweist sich als Ursache allen Übels die Furcht des Menschen vor der Wahrheit. Auf dieser Furcht gründet, was die Titelmetapher des Dramas versinnbildlichen soll: die „Macht der Finsternis“. Das Motiv verweist nicht nur auf das Lukas-Evangelium, sondern auch auf jene Stelle in „Ispoved’“, an der es heißt: „Mir war die Wahrheit klar, die ich später im Evangelium fand, daß die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht, weil ihre Taten schlecht waren, dieweil jeder, der schlechte Taten vollbringt, das Licht haßt und nicht zum Licht schreitet, damit seine Taten nicht enthüllt werden.“32 Alle Missetaten – die Vergiftung Petrs, der Diebstahl seines Geldes, der Kindsmord – werden heimlich, im Flüstertum der Intrige vorbereitet und ebenso heimlich, hinter den Kulissen vollzogen. Wie in Dostoevskijs Roman „Prestuplenie i nakazanie“ (Verbrechen und Strafe, 1866) muß der Held seine Schuld öffentlich bekennen und sich dabei bis zur Erde verneigen. Der Öffentlichkeit, hier der Gemeinde, bedarf es dabei nicht nur, weil der Mörder gegen eine Grundregel des Gemeinschaftslebens verstoßen hat, sondern auch weil aufrichtiges Meinen und Sagen für Tolstoj nur als öffentlicher Akt glaubhaft gemacht werden kann. Dies übrigens legt die Vermutung nahe, daß Tolstoj die dramatische Gattung auch deshalb gewählt hat, weil im gesprochenen Wort ein Schuldbekenntnis anschaulicher als performatives Zugleich von Rede und Selbstreinigung dargestellt werden kann als im gedruckten

„Vlast’ t’my“ (Macht der Finsternis)

227

Text eines Traktats oder Romans. Das öffentliche Geständnis hat aber noch eine andere Bewandtnis. Nikita beendet seine Beichte mit dem Satz „Jetzt fürchte ich niemanden mehr“ (V, 2, 2). Damit folgt er dem Rat des alten Mitrič, für den alle Menschen von Natur aus gleich sind.33 Mitrič zeigt an seiner eigenen Lebensgeschichte, daß der Ehrliche nicht einmal die Gewalt des Staats zu fürchten braucht. Wenn jede Form von Machtausübung widernatürlich ist, so gilt dies auch für die Furcht des Menschen vor anderen Menschen. Das Schlußtableau gibt den Blick auf eine Gesellschaft frei, in der jene natürliche Gleichheit der Menschen wiederherstellbar erscheint, an die der Rousseau-Anhänger Tolstoj zeit seines Lebens geglaubt hat. Eine solche Gesellschaft ohne den Terror der Macht und ohne Furcht des Menschen vor anderen Menschen wäre das Gegenmodell jener Wolfsgesellschaft, die die Beziehungen zwischen den Figuren bisher geprägt hatte. Dieses Überschreiten des Horizonts gesellschaftlicher Gegebenheiten, das dem Abbild einer Wolfsgesellschaft das Idealbild einer Gemeinschaft, in der das Lamm neben dem Löwen liegt, in mehr oder weniger nackten Bedeutungen gegenüberstellt, läßt sich in einem realistischen Schlüssel kaum inszenieren. Allerdings verbindet sich diese utopische Sicht mit jener exempelhaft-didaktischen Struktur, von der bereits Rede war. Ihr ist auch die Figur Akims zuzuordnen, der wie Mitrič als Ratgeber fungiert. Im Finale bittet Nikita seinen Vater um Vergebung dafür, daß er seine Warnung „Steckt die Kralle in der Falle, ist der Vogel ganz verloren“ ignoriert habe. Damit wiederholt er nicht nur eine Lehre Akims, sondern auch die Botschaft des Dramenuntertitels, die eine Tolstojs selbst ist. Wo die Ebene der Figurenrede so offensichtlich mit der des vermittelnden Kommunikationssystems in Deckung gebracht wird, gibt der Autor die Zurückhaltung auf, die demjenigen eines realistischen oder naturalistischen Stücks gemeinhin auferlegt ist. Das Theater wird zur moralischen Anstalt, das Drama zur Moralität. Tolstoj versucht zwar der Überhöhung Akims zur allegorischen Tugendfigur entgegenzuwirken, indem er ihn zum schüchternen Stammler macht, der kaum einen korrekten Satz über die Lippen bringt, und indem er ihm den Beruf eines städtischen Latrinenreinigers gibt. Solche Niedrigkeit aber wirkt unrealistisch, hagiographisch, stilisiert. Sie gemahnt an die Figur des russischen Narren in Christo (jurodivyj). Sie ruft jene Bilder und Sentenzen des Evangeliums auf, die vom Gnadenprivileg der sozial Unterprivilegierten handeln, und stellt dem Satz des Kaisers Vespasian „pecunia non olet“, der – ebenso wie die Tolstoj verhaßte Nationalökonomie – die Neutralität des Geldes behauptet, die These „labor non olet“ (I, 11) gegenüber. Allegorisch überdeutlich mutet auch die Verteilung von Tugend und Laster auf die beiden Geschlechter an. Während mit Akim, Mitrič und letztlich auch Nikita die drei männlichen Protagonisten positiv charakterisiert sind, repräsentieren die drei weiblichen Hauptfiguren, Matrena, Anis’ja und Akulina, wenn auch in abgestufter Intensität, das Böse. Diese geschlechtsspezifische Perspektive entspricht der geradezu alttestamentarischen34 Misogynie Tolstojs, die sich

228

Lev Tolstoj

von „Anna Karenina“ über „Krejcerova sonata“ bis hin zum Roman „Voskresenie“ (Auferstehung, 1899) verfolgen läßt.35 Die Variante zu den Szenen 12–16 des vierten Akts zeigt mit der im Dialog zwischen Mitrič und der kleinen Anjutka zutage tretenden klassischen Großvater-Enkel-Beziehung eine Konfiguration, in der die Gender-Differenz weitgehend neutralisiert ist. Vor dem Hintergrund des zeitgleich im Off ablaufenden Kindsmordes mutet auch diese idyllische Beziehungsinsel wie ein utopischer Gegenentwurf zu dem ansonsten herrschenden Krieg aller gegen alle an36 – ein Entwurf, der demselben utopischen Impuls entspringt wie die Andeutung sozialer Harmonie in der Schlußszene des Dramas. Hinter der Tendenz zur Typisierung, die den Figuren eine allegorische Funktion gibt, zeichnet sich, wie Michail Bachtin schon 1929 geltend gemacht hat, eine dem realistischen Drama diametral entgegengesetzte Gattungsnorm ab, nämlich die des Mysterienspiels bzw. der mittelalterlichen Moralität.37 Diese Form wirkt so archaisch wie Tolstojs ganze literarische und ideologische Orientierung seit den achtziger Jahren. Bemerkenswert daran ist, daß gerade das Mysterienspiel zu einer bevorzugten Form der europäischen Theater-Avantgarde der Jahrhundertwende werden sollte. Fast zeitgleich mit Tolstojs Drama erlebte diese Form in Werken wie Maurice Maeterlincks „Les aveugles“ (1891), Paul Claudels „Partage de midi“ (1906), Leonid Andreevs „Žizn’ čeloveka“ (Das Leben des Menschen, 1907) und Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ (1911) eine beachtliche Renaissance. Noch die russischen Futuristen griffen mit Aleksej Kručenychs „Pobeda nad solncem“ (Sieg über die Sonne, 1913) und Vladimir Majakovskijs „Misterija-buff“ (Mysterium buffo, 1918) darauf zurück. Das literarisch Rückschrittliche erweist sich einmal mehr als das Progressive. Der Grund dafür ist, daß die Formensprache des Realismus an der Schwelle zum 20. Jahrhundert von der jüngeren Generation als verbraucht empfunden wird. Wie der Symbolismus sieht auch die Avantgarde einen Ausweg aus der Krise des Theaters nur im Verzicht auf realistische Verfahren wie psychologische und soziale Motivierungen oder eine illusionistische mise-en-scène im Stil Stanislavskijs, der in seiner Inszenierung von „Vlast’ t’my“ mit allen Mitteln, einschließlich eines echten Pferds und originalen Hundegebells, das russische Dorf auf die Bühne zu bringen suchte.38 Tolstoj paßte die neue, von ihm als dekadent empfundene Richtung allerdings genauso wenig wie Čechov, der in „Čajka“ (Die Möwe, 1896) das Genre des symbolistischen Mysterienspiels grandios parodiert. Dennoch: Der psychologische Realismus, wie ihn Turgenev, Dostoevskij und Tolstoj kultiviert haben, hat in den achtziger Jahren als literarisches System seinen Zenit überschritten. Hätte sich Tolstoj demnach, weiterhin an realistischen Verfahren festhaltend, „in seinem letzten Dezennium literarhistorisch gleichsam selber überlebt“?39 Nur bedingt. Denn auch er suchte neue Wege. Sein entschiedener Übergang vom Roman zum Drama – nach erfolglosen Versuchen mit dieser Gattung schon in den sechziger Jahren – signalisiert eine Krise, die, obwohl moralisch und exi-

„Vlast’ t’my“ (Macht der Finsternis)

229

stentiell begründet, zugleich eine literarische ist. Das realistische Erzählen hat seine Selbstverständlichkeit und Selbstgewißheit eingebüßt. Doch gerade „diese Krise des episch erzählenden Worts eröffnete Tolstoj jene substantiell neuen Möglichkeiten, die der dramatischen Form inhärent sind, die nun auch seinen wesentlichen künstlerischen Plänen adäquat wird“.40 Obwohl Tolstoj Maeterlinck und die Moderne ablehnte41, ist sein Drama von einer ähnlichen Tendenz zu einfachen Strukturen geprägt wie das moderne Mysterienspiel. Dies gilt für die Kürze der Repliken in gleicher Weise wie für die Figurenkonstellation, die Tendenz zum Allegorischen und den Zusammenfall von Autor- und Figurenperspektive. In seiner Tiefenstruktur hält „Vlast’ t’my“ demnach zwei unterschiedliche Gattungsprogramme mit je eigenem Wirkungspotential bereit: das des realistischen bzw. naturalistischen Gesellschaftsdramas und das des Mysterienspiels im Stil mittelalterlicher Moralität. Tolstoj war offenbar selbst im Zweifel, welches Genrekonzept er letztlich verfolgte. Während er einerseits der Inszenierung am Moskauer Malyj teatr von 1895 bis ins kleinste Requisit hinein ein Höchstmaß an naturalistischem Kolorit zu geben suchte42, hält er gleichzeitig in seinem Tagebuch fest: „War im Theater zur Probe von M[acht] der Finsternis. Die Kunst, mal als Spiel in Gang gekommen, bleibt Spielzeug, und zwar ein gefährliches Spielzeug von Erwachsenen. […] Realismus schwächt im übrigen die Bedeutung.“43

Jens Herlth

Anton Čechov: Čajka (Die Möwe) Čechov schrieb „Čajka“ im Jahr 1895, sechs Jahre nachdem er mit „Lešij“ (Der Waldschrat) seinen schlimmsten Mißerfolg als Dramatiker erlitten hatte. Das Stück hatte Publikum, Kritiker und Theaterleute gleichermaßen enttäuscht und galt als völlig mißlungen und unaufführbar: ein „Roman, der, warum auch immer, in dramatische Form gegossen wurde“.1 Noch vor der Premiere im Dezember 1889 hatte sich Čechov vorgenommen, überhaupt nicht mehr für das Theater zu arbeiten, weil es ihm dafür an „Zeit“, „Talent“ und „Liebe zur Sache“ fehle.2 Und doch nutzte er die Jahre nach der großen Enttäuschung, um sich Klarheit über die eigene Konzeption des Dramas zu verschaffen. Er verfolgte aufmerksam die neuesten Entwicklungen im europäischen Theater seiner Zeit und machte Bekanntschaft mit den Werken Hauptmanns, Ibsens und Maeterlincks.3 Wesentliche Elemente, die die Kritik schon an „Lešij“ bemängelt hatte, sind dann in „Čajka“ noch klarer herausgestellt. Das erste der vier „großen Dramen“ Čechovs ist fast ein Anti-Theater-Stück geworden, das in seiner dramatischen Gestalt völlig herausfiel aus allem, was man bis dahin auf russischen Bühnen sehen konnte. Überdies artikulierte es diese Fremdheit ganz offen in vielerlei satirischen Spitzen gegen das Milieu des Theaters und dessen Exponenten.4 Legendär ist die lakonische Charakteristik, die Čechov am 21. Oktober 1895 in einem Brief an den Verleger Aleksej Suvorin übermittelte: „Können Sie sich vorstellen, ich schreibe ein Stück, das ich wahrscheinlich auch nicht vor Ende November abschließen werde. Ich schreibe es nicht ohne Vergnügen, obwohl ich schrecklich gegen die Bedingungen der Bühne verstoße. Eine Komödie, drei weibliche Rollen, sechs männliche, vier Akte, eine Landschaft (Blick auf einen See); viele Gespräche über Literatur, wenig Handlung, fünf Pud Liebe.“5 In der Tat mußten die Kernelemente der Čechovschen Dramatik, die hier zum ersten Mal voll ausgearbeitet wurden, wie eine Provokation wirken, wenn man sie vor dem Erwartungshorizont der konventionellen russischen Dramatik der achtziger und neunziger Jahre betrachtete: Alltagsbilder voller scheinbar banaler Details6, ein ereignisloses Kontinuum gewöhnlichen Lebens mit fließenden Übergängen zwischen den Auftritten bei gleichzeitiger unterschwelliger Diskontinuität in Themen- und Dialogführung – und all das in einer „Komödie“, die am Rande von Theateranekdoten und „Gesprächen über Literatur“ vom Scheitern zweier junger Menschen in Kunst und Liebe erzählt und dann mit dem Selbstmord der männlichen Hauptfigur ihren tragischen Abschluß findet. Die Uraufführung von „Čajka“ im Oktober 1896 im Petersburger Aleksandrinskij teatr wurde zum Desaster. Die Kritik schrieb den Dramatiker Čechov in Grund und Boden, das Stück wurde nach fünf Vorstellungen abgesetzt. In ge-

„Čajka“ (Die Möwe)

231

wisser Weise war dies eine Bestätigung für die Zweifel, die der Autor selbst an seinen dramaturgischen Fähigkeiten hegte: „Es ist eine Erzählung daraus geworden. Ich bin eher unzufrieden als zufrieden, und indem ich mein neues Stück lese, überzeuge ich mich noch einmal davon, daß ich absolut kein Dramatiker bin.“ So hatte er nach dem Abschluß der Arbeit an „Čajka“ an Suvorin geschrieben.7 Zwei Jahre später sollte es den Regisseur Vasilij Nemirovič-Dančenko, der soeben mit Konstantin Stanislavskij das Moskauer Künstlertheater gegründet hatte, einiges an Überzeugungsarbeit kosten, Čechov für die Mitarbeit an einer Wiederaufführung der „Čajka“ zu gewinnen. Aber es gelang ihm, und die Premiere vom 17. Dezember 1898 wurde ein grandioser Erfolg. Die Geschichte des „MChAT“, wie dieses Theater später heißen sollte, und die von „Čajka“, des ersten zeitgenössischen Stücks im Repertoire der neuen Bühne8, sind seither untrennbar miteinander verbunden. Davon zeugt bis heute die Möwe, die als Emblem des Theaters auf dem Vorhang abgebildet ist. Der Mißerfolg der ersten „Čajka“-Aufführung bleibt gerade deshalb fraglich, weil es so viele gute Erklärungen dafür gibt: zunächst der Umstand, daß sie im Rahmen eines Benefiz-Abends für eine wegen ihrer komischen Rollen berühmte Schauspielerin stattfand; die Zuschauer dürften also eine „echte“ Komödie erwartet habe.9 Dann die „Neuheit“ des Stücks, auf die das Publikum nicht vorbereitet war.10 Schließlich eine schlechte Inszenierung mit Schauspielern, die das komplexe Geschehen nicht adäquat umsetzen konnten und versuchten, mit ihrem Spiel die Absonderlichkeiten des Stücks und seiner Dialogführung zu glätten. Möglicherweise war aber auch eine feindselige Haltung der konservativen Petersburger Literatenkreise gegenüber dem „Moskauer“ Erfolgsschriftsteller Čechov dafür verantwortlich, daß noch im Verlauf des ersten Akts die ersten abfälligen Zwischenrufe ertönten.11 Oft wird übersehen, daß „Čajka“ in der Zeit zwischen Oktober 1896 und Dezember 1898 an mindestens 21 Spielorten im russischen Zarenreich aufgeführt wurde: darunter die bedeutendsten Bühnen der Provinz, die Theater von Kiev, Odessa, Char’kov, Nižnij Novgorod und Kazan’. Čechov, dem es am liebsten gewesen wäre, wenn man sein Stück vergessen hätte, konnte sich dem nicht widersetzen, weil er die Autorenrechte an die „Gesellschaft dramatischer Schriftsteller“ übertragen hatte. Allerdings war diesen Aufführungen kein großer Erfolg beschieden; an keinem Ort wurde „Čajka“ nach einer Spielzeit wieder aufgenommen. Schon zur Zeit der Moskauer Neuaufführung vom Dezember 1898 war das Interesse fast völlig verebbt.12 Figuren, Konfliktstrukturen Das Stück beginnt mit einem Gespräch zweier Nebenfiguren, die hier bereits das ganze Themenspektrum ausschöpfen, das ihnen im weiteren Verlauf zugestanden wird: MEDVEDENKO Warum tragen Sie eigentlich immer schwarz? MAŠA Ich trage Trauer um mein Leben. Ich bin unglücklich.

232

Anton Čechov

MEDVEDENKO Warum? (nachdenklich.) Ich verstehe das nicht. Sie sind jung, Ihr Vater ist zwar nicht gerade reich, verfügt aber doch über ein gewisses Vermögen. Mein Leben ist sehr viel schwerer als Ihres. Ich bekomme nicht mehr als 23 Rubel im Monat, davon geht noch die Altersversorgung ab, und trotzdem trage ich keine Trauer. Medvedenko ist Schullehrer, ein armer Provinzintellektueller, der bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit auf sein viel zu geringes Gehalt zu sprechen kommt. Damit sorgt er für so manchen komischen Effekt – genauso wie Maša, die ihren Überdruß durch Schnupftabak- und Wodkakonsum theatralisiert. Beider Situation wird noch dadurch erschwert, daß Medvedenko in Maša verliebt ist, diese aber nichts von ihm wissen will, weil sie sich Hoffnungen auf Konstantin Treplev macht. Er ist der Neffe des Gutsbesitzers Sorin, dessen Gut von Mašas Vater Šamraev verwaltet wird. Treplev ist der Autor eines Theaterstücks, das im ersten Akt aufgeführt wird und in dem die von ihm begehrte Nina Zarečnaja die Hauptrolle spielen wird. Oder, wie Medvedenko in seinem unbeholfen-gespreizten Duktus formuliert: „Sie sind ineinander verliebt, und heute werden ihre Seelen verschmelzen in dem Bestreben, ein und dasselbe künstlerische Bild zu erzeugen“ (5). Wie Maša und Medvedenko sind auch die anderen Nebenfiguren tendenziell monothematisch-eindimensional angelegt: Sorin, der Gutsbesitzer, ist gesundheitlich angeschlagen und läßt seine Allerweltsbemerkungen mit Vorliebe in nichtssagenden Floskeln wie „schlußendlich“ oder „und solche Sachen“ auslaufen. Der Gutsverwalter Šamraev, Mašas Vater, tritt vor allem durch das Erzählen von Anekdoten aus der Welt der Provinztheater hervor. Er ist voll Bewunderung für Arkadina, die Mutter Treplevs und die Schwester Sorins. Sie ist eine alternde Schauspielerin: egozentrisch und besitzergreifend gegenüber ihrem Lebenspartner, dem Schriftsteller Trigorin. Šamraevs Frau, Polina Andreevna, betrachtet sorgenvoll die unglückliche Liebe ihrer Tochter und richtet ihre eigenen Avancen auf den Arzt Dorn. Letzterer ist sowohl in Liebesdingen als auch in Sachen Theater ein Außenstehender. Dadurch kommt ihm im Stück die Rolle eines neutralen Kommentators zu.13 Gegenüber den nervösen Überspanntheiten der anderen vertritt er einen nüchternen common sense, den er meist ironisch-distanziert, mitunter mit moralischem Engagement zum Ausdruck bringt. Oft äußert er sich in Form gutgemeinter allgemeiner Phrasen, Sentenzen und lakonischer Bemerkungen, trällert Liedchen und mokiert sich über die Selbstverliebtheit und den Hedonismus der anderen. Sein therapeutischer Ehrgeiz ist in vielen Berufsjahren weitgehend abgeflacht. So hält er es für unangemessen, wenn ein Sechzigjähriger wie Sorin ihn um Behandlung ersucht. Am liebsten verschreibt er Baldriantropfen. Wie in den anderen Stücken Čechovs14, so spielen auch hier der Komplex des „Lebens“ und die Frage der Lebensperspektiven eine zentrale Rolle. Die Ambitionen und die Seelenlage der Figuren stehen in direktem Zusammenhang mit ihrer Position auf der Altersskala: Die Jungen sehen sich unter dem Druck,

„Čajka“ (Die Möwe)

233

ihre Rolle zu definieren, ihr Glück zu machen, ihre Träume zu verwirklichen, die Angehörigen der mittleren Generation wollen Erreichtes bewahren und leiden allenfalls unter der Eintönigkeit ihrer Lebenssituation, die Alten schließlich blicken zurück auf verpaßte Möglichkeiten. In der „Čajka“ sind es zunächst Treplev (25 Jahre alt) und Nina, dann aber auch die zweiundzwanzigjährige Maša, die die Haltung der Jugend teilen. Arkadina mit ihren 43 Jahren und der sechs Jahre jüngere Trigorin vertreten die mittlere Generation, wobei die Altersverteilung bei den beiden schon als spannungserzeugendes Element wirkt. Denn Arkadina ist nicht nur in professioneller Hinsicht dem Druck des Alters ausgesetzt, sondern auch in ihrer Beziehung zu Trigorin – und dies erst recht, als sie in Konkurrenz zu der jugendlichen Nina gerät. Der kränkliche Sorin, der sich selbst und sein weitgehend abgelebtes Leben unter das scherzhafte Motto „der Mann, der wollte“ stellt, steht mit seinen sechzig Jahren für das Alter. Auch der fünfundfünfzigjährige Dorn ist den Ambitionen der Jugend und den Besitzstandskämpfen des mittleren Alters enthoben. Bei den Nebenfiguren Šamraev, Polina Andreevna und Medvedenko fällt die Perspektivierung durch den biographischen Horizont nicht ins Gewicht. Sie werden auf klar umrissene Motivlagen reduziert: Šamraev kümmert sich um das Gut, Polina Andreevna um Dorn und ihre eigene Tochter, Medvedenko (im vierten Akt) um das Kind, das ihm Maša geboren hat. Wie in allen vier großen Stücken Čechovs stehen auch hier Konflikte innerhalb einer Familie im Zentrum. Familiäre Beziehungen werden unterlaufen von finanziellen, amourösen und sonstigen Interessenlagen, die querstehen zu den Geboten der Familiensolidarität. Die Kernbeziehung ist hier die zwischen Arkadina und ihrem Sohn. Letzterer hat ein abgebrochenes Universitätsstudium hinter sich. Sein verstorbener Vater war Schauspieler. Über eigenes Vermögen verfügt er nicht, finanziell ist er von seiner Mutter abhängig. Treplev charakterisiert seine Mutter noch vor deren erstem Auftritt reichlich desillusioniert als eine zwar talentierte, aber auch höchst eitle und selbstverliebte Person, deren Beziehung zu ihm selbst vor allem dadurch vergiftet sei, daß sie durch seine bloße Anwesenheit an ihr fortgeschrittenes Alter erinnert werde. Andererseits ist sein Verhältnis zur Mutter nicht frei von sogar erotischen Untertönen, was sich andeutet, als er scherzhaft die Blätter einer Blume rupft und dazu den „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht“-Vers spricht (8). Auch die Szene im dritten Akt, als die Mutter ihm den Verband wechselt, nachdem er sich bei einem Selbstmordversuch leicht am Kopf verletzt hat, ist von gegenseiter Zuneigung und Zärtlichkeit geprägt (37). Der Verbindung seiner Mutter mit Trigorin steht Treplev kritisch gegenüber. Anfangs charakterisiert er den Älteren noch recht wohlwollend als einen „klugen, einfachen, ein wenig […] melancholischen Menschen“, der als Autor über Talent verfüge, wenn man auch „nach Tolstoj und Zola nicht gerade Trigorin“ lesen wolle (9). Je mehr ihm aber Trigorin auch im Werben um Nina zum Konkurrenten wird, desto stärker wird seine Abneigung. Geradezu fatal ist der Um-

234

Anton Čechov

stand, daß es ausgerechnet sein Status als berühmter Autor ist, der Trigorin für Nina interessant macht. Bald schon „ekelt“ es Treplev vor den Werken Trigorins (38). Seine Abneigung begründet er mit einer kunstmarktstrategischen Erwägung: „Ihr, Sklaven der Konvention, habt die Macht in der Kunst ergriffen und haltet nur das für rechtmäßig und echt, was ihr selbst macht, alles andere aber drückt und erstickt ihr! Ich erkenne euch nicht an!“ (40). Er selbst hatte sich im ersten Akt die „neuen Formen“ auf die Fahnen geschrieben: „Wir brauchen neue Formen, und wenn es die nicht gibt, dann soll lieber gar nichts sein“ (8). Die „fünf Pud Liebe“, von denen Čechov im Brief an Suvorin sprach, sind, wie man sieht, sämtlich asymmetrisch verteilt: Fast jede Figur des Stücks ist verliebt in eine andere, deren Zuneigung wiederum einer dritten gilt – und so weiter. Die Konflikte entstehen aus der komplexen Gemengelage von Lebenssituationen, Familienverhältnissen, Liebesbeziehungen und künstlerischen Ambitionen. Die Motivlage der Figuren läßt sich kaum je auf eine dieser Linien reduzieren. Alle Beziehungsdiskussionen werden hier als „Gespräche über Literatur“ geführt. Čechovs „Čajka“ ist nicht so sehr ein Stück über Kunst als vielmehr eines, das die Kunstdiskussion in das dramatische Geschehen integriert und diese Diskussion – vor allem durch ihre Vermischung mit dem Liebesgeschehen – selbst dramatisiert.15 Die Frage, ob die Beziehungsstrukturen das Verhältnis zur Kunst bestimmen oder das Verhältnis zur Kunst die Beziehungsstrukturen determiniert, ist daher kaum zu beantworten.16 Charakterisierung durch Intertextualität Die zentralen Figuren des Stücks, Treplev, Nina, Trigorin und Arkadina, charakterisieren sich selbst und die jeweils anderen, indem sie sich über ihr Verhältnis zur Kunst, zum Theater oder zur Literatur äußern. Čechov reichert die Dialogrepliken dabei mit einer Vielzahl von Anspielungen aus der Welt der Literatur, der Geschichte des Welt- oder des Provinztheaters an. Die mannigfaltigen Allusionen und anzitierten Texte ergeben in ihrer Gesamtheit einen so facetten- wie aufschlußreichen Kommentar, der um so wichtiger ist, als dem Stück keine klar erkennbare Perspektive auktorialer Wertung eingeschrieben ist. Die Figuren werden hier nicht nur durch Verhalten, durch impliziten oder expliziten Fremd- oder Selbstkommentar charakterisiert, sondern auch dadurch, welche Texte sie lesen und wie sie sie lesen. Besonders prominent sind im ganzen Stück die Bezüge zu „Hamlet“. Arkadina und ihr Sohn verständigen sich, indem sie Repliken aus Shakespeares Klassiker austauschen (12). Die Spiel-imSpiel-Situation im ersten Akt, mit der der Sohn seine Mutter provoziert, ist leicht als eine Referenz zur Theateraufführung im dritten Akt der Shakespeareschen Tragödie zu identifizieren. Auch die kritische Haltung Treplevs gegenüber der Beziehung seiner Mutter mit Trigorin ist als „Hamlet“-Anspielung erkennbar. Den Auftritt Trigorins vor dessen Gespräch mit Nina über das Metier des Schriftstellers und die Vor- und Nachteile des Berühmtseins kündigt Treplev an, indem er den älteren Kollegen spöttisch mit Hamlet vergleicht (28).

„Čajka“ (Die Möwe)

235

Auch das Drama, das Treplev verfaßt hat und dessen Aufführung im ersten Akt er aus Wut über die sarkastischen Kommentare seiner Mutter abbricht, wird zu einem Teil des vielschichtigen Resonanzraums an literarischen Texten, der in „Čajka“ erklingt: Es illustriert die Kunstdiskussion, es charakterisiert Treplev und die übrigen Figuren, und dies vor allem durch die Befremdung, die es auslöst. Die künstlerische Zielrichtung und auch die Qualität des Textes sind in der „Čajka“-Forschung umstritten. Nina, die in diesem Werk eines Amateurs ihren Auftritt als Laiendarstellerin hat, gibt an, daß sie das Stück nicht verstehe. Sie bezeichnet es zutreffend als „eine bloße Leseprobe“ (11); denn es handelt sich um einen einzigen Monolog der vor der Seekulisse weißgekleidet auf einem Stein sitzenden Hauptdarstellerin. Der Text selbst ist von unfreiwilliger Komik, wohl sogar zu schlecht, um wirklich als eine Parodie auf zeitgenössische Entwicklungen in der russischen Literatur gelten zu können (was jedoch mitunter postuliert wird)17: „Menschen, Löwen, Adler und Rebhühner, gehörnte Hirsche, Gänse, Spinnen, schweigsame Fische, die im Meer wohnen, Seesterne und alle, die man nicht mit dem Auge sehen konnte, mit einem Wort, alle Leben, alle Leben, alle Leben haben ihren traurigen Kreis abgeschlossen und sind erloschen. [...] Auf der Wiese wachen nicht mehr mit einem Schrei die Kraniche auf, und keine Maikäfer sind zu hören in den Lindenhainen. Kalt, kalt, kalt. Leer, leer, leer. Schrecklich, schrecklich, schrecklich“ (13). Andere wollen hier sogar eine Vorwegnahme symbolistischer Literatur sehen.18 Die entsprechenden philosophischen Referenzen liegen auf der Hand19; denn es handelt sich hier um einen Monolog der „allgemeinen Weltseele“. Wie auch immer man dieses Fragment bewerten will, in erster Linie muß man es vor dem Hintergrund von Treplevs emphatischer Rede über die „neuen Formen“ sehen und diese wiederum im Kontext der theatergeschichtlichen Entwicklung jener Jahre. Mit ihrer Bezeichnung des Gesehenen als „dekadenter Unsinn“ (15) stellt Arkadina das Stück ihres Sohns in die literarische Polemik einer Epoche, in der die Stilformation des Realismus durch neue literarische Entwicklungen unter Druck geraten war. Zugleich ist offensichtlich, daß Treplevs bedenkenswerter und zuallererst negativ ausgerichteter Theorie des Theaters und der neuen Literatur eine nur sehr unbeholfene Praxis gegenübersteht. Der einzige, der Treplev nach dem Desaster einige aufmunternde Worte mitgibt, ist der Arzt Dorn. In einem kurzen Monolog gibt er an, daß das Stück ihm gefallen habe, auch wenn er sich den Grund nicht so recht erklären könne. Die an Treplev gerichteten Worte entspringen dann aber auch wieder seiner ärztlichen Sorge um das Nervenkostüm des jungen Autors, gibt er doch noch im Selbstgespräch an, ihm „mehr Angenehmes“ sagen zu wollen. Seine Vorstellungen von Kunst und Künstlertum sind ebenso nebulös wie das Theater Treplevs: „Wenn ich eine solche Erhebung des Geistes verspüren könnte, wie sie bei den Künstlern in der Zeit des Schaffens anzutreffen ist, dann, so scheint mir, würde ich meine materielle Hülle verachten und alles, was dieser Hülle angehört, und von dieser Erde weit weg in die Höhe schweben“ (19). Klar diagnosti-

236

Anton Čechov

ziert der Arzt jedoch bei dieser Gelegenheit das künstlerisch-lebenspraktische Problem Treplevs: „Sie müssen wissen, wozu Sie schreiben, sonst, wenn Sie diesen malerischen Weg ohne bestimmtes Ziel weitergehen, werden Sie sich verirren, und Ihr Talent wird Sie zugrunde richten“ (19). Für die persönliche Entwicklung Treplevs trifft diese Diagnose zu: Tatsächlich geht der junge Dichter, der seiner Kunst kein Ziel zu geben vermag, am Ende zugrunde. Ob in Dorns Worten jedoch auch eine auktorial abgesegnete Wahrheit in Sachen Kunstkonzeption steckt, bleibt fraglich.20 Die Bandbreite der sonstigen literarischen Anspielungen und Einsprengsel reicht von hochliterarischen Referenzen bis hin zu den populären Romanzen, die Dorn vor sich hinträllert. Manches ist bewußt in der Schwebe zwischen bloßer Beiläufigkeit und tieferem Gehalt belassen, so etwa, wenn Medvedenko mit Bezug auf die Gebrechlichkeit Sorins das Rätsel der Sphinx aus der ÖdipusSage zitiert („Es gibt ein Rätsel: morgens auf vieren, mittags auf zweien, abends auf dreien…“, 37). Natürlich ist dies auch eine Anspielung auf die Beziehung zwischen Treplev und seiner Mutter. Andererseits sind derlei Bemerkungen nicht überzubewerten. Wie eigentlich im ganzen Stück handelt es sich auch hier um nicht vollständig funktionalisierte Kommunikation, in der der informative Gehalt gegenüber dem ziellosen Aufrechterhalten des Redeflusses zurücktritt. Die Kunst und ihre Parasiten Von wirklicher Doppelbödigkeit ist indes die Situation zu Beginn des zweiten Akts, in der Arkadina und Dorn gezeigt werden, wie sie sich aus Guy de Maupassants „Sur l’eau“ (1888) vorlesen. In der fraglichen Passage aus den Aufzeichnungen einer im April 1888 unternommenen Schiffsreise an der Côte d’Azur formuliert der Autor die These, daß es für Menschen der Gesellschaft genauso riskant sei, „Romanschriftsteller zu verwöhnen und an sich zu ziehen, wie es für einen Mehlhändler gefährlich wäre, in seinen Scheunen Ratten zu halten“ (22). Als es dann auch noch um die zielgerichteten Verführungsstrategien geht, mit denen die Frauen von Welt die Schriftsteller anzulocken pflegen, um sich mit deren Glanz zu schmücken, bricht Arkadina ab und bringt sich und Trigorin als Gegenbeispiel an: „Na, das ist vielleicht bei den Franzosen so, bei uns kommt das nicht vor, keinerlei Programme. Bei uns ist eine Frau, bevor sie einen Schriftsteller umgarnt hat, schon selbst bis über beide Ohren verliebt in ihn, ich bitte Sie. Da muß man gar nicht weit suchen, nehmen Sie doch nur mich und Trigorin“ (22). Dann, so heißt es im Nebentext, liest sie noch einige Zeilen für sich und legt das Buch verärgert zur Seite: „Nun, was dann kommt, ist uninteressant und falsch“ (22). Wir müssen also annehmen, daß gerade die bei Maupassant folgenden Sätze Wissenswertes über die Beziehung zwischen Arkadina und Trigorin enthalten: Dort wird die „beständige Schmeichelei“ beschrieben, mit der die Dame den Romancier für sich gewinnt. Habe sie ihn einmal gewonnen, kappe sie peu à peu alle seine Verbindungen zur Außenwelt und richte es ihm bei sich häuslich

„Čajka“ (Die Möwe)

237

ein. Im Haus der Dame werde ihm dann als einem Idol gehuldigt. Und es sei gerade seine unbedingte Treue, die den Romancier für andere Damen so begehrt mache: „Oh, daß er nur auf der Hut ist, sich von diesen Salonsirenen mitziehen zu lassen, er verlöre sogleich drei Viertel seines Wertes, wenn er sich in Umlauf begäbe.“21 Wenn er nur schön bei ihr bleibe, dann werde er der „einzige Gott“ in einer „Kirche“ sein, seine Dame werde von allen beneidet werden, und gemeinsam würden sie „über Literatur sprechen, wie die Priester von den Dogmen, gelehrt und gravitätisch“; man werde „dem einen wie der anderen zuhören“ und, wenn man diesen „Literatursalon“ verlasse, „das Gefühl haben, aus einer Kathedrale hinauszutreten“.22 In der von Arkadina anzitierten und dann verschwiegenen Passage liegt nichts weniger als die „Kernidee“ des Stücks.23 Es geht um die Verknüpfung von Kunst und Liebe mit den Dimensionen von Status und Ansehen, das heißt: „symbolischem Kapital“.24 Gemeinsam mit ihm hat sie es sich in ihrer Kunstreligion bequem gemacht. In seiner Charakteristik der eigenen Mutter hatte Treplev deren Liebe zum Theater mit folgenden Worten verspottet: „Sie liebt das Theater, ihr scheint, sie diene der Menschheit, der heiligen Kunst“ (8). Für ihn selbst aber ist dies nur ein Theater von „Konvention“ und „Vorurteil“, das dem Zuschauer eine „kleine Moral […] für den Hausgebrauch“ liefere. Wenn es ihm „in tausend Variationen ein und dasselbe, ein und dasselbe, ein und dasselbe“ anbiete, dann laufe er und laufe, „so wie Maupassant vor dem Eiffelturm weglief, der ihm in seiner Abgeschmacktheit auf das Hirn drückte“ (8). In „Sur l’eau“ wiederum finden sich Passagen der Abrechnung mit der zeitgenössischen Literatur, aus denen derselbe Überdruß mit dem Bestehenden und dieselbe Sehnsucht nach Neuem spricht wie aus den Repliken Treplevs: „Ah! Wenn die Dichter doch den Raum durchqueren könnten, die Sterne erkunden, andere Universen entdecken, andere Wesen, unaufhörlich für meinen Geist die Natur und die Form der Dinge variieren könnten, mich unaufhörlich durch ein sich veränderndes und überraschendes Unbekanntes geleiten könnten, mir die mysteriösen Pforten zu unerwarteten und wundersamen Horizonten öffnen könnten, dann läse ich sie Tag und Nacht.“25 Die kulturkritischen Überlegungen Maupassants gewinnen durch diese doppelte Referenz – die Erwähnung durch Treplev und die Lektüre Dorns und der Arkadina – eine besondere Autorität: Sie müssen als Kommentar zur Kunstdiskussion in „Čajka“ herangezogen werden, und zwar als ein Kommentar, der Treplev Recht gibt. Doch dies betrifft vor allem die inhaltlich-programmatische Auseinandersetzung. Die Passage aus „Sur l’eau“ liefert dabei auch den Schlüssel zu der kunstökonomischen Konstellation, die in „Čajka“ auf die Bühne gebracht wird. Die Analogie zwischen Schriftstellern und Ratten illustriert das Stück in der Gestalt Trigorins. Denn letzterer wird im folgenden verschiedentlich dabei gezeigt, wie er sich Aussprüche seiner Gesprächspartner notiert, um sie literarisch zu verwerten. Im Gespräch mit Nina sieht Trigorin diese nicht als Person, sondern als Vertreterin der Gattung „junges, interessantes Mädchen“: eine für ihn gewinn-

238

Anton Čechov

bringende Bekanntschaft; denn in seinen Kurzromanen und Erzählungen seien die Angehörigen dieser Gattung aus Unkenntnis für gewöhnlich verfälscht dargestellt (28). Ninas Lebensgeschichte notiert sich Trigorin als „Sujet für eine kleine Erzählung“ (31), wobei er in der skizzierten Entwicklung dieses Sujets schon ihre reale Lebensgeschichte vorwegnimmt, deren „Autor“ wiederum niemand anders sein wird als er selbst: „Am Ufer eines Sees lebt seit der Kindheit ein junges Mädchen, […] liebt den See wie eine Möwe, ist glücklich und frei wie eine Möwe. Doch zufällig ist ein Mann dahergekommen, hat sie gesehen und aus Langeweile zugrunde gerichtet wie diese Möwe“ (31 f.). Obwohl Trigorin dieses „Sujet“ nie zu einer Erzählung ausarbeitet, so ist doch klar: Seine Rolle ist die einer Ratte, die sich an dem biographischen Material „nährt“, das ihm die anderen bereitwillig zur Verfügung stellen. Er selbst gibt an, Episoden aus ihrem Leben in seinem „literarischen Speicher“ zu sammeln (29) – eine Parallele zu der Scheune des Mehlhändlers in Maupassants Notiz. Trigorin ist bewußt, daß er sich damit gegenüber dem eigenen Leben verhält wie ein Parasit: „Ich spüre, daß ich das eigene Leben aufesse, daß ich für den Honig, den ich irgend jemandem spende, den Blütenstaub von meinen besten Blumen sammele, die Blumen selbst ausreiße und ihre Wurzeln zertrete“ (29). Die anderen Figuren nehmen an dem parasitären Spiel nur zu bereitwillig teil, weil sie ihrerseits der eigenen Biographie Bedeutung geben wollen, indem sie diese dem Schriftsteller als Material anbieten: So sagt etwa Maša am Anfang des dritten Akts zu Trigorin: „All das erzähle ich ihnen als Schriftsteller. Sie können das verwenden“ (33). Und Medvedenko legt Trigorin nahe, doch ein Stück über das schwierige Leben eines Landschullehrers zu schreiben (15). Man sehnt sich nach dem Glanz der „Sonne“ Trigorin (so Treplev, 28), man will partizipieren an dem symbolischen Kapital, das der „Gott“ Trigorin durch die Verwandlung von „profanem“ Leben in „heilige“ Literatur verteilt. Das Verhältnis zwischen Autor/Kunst und Leben wird also hier implizit als ein parasitärer Kreislauf beschrieben. Involviert in diesen ist auch Nina, deren Drang, Schauspielerin zu werden, deutlich als ein Streben nach Ruhm dargestellt wird. Der Komplex Kunst und Parasitentum hat weitere Facetten: Das Stück beginnt mit einer Liebhaberaufführung im erweiterten Familienkreis. Offensichtlich glaubt Treplev, mit dieser Aufführung dem professionellen Theater der Arkadina Konkurrenz machen zu können; zumindest ist er überzeugt, daß seine Mutter deshalb so unleidlich reagiere, weil „auf dieser Bühne die Zarečnaja einen Erfolg erleben wird und nicht sie“ (7). Für Treplev ist die Schriftstellerei nicht zuletzt ein verzweifelter Versuch, dem Status eines „Schnorrers, eines Schmarotzers“ zu entkommen, als der er auf dem Gut seines Onkels lebt (36). Sorin ersucht seine Schwester, die über beträchtliche finanzielle Mittel verfügt (nach Angaben Treplevs hat sie 70 000 Rubel auf einer Bank in Odessa deponiert; 8), ihrem Sohn doch Geld für eine Auslandsreise oder wenigstens für einen neuen Anzug zu geben, um dessen prekäre Situation zu erleichtern. Arkadina lehnt jedoch ab. In der schärfsten Auseinandersetzung mit ihrem Sohn be-

„Čajka“ (Die Möwe)

239

schimpft sie diesen als „Schmarotzer“ und als „оborvyš“ (Mensch in zerlumpter Kleidung, 40). Letzteres ist besonders perfide, da sie es ja ist, die ihm das Geld für neue Kleidung verweigert. Mit dem Fall Treplevs wird die Frage gestellt, wie der Künstler sich als Künstler behaupten kann, wenn er sich gleichzeitig gegen die „billigen“ Methoden der „Sklaven der Konvention“ verwahrt, keine „Kirche“ begründen und nicht einen äußerlichen Kult von Ruhm und Künstlertum errichten will. Um so prekärer ist seine Lage, weil er, der eigenen Theorie zum Trotz, mit seiner Kunst doch vor allem um persönliche Anerkennung ringt. Die böse Pointe ist hier, daß es sich Trigorin mit der sicheren Basis des jahrelang erarbeiteten und dann sorgsam aufrechterhaltenen schriftstellerischen Erfolgs leisten kann, gegenüber Nina seine Angelleidenschaft herauszukehren. Sie ist zwar irritiert, gesteht aber dem Berühmten und Erfolgreichen diese Schrulle zu. Treplev dagegen hat bei ihr keine Chance, und als Maupassant-Leser weiß er auch, warum: „Frauen verzeihen Erfolglosigkeit nicht“ (27). Der Raum: Stimmung und Symbolik In den Regieanweisungen, die den Akten jeweils vorangestellt sind, gibt Čechov ausführliche Hinweise zur Gestaltung des Bühnenbilds. Eigens erwähnt er dabei auch Elemente, die den Blicken der Zuschauer gerade entzogen sein sollen wie zum Beispiel im ersten Akt der „See, der aber überhaupt nicht sichtbar ist“, weil der Blick durch eine „schnell für eine Liebhaberaufführung zusammengezimmerte Bühne versperrt“ wird (5). Offensichtlich geht es hier um die Erzeugung von „Stimmung“. Zugleich sind diese Schilderungen der Räumlichkeit und insbesondere die Erwähnung bestimmter Requisiten von symbolischer Tragweite: Schon der Anblick der Bretterbühne diskreditiert vor dem ersten Akt die dramatischen Bemühungen Treplevs, der eben nur ein Liebhaberstück im Kreis der Familie aufführen läßt. Der See steht im engen Zusammenhang mit dem Titelsymbol des Stücks, der Möwe, und mit dem Namen der weiblichen Hauptfigur: Nina, die, wie sie einmal sagt, „ihr ganzes Leben an diesem See verbracht“ hat (31), wohnt mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter auf einem Landgut auf der anderen Seite. „Zarečnaja“ heißt so viel wie „die hinter dem Fluß“. Vor dem zweiten Akt steht die Angabe „Ein Platz zum Krocketspielen“ (21) für das träge far niente, das die Figuren hier in ländlicher Abgeschiedenheit pflegen. Der Krocketplatz fügt sich dabei ganz natürlich in das Ambiente eines heißen Sommertags, anders als zuvor die Bühne, die in der Parklandschaft als erratischer Bruch erscheinen mußte. Im Bühnenbild des dritten Akts sollen „Vorbereitungen zur Abfahrt sichtbar“ sein (33). Charakteristisch ist für „Čajka“ wie dann auch für die späteren Dramen Čechovs die Mischung aus Figuren, die mehr oder weniger ständig am Ort der Handlung verweilen und solchen, die nur für einen vorübergehenden Aufenthalt dort zusammengekommen sind. Hier sind es die Sommergäste Arkadina und Trigorin, deren Abfahrt vorbereitet wird, während Sorin und Treplev bleiben werden. Die bevorstehende Abfahrt führt zu

240

Anton Čechov

einer melodramatischen Szene zwischen Trigorin, der lieber in der Nähe Ninas verweilen möchte, und Arkadina, die erfolgreich ihren Machtinstinkt und ihre schauspielerischen Fähigkeiten in die Waagschale wirft, um ihn zur Abreise zu bewegen. Nina allerdings hat unter dem Eindruck ihrer Gespräche mit Trigorin den Entschluß gefaßt, „auf die Bühne“ zu treten: Auch sie will nach Moskau reisen, um dort Schauspielerin zu werden. Heimlich steckt ihr Trigorin eine Adresse zu und leitet damit den weiteren Verlauf des „Sujets für eine kleine Erzählung“ ein, das er zuvor skizziert hatte. Der vierte Akt ist – nach einer Zäsur von zwei Jahren – „in einem der Salons im Haus Sorins“ angesiedelt, der von Treplev „in ein Arbeitszimmer umgewandelt wurde“ (45). Betrachtet man die Situierung des Stücks im ganzen, so fällt auf, daß Čechov – wie auch in den anderen drei späten Dramen (und anders als noch in „Ivanov“ und „Lešij“) die Handlung auf einen Ort, typischerweise ein Landgut, beschränkt, an dem allenfalls kleine Verlagerungen – von drinnen nach draußen oder von einem Zimmer ins andere – stattfinden. In „Čajka“ zeigt sich eine deutliche Richtung dieser Verlagerungen: Vom Park (Akt I) und dem Park mit Haus und Terrasse (Akt II) geht es über das Eßzimmer (Akt III) in das Arbeitszimmer Treplevs (Akt IV). Die letzte Begegnung zwischen Treplev und Nina findet hier statt: Die rechte Tür ist abgeschlossen und die linke durch einen Sessel verbarrikadiert (56). Das Stück vollzieht also eine symbolische Bewegung in Richtung von „Treplevs innerem Raum“.26 „Stimmung“ wird auch durch den Dialog evoziert, so wenn im letzten Akt vom „schrecklichen Wetter“ die Rede ist, das schon den zweiten Tag anhält, von den „riesigen Wellen“ auf dem See und dem „Theater“ im Garten, das „nackt dasteht, häßlich wie ein Skelett, und der Vorhang knattert im Wind“ (45). Čechov nutzt überdies ein breites Arsenal an nonverbalen Ausdrucksmitteln, um die Stimmungen der Figuren zum Ausdruck kommen zu lassen. Besonders explizit wirken diese Verfahren, wenn sie im Dialog gedoppelt werden, so wenn im vierten Akt im Nebentext ein „melancholischer Walzer“ erwähnt ist, der „von zwei Zimmern weiter her“ ertönt, und Polina Andreeva dies mit den Worten „Kostja spielt. Das heißt, er hat Kummer“ kommentiert (47). Zeit, Lebenszeit Auch die zahlreichen Pausen, die nach den Anweisungen im Nebentext immer wieder die Gespräche unterbrechen, haben vor allem atmosphärische Funktion. Eine besondere Häufung läßt sich im vierten Akt feststellen, der als eine Art Epilog ein verlangsamtes Tempo aufweist. Das Lottospiel symbolisiert hier die sinnlos vergehende Lebenszeit: „Wenn die langen Herbstabende anbrechen, wird hier Lotto gespielt“, erläutert Arkadina: „Ein langweiliges Spiel, aber wenn man sich daran gewöhnt hat, macht es sogar Spaß“ (53). Zuvor stehen Zahlen in „Čajka“ zumeist als Altersangaben für vergangene Lebenszeit. An einer Stelle bilden sie auch einen Code, hinter dem sich eine tiefe Bedeutung für das Leben der Figuren verbirgt, wie die Gravur des Medail-

„Čajka“ (Die Möwe)

241

lons, das Trigorin von Nina erhält und auf dem nur der Titel eines seiner Bücher sowie die Seitenzahl 121 und die Zeilenangabe 11–12 zu lesen ist (35). Der Satz, den er dort liest, lautet: „Wenn Du irgendwann einmal mein Leben brauchst, dann komm’ und nimm es Dir“ (41).27 Dagegen haben die Zahlen, die den Gesprächen im vierten Akt als beiläufiges Rauschen unterlegt sind, keinerlei über den Rahmen des Spiels hinausgehende Bedeutung: MAŠA Haben alle gesetzt? Ich fange an… Zweiundzwanzig! ARKADINA Habe ich. MAŠA Drei!… DORN Ja. MAŠA Haben Sie drei gesetzt? Acht! Einundachtzig! Zehn! ŠAMRAEV Nicht so eilig. ARKADINA Wie ich in Char’kov gefeiert wurde, du meine Güte, mir ist immer noch ganz schwindelig! MAŠA Vierunddreißig. (Hinter der Bühne wird ein melancholischer Walzer gespielt). ARKADINA Die Studenten haben mir Ovationen dargebracht… Drei Körbe, zwei Kränze, und das hier… (nimmt eine Brosche von der Brust und wirft sie auf den Tisch.) ŠAMRAEV Ja, das ist was… MAŠA Fünfzig!… DORN Genau fünfzig? ARKADINA Ich war phantastisch gekleidet… Man kann sagen, was man will, aber anziehen kann ich mich. POLINA ANDREEVNA Kostja spielt. Er hat Kummer, der Arme (53 f.). Der vierte Akt ist voller zyklischer Momente, die Situationen und Dialogmomente aus den vorherigen Akten wiederholen oder diese gewissermaßen „seitenverkehrt“ spiegeln. Maša, die noch im Eingangsdialog mit dürren Worten die Avancen Medvedenkos abwehrte, hat diesen unterdessen geheiratet und ein Kind geboren, um das sie sich aber, selbstbezogen wie immer, nicht kümmert. Sogar der Suizid Treplevs, der das Stück abschließt, ist eine Wiederholung des früheren Selbstmordversuchs. In „Čajka“ ist Zeit vor allem Lebenszeit. Während Sorin der vergangenen Jugend mit ihren verpaßten Möglichkeiten nachtrauert, Arkadina sich an die Zeit vor zehn bis fünfzehn Jahren erinnert, als am See noch fast jede Nacht „Musik und Gesang“ zu hören waren (15 f.), Dorn auf dieselbe Zeit „vor zehn bis fünfzehn Jahren“ verweist, als er der einzige ordentliche Geburtshelfer im ganzen Gouvernement war (11), leiden die Jungen unter dem Bewußtsein, daß sie genau jetzt ihre Träume und Pläne verwirklichen müssen. Es ist die Endlichkeit, der Skandal des Vergehens der Lebenszeit, der über allem schwebt, allen Gesprächen ihren Sinn bzw. ihre Sinnlosigkeit verleiht. Der ganze vierte Akt steht im Zeichen der Todesahnung, ist doch der verschlechterte Gesundheitszustand Sorins der Grund für die Anreise Arkadinas und Trigorins (58).

242

Anton Čechov

Dialog und Handlung Wie Čechov in seinem Brief an Suvorin schon ankündigte, ist „Čajka“ ein Stück mit „wenig Handlung“ geworden. Überdies sind alle bedeutenden Geschehnisse in den Bereich des offstage verlegt.28 Die entscheidenden Ereignisse fallen in die zwei Jahre, die zwischen dem Ende des dritten und dem Anfang des vierten Akts vergehen: Ninas kurze Affäre mit Trigorin, ihre ersten Schritte als Schauspielerin, die Geburt und der Tod ihres Kindes, Treplevs beginnender Erfolg als Schriftsteller (nachdem er zunächst Nina nachgereist, aber von ihr abgewiesen worden war). Auch Mašas und Medvedenkos Heirat und die Geburt ihres Kindes ist in diese Zeitspanne gelegt. Angekündigt wird der Bruch in der Kontinuität durch eine einfache Bemerkung im Nebentext am Ende des dritten Akts. Bereits während der im Figurendialog annoncierten Aussparung von einer Woche zwischen dem zweiten und dem dritten Akt geschehen einige Dinge: So erfahren wir aus einem Gespräch zwischen Trigorin und Maša von Treplevs Versuch, sich umzubringen. Und selbst der Schlußpunkt des Stücks, Treplevs Selbstmord, ist nur als ein Knall zu hören, den der geistesgegenwärtige Dorn aus Rücksicht gegenüber Arkadina als das Platzen eines Flakons in seiner Arzttasche deutet. Alles, was in „Čajka“ passiert, wird dialogisch vermittelt. Allerdings ist der Dialog bei Čechov keineswegs ein zielgerichteter, thematisch konzentrierter Austausch von aufeinander bezogenen Repliken, sondern eher eine lockere Fügung aus Bemerkungen, Reaktionen, Assoziationen. Die Gespräche sind sprunghaft, mitunter wird innerhalb einer Replik das Thema gewechselt.29 Daraus entsteht der Eindruck des „Aneinander-vorbei-Redens“. Und auch dort, wo der Gesprächsfaden von Replik zu Replik weitergesponnen wird, ist unterschwellig erkennbar, daß jeder nur seine eigene Weltsicht äußert, seine eigenen Interessen verfolgt. Oft hört man einander nur mit halbem Ohr zu, ist angespannt, nervös oder schlicht desinteressiert. Čechov geht es um den Effekt der Beiläufigkeit. Fast drängt sich der Eindruck einer gewissen Nachlässigkeit auf, wenn etwa Medvedenko von Dingen spricht, die seiner Dialogpartnerin Maša natürlich bekannt sind, die im Eingangsdialog aber dem Zuschauer mitgeteilt werden müssen: „Spielen wird Zarečnaja, und das Stück stammt aus der Feder von Konstantin Gavrilovič“ (5). Schon wenn er noch in derselben Replik mit hölzernen Worten seine Liebe zu Maša erklärt, wird aber klar, daß Unbeholfenheit und Redundanz zum Charakter dieser Figur gehören. Insgesamt sind die Dialoge bei aller scheinbaren Beliebigkeit bis ins Detail hinein sorgfältig durchkomponiert. Das Bühnengeschehen präsentiert sich als eine scheinbar wahllos eingeblendete Einstellung auf ein Kontinuum, das unabhängig von ihm dahinfließt: Im zweiten Akt wird durch Dorns Bemerkung „Nun, ich mache trotzdem einfach einmal weiter“ (22) angedeutet, daß man sich schon einige Zeit aus Maupassants Reisenotizen vorliest. Und der dritte Akt beginnt mit Mašas an Trigorin gerichteten Worten „Das alles erzähle ich Ihnen als Schriftsteller“ (33). Der Zu-

„Čajka“ (Die Möwe)

243

schauer muß sich also vorstellen, daß schon längere Ausführungen vorangegangen sind, und er darf aus Trigorins banger Frage „Wird es nicht zuviel?“ (als ihm Maša nachschenken will) schließen, daß bereits einige Gläser geleert worden sind, bevor sich der Vorhang hob. Eine zentrale Handlung läßt sich für „Čajka“ nicht umreißen. Es gibt keinen Konflikt, der alle Figuren beschäftigt. Verschiedene erzählerische Entwicklungen, die sich mit den Lebensgeschichten der einzelnen Akteure, ihren Hoffnungen und Enttäuschungen verbinden, die aber auch imaginäre Möglichkeiten und motivische Einsprengsel umfassen, werden zwar miteinander in Bezug gesetzt; sie gehen aber nie wirklich zusammen, werden oftmals nur anzitiert, um dann wieder ausgeblendet und vielleicht später wieder aufgenommen zu werden, ohne daß sie zu einem wirklichen Abschluß kämen. Zinovij Papernyj hat diese episodischen Einzelhandlungen als „Mikrosujets“ beschrieben und damit die Besonderheit der Čechovschen Themenführung30 treffend erfaßt.31 Kunst und Leben Das Verfließen der Grenzen zwischen Werk und Leben und das kreative Experimentieren mit Lebensformen, Lebenshaltungen und Posen ist eine charakteristische Erscheinung der Epoche der klassischen Moderne.32 Neue Formen in der Literatur und neue Formen im Leben stehen hier in einem unmittelbaren Zusammenhang.33 In „Čajka“ nimmt Čechov diese Entwicklungen auf. Das ganze Drama ist um die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben herum konstruiert. Die Konflikte und Verwicklungen speisen sich vordringlich aus der strukturellen Unmöglichkeit einer klaren Grenzziehung zwischen den beiden Sphären. Keineswegs ist „Čajka“ damit ein symbolistisches Stück. Schon ein zeitgenössischer Kritiker (der Aleksandrinskij-Aufführung) erkannte: „Für den Symbolismus gibt es hier zu viele reale Einzelheiten; für den Realismus zu viel symbolistischen Unsinn.“34 Vielmehr geht es um die lebenspraktischen, die hermeneutischen, die kunstökonomischen Aspekte der Einwirkung von Kunst auf Leben und umgekehrt. Zentral für diese Diskussion ist natürlich der Titel: die „Möwe“ als Kernmotiv und -symbol.35 Gleich im ersten Akt kommen das Thema der (Lebens-)Kunst und das Möwenmotiv zusammen, wenn Nina erklärt: „Der Vater und seine Frau wollen mich nicht hier herlassen. Sie sagen, daß hier die Boheme ist… sie fürchten, daß ich Schauspielerin werde… Mich aber zieht es zu diesem See wie eine Möwe…“ (10). Den romantischen Konnotationen von Obdach- und Heimatlosigkeit, von Freiheit usw. ist damit zugleich eine profanere Lesart der Möwen-Symbolik zur Seite gestellt: Wie eine Möwe auf der Suche nach Beute umfliegt Nina die Welt der Künstler, um an ihr teilzuhaben. Dann wieder wird der Titel des Stücks zitiert, als Treplev im zweiten Akt mit den Worten „Ich habe die Niedertracht besessen, heute diese Möwe zu töten. Ich lege sie Ihnen zu Füßen“ auf Nina zutritt. Nina formuliert ihr Unverständnis mit Worten, die zugleich als metafiktionaler Kommentar auf die Symbolkonzeption

244

Anton Čechov

des Stücks zu lesen sind: „Sie drücken sich immer unverständlich in irgendwelchen Symbolen aus. Und diese Möwe ist wohl anscheinend wieder so ein Symbol, aber, verzeihen Sie, ich verstehe nicht…“ (27). Im vierten Akt hat die erschossene Möwe dann ihren Auftritt als ausgestopfter Balg: Doch Trigorin, der die Präparation zwei Jahre zuvor veranlaßt hatte, kann sich an nichts mehr erinnern (54). Die Möwe steht damit im Spannungsfeld zwischen „ätherischer Kreatur“ und „ausgestopftem Vogel“.36 Selbst Treplev hat offensichtlich das „Symbol“ vergessen, mit dem er Nina noch zwei Jahre zuvor konfrontierte37: Er erwähnt im vierten Akt, daß sie ihre Briefe mit „Die Möwe“ unterschreibe, deutet dies als Zeichen für eine „etwas zerrüttete Phantasie“ (50) und fügt zur Erklärung an, daß es in der Oper „Rusalka“ (Die Meerjungfrau) einen Müller gebe, der seine Briefe mit „Der Rabe“ zeichne. Warum diese Unsicherheit im Umgang mit dem Symbol, das dem Stück als Titel und seiner Hauptdarstellerin als Selbstbeschreibung dient? Wohl deshalb, weil Čechov mit dem Komplex der Symbolhaftigkeit eine zu seiner Zeit zentrale Form der Konzeptualisierung des Verhältnisses von Leben und Kunst behandeln wollte: Indem Nina das Treplevsche „Symbol“ nicht verstehen will, weigert sie sich, in symbolistischen Kategorien zu denken, und zugleich wehrt sie sich damit gegen einen Übergriff der Kunst auf das Leben. Andererseits gibt sie sich mit ihrem ganzen Leben willfährig der „Deutung“ des Symbols hin, die Trigorin, angeregt durch den Anblick der toten Möwe, als „Sujet für eine kleine Erzählung“ entwickelt hatte. Selbst das „Symbol“ und seine Deutung sind von persönlichen Motiven und Interessen durchsetzt. In der Gegenüberstellung der beiden Schriftstellertypen arbeitet Čechov die Gegensätze in Habitus und Poetik heraus und akzentuiert insbesondere das so unterschiedliche Verhältnis der beiden zu ihrem Metier. Treplev gibt den zornigen jungen Mann, der mittels einer neuen Literaturkonzeption einen Platz im literarischen Feld erringen will38, der arrivierte Trigorin dagegen kann es sich erlauben, bis zur Prinzipienlosigkeit tolerant zu sein: „Jeder schreibt, wie er will und wie er kann“ (15). Er selbst leidet darunter, daß das Publikum ihn mit Tolstoj und Turgenev vergleicht und entwirft sogar einen selbstironischen Grabspruch: „Hier liegt Trigorin. Ein guter Schriftsteller war er, aber er schrieb schlechter als Turgenev“ (30). Obwohl er in seinem Schreiben gerne ein „Staatsbürger“ sein, vom „Volk“ und „seinen Leiden“, von der „Zukunft“, der „Wissenschaft“ und den „Menschenrechten“ sprechen würde, muß er doch einsehen, daß er nur zum „Landschaftsmaler“ taugt (30 f.). Trigorin verfügt also über eine bemerkenswerte Selbstdistanz und Nüchternheit in der Einschätzung der eigenen Tätigkeit. Um so falscher und hohler klingen seine Worte, als er seine Beziehung zu Nina umschreibt. Hier setzt er den eigenen Status ein – um davon literarisch zu profitieren, aber auch aus hedonistischen Motiven. In der damaligen Situation einer polemischen Auseinandersetzung um die „neue Kunst“ sticht Čechovs Konzeption der Gestalt Treplevs durch das Bemühen um Verständnis heraus39, und zwar ein Verständnis, das sich sowohl auf die

„Čajka“ (Die Möwe)

245

lebenspraktischen, moralischen und psychologischen Motive der Figur bezieht als auch auf seine theatertheoretischen Ideen und literaturmarktstrategischen Überlegungen. Obwohl Treplev als der „Dekadente“40 gilt, wird moralische Permissivität hier gerade den Vertretern der „alten“ Kunst zugeschrieben. Im vierten Akt ist Treplev ein Autor, der zwar einigen Erfolg genießt, der aber noch keine stabile Haltung zu seinem Schreiben gefunden hat. Er schreibt unter Pseudonym. Die Leser gieren daher nach Informationen über sein Aussehen, wie Trigorin etwas gönnerhaft bemerkt. Trigorin ist es auch, der ihm ein Autorenexemplar einer Zeitschrift mitbringt, in der eine Erzählung Treplevs abgedruckt ist. Treplev bemerkt, daß Trigorin seine eigene Erzählung im gleichen Heft gelesen, die des jüngeren Kollegen aber gar nicht aufgeschnitten hat. Wir erfahren auch, daß er in der Literaturkritik scharf angegangen wird, es ihm nicht gelinge, einen „echten Ton zu treffen“, und es in seinen Werken „keine einzige lebendige Figur“ gebe (54) – eine Feststellung, die wortgleich von Nina im ersten Akt getroffen wird, als sie sich über Treplevs Stück äußert (10). Eine Szene im letzten Akt zeigt Treplev, wie er beim Schreiben an der eigenen Unfähigkeit verzweifelt. Die zitierten Versatzstücke zeugen von seiner stilistischen Unfähigkeit, von seiner Fixiertheit auf „Stimmung“ bei gleichzeitigem Fehlen eines darüber hinausgehenden Ziels. Treplev erkennt dies selbst, und vor allem muß er die Überlegenheit Trigorins anerkennen, der im Schreiben routiniert mit bestimmten Tricks arbeitet. Gerade in dem Moment, als er sich in einem Monolog das Scheitern seines künstlerischen Credos von den „neuen Formen“ eingestanden hat, klopft es ans Fenster, und Nina tritt auf. Treplevs Karriere als Autor hatte mit dem Verschwinden Ninas begonnen (57), mit ihrem Wiederauftreten ist sie nun beendet. Auf Dorns warnende Worte von der Gefahr eines ziellosen Künstlertums hatte Treplev im ersten Akt nur mit einem ungeduldigen „Wo ist die Zarečnaja?“ geantwortet (19) – diese beiläufige Szene aus dem ersten Akt kündigte schon an, daß Treplev die Warnung gar nicht wahrnehmen konnte, weil seine ganze Sorge auf Nina gerichtet ist und er auch seine Kunst vor allem funktionalisiert, um sich gemeinsam verbrachte Zeit und ihre Anerkennung zu erkaufen. Die Begegnung der beiden jungen Künstler im ersten Akt gipfelt in einem Vergleich. So sagt Treplev: „Sie haben Ihren Weg gefunden, Sie wissen, wohin Sie gehen, ich aber lasse mich immer noch treiben im Chaos der Ideen und Bilder, ohne zu wissen, wozu und wem das nötig ist. Ich glaube nicht und weiß nicht, worin meine Berufung liegt“ (57).41 Nina hat für sich einen Weg gefunden, der ihr Künstlertum in einem Lebensbezug verankert: Nicht auf Glanz und Ruhm komme es an, so habe sie erkannt, sondern auf die „Fähigkeit, zu leiden: Trage dein Kreuz und glaube“ (58). Nur einen Augenblick nach diesem pathetischen Bekenntnis zur selbstlosen Aufopferung sagt sie jedoch zu Treplev: „Wenn ich eine große Schauspielerin sein werde, kommen Sie, um mich anzuschauen. Versprochen?“ Den Briefen an Treplev, die sie mit „Möwe“ unterschrieb, hatte sie Photographien beigelegt – sicher in der Absicht, sich ihm ge-

246

Anton Čechov

genüber in ihrem bescheidenen Ruhm zu sonnen. Das Leiden für die Kunst hatte sie schon in dem Gespräch mit Trigorin als Ideal präsentiert (31). Es ist Teil ihrer naiven Vorstellungen von Künstlertum und Berühmtheit – Pose. Selbst hier, in einer langen, von höchster emotionaler Anspannung geprägten und von zahlreichen Aposiopesen durchsetzten Replik, wirkt Nina zwar authentisch in ihrer Erregung, aber zugleich auch fremdgesteuert in ihrer banalen, neoromantischen Kunstkonzeption und in der Nervosität, mit der sie am Gespräch mit Treplev vorbei Zeichen der Anwesenheit Trigorins zu erheischen sucht. Nach ihrem Abgang sieht man Treplev, wie er volle „zwei Minuten lang [!] schweigend alle seine Manuskripte zerreißt und unter den Tisch wirft“ (59). Vorher hatte er sich noch besorgt gezeigt, daß jemand die weglaufende Nina im Garten sehen könnte und „Mama“ davon berichten werde; denn das könnte „Mama verstimmen“. Das sind seine letzten Worte. Auf das endgültige Scheitern in Kunst und Liebe folgt die Regression in die Rolle des Sohnes. Treplev wollte sich mit seiner Kunst im Leben Anerkennung und Liebe sichern, gleichzeitig wehrte er sich theoretisch gegen eine Kunst, der es primär um die eigene Außenwirkung geht. Am Ende weiß er keinen Ausweg mehr. Lediglich Dorn tritt konsequent als Verfechter einer scharfen Grenze zwischen den Sphären von Kunst und Leben auf. Nach der gescheiterten Aufführung, deren Bühnenbild ein Verfließen der Theaterkulisse mit der Landschaft vorsah (an anderer Stelle mokiert sich Treplev über das „Drei-Wände-Theater“ seiner Mutter, 8), möchte er den Vorhang hochziehen lassen, da es sonst „unheimlich“ werde (16). Immer wieder ruft er die anderen Figuren zur Ordnung, wenn diese ihr Leben selbstverliebt literarisieren, und betont, daß man sich „dem Leben gegenüber ernsthaft verhalten“ müsse (24). Markant ist die Stelle, in der er Sorin zurechtweist, der seinem Neffen das eigene Leben als „Sujet für eine Erzählung“ anbietet und über gescheiterte Wünsche und Hoffnungen lamentiert: SORIN […] wollte heiraten und habe nicht geheiratet; wollte immer in der Stadt leben – und beschließe mein Leben auf dem Land, und das ist alles. DORN Wollte wirklicher Staatsrat werden – und wurde wirklicher Staatsrat. (48) Gerade der so nüchterne Doktor ruft im vierten Akt das Kernmotiv von Treplevs Stück, die „eine Weltseele“, in Erinnerung: Er evoziert es im Zusammenhang mit einem kleinen Exkurs über seine Erlebnisse als Tourist auf den Straßen von Genua, als er das Gefühl einer „psychischen Verschmelzung“ mit der sich dort ziellos hin und herschiebenden Menschenmenge genießen durfte.42 Nimmt man diese Erinnerung an die „Weltseele“, Treplevs Unwillen gegenüber der in Konvention erstarrten Welt des Gegenwartstheaters und noch Maupassants Sehnsucht nach einer neuen Literatur mit neuen Möglichkeiten, dann ergibt sich hier – bei aller Problematik eines solchen Unterfangens43 – doch die grobe Kontur einer auktorialen Perspektive auf die Fragen von Kunst und Leben, die in „Čajka“ dramatisiert sind: die Idee einer neuen Literatur, eines neuen Theaters, das nüchtern genug ist, um nicht in falschen Posen zu ersticken und

„Čajka“ (Die Möwe)

247

zugleich einen Sinn für das hat, was Dorn an anderer Stelle „Idealismus“ (11) nennt. Demgegenüber stünde das Nina-Lager der „Čajka“-Deutung: Richard Gilman etwa, Verfasser einer sehr ideenreichen und differenzierten Interpretation, sieht in Ninas kunstreligiösem per aspera ad astra-Credo die Ankündigung eines Lebens, das „mutig und ehrenhaft“ gelebt werden wird. Gerade in der Gestalt Ninas und ihrer persönlichen Entwicklung macht er das komödienhafte „Prinzip der Erlösung von der Schicksalhaftigkeit“ aus.44 Wer es aber nüchterner mag, der orientiere sich besser an dem Stoiker Dorn, der der Fatalität mit Baldriantropfen, gutgemeinten Ratschlägen und Ablenkungsmanövern zu Leibe rückt.

Richard Peace

Anton Čechov: Djadja Vanja (Onkel Vanja) Mit „Djadja Vanja“ beginnt 1897 Čechovs eigentliches Bühnenwerk. „Platonov“ (1878) ist weitschweifig, „Ivanov“ (1889) konventionell und „Lešij“ (Der Waldschrat, 1890) fehlt es an dramatischer Disziplin. In all diesen Stücken überdekken realistische Details die thematische Strenge. Gemeinhin gilt „Čajka“ (Die Möwe, 1896) als Anfang des Čechovschen Theaters. Nun wurden aber „Djadja Vanja“ und „Čajka“ zeitgleich geschrieben, und da „Djadja Vanja“ eine Neufassung von „Lešij“ ist, könnte man argumentieren, daß dieses Stück in gewissem Sinne sogar vor „Čajka“ entstanden ist. In der Überarbeitung werden die dramatischen Prinzipien des neuartigen Theaterkonzepts deutlich. Obwohl diese Prinzipien auch in „Čajka“ anklingen, ist das Ganze noch nicht völlig frei von alten theatralischen Klischees, wie etwa dem Selbstmord der männlichen Hauptfigur. Der Vergleich zwischen „Lešij“ und „Djadja Vanja“ enthüllt einige deutliche Unterschiede in Genre und Form. Čechov nennt „Lešij“ im Untertitel eine Komödie, doch der dritte Akt gipfelt im tragischen Tod Onkel Egors. Im Gegensatz dazu bezeichnete er „Djadja Vanja“ lediglich als „Szenen aus dem Landleben“, allerdings weist der mißlungene Mordversuch im dritten Akt als Gewalttat verschiedene komische Untertöne auf. In „Lešij“ sind die Akte in numerierte Szenen unterteilt, in „Djadja Vanja“ fehlen solche formalen Unterteilungen. Dies ist jedoch nicht alles, was in der Neufassung von Bedeutung ist; denn in ihr erweiterte Čechov, wie im folgenden gezeigt wird, die Thematik und vertiefte auch die Symbolik. Dramatis personae: Die Namen Von den dreizehn Figuren, die in „Lešij“ die dramatis personae bilden, wurden in „Djadja Vanja“ fünf gestrichen und eine neue, die Kinderfrau Marina, hinzugefügt. Ihre Namen beinhalten weder konkrete physiologische noch psychologische Beschreibungen. Dennoch suggerieren sie eine Bedeutung. Die Schönheit der Frau des Professors stört das Leben der anderen Personen. Ihr Name, Elena, erinnert dabei an eine der schönsten Frauen der Antike, deren Schönheit Anlaß des Trojanischen Kriegs war. Zwar gibt es in „Djadja Vanja“ keinen offenkundigen Vergleich dieser beiden Figuren, aber in „Lešij“ wird diese Annahme durch einen Scherz ersichtlich, den die Nebenfigur Djadin dem Ehemann Elenas gegenüber macht: „Euer Exzellenz, ich war es, der Ihre Gemahlin entführt hat, wie einst ein gewisser Paris die schöne Helena! Ich! Es gibt […] keinen pockennarbigen Paris.“1 Obwohl die Rollen nicht völlig identisch sind, ist deutlich erkennbar, daß Djadin zur Figur des Telegin in „Djadja Vanja“ wird. Die historische Helena war die Frau des Königs von Sparta, dessen anti-

„Djadja Vanja“ (Onkel Vanja)

249

ker griechischer Name Lacedaemon ist. Obwohl Telegin (im Gegensatz zu Djadin) keinen direkten Verweis auf Helena anbietet, ist das Thema doch indirekt in Telegins Komik präsent. Er verknüpft nämlich den Bruder seiner Schwägerin, einen gewissen Lakedemonov („er war Magister“), mit dem akademischen Grad Serebrjakovs.2 Der Name Djadin stellt das possessive Adjektiv von „Djadja“ (Onkel) dar und zeigt als solches ein Zugehörigkeitsverhältnis zu „Djadja“. Dadurch entsteht ein komischer Beiklang, wenn Vojnickij, der Onkel Vanja des Stücks, ihn so nennt. Auch scheint im Namen dieser Figur, die das ganze Geschehen hindurch „Krieg führt“, eine Anspielung auf den Trojanischen Krieg zu liegen. Der Name geht auf „vojna“ (Krieg) zurück. In beiden Stücken heißt der Professor Serebrjakov. Er sorgt sich um Geld, wie bereits sein Name, der von „serebro“ (Silber) abgeleitet werden kann, zum Ausdruck bringt. Die Figur des Chruščov in „Lešij“, die Čechov durch den Titel als zentrale Figur herausstellt, weil sie sich um die Wälder sorgt, findet sich durch den neuen Titel „Djadja Vanja“ etwas degradiert wieder und trägt jetzt einen symbolischen Namen: Astrov (lat. astrum = Stern). Serebrjakov spielt im zweiten Akt mit der Bedeutung dieses Namens: „Was soll ich mit deinem Astrov? Er versteht von Medizin so viel wie ich von Astronomie“ (77). Astrovs Name läßt vermuten, daß es sich um einen Idealisten handelt, der auf „höhere Dinge“ fixiert und doch immer noch auf der Suche nach einem erreichbaren Ziel ist: „Wissen Sie, wenn man in dunkler Nacht durch den Wald geht und wenn dann in der Ferne ein Licht blinkt, dann spürt man weder Erschöpfung noch Dunkelheit, auch nicht die Dornenzweige, die einem ins Gesicht schlagen […], aber das Licht in der Ferne habe ich nicht“ (84). Die Anspielungen in den Namen dieses Stücks, die meist als klassische Bezüge und nur skizziert zutage treten, deuten die Rollen und Eigenschaften der Handelnden an. Die einzige Funktion der Namensauflistung am Anfang scheint in der Erläuterung der Beziehungen zwischen den Figuren zu liegen. Dies führt uns zu der Frage nach dem Titel. Der Titel: Beziehungen Das überarbeitete Stück löst den Arzt und Umweltschützer (Chruščov/Astrov) vom Titel. Der frühere Titel „Lešij“ weist auf eine zentrale Rolle des Arztes, während mit dem neuen Titel der Akzent auf Vojnickij gelegt wird, der die Figur des Onkels Egor im Vorläuferstück ersetzt. Die Verschiebung in der Akzentuierung könnte auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen; denn das Thema der Ökologie ist in „Djadja Vanja“ genauso stark vertreten wie in „Lešij“. Dennoch erfüllt die Figur des Arztes als Waldschrat in beiden Stücken keine Funktion, die die Wahl zum Titelhelden rechtfertigen würde. Im neuen Titel klingen jedoch vielschichtige Bedeutungen an. Zum einen enthält das Wort „Djadja“ keine in sich geschlossene Beschreibung, impliziert es doch die Existenz von mindestens einer weiteren Person. Es verbindet Vanja also mit seiner Nichte Sonja. Beide bilden ein Paar, und es ist bezeichnend, daß sie die einzigen sind, die im Stück

250

Anton Čechov

mit Kosenamen benannt werden: Vanja (von Ivan) und Sonja (von Sof’ja). Am Ende werden sie im Mittelpunkt des Interesses stehen. Zum anderen kann der Begriff „Djadja“ verallgemeinert verstanden werden. Dann meint er jeden „Kerl“ mittleren Alters und hat somit ebenfalls einen komischen Beiklang. In dieser Bedeutung wird er von anderen Figuren benutzt: von Astrov (112) und von Elena, die Vojnickij einmal als „diesen Onkel Vanja“ (93) bezeichnet. Scheinbar paßt diese Bezeichnung zu dem etwas sonderbaren Mann mittleren Alters, dessen Beziehungen zu den jüngeren Frauen nur unbeholfen und „onkelhaft“ sind. Schließlich deutet das Wort „Djadja“, insofern es im Titel ohne weitere Angabe erscheint, um wessen Onkel es sich handelt, im Kern eine Beziehungslosigkeit an. Damit führt der suggestive Titel zu der Frage nach den gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen, die ein wichtiges Thema des Stücks sind. Elena beschreibt es im Gespräch mit Onkel Vanja folgendermaßen: „Es ist etwas Ungutes in diesem Haus. Ihre Mutter haßt alles außer ihren Broschüren und dem Professor; der Professor ist gereizt, hat kein Vertrauen zu mir, und vor Ihnen hat er Angst; Sonja ist böse auf ihren Vater, böse auf mich und redet schon seit zwei Wochen nicht mehr mit mir; Sie hassen meinen Mann und verachten ganz offen Ihre Mutter; ich bin gereizt und hätte heute zwanzigmal beinahe geweint… Es ist etwas Ungutes in diesem Haus“ (79). Sonja hat mit jedem Schwierigkeiten, außer mit ihrem Onkel und mit Marina. Vom ersten Akt an wird dem Leser die mangelnde Kommunikation zwischen Vater und Tochter verdeutlicht. Als Sonja Serebrjakov zweimal vorschlägt, am nächsten Tag gemeinsam zum Forsthaus zu fahren, ignoriert dieser sie jedes Mal (66). Im dritten Akt verkehrt sich die Situation. Serebrjakov fordert Sonja auf, sich zu setzen, die Bühnenanweisungen und Serebrjakov selbst sagen uns aber, daß sie ihn nicht hört (98). In beiden Fällen ist Sonja in Gedanken bei Astrov, dem Mann, den sie, wie sie ihrer jungen Stiefmutter sagt, mehr als die eigene Mutter liebt (92). Im zweiten Akt zeigt sie sich verärgert über das launische Verhalten ihres Vaters, während sie in Wirklichkeit darüber erbost ist, wie dieser Astrov behandelt. Des weiteren gibt es nahezu keinen Kontakt zwischen Sonja und ihrer Großmutter. Und so wendet sich Sonja, als die Spannung im zweiten Akt einen Höhepunkt erreicht, an Marina, um Trost zu finden, während sich Vanja an seine Mutter wendet (102 f.). Im selben Akt findet ein Versuch der Versöhnung zwischen Sonja und Elena statt. Das Gelöbnis der Freundschaft zwischen den beiden Frauen erfolgt durch das Ritual der Brüderschaft, bei dem beschlossen wird, sich zu duzen. Das gesamte Stück hindurch ist der Wechsel vom „Sie“ zum „Du“ eine Zeichen für den Zustand der Beziehungen. Zu Beginn des zweiten Akts ist das Kindermädchen Marina die einzige, die Mitgefühl für den kränklichen, mürrischen Professor zeigt. Und als sie ihn allmählich eher wie ein zu tröstendes Kind behandelt, wechselt ihre Anrede vom respektvollen „vy“ (Sie) zum weniger respektvollen „ty“ (Du): „Ich gebe dir Lindenblütentee zu trinken, wärme dir die Beine… Werde für dich beten…“ (78). Astrovs Versuch, im drit-

„Djadja Vanja“ (Onkel Vanja)

251

ten Akt eine intimere Beziehung zu Elena herzustellen, ist durch einen ähnlichen Wechsel gekennzeichnet: „Sagen Sie, sagen Sie, wo sehen wir uns morgen? (Faßt sie an der Taille) Du siehst, es ist unvermeidlich, wir müssen uns sehen“ (97). Und als Serebrjakov von Vojnickij kühl und formal mit „vy“ angesprochen wird, sieht er darin ein Zeichen dafür, daß dieser böse auf ihn sein könnte (98 f.). Das Verhältnis zwischen beiden wird im Verlauf des Stücks immer verbitterter. Früher hatte Vojnickij seinen ehemaligen Schwager als eine intellektuelle Größe verehrt, die der Opfer wert war, die er zu dessen Unterstützung brachte. Nun reagiert er jedoch höhnisch, wenn Serebrjakov versucht, sich auf ihre „einstige Freundschaft“ zu berufen (78). Sogar seine sonst teilnahmslose Mutter hat an ihm eine Veränderung bemerkt (70), doch sie ergreift stets für Serebrjakov Partei und kritisiert immer nur ihren Sohn. Als sich dieser im dritten Akt in seiner Verzweiflung trostsuchend an seine Mutter wendet, wird er von ihr abgewiesen. Čechov zeigt in „Djadja Vanja“ eine Familie, in der die Beziehungen untereinander gestört sind, und wenn es um die Liebe geht, sind sie gar nicht mehr vorhanden. Der alte Professor hat eine junge, nichtintellektuelle Frau geheiratet, obwohl er, wäre es möglich gewesen, die ihn verehrende Marija Vasil’evna hätte heiraten sollen. Vojnickij hat es nach eigener Aussage versäumt, Elena vor zehn Jahren, als er ihr bei seiner verstorbenen Schwester öfters begegnete, einen Heiratsantrag zu machen: „Damals war sie siebzehn, ich siebenunddreißig Jahre alt. Warum habe ich mich damals nicht in sie verliebt und ihr keinen Antrag gemacht. Das wäre doch durchaus möglich gewesen!“ (80). Astrov schließlich könnte Sonja heiraten, die ihn bewundert, und er gesteht, daß er vor der Ankunft Elenas vielleicht über diese Frage nachgedacht hätte (96). Unter den gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen gibt es noch eine, die gleichsam das Stück heimsucht und jeden Protagonisten verfolgt. Das ist die Beziehung zu Vera Petrovna, der verstorbenen Frau Serebrjakovs, Sonjas Mutter, Vojnickijs Schwester und Marija Vasil’evnas Tochter. Diese war noch Herrin des Hauses, als Astrov erstmals zu Besuch kam. Elena hat sie ersetzt und muß nun vielen Erwartungen gerecht werden, wie aus Vojnickijs Worten hervorgeht: „Seine erste Frau, meine Schwester, ein schönes, sanftes Geschöpf, rein wie dieser blaue Himmel, edel, großmütig, die mehr Verehrer hatte als er Schüler – sie liebte ihn, wie nur reine Engel Wesen lieben können, die genauso rein und schön sind wie sie selbst“ (68). An anderer Stelle erinnert Marina den Professor daran, wie ihn seine erste Frau pflegte, wenn er krank war: „Vera Petrovna, die Verstorbene, Sonečkas Mutter, hat oft nächtelang nicht geschlafen, so hat sie sich gesorgt… Sie hat Sie schon sehr geliebt…“ (78). Dies ist auch als Vorwurf an Elena zu verstehen, die, nachdem Serebrjakov gegangen ist, bemerkt: „Ich habe mich so mit ihm gequält. Ich kann mich kaum auf den Beinen halten“ (78). Vera Petrovna wird noch ganz als gegenwärtig empfunden. „Du hast mich eben angeschaut wie deine verstorbene Mutter. Meine Liebe…“, sagt Vojnickij einmal zu Sonja, „(Küßt ihr stürmisch Hände und Gesicht) Meine Schwester…

252

Anton Čechov

meine geliebte Schwester… Wo ist sie jetzt?“ (82). Doch Sonjas Zuneigung geht in eine andere Richtung. Nicht die Gegenwart ihrer toten Mutter, sondern die Astrovs verwirrt sie: „Ich liebe ihn schon sechs Jahre, liebe ihn mehr als die eigene Mutter; jede Minute höre ich ihn, spüre den Druck seiner Hand; und ich schaue zur Tür, warte, und dauernd ist mir, als müsse er gleich hereinkommen“ (92). Der Kunstgriff des Einflusses nichtauftretender Figuren auf die dramatis personae wurde von Čechov in „Tri sestry“ (Die drei Schwestern, 1901) weiterentwickelt.3 Die Störung der zwischenmenschlichen Beziehungen bezieht sich in „Djadja Vanja“ noch auf weitere Zusammenhänge. Denn der Titel macht nicht nur auf zwei zentrale Figuren und ihr einseitiges Verhältnis aufmerksam, sondern auch auf ein Konzept einseitiger Verhältnisse an sich. Dieses Konzept ist für das Stück von grundlegender Bedeutung; denn es zeigt eine weitere Störung, die charakteristisch für jede menschliche Beziehung sein könnte. Elena spricht dieses Thema bereits am Ende des ersten Akts an. „Wie hat es Astrov eben gesagt: Ihr alle zerstört ohne Sinn und Verstand die Wälder, und bald wird es auf der Erde nichts mehr geben. Genauso zerstört ihr ohne Sinn und Verstand den Menschen, und bald wird es, Dank euch, auf der Erde keine Treue mehr geben, keine Reinheit, keine Aufopferungsgabe. Warum könnt ihr eine Frau nicht gleichgültig ansehen, wenn sie nicht euch gehört? Weil – dieser Doktor hat recht – in euch allen der Dämon der Zerstörung sitzt. Euch tut es nicht leid um die Wälder, Vögel, die Frauen, nicht einmal um euch selbst“ (74). Im zweiten Akt wiederholt Astrov diesen Gedanken im Gespräch mit Sonja: „Ein unmittelbares, reines, frisches Verhältnis zur Natur und den Menschen gibt es nicht mehr… Nein, das gibt es nicht!“ (84). Doch als er im dritten Akt gegenüber Elena das Thema der Ausbeutung der Natur entwickelt (94 f.), tritt ironischerweise das ausbeutende Naturell ihrer Charaktere in bezug auf ihre zwischenmenschlichen Beziehungen in den Vordergrund. Wegen der Ankunft der Verwandtschaft haben es Vojnickij und Sonja zugelassen, daß der Gutshof vernachlässigt wurde. Ein entscheidender Grund dafür ist der fehlende Kontakt und die fehlende Kommunikation zwischen den Herren des Landguts und den das Land bearbeitenden Bauern. Im ersten Akt schickt Sonja das Kindermädchen Marina fort, damit sie an ihrer Stelle mit den Bauern redet, die wegen einer wichtigen Angelegenheit gekommen sind (69). Später erfährt der Leser, daß sie Fragen bezüglich des Brachlands (71) hatten, was im Kontext der Verödung von Mensch und Natur höchste symbolische Bedeutung erhält. Das Bühnenbild: Eröffnungen der Akte Der erste Akt von „Lešij“ beginnt in einem Garten, in dem Speisen und Getränke auf die Gäste warten. Der Garten gehört jedoch nicht zum Landgut der Vojnickijs, sondern zu dem der Želtuchins, Nebenfiguren aus „Lešij“, die im späteren Stück gestrichen wurden. In „Djadja Vanja“ ist die aufwendige Bewirtung im Vorgän-

„Djadja Vanja“ (Onkel Vanja)

253

gerstück zwar auf Samowar und Tee reduziert, dafür gewinnen diese dürftigen Zeichen der Gastfreundschaft aber an Symbolik. Die Gastfreundschaft wird somit erst zu einem zentralen Thema. Zugleich spiegelt sie das Thema der zerrütteten Beziehungen wider. Neben dem Tee erfüllen dann auch noch eine Schaukel und eine Gitarre, die die Bühnenanweisungen zu Beginn des Stücks verlangen, eine nicht unwichtige Funktion bei der Vorstellung der Figuren. Die Anweisungen des zweiten Akts stimmen weitgehend mit denjenigen in „Lešij“ überein. Wieder findet die Handlung im Eßzimmer statt, und wieder wird das Thema der Gastfreundschaft angedeutet, doch nun ist es Nacht, und das ominöse Klopfen des Nachtwächters vermittelt eine klaustrophobische Atmosphäre. Auch im dritten Akt werden die bereits in „Lešij“ eingeführten drei Türen „rechts, links und in der Mitte“ des Bühnenbilds erhalten. In dem früheren Stück sollen die Türen das Kommen und Gehen der Figuren in einem Haus mit 26 großen Zimmern ermöglichen. Bezeichnenderweise übernehmen sie in „Djadja Vanja“ eine eher symbolische Funktion. Elena überzeugt Sonja, daß sie herausfinden müsse, ob Astrov sie liebt oder nicht. Dabei schlägt sie sich selbst als Vermittlerin vor. Wie bereits beschrieben, deuten die Türen dabei eine Erwartungshaltung Sonjas an („Ich schaue zur Tür, warte, und dauernd ist mir, als müsse er gleich hereinkommen“). Die Türen stehen symbolisch für Sonjas Möglichkeiten. Entweder öffnet sich eine Tür zu einer Ehe mit Astrov oder aber Sonja verliert Astrov für immer. Doch es gibt eine dritte Tür, und zwar eine, die Sonja wohl insgeheim bevorzugt. Denn als sie dabei ist, Astrov zu holen und die Wahrheit zu erfahren, fordern die Bühnenanweisungen, daß sie vor einer Tür stehenbleibt und sagt: „Nein, die Ungewißheit ist besser... Darin ist immerhin Hoffnung...“ (93). Auch für Vojnickijs Liebesglück spielt eine Tür im dritten Akt eine große Rolle. In den Bühnenanweisungen steht, daß Astrov Elena küßt, und „in diesem Augenblick kommt Vojnickij mit einem Rosenstrauß herein und bleibt an der Tür stehen“. Mit diesem einen Auftritt zerstört Vojnickij nicht nur seine eigene Hoffnung, Elenas Zuneigung zu gewinnen, sondern auch die Hoffnung Astrovs, der Elena nie mehr so nahe kommen wird wie in dieser Szene. Die mittlere Tür könnte auf die Unentschlossenheit der Figuren deuten, weil sie sich weder rechts noch links befindet. Es ist die Tür, auf die Serebrjakov zeigt, als er über Vojnickijs Zimmer spricht. Nachdem Vojnickij verzweifelt „Mutter! Was soll ich tun? Nein, sagen Sie nichts! Ich weiß selbst, was ich zu tun habe!“ gerufen und danach Serebrjakov bedroht hat, geht er durch diese Tür ab. Ihm folgen Serebrjakov und Elena. Die Spannung steigt, und Marina schaut, fast beschwörend zur mittleren Tür. Als hätte sie es geahnt, ertönt dahinter ein Schuß. Der Professor stürzt zurück auf die Bühne. Dort schießt Vojnickij nochmals auf ihn, wobei er den Schuß mit einem komischen, den Knall nachahmenden „Peng!“ untermalt. Wieder verfehlt er Serebrjakov. Zum zweiten Mal also in diesem Akt signalisiert die mittlere Tür Vojnickijs Versagen.

254

Anton Čechov

Im dritten Akt führt die mittlere Tür zu Vojnickijs Zimmer, in dem dann der vierte Akt spielt. Angesichts der Tatsache, daß sich dieses in einem Haus mit 26 großen Zimmern befindet, wirkt es übertrieben beengt. Es ist zugleich Wohnraum, Schlafzimmer und Gutskontor. Das Bühnenbild erscheint jetzt eher symbolisch verknappt. Denn Vanja ist zu seiner Arbeit zurückgekehrt und lebt wieder ganz für das Landgut, wie der „Tisch mit Einnahme-Ausgaben-Büchern und Papieren aller Art, ein Schreibpult, Schränke und eine Waage“ (105) verdeutlichen soll. Dabei symbolisiert ein Star im Käfig die begrenzte Welt.4 Die Symbolik verdichtet sich an diesem Ort jedoch noch mehr; denn auch Astrov hat hier einen Tisch, an dem er Karten zeichnet, die die allmähliche Zerstörung der Natur graphisch darstellen. Eine weitere Landkarte hängt indessen an der Wand. In der Beschreibung der „Afrikakarte, die hier offenkundig niemand braucht“, zeigt Čechov deutlich, wie emotional und symbolisch aufgeladen er diese Requisiten verstanden wissen möchte. Denn die Beschreibung gibt als Bühnenanweisung kaum einen Sinn und scheint mehr für den Leser als für den Regisseur bestimmt zu sein. Doch die Landkarte hat ihre eigene emotionale Wirkung für die Bühne. Kurz bevor Astrov abreist, bemerkt er: „In diesem Afrika ist jetzt sicher eine Hitze – schreckliche Sache!“ (114). Der Kontrast zwischen den weiten Flächen Afrikas mit ihrer Hitze und dem eingeschränkten Horizont der russischen Provinz im nahenden Winter könnte nicht größer sein. Und wenn Hitze Leidenschaft versinnbildlicht, so herrscht diese ebenfalls woanders. Als Gor’kij das Stück sah, konnte er an dieser Stelle seine Tränen nicht mehr unterdrücken und teilte dies Čechov in einem Brief mit: „Ich zitterte [...] aus Angst [...] vor unserem farblosen kargen Leben“(409).5 Ein Fußabtreter, der an der in den Flur führenden Tür liegt, ist ein weiteres Requisit, das mit einer ähnlichen auktorialen Bemerkung versehen wurde. Schon wegen seiner Position auf der Bühne ist der Abtreter nicht gut sichtbar, doch Čechov beschreibt in einem Nebensatz seine Funktion: „damit die Bauern den Schmutz nicht hereintragen“ (105). Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Bauern jemals auf die Bühne kommen werden, aber der Abtreter steht deutlich für ihre Präsenz. Durch ihn wird Vojnickijs Unwillen im ersten Akt, sich mit den Bauern zu beschäftigen, gleichsam aufgehoben. Er ist ein Zeugnis des alltäglichen Betriebs. Die Bühnenanweisungen für Telegin und Marina, die den letzten Akt eröffnen, sind sogar noch deutlicher symbolisch: „Telegin und Marina sitzen einander gegenüber und wickeln Strumpfwolle auf“ (105). Das Wickeln von Garn wird bereits in der klassischen Mythologie als Sinnbild für das Schicksal verstanden. Telegins Eingangsworte verknüpfen das Bild mit der Abreise des Professors und seiner Frau. Als er Marina ermahnt, schneller zu wickeln, antwortet sie ihm, daß nicht mehr viel übrig sei. Unmittelbar zum Ausdruck kommt das Schicksalsthema, als Telegin bei der Abreise des Paares bemerkt: „Marina Timofeevna, das bedeutet, es ist ihnen nicht beschieden, hier zu leben. Es ist ihnen nicht beschieden... Eine Fügung des Schicksals“ (105). Auch wenn das Schicksalsthema den Akt vornehmlich mit komischen Beiklängen einleitet, schließt er

„Djadja Vanja“ (Onkel Vanja)

255

mit Sonjas bemerkenswerter, das Stück beendender Rede in eher tragischem Tonfall: „Wir werden geduldig die Versuchungen ertragen, die das Schicksal uns bringt“ (115). Bühnenanweisungen: Gastfreundschaft (Die Teezeremonie) Wie sich zeigte, ergeben sich aus der Liste der dramatis personae keine Anhaltspunkte zu einer Charakterisierung. Bis auf zwei Ausnahmen liefern auch Čechovs Bühnenanweisungen im ersten Akt kaum Informationen dieser Art. Charakterisiert werden die Figuren fast ausschließlich durch ihr eigenes Verhalten und die Ansichten, die andere über sie haben. Dergestalt stellt Čechov diese bereits während des Teetrinkens vor. Dabei ist es bezeichnend, wie jeweils Tee angeboten und angenommen wird. Der scheinbar alltägliche Vorgang erhält gleichzeitig eine rituelle und eine symbolische Funktion.6 Die allererste Handlung des Stücks besteht darin, daß Marina für Astrov ein Glas Tee eingießt. Dieser zögert aber, es anzunehmen, und Marina fragt, ob ihm Wodka lieber wäre. Tatsächlich trinkt der Arzt Alkohol, um der Überarbeitung zu entkommen und sein Gewissen verstummen zu lassen, das ihn quält, seitdem ihm ein Patient durch Chloroform verstarb. Im zweiten Akt ist er betrunken, und obwohl er Sonja in der Folge verspricht, nicht mehr zu trinken, genehmigt er sich im vierten Akt ein Glas Wodka, bevor er das Landgut verläßt. Zugleich lehnt er das dazugehörige Brot ab, so wie er es bereits beim Teetrinken im ersten Akt abgelehnt hatte, etwas zu essen. Die Launenhaftigkeit Serebrjakovs wird ebenfalls durch seine Einstellung zum Tee angedeutet. Marina erklärt, der Samowar stände bereits seit zwei Stunden auf dem Tisch, doch der Professor sei mit Sonja und Telegin spazieren gegangen. Als sie zurückkehren, bietet ihnen Vojnickij Tee an, aber Serebrjakov wünscht, daß man ihm den Tee an seinen Schreibtisch bringt, und läßt so sein Gefühl eigener Wichtigkeit und sein typisches kapriziöses Verhalten erkennen (66).7 Telegin dagegen hält eine schwülstige Rede, gerichtet an Marina, die den Tee ausschenkt. Es ist die Rede eines Schmarotzers: „Ob ich über die Felder fahre, Marina Timofeevna, ob ich mich im schattigen Garten ergehe, ob ich auf diesen Tisch blicke, ich empfinde unaussprechliche Glückseligkeit!“ Telegin ist ein naiver Mann. Er möchte, daß alles harmonisch ist. Oft liegt aber in dem, was er sagt, tiefe Ironie. „Wir alle leben in Frieden und Eintracht – was brauchen wir mehr?“ Mit diesem Worten nimmt er seinen Tee und spricht seinen „tief empfundenen Dank“ aus (67). Auch wenn sich im Fortgang der Handlung der wahre Gehalt von Telegins „Harmonie“ enthüllt, ist doch das einzige harmonische Element im Stück mit ihm verbunden: die Gitarre. Die Art und Weise, in der Marija Vasil’evna ihren Tee zu sich nimmt, ist ebenfalls aufschlußreich. Die Bühnenanweisung „Marija Vasil’eva kommt mit einem Buch; sie setzt sich und liest; man reicht ihr Tee, sie trinkt ohne aufzusehen“ (68) bedarf kaum einer Erklärung; denn sie umreißt die Figur in Gänze. Dasselbe könnte man für Elena behaupten, wenn es heißt: „Elena Andreevna

256

Anton Čechov

nimmt ihr Glas und trinkt, auf der Schaukel sitzend“ (69). Die Schaukel ist ein Symbol ihrer emotionalen Unentschlossenheit, und zwar in bezug auf ihren Ehemann, auf den jüngeren Astrov und vielleicht sogar auf Vojnickij. Die Szenerie erinnert an Fragonards – freilich dynamischere – Darstellung der „Koketten auf der Gartenschaukel“, die zwischen Ehemann und Liebhaber hin- und herpendelt.8 Die Schaukel selbst kann aber auch für Elenas Trägheit stehen. Das russische Wort für Trägheit (len’) schwingt sogar in ihrem Namen mit. Auf Vojnickij wirkt diese Eigenschaft durchaus attraktiv, wie er bereits zu Beginn des dritten Akts zum Ausdruck bringt: „Man sehe sich das an: Da geht sie und schwankt schon vor Trägheit. Reizend! Ganz reizend!“ (90). Sonja trinkt den Tee, während sie dabei ist, ihre Beziehung zu Astrov zu vertiefen. Sie scheint zufrieden zu sein, daß dieser über Nacht bleiben wird, und bietet ihm etwas zu essen an, was er aber ablehnt. Als sie daraufhin ihren Tee kostet, ruft sie: „Der Tee ist kalt!“ (69). Der Ausruf ist ganz offensichtlich eine ironische Anspielung auf Astrovs Abweisung. Im Gegensatz dazu sagt Elena, daß sie, ganz gleich wie ihr der Tee serviert würde, zufrieden sei und daß sie ihn auch kalt tränke. Dies könnte metaphorisch auf die Erkaltung ihrer Ehe deuten. Als sie dann versucht, in Telegin einen Verbündeten zu finden, der ebenfalls bereit ist, seinen Tee kalt zu trinken, spricht sie ihn versehentlich mit falschem Namen an. Für Telegin bedeutet der kalte Tee jedoch die kalte Barmherzigkeit der Gastfreundschaft, und so protestiert er. Er sei kein gewöhnlicher „ Ivan Ivanyč“ (eine Art russischer Jedermann), sondern jemand, den Elena jeden Tag sehe und der sich mit ihr die Gastfreundschaft teile: „Wenn Sie zu bemerken geruhen, ich speise jeden Tag mit Ihnen zu Mittag“ (69). Die Figuren mit Hilfe eines gesellschaftlichen Rituals einzuführen und nicht durch eine ausdrückliche Beschreibung, ist ein Kunstgriff, den Čechov später weiterhin nutzen und vervollkommnen wird. In „Tri sestry“ werden die Charaktere durch die Geschenke vorgestellt und umrissen, die sie Irina, der jüngsten der Schwestern, an ihrem Namenstag überreichen.9 In „Djadja Vanja“ gibt es zwei Figuren, die nicht durch das Teetrinken eingeführt werden. Marina schenkt den Tee aus, trinkt ihn aber nicht. Ihre Rolle offenbart einen weiteren Bruch in den Beziehungen der dramatis personae: Die Etikette verlangt, daß sich entweder die Dame des Hauses oder eine unverheiratete Tochter um den Samowar kümmert.10 Sonja erfüllt beide Voraussetzungen, doch sie übernimmt die Aufgabe erst, als sie dadurch eine andere Pflicht umgehen kann. So schickt sie Marina weg, damit sich diese an ihrer Stelle um die Bauern kümmert. Marina, als Nichttrinkerin, wird auf konventionellere Weise, durch eine beschreibende Bühnenanweisung eingeführt: „Marina (eine aufgedunsene, schwerfällige alte Frau, sitzt am Samowar, strickt an einem Strumpf)“ (63). Die Beschreibung als „schwerfällig“ kann dabei sowohl physisch als auch psychisch verstanden werden; denn Marina ist die konservative Verkörperung der alten Lebensweise des Hauses.

„Djadja Vanja“ (Onkel Vanja)

257

Die zweite Figur, die eine eher konventionelle und auktoriale Einführung erfährt, ist Djadja Vanja selbst: „Er hat nach dem Frühstück geschlafen und sieht verknittert aus; setzt sich auf eine Bank, rückt seine auffällige Krawatte zurecht“ (64). Wie die Beschreibung Marinas enthält auch diese physische Beschreibung eine ganz offensichtlich psychische Dimension. Sie weist auf einen gebrochenen Charakter, der eine prätentiöse Krawatte zur Schau stellt. Und wie bei Marina gibt es auch für Vojnickij keinerlei Hinweis darauf, daß er Tee trinkt oder daß ihm Tee angeboten wird. Er bietet ihn jedoch anderen Figuren an. Mit Speisen beladene Tische führen am Beginn von „Lešij“ das Thema der Gastfreundschaft ein. Dieses Thema wird aber dann nicht tiefgreifend weiterentwickelt. In „Djadja Vanja“ dagegen hat es eine zentrale Bedeutung gewonnen, und seine wichtigsten Sinnbilder, Essen und Trinken, werden nicht nur als Mittel genutzt, die Figuren einzuführen, sondern diese auch im Fortgang zu charakterisieren. So ist es bezeichnend, daß der zweite Akt im Eßzimmer spielt, in dem sich unter anderem ein Büffet befindet. Nachdem dieser Akt eröffnet ist und der Professor sich zurückgezogen und der Sturm nachgelassen hat, ist die bedrückende, „quälende“ Atmosphäre vorüber, und die Jüngeren können aufatmen. Als Astrov von Sonja ins Eßzimmer geholt wird, merkt er an, daß das Gewitter vorbeizöge. Die Stimmung scheint jetzt günstiger für die Entwicklung besserer Beziehungen. Damit ergibt sich für Sonja die Möglichkeit, dem Arzt Käse anzubieten, was bei Čechov eine sexuelle Konnotation beinhaltet.11 Etwas später betritt Elena die Bühne, öffnet ein Fenster und sagt: „Das Gewitter ist vorüber. Was für eine gute Luft!“ (86). Sie ist nun mit Sonja allein am Büffet, und beide versuchen, vor den Nahrungsmitteln und Getränken ihre Beziehung zueinander zu verbessern, indem sie Brüderschaft trinken. Bei diesem Ritual trinken sie aus demselben Glas, küssen einander und werden sich von nun an duzen. Die Möglichkeit, daß die Beziehung zwischen Sonja und Astrov intimer wird, ergibt sich im folgenden Akt nochmals, doch diese Szene ist weniger durch tatsächliche Nahrung gekennzeichnet als durch die Idee des Verzehrs. Bevor Elena ihre unaufrichtige Mission beginnt und Astrov über seine Gefühle zu Sonja ausfragt, erklärt sie, daß sie die Anziehungskraft verstehe, die ein solcher Mann auf ihre Stieftochter haben könne. Er sei ganz anders als diejenigen, die lediglich essen, trinken und schlafen (83). Erst im vorherigen Akt hatte Astrov auch Elena in diese von ihr beschriebene Kategorie von Mensch eingeordnet: „Sie ist schön, kein Zweifel, aber... was sie tut, ist doch nur essen, schlafen, spazierengehen, und uns alle mit ihrer Schönheit bezaubern – mehr nicht“ (83). Als Elena nun den Arzt, scheinbar um Sonjas willen, zur Rede stellt, durchschaut Astrov ihre eigennützigen Gründe, bezeichnet sie als schönes Raubtier und bietet sich als Beute an: „Ein schöner, seidiger Iltis… […] Ich ergebe mich. Hier, fressen Sie mich!“ (96). Der dritte Akt spielt im Gästezimmer, und eben dort spitzt sich die zentrale Frage der Gastfreundlichkeit zu: Wer ist tatsächlich Gast und wer Gastgeber?

258

Anton Čechov

Bis zu diesem Zeitpunkt erschienen Serebrjakov und seine Frau Elena als Gäste, die mit ihrer Anwesenheit das normale Leben der das Gut bewirtschaftenden Personen stören – eine Störung, die als dysfunktionale Gastfreundlichkeit durch Eßwaren und Getränke symbolisiert wird. Marina verdeutlicht dies bereits im ersten Akt: „Zustände! Der Professor steht um zwölf Uhr auf, der Samowar kocht vom frühen Morgen an und wartet nur auf ihn. Ohne sie aßen wir immer um eins zu Mittag, wie alle Menschen, aber jetzt, wo sie da sind, um sieben. Nachts liest der Professor und schreibt, und plötzlich, so gegen zwei Uhr, klingelt es... Du liebe Güte, was ist? Tee will er! Also weck für ihn die Leute, setz den Samowar an... Zustände!“ (66). Der Samowar wartet bereits seit zwei Stunden, und der Professor ist spazierengegangen. Auch der „unzeitige“ Samowar ist schon zu Beginn des zweiten Akts präsent. Der Professor liegt im Krankenbett und hält jedermann mit seinem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit wach. Marina kommt nicht zur Ruhe: „Der Samowar ist noch nicht abgeräumt. Da legt man sich noch nicht hin“ (78). Nicht nur in dieser Szene ist das Verhalten Serebrjakovs weniger das Benehmen eines Gasts als das eines Herrn. So erwägt er, das Gut zu verkaufen, obwohl es eigentlich Sonjas Eigentum ist und er nicht weiß, wo Sonja, Onkel Vanja und Marija Vasil’evna dann bleiben sollten. Sein Bedürfnis nach Veränderung ist hier bezeichnenderweise nicht durch Eßwaren als solche, sondern typischerweise in Bildern des Verzehrs formuliert: „Mit Krankheiten kann man sich noch irgendwie abfinden, aber was ich nicht verdauen kann, ist dieses Landleben“ (98).12 Dabei ist das, was er nicht „verdauen“ kann, dasjenige, was er selbst stört und zum Erliegen gebracht hat. Sonja und Vanja sind angesichts der Überlegungen des Professors bestürzt, und Sonja erinnert ihren Vater daran, daß sie beide mit ihrer Großmutter hart gearbeitet haben, um seine Wissenschaft zu unterstützen. Sie rechtfertigt ihre Bemühungen mit Worten, in denen sie das Thema der Nahrungsmittel aufgreift: „Ich und Onkel Vanja haben gearbeitet, ohne auszuruhen, wir hatten Angst, auch nur eine Kopeke für uns selbst auszugeben, alles haben wir dir geschickt... Wir haben kein Stück Brot zu viel gegessen!“ (103). Nach den Höhepunkten im dritten Akt, Elenas Erfahrungen mit Astrov und Vojnickij und dem anschließenden Versuch Vojnickijs, den Professor zu erschießen, bleibt den herrischen Gästen keine andere Alternative als abzureisen. Der vierte Akt stellt somit eine Rückkehr zur Normalität dar. Wieder ist es Marina, die dies deutlich macht: „Jetzt leben wir wieder wie früher, nach alter Weise. Morgens um acht Uhr Tee, um ein Uhr das Mittagessen, und abends – setzen wir uns zum Abendbrot; alles in seiner Ordnung, wie bei Menschen... bei Christenmenschen. (Mit einem Seufzer) So lange hab ich Sünderin keine Nudeln mehr gegessen“ (106). Telegin, dessen Spitzname „Waffel“ an sich schon ein Nahrungsmittel ist, greift das Thema auf: „Ja, recht lang sind bei uns keine Nudeln mehr zubereitet worden.“13 Doch er scheint die Unsicherheit dieser Gastfreundschaft in bezug auf seine Position zu spüren und fügt nach einer Pause hinzu: „Heute morgen, Marina Timofeevna, gehe ich durchs Dorf, da ruft mir

„Djadja Vanja“ (Onkel Vanja)

259

der Krämer nach: ,He du, Gnadenbrotempfänger!’ Das war so bitter für mich!“ Aber Marina beruhigt ihn: „Achte nicht darauf, mein Guter! Wir sind alle Gnadenbrotempfänger vom lieben Herrgott. Du, Sonja, Ivan Petrovič – niemand sitzt ohne Arbeit, alle schaffen! Alle... Wo ist Sonja?“ (106). Die letzte Frage erinnert daran, daß Marinas Worte nicht nur Telegins Zweifel widerlegen sollen, sondern auch eine Bestätigung von Sonjas gequältem Ausruf der Rechtfertigung im vorhergehenden Akt sind: „Wir haben kein Stück Brot zu viel gegessen!“ (103). Die Symbole der Nahrung sind hierbei eng mit der Arbeitsmoral verknüpft, die die Schlußphase des vierten Akts dominiert. Onkel Vanja beschäftigt sich damit, vernachlässigte Rechnungen zu schreiben und, anstatt zu essen und zu trinken, berechnet er Produkte, die mit der Fastenzeit in Verbindung stehen: „Am zweiten Februar Fastenöl zwanzig Pfund... am sechzehnten Februar nochmals Fastenöl zwanzig Pfund... Buchweizengrütze...“ (115).14 Astrov, ein weiterer Gast, fährt ab und bedankt sich in einer traditionellen Formel ritualisierten Essens: „Dank für Brot und Salz, für die Freundlichkeit... Kurz, für alles“ (114). Dann nimmt er ein Glas Wodka an, gegen das er sich zu Beginn des Stücks gewehrt hatte. Er verläßt den Gutshof nur widerwillig und mit einer Andeutung, daß er zurückkehren werde. Für den Professor dagegen gibt es zum Abschied kein Angebot der Gastfreundschaft, das ihn wiederkommen lassen würde. „Den lockst Du mit keinem Kuchen wieder her“ (113), sagt Astrov in einer russischen Redewendung.15 In einem längeren Gedicht wies der Dichter Vjazemskij darauf hin, daß bei einer russischen Familienfeier weder zur „Begrüßung“ noch zum „Abschied“ der Samowar fehlen dürfe.16 Zu Beginn des Stücks ist der Samowar, ungeachtet der allgemeinen Disharmonie, deutlich sichtbar. Als sich Serebrjakov und Elena von der Familie verabschieden, fehlt er auf der Bühne. Die Abschlüsse: Zusammenfassungen und Überleitungen Anders als in „Lešij“ – eine Ausnahme bildet hier der zweite Akt – enden die ersten drei Akte in „Djadja Vanja“ mit einem starken emotionalen Wort oder Satz. Elena beschließt den ersten Akt, indem sie die Avancen Vojnickijs kommentiert: „Quälend ist das...“ (74). Zur gleichen Zeit spielt Telegin auf der Gitarre, und Marija Vasil’evna schreibt etwas an den Rand ihrer Broschüre. Elenas Kommentar dient gleichzeitig als Überleitung zum zweiten Akt, der in einer klaustrophobischen Atmosphäre und mit dem launenhaften Benehmen Serebrjakovs beginnt. Der Professor beschwert sich über seine „unerträglichen Schmerzen“ (75) und provoziert Elena, das gleiche Vokabular zu benutzen: „Schweig! Du quälst mich.“ Darauf Serebrjakov: „Ich habe alle gequält. Natürlich“ (76). Während der erste Akt noch mit Telegins Gitarrenspiel endet, lehnt Serebrjakov am Ende des zweiten Akts Sonjas Wunsch ab, daß Elena auf dem Klavier spielen möge, und der Akt endet mit einem einzigen Wort: „Nel’zja!“ (89). „Nel’zja“ bedeutet „Man darf nicht“, aber auch „Es ist nicht möglich“, und in dieser zweiten Bedeutung sind Serebrjakovs Worte ein Ausblick auf den näch-

260

Anton Čechov

sten Akt. Denn im dritten Akt erkennen die Figuren, daß sich ihre Wünsche und Pläne auf keinen Fall realisieren lassen. Die mögliche Beziehung zwischen Sonja und Astrov, zwischen Astrov und Elena, zwischen Elena und Vojnickij sowie der Plan des Professors, das Landgut zu verkaufen – all dies scheitert im dritten Akt. Es ist ein von Unmöglichkeiten dominierter Akt, der mit einem leisen Ruf nach Marina, der einzigen Figur des Stücks, die feste, traditionelle Werte vertritt, ausklingt: „Njanja! Njanja!“ ruft Sonja (104). Marina eröffnet den letzten Akt mit Telegin, und es sind ihre Werte, die jetzt wieder eingeführt werden. Als Serebrjakov und seine Frau abreisen, kehren Onkel Vanja und Sonja zu ihrer alten Lebensweise zurück. Sie nehmen wieder die Arbeit für das Landgut auf, die von ihnen lange vernachlässigt worden ist. Dennoch stellt das Ende des vierten Akts den emotionalen Höhepunkt des Stücks dar. Die Bühnenanweisungen scheinen dabei verschiedene symbolische Andeutungen zusammenzufassen, die das Geschehen bisher bestimmt hatten. Zwar ist noch das Klopfen des Nachtwächters mit seinen klaustrophobischen Assoziationen zu hören, doch es wird diesmal von Telegins Gitarrenspiel begleitet. Marija Vasil’evna ist immer noch in ihre Broschüren vertieft, und diese Gleichgültigkeit einer Mutter und Großmutter läßt vermuten, daß – obwohl sich Onkel Vanja und Sonja offensichtlich mit der Situation arrangiert haben – noch immer gestörte zwischenmenschliche Beziehungen im Hintergrund schwelen. Marina strickt einen Strumpf, wie sie es auch zu Beginn des Stücks getan hat. Das deutet auf eine gewisse Zirkularität der Handlung, aber auch auf einen Abschluß; denn die am Anfang des Akts gewickelte Wolle wird nun verarbeitet. „Wir werden uns ausruhen!“ (116), sagt Sonja. Es sind die letzten Worte des Stücks. Diese Worte stehen jedoch im Gegensatz zu dem Leben in harter Arbeit und Selbstaufopferung, von dem sie zuvor Serebrjakov gegenüber gesprochen hat. Der Widerspruch dieser beiden Ideen, mit dem das Stück endet, ist ein Zeichen emotionaler Spannung und weist, wie auch das Ende der anderen Akte, in die Zukunft. Das komplexe Finale bildet einen starken Kontrast zu dem emotional weitaus weniger aufgeladenen Ende von „Lešij“. Wie bereits erläutert, profitierte das Stück von der Überarbeitung, die seine Struktur deutlich straffte. Čechov erreichte dies durch eine geringere Personenzahl, den neuen Titel, die Konzentration auf die Bedeutung der Aktanfänge und Aktschlüsse und den geschickten, symbolischen Einsatz alltäglicher Banalitäten wie des Teetrinkens. „Djadja Vanja“ spiegelt nicht mehr allein den „Lauf des Lebens“ wider. Die naturalistischen Details sind jetzt charakteristischer geworden, und sie werden gezielter eingesetzt. Durch ihre sorgfältige Auswahl wird Čechovs Naturalismus emblematischer: Symbolismus entsteht entlang des alltäglichen Lebens. Ein emotionaler Symbolismus immanent ist sowohl Sonjas kaltem Tee als auch der Schaukel, auf der Elena sitzt, und den „Herbstrosen“, die Vanja ihr bringt. Wo das Symbol nicht unmittelbar für sich selbst spricht, wie bei der unnützen Afrikakarte, bietet Čechov Verständnishilfen an. Es gibt auch Symbole der Arbeit: die Karten und Diagramme Astrovs, eher ironisch die Broschüren

„Djadja Vanja“ (Onkel Vanja)

261

Marija Vasil’evnas und das chaotische Arbeitszimmer Onkel Vanjas mit dem Fußabtreter für die Bauern, einem weiteren Symbol, das einer Erläuterung bedarf. Dazu kommt eine Tiersymbolik, die die Gedanken von der Ausbeutung der Natur durch den Menschen und von der gegenseitigen Ausbeutung der Menschen verbindet. Im ersten Akt äußert Marina, nachdem sie von einer Besprechung mit den Bauern wegen des Brachlands zurückgekehrt ist, ihre Sorge darüber, daß ihre Hühner von Raben getötet werden könnten (71). Im dritten Akt vergleicht sich Astrov mit einem „alten Hasen“, der sich Elena ergibt, die er als „Iltis“ bezeichnet (96). Später, im gleichen Akt, nennt Marina den Streit zwischen Vojnickij und Serebrjakov ein „Gänsegeschnatter“ (103), und im letzten Akt sieht sie Vojnickij immer noch als „Gänserich“ (106), wenngleich der Star im Käfig wohl eher seine Position widerspiegelt (105). Darüber hinaus enthält das Stück aber auch versteckte Verweise und Anspielungen, die nicht ganz so offensichtlich sind. Dazu gehört als klassische Referenz der Krieg wegen Helenas Schönheit. Obwohl der „Krieg“ in „Djadja Vanja“ von den Banalitäten der „Szenen aus dem Landleben“ und nicht von den epischen Höhen der Ilias bestimmt wird, transportiert er das antike Thema der Gier nach Zerstörung bringender Schönheit. Das Schicksal manifestiert sich, wie erwähnt, im Spinnen von Wolle für Socken. Čechov macht sogar persönliche Scherze, wie die sexuelle Konnotation von Käse zeigt. All dies zusammen verleiht dem Stück eine faszinierende, in Anspielungen versteckte poetische Tiefe, die weit über den bescheidenen Rahmen hinaus geht, der mit dem Untertitel „Szenen aus dem Landleben“ suggeriert wird. „Djadja Vanja“ endet mit einer Bemerkung, die in idealistischer Hoffnung gegen eine trostlose Realität gestellt ist: Das Wichtigste ist die Arbeit, man darf die Dinge nicht mehr schleifen lassen. In dieser Auseinandersetzung mit der Realität besteht die positive Botschaft des Stücks. Čechov scheint den Grund für das Unglücklichsein der Menschen in der Gestörtheit ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen zu sehen und behandelt diesen Zustand am Beispiel der dysfunktionalen Gastfreundschaft. Zugleich aber findet sich noch eine Störung ähnlicher Art: So wie sich die Menschen untereinander ausbeuten, so achtlos zerstören sie auch die Natur. Das Thema der Umweltzerstörung erscheint damit als starkes Anliegen in „Djadja Vanja“, und dieses Anliegen hat in der heutigen Welt nichts von seiner damaligen Aktualität verloren.

Birgit Harreß

Anton Čechov: Tri sestry (Die drei Schwestern) Das Drama „Tri sestry“ mag aufgrund seiner Gattungsbezeichnung eine gewisse Schwere implizieren, wird aber allen Kriterien gerecht, die Anton Čechov an eine gelungene Komödie stellt. Um das zu erläutern, sei zunächst die „Geschichte“ erzählt1, die sich über einen Zeitraum von viereinhalb Jahren erstreckt und in einer russischen Provinzstadt unbekannten Namens angesiedelt ist: Sergej Prozorov ist ein hochrangiger General, der vor Ort die Brigade befehligt und allseits höchstes Ansehen genießt. Als kultivierter Mann, in dessen Haus sich alles trifft, was Rang und Namen hat, sorgt er dafür, daß sein Sohn Andrej und seine Töchter Ol’ga, Maša und Irina eine standesgemäße Erziehung erhalten. Obwohl die Geschwister nur mit Mühe den Anforderungen gerecht werden, fügen sie sich unwidersprochen. Mit dem Tod des Generals ändert sich ihr Leben vollständig. Während einerseits der Druck wegfällt, den der Vater ausübte, hat andererseits das Haus seine Anziehungskraft verloren und wirkt nahezu verwaist. Die wenigen Offiziere, die noch kommen, sind fast ausschließlich an der jüngsten Tochter Irina interessiert, die mittlerweile im heiratsfähigen Alter ist. Rivalität belastet die Atmosphäre und entlädt sich am Schluß in einem Duell, in dem einer der Bewerber ums Leben kommt. Als die Handlung einsetzt, sind die Titelheldinnen achtundzwanzig, einundzwanzig und zwanzig Jahre alt. Es ist der erste Todestag des Vaters und zugleich der Namenstag Irinas. Während die beiden älteren Schwestern mit ihrem Leben unzufrieden sind, ist die Jüngste voller Lebensfreude. Irina möchte sich lossagen von ihrem bisherigen müßigen Dasein und arbeiten. Gipfel allen Glücks wäre für sie, die langweilige Provinzstadt zu verlassen und zurück in die alte Heimat zu ziehen: „nach Moskau“ (120). Ol’ga teilt diese Sehnsucht und kommt bei dem Gedanken an die Vergangenheit ins Schwärmen. Elf Jahre ist es her, seit die Familie Moskau verließ, und doch ist ihr alles gegenwärtig. Beide Schwestern schmieden Pläne für einen Umzug, machen das Projekt jedoch abhängig von ihrem Bruder Andrej, den sie als zukünftigen Professor sehen. Vom Vater für die wissenschaftliche Laufbahn bestimmt, verfolgt der einzige Sohn diesen Weg aber nur halbherzig, bis er sich durch Heirat fest an die Provinzstadt bindet, in der Landschaftsverwaltung tätig wird, aus Langeweile mit dem Glücksspiel beginnt und dabei das gemeinsame Erbe verpfändet. Ähnlich erfolglos in ihrer Suche nach dem Glück sind die drei Schwestern. Ol’ga, die ihren Beruf als Gymnasiallehrerin ungern ausübt, lieber heiraten und zu Hause sitzen würde, wird gegen ihren Willen befördert. Am Ende der Handlung ist sie Schulleiterin. Maša, die mit achtzehn Jahren einen Gymnasiallehrer heiratete, den sie für „schrecklich gelehrt, klug und bedeutend“ hielt (142), ist mittlerweile desillusioniert. Sie flieht in eine Liebesbeziehung mit Oberstleut-

„Tri sestry“ (Die drei Schwestern)

263

nant Veršinin, der sich zu Beginn der Handlung als neuer Brigadekommandeur vorstellt und damit die Nachfolge des Vaters antritt. Irina schließlich verliert ihre anfängliche Energie durch die unbefriedigenden Tätigkeiten, denen sie im Telegraphenamt und in der Landschaftsverwaltung nachgeht. Schließlich legt sie das Lehrerinnenexamen ab und beabsichtigt, die Stadt zu verlassen. Vor einer unerfüllten Ehe mit dem beharrlich um sie werbenden Baron Tuzenbach bleibt sie bewahrt, weil der Verlobte in dem besagten Duell stirbt. Mit dem Abzug der Brigade am Ende der Handlung verlieren die Schwestern die letzten Menschen, mit denen sie einst verkehrten. Hatte das Militär bisher die wichtigste Position in der Stadt inne, rückt nun die Bürokratie nach. Nutznießerin der allgemeinen Schwäche im Hause Prozorov ist Andrejs Ehefrau Nataša, die aus dem Kleinbürgertum2 stammt. Sie instrumentalisiert ihre beiden Kinder im Kampf um die Zimmer, eignet sich die Schuldscheine ihres Mannes an und wählt mit Bedacht dessen Vorgesetzten Protopopov zum Liebhaber. Darüber hinaus gelingt es ihr, die Schwägerinnen aus dem Haus zu vertreiben: Ol’ga bezieht als Schulleiterin eine Dienstwohnung, und Irina steht am Schluß kurz vor der Abreise. Wenn Maša nun theatralisch gelobt, dieses Haus „nie wieder“ zu betreten (185), liegt das durchaus im Interesse der neuen Eigentümerin. Die Pointe besteht darin, daß der von Irina und Ol’ga eingangs so sehnsüchtig geäußerte Wunsch, nach Moskau zurückzukehren, ohne Probleme erfüllt werden könnte. Als unverheiratete Frauen wären sie frei in der Wahl ihres Wohnorts. Außerdem besitzen sie ein Haus und somit Vermögen. Doch anstatt zu handeln, lassen sie sich treiben und warten darauf, daß von außen etwas geschieht: daß nämlich der Bruder nach Moskau geht und sie mitnimmt. Was sich aber dann ereignet, ist etwas völlig anderes als erwartet. In dem Mißverhältnis von Geschehen und Handlung liegt eine subtile Komik begründet. Die Schwestern gehen keinesfalls arglos in ihren Untergang, sondern begünstigen ihn durch ihre Passivität. Sie durchschauen die Beschränktheit Natašas, blicken auf sie herab und sind ihr dennoch unterlegen. Mit sparsamsten Mitteln zeigt Čechov, wohin die Mißachtung der eigenen Freiheit führt. Die Titelheldinnen berauben sich ihrer Möglichkeiten und begünstigen dabei das rücksichtslose Vorgehen des Kleinbürgertums, das nicht nur sie, sondern auch andere Menschen schädigt. Unter diesem Aspekt betrachtet, soll der Zuschauer kein Mitleid empfinden. Er soll vielmehr Distanz gewinnen. Erst dann läßt sich das Prinzip von Čechovs dramatischem Schaffen erkennen: das Spiel mit dem Grunderlebnis der Tragik. Reaktion und Stagnation als weltbildende Kräfte Das Leiden, das die Figuren so leitmotivisch im Munde führen, hat nicht wenige Interpreten veranlaßt, in Čechovs Werk ein „Abbild von Welt schlechthin“ zu sehen3 und die Stücke dieses Autors zu Vorläufern des absurden Dramas zu erklären. Wenn man den folgenden Monolog liest, den Andrej Prozorov im letzten

264

Anton Čechov

Akt des Dramas spricht, ist man zunächst geneigt, solchen Deutungen zu folgen: „Oh, wo ist sie, wohin entschwand meine Vergangenheit, als ich jung, froh und klug war, als ich herrlich träumte und dachte, als Gegenwart und Zukunft von Hoffnung verklärt wurden? Warum werden wir, kaum daß wir zu leben an-fangen, so langweilig, grau, uninteressant, träge, gleichgültig, unnütz und unglücklich... Unsere Stadt existiert bereits zweihundert Jahre, sie hat hunderttausend Einwohner, und da gibt es keinen, der nicht so wie die anderen wäre, nicht einen Kämpfer, weder einst noch jetzt, nicht einen Gelehrten, Künstler oder auch nur irgendwie bemerkenswerten Menschen, der da Neid erregte oder einen leidenschaftlichen Wunsch, ihm nachzueifern. Bloß daß sie essen, trinken, schlafen und dann sterben... Neue werden geboren, die ebenfalls essen, trinken, schlafen und, um vor Langeweile nicht abzustumpfen, mit widerlichem Klatsch, Schnaps, Karten, Intrigen Abwechslung in ihr Leben bringen, und die Frauen betrügen ihre Männer, und die Männer lügen und tun so, als ob sie nichts sähen, nichts hörten, und die unabwendbare Wirkung der Gemeinheit unterdrückt die Kinder, so daß der Gottesfunke in ihnen erlischt und sie zu ebensolchen jämmerlichen, einander ähnlichen Leichnamen werden wie ihre Väter und Mütter...“ (181 f.). Hier scheint sich eine Weltsicht zu offenbaren, wie sie Albert Camus in seinem Essay „Der Mythos von Sisyphos“ (1942) thematisiert hat, als er das „Klima der Absurdität“ mit den folgenden Sätzen umriß: „Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages aber steht das ,Warum‘ da, und mit diesem Überdruß, in dem sich Staunen mischt, fängt alles an. ,Fängt an‘ – das ist wichtig. Der Überdruß ist ein Ende des mechanischen Lebens, gleichzeitig aber auch der Anfang einer Bewußtseinsregung. Er weckt das Bewußtsein und bereitet den nächsten Schritt vor. Der nächste Schritt ist die bewußte Umkehr in die Kette oder das endgültige Erwachen.“4 Andrej Prozorov mag seine Situation erkennen, ist aber nicht bereit, der Trostlosigkeit ein Ende zu setzen. Da er an sich selbst gescheitert ist, tut ihm die Vorstellung wohl, daß in dieser Stadt keine Genies gedeihen könnten. Um sich noch etwas Lebensmut zu bewahren, flüchtet er in die Utopie: „Die Gegenwart ist widerlich, aber wenn ich dagegen an die Zukunft denke, dann wird alles gut! Es wird einem so leicht, so weit ums Herz; und in der Ferne geht ein Licht auf, ich sehe Freiheit, ich sehe mich und meine Kinder sich befreien von Müßiggang, von Schnaps, von Gänsebraten mit Sauerkohl, vom Nachmittagsschläfchen und von dieser elenden Tagdieberei...“ (182). Als Čechov von dem Schriftsteller Aleksandr Tichonov darauf angesprochen wurde, daß die Zuschauer bei der Aufführung seiner Stücke geweint hätten, antwortete er entschieden: „Aber ich habe sie dazu nicht geschrieben. [...] Ich wollte etwas anderes... Ich wollte den Leuten nur ehrlich sagen: ,Seht euch an, seht, wie schlecht und langweilig ihr lebt!‘... Die Hauptsache ist, daß die Menschen das verstehen, und wenn sie es verstehen, werden sie sogleich ein anderes, besseres Leben für sich erschaffen... Ich werde es nicht sehen, aber ich weiß – es

„Tri sestry“ (Die drei Schwestern)

265

wird ganz anders sein, nicht so wie das Leben, das wir haben... Aber solange es das noch nicht gibt, werde ich den Leuten immer und immer wieder sagen: ,Begreift doch, wie schlecht und langweilig ihr lebt!‘ Was gibt es denn da zu weinen?“5 Nicht Antworten zu geben, sondern die richtigen Fragen zu stellen, war Čechovs Devise, wobei im Brennpunkt die Hinterfragung der Lüge stehen sollte, die laut Kornej Čukovskij das „schlimmste Schimpfwort“ im Vokabular des Autors war.6 Čechov konzipiert keine abstrakten Weltgegenden. Er lebte und arbeitete in einer Zeit, in der an die Menschen in Rußland besondere Aufgaben herangetragen wurden.7 Es war eine Zeit der Reaktion und Stagnation, der Kapitalisierung und Landflucht, des vollständigen Zerfalls nach der wenig erfolgreichen Bodenreform. Jegliches Bestreben nach öffentlicher Mitwirkung der Untertanen wurde von der Autokratie in Institutionen wie die lokalen Selbstverwaltungsorgane (zemstva) umgeleitet.8 Ein Parlament existierte nicht. Die Duma gab es erst nach Čechovs Tod, eingeführt unter dem Druck der Revolution von 1905. Nach wie vor stand die Literatur unter strenger Zensur, die den Autoren eine besondere Poetik aufzwang. Čechovs Stücke durften nicht auf staatlichen Bühnen aufgeführt werden.9 Wenn es auch politische, religiöse und künstlerische Bewegungen gab, die Hoffnung weckten, so war das Land insgesamt doch von einer großen geistigen Erschöpfung geprägt. Die bleierne Schwere, die auf dem Zarenreich lastete, findet sich auch in der Welt der „Drei Schwestern“ wieder. Die Stadt, die das Haus der Geschwister Prozorov umschließt, hat eine Stellvertreterfunktion. Sie repräsentiert das in Stagnation erstarrte Zarenreich. Daß der Bahnhof „zwanzig Werst vor der Stadt“ liegt (128), semantisiert die Absage der Regierung an jegliche Bewegung. Präsent sind hingegen die tragenden Pfeiler der Autokratie: das Militär und die Bürokratie. Beide Institutionen werden im Laufe der Handlung in ihrer Effizienz hinterfragt. Was das Militär betrifft, so zeugt die Lebensführung der Offiziere von einer existentiellen Lähmung. Oberleutnant Tuzenbach antwortet auf Irinas Wunsch, endlich zu arbeiten: „Sehnsucht nach Arbeit, o mein Gott, wie gut ich das verstehe! Ich habe in meinem Leben nicht ein Mal gearbeitet! [...] Mich hat man vor der Arbeit sorglich bewahrt“ (123). Auf seine feierliche Ankündigung hin: „Ich werde arbeiten...“, reagiert der alte Militärarzt Čebutykin mit den Worten: „Ich werde nicht arbeiten“ (123). Von den anderen bedrängt, meint er lachend, daß er noch nie etwas getan und alles vergessen habe, was er sich einst an der Universität angeeignet hat. Im Laufe der Handlung wird eine Frau zu Tode kommen, die von Čebutykin falsch behandelt worden ist. Er verdrängt den Vorgang mit Schnaps. Ein weiterer Vertreter des Militärs ist Stabshauptmann Solenyj, der genügend Muße hat, um der Selbstinszenierung zu frönen. Überzeugt, dem Dichter Lermontov zu ähneln, wählt er in seinem Lebensentwurf10 Irina als Dame seines Herzens aus. Ansonsten fällt er nur durch Unarten auf wie die Nonsensrede, das Vertilgen von ganzen Pralinenschachteln, das Rauchen im

266

Anton Čechov

Schlafzimmer von Ol’ga und Irina sowie das Duell, das er dem aus dem Militär längst ausgeschiedenen Baron Tuzenbach aufnötigt. Der neu in die Stadt gekommene Oberstleutnant Veršinin schließlich macht – abgesehen von seinem Ruf, ein Schwerenöter zu sein – als Prophet substanzloser Utopien von sich reden. Auf die Klagen der Schwestern, daß ihre Bildung in dieser Stadt nicht gefragt sei, antwortet er hoffnungsfroh: „Ich glaube, es gibt und kann keine noch so langweilige und trübsinnige Stadt geben, in der nicht ein kluger und gebildeter Mensch notwendig wäre. Nehmen wir an, es gibt unter den Hunderttausend der Bevölkerung, die natürlich rückständig und grob ist, nur drei so wie Sie. Selbstverständlich können Sie diese dunkle, Sie umgebende Masse nicht überwinden; im Laufe Ihres Lebens werden Sie nach und nach Konzessionen machen müssen und sich verlieren in der hunderttausendköpfigen Menge, das Leben wird Sie betäuben, doch bei alledem werden Sie nicht verschwinden, nicht ohne Einfluß bleiben; nach Ihnen werden solche wie Sie auftauchen, vielleicht sechs, dann zwölf und so weiter, bis endlich solche wie Sie in der Mehrzahl sind. Nach zweihundert, dreihundert Jahren wird das Leben auf der Welt unvorstellbar schön sein und zum Verwundern“ (131). Von seiner seltsamen Utopie wird Veršinin auch im dritten Akt nicht ablassen, als eine äußere Gefahr das Handeln der Stadtbewohner auf den Plan ruft. Ein Großbrand hat das Militär in Alarmbereitschaft versetzt. Während die einfachen Soldaten das Feuer in Angriff nehmen, vertreiben sich die Offiziere ihre Zeit mit Philosophie und Galanterie. Veršinin, der gerade noch seine kleinen Töchter entsetzt und verloren in all der Zerstörung vorfand, begnügt sich damit, das Schicksal der Mädchen im Wandel der Zeit zu erahnen, um dann ganz prosaisch Maša zu umwerben. Der Militärarzt Čebutykin, der bei dem Brand dringend gebraucht würde, hat sich derart betrunken, daß er sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Nicht weniger zweifelhaft ist die Bürokratie, der andere Pfeiler der Autokratie. Andrej Prozorov, der, wohl nicht für das Militär geeignet, vom Vater für die wissenschaftliche Laufbahn ausersehen war, wählt nach der Eheschließung mit der kleinbürgerlichen Nataša lieber den bequemen Weg der Zivilverwaltung. Nolens volens wird er zum Rädchen im Getriebe. Seine einzige Funktion besteht offenkundig im Unterzeichnen irgendwelcher Papiere, dem er sich wiederholt entzieht, um sich seinem Privatleben widmen zu können. Die Sinnlosigkeit des Vorgangs wird durch den Ausruf des greisen Kanzleiboten Ferapont noch unterstrichen: „Aber dazu sind die Papiere doch da, daß man sie unterschreibt!“ (179). Selbstgebastelte Bilderrähmchen, zu denen nicht einmal der geschwätzige Veršinin etwas zu sagen wußte, fragwürdige Versuche auf der Geige in immer entlegeneren Räumen und schließlich das Glücksspiel, bei dem das Erbe der Schwestern veruntreut wird, runden das Bild Andrejs ab, das auch der Bürokratie wenig Ehre macht. Als das Feuer des dritten Akts schließlich sein Engagement verlangt, ist er mehr mit der Wahrung seines fragilen Selbstwertgefühls beschäftigt als mit der Hilfe für die Brandopfer: ANDREJ (böse) Was willst du? Ich verstehe nicht.

„Tri sestry“ (Die drei Schwestern)

267

FERAPONT (in der Tür, ungeduldig) Andrej Sergeevič, ich habe es bereits zehnmal gesagt. ANDREJ Erstens bin ich für dich nicht Andrej Sergeevič, sondern Euer Hochwohlgeboren! FERAPONT Die Feuerwehrleute bitten Euer Hochwohlgeboren, ob sie durch den Garten zum Fluß fahren dürfen. Sonst machen sie Umwege, Umwege – die reine Strafe. ANDREJ Gut. Sage ihnen: gut. (Ferapont geht ab) Wie die mich langweilen (169). Rätselhaft erscheint die Gestalt Protopopovs. Der Vorsitzende des Landschaftsamts, der als Geliebter Natašas und Vorgesetzter Andrejs großen Einfluß auf den Lauf der Ereignisse nimmt, bleibt über die gesamte Handlung hinweg im Hintergrund. Vermutlich ist das Haupt der Bürokratie derart austauschbar, daß sein Auftritt zu einer störenden Individualisierung geführt hätte. Čechov, der von Thomas Mann zu Recht als der „Dichter der Arbeit“ bezeichnet wurde11, zeigt nur wenige Figuren bei ihrer Arbeit. Abgesehen von Ol’ga und Irina, die immer zu Hause sind, wo sie sich von ihrer Erschöpfung erholen, sieht man Bedienstete, die grobe Tätigkeiten ausführen und dabei häufig wie Störfaktoren behandelt werden. Außer dem Büroboten Ferapont, von dem sich Andrej fortlaufend belästigt fühlt, sind da die über achtzigjährige Magd Anfisa, die Njanja, die von den Geschwistern Prozorov herumgescheucht wird, weiterhin die Dienstboten und Kindermädchen, die Nataša mit ins Haus gebracht hat. Während sich die Herrin mit ihrem Geliebten Protopopov vergnügt, erledigen diese Frauen die Aufgaben, über deren Mühsal sich Nataša wiederholt beklagt. Verzweiflung als Grundbefindlichkeit: männliches Erleben Die Lüge ist für Čechov der Versuch, den Grundlagen der menschlichen Existenz zu entkommen, die in der dialektischen Spannung zwischen Werden und Vergehen angelegt sind. Unfähig, sich vor dem Hintergrund der eigenen Sterblichkeit auf den Wert des Lebens zu besinnen, sich für dessen Erhalt zu engagieren, ergreifen die Menschen die Flucht und suchen nach Ersatzbefriedigungen. Dabei geraten sie, um mit Sören Kierkegaard zu sprechen, in den Zustand der Verzweiflung. In seinem Hauptwerk, „Die Krankheit zum Tode“ (1849), setzt der dänische Philosoph die Verzweiflung mit einer Krankheit gleich, die aus einem gestörten Selbst-Sein resultiert. Der Mensch fällt ihr anheim, wenn er sich angesichts seiner Freiheit ängstigt, einer Freiheit, die nur dialektisch Bestand hat: in der Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Möglichkeit und Notwendigkeit. Hält der Mensch diese Synthese nicht aus und versucht, sich für jeweils einen der Pole gegen den anderen zu entscheiden, verliert er sein Selbst und gerät damit in die Verzweiflung.12 Alle Formen dieser Krankheit, die Kierkegaard spezifiziert hat, sind auch im epischen und dramatischen Werk Anton Čechovs zu finden.13 In ihrem Losgelöstsein vom Leben, ihrem gestörten inneren Gleichgewicht und ihrem

268

Anton Čechov

Streben nach einem imaginären Halt leiden die Figuren entweder an der „Verzweiflung der Unendlichkeit“ oder an der „Verzweiflung der Endlichkeit“, der „Verzweiflung der Möglichkeit“ oder der „Verzweiflung der Notwendigkeit“. Der Suche liegt eine Enttäuschung über die Begrenztheit der eigenen Person zugrunde, was nach den Worten Kierkegaards auf zweierlei Weise zum Ausdruck kommt: „Verzweifelt nicht man selbst sein wollen, die Verzweiflung der Schwachheit“14 oder „verzweifelt man selbst sein wollen, Trotz“15. Čechov beobachtet, wie seine Landsleute, besonders die Vertreter der intelligencija, von dieser Krankheit befallen sind, und sieht in der kreativen Arbeit die einzige Möglichkeit, die Verzweiflung zu überwinden.16 Sein eigenes Handeln ist dafür das beste Beispiel: Als Arzt hilft er Menschen, oft unentgeltlich, als Schriftsteller rüttelt er seine gebildete Leserschaft auf, um sie auf die Kostbarkeit des Lebens hinzuweisen. Den Menschen begreiflich zu machen, wie schlecht und langweilig sie leben, ist das Ziel des Dramatikers Čechov. Dabei ist ihm klar, daß das zaristische Regime selbst die Verzweiflung potenziert, indem es sich auf Gott beruft (Verzweiflung der Unendlichkeit), Gleichklang (Verzweiflung der Endlichkeit) und Gleichschritt (Verzweiflung der Notwendigkeit) fordert sowie Großmachtphantasien (Verzweiflung der Möglichkeit) schürt. Die patriarchalische Ordnung, die nicht nur das gesamte System, sondern auch jede einzelne Familie bestimmt, ist der Nährboden für die Verzweiflung schlechthin. In diesem Zustand kommt der von Peter dem Großen 1722 eingeführten Rangtabelle eine besondere Aufgabe zu. An dieser Tabelle konnten sich die Inhaber der militärischen und zivilen Ränge orientieren und ihren imaginären Selbstwert messen. Dementsprechend ist die „Verzweiflung der Endlichkeit“ die am weitesten verbreitete Krankheit.17 Ihr Symptom ist im Zarenreich das, was der Begriff pošlost’ zusammenfaßt, das „Gemeine, Nichtige, Hohle und Banale“18, dem bereits Gogol’ mit allen Kategorien des Lächerlichen adäquat begegnete. In „Tri sestry“ durchwirkt die pošlost’ die gesamte Stadt. Selbst die gebildeten Bewohner bleiben davon nicht verschont, auch wenn sie sich darüber erhaben fühlen. Was Čechov ihnen vorwirft, ist ihre mit Dünkel maskierte Verlogenheit. Dabei wären doch gerade sie aufgrund ihres entwickelten Bewußtseins in der Lage, die Verhältnisse zu durchschauen und zu verändern. Militär und Bürokratie wurden bereits als tragende Säulen des zaristischen Systems hinterfragt. Das gleiche gilt für ihre passiven Vertreter. An einzelnen männlichen Figuren soll nun gezeigt werden, wie die Verzweiflung deren Erleben prägt. Daß sich Andrej als der einzige Sohn des Generals Prozorov nicht für das Militär eignet, ist schon Schande genug. Daß er aber auch der wissenschaftlichen Laufbahn nicht gewachsen ist, stürzt ihn in die Verzweiflung der Schwachheit. Die Rolle des paterfamilias einzunehmen, ist ihm nicht möglich. Ol’gas Feststellung, der Bruder habe „so eine Art, immer wegzugehen“ (130), trifft den Ausdruck dieser Form der Verzweiflung ganz genau. Andrej scheut den Blick der anderen, weil das, was diesem Blick ausgesetzt ist, der Kritik nicht standhält. Sein unbemerktes Abtreten ist der Ausdruck der Verzweiflung,

„Tri sestry“ (Die drei Schwestern)

269

nicht man selbst sein zu wollen. Dazu paßt auch die Partnerwahl: Die kleinbürgerliche Nataša, die das Haus zunächst unsicher betritt, weil sie sich den gebildeten Schwestern unterlegen fühlt, scheint Andrej schwach genug zu sein, um es an ihrer Seite auszuhalten. Kaum in der Rolle der Hausfrau und Mutter gefestigt, die das patriarchalische System einer Frau zubilligt, reißt Nataša jedoch die Herrschaft an sich. In ihrem beschränkten Weltbild zählt ausschließlich der Besitz, den sie sich im Laufe der Jahre aneignet. Wie ein Weibchen im Tierreich pflegt sie nur die eigene Brut und beißt jeden aus dem Nest hinaus, der nicht zu den Ihren gehört. Andrej, der stets versucht hat, seine Frau vor den anderen als wunderbaren Menschen hinzustellen, gesteht sich erst im letzten Akt ein, daß diese ein „kleinliches, blindes, gewissermaßen ruppiges Lebewesen“ ist, dazu „furchtbar gewöhnlich“, so daß er sich fragt, warum er sie eigentlich liebe. Der Vorschlag des alten Militärarztes Čebutykin, einfach fortzugehen, „je weiter, desto besser“ (179), mag zwar dem ständigen Sichentfernen Andrejs entsprechen, würde aber dem Kleinbürgertum dauerhaft den Boden bereiten. Als Alkoholiker selbst ein Meister des Fluchtversuchs, hat sich Čebutykin auf diesem Gebiet der Verzweiflung erfolgreich durchgeschlagen. Andrej, der ganz in der „Verzweiflung der Möglichkeit“ aufzugehen versucht, sieht sich in der „Verzweiflung der Endlichkeit“ gefangen, über die Nataša herrscht. Auffallend ist, daß fast alle Männer die Nähe zu den Frauen suchen, um vor ihnen ihre vermeintlichen Gefühle genießerisch zur Schau zu stellen. Das gilt auch für die betrogenen Ehemänner. Im selben Monolog, in dem Andrej die Gewöhnlichkeit seiner Frau beklagt, nennt er sie „ehrenhaft“, „ordentlich“ und „gut“ (178). Und der Gymnasiallehrer Kulygin, dessen Ehefrau Maša ganz offensichtlich auf sein Fortgehen hofft, um sich mit Veršinin vergnügen zu können, besteht beharrlich auf seiner Liebe zu ihr: KULYGIN Meine Frau, meine gute, meine wunderbare... Ich liebe dich, du meine einzige... MAŠA (böse) Amo, amas, amat, amamus, amatis, amant. KULYGIN (lacht) Nein, wirklich, sie ist zum Erstaunen. Verheiratet bin ich mit dir sieben Jahre, und dabei ist mir, als wären wir erst gestern getraut. Ehrenwort. Nein, wirklich, du bist eine erstaunliche Frau. Ich bin zufrieden, zufrieden, zufrieden! MAŠA Das ist mir zuwider, zuwider, zuwider! (165). Kulygins leitmotivisches Lachen negiert den Ernst der Situation und stellt Ungezwungenheit zur Schau. Hinter den Äußerungen des Lehrers steht nicht nur die Mißachtung der Gefühle anderer, sondern auch der selbstgefällige Wunsch, die eigene Weltsicht zu verabsolutieren. Für den angepaßten Provinzler ist nur das akzeptabel, was sein darf. Mašas offenkundige Neigung zu Veršinin wird vom Ehemann nicht mit Eifersucht beantwortet, sondern mit Leugnung. Nachdem sich Veršinin im vierten Akt von Maša verabschiedet hat, läßt Kulygin sofort verlauten, daß das Geschehene vergessen sei. Darüber, daß er und Maša keine gemeinsame Lebensbasis haben, macht er sich keine Gedanken.

270

Anton Čechov

In der Verabsolutierung ihrer Liebe gleichen sich alle männlichen Figuren in „Tri sestry“. Wie die verehrte Frau auf das Liebeswerben reagiert, scheint dabei sekundär zu sein. Eine Prüfung der Beziehung würde die „Verzweiflung der Möglichkeit“ gefährden und die Helden in die „Verzweiflung der Endlichkeit“ zurückstoßen, der sie mit ihrem Rollenspiel zu entkommen trachten. Protagonist dieser Krankheit ist Baron Tuzenbach, der nicht aufhört, Irina zu umwerben, obwohl er auf keine Gegenliebe stößt. Anstatt ihren Wunsch zu respektieren und sich zurückzuhalten, verfolgt er die Angebetete fortwährend und sieht sich, solange sie ihn nicht aus dem Haus wirft, noch ermutigt, dies weiterhin zu tun. Als Irina im zweiten Akt völlig ermüdet von der Arbeit kommt, findet sie den untätigen Baron an ihrer Seite, der ihre Erschöpfung mit Entzücken quittiert: IRINA Wie müde ich bin! TUZENBACH Und ich werde jeden Abend aufs Telegrafenamt kommen und Sie nach Hause begleiten. Ich werde das zehn, zwanzig Jahre lang tun, solange Sie mich nicht fortjagen... [...] IRINA […] Ich bin müde. TUZENBACH (mit einem Lächeln) Wenn Sie vom Dienst kommen, erscheinen Sie immer so kindlich jung, so ein bißchen unglücklich... (Pause) IRINA Ich bin müde. Nein, ich liebe das Telegrafenamt nicht, ich liebe es nicht (144). Der Eintritt ins Arbeitsleben, den der Baron zu Beginn proklamiert hat, wird an seinem sinnlosen Tod in einem Duell scheitern, das der eifersüchtige Solenyj vom Zaun gebrochen hat. Als Relikt einer vergangenen Zeit, in der die männliche Ehre über allem stand, zerstört das Duell jegliche Zukunftspläne. Tuzenbachs Versprechen, Irina „glücklich“ zu machen (180), wird nicht eingelöst. Ist es doch in der „Verzweiflung der Möglichkeit“ begründet, all das zu verhindern, was den Traum in Realität umwandeln würde. Die unterschiedliche Wahrnehmung von Mann und Frau läßt sich in dem Drama beständig konstatieren. Dabei erscheinen die Schwestern als Projektionsflächen ihrer Konfiguranten. So betont Kulygin wiederholt, daß er auch Ol’ga oder Irina hätte heiraten können. Das Lob für jede der Frauen gibt Maša das Gefühl der Austauschbarkeit und unterstreicht zugleich die Oberflächlichkeit ihres Gatten. Solenyj wiederum, der Irina für „hoch und rein“ und somit für fähig erklärt, ihn zu verstehen, reagiert auf ihre kühle Ablehnung mit dem Versprechen, jeden glücklicheren Rivalen aus ihrem Leben auszuschalten (154). Um das, was Irina wünscht, geht es ihm offensichtlich nicht. Und Čebutykin, der wiederholt bekundet, die Mutter der Geschwister Prozorov geliebt zu haben, kann sich, von Maša befragt, „nicht mehr erinnern“, ob seine Gefühle erwidert wurden (176). Ganz auf sein eigenes Erleben fixiert, bringt er seine Gefühle nun Irina entgegen, weil sie der Mutter gleicht. Ähnlich Solenyj ist er bereit, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die ihn von der jungen Frau trennen könnten. Mašas Sorge, daß Tuzenbach im Duell mit Solenyj verletzt werden könnte, quittiert er mit den Worten: „Der Baron ist ein guter Mensch. Aber ob es

„Tri sestry“ (Die drei Schwestern)

271

nun einen Baron mehr oder weniger gibt – ist das nicht völlig gleich? Sollen sie! Alles gleich!“ (178). Von allen männlichen Figuren verkörpert Čebutykin am deutlichsten einen ungenierten Fatalismus. Wenn er dennoch komisch und sogar sympathisch wirkt, liegt das an der Kontrastfunktion, die er seinen Geschlechtsgenossen gegenüber hat. Während Tuzenbach und Veršinin meinen, den Fatalismus mit ihren geistigen Höhenflügen zu transzendieren, leben gerade sie ihn aus und stürzen damit andere ins Unglück. Čebutykin demaskiert hingegen mit seinen fortwährend sarkastischen Bemerkungen die „Verzweiflung der Möglichkeit“, die nichts anderes ist als Lüge. Verzweiflung als Grundbefindlichkeit: weibliches Erleben In seinem Interesse an einem von Lüge und Autorität befreiten Menschen, der sich einzig seinem Gewissen verpflichtet sieht, richtete Čechov sein besonderes Augenmerk auf die Frau.19 Er stellte immer wieder Heldinnen aus verschiedenen Schichten der Bevölkerung dar, widmete sich aber zusehends der gebildeten Frau, die ihre Lage zu reflektieren versteht. Wurden in der russischen Literatur vorher allein männliche Figuren als „überflüssige Menschen“ konzipiert, die vergeblich nach dem Sinn des Lebens und nach einem Platz in der Gesellschaft suchen, so sind es bei Čechov vor allem gebildete Frauen, die an ihrer gespürten Überflüssigkeit leiden. Bedrückt von einer Mitwelt, die sie als selbständige Menschen leugnet, geraten sie an die Grenzen des Erträglichen. Während die Rangtabelle für den Mann Positionen vorsieht, die ihm einen – wenn auch fragwürdigen – Platz in der allgemeinen Ordnung verschaffen, öffnet sich vor der gebildeten Frau der Abgrund der Sinnlosigkeit. Doch das Grauen davor birgt für sie zugleich eine Chance: Aufgrund ihres Bewußtseins und ihrer Sensibilität ist sie in besonderem Maße befähigt, ihr Streben nach Liebe, Schönheit und Gerechtigkeit in die Tat umzusetzen. Daß die Widerstände von außen groß sind, steht außer Frage. Doch Čechov fordert den Frauen diese Beharrlichkeit ab und zeigt damit, daß er sie ernst nimmt. Das gilt in besonderem Maße für „Tri sestry“, einem Stück, in dem eine Vielfalt von weiblichen Lebensentwürfen dargeboten wird. Im folgenden soll nicht die Rede von Nataša sein, die in ihrer Funktion als Hausfrau und Mutter den Postulaten der patriarchalischen Ordnung entspricht und diese für ihre eigenen Interessen umzumünzen trachtet, sondern von den Titelheldinnen. Mit Bedacht werden sie in einem Alter gezeigt, in dem ihr Bewußtsein voll entwickelt ist. Doch all diesen guten Voraussetzungen zum Trotz dominiert die Sozialisation ihr Welterleben. Ol’ga, Maša und Irina sind Generalstöchter und durch die Stellung des Vaters in ihrer Wahrnehmung deutlich geprägt. Das läßt sich schon daran erkennen, daß sein Name das erste gesprochene Wort des Dramas ist: „Vater starb genau vor einem Jahr.“ Da die Mutter der drei Schwestern früh verschied, hatte der Vater eine noch wichtigere Rolle in ihrem Leben inne. Dabei sahen sich die Geschwister verpflichtet, die Ausbildung zu durchlaufen, die er für sie bestimmt hatte: Als höhere Töchter wurden die Mäd-

272

Anton Čechov

chen musisch unterrichtet, um die in diesen Kreisen übliche kulturelle Aussteuer zu erhalten. Dem einzigen Sohn wurde darüber hinaus die wissenschaftliche Laufbahn anbefohlen. Andrejs Ausruf „Aber was uns das gekostet hat!“ (131) zeigt, daß sich die Geschwister deutlich überfordert fühlten, sich aber dennoch nicht geweigert hatten, die hochgesteckten Erwartungen zu erfüllen. Die Reaktion auf den Tod des Vaters war dementsprechend stark. Ol’ga erinnert sich in ihrem Eingangsmonolog, daß sie glaubte, das Ereignis nicht zu überleben, und daß Irina in Ohnmacht lag „wie eine Tote“ (119). Während das Haus zu Lebzeiten des Generals voller Menschen war und sich Offiziersburschen um die praktischen Angelegenheiten kümmerten, ist es jetzt nahezu verlassen. Die Schwestern hinterfragen aber nicht die Interesselosigkeit des Militärs, sondern beklagen ihre zunehmende Vereinsamung. Was die Erwartung der beiden älteren Schwestern betrifft, so ist sie von einem dominanten paterfamilias geprägt: Der Mann stellt den Mittelpunkt im Leben einer Frau dar. Er wird von ihr verehrt und gefürchtet. Ol’ga, die offensichtlich keine Verehrer angezogen und den Beruf der Lehrerin vier Jahre vor Einsetzen der Handlung ergriffen hat, sieht es als „Pflicht“ an zu heiraten und zu Hause zu sitzen. Sie belehrt Irina: „Man heiratet ja doch nicht aus Liebe, sondern um seine Pflicht zu erfüllen. Ich wenigstens denke so und würde auch ohne Liebe in die Ehe gehen. Wer immer um mich anhielte, ich würde jedenfalls heiraten, wenn er nur ein ordentlicher Mensch ist. Selbst einen Alten würde ich heiraten...“ (168). Warum sie Gymnasiallehrerin geworden ist, wird nie thematisiert. Vermutlich wurde ihr dies vom Vater nahegelegt. Statt den Beruf kreativ auszugestalten, geht sie ihm in angestrengtem Pflichtbewußtsein nach.20 Auf Irinas Namenstagsfeier im ersten Akt erscheint Ol’ga in ihrer Schuluniform und korrigiert während des Sprechens Hefte. Ihre Schülerinnen werden nicht als Herausforderung gesehen, sondern als Störfaktor: „Ich bin alt geworden und abgemagert, wahrscheinlich weil ich mich im Gymnasium über kleine Mädchen ärgere“ (120). Leitmotivisch erwähnt werden die Kopfschmerzen, unter denen Ol’ga leidet. Doch selbst dieser Druck bewirkt nicht, daß sie der „Verzweiflung der Notwendigkeit“ den Gehorsam aufkündigt. Am Ende der Handlung ist sie Schulleiterin. Offensichtlich außerstande, sich den Wünschen anderer zu entziehen, kommt sie dagegen Pflichten, die ihre Aktivität fordern, nicht nach. So versagt sie, wenn es darum geht, Andrej auf seine Spielschulden hin anzusprechen oder Nataša in ihrem Eroberungsfeldzug aufzuhalten. Im Gegensatz zu Ol’ga ist Maša verheiratet, wobei nicht das Pflichtgefühl beherrschend ist, sondern der Wunsch, zu einem Mann aufzuschauen. Maša beschreibt die seltsamen Vorstellungen, mit denen sie in die Ehe ging, Veršinin gegenüber mit den Worten: „Als man mich verheiratete, war ich achtzehn, und ich fürchtete meinen Mann, weil er Lehrer war und ich gerade erst von der Schule kam. Er schien mir damals schrecklich gelehrt zu sein, klug und bedeutend. Das ist jetzt nicht mehr so, leider.“ Darauf Veršinin: „So... ja“ (142). Genauso merkwürdig wie Mašas Erwartung an ihren Ehemann ist die an ihren

„Tri sestry“ (Die drei Schwestern)

273

Geliebten. Geweckt wird ihr Interesse zum einen durch seinen Ruf als Schwerenöter, zum anderen durch seine Fähigkeit, die Erinnerung an den verstorbenen Vater wachzurufen. „Ihr Vater“, so Veršinin, „blieb mir erhalten in der Erinnerung: Ich schließ die Augen und seh ihn wie lebendig. Ich verkehrte bei Ihnen in Moskau“ (127). Daß Veršinins Gattin nicht ohne Grund suizidgefährdet ist, beschäftigt niemanden. Als Frau, die „hochtrabende Dinge“ redet und „philosophiert“, gilt sie als „halbverrückt“ (122), wohingegen ihrem Mann, der das Glück der Menschheit auf eine ferne Zukunft hin vertagt, mit Andacht gelauscht wird. Veršinin, der mit seiner unglücklichen Ehe überall hausieren geht, Maša aber versichert, daß sie die einzige sei, der er sich anvertraue, hat mit seinem Kennerblick sofort die unbefriedigte Ehefrau erkannt. Daß er auf Mašas despektierliche Äußerungen gegenüber ihrem Mann nicht reagiert, belegt, daß er kein ernsthaftes Interesse an ihr hat. In der Abschiedsszene des vierten Akts schüttelt er sie regelrecht ab, um in der Ferne neuen Abenteuern entgegenzuziehen. In dem verwaisten Haus der Geschwister Prozorov wirkt Oberstleutnant Veršinin wie ein Brandbeschleuniger der Liebe. Kaum hat Baron Tuzenbach die Visite des neuen Batterie-Kommandeurs angekündigt, lädt sich die Atmosphäre erotisch auf. Während die altjüngferliche Ol’ga die Höflichkeitsfloskel „sehr angenehm“ von sich gibt (122), ist Irinas Interesse deutlicher. Gezielt fragt sie nach seinem Alter und Charakter, läßt aber das Thema fallen, als sie erfährt, daß er verheiratet ist. Die Erotisierung nimmt ab und kehrt dann wieder, als Veršinin erneut das Haus betritt. Wenn Irina von der Njanja aufgefordert wird, „recht freundlich“ und „recht nett“ zu sein (126), sind damit bestimmte Erwartungen verbunden. Es ist allerdings Maša, die sofort die Erinnerung an den „verliebten Major“ weckt, der er einst war, als er in Moskau bei den Prozorovs verkehrte (127). Völlig überdreht übertragen die drei Schwestern das Thema des Verliebtseins auf ihren Bruder Andrej. Haben sie sich in seiner Abwesenheit über Nataša mokiert, deren Gewöhnlichkeit sie vor Veršinin bloßstellen, erregen sie sich nun über Andrejs Gefühle, nachdem er vergeblich versucht hat, sich gleich wieder zu entfernen: MAŠA Komm doch, komm. ANDREJ Laßt mich, bitte. MAŠA Wie komisch du bist! Aleksandr Ignat’evič hat man früher den verliebten Major genannt, und er war nicht im geringsten böse. VERŠININ Nicht im geringsten! MAŠA Aber dich möchte ich nennen: der verliebte Violinspieler! IRINA Oder der verliebte Professor. OL’GA Er ist verliebt! Andrjuša ist verliebt! IRINA (applaudierend) Bravo, bravo! Dacapo! Andrjuška ist verliebt! (130). Das exaltierte Gebaren der Schwestern vor einem Fremden, die Preisgabe intimster Wünsche ihres Bruders, läßt sich nur mit der gespannten Erwartung der drei Frauen erklären. Veršinin wird sich zielgerichtet die Verheiratete unter den Schwestern aussuchen, weil sie keine Ansprüche stellen kann.

274

Anton Čechov

Čechov demonstriert an Ol’ga und Maša, wie beide in der Verzweiflung stagnieren. Ol’ga befreit sich ebensowenig aus ihrer Zwangslage wie Maša, die eine Trennung von Kulygin nicht einmal erwägt. Daß Maša nach der Trennung von ihrem Liebhaber ein „mißlungenes Leben“ konstatiert (185), ist in Anbetracht von Veršinins Charakter abwegig. Offensichtlich sind die beiden älteren Schwestern resistent gegen jegliche Wahrnehmung ihrer Defizite. Irina ist es hingegen vergönnt, Pläne zu schmieden, zu scheitern, aus ihrem Scheitern zu lernen und einen Neuanfang zu wagen. Desinteressiert an den Liebesbekundungen der Männer, versucht sie verzweifelt, sie selbst zu sein und sich damit von den Lebensentwürfen der beiden älteren Schwestern abzugrenzen. Der lange Monolog, den sie an ihrem Namenstag hinausjubelt, ist von seiner Programmatik her naiv, von seiner Motivation her jedoch dem Leben zugewandt und folglich, von Čechov aus gesehen, entwicklungsfähig: „Als ich heute erwachte, aufstand und mich wusch, schien es mir plötzlich, als sei mir alles klar auf dieser Welt, und ich wußte, wie man zu leben hat. [...] Der Mensch muß arbeiten, sich abmühen im Schweiße seines Angesichts, wer er auch sei, und darin allein besteht Sinn und Ziel seines Lebens, sein Glück, seine Wonne. Wie gut ist es, ein Arbeiter zu sein, der schon bei Tagesgrauen aufsteht und auf der Straße Steine klopft, oder ein Hirte oder ein Lehrer, der die Kinder lehrt, oder ein Maschinist auf der Eisenbahn“ (123). Obwohl Irina von ihren Gästen wenig Anregung empfängt, entscheidet sie sich für das Berufsleben. Ihre Unerfahrenheit treibt sie in die typischen Frauenberufe der Zeit21, die für einen anspruchsvollen Menschen wenig befriedigend sind. Anders als Ol’ga entscheidet sie sich aber nicht für zwangsneurotischen Gehorsam, sondern für die Veränderung. Sie löst sich aus den Beziehungen, die sie nicht zufriedenstellen. Der Beruf der Lehrerin, der ihr am Ende offensteht, ist kreativ und nützlich. Daß sie vor einer unglücklichen Ehe mit einem ungeliebten Mann bewahrt bleibt, ist eine typische Pointe Čechovs. Das sinnlose Duell, dem sich Baron Tuzenbach überantwortet, zeigt den Niedergang der alten patriarchalischen Ordnung. Ohne es in diesem Moment zu realisieren, wird Irina vor einem falschen Lebensweg bewahrt. Čechovs Spiel mit dem Grunderlebnis der Tragik Versteht man Tragik als Widerspruch zwischen dem Sein in seinen berechtigten Ansprüchen und den ihm von außen gesetzten Schranken, als Widerspruch zwischen Wollen und Sollen, der Leid oder gar Vernichtung zur Folge hat22, so ist sie bei Čechov dort zu finden, wo ein Mensch wirklich zu leben wünscht, durch äußere Zwänge aber davon abgehalten wird und ein fremdbestimmtes Dasein führt. In „Tri sestry“ ist diese Form der Tragik nur in einem Fall gegeben: dort, wo das Recht auf Leben mit der neuen Wirtschaftsordnung kollidiert, in der ein Mensch ausschließlich Warencharakter hat. Wer erschöpft ist und nicht mehr arbeiten kann, wird ausgesondert. Es ist die Magd Anfisa, die den Geschwistern Prozorov über dreißig Jahre gedient hat und nun, unter der Herrschaft Natašas,

„Tri sestry“ (Die drei Schwestern)

275

zurück aufs Land geschickt werden soll. In einer dramatischen Szene, in der Nataša die alte Frau grob des Zimmers verwiesen hat, setzt der Kampf um deren Bleiberecht ein: NATAŠA […] aber du mußt doch zugeben, meine Liebe, daß sie auch auf dem Dorf leben könnte. OL’GA Sie ist schon dreißig Jahre bei uns. NATAŠA Aber sie kann doch nicht mehr arbeiten! Entweder verstehe ich dich nicht, oder du willst mich nicht verstehen. Sie ist doch unfähig zur Arbeit, sie schläft bloß oder sitzt herum. OL’GA Mag sie sitzen. NATAŠA (erstaunt) Wieso „mag sie sitzen“? Aber sie ist doch ein Dienstbote (159). Mit zweiundachtzig Jahren zurück aufs Land verstoßen, wo sie niemand mehr kennt, wäre die Njanja dem Hungertod preisgegeben. Als Hausherrin, die Ol’ga immer noch ist, müßte sie ihr beistehen und die Schwägerin in die Schranken weisen. Statt dies zu tun, flüchtet sie sich in die Depression, regt sich über die Gefühllosigkeit auf und erhebt keinen Widerspruch, als Nataša ankündigt, Anfisa aus dem Haus zu werfen. Es ist das Schicksal, das der Kinderfrau zu Hilfe kommt, genaugenommen die von Ol’ga ungewollte Beförderung zur Schulleiterin. Nun steht ihr eine Dienstwohnung zu, in die sie die Njanja mitnimmt. Im letzten Akt tritt diese als der einzig glückliche Mensch in der Welt von „Tri sestry“ auf: „(Zu Irina) Hehe, Kindchen, wie ich lebe! Wie ich lebe! Im Gymnasium in der Amtswohnung, zusammen mit Oljuška – hat mich der liebe Gott dorthin geschickt auf meine alten Tage. Seit ich geboren bin, habe ich Sünderin so nicht gelebt... Eine große Wohnung, eine amtliche, und mir ein ganzes Zimmer mit Bettchen. Alles auf Staatskosten. Nachts wach ich auf und – o Herr, Mutter Gottes, glücklicher als mich gibt es keinen Menschen (183). Mit der Pointe, daß der schwächste Mensch am Ende der glücklichste ist, illustriert der Autor, wie jemand gemäß seiner Lebensführung die Früchte seiner Taten erntet. Im Fall der anderen dramatis personae muß man eher von Komik als von Tragik sprechen. Reine Komik ist bei Čechov dann gegeben, wenn sich ein Mensch trotz äußerer Freiheit selbst daran hindert, erfüllt zu leben. Das trifft auf den Müßiggänger Tuzenbach zu, der vier Jahre davon spricht, daß er arbeiten wolle, zuletzt kurz vor dem Arbeitsbeginn steht, dann aber sein Leben sinnlos vergeudet. Der Tod im Duell ist keineswegs tragisch, sondern allenfalls grotesk. Gerade im Fall der intelligencija ist die Darstellung der Tragik für Čechov unmöglich geworden, weil diese gesellschaftliche Gruppe aufgrund ihres Bewußtseins die innere Freiheit besitzt, ihr Leben als solches zu reflektieren und zu verändern. Da die drei Schwestern im Laufe der Handlung nichts tun, sondern sich von destruktiven Kräften treiben und vertreiben lassen, könnte man von reiner Komik sprechen, würden die Titelheldinnen nicht so vehement an ihrer Unerfülltheit leiden. Was intendiert Čechov mit dieser Brechung der traditionellen Tragik?

276

Anton Čechov

Katharsis, Reinigung durch Furcht und Mitleid23, wird bei Čechov durch Selbsterkenntnis erreicht. Der Zuschauer sieht sich aufgefordert, seine Freiheit zu wählen gegen alle Widerstände von außen. Gewünscht wird nicht die emotional-passive Hingabe, zu der Stanislavskijs Illusionismus häufig verleitete, sondern die Wahrung der Distanz gegenüber den Figuren und die Aktivierung der Erkenntnis über das eigene Dasein24 – Jahrzehnte vor Brecht und seiner Verfremdungstechnik. Čechovs Verfahren besteht darin, mit dem Grunderlebnis der Tragik zu spielen, einer Tragik, die subjektiv empfunden wird, obgleich sie objektiv nicht besteht. Der Begriff des Spiels geht auf Schiller zurück, der den Spieltrieb als Fähigkeit des Menschen begreift, zwischen den Kräften der Vernunft und der Sinnlichkeit zu vermitteln. Die ästhetische Erziehung schafft laut Schiller eine Veredelung des Charakters und damit eine Verbesserung der politischen Verhältnisse.25 Mit dem Mittel der Desillusionierung zeigt Čechov, daß zwischen Tragik und Verzweiflung Welten liegen. Während die Tragik Ausdruck der Ohnmacht ist, ist die Verzweiflung das Resultat zurückgewiesener Freiheit. Und diese zurückgewiesene Freiheit schädigt nicht nur die Entscheidungsträger, sondern die gesamte Mitwelt. Obwohl die drei Titelheldinnen durch die Institution des Militärs nur Leid erfahren haben, bleiben sie ihr verbunden, bis die Brigade ihnen durch den offiziellen Abzug schließlich entrissen wird. Einst hatte die Dienstpflicht des Vaters ihnen Moskau genommen und sie in die ungeliebte Provinzstadt gezwungen, jetzt hat der Tod des Vaters das Fortbleiben all derer zur Folge, die sich keinen Nutzen mehr vom Besuch des Hauses Prozorov versprechen. Der Abzug der Brigade erfolgt kurz und schmerzlos. Von daher ist es paradox, wenn sich Ol’ga und Maša in der Schlußszene ausgerechnet von der Militärmusik zum Weiterleben ermuntern lassen: MAŠA Oh, wie die Musik spielt! Sie gehen fort von uns, einer ging ganz fort, für immer; wir bleiben allein, um unser Leben von neuem anzufangen. Man muß leben... Man muß leben... IRINA Ich fahre morgen allein fort, werde in der Schule lehren und mein ganzes Leben denen geben, die seiner vielleicht bedürfen. OL’GA Die Musik spielt so froh, so lustig, daß man leben will! O mein Gott! […] Oh, liebe Schwestern, unser Leben ist noch nicht zu Ende. Wir werden leben! Die Musik spielt so lustig, so froh, und es ist, als brauchte es nur wenig, um zu wissen, warum wir leben, warum wir leiden... Wenn man nur wüßte, wenn man nur wüßte! (187 f.). Die fröhlich aufspielende Kapelle, deren Musik dem Exerzieren und dem Waffendrill dient26, ist die angemessene Untermalung der Verzweiflung, in der sich Ol’ga und Maša eingenistet haben. Irinas Rede ist hingegen auf den morgigen Tag ausgerichtet, an dem sie mit der Arbeit beginnt. Die sich potenzierende Verzweiflung der Titelheldinnen, die in zwei Fällen (Ol’ga und Maša) in die Bewegungslosigkeit und in einem Fall (Irina) in die Bewegung führt, durchwirkt die gesamte Makrostruktur des Textes. Die vier

„Tri sestry“ (Die drei Schwestern)

277

Akte entsprechen der Offenheit der Lösung und sind durch die folgenden Befindlichkeiten bestimmt: Sehnsucht (erster Akt), Enttäuschung (zweiter Akt), Erschöpfung (dritter Akt) und Desillusionierung (vierter Akt). Die Sehnsucht, die der „Verzweiflung der Möglichkeit“ entspricht27, ist von Anbeginn zum Scheitern verurteilt. Die „Verzweiflung der Möglichkeit“, die den Männern die süße Gelegenheit bietet, den Notwendigkeiten des Alltags zu entfliehen und ihre Bedürfnisse auf die Frauen zu projizieren, wird viel Dramatik in das Leben der Heldinnen bringen. Čebutykin wird alles daransetzen, sich Irina nicht nehmen zu lassen, Andrej läßt Nataša gewähren, Veršinin sucht sich die Verheiratete unter den Schwestern heraus, um keine Verpflichtungen einzugehen, und Baron Tuzenbach wird durch seine eigene Unfähigkeit daran gehindert, Irina in ihrem Tatendrang zu lähmen. Mit den vier Akten korrespondiert eine Handlungszeit von viereinhalb Jahren, aus denen einzelne Situationen als wesentlich herausgenommen werden: So beginnt die Handlung an Irinas Namenstag im Mai (erster Akt), setzt sich knapp zwei Jahre danach in der Butterwoche im Januar fort (zweiter Akt), erreicht ihren Höhepunkt über zwei Jahre später mit dem Brand in einer Sommernacht (dritter Akt) und schließt mit dem Abzug der Brigade im Herbst desselben Jahres (vierter Akt). Bei einem gleichbleibenden Figurenensemble, das durch äußere Anlässe immer aufs neue zusammenfindet, wird das Andrängen der Außenwelt zusehends heftiger. Während der erste und der vierte Akt, die am Tage spielen, durch eine Aufbruchsituation gekennzeichnet sind, sind der zweite und dritte Akt, die in der Nacht spielen, durch eine Gefahr gekennzeichnet, die durch das Symbol des Feuers zum Ausdruck kommt. Nataša, die im zweiten Akt ihr Regiment über das Haus angetreten hat, durchsucht mit einer Kerze in der Hand die Räume nach offenen Brandherden. Mißtrauisch gegenüber der Dienerschaft und fixiert auf ihren Besitz, gibt sie sich der Vorstellung hin, daß ihre Habe in Gefahr sei. Wenn ausgerechnet sie ihre Kerze stehen läßt, markiert Čechov, daß diese Figur im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich ist. Maša registriert das im dritten Akt, als sie von der herumschleichenden Schwägerin meint, sie sähe so aus, als habe sie „selbst das Feuer gelegt“ (168). Der Brand, der außerhalb des Hauses wütet, soll vor allem die mangelnde soziale Einstellung der Figuren belegen. Während Ol’ga die Njanja derart mit Hilfsgütern belastet, daß sich die alte Frau kaum noch auf den Beinen halten kann, gibt sich Maša ihrer Liebe zu Veršinin hin; Nataša sorgt sich, mit der Aufnahme von Brandopfern zu entgegenkommend gewesen zu sein; Irina, völlig mit den Nerven am Ende, beschließt, den Baron zu heiraten; und die Herren kommen zum Philosophieren zusammen. Bei aller Komik, die aus der Ich-Bezogenheit der intelligencija erwächst, wird durch Botenberichte kein Zweifel an der furchtbaren Verwüstung gelassen, die das Feuer hinterläßt. Im übertragenen Sinne sind auch die Schwestern abgebrannt, da der Bruder ihren Besitz verspielt hat. Der Handlungsraum wird in und vor dem Haus der Prozorovs konkretisiert. In den ersten beiden Akten trifft man sich noch im Saal, also im Gesellschafts-

278

Anton Čechov

raum des Hauses, im dritten Akt im Schlafzimmer Ol’gas und Irinas, also im privaten Bereich. Im vierten Akt ist das Haus für die Schwestern verloren. Man nimmt im Garten von der Brigade Abschied und gibt sich einem Leiden hin, das man nicht verstehen will. Die Verdrängung aus dem Vaterhaus bedeutet die Befreiung von den Fesseln der Vergangenheit, die nur einen trügerischen Halt boten. Irina, die seit Handlungsbeginn schweben wollte (122), überläßt sich nun dem freien Flug in eine ungewisse, aber entwicklungsfähige Zukunft.

Bodo Zelinsky

Anton Čechov: Višnevyj sad (Der Kirschgarten) Nachdem Čechov in „Tri sestry“ (Die drei Schwestern, 1901) Figuren im Zustand der Verzweiflung gezeigt und das Stück somit in die Nähe der Tragödie gerückt hatte, verspürte er das „starke Verlangen“ für das Moskauer Künstlertheater ein „Vaudeville in vier Akten oder eine Komödie“ zu schreiben.1 Es sollte, wie er am 18. Dezember 1901 an seine Frau, die Schauspielerin Ol’ga Knipper, schrieb, ein „komisches Stück“ sein, „in dem nur so der Teufel los ist“.2 Das erinnert in der Formulierung an die Worte, die Gogol’ benutzte, als er im Oktober 1835 Puškin um eine russische Anekdote bat und versprach, daraus eine „Komödie in fünf Akten“ zu machen, die „komischer als der Teufel“ sein wird.3 Die Lust zu ausgelassener, ja überbordender Komik stand in eigentümlichem Kontrast zu der körperlichen und seelischen Verfassung, in der sich Čechov zu dieser Zeit befand. Deshalb wußte er von vornherein, daß er sein Manuskript den Leitern des Künstlertheaters, Stanislavskij und Nemirovič-Dančenko, „nicht vor Ende 1903“ übergeben würde. Als er dann endlich am 21. Februar 1903 mit der Niederschrift begann, benötigte er, obgleich das Stück, dessen Titel von Anfang an feststand, „im Kopf fertig“ war, statt der veranschlagten vier Wochen ganze acht Monate.4 Nach siebenmonatiger Arbeit, als noch immer kein Ende abzusehen war, schrieb er an Stanislavskij: „Mein Stück kommt nur mühsam voran, was ich ebenso mit meiner Faulheit wie mit dem herrlichen Wetter und der Schwierigkeit des Sujets erkläre.“5 Der Hauptgrund lag weniger in dem Gefühl zunehmender Vereinsamung („Ich führe ein Leben wie ein Verbannter“6) als in dem ständigen Auf und Ab des gesundheitlichen Zustands, eine Folge der Lungentuberkulose, die, in Ansätzen seit 1884 sichtbar, 1897 erstmals offen zutage trat und die zu häufiger ärztlicher Behandlung und zur Übersiedlung von Melichovo nach Jalta auf der Krim zwang. Čechov versuchte stets, seine Krankheit zu bagatellisieren, und er verzichtete selten auf Spott und Ironie, wenn es galt, das eigene Befinden zu schildern. Dennoch mußte er oft genug eingestehen, daß zwischen Krankheit und künstlerischer Unproduktivität ein unlösbarer Zusammenhang bestand. „Zur Zeit liege ich im Bett und bin damit beschäftigt, Blut zu husten“, schrieb er im Dezember 1901, „wenn es mir besser geht, fange ich auch wieder mit dem Schreiben an.“7 Und noch im Oktober 1903, während der Reinschrift des „Kirschgarten“-Manuskripts, überlegte er, „was unter günstigeren Umständen, das heißt bei völliger Gesundheit, aus dem Sujet zu machen gewesen wäre“.8 So ist die Entstehungsgeschichte von „Višnevyj sad“ zugleich auch ein Stück Krankheitsgeschichte. Das bezeugen die Briefe, die Čechov fast täglich aus seinem „warmen Sibirien“9 an Freunde, Bekannte und Kollegen, vor allem aber an Ol’ga Knipper sandte. Selbst wenn diese Zeugnisse, wie alle seine dichterischen Texte, mehr verschweigen als enthüllen, vermitteln sie doch einen Ein-

280

Anton Čechov

druck von der Anstrengung, unter der das letzte der vier großen Stücke entstand. Gerade weil die Arbeit so „qualvoll“ war, gekennzeichnet durch „lange Entreakte“ und ausgeführt bei „Husten“ und „zerrüttetem Magen“10, lag Čechov so viel am Ergebnis. Deshalb wartete er, kaum war das zweimal ins Reine geschriebene Manuskript abgeschickt, gespannt und zugleich ängstlich auf die ersten Reaktionen11; deshalb kümmerte er sich persönlich um die Besetzung der Rollen und erläuterte, wie die dramatis personae im einzelnen aufzufassen seien12; deshalb machte er sich Gedanken über den Stil der Inszenierung und gab genaue Hinweise auf Bühnenbild und Ausstattung13; und deshalb fuhr er schließlich selbst nach Moskau, um wochenlang, Tag für Tag, beratend und korrigierend an den Proben teilzunehmen.14 Die Probenarbeit war ihm nicht weniger wichtig als zuvor die Arbeit am Schreibtisch. Aber sie trug, zusammen mit den Verpflichtungen, die der Aufenthalt in Moskau nach sich zog, erheblich zur weiteren Schwächung seines Körpers bei. Die Uraufführung des Stücks am 17. Januar 1904, dem vierundvierzigsten Geburtstag Čechovs, erwies sich als eine zusätzliche Strapaze. Vor dem vierten Akt fanden langanhaltende Ehrungen und Gratulationen statt. Stanislavskij fühlte sich im Rückblick an eine „Totenfeier“15 erinnert. In der Tat, die Feierlichkeiten auf der Bühne des Künstlertheaters leiteten für Čechov die letzten Lebensmonate ein. Erschöpft kehrte er nach Jalta zurück. Ein halbes Jahr später starb er in Badenweiler. Nachdem „Višnevyj sad“ geschrieben, überarbeitet und aufgeführt worden war, schienen die Kräfte des Autors verbraucht zu sein. „Komödie in vier Akten“ Das Stück, mit dem Čechov gegen das Wissen um die Nähe des eigenen Todes anschrieb, ist in Ton, Stimmung und Atmosphäre so hoffnungsvoll und bei aller elegischen Rückschau so optimistisch wie kein anderes seiner Bühnenwerke zuvor. Es besitzt darüber hinaus eine Leichtigkeit von fast spielerischer Art und dazu eine Heiterkeit, die nicht selten ans Ausgelassene grenzt. Deshalb klagte Čechov nach der Uraufführung: „Weshalb wird mein Stück auf Plakaten und in Zeitungsanzeigen so hartnäckig als Drama bezeichnet?“16 Hatte er doch kurz vor Vollendung des Manuskripts im September 1903 der Schauspielerin Marija Lilina, die in der Uraufführung die Figur der Anja verkörperte, in Übereinstimmung mit seiner Ausgangsabsicht mitgeteilt, es sei „kein Drama geworden, sondern eine Komödie, stellenweise sogar eine Farce“.17 Stanislavskij war völlig anderer Meinung und schrieb ihm, nachdem er das Manuskript gelesen hatte, nach Jalta zurück: „Das ist keine Komödie, keine Farce, wie Sie schreiben – das ist eine Tragödie, welche Lösung für ein besseres Leben Sie auch im letzten Akt gefunden haben mögen.“18 Dementsprechend hat er „Višnevyj sad“ dann auch inszeniert. Freilich, Čechov leistete dieser Lesart insofern Vorschub, als er in Regieanweisungen häufiger anmerkt, daß eine Person „weint“ oder „unter Tränen“ spricht. Befürchtend, Stanislavskij würde seine Schauspieler die meiste Zeit „in weinerlichem Ton“ sprechen lassen, wies er Nemirovič-Dančenko im

„Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten)

281

voraus darauf hin, daß die Angabe „unter Tränen“ lediglich die „Stimmung“ bezeichne, in der sich jemand momentan befindet, und er fügte hinzu: „Tränen dürfen beim Publikum kein Gefühl der Niedergeschlagenheit hervorrufen.“19 In seiner Inszenierung des Stücks als comédie larmoyante legte Stanislavskij den Akzent ganz auf die Wehmut, die zwar, von der Rückkehr der Heldin in das Haus ihrer Kindheit zu Beginn bis zum unwiederbringlichen Verlust des Familienguts am Ende, den Geschehensablauf durchgehend begleitet, jedoch an keiner Stelle die Vorherrschaft gewinnt. Eine praktische Folge dieses Textverständnisses durch die Regie war die starke Überdehnung der Spieldauer. Čechov, ein Schriftsteller, der sich wie kein anderer zu Puškins Prinzip der Kürze bekannte, sah durch Stanislavskij „alles qualvoll in die Länge gezogen“. „Ein Akt, der zwölf Minuten maximum dauern soll“, beklagte er sich bei Ol’ga Knipper, „läuft bei euch vierzig Minuten.“ Man versteht, daß Čechov sein Stück in der Fassung des Künstlertheaters als „ruiniert“ betrachtete.20 Diese Überzeugung verstärkte ein Faktum, das, ständiger Anlaß zur Auseinandersetzung zwischen Autor und Regisseur, gleichfalls zur Verlangsamung des Spieltempos und zur Verlängerung der Aufführungszeit beitrug. Stanislavskij erstrebte nicht nur ein Theater der wehmütigen Stimmungen, sondern auch eines der naturalistischen Effekte. Dazu pflegte er die Bühne mit einer Vielzahl szenischer Details zu füllen. So genügte es ihm nicht, was in der Regieanweisung zum zweiten Akt angegeben war, und er sah deshalb vor, die „Kapelle“, den „Brunnen“ und die „alte Bank“, auf der Jaša, Dunjaša und Šarlotta eingangs gedankenverloren sitzen, durch eine Heumahdszene und die „Reihe von Telegraphenmasten“ in der Ferne durch einen Fluß, eine Brücke und ein höhergelegenes Herrenhaus zu ergänzen. Statt der „großen Steine, die früher offenbar als Grabplatten gedient hatten“, beabsichtigte er, einen ganzen Friedhof zu errichten; außerdem sollte im Laufe des Akts immer dichterer Nebel aufziehen und gegen Ende ein Froschkonzert und der Ruf des Wachtelkönigs ertönen. Den größten Eindruck aber wollte er mit einem Eisenbahnzug machen. „Erlauben Sie uns“, wandte er sich an Čechov, „in einer der Pausen einen Eisenbahnzug mit Rauchfahne vorüberfahren zu lassen.“21 Čechov antwortete, er sei einverstanden, wenn es „ohne Geräusch, ohne einen einzigen Ton“ möglich wäre.22 Gleichzeitig bat er jedoch seine Frau, Stanislavskij „davon abzubringen“.23 Dessen illusionistische Detailversessenheit hatte er schon 1898 bei den Proben zu „Čajka“ kennengelernt. Stanislavskij wollte seinen Schauspielern auf diese Weise die Einfühlung in die Rolle erleichtern. Dabei übersah er, daß das Identifikationstheater gerade erst von Čechov abgeschafft worden war. Anders dagegen Stanislavskijs Schüler Mejerchol’d. Dieser berief sich auf Čechovs Formel „Bühne ist Kunst“, als er 1907, in einer großen Abhandlung zur Geschichte und Technik des Theaters24, die Naturtreue als Prinzip des Inszenierens einer fundamentalen Kritik unterwarf. Der naturalistische Regisseur verletze die Harmonie des Ganzen eines Stücks, weil er, in die Analyse der einzelnen Teile vertieft und in die filigranhafte Ausgestaltung der jeweiligen Szene

282

Anton Čechov

verliebt, zwangsläufig den Überblick verliere. Exemplifiziert wird dies von Mejerchol’d an der Art und Weise, wie das Künstlertheater den dritten Akt von „Višnevyj sad“ aufführte. Unterstützt von Nemirovič-Dančenko, habe Stanislavskij die „Gags“ betont und aus ihnen jeweils eine „ganze Szene mit allen möglichen Einzelheiten und Tricks“ gemacht.25 In der Tat enthält der Akt, der im Salon spielt, während im Saal getanzt und im Vorzimmer musiziert wird, eine Fülle komischer Momente. Sprachkomik wechselt dabei ab mit Situationskomik. Der Gutsbesitzer Piščik, der eingangs über sich sagt „Ich bin ein Vollblüter“, bricht, während er sich mit dem Studenten Trofimov über seine „Pferdenatur“ unterhält, plötzlich ab, fängt an zu schnarchen, wacht aber gleich wieder auf und setzt die Unterhaltung fort. Bald darauf sucht er hundertdreißig Rubel, betastet beunruhigt („unter Tränen“) seine Taschen und findet das Geld schließlich, nachdem er „richtig ins Schwitzen gekommen“ ist, unter dem Futter seines Jacketts. Trofimov, Piščiks Gesprächspartner, neckt zwischendurch die vorübergehende Varja, indem er sie „Madame Lopachina“ nennt, worauf die so Apostrophierte zornig mit „Herr Kahlkopf“ reagiert. Darüber überhaupt nicht gekränkt, faßt sich Trofimov anschließend, als ihm Varjas Pflegemutter Ljubov’ Andreevna vorwirft, mit siebenundzwanzig Jahren noch keine Geliebte zu haben, entsetzt an den Kopf, läuft in den Saal, kehrt zurück und geht dann endgültig. Kaum ist er gegangen, hört man Gepolter, Geschrei und Gelächter. „Petja ist die Treppe heruntergefallen!“, ruft die hereinstürzende Anja lachend. „Ein komischer Kauz, dieser Petja“, kommentiert Ljubov’ Andreevna den Vorfall lakonisch. Ebenfalls lachend meldet zuvor Jaša, aus dem Nebenzimmer kommend, aus dem von Anfang an die Stimmen und Geräusche der Billardspieler dringen, daß der Kontorist Epichodov das Queue zerbrochen habe. Wenig später, als Varja, erbost über Epichodovs Aufsässigkeit, mit einem Stock ausholt, wird nicht dieser getroffen, sondern der in diesem Moment zur Tür hereinkommende neue Besitzer des Kirschgartens, der Kaufmann Lopachin. Varjas vermeintlicher Bräutigam in spe bedankt sich spöttisch „für die angenehme Bewirtung“. Doch am Schluß widerfährt auch ihm ein Mißgeschick, wenn er gegen einen Tisch stößt und dabei fast den Kerzenleuchter umwirft. Wird all dies, und weiteres wie der Balladenvortrag des Stationsvorstehers oder Šarlottas Tricks als Bauchrednerin, Kartenspielerin und Zauberkünstlerin, besonders akzentuiert und zu schauspielerischen Kabinettstückchen ausgearbeitet, dann droht der Akt in selbständige Einzelheiten zu zerfallen. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers wird zerstreut statt konzentriert. Das Wesentliche und Einheitliche, das, was Mejerchol’d das „Leitmotiv“ des Akts nennt, geht verloren, und das heißt in diesem Fall, wie aus dem Brief des Regisseurs an Čechov vom 8. Mai 1904 deutlich wird, das in der Sorglosigkeit und Fröhlichkeit der tanzenden Abendgesellschaft verborgene Entsetzen. „,Der Kirschgarten ist verkauft.’ Sie tanzen. ‚Er ist verkauft.’ Sie tanzen. Und so bis zum Ende.“26 Mejerchol’d entdeckte in Čechovs Text, was er in der Aufführung des Künstlertheaters vermißt hatte: „eine Fröhlichkeit, in die sich Todesklänge mischen“. Siebzig

„Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten)

283

Jahre später inszenierte Giorgio Strehler in Mailand den dritten Akt von „Višnevyj sad“ als „Tanz lebender Leichname“.27 Bei ihm tanzte die auf dem Fest anwesende Gesellschaft ihren eigenen „Todeswalzer“. So, als ein Stück, das auf seinem Höhepunkt zu einem wilden danse macabre wird, erschien „Višnevyj sad“ auch in den Inszenierungen von Otomar Krejča28 1976 in Düsseldorf und Jürgen Flimm29 1983 in Köln. Wie Strehler bestätigten beide Regisseure, der tschechische und der deutsche, Mejerchol’ds Textverständnis und StanislavskijKorrektur30, indem sie Čechov jetzt auf einer theatergeschichtlich höheren Stufe aus ihrer Vertrautheit mit dem Drama Becketts lasen. Čechovs letztes Stück rückte dadurch in die Nähe zum Absurden Theater. Würde es als reines „Endspiel“ aufgefaßt, wirkte es allzu düster, vor allem aber zu hoffnungslos, doch in diese Richtung hin inszeniert erhält es einen großen existentiellen Ernst, der es gänzlich befreit vom rührseligen Ton, von narkotischer Stimmung, illusionistischer Effekthascherei und aller emotionsgesättigten Betrachtungsweise. Ein solcher Ernst prägt auch die Komik in „Višnevyj sad“, so farcenhaft sie häufig anmutet. Allerdings dürfen ihre Erscheinungsformen nicht für sich, als unterhaltsame Einzelnummern, rezipiert werden. Čechovs Komik wird in ihrer Eigenart völlig verfehlt, wenn man sie von dem Charakter isoliert, der sie erzeugt. Versteht man sie als Teil der Figur und nicht als etwas Äußerliches, ruft sie im Unterschied zur traditionellen Komödie kein befreiendes, gemeinschaftliches Lachen hervor. Dieses Lachen ist eher wie bei Beckett ein „abgebrochenes“, „ersticktes Lachen“31, das im Rezipienten ein hohes Maß an Ungenügen verursacht. Wenn Epichodov, der blankgeputzte Stiefel trägt, die bei jedem Schritt knarren, einen Blumenstrauß fallen läßt, einen Stuhl umwirft, ein Billardqueue zerbricht oder eine Hutschachtel zerdrückt, indem er einen schweren Koffer darauf stellt, dann bedauern wir lachend eine Gestalt, der das tägliche Mißgeschick zur zweiten Natur geworden ist. Klaglos wird dies vom Betroffenen als Unabänderlichkeit akzeptiert: „Jeden Tag passiert mir irgendein Unglück. Und ich murre nicht, ich bin es gewohnt und lächle sogar“ (198). Derjenige, über den jeder auf der Bühne lacht, lacht über sich selbst mehr als alle anderen. Doch der Zuschauer spürt den Schmerz, der sich hinter dieser Gebärde verbirgt. Haltung und Einstellung müssen, wie Epichodovs Aufbegehren gegen die den Vorwurf der Trägheit erhebende Varja zeigt, immer wieder von neuem errungen werden. Der alte Komödientypus des Pechvogels ist hier ganz ins Menschlich-Allzumenschliche vertieft. Dazu kommt, daß sich in dem Kontoristen das Pech potenziert, von dem keine Figur im Stück verschont bleibt.32 Das trifft sogar auf Lopachin zu. Geschäftlich so erfolgreich, daß er das Gut gegen mehrere Konkurrenten zu ersteigern vermag, ist er erfolglos in der Liebe. Ein besonderes Pech hat am Schluß der Diener Firs. Als alle abreisen, wird er vergessen. Er bleibt im verschlossenen Haus allein zurück. Gekleidet wie immer, in Jackett und weißer Weste, hat er nur eine einzige Sorge: ob Gaev, der Bruder der Gutsherrin, den warmen Reisepelz angezogen habe. Das ist von rührender Komik. Aber Lachen will nicht aufkommen, hier noch weniger als an anderen

284

Anton Čechov

Stellen. Der Zurückgelassene weiß „Das Leben ist vorbei“ (254). Jetzt ist auch er, nicht anders als der Kirschgarten, nutzlos und damit überflüssig geworden. Doch er klagt sowenig wie Epichodov über sein Schicksal. Bezeichnenderweise ist das letzte Wort, das er äußert, scherzhaft ironischer Art: „Ach du... Tölpel!“ Zugleich ist dies das Schlußwort des Stücks. Danach erklingt nur noch ein entfernter Ton, wie vom Himmel kommend, „ersterbend, traurig“, und in der darauf eintretenden Stille ertönen aus dem Gut die ersten Axthiebe. In dieser gebrochenen Stimmung, die sich eindeutiger Festlegung entzieht und die zweimal, durch den „Ton einer gesprungenen Saite“ (224, 254), sogar einen Einschlag ins Surreale gewinnt, bewegt sich Čechovs Stück von Beginn an, ein Stück, das, voller Komik, kein wirkliches Gelächter hervorruft, das aber, erfüllt von tiefer Anteilnahme am Schicksal seiner Figuren, auch nicht bereit ist, diese Schicksale als tragische zu akzeptieren. „Višnevyj sad“ ist, darin an einige der späten Dramen Shakespeares, „A Winter’s Tale“ etwa, erinnernd, eine Komödie, die in sich eine Tragödie enthält, jedoch nicht zuläßt, daß sie sich vollzieht.33 Wie Ionesco hätte auch Čechov in Übereinstimmung mit vielen Autoren des 20. Jahrhunderts sagen können: „Ich für meinen Teil habe nie den Unterschied zwischen Komik und Tragik begriffen.“34 Echter Tragik am nächsten kommt die Hauptgestalt von „Višnevyj sad“, die Gutsbesitzerin Ljubov’ Andreevna Ranevskaja. Dementsprechend wird die Rolle, die in der Uraufführung von Ol’ga Knipper gespielt wurde, meist mit einem Höchstmaß an Ernst ausgestattet. Zwar ist Ljubov’ Andreevna grundsätzlich dem Bereich des Farcenhaften entzogen. Direkt Lächerliches wie Trofimovs Treppensturz oder Epichodovs Ungeschicklichkeiten gibt es bei ihr nicht. Dennoch gehört auch sie zu dem großen Reigen der komischen Figuren, der dem Untertitel von „Višnevyj sad“, eine „Komödie in vier Akten“, seine Berechtigung verleiht. In Čechovs Heldin tritt sogar ein – normalerweise von männlichen Personen verkörperter – Urtyp der Komödienliteratur in Erscheinung: der des Verschwenders. So hält sie sich, obwohl der Erlös aus dem Verkauf ihres Landhauses bei Mentone bereits verbraucht ist, einen Lakaien, den jungen Jaša, bestellt im Restaurant die teuersten Speisen und belohnt den Kellner mit einem üppigen Trinkgeld. Als im zweiten Akt, in der Szene auf offenem Feld, ein leicht angetrunkener Fremder auf dem Weg zur Bahnstation vorüberkommt, gibt sie ihm statt der erbetenen dreißig Kopeken einen ganzen Goldrubel, was Varja, ihre Pflegetochter, „erschrocken“ mit den Worten kommentiert: „Ich gehe fort... ich gehe... Ach, Mamočka, zu Hause haben die Leute nichts zu essen, und Sie geben ihm einen Goldrubel“ (226). Die Angesprochene ist sich ihrer Verschwendungssucht durchaus bewußt und zählt sie zu ihren ewigen „Sünden“: „Ich habe immer mein Geld vergeudet, hemmungslos, wie eine Verrückte“ (220). Kurz davor hatte sie, in ihr Portemonnaie schauend, gerade wieder festgestellt: „Gestern war noch viel Geld darin, und heute ist es ganz wenig“ (218). Wenn darauf mehrere Goldstücke aus ihrem Portemonnaie fallen und über den Boden rollen, ist dies nicht ohne Komik, bedeutet aber keinen Widerspruch zu dem zuvor Ge-

„Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten)

285

sagten. Dabei weiß die Ranevskaja sehr genau um die fatalen Folgen ihrer Unfähigkeit, das Geld zusammenzuhalten: „Meine arme Varja füttert aus Sparsamkeit alle mit Milchsuppe, in der Küche bekommen die alten Leute nur noch Erbsen, und ich verschwende es so sinnlos“ (218). Doch die Haltung des laissez faire, in der sich Persönliches und Klassenspezifisches durchdringen, setzt sich gegenüber der besseren Einsicht durch, und so führt die Verschwendungssucht, die sonst als Laster eines komischen Charaktertyps verlacht wird, zum Verlust von Haus, Hof und Garten und für das Gesinde zur Vernichtung seiner Existenzgrundlage. Wenngleich Ljubov’ Andreevna als exponierte Gestalt einer dezentrierten dramatischen Struktur insgesamt zu komplex gestaltet ist, um eine komische Figur im engeren Sinn zu sein, so trägt sie doch immer wieder zur Entstehung von Komik bei. Als Piščik sie fragt, ob sie in Paris Frösche gegessen habe, antwortet sie scherzhaft „Ich habe Krokodile gegessen“, wobei ihr Scherz, so lustig er schon ist, durch die Ernsthaftigkeit, mit der er aufgenommen wird, seinen eigentlichen Witz gewinnt: „Nein so was“ (206). Das Beispiel zeigt, daß sich das Possenhaft-Burleske der frühen Einakter Čechovs35, die noch stark unter der Wirkung Gogol’s standen, zu einem diffizileren, spezifisch eigenen Humor entwikkelt hat. Die Verfeinerung der künstlerischen Mittel, die von Stück zu Stück gewachsen ist, manifestiert sich in „Višnevyj sad“ auch darin, daß bestimmte komische Seiten der Heldin nicht auf direktem Weg, sondern in der Spiegelung durch andere Figuren zur Geltung gebracht werden. Ljubov’ Andreevna darf nicht zu sehr auf die Ebene der reinen Komik herabgeholt werden; das würde den tragischen Aspekten ihres Lebens die Glaubwürdigkeit nehmen. So fungieren andere Personen wie etwa Piščik in seinem leichtfertigen Umgang mit Gelddingen und Gutsangelegenheiten als Spiegelbild. Vor allem reflektiert Gaev, vergröbernd und verzerrend, was bei seiner Schwester angelegt ist. Wenn diese eingangs nach fünfjähriger Abwesenheit auf das Gut zurückkehrt und „freudig, unter Tränen“ das ehemalige Kinderzimmer betritt, wo sie, aus dem Fenster blickend, ihre verstorbene Mutter in einem weißen Kleid durch den Garten wandeln sieht, kommt eine kindliche Naivität und Intensität des Gefühls zum Ausdruck, die in Gaev noch expliziter wiederkehrt. Während sie sich bei ihrer Rückkehr „wie ein kleines Kind“ fühlt (199), ist er tatsächlich ein Kind geblieben. Ständig zieht er eine Schachtel aus der Tasche, entnimmt ihr ein Bonbon und steckt es in den Mund. Er habe sein ganzes Vermögen in Form von Süßigkeiten verzehrt, bemerkt der Einundfünfzigjährige, der von Firs, dem alten Diener, wie von einer Mutter umhegt, mit der richtigen Kleidung versehen und bei der geringsten Widerrede streng zurechtgewiesen wird. Frei von geregelter Tätigkeit, denkt er die meiste Zeit des Tages ans Billard. Bald spricht er gedankenverloren von „Doublette in die Ecke“ oder „Croisée in die Mitte“, bald macht er im Gehen mit den Armen und dem Oberkörper eine Bewegung, als ob er das Queue führe. Spiel ist hier, in einem konkreteren Sinn als bei Ljubov’ Andreevna, zum Lebensprinzip geworden. Gaev, der nicht die schmerzlichen Erfahrun-

286

Anton Čechov

gen seiner Schwester hinter sich hat, übertrifft diese, so extrovertiert, ja exaltiert sie von Natur aus ist, auch in der Gefühlsäußerung. Nachdem sie in ihrer Freude über die Heimkehr den Bücherschrank mit den Worten „Mein lieber Schrank“ begrüßt und spontan geküßt hat, setzt er, das altertümliche Möbelstück mit der Hand betastend, nach der Apostrophe „Lieber, hochverehrter Schrank!“ zu einer weitgespannten Rede an: „Ich begrüße deine Existenz, die nun schon mehr als hundert Jahre den leuchtenden Idealen des Guten und der Gerechtigkeit verpflichtet ist; dein stummer Aufruf zu fruchtbarer Arbeit hat im Verlauf dieser hundert Jahre nichts an Kraft verloren...“ (206 ff.). „Unter Tränen“ fährt der Redner fort, den „Glauben an eine bessere Zukunft“ und die „Ideale des Guten und des gesellschaftlichen Bewußtseins“ beschwörend. Die Komik resultiert hier aus der Vermenschlichung des leblosen Gegenstands und der Verwendung eines hohen Sprachstils, dessen Begriffe abgenutzt und inhaltlich entleert sind. Ein rein deklamatorisches Sprechen entsteht, das Gaev, zum Unwillen Anjas und Varjas („Onkel, schon wieder!“), fortgesetzt über die Lippen kommt, etwa wenn er, beim Untergang der Sonne, die Natur apostrophiert: „O Natur! Du wunderbare, du strahlst in ewigem Glanz, du herrliche und gleichgültige, du, die wir Mutter nennen, vereinigst in dir Leben und Tod, du gebärst und zerstörst“ (224). Gaev greift fast immer einen Ton zu hoch. Der gebildete, aber hohle Phraseur merkt nicht, daß ihm niemand zuhören will. Er ist nur noch störend, ein Überflüssiger wie der am Ende vergessene Firs. Wenn dagegen Ljubov’ Andreevna beim Anblick des Gartens ausruft „Oh, meine Kindheit, meine Reinheit!“ (210) oder Tisch und Schrank zärtlich berührt, dann wirkt sie trotz der lächerlichen Züge ihrer Sprache und Gestik ganz authentisch, im Einklang mit ihrem verträumten Wesen, das sie so unfähig macht für die Bewältigung der gegenwärtigen Probleme. Die unglücklich aus der Fremde nach Hause Zurückgekehrte vergewissert sich sprachlich und gestisch der Dinge und Räume einer glücklicheren Zeit, ahnend, daß diese endgültig verloren ist. Es ist nicht ohne Ironie, daß der Schrank, das Gefühlssymbol der Vergangenheit, schon vor ihrer Ankunft die Telegramme birgt, die sie wieder nach Paris zurückrufen. An dem Geschwisterpaar enthüllt die Komik der Darstellung, in dem einen Fall drastischer, in dem anderen subtiler, daß hier zwei Menschen auch als Erwachsene Kinder geblieben sind. Mit Kindern teilen sie die Realitätsferne. Was sich geändert hat, das sind nicht sie, es ist die Welt. Diese Änderung können oder wollen Gaev und Ljubov’ Andreevna nicht wahrnehmen. Er, gewohnt, kultiviert zu leben, ohne zu arbeiten, flüchtet sich ins Spielerische, sie, großzügig in menschlicher wie finanzieller Hinsicht, verharrt in ihrer Sorglosigkeit und blickt dem drohenden Verkauf des Kirschgartens untätig und in vager Hoffnung entgegen.36 Am Ende verlieren beide nur das, was schon von Beginn an verloren war. Deshalb hat der Versuch der Heldin, zu einer idyllischen und unschuldigen Lebensart zurückzukehren, in seiner Naivität eine eigene Komik. Dabei ist diese nie herabsetzend oder gar denunzierend. Čechov hat stets großes Verständnis für seine Figuren, ihre Schwächen, Fehler, Unzulänglichkeiten. Somit entspringt bei

„Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten)

287

ihm die Komik, die in keinem Widerspruch zum Ernst steht, auch nicht der Haltung des Satirikers, sondern der des Humoristen. Humorist ist Čechov, insofern er Mensch und Welt als fragwürdig empfindet, aber zugleich aus tiefer Überzeugung bejaht. Das unterscheidet ihn von den Vertretern des Absurden, denen er sonst in mancherlei Hinsicht nahesteht.37 So bestätigt sich noch einmal seine Überzeugung vom Komödiencharakter des Stücks. Die familiäre Situation Čechovs „Komödie“, in der sich Ernstes und Lächerliches, Tragisches und Komisches wechselseitig und bis zur Ununterscheidbarkeit durchdringen, ist von Personal, Schauplatz und Problematik her zunächst ein reines Familienstück. Vom ersten bis zum vierten Akt auf dem Landsitz Ljubov’ Andreevnas spielend, beginnt es mit der Ankunft und endet mit der Abreise der Gutsherrin. Zur „Familie“ gehören in diesem Fall nicht nur die Heldin und ihr Bruder sowie ihre beiden Töchter, sondern auch die Diener und das Zimmermädchen, der Kontorist und die Gouvernante, der ehemalige Hauslehrer und der benachbarte Gutsbesitzer, ja sogar der Kaufmann Lopachin, der schon als kleiner Junge auf den Hof kam. Wenn der letztere das Gut erwirbt, auf dem sein Vater und sein Großvater Leibeigene waren wie der alte Firs, dann bleibt das ersteigerte Anwesen ironischerweise „in der Familie“. Nur die Herrschaftsverhältnisse haben sich verkehrt. Deshalb triumphiert der neue Besitzer auch so sehr. Daß es „kein schöneres Gut“ gibt, ist für ihn weniger wichtig. Wichtig ist vor allem, daß er, der „verprügelte Ermolej“, der „halbe Analphabet, der im Winter immer barfuß lief“, nun der Besitzer eines Anwesens ist, auf dem der Vater und der Großvater „nicht einmal in die Küche“ gelassen wurden (240). Doch Lopachin, eine Gestalt, die oft verkannt38 und auf der Bühne ebenso oft verzeichnet39 wird, erscheint keineswegs als bloßer Triumphator und als skrupelloser Zerstörer des Alten und Schönen. Zwar kündigt er unmißverständlich an, daß er unmittelbar mit dem Abholzen des Kirschgartens beginnen wird, gleichwohl hat er bei der Errichtung von Sommerhäusern nicht nur den eigenen Gewinn im Auge. Er denkt dabei auch an künftige Generationen und versteht seine Arbeit als Beitrag zur Schaffung eines „neuen Lebens“ (240). Wie Trofimov weiß Lopachin, daß das Leben voller Widersprüche ist. Anders als der Student leidet er jedoch unter dieser Erkenntnis. „Oh, wenn nur bald alles vorüber wäre“, klagt er, gerade von der Versteigerung zurückgekehrt, selbst im Moment des größten Hochgefühls, „wenn es sich nur bald irgendwie ändern würde, unser ungereimtes, unglückliches Leben“ (241). So sehr sich Lopachin bemüht, das Niedrige des Standes und der Herkunft zu überwinden, er ist trotz aller Erfolge letztlich tief unglücklich. Glücklich noch im Mißerfolg wirken dagegen Ljubov’ Andreevna und Gaev. Fröhlich und erleichtert nehmen sie Abschied von dem verlorenen Grund und Boden und blicken trotz aller Wehmut zuversichtlich in eine ungewisse Zukunft.

288

Anton Čechov

Das handlungszentrierende Motiv des Zwangsverkaufs, das die Verbindung von der privaten zur zeitgeschichtlichen Ebene herstellt, führt noch tiefer ins Familiäre und Persönliche. Der „neue Gutsherr“ und „Eigentümer des Kirschgartens“ (241), wie sich Lopachin mit bewußter Selbstironie nennt (wobei er aus Versehen fast einen Armleuchter vom Tisch stößt), erzählt eingangs, daß ihn Ljubov’ Andreevna, als er, fünfzehn Jahre alt, von seinem Vater blutig geschlagen worden war, in das Haus geführt, gesäubert und getröstet habe. „Sehr jung und so zerbrechlich“ (197) sei sie gewesen, fügt er in Erinnerung an einen offenbar erotisch erlebten Augenblick hinzu. Auch ein Stück Sehnsucht nach der Mutter schwingt insgeheim mit. Bekenntnis oder gar Annäherung aber waren undenkbar. Was damals der Altersunterschied war, ist jetzt eine unsichtbare Schranke, die nicht einmal der inzwischen erworbene Reichtum aufheben kann. Lopachin gibt sich keinerlei Täuschung hin: Er bleibt auch „in weißer Weste und gelben Schuhen“ (198) ein Bauer. Daher bedarf die verborgene Bindung der Sublimierung. Das geschieht durch den Erwerb des Kirschgartens, der „Reinheit“ und „Kindheit“ ebenso wie die mütterlich fruchtbare Fülle verkörpert. Der Akt der Ersteigerung wird zum Akt der Unterwerfung. Dabei lassen sich die soziale Motivation und der Impuls des Erotischen kaum voneinander trennen. Sie bilden zwei Seiten ein und desselben Vorgangs. In beiden Fällen geht es um die Ausübung von Herrschaft, das eine Mal bewußt, das andere Mal weniger bewußt. Da Lopachin den Kirschgarten und damit Ljubov’ Andreevna „besitzt“, kann er auf Varja als Liebesersatz verzichten. Er macht der Pflegetochter Ljubov’ Andreevnas keinen Antrag, obwohl er vorher die Möglichkeit einer Heirat nicht ausgeschlossen hat, und er schließt diese Möglichkeit auch für die Zukunft nicht aus („Wenn noch Zeit ist, dann bin ich sofort bereit“40). Von Ljubov’ Andreevna, die die Heirat als ihren „Traum“ bezeichnet, auf seine Zurückhaltung angesprochen, erklärt er: „Ich verstehe es selber nicht“ (250). Zweifellos ist Lopachin wie Podkolesin in Gogol’s „Ženitba“ (Die Heirat, 1835) unsicher und gehemmt und deshalb außerstande, die nötigen Worte zu finden, vor allem aber macht er keinen Antrag, weil er keinen machen will. So bleibt er frei für seine Geschäfte, die er über alles andere stellt. „Es gibt viel zu tun“ (251), sagt er im Aufbruch zu Varja und grundsätzlicher zu Trofimov: „Ohne Arbeit kann ich nicht leben. Ich weiß dann nicht, was ich mit meinen Händen anfangen soll“ (243). Lopachin praktiziert, wovon Trofimov nur redet. So fragwürdig und zerstörerisch seine Geschäfte manchmal auch sein mögen, die Energie und Tatkraft, die er im Unterschied zur revolutionären Jugend und zum untätigen und kraftlosen Adel besitzt, lassen ihn als primär positive Gestalt erscheinen. Er ist unter allen Figuren des Stücks der einzige Garant für die längst fällige Erneuerung des Lebens. Čechov teilte weitgehend das Ethos der Arbeit, das Lopachin personifiziert. Nicht zufällig achtete er darauf, daß gerade die Rolle des Kaufmanns richtig besetzt wurde. Ende Oktober 1903 schrieb er an Stanislavskij: „Bei der Wahl des Schauspielers für diese Rolle darf man nicht aus den Augen verlieren,

„Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten)

289

daß Varja, ein ernsthaftes und religiöses Mädchen, Lopachin liebt. In einen Kulaken hätte sie sich nie verliebt.“41 Varja ist nicht die einzige Zurückgewiesene. Epichodov wird von Dunjaša verschmäht. Er gefällt ihr zwar, bleibt aber für sie der ewige Pechvogel. Dunjaša ihrerseits erfährt das gleiche durch Jaša, der es vorzieht, seiner Herrin nach Paris zu folgen. Wirklich unglücklich ist jedoch keiner der drei. Als Lopachin nach Char’kov aufbricht, sitzt Varja „leise schluchzend“ auf dem Fußboden, den Kopf auf ein Kleiderbündel gelegt, doch im nächsten Moment, kaum ist Ljubov’ Andreevna eingetreten und mahnt zur Abreise „weint“ sie „schon nicht mehr und wischt sich die Augen“ (251). Auch Dunjaša „weint“, als Jaša Champagner trinkend Abschied nimmt, „und wirft sich ihm um den Hals“, aber gleich darauf, während er ungerührt nur über sich und seine Pläne spricht, beginnt sie, „in einen Taschenspiegel schauend“, sich zu pudern und sagt zu ihm „Schicken Sie mir einen Brief aus Paris“ (247). Ihre weiteren Worte zeigen, daß es hier nicht um tieferes Liebesleid, sondern allenfalls um Pech in der Liebe geht: „Ich habe Sie doch geliebt, Jaša, so geliebt! Ich bin ein zartes Wesen, Jaša!“ Das fehlende Happy-End in den amourösen Verhältnissen auf der Ebene der Bediensteten bildet nur die komische Parallele zu Ljubov’ Andreevnas unglücklicher Liebesaffäre. Diese Affäre hat alle Merkmale der Ausweglosigkeit. Ljubov’ Andreevna versucht vergeblich, dem Kreislauf quälerischen und selbstquälerischen Verhaltens zu entrinnen. Ihrer Flucht in Heimat, Familie und Kindheit am Anfang entspricht am Schluß ihre Rückkehr ins Ausland, zu einem Liebhaber, der sie ausnutzt, betrügt und oft bis zur Verzweiflung treibt. Das Bild vom „Mühlstein“ um ihren Hals, das sie zweimal benutzt, verdeutlicht das Zwiespältige wie auch den tödlichen Ernst der Beziehung. Ljubov’ Andreevna weiß, daß der Stein sie „in die Tiefe“ zieht; trotzdem „liebt“ sie den Stein und kann „ohne ihn nicht leben“ (234). Mit dem Aspekt des Herabziehens verweist das Bild zugleich auf das Leid, das sie durch das Ertrinken ihres Sohns erfuhr. Beides gehört zusammen, der vergangene und der gegenwärtige Kummer. Denn Ljubov’ Andreevna faßt den Tod des siebenjährigen Griša als Strafe dafür auf, daß sie sich nach dem Tod ihres Mannes in einen anderen verliebt hat und mit ihm zu leben begann. So leidet sie unter einer doppelten Schuld. Sie hat ihre Mutterpflichten vernachlässigt, und sie hat, statt das Gut in Rußland zu verwalten, bei Mentone ein Landhaus gekauft und sich von ihrem Liebhaber seelisch wie finanziell nahezu ruinieren lassen. Sich ihrer Schuld bewußt, aber auch wissend, daß sie dem Ruf der Telegramme aus Paris folgen wird, gesteht sie Trofimov, sie liebe den „wüsten Menschen“ (234) trotz allem. Es ist nicht blinde Leidenschaft, die sie treibt; es sind gerade die positiven Seiten ihres Charakters, Aufrichtigkeit, Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft, aber auch Empfindsamkeit und Selbstlosigkeit, die sich hier gegen sie selbst wenden. In der Hoffnung auf ein mildes Urteil macht Ljubov’ Andreevna den Studenten, der einst ihren Sohn unterrichtet hat, zum Forum des eigenen Gewissens.42 Als „Sünderin“, so der Titel der Ballade, die der Stationsvorsteher im unmittel-

290

Anton Čechov

baren Anschluß an das Gespräch rezitiert, benötigt sie eine moralische Instanz außerhalb ihrer selbst. Es ist kein Zufall, daß die Wahl auf Trofimov fällt. Der Student tritt ständig als Verkünder höherer Ideale in Erscheinung, und es gibt niemanden im Stück, der ein stärkeres Rechtsempfinden besitzt. „Sie sind kühner, ehrlicher, tiefer als wir“ (233), sagt Ljubov’ Andreevna kurz vorher zu ihm. Als er ihr aber jetzt vorwirft, sie habe sich mit einem „Schuft“ eingelassen, der sie bloß „ausraubt“, hält sie sich die Ohren zu. Freispruch, nicht Anklage hatte sie erwartet. Deshalb reagiert sie gereizt und beleidigt Trofimov, indem sie ihm Unreife in Liebesdingen bescheinigt. Ihr Zornausbruch enthüllt, daß der andere nur ausspricht, was sie insgeheim selbst weiß. Das Gewissen läßt sich nicht bestechen. Andererseits ist es Ljubov’ Andreevna durch das Geständnis ihrer Liebe leichter zumute. Als Lopachin von der Versteigerung zurückkehrt und in freudiger Erregung ausruft „Ich habe ihn gekauft“ (240), sinkt sie auf den Stuhl und „weint bitterlich“, doch bald, nachdem sie von Anja getröstet worden ist („Weine nicht, Mama, das Leben vor dir, das ist dir geblieben“), scheint sie sich von einer Last befreit zu fühlen. Von hier aus wird verständlich, weshalb sie nicht das Geringste zur Rettung ihres Besitzes unternommen hat. Psychologisch betrachtet, empfindet sie im Innersten, ohne daß ihr das bewußt sein muß, den Verzicht auf Widerstand als eine Form der Buße. Zugleich birgt der Verlust des Kirschgartens auch einen Gewinn; denn die Erinnerung an den Sohn, der hier im Fluß ertrunken ist, wird ebenso an Intensität verlieren wie die Sehnsucht nach der verlorenen Unschuld, verkörpert im Kinderzimmer und in den Kirschbäumen des Gartens. Ihres Besitztums entledigt, kann Ljubov’ Andreevna, befreit von bisherigen Traditionen und Wertvorstellungen, ins Ausland zurückkehren und ohne Skrupel sein, was sie längst ist: sündig und schuldig. Eine wirklich tragische Stimmung kommt dennoch nie auf. Was Ljubov’ Andreevna belastet, liegt bezeichnenderweise zeitlich und räumlich außerhalb des Stücks. Es bildet die dunkle Folie, von der sich das Helle, Heitere, Sorglose dieser Gestalt um so stärker abhebt. Ehe das Stück seine Balance verlieren und ins Ernste umschlagen kann, führt Čechov eine Reihe entlastender Momente ein. Der Liebhaber in Paris ist ein lächerlicher, „um Verzeihung“ flehender despotischer Kranker, der sich die tägliche Medizin reichen läßt (234); der Ehemann war ein Trinker und Verschwender, der „nichts als Schulden“ machte und „an zuviel Champagner“ starb (220). Und Ljubov’ Andreevna selbst hat wenig von einer Tragödienheldin. Dafür fehlt ihr das Maßlose im Denken, Fühlen und Handeln. Bei aller Leidenschaftlichkeit neigt sie zum Ausgleich. In ihre Freude mischen sich Tränen, und noch im Zorn bleibt sie kontrolliert. So ist sie, trotz betonter Emotionalität, nie in der Gefahr, sich zu verlieren. Für den Zuschauer wird sie damit in hohem Maß zur Identifikationsfigur, der einzigem im Stück. Sie sei zwar eine „lasterhafte Person“, merkt Gaev an, aber sonst ein „lieber, guter, feiner Mensch“ (212). Lopachin, der sie „wie eine Verwandte, ja mehr als eine Verwandte“ liebt (204), nennt sie und ihren Bruder „leichtsinnig“ und „ahnungslos in geschäftlichen Dingen“ (219). „Meine Schwester hat sich immer

„Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten)

291

noch nicht abgewöhnt, mit dem Geld um sich zu werfen“ (211), ergänzt Gaev. Nicht nur die Verschwendungssucht, auch das andere Hauptlaster ihres verstorbenen Mannes kehrt bei Ljubov’ Andreevna in charakteristischer Abwandlung wieder. Der Champagner ist ersetzt durch den Kaffee, den sie – Ausdruck innerer Unruhe und ungelöster Probleme – „zu jeder Tages- und Nachtzeit“ trinkt (204). Und das Geld, das sie „sinnlos“ verschwendet (218), kommt in erster Linie dem Liebhaber in der Ferne zugute. Darüber hinaus profitieren nicht wenige von ihrer Freigebigkeit, wie die Szene mit dem Bettler zeigt. Rastlos43 wie Lopachin, ist sie im Unterschied zu dem Kaufmann, der die bloße Bitte des Bettlers als „Unverschämtheit“ bezeichnet (226), nicht an Gewinn und eigenem Vorteil interessiert. Ljubov’ Andreevna folgt, stets aufs Gegenwärtige gerichtet, dem Ruf des Lebens und der Liebe und nimmt dabei die Möglichkeit, ausgenutzt zu werden, in Kauf. Diese Daseinsweise findet eine eigentümliche Entsprechung in der Nutzlosigkeit ihres Gartens.44 Beides hat seinen Sinn in sich selbst und ist deshalb wie alles Selbstzweckhafte auf das Äußerste gefährdet. In der Gefährdung der Heldin aber spiegelt sich die ihrer ganzen Familie. „Višnevyj sad“ zeigt, wie sich eine Familie noch einmal, letztmalig, zusammenfindet, ehe sie dann endgültig auseinanderbricht. Der Vorgang ist von repräsentativer Bedeutung; denn er verweist auf einen gesellschaftlichen Wandel. So ist das Familienstück in sich zugleich ein Zeitstück, und seine Protagonisten sind als komische Charaktere immer auch soziale Wesen, dabei in der einen wie in der anderen Hinsicht von der gleichen, für Čechov charakteristischen Zweideutigkeit. Familienstück als Zeitstück In Komposition und Dramaturgie ist „Višnevyj sad“ so angelegt, daß sich innerhalb des Rahmens, den die Ankunft und die Abreise Ljubov’ Andreevnas bilden, das Schwergewicht der Aussage immer mehr vom Privaten auf das Zeitgeschichtliche verlagert. Das Stück beginnt in einem „Zimmer, das noch immer das Kinderzimmer genannt wird“, als Familientreffen, bei dem vielfältige Erinnerungen geweckt und ausgetauscht werden. Die Szene auf dem Feld (zweiter Akt) verstärkt die wiedergefundene Zusammengehörigkeit der Familienmitglieder, die zunächst nur von der Dienerebene her, durch die Ironie und Frechheit Jašas, in Frage gestellt wird. Erst der traurige und zugleich erschreckende „Ton einer gesprungenen Saite“ (224) löst die scheinbare Idylle auf. Auf deren Brüchigkeit verweisend, leitet er die Wendung ein. Wie alle Geräusche, die Čechov vorschreibt, hat auch dieser Ton keine illusionistische, sondern eine dramaturgische und symbolische Funktion.45 In einen Augenblick verlegt, als die Sonne untergeht und das Gespräch verstummt, signalisiert er, flankiert durch die beiden großen Reden Trofimovs über den düsteren Zustand Rußlands, den im Gang befindlichen, zum Untergang einer ganzen Klasse führenden Umbruch der Gesellschaft.46 Gleich darauf treten, fast unmerklich, erste Veränderungen ein. Ein Wanderer erscheint, bettelt und bedankt sich ironisch für die erhaltene Gabe. Lopachin spottet, was er vorher nie getan hat, über die allgemeine Erwartung, er werde Varja heiraten. Und

292

Anton Čechov

Trofimov gelingt es, Anja für seine Ideen von einer glücklichen Zukunft zu begeistern. Gemeinsam ist diesen Veränderungen, daß sie gegen das Alte und Überkommene gerichtet sind. Doch vorerst spricht nichts für das Glück, das Trofimov prophezeit. Im Gegenteil, vieles spricht dagegen, wenn auch noch in der Form der Andeutung und des symbolischen Verweises: die dunklen Pappeln47, der aufgehende Mond, das melancholische Gitarrenspiel Epichodovs und die besorgten „Anja“-Rufe Varjas, die ohne Antwort bleiben und nur als Echo der eigenen Stimme wiederkehren. So treibt alles ins Düstere, und der dritte Akt setzt diese Entwicklung im Anschluß an den burlesken Auftakt mit der Gestalt des Gutsnachbarn Piščik fort. Die Zunahme der Verdüsterung als Folge der wachsenden Relevanz des Zeitgeschichtlichen gipfelt auf dem Fest, das den bisher geschlossenen Kreis der Familie durch die öffentlichen Gestalten des Postbeamten und des Stationsvorstehers erweitert. Beide stehen für die moderne Welt der schnellen Kommunikation, der sich längst auch die Vertreter des Alten bedienen, und illustrieren zugleich das Heruntergekommene eines „zur unpassenden Zeit“ (230) stattfindenden Balles. Firs, der Siebenundachtzigjährige, dem oft die Aufgabe zufällt, Gegenwärtiges mit Vergangenem zu vergleichen, kommentiert: „Früher tanzten auf unseren Bällen immer Generäle, Barone, Admirale, aber jetzt schicken wir schon nach dem Postbeamten und dem Stationsvorsteher, und die kommen noch nicht einmal gern“ (235). Mit den widerwilligen Gästen und in Erwartung des Ausgangs der Versteigerung kann unter dem brennenden Kronleuchter und anderen belastenden Accessoires einer glanzvollen Vergangenheit keine festliche Stimmung und unbeschwerte Fröhlichkeit entstehen. Bis auf die naive Dunjaša haben alle etwas Gehemmtes, Gezwungenes, Verkrampftes. Steifheit und Förmlichkeit prägen das Gesamtbild. Spöttische Bemerkungen und boshafte Anspielungen gehören ebenso zum Verhalten der anwesenden Personen wie offene und versteckte Aggressionen. In dieser Atmosphäre ist die nach Piščiks französischen Kommandos quer durch Saal und Salon getanzte Quadrille nichts anderes als das, was die besten Inszenierungen des Stücks daraus gemacht haben: ein furioser danse macabre, der im Widerspruch steht zum fröhlichen Charakter der Musik des jüdischen Orchesters. Allein Šarlotta sorgt mit ihren Späßen und Kunststückchen zwischendurch für Entspannung und Entlastung. In karierten Hosen, einen grauen Zylinder auf dem Kopf, erzeugt sie Entzücken und Verblüffung. Ob sie Kartentricks vorführt oder eine geheimnisvolle Frauenstimme sprechen läßt, immer schafft sie eine Illusion, und dadurch lenkt sie von der schmerzlichen Gewißheit ab, daß der Grund und Boden, auf dem man tanzt, unrettbar verloren ist. Ihre verblüffenden Fähigkeiten, die sie nicht ohne Genugtuung zur Schau stellt, demonstrieren eine eigene Art von Macht.48 Und da diese Demonstration der Gouvernante zu einem Zeitpunkt erfolgt, als Ljubov’ Andreevna, zur Tatenlosigkeit gezwungen, ohnmächtig auf die Nachricht über das Schicksal ihres Anwesens wartet, handelt es sich um eine Wendung gegen die Herrin und die Herrschaft überhaupt.

„Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten)

293

Ein weiterer Ansatz zur Auflösung der Familie von innen und unten, die bereits mit Ljubov’ Andreevnas Wahl eines Nichtadligen als Ehemann begonnen hat, worauf Gaev anfangs hinweist (212), liegt in weniger bewußter Form bei Dunjaša vor. Das Zimmermädchen, das schon als kleines Kind ins Haus kam, bewegt sich auf dem Ball wie ein Gast. Solche Emanzipationen bereiten die Machtverlagerung vor, die der große Auftritt Lopachins vollendet. Das Geräusch des Schlüsselbunds, den Varja vom Gürtel löst und auf den Boden wirft, als Lopachin die Frage nach dem Käufer des Kirschgartens mit einem lakonischen „Ich“ beantwortet, versinnbildlicht, daß die Macht von der adligen Gutsherrin auf den Kaufmann übergegangen ist. Dabei geht es, wie die anschließende, voller Stolz und in tiefer Bewegung gehaltene Rede verdeutlicht, nicht nur um einen einfachen Besitzerwechsel, sondern auch und vor allem um einen Akt sozialer Befreiung. So feiert der „neue Gutsherr“ lachend und mit den Füßen stampfend, die durch die Tüchtigkeit und Zielstrebigkeit erreichte Überwindung seiner leibeigenen Herkunft. Daß er beim Abgang – analog zum Auftritt – von einem komischen Mißgeschick begleitet wird, weist auf Čechovs Vorbehalt. Dieser Vorbehalt gilt nicht nur dem Alten, sondern auch dem Neuen. Nach der endgültigen Machtverlagerung bleibt nur noch das Auseinandergehen aller Personen. Der Schlußakt ist ein einziger langgezogener Abschied. Die Situation des Abschieds, die, zurück- und vorausdeutend, einen Schnittpunkt zwischen Vergangenem und Zukünftigem innerhalb des Gegenwärtigen bildet, ist eine „Grundform dramatischer Bewegtheit und Spannung“49 und wurde als solche auch von Čechov immer wieder genutzt; doch nie zuvor erscheint sie so kunstvoll zelebriert und mit einem so tiefen Sinngehalt versehen. In einer kahlen und kalten Szenerie, dem Kinderzimmer ohne Bilder, ohne Vorhänge und fast ohne Möbelstücke, zeigt sie den Besitzerwechsel als die Ablösung einer Klasse und Kultur durch eine andere Klasse und Kultur. Deshalb hören wir am Ende, ehe der Vorhang fällt, nicht nur erneut den Ton einer gesprungenen Saite, sondern auch den dröhnenden Klang der Axtschläge im Garten. Dem Todeszeichen der Aristokratie folgt das Signal des aufstrebenden Bürgertums. Der Wandel der Werte und Ziele wird ausgangs vernehmbar. Zur gleichen Zeit geht die Familie, die sich eingangs versammelte, in alle Richtungen auseinander. Lopachin fährt nach Char’kov, Ljubov’ Andreevna, von Jaša begleitet, nach Paris. Gaev tritt eine Stelle in der Bank an; Varja will sich um den Haushalt einer anderen Familie kümmern. Anja hat vor, das Gymnasium zu beenden; Trofimov setzt sein Studium fort. Epichodov bleibt, nun in Lopachins Diensten, als Verwalter auf dem Hof. Šarlotta zieht, stellungslos, ins Unbekannte. Lauter Versuche eines Neuanfangs. Zerstreuung der Familie heißt nicht Untergang der Familie. Zwar spricht viel dafür, daß Ljubov’ Andreevna auch das Geld ihrer Mutter vergeuden und daß ihr Bruder Gaev es nicht lange als Angestellter einer Bank aushalten wird; aber außer Firs, der, krank und entkräftet, bald sterben wird, ist niemand in seiner Existenz ernstlich bedroht. Alle werden sich mit der Zeit irgendwie einrichten. Šarlotta hat von Lopachin die Zusage, daß er ihr eine Stel-

294

Anton Čechov

le beschafft. Varja erfüllt schon längst die Aufgaben, die sie künftig bei den Ragulins übernehmen wird. Trofimov weist das Geldangebot nicht nur aus Stolz zurück; denn er verfügt durch das Anfertigen von Übersetzungen über ein kleines Einkommen. Und Piščik, der unverbesserliche Optimist und Glückspilz unter den Pechvögeln, hat keine Bedenken, wenn sich die Gelegenheit bietet, die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten zum eigenen Vorteil zu nutzen. Während Ljubov’ Andreevna das Errichten von Sommerhäusern und das Erscheinen von Sommergästen als „vulgär“ empfindet (219), verpachtet er Teile seines Grundes, damit eine Eisenbahnlinie gelegt und weißer Lehm zur Porzellanherstellung gefördert werden kann. Sowohl der unpraktische Adel als auch die versponnene Intelligenz (in der Gestalt Gaevs fällt beides zusammen) ist gezwungen, sich umzustellen. Ihre Privilegien sind verloren, ihr Existenzrecht bleibt erhalten. Der gesellschaftliche Beitrag, den sie zu leisten haben, besteht nach Ansicht Trofimovs, der hier ganz im Namen des Autors50 spricht, in der dringenden Aufnahme der Arbeit. Es ist von besonderer Ironie, daß Čechov das Plädoyer in dieser Hinsicht von dem „ewigen Studenten“ halten läßt, dem Lopachin gerade vorgehalten hat, er gehe die „ganze Zeit mit den Damen spazieren“ (222). Trofimov begründet sein wiederholtes „Man muß arbeiten“ mit der allgemeinen Feststellung „Bei uns in Rußland arbeiten bis jetzt nur wenige“ (223). Er denkt dabei vor allem an die Schicht, zu der er selbst gehört: „Die überwiegende Mehrheit der intelligencija, wie ich sie kenne, sucht nichts, tut nichts und ist zur Arbeit noch vollkommen unfähig.“ Dann wird er noch deutlicher: „Sie nennen sich intelligencija und sagen ‚du’ zu den Dienstboten, gehen mit den Bauern um wie mit Tieren, lernen schlecht, lesen nichts ernsthaft, tun überhaupt nichts, über die Wissenschaften reden sie nur, von Kunst verstehen sie wenig.“ Trofimovs Rede über die Notwendigkeit der Arbeit wird schließlich zur kritischen Beschreibung der sozialen Lage des russischen Volks: „Alle reden nur vom Wichtigen, philosophieren, und dabei können sie es alle sehen: Die Arbeiter essen abscheulich, sie schlafen ohne Kopfkissen, zu dreißig, vierzig Mann in einem Zimmer, überall Wanzen, Gestank, Nässe, moralische Verkommenheit.“ Einer der philosophierenden Intellektuellen, die ihre Augen vor der Wirklichkeit verschließen, ist Gaev, der, kaum hat Trofimov seine anklagende Rede beendet, mit lächerlich wirkendem Pathos in der Stimme die Schönheit und Göttlichkeit der Natur beschwört, während sich im Hintergrund Epichodov „gitarrespielend“ über die Bühne bewegt. Gaev, der den Diener Jaša auch duzt, während seine Schwester ihn in der höflichen Sie-Form anredet, bezeichnet sich als „Mann der achtziger Jahre“ und behauptet „Nicht umsonst liebt mich der Bauer. Den Bauern muß man kennen!“ (214), doch es gibt im ganzen Stück keinen Hinweis, daß er sich für die Bauern oder gar für das Problem der Leibeigenschaft interessiert. Auch seine Zuordnung zu der entmutigten und demoralisierten Generation des Jahrzehnts nach dem Zarenattentat 1881 ist nur eine leere Phrase. Čechovs Kritik durch den Mund Trofimovs zielt jedoch nicht bloß auf solche intellektuellen Schwätzer wie Gaev, der sogar innerhalb der Familie stän-

„Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten)

295

dig zum Schweigen gebracht wird, sondern auch auf den Studenten selbst, wenn dieser Sätze äußert wie: „Die Menschheit schreitet vorwärts, ihre Kräfte vervollkommnend“ (223) und in Anlehnung an Nietzsche51 die Theorie vom „starken und stolzen Menschen“ entwickelt, der, unterwegs zur „höheren Wahrheit“ und zum „höchsten Glück, das auf Erden überhaupt möglich ist“, der rohen, geistlosen und unglücklichen Masse entgegengesetzt wird (223, 244). Angeprangert wird in der Gestalt Trofimovs, der sich „in den ersten Reihen“ der Menschheitserneuerer sieht52, der vage Idealismus der alten Klasse. Trofimov ist zwar von Geburt her kein Adliger, und sein universaler Traum trägt demokratische Züge, aber in seinem Stolz und seiner Selbstgewißheit hat er etwas typisch Aristokratisches. Was bei letzterem zu idealistisch ist, ist bei dem Kaufmann Lopachin zu utilitaristisch. Auf Trofimovs Klage, daß in Rußland zu wenig gearbeitet werde, entgegnet der Vertreter der neuen Klasse: „Ich stehe morgens um fünf Uhr auf und arbeite von früh bis spät“ (223). Die indirekte Kritik gilt hier der totalen Ausrichtung des Lebens auf die Ziele von Nutzen und Gewinn. Es gehört zu Čechovs Prinzip des Gleichgewichts, daß er die beiden Gegenspieler, die sich trotz ihrer Spöttereien wechselseitig respektieren, nicht nur negativ, sondern auch positiv sieht. So bejaht er, neben dem Vorbehalt gegenüber dem Idealismus des einen und dem Utilitarismus des anderen, an Trofimov das Verlangen, Visionen zu entwerfen, und an Lopachin die Fähigkeit, Pläne zu verwirklichen. Denn er weiß, daß nur dort, wo sich das Visionäre und das Pragmatische verbinden, wirkliche Veränderungen entstehen und, wie Lopachin formuliert, das Leben seinen Gang geht (246). Weit davon entfernt, ein Pessimist zu sein, bekannte sich auch Čechov zur Kontinuität des Lebens. Deshalb ist sein Stück mehr von der Hoffnung auf das Kommende als von der Trauer um das Verlorene erfüllt. Auch in dieser Hinsicht ist „Višnevyj sad“ eine Komödie. Die Liebesheirat, das Happy-End als Glückserfüllung im Gegenwärtigen, hatte schon Gogol’ als Merkmale der komischen Gattung abgeschafft. Die existentielle Problematik Es muß der optimistische Ausgang und die Wendung auf das Zukünftige gewesen sein, was Gor’kij bei den Proben zu „Višnevyj sad“ zur Überzeugung brachte, Čechovs nächstes Stück werde revolutionären Charakter haben. Der Autor von „Na dne“ (Nachtasyl, 1902) übersah dabei, daß sein Mentor53 auf dem Gebiet der Dramatik weder vom Naturell noch von der geistigen Haltung her ein Umstürzler war. Zwar litt Čechov unter den vielen Mißständen, die er überall in Rußland sah; aber so sehr er auch auf Änderung hoffte, er besaß keinerlei Rezepte, und allen, die irgendwelche zu besitzen glaubten, begegnete er mit größter Skepsis. Man darf sogar mit guten Gründen bezweifeln, daß er lediglich eine andere Gesellschaftsordnung wollte. Sein Ziel war, wie das seiner Gestalten, ohne Zweifel umfassender. Es hieß Erneuerung des Lebens. „Leb wohl, altes Leben!“ (253), sagt Anja, die Vertreterin der jüngeren Generation, auf der die Hoffnungen ruhen,

296

Anton Čechov

während Lopachin in symbolhaltiger Geste die Türen verschließt. „Sei gegrüßt, neues Leben!“, fügt Trofimov hinzu, ehe er mit Anja abgeht. Schon vorher hatte er die Tochter Ljubov’ Andreevnas überzeugt, daß ein Festhalten an der Vergangenheit nicht mehr möglich sei. „Was haben Sie mit mir gemacht, Petja“, sagt diese, mehr konstatierend als fragend, am Ende des zweiten Akts, „warum liebe ich den Kirschgarten nicht mehr wir früher“ (227). Zunächst nur das schwärmerische Echo des Studenten, hat sich Anja nach dessen zweiter großer Rede endgültig von der nostalgischen Bindung an das Familiengut befreit. „Das Haus, in dem wir wohnen“, wendet sie sich an Trofimov, „ist schon lange nicht mehr unser Haus, und ich werde fortgehen, ich gebe Ihnen mein Wort“ (228). Wenn sie später, im dritten Akt, nachdem der Besitz an Lopachin übergegangen ist, ihre Mutter mit dem Satz „Wir pflanzen einen neuen Garten, der viel schöner ist als der hier“ (241) zu trösten versucht, verwendet sie das Wort „Garten“ bereits in der übertragenen Bedeutung, die Trofimov meint, wenn er am Beginn seiner Rede sagt: „Ganz Rußland ist unser Garten“ (227).54 Daß auch der Garten Rußland grundlegender Erneuerung bedarf, ist die Quintessenz der Rede, in der Trofimov die spezielle Situation der Kirschgartenbesitzer auf die allgemeine Lage einer ganzen Klasse überträgt. Der notwendige und sich bereits vollziehende Übergang von der alten zu der neuen Klasse ist für Čechov, der in diesem Kernstück des Gesamttextes eine seiner schärfsten Anklagen gegen die Vergangenheit Rußlands erhebt, mehr als ein bloßer sozialer Wandel. Es handelt sich um einen Übergang vom alten zum neuen Leben mit all seinen geistigen, moralischen und emotionalen Implikationen. Das alte Leben ist in der durch die Figur Trofimovs vermittelten Sicht Čechovs eine Daseinsform, in der die meisten Menschen unfrei sind. Wenige herrschen über viele. Die Beherrschten sind „lebende Seelen“ (227) wie die Herrschenden. Aber sie werden als leblos betrachtet und behandelt. Das ist die bittere Ironie des Ausdrucks, mit dem Trofimov auf den Titelbegriff von Gogol’s berühmtem Roman „Mertvye duši“ (Die toten Seelen) aus dem Jahr 1842 anspielt. Von der Zeit der Ignorierung elementarster menschlicher Bedürfnisse zeugt nicht nur der Diener Firs, der die Leibeigenschaft so verinnerlicht hat, daß er den Tag der „Freiheit“ als das „Unglück“ seines Lebens empfindet (224), sondern auch der Kirschgarten, das Symbol von Schönheit und Reinheit, das damit wie die Mehrzahl der Mitglieder der Gutsbesitzerfamilie eine eigentümliche Ambivalenz erhält. „Ihr Großvater, Ihr Urgroßvater und alle Ihre Vorfahren hatten Leibeigene“, sagt Trofimov zu Anja, „sie herrschten über lebende Seelen, und blicken nicht menschliche Wesen von jedem Kirschbaum im Garten, von jedem Blatt, von jedem Stamm auf Sie herab. Hören Sie nicht ihre Stimmen“ (227). Obwohl die Leibeigenschaft zu der Zeit, in der die Handlung des Stücks spielt, längst aufgehoben ist, haben sich die Verhältnisse und das Verhalten der Menschen inzwischen kaum geändert. Schon vorher hatte Trofimov von der menschenunwürdigen Unterbringung der Arbeiter gesprochen. Von Lesesälen und Kinderkrippen werde zwar viel geredet, aber außer in Romanen seien sie

„Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten)

297

nirgendwo zu finden. „Asiatische Zustände“ also auf der einen Seite, auf der anderen Seite dagegen das müßiggängerische und ausschweifende Leben der Adligen. Die herrschende Klasse hat sich durch ihren Hang, nichts zu tun und alles auszugeben, selber korrumpiert. Ihre Schulden bei der Bank seien weniger verwerflich als ihre Schuld gegenüber den Menschen. Daß sie „auf Kredit“ lebt, heißt vor allem, sie lebt „auf Kosten derjenigen, die nicht weiter als bis ins Vorzimmer gelassen werden“ (227). Der Besitz lebender Seelen, so Trofimovs entscheidender Vorwurf, hat die Besitzer „verändert“. Das Verb, das im Originaltext benutzt wird55, läßt unüberhörbar die Bedeutung von „entartet“ mitschwingen. Es geht somit um eine negative Veränderung. Gemeint ist, daß sich die Adligen von ihren Wurzeln entfernt haben: von ihrer Herkunft, ihrer Kultur, ihrer Moral. Dieser Prozeß, der als solcher unaufhaltsam ist, spiegelt sich in der Situation des Kirschgartens. Der Garten produziert weniger als früher, und auch das wenige findet keine Abnehmer. Er ist ebenso nutzlos geworden wie die Klasse, zu der die bisherige Eigentümerin gehört. Seine Schönheit jedoch besteht weiter, allerdings nur noch kurze Zeit. Von Anfang an ist die Vernichtung der einzigen Sehenswürdigkeit im ganzen Gouvernement unabwendbar. Auch Ljubov’ Andreevna versucht vergeblich, mit dem Ball etwas vom Glanz früherer Tage zurückzuholen. Für das Schöne, ein Signum des alten Lebens, gibt es vorläufig keinen Entfaltungsraum. Die neue Epoche denkt praktisch. Von hier aus erschließt sich eine weitere Ebene innerhalb des zentralen Symbols. Der Kirschgarten, der die – verlorene – Kindheit der Heldin und die – verwelkte – Blüte der Adelskultur symbolisiert, ist auch ein Symbol für das Schöne in seiner Hinfälligkeit. Zugleich veranschaulicht er auf dieser dritten Ebene, die ästhetische Perspektive um eine biologische erweiternd, das Lebensgesetz von Wachstum, Reife und Niedergang. Faßt das Zentralsymbol damit die drei Inhaltsbereiche des Stücks, das Familiäre, Zeitgeschichtliche und Existentielle, zusammen, so werden diese drei Ebenen56 ihrerseits zusammengefaßt durch den Aspekt der Zeit. Am Kirschgarten zeigt sich, auf jeder Ebene, die Zeit als eigene Macht, als das, was sich nicht anhalten und nicht aufhalten läßt. Alle drei Zeitdimensionen57 spielen dabei ein Rolle und greifen, jeweils mit bestimmten Figuren verknüpft, aufs engste ineinander. Firs kommt aus der Vergangenheit, als der Garten von Leben und Arbeit erfüllt, nicht nur schön, sondern auch nützlich war. Trotz seines hohen Alters kümmert er sich immer noch unermüdlich um Haus und Hof, und oft ist er, wie auf dem Fest, der einzige unter der Dienerschaft, der serviert und für Ordnung sorgt. Dahinter steht ein bis zum blinden Gehorsam gehendes Pflichtbewußtsein58, das in den früheren Verhältnissen anerzogen wurde und den Jüngeren nicht mehr verständlich ist. Respekt ist deshalb von ihnen kaum zu erwarten. Als Firs ins Krankenhaus gebracht werden soll, meint Epichodov, eine „Reparatur“ sei vergebliche Mühe (246), und schon vorher sagt Jaša dem alten Diener direkt ins Gesicht: „Du gehst mir auf die Nerven, Großvater. Wenn Du nur bald abkratzen würdest“ (236). Der

298

Anton Čechov

Siebenundachtzigjährige hat sich selbst überlebt. Daß er am Ende versehentlich eingeschlossen wird, gewinnt so zeichenhafte Bedeutung. Die Vergangenheit, die Firs bis zuletzt verkörpert, besitzt für die Kinder und erst recht für die Enkel seines „seligen Herrn“ (203) weder Wert noch Reiz. Wenn auch Gaev behauptet, ein „Mann der achtziger Jahre“ zu sein, und Ljubov’ Andreevna in den weißen Kirschblüten ihre glückliche Kindheit sucht, so lebt das Geschwisterpaar doch eher in der Gegenwart.59 Nur im Hier und Jetzt kann sich jeder seiner Leidenschaft hingeben, Gaev dem Spiel, Ljubov’ Andreevna der Liebe. Das erklärt, weshalb beiden der Garten gar nicht mehr als solcher so wichtig ist. Es genügt ihnen, daß er schöne Erinnerungen weckt und im „Enzyklopädischen Wörterbuch“ erwähnt wird. Auch deshalb unternehmen sie nichts zu seiner Rettung und scheinen über seinen Verlust eher erleichtert als erschüttert zu sein. Aufschlußreich ist die Art und Weise, wie Gaev von der Versteigerung zurückkehrt. Mit der Linken wischt er sich die Tränen ab, in der Rechten trägt er Einkaufspakete, denen er Anchovis und Heringe aus Kerč entnimmt, und als aus dem Billardzimmer der Klang aneinanderstoßender Bälle dringt, verändert sich sein Gesichtsausdruck, und er hört auf zu weinen. Das Leben geht weiter, besagt die Szene in ihrer gebrochenen Komik. Für den neuen Besitzer hat der Garten dann nicht einmal mehr einen persönlichen Erinnerungswert. Abgesehen davon, daß sein Erwerb zur Machtausübung privatester Art dient, wird er vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten gesehen. Rentabilität heißt die Devise. Im gegebenen Fall bedeutet dies das Fällen der uralten Bäume. Was an die Stelle der kultivierten Natur tritt, wird im Vergleich mit ihr häßlich sein. Dafür sind die Sommerhäuser jedoch nützlich. Sie dienen dem Menschen wie einst der Garten. Hinzu kommt, daß der Kaufmann Lopachin, der sogar ins Theater geht, keineswegs unempfänglich ist für das Schöne. Er läßt nicht nur Kirschbäume fällen, sondern auch Mohn anbauen, eine Pflanze, die durch ihre Farbe entzückt. Bezeichnenderweise äußert er in ein und demselben Atemzug seine Freude über den „Reingewinn von Vierzigtausend“ und sein ästhetisches Vergnügen beim Anblick des blühenden Feldes: „Was war das für ein Bild, als mein Mohn blühte!“ (244). Schönheit und Nützlichkeit fallen wieder zusammen. Der Anbau des Mohns und die Errichtung der Sommerhäuser betrachtet Lopachin als Beiträge zu einem neuen Leben. Er praktiziert und realisiert, wovon Trofimov nur redet. Trofimov entwirft, Lopachin antizipiert die Zukunft. Wenn sie zurückschauen, dann ist dies, anders als bei Gaev und Ljubov’ Andreevna, frei von Nostalgie. Der eine sieht die Vergangenheit unter allgemeinen Aspekten, der andere unter persönlichen. Für Trofimov wird die Retrospektion zum Anlaß der Klage über Rußland, für Lopachin zur Erinnerung an die leibeigene Herkunft und zugleich zur Aufforderung, den eingeschlagenen Weg der Freiheit und der Selbstverwirklichung konsequent fortzusetzen. So strebt der letztere energisch und unbeirrt in die Zukunft. Für die Gegenwart bleibt dabei kaum Zeit, wie der ständige Blick auf die Uhr illustriert.

„Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten)

299

Genuß und Entspannung erscheinen bis zum äußersten reduziert. Liebe, Ehe und Familie kommen vorerst nicht in Betracht. Alle Personen des Stücks lassen sich also den drei Dimensionen der Zeit zuordnen. Doch keine geht völlig in dieser Zuordnung auf. Jede hat, der geschichtlichen Umbruchsituation entsprechend, etwas Übergängliches. Das beginnt im Sozialen. Ljubov’ Andreevna hat einen Nichtadligen geheiratet. Ihre Pflegetochter Varja entstammt einer unteren Gesellschaftsschicht. Lopachin gelingt der Aufstieg vom einfachen Bauern zum erfolgreichen Kaufmann. Jaša und Dunjaša versuchen, sich über den Dienerstand zu erheben, indem sie ihre Herrschaft in Kleidung und Verhalten nachahmen. Bewegungen anderer Art kommen hinzu. Anja löst sich aus der Familie. Gaev vollzieht den Schritt ins Berufsleben. Ljubov’ Andreevna verabschiedet mit dem Garten ihre Jugend und ihr Glück. Firs bereitet sich auf das Sterben vor. Am deutlichsten gelangt das Moment des Übergänglichen in der Gestalt Šarlottas zum Ausdruck. Ohne gültigen Paß und ohne genaue Kenntnis ihrer Herkunft und ihres Alters, ist die Gouvernante ein Leben lang unterwegs. Zuerst zieht sie von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, dann von Stellung zu Stellung. Dieses Umherziehen kommentiert nicht nur das Verhalten ihrer Herrin und Wohltäterin, die ins Ausland gegangen ist, in Mentone und Paris gelebt hat und, nach Rußland zurückgekehrt, sofort gesteht, sie könne keine Minute still sitzen: „Ich möchte springen, die Arme in die Luft werfen“ (204). Darin liegt darüber hinaus auch ein Hinweis auf die Ruhelosigkeit der übrigen dramatis personae. Denn alle werden von der Figur Šarlottas ebenso wie von der Epichodovs brennspiegelartig zusammengefaßt: von dem Kontoristen in ihrer Komik, von der Gouvernante in ihrer Seinsweise als Mensch. Dabei reicht das Zusammenfassende noch tiefer, als das Merkmal der Ruhelosigkeit andeutet. Als Clown und Akrobatin, die den „Salto mortale“ sprang, eignet Šarlotta das Ausgesetzte und Unbehauste der Fahrenden, das gleichfalls, abgeschwächt freilich, mehr oder weniger in jeder einzelnen Gestalt des Stücks steckt. „Woher ich komme und wer ich bin – ich weiß es nicht“, sinniert die Gouvernante, während Epichodov neben ihr auf der Gitarre spielt, „gar nichts weiß ich. (Pause) Ich möchte so gern mit jemandem sprechen, aber mit wem... Ich habe niemanden“ (215). Bei aller Melancholie, die noch durch Epichodovs Gitarrespiel unterstrichen wird, ist dies weder Klage noch Anklage. Šarlotta, die im Verlauf ihres nachdenklichen Monologs eine Gurke aus der Tasche zieht und zu essen beginnt, begnügt sich mit dem bloßen Konstatieren. Sie stellt einfach fest: So ist das Leben, so ist die menschliche Existenz. Einsamkeit und Beziehungslosigkeit, Rastlosigkeit und innere Leere sind unausweichliche Gegebenheiten.60 Selbst die Identität wird immer wieder in Frage gestellt. Šarlotta, die ein Hauch von Absurdität umweht, gewinnt so eine noch über das vorliegende Stück hinausgehende Bedeutung. Mit ihr hat Čechov in einer Gestalt paradigmatisch seine Auffassung vom Menschen zusammengefaßt. Der Mensch, so wie er bei ihm erscheint, ist ein transitorisches Wesen. Er ist wie die Epoche, zu der er gehört, im Übergang begriffen. Übergang meint hier kein „Überschreiten“ im

300

Anton Čechov

Sinne Rilkes, kein Transzendieren also ins reine Sein, sondern eine Bewegung, die sich in der Immanenz des Lebens vollzieht. Der Mensch bleibt damit der Zeit und der Zeitlichkeit verhaftet. Die Zeit, so veranschaulicht Čechov in „Višnevyi sad“ wie in jedem seiner großen Stücke, nur noch exponierter, ist zugleich die Qual und die Hoffnung des Menschen.

Birgit Harreß

Maksim Gor’kij: Na dne (Nachtasyl) Mit seinem Drama „Na dne“, das am 31. Dezember 1902 in Moskau uraufgeführt wurde, hatte Maksim Gor’kij einen beispiellosen Erfolg. Mehr als fünfzehnmal wurde er nach der Vorstellung auf die Bühne gerufen und triumphal gefeiert1. Diese Wirkung blieb nicht auf Rußland beschränkt, sondern erfaßte bald ganz Europa. Von August Scholz ins Deutsche übertragen und mit dem Titel „Nachtasyl“ versehen, wurde das Stück von Max Reinhardt am Kleinen Theater in Berlin inszeniert. Im Oktober 1903 sah man dort seine 250., im Mai 1905 seine 500. Aufführung.2 Als Gor’kij einer Darbietung beiwohnte, erntete er frenetischen Applaus. Der russische Text, der zunächst in München („Na dne žizni“, 1902), dann in Sankt Petersburg („Na dne“, 1903) erschien, verbuchte eine bis dahin nicht gekannte Auflagenhöhe: Bis Ende 1903 wurden 750 000 Exemplare verkauft.3 Der Autor gehörte nun zu den bekanntesten Dramatikern Rußlands. Dieser Erfolg war um so überraschender, als Gor’kij erst seit kurzem mit der Bühne vertraut war. 1899 hatte er Anton Čechov persönlich kennengelernt und durch ihn das Moskauer Künstlertheater, dessen Niveau ihn tief beeindruckte. Von beiden Seiten ermutigt, schrieb er nun selbst ein Theaterstück, „Meščane“ (Die Kleinbürger, 1902), das unter Polizeiaufsicht in Petersburg uraufgeführt wurde. Das Unternehmen schlug fehl, doch sollte gerade dieser Nachteil dem nächsten Werk zum Vorteil gereichen. Da die Behörden von einem erneuten Fiasko ausgingen, gaben sie „Na dne“ nach starken Einschnitten durch die Zensur frei. Um so beunruhigter waren Gor’kijs Gegner über den Durchbruch, der sich trotz immer weiterreichender Einschränkungen nicht aufhalten ließ. Heftig verurteilte die konservative Zeitschrift „Russkij vestnik“ (Der russische Bote) den Siegeszug von „Na dne“: „Man muß eine Gesellschaft bedauern, die törichterweise jedes Gefühl für sich selbst verliert, ihre Prinzipien und Traditionen vergißt, dem Sittenverfall nachgibt, sich aufführt wie das Volk zur Zeit der Cäsaren, sich auf ein Schauspiel stürzt und klatscht, um den Gestank, den Schmutz und das Laster einer revolutionären Propaganda zu übertünchen [...], während der Anführer, der Barfüßler, Maxim Gorki, seine Feder wie einen Hebel benutzt und den Boden, auf dem sich die gleiche Gesellschaft gebildet hatte, erschüttert. Was für ein gefährlicher Schriftsteller! Wie elend und blind sind doch seine Bewunderer, seine Leser und seine Zuschauer!“4 Sowohl Zuspruch als auch Ablehnung waren Gor’kij rätselhaft. In Selbstzweifeln gefangen, hielt er sein Drama für alles andere als revolutionär. Zwar sah er das Zarenreich am Ende, doch wußte er keinen Ausweg. Er kannte die Ideologien der beiden großen revolutionären Gruppierungen, der Narodniki und der Marxisten, fühlte aber Unmut gegenüber der intelligencija und ihren abstrakten Utopien. Dieser schlug sich in „Na dne“ nieder und wurde von den Grup-

302

Maksim Gor’kij

pierungen auch sehr wohl verstanden. Die zwei-eine „pravda“ des Volkstümlers Michajlovskij erscheint hier parodiert. Personifiziert in Satin und Luka, werden die Begriffe „istina“ und „spravedlivost’“ in eine Scheinsynthese gebracht und ad absurdum geführt. Im Grunde verkörpert Satin die „Verzweiflung der Unendlichkeit“ und Luka die „Verzweiflung der Möglichkeit“, die sich beide im Nirgendwo verlieren.5 Gleichermaßen wird das Ziel des Marxismus, die klassenlose Gesellschaft, am Ende der Handlung erreicht. Doch es kommt nicht zur Aufhebung der Entfremdung, sondern zu deren Steigerung. Nun sind alle Menschen am Boden (na dne), ganz gleich, welcher Klasse sie angehört haben. Nachdem sich Gor’kij ab 1907 der SDAPR zuzuwenden begann6, überwogen seine Zweifel an „Na dne“. Am Ende seines Lebens verwarf er es gar als „schädliches Stück“7. „Na dne“ ist ein Drama, das die klassische Bühnenkunst verfremdet. Es zeigt einen Kosmos, in dem die Menschen nicht mehr handeln, sondern spielen. Dabei sind sie keine Subjekte, sondern Objekte des „Welt-Spiels“.8 Wenn es endet, werden sie „zurück auf Los“ geschickt. Der Autor verdichtet die Rätsel, die sich ihm angesichts der desolaten Lage in Rußland stellten, in „Bildern“ (107), die eine statische Grundsituation entfalten. Demgegenüber setzt die eigentliche Handlung lange vor der Bilderfolge ein. Ohne Kierkegaards Schrift „Die Krankheit zum Tode“ (1849) zu kennen, spielt Gor’kij alle Gestalten der Verzweiflung durch, die letztlich aus der Angst resultieren: der Angst der Verzweiflung vor sich selbst. Die Apotheose des Menschen, die der berauschte Satin im vierten Akt beschwört, ist kein Ausdruck des Stolzes, sondern eben dieser Krankheit. All die genannten Merkmale weisen „Na dne“ als ein Drama der Moderne aus, das zum Vorläufer des Absurden gezählt werden muß.9 Theater wird so zum „absoluten Spiel, das reflexiv um sich kreist und den Anspruch aufgegeben hat, Wahrheiten zu formulieren“.10 Beschleunigung und Entschleunigung der „Geschichte“ Der Mythos von „Na dne“ besteht einerseits aus der zweisträngigen Vordergrundhandlung, andererseits aus verschiedenen Bilderfolgen und ist in sich sehr komplex. Während die Vordergrundhandlung vom Außenbereich her motiviert wird und dynamisch verläuft, sind die Bilderfolgen im Innenbereich verwurzelt und weitgehend statisch. Geeint werden die Schicksale durch den Handlungsraum, ein Nachtasyl, das den Charakter eines existentiellen Modells aufweist. Das gelingt dadurch, daß Gor’kij den Handlungsraum zunächst als unmittelbar vorhandene Weltgegend der Nähe konzipiert und ihn dann durch den allmählichen Abstieg der Figuren in eine imaginäre Weltgegend verwandelt.11 Durch ihr Wechselspiel entfalten die einzelnen Schicksale die folgende „Geschichte“: In einer russischen Stadt unbekannten Namens steht das Haus des Kleinbürgers Michail Kostylev. Während dieser mit seiner Frau Vasilisa und deren Schwester Nataša im oberen Bereich wohnt, dient der Keller als Nachtasyl, als armselige Bleibe für den Bodensatz der Gesellschaft. Bei den Mietern han-

„Na dne“ (Nachtasyl)

303

delt es sich um sogenannte „byvšie ljudi“, um Menschen, die mit der früheren Gesellschaftsordnung untergegangen sind. Ständig betrunken, erinnern sie sich nur noch rudimentär an ihre Vergangenheit wie der Telegraphist Satin oder der namenlose Baron, die beide vorbestraft sind, wie der Schauspieler, dessen Gedächtnis nahezu ausgelöscht ist, oder der einst so erfolgreiche Kürschner Bubnov, der nun der brotlosen Kunst des Mützenmachens nachgeht. Im Laufe der Ereignisse gesellen sich noch weitere Figuren hinzu, die bislang meinten, diese trostlose Welt nur vorübergehend zu bewohnen. Zu den „byvšie ljudi“ hinab steigen aber auch die Mächtigen. Aus Habgier versucht Kostylev, bei Pepel dem Dieb Hehlerware zu erstehen, aus Schwäche übersieht der Polizist Medvedev geflissentlich alle Untaten, weil er mit dem Herbergswirt verschwägert ist. Gemeinsam bilden sie eine desolate Synthese: Ihre sprechenden Namen, die aus „kostyl’“ (Krücke) und „medved’“ (Bär) gebildet werden, weisen darauf hin, daß der russische Bär angeschlagen ist. Als das Geschehen in medias res einsetzt, hat die Vordergrundhandlung bereits ihren Wendepunkt erreicht. Nachdem die schöne Vasilisa vergeblich versucht hat, Pepel für die Beseitigung ihres Mannes zu gewinnen, verlegt sie sich auf eine andere Strategie, um ihr Ziel zu erreichen. Sie weiß, daß Nataša ihrem einstigen Liebhaber gefällt, und stachelt Kostylev zu solch brutalen Mißhandlungen an ihrer Schwester auf, daß Pepel den Herbergswirt tötet. Doch anders als erhofft, wird nicht nur er verhaftet, sondern auch Vasilisa selbst. Welches Strafmaß die beiden erwartet, läßt der Schluß offen. Synchron mit diesem Strang der Vordergrundhandlung entwickelt sich noch ein weiterer, der nur im ersten Akt punktuell aufblitzt, dann verdeckt weiterläuft und am Schluß eine Lösung bereithält. Als Nutznießerin des Debakels erweist sich nämlich die Händlerin Kvašnja, die dem geduldigen Werben des Polizisten Medvedev nachgegeben hat. Durch ihn kommt sie in den Besitz des Nachtasyls und errichtet hier ein Matriarchat der besonderen Art. Das Schlußbild zeigt den einstigen Ordnungshüter domestiziert: In eine wattierte Frauenjacke gehüllt und ordentlich beschwipst, wird er von seiner Frau resolut schlafen geschickt. Damit sind die Mächtigen entmachtet. Gleichheit und Brüderlichkeit halten im Nachtasyl Einzug, auf die Freiheit wird jedoch dankend verzichtet. Die Bilderfolgen zeigen hingegen die statische Grundsituation, in der die „byvšie ljudi“ verharren. Ihre Beschäftigungen zielen nicht auf Veränderung ab, sondern sind zu einem Spiel verkommen, das selbstzweckhaft in sich kreist. Ein Requisit, das diese Grundsituation im ersten Akt leitmotivisch konkretisiert, ist der Besen, mit dem der Raum täglich ausgefegt werden muß. Ihm auszuweichen, gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen der Mieter. Ein Spiel ist für sie auch der Ehekrieg der Kostylevs, den sie voller Spannung verfolgen. Wenn der Herbergswirt Pepels Kammer umschleicht, weil er hier seine untreue Frau vermutet, haben sie ihren Spaß. Der Schauspieler entdeckt darin eine „Komödie“, und Satin meint vergnügt: „Sehr gut! So habe ich es gern...“ (118). Als er Pepel dann lachend fragt, warum er den Herbergswirt nicht einfach umbringe, antwor-

304

Maksim Gor’kij

tet der kluge Dieb mit einer Gegenfrage: „Wegen solch eines Lumpen mein Leben verpfuschen?“ (118). Satin aber setzt das Gedankenspiel fort, aus dem später Ernst wird. Auf den Prüfstand gebracht wird das Leben der „byvšie ljudi“ durch den Pilger Luka, der im Nachtasyl nur Station macht. Da er offensichtlich keine Papiere besitzt, ist er rechtlos und müßte die Obrigkeit fürchten. Doch Luka fühlt sich frei. Er geht unbefangen auf die Menschen zu, beobachtet ihr elendes Dasein sehr genau und kommentiert alles ungefragt. Was der Pilger allerdings nicht bieten kann, sind Lösungen. Wer sie von ihm erwartet, läßt sich auf das phantastische Spiel mit den Möglichkeiten ein, das an der Realität scheitert. Als Luka den Handlungsraum verläßt, gibt es mehr Fragen als Antworten. Die Welt als Schattenreich Was die literarische Topographie betrifft, so schafft Gor’kij eine subtile Spannung zwischen Innen und Außen. Das gelingt zum einen durch den Handlungsraum, der im ersten, zweiten und vierten Akt aus dem Nachtasyl, im dritten Akt aus dem dazugehörigen Hinterhof besteht, zum anderen durch den Großraum, der jenen umgibt und zugleich Welthaltigkeit impliziert. Der Großraum ist das gesamte Russische Reich, das in der Stadt unbekannten Namens als pars pro toto verdichtet wird. Diese Stadt ist im Leben der Nachtasylbewohner allgegenwärtig, da sie immer wieder die Szene verlassen, um dort zu arbeiten oder zu stehlen, zu spielen oder zu zechen. Zwar liegen die Straße, der Markt oder die Schenke im offstage, doch werden sie durch Schreie, Pfiffe, Verkehrslärm und Harmonikaspiel von außen vergegenwärtigt. Zur Semantisierung der Stadt gehört auch der „gesprochene Raum“12 wie die Kirche und der Friedhof, die vom Ehepaar Kostylev besucht werden, das Krankenhaus, in das die verletzte Nataša eingewiesen wird, sowie das Gefängnis, in dem Pepel und Vasilisa auf ihren Prozeß warten. All diese Örtlichkeiten dienen dazu, das pars pro toto zu verdichten. Im Falle des Großraums geht Gor’kij weit über das pars pro toto hinaus und wendet sprachliche Lokalisierungstechniken an, die eine plastische „Wortkulisse“ schaffen.13 Die Figuren kommen aus den unterschiedlichsten Gegenden Rußlands und lassen im Dialog den einen oder anderen Namen fallen, wenn sie sich an Bruchstücke aus ihrer Vergangenheit erinnern. So ist von einzelnen Städten die Rede wie von Moskau, Petersburg, Saratov, Jaroslavl’ oder Tomsk. Ein diffuses Verhältnis zum Raum hat hingegen Luka. Auch wenn er einen Namen nennt, wird er dabei aber nicht konkret, sondern umreißt eher weite geographische Gebiete, an die er seine Verheißungen knüpft. Auf diese Weise verwandeln sie sich in vorgestellte Weltgegenden.14 Während Pepel in Sibirien das Land sieht, wohin man „auf Staatskosten“ verschickt wird, gerät es bei Luka zum Arkadien: „Ein schönes Land ist Sibirien! Ein goldenes Land! Wer gut bei Kräften ist und nicht auf den Kopf gefallen, der fühlt sich dort wie die Gurke im Frühbeet!“ (139). Noch wundert sich der Dieb, warum der Pilger so lügt. Doch bald will auch er daran glauben, daß es ein wirkliches Ziel gäbe, wohin er mit

„Na dne“ (Nachtasyl)

305

Nataša gehen könnte. Um so härter wird dann der Sturz auf den Boden der Tatsachen. Der eigentliche Handlungsraum wird in der Bühnenanweisung detailliert beschrieben und ist ein signum repraesentativum in seiner Vollendung.15 Das Nachtasyl ist ein „Keller, der einer Höhle gleicht“ (109) und von einer rauchgeschwärzten Decke überwölbt wird. Das Licht fällt vom Zuschauer her auf die Szene und potenziert damit die Illusion der Guckkastenbühne. Der Betrachter nimmt die Vorgänge als sein eigenes Schattenspiel wahr und wird so mit seinem Unbewußten konfrontiert. Das Haus gehört zu den Archetypen, wobei der Keller dessen dunkle Komponente ist, das „Wesen, das an den unterirdischen Mächten teilhat“.16 Der Vergleich mit der Höhle, der die Bühnenanweisung einleitet, läßt die ursprünglichste Behausung evozieren, in die sich Lebewesen von jeher zurückzogen. Sie symbolisiert Anfang und Ende, Geburt und Tod.17 Doch diese „Höhle“ ist nicht von der Natur erschaffen, sondern von Menschen, die ihresgleichen ausbeuten. Sie ist das Schattenreich der Kostylevs. Deren Habgier entsprechend sind die Mieter je nach Einkommen untergebracht. Folglich gibt es auch ganz unten eine Hierarchie. Pepel der Dieb, der das meiste besitzt, genießt das Privileg einer Kammer, die es ihm ermöglicht, seine Geliebte zu empfangen. Der Schlosser Klešč, der fortwährend arbeitet, verfügt über ein breites Bett, auf dem seine Frau Anna im Sterben liegt. Die Ärmsten der Armen müssen indes mit Pritschen Vorlieb nehmen, die überall an den Wänden angebracht und für jedermann einsichtig sind. Demgegenüber bewohnen die Händlerin Kvašnja und die Prostituierte Nastja die Küche, ebenso der Baron, der von beider Tätigkeit lebt. Ein Lager der besonderen Art stellt der große russische Ofen in der linken Ecke dar, der nicht nur Wärme, sondern auch einen guten Überblick über das Treiben der Bewohner bietet. Während der Schauspieler im ersten und vierten Akt darauf liegt, um über sein Schicksal nachzusinnen, bezieht Luka hier im zweiten Akt Stellung, um die Auseinandersetzung Pepels mit den Kostylevs zu beobachten und im entscheidenden Augenblick dazwischenzugehen. Dem Blick des Zuschauers entzogen ist die Wohnung der Wirtsleute, die allerdings aufgrund der dort herrschenden Gewalt akustisch präsent ist. Wiederholt müssen die Nachtasylbewohner mitanhören, wie Nataša von Schwester und Schwager angebrüllt und geschlagen wird. Durch Fenster und Türen öffnet Gor’kij die Grenzen zwischen Nachtasyl und offstage. Während das Fenster rechts oben eher die Sehnsucht nach der Außenwelt erweckt, als wirklich Licht zu spenden, ermöglicht die Tür zu Küche und Flur in der linken Wand einen Durchgang zur Außenwelt und damit ein ständiges Kommen und Gehen. Semantisiert wird der Raum weiterhin durch ausgewählte Requisiten wie den großen Tisch in der Mitte der Bühne, an dem Kvašnja im ersten Akt ihre Besorgungen vornimmt und Satin im vierten Akt seine Monologe hält. Beim Spielen im zweiten Akt halten sich die Männer nicht daran auf, sondern ziehen ihre Pritschen vor, weil deren Unordnung der Mogelei Vorschub leistet. Im vierten Akt wird der Tisch zum Altar der „služba kabaku“18,

306

Maksim Gor’kij

auf dem Gläser sowie Flaschen mit Bier und Branntwein stehen. Mußten sich die Mieter unter der Herrschaft der Kostylevs in die Stadt bemühen, um ihren Durst zu stillen, lassen sie ihren Bedürfnissen nun freien Lauf. Das Schwarzbrot, das im ersten und vierten Akt auf dem Tisch liegt, zeigt, daß die Ansprüche auf feste Nahrung minimal sind. Obwohl der dritte Akt im Hinterhof und somit im Freien spielt, vermag kein Gefühl der Erleichterung aufzukommen. Laut Bühnenanweisung handelt es sich um einen „öden Platz“ (150), der voller Gerümpel liegt und von einer Holzwand sowie einer Brandmauer umstellt ist. Auch hier sind die Angaben sehr genau. Der Autor legt Wert darauf mitzuteilen, daß die Mauer den Himmel verdeckt und die Holunderbüsche als die einzigen Relikte der Natur „noch keine Knospen“ zeigen (150). Nirgendwo in der Welt des Nachtasyls ist ein Werden zu bemerken. Ganz im Gegenteil mutiert der triste Ort zur Todesstätte, wenn Pepel hier den Herbergswirt niederschlägt und der Schauspieler im letzten Akt den Keller verläßt, um sich auf dem Hof zu erhängen. Die Betrachtung des Bühnenbilds zeigt, daß Gor’kij die Kunst der Topographie perfekt beherrscht. Durch die Differenzierung von Großraum und Handlungsraum schafft er ein theatrum mundi, in dem er Menschen verschiedenster Gesellschaftsschichten zusammenführt, Menschen, die längst abgestiegen oder im Abstieg begriffen sind. Dabei werden diejenigen, die von außen kommen, in den Untergang einbezogen. Abgesehen von den Wirtsleuten und dem Polizisten ist hier noch der zwanzigjährige Schusterjunge Aleška zu nennen, der die Mieter mit Musik und Tanz unterhält, ständig betrunken ist und mit großer Freude deren Intimitäten auf den Markt trägt, um dann zu beobachten, wie sich das Gerede verselbständigt. Wenn er sich auf die Straße legt, inmitten des Verkehrs Harmonika spielt und der Welt lautstark eine Absage erteilt, wird er zum Sprachrohr des Absurden. Gor’kijs Lumpenproletariat repräsentiert das Allgemeinmenschliche. Der Großteil der „byvšie ljudi“ entzieht sich der herrschenden Ordnung und richtet sich im Scheitern ein. Doch mit ihm geht der faulende Zarismus zugrunde, dessen patriarchalische Ordnung nur noch aus Relikten besteht. Ganz Rußland ist am Boden, und die Verweigerung, diesen Prozeß aufzuhalten, ist radikaler als jeder Aufruf zur Revolution.19 Lupus est homo homini Mit dem Zusammenbruch der alten Ständeordnung enthüllt sich das Absurde im Nachtasyl. Verwundert läßt der Baron ein Leben Revue passieren, das ihm wie eine einzige große Garderobe erscheint: „So weit ich zurückdenken kann, [...] war mein Hirn irgendwie benebelt. Zu keinem Zeitpunkt habe ich irgend etwas verstanden. Mir schien, als ob ich mich mein Leben lang nur an- und ausgezogen hätte... aber warum? Keine Ahnung. Ich habe studiert und trug die Uniform des Adelsinstituts... aber warum habe ich studiert? Keine Ahnung... Ich habe geheiratet, zog einen Frack an, dann einen Schlafrock... [...] – warum? Keine Ahnung...

„Na dne“ (Nachtasyl)

307

Ich habe alles durchgebracht, was da war, trug ein graues Jackett und fuchsige Hosen [...] ... aber wie ich eigentlich auf den Hund gekommen bin? Keine Ahnung... ich wurde beim Kammerkollegium angestellt... bekam eine Uniform, eine Mütze mit Kokarde... ich unterschlug Staatsgelder... zog den Sträflingskittel an... dann zog ich das hier an... Und alles... geschah wie im Traum...“(177 f.). Kleidung entscheidet im zaristischen Rußland über Sein oder Nichtsein. Wer ein Amt im Militär- oder Zivilwesen „bekleidet“, trägt eine Uniform und ist darin erst existent. Wer sich hingegen nicht damit identifizieren kann, fällt aus der Ordnung heraus. Der Baron spürt seine Überflüssigkeit und verliert darüber jegliche Selbstachtung. Als Pepel ihn auffordert, für eine Flasche Schnaps auf allen vieren zu laufen und zu bellen wie ein Hund, kommt er dem nach. Ist er doch seiner Meinung nach „noch tiefer gesunken“ als der Dieb (122). Bubnov konstatiert trocken: „Was gewesen ist, ist gewesen. Übriggeblieben ist nicht viel davon... hier kennen wir keine Herren... der Putz ist weg, nur der nackte Mensch ist geblieben...“ (123). Die absurde Existenz, die Bubnov hier anspricht, sprengt die alten Standesgrenzen. Zählten bisher allein Adlige zu den „lišnie ljudi“, den überflüssigen Menschen, entdecken nun auch die kleinen Leute ihre Verlorenheit. Bereits im ersten Akt beklagt die Prostituierte Nastja, im Nachtasyl „überflüssig“ zu sein (127), im vierten Akt kündigt sie an fortzugehen, „ganz nackt“, wenn es sein müßte: „Auf allen vieren will ich kriechen!“ (171). In einer Welt ohne Transzendenz kennzeichnet Nacktheit die Kehrseite der Freiheit: die Ohnmacht, deren Grundlage die Todesgewißheit ist.20 Der Tod begleitet unaufhörlich die Weltbewohner, sei es in ihrer Erinnerung oder im gegenwärtigen Erleben. Ihn zu ignorieren, ist kaum möglich, weil die Schicksalsschläge das Leben der Hinterbliebenen deutlich verändern. Das wird im Totschlag Kostylevs deutlich, der seit Beginn der Handlung als Möglichkeit aufscheint und dann doch überraschend erfolgt, weiterhin im Selbstmord des Schauspielers, der als letzter großer Auftritt geplant ist und dem Gelage im Schlußbild ein abruptes Ende bereitet. Nun gewinnt der Schauspieler auf einmal die Aufmerksamkeit, nach der er sich so lange gesehnt hat. Von ganz anderer Qualität ist das Sterben Annas, das sich über die ersten beiden Akte hinzieht und den Müßiggang ihrer Mitbewohner begleitet. Die dreißigjährige Frau ist das schwächste Glied innerhalb der unfreiwilligen Gemeinschaft, zugrunde gerichtet durch die Gewalt ihres Mannes, dessen Name („Zekke“) Programm ist: Klešč wartet kaltblütig auf ihren Tod, um selbst zu leben. Pepel gegenüber meint er: „Ich bin ein Mensch, der arbeitet... [...] ... von klein auf habe ich gearbeitet... Meinst du, ich schaffe es hier nicht mehr raus? Ich schaffe es... und wenn meine Haut in Fetzen geht, aber ich schaffe es... Laß nur erst... meine Frau sterben“ (119). Obwohl Klešč um seine Schuld weiß, weigert er sich, Anna an ihrem letzten Tag beizustehen. Ihre Erstickungsängste ignoriert er, ihre Sorgen tut er mit Allgemeinplätzen ab. Doch Bubnov steht ihm in nichts nach. Als Luka ihn bittet, die Sterbende nicht zu stören, entgegnet er: „Stirbt die wirklich? [...] Dann wird endlich das Husten aufhören... War zu störend, das ewige Geröchel...“ (138). Auf ihren Tod reagiert er mit Befriedigung: „Hat also

308

Maksim Gor’kij

aufgehört zu husten“ (147). Anstatt das memento mori zu bemerken, überspielen es die Nachtasylbewohner im wahrsten Sinne des Wortes. Während die Sterbende im zweiten Akt ihr armseliges Leben beklagt und ihre Angst vor dem Tod bekennt, fluchen sie über den Karten oder dem Damespiel, brüllen ihre immer leiser werdende Stimme nieder. Am Schluß verlassen sie die Szene, um in der Schenke den Gewinn zu vertrinken. So stirbt Anna allein. Das Mysterium ist dem „schmutzigen Tod“ gewichen.21 Einer der Tagelöhner fragt, ob sie wohl riechen werde, muß sich aber nach einem Blick auf den Leichnam gleich korrigieren: „Die wird nicht riechen... Die ist schon zu Lebzeiten ganz ausgetrocknet“ (147). Selbst die Beerdigung ist kein würdiger Abschied, sondern wird nur als Last gesehen: Wie im dritten Akt zu erfahren ist, mußte Klešč für die Kosten all sein Werkzeug versetzen. Damit fällt seine Schuld auf ihn zurück. Allein Nataša ist fähig, Mitgefühl zu empfinden und den Tod Annas auch auf sich zu beziehen. Ist sie doch wie die Verstorbene ständiger Gewalt ausgesetzt. Allerdings werden ihre Überlegungen von Bubnov auf den Grund der Absurdität hinabgezogen: NATAŠA (mitten im Zimmer) Auch ich werde... irgendwann einmal so... ganz unten enden. [...] Es ist wohl gut für sie, daß sie gestorben ist... Kann einem wirklich leid tun... Oh du mein Gott!... Wozu lebt der Mensch? BUBNOV Das ist nun mal so: Man wird geboren, lebt eine Weile und stirbt. Auch ich werde sterben... auch du... was heißt da leid tun?“ (147). Mit dem Untergang der alten Ordnung fallen die Menschen in den Naturzustand zurück, der die gesamte Vordergrundhandlung dynamisiert. Die untergehenden Herren zerfleischen ihre Beute wie die Wölfe und versuchen, in der „Verzweiflung der Endlichkeit“ oder der „Verzweiflung der Notwendigkeit“ zu bestehen.22 Plautus erfaßte den Naturzustand in dem berühmten Wort „lupus est homo homini“ (Der Mensch ist des Menschen Wolf), das Hobbes aufgriff, um in seiner Schrift „De cive“ (1642) vor der Selbstsucht zu warnen.23 Gor’kij kannte die Schriften Darwins, sah aber anders als manche Zeitgenossen dessen Theorie vom Kampf ums Dasein nicht positiv, sondern negativ. An die Stelle einer Selektion der Überlebensfähigen setzt er die Selbstzerstörung der Mächtigen. Gerade die Gewalt bringt das Absurde zur Geltung. Kostylev beutet die Nachtasylbewohner so hemmungslos aus, daß sie ihm schon lange die Miete nicht mehr zahlen können und gegen seine Forderungen abgestumpft sind. Zugleich beansprucht er die Deutungshoheit über das Evangelium, dem er durch Frömmelei zu genügen meint. Seine Frau Vasilisa hingegen, die ihm nach dem Leben trachtet, mit Pepel ein Verhältnis hatte und ihre Schwester schlägt, gibt vor, sich um die „Ordnung“ zu kümmern (126). Ihr Onkel Medvedev schließlich zeigt sich als Verfechter des Wolfsprinzips, wenn er dafür plädiert, die Menschen so lange aufeinander einschlagen zu lassen, bis sie „müde“ würden (130). Dieser Gewaltbereitschaft begegnet Gor’kij mit verschiedenen Kategorien des Lächerlichen, bevorzugt dem Grotesken. Das Groteske erweckt Lachen und Grauen zugleich, es ist das adäquate Mittel, um die Agonie des Polizeiregimes zu ent-

„Na dne“ (Nachtasyl)

309

hüllen. Medvedev, der bei den Mächtigen wegschaut, bei den Ohnmächtigen aber zugreift, würde in dem Gerangel um Kostylev gerne Alarm schlagen, wenn ihm Aleška nicht die Pfeife stibitzt hätte. Derart entmannt muß sich der Ordnungshüter dem Matriarchat beugen. Nach dem Fall der Herren haben die „byvšie ljudi“ zwei Möglichkeiten: die Freiheit zu wählen oder sie zu verwerfen. Wer sie verwirft, ist vom existentiellen Stillstand bedroht. Dieser erfaßt die meisten, selbst Bubnov, den man nach seinen Äußerungen für einen Freigeist hätte halten können. Doch der Schein trügt. Wie die anderen versucht er, der Nacktheit zu entgehen und in den Rausch zu flüchten. Die Angst der Freiheit vor sich selbst führt auch ihn in die Daseinsvergessenheit. Gerade das aber will Gor’kij nicht. Angesichts des allgemeinen Niedergangs fordert er sittliches Handeln ein. Kvašnja, die der sterbenden Anna und der mißhandelten Nataša hilft, schafft mit ihrem tatkräftigen Besorgen einen neuen Bezug zur Welt. Sie ist der einzige Mensch, der seine Freiheit erkennt, sie ergreift und in der Gegenwart lebt. Von Lukas Verheißungen läßt sie sich nicht beeindrucken. Luka oder Das Spiel mit den Möglichkeiten Was die „byvšie ljudi“ eint, ist ihre Schwäche. Um den existentiellen Stillstand zu vergessen, flüchten sie sich in Spiel und Rausch. Was sie hingegen unterscheidet, ist das Ausmaß ihrer Sehnsucht nach dem Prinzip Hoffnung. Diese Sehnsucht hegen sie fast alle, haben sie aber verdrängt. In der Ausgangssituation meldet niemand Handlungsbedarf an, vielmehr liegen Gleichgültigkeit und Resignation über der Szene. Das ändert sich, als der „strannik“ (Pilger) Luka den düsteren Handlungsraum betritt, für einige Zeit hier verweilt und dann weiterzieht. Ganz offensichtlich sympathisiert er mit der Sekte der „beguny“ (Läufer); denn er hat keinen Paß, war längere Zeit im Gouvernement Tomsk und erzählt die Geschichte vom Land der Gerechten.24 Satin gegenüber erwähnt er sie namentlich (165). Schon bald gelingt es ihm, Bewegung in den Stillstand zu bringen, was vermutlich mit seinem Wesen zusammenhängt. Luka wirkt freundlich und an allem interessiert. Er fügt sich geschickt in die Gemeinschaft ein, indem er gleich zum Besen greift und den Raum ausfegt. Weiterhin versteht er meisterhaft, die Macht der Obrigkeit auszuhebeln, wenn er mit Ironie die Frömmelei Kostylevs oder die Eitelkeit Medvedevs ad absurdum führt. Da er sich aufs Zuhören versteht, übernimmt er bald die Rolle des Vertrauten und erteilt den anderen Ratschläge, die er mit Sprichwörtern und frei zitierten Bibelstellen garniert. Seinem Namen gemäß, der dem besten Erzähler unter den Evangelisten entlehnt ist, trägt er mehrere Geschichten vor, die der Belehrung und Erbauung dienen sollen. Dabei gibt er vor, daß sich alle wirklich zugetragen hätten. So kennt er auch angeblich den Mann, der an das Land der Gerechten glaubte. Mit dieser Geschichte möchte er nachweisen, daß die Wahrheit „nicht immer gut für den Menschen“ sei (156). Wer meint, Luka könne aufgrund seiner Freundlichkeit einen Ausweg aus der Welt des Nachtasyls weisen, der irrt. Seine existentielle Verfassung ist un-

310

Maksim Gor’kij

stet, seine soziale unverbindlich. So ist das angebliche Fundament von Lukas Wirken, der christliche Glaube, schattenhaft. Von Pepel gefragt, ob es einen Gott gebe oder nicht, antwortet er: „Wenn du an ihn glaubst, gibt es ihn; glaubst du nicht, dann gibt es ihn nicht... Woran du glaubst, das gibt es eben...“ (140). Mit seinen sechzig Jahren steht der Pilger nicht in der Nachfolge Christi, sondern hält den Glauben für verbesserungsbedürftig. Kurz vor Eintreten der Katastrophe kündigt er an, nach Kleinrußland zu gehen, weil dort „ein neuer Glaube“ aufgekommen sei. Ganz offensichtlich ist er in der bestehenden Religion nicht verwurzelt: „Die Menschen suchen und suchen, wollen immer was Besseres finden...“ (157). Diese Aussagen belegen, daß Luka in der „Verzweiflung der Möglichkeit“ gefangen ist. Kierkegaard beschreibt dieses Phänomen mit den folgenden Worten: „Läuft die Möglichkeit nun die Notwendigkeit über den Haufen, so daß das Selbst in der Möglichkeit sich selbst entläuft [...]: dann ist dies die Verzweiflung der Möglichkeit“. Dies Selbst ist eine abstrakte Möglichkeit, es zappelt sich müde in der Möglichkeit, aber es kommt nicht von Ort, und auch nicht zu irgendeinem Ort, denn das Notwendige ist eben der Ort [...] Die Möglichkeit erscheint so dem Selbst größer und größer, mehr und mehr wird möglich, weil nichts wirklich wird.“25 Wenn Luka schon Gott als reine Möglichkeit ansieht, gilt das auch für seine eigenen Verheißungen. Das Nachtasyl wird ihm zum idealen Spielfeld der Möglichkeiten. Erfordert eine Situation jedoch die Notwendigkeit, entzieht er sich sogleich. Letztlich zerstört Luka mehr als er aufbaut. Am deutlichsten entlarvt sich die „Verzweiflung der Möglichkeit“ gegenüber Anna, deren Sterben die absolute Notwendigkeit darstellt. Zwar ist Luka zu Beginn des zweiten Akts an ihrem Bett zu finden, doch beschränkt er sich darauf, die Sterbende auf die Ewigkeit zu vertrösten. Ihre verzweifelten Fragen nach dem Sinn des Leidens beantwortet er mit dem Rat zu dulden. Dann geht er „mit raschen Schritten“ in die Küche (132). Als er wieder herauskommt, kehrt er nicht zu Anna zurück, sondern gesellt sich zu den Spielern, um sie für sein eigenes Spiel zu gewinnen. Anna muß nach ihm rufen, um seine Hilfe zu erfahren. Diese ist allerdings zweifelhaft, wenn er ihre Todesangst mit den Worten „Das macht nichts“ abtut, ihren Wunsch, doch noch etwas zu leben, mit der Frage „Wozu?“ quittiert (137). Anschließend wendet er sich wieder den Männern zu. Anna stirbt ohne Beistand, dient aber noch im Tod der „Verzweiflung der Möglichkeit“. Als Pepel ihn fragt, warum er ihn retten wolle, entzieht sich Luka, um „nach Anna zu sehen“ (145). Ein mit gewichtigen Worten gesprochenes Gebet bringt den lästigen Frager zum Verstummen. Eine ganz andere Möglichkeit bieten Luka diejenigen, die für das Prinzip Hoffnung offen sind. Ihre Sehnsüchte zu ergründen und zu schüren, entfacht seine ganze Spielleidenschaft. Dabei sind die Mitspieler unterschiedlich befähigt. Gut geeignet ist Nastja, weil sie den Bezug zur Realität verloren hat. Flüchtete sie sich bisher in die Trivialliteratur, um ihr quälendes Dasein zu vergessen, beginnt sie nun, im „žiznetvorčestvo“26 ihr Leben zu erträumen. Die Prostitu-

„Na dne“ (Nachtasyl)

311

ierte klammert sich an die Vorstellung, wirklich geliebt worden zu sein und inszeniert sich dabei vor einem Publikum, um an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Im dritten Akt lauschen ihr Nataša, Luka, der Baron und Bubnov, während Nastja „mit geschlossenen Augen“ rezitiert und den Kopf „im Takt zu ihrer Erzählung“ bewegt, die sie „in singendem Ton“ vorträgt (150). Das Spiel im Spiel wird von dem Baron und Bubnov verhöhnt, von Nataša jedoch für bare Münze genommen und von Luka vehement verteidigt: „Nicht auf das Wort kommt es an, sondern darauf, warum es gesprochen wird. [...] Ich glaube dir. Es ist deine Wahrheit und nicht die ihre... Wenn du es selber glaubst, dann gab es eben eine solche echte Liebe... Das heißt: Es gab sie wirklich! Es gab sie! [...]“ (151 f.). Ebenso geeignet für das Spiel ist der alkoholkranke Schauspieler, der schon durch seinen Beruf in der „Verzweiflung der Möglichkeit“ lebt. Camus meint, daß niemand das Absurde so treffend und ausführlich darstelle wie ein Komödiant, der auf fünfzig Quadratmetern Bretterboden die großen Helden „erstehen und sterben“ läßt.27 Der Schauspieler in „Na dne“ ist nie über den Totengräber in Shakespeares „Hamlet“ hinausgekommen, rezitiert aber lieber den Titelhelden, um seine Mitbewohner zu beeindrucken (114). Während Nastja im „žiznetvorčestvo“ versucht, ihr Leben als Prostituierte zu ertragen, sehnt sich der Schauspieler nach einem nie erlebten Ruhm. Ehe er sich für den Selbstmord entscheidet, ist er bereits gestorben.28 Luka gelingt es, in ihm noch einmal die „Verzweiflung der Möglichkeit“ zu wecken, indem er ihm mitteilt, daß in Rußland Heilanstalten eingerichtet wurden. LUKA [...] Du... wirst geheilt! Man heilt jetzt von der Trunksucht, höre! Umsonst heilt man sie, Bruderherz... Man hat eine Heilanstalt für Trunkenbolde eingerichtet [...] Beeil dich also! Geh hin... DER SCHAUSPIELER (nachdenklich). Wohin? Wo ist das? LUKA Das ist... in einer Stadt... wie heißt sie doch gleich? Es ist ein so merkwürdiger Name... Na, ich sag ihn dir noch... nur merk dir eins: Du mußt dich jetzt schon bereit halten! Sei enthaltsam!... Nimm dich zusammen und halte aus!... Und dann, wenn du auskuriert bist, ... fängst du von neuem zu leben an [...] DER SCHAUSPIELER (lächelt). Von neuem... ganz von vorn... ja, das wäre schön! [...] (lacht) Aber... ja! Kann ich das!? Ich kann das doch, oder? LUKA Warum nicht? Der Mensch kann alles... wenn er nur will... (135 f.). Obwohl die Mitteilung stimmt29, vermag Luka dem Kranken nicht zu helfen, weil er den konkreten Hinweis schuldig bleibt. Auf sich allein gestellt, ist der Schauspieler verloren. Ebenfalls verloren, im Rausch jedoch animiert ist Satin, der Luka in Anlehnung an Puškins „Pesn’ o veščem Olege“ (1822) als „Zauberer“ und „Liebling der Götter“ tituliert (163). Von diesem auf seine Vergangenheit angesprochen, wird er nüchtern und fragt: „Sag, was soll ich tun?“ (173). Da Luka weiß, daß Satin für das Spiel mit den Möglichkeiten untauglich ist, lenkt er lieber ab. Geeignete Kandidaten wären für ihn hingegen Pepel und Nataša, weil beide das Nachtasyl verlassen wollen, zudem noch jung und unge-

312

Maksim Gor’kij

bunden sind. Doch sie scheitern, weil sie sich bereits fern der Realität eingerichtet haben. Pepel, der noch nie gearbeitet hat, bleibt in Anbetracht der Schwärmereien vom „goldenen Land“ (139) ratlos, und Nataša, die von den Kostylevs mißhandelt wird, flüchtet sich wie Nastja ins „žiznetvorčestvo“ und verliert sich im Warten: NATAŠA Offensichtlich ist die Lüge... angenehmer als die Wahrheit... Auch ich... DER BARON Was „auch ich“? Sprich weiter?! NATAŠA Ich denke mir manches aus... Denke es mir aus und warte... DER BARON Worauf? NATAŠA (lächelt verlegen). Einfach so... Vielleicht, denke ich, kommt morgen jemand... irgend jemand... Besonderes... Oder es passiert was... etwas Niedagewesenes... Lange schon warte ich... immer warte ich... Aber dann... Was kann man eigentlich groß erwarten? (152). Das Warten, das längst in Resignation umgeschlagen ist, lähmt.30 Da Pepel nicht dem Mann ihrer Träume entspricht, zögert Nataša. Als Luka die beiden doch noch zusammenführen will, schafft Vasilisa Tatsachen. Sie brandmarkt ihre Schwester durch das Verbrühen der Beine und treibt ihren einstigen Liebhaber gezielt in den Totschlag. Angesichts einer solchen Realität kann sich die „Verzweiflung der Möglichkeit“ nicht länger halten. Luka löst sich in dem Handgemenge praktisch in Luft auf: „wie der Nebel vor der Sonne“ (170). Wenn Nataša auf das Erbe verzichtet, alles hinter sich läßt und mit unbekanntem Ziel fortgeht, besteht dennoch Hoffnung: Es zeigt, daß sie die Notwendigkeit der Veränderung erkannt hat. Hoffnung als existentielle Zuversicht ist eine anthropologische Grundkategorie, die auf Selbsterhaltung abzielt. Während die Gleichgültigkeit einem „Sich-Überlassen an die Geworfenheit“ entspricht31, meldet die Hoffnung die „innere Bereitschaft zu einem intensiven [...] Tätigsein“ an.32 Durch „leeren Optimismus“ und „irrationalen Glauben“, wie sie von Luka gepredigt werden, wird die Hoffnung jedoch zerstört.33 Nikolaj Michajlovskij, das geistige Haupt der Narodniki, trennt „istina“ als objektive Wahrheit von „spravedlivost’“ als subjektiver Wahrheit und nennt deren Vertreter „weise Schlangen“ und „reine Tauben“. Nur als Synthese der zwei-einen „pravda“ erwiesen sie sich als jene „Sonne“, die sich im Abstrakten und Konkreten zu erkennen gebe. Wer sich nur für eine von beiden entscheide, sei ein Exzentriker.34 Gor’kij gestaltet einen solchen in Luka, der meint, jedem die Wahrheit anbieten zu können, derer er bedürfe: die „spravedlivost’“. Daß er dabei die „istina“ schuldig bleibt, weiß er durchaus. Er rechtfertigt es damit, daß die Wahrheit nicht immer dem Menschen diene. Um das zu untermauern, erzählt er die Geschichte vom Mann, der an das Land der Gerechten glaubte. Die Vorstellung, es gäbe ein Land, in dem „gute Menschen“ (156) wohnten, die einander achteten und füreinander da seien, läßt diesen Mann all seine Leiden aushalten. Das geht so lang, bis er einen Gelehrten fragt, wo denn das Land zu finden sei. Dieser muß passen. Verzweifelt schlägt ihn der Mann nieder und hängt sich anschließend auf. Was Luka hier zum be-

„Na dne“ (Nachtasyl)

313

sten gibt, ist nicht nur eine Legende der „beguny“, sondern auch eine Utopie, die an Černyševskijs Glaspalast, Marxens Diktatur des Proletariats oder Bakunins Anarchiekonzept erinnert. Ohne die Hoffnung auf ein friedvolles Miteinander ist für die Utopisten alles verloren. Da Luka das Scheitern seiner Verheißungen vor Augen hat, macht er sich auf zu neuen Spielfeldern. Satin oder Das Debakel der intelligencija Mit Luka entschwindet die „spravedlivost’“ aus der Welt des Nachtasyls. Freilich wurde sie von ihm eigenwillig interpretiert und dann umgangen, wenn sie nach Konsequenzen verlangte. Im vierten und letzten Akt sitzen die „byvšie ljudi“ wieder beisammen und tauschen sich über den Pilger aus. Ihre Einschätzung ist direkte und indirekte Charakterisierung zugleich. Während Nastja und der Schauspieler die gute Absicht Lukas verteidigen, bespötteln die anderen dessen Fabulierkunst. Nun sieht Satin, der einstige „Mann von Bildung“, seine Stunde gekommen (114). Nahm er bisher eine untergeordnete Funktion ein, schwingt er sich jetzt zum Sprecher auf und spielt damit die Rolle, die der intelligencija traditionsgemäß zukommt.35 Gor’kij zeigt allerdings, daß die intelligencija ebenso am Boden liegt wie die übrige russische Gesellschaft. Satins Apotheose des Menschen muß als Ausdruck der „Verzweiflung der Unendlichkeit“ gesehen werden, die mit der „Verzweiflung der Möglichkeit“ in Verbindung steht.36 Vom eigenen Redefluß hingerissen, erkennt er selbst, daß Luka auf ihn gewirkt habe wie „Säure“ auf eine „schmutzige Münze“ (173). Der Pilger habe „aus Mitleid“ jedem die subjektive Wahrheit zugedacht, er hingegen stehe auf der Seite der objektiven Wahrheit: „Ich kenne die Lüge. Wer einen schwachen Charakter hat... und wer sich von fremden Säften nährt, der braucht die Lüge... [...]. Wer aber sein eigener Herr ist... wer unabhängig ist und nicht auf Kosten anderer lebt, was braucht der die Lüge? Die Lüge ist die Religion der Knechte und Herren... die Wahrheit ist der Gott des freien Menschen!“ (173). Da er auf Kosten anderer lebt, sich von Nastja bedienen läßt und den Baron mit Verachtung straft, als dieser sein Leben reflektiert, ist Satins Freiheitsverständnis zweifelhaft. Vergessen ist offensichtlich, daß er Luka selbst fragte, was er tun solle (173). Anstatt dieser Frage nachzugehen, driftet Satin in die „Verzweiflung der Unendlichkeit“ ab, die ihn der Realität vollends entreißt. Kierkegaard präzisiert: „Das Phantastische ist überhaupt dasjenige, was einen Menschen derart ins Unendliche hinausführt, daß es ihn lediglich von ihm selber fortführt und ihn dadurch abhält zu sich selbst zurückzukehren. Wenn so z. B. das Gefühl phantastisch wird, so verflüchtigt sich das Selbst lediglich mehr und mehr, es wird zuletzt eine Art phantastischer Gefühligkeit, die unmenschlich keinem Menschen mehr zugehört, sondern auf unmenschliche Weise sozusagen empfindsam am Schicksal des einen oder anderen Abstraktums teilnimmt, z. B. an der Menschheit im allgemeinen (in abstracto).“37 Nachdem Satin lachend festgestellt hat, daß er heute so „weichherzig“ sei, trägt er in abstracto die Apotheose des Menschen vor: „Der Mensch ist frei... er selbst hat für alles aufzukom-

314

Maksim Gor’kij

men: für seinen Glauben, seinen Unglauben, seine Liebe, seine Vernunft, der Mensch selbst trägt die Kosten für alles, und darum ist er frei!... Der Mensch, das ist die Wahrheit! Was ist der Mensch? Das bist nicht du, das bin nicht ich, das sind nicht sie... nein! Sondern du, ich, sie, der Alte, Napoleon, Mohammed... alle zusammen sind es! (Zeichnet mit dem Finger die Umrisse einer menschlichen Gestalt in die Luft) Verstehst du? Das ist etwas Gewaltiges! Darin stecken alle Anfänge und alle Enden... Alles ist im Menschen, alles ist für den Menschen! Nur der Mensch allein existiert, alles übrige ist das Werk seiner Hände und seines Hirns! Der M-ensch! Das ist großartig! Das klingt erhaben! M-men-sch!“ (177). Bedeutungslos geworden flüchtet sich die intelligencija in die Selbstvergessenheit. Wie Drewermann von den „oralen Riesenerwartungen“ derer spricht, die an der „Verzweiflung der Unendlichkeit“ leiden38, hängt auch Satin an der Flasche und stillt sein Ungenügen mit Bier und Schnaps. Dabei gerät er nicht in Ekstase, sondern in den Vollrausch.39 Im Grunde ist sein Fluchtversuch nicht besser als der Nastjas, wobei sie durch harte körperliche Arbeit zu Geld kommt, er hingegen durch Betrug. Satins Falschspiel stellt den Versuch dar, das Schicksal zu übervorteilen. Wenn er dabei erwischt, verprügelt und eingangs stöhnend auf der Pritsche gefunden wird, offenbart sich die Macht der Endlichkeit. Doch Satin arbeitet daran, sich auf den einen Pol zurückzuziehen. Als letzte Herausforderung in seinem Leben sieht er, daß es noch „geschicktere Falschspieler“ gibt als ihn (164). Der einstige Mann von Bildung führt sein zweifelhaftes Geschäft ad absurdum, indem er alles, was er einnimmt, sofort vertrinkt. Der Schnaps ersetzt ihm das Prinzip Hoffnung, das er kurzfristig bei Luka suchte. An Stelle dieses Prinzips tritt nun die Gleichgültigkeit. Als der Baron sein Leben überdenkt und meint, es müsse doch einen „Zweck“ geben, wozu er geboren sei, antwortet Satin mit dem Allgemeinplatz: „Vermutlich...“, um ihn dann lachend auf Lukas Erlösungsmodelle hinzuweisen (178). Heidegger erfaßt eine solche Befindlichkeit mit den folgenden Worten: „Die fahle Ungestimmtheit der Gleichgültigkeit vollends, die an nichts hängt und zu nichts drängt und sich dem überläßt, was je der Tag bringt, [...] demonstriert am eindringlichsten die Macht des Vergessens in den alltäglichen Stimmungen des nächsten Besorgens. Das Dahinleben, das alles ‚sein läßt’, wie es ist, gründet in einem vergessenden Sichüberlassen an die Geworfenheit. Es hat den ekstatischen Sinn einer uneigentlichen Gewesenheit.“40 Mit der Endlichkeit konfrontiert wird Satin in den Mitbewohnern, die unter dem Eindruck von Lukas Verschwinden eine Änderung vollziehen. Nastja und der Schauspieler haben im Spiel mit den Möglichkeiten erfahren, was einen Wert in ihrem Leben darstellt, und verweigern sich ihrem bisherigen Dasein. Die Prostituierte flüchtet sich nun nicht mehr in die Fiktion, sondern geht angesichts einer unerträglichen Mitwelt in die Offensive. Als der Baron aus der glorreichen Vergangenheit seiner Adelsfamilie erzählt, erklärt sie das alles für „nichtig“ (174) und rückt seine fragwürdigen Erinnerungen in die Nähe des „žizne-

„Na dne“ (Nachtasyl)

315

tvorčestvo“. In der „Verzweiflung der Endlichkeit“ bloßgestellt, beschimpft er sie als „Miststück“ und droht ihr Gewalt an. Doch Nastja führt seine Drohungen ad absurdum, weil sie durchschaut hat, daß er sie braucht: „Du lebst doch von mir... wie der Wurm vom Apfel!“ (176). Dem Hohn der betrunkenen Männer begegnet sie mit wachsender Heftigkeit. Sie bezeichnet sie als „Kehrricht“, den man wegfegen müßte (175), zerschlägt Geschirr und beschimpft sie, ehe sie den Raum verläßt, als „Wölfe“ (176). Während Satin auf diesen Ausbruch noch verdutzt reagiert und die empörten Mitbewohner zum Trinken animiert, verdirbt ihnen der Schauspieler die fröhliche Stimmung: Hatte er Nastjas Ärger bereits finster zugestimmt, führt sein Selbstmord im Hinterhof zu einem jähen Abbruch des Gelages und widerlegt die Apotheose des Menschen. Er ist das Resultat eines unguten Zusammenwirkens der „Verzweiflung der Möglichkeit“ und der „Verzweiflung der Unendlichkeit“ bzw. der pervertierten Formen von „spravedlivost’“ und „istina“. Obgleich die Verheißung der Heilanstalten Substanz hat, verbannt Luka sie in den Bereich des Möglichen und läßt den Schauspieler mit der Sehnsucht nach einem Neubeginn allein. Satin hingegen nimmt ihm den Glauben an die Heilungsmöglichkeit, die ja auch für ihn selbst eine Option darstellen könnte, und beschwört statt dessen volltrunken die Freiheit. Von beiden betrogen, beendet der Kranke das unwürdige Spiel. Gor’kijs Endspiel Verzweifelt sind die Versuche der Weltbewohner, ihrer gespürten Nichtigkeit zu entfliehen. Es gibt aber nur zwei, die handeln, Vasilisa und Kvašnja, wobei das bei der einen triebhaft, bei der anderen frei geschieht. Vasilisas Raserei erwächst der Habgier, die nicht nur auf Vermögen, sondern auch auf Menschen abzielt. Ihre Fixierung auf Pepel ist so stark, daß sie eher sich selbst und andere ins Unglück stürzen würde, als von ihm abzulassen. Ebenso von der Habgier getrieben ist ihr Mann, der sie als sein Eigentum betrachtet. Gemeinsam verkörpern sie die „Verzweiflung der Endlichkeit“. Kvašnja hingegen sieht sich als „freie Frau“ (110)41, die ihr Leben zufrieden annimmt. Während die übrigen Mieter ihrem emsigen Besorgen nur wenig Aufmerksamkeit schenken, hat das Debakel der Kostylevs schon eher Unterhaltungswert. Es ist ein Spiel im Spiel, der klassische Dreiakter, der sich über Protasis (Lösung Pepels von Vasilisa), Epitasis (Aufbegehren Vasilisas) bis hin zur Katastrophe (Erschlagung Kostylevs) bewegt. Damit ist aus dem Spiel Ernst geworden. Das geringe Interesse, das die Nachtasylbewohner am Schicksal der Betroffenen zeigen, enthüllt ihre Gleichgültigkeit. Zu gern würden sie nun ihre neue Herbergswirtin zu unbedachtem Handeln reizen, um sich zu unterhalten, doch diese spielt nicht mit. Im Gegensatz zur Gleichgültigkeit der anderen wird Kvašnja vom Gleichmut beherrscht, einer Stimmung, die Heidegger aus der „Entschlossenheit“ ableitet, „die augenblicklich ist auf die möglichen Situationen des im Verlaufen zum Tode erschlossenen Ganzseinkönnens“.42 Wann immer sie auftritt, sieht man sie

316

Maksim Gor’kij

beim Sorgen, sei es die Fürsorge bezüglich der Mitwelt oder das Besorgen bezüglich der Lebenswelt. Obwohl sie vom Erlös ihrer Pelmeni lebt, schenkt sie Anna eine Schale davon, da warmes Essen wohltue. Wenn Nataša von den Kostylevs geschlagen wird, eilt sie ihr zu Hilfe. Als einziger Mensch lebt sie in der Gegenwart.43 Nachdem Kvašnja das Nachtasyl übernommen hat, sind die Mieter frei, ganz im Gegensatz zu ihrem beschwipsten Mann, den sie kurzerhand „schlafen“ schickt (181). Aus schmerzhafter Erfahrung weiß sie, daß die Trunksucht in Gewalttätigkeit umschlagen kann. Damit ist die „weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts“44, von der Friedrich Engels spricht, beendet. Mit der Gynäkokratie breiten sich Gleichheit und Brüderlichkeit im Nachtasyl aus, die vor niemandem Halt machen, noch nicht einmal vor Klešč. Einst in der „Verzweiflung der Notwendigkeit“ gefangen, war sein Verhalten von Verachtung (119) und Haß (155) geprägt. Nun sitzt er an einem Tisch mit den anderen, trinkt und stimmt gelassen Aleškas Harmonika. Von Satin befragt, ob er sich an seine Mitbewohner gewöhnt habe, meint er: „Es geht so... Überall sind Menschen... Anfangs siehst du das nicht... aber dann, wenn du genauer hinschaust, siehst du, daß sie alle Menschen sind“ (176). Während der Choleriker zur Ruhe gekommen ist, tritt der Zyniker warmherzig auf. Die Arme voller Brezeln und Fische, die Taschen voller Flaschen mit Wodka, möchte Bubnov die ganze Welt umarmen. Er scherzt mit Medvedev, bietet Satin sein Geld an und zelebriert die „služba kabaku“, zu der er auch Klešč einlädt: „Trink, feiere, laß den Kopf nicht hängen... Ich bewirte alle! Das tu ich gern, Bruder! Wenn ich ein reicher Mann wäre... ich machte eine Schenke auf, in der alles umsonst zu haben wäre! Bei Gott! Mit Musik und Sängerchor... Komm, trink, iß, hör dir die Lieder an... erquicke deine Seele! Nur herein mit dir, armer Mann... in meine Gratis-Kneipe!“ (179). Die Einladung, die in einzelnen Passagen an die Worte zur Eucharistiefeier erinnert, zeugt von einer Hochherzigkeit, die selbst Aleška erstaunt: „Du bist erst ein Mensch, wenn du einen weg hast...“ (179 f.). In Weinseligkeit vereint, stimmen die Männer den Gesang an, den Bubnov als sein „Lieblingslied“ bezeichnet: „Wohl steigt die Sonne auf und nieder, / Doch dringt sie nicht in mein Verlies!“ (182). Der trunkene Sonnengesang begleitete schon im zweiten Akt das Sterben Annas (131 ff.), nun begleitet er das Sterben des Schauspielers. Er untermalt sowohl die ausweglose Situation der Sterbenden als auch die der Sänger. Die Sonne der zwei-einen „pravda“ geht weit entfernt von den „byvšie ljudi“ auf und nieder. An die Stelle der Sonne tritt die Nacht, an die Stelle des Männlich-Geistigen das Weiblich-Stoffliche, das Kvašnja verkörpert. Ihr sprechender Name („Sauerteig“) deutet auf die anwachsende Bedeutung des Mutterrechts hin.45 Die klassenlose Gesellschaft, die sich im Schlußbild von „Na dne“ versammelt, ist auf die Stufe der Urhorde zurückgefallen. Sie bedürfte der Ordnung, hat aber den Bezug zur Wahrheit verloren. Statt dessen warten die Nachtasylbewohner auf das „Verlöschen im Tode, im Mutterschoß des Anorganischen“.46 Die Höhle symbolisiert gleichermaßen Geburt und Tod und eröffnet dem Menschen damit

„Na dne“ (Nachtasyl)

317

zwei Wege. Angesichts des Chaos, das ihn umgibt, liefert Gor’kij keine Erklärungsmuster, sondern zeigt den Untergang der großen Utopien. Er schickt seine Spieler „zurück auf Los“, um mit ihrer Existenz neu zu beginnen. Wirklich leben hieße, sich für das sittliche Handeln zu entscheiden.47 Kvašnja praktiziert dies. Vielleicht verkörpert sie bereits das Mütterlich-Weibliche, das Gor’kij in seinem Roman „Mat’“ (Die Mutter, 1906) zum „zentralen Mythologem“ fortentwickeln sollte.48 Die Hoffnung auf einen Neubeginn der Menschheit bleibt damit im Spiel.

Ulrich Schmid

Aleksandr Blok: Balagančik (Die Schaubude) Im Dezember 1904 verließen Zinaida Gippius, Dmitrij Merežkovskij und Valerij Brjusov in der Pause Stanislavskijs Inszenierung von Čechovs „Djadja Vanja“ (Onkel Vanja, 1896).1 Die Unzufriedenheit der symbolistischen Dichter mit dem traditionellen Illusionstheater ist symptomatisch. Bereits 1902 hatte Brjusov im Artikel „Nenužnaja pravda“ (Eine unnötige Wahrheit) seine Kritik am Ideal einer möglichst wirklichkeitsgetreuen Inszenierung formuliert. Auch die raffinierteste Bühnentechnik verliere ihren Sinn angesichts des Umstands, daß sich der Zuschauer auf die Fiktionalität des Geschehens eingestellt habe. Brjusov wies auf symbolische Kulissen aus der Epoche Shakespeares hin – hier wurden einfache Tafeln mit der Aufschrift „Wald“ verwendet, die viel eher eine künstlerische Wirkung entfalten als ein womöglich echter Wald auf der Bühne.2 In diesem richtungsweisenden Aufsatz fällt auch der Begriff „Bedingtheit“ (uslovnost’), dem für das russische Theater der Moderne zentrale Bedeutung zukommt. Brjusov rückte damit die Eigengesetzlichkeit des ästhetischen Schaffens in den Blick. Auf das Theater bezogen meint „Bedingtheit“ die bewußte, bühnenwirksame Gestaltung des ontologischen Unterschieds zwischen Kunst und Wirklichkeit. Auch Vsevolod Mejerchol’d griff Brjusovs Konzept des „bedingten Theaters“ auf und entwickelte ein Regietheater, in dem der Schauspieler seine Individualität weitgehend ablegen und sich wie ein Musiker in einem Symphonieorchester dem Dirigenten (Regisseur) unterordnen soll.3 Den künstlerischen Ausdruck einer Seelenregung wollte Mejerchol’d nicht mehr durch naturalistische Mimik erreichen, sondern durch die Übersetzung in eine formalisierte Gestik und Körperhaltung. Er verstand dabei das Theater als Zeichensystem mit einer eigenen Sprache, die sich radikal von der Semiotik des Alltagslebens unterscheidet. Das praktische Gegenstück zu Brjusovs theoretischer Fundierung des „bedingten Theaters“ lieferte Blok 1906 mit seinem Kurzdrama „Balagančik“, das als Prototyp symbolistischer Dramenkunst gelten darf. Dieses Werk ist auf die bewußte Zerstörung der Theaterillusion hin angelegt: Die Figuren erweisen sich als leblose Puppen, das ausgeflossene Blut wird als roter Saft identifiziert, der Autor mischt sich immer wieder in das Bühnengeschehen ein. Die Eröffnungsszene zeigt drei Mystiker, die auf die Erscheinung des Todes warten. Doch statt des Todes tritt Pierrot auf, der seine Geliebte Colombina treffen will. Als das Mädchen kommt, wird es wegen seines „Zopfs“ (kosa), der homonymisch im Russischen auch „Sense“ (kosa) bedeuten kann, von den Mystikern enthusiastisch als personifizierter Tod begrüßt. Pierrots Glück währt nicht lange, Harlekin entführt die schöne Colombina. In einem lyrischen Monolog beklagt Pierrot sein Liebesunglück. Drei anonyme Liebespaare lösen sich nacheinander aus dem Reigen eines großen Maskenballs heraus und äußern in je einem kurzen Dialog

„Balagančik“ (Die Schaubude)

319

ihre romantische, leidenschaftliche, letztlich aber auch sprachlose Liebe. Harlekin kritisiert diese klischeehaften Liebeskonzeptionen und will durch ein Fenster in die Freiheit springen. Allerdings erweist sich die Landschaft hinter dem Fenster als Zeichnung – das Papier zerreißt bei Harlekins Sprung. Hinter dem Papier erscheint die allegorische Figur des Todes mit einer richtigen Sense. Aus dem Boden der Bühne erscheint Pierrot und geht dem Tod entgegen, der sich langsam in Colombina verwandelt. Der Autor drängt sich zwischen das vereinte Liebespaar und will schon triumphieren, als die Kulissen plötzlich nach oben verschwinden. Colombina rennt mit den übrigen Masken von der Bühne. Pierrot bleibt allein zurück und spielt auf einer Flöte ein trauriges Lied „über sein bleiches Antlitz, über das schwere Leben und über seine Braut Colombina“ (21). Mejerchol’ds Uraufführung des Stücks am 30. Dezember 1906 im Kommissarževskaja-Theater führte den Zuschauern die dramatische „Bedingtheit“ besonders deutlich vor Augen: Auf der Bühne wurde ein kleineres Theater eingerichtet, die Bühnenarbeiter bauten die Kulissen bei offenem Vorhang um, der Souffleur blieb sichtbar.4 Der Regisseur selbst spielte Pierrot, der Dichter Michail Kuz’min schrieb die Musik, Nikolaj Sapunov war für das Bühnenbild zuständig. Es gelang Mejerchol’d, eine paradoxe Verschränkung von verfremdender und realistischer Inszenierung zu finden: Das im Stück vorgesehene Eingreifen des Autors in das Bühnengeschehen wurde vom Premierenpublikum als „wirklich“ empfunden. Beim Auftritt des Autors erklangen Schreie aus dem Zuschauerraum: „Stören Sie die Aufführung nicht!“5 Insgesamt reagierte das Publikum äußerst ambivalent auf Mejerchol’ds Inszenierung. Applaus und Pfiffe hielten sich die Waage. Vernichtend waren die Rezensionen in der Presse. Die Vorwürfe reichten von „unreif“ über „chaotisch“ bis zu „erbärmlich“.6 Blok war mit der Inszenierung sehr zufrieden. Er hatte kurz vor der Premiere das Theater von Vera Kommissarževskaja als Ort einer neuen Kunst gepriesen. Der Individualismus durchlebe eine Krise. Damit sei auch die intime Lyrik nicht länger die Leitgattung der Epoche: „In einer solchen Epoche muß das Theater auferstehen. Der Nährboden ist bereits mit den elementaren Regengüssen von Wagners Musik und von Ibsens Dramen durchtränkt.“7 Nur eine „flexible, listige und ränkeschlagende Lyrik“ könne die Zweifel und Widersprüche des Zeitgeists in sich aufnehmen. Dieser Lyrismus äußere sich jedoch nicht mehr in Gedichtform, sondern beeinflusse alle literarischen Genres vom Roman über die Erzählung bis zum Drama.8 Später faßte Blok seine Ansichten in dem Aufsatz „O teatre“ (Über das Theater, 1908) zusammen, in dem er dem Drama den höchsten Stellenwert unter allen Künsten einräumte: „Besser als jede andere Kunstform entlarvt das Theater die blasphemische Fruchtlosigkeit der Formel l’art pour l’art. Denn das Theater ist die Verkörperung der Kunst selbst, jener hohe Bereich, in dem ‚das Wort Fleisch wird’.“9

320

Aleksandr Blok

Das lyrische Drama als Figuration der Selbstanalyse Blok hat im Vorwort zu seinem Band „Liričeskie dramy“ (Lyrische Dramen, 1908), in dem „Balagančik“ gemeinsam mit den wenig später entstandenen Kurzdramen „Korol’ na ploščadi“ (Der König auf dem Platz) und „Neznakomka“ (Die Unbekannte) abgedruckt wurde, den Ansatz einer Selbstinterpretation gegeben. Besonders stark unterstreicht er die Lyrizität seiner Stücke: Er präsentiere in ihnen nicht eine dramatische Situation, in der verschiedene Ideologien oder Verhaltensweisen aufeinanderstoßen. Es handle sich lediglich um eine neue, im Grunde genommen aber immer noch lyrische Ausdrucksform einer individuellen Psyche, die „Zweifel, Leidenschaften und tragische Unfälle“ erlebe. Pierrot stelle den Typus eines träumerischen Lyrikers dar, in dessen „krankhafter und idiotischer Einbildungskraft“ sich die schöne Verkörperung des „Ewig-Weiblichen“ in eine „Kartonbraut“ verwandle. Harlekin hingegen sei nichts als ein „aufdringlicher Doppelgänger“ Pierrots. Im weiteren hält Blok fest, daß sich die Theaterstücke durch ihren spöttischen Ton der „romantischen Ironie“ annähern.10 Die autobiographische Geltungskraft seines literarischen Schaffens hatte Blok bereits an anderer Stelle hervorgehoben und die Gesamtheit seiner Gedichte seit 1897 als ein „Tagebuch“ bezeichnet.11 In der Tat kommt man dem Sinn von „Balagančik“ am nächsten, wenn man das Stück als figurale Gestaltung von Bloks eigenem Seelendrama versteht. Aus dieser Sicht erscheint hier die lyrische Selbstanalyse aus den Gedichtbänden in die Sprache des symbolistischen Theaters übersetzt. Eine solche Deutung läßt sich zunächst durch Bloks Einschätzung stützen, seine Dramen stellten eine Selbsttherapie dar: Die szenische Darstellung seiner Gedanken erlaube es ihm, die Entfremdung von den Menschen und der Welt zu überwinden und sich aus seiner Selbstgefangenheit zu befreien.12 Bereits in einem Brief aus dem Jahr 1902 hatte Blok an Zinaida Gippius geschrieben: „Zur Zeit zerschneide ich die verdichtete, blitzeschleudernde Atmosphäre mit einer harten Harlekinade.“13 Später bestätigte er explizit, daß die „Schaubude“ aus den „Tiefen seines seelischen Polizeidepartements“ komme.14 Ein Interpretationsansatz, der die Sublimation einer subjektiven Problemlage zur Grundlage der Textanalyse macht, setzt sich immer dem Vorwurf des Biographismus aus. Im folgenden soll allerdings kein emphatischer „Erlebnisbegriff“, wie ihn etwa Wilhelm Dilthey verwendet, in Anschlag gebracht werden. Der Text wird als fiktionale Inszenierung einer individuellen Problematik verstanden. Das Besondere in Bloks Fall liegt darin, daß sich Leben und Kunst hier zu einer unauflöslichen Einheit verschränken. Die Liebestragödie des Dichters ist nicht einfach ein privates Erlebnis, sondern wird von diesem ganz bewußt als Ausdruck einer Kunstkrise der ganzen Epoche inszeniert. Dabei läßt sich die Distribution der einzelnen Krisenbereiche auf Handlungsfiguren und Plotelemente genau verfolgen. Anders formuliert: Bloks Drama soll als „Figuration“ im doppelten Sinn verstanden werden – als intelligible Gestaltung eines Problemzusammenhangs und als Aufspaltung eines inneren Widerspruchs in einen dramatischen Dialog zwischen mehreren „Figuren“.

„Balagančik“ (Die Schaubude)

321

Lebenstext und Kunsttext Bloks „Balagančik“ stellt mithin nicht nur ein wichtiges theatergeschichtliches Dokument dar, sondern ist auch eng mit dem literarischen Prozeß des russischen Symbolismus verbunden, der seinerseits die kategoriale Trennung zwischen Leben und Kunst aufheben will. Das Konzept des „Lebensschöpfertums“ (žiznetvorčestvo) gehört zu seinem zentralen Credo. Die Biographie der Dichter sollte selbst zum ästhetisch gestalteten und für das Publikum lesbaren Text werden. Der Autor stand nicht als diskrete Größe neben oder gar über seinem Text, sondern bildete zusammen mit dem Text ein Gesamtkunstwerk.15 Die Ästhetisierung des Lebens meinte mehr als die Inszenierung der eigenen Biographie nach literarischen Mustern. Was die russischen Symbolisten anstrebten, war eine neue Realität des Geistigen.16 Besonders deutlich zeigt sich das „Lebensschöpfertum“ bei Blok. Biographie und literarisches Schaffen sind in seiner Existenz demselben gestalterischen Willen unterworfen. In einer kurzen autobiographischen Notiz vom 15. März 1908 hielt Blok unter der Rubrik „Die wichtigsten Stationen auf meinem Lebensweg“ fest: „Heirat im Jahr 1903 (17. August). Alles andere wird durch die Etappen des literarischen Schaffens determiniert.“17 Die programmatische Verbindung von privater Liebe und künstlerischer Produktion zieht sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wie ein roter Faden durch Bloks Leben. Dieser hatte 1904 mit dem Lyrikband „Stichi o Prekrasnoj Dame“ (Verse von der Schönen Dame) debütiert. Darin verklärte er seine Liebe zu Ljubov’ Dmitrievna Mendeleeva, der Tochter des berühmten Chemikers Mendeleev. Bezeichnenderweise waren sich der Dichter und Ljubov’ Dmitrievna beim Theaterspielen näher gekommen: In den Rollen von Hamlet und Ophelia oder Čackij und Sof’ja aus „Gore ot uma“ (Verstand schafft Leiden) sind tragische und gefühlsintensive Liebeskonzeptionen präfiguriert, die vom fiktionalen Bereich auf das reale Leben übertragen werden konnten. Zur theatralischen Inszenierung von Bloks Werben um seine Geliebte gehörte die Vorbereitung eines Abschiedsbriefs; denn bei einer Absage hätte sich der Verfasser nach eigenem Bekunden umgebracht. Die Selbstmordnotiz vom 7. November 1902 verwies auf die ästhetische Qualität des geplanten Freitods und führte sogar den Schriftstellerberuf in der Unterschrift auf: „Mein Tod soll niemandem zur Last gelegt werden. Die Gründe dafür sind durchaus ‚abstrakt‘ und haben nichts mit ‚menschlichen‘ Beziehungen zu tun. Ich glaube an die eine heilige und apostolische Kirche. Ich glaube an die Auferstehung der Toten und an das zukünftige Leben. Amen. Dichter Aleksandr Blok.“18 Schreiben und Lieben lagen für Blok auf derselben Linie. Es ist kein Zufall, daß er sein Tagebuch exakt an jenem Tag abbrach, der über Leben und Tod entscheiden sollte. Die künstlerische Reflexion seines Lebens hatte sich vom Papier auf das Medium der Ehe verlagert. Bloks Hochzeit schlug in Schriftstellerkreisen hohe Wellen. Man nahm die private Liebesgeschichte als literarisches Faktum wahr und fürchtete um die Produktivität des jungen Dichters. So schrieb Zinaida Gippius an Blok: „Andrej Belyj ist sehr

322

Aleksandr Blok

über Ihre Heirat erregt und sagt in einem fort: Wie soll ich jetzt seine Dichtung verstehen? In der Tat schadet eine Hochzeit Ihnen, das heißt Ihren Gedichten sehr, und wir alle sind sehr betrübt über diesen Mißklang; alle, wie es scheint ohne Ausnahme. Sie entschuldigen, daß ich von den Formalitäten absehe und anstelle dessen, was man im Alltagsleben in solchen Fällen sagt, nur vom Standpunkt des Absoluten aus spreche.“19 Im Kreis der „Argonauten“ um Sergej Solov’ev kritisierte man Bloks Entscheidung mit folgendem Argument: „Wer ist die Braut für Blok? Wenn es Beatrice ist, dann heiratet man keine Beatrice, und wenn es ein gewöhnliches Mädchen ist, dann ist es Verrat.“20 Auch wenn sich Blok über solche Bedenken hinwegsetzte, so war für ihn doch klar, daß er seine Ehe in die Kunst integrieren mußte. Das vergeistigte „Ewig-Weibliche“21 zog ihn derart in den Bann, daß er sich nach seiner Hochzeit weigerte, die Ehe zu vollziehen. In ihren Erinnerungen berichtet Ljubov’ Dmitrievna, wie Blok davor gewarnt habe, einem „Astartismus“ zu verfallen. Die fleischliche Lust führe unausweichlich zum Erlöschen der Liebe.22 Besonders starken Einfluß auf Bloks ästhetische Liebeskonzeption übte Vladimir Solov’ev aus, der in seinen eigenen philosophischen und lyrischen Werken immer wieder die Inkarnation der Weltseele Sophia als erotische Epiphanie gestaltet hatte. Diese quasi-religiöse Konzeption dominierte sowohl das Lieben als auch das Schreiben Bloks. In seinem Tagebuch hielt dieser 1902 fest, er glaube an seine Geliebte als an die „Inkarnation der Reinen Jungfrau oder der Ewigen Weiblichkeit“.23 An Ljubov’ schrieb er am 23. Dezember 1902: „Du bist mein Alles, mein Glaube, mein Gott.“24 Dieses Ideal fand gleichzeitig auch seinen literarischen Niederschlag in dem Band „Stichi o Prekrasnoj Dame“. Allerdings wird die Faszination immer wieder durchbrochen vom Bewußtsein, daß die Angebetete ein Phantasma ist: Весь горизонт в огне, и близко появленье, Но страшно мне: изменишь облик Ты, […] Вхожу я в темные храмы, Совершаю бедный обряд. Там жду я Прекрасной Дамы В мерцаньи красных лампад. […] Разгораются тайные знаки На глухой, непробудной стене. Золотые и красные маки Надо мной тяготеют во сне.25

Der Horizont flammt auf, und die Erscheinung naht, Doch mir wird angst: Du änderst Dein Gesicht. [...] Ich verrichte in dunklen Tempeln Meine ärmliche Zeremonie. Dort wart’ ich im Glanze der Lampen Auf die Schöne Dame – auf Sie. [...] Ich seh’ flammende Zeichen gaukeln An der Mauer, verödet und wild. Golden-purpurne Mohnblumen schaukeln Über mir als bedrückendes Bild.

Diese Ungewißheit spiegelt sich in zahlreichen Briefen an Ljubov’. So schrieb Blok am 17. November 1902 beschwörend: „Mein Gott, laß mich so schnell wie möglich erkennen, ob dies Traum oder Wirklichkeit ist? Der Deine, verzaubert, umweht von Deinen Großen Träumen.“26

„Balagančik“ (Die Schaubude)

323

Für die Auflösung des ersehnten Ideals in der trügerischen subjektiven Wahrnehmung bot sich die Theatermetapher an. Bereits in zwei lyrischen Einzeltexten aus „Stichi o Prekrasnoj Dame“ hatte Blok den Liebesverrat unter Rückgriff auf das Figureninventar der Commedia dell’arte im Motiv des weinenden Pierrot und des lachenden Harlekin gestaltet.27 Auch im Tagebuch taucht die Figur des Pierrot bereits im Dezember 1901 auf.28 Zu Beginn des Jahres 1905 führte Blok mit seinem Freund Evgenij Ivanov ironische Konversationen, in denen er die Rolle des bleichen Pierrot übernahm und Ivanov einen Clown spielte.29 Im Juli verfaßte er ein Gedicht mit dem Titel „Balagančik“, in dem er die Desillusionierung des Theaters ins Zentrum des Textes rückte: Вот открыт балаганчик Для веселых и славных детей, Смотрят девочка и мальчик На дам, королей и чертей. […] Вдруг паяц перегнулся за рампу И кричит: «Помогите! Истекаю я клюквенным соком! Забинтован тряпицей! На голове моей – картонный шлем! А в руке – деревянный меч!»

Eine Schaubude wurde eröffnet Für die fröhlichen und munteren Kinder. Das Mädchen und der Junge schauen Auf die Damen, die Könige und Teufel. […] Plötzlich lehnt sich der Bajazzo über die Rampe Und schreit: „Zu Hilfe! Ich verblute mit Moosbeerensaft! Ich bin mit einem Lappen verbunden! Auf meinem Kopf ist ein Helm aus Karton! Und in der Hand ein hölzernes Schwert!“

Заплакали девочка и мальчик, И закрылся веселый балаганчик.30

Das Mädchen und der Junge begannen zu weinen Und die fröhliche Schaubude wurde geschlossen.

In dem Gedicht „Balagančik“ ist das Drama nicht nur inhaltlich, sondern auch formal in nuce angelegt, weil das Mädchen und der Junge in einem Dialog eine kurze Rede und Gegenrede führen. Georgij Čulkov berichtet in seinen Memoiren, daß er Blok gebeten habe, dieses Gedicht zu einer dramatischen Szene auszuarbeiten.31 Blok sagte nur ungern zu. In einem Brief an Andrej Belyj klagte er am 3. Januar 1906: „Ich spüre schon, wie sie [Vjačeslav Ivanov, Čulkov und Mejerchol’d] mit dem Skalpell etwas aus mir herauskratzen möchten.“32 Blok schrieb das Stück in drei Wochen nieder und beendete es am 5. Februar 1906. Im Zirkel der „Argonauten“ um Sergej Gorodeckij las er es erstmals am 10. März 1906, nachdem ein Pianist Wagner gespielt hatte und Zeichnungen von Gorodeckij und Tat’jana Gippius gezeigt worden waren. Der erste Eindruck verschlug den Anwesenden die Sprache.33 Besonders enttäuscht von der Lesung des Dramas war Andrej Belyj, der Bloks Verzicht auf jegliche Transzendenz keineswegs gutheißen konnte.34 In seinen Erinnerungen an Blok aus dem Jahr 1922 vergegenwärtigte er sich den niederschmetternden Eindruck, den „Balagančik“ auf ihn machte: „Alles war mit Spott und Provokation durchtränkt, ich nahm den hingeworfenen Handschuh auf! Ich konnte ‚Die Schaubude‘ nicht gut nennen; auch wenn es A. A. Blok war, der sie geschrieben hatte. […] Anstelle der Seele erblickte ich bei A. A. ein ‚Loch‘, das war nicht Blok; in meiner Vorstellungskraft war er gestorben, auch wenn die anderen ein hervorragendes

324

Aleksandr Blok

Kunstwerk vor sich sahen, ein kraftvolles Werk, – ich sah es auch, aber dachte mir: Um welchen Preis ist es erkauft worden?“35 Im Motiv der Mystiker nahm Blok in der Tat einen Streit auf, der die Ursache für ein ernstes Zerwürfnis zwischen den engen Freunden gewesen war. Er hatte Belyj im Oktober 1905 neue Gedichte zugesandt, deren ironischer Ton diesem entschieden mißfiel. Belyj warf Blok vor, er „spiele mit der Mystik“ und „ergötze sich ästhetisch am Leiden anderer“.36 Blok verwahrte sich gegen diesen Vorwurf und wies darauf hin, daß er nicht nur die Mystik, sondern auch die Dekadenz ablehne.37 Im Jahr 1906 hielt er fest: „Ich hasse mein Dekadententum und geißle es in meiner Umgebung, die weniger schuldig ist als ich. Das Ende der Dekadenz ist gekommen.“38 Die Verspottung der Mystiker betraf indes nicht nur den Streit zwischen Blok und Belyj, sondern richtete sich auch gegen Čulkovs Doktrin des „mystischen Anarchismus“. Čulkov stand unter starkem Einfluß von Vjačeslav Ivanov und sagte der von Brjusov angeführten ästhetizistischen Richtung im russischen Symbolismus den Kampf an. Nach Čulkovs Vorstellung durfte die moderne Kunst nicht mehr die individuelle Sensibilität zelebrieren, vielmehr sollte sie die Gesellschaft nach Maßgabe transzendenter Sinnentwürfe umgestalten. Das literarische Organ der „mystischen Anarchisten“, der Almanach „Fakely“ (Fackeln), in dem „Balagančik“ 1906 zuerst veröffentlicht wurde39, taucht im Gedicht wie im Stück als ironisches Motiv eines enthusiasmierten Fackelzugs auf.40 Viel pikanter als der Angriff auf Čulkovs und Belyjs Begeisterung für mystische Ekstasen war allerdings die biographische Allegorie der „Schaubuden“Handlung, die wegen der Öffentlichkeit von Bloks Ehe für das literarisch interessierte Publikum sofort erkennbar war. Im Sommer 1905 hatte Andrej Belyj in exaltierten Liebesbriefen Ljubov’ Dmitrievna aufgefordert, Blok für ihn zu verlassen. Zunächst hielt diese noch zu Blok, war dann aber Anfang 1906 geneigt, ihr Schicksal mit Belyj zu verbinden. In ihren Memoiren bekannte sie, daß ihre Ehe zu dieser Zeit schon völlig zerrüttet war.41 Im Laufe des Jahres 1906 komplizierte sich die Situation weiter: Belyj reiste in rastloser Hysterie zwischen Moskau und Petersburg hin und her, überschüttete Ljubov’ Dmitrievna mit Liebesbeteuerungen und forderte schließlich Blok sogar zu einem Duell, aus dem freilich nichts wurde.42 Die Analogie zwischen dem Liebesdrama und der Handlung von „Balagančik“ war deutlich genug. Die Figuren Blok-Pierrot, Ljubov’Colombina und Belyj-Harlekin bilden ein erotisches Dreieck, das sich in einer tragikomischen Schlußszene auflöst. Die Hilflosigkeit des Autors auf der Bühne gegenüber dem eigenen Stück erhält so eine biographische Pointe: Auch Blok erfuhr sich in seiner literarisch inszenierten Liebe zu Ljubov’ letztlich als ohnmächtig. Die intertextuelle Dimension Lebenstext und Kunsttext greifen in Bloks literarischer Biographie tief ineinander. Blok selbst verwischte immer wieder bewußt die Grenzen zwischen Leben und

„Balagančik“ (Die Schaubude)

325

Literatur. Er gestaltete sein Leben nach literarischen Motiven und übersetzte auch umgekehrt seine Existenz in lyrische und dramatische Texte. Bloks Ziel, sein Leben lesbar und seine Texte lebbar zu machen, knüpfte an zahlreiche Prätexte an, deren Sinnangebote er aufgriff und in einen neuen Gesamtentwurf brachte. Als wichtigste literarische Bezugspunkte nannte er im Jahr 1907 Shakespeare, Goethe, Dostoevskij, Fet, Polonskij, Vladimir Solov’ev und Brjusov.43 Exemplarisch lassen sich in „Balagančik“ zahlreiche intertextuelle Schichten nachweisen. Das Design des Stücks verweist ganz offensichtlich auf die Commedia dell’arte. Das standardisierte Figureninventar und die hochformalisierte Handlung kamen den Bestrebungen Bloks entgegen, ein neues Theater jenseits des Illusionsdramas zu schaffen. Pierrot und Harlekin können gar nicht als „realistische Figuren“ wahrgenommen werden und deuten bereits durch ihre Namen und Kleidung über sich selbst hinaus. Der Bezug zur Commedia dell’arte stellt deshalb den Versuch dar, eine Theaterhandlung als metaphorischen Kommentar und nicht als metonymische Repräsentation der Realität wie etwa bei Čechov in Szene zu setzen.44 Für Blok bildete die Ästhetik der italienischen Volkskomödie in gewissem Sinne eine Makrometapher, in der er verschiedene Aspekte seiner künstlerischen Weltkonstruktion (Maskerade, Karneval, Absurdität) synthetisieren konnte.45 Der Verfasser von „Balagančik“ reproduzierte allerdings nicht einfach die Commedia dell’arte, sondern kombinierte sie mit der Tradition des heimischen Volkstheaters. Auf den Jahrmärkten erfreute sich im 19. Jahrhundert das Puppenspiel mit dem Protagonisten Petruška großer Beliebtheit. Petruška stellt wahrscheinlich eine Kontamination zweier Figuren der Commedia dell’arte dar: Pulcinella und Pierrot.46 Die Handlung der russischen Stücke reichte von reinen Schlägereien über frivole Kalauer bis zu elaborierten dramatischen Plots.47 Die entscheidende Modalität, die Blok vom Volkstheater auf sein Stück übertrug, war die Karnevalisierung des Lebens: Petruška wurde ganz als Kunstfigur wahrgenommen und eignete sich damit in idealer Weise für eine literarische Objektivation von Bloks eigener Existenz. Auch der Einfluß von Shakespeares Theaterkunst manifestiert sich deutlich in „Balagančik“. Die Aufhebung der Theaterillusion durch das „Spiel im Spiel“ taucht in vielen Shakespeare-Dramen auf, so etwa in „Hamlet“, in „A Midsummer Night’s Dream“, in „The Tempest“ oder in „As You Like It“. Außerdem verweisen die Handlungsführung und die sprachliche Gestaltung von „Balagančik“ auf einen Prätext aus diesem Bereich: In „Much Ado About Nothing“ hat auch Shakespeare eine Liebesgeschichte gestaltet, in deren Zentrum der symbolische Tod der klischeehaft gezeichneten Protagonistin steht. Seine Komödie präfiguriert „Balagančik“ überdies durch den tragikomischen Stil und die Vermischung von Vers und Prosa. Goethe ist in Bloks Stück durch die Ballade „Der Erlkönig“ präsent. Bereits im Brief vom 3. Januar 1903 an Belyj hatte Blok die – etymologisch korrekte – Verbindung zwischen Harlekin und dem Erlkönig gezogen und von ihrem „zer-

326

Aleksandr Blok

setzenden Gelächter“ gesprochen.48 Durch das Prisma von Goethes Ballade erhält auch „Balagančik“ eine dämonische Sinndimension. Hinter dem Puppenspiel der Commedia dell’arte verbirgt sich letztlich eine apokalyptische Bedrohung, die zum totalen Weltverlust führen kann. Schließlich findet sich auch in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Prätexten. Hingewiesen wurde auf die konstitutive Rolle von Dostoevskijs Roman „Besy“, in dem ebenfalls das Motiv der falschen oder zweifelhaften Braut auftaucht, sowie auf Gogol’s Komödie „Ženit’ba“ (Die Heirat, 1835), in der sich der Bräutigam durch einen Fenstersprung aus der erotischen Verpflichtung der Ehe befreit.49 Das Motiv der potentiellen Einheit von Liebe und Tod, das in „Balagančik“ über die Homonymie „kosa“ aufgerufen wird, stellt ein Leitmotiv in Fets Lyrik dar. Fet beschreibt immer wieder das geheimnisvolle erotische Band, das die Liebenden über das Grab hinaus verbindet und die Bedingtheit von Zeit und Raum außer Kraft setzt: Приветами, встающими из гроба, Сердечных тайн бессмертье ты проверь. Вневременной повеем жизнью оба, И ты и я – мы встретимся – теперь!50

An Grüßen, die ich aus dem Grab dir sende, Ermißt du: Unser Band ist unverletzt. Durchweht von neuem Leben ohne Ende Begegnen du und ich uns wieder – jetzt!

Blok äußerte sich in seinem Tagebuch im Dezember 1901 enthusiastisch über Fet und hob besonders hervor, daß dieser in seiner Dichtung die „Idee des Ewig-Weiblichen dauerhaft philosophisch“ definiert habe.51 Für Blok gibt es zudem eine direkte Verbindung zwischen Fets Liebeslyrik und Vladimir Solov’evs Geschlechtsmetaphysik. In dem Traktat „Smysl ljubvi“ (Der Sinn der Liebe, 1892–1894) bezeichnete der Philosoph die biologische Vermehrung der Menschen als „schlechte Unendlichkeit“ und forderte eine neue, geistige Liebe, die den Unterschied zwischen den Geschlechtern radikal überwinde und damit auch den Tod abschaffe.52 Bei Blok verwandelt sich der Tod in das Bild des „EwigWeiblichen“. Damit realisiert „Balagančik“ die Metaphorik von Solov’evs utopischer Liebesvision als Transfiguration. Solov’ev darf auch als Vorläufer der grotesken Behandlung der erhabenen Weiblichkeitsthematik gelten. Bereits in dem Gedicht „Tri svidanija“ (Drei Begegnungen, 1898) verschränken sich mystische Vision und ironische Diktion. Die gleiche Doppelheit findet sich auch in der Komödie „Belaja lilija“ (Die weiße Lilie), die im Untertitel die Gattungsbezeichnung „Mysterium-Scherz in drei Akten“ trägt. Schließlich wies Blok selbst darauf hin, daß das Motiv der „Schaubude“ in einem Gedicht von Solov’ev präfiguriert sei53: Восторг души расчетливым обманом И речью рабскою – живой язык богов, Святыню муз – шумящим балаганом Он заменил и обманул глупцов.54

Die Begeisterung der Seele ersetzte er durch kalkulierten Betrug und durch Sklavenrede die lebendige Sprache der Götter, Das Heiligtum der Musen durch eine lärmige Schaubude, und damit täuschte er die Dummköpfe.

„Balagančik“ (Die Schaubude)

327

Wenn „Balagančik“ als dramatische Gestaltung von Bloks erotischen und künstlerischen Selbstzweifeln gelesen werden kann, so findet man in Polonskijs Lyrik eine prominente Gestaltung derselben Problematik. Jakov Polonskij bildet einen wichtigen Bezugspunkt für Bloks frühes Schaffen.55 Das Gedicht „Dvojnik“ (Der Doppelgänger, 1862) thematisiert die Begegnung mit einem alter ego, das sich beklagt, das lyrische Ich störe durch seine Zweifel die „nächtliche Harmonie“. Die Pointe des Gedichts evoziert am Ende den Gedanken, nicht der Doppelgänger sei der Schatten des Ich, sondern umgekehrt das Ich nur eine Projektion des Doppelgängers. Damit ist die Bewußtseinsproblematik von „Balagančik“ sehr genau vorweggenommen: Pierrot zweifelt an der Authentizität seiner Weltsicht und erfährt sich – nachdem er seine Geliebte an seinen Doppelgänger Harlekin verloren hat – selbst als Schatten eines anderen. Im Kontext der symbolistischen Dramenkunst greift Blok in „Balagančik“ Motive aus Belyjs apokalyptischem Mysterium „Prišedšij“ (Der Angekommene, 1903) und aus Brjusovs futurologischem Stück „Zemlja“ (Die Erde, 1904) auf und parodiert sie.56 Besonders stark sind die Dialoge zwischen den drei Liebespaaren intertextuell aufgeladen. Dabei ist zunächst ein poetologisches Selbstzitat zu beobachten: Konstantin Močul’skij identifiziert die drei Liebesszenen mit den wechselnden Konzeptionen, die in Bloks Gedichtzyklen „Ante lucem“ (1898−1900), „Snežnaja maska“ (Die Schneemaske, 1907) und „Faina“ (1906−1908) ihren lyrischen Ausdruck gefunden haben. Dabei charakterisiert er die einzelnen Stufen der Liebe als Gebet, Leidenschaft und Dienst.57 Darüber hinaus verweisen die drei Begegnungen aber auch auf Brjusovs Gedicht „Orfej i Ėvridika“ (Orpheus und Eurydike, 1903/04), das ebenfalls als lyrischer Dialog aufgebaut ist. Blok hatte Brjusovs Zyklus „Stephanos“, in dem das Gedicht erstmals erschien, im Januar 1906 rezensiert – also genau zur Zeit der Niederschrift von „Balagančik“. Er nahm aber auch weitere Gedichte aus dieser Sammlung auf und integrierte ihre Gift- und Feuersymbolik in seinen Dramentext.58 Die drei Liebespaare bewegen sich in einem Kreis, der als Motiv sehr oft in Bloks Lyrik auftaucht. Gleichzeitig spielt der Kreis auf den „Ring der Nibelungen“ an (Wagner ist in „Balagančik“ in einer Regieanweisung präsent) sowie auf die Struktur von Dantes „Inferno“.59 Die Überdeterminierung des Textes Bloks „Balagančik“ stellt den klassischen Fall eines überdeterminierten Textes dar. In der Komposition, Symbolik und rhetorischen Gestaltung verschränken sich literarische Tradition, aktuelle Kunstdebatte und private Lebenskrise zu einem komplexen Text, dessen Bedeutungspotenzen nicht eindeutig aufgeschlüsselt werden können. Der eminente literarhistorische Rang dieses Stücks liegt allerdings gerade in solcher Überdeterminierung begründet.60 Das Liebesdreieck zwischen Pierrot, Harlekin und Colombina wird auf eine poetologisch reflektierte Metaebene gehoben und entfaltet dort einen Sinn, der sich nicht mehr in

328

Aleksandr Blok

der Handlungsführung erschöpft. „Balagančik“ ist eine Verdichtung von Bloks ästhetischen Prinzipien: Das Theaterstück markiert den Übergang von der reinen Dichtung zur dramatischen Inszenierung lyrischer Inhalte. Es funktioniert als zweigleisiges Dokument, das gleichzeitig Text und Kommentar ist, und verschmilzt in einer Reihe von intertextuellen Anspielungen eigene und fremde literarische Sinnentwürfe mit der privaten Lebensproblematik. Es ist kein Zufall, wenn Blok später an prominenter Stelle auf „Balagančik“ zu sprechen kam. Im Vorwort zur Publikation seiner lyrischen Dramen aus dem Jahr 1907 hielt er fest, daß diese den widersprüchlichen Zeitgeist ausdrücken und den zeitgenössischen Menschen durch Erniedrigungen zur Erneuerung führen.61 Noch radikaler formulierte er in dem programmatischen Artikel „O sovremennom sostojanii russkogo simvolizma“ (Über den aktuellen Zustand des Symbolismus, 1910) seine Zweifel am reinen Ästhetizismus des Symbolismus und übte dabei vor allem Selbstkritik: „Meine eigene Zauberwelt wurde zur Arena meiner persönlichen Handlungen, zu meinem ‚anatomischen Theater‘ oder zur Schaubude, wo ich selbst neben meinen bewundernswerten Puppen eine Rolle spiele (ecce homo!). […] Anders gesagt: Ich habe mein eigenes Leben zur Kunst gemacht (eine Tendenz, die sich sehr deutlich durch die gesamte europäische Dekadenz zieht).“62 Damit zog Blok die letzte Konsequenz aus der ironisch gebrochenen Inszenierung seiner Lebenskunst in „Balagančik“. Das Stück zeigt als Gedankenexperiment, daß das symbolistische Projekt einer harmonischen Einheit von Leben und Kunst gescheitert war. Nicht nur die Literatur, sondern auch der Autor gewann damit eine neue Autonomie. Blok unterstützte mit dieser Konzeption Vjačeslav Ivanov, der in seinem Essay „Zavety simvolizma“ (Das Vermächtnis des russischen Symbolismus, 1910) ebenfalls eine tiefe Krise des ästhetisierenden und ästhetisierten Individuums konstatiert hatte. Ivanov bedankte sich bei Blok für den Beistand schweigend mit einem Kuß auf die Lippen.63 Diese Anerkennung zeugt als literarisches Zitat von Ivanovs Bewußtsein, daß Blok mit seinem Essay auch gleichzeitig das Todesurteil über den Symbolismus gesprochen hatte. Der schweigende Kuß als Antwort auf eine logisch unwiderlegbare Rede stammt aus Dostoevskijs Großinquisitorlegende – dort ist es Christus, der den Großinquisitor küßt, nachdem ihm dieser verkündet hatte, er werde ihn auf dem Scheiterhaufen verbrennen. In den darauffolgenden Jahren rückte Blok immer stärker die Relevanz der Realität für den Kunstschaffenden in den Blick. In einem Brief vom 23. April 1913 beschied er einem debütierenden Lyriker: „Sie selbst gefallen mir im Moment noch besser als Ihre Gedichte, und das ist, so denke ich, auf jeden Fall wichtiger. Ohne den Menschen (wenn es im Autor keinen „Menschen“ gibt) – sind Gedichte nur heiße Luft.“64 Letztlich sollte man also „Balagančik“ in einer doppelten Kontinuität verorten. Zum einen stellt der Dramentext nicht so sehr einen Bruch als vielmehr eine Weiterführung der Problematik aus „Stichi o Prekrasnoj Dame“ dar65, zum anderen ist in ihm bereits die Explikation des problematischen Wechselverhält-

„Balagančik“ (Die Schaubude)

329

nisses von Leben und Kunst angelegt, das in den theoretischen Debatten des Jahres 1910 die Auflösung des russischen Symbolismus einleitete.

Christine Müller-Scholle

Aleksej Kručenych: Pobeda nad solncem (Sieg über die Sonne) In der Rückschau von Memoiren und wissenschaftlicher Literatur gilt das Jahr 1913 als Höhepunkt des russischen Futurismus. Anna Achmatovas MajakovskijGedicht1 macht die Premierenstimmung futuristischen Theaters im Dezember 1913 gar zur Metapher für die politischen, ethischen und ästhetischen Revolutionen des Jahrhunderts. Es vergleicht den Namen Majakovskij mit einem Blitz, der in einen stickigen Saal einschlägt, und spiegelt damit das Selbstverständnis aller Kubo-Futuristen.2 Diese Gruppe nannte sich auch „Hylaea“ und bekundete allein durch solche Assoziation der mythischen Taten des Herakles ihr phänomenales Selbstbewußtsein. Das erste gemeinsame Manifest aus dem Jahre 1912 war eine Einübung in aggressives Vokabular: „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“. Hier verhöhnten die Futuristen „gesunden Menschenverstand“ und „guten Geschmack“ und forderten ihre Leser auf, Puškin, Dostoevskij und Tolstoj „vom Dampfer der Gegenwart“ zu werfen. Der erste pan-russische Kongreß der „Sänger der Zukunft“ im finnischen Uusikirkko – mit dem Komponisten Michail Matjušin, dem Maler Kazimir Malevič und Aleksej Kručenych (1886–1968) als einzigen Teilnehmern – blies 1913 zum Angriff auf das traditionelle Theater. In einem Manifest werden Kručenychs „Pobeda nad solncem“ und Majakovskijs „Vladimir Majakovskij“ als Beispiele zeitgemäßen futuristischen Schauspiels angekündigt. Was unter futuristischem Theater zu verstehen sei, wurde weder hier noch später programmartig definiert. Im Mittelpunkt aller russischen futuristischen Theorien stand die Dichtkunst. Ein Theaterkonzept fehlte. Die Russen setzten gleichsam in Szene, was der Italiener Marinetti programmatisch vom Theater forderte. Der Künstler des technischen Zeitalters sollte Theaterkonvention und tradiertes Kunstempfinden auf der Bühne prostituieren. Marinettis Theatermanifest vom November 1913 verlangte ein anti-akademisches, naives, primitives Theater. Zentrale Begriffe im Manifest von 1915 waren Spontaneität und Kürze. Die neue Richtung sollte aus der Improvisation leben. Marinetti sah ihre Daseinsberechtigung und Erfolgschance in variierenden Möglichkeiten, das Publikum zu schockieren: durch Komik, erotischen Reiz, wunderliche Verkleidungen, entstellte Worte, Obszönitäten – durch das, was er Psychotollheit nannte. Die futuristische Bühne sollte nicht Abbild von Lebensrealität sein, sondern Absurdes, Alogisches zeigen, vertraute Vorstellungen von Perspektive, Proportion und Zeit zunichte machen.3 Wesentliche Punkte aus diesem Katalog von Ansprüchen an modernes Theater wurden im russischen Futurismus realisiert: die Verhöhnung der Tradition, eine breite Skala von Schockeffekten und die Absurditäten einer aus den Angeln gehobenen Welt. Im Wechsel mit Majakovskijs Tragödie „Vladimir Majakovskij“ stellte das Luna-Park-Theater in Petersburg an zwei Abenden vor, was Kručenych eine

„Pobeda nad solncem“ (Sieg über die Sonne)

331

„Oper“ nannte. Die traditionelle Einteilung in Bühnengattungen bewertete er damit als Frage des Beliebens: „Sieg über die Sonne“ ist ein Sprechstück mit kakophonischen Einsprengseln von Matjušin. Matjušin wollte Lautmalerei im konkreten Sinne des Wortes. Seine „futuristischen“ Noten deutete er als „Übergang ins Blaue und Schwarze“.4 Sie stützten den visuellen Effekt des Bühnendekors von Kazimir Malevič, der für das Auge so ungewohnt war wie die dichterische Sprache für das Ohr. „Pobeda nad solncem“ wird so zu einem Schmelztiegel der Künste, zu jenem Labyrinth von Sinneswahrnehmungen, das Marinetti vorschwebte. Hier erfüllte sich dessen Wunsch nach synthetischen Ausdrucksformen „zerebraler Energie“ mit absolutem Neuheitswert (Manifest 1915). Anders als Majakovskijs egozentrische Tragödie, deren futuristische Kunstgriffe letztlich die Zerrissenheit des Dichters in den Blick rückten, wurde „Pobeda nad solncem“ zur Tribüne der Darstellung futuristischer Kunstauffassung. Der Verzicht auf jede andere Art von Botschaft implizierte jene futuristische Heiterkeit, die nach Marinettis Theorie „das Gesicht der Welt verjüngen“ sollte (Manifest 1913). Kručenychs Drama stieß durch seine heitere Atmosphäre beim Premierenpublikum in der Tat (neben Pfiffen) auf gutmütiges Lachen und entspannte Fröhlichkeit5, blieb ihm aber gleichzeitig ein Buch mit sieben Siegeln, ohne verbindlichen Inhalt und ohne metaphysische Aussage. Sprache als Bühnenrevolution In dem Manifest „Poščečina obščestvennomu vkusu“ (Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack) war auf das dichterische Privileg gepocht worden, den Bestand einer Sprache durch willkürliche und abgeleitete Wörter zu erweitern. Kručenychs dramatischer Text mit einem Prolog von Chlebnikov bietet zwei verschieden geartete Beispiele von Sprachschöpfung. Die gewachsenen Strukturen der russischen Sprache ersetzte Chlebnikov im Prolog durch ein Mosaik von Neologismen. Wortwurzeln und Suffixe sind nach den Prinzipien von Wohlklang und Rhythmus zu neuen Gebilden zusammengefügt. Zum theoretischen Hintergrund dieses Umgangs mit Worten gehörte nicht nur das sezierende Sprachbewußtsein der Futuristen, das die Rolle von Präfixen und Suffixen betonte, sondern auch Chlebnikovs persönliche Sprachmythologie: „Den Zauberstein der Metamorphose aller slawischen Wörter ineinander zu finden, ohne den Kreis ihrer Wurzeln aufzureißen, – die slawischen Wörter frei miteinander zu verschmelzen: Das ist meine erste Beziehung zum Wort.“6 Chlebnikov wollte das „selbsthafte Wort, unabhängig von seiner Umgebung und von seinem Nutzen fürs Leben“. Der Effekt dieses selbsthaften Wortes, das künstlich und vertraut zugleich ist, kombiniert Faszination mit Distanz. Chlebnikov benutzt ihn zu einer Beschwörung durch Sprache. Er nennt den Prolog „Schwarzschaffende Neuigkeiten“ und kennzeichnet sich so als Adepten der Magie und des Obskuren. Als „düsterer Führer“, als „Träumer“ und „Zauberer“ sucht er das Publikum aus dem Bereich konkreter Alltäglichkeiten herauszulokken in die „halbhimmlischen Jenseitigkeiten“ seiner Sprache (1 f.). Lautung und

332

Aleksej Kručenych

Intention der Beschwörungsformeln des Prologs erinnern an mythisches „Abrakadabra“. Der Gleichklang von Vokalen und Konsonanten schmeichelt dem Gehör. Die rhythmische Wiederholung ganzer Silben hypnotisiert: „Minavy, byvavy, pevavy, bytavy“. Sie veranschaulicht das Erlernen von „Bewußtlosigkeit“, in dem Dichter und Maler die conditio sine qua non des Futurismus sahen.7 Chlebnikov suggeriert dem Zuschauer, der Schlüssel zur wahren Erkenntnis seiner selbst liege in den rätselhaften Gebilden der neuen Kunst: „Die Dramen des Vergangenen erzählen euch, wer ihr einst wart, die Dramen außerhalb der Zeit – wer ihr seid, die des Gegenwärtigen, wer ihr sein könntet“ (1). In der Pose des allwissenden Zauberers weckt Chlebnikov ureigene Interessen des Publikums: etwas über sich zu erfahren. Er appelliert an die Instinkte der Zuschauer, die er in einem archaisch anmutenden Fragment des Prologs als „Krieger, Kaufmann und Ackermann“ apostrophiert. Seine Bestimmung sieht der Magier des Wortes demnach in der Tradition des römischen vates, des Sehers, als eine Art Prophet des Volkes. Nur bedarf die futuristische Kunst der kongenialen Phantasie des Zuschauers – daher die Beschwörung seiner Einbildungskraft. Das futuristische Theater „verwandelt“ die Zuschauer in Hypnotisierte und die selbsthaften Worte in lebendige Wesen, die auf der Bühne „einhergehen“, „rufen“ und „erzählen“. Chlebnikovs futuristisches Theater ist Animation wie die Tragödie Majakovskijs: Dort bewirken die theoretischen Forderungen nach einer Belebung der Metapher und der Auferweckung des Wortes, daß „sämtliche Dinge“ die „Fetzen abgetragener Namen“ von sich werfen und in Bewegung geraten.8 Die letzten drei Zeilen des Chlebnikovschen Prologs poetisieren Marinettis Gebot einer organischen Einheit von Bühne und Publikum: „Das Schauhaus ist der Mund! Sei Gehör [...] Zuschauer! Und sei Betrachter“ (2). Neben realitätsferner Magie dominiert im Prolog ein hyperbolisches Element. Es kennzeichnet den Geltungsanspruch futuristischen Theaters als universal. Der Prolog wendet sich an alle, „die geboren, aber noch nicht gestorben sind“. Das Netzwerk von Assoziationen, das sich um die Wurzeln Chlebnikovscher Wörter rankt, läßt deren Einordnung in Raum und Zeit nicht zu. Deshalb stellen diese Wörter „den Morgen“ und „den Abend“ der Schauspielkunst dar. Der Zuschauerraum weitet sich in den Kosmos – mit Plätzen „auf den Wolken und auf den Bäumen und auf der Sandbank des Walfisches“.9 Chlebnikov sieht futuristisches Theater als Welttheater, seine Kunst als „Samen“, der „ins Leben fliegt“. Bis ins Detail der Wortwahl faßt sein Hyperbolismus das reale Zusammengehörigkeitsgefühl der internationalen Avantgarde: Franz Marc sprach 1911 von dem neuen „Samen“, den es „von Rußland“ herwehte.10 Es gehört zur Konsequenz der Theorie vom selbsthaften Wort, daß Chlebnikovs Prolog insgesamt selbsthaft ist: Er steht mit Kručenychs Drama in keinerlei Verbindung und könnte der Prolog zu Chlebnikovs eigener Szenenfolge „Zangezi“ sein. Seine einzige Funktion ist es, hellhörig zu machen – durch Wohlklang und die nachdrückliche Aufforderung: „Sei Gehör (großohrig) Zuschauer.“ Mit dieser Bitte weist Chlebnikov auf das spezielle Ansinnen des rus-

„Pobeda nad solncem“ (Sieg über die Sonne)

333

sischen futuristischen Theaters hin, das sich auf die Sprache konzentriert und teilweise sogar unübersetzbar bleibt, weil es radikale Formexpedition autonomer Ausdruckskünstler ist. Mit dem Beginn des ersten Akts wird ein anderes Verhältnis zur Sprache inszeniert. Waren Chlebnikovs Worte wie sorgsam gezogene exotische Kulturen, so spricht Kručenych in urwüchsiger Derbheit, mit einem Hang zum Lästerlichen und zu exhibitionistischer Häßlichkeit. Er fordert spontane Kreativität mit dem extremen Ideal einer Wegwerf-Literatur vor Augen. „Auf daß geschrieben und gesehen werde im Augenblick!“, heißt es in einem seiner Manifeste, und: „Nach Lektüre zerreißen!“ Eine neurotische Aversion gegen ästhetische Normen in der schönen Literatur macht „Pobeda nad solncem“ zum Demonstrationsobjekt verschiedener Formen anti-ästhetischen Sprechens. Eine sanfte Variante sind die Kalauer, die das Drama zur Bekräftigung der rebellischen Position umklammern: „Anfang gut, alles gut!“ In der gleichen Absicht wird Puškins „Exegi monumentum“ ironisch verfremdet: „Ich habe mir ein Denkmal gesetzt – auch nicht dumm!“ (8). Zwischen solchen Inseln verständlicher Rede liegen sinnentleerte Textpassagen: „Salz kriecht zum Hirten“ (12). Semantik, Grammatik und Logik von Handlungsentwicklung werden bewußt mißachtet. Der Zusammenprall von lexikalisch Unvereinbarem oder ein falsches Genus sollen Dissonanz fühlbar machen. „Auf daß sperrig geschrieben und sperrig gelesen werde, unangenehmer als geschmierte Stiefel oder ein Lastwagen im Salon.“11 Ganze Satzstrukturen werden von Lautanalogien als Emotionsträgern diktiert – so das Lied des Raufbolds von spitzigem „i“ zwischen Explosivlauten: „Pik pit’ / Pit’ pik“ (8). Wichtig ist hier nur der lautliche Effekt, der in der deutschen Übersetzung verlorengeht: „Lanze trinken / Trinken Lanze“. Dem ersten Konsonanten wird bei der Instrumentierung eines Satzes eine dominierende Rolle zugesprochen. An die Stelle des grammatischen Satzes tritt deshalb der „künstlerische“ Satz, der mit dem dominierenden Konsonanten beginnt und aufhört. Neben sinnwidrig verknüpften Wörtern weist der Text eine Anzahl von Neologismen auf, die durch exzentrische Verwendung von Wortwurzeln oder Suffixen befremden: „Angstgewehr“ oder die „Erschrecklichen“. Das eigentlich Revolutionäre in „Pobeda nad solncem“ ist jedoch die von Kručenych propagierte „transrationale Sprache“ – neben der gegenstandslosen Malerei ein Extrem futuristischer Kunst. Es handelt sich dabei um Nonsenswörter, um Lautgebilde, die jeder lexikalischen Atmosphäre entbehren. Zur Veranschaulichung sei das Kriegslied des Piloten zitiert (23): lll kr kr tlp tlmt kr vd t r kr vubr du du ra l

334

Aleksej Kručenych

kbi žr vida diba

Sprache zeigt sich hier in ihrer Zerlegbarkeit in Silben, Buchstaben oder Laute, die Material für eine beliebige Verwendung sind. Natürliches Verstehen von Sprache ist aufgehoben und gegen das Empfangen vager Impressionen eingetauscht. Deutlich wird einzig die Abkehr vom schönen Klang. Kručenych möchte keine Assoziationen hervorrufen – allenfalls solche an eine „Säge“ oder an den „Giftpfeil eines Wilden“.12 Der so komponierte Text erhält also auch eine naive, primitivistische Motivierung und erinnert darin an die Malerei Larionovs, Gončarovas und Malevičs in den Jahren zwischen 1908 und 1912. Anders als der Chlebnikovsche Prolog ist die Sprache Kručenychs im kosmopolitischen Sinne avantgardistisch. Sie bringt zwei Tendenzen zu konkreter Anschauung: die Spontaneität und den ästhetischen Nihilismus der neuen Primitiven sowie das kubistische Verfahren der Öffnung und Zerlegung geschlossener Körper. Infolge seiner Kompositionstechnik ist Kručenychs Text so alogisch und schwer lesbar wie Malevičs „Engländer in Moskau“ oder Picassos „Musikinstrumente“. Da Kručenych die Form dem Inhalt überordnete, die Organisation von Form sogar zum Inhalt machte, konnte er das Publikum höchstens durch seine Auffassung von Kunst und Darstellungswürdigem entrüsten. Er vermochte es nicht in seinen Wert- und Glaubensvorstellungen zu verletzen wie Majakovskijs enttabuisierte Sprache mit ihrer Vulgarisierung des Religiösen und Erhabenen. Kručenychs Worttheatralik ist überdies sehr viel unbekümmerter als die Veranschaulichung futuristischer Sprachtheorien durch Majakovskij oder Chlebnikov. Majakovskij stellt die Magie des Wortes in seiner Tragödie als Faszinosum, aber auch als Sackgasse dar. Wörter, die futuristischen Vorstellungen gemäß als Produkte einer freien dichterischen Schöpfung eigenen Gesetzen gehorchen sollten, werden in der Tragödie gleichsam zu Geistern, die gerufen, aber nicht mehr zu bannen sind. Der Aufstand der Dinge und die Verdinglichung des Menschen münden ins Chaos. Probleme und Grenzen der Literatur des „neuen Wortes“, die sich bei Majakovskij aus dem Spielablauf ergeben, hat Chlebnikov expressis verbis eingestanden: „Eine Sache, die nur in neuen Wörtern geschrieben ist, berührt das Bewußtsein nicht.“13 Kručenychs Ideal war der Eigenwert des Wortklangs, die vollkommene Trennung des Wortes vom Sinn. Er vertraute auf die irrationalen, mystischen, ästhetischen Komponenten eines Wortes und seiner Laute – nahm an, daß der Mensch sich in seinen „wichtigsten Minuten“ der metalogischen Sprache zuwende, ihren „erstaunlichen, listigen Verbindungen“.14 Der Glaube an die Aussagekraft von Wortmontagen jenseits aller Ratio ließ Kručenych behaupten: „Am 27. April um 3 Uhr mittags beherrschte ich mit einem Mal sämtliche Sprachen perfekt.“15 Der zeitgenössischen sprachwissenschaftlichen Kritik hielten solche Theorien nicht stand. Šklovskij nannte Kručenychs transrationale Sprache ironisch „Gebrüll als solches“, Klanggeste anstelle eines Wortes.16 Vinokur sah sie nicht als Kommunikationsmittel an, sondern als

„Pobeda nad solncem“ (Sieg über die Sonne)

335

„reine Psychologie“.17 Kručenych ließ sich – auch durch amüsierte Publikumsreaktionen – nicht beirren. Über Sprachschöpfung in seinem Sinn hinaus betrieb er die radikale Auflösung der dramatischen Form. Die Gattung Drama als Farce In „Pobeda nad solncem“ gibt es weder intentionales Handeln noch Zukunftsperspektive und Spannung als elementare dramatische Momente. Die auftretenden Figuren sind ohne Entwicklung. Statt einem dramatischen Konflikt folgen zu können, hat der Zuschauer Monologe mit dem Bekenntnischarakter von Lyrik zu verarbeiten. Die Einteilung in sechs Bilder erscheint willkürlich; die zwei Akte des Dramas symbolisieren das Alte und das Neue. Solchen Bruch mit der Tradition prophezeien zwei futuristische Kraftmenschen vorab, indem sie zu Beginn der ersten Szene den Bühnenvorhang zerreißen. Erläuternd deklamiert der erste Kraftmensch im Stil der übermütigen Streitbarkeit futuristischer Manifeste: „Wir frappieren das Universum / Wir fordern die Welt gegen uns heraus.“ Die hyperbolische Artikulation von Gegnerschaft ist ein isoliertes bedeutungstragendes Fossil im Text – eine Art Exposition zum Anti-Drama. Bis auf einige Gesten und physische Darstellungen, Visualisierungen des Wortes, entsteht das Spiel durch Sprachkonflikte. Die dramatis personae sind quasi-allegorische abstrakte Figuren. Sie haben Zeichencharakter. „Nero und Caligula in einer Person“ stellt den obsoleten Herrschaftsanspruch des Alten dar. Die Moderne wird von den futuristischen Kraftmenschen, dem Zeitreisenden, dem Piloten und anderen Figuren verkörpert. Zwischen diesen Polen bewegen sich zahlreiche Sinnbilder mehr oder minder deutlich werdender Parteinahme. Der Fette beispielsweise ist durch seine Orientierungsschwierigkeiten im Zehnten Land eher der alten Welt zuzuordnen. Kručenych greift – wie Majakovskij – zur Dingbelebung und zur Animation rhetorischer Figuren. Er unterstreicht damit den Surrealismus der Handlung und konkretisiert futuristische Thesen: „Einer hat seine Traurigkeit mitgebracht, nehmt sie“ (17). Daß ein futuristisches Maschinengewehr die Bühne betritt und an einem Telegraphenmast stehenbleibt, ist nicht nur Dingbelebung, sondern auch eine verspielte Huldigung an den neuen Götzen Technik. Die zu besiegenden Götter, die alte Literatur und ihre Ästhetik, zeigen sich als „fette Schöne“ und als Sonne. Mit dem Aufruf, diese personifizierten Metonymien in ein „Betonhaus“ zu sperren, ist der Knoten auf der Ebene der Rhetorik geschürzt, um mit rhetorischen Kunstgriffen gelöst zu werden. Die Art der sprachlichen Auseinandersetzung veranschaulicht eine Überzeugung, der Kručenych jenseits aller Polemiken anhing: „Worte sterben, die Welt ist ewig jung.“18 Die Degeneriertheit der geltenden Maßstäbe belegt er folglich mit Bildern aus dem Bereich von Krankheit und natürlichem Absterben. Die Sonne brennt „mit entzündetem Strahl“ (5). In der blumigen Sprache der alten Literatur sieht der Futurismus „die vertrocknete Frucht des Sommers“ (11). Auf die lebensferne kosmologische Metaphorik der Symbolisten weist der Appell: „Bedeckt euch mit Fäulnis, ihr Himmel“ (11). Der Dramentitel „Pobeda nad solncem“ ist eine Reaktion auf

336

Aleksej Kručenych

Bal’monts Gedichtband „Budem kak solnce“ (Laßt uns sein wie die Sonne). Die Totengräberszene parodiert Todessehnsüchte und Erlösungserwartung dekadenter Dichtung: „Es riecht nach Sarg die fette Wanze“ (14). Auch um die „edle Pose“ von „Nero und Caligula in einer Person“ geht ein Hauch von Verwesung: Der Advokat des Überlebten nährt sich von Hundefleisch und faulen Kartoffeln. In bezug auf das Feindbild summieren sich die Metaphern zu einer gewissen Einheit. Wenn der erste Kraftmensch von einem „reifen Sieg“ über die Sonne spricht, handelt es sich somit ausschließlich um einen Sieg mittels Sprache. Die bruchstückhafte Handlung (der „Feind“ zieht sich selbst an den Haaren; „der mit den schlechten Absichten“ beginnt eine Schlägerei mit sich selbst usw.) steht in keiner Beziehung zum Gesprochenen. Sie vollzieht sich neben der Sprache, die durch Alogik oder aufdringliche lautliche Physiognomie dominiert. Statt zum Spiel auf der Bühne kommt es im Kampf gegen die Sonne zum Wortspiel. Kručenych nutzt die lautliche Ähnlichkeit der russischen Wörter für „Schwert“ (meč) und „Ball“ (mjač): „Ich habe vorsichtig mein Schwert in die Erde gegraben, habe einen neuen Ball genommen und ihn geworfen“ (10). Daß hier Sprache inszeniert wird, zeigt die folgende Regieanweisung: „Zeigt die Geste eines Fußballers.“ Durch den Bericht des Zeitreisenden, der einen Kampf zwischen Rebellen und der Sonne in einem „gespenstischen Reich“ des 35. Jahrhunderts schildert, ergibt sich sogar ein Spiel im Spiel. Die Schachtelung des Kampfgeschehens erweitert den Bühnenraum ins Unvorstellbare. Der Zuschauer findet sich in noch größerer Distanz zum Dargestellten, als dies von der einfachen Bühnenillusion her vorgesehen ist. Vor dem irritiert starrenden Außenseiter gebärdet sich der Futurismus als Elite. Mit dem Blick ins 35. Jahrhundert läßt er auch wissen, wie weit er sich seiner Zeit gegenüber im voraus wähnt, die er wie „von Wolkenkratzern“ herab verachtet – wie es im Manifest „Poščečina obščestvennomu vkusu“ heißt. Zwar gibt es die Behauptung Kručenychs, in seinen unmelodischen Klanggebilden liege mehr an russischer Nationalität als in der gesamten Lyrik Puškins, de facto aber ist sein Drama l’art pour l’art. Wenn Kručenych zur Metamorphose von Wörtern und Menschen (ein Schwert wird zu einem Ball, ein Ball zu einem glattrasierten Kopf, der Raufbold zu Schießpulver, Watte, Häkchen und Schlinge) das Stichwort „Port Arthur“ gibt, neckt er sein Publikum. Die Fülle von Wirklichkeit, die der Zuschauer durch die Nennung eines vertrauten Namens einen Moment lang vor Augen hat, macht seine intellektuelle Ohnmacht gegenüber dem übrigen Bühnenspiel um so krasser fühlbar. „Die angelegten Wege“ im Zehnten Land sollen ihm unbegreiflich bleiben: „Haltet die Masse zurück“ (17). Kručenychs Lust an der mokanten elitären Pose findet ihre Pointe darin, den futuristischen Schockeffekt im Drama zu personifizieren. Mit dem Auftritt des „Buntäugigen“ verrükken sich die Perspektiven so, daß der Spießer und seine Sprachwelt („Haltestelle“, „Mittagessen“) schließlich nach oben die Bühne verlassen (20). Buntäugige Ungeheuer „zerdrücken“ auch die dekadente Gefolgschaft des Futurismus, so

„Pobeda nad solncem“ (Sieg über die Sonne)

337

daß die Lehre im Schlußteil des Dramas, dem futuristischen Zehnten Land, zu reiner Selbstdarstellung gelangen kann. Mit dem Erreichen des Zehnten Landes ist der Futurismus als sprachliches Konzept verwirklicht. Das autonome Wort lebt nicht mehr durch die Sonne der alten Ästhetik, sondern ist sich selbst Energiequell: „Unser Licht ist in uns“ (16). Der „aufmerksame Arbeiter“ und der „junge Mann“ beschleunigen durch ein Stakkato alogischer Redefragmente die Entfernung von der Realität. Durch zahlreiche Bedeutungsschattierungen von „Schnelligkeit“ und den gehäuften Gebrauch transrationaler Wörter wird Sprache zu einem Medium der Erfahrung zukünftiger Dynamik. Kručenychs Drama ist – wie die Dichtung Majakovskijs – von technischer und urbanistischer Metaphorik durchdrungen: Innerhalb des urbanistischen Vokabulars gehören „Eisen“, „Kamin/Schornstein“ oder „Brükke“ als Charakteristika der Stadt zum Standardrepertoire futuristischer Texte. Im Gegensatz zu Kručenychs (und Marinettis) Fortschrittsgläubigkeit bekundet der russische Futurismus in der Regel jedoch tiefe Skepsis gegenüber der technischen Entwicklung. Frühe Gedichte Majakovskijs wie „Utro“ (Der Morgen, 1912) oder „Iz ulicy v ulicu“ (Von Straße zu Straße, 1913) zeigen den verängstigten Blick des Menschen auf eine anthropomorphe Dingwelt. Chlebnikovs Gedicht „Žuravl’“ (Der Kranich, 1909) und Majakovskijs Tragödie sehen die Technik als einen Fortschritt zum Weltende hin. In der Nachfolge Brjusovs führen diese Werke eine gegenutopische Tradition fort, die mit H. G. Wells’ „The Time Machine“ (1895) begründet wurde. Majakovskij setzt das urbanistische Vokabular auch spielerisch ein und erreicht durch die Überlagerung von Bedeutungen in einem Bild (truba = Kamin, Röhre, Trompete) einen zusätzlichen Verfremdungseffekt. In dem Gedicht „A vy mogli by?“ (Könnten Sie?, 1913) soll ein Notturno auf einem Wasserleitungsrohr geflötet werden, und in einer Regieanweisung von „Vladimir Majakovskij“ heißt es: „Ein Wasserleitungsrohr beginnt langsam, einen einzigen Ton in die Länge zu ziehen.“ Kručenychs Drama erfüllt ohne Bedenken Marinettis Auftrag, „Schaufenster“ modernen Lebens zu sein, und hilft, den Mythos der Fabriken, Räder, Röhren und Lokomotiven aufzubauen. Zur zentralen Metapher wird in „Pobeda nad solncem“ das Flugzeug. Als Vehikel des „Reisenden durch alle Jahrhunderte“ symbolisiert es den Wunsch nach Aufhebung der alten Grenzen. Im Zehnten Land mischen sich das „Geräusch eines Propellers“ und das „Rattern von Maschinen“ in die transrationale Sprache der Protagonisten (22 f.). Marinettis Hoffnung auf das „futuristische Wunder“ einer Analogie zwischen Mensch und Maschinenwelt wird im Flugzeugabsturz, dem triumphalen Finale des Dramas, zum Faktum. Das Kriegslied des Piloten stellt die lautliche Entsprechung zu Geräuschen des Flugzeugs dar; das Lied des „jungen Menschen“ ist identisch mit dem Geräusch des Propellers: „Ju ju juk“ (20). Menschliche Sprache bringt reine Bewegung und einen nicht deutbaren Zukunftsoptimismus zum Ausdruck.

338

Aleksej Kručenych

Eine neue Ästhetik Der Futurismus Kručenychs will als Paradoxon verstanden werden. Der Barde mit einer „Nadel im Hals“ besingt den disharmonischen Einfluß von Urbanität, Technik und Geschwindigkeit in einer Sprache von häßlichem Klang, mit grammatischen Fehlern und verständnishemmend wirkenden Inversionen (11). Kručenychs „Neue Wege des Wortes“ (Novye puti slova) postulieren: „Ein unrichtiger Satzbau [...] schafft Bewegung und eine neue Wahrnehmung der Welt, und umgekehrt erzeugen Bewegung und eine veränderte Psyche seltsame ,sinnlose’ Verbindungen von Wörtern und Buchstaben.“19 In Anlehnung an die programmatische Abkehr von Moral und Feminismus in den Äußerungen italienischer Futuristen ließ Kručenych außerdem wissen, es gebe „aus niederträchtiger Verachtung gegenüber der Frau und gegenüber Kindern“ in der Sprache der Futuristen nur das maskuline Genus.20 Theorie und Praxis Kručenychs wirken indes trocken im Vergleich zu den rüden Tabuverletzungen in „Vladimir Majakovskij“. So fürchtet der „gewöhnliche junge Mann“, Verkörperung des Spießig-Alltäglichen in der Tragödie, des Dichters Gefolge könnte die Knochen seines kleinen Bruders kauen. Im Rahmen eines erweiterten Vergleichs wirft Gott einer Frau, die ein Kind erwartet, einen einäugigen kleinen Idioten hin. Den Kult des Häßlichen pflegten Kručenych und die Gruppe der Kubo-Futuristen auch in einer karnevalistischen Theatralisierung ihres Lebens: durch Löffel im Knopfloch, durch Schminke, skandalöse Auftritte und Publikumsbeschimpfungen. Zu Majakovskijs provokanter Selbstdarstellung gehörte eine gelbe Jacke. Einer der absurden futuristischen Vorträge, „Melker entkräfteter Kröten“, klingt im Vokabular von „Vladimir Majakovskij“ nach: „Ich bin trocken wie ein steinernes altes Weib. Man hat mich ausgemolken.“ Gewiß entweiht Majakovskij hier in grober Straßensprache auch den Blokschen Mythos von der Schönen Dame. Aufgrund derselben Anti-Blok-Haltung zählt zu den dramatis personae eine riesige weibliche Pappfigur: des Dichters „Bekannte“ als krude Inkarnation der Blokschen „Unbekannten“. In „Pobeda nad solncem“ steht die Ästhetik im Zeichen des Schweins, da konventionelles Schönheitsempfinden den revolutionären Wandel der Zeit nicht auszudrücken vermag. „BRN BRN“ als onomatopoetisches Grunzen (16) klingt im futuristischen Sinne schön, weil es vital ist und damit den Nerv der Zeit trifft. Kručenychs unerschütterliches Sendungsbewußtsein entspringt der Vision, aus sprachlichen „Habseligkeiten“ ein „Zarenreich“ errichten zu können. In mehrfacher Hinsicht definiert das Drama den Standort von Mensch und Ding neu. Ganz im Sinne Rimbauds wird Kručenych zum Künder des Fortschritts, indem er „Maßlosigkeit zum Maß“ erhebt, durch eine „Entgrenzung sämtlicher Sinne“ und den „Anprall an die unerhörten und unnennbaren Dinge“.21 Das Zehnte Land befreit von der „Schwere der allerweltlichen Schwerkraft“ (18), um Bewegung als universelles Lebensprinzip zu feiern. Sportler gehen im Takt „mit den Linien der Gebäude“, aus der Höhe von Wolkenkratzern „ergießen“ sich Equipagen (21 f.). Dinge, die sich bewegen, werden als beseelt

„Pobeda nad solncem“ (Sieg über die Sonne)

339

aufgefaßt. Sie sind leidenschaftlich oder argwöhnisch: so die Bälle und Fenster. Als Ausdruck von Gefühlszuständen sind sie entstofflicht und zum Teil weder szenisch noch im Bühnenbild dargestellt. Im Vergleich zum dynamischen Prinzip wird Kručenychs kubistische Sehweise sehr viel aufwendiger dargeboten. Bühnenausstattung und Beleuchtungseffekte sind ganz auf ihre Verdeutlichung ausgerichtet. Das Verfahren der Zerlegung von Wörtern wird in vier von sechs Szenen des Dramas als Kunstgriff futuristischer Poetik versinnbildlicht. Wortkörper, die von Kručenych „entzweigehauen“ wurden, laufen als Kopf und Rumpf über die Bühne. Für Kručenych sind sie Ausdruck einer „ungestümen Gegenwart“.22 Kručenych und Chlebnikov weisen in ihrem Manifest „Slovo kak takovoe“ auf die Vorliebe avantgardistischer Maler hin, den Menschen in seine Körperteile zu zerlegen. In Majakovskijs Tragödie entspricht der These, futuristische Dichter bedienten sich „zerhackter Wörter“23, die Forderung des alten Mannes mit den Katzen, die aufständischen Dinge zu zerhacken. Vorzüglich wurde Kručenychs Begriff von sperrigem Wortmaterial auf der Bühne illustriert. Die Schauspieler steckten hinter Masken und zwischen riesigen Schildern aus Pappmaché, die nur eine Vorwärtsbewegung in geraden Linien erlaubten. Die auf geometrischen Formen basierenden Kostümentwürfe stammten ebenso von Malevič wie die Hintergrunddekoration. Erhaltene Abbildungen zeigen eine Aufteilung der Fläche in Quadrate, Rechtecke, kegelartige kosmische Körper und Kreissegmente – mit Röhren und Rädern aus der Welt der Technik, mit figürlichen wie abstrakten Zeichen. Es handelt sich um eine Dekoration im Stil der gleichzeitig entstehenden Gemälde (wie „Der Gardist“, 1912/13), die Einflüsse der synthetisch-kubistischen Arbeiten von Braque und Picasso aufweisen. Malevičs Ausstattung gilt als erstes kubistisches Bühnenbild der Welt. Mit der Bühnengestaltung zur Anfangsszene schuf Malevič gleichzeitig sein erstes suprematistisches Werk: ein diagonal in eine schwarze und eine weiße Fläche aufgeteiltes Quadrat. Er hat damit die Gegenstandslosigkeit abstrakter Malerei am konsequentesten mit der transrationalen Sprache Kručenychs gleichgesetzt: „Neben der Malerei ist auch das Wort aufgebrochen und hat seine bisherige gegenständliche Vorstellungswelt überwunden. [...] Auch das Wort wird gegenstandslos, wird zum befreiten Nichts.“24 Dieses befreite Nichts war wie das Theater der kosmischen Klänge, wie Zahlenrede und Farbensprache in Chlebnikovs „Zangezi“ ein Grenzfall szenischer Darstellung, eine Art epischen Theaters. Ähnlich den akustischen Wirklichkeitsschichten „Zangezis“ ist Kručenychs Nonsenssprache ein Hör-Spiel mit zwangsläufigem Verzicht auf Sichtbarkeit. Tatlin, der „Zangezi“ 1923 im Leningrader Museum für Bildende Künste uraufführte, hielt eine Bühne letztlich für außerstande, Klangkunstwerke als dramatische Handlung darzustellen. Das Resümee seiner Inszenierungsarbeit gilt im Prinzip auch für „Pobeda nad solncem“. Die beiden Uraufführungen zeigen gewisse Ähnlichkeiten. Tatlin ließ sich bei der Gestaltung des Bühnenbilds von Chlebnikovs Konzeption der Wortblöcke und Wortebenen inspirieren. Er

340

Aleksej Kručenych

entwarf eine rein abstrakte Szenerie aus geometrischen und körperhaften Elementen. Die Verschiedenartigkeit der Wortebenen wurde szenisch in einem Kontrast der Materialien realisiert. Den besonderen Eigenschaften der Materialien als bunten Wortblöcken suchte er durch Projektoren Geltung zu verschaffen. Der besondere Einsatz von Licht war als revolutionäres Element aus der Inszenierung von „Pobeda nad solncem“ bekannt. In eigenwilliger Weise stellte Malevič die Projektoren in den Dienst seiner kubistischen Idee. Er nutzte das Licht als eine Quelle der Formgebung. Die Scheinwerfer erfaßten bald diesen, bald jenen Gegenstand und erfüllten ihn mit Leben. Die Bühnenfiguren wurden vom harten Scheinwerferlicht segmentiert und abwechselnd ihrer Arme, ihrer Beine oder ihres Kopfes beraubt. Malevič zeigte sie als Montagen geometrischer Körper, die nicht nur einer Zerlegung in ihre Elemente, sondern auch der völligen Auslöschung im Raum unterlagen. So löst sich „Pobeda nad solncem“ – ebenso wie „Vladimir Majakovskij“ und „Zangezi“ – in Inhalt und Form vom konventionellen Drama. Nicht die Entwicklung von Handlung und Charakteren, sondern der schöpferische Umgang mit Sprache ist das eigentlich Dargestellte. Der Wortkörper wird wichtiger als sein Inhalt. Von daher ergeben sich die typischen Merkmale dieser Kunst: das Offene, Vieldeutige oder Undeutbare. Art und Funktion sprachlicher Exzentrik sind verschieden. Majakovskij zielt durch die besondere Anordnung besonderen Wortmaterials auf eine Beleidigung tradierten ethischen und ästhetischen Empfindens. Chlebnikovs Wortschöpfungen locken als sirenenhafte Gesänge in den Bannkreis halluzinatorischer Vorstellungen des Dichters. Bei Kručenych erweist sich dramatische Handlung als Entwicklung und Metamorphose des selbsthaften Wortes. Kručenychs transrationale Sprache ist mit dem Verzicht auf jede lexikalische Bedeutung das Nonplusultra des russischen Avantgardismus. Als theatralisch-ästhetisches Phänomen konnte das selbsthafte Wort bei Kručenych und Chlebnikov oder in Majakovskijs Aufstand der Dinge vom Zuschauer nur genossen werden, wenn er um die programmatischen Absichten der Futuristen wußte. Der naive Betrachter war im Grunde nicht erwünscht. Ihn vermochte ein Theater der reinen Verfremdungskunst auch nicht zu erreichen. Der „negative Doppelgänger David Burljuks“ Während Majakovskij, der durch die Uraufführung seiner Tragödie mit einem Schlag berühmt wurde, das Publikum in seinen Bann zog und die Polizei mit seinen Visionen und Schmähungen verunsicherte, wurde Kručenychs Wortkunst als Hirngespinst belächelt. „Wirklich nett“, soll Majakovskij gesagt haben.25 Benedikt Livšic äußerte seine Kritik deutlicher. Er hielt das futuristische Drama – „wie alles, was Kručenych selbständig zu schreiben versuchte“ – für „enorm schwach und gewollt marktschreierisch“.26 Den etwas lächerlichen Effekt künstlicher Aggressivität beschreibt in seinen Theatererinnerungen auch Tomaševskij.27 In der Tat hält „Pobeda nad solncem“ einem Vergleich mit den Werken Majakovskijs und Chlebnikovs nicht stand. „Vladimir Majakovskij“ oder „Zangezi“ sind unver-

„Pobeda nad solncem“ (Sieg über die Sonne)

341

wechselbarer Ausdruck eines individuellen künstlerischen Temperaments. Majakovskij rechtfertigt Anna Achmatovas Metapher vom Blitz, der in einen stickigen Saal einschlägt, und „Zangezi“ erinnert an eine Selbstcharakterisierung Chlebnikovs als Schmetterling, der aus Versehen in das Zimmer des menschlichen Lebens geflogen sei. „Pobeda nad solncem“ wirkt wie ein kollektives futuristisches Manifest, dessen einzige persönliche Note ein etwas zu schriller Tonfall ist. Was die häufig anzutreffende Meinung vom Eklektizismus Kručenychs betrifft, so war der weltfremde Chlebnikov in diesem Punkt sehr hellhörig und empfindlich. In seinem Gedicht „Kručenych“ zeichnet er den Dichterkollegen als unfertigen, amorphen Charakter, nennt ihn das „kleine Londoner Gespenst“, den „negativen Doppelgänger David Burljuks“.28 David Burljuk war den Kubo-Futuristen bekanntlich weniger durch seine dichterischen Gaben als durch sein resolutes Organisationsvermögen dienlich. Mit sanfter Ironie lobt Chlebnikov seinen Mitstreiter Kručenych als den „flinken“ Herausgeber von Briefen, als den „geschickten“ Rezipienten fremden Ideenguts. Trotz aller Vorbehalte gebührt Kručenych das Verdienst, futuristische Ideen in einem spektakulären Bühnenereignis veranschaulicht zu haben. Genüßlich beschreibt Tomaševskij die bunte Palette derer, die im Petersburger Schwarzhandel mit Eintrittskarten Wucherpreise für den erwarteten Theaterskandal zahlten: in Pelze gehüllte Damen mit rosa und blauen Strickmützen, Offiziere mit klirrenden Sporen, Petersburger Dandys in Frack und Smoking, Studenten in bescheidenen Jacken und der Adjutant des Polizeichefs. In den angrenzenden Hinterhöfen vermutete man ganze Polizeimannschaften. Der Premierentumult kam dem Öffentlichkeitsstreben der Futuristen entgegen, ihrer experimentellen Lust und dem Triumphalen des Aufbruchs. „Die Angst der Schwachen“ (17) vor einer Konfrontation mit futuristischer Ästhetik hat Kručenych allerdings überschätzt.

Rainer Goldt

Vladimir Majakovskij: Misterija-buff (Mysterium buffo) Vladimir Majakovskij, tragisches enfant terrible der sowjetischen Revolutionsdichtung, war 1917 einer der wenigen Autoren von Rang, die sich vorbehaltlos in den Dienst der neuen Machthaber stellten. Das rauschhafte, alle individuelle Isolation aufhebende Widerstands- und Gemeinschaftserlebnis der Revolution von 1905 hatte den zunächst in Georgien und ab 1906 in Moskau aufgewachsenen Majakovskij schon als Schüler in kommunistische Kreise geraten lassen.1 Als Künstler und Dichter avancierte der ehemalige Student der Moskauer Lehranstalt für Malerei, Bildhauerei und Baukunst 1912 zum Mitbegründer des russischen Kubofuturismus und gehörte zu den Unterzeichnern des Manifests „Poščečina obščestvennomu vkusu“ (Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack). Sollten damals noch die literarischen Überväter Puškin, Dostoevskij und Tolstoj „vom Dampfer der Moderne“ geworfen werden, so werden es in „Misterija-buff“ wenige Jahre später die sogenannten „Reinen“ – Feudalherrscher, Spekulanten, Geistliche und demokratische Politiker – sein, die von der Arche in die Fluten gestürzt werden. Tolstoj bleibt hier als lebensfern-„dekorativem“ Propheten immerhin ein quietistisches Altenteil im faden Paradies beschieden. Als Bühnenautor trat Majakovskij erstmals 1913 mit der experimentellen „Tragödie“ „Vladimir Majakovskij“ in Erscheinung, die jenseits späterer Ideologiefixiertheit bereits ästhetische Grundprinzipien seines prononciert anti-aristotelischen und anti-mimetischen Theaters demonstriert: Entpsychologisierung, Allegorie, Travestie (hier vor allem des Ödipus-Stoffs) sowie Gattungs- und Stilsynkretismus. Nach der Oktoberrevolution sah er dann die ersehnte historische Möglichkeit gekommen, die romantische Utopie einer Umgestaltung des Lebens durch die Kunst im Sinne eines zugleich ästhetischen wie sozialen Traditionsbruchs zu verwirklichen. Insofern ist „Misterija-buff“ 1918 unter der Regie von Vsevolod Mejerchol’d und mit dem nicht erhaltenen Bühnenbild Kazimir Malevičs als erstes „kommunistisches Theaterstück“ (so der Volkskommissar für Bildung Anatolij Lunačarskij) zugleich das früheste Zeugnis der keineswegs erst mit dem Faschismus einsetzenden politischen Selbstinstrumentalisierung der Avantgarde.2 Als ideologische Hommage an den neuen Staat wie auch als Zeugnis einer kurzen Phase der Koexistenz von Avantgarde und Sowjetregime galt „Misterija-buff“ in der Sowjetunion bis zuletzt als „eines der bemerkenswertesten Werke der Sowjetliteratur“3 überhaupt. In der Folge versuchte Majakovskij, einige der dort entwickelten Techniken auf die Lyrik zu übertragen, vor allem auf sein großes Revolutionspoem „150 000 000“, das 1921 gleichzeitig mit einer zweiten Fassung von „Misterija-buff“ im Druck erschien, aber außerhalb der Avantgardezirkel nur verhaltene Aufnahme fand. Nach dem Scheitern seines zunehmend verzweifelteren Versuchs,

„Misterija-buff“ (Mysterium buffo)

343

in der „Linken Front der Künste“ (LEF) avantgardistische Positionen in der sowjetischen Kunst zu etablieren, sagte sich Majakovskij unter dem Druck der Umstände 1927 öffentlich vom Futurismus los. 1930 setzte er seinem Leben ein Ende, bevor kurze Zeit später die Doktrin des Sozialistischen Realismus einen nun auch offiziellen Schlußstrich unter die sowjetische Moderne zog und die Legitimation zu Kampagnen gegen die wenigen verbliebenen unabhängigen Künstler wie etwa Šostakovič bot. Der kurze Frühling der Theateravantgarde Die kommunistische Partei ließ dem Theater unmittelbar nach dem Oktoberumsturz besondere Förderung angedeihen. Von der Bühne erhoffte man sich in einer weitgehend illiteraten Gesellschaft ebenso wie vom jungen Medium Film eine weit suggestivere Propagandawirkung als vom geschriebenen Wort. Aber es gab auch künstlerische Gründe, die für eine solche Ausrichtung sprachen. Das erste Viertel des 20. Jahrhunderts hatte dem russischen Theater sein „Goldenes Zeitalter“ beschert, dem es noch vor Weltkrieg und Revolution den Aufstieg zur führenden Gattung im Kulturleben des Landes zu verdanken hatte.4 Neben der klassischen Ästhetik von Stanislavskijs Künstlertheater, die seit den dreißiger Jahren unter dem ideologischen Deckmantel des Sozialistischen Realismus zurückkehren sollte, entfalteten vor allem zwei avantgardistische Konzepte weitreichenden Einfluß: Vsevolod Mejerchol’ds Theorie eines „stilisierten“ bzw. „bedingten“ (uslovnyj) Theaters, das heißt der anti-illusionistischen Bloßlegung szenischer und darstellungstechnischer Kunstgriffe, sowie Nikolaj Evreinovs „Theatralisierung“ (teatralizacija) im Sinne einer Anwendung theaterästhetischer Prinzipien auf die kollektive und individuelle Lebensgestaltung. In Gestalt einer „Kunst des Lebensaufbaus“ (iskusstvo žiznestroenija) wurde diese Vorstellung ab 1922 in Majakovskijs postfuturistische LEF integriert, während zur Zeit von „Misterija-buff“ noch die Nähe zu Mejerchol’d überwiegt.5 Majakovskij war schon vor der Revolution für eine radikal neue Theaterästhetik eingetreten. In der Abkehr vom bloß „photographischen Abbild des Lebens“ im realistischen Theater hin zu einer die „dynamische Kunst des Schauspielers“ entfaltenden Bühnenästhetik erblickte er 1913 in seinem Essay „Teatr, kinematograf, futurizm“ (Theater, Kinematograph, Futurismus) die Rettung des Theaters gegenüber dem neuen Medium Film: „Das Theater hat seinen Untergang selbst verschuldet und müßte seinen Nachlaß dem Kinematographen vermachen. Der Kinematograph aber wird den naiven Realismus und den Dienst am Schönen samt Čechov und Gor’kij in einen Industriezweig verwandeln und so den Weg frei machen für das Theater der Zukunft, für die ungebundene Kunst des Schauspielers.“6 Bemerkenswerterweise kritisierte Majakovskij 1913 noch ausdrücklich jegliche ideologische Indienstnahme des Theaters, wenn er vom „inneren Bewegungsgesetz des Wortes“ spricht, das bislang lediglich unter dem Aspekt der „Verwertbarkeit als Ausdrucksmittel kunstfremder moralischer und politischer Ideen“ berücksichtigt worden sei.7

344

Vladimir Majakovskij

Die Indienstnahme des Theaters hatte sich unmittelbar nach der Oktoberrevolution in Freilichtaufführungen niedergeschlagen, die, an politischen Feiertagen als Massenspektakel konzipiert, teilweise sechsstellige Besucherzahlen anzogen.8 Der Auftrag des Theaters zur politischen Propaganda wurde auf dem 11. Parteikongreß 1922 ausdrücklich festgeschrieben. Das bedeutete einerseits das Gebot, den Arbeiter als Theaterbesucher zu gewinnen und andererseits ein Repertoire zu schaffen, das sowohl den ideologischen Forderungen der Machthaber als auch dem Anspruch einer eigenständigen Arbeiterkultur entsprechen konnte. Doch blieben Experimente wie diejenigen Keržencevs, dessen „Mysterium der befreiten Arbeit“ 1920 unter Mithilfe von zweitausend Rotarmisten 35 000 Zuschauer anlockte, ebenso Episode wie Tairovs und Evreinovs Versuche einer Synthese von politischer Utopie und neorealistischen Theaterformen. So war auch Evreinovs Unterfangen, mit einem den frühen Jahresfeiern anläßlich der Französischen Revolution nachempfundenen Freilichttheater eine revolutionäre Volksbühne zu begründen, kein dauerhafter Erfolg beschieden. Es wirkt wie eine Ironie des Schicksals, daß alle Initiatoren des zum Dritten Jahrestag der Oktoberrevolution 1920 vor schätzungsweise einhunderttausend Zuschauern aufgeführten „Sturms auf den Winterpalast“ – Nikolaj Evreinov (Regie), Jurij Annenkov (Bühnenbild) und Dmitrij Temkin (Musik) – kurze Zeit später aus Sowjetrußland emigrierten und erfolgreiche Karrieren in den USA und Frankreich begannen. Ihre in einer von Fackellicht illuminierten Parade ausklingende Inszenierung sorgte für jene „monumentale und suggestive Kulisse, deren Inszenierung bald typisch wurde für die autoritären Regime der Zwischenkriegszeit“9. Populäre Stoffe versprachen nur dann Erfolg, wenn sie klassischen Werken folgten wie etwa Gozzis „Prinzessin Turandot“ in Vachtangovs letzter und legendärer Inszenierung, die es allein in der Spielzeit nach dem Tod des Regisseurs (1923/24) auf über einhundert Aufführungen brachte, oder Zamjatins Bearbeitung von Leskovs „Levša“ (Linkshänder) mit dem Bühnenbild Kustodievs. Die international für Furore sorgenden Inszenierungen der zwanziger Jahre, die dem sowjetischen Gesellschaftsexperiment kulturelles Renommee verschafften, waren gleichfalls fast ausschließlich Klassikerinterpretationen. Spätestens 1924 fand diese Phase ein Ende, als Anatolij Lunačarskij in einem programmatischen Artikel schrieb, es sei der Partei noch nicht gelungen, eine „richtige Methode der Stückeproduktion“ zu entwickeln.10 Selbst der moderner Kunst gegenüber relativ aufgeschlossene Lev Trockij wünschte sich im selben Jahr, man möge „zwischen dem Passéismus und dem Futurismus auf den Bühnenbrettern auch dem Präsentismus Platz geben“11 und schwärmte bei dem Gedanken an einen sowjetischen „Revizor“. Zu diesem Zeitpunkt war „Misterija-buff“ schon ein Jahr lang an keinem sowjetischen Theater mehr aufgeführt worden. Zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte Nach der erzwungenen Abdankung von Zar Nikolaj II. im März 1917 hatte Majakovskij eigenen Worten zufolge bereits im August mit der Arbeit an dem Revo-

„Misterija-buff“ (Mysterium buffo)

345

lutionsdrama „Misterija-buff“ begonnen.12 Der Staatsstreich der Bolschewiki im November und die verbreitete Hoffnung auf eine sich anbahnende Weltrevolution verliehen dem Stoff plötzlich eine universale Perspektive. Im Sommer 1918, als in Petrograd Hunger und Cholera wüteten und der blutige Bürgerkrieg das Land zerriß, widmete sich Majakovskij in der Beschaulichkeit von Levašovo bei Petrograd ganz seinem Revolutionsstück. Am 27. September trug er den Text erstmals in halbprivatem Kreis vor. Unter den Anwesenden befand sich neben dem späteren Regisseur der Uraufführung, Vsevolod Mejerchol’d, auch Anatolij Lunačarskij. Dieser erkannte sofort den propagandistischen Wert des Stücks und urteilte ganz im enthusiasmierten Superlativstil der Zeit: „Der Inhalt dieses Werks wird mit allen gigantischen Gefühlsregungen echter Modernität präsentiert, ein Inhalt, der erstmals in Kunstwerken der jüngsten Zeit den Erscheinungen des Lebens adäquat ist.“13 Ursprünglich zur Aufführung am altehrwürdigen Aleksandrinskij teatr in Petrograd vorgesehen, scheiterte das Vorhaben am passiven Widerstand der Schauspieler.14 Auch andere Bühnen versagten sich dem provozierenden Stoff, so daß sich Majakovskij am 12. Oktober in mehreren Zeitungen an die „Genossen Schauspieler“ wenden und zur öffentlichen Lesung und Rollenvergabe einladen mußte. Nach kurzen Proben konnte das Stück schließlich schon zum Revolutionsfeiertag am 7. November 1918 in der Inszenierung Mejerchol’ds am „Theater des Musikdramas“ in Petrograd uraufgeführt werden. In Gegenwart Aleksandr Bloks spielte Majakovskij sein alter ego, den „Menschen einfach“ (in der zweiten Fassung den „Menschen der Zukunft“), sowie Methusalem und einen der Teufel, da deren Darsteller nicht erschienen waren. Gleichzeitig erschien eine erste Ausgabe im Druck. Der Publikumserfolg hingegen blieb hinter den Erwartungen zurück; nach zwei Aufführungen wurde das Stück abgesetzt.15 Das Echo der damals noch nicht völlig gleichgeschalteten Presse blieb ambivalent, der künstlerische Eigenwert von „Misterija-buff“ wurde von ideologischen Debatten vollkommen verdrängt. Von Andrej Levinson in der Theaterzeitschrift „Žizn’ iskusstva“ als Versuch, „sich den neuen Herren einzuschmeicheln“ abgetan16, glaubte Ėmmanuil Beskin ganz im Sinne von Majakovskijs Polemik gegen Anton Čechov den Aufbruch in eine neue Theaterepoche vollzogen: „Es gibt keinen ‚Tempel‘ mit dem großen Erbeben vor einem ‚Geheimnis‘ der Kunst, keine ‚Hohepriester‘ mehr, es gibt eine neue proletarische Kunst als Arbeit, eine Kunst als organisierte Produktion. Es gibt keinen ‚Kirschgarten‘ des alten akademischen Theaters mit seinen weißen Elegien und neurasthenischen Stimmungen mehr. Es gibt eine erste Furche des Traktors des neuen Massentheaters, eines Theaters der Massenpsyche, eines Theaters der kollektiven Gefühle des Proletariats.“17 Zur Jahreswende 1920/21 überarbeitete Majakovskij den Text und stellte eine zweite Fassung fertig, die zum Internationalen Tag der Arbeit am 1. Mai 1921 von Mejerchol’d an seinem „Ersten Theater der RSFSR“ uraufgeführt wurde und schon im Juni im Druck erschien.18 Als Bühnenbildner fungierten bei

346

Vladimir Majakovskij

dieser Inszenierung Viktor Kiselev und Anton Lavinskij.19 Als Happening inszeniert, war es erlaubt, während der laufenden Vorstellung den Saal zu betreten, Beifalls- oder Mißfallenskundgebungen während der Aufführung waren ausdrücklich erwünscht, das Publikum gar gehalten, Fragebögen auszufüllen.20 Den ganzen Frühling und Sommer über trat Majakovskij auf Diskussionsabenden zur Konzeption des Stücks auf. Am 24., 25. und 26. Juni 1921 schließlich wurde „Misterija-buff“ den Delegierten des III. Kongresses der Kommunistischen Internationale in einer deutschen Übersetzung von Rita Rajt-Kovaleva präsentiert, die ebenso als verschollen gilt wie eine angebliche frühe Übertragung Johannes R. Bechers.21 Für diese Aufführung verfaßte Majakovskij einen gesonderten Pro- und Epilog. Theatergeschichtlich von Interesse ist eine weitere Inszenierung aus demselben Jahr unter der Regie von Grigorij Avlov am „Heroischen Theater“ in Char’kov. Das Bühnenbild stammte von Aleksandr ChvostenkoChvostov.22 Trotz aller offiziellen Förderung blieb „Misterija-buff“ Lesedrama und Inspirationsquelle für Künstler, so etwa für Sergej Ėjzenstejn, der 1918 Skizzen zu einem Bühnenbild fertigte. Publikumswirksame Inszenierungen behielten dagegen Seltenheitswert. Zum fünfzigjährigen Jubiläum der Erstaufführung inszenierte in Leningrad der junge Petr Fomenko, später einer der Klassiker der sowjetischen Regie, das Stück in einer von Mark Rozovskij überarbeiteten Fassung unter dem Titel „Novaja misterija-buff“ (Neues Mysterium buffo). Rozovskij hatte den Text gemäß der Weisung Majakovskijs an die zukünftigen Schauspieler und Regisseure „zeitgemäß, heutig, minutengerecht“ (245)23 gestaltet und um Realia des real existierenden Sozialismus erweitert, doch wurde das Stück eben deshalb 1969 nach wenigen Aufführungen aus Zensurgründen abgesetzt. 2008 brachte Nikolaj Roščin das Stück unter dem Titel „Misterijabuff. Variant čistych“ (Mysterium buffo. Variante der Reinen) in Zusammenarbeit mit dem französischen „Théâtre de la manufacture“ und dem Moskauer A.R.T.O.-Theater im Mejerchol’d-Zentrum auf die Bühne, an dessen Ende Majakovskij jeden einzelnen Schauspieler persönlich guillotiniert. Im Ausland wurde „Misterija-buff“ zwar durchaus als wichtiger Text der politischen Avantgarde übersetzt und wahrgenommen, Inszenierungen erreichten jedoch regelmäßig nur ein kleineres Publikum. Nachhaltig in Erinnerung blieb die Inszenierung durch den polnischen Avantgarderegisseur Jerzy Grotowski, der das Stück 1960 in seinem „Teatr 13 Rzędów“ in Oppeln aufführte. 1969 wurde Majakovskijs ästhetische Grundkonzeption im Agitationstheater des von Brecht und Mejerchol’d beeinflußten Dario Fo als „Mistero buffo“ variiert. Auch in Deutschland gab es immer wieder Versuche, das Stück zu etablieren und aktualisieren, zuletzt 2004 von Sebastian Hartmann an der Berliner Volksbühne.

„Misterija-buff“ (Mysterium buffo)

347

Eine Arche und die Flammenflut der Revolution In seinem programmatischen Aufsatz „Balagan“ (Das Schaubudentheater) hatte Mejerchol’d schon 1912 eine Rückbesinnung der in psychologischer Verfeinerung erstarrten Schauspielkunst auf ihre Ursprünge gefordert. Inspiriert wurde er dabei zweifellos durch Bloks gleichnamiges symbolistisches Drama „Balagančik“ (Die Schaubude, 1906), das erstmals die Bedingtheit von theatralischen Zeichen und Perspektiven offengelegt und auf individualisierte Charaktere verzichtet hatte. Rigoros steckte Mejerchol’d jene ästhetischen Wegemarken ab, die er dann in Majakovskijs „Misterija-buff“ 1918 erstmals verwirklicht sehen sollte – Maske, Geste, Bewegung. Das mittelalterliche Theater mit seiner Vermengung von Volk und Vagant schwebte ihm vor, als er den für Majakovskij entscheidenden Schlüsselbegriff des „Mysteriums“ ins Feld führte: „Symbolische Figuren, Umzüge, Schlachten, Prologe, Paraden, sie sind allesamt Elemente echter Theatralität,24 ohne die auch die Mysterienspiele nicht auskamen.“25 Es darf dabei aber nicht vergessen werden, daß die Reduktion der dramatis personae auf symbolische Repräsentanten philosophischer oder religiöser Ideen seit Jarrys „Ubu roi“ (1896) im Avantgardetheater etabliert und auch im russischen Futurismus, etwa in Matjušins und Kručenychs „Pobeda nad solncem“ (Sieg über die Sonne, 1913) erprobt worden war.26 In einem Libretto zu „Misterija-buff“, das Majakovskij 1921 zu Ehren des III. Kongresses der Komintern verfaßte, umreißt er seine Intention folgendermaßen: „Das ‚Mysterium buffo‘ ist unsere große Revolution, verdichtet durch den Vers und die Bühnenhandlung. ‚Mysterium‘ deutet auf das Große der Revolution, ‚buffo‘ auf das Lachhafte an ihr. Die Verssprache des ‚Mysterium buffo‘ ist gleichlautend mit den Bandsprüchen der Massenkundgebungen, mit dem Feldgeschrei der Straße, mit den Ausdrucksformen der Tagespresse. Die Handlung des ‚Mysterium buffo‘ ist gleichbedeutend mit der Bewegung der Massen, dem Zusammenstoß der Klassen, dem Ringen der Ideen, ein Kleinbild der Welt in den Wänden eines Zirkus“ (359).27 Für die Drastik und Plakativität der teilweise tumultuösen Handlung dürfte auch Majakovskijs damalige Tätigkeit für die sogenannten „Propaganda-Fenster“ der Russischen Telegraphenagentur (ROSTA) eine Rolle gespielt haben, die sich in ihrem suggestiven Zusammenspiel von Bild und Kurztext an den Volksbilderbögen (lubki) des 19. Jahrhunderts ausrichteten. In dieser Tradition stehen ganz offenkundig Majakovskijs erhaltene Kostümentwürfe für die „Reinen“ und „Unreinen“ wie auch die collagehaften, jeglicher Entwicklungsfähigkeit beraubten dramatis personae selbst. In Anlehnung an die Improvisationskunst des mittelalterlichen Theaters ist „Misterija-buff“ als offenes Stück konzipiert, das der Kreativität und den Gegebenheiten des Augenblicks Spielraum belassen soll. Der aus dem bürgerlichen Trauerspiel vertraute Primat des Sprechtextes gegenüber der Handlung wird zugunsten einer offenen Spielkonzeption aufgegeben, die das Publikum gegenüber dem Text emanzipiert.28 Majakovskij schreibt dazu, bewußt oder unbewußt die leitmotivische Fließmetaphorik seines Stücks aufgreifend: „Die Revolution hat

348

Vladimir Majakovskij

alles eingeschmolzen, es gibt keine vollendeten Umrisse mehr, so kann es auch kein vollendetes Bühnenwerk geben. ‚Mysterium buffo‘ ist das Gerippe eines Stücks, sein Bewegungsschema – tagtäglich wird es von den Geschehnissen umwachsen, tagtäglich in die Bahn neuer Tatsachen gelenkt“ (359).29 Schon die Handlungsorte dokumentieren den allegorischen und phantasmagorischen Charakter von „Misterija-buff“: das Weltall, die Arche, Hölle und Paradies, schließlich das Gelobte Land. Das Geschehen transponiert die russischen Ereignisse der Entstehungszeit ins Globale: Die Erde wird von einer revolutionären Flut überschwemmt. Als Überlebende der Menschheit treffen sich am vorläufig verschont gebliebenen Nordpol sieben Paar „Reine“ – Feudalherrscher von Abessinien bis zur Türkei, ein russischer Spekulant, ein Pope, zeitgenössische Politiker wie Lloyd George oder Clemenceau – und sieben Paar namenloser „Unreiner“, das heißt: Proletarier vom Rotarmisten über einen Bergarbeiter bis hin zu einer Wäscherin, einer Näherin und – klassenindifferent – zwei Eskimos. Zwischen ihnen stehen der „Intelligenzler“ und ein „Versöhnler“, der opportunistisch und konfliktscheu zu vermitteln sucht. Als aus einem mühsam zugehaltenen Leck die Revolution plötzlich in Flammengestalt ausbricht, überreden die „Reinen“ die „Unreinen“ zum Bau einer Arche und begeben sich auf die Flucht. Die Seefahrt im zweiten Akt sieht die Arche als Mikrokosmos der Weltgeschichte. Verschiedene Regierungsformen lösen einander ab, bis die „Unreinen“ die Macht über die inzwischen aller Vorräte beraubte Arche ergreifen und die „Reinen“ außer dem Kaufherren, der sich in einer Kohlenkiste versteckt, ins Meer stürzen. Am Ende des Akts hält der „Mensch der Zukunft“ in expressionistischem Aufbruchspathos eine „neue Bergpredigt“ und verheißt sein „unhimmlisches Reich“. Über Masten und Rahen bahnen sich die ausgezehrten Proletarier voll neuer Zuversicht ihren Weg, geraten aber zunächst in die Hölle (dritter Akt), die jedoch im Vergleich zu den realen Schrecken der Weltgeschichte wie schon in „Igra v adu“ (Höllenspiel, 1912) von Majakovskijs futuristischen Weggefährten Chlebnikov und Kručenych harmlose Farce bleibt. Im Paradies (vierter Akt) begegnen die Wanderer ätherischen Engeln sowie holzschnittartig gezeichneten Predigern und Heiligen verschiedenster Couleur: Methusalem, dem in der orthodoxen Kirche besonders verehrten Johannes Chrysosthomos30, Jean-Jacques Rousseau und Tolstoj. Im fünften, nur in der zweiten Fassung vorhandenen Akt stoßen die „Unreinen“ in das Wunderland der Trümmer vor. Unschwer als das von Krieg und Bürgerkrieg verwüstete Rußland zu erkennen, hausen dort allegorische Figuren wie der alles verzehrende „Ruin“, nachdem sich noch auf dem Meer schon im zweiten Akt der „Hunger“ gezeigt hatte, aber auch die brachliegenden „Dinge“ und Instrumente der Zivilisation wie Lokomotive, Maschinen und Hobel, die teilweise überdeutlich symbolischen Charakter tragen (Hammer und Sichel, Brot und Salz). Nun bieten sie sich den „Unreinen“ willig dar, streben aus dem entfremdeten Dasein im Kapitalismus in die tätige Hand des befreiten Menschen, der auf der Lokomotive einer strahlenden Zukunft entgegenfährt. Mit der Intonierung der Internationale

„Misterija-buff“ (Mysterium buffo)

349

durch den Chor der „Unreinen“ schließt diese Kontrafaktur des klassischen Mysterienspiels in wahrhaft hymnischem Gestus. Ästhetischer Eklektizismus Wer sich mit solchem Pathos der Revolutionsreligion verschreibt, muß die alten Kultstätten um so unerbittlicher einäschern. Ein näherer Blick zeigt allerdings, daß Majakovskij seine Tempel wie die frühen Christen gerne an den Orten geschleifter Heiligtümer errichtet. Dabei erfährt der biblische Subtext ganz im Sinne von Heines bekannten Versen über das „Hier auf Erden schon“ zu errichtende Himmelreich eine konsequente Säkularisierung. Folglich bietet sich „Misterijabuff“ nicht als autonomes, allmählich sich entfaltendes Handlungsgefüge dar, sondern als Lehrstück, in dem die künstlerische Komposition gänzlich in den Bann der politischen Heilsbotschaft gerät. In diesem Sinne fordert Majakovskij in seiner Vorrede spätere Generationen auf, den Text jeweils an die politische Tagesaktualität anzupassen, stellt also die Handlungs- über die Textebene. Die damit einhergehende Absage an Individualpsychologie belegt eine Regieanweisung für die erste Fassung (170), als der mit den „Reliquien“ des „alten“ – mimetischen – Theaters bemalte Vorhang symbolisch aufgezogen, das heißt zum Verschwinden gebracht wird. In der zweiten Fassung transferiert Majakovskij diese Idee vom Requisit in Sprache, wenn es im Prolog des „Unreinen“ heißt: „Der Guckkasten ist bloß / des Vergnügens / ein Drittel“ (247).31 Mit einem deutlichen Seitenhieb auf Čechovs handlungsarme, sich aus der Innenperspektive entfaltende Dramaturgie verhöhnt der Unreine ein Publikum, das bislang dazu verurteilt war, „Onkel Vanja näselnd konversieren“ zu hören: „Sitz still und schau zu, / wie hochentwikkelt / ein fremdes Leben / im Stück sich zerstückelt“ (248).32 Der Vergleich mit früheren Texten Majakovskijs zeigt die programmatische Ambivalenz von „Misterija-buff“, spiegelt das Stück doch einen poetologischen Umbruchsprozeß, der fast zwangsläufig in einer eklektizistischen Komposition mündet. So hatte Majakovskij noch 1914 in seinem Essay „Dva Čechova“ (Zwei Čechovs) versucht, Čechov behutsam für die Avantgarde zu vereinnahmen, indem er dem Klassiker quasifuturistische Einsichten unterschob: „Nicht die Idee gebiert das Wort, sondern das Wort die Idee.“33 Ähnlich zwiespältig gestaltet sich Majakovskijs Verhältnis zum Symbolismus. Die Forschung, namentlich Rolf-Dieter Kluge, hat beizeiten nachgewiesen, wie intensiv sich der Autor von der anti-illusionistischen Dramatik bis hin zur Mythenschöpfung künstlerischer Verfahren des Symbolismus bediente, gegen die er gleichzeitig theoretisch zu Felde zog.34 Analog gestaltet sich das Verhältnis von Form und Inhalt. Jenseits aller Ideologie lassen sich immer noch modernistische Prinzipien wie der Primat des Wortes (des Klangs) gegenüber der Idee (dem Sinn) beobachten, wie sie etwa auch Kandinsky postulierte. So motiviert Majakovskij die zu gleichen Teilen den Urelementen Wasser und Feuer entsprungene und sich im Archisem des Fließens bzw. Schmelzens offenbarende Revolution durch eine paronomastische Beziehung.35 Im Monolog des

350

Vladimir Majakovskij

Studenten, den in der Zweitfassung der Intelligenzler unverändert wiedergibt, heißt es: „Dann […] / ergossen sich Gassen / auf schmelzende Häusermassen. / Das Welten-All – / in Hochöfen der Revolution zerlassen, / stürzt hin, ein gigantischer Wasserfall“ (263 f.).36 Die konstitutierende Lautfolge „goss / gass / mass / lass / wass“ (im russischen Original l’ets / lic / l’juts / ljuc / l’ets)37 entspricht exakt dem von Chlebnikov begründeten Verfahren der sogenannten „inneren Flexion“. Auf anagrammatischen Assoziationen beruht der im Stück hergestellte Sinnzusammenhang von „topot“ (Gestampf) und „potop“ (Überflutung, Sintflut). Darüber hinaus sind beides palindromische Lexeme, mit denen die Futuristen gleichfalls ausgiebig experimentierten. Eine Übersetzung kann dem kaum gerecht werden: „Der Franzose: Hört ihr nicht? / Die stampfenden Schritte […] Die Sintflut! die Sintflut! die Sintflut.“38 Im Original: Slyšite topot? / […] / Potop! potopom! potopu! o potope! potopa!“ (256). Majakovskij war dieses Lautspiel so wichtig, daß er es für die Zweitfassung sogar in den Prolog übernahm.39 Der Autor zitiert sich hier selbst, wandte er diese Paronomasie doch erstmals in seiner vom 17. April 1917 datierten „Poetochronik“„Die Revolution“ an, also kurz vor dem Beginn der Arbeit an „Misterija-buff“, wobei zusätzlich noch eine Beziehung zwischen „tolpy“ (Massen) und „topot“ hergestellt wird.40 Die Anleihen bei Volkstheater und Mysterienspiel spiegeln sich auch in der Sprache des Stücks. Der bekannte komische Kunstgriff des Wörtlichnehmens von Metaphern erzeugt eine mitunter burleske Komik41, wie überhaupt die „Unreinen“ als Träger des Fortschrittsgedankens in ihren Bedürfnissen und Zielen seltsam materialistisch bleiben. Mag Majakovskij dies in seinem manichäischen Leib-Seele-Dualismus vielleicht als Ausweis eines proletarischen élan vital aufgefaßt haben, so taugt diese naive Primitivität kaum für einen zukünftigen Helden des Sozialistischen Realismus. Dies muß auch Majakovskij so empfunden haben, fehlen doch die krudesten Passagen in der zweiten Fassung, etwa „Wir sind das Himmelsnaschwerk satt / Gebt uns einen Riesenroggenlaib zu fressen / Wir sind die papiernen Leidenschaften satt / laßt uns mit einer lebendigen Frau leben!“ (170). Die unbarmherzige Bergpredigt der Revolution Die instinktiv handelnde Gruppe der „Unreinen“ zeigt sich alsbald unfähig, eine konstruktive, über den Moment hinausweisende Handlungsperspektive zu entwickeln: Die Masse bedarf des Sehers, des Visionärs und Führers. Ihre Triebkraft speist sich wie in Leonid Andreevs allegorischem, damals noch von der Zensur verbotenem Drama „Car’ Golod“ (Zar Hunger, 1907) aus elementarem Nahrungsmangel, der sich personifiziert des Schiffs zu bemächtigen droht. Nach dem kollektiven Mord an den „Reinen“ („Der Landarbeiter: Dem Terror freie Bahn!“, 291)42 droht rasch Panik: „Der Jäger: Die Arche knarrt. / Der Kraftfahrer: Keinen Kompaß zur Hand. / Alle: Zerrüttung… Ruin… Verfall…“ (292).43

„Misterija-buff“ (Mysterium buffo)

351

Die Peripetie, die dem diffusen Aufbruchswillen der Unreinen eine konkrete Zielsetzung als „Umkehrungsmasse“ im Sinne Canettis verschafft, führt am Ende des zweiten Akts der „Mensch der Zukunft“ herbei, der christusgleich über das Wasser wandelt, ehe er mit seiner ausdrücklich „neue Bergpredigt“ genannten Rede auf dem sofort verstummenden Schiffsdeck erscheint. Sie leitet den Umschwung vom Thesenstück zum Stationendrama ein. Mit dem dritten Akt geht „Misterijabuff“ in eine Bilderfolge über, die den als märchenhafte Odyssee gestalteten Zug der Proletarier ins Gelobte Land illustriert. Die Gegenüberstellung der „Bergpredigten“ in beiden Textfassungen veranschaulicht die poetologische und politische Neuorientierung Majakovskijs in den drei Jahren zwischen der Uraufführung und der für die spätere sowjetische Aufführungspraxis kanonischen Bearbeitung. Die Urvariante stellt den Künder des Aufbruchs noch ganz im Sinne des Futurismus als ungebärdige Variation des Übermenschentums auf die Bühne, schwelgt in der aus Majakovskijs wie aus Chlebnikovs Frühwerk bekannten – Natur, Technik und Geist, Belebtes und Unbelebtes zu einer Einheit verschmelzenden – Metaphorik, wie sie auch für den deutschen Expressionismus charakteristisch ist: „Wer ich bin? / Ich bin der Holzfäller / des Urwalds / aus den von Lianen der Buchgelehrten / umschlungenen Gedanken, / bin der menschlichen Seelen kunstfertiger Schlosser, / der Steinmetz der Herzen der Pflastersteine. / Im Wasser gehe ich nicht unter / und brenne nicht im Feuer / ich bin der unbeugsame Geist der ewigen Rebellion“ (211). Beinahe karg und konventionell, dafür aber ganz den ins Visionäre gesteigerten Prinzipien des sozialistischen Internationalismus verpflichtet, mutet seine Selbstcharakterisierung in der zweiten Fassung an: „Wer ich bin? / Keine Klasse, / keine Nation, / kein Stamm. / Ich sah das dreißigste, / das vierzigste Jahrhundert. / Mich trug des Jahrtausends Wellenkamm. / Bin ein Morgiger, einfach und unbewundert, / den Beschwernisse heutiger Dinge rühren, / und ich kam, eurer Seelen Herdfeuer zu schüren“ (297).44 Das Christentum konterkarierend ist diese Bergpredigt aber auch in ihrem unbedingten Vernichtungswillen, der nicht nur Majakovskijs Zeitgenossen in der Emigration wie Ivan Bunin oder Vladislav Chodasevič zutiefst verstörte: „Zu mir – / wer den Feind niederstreckte persönlich / und seinen Leichnam verließ mit Gesang! / Gib keinen Pardon, / bleib unversöhnlich! / In meinem unhimmlischen Reich / hast du Ruhm und Rang“ (298 f.).45 Vielleicht liegt in dieser Gewaltrhetorik der Grund, warum die Forschung bis heute an den Parallelen zum Menschheitspathos des deutschen Expressionismus vorbeigegangen ist, namentlich im Dramenwerk Ludwig Rubiners und Ernst Tollers, der in der frühen Sowjetunion zu einiger Popularität gelangte. Als habe Majakovskij Gustav Landauer, einen der wichtigsten Impulsgeber des politischen Expressionismus, gelesen, hatte er im März 1918 zusammen mit David Burljuk und Vasilij Kamenskij in „Manifest Letučej Federacii Futuristov“ (Manifest der fliegenden Föderation der Futuristen) eine „dritte Revolution des Geistes“ ausgerufen, die in völliger Verkennung der bolschewistischen Machtergreifung auf einer „Trennung von Staat und Kunst“ beruhen sollte.46 Auch diese „Geist“-Rhetorik

352

Vladimir Majakovskij

erinnert in ihrem schwärmerischen Voluntarismus an Gustav Landauer, der sowohl Ernst Toller als auch Ludwig Rubiner unmittelbar beeinflußte: „[…] ein Volk schließt sich zusammen, das Volk erwacht; es geschehen Taten, es geschieht ein Tun; vermeintliche Hindernisse werden als ein Nichts erkannt, über das man hinwegspringt.“47 In der ersten wie in der zweiten Fassung verkörpert der „Mensch der Zukunft“ diesen „Geist von Sinnen“, der mit Ausnahme der Gewaltfrage auch auf Rubiners Menschheitsarche in dessen Drama „Die Gewaltlosen“ (1919) hätte predigen können. Die Lichtgestalt des „Menschen der Zukunft“ ist darüber hinaus nicht nur emanzipatorischer Gegenentwurf zu Andreevs düsterem Stationendrama „Žizn’ čeloveka“ (Das Leben des Menschen, 1907), einem der bedeutendsten Theaterereignisse der Vorkriegszeit, sondern auch vorläufiger Abschluß literarischer Selbstfindung. Bei der Uraufführung 1918 übernahm Majakovskij nicht zufällig die Rolle des damals noch „einfach ein Mensch“ genannten Künders der Zukunft, ist die Bühnenfigur doch eine Weiterentwicklung seiner selbst auch im dramaturgischen Sinne. 1913 hatte er in dem Autodrama „Vladimir Majakovskij“ in der Titelrolle auf der Bühne gestanden und seine unerfüllte Sehnsucht nach fremdgeprägter Sinnerfüllung artikuliert: „Gnädige Herrschaften! / stopfen Sie mir bitte die Seele, / weil sonst die Leere unversehens entquillt.“48 Die Dramenfigur Majakovskij, „vielleicht / der letzte Poet“49, verabschiedet sich, nachdem er die Tränen der Menschen in einem Koffer gesammelt hat. Diese Melancholie überwindet in „Misterija-buff“ der Rausch der kollektiv erlebten, die Individuen zu einer homogenen Masse vereinigende Revolution, die damit neben ihrer politischen auch eine existentielle Funktion im Sinne der Vermittlung erfüllten Daseins erhält. Noch offenkundiger wird diese Funktion im Vergleich zu dem in Selbststilisierung und antireligiösem Gestus ungleich aggressiveren Poem „Oblako v štanach“ (Wolke in Hosen, 1915/18). Die ideologische Straffung erfaßt auch den vor allem seit dem Kronstädter Aufstand im März 1921 zunehmend suspekten, weil anarchistisch angehauchten Begriff der „Rebellion“ (bunt), der in der russischen Literatur spätestens seit Dostoevskij zudem metaphysisch konnotiert ist.50 In der Urfassung prangt er noch gleichberechtigt neben der „Revolution“ („Wir rühmen / der Aufstände / Rebellionen / Revolutionen / Tag“, 169), ist jedoch in der Fassung letzter Hand vollständig aus dem Text eliminiert. Mit dem Aufrührer bzw. Rebellen hatte Majakovskij ursprünglich das in der damaligen literarischen Diskussion mit Kreativität assoziierte luziferische Element aktiviert, wie es zur selben Zeit noch einmal Zamjatins „Mephi“ in dem Roman „My“ (Wir, 1920) repräsentieren.51 Diese nehmen hier aber schon subversive Bedeutung an, was Sergej Ėjzenstejn nicht hinderte, 1919 eine Inszenierung für das Moskauer ProletkultStudio (!) ins Auge zu fassen.52 Der dritte, in der Hölle spielende Aufzug greift bei der Beschreibung Beelzebubs und seiner Schar andere Traditionen auf, zuvörderst die Karnevalisierung des Bösen, wie sie 1912 Chlebnikovs und Kručenychs später für die Bühne adaptiertes Poem „Igra v adu“ realisierte, dessen

„Misterija-buff“ (Mysterium buffo)

353

zweite Ausgabe 1914 unter anderem Malevič illustriert hatte, der für das Bühnenbild der „Misterija-buff“-Uraufführung von 1918 verantwortlich zeichnete. Dantes Schreckensbilder jedenfalls gehören der Vergangenheit an: Ähnlich wie in Leonid Andreevs letztem Werk „Dnevnik Satany“ (Tagebuch des Satans, 1919) erschauert Majakovskijs Höllenschar angesichts der Verworfenheit der Menschen. Ähnlich burlesk erfolgt im vierten Akt der Sturz Gottes, des „Herrn Zebaoth“, der zornig aber hilflos „sein Bündel Blitze schwingt, aber nicht in Gang setzt“. Der Maschinist verkündet in prometheischem Utilitarismus: „Man muß dem Herrgott / das Blitzzeug entreißen. / Her damit! / Kein übles Gerät / zum Elektroschweißen. / Sonst – / vergeudete Elektrizität, / ins Leere verpufft!“. Gott weiß all dem nur ein kummervolles „Ich bin gerupft! / Um mich nur Luft!“ entgegenzuhalten, woraufhin Methusalem „den Laden dichtmacht“, die Unreinen das Paradies vollends niederreißen und mit gezückten Blitzen in höhere Sphären aufsteigen (327).53 Vom futuristischen „Aufstand der Dinge“ zu ihrer Befreiung: Majakovskijs Neues Jerusalem Ein weiteres futuristisches Motiv, das über „Misterija-buff“ hinaus den ästhetischen Diskurs der gesamten russischen Avantgarde bis zu ihrem erzwungenen Verstummen zu Beginn der dreißiger Jahre prägt54, ist im letzten Akt die Befreiung der Dinge von ihrem Gebrauchswert, die auch sie zur revolutionären Emanzipation bringt. Chlebnikov hatte 1909 das ursprünglich aus der Theorie des Kubismus stammende Motiv des „Aufstands der Dinge“ in seinem Poem „Žuravl’“ (Der Kranich) erstmals dichterisch gestaltet. In dem Drama „Vladimir Majakovskij“, das den Arbeitstitel „Aufstand der Dinge“ trug, weigern sich die Dinge, weiter im Dienst der Menschen zu bleiben55, im „Mysterium“ feiern sie ihre Emanzipation im Dienst des Proletariats: „Nun, freigekämpft vom Frondruck der Nobeln, / wolln wir euch Nützliches hämmern und hobeln“ (350).56 Von solcher Euphorie angesteckt, folgen die Speisen, viel zu lange Privileg der Mächtigen, ihrem Vorbild: „Und lecker Gesalzenes und Gesüßtes / wurden euch untertan: / nehmt und genießt es!“ (350).57 All dies ist im „Gelobten Land“ möglich, dem Neuen Jerusalem einer postrevolutionären Welt: Majakovskij zitiert die Vision des Johannes, eine merkwürdigerweise unbemerkt gebliebene Bibelallusion, angefangen vom gleißenden Licht (hier ganz irdisch der Elektrizität) des „kristallklaren Jaspis“ bis hin zu den „zum Himmelsgewölbe hochgetürmt[en]“ Fabriken und Wohnhäusern. Dafür bemüht Majakovskij sogar noch einmal die Illusionsbühne, die sich wie die Königstüren einer Ikonostase öffnet: „Die große Pforte geht zweiflügelig weit auf und erschließt den Anblick der Stadt“ (346).58 Angeführt von Hammer und Sichel treten die besten Dinge mit Brot und Salz als gleichfalls allegorischen Figuren auf die faszinierten, wie gebannt dastehenden „Unreinen“ zu. Der 1924 über Italien nach Frankreich emigrierte Jurij Annenkov, Bühnenbildner der Uraufführung von „Misterija-buff“, berichtet in seinen Erinnerungen

354

Vladimir Majakovskij

von einem letzten Gespräch mit Majakovskij 1929 in Nizza, als dieser verzweifelt bekannte, kein Dichter, sondern nurmehr Staatsbeamter zu sein.59 Im selben Jahr verfaßte Majakovskij „Vo ves’ golos“ (Mit aller Stimmkraft), einen dichterischen Rechenschaftsbericht für die Nachkommen und „verehrten Genossen Enkel“, in dem er bekannte, „bebenden Hauchs / dem eigenen Lied / auf die Kehle“60 getreten zu sein. Wenige Wochen später setzte er seinem Leben in Moskau ein Ende. In seiner tragischen Radikalität ist Majakovskijs Schicksal paradigmatisch für das genialische Aufbegehren der europäischen Avantgarde, deren Vertreter sich zuerst in der UdSSR und bald überall in Europa im Glauben an eine künstlerische Gestaltbarkeit der Welt „umstellten, anpaßten oder ihre Kunst freiwillig in den Dienst der Macht stellten“61. Mit dem ästhetisch wie politisch gleichermaßen revolutionären Drama „Misterija-buff“ beginnt eine kurze, in ihrer kreativen Wucht auf das gesamte Jahrhundert ausstrahlende Blütezeit des Avantgardetheaters, zugleich aber auch jene tragische Symbiose von Macht und Moderne, die ihre Schöpfer oftmals mit in den Abgrund riß. Majakovskijs Überzeugung, seine Verse würden dereinst zum hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution erklingen, werden sich vielleicht nicht bewahrheiten, doch glücklicherweise liegt die Bedeutung seines Werks nicht in dessen politischer Panegyrik.

Nikolaus Katzer

Michail Bulgakov: Dni Turbinych (Die Tage der Turbins) Michail Bulgakov gehörte bis zum weitgehenden Aufführungsverbot Mitte der dreißiger Jahre für etwa eine Dekade zu den meistgespielten und populärsten Bühnenautoren der Sowjetunion. Seine bis heute ungebrochene Berühmtheit erlangte er indessen erst durch die posthume Publikation des Romans „Master i Margarita“ (Der Meister und Margarita, 1966/67) und die Wiederentdeckung satirischer Erzählungen und Feuilletons über das widersprüchliche städtische Leben unter der 1921 eingeführten Neuen Ökonomischen Politik. Die Bühnenstücke durften zu Lebzeiten des Autors nicht gedruckt werden. Somit blieb die Rezeption des Dramatikers auf das Theatererlebnis und die literaturkritisch-politische Debatte der Zeitgenossen beschränkt. Leseerfahrung und wissenschaftliche Vertiefung setzten erst mit der Veröffentlichung der Texte seit den fünfziger Jahren ein, waren also den nachwachsenden Generationen vorbehalten. Die Texte und die Neuinszenierungen der Stücke in der nachstalinistischen Sowjetunion und im postsowjetischen Rußland führten und führen zurück in eine abgeschlossene, untergegangene und „fremde“ Epoche russischer Bühnenkunst. Der Bühnenfassung von „Dni Turbinych“, einem historischen Drama über den Bürgerkrieg, liegt ursprünglich der Roman „Belaja gvardija“ (Die weiße Garde) zugrunde. Wegen ihrer komplexen Entstehungs- und Wirkungsgeschichte ist sie ein Schlüsselbeispiel für den schwierigen Umgang mit Bulgakovs dramatischem Schaffen. Textgeschichte: Vom Roman zum Bühnenstück Während seines Dienstes als Militärarzt bei der weißen Freiwilligenarmee unternahm Bulgakov erste Schritte, selbstverfaßte Texte am Provinztheater von Vladikavkaz zu inszenieren.1 Nach dem Bürgerkrieg widmete er sich den Kleinformen der Prosa und der Arbeit an „Belaja gvardija“, dem ersten Band einer geplanten Romantrilogie über das Problem von Krieg und Frieden im Zeitalter der Revolution, von dem 1925 nur Teile in einer Moskauer Zeitschrift veröffentlicht werden konnten.2 Die Handlung des autobiographisch inspirierten Romans spielt im Kiev der Jahreswende 1918/19 und konzentriert sich auf die Geschwister Turbin – den Mediziner und späteren Militärarzt Aleksej, den kriegsfreiwilligen Junker Nikolka und Elena, die Gattin des baltischen Oberst Tal’berg. Das Scheitern der konservativ-liberalen intelligencija mit ihren traditionellen Wertvorstellungen und patriotischen Überzeugungen ist eingebettet in die Wirren des Bürgerkriegs in der Ukraine. Es findet seine äußere Entsprechung im Fall der Stadt Kiev. Die Turbins und einige weitere Figuren vertreten die „Weißen“, ein Bündnis unterschiedlicher, russisch dominierter politischer und militärischer Kräfte, das an mehreren Fronten des untergegangenen Russischen Reiches gegen die im Zentrum herrschenden

356

Michail Bulgakov

Bolschewiki kämpfte. In Kiev wie andernorts trat die lose Koalition als Wahrer der Reichseinheit auf. Sie sah sich deshalb regionalen und nationalen Widerstandsgruppen ausgesetzt, die – neben dem Kampf gegen den Hauptgegner, die Rote Armee – die weißen Armeen in zahlreiche Nebenkriege verwickelten. Motive, Figuren und Zitate des Romans verweisen auf kontextuelle Verbindungen zur klassischen Literatur, namentlich auf Tolstoj3 und Dostoevskij. Vom herkömmlichen Familienroman ist „Belaja gvardija“ durch Elemente moderner Montagetechnik (Fragmentierung der Wirklichkeit), den Wechsel von realistischen, grotesken und phantastischen Sequenzen, die Mischung von Sprachen (Russisch und Ukrainisch) und Stilebenen sowie die auktoriale ironische Distanzierung in den geschichtsphilosophischen Passagen abgesetzt.4 Im Frühjahr 1925 trat das von Stanislavskij gegründete und geführte Moskauer Künstlertheater (MChAT) mit dem Vorschlag an Bulgakov heran, den Roman für die Bühne zu bearbeiten.5 Es begann jene intensive Schaffensperiode, in der undurchschaubare literaturpolitische Entscheidungen, demütigende Aufführungsverbote und Rufmordkampagnen der sowjetischen Presse den Erfolg beim Theaterpublikum überschatteten. Die erste dramatisierte Fassung des Romans, entstanden zwischen Juli und September 1925, durfte nicht aufgeführt werden, und Bulgakov mußte den Text noch zweimal, zwischen Oktober 1925 und Januar 1926 bzw. August bis Oktober 1926, erheblich überarbeiten.6 Nicht immer läßt sich feststellen, auf wen die Änderungen im einzelnen zurückgehen. Die Theaterleitung machte vornehmlich bühnentechnische, die Zensurbehörde bzw. das zuständige Haupt-Repertoire-Komitee (Glavrepertkom) ideologische und politische Vorbehalte geltend. Schließlich revidierte Bulgakov im Zuge der Lesungen und Proben aus freien Stücken Teile des Textes. Die dritte und letzte Fassung, die am 5. Oktober 1926 am Künstlertheater Premiere hatte, trug den neuen, vom Autor nur widerwillig akzeptierten Titel „Dni Turbinych“.7 Sie war von ursprünglich fünf auf vier Akte gekürzt worden. Die epischen Elemente der ersten Fassung verschwanden. Ebenso wurde das Ensemble der tragenden Figuren reduziert. So verschmolzen bereits in der zweiten Fassung drei Gestalten – der autobiographisch motivierte Arzt Aleksej Turbin, der heroische Weißgardist Naj-Turs und der angesichts der Übermacht des Gegners und des Verrats in den eigenen Reihen umsichtig agierende Offizier Malyšev – zu einer neuen Hauptfigur, dem Obersten Aleksej Turbin. Er war also mit dem gleichnamigen Vorbild aus Roman und erster Dramenfassung nicht mehr identisch. Auf der inhaltlichen und symbolischen Ebene erfuhr das Stück in der dritten Fassung einen stark veränderten Zuschnitt. Das prophetische, apokalyptische Element, das auf Dostoevskijs Romane „Besy“ (Die Dämonen, 1871/72) und „Brat’ja Karamazovy“ (Die Brüder Karamazov, 1879/80) verwies und sich in Albträumen und historischen Visionen manifestierte, ging weitgehend verloren. Statt der Auseinandersetzung mit Dostoevskijs Motiv des russischen Bauern als „Gottesträger“ findet sich nur noch eine ironische Replik auf „die lieben Bäuerlein“, die „Graf Lev Tolstoj so schön beschrieben hat“ (308). Ebenso wurde die

„Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins)

357

historische Konkretisierung des Dämonischen und des Gewaltproblems im Trockij-Motiv, das in der ersten und zweiten Fassung die Anspielungen auf Dostoevskij teilweise aufnahm, vollständig getilgt.8 Als Leitmotiv des Geschehens – insbesondere bei der Gestaltung der Hauptfigur und des Schlusses – trat nun die Einsicht in die Ausweglosigkeit des weißen Widerstands bzw. in die Unvermeidlichkeit des Siegs der Roten Armee deutlich hervor. Der Erfolg beim Publikum war dennoch überwältigend. Er wurde durch ein dreijähriges Aufführungsverbot nach 1929 lediglich unterbrochen, lebte aber nach 1932 mit unverminderter Stärke wieder auf. Das Stück brachte es zwischen 1926 und 1941 auf annähernd tausend Darbietungen des Künstlertheaters, der einzigen Bühne, für die es in der Sowjetunion zugelassen worden war. Offensichtlich hatte Bulgakov einen Nerv beim Publikum getroffen. Das aktuelle Bürgerkriegsthema wurde trotz der Eingriffe in den ursprünglichen Text noch immer, wenngleich differenzierter aus der Perspektive der Hauptgegner der Bolschewiki behandelt. In der kontroversen kulturpolitischen und historiographischen Debatte Mitte der zwanziger Jahre war dies ein Signal, das die Aufmerksamkeit, wenn nicht die Identifikation von unterschiedlichen Seiten auf sich zog. Die Weigerung, „Dni Turbinych“ auf äußeren Druck „neu zu schreiben“ (Brief an einen leitenden Mitarbeiter des Künstlertheaters vom 15. Oktober 1925), bewahrte Bulgakov nicht vor substantiellen Zugeständnissen. Ansonsten hätte er das Stück tatsächlich ganz zurückziehen müssen. Rückblickend identifizierte er sich insofern mit der Bühnenfassung, als sie seinem Anspruch, „leidenschaftslos über den Roten und den Weißen zu stehen“ (Brief an die sowjetische Regierung vom 28. März 1930), keineswegs widersprach. Dennoch ist unzweifelhaft, daß mit „Dni Turbinych“ ein ganz selbständiges Werk entstanden war, das sich nicht in der Bühnenfassung eines Prosawerks erschöpfte. Von der Literaturkritik wie von „offizieller“ Seite wurde Bulgakov dennoch in ähnlicher Schärfe wie nach der Teilveröffentlichung des Romans „Belaja gvardija“ der „Apologie der Weißen“ und einer „konterrevolutionären“ Einstellung bezichtigt. Folgte man dieser Polemik, so entstünde der absurde Eindruck, als sei das überwältigende Ereignis der Theatersaison auf allgemeine Ablehnung beim Publikum gestoßen.9 Die Textgenese vom Roman „Belaja gvardija“ zum Drama „Dni Turbinych“ legt indessen nahe, von einem selbständigen Stück und nicht von der Bühnenbearbeitung eines Prosawerks zu sprechen. Bürgerkrieg als Familiengeschichte: Die Handlung Das Stück handelt von einer kurzen Phase im Leben der drei Geschwister Aleksej, Elena und Nikolka (Nikolaj) Turbin während des russischen Bürgerkriegs Ende 1918/Anfang 1919. Schauplatz des Geschehens ist Kiev, die Hauptstadt der Ukraine, zu einer Zeit, als unter chaotischen Umständen mehrere Regierungen einander abwechseln. Aus diesem historischen Kontext treten – in thematischer und zeitlicher Raffung – drei Interessengruppen in den Horizont der Hauptfiguren aus dem Lager der Weißen: die im Januar 1918 ausgerufene unabhängige Ukraine, die seit

358

Michail Bulgakov

April unter dem Protektorat der Mittelmächte von Hetman Skoropads’kyj regiert wurde und gegen die Bolschewiki kämpfte; die nationalistische Opposition, die im November 1918 unter Petljura zum Aufstand gegen dieses Marionettenregime überging; die Rote Armee, die am 4. Februar 1919 Petljuras Herrschaft in Kiev ein vorläufiges Ende setzte.10 Der erste und der vierte Akt spielen ausschließlich in der Wohnung der Turbins und stellen eine Symmetrie zwischen Anfang und Ende des Stücks her. Die private Sphäre rahmt auf diese Weise die in drei Szenen des zweiten und dritten Akts konzentrierten militärischen Ereignisse ein. Das äußere historische Geschehen in den beiden mittleren Akten ist mit der privaten Handlungsebene durch Auftritte derselben Akteure miteinander verwoben. Es erschließt sich dem Zuschauer darüber hinaus mosaikartig aus den Gesprächen und Berichten der Figuren. Das Stück gewinnt seine Dramatik aus einer Mischung von statischen und dynamischen Szenen. Dialog- und Gruppenauftritte im privaten wie im öffentlichen Raum wechseln einander in rascher Folge ab. In den beiden „Bildern“ des ersten Akts werden alle handlungstragenden Figuren eingeführt. Aleksej, Elena und Nikolka Turbin halten sich in der gemeinsamen Wohnung auf, als nacheinander zwei unangemeldete Gäste eintreffen: der Stabshauptmann Myšlaevskij, ein Freund des Hauses, der seinen Heimweg vom Dienst in bitterer Kälte unterbricht, und der Cousin Lariosik (Larion), den seine Mutter aus der Provinzstadt Žitomir schickt, um die Verwandten zu bitten, ihn während des geplanten Studiums aufzunehmen. Erst danach trifft der längst erwartete Ehemann Elenas, Oberst im Generalstab Tal’berg, ein, um seine Flucht mit den abziehenden deutschen Truppen nach Berlin mitzuteilen und sich hastig wieder zu entfernen (I, 1). Zwei weitere Offiziere, der Oberleutnant und persönliche Adjutant des Hetman Šervinskij und der Hauptmann Studzinskij, stoßen hinzu, als der Tisch zum Abendessen gedeckt ist (I, 2). Die beiden „Bilder“ des zweiten und das erste „Bild“ des dritten Akts wechseln in die Außenräume der Handlung. Bei seiner Ankunft im Arbeitszimmer des Hetman-Palasts entdeckt Šervinskij zunächst die Desertion des Diensthabenden, eines Fürsten Novosil’cev. Dann beobachtet er das Hilfsersuchen des Hetman an zwei deutsche Offiziere, die ihm zur Flucht in deutscher Uniform verhelfen (II, 1). Im Lager der aufständischen Petljura-Gefolgsleute verhört unterdessen Oberst Bolbotun unangemessen hart einen Soldaten, der wegen Erfrierungen seine Abteilung verlassen und ein Lazarett gesucht hatte, und einen Zivilisten (Schuster), den Wachleute auf dem Weg in die Stadt aufgegriffen hatten (II, 2). Die unmittelbar folgende Szene, die die Folterung und Tötung eines Juden zeigt, mußte Bulgakov kurz vor der Premiere streichen.11 Am Ende des zweiten Akts kündigt sich die Erstürmung Kievs durch die Aufständischen an. Der dritte Akt zeigt das Quartier der von Aleksej geführten Abteilung im Kiever Alexander-Gymnasium. Nach seinem Befehl, die Einheit in Kenntnis der aussichtslosen Lage aufzulösen, muß Aleksej die aufgebrachten, Verrat witternden Soldaten beruhigen. Nachdem alle hastig das Gebäude verlassen haben, wartet Aleksej auf seine untergebenen Wachsoldaten. Gegen seinen

„Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins)

359

Willen bleibt auch Nikolka vor Ort. Beim Versuch, den eingetroffenen eigenen Leuten Rückendeckung zu geben, wird Aleksej von den nachrückenden Männern Petljuras getötet. Nikolka kann schwer verletzt entkommen (III, 1). Im dritten Akt kehrt die Handlung in die Wohnung der Turbins zurück, in der nur Elena und Lariosik verblieben waren. Nacheinander treffen zunächst Šervinskij und dann Myšlaevskij mit Studzinskij ein. Als der verwundete Nikolka allein erscheint, ahnen alle, daß Aleksej etwas zugestoßen sein muß. Schluß und Höhepunkt der Szene bildet Nikolkas alle Zweifel beseitigender Satz: „Sie haben den Kommandeur getötet…“ (368). Im einzigen „Bild“ des vierten Akts schmükken Elena und Lariosik den Baum für das russische Weihnachtsfest (Epiphanie bzw. Tauffest Christi). Die äußeren Verhältnisse haben sich erneut verändert. Jenseits der Bühne müssen die Truppen Petljuras die Stadt wieder räumen, und Verbände der Roten Armee ziehen unter den Klängen der Internationale ein. Šervinskij berichtet davon, Aussicht auf eine Anstellung als Opernsänger zu haben. Er wird der Armee endgültig den Rücken kehren. Elena gibt seinem Werben nach, nimmt seinen Heiratsantrag an und weist ihrem plötzlich auftauchenden Mann die Tür. Myšlaevskij überlegt, sich von den Bolschewiki mobilisieren zu lassen. Studzinskij hingegen lehnt einen Seitenwechsel ab, weil er den Bolschewiki vorwirft, „Rußland erledigt“ zu haben (377). Nikolkas Ansicht, der Einmarsch der Roten Armee sei „der große Prolog zu einem neuen historischen Stück“ kontert Studzinskij mit der Replik, dem Schlußsatz des Stücks: „Für den einen ein Prolog, für den anderen ein Epilog“ (383). Figurenkonstellation und Figurendarstellung Im Vergleich zur zweiten Fassung haben die militärischen Figuren in der dritten, der Bühnenfassung ein noch deutlicheres Übergewicht. Sie sind drei Gruppen zugeordnet: Um die Turbin-Brüder scharen sich Kombattanten, die ein über den Militärdienst hinausweisendes Band von Überzeugungen und Wertvorstellungen zusammenhält. Als sich die äußeren Ereignisse zuspitzen, bleibt der gegenseitige Respekt trotz aufbrechender weltanschaulicher Dissonanzen erhalten. Nüchtern wägen die in Kiev unterlegenen weißen Offiziere untereinander die verbliebenen Optionen ab – Dienst bei der einrückenden Roten Armee oder Wechsel zu den Truppen Denikins in Rostov am Don (IV). Wofür sich der einzelne letztlich entscheidet, hängt mehr von der individuellen Prädisposition und einer differenzierten Einschätzung der Lage ab als von unüberbrückbaren politischen Gegensätzen, die in den Dialogen schlagwortartig als Reichspatriotismus, Monarchismus und Konservatismus angedeutet werden. Insofern liegt die Tragik darin, daß diese ideelle Gemeinschaft letztlich an Umständen scheitert, die unabänderlich sind und eher pragmatisch-politische als ethische Entscheidungen erzwingen. Die weißen Offiziere sind von der zweiten Gruppe, den Anhängern und Untergebenen des Hetman, klar unterschieden, obwohl sie formal in gemeinsamer Front gegen die Rote Armee stehen. Statt Edelmut, Freundschaft und Pflichtbewußtsein herrschen hier Feigheit und Verrat. Unter den gemeinen Soldaten sind Leichtgläubigkeit,

360

Michail Bulgakov

blinder Gehorsam und ein primitiver Patriotismus verbreitet (II, 1; III, 1). Die Gruppe der Petljura-„Banditen“ bildet eine wenig differenzierte, unverwechselbare, furchterregende und verschworene Einheit (II, 2). Von den siebenundzwanzig Figuren des Stücks bleibt nahezu die Hälfte anonym: drei Offiziere, drei Junker, ein kosakischer Deserteur, ein Mann mit Korb (Schuster), ein Kammerdiener (Lakai), ein deutscher Arzt, ein ukrainischer Kosak als Telefonist. Andere wie die beiden namentlich genannten hochrangigen deutschen Offiziere von Schratt und von Dust sowie der Pedell des Gymnasiums verknüpfen stark typisierte Rollen. Diese Figuren erfüllen wichtige Funktionen bei der szenischen Konstruktion unterschiedlicher Facetten des Bürgerkriegs. Ihre Sprache, ihr Akzent und ihre Wortwahl, aber auch äußere Merkmale wie Uniformdetails oder der lockere Umgang mit der Waffe verweisen auf ethnisch-nationale, politische und ideologische Konflikte. Ihre meist nur einmaligen Auftritte in der Hetman-Szene oder im Petljura-Lager unterstreichen die Flüchtigkeit des historischen Moments und die Austauschbarkeit der Akteure. Die tragenden Figuren bilden ein eindrucksvolles Ensemble klar unterscheidbarer Typen ohne eine alle überragende Hauptfigur. Sie werden durch eigene Äußerungen und durch die Rede der anderen charakterisiert. Elena vertritt als einzige Frau des Stücks sowohl das Weibliche als auch das Zivilgesellschaftliche. Auf sie hin sind in der privaten Sphäre die Brüder, die Gäste und die Freunde des Hauses angeordnet. Sie wird, obgleich verheiratet, wegen ihrer Schönheit von allen Männern heftig umworben und bildet wegen ihrer selbstlosen Fürsorglichkeit das Zentrum einer lebensfrohen Tischgemeinschaft und einer über das Verwandtschaftliche weit hinausweisenden „Familie“. Aus dieser fällt in jeder Hinsicht ihr Ehemann, der Oberst im Generalstab Tal’berg, heraus. Weder weiß er die femininen und die integrativen Eigenschaften Elenas zu würdigen noch gehört er der Wertegemeinschaft der weißen Offiziere an. Er ist einzig darauf bedacht, „keinen Schatten“ auf seinen adligen Namen fallen zu lassen (315, Äußerung Elenas) und aus dem „Tohuwabohu“ des Bürgerkriegs unversehrt herauszukommen (314). Er führt beständig die Anrede „meine Liebe“ im Mund und ist doch zu tieferen Gefühlen nicht fähig. Als er langerwartet bei seiner Frau eintrifft, sagt er zur Begrüßung: „Nicht küssen, ich komme aus der Kälte, du könntest dich erkälten“ (313). Die gastfreundliche Wohnung der Turbins nennt er eine „Absteige“, einen Freund des Hauses einen „Kneipenhocker“ und seine Flucht eine „Kommandierung“ (313, 315). Besorgter um die Schwester als der Ehemann sind die Brüder, die ihr jedwede Unannehmlichkeit ersparen und bittere Wahrheiten vorenthalten wollen. Aleksej genießt aufgrund seines Alters unter den Turbins natürlichen Vorrang. Doch verschafft ihm auch sein militärisches Ordnungsverständnis im häuslichen Umfeld Autorität. Wie seine Schwester im privat-zivilen Bereich verkörpert Aleksej im militärischen Verantwortungsbewußtsein, Pflichtgefühl und Fürsorglichkeit. Diese Tugenden kontrastieren auch im sprachlichen Ausdruck scharf mit den hohlen Phrasen des Opportunisten Tal’berg. In höchster Gefahr versichert Aleksej seinen Unterge-

„Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins)

361

benen: „Ich nehme alles auf mein Gewissen und meine Verantwortung, alles nehme ich auf mich, ich warne euch und schicke euch aus Liebe zu euch nach Hause. Schluß“ (357). Nikolka vertritt das Naive und Unernste, aber auch das Künstlerische und Idealistische im häuslichen wie im öffentlichen Umfeld. Neben der Pragmatik Elenas und der Professionalität Aleksejs bringt er ein drittes Element in den Turbinschen Lebensstil: Gelassenheit. Nicht nur bei den Trinkgelagen spielt er den Part eines „Hofnarren“.12 Dabei assistiert ihm Myšlaevskij, ein Haudegen von entwaffnender Direktheit und ein Lebenskünstler, der nie um einen Trinkspruch oder eine originelle Rechtfertigung des Alkoholgenusses verlegen ist. Er überführt wiederholt, im Zusammenspiel mit Šervinskij und Lariosik, die zum Melodramatischen neigenden Situationen mit sarkastischen Bemerkungen ins Komische. Die Figuren zeigen einen ausgeprägten Sinn für die Maskerade. Verkleidung und Verstellung markieren die Übergänge zwischen Innen und Außen, häuslicher und öffentlicher Sphäre, Charakter und Rolle. Sie stellen die Zugehörigkeit zu festen Gruppen in Frage. Šervinskij bewegt sich außerhalb des Hauses weder in Uniform noch in standesgemäßer Kleidung, sondern in einem „zerlumpten Mantel“, mit „schäbigem Hut“ und einer „blauen Brille“. Als Elena ihn auffordert, das „Gelumpe“ in der Wohnung auszuziehen, kommt darunter ein eleganter Frack zum Vorschein. Dieser symbolisiert den erfolgreichen Sänger, den Zivilisten im Offizier, der über die Wirren des Augenblicks hinausdenkt und auf die Zukunft vertraut (371 f.). Im letzten Akt kehren auch Myšlaevskij, Studzinskij und Tal’berg in Zivil in die Wohnung der Turbins zurück (375). Vordergründig ist das Spiel im Spiel durch den Zwang motiviert, sich in einer Zeit sozialer Zerrüttung auf der Straße nicht als wohlhabend bzw. als Angehöriger der alten Eliten zu erkennen zu geben. Tatsächlich dienen Kostüme und Etiketten der Entlarvung konkurrierender Scheinwelten: ELENA Mein Gott, wie sehen Sie denn aus! ŠERVINSKIJ Danke für das Kompliment, Elena Vasil’evna. Ich hab’s bereits ausprobiert! Heute fahre ich mit der Droschke, schon tummeln sich irgendwelche Proletarier an den Gehsteigen. Und einer sagt mit feinstem Stimmchen: „Da, ein ukrainischer Herr! Warte nur bis morgen! Morgen holen wir euch aus den Droschken heraus!“ Ich habe ein erfahrenes Auge. Als ich den so sah, habe ich gleich verstanden, daß ich nach Hause fahren und mich umkleiden muß. Der extrovertierte, abstrakten Erwägungen abholde Šervinskij versteht es, sich virtuos den Verhältnissen anzupassen. Da die Bolschewiki sich als Sieger ankündigen, wird er zu ihrem „Sympathisanten“. Das beim Hausmeister geborgte „parteilose Mäntelchen“ wird zum Ausweis seiner Unabhängigkeit (371). Die Interaktion zwischen „Familie“ und Militär zeigt sich noch in einer anderen Weise. Die Offiziere verkehren vordergründig in der gebührenden Förmlichkeit miteinander, achten bei der Anrede auf die Rangbezeichnungen und folgen den Regeln der Befehlshierarchie. Zugleich mischt sich in die Dialoge und

362

Michail Bulgakov

Gespräche eine heitere, beschwichtigende und vertrauliche Note. Nikolka bezeugt dem älteren Aleksej mit der Anrede „Herr Oberst“ einerseits Respekt. Zugleich unterstreicht er damit seinen Willen, der militärischen Kaste anzugehören. Andererseits ironisiert er mit derselben Formel den hierarchischen Gestus der Offiziere, indem er sie jargonhaft oder kontrastiv zur Intimität des Vornamens einsetzt: NIKOLKA Herr Oberst! Aleška! Aleška! Was machst du denn?! ALEKSEJ Unteroffizier Turbin, zum Teufel mit deinem Heldentum! (Verstummt.) NIKOLKA Herr Oberst… Das kann doch nicht sein! Aleša, steh auf! (360). Ebenso wechseln Aleksej und Myšlaevskij in der dramatischen Szene im Gymnasium immer wieder zwischen der dienstlichen und der freundschaftlichen Anrede: MYŠLAEVSKIJ […] Warum bist du noch hier? ALEKSEJ Solange das Wachkommando nicht zurück ist, kann ich nicht weg. MYŠLAEVSKIJ Muß das sein, Aleša? ALEKSEJ Was redest du Hauptmann? MYŠLAEVSKIJ Dann bleibe ich bei dir. ALEKSEJ Wozu denn, Viktor? Ich befehle dir […]. Werden Sie gehorchen oder nicht? (359). Aleksej verkörpert am reinsten den Ehrenkodex der weißen Offiziere. Er will sinnloses Blutvergießen vermeiden. In einem anderen Fall untersagt er den Soldaten, das Gymnasium vor der Flucht anzuzünden, auch wenn es dann für den Gegner nutzbar bleibt. Myšlaevskij hingegen setzt das als Zeughaus genutzte Gebäude in Brand, um den Petljura-Truppen nicht die Uniformmäntel zu hinterlassen (359). Hehre Ideale und banale Realität liegen nahe beieinander, wie auch der Dialog Aleksejs mit dem Pedell Maksim, ein szenisches Kleinod, vor Augen führt. Was der Kommandeur durch einen mit eiferndem Pathos erteilten Befehl erzwingen will, befolgt der subalterne Schuldiener aus einem schlichten Verständnis von Pflicht. Gemäß einer Weisung des Direktors harrt er „als einziger“ aus, um das Inventar des ihm anvertrauten Gebäudes zu schützen: ALEKSEJ Alterchen, habe ich nicht deutlich gesprochen? 13 Sie bringen dich um! Versteck dich irgendwo im Keller, damit sie dich nicht erwischen. MAKSIM Und wer übernimmt die Verantwortung? Maksim ist verantwortlich. Für alles (358). Vergeblich hatte der Pedell zu verhindern versucht, daß die von ihm als „Tataren“ bezeichneten Soldaten Schulbänke zerschlugen und verheizten (359). Die Charakterisierung der Offiziere als zwar nicht fehlerlose, aber wackere Ritter in einem alle überkommenen Werte erschütternden Bürgerkrieg ist in der Bühnenfassung stärker differenziert. Die Heroisierung der weißen Helden, die vor allem durch die Kontrastierung mit den Petljura-Rebellen erfolgte, wird hier

„Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins)

363

um eine schärfere Kritik an der eigenen Führung erweitert. Bereits im ersten Akt äußern die Offiziere ihren Unmut über den Hetman. Der im zweiten Akt dargestellte Verrat weckt Abscheu. Aleksej begrüßt verbittert und mit gespielter Schadenfreude die Ankunft Petljuras als verdiente Vergeltung: „So ists recht! Gibs ihm! Gibs ihm! Konzert! Musik! Na, komm du mir nur einmal unter die Finger, Pan Hetman! Scheusal!“ (359). Myšlaevskij äußert exzessive Rachegelüste (363 f.). Mehrfach lassen er und Nikolka ihrer Verachtung für das „Stabsgesindel“ (364) freien Lauf. Als zusätzliche Steigerung hat sich Bulgakov von der Zensur eine geschichtswidrige Pointe – als Referenz an die historische Faktizität – aufzwingen lassen. Als Aleksej seiner Einheit im Gymnasium den Auflösungsbefehl erteilt, kommt der Gedanke auf, an eine andere Front der Weißen zu wechseln und dort weiterzukämpfen. „Wir beschaffen uns einen Güterzug und fahren zum Don, zu Denikin!“ ruft ein Offizier unter allgemeinem Beifall aus. Aleksej zerstört dies als Illusion: „Alle mal herhören! Sie würden dort am Don, wenn sie überhaupt hinkommen, dasselbe vorfinden wie hier. Sie würden dieselben Generäle und dasselbe Stabspack antreffen“ (357). Untypisch für die ansonsten raschen und knappen Dialoge verfällt Aleksej an dieser Stelle in eine monologisierende Rede, die das Ende aller Hoffnung für die Weißen und damit den endgültigen Sieg der Roten im Bürgerkrieg postuliert: „Die [Stabsoffiziere] würden euch zwingen, gegen das eigene Volk zu kämpfen. Und während dieses euch die Köpfe blutig schlägt, würden jene über die Grenze flüchten… Ich weiß, in Rostov ist es genauso wie in Kiev. Die Abteilungen haben keine Munition, die Junker haben keine Stiefel, und die Offiziere sitzen im Kaffeehaus. […] Ich sage euch: Die weiße Bewegung in der Ukraine ist am Ende. Ebenso in Rostov am Don und überall! Das Volk ist nicht mit uns. Es ist gegen uns. Schluß also! Aus! Ende!“ (357). Abgesehen davon, daß es anachronistisch war, am Beginn des Jahres 1919, als die Entscheidungsschlachten des Bürgerkriegs an allen Fronten noch bevorstanden, einen weißen Offizier so sprechen zu lassen, bedeutet die Stelle auch in der Logik des Stücks einen dramaturgischen Bruch. Allzu offenkundig soll die Geschichte abgekürzt und das Drama einem raschen Ende ohne Illusionen zugeführt werden. Völlig unvermittelt wird an „das Volk“ als letzter Instanz für die Legitimität der eigenen Sache appelliert. Bislang einte Aleksej und seine Getreuen der gemeinsame traditionsverhaftete Wertekanon, der ihr Tun rechtfertigte. Weder der lächerliche Verrat des Hetman noch das abstoßende Erscheinungsbild der Petljura-Anhänger und erst recht nicht das schemenhafte, hinter die Bühne verlagerte Auftreten der Roten Armee motivieren hinreichend Aleksejs Kapitulation.14 Das „Volk“ ist im Stück nicht repräsentiert. Es treten keine Bauern, Städter oder Arbeiter auf. Die Schuster-Szene im Lager der Petljura-Rebellen erfüllt funktional den Zweck, Willkür und Grausamkeit eines militärischen Gegners zu illustrieren. Der Pedell des Gymnasiums steht symbolisch für die Ohnmacht der Individuen gegenüber den überwältigenden Zerstörungskräften des Bürgerkriegs. Ebenso sinnbildlich ist der Lakai Fedor zu verstehen, dem

364

Michail Bulgakov

in der Hetman-Szene das letzte Wort vorbehalten ist. Einem Ratsuchenden empfiehlt er aus dem leeren Palast am Telefon: „Wie ich Ihnen helfen kann?… Wissen Sie was? Schmeißen Sie alles hin und rennen Sie…“ (345). Zeit und Raum In einem Aufsatz von 1922 lobte Bulgakov die Erzählungen des Schriftstellers Jurij Slezkin wegen ihres „kinematographischen“ Charakters. Damit meinte er die einer Filmvorführung gleichende, flüssige Abfolge von Szenen, mit der vermieden werde, daß sich die Handlung endlos hinziehe, um schließlich „im tiefen Sumpf des russischen Wortschwalls“ zu versinken. Bulgakov wollte die ausgeprägte Neigung russischer Literaten vermeiden, jedes Thema in „Schwermut“ zu hüllen.15 Sein Stück ist voller bewegter Szenen, auch wenn die Handlung keinen ausgeprägten Spannungsbogen besitzt. Die Auftritte und Dialoge folgen einer strengen, transparenten Dramaturgie. Regieanweisungen und Figurenrede in „Dni Turbinych“ erlauben es, das fiktive Geschehen des Stücks zeitlich einzugrenzen. Die Handlung des ersten Akts erstreckt sich über sechs Stunden, von neun Uhr abends bis drei Uhr morgens. Knapp 24 Stunden später tritt Šervinskij zu Beginn des zweiten Akts gegen Mitternacht den Dienst im Palast des Hetman an. Die Szene mit den Petljura-Leuten um Bolbotun beginnt früher, wie die Regieanweisung „Abend“ andeutet.16 Die Szene im Gymnasium (III, 1) beginnt „im Morgengrauen“ des nächsten Tages. Die folgende Szene in der Wohnung der Turbins (III, 2) setzt ebenfalls am frühen Morgen ein, verläuft also zunächst parallel, bis die ersten Akteure aus dem Gymnasium hier eintreffen. Das Überspringen von zwei Monaten bis zur Handlung des vierten Akts ist dramaturgisch motiviert, widerspricht allerdings der historischen Chronologie: Der Einmarsch der Roten Armee wird vom 4. Februar auf den Vorabend des orthodoxen Weihnachtsfests (6. Januar nach dem neuen Kalenderstil) vorverlegt. Die aus den Zusammenhängen rekonstruierbaren Daten des historischen Kontextes für die ersten drei Akte (12. und 13. bzw. 13. und 14. Dezember 1918) sind deshalb mit der Regieanweisung für den vierten Akt („zwei Monate später“) nicht vereinbar. Auf der symbolischen Ebene allerdings kann dadurch die „neue“ mit der „alten“ Epoche unmittelbar zusammenstoßen. Die „Internationale“ ertönt im Hintergrund, während die Turbins traditionelles Brauchtum unter dem Festbaum pflegen.17 Die Hinweise auf die Beleuchtung dienen nicht nur der Kennzeichnung der Tageszeiten. Dämmeriger Kerzenschimmer oder grelles elektrisches Licht schaffen auch eine spezifische Atmosphäre und korrespondieren metaphorisch mit der Handlung. Der Wechsel von Geborgenheit in Unbehagen und von Ausgelassenheit in Unruhe wird noch verstärkt, wenn die Lichteffekte durch Geräusche und Lärm außerhalb der Bühne (Vorbeimarsch einer Militärabteilung, Kanonenschüsse) begleitet werden (I, 1). Nicht minder fällt den Details der Ausstattung, des Bühnenbilds und der Kostüme übertragene Bedeutung zu. Der elegante Tscherkessenrock Šervinskijs,

„Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins)

365

das Porträt des Zaren Alexander I. im Gymnasium, das goldene Zigarettenetui des Hetman oder die blau-gelbe Standarte und das Feldtelefon der Petljura-Anhänger sind Abzeichen von Mentalitäten, Einstellungen und Überzeugungen. Das leicht antiquierte Interieur, das Flair eines dem Untergang geweihten Milieus, die förmlichen, oft ironisierend gepflegten Umgangsformen und ein traditionsbewußter, künstlerisch-intellektueller Habitus in der Turbinschen Wohnung beschwören das Bild einer eigenen Welt herauf. Für den Zuschauer verschwimmen die Grenzen zwischen den Relikten der Adelskultur bei diesen „gewesenen Menschen“ (byvšie ljudi) und den Imitationen im zeitgenössischen „kleinbürgerlichen“ Lebensstil der Stadtbevölkerung der zwanziger Jahre.18 Noch Jahrzehnte nach der Premiere von „Dni Turbinych“ bot dieses Arrangement dem russischen Zuschauer eine Projektionsfläche für teils geschichtsvergessene, teils nostalgische Identifikationen.19 Für die Turbins ist das Haus der Ort, an den Kindheitsträume und Zukunftshoffnungen gleichermaßen geknüpft sind. Ihre Wohnung setzt als noch lebendiger Mikrokosmos den darin verkehrenden Personen eine Norm, entwirft einen Idealtypus des Lebens. Sie strahlt Frieden und Ruhe aus, ist heimatliches Nest und Zufluchtsstätte, in der cremefarbene Vorhänge, alte Uhren, Lampen, vertraute Bücher und ein Piano Geborgenheit ausstrahlen. Doch geht es nicht einfach um Nostalgie, in der sich zeittypische Geschmacksvorlieben spiegeln. Brisanter war, daß im privaten Raum und nicht auf dem öffentlichen Platz die Weichenstellungen des Lebens erfolgen, die von der Außenwelt erzwungen werden. Allerdings signalisiert das Ende des Stücks, daß die Sphäre des Privaten und der Individualität akut bedroht ist. Immer näher rücken die Töne und Geräusche des Bürgerkriegs, der erwarteten siegreichen Macht, der feindlichen Außenwelt. Die Ruhe und das getragene Fließen der Zeit in der Turbinschen Innenwelt, die einem „Schiff“ gleicht (318), weicht der von außen hereingetragenen Hektik bzw. dem eindringenden Lärm und Getöse. Aus der Wohnung als einem Ort der Geborgenheit (ujut) und Gastfreundschaft ist eine letzte Zufluchtsstätte (prijut) geworden. Wenn diese kleinste Zelle des städtischen Rückzugsraums in Gefahr gerät, steht die Existenzgrundlage des Turbinschen Lebensstils auf dem Spiel. Im Vergleich zu dem Roman „Belaja gvardija“ verzichtete Bulgakov in „Dni Turbinych“ vollständig auf Szenen, die das Geschehen im Freien auf die Vorderbühne bringen. An die Stelle der „Stadt“ mit ihren Straßen und Plätzen treten der „Palast“, eine Scheinwelt entzauberter Macht mit einem gewaltigen Schreibtisch, zahlreiche Telefone und eine große Landkarte, das „Stabsquartier“, ein ödes Gebäude in trübem Licht, und das „Gymnasium“, das mit einer breiten Treppe und einem Porträt Alexanders I. an vergangene glanzvolle Zeiten erinnert. All dies repräsentiert zwar den Außenraum und die überindividuelle Geschichte, unterstreicht aber durch seine Abgeschlossenheit den Kammerspielcharakter des Ganzen. Auch dort, wo historische Entscheidungen fallen, herrschen keine anonymen Kräfte. Das epochale Geschehen vollzieht sich in der Dichte begrenzter Räume und in der gerafften Zeit weniger Tage als menschli-

366

Michail Bulgakov

che Aktion. Da die Schauplätze nur lose verknüpft sind, entsteht kein Gesamtbild. Die Vielräumigkeit korrespondiert mit der Vielstimmigkeit des Stücks. Sie relativiert monokausale Deutungen und steht für die Unmöglichkeit, Totalität erfahrbar zu machen oder darzustellen. Hingegen werden spätere Ereignisse wie der Anfang 1919 nicht absehbare kurzzeitige Sieg Petljuras, die Niederlage der Weißen und der letztliche Triumph der Bolschewiki vorweggenommen (326, 372, 377). Was dem Zuschauer als weitsichtige Prognose einzelner Figuren vermittelt wird, dient einer vordergründigen politischen Motivierung der Handlung. Geschichte und individuelles Schicksal erscheinen unmittelbar verflochten. Die formale Unstimmigkeit auf der zeitlichen Ebene zwischen dem dritten und dem vierten Akt folgt der Logik einer doppelten Chronologie. Daten des christlichen Festkalenders und der historischen Ereignisse sind auf merkwürdige Weise verschoben. Es ist vermutet worden, Bulgakov habe damit einer plumpen Vorgabe der Zensur entsprochen. Tatsächlich entspringt der vermeintliche Widersinn offenbar den Intentionen des Autors. Die Regieanweisung zum vierten Akt vermerkt den Vorabend des Fests der Taufe Christi im Jordan (kreščenskij sočel’nik) bzw. der Theophanie (bogojavlenie). Danach würde es sich um den 18. Januar des Neuen Stils handeln. Da aber die Turbins den Baum schmükken, muß der Zuschauer annehmen, es gehe um den Abend vor Heiligabend (roždestvenskij sočel’nik), also um den 6. Januar Neuen Stils. Der Verwirrung des christlichen Festkreises entspricht das künstliche Arrangement des Geschichtsverlaufs. Auf einer symbolischen Ebene wirkt diese Fügung indessen weit weniger schematisch. Zunächst einmal wird der Eindruck eines schicksalhaften Augenblicks verstärkt, in dem die Zyklen der individuellen Lebenslinien und des kollektiven Geschichtsprozesses, der bemessenen menschlichen Zeit und eines transzendenten Kalendariums sich kreuzen.20 Vor dem Hintergrund paralleler Festkreise, der orthodoxen Weihnachtstage von der Geburt Christi bis zu Epiphanie bzw. Theophanie (svjatki, die „heiligen Tage“), und der seit der Frühzeit der christianisierten Rus’ bezeugten archaischen karnevalesk-blasphemischen Gebräuche, gewinnt der vierte Akt eine tiefere Dimension hinzu. Durch das politisch-militärische Drama des Siegs der Bolschewiki schimmert eine verkehrte Welt hindurch. Die weißen Offiziere in der Wohnung der Turbins verhalten sich plötzlich wie auf einem revolutionären „Meeting“ und wechseln in den Jargon von Rätedeputierten. Die Rote Armee dringt in Kiev ein, aber Myšlaevskij spricht von „Frieden“ (375). Er behauptet, die Bolschewiki kämen „leise“, „höflich“ und „kampflos“ (376). Es wird eine Sowjetrepublik geben, aber es „riecht nach Wodka“ (375). Lariosik wundert sich über die allgemeine Freude, selbst bei den „noch nicht abgeschlachteten Bourgeois“ (376). Als könnte man zu diesem Zeitpunkt noch ahnungslos sein, gibt Nikolka sich neugierig, „wie die Bolschewiki aussehen“ (376). Alles scheint auf den Kopf gestellt. Die Akteure haben den Verstand verloren, nichts ist mehr verläßlich. Von Elenas rotem Haar gehen nun unvermittelt magische Kräfte aus, wenigstens mutmaßt Nikolka dies. Er deutet es als Signal und „reinstes Unglück“. Alle

„Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins)

367

brächten der Schwester Blumensträuße, die dann „wie Rutenbesen“ in der Wohnung herumständen (375). Die Motive des Unheimlichen und der Umkehrung der gewohnten Ordnung,21 der Katastrophe und des Untergangs einer Kultur, der heraufziehenden neuen Zeit und eines mystischen Paradigmenwechsels werden durch Ironie in der Schwebe gehalten. So wenig es eine Rückkehr in die Vergangenheit geben kann, so irreal wirkt das gegenwärtige Geschehen und so offen ist die Zukunft. Das Stück bleibt ohne definitiven Schluß. Die Sieger kündigen sich an, sind aber nicht präsent. Ihre Ankunft wird erwartet, aber sie bleiben verborgen. Auf diese Weise entzieht sich „Dni Turbinych“ der gewohnten Polarisierung zwischen „Rot“ und „Weiß“.22 Musik und Poesie Die Musik gehört zu den konstitutiven Elementen von Bulgakovs Dramaturgie, selbst wenn sie in den Szenen beiläufig plaziert zu sein scheint.23 Sie dient – oft in Verbindung mit unterschiedlichen Geräuschen, vom zarten Klang einer Spieluhr, die ein Menuett Boccherinis anklingen läßt, bis zu Marschmusik, Volksliedgut, Kunstliedern oder Maschinengewehrsalven und Salutschüssen – nicht der bloßen akustischen Untermalung der Szenen oder der Erzeugung eines illusionären Realismus, sondern ist unverzichtbarer Bedeutungsträger und Verstärker zentraler Handlungsmotive. Nikolkas Gesang zur Gitarre, Elenas Spiel auf dem Flügel und Šervinskijs professioneller Gesang verleihen den wechselnden Stimmungen und Emotionen mal leicht und beschwingt, mal burlesk und spöttisch oder auch ernst und getragen Ausdruck. Der Vielfalt der eingesetzten musikalischen Formen entspricht dabei eine Variation ihrer Funktion. Nach der gefühllosen Abreise ihres Mannes schlägt Elena am Flügel immer wieder denselben Akkord an, um ihrer Verbitterung Ausdruck zu verleihen (318). Wie hier das Instrumentalspiel (zu I, 2) dient an anderer Stelle der Gesang als szenische Ouvertüre. Nikolka singt ein selbstkomponiertes Lied, das das äußere historische Geschehen des Stücks andeutet: „Stündlich hört man schlimmere Gerüchte: Auf uns schickt Petljura sein Gezüchte!“ (305). Die ins Gymnasium einziehenden Kadetten ironisieren mit einem Liebeslied auf den Lippen die kriegerische Szenerie: „Schwüle Hitze atmete die Nacht, voll von Glut und zitternden Gedanken…“ (350).24 Auf der Harmonika gespielte „bekannte Melodien“ (so die Regieanweisung, 345) verweisen auf das Milieu der Petljura-Leute, unter denen sie eine anspruchslose Einheit stiften sollen. Die von einem Orchester gespielten Takte der Internationale geben im Wettbewerb mit den Kanonenschlägen der einrückenden Roten Armee den Rhythmus der neuen Zeit (383). Lariosik, in mancher Hinsicht die dankbarste Rolle des Stücks, repräsentiert den lebensfremden Dichter. Schwerfällig, pathetisch, von naiver Eloquenz und Aufrichtigkeit ruft er immer wieder unfreiwillig komische Situationen hervor. Mit den gesammelten Werken Čechovs, die er in ein Hemd eingewickelt hat, aus der Provinz nach Kiev gekommen, liegt ihm stets, wenngleich nicht immer passend, ein Klassikerwort auf der Zunge. Beim furiosen Finale bettet er Sonjas

368

Michail Bulgakov

Worte aus „Djadja Vanja“ (Onkel Vanja, 1899) in eine ausschweifende, gestelzte Rede: „Ja, mein Schiff… Bis es in diesem Hafen mit den cremefarbenen Stores gelandet ist, bei Menschen, die mir so sehr gefallen haben… Übrigens habe ich auch bei ihnen ein Drama mit angesehen… Na, reden wir nicht von traurigen Dingen. Die Zeit hat sich gewandelt. […] Und ich möchte […] mit den Worten des Schriftstellers sagen: ‚Wir finden Ruh, wir finden Ruh…’“ (382 f.). Ferne Kanonenschläge unterstreichen den parodistischen Charakter der Eloge, den Myšlaevskij noch weiter verstärkt: „Von wegen!… Haben Ruhe gefunden!… Fünf… sechs… neun!“ (383). Der Kanonendonner holt die in der Turbinschen Wohnung Versammelten aus Lariosiks epigonaler Melancholie in die Realität des Bürgerkriegs zurück. Die Liedkommentare und poetischen Zitate werden sowohl zur relativierenden Kontrastierung als auch zur bedeutungssteigernden Vertiefung des gesprochenen Wortes eingesetzt. Sie können darüber hinaus als Stilmittel dienen, politische Überzeugungen oder den politischen Gesinnungswandel einer Figur besonders effektvoll auszudrücken und zugleich einen satirischen Subtext anzudeuten. So singen die Turbins und ihre Gäste Puškins „Pesn’ o veščem Olege“ (Lied vom weisen Oleg, 1822), vermischt mit einem patriotischen Soldatenlied des Ersten Weltkriegs (324), geraten aber bei der Zeile des Refrains „Darum auf den Zaren…“ ins Stocken.25 In der letzten Szene des Stücks verwandelt Myšlaevskij den anachronistischen Schluß des von Nikolka erneut intonierten Lieds in eine Hymne auf die neuen Machthaber: „Darum auf den Rat der Volkskommissare wir schmettern ein lautes ‚Hurra!’“ (382). Alle Anwesenden, ausgenommen Studzinskij, stimmen ein. Unverändert bleibt indessen die Mahnung des „Wahrsagers“ aus der Vorlage bestehen, das Schicksal könnte den augenblicklichen Siegern – entsprechend dem altrussischen Fürsten – ein tragisches Ende bereiten.26 Hier wie an anderer Stelle erwecken die nonverbalen musikalischen Ausdrucksmittel nicht den Anschein eines realen Geschehens. Vielmehr sollen sie allein bzw. in Verbindung mit dem Gesang ironisieren oder erschüttern, aufrütteln oder beunruhigen. Sie werden zu Bestandteilen menschlicher Befindlichkeit und Existenz, zu Bedeutungsträgern, die über das verbal Vermittelbare hinausweisen. In den musikalischen Horizont des Stücks gehören auch „klingende“ Namen, etwa der Familienname Tal’berg, der sowohl auf einen berühmten österreichischen Pianisten des 19. Jahrhunderts als auch auf einen russischen Staatsrat verweist, der 1917 vor der Außerordentlichen Kommission der Provisorischen Regierung zu den Hintergründen des berüchtigten Bejlis-Prozesses von 1913 um einen angeblichen Ritualmord aussagte.27 Stilistisch nutzte Bulgakov neben den Musik- und Poesiezitaten eine Reihe sprachlicher Verfahren und nonverbaler Ausdrucksmittel, die für die Dynamik und Wirkung der Bühnenhandlung maßgeblich waren. Wortwiederholungen, Allegorien, Metonymien, paradoxe Wendungen, Idiolekte und dialektale Elemente dienen einerseits der Kennzeichnung scheinbar realer Orte (vor allem Kiev) und ihres Lokalkolorits, anderer-

„Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins)

369

seits der Expressivität der Figuren. Myšlaevskijs derbe Umgangssprache, das fehlerhafte Russisch der deutschen Offiziere von Schratt und von Dust oder die Ukrainismen der Petljura-Anhänger spiegeln auf sprachlicher Ebene die bunte Vielfalt und Komplexität der theatralisierten Welt.28 Auf unvoreingenommene Zeitgenossen wirkte „Dni Turbinych“ wie ein streng komponiertes Klangbild. Seiner Struktur lag ein „feiner, sozusagen musikalisch abgestimmter Wechsel“ zwischen Spiel und Pausen zugrunde. Selbst die Ensembleszenen formten sich zu einer wohlgeordneten „tönende(n) Erscheinung“. Nichts an dieser Inszenierung imitierte deshalb „Natur“. Vielmehr zeugte das Ineinander und der Zusammenklang der Sprechakte von einem „förmlichen Einschleifen“ der Reden und selbst der Vokale, von einer ausgefeilten „Technik der Probe“.29 Wortkunst, Musikalität und Theater sind eng miteinander verwoben. Beständig entstehen und vergehen Melodien und Verse, korrespondieren oder kontrastieren mit den Dialogen, erzeugen Stimmungen und Gefühle und verbinden Figuren und Ereignisse. Auf diese Weise werden in „Dni Turbinych“ die inneren Dramen der Figuren nach außen gekehrt. Sie manifestieren sich in Aktion, Klanggeräuschen und Bewegung. Biographie, Zeitgeschichte, Theater Die Erfahrung von Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg bildet den Angelpunkt in Biographie und Schaffen Michail Bulgakovs. Aus den Erfahrungen des Arztes geht der Autor hervor. Er konstituiert sich als alter ego des Zeitzeugen und als enger Vertrauter. Aufgrund des eklatanten Mangels an lebensgeschichtlichen Quellen muß in dieser Hinsicht aber vieles im ungewissen bleiben. Bemerkenswerterweise bestehen die größten biographischen Lücken für die Jahre 1917 bis 1921. Weder die wenigen erhaltenen Briefe und Tagebuchnotizen, noch die kargen Autobiographien von 1924, 1931 und 1937, noch die übrigen Selbstzeugnisse im engeren Sinne zeigen Bulgakov als eifrigen Chronisten seiner Zeit oder konsequenten Analytiker seines Platzes in ihr. Was immer er an Aufzeichnungen und Dokumenten selbst vernichtete oder verbrennen ließ, um den Nachstellungen der Politischen Polizei und der Häme der Sieger zu entkommen, der Zeitgenosse Bulgakov, seine politischen Überzeugungen und seine Weltsicht in der Epoche des Umbruchs, erschließen sich aus „autobiographischen“ Werken wie „Belaja gvardija“, „Zapiski junogo vrača“ (Aufzeichnungen eines jungen Arztes), „Krasnaja korona“ (Die rote Krone) oder „Zapiski na manžetach“ (Aufzeichnungen auf Manschetten) nur mittelbar.30 Diese können nicht an die Stelle fehlender Notizen, Korrespondenzen, Erinnerungen oder sonstiger zeitgenössischer Zeugnisse treten. Die literarische Realität entspricht ungeachtet zahlreicher authentischer Details keineswegs der historischen Wirklichkeit. Vielmehr bilden die genannten Werke Neuschöpfungen des Autors, die mehr sind als ihre Entstehungsgeschichte, als ihre historischen Quellen, Vorbilder und Einflüsse.31 Als solche sind sie einerseits Zeichen für die Geschichte, andererseits stehen sie dieser herausfordernd gegenüber.

370

Michail Bulgakov

Die Vita des Arztes Bulgakov ist rasch erzählt. Sie beginnt im Weltkrieg und endet mit der Bürgerkriegsepoche. Bereits der Medizinstudent arbeitet in einem Lazarett in Saratov. Nach dem 1916 mit Auszeichnung bestandenen Examen wechselt der junge Arzt in das Frontlazarett von Kamenec-Podol’sk. Im Herbst desselben Jahres nimmt er eine Stelle in einem Krankenhaus nahe Smolensk an. Wegen seiner Drogensucht wird er nach Vjazma versetzt. Aus der Provinzperspektive blickt er auf das revolutionäre Geschehen. Der Dienst im Krankenhaus ist ihm verhaßt, er bevorzugt ein Leben „in völliger Einsamkeit“, verbringt die Abende mit „Arbeit“ und Lektüre „alter Autoren“, „berauscht“ sich an den „Bildern der alten Zeit“ und fragt, warum er nicht „hundert Jahre früher“ geboren sei. Es zieht ihn „qualvoll“ in die Großstadt, „wo es doch noch Leben gibt, auch wenn es am Erliegen ist“. Bahnreisen nach Moskau und Saratov konfrontieren ihn mit der anarchischen Gegenwart. Alles von Wert, auch das Materielle, droht „im Meer der russischen Revolution [zu] ersaufen“. Der seines Berufs überdrüssige Mediziner muß „mit eigenen Augen“ sehen, was er nicht sehen möchte, nämlich „wie graue Menschenmassen kreischend und widerlich fluchend die Scheiben in den Zügen zertrümmerten“ und „wie Menschen geschlagen wurden“. Er sieht „zerstörte und niedergebrannte Häuser“, „stumpfsinnige und tierische Gesichter“, „hungrige Schlangen vor den Geschäften“, „gehetzte und klägliche Offiziere“, Zeitungen, „die im wesentlichen über eines berichteten: über Blut, das im Süden, im Westen und im Osten vergossen wird, und über Gefängnisse“. Bulgakov meint, „endgültig begriffen“ zu haben, „was vor sich gegangen ist“. Endlich, im Februar 1919, quittiert er den Dienst als Militärarzt. Er bricht in das ersehnte, zunächst noch von deutschen Truppen besetzte Kiev auf. Von dieser Stadt, „von vertrauten und lieben Gesichtern“ und „davon, daß Klavier gespielt wird“, hatte er in der Fremde „geträumt“.32 Doch befindet sich seine Heimat im permanenten Ausnahmezustand. Kurzzeitig praktiziert Bulgakov als Privatarzt im Haus Nr. 13 am Hang unterhalb der Andreevskij-Kirche, dem Domizil seiner Jugend. Bald verschlägt es ihn allerdings an stetig wechselnde Orte. Von Anhängern Petljuras als Arzt zwangsverpflichtet, wird er Zeuge antisemitischer Gewaltakte. Im Herbst 1919 schließt er sich Denikins Freiwilligenarmee an und gerät über Rostov am Don und Vladikavkaz in die tschetschenische Stadt Groznyj. Als sich Anfang 1920 das Ende der militärischen Kämpfe abzeichnet, beendet Bulgakov nicht nur seinen Dienst als Truppenarzt, sondern gibt den Beruf des Mediziners endgültig auf. Was ihm aus diesen Jahren bleibt, ist der naturwissenschaftliche, der ärztliche Blick auf Menschen und Milieus. Mit der Entscheidung, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen, konnte Bulgakov indessen nicht aus der Geschichte heraustreten. Es gab unterschiedliche Möglichkeiten, sich des fortan als untilgbarer Makel empfundenen Engagements für die Gegner der Bolschewiki zu entledigen. Bulgakov konnte versuchen, mit den fliehenden Zivilisten und Offizieren ins Ausland zu entkommen. Und in der Tat erwog er ernsthaft, über Baku, Tiflis, Batum und Konstantinopel

„Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins)

371

ins Exil zu gelangen und nach einer Klärung der Verhältnisse zurückzukehren. Der Plan schlug fehl. Erfolgreich war hingegen der zweite Teil der Vorkehrungen. Bulgakovs Frau, die in Moskau geblieben war, verwischte alle Spuren der jüngsten Vergangenheit. Die aufbewahrten publizistischen und frühen literarischen Manuskripte fielen diesem Akt verzweifelter Bereinigung der Biographie zum Opfer. Was dennoch übrigblieb, lag außerhalb der unmittelbaren Zugriffsmöglichkeit. Bulgakov glaubte, den „Konterrevolutionär“ zumindest äußerlich getilgt zu haben. Für einen verhinderten Emigranten war dies von existentieller Bedeutung. Während die Rückkehrer in den zwanziger Jahren unter dem Zwang standen, ihre „Flucht“ erklären und legitimieren zu müssen, konnte er zumindest hoffen, die Lücke in der nun erwünschten revolutionären Vita durch die ununterbrochene Tätigkeit als unpolitischer Arzt überbrücken zu können. Es blieb ihm erspart, wie viele Tausende als „Kollaborateur“ standrechtlich erschossen zu werden oder sich später als Exilant der von den sowjetischen Behörden tatkräftig geförderten Kampagne „Wechsel der Wegmarken“ (Smena vech) anschließen, remigrieren und auf nicht selten entwürdigende Weise seinen Frieden mit dem neuen Regime machen zu müssen.33 Allerdings holte Bulgakov die Vergangenheit auf andere Weise ein. Es ist nicht eindeutig zu klären, ob die Überreste von Bulgakovs Tätigkeit für die Weißen bei dem, was folgte, eine wesentliche Rolle spielten. Immerhin hatte er 1919 in einem Zeitungsartikel die von den Bolschewiki so apostrophierte „große soziale Revolution“ als „Grube der Schmach und des Elends“, als „klägliche Fieberphantasie“ und „bösartige Krankheit“ bezeichnet, die Rußland im Vergleich zu den westlichen Ländern weit zurückwerfen werde. Aus der Perspektive der an die Peripherie des Reichs abgedrängten Revolutionsgegner sprach er von der Aufgabe, „unser eigenes Land zu erobern“. Es müsse „Fußbreit um Fußbreit Trotzkis Händen“ entrissen werden. „Rettung“ und „Befreiung“ des Landes waren demnach ausschließlich von den „Helden der Freiwilligenarmee“ zu erwarten. Während im Westen der Frieden einkehre, „die Maschinen des Aufbauens rattern“, geforscht, gedruckt und gelehrt werde, müßten im eigenen Land „die Maschinengewehre rattern“, um dem „Wahnwitz der letzten zwei Jahre“ ein Ende zu setzen. Selbst wenn der Sieg errungen sei, werde man „für die Vergangenheit mit ungeheurer Arbeit und harter Armut bezahlen müssen“. Die Früchte dieser Anstrengungen würden erst in Jahrzehnten reifen und vermutlich erst von den Enkeln geerntet werden.34 Optimismus und Skepsis halten sich in diesem außerordentlichen Dokument die Waage. Als „Vertreter einer glücklosen Generation“ von „klägliche[n] Bankrotteure[n]“ erweist sich Bulgakov hier doch als analytischer Zeitgenosse, der Prognosen wagt, ohne „Prophet“ sein zu wollen, der auf die „Zukunft“ setzt, obwohl sie ihm „rätselhaft“ und „unbekannt“ erscheint. Als Kolumnist bekennt er sich dazu, Akteur der Zeitgeschichte zu sein. Er ist Mitlebender, leidet an den Verhältnissen, legt Zeugnis ab und bezieht eindeutig Stellung.35 Um so tiefer erscheint der Bruch, der am Ende des Bürgerkriegs erfolgt. Eingedenk der militä-

372

Michail Bulgakov

rischen Niederlage, des ideellen Scheiterns und der persönlichen Enttäuschung wird Bulgakov zum Überlebenden, der zwar davongekommen ist, sich aber neu einrichten muß. Mit dem Alten Regime und dem Ende des Bürgerkriegs endet auch eine Familienepoche. Das Haus der Bulgakovs in Kiev geht verloren. Die Datscha brennt nieder. Durch partielles Schweigen versucht der bereits vorwiegend schreibende Arzt einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Andererseits zwingen ihn die neuen Verhältnisse dazu, den Zeitenwechsel verstehen und akzeptieren zu lernen.36 Mit dem bedingungslosen Wechsel in die Literatur konstruiert der Schriftsteller seine Stunde Null. Kiev war von Beginn an ein Kristallisationspunkt des Bürgerkriegs gewesen. Hier bündelten sich wie in einem Brennspiegel die politischen, ideologischen, ethnisch-nationalen, religiösen und sozialen Konflikte des zusammengebrochenen Zarenreichs. Zehntausende hatten in der Stadt Zuflucht vor der revolutionären Anarchie, vor den Bolschewiki und der Roten Armee, vor plündernden und marodierenden Banden gesucht. Bei Bulgakovs Ankunft war die ukrainische Metropole bereits in die Hände des Nationalistenführers Petljura gefallen, der den abziehenden Deutschen und dem mit ihnen verbündeten Hetman Skoropads’kyj auf dem Fuß folgte. In kurzer Folge lösten die Besatzungsregime der Deutschen, der ukrainischen Nationalisten, der Bolschewiki und der weißen Freiwilligenarmee einander ab. Auf dem Land operierten zudem unabhängige Kosakenverbände, Freischärler, „grüne“ bäuerliche Partisanen und die Banden des Anarchisten Nestor Machno. Sie verheerten das Land, plünderten es aus, versuchten, es ihren Ordnungsvorstellungen zu unterwerfen. In der Stadt hofften Industrielle und Kaufleute, Selbständige und Ingenieure, Bankiers und Gutsbesitzer, Adlige und Bürgerliche, Liberale und Monarchisten, Beamte und Intellektuelle, Hausbesitzer und Ladeninhaber ein Refugium zu finden. Doch weder Kiev noch die übrigen Zentren provisorischer Herrschaften in der Ukraine, am Don, im Kuban’-Gebiet, am Schwarzen Meer oder im Nordkaukasus boten verläßliche Sicherheit. In dem Roman „Belaja gvardija“ hatte Bulgakov versucht, dieses Geschehen detailliert und konkret in Literatur zu übersetzen. Für die Bühne waren, abgesehen von den Eingriffen der Zensur, beträchtliche Abstriche an faktischer Genauigkeit und thematischer Komplexität zu machen. Sowohl der Zeitzeuge als auch der Romancier mußte zurückstehen. Was aber ein Substanzverlust im Vergleich zu „Belaja gvardija“ sein mochte, hob das Stück auf die Höhe der zeitgeschichtlichen Debatten um die Rolle des Theaters in der Revolutionsepoche. Mehr noch, es wurde ein Lehrbeispiel in doppelter Hinsicht. Zum einen folgte „Dni Turbinych“ als historisches Drama zwar durchaus den Regeln der Gattung, stimulierte aber gerade aufgrund seiner szenischen Reduktion eine Auseinandersetzung mit Rußlands gegenwärtiger Lage. Das Stück setzt die wiedererkennbare Geschichte des Bürgerkriegs, seiner Wendepunkte und Entscheidungen voraus und profitiert in seiner Wirkung außerordentlich von der geringen Distanz zum historisch verbürgten Geschehen. Im Rahmen der Konvention bewegt sich

„Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins)

373

Bulgakov auch, wenn er Verblassendes oder bereits Verdrängtes bzw. Vergessenes wachruft, indem er auf dessen Relikte im sowjetischen Alltag der zwanziger Jahre verweist. Zum anderen setzten Bulgakov und das Künstlertheater ein markantes Zeichen im Wettstreit um eine zeitgemäße Bühnenkunst. Selbst als Geschichtsdrama weist „Dni Turbinych“ Besonderheiten auf, die ihm einen singulären Platz in der turbulenten Geschichte des russischen Theaters der zwanziger und dreißiger Jahren sichern.37 Bulgakovs retrospektiver Blick folgt weniger dem Primat historischen Interesses als vielmehr dem Wunsch nach aktueller Zeitdiagnose. Wie der Erzähler und Feuilletonist zehrt auch der Dramatiker von den scharfen Kontrasten der sowjetischen Wirklichkeit in den Jahren der Neuen Ökonomischen Politik, die er für eine „Epoche der Gemeinheiten“ hielt.38 In ihr erkannte er wohl auch die Fortsetzung der selbsterlebten Konflikte wieder, der Katastrophen und Peripetien der Bürgerkriegsepoche. Doch gestaltete er diese nicht als Kern der Geschichte, sondern als Rahmenhandlung zeitloser menschlicher Leidenschaften, Schwächen und Handlungsmotive. Der Bürgerkrieg wird zum exemplarischen Fall, mögliche Optionen und versäumte Gelegenheiten, aber auch Tragik und Ohnmacht, Schäbigkeit und Verrat, Selbstlosigkeit und individuelle Größe in Ausnahmezuständen vorzuführen. In der Konstellation der Figuren wird der Modellentwurf einer ambivalenten Gegenwart erkennbar.39 Scheinbar agieren die Turbins und die eher weniger als mehr historisch getreuen anderen Akteure des Stücks in der Vergangenheit. Tatsächlich repräsentieren sie Positionen im Meinungsstreit über den Stellenwert des Überkommenen in der Jetztzeit und für die Zukunft. Sie verhandeln nicht zuletzt auch das Problem der Authentizität in der Theaterkunst, der Aufrichtigkeit der Darstellung, der Glaubwürdigkeit psychischer Motivierungen und der Gefährdung der Individualität. In seinem Brief an die sowjetische Regierung von 1930 beharrt Bulgakov emphatisch auf diesem Merkmal seines Schaffens. In dem Bemühen, Neutralität zu wahren, inszeniert er den Lebensstil der adligen Turbins als den der russischen intelligencija, der „besten Schicht unseres Landes“. Diese habe es „durch den Willen eines unabänderlichen Schicksals“ während des Bürgerkriegs ins Lager der weißen Garde verschlagen. Der Schriftsteller betrachtete es als seine Aufgabe, diese Fügung gewissenhaft nachzuzeichnen.40 Die Überlebenden des Bürgerkriegs, die nicht die Flucht oder das Exil wählten oder wählen konnten, suchten ihren Platz in einer Gesellschaft, die zunehmend von „Siegern“ beherrscht wurde, die die Vergangenheit zu rhetorischen Figuren stilisieren und damit verfügbar machen wollten. Sowohl die zeitgenössische Theaterkritik als auch die darin kaum angemessen gewürdigte und deshalb gleichsam „sprachlose“ Rezeption des Publikums reflektieren die spannungsgeladene Atmosphäre, den Zeitgeist der zwanziger Jahre. Nach der Wiederaufnahme der „Dni Turbinych“ im Jahre 1932 trifft dies nur noch bedingt zu. Die neue Inszenierung betonte stark das parodistisch-komische Element, während das Groteske entwertet wurde. Dadurch gingen Ernsthaftigkeit und innere Ba-

374

Michail Bulgakov

lance des Stücks zunehmend verloren. Ebenso büßten die literarischen, musikalischen und historischen Motive weitgehend ihre selbständige Bedeutung ein. Sie dienten lediglich noch als sprachliche Pointen, Mittel der Entlarvung oder bloße Ornamente einer unverständlichen Welt. Dem erneuten Erfolg beim Publikum tat dies zwar keinen Abbruch, vom realistischen Konflikt subjektiv ehrenwerter, objektiv aber zum Scheitern verurteilter Charaktere blieb indessen nur eine banalisierte Karikatur übrig. Das historische Drama sank auf das Niveau der nachfolgenden sozialistisch-realistischen Komödie mit ihren typisierten Figuren ab, eine Veränderung, die sich dann bis in die späte Sowjetzeit fortsetzte.41 Die Verhältnisse nach Stalins „Revolution von oben“ machten aus dem Zeitstück den flüchtigen Überrest einer endgültig abgeschlossenen Epoche. Das Stück hatte sich gleichsam selbst überlebt, weil es in dem gewandelten Kontext neuen Zuschreibungen ausgesetzt war. Indem vermeintlich das „StanislavskijSystem“ dem offiziellen Theaterverständnis als Modell diente, büßte Bulgakovs epochales Werk seinen unmittelbaren Gegenwartsbezug ein. Obwohl genuin der nachrevolutionären Wirklichkeit verpflichtet, konnte es nun durchaus als Teil der „Flucht in die Klassik“42 erscheinen, die gegenüber der ausgreifenden didaktischen Sowjetdramatik für einen ästhetischen Ausgleich sorgte. In den zwanziger Jahren als „unpolitisch“ angegriffen, erfuhr das Paradestück des Moskauer Künstlertheaters durch seine Vereinnahmung nicht eine späte Anerkennung, sondern eine Trivialisierung seiner Eigenarten.43 Die Aktualisierung des Bürgerkriegsstoffs im Drama der dreißiger Jahre folgte den Regeln einer anderen Perspektive, anderer inhaltlicher Schwerpunktsetzung und Figurenkonstellation. Bulgakovs Helden mußten im neuen Heroenkult des Sozialistischen Realismus unweigerlich anachronistisch wirken. Das Stück „Dni Turbinych“ zeugt von Bulgakovs ausgeprägter Fähigkeit der Distanzierung. Obwohl der historische Stoff weite Teile der literarischen Produktion der zwanziger Jahre, des „Bürgerkriegs der Ideen“ in der frühsowjetischen Öffentlichkeit und der kontroversen Kanon- und Traditionsbildung beherrschte, taucht er hier nur in marginalen Szenen und in Nebenfiguren verkörpert auf. Weder der Hetman-Staat noch die Petljura-Armee oder die Weißen gewinnen das Format historischer Mächte wie etwa in den Massenszenen des Revolutionstheaters. An die Stelle historischer Persönlichkeiten treten bloße Namen, Mythologeme, die vage geschichtliche Energien symbolisieren. Aleksej ironisiert sowohl die „Teufelskomödie“ des Hetman mit der fixen Idee einer „Ukrainisierung“ der Ukraine und den schattenhaften Petljura, den es eigentlich „gar nicht gibt“,44 als auch die „Kaffeehausarmee“ der Weißen, die den Zeitpunkt verpaßt, die Roten in Moskau „im richtigen Moment“ und „wie die Fliegen zu erledigen“ (325 f.). Nach Aleksejs Tod legitimiert Myšlaevskij den eigenen Wunsch, zu den Rotgardisten überzulaufen, mit den Worten: „Sollen sie mich doch mobilisieren! Dann weiß ich wenigstens, daß ich in der russischen Armee diene. Das Volk ist nicht mit uns. Das Volk ist gegen uns“ (377). Nahezu wörtlich hatte dies Aleksej zuvor ebenfalls geäußert, aber eine andere Konse-

„Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins)

375

quenz gezogen (357). Er rechnet zwar mit einer Entscheidungsschlacht („Entweder begraben wir sie oder sie uns“), gibt die Sache aber bereits verloren. „Wider alle Vernunft“ und in der Überzeugung, daß nach der Niederlage „noch schlimmere Zeiten kommen werden“, will er gleichwohl in die Schlacht ziehen (326 f.). Erst recht sind die Gegner, die Bolschewiki, als politische Kraft stark reduziert. Keine Figur repräsentiert sie auf der Bühne, wenngleich sie in der Figurenrede und der Lautsymbolik allgegenwärtig zu sein scheinen. Anders als in den meisten dramatischen und literarischen Gestaltungsversuchen des nachrevolutionären Jahrzehnts bilden die Bolschewiki hier eine Macht, die aus dem Verborgenen wirkt. Sie treiben die Figuren auf der Bühne zur Aktion, verbreiten Furcht und Panik, um schließlich selbst von ihren Hauptgegnern nolens volens als Gestalter einer ungewissen Zukunft anerkannt zu werden. Sie lassen die einander bekämpfenden Gegner hinter sich, seien es die Kollaborateure mit einer fremden Besatzungsmacht (Hetman), die modernen Landsknechte und selbsternannten Kriegsherren (Petljura) oder die bereits führerlosen weißen Armeen. Sie haben den längeren Atem. Trotz dieser unvollständigen Skizze der Zeitumstände gewann das Publikum offenkundig eine hinreichende Vorstellung von der Komplexität der historischen Situation oder rief sie erinnernd wach. Der historische Minimalismus unterscheidet Bulgakov deutlich von künstlerischen Großversuchen der Zeit. Bei allem Verlust an geschichtsphilosophischer Tiefe erscheint das Stück aber auch im Vergleich zum Roman „Belaja gvardija“ reifer. Es dringt zügig zum Wesentlichen vor, zu den individuellen Schicksalen. Diese werden in sehr verschiedener Weise durch die Geschichte bedingt und spiegeln entsprechend die großen gesellschaftlichen und sozialen Umwälzungen nicht anonym oder abstrakt, sondern in konkreten menschlichen Handlungen. Mit „Dni Turbinych“ gelang Bulgakov das Kunststück, eine heftige Geschichtskontroverse auszulösen, ohne wirklich Geschichte erzählen zu wollen. Die Figuren wirken trotz einiger pathetisch-heroischer Züge aufgrund ironischer Brechung glaubwürdig. Ihre Überzeugungen und ihre Zweifel, ihr Tatendrang und ihre Resignation, ihre Euphorie und ihre Verzagtheit stehen für ein reiches Repertoire an Identifikationsmöglichkeiten. Die scharf geschnittenen Szenen und Ortswechsel erzeugen ein Gefühl von Dynamik. Der Wandel vollzieht sich in Tagen, nicht in Epochen. Auf diese Weise schreibt Bulgakov mit den Mitteln des Theaters Geschichte. Die Kritik der zwanziger Jahre stand noch ganz im Zeichen der eben erst beendeten blutigen Tragödie des Bürgerkriegs, der gewaltigen Opfer des Siegs der Roten Armee, der Flucht von Hunderttausenden, der Emigration und des Zwangsexils. Was immer Bulgakov intendierte, sein Stück wurde innerhalb dieser historischen Koordinaten rezipiert und interpretiert. Allerdings fehlen systematische Analysen des Theaterpublikumsgeschmacks in den zwanziger Jahren. Dennoch ist anzunehmen, daß sich die Rezeption der Zuschauer nicht allein auf die zeitgeschichtliche Perspektive beschränkte. Aus der überlieferten Begeisterung und anhaltenden Anziehungskraft des Stücks bei

376

Michail Bulgakov

einem sozial und altersmäßig gemischten Publikum darf wohl geschlossen werden, daß neben den historischen auch anthropologische und existentialistische Aspekte wirkten. Obgleich niemand über einen Bolschewiken lachen konnte (durfte) und die Sieger für die Satire tabu blieben, eröffneten das lächerliche Verhalten ihrer vielfältigen Gegner und der Spott, mit dem sie einander übergossen, ein Druckventil. Der Agitprop büßte in den Jahren der Neuen Ökonomischen Politik kaum an Intensität, wohl aber an Durchschlagskraft und an Originalität ein. Ihm waren einprägsame Karikaturen weißer Generäle, feister Gutsbesitzer und ausländischer Kapitalisten zu verdanken. Ihre beständige Wiederholung stumpfte aber ab und ermüdete. Gegenüber diesen Schablonen, die eine Verlängerung in das Revolutionstheater erfuhren, wirkte die Rückkehr zum feinen Spiel mit Sprache, Mimik und Gestik auf der Bühne des Moskauer Künstlertheaters wie eine Innovation. Es bedeutete eine Renaissance des Konversationstheaters, weil mit augenscheinlicher Leichtigkeit der Zusammenbruch einer Weltordnung und eines Wertesystems inszeniert worden war. Die Inszenierung der „Turbins“ kann somit als Auseinandersetzung mit den technischen Innovationen des Revolutionstheaters, mit dessen Sprachexperimenten und veränderten Formen im Gestus der Schauspieler sowie mit der Politisierung der Bühne verstanden werden. Sie fiel dabei nicht in überkommene realistische Konventionen zurück, sondern nahm Elemente der dynamischen Bühne auf, ohne etwa die turbulenten „biomechanischen“ Konstruktionen Mejerchol’ds ernsthaft nachahmen zu wollen. Wesentlich für Bulgakovs Dramenverständnis war die wiederentdeckte Freude am reinen Spiel in Anlehnung an wiederbelebte Traditionen der Commedia dell’arte.45 Von daher rühren manche Irritationen der zeitgenössischen Kritiker, sieht man einmal von ihrer ausgeprägten Neigung zum bewußten Mißverständnis ab.46 Die originelle Mischung aus Melodram und Komödie, Operette und Vaudeville setzte im russischen Theater der zwanziger Jahre Maßstäbe.47 Sie und nicht allein der ideologische Duktus erklärt die kontroverse Resonanz, die sich im populären Rezeptionsverhalten, in der professionellen Theaterkritik und in der politischen Debatte bis in die Spitzen der Partei spiegeln. Bulgakov verschaffte dem Künstlertheater mit seinem Stück, das über Jahrzehnte seinen Ruf als Autor ausschließlich bestimmte, einen nicht bloß respektablen Platz neben den avantgardistischen Experimentalbühnen. Der Publikumserfolg mit einem aktuellen historischen Drama und einem jungen Ensemble milderte den Rechtfertigungsdruck, der auf Stanislavskij lastete, da die berühmten Inszenierungen der Stücke Čechovs keinen Ersatz für Stoffe der Kriegs- und Revolutionsepoche bieten konnten.48 Zeitgenossen wollten deshalb in den „Turbins“ recht vordergründig die „Möwe“ der nachrevolutionären Generation sehen.49 Zweifellos war nicht abzusehen, auf welchen Weg der neue Dramatiker das Theater führen würde, wenn er schon mit einem vermeintlich „konterrevolutionären“ Erstlingswerk nicht nur für Furore sorgte, sondern auch Hoffnungen auf eine kulturpolitische Liberalisierung weckte. Die Rolle Stalins bei der fol-

„Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins)

377

genden Hetzjagd gegen Bulgakov läßt sich inzwischen – soweit dies überhaupt möglich ist – recht genau rekonstruieren, beansprucht aber gelegentlich allzu große Aufmerksamkeit. Sicherlich wäre ohne Stalins merkwürdige Vorliebe für das Stück eine Wiederaufnahme der Aufführungen 1932 kaum denkbar gewesen. Doch ist diese kulturpolitische Laune des Diktators für die ästhetische Bewertung letztlich ohne Belang.50 Wenn von „Dni Turbinych“ als einem „großen Stück“ gesprochen worden ist51, so gilt dies in erster Linie für die russischsowjetische Theatertradition; denn auf internationalen Bühnen fand es nur ein verhaltenes Echo.52 Im zeitgeschichtlichen Kontext der zwanziger Jahre wurde es zu einem Urerlebnis für die russischen Zuschauer und später zum Medium einer Neuaneignung des Dramatikers Bulgakov durch die nachstalinistische Tauwetter-Generation. Als solches können die „Turbins“ den Rang eines historischen Lehrstücks des 20. Jahrhunderts beanspruchen.

Angela Martini

Nikolaj Ėrdman: Samoubijca (Der Selbstmörder) Knapp vier Jahre nach Vertragsabschluß mit dem Theaterregisseur und -theoretiker Vsevolod Mejerchol’d im Oktober 1928 wußte Nikolaj Ėrdman, daß seine zweite Komödie, „Samoubijca“, unter Spiel- und Publikationsverbot stand. „Für mich ist das keine Katastrophe des Autors, sondern des Menschen. Sie bringen mich nicht um, doch sie berauben mich“1, schrieb er am 16. Juni 1932 der Schauspielerin Angelina Stepanova.2 Erst 1987 konnte das Stück unzensiert in die russische Theaterrezeption eingehen.3 Trotz der Intervention des Volkskommissars für Bildung und Aufklärung, Anatolij Lunačarskij, und des naturalistischen Regisseurs Stanislavskij, Mejerchol’ds Antipode, setzten sich die Gegner der russischen Avantgarde und die Literaturfunktionäre bei Stalin durch. Weder ästhetische noch politische Argumente konnten den Generalsekretär der Partei davon überzeugen, daß „Samoubijca“ eines der „bemerkenswertesten Werke unserer Epoche“ sei. Ėrdman habe – wie es in Stanislavskijs Brief an Stalin vom 29. Oktober 1931 heißt – die „unterschiedlichsten Phänomene und die inneren Wurzeln des Kleinbürgertums“ aufgezeigt, die „sich dem Aufbau des Landes widersetzen“.4 Stalin entgegnete lakonisch, wie er gehört habe, sei die Komödie flach und politisch schädigend.5 Dennoch konnten einige Proben im Moskauer Künstlertheater Stanislavskijs angesetzt werden, da sich Maksim Gor’kij für die Komödie im Sommer 1931 eingesetzt hatte, obschon die Zensurbehörde (Glavrepertkom) ein Aufführungsverbot ausgesprochen hatte. Nach fünf Monaten mußten die Proben im Mai 1932 abgesetzt werden. Mejerchol’ds Versuch, das Stück in seinem Theater (GosTIM) für die Öffentlichkeit auf die Bühne zu bringen, scheiterte im August 1932. Folgenlos blieb auch die Empfehlung des Prosaikers Vsevolod Ivanov, „Samoubijca“ für den Druck freizugeben, um der Legendenbildung in Künstlerkreisen entgegenzuwirken und die „mythische Genialität“6 des Autors zu demaskieren. Das Aufführungs- und Publikationsverbot war begründet in dem Paradigmenwechsel, den die kommunistische Schriftstellerorganisation RAPP (Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller) seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre forcierte. Er bedeutete das Ende der formalen Diversität der experimentellen Avantgarde in allen Kunstbereichen und jeglicher satirischkritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen. Die Satire als literarische Ausdrucksform geriet in die öffentliche Kritik. Sie sei aufgrund der sowjetischen Gesellschaftspolitik zeitfremd, da es keine sozialen Mißstände mehr gebe, die verlacht, mithin ausgemerzt werden müßten.7 In seinem Antwortschreiben an Zinaida Rajch, die sich am 10. Januar 1932 bei dem Dramatiker und RAPP-Funktionär Vsevolod Višnevskij für Ėrdman eingesetzt hatte, diffamierte dieser „Samoubijca“ als ein „ungestraftes Pamphlet gegen die So-

„Samoubijca“ (Der Selbstmörder)

379

wjetmacht“. Im Unterschied zu dem Kleinbürger in Majakovskijs Komödie „Klop“8 (Die Wanze, 1929), der warmherzig, „einer von uns, ein bißchen wunderlicher, lebendiger ist“, sei Ėrdmans Protagonist verächtlich.9 Gesellschaftssatire Für Mejerchol’d setzte Ėrdman die „Grundlinie der russischen Dramatik – die Linie Gogol’, Suchovo-Kobylin“10 fort, die der satirischen Konfrontation mit gesellschaftlichen Mißständen wie Bürokratismus, Beamtenkorruption, Geldgier, Egoismus und materialistischen Grundeinstellungen den Selbstwert des Komischen und das Spielen im Spiel entgegensetzten. Auch vertrat Mejerchol’d anläßlich einer Diskussion 1925 zu Ėrdmans erster und beim Publikum unerhört erfolgreicher Komödie „Mandat“ (1925) die Meinung, der „neue werktätige Zuschauer“ verlange, daß „Kontakt zwischen Leben und Kunst“11 aufgenommen werde, was Ėrdman leiste, da er in seiner Komödie ein „Abbild des Alltags“ gebe und daher den „Bedürfnissen der Zuschauer“ entspreche. Der Verfasser von „Samoubijca“ thematisiert erneut den antagonistischen Widerspruch zwischen den Verheißungen der sowjetischen Parteiführer und den Alltagserfahrungen der Menschen, die von Entbehrungen und menschlichen Fehlleistungen geprägt sind. Er spielt auf soziale, ökonomische Probleme an, die in der frühen sowjetischen Literatur noch nicht tabuisiert, Ende der zwanziger Jahre jedoch indiziert waren. Er stilisiert seine Figuren nicht zu positiven Helden, vielmehr entsprechen diese der Kantschen Definition des Menschen: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts Gerades gezimmert werden.“12 Diesem widersprach das kommunistische Menschenbild, das im öffentlichen Diskurs und dann in der Literatur des Sozialistischen Realismus (1934 bis in die achtziger Jahre) propagiert wurde: Sie zimmerten den gradlinigen, optimistischen Menschen, der als Führerpersönlichkeit am Aufbau des idealen Lebens, des kommunistischen Utopia mitwirkt. Ėrdman verlegt das Handlungsgeschehen seiner Komödie ans Ende der Neuen Ökonomischen Politik (NĖP), die 1921 eingeführt worden war, um mit Hilfe des privaten Handels die marode Wirtschaft zu sanieren. Sieben Jahre später wurde der Kurs radikal geändert, da sich die Privatwirtschaft auf das Bewußtsein der Bevölkerung negativ auswirke und den Grundsätzen der kommunistischen Gesellschaftsorganisation widerspreche. Gewinner der NĖP-Periode sind in Ėrdmans Komödie der Schießbudenbesitzer Kalabuškin, dessen Geliebte Margarita Ivanovna, die ein Vergnügungslokal im Sommergarten betreibt, und der Metzger Pugačov, der nach der Kursänderung seine kleinunternehmerischen Interessen gefährdet sieht. Verlierer ist der Protagonist Podsekal’nikov, der arbeitslos ist, ein überflüssiger Mensch im Arbeiterstaat. Die soziale Herabsetzung und den damit verbundenen Selbstwertverlust kompensiert er gegenüber seiner Frau, indem er die traditionelle Geschlechterverteilung einfordert. Im Privatleben der Podsekal’nikov ist die Kampagne der Emanzipation der Frau von tyrannischen Ehemännern, die die Volkskommissarin für Staatliche Fürsorge

380

Nikolaj Ėrdman

Aleksandra Kollontaj Anfang der zwanziger Jahre mit der Einrichtung des Frauenbüros im Sekretariat des Zentralkomitees (Ženotdel) begründet hatte, nicht angekommen. Kollontajs Plädoyer für die sexuelle Freiheit ironisiert Ėrdman mit Kleopatra Maksimovna und Raiza Filippovna, die im Wettstreit um einen verheirateten Liebhaber für das platonische Liebesideal und die sexuelle Liebe werben. Ebensowenig haben die Podsekal’nikovs Anteil an der modernen Technologie, die der Schießbudenbesitzer beschwört, als er mit einer Parole des Parteiorgans „Izvestija“ Podsekal’nikov suggerieren will: „Das Leben ist schön.“ „Das Zeitalter der Aufklärung und der Elektrizität“ (I, 13) sei nun angebrochen, das Lenin auf die griffige Formel brachte: „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“ Das Licht der Vernunft, die den mündigen und selbstbestimmten Menschen auszeichnet, sowie das elektrische Licht sind im Wohnraum der Podsekal’nikovs innerhalb der Kommunalwohnung abgestellt. Viele Bereiche der sowjetischen Alltagsrealität setzt Ėrdman in „Samoubijca“ dem Spott aus, der aber nicht primär anklagt, sondern funktional für das Spiel eingesetzt wird. Im letzten Akt sind die beiden mosaikartigen Szenen mit den auf dem Friedhof plaudernden Greisinnen für die komödiantische Handlung redundant, nicht hingegen für die semantische Ebene (V, 2 und V, 3). Gegenstand der Gespräche ist die Differenz zwischen dem sowjetischen und dem christlichen Ritus der Bestattung. Bei dem ersteren werden die Toten verbrannt, weshalb eine Auferstehung, die Grundannahme der christlichen Religion, ausgeschlossen sei. Erneut erweist sich eine Verbindung zur extratextuellen Alltagssituation und erinnert an die Notsituation angesichts der vielen Toten nach der Revolution, des Bürgerkriegs und der Hungersnöte, als das Holz für die Särge fehlte und Verbrennungen kostenlos angeboten wurden.13 Innerhalb der Komödie generiert die Metapher der Auferstehung den Ausweg des vermeintlichen Selbstmörders Podsekal’nikov aus dem Dilemma, sich auf den Freitod eingelassen zu haben, ihn jedoch nicht vollziehen zu wollen. Der aufgebahrte Scheintote verläßt nach drei Tagen in der Kapelle lebendig den Sarg. Ebenso mokiert sich der Autor über Vertreter der Religion in der Gestalt des Priesters Elpidij. Dieser enthüllt mit anzüglichen Witzen über Aleksandr Puškin die Doppelmoral des Gottesmanns, der an viele seiner Vorgänger in der Komödienliteratur erinnert. Verspottet wird auch der „Proletkul’t“ (Proletarische Kultur), dessen Intention es Anfang der zwanziger Jahre war, die Arbeiter zu bilden und eine neue Kultur zu schaffen. Der kommunistische Mitläufer Egoruška kritisiert den Schriftsteller Viktor Viktorovič: Er solle nicht „über alles“14 schreiben, sondern sich auf Literatur für seine Berufsgruppe der Kuriere beschränken. Ebensowenig verschont Ėrdman die Partei und deren Ideologie von der Diktatur der Masse, die Individualismus als ein Relikt der bürgerlichen Gesellschaft diskreditierte. Die satirischen Anspielungen in „Samoubijca“, die Diskrepanz zwischen den privaten Bedürfnissen des einfachen Menschen und dem politischen Überbau, die dem

„Samoubijca“ (Der Selbstmörder)

381

damaligen Zuschauer vertraut war, treten jedoch hinter dem ausgeprägten Spielcharakter der Komödie zurück, die deutlich macht: Hier wird gespielt. Das Spielen im Spiel: Der Totentanz Mejerchol’d faszinierte die Kombination von Poesie und satirischen Scherzen in den Komödien Majakovskijs und Ėrdmans, die nach seinen Worten „auf die schmerzhaftesten Stellen unseres täglichen Lebens treffen, dabei aber den Zuschauer nicht in Niedergeschlagenheit stürzen“.15 Den Sturz in die Niedergeschlagenheit verhindert zudem die dramatische Organisation der Komödie, da Ėrdman mit Strukturelementen der Gattungsform spielt, um das Spielen im Spiel und den Akt des Spielens selbst über die vorgestellte Welt zu setzen. Ėrdmans Stücke bildeten kongeniale Vorlagen für Mejerchol’ds neue Bühnen- und Schauspielästhetik, die einen radikalen Paradigmenwechsel im Theater begründete. Mejerchol’d distanzierte sich vom psychologischen Illusionstheater Stanislavskijs mit der Konzeption des „bedingten“ Theaters (uslovnyj teatr), in dem die Bühne in ein Spiel- und Aktionsfeld verwandelt wurde, das Konstruktivität, Theatralität, Übersteigerung und Künstlichkeit im Zusammenspiel von Text, Schauspielern und Zuschauern offen zu erkennen gibt. Er verstand das Theater nicht als Imitation des Lebens, sondern als „bewußt geformte, eigenen Gesetzen unterliegende Kunstwirklichkeit“.16 Sein Konzept basierte auf theatralischen Primärelementen wie Gesten, Bewegung, Rhythmus, die er durch die expressive körperliche Präsenz (Biomechanik) der Schauspieler unterstrich. Auf diese Weise gelang eine Retheatralisierung des Theaters, das auch pantomimische und zirzensisch-akrobatische Einlagen und die Improvisation zuließ. Ėrdman reflektiert in „Samoubijca“ die Phylogenese der Komödie.17 In die Typenkomödie integriert er Elemente der Posse, des Volkstheaters, der Buffokomödie und der Groteske. Der Vertreter der Intelligenz, Aristarch Dominikovič Grand-Skubik18, kann als ein später Nachfahre des Dottore aus der Commedia dell’arte gelesen werden, dessen akademischer Habitus absurd wirkt. Aus dem komischen Paradigma der Komödie wählte Ėrdman Handlungsmuster, die die Komik und den Spielcharakter seines Stücks steigern und dessen Selbstreflexivität mitbegründen: die Molièresche Art, unters Bett zu kriechen (I, 2), die groteske Rivalität zwischen platonischer und sexueller Liebe, die Schlüssellochszene (II, 12), über deren erotische Semantik sich die des Spitzelwesens lagert, den Agon der Konkurrenten um den Selbstmord Podsekal’nikovs (II, 22), das dionysische Saufgelage im dritten Akt, das Erwachen des Protagonisten im Himmelreich (IV, 6), der Tod als Scheintod (IV, 12 – V, 5), schließlich die Erlösung des Protagonisten aus dem selbstverschuldeten Dilemma: den Tod nicht vollziehen zu können, obwohl er sich auf den Selbstmord eingelassen hat. Einen für die klassische Komödie zentralen Konflikt spart Ėrdman indes aus: den Liebeskonflikt, der am Ende versöhnlich gelöst wird. Ein wesentliches Gestaltungselement in „Samoubijca“ ist das Spiel mit der Polysemie der Sprache, die burleske Mißverständnisse auslöst, mit der Erosion

382

Nikolaj Ėrdman

von Sprache in den Monologen Podsekal’nikovs und des Schriftstellers Viktor Viktorovič sowie mit der Entropie der Reden, da einige der Figuren, Kleopatra und Raiza, nur über einen beschränkten Sprachvorrat verfügen. Die Figuren stammeln, verheddern sich in ihren Worten, berauschen sich an Bildfragmenten. Es wird gesungen und gebetet. Virtuos integriert Ėrdman konzeptionelle Strukturen und thematische Elemente aus den Komödien Gogol’s, unter dessen Autorität sein Stück steht und dem er mit der Süßspeise „Gogol’-mogol’“ (Zuckerei) ein Denkmal setzt, die Podsekal’nikov kredenzt wird, sobald eine glücklichere Lebenswende in Aussicht scheint. Analogien sind in der Konzeption von „Samoubijca“ und Gogol’s „Revizor“ (1836) erkennbar: Weder Podsekal’nikov noch Chlestakov werden den ihnen zugeteilten Rollen des Selbstmörders und des Revisors gerecht. Der eine ist der falsche Selbstmörder, der andere wird fälschlich als ein in die Provinzstadt entsandter Steuerbeamter angesehen. Für die expositorische Introduktion des ersten Akts verwendet der Autor 23 Szenen. Sie laufen mit cineastischer Schnelligkeit ab, begründen den Rhythmus des Ganzen, der bei den Monologen innehält, beim Bacchanal (III. Akt) und auf dem Friedhof (V. Akt) an Tempo verliert. Der erste Akt konstituiert „Samoubijca“ als Komödie, da Ėrdman hier das Repertoire an komischen Mißverständnissen, Verwechslungen, Täuschungen und Verwirrungen durchspielt. Zu nächtlicher Schlafzeit übermannt Podsekal’nikov das Gelüst auf ein Leberwurstbrot, das er bei seiner Frau einfordert (I, 1), dann aber mit aggressivem Habitus verweigert. (I, 3) Autoritär baut er eine Geschlechterfront auf, die in seinem Selbstwertverlust begründet ist. Im Privatraum ist die bürgerliche Rollenverteilung von Mann und Frau gewahrt, im öffentlichen Leben ist sie indes inversiert: Die Frau sorgt für den Lebensunterhalt der Familie, nicht der Mann. Aus Podsekal’nikovs Drohung, er werde seiner Existenz als Parasit ein Ende setzen, entwikkelt sich das eigentliche komödiantische Spiel, das der Mitbewohner Kalabuškin inszeniert: Er souffliert das Motiv für den Selbstmord, verrät Podsekal’nikov, wie er sich einen Revolver besorgen kann (I, 13), und er schlägt Kapital aus der Situation des sozial Stigmatisierten, indem er einen florierenden Handel mit zahlreichen Varianten eines Abschiedsbriefs treibt, in dem Podsekal’nikov seinen Selbstmord je nach Interesse der Käufer mit gesellschaftlichen, persönlichen oder absurden Repressalien motiviert. Als Podsekal’nikov im vierten Akt aus dem Totentanz ausscheren will, sind es die Zweifel von Ehefrau und Schwiegermutter an seiner Bereitschaft, sich das Leben zu nehmen, die den Ausstieg verhindern. An dieser Stelle potenziert Ėrdman das theatralische Ereignis zum Spielen im Spiel. Podsekal’nikov mimt den Toten, rettet sich in den Sarg vor den heranrückenden Prätendenten (IV, 13), transzendiert jedoch diese Rolle, da er sie im Beiseite-Sprechen kommentiert – wodurch die fiktive Welt erneut als eine Welt des Spiels herausgestellt wird. Kalabuškin gewinnt die vielen Käufer, die, durch die Partei, die Bürokratie, durch die politischen und kulturellen Reglementierungen gekränkt19, auf Podse-

„Samoubijca“ (Der Selbstmörder)

383

kal’nikovs Märtyrertod setzen, um ihrer Betroffenheit im öffentlichen Diskurs Gehör zu verschaffen. Auf der Bühne erscheinen nur einige Vertreter unterschiedlicher Berufsgruppen, die zwar von hehren Idealen voller Pathos sprechen, deren eigentliche Motivation aber Selbstsucht ist. Ihre Auftritte prägen die Struktur des zweiten Akts, der an die seriellen Auftritte in Gogol’s Komödie „Ženit’ba“ (Die Heirat, 1835) erinnert, in der eine Reihe von Freiern aus gewinnsüchtigen Motiven um eine Kaufmannstochter werben. In „Samoubijca“ treten nacheinander ein selbsternannter Delegierter der intelligencija sowie Vertreter der Ökonomie, der Liebe, der Literatur, der Religion auf. Doch bevor der Totentanz beginnt, setzt Ėrdman als Auftakt zum zweiten Akt eine clowneske Szene, die den Selbstwert des Komischen und den Akt des Spielens erneut präsent macht. Podsekal’nikov versucht, nach den abstrusen Anweisungen eines Lehrbuchs eine Künstlerexistenz als Baßtubist aufzubauen, um sich aus der Arbeitslosigkeit, aus sozialer Erniedrigung und der Abhängigkeit von seiner Frau zu befreien. Zwar gelingt es mit dem metaphysischen Beistand seiner Frau Maria, einen Ton zu produzieren, der ihr Beweis für die Existenz Gottes ist, doch das Experiment mißlingt. Podsekal’nikovs Rückfall in die Bedeutungslosigkeit endet in aggressiver Zerstörungswut (II, 1) und markiert den Beginn seines Aufstiegs zu einem vielumworbenen Mann, der als Toter das sagen kann, was dem Lebenden verwehrt ist (II, 3).20 Das Spiel mit Prätexten Angeführt wird der Reigen der Konkurrenten um Podsekal’nikovs Abschiedsbrief von dem Pseudointellektuellen Grand-Skubik. Dieser kämpft mit hohlem Pathos für die Wahrheit, die einst die Metaphysik, nach der Revolution aber der Sozialismus für sich beanspruchte. Das eigentliche Motiv ist jedoch die Mißachtung seiner Person durch den sozialistischen Staat, da er am Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung nicht beteiligt ist. Grand-Skubik überredet Podsekal’nikov mit der Aussicht auf ein pompöses Begräbnis, sich im Namen der zum Schweigen verdammten Intelligenz21 das Leben zu nehmen (II, 3). Ihm folgt Kleopatra, die Podsekal’nikovs Tod vordergründig zur Wertschätzung der platonischen Liebe zu instrumentalisieren sucht, ihrer Nebenbuhlerin aber eigentlich nur den Liebhaber abspenstig machen will (II, 8–II, 10). Einige Szenen später treten in der Abwesenheit Podsekal’nikovs weitere Interessenten auf. Der Metzger Pugačov pocht auf das Recht des Einzelhandels, den die neue Planwirtschaft abgeschafft hat22 (II, 17). Der Tolstojaner Viktor Viktorovič stimmt die Klage an, die Kunst sei zur Ware degradiert und der Schriftsteller in seiner dichterischen Freiheit eingeschränkt, da er nur mehr „Trommler“ bei staatlichen Begrüßungszeremonien sei. Während des Bacchanals im dritten Akt, das zu Ehren des Todgeweihten Podsekal’nikov zwei Stunden vor dem anvisierten Todesschuß gefeiert wird, steigert sich der geknebelte Schriftsteller in eine Sehnsuchtstirade über die freie, grenzenlose Rus’, mit der Ėrdman den Schluß von Gogol’s Roman „Mertvye duši“ (Die toten Seelen, 1842) paraphrasiert und die er mit einem

384

Nikolaj Ėrdman

direkten Zitat beendet: „Rußland, wohin jagst du, gib Antwort?“23 Egoruška erwidert desillusionierend: „In die Miliz“ (III, 2). Zu der Gruppe gesellt sich der Priester Elpidij (II, 19), dessen Scheinheiligkeit Ėrdman in der Bankettszene demaskiert, wo der Gottesmann schlüpfrige Zoten über Aleksandr Puškin zum Besten gibt und in die Polyphonie der disparaten Stimmen die Stimme der Erotik mischt. Die Serie beendet die Repräsentantin der sexuellen Liebe, Raiza, die Kalabuškins Betrug aufdeckt, der in sein Spielarrangement keine persönlichen Kontaktaufnahmen mit Podsekal’nikov eingeplant hat, sich jedoch damit herausredet, es sei wie bei der Lotterie: Der Zufall bestimme, für welche Interessenten sich der Selbstmörder entscheiden werde (II, 22). Die Situation eskaliert in einem Agon um das Vorrecht auf den Toten, der mit der Übereinkunft endet, als Kollektiv und nicht als Individuen Anspruch auf Podsekal’nikovs Tod zu erheben. Gegen Ende der Szene bringt Ėrdman eine weitere Figur und mit ihr eine zusätzliche Fiktionsebene ins Spiel. Der Schriftsteller Viktor Viktorovič unterbricht die Debatte mit der Erkenntnis, nicht der Tote sei wichtig, sondern das, was von ihm bleibe, der Wurm, der „ewige Arbeiter“, der sich unendlich reproduziere. Ėrdman steigert die Absurdität noch: Der Schriftsteller schlägt vor, in dem etwas melancholischen Fedja Pitunin, einem „bemerkenswerten Typ“, den „Wurm wachzurufen“.24 Mehr erfährt der Zuschauer nicht. Er wird in der Ungewißheit gelassen, ob Pitunin eine Hintergrundfigur mit einer eigenen Fabel25 oder eine Fiktion des Schriftstellers ist. Ėrdmans Spiel mit theatralischen Effekten verweist jedoch auf die Interpretation, daß der rätselhafte Pitunin Fiktion innerhalb der Fiktion ist. Dadurch wird erneut die Künstlichkeit des Theaters aufgezeigt, das mit der anwesenden Abwesenheit einer Figur spielen kann, die nie auftritt, deren Stimme jedoch dramaturgisch eingesetzt wird; denn Pitunin setzt das dissonante Finale der Komödie mit seinem Abschiedsbrief: „Podsekal’nikov hat recht. Es lohnt sich wirklich nicht zu leben“ (V, 7). Durchbrochen wird die Serie der Konkurrenten von dem Als-ob-Kommunisten Egoruška (II, 12–II, 14), eine Karikatur des von Gor’kij und Lunačarskij propagierten intelligenten Arbeiters, der als proletarischer Sozialist unter den Werktätigen das neue Wissen verbreiten sollte, um die proletarische Kulturrevolution voranzutreiben.26 In „Samoubijca“ wird der intelligente Arbeiter zum tumben Opportunisten transformiert, der unreflektiert politische Parolen und Prinzipien nachplappert und dessen aus „marxistischer Perspektive“ gezimmerte Weltanschauung ein Zeichensystem willkürlicher Bedeutungen darstellt, die je nach Situation umgewertet werden. Mit dem kommunistischen Mitläufer holt Ėrdman das Denunziantentum in die Komödie. Egoruška zeigt den NĖP-Mann Kalabuškin an, nicht aus politischen, sondern aus privaten Motiven, da die geschlossene Schießbude ihm das Vergnügen verwehrt zu schießen. Mit Podsekal’nikov gestaltet Ėrdman den Typus des durch seine Umwelt determinierten Menschen, der, mangels Selbstbewußtsein und Wertehorizont, der Fremdbestimmung nichts entgegenstellen kann. Podsekal’nikovs soziale Existenz ist durch das postrevolutionäre System beschädigt. Den Selbstverlust kom-

„Samoubijca“ (Der Selbstmörder)

385

pensiert er in der Privatexistenz mit patriarchalischem Habitus. Er läßt sich instrumentalisieren, um aus dem gesellschaftlichen Abseits in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken, obwohl der Preis dafür der Tod ist. Hamlets Zweifel, „To be or not to be“, geben die Struktur für Podsekal’nikovs Monologe vor, in denen dieser zwischen der Dichotomie Sein oder Nicht-Sein schwankt: zwischen der Entscheidung, dem aus sozialistischer Perspektive unwerten Leben ein Ende zu setzen oder ein Leben in Abhängigkeit fortzuführen. Zwar hat der Gedanke an Selbstmord sein „widerliches“, „unmenschliches“ Leben für einen Tag „verschönert“27, eigentlich wünscht er sich jedoch nichts weiter als ein „stilles Leben und ein anständiges Gehalt“.28 In kurzen Monologen bereitet er sein Ende vor, schreibt einen Abschiedsbrief (I, 19 und I, 23), verfaßt ein Testament (II, 24) und spielt Variationen der Selbsttötung durch (IV, 7). Kontingenz Einen Höhepunkt seiner rhetorischen Auseinandersetzung mit dem Tod stellt der Monolog in Anwesenheit eines Taubstummen dar, der als Zufallsgast in Podsekal’nikovs Zimmer abgestellt wird. In diesem Zusammenhang bringt Ėrdman die Pantomime ins Spiel. Podsekal’nikov, der nicht wahrnimmt, daß sein Gegenüber kein Wort versteht, bezieht diesen verbal in seinen Monolog mit ein, ermahnt ihn, seine Rede nicht zu unterbrechen und gibt ihm szenische Verhaltensanweisungen (II, 28). Im vierten Akt fällt der Taubstumme jedoch aus der Rolle. Angesichts des im Sarg sitzenden scheintoten Podsekal’nikov stößt er einen Schrei aus, danach übernimmt er wieder den früheren Part, versagt jedoch als Pantomime, da die nonverbale Botschaft, der Tote sei am Leben, den Anwesenden unverständlich bleibt. Die Monologszene mit dem Taubstummen spielt auch den Effekt aus, daß es keine rationale Antwort auf Podsekal’nikovs Frage geben kann: Gibt es ein Leben nach dem Tod? In abstrusen Reflexionsschleifen versucht er philosophisch die Zeit zu ergründen, die Zeit vor und nach dem Knall. Schließlich nähert er sich ontologisch der Frage nach dem Sein des Menschen vor dem Tod und danach, springt von der philosophischen Fragestellung zum wissenschaftlichen Materialismus Darwins, aber weder die Philosophie noch die Evolutionstheorie können seine Frage beantworten. Die Rettung ist die Religion und deren Annahme von der Seele als dem unsterblichen Teil des Menschen. Doch der Zweifel, ob es eine Seele gebe, stürzt Podsekal’nikov aus der Ekstase zurück in die Realität mit der Kardinalfrage „Gibt es ein Leben danach oder nicht? Ich frage Sie?“29 Der Taubstumme kann ihm keine Antwort geben. Der politische Mitläufer Egoruška entgegnet im dritten Akt während des Banketts: „In der heutigen Zeit mag es das geben, im Sozialismus wird es das nicht geben. Das garantiere ich.“30 Der Priester windet sich mit der dreifachen Wahrheit heraus: Die Religion zweifle nicht daran, die Wissenschaft negiere die Frage, letztlich wisse es keiner.31

386

Nikolaj Ėrdman

Von den ersten Szenen an spielt Ėrdman mit der Semantik der Religion, die die Komik und die Theatralität der Komödie zusätzlich steigert und Karl Marx’ These parodiert: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“32 Podsekal’nikovs Frauen suchen in ihr Beistand in unerklärlichen Situationen (I, 5), glauben an den Gottesbeweis in der Baßtuba-Szene (II, 1). Podsekal’nikov imaginiert sich als Seele in die Begegnung mit Gott (II, 28), die Ėrdman im vierten Akt szenisch ausgestaltet. Podsekal’nikov, der seine Todesangst in Wodka ertränkt hat, verwechselt seine Frau mit der Gottesmutter Maria und die Schwiegermutter mit Gott. Im letzten Akt wird der Friedhof zum dissonanten Schauplatz, auf dem sich die Erhabenheit der orthodoxen Totenmesse und die Trivialität der weltlichen Totenklagen zur grotesken Polyphonie vermischen. Im Kontrast zur Totenfeier steht das dionysische Gelage im dritten Akt, an dem Podsekal’nikov als Hauptgast, durch Papierschlangen ausgezeichnet, zwar physisch, jedoch nicht psychisch teilnimmt. Aus der monoton repetierten Frage „Wieviel Uhr ist es?“ bricht er kurz vor der Todesstunde in einen dreiteiligen, unterbrochenen Monolog aus, der rebellisch mit einem Telefonanruf im Kreml endet, um dort die Nachricht zu hinterlassen „Ich habe Marx gelesen, und Marx hat mir nicht gefallen“.33 Der Monolog beginnt mit der ekstatischen Setzung des Ich. Podsekal’nikov lehnt sich gegen die Verabsolutierung der Masse und die Mißachtung des Individualismus als Relikt der bürgerlichen Gesellschaft auf. Seine Rede endet mit der Drohung, als Toter werde er anfangen zu reden. An dieser Stelle kippt Ėrdman die Anklage wieder ins Komische. Podsekal’nikovs Sprache versagt, da er nicht weiß, wofür er sterben will. Das Restaurant „Zur schönen Welt“ wandelt sich zur Bühne auf der Bühne. Es wird ein Tisch mit Schreibgarnitur und Arbeitslampe hereingetragen, an dem Podsekal’nikov den vom Pseudointellektuellen Grand-Skubik verfaßten Abschiedsbrief im Namen der intelligencija abschreibt. Noch einmal entrückt er in eine Allmachtsphantasie, mit der er sich von der Lebensangst in ein selbstbestimmtes Handeln frei spricht, von einer Angst, die nicht ihn allein lähme, sondern die gesamte Bevölkerung der Sowjetunion: „40 Millionen gibt es in der Union, Genossen, und jede Million hat vor jemandem Angst.“34 Podsekal’nikov überschreitet nicht nur sprachlich die Grenze seines unbedeutenden Lebens, indem er gegen das Wertesystem des Sozialismus rebelliert, er wird bei seinem Anruf im Kreml zum Konterrevolutionär. Im letzten Akt kämpft Podsekal’nikov um sein Leben. Ėrdman gestaltet eine Massenszene mit Spaziergängern, Prostituierten, Schaulustigen, Trauergästen und den Angehörigen des Scheintoten, wobei die Konnotation des Friedhofs überlagert wird von der eines Schauplatzes, auf dem die Lebenden ihre Spektakel aufführen und dissonante Diskurse miteinander wetteifern: die Religion, die Agitation, die Poesie, die Rhetorik und die Erotik. Es entsteht eine Dissonanz zwischen den geistlichen Texten und der Totenrede Egoruškas im Namen der

„Samoubijca“ (Der Selbstmörder)

387

Masse, zu der ihm der Schriftsteller Viktor Viktorovič den entscheidenden Satz liefert: „Es ist nicht alles ruhig im Königreich Dänemark.“35 Das leicht variierte Zitat aus Shakespeares „Hamlet“ wird von Egoruška als politische Nachricht mißverstanden und in eine Philippika gegen das kapitalistische System umgemünzt. Viktor Viktorovič wählt den lyrischen Abgesang auf den Toten, indes der Intellektuelle Grand-Skubik erneut in rhetorische Posen verfällt. In die liturgische Handlung platzt das Gerangel Kleopatras mit ihrem Liebhaber, das den Auftakt für einen zweiten Agon bildet. Das Kollektiv bricht auseinander, jeder erhebt erneut Anspruch auf den Toten. Schlichtend wirkt die Schwiegermutter. Sie mahnt, des Toten zu gedenken, der sich wegen einer Leberwurst erschossen habe. Die Replik verweist kreisförmig auf den ersten Akt, der das Spiel in Gang gesetzt hat. Das Spiel endet für Podsekal’nikov glücklich, da der Selbstmord Pitunins, der eine neue Variante des deus ex machina darstellt, ihn aus dem Dilemma erlöst, mit Gewalt sein vitales Recht auf Leben durchzusetzen. Offen bleibt jedoch, welche Art von Leben es sein wird. Wie schon Gogol’ entscheidet sich Ėrdman gegen den traditionellen Komödienschluß, der unter dem Zeichen der Versöhnung steht. Mit der von beiden Autoren auf der Bühne vorgestellten Welt und einer Gesellschaft, die den Menschen verachtet, ist weder Versöhnung noch Weltvertrauen mehr möglich.36

Bettina Kaibach

Isaak Babel’: Marija „Ich denke, daß Sie auch kein Dramatiker“ sind, mußte Isaak Babel’ 1933 in einem Brief seines Mentors Maksim Gor’kij lesen, dem er wenige Monate zuvor eine erste Manuskriptversion von „Marija“ vorgetragen hatte.1 Dieses Verdikt hat sich als erstaunlich zählebig erwiesen. Als Prosaautor ist Babel’ längst zu Weltruhm gelangt. Die kunstvoll gearbeiteten, zutiefst verstörenden Miniaturen über Krieg und Revolution in seinem Erzählzyklus „Konarmija“ (Reiterarmee, 1923–1926) zählen heute ebenso zu den Meisterwerken der russischen Moderne wie die „Geschichten aus Odessa“ (Odesskie rasskazy, 1921–1924), die die Stadt am Schwarzen Meer mitsamt ihrer jüdischen Unterwelt zu einem Topos der russischen Literatur werden ließen. Der Dramatiker Babel’ hat dagegen kaum Beachtung gefunden. In der mittlerweile umfangreichen Forschungsliteratur zu Babel’s Werk werden die beiden Stücke „Zakat“ (Sonnenuntergang, 1928) und „Marija“ (1935) meist nur am Rand erwähnt.2 Und fast immer fällt das Urteil eher ungünstig aus. Während das erstere aufgrund seines Schauplatzes und der Thematik häufig als eine Art Wurmfortsatz der „Geschichten aus Odessa“ behandelt wird3, gilt das letztere vielen als mißratenes Stück, wenn nicht gar als „wenig inspirierter Versuch“, den ideologischen Ansprüchen einer seit 1929 zunehmend rigideren Literaturpolitik zu genügen.4 Tatsächlich war Isaak Babel’ seit Anfang der dreißiger Jahre unter massiven Druck geraten. Zwar genoß er – eine der zahlreichen Paradoxien des stalinistischen Systems – noch immer sämtliche Privilegien eines angesehenen Schriftstellers. Seine Lage war jedoch prekär: Bereits 1930 hatte er sich gegen Anschuldigungen wegen antisowjetischer Äußerungen verteidigen müssen. Seine Familie lebte in der Emigration. Er selbst hatte im Ausland publiziert. Zu alldem konnte er sein seit Jahren angekündigtes Buch über die Zwangskollektivierung, die er als Augenzeuge verfolgt hatte, nicht zu Ende bringen. Daß die Schreibhemmung wohl eher Ausdruck einer Verweigerungshaltung war, ließ Babel’ selbst durchblicken, wenn er sich auf dem ersten sowjetischen Schriftstellerkongreß 1934 trotzig als „Meister des Schweigens“ bezeichnete.5 Gründe, politische Linientreue zu beweisen, gab es also genug. Auf den ersten Blick scheint „Marija“ diesen Zweck tatsächlich zu erfüllen. Schauplatz des Stücks ist das hungrige, kalte, von Revolution und Bürgerkrieg gezeichnete Petersburg im Frühjahr 1920.6 In acht lose miteinander verknüpften „Bildern“ schildert Babel’ exemplarisch den Untergang des Adels und den Sieg des Proletariats. Die ersten sieben Bilder zeigen, wie die Generalsfamilie Mukovnin, die sich aus materieller Not in die Machenschaften einer Schieberbande verstrickt hat, hilflos versucht, in der neuen Zeit Fuß zu fassen. Im Mittelpunkt steht Marija, die Tochter des Generals. Sie hat als Kommissarin der Roten Armee den Schritt in die neue Ära vollzogen. Auf sie konzentriert sich alle Hoffnung der

„Marija“

389

Familie, und selbst auf die hartgesottenen Schieber übt Marija eine merkwürdige, fast magische Anziehungskraft aus. Auffälligster Kunstgriff des Stücks: Obgleich in Gesprächen ständig anwesend, tritt Marija selbst kein einziges Mal in Erscheinung. Ebensowenig greift sie, entgegen aller Erwartung, von ferne in die Handlung ein. Die Titelheldin bleibt ein Phantom, Projektionsfläche für die Hoffnungen einer entwurzelten Gesellschaft, deren Zerfall besiegelt ist: Marijas Schwester wird verhaftet, der Vater stirbt, der Familienbesitz wird konfisziert. Auf den endgültigen Niedergang des Adels im siebten Bild folgt im achten der Aufstieg der siegenden Klasse, und zwar buchstäblich: Ein Arbeiterpaar zieht aus dem Keller des Mukovninschen Palais nach oben in die sonnigen Gemächer der Familie. Zum Schluß scheint das Stück vollends in revolutionärem Zukunftspathos aufzugehen. Die letzte Szenenanweisung gipfelt in einer regelrechten Apotheose des Proletariats: Eine kraftstrotzende Vertreterin des einfachen Volks tritt zum Fensterputzen an und verwandelt sich dabei für das Auge des Publikums in eine Art weiblichen Atlas. Babel’s Regie präsentiert sie uns im Strahlenglanz der Frühlingssonne „wie eine Statue“ (VIII), die mit mächtigen Armen den Himmel stützt. Die sowjetische Kulturpolitik ließ sich davon nicht beeindrucken. Mit der ersten Publikation war das Stück bereits vernichtet. Zu der Zeitschriftenversion vom März 1935 wurde nämlich die rechte Lesart gleich mitgeliefert. Synoptisch mit „Marija“ erschien in „Teatr i dramaturgija“ (Theater und Drama) ein Artikel von Isaj Ležnev: Während Babel’s Text nur den oberen Teil der Seiten füllte, blieb der untere dem einflußreichen Kritiker vorbehalten – das Publikum war also förmlich gezwungen, das Drama durch dessen Optik zu betrachten.7 Ležnev brandmarkte „Marija“ als ein Werk von zwar hohem künstlerischen Rang, aber gefährlicher politischer Tendenz und einer regelrecht aufdringlichen Sexualität – ein Vorwurf, der seinerzeit auch schon den Zyklus „Konarmija“ getroffen hatte. Ähnlich wie 1926 Michail Bulgakovs „Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins) wurde nun auch Babel’s Stück attackiert, weil es die Verlierer der Revolution, die sogenannten „Gewesenen“ (byvšie ljudi) mit Sympathie und Mitleid schildere. Der Titelheldin bescheinigte Ležnev überdies Arroganz und mangelndes Klassenbewußtsein.8 Die Wirkung seiner Kritik war durchschlagend: Die Proben für „Marija“ am Vachtangov-Theater wurden abgebrochen. Von nun an wagte es über ein halbes Jahrhundert lang keine russische Bühne mehr, das Drama aufzuführen.9 Natürlich läßt ein solcher Verriß vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Kulturpolitik der dreißiger Jahre keine Schlüsse über die Absicht zu, in der Babel’ sein Stück verfaßt hatte. Selbst Vsevolod Višnevskij, an dessen ideologischer Standfestigkeit wirklich kein Zweifel bestehen konnte, war ja drei Jahre zuvor für sein Drama „Optimističeskaja tragedija“ (Optimistische Tragödie) heftig angegriffen worden.10 Dennoch: Ganz unrecht hatte Ležnev mit seiner Einschätzung nicht. „Marija“ ist ein zutiefst zweideutiger Text, voller Gegensätze und Widersprüche. Gerade diese Ambivalenz macht das Stück aber erst inter-

390

Isaak Babel’

essant. Sie ist ein Indiz dafür, daß Babel’ kein plattes Propagandawerk geliefert hat, selbst wenn wir ihm unterstellen, daß er „Marija“ tatsächlich schrieb, um seinen Kopf aus der sich langsam verengenden Schlinge zu ziehen. Manches spricht dafür, daß es ihm ähnlich erging wie wenige Jahre später dem Dichter Osip Mandel’štam. Um seine Haut zu retten, rang sich dieser 1937 eine „Ode an Stalin“ ab. Indem er jedoch ein Netz von motivischen Mehrdeutigkeiten und Bezügen zum eigenen Werk in die Eloge verwob, schuf er einen schillernden, vielschichtigen Text, der sich – wie die Forschung nachgewiesen hat – mindestens ebenso gut als antistalinistisches Pamphlet wie als Huldigung deuten läßt.11 Auch „Marija“ kann subversiv gelesen werden: als eine von Zweifeln und Skepsis geprägte Auseinandersetzung mit der Revolution und als düstere Prognose des eigenen Schicksals, das der Autor bekanntlich mit Mandel’štam teilte (dieser starb 1938 in einem Lager, Babel’ wurde 1940 erschossen). Babel’s Text erweist sich bei näherem Hinsehen gleichfalls als vielschichtiges Gebilde, dessen Sinn nicht auf die vermeintlich eindeutige Schlußbotschaft reduziert werden darf. Das Stück entfaltet seine künstlerische – und subversive – Qualität erst, wenn wir seine unterschiedlichen Bedeutungsebenen in den Blick nehmen. „Marija“ als Dialog mit der Zeitgeschichte „Sie haben Rußland gleichgemacht“ (Podravnjali Raseju), konstatiert gleich im ersten Bild Evstigneič, einer der drei Kriegskrüppel, die den Schieber Dymšic mit Ware versorgen‚ angesichts der immer einförmigeren sowjetischen Konsumgüterproduktion. Wenig später greift er das Verb „podravnjat’“ in einem ganz anderen Kontext noch einmal auf, wenn er darüber klagt, daß das Volk im heutigen Petrograd den Invaliden jeglichen Respekt verweigere: „Du hast, sagen sie, ja gar nicht gelitten. Dir haben sie die Beine unter Chloroform gleichgemacht [podravnjali], du hast doch gar nichts gespürt. Nur mit deinen Zehen gibt es noch dieses Mißverständnis, deine Zehen ziehen irgendwie, sie jucken, obwohl sie dir abgenommen wurden, und das ist auch schon alles, was mit dir ist“ (I). Zunächst scheint zwischen den beiden Stellen keinerlei Zusammenhang zu bestehen. Diesen stiftet erst die Wiederholung des Schlüsselbegriffs „podravnjat’“. Die leicht zu übersehende Parallele birgt einen sarkastischen Hintersinn: Der beinlose Evstigneič leidet stellvertretend an den Phantomschmerzen einer Gesellschaft, die in einer brutalen Operation „gleichgemacht“ wurde. Es ist nicht die einzige Anspielung dieser Art. Immer wieder flicht Babel’ mehr oder minder verdeckte Hinweise auf die politischen Mißstände im sowjetischen Rußland ein. Ein weiteres Beispiel soll genügen: Der ehemalige Rittmeister Viskovskij – die wohl negativste Figur im Drama – prophezeit dem in der Festung Kronstadt stationierten Rotarmisten Kravčenko ein böses Ende: „Du machst alles mit, und wenn sie dir befehlen: Sag dich dreimal von deiner Mutter los, sagst du dich von ihr los. Aber nicht darum geht es, Jaška, die Sache ist die, daß sie noch weiter gehen werden: Sie werden dir nicht erlauben, Wodka in der Gesellschaft zu trinken, die dir gefällt, sie werden dich zwingen, langwei-

„Marija“

391

lige Bücher zu lesen, und auch die Lieder, die sie dir dann beibringen wollen, werden langweilig sein… Dann wirst du wütend, roter Artillerist, rasen wirst du und mit den Augen rollen… Zwei Bürger werden dich besuchen: ‚Gehen wir, Genosse Kravčenko…‘ – ‚Meine Sachen‘, fragst du, ‚soll ich die mitnehmen oder nicht?‘ – ‚Die Sachen kannst du dalassen, Genosse Kravčenko, in ein paar Minuten ist es vorbei, ein Verhör, Kleinigkeiten…“ Und sie machen Schluß mit dir, roter Artillerist, das kostet die vier Kopeken. Man hat berechnet, daß eine Kugel für einen Colt vier Kopeken kostet und keinen Centime mehr“ (IV). 1935 mußten sich Viskovskijs Worte wie ein düsteres Orakel lesen, das die Wirklichkeit längst in beklemmender Weise eingelöst hatte: Revolutionäre vom Schlag eines Kravčenko waren im Zuge des Kronstädter Aufstands vom März 1921 erschossen worden. Und Babel’ tut noch ein Weiteres: Ausgerechnet den von Viskovskij als prinzipienlosen Gesellen verunglimpften Kravčenko präsentiert er uns als eine Art Ehrenmann. Als Viskovskij Marijas Schwester Ljudmila vergewaltigt und dabei mit Gonorrhöe infiziert, stellt Kravčenko ihn zur Rede und erschießt ihn. Ein Rebell von Kronstadt als Mann von Anstand – vom zeitgenössischen Publikum konnte dies durchaus als verborgene Provokation gedeutet werden. Und wenn Viskovskij eine totale Kontrolle des geistigen Lebens vorhersagt, die nur noch „langweilige“ Bücher und Lieder zulassen werde, so war ja auch dies spätestens seit Beginn der dreißiger Jahre dem Publikum bitter vertraute Realität. Gewiß: Babel’ hat alle derartigen kritischen Äußerungen in „Marija“ ausschließlich skrupellosen Schiebern in den Mund gelegt. Doch sind diese Ansichten dadurch auch in der Sache disqualifiziert? Immerhin läßt der Autor sie im Stück unwidersprochen stehen. Daß Babel’ zumindest unter der von Viskovskij prophezeiten Zensur selbst zu leiden hatte, konnte sich das Publikum an zwei Fingern ausrechnen. Überhaupt dominiert in „Marija“ die Perspektive der Schieber und Adligen, der kurzfristigen Profiteure der Revolution also, und derer, die als „Gewesene“ bereits unter ihre Räder geraten sind. Dagegen bleiben die beiden Figuren, die die Zukunft verkörpern und im Sinne der neuen Kunstdoktrin zu positiven Helden taugen, auffallend abwesend: Nicht nur Marija, auch der Revolutionär Red’ko, der die den Mukovnins nahestehende Katja gelegentlich zum erotischen Stelldichein ins Stabsquartier bestellt, kommt nur indirekt zu Wort, ohne jemals als dramatische Person aufzutreten. Wie schon Michail Bulgakov in „Dni Turbinych“ zeichnet auch Babel’ die „Gewesenen“ ohne jede klassenkämpferische Schwarzweißmalerei.12 Die Mukovnins und ihre Freunde dürfen als differenzierte Gestalten erscheinen, die sich jeder eindeutigen Bewertung entziehen. So verleiht ihnen Babel’ zwar durchaus komische Züge, ohne sie jedoch dadurch der Lächerlichkeit preiszugeben. Den General Mukovnin etwa schickt er in seinem zum Schlafrock umgeschneiderten Militärmantel auf die Bühne und setzt ihm obendrein gleich zwei Brillen auf die Nase. Paradoxerweise aber gerät dieser trotz des Aufzugs nicht zur Witzfigur:

392

Isaak Babel’

Mit seinen vergeblichen Versuchen, sich in die andere Seite einzudenken und aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, gewinnt der General sogar tragische Größe. Ähnlich verhält es sich mit dem cellospielenden Fürsten Golicyn, der sich als Kneipenmusikant durch die neue Welt schlagen muß. Auch er darf eine gewisse Würde zeigen. Wenn Golicyn inmitten von Kampf, Gier und Brutalität christliche Weltflucht und Entsagung predigt, entfalten seine Worte eine seltsame, nahezu Myškinsche Kraft. Und Ljudmila Mukovnina wirkt zwar komisch in ihrem Bestreben, mit höfischen Manieren bei den Schiebern zu reüssieren; in ihrem furchtbaren Scheitern erregt sie jedoch unser Mitleid. Zugleich verhindert Babel’ gezielt, daß solches Mitleid je in Sentimentalität umschlägt. Alles hat seine Kehrseite. Jede Stimme findet ihre Gegenstimme. Von dem Tschekisten, der die mißhandelte Ljudmila brutal ins Verhör nimmt, erfahren wir, daß er seit fünf Tagen nicht geschlafen hat. Der scheinbar so souveräne Fürst erweist sich als impotent – auch darin Dostoevskijs asexuellem Fürsten Myškin nicht unverwandt. Und wenn Mukovnin in seiner rückblickenden Selbstwahrnehmung gern immer schon ein Freund des Volks gewesen sein möchte, macht der Arbeiter Andrej deutlich, wie diese Freundschaft beim Volk ankommt: „Er hat nicht mehr Schaden angerichtet, als von einem wie ihm zu erwarten war. Hat selbst sein Holz gehackt“ (VIII). Stets vermeidet Babel’ die Parteinahme, läßt die unterschiedlichen Perspektiven unversöhnt aufeinanderprallen. Im Gegensatz zu den mit Stärken und Schwächen ausgestatteten dramatis personae wirken die fernen Helden Marija und Red’ko auf den ersten Blick wie ideale Lichtgestalten, geradezu allmächtig. Bei näherem Hinsehen erweisen sie sich jedoch als oszillierende Figuren, die durchaus über eine dunkle Seite verfügen. Beide zeigen nämlich bei allem Engagement für die große Sache eine bemerkenswerte Kälte gegenüber dem Einzelschicksal: Red’ko bittet Katja zwar gern zur Triebabfuhr auf sein Wachstuchsofa. Als sie sich aber in ihrem Elend an ihn wendet, wimmelt er sie telefonisch ab. Marija hat – wie ihr im fünften Bild verlesener Brief von der Front belegt – keine Ahnung von der Not der Daheimgebliebenen, und sie verkennt in grotesker Weise die ausweglose Lage ihrer Schwester Ljudmila.13 Die Diskrepanz zwischen der Allmacht, die den Berufsrevolutionären von den anderen zugeschrieben wird, und ihrer eigentümlichen Unfähigkeit, helfend einzugreifen, tritt besonders kraß hervor, als die Krise der Mukovnins mit Ljudmilas Verhaftung durch die Tscheka ihren Höhepunkt erreicht. Diesmal sind die Folgen von Marijas Fehleinschätzung fatal. In einer meisterhaft gearbeiteten Antiklimax läßt Babel’ statt der verzweifelt Erwarteten einen von ihr gesandten neunzehnjährigen Rotarmisten erscheinen – mit einem Sack voller Lebensmittel, der der vermutlich längst erschossenen Schwester kaum mehr nützen dürfte. Der Vater überlebt die Enttäuschung über das Ausbleiben der dea ex machina nicht. Er bricht auf der Bühne zusammen. Was aber hat Babel’ bewogen, die Titelheldin seines Stücks nicht selbst auftreten zu lassen? Die gängigen Erklärungsmuster blenden die oben skizzierte

„Marija“

393

Ambiguität der Figur aus. Sollte sich Babel’, wie bisweilen behauptet wird, tatsächlich gescheut haben, eine Gestalt auf die Bühne zu bringen, die in ihrer Idealität kitschig wirken könnte?14 Wollte er uns gar, indem er Marija in räumliche Ferne rückte, den neuen, politischen Menschen vor Augen führen, der sich aus den Verstrickungen des Privaten löst?15 Oder ist Marijas Abwesenheit nicht doch eher im übertragenen Sinn zu verstehen – als emotionale Blindheit gegenüber einer menschlichen Not, die mit politischen Parolen und militärischem Kampfeswillen nicht zu beheben ist. Vernehmen wir also hier nicht Babel’s Kritik an einer Revolution, die im Namen der Fernstenliebe die Nächstenliebe vernachlässigt? Die Revolution folgt dem „Gesetz der großen Zahl“, zitiert Katja ihren Geliebten Red’ko und fragt: „Aber ich selbst bin doch eine kleine Zahl – oder zählt das vielleicht nicht?…“. „Es sollte zählen“, antwortet der Fürst (VII). Dieser Konjunktiv macht deutlich: Faktisch ist der Konflikt zwischen Kollektiv und Individuum längst entschieden. Die Frage, ob das Leiden einzelner im Namen des kommunistischen Ideals zu rechtfertigen ist oder nicht, läßt Babel’ zwar unbeantwortet; daß er diesen Konflikt aber überhaupt aus der Perspektive des Individuums zu schildern wagt, verdient Beachtung. Vergleichen wir sein Stück mit dem bereits erwähnten, nur wenig früher erschienenen Drama „Optimističeskaja tragedija“ von Vsevolod Višnevskij, das gewisse thematische Parallelen zu „Marija“ aufweist: Višnevskij siedelt die Handlung ebenfalls im Bürgerkrieg an und stellt die ideal überhöhte Gestalt einer roten Kommissarin in den Mittelpunkt. Und auch hier wird die Frage aufgeworfen, was mehr zählt, die Menschheit oder der einzelne Mensch,16 doch ist diese Frage jetzt nur noch rhetorisch zu verstehen. Višnevskij läßt gar keine Individuen mehr auftreten, sondern bloß typisierte, zumeist namenlose Vertreter einer bestimmten Klasse oder politischen Richtung. In einem rauschenden Schlußakkord feiert er schließlich den endgültigen Sieg der von jeder individuellen „Melodie“ gereinigten Masse.17 Daß Babel’ mit „Marija“ nicht zuletzt auch gegen einen solchen Kult des Kollektivs anschreibt, zeigt ein Vergleich der beiden weiblichen Hauptfiguren. Während nämlich Višnevskijs rote Kommissarin – trotz ihrer Beteuerung, eine „normale […] Frau“18 zu sein – eine völlig sterile Figur bleibt, ist es paradoxerweise die unseren Blicken entzogene Marija, die zumindest für einen Augenblick als Mensch aus Fleisch und Blut erscheinen darf. Ähnlich wie Višnevskij gewährt uns auch Babel’ mittels eines Briefs einen kurzen Einblick ins Seelenleben seiner Heldin, doch wendet er das gleiche Verfahren in genau entgegengesetzter Absicht an. Wenn Višnevskijs Kommissarin brieflich ihrer Sorge Ausdruck gibt, der Schwere der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, so verleiht diese Bescheidenheitsfloskel ihrem Heldentum um so größeren Glanz.19 Umgekehrt bei Babel’: Hier wirft das Selbstzeugnis der Heldin auf das heroische Bild, das sich die Außenwelt von ihr macht, einen Schatten des Zweifels. Denn Marijas Brief ist voller Skepsis, ob der eingeschlagene Weg der richtige ist. Ihr moralisches Dilemma hat einen handfesten biographischen Hintergrund: Sie kämpft

394

Isaak Babel’

auf der Seite derer, die ihren einstigen Geliebten – offensichtlich einen Angehörigen der Weißen Armee – auf dem Gewissen haben. Ein Photo des Getöteten, der wohl nicht zufällig den Vornamen des tapferen weißen Offiziers aus Bulgakovs „Dni Turbinych“ trägt, steht auch jetzt noch auf Marijas Tisch. Und es sind seine Grundsätze, denen sie sich nach wie vor verpflichtet fühlt: „Hier sind dieselben Leute, die ihn ohne zu zögern umbrachten. Ich komme gerade von ihnen und habe geholfen, sie zu befreien… Habe ich richtig gehandelt, Aleksej, habe ich dein Vermächtnis erfüllt, tapfer zu leben?…“ (V). Die Handlungsmaxime eines Weißgardisten als Leitbild für eine rote Kommissarin – auch als Dramatiker bleibt sich Babel’ treu. Wie schon in „Konarmija“ ist auch in „Marija“ die Wirklichkeit viel zu komplex und widersprüchlich, als daß sie sich in ideologische Schablonen zwingen ließe.20 Der Dialog der Motive in „Marija“ Wie aber steht es mit dem Schlußbild von „Marija“? Legt Babel’ nicht am Ende, trotz aller ungelösten Widersprüche, ein klares Bekenntnis zur neuen Welt ab? Auch hier ist das Stück nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Bei näherer Betrachtung zeigt sich: Babel’ hat ein Netz von Schlüsselbegriffen und Motiven in den Text verwoben, das über den plakativen Optimismus des Schlusses ein eigentümliches Zwielicht breitet. Es sind dies zum einen die leitmotivisch verwendeten Begriffe des „Lehrens“ bzw. „Lernens“ sowie zum anderen der Motivkomplex „Statue“, „Blindheit“, „Augen“. Das von Revolution und Bürgerkrieg erschütterte Petrograd erscheint in „Marija“ – historisch durchaus zutreffend – als eine Art „verkehrte Welt“21: Adelsdamen sind zu Prostituierten mutiert; Fürsten haben sich in Kutscher verwandelt, Professoren in Wurstverkäufer. Der Schieber Dymšic, der als Jude bis vor kurzem nicht einmal in der Hauptstadt hätte wohnen dürfen, erweist sich als Mann der Stunde, mausert sich vom Paria zum begehrten Bräutigam. Eine Frau kämpft an der Front, während ein ehemaliger General im Schlafrock zu Hause sitzt. Die Nacht ist buchstäblich zum Tag geworden: „Draußen ist hellichter Tag, und sie gehen ins Theater“ (II). Von den „Gewesenen“ glaubt sich einzig Ljudmila für die neue Welt gerüstet („Mir braucht man keine Lehren zu erteilen“; II) – und wird brutal eines Besseren belehrt. Alle übrigen mühen sich verzweifelt zu lernen, suchen nach Vorbildern, die ihnen helfen sollen, das Chaos zu überdauern. Viskovskij hofft, sich bei Dymšic das Schieberhandwerk anzueignen („Geben Sie mir Zeit, Maestro, ich werde es lernen“; I). Katja läßt sich von Red’ko das „Gesetz der großen Zahl“ beibringen („Red’ko lehrt mich immerzu, immer lehrt er mich“; VII). Fürst Golicyn hält sich an die Worte des Mönches Sionij („Er lehrt mich, [das Glück] nicht im Gefühl der Macht über die Menschen zu sehen“; II). Den größten Lerneifer legt der General an den Tag: Er will sich von den Juden etwas abschauen und von den Japanern („Die Japaner sind ein großes Volk, von ihnen muß man lernen und nochmals lernen“; II)22, kurzum, von allen, die er für die

„Marija“

395

Sieger hält. Insbesondere aber will er aus den Fehlern der Geschichte lernen und leitet daraus seine Daseinsberechtigung im gegenwärtigen Regime ab. Der General glaubt, den Machthabern mit kritischen historischen Studien dienlich sein zu können: „Die Bolschewiki vollenden das Werk des Ivan Kalita – sie sammeln das russische Land. Sie brauchen uns, die Berufsoffiziere, und sei es auch nur, damit wir ihnen von unseren Fehlern erzählen“ (II). Daß der General mit seinem Glauben an eine geschichtliche Kontinuität das Wesen der neuen Macht vollkommen verkennt, sieht Katja sehr klar: „Die fordern immer nur, was für den laufenden Moment von Belang ist“ (II), und: „In den Zeitungen wollen sie immer nur etwas für den gegenwärtigen Moment“ (II). Die leitmotivisch wiederkehrende Formel deutet an, daß unter den Bolschewiki ein gewandeltes Zeitverständnis herrscht. Nicht das Wissen um das Alte als Garant für das Gelingen des Künftigen ist nun die leitende Maxime. Es zählt nur das Handeln im Augenblick. Katjas Worte werden durch die Schlußszene implizit bestätigt. Hier kommt die wahre Siegerin ins Bild: die rabiate Hausmeisterin Agaša. Sie, die früher vor den Mukovnins buckelte („Beim General hat sie sich geduckt, hat nie den Kopf erhoben“; VIII), setzt nun ihre einstigen Herren vor die Tür des Palais und konfisziert obendrein deren Möbel für die künftigen Mieter. Auf Katjas Frage, ob sie denn nicht wisse, daß es sich um Marijas Eigentum handelt, entgegnet Agaša: „Was ich wußte, Bürgerin, das habe ich vergessen; ich lerne jetzt um“ (VIII). Nicht, wer aus der Vergangenheit lernt, reüssiert also im bolschewistischen Rußland, sondern wer reflexhaft auf die Möglichkeiten des Hier und Jetzt reagiert und dabei gezielt vergißt, was den eigenen Interessen hinderlich sein könnte. Die Geschichtsfeindlichkeit der neuen Zeit wird durch eine Bemerkung des Schiebers Suškin noch unterstrichen. Suškin will die antiken Möbel der Mukovnins erstehen und versucht den Preis zu drücken: „Wenn ich im gegenwärtigen Moment auf einem schweren Stück sitzen bleibe, dann bin ich bei denen gleich als erster dran… (VIII). Die scheinbar belanglose Äußerung gewinnt vor dem eben angedeuteten Hintergrund einen tieferen Sinn: Unter den Bolschewiki historischen Ballast mit sich herumzuschleppen, ist nicht nur nutzlos, es kann einem sogar zum Verhängnis werden.23 Nicht die intellektuelle Marija, die die historischen Studien ihres Vaters zur ideologischen Unterweisung von Rotarmisten heranzieht, erweist sich somit als die eigentlich treibende Kraft der Revolution, sondern die dreiste, opportunistische Agaša, die instinktiv die Gunst der Stunde zu nutzen versteht. Sie bereitet der Zukunft den Weg: Die junge Frau, der Agaša zu der Mukovninschen Wohnung verhilft, ist hochschwanger, während die „Gewesenen“ samt und sonders unfruchtbar bleiben.24 Babel’ nimmt sich in „Marija“ heraus, den Erfolg des bolschewistischen Regimes, für das Lenin selbst das Lernen aus der Tradition zur Devise erhob, auf ein unreflektiertes Machtstreben und eine Art historischer Amnesie zurückzuführen. Er wagt es, ein Bild der Herrschenden zu zeichnen, das deren offiziel-

396

Isaak Babel’

lem Selbstverständnis zuwiderläuft. Daß das Stück eine solch subversive Lesart zuläßt, wird durch den zweiten, oben erwähnten Motivkomplex „Statue“, „Blindheit“, „Augen“, erhärtet. Mit sehr subtilen Mitteln deutet Babel’ nämlich an, daß sich die neuen Herrscher in ihrem Wesen von den alten gar nicht unterscheiden: Der Klassenunterschied bildet lediglich die Oberfläche, unter der sich eine substantielle Gemeinsamkeit verbirgt. Erstmals tauchen die Motive „Statue“ und „Blindheit“ in Marijas Brief auf, der im fünften Bild verlesen wird. Marija ist mit ihrer Kampfeinheit auf einem ehemaligen Adelsanwesen in Polen untergebracht. Im Schloßpark stehen Statuen – Relikte einer untergegangenen Welt: „erstarrte Göttinnen mit angewinkelten Armen, der Wellenlinie des Haars und mit blinden Augen…“ (V). In der Schlußszene wird das Motiv der Statue noch einmal aufgegriffen. Nun ist es die fensterputzende Njuška, die für einen Augenblick „wie eine Statue, das Gewölbe stützend, […] vor dem Hintergrund des Frühlingshimmels“ aufragt (VIII). Die kräftige Njuška ist deutlich als lebensvolles Gegenbild zu dem steinernen Symbol der gewesenen Macht konzipiert. Um so mehr überrascht es, daß auch sie, wenngleich nur im übertragenen Sinn, blind ist. Den Hinweis darauf hat Babel’ freilich geschickt verborgen. Schon zu Beginn des letzten Bildes läßt er nämlich dieselbe Njuška beim Kinderhüten von der Hausmeisterin ausschelten: „Wo hast du bloß deine Augen? Sitzt du auf den Augen, oder was?… Bist schon so groß, daß du bald den Himmel durchstößt, aber dein Verstand – der ist nicht mitgewachsen…“ (VIII). Solche Blindheit steht in Kontrast zu der geradezu hypertrophen Sehfähigkeit, die der General für sich beansprucht: „Die Augen offen halten – das ist mein Recht, und auf dieses Recht werde ich nicht verzichten“ (II)25, bekundet er gegenüber Katja und trägt wie zur Bestätigung gleich zwei Brillen übereinander. Entwirrt man dieses Motivgeflecht, wird deutlich: Macht mag sich zwar durch ihre jeweilige ästhetische Erscheinungsform (hier die anmutigen Göttinnen, dort die stämmige Titanin) oder ihre historische Ausprägung (Adelsherrschaft oder Diktatur des Proletariats) unterscheiden, in ihrem Wesen aber ist sie immer blind. Ungehemmt durch die Last der Vergangenheit und ohne Rücksicht auf anerzogene Skrupel greift sie im entscheidenden Moment zu. Wer sie, wie der General, mit dem Scharfblick des Intellektuellen betrachtet und historisch oder moralisch zu legitimieren sucht, ist überflüssig und daher zum Untergang verurteilt. Offenbar reflektiert Babel’ in „Marija“ über das Wesen von Macht schlechthin. Dafür sprechen auch die schon angeführten Worte des Mönchs Sionij, die er dem Fürsten Golicyn in den Mund legt: „Er lehrt mich, [das Glück] nicht im Gefühl der Macht über andere Menschen zu sehen und auch nicht in dieser nicht endenwollenden Gier – einer Gier, die wir nicht zu stillen vermögen“ (II). Daß eine solche Analyse der Macht als einem alles beherrschenden, jeder ideologischen Verbrämung vorausliegenden blinden Trieb gegen den Geist der Partei

„Marija“

397

verstößt, liegt auf der Hand. In „Marija“ haben Schopenhauer und Nietzsche eine tiefere Spur hinterlassen als Marx.26 „Marija“ als Dialog mit dem eigenen Werk Wenn Golicyn in „Marija“ das Streben nach Macht und ein unersättliches Wollen als Grundzug der menschlichen Existenz bestimmt, schlägt er damit ein zentrales Thema von Babel’s Gesamtwerk an. Besonders in „Zakat“, dem Dramendebüt des Autors, das eine ganze Reihe thematischer und motivischer Parallelen zu „Marija“ aufweist, steht die Frage der Macht im Mittelpunkt, und auch hier gewinnt sie eine quasi-religiöse Dimension. Beide Stücke sind unmittelbar aufeinander bezogen.27 „Zakat“ spielt noch vor der Revolution, im jüdischen Unternehmer- und Kriminellenmilieu Odessas. Der in die Jahre gekommene Mendel’ Krik, ein sinnenfroher Kraftmensch, mag nicht einsehen, daß der Zenit seiner Macht überschritten ist. Er weigert sich, sein Imperium an die Kinder abzutreten. Statt dessen will er das gesamte Vermögen nutzen, um sich mit seiner blutjungen Geliebten in ein bessarabisches Paradiesgärtlein zurückzuziehen und dort eine ewige Jugend zu genießen. Für Mendel’s Familie hat sein Versuch, die Zeit anzuhalten, verheerende Folgen. Im Hause Krik ist das Leben gewissermaßen zum Stillstand gekommen: Die beiden Söhne lungern untätig herum. Die Tochter kann wegen der fehlenden Mitgift nicht heiraten. Mendel’s Frau klagt über die ausbleibenden Enkel. Das Kriksche Schlafzimmer gleicht einem Grab. Schließlich wird Mendel’ von seinen Söhnen brutal entmachtet. Damit ist der natürliche Lauf der Dinge wieder hergestellt: Auf Mendel’s vor einem feurigem Abendhimmel in Szene gesetzten Untergang folgt der Aufstieg des Sohns Benja, der neuen Sonne am Firmament des Krikschen Imperiums.28 Während der Vater nur noch ein erbärmliches Dasein als lebender Toter fristet, geht im Hause Krik das Leben weiter: Die Tochter darf endlich heiraten; Sohn Levka bringt eine schwangere Geliebte ins Haus. Schon an der Oberfläche von Handlung und Bildsprache wird greifbar, welche Fäden „Zakat“ mit „Marija“ verbinden: die Antithese von alter und neuer Welt, die Symbolik des Sonnenaufgangs bzw. -untergangs und Motive wie Kinderlosigkeit und Schwangerschaft. All diese Elemente nimmt Babel’ in seinem zweiten Stück wieder auf. Aber die Verflechtung der beiden Dramen reicht in eine noch tiefere, nämlich religiös-philosophische Bedeutungsschicht hinab. Sowohl in „Zakat“ als auch in „Marija“ hat Babel’ Bezüge zur Bibel verwoben, über die beide Stücke miteinander korrespondieren. „Zakat“ ist eine Antwort auf die berühmte Meditation des Predigers Salomo über die vanitas vanitatum29: Was Mendel’ Krik erfährt und wogegen er sich mit aller Kraft zu stemmen versucht, ist eben die von Salomo so eindringlich beschworene Einsicht in die Nichtigkeit jeglichen Strebens angesichts der zerstörerischen Wirkung der Zeit. Auf jeden Sonnenaufgang folgt auch ein Untergang; all unser Wollen erweist sich letztlich als ein „Haschen nach Wind“.30

398

Isaak Babel’

Durch diese Anspielungen auf das Buch Koheleth herrscht in „Zakat“ ein ausgeprägt zyklisches Zeitverständnis, das dem jeder Macht innewohnenden teleologischen Drang diametral entgegensteht. Ganz antithetisch zu einer solchen Auffassung der Zeit als ewigem Kreislauf scheint hingegen „Marija“ angelegt zu sein: Die christliche Naherwartung der Erlösung klingt schon im Titel an und wird durch die geradezu messianische Hoffnung, die sich an das Erscheinen von Marija knüpft, noch unterstrichen. Daß Babel’ bei der Wahl des Namens seiner Hauptfigur tatsächlich die Muttergottes im Sinn hatte, wird deutlich, wenn er Katja das Ausbleiben von Kindern im Hause Mukovnin ironisch kommentieren läßt: „Wir werden euch welche vom Heiligen Geist gebären“ (VII). Eine oberflächliche Lektüre von „Marija“ könnte tatsächlich den Eindruck erwecken, hier werde die Überwindung der kreisenden Zeit durch ein säkularisiertes eschatologisches Zeitverständnis gefeiert. Hat die Revolution die Welt fundamental umgestaltet, ist mit dem Sieg des Proletariats der Prediger Salomo ein für allemal widerlegt? Gibt es am Ende doch etwas „Neues unter der Sonne“? Ohne Zweifel ließe sich „Marija“ auch in diesem Sinn lesen. Doch das Stück so zu verstehen, hieße, es um alles zu verkürzen, was darin über das Wesen der Macht ausgesagt wird: Eine Macht ist wie die andere, die Formen der Herrschaft können sich ändern, ihre Substanz aber bleibt sich gleich. Dem fortschrittsgerichteten Zeitbegriff, auf den uns der Titel des Stücks einstimmt, wird denn auch im Text ausdrücklich widersprochen. Wenn Babel’ dem Fürsten Golicyn das biblische Gleichnis vom Weizenkorn in den Mund legt, das erst vergehen muß, um Frucht zu tragen, so bringt er gegen die Vorstellung einer linearen geschichtlichen Höherentwicklung die Bildlichkeit des unendlichen Naturkreislaufs in Anschlag – eine Bildlichkeit, die uns aus „Zakat“ und dem Koheleth bereits vertraut ist. Babel’s zweites Drama ist von seinem ersten also nicht so weit entfernt, wie es zunächst den Anschein haben mag. „Marija“ beantwortet letztlich das gleiche Grundproblem wie „Zakat“. Die Sünde des Mendel’ Krik ist es, daß er versucht, die Zeit anzuhalten. General Mukovnin hat seine Lektion daraus offenbar gelernt: „Die Zeit aufhalten bedeutet den Tod“ (II). Diese Einsicht nützt ihm dennoch nichts. Er stirbt, seine Wohnung wird von einer werdenden Mutter okkupiert. Damit ähnelt sein Schicksal auffallend dem seines Vorläufers in „Zakat“. Auch dort wurde die Entmachtung des Vertreters der alten Welt durch den Einzug einer Schwangeren besiegelt. So gipfeln beide Stücke in der gleichen Botschaft. Sie feiern im ewigen Wechselspiel von Werden und Vergehen den Triumph des Lebens – ein dionysisches Bekenntnis jenseits aller politischen Ideologien. In einem frühen Feuilleton Babel’s heißt es: „Man muß Kinder gut zur Welt bringen können. Und das – ich weiß es genau – ist die wahre Revolution.“31 Schon zu Babel’s Lebzeiten kursierte die Vermutung, „Marija“ sei als Auftakt zu einer Dramentrilogie gedacht, in deren weiterem Verlauf die Heldin doch noch persönlich auf die Bühne treten sollte.32 Manches spricht freilich dafür, daß Babel’ selbst diese Legende in Umlauf brachte. Womöglich wollte er durch

„Marija“

399

die Verheißung einer linientreuen Fortsetzung sein schillerndes Stück gegen den Vorwurf politischer Unzuverlässigkeit schützen.33 Aus heutiger Sicht verdankt „Marija“ gerade der Abwesenheit der Titelfigur, die bereits auf Beckett vorausweist, seine Modernität.34 Ob Babel’ sein Stück tatsächlich als eine Art „Warten auf Marija“ konzipierte oder doch einen eher konventionellen Dreiteiler plante, muß Spekulation bleiben. Sicher ist dagegen eines: die enge Verbindung der beiden vorhandenen Stücke. „Marija“ und „Zakat“ verhalten sich wie die zwei komplementären Tafeln eines Diptychons. Weniger auffällig, aber nicht minder bedeutsam sind die Bezüge, die „Marija“ mit Babel’s erzählerischem Werk verknüpfen. So enthält etwa Marijas Brief verborgene Reminiszenzen an „Konarmija“. Die zweifelnde Rotarmistin entpuppt sich hier als Seelenverwandte Ljutovs, der in dem Erzählzyklus als Held und alter ego des Autors auftritt. Auch Ljutov streift einmal mitten im Bürgerkrieg durch den Park einer verlassenen polnischen Adelsresidenz, geschmückt von Statuen mit herausgestochenen Augen.35 Wie Marija empfindet auch er Melancholie angesichts dieser untergegangenen Welt. Beide schildern die Schönheit der besiegten Kultur in fast schon lyrischen Worten, in denen das Politische vollkommen hinter eine ästhetische Betrachtungsweise zurücktritt. Und wenn Marija beiläufig erwähnt, daß sie immerzu von „Verfolgung, Qual und Tod“ (V) träume, erinnert dies ebenfalls an Ljutov: Auch er, der tagsüber scheinbar ungerührt die allgegenwärtige Grausamkeit zur Kenntnis nimmt und rational zu bewältigen versucht, wird nachts in seinem Unterbewußten von Alpträumen heimgesucht, die den ganzen Schrecken des Kriegs spürbar machen.36 Und noch durch ein weiteres Detail ist Ljutov in „Marija“ anwesend: durch seine Brille. In „Konarmija“ wird die Brille zur Chiffre für eine kontemplative Existenz. Der Brillenträger blickt tiefer als andere, sieht den Dingen auf den Grund, bleibt aber dafür vom unmittelbaren Leben und von der Macht ausgeschlossen. Er verkörpert den Gegenpol zum vitalen Prinzip, trägt – wie es von dem ebenfalls bebrillten Erzähler der „Geschichten aus Odessa“ heißt – den „Herbst in der Seele“. In „Marija“ ist es Mukovnin, der die Welt durch Brillengläser wahrnimmt. Der General treibt das Prinzip der reflektierenden Betrachtung auf die Spitze. Er blickt nicht nur durch eine, sondern gleich durch zwei Brillen. Haben wir hier also die Parodie eines Intellektuellen vor uns, der sich in nutzlosen Kontemplationen ergeht, während das Leben ungehemmt seinen Lauf nimmt? Für eine solche Deutung spricht, daß Babel’ den General ausgerechnet in einen Schlafrock kleidet – seit Gončarovs „Oblomov“ das klassische Gewand des „überflüssigen Menschen“. Die Figur Mukovnins hat jedoch noch eine andere, ernstere Dimension. Sie ist nicht zuletzt auch ein Spiegelbild des Dramenautors selbst, der in Gestalt des Generals über sein eigenes Schaffen reflektiert. Dies wird deutlich, wenn Mukovnin verkündet, er habe seine Studie über den historischen Aufstand im Semenov-Regiment als „Tragödie in zwei Teilen“ konzipiert, in der das Leiden des von der offiziellen Geschichtsschreibung vernachlässigten, „unbedeutenden“ Individuums gewürdigt werde: „Ich teile die Seme-

400

Isaak Babel’

novsche Tragödie in zwei Kapitel. Das erste untersucht die Gründe für die Empörung, das zweite gibt eine Beschreibung des Aufstands, der Quälereien, der Verbannung in die Bergwerke… Meine Geschichte wird eine Geschichte der Kaserne sein – nicht eine Aufreihung von Völkern, sondern das Schicksal all der Sidorovs und Proškas, die […] zu zwanzig Jahren militärischer Zwangsarbeit verbannt wurden“ (II). Mukovnin verfolgt in seinen historischen Schriften nicht nur das gleiche Anliegen wie Babel’ mit seinem Stück, er bedient sich dabei auch noch eines ähnlichen künstlerischen Verfahrens. Denn auch Babel’ betreibt in „Marija“ eine Form der Geschichtsschreibung, die sich nicht nach dem „Gesetz der großen Zahl“ richtet, sondern das tragische Einzelschicksal in den Vordergrund stellt. Und auch er teilt sein Drama in „zwei Kapitel“. „Marija“ weist in der Mitte eine deutliche Zäsur auf.37 Der erste, bis zum vierten Bild reichende Teil schildert die Gründe für die fatale Liaison der Mukovnins mit der Schieberbande, der zweite die katastrophalen Folgen. Der General findet, nicht anders als der Brillenträger Babel’ selbst, im neuen Regime keinen Platz. Seine Schriften werden nicht gebraucht. Er ist in der Tat zu einem überflüssigen Menschen geworden und stirbt, wie es der Arbeiter Andrej am Ende ausdrückt, „überreif“ (VIII). In „Marija“, dem letzten großen Werk, das er vollenden konnte, hat Babel’ sein eigenes Schicksal vorausgeahnt.

Frank Göbler

Aleksandr Vvedenskij: Elka u Ivanovych (Weihnachten bei Ivanovs) Als Mitglied der spätavantgardistischen Leningrader Künstlergruppe „Obėriu“ wurde Aleksandr Vvedenskij Ende der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts einer begrenzten Öffentlichkeit bekannt, doch mußte er – wie sein Weggefährte Daniil Charms – infolge der Attacken der dogmatischen Literaturkritik in die Kinderliteratur ausweichen, ehe er nach mehreren Verhaftungen „Opfer staatlicher Gewalt“ wurde.1 Wie viele seiner Zeitgenossen führte er in den dreißiger Jahren die eigentlichen literarischen Projekte im Verborgenen weiter. Manche Werke wurden erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung publiziert. „Elka u Ivanovych“ erschien erstmals 1971 in einer Emigrantenzeitschrift. Bis zur ersten Veröffentlichung in Vvedenskijs Heimat dauerte es noch einmal fast zwanzig Jahre.2 Die Entstehung des Stücks läßt sich – ungewöhnlich genug – aufgrund einer Angabe im Dramentext selbst datieren. Im Nebentext zum vierten Akt heißt es: „Das neunte Bild, stellt, wie alle vorangehenden, Ereignisse dar, die sich sechs Jahre vor meiner Geburt bzw. vierzig Jahre vor unserer Gegenwart zugetragen haben.“ Demnach wäre 1938 das Entstehungsjahr, jedenfalls wenn das Ich im Nebentext mit dem Verfasser des Stücks als identisch angesehen werden kann. Dagegen spricht eigentlich nur die theoretische Trennung von textinternem und textexternem Bereich, die hier ironisch aus den Angeln gehoben wird. Fakten, die diese Datierung widerlegen oder korrigieren, sind jedenfalls nicht bekannt. Im Jahr 1938 lebte Vvedenskij in Char’kov, pflegte keinerlei Kontakte zu literarischen Kreisen und „arbeitete immer nur nachts“3 – ein Bild seiner literarischen Untergrundexistenz. Theatralität und Absurdität Als absurd ist „Weihnachten bei Ivanovs“ schon durch den Bezug des Titels zum Stück selbst gekennzeichnet. Richtiger müßte es „Keine Weihnachten nicht bei Ivanovs“ heißen, wie ein Programmhefttext zur Züricher Inszenierung von 1993 überschrieben ist.4 Der Titel enthält eine doppelte Irreführung des Rezipienten, da es im Stück erstens gerade um den gescheiterten Versuch geht, Weihnachten zu feiern, und zweitens niemand Ivanov heißt. Im Textverlauf werden in vielfältiger Weise unsere von Logik, Rationalität oder Nachahmungsästhetik geprägten Rezeptionsgewohnheiten in Frage gestellt. Andererseits verfügt „Elka u Ivanovych“ – etwa im Unterschied zu dem noch in der „Obėriu“-Zeit entstandenen Stück „Minin i Požarskij“ (Minin und Požarskij, 1926) – über eine nachvollziehbare Handlung. Es ist sogar zu Recht als „eines der ,szenischsten‘ Stücke der russischen Avantgarde“5 bezeichnet worden, und es erfüllt auch die formalen Kriterien der Gestaltung eines dramatischen Textes: Wir finden Titel,

402

Aleksandr Vvedenskij

Verzeichnis der „handelnden Personen“, Haupt- und Nebentext, Gliederung in Akte und Szenen („Bilder“). Die Auflösung von Dramenkonventionen ist also nicht allumfassend, vielmehr sind in die traditionellen Dramenelemente Brüche eingeführt, die einen Eindruck von Absurdität hervorrufen. So tragen die als dramatis personae aufgeführten „Kinder“ folgende Alters- und Geschlechtsbezeichnungen: „einjähriger Junge“, „achtjähriges Mädchen“, „siebzehnjähriges Mädchen“, „fünfundzwanzigjähriger Junge“, „zweiunddreißigjähriges Mädchen“, „sechsundsiebzigjähriges Mädchen“, „zweiundachtzigjähriges Mädchen“. Die Kennzeichnung als „Junge“, „Mädchen“ bzw. „Kinder“ bei den erwachsenen Figuren ist unmotiviert, und die Figuren verhalten sich auch teilweise wie Kinder, wiederum ohne daß es hierfür eine realistische Motivierung gäbe. „Vater“ und „Mutter“ hingegen erscheinen ohne Altersangabe, sie heißen „Puzyrev“ und „Puzyreva“, während die „Kinder“ alle verschiedene Familiennamen tragen. Weniger augenfällig ist, daß nicht alle „handelnden Personen“ auch im Stück auftreten, während andererseits Figuren tatsächlich auftreten, die im Verzeichnis fehlen.6 Ähnliche Verstöße gegen Logik und Sinn finden sich auf verschiedenen Ebenen des Textes. Das Drama beginnt mit einer Badeszene am Weihnachtsvorabend. Alle Kinder sitzen in einer Wanne, nur der einjährige Petja Perov sitzt in einer Waschschüssel. In einem verbalen Geplänkel der Kinder tut sich die zweiunddreißigjährige Sonja Ostrova durch anzügliche Reden hervor, wird von der Kinderfrau zurechtgewiesen und mit einer Axt bedroht. Sie läßt sich aber nicht beirren und erklärt, sie werde unterm Weihnachtsbaum ihren Rock heben und „allen alles zeigen“ (I, 1). Nachdem sie der wütenden Kinderfrau eine weitere provozierende Antwort gegeben hat, haut diese ihr mit der Axt den Kopf ab. Schon im nächsten Augenblick ist die Polizei zur Stelle und befragt die Anwesenden zu dem Vorfall. Die Kinderfrau bekennt sich schuldig, erklärt sich jedoch zugleich für wahnsinnig. Sie wird in Ketten abgeführt, als die Eltern Puzyrev – sie waren im Theater – hereinkommen und ein lautes Wehklagen beginnen. Das zweite Bild zeigt eine Gruppe von Holzfällern im verschneiten Wald, unter ihnen Fedor, der Bräutigam der Kinderfrau, der den Tannenbaum für das Fest bei den Puzyrevs fällt. Die Holzfäller singen eine „Hymne“, können aber mit Ausnahme Fedors nicht sprechen. Als dieser ihnen von seiner schönen Braut erzählt, antworten sie dann doch: freilich gänzlich „unpassend“ (I, 2). Nach ihrem Abgang treten Giraffe, Wolf, Löwe und Ferkel auf und sprechen eine Reihe von Vergleichen zu den Themen Zeit und Tod. Die Zeit zum dritten Bild wird mit zwei Uhr nachts angegeben, während die beiden vorigen am Abend spielten. Die Eltern Puzyrev halten Totenwache an Sonjas Sarg und beschließen, „trotz allem“ (I, 3) das Weihnachtsfest zu begehen. Nach diesem Beschluß macht der Vater der Mutter ein Kompliment, worauf sie sich ihm unverzüglich „hingibt“. Kurz darauf bringt ein Kindermädchen Petja Perov herein, der unruhig ist, aber mit der Versicherung der Eltern, es werde einen Weihnachtsbaum geben, wieder zum Schlafen gebracht werden kann. Anschließend führt der

„Elka u Ivanovych“ (Weihnachten bei Ivanovs)

403

Vater die Holzfäller mit der Tanne herein. Als alle gegangen sind, sprechen Kopf und Rumpf der toten Sonja kurz miteinander. Das zeitlich anschließende erste Bild des zweiten Akts hat ein Polizeirevier zum Schauplatz. Nach dem Dialog zwischen einem Schreiber und einem nach dessen Meinung wahnsinnigen Schutzmann führt ein Polizeihauptmann mit Gendarmen die Mörderin herein; im Gefolge sind Soldaten, Diener, Köche sowie Latein- und Griechischlehrer. Die Kinderfrau zeigt Anzeichen von Wahnsinn nach dem Mord an Sonja Ostrova: „Ihr Kopf ist in meinem Kopf. Ich bin Sonja Ostrova – die Kinderfrau hat mich umgebracht. Fedja-Fedor rette mich“ (II, 4). Schließlich wird sie von Sanitätern abgeholt, die sie ins Irrenhaus bringen sollen. Im Irrenhaus sehen wir zunächst einen Arzt, der auf sein Spiegelbild schießt, hinzu kommt ein „steinerner Sanitäter“ und meldet das Eintreffen der Kinderfrau. Der Arzt schießt nun auf einen Teppich, der ihm nicht gefällt, worauf der Sanitäter „wie tot“ umfällt, jedoch nur aus Versehen: „Mir kam es vor, als sei ich der Teppich“ (II, 5). Als die Kinderfrau auftritt und vom Arzt befragt wird, übernimmt dieser teilweise auch deren Antworten. Sie selbst erklärt sich für wahnsinnig, der Arzt hingegen hält sie für gesund. Dann rudert eine Gruppe Kranker in einem Boot durch den Raum. Sie wollen Pilze und Beeren sammeln. Etwa zur gleichen Zeit geht Fedor in festlicher Kleidung durch die dunkle Wohnung der Puzyrevs, betritt das Zimmer einer Bediensteten und legt sich nach kurzem Wortwechsel auf sie, erhebt sich aber gleich wieder: „Mir ist langweilig mit dir. Du bist nicht meine Braut“ (II, 6). Von ihr erfährt er, daß seine Braut die Mörderin ist. Er antwortet mit Tierstimmen – Quaken, Miauen, Zwitschern. Fedor ist voller Kummer, will nun Lateinlehrer werden und „verschwindet“ schließlich (II, 6). Am nächsten Morgen geht der Hund Vera um Sonja Ostrovas Sarg und spricht in Versen über deren Tod (II, 1). Petja Perov kommt hinzu und führt einen kurzen Dialog mit Vera; anschließend erscheinen Miša Pestrov und Dunja Šustrova, zwei Kinder im Greisenalter, die sich auf den Weihnachtsbaum freuen. Das achte Bild ist eine Gerichtsszene, die damit beginnt, daß ein Richter unvermittelt stirbt und durch einen anderen ersetzt wird, der ebenfalls unvermittelt stirbt: Die Verbliebenen verhandeln in Versen den Fall Kozlov gegen Oslov, bis ein Richter das Todesurteil über die Kinderfrau spricht, die, obwohl sie im einleitenden Nebentext nicht erwähnt wurde, bei der Verhandlung offenbar anwesend war.7 Am Weihnachtsabend (IV, 9) sind die „Kinder“ vor der Tür des Festzimmers versammelt. Die Tür geht auf, der Vater eröffnet das Fest, die Mutter spielt auf dem Klavier und singt. Die Kinder huldigen dem Tannenbaum und sind fröhlich, bis der Vater Sonjas Tod erwähnt. Darauf macht sich Traurigkeit breit, und nacheinander sterben Volodja Komarov (er erschießt sich), Dunja Šustrova, Miša Pestrov, eine Kinderfrau, Petja Perov, Nina Serova, der Vater und zuletzt die Mutter. Am Ende des Stücks ist es 7 Uhr abends.

404

Aleksandr Vvedenskij

Wenn man dieses Geschehen auf eine kausale Ereigniskette reduziert, ergibt sich ein durchaus nicht abwegiges Muster: Ein Kind wird ermordet; die Täterin wird verhaftet, auf ihre Schuldfähigkeit geprüft und verurteilt; die Angehörigen sterben vor Kummer. Ansätze zu einem Kriminalstück finden sich allerdings – wenn man von dem Verbrechen selbst absieht – einzig in der Problematik des Wahnsinns der Mörderin, konkret: in der Frage, ob dieser nur vorgetäuscht ist, um der Bestrafung zu entgehen. Wirkliches Konfliktpotential entsteht aus dieser Frage nicht, ebenso wie in der Gerichtsverhandlung auf das mögliche Spannungsmoment verzichtet wird. Der Urteilsspruch erfolgt unvorbereitet und überraschend, wobei das Urteil selbst nicht überrascht; denn die Schuld der Täterin ist mehr als offensichtlich. Bei einem Verbrechens- bzw. Gerichtsdrama ist strenge Kausalität oberstes Prinzip, hier hingegen ist die Kausalität zu einem mechanischen Vorgang abgeschwächt. Dies ist im Kontext der von den Oberiuten propagierten „Retheatralisierung des Theaters“8 zu sehen. Gemäß dem Manifest der Gruppe soll die traditionelle Unterordnung aller Elemente unter das Sujet aufgegeben werden, soll die Verkettung dieser Elemente ihrer eigenen theatralen Logik folgen. „Wenn ein Schauspieler, der einen Minister darstellt, auf allen vieren über die Bühne läuft und dabei heult wie ein Wolf […] – so ist das Theater, […] selbst wenn dies ohne jeden Bezug zum dramatischen Sujet geschieht. Es ist ein einzelnes Moment, – und eine Reihe solcher Momente, die von der Regie organisiert werden, bilden eine Theatervorstellung, die ihre eigene Sujetlinie und ihren szenischen Sinn hat.“9 Entsprechend finden sich in „Elizaveta Bam“ von Daniil Charms starke Brüche zwischen den Szenen. Der Kausalzusammenhang ist hier vielfach gänzlich aufgegeben. Bei Vvedenskij treffen wir zwar auch auf szenische „Momente“ der beschriebenen Art, die nach dem Prinzip des „Zusammenpralls“ (stolknovenie)10 angeordnet sind, die Ereigniskette ist aber, selbst wenn die kausalen Verknüpfungen teilweise außer Kraft gesetzt werden, an traditionellen Mustern orientiert. Es ist darüber hinaus eine zweite Motivkette auszumachen, die zwar keine wirkliche Handlung konstituiert, jedoch zusätzlich den ästhetischen und thematischen Zusammenhalt des Textganzen gewährleistet. Es handelt sich um das Titelmotiv: Russisch „elka“ bezeichnet zunächst die „Tanne“; darüber hinaus hat das Wort die – hier gemeinte – spezielle sowie übertragene Bedeutung von „Weihnachtsbaum“ und „Weihnachtsfest“. Der konkrete Baum erscheint dreimal auf der Bühne, zuerst als er von Fedor gefällt wird (I, 2), dann als die Holzfäller ihn in die Wohnung bringen (I, 3) und schließlich im Weihnachtszimmer (IV, 9). In übertragener Bedeutung ist der Tannenbaum vielfach präsent, und er markiert Anfang und Schluß des Haupttextes: Für den einjährigen Petja Perov ist er eine Glücksverheißung, die er allerdings selbst unter den Vorbehalt stellt, daß er nicht plötzlich stirbt. Am Ende hat sich diese Bedeutung des Tannenbaums ins Gegenteil verkehrt. Das Stück schließt mit dem Satz der sterbenden Mutter Puzyrev „Gott was haben wir für traurige Weihnachten“ (IV, 9). Im Original steht für „Weihnachten“ wiederum „elka“. Solche Mehrfachbedeutungen

„Elka u Ivanovych“ (Weihnachten bei Ivanovs)

405

von Motiven, einschließlich ihrer Übertragung auf zwischenmenschliche bzw. existentielle Verhältnisse, befinden sich durchaus in der Tradition herkömmlicher Dramatik – man denke nur an Ostrovskijs „Les“ (Der Wald, 1870). Dies legt die Schlußfolgerung nahe, daß es bei den Kausalitätsbrüchen und Motivierungslücken im Geschehen nicht allein um den theatralen Effekt geht, sondern ebenso um eine Hinterfragung von Kausalität als solcher. Konkreter gesagt: Kausalität ist nicht nur als Organisationsprinzip des Dramentextes bzw. der Theateraufführung, sondern auch als Prinzip des Weltverständnisses in Frage gestellt. Allerdings gibt es noch ein weiteres Weltverständnis, das dem Drama als Subtext eingeschrieben ist: Es handelt sich dabei um das rituelle der Volksbräuche.11 Viele der scheinbaren Absurditäten des Stücks haben ihre Wurzeln in der russischen Folklore. Nur zwei Beispiele seien angeführt. Im rituellen Spiel des Brauchtums ist es durchaus üblich, daß sich Kinder als alte Leute oder als Tiere verkleiden – es gibt dort also „alte“ Kinder, sprechende Tiere sowie Menschen, die Tierlaute von sich geben.12 Bei Vvedenskij fehlt nur die Motivierung dieser Umkehrungen als Verkleidung. Bei der Gerichtsszene ist die zunächst zusammenhanglos erscheinende Verhandlung des Falls Oslov gegen Kozlov mit dem Kerngeschehen unter anderem durch das Motiv der Ziege (kozel) verbunden, die im Brauchtum mit dem Mädchen (hier: Sonja Ostrova) in Verbindung steht.13 Ein anderes folkloristisches Motiv – die Identität von Baum und Mädchen14, meist als Verwandlung des Mädchens in einen Baum – erlaubt es, die Handlungen der Kinderfrau und des Holzfällers in Analogie zu sehen. Wenn beide, Sonja Ostrova und die Tanne, durch eine Axt „getötet“ werden, so läßt sich dies vor dem Hintergrund der Volksbräuche als Opferhandlung deuten, auch wenn hier der Sinnzusammenhang des mythischen Weltbilds eliminiert ist. Dies aber ist entscheidend: Die aus der Volkskultur übernommenen Motivzusammenhänge konstituieren bei Vvedenskij keine Sinnzusammenhänge. Das Spiel wird absurd, beherrscht von der Omnipräsenz des Todes. Vvedenskijs innovative Leistung ist die Reaktivierung und ästhetische Nutzung der „mythischrituellen Vorformen des Theaters“.15 Zeit und Raum Der Nebentext des zweiten Bilds offenbart, daß sich das Geschehen in einer Raum-im-Raum-Struktur vollzieht. Es gibt einen Rahmenraum mit einer Wand, einer Tür und einer Uhr sowie die verschiedenen Binnenräume, die den jeweiligen Schauplatz bilden. Tür und Uhr, die im ersten Bild noch als Teile des Schauplatzes wahrgenommen werden, bleiben bei der Holzfällerszene erhalten, deren Schauplatz der verschneite Wald ist, so daß der Rahmenraum mit der Angabe der jeweiligen Uhrzeit eine ähnliche Funktion erfüllt wie etwa Einblendungen im Film, wenn auch mit dem Unterschied, daß er Teil des Aktionsraums der Figuren bleibt. Dies ist zunächst ein Verfremdungsverfahren, das dem Zuschauer signalisiert, daß hier kein illusionistisches Theater über die Bühne geht. Die mit der Uhr vorgegebene zeitliche Strukturierung des Stücks unterminiert die Prin-

406

Aleksandr Vvedenskij

zipien der Sukzession und der Wahrscheinlichkeit. Das erste und das zweite Bild spielen zur gleichen Zeit, das vierte geht in der Chronologie um zwei Stunden gegenüber dem Beginn des dritten zurück, das fünfte und sechste Bild überschneiden sich um eine Stunde. Siebtes und achtes Bild spielen wieder zur gleichen Zeit, das neunte schließlich ereignet sich neun Stunden später. Die gespielte Zeit der einzelnen Szenen beträgt zwischen einer und vier Stunden, ein Zeitraum, der in der Spielzeit nicht annähernd erreicht werden kann. Die Uhr macht die unterschiedlichen Zeitmaße von Fiktion und Wirklichkeit bewußt und problematisiert zugleich das gängige physikalische Zeitkonzept. Konventionell und sogar im aristotelischen Rahmen ist allein der Umfang der gespielten Zeit von 22 Stunden. Als zeitliche Situierung nennt der Nebentext zum ersten Bild die neunziger Jahre. Wenn man den im Nebentext zum neunten Bild formulierten Autorbezug beim Wort nimmt, ist die Zeit der Handlung exakt auf den Weihnachtsvorabend und den Weihnachtstag des Jahres 1898 zu datieren. Diese Angabe steht aber gleichsam beziehungslos da; denn Verweise auf Zeitgeschehen gibt es nicht, allenfalls vereinzelte Details, die auf das vorrevolutionäre Rußland hindeuten.16 Eine Ortsangabe hingegen fehlt gänzlich, und die Hinweise darauf, daß das Geschehen in einer größeren russischen Stadt und einem nahegelegenen Wald angesiedelt ist, führen letztlich in die Irre, da das Stück nur mit Wirklichkeitsfragmenten operiert.17 Auch wenn mit den Schauplätzen Wirklichkeits- und Gesellschaftsbereiche angesprochen sind (die private/familiäre Sphäre, die Natur, die Polizei, die Justiz, das Gesundheitswesen), so werden diese Bezüge doch durch das dramatische Geschehen weitgehend unterlaufen. Teilweise geschieht das schon durch den Nebentext selbst: zum einen durch die stets präsente Uhr links von der Tür, zum anderen durch eine Reihe stilistischer Verfremdungen. Es werden narrative Elemente oder szenisch nicht umsetzbare Abschweifungen in die Beschreibungen des Schauplatzes eingeführt; der Lakonismus konventioneller Aufzählungen von Elementen des Bühnenbilds wird parodistisch aufgegriffen in Reihen wie „Revier. Nacht. Siegellack. Polizei“ (II, 4). Die Schauplätze Polizeirevier (II, 4), Irrenhaus (II, 5) und Gericht (III, 8) stehen nicht für die entsprechenden realen Institutionen, sondern für ein Ausgeliefertsein an eine willkürlich und irrational agierende Macht. Beim ersten Bild dient der Nebentext keineswegs dazu, ein bestimmtes Milieu zu beschreiben, vielmehr evoziert er einen ambivalenten Raum: „Am Weihnachtsvorabend baden die Kinder. Es steht auch eine Kommode da. Rechts von der Tür schlachten Köche Hühner und schlachten Ferkel.“ Das Badeidyll wird durch die Anwesenheit der Köche und ihr Tun verfremdet, wobei dieses innerfiktional als Vorbereitung des Weihnachtsmahls motiviert ist, zugleich aber bildhaft auf die Mordtat vorausweist und eine Motivkette einführt, die im Mord an Sonja Ostrova und dem Fällen der Tanne ihre Fortsetzung findet. Ähnlich beim dritten Bild: „Nacht. Sarg. Auf dem Fluß davonschwimmende Kerzen.“ Für die Aufbahrung des Sargs ist ein Zimmer in der Wohnung der Puzyrevs anzunehmen, auch wird später gesagt, daß die Holzfäller den Tannen-

„Elka u Ivanovych“ (Weihnachten bei Ivanovs)

407

baum „hereintragen“ (I, 3), während die Erwähnung des Flusses einen Außenraum suggeriert. Dies ist eine Verfremdung, bei der die konventionelle Referenz von Bühnenräumen durch die Ambivalenz von Innen und Außen gestört ist. Darüber hinaus ist es eine Anspielung auf Fruchtbarkeitsrituale18 einerseits und mythologische Jenseitsvorstellungen andererseits (Lethe).19 Hier korreliert die Raumgestaltung mit der im Geschehen veranschaulichten Motivstruktur – der Koppelung von Sexualität und Tod (Anlaß des Mordes, Vereinigung der Eltern am Sarg der Tochter usw.). Vvedenskij nutzt also in besonderem Maße die Möglichkeit des dramatischen Raums, als „Ausdruck anderer, nichträumlicher Relationen“20 zu dienen. Gleichzeitig schwächt er den Wirklichkeitsbezug der benannten Schauplätze ab und läßt teilweise sogar die primäre Bedeutung des Bühnenraums – daß dieser nämlich „generell den Raum bedeutet, an dem X [die durch den Schauspieler verkörperte Figur] sich aufhält“21 – problematisch werden. Aufgrund der gezeigten Paradoxien könnte man sagen: Die Figuren agieren in nichträumlichen Räumen. Entmenschlichung und Beziehungslosigkeit Gegenüber dem Drama realistischen Zuschnitts hat die Avantgarde neue Figurenkonzeptionen hervorgebracht: reduzierte (entindividualisierte, entpsychologisierte) Charaktere, marionettenhafte Figuren, Figuren mit wechselnden Identitäten, Figuren, die sich ihrer eigenen Fiktionalität bewußt werden. In diesem Kontext sind die Besonderheiten von Vvedenskijs Figurengestaltung zu betrachten, deren Gemeinsamkeit in einer auf verschiedenen Ebenen zu beobachtenden Entmenschlichung besteht. Am offensichtlichsten wird dies in der Aufhebung der Grenze zwischen Mensch und Tier: Der Hund Vera, der im siebten Bild auch am Dialog teilnimmt, wird unter den dramatis personae aufgeführt. Es sprechen auch die Tiere im Wald (Giraffe, Wolf, Löwe, Ferkel), während die Eltern Puzyrev angesichts des Mords „bellen“ und „muhen“ (I, 1) und Fedor beim selben Anlaß „quakt“, „miaut“ und „mit Vogelstimme singt“ (II, 6). Das Phänomen findet einen – freilich von der Figur metaphorisch gemeinten – Reflex im Dialog des dritten Bilds. Nach der Vereinigung mit seiner Frau am Sarg Sonja Ostrovas bemerkt der Vater Puzyrev: „Herrgott, unsere Tochter ist gestorben, und wir hier – wie die Tiere“ (II, 3). Zum Kreis der Figuren ist in gewissem Sinne auch die Tanne zu rechnen. Als sie von den Holzfällern ins Haus gebracht wird, nimmt sie – so sagt der Nebentext – im Unterschied zu den Männern angesichts der toten Sonja nicht die Mütze ab: „Denn sie hat keine Mütze und kann das alles nicht begreifen“ (I, 3).22 Allen Figuren ist gemeinsam, daß sie keinerlei individuelle Züge tragen. Mit keiner Vorgeschichte ausgestattet, sind sie nur durch familiäre Beziehung, Beruf oder Amtsstellung, Alter, Geschlecht und Namen definiert. Über das Äußere wird nur ganz vereinzelt etwas mitgeteilt, und dies meist in äußerst lakonischer Form: „Sie ist sehr schön“ (I, 2), sagt Fedor über seine Braut, und der Schreiber

408

Aleksandr Vvedenskij

auf der Polizei bemerkt mit Bezug auf sie: „Und auch jung. Und auch nicht übel. Und auch hübsch. Und auch wie ein Stern. Und auch wie eine Saite. Und auch wie eine Seele“ (II, 4).23 Von der Mutter Puzyrev wird gesagt: „Sie trägt eine weibliche Rüstung. Sie ist eine Schönheit. Sie hat einen Busen“, während an derselben Stelle ihr Ehemann mit den Worten „Brille. Bart. Speichel. Tränen“ charakterisiert wird (Nebentext zum 3. Bild). Hinzu kommt ein Minimum an differenzierenden Merkmalen wie die Zukunftsängste Petja Perovs, die Anzüglichkeit Sonjas, die Unbeherrschtheit der Kinderfrau usw. Einige Merkmale sind widersprüchlich, wie die Altersangaben der „Kinder“, zudem verhalten sich die älteren Kinder und auch die Eltern Puzyrev vielfach kindlicher als der einjährige Petja Perov.24 Ein anderes Beispiel liefert die Waldszene, in der die Holzfäller zunächst ihre Hymne singen, dann aber Fedor nur mit Zeichen antworten, als ob sie stumm wären, ein Widerspruch, der auch im Nebentext thematisiert, aber nicht aufgeklärt wird: „Hier stellt sich heraus, daß sie nicht sprechen können. Und daß sie gerade gesungen haben – das ist nur eine Zufälligkeit, von denen es im Leben so viele gibt“ (I, 2). Das Merkmal wird dann nochmals revidiert, nachdem ein Holzfäller Fedors Ausführungen zu seiner Braut mit dem Wort „Frucht“ beantwortet hat: „Wenn er auch geredet hat, so hat er doch unpassend gesprochen. So daß das nicht zählt. Seine Kameraden sprechen auch immer unpassend“ (I, 2). In der Tat lauten die folgenden Repliken der Holzfäller: „Gelbsucht.“ und „Hosenträger.“ Derselbe Widerspruch tritt gleich zu Beginn des Stücks auf, das mit der Frage Petja Perovs nach dem Tannenbaum eröffnet wird. Die Kinderfrau antwortet: „Wasch’ dich, Petja Perov. Seif dir Ohren und Hals ein. Du kannst ja noch gar nicht sprechen.“ Dies bestätigt er sogar in gewisser Weise: „Ich kann in Gedanken sprechen. Ich kann weinen. Ich kann lachen“ (I, 1). Einen analogen Widerspruch finden wir im Zusammenhang mit dem Merkmal „hören“. Beim Dialog von Sonjas Kopf und Rumpf erklärt der Rumpf auf die Frage, ob er alles gehört habe: Das habe er nicht, denn er besitze keine Ohren. Die scheinbare Auflösung des Widerspruchs liefert er mit dem Satz: „Aber ich habe alles gespürt“ (I, 3). Die mit den Familiennamen verbundenen Bedeutungen haben nur teilweise charakterisierende Funktion: Puzyrev, aus russ. „puzyr’“ (Luftblase), wobei auch das volkssprachliche „puzatyj“ (dickbäuchig) anklingt, verbindet sich mit Assoziationen von Saturiertheit und zugleich Hohlheit; Perov ist von „pero“ (Feder) abgeleitet und mit Leichtigkeit zu assoziieren (Petja Perov ist das kleinste der Kinder); Ostrova von „ostryj“ (scharf, spitz) ist wohl im Zusammenhang mit dem ungebührlichen Verhalten Sonjas zu sehen. Bei den übrigen Namen ist ein Bezug zur jeweiligen Figur nicht klar zu erkennen: Serova von „seryj“ (grau, auch der Graue = Wolf ), Komarov von „komar“ (Mücke) sowie der beim Urteilsspruch des Richters erwähnte Familienname der Mörderin „Šmetterling“ verweisen nur allgemein auf das Mensch-Tier-Paradigma. Bei Petrov von Petr (indirekt von Petrus = Fels), Pestrov von „pestryj“ (bunt) und Šustrova von „šustryj“ (gewandt) sind allem Anschein nach nicht die Bedeutungen der Na-

„Elka u Ivanovych“ (Weihnachten bei Ivanovs)

409

men entscheidend, sondern phonetische Aspekte. Die Reihe Perov – Petrova – Pestrov weist eine weitgehende klangliche Übereinstimmung auf, ebenso die Reihe Ostrova – Pestrov – Šustrova.25 Was die Vornamen betrifft, so sind diese (mit Ausnahme Ninas) in der bei Kindern üblichen Koseform wiedergegeben (Petja, Varja, Volodja, Sonja, Miša, Dunja). Es handelt sich durchweg um gewöhnliche Namen, deren Bedeutungsassoziationen zu vage sind, um eine schlüssige Interpretation zu erlauben. Eine Ausnahme machen hier nur Sonja und der Hund Vera. Der Name Vera („Glaube“) steht in deutlicher Beziehung zu dem Monolog des Hundes im siebten Bild, der um den Tod Sonjas, um die religiöse Zeremonie, um Leben und Tod überhaupt kreist. Sonja als Koseform von Sof’ja („Weisheit“) kontrastiert zu dem „ungewöhnlich ungesitteten“26 Verhalten der Figur. Man könnte darin sogar eine Anspielung auf den Sophienkult der Symbolisten sehen, wiederum im Sinne einer Kontrastierung, ist die Figur doch das genaue Gegenteil eines überirdischen Ideals von Weiblichkeit.27 Diese äußerste Reduktion der Figuren ist eine Voraussetzung für das eigentümliche Lavieren des Stücks zwischen Ernst und Komik. András Horn bezeichnet in Anlehnung an Platon und Aristoteles die „Harmlosigkeit“ als eine „notwendige Bedingung des Komischen“: „Das heißt: im gleichen Maße, als der Eindruck von Harmlosigkeit schwindet, schwindet auch die Komik.“28 Innerfiktional sind die Geschehnisse in „Elka u Ivanovych“ alles andere als harmlos, dennoch können sie auf den Leser bzw. Zuschauer komisch wirken; denn sie erfüllen insofern das Kriterium der Harmlosigkeit, als die Figuren – ähnlich denen in Daniil Charms’ Erzählzyklus „Slučai“ (Fälle) – zu eindimensional sind, um zur Identifikation zu taugen (hierbei spielen freilich auch anti-illusionistische Verfahren wie das mehrdeutige Bühnenbild eine Rolle). Hinzu kommt die „Komik des Mechanischen“29, die bei Vvedenskij in einer besonderen Form auftritt und als solche wieder auf die Folklore zurückgeführt werden kann. Wir finden in „Elka u Ivanovych“ einen ständigen Wechsel in den Gefühlslagen der Figuren. Dieser Wechsel ist aufs engste mit den Schlüsselwörtern „elka“ und „Tod“ verknüpft. Sowohl das Umschlagen der Emotionen als auch die daran anschließenden Handlungen erfolgen unvermittelt, mechanisch. Als die Eltern Puzyrev während der Totenwache beschließen, Weihnachten zu feiern („elku ustroit’“; I, 3), schlägt Traurigkeit sogleich in Glücksgefühl um, dieses wiederum in sexuelle Erregung, die unverzüglich befriedigt wird, und kurz darauf stürzt der Gedanke an die tote Tochter beide erneut in Traurigkeit. Man betrachte hierzu nur die Reihe der wechselweise auf Mutter und Vater bezogenen Regieanweisungen zu den jeweils einzeiligen Repliken: „weint“, „weint“, „gähnt“, „schneuzt sich“, „pudert sich“, „küßt sie“, „zieht sich aus“, „entflammt seine Phantasie“, „gibt sich ihm hin“, „weint, als er fertig ist“, „weint“ (I, 3). Auch von anderen Figuren wird das „elka“-Motiv automatisch mit Fröhlichkeit assoziiert. So sagt Mia Pestrov im ersten Bild: „Morgen ist Weihnachten („zavtra elka“), und wir werden alle sehr fröhlich sein“ (I, 1), und im fünften Bild verlangt der Irrenarzt, die Mörderin hinauszuführen: „Bringt lieber einen Tannen-

410

Aleksandr Vvedenskij

baum herein. Bei Gott, das ist besser. Ein bißchen fröhlicher“ (II, 5). In der Schlußszene formulieren die Kinder ihr Glücksgefühl in Preisungen des Tannenbaums, bei denen sich die Figur der Wiederholung bis zur Sinnentleerung verselbständigt: PETJA PEROV (Junge von 1 Jahr). Tanne ich muß dir sagen. Wie schön du bist. NINA SEROVA (Mädchen von 8 Jahren). Tanne ich muß dir sagen. Wie hübsch du bist. VARJA PETROVA (Mädchen von 17 Jahren). Ach Tanne, Tanne. Ach Tanne, Tanne, Tanne. VOLODJA KOMAROV (Junge von 25 Jahren). Tanne ich möchte dir mitteilen. Wie prachtvoll du bist. MIŠA PESTROV (Junge von 76 Jahren). Seligkeit, Seligkeit, Seligkeit, Seligkeit. DUNJA ŠUSTROVA (Mädchen von 82 Jahren). Wie Zähne. Wie Zähne. Wie Zähne. Wie Zähne (IV, 9)30. In der anschließenden Replik des Vaters folgt der unvermeidliche, wieder mechanische Umschwung von Glückseligkeit in hoffnungslose Traurigkeit: „Ich bin sehr froh, daß alle fröhlich sind. Ich bin sehr unglücklich, daß Sonja gestorben ist. Wie traurig, daß alle traurig sind“ (IV, 9). Die automatische Folge der allumfassenden Traurigkeit ist der Selbstmord Volodja Komarovs. Dieser löst seinerseits die Reihe der weiteren Tode aus, bei denen die Mechanik der Wiederholung ihre komische Wirkung entfalten kann. Die Figurenkonzeption der Folklore kann hier insofern als Vorbild angesehen werden, als zum Beispiel im Märchen eine Wendung zum Guten automatisch Freude, eine Wendung zum Schlechten automatisch Traurigkeit bedeutet und diese Wendungen – entgegen den Prinzipien menschlicher Psychologie, die hier keine Gültigkeit haben – sehr rasch vor sich gehen können. Im Märchen sind diese Formen aber nicht komisch, weil sie zur Konvention der Gattung gehören und in ein festes Sinnsystem integriert sind (poetische Gerechtigkeit, Sieg des Guten über das Böse). Komisch werden sie bei Vvedenskij durch den Bruch mit den Konventionen der Dramengattung und die Eliminierung jeder sinngebenden Ordnung.31 Wenn also Volodja Komarov zu seiner Mutter spricht, nachdem er sich erschossen hat und dies auch noch ausdrücklich erwähnt, so ist das komisch, weil es durch keine Konventionen der Figurengestaltung gedeckt ist bzw. solche Konventionen parodiert. In der klassizistischen Tragödie lassen sich durchaus sterbende Figuren finden, die noch in wohlgesetzten Worten ihre letzten Gedanken zu Ende bringen. Erinnert sei an den Schluß von Sumarokovs „Dimitrij Samozvanec“ (Dimitrij, der Usurpator, 1771).32 Erst für einen modernen Betrachter mag eine solche Erscheinung komisch wirken, aber nur, weil uns die Theaterkonventionen des 18. Jahrhunderts fremd geworden sind. Für den Klassizismus ist diese Darstellung durch das Prinzip der „transpsychologischen Figurenkonzeption“33 gedeckt. Was für die Psychologie von Vvedenskijs Figuren gilt, gilt auch für die Beziehungen zwischen ihnen. Entweder sie werden – wenn nicht ohnehin Beziehungslosigkeit vorherrscht – auf die bloße Feststellung bestimmter Verhält-

„Elka u Ivanovych“ (Weihnachten bei Ivanovs)

411

nisse verwandtschaftlicher, emotionaler oder gesellschaftlicher Art reduziert, oder sie haben einen formalisierten Charakter, indem ein Merkmal ein anderes automatisch mit sich führt. So sagt Fedor im zweiten Bild: „Ich habe eine Braut. [...] Sie ist sehr schön. Ich liebe sie sehr. [...] Nachdem ich sie genommen habe, ist mir nie langweilig oder widerwärtig zumute. Das ist weil wir uns gegenseitig stark lieben. Wir haben eine nahe Seele“ (I, 2). Zu der Bediensteten, mit der er zufällig in der Nacht zusammenkommt, sagt er hingegen: „Mir ist langweilig mit dir. Du bist nicht meine Braut“ (II, 6). Noch reduzierter erscheinen die übrigen emotionalen Beziehungen. Zwischen Vater und Mutter Puzyrev erschöpft sich das Thema in einer kurzen Replik („du bist meine Schönheit“) und wenigen knappen Regieanweisungen („küßt sie“, „gibt sich ihm hin“; I, 3), und der von den Kindern im Chor ausgesprochene Satz „Wir lieben Mama“ (I, 1) ist mit dem gegebenen Kontext nur durch das Reimwort „Drama“ verbunden, so daß er für die Konstellation kaum Aussagekraft hat. Ansätze zu einer Kräftekonstellation finden sich insofern, als die Kinderfrau Macht über die Kinder hat und auch ausübt, anschließend aber selbst einer übergeordneten Macht ausgeliefert ist, nämlich den Institutionen Polizei, Irrenhaus, Gericht. Als Beziehung zwischen Figuren ist dieses Kräfteverhältnis nur im Falle von Sonja Ostrova gestaltet. In dem Dialog, der dem Mord vorausgeht, enthüllt sich ein (sexuelles) Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden, das sich aber bereits in der nächsten Regieanweisung, die das Köpfen Sonjas beschreibt, wieder auflöst. Da im übrigen zwischen den Figuren Beziehungslosigkeit vorherrscht, entwickelt das Stück auch kein weiteres Konfliktpotential. Stilmontage und andere sprachliche Verfahren Das Textganze ist nicht auf allen Ebenen nach dem Prinzip der Montage gestaltet. Es gibt, wie gezeigt werden konnte, sowohl ein „Handlungs- und Vorgangskontinuum“ als auch eine gewisse „raum-zeitliche Kohärenz“34, wenngleich die Rückschritte und die Raum-im-Raum-Struktur bereits Eingriffe in diese Kohärenz darstellen. Am stärksten ist die Kohärenz jedoch auf der Ebene der sprachlichen Realisierung gestört, und zwar im Sinne einer „Öffnung für Verfahren und Formen der Literatur – bestimmter Gattungskanones und Texttraditionen“35, die im gegebenen Fall wesentlich zur Zerstörung des Mimesis-Prinzips beiträgt. Entscheidend ist hier die spezifische Form des Wechsels von Prosa und Vers. Dieser Wechsel erfolgt meist unerwartet (auszunehmen sind die Gesänge der Holzfäller sowie der Mutter Puzyrev) und realisiert das oberiutische Verfahren des „Zusammenpralls“. So erfolgt die Befragung der Kinder zum Mordgeschehen weitgehend in Jamben und löst eine der Umgangssprache angenäherte Stilebene ab. Die damit aufgerufene Gattungskonvention ist der Chor der griechischen Tragödie. Hierauf verweist nicht nur das Sprechen der Kinder im Chor, sondern auch die ansonsten zusammenhanglos erscheinende Frage an die Polizisten: „Geht ihr immer in Kothurnen?“ (I, 1).36 Die „Hymne“ der Holzfäller, bestehend aus vier Vierzeilern in dreihebigen Jamben, integriert Elemente von

412

Aleksandr Vvedenskij

Volkslied, Mythologie und Kinderlied und mischt Unsinniges mit Tiefsinnigem, Erhabenes mit Niedrigem, wobei sich als dominantes Thema die Frage nach Gott und Religion herausschält – in freilich sehr spielerischer Handhabung. „Betet das Rad an, / Es ist am rundesten von allem“, heißt es in der ersten Strophe, und die vierte lautet: „Vom Thron herab schaut Gott / Und mit bescheidenem Lächeln / Seufzt er leise och, / Du mein verwaistes Volk“ (I, 2). In der Polizeiszene ist es der Schutzmann, der in Versen spricht, wobei seine Äußerungen teils sinnvoll und kontextbezogen, teils zusammenhanglos und absurd sind. Innerfiktionale Motivierungen hierfür liefern der Schreiber (er hält ihn für verrückt) und der Schutzmann selbst, der eine in Hexametern vorgetragene kurze Erzählung darüber, wie eine „Wolke griechischer Reiter wie ein Schatten über den Prospekt jagte“, damit begründet, er „habe die Mörderin von ihren finsteren Gedanken ablenken wollen“ (II, 4). In der Form der Erzählung klingen parodistische Nachahmungen antiker Dichtung an, die in der russischen Moderne verbreitet waren.37 Die Rede des Gerichtssekretärs ist nach Mustern von Kinderversen und Scherzgedichten gestaltet (in vierhebigen Trochäen) und wird mit einem oberiutischen „Vot i vse“ (Das ist alles) beendet (III, 8). Der Stil konterkariert den Ernst des Ortes und des eigentlich zu verhandelnden Falles und kann mit dem russischen Volkstheater in Zusammenhang gebracht werden.38 Schließlich ist der zweite „Gesang“ der Mutter in der Schlußszene zu nennen. Er besteht aus einer Vokalfolge („A o u e i ja“) und einer Konsonantenfolge („BGRT“) und nimmt die zaum’-Experimente Kručenychs auf. Der Wechsel sprachlicher Register findet sich auch innerhalb von Dialogen, die in Prosa gehalten sind, bisweilen sogar innerhalb einzelner Repliken. Vorherrschend ist ein der gesprochenen Umgangssprache angenäherter Stil mit gelegentlichen volkssprachlichen Elementen, der stellenweise Züge kindlichen Sprechens aufweist. Daneben wird gehobene („erwachsene“) Literatursprache verwendet, durch die sich zum Beispiel Petja Perov von den übrigen Kindern abhebt, etwa wenn er die Morddrohung des Kindermädchens mit dem Satz kommentiert: „Und du wirst für einen kurzen Moment spüren, wie deine Haut aufreißt und wie das Blut hervorspritzt. Was du aber weiter spüren wirst, das ist uns nicht bekannt“ (I, 1). Andererseits fällt er im siebten Bild in die Einwortsätze des Kleinkinds zurück: „Papa. Mama. Onkel. Tante. Kindermädchen. [...] Ich bin jetzt eins. Nicht vergessen. Papa. Mama. Onkel. Tante. Feuer. Wolke. Apfel. Stein. Nicht vergessen“ (III, 7). Als Merkmal kindlichen Sprechens wird unter anderem eine fehlerhafte Interpunktion verwendet (beispielsweise bei der Preisung des Tannenbaums im neunten Bild), die allerdings auch schon als solche eine stilistische Verfremdung darstellt. In anderem Zusammenhang wurde bereits auf die Verselbständigung bestimmter poetischer, insbesonderer phonetischer Verfahren hingewiesen. Dies ist in dem Stück ein wesentliches Mittel der Einführung von Unsinnselementen in den Diskurs. Am Ende des siebten Bilds sagt Miša Pestrov: „Heute ist Weihnachten: Bald ist Spalte (ščelka)“; gemeint ist die Weihnachtsfeier (elka). Hier-

„Elka u Ivanovych“ (Weihnachten bei Ivanovs)

413

auf korrigiert Dunja Šustrova: „Nicht Spalte sondern Bienchen (pčelka). Und nicht Bienchen sondern Weihnachtsfeier“ (III, 7). In der Gerichtsszene verselbständigt sich im Anschluß an ein Wortspiel die Lautfolge „sud“ bzw. „sut“ zu einer sinnentleerten Reihe. Die Richter sprechen im Chor: „Wir sind erschreckt von zwei Toden. / Ein seltener Fall – urteilen sie selbst (posudite sami)“. „Wir urteilen. / Werden / Urteilen / Und Menschen / Wecken. / Sie tragen / das Gericht [hier nur im juristischen Sinne] / Und das Gefäß / Auf der Schüssel. / Sie tragen / Auf dem Geschirr / Die Richter“ (Sudim. / Budem / Sudit’ / I budit’ / Ljudej. / Nesut / Sud / I sosud / Na bljude. / Nesut / Na posude / Sudej; III, 8). Unsinnselemente sind allerdings an solche Verfahren nicht gebunden, sondern treten gelegentlich als bloße semantische Inkohärenzen auf, etwa die Repliken der Holzfäller oder die des Sanitäters, der dem Irrenarzt, dem das Wort „Hand“ (ladon’) nicht einfällt, „Trauben“ (vinograd) und „Wand“ (stena) vorschlägt (II, 5), oder in den Repliken Fedors, zum Beispiel „Und der Tisch hat das Salz verloren und den Himmel und die Wand und das Fenster und den Himmel und den Wald“ (II, 6). Komödie oder Tragödie? Mehr noch als bei einer bloßen Lektüre kann „Elka u Ivanovych“ sein komisches Potential in der Inszenierung entfalten, was ein nicht unwesentlicher Grund für den – freilich verspäteten – Bühnenerfolg in den neunziger Jahren sein dürfte.39 Die dargelegten textuellen Verfahren – Komik des Mechanischen, sprachliche und kommunikative Regelverletzungen, Unadäquatheit des Verhaltens, Unmotiviertheiten und überraschende Wendungen – lassen sich durch Mimik, Gestik, Kostüme, Bühnenbild usw. unterstützen und verstärken. Als wirkliche Komödie wird das Stück jedoch auf der Bühne nicht funktionieren können; denn es fehlen einerseits für eine Umsetzung als Satire der konkrete Wirklichkeitsbezug und die klar definierte Axiologie, und andererseits sind für ein heiteres Unsinnsspiel die angesprochenen Themen zu ernst, geht es doch um den Tod, um Verbrechen, Schuld und Strafe, um die Frage nach Gott, um die Vergeblichkeit der Erwartung von Glück, um das Problem der Zeit, um die Problematik zwischenmenschlicher Beziehungen und Kommunikation. Zu den Paradoxa des Stücks gehört es, daß Gott in der fiktiven Welt zugleich da und nicht da ist. Anwesend ist er als Adressat formelhafter Apostrophen wie „Bože“, „EjBogu“, „О žestokij Bog“ usw. und in der Stellvertretung durch die gefällte Tanne – als Idee, wenn man so will. Insofern ist der Gesang der Holzfäller von Gott(vater), der auf sein verwaistes Volk schaut, mehr als nur ein Kalauer. Er kennzeichnet eine Welt, in der Gott zum sinnentleerten Ritus, zur Formel, zur unrealisierbaren Illusion geworden ist. Vom „unsichtbaren Gott“ spricht Petja Perov im ersten Bild, als er sich das Weihnachtsfest ausmalt, das nicht zustandekommen wird. Die verschiedenen aufgerufenen Sinnsysteme – Mythologie, Volksriten, Märchen, auch das christliche Weltbild Dostoevskijs ist hier einzureihen40 – dienen

414

Aleksandr Vvedenskij

nur der ästhetischen Strukturierung des Textes, sie vermögen aber den innerfiktionalen Ereignissen keinen Sinn zu verleihen. Während das Sprechen von Toten (Sonjas Kopf und Rumpf oder Volodja Komarov, der nach seiner Tat zur Mutter sagt, er habe sich erschossen) etwa im Märchen aufgrund des gattungskonformen Wunderelements plausibel sein kann, ist es bei Vvedenskij schlicht sinnwidrig. Der Tod als solcher wird allmächtig, da er in kein Sinngefüge integriert werden kann. Aus diesem Grundproblem lassen sich viele Erscheinungen des Stücks erklären: die Vergeblichkeit der an die „elka“ gekoppelten Glückserwartung, das – auch existentiell zu verstehende – Herumirren der Figuren (besonders anschaulich bei Fedors Auftritt mit verbundenen Augen im sechsten Bild), die Reduktion emotionaler Beziehungen auf sexuelle Handlungen, die Reduktion von Konflikten auf Gezänk und Totschlag usw. Wenn also am Ende die Mitglieder der Familie Puzyrev reihenweise sterben wie „Die sich hinauslehnenden Frauen“ aus „Slučai“ von Daniil Charms41, so geschieht das – psychologisch betrachtet – aus Verzweiflung über die Unfaßbarkeit des Todes. Philosophisch betrachtet, geschieht es, weil in einer Welt ohne Sinn der Zufall (slučaj) die Macht übernommen hat. Es gibt keine Schicksalhaftigkeit des Untergangs42 und daher keine Tragik. Zur Tragödie fehlen zudem die Fallhöhe der Figuren und eine Sprache des Erhabenen43 – überhaupt eine Hierarchie von Werten, ohne die weder die Idee des Opfers realisierbar noch Katharsis möglich ist. Vvedenskij hat in „Elka u Ivanovych“ beide Traditionen, die der Komödie und die der Tragödie, ad absurdum geführt.

Ulrike Lange

Aleksandr Vampilov: Utinaja ochota (Die Entenjagd) Der aus Sibirien stammende Aleksandr Vampilov hat die erste offizielle Aufführung seines Dramas „Utinaja ochota“ (Die Entenjagd) nicht mehr erlebt, obwohl das bereits 1965–1967 entstandene Stück 1970 zwei Jahre vor seinem frühen Tod in der Zeitschrift „Angara“ publiziert wurde.1 Vampilov war zwar Anfang der siebziger Jahre ein vielgespielter und angesehener Autor, doch „Utinaja ochota“ konnte erst 1976 in Riga und Kišenev – also an der Peripherie des sowjetischen Reichs, wo die Zensur häufig weniger streng war – uraufgeführt werden. Wie bei vielen Stücken dieser Zeit gab es zuvor aber schon inoffizielle oder halboffizielle Aufführungen in Form von Proben oder Studentenaufführungen. Vampilov war als Erzähler und Dramatiker von den Hoffnungen und Zielen des Tauwetters geprägt, und so zeigt „Utinaja ochota“ auch die Resignation, die nach der Rücknahme der kulturpolitischen Liberalisierung die Kunstschaffenden ergriff. Mit dieser negativen Grundstimmung des Dramas verstieß der Autor zu stark gegen die künstlerischen und politischen Vorgaben der Brežnev-Ära, auch Zeit der Stagnation genannt, um die Aufführungsgenehmigung erhalten zu können. Zudem war die Struktur des Dramas zu experimentell, die Aussage zu offen und die Hauptfigur Zilov zu weit vom positiven Helden des Sozialistischen Realismus entfernt. In seiner Suche nach einer ungeschminkten, wahrhaftigen Darstellung der sowjetischen Wirklichkeit steht Vampilov der psychologischen Alltagsdramatik der Tauwetterautoren Aleksej Arbuzov und Viktor Rozov nahe. In seiner Dramatik finden sich aber vor allem typische Kennzeichen der Prosa seiner Zeit. Wie zum Beispiel Jurij Trifonov tendiert er zu einer Subjektivierung der Erzählweise, und er rückt das private, innere Erleben seiner meist jugendlichen Helden in den Mittelpunkt.2 Die äußere Handlung wird zurückgedrängt, was nicht ohne Einfluß auf die Dramenstruktur bleibt. Gerade die Elemente, die die Aufführung von „Utinaja ochota“ zu Vampilovs Lebzeiten verhinderten, ließen das Stück in den späten siebziger Jahren so einflußreich werden3, daß es einen Wendepunkt in der sowjetischen Dramatik bildet.4 Handlungsebenen und Aufbau Für ein tieferes, nicht rein handlungsorientiertes Verständnis von „Utinaja ochota“ ist es notwendig, zuerst die komplexe Struktur des Dramas zu betrachten. Es finden sich drei Zeit- bzw. Fiktionsebenen, die durch die Hauptfigur zusammengehalten werden: Ausgangspunkt und Rahmenhandlung ist die Gegenwart, in die die Vergangenheit in Form von Erinnerungen eingelagert ist.5 Zur Markierung der unterschiedlichen Zeit- bzw. Fiktionsebenen werden Lichteffekte, Musik und Schauplatzwechsel durch eine Drehbühne eingesetzt. Diese Technik er-

416

Aleksandr Vampilov

innert an den modernen Filmschnitt, ist jedoch auf der Bühne wesentlich schwieriger umzusetzen. Auf der Gegenwartsebene wird Zilov in einer Krisen- und Entscheidungssituation gezeigt: Er wacht an seinem ersten Urlaubstag verkatert in seiner Wohnung auf. Sein Kinn schmerzt von einem Faustschlag, an den er sich zunächst nicht erinnern kann. Es regnet, und er kann nicht wie geplant zur Entenjagd aufbrechen. Ein Junge bringt einen Totenkranz, auf dessen Schleife die folgenden Worte stehen: „Dem unvergessenen, vorzeitig von der Arbeit verzehrten Viktor Aleksandrovič Zilov von seinen untröstlichen Freunden“ (I, 1). Dieser derbe Scherz zeigt, daß es am Vorabend offensichtlich einen Streit gegeben hat. Aufgerüttelt von der Vorstellung seines eigenen Todes rekonstruiert Zilov die Ereignisse, die zu der momentanen Situation geführt haben. Die Erinnerungsstruktur gibt dem Drama einen analytischen Aufbau, bei dem die Spannung darauf gerichtet ist, was zwischen den Freunden vorgefallen ist und wer Zilov ins Gesicht geschlagen hat. Dahinter steht aber auch die Frage, wie Zilov zu dem wurde, der er ist. Die Erinnerungen werden von zwei Visionen umrahmt, in denen sich Zilov die Reaktionen der Freunde auf seinen Freitod ausmalt.6 Beide Visionen haben denselben Text, unterscheiden sich aber geringfügig in der letzten Szene und in der vom Nebentext vorgeschriebenen Stimmung. Die erste Vision, die unmittelbar auf die Abgabe des Kranzes folgt, ist ironisch und spielerisch. Sie endet in einer Geldsammlung unter den Freunden für den Kranz. Die zweite schließt Zilovs Erinnerungen ab. Sie ist im Gestus nicht von diesen zu unterscheiden und gipfelt in einem stummen Trauerzug der Freunde. Nach der zweiten Vision bereitet Zilov seinen Selbstmord vor, wird aber durch das Klingeln des Telefons und das Erscheinen der Freunde von der Ausführung seines Plans abgehalten. Im Finale bricht er in einem hysterischen Wein-Lach-Krampf zusammen und teilt schließlich seinem Jagdpartner Dima telefonisch mit, daß er nun doch mit auf die Entenjagd gehe.7 Die Vergangenheitshandlung ist in sechs Erinnerungsszenen (zwei im ersten Akt, drei im zweiten Akt, eine im dritten Akt) dargestellt. Dazwischen wird Zilov immer wieder telefonierend allein in seinem Zimmer gezeigt. Da er außer Dima niemanden erreicht, kann er sich selber und seinen Reflexionen nicht ausweichen.8 Die Erinnerungen bestehen aus jeweils einer in sich geschlossenen Handlungseinheit und erhellen in Schlaglichtern die letzten sechs Wochen (in den Erinnerungen angesprochene Ereignisse reichen bis zu sechs Jahren zurück). Ihre Abfolge ist chronologisch, und obwohl Lücken bleiben, läßt sich problemlos eine durchgehende Handlung erkennen. Die Erinnerungen werden szenisch vergegenwärtigt, so daß die Bühne zu Zilovs Bewußtseinsraum wird. Nur einzelne Szenen haben einen direkten Auslöser auf der Gegenwartsebene. So entfaltet sich zum Beispiel die Erinnerung an die Einweihung der neuen Wohnung, nachdem Zilovs Blick auf ein Einzugsgeschenk fällt.

„Utinaja ochota“ (Die Entenjagd)

417

Obgleich die Vergangenheitshandlung als Erinnerung Zilovs inszeniert wird, bleibt seine Bewertung des Geschehenen ausgeblendet. Die Zuschauer sind nur mit seinen Handlungen konfrontiert, eine Darstellung seiner Gedankenwelt – etwa durch reflektierende Monologe – fehlt. So bleibt offen, ob der Erinnerungsprozeß und die Krise zu einer inneren Wandlung Zilovs geführt haben. Offen bleibt ebenfalls, weshalb genau er sich das Leben nehmen will und weshalb er diesen Plan wieder verwirft. Einige frühe Inszenierungen von „Utinaja ochota“ zeigen, daß sowjetische Regisseure solcher Offenheit und Ambiguität hilflos gegenüberstanden und der Versuchung nachgaben, das Drama in der Inszenierung eindeutiger zu machen und auf eine Interpretation festzulegen. So wurde etwa das abschließende Telefonat mit Dima weggelassen oder eine zusätzliche Szene angehängt, die Zilov auf der Entenjagd zeigt.9 Doch gerade die Unergründlichkeit und Unberechenbarkeit des menschlichen Verhaltens ist eine der Grundaussagen des Stücks und jede Festlegung durch die Inszenierung eine Verfälschung. Trister Alltag jenseits ideologischer Beschönigung Während die Gegenwartsebene durchweg die tragische, existentielle Seite von „Utinaja ochota“ zeigt, finden sich auf der Vergangenheitsebene bei der Darstellung der Schwächen der Figuren auch komische und burleske Elemente. In den Erinnerungsszenen wird der sowjetische Alltag ohne jede Beschönigung und Idealisierung dargestellt. Dabei werden zahlreiche Tabuthemen angesprochen. Der erste Akt stellt in zwei Erinnerungsszenen die Grundvoraussetzungen der Handlung vor. Zilov wird im Kreis seiner Kollegen und Freunde gezeigt, die sich in der Mittagspause in der Stammkneipe „Vergißmeinnicht“ treffen. Seinem Vorgesetzten Kušak ist er zu Dank verpflichtet, weil dieser ihm eine Wohnung verschafft hat. Die abendliche Einweihungsfeier zeigt Zilov in seinem Privatleben. Seine Frau Galina verbindet mit der neuen Wohnung die Hoffnung auf einen Neuanfang für ihre Ehe, die von Entfremdung geprägt ist. Auf ihren Wunsch nach einem Kind, das die Ehepartner wieder fester aneinander binden soll, reagiert Zilov distanziert-verbindlich. Die Feier läßt die Beziehungen zwischen den Menschen und die allgemeine Atmosphäre deutlich hervortreten: Zilovs Kollege Sajapin und vor allem dessen Frau Valerija begutachten die neue Wohnung voller Neid und Begehrlichkeit, da sie selbst noch keine eigene Wohnung haben. Kušak, dessen Frau in Kur ist, bändelt auf Zilovs Vermittlung hin mit dessen ehemaliger Geliebter Vera an, und Zilov beginnt bereits zu trinken, bevor die Gäste eintreffen. Angeschnitten werden Alltagsthemen wie Wohnungsnot, Promiskuität und Alkoholismus. Die zweite Erinnerungssequenz führt Zilovs Arbeitsplatz, das „Zentralbüro für technische Informationen“, ein. Die Mitarbeiter versuchen, Arbeit möglichst zu vermeiden und sich das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. So überredet Zilov seinen Kollegen Sajapin, das Projekt für den Umbau einer Porzellanfabrik als Bericht über den bereits erfolgten Umbau einzureichen, um nicht neu recherchieren und schreiben

418

Aleksandr Vampilov

zu müssen. Dieses Handlungselement trifft eine weit verbreitete Erscheinung des Sowjetsystems: Schlamperei bei der Arbeit und die Vortäuschung von Leistungen, die nie erbracht wurden.10 Es zeigt sich hier aber auch Zilovs Verhältnis zur Arbeit, das nicht nur von Verantwortungslosigkeit, sondern auch vom Fehlen jeglicher Begeisterung und Ambition geprägt ist. Wenn man bedenkt, wie ausschließlich die sowjetische Ideologie den Menschen und seinen Wert über die Arbeit definiert, wird klar, wie stark die Figuren in „Utinaja ochota“ vom staatlich verordneten Ideal abweichen. Statt zu arbeiten, flirtet Zilov mit der Schulabgängerin Irina, die nur irrtümlich in das Büro kommt, verabredet sich mit ihr und beginnt eine Affäre. In den drei Erinnerungsszenen des zweiten Akts erreicht die Handlung ihren Kulminationspunkt. Die dritte Szene zeigt den Bruch zwischen Zilov und Galina. Galina hat das ersehnte Kind abgetrieben, nachdem sie erfahren hat, daß sie von ihrem Mann betrogen wird. Zilov reagiert auf diese Nachricht entrüstet und versucht Galina zurückzugewinnen, indem er die Vergangenheit heraufbeschwört und die Szene seiner Werbung wiederholt. Galina sträubt sich zuerst gegen dieses Erinnerungsspiel, kann sich dann aber schließlich nicht gegen Zilovs Intensität und Charme wehren. Doch gerade als sie sich der gemeinsamen Reinszenierung öffnet, versagt Zilovs Gedächtnis, und er vermag sich nicht an die entscheidenden Worte zu erinnern. So scheitert sein Versuch, Galina zu manipulieren, und sie wendet sich verzweifelt und vorwurfsvoll von ihm ab. Auch im Büro eskaliert für Zilov die Situation: Kušak entlarvt den gefälschten Bericht – der Umbau der Porzellanfabrik wurde nie durchgeführt. Zilov nimmt aus einer Haltung vollkommener Gleichgültigkeit gegenüber seinem Schicksal die Verantwortung für den Fehler auf sich. Dennoch kommt es nicht zur Katastrophe, weil Sajapins Frau Kušak mit weiblichem Charme überredet, seine Mitarbeiter nicht disziplinarisch, sondern durch Entzug ihrer Hobbys – Fußball und Entenjagd – zu bestrafen. Kurz darauf erhält Zilov die Nachricht vom Tod seines Vaters, der ihn erst vor wenigen Tagen um einen letzten Besuch gebeten hatte. Sein erster Impuls, sofort zur Beerdigung zu fahren, verfliegt, als er die Möglichkeit sieht, sich statt dessen mit Irina zu treffen. Die nächste Erinnerungsszene zeigt Zilov zugleich von einer sehr emotionalen Seite und als ausgesprochenen Zyniker. Galina beschließt, ihren Mann endgültig zu verlassen und zu einem Jugendfreund zu ziehen. Als Zilov sie nicht gehen lassen will, schließt sie ihn ein. Durch die verschlossene Tür beginnt er erneut, um sie zu werben. Er bietet ihr das Höchste an, was er hat: Er verspricht, sie mit auf die Entenjagd zu nehmen. In poetischen Worten beschreibt er, was diese Jagd für ihn bedeutet. Die Regieanweisung gibt hier eine aufrichtige und wahrhaftige Sprechweise vor. Doch Galina geht, und Zilov spricht, ohne es zu wissen, ins Leere. Seine begeisterten Worte werden zu einem Monolog und zeigen ihn in seiner Selbstbezogenheit und Isolation. Später kommt Irina, bleibt vor der geschlossenen Tür stehen und glaubt, Zilovs Worte seien an sie gerichtet. Der kurze Moment von Zilovs Aufrichtigkeit wird durch das Geschick zer-

„Utinaja ochota“ (Die Entenjagd)

419

stört, mit dem er seine Irritation überspielt, als er vor der Tür nicht Galina, sondern Irina findet, und durch die Austauschbarkeit der Adressatin entwertet. Die Leere nach Galinas Weggang – und damit auch die Chance, über sich selbst nachzudenken – vermeidet Zilov, indem er Irina sofort einlädt, bei ihm einzuziehen. Das Grundthema des zweiten Akts ist die Entlarvung von Zilovs Lügen und seine Fähigkeit, sich immer wieder herauszuwinden. Er erscheint dabei einerseits als zynischer Manipulator, andererseits aber auch als sympathischer Lebenskünstler. Im dritten Akt kommt die Vergangenheitshandlung zum Abschluß und mündet in die Gegenwartsebene ein. Die letzte Erinnerungsszene stellt den der Gegenwartsebene unmittelbar vorausgehenden „Skandal“ dar. Zilov lädt zur Feier des Urlaubsbeginns seine Freunde in die Kneipe „Vergißmeinnicht“ ein. Doch er beabsichtigt keineswegs, mit ihnen zu feiern, sondern sie zu beschimpfen. Er betrinkt sich allein und hält seinen Freunden ihre Scheinmoral vor. Irina bietet er seinem Vorgesetzten als Geliebte an, den Kellner Dima bezeichnet er als Lakai. Dima rächt sich an Zilov erst, als dieser völlig betrunken ist und es keine Zeugen gibt, mit einem – später geleugneten – gezielten Faustschlag. Da Zilov nach dem Trinkgelage bewußtlos wie ein Toter daliegt, kommen seine Freunde auf den Gedanken, ihm einen Totenkranz ins Haus zu schicken. Hier schließt sich der Kreis zum Einsatz der Gegenwartshandlung: Oberflächlich haben sich die Fragen aufgeklärt, doch die Frage, wie Zilov zu dem geworden ist, was er ist, bleibt nach wie vor offen. Figuren und Beziehungsgeflecht Bedingt durch die Struktur des Dramas und seine Dominanz auf der Gegenwartsebene steht Zilov ganz im Zentrum der Konstellation.11 Er unterhält zu allen Figuren eine Beziehung: zu Galina, Vera und Irina Liebesbeziehungen; Sajapin und Kuzakov sind seine Kollegen, Kušak ist sein Vorgesetzter, Dima sein Freund und Jagdgefährte, und Valerija ist immerhin Teil seines Freundeskreises. Gespiegelt wird er durch Vera, die ein ähnlich oberflächliches und promiskuitives Leben führt und eine vergleichbare Position in der Konstellation einnimmt: Zilov ist ihr ehemaliger Geliebter, in Kušak weckt sie zumindest Hoffnungen, und am Ende des Stücks tritt sie als Kuzakovs Braut auf. Vera drückt die Austauschbarkeit der Männer in ihrem Leben aus, indem sie alle „Alik“ (etwa „Schlucki“) nennt – eine zärtliche Koseform für Alkoholiker.12 Doch anders als Zilov steht sie zu ihrem Lebenswandel und verteidigt sich nicht, als er ihr in der Skandalszene vorwirft, sie habe mit allen anwesenden Männern geschlafen. Sie ergreift sogar Zilovs Partei, als sich die anderen auf ihn stürzen wollen. Auch der Kellner Dima wird in der Kritik häufig als Spiegel oder Gegenfigur zu Zilov bezeichnet, allerdings mit ganz unterschiedlichen Bewertungen.13 In der Konstellation hat er eine hervorgehobene Stellung, weil Zilov zwischen den Erinnerungsszenen immer wieder mit ihm telefoniert. Dima hebt sich von allen anderen durch eine hohe Arbeitsmoral ab, was bei seinem Beruf allerdings

420

Aleksandr Vampilov

durchaus ironisch zu sehen ist. Er strahlt eine unheimliche Kraft und Kälte aus, zwei Eigenschaften, die darauf beruhen, daß er sich selbst ganz unter Kontrolle hat. Und er ist stolzer als die anderen, wie sich besonders in der heimlichen Rache für Zilovs Beschimpfung zeigt. Galina und Kuzakov, zwei positive Figuren des Stücks, lehnen ihn deshalb ab, Zilov bewundert ihn jedoch vorbehaltlos und nennt ihn seinen einzigen wahren Freund. Gerade im Punkt der Selbstkontrolle unterscheidet sich Zilov von Dima; denn er läßt sich von seinen spontanen Bedürfnissen treiben. Germ-Wilkiewicz formuliert den entscheidenden Unterschied zwischen den beiden folgendermaßen: „Zilov verkörpert im Gegensatz zu Dima das Chaos, das einen Rest von Menschlichkeit garantiert und Berechnung und Aussicht, von anderen bewußt zu profitieren, ausschließt.“14 Im Stück werden die Jagdgefährten explizit unter dem Aspekt ihres Jagdglücks verglichen: Während Dima gut trifft, hat Zilov noch nie eine Ente erlegt. Dima erklärt dies so, daß er die Enten schon als tot sehe, Viktor jedoch beim Schießen immer noch nervös sei. Bei Zilovs Selbstmordversuch ist Dimas Rolle zwiespältig: Er macht seinem Jagdpartner keine moralischen Vorhaltungen, stellt sich dem Selbstmordversuch nicht entgegen, sondern lädt sogar das Gewehr neu. Er sagt nur, daß er in einer Stunde mit Zilov zusammen zur Jagd aufbrechen wolle, und erwähnt somit das, was den Freund am meisten interessiert und ihn also ans Leben binden könnte. Es bleibt offen, ob Dimas leidenschaftslose Haltung völliger Gleichgültigkeit, brutalem Egoismus (er möchte das Boot Zilovs haben) oder der Akzeptanz von Zilovs Entscheidung entspringt. Zu einer Konfrontation zwischen den beiden kommt es, als Zilov das neu geladene Gewehr auf Dima richtet, um ihn wie die anderen Freunde aus seiner Wohnung zu vertreiben. Zilov ist in seinem Kreis keine Ausnahmefigur. Er verkörpert eine Zuspitzung der Eigenschaften, die auch die übrigen Figuren aufweisen und wird deshalb von Vera als „Schlucki der Schluckis“ (аlik iz alikov, I, 1) bezeichnet. Alle sind mittelmäßige Figuren, die sich in ihrem Leben eingerichtet haben, keinerlei höhere Werte vertreten, sondern jeweils versuchen, das Beste für sich selbst herauszuschlagen. Damit sind sie weit entfernt von den positiven Helden sowjetischer Theaterstücke und zeigen die negative, in der offiziellen Literatur häufig geleugnete Seite des sozialistischen Alltags. Einen positiven Gegenentwurf gibt es in diesem Drama nicht: Die Lehrerin Galina ist zu erschöpft und ausgelaugt, und Irina ist in ihrer Jugendlichkeit und Naivität keine ernstzunehmende Persönlichkeit, sondern die Verkörperung des männlichen Wunsches, durch die Liebe einer Jungfrau aus einer als unerträglich erlebten Lebenssituation gerettet zu werden.15 „Zilovščina“ – das Phänomen Zilov und seine literarischen Vorgänger Die Diskussion um „Utinaja ochota“ ist vor allem zur Zeit der Erstaufführung ganz auf Zilov und seine Lebensweise konzentriert, für die sich der Begriff „Zilovščina“ eingebürgert hat.16 Was versteht man unter diesem ursprünglich nur negativ verwendeten Begriff, und wie ist das „Phänomen Zilov“ zu interpretieren

„Utinaja ochota“ (Die Entenjagd)

421

und einzuordnen? In der Sekundärliteratur finden sich Beschreibungen wie „Individualismus, Bindungsunfähigkeit, Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen“17 oder auch „Neigung zur Selbstisolation, […] Lethargie und Handlungsunfähigkeit“.18 Das Hauptkennzeichen aber ist die grundlegende Gleichgültigkeit Zilovs allem gegenüber, außer der möglichst schnellen Erfüllung seiner unmittelbaren (physischen) Bedürfnisse. Einen Aufschub seiner Wünsche kann er kaum ertragen: Der Regen, der die Abreise zur Entenjagd verzögert, bringt ihn zur Verzweiflung; er wartet das Eintreffen der Gäste nicht ab, bevor er mit dem Trinken beginnt; und er gibt den ehrlichen Impuls, zur Beerdigung seines Vaters zu fahren, sofort auf, als er die Möglichkeit sieht, sich statt dessen mit seiner Geliebten zu treffen. Zilov ist nicht fähig, wie ein erwachsener Mensch Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, sondern läßt sich treiben. Es fehlen ihm die Disziplin und die Werte, die einem reinen (infantilen) Hedonismus entgegenstehen könnten. Der einzige Moment, in dem er wirklich bereit ist, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, ist der Moment, als er es beenden will. Wie bewußt und verantwortungsvoll sein Entschluß weiterzuleben ist, bleibt offen. Die Symbolik des Totenkranzes legt die Interpretation nahe, daß Zilov vor Gleichgültigkeit innerlich schon tot ist. Als Dima am Telefon so tut, als sei Zilov gestorben, reagiert dieser seltsam unsicher, so als habe er Zweifel an seiner eigenen Lebendigkeit: „Tot?… Wer ist tot?… Ich?… Eigentlich nicht… Eigentlich lebe ich… Ja?… (Lacht): Nein, nein, ich lebe“ (I, 1). Zilovs einzige deutliche Leidenschaft, die Entenjagd, zeigt eine ganz andere Facette seines Charakters. Es geht ihm nicht um das Töten der Tiere. Den Aufenthalt in der Natur beschreibt er Galina gegenüber in schwärmerischen Tönen: „Nur dort fühlst du dich als Mensch. […] Und wenn die Sonne aufgeht? Oh! Das ist wie in der Kirche und sogar noch reiner als in der Kirche… Und die Nacht? Mein Gott! Weißt du, welch eine Stille das ist? Dich gibt es dort nicht, verstehst du? Nein! Du bist noch nicht geboren. Nichts existiert. Nichts war. Und nichts wird sein…“ (II, 3). In diesem Wunsch nach Auflösung in der Natur zeigt sich ein romantischer oder sogar spiritueller Kern der Figur.19 In Zilov ist eine starke Ambivalenz angelegt, die sich durch keine Interpretation restlos auflösen läßt. Sie findet sich auch in der Beschreibung von Zilovs äußerer Erscheinung im Nebentext: „Aus seinem Gang, seinen Gesten und seinem Auftreten spricht eine große Freiheit, die der Gewißheit seiner physischen Vollwertigkeit entspringt. Gleichzeitig verraten sowohl sein Gang als auch seine Gesten eine gewisse Nachlässigkeit und Langeweile, deren Ursprung man auf den ersten Blick nicht bestimmen kann“ (I, 1). Diese Ambivalenz macht Zilovs Charme aus, dem sich die anderen Figuren nicht entziehen können, selbst wenn er sie schlecht behandelt, und der auch bei den Zuschauern neben Abscheu eine gewisse Sympathie und Faszination erregt.20 Psychologisch betrachtet läßt sich Zilovs Verzweiflung und Gleichgültigkeit als Symptom einer midlifecrisis deuten – ein Thema nicht der sowjetischen,

422

Aleksandr Vampilov

wohl aber der westlichen Literatur. Zilov zieht in den Erinnerungen die Bilanz seines bisherigen Lebens. Äußerlich hat er mit seinen dreißig Jahren viel erreicht: einen bequemen Arbeitsplatz, die Achtung seines Vorgesetzten, eine eigene Wohnung, einen Freundeskreis, Erfolg bei den Frauen. Innerlich fühlt er jedoch nur Leere und Zerrüttung: Er langweilt sich bei der Arbeit, seine sozialen Bindungen sind in dem Skandal zerbrochen, seine Liebesbeziehungen gescheitert, und vor dem sterbenden Vater fühlt er sich schuldig. Zilov inszeniert den Zweifel an seinem Leben und den Widerspruch zwischen äußerem Schein und innerer Realität, als er sich den Totenkranz wie bei einer Siegerehrung umhängt und posiert: „Vitja Zilov! U-De-Es-Es-Er. Erster Platz… Aber wofür? (Läßt den Arm sinken)“ (I, 1).21 Es gibt keinen Bereich, in dem Zilov wirklich Sieger ist, so daß sein Vorname, Viktor (der Sieger), bestenfalls als ironischer Kommentar gelesen werden kann. Zilov spürt Ungenügen an seinem eigenen Leben, er erscheint als Suchender und Getriebener. Aber er sucht nicht in sich selbst, sondern erwartet die Erlösung von außen, so zum Beispiel von Galina, die er durch die verschlossene Tür anfleht: „Du hast Recht, mir ist alles gleichgültig, alles auf der Welt. Ich weiß nicht, was mit mir los ist… Ich weiß es nicht… Habe ich wirklich kein Herz?… Ja, ja ich habe nichts – nur dich, das habe ich heute begriffen, hörst du? […] Ich bin allein, allein, nichts habe ich in meinem Leben außer dir. Hilf mir! Ohne dich drehe ich durch… Laß uns wegfahren! Wir fangen von vorne an, so alt sind wir noch nicht…“ (II, 3). Doch Galina hat ihn in diesem Moment schon verlassen. Obwohl diese Worte durch Zilovs Gesprächsabsicht verzerrt sind, zeigen sie eine zumindest momentane Selbsterkenntnis. Zilov gewinnt durch den Bezug auf andere Figuren der russischen und westlichen Literatur an zusätzlicher Tiefe. Seine Unbedingtheit verbindet ihn mit dem romantischen Helden22, seine Unerfülltheit mit dem Typus des „überflüssigen Menschen“ in der russischen Literatur.23 Der überflüssige Mensch ist ein begabter, sensibler Mensch, der von den gesellschaftlichen Bedingungen des 19. Jahrhunderts ins Abseits gedrängt wurde und sich – wie wir es heute ausdrücken würden – nicht verwirklichen konnte. Die Verbindung wird unter anderem durch das Schlüsselwort der „Langeweile“ in der Charakteristik Zilovs hergestellt.24 Diese literarische Anspielung stellt eine Parallele zwischen dem zaristischen System und der sowjetischen Zeit der Stagnation her und ermöglicht so eine Antwort auf die Frage, wie Zilov zu dem wurde, was er ist: Die erdrückende und erstickende politische Atmosphäre gibt ihm keine Möglichkeit zur Entfaltung seines Potentials und der Kraft, die in ihm zu spüren ist. Psychologisch gesprochen ermöglicht es ihm die staatliche Bevormundung nicht, erwachsen zu werden, sich zu verwirklichen und Verantwortung zu übernehmen.25 Über den Bezug auf das literarische Muster wird die Charakterkritik (Zilov ist als Individuum verantwortlich für seine Handlungen und damit Täter) klar in einer Systemkritik fundiert: Zilov ist Opfer bestimmter politischer und gesellschaftlicher Konstellationen. Die Kritik am System wird aber an keiner Stelle des Dramas explizit formuliert.26

„Utinaja ochota“ (Die Entenjagd)

423

Bei einer rein psychologischen Rezeption bleibt „Utinaja ochota“ ein relativ plattes Stück.27 Zilov ist jedoch nicht nur ein individueller Charakter, sondern auch ein Antiheld, der die Sinnhaftigkeit und den Entwicklungsgedanken des Lebens insgesamt in Frage stellt. In der Offenheit des Dramas liegt die ausdrückliche Verweigerung, seine Entwicklung nachzuzeichnen, Prognosen über seine Weiterentwicklung zu machen und damit einen Sinn zu konstruieren. Zilovs innerer Kampf, seine Reflexionen und die Gründe seiner Entscheidungen werden nicht dargestellt. Nur von außen wird sein Ringen mit den Absurditäten der menschlichen Existenz gezeigt. Kein Wunder also, daß die frühe sowjetische Kritik diese Figur aufs Schärfste angriff28; denn sie verkörpert nicht nur negative Eigenschaften, sondern auch eine Weltsicht, die der kommunistischen grundlegend widerspricht.29 Vampilovs Theater als Absage an den Sozialistischen Realismus Nicht nur hinsichtlich der Themen und der Hauptfigur entfernt sich „Utinaja ochota“ vom sozialpsychologischen Theater und erst recht von den Vorgaben des Sozialistischen Realismus. Auch strukturell ist das Stück durch Gattungsmischung, mehrsträngige Handlungsführung sowie metafiktionale und symbolische Elemente für seine Zeit ausgesprochen innovativ. Gattungsmäßig ist dieses Drama nicht leicht zu bestimmen, weil es eine Mischung von Stilen aufweist, die in Ansätzen an die Poetik der frühen Einakter Čechovs erinnert.30 Nebeneinander stehen Elemente von Farce und Tragödie.31 Bereits der Scherz mit dem Totenkranz, der Auslöser für Zilovs Erinnerungen ist, vereint in seiner makaberen Qualität Lustiges und Ernstes. Gerade im ersten Akt gibt es viele komische Elemente, die der satirischen Figurendarstellung dienen. So etwa wenn Kušak immer wieder zum Fenster geht, um zu prüfen, ob sein Auto noch da ist, oder wenn Valerija bei der Besichtigung von Zilovs neuer Wohnung immer wieder (selbst beim Betätigen der WC-Spülung) in den Schrei „Wie entzückend!“ ausbricht (I, 1). Am deutlichsten aber findet sich das Prinzip der Gattungsmischung in der Szene, in der Zilov meint, seine Liebeserklärung durch die verschlossene Tür an Galina zu richten, der Zuschauer jedoch weiß, daß Irina seine Zuhörerin ist. Verwechslungsszenen dieser Art gehören zum Standardrepertoire burlesker Komik. In diesem Fall ist dem Lachen allerdings ein Erschrecken beigemischt; denn Vampilov setzt das Verfahren ein, um eine abstoßende und bedrückende Seite von Zilovs Charakter vorzuführen. Die Ununterscheidbarkeit von Tragik und Komik wird auch metafiktional thematisiert: Nach dem verhinderten Selbstmordversuch bricht Zilov in einem hysterischen Anfall zusammen, bei dem nicht zu erkennen ist, ob er lacht oder weint. Anders gesagt, Lachen und Weinen fallen angesichts der Leere und Absurdität seines Lebens zusammen. Es gibt für Zilov keine Lösung, nicht einmal eine adäquate Reaktion, sondern nur die zumindest zeitweilige Spannungsreduktion durch den emotionalen Ausbruch. Danach wirkt er äußerlich ruhig und gefaßt. Wenn es sich für ihn auch – zumindest im psychologischen Sinne – um

424

Aleksandr Vampilov

eine Katharsis handelt, so läßt sich dies dramentechnisch nicht sagen. Für die Zuschauer bleibt die Spannung bestehen. Denn das Drama endet offen; es wird kein Wandel der Hauptfigur gezeigt und kein Wertesystem wiederhergestellt. „Utinaja ochota“ ist ein diagnostisches Stück, das keine Lösung bietet und sich weder auf die Konvention des Komischen noch auf die des klassisch Tragischen festlegen läßt. Formal ist das auffallendste Element von „Utinaja ochota“ die Erinnerungsstruktur und damit die Mehrsträngigkeit der Handlung. Der Illusionsbruch, der mit diesem Aufbau einhergeht, wird dadurch abgemildert, daß alle Ebenen in der Psyche der Hauptfigur verankert sind. Das Erinnern wird auch auf der Vergangenheitsebene thematisiert, wenn Zilov mit Galina sein erstes Werben reinszeniert. Der in diesem „Spiel im Spiel“ enthaltene Kommentar zu Zilovs Erinnerungsverhalten stellt die Verläßlichkeit seines Erinnerns gründlich in Frage: Zilov setzt das gemeinsame Erinnern nicht nur mit manipulativem Ziel ein, er hat auch entscheidende Details der Vergangenheit vergessen. In den beiden Visionen wird das Prinzip der Realitätsillusion noch stärker relativiert: Die Wiederholung der gleichen Szene mit einer leichten Variation betont, daß hier Realität nicht dargestellt, sondern in der Vorstellung der Hauptfigur lediglich ausprobiert wird. Diese Struktur bewirkt eine Subjektivierung des Dargestellten und eine starke Fokussierung auf die Figur Zilov. Nimmt man die Vorstellung ernst, nach der die Bühne zum Bewußtseinsraum Zilovs wird, ist es nicht weiter verwunderlich, daß dessen Handlungen keine eindeutige Bewertung finden. Vampilov nutzt die Erinnerungsstruktur, um den von der sowjetischen Literaturkritik immer wieder eingeforderten Autorenstandpunkt bewußt zu verschleiern.32 Hinter der Handlung liegt in „Utinaja ochota“ eine symbolische Schicht, die für das Verständnis der Figuren und der Textaussage entscheidend ist.33 So wird der Raum semantisiert, wenn Zilov im Verlauf der gesamten Gegenwartshandlung auf sein Zimmer beschränkt bleibt – ein Ausdruck dafür, daß er in sich selber eingeschlossen ist. Ein Fenster im Bühnenbild zeigt einen Ausschnitt des Himmels, in dem das Regenwetter sichtbar ist, das den Aufbruch zur Entenjagd verhindert und Zilov zum tatenlosen Warten und Erinnern zwingt. Gegen Ende des Stücks klart das Wetter auf, und es deutet sich so eine Öffnung des Raums an, die mit dem Aufbruch zur Jagd korreliert. In dieser Wettersymbolik liegt die einzige Andeutung auf einen möglichen inneren Wandel Zilovs, die jedoch von keiner expliziten Aussage unterstützt wird und deshalb sehr vage bleibt. Die Tatsache, daß Zilov auf der Gegenwartsebene isoliert ist, wird noch durch das Requisit des Telefons verstärkt. Er versucht, Kontakt zu seinen Freunden aufzunehmen, kann aber nur Dima erreichen. Auf der Bühne bleiben die Telefonate Monologe, weil nur die Stimme Zilovs zu hören ist. Das technische Kommunikationsmittel wird so zum Symbol von Kontaktlosigkeit und Isolation. Zilovs verzweifelte Suche nach einem Gesprächspartner gipfelt darin, daß er erfolglos versucht, ein Gespräch mit der Frau vom Wetterdienst anzuknüpfen.

„Utinaja ochota“ (Die Entenjagd)

425

Wiederholt klingelt jedoch auch das Telefon, ohne daß sich jemand meldet, sogar die Ausführung des Selbstmordplans wird durch solch einen Anruf unterbrochen. Für Zilov in seiner Einsamkeit sind diese Fehlanrufe quälend und hinterlassen den Eindruck, daß er vom Schicksal genarrt oder gar von jemandem verfolgt wird.34 Das wichtigste Symbol im Drama ist die Entenjagd. Obwohl sie dem Stück den Titel gibt, bleibt sie als Fluchtpunkt jenseits der Dramenhandlung und zieht so erst recht die interpretatorische Aufmerksamkeit auf sich. Ihre Bedeutung geht über die schon behandelte Charakterisierung Zilovs hinaus. Die Welt der Entenjagd ist als Gegenwelt zu dem in „Utinaja ochota“ dargestellten Alltag entworfen35 und entspricht damit der vor allem in den sechziger Jahren in der sowjetischen Alltagsmythologie üblichen Gegenüberstellung von Stadt und Land. Die Natur ist der Rückzugsort für das freie Individuum, das sich dort – auf der Jagd, beim Wandern, auf der Datscha – besser dem staatlichen Zugriff entziehen kann als in der Stadt.36 Damit steht die Entenjagd auch für Zilovs unverwirklichtes, vom System unterdrücktes Lebenspotential. Daß er selbst jedoch nicht ganz unbeteiligt an seinem Scheitern ist, zeigt Galinas Urteil, für Zilov sei nicht die Jagd an sich von Bedeutung, sondern die Vorbereitungen und die Gespräche darüber. Zilov stellt sich also auch seinem – in der Entenjagd symbolisierten – Lebenstraum nicht. In ihrer Unerreichbarkeit erhält die Entenjagd, von der alle Figuren sprechen, die aber nie dargestellt wird37, die Qualität einer Utopie. Diese Utopie bildet für Zilov die einzige positive Spannung im Leben, sie bleibt jedoch unerfüllt.38 Vom Theater Vampilovs zur „Neuen Welle“ Vampilovs Einfluß auf die nachfolgende Dramatikergeneration wurde so hoch eingeschätzt, daß sich für die Dramatik der siebziger und beginnenden achtziger Jahre neben dem Begriff der „Neuen Welle“ auch der des „Postvampilovschen Theaters“ einbürgerte.39 In diesem Zusammenhang spielt „Utinaja ochota“ eine besondere Rolle, weil das Stück alle Kennzeichen von Vampilovs Dramatik in konzentrierter Form aufweist und so als eine Vorlage für die „Neue Welle“ betrachtet werden kann. Offenheit und Ambiguität des Dramas zeigen, daß es Vampilov trotz der vielen Alltagsdetails nicht um die Darstellung konkreter Problemsituationen und deren Lösung geht. Er stellt seine Figuren in Entscheidungssituationen, in denen sich Grundfragen der menschlichen Existenz kristallisieren.40 Eine eindeutige auktoriale Wertung oder gar eine didaktische Botschaft würde der Gesamtstruktur des Dramas, in dem Alltagsschilderung, Komik und existentieller Ernst eng verflochten sind, zuwiderlaufen. Das bedeutet nicht, daß bei Vampilov gar kein Wertesystem mehr sichtbar ist, doch fehlt sowohl ein positiver Held als auch der im Sozialistischen Realismus übliche erhobene Zeigefinger. Die dramatis personae aus „Utinaja ochota“ beeinflussen die weitere Entwicklung der sowjetischen Kultur. So wird Zilov zu einem festen Typus in Literatur, Theater und Film der siebziger Jahre und Dima – als kate-

426

Aleksandr Vampilov

gorische Figur aus den unteren Berufen, die Macht über andere ausübt – der achtziger Jahre.41 Die Vertreter der „Neuen Welle“, zu denen unter anderem Ljudmila Petruševskaja, Viktor Slavkin und Vladimir Arro gehören, knüpften an Vampilovs Neuerungen an und radikalisierten sie weiter. In ihren Texten wird die Trostlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Absurdität des sowjetischen Alltags und der menschlichen Existenz noch wesentlich gesteigert, bis hin zum Fehlen jeglichen Wertsystems. Vampilovs Dramen und ganz besonders „Utinaja ochota“ stießen bei ihnen und anderen zeitgenössischen Zuschauern auf Begeisterung. So schreibt Ljudmila Petruševskaja, die schon 1973 eine illegale Aufführung von „Utinaja ochota“ sah: „Ich bin ein sehr schlechter Theaterzuschauer, […] aber bei der ‚Entenjagd‘ geriet ich in Ekstase, ich war völlig begeistert. Ich weiß noch, nach der ersten Aufführung ging ich nachts mit einer Freundin durch Moskau und sagte andauernd: […] Mein Gott, warum hab nicht ich dieses Stück geschrieben, ich weiß doch so viel über diese Menschen!“42 Aus dieser Ekstase heraus entstand ihr Drama „Činzano“, in dem sie unter anderem das Motiv der versäumten Beerdigung aufgreift und das sicherlich die unmittelbarste Wirkung von Vampilovs Werk darstellt. Vor dem Hintergrund eines von optimistischer Ideologie geprägten öffentlichen und kulturellen Lebens hatte die Darstellung des existentiellen Ungenügens am Leben in „Utinaja ochota“ eine ernüchternde und vor allem befreiende Wirkung: Das Bedrückende an der menschlichen Existenz und ihren konkreten sozialen Bedingungen sowie die Möglichkeit des Scheiterns und der Sinnlosigkeit wurden nicht länger geleugnet, sondern auf die Bühne gebracht und damit auch zur Diskussion gestellt. So entstand nicht nur eine Hoffnung auf die Veränderung der Verhältnisse. Allein schon die Anerkennung der Realität, das Ende der Lüge und der Verdrängung dessen, was nicht der ideologischen Weltsicht entsprach, konnte es leichter machen, diese Realität zu ertragen.

Ulrike Lange

Ljudmila Petruševskaja: Činzano (Cinzano) Ljudmila Petruševskaja ist im Westen vor allem als Erzählerin bekannt. Doch neben Erzählungen und Märchen hat sie auch eine große Zahl von Dramen, vor allem Einakter, geschrieben. Gerade mit den Dramen trat sie in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in die begrenzte „Öffentlichkeit“ der inoffiziellen sowjetischen Gegenkultur. Während ihre Prosatexte, die sie seit Beginn der sechziger Jahre schrieb, nicht oder nur in Zeitschriften fern der Metropolen gedruckt werden konnten, gab es zahlreiche halboffizielle und geheime Aufführungen ihrer Stücke. Offiziell konnten diese zur Zeit der Stagnation (von der Brežnev-Ära bis zur Perestrojka) nicht aufgeführt werden, weil sie in schonungslos offener Weise den Alltag, das materielle und moralische Elend in weiten Kreisen der sowjetischen Bevölkerung, darstellten. Mit ihrem Bestreben, nicht dem verordneten Optimismus und der Schönfärberei der offiziellen Medien zu folgen, ist Petruševskaja eine herausragende Vertreterin der „Neuen Welle“ in der sowjetischen Dramatik, zu der unter anderem Viktor Slavkin, Vladimir Arro und Aleksandr Galin zählen. Diese Autoren und Autorinnen nahmen schon in den siebziger Jahren Tabuthemen auf, die erst im Zuge von Glasnost und Perestrojka allgemein artikuliert und offiziell publiziert werden konnten, und werden im öffentlichen Bewußtsein deshalb oft als Autoren der Perestrojka gesehen. Richtiger ist es allerdings, sie als Wegbereiter dieser Umwälzungen zu betrachten, da die Kunst hier in vielem der Politik vorausging. Es wäre jedoch ein Mißverständnis, Petruševskajas dramatisches Schaffen als politisches Theater einzuordnen. Unter der ungeschminkten Darstellung des sowjetischen Alltags mit seinen allgegenwärtigen Absurditäten liegt eine weitere Schicht, in der es um die Absurdität der menschlichen Existenz im allgemeinen geht. Zudem sind diese Stücke nicht nur inhaltlich, sondern auch formal und sprachlich innovativ. Das frühe Drama „Činzano“ wird von einigen Kritikern zu den besten Werken Petruševskajas gezählt.1 Zweifellos hatte es eine große Bedeutung für die Entwicklung der Dramatik der „Neuen Welle“.2 Nach Aussage der Autorin wurde „Činzano“ unmittelbar durch eine inoffizielle Aufführung von Vampilovs „Utinaja ochota“ (Die Entenjagd) inspiriert, die den Wunsch in ihr weckte, selbst über vergleichbare Charaktere zu schreiben.3 Sie schließt unmittelbar an „Utinaja ochota“ an, radikalisiert die Darstellung von Ausweglosigkeit und Sinnverlust und übernimmt einige inhaltliche Motive. So gehört „Činzano“ im wörtlichen Sinne zum „Postvampilovschen Theater“, wie die Dramen der „Neuen Welle“ auch genannt werden. Das Stück besteht aus zwei relativ selbständigen, nicht weiter untergliederten Teilen – „Činzano“ und „Den’ roždenija Smirnovoj“ (Smirnovas Geburtstag) –, die aufeinander bezogen sind, aber auch getrennt als Einakter gespielt

428

Ljudmila Petruševskaja

werden können. Der erste Teil wurde 1973 geschrieben und anschließend von einer Wandertruppe zum Teil illegal in den „Nischen einer parallel zur offiziellen Kunst existierenden Szene“4 – also in wechselnden Räumen, wie zum Beispiel Privatwohnungen und Kellern – aufgeführt. Trotz fehlender Ankündigungen waren die Aufführungen stets gut besucht, was zeigt, welch großer Bedarf nach Stücken dieser Art bestand. 1977 schrieb Petruševskaja auf Anregung Oleg Efremovs vom Moskauer Künstlertheater den zweiten Teil; doch die ursprünglich geplante Inszenierung war aus politischen Gründen nicht möglich. Die offizielle Uraufführung des ganzen Werks fand 1978 im Jugendtheater von Tallinn in estnischer Sprache statt, die erste russischsprachige Gesamtaufführung fern der hauptstädtischen Kontrollorgane in Magadan. Ausschnitte aus verschiedenen Dramen Petruševskajas kamen 1980 in der Leningrader Universität auf die Bühne. Erst 1985 wurde der erste Teil von „Činzano“ im Moskauer Theaterstudio „Čelovek“ von Roman Kozak inszeniert und schließlich 1989, zwölf Jahre nach der Niederschrift, auch publiziert.5 Inhalt und Handlungsverlauf „Činzano“ ist ein äußerst handlungsarmes Drama, dessen plot man in einem Satz zusammenfassen kann: In beiden Teilen kommt eine Gruppe von Freunden bzw. Bekannten zusammen, um miteinander zu trinken, sich zu unterhalten und sich schließlich zu betrinken. Etwas anderes wird auf der Bühne nicht gezeigt. Doch in den Gesprächen, die durch den Alkoholkonsum immer chaotischer, aber auch offener und schonungsloser werden, enthüllen sich die Charaktere der Figuren und deren Beziehungen untereinander.6 In den Gesprächen wird eine verdeckte Handlung sichtbar, die einerseits aus gewöhnlichen, zumeist familiären Alltagsgeschichten besteht, anderseits um den Tod der Mutter einer Figur kreist, der als Fluchtpunkt hinter dem Bühnengeschehen steht. In der sowjetischen Kritik wurde Petruševskaja deshalb mehrfach wegen der Sujet- und vor allem Konfliktlosigkeit ihrer Dramen angegriffen, die gegen die ästhetisch-ideologische Norm der Zeit verstieß.7 Im ersten Teil von „Činzano“ treffen sich die drei Kollegen Paša, Valja und Kostja am Freitagabend in einer leeren Wohnung, in der Paša vorübergehend wohnt. Anlaß des Treffens ist die Begleichung einer Geldschuld, die Paša bei Valja hat. Das Geld, das sich in der Zwischenzeit Kostja ausgeliehen hatte, geht jedoch zunächst an Paša zurück. Dieser kauft dafür in einem nahegelegenen Laden italienischen Činzano, einen begehrten Defizitartikel. Die drei Freunde können dieser Versuchung nicht widerstehen. Der Abend endet in einem Trinkgelage, und Valja erhält nur den Rest seines Kredits zurück. Paša wird zunehmend unruhig und will gehen, um noch den letzten Bus zu erreichen. Er spricht von der Krankheit seiner Mutter, davon, daß er für sie Knochenmark spenden müsse, und zieht schließlich zufällig ihren Totenschein aus der Tasche. Er erkennt, daß er es verpaßt hat, sich rechtzeitig um die Beerdigung zu kümmern, womit er seine letzten Pflichten als Sohn versäumt hat. Nach einem kurzen Mo-

„Činzano“ (Cinzano)

429

ment des Entsetzens beschließt er, das ganze Wochenende über mit Kostja zusammen weiterzutrinken.8 Im zweiten Teil treffen sich ebenfalls drei Figuren und trinken zusammen. Diesmal handelt es sich um drei Frauen. Sie sind alle mit den männlichen Figuren des ersten Teils bekannt und wurden bereits in deren Gesprächen erwähnt: Ėlja Smirnova, eine Kollegin der drei Männer, Polina Šestakova, Kostjas Frau und Rita Družinina, eine frühere Geliebte Kostjas. Ėlja hatte Geburtstag, den sie allerdings wegen der Krankheit ihres Vaters nicht feiern wollte. Ihre Bekannte Rita hat jedoch nicht erfahren, daß das Fest abgesagt ist, und ist trotzdem gekommen. Polina trifft die beiden anderen Frauen zum ersten Mal. Sie kommt im Auftrag von Pašas geschiedener Frau Tamara, um ihren eigenen Mann Kostja bei der Geburtstagsfeier zu finden, der höchstwahrscheinlich weiß, wo sich Paša aufhält. Tamara sucht Paša, weil er den Totenschein seiner Mutter hat, der für die Organisation der Beerdigung notwendig ist. Da die beiden Männer jedoch nicht da sind, bleibt Polina, um zu warten und mit den beiden Frauen zu feiern und zu trinken. Auch hier ist es der Činzano, der die Figuren verbindet. Gesprächsgegenstände sind die Männer, Familienverhältnisse, Kinder und Alltagssorgen sowie die latente Konkurrenz zwischen den Frauen. Insgesamt entsteht das Bild eines bedrückenden, tristen Alltags, der von den Alkoholexzessen der Männer und zerrütteten zwischenmenschlichen Beziehungen geprägt ist. In beiden Teilen des Stücks herrscht eine Stimmung von Ausweglosigkeit, Lethargie und Werteverfall. Struktur: Zweiteilung – Zeit – Handlungsaufbau – Raum Die beiden Teile, die nacheinander aufgeführt werden, spielen annähernd gleichzeitig. So erwähnen die Männer, daß der Geburtstag Ėlja Smirnovas gerade ohne sie gefeiert wird. Valja (im Nebentext des zweiten Teils als Valentin bezeichnet, damit er nicht mit einer Frau verwechselt wird) verläßt die Männerrunde am Ende des ersten Teils und stößt am Ende des zweiten zu der Frauenrunde. Das Originelle an der Zweiteilung von „Činzano“ ist der Wechsel zwischen einer männlichen und einer weiblichen Perspektive auf dieselben Familien- und Freundesbeziehungen. Im ersten Teil reden die Männer über die Frauen, im zweiten Teil die Frauen über die Männer. Durch die strenge „Geschlechtertrennung“, die nur am Ende des zweiten Teils von Valja durchbrochen wird, ist der Austausch innerhalb der einzelnen Teile besonders hart und offen. Die Gegenüberstellung der beiden Figurengruppen in jeweils vergleichbaren Situationen (Besäufnis, Fest) fordert zum Vergleich heraus und weist so auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin. Die Aufteilung in eine Männerwelt und eine Frauenwelt unterstreicht aber auch, wie grundsätzlich Männer und Frauen einander entfremdet sind, und zeigt so auf der strukturellen Ebene eines der Hauptthemen des Stücks: den Zerfall der Familie sowie die prinzipielle menschliche Einsamkeit und Isolation.

430

Ljudmila Petruševskaja

Eine Verbindung der beiden Teile wird nicht nur durch die gemeinsame verdeckte Handlung, auf die sich die Gespräche beziehen, hergestellt, sondern auch dadurch, daß Valja zu den Frauen stößt, um mit ihnen weiterzufeiern. Mit dieser Zusammenführung der Teile bricht das Drama ab. Eine inhaltliche Verbindung bildet der Tod von Pašas Mutter: Während er von Paša am Ende des ersten Teils angesprochen wird, wird er unmittelbar am Beginn des zweiten als Motivation von Polinas Besuch bei Ėlja erwähnt. Beide Teile von „Činzano“ sind Ausschnitte aus einem Geschehen ohne Exposition, Höhepunkt und Auflösung, die jeweils mit dem Eintreffen von Gästen beginnen. Die Ausgangssituation muß von den Zuschauern mühsam aus den Repliken der Figuren rekonstruiert werden. Dies ist beim ersten Teil besonders schwierig, weil die Kommunikation hier zu einem Großteil aus Andeutungen zwischen langvertrauten Bekannten besteht.9 So entsteht der Eindruck, als würde auf der Bühne ein Stück Wirklichkeit ohne Rücksicht auf die Informationsinteressen der Zuschauer präsentiert. Die Räume werden in diesem Stück durch den Nebentext nur spärlich ausgestaltet. Der erste Teil spielt in Pašas fast leerem Zimmer, der zweite in einem Raum von Ėljas Wohnung. Eine Regieanweisung zur Raumgestaltung fehlt hier völlig, so daß der Raum abstrakt und allgemein bleibt. Er kann überall sein, in jeder sowjetischen Wohnung. Während der Raum im zweiten Teil wegen seiner Offenheit als neutral zu bezeichnen ist, spiegelt Pašas halbleeres Zimmer, das lediglich mit Gegenständen vom Sperrmüll ausgestattet ist, seine innere Leere wider und gewinnt so eine symbolische Dimension. „Činzano“ ist ein offenes Drama, das keine der drei traditionellen Einheiten einhält. Als Kombination aus zwei Einaktern verstößt es gegen den klassischen Aufbau. Die Handlung ist mehrsträngig und unabgeschlossen. Sie umfaßt zwar weniger als einen Tag, doch derselbe Zeitraum wird zweimal an zwei verschiedenen Orten auf die Bühne gebracht, was gegen das Gebot der Chronologie verstößt. Die ausgedehnte verdeckte Handlung bewirkt schließlich eine starke Episierung.10 Figuren Die Figurenkonstellation von „Činzano“ ist dadurch gekennzeichnet, daß viele Figuren zwar nicht auf der Bühne, wohl aber in den Gesprächen anwesend sind. So werden Valja, Paša und Kostja von agierenden Figuren in Teil I zu besprochenen Figuren in Teil II. Das Umgekehrte gilt für Ėlja, Rita und Polina. Während die Zuschauer durch die Gespräche der Männer von den Frauen bereits vor deren ersten Auftritt einen Eindruck haben, vertiefen die Gespräche zwischen den Frauen die Charakterisierung der Männer und liefern wichtige Kontextinformationen nach. Diese Informationen machen die Situation des ersten Teils überhaupt erst verständlich. Durch das Sprechen übereinander wird die Charakterisierung der Figuren wesentlich vertieft: Sie werden nicht nur durch die ande-

„Činzano“ (Cinzano)

431

ren Figuren explizit charakterisiert, sondern enthüllen sich auch durch die Art und Weise, wie sie über die Abwesenden sprechen. Neben der Gruppe der Männer und der Gruppe der Frauen gibt es eine Vielzahl von backstage characters, die nie auftreten, aber durch die Gespräche präsent sind. Dies sind in erster Linie weitere Familienangehörige wie Kinder, Eltern und Schwiegereltern, die vor allem in der Unterhaltung der Frauen deutlich hervortreten, sowie gemeinsame Bekannte. Durch sie wird deutlich, wie eng die Bühnenfiguren miteinander verbunden sind. Selbst wenn sie sich wie Polina und Ėlja bzw. Rita zuvor noch nicht begegnet sind, haben sie voneinander gehört und kennen Ausschnitte aus der jeweiligen Familiengeschichte. So zeigt sich die Enge der Lebensverhältnisse, die Notwendigkeit, unter widrigen materiellen Bedingungen miteinander zu kooperieren (vgl. den Ringtausch mit dem Geld und den geplanten Tauschhandel mit Filzstiefeln), aber auch eine ausufernde „Klatschkultur“ mit einer hohen sozialen Kontrolle, in der jede/r über jede/n spricht.11 Die Figuren in „Činzano“ bilden neben der durch die Zweiteilung des Stücks verstärkten Trennung von Männern und Frauen weitere Gruppen. So gibt es zwischen den Frauen im zunehmend alkoholisierten und emotional aufgeladenen Gespräch eine klare Koalitionsbildung. Die Front verläuft aber nicht wie zunächst zu erwarten zwischen der früheren Geliebten Kostjas und seiner Ehefrau, sondern zwischen den Müttern Rita und Polina einerseits und der kinderlosen Ėlja andererseits.12 Die Mütter beneiden Ėlja um ihren größeren materiellen Wohlstand, betonen aber zugleich, daß das Leben einer Frau erst durch Kinder einen Sinn erhält. Auch Ėlja hat dieses Stereotyp offensichtlich verinnerlicht: Ihr einziger nicht kalkulierter Gefühlsausbruch findet statt, als sie von einer Abtreibung erzählt. Durch die Gegenüberstellung von Müttern und Nichtmüttern erscheint Ėlja innerhalb der Frauengruppe isoliert und als egoistisch und rücksichtslos stigmatisiert. Eine vergleichbare Sonderstellung hat Valja/Valentin unter den Männern. Er verfügt über soviel Geld, daß er es verleihen kann und bekleidet, da er Auslandsreisen erwähnt, zweifellos eine höhere Position. Zunächst erweckt er den Eindruck, als sei er etwas solider als seine Kollegen. Aber seine Familienverhältnisse sind nicht weniger desolat und vor allem ganz auf Berechnung gegründet. Der deutlichste Unterschied besteht jedoch darin, daß er aktiv den Kontakt zu den Frauen sucht, daß er als einziger Mann bei Ėljas Geburtstag auftaucht und die Frauen mit deplazierten Floskeln aufmuntert: „Ich bin ein Mann der Tat, alles liegt in meinen Händen. Mädchen, weint nicht, hier ist euer Typ“ (146). Doch Ėlja, der er offensichtlich schon einmal den Hof gemacht hat, weist ihn zurück. Der soziale Hintergrund der Figuren ist annähernd gleich. Entgegen dem ersten Eindruck handelt es sich um Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz. Die Männer und Ėlja arbeiten in einem physikalischen Forschungsinstitut, und alle drei Frauen schreiben an ihren Dissertationen. Von den Merk-

432

Ljudmila Petruševskaja

malen der alten russischen Intelligenz ist aber nichts übriggeblieben, weder die Grundbildung noch die Begeisterung für die Arbeit oder das Gefühl sozialer Verantwortung.13 Die dargestellte Schicht erscheint von tiefster Kulturlosigkeit und rein materiellen Interessen geprägt.14 Dies ist um so brisanter, als es sich bei den Vertretern der Intelligenz um die Menschen handelt, die als Träger des Sowjetsystems gedacht waren und den „neuen Menschen“ verkörpern sollten.15 Wenn ausgerechnet diese Schicht in ihrer moralischen Degeneration dargestellt wird, kommt das einem Angriff auf die Grundfesten der sowjetischen Gesellschaft während der Stagnationszeit gleich. Der hier dargestellte Werteverfall ist jedoch nicht auf die neue sowjetische Intelligenz beschränkt, da Rita ihren familiären Hintergrund als „Professorenclan“ (140) bezeichnet und es Hinweise darauf gibt, daß auch die anderen Figuren teilweise aus vorrevolutionären gebildeten Kreisen stammen. So wird das gesamte Klischee der moralisch und geistig vorbildlichen russischen Intelligenz demontiert. Bedingt durch die Handlungsarmut von „Činzano“ entwickeln sich die Figuren im Laufe des Dramas nicht, auch wenn sie durch die erzählte Handlung an biographischer und psychologischer Tiefe gewinnen. Sie treten nicht als Agierende, sondern lediglich als Reagierende auf. In diesem Figurenkonzept ist kein Raum für Entwicklung. Es herrscht nur die ewige Wiederholung des Alltäglichen. Im Unterschied zu den Figuren in Vampilovs „Utinaja ochota“, die ein vergleichbares Maß an Alkoholkonsum, Promiskuität und Zynismus zeigen, ist in „Činzano“ niemand fähig zur Reflexion. Niemand hinterfragt sich selbst oder seine Lebenssituation. Jeder versucht lediglich, physisch und psychisch zu überleben. In der Kritik wird immer wieder betont, daß Petruševskajas Figuren in den siebziger Jahren, aber auch noch bis in die Zeit der Perestrojka hinein nicht bühnen- und literaturfähig waren. Die Autorin greift mit ihnen in eigenwilliger Gestaltung das für die russische Literatur typische Motiv des „kleinen Menschen“ auf16, bei dem es um die Darstellung von Personen im gesellschaftlichen Abseits geht. Diese werden in Petruševskajas Dramen nicht moralisch verurteilt. Ebensowenig findet sich aber ein sozialer Appell zur Veränderung der Zustände. Es handelt sich um eine reine – fast möchte man meinen ethnographische – Bestandsaufnahme, die „Činzano“ in die Nähe der „physiologischen Skizze“ der „Natürlichen Schule“ rückt.17 Die Abwesenheit einer auktorialen Wertung war für die sowjetische Literaturkritik unakzeptabel.18 Für die Gegenkultur machte aber gerade das Fehlen jedes didaktischen Impetus’ das Befreiende aus und verleiht den Stücken Petruševskajas bis heute ihre unverminderte Aktualität. Tabuthemen In „Činzano“ wird eine ganze Reihe von Tabuthemen zur Sprache gebracht. Dies brachte Petruševskaja den Vorwurf der „Schwarzmalerei“ (černucha) ein, weil sie angeblich die düsteren Seiten des sowjetischen Alltags überzeichne und

„Činzano“ (Cinzano)

433

sich auf die Darstellung des Alltags beschränke. Im Zuge der Perestrojka gewann jedoch gerade diese „Alltagsliteratur“ (bytovaja literatura) an Bedeutung. Der offensichtlichste Tabubruch in „Činzano“ ist das Thema des Alkoholismus. In ihrer Trinkfestigkeit stehen die Frauen den Männern nicht nach, doch unterscheidet sich ihre Haltung zum Trinken: Während die Männer eine „reine Lehre des Alkoholismus“ vertreten, finden sich bei den Frauen Ansätze von Scham. RITA Haben uns schrecklich besoffen. […] Wie komm ich nur nach Hause... […] Was sitz ich hier herum, worauf wart ich denn… Meine Tanja wird aufwachen, allein sein und im Finstern schreien… (143). Für Valja ist der Alkoholrausch selbstgewählter Lebensinhalt: „Warum vor der Realität fliehen, wenn die Realität so aussieht, daß wir eben gern trinken, wir machen das gern, und nicht aus irgendwelchen höheren Überlegungen um irgendwas zu vergessen. […] Wir trinken, weil das an und für sich herrlich ist – trinken!“ (119). Kostja erzählt, der Arzt habe bei ihm nach einer Sauftour eine „Dysfunktion des ganzen Organismus“ (123) diagnostiziert, was auf ein fortgeschrittenes Stadium seines Alkoholismus schließen läßt. Doch der Alkoholkonsum ist hier nicht nur naturalistisches Detail, sondern auch ein künstlerisches Mittel der psychologischen Motivierung: Die Figuren enthüllen dadurch Seiten ihres Charakters, die sie im nüchternen Zustand verbergen würden. Besonders die Polarisierung im Streitgespräch der Frauen wird durch den Alkohol vorangetrieben. Petruševskajas Stück rückt damit in die Nähe der typisch russischen Gattung des alcoholic narrative, bei der der Text strukturell, sprachlich und thematisch von der Alkoholisierung des Erzählers oder der Figuren bestimmt ist.19 So überlagern sich im Thema Alkoholismus die Darstellung des sowjetischen Alltags und das künstlerische Verfahren. Im Zusammenhang mit dem Alkoholismus steht der Zerfall der Familien und somit der gesellschaftlichen Mikrostruktur.20 Paša und Kostja ziehen sich systematisch aus der Verantwortung, und keine der Familien ist intakt: Polina hält die Ehe mit Kostja mühsam aufrecht, obwohl er trinkt, Freundinnen hat und nichts zum Lebensunterhalt beiträgt; Paša ist offiziell von seiner Frau Tamara geschieden, damit er sich in der Wohnung seiner Mutter anmelden und sie nach deren Tod übernehmen kann; Rita wurde vor der Geburt ihrer Tochter von ihrem Mann verlassen, der nun kaum Alimente zahlt; Ėlja ist alleinstehend und hat das Kind eines wesentlich jüngeren Partners abgetrieben; Valentin läßt sich nur deshalb nicht von seiner Frau scheiden, weil er dann keine Auslandsreisen machen dürfte. Das Verhältnis der Männer zu ihren Frauen ist äußerst zynisch. KOSTJA […] Man muß sie nach und nach darauf trainieren, dazu erziehen, daß sie sich nicht aufregen, keinen Schreck kriegen, stimmt’s? Daß sie sich freuen, wann immer er kommt! Erst kommt und kommt er nicht, doch dann ist er da! (127).

434

Ljudmila Petruševskaja

Teil der Familien sind auch die Eltern und Schwiegereltern, weil ohne sie ein Überleben kaum möglich wäre und die jungen Paare häufig keine eigenen Wohnungen haben. Die Last der Alltagssorgen tragen hauptsächlich die jungen Frauen, die dabei mehr auf die Hilfe ihrer Eltern als auf die ihrer Männer setzen. Doch auch zwischen den Generationen sind die Beziehungen angespannt. Mit dem Generationenkonflikt ist das Wohnungsproblem verknüpft. Das Ziel der Jüngeren ist es, den Wohnraum ihrer Eltern nach deren Tod für sich zu sichern oder die Eltern schon zu deren Lebenszeiten zu einem Wohnungstausch zu bewegen. Der knappe Wohnraum trägt aber auch zur Bildung von (Über-)Lebensgemeinschaften bei; denn trotz ihrer emotionalen Zerrüttung funktionieren die Großfamilien immer noch als Zweckbündnisse. Die Wohnungsfrage ist in „Činzano“ aber mehr als ein soziales Phänomen, sie hat auf einer zweiten Ebene eine symbolische Bedeutung.21 Die Wohnung steht für Geborgenheit und einen festen Platz im Leben. Während die weiblichen Gestalten diesen Platz gefunden haben, sind die männlichen zwischen unterschiedlichen Orten hin- und hergerissen: Valentin wohnt halb bei seinen Eltern und halb bei seiner Frau (aus Andeutungen geht hervor, daß er noch weitere Übernachtungsmöglichkeiten hat), Kostja wird, nachdem er sich mit seinen Eltern überworfen hat, in der Wohnung der Schwiegereltern gerade eben geduldet, und Paša hat es versäumt, sich nach der Scheidung von Tamara rechtzeitig in der Wohnung seiner verstorbenen Mutter anzumelden. Die leere Wohnung, in der Paša gerade haust, spiegelt neben seiner inneren Leere auch seine Unbehaustheit wider. Seine Antwort auf die Frage, wo er eigentlich gerade wohne, zeigt, daß dies ein psychischer Dauerzustand ist, der ihn besser als alles andere charakterisiert: „Jetzt gerade noch nirgends, erst mal wieder“ (112). Das Fehlen eines festen Wohnsitzes steht für die Isolation und Bindungslosigkeit der Männer in „Činzano“. Ein Tabuthema, das in der Sekundärliteratur nur selten aufgegriffen wird, ist die Demontage des Stereotyps vom Mutterglück.22 Oberflächlich betrachtet scheint die Mutterschaft die einzige Sinnquelle im Wertesystem von „Činzano“ zu sein, soweit man hier überhaupt von einem Wertesystem sprechen kann. Dies betonen die Frauen immer wieder, und Polina erzählt, nur der Gedanke an ihre Kinder habe sie davon abgehalten, sich das Leben zu nehmen (135). Wie stark bei Polina der Traum von Erfüllung in Familienleben und Mutterschaft ist, zeigt ihre Vision von Familienglück, die die vorletzte Replik des zweiten Teils bildet. „Und einmal auf der Datscha – Vladik war noch klein und Svetočka noch gar nicht auf der Welt –, sehe ich, wie Kostja mit zwei Kindern ankommt: den Jungen an der Hand, ein Mädchen auf dem Arm. Mir schien, daß das unsere zukünftigen Kinder sind… Das hat so gut zu Kostja gepaßt, zwei Kinder“ (146). Der starke Mann mit den beiden Kindern könnte auf einem sowjetischen Propagandaplakat abgebildet sein23 und steht in denkbar starkem Widerspruch zu dem Bild, das von Kostja im ersten Teil des Dramas und aus den Gesprächen im zweiten Teil entsteht. Nichts ist von dem Traum übriggeblieben, Polina nährt sich aber immer noch von der Illusion. Das Konzept Mutterliebe als Lebenssinn

„Činzano“ (Cinzano)

435

wird vor allem im ersten Teil relativiert; denn hier ist das Mutter-Kind-Verhältnis von der Seite des erwachsenen Kindes her dargestellt. Der Sohn Paša verrät seine Mutter in mehrfacher Weise: Er versäumt es, Knochenmark zu spenden, um ihr Leben zu verlängern, er kümmert sich nicht um ihre Beerdigung, und er vertrinkt das Geld für den Grabschmuck, so daß er ihren letzten Wunsch – eine Beerdigung mit echten Blumen – nicht erfüllen kann. Dabei berührt ihn der Tod seiner Mutter durchaus, aber er unterliegt seiner Trägheit und seiner Sucht. Paša ist nicht in der Lage, eine verantwortungsvolle emotionale Bindung zu seiner Mutter, seiner Frau und seinen Kindern aufzubauen. Das sieht selbst sein Trinkfreund Valja: „Du wohnst nirgends. Dich braucht keiner“ (120). Versinnbildlicht wird Pašas emotionale Blindheit und Orientierungslosigkeit dadurch, daß er im Vollrausch meint zu erblinden. Durch diese Gegenüberstellung von Überhöhung der Mutterschaft und Verrat der Mutter durch den Sohn wird das in der sowjetischen Gesellschaft nahezu sakrale Klischee der Mutterschaft demontiert.24 Kommunikation und Sprache Die Auflösung der zwischenmenschlichen Beziehungen schlägt sich in „Činzano“ in der Kommunikationsstruktur nieder. Die Figuren reden aneinander vorbei und scheitern bei ihrer Suche nach Gemeinschaft.25 Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Dramas. Diese Unterschiede können mit dem Konzept der geschlechtsspezifischen Kommunikationsstile in Zusammenhang gebracht werden.26 Obwohl die Männer untereinander verbal und gestisch (zum Beispiel durch Umarmungen und Küsse) eine größere Nähe und Verbundenheit demonstrieren als die Frauen, sind sie im Gespräch über die Dinge, die sie persönlich betreffen, extrem zurückhaltend. Paša macht zwar von Anfang an Andeutungen über den Tod seiner Mutter, sie gehen jedoch im Alltagsgespräch unter und werden erst im nachhinein verständlich. So bringt er den ersten Trinkspruch auf seine Mutter aus (116), und später heißt es: KOSTJA Seine [Mutter] liegt im Krankenhaus, oder? PAŠA Ich hol sie bald raus. Morgen. VALJA Morgen ist Samstag, da entlassen sie nicht. PAŠA Aber ich hol sie raus. KOSTJA Hat sie Blutarmut? PAŠA Sie ruhe in Frieden. Trinken wir darauf! VALJA Idiot. Red kein Quatsch! (119). Während Kostja über ein wichtiges Gespräch bei einem früheren Trinkgelage nachsinnt, dessen Inhalt ihm bezeichnenderweise entfallen ist, entgeht ihm die aktuelle Not Pašas, der Angst hat, zu spät nach Hause zu kommen. Erst als Paša stark betrunken ist, erzählt er Kostja von dem Todesfall. An dieser Stelle zeigt sich das Versagen der Kommunikation besonders deutlich: Kostja reagiert auf diese Nachricht nicht, sondern speist seinen Freund mit Floskeln ab, die bei

436

Ljudmila Petruševskaja

einem Todesfall grotesk und absurd sind: „Hauptsache, du machst dir keine Gedanken. Du bist nie endgültig zu spät. Du meinst, du bist zu spät, und dann siehst du, daß davon auch nichts schlimmer wird“ (127). Alle Beteiligten sind so stark in ihren Gedankengängen gefangen, daß keine Begegnung, kein Austausch stattfindet und daß das, was sie wirklich berührt, wenn es denn ausgesprochen wird, ohne Resonanz bleibt. Nur vordergründig ist dieses Gesprächsverhalten durch den Alkohol motiviert, es enthüllt vielmehr die allgemeine Kontaktlosigkeit der Figuren und zeigt die existentielle Isolation und Einsamkeit des einzelnen. Der Versuch, in der Gemeinschaft der Trinkenden Geborgenheit und Nähe zu finden, wird als Illusion entlarvt. Die Kommunikationsverhältnisse unter den Frauen unterscheiden sich von denen der Männer: Obwohl sich nur Rita und Ėlja schon länger kennen und die Frauen sich teilweise deutlich feindlich gegenüberstehen, tauschen sie von Anfang an intime Details aus. So fragt Ėlja Polina, die Frau ihres Kollegen, unverhohlen nach ihrem Privat- und Familienleben aus: ĖLJA Polina, was ich Sie schon lange fragen wollte, wie ist es denn so bei Ihnen und Kostja? POLINA Was? ĖLJA Wie läuft es denn? POLINA Wie’s eben so läuft, das Übliche (131). Doch hinter der Offenheit stecken Mißgunst und ein Machtkampf, der immer wieder aufflackert und sich in Sticheleien äußert. ĖLJA (zu Polina) Schon lang will ich Sie fragen: Was haben Sie da für einen Ring? POLINA Einen Smaragd mit Brillianten und Platin. […] ĖLJA Ach wirklich, der sieht ganz aus wie tschechischer Modeschmuck. Das hätte ich nie gedacht. Klasse, Polina! Klasse die Tschechen! (139). Vom alkoholseligen Freundschaftskult der Männer ist unter den Frauen nichts zu spüren; ihr ganzes Gespräch ist von latenter Aggression und Gereiztheit durchdrungen. Der Austausch von Details aus dem Privatleben erweist sich hier als Waffe. Als Ėlja von ihrer traumatischen Abtreibung spricht, wird ihr – genauso wie Paša – nicht nur die Anteilnahme verweigert, sondern Polina kommentiert grausam: „Kommt vor, daß fünfmonatige Föten schreien“ (143). Obwohl die Frauen eine gewisse Solidarität in ihren Alltagssorgen demonstrieren und gemeinsam auf Paša und Kostja warten, scheitert auch zwischen ihnen die Verständigung und die Suche nach Gemeinschaft. Stilistisch ist „Činzano“ durch Elemente wie Wortspiele, Jargon, abgebrochene Sätze und alogische Argumentationen geprägt. In der Kritik wurde deshalb mit einer Anspielung auf Petruševskajas frühere Tätigkeit als Radiojournalistin von einem „Kassettenrecorder-Effekt“ gesprochen.27 Trotz der provokativ umgangssprachlichen Wirkung und der Behauptung der Autorin, sie habe jeden Satz so, wie sie ihn geschrieben habe, auch gehört28, handelt es sich aber keines-

„Činzano“ (Cinzano)

437

wegs um ein naturalistisch-dokumentarisches Vorgehen. Die Sprache der Figuren ist im Gegenteil streng komponiert und poetisch durchformt.29 Am auffälligsten sind dabei die der typischen Redundanz gesprochener Rede entgegenstehenden Prinzipien der Reduktion und Kondensation.30 Elemente der Groteske und des Absurden Dramas Auch wenn Petruševskajas Dramen eng auf die soziale Wirklichkeit ihrer Zeit bezogen sind, beschränken sie sich bei weitem nicht darauf, und es wäre verfehlt, sie mit soziologischen Herangehensweisen erfassen zu wollen.31 In „Činzano“ gibt es eine ausgeprägte groteske und absurde Schicht, wodurch die Schilderung des Alltags einen doppelten Boden erhält. Groteske Strukturen beruhen auf der Zusammenführung von Disparatem und Unvereinbarem, vor allem der Sphären von Geburt und Tod oder Komischem und Tragischem. Ohne daß es Kostja und Valja bewußt ist, stellt ihr freitagabendliches Gelage eine groteske Totenfeier für Pašas Mutter dar. Für die Zuschauer enthüllt sich erst gegen Ende, daß der Tod der Mutter stets präsent ist, so zum Beispiel wenn Paša sagt, gerade an solch einem Tag, den es nur einmal im Leben gebe, müsse er trinken (124). Es handelt sich also um ein Fest, das nicht nur den Übergang von der Arbeitswoche zum Wochenende markiert, sondern auch den Übergang vom Leben zum Tod und für die Hinterbliebenen auch wieder zurück ins Leben.32 Paša zieht schließlich das schwarze Kopftuch seiner verstorbenen Mutter über das Gesicht und kennzeichnet sich damit auf einer symbolischen Ebene als (lebendige) Leiche.33 Auch der zweite Teil des Dramas ist, wie schon der Titel „Den’ roždenija Smirnovoj“ anzeigt, ein Fest, wenngleich ein eigentlich abgesagtes. Dieses Mal wird der entgegengesetzte Pol des menschlichen Lebens gefeiert: die Geburt. Aber auch dieses Fest ist vom Tod der Mutter Pašas überschattet, so daß Valja sogar fragt, ob es sich um eine Leichenfeier handele (145). Geburt und Tod werden so in Beziehung gesetzt und bilden den natürlichen Kreislauf von Werden und Vergehen.34 Auch Komik und Tragik liegen hier wie immer bei Petruševskaja nahe beieinander. So erschreckend die Mißverständnisse und das Aneinandervorbeireden der Figuren sind, es kommt immer wieder zu komischen Effekten. Doch es geht um ein Lachen, das den Zuschauern im Halse stecken bleibt, weil sie sich selbst und ihre Existenzbedingungen erkennen. Wenn Inszenierungen von „Činzano“ gerade das komische und burleske Element betonen, wird der ernste Gehalt des Ganzen überdeckt.35 Wegen der Auflösung der Wertesysteme und der sozialen Bindungen, die sich auf allen Ebenen dieses Stücks beobachten lassen, hat die Forschung eine Nähe zum Theater des Absurden festgestellt.36 Auch dort geht es wie hier um Isolation, Einsamkeit, Sinnleere, Scheitern der Kommunikation, Unerfüllbarkeit aller Wünsche sowie die Vergeblichkeit allen menschlichen Tuns. Entscheidend ist dabei die absolute Illusionslosigkeit im Hinblick auf diese Bedingungen der menschlichen Existenz. In „Činzano“ werden diese Merkmale noch dadurch verstärkt, daß den Figuren jedes Erschrecken über ihre

438

Ljudmila Petruševskaja

innere und moralische Leere fehlt.37 Sie leiden zwar an der Realität, sind aber nicht auf der Suche nach einem Sinn. Was bei Petruševskaja am Beispiel einer ganz bestimmten sozio-historischen Konstellation und besonders im Zusammenhang mit dem Alkoholismus vorgeführt wird, trifft die Grundlage der menschlichen Existenz nach absurdem oder existentialistischem Verständnis.38 Die Figuren fliehen vor der inneren Leere und der Sinnlosigkeit entweder in den Alkohol oder wie Polina in Illusionen von Familienleben und erfüllender Mutterschaft. Diese existentielle Ebene hebt „Činzano“ über reine Zeitstücke der Vor-Perestrojka- und Glasnost-Zeit hinaus. Gerade aus der geographischen und historischen Distanz tritt die Wirkung kathartischen Erschreckens des Zuschauers über sich selbst stärker hervor als der vermeintliche Appell zum sozialen Mitgefühl, der vor allem in frühen sowjetischen Kritiken immer wieder betont wird.39 Pašas Aussage über seinen Wohnort – „Jetzt gerade noch nirgends, erst mal wieder“ (112) – läßt sich auch als Aussage über die flüchtige Existenz des Menschen in einer unsicheren Welt lesen.

Literatur und Anmerkungen Das russische Drama

S. 1

Literatur J. VON STÄHLIN, Zur Geschichte des Theaters in Rußland. Nachrichten von der Tanzkunst und Balletten in Rußland. Nachrichten von der Musik in Rußland. Frankfurt/M. 1769 (Nachdruck: Leipzig 1982). A. GRUZINCEV, Rassuždenie o dramatičeskich tvorenijach. Moskau 1802. P. N. ARAPOV, Letopis’ russkago teatra. Petersburg 1861. V. N. VSEVOLODSKIJGERNGROSS, Istorija russkogo teatra. 2 Bde. Leningrad 1929. T. DYNNIK, Krepostnoj teatr. Moskau 1933. N. JEWREINOW, Histoire du théâtre russe. Paris 1947. B. V. VARNEKE, History of the Russian Theatre. Seventeenth through Nineteenth Century. New York 1951. E. LO GATTO, Storia del teatro russo. 2 Bde. Florenz 1952. P. N. BERKOV (Hg.), Russkaja narodnaja drama XVII–XX vekov. Teksty p’es i opisanija predstavlenij. Moskau 1953. M. SLONIM, Russian Theater from the Empire to the Soviets. New York 1961. E. KRAG u. a. (Hg.), Russisk teater et tverrsnitt. Oslo 1971. B. ASEEV, Russkij dramatičeskij teatr ot ego istokov do konca XVIII veka. 2. Aufl. Moskau 1977. H. MARSHALL, The Pictorial History of the Russian Theatre. New York 1977. E. G. CHOLODOV (Hg.), Istorija russkogo dramatičeskogo teatra. 7 Bde. Moskau 1977–1982. S. KARLINSKY, The Russian Drama from its Beginnings to the Age of Pushkin. Berkeley, California 1985. J. A. DMITRIEV (Hg.), Istorija russkogo dramatičeskogo teatra. 7 Bde. Moskau 1977– 1987. N. I. SAVUŠKINA, Russkaja narodnaja drama. Chudožestvennoe svoeobrazie. Moskau 1988. B. SCHULTZE, Studien zum russischen literarischen Einakter. Von den Anfängen bis zu A. P. Čechov. Wiesbaden 1984, S. 209. A. F. NEKRYLOVA, Fol’klornyj teatr. Moskau 1988. V. A. BOČKAREV, Russkaja dramaturgija i literaturnyj process. Sbornik naučnych trudov. Petersburg 1991. R. LEACH, V. BOROVSKY (Hg.), A History of Russian Theatre. Cambridge 1999. G. ABENSOUR, Le théâtre russe entre rêve et réalité. Paris 2000. M. I. ANDREEV, Russkij dramatičeskij teatr. Moskau 2001. M. JA. POLJAKOV, O teatre. Poėtika, semiotika, teorija dramy. Moskau 2001. A. V. GRUNTOVSKIJ, Potechi strašnye i smešnye. Kniga o fol’klornom teatre, skomorochach, rjaženych i kulačnych bojach. Petersburg 2002. V. I. SACHAROV, Russkaja drama kak iskusstvo slova. Učebnoe posobie dlja studentov gumanitarnych vuzov i učitelej. Moskau 2005. N. D. KOCHETKOVA, Osnovanie nacional’nogo teatra i sud’by russkoj dramaturgii. K 250-letiju sozdanija teatra v Rossii. Petersburg 2006. L. SENELICK, Historical Dictionary of Russian Theater. Lanham, Maryland 2007. N. S. PIVOVAROVA (Hg.), Istorija russkogo dramatičeskogo teatra. Ot ego istokov do konca XX veka. Učebnik. 2. Aufl. Moskau 2009. E. I. STREL’COVA, Častnyj teatr v Rossii. Ot istokov do načala XX veka. Moskau 2009. Komödie E. VON BERG, Die ältere russische Komödie. Diss. Berlin 1916. A. P. COLEMAN, Humor in the Russian Comedy from Catherine to Gogol. New York 1925. P. N. BERKOV, Russkaja komedija i komičeskaja opera vosemnadcatogo veka. Moskau 1950. P. YERSHOV, Comedy in the Soviet Theater. New York 1956. M. MIKULAŠEK, Puti razvitija sovetskoj komedii 1925– 1934 godov. Prag 1962. D. J. WELSH, Russian Comedy 1765–1823. Den Haag 1966. H. SCHLIETER, Studien zur Geschichte des russischen Rührstücks 1758–1780. Wiesbaden 1968. K. KUNTZE, Studien zur Geschichte der russischen satirischen Typenkomödie 1750–1772. Frankfurt/M. 1971. H. GUSKI, Die satirischen Komödien Vl. I. Lukins 1737–1794. Ein Beitrag zur Typologie der russischen Komödie der Aufklärungszeit. München 1973. N. N. KISELEV, Problemy sovetskoj komedii. Tomsk 1973. P. N. BERKOV, Istorija russkoj komedii XVIII v. Leningrad 1977. V. V. FROLOV, Muza plamennoj satiry. Očerki sovetskoj komediografii 1918–1986. Moskau 1988. E. M. ŽEZLOVA, Russkaja klassičeskaja komedija. Moskau 1989. C. BAUMGARTEN, Die spätklassizistische russische Komödie zwischen 1805 und

440

Literatur und Anmerkungen

1822. Studien zu Šachovskoj, Zagoskin, Chmel’nickij und Griboedov. München 1998. S. JA. GONČAROVA-GRABOVSKAJA, Komedija v russkoj dramaturgii 1980–1990 godov. Žanrovaja dinamika i tipologija. Minsk 1999. N. A. GUS’KOV, Ot karnavala k kanonu. Russkaja sovetskaja komedija 1920-ch godov. Petersburg 2003. R. IBLER, Die russische Komödie. Ein gattungsgeschichtlicher Überblick von den Anfängen bis A. P. Tschechow. Stuttgart 2008. M. K. PEZENTI, Komedija del’ arte i žanr intermedii v russkom ljubitel’skom teatre XVIII veka. Petersburg 2008. Tragödie A. BERKMANN, Die russische Tragödie. Ein Rückblick und ein Ausblick. Berlin 1923. H.-B. HARDER, Studien zur Geschichte der russischen klassizistischen Tragödie 1747–1769. Wiesbaden 1962. V. A. BOČKAREV (Hg.), Stichotvornaja tragedija. Konca XVIII – načala XIX v. Moskau 1964. JU. V. STENNIK, Žanr tragedii v russkoj literature. Ėpocha klassicizma. Petersburg 1981. JU. V. STENNIK, Žanr tragedii v russkoj dramaturgii XVIII veka. In: Russkaja literatura – vek XVIII. Hg. V. A. Zapadov u. a. 2. Bde. Moskau 1991. Bd. 2, S. 5–24. MAZUREK-WITA, Tragedia rosyjska doby Oświecenia (1747-1825). Kattowitz 1993. J. G. NIGMATULLINA, Entstehung und Evolution der Tragödie in der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts. In: Balagan. Slavisches Drama, Theater und Kino 3, 2. 1997, S. 3–25. K. A. KOKŠENEVA, K. A. SMOLINA, Russkaja tragedija. XVIII vek. Ėvoljucija žanra. Moskau 2001. Geschichte 17.–18. Jahrhundert P. I. SUMAROKOV, O rossijskom teatre ot načala onogo do konca carstvovanija Ekateriny II. In: Otečestvennye Zapiski 32. 1822. W. F. PROKOPOVIČ, Russkie dramatičeskie proizvedenija 1672–1725. Petersburg 1874. P. O. MOROZOV, Istorija russkogo teatra do poloviny XVIII stoletija. Petersburg 1889. J. PATOUILLET, Le théâtre de mœurs russes des origines à Ostrovski (1672–1850). Paris 1912. V. N. VSEVOLODSKIJ-GERNGROSS, Russkij teatr ot istokov do serediny XVIII veka. Moskau 1957. B. N. ASEEV, Russkij teatr XVII – XVIII vekov. Moskau 1958. G. P. BERDNIKOV (Hg.), Russkie dramaturgii XVIII-XIX vv. Monografičeskie očerki. 3 Bde. Leningrad 1959–1962. V. D. KUZ’MINA, Russkij demokratičeskij teatr XVII veka. Moskau 1958. V. N. VSEVOLODSKIJ-GERNGROSS, Russkij teatr vtoroj poloviny XVIII v. Moskau 1960. O. A. DERŽAVINA, Russkaja dramaturgija poslednej četverti XVII i načala XVIII v. Moskau 1972. A. N. ROBINSON (Hg.), Rannjaja russkaja dramaturgija XVII – pervoj poloviny XVIII v. Moskau 1975. L. M. LOTMAN (Hg.), Istorija russkoj dramaturgii XVII – pervaja polovina XIX veka. Leningrad 1982. S. KARLINSKY, Russian Drama from its Beginnings to the Age of Pushkin. Los Angeles, California 1985. G. N. MOISEEVA, Russkaja dramaturgija XVIII veka. Moskau 1986. V. A. BOČKAREV, Russkaja istoričeskaja dramaturgija XVII – XVIII vv. Moskau 1988. M. P. ODESSKIJ, Očerki istoričeskoj poėtiki russkoj dramy. Ėpocha Petra I. Moskau 1999. P. A. SEMENOV, Jazyk predpuškinskoj dramaturgii. Petersburg 2002. M. P. ODESSKIJ, Poėtika russkoj dramy. Poslednjaja tret’ XVII – pervaja tret’ XVIII v. Moskau 2004. N. S. PIVOVAROVA, Drug nesčastnych, ili probuždenie serdca. Dramaturgija russkogo sentimentalizma. Moskau 2005. 19. Jahrhundert B. MALNICK, The Theory and Practise of Russian Drama in the Early 19th Century. In: The Slavonic and East European Review 34. 1955/56, S. 10–33. V. A. BOČKAREV, Russkaja istoričeskaja dramaturgija načala 19 veka 1800–1815 gg. Kujbyšev 1959. A. B. RUBCOV, Iz istorii russkoj dramaturgii konca XIX – načala XX v. Minsk 1962. A. L. ŠTEJN, Kritičeskij realizm i russkaja drama XIX veka. Moskau 1962. R. ŚLIWOWSKI, Od Turgieniewa do Czechowa. Z dziejów rosyjskiej dramaturgii drugiej polowy 19 wieku. Warschau 1970. A. A. ANIKST, Teorija dramy v Rossii ot Puškina do Čechova. Moskau 1972. S. S. DANILOV, Russkij dramatičeskij teatr XIX veka. 2 Bde. Moskau 1957–1974. V. V. OSNOVIN, Russkaja dramaturgija vtoroj poloviny XIX veka. Posobie dlja učitelja. Moskau 1980. A. A. NINOV u. a. (Hg.), Russkij teatr i dramaturgija konca XIX veka. Sbornik naučnych trudov. Le-

Das russische Drama

441

ningrad 1983. L. M. LOTMAN (Hg.), Istorija russkoj dramaturgii. Vtoraja polovina XIX – načalo XX veka do 1917. Leningrad 1987. S. G. NIKULIN, Russkaja dramaturgija XIX veka. Moskau 1988. A. I. ŽURAVLEVA, Russkaja drama i literaturnyj process XIX veka. Ot Gogolja do Čechova. Moskau 1988. G. A. TIME, U istokov novoj dramaturgii v Rossii (1880– 1890-e gody). Leningrad 1991. V. GALIJ, Russkaja dramaturgija XIX veka. Moskau 1998. I. N. SOLOV’EVA, Dramaturgija XIX veka. A. S. Griboedov, I. S. Turgenev, A. V. SuchovoKobylin, A. K. Tolstoj, A. N. Ostrovskij, L. N. Tolstoj, A. P. Čechov. Moskau 2004. E. D. GAL’COVA, Ot teksta – k scene. Rossijsko-francuzskie teatral’nye vzaimodejstvija XIX – XX vekov. Moskau 2006. N. A. BURANOK, Ėpocha Ivana Groznogo v russkoj istoričeskoj dramaturgii (1840–1850 gg.). Monografija. Samara 2009. 20. Jahrhundert N. A. GORČAKOV, Istorija sovetskogo teatra. New York 1956. V. FROLOV, O sovetskoj dramaturgii. Moskau 1957. J. RÜHLE, Das gefesselte Theater. Vom Revolutionstheater zum Sozialistischen Realismus. Köln 1957. J. SCHONDORFF, Russisches Theater des XX. Jahrhunderts. Tolstoi, Tschechow, Gorki, Andrejew, Tretjakow, Majakowski, Katajew, Schwarz. München 1960. L. G. TAMAŠIN, Sovetskaja dramaturgija v gody graždanskoj vojny. Moskau 1961. A. O. BOGUSLAVSKIJ, V. A. DIEV, Russkaja sovetskaja dramaturgija. Osnovnye problemy razvitija. 3 Bde. Moskau 1963–1968. A. M. RIPELLINO, Majakowskij und das russische Theater der Avantgarde. Köln 1964. K. RUDNICKIJ u. a. (Hg.), Istorija sovetskogo dramatičeskogo teatra. 6 Bde. Moskau 1966–1971. G. SCHAUMANN, Das russische sowjetische Drama der dreißiger Jahre. Konflikte, Charaktere, Stücktypen. Jena 1971. V. AJZENŠTADT, Russkaja sovetskaja istoričeskaja dramaturgija 1917–1967. Moskau 1972. J. PAECH, Das Theater der russischen Revolution. Theorie und Praxis des proletarisch-kulturrevolutionären Theaters in Russland 1917 bis 1924. Ein Beitrag zur politischen Geschichte des Theaters. Kronberg/Ts. 1974. K. A. BRAILER, Absurdist Features in Russian Drama. Nineteenth and Twentieth Centuries. Ann Arbor, Michigan 1977. V. V. FROLOV, Sud’by žanrov dramaturgii. Analizy dramatičeskich žanrov v Rossii XX veka. Moskau 1979. H. B. SEGEL, TwentiethCentury Russian Drama. From Gorky to the Present. New York 1979. V. STEPHAN, Studien zum Drama des russischen Symbolismus. Frankfurt/M. 1980. B. S. BUGROV, Russkaja sovetskaja dramaturgija 1960–1970-e gody. Moskau 1981. JU. A. DMITRIEV u. a. (Hg.), Istorija russkogo sovetskogo dramatičeskogo teatra. 2 Bde. Moskau 1984–1987. A. KLEBERG, N. Å. NILSSON (Hg.), Theater and Literature in Russia 1900–1930. A Collection of Essays. Stockholm 1984. W. F. SCHWARZ, N. GÜTTER, Sowjetrussisches und tschechisches Drama von 1964 bis in die siebziger Jahre. Neuried 1984. A. M. SMELJANSKIJ, Das sowjetische Theater. Hauptrichtungen des Entwicklungsprozesses der modernen Bühne. Moskau 1986. K. RUDNITSKY, Russian and Soviet Theatre. Tradition and the Avant-Garde. London 1988. R. RUSSELL, Russian Drama of the Revolutionary Period. Totowa, New Jersey 1988. A.-M. SAALBACH-WESCH, Das neue sowjetische Drama der späten 70er und frühen 80er Jahre. Tendenzen und Charakteristika. Mainz 1989. R. RUSSELL, A. BARRATT (Hg.), Russian Theatre in the Age of Modernism. Basingstoke 1990. I. V. ZBOROVEC, Russkaja sovetskaja istorikorevoljucionnaja dramaturgija 70–80-ch godov. Char’kov 1990. U. MANN, Suche nach dramaturgischen Neuansätzen in der sowjetischen Dramatik der 70er/80er Jahre. Die Autorengeneration der „neuen Welle“. In: Zeitschrift für Slawistik 36. 1991, S. 238–244. CH. MÜLLERSCHOLLE, Das russische Drama der Moderne. Eine Einführung. Frankfurt/M. 1992. E. REIßNER, Das russische Drama der achtziger Jahre. Schmerzvoller Abschied von der großen Illusion. München 1992. M.-CH. AUTANT-MATHIEU, Le théâtre soviétique durant le dégel. 1953–1964. Paris 1993. I. L. VIŠNEVSKAJA (Hg.), Paradoks o drame. Perečityvaja p’esy 1920 – 1930-ch godov. Moskau 1993. W. KOSCHMAL, Das Drama der russischen Moderne. In: Die literarische Moderne in Europa. 3 Bde. Hg. H. J. Piechotta u. a. Opladen 1994. Bd. 2, S. 361–392. S. SCHAHADAT, Roždenie, tvorenie, preobraženie. Das Theater als Modell für Lebenskunst in der russischen Moderne. In: Balagan. Slavisches Drama, Theater und Kino

442

Literatur und Anmerkungen

4, 2. 1998, S. 3–39. I. L. DANILOVA, Modern – postmodern? O processach razvitija dramaturgii 90-ch godov. Kazan’ 1999. M. I. GROMOVA, Russkaja sovremennaja dramaturgija. Moskau 1999. J. KOT, Distance Manipulation. The Russian Modernist Search for a New Drama. Evanston, Illinois 1999. S. A. SEROVA, Teatral’naja kul’tura Serebrjanogo veka v Rossii i chudožestvennye tradicii Vostoka (Kitaj, Japonija, Indija). Moskau 1999. A. M. SMELIANSKIJ, The Russian Theatre after Stalin. Cambridge 1999. L. M. BORISOVA, Na izlomach tradicii. Dramaturgija russkogo simvolizma i simvolistskaja teorija žiznetvorčestva. Simferopol’ 2000. G. F. KOVALENKO (Hg.), Russkij avangard 1910-ch–1920-ch godov i teatr. Petersburg 2000. V. E. GOLOVČINER, Ėpičeskaja drama v russkoj literature XX veka. Tomsk 2001. O. V. BOGDANOVA, Sovremennaja russkaja literatura. Dramaturgičeskij postmodern. Petersburg 2003. M. I. GROMOVA, Russkaja sovremennaja dramaturgija. Moskau 2003. I. A. KANUNNIKOVA, Russkaja dramaturgija XX veka. Učebnoe posobie. Moskau 2003. S. KOLLER, Das Gedächtnis des Theaters. Stanislavskij, Mejerchol’d und das russische Gegenwartstheater Lev Dodins und Anatolij Vasil’evs. Tübingen 2005. A. WACHTEL, Plays of Expectations. Intertextual Relations in Russian Twentieth-Century Drama. Seattle, Washington 2006. F. GÖBLER, Russisches Drama nach dem Ende der Zensur. In: Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext. Hg. F. Kreuder u. S. Sörgel. Tübingen 2008, S. 263–278. V. V. GUDKOVA, Roždenie sovetskich sjužetov. Tipologija otečestvennoj dramy 1920-ch – načala 1930-ch godov. Moskau 2008. B. BEUMERS, M. LIPOVETSKY, Performing Violence. Literary and Theatrical Experiments of New Russian Drama. Bristol 2009. M. V. MICHAJLOVA, Ženskaja dramaturgija Serebrjanogo veka. Petersburg 2009. T. L. RYBAL’ČENKO, Poėtika dramy v literature XX veka. Tomsk 2009. I. L. VIŠNEVSKAJA, Mir i vojna. Očerki iz istorii russkoj sovetskoj dramaturgii. 1946– 1980 godov. Moskau 2009. Anmerkungen 1 Das Leben des Protopopen Avvakum von ihm selbst niedergeschrieben. Übers. G. Hildebrandt. Göttingen 1965, S. 18. 2 W. Puchner, Zum „Theater“ in Byzanz. Eine Zwischenbilanz. In: Fest und Alltag in Byzanz. Hg. G. Prinzing u. D. Simon. München 1990, S. 11–16, 169–179. 3 J. Klein, Russische Literatur im 18. Jahrhundert. Köln 2008, S. 23. 4 N. K. Gudzij, Načalo russkogo teatra i russkoj dramaturgii. In: Ders., Istorija drevnej russkoj literatury. 7. Aufl. Moskau 1966, S. 513. 5 Vgl. S. Karlinsky, Russian Drama from its Beginnings to the Age of Pushkin. Berkeley, California 1985, S. 5. I. Das russische Schuldrama S. 2 1 A. Stender-Petersen, Moskovitische geistliche Schauspielkunst. In: Ders., Geschichte der russischen Literatur. 2 Bde. München 1957. Bd. 1, S. 280. 2 „Komedija pritči o bludnom syne” (Die Komödie der Parabel vom verlorenen Sohn, 1678). Der erste Druck erfolgte 1685, fünf Jahre nach Polockijs Tod. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts erschienen noch vier weitere Ausgaben. Dann wurde das Stück erst wieder 1795, und zwar zum letzten Mal, gedruckt. 3 Vgl. allgemein V. I. Rezanov, Iz istorii russkoj dramy. Škol’nye dejstva XVII–XVIII v. i teatr iezuitov. Moskau 1910; A. S. Demin, Ėvoljucija moskovskoj škol’noj dramaturgii. In: P’esy školnych teatrov Moskvy. Hg. O. A. Deržavina. Moskau 1974. S. 7–48. 4 R. Alewyn, Das große Welttheater. In: R. Alewyn, K. Sälzle, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung. Hamburg 1959, S. 54. 5 Ebd., S. 57. 6 O. A. Deržavina, Russkij teatr 70–90-ch godov XVII v. i načala XVIII v. In: Russkaja dramaturgija poslednej četverti XVII i načala XVIII v. Hg. O. A. Deržavina. Moskau 1972, S. 51.

Das russische Drama 7

8 9 10 11 12 13

14 15 16 17 18

19 20 21

443

Die beiden Dramen blieben lange unpubliziert. Zu sowjetischen Zeiten war es wegen der Heiligsprechung Dmitrij Rostovskijs nicht opportun, sich mit dessen Werk zu befassen. Nachdem die anderen Hauptvertreter des russischen Schuldramas, Simeon Polockij und Feofan Prokopovič, in den fünfziger und sechziger Jahren durch die kritischen Editionen Igor’ Eremins zugänglich gemacht worden waren, erschienen Rostovskijs „Uspenskaja drama“ und „Roždestvenskaja drama“ in der vorzüglich edierten und kommentierten Sammlung „Rannjaja russkaja dramaturgija (XVII – pervaja polovina XVIII v.)“. Hg. A. N. Robinson. 5 Bde. Moskau 1972–1976. Ebd., Bd. 2, S. 211. Der Text des Stücks ist nicht erhalten. Die Hinweise auf den Inhalt stammen von einem Schauspieler der Volkov-Truppe. Vgl. Karlinsky 1985, S. 15. „...praecepto Horatii & exemplo omnium fere tam tragicorum, quam comicorum discimus“. F. Prokopovič, De arte poetica. In: Ders., Sočinenija. Hg. I. P. Eremin. Moskau 1961, S. 314. Der vollständige Titel umfaßt in der Ausgabe von Eremin nicht weniger als 13 Zeilen. Vgl. ebd., S. 149. Klein, s. Anm. 3, S. 32. Dieser Monolog, der Ähnlichkeiten mit dem Monolog des Tantalus in Senecas „Thyestes“ aufweist (vgl. W. Busch, Die slavischen Literaturen. In: Der Einfluß Senecas auf das europäische Drama. Hg. E. Lefèvre. Darmstadt 1978, S. 454), zeigt die Schulung Prokopovičs durch die klassischen Autoren der Antike. In Wirklichkeit sind die Söhne Vladimirs zu diesem Zeitpunkt der Handlung noch nicht geboren. Klein, s. Anm. 3, S. 37. Ediert und kommentiert ist der Text in der erwähnten Sammlung „Rannjaja russkaja dramaturgija“, s. Anm. 7 (I), Bd. 3, S. 256–283, 506–509. Abgedruckt ebd., Bd. 2, S. 283–285. Die zaristische Regierung erwartete, daß durch diese Maßnahme alle Ausgaben für Getränke der Staatskasse zugute kämen. Die Hoffnung erwies sich als trügerisch. Am 1. September 1664 wurden die Wirtshäuser wieder erlaubt. A. S. Demin, Intermedii (Meždorečie). In: Rannjaja russkaja dramaturgija, s. Anm. 7 (I), Bd. 2, S. 341. Vgl. außerdem I. T. Pryžov, Istorija kabakov v Rossii v svjazi s istoriej russkogo naroda. 2. Aufl. Kazan’ 1914, S. 109 ff. Vgl. Intermedii iz sbornika P. N. Tichanova. In: Rannjaja russkaja dramaturgija, s. Anm. 7 (I), Bd. 5, S. 564–613. Der Text dieses Stücks wurde zunächst zweimal – 1903 und 1917 – von V. N. Peretc ediert und ist jetzt greifbar in „Rannjaja russkaja dramaturgija“, s. Anm. 7 (I), Bd. 3, S. 372–429. So Filippov, der darüber hinaus vermutet, daß das übersetzte oder umgearbeitete polnische Stück seinerseits auf die französischen Urbilder einiger Molière-Komödien zurückgeht. Vgl. V. Filippov, K voprosu ob istočnikach „Šutovskoj komedii“. Iz istorii russkogo mol’erizma. In: Pamjati P. N. Sakulina. Sbornik statej. Moskau 1931, S. 296–304.

II. Die Anfänge des weltlichen Theaters in Rußland S. 11 1 Die Empfehlung für die Wahl dieser Geschichte kam wohl vom Zaren selbst, der die Figur der Esther als Kompliment an seine junge Frau verstand. Wie die biblische Gestalt war Natal’ja Naryškina Waise und von einem weisen Mann unter vielen Mitbewerberinnen ausersehen worden, aufgrund ihrer Schönheit und Tugendhaftigkeit die Frau des Herrschers zu werden. 2 Der Text des Stücks wurde für die Uraufführung von den Übersetzern des Kollegiums für Auswärtige Angelegenheiten ins Russische übertragen. Das deutsche Original war

444

3 4 5 6 7 8 9

10

11 12 13 14

Literatur und Anmerkungen

dann ebenso wie die russische Übersetzung lange verschollen. Erst 1954 entdeckte man zwei Abschriften: die eine in Frankreich, in der Stadtbibliothek von Lyon (Veröffentlichung durch A. Mazon und F. Cocron, Paris 1955), die andere in der Sowjetunion, in der Kreisbibliothek von Vologda (Veröffentlichung durch I. M. Kudrjavcev, Moskau 1957 – der deutsche Originaltext fehlt hier). Später wurde noch eine fragmentarische Abschrift in der Weimarer Bibliothek entdeckt (Veröffentlichung durch K. Günther, Berlin 1968). Jetzt ist das Stück am leichtesten zugänglich in: Rannjaja russkaja dramaturgija, s. Anm.7 (I), Bd. 1, S. 101–257 (russischer Text) und S. 258–350 (deutscher Text). Sekundärliteratur: B. V. Unbegaun, Les débuts de la versification russe et la comédie d’Artaxerxès. In: Revue des études slaves 32. 1955, S. 32–41; W. Fleming, Deutsches Barockdrama als Beginn des Moskauer Hoftheaters (1672). In: Maske und Kothurn 4. 1958, S. 97–124. Artakserksovo dejstvo. In: Rannjaja russkaja dramaturgija, s. Anm. 7 (I), Bd. 1, S. 265. J. Dyck, Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. 2. Aufl. Bad Homburg v. d. H. 1969, S. 154. Iudif. In: Rannjaja russkaja dramaturgija, s. Anm. 7 (I), Bd. 1, S. 451. Zit. nach: O. A. Deržavina, A. S. Demin, A. N. Robinson, Pojavlenie teatra i dramaturgii v Rossii v XVII v. In: Rannjaja russkaja dramaturgija, s. Anm. 7 (I), Bd. 1, S. 16. Der französische Originaltitel lautet: „Le Geôlier de soi-même“. A. Stender-Petersen, Weltliche moskovitische Dramatik. In: Ders., s. Anm. 1 (I), S. 293. Die Texte der Stücke, die im Theater der Prinzessin Natal’ja Alekseevna gespielt wurden, sind nicht erhalten, weder die Wunder- und Märtyrerdramen noch die dramatisierten Ritterromanzen. Erhalten sind aber sogenannte „Rollenlisten“ (Spiski rolej) dieser Stücke. Abgedruckt und kommentiert finden sie sich jetzt in: Rannjaja russkaja dramaturgija, s. Anm. 7 (I), Bd. 4, S. 158–185; 621–633. – Zu den dramatisierten Ritterromanzen vgl. Karlinsky, s. Anm. 5, S. 49 ff. („Chivalric Romance Plays“). Der Text der ersten Inszenierung in Natal’ja Alekseevnas Hoftheater ist nur ganz unvollständig durch zwei Listen sekundärer Rollen überliefert. Hingegen ist der Text einer späteren Inszenierung in zwei Abschriften erhalten und zugänglich in: Rannjaja russkaja dramaturgija, s. Anm. 7 (I), S. 315–356. „Dlja znajuščich ljudej ty igrišč ne piši”. A. Sumarokov, Ėpistola II. In: Ders., Izbrannye proizvedenija. Leningrad 1957, S. 121. Vgl. das Kapitel „Das russische Schuldrama“, S. 2 ff. dieses Bandes. Ausführlicher zu den ausländischen Schauspieltruppen: P. N. Berkov, Istorija russkoj komedii XVIII v. Leningrad 1977, S. 11 ff. Komödien der Gottsched-Schule können – nach Klaus Kuntze, Studien zur Geschichte der russischen satirischen Typenkomödie 1750–1772. Frankfurt/M. 1971, S. 15 – noch nicht von der Truppe Caroline Neubers aufgeführt worden sein. Vielleicht gehört aber die am 25. April 1740 gespielte Komödie „Dresdner Schlendrian“ zu dieser Schule. Vgl. Berkov, s. Anm. 13 (II), S. 13.

III. Theater und Dramatik im Zeitalter des Klassizismus S. 17 1 Im Jahr zuvor war „Chorev“ schon im Kadettenkorps uraufgeführt worden. 2 Obwohl sich Sumarokovs „Gamlet“ in gewissen Einzelheiten mit Shakespeares „Hamlet“ berührt, handelt es sich dabei noch nicht um einen bewußten Versuch, in Rußland auf den englischen Dramatiker aufmerksam zu machen. Dafür stand die dramatische Kunst Shakespeares der klassizistischen Poetik zu fern. Vgl. auch M. P. Alekseev, Pervoe znakomstvo s Šekspirom v Rossii. In: Šekspir i russkaja kul’tura. Hg. M. P. Alekseev. Moskau 1965, S. 26. 3 Klein, s. Anm. 3, S. 107.

Das russische Drama 4

5

6

7

8 9 10 11

12 13 14

15 16

445

Lomonosov schrieb die Stücke „Tamira i Selim“ und „Demofont“, von denen das eine ein Thema aus der Geschichte der Krim-Tataren, das andere ein Thema aus der Geschichte des Trojanischen Kriegs behandelt. Trediakovskij verfaßte das Stück „Deidamija“, das sich ebenfalls auf den Trojanischen Krieg bezieht. Im selben Jahr entstand auch das erste Moskauer Theater. Es ging aus der Studentenbühne der Universität hervor und wurde von dem Dichter Cheraskov geleitet, der in den sechziger Jahren unter dem Einfluß der Empfindsamkeit den Klassizismus zu überwinden begann. Die erste Möglichkeit findet sich zum Beispiel in „Sinav i Truvor“ und „Aristona“, die zweite in „Chorev“ und „Semira“. Eine Kombination von beiden Möglichkeiten liegt in „Gamlet“ vor. Vgl. H.-B. Harder, Studien zur Geschichte der russischen klassizistischen Tragödie 1747–1769. Wiesbaden 1962, S. 14. Trediakovskij bemängelte anläßlich des Selbstmords von Chorev, daß der unglücklich verliebte Held dazu nicht hinter die Kulissen gegangen sei, sondern „mit seinem Blut vor aller Augen das Theater rot gefärbt“ habe. V. Trediakovskij, Pis’mo pisannoe ot prijatel’ja k prijatelju 1750. In: Sbornik materialov dlja istorii Imperatorskoj Akademii Nauk v XVIII veke. Hg. A. Kunik. 2 Bde. Petersburg 1865. Bd. 2, S. 487. J. Klein, Liebe und Politik in Sumarokovs Tragödien. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 60. 2001, S. 112. Harder, s. Anm. 6 (III), S. 100 ff. „Svojstvo komedii – izdevkoj pravit’ nrav“. Sumarokov, s. Anm. 11 (II), S. 121. „Die Komödie”, schreibt Kantemir, „ist die lebendige Darstellung einer einfachen und lächerlichen Handlung zur Besserung der Sitten und zur Erheiterung der Zuschauer.“ A. D. Kantemir, Sočinenija, pis’ma i izbrannye perevody. 2 Bde. Petersburg 1867–1868. Bd. 2, S. 402. Das Laster des Geizes, das Sumarokov in seinen Komödien der fünfziger Jahre noch nicht verwendet hatte, führte er 1764 mit dem Einakter „Pridanoe obmanom“ (Die erlistete Mitgift) in sein dramatisches Schaffen ein. Kuntze, s. Anm. 14 (II), S. 45. Beispielsweise Dmitrij Volkovs „Vospitanie“ (Die Erziehung, 1774), Nikolaj Nikolevs „Samoljubivyj stichotvorec“ (Der eitle Versemacher, 1775), Dmitrij Chvostovs „Russkij parižanec“ (Der russische Pariser, 1783) oder das anonyme Stück „Russkij Francuz“ (Der russische Franzose, 1793). A. P. Sumarokov, Pustaja ssora [Ssora u muža s ženoju]. In: Russkaja komedija i komičeskaja opera XVIII veka. Hg. P. N. Berkov. Moskau 1950, S. 67–84, hier: S. 78. „Die Komödie ist fast gänzlich aus den komischen Werken des Barons Holberg genommen, besonders aber die Person des prahlerischen Offiziers.“ Zit. nach: Kuntze, s. Anm. 14 (II), S. 27.

IV. Vom Rührstück zur Milieu- und Sittenkomödie S. 22 1 Ch. F. Gellert, Abhandlung für das rührende Lustspiel. Übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing. In: Ders., Die zärtlichen Schwestern. Hg. H. Steinmetz. Stuttgart 2003, S. 117 ff., 125. 2 G. E. Lessing, Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele. In: Deutsche National-Litteratur. Historisch kritische Ausgabe. Hg. J. Kürschner. 164 Bde. Berlin 1882–1899. Bd. 62, S. 57. 3 Näheres zu Elagins Bearbeitung und zum Motiv des „russischen Franzosen“ vgl. Berkov, s. Anm. 13 (II), S. 65 ff. 4 Vgl. G. Achinger, Der französische Anteil an der russischen Literaturkritik des 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Zeitschriften (1730–1780). Bad Homburg v. d. H. 1970, S. 176.

446 5 6 7 8 9

10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Literatur und Anmerkungen

Ebd., S. 171. Ebd. Zu Lukins eigener Praxis der Komödienanpassungen vgl. H. Guski, Die satirischen Komödien Vl. I. Lukins (1737–1794). Ein Beitrag zur Typologie der russischen Komödie der Aufklärungszeit. München 1973. Zit. nach: H. Schlieter, Studien zur Geschichte des russischen Rührstücks 1758–1780. Wiesbaden 1968, S. 70. Das Theater des Herrn Diderot. Aus dem Französischen übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing. 2 Bde. 2. Aufl. Berlin 1781. Bd. 1, S. 238. Es handelt sich hier um den ersten Fall, daß in einer russischen Komödie auf konkrete historische Ereignisse Bezug genommen wird. P. Hiller, D. I. Fonvizin und P. A. Plavil’ščikov. Ein Kapitel aus der russischen Theatergeschichte im 18. Jahrhundert. München 1985, S. 64. N. F. Ostolopov, Slovar’ drevnej i novoj poėzii. 3 Bde. Petersburg 1821. Bd. 3, S. 454. Vgl. „Das russische Rührstück in den 70er Jahren“. In: Schlieter, s. Anm. 7 (IV), S. 91– 169. Sumarokov, s. Anm. 11 (II), S. 121. – In Sumarokovs dreiaktiger Komödie „Čudovišči“ (Die Ungeheuer), in der die Prozessiersucht des Vaters den Motor der Handlung bildet, treten zwei solcher berufsunfähiger Richter auf. Gellert, s. Anm. 1 (IV), S. 127 f. (Anm.). Vgl. den Beitrag von Joachim Klein, Denis Fonvizin: Nedorosl’ (Der Landjunker), S. 125 ff. dieses Bandes. D. I. Fonvizin, Sobranie sočinenij. Hg. G. P. Makogonenko. 2 Bde. Moskau 1959. Bd. 2, S. 445 f. N. V. Gogol’, V čem že nakonec suščestvo russkoj poėzii i v čem ee osobennost’. In: Ders., Polnoe sobranie sočinenij. Hg. N. L. Meščerjakov u. a. 14 Bde. Moskau 1937– 1952. Bd. 8, S. 397. Fonvizin, s. Anm. 15 (IV), Bd. 1, S. 143 (III, 7). Ebd., S. 114 (I, 6). Vgl. die entsprechende Anmerkung zu D. Fonwisin, Der Landjunker und andere satirische Dichtungen und Schriften. Berlin 1957, S. 386. Stender-Petersen, s. Anm. 1 (I), S. 412. D. J. Welsh, Russian Comedy 1765–1823. The Hague 1966, S. 93. Der Text ist enthalten in: Russkaja komedija i komičeskaja opera XVIII veka, s. Anm. 15 (III), S. 369–405. Berkov, s. Anm. 13 (II), S. 250 f.

V. Die russische Komödienkunst am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts S. 31 1 Vgl. Berkov, s. Anm. 13 (II), S. 276 ff. 2 Ebd., S. 355. 3 Stender-Petersen, s. Anm. 1 (I), S. 435 f. 4 Karlinsky, s. Anm. 5, S. 175. 5 So ist zum Beispiel der Name des Oberstleutnants Prjamikov abgeleitet von prjamoj (= aufrichtig), der des Staatsbeamten Pravolov von pravo (= Recht) oder des Gerichtspräsidenten Krivosudov von krivoj sud (= ungerechtes Urteil). 6 Vgl. G. Giesemann, Kotzebue in Rußland. Materialien zu einer Wirkungsgeschichte. Frankfurt/M. 1971. 7 Zur Gruppe dieser Autoren vgl. ausführlicher Berkov, s. Anm. 13 (II), S. 290 f. 8 Es handelt sich um den Dreiakter „O vremja!“ (O Zeiten!), den Fünfakter „Imeniny gospoži Vorčalkinoj“ (Der Namenstag der Frau Griesgram) und der Einakter „Voprositel’“ (Der Fragende). Zu diesen Stücken vgl. Kuntze, s. Anm. 14 (II), S. 127 ff., zu anderen Karlinsky, s. Anm. 5, S. 84 ff.

Das russische Drama 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

447

Das geht aus einem Brief hervor, den Katharina II. an Fonvizin schrieb. Vgl. Stender-Petersen, s. Anm. 1, S. 421. I. A. Krylov, Ja. B. Knjažninu 1788 g. – načalo 1789 g. In: Ders., Polnoe sobranie sočinenij. Hg. D. Bednyj. 3 Bde. Moskau 1945–1946. Bd. 3, S. 331. Zur Aufführungs- und Veröffentlichungsgeschichte von Krylovs „Trumf“ vgl. S. A. Fomičev, Dramaturgija Krylova načala XIX veka. In: Ivan Andreevič Krylov. Problemy tvorčestva. Hg. I. Z. Serman. Leningrad 1975, S. 136 ff. Dazu gehört im russischen Original, daß sich das deklamierende Sprechen durch die Schauspieler auf den Laut „o“ stützt (das sogenannte „okaja“). Berkov, s. Anm. 13 (II), S. 365. Vgl. Giesemann, s. Anm. 6 (V), S. 198. Zit. nach: ebd. A. S. Puškin, Moi mysli o Šachovskom. In: Ders., Polnoe sobranie sočinenij. Hg. V. D. Bonč-Bruevič u. a. 16 Bde. u. ein Ergänzungsband. Moskau 1937–1959. Bd. 12, S. 302. Vgl. C. Baumgarten, Die spätklassizistische russische Komödie zwischen 1805 und 1822. Studien zu Šachovskoj, Zagoskin, Chmel’nickij und Griboedov. München 1998. A. A. Šachovskoj, Urok koketkam, ili Lipeckie vody. Komedija v pjati dejstvijach v stichach. In: Ders., Komedii. Stichotvorenija. Hg. A. A. Gozenpud. Leningrad 1961, S. 206. – Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Baumgarten, s. Anm. 16 (V), S. 90. Šachovskoj, s. Anm. 17 (V), S. 135. So „Molodye suprugi“ (Die jungen Eheleute), „Student“ (Der Student, 1817) und „Svoja sem’ja, ili Zamužnjaja nevesta“ (Es bleibt ja in der Familie oder Die verheiratete Braut, 1818). Vgl. den Beitrag von Witold Kośny, Aleksandr Griboedov: Gore ot uma (Verstand schafft Leiden), S. 135 ff. dieses Bandes. Zu „Vers, Sprache, Stil“ vgl. G. Giesemann, Alexander Gribojedow: Verstand schafft Leiden. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 48 ff. Genauer gesagt 995 von 2221 Versen, wie Boris Tomaševskij gezählt hat. Das sind 44% der Gesamtanzahl der Verse in „Gore ot uma“. Vgl. B. V. Tomaševskij, Stich „Gorja ot uma“. In: Ders., Stich i jazyk. Moskau 1959, S. 132. In Frankreich ist der freie Vers in der Komödie seit Molières „Amphitryon“ (1668) bekannt. I. Gončarov, „Mil’on terzanij“ (Kritičeskij ėtjud). „Gore ot uma“ Griboedova. In: Ders., Sobranie sočinenij. Hg. S. I. Mašinskij u. a. 8 Bde. Moskau 1977–1980. Bd. 8, S. 45. A. S. Griboedov, Polnoe sobranie sočinenij. Hg. S. A. Fomičev u. a. 3 Bde. Petersburg 1995–2006. Bd. 3, S. 87. Zit. nach: A. I. Revjakin (Hg.), A. N. Ostrovskij v vospominanijach sovremennikov. Moskau 1966, S. 90. Gogol’, s. Anm. 16 (IV), S. 396. Allerdings umfassen die Zahlen sowohl originale als auch übersetzte Stücke. Klein, s. Anm. 3, S. 210.

VI. Die spätklassizistische Tragödie und ihre Überwindung im Schaffen Puškins S. 41 1 Ein Begriff von Grigorij Gukovskij. Vgl. G. A. Gukovskij, Lomonosov, Sumarokov, škola Sumarokova. In: Ders., Rannie raboty po istorii russkoj poėzii XVIII veka. Hg. V. M. Živov. Moskau 2001, S. 40–71. 2 Zu Knjažnins „Rosslav“ vgl. K. A. Smolina, Russkaja tragedija. XVIII vek. Ėvoljucija žanra. Moskau 2001, S. 181 ff. 3 Ebd., S. 172 ff. – Wie aus dem vollständigen Titel hervorgeht, machte Katharina II. mit diesem Stück, lange vor Puškin, das russische Publikum auf Shakespeare aufmerksam: „Podražanie Šakespiru, istoričeskoe predstavlenie bez sochranenija featral’nych obykno-

448

4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

18 19 20

21 22 23 24 25

26

Literatur und Anmerkungen

vennych pravil iz žizni Rjurika“ (Nachahmung Shakespeares, geschichtliche Darstellung aus dem Leben Rjuriks ohne Beachtung der gewöhnlichen theatralischen Regeln). Vgl. Hiller, s. Anm. 9 (IV), S. 207 f. Vgl. Werthers Brief vom 12. Oktober (Zweites Buch). Karlinsky, s. Anm. 5, S. 199 f. Puškin, s. Anm. 15 (V), Bd. 11, S. 178. Ebd., S. 39. A. W. Schlegel, Kritische Schriften und Briefe. Hg. E. Lohner. 7 Bde. Stuttgart 1962– 1974. Bd. 6, S. 34 f. Puškin, s. Anm. 15 (V), Bd. 11, S. 419. Ebd., S. 39. Vgl. den Beitrag von Ulrike Jekutsch, Aleksandr Puškin: Boris Godunov, S. 147 ff. dieses Bandes. I. V. Kireevskij, Obozrenie russkoj literatury za 1831 god. In: Ders., Kritika i ėstetika. Hg. Ju. Mann. Moskau 1998, S. 112. F. Schiller, Werke. Nationalausgabe. 43 Bde. Weimar 1943 ff. Bd. 20, S. 450 (Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen), Bd. 22, S. 266 (Über Matthisons Gedichte). J. Striedter, Dichtung und Geschichte bei Puškin. Konstanz 1977, S. 18 f. Ebd., S. 17. So hat Dmitrij Blagoj aufgezeigt, daß der Abfolge von 23 Szenen die Figur des Kreises zugrunde liegt. Um eine Mittelachse aus drei Szenen (11, 12, 13) gruppieren sich kreisförmig bzw. spiegelbildlich je zehn Szenen, wobei jeder Szene der ersten Hälfte des Stücks eine Szene der zweiten Hälfte entspricht. D. D. Blagoj, Masterstvo Puškina. Moskau 1955, S. 126 f. Vgl. dazu auch die – diese Korrespondenzen veranschaulichenden – Graphiken bei R. Neuhäuser, Alexander Puschkin: Boris Godunov. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 61 ff. R. Lauer, Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart. München 2000, S. 301. F. M. Dostoevskij, Polnoe sobranie sočinenij. Hg. V. G. Bazanov u. a. 30 Bde. Leningrad 1972–1990. Bd. 26, S. 146. „In seinen ‚Kleinen Tragödien’“, schrieb Brjusov, „unternahm Puškin den ‚Versuch’, das Drama auf sein Wesen zurückzuführen.“ V. Brjusov, Malen’kie dramy Puškina (K predstojaščemu spektaklju v Chudožestvennom teatre). In: Ders., Sobranie sočinenij. Hg. P. G. Antokol’skij u. a. 7 Bde. Moskau 1973–1975. Bd. 7, S. 102. Reinhard Lauer bezeichnete Puškins „Malen’kie tragedii“ als „Leitsterne der russischen Kultur“. Lauer, s. Anm. 18 (VI), S. 197. Ebd. A. S. Puškin, O proze. In: Ders., s. Anm. 15 (V), Bd. 11, S. 18 f. A. Achmatova. Sočinenija. Hg. G. P. Struve u. B. A. Filippov. 3 Bde. München 1967– 1983. Bd. 3, S. 182; Bd. 2, S. 259. Anna Achmatova, die schon darauf hinweist, daß Don Juan bei Puškin kein reicher Mann wie bei Da Ponte und kein gelangweilter Räsoneur wie bei Molière sei, sondern ein empfindsamer Dichter, unterstreicht auch Puškins neuartige Sicht des Komturs. Dieser erscheine nicht, um Don Juan ins Gewissen zu reden, sondern um Don Juan seine Frau wegzunehmen: „Bei allen anderen Autoren ist der Komtur ein gebrechlicher Greis und beleidigter Vater. Bei Puškin ist er ein eifersüchtiger Ehemann.“ Achmatova, s. Anm. 24 (VI), Bd. 2, S. 271. O. Fel’dman, Sud’ba dramaturgii Puškina. „Boris Godunov“. „Malen’kie tragedii“. Moskau 1975, S. 159.

Das russische Drama

449

27 B. Schultze, Studien zum russischen literarischen Einakter. Von den Anfängen bis zu A. P. Čechov. Wiesbaden 1984, S. 209. VII. Die Komödienkunst Gogol’s und ihre Nachwirkung S. 50 1 Vgl. dazu Gogol’s spöttische Polemik gegen diese niederen Spielarten des komischen Theaters in dem Essay „Peterburgskie zapiski“ (Petersburger Skizzen, 1836). Gogol’, s. Anm. 16 (IV), S. 180 f. 2 Gogol’, s. Anm. 16 (IV), Bd. 5, S. 108. 3 Ebd., S. 115. 4 Der Begriff „Zustandseinakter“ beruht auf Schultze, s. Anm. 27 (VI), S. 239. 5 Vgl. den Beitrag von Bodo Zelinsky, Nikolaj Gogol’: Revizor (Der Revisor), S. 163 ff. dieses Bandes. 6 N. Frye, Der Mythos des Frühlings: Komödie. In: Ders., Analyse der Literaturkritik. Stuttgart 1964, S. 165 f. 7 Gogol’, s. Anm. 16 (IV), Bd. 5, S. 169. 8 Vgl. dazu S. 40 dieses Bandes. 9 Puškin, s. Anm. 15 (V), Bd. 11, S. 178. 10 Ebd., Bd. 7, S. 106. 11 F. Dürrenmatt, Theaterprobleme. Zürich 1967, S. 48. 12 Ebd. – Vgl. dazu auch B. Zelinsky, Gogol’s „Revizor“. Eine Tragödie? In: Zeitschrift für Slavische Philologie 36. 1971, S. 1–40, hier: S. 6. 13 Gogol’, s. Anm. 16 (IV), Bd. 10, S. 375. 14 Ebd., Bd. 4, S. 116. 15 Ebd., S. 127 f. 16 Ebd., S. 93 f. 17 Ebd., Bd. 5, S. 101. 18 Ebd., Bd. 14, S. 154. 19 Ausführlicher zur Innovatorik des Fenstersprungs am Schluß von „Ženit’ba“: H. Schmid, „Der magische Fenstersprung“. Zum Verhältnis von Tradition und Innovation in Gogol’s „Ženit’ba“ (Die Heirat). In: Drama und Theater. Theorie – Methode – Geschichte. Hg. H. Schmid u. H. Král. München 1991, S. 539–571. 20 W. Rosanow, Verwehte Blätter. In: Ders., Solitaria. Ausgewählte Schriften. Übers. v. H. Stammler. Hamburg 1963, S. 167. 21 Vgl. dazu S. 8 f. dieses Bandes. 22 Vgl. den Beitrag von Reinhard Ibler, Aleksandr Ostrovskij: Les (Der Wald), S. 205 ff. dieses Bandes. 23 J. von Guenther, Ostrowskijs Leben. In: A. Ostrowskij, Ausgewählte Theaterstücke. Hg. u. übers. J. von Guenther. 2 Bde. München 1966. Bd. 2, S. 678. 24 A. N. Ostrovskij, Les. In: Polnoe sobranie sočinenij. Hg. G. I. Vladykin u. a. 15 Bde. Moskau 1949–1953. Bd. 6, S. 87. 25 Ebd., S. 94. 26 E. Egeberg, Alexander Suchowo-Kobylin: Tarelkins Tod. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 114. 27 Zu dieser Aufführung jetzt ausführlich F. Carl, Klassik und Theateravantgarde. V. Ė. Mejerchol’ds „Revizor“ im Kontext der russischen Klassikerrezeption. München 2008. 28 Vgl. W. Koschmal, Dialogische Groteske und Poetik der Destruktion. Koz’ma Prutkov. In: Drama und Theater. Hg. H. Schmid u. H. Král. München 1991, S. 572–586. 29 Diese kurzen, vor Čechovs vier großen Stücken entstandenen Farcen „markieren den für die Moderne zentralen Wechsel vom Logozentrismus zum Partikularen, zum Zufall“, schreibt Walter Koschmal. W. Koschmal, Das Drama der russischen Moderne. In: Die

450

Literatur und Anmerkungen

literarische Moderne in Europa. Hg. H. J. Piechotta u. a. 3 Bde. Opladen 1994. Bd. 2, S. 363. VIII. Die Renaissance der Tragödie in der Epoche des Realismus S. 61 1 V. G. Belinskij, Razdelenie poėzii na rody i vidy. In: Ders., Polnoe sobranie sočinenij. Hg. N. F. Bel’čikov u. a. 13 Bde. Moskau 1953–1959. Bd. 5, S. 57. 2 Gogol’, s. Anm. 16 (IV), S. 181. 3 A. Guski, A. F. Pisemskijs „Gor’kaja sud’bina“ und das Problem der Tragödie im russischen Realismus. In: Die Welt der Slaven 33. 1988, S. 327. 4 Vgl. Guski: „So wie die Eigengesetzlichkeit der heroischen Form der Tragödie Abstriche vom ordo naturalis erzwingt, verlangt umgekehrt auch die Geltung des ‚natürlichen’ Prinzips Abstriche vom ordo artificialis der tragischen Form.“ Ebd., S. 328. 5 1857 entstanden die beiden gesellschaftskritischen Komödien „Dvorjanskoe semejstvo“ (Eine Adelsfamilie) und „Svobodnaja ljubov’“ (Freie Liebe), die aber nicht zum Abschluß gebracht wurden. Sieben Jahre später, 1863, nahm Tolstoj die dramatische Arbeit wieder auf. Einerseits als Stellungnahme zu den durch die Bauernbefreiung von 1861 ausgelösten gesellschaftlichen Veränderungen, andererseits als Antwort auf Turgenevs 1862 erschienenen und vieldiskutierten Roman über die Auseinandersetzung zwischen der Generation der Väter und der Generation der Söhne gedacht, entstand Tolstojs erstes abgeschlossenes Bühnenstück, die aktuelle Gesellschaftskomödie „Zaražennoe semejstvo“ (Die verseuchte Familie). Die gleichzeitig mit den Vorarbeiten zu dem großen Roman „Vojna i mir“ entstandene Komödie durchlief mehrere Fassungen mit verschiedenen Titeln („Altes und Neues“, „Zeitgenössische Menschen“, „Neue Menschen“), ehe Tolstoj sie 1864 Ostrovskij vorlas, der ihre Schwächen erkannte und deshalb den Rat gab, das ganze noch einmal zu überarbeiten und um ein Jahr zurückzustellen. Zwar versuchte Tolstoj trotzdem eine Aufführung am Malyj teatr in Moskau zu erreichen. Als dies jedoch nicht gelang, verzichtete er, sicher nicht unbeeinflußt durch Ostrovskijs Meinung, auch auf den Druck. So kam es, daß „Zaražennoe semejstvo“ zu Lebzeiten Tolstojs weder aufgeführt noch gedruckt worden ist. Dafür schrieb dieser 1866, während der Arbeit an „Vojna i mir“, an einem thematisch verwandten Stück „Nigilist“ (Der Nihilist), das, offenbar für eine Aufführung im häuslichen Kreis bestimmt, nicht beendet wurde und nur in seiner Erstfassung unter dem Arbeitstitel „Komedija v trech dejstvijach“ (Komödie in drei Akten) erhalten ist. 6 Bald nach dem Besuch des Jahrmarkts begann Tolstoj unter dem Titel „Petr Chlebnik“ (Petrus der Brotbäcker) eine Dramatisierung der Vita Peters des Zöllners aus einer mittelalterlichen Sammlung christlicher Heiligenleben. Er fügte der zugrunde gelegten Quelle eine Reihe neuer Figuren hinzu und erweiterte die Geschichte vom hartherzigen Reichen, der sich zu einem selbstlos dienenden Sklaven wandelt, um Monologe, die für sein eigenes Denken charakteristisch sind, Monologe über die Verwerflichkeit des Reichtums, ja des bloßen Strebens nach Geld und Besitz. Die Hauptgestalt erhielt, darüber hinaus, deutlich autobiographische Züge. Der reuige Sünder Petrus, der gegen den Widerstand seiner Frau unentwegt Gutes tut, um sich schließlich, in buchstäblicher Erfüllung der Bergpredigt, freiwillig auf dem Sklavenmarkt verkaufen zu lassen, erinnert an Tolstoj selber, der alles aufgeben und weggeben will, aber von seiner Frau Sof’ja Andreevna aus Pflichtgefühl daran gehindert wird. – Weiteres zur Volkstheatertätigkeit sowie zum frühen und späten dramatischen Schaffen Tolstojs vgl. E. Poljakova, Teatr L’va Tolstogo. Dramaturgija i opyty ee pročtenija. Moskau 1978, und knapper B. Zelinsky, „Trotzdem wir überall in Nacht blicken“. Die realistische Bühnenkunst Lew Tolstois. In: L. N. Tolstoi, Macht der Finsternis und andere Dramen. München 1979, S. 527–543. 7 Vgl. den Beitrag von Andreas Guski, Lev Tolstoj: Vlast’ t’my (Macht der Finsternis), S. 218 ff. dieses Bandes.

Das russische Drama 8 9

10 11 12 13 14 15 16 17 18

19

20 21 22 23 24 25 26

451

L. N. Tolstoj, Polnoe sobranie sočinenij. Hg. V. G. Čertkov u. a. 90 Bde. Moskau 1928– 1958. Bd. 26, S. 196. Zu Tolstojs Auffassungen von der Frau als Verkörperung des Bösen vgl. B. Zelinsky, „Mulier instrumentum diaboli“. Die Frau und das Böse in Tolstojs Spätwerk. In: Das Böse in der russischen Kultur. Hg. B. Zelinsky. Köln 2008, S. 170–180. – Dmitrij Tschižewskij bezeichnete den „Kampf der Kräfte des Bösen und des Guten um die Seele des jungen Bauern Nikita, die sich in seiner Mutter und seinem Vater verkörpern“, als das „Sujet“ von „Vlast’ t’my“. D. Tschižewskij, Russische Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts II. Der Realismus. München 1967, S. 203. Bereits 1889 schrieb Hauptmann unter der Wirkung von Tolstojs Stück das erste seiner naturalistischen Dramen: „Vor Sonnenaufgang“. Th. Fontane, Sämtliche Werke. Hg. W. Keitel u. H. Nürnberger. 20 Bde. München 1962–1986. Abt. III. Bd. 2, S. 840. Guski, s. Anm. 3 (VIII), S. 329. Ebd., S. 329 f. Vgl. näher F. Göbler. Historische Dramen: Die Trilogie und „Posadnik“. In: Ders., Das Werk Aleksej Konstantinovič Tolstojs. München 1992, S. 343–392. Vgl. M. N. Virolajnen, Istoričeskaja dramaturgija 1850–1870 godov. In: Istorija russkoj dramaturgii. Vtoraja polovina XIX – načalo XX veka. Hg. L. M. Lotman. Leningrad 1987, S. 316 ff. Ebd., S. 120. M. E. Saltykov-Ščedrin, Peterburgskie teatry. „Gor’kaja su’bina“. Drama v 4-ch dejstvijach A. Pisemskogo. In: Ders., Sobranie sočinenij. Hg. S. A. Makašin u. a. 20 Bde. Moskau 1965–1977. Bd. 5, S. 190. Zum Beispiel Pogodins „Marfa Posadnica“ (1830), Rozens „Rossija i Batorija“ (1833) und Kukol’niks „Knjaz’ Michail Vasilevič Skopin-Šujskij“ (1835). Vgl. V. Ė. Vačuro, Istoričeskaja tragedija i romantičeskaja drama 1830-ch godov. In: Istorija russkoj dramaturgii. XVII – pervaja polovina XIX veka. Hg. L. M. Lotman u. a. Leningrad 1982, S. 332 ff., 344 f., 347 ff. Zu Nikolaj Čaev (1824–1914) vgl. „Knjaz’ Aleksandr Michajlovič Tverskoj“ (Fürst Aleksandr Michajlovič Tverskoj, 1864), „Groznyj car’ Ivan Vasil’evič“ (Der schreckliche Zar Ivan Vasil’evič, 1869). Zu Dmitrij Averkiev (1836–1905) vgl. „Temnyj i Šemjaka” (Der Düstere und Šemjaka, 1873) und „Knjaginja Ul’jana Vjazemskaja“ (Die Fürstin Ul’jana Vjazemskaja, 1875). Guski, s. Anm. 3 (VIII), S. 331. Brief vom 29. Januar 1857. Tolstoj, s. Anm. 8 (VIII), Bd. 60, S. 156. Ebd., Bd. 35, S. 239. Ebd. Zit. nach: G. Mayer, Zum Verständnis der Werke. In: L. N. Tolstoj, Dramen. Reinbek bei Hamburg 1966, S. 231. Vgl. B. V. Nejman, Reč’ personažej v p’ese „Plody prosveščenija“. In: Tolstoj-chudožnik. Sbornik statej. Hg. D. D. Blagoj u. a. Moskau 1961, S. 289–313. Tolstoj, s. Anm. 8 (VIII), Bd. 35, S. 239.

IX. Die Revolutionierung der dramatischen Gattung durch Anton Čechov S. 69 1 Zit. nach: „Tolstoj o Čechove“. In: Literaturnoe nasledstvo 68. Moskau 1960, S. 874. 2 Zwischen 1843 und 1852 entstanden zehn Stücke. Während einige wie die Einakter „Bezdenež’e“ (Geldnot, 1845) oder „Zavtrak u predvoditel’ja“ (Das Frühstück beim Adelsmarschall, 1849) in der Tradition der Vaudevilles stehen, sind andere, ebenfalls einaktige Komödien wie „Gde tonko, tam irvetsja“ (Wo es dünn ist, da reißt es, 1847), „Provincialka“ (Die Provinzlerin, 1850) und „Večer v Sorrente“ (Ein Abend in Sorrent,

452

3 4 5 6

7 8 9 10 11 12 13 14

15 16

17 18

19

Literatur und Anmerkungen

1852) dem Typus der „proverbes dramatiques“ zuzuordnen. Gemeinsam ist allen die Technik der lockeren szenischen Fügung. In dem Zweiakter „Nachlebnik“ (Der Kostgänger, 1848) und dem Dreiakter „Cholostjak“ (Der Junggeselle, 1849) verbindet sich das psychologische Kammerspiel im Stil des „proverbe dramatique“ mit der aktuellen, von Hugo, Balzac und George Sand her kommenden Thematik der Verarmung und Verelendung des Volks. Wie bei Gogol’ und Dostoevskij geht es um das Schicksal kleiner Leute. Dabei kommt Turgenev, der den Akzent auf die Milieudarstellung legt, mit einem Minimum an Handlung aus. Vgl. den Beitrag von Peter Thiergen, Ivan Turgenev: Mesjac v derevne (Ein Monat auf dem Lande), S. 188 ff. dieses Bandes. Ein bezeichnendes Beispiel ist der an ein friedliches Genrebild erinnernde Anfang des Stücks mit den beiden zugleich anwesenden Personengruppen, der einen, kartenspielend, und der anderen, sich unterhaltend. S. Melchinger, Anton Tschechow. Velber bei Hannover 1968, S. 107. Vgl. die Beiträge von Jens Herlth, Anton Čechov: Čajka (Die Möwe), S. 230 ff. dieses Bandes; Richard Peace, Anton Čechov: Djadja Vanja (Onkel Vanja), S. 248 ff. dieses Bandes; Birgit Harreß, Anton Čechov: Tri sestry (Die drei Schwestern), S. 262 ff. dieses Bandes und Bodo Zelinsky, Anton Čechov: Višnevyj sad (Der Kirschgarten), S. 279 ff. dieses Bandes. P. Szondi, Theorie des modernen Dramas. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1963, S. 32. K. Hielscher, Tschechow. Eine Einführung. München 1987, S. 100. A. P. Čechov, Polnoe sobranie sočinenij i pisem. Hg. N. V. Bel’čikov u. a. 30 Bde. Moskau 1974–1983. Sočinenija. Bd. 13, S.115. Ebd., S. 187. Vgl. I. Dlugosch, Anton Pavlovič Čechov und das Theater des Absurden. München 1977. Vgl. ausführlicher Ch. Gräfin von Brühl, Die nonverbalen Ausdrucksmittel in Anton Čechovs Bühnenwerk. Frankfurt/M. 1996. Manfred Pfister spricht in solchen Fällen von „auktorialer Episierung“. M. Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse. 10. Aufl. München 2000, S. 107. Es handelt sich hier um eine implizite Regieanweisung. Solche Angaben innerhalb des Haupt-, das heißt Dialogtextes finden sich bei Čechov in großer Zahl und stehen gleichberechtigt neben den expliziten Angaben durch den Autor, die, graphisch markiert, den Szenen vorangestellt oder in den Sprechtext eingefügt sind. G. A. Šaljugin, „Ugrjumyj most’, ili byt i bytie doma Prozorovych“. In: Čechoviana. „Tri sestry“ 100 let. Hg. A. P. Čudakov u. a. Moskau 2002, S. 177. In einem Brief an Stanislavskij vom 2. Januar 1901 schrieb Čechov: „Aber mir scheint, es wäre besser, wenn sie [Nataša] geradlinig, ohne irgend jemanden oder irgend etwas anzusehen, à la Lady Macbeth, mit einer Kerze in der Hand über die Bühne gehen würde – so wäre es kürzer und unheimlicher.“ Čechov, s. Anm. 9 (IX), Pis’ma. Bd. 9, S. 171. Ebd., Sočinenija. Bd. 13, S. 179. So Čebutykin über Solenyj. Ebd., S. 177. An anderer Stelle sagt dieser selbst über sich: „Ich habe einen Charakter wie Lermontov. (Leise) Ich sehe Lermontov sogar ein bißchen ähnlich.“ Ebd., S. 151. Richard Peace sieht Solenyj zu Recht als eine „von der Literatur vorprogrammierte Gestalt“, und deshalb sei dessen „Handlungsweise [...] für das russische Publikum ebenso voraussagbar wie die Handlungsweise einer klassischen Tragödienfigur für das antike Publikum.“ R. Peace, Anton Tschechow: Die drei Schwestern. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 176. Čechov, s. Anm. 9 (IX), S. 224.

Das russische Drama

453

20 „Die Stimmungslagen der Angst und der Verzweiflung, der Schwermut und der Langeweile geben der Existenzphilosophie ihr eigentümliches Gesicht.“ O. F. Bollnow, Existenzphilosophie. 6. Aufl. Stuttgart 1964, S. 65. Ausführlich: S. 65–74. 21 Eine Ausnahme bildet Tolstojs Darstellung der Angst als Angst vor dem Tod in der Erzählung „Smert Ivana Il’iča“ (Der Tod des Ivan Il’ič, 1886), die bezeichnenderweise auch die ausdrückliche anerkennende Erwähnung durch Heidegger in „Sein und Zeit“ findet (vgl. Anm. 4 zu § 51 „Das Sein zum Tode und die Alltäglichkeit des Daseins“). 22 Zit. nach : P. Urban (Hg.), Über Čechov. Zürich 1988, S. 350. 23 Ebd., S. 351. 24 Ebd., S. 354. 25 Ebd., S. 382. 26 M. Gor’kij, Sobranie sočinenij. Hg. Institut mirovoj literatury im. A. M. Gor’kogo. 30 Bde. Moskau 1949–1955. Bd. 28, S. 46. 27 Ebd., Bd. 6, S. 47. 28 Vgl. den Beitrag von Birgit Harreß, Maksim Gor’kij: Na dne (Nachtasyl), S. 301 ff. dieses Bandes. 29 S. Baluchatyj, Kritika. In: „Na dne“ M. Gor’kogo. Materialy i issledovanija. Hg. I. Juzovskij. Moskau 1940, S. 181, 197. 30 Gor’kij, s. Anm. 26 (IX), Bd. 6, S. 116. 31 H. Fliege, Maxim Gorki. In: Geschichte der russischen Literatur von den Anfängen bis 1917. Hg. W. Düwel u. H. Graßhoff. 2 Bde. Berlin 1986. Bd. 2, S. 409. 32 B. M. Bjalik, Pervyj cikl. „Na dne“ kak filosofskaja drama. In: Ders., Gor’kij-dramaturg. Moskau 1962, S. 52–109. 33 Gor’kij, s. Anm. 26 (IX), S. 345. 34 Ebd. 35 Ebd. Bd. 6, S. 269. 36 Zit. nach: Fliege, s. Anm. 31 (IX), S. 146. 37 Gor’kij, s. Anm. 26 (IX), Bd. 23, S. 182. X. Spielarten des modernen Theaters in Rußland S. 82 1 Vgl. den Beitrag von Ulrich Schmid, Aleksandr Blok: Balagančik (Die Schaubude), S. 318 ff. dieses Bandes. 2 So in dem programmatischen Aufsatz „Nenužnaja pravda“ (Eine unnötige Wahrheit). Vgl. V. Brjusov, Sobranie sočinenij. Hg. P. G. Antol’skij u. a. 7 Bde. Moskau 1973– 1975. Bd. 6, S. 62–73. 3 Seine Vorstellung vom „bedingten Theater“ (uslovnyj teatr) entwickelte Mejerchol’d im 5. Kapitel seiner Abhandlung „K istorii i technike teatra“ (Zur Geschichte und Technik des Theaters). Diese erste größere Darstellung von Mejerchol’ds früher – vorrevolutionärer – Theatertheorie entstand 1906, im Jahr der „Balagančik“-Inszenierung, und wurde 1908 in dem Sammelband verschiedener Autoren mit dem Titel „Theater“ veröffentlicht. Jetzt zugänglich in V. Ė. Mejerchol’d, Stat’i. Pis’ma. Reči. Besedy. Hg. A. V. Fevralskij. 2 Bde. Moskau 1968. Bd. 1, S. 105–142. Dt. Übersetzung: W. E. Meyerhold, Schriften. Aufsätze. Briefe. Reden. Gespräche. Hg. A. W. Fewralski. 2 Bde. Berlin 1979. Bd. 1, S. 97–136. Der Begriff des „bedingten Theaters“ ist hier mit dem Ausdruck „stilisiertes Theater“ wiedergegeben. 4 A. Blok, Sobranie sočinenij. Hg. V. N. Orlov u. a. 8 Bde. Moskau 1960–1963. Bd. 4, S. 10, 14. 5 Die Bühnenwirksamkeit entzieht sich immer wieder räumlicher und zeitlicher Verifizierbarkeit. So sitzt Pierrot traurig auf einer „Bank, auf der sich gewöhnlich Venus und Tannhäuser zu küssen pflegen.“ Blok, s. Anm. 4 (X), S. 14. 6 Zit. nach: V. Orlov, Gamajun. Žizn’ Aleksandra Bloka. Leningrad 1978, S. 253.

454 7

8 9 10

11 12 13 14

15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

26

27 28 29

Literatur und Anmerkungen

Daher ist die parodistische Darstellung der mystischen Liebe in „Balagančik“ zugleich auch ein Stück Selbstparodie Bloks. Andererseits hinderte dies Blok nicht daran, zwischen dem 19. Dezember 1906 und dem 13. Januar 1907 einen Zyklus aus dreißig Gedichten zu verfassen, in dessen Mittelpunkt eine mystische Schneejungfrau steht, die das vom Sinnenrausch erfaßte lyrische Ich zu Selbstaufgabe und Selbstauflösung treibt. Vgl. R.-D. Kluge, Aleksandr Blok: Snežnaja maska. In: Die russische Lyrik. Hg. B. Zelinsky. Köln 2002, S. 183–188. A. Blok, Predislovie (k sborniku „Liričeskie dramy“). In: Ders., s. Anm. 4 (X), S. 433. Blok, s. Anm. 4 (X), Bd. 8, S. 170 (Brief an Mejerchol’d vom 22. Dezember 1906). Diese Wendung und die dazugehörigen Überlegungen finden sich im ersten der dem Theater und Drama gewidmeten Aufsätze Bloks. Er entstand während der Proben zu „Balagančik“ und würdigt seinem Titel entsprechend das „Dramatische Theater V. F. Kommissarževskajas“ (Dramatičeskij teatr V. F. Kommissarževskoj). Ebd., Bd. 5, S. 96. „Der Individualismus erlebt eine Krise“, schreibt Blok in „Dramatičeskij teatr V. F. Kommissarževskoj“. Ebd., S. 95. Ebd., Bd. 4, S. 434. P. Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle. Frankfurt/M. 1975, S. 18 f. Neben Andreev rechnet Mejerchol’d vor allem Bal’mont, Brjusov, Minskij, Zinov’evaAnnibal, Čulkov und Zinaida Gippius zu den wichtigsten Vertretern der antitheatralischen Dramatik bzw. des „Theaters der ‚Dekadenten’“. Vgl. Mejerchol’d, s. Anm. 3 (X), S. 186. L. N. Andreev, Sobranie sočinenij. Hg. I. G. Andreeva u. a. 6 Bde. Moskau 1990–1996. Bd. 2, S. 443. D. L. Andreev, V. E. Beklemiševa (Hg.), Rekviem. Sbornik pamjati Leonida Andreeva. Moskau 1930, S. 166. Andreev, s. Anm. 15 (X), S. 500. Zu Andreev und Schopenhauer vgl. E. Reißner, Leonid Andrejew: Das Leben des Menschen. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 219 f. A. Blok, O drame. In: Ders., s. Anm. 4 (X), Bd. 5, S. 193. Blok, s. Anm. 4 (X), Bd. 8, S. 265. G. Langer, Kunst – Wissenschaft – Utopie. Die „Überwindung der Kulturkrise“ bei V. Ivanov, A. Blok, A. Belyj und V. Chlebnikov. Frankfurt/M. 1990, S. 175. German, wörtlich der Deutsche, verkörpert die apollinisch erstarrte Kultur des Westens. Vgl. Langer, s. Anm. 21 (X), S. 194, 201. Blok, s. Anm. 4 (X), Bd. 8, S. 599. Anm. 1 zu Brief 222, Brief Evgenij Ivanovs an Blok vom 13. Juli 1909. Dietrich Wörns kommt das Verdienst zu, Bloks lange unterschätztes, wenig beachtetes Stück in seiner Bedeutung wiederentdeckt und durch seine Übersetzung ins Deutsche sowie durch seine Kommentierung und Interpretation neuerschlossen zu haben. Vgl. D. Wörns, Aleksandr Bloks Drama „Pesnja sud’by“ (Das Lied des Schicksals). Übersetzt, kommentiert und interpretiert. München 1974. Rolf-Dieter Kluge sieht hier die zentrale Neuerung der symbolistischen Poetik und die wesentliche Eigenart symbolistischer Wirkungsästhetik. R.-D. Kluge, Symbolismus und Avantgarde in der russischen Literatur. In: Obdobje simbolizma v slovenskem jeziku, književnosti in kulturi. 2 Bde. Hg. F. Zadravec. Ljubljana 1983. Bd. 1, S. 232 ff. Andreev, s. Anm. 15 (X), S. 484. B. Zelinsky, Der zerstückelte Körper. Zum Bildgebrauch im slovakischen und französischen Surrealismus. In: Európske literárne avantgardy 20. storočia. Hg. I. Cvrkal u. S. Pašteková. Bratislava 2005, S. 256–264. V. Majakovskij, Vladimir Majakovskij. In: Ders., Polnoe sobranie sočinenij. Hg. Z. S. Papernyj u. a. 13 Bde. Moskau 1955–1961. Bd. 1, S. 163.

Das russische Drama

455

30 Ebd., S. 156, 153, 158. 31 Vgl. den Beitrag von Christine Müller-Scholle, Aleksej Kručenych: Pobeda nad solncem (Sieg über die Sonne), S. 330 ff. dieses Bandes. 32 Übersetzungen nach Gisela Erbslöh, die „Pobeda nad solncem“ nach der Originalausgabe von 1913 oder 1914 sprachlich und inhaltlich kommentiert hat. G. Erbslöh, „Pobeda nad solncem“. Ein futuristisches Drama von A. Kručenych. Übersetzung und Kommentar (mit einem Nachdruck der Originalausgabe). München 1976. 33 Wie die kubistische Hintergrunddekoration stammen auch die – gleichfalls auf geometrischen Formen basierenden – Kostümentwürfe von Kazimir Malevič. Dazu gehören außerdem Masken, hinter denen sich die Schauspieler verbargen, und riesige Schilder aus Pappmaché, die nur mechanisierte Bewegungen erlaubten. 34 Erbslöh, s. Anm. 32 (X), S. 64. 35 Von dieser „sperrigen“ Sprache heißt es, sie sei „unangenehmer als geschmierte Stiefel oder ein Lastwagen im Salon“. A. Kručenych, V. Chlebnikov, Slovo kak takovoe. In: Manifesty i programmy russkich futuristov. Hg. V. Markov. München 1967, S. 53. 36 A. Kručenych, Pobeda nad solncem. Petersburg 1913, S. 16. 37 Ch. Müller-Scholle, Das russische Drama der Moderne. Eine Einführung. Frankfurt/M. 1992, S. 70. Behandelt wird Chlebnikovs „Zangezi“ hier als futuristisches Theater und als „Grenzfall der Gattung Drama“. Zu „Zangezi“ als „Versuch eines ‚imaginären’ Evangeliums“ vgl. Langer, s. Anm. 21 (X), S. 530–565. 38 Das Manifest der Oberiuten ist jetzt zugänglich in der Sammlung „Literaturnye manifesty ot simvolizma do našich dnej“. Hg. S. B. Džimbinov. Moskau 2000, S. 474–483, hier: S. 476. 39 Ebd., S. 482. 40 Ebd., S. 481. 41 A. Vvedenskij, Nekotoroe količestvo razgovorov ili načisto peredelannyj temnik. In: Ders., Polnoe sobranie proizvedenij. Hg. M. Mejlach u. V. Ėrl. 2 Bde. Moskau 1993. Bd. 1, S. 203 f. 42 Vgl. den Beitrag von Frank Göbler, Aleksandr Vvedenskij: Elka u Ivanovych (Weihnachten bei Ivanovs), S. 401 ff. dieses Bandes. XI. Vom epischen zum sozialistischen Theater S. 96 1 Vgl. den Beitrag von Rainer Goldt, Vladimir Majakovskij: Misterija-buff (Mysterium buffo), S. 342 ff. dieses Bandes. 2 R.-D. Kluge, Wladimir Majakowskij: Mysterium buffo. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 256. 3 V. Majakovskij, Misterija-buff. In: Ders., s. Anm. 29 (X), Bd. 2, S. 346. 4 Erst zum Maifeiertag 1921 kam Majakovskijs „Misterija-buff“ in einer überarbeiteten Fassung, wiederum von Mejerchol’d inszeniert, noch einmal zur Aufführung und blieb auch, täglich gespielt, bis Anfang Juli im Programm. 5 V. Šklovskij, Drama i massovyja predstavlenija. In: Ders., Chod konja. Kniga statej. Moskau 1923, S. 60. 6 Zu den Massenschauspielen in den Jahren nach der Revolution vgl. A. M. Ripellino, Majakowskij und das russische Theater der Avantgarde. Köln 1964, S. 102 ff. Außerdem: N. Jewreinow, Histoire du théâtre russe. Paris 1947, S. 426 ff. 7 S. Tretjakow, Notizen eines Dramatikers. In: Ders., Gesichter der Avantgarde. Porträts – Essays – Briefe. Hg. F. Mierau. Berlin 1985, S. 99. 8 Ebd. 9 Ripellino, s. Anm. 6 (XI), S. 146 f. 10 „Es war ein Raum, der für Parteiversammlungen geeignet war“, erinnert sich Boris Alpers, „Feuchtigkeitsflecken an den Wänden. Feucht die bläuliche Luft. An den Türen

456

11 12 13

14 15 16 17 18 19

20 21 22 23

24 25 26 27 28 29 30

Literatur und Anmerkungen

dieses Theaters gab es keine Kassierer. Sie standen sperrangelweit auf, und der Schneesturm drang ins Foyer und in die Korridore und zwang die Anwesenden, den Mantelkragen hochzuschlagen...“. B. Alpers, Teatr social’noj maski. Moskau 1931, S. 23. Ripellino, s. Anm. 6 (XI), S. 142. V. Mejerchol’d, Akter buduščego i biomechanika. In: Ders., s. Anm. 3 (X), Bd. 2, S. 487. Es handelt sich dabei um die Komödien „Vladimir tret’ej stepeni“, „Ženit’ba“ und „Igroki“ sowie die Erzählung „Nevskij prospekt“ und den Roman „Mertvye duši“. Friederike Carl spricht deshalb von „Mejerchol’ds intertextueller Dramaturgie“. F. Carl, Klassik und Theateravantgarde. V. Ė. Mejerchol’ds „Revizor“ im Kontext der russischen Klassikerrezeption. München 2008, S. 134. A. Belyj, Masterstvo Gogolja. Moskau 1934, S. 336. S. Ėjzenštejn, Montaž attrakcionov. In: LEF 1, 3. 1923, S. 70 ff. A. Lunačarskij, Iz predislovija k sborniku „O teatre“. In: Ders., O teatre i dramaturgii. Izbrannye stat’i. Hg. A. Dejč. 2 Bde. Moskau 1958. Bd. 1, S. 278. K. Rudnitsky, Russian & Soviet Theatre. London 1988, S. 116. P. Markov, N. Čuškin, Moskovskij Chudožestvennyj teatr. Moskau 1950, S. 55 ff. Mejerchol’d selbst sprach von „Masken“, den Ausdruck „soziale Masken“ benutzte Boris Alpers in seiner Mejerchol’d-Monographie „Teatr social’noj maski“ (1931). Die „ROSTA“-Fenster sind großformatige, mehrteilige Agitationsplakate, die ursprünglich von der Russischen Telegraphen-Agentur (ROSTA) und anschließend von der Hauptverwaltung für politische Aufklärungsinstitutionen (GPP) herausgebracht wurden. Die meisten Texte sowie viele Zeichnungen dazu stammen von Majakovskij. Vgl. B. Zelinsky, Von der Revolution der Kunst zur Kunst der Revolution. In: Russische Avantgarde 1917–1934. Kunst und Literatur nach der Revolution. Hg. B. Zelinsky. Bonn 1991, S. 30 ff. V. Mejerchol’d, Doklad o „Revizore“. In: Ders., s. Anm. 3 (X), Bd. 2, S. 137. Ebd., S. 134. Ebd., S. 137. Zoščenkos „Uvažaemyj tovarišč“ konnte nicht, wie geplant von Mejerchol’d aufgeführt werden. Dafür wurde es später im Leningrader Theater „Satira“ herausgebracht, wo man es, wie Zoščenko kritisch notierte, von der satirischen Komödie zum Kleinbürgerdrama abmilderte. Leonovs „Usmirenie Badadoškina“ erschien 1929 nur in gedruckter Fassung. Bulgakovs „Zojkina kvartira“ dagegen erfuhr 1926 im Moskauer VachtangovTheater seine erfolgreiche Uraufführung. Alle drei Stücke sind – neben Ėrdmans „Samoubijca“ – in deutscher Übersetzung zugänglich in dem Reclam-Band „Der Selbstmörder. Satirische Dramen von Leonid Leonow, Michail Bulgakow, Michail Soschtschenko und Nikolai Erdman (Leipzig 1983). Vgl. dazu auch das Nachwort von Gudrun Düwel, S. 285–307. Vgl. den Beitrag von Nikolaus Katzer, Michail Bulgakov: Dni Turbinych (Die Tage der Turbins), S. 355 ff. dieses Bandes. Vgl. den Beitrag von Angela Martini, Nikolaj Ėrdman: Samoubijca (Der Selbstmörder), S. 378 ff. dieses Bandes. Die Verträge waren allerdings über zwei andere Stücke abgeschlossen, die Majakovskij dann nicht ausgeführt hat. Bekannt sind nur ihre Titel: „Komedija s ubjistvam“ (Komödie mit Totschlag) und „Komedija s samoubijstvami“ (Komödie mit Selbstmorden). N. Ėrdman, Samoubijca. In: Ders., P’esy. Intermedii. Pis’ma. Dokumenty. Vospominanija sovremennikov. Hg. A. Svobodina. Moskau 1990, S. 163. Ebd., S. 108. Ebd., S. 133. V. Majakovskij, Klop. In: Ders., s. Anm. 29 (X), Bd. 11, S. 273.

Das russische Drama

457

31 J.-U. Peters, Zeitkritische Komödie und märchenhaftes Schaustück. In: Ders., Russische Satire im 20. Jahrhundert. München 1984, S. 83. 32 V. Majakovskij, Banja. In: Ders., s. Anm. 29 (X), Bd. 11, S. 308. 33 Ebd., S. 280. 34 Ebd., S. 307 f., 310. 35 V. Mejerchol’d, Vystuplenie v chudožestvenno-političeskom sovete GosTIMa 23. sentjabrja 1929 goda. In: Ders., s. Anm. 3 (X), Bd. 2, S. 216. 36 Peters, s. Anm. 31 (XI), S. 87. 37 A. Lunačarskij, Budem smejat’sja. In: Ders., s. Anm. 16 (XI), Bd. 1, S. 186. 38 Ėrdman, s. Anm. 27 (XI), S. 164. 39 W. Kasack, Lexikon der russischen Literatur ab 1917. Stuttgart 1976, S. 311. 40 V. Višnevskij, Zapisnye knižki. In: Ders., Sobranie sočinenij. Hg. P. P. Veršigora u. a. 6 Bde. Moskau 1954–1961. Bd. 6, S. 209 (16. Oktober 1933). 41 Ebd., Bd. 1, S. 217. 42 Vgl. Müller-Scholle, s. Anm. 37 (X), S. 95 ff. 43 1934 gab Tret’jakov auch Stücke Bertolt Brechts unter dem Titel „Ėpičeskie dramy“ heraus. Brecht, der Tret’jakov sehr schätzte und ihn 1935 in Moskau besuchte, nannte diesen seinen „Lehrer“. 44 Tretjakow, s. Anm. 7 (XI), S. 100. 45 S. Tretjakow, Was schreiben die Dramatiker. In: Stücke der zwanziger Jahre. Hg. W. Storch. Frankfurt/M. 1977, S. 180. 46 Zur Handlungs-, Zeit- und Raumstruktur von Tret’jakovs „Choču rebenka“ vgl. MüllerScholle, s. Anm. 37 (X), S. 90 ff. 47 W. Meyerhold, Vortrag über den Inszenierungsplan für das Stück „Ich will ein Kind haben“ von S. M. Tretjakow. In: Storch, s. Anm. 45 (XI), S. 230. 48 Zitiert nach der autorisierten Übersetzung aus dem Russischen, die Bertolt Brecht Ende der zwanziger Jahre in Auftrag gab und anschließend selbst bearbeitete. Ebd., S. 195. 49 Kasack, s. Anm. 39 (XI), S. 299 f. 50 Ebd., S. 175. 51 Vgl. A. Guski, Die klassische Sowjetliteratur (1934–1953). In: Russische Literaturgeschichte. Hg. K. Städtke. Stuttgart 2002, S. 333. 52 Der zweite Teil, „Kremlevskie kuranty“ (Glockenspiel des Kreml), entstand 1941, der dritte: mit dem Titel „Tret’ja patetičeskaja“ (Schlußakkord) erst im Jahr 1958. 53 A. Terc, Čto takoe socialističeskij realizm. In: Ders., Fantastičeskie povesti. New York 1967, S. 417. 54 Vgl. den Beitrag von Bettina Kaibach, Isaak Babel’: Marija, S. 388 ff. dieses Bandes. XII. Die sowjetische Bühne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts S. 114 1 Statistisch ausgewiesen sind für diese Zeit mehr als tausend Dramentitel. Vgl. auch H. B. Segel, The War Years. In: Ders., Twentieth-Century Russian Drama. From Gorky to the Present. New York 1979, S. 305–317. 2 Vgl. Guski, s. Anm. 51 (XI), S. 341. 3 Weitere Kriegsstücke Simonovs sind zum Beispiel „Ždi menja“ (Warte auf mich, 1942) oder „Tak i budet“ (So wird es sein, 1944). 4 Zit. nach: Guski, s. Anm. 51 (XI), S. 347. 5 Ebd., S. 333 f. 6 G. Struve, Geschichte der Sowjetliteratur. München o. J., S. 445. 7 Zit. nach: ebd., S. 470. 8 Beschlüsse des Zentralkomitees der KPdSU zu Fragen der Literatur und Kunst (1946– 1948). Berlin 1952, S. 14. 9 V. Pomerancev, Ob iskrennosti v literature. In: Novyj mir 29, 12. 1953, S. 218–245.

458

Literatur und Anmerkungen

10 I. Višnevskaja, Viktor Rozov i ego geroi. In: Teatr 24, 6. 1963, S. 41. 11 Vgl. B. Zelinsky, Der russische Roman. In: Ders., Der russische Roman. Köln 2007, S. 86. 12 Vgl. die zweisprachige Ausgabe von „Zatejnik“ mit der Übersetzung und dem Nachwort von Wolfgang Kasack erschienen 1974 bei Reclam. 13 W. Kasack, Viktor Rosow: Das Nest des Auerhahns. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 344. 14 Vgl. H. Schmid, Postmodernism in Russian Drama. Vampilov, Amal’rik, Aksenov. In: Approaching Postmodernism. Papers Presented at a Workshop on Postmodernism, 21– 23 September 1984, University of Utrecht. Hg. D. Fokkema u. H. Bertens. Amsterdam 1986, S. 157–184. 15 Vgl. W. Koschmal, Aksenovs phantastisch-symbolische Groteske. In: Die literarische Moderne in Europa. Hg. H. J. Piechotta u. a. 3 Bde. Opladen 1994. Bd. 2, S. 383 f. 16 Vgl. Koschmal, Die pragmatische Absurdität von Amal’riks Alltagsgrotesken. In: Die literarische Moderne in Europa. Hg. H. J. Piechotta u. a. 3 Bde. Opladen 1994. Bd. 2, S. 381 ff. 17 Vgl. den Beitrag von Ulrike Lange, Aleksandr Vampilov: Utinaja ochota (Die Entenjagd), S. 415 ff. dieses Bandes. 18 Vgl. den Beitrag von Ulrike Lange, Ljudmila Petruševskaja: Činzano (Cinzano), S. 427 ff. dieses Bandes. 19 Vgl. U. Mann, Suche nach dramaturgischen Neuansätzen in der sowjetischen Dramatik der 70er/80er Jahre. Die Autorengeneration der „neuen Welle“. In: Zeitschrift für Slawistik 36. 1991, S. 238–244. 20 E. Reißner, Das russische Drama der achtziger Jahre. Schmerzvoller Abschied von der großen Illusion. München 1992, S. 37. 21 Galins Stück hatte im Anschluß an seine russische Uraufführung auch im Ausland großen Erfolg und wurde zum Beispiel 1983/84 in Deutschland am Berliner Schloßparktheater mit Martin Held in der Hauptrolle unter dem Titel „Einmal Moskau und zurück“ aufgeführt. 22 Damit spielt der Held auf seinen eigenen – sprechenden – Namen an: Gennadij Korolev, abgeleitet von „korol“ (König). 23 Zit. nach: Reißner, s. Anm. 20 (XII), S. 34. 24 Zit. nach: ebd., S. 35. 25 Vgl. M. I. Gromova, Russkaja dramaturgija konca XX – načala XXI veka. Moskau 2005. S. Ja. Gončarova-Grabovskaja, Komedija v russkoj dramaturgii konca XX – načala XXI veka. Moskau 2008. 26 Dazu und ausführlicher zu den Tendenzen und Autoren seit der Wende vgl. F. Göbler, Russisches Drama nach dem Ende der Zensur. In: Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext. Hg. F. Kreuder u. S. Sörgel. Tübingen 2008, S. 263–278.

Denis Fonvizin (1744/45–1792)

S. 125

Text „Nedorosl’“ (Der Landjunker) nach: D. I. Fonvizin, Sobranie sočinenij. Hg. G. P. Makogonenko. 2 Bde. Moskau 1959. Bd. 1, S. 105–177. Die in Klammern gesetzten römischen Ziffern beziehen sich auf die Akte, die arabischen auf die Szenen dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Der Landjunker. Übers. v. A. Bauch. Berlin 1957.

Denis Fonvizin: Nedorosl’

459

Literatur P. VJAZEMSKIJ, Fon-Vizin. Petersburg 1848. V. O. KLJUČEVSKIJ, „Nedorosl’“ Fonvizina. Opyt istoričeskogo ob’’jasnenija učebnoj p’esy [1896]. In: Ders., Sočinenija. Hg. V. L. Lanin. 9 Bde. Moskau 1987–1990. Bd. 9, S. 55–77. DUDYŠKIN, „Nedorosl’“ Fonvizina. In: Denis Ivanovič Fonvizin. Ego žizn’ i sočinenija. Sbornik istoriko-literaturnych statej. Hg. V. I. Pokrovskij. Moskau 1905, S. 103–113. P. VJAZEMSKIJ, Komedija „Nedorosl’“ i eja značenie. In: Denis Ivanovič Fonvizin. Ego žizn’ i sočinenija. Sbornik istoriko-literaturnych statej. Hg. V. I. Pokrovskij. Moskau 1905, S. 113–120. KLJUČEVSKIJ, Zažitočnaja dvorjanskaja sem’ja Ekaterinskago vremeni i ta počva, na kotoroj rodilis’ i rosli nedorosli. In: Denis Ivanovič Fonvizin. Ego žizn’ i sočinenija. Sbornik istoriko-literaturnych statej. Hg. V. I. Pokrovskij. Moskau 1905, S. 120–145. MALININ, KARAULOV, Charakteristika dejstvujuščich lic v „Brigadire“ i „Nedorosle“ v svjazi s bytovoj obstanovkoj i osobennostjami obščago položenija. In: Denis Ivanovič Fonvizin. Ego žizn’ i sočinenija. Sbornik istoriko-literaturnych statej. Hg. V. I. Pokrovskij. Moskau 1905, S. 145–176. L. G. BARAG, Komedija Fonvizina „Nedorosl’“ i russkaja literatura konca XVIII veka. In: Problemy realizma v russkoj literature XVIII veka. Hg. N. K. Gudzij. Moskau 1940, S. 68–120. L. G. BARAG, Sud’ba komedii „Nedorosl’“. In: Učenye zapiski kafedry literatury Minskogo gosudarstvennogo pedagogičeskogo instituta imeni A. M. Gor’kogo 2. Minsk 1940, S. 109–125. D. BLAGOJ, „Nedorosl’“. Značenie Fonvizina. In: Ders., D. I. Fonvizin. Moskau 1945, S. 84–112. M. MURATOV, „Nedorosl’“. In: Ders., Denis Ivanovič Fonvizin. Moskau 1953, S. 130–161. K. V. PIGAREV, „Nedorosl’“. In: Ders., Tvorčestvo Fonvizina. Moskau 1954, S. 151–216. M. P. TROJANSKIJ, K sceničeskoj istorii komedij D. I. Fonvizina „Brigadir“ i „Nedorosl’“ v XVIII veke. In: Teatral’noe nasledstvo. Soobščenija. Publikacii. Hg. G. A. Lapkina. Moskau 1956, S. 7–23. E. CHEKSEL’ŠNAJDER [E. Hexelschneider], O pervom nemeckom perevode „Nedoroslja“ Fonvizina. In: XVIII vek 4. 1959, S. 334–338. G. WYTRZENS, Eine unbekannte Wiener Fonvizin-Übersetzung aus dem Jahre 1787. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch 7. 1959, S. 118– 128. V. N. VSEVOLODSKIJ-GERNGROSS, Fonvizin – dramaturg. Posobie dlja učitelja. Moskau 1960. G. P. MAKOGONENKO, Na puti k original’noj komedii. In: Ders., Denis Fonvizin. Tvorčeskij put’. Leningrad 1961, S. 48–70. G. P. MAKOGONENKO, Komedija narodnaja. In: Ders., Denis Fonvizin. Tvorčeskij put’. Leningrad 1961, S. 238–290. D. STRÉMOOUKHOFF, Autour du „Nedorosl’“ de Fonvizin. In: Revue des études slaves 38. 1961, S. 185–192. F. DE LABRIOLLE, La Dramaturgie de Fonvizin. In: Revue des études slaves 46. 1967, S. 65–80. A. STRYCEK, La Russe des Lumières. Denis Fonvizine. Paris 1976. I. V. ISAKOVIČ, „Brigadir“ i „Nedorosl’“ D. I. Fonvizina. Leningrad 1979. CH. A. MOSER, Nedorosl’. In: Ders., Denis Fonvizin. Boston 1979, S. 68–85. T. BARRAN, Rousseau and Fonvizin. Émile as a Source for “The Minor”. In: Ulbandus Review. A Journal of Slavic Languages and Literatures 2, 2. 1982, S. 5–22. N. D. KOČETKOVA, Prem’era „Nedoroslja“. In: Fonvizin v Peterburge. Leningrad 1984, S. 147–169. V. E. ALEXANDROV, Dialogue and Rousseau in Fonvizin’s “The Minor”. In: Slavic and East European Journal 29. 1985, S. 127–143. P. HILLER, Der „Nedorosl’“. Die geteilte Komödie. In: Ders., D. I. Fonvizin und P. A. Plavil’ščikov. Ein Kapitel aus der russischen Theatergeschichte im 18. Jahrhundert. München 1985, S. 84–124. S. RASSADIN, Satiry smelyj vlastelin. Kniga o D. I. Fonvizine. Moskau 1985. P. E. BUCHARKIN, O filosofskoj problematike „Nedoroslja“ D. I. Fonvizina. In: Vestnik Leningradskogo universiteta. Serija 2. Istorija, jazykoznanie, literaturovedenie 41, 3. 1986, S. 32–38. V. B. BAJKEL’, Lessing i Fonvizin. K probleme tipologii nemeckoj i russkoj komedii XVIII veka. In: Zarubežnaja literatura v ėvoljucii russkogo literaturnogo processa. XVIII–XX vv. Hg. V. N. Suškova. Tjumen’ 1991, S. 57–70. V. N. TOPOROV, Translation. Sub Specie of Culture. In: Meta. Journal des Traducteurs 37. 1992, S. 29–49. A. BARRATT, Working with Deconstruction. Fonvizin’s “The Minor” Revisited. In: New Zealand Slavonic Journal 28. 1994, S. 1–15. A. STRIČEK, „Nedorosl’“. In: Ders., Denis Fonvizin. Rossija ėpochi prosveščenija. Moskau 1994, S. 330–364. N. D. KOCHETKOVA, Denis Ivanovich Fonvizin. In:

460

Literatur und Anmerkungen

Early Modern Russian Writers, Late Seventeenth and Eighteenth Centuries. Hg. M. C. Levitt. Detroit, Michigan 1995, S. 98–109. B. GOBRECHT, Fonvizin. „Nedorosl’“ (1782). In: Dies., Analyse heutiger Rezeptionsbedingungen europäischer Erfolgskomödien aus dem 18. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1995, S. 312–365. O. B. LEBEDEVA, A. S. Griboedov i D. I. Fonvizin. K probleme tipologij dejstvija i sjužetosloženija russkoj vysokoj komedij. In: Russkaja literatura 39, 1. 1996, S. 129–138. V. MIL’DON, Nedorosli russkoj literatury. Komedija Fonvizina i vzroslenie literaturnogo geroja. In: Voprosy literatury 47, 2. 2003, S. 301–313. J. KLEIN, Literatura i politika. Satiričeskaja komedija Fonvizina „Nedorosl’“. In: Russian, Croatian and Serbian, Czech and Slovak, Polish Literature 54. 2003, S. 197–210. R. IBLER, Die Ausbildung der russischen Originalkomödie. D. I. Fonvizins „Brigadir“ und „Nedorosl’“. In: Ders., Die russische Komödie. Ein gattungsgeschichtlicher Überblick von den Anfängen bis A. P. Tschechow. Stuttgart 2008, S. 127–164. J. KLEIN, Fonvizin und die Komödie. In: Ders., Russische Literatur im 18. Jahrhundert. Köln 2008, S. 210–225. Anmerkungen 1 Vgl. das Vorwort zu der übersetzten Komödie „Nagraždennoe postojanstvo“ (Belohnte Beständigkeit, 1765). In: V. I. Lukin, B. E. El’čaninov, Sočinenija i perevody. Petersburg 1868, S. 110–120, hier: S. 115. 2 Ebd., S. 115 f. 3 Der genaueren Wiedergabe von „nedorosl’“ durch „Minderjähriger“ wird die im Deutschen gängige Übersetzung „Landjunker“ vorgezogen. 4 „Čistoserdečnoe priznanie v delach moich i pomyšlenijach“ (Offenherziges Bekenntnis meiner Taten und Gedanken). In: Fonvizin, s. Text, Bd. 2, S. 81–105, hier: S. 98 f. 5 Vjazemskij 1848, S. 212, 214, lobt an „Nedorosl’“ wiederholt die Treffsicherheit, mit der Fonvizin das spezifisch Russische seiner Figuren erfaßt habe. Vgl. unter diesem Gesichtspunkt auch die sprachliche Analyse von Barag 1940, S. 104 ff. 6 I. A. Gončarov, Oblomov. Leningrad 1987, S. 79–112 („Son Oblomova“ – Der Traum Oblomovs), hier: S. 110. 7 Ekaterina II, O vremja! In: Dies., Sočinenija. Hg. O. N. Michajlov. Moskau 1990, S. 266 (III, 3). 8 Ebd., S. 267 (III, 4). 9 So liest man es in der Einleitung zu der satirischen Zeitschrift „Zritel’“ (Der Beobachter) von 1792, S. 3–4, hier: S. 3. 10 Vgl. Blagoj 1945, S. 102 ff. 11 Ekaterina II., s. Anm. 7, S. 245 (I, 2). 12 Vgl. I. de Madariaga, Russia in the Age of Catherine the Great. London 1981, S. 553 ff. 13 Ausführlich und mit schrecklichen Einzelheiten hierzu V. I. Semevskij, Krest’jane v carstvovanie Ekateriny II. 2 Bde. Petersburg 1881–1901. Bd. 1, S. 159–212. Kap. 3: „Nakazanija, kakim podvergalis’ krepostnye [...]“ (Strafen, denen sich die Leibeigenen zu unterziehen hatten […]), hier: S. 199 ff. 14 Vgl. den Brief von 1773 an seine Schwester. Fonvizin, s. Text, Bd. 2, S. 356. 15 Vgl. N. V. Riazanovsky, The Image of Peter the Great in Russian History and Thought. New York 1985. 16 Vgl. Blagoj 1945, S. 98 f., und besonders Pigarev 1954, S. 160. 17 Brief vom 16. Oktober 1774 (Nr. 18130). In: The Complete Works of Voltaire. Hg. T. Besterman u. a. Genf 1968 ff. Bd. 89, S. 169. 18 Vjazemskij 1848, S. 219. 19 Vgl. Trojanskij 1956; Kočetkova 1984, S. 147–168. Kap.: „Prem’era ‚Nedoroslja’“ (Die Premiere von „Nedorosl’“). 20 Pigarev 1954, S. 209.

Aleksandr Griboedov: Gore ot uma

461

21 Drammatičeskoj slovar’, ili pokazanija po alfavitu vsech Rossijskich teatral’nych sočinenij i perevodov […]. Moskau 1787, S. 88. 22 Vgl. seinen Brief vom September 1782 an den Moskauer Theaterunternehmer Maddox. Fonvizin, s. Text, Bd. 2, S. 496. 23 Pigarev 1954, S. 212; Trojanskij 1956, S. 10 ff. 24 Vjazemskij 1848, S. 215, 216. 25 So äußert sich Fonvizin als Herausgeber seiner Zeitschrift „Drug čestnych ljudej […]“ (Der Freund ehrbarer Menschen […]). Fonvizin, s. Text, Bd. 2, S. 40. 26 Barag 1940, S. 119.

Aleksandr Griboedov (1795–1829)

S. 135

Text „Gore ot uma“ (Verstand schafft Leiden) nach: A. S. Griboedov, Polnoe sobranie sočinenij. Hg. S. A. Fomičev u. a. 3 Bde. Petersburg 1995–2006. Bd. 1, S. 9–122. Die in Klammern gesetzten römischen Ziffern beziehen sich auf die Akte, die arabischen auf die Szenen dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Wehe dem Verstand. Komödie in 4 Akten. Übers. v. P. Urban. Berlin 2004. Literatur I. A. GONČAROV, Mil’on terzanij. Kritičeskij ėtjud [1872]. In: Ders., Sobranie sočinenij. Hg. S. I. Mašinskij u. a. 8 Bde. Moskau 1977–1980. Bd. 8, S. 18–51. E. F. BUDDE, O komedii Griboedova „Gore ot uma“. Opyt razbora komedii. Kazan 1896. IL’INSKIJ, Bor’ba dvuch pokolenij v „Gore ot uma“. In: A. S. Griboedov. Ego žizn’ i sočinenija. Sbornik istoriko-literaturnych statej. Hg. V. I. Pokrovskij. 3. Aufl. Moskau 1911, S. 100–106. BUDDE, Famusov, kak central’naja kružkovaja ličnost’ i ego duchovnaja atmosfera. In: A. S. Griboedov. Ego žizn’ i sočinenija. Sbornik istoriko-literaturnych statej. Hg. V. I. Pokrovskij. 3. Aufl. Moskau 1911, S. 152–156. V. FILIPPOV, Problemy sticha v „Gore ot uma“. In: Iskusstvo 3, 2. 1925, S. 146–174. A. L. BEM, „Gore ot uma“ v tvorčestve Dostoevskogo. In: Slavia 10. 1931, S. 88–108. V. ASMUS, „Gore ot uma“ kak ėstetičeskaja problema. In: A. S. Griboedov. Stat’i i issledovanija. Hg. P. I. Lebedev-Poljanskij u. a. Moskau 1946. A. SLONIMSKIJ, „Gore ot uma“ i komedija ėpochi dekabristov. In: A. S. Griboedov. Sbornik statej. Hg. I. Klabunovskij u. A. Slonimskij. Moskau 1946, S. 39–73. B. TOMAŠEVSKIJ, Stichotvornaja sistema „Gore ot uma“. In: A. S. Griboedov. Sbornik statej. Hg. I. Klabunovskij u. A. Slonimskij. Moskau 1946, S. 74–109. JU. TYNJANOV, Sjužet „Gore ot uma“. In: A. S. Griboedov. Sbornik statej. Hg. I. Klabunovskij u. A. Slonimskij. Moskau 1946, S. 147–188. M. V. NEČKINA, „Gore ot uma“. In: Dies., A. S. Griboedov i dekabristy. Moskau 1947, S. 217–367. G. I. VINOKUR, „Gore ot uma“ kak pamjatnik russkoj chudožestvennoj reči. In: Učenye zapiski Moskovskogo universiteta 128. 1948, S. 35–69. V. ORLOV, Griboedov. Kratkij očerk žizni i tvorčestva. Moskau 1952. V. ORLOV, „Gore ot uma“. Dve dramy Čackogo. Filosofskaja problematika. Komedija ili drama? In: Ders., Griboedov. Moskau 1954, S. 138–156. S. PETROV, A. S. Griboedov. Kritiko-biografičeskij očerk. 2. Auflage. Moskau 1954. N. K. PIKSANOV, O jazyke „Gorja ot uma“. In: Učenye zapiski Leningradskogo universiteta 200, 25. 1955, S. 3–22. B. V. TOMAŠEVSKIJ, Stich „Gorja ot uma“. In: Ders., Stich i jazyk. Filologičeskie očerki. Moskau 1959, S. 132–201. J. STRIEDTER, Griboedovs Sophie als historischer Typus. In: Annuaire de l’Institut de Philologie et d’Histoire Orientales et Slaves 18. 1966–1967, S. 357–368. V. SOLOV’EV, Živye i žil’cy (Filosofija i kompozicija „Gorja ot uma“). In: Voprosy literatury 14, 11. 1970, S. 155–176. B. O. KORMAN, K diskussii o komedii A. S. Griboedova „Gore ot uma“. In: Izvestija Akademii nauk SSSR. Serija literatury i jazyka 29. 1970, S. 522–531. N. K. PIKSANOV, Tvorčeskaja istorija „Gorja ot uma“. 2. Aufl. Moskau 1971. V. VELČEV, Problema čeloveka i naroda u A. S. Griboedova. In: Stranicy

462

Literatur und Anmerkungen

istorii russkoj literatury. Hg. D. F. Markov. Moskau 1971, S. 100–112. W. KASACK, Die dramatische Struktur von Griboedovs „Gore ot uma“. In: Slavistische Studien zum VII. Internationalen Slavistenkongreß in Warschau 1973. Hg. J. Holthusen. München 1973, S. 236– 248. S. A. FOMIČEV, „Gore ot uma“ v nasledii Ostrovskogo. In: A. N. Ostrovskij i literaturno-teatral’noe dviženie XIX–XX vekov. Hg. N. I. Pruckov. Leningrad 1974, S. 7–27. I. MEDVEDEVA, „Gore ot uma” A. S. Griboedova. Moskau 1974. JU. F. FLORINSKAJA, Čackij i Gamlet. In: A. S. Griboedov. Tvorčestvo. Biografija. Tradicii. Hg. S. A. Fomičev. Leningrad 1977, S. 28–46. J. A. MAJMIN, Russkij vol’nyj jamb i stich „Gorja ot uma“. In: A. S. Griboedov. Tvorčestvo. Biografija. Tradicii. Hg. S. A. Fomičev. Leningrad 1977, S. 73–85. D. A. OMAROVA, Plan komedii Griboedova. In: A. S. Griboedov. Tvorčestvo. Biografija. Tradicii. Hg. S. A. Fomičev. Leningrad 1977. L. D. SURAŽEVSKIJ, Realizm „Gorja ot uma“. In: A. S. Griboedov. Tvorčestvo. Biografija. Tradicii. Hg. S. A. Fomičev. Leningrad 1977, S. 85–99. V. A. ZAPADOV, Funkcii citat v chudožestvennoj sisteme „Gorja ot uma“. In: A. S. Griboedov. Tvorčestvo. Biografija. Tradicii. Hg. S. A. Fomičev. Leningrad 1977, S. 61–73. JU. N. BORISOV, „Gore ot uma“ i russkaja stichotvornaja komedija (U istokov žanra). Saratov 1978. JU. V. LEBEDEV, Griboedov, Čackij i drugie. In: Ders., Griboedov. Fakty i gipotezy. Moskau 1980, S. 164–242. R. PLETNEV, A. A. Čackij v „Gore ot uma“ Griboedova. Popytka razvencanija geroja. In: Novyj žurnal 139. 1980, S. 92–102. S. FOMIČEV, Jazyk napered uma ryščet. O jazyke komedii A. S. Griboedova „Gore ot uma“. In: Literaturnaja učeba. 1982. 3, S. 124–130. B. A. KIČIKOVA, Žanrovoe svoeobrazie komedii „Gore ot uma“. Moskau 1982. V. P. MEŠČERJAKOV, Komedija „Gore ot uma“ i ee avtor v literaturnom soznanii XIX–načalo XX v. In: Ders., A. S. Griboedov. Literaturnoe okruženie i vosprijatie (XIX–načalo XX v.). Leningrad 1983, S. 209–257. E. LITTLE, Vyazemsky, Griboyedov and “Gore ot uma” (Woe from Wit). A Question of Heresy. In: New Zealand Slavonic Journal 18. 1984, S. 15–31. W. KOŚNY, A. S. Griboedov – Poet und Minister. Die zeitgenössische Rezeption seiner Komödie „Gore ot uma“ (1824–1832). Berlin 1985. G. GIESEMANN, Alexander Gribojedow: Verstand schafft Leiden. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 33–50. J. D. CLAYTON, “Tis folly to be wise”. The Semantics of “um” in Griboedov’s “Gore ot uma”. In: Text and Context. Essays to Honour Nils Åke Nilsson. Hg. P. A. Jensen. Stockholm 1987, S. 7–15. O. M. FEL’DMAN (Hg.), „Gore ot uma“ na russkoj i sovetskoj scene. Moskau 1987. I. SERMAN, Puškin i Griboedov – reformatory russkoj dramaturgii. In: Revue des études slaves 59, 1–2. 1987, S. 213–224. S. V. SVERDLINA, Monologi bez adresata v „Gore ot uma“ Griboedova. In: Filologičeskie nauki 30, 2. 1987, S. 71–73. B. GOLLER, Drama odnoj komedii. In: Voprosy literatury 32, 1. 1988, S. 109–145. W. KOŚNY, A. S. Griboedovs „Gore ot uma“. Der Text und seine Bedeutung in der ursprünglichen Kommunikationssituation. In: Russian Literature 23. 1988, S. 225–264. B. M. MARKOVIČ, Komedija v stichach A. S. Griboedova „Gore ot uma“. In: Analiz dramatičeskogo proizvedenija. Mežvuzovskij sbornik. Hg. B. M. Markovič. Leningrad 1988, S. 59–91. J. S. BILINKIS, „Gore ot uma“ v istoriko-literaturnoj perspektive. In: A. S. Griboedov. Materialy k biografii. Sbornik naučnych trudov. Hg. S. A. Fomičev. Leningrad 1989, S. 220–237. J. BONAMOUR, De Čackij à Hlestakov. Les métamorphoses de l’esprit dans „Gore ot uma“. In: Cahiers du Monde russe et soviétique 30, 3–4. 1989, S. 231–244. W. TROUBETZKOY, Griboedov et Molière. In: Littératures 38, 2. 1989, S. 83–93. D.-H. PAGEAUX (Hg.), Le Misanthrope au théâtre. Ménandre, Molière, Griboëdov. Mugron 1990. J. BONAMOUR, Variations sur un triangle (Tchatski, Sophie, Moltchaline). In: Amour et érotisme dans la littérature russe du XXe siècle. Liubov’ i erotika v russkoi literature XX-go veka. Hg. L. Heller. Bern 1992, S. 21–29. W. KOŚNY, Rezeption und Drama. Zur Aufführung von A. S. Griboedovs „Gore ot uma“ am Moskauer Künstlertheater 1906. In: Dramatische und theatralische Kommunikation. Beiträge zur Geschichte und Theorie des Dramas und Theaters im 20. Jahrhundert. Hg. H. Schmid u. J. Striedter. Tübingen 1992, S. 105–122. W. KOŚNY, Rezeptionsästhetik und Drama (Am Beispiel der „Gore ot uma“-Inszenierung des Moskauer Künstler-

Aleksandr Griboedov: Gore ot uma

463

theaters 1906). In: Zeitschrift für Slavische Philologie 52. 1992, S. 1–22. JU. M. LOTMAN, Dekabrist v povsednevnoj žizni (Bytovoe povedenie kak istoriko-psichologičeskaja kategorija). In: Ders., Izbrannye stat’i. 3 Bde. Tallinn 1992. Bd. 1, S. 296–336. M. I. ŠAPIR, „Gore ot uma“. Semantika poetičeskoj formy. Opyt praktičeskoj filosofii sticha. In: Voprosy jazykoznanija 41, 5. 1992, S. 90–105. A. A. DUBROVIN, „Gore ot uma“. Chudožestvennaja interpretacija. A. S. Griboedovym žanra komedii. In: A. S. Griboedov i chudožestvennaja kul’tura ego vremeni. Moskau 1993, S. 95–122. W. KOŚNY, Lev Tolstojs „Plody prosveščenija“ und Aleksandr Griboedovs „Gore ot uma“. In: Zeitschrift für Slawistik 38. 1993, S. 437–451. S. P. IL’EV, „Um“ i „gore“ v komedii Griboedova. In: Problemy tvorčestva A. S. Griboedova. Hg. S. A. Fomičev. Smolensk 1994, S. 50–56. M. G. SOKOLJANSKIJ, „Gore ot uma“ i tradicii evropejskoj „vysokoj“ komedii. In: Problemy tvorčestva A. S. Griboedova. Hg. S. A. Fomičev. Smolensk 1994, S. 44–50. L. A. STEPANOV, Dejstvie, plan i kompozicija „Gorja ot uma“. In: Problemy tvorčestva A. S. Griboedova. Hg. S. A. Fomičev. Smolensk 1994, S. 17–44. M. V. STROGANOV, Ob idejnom sostave „Gorja ot uma“. In: Problemy tvorčestva A. S. Griboedova. Hg. S. A. Fomičev. Smolensk 1994, S. 56–70. S. M. ŠAVRYGIN, O sjužete komedii A. S. Griboedova „Gore ot uma“. In: Russkaja literatura 37, 1. 1994, S. 123–142. G. KALBOUSS, Rhyming Patterns in Griboedov’s “Gore ot uma”. In: Slavic and East European Journal 39. 1995, S. 1–13. M. LIFŠIC, „Gore ot uma” Griboedova. In: Ders., Očerki russkoj kul’tury. Iz neizdannogo. Hg. V. M. German u. a. Moskau 1995, S. 102–161. V. M. MARKOVIČ, „Gore ot uma“ i dviženie russkoj literaturno-kritičeskoj mysli. XIX – načalo XX v. In: „Um i dela tvoi bessmertny v pamjati russkoj…“. K 200-letiju so dnja roždenija A. S. Griboedova. Sbornik literaturovedčeskich i metodičeskich statej. Hg. M. G. Belova. Petersburg 1995, S. 4–42. V. I. VLAŠČENKO, Um s serdcem ne v ladu. „Gore ot uma“ kak drama Čackogo. In: „Um i dela tvoi bessmertny v pamjati russkoj…“. K 200-letiju so dnja roždenija A. S. Griboedova. Sbornik literaturovedčeskich i metodičeskich statej. Hg. M. G. Belova. Petersburg 1995, S. 42–61. A. G. F. VAN HOLK, A Note on Character Themes in Drama. Čackij and Rakitin. In: Ders., Theme and Space. Text-Linguistic Studies in Russian and Polish Drama. With an Outline of Text Linguistics. Amsterdam 1996, S. 15–22. B. A. KIČIKOVA, Žanrovoe svoeobrazie „Gore ot uma“ Griboedova. Poetičeskie žanry v strukture stichotvornoj komedii. In: Russkaja literatura 39, 1. 1996, S. 138–150. O. B. LEBEDEVA, A. S. Griboedov i D. I. Fonvizin. K probleme tipologij dejstvija i sjužetosloženija russkoj vysokoj komedij. In: Russkaja literatura 39, 1. 1996, S. 129–138. S. BAEHR, Is Moscow Burning? Fire in Griboedov’s “Woe from Wit”. In: Russian Subjects. Empire, Nation, and the Culture of the Golden Age. Hg. M. Greenleaf u. S. Moeller-Sally. Evanston, Illinois 1998, S. 229–242. C. BAUMGARTEN, A. S. Griboedov. In: Dies., Die spätklassizistische russische Komödie zwischen 1805 und 1822. Studien zu Šachovskoj, Zagoskin, Chmel’nickij und Griboedov. München 1998, S. 245–273. A. A. BELYJ, Osmejanie smecha. Vzgljad na „Gore ot uma“ čerez plečo Puškina. In: Tynjanovskij sbornik 10. 1998, S. 221–268. S. A. FOMIČEV (Hg.), A. S. Griboedov. Chmelitskij sbornik. Smolensk 1998. M. SCHRUBA, Gore ot ženskogo uma. A. A. Šachovskojs Kokette vor dem Hintergrund der Figurentypologie der russischen Komödie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Slawistik 43. 1998, S. 327–335. A. WANNER, The Misanthrope as Revolutionary Hero. Revisiting Griboedov’s Chatskii and Molière’s Alceste. In: Canadian Slavonic Papers 41, 2. 1999, S. 177–188. L. A. STEPANOV, Ėstetičeskoe i chudožestvennoe myšlenie A. S. Griboedova. Krasnodar 2001. M. HOBSON, A Poem of the Utmost Significance. “Gore ot uma“ (Woe from Wit). In: New Zealand Slavonic Journal 36. 2002, S. 129–142. G. V. KRASNOV, Dva finala. „Gore ot uma” i „Evgenij Onegin”. In: Vremja i tekst. Istoriko-literaturnyj sbornik. Hg. N. V. Serebrennikov. Petersburg 2002, S. 54–61. JU. V. LEBEDEV, „Zagadka“ „Gorja ot uma“ A. S. Griboedova. In: Vremja i tekst. Istoriko-literaturnyj sbornik. Hg. N. V. Serebrennikov. Petersburg 2002, S. 48–53. B. M. MARKOVIČ (Hg.), „Vek nynešnij i vek minuvšij...”. Komedija A. S. Griboedova „Gore ot uma“ v russkoj kritike i literaturovedenii. Petersburg 2002.

464

Literatur und Anmerkungen

E. E. CIMBAEVA, Chudožestvennyj obraz v istoričeskom kontekste. Analiz biografii personažej „Gore ot uma“. In: Voprosy literatury 47, 4. 2003, S. 98–139. H. LEMBCKE, A. S. Griboedov in Deutschland. Studie zur Rezeption A. S. Griboedovs und der Übersetzungen seiner Komödie „Verstand schafft Leiden“ – „Gore ot uma“ in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Diss. Greifswald 2003. M. CHOBSON, „Poėma naivysšej značimosti“. In: Vestnik Moskovskogo universiteta. Serija 9. Filologija 59, 1. 2004, S. 18–34. W. KOŚNY, Adam Mickiewiczs „Konrad Wallenrod“ und Aleksandr Griboedovs „Gore ot uma“. In: Zeitschrift für Slawistik 49. 2004, S. 336–351. G. GUSEVA (Hg.), „Gore ot uma“ 1824–2005. Moskau 2005. M. HOBSON, Aleksandr Griboedov’s “Woe from Wit”. A Commentary and Translation. Lewistan 2005. K. KROO, Poetičeskoe vosproizvedenie komedii Griboedova „Gore ot uma“ v romane v stichach Puškina „Evgenij Onegin“ i v romane Turgeneva „Rudin“. In: Studia Slavica Academiae Scientiarum Hungaricae 50. 2005, S. 29–56. N. E. RAZUMOVA, „Gore ot uma“, „Revizor“, „Višnevyj sad“. K probleme istorizma. In: Gogol’ i vremja. Hg. A. S. Janužkevič u. A. V. Petrov. Tomsk 2005, S. 128–137. E. DE HAARD, Sound Repetition in Griboedov’s “Gore ot uma”. In: Literature and beyond. Festschrift for Willem G. Weststeijn on the Occasion of his 65th Birthday. Hg. E. de Haard. 2 Bde. Amsterdam 2008. Bd. 1, S. 275–292. R. IBLER, Abschluß und Überwindung des klassizistischen Paradigmas. A. S. Griboedovs „Gore ot uma“. In: Ders., Die russische Komödie. Ein gattungsgeschichtlicher Überblick von den Anfängen bis A. P. Tschechow. Stuttgart 2008, S. 183–210. K. I. ŠARAFADINA, Poėtologija cvetočnogo motiva sna Sof’i v „Gore ot uma“ A. S. Griboedova. In: Naučnye doklady vysšej školy 2008, S. 14–29. B. GOLLER, „Gore ot uma“ v menjajuščemsja mire. In: Voprosy literatury 53, 4. 2009, S. 220–290. V. M. MOKIENKO, O. P. SEMENEC, K. P. SIDORENKO u. a. (Hg.), Bol’šoj slovar’ krylatych vyraženij A. S. Griboedova: „Gore ot uma”. Moskau 2009. Anmerkungen 1 Gončarov 1872, S. 18. 2 Vgl. Kośny 1985, S. 219–241, 252–256. 3 Vgl. Vinokur 1948, S. 35. 4 Griboedovs Komödie nimmt mit sechzig „geflügelten Worten“ nach Aleksandr Puškins Gesamtwerk den zweiten Platz ein. N. S. Ašukin, M. G. Ašukina, Krylatye slova. Literaturnye citaty. Obraznye vyraženija. 3. Aufl. Moskau 1966, S. 772, 776. 5 So verstand sich die Inszenierung am Moskauer Künstlertheater 1906 (vgl. Kośny 1992) auch als ein Beitrag zu der nach der Revolution von 1905 einsetzenden Diskussion um die Rolle der russischen Intelligenz, und Jurij Tynjanov stellt in dem Roman „Smert’ Vazir-Muchtara“ (Der Tod des Wesir-Muchtar, 1929) Griboedov in die Nähe Molčalins und problematisiert damit die zeitgenössische Situation des Künstlers in der Sowjetunion. 6 Vgl. Clayton 1987. 7 Griboedov, s. Text, Bd. 3, S. 87. 8 I. Kant, Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“. In: Ders., Gesammelte Schriften. Hg. Preußisch Königliche Akademie der Wissenschaften. 29 Bde. Berlin 1912– 1997 ff. Bd. 8, S. 35, 33. Hervorhebungen im Original. 9 Gončarov 1872, S. 28 f. 10 „Denn Stumme liebt man heutzutage“ (I, 7). 11 A. S. Puškin, Sobranie sočinenij. Hg. B. V. Tomaševskij. 10 Bde. Moskau 1974–1978. Bd. 10, S. 126 (im Brief an A. A. Bestužev Ende Januar 1825). 12 Vgl. Striedter 1966–1967, S. 366. 13 Vgl. Schillers Harmoniegedanke: ,,Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zu Verbesserung

Aleksandr Puškin: Boris Godunov

14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

465

der Einsicht erweckt.“ F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen. Achter Brief. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. J. Petersen u. a. 43 Bde. Weimar 1943 ff. Bd. 20, S. 332. Vgl. Wanner 1999. Vgl. Piksanov 1971, S. 282 f. Griboedov, s. Text, Bd. 3, S. 87. Vgl. M. Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse. 5. Aufl. München 1988, S. 139. Griboedov, s. Text, Bd. 3, S. 87 f. Zu Čackij als literarischer Verkörperung des dekabristischen Verhaltenskodexes vgl. Lotman 1992, S. 297 f. V. G. Belinskij, Sočinenija Aleksandra Puškina. Stat’ja vos’maja. In: A. S. Griboedov v russkoj kritike. Sbornik statej. Hg. A. M. Gordin. Moskau 1958, S. 199. Vgl. A. A. Šachovskoj, Predislovie k „Polubarskim zatejam“. In: Syn otečestva 61. 1820. Nr. 13, S. 14. Vgl. H. Guski, Die satirischen Komödien Vl. I. Lukins (1737–1794). Ein Beitrag zur Typologie der russischen Komödie der Aufklärungszeit. München 1973, S. 233. Puškin, s. Anm. 11, S. 127. Ebd. A. M. Gordin (Hg.), A. S. Griboedov v russkoj kritike. Sbornik statej. Moskau 1958, S. 103. Gončarov 1872. Griboedov, s. Text, Bd. 2, S. 281.

Aleksandr Puškin (1799–1837)

S. 147

Text „Boris Godunov“ nach: A. S. Puškin, Polnoe sobranie sočinenij. Hg. V. D. Bonč-Bruevič u. a. 16 Bde. u. ein Ergänzungsband. Moskau 1937–1959. Bd. 7, S. 1–98. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Boris Godunow. Übers. v. E. Erb. In: A. S. Puschkin, Gesammelte Werke. Hg. H. Raab. 6 Bde. 4. Aufl. Berlin 1985. Bd. 3, S. 195–264. Literatur I. N. ŽDANOV, O drame A. S. Puškina „Boris Godunov“. Petersburg 1892. A. FILINOV, „Boris Godunov“ A. S. Puškina. Opyt razbora so storony istoričeskoj i ėstetičeskoj. Petersburg 1899. N. K. KOZMIN, Vzgljad Puškina na dramu. Petersburg 1900. B. P. GORODECKIJ u. a. (Hg.), „Boris Godunov“. Sbornik statej. Leningrad 1936. N. N. ARDENS, Dramaturgija i teatr A. S. Puškina. Moskau 1939. G. VINOKUR, Das dramatische Werk Puschkins. In: Puschkin. Eine Sammlung von Aufsätzen dem großen russischen Dichter Puschkin gewidmet. Moskau 1939, S. 128–137. M. ZAGORSKIJ, Puškin i teatr. Moskau 1940. H. GIFFORD, Shakespearean Elements in “Boris Godunov”. In: The Slavonic and East European Review 26. 1947, S. 152–160. S. DURYLIN, Puškin na scene. Moskau 1951. B. P. GORODECKIJ, Na putjach k „Borisu Godunovu”. In: Ders., Dramaturgija Puškina. Moskau 1953, S. 56–101. B. P. GORODECKIJ, „Boris Godunov”. In: Ders., Dramaturgija Puškina. Moskau 1953, S. 102–261. K. P. LACHOSTSKIJ, Izučenie tragedii A. S. Puškina „Boris Godunov“. Leningrad 1954. D. D. BLAGOJ, „Boris Godunov“. In: Ders., Masterstvo Puškina. Moskau 1955, S. 116–142. G. A. GUKOVSKIJ, „Boris Godunov“. In: Puškin i problemy realističeskogo stilja. Hg. G. A. Gukovskij. Moskau 1957, S. 9–92. M. SCHULZE, Alexander S. Puschkin. „Boris Godunov“. Frankfurt/M. 1963. B. P. GORODECKIJ, Tragedija A. S. Puškina „Boris Godunov“. Kommentarii. Posobie dlja učitelej. Leningrad 1966. A. A. GOZENPUD, O sceničnost’i i teatral’noj sud’be „Borisa Godunova“ [1967]. In: Puškin. Issledovanija i materialy. Hg. M. P. Alekseev

466

Literatur und Anmerkungen

u. a. 19 Bde. Moskau 1956–2004. Bd. 5, S. 339–356. V. N. TURBIN, Charaktery samozvancev v tvorčestve A. S. Puškina. In: Filologičeskie nauki 11, 6. 1968, S. 85–95. W. N. VICKERY, On the Question of the Syntactic Structure of “Gavriiliada” and “Boris Godunov”. In: American Contributions to the Sixth International Congress of Slavists. Hg. H. Kučera u. E. Harkins. 2 Bde. Den Haag 1968. Bd. 2, S. 1–13. A. A. GOZENPUD, Iz istorii literaturnoobščestvennoj bor’by 20-ch – 30-ch godov XIX v. („Boris Godunov” i „Dimitrij Samozvanec”) [1969]. In: Puškin. Issledovanija i materialy. Hg. M. P. Alekseev u. a. 19 Bde. Moskau 1956–2004. Bd. 6, S. 252–275. I. Z. SERMAN, Puškin i russkaja istoričeskaja drama 1830-ch godov [1969]. In: Puškin. Issledovanija i materialy. Hg. M. P. Alekseev u. a. 19 Bde. Moskau 1956–2004. Bd. 6, S. 118–149. J. BAYLEY, The Drama. In: Pushkin. A Comparative Commentary. Hg. J. Bayley. Cambridge 1971, S. 165–235. R.-D. KLUGE, Die Komposition des „Boris Godunov“. In: Serta Slavica. In memoriam Aloisii Schmaus. Hg. W. Gesemann u. a. München 1971, S. 324–354. M. P. ALEKSEEV, Puškin. Sravnitel’no-istoričeskie issledovanija. Leningrad 1972. N. F. FILIPPOVA, Narodnaja drama A. S. Puškina „Boris Godunov“. Moskau 1972. R. G. SKRYNNIKOV, Boris Godunov i predki Puškina. In: Russkaja literatura 17, 2. 1974, S. 131–133. O. M. FEL’DMAN, Sud’ba dramaturgija Puškina. „Boris Godunov“. „Malen’kie tragedii“. Moskau 1975. N. LOBIKOVA, Sud’ba tragedii Puškina „Boris Godunov“. In: Voprosy literatury 17, 4. 1973, S. 270–272. S. RASSADIN, Dramaturg Puškin. Poėtika, idei, ėvoljucija. Moskau 1977. J. STRIEDTER, Dichtung und Geschichte bei Puškin. Konstanz 1977. N. I. BALAŠOV, „Boris Godunov“. Opyt sistemnogo analiza dramy Puškina. In: Puškin e la sua arte. Colloquio italo-sovietico. Rom 1978, S. 91–110. J. W. DYCK, “Deceit and Conviction in the False Demetrius”. Schiller–Pushkin–Hebbel. In: Probleme der Komparatistik und Interpretation. Festschrift für André von Gronicka zum 65. Geburtstag. Hg. W. Sokel. Bonn 1978, S. 96–110. C. G. EMERSON, “Boris Godunov” and the Poetics of Transposition. Karamzin, Pushkin, Mussorgsky. In: Dissertation Abstracts International 41, 11. 1981, S. 4734-A. P. A. ORLOV, Tragedija Puškina „Boris Godunov“ i „Istorija Gosudarstva Rossijskogo“ Karamzina. In: Filologičeskie nauki 24, 6. 1981, S. 3–10. B. OSTERWALD, Das Demetrius-Thema in der russischen und deutschen Literatur. Dargestellt an A. P. Sumarokovs „Dmitrij Samozvanec“, A. S. Puškins „Boris Godunov“ und F. Schillers „Demetrius“. Münster 1982. M. G. POMAR, The Question of Dramatic Form in Pushkin’s “Boris Godunov”. In: Canadian-American Slavic Studies 16. 1982, S. 63–72. P. DEBRECZENY, “Boris Godunov” at the “Taganka”. A Note on a Non-Performance. In: The Slavonic and East European Review 28. 1984, S. 99–101. A. M. GUREVIČ, Istorija i sovremennost’ v „Borise Godunove“. In: Izvestija Akademii nauk SSSR. Serija literatury i jazyka 43, 3. 1984, S. 204–214. N. RZHEVSKY, Adapting Drama to the Stage. Ljubimov’s “Boris Godunov”. In: Slavic and East European Arts 3. 1985, S. 171–176. C. EMERSON, Boris in Drama. Pushkin. In: Ders., Boris Godunov. Transpositions of a Russian Theme. Bloomington 1986, S. 88– 141. V. G. MOSKVIČEVA, Nekotorye voprosy žanrovoj specifiki tragedii A. S. Puškina „Boris Godunov“. In: Boldinskie čtenija. Gor’kij 1986, S. 50–67. R. NEUHÄUSER, Alexander Puschkin: Boris Godunow. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 51–68. M. P. ALEKSEEV, Boris Godunov i Dmitrij Samozvanec v zapadnoevropejskoj drame. In: Ders., Puškin i mirovaja literatura. Leningrad 1987, S. 362–401. H.-P. EYINK, Zum Einfluß von Shakespeares Tragödien und Historien auf Puškins Drama „Boris Godunov“. Einteilungsprobleme des Dramas in Puškins Gesamtwerk. Diss. Münster 1987. V. A. BOČKAREV, Tragedija A. S. Puškina „Boris Godunov“ i otečestvennaja literaturnaja tradicija. In: Boldinskie čtenija. Gor’kij 1988, S. 4–13. G. MIKKELSON, The “narod” as a Dramatis Persona in Pushkin’s “Boris Godunov”. In: American Contributions to the Tenth International Congress of Slavists. Sofia. September 1988. Literature. Hg. J. Harris. Columbus, Ohio 1988, S. 273–282. K. MOSS, The Last Word in Fiction. On Significant Lies in “Boris Godunov”. In: Slavic and East European Journal 32. 1988, S. 187–197. I. L. POPOVA, „Boris Godunov“ i tvorčestvo Puškina 1830-ch godov. In: Boldinskie čtenija. Gor’kij 1988, S. 25–

Aleksandr Puškin: Boris Godunov

467

35. J. T. SHAW, Rhymes in a “Prose” Context. Varlaam’s Rhyming in Pushkin’s “Boris Godunov”. In: Slavic and East European Journal 32. 1988, S. 542–561. JU. L. FREJDIN, O nekotorych osobennostjach kompozicii tragedii Puškina „Boris Godunov“. In: Russian Literature 7. 1989, S. 27–44. A. B. ROGAČEVSKIJ, K voprosu o sceničnosti „Borisa Godunova“ A. S. Puškina. Problema žanra. In: Filologičeskie nauki 32, 1. 1989, S. 14–19. N. I. IŠČUK-FADEEVA, „Boris Godunov“ A. S. Puškina i „Revizor“ N. V. Gogolja. K istokam tragikomedii. In: Filologičeskie nauki 33, 3. 1990, S. 12–22. I. L. POPOVA, Nemaja scena u Puškina i Gogolja. „Boris Godunov“ i „Revizor“. In: Izvestija Akademii nauk. Serija literatury i jazyka 50. 1991, S. 459–466. J. T. SHAW, Romeo and Juliet, Local Color, and “Mniszek’s Sonnet” in “Boris Godunov”. In: Slavic and East European Journal 35. 1991, S. 1–35. A. EBBINGHAUS, Der Falsche und der Heilige Demetrius in A. S. Puškins „Boris Godunov“. In: Zeitschrift für Slawistik 37. 1992, S. 175–183. S. SANDLER, Solitude and Soliloquy in “Boris Godunov”. In: Pushkin Today. Hg. D. Bethea. Bloomington 1993, S. 171–184. U. JEKUTSCH, Der fremde Demetrius. A. S. Puškins „Boris Godunov“ in deutschen Übersetzungen. In: Komödie und Tragödie. Hg. U. Jekutsch u. a. Tübingen 1994, S. 325–368. A. N. ARCHANGEL’SKIJ, Tret’ja šapka. K 170-letiju „Borisa Godunova“. In: Znamja 1995. 6, S. 194–203. S. A. FOMIČEV, „Boris Godunov“ kak teatral’nyj spektakl’ [1995]. In: Puškin. Issledovanija i materialy. Hg. M. P. Alekseev u. a. 19 Bde. Moskau 1956–2004. Bd. 15, S. 97–108. V. I. KOROVIN, Razmyšlenija Puškina o russkoj i zapadnoevropejskoj istorii kak fon „Borisa Godunova“. In: Filologičeskie nauki 38, 5–6. 1995, S. 14–28. R. F. REDIN, „... Otkazavšis’ ot rannej svoej manery...“. Ot „Vadima“ k „Borisu Godunovu“. In: Moskovskij Puškinist. 1995. 1, S. 7–13. A. N. ARCHANGEL’SKIJ, Poet – istorija – vlast’. „Boris Godunov“ A. S. Puškina. In: Puškin i sovremennaja kul’tura. Hg. E. P. Čelyšev u. T. B. Knjaževskaja. Moskau 1996, S. 123–137. A. W. DINEGA, Ambiguity as Agent in Pushkin’s and Shakespeare’s Historical Tragedies. In: Slavic Review 55. 1996, S. 525–551. I. RONEN, The Compositional Pattern of “Boris Godunov” and Freytag’s Pyramid. In: Elementa. Journal of Slavic Studies and Comparative Cultural Semiotics 3. 1997, S. 195–224. M. MEZOSI, History and the Political Ethos Represented on Pushkin’s Stage. The Dramatic Poet and the Historian. In: Studia Russica 16. 1997, S. 247–265. S. O. ŠMIDT, G. O. Vinokur i akademičeskoe izdanie puškinskogo „Borisa Godunova“. In: Literaturnoe obozrenie 25, 3. 1997, S. 65–77. C. EMERSON, The Boris Plot on Stage. Karamzin, Pushkin, and Musorgsky as Historical Thinkers. In: Intersections and Transportations. Russian Music, Literature, and Society. Hg. A. Wachtel. Evanston, Illinois 1998, S. 20–32. R. E. LAPUŠIN, „Narod bezmolvstvuet?“. „Boris Godunov“ i proza Čechova. In: Čechoviana. Čechov i Puškin. Hg. V. B. Kataev. Moskau 1998, S. 47–53. V. E. ČALIZEV, Vlast’ i narod v tragedii A. S. Puškina „Boris Godunov“. In: Vestnik Moskovskogo universiteta. Serija 9. Filologija. 1999. 3, S. 7–24. K. EMERSON, “Boris Godunov” A. S. Puškina. In: Contemporary American Pushkin Studies. Hg. U. Todd. Petersburg 1999, S. 111–152. K. STEPANIAN, „Boris Godunov“ i „Brat’ja Karamazovy“. In: Znamja. 1999. 2, S. 186–192. T. TICHONOVA, „Ja razumeju narod kak velikuju ličnost’“. M. P. Musorgskij. „Boris Godunov“ 1874. In: Puškin. Neizvestnoe ob izvestnom. Hg. G. G. Sorokina. Moskau 1999, S. 271–272. G. O. VINOKUR, Kommentarii k „Borisu Godunovu“ A. S. Puškina. Moskau 1999. B. COOKE, C. DUNNING, Tempting Fate. Defiance and Subversion in the Writing of “Boris Godunov”. In: Pushkin Review. 2000. 3, S. 43–63. U. JEKUTSCH, Der Sturz des Mächtigen in A. S. Puškins „Boris Godunov“. In: Der Sturz des Mächtigen. Zu Struktur, Funktion und Geschichte eines literarischen Motivs. Hg. T. Wolpers. Göttingen 2000, S. 373–388. U. JEKUTSCH, Probleme der Geschichtsschreibung und des historischen Dramas in Aleksandr S. Puškins „Boris Godunov“. In: A. S. Puškins Werk und Wirkung. Beiträge zu einer Göttinger Ringvorlesung. Hg. R. Lauer u. a. Wiesbaden 2000, S. 33–44. H. PAVLOVICH, Translating Pushkin’s “Boris Godunov”. In: Linguist 39, 1. 2000, S. 2–5. C. DUNNING, Rethinking the Canonical Text of Pushkin’s “Boris Godunov”. In: Russian Review. An American Quarterly Devoted to Russia Past and Present 60. 2001,

468

Literatur und Anmerkungen

S. 569–591. A. CH. GORFUNKEL’, „Mal’čiki“ v „Borise Godunove“. In: Puškin i ego sovremenniki. Hg. S. A. Fomičev u. a. Petersburg 2002, S. 307–309. C. D. KVAN, Priem montaža v „Borise Godunove“. In: Puškin čerez dvesti let. Hg. V. S. Nepomniaščij. Moskau 2002, S. 288–290. P. K. SON, Byt’ ili ne byt’. Ėtos fakta v „Borise Godunove“. In: Puškin čerez dvesti let. Hg. V. S. Nepomniaščij. Moskau 2002, S. 284–287. L. M. LOTMAN, Problema „vsemirnoj otzyvčivosti“ Puškina i biblejskie reminiscencii v ego poėzii i „Borise Godunove“ [2003]. In: Puškin. Issledovanija i materialy. Hg. M. P. Alekseev u. a. 19 Bde. Moskau 1956–2004. Bd. 16/17, S. 131–147. D. ROWLAND, Architecture and Dynasty. Boris Godunov’s Uses of Architecture. 1586–1605. In: Architectures of Russian Identity. 1500 to the Present. Hg. J. Cracraft u. D. Rowland. Ithaca, New York 2003, S. 34–47. M. SOKOLYANSKY, “Boris Godunov”. Russian “Macbeth” or a Chronicle Play? In: The Globalization of Shakespeare in the Nineteenth Century. Hg. C. Kujawinska u. a. Lewiston, New York 2003, S. 199–215. D. CLAYTON, Dimitry’s Shade. A Reading of Alexander Pushkin’s “Boris Godunov”. Evanston, Illinois 2004. G. KRASUCHIN, Pri svete sovesti i vo t’me. Tragedija Puškina „Boris Godunov“. In: Voprosy literatury 48, 1. 2004, S. 112–143. M. D. EL’ZON, „Astrachanskij sled“ v anonimnom „Razgovore o ,Borise Godunove’“ (K voprosu ob avtorstve). In: Russkaja literatura 48, 4. 2005, S. 127–130. E. O. LARIONOVA, „Boris Godunov“. Problema kritičeskogo teksta. In: Puškin i ego sovremenniki. Hg. E. O. Larionova. Petersburg 2005, S. 279–302. N. PERLINA, „Boris Godunov“ i „Antonij i Kleopatra“. „Byvajut strannye sbliženija“. In: Russkaja literatura 48, 2. 2005, S. 109–125. C. DUNNING u. a. (Hg.), The Uncensored “Boris Godunov”. The Case for Pushkin’s Original Comedy, with Annotated Text and Translation. Madison 2006. D. KLEJTON, Ten’ Dimitrija. Opyt pročtenija puškinskogo „Borisa Godunova“. Petersburg 2007. Anmerkungen 1 Hingewiesen sei hier auf Lope de Vegas „El Gran duce de Moscovia“ (1609), auf Sumarokovs „Dimitrij Samozvanec“ (1771), die Demetrius-Fragmente Schillers (1805) und Hebbels (1864), die Dramen von Paul Ernst (1903), Lernet-Holenia (1926) und anderen. Einen Überblick gibt E. Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Querschnitte. 7. Aufl. Stuttgart 1988, S. 146–150. 2 Zur Periodisierung dieser Zwischenzeit und zum Terminus „smuta“ (Zeit der Wirren) vgl. H. Neubauer, Vom letzten Rjurikiden zum ersten Romanov. In: Handbuch der Geschichte Rußlands. Hg. M. Hellmann. 6 Bde. Stuttgart 1981–2004. Bd. 1, 2, S. 961– 1071, bes. S. 962 f. 3 Vgl. ebd., S. 991. 4 Jurij Lotman bezeichnet Karamzins Schrift „Istoričeskie vospominanija i zamečanija na puti k Trojce“ (Geschichtliche Erinnerungen und Bemerkungen auf dem Weg nach Trojca) als Panegyrikon auf Boris Godunov. Vgl. Ju. M. Lotman, Kolumb russkoj istorii. In: Ders., Karamzin. Sotvorenie Karamzina. Stat’i i issledovanija 1957–1990. Zametki i recenzii. Petersburg 1997, S. 565–587, hier: S. 582 f. 5 Zur Problematik des Todes und der Untersuchung vgl. Neubauer, s. Anm. 2, S. 1004– 1006. 6 Zu der Funktion der Gerüchte um die Heiligkeit Dimitrijs in „Boris Godunov“ und um den von den Nachfolgern Godunovs gepflegten Kult des Heiligen Dimitrij vgl. Ebbinghaus 1992. 7 Vgl. Emerson 1986, S. 30–87. Emerson untersucht die Darstellung der Ereignisse um Boris Godunov in Karamzins „Istorija gosudarstva Rossijskogo“, in Puškins „Boris Godunov“ und in der Opernversion Musorgskijs unter der Fragestellung der Transposition von einem Medium ins andere. 8 Vgl. A. E. Wachtel, An Obsession with History. Russian Writers Confront the Past. Stanford, California 1994, S. 64 f.

Aleksandr Puškin: Boris Godunov

469

9 Vgl. Lotman, s. Anm. 4, S. 566. 10 Vgl. ebd., S. 570: Karamzin sei aufgrund des Titels seiner „Geschichte des russischen Staats“ von vielen Lesern als „gosudarstvennik“, seine Geschichte als „staatliche“ aufgefaßt worden. 11 Vgl. Gorodeckij 1953, S. 139–179. 12 Vgl. zum Beispiel Puškin, s. Text, S. 71: Die eine Rede des Patriarchen unterbrechende Regieanweisung lautet: „Allgemeine Verwirrung. Im Verlauf dieser Rede wischt sich Boris mehrfach sein Gesicht mit einem Tuch.“ Auf die Rede folgt die Anweisung: „Schweigen“. Diese Reaktionen Godunovs werden anschließend von zwei Teilnehmern kommentiert: Sie sind zumindest von einigen bemerkt worden und werden als Zeichen der Verstörung des Zaren aufgefaßt. 13 Vgl. Ebbinghaus 1992, S. 177. 14 Zur Interpretation Pimens vgl. Serman 1969, S. 124; vgl. auch M. Greenleaf, Pushkin and Romantic Fashion. Fragment, Elegy, Orient, Irony. Stanford, California 1994, S. 179–185. 15 Vorbereitet wird Godunovs Fall durch sein Gespräch mit dem Heerführer Basmanov über die Unruhe im Volk zu Beginn dieser Szene, in dem Basmanov den Herrscher mit einem Reiter vergleicht, der sein Pferd jederzeit beherrsche. Boris nimmt das Bild auf und entgegnet: „Das Pferd wirft manchmal den Reiter ab.“ Puškin, s. Text, S. 87. Zu Pferd und Reiter als Metapher der Macht vgl. Clayton 2004, S. 122–140. 16 Vgl. Moss 1988, S. 187–197. 17 Polevoj sprach von einer sklavischen Nachfolge Karamzins. Gorodeckij 1953, S. 240 f. 18 Ebd., S. 259. 19 So im Brief an Nikolaj Raevskij vom 30. 1. oder 30. 6. 1829: „Voici ma tragédie puisque vous la voulez absolument, mais avant que de la lire j’exige que vous parcouriez le dernier tome de Karamzine. Elle est remplie de bonnes plaisanteries et d’allusions fines à l’hist.[oire] de ce temps-là, comme nos sous-œuvres de Kiov et de Kamenka. Il faut les comprendre sine qua non.“ Puškin, s. Text, Bd. 14, S. 46. 20 Greenleaf, s. Anm. 14, S. 164–175. 21 Zur russischen Figurentradition des Falschen Dimitrij vgl. Gorodeckij 1953, S. 218–237; Gozenpud 1969, S. 252–275. Zur historischen Figur des Falschen Dimitrij aus der Sicht der Geschichtswissenschaft vgl. Neubauer, s. Anm. 2, S. 1019–1023. 22 Vgl. Emerson 1986, S. 100–103. 23 Dies war zum Beispiel bei Sumarokov der Fall, ebenso in Bulgarins 1830 erschienenem Roman „Dimitrij Samozvanec“. Vgl. E. C. Brody, The Demetrius Legend and its Literary Treatment in the Age of the Baroque. Rutherford 1972, S. 239. Vgl. auch Bočkarev 1988. 24 Vgl. Serman 1969, S. 124. 25 Zum anachronistischen Subtext der Legende des Hl. Dimitrij im Stück vgl. Ebbinghaus 1992. 26 In allen deutschen Übersetzungen wird übrigens das Wort „donos“ als „Anklage, Klageschrift, Klage“ wiedergegeben. Vgl. Jekutsch 1994, S. 330. 27 Zur Rezeption Shakespeares in Rußland vgl. Šekspir i russkaja kul’tura. Hg. M. P. Alekseev. Moskau 1965, S 129–200. 28 Wachtel sieht hier eine bewußt angelegte Dialogizität: Da Puškin die Kenntnis von Karamzins Geschichtswerk bei seinen Lesern voraussetze, habe er sein Stück fragmentarisch anlegen können. Wachtel, s. Anm. 8, S. 75. Vgl. auch S. Evdokimova, Pushkin’s Historical Imagination. New Haven 1999, S. 63. 29 Puškin, s. Text, Bd. 11, S. 140. 30 Œuvres complètes de Shakespeare, traduites de l’anglais de Letourneur. Nouvelle édition, revue et corrigée par F. Guizot et A. P[ichot]. 13 Bde. Paris 1821–1822. Zu Puškins

470

31 32 33

34 35

36 37 38 39 40 41

42 43 44

Literatur und Anmerkungen

Rezeption der Werke Shakespeares und der französischen und deutschen ShakespeareKritik vgl. Alekseev, s. Anm. 27, S. 162–200, zu Guizot bes. S. 169 f. Vgl. auch Ju. D. Levin, Šekspir i russkaja literatura XIX veka. Leningrad 1988, S. 32–49. Die Übersetzung von Letourneur stammte aus der Zeit von 1776–1779. Sie war von den Herausgebern durchgesehen und korrigiert worden. Es war eine reine Prosaübersetzung, aus der Puškin Shakespeares Mischung von Vers und Prosa nicht kennenlernen konnte. Vgl. C. M. Haines, Shakespeare in France. Criticism. Voltaire to Hugo. London 1925, S. 111–123. Teilübersetzungen erschienen immer wieder in russischen Zeitschriften.Vgl. Alekseev, s. Anm. 27, S. 232–234. Vgl. F. Guizot, Shakspeare [sic!] et son temps. Étude littéraire. Paris 1852, S. 138–153. Diese Ausgabe ist ein unveränderter Nachdruck der Einleitung zur französischen Shakespeare-Ausgabe von 1821. – Gegen die rigiden Regeln der klassizistischen Tragödie und gegen die Forderung nach Bewahrung der drei Einheiten hatte sich auch Germaine de Staël ausgesprochen, deren Schrift „De la littérature considerée dans ses rapports avec les institutions sociales“ Puškin während der Arbeit an „Boris Godunov“ las. Vgl. Alekseev, s. Anm. 27, S. 171. Zu Puškins Rezeption der französischen Diskussion um Klassizismus und Romantik, Drama und Theater vgl. B. Tomaševskij, Puškin i Francija. Leningrad 1960, S. 62–174. Vgl. auch L. I. Vol’pert, Ponjatie „istinnogo romantizma“ u Puškina i Stendalja. In: Boldinskie čtenija. Gor’kij 1982, S. 147–155. Vgl. Alekseev, s. Anm. 27, S. 170. Vgl. Gorodeckij 1953, S. 119 f. Bei diesem Bruch mit der Akteinteilung könnte auch das Volksdrama eine Rolle gespielt haben, das eine Akteinteilung nicht kennt. Dort bilden die Szenen die größten Struktureinheiten. Vgl. N. I. Savuškina, Russkaja narodnaja drama. Chudožestvennoe svoeobrazie. Moskau 1988, S. 87. Insgesamt hat Puškin 25 Szenen geschrieben, von denen er schließlich zwei aussonderte („Ograda monastyrskaja“ und „Ubornaja Mariny“). Die beiden eliminierten Szenen sind später einzeln in Zeitschriften erschienen. Als Tragödie hat Puškin sein Drama nur in privaten Briefen bezeichnet, so in dem Brief an Vjazemskij vom 13. 7. 1825. Vgl. Puškin, s. Text, Bd. 13, S. 188. Vgl. A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. 2 Bde. Stuttgart 1966–1967. Bd. 2, S. 142. Vgl. Emerson 1986, S. 107–110. Vgl. auch Vickery 1968, S. 355–368. Vgl. Emerson 1986, S. 109. Gozenpud 1967, S. 349, spricht von dem nachlässigen Umgang mit diesem Vers bei der Aufführung von 1870. Vgl. auch Fel’dman 1975, S. 70, 74. Vgl. Puškins „Brief an den Herausgeber des Moskovskij vestnik“: „Fest davon überzeugt, daß die veralteten Formen unseres Theaters nach Änderung verlangen, entwarf ich meine Tragödie nach dem System unseres Vaters Shakespeare und brachte ihm als Opfer vor seinem Altar die zwei klassischen Einheiten dar, wobei ich die letzte kaum bewahrt hatte.“ Puškin, s. Text, Bd. 11, S. 66. Zur zeitgenössischen Rezeption des Dramas vgl. Gorodeckij 1953, S. 237–261; Gozenpud 1967, S. 345 f. Zur Struktur des „Boris Godunov“ vgl. Frejdin 1989. Vgl. „Bemerkungen des Zensors“: „Das ist keine Nachahmung Shakespeares, Goethes oder Schillers; denn bei diesen Dichtern ist immer in den aus verschiedenen Epochen zusammengesetzten Werken die Kontinuität und Ganzheit in den Stücken bewahrt. Bei Puškin handelt es sich um Gespräche, die an die Gespräche Walter Scotts erinnern. Es schien dies ein Bündel herausgerissener Blätter aus einem Roman Walter Scotts zu sein.“ Zit. nach: Gorodeckij 1953, S. 207 f. Vgl. auch den 1831 in „Teleskop“ publizier-

Aleksandr Puškin: Boris Godunov

45 46 47

48 49 50 51

52 53 54

55 56

57 58 59 60 61

62

471

ten Artikel „Boris Godunov“ von Nikolaj Nadeždin. In: Ders., Literaturnaja kritika. Ėstetika. Moskau 1972, S. 254–270, hier: S. 261 f. Vgl. auch Ronen 1997, S. 195 f. Zit. nach: Gorodeckij 1953, S. 243. Vgl. I. Kireevskij, Obozrenie russkoj literatury za 1831 god. In: Ders., Izbrannye stat’i. Moskau 1984, S. 85. So von Neuhäuser 1986, S. 51–68. Vgl. auch Irina Ronen, die die Übereinstimmung von Gustav Freytags Pyramidenschema mit Puškins Stück zeigt und zu dem folgenden Schluß kommt: „The consistent symmetrical principle, which underlies the plot of Pushkin’s tragedy, is polysemantic and rests upon reiteration of invariant themes in unexpected parallelisms and contrastive variations. [...] This symmetry, a concealed harmony beyond the apparent whimsical incongruence in the succession of short episodic scenes, is the main aesthetic feature of Pushkin’s poetics, not in Boris Godunov alone, but in his large forms, in general.” Ronen 1997, S. 221. Drei der fünf deutschen Übersetzungen des 19. Jahrhunderts versehen das Stück mit einer Einteilung in fünf Akte. Vgl. dazu Jekutsch 1994, S. 333. Vgl. Neuhäuser 1986, S. 61–68. Vgl. J. Tynjanov, Archaisty i novatory. Leningrad 1929, S. 265. So bei Emerson 1986, S. 97 f.; Frejdin 1989, S. 27–44. Vgl. auch Ronen 1997. Die Vf. sieht eine Verbindung von dominanten Montageverfahren mit impliziten Substrukturen der geschlossenen Dramenform. Zusammenfassend und weiterführend dazu Clayton 2004, S. 100–121. Blagoj spricht davon, daß die Handlung mit der Kaleidoskophaftigkeit des Kinos entwickelt werde, vgl. D. Blagoj, Tvorčeskij put’ Puškina (1813–1826). Moskau 1950, S. 421. Vgl. Popova 1988, S. 28. Das Stück vom Zaren Herodes und dem bethlehemitischen Kindermord ist ein beliebtes Volksdrama. Es gehört zum festen Repertoire des Puppentheaters. Vgl. E. A. Warner, The Russian Folk Theatre. The Hague 1977, S. 105. Auf die Figur des von seinem Gewissen gequälten Herodes in Dimitrij Rostovskijs „Roždestvenskaja drama“ macht Bočkarev aufmerksam. Vgl. Bočkarev 1988, S. 12. Über die privaten und zeitgenössischen Bezugsmöglichkeiten dieser Figur zum Verhältnis des Dichters Puškin und des Zaren Alexander I. vgl. Gurevič 1984, S. 204–214. Popova spricht von der funktionalen Identität des Christusnarren und des Gefangenen in dieser Hinsicht. Sie sieht die Eigenart von Boris Godunov in der Verbindung von Dramen- und Romansujet, wobei sie das Boris-Sujet dem Drama, das Dimitrij-Sujet dem Roman zuordnet. Vgl. Popova 1988, S. 29. Auf die Ähnlichkeit von Boris und Dimitrij in der Hinsicht, daß sie beide als Zaren ohne genealogische Legitimität gelten können, ist immer wieder hingewiesen worden. Vgl. Rassadin 1977, S. 12–35; Turbin 1968, S. 85–95. Vgl. Emerson 1986, S. 105. Man hat auf die Szene im Garten in Shakespeares „Measure for Measure“ als Prätext hingewiesen. Vgl. Pomar 1982, S. 63–72. Popova meint sogar, daß alle Volksszenen auf dem Prinzip der Zerstörung der normalen Kommunikation aufgebaut seien. Vgl. Popova 1988, S. 28. Scotts historische Romane erschienen in England ab 1814 (bis 1831), seit Beginn der zwanziger Jahre wurden sie in Rußland zunächst über französische, ab 1823 auch über russische Übersetzungen bekannt. Vgl. Mark Al’tšuller, Ėpocha Val’tera Skotta v Rossii. Istoričeskij roman 1830-ch godov. Petersburg 1996, S. 30. A. Bestužev, O duche poėzii XIX veka. In: Literaturno-kritičeskie raboty dekabristov. Hg. L. G. Frizman. Moskau 1978, S. 293–304, hier: S. 302. In einer Fußnote werden als

472

63 64 65 66 67

68 69 70

71

Literatur und Anmerkungen

Beispiele P. de Barante und A. Thierry erwähnt, deren Werke auch zur Lektüre Puškins gehörten. Ebd. Vgl. Al’tšuller, s. Anm. 61, S. 110. Zit. nach: ebd., S. 110. Vgl. Wachtel, s. Anm. 8. Einen Überblick über die Entwicklung des Napoleonbilds bei Puškin vor dem Hintergrund der öffentlichen Meinung gibt Murav’eva. Vgl. O. S. Murav’eva, Puškin i Napoleon (Puškinskij variant „Napoleonovskoj legendy“). In: Puškin. Issledovanija i materialy. Hg. M. P. Alekseev u. a. 19 Bde. Moskau 1956–2004. Bd. 14, S. 5–32. Zu der kulturellen Funktion der „aufrührerischen“ Gedichte Puškins vgl. P. Debreczeny, Social Functions of Literature. Alexander Pushkin and Russian Culture. Stanford, California 1997, S. 3–13. Vgl. H. Lemberg, Die nationale Gedankenwelt der Dekabristen. Graz 1963. Puškins Lektüre während des „Hausarrests“ in Michajlovskoe 1825 umfaßte auch die Annalen des Tacitus, an denen ihn besonders der Mord des Tiberius an Agrippa interessierte, wie seine „Bemerkungen zu Tacitus“ belegen, in denen er Tiberius, Napoleon und Boris Godunov auf eine Ebene stellte, ferner die kurz zuvor publizierten Memoiren Napoleons und Fouchés mit ihrer Darstellung der Hinrichtung des Duc d’Enghien durch Napoleons Gefolgsleute. Vgl. Murav’eva, s. Anm. 67, S. 17–19. Vgl. Rzhevsky 1985, S. 171–176.

Nikolaj Gogol’ (1809–1852)

S. 163

Text „Revizor“ (Der Revisor) nach: N. Gogol’, Polnoe sobranie sočinenij. Hg. N. L. Meščerjakov. 14 Bde. Moskau 1937–1952. Bd. 4, S. 7–95. Die in Klammern gesetzten römischen Ziffern beziehen sich auf die Akte, die arabischen auf die Szenen dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Der Revisor. Übers. v. B. Zelinsky. Stuttgart 2006. Literatur N. V. VOLKOV, K istorii russkoj komedii. Zavisimost’ „Revizora“ Gogolja ot komedii Kvitki „Priezžij iz stolicy“. Petersburg 1899. A. I. LJAŠČENKO, „Revizor“ Gogolja i komedija Kvitki „Priezžij iz stolicy“. In: Pamjati Leonida Nikolaeviča Majkova. Hg. V. Saitov. Petersburg 1902, S. 523–540. V. IVANOV, „Revizor“ Gogolja i komedija Aristofana. In: Teatral’nyj oktjabr’. Sbornik 1. Leningrad 1926, S. 89–99. Dt. Übers.: V. IVANOV, Gogol und Aristophanes. In: Corona 3. 1932–1933, S. 611–622. L. V. KRESTOVA, Kommentarij k komedii N. V. Gogolja „Revizor“. Moskau 1933. V. A. GOFMAN, Jazyk „Revizora“. In: Literaturnaja učeba. 1934. 6, S. 74–101. A. STENDER-PETERSEN, Gogol und Kotzebue. Zur thematischen Entstehung von Gogols „Revisor“. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 12. 1935, S. 16– 53. S. S. DANILOV, Gogol’ i teatr. Leningrad 1936. V. Gippius, Problematika i kompozicija „Revizora“. In: N. V. Gogol’. Materialy i issledovanija. 2 Bde. Hg. V. Gippius. Moskau 1936. Bd. 2, S. 151–199. K. G. LOKS, Komedija v tvorčestve Gogolja. In: Literaturnaja učeba. 1940. 8–9, S. 62–75. H. WIENS, Die Geschichte einer Komödie. Die Entstehung von Gogols „Revisor“. Göttingen 1946. N. L. STEPANOV, Rabota N. V. Gogolja nad jazykom „Revizora“. In: Teatr 13, 3. 1952, S. 28–40. V. SETSCHKAREFF, Gogols Theaterstücke. In: Ders., N. V. Gogol. Leben und Schaffen. Berlin 1953, S. 126–137. D. P. NIKOLAEV, Konflikt v komedii Gogolja „Revizor“. In: N. V. Gogol’. Sbornik statej. Hg. A. N. Sokolov. Moskau 1954, S. 139–167. V. A. SMIRNOV, Komedija N. V. Gogolja „Revizor“ kak vydajuščijsja pamjatnik chudožestvennogo slova (Opyt izučenija sredstv rečevoj charakteristiki gorodničego i Chlestakova). In: Učenye zapiski Gor’kovskogo pedagogičeskogo instituta 16.

Nikolaj Gogol’: Revizor

473

1955, S. 202–227. N. L. STEPANOV, Dramaturgija. In: Ders., N. V. Gogol’. Tvorčeskij put’. Moskau 1955, S. 302–369. R. TRIOMPHE, Gogol und die russische Kritik über den „Revisor“. In: Vorträge auf der Berliner Slawistentagung. Hg. H. H. Bielfeldt. Berlin 1956, S. 140–161. A. V. KAS’JANOV, Rečevaja charakteristika personažej komedii N. V. Gogolja „Revizor“ (Iz materialov nabljudenij). In: Učenye zapiski Armavirskogo pedagogičeskogo instituta. 1957. T. 1, Vyp. 1, S. 57–109. L. A. BELJAEVA, K voprosu o položitel’nom pafose komedii N. V. Gogolja „Revizor“. In: Učenye zapiski Moskovskogo oblastnogo pedagogičeskogo instituta imeni N. K. Krupskoj 16, 4. 1958, S. 33–48. A. V. KAS’JANOV, Leksika i frazeologija komedii N. V. Gogolja „Revizor“. In: Učenye zapiski Armavirskogo pedagogičeskogo instituta. 1958. T. 3, Vyp. 1, S. 183–230. N. L. BRODSKIJ, Gogol’ i „Revizor“. In: Ders., Izbrannye trudy. Hg. N. K. Gudzij. Moskau 1964, S. 40–84. JU. MANN, Komedija Gogolja „Revizor“. Moskau 1966. N. STORCH, „Der Revisor“. In: Ders., Nikolaj Gogol’. Velber bei Hannover 1967, S. 63–78. J. BÖRTNES, Gogol’s “Revizor“ – a Study in the Grotesque. In: ScandoSlavica 15. 1969, S. 47–63. V. ERLICH, The Payoff. In: Ders., Gogol. New Haven, Connecticut 1969, S. 112–141. E. L. VOJTOLOVSKAJA, Komedija N. V. Gogolja „Revizor“. Kommentarij. Leningrad 1971. B. ZELINSKY, Gogol’s „Revizor“. Eine Tragödie? In: Zeitschrift für Slavische Philologie 36. 1971, S. 1–40. B. DE SCHLOEZER, „Le Revizor“. In: Ders., Nicolas Gogol. L’homme et le poète ou les frères ennemis. Paris 1972, S. 159–174. M. BRAUN, Die Bühnenstücke. In: N. W. Gogol. Eine literarische Biographie. München 1973, S. 135–160. V. NABOKOV, “The Government Specter”. In: Ders., Nikolay Gogol. London 1973, S. 35– 60. B. ZELINSKY, Komik und Spielstruktur. Zur Komödienkunst Nikolaj Gogol’s. In: Slavistische Studien zum VII. Internationalen Slavistenkongreß in Warschau 1973. Hg. J. Holthusen u. a. München 1973, S. 567–606. A. M. DOKUSOV, V. G. Marancman, Komedija N. V. Gogolja „Revizor“ v škol’nom izučenii. Leningrad 1975. JU. M. LOTMAN, O Chlestakove. In: Trudy po russkoj i slavjanskoj filologii 26. 1975, S. 19–53. E. NEIS, Erläuterungen zu Nikolai Gogol. „Der Revisor“, „Der Mantel“. Hollfeld 1975. A. SINJAVSKIJ, Dva povorota serebrjanogo ključa v „Revizore“. In: Ders., V teni Gogolja. London 1975, S. 103–184. Dt. Übers.: A. TERZ [= Sinjavskij], Die zwei Umdrehungen des silbernen Schlüssels im „Revisor“. In: Ders., Im Schatten Gogols. Berlin 1979, S. 79–138. H.-J. GERIGK, Zwei Notizen zum „Revisor“. In: Russian Literature 4, 2. 1976, S. 167–174. S. KARLINSKY, “The Inspector General”. In: Ders., The Sexual Labyrinth of Nikolai Gogol. Cambridge, Massachusetts 1976, S. 158–169. I. L. VIŠNEVSKAJA, Čto ešče skryto v „Revizore“. In: Dies., Gogol’ i ego komedii. Moskau 1976, S. 123–163. C. GOROKHOFF, Le „Revizor“ dans la critique et la mise en scène sovietiques de 1967 à 1974. In: Revue des études slaves 50. 1977, S. 55–71. O. TABAKOV, A Soviet Actor and Director Looks at Gogol and “The Government Inspector”. In: Journal of Russian Studies 35. 1978, S. 24–28. E. N. KUPREJANOVA, Avtorskaja „ideja“ i chudožestvennaja struktura „obščestvennoj komedii“ N. V. Gogolja „Revizor“. In: Russkaja literatura 22, 4. 1979, S. 3–16. S. MAŠINSKIJ, Teatr – „velikaja škola“ i „kafedra“. In: Ders., Chudožestvennyj mir Gogolja. Moskau 1979, S. 176–222. V. KLOTZ, Gogols „Der Revisor“ (1836). In: Ders., Bürgerliches Lachtheater. Komödie, Posse, Schwank, Operette. München 1980, S. 35–45. R. PEACE, Theatre (“The Government Inspector”. Characters and Themes. “The Government Inspector”. Comedy, Construction, Devices). In: Ders., The Enigma of Gogol. An Examination of the Writings of N. V. Gogol and their Place in the Russian Literary Tradition. Cambridge 1981, S. 151–192. M. B. CHRAPČENKO, Dramaturgija. In: Ders., Nikolaj Gogol’. Literaturnyj put’. Veličie pisatelja. Moskau 1984, S. 253–347. G. P. MAKOGONENKO, Puškinskoe načalo v komedii Gogolja „Revizor“. In: Ders., Gogol’ i Puškin. Leningrad 1985, S. 206–253. A. STRIHAN, The Dialectic of Occurrences in Comedy. Gogol’s “The Inspector General”. In: Assaph. Studies in the Theatre. 1985. 2, S. 73–76. B. ZELINSKY, Nikolaj Gogol: Der Revisor. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 69–87. P. A. BODIN, The Silent Scene in Nikolaj Gogol’s “The Inspector General”. In: Scando-Slavica 33. 1987, S. 5–16. A. STILLMARK, Kleist’s “Der zerbrochene Krug” and Gogol’s

474

Literatur und Anmerkungen

“The Inspector General”. A Comparative View. In: New Comparison. A Journal of Comparative and General Literary Studies 3. 1987, S. 45–51. V. M. MARKOVIČ, Komedija N. V. Gogolja „Revizor“. Analiz dramatičeskogo proizvedenija. Leningrad 1988, S. 135–163. R. LINDHEIM, Gogol’s “Inspector General” as Dumb Show. In: Journal of Ukrainian Studies 14, 1–2. 1989, S. 200–211. JU. MANN, „Užas okoval …“ O nemoj scene v „Revizore“ Gogolja. In: Voprosy literatury 32, 8. 1989, S. 223–235. E. N. KUPREJANOVA, V. E. VETLOVSKAJA, Gogol’-komediograf. In: Russkaja literatura 33, 1. 1990, S. 6–33. N. I. IŠČUK-FADEEVA, „Boris Godunov“ A. S. Puškina i „Revizor“ N. V. Gogolja. K istokam tragikomedii. In: Filologičeskie nauki 33, 3. 1990, S. 12–22. R. LAUER, Die intrigenlose Komödie. Zur Motivstruktur von N. V. Gogols „Revisor“. In: Gattungsinnovation und Motivstruktur. Bericht über Kolloquien der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1986–1989. Hg. Th. Wolpers. 2 Bde. Göttingen 1989–1992. Bd. 2, S. 55–96. L. SUCHANEK, Das dramatische Werk – Wertung und Kommentar des Autors (N. Gogol’: „Revizor“ – „Der Revisor“). In: Drama und Theater. Theorie – Methode – Geschichte. Hg. H. Schmid u. H. Král. München 1991, S. 362–381. R. SHERWOOD, The Use of Motifs in Gogol’s Drama. In: Essays in Poetics. The Journal of the British Neo-Functionalist School 17, 2. 1992, S. 1–14. A. LARSSON, Gogol’ und das Problem der menschlichen Identität. Die „Petersburger Erzählungen“ und der „Revisor“ als Beispiele für ein grundlegendes Thema in den Werken von N. V. Gogol’. München 1992. D. WHITE, Chlestakov as Representative of Petersburg in “The Inspector General”. In: Essays on Gogol. Logos and the Russian Word. Hg. S. Fusso u. P. Meyer. Evanston, Illinois 1992, S. 89–104. A. EBBINGHAUS, Konfusion und Teufelsanspielungen in N. V. Gogol’s „Revizor“. In: Russian, Croatian and Serbian, Czech and Slovak, Polish Literature 34. 1993, S. 291–310. U. JEKUTSCH, Anredekonventionen in N. V. Gogol’s Komödie „Revizor“. Übersetzungsprobleme im Feld von Komikpotential und Realien. In: Zeitschrift für Slawistik 38. 1993, S. 539–559. U. JEKUTSCH, Von der Tragikomödie zur Posse. Gogol’s städtische Gutsbesitzer Bobčinskij und Dobčinskij in den deutschen „Revizor“-Übersetzungen des 19. Jahrhunderts. In: Europäische Komödie im übersetzerischen Transfer. Hg. F. Paul u. a. Tübingen 1993, S. 241–276. B. SCHULTZE, Probleme mit der intrigenlosen Komödie. Gogol’s „Revizor“ in den frühen deutschen Übersetzungen und Bearbeitungen. In: Europäische Komödie im übersetzerischen Transfer. Hg. F. Paul u. a. Tübingen 1993, S. 187–239. B. HAMMERSCHMID, M. RIEMEKASTEN, Übersetzungsprobleme mit „Gott“ und „Teufel“. Folklore und Metaphysik in den deutschen Übersetzungen und Bearbeitungen von N. V. Gogol’s „Revizor“. In: Komödie und Tragödie. Übersetzt und bearbeitet. Hg. U. Jekutsch u. a. Tübingen 1994, S. 269–301. I. A. ZAITSEVA, K cenzurnoj i sceničeskoj istorii pervych postanovok „Revizora“ N. V. Gogolja v Moskve i Peterburge. Po archivnym istočnikam. In: Gogol’. Materialy i issledovanija. Hg. Ju. Mann. Moskau 1995, S. 118–135. JU. MANN, „Revizor“. Obščaja situacija i „Miražnaja intriga“. In: Ders., Poėtika Gogolja. Variacii k teme. Moskau 1996, S. 157–241 I. VINICKIJ, Nikolaj Gogol’ i ugroz svetovostokov. K istokam „idei revizora“. In: Voprosy literatury 40, 5. 1996, S. 167–194. S. A. PAVLINOV, Tajnopis’ Gogolja. „Revizor“. Moskau 1996. J. IJ. VAN DER MEER, Zur Konstruktion der vom Autor intendierten Rezeption in Bohomolec’ „Monitor“ und Gogol’s „Revizor“. In: Zeitschrift für Slawistik 41. 1996, S. 464–485. JU. V. MANN, Žanrovyj uzel gogolevskogo „Revizora“. In: Life and Text. Essays in Honour of Geir Kjetsaa on the Occasion of his 60th Birthday. Hg. E. Egeberg u. a. Oslo 1997, S. 169–179. J. ROBEY, Modelling the Reading Act. Gogol’s Mute Scene and its Intertexts. In: Slavic Review 56. 1997, S. 233–250. M. BERESFORD, Gogol’s “The Government Inspector”. London 1997. C. PUTNEY, Gogol’s Modeling of Reception Aesthetics in “Dead Souls” and the “Inspector General”. Affinities with E. T. A. Hoffman and Wolfgang Iser. In: CanadianAmerican Slavic Studies 33. 1999, S. 30–46. I. A. VINOGRADOV, P’ero, Kolombina i Arlekin. K istorii sozdanija „Tarasa Bul’by“ i „Revizora“ N. V. Gogolja. In: Russkaja literatura 52, 1. 1999, S. 36–44. M.-F. ROUART, Nicolas Gogol. „Le Revizor“ (1836), prélude ou

Nikolaj Gogol’: Revizor

475

dénouement des „Ames mortes“ (1842)? In: Texte et théâtralité. Hg. R. Robert. Nancy 2000, S. 267–275. B. SCHULTZE, Die sichtbare und die verdeckte Komödie. N. V. Gogol’s „Revizor“ (Der Revisor). In: Die großen Komödien Europas. Hg. F. N. Mennemeier. Tübingen 2000, S. 241–264. I. ZOLOTUSSKIJ, „Pikovaja dama“ i „Revizor“. Popytka sopostavlenija. In: Moskovskij Puškinist. 2000. 8, S. 214–220. E. DRYŽAKOVA, Riskovannaja šutka Gogolja na čtenijach „Revizora“. Russkaja literatura 54, 1. 2001, S. 190–195. D. TELLINGER, Maß- und Geldeinheiten in den deutschen Übersetzungen des „Revisors“ von N. Gogol. In: Linguistica Pragensia 12. 2002, S. 93–98. V. TIUNA, Mesto Gogolja v istorii russkoj satiry. In: Gogol’ kak javlenie mirovoj literatury. Hg. Ju. V. Mann. Moskau 2003, S. 73–78. V. MARKOVIČ, O sootnošenii komičeskogo i tragičeskogo v p’ese Gogolja „Revizor“. In: Gogol’ kak javlenie mirovoj literatury. Hg. Ju. V. Mann. Moskau 2003, S. 148–160. I. ZAITSEVA, Vokrug „Revizor“. K biografii Gogolja. In: Gogol’ kak javlenie mirovoj literatury. Hg. Ju. V. Mann. Moskau 2003, S. 161–167. V. D. DENISOV, M. N. Zagoskin i „zagoskinskoe“ v komedii Gogolja „Revizor“. In: N. V. Gogol’ i teatr. Tret’i Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2004, S. 204–209. I. A. ESAULOV, K interpretacii finala „Revizora“. Metodologičeskie zamečanija. In: N. V. Gogol’ i teatr. Tret’i Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2004, S. 177–181. S. E. FROLOVA, Michail Čechov – Chlestakov. Zametki na poljach „Revizora”. In: N. V. Gogol’ i teatr. Tret’i Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2004, S. 210–218. N. I. IŠČUK-FADEEVA, „Revizor“ Gogolja. Meždu prošlym i buduščim. In: N. V. Gogol’ i teatr. Tret’i Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2004, S. 135–147. O. N. KUPCOVA, „Revizor“. „Javlenie poslednee“. O teatral’noj istorii „nemoj sceny“. In: N. V. Gogol’ i teatr. Tret’i Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2004, 182–192. JU. V. MANN, Mejerchol’dovskij „Revizor“ v aspekte teatral’noj tradicii. In: N. V. Gogol’ i teatr. Tret’i Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2004, S. 219–229. JU. MANN, Sindrom „Revizora“. In: Voprosy literatury 48, 5. 2004, S. 141–174. V. I. MIL’DON, Gorod v „Revizore“. In: N. V. Gogol’ i teatr. Tret’i Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2004, S. 148–156. JU. B. ORLICKIJ, Ritmičeskaja struktura „Revizora“ (Predvaritel’nye zametki). In: N. V. Gogol’ i teatr. Tret’i Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2004, S. 167–175. E. G. PADERINA, „Igroki“ i „Revizor“. In: N. V. Gogol’ i teatr. Tret’i Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2004, S. 118–132. S. N. PATAPENKO, Ivan Chlestakov kak „čelovek igrajuščij“. In: N. V. Gogol’ i teatr. Tret’i Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2004, S. 157–166. J.-U. PETERS, Zwischen Satire und Groteske. Die Rolle der literarischen Phantastik in Gogols „Revisor“ und in den „Toten Seelen“. In: Colloquium Helveticum. Cahiers Suisses de Littérature Comparée 35. 2004, S. 185–201. J. STRIEDTER, Autokratie, Bürokratie, Intelligencija und die Erstrezeption von Gogol’s „Revisor“. In: Imperium und Intelligencija. Fallstudien zur russischen Kultur im frühen 19. Jahrhundert. Hg. J.-U. Peters u. U. Schmid. Zürich 2004, S. 45– 95. N. E. RAZUMOVA, „Gore ot uma“, „Revizor“, „Višnevyj sad“. K probleme istorizma. In: Gogol’ i vremja. Hg. A. S. Januškevič u. A. V. Petrov. Tomsk 2005, S. 128–137. M. ZAGIDULINA, Vremja kolokol’čikov ili „Revizor“ v „Neznajke“. In: Novoe literaturnoe obozrenie 76, 6. 2005, S. 205–217. L. M. EL’NICKAJA, Dva sovremennych „Revizora“. In: N. V. Gogol’ i sovremennaja kul’tura. Šestye Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2007, S. 345–356. M. G. LITAVRINA, “Nas pomenjali telami” (Režisserskij tekst „Revisora“ Niny Čusovoj kak „komedija masok“ sovremennoj Rossii). In: N. V. Gogol’ i sovremennaja kul’tura. Šestye Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2007, S. 328–344. S. A. PATAPENKO, Konec – delu ne venec (Osobennosti final’nych scen v dramaturgičeskich proizvedenijach N. Gogolja). In: N. V. Gogol’ i sovremennaja kul’tura. Šestye Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2007, S. 393–401. B. SOKOLOV, Rasšifrovannyj Gogol’. „Vij“. „Taras Bul’ba“. „Revizor“. „Mertvye duši“. Moskau 2007. A. N. ZORIN, Gogolevskij „Revizor“. Avtorskaja remarka i ee sceničeskie traktovki v XX veke. In: N. V. Gogol’ i sovremennaja kul’tura. Šestye Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2007, S.

476

Literatur und Anmerkungen

357–366. S. N. PATAPENKO, „Kakie so mnoi čudesa...“. Ivan Chlestakov kak modifikacija obraza skazočnogo personaža. In: N. V. Gogol’ i narodnaja kul’tura. Sed’mye Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2008, S. 261–266. I. ZOLOTAREV, Splav real’nogo i neverojatnogo. „Revizor“ Gogolja. In: Voprosy literatury 52, 2. 2008, S. 286–295. F. CARL, Klassik und Theateravantgarde. V. E. Mejerchol’ds „Revizor“ im Kontext der russischen Klassikerrezeption. München 2008. R. IBLER, N. V. Gogol’s „Revizor“ und das Rätsel der menschlichen Existenz. In: Ders., Die russische Komödie. Ein gattungsgeschichtlicher Überblick von den Anfängen bis A. P. Tschechow. Stuttgart 2008, S. 211–233. A. VORONSKIJ, Komedii. In: Ders., Gogol’. Moskau 2009, S. 163–187. JU. MANN, „Vserossijskaja p’esa“. In: Ders., N. V. Gogol’. Sud’ba i tvorčestvo. Moskau 2009, S. 108–145. V. I. MACAPURA, „Revizor“ Gogolja i „Priezžij iz stolicy“ G. F. Kvitki-Osnov’janenko. In: N. V. Gogol’ i ego literaturnoe okruženie. Vos’mye Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2009, S. 187–202. E. A. ANDRUŠČENKO, „Revizor“ N. V. Gogolja i russkaja satiričeskaja komedija XIX v. In: N. V. Gogol’ i ego literaturnoe okruženie. Vos’mye Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2009, S. 203–208. S. N. PATAPENKO, Kak počti possorilis’ Nikolaj Vasil’evič s Michailom Semenovičem (Spor N. V. Gogolja i M. S. Ščepkina o pročtenii „Revizora“). In: N. V. Gogol’ i ego literaturnoe okruženie. Vos’mye Gogolevskie čtenija. Hg. V. P. Vikulova. Moskau 2009, S. 209–215. A. CEPUROV, „Revizor“ v Sovremennike. In: Ders., Gogolevskie sjužety Valeria Fokina. Petersburg 2010, S. 69–85. A. CEPUROV, „Revizor“ v Aleksandrinke. In: Ders., Gogolevskie sjužety Valeria Fokina. Petersburg 2010, S. 135–173. Anmerkungen 1 Gogol’, s. Text, Bd. 10, S. 375 f. 2 Daß dies in Wirklichkeit so war, wurde bisher fast immer vorausgesetzt. Auf das Ungesicherte der üblichen Annahme hat zu Recht Georgij Makogonenko aufmerksam gemacht. Makogonenko 1985, S. 206 f. – Der Hinweis, daß die „Idee zum ‚Revizor’“ von Puškin stammt, findet sich in „Avtorskaja ispoved’“. Gogol’, s. Text, Bd. 8, S. 440. 3 Gogol’, s. Text, Bd. 10, S. 379. 4 Ebd., S. 35. 5 P. V. Annenkov, Literaturnye vospominanija. Petersburg 1909, S. 29. 6 Gogol’, s. Text, S. 99. 7 Ebd., S. 102. 8 Nach der Zählung im Kommentarteil zum vierten Band der neuen, im Entstehen befindlichen Gesamtausgabe der Gogol’schen Werke (Polnoe sobranie sočinenij. Moskau 2003, S. 549) handelt es sich um die fünfte Fassung. 9 Brodskij 1964, S. 77 f. 10 Dementsprechend lautet der Titel dieses Kommentars „Razvjazka Revizora“ (Die Lösung des „Revizor“). Gogol’, s. Text, S. 121–133. 11 Brief vom 10. Juli 1847. Ebd., Bd. 13, S. 348. 12 Gogol’, s. Text, S. 112. – Nach den Aussagen, die von der Uraufführung überliefert sind, wurden die handelnden Figuren als Karikaturen gezeichnet, die Vaudevilleeffekte maßlos übertrieben und das ganze Stück zu einer einzigen Farce stilisiert. 13 V. A. Sollogub, Vospominanija [1886]. Moskau 1998, S. 228. 14 Ebd. – Lauer nennt noch zwei weitere Verwechslungsfälle ähnlicher Art, die Gogol’ von Puškin gehört haben könnte, darunter den bisher kaum beachteten Fall eines Reiseerlebnisses, bei dem Puškin von einer mitreisenden Stadthauptmannsgattin für einen Postaufseher (smotritel’) gehalten wurde. Vgl. Lauer 1992, S. 72 f. 15 Der vollständige Titel lautet „Priezžij iz stolicy, ili Sumatocha v uezdnom gorode“ (Der Ankömmling aus der Hauptstadt oder Der Wirrwarr in der Kreisstadt). Die 1827 entstandene Komödie Kvitkas wurde zwar erst 1840 veröffentlicht, zirkulierte aber, wie damals

Nikolaj Gogol’: Revizor

16

17 18

19

20 21 22

23 24 25

26 27 28 29

477

üblich, vor der Drucklegung in Abschriften und war Gogol’ so mit ziemlicher Sicherheit bekannt. Die Zeitgenossen erkannten die Ähnlichkeit mit Kvitkas Stück sofort, und auch die frühe Gogol’forschung betonte – bis hin zum Plagiatsvorwurf – die starke Abhängigkeit des „Revizor“ von der Komödie „Priezžij iz stolicy“. Vgl. Volkov 1899; Ljaščenko 1902; N. Baženov, G. F. Kvitka kak vdochnovitel’ Gogol’ja. K voprosu o literaturnom zaimstvovanii. Char’kov 1916; I. Ajzenštok, K voprosu o literaturnych vlijanijach (G. F. Kvitka i N. V. Gogol’). In: Izvestija otdelenija russkogo jazyka i slovestnosti 24, 1. 1922, S. 23– 42. – Inzwischen ist es längst selbstverständlich, bei einem Vergleich zwischen Gogol’s und Kvitkas Komödie die Eigenwertigkeit der ersteren gegenüber der letzteren und ihren absolut innovatorischen Charakter zu betonen. So zuletzt Macapura 2009, die in ihrem Aufsatz detailliert die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Stücke einander gegenüberstellt. Vgl. G. Giesemann, Kotzebue in Rußland. Materialien zu einer Wirkungsgeschichte. Frankfurt/M. 1971. Reinhard Lauer, der sich in seinem Aufsatz „Die intrigenlose Komödie“ vor allem mit der Motivstruktur des „Revizor“ beschäftigt, nennt insbesondere die folgenden (Handlungs-)Motive: Briefverlesen, Botschaften, Aufschneiden, Beschwerdeführung, Bestechungsversuche, Hofmachen, Verlobungsfeier, Gratulationscour. Lauer 1992, S. 74. Brigitte Schultze entdeckt im „Revizor“ eine ganze „‚Grammatik’ komischer Verfahren“ und widmet deren Beschreibung ein längeres Kapitel ihres Gogol’beitrags zu dem von Franz Norbert Mennemeier herausgegebenen Sammelband „Die großen Komödien Europas“. Schultze 2000, S. 250–254. W. Hinck, Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Commedia dell’arte und Théâtre italien. Stuttgart 1965, S. 26. Eine andere Parallele zwischen Gogol’s „Revizor“ und Molières „Les précieuses ridicules“ liegt in den Prahlereien Chlestakovs und Mascarilles. Lauer gelangt auf dem Weg über die „Anrede-Etikette“ zu der Schlußfolgerung, daß Chlestakov „entweder Kabinetskij, Senatskij oder Kolležskij registrator“ ist, das heißt der „untersten“ der 14 Klassen umfassenden Rangordnung der Zivil-, Militär-, Verwaltungs- und Kirchenbehörden angehört. Lauer 1992, S. 77. Gogol’, s. Text, Bd. 5, S. 142. Ebd., Bd. 8, S. 400. Daß Akt I-III am ersten und Akt IV am zweiten Tag spielen, wird durch zwei indirekte Zeitangaben deutlich. In IV, 2 sagt Chlestakov, monologisierend: „Gestern beim Frühstück hat man mir scheinbar irgend was eingeflößt.“ Und in IV, 9 sagt Osip zu Chlestakov: „Wir haben es uns zwei Tage lang hier gutgehen lassen.“ Das Geschehen des fünften Akts könnte sich auch am dritten Tag ereignen, aber da ist Chlestakov ohnehin abgereist. Trotz der freieren Handhabung der Zeit kann man sagen, daß sich Gogol’ im „Revizor“ noch einmal mit Erfolg an die – von Puškin schon als „unglaubwürdig“ verworfenen – „drei Einheiten“ hält. Nach Terc [= Sinjavskij] 1975, S. 110 f., der die Handlung des „Revizor“ allerdings irrtümlich „auf einen einzigen tollen Tag“ wie in Beaumarchais’ „La folle journée ou Le mariage de Figaro“ reduziert, hat außer Gogol’ noch kein russischer Dramatiker seine „Reifeprüfung“ in den drei Einheiten abgelegt. V. Klotz, Kompromittierende Bühnenbriefe. In: Theater heute 11,12. 1970, S. 3. Ebd. Jurij Mann bezeichnet die Furcht im „Revizor“ als eine der „Hauptantriebskräfte der Komödienhandlung“. Mann 1966, S. 38. Unterstrichen wird das Zwillingshafte der in der Commedia dell’arte verwurzelten Figuren Bobčinskij und Dobčinskij sowohl durch die Klangähnlichkeiten der Familiennamen und die Identität von Vor- und Vatersnamen als auch durch das meist gemeinsame Auf-

478

30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

40 41

42 43

44 45

Literatur und Anmerkungen

treten sowie die Gleichheit in der äußeren Erscheinung („klein“, „kurzbeinig“, „ein Bäuchlein“) und die „sehr schnelle“, von „lebhafter Gestik“ begleitete Sprechweise. Klotz, s. Anm. 26. Der Hinweis auf Klees Radierung findet sich bei Gerigk 1976, S. 172. Das betont zu Recht Hans-Jürgen Gerigk gegenüber den häufigen Ungenauigkeiten der Forschung in diesem Punkt. Ebd., S. 170 ff. Russ. „gosudarstvennyj čelovek“, eine typisch Gogol’sche Wortprägung, die, kaum angemessen übersetzbar, ohne nähere Kennzeichnung auf eine Person aus Regierungskreisen weist. Mit seiner Warnung „Wenn nun plötzlich ein anderer kommt?“ wird Osip am Ende recht behalten, ein Indiz für die – in der Komödientradition nicht seltene – Tatsache, daß der Diener den Herrn an Klugheit, Gewitztheit und Lebenskenntnis übertrifft. Klotz 1980, S. 43. Wenn Lüge, wie von Augustinus definiert, eine „Aussage“ ist „mit der Absicht, die Unwahrheit zu sagen“, dann lügt Chlestakov eigentlich gar nicht. A. Augustinus, Die Lüge und Gegen die Lüge. Würzburg 1953, S. 6. Auch Schamma Schahadat, die ihre These von Rußland als „Reich der falschen Zeichen“ an der Dramatik von Gogol’, Suchovo-Kobylin und Ėrdman exemplifiziert, sieht Chlestakov vornehmlich als „Phantast und als Phantasma“. Schahadat 1997, S. 117. Eine treffende Formulierung Schahadats. Ebd., S. 118. Nach dem Wolffianer Friedrich Christian Baumeister ist eine Unwahrheit nur dann als Lüge zu bezeichnen, wenn sie „dem Sprechenden selbst oder anderen einen Schaden zufügt“. Zit. nach: G. Bien, Lüge. In Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. J. Ritter. 13 Bde. Basel 1971–2007. Bd. 5, Sp. 538. Gogol’, s. Text, S. 100. Dies im Unterschied zu meiner früheren Verwendung der Begriffe „Bestechung“ und „Bestechlichkeit“ in bezug auf IV, 3–7. Zelinsky 1971, S. 26, und 1973, S. 603. Die Korrektur erstmals schon in: Zelinsky 1986, S. 80. Vgl. auch Gerigk 1976, S. 171 f. – Dagegen fällt Schamma Schahadat wieder hinter diese Einsicht zurück, wenn sie schreibt: „Beide Gesprächspartner [die Beamten und Chlestakov] wissen, daß es sich um eine Bestechung handelt, ohne sie zu benennen.“ Schahadat 1997, S. 113. Peter Deutschmann stellt daher zu Recht fest, Schahadat übersehe, „daß Chlestakov den Bestechungsversuch offenbar gar nicht richtig begreift“ und gehe „von der Annahme aus, daß Chlestakov symmetrisch auf das Angebot der Beamten eingeht und ebenfalls die äsopische Sprache verwendet.“ Deutschmann 2007, S. 87. Terc [= Sinjavskij] 1975, S. 113. Sein Interesse an der Weiblichkeit bekundet Chlestakov auch schon im vorausgehenden Monolog (II, 5), in dem er sich in seiner Phantasie ausmalt, wie er, in einer prächtigen Kutsche nach Petersburg zurückgekehrt, im Salon dem „hübschen Töchterchen“ eines Gutsbesitzers den Hof machen wird. Die Anrede, die er in dem fiktiven Dialog benutzt, „gnädiges Fräulein“ (sudarynja) kehrt, wie Reinhard Lauer beobachtet hat, in den Begegnungen mit der Tochter des Stadthauptmanns wieder, zuerst in der Begrüßungsszene (III, 6) und dann in der Werbungsszene (IV, 12). Lauer 1992, S. 84. Zu Chlestakov als Spieler und zum „Revizor“ als Spiel vgl. ausführlicher Zelinsky 1973, S. 599 ff. Sumarokov hat dieses Motiv sogar zum Thema einer seiner Komödien gemacht: dem Dreiakter „Mat’ – sovmestnica dočeri“ (Die Mutter als Rivalin der Tochter, 1772). In der französischen Komödienkunst schon vorher in untergeordneter Stellung verbreitet, begegnet es in der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts beispielsweise noch in Klušins „Smech i gore“ (Lachen und Leid, 1793) sowie in Vaudevilles von Dmitrij Lenskij und Anatolij Koni. Vgl. Vojtolovskaja, 1971, S. 209. – Zu Lenskij ausführlich C. Dürr, Das

Nikolaj Gogol’: Revizor

46

47 48

49 50 51 52 53

54 55 56 57

58 59 60

479

russische Vaudeville am Beispiel der Stücke von D. T. Lenskij (1828–1855) und ihrer französischen Vorlagen. Wiesbaden 2000. Reinhard Lauer sieht in der Verwendung dieses Vokabulars nicht nur eine parodistische Absicht, sondern darüber hinaus auch eine „allgemeine Persiflage flacher Liebespoesie“, was er mit dem Aufweis von zwei Prätextbeziehungen zu Lomonosovs geistlicher Hiobs-Ode von 1751 und zu Karamzins Erzählung „Ostrov Borngol’m“ (Insel Bornholm, 1794) begründet, die in Chlestakovs Liebeserklärungen eingelassen sind. Lauer 1992, S. 84 ff. Zur Liebesintrige als Bauelement der Komödie vgl. N. Frye, Shakespeares Vollendung. Eine Einführung in die Welt seiner Komödien. München 1966, S. 92 ff. Beispiele sind Schnitzlers „Reigen“ (1896) und Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ (1939), während Gerhart Hauptmanns Komödie „Kollege Crampton“ (1891) noch den gleichen Zwiespalt aufweist wie Gogols „Revizor“ – insofern sie nämlich „streng pyramidal gebaut ist, aber inhaltlich eine reine Kreisbewegung beschreibt“. R. Grimm, Pyramide und Karussell. In: Beiträge zur Poetik des Dramas. Hg. W. Keller, Darmstadt 1976, S. 371. P. A. Vjazemskij, „Revizor“. Komedija, soč. N. Gogolja. In: Ders., Sočinenija. Hg. M. I. Gillel’son. 2 Bde. Moskau 1982. Bd. 2, S. 160 f. Das bestätigt Vasilij Gippius mit seiner Aussage: „Gogol’ schwebte nicht die Entlarvung der Staatsmaschinerie als solcher vor, aber er tat auch nichts zu ihrer Verteidigung.“ Zit. nach: J. Holthusen, Nachwort. In: N. Gogol, Sämtliche Dramen. München 1974, S. 536. Gogol’, s. Text, Bd. 14, S. 34 f. Vgl. Zelinsky 1973, S. 589 ff. Gogol’, s. Text, Bd. 8, S. 400, 396 ff. – Ungeachtet dessen erinnert Reinhard Lauer an die „Folie der attischen Komödie“, die Vjačeslav Ivanov einst entdeckt hat und die von der Forschung bisher zu wenig beachtet worden sei. Dieser Bezug scheint mir weniger in gesellschaftlicher als in struktureller Hinsicht von Bedeutung zu sein. Die von Lauer erwähnten Momente der Parabase sowie der für den Handlungsverlauf wesentlichen Anagnorisis, Peripetie und Katastrophe sind aber tatsächlich „in einer an die antike Dramaturgie gemahnenden elementaren Wucht verwirklicht“. Lauer 1992, S. 95. Damit nahm er eine „scharfsinnige“ Wendung Vjazemskijs auf. Gogol’, s. Text, Bd. 8, S. 396. Später bezeichnete Odoevskij, die Reihe erweiternd, Gogol’s „Revizor“ als die dritte Tragödie unter den russischen Komödien. Richard Peace bestätigt dies, wenn er vom „Thema der Stadt als Mikrokosmos“ spricht. Peace 1981, S. 158. Zur Bedeutung und Entwicklung des Rangmotivs in Gogol’s „Revizor“ vgl. Lauer 1992, S. 75 ff. Zur Anrede-Etikette als Ausdruck sozialer und lebensweltlicher Ordnungen in Rußland und im „Revizor“ vgl. Jekutsch 1993, S. 539–559. Der Rang des Stadthauptmanns wird im Stück nicht direkt genannt. Doch es ist anzunehmen, daß Dmuchanovskij den bis zum 19. Jahrhundert in Rußland für Stadtbefehlshaber üblichen gehobenen militärischen Rang eines Oberst, Oberstleutnant oder Major innehat. Vgl. Lauer 1992, S. 77. Klotz 1980, S. 38. Zur Entwicklung des Geldmotivs vgl. auch Lauer 1992, S. 80 ff. „Im allgemeinen Bewußtsein verband sich das Bild eines Beamten mit dem eines bestechlichen Rechtsverdrehers“, schreibt Jurij Lotman in seiner Kulturgeschichte Rußlands. „Die Unklarheit der Gesetze und der allgemeine Geist staatlicher Willkür, die sich in der Beamtenbürokratie am deutlichsten äußerten, führten dazu, daß die russische Kultur im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht eine einzige Gestalt eines unvoreingenommenen Richters, eines gerechten Administrators, eines uneigennützigen Verteidi-

480

61 62 63

64 65 66 67 68

69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88

Literatur und Anmerkungen

gers der Schwachen und Unterdrückten hervorzubringen vermochte.“ Ju. Lotman, Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I. Köln 1997, S. 24. Klotz 1980, S. 38. Gogol’, s. Text, S. 9 („Zamečanija dlja gg. akterov“). Daß die Beamten nicht klug sind, zeigt sich schon ganz am Anfang, wenn sie spekulieren, weshalb ein Revizor zu ihnen kommen könnte (I, 1). Während der Stadthauptmann an „Schicksal“ denkt („Jetzt sind wir an der Reihe“) vermutet der Richter einen „politischen Hintergrund“ („Rußland... will Krieg führen“). N. Gogol, Der Revisor. Komödie in 5 Aufzügen. Übers. J. von Guenther. Stuttgart 1954 (= Reclam 837), S. 10. Gogol’, s. Text, Bd. 5, S. 169. Terc [= Sinjavskij] 1975, S. 103. Aristoteles, Poetik. Hg. u. übers. M. Fuhrmann. München 1976, S. 48. Vgl. dazu auch N. Hartmann, Ästhetik. 2. Aufl. Berlin 1966, S. 421 f. Stellvertretend für die eine Meinung (die Überführung durch die gerechte Regierung): Ju. Mann 1966, S. 70, und für die andere Meinung (die „Akteure“ gehen „nach einem Fehlstart erneut in die Startlöcher“ und begegnen der „neuen, eigentlichen Gefahr“ mit „neuen Mitteln, mit besseren wahrscheinlich“): W. Hinck, Vom Ausgang der Komödie. Exemplarische Lustspielschlüsse in der europäischen Literatur. Opladen 1977, S. 33. Gogol’, s. Text, Bd. 8, S. 440. Ebd. Ebd. Terc [= Sinjavskij] 1975, S. 108. Gogol’, s. Text, Bd. 8, S. 186. Ebd. S. 186 f. Hinck, s. Anm. 68, S. 33. Klotz, s. Anm. 26, S. 3. Darauf, daß es sich hier um ein Relikt der illusionsaufhebenden Parabase handelt, die den ursprünglichen Kern und das besondere Merkmal der antiken Komödie bildet, hat zuerst Vjačeslav Ivanov aufmerksam gemacht. Ivanov 1926, S. 93 ff. Gogol’ selbst charakterisiert Chlestakov in „Preduvedomlenie dlja tech, kotorye poželali by sygrat’ kak sleduet ‚Revizora’“ als die „phantasmagorische Person“, die wie der verkörperte Trug in einer Trojka „Gott weiß wohin“ entschwindet. Gogol’, s. Text, S. 118. V. Nabokov, Nikolai Gogol. Oxford 1989, S. 59. Brigitte Schultze hat im Stück „etwa 50 direkte Nennungen des Teufels und ungefähr doppelt soviele indirekte Hinweise auf die böse Kraft“ gezählt. Schultze 2000, S. 252. So zu Recht Ebbinghaus 1993, S. 305. „Von hier aus kann man drei Jahre galoppieren“, kommentiert der Stadthauptmann das Entlegene des Schauplatzes, „und kommt immer noch nicht in ein anderes Land“ (I, 1). B. Zelinsky, Michail Bulgakov: Master i Margarita (Der Meister und Margarita). In: Der russische Roman. Hg. B. Zelinsky. Köln 2007, S. 390 f. Gogol’, s. Text Bd. 14, S. 154. Ebd., Bd. 3, S. 46. Ebd., S. 45 – Ausführlicher dazu B. Zelinsky, Schönheit und Schein in Gogol’s „Nevskij prospekt“ und „Portret“. In: Ders., Russische Romantik. Köln 1975, S. 314 ff. Ebenso, nur mit anderen Folgerungen, Peace 1981. S. 177. Daß Sinjavskij den Stadthauptmann von hier aus sogar in die Nähe King Lears rückt, ist keineswegs abwegig: „Wie sollte man mit dem gestürzten Skvoznik-Dmuchanovskij kein Mitleid empfinden, wenn er wie König Lear, von seinen Kindern entehrt, dem Unwetter ausgesetzt, zum Narren wird, sich selbst mit der Faust droht und seine Verblendung verflucht?“ Terc [= Sinjavskij] 1975, S. 132.

Ivan Turgenev: Mesjac v derevne

481

89 W. Hildesheimer, Über das absurde Theater. Eine Rede. In: Ders., Wer war Mozart? Becketts „Spiel“. Über das absurde Theater. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1968, S. 86.

Ivan Turgenev (1818–1883)

S. 188

Text „Ein Monat auf dem Lande“ (Mesjac v derevne) nach: I. S. Turgenev, Polnoe sobranie sočinenij i pisem. Hg. M. P. Alekseev u. a. 30 Bde. 2. Aufl. Moskau 1978 ff. Sočinenija. Bd. 2, S. 285–397. Die in Klammern gesetzten Ziffern beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Ein Monat auf dem Lande. Übers. v. P. Urban. Frankfurt/M. 1981. Literatur E. ZABEL, Iwan Turgenjew als Dramatiker. In: Literarische Streifzüge durch Rußland. Berlin 1885, S. 135–177. TH. FONTANE, Turgenjew. „Natalie“ [1889]. In: Sämtliche Werke. Hg. W. Keitel u. H. Nürnberger. 20 Bde. München 1962–1986. Abt. III. Bd. 2, S. 804–806. L. GROSSMAN, Teatr Turgeneva. Petersburg 1924. I. ĖJGES, P’esa „Mesjac v derevne“ I. S. Turgeneva. In: Literaturnaja učeba. 1938. 12, S. 56–78. G. P. BERDNIKOV, Ivan Sergeevič Turgenev. Moskau 1951. K. S. STANISLAVSKIJ, „Ein Monat auf dem Lande“. In: Ders., Mein Leben in der Kunst. Berlin 1951, S. 550–560. G. P. BERDNIKOV, Turgenev-dramaturg. In: Turgenev i teatr. Hg. G. P. Berdnikov. Moskau 1953, S. 3–93. N. M. KUČEROVSKIJ, Tri redakcii komedii I. S. Turgeneva „Mesjac v derevne“. In: Učenye zapiski Kalužskogo pedagogičeskogo instituta 4. 1958, S. 165–181. E. M. AKSENOVA, Dramaturgija I. S. Turgeneva. In: Tvorčestvo I. S. Turgeneva. Sbornik statej. Hg. S. M. Petrov. Moskau 1959, S. 158– 186. R. ŚLIWOWSKI, „Postawiłem przed sobą dość skomplikowane zadanie natury psychologicznej...“. In: Ders., Od Turgieniewa do Czechowa. Warschau 1970, S. 64–74. H.-H. KRAUSE, Ivan Sergeevič Turgenev, „Ein Monat auf dem Lande“. In: Ders., Die vorrevolutionären russischen Dramen auf der deutschen Bühne. Grundzüge ihrer deutschen Bühneninterpretation im Spiegel der Theaterkritik. Emsdetten 1972, S. 40–43. M. OZDROVSKY, The Plays of Turgenev in Relation to Nineteenth Century European and Russian Drama. Diss. New York 1972. P. BRANG, Ein Monat auf dem Lande. In: Ders., I. S. Turgenev. Sein Leben und sein Werk. Wiesbaden 1977, S. 197–199. L. M. LOTMAN, Dramaturgija I. S. Turgeneva. In: I. S. Turgenev, Polnoe sobranie sočinenij i pisem. Hg. M. P. Alekseev u. a. 30 Bde. Moskau 1978 ff. Sočinenija. Bd. 2, S. 529–560. G. P. BERDNIKOV, Istoričeskie sud’by turgenevskogo teatra. In: Turgenev e la sua opera. Colloquio italo-sovietico. Rom 1980, S. 7–14. E. MEYER, Iwan Turgenjews „Ein Monat auf dem Lande“. In: 4. Duisburger Akzente – Rußlands große Realisten. Duisburg 1980, S. 77–82. W. SMYRNIW, Turgenev’s Early Works. Oakville, Ontario 1980. A. E. ŠOL’P, „Evgenij Onegin“ Čajkovskogo i „Mesjac v derevne“ Turgeneva. Problema sjužeta. In: Dies., „Evgenij Onegin“ Čajkovskogo. Očerki. Leningrad 1982, S. 43–53. W. KOSCHMAL, Das poetische System der Dramen I. S. Turgenevs. Studien zu einer pragmatischen Dramenanalyse. München 1983. R. FREEBORN, Turgenev, the Dramatist. In: Zapiski russkoj akademičeskoj gruppy v SŠA 16. 1983, S. 57–74. A. GUÉDROITZ, „Mesjac v derevne“. In: Zapiski russkoj akademičeskoj gruppy v SŠA 16. 1983, S. 75–86. C. CULIANU-GEORGESCU, Turgenev’s “A Month in the Country” and Balzac’s “La Marâtre”. The Originality of Turgenev’s Play. In: Russian Literature 16. 1984, S. 385–410. A. DONSKOV, Turgenev and Drama. In: Russian Language Journal 38. 1984, S. 103–112. H. KOTTMANN, Ein Monat auf dem Lande (Mesjac v derevne). In: Dies., Ivan Turgenevs Bühnenwerk. Frankfurt/M. 1984, S. 94–104. P. THIERGEN, Iwan Turgenjew: Ein Monat auf dem Lande. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 88–102. I. L. VIŠNEVSKAJA, Teatr Turgeneva. Moskau 1989. CH. CHALACIN’SKA-VERTELJAK, „Mesjac v derevne“ I. S. Turgeneva v perspektive žanroobrazujuščego processa russkoj dramy XIX i rubeža XIX–XX vv. In: I. S. Turgenev. Žizn’, tvorčestvo, tradicii. Hg. Ž. Zël’dcheji-Deak u.

482

Literatur und Anmerkungen

A. Cholloš. Budapest 1994, S. 204–212. P. THIERGEN (Hg.), Ivan S. Turgenev. Leben, Werk und Wirkung. München 1995. A. G. F. VAN HOLK, A Note on Character Themes in Drama. Čackij and Rakitin. In: Ders., Theme and Space. Text-Linguistic Studies in Russian and Polish Drama. With an Outline of Text Linguistics. Amsterdam 1996, S. 15–22. A. G. F. VAN HOLK, The Initial Theme in Turgenev’s “A Month in the Country” and “Uncle Vanja”. In: Ders., Theme and Space. Text-Linguistic Studies in Russian and Polish Drama. With an Outline of Text Linguistics. Amsterdam 1996, S. 53–64. C. MARCINKIEWICZ, Dramatopisarstwo Iwana Turgieniewa lat 1843-1850. Częstochowa 2000. A. G. KOLESNIKOV, Soedinenie prirody i iskusstva. Teatral’naja ėstetika I. S. Turgeneva. Moskau 2003. R. DIXON, Anatolii Efros’ Production of “A Month in the Country”. A Dialogue with Stanislavskii. In: Turgenev and Russian Culture. Essays to Honour Richard Peace. Hg. J. Andrew u. a. Amsterdam 2008, S. 193–204. R. IBLER, Die Tragik der lächerlichen Welt. I. S. Turgenevs „Mesjac v derevne“. In: Ders., Die russische Komödie. Ein gattungsgeschichtlicher Überblick von den Anfängen bis A. P. Tschechow. Stuttgart 2008, S. 235–254. C. MARSH, PostWar British “Month(s) in the Country”. In: Turgenev and Russian Culture. Essays to Honour Richard Peace. Hg. J. Andrew u. a. Amsterdam 2008, S. 221–236. Anmerkungen 1 Vgl. Turgenev, s. Text, Bd. 10, S. 351, Bd. 11, S. 88. 2 Ebd., Bd. 1, S. 236 f. 3 Ebd., S. 276 (im Original kursiv!). Vgl. auch Donskov 1984, S. 104, und A. A. Anikst, Teorija dramy v Rossii ot Puškina do Čechova. Moskau 1972, S. 183 ff. 4 Vgl. dazu P. Thiergen, Roman und Drama. Theorie und Praxis am Beispiel von Turgenevs frühen Romanen. In: Studien zu Literatur und Aufklärung in Osteuropa. Hg. H.-B. Harder u. H. Rothe. Gießen 1978, S. 337–356, hier: S. 345 f., 354. Hier auch weitere Literatur. Vgl. ferner Anikst, s. Anm. 3, S. 141 ff. 5 Einen Überblick über „Turgenev und das Theater“ gibt Kottmann 1984, S. 7–13. Siehe auch Brang 1977, S. 183–186, sowie Urban, s. Text, S. 119–122 („Notiz über Turgenev als Dramatiker“). Zuletzt Kolesnikov 2003. 6 Turgenev wirft zum Beispiel Ostrovskij eine „falsche Manier“ überzogener „psychologischer Analyse“ und verzettelter Handlung vor, ist aber selbst ein Vertreter des sogenannten psychologischen Dramas mit reduzierter äußerer Handlung. Vgl. Turgenev, s. Text, Bd. 4, S. 491 ff., und dazu Anikst, s. Anm. 3, S. 187 f. 7 Vgl. Turgenev, s. Text, Bd. 2, S. 481. 8 Vgl. F. Th. Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Hg. R. Vischer. 6 Bde. 2. Aufl. München 1922–1923. Bd. 6, S. 261 ff. 9 Vgl. dazu Kolesnikov 2003, S. 46 ff. 10 Vgl. Turgenev, s. Text, Pis’ma, Bd. 11, S. 58, 139 f., 432, 475 f. u. ö. 11 Der Text ist abgedruckt in: Turgenevskij sbornik. Hg. M. P. Alekseev u. N. V. Izmajlov. 5 Bde. Moskau 1964–1969. Bd. 1, S. 73–195. Zur Textgeschichte vgl. ansonsten Turgenev, s. Text, Bd. 2, S. 636 ff., sowie den (nicht ganz fehlerfreien) Überblick bei Urban, s. Text, S. 123–128. 12 Vgl. dazu Stanislavskij 1951, S. 550 ff. 13 Vgl. dazu Kolesnikov 2003, S. 53 und 102 ff., sowie Dixon 2008, passim. 14 Zur deutschen Aufführungsgeschichte vgl. Krause 1972, S. 40–43, 198. Dazu auch Fontane 1889, S. 804 ff. 15 Vgl. Kolesnikov 2003, S. 106 ff. 16 Vgl. Turgenev, s. Text, Bd. 2, S. 513, 691, auch Urban, s. Text, S. 143. 17 Culianu-Georgescu 1984, S. 387. Vorsichtig auch Koschmal 1983, S. 24, 26 f., 197, sowie Kottmann 1984, S. 18 f. 18 Vgl. Turgenev, s. Text, Bd. 2, S. 551.

Ivan Turgenev: Mesjac v derevne 19 20 21 22

23 24 25 26 27 28 29 30

31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47

483

Koschmal 1983, S. 251. Vgl. Turgenev, s. Text, Bd. 2, S. 638 f., und Urban, s. Text, S. 123 f. Ähnlich Koschmal 1983, S. 193, 200 f., 377 u. ö. Zur kontrastiven Idealtypik von Hamlet und Don Quijote in der Sicht Turgenevs vgl. seinen Essay „Hamlet und Don Quijote“ (entworfen seit den vierziger Jahren, erschienen 1860). Siehe dazu E. Kagan-Kans, Hamlet and Don Quixote. Turgenev’s Ambivalent Vision. The Hague 1975. Vgl. Turgenevs Bemerkung „Vse delo v Natal’e Petrovne“, s. Text, Bd. 2, S. 646, 654. Vgl. die Titelvariante „Dve ženščiny“! Gute Beobachtungen zur „dichotomischen Grundstruktur“ in Turgenevs Dramen finden sich bei Koschmal 1983, passim. G. Freytag, Die Technik des Dramas. 13. Aufl. Leipzig 1922, S. 3. Ebd., S. 18, 93. – Das Duell als „wesentliches Grundmuster“ des geschlossenen Dramas behandelt V. Klotz, Geschlossene und offene Form im Drama. 8. Aufl. München 1976, S. 29 f., 90. Vgl. auch Koschmal 1983, S. 32, 34 f., 253, 394 (Anm. 83) u. ö. Zur zyklischen Zeit im Drama vgl. M. Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse. München 1977, S. 376 ff., und Klotz, s. Anm. 27, S. 113 ff. Zur „implizierten Zukunft“ am Beispiel Čechovs vgl. F. H. Link, Dramaturgie der Zeit. Freiburg 1977, S. 82. Zu diesem Strukturgegensatz vgl. die lehrreiche Abhandlung von R. Grimm, Pyramide und Karussell. In: Beiträge zur Poetik des Dramas. Hg. W. Keller. Darmstadt 1976, S. 352–382. Vgl. die Definition von Paul Stefanek: „Das Stationendrama ist monologisch, statisch und zukunftslos.“ P. Stefanek, Zur Dramaturgie des Stationendramas. In: Beiträge zur Poetik des Dramas. Hg. W. Keller. Darmstadt 1976, S. 386. Gustav Freytag, s. Anm. 26, S. 100 f., stand dem „Situationsstück“ natürlich kritisch gegenüber. S. Beckett, Endspiel. Fin de partie. Endgame. Frankfurt/M. 1996, S. 11. Vgl. die russische Übersetzung S. Bekket, V ožidanii Godo. P’esy. Moskau 2009, S. 110. Vgl. hierzu Kottmann 1984, S. 94 ff., 105 ff. Ebd., S. 95. Meyer 1980, S. 78. Vgl. Turgenev, s. Text, Bd. 2, S. 481 (Vorwort zu „Sceny i komedii“, 1869), sowie 648. Hierzu vgl. vor allem Koschmal 1983, S. 3, 43 ff. und passim. Špigel’skij wechselt allerdings je nach Dialogpartner von der zwei- zur eindeutigen Aussage. Vgl. ebd., S. 89, 110 f. Vgl. ebd., S. 119 f., 289–294, 378 u. ö.; auch Kottmann 1984, S. 109. Zu Čechov vgl. P. Szondi, Theorie des modernen Dramas. 4. Aufl. Frankfurt/M. 1967, S. 36 ff. Vgl. die statistischen Angaben bei G. H. Dahms, Funktionen der Ascriptionen zum Sprechtext im russischen Drama von 1747 bis 1903. Eine Typologie. Bonn 1978, S. 167 ff. Vgl. ebd., S. 99 ff., 155 f., 200 f., 217. Vgl. auch Koschmal 1983, S. 33, 308 ff. Zum „Mehrgespräch“ vgl. Pfister, s. Anm. 29, S. 197. Vgl. B. Asmuth, Einführung in die Dramenanalyse. 2. Aufl. Stuttgart 1984, S. 65. Und eine Selbstcharakteristik Turgenevs, der selber „the great observer“ war, vgl. Donskov 1984, S. 103. Zur Unterscheidung von statischer und dynamischer Figurenkonzeption vgl. Pfister, s. Anm. 29, S. 241 ff. Vgl. ebd., S. 242. Turgenev, s. Text, Bd. 5, S. 321. A. Schopenhauer, Sämtliche Werke. Hg. J. Frauenstädt. 6 Bde. 2. Aufl. Leipzig 1877. Bd. 2, S. 382. Vgl. ebd. Schopenhauers Klage, „daß diese Menschenwelt das Reich des

484

48 49 50 51 52

53 54 55 56 57 58 59 60

61 62 63

64 65 66

Literatur und Anmerkungen

Zufalls und des Irrthums ist“. Zu Turgenevs Auseinandersetzung mit Schopenhauer vgl. das instruktive Buch von S. McLaughlin, Schopenhauer in Rußland. Zur literarischen Rezeption bei Turgenev. Wiesbaden 1984. Siehe auch P. Thiergen, Schopenhauer in Rußland. In: Schopenhauer-Jahrbuch 85. 2004, S. 131–166. Vgl. Koschmal 1983, S. 17. Zur Narrenthematik und Gattungsfrage vgl. ebd., S. 246, 252, 254 ff., 271 ff. Siehe auch Kottmann 1984, S. 111. Schopenhauer, s. Anm. 47, S. 380. K. S. Guthke, Die moderne Tragikomödie. Theorie und Gestalt. Göttingen 1968, S. 107, ähnlich auch 119, 169. Vgl. M. Foucault, Sexualität und Wahrheit. 3 Bde. Frankfurt/M. 1977–1986. Bd. 1, Kap. IV: Das Dispositiv der Sexualität. Siehe auch demnächst P. Thiergen, Allianzdispositiv und Sexualitätsdispositiv. Kann man Turgenevs und Čechovs Dramen von Foucault her lesen? Vgl. zudem O. Charchordin (Hg.), Mišel’ Fuko i Rossija. Petersburg 2001. Vgl. dazu Ph. Sarasin, Michel Foucault zur Einführung. Hamburg 2005, S. 162 ff. Vgl. N. Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1983. Siehe dazu unter anderem C. Kersten, Orte der Freundschaft. Niklas Luhmann und „Das Meer in mir“. 2. Aufl. Berlin 2009, S. 35 f., 46 f. u. ö. Zur Verbindungslinie Turgenev – Čechov im Drama vgl. auch Dahms, s. Anm. 39, S. 215 f.; Koschmal 1983, S. 42, 292 f., 361, 378 u. ö.; Kottmann 1984, S. 110 f., 114 f. Stanislavskij 1951, S. 551 f. Näheren Einblick in seine Spielauffassung gibt K. S. Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. 2 Bde. Berlin (Ost) 1984. Siehe auch Ders., Moja žizn’ v iskusstve. Moskau 1980, S. 338–345. J. Barnes, Der Zitronentisch. Erzählungen. Aus dem Englischen von G. Krueger. 3. Aufl. Köln 2005, S. 105–124. Zu diesem Kennzeichen des offenen Dramas vgl. Klotz, s. Anm. 27, S. 114, 218 ff. Hierzu gehören auch sprechende Namen (vgl. Urban, s. Text, S. 156, und Koschmal 1983, S. 323 ff.), Raumsymbolik (vgl. Kottmann 1984, S. 107), verweisende Requisiten und funktionale Anekdoten (zum Beispiel Špigel’skijs Geschichte von der Verenicyna im ersten Akt), die wir aus Raumgründen nicht näher besprochen haben. Zum Phänomen der Stimmung vgl. das wichtige Buch von O. F. Bollnow, Das Wesen der Stimmungen. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1956. Zu diesen und ähnlichen Äußerungen Turgenev, s. Text, Bd. 2, S. 291, 481, 644, 650 ff., 686. Vgl. seinen Brief an A. S. Suvorin vom 21. November 1895. Noch Vladimir Nabokov sagte von Čechov: „Seine Qualitäten als Dramatiker sind lediglich seine Qualitäten als Verfasser von langen Kurzgeschichten“ (V. Nabokov, Die Kunst des Lesens. Meisterwerke der russischen Literatur. Hg. F. Bowers. Frankfurt/M. 1984, S. 355). – Über „Mesjac v derevne“ hat sich Čechov, der der russischen Dramatik ohnehin skeptisch gegenüberstand, zwiespältig geäußert. Er rechnete das Drama zwar zu den „guten, literarischen Stücken“ (Brief an Olga Knipper vom 1. Januar 1903), hielt es aber gleichwohl und merkwürdigerweise für „veraltet“ (Brief an dieselbe vom 19. März 1903). Brief an M. P. Čechov vom 18. Oktober 1896. Für den Regisseur Michael Thalheimer ist Čechov ein „Wegbereiter Becketts“. Vgl. Süddeutsche Zeitung Nr. 161 vom 15. 7. 2004, S. 11. Ganz ähnlich formuliert Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 158 vom 10. 7. 2004, S. 41. Marsh 2008, S. 228.

Aleksandr Ostrovskij: Les

Aleksandr Ostrovskij (1823–1886)

485 S. 205

Text „Les“ (Der Wald) nach: A. N. Ostrovskij, Polnoe sobranie sočinenij. Hg. G. I. Vladykin u. a. 15 Bde. Moskau 1949–1953. Bd. 6, S. 7–95. Die in Klammern gesetzten römischen Ziffern beziehen sich auf die Akte, die arabischen auf die Szenen dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Der Wald. Übers. v. P. Urban. Frankfurt/M. 1981. Literatur J. PATUILLET, Ostrovski et son théâtre de mœurs russes. Paris 1912. V. SACHNOVSKIJ, Teatr A. N. Ostrovskogo. Moskau 1920. V. FILIPPOV, Teatr Ostrovskogo. In: A. N. Ostrovskij. Dnevniki i pis’ma. Teatr Ostrovskogo. Hg. V. Filippov. Moskau 1937, S. 263–298. K. N. DERŽAVIN, A. N. Ostrovskij. In: Klassiki russkoj dramy. Hg. V. A. Desnickij. Moskau 1940. A. I. ORLOV, K voprosu o jazyke personažej komedii A. N. Ostrovskogo „Les“. In: Učenye zapiski Šujskogo pedagogičeskogo instituta 1955. 2, S. 31–44. E. IZMAJLOVA, Svoeobrazie chudožestvennoj formy komedii A. N. Ostrovskogo „Les“. In: Soobščenija instituta istorii iskusstv 1957. 10–11, S. 82–99. L. M. LOTMAN, A. N. Ostrovskij i russkaja dramaturgija ego vremeni. Leningrad 1961. E. G. CHOLODOV, Masterstvo Ostrovskogo. Moskau 1963. I. ESAM, Folkloric Elements as Communication Devices. Ostrovsky’s Plays. In: New Zealand Slavonic Journal 2. 1968, S. 67–88. N. HENLEY, Ostrovskij’s Play-Actors, Puppets, and Rebels. In: Slavonic and East European Journal 14. 1970, S. 317–325. JU. OSNOS, „Les“. In: Ders., V mire dramy. Moskva 1971, S. 261–297. A. L. ŠTEJN, Razgovor ob iskusstve [„Les“]. In: Ders., Master russkoj dramy. Ėtjudy o tvorčestve Ostrovskogo. Moskau 1973, S.220–251. T. N. PAVLOVA, E. G. CHOLODOV, A. N. Ostrovskij na sovetskoj scene. Stat’i o spektaklach raznych let. Moskau 1974. A. I. REVJAKIN, Iskusstvo dramaturgii A. N. Ostrovskogo. 2. Aufl. Moskau 1974. V. A. Sapogov, Nekotorye charakteristiki dramaturgičeskogo postroenija komedii A. N. Ostrovskogo „Les“. In: A. N. Ostrovskij i russkaja literatura. Hg. V. A. Sapagov u. a. Kostroma 1974, S. 60–69. A. I. ŽURAVLEVA, Dramaturgija A. N. Ostrovskogo. Moskau 1974. Z. ČERVJAKOVA, Dramaturgija A. N. Ostrovskogo. Minsk 1978. U. Steltner, Die künstlerischen Funktionen der Sprache in den Dramen von A. N. Ostrovskij. Gießen 1978. U. STELTNER, Zur Evolution des russischen Dramas. Ostrovskij und Čechov. In: Die Welt der Slaven 25. 1980, S. 1–21. M. L. HOOVER, The Ideal and Life. “The Forest”. In: Dies., Alexander Ostrovsky. Boston 1981, S. 86–91. A. I. ŽURAVLEVA, A. N. Ostrovskij – komediograf. Moskau 1981. A. ŠTEJN, Uroki Ostrovskogo. Iz opyta russkogo i sovetskogo teatra. Moskau 1984. U. STELTNER, Alexander Ostrowskij: Der Wald. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 117–132. A. I. ŽURAVLEVA, Tragedijnoe v dramaturgii Ostrovskogo. In: Vestnik Moskovskogo Universiteta. Seriia 9. Filologija 41, 3. 1986, S. 26–32. L. M. LOTMAN, Dramaturgija Ostrovskogo v svete problem sovremennoj kul’tury. Voprosy i razdum’ja. In: Russkaja literatura 30, 4. 1987, S. 116–133. Aleksander Ostrowski a problemy rozwoju dramatu rosyjskiego. Materiały konferencij naukowej zorganizowanej przez Instytut Rusycystyki Uniwersytetu Warszawskiego w dniach 20–21 listopada 1986 roku. Hg. R. Śliwowksi. Warschau 1991. M. L. ANDREEV, Metasjužet v teatre Ostrovskogo. Moskau 1995. A. I. ŽURAVLEVA, Teatr Ostrovskogo kak model’ nacional’nogo mira. In: Vestnik Moskovskogo Universiteta. Serija 9. Filologija 50, 5. 1995, S. 18–26. N. ŽURAVKINA, Ženščina i „ženskij vopros“ v p’esach Aleksandra Ostrovskogo. In: New Zealand Slavonic Journal 31. 1997, S. 175–191. A. I. ŽURAVLEVA, Cerkov’ i christianskie cennosti v chudožestvennom mire A. N. Ostrovskogo. In: Russkaja literatura XIX veka i christianstvo. Hg. V. I. Kulešov. Moskau 1997, S. 119–126. A. I. ŽURAVLEVA, A. N. Ostrovskij. In: „Natural’naja škola“ i ee rol’ v stanovlenii russkogo realizma. Hg. I. P. Viduetskaja. Moskau 1997, S. 228–242. I. A. OVČINA, A. N. Ostrovskij. Ėtapy tvorčestva. Moskau 1999. K. SEALEY RAHMAN, Role or Reality. “The Forest”. In: Dies., Ostrovsky. Reality and Illusion. Birmingham 1999, S. 50–54. K. SEALY RAHMAN, Aleksandr Ostrovsky

486

Literatur und Anmerkungen

– Dramatist and Director. In: A History of Russian Theatre. Hg. R. Leach u. a. Cambridge 1999, S. 166–181. I. L. VIŠNEVSKAJA, Talant i poklonniki. A. N. Ostrovskij i ego p’esy. Moskau 1999. A. I. ŽURAVLEVA, M. S. Makeev, Poreformennaja Rossija Ostrovskogo. Komedija „Les“. In: Dies., A. N. Ostrovskij. Moskau 2001, S. 56–76. R. WHITTAKER, Aleksandr Nikolaevich Ostrovsky. In: Russian Literature in the Age of Realism. Hg. A. Gillespie. Detroit, Michigan 2003, S. 279–299. R. IBLER, Die russische Komödie im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation. A. N. Ostrovskijs „Les“. In: Ders., Die russische Komödie. Ein gattungsgeschichtlicher Überblick von den Anfängen bis A. P. Tschechow. Stuttgart 2008, S. 255–273. Anmerkungen 1 Zur Einführung in das dramatische Schaffen Ostrovskijs vgl. unter anderem Lotman 1961; Cholodov 1963; V. Ja. Lakšin, Aleksandr Nikolaevič Ostrovskij. Moskau 1976; Žuravleva 1986; Ovčina 1999. Den wichtigsten Beitrag in deutscher Sprache hat Ulrich Steltner mit seiner ausführlichen Strukturuntersuchung zum dramatischen Gesamtwerk Ostrovskijs vorgelegt (Steltner 1978). 2 Eine Auswahl dieser Schriften ist enthalten in A. N. Ostrovskij, O literature i teatre. Hg. M. P. Lobanov. Moskau 1986. 3 Zu den Einflüssen der Vorgänger auf das Schaffen Ostrovskijs vgl. unter anderem A. L. Grišunin, Ostrovskij i Griboedov. In: Nasledie A. N. Ostrovskogo i sovetskaja kul’tura. Hg. S. E. Šatalov u. a. Moskau 1974, S. 77–92; S. A. Fomičev, „Gore ot uma“ v nasledii Ostrovskogo. In: A. N. Ostrovskij i literaturno-teatral’noe dviženie XIX–XX vekov. Hg. N. I. Pruckov. Leningrad 1974, S. 7–27; V. Ja. Lakšin, Ostrovskij i Gogol’. In: A. N. Ostrovskij i literaturno-teatral’noe dviženie XIX–XX vekov. Hg. N. I. Pruckov. Leningrad 1974, S. 44–62. 4 Zu den bekanntesten dieser Kaufmannsdramen gehören „Svoi ljudi – sočtemsja“ (Es bleibt ja in der Familie, 1850), „Bednost’ ne porok“ (Armut ist kein Laster, 1854) und „V čužom piru pochmel’e“ (Der bittere Rest beim fremden Fest, 1855). 5 Zur Gattungsproblematik bei Ostrovskij vgl. A. I. Žuravleva, Žanrovaja sistema dramaturgii A. N. Ostrovskogo. Diss. Moskau 1985. 6 Zum Komödienschaffen Ostrovskijs vgl. Žuravleva 1981. 7 Der mit dem Schaffen Ostrovskijs vertraute Leser bzw. Zuschauer weiß, daß auch die fiktive Kleinstadt an der Wolga, wo das berühmte Ehebruchsdrama „Groza“ (Das Gewitter, 1859) spielt, Kalinov heißt (zum Zusammenhang der beiden Dramen vgl. Osnos 1971, S. 261 f.). 8 Steltner 1986, S. 118. 9 Auf diese Zyklizität wurde in der Forschung wiederholt hingewiesen. Nicht zuletzt deswegen gilt „Les“ in kompositorischer Hinsicht als eines der besten Werke Ostrovskijs (zum Beispiel Hoover 1981, S. 90). Zu verschiedenen Detailfragen des dramatischen Aufbaus von „Les“ vgl. Sapogov 1974. 10 Ein ähnliches Verhalten findet sich später in Čechovs „Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten) in der Figur des Kaufmanns Lopachin, der einer Leibeigenenfamilie entstammt. 11 Vgl. dort I. Akt, 2. Szene. 12 „In the course of their visit, the two ‘actors’ quickly reveal the falsity of the ‘real’ characters on the estate. The ‘real’ people are role-playing far more than the ‘actors’, and for far less noble reasons“ (Sealey Rahman 1999, S. 52). 13 Zur modernen, aus der Verflechtung von Farce und Tragödie erwachsenden Ambivalenz von Čechovs Komödien vgl. W. Koschmal, Das Drama der russischen Moderne. In: Die literarische Moderne in Europa. Hg. H. J. Piechotta u. a. 3 Bde. Opladen 1994. Bd. 2, S. 364–366. Generell zur Beziehung von Ostrovskijs und Čechovs Dramatik vgl. Steltner 1980.

Lev Tolstoj: Vlast’ t’my

487

14 Vgl. hierzu Lotman 1961, S. 298 f.

Lev Tolstoj (1828–1910)

S. 218

Text „Vlast’ t’my“ (Macht der Finsternis) nach: L. N. Tolstoj, Polnoe sobranie sočinenij. Hg. V. G. Čertkov u a. 90 Bde. Moskau 1928–1958. Bd. 26, S. 121–243. Die römischen Ziffern beziehen sich auf die Akte, die arabischen auf die Auftritte dieser Ausgabe. Bei dreiteiligen Angaben bezeichnet die römische Ziffer den Akt, die erste arabische die Szene (scena) und die zweite arabische den Auftritt (javlenie). – Dt. Übers.: Macht der Finsternis oder Steckt die Kralle in der Falle, ist der Vogel schon verloren. Übers. v. W. Creutziger. In: Leo Tolstoi. Macht der Finsternis und andere Dramen. München 1979, S. 27–113. Literatur TH. FONTANE, Leo Tolstoi, „Die Macht der Finsternis“ [1890]. In: Ders., Sämtliche Werke. 24 Bde. Hg. E. Gross. München 1959–1975. Bd. 22,2, S. 727–729. P. I. BABKIN, O neprotivlenii zlu. Po povodu dramy Vlast’ t’my L’va Tolstago. Petersburg 1896. P. GOLDMANN, „Der Tod des Tintagiles.“ Von Maurice Maeterlinck. „Die Macht der Finsternis.“ Von Leo Tolstoi. In: Ders., Die „neue Richtung“. Polemische Aufsätze über Berliner Theater-Aufführungen. Wien 1903, S. 106–112. B. SHAW, Tolstoy. Tragedian or Comedian? In: The London Mercury 4. 1921, S. 31–34. W. ALLERHAND, Leo Tolstoj als Dramatiker. Mit besonderer Berücksichtigung der „Macht der Finsternis“ und ihrer Inszenierungs-Probleme. Ein Beitrag zur Erforschung Leo Tolstojs. Leipzig 1927. M. Bachtin, Predislovie (Dramatičeskie proizvedenija L. Tolstogo) [1929]. In: Ders., Literaturno-kritičeskie stat’i. Moskau 1986, S. 90– 99. N. K. GUDZIJ, „Vlast’ t’my“. Istorija pisanija, pečatanija i postanovki na scene „Vlasti t’my“. In: L. N. Tolstoj. Polnoe sobranie sočinenij. Hg. G. Čertkov u. a. 90 Bde. Moskau 1928–1958. Bd. 26, S. 705–736. M. B. CHRAPČENKO (Hg.), Tvorčestvo Tolstogo. Sbornik statej. Moskau 1954. V. N. RYŽOVA, Tolstoj v Malom teatre. In: L. N. Tolstoj v vospominanijach sovremennikov. Hg. N. N. Gusev u. V. S. Mišin. 2 Bde. Moskau 1955. Bd. 2, S. 5–7. K. N. LOMUNOV, „Vlast’ t’my”. In: Ders., Dramaturgija L. N. Tolstogo. Moskau 1956, S. 118–226. G. GIBIAN, Tolstoj and Shakespeare. S-Gravenhage 1957. W. PIEPER, „Die Macht der Finsternis“. In: L. N. Tolstoi. Aufsätze und Essays zum 50. Todestag. Hg. N. Ludwig. Halle (Saale) 1960, S. 77–86. N. N. ARDENS, Dramaturgija. In: Ders., Tvorčeskij put’ L. N. Tolstogo. Moskau 1962, S. 422–446. G. MAYER, Zum Verständnis der Werke. In: Leo N. Tolstoj. Dramen. Reinbek bei Hamburg 1966, S. 218–249. V. A. ŽDANOV, „Vlast’ t’my“. In: Ders., Ot „Anny Kareninoj“ k „Voskresenju“. Moskau 1967, S. 123–154. E. PECHSTEDT, L. N. Tolstojs Drama „Die Macht der Finsternis“ und die deutsche Theaterzensur. In: Zeitschrift für Slawistik 13. 1968, S. 558–564. R. F. CHRISTIAN, Art, Drama and the People. In: Ders., Tolstoy. A Critical Introduction. Cambridge 1969, S. 247–270. G. A. BJALYJ, „Vlast’ t’my“ v tvorčestve L. N. Tolstogo 80-ch godov. In: Russkaja literatura 26, 2. 1973, S. 71–92. D. MATUAL, Tolstoj’s “Vlast’ t’my”. History and Analysis. Microfilm. Ann Arbor, Michigan 1975. A. DONSKOV, Tolstoi and Drama. In: Canadian Slavonic Papers 18. 1976, S. 125–140. E. POLJAKOVA, Teatr L’va Tolstogo. Dramaturgija i opyty ee pročtenija. Moskau 1978. L. M. LOTMAN, Ėstetičeskie principy dramaturgii Tolstogo. In: L. N. Tolstoj i russkaja literaturno-obščestvennaja mysl’. Hg. G. Ja. Galagan u. N. I. Pruckov. Leningrad 1979, S. 239– 271. B. ZELINSKY, „Trotzdem wir überall in Nacht blicken“. Die realistische Bühnenkunst Lew Tolstois. In: L. N. Tolstoi, Macht der Finsternis und andere Dramen. München 1979, S. 527–543. A. DONSKOV, Dialect and Non-Standard Speech in the Peasant Plays of L. N. Tolstoi. In: Poetica Slavica. Studies in Honour of Zbigniew Folejewski. Hg. J. D. Clayton u. G. Schaarschmidt. Ottawa 1981, S. 29–40. W. R. KORNMAN, “The Power of Darkness”. In: Ders., Tolstoj and the Drama. Microfilm. Ann Arbor, Michigan 1981, S. 105–149. D. MA-

488

Literatur und Anmerkungen

TUAL,

Shaw’s “The Shewing-Up of Blanco Posnet” and Tolstoy’s “The Power of Darkness”. Dramatic Kinship and Theological Opposition. In: The Annual of Bernard Shaw Studies 31. 1981, S. 129–139. A. NINOV, V ožidanii general’noj... „Vlast’ t’my“ L’va Tolstogo i russkoe obščestvo vos’midesjatych godov XIX veka. In: Zvezda 62, 11. 1985, S. 177–196 u. 62, 12. 1985, S. 159–168. W. POTTHOFF, Lew Tolstoj: Macht der Finsternis. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 133–146. N. CARRUTHERS, The Paris Première of Tolstoy’s “Vlast’ t’my” (The Power of Darkness). In: New Zealand Slavonic Journal 21. 1987, S. 81–92. A. DONSKOV, Essays on L. N. Tolstoj’s Dramatic Art. Wiesbaden 1988. R. DUTT, Akim. The Patient Christ in “The Power of Darkness”. In: Essays on Leo Tolstoy. Hg. T. R. Sharma. Meerut 1989, S. 234–240. C. AMIARD-CHEVREL, Le Naturalisme scénique et Léon Tolstoï. In: Cahiers Léon Tolstoï 4. 1990, S. 33–45. J.-C. ROBERT, Tolstoï et le théâtre populaire. In: Cahiers Léon Tolstoï 4. 1990, S. 25–32. M. KORENEVA, Leo Tolstoy’s “The Power of Darkness” and Eugene O’Neill’s “Desire under the Elms”. A Road to Redemption. In: Eugene O’Neill in China. An International Centenary Celebration. Hg. H. Liu u. L. Swortzell. New York 1992, S. 89–96. J. LEDGER, Boris Ravenskikh’s Staging of L. N. Tolstoi’s “The Power of Darkness”. Some Echoes of the Avant-Garde during the Thaw. In: Canadian Slavonic Papers 35. 1993, S. 261–274. A. DONSKOV, Tolstoi’s Use of Proverbs in “The Power of Darkness”. In: Proverbs in Russian Literature. From Catherine the Great to Alexander Solzhenitsyn. Hg. K. J. McKenna. Burlington 1998, S. 61–74. S. A. ŠUL’TS, Dramaturgija L. N. Tolstogo kak pograničnyj fenomen. In: Russkaja literatura 43, 1. 2000, S. 21–39. G. W. JONES, Tolstoy staged in Paris, Berlin and London. In: The Cambridge Companion to Tolstoy. Hg. D. T. Orwin. Cambridge 2002, S. 142–160. A. ZVIERS, Vosprijatie „Vlasti t’my“ L. N. Tolstogo za rubežom. In: Lev Tolstoj i mirovaja literatura. Materialy III Meždunarodnoj naučnoj konferencii, prochodivšej v Jasnoj Poljane 28–30 avgusta 2003 g. Hg. G. Alekseevna. Tula 2005, S. 111–120. G. DŽEFFERSON, Russkij mužik v Pariže. Kritičeskie otzyvy o mirovoj prem’ere „Vlasti t’my“. In: Lev Tolstoj i mirovaja literatura. Materialy V Meždunarodnoj naučnoj konferencii, prochodivšej v Jasnoj Poljane 12–16 avgusta 2007 g. Hg. G. Alekseevna. Tula 2008, S. 235–242. Anmerkungen 1 Vgl. Pechstedt 1968. 2 O. C. A. zur Nedden, K. H. Ruppel (Hg.), Reclams Theaterführer. Stuttgart 1956, S. 519. Vgl. dazu auch Amiard-Chevrel 1990 und Jones 2002. 3 Zur russischen Bühnenrezeption im 20. Jahrhundert vgl. vor allem Poljakova 1978. 4 Zum Begriff der „literarischen Persönlichkeit“ in der Konzeption der russischen Formalen Schule vgl. A. Hansen-Löve, Der russische Formalismus. Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. Wien 1978, S. 414 f. 5 E. Hanke, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende. Tübingen 1993, bes. S. 57 f. 6 A. Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit. 5. Aufl. Leipzig 1911, S. 124. 7 Die Auseinandersetzung mit dem Zeit- und Fortschrittsmodell der Aufklärung, namentlich mit Hegel, stellt denn auch ein zentrales Argument in Tolstojs „Ispoved’“ dar. Vgl. Tolstoj, s. Text, Bd. 23, S. 5 ff. 8 Ebd., S. 41. 9 Ebd., S. 47. 10 Ebd., S. 46. 11 Vgl. A. Guski, A. F. Pisemskijs „Gor’kaja sud’bina“ und das Problem der Tragödie im russischen Realismus. In: Die Welt der Slawen 33. 1988, S. 303–335. 12 Vgl. Shaw 1921; Poljakova 1978, S. 37 ff. 13 P. Szondi, Theorie des modernen Dramas. Frankfurt/M. 1963, S. 63. 14 A. Weber, Das Tragische in der Geschichte. München 1959, S. 85 f.

Lev Tolstoj: Vlast’ t’my 15 16 17 18 19 20 21 22 23

24 25

26 27 28

29 30 31 32 33 34 35

36 37

489

Vgl. Donskov 1988, S. 37. Gibian 1957, S. 20. G. Steiner, Der Tod der Tragödie. Ein kritischer Essay. Frankfurt/M. 1981, S. 258. Poljakova 1978, S. 60. Tolstoj, s. Text, Bd. 23, S. 7. Vgl. Lukas 22, 54: „Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt keine Hand an mich gelegt; aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis [vlast’ t’my].“ Vgl. A. Pieper, Gut und Böse. München 1997, S. 31 ff. Hanke, s. Anm. 5, S. 122. Vgl. B. M. Ėjchenbaum, Semidesjatye gody. Leningrad 1974, S. 93–101 und passim; S. Maurer [= McLaughlin], Schopenhauer in Russia. His Influence on Turgenev, Fet and Tolstoy. Berkeley 1966; P. Thiergen, Schopenhauer in Rußland. Grundzüge der Rezeption und Forschungsaufgaben. In: Schopenhauer-Jahrbuch 85. 2004, S. 131–166. Tolstoj, s. Text, Bd. 25, S. 247 ff. Nikita wird das Geld später in der Stadt zur Bank bringen. Dies motiviert im dritten Akt den Dialog zwischen Akim und Mitrič über das Bankwesen, das sich aus der vereinfachenden und verfremdenden Perspektive der beiden Männer als Ausbeutung von Menschen durch Menschen darstellt, die zu faul sind, selbst zu arbeiten. So besonders in [Aleksej] Potechins Bauerndrama „Sud ljudskoj – ne božij“ (Menschengericht – nicht Gottes Gericht). In: Russkaja drama ėpochi A. N. Ostrovskogo. Hg. A. I. Žuravleva. Moskau 1984, S. 101 ff. Donskov 1988, S. 81 ff. Szondi, s. Anm. 13, S. 63 ff. Daß Szondi in seiner von Hegel inspirierten Dramentheorie gerade Tolstojs „Vlast’ t’my“ von dieser naturalistischen Regel ausschließt, indem er darin keinen epischen, sondern „denselben, im Wesen des Russischen verankerten Zug zum Lyrischen hin [sieht], der auch in Tschechows Dramen die formale Krise überwinden hilft“ (S. 63), vermag angesichts der zutiefst unterschiedlichen Dramenkonzeptionen Tolstojs und Čechovs allerdings nicht zu überzeugen. Vgl.: „Akim (sieht an Akulina vorbei und blickt auf den Sohn)“ (III, 8); „(Akim richtet, ohne den Sohn anzusehen, Fußlappen und Bastschuhe)“ (III, 8); „Nikita (ohne auf den Geldschein zu blicken)“ (III, 15). Szondi, s. Anm. 13, S. 14 ff.; M. Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse. München 1977, S. 105. Vgl. Hanke, s. Anm. 5, S. 117 ff. Tolstoj, s. Text, Bd. 23, S. 41. Vgl. Mitričs Satz „Wozu dieses Pack fürchten? Sieh sie dir nur an im Badehaus. Sind alle aus demselben Teig gebacken. Nur daß der eine etwas mehr und der andere etwas weniger Bauch hat. Das ist der einzige Unterschied. Und die soll man fürchten“ (V, 1, 10). Vgl. 1. Mose, 3, 1–16. Vgl. dazu auch den alten Mitrič: „Niederträchtig sind diese Weiber. Auch mit den Mannsbildern ist nicht viel los, aber die Weiber erst… Die sind wie die wilden Tiere. Schrecken vor nichts zurück“ (Variante zum 3. Auftritt der zweiten Szene des vierten Akts). Tolstoj, s. Text, S. 220. Vgl. zu diesem Motiv bei Tolstoj auch K. Hamburger, Tolstoi. Gestalt und Problem. 2. Aufl. Göttingen 1963, S. 79. Vgl. Bachtin 1929, S. 96: „Der bäuerliche Alltag dient nur der Konkretisierung des ,allgemeinmenschlichen‘ und ,zeitlosen‘ Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis [...] Die ,Macht der Finsternis‘ ist für Tolstoj natürlich nicht die Macht der Unwissenheit infolge ökonomischer und politischer Unterdrückung, eine historisch entstandene und folglich historisch aufhebbare Macht. Nein, Tolstoj meint die ewige

490

38 39 40 41 42 43

Literatur und Anmerkungen

Macht des Bösen über eine einmal sündig gewordene individuelle Seele: Eine Sünde zieht unausweichlich die nächste nach sich –, Steckt die Kralle in der Falle, ist der Vogel ganz verloren‘. Und besiegen kann diese Finsternis nur das Licht des individuellen Gewissens. Deshalb ist sein Drama der Grundidee nach ein Mysterium; deshalb auch sind die ökonomisch-soziale Ordnung und der bäuerliche Alltag und die wunderbare, stark individualisierte Sprache der Bauern nur ein statischer, unveränderlicher Hintergrund und eine dramatisch tote Hülle des innerseelischen Tuns der Helden. Die tatsächlichen Antriebskräfte des bäuerlichen Lebens, die auch die bäuerliche Ideologie prägen, sind neutralisiert und aus der Handlung des Dramas ausgeschlossen.“ Vgl. Poljakova 1978, S. 110; Amiard-Chevrel 1990, S. 39 ff. Mayer 1966. Bachtin 1929, S. 91. Vgl. Tolstoj, O tom, čto nazyvaetsja iskusstvom (Über das, was man Literatur nennt, 1896). In: Literaturnoe nasledstvo 37/38. Moskau 1929, S. 63. Ryžova 1955, S. 6. Tolstoj, s. Text, Bd. 53, S. 72.

Anton Čechov (1860–1904)

S. 230

Text „Čajka“ (Die Möwe) nach: A. P. Čechov, Polnoe sobranie sočinenij i pisem. Hg. N. V. Bel’čikov u. a. 30 Bde. Moskau 1974–1983. Sočinenija. Bd. 13, S. 3–60. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Die Möwe. Übers. v. P. Urban. Zürich 1973. Literatur S. D. Baluchatyj, „Čajka“. In: Ders., Problemy dramatičeskogo analiza. Čechov. Leningrad 1927, S. 74–105. S. D. BALUCHATYJ, „Čajka“ (1896 g.). In: Ders., Čechov-dramaturg. Leningrad 1936, S. 133–161. S. D. BALUCHATYJ (Hg.), „Čajka“ v postanovke Moskovskogo Chudožestvennogo teatra. Režisserskaja partitura K. S. Stanislavskogo. Leningrad 1938. N. E. ĖFROS, „Čajka“ A. P. Čechova na scene Moskovskogo Chudožestvennogo teatra. In: Ežegodnik Moskovskogo Chudožestvennogo teatra 1. 1944, S. 257–294. A. P. SKAFTYMOV, K voprosu o principach postroenija p’es A. P. Čechova [1948]. In: Ders., Poėtika chudožestvennogo proizvedenija. Hg. V. V. Prozorov. Moskau 2007, S. 367–396. JU. V. SOBALEV, Kommentarij k „Čajke“. In: Ežegodnik Instituta istorii iskusstv. Teatr i muzyka 2. Moskau 1948, S. 143–163. V. V. ERMILOV, „Čajka“. In: Dramaturgija Čechova. Moskau 1954, S. 86–131. R. REVJAKIN, O dramaturgii Čechova. Moskau 1954. T. G. Winner, A. P. Chekhov’s “Seagull” and Shakespeare’s “Hamlet”. In: American Slavic and East European Review 15. 1956, S. 103–112. G. P. BERDNIKOV, Tvorčeskaja zrelost’ „Čajki“. In: Ders., Čechov-dramaturg. Tradicii i novatorstvo v dramaturgii Čechova. Leningrad 1957, S. 85–118. T. A. STROUD, “Hamlet” and “The Seagull”. In: Shakespeare’s Quaterly 9. 1958, S. 367– 372. E. KARPOV, Istorija pervogo predstavlenija „Čajki“. In: Čechov i teatr. Pis’ma, fel’etony. Sovremenniki o Čechove-dramaturge. Hg. E. D. Surkov. Moskau 1961, S. 234– 242. M. VALENCY, “The Seagull”. In: Ders., The Breaking String. The Plays of Anton Chekhov. New York 1966, S. 119–178. J. MROSIK, Vom Symbolmotiv der Möwe in Čechovs „Čajka“ und seiner Herkunft. In: Die Welt der Slaven 12. 1967, S. 22–58. J. H. ADLER, Two Hamlet Plays. The “Wild Duck” and “The Seagull”. In: Journal of Modern Literature 1. 1970, S. 226–248. J. L. STYAN, “The Seagull”. In: Ders., Chekhov in Performance. A Commentary on the Major Plays. Cambridge 1971, S. 9–88. J. M. CURTIS, Spatial Form in Drama. “The Seagull”. In: Canadian-American Slavic Studies 6. 1972, S. 13–37. H. PITCHER, “The Seagull”. A Testing Ground? In: Ders., The Chekhov Play. A New Interpretation. Lon-

Anton Čechov: Čajka

491

don 1973, S. 35–68. M. F. MUR’JANOV, O simvolike Čechovskoj „Čajki“. In: Die Welt der Slaven 19/20. 1974/1975, S. 105–123. W. G. JONES, “The Seagull’s” Second Symbolist Play-within-the-Play. In: Slavonic Review 53. 1975, S. 17–26. K. SAGAR, Chekhov’s Magic Lake. A reading of “The Seagull”. In: Modern Drama 15. 1975, S. 441–447. C. BRAHMS, “The Seagull”. In: Dies., Reflections in a Lake. A Study of Chekhov’s Four Greatest Plays. London 1976, S. 21–48. A. P. KUZIČEVA, „Zerkalo” čechovskoj p’esy (O „Čajke“). In: Čechovskie čtenija v Jalte. Čechov i teatr. Hg. V. I. Kulešov u. a. Moskau 1976, S. 96–101. Z. S. PAPERNYJ, „Čajka“ na scene i na ėkrane. In: Čechovskie čtenija v Jalte. Čechov i teatr. Hg. V. I. Kulešov u. a. Moskau 1976, S. 85–95. K. L. RUDNICKIJ, „Čajka“ – 1898. In: Čechovskie čtenija v Jalte. Čechov i teatr. Hg. V. I. Kulešov u. a. Moskau 1976, S. 61–84. E. CHANCES, Chekhov’s “Seagull”. Etheral Creature or Stuffed Bird? In: Chekhov’s Art of Writing. A Collection of Critical Essays. Hg. P. Debreczeny u. T. Eekman. Columbus, Ohio 1977, S. 27–34. Z. S. PAPERNYJ, „Čajka“ A. P. Čechova. Moskau 1980. A. G. GOLOVAČEVA, Monolog o „mirovoj duše“ („Čajka“) v tvorčestve Čechova 1980-ch godov. In: Vestnik Leningradskogo universiteta. Serija istorii jazyka i literatury. 1981. 2, S. 51–56. M. HEIM, Chekhov and the Moscow Art Theater. In: Chekhov’s Great Plays. A Critical Anthology. Hg. J.-P. Barricelli. New York 1981, S. 133–143. R. L. JACKSON, Chekhov’s “Seagull”. The Empty Well, the Dry Lake, and the Cold Cave. In: Chekhov’s Great Plays. A Critical Anthology. Hg. J.-P. Barricelli. New York 1981, S. 3–17. J. H. KATSELL, Chekhov’s “The Seagull” and Maupassant’s “Sur l’eau”. In: Chekhov’s Great Plays. A Critical Anthology. Hg. J.-P. Barricelli. New York 1981, S. 18–34. V. NABOKOV, Notes on “The Seagull”. In: Ders., Lectures on Russian Literature. New York 1981, S. 282–296. Dt. Übers.: V. NABOKOV, Anmerkungen zu „Die Möwe“. In: Ders., Meisterwerke der russischen Literatur. Frankfurt/M. 1984, S. 374–392. R. PORTER, “Hamlet” and “The Seagull”. In: Journal of Russian Studies 41. 1981, S. 23–32. T. SHACH-AZIZOVA, Die Möwe gestern und heute. In: Kunst und Literatur. Zeitschrift für Fragen der Ästhetik und Kunsttheorie 29. 1981, S. 269–284. P. HOLLAND, Chekhov and the Resistant Symbol. In: Drama and Symbolism. Cambridge 1982, S. 227– 242. Z. S. PAPERNYJ, „Protiv uslovij sceny“ („Čajka“). In: Ders., „Vopreki vsem pravilam...“. P’esy i vodevili Čechova. Moskau 1982, S. 124–167. R. PEACE, “The Seagull”. In: Ders., Chekhov. A Study of the Four Major Plays. New Haven, Connecticut 1983, S. 17–49. R. GREBENÍČKOVÁ, Zu zwei Čechov-Stücken [„Drei Schwestern“, „Die Möwe“] In: Wiener Slawistischer Almanach 14. 1984, S. 87–103. T. WINNER, Chekhov’s “Seagull” and Shakespeare’s “Hamlet”. In: Chekhov. New Perspectives. Hg. R. u. N. Wellek. New York 1984, S. 107–117. J. M. CURTIS, Ephebes and Precursors in Chekhov’s “The Seagull”. In: Slavic Review 44. 1985, S. 415–437. L. A. IEZUITOVA, Komedija A. P. Čechova „Čajka“ kak tip novoj dramy. In: Analiz dramatičeskogo proizvedenija. Mežvuzovskij sbornik. Hg. V. M. Markovič. Leningrad 1988, S. 323–346. B. ZINGERMAN, „Čajka“i roždenie novoj teatral’noj sistemy. In: Ders., Teatr Čechova i ego mirovoe značenie. Moskau 1988, S. 249–318. F.-J. LEITHOLD, Studien zu A. P. Čechovs Drama „Die Möwe“. München 1989. Z. S. PAPERNY, Microsubjects in “The Seagull”. In: Critical Essays on Anton Chekhov. Hg. Th. A. Eekman. Boston 1989, S. 160–169. R. GILMAN, “The Seagull”. Art and Love, Love and Art. In: South Atlantic Quarterly 91. 1992, S. 257–287. P. PAVIS, Zur Konkretisation aus der Sicht der Pragmatik (am Beispiel von Čechovs „Möwe“). In: Dramatische und theatralische Kommunikation. Beiträge zur Geschichte und Theorie des Dramas und Theaters im 20. Jahrhundert. Hg. H. Schmid u. J. Striedter. Tübingen 1992, S. 91–104. TH. GROB, Die inszenierte Kluft zwischen Kunst und Leben. Čechovs „Čajka“ als metafiktionaler Text. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 55. 1995/1996, S. 264–289. S. I. GINDIN, Konstantin Treplev, Vladimir Findes’eklev i Genrich Šul’c. Ob istoričeskoj počve i literaturnom okruženii čechovskogo obraza pisatelja-dekadenta. In: Čechoviana. Čechov i „serebrjanyj vek“. Moskau 1996, S. 116–127. A. G. GOLOVAČEVA, „Dekadent“ Treplev i blednaja luna. In: Čechoviana. Čechov i „serebrjanyj vek“. Moskau 1996, S. 186–194. A. S. SOBENNIKOV, „Čajka“ Čechova

492

Literatur und Anmerkungen

i „Groza prošla“ Merežkovskogo. K tipologii geroja-„dekadenta“. In: Čechoviana. Čechov i „serebrjanyj vek“. Moskau 1996, S. 195–199. M. A. KIPP, A Subject for a Short Story, Or in Defence of Trigorin. In: A. P. Čechov – Philosophische und Religiöse Dimensionen im Leben und Werk. Vorträge des Zweiten Internationalen Čechov-Symposiums, Badenweiler, 20.–24. Oktober 1994. Hg. V. B. Kataev u. a. München 1997, S. 567–573. J. REID, Matter and Spirit in “The Seagull”. In: Modern Drama 41. 1998, S. 607–622. B. MERLIN, Which Came First: The System or “The Seagull”? In: New Theater Quarterly 15. 1999, S. 218–227. C. A. FLATH, “The Seagull”. The Stage Mother, the Missing Father, and the Prigins of Art. In: Modern Drama 42. 1999, S. 491–510. D. RAYFIELD, “The Seagull”. In: Ders., Understanding Chekhov. A Critical Study of Chekhov’s Prose and Drama. London 1999, S. 135– 149. H. GOLOMB, Referential Reflections around a Medallion. Reciprocal Art. Live Embeddings in Chekhov’s “The Seagull”. In: Poetics Today 21. 2000, S. 681–709. A. G. GOLOVAČEVA, „Sjužet dlja nebol’šogo rasskaza...“. In: Čechoviana. Polet „Čajki“. Hg. V. V. Gul’čenko u. a. Moskau 2001, S. 19–35. M. O. GORJAČEVA, „Čajka“ meždu Aleksandrinkoj i Chudožestvennym. In: Čechoviana. Polet „Čajki“. Hg. V. V. Gul’čenko u. a. Moskau 2001, S. 52–65. V. V. GUL’ČENKO, Treplev-dekadent. In: Čechoviana. Polet „Čajki“. Hg. V. V. Gul’čenko u. a. Moskau 2001, S. 178–195. A. P. KUZIČEVA, Dve prem’ery Aleksandrinskogo teatra („Revizor“ N. V. Gogolja i „Čajka“ A. P. Čechova). In: Čechoviana. Polet „Čajki“. Hg. V. V. Gul’čenko u. a. Moskau 2001, S. 35–51. R. FREEBORN, Absurdity and Residency. An Approach to Chekhov’s “The Seagull”. In: New Zealand Slavonic Journal 36. 2002, S. 81–88. M. V. TEPLINSKIJ, „Každyj pišet tak, kak chočet i kak možet“ (Tema iskusstva v Čechovskoj Čajke). In: Vremja i tekst. Istoriko-literaturnyj sbornik. Hg. N. V. Serebrennikov. Petersburg 2002, S. 257–264. Ė. VACHTEL, Parodijnost’ „Čajki“. Simvoly i ožidanija. In: Vestnik Moskovskogo Universiteta. Serija 9. Filologija 2002. 1, S. 72–90. A. P. ČUDAKOV, „Die Möwe“. In: Tschechows Dramen. Hg. B. Zelinsky. Stuttgart 2003, S. 23– 46. R. IBLER, Anton Čechovs problematisch gewordene Komödie. „Čajka“ und „Višnevyj sad“. In: Ders., Die russische Komödie. Ein gattungsgeschichtlicher Überblick von den Anfängen bis A. P. Tschechow. Stuttgart 2008, S. 275–300. M. VOLČKEVIČ, „Čajka“. Komedija zabluždenij. Moskau 2010. Anmerkungen 1 Baluchatyj 1936, S. 123. 2 Vgl. Čechov, s. Text, Pis’ma. Bd. 3, S. 277. 3 Vgl. Baluchatyj 1927, S. 74; Rayfield 1999, S. 135; Golovačeva 2001, S. 25. 4 Vgl. Rayfield 1999, S. 136. 5 Čechov, s. Text, Pis’ma. Bd. 6, S. 85. 6 Vgl. Skaftymov 1948, S. 379. 7 Čechov, s. Text, Pis’ma. Bd. 6, S. 100. 8 Rudnickij 1976, S. 10. 9 Allerdings war die Schauspielerin Elizaveta I. Levkejeva (1851–1904) an der „Čajka“Aufführung nicht beteiligt. Sie hatte ihren Auftritt erst im zweiten Teil des Abends. 10 Vgl. Čudakov 2003, S. 23 f. 11 Kuzičeva 2001, S. 42. 12 Gorjačeva 2001, S. 52 f. Vgl. Čechov, s. Text, Pis’ma. Bd. 6, S. 219. 13 Richard Freeborn sieht ihn in der Rolle des Chors. Freeborn 2002, S. 84 f. 14 Vgl. B. Zelinsky, Das dramatische Werk Anton Tschechows. In: Ders. (Hg.), Tschechows Dramen. Stuttgart 2003, S. 10 f. 15 Vgl. Gilman 1992, S. 263. 16 Vgl. Grob 1995, S. 274, 281. 17 Chances 1977, S. 30. 18 So Rayfield 1999, S. 139 f.

Anton Čechov: Djadja Vanja

493

19 Man kann hier einen Bezug zur Philosophie Vladimir Solov’evs und zum allgemeinen ideengeschichtlichen Kontext des russischen Symbolismus sehen. 20 Vgl. Grob 1995, S. 280 f. Vgl. in einem bei Grob wie schon vorher bei Berdnikov 1957, S. 86 f., zitierten Brief Čechovs an Suvorin vom 25. November 1892: „Wer nichts will, auf nichts hofft und vor nichts Angst hat, der kann kein Künstler sein.“ S. Text, Pis’ma. Bd. 5, S. 133 f. 21 G. de Maupassant, Sur l’eau. Cannes, Saint-Raphaël, Saint-Tropez. Brüssel 1993, S. 24. 22 Ebd., S. 25. 23 Rayfield 1999, S. 138. 24 Vgl. P. Bourdieu, La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979, S. 320 f., 331. 25 Maupassant, s. Anm. 21, S. 34. 26 Kipp 1997, S. 573. 27 Er stammt aus der Erzählung „Sosedi“ (Nachbarn, 1892) von Čechov selbst. Čechov, s. Text, Sočinenija. Bd. 8, S. 60. 28 Vgl. Gilman 1992, S. 267. 29 Čudakov 2003, S. 31. 30 Vgl. dazu auch Baluchatyj 1927, S. 78 ff. 31 Papernyj 1980, S. 51–67. Vgl. Paperny 1989. 32 Vgl. I. Paperno, J. D. Grossman (Hg.), Creating Life. The Aesthetic Utopia of Russian Modernism. Stanford 1994. 33 Vgl. Čechov, s. Text, Sočinenija. Bd. 17, S. 48. 34 Zit. nach: Kuzičeva 2001, S. 44. 35 Vgl. zu den Symbolen Leithold 1989, S. 43 ff. 36 Chances 1977. 37 Vgl. Nabokov 1981, S. 292. 38 James M. Curtis liest „Čajka“ sehr schlüssig als ein Stück über „Einflußangst“ im Sinne Harold Blooms. Curtis 1985. 39 Vgl. Gindin 1996, S. 119. 40 Vgl. Gul’čenko 2001, Gindin 1996, Golovačeva 1996, S. 188. 41 Vgl. folgende Stelle in den Notizbüchern Čechovs: „Treplev hat keine bestimmten Ziele, und das hat ihn zugrunde gerichtet. Das Talent hat ihn zugrunde gerichtet. Er sagt zu Nina im Schlußteil: Sie haben einen Weg gefunden, Sie sind gerettet, doch ich bin umgekommen.“ Čechov, s. Text, Sočinenija. Bd. 17, S. 116. 42 Das sagt gerade der Rationalist Dorn, der an anderer Stelle vor der persönlichkeitszerstörenden Wirkung von Tabak und Alkohol warnt (23). 43 Grob 1995/1996, S. 286. 44 Gilman 1992, S. 286 („the principle of relief from fatality“).

Anton Čechov (1860–1904)

S. 248

Text „Djadja Vanja“ (Onkel Vanja) nach: A. P. Čechov, Polnoe sobranie sočinenij i pisem. Hg. N. V. Bel’čikov u. a. 30 Bde. Moskau 1974–1983. Sočinenija. Bd. 13, S. 61–116 Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Onkel Vanja. Übers. v. P. Urban. Zürich 1973. Literatur S. D. BALUCHATYJ, „Djadja Vanja“. In: Ders., Problemy dramaturgičeskogo analiza. Čechov. Leningrad 1927, S. 106–119. S. D. BALUCHATYJ, „Djadja Vanja“ (1896 g.). In: Ders., Čechov-dramaturg. Leningrad 1936, S. 162–177. „Djadja Vanja“. Sbornik statej k spektaklju

494

Literatur und Anmerkungen

Akademičeskogo teatra dramy imeni A. S. Puškina. Leningrad 1947. G. BERDNIKOV, „Djadja Vanja“ A. P. Čechova. In: Učenye zapiski Leningradskogo universiteta. Leningrad 1949, S. 224–260. V. V. ERMILOV, „Djadja Vanja“. In: Ders., Dramaturgija Čechova. Moskau 1954, S. 132–200. G. DICK, Tschechow als Dramatiker. In: Russischunterricht 7. 1954, S. 290–297. R. REVJAKIN, O dramaturgii Čechova. Moskau 1954. M. STROEVA, „Djadja Vanja“. In: Čechov i Chudožestvennyj teatr. Moskau 1955, S. 57–101. G. P. BERDNIKOV, Ot „Lešego“ k „Djadje Vane“. In: Ders., Čechov – dramaturg. Tradicii i novatorstvo v dramaturgii Čechova. Leningrad 1957, S. 119–150. V. JA. LAKŠIN, Isskustvo psichologičeskoj dramy Čechova i Tolstogo („Djadja Vanja“, „Živoj trup“). Moskau 1958. L. N. RYN’KOV, O jazyke i stile p’esy A. P. Čechova „Djadja Vanja“. In: Učenye zapiski Kustjanskogo pedagogičeskaja instituta 2. 1958, S. 61–90. N. I. GITOVIČ, Kogda že byl napisan “Djadja Vanja”? In: Voprosy literatury 9, 7. 1965, S. 130–136. M. VALENCY, “Uncle Vanya”. In: Ders., The Breaking String. The Plays of Anton Chekhov. New York 1966, S. 179–205. V. ERMILOV, “Uncle Vanya”. The Play’s Movement. In: Chekhov. A Collection of Critical Essays. Hg. R. L. Jackson. Englewood Cliffs, New York 1967, S. 112–120. S. MELCHINGER, „Waldgeist“ / „Onkel Wanja“. In: Ders., Anton Tschechow. Velber bei Hannover 1968, S. 88–96. J. L. STYAN, “Uncle Vanja”. In: Ders., Chekhov in Performance. A Commentary on the Major Plays. Cambridge 1971, S. 91–143. A. SKAFTYMOV, O principach postroenija p’es Čechova. Moskau 1971. D. MAGARSHACK, “Uncle Vanya”. In: Ders., The Real Chekhov. An Introduction to Chekhov’s Last Plays. London 1972, S. 79–121. D. RAYFIELD, Chekhov’s Last Plays. In: Ders., Chekhov. The Evolution of his Art. New York 1975, S. 201–229. C. BRAHMS, “Uncle Vanya”. In: Dies., Reflections in a Lake. A Study of Chekhov’s Four Greatest Plays. London 1976, S. 49–77. B. MORAVCEVICH, Scènes-à-faire and the Chekhovian Dramatic Structure. In: Chekhov’s Art of Writing. A Collection of Critical Essays. Hg. P. Debreczeny u. T. Eekman. Columbus, Ohio. 1977, S. 100–112. H. SCHMID, Der Aufbau der thematischen Bedeutung in Ostrovskijs „Groza“ (Das Gewitter) und in Čechovs „Djadja Vanja“ (Onkel Vanja). In: Zugänge zu Ostrovskij. Hg. A. G. F. van Holk. Bremen 1979, S. 3–89. A. LUKAŠEVSKIJ, „Djadja Vanja plačet, a Astrov svistit…”. In: Literaturnaja učeba 51, 3. 1980, S. 188–195. P. BORDINAT, Dramatic Structure in Chekhov’s “Uncle Vanya”. In: Chekhov’s Great Plays. Hg. J.-P. Barricelli. New York 1981, S. 47–75. I. VITINS, Uncle Vanya’s Predicament. In: Chekhov’s Great Plays. Hg. J.-P. Barricelli. New York 1981, S. 35–47. Z. S. PAPERNYJ, „Beskrovnaja drama“ („Djadja Vanja“). In: Ders., „Vopreki vsem pravilam…“. P’esy i vodevili Čechova. Moskau 1982, S. 98–123. R. PEACE, “Uncle Vanya”. In: Ders., Chekhov. A Study of the Four Major Plays. New Haven, Connecticut 1983, S. 50– 74. E. BENTLEY, Craftsmanship in “Uncle Vanya”. In: Chekhov. New Perspectives. Hg. R. u. U. Wellek. New York 1984, S. 118–139. H. PITCHER, A Study in Evolution. From “The Wood-Demon” to “Uncle Vanya”. In: Ders., The Chekhov Play. A New Interpretation. Los Angeles 1984, S. 69–112. J. D. CLAYTON, Čexov’s “Djadja Vanja” and Traditional Comic Structure. In: Russian Language Journal 40. 1986, S. 103–110. M. DEPPERMANN, Anton Tschechow: Onkel Wanja. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 147–161. M. DEPPERMANN, „Zarte Anspielungen auf ziemlich starke Stücke“. Psychologische Motivierung und dramatische Innovationen in Čechovs „Onkel Vanja“. In: Phantasie und Deutung. Psychologisches Verstehen von Literatur und Film. Frederick Wyatt zum 75. Geburtstag. Hg. W. Mauser u. a. Würzburg 1986, S. 96–111. M. BABOVIČ, Psichologizm v sisteme motirovki p’es Čechova („Djadja Vanja“, 1896). In: Anton P. Čechov. Werk und Wirkung. Vorträge und Diskussionen eines internationalen Symposiums in Badenweiler im Oktober 1985. 2 Bde. Hg. R.-D. Kluge. Wiesbaden 1990, S. 395–406. G. S. MORSON, “Uncle Vanya” as Prosaic Metadrama. In: Reading Chekhov’s Text. Hg. R. L. Jackson. Evanston 1993, S. 214 – 227. B. ZINGERMAN, K probleme rituala v p’esach Čechova „Djadja Vanja“ i „Tri sestry“. In: Teatr 64, 11. 1993, 66–77. A. D. P. BRIGGS, Two Months in the Country. Chekhov’s Unacknowledged Debt to Turgenev. In: New Zealand Slavonic Journal

Anton Čechov: Djadja Vanja

495

28. 1994, S. 17–32. R. GILMAN, “Uncle Vanya”, or How It Is. In: Ders., Chekhov’s Plays. An Opening into Eternity. New Haven 1995, S. 101–140. D. KLEJTON, Otsutstvie very. O psichologičeskom stroe, simvolike i poetike p’esy „Djadja Vanja“. In: Čechoviana. Melichovskie trudy i dni. Hg. V. Ja. Lakšin. Moskau 1995, S. 159–168. G. S. MORSON, Sonya’s Wisdom. In: A Plot of her Own. The Female Protagonist in Russian Literature. Hg. S. S. Hoisington. Evanston, Illinois 1995, S. 58–71. E. A. POLOTSKAJA, Melichovskij kontekst „Djadi Vani“. In: Čechoviana. Melichovskie trudy i dni. Hg. V. Ja. Lakšin. Moskau 1995, S. 153–159. D. RAYFIELD, Chekhov’s “Uncle Vanya” and “The Wood Demon”. London 1995. M. G. ROZOVSKIJ, Čitaem „Djadju Vanju“. Dejstvie pervoe. In: Čechoviana. Melichovskie trudy i dni. Hg. V. Ja. Lakšin. Moskau 1995, S. 169–201. S. EVDOKIMOVA, Work and Words in “Uncle Vanya”. In: Anton P. Čechov. Philosophische und religiöse Dimensionen im Leben und Werk. Vorträge des Zweiten Internationalen Čechov-Symposiums. Badenweiler, 20.–24. Oktober 1994. Hg. V. B. Kataev u. a. München 1997, S. 119–126. V. GOL’ŠTEJN, Žertva i dolg v „Djade Vane“. In: Russkaja literatura. 1998. 2, S. 65–74. K. D. KRAMER, “A Subject Worthy of Ayvazovsky’s Brush”. Vanya’s Misdirected Fury. In: Modern Drama 42. 1999, S. 511–518. D. RAYFIELD, “Uncle Vania”. In: Ders., Understanding Chekhov. A Critical Study of Chekhov’s Prose and Drama. London 1999, S. 165–182. K. BJØRNAGER, The Masculine Triangle in “Uncle Vanya”. In: Chekhov 2004. Chekhov Special Issues. 2 Bde. Hg. J. Andrew u. R. Reid. Keele 2005. Bd. 1, S. 45–52. D. KLEJTON, „Djadja Vanja“ A. P. Čechova. K probleme avtorskogo slova i mnogogolos’ja v zaglavie. In: Poetika zaglavija. Hg. A. N. Andreeva u. a. Tver’ 2005, S. 285–287. M. VOLČKEVIČ, „Djadja Vanja“. Sceny iz neprožitoj žizni. Moskau 2010. Anmerkungen 1 Čechov, s. Text, Bd. 12, S. 195. 2 Ebd., Bd. 13, S. 101. Djadin verbindet Serebrjakov in „Lešij“ mit dem Namen Novoselov. Vgl. Ebd., Bd. 12, S. 191. 3 Peace 1983, S. 87 ff. Die Rolle der toten Mutter behandelt der Beitrag von Deppermann 1986. 4 Das Bild des eingesperrten Stars bezieht sich möglicherweise auf Laurence Sternes unvollendeten Roman „A Sentimental Journey Through France and Italy“, der 1768 in London erschien. 5 In „Evgenij Onegin“ bringt Puškin seine Sehnsucht nach Freiheit zum Ausdruck und verbindet sie mit dem Verlassen des „düsteren“ Rußlands in Richtung Afrika: „Под небом Африки моей, / Вздыхать о сумрачной России, / Где я страдал, где я любил, / Где сердце я похоронил...“ (Kapitel 1, Vers 50). Es ist ebenfalls möglich, daß das Porträt der Njanja, in „Evgenij Onegin“ Beraterin Tat’janas und Seelentrösterin, oder sogar Puškins eigene Njanja, die in Kapitel 4, Vers 35 „Freundin meiner Jugendzeit“ genannt wird, Einfluß auf die Darstellung Marinas in „Djadja Vanja“ hatte. 6 „Im 19. Jahrhundert diente Tee in Kaufmannskreisen, bei Städtern und bei Beamten mittleren Ranges als legitimer Indikator für zwischenmenschliche Beziehungen.“ Vladimir Murav’ev, Moskovskie slova i slovečki. Proizchoždenie moskovskich poslovic, pogovorok, rečenij, pesen’, toponimika moskovskich ulic, ploščadej i pereulkov. Moskau 1997, S. 122. Das Kapitel „Moskovskoe čaepitie“, enthält viele interessante Informationen und Zitate, deren Geltungsbereich sich weit über Moskau hinaus erstreckt. Ebd., S. 115 ff. 7 Tee separiert zu trinken, wurde als Zeichen für einen ernsthaften Streit verstanden. Ebd., S. 122. 8 Das Bild „Die Kokette auf der Gartenschaukel“ von Jean-Honoré Fragonard befindet sich in der Sammlung Wallace in London. Der Schriftsteller Grigorovič, der Čechov als erster „entdeckt“ hatte, „war dafür bekannt, daß er die Ehefrau des Dichters A. K. Tol-

496

9 10 11

12

13

14 15 16

Literatur und Anmerkungen

stoj auf einer Gartenschaukel verführt hatte“. Vgl. D. Rayfield, Anton Chekhov. A Life. New York 1997, S. 147. Vgl. Peace , S. 106 ff. Literarische Zitate, die diese Praxis widerspiegeln, finden sich in: Murav’ev, s. Anm. 6, S. 135 sowie S. 116, 119, 125, 126. Nach Ronald Hingley ist „Käse“ in Čechovs Korrespondenz ein Symbol für den Liebesakt. R. Hingley, A New Life of Anton Chekhov. London 1976, S. 232 f. Es ist bezeichnend, daß Sonja, kurz nachdem sie den Erfolg ihres Vaters bei Frauen beschrieben hat, Astrov „Käse“ anbietet. Čechov, s. Text, Bd. 13, S. 83. Das russische Verb „perevarit’“ bedeutet „verdauen“. Den gleichen Ausdruck benutzt Serebrjakov in „Lešij“, aber in einem anderen Zusammenhang. Während er in „Djadja Vanja“ das Landleben nicht „verdauen“ kann, ist es hier seine „gegenwärtige Laune“. Čechov, s. Text, Bd. 12, S. 172. Murav’ev stellt den Tee als Indikator der Zeit und Ersatz für Uhren dar. Er zitiert dabei Puškins Behauptung aus „Evgenij Onegin“ (Kapitel 5, Vers 36), daß die Regelmäßigkeit der Mahlzeiten auf dem Land ein wahrer Zeitnehmer sei. Vgl. Murav’ev, s. Anm. 6, S. 120. „Fastenöl“ (maslo postnoe) ist wahrscheinlich Leinöl. Im Russischen heißt es: .„Ego teper’ sjuda i kalachom ne zamaniš’“. „Ни ,здравствуй!’ ни ,прощай!’ не вымолвят друзья, / Чтоб, всех житейских дел конец или начало, / Kипучий самовар, домашний запевало, / Не подал голоса и не созвал семьи.“ Zit. nach: Murav’ev, s. Anm. 6, S. 126. Aus dem Englischen übersetzt von Benjamin Reeve.

Anton Čechov (1860–1904)

S. 262

Text „Tri sestry“ (Die drei Schwestern) nach: A. P. Čechov, Polnoe sobranie sočinenij i pisem. Hg. N. V. Bel’čikov u. a. 30 Bde. Moskau 1974–1983. Sočinenija. Bd. 13, S. 117–188. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Drei Schwestern. Übers.: v. M. Wiebe. In: A. Tschechow, Der Kirschgarten. Dramen. Düsseldorf 2006, S. 367–451. Literatur: I. F. ANNENSKIJ, Drama nastroenij „Tri sestry“. In: Kniga otraženij. Petersburg 1906, S. 147–167. E. BUDDE, Osnovnaja ideja chudožestvennych proizvedenij Čechova. In: Russkaja mysl’. 1906, S. 1–25. M. S. GRIGOR’EV, Sceničeskaja kompozicija čechovskich p’es. Moskau 1924. S. D. BALUCHATYJ, „Tri sestry“. In: Ders., Problemy dramaturgičeskogo analiza. Čechov. Leningrad 1927, S. 120–147. S. D. BALUCHATYJ, „Tri sestry“ (1901 g.). In: Ders., Čechov-dramaturg. Leningrad 1936, S. 178–204. V. V. ERMILOV, „Tri sestry“. Issledovanie. Moskau 1948. V. V. ERMILOV, „Tri sestry“. In: Ders., Dramaturgija Čechova. Moskau 1954, S. 201–291. R. REVJAKIN, O dramaturgii Čechova. Moskau 1954. M. STROEVA, „Tri sestry“. In: Dies., Čechov i Chudožestvennyj teatr. Moskau 1955, S. 102–152. M. STROEVA, Novye „Tri sestry“. In: Dies., Čechov i Chudožestvennyj teatr. Moskau 1955, S. 253–303. N. P. LJUL’KO, Stilističeskij analiz p’esy A. P. Čechova „Tri sestry“. In: Učenye zapiski Leningradskogo universiteta 198, 24. 1956, S. 125–162. A. ROSKIN, „Tri sestry“. In: Ders., A. P. Čechov. Stat’i i očerki. Moskau 1959, S. 233–425. A. R. VLADIMIRSKAJA, Dve rannie redakcii pes’y „Tri sestry“. In: Literaturnoe nasledstvo 68. Moskau 1960, S. 1–86. M. VALENCY, “The Three Sisters”. In: Ders., The Breaking String. The Plays of Anton Chekhov. New York. 1966, S. 206–250. S. MELCHINGER, „Drei Schwestern“. In: Ders., Anton Tschechow. Velber bei Hannover 1968, S. 107–115. W. KOŚNY, Bedeutung und Funktion

Anton Čechov: Tri sestry

497

der literarischen Zitate in A. P. Čechovs „Tri sestry“. In: Welt der Slaven 16. 1971, S. 126– 150. J. L. STYAN, “Three Sisters”. In: Ders., Chekhov in Performance. A Commentary on the Major Plays. Cambridge 1971, S. 147–236. D. MAGARSHACK, “The Three Sisters”. In: Ders., The Real Chekhov. An Introduction to Chekhov’s Last Plays. London 1972, S. 125–184. D. RAYFIELD, Chekhov’s Last Plays. In: Ders., Chekhov. The Evolution of his Art. New York 1975, S. 201–229. C. BRAHMS, “The Three Sisters”. In: Dies., Reflections in a Lake. A Study of Chekhov’s Four Greatest Plays. London 1976, S. 79–107. H. SCHMID, Čechovs „Drei Schwestern“ als Beginn einer Paradigmenerweiterung der dramatischen Gattung. In: Poetica 8. 1976, S. 177–207. I. N. SOLOV’EVA, „Tri sestry“ – 1901. In: Čechovskie čtenija v Jalte. Čechov i teatr. Hg. V. I. Kulešov u. a. Moskau 1976, S. 102–126. L. ZORIN, „Tri sestry“ – 1965. In: Čechovskie čtenija v Jalte. Čechov i teatr. Hg. V. I. Kulešov u. a. Moskau 1976, S. 127–130. B. HAHN, “Three Sisters”. In: Dies., Chekhov. A Study of the Major Stories and Plays. Cambridge 1977, S. 284–309. H. SCHMID, Text- und Bedeutungsaufbau in Čechovs „Tri sestry“. In: On the Theory of Descriptive Poetics. Anton P. Chekhov as Storyteller and Playwright. Hg. J. van der Eng u. a. Lisse 1978, S. 179–206. G. BERDNIKOV, „Tri sestry“. In: Ders., Čechov-dramaturg. Tradicii i novatorstvo v dramaturgii A. P. Čechova. Moskau 1981, S. 216–249. E. K. BRISTOW, Circles, Triads, and Parity in the “The Three Sisters”. Chekhov’s Great Plays. A Critical Anthology. Hg. J.-P. Barricelli. New York 1981, S. 76–95. S. KARLINSKY, Huntsmen, Birds, Forest, and “Three Sisters”. In: Chekhov’s Great Plays. A Critical Anthology. Hg. J.-P. Barricelli. New York 1981, S. 144–156. K. D. KRAMER, “Three Sisters”, or Taking a Chance on Love. In: Chekhov’s Great Plays. A Critical Anthology. Hg. J.-P. Barricelli. New York 1981, S. 61–75. J. G. TURNER, Time in Chekhov’s “Tri sestry”. In: Canadian Slavonic Papers 28. 1981, S. 65–79. Z. S. PAPERNYJ, A žizn’ idet po svoim zakonam („Tri sestry”). In: Ders., „Vopreki vsem pravilam…“. P’esy i vodevili Čechova. Moskau 1982, S. 168–199. R. PEACE, “The Three Sisters”. In: Ders., Chekhov. A Study of the Four Major Plays. New Haven, Connecticut 1983, S. 75–116. H. GOLOMB, Music as Theme and as Structural Model in Chekhov’s “Three Sisters”. In: Semiotics of Drama and Theatre. New Perspectives in the Theory of Drama and Theatre. Hg. H. Schmid u. A. Van-Kesteren. Amsterdam 1984, S. 174–196. R. GREBENÍČKOVÁ, Zu zwei Čechov-Stücken [„Drei Schwestern“, „Die Möwe“]. In: Wiener Slawistischer Almanach 14. 1984, S. 87–103. H. PITCHER, “Man Needs a Life like that”. An Appreciation of “Three Sisters”. In: Ders., The Chekhov Play. A New Interpretation. 2. Aufl. Los Angeles 1984, S. 113–157. R. SHELDON, Cathartic Disillusionment in “The Three Sisters”. In: Russian Literature and American Critics. In Honor of Deming B. Brown. Hg. K. N. Brostrom. Ann Arbor, Michigan 1984, S. 309–318. Z. K. ABDULLAEVA, Ob odnom lejtmotive „Trech sester“. In: Izvestija Akademii nauk SSSR. Serija literatury i jazyka 44, 4. 1985, S. 350–357. R. PEACE, AntonTschechow: Die drei Schwestern. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 162–177. C. J. G. TURNER, Time in Chekhov’s “Tri sestry”. In: Canadian Slavonic Papers 28. 1986, S. 64–79. H. GIGION, Das Leben, wie es ist – das Leben, wie es sein soll. Utopische Momente bei Anton Tschechow. In: Von den Schmerzen ungelebten Lebens. Zum Werk Anton Tschechows. Hg. E. Valtink. Hofgeismar 1987, S. 25–47. C. E. GADDA, „Drei Schwestern“. In: Über Čechov. Hg. P. Urban. Zürich 1988, S. 280–283. H. GOLOMB, Value Structuration in “Three Sisters”. With Special Reference to the Roles of Time and Place. In: Assaph. Studies in the Arts. Section C. Studies in the Theatre 4. 1988, S. 19–33. D. G. STENBERG, “It Seems to Matter”. Linguistic Opposition in Chekhov’s “The Three Sisters”. In: Irish Slavonic Studies 10. 1989, S. 41–49. C. STRONGIN TUFTS, Prisoners of Their Plots. Literary Allusion and the Satiric Drama of Self-Consciousness in Chekhov’s “Three Sisters”. In: Modern Drama 32. 1989, S. 485–501. J. STELLEMAN, The Role of Metalanguage in Action and Discourse in Chekhov’s “Ivanov” and “Three Sisters”. In: Drama und Theater. Theorie – Methode – Geschichte. Hg. H. Schmid u. H. Král. München 1991, S. 587–600. N. H. WORRALL, V. P. GREENHILL, Chekhov’s “Three Sisters” – Three Interviews.

498

Literatur und Anmerkungen

In: Slavonica 16. 1991, S. 111–115. J. STRIEDTER, Drama als Spiel reflektierter Erwartungen. Čechovs „Drei Schwestern“. In: Dramatische und theatralische Kommunikation. Beiträge zur Geschichte und Theorie des Dramas und Theaters im 20. Jahrhundert. Hg. H. Schmid u. J. Striedter. Tübingen 1992, S. 192–223. B. ZINGERMAN, K probleme rituala v p’esach Čechova „Djadja Vanja“ i „Tri sestry“. In: Teatr 64, 11. 1993, 66–77. S. SH. ORGEL, A Psychoanalyst’s Reflections on Chekhov and “Three Sisters”. In: The International Journal of Psycho-Analysis 75. 1994, S. 133–148. R. GILMAN, “Three Sisters”, or I Can’t Go On, I’ll Go On. In: Ders., Chekhov’s Plays. An Opening into Eternity. New Haven 1995, S. 141– 196. G. MCVAY, Chekhov’s “Three Sisters”. London 1995. T. THREADGOLD, Postmodernizm and the Politics of Culture. Chekhov’s “Three Sisters” in Rehearsal and Performance. In: Southern Review. Literary and Interdisciplinary Essays 28. 1995, S. 172–182. D. DMITRIEV, Kogo ždut tri sestry. In: Literaturnaja učeba. 1996. 5–6, S. 38–50. D. RAYFIELD, “Three Sisters”. In: Ders., Understanding Chekhov. A Critical Study of Chekhov’s Prose and Drama. London 1999, S. 213–226. S. A. ŠUL’C, Rol’ prazdnika v chudožestvennoj strukture dramy A. P. Čechova „Tri sestry“. In: Filologičeskie nauki 43, 2. 2000, S. 24–31. E. S. AFANAS’EV, P’esa A. P. Čechova „Tri sestry“. Ironičeskaja drama. In: Russkaja slovesnost’. 2001. 8, S. 6–11. C. SCHAFER, Chekhov’s “The Three Sisters”. Exploring the Woman Question. In: Journal of Dramatic Theory and Criticism 16. 2001, S. 39–58. A. P. ČUDAKOV u. a. (Hg.), Čechoviana. „Tri sestry“ 100 let. Moskau 2002. J. GATRALL, Exile and the Death of Languages in Anton Chekhov’s “Three Sisters”. In: Ulbandus. The Slavic Review of Columbia University 7. 2003, S. 122–142. H. GRÜNEWALD, Neurotic Women or a Freudian Slip-(Up)? A Carnivalesque Reading of Female Sexuality in Chekhov’s “Tri Sestry” and Petrushevskaia’s “Tri Devushki v Golubom”. In: Forum for Modern Language Studies 39. 2003, S. 306–319. R. ILDIKO, Moskva kak metaforičeskoe prostranstvo i “Tri sestry”. In: Slavica 33. 2004, S. 231–238. C. MARSH, Two-Timing Time in “Three Sisters”. In: Chekhov 2004. Chekhov Special Issues. 2 Bde. Hg. J. Andrew u. R. Reid. Keele 2005. Bd. 1, S. 104– 115. H. GOLOMB, Heredity, Inheritance, Heritage. Human De- and Re-Generation in Chekhov’s Major Plays (With Special Reference to “Three Sisters”). In: Chekhov 2004. Chekhov Special Issues. 2 Bde. Hg. J. Andrew u. R. Reid. Keele 2005. Bd. 1, S. 75–103. F. BEER, “The Three Sisters”. A “Little Bit of Ivory”. In: Persuasions. The Jane Austen Journal 28. 2006, S. 238–250. C. MARSH, The Implications of Quotation in Performance. Masha’s Lines from Pushkin in Chekhov’s “Three Sisters”. In: The Slavonic and East European Review 84. 2006, S. 446–459. M. PENNINGTON, Anton Chekhov’s “Three Sisters”. A Study Guide. London 2007. T. KLAPURI, Constructing Inauthentic Everyday Temporality in Čechov. Reproductive Discourses in “Three Sisters”. In: Scando-Slavica 56. 2010, S. 213–227. Anmerkungen 1 Die „Geschichte“ umfaßt das „rein chronologisch geordnete Nacheinander der Ereignisse und Vorgänge“. Sie liegt „als das Präsentierte der Darstellung zugrunde und kann vom Rezipienten aus der Darstellung rekonstruiert werden“. M. Pfister, Das Drama. 5. Aufl. München 1982, S. 266. 2 Der Stand des „Kleinbürgertums“ (meščanstvo) umfaßte alle Stadtbewohner außer den Geistlichen, den Adligen, den Kaufleuten, den Beamten und den Angehörigen der Zunftinnungen. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm der Stand aufgrund der Industrialisierung an Bedeutung zu, wobei eine Ausdifferenzierung zwischen Großbürger (buržuj) und Kleinbürger (meščanin) stattfand. Mit dem Kleinbürgertum verbunden waren Begriffe wie Spießigkeit und Sicherheitsbedürfnis, Oberflächlichkeit und Beschränktheit. Vgl. S. A. Gončarov, Bürgertum (meščanstvo). In: Lexikon der russischen Kultur. Hg. N. Franz. Darmstadt 2002, S. 85–86. – Wenn die kleinbürgerliche Nataša in eine Generalsfamilie einheiratet, erwirbt sie für sich und ihre Kinder den erblichen Adelstitel. Um dieser Position gerecht zu werden, lernt sie Französisch, die Spra-

Anton Čechov: Tri sestry

3 4 5 6 7 8

9 10

11 12 13

499

che des Adels. Im Laufe der Handlung wird sie ihre Kenntnisse wiederholt an den Tag legen, wobei sich die adligen Besucher des Hauses Prozorov köstlich amüsieren. Der Ehrgeiz des Kleinbürgertums und der Dünkel des Adels kollidieren hier, wobei für Čechov beide Haltungen schädlich sind. G. Selge, Anton Čechovs Menschenbild. Materialien zu einer poetischen Anthropologie. München 1970, S. 9. A. Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Hamburg 1990, S. 16. A. N. Tichonov [Pseud.: Serebrov], O Čechove. In: A. P. Čechov v vospominanijach sovremennikov. Hg. N. I. Gitovič u. I. V. Fedorova. Moskau 1960, S. 655 f. K. Čukovskij, O Čechove. Moskau 1967, S. 79. Vgl. K. Hielscher, Krankheit und Diagnose der Epoche. Anton Pawlowitsch Tschechow und seine Zeit. In: Von den Schmerzen ungelebten Lebens. Zum Werk Anton Tschechows. Hg. E. Valtink. Hofgeismar 1987, S. 14. Die „Zemstva“ (Landschaftsversammlungen) waren Selbstverwaltungsorgane, die 1864 auf Gouvernements- und Kreisebene eingeführt worden waren. Zu ihren Aufgaben gehörten die Instandhaltung von Straßen und Brücken, Unterhaltung des Fuhr- und Postdienstes, Einrichtungen der Fürsorge und des Gesundheitswesens, Förderung von Industrie, Handel und Landwirtschaft sowie Ausbau des Elementarschulwesens. In die Versammlung wurden Vertreter des Adels, der Stadtbewohner und der Bauern gewählt, wobei der Adel die stärkste Fraktion stellte. Den Vorsitz hatte ein Adelsmarschall inne. Obgleich die Arbeit der „Zemstva“ stark reglementiert wurde, zeigten gerade Mitglieder der intelligencija, unter ihnen auch Čechov, ein großes Engagement und leisteten auf den Gebieten des Bildungs- und Gesundheitswesens Großartiges. Vgl. G. Stökl, Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 3. Aufl. Stuttgart 1973, S. 543 ff; Th. L. Porter, The Zemstvo and the Emergence of Civil Society in Late Imperial Russia, 1864–1917. San Francisco 1991. – Andrej Prozorov ist Angestellter in der „Zemstvo“-Verwaltung. Offensichtlich hat seine Frau, die mit dem Vorsitzenden liiert ist, dieses Beschäftigungsverhältnis ermöglicht. Andrej könnte viel Produktives leisten, wenn er nur wollte. Seine Träume von der entgangenen Professur und seine Flucht vor dem Kanzleiboten Ferapont, der ihn mit Arbeit behelligen könnte, lassen aber daran zweifeln, daß er interessante Tätigkeitsfelder sucht. Das Drama „Tri sestry“ wurde am 15. März 1901 von der Zensur für staatliche Bühnen verboten. Russ. „žiznetvorčestvo“ (auch Lebenswerk, Lebensschöpfertum). Der Begriff meint das fiktionalisierte Leben, das die Träumer innerhalb der russischen Literatur führen. Abgestoßen von der Banalität des Alltags flüchten sie sich in Nischen, die die schöne Literatur bereithält. Sie identifizieren sich so lange mit den Helden der Weltliteratur, bis die Realität sie einholt. Der Sturz aus dem Traum ist zumeist sehr schmerzhaft. Vgl. L. Ginzburg, O psichologičeskoj proze. Leningrad 1977, S. 27; B. Harreß, Mensch und Welt in Dostoevskijs Werk. Ein Beitrag zur poetischen Anthropologie. Köln 1993, S. 91 ff. – Čechovs Solenyj ist insofern ein ungewöhnlicher Träumer, als er den Absturz aus der Fiktion nicht zuläßt, sondern in seinem Traum weiterlebt. Th. Mann, Versuch über Tschechow. In: Ders., Ausgewählte Essays. 3 Bde. Frankfurt/M. 1982. Bd. 1, S. 164. Vgl. S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin. 4. Aufl. Gütersloh 1992, S. 8 ff. Vgl. B. Harreß, Die Dialektik der Verzweiflung als formschaffendes Prinzip. Überlegungen zu Anton Čechovs Futteral-Trilogie. In: Zyklusdichtung in den slavischen Literaturen. Beiträge zur internationalen Konferenz, Magdeburg, 18.–20. März 1997. Hg. R. Ibler. Frankfurt/M. 2000, S. 194.

500

Literatur und Anmerkungen

14 Kierkegaard, s. Anm. 12, S. 47 ff. 15 Ebd., S. 67 ff. 16 Ähnlich wie Čechov bestimmt Erich Fromm die existentielle Bedeutung der Arbeit: „Die Voraussetzungen für die Existenzweise des Seins sind Unabhängigkeit, Freiheit und das Vorhandensein kritischer Vernunft. Ihr wesentlichstes Merkmal ist die Aktivität, nicht im Sinne von Geschäftigkeit, sondern im Sinne eines inneren Tätigseins, dem produktiven Gebrauch der menschlichen Kräfte. Tätigsein heißt, seinen Anlagen, seinen Talenten, dem Reichtum menschlicher Gaben Ausdruck zu verleihen, mit denen jeder – wenn auch in verschiedenem Maß – ausgestattet ist. Es bedeutet, sich selbst zu erneuern, zu wachsen, sich zu verströmen, zu lieben, das Gefängnis des eigenen isolierten Ichs zu transzendieren, sich zu interessieren, zu lauschen, zu geben.“ E. Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Stuttgart 1976, S. 90. 17 Kierkegaard führt dazu aus: „Auf diese Form der Verzweiflung wird man nun in der Welt so gut wie gar nicht aufmerksam. Solch ein Mensch hat, gerade dadurch daß er sich selbst verloren hat, die Vervollkommnungsfähigkeit gewonnen um im Handel und Wandel so richtig mitzugehn, ja um sein Glück zu machen in der Welt. [...] Es ist so weit davon, daß ihn jemand für verzweifelt ansähe, daß er vielmehr gerade ein Mensch ist wie es sich schickt. Überhaupt hat die Welt, wie natürlich ist, keinen Sinn für das wahrhaft Entsetzliche. Eine Verzweiflung, die [...] einem das Leben bequem und behaglich macht, sie wird natürlich in keinerlei Weise für Verzweiflung angesehen.“ Kierkegaard, s. Anm. 12, S. 30 f. 18 B. Zelinsky, Russische Romantik. Köln 1975, S. 315. – Kierkegaard umfaßt die Inhalte der „pošlost’“ mit dem Begriff der „verzweifelten Borniertheit“. Kierkegaard, s. Anm. 12, S. 20. 19 Vgl. B. Wetzler, Die Überwindung des traditionellen Frauenbildes im Werk Anton Čechovs (1886–1903). Frankfurt/M. 1992. 20 Erich Fromm unterscheidet Aktivität in Tätigsein und bloße Geschäftigkeit: „In der entfremdeten Aktivität erlebe ich mich nicht als das tätige Subjekt meines Handelns, sondern erfahre das Resultat meiner Tätigkeit und zwar als etwas ,da drüben‘, das von mir getrennt ist und über mir bzw. gegen mich steht. Im Grunde handle nicht ich; innere und äußere Kräfte handeln durch mich. Ich bin vom Ergebnis meines Tätigseins getrennt worden. Der deutlichste Fall entfremdeter Aktivität ist im psychopathologischen Bereich die zwangsneurotische Persönlichkeit. [...] Bei nicht-entfremdeter Aktivität erlebe ich mich als handelndes Subjekt meines Tätigseins.“ E. Fromm, s. Anm. 16, S. 92. 21 Vgl. C. Dauphin, Alleinstehende Frauen. In: Geschichte der Frauen. Hg. G. Duby u. M. Perot. 5 Bde. Frankfurt/M. 1994. Bd. 4, S. 481–503. 22 Vgl. J. Müller, Zum Problem des Tragischen bei Goethe und in der Weltliteratur. In: Tragik und Tragödie. Hg. V. Sander. Darmstadt 1971, S. 129. 23 Aristoteles, Poetik. Griechisch und deutsch. Übers. u. hg. M. Fuhrmann. Stuttgart 1986, S. 19. 24 Vgl. I. Dlugosch, Anton Pavlovič Čechov und das Theater des Absurden. München 1977, S. 42 f. 25 Vgl. F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hg. J. Petersen u. a. 43 Bde. Weimar 1943 ff. Bd. 20, S. 333 ff. 26 Vgl. A. Hofer, Studien zur Geschichte des Militärmarsches. Mainz 1987. 27 Kierkegaard beschreibt das Krankheitsbild so: „Die Möglichkeit erscheint so dem Selbst größer und größer, mehr und mehr wird möglich, weil nichts wirklich wird. Zuletzt ist es als ob alles möglich wäre, aber eben dies geschieht, wenn der Abgrund das Selbst verschlungen hat.“ Kierkegaard, s. Anm. 12, S. 33.

Anton Čechov: Višnevyj sad

Anton Čechov (1860–1904)

501 S. 279

Text „Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten) nach: A. P. Čechov, Polnoe sobranie sočinenij i pisem. Hg. N. V. Bel’čikov u. a. 30 Bde. Moskau 1974–1983. Sočinenija. Bd. 13, S. 195–254. Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Der Kirschgarten. Übers. v. P. Urban. Zürich 1973. Literatur A. BELY, “The Cherry Orchard” [1904]. In: Russian Dramatic Theory from Pushkin to the Symbolists. Hg. L. Senelick. Austin, Texas 1981, S. 89–92. S. D. BALUCHATYJ, „Višnevyj sad“. In: Problemy dramaturgičeskogo analiza. Čechov. Leningrad 1927, S. 148–161. S. D. BALUCHATYJ, Dramaturgija Čechova. K postanovke p’esy „Višnevyj sad“ v Char’kovskom teatre russkoj dramy. Char’kov 1935, S. 9–139. S. D. BALUCHATYJ, „Višnevyj sad“ (1903 g.). In: Ders., Čechov-dramaturg. Leningrad 1936, S. 219–274. P. G. STRELKOV, O rečevych stiljach v p’ese A. P. Čechova „Višnevyj sad“. In: Izvestija Akademii Nauk SSSR. Otdelenie literatury i jazyka 10, 2. 1951, S. 136–152. N. I. BRAŽNIK, Izučenie jazyka p’esy A. P. Čechova. „Višnevyj sad“. In: Literatura v škole. 1954. 3, S. 45–52. V. V. ERMILOV, „Višnevyj sad“. In: Ders., Dramaturgija Čechova. Moskau 1954, S. 292–338. V. A. KOVALEV, L. M. ROZENBLJUM, Rečevye charakteristiki osnovnych personažej p’esy A. P. Čechova „Višnevyj sad“. In: Russkij jazyk v škole. 1954. 4, S. 16–22. M. D. KOČERINA, Analiz rečevoj charakteristiki personažej dramy Čechova „Višnevyj sad“. In: Izučenie jazyka chudožestvennych proizvedenij v škole. Moskau 1955, S. 132–143. M. D. Sosnickaja, „Ionyč“ i „Višnevyj sad“ A. P. Čechova. Moskau 1955. M. Stroeva, „Višnevyj sad“. In: Dies., Čechov i Chudožestvennyj teatr. Moskau 1955, S. 153–201. G. P. Berdnikov, Nakanune pervoj russkoj revoljucii „Višnevyj sad“. In: Ders., Čechov – dramaturg. Tradicii i novatorstvo v dramaturgii Čechova. Leningrad 1957, S. 179–204. J. LATHAM, “The Cherry Orchard” as Comedy. In: Educational Theatre Journal 10. 1958, S. 21–29. M. L. SEMANOVA, „Višnevyj sad“ A. P. Čechova. Serija v pomošč učaščimsja 8–10 klassov. Leningrad 1958. A. I. REVJAKIN, Rečevye osobennosti dejstvujuščich lic p’esy „Višnevyj sad“. In: Ders., „Višnevyj sad“ A. P. Čechova. Posobie dlja učitelej. Moskau 1960, S. 142–163. M. VALENCY, “The Cherry Orchard”. In: Ders., The Breaking String. The Plays of Anton Chekhov. New York 1966, S. 251–288. F. FERGUSSON, “The Cherry Orchard”. A Theater-Poem of the Suffering of Change. In: Chekhov. A Collection of Critical Essays. Hg. R. L. Jackson. Englewood Cliffs, New York 1967, S. 147–160. S. MELCHINGER, „Der Kirschgarten“. In: Ders., Anton Tschechow. Velber bei Hannover 1968, S. 115–123. V. E. CHALIZEV, P’esa A. P. Čechova „Višnevyj sad“. In: Russkaja klassičeskaja literatura. Razbory i analizy. Hg. D. L. Ustjužanin, Moskau 1969, S. 358–388. J. L. STYAN, “The Cherry Orchard”. In: Ders., Chekhov in Performance. A Commentary on the Major Plays. Cambridge 1971, S. 239–337. D. MAGARSHACK, “The Cherry Orchard”. In: Ders., The Real Chekhov. An Introduction to Chekhov’s Last Plays. London 1972, S. 185–243. A. O. SKAFTYMOV, O edinstve formy i soderžanija v „Višnevom sade“ A. P. Čechova. In: Ders., Nravstvennye iskanija russkich pisatelej. Moskau 1972, S. 381–435. H. PITCHER, The Emotional Network. An Appreciation of “The Cherry Orchard”. In: Ders., The Chekhov Play. A New Interpretation. London 1973, S. 158–212. H. SCHMID, Strukturalistische Dramentheorie. Semantische Analyse von Čechovs „Ivanov“ und „Der Kirschgarten“. Kronberg/Taunus 1973. D. RAYFIELD, Chekhov’s Last Plays. In: Ders., Chekhov. The Evolution of his Art. New York 1975, S. 201–229. C. BRAHMS, “The Cherry Orchard”. In: Dies., Reflections in a Lake. A Study of Chekhov’s Four Greatest Plays. London 1976, S. 108–151. R. HINGLEY, Yalta. The Years of the “Cherry Orchard”. 1901–1904. In: Ders., A New Life of Anton Chekhov. London 1976, S. 288–315. V. B. KATAEV, O literaturnych predšestvennikach „Višnevogo sada“. In: Čechovskie čtenija v Jalte. Čechov i teatr. Hg. V. I. Kulešov u. a. Moskau 1976, S. 131–150. J.-P. BARRICELLI, Counterpoint of

502

Literatur und Anmerkungen

the Snapping String. Chekhov’s “The Cherry Orchard”. In: California Slavic Studies 10. 1977, S. 121–139. B. HAHN, “The Cherry Orchard”. In: Dies., Chekhov. A Study of the Major Stories and Plays. Cambridge 1977, S. 12–36. G. RESSEL, Zur Redetechnik und Erzählstruktur in A. P. Čechovs „Višnevyj sad“. In: Die Welt der Slaven 22. 1977, S. 350–369. D. MARTIN, Philosophy in Chekhov’s Major Plays. In: Die Welt der Slaven 23. 1978, S. 122–136. H. SCHMID, Die Bedeutung des dramatischen Raums in A. P. Čechovs „Višnevyj sad“ (Der Kirschgarten) und A. Strindbergs „Gespenstersonate“. In: Referate und Beiträge zum VIII. Internationalen Slavistenkongreß, Zagreb 1978. Hg. J. Holthusen u. a. München 1978, S. 149–198. M. A. LJUBAVIN, Karikatura v „Oskolkach“ i „Višnevyj sad“. In: Russkaja literatura 23, 4. 1980, S. 180–181. H. HEER, Notizen zum „Kirschgarten“. In: Anton Tschechow. „Der Kirschgarten“. Komödie in vier Akten. Hg. Schauspielhaus Köln. Köln 1982, S. 61–71. J. HRISTIĆ, Die Zeit und der Raum in „Der Kirschgarten“. In: Ders., Le théâtre de Tchékhov. Lausanne 1982, S. 53–61. Z. S. PAPERNYJ, Poslednjaja p’esa („Višnevyj sad”). In: Ders., „Vopreki vsem pravilam…“. P’esy i vodevili Čechova. Moskau 1982, S. 200–235. R. PEACE, “The Cherry Orchard”. In: Ders., Chekhov. A Study of the Four Major Plays. New Haven, Connecticut 1983, S. 117–153. K. D. KRAMER, Love and Comic Instability in “The Cherry Orchard”. In: Russian Literature and American Critics. In Honor of Deming B. Brown. Hg. K. N. Brostrom. Ann Arbor, Michigan 1984, S. 295–307. N. I. FADEEVA, Svoeobrazie dialoga v p’ese „Višnevyj sad“. In: Russkaja reč. 1985. 1, S. 14–19. B. ZELINSKY, Anton Tschechow: Der Kirschgarten. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 178–199. H. PITCHER, Chekhov and The English Governess. Prototype of Charlotta Ivanova in “The Cherry Orchard”. In: Oxford Slavonic Papers 20. 1987, S. 101–109. I. N. SUCHICH, „Višnevyj sad“ A. P. Čechova. In: Analiz dramatičeskogo proizvedenija. Hg. V. M. Markovič. Leningrad 1988, S. 347–365. B. I. ZINGERMAN, O „Višnevom sade“. In: Ders., Teatr Čechova i ego mirovoe značenie. Moskau 1988, S. 319– 382. B. CHA, The Consciousness of Death in Anton Chekhov’s “The Cherry Orchard”. In: Anton P. Čechov. Werk und Wirkung. Vorträge und Diskussionen eines internationalen Symposiums in Badenweiler im Oktober 1985. 2 Bde. Hg. R.-D. Kluge. Wiesbaden 1990. Bd. 1, S. 501–513. G. ANDERSON, The Music of “The Cherry Orchard”. Receptions in the Russian Text. In: Modern Drama 34. 1991, S. 340–350. D. RAYFIELD, “The Cherry Orchard”. Catastrophe and Comedy. New York 1994. S. SENDEROVIC, “The Cherry Orchard”. Chekhov’s Last Testament. In: Russian Literature 35. 1994, S. 223–242. R. GILMAN, “The Cherry Orchard”, or “An Aperture into Eternity”. In: Ders., Chekhov’s Plays. An Opening into Eternity. New Haven, Connecticut 1995, S. 197–243. V. ZUBAREVA, An Army without a General or The Weedy Tree of Life “The Cherry Orchard”. In: Dies., A Systems Approach to Literature. Mythopoetics of Chekhov’s Four Major Plays. Westport 1997, S. 135–162. S. BAEHR, The Machine in Chekhov’s Garden. Progress and Pastoral in “The Cherry Orchard”. In: Slavic and East European Journal 43. 1999, S. 99–121. C. MARSH, Gor’kii and Chekhov. A Dialogue of Text and Performance. In: The Slavonic and East European Review 77. 1999, S. 601–611. D. RAYFIELD, “The Cherry Orchard”. In: Ders., Understanding Chekhov. A Critical Study of Chekhov’s Prose and Drama. London 1999, S. 240–266. E. BRAUN, The “Cherry Orchard”. In: The Cambridge Companion to Chekhov. Hg. V. Gottlieb u. P. Allain. Cambridge 2000, S. 111–120. S. EVDOKIMOVA, What’s so Funny about Losing One’s Estate, or Infantilism in “The Cherry Orchard”. In: Slavic and East European Journal 44. 2000, S. 623–650. A. LEONE, The Missing Set. How Landscape Acts in the “Cherry Orchard”. In: Studies in Twentieth Century Literature 24. 2000, S 283–307. P. TAIT, Performative Acts of Gendered Emotions and Bodies in Chekhov’s “The Cherry Orchard”. In: Modern Drama 43. 2000, S. 87–100. L. BEST, Ironie. Vom Text zur Bühne. Die ironischen Strukturen in Anton P. Čechovs „Der Kirschgarten“ und deren Umsetzung am Beispiel von drei Inszenierungen. Erlangen 2002. S. GUNDERMANN, Wortwahl, Grammatik und Aussage. Eine strukturelle Analyse der Dramen „Tri sestry“, „Višnevyj sad“ und „Vlast’ t’my“. Trier 2002. J. D. CLAY-

Anton Čechov: Višnevyj sad

503

TON,

Les Deux Solitudes. France, Russia, and the Problem of Love in Chekhov’s “Cherry Orchard”. In: Essais sur le discours de l’Europe eclatée 19. 2003, S. 23–32. P. MILES, “The Cherry Orchard”. In: Ders., Mikhail Gromov. Chekhov Scholar and Critic. An Essay in Cultural Difference. Nottingham 2003, S. 75–94. M. ROZOVSKIJ, Besedy o „Višnevom sade“. In: Ders., K Čechovu. Moskau 2003, S. 7–140. Ė. A. POLOCKAJA, Sad kak simvol Rossii. In: Dies., „Višnevyj sad“. Žizn’ vo vremeni. Moskau 2004, S. 109–129. B. BEUMERS, The Chopping of “The Cherry Orchard”. Stanislavskii or Chekhov. In: Chekhov 2004. Chekhov Special Issues. 2 Bde. Hg. J. Andrew u. R. Reid. Keele 2005. Bd. 1, S. 21–44. V. E. CHALIZEV, Idilličeskoe v „Višnevom sade“ A. P. Čechova. In: Izvestija Akademii Nauk. Serija literatury i jazyka 64, 4. 2005, S. 3–11. B. CHRISTA, Costume and Communication in “The Cherry Orchard”. In: Chekhov 2004. Chekhov Special Issues. 2 Bde. Hg. J. Andrew u. R. Reid. Keele 2005. Bd. 1, S. 53–59. E. FAZEKAS, Sopostavitel’nyj analiz dvuch perevodov p’esy A. P. Čechova „Višnevyj sad“. In: Studia Russica 2005. 22, S. 274–279. V. V. GUL’ČENKO u. a. (Hg.), Čechoviana. „Zvuk lopnuvšej struny“. K 100-letiju p’esy „Višnevyj sad“. Moskau 2005. S. HASLAM, Anton Chekhov. “The Cherry Orchard”. In: Aestheticism and Modernism. Debating Twentieth-Century Literature 1900–1960. Hg. R. Brown u. S. Gupta. London 2005, S. 19–67. V. A. KOŠELEV, Mifologija „sada“ v poslednej komedii Čechova. In: Russkaja literatura 48, 1. 2005, S. 40–52. J. MCKELLOR REID, Polemic as Parting Advice. “The Cherry Orchard”. In: Modern Drama 48, 1. 2005, S. 30–54. N. E. RAZUMOVA, „Gore ot uma“, „Revizor“, „Višnevyj sad“. K probleme istorizma. In: Gogol’ i vremja. Hg. A. S. Janužkevič u. A. V. Petrov. Tomsk 2005, S. 128–137. G. GUSEVA (Hg.), „Višnevyj sad“ 1904–2006. Moskau 2006. J. N. LOEHLIN, Chekhov. “The Cherry Orchard”. Cambridge 2006. N. A. VESELOVA, O flore i faune „Višnevogo sada”. In: Čechovskie čtenija v Ottave. Sbornik naučnych trudov. Hg. Ju. V. Domanskij u. D. Klejton. Tver’ 2006, S. 230–238. N. G. ŽEKULIN, „Višnevyj sad“ Čechova i „Otcy i deti“ Turgeneva. In: Čechovskie čtenija v Ottave. Sbornik naučnych trudov. Hg. Ju. V. Domanskij u. D. Klejton. Tver’ 2006, S. 239– 245. S. SENDEROVIČ, „Višnevyj sad“ – poslednaja šutka Čechova. In: Voprosy Literatury 51, 1. 2007, S. 290–317. P. N. DOLŽENKOV, „Kak prijatno igrat’ na mandoline!“ O komedii Čechova „Višnevyj sad“. Moskau 2008. R. IBLER, Anton Čechovs problematisch gewordene Komödie: „Čajka“ und „Višnevyj sad“. In: Ders., Die russische Komödie. Ein gattungsgeschichtlicher Überblick von den Anfängen bis A. P. Tschechow. Stuttgart 2008, S. 275–300. T. KLAPURI, Temporality and Historicity in Čechov’s “The Cherry Orchard”. In: ScandoSlavica 54. 2008, S. 50–61. V. LAKŠIN, Kak byl zaduman i napisan „Višnevyj sad“. In: Ders., Tolstoj i Čechov. Moskau 2009, S. 145–175. A. LEHRMAN, Anton Čechov’s „Višnevyj sad“. A Critical Edition of the Original Russian Text with an Introduction, a New Translation and Supplementary Materials. München 2009. A. ĖFROS, „Višnevyj sad“ – ėto karusel’, na kotoroj kružatsja pečal’nye ljudi. In: A. P. Čechov, Višnevyj sad. Hg. Ju. G. Fridštejn. Moskau 2010, S. 65–96. D. STRELER, „Višnevyj sad“ Čechova. In: A. P. Čechov, Višnevyj sad. Hg. Ju. G. Fridštejn. Moskau 2010, S. 97–116. Anmerkungen 1 Čechov, s. Text, Pis’ma, Bd. 10, S. 15 (Brief an Ol’ga Knipper vom 22. April 1901). 2 Ebd., S. 143. 3 N. V. Gogol’, Polnoe sobranie sočinenij. Hg. N. L. Meščerjakov. 14 Bde. Moskau 1937– 1952. Bd. 10, S. 374 f. 4 Čechov, s. Text, Pis’ma, Bd. 11, S. 142, 151. 5 Ebd., S. 236. 6 Ebd., S. 101 (Brief an Ol’ga Knipper vom 24. Dezember 1902). 7 Ebd., Bd. 10, S. 136. 8 Ebd., Bd. 11, S. 260 9 Ebd., S. 281.

504 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

31 32 33 34 35 36 37

Literatur und Anmerkungen

Ebd., S. 276. Ebd., S. 272. Ebd., S. 273 f., 280, 290, 291 f., 293 f., 300. Ebd., S. 297 f., 300, 302, 304, 313. Ebd., S. 318, 324, 326. K. S. Stanislavskij, Sobranie sočinenij. Hg. O. N. Efremov u. A. M. Smeljanskij. 9 Bde. Moskau 1988–1999. Bd. 1, S. 347. Čechov, s. Text, Pis’ma. Bd. 12, S. 81. Ebd., Bd. 11, S. 248. Stanislavskij, s. Anm. 15, Bd. 7, S. 505 (Brief an Čechov vom 22. Oktober 1903). Čechov, s. Text, Pis’ma, Bd. 11, S. 284 (Brief an Nemirovič-Dančenko vom 23. Oktober 1903). Ebd., Bd. 12, S. 74 (Brief an Ol’ga Knipper vom 29. März 1904). Stanislavskij, s. Anm. 15, Bd. 7, S. 518 (Brief an Čechov vom 19. November 1903). Čechov, s. Text, Pis’ma, Bd. 11, S. 312 (Brief an Stanislavskij vom 23. November 1903). Ebd., S. 313 (Brief an Ol’ga Knipper vom 23. November 1903). V. Ė. Mejerchol’d, K istorii i technike teatra (1907 g.). In: Ders., Stat’i. Pis’ma. Reči. Besedy. Hg. A. V. Fevral’skij. 2 Bde. Moskau 1968. Bd. 1, S. 105–142. Ebd., S. 118 f. V. Ė. Mejerchol’d, Perepiska 1896–1939. Hg. V. P. Koršunova u. M. M. Sitkoveckaja. Moskau 1976, S. 45. K. Klinger, Der Garten der altgewordenen Kinder. Die drei Dimensionen von Tschechows „Kirschgarten“ in Giorgio Strehlers Inszenierung. In: Theater heute 15, 7. 1974, S. 8 ff. G. Hensel, Ein hingeträumter Kirschgarten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 9. 1976, S. 21. U. Schreiber, Bravo! Flimms „Kirschgarten“: ein zwangsneurotisches Ritual. In: Frankfurter Rundschau vom 9. 12. 1983, S. 19. Im Sinne Mejerchol’ds erschien der Ball, dargestellt als sinnloses Hetzen der Gäste in ihren schwarzen bzw. schwarzweißen Gewändern, sowohl bei Krejča als auch bei Flimm als verstörender Todesritus, bei letzterem noch verstärkt durch das Ausrufen der Tanznummern. Vgl. W. Iser, Die Artistik des Mißlingens. Ersticktes Lachen im Theater Becketts. Heidelberg 1979, S. 5–60. Auch Jacqueline Latham sieht Epichodov als eine repräsentative Figur, begründet dies aber vom Aspekt der Komik her: “He is a microcosm of the family, the most ludicrous traits of which are brought together in him.” Latham 1958, S. 28. So im Anschluß an Beverly Hahn: “‘The Cherry Orchard’ might be said to belong to the same category as ‘A Winter’s Tale’: it contains a tragedy but does not allow it to be fulfilled.” Hahn 1977, S. 20. „Je n’ai jamais compris, pour ma part, la différence que l’on fait entre comique et tragique.“ E. Ionesco, Expérience du théâtre. In: Ders., Notes et contre-notes. Paris 1962, S. 13. Vgl. B. Schulze, Studien zum russischen literarischen Einakter. Von den Anfängen bis A. P. Čechov. Wiesbaden 1984, S. 280 ff. Dieser Haltung ist unter der Frage „Was ist so lustig dabei, ein Gut zu verlieren?“ ein Aufsatz von Svetlana Evdokimova gewidmet. Vgl. Evdokimova 2000. Vgl. J. C. Oates, Chekhov and the Theater of the Absurd. In: Dies., The Edge of Impossibility. Tragik Forms in Literature. New York 1972, S. 115–137.

Anton Čechov: Višnevyj sad

505

38 Beispielsweise von Valency 1966, S. 272, der Lopachin unter anderem die „Brutalität eines Bauern“ zuspricht. 39 Čechov, s. Text, Pis’ma, Bd. 11, S. 290 f., sah dies voraus und warnte das Künstlertheater davor, Lopachin (dessen Rolle er sogar als „zentrale Rolle“ betrachtete, von der der Erfolg des Stücks abhänge) als „Schreihals“ zu spielen und erläuterte: „Lopachin ist zwar ein Kaufmann, aber ein in jeder Beziehung anständiger Mensch.“ 40 Čechov, s. Text, Sočinenija, Bd. 13, S. 250. Als eine ernsthafte Absicht darf diese Aussage aber nicht betrachtet werden. 41 Ebd., Pis’ma, Bd. 11, S. 291 (Brief an Stanislavskij vom 30. Oktober 1903). 42 Ähnlich Pitcher 1973, S. 196: “Ranyevskaya now sees Trofimov as her own conscience and better judgement.” Sowie Hahn 1977, S. 24: “Trofimov functions as an externalized figure of Lyubov’s own conscience.” 43 „Zur Ruhe bringen kann solch eine Frau nur der Tod“, erläuterte Čechov. Vgl. Čechov, s. Text, Pis’ma, Bd. 11, S. 285. 44 Diese Nutzlosigkeit wird bezeichnenderweise von Lopachin zur Sprache gebracht: „Bemerkenswert an dem Garten ist allein, daß er sehr groß ist. Die Bäume tragen nur alle zwei Jahre, und auch dann weiß man nicht, wohin mit den Kirschen. Niemand kauft sie.“ Čechov, s. Text, Sočinenija, Bd. 13, S. 205. 45 Oates, s. Anm. 36, S. 311. 46 So auch Hahn 1977, S. 17. Styan 1971, S. 288, versteht den Ton allgemein als „Symbol der Zeit“ und als „Bruch mit der Vergangenheit“ (break with the past). Donald Rayfield glaubt, die „gesprungene Saite“ gehe zurück auf eine Stelle im Epilog von Tolstojs „Vojna i mir“ (Krieg und Frieden), wo Pierre Bezuchov die politische Krise voraussieht, die auf Rußland zukommt: „Während ihr dasteht und wartet, daß gleich diese zu straff gespannte Saite springt…“ (Erster Teil, Kapitel 14). Bei Čechov erhalte das Bild aber eine andere Bedeutung: “The sound of the breaking string is associated for Chekhov with the death of nature, industrialisation, the crippling of human beings.” Rayfield 1999, S. 255. 47 Die Pappel gilt wegen ihrer beim leisesten Windhauch zitternden Blätter von alters her als Symbol des Schmerzes und der Klage. Bei den Griechen war sie als ein in der Unterwelt wachsender Baum sogar ein spezifisches Sinnbild der Totenklage. J. Chevalier, A. Gheerbrant, Dictionnaire des symboles. Mythes, rêves, coutumes, gestes, formes, figures, couleurs, nombres. 4 Bde. Paris 1973–1974. Bd. 3, S. 383 f. 48 Das hat zuerst Beverly Hahn erkannt und treffend beschrieben “The rapid succesion of one trick after another and Charlotta’s triumph in her power of command make this a tour de force of personal assertion which has also an edge of aggression about it. In the circumstances, with Lyubov helplessly awaiting news of what has happened to the estate, Charlotta’s demonstration of her power to will the world as she wants it, and her willing a kind of anarchy, feels to the audience like an act of psychic violence”. Hahn 1977, S. 31. 49 Fritz Martini illustriert die Wichtigkeit und Häufigkeit dieser Grundform am Beispiel der Dramen Friedrich Schillers. Vgl. F. Martini, Schillers Abschiedsszenen. In: Ders., Geschichte im Drama – Drama in der Geschichte. Spätbarock, Sturm und Drang, Klassik, Frührealismus. Stuttgart 1979, S. 244–276. 50 Zur Bedeutung der Arbeit bei Čechov vgl. G. Selge, Die Arbeit. In: Dies., Anton Čechovs Menschenbild. Materialien zu einer poetischen Anthropologie. München 1970, S. 94–107. 51 Aufgedeckt wird der vage Nietzsche-Bezug bei Trofimov von dem – keineswegs ungebildeten – Gutsbesitzer Piščik, der den Bezug allerdings im Rahmen der Geldthematik ins Lächerliche zieht. Auf Trofimovs Äußerung, er hätte die Welt aus den Angeln heben können, wenn er seine ganze Energie statt auf die Jagd nach dem Geld auf die Be-

506

52 53

54 55

56

57

58 59 60

Literatur und Anmerkungen

zahlung der Zinsen verwendet hätte, entgegnet er: „Nietzsche... ein Philosoph... sehr groß, sehr bedeutend... ein Mann von riesigem Verstand, er sagt in seinen Werken, man könne ruhig falsche Geldscheine machen.“ Čechov, s. Text, Sočinenija, Bd. 13, S. 230. Richard Peace sieht von hier aus eine Verwandtschaft Trofimovs mit den revolutionären Helden, wie sie Černyševskij in seinem Roman „Čto delat’?“ (Was tun?, 1863) dargestellt hat. Peace 1983, S. 132. Čechov, der Gor’kij zum Dramenschreiben ermutigt hatte, polemisiert in „Višnevyj sad“ bezeichnenderweise mit diesem, indem er das Gespräch zwischen Gaev und Trofimov über den „stolzen Menschen“ (222 f.) auf den Monolog Satins im vierten Akt von „Na dne“ bezieht. Trofimov kritisiert dabei die von Gaev vertretene mystische, der Philosophie des „Gotterbauertums“ nahestehende Auffassung Satins. Vgl. Peace 1983, S. 132 f. Die Rede, die mit diesem Satz beginnt, wird von Peace nicht zu Unrecht für die „wichtigste Rede im Stück“ gehalten. Ebd., S. 137. – Zu Trofimovs Auffassung vom Garten als Symbol Rußlands vgl. Polockaja 2004. „Pererodit’” (verändern, umgestalten). Daß die Wurzel „rod“ (identisch mit dem Substantiv „rod“, Geschlecht, Gattung), auf der dieses Verb basiert, in ihren Ableitungen und Bedeutungen das Stück wie ein Geflecht überzieht, hat Richard Peace entdeckt und genauer beschrieben. Ebd., S. 138 ff. Giorgio Strehler spricht in den Aufzeichnungen zu seiner „Kirschgarten“-Inszenierung 1974 in Mailand von drei – unseren drei Ebenen vergleichbaren – ineinander geschachtelten „Kästchen“. Das erste Kästchen, das voller Ereignisse, Einfälle und sich wandelnder Charaktere ist, erzählt die Geschichte Ljubov’ Andreevnas, Gaevs und der anderen Personen. Das zweite Kästchen, das sich am stärksten für die Bewegung der sozialen Klassen in ihrer wechselseitigen Beziehung interessiere, sieht die Erzählung der Familie im Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung. Und das dritte Kästchen, das vom Menschen handelt, der geboren wird, wächst, lebt, liebt, vergeht und stirbt, ist, die Darstellung ins Symbolische und Metaphysische erweiternd, eine Parabel des menschlichen Schicksals. G. Strehler, „Der Kirschgarten“. In: Über Čechov. Hg. P. Urban. Zürich 1988, S. 331 ff. Für Jovan Hristić ist „Višnevyj sad“ dagegen „im wesentlichen ein Drama über zwei Zeiten: es handelt von der Vergangenheit, die bis zum Verkauf andauert, und von der Zukunft, die mit dem Verkauf beginnt“. Weniger wichtig sei Čechov die gespielte Zeit, das heißt die „auf der Bühne ablaufende Gegenwart“, die nur einen krisenhaften Moment darstellt. Hristić 1982, S. 53. Auf Ljubov Andreevnas Frage „Wenn das Gut verkauft wird, wo gehst du dann hin?“ antwortet Firs: „Ich gehe, wohin Sie befehlen.“ (236). J. L. Styan, der auch eine Zuordnung von Zeitebene und Figuren vornimmt, weist Gaev und Ljubov’ Andreevna zusammen mit Firs der Vergangenheit zu. Styan 1971, S. 242. Zur Einsamkeit und anderen Grundbefindlichkeiten bei Čechov vgl. Selge, s. Anm. 49.

Maksim Gor’kij (1860–1904)

S. 301

Text „Na dne“ (Nachtasyl) nach: M. Gor’kij, Polnoe sobranie sočinenij. Hg. L. M. Leonov. 25 Bde. Moskau 1968–1976. Bd. 7, S. 107–182. Die in Klammern gesetzten Ziffern beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Nachtasyl. Übers. v. A. Scholz. Stuttgart 2007. Literatur E. V. ANIČKOV, Novye obrazy i starye mnenija („Na dne“ Gor’kogo i sovremennaja drama). In: Ders., Literaturnye obrazy i mnenija. Petersburg 1903, S. 97–126. I. M. BIBIKOV, M.

Maksim Gor’kij: Na dne

507

Gor’kij kak dramaturg. „Meščane“, „Na dne“. Kritičeskij ėtjud. Moskau 1903. S. L. FEDO„O čeloveke” v „Na dne” M. Gor’kogo. Petersburg 1903. A. A. In: Literaturnyj al’bom. Petersburg 1904, S. 8–27. J. HUNEKER, Maxim Gorky’s Nachtasyl. In: Ders., Iconoclasts. A Book of Dramatists. New York 1905, S. 269–285. I. F. ANNENSKIJ, Drama „Na dne”. In: Ders., Kniga otraženij. 2 Bde. Petersburg 1906–1909. Bd. 1, S. 127–156. N. ĖFROS, „Na dne”. P’esa M. Gor’kogo v postanovke Moskovskogo Chudožestvennogo teatra. Moskau 1923. JU. JUZOVSKIJ (Hg.), „Na dne” M. Gor’kogo. Materialy i issledovanija. Moskau 1940. E. TAGER, „Na dne” Gor’kogo. In: Literaturnaja učeba 11, 6. 1940, S. 30–43. M. PARCHOMENKO, Idei revoljucionnoj pravdy i utešitel’noj lži v p’ese Gor’kogo „Na dne”. In: Trudy Moskovskogo gosudarstvennogo instituta istorii, filosofii i literatury imeni N. G. Černyševskogo 8. 1941, S. 14–39. H. MUCHNIC, Circe’s Swine. Plays by Gorky and O’Neill. In: Comparative Literature 3. 1951, S. 119–128. B. MICHAJLOVSKIJ, „Na dne“. In: Ders., Dramaturgija M. Gor’kogo ėpochi pervoj russkoj revoljucii. 2. Aufl. Moskau 1955, S. 92–148. S. DANILOV, Gor’kij na scene. Leningrad 1958. JU. JUZOVSKIJ, M. Gor’kij i ego dramaturgija. Moskau 1959. V. NEJMAN, Reč’ personažej v p’esach Gor’kogo. In: O chudožestvennom masterstve M. Gor’kogo. Sbornik statej. Hg. V. Michajlovskij u. E. Tager. Moskau 1960, S. 174–229. B. M. BJALIK, Pervyj cikl. „Na dne“ kak filosofskaja drama. In: Ders., Gor’kij-dramaturg. Moskau 1962, S. 52–109. Dt. Übers.: B. M. BJALIK, Das „Nachtasyl“ als philosophisches Drama. In: Maxim Gorki. Drama und Theater. Hg. I. Stauche. Berlin 1968, S. 195–247. B. KASTORSKIJ, O nekotorych idejno-chudožestvennych osobennostjach rannej gor’kovskoj dramaturgii. In: Ders., Gor’kij-chudožnik. Očerki. Moskau 1963, S. 160–235. I. STAUCHE, Zur Geschichte der Berliner „Nachtasyl“-Aufführungen. In: Zeitschrift für Slawistik 9. 1964, S. 118–121. V. V. NOVIKOV, Tvorčeskaja laboratorija Gor’kogo-dramaturga. Moskau 1965. JU. JUZOVSKIJ, „Na dne“ M. Gor’kogo. Moskau 1968. I. STAUCHE (Hg.), Maxim Gorki. Drama und Theater. Berlin 1968. N. MORAVCEVICH, Gorky and the Western Naturalists. Anatomy of a Misalliance. In: Comparative Literature 21. 1969, S. 63–75. B. SCHULTZE, Zur Problematik des Luka in M. Gor’kijs „Na dne“. In: Zeitschrift für slavische Philologie 39. 1977, S. 298–319. W. PAILER, Die frühen Dramen M. Gor’kijs in ihrem Verhältnis zum dramatischen Schaffen A. P. Čechovs. München 1978. H. BENDIKS, Einige Aspekte textsemantischer Analyse des Dramas „Na dne“ von Maksim Gor’kij. In: Sowjetische Bühnenautoren. Hg. I. Nowikowa. Hamburg 1979, S. 9–25. H. IMENDÖRFFER, Gorkis „Nachtasyl” als Überwindung des Naturalismus?. In: Rußlands große Realisten. Hg. K. Hielscher. Duisburg 1980, S. 123–132. H.-J. GERIGK, Maxim Gorkij: Nachtasyl. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 200–212. I. V. ANIKIEVA, Kompozicionnye ėlementy čechovskoj poėtiki v strukture p’esy M. Gor’kogo „Na dne“. In: Žanr i kompozicija literaturnogo proizvedenija. Mežvuzovskij sbornik. Hg. A. V. Zapadov. Petrozavodsk 1986, S. 139–146. A. B. UDODOV, Problemy chudožestvennoj struktury i avtorskoj pozicii v p’ese M. Gor’kogo „Na dne“. Tiflis 1987. I. STAUCHE, Spektakl’ „Nočležka“ v „Klajnes teater“. K istorii postanovki p’esy M. Gor’kogo „Na dne“ v Berline. In: Iz istorii russko-nemeckich literaturnych vzaimosvjazej. Moskau 1987, S. 187–194. G. KJETSAA, Ambivalence in Attitude. The Character of Luka in “The Lower Depths”. In: Russian Literature 24. 1988, S. 517–524. R. RUSSELL, “The Lower Depths”. In: Ders., Russian Drama of the Revolutionary Period. Totowa, New Jersey 1988, S. 12–18. A. B. UDODOV, P’esa M. Gor’kogo „Na dne“. Chudožestvennaja struktura i avtorskaja koncepcija čeloveka. Voronež 1989. P. V. BASINSKIJ, Logika gumanizma. Ob istokach tragedii Maksima Gor’kogo. In: Voprosy literatury 35, 2. 1991, S. 129–154. G. D. GAČEV, Čelovek protiv pravdy v p’ese „Na dne“. In: Neizvestnyj Gor’kij (k 125-letiju so dnja roždenija). Hg. V. S. Barachov u. a. Moskau 1994, S. 207–270. A. KNIGGE, „Nachtasyl“ (Na dne). In: Ders., Maksim Gor’kij. Das literarische Werk. München 1994, S. 62–66. V. ERLICH, Truth and Illusion in Gorky. “The Lower Depths” and After. In: Freedom and Responsibility in Russian Literature. Essays in Honor of Robert Louis Jackson. Hg. E. C. Allen u. G. S.

ROVSKIJ, Utechi gordosti. AMFITEATROV, „Na dne”.

508

Literatur und Anmerkungen

Morson. Evanston, Illinois 1995, S. 191–198. A. B. UDODOV, Chudožestvennaja struktura p’esy „Na dne“ i problema dramaturgičeskogo polifonizma. In: Ders., Fenomen Gor’kogo kak ėstetičeskaja real’nost’. Genezis i funkcionirovanie (1880-e – načalo 1900-ch godov). Voronež 1999, S. 183–199. A. B. UDODOV, „Na dne“ kak integrirujuščee voploščenie ličnostno-tvorčeskich dominant pisatelja. In: Ders., Fenomen Gor’kogo kak ėstetičeskaja real’nost’. Genezis i funkcionirovanie (1880-e – načalo 1900-ch godov). Voronež 1999, S. 200– 218. C. MARSH, Gor’kii and Chekhov. A Dialogue of Text and Performance. In: The Slavonic and East European Review 77. 1999, S. 601–619. C. MARSH, Truth, Lies and Storytelling in “The Lower Depths”. In: Canadian Slavonic Papers 42. 2000, S. 507–520. M. M. GOLUBKOV, Drama „Na dne“. In: Ders., Maksim Gor’kij. Moskau 2000, S. 66–75. O. V. ŽURČEVA, Obrazy vremeni i prostranstva kak sredstvo vyraženija avtorskogo soznanija v dramaturgii M. Gor’kogo. Monografija. Samara 2003. P. V. BASINSKIJ, P’esa „Na dne“ i cenzor Trubačov. In: Ders., Gor’kij. Moskau 2006, S. 201–204. C. MARSH, Truth, Lies and Theatre. “The Lower Depths” (1902). In: Dies., Maxim Gorky. Russian Dramatist. Oxford 2006, S. 89–120. Anmerkungen: 1 Vgl. die Rezension in „Russkoe slovo“ vom 19. 12. 1902 (a. St.) in: Gor’kij, s. Text, S. 613. 2 J. Scholz-Jahn, Nachwort. In: Gorki, s. Text, S. 97–102, hier: S. 102. – Vgl. auch Stauche 1964; Stauche 1987. 3 Vgl. N. Gourfinkel, Maxim Gorki in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1981, S. 27. – Zur Rezeptionsgeschichte von „Na dne“ vgl. Marsh 2006, S. 93 ff. 4 Zit. nach: H. Troyat, Gorki. Sturmvogel der Revolution. Eine Biographie. München 1990, S. 86. 5 Vgl. S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin. 4. Aufl. Gütersloh 1992, S. 32. 6 Vgl. N. Katzer, Maksim Gor’kijs Weg in die russische Sozialdemokratie. Wiesbaden 1990, S. 217 ff. 7 M. Gor’kij, Sobranie sočinenij. Hg. Institut mirovoj literatury im. A. M. Gor’kogo. 30 Bde. Moskau 1949–1955. Bd. 26, S. 424 f. – Zu Gor’kijs Selbstzweifeln vgl. Kjetsaa 1988. 8 „[...] Weltrad das rollende, / Streift Ziel auf Ziel: / Not – nennts der Grollende, / Der Narr nennts – Spiel...// Welt-Spiel, das herrische, / Mischt Sein und Schein: – / Das Ewig-Närrische / Mischt uns hinein!...“ F. Nietzsche, An Goethe. In: Ders., Werke. Hg. K. Schlechta. 5 Bde. Frankfurt/M. 1969. Bd. 2, S. 261. 9 Ohne Gor’kijs Drama zu erwähnen, hält Albert Camus die folgenden Kriterien für das absurde Kunstwerk fest: „Es bleibt eine Welt, deren einziger Herr der Mensch ist. Was ihn bannte, war die Illusion einer anderen Welt. Das Los seines Denkens besteht nicht mehr darin, sich selbst zu verleugnen, sondern in Bildern aufzugehen. Es wird spielerisch – in Mythen sicherlich, aber in Mythen, die keine andere Tiefe haben als die des menschlichen Schmerzes und wie diese unerschöpflich sind.“ A. Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 97. 10 T. Wetzel, Spiel. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch. Hg. K. Barck u. a. 7 Bde. Stuttgart 2000–2005. Bd. 5, S. 577–618, hier: S. 578. 11 Während die unmittelbar vorhandene Weltgegend „dem Autor und seinem (zeitgenössischen) Publikum als gegenwärtig“ gilt, hat die imaginäre Weltgegend „keinen Bezug auf eine objektiv vorhandene Weltgegend.“ H.-J. Gerigk, Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes. Berlin 1975, S. 20. 12 Ein Begriff von Manfred Pfister. M. Pfister, Das Drama. 5. Aufl. München 1988, S. 351. 13 Ebd.

Maksim Gor’kij: Na dne

509

14 Die vorgestellte Weltgegend setzt sich aus „umlaufenden Vorstellungen“ über eine bestimmte gegenwärtige oder vergangene Weltgegend zusammen und lebt damit von Klischee-Vorstellungen. Gerigk, s. Anm. 11. 15 Viktor Simov setzte Gor’kijs Anweisungen in seinem Bühnenbild so meisterhaft um, daß dies erheblich zum Erfolg der Inszenierung beitrug. Die Kommunikation zwischen Bühnenbildner und Autor stellte Konstantin Stanislavskij her. Vgl. Ju. I. Nechorošev, Dekorator Chudožestvennogo teatra Viktor Andreevič Simov. Moskau 1984, S. 99 f. – Marsh 1999, S. 615. 16 G. Bachelard, Poetik des Raumes. Frankfurt/M. 1987, S. 43. 17 M. Lurker, Höhle. In: Wörterbuch der Symbolik. 2. Aufl. Stuttgart 1983, S. 300. – G. v. d. Osten, Der Blick in die Geburtshöhle. In: Kölner Domblatt 23–24. 1964, S. 341–358. 18 Aus den Moralpredigten der orthodoxen Kirche gegen die sich ausbreitende Trunksucht entwickelte sich in Rußland die karnevaleske Tradition der „služba kabaku“ (Gottesdienst in der Schenke). Vgl. S. A. Gončarov, Trunksucht. In: Lexikon der russischen Kultur. Hg. N. Franz u. a. Darmstadt 2002, S. 461–463. – In der Schlußszene lädt Bubnov wie ein Priester die Säufer ein, an einer Menschwerdung der besonderen Art teilzunehmen. 19 In seinem Artikel zu Becketts 100. Geburtstag hinterfragt Jens Jessen die Kritik der Marxisten am Theater des Absurden. Er weist dabei auf die politische Pointe der Verweigerung hin: vgl. J. Jessen, Der Mensch, ein Strolch. In: Die Zeit Nr. 16 vom 12. 4. 2006, S. 54 – Gleichermaßen stellt Evelyn Finger fest: „Während Brecht die gesellschaftlichen Gründe individueller Zwangslagen benennt und revolutionäre Maximen predigt, inszeniert Beckett den Stillstand als Normalität.“ E. Finger, Die Pointe heißt Hartz IV. In: Die Zeit Nr. 16 vom 12. 4. 2006. 20 Vgl. E. Drewermann, Strukturen des Bösen. 3 Bde. Paderborn 1988. Bd. 3, S. XXV. 21 Ph. Ariès, Geschichte des Todes. 4. Aufl. München 1989, S. 726. Ariès bemerkt, daß der Tod erst ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert als absolute Negativität gesehen wird, die Angst einflößt und daher maskiert werden muß. Um Distanz zu schaffen, wird die Verfassung der Sterbenden und der Leichname vor der Reinlichkeit einer bürgerlichen Welt als ekelerregend befunden. Als literarische Beispiele führt Ariès Flauberts Roman „Madame Bovary“ (1857) und Tolstojs Novelle „Smert’ Ivana Il’iča“ (1886) an, in denen der schmutzige Tod erstmals ästhetisiert wird. Gor’kij zeigt in „Na dne“, daß der Tod auch in einer schmutzigen Umgebung als schmutzig empfunden wird. Die abfälligen Bemerkungen über den Husten Annas und den Verwesungsgeruch ihres Leichnams verraten angestrengte Distanzierungsbemühungen. Erst mit dem Tod des Schauspielers, der als Selbstmord eine besondere Qualität hat, werden die Männer nüchtern. 22 Die „Verzweiflung der Endlichkeit“ äußert sich darin, daß der Mensch von außen bestimmt ist und sich ständig mit anderen vergleicht. An Äußerlichkeiten verloren, ist er vor allem bestrebt, viel Gewinn zu erzielen. Diese Haltung ist am Ehepaar Kostylev feststellbar. Die „Verzweiflung der Notwendigkeit“ äußert sich hingegen darin, daß der Mensch Zwänge braucht, um sich ihnen zu unterwerfen. Diese Haltung ist am Polizisten Medvedev feststellbar. Beide Gestalten der Verzweiflung sind das Fundament des Spießbürgertums bzw. des „meščanstvo“. Vgl. Kierkegaard, s. Anm. 5, S. 29–32, 34–39. 23 Th. Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger. Hamburg 1994, S. 69. 24 Die zu den Altgläubigen gehörige Sekte der „beguny“ (Läufer) oder „stranniki“ (Pilger) stand unter dem Zeichen der Endzeiterwartung und vermutete in der Obrigkeit das Wirken des Antichrist. Um nicht mit dem Bösen in Berührung zu kommen, lösten sich ihre Mitglieder aus allen gesellschaftlichen Verpflichtungen, verbrannten ihre Papiere und zogen frei umher. Ihre mangelnde Bereitschaft, Bindungen einzugehen oder Verantwortung zu übernehmen, brachte sie bereits im 19. Jahrhundert in Mißkredit. Das Gouvernement Tomsk, in dem auch Luka nach seiner Aussage gelebt hat (154), gehörte zu den

510

25 26 27

28 29 30

31 32 33 34 35 36

37 38 39

40 41

Literatur und Anmerkungen

Zentren der Sekte. Hier kursierte auch die Legende vom Land der Gerechten, an dessen Existenz die Läufer fest glaubten. Manche von ihnen machten sich sogar auf die Suche danach. Gor’kij hatte auf seinen Wanderungen durch Rußland verschiedene Vertreter des Raskol kennengelernt und sich systematisch mit dessen Geschichte beschäftigt. Wie seinen Notizen zu entnehmen ist, zweifelte er die Glaubwürdigkeit der „beguny“ oder „stranniki“ an. Vgl. Gor’kij, s. Text, S. 626 f. – D. Tschižewskij, Russische Geistesgeschichte. München 1974, S. 195 f. – Zur Legende vom Land der Gerechten im Kontext von „Na dne“ vgl. Gačev 1994. Kierkegaard, s. Anm. 5, S. 32 f. Vgl. S. 499, Anm. 10 dieses Bandes. Camus, s. Anm. 9, S. 68. – Camus vergleicht den Komödianten mit dem Reisenden und schafft damit, ohne Gor’kijs Drama zu erwähnen, eine Verbindung zwischen dem Schauspieler und Luka: „Indem er so die Jahrhunderte und die Geister durchläuft und den Menschen spielt, so wie er sein kann und so wie er ist, begegnet der Schauspieler sich mit jener anderen absurden Figur: dem Reisenden. Wie jener schöpft er etwas aus, um unaufhaltsam weiterzueilen.“ „Unbekannt sein heißt für ihn: nicht spielen, und nicht spielen heißt für ihn: hundertmal mit all den Wesen sterben, die er beseelt oder auferweckt hätte.“ Camus, s. Anm. 9, S. 68. Vgl. H. Schott u. R. Tölle, Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. München 2006, S. 339–349. Das Warten als „wesenhaftes Merkmal des Seins“ ist ein häufiges Thema im Drama des Absurden (M. Esslin, Das Theater des Absurden. Von Beckett bis Pinter. Reinbek bei Hamburg 1985, S. 135), wird aber schon in Čechovs Dramatik ästhetisiert, die auf Gor’kijs Dramatik einen besonderen Einfluß hatte. Vgl. Marsh 1999; Anikieva 1986. M. Heidegger, Sein und Zeit. 15. Aufl. Tübingen 1984, S. 345. E. Fromm, Die Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik. Frankfurt/M. 1981, S. 20. Ebd., S. 23. Zitat Michajlovskijs in: W. Goerdt, Russische Philosophie. Grundlagen. Freiburg i. Br. 1995, S. 450 f. Vgl. O. W. Müller, Intelligencija. Untersuchungen zur Geschichte eines politischen Schlagwortes. Frankfurt/M. 1971, S. 137 ff. Eugen Drewermann hält den Gegensatz von Möglichkeit und Notwendigkeit für einen anderen Aspekt des Gegensatzes von Unendlichkeit und Endlichkeit: „Denn die bloße Endlichkeit wäre zugleich das Feld der bloßen Notwendigkeit, die reine Unendlichkeit aber wäre die reine Möglichkeit und Selbstbestimmung.“ Drewermann, s. Anm. 20, S. 475. Kierkegaard, s. Anm. 5, S. 27. Vgl. Drewermann, s. Anm. 20, S. 469. Rüdiger Dahlke erkennt auf der Symptomebene des Alkoholismus die Regression: „ Der lallende, strauchelnde Mensch fällt sprachlich und motorisch zurück auf die Ebene des Kleinkindes und hängt auch wieder an der Flasche.“ All das sei der „Versuch, die harte Welt weich erscheinen zu lassen“. Doch anstelle der angestrebten Ekstase erreiche er nur den „Vollrausch“. R. Dahlke, Krankheit als Symbol. Ein Handbuch der Psychosomatik, Symptome, Be-Deutung, Einlösung. 8. Aufl. München 2000, S. 108–109, hier: S. 108. – Zu Satins Vollrausch: vgl. Marsh 2006, S. 108; E. Brown, The Symbolist Contamination. Gorkij’s “Realistic Style”. In: Slavic Review 47, 2. 1988, S. 237 f. Heidegger, s. Anm. 31, S. 345. Als „svobodnaja ženščina“ (freie Frau) ist Kvašnja nicht in den Paß eines Mannes eingetragen und kann sich von daher frei bewegen.

Aleksandr Blok: Balagančik

511

42 Heidegger, s. Anm. 31, S. 345. 43 „Zur Alltäglichkeit des In-der-Welt-Seins gehören Modi des Besorgens, die das besorgte Seiende so begegnen lassen, daß dabei die Weltmäßigkeit des Innerweltlichen zum Vorschein kommt.“ Ebd., S. 73. 44 Zitat von Friedrich Engels in: G. Fraisse, Von der sozialen Bestimmung zum individuellen Schicksal. In: Geschichte der Frauen. Hg. G. Duby u. a. 5 Bde. Frankfurt/M. 1994. Bd. 4, S. 63–95, hier: S. 89. 45 Johann Jakob Bachofen stellt in seiner Untersuchung „Das Mutterrecht“ (1861) die Gynäkokratie in der Vor- und Frühgeschichte dar. Seine Thesen begünstigten die zeitgenössischen Emanzipationsbestrebungen und wirkten besonders auf deren sozialistische Vertreter ein wie August Bebel („Die Frau und der Sozialismus“, 1879) und Friedrich Engels („Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, 1884). Vgl. Fraisse, s. Anm. 44, S. 87 ff. 46 Laut Eugen Drewermann läßt die Angst vor dem Nichts die Menschen ins Leben fliehen. Dort hätten sie jedoch „eine solche Angst vor dem Leben, daß sie zugleich vor dem Leben ins Nichts zurückfliehen, – buchstäblich [...] von Staub zu Staub“. Da sie nicht mehr auf eine Ruhe im Leben rechnen, hoffen sie „nur noch auf ein Verlöschen im Tode, im Mutterschoß des Anorganischen“. Drewermann, s. Anm. 20, S. 446. 47 Vgl. V. Arpe, Existentialismus und Absurdität. In: Knaurs Schauspielführer. Eine Geschichte des Dramas. München 1971, S. 433–450, hier: S. 435. – Vgl. auch Camus, s. Anm. 9, S. 60. 48 Knigge 1994, S. 73 ff.

Aleksandr Blok (1880–1921)

S. 318

Text „Balagančik“ (Die Schaubude) nach: A. Blok, Sobranie sočinenij. Hg. V. N. Orlov u. a. 8 Bde. Moskau 1961–1963. Bd. 4, S. 7–22. Die in Klammern gesetzten Ziffern beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Die Schaubude. Übers. v. L. u. M. Remané. In: A. Block, Ausgewählte Werke. Hg. F. Mierau. 3 Bde. München 1978. Bd. 2, S. 7–21. Literatur N. VOLKOV, „Balagančik”. In: Ders., Aleksandr Blok i teatr. Moskau 1926, S. 21–35. P. MEDVEDEV, „Balagančik”. In: Ders., Dramy i poėmy Al. Bloka. Iz istorii ich sozdanija. Leningrad 1928, S. 16–24. S. BONNEAU, „Baraque de Foire”. In: Dies., L’univers poétique d’Alexandre Blok. Paris 1946, S. 491–492. K. MOČUL’SKIJ, „Balagančik“ (1906). In: Ders., Aleksandr Blok. Paris 1948, S. 120–173. E. MAYR, Die lyrischen Dramen A. Blocks. Diss. Wien 1950. P. ERŠOV, Simvoličeskaja lirika na scene. „Balagančik“ Al. Bloka. In: Novyj žurnal 67. 1962, S. 98–117. A. B. RUBCOV, [„Balagančik”]. In: Ders., Dramaturgija Aleksandra Bloka. Minsk 1968, S. 25–42. VL. ORLOV, Istorija odnoj ljubvi. In: Ders., Puti i sud’by. Leningrad 1971, S. 636–743. A. V. FEDOROV, Vokrug „Balagančika“. In: Ders., Teatr A. Bloka i dramaturgija ego vremeni. Leningrad 1972, S. 41–58. T. M. RODINA, „Balagančik“. In: Dies., Aleksandr Blok i russkij teatr načala XX veka. Moskau 1972, S. 127–149. H. B. SEGEL, The Revolt against Naturalism, Symbolism, Neo-Romanticism, and Theatralicalism. In: Ders., Twentieth-Century Russian Drama. From Gorky to the Present. New York 1979, S. 50–146. A. V. FEDOROV, „Balagančik” – pervaja iz „liričeskich dram“. In: Ders., Al. Blok – dramaturg. Leningrad 1980, S. 54–75. V. STEPHAN, „Balagančik“. In: Dies., Studien zum Drama des Russischen Symbolismus. Frankfurt/M. 1980, S. 29–43. P. P. GROMOV, Poėtičeskij teatr Aleksandr Bloka. In: A. Blok, Teatr. Hg. P. P. Gromov. Leningrad 1981, S. 5– 55. V. BENNETT, Russian Pagliacci. Symbols of Profaned Love in “The Puppet Show”. In: Drama and Symbolism. Hg. J. Redmond. Cambridge 1982, S. 141–171. G. LANGER, Alex-

512

Literatur und Anmerkungen

ander Blok: Die Schaubude. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 224–238. Z. G. MINTS, V “Chudožestvennom pole” Balaganchika. In: Semiotics and the History of Culture. Hg. M. Halle u. a. Columbus 1988, S. 400–407. R. RUSSELL, “The Puppet Booth”. In: Ders., Russian Drama of the Revolutionary Period. Totowa, New Jersey 1988, S. 22–26. L. VOGEL, Illusions Unmasked in Blok’s Puppet Motivs. In: Canadian-American Slavic Studies 24. 1990, S. 169–198. R.-D. KLUGE, “Balagančik” and “Misterija-Buff”. A Structural Comparison of Russian Symbolist and Avant-Garde Drama. In: Slavic Drama. The Question of Innovation. Hg. A. Donskov u. a. Ottawa 1991, S. 157–164. J. STILLMAN, Innovative Uses of Commedia dell’Arte. Elements in A. Blok’s “The Fairground Booth”. In: Convention and Innovation in Literature. Hg. T. D’haen u. a. Amsterdam 1991, S. 293–304. CH. MÜLLER-SCHOLLE, Das lyrische Theater Alexander Bloks. „Die Schaubude“. In: Dies., Das russische Drama der Moderne. Eine Einführung. Frankfurt/M. 1992, S. 15–24. T. C. WESTPHALEN, The Ongoing Influence of V. S. Solov’ev on A. A. Blok. The Particular Case of “Belaja lilija” and “Balagančik”. In: Slavic and East European Journal 36. 1992, S. 435– 451. J. D. CLAYTON, Pierrot Comes to Petersburg: 1903–17. In: Ders., Pierrot in Petrograd. The Commedia dell’Arte/ “Balagan“ in Twentieth-Century Russian Theatre and Drama. Montreal 1993, S. 75–102. W. G. JONES, Commedia dell’Arte. Blok and Meyerhold 1905– 1917. In: Studies in the Commedia dell’Arte. Hg. D. J. George u. C. J. Gossip. Cardiff 1993, S. 185–197. T. C. WESTPHALEN, The Carnival-Grotesque and Blok’s “The Puppet Show”. In: Slavic Review 52. 1993, S. 49–66. A. L. CRONE, “Balagančik”, “Maskarad” and “Poema bez geroia”. Meierkhol’dian Expressions of the Artist’s Crisis in Twentieth-Century Russia. In: Canadian Slavonic Papers 36. 1994, S. 317–332. N. I. FADEEVA-IŠČUK, „Teatr bližajšego buduščego“ A. Bloka. In: Aleksandr Blok i mirovaja kul’tura. Hg. V. V. Musatov u. T. V. Igoševa. Velikij Novgorod 2000, S. 94–101. A. V. LAVROV, Brjusovskie reminiscencii v dramaturgii Bloka. In: Ders., Ėtjudy o Bloke. Petersburg 2000, S. 169–178. A. OHME, Von den Brettern, die nicht die Welt bedeuten. Drama und Theater im russischen Symbolismus (am Beispiel von A. Bloks „Balagančik“ und F. Sologubs „Založniki žizni“). In: Der russische Symbolismus. Zur sinnlichen Seite seiner Wortkunst. Hg. A. Ohme u. U. Steltner. München 2000, S. 61–84. S.-Y. KIM, Russian Symbolist Drama as Ritual. Zinaida Gippius’s “Sacred Blood” (1901) and Alexander Blok’s “The Puppet Show” (1906). In: Poetics. Self. Place. Essays in Honor of Anna Lisa Crone. Hg. C. O’Neil u. a. Bloomington 2007, S. 824– 844. Anmerkungen 1 V. Brjusov, Dnevniki 1891–1910. Moskau 1927, S. 112 f. 2 Ders., Nenužnaja pravda (Po povodu Moskovskogo Chudožestvennogo teatra). In: Ders., Sobranie sočinenij. Hg. P. G. Antokol’skij u. a. 7 Bde. Moskau 1973–1975. Bd. 6, S. 62–73, hier: S. 69. 3 V. Ė. Mejerchol’d, Stat’i. Pis’ma. Reči. Besedy. Hg. A. V. Fevral’skij. 2 Bde. Moskau 1968. Bd. 1, S. 126, 130. 4 R. Tietze, Das neue Theater. Meyerhold 1917–1930. In: V. Meyerhold, Theaterarbeit 1917–1930. Hg. R. Tietze. München 1974, S. 7–38, hier: S. 12. 5 Vgl. K. Rudnickij, Mejerchol’d. Moskau 1981, S. 117. 6 V. D. Jakubovič, Blok v kritike sovremennikov (Annotirovannaja bibliografičeskaja chronika 1902–1921). In: Literaturnoe nasledstvo 92. 1993, S. 633–826, hier: S. 644 f. 7 Blok, s. Text, Bd. 5, S. 95. 8 Ebd., S. 164. 9 Ebd., S. 270. 10 Ebd., Bd. 4, S. 434. 11 Ebd., Bd. 8, S. 15. 12 Ebd., S. 432.

Aleksandr Blok: Balagančik

513

13 Ebd., S. 46. 14 A. Blok, Dnevnik. Moskau 1989, S. 248. 15 Vgl. S. Schahadat, Das Leben zur Kunst machen. Theoretische Überlegungen zur Lebenskunst. In: Dies., Lebenskunst – Kunstleben. Žiznetvorčestvo v russkoj kul’ture XVIII–XX vv. München 1998, S. 15–48. 16 Vgl. I. Paperno, The Meaning of Art. Symbolist Theories. In: Creating Life. The Aesthetic Utopia of Russian Modernism. Hg. I. Paperno u. J. D. Grossman. Stanford 1994, S. 13–23, hier: S. 22 f. 17 Blok, s. Text, Bd. 7, S. 433. 18 Ders., Pis’ma k žene. In: Literaturnoe nasledstvo 89. 1978, S. 56. 19 Brief vom 17. Juni 1903. Zit. nach: Blok, s. Anm. 18, S. 172. 20 V. Orlov (Hg.), Aleksandr Blok v vospominanijach sovremennikov. Moskau 1980, S. 95. 21 So ein geplanter Obertitel für den Band „Stichi o Prekrasnoj Dame“. Vgl. Blok, s. Text, Bd. 8, S. 55. 22 L. D. Blok, I byli i nebylicy o Bloke i o sebe. In: Dve ljubvi, dve sud’by. Vospominanija o Bloke i Belom. Hg. V. Nechotin. Moskau 2000, S. 82. 23 Blok, s. Anm. 14, S. 60. 24 Ders., s. Anm. 18, S. 89. Vgl. auch S. 53. 25 Ders., s. Text, Bd. 1, S. 94, 232, 236. Dt. Übers.: A. Blok, Gedichte. Stichotvorenija. Russisch und deutsch. Hg. u. übers. v. A. Wanner. Frankfurt/M. 1990, S. 10–17. 26 Ders., s. Anm. 18, S. 62. Vgl. auch S. 117. 27 Ders., s. Text, Bd. 1, S. 210, 227. 28 Ders., s. Anm. 14, S. 24. 29 A. Pyman, The Life of Aleksandr Blok. 2 Bde. Oxford 1979, S. 193. 30 Blok, s. Text, Bd. 2, S. 67 f. 31 G. Čulkov, Naši sputniki. Moskau 1922, S. 88. 32 Blok, s. Text, Bd. 8, S. 146. 33 Orlov, s. Anm. 20, S. 146. 34 Z. G. Minc, Simvol u A. Bloka. In: V mire Bloka. Sbornik statej. Hg. A. Michajlov u. S. Lesnevskij. Moskau 1981, S. 186. 35 A. Belyj, O Bloke. Vospominanija, stat’i, dnevniki, reči. Moskau 1997, S. 208. 36 A. Blok, A. Belyj, Perepiska. Moskau 1940, S. 155 f. 37 Ebd., S. 157. 38 Blok, s. Text, Bd. 8, S. 156. 39 M. Šruba, Literaturnye ob’’edinenija Moskvy i Peterburga 1890–1917 godov. Slovar’. Moskau 2004, S. 121. 40 A. V. Lavrov, Perepiska G. I. Čulkova s Blokom. In: Literaturnoe nasledstvo 92. 1987, S. 373 f. 41 Blok, s. Anm. 22, S. 82. 42 Orlov 1971, S. 690–708. 43 Blok, s. Text, Bd. 7, S. 432. 44 Clayton 1993, S. 81. 45 I. Malej, Syndrom budy jarmarcznej, czyli symbolizm rosyjski w kręgu arlekinady (A. Błok i A. Bieły). Wrocław 2002, S. 35. 46 C. Kelly, The Russian Carnival Puppet Theatre. Cambridge 1990, S. 108, 125. 47 G. Thurston, The Popular Theatre Movement in Russia. 1862–1919. Evanston, Illinois 1998, S. 122 f. 48 Blok/Belyj, s. Anm. 36, S. 4. 49 Vgl. Schahadat, s. Anm. 15, S. 64–82.

514

Literatur und Anmerkungen

50 A. A. Fet, Stichotvorenija. Hg. P. P. Gromov. Moskau 1963, S. 394. Dt. Übers.: A. A. Fet, Quasi una fantasia. Gedichte Russisch-Deutsch. Hg. u. übers. v. Ch. Fischer. Zürich 1996, S. 93. 51 Blok, s. Anm. 14, S. 37. 52 V. Solov’ev, Smysl ljubvi. In: Ders., Sočinenija. Hg. A. F. Losev u. A. V. Gulyga. 2 Bde. Moskau 1988. Bd. 2, S. 522, 547. Dt. Übers.: V. Solov’ev, Der Sinn der Liebe. Übers. v. E. Kirsten in Zusammenarbeit mit L. Müller. Hamburg 1985. 53 Blok, s. Text, Bd. 5, S. 433. 54 V. Solov’ev, Stichotvorenija i šutočnye p’esy. Moskau 1922, S. 81. 55 D. M. Magomedova, Kommentiruja Bloka. Moskau 2004, S. 73–87. 56 Vgl. Fedorov 1972, S. 41–46. 57 Močul’skij 1948, S. 125. 58 Lavrov 2000, S. 169 ff. 59 L. Silard, K simvolike kruga u Bloka. In: Dies., Germetizm i germenevtika. Petersburg 2002, S. 206–225. 60 Der Begriff der „Überdeterminierung“ stammt aus Freuds „Traumdeutung“. Vgl. dort vor allem das Kapitel über „Irmas Injektion“ („Die Verdichtungsarbeit“). 61 Blok, s. Text, Bd. 4, S. 434. 62 Ebd., Bd. 5, S. 429 f. 63 A. Pyman, A History of Russian Symbolism. Cambridge 1994, S. 334. 64 Blok, s. Text, Bd. 8, S. 417. 65 Rodina 1972, S. 128.

Aleksej Kručenych (1886–1968)

S. 330

Text „Pobeda nad solncem” (Sieg über die Sonne) nach: A. Kručenych, Pobeda nad solncem. Petersburg 1913, S. 1–23. – Dt. Übers.: Sieg über die Sonne. Übers. v. G. Erbslöh. In: G. Erbslöh, „Pobeda nad solncem“. Ein futuristisches Drama von A. Kručenych. München 1976, S. 37–58. Literatur D. TSCHIŽEWSKIJ, Aleksej Kručenych. In: Anfänge des russischen Futurismus. Hg. D. Tschiževskij. Wiesbaden 1963, S. 82–87. V. MARKOV, Cubo-Futurism. In: Ders., Russian Futurism. A History. Berkeley, California 1968, S. 117–163. B. LIVŠIC, Polutoraglazyj strelec. New York 1973. Dt. Übers.: B. LIWSCHIZ, Der anderthalbäugige Schütze. Petersburg 2004. G. ERBSLÖH, Kommentar. In: Dies., „Pobeda nad solncem“. Ein futuristisches Drama von A. Kručenych. München 1976, S. 59–117. R. ZIEGLER, Aleksej Kručenych als Sprachkritiker. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch 24. 1978, S. 286–310. C. DOUGLAS, “Victory over the Sun”. In: Russian History / Histoire Russe 8, 1–2. 1981, S. 69–89. P. STOEBE, Velimir Chlebnikovs Konzept des „Budetljanstvo”. In: Welt der Slaven 27. 1982, S. 333–340. R. LEACH, A Good Beginning. “Victory over the Sun” and “Vladimir Mayakovsky”. A Tragedy “Reassessed”. In: Russian Literature 13, 1. 1983, S. 101–116. B. GONČAROV, Poėzija revoljucii i „samovitoe slovo“. In: Voprosy literatury 27, 7. 1983, S. 118–134. J. KOWTUN, „Sieg über die Sonne“. Materialien. In: Sieg über die Sonne. Aspekte russischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hg. Ch. Bauermeister u. N. Hertling. Berlin 1983, S. 27–52. CH. SCHOLLE, Futuristisches Theater. Majakovskij – Kručenych – Chlebnikov. In: Russische Avantgarde 1907–1921. Vom Primitivismus zum Konstruktivismus. Hg. B. Zelinsky. Bonn 1983, S. 53–82. W. G. WESTSTEJN, Velimir Chlebnikov and the Development of the Poetical Language in Russian Symbolism and Futurism. Amsterdam 1983. R. BENEDETTI, Reconstructing “Victory over the Sun“. In: The Drama Review 28, 3. 1984, S. 17–30. H. GÜN-

Aleksej Kručenych: Pobeda nad solncem

515

THER,

Maler als Bühnenbildner zwischen 1910 und 1930, Sieg über die Sonne. I. Teil: Vorgeschichte und Voraussetzungen, II. Teil: Maler erobern die Bühne, III. Teil: Die Aufführung von „Sieg über die Sonne“, IV. Teil: Konstruktivistische Konzeptionen der Bühne. In: Die Kunst 99. 1987, S. 820–825; 904–909; 1012–1017; 100. 1988, S. 48–53. A. A. HANSENLÖVE, Kručenych vs. Chlebnikov. Zur Typologie zweier Programme im russischen Futurismus. In: Avant-Garde. Interdisciplinary and International Review. Hg. J. v. d. Eng u. a. Amsterdam 1990, S. 15–44. A. SOLA, A. E. Kručenyh. De l’alogisme à la logique des sons. In: Cahiers du Monde russe et soviétique 31. 1990, S. 579–586. K. HIELSCHER, Die futuristische Oper „Sieg über die Sonne“ – ein Knotenpunkt avantgardistischer Konzeption. In: Drama und Theater. Theorie – Methode – Geschichte. Hg. H. Schmid u. H. Král. München 1991, S. 508–523. J.-C. LANNE, Les sources de la „zaum’” chez Kručenych et Chlebnikov. In: Zaumnyj futurizm i dadaizm v russkoj kul’ture. Hg. L. Magarotto u. a. Bern 1991, S. 21–56. H. GÜNTHER, Die Erstaufführung der futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“. In: WallrafRichartz-Jahrbuch 53. 1992, S. 189–207. I. GUNTERMANN, Zur Analyse des futuristischen Dramas „Pobeda nad solncem“ von A. Kručenych. Staatsexamensarbeit. Münster 1994. A. KRUČENYCH, Pervye v mire spektakli futuristov. In: Ders., Naš vychod. K istorii russkogo futurizma. Moskau 1996, S. 63–74. G. GUBANOVA, Gruppovoj portret na fone Apokalipsisa. K probleme tolkovanija „Pobedy nad solncem“. In: Literaturnoe obozrenie 26, 4. 1998, S. 69–77. I. GUNTERMANN, Esoterik des Totalen. Zur futuristischen Oper „Pobeda nad solncem”. In: Porta Slavica. Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 25. 1999, S. 127–156. N. I. CHARDŽIEV, Ot Majakovskogo do Kručenych. Izbrannye raboty o russkom futurizme. Moskau 2006. K. CLARK, “Victory Over the Sun” and the Movement for Renovation of the Theater. In: Ot Gogolja k „Pobede nad solncem“. Traektorii russkogo avangarda. Sbornik statej. Hg. N. Firtich u. D. Ungurianu. New York 2009, S. 25–35. N. FIRTICH, “Adieu Adieu Soleil Cou Coupé”. “Victory Over the Sun”, Guillaume Apollinaire, and Aleksej Kruchenykh’s Alogism. In: Ot Gogolja k „Pobede nad solncem“. Traektorii russkogo avangarda. Sbornik statej. Hg. N. Firtich u. D. Ungurianu. New York 2009, S. 65–94. N. GOURIANOVA, “Let’s Rhyme Cow and Theater!”. Language, Alogism, and Kruchenykh’s “Theatrical Instinct”. In: Ot Gogolja k „Pobede nad solncem“. Traektorii russkogo avangarda. Sbornik statej. Hg. N. Firtich u. D. Ungurianu. New York 2009, S. 37– 54. A. ZAINČKOVSKAJA, „Vospet’ Mašinu i Ėlektričestvo…”. O vitebskoj postanovke “Pobedy nad solncem” (1920). In: Ot Gogolja k „Pobede nad solncem“. Traektorii russkogo avangarda. Sbornik statej. Hg. N. Firtich u. D. Ungurianu. New York 2009, S. 55–64. Anmerkungen 1 Vgl. A. Achmatova, Majakovskij v 1913 godu. In: Stichotvorenija i poėmy. Hg. V. N. Žirmunskij. Leningrad 1976, S. 199. 2 Zur Gruppe der Kubo-Futuristen zählten die Brüder David, Nikolaj und Vladimir Burljuk, Vladimir Majakovskij, Velimir Chlebnikov, Elena Guro, Vasilij Kandinskij, Aleksej Kručenych und Benedikt Livšic. 3 Vgl. U. Apollonio, Der Futurismus. Köln 1972, S. 53 ff., und J. R. Dashwood, The Italian Futurist Theatre. In: Themes in Drama 1. Hg. J. Redmond. Cambridge 1979, S. 129–146. 4 Vgl. W. Kandinsky, Der gelbe Klang. Eine Bühnenkomposition. In: Der Blaue Reiter. Hg. W. Kandinsky u. F. Marc. 3. Aufl. München 1979, S. 209–241. 5 Vgl. Markov 1968, S. 147 f., und K. Tomaschewski, Wladimir Majakowski. In: Sieg über die Sonne. Aspekte russischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hg. Ch. Bauermeister u. N. Hertling. Berlin 1983, S. 77–106. 6 V. Chlebnikov, Werke. Hg. P. Urban. 2 Bde. Reinbek 1972. Bd. 2, S. 10. 7 Ebd., S. 109.

516 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28

Literatur und Anmerkungen

Vgl. V. Majakovskij, Polnoe sobranie sočinenij. Hg. Z. S. Papernyj u. a. 13 Bde. Moskau 1955–1961. Bd. 1, S. 163. In Chlebnikovs Auflistung von Neologismen sind „Galerie“ und „Logen“ durch „Wolken“ und „Bäume“ ersetzt. Vgl. Chlebnikov, s. Anm. 6, Bd. 1, S. 35. F. Marc, Schriften. Hg. K. Lankheit. Köln 1978, S. 129. Chlebnikov, s. Anm. 6, S. 109. Vgl. das mit Chlebnikov, s. Anm. 6, S. 113, verfaßte Manifest. Ebd., S. 580. Vgl. Chlebnikovs und Kručenychs Manifest „Slovo kak takovoe“. In: Manifesty i programmy russkich futuristov. Hg. V. Markov. München 1967, S. 57. Ebd., S. 62. Vgl. Erbslöh 1976, S. 89. Ebd., S.89 f. Vgl. das Manifest „Deklaracija slovo, kak takovogo“. In: Markov, s. Anm. 14, S. 63. Ebd., S. 68. Ebd., S. 62. Vgl. die ästhetischen Ansichten der Avantgarde vor dem Hintergrund der Poetik Rimbauds. Dazu F. Mierau, Konzepte. Frankfurt/M. 1979, S. 124 ff. Vgl. das mit Chlebnikov, s. Anm. 6, S. 113, verfaßte Manifest. Vgl. Markov 1968, S. 57. K. Malewitsch, Suprematismus – Die gegenstandslose Welt. Hg. W. Haftmann. Köln 1962, S. 174. Vgl. Tomaschewski, s. Anm. 5, S. 88. Vgl. Livšic 1973, S.119. Tomaschewski, s. Anm. 5, S. 79 ff. V. Chlebnikov, Sobranie sočinenij. Hg. Ju. Tynjanov u. N. P. Stepanov. 5 Bde. Leningrad 1928–1933. Bd. 3, S. 292.

Vladimir Majakovskij (1893–1930)

S. 342

Text „Misterija-buff” (Mysterium buffo) nach: V. Majakovskij, Polnoe sobranie sočinenij. Hg. Z. S. Papernyj u. a. 13 Bde. Moskau 1955–1961. Bd. 2, S. 167–241 (Erste Fassung, 1918); S. 243–355 (Zweite Fassung, 1920/21). Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe – Dt. Übers.: Mysterium buffo [Zweite Fassung]. Übers. v. H. Huppert. In: W. Majakowski, Werke. Hg. L. Kossuth. 5 Bde. Frankfurt/M. 1966–1973. Bd. 3, S. 27–124. Literatur R. V. IVANOV-RAZUMNIK, Vladimir Majakovskij („Misterija“ ili „Buff“). Berlin 1922. M. ZAGORSKIJ, Kak reagiruet zritel’. In: Lef. 1924. 2, S. 141–151. A. V. FEVRAL’SKIJ, „Misterija-Buff“. Majakovskij – dramaturg. Moskau 1940, S. 22–42. V. OGNEV, Doroga revoljucii. „Misterija-buff“ v teatre satiry. In: Teatr 29, 2. 1958, S. 87–98. G. ČEREMIN, Ot fevralja k oktjabrju (Majakovskij v 1917 godu). In: Russkaja literatura 3, 1. 1960, S. 26–47. Z. PAPERNYJ, Obraz revoljucii. In: Ders., Poėtičeskij obraz u Majakovskogo. Moskau 1961, S. 175– 433. B. MILJAVSKIJ, Satirik i vremja. O masterstve Majakovskogo-dramaturga. Moskau 1963. T. RICHTER (Hg.), Theater der Revolution. Marechal – „Das jüngste Gericht der Könige“. Majakowski – „Mysterium buffo“. Berlin 1963. E. J. BROWN, [Mystery-Bouffe]. In: Ders., Mayakovsky. A Poet in the Revolution. Princeton, New Jersey 1973, S. 198–204. A. M. RIPELLINO, Auf dem Weg ins gelobte Land. In: Ders., Majakowskij und das russische Theater der Avantgarde. Köln 1964, S. 80–130. K. RUDNICKIJ, Teatral’nost’ Majakovskogo.

Vladimir Majakovskij: Misterija-buff

517

In: Teatr 24, 7. 1963, S. 23–36. W. STORCH, „Mysterium buffo“. In: Vladimir Majakovskij. Velber bei Hannover 1969, S. 66–123. T. BAIKOVA POGGI, Il „Teatro Antico“ e „Misterijabuff“. Genua 1974. CH. MAILAND-HANSEN, Historien om Majakovskijs “Misterija-Buff“ og lukningen af “Teatr RSFSR I” (1921). In: Svantevit. Dansk Tidsskrift for Slavistik 2, 2. 1977, S. 19–32. K. HIELSCHER, Majakowskij und Mejerhold. „Mysterium buffo“ und die Anfänge des linken Avantgardetheaters. In: Majakowskij. 20 Jahre Arbeit. Katalog, herausgegeben zur Ausstellung. Berlin 1978, S. 74–87. W. PAILER, Majakovskijs Ansichten über die Aufgabe des Theaters und sein eigenes dramatisches Schaffen. In: Sowjetische Bühnenautoren. Gorkij – Rozov – Majakovskij – Amalrik. Hg. I. Nowikowa. Hamburg 1979, S. 139–221. CL. AMIARD-CHEVREL, Majakovskij et la théatralisation du cirque. In: Cahiers du Monde russe et soviétique 21. 1980, S. 321–332. W. F. SCHWARZ, Drama der russischen und tschechischen Avantgarde als szenischer Text. Zur Theorie und Praxis des epischen und lyrischen Dramas bei Vladimir Majakovskij und Vítězslav Nezval. Frankfurt/M. 1980. W. F. SCHWARZ, Vom kultischen zum kritischen Theater. Zur Typologie dramatischer Satire und epischer Verfremdung am Beispiel Vladimir Majakovskijs. In: Welt der Slaven 25. 1980, S. 380–393. U. BIRRI, Totaltheater bei Meyerhold und Piscator. Analyse der Inszenierungen „Mysterium buffo“ von Wladimir Majakowski und „Rasputin“ nach Alexej N. Tolstoi und P. E. Schtschegolew. Zürich 1982. F. M. CLARK, Oswald and Mayakovsky. “O homem e o cavalo” and “Mystery-Bouffe”. In: Revista de estudios hispánicos 16. 1982, S. 241–256. CH. SCHOLLE, Futuristisches Theater. Majakowskij – Kručenych – Chlebnikov. In: Russische Avantgarde 1907–1921. Vom Primitivismus zum Konstruktivismus. Hg. B. Zelinsky. Bonn 1983, S. 53–82. K. TOMASCHEWSKI, Wladimir Majakowski. In: Sieg über die Sonne. Aspekte russischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hg. Ch. Bauermeister u. N. Hertling. Berlin 1983, S. 77–106. A. FEVRAL’SKIJ, Pervaja sovetskaja p’esa. In: V mire Majakovskogo. Sbornik statej. Hg. A. A. Michajlov. 2 Bde. Moskau 1984. Bd. 1, S. 232–258. R.-D. KLUGE, Wladimir Majakowskij: Mysterium buffo. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 252–263. A. LOSKE, Individuum und Kollektiv. Zum Problem des Helden in nachrevolutionären Dramen von „Misterija-buff“ bis „Ljubov’ Jarovaja“. München 1990. R.-D. KLUGE, “Balagančik” and “Misterija-Buff”. A Structural Comparison of Russian Symbolist and Avant-Garde Drama. In: Slavic Drama. The Question of Innovation. Hg. A. Donskov u. a. Ottawa 1991, S. 157–164. CH. MÜLLER-SCHOLLE, Episches Theater im Zeichen der Revolution. 1. Wladimir Majakowskij. „Mysterium buffo“. In: Dies., Das russische Drama der Moderne. Eine Einführung. Frankfurt/M. 1992, S. 73–83. J. VON GELDERN, “Mystery-Bouffe”. Apocalypse and Utopia. In: Ders., Bolshevik Festivals, 1917– 1920. Berkeley, California 1993, S. 66–71. V. ERLICH, [„Mystery Bouffe“]. In: Ders., Modernism and Revolution. Russian Literature in Transition. Cambridge, Massachusetts 1994, S. 50–55. A. V. KRUSANOV, „Misterija-buff“. In: Ders., Russkij avangard. 1907–1932 (Istoričeskij obzor). 3 Bde. Moskau 2003. Bd. 2,1, S. 501–506. Ė. BESKIN, Revoljucija i teatr. „Misterija-buff“ Majakovskogo. In: V. V. Majakovskij. Pro et contra. Ličnost’ i tvorčestvo Vladimira Majakovskogo v ocenke sovremennikov i issledovatelej. Antologija. Hg. V. N. Djadičev. Petersburg 2006, S. 610–613. N. ČUZAK, Zemljanaja misterija. O p’ese „Misterijabuff“ Vl. Majakovskogo. In: V. V. Majakovskij. Pro et contra. Ličnost’ i tvorčestvo Vladimira Majakovskogo v ocenke sovremennikov i issledovatelej. Antologija. Hg. V. N. Djadičev. Petersburg 2006, S. 620–626. A. LEVINSON, „Misterija-buff“ Majakovskogo. In: V. V. Majakovskij. Pro et contra. Ličnost’ i tvorčestvo Vladimira Majakovskogo v ocenke sovremennikov i issledovatelej. Antologija. Hg. V. N. Djadičev. Petersburg 2006, S. 406–407. SADKO [= Vladimir Blum], „Misterija-buff“. In: V. V. Majakovskij. Pro et contra. Ličnost’ i tvorčestvo Vladimira Majakovskogo v ocenke sovremennikov i issledovatelej. Antologija. Hg. V. N. Djadičev. Petersburg 2006, S. 614–619. A. M. USAKOV, S. G. SEMENOVA, Vladimir Majakovskij. In: Russkaja literatura 1920–1930-ch godov. Portrety poėtov. 2 Bde. Hg. A. G. Gačeva u. S. G. Semenova. Moskau 2008. Bd. 1, S. 426–492.

518

Literatur und Anmerkungen

Anmerkungen 1 Die psychologische Bedeutung der Revolution für Majakovskij bemerkte interessanterweise schon Anatolij Lunačarskij, der 1931 dessen im revolutionären Gestus überwundene Einsamkeit ansprach: „Aber er fand dennoch die Wesen, denen er zustrebte mit der ganzen Kraft der Begier, seiner Einsamkeit ein Ende zu setzen. Das waren soziale Wesenheiten: das Proletariat, die Revolution.“ A. Lunatscharskij, Die Revolution und die Kunst. Essays, Reden, Notizen. Dresden 1974, S. 228. 2 Vgl. zur kritischen Avantgarde-Diskussion unter anderem H. M. Enzensberger, Die Aporien der Avantgarde. In: Ders., Einzelheiten. Frankfurt/M. 1962, S. 290–315; R. Grimm, J. Hermand (Hg.), Faschismus und Avantgarde. Königstein/Ts. 1980. 3 Fevral’skij 1984, S. 233. 4 Vgl. M. Aucouturier, Theatricality as a Category of Early Twentieth-Century Russian Culture. In: Theater and Literature in Russia 1900–1930. A Collection of Essays. Hg. A. Kleberg u. N. Å. Nilsson. Stockholm 1984, S. 9–21. 5 Vgl. hierzu den von Kurt-Jürgen Heering kenntnisreich kommentierten Essay Mejerchol’ds „Zur Geschichte und Technik des Theaters“. In: Theater und Drama. Theoretische Konzepte von Corneille bis Dürrenmatt. Hg. H. Turk. Tübingen 1992, S. 105– 142, S. 291–324. Den Begriff der „bewußten Bedingtheit“ (soznatel’naja uslovnost’) führte Valerij Brjusov 1902 in seinem für die Ästhetik des modernen russischen Theaters programmatischen Aufsatz „Nenužnaja pravda“ in die Diskussion ein, der in der prominenten Kunstzeitschrift „Mir iskusstva“ des gleichnamigen Künstlerkreises erschien. Vgl. V. Brjusov, Nenužnaja pravda. In: Ders., Sobranie sočinenij. Hg. P. G. Antokol’skij u. a. 7 Bde. Moskau 1973–1975. Bd. 6, S. 62–73, hier: S. 71. – Zu Evreinovs Position vgl. unter anderem N. Evreinov, The Theatre in Life. New York 1927. 6 V. Majakovskij, Teatr, kinematograf, futurizm. In: Ders., s. Text, Bd. 1, S. 277. 7 Ebd., S. 8. 8 Vgl. R. Russell, People’s Theater and the October Revolution. In: Irish Slavonic Studies 7. 1986, S. 65–84. 9 M. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 342. 10 A. Lunačarskij, Voprosy literatury i dramaturgii. In: Ders., Sobranie sočinenij. Hg. I. I. Anisimov. 8 Bde. Moskau 1964–1967. Bd. 2, S. 258–269, hier: S. 268. 11 L. Trotzkij, Literatur und Revolution. Berlin 1968, S. 202. 12 Vgl. Majakovskij, s. Text, Bd. 4, S. 7–30, hier: S. 24. 13 Lunačarskij ob iskusstve. Petrograd 1918, S. 26; zit. nach: V. Katanjan, Majakovskij. Literaturnaja chronika. 2. Aufl. Moskau 1948, S. 102. Lunačarskij berief sich auch auf den angeblich „bezaubernden“ Eindruck, den das Stück auf „die Arbeiter“ ausgeübt habe. Aus den Erinnerungen Majakovskijs ist bekannt, daß dessen Chauffeur der Lesung beiwohnte: „Die gute Meinung bekräftigte endgültig Anatoli Wassiljewitschs Fahrer, der gleichfalls zugehört hatte und bestätigte, er habe alles verstanden, und die Sache würde sehr wohl bei den Massen ankommen.“ W. Majakowski, Nur keine Erinnerungen… In: Ders., s. Text, Dt. Übers., Bd. 5, S. 276. 14 Vgl. hierzu die Memoiren des Petersburger Kunsthistorikers und Majakovskij-Förderers Levkij Ževeržeev, zitiert in Katanjan, s. Anm. 13, S. 102 f. 15 Diese Zahl gründet auf Majakovskijs eigenen Erinnerungen (Majakovskij, Tol’ko ne vospominanija. In: Ders., s. Text, Bd. 12, S. 156) sowie einem Bericht des Regisseurs und Mejerchol’d-Schülers V. N. Solov’ev aus dem Jahr 1931, der mit den Worten schließt: „Das Stück wurde recht kühl aufgenommen, es kam, um es direkt zu sagen, nicht beim Zuschauer an.“ (Zit. nach: Krusanov 2003, S. 504). Die in der Forschungsliteratur verbreitete Zahl von drei Aufführungen geht auf eine anders lautende Aussage Majakov-

Vladimir Majakovskij: Misterija-buff

16 17

18

19 20 21

22 23

24 25 26

27 28 29 30 31 32 33

519

skijs in seinem autobiographischen Text „Ich selbst“ zurück (vgl. Majakovskij, s. Text, Bd. 4, S. 25). Vgl. Katanjan, s. Anm. 13, S. 108. Beskin 2006, S. 612 (Erstpublikation in: Vestnik rabotnikov iskusstv. 1921. 7–9, S. 30– 32). Sadko [= Vladimir Bljum] sprach von einer „grandiosen Aufführung“ (Sadko 2006, S. 617), und der Parteikritiker Nikolaj Čužak [= Nasimovič] verglich „Misterija-buff“ in dem in Čita erscheinenden „Žurnal kommunističeskoj kul’tury“ gar mit Griboedovs epochaler satirischer Komödie „Gore ot uma“ (Čužak 2006, S. 620). Katanjan, s. Anm. 13, S. 117, nennt Ende April als Erscheinungsdatum. Bezeichnend ist für die Theatersituation der Zeit, daß selbst im Repertoire von Mejerchol’ds Revolutionsbühne „Misterija-buff“ das einzige Zeitstück war; der Spielplan sah daneben Verhaeren, Shaw, Claudel, Shakespeare (Hamlet) und Aristophanes vor; realisiert wurde neben der zweiten Fassung von „Misterija-buff“ lediglich Verhaerens „Les Aubes“. Vgl. N. Van Norman Baer, Design and Movement in the Theatre of the Russian Avantgarde. In: Dies., Theatre in Revolution. Russian Avant-Garde Stage Design 1913–1935. San Francisco 1991, S. 34–59, hier: S. 46 (mit Illustrationen). Vgl. Zagorskij 1924. Zagorskijs Analyse fußt auf insgesamt 187 Fragebögen, die er den Zuschauern der Mejerchol’d-Inszenierung von „Misterija-buff“ am 1. Theater der RSFSR 1921 vorgelegt hatte. Vgl. hierzu H. Huppert, Majakowski in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 3. Aufl. Reinbek b. Hamburg 1977, S. 101 f. Huppert beruft sich hier auf ein Gespräch mit Rita Rajt-Kovaleva aus dem Jahre 1951, in dem die Übersetzerin ihren nicht erhaltenen und „nicht druckreif gediehen[en]“ Text als lediglich für die Aufführung 1921 erstellt bezeichnet habe. Zu Bechers 1933 bei seiner Emigration zurückgelassener und gleichfalls verlorener Übersetzung vgl. ebd., S. 102. Vgl. O. G. Bauer (Hg.), Entfesselt. Die russische Bühne 1900–1930. Aus der Sammlung des Staatlichen Zentralen A. A. Bachruschin-Theatermuseums, Moskau. Ausstellungskatalog. München 1994, S. 148 f. Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 29. – Alle Zitate aus der Zweitfassung von „Misterija-buff“ sowie weiterer Majakovskij-Texte werden in der unter „Text“ genannten Übersetzung von Hugo Huppert wiedergegeben. Zitate aus der Erstfassung erfolgen in der Übersetzung des Vf.’s. Russ. „teatral’nost’“, ein von Stanislavskij geprägter und von Mejerchol’d inhaltlich wesentlich erweiterter Begriff. V. Ė. Mejerchol’d, Balagan. In: Ders., Stat’i. Pis’ma. Reči. Besedy. Hg. A. V. Fevral’skij. 2 Bde. Moskau 1968. Bd. 1, S. 207–229, hier: S. 213. Auf die Verbindung zu Jarrys Klassiker der Moderne geht Fevral’skij 1984, S. 253 f., ein; zu Matjušins und Kručenychs Stück vgl. den Beitrag von Ch. Müller-Scholle, Alexej Krutschonych: Sieg über die Sonne. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 239–251. Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 122. Zu diesem Prozeß der „Entfiktionalisierung“ vgl. Schwarz 1980, S. 195. Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 122. Hier bleibt Hugo Hupperts etymologisch korrekte Übersetzung „Goldmund“ für den deutschen Leser schwer einzuordnen. Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 31. Ebd., S. 32. Majakovskij, Dva Čechova. In: Ders., s. Text, Bd. 1, S. 300. – Der dandyistische Ästhetizismus Majakovskijs noch während der Weltkriegszeit belegt, wie fremd dem Dichter eine sozialistische Poetik bis 1917 noch war. Dem Kriegsdienst entronnen, schwärmt er in Oscar-Wildescher Manier: „[…] als Mensch der Kunst muß ich glauben, der ganze

520

34

35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

46 47 48 49 50

51

Literatur und Anmerkungen

Krieg sei nur dazu erdacht, damit irgend jemand ein gutes Gedicht schreibe“ (Štatskaja šrapel’. In: Ebd., S. 304), um noch im selben Jahr mit gleicher Inbrunst die unlösbare Verbindung von Wort und Leben als einer Neukonstitution von Signifikat und Signifikant zu feiern: „Wir brauchen das Wort für das Leben. Wir erkennen keine nutzlose Kunst an […] wir nehmen nun jeden jetzt lebenden Gegenstand [sic!], jede neu geborene Empfindung und schauen, ob die Beziehung zwischen ihnen und den Bezeichnungen richtig ist“ (Bez belych flagov. In: Ebd., S. 324). Gerade der Schluß von „Misterija-buff“ „verfällt jenem ‚Fehler‘, den die Futuristen gerade den Symbolisten so vehement vorgeworfen haben: Die Antizipation der Zukunft kommt ohne symbolische Formen nicht aus. Sie durchbricht die Grenzen des Wahrscheinlichen und real Vorstellbaren und baut einen neuen Mythos auf“. Kluge 1986, S. 262. Zur Flutsymbolik im Frühwerk Majakovskijs vgl. Z. Papernyj, Poėtičeskij simvol u Majakovskogo. Moskau 1961, S. 177–179. Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 44. Potom kak prol’etsja! / Ulicy l’jutsja, / rastoplennyj dom nizvergaetsja ná dom. / Ves’ mir, / v domennych pečach revoljucij rasplavlennyj, / l’etsja splošnym vodopadom“. Majakovskij, s. Text, S. 263 f. Hervorhebungen v. Vf. Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 39. „[…] potom topot. / Vse begut ot revoljucionnogo potopa”. Majakovskij, ebd., S. 248. „Graždane! / Ėto pervyj den’ rabočego potopa. / Idem / zaputavšemu miru na vyručku! / Pust’ tolpy v nebo vbivajut topot!“ Ebd., S. 136. Hervorhebungen v. Vf. Auch dieses Verfahren hatte Majakovskij bei seiner Arbeit für die ROSTA entwickelt. Vgl. B. Zelinsky, Von der Revolution der Kunst zur Kunst der Revolution. In: Russische Avantgarde 1917–1934. Hg. B. Zelinsky. Bonn 1991, S. 5–41, hier: S. 39. Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 64. Ebd., S. 65. Ebd., S. 69. Ebd. S. 70 – Dazu gehört auch der erst in der Zweitfassung aufscheinende, viele Zeitgenossen irritierende Spott über Tolstojs Prinzip, dem Bösen nicht durch Gewalt zu widerstehen. Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 94. – Majakovskijs vorrevolutionäre, oft sexuell konnotierte Gewaltphantasien finden nach 1917 ein Ventil in politischer Vernichtungsrhetorik, so auch in dem unmittelbar nach „Misterija-buff“ verfaßten Poem „150 000 000“ oder dem Gedicht „Svoloči“ (Schufte, 1922). Vgl. Ju. Karabčievskij, Voskrešenie Majakovskogo. Moskau 1990, unter anderem S. 16–20, 53–57, 142–148. Vgl. B. Jangfeldt, Majakovskij and Futurism 1917–1921. Stockholm 1977, S. 64 f. G. Landauer, Aufruf zum Sozialismus. In: S. Vietta, Die Lyrik des Expressionismus. Tübingen 1976, S. 26. Majakovskij, s. Text, Bd. 1, S. 155; Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 11. Majakovskij, s. Text, Bd. 1, S. 153; Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 9. Mit „Bunt“ (Rebellion) überschrieben ist das vierte Kapitel in Teil II, 5. Buch, von Dostoevskijs Roman „Brat’ja Karamazovy“ (Die Brüder Karamasov, 1879/80), das Ivans Erzählung vom Großinquisitor unmittelbar vorangeht. Zuvor verwendet Dostoevskij den Begriff im Sinne eines auch religiös motivierten Aufstands wider die Ordnung bereits in der Erzählung „Krotkaja“ (Die Sanfte, 1876). Auch Pasternak übersetzt die berühmte Antwort von Mephistopheles (der wie Majakovskijs „Mensch der Zukunft“ das Scheitern der Philosophen bekundet – „Zuschanden haben wir uns schon gedacht“) auf Fausts Frage nach Teufel und Natur im zweiten Teil von Goethes Tragödie frei, aber ganz im russischen Denken des frühen 20. Jahrhunderts mit „My s žilkoj tvorčeskoj, my rod mogučij / Bezumcy, buntari“ (Gete, Faust. Perevod B. Pasternaka. Moskau 1960, S. 492). Pasternak übersetzte Goethes Tragödie zwar erst

Michail Bulgakov: Dni Turbinych

52

53 54 55 56 57 58 59 60 61

521

in den Jahren 1948–1951, trug sich jedoch schon seit den zwanziger Jahren mit Plänen an diesem Vorhaben. Die Verbindung von Kreativität und Rebellion ist bei Goethe so übrigens nicht ausgesprochen („Wir sind die Leute, Großes zu erreichen / Tumult, Gewalt und Unsinn! Sieh das Zeichen!“). Die Bühnenfassung des Prosatextes stammte von Aleksej Gan, das Bühnenbild von Aleksandr Rodčenko. Vgl. Bauer, s. Anm. 22, S. 142 f. In Zamjatins Roman plant der einen totalitären Einheitsstaat regierende „Wohltäter“, ein Raumschiff zur Propaganda ins Universum zu schicken – ganz so, wie Majakovskij in der Vorrede zur zweiten Fassung von den zukünftigen „Großflugschiffen der Kommune“ spricht, die sich vielleicht „in einem halben Jahrhundert Jahre […] zum Sturm auf ferne Planeten“ in den Raum werfen werden. Majakovskij, s. Text, S. 245; Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 29. Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 93. Vgl. hierzu die umfangreiche und exzellent kommentierte Anthologie: Über die Dinge. Texte der russischen Avantgarde. Hg. A. Hennig. Hamburg 2010. Majakovskij, s. Text, Bd. 1, S. 163; Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 18 f. Majakowski, s. Text, Dt. Übers., S. 112. Ebd. Ebd., S. 109. Ju. Annenkov, Vladimir Majakovskij. In: Ders., Dnevnik moich vstreč. Cikl tragedij. 2 Bde. New York 1966. Bd. 1, S. 207. V. Majakovskij, Vo ves’ golos. In: Ders., s. Text, Bd. 10, S. 281; Majakowski, s. Text, Dt. Übers., Bd. 2, S. 426. E. Beaucamp, Nicht unschuldig, aber kreativ. Das Dilemma der Avantgarden. In: Von der Romantik zur ästhetischen Religion. Hg. L. Kaiser u. M. Ley. München 2004, S. 21.

Michail Bulgakov (1891–1940)

S. 355

Text „Dni Turbinych“ (Die Tage der Turbins) nach: M. A. Bulgakov, Sobranie sočinenij. Hg. V. Petelin. 10 Bde. Moskau 1995–2000. Bd. 4, S. 304–383 (Dritte Fassung, Bühnenversion); Belaja gvardija (Die weiße Garde; Erste Fassung) nach: Ebd., S. 435–552; Belaja gvardija (Zweite Fassung) nach: Ebd., S. 553–645. Römische Ziffern in Verbindung mit arabischen beziehen sich auf die Akte und Bilder, arabische Ziffern ohne römische auf die Seitenzahlen dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Die Tage der Turbins [Dritte Fassung]. Übers. v. Th. Reschke. In: M. A. Bulgakow, Gesammelte Werke. Hg. R. Schröder. 13 Bde. Berlin 1992–1996. Bd. 8, S. 7–98. Literatur M. LEVIDOV, Dosadnyj pustjak (Dni Turbinych v Chudožestvennom teatre). In: Večernjaja Moskva. 8. Oktober 1926, S. 3. JA. LUR’E, I. SERMAN, Ot „Beloj gvardii“ k „Dnjam Turbinych“. In: Russkaja literatura 8, 2. 1965, S. 194–203. T. A. ERMAKOVA, „Dni Turbinych” Bulgakova i polemiki vokrug p’esy. In: Učenie zapiski Moskovskogo oblastnogo pedagogičeskogo instituta imeni N. K. Krupskoj 187. 1967, S. 89–102. V. NEKRASOV, Dom Turbinych. In: Novyj mir. 1967. 8, S. 132–142. V. PETELIN, M. A. Bulgakov i „Dni Turbinych”. In: Ogonek. 1969. 11, S. 25–27. A. C. WRIGHT, “Days of the Turbins”. In: Mikhail Bulgakov. Life and Interpretations. Toronto 1978, S. 83–103. A. WOLDAN, „Historie und Einzelschicksal“. Ein Vergleich von M. Bulgakovs Roman „Belaja gvardija” und seinem Stück „Dni Turbinych“. Diss. Innsbruck 1982. L. MILNE, Mikhail Bulgakov and “Dni Turbinych”. A Case of Censorship. In: Poetry, Prose and Public Opinion. Aspects of Russia 1850–1970. Essays Presented in Memory of N. E. Andreyev. Hg. W. Harrison u. A. Pyman. Amsterdam 1983, S. 214–240. G. LENHOFF, Chronological Error and Irony in Bulgakov’s “Days of the

522

Literatur und Anmerkungen

Turbins”. In: Russian Literature and American Critics. In Honor of Deming B. Brown. Hg. K. N. Brostrom. Ann Arbor, Michigan 1984, S. 149–160. E. PROFFER, “Days of the Turbins”. In: Bulgakov. Life and Work. Ann Arbor, Michigan 1984, S. 183–223. A. NINOV, O dramaturgii i teatre Michaila Bulgakova (Itogi i perspektivy izučenija). In: Voprosy literatury 30, 9. 1986, S. 84–111. H. RIGGENBACH, Michail Bulgakow: Die Tage der Turbins. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 264–279. A. A. NINOV (Hg.), M. A. Bulgakov-dramaturg i chudožestvennaja kul’tura ego vremeni. Sbornik statej. Moskau 1988. R. RUSSELL, Bulgakov’s “The White Guard” [“The Days of the Turbins”] and “Flight”. In: Ders., Russian Drama of the Revolutionary Period. Totowa, New Jersey 1988, S. 67–86. A. A. NINOV, Michail Bulgakov i teatral’noe dviženie 1920-ch godov. In: Ders., M. A. Bulgakov. P’esy 1920-ch godov. Leningrad 1989, S. 4–32. A. M. SMELJANSKIJ, Michail Bulgakov v Chudožestvennom teatre. 2. Aufl. Moskau 1989. L. MILNE, Mikhail Bulgakov. The Status of the Dramatist and the Status of the Text. In: Russian Theatre in the Age of Modernism. Hg. R. Russell u. A. Barrat. New York 1990, S. 236–259. A. TAMARČENKO, Dramaturgičeskoe novatorstvo Michaila Bulgakova. In: Russkaja literatura 33, 1. 1990, S. 46–67. V. A. ŠOŠIN, M. A. Bulgakov i teatr. Po materialam Rukopisnogo otdela Puškinskogo Doma. In: Tvorčestvo Michaila Bulgakova. Issledovanija. Materialy. Bibliografija. 3 Bde. Hg. N. A. Groznova. Petersburg 1991–1995, S. 91–158. M. POPOVICH, “The Days of the Turbins” by Mikhail Bulgakov in the Light of the Russian-Ukrainian Literary Discussions. In: Bulgakov. The Novelist-Playwright. Hg. L. Milne. Luxembourg 1995, S. 50–60. V. V. NOVIKOV, Bulgakov–Dramaturg. In: Ders., Michail Bulgakov-chudožnik. Moskau 1996, S. 126–190. G. A. LESSKIS, Triptich M. A. Bulgakova o russkoj revoljucii. „Belaja gvardija“, „Zapiski pokojnika“, „Master i Margarita“. Kommentarii. Moskau 1999. G. GUSEVA (Hg.), „Dni Turbinych“ 1926–2007. Moskau 2007. Anmerkungen 1 Siehe Bulgakovs „Zapiski na manžetach“ (Aufzeichnungen auf Manschetten, 1921/22); vgl. L. Belozerskaja-Bulgakova, O, med vospominanij. Ann Arbor 1979, S. 13 f. 2 Rossija 1925, Nr. 4 und 5. Der für Heft Nr. 6 vorgesehene Schluß konnte wegen der Einstellung der Zeitschrift nicht mehr erscheinen. Einige Periodika druckten bereits 1924 kürzere Auszüge. 1927 kam in Riga ein Raubdruck heraus, der die unvollständige Zeitschriftenfassung durch eine Paraphrasierung der Bühnenfassung vervollständigte. Eine revidierte Fassung erschien in zwei Bänden im Pariser Verlag „Concorde“ 1927 und 1929. Diese wurde in Moskau 1989 im Rahmen einer fünfbändigen Ausgabe von Bulgakovs Werken nachgedruckt. Erstmals war eine damit nicht identische Fassung des Romans in der Sowjetunion 1966 erschienen. Zur Text- und Editionsgeschichte vgl. Lesskis 1999, S. 21–31 (Kommentare zum Text: S. 31–126); Proffer 1984, S. 183–223. 3 Ja. Lur’e, Istoričeskaja problematika v proizvedenijach M. Bulgakova (M. Bulgakov i „Vojna i mir“ L. Tolstogo). In: Ninov (Hg.) 1988, S. 190–201. 4 M. Fieseler, Stilistische und motivische Untersuchungen zu Michail Bulgakovs Romanen „Belaja gvardija“ und „Master i Margarita“. Hildesheim 1982; A. Barratt, Apocalypse or Revelation? Man and History in Bulgakov’s Belaya gvardiya. In: New Zealand Slavonic Journal 19. 1985, S. 105–131; R. Schröder, Literaturgeschichtliche Anmerkungen. In: Bulgakow, s. Text, Bd. 1, S. 397–422. 5 Nicht erhalten ist der Text eines Bühnenstücks in vier Akten unter dem Titel „Die Brüder Turbin“, das am 21. Oktober 1920 auf der Bühne des Ersten Sowjettheaters in Vladikavkaz Premiere hatte. Siehe G. Fajman, „Mestnyj literator“ – Michail Bulgakov (Vladikavkaz 1920–1921 gg.). In: Ninov (Hg.) 1988, S. 214–216. 6 Eine deutsche Übersetzung der zweiten Textfassung (besorgt von Käthe Rosenberg) erschien 1927 in Berlin-Charlottenburg unter dem Titel „Die Tage der Geschwister Turbin. Die weiße Garde“.

Michail Bulgakov: Dni Turbinych 7 8

9

10

11

12 13 14 15 16 17

18

523

Abgelehnte Titelvarianten Bulgakovs waren „Belyj dekabr’“ (Weißer Dezember), „1918“, „Vzjatie goroda“ (Die Einnahme der Stadt) und „Belyj buran“ (Weißer Schneesturm). In dem Artikel „Grjaduščie perspektivy“ (Kommende Perspektiven) (erschienen am 26. November 1919 in der Zeitung „Groznyj“) sprach Bulgakov von der „unheilverkündenden Figur Trockijs“, hinter der „die von ihm genarrten Wahnwitzigen mit Waffen in den Händen hin und her stampfen“. In dem unmittelbar an „Dni Turbinych“ anknüpfenden Stück „Beg“ (Die Flucht) bearbeitete er das endgültige Scheitern der Weißen und ihr Leben in der Emigration. Kennzeichnend dafür war die Unterteilung der fünf Akte in eine Abfolge von „acht Träumen“. N. A. Gorchakov, The Theater in Soviet Russia. New York 1957, S. 186 f. Überblicke der zeitgenössischen Kritik bei Wright 1978, S. 87–95, auf der Grundlage von Bulgakovs „Alben“. N. A. Groznova, M. Bulgakov i kritika ego vremeni. In: Dies., Tvorčestvo Michaila Bulgakova. Issledovanija. Materialy. Bibliografija. 3 Bde. Petersburg 1991–1995. Bd. 2, S. 5–33. Zum historischen Kontext R. A. Mark, Symon Petljura und die UNR. Vom Sturz des Hetmans Skoropadśkyj bis zum Exil in Polen. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 40. 1988, S. 7–228. Ders., Die gescheiterten Staatsversuche. In: Geschichte der Ukraine. Hg. F. Golczewski. Göttingen 1993, S. 172–181. Sie wurde niemals auf der Bühne des Künstlertheaters gezeigt. Die Streichung erfolgte am 23. September 1926, dem Tag der letzten Lesung des Stücks vor der Aufführungsgenehmigung für die „dritte“ Fassung. Merkwürdigerweise ist die Szene in einer englischen Ausgabe des Stücks von 1935 enthalten, die sich als „autorisierte Übersetzung aus dem Russischen auf der Grundlage der Aufführung des Moskauer Künstlertheaters“ ausgibt (Michael Bulgakov, Days of the Turbins. In: Six Soviet Plays. London 1935, S. 76– 79). Da die erste deutsche Übersetzung des Stücks von Käthe Rosenberg (s. Anm. 6) auf der zweiten russischen Textfassung beruht, enthält sie die Szene ebenfalls. Die deutsche Neuausgabe in den Gesammelten Werken (s. Text) beruht zwar auf der Bühnenfassung, nimmt aber unkommentiert die Szene auf (S. 58–60). So Myšlaevskij in der zweiten Fassung des Stücks (571). Wörtlich: „Alterchen, verstehst du (kein) Russisch?“ Plausibler erscheint Myšlaevskijs – auch historisch verbürgte – Rechtfertigung, die Rote Armee sei eine „russische Armee“ und die Bolschewiki müßten von „den Kommunisten“ unterschieden werden (377). M. Bulgakov, Jurij Slezkin. Siluėt. In: Ju. Slezkin, Roman baleriny. Riga 1928, S. 9 f. Zit. nach: Smeljanskij 1989, S. 118. Bulgakov hat aus nicht genannten Gründen die korrekte chronologische Reihenfolge in den beiden ersten Textfassungen durch Umstellung der Szenen in der Bühnenfassung aufgegeben. Im Roman „Belaja gvardija“ gibt es keinen geschmückten Baum. Dieser taucht erstmals in der ersten Textfassung für die Bühne auf. Bulgakov begründete dies so: „Die Ereignisse des letzten Akts im Stück beziehe ich auf das Tauffest [prazdnik kreščenija], das heißt den 19. Januar 1919. […] Es war wichtig, den Tannenbaum im letzten Akt zu benutzen.“ Zametki avtobiografičeskogo charaktera. Zit. nach: M. Bulgakov, Belaja gvardija. P’esa v četyrech dejstvijach. Vtoraja redakcija p’esy „Dni Turbinych“. Hg. L. Milne. München 1983, S. 124, Anm. 233. Zu diesem Kontext vgl. N. B. Lebina, Povsednevnaja žizn’ sovetskogo goroda. Normy i anomalii. 1920–1930 gody. Petersburg 1999; S. Boym, Common Places. Mythologies of Everyday Life in Russia. Cambridge 1994; C. Kelly, D. Shepherd (Hg.), Constructing Russian Culture in the Age of Revolution: 1881–1940. Oxford 1998. – Durch die Streichung eines Hausbesitzerehepaars in der Bühnenfassung gingen Szenen verloren, die

524

19

20 21

22 23 24 25

26 27

28 29

30 31

32

Literatur und Anmerkungen

den Vorwurf des „Kleinbürgerlichen“ unterlaufen hätten. Die Eigentümer kommentieren das Geschehen in der Turbinschen Wohnung gerade aus einer Perspektive von „Spießern“, was den inkriminierten Lebenstil als davon abweichend erscheinen ließe. Vgl. die Reminiszenzen von Viktor Nekrasov, Dom Turbinych. In: Novyj mir. 1967. 8, S. 132–142. Der Autor berichtet von seinen Erfahrungen im Schulalter, im Studium und als Schauspieler. Mit der Welt der „Weißen“ nicht vertraut, seien ihm die „Turbins“ stets „nicht einfach ein Schauspiel“, sondern ein „spürbares, sich mehr und mehr entfernendes, doch stets sehr nahes Stück Leben“ gewesen (133). A. Korablev, Vremja i večnost’ v p’esach M. Bulgakova. In: Ninov (Hg.) 1988, S. 39–56. Magie und Zauberei treten in der zweiten Fassung des Stücks und im Roman „Belaja gvardija“ noch deutlicher hervor. Zur nicht-christlichen Bedeutung der „zwölften Nacht” nach Weihnachten (die Nacht vom 18. auf den 19. Januar nach Neuem Stil) und zum Hexenmotiv vgl. Lenhoff 1984. Zum Kontext A. Sinjawskij, Iwan der Dumme. Vom russischen Volksglauben. Frankfurt/M. 1990; W. F. Ryan, The Bathhouse at Midnight. An Historical Survey of Magic and Divination in Russia. Oxford 1999. E. A. Jablokov, Chudožestvennyj mir Michaila Bulgakova. Moskau 2001, S. 126 f., 133, 137. N. Natov, The Meaning of Music and Musical Images in the Works of Michail Bulgakov. In: Milne (Hg.) 1998, S. 171–184. Versform nach der deutschen Übersetzung von Thomas Reschke. Wörtlich: „Stündlich schlechter die Gerüchte, Petljura zieht gegen uns!“; „Die Nacht atmete mit leidenschaftlicher Wollust, voller unklarer Gedanken und Bebens“. Das Soldatenlied war auch im Milieu der Weißen im Bürgerkrieg sehr populär. Der Refrain lautet: „Tak gromče, muzyka, igraj pobedu, / My pobedili, i vrag bežit, / Tak za carja, za Rus’, za našu veru / My grjanem gromkoe Ura! Ura! Ura!“ Er wurde nach jeder Strophe des vertonten Gedichts Puškins gesungen. Jahrzehnte später, in den sechziger bis achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, war das Lied auch unter oppositionellen russischen Intellektuellen verbreitet. Vgl. den Kommentar von Ralf Schröder zur deutschen Bulgakov-Ausgabe. Bulgakow, s. Text, Bd. 8, S. 221–223. Der Komponist Sigismund Thalberg (1812–1871) gehörte zu den großen Klaviervirtuosen des 19. Jahrhunderts. Der Wirkliche Staatsrat V. G. Tal’berg lebte in der Zeit des Bejlis-Prozesses in Kiev (Delo Mendelja Bejlisa. Petersburg 1999, S. 53 f.). Ein weiterer Namensvetter, der Monarchist N. D. Tal’berg (1886–1969), leitete während des Bürgerkriegs unter Hetman Skoropads’kyj das Innenministerium in Kiev, bevor er 1920 emigrierte (Političeskie partii Rossii. Konec XIX-pervaja tret’ XX veka. Ėnciklopedija. Moskau 1996, S. 602). Woldan 1982, S. 188–202, 242 f. J. Gregor, R. Fülöp-Miller, Das russische Theater. Sein Wesen und seine Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Revolutionsperiode. Zürich 1928, S. 30 f. Die Autoren betrachteten das Stück daher konsequent als charakteristischen Ausdruck von Stanislavskijs Theaterstil. Zu den „Versionen des autobiographischen Helden“ vgl. E. C. Haber, Mikhail Bulgakov. The Early Years. Cambridge 1998, S. 107–138. Vgl. M. Čudakova, Nekotorye problemy istočnikovedenija i recepcii p’es Bulgakova o graždanskoj vojne. In: Ninov (Hg.) 1988, S. 57–95. Die Autorin erörtert das Problem der Authentizität des historischen Stoffs in Bulgakovs Dramen sowie deren Funktion als Medium historischer Bewußtseinsbildung. Alle Zitate nach einem Brief Bulgakovs an seine Schwester N. A. Bulgakova-Zemskaja vom 31. Dezember 1917. Bulgakow, s. Text, Bd. 13, 1, S. 10–12. Vgl. E. A. Zemskaja, Michail Bulgakov i ego rodnye. Semejnyj portret. Moskau 2004, S. 270 f. Der Brieftext

Michail Bulgakov: Dni Turbinych

33

34

35

36

37 38 39 40 41

525

in der zehnbändigen russischen Werkausgabe (s. Text, Bd. 10, S. 50 f.) ist um wesentliche Stellen gekürzt. Von Bulgakov sind einige wenige Tagebuchnotizen über die „Smenovechovcy“ erhalten, insbesondere über jene, die sich um die in Berlin herausgegebene Zeitschrift „Nakanune“ scharten. Nicht immer ist eindeutig zu klären, ob abfällige Bemerkungen einzelnen Personen oder einer vermeintlich opportunistischen Geisteshaltung insgesamt gelten. Immerhin verdankte Bulgakov „Nakanune“ die Veröffentlichung kleinerer Werke, was angesichts des nahezu vollständigen Publikationsverbots in der Sowjetunion nicht gering zu schätzen ist (dazu Haber, s. Anm. 30, S. 145–156). Die Initiative „Wechsel der Wegmarken“ zielte vornehmlich, aber nicht ausschließlich, auf die emigrierte Intelligenz. Diese sollte entweder zur Rückkehr nach Rußland oder wenigstens zur Revision ihres militanten Antibolschewismus bewogen werden und damit zur Spaltung der Emigration beitragen. Siehe H. Hardeman, Coming to Terms with the Soviet Regime. The “Changing Signposts” Movement among Russian Émigrés in the Early 1920s. DeKalb, Illinois 1994. Grjaduščie perspektivy (Kommende Perspektiven), erschienen am 13. (26.) November 1919 im Lokalblatt „Groznyj“ der gleichnamigen Stadt im Nordkaukasus. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Bulgakow, s. Text, Bd. 5, S. 334–337. Vgl. die russische Ausgabe, s. Text, Bd. 1, S. 85–87. Der bereits im September 1919 in der Zeitung „Kievskoe Ėcho“ (Kiever Echo) erschienene dreiteilige Artikel „Die sowjetische Inquisition. Aus dem Notizbuch eines Reporters“ wird gelegentlich ebenfalls Bulgakov zugeschrieben. Siehe die Auszüge W. F. Schoeller, Michail Bulgakow. Bilder und Dokumente. Berlin 1996, S. 50–52. Der Artikel berichtet von bestialischen Greueltaten der Čeka und steht möglicherweise in Zusammenhang mit einer von General Denikin Anfang 1919 eingesetzten Sonderkommission zur Untersuchung des Roten Terrors. Die Wende zu einer nüchternen Sicht auf die neuen Realitäten wird in einem erst jüngst im Familienarchiv gefundenen Zeitungsartikel aus dem Jahre 1920 spürbar. Bezeichnenderweise geschieht dies in Form einer Auseinandersetzung mit dem Revolutionstheater. In deutlichem Kontrast zu den Äußerungen des Vorjahrs schreibt Bulgakov, die Bühne sei „kein Museum“. Deshalb gehe der „Oktober des Theaters“ mit der „Zerschlagung früherer Traditionen“ und der „Zerstörung alter Rahmen“ sowie mit einer „neuen Ideologie“ und „neuen, überraschenden Mustern“ einher (Teatral’nyj Oktjabr’, 1920). Vgl. Zemskaja, s. Anm. 32, S. 180–182). Der Name der Zeitung und das genaue Datum der Veröffentlichung sind nicht zweifelsfrei zu ermitteln. Erscheinungsort war Vladikavkaz. Vgl. K. Rudnitsky, Russian and Soviet Theatre. Tradition and the Avant-Garde. London 1988; R. Leach, V. Borovsky (Hg.), A History of Russian Theatre. Cambridge 1999. Tagebucheintrag Bulgakovs vom 26. Dezember 1924. Bulgakow, s. Text, Bd. 5, S. 282. Zum Spiel mit dem Gegensatz zwischen der wirklichen und der phantastischen Welt in Bulgakovs Dramatik vgl. B. J. Henry, Reality and Illusion. Duality in Bulgakov’s Theatre Plays. In: Milne (Hg.) 1998, S. 84–94. Schreiben Bulgakovs an die Regierung der Sowjetunion vom 28. März 1930. Bulgakow, s. Text, Bd. 13, 1, S. 99. Woldan 1982, S. 214 f. In einer Inszenierung von 1979 wurde auch Myšlaevskij zur komischen Figur. Da die Szene in Petljuras Hauptquartier nun erst recht fehl am Platze wirkte, fiel sie der Streichung zum Opfer. Sie hatte ohnehin nur in loser Verbindung zur zentralen Handlung gestanden. Dennoch hatte Bulgakov sie 1925/26 vehement verteidigt. – Zur Herausbildung der normativen sowjetischen Komödie N. A. Gus’kov, Ot karnavala k kanonu. Russkaja sovetskaja komedija 1920-ch godov. Petersburg 2003, S. 128–174. Vgl. V. S. Židkov, Teatr i vlast’ 1917–1927. Ot svobody do „osoznannoj

526

42 43

44 45 46 47 48 49

50 51 52

Literatur und Anmerkungen

neobchodimosti“. Moskau 2003, S. 518–545. Bulgakovs Feuilletons und Erzählungen der zwanziger Jahre als sowjetische „comédie humaine“ deutend: Haber, s. Anm. 30, S. 141–174. N. A. Gorčakov, Istorija sovetskogo teatra. New York 1956, S. 334–351. Im Zusammenhang mit dem Formalismusstreit wurde die Begünstigung des Moskauer Künstlertheaters (MChAT) auch als „Mchatisierung“ (omchačivanie) bezeichnet (Smeljanskij 1989, S. 217–219; E. Gromov, Stalin. Puti ėstetičeskogo utilitarizma. In: Voprosy literatury 36, 1. 1992, S. 120–125; A. Gotzes, Bühnenkunst im totalitären Staat. Zum russischen Theater der Stalinzeit. In: Kultur im Stalinismus. Sowjetische Kultur und Kunst der 1930er bis 50er Jahre. Hg. G. Gorzka. Bremen 1994, S. 131–146). Bulgakovs Bearbeitung des Themas „Ukraine“ wartet noch auf eine eingehende Untersuchung. Aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive Popovich 1995. Vgl. J. D. Clayton, Pierrot in Petrograd. The Commedia dell’Arte/ “Balagan” in Twentieth-Century Russian Theatre and Drama. Montreal 1993. Etwa Levidov 1926, S. 3. Zu Bulgakovs Theaterkonzept V. A. Šošin, M. A. Bulgakov i teatr. Po materialam Rukopisnogo otdela Puškinskogo Doma. In: Groznova, s. Anm. 9, S. 91–158; Ninov 1989. Vgl. Smeljanskij 1989, S. 118. So der Regisseur und Theaterwissenschaftler V. G. Sachnovskij nach der Erinnerung Nekrasovs (Dom Turbinych, S. 133). Vgl. M. Jovanović, Zametki k teme Bulgakov i Čechov. In: Anton P. Čechov. Werk und Wirkung. Vorträge und Diskussionen eines internationalen Symposiums in Badenweiler im Oktober 1985. 2 Bde. Hg. R.-D. Kluge. Wiesbaden 1990. Bd. 2, S. 881. E. S. Gromov, Stalin. Vlast’ i iskusstvo. Moskau 1998, S. 100–130. Vgl. Wright 1978, S. 100. Erste Ansätze zu einer solchen, noch ungeschriebenen Rezeptionsgeschichte bei K. E. Bogoslovskaja, P’esy M. A. Bulgakova vo Francii i Germanii 1927–1928 gg (Po neopublikovannym materialam). In: Groznova, s. Anm. 9, S. 339–369; S. Lukanitschewa, Verfemte Autoren. Werke von Marina Cvetaeva, Michail Bulgakov, Aleksandr Vvedenskij und Daniil Charms auf den deutschen Bühnen der 90er Jahre. Tübingen 2003, S. 33–87.

Nikolaj Ėrdman (1900–1970)

S. 378

Text „Samoubijca“ (Der Selbstmörder) nach: N. Ėrdman, P’esy. Intermedii. Pis’ma. Dokumenty. Vospominanija sovremennikov. Hg. A. Svobodin. Moskau 1990, S. 82–164. Die römischen Ziffern beziehen sich auf die Akte, die arabischen auf die Szenen dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Der Selbstmörder. Übers. v. Th. Reschke. In: Der Selbstmörder. Satirische Dramen von Leonid Leonow, Michail Bulgakow, Michail Soschtschenko und Nikolai Erdman. Leipzig 1983, S. 193–284. Literatur P. KERŽENCEV, Čužoj teatr. In: Pravda vom 17. 12. 1937. P. BLAHA, Fast ein Schwejk. In: Zürcher Weltwoche. Sonntagsjournal vom 8. 3. 1970. F. BONDY, Der Gogol des sowjetischen Theaters. Nikolai Erdmans „Der Selbstmörder“ im Zürcher Schauspielhaus. In: Süddeutsche Zeitung vom 2. 3. 1970. P. MEIER, Vom Kleinbürgerdasein nach der Oktoberrevolution. In: Zürcher Tagesanzeiger vom 28. 2. 1970. M. HOOVER, Nikolai Erdman. A Soviet Dramatist Rediscovered. In: Russian Literature Triquaterly 2, 1972, S. 413–434. E. REIßNER, Nikolaj Ėrdman: Der Selbstmörder. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 292–303. B. STRAUß, Bürgerdämmerung auf der Bühne. Fleißer „Pioniere in Ingolstadt“, Canetti „Hochzeit“, Erdman „Der Selbstmörder“, Gombrowicz „Operet-

Nikolaj Ėrdman: Samoubijca

527

te“. In: Ders., Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. Texte über Theater. 1967–1986. Frankfurt/M. 1987, S. 221–232. R. RUSSELL, The Plays of Nikolay Erdman. In: Ders., Russian Drama of the Revolutionary Period. Totowa, New Jersey 1988, S. 102–114. A. VASILEVSKIJ, O drame i komedijach Nikolaja Ėrdmana. In: Oktjabr’. Literaturno-chudožestvennyj i obščestvenno-političeskij žurnal. 1988. 3, S. 204–206. J. FREEDMAN, The Dramaturgy of Nikolaj Ėrdman. An Artistic and Cultural Analysis. Cambridge 1990. J. BRANDESKY, Nikolai Erdman’s “The Mandate” and “The Suicide”. Critical Analysis. Microfilm. Ann Arbor, Michigan 1991. J. FREEDMAN, Silence’s Roar. The Life and Drama of Nikolai Erdman. Oakville, Ontario 1992. A. GOTZES, Der Beitrag Nikolaj Ėrdmans zur russischen Komödie. Mainz 1994. J. FREEDMAN (Hg.), A Meeting about Laughter. Sketches, Interludes, and Theatrical Parodies by Nikolai Erdman. New York 1995 [Darin: “The Suicide” at the Vakhtangov Theater. A Document, S. 191–204]. L. TIL’GA, Poėtika dramy rubeža 1920-ch – 1930-ch godov i motiv samoubijstva. M. A. Bulgakov “Beg”, N. R. Ėrdman “Samoubijca”. Opyt kontekstual’nogo analiza. Petersburg 1995. T. VOROB’EVA, Gogolevskie tradicii v dramaturgii N. R. Ėrdmana. In: Problemy literaturnych žanrov. Hg. T. Zeleva. 2 Bde. Tomsk 1999. Bd. 2, S. 144–149. E. PILARCZYK, Między konotacją a denotacją. Polskie warianty nazw osobowych bohaterów dramatu Nikołaja Erdmana „Samobójca“ (Samoubijca). In: Slavia Orientalis 50. 2001, S. 267–285. I. Suchich, Samoubijca (1926– 1929. „Samoubijca“ N. Ėrdmana). In: Zvezda 80, 12. 2003, S. 214–223. E. ŠEVČENKO, Teatr Nikolaja Ėrdmana. Samara 2006. M. BUFFINI, Dying for it. A Free Adaptation of “The Suicide” by Nicolai Erdman. London 2007. Anmerkungen 1 N. Ėrdman, A. Stepanova, Pis’ma. Moskau 1995, S. 29. 2 1933 wurde Ėrdman wegen satirischer Verse in dreijährige Verbannung geschickt. Danach setzte er seine Tätigkeit als Drehbuchautor und Koautor von Sketchen, Libretti fort. 3 Die Uraufführung fand in Mejerchol’ds Theater vor geschlossener Gesellschaft 1933 statt. Eine gekürzte Fassung konnte 1982 im Theater der Satire, 1987 das ganze Stück aufgeführt werden. Die westliche Rezeption begann mit der Aufführung in Göteborg 1969 der ein Jahr später die deutschsprachige Erstaufführung in Zürich 1970 im Schauspielhaus folgte. 4 Ėrdman, s. Text, S. 283. 5 Ebd., S. 283 f. 6 Ebd., S. 291. 7 V. Bljum, Vozroditsja li satira? In: Literaturnaja gazeta vom 27. 5. 1929. Vgl. J. Ebding, Tendenzen der Entwicklung des sowjetischen Romans (1919–1931). München 1981. 8 Die Uraufführung von Majakovskijs Komödie fand am 31. Februar 1929 in Mejerchol’ds Theater statt. 9 Brief Višnevskijs an Z. N. Rajch vom 11. Januar 1932. In: Ėrdman, s. Text, S. 287 f. 10 W. Meyerhold, Das Mandat. I. Aus der Antwort auf eine Umfrage der Zeitung „Večernaja Moskwa“ (1925). In: W. E. Meyerhold, Schriften. Aufsätze. Briefe. Reden. Gespräche. Hg. A. W. Fewralski. 2 Bde. Berlin 1979. Bd. 2, S. 90. 11 Ebd. 12 I. Kant, Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). In: I. Kant, Akademie Textausgabe. 9 Bde. Berlin 1968. Bd. 8, S. 23. 13 O. Figes, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924. Berlin 1998, S. 817. 14 Ėrdman, s. Text, S. 128. 15 V. Mejerhold, Rekonstruktion des Theaters. In: V. Mejerhold, Theaterarbeit 1917–1930. Hg. R. Tietze. München 1974, S. 210. 16 Tietze. In: Ebd., S. 11.

528

Literatur und Anmerkungen

17 In der Komödie werden der Zirkus (85), die Pantomime (86), das Volkstheater (balagan) (141; 143) sowie die Komödie metaphorisch für Verhaltensweisen genannt, die auch als indirekte Regieanweisung für das Spiel der Schauspieler und des Regisseurs gewertet werden können. 18 Die Konstruktion des Namens verweist ironisch auf die Künstlichkeit der Figur wie auch die Verbindung von antikem und russischem Namen bei Kleopatra Maksimovna. Vgl. Gotzes 1994, S. 68. 19 Ėrdman, s. Text, S. 118. 20 Ebd., S. 108. 21 Ebd. 22 „Pugačov: Was braucht es Kirchen, wenn sie den Laden versiegelt haben.“ Ėrdman, s. Text, S. 159. 23 N. Gogol’, Die toten Seelen. Hg. A. Martini. 2. Aufl. Stuttgart 2009, S. 341. 24 Ėrdman, s. Text, S. 120. „Nužno budet v nego červjačka zaronit’.“ 25 Diese Auffassung vertritt Gotzes 1994, S. 114 ff. 26 Vgl. Figes, s. Anm. 13, S. 777. 27 Ėrdman, s. Text, S. 161. 28 Ebd., S. 163. 29 Ebd., S. 123. 30 Ebd., S. 129. 31 Ebd., S. 131. 32 K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844). In: K. Marx, F. Engels, Werke. 43 Bde. Berlin 1956–1990. Bd. 1, S. 378. 33 Ėrdman, s. Text, S. 134. 34 Ėrdman, s. Text, S. 133. 35 „Etwas ist faul im Staate Dänemarks.“ (I, 5 Hamlets Begegnung mit dem Geist). In: W. Shakespeare, Hamlet. Prinz von Dänemark. Stuttgart 2001, S. 27. 36 P. von Matt, Das letzte Lachen. Zur finalen Szene in der Komödie. In: Theorie der Komödie – Poetik der Komödie. Hg. R. Simon. Bielefeld 2001, S. 127–140, hier: S. 138.

Isaak Babel’ (1894–1940)

S. 388

Text „Marija“ nach: I. Babel’, Sočinenija. Hg. I. Šurygina. 2 Bde. Moskau 1996. Bd. 2, S. 358– 396. Die römischen Zahlen beziehen sich auf die Bilder dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Maria. Übers. v. F. Mierau. Berlin 1973. Literatur F. M. LEVIN, I. Babel’. Očerk tvorčestva. Moskau 1962. T. ROTHSCHILD, Isaak Babel’. Diss. Wien 1967. J. STORA-SANDOR, Isaak Babel’. L’homme et l’œuvre. Paris 1968. R. W. HALLET, Babel the Dramatist. In: Ders., Isaac Babel. Letchworth 1972, S. 89–104. P. CARDEN, The Art of Isaac Babel. Ithaca 1972. A. PIROŽKOVA, N. JURGENEV (Hg.), I. Ė. Babel’. Vospominanija sovremennikov. Moskau 1972. M. JOVANOVIĆ, Umetnost Isaka Babelja. Belgrad 1975. J. FLIMM, Erinnerung an eine Utopie. Gespräch mit Jürgen Flimm über „Marija“. In: Theater heute 17, 11. 1976, S. 6–9. S. MARKIŠ, Russko-evrejskaja literatura i Isaak Babel’. In: I. Babel’. Detstvo i drugie rasskazy. Hg. V. Levin. Jerusalem 1979, S. 319–346. F. MIERAU, Die fünf Minuten des Isaak Babel. In: Konzepte. Zur Herausgabe sowjetischer Literatur. Leipzig 1979, S. 63–88. P. MORSBACH, Isaak Babel’ auf der sowjetischen Bühne. München 1983. B. SOUVARINE, Souvenirs sur Isaac Babel, Panaït Istrati, Pierre Pascal suivi de lettre à Alexandre Soljenitsyne. Paris 1985. M. DEPPERMANN, Isaak Babel: Maria. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 317–330. M. EHRE, Isaac Babel.

Isaak Babel’: Marija

529

Boston 1986. R. W. HALLET, Babel the Dramatist. In: Isaac Babel. Hg. H. Bloom. New York 1987, S. 135–142. G. FREIDIN, Isaac Babel. In: European Writers. The Twentieth Century. 14 Bde. Hg. G. Stade. New York 1983–1991. Bd. 11, S. 1885–1914. E. SICHER, The Trials of Isaak. A Brief Life. In: Canadian Slavonic Papers 36. 1994, S. 7–42. M. ODESSKIJ, D. FEL’DMAN, Babel’ i chasidizm. Opravdanie revoljucii. In: Literaturnoe obozrenie 23, 1. 1995, S. 78–83. V. DOHRN, In Erwartung eines literarischen Messias – der russisch-jüdische Schriftsteller Isaak Babel’ (1894–1940). In: Juden und Judentum in Literatur und Film des slavischen Sprachraums. Die geniale Epoche. Hg. P. Kosta u. a. Wiesbaden 1999, S. 173– 192. S. MEIER, Engel der Geschichte. Dieter Giesing inszeniert in Zürich Isaak Babels „Marija“. In: Theater heute 41, 2. 2000, S. 17. C. ANDRUSZKO, Izaak Babel na scenach polskich. Poznań 2005. B. KAIBACH, Isaak Babel’. “Marija”. In: Revolver Revue. 2007. 69, S. 109– 121. G. FREIDIN, Two Babels – Two Aphrodites. Autobiography in “Maria” and Babel’s Petersburg Myth. In: The Enigma of Isaac Babel. Biography, History, Context. Hg. G. Freidin. Stanford, California 2009, S. 16–62. C. WEBER, Staging Babel’s “Maria”. For Young American Audiences, Seventy Years After. In: The Enigma of Isaac Babel. Biography, History, Context. Hg. G. Freidin. Stanford, California 2009, S. 213–220. Anmerkungen 1 Brief Gor’kijs an Babel’, 2. Hälfte 1933. Zit. nach: Gor’kij i sovetskie pisateli, neizdannaja perepiska. In: Literaturnoe nasledstvo 70. Moskau 1963, S. 43 f. 2 Ausführlicher wird Babel’s dramatisches Werk bei Morsbach 1983, Deppermann 1986 sowie Hallet 1987 behandelt. 3 So will zum Beispiel Petra Morsbach den „im ‚Sonnenuntergang‘ auftauchenden Varianten der Moldavanka-Charaktere keine exemplarische Bedeutung beimessen“. Das Stück sei, „trotz seines größeren Umfangs und seiner größeren Schwere, demselben erzählerischen Geist verhaftet“ wie die 1924/25 im Umfeld der „Geschichten aus Odessa“ entstandene gleichnamige Erzählung. Morsbach 1983, S. 54. 4 Freidin 1990, S. 1887. Auch Milton Ehre sieht in „Marija“ einen Versuch, sich an die herrschende Kunstdoktrin anzupassen (Ehre 1986, S. 111). Hallet widmet „Marija“ in seiner Studie über „Babel the Dramatist“ nur zwei Seiten, auf denen er den Text als ein „inferior play“ abtut. 5 Vgl. hierzu E. Sicher, Jews in Russian Literature after the October Revolution. Writers and Artists between Hope and Apostasy. Cambridge 1995, S. 22 ff. 6 Gregory Freidin siedelt die Handlung von „Marija“ in der Ära der NĖP an (Freidin 1990, S. 1887). Gegen eine solche Sicht spricht jedoch die brutale Verfolgung des Privathandels in „Marija“ ebenso wie die Tatsache, daß der Schauplatz des zweiten Bilds ausdrücklich als „Zimmer des Jahres 1920“ ausgewiesen ist. Auf das Jahr 1920 deutet ferner der Hinweis auf den bevorstehenden Krieg mit Polen im 7. Bild von „Marija“ hin (vgl. hierzu Hallet 1987, S. 140). Auch Deppermann geht davon aus, daß nicht die NĖP, sondern der Kriegskommunismus die historische Folie für Babel’s Stück bildet (Deppermann 1986, S. 319 u. 321). Thematisch eng verbunden mit „Marija“ ist Babel’s Prosaskizze „O gruzine, kerenke i general’skoj dočke“ von 1918 (s. Text, Bd. 1, S. 168–171). Die Grundkonstellation des Stücks ist hier bereits in groben Zügen vorgezeichnet. 7 Zur Erstpublikation von „Marija“ vgl. Morsbach 1983, S. 79 f. 8 Ležnevs Kritik wird ausführlich referiert bei Morsbach 1983, S. 79 ff. Zu den zeitgenössischen Angriffen auf Bulgakovs „Dni Turbinych“ vgl. E. Proffer, Bulgakov. Life and Work. Ann Arbor 1984, S. 188 ff. 9 Die Weltpremiere von „Marija“ fand 1964 in Italien statt (vgl. Deppermann 1986, S. 321). Zur russischen Uraufführung des Stücks finden sich widersprüchliche Datierungen. Simone Meier nennt das Jahr 1988, ohne jedoch nähere Angaben zu machen (Meier 2000). Nach Auskunft des Regisseurs Michail Levitin dürfte seine Inszenierung von

530

10 11 12

13

14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

24 25 26

27 28 29

Literatur und Anmerkungen

„Marija“ unter dem Titel „Do svidanija, mertvecy“ (Auf Wiedersehen, Tote; Premiere am 9. 12. 1994 im Moskauer Theater „Ėrmitaž“; mit einem Bühnenbild von Harry Hummel) wohl die erste auf einer russischen Bühne gewesen sein (für die freundliche Vermittlung dieses Kontakts sei Katja Lebedewa gedankt). Vgl. hierzu C. Müller-Scholle, Das russische Drama der Moderne. Eine Einführung. Frankfurt/M. 1992, S. 96 f. Vgl. Ralph Dutlis Kommentar zur „Stalin-Ode“ in: O. Mandelstam, Die Woronescher Hefte. Letzte Gedichte 1935–1937. Hg. R. Dutli. Zürich 1996, S. 361 ff. Zu Recht argumentiert Deppermann, Babel’ gebe mit seiner „dreifach gestaffelten Adelstypologie“, die positive ebenso wie negative Charaktere einschließt, Beispiele dafür, „daß Menschen nicht klassenweise abgeurteilt werden können“ (Deppermann 1986, S. 328). Cardens These, Babel’ behandle in „Marija“ seine Figuren erstmals vornehmlich als Vertreter ihrer jeweiligen Klasse (Carden 1972, S. 185), erscheint vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar. Daß diese Ambivalenz der Titelfigur, wie Morsbach vermutet, „vom Autor wahrscheinlich nicht beabsichtigt“ sei, erscheint wenig plausibel: Die Vernachlässigung des Einzelschicksals zugunsten des Kollektivs ist, wie im folgenden gezeigt wird, ein zentrales Thema des Stücks. In dieser Richtung argumentiert zum Beispiel Morsbach 1983, S. 73. So sieht es der Regisseur Jürgen Flimm in einem Gespräch über seine Inszenierung von „Marija“ von 1976 (Flimm 1976, S. 7). Vgl. V. Višnevskij, Optimističeskaja tragedija. In: P’esy sovetskich pisatelej. Hg. Z. M. Pekarskaja. 12 Bde. Moskau 1953–1956. Bd. 3, S. 271–322, hier: S. 294. Ebd., S. 322. Ebd., S. 279. Vgl. ebd., S. 291. Zu Babel’s „Poetik der Antithesen“ vgl. Deppermann 1986, S. 317 ff. Die buchstäbliche Verkehrung der gewohnten Verhältnisse im Petrograd des Jahres 1920 wird anschaulich geschildert in O. Figes, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924. Berlin 1998, S. 560 f. Alle Hervorhebungen B. K. Babel’ läßt auch Suškin seine Äußerung über die Erfordernisse des „gegenwärtigen Moment[s]“ noch einmal fast wörtlich wiederholen („Wenn du im gegenwärtigen Moment ein schweres Stück erstehst, hängt es wie ein Stein an deinem Hals, du gehst unter damit“; s. Text, S. 393) und verleiht ihr dadurch leitmotivische Bedeutung. Vgl. im siebten Bild von „Marija“ die Klage Nefedovnas, der Kinderfrau der Mukovnins: „Ich bin eine geborene Kinderfrau, bin für die Kinder eingestellt, um Kinder großzuziehen, aber hier gibt es keine… Ein Haus voller Weiber, aber Kinder gibt es nicht“ (VII). Alle Hervorhebungen B. K. Allgemein zu Babel’s Nietzsche-Rezeption vgl. J. Falen, Isaac Babael. Russian Master of the Short Story. Knoxville 1974, Freidin 1990, S. 1897 ff. und S. 1909 ff., sowie G. Freidin, Revolution as an Esthetic Phenomenon. Nietzschean Motifs in the Reception of Isaac Babel (1923–32). In: Nietzsche and Soviet Culture. Ally and Adversary. Hg. B. Glatzer Rosenthal. Cambridge 1994, S. 149–173. Vgl. hierzu Deppermann 1986, S. 318. Tatsächlich wird Benja von seiner Mutter zärtlich als „Sonne“ bezeichnet. Babel’, s. Text, S. 322. James Falen sieht vor allem in der Schlußrede des Ben Zchar’ja einen unmittelbaren Bezug zum Prediger Salomo (Falen, s. Anm. 26, S. 220). Allgemein zur biblischen Bildlichkeit in „Zakat“ – neben dem Buch Koheleth sind auch das Buch Josua und die Geschichte von David und Batseba in den Text verwoben – vgl. ebd., S. 219 ff., E. Sicher,

Aleksandr Vvedenskij: Elka u Ivanovych

30

31 32 33 34

35 36 37

531

Midrash and History. A Key to the Babelesque Imagination. In: Isaac Babel. Hg. H. Bloom. New York 1987, S. 215–230, hier: S. 225, sowie Ehre 1986, S. 110. Vgl. die dritte Szene in „Zakat“: Nachdem sich Mendel’ Krik zunächst noch in Allmachtsphantasien ergeht und die Zeit selbst außer Kraft setzen will („Stimme aus der Kneipe. ‚Machen wir die Nacht zum Tag, Mendel’?‘ Mendel’. ‚Ein Ende gibt es nicht’“; s. Text, S. 326), klagt er schließlich ganz im Geist des Buches Koheleth über die Fruchtlosigkeit allen Strebens angesichts des Todes (s. Text, S. 331 f.). In: „Dvorec materinstva“ (Palast der Mutterschaft), s. Text, Bd. 1, S. 158. Von einschlägigen Äußerungen Babel’s berichtete bereits Ležnev in seiner Kritik zu „Marija“. Vgl. Jovanović 1975, S. 506, Fußnote 8. Vgl. Morsbach 1983, S. 83, Fußnote 1. Zum Warten als Grundzug der modernen Dramatik vgl. I. Dlugosch, Anton Pavlovič Čechov und das Theater des Absurden. München 1977, S. 236 ff. Laut Dlugosch war Čechov der erste, der das Warten auf eine selbst nie in Erscheinung tretende Hauptfigur ins Zentrum eines Dramas rücken wollte (ebd., S. 238). Auf die Verwandtschaft von „Marija“ und „Warten auf Godot“ verweist auch Deppermann 1986, S. 405, Fußnote 21. In der Erzählung „Berestečko“ (s. Text, Bd. 2, S. 76–80). Grigory Freidin betrachtet „Marija“ im Kontext von Babel’s sogenanntem „Petersburger Zyklus“, das heißt den Erzählungen „Doroga“, „‚Ivan-da-Mar’ja’“ und „Maupassant“ (Freidin 2009). Vgl. die Erzählungen „Perechod čerez Zbruč“ (Der Übergang über den Zbruč) und „Moj pervyj gus’“ (Meine erste Gans), s. Text, Bd. 2, S. 5–6 u. S. 34–36. Zum Aufbau des Dramas, insbesondere der filmischen Montagetechnik, vgl. Deppermann 1986, S. 323 ff.

Aleksandr Vvedenskij (1904–1941)

S. 401

Text „Elka u Ivanovych“ (Weihnachten bei Ivanovs) nach: A. I. Vvedenskij, Polnoe sobranie proizvedenij. Hg. M. Mejlach u. V. Ėrl’. 2 Bde. Moskau 1993. Bd. 2, S. 47–67. Die in Klammern gesetzten römischen Ziffern beziehen sich auf die Akte, die arabischen auf die Bilder dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Weihnachten bei Ivanovs. Übers. v. P. Urban. In: Fehler des Todes. Russische Avantgarde aus zwei Jahrhunderten. Hg. P. Urban. Frankfurt/M. 1990, S. 375–402. Literatur A. ALEKSANDROV, M. MEJLACH, Tvorčestvo A. Vvedenskogo. In: Materialy XXII naučnoj studenčeskoj konferencii. Poėtika, istorija literatury, lingvistika. Tartuskij gosudarstvennyj universitet. Tartu 1967, S. 105–115. G. GIBIAN, Introduction. Daniil Kharms and Alexander Vvedensky. In: Russia’s Lost Literature of the Absurd. A Literary Discovery. Selected Works of Daniil Kharms and Alexander Vvedensky. Ithaca 1971. M. MEJLACH, Aleksandr Vvedenskij. In: Russian Literary Triquarterly 11. 1975, S. 479–487. B. MÜLLER, Vvedenskijs Drama „Elka u Ivanovych“. In: Ders., Absurde Literatur in Rußland. Entstehung und Entwicklung. München 1978, S. 101–117. I. LEVIN, Vvedenskij. Text and Subtext. In: Neue russische Literatur 1981/82. 4–5, S. 189–203. A. STONE NAKHIMOVSKY, Laughter in the Void. An Introduction to the Writings of Daniil Kharms and Alexander Vvedenskij. Wien 1982. M. JOVANOVIČ, A. Vvedenskij – parodist. K razboru „Elki u Ivanovych“. In: Wiener Slawistischer Almanach 12. 1983, S. 71–86. W. KOSCHMAL, Mythos, Folklore und Theater der Avantgarde. A. I. Vvedenskijs „Elka u Ivanovych“. In: Wiener Slawistischer Almanach 18. 1986, S. 83–106. CH. MÜLLER-SCHOLLE, Das russische Theater des Absurden. Charms – Vvedenskij. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 33, 1. 1988, S. 57–92. JA. DRUSKIN, Kommunikativnost’ v tvorčestve Aleksandra Vvedenskogo. In: Teatr

532

Literatur und Anmerkungen

52, 11. 1991, S. 80–94. CH. MÜLLER-SCHOLLE, Das russische Theater des Absurden. 4. Alexander Wwedenskij. „Weihnachten bei Iwanows”. In: Dies., Das russische Drama der Moderne. Eine Einführung. Frankfurt/M. 1992, S. 158–165. JA. DRUSKIN, Materialy k poėtike Vvedenskogo. In: A. Vvedenskij, Proizvedenija 1938–1941. Moskau 1993. Bd. 2, S. 164–184. M. MEJLACH, Primečanija. In: A. I. Vvedenskij, Polnoe sobranie proizvedenij. Hg. M. Mejlach u. V. Ėrl’. 2 Bde. Moskau 1993. Bd. 2, S. 193–204. S. SIGEJ, Zaum’–Absurd– Drama. In: Literaturnoe obozrenie 22, 9/10. 1994, S. 55–56. G. LEHMANN, Bibliographie zur „Vereinigung Realer Kunst“ (OBERIU) in ihrem künstlerisch-avantgardistischen Kontext. In: Wiener Slawistischer Almanach 44. 1999, S. 185–252. S. SIMONEK, Bibliographie zur „Vereinigung realer Kunst“ (OBERIU). Ergänzungen. In: Wiener Slawistischer Almanach 46. 2000, S. 273–276. E. BULIČ, Tema smerti v p’ese „Elka u Ivanovnych” A. Vvedenskogo. In: Slavistika. 2003. 7, S. 259–263. J. LISTENGARTEN, Theater and Cultural Translation. Translating Politics and Performing Absurdity in Vvedensky’s “Christmas at the Ivanovs”. In: Translation Perspectives 12. 2003, S. 57–73. S. LUKANIČEVA, Verfemte Autoren. Werke von Marina Cvetaeva, Michail Bulgakov, Aleksandr Vvedenskij und Daniil Charms auf den deutschen Bühnen der 90er Jahre. Tübingen 2003. A. KOBRINSKIJ (Hg.), Aleksandr Vvedenskij i russkij avangard. Materialy meždunarodnoj naučnoj konferencii, posvjaščennoj 100letiju so dnja roždenija A. Vvedenskogo. Petersburg 2004. R. GEJRO, „Elka u Ivanovych“ A. Vvedenskogo. Uroven’ intertekstual’nosti. In: Poėt Aleksandr Vvedenskij. Hg. K. Ičin. Belgrad 2006, S. 332–343. I. LOŠILOV, „Monodrama“ Nikolaja Evrejnogo i p’esa Aleksandra Vvedenskogo „Elka u Ivanovych“. In: Poėt Aleksandr Vvedenskij. Hg. K. Ičin. Belgrad 2006, S. 301–331. E. SEREBRJAKOVA, „Elka u Ivanovych“ A. I. Vvedenskogo i „Priglašenie na kazn’“ V. V. Nabokova. In: Poėt Aleksandr Vvedenskij. Hg. K. Ičin. Belgrad 2006, S. 344–362. V. G. VESTSTEJN, Absurd, smert’ i Bog. Neskolko zametok o p’ese A. I. Vvedenskogo „Elka u Ivanovych“. In: Poėt Aleksandr Vvedenskij. Hg. K. Ičin. Belgrad 2006, S. 292–300. I. E. LOŠČILOV, „Vaginovskij sled” v „Elke u Ivanovnych“. In: Tekst i interpretacija. Hg. T. I. Pečerskaja. Novosibirsk 2006, S. 218–228. Anmerkungen 1 Vgl. W. Kasack, Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. München 1992, Sp. 1418–1420. 2 A. Vvedenskij, Elka u Ivanovych. Hg. M. Arndt. In: Grani 81. 1971, S. 84–108. Vvedenskijs Texte wurden durch Jakov Druskin bewahrt und von Michail Mejlach der Nachwelt zugänglich gemacht. Vgl. Kasack, s. Anm. 1; A. Vvedenskij, Elka u Ivanovych. Hg. E. Radov. In: Poljarnaja zvezda 1990. 3, S. 66–77. 3 M. Mejlach, „Die äußerste Linke unserer Vereinigung“. Aleksandr Vvedenskij und Oberiu. In: Schreibheft 40. 1992, S. 92–101, hier: S. 101. 4 Th. Grob, Keine Weihnachten nicht bei Ivanovs. In: A. Vvedenskij. Leseheft zu einem vergessenen Dichter. Theater am Neumarkt. Zürich 1993 (ohne Seitenzählung). 5 Ebd. 6 Es treten nicht auf: der Sargmacher, die Zimmermädchen, Soldaten sowie Latein- und Griechischlehrer. Hingegen fehlen im Verzeichnis die „Kindermädchen“ (I, 1), die „Polizei“ (I, 1), Diener (I, 1), Fedor und die übrigen Holzfäller (I, 2), Giraffe, Wolf, Löwe und Ferkel (I, 2), Schreiber, Reviervorsteher und Polizeihauptmann (II, 4), Arzt, Sanitäter und Kranke im Irrenhaus (II, 5), mehrere Richter und ein Sekretär (III, 8). 7 Für diesen Widerspruch gibt der Nebentext eine – freilich ihrerseits wenig sinnvolle – Erklärung: „Allen ist klar, daß die Kinderfrau beim Gericht zugegen war, das Gespräch [über] Kozlov und Oslov aber wurde nur zum Zweck der Täuschung geführt“ (III, 8). 8 Vgl. A. Martini, Retheatralisierung des Theaters. D. Charms’ „Elizaveta Bam“. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 42. 1981, S. 146–166.

Aleksandr Vvedenskij: Elka u Ivanovych 9 10 11 12 13 14 15 16 17

18 19 20 21 22

23

24

25 26 27

28 29

533

Manifest Obėriu. In: D. Charms, Izbrannoe. Hg. G. Gibian. Würzburg 1974, S. 285–298, hier: S. 296. Ebd., S. 297. Die vielfältigen Bezüge von Vvedenskijs Text zu russischen Volksbräuchen sind erstmals von Walter Koschmal aufgedeckt worden. Vgl. Koschmal 1986. Vgl. ebd., S. 87. Vgl. ebd., S. 100. Ebd., S. 90. Ebd., S. 93. Im Nebentext zum vierten Bild etwa steht für das Polizeirevier im Original „učastok“ sowie für den Polizeihauptmann „stanovoj pristav“, beides Bezeichnungen, die nur in zaristischer Zeit gebräuchlich waren. Insofern verfehlt die Interpretation des Stücks als soziale Satire dessen Kern, etwa bei Alice Stone-Nakhimovsky, die von „an obvious social satire“ spricht und als Zielscheibe der satirischen Kritik „the spritual emptiness of ordinary life“ ausmachen möchte. StoneNakhimovsky 1982, S. 151, 143. Die schwimmenden Kerzen sind den russischen Bräuchen zur Johannisnacht (Ivan Kupala) entlehnt, auf die auch der Name Ivanov im Titel des Stücks verweist. Vgl. Koschmal 1986, S. 89. Das Lethe-Motiv erscheint auch in einer Replik des Vaters Puzyrev, der zu seiner Frau sagt: „Und übrigens muß man Kerzen nachlegen, ehe diese schon ganz in die Lethe entschwommen sind“ (I, 3). Ju. Lotman, Die Struktur literarischer Texte. München 1972, S. 330. E. Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Eine Einführung. 3 Bde. 3. Aufl. Tübingen 1998. Bd. 1, S. 144. Dies bestätigt indirekt die Feststellung Koschmals, daß – wie erwähnt – aufgrund volksmythologischen Subtextes Sonja und Tanne in Korrelation zu betrachten sind (Koschmal 1986, S. 90). Die Entgrenzung des Figurenbegriffs zeigt sich auch darin, daß selbst der Wald an einer Stelle zumindest auf sprachlicher Ebene wie eine Figur behandelt wird. Nachdem die Tiere die Bühne verlassen haben, heißt es: „Der Wald bleibt allein“ (I, 2). Im Original ist die Aufzählung durch Reim und Metrum strukturiert (zweihebiger Anapäst mit Ausgang auf betontem „a“; semantisch wird sie schon mit dem dritten Element redundant („nedurna“ und „choroša“ sind nahezu synonym), so daß die nachfolgenden Charakteristika „Stern“, „Saite“, „Seele“ nur noch durch die poetische Form motiviert sind, aber letztlich ohne Bezug zur Figur bleiben. Im neunten Bild erklären mehrere Kinder, daß sie „aufs Klo müssen“. Ein Kindermädchen will ihnen beibringen, sich weniger explizit auszudrücken: „Ihr hättet sagen sollen, daß ihr Klavierspielen geht.“ Hierauf ermahnt Petja das Kindermädchen: „Warum lehrst du sie zu lügen. Was hat solches Lügen für einen Sinn“ (IV, 9). Der fehlende Bezug der Namen zu den Charakteren ließe sich allenfalls als Parodie auf konventionelle charakterisierende Namengebung interpretieren. So Petja Perov im siebten Bild. Anfechtbar, wenn auch nicht völlig abwegig ist die Position Jovanovičs, der den Namen im Sinne einer intertextuellen Verweisung interpretiert. „Elka u Ivanovych“ ist nach seiner Auffassung als Parodie auf Dostoevskijs „Prestuplenie i nakazanie“ (Schuld und Sühne) und „Zapiski iz mertvogo doma“ (Aufzeichnungen aus einem Totenhaus) zu verstehen, und Sonja Ostrova spielt demnach auf Sonja Marmeladova an. Vgl. Jovanovič 1983. A. Horn, Das Komische im Spiegel der Literatur. Versuch einer systematischen Einführung. Würzburg 1988, S. 42. Ebd., S. 108 ff. (mit Bezug auf Henri Bergson).

534

Literatur und Anmerkungen

30 Die Sinnentleerung ist hier mit Blick auf das Alter des Mädchens Dunja Šustrova nicht vollständig: Zähne als Glückseligkeit für den, der ihrer entbehrt. 31 Ebenso verfährt Daniil Charms in „Slučai“, wo die Figuren eine vom Volksmärchen herzuleitende formalisierte Psychologie aufweisen und vielfach eine ähnliche Komik des Mechanischen wirksam wird. Vgl. F. Göbler, Daniil Charms’ „Slučai“ (Fälle) und die russischen Volksmärchen. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 55. 1995/96, S. 27–52. 32 Dort spricht die Titelfigur die im Original in Alexandriner gefaßten Worte: „Fahre zur Hölle, Seele, und sei dort auf ewig gefangen (sticht sich den Dolch in die Brust und fällt, sein Leben aushauchend, in die Arme der Wachen). / Ach, wenn doch mit mir das ganze Weltall zugrunde ginge.“ A. P. Sumarokov, Izbrannye proizvedenija. Hg. P. N. Berkov. Leningrad 1957, S. 470. 33 M. Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse. 9. Aufl. München 1997, S. 247–249. 34 Nach B. Schultze, Facetten der Montage in „Kartoteka“ von Tadeusz Różewicz. In: Montage in Theater und Film. Hg. H. Fritz. Tübingen 1993, S. 141–167, hier: S. 142. 35 Ebd., S. 143. 36 Vgl. Mejlach 1993, S. 193. 37 Vgl. ebd., S. 195. 38 Vgl. ebd., S. 197. 39 Im deutschsprachigen Raum war das Stück nicht nur auf Studenten- und Studiobühnen präsent, sondern auch in etablierten Theatern (Theater am Neumarkt, Zürich 1992/93, Maxim-Gorki-Theater, Berlin 1995, Schauspielhaus Düsseldorf 1996, Staatstheater Kassel 1997/98. Die Liste ist möglicherweise noch unvollständig). 40 Tathergang und Mordwaffe, die Namen der Mörderin und ihres Bräutigams und vor allem die Replik der Sanitäter im vierten Bild: „Wen sollen wir ergreifen – diesen Napoleon?“ sind als Anspielungen auf Dostoevskijs „Prestuplenie i nakazanie“ interpretiert worden. Vgl. Jovanovič 1983 sowie Müller-Scholle 1992, S. 164. Demnach verweisen „Sonja“ auf die Sonja Marmeladova des Romans, „Fedor“ auf dessen Verfasser und „Napoleon“ auf das Tatmotiv Raskol’nikovs, seine am Vorbild Napoleons orientierte Idee vom Genie, das über den ethischen Maximen steht. 41 D. Charms, Vyvalivajuščiesja staruchi. In: Ders., Polet v nebesa. Hg. A. A. Aleksandrov. Leningrad 1988, S. 356. 42 Vgl. G. v. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur. 5. Aufl. Stuttgart 1969, S. 793. 43 Vgl. Müller-Scholle 1992, S. 165.

Aleksandr Vampilov (1937–1972)

S. 415

Text „Utinaja ochota“ (Die Entenjagd) nach: A. Vampilov, Proščanie v ijune. P’esy. Moskau 1977, S. 139–224. Die römischen Ziffern beziehen sich auf die Akte, die arabischen auf die Bilder dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Die Entenjagd. Übers. v. H. Burck. Berlin 1976. Literatur A. DEMIDOV, O tvorčestve A. Vampilova. In: A. Vampilov, Izbrannoe. Hg. I. S. Grakova. Moskau 1975, S. 461–492. W. KASACK, Alexander Wampilow. In: Osteuropa 25. 1975, S. 420–422. N. P. ANTIP’EV, Zloj dobryj čelovek. Konflikt v drame Aleksandra Vampilova. In: Sibir’. 1976. 5, S. 90–97. A. DEMIDOV, Zur Dramatik Alexander Wampilows. In: Kunst und Literatur 23. 1976, S. 147–178. JU. SMELKOV, Obnovlenie konflikta. Zametki o sovremennoj dramaturgii. In: Novyj mir. 1976. 4, S. 234–251. M. TUROVSKAJA, Vampilov i ego kritiki. In: Sibir’. 1976. 1, S. 103–115. K. RUDNICKIJ, Po tu storonu vymysla. Zametki o dramaturgii A. Vampilova. In: Voprosy literatury 20, 10. 1976, S. 28–75. K. RUDNICKIJ, Zur Dramatik Alexander Wampilows. In: Kunst und Literatur 25. 1977, S. 147–178. S. BOROVIKOV, Es-

Aleksandr Vampilov: Utinaja ochota

535

testvennost’ i teatral’nost’. Dramaturgija Aleksandra Vampilova. In: Naš Sovremennik. 1978. 3, S. 162–177. JU. SMELKOV, Zigzagi sud’by Zilova. „Utinaja ochota“: kak stavjat? kak stavit’? In: Literaturnoe obozrenie 7, 12. 1979, S. 90–93. N. TENDITNIK, Aleksandr Vampilov. Novosibirsk 1979. G. DÜWELL, Aleksandr Vampilov und die Traditionen der russischen vorrevolutionären und sowjetischen Dramatik. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena 29, 1. 1980, S. 99–104. W. SACHAROW, Das Theater Alexander Wampilows. In: Sowjetliteratur heute. Gespräche – Essays – Interviews. Hg. W. Beitz. Halle 1980, S. 235–250. J. E. BERNHARDT, Alexander Vampilov. The Five Plays. Ann Arbor, Michigan 1981. V. LAKSIN, Duša živaja. In: Oktjabr’. 1981. 1, S. 204–211. T. V. ŽURCEVA, Tvorčestvo A. Vampilova v zerkale literaturnoj kritiki. In: Problemy istorii kritiki i poėtiki realizma. Univ. Kujbyšev 6. 1981, S. 127–143. G. DÜWELL, „Ein Talent, aber schwierig, eigenwillig…“. Das Theater Alexander Wampilows. In: Was kann denn ein Dichter auf Erden. Betrachtungen über moderne sowjetische Schriftsteller. Hg. A. Hiersche u. E. Kowalski. Berlin 1982, S. 56–82. E. GUŠANSKAJA, Die Dramatik A. Wampilows. In: Kunst und Literatur 29. 1982, S. 1097–1109. W. F. SCHWARZ, Alexander Wampilow. Testfall der Kritik. Beobachtungen zur Publikations- und Rezeptionssituation des neueren sowjetrussischen Dramas. In: Literatur und Sprachentwicklung in Osteuropa. Ausgewählte Beiträge zum 2. Weltkongreß für Sowjet- und Osteuropastudien. Hg. E. Reißner. Berlin 1982, S. 166–179. V. KLIMENKO, Žažda dobra. Zametki o tvorčestve Aleksandra Vampilova. In: Naš sovremennik 51, 6. 1983, S. 163–169. S. M. KOZLOVA, Tradicija žanra ironičeskoj dramy. „Ivanov“ A. P. Čechova i „Utinaja ochota“ A. Vampilova. In: Žanr i kompozicija literaturnogo proizvedenija. Mežvuzovskij zbornik 6. 1983, S. 85–94. N. ANTIP’EV, Paradoks Viktora Zilova. „Utinaja ochota“ Aleksandra Vampilova. In: Ders., Otkrovennost’. Sbornik literaturno-kritičeskich statej. Moskau 1984, S. 8–56. U. LARKEY-EHRLICH, Das dramatische Werk Alexander Vampilovs. Diss. Berlin 1984. M. D. SERGEEV, Teatr Aleksandra Vampilova. In: Literatura Sibiri. Hg. L. P. Jakimova. Novosibirsk 1984, S. 143–157. A. MOSKOVSKIJ, Ešče o Zilove i Zilovščine. In: Sibir’. 1985. 4, S. 65–80. A. OVČARENKO, Dramaturgičeskaja saga. P’esy Aleksandra Vampilova. In: Molodaja gvardija 64. 1985, S. 248– 257. J. BREITENEGGER, „Utinaja Ochota“. In: Ders., Aleksandr Vampilov als Vertreter des zeitgenössischen sowjetrussischen Dramas. Diss. Klagenfurt 1986, S. 172–270. A. GERMWILKIEWICZ, Ethik des Alltags. Die Mehrakter Aleksandr Vampilovs. Mainz 1986. R. NEUHÄUSER, Alexander Wampilow: Die Entenjagd. In: Das russische Drama. Hg. B. Zelinsky. Düsseldorf 1986, S. 331–407. H. SCHMID, Postmodernism in Russian Drama. Vampilov, Amalrik, Aksenov. In: Approaching Postmodernism. Papers Presented at a Workshop on Postmodernism, 21–23 September 1984, University of Utrecht. Hg. D. Fokkema u. H. Bertens. Amsterdam 1986, S. 157–184. E. I. STREL’COVA, Ruž’e ili telefon? O simvolike p’esy „Utinaja ochota“ A. Vampilova. In: Russkaja reč’ 22, 4. 1988, S. 44–50. B. BIEHL, Zur Gestaltung von Konflikten und Figuren in A. Vampilovs Dramen „Utinaja ochota“ und „Prošlym letom v Čulimske“. Diss. Leipzig 1989. B. SUŠKOV, Aleksandr Vampilov. Razmyšlenija ob idejnych kornjach, problematike, chudožestvennom metode i sud’be tvorčestva dramaturga. Moskau 1989. I. V. ALEKSANDROVA, Osobennosti vyraženija avtorskoj pozicii v p’ese A. Vampilova „Utinaja ochota“. Intonacionnoe svoeobrazie dialoga i remarki. In: Voprosy russkoj literatury. Respublikanskij mežvedomstvennyj naučnyj sbornik 56, 1. 1990, S. 96–103. E. GUŠANSKAJA, „Utinaja ochota“. In: Dies., Aleksandr Vampilov. Očerk tvorčestva. Leningrad 1990, S. 174–260. U. MANN, Suche nach dramaturgischen Neuansätzen in der sowjetischen Dramatik der 70er/80er Jahre. Die Autorengeneration der „neuen Welle“. In: Zeitschrift für Slawistik 36. 1991, S. 238–244. V. FARBER, T. Sverbilova, P’esy Aleksandra Vampilova v kontekste amerikanskoj kul’tury. Elementy teatra absurda. In: Sovremennaja dramaturgija 10, 2. 1992, S. 158–164. E. REIßNER, Perestrojka vor der Perestrojka. Viktor Rozov – Alexander Wolodin – Alexander Wampilow. In: Ders., Das russische Drama der achtziger Jahre. Schmerzvoller Abschied von der großen Illusion. München 1992, S. 13–

536

Literatur und Anmerkungen

32. E. STREL’COVA, Plen utinoj ochoty. Vampilov. Tvorčestvo i sud’ba. Irkutsk 1998. V. FARBER, “Duck Hunting” (1967). In: Dies., The Playwright Aleksandr Vampilov. An Ironic Observer. New York 2001, S. 83–100. S. R. SMIRNOV, Ot „Jarmarki“ do „Utinoj ochoty“. Irkutsk 2005. V. P. MUROMSKIJ, Aleksandr Vampilov kak klassik russkoj dramaturgii. In: Pisateli russkoj tradicionnoj školy vtoroj poloviny XX veka v kontekste sovremennosti. Sbornik statej. Hg. Ju. A. Dvorjašin u. V. P. Muromskij. Surgut 2009, S. 38–44. Anmerkungen 1 Die erste Aufführung in Leningrad fand 1977 statt. Datierung nach Gušanskaja 1990, S. 8 ff. 2 Vgl. Neuhäuser 1986, S. 341; Germ-Wilkiewicz 1986, S. 12; Gušanskaja 1990, S. 192. 3 Vgl. zum Beispiel Turovskaja 1976, S. 103, 111; Gušanskaja 1990, S. 194. 4 Vgl. Gušanskaja 1990, S. 194. 5 Der Rahmen der Gegenwartsebene hält sich streng an die klassischen Einheiten der Zeit und des Ortes. Die Einheit der Handlung wird aber durch die Einlagerung der Erinnerungen und Visionen gesprengt, die zudem einen längeren Zeitraum einnehmen und an unterschiedlichen Orten spielen. 6 Einige Kritiker sehen im Tod die dominierende Thematik von „Utinaja ochota“. Vgl. Gušanskaja 1990, S. 226; Farber 2001, S. 82. 7 Bernhardt spekuliert darüber, ob dieses Telefonat nur an das Stück angehängt wurde, weil die Darstellung eines Selbstmords auf der sowjetischen Bühne tabu war. Vgl. Bernhardt 1981, S. 76. Nach dieser Interpretation hätte das Drama mehrere hintereinander geschaltete Schlüsse. 8 Vgl. zum Teil Kozlova 1983, S. 92. 9 Vgl. Sergeev 1984, S. 147 ff. Zu den Inszenierungen vgl. auch Smelkov 1979. 10 Hierbei handelt es sich um eine Erscheinung, die später während der Perestrojka scharf kritisiert wurde. Reißner spricht unter anderem im Hinblick auf Vampilov von einer „Perestrojka vor der Perestrojka“ (vgl. Reißner 1992, S. 13). Dadurch, daß viele Stücke erst mit einer Verspätung von 10–20 Jahren auf die Bühne kommen, entsteht eine Verzerrung der chronologischen Verhältnisse. So zitiert Moskovskij 1985 in seiner Interpretation von „Utinaja ochota“ wiederholt Gorbačev, so daß das Drama irreführenderweise wie eine Illustration zu dessen Politik erscheint. 11 Vgl. hierzu auch Germ-Wilkiewicz 1986, S. 134 f. 12 Nur Kuzakov wird von Vera beim Vornamen genannt, möglicherweise ein Zeichen dafür, daß er für sie nicht austauschbar ist und sie sich im Verlauf des Stücks verändert. 13 Vgl. zum Beispiel Rudnickij 1976, S. 63 f.; Smelkov 1976, S. 244; Turovskaja 1976, S. 113. 14 Germ-Wilkiewicz 1986, S. 157. 15 Andere Interpreten sehen in Irina ein Symbol für die Reinheit und seelische Ganzheit (vgl. zum Beispiel Demidov 1975, S. 491), womit sie aber nur Zilovs Hoffnungen reproduzieren. 16 Moskovskij gibt an, daß Valentin Rasputin den Begriff 1977 prägte (Moskovskij 1985, S. 66). Es ist ein in der russischen Kultur typisches Verfahren, aus dem Namen einer literarischen Figur eine Benennung für eine bestimmte Geisteshaltung zu bilden (vgl. zum Beispiel „Oblomovščina“). Dies zeigt, daß Zilov nicht als eine individuelle Figur, sondern als ein Phänomen gesehen wurde. 17 Borovikov 1978, S. 168. 18 Reißner 1992, S. 92. 19 Die Bedeutung der Entenjagd für Zilov wird je nach weltanschaulicher Haltung der Interpreten unterschiedlich gesehen. Negative Interpretationen sind: Pseudoideal und Eskapismus (vgl. Turovskaja 1976, S. 115, Düwell 1982, S. 74), Gleichgültigkeit, Nir-

Aleksandr Vampilov: Utinaja ochota

20

21 22 23 24 25

26 27 28 29 30 31

32

33 34 35 36 37 38

537

wana ohne Verantwortung (vgl. Neuhäuser 1986, S. 338), geistig-moralischer Tod und infantiler Wunsch nach einem Zustand vor der Geburt (vgl. Strel’cova 1988, S. 46). Antip’ev sieht dagegen in der Entenjagd ein positives Symbol für das neue Leben, das Zilov beginnen kann (vgl. Antip’ev 1984, S. 15). Turovskaja attestiert Zilov einen „negativen Charme“ (Turovskaja 1976, S. 113). Smelkov zeigt, daß gerade die Ambivalenz Zilovs ein großes Problem für die frühen sowjetischen Inszenierungen war, weil die Festlegung des Helden auf entweder positiv oder negativ das Drama unlogisch werden läßt. Smelkov 1979. Im Versuch, den Totenkranz als Siegerkranz umzudeuten, liegt eine Abwehr gegen den vorgestellten Tod und zugleich eine geradezu groteske Verbindung von Tod und Sieg. Dies wird in frühen sowjetischen Rezensionen sehr negativ bewertet, vgl. Demidov 1975, S. 489 f.; Borovikov 1978, S. 167. Vgl. Turovskaja 1976, S. 115; Gušanskaja 1990, S. 234. Vgl. Schmidt 1984, S. 169; Germ-Wilkiewicz 1986, S. 184. Parallelfiguren zu Zilov finden sich auch in der westlichen Literatur: Die Helden der lost generation und die angry young men verkörpern unverwirklichte Kraft und Desillusionierung über sich selbst und das Leben sowie die Verweigerung (oder Unmöglichkeit), Verantwortung zu übernehmen. Vampilov selbst soll diese Verbindung hergestellt und darauf beharrt haben, daß es auch in der Sowjetunion eine lost generation gab. Vgl. Tenditnik 1979, S. 46. Im Stück finden sich weitere versteckte politische Anspielungen, wie sie in der sowjetischen publizierten Literatur sehr beliebt waren. Vgl. hierzu Farber 2001, S. 158. Farber/Sverbilova meinen, daß genau aus dieser Fehlinterpretation heraus die meisten sowjetischen Inszenierungen von „Utinaja ochota“ mißglückt sind. Farber/Sverbilova 1992, S. 162. Eine gute Analyse der frühen Kritik zu Vampilov legte Žurčeva 1981 vor. Düwell bezeichnet Zilov entsprechend als „,Helden‘, der in seiner Negativität beispiellos ist“. Düwell 1982, S. 77. Zu den Parallelen zu Čechov vgl. unter anderem Düwell 1980; Klimenko 1983; Kozlova 1983; Farber 2001, S. 169 ff. Schmidt 1984 sieht zudem eine postmoderne Mischung von Elementen des psychologischen und des Sozialistischen Realismus, die zu einer Zerstörung der Doktrin des letzteren führe. Farber/Sverbilova 1992 analysieren eine Mischung von Elementen des absurden Dramas und des Alltagsrealismus, vgl. hierzu weiter Farber 2001. Zum Autorenstandpunkt in „Utinaja ochota“ vgl. Aleksandrova 1990, die eine genaue Analyse des Nebentextes vorlegt. Farber/Sverbilova stellen fest, daß es im Drama keinen einzigen eindeutig formulierten Autorenstandpunkt gibt, was zu widersprüchlichen Interpretationen führt. Vgl. Farber/Sverbilova 1992, S. 162. Strel’cova 1988 konstruiert eine ganz auf symbolischer Interpretation beruhende Tiefenschicht des Dramas, die jedoch nicht durchgehend mit den Oberflächenaussagen kompatibel erscheint. Farber/Sverbilova stellen sogar die These auf, es handele sich um Anrufe aus dem Jenseits und damit um Einbrüche des Transzendenten. Vgl. Farber/Sverbilova 1992, S. 164. Vgl. Gušanskaja 1990, S. 221. Vgl. P. Vajl’, A. Genis, 60-e. Mir sovetskogo čeloveka. Ann Arbor, Michigan 1988. Strel’cova bezeichnet die Entenjagd als Fiktion. Vgl. Strel’cova 1988, S. 47. Farber/ Sverbilova vergleichen das Gespräch über die Entenjagd sogar mit dem Warten auf Godot. Vgl. Farber/Sverbilova 1992, S. 163. In dieser Hinsicht entspricht die Entenjagd dem Versprechen vom Anbruch des Kommunismus: Sie ist etwas, das hinter dem Horizont der Zukunft bzw. des Dramenendes wartet und doch nicht erreichbar ist. So interpretiert, ist sie eine Anspielung auf die Ur-

538

39 40 41 42

Literatur und Anmerkungen

sache der menschlichen Deformationen im Stück: die sowjetische Ideologie und den Machtstaat, der sie durchsetzen will. Vgl. Farber/Sverbilova 1992, S. 163. Neuhäuser gibt an, 1979 habe erstmals ein Kritiker von der Vampilov-Schule gesprochen (vgl. Neuhäuser 1986, S. 343), und Reißner zeigt, daß Vampilov die Hauptkennzeichen der „Neuen Welle“ entwickelt. Vgl. Reißner 1992, S. 27. Vgl. ebd., S. 30. Vgl. Gušanskaja 1990, S. 234 ff. Ljudmila Petruševskaja über die Entstehung ihres Stücks „Cinzano“. In: Ljudmila Petruschewskaja, Cinzano. Theaterstück in zwei Teilen. Frankfurt/M. 1989, S. 60.

Ljudmila Petruševskaja (*1938)

S. 427

Text „Činzano“ nach: L. Petruševskaja, Sobranie sočinenij. 5 Bde. Hg. I. Borisova. Char’kov 1996. Bd. 3, S. 111–146. Die arabischen Ziffern beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe. – Dt. Übers.: Cinzano. Theaterstück in zwei Teilen. Übers. v. R. Tietze. Frankfurt/M. 1989. Literatur M. T. SMITH, In Cinzano Veritas. The Plays of Liudmila Petrushevskaya. In: Slavic and East European Arts 3, 1. 1985, S. 119–125. M. TUROVSKAJA, Trudnye p’esy. In: Novyj mir. 1985. 12, S. 247–252. T. N. BELOVA, Postmodernist Tendencies in the Creative Works of L’udmila Petruševskaja. In: Critical Essays on the Prose and Poetry of Modern Slavic Women. Hg. N. A. Efimov u. a. Lewiston, New York 1986, S. 95–114. N. KLADO, Begom ili polzkom. In: Sovremennaja dramaturgija 6, 2. 1986, S. 229–235. M. STROEVA, Mera otkrovennosti. Opyt dramaturgii Ljudmily Petruševskoj. In: Sovremennaja dramaturgija 6, 2. 1986, S. 218–228. N. AGIŠEVA, Zvuki „Mu“. In: Teatr 49, 9. 1988, S. 55–64. A. BAKER, Women without Men in the Writings of Contemporary Soviet Women Writers. In: Russian Literature and Psychoanalysis. Hg. D. Rancour-Laferriere. Amsterdam 1989, S. 431–449. R. TIMENČIK, Ty – čto? Ili vvedenie v teatr Petruševskoj. In: L. Petruševskaja, Tri devuški v golubom. Moskau 1989, S. 294–398. N. KOLESNIKOFF, The Generic Diversity of Ljudmila Petruševskaja’s Plays. In: Slavic Drama. The Question of Innovation. Proceedings (Slavic Drama Symposium. University of Ottawa 2–4 May 1991). Hg. A. Donskov u. R. Sokolski. Ottawa 1991, S. 215– 225. U. MANN, Suche nach dramaturgischen Neuansätzen in der sowjetischen Dramatik der 70er/80er Jahre. Die Autorengeneration der „neuen Welle“. In: Zeitschrift für Slawistik 36. 1991, S. 238–244. E. REIßNER, „Mein Thema ist das Leben“. Ljudmilla Petruschewskaja. In: Ders., Das russische Drama der achtziger Jahre. Schmerzvoller Abschied von der großen Illusion. München 1992, S. 64–90. K. SIMMONS, Plays for the Period of Stagnation. Lyudmila Petrushevskaya and the Theatre of the Absurd. Birmingham 1992. N. IVANOVA, Bakhtin’s Concept of the Grotesque and the Art of Petrushevskaia and Tolstaia. In: Fruits of her Plum. Essays on Contemporary Russian Woman’s Culture. Hg. H. Goscilo. Armonk, New York 1993, S. 21–32. M. KATZ, Das Bild der Frau am Beispiel ausgewählter Dramen von Ljudmila Petruševskaja. In: Zwischen Anpassung und Widerspruch. Beiträge zur Frauenforschung am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Hg. U. Grabmüller u. M. Katz. Wiesbaden 1993, S. 227–253. J. WOLL, The Minotaur in the Maze. Remarks on Lyudmila Petrushevskaya. In: World Literature Today 67, 1. 1993, S. 125–130. S. BAVIN, Obyknovennye istorii (Ljudmila Petruševskaja). Bibliografičeskij očerk. Moskau 1995. M.-C. AUTANTMATHIEU, Ljudmila Petrusevškaja dramaturge et la critique soviétique des années 70 et 80. In: Cahiers du Monde russe 37. 1996, S. 467–478. N. KOLESNIKOFF, The Absurd in Ljudmila Petruševskaja’s Plays. In: Russian Literature 43. 1998, S. 469–480. I. NOWAK, Ljudmila Petruševskaja, „Činzano“. In: Kindlers Neues Literaturlexikon. Hg. W. Jens. 22 Bde. München

Ljudmila Petruševskaja: Činzano

539

1988–1998. Bd. 22, S. 293 f. M. T. SMITH, N. MILMAN, Liudmila Petrushevskaia. In: Russian Women Writers. Hg. Ch. D. Tomei. 2 Bde. New York 1999. Bd. 2, S. 1412–1427. S. DALTON-BROWN, Drama. In: Dies., Voices from the Void. The genres of Liudmila Petrushevskaia. New York 2000, S. 137–160. O. V. BOGDANOVA, „Dialogi dlja teatra“ Ljudmily Petruševskoj. In: Dies., Sovremennaja russkaja literatura. Dramatičeskij postmodern. Petersburg 2003, S. 18–30. N. V. KABLUKOVA, Poėtika dramaturgii Ljudmily Petruševskoj. Blagoveščensk 2003. H. GOSCILO, Ludmila Petrushevskaya. In: Russian Writers since 1980. Hg. M. Balina u. M. Lipovetsky. Detroit, Michigan 2004, S. 220–229. S. I. PACHOMOVA, Dramaturgija Ljudmily Petruševskoj. Meždu psichologičeskoj dramoj i teatrom absurda. In: Dies., Konstanty chudožestvennogo mira Ljudmily Petruševskoj. Petersburg 2006, S. 69–104. M. REY, Ljudmila Petruševskaja und das russische Frauendrama. Inszenierte Geschlechterdifferenzen. Alltag zwischen Wermut und Schwermut. Zürich 2008. Anmerkungen 1 Vgl. zum Beispiel Smith/Milman 1999, S. 6. 2 Vgl. Mann 1991, S. 238. 3 L. Petruschewskaja, Über die Entstehung ihres Stücks „Cinzano“. Aufgezeichnet und übersetzt von Rosemarie Tietze. Petruschewskaja, s. Text, S. 60. 4 Mann 1991, S. 240. 5 Zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte vgl. zum Beispiel Smith 1985; Petruschewskaja, s. Anm. 3; Mann 1991; Reißner 1992; Bavin 1995; Nowak 1998. 6 Turovskaja 1985, S. 249 nennt deshalb das Grundelement der Gespräche in Petruševskajas Dramen „Beziehungsklärung“ (vyjasnjalovka). 7 Vgl. hierzu zum Beispiel die heftige Polemik Klados, die sich zwar nicht auf das Stück „Činzano“ bezieht, aber repräsentativ für diese Richtung der Kritik ist. Klado 1986. 8 Mit diesem Detail knüpft Petruševskaja inhaltlich unmittelbar an „Utinaja ochota“ von Vampilov an, wo die Hauptfigur Zilov nicht zur Beerdigung seines Vaters fährt und statt dessen den Tag mit seiner neuen Geliebten verbringt. 9 Vgl. hierzu Simmons 1992, S. 25. 10 Timenčik bezeichnet Petruševskajas Dramen deshalb als Romane, die aus Gesprächen geschrieben sind. Timenčik 1989, S. 395. Auch Mann spricht wegen der Statik der Handlung von einer epischen Tendenz. Vgl. Mann 1991, S. 242. 11 Klado schlägt deshalb für Petruševskajas Dramen den Begriff Klatsch-Stück (p’esaspletnja) vor, meint dies allerdings zutiefst abwertend. Vgl. Klado 1986, S. 235. 12 Vgl. hierzu Smith 1985, S. 124. 13 Vgl. Reißner 1992, S. 73. 14 Zur sozialen Herkunft der Figuren in Petruševskajas Dramen vgl. K. Kustanovich, The Naturalistic Tendency in Contemporary Soviet Fiction. Thematics, Poetics, Function. In: New Directions in Soviet Literature. Selected Papers from the Fourth World Congress for Soviet and East European Studies. Harrogate, 1990. Hg. Sh. D. Graham. New York 1992, S. 75–88. 15 Vgl. Katz 1993, S. 248; Stroeva 1986. 16 Diese Tradition erwähnt auch zum Beispiel Agiševa 1988, S. 56 und betont das dargestellte bzw. ausgelöste Mitleiden mit den Figuren. 17 Vgl. Stroeva 1986, S. 221. 18 Vgl. zum Beispiel Klado 1986, S. 230. 19 Zum Begriff „alcoholic narrative” vgl. C. Simmons, Their Father’s Voices. Vassily Aksyonov, Venedict Erofeev, Eduard Limonov and Sasha Sokolov. New York 1993. 20 Nach Baker 1989 spiegelt sich in der Auflösung der Familie in Petruševskajas Werk die Demontage des totalitären politischen Systems wider. 21 Vgl. hierzu Simmons 1992, S. 4 ff.

540

Literatur und Anmerkungen

22 In vielen Artikeln zu „Činzano“ wird die Problematisierung des Konzepts Mutterschaft nicht gesehen, es wird vielmehr als einziger positiver Wert gesetzt. Hierbei werden aber Einzelaussagen von Figuren mit der Gesamtaussage des Stücks verwechselt. Dies zeigt, wie stark die in Frage stehenden Stereotypen auch in der Rezeption wirken. Vgl. zum Beispiel Stroeva 1986, S. 222; Katz 1993, S. 239. 23 In der Moskauer Metrostation Poljanka findet sich zum Beispiel die Abbildung eines Paars, bei dem der Mann ein Mädchen auf der Schulter trägt. 24 Woll beobachtet dieses Phänomen in vielen Werken von Petruševskaja und deutet die Struktur psychologisch: Da die Mütter ihre Kinder verzweifelt brauchen, um ihre innere Leere zu füllen, neigen sie dazu, diese zu infantilisieren und bringen so die emotionalen Krüppel hervor, unter denen sie später leiden. Vgl. Woll 1993. Dieser Mechanismus wird in „Činzano“ zwar nicht explizit dargestellt, steht aber hinter dem Stück. 25 Auf die Suche nach Gemeinschaft als Triebfeder der Figuren gehen Turovskaja 1985, S. 251 und Baker 1989, S. 444 ff. ein. Baker betont in diesem Zusammenhang, daß die Gruppenidentität im Kollektiv für die Figuren bei Petruševskaja so wichtig ist, weil ihnen der individuelle Kern fehlt. 26 Vgl. zu den geschlechtsspezifischen Konversationsstilen zum Beispiel die Untersuchungen der Konversationsanalytikerin Tannen: D. Tannen, You just Don’t Understand. Women and Men in Conversation. New York 1990. 27 Vgl. zum Beispiel Stroeva 1986, S. 220. 28 Vgl. Petruschewskaja, s. Text, S. 61. 29 Vgl. Turovskaja 1985, S. 248. 30 Vgl. hierzu die Bemerkungen von Petruševskajas Übersetzerin Tietze (Petruschewskaja, s. Text, S. 66). 31 Ein Beispiel für diese Herangehensweise ist zum Beispiel Viktor Perevedencev, „Ličnaja žizn’“ na scene i v žizni. In: Sovremennaja dramaturgija 6, 3. 1987, S. 226–237. 32 Auf die Bedeutung des Fests in Petruševskajas Werk weist Ivanova hin. Vgl. Ivanova 1993. 33 Smith sieht darin, daß Paša die Kleider seiner verstorbenen Mutter anzieht, ein Sakrileg. Vgl. Smith 1985, S. 3. Stroeva interpretiert diese Stelle sogar als einen lästerlichen Totentanz. Vgl. Stroeva 1986, S. 21. 34 Vgl. hierzu Smith 1985, S. 124. 35 Vgl. Agiševa 1988. 36 Kolesnikoff 1998, Simmons 1992. 37 Vgl. Kustanovich 1992, S. 87. 38 Ivanova stellt fest, daß Petruševskaja dasselbe Material wie Natal’ja Baranskaja verwendet (den tristen Alltag sowjetischer Frauen in zerfallenen Familien), es aber aus einer existentiellen Perspektive betrachtet. Vgl. Ivanova 1993, S. 24. 39 Vgl. zum Beispiel Turovskaja 1985, S. 252; Agiševa 1988, S. 56. Ute Mann nennt das Mitgefühl mit den Schwachen allgemein als Schreibimpuls der „Neuen Welle“. Vgl. Mann 1991, S. 238.

Nachwort Nach den Bänden zur russischen Lyrik (2002) und zum russischen Roman (2007) folgt nun in der vierteiligen Reihe „Russische Literatur in Einzelinterpretationen“ der Band, der die dramatische Gattung vorstellt. Diese Gattung weist in Rußland nicht jene Fülle von Meisterwerken auf, der die epische ihren Ruf verdankt, doch zumindest in zwei Fällen erreicht das russische Drama höchstes weltliterarisches Niveau: mit Gogol’s Komödie „Revizor“ und mit den Stücken Anton Čechovs. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Texten, die in thematischer wie in ästhetischer Hinsicht das Interesse nicht nur des Literaturhistorikers, sondern auch des Literaturliebhabers verdienen. Dazu gehören unter anderen Puškins Shakespeare-Rezeption „Boris Godunov“ und Turgenevs Čechov-Antizipation „Mesjac v derevne“, Tolstojs Naturalismus-Auftakt „Vlast’ t’my“ und Bloks Commedia dell’arte-Aneignung „Balagančik“, Majakovskijs Revolutions-Spektakel „Misterija-buff“ und Bulgakovs Bürgerkriegsroman-Adaption „Dni Turbinych“ oder Ėrdmans Grotesk-Satire „Samoubijca“ und Vvedenskijs Un-SinnsSpiel „Ėlka u Ivanovych“. Wie der „Russische Roman“ beruht das „Russische Drama“ auf einer vorausgegangenen gleichnamigen Veröffentlichung. Auch diesmal handelt es sich keineswegs um eine bloße Neuauflage. Von den 22 Beiträgen der Publikation aus dem Jahre 1986 sind vier – zu Gogol’s „Revizor“, Turgenevs „Mesjac v derevne“, Čechovs „Višnevyj sad“ und Kručenychs „Pobeda nad solncem“ – in überarbeiteter und aktualisierter Form wieder aufgenommen worden. Entfallen sind die Interpretationen von Suchovo-Kobylins „Smert‘ Tarelkina“, Andreevs „Žizn‘ čeloveka“, Charms‘ „Elizaveta Bam“, Višnevskijs „Optimističeskaja tragedija“ und Rozovs „Gnezdo glucharja“. Dafür beginnt der vorliegende Band im 18. Jahrhundert mit Fonvizins „Nedorosl’“ und reicht mit Petruševskajas „Činzano“ bis zu den Autoren der „Neuen Welle“, die am Beginn der Perestrojka verstärkt an die Öffentlichkeit traten. Neu ist außerdem Aleksandr Vvedenskij, der mit „Ėlka u Ivanovych“ Daniil Charms als Repräsentanten der Gruppe „Obėriu“ ersetzt. Čechov, der schon vorher mit drei Texten vertreten war, ist jetzt durch den Einbezug von „Čajka“ mit allen vier großen Stücken präsent. Damit soll der überragenden Bedeutung eines Autors entsprochen werden, der auf den Bühnen der Welt zu den am meisten aufgeführten Dramatikern gehört. Dieser Band ist wie die früheren Bände der „Kunst der Interpretation“ verpflichtet, die gerade in den Zeiten einer immer stärkeren kulturwissenschaftlichen Orientierung etwas in den Hintergrund gedrängt zu werden droht. Dabei bleibt das Verständnis des Einzelwerks nach wie vor die Grundlage des wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Umgangs mit der Literatur und somit auch die zentrale Aufgabe der Literaturwissenschaft. Freilich beschränkt sich Werkinterpretation heute nicht mehr ausschließlich auf werkimmanente Interpretation. Dementsprechend finden auch in den Beiträgen zum „Russischen Drama“ biographische, historische, soziologische, kulturelle oder philosophi-

542

Nachwort

sche Zusammenhänge ihre Berücksichtigung. Außerdem werden die im Hauptteil einzeln behandelten Dramentexte in der Einleitung des Herausgebers in den Kontext der geschichtlichen Entwicklung der Gattung von ihren Anfängen im 17. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart gestellt, wobei auch solche gattungsspezifischen Aspekte wie die Institution des Theaters, die Rolle des Regisseurs und die Probleme der Inszenierung zur Sprache kommen. Besonderer Wert wurde auf die Ausführlichkeit in den Literaturverzeichnissen gelegt. Abschließend danke ich allen Autoren der Beiträge. Einige von ihnen sind bereits zum dritten Mal dabei. Die Herstellung des Bandes war erneut nicht denkbar ohne vielfältige Unterstützung aus dem Slavischen Institut der Universität Köln. Prof. Dr. Jens Herlth, der die „Russische Lyrik“ und den „Russischen Roman“ betreut hat, war noch an den vorbereitenden Arbeiten beteiligt. Die Hauptlast bei der Erstellung der Druckvorlage lag diesmal bei meiner langjährigen wissenschaftlichen Hilfskraft Kathrin Wirz, M. A. Für ihre Ausdauer, Geduld und absolute Zuverlässigkeit sei ihr herzlichst gedankt. Für unentbehrliche Hilfe bei den Korrektur- und Recherchevorgängen sowie zahlreiche nützliche Anregungen bedanke ich mich bei Dipl. Bibl. Dagmar Klingner, Dr. Jessica Kravets, Dr. Michael Müller und Marianne Wiebe, M. A. Nicht zuletzt gilt mein Dank Benjamin Reeve, der den Čechov-Aufsatz von Richard Peace ins Deutsche übersetzt hat.

Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte neue Folge Herausgegeben von Karl gutscHmidt, roland marti, Peter tHiergen, ludger udolPH und bodo ZelinsKy reiHe a: slavistiscHe ForscHungen

Eine Auswahl.

51: Aleksandr S. Lappo-Danilevskij PolitiscHe ideen im russland des 18. jaHrHunderts iHre gescHicHte im ZusammenHang mit der allgemeinen entwicKlung der russiscHen Kultur und PolitiK

Hg. von Marina Ju. Sorokina unter Mitwirkung von Konstantin Ju. Lappo-Danilevskij 2005. XXXII, 462 S. 1 s/w-Frontispiz. Gb. ISBN 978-3-412-28005-5

Band 52:

Alexander Wöll

jaKub deml

Band 47: Jens Herlth ein sänger gebrocHener linien iosiF brodsKijs dicHteriscHe selbstscHöPFung

2004. IX, 435 S. Gb. ISBN 978-3-412-12704-6

leben und werK (1878–1961) eine studie Zur mitteleuroPäiscHen literatur

2006. IX, 539 S., 5 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-30005-0

Band 53:

Stefan Fleischmann

sZymon budny

slavistiscHe ForscHungen

ein tHeologiscHes Portrait des PolniscH-weissrussiscHen Humanisten und unitariers (ca. 1530–1593)

in memoriam reinHold olescH 2005. XV, 300 S. 6 s/w-Abb. und 15 s/w-Abb.

2006. VII, 278 S. Gb. ISBN 978-3-412-04306-3

auf 8 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-12305-5

Band 54:

Band 48: Angelika Lauhus, Bodo Zelinsky (Hg.)

Band 49: Elisabeth von Erdmann unäHnlicHe äHnlicHKeit die onto-PoetiK des uKrainiscHen PHilosoPHen HryHorij sKovoroda (1722–1794)

2005. 740 S. Gb. ISBN 978-3-412-19205-1

Band 50: Peter Thiergen (Hg.) russiscHe begriFFsgescHicHte der neuZeit beiträge Zu einem ForscHungsdesiderat

Eva Behrisch

»aber lots weib blicKte ZurücK...« der dialog mit der bibel in der dicHtung anna acHmatovas

2007. X, 361 S. Gb. ISBN 978-3-412-13906-3

Band 55:

Tatjana Marčenko

russiscHe scHriFtsteller und der literaturnobelPreis (1901–1955) 2007. 626 S. Gb. ISBN 978-3-412-14006-9

SG053

Hg. unter Mitarbeit v. Martina Munk 2006. XXIX, 547 S. Gb. ISBN 978-3-412-22205-5

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | köln weimar wien

Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte neue Folge

Band 60:

Herausgegeben von Karl gutscHmidt, roland marti, Peter tHiergen, ludger udolPH und bodo ZelinsKy

2008. XII, 224 S. 9 farb. Abb. auf 8 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20130-2

reiHe a: slavistiscHe ForscHungen

Eine Auswahl.

Band 56:

Isolde Baumgärtner

wasserZeicHen Zeit und sPracHe im lyriscHen werK iosiF brodsKijs

2007. X, 385 S. Gb. ISBN 978-3-412-14106-6

Viviane Kafitz

sPracHartistiscHe lyriK gemälde- und sKulPturengedicHte des russiscHen symbolismus

Band 61:

Bodo Zelinsky (Hg.)

das böse in der russiscHen Kultur Unter Mitarbeit von Jessica Kravets. 2008. VI, 331 S. Gb. ISBN 978-3-412-20167-8

Band 62:

Dirk Uffelmann

der erniedrigte cHristus metaPHern und metonymien in der russiscHen Kultur und literatur

2010. XII, 1046 S. Gb. ISBN 978-3-412-20214-9

Band 57: Konstantin Ju. LappoDanilevskij

Band 63:

geFüHl Für das scHöne

drogen in der russiscHen und PolniscHen gegenwartsliteratur

joHann joacHim wincKelmanns einFluss auF literatur und ästHetiscHes denKen in russland

2007. XIV, 476 S. 1 Frontispiz. Gb. ISBN 978-3-412-19006-4

Band 58:

Joachim Klein

russiscHe literatur im 18. jaHrHundert 2008. XVIII, 369 S. Gb. ISBN 978-3-412-20002-2

Yvonne Pörzgen

berauscHte Zeit

2008. X, 246 S. Gb. ISBN 978-3-412-20234-7

Band 64: Steffen Höhne, Justus H. Ulbricht (Hg.) wo liegt die uKraine? standortbestimmung einer euroPäiscHen Kultur

2009. 246 S. 2 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20347-4

Band 59: Jana Nechutová die lateiniscHe literatur des mittelalters in böHmen

SG053

Aus dem Tschechischen übersetzt von Hildegard Boková und Václav Bok. 2007. 371 S. Gb. ISBN 978-3-412-20070-1

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | köln weimar wien

Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte neue Folge

Band 69:

Herausgegeben von Karl gutscHmidt, roland marti, Peter tHiergen, ludger udolPH und bodo ZelinsKy

Band 70:

reiHe a: slavistiscHe ForscHungen

Eine Auswahl.

Band 65:

Walter Koschmal

der dicHternomade jiŘí mordecHai langer – ein tscHecHiscH-jüdiscHer autor

2010. X, 441 S. Gb. ISBN 978-3-412-20393-1

Band 66: Steffen Höhne, Ludger Udolph (Hg.) deutscHe – tscHecHen – böHmen Kulturelle integration und desintegration im 20. jaHrHundert

2010. 379 S. Gb. ISBN 978-3-412-20493-8

Band 67: Ines Koeltzsch, Michaela Kuklová, Michael Wögerbauer (Hg.) übersetZer ZwiscHen den Kulturen der Prager PubliZist Paul/Pavel eisner

2011. 316 S. Gb. ISBN 978-3-412-20550-8

Band 68:

Anne Hultsch

ein russe in der tscHecHoslowaKei

Rolf-Dietrich Keil

PuŠKin- und gogol-studien 2011. 429 S. Gb. ISBN 978-3-412-20565-2

Ingrid Stöhr

ZweisPracHigKeit in böHmen deutscHe volKsscHulen und gymnasien im Prag der KaFKa-Zeit

2010. 497 S. Gb. ISBN 978-3-412-20566-9

Band 71: Christine Fischer, Ulrich Steltner PolniscHe dramen in deutscHland übersetZungen und auFFüHrungen als deutscHdeutscHe reZePtionsgescHicHte 1945–1995

2011. 297 S. Gb. ISBN 978-3-412-20669-7

Band 72: Rodmonga K. Potapova, Vsevolod V. Potapov KommuniKative sPrecHtätigKeit russland und deutscHland im vergleicH

2011. VIII, 312 S. Gb. ISBN 978-3-412-20688-8

Band 73:

Martina Munk

ungeHeuerlicHe massen tierbilder Für das PHänomen des massenHaFten in der literatur des 20. jaHrHunderts

2011. X, 355 S. Gb. ISBN 978-3-41220696-3

leben und werK des PubliZisten valerij s. vilinsKij (1901–1955)

SG053

2011. 432 S. Mit 6 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20552-2

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | köln weimar wien

Russische Literatur in Einzel­ interpretationen Herausgegeben von Bodo Zelinsky

Band 1: Die russische Lyrik

Band 3: Das russische Drama

2002. X, 491 S. Gb. mit SU. ISBN 978-3-412-15801-9

ISBN 978-3-412-18101-7

2012. VI, 542 S. Gb. mit SU.

Band 4: Die russische Erzählung 2012. Ca. 400 S. Gb. mit SU. ISBN 978-3-412-18201-4 in Vorbereitung

Band 2: Der russische Roman

SG053

2007. VI, 564 S. Gb. mit SU. ISBN 978-3-412-18001-0

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien