Das diakonische Engagement der Hugenotten in Frankreich - von der Reformation bis 1685: Diakonie zwischen Ohnmacht, Macht und Bemächtigung 9783737002127, 9783847102120, 9783847002123

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Das diakonische Engagement der Hugenotten in Frankreich - von der Reformation bis 1685: Diakonie zwischen Ohnmacht, Macht und Bemächtigung
 9783737002127, 9783847102120, 9783847002123

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Gerhard Wenzel

Das diakonische Engagement der Hugenotten in Frankreich – von der Reformation bis 1685 Diakonie zwischen Ohnmacht, Macht und Bemächtigung

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0212-0 ISBN 978-3-8470-0212-3 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Gustav-Adolf-Werks e. V. sowie der Arbeitsgemeinschaft der Frauenarbeit im Gustav-Adolf-Werk. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Abraham Bosse (Tours 1602/1604 – 1676 Paris): Visiter les Malades, publ. von Jean I Leblond (gest. Paris, 1666). The Metropolitan Museum of Art, Purchase, The Elisha Whittelsey Collection, The Elisha Whittelsey Fund, 1951 (51.501.2213) Image Ó The Metropolitan Museum of Art. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hinweise zur Lektüre und Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . .

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Einleitung – blinde Flecken und historiographische Einordnung . . . . .

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2. Diakonische Praxis im französischen Protestantismus von der Reformation bis 1685 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Methodische Vorüberlegungen und Phaseneinteilung . . . . . . . 2.2 Diakonische Praxis in der Phase der klandestinen Etablierung und Konsolidierung (bis ca. 1593 bzw. 1598) . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Exkurs: Ursprung des franz.-reformierten Diakonenamtes und der diakonischen Organisationsform . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Diakonenordnung der Pariser Gemeinde von 1561 und die Charakteristika des diakonischen Engagements in der ersten Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 Besuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Weibliche diakonische Tätigkeit in der ambulanten Gemeindearmen- und Krankenfürsorge . . . . . . 2.2.2.3 Einteilung in quartiers . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.4 Die Empfänger der Hilfsleistungen . . . . . . . . . 2.2.2.5 Kontrolle der Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.6 Rationalisierung und »laicization« . . . . . . . . . 2.2.2.7 Drei Unterstützungsarten bzw. –kategorien . . . . 2.2.2.8 Unterstützung des Schulbesuchs und Armenschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.9 Unterstützungen bei Krankheit . . . . . . . . . . . 2.2.2.10 Der subsidiäre Charakter der Armen- und Krankenunterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.11 Unterstützung bei Miete und Holzversorgung . . .

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Inhalt

2.2.2.12 Kostenübernahme von Armenbeerdigungen . . . . 2.2.2.13 Geschlossene Armenfürsorge des französischen Protestantismus in der ersten Phase – Armenhäuser, Hospitäler, Waisenhäuser . . . . . . 2.2.2.14 Die Soci¦t¦ de demoiselles de la charit¦ von Sedan und besondere Projekte weiblichen diakonischen Engagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.15 Soziale Gestaltung des Gemeinwesens: Städtische Armenreformen, die Frage der Armensteuer und andere kommunale Unterstützungssysteme . . . . 2.3 Diakonische Praxis in der Blütephase (von ca. 1594 bzw. 1598 bis 1660) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die veränderten Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Legate und ihre diakonische Dimension . . . . . . . . . . . 2.3.3 PrÞts (Kredite) als Möglichkeit des Existenzaufbaus und der Existenzsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Lehrstellenvermittlung, Lehrlingsunterstützung und Waisenfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Schulbildung als protestantische Identitätsbildung und Weg aus der Armut zum gesellschaftlichen Erfolg . . . . . . 2.3.6 Hospitalwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.6.1 Städtische bzw. öffentliche Hospitäler . . . . . . . . 2.3.6.2 Die Gründung von »crypto-hospitals« . . . . . . . 2.3.6.3 Das protestantische Hospital in N„mes . . . . . . . 2.3.6.4 Die d–mes de la charit¦ von N„mes – Wiederaufnahme des weiblichen diakonischen Engagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.7 Vitr¦ (Br¦tagne) – offene Armenfürsorge auf Stadtebene. Ein Modell effektiver bi-konfessioneller Kooperation. . . . 2.4 Diakonische Praxis in der Phase erneuter Restriktion und Repression (1661 bis 1685) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Erneute Veränderung der Rahmenbedingungen . . . . . . . 2.4.2 Die caisse de conversion und das Argument materieller Absicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Endgültige Schließung protestantischer Hospitäler und Armenhäuser und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Der Versuch der Zerschlagung der franz.-prot. ambulanten Armen- und Krankenfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.4.5 Berufsverbote im medizinischen, pflegerischen und sozialen Bereich als Eingriff in den Bereich der gemeindlichen ambulanten Armen- und Krankenpflege . . 2.4.6 Konfiszierung des Gemeindevermögens einschließlich der Armengelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.7 Hospitalisierung der franz. Protestanten in der Zeit von 1660 bis 1685 und nachfolgend – Funktion und Bedeutung der Húpitaux G¦n¦raux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.8 Der Angriff auf die Schulen und ihre Konsequenzen . . . . 3. Theologische und geistesgeschichtliche Hintergründe und Entwicklungen im französischen Protestantismus vor 1685 . . . . . 3.1 Von der Wirklichkeit der Armut und den Möglichkeiten des Reichtums – die soziale Botschaft von Johannes Calvin . . . . . 3.1.1 Der ideologische Bruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Calvins Prägungen im Blick auf die Frage von Reichtum und Armut, Sozialethik und Diakonie . . . . . . . . . . . 3.1.3 »Dein Armer« – Calvins soziale Botschaft am Beispiel seiner Predigt über Deuteronomium 15, 11 – 15 . . . . . . 3.1.4 Calvins Arbeits- und Berufsethik . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Calvin zu Reichtum und Armut – Calvins Position zum Privateigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.6 Calvin zu Geld, Zins und Wucher . . . . . . . . . . . . . 3.1.7 Reiche und Arme in der Koinonia . . . . . . . . . . . . . 3.1.8 Calvins Verständnis von Charit¦ (»Nächstenliebe / Mildtätigkeit«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.9 Prädestination und Providenz . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.10 Die Gemeinde als diakonisches Lernfeld und das Amt der Diacres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Sozialethik – Armut, Reichtum und Diakonie in der Lehre des Französischen Protestantismus des 17. Jh. . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Lehre von der Prädestination und Providenz im 17. Jh. . . . 3.3.1 Prädestination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Providenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Franz.-ref. Predigten des 17. Jh. als Spiegel des diakonischen Selbstverständnisses und der Lehre von Reichtum und Armut . 3.4.1 Die Quellengrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Umgang mit Besitz und Reichtum . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Charit¦ – Begründung und Aufgabe . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Armut und Arme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.4.5 Verhältnisbestimmung von Providenz, Reichtum und Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.6 Obrigkeitsgehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.7 Sozialethische Konsequenzen der Prädestination . . . 3.4.8 Communio / Koinonia und Seelsorge – Besuche als Zeichen gelebter Solidargemeinschaft . . . . . . . . . 3.4.9 Blick über den Tellerrand hinaus . . . . . . . . . . . .

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4. Das Verhältnis zwischen diakonischer Praxis und theologie- bzw. geistesgeschichtlichem Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Streiflichter : Die ersten sogenannten (französischen) Fremdlingsgemeinden im 16. Jh. in deutschen Aufnahmeorten (Frankfurt a. M. und Emden) – Charakteristika ihrer diakonischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frankfurt a. M. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Schluss und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nachschlagewerke, Lexika und allgemeine Hilfsmittel d) Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Die theologische Wissenschaft zeichnet sich gewiss dadurch aus, dass sie sehr viel für die Freiheit der Ideen und des Geistes geleistet hat. Aber man darf kritisch fragen, ob sie im Verlauf ihrer Geschichte nicht zu wenig für die Erdung der Theologie getan hat. Das vorliegende Buch atmet hier und da den Geist ruhrgebietlerischer Erdverbundenheit, wofür m. E. das theologische Werk von Prof. Dr. Günter Brakelmann steht. Das Buch ist hervorgegangen aus einer umfassenden Untersuchung, die ursprünglich von ihm 1991 als Dissertationsvorhaben mit dem Titel »Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin (1672 – 1772) – unter besonderer Berücksichtigung der Tradition und Vorgeschichte« an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum angenommen und betreut wurde. Da diese Arbeit im Laufe der Zeit einen außerordentlichen Umfang angenommen hatte, erschien es sinnvoll, dem Vorschlag meiner nachfolgenden Betreuerin Frau Prof. Dr. Ute Gause folgend, den ersten auf Frankreich bezogenen vom zweiten auf Berlin bezogenen Teil ganz abzukoppeln und aus der Dissertation auszugliedern und auf ihre Empfehlung hin dennoch der wissenschaftlichen Fachwelt zugänglich zu machen. Das war die Geburtsstunde des vorliegenden Buches über die Diakoniegeschichte der Hugenotten in Frankreich von der Reformation bis 1685, die bisher noch ungeschrieben war und der in Kürze die Publikation der Dissertation über das diakonische Engagement im Berliner Refuge (1672 – 1772) gewissermaßen als zweiter Teil nachfolgen wird. Mein ausgesprochener Dank gilt nicht nur Herrn Prof. Dr. Günter Brakelmann und Frau Prof. Dr. Ute Gause für ihre große Unterstützung und Ermutigung, sondern allen Weggefährten und Wissenschaftlern, die mich im Laufe der vielen Jahre der Untersuchungen und der Entstehung der Manuskripte begleitet und mental oder auf andere Weise unterstützt haben, insbesondere meinem Freund und intellektuellen Gesprächspartner Prof. Dr. Laurent Gambarotto (ehemals Professor für Kirchengeschichte an der Facult¦ Libre de Th¦ologie Protestante de Montpellier) und meiner befreundeten Familie Kühlhorn-Gordon, die mir immer wieder Asyl in der Schweiz gewährte. Gudrun Rössig und Christoph Schmidt danke ich für un-

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Vorwort

terstützende Korrekturlese, Rüdiger Krause für seine viele Hilfe bei technischen Fragen und dem Evangelischen Studienwerk Villigst für die Förderung durch ein Promotionsstipendium. Darüber hinaus habe ich dem Verlag Vandenhoek & Ruprecht Unipress für die Aufnahme in ihrer Publikationsreihe und dem Gustav-Adolf-Werk so wie der »Arbeitsgemeinschaft der Frauenarbeit im Gustav-Adolf-Werk« für die freundliche Unterstützung des Buchprojektes durch Gewährung eines Druckkostenzuschusses zu danken. Gewidmet ist dieses Werk meiner ehemaligen Frau Gabriele Türr, meinem verstorbenen Vater Martin Wenzel und meiner noch lebenden Mutter Agate Wenzel.

Hinweise zur Lektüre und Abkürzungsverzeichnis

Hinweise Alle Zitate im Fließtext aus handschriftlichen oder gedruckten Quellen sind kursiv gedruckt, Zitate aus der Sekundärliteratur hingegen nicht, um so durch die optische Hervorhebung eine Unterscheidbarkeit der Textebenen zu erreichen. Einzelne französische Begriffe, sofern sie Zitat- oder Quellencharakter haben, erscheinen auch kursiv und ohne Anführungszeichen, ihre deutschen Übersetzungen hingen nicht kursiv, aber in Anführungszeichen. Alle französischen Zitate sind eigens zusätzlich (siehe Fußnoten) übersetzt (auch die aus der Sekundärliteratur), um auch all denen die Lektüre zu ermöglichen, die über keine Französischkenntnisse verfügen. Rechtschreibfehler etc. in den Originalzitaten wurden so belassen. Hinweise mit »sic.«- (»so im Text«) erfolgen nur gelegentlich, wenn es sich um Sinnentstellungen handelt. Akzentsetzungen wurden so aus den Originaltexten übernommen. In den Quellentexten begegnen sie teils gar nicht, teils wurden sie falsch gesetzt – sie spiegeln damalige Willkür bezüglich der Zeichensetzung. Auch das »v« statt des »u« wurde dort so belassen, wo es im Originaltext so vorkam. Mögliche Übersetzungsalternativen sind durch Schrägstrich kenntlich gemacht ( / ), Einfügungen durch: […]. Der im Text immer wieder begegnende französische Begriff Consistoire ist am ehesten mit »Gemeindeleitung« im Sinne eines Presbyteriums zu übersetzen.

Über die üblichen Abkürzungen hinaus begegnen folgende: A.D.G. A.D.H. A.D.M. A.E.R.N.

Archives d¦partementales du Gard (N„mes) Archives d¦partementales de l’H¦rault (Montpellier) Archives municipales de Metz Archives de L’Êglise R¦form¦e de N„mes (N„mes)

12 A.M.N. A.N. B.M. Metz Bib.SHPF Bull SHPF C.O. franz.-prot franz.-ref.

Hinweise zur Lektüre und Abkürzungsverzeichnis

Archives municipales de N„mes Archives Nationales (Paris) BibliothÀque municipale de Metz : BibliothÀque de la Soci¦t¦ de l’Histoire du Protestantisme FranÅais (Paris) Bulletin de la Soci¦t¦ de l’Histoire du Protestantisme FranÅais Calvini Opera (Gesamtwerkausgabe der Schriften Calvins) französisch-protestantisch französisch-reformiert

Einleitung – blinde Flecken und historiographische Einordnung »…une ¦glise qui a toujours ¦t¦ la mÀre nourriciÀre des pauvres.«

Die Darstellung des diakonischen Engagements der Hugenotten1 in Frankreich von der Reformation bis 1685 war bislang so etwas wie ein blinder Fleck in der Kirchengeschichtsschreibung, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Erstens, weil Diakonie und Diakoniegeschichte erst neuerlich wieder stärker ins Blickfeld der Geschichtswissenschaft bzw. Kirchengeschichtsforschung geraten ist und damit im Bewusstsein aber zunehmend deutlicher als Teil von Geschichte und Kirchengeschichte verstanden und dort verankert wird, hingegen beides zeitweise nur ein Schattendasein führte oder aber einen davon losgelösten isolierten Forschungsbereich darstellte.2 Zweitens, weil »Diakonie« als Forschungsgegen1 Die Herkunft des Begriffes »Hugenotten« ist in der Literatur nach wie vor umstritten. Die Herleitung von dem Schweizer Begriff »Eidgenossen« ist allerdings aus phonetischen Gründen wenig überzeugend (mit E. Mengin). »Hugenotten« war ursprünglich keine Selbstbezeichnung der franz. Protestanten. Von der französischen Krone wurden sie in offiziellen Verlautbarungen immer als Zugehörige der »R.P.R.« (=Religion Pr¦tendue R¦form¦e – »vorgeblich Reformierte Religion«) bezeichnet, nie jedoch als Hugenotten. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass der Name »Hugenotten« von außen auferlegt und ursprünglich ein Negativetikett war, also eine verspottende Funktion hatte, ähnlich wie heute »Schwule« oder »Lesben« lange Zeit Spottnamen waren, bevor sie schließlich zu Selbstbezeichnungen dieser Minderheiten geworden sind. Vieles spricht deshalb noch am ehesten für die Erklärung, dass es sich um einen Diminutiv des Vornamens »Hugo« handelt, der sich mit der Legende aus der Region von Tours verbindet, wonach der Geist des verstorbenen Königs Hugo Capet dort nachts sein Unwesen getrieben habe. Damit mögen abendliche heimliche Versammlungen der suspekt erscheinenden Protestanten in Verbindung gebracht worden sein. Zu Begriff und Herkunft des Namens »Hugenotten« vgl. besonders: Ernst Mengin, Ursprung und Etymologie des Wortes »Hugenotten, in: Der Deutsche Hugenott, Jg. 30 (1966), S. 120 – 124, Jg. 31 (1967), S. 13 – 17, 53 – 56; 80 – 84, 108 – 114, Jg. 32 (1968), S. 11 – 17, 41 – 49, 76 – 85, 121 – 123, Jg. 33 (1969), S. 9 – 16 und bes. 34 – 38; Johannes E. Bischoff, Hugenotten und Hugenotten-Nachkommen als städtische Minderheiten, in: Kirchgässner, Bernhard / Reuter, Fritz (Hgg.): Städtische Randgruppen und Minderheiten (23. Arbeitstagung in Worms 16.–18. November 1984), Sigmaringen 1986, S. 115 – 128, dort 115 – 118; Michael Ertz, Anmerkungen zum Namen »huguenots« (Hugenotten), in: Der Deutsche Hugenott, Jg. 49, Nr. 3 (1985), S. 106 – 119; überblicksartiger : Ulrich Niggemann, Hugenotten, (UTB) Köln u. a. 2011, S. 9, Barbara Dölemeyer, Die Hugenotten, Stuttgart 2008, S. 11 f; Eberhard Gresch, Die Hugenotten. Geschichte, Glaube und Wirkung, Leipzig (3. Aufl.) 2006, S. 29, 2 Nach dem epochalen Werk von Gerhard Uhlhorn (vgl. ders., Die christliche Liebestätigkeit,

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Einleitung – blinde Flecken und historiographische Einordnung

stand bislang meist auf die diakonischen Institutionen, Projekte und Initiativen des 19. und 20. Jahrhunderts reduziert wurde.3 Drittens, weil der franz. Protestantismus und seine Geschichte in der Wahrnehmung der deutschen theoStuttgart 1895) im 19. Jh., das noch in die Breite der (Kirchen-)Geschichte ging und Martin Gerhardt, der seine Arbeiten über die Geschichte der Innere Mission bzw. den Zenralausschuss der Inneren Mission 1948 zwar mit wissenschaftlichem Anspruch verfasste, aber dabei perspektivisch doch sehr auf diese Institution selbst beschränkt blieb (vgl. ders., Ein Jahrhundert Innere Mission. Die Geschichte des Central-Ausschusses für Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, 2 Bde., Gütersloh 1948; vgl. Zu Martin Gerhardt auch: Volker Herrmann, Martin Gerhardt [1894 – 1952] der Historiker der Inneren Mission. Eine biographische Studie über den Begründer wissenschaftlicher Diakoniegeschichtsforschung, Heidelberg 2003), waren es eigentlich erst wieder 1962 Günter Brakelmann (ders., Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 1962, 7. Aufl. 1981) und zeitgleich Erich Beyreuther (ders., Geschichte der Diakonie und Inneren Mission in der Neuzeit, Berlin 1962, 3. Aufl. 1983) die unabhängig voneinander je auf ihre Weise die Diakonie und Diakoniegeschichte wirklich in der Profan- bzw. Gesellschaftsgeschichte (so vor allem Brakelmann) und Kirchengeschichte mit je unterschiedlichen Akzentuierungen eingebettet haben. Es ist aber vor allem den neueren Arbeiten, Methoden und Anstößen von Jochen-Christoph Kaiser, Ute Gause, Norbert Friedrich und Traugott Jähnichen (beide Schüler von Günter Brakelmann) zu verdanken, dass wir eine (Re-)Integration von Diakonie und Diakoniegeschichtsschreibung im Bereich der Geschichtswissenschaft, Kirchengeschichtsforschung und Theologie erleben – vgl. bes.: Martin Friedrich/Norbert Friedrich/Traugott Jähnichen/Jochen-Christoph Kaiser (Hg.): Sozialer Protestantismus im Vormärz, (Bochumer Forum zur Geschichte des sozialen Protestantismus; 2) Münster 2001; Jochen-Christoph Kaiser (Hg.): Soziale Arbeit in historischer Perspektive. Zum geschichtlichen Ort der Diakonie in Deutschland. Festschrift für Helmut Talazko zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1998; ders. Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1918 – 1945, München 1989; Ute Gause u. Cordula Lissner (Hg.): Kosmos Diakonissenmutterhaus. Geschichte und Gedächtnis einer protestantischen Frauengemeinschaft, Leipzig 2005 (Historisch-theologische Genderforschung Bd.1), 2. Aufl. Leipzig 2005; Ute Gause, Friederike Fliedner und die Feminisierung des Religiösen im 19. Jahrhundert, in: Martin Friedrich, Norbert Friedrich u. a. (Hg.): Sozialer Protestantismus im Vormärz, Münster 2001, S. 123 – 132; dies., »Frauen entdecken ihren Auftrag« Neue Erträge diakonischer Frauenforschung, in: Cornelia Coenen-Marx (Hg.), Ökonomie der Hoffnung. Impulse zum 200. Geburtstag von Theodor und Friederike Fliedner, Düsseldorf 2001, S. 75 – 92. Bei Ute Gause fließen dabei besonders fruchtbringend die Zugänge der Genderforschung, der Mikrohistorie bzw. Alltagsgeschichte und der oral history ein. Als exponiertes Beispiel dafür sei verwiesen auf: Ute Gause, Gemeindeschwester Olga G. – eine Fallstudie aus dem 19. Jahrhundert, in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des Neueren Protestantismus, Band 36; S. 251 – 262. 3 So begrenzt sich auch die 1997 herausgegebene »Bibliographie zur Geschichte der deutschen evangelischen Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert« bezeichnender Weise eben auch auf diese Jahrhunderte (vgl. Volker Herrmann / Jochen-Christoph Kaiser /Theodor Strohm (Hg.), Bibliographie zur Geschichte der deutschen evangelischen Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 1997). Eine vergleichbare Bibliographie für andere Perioden bzw. Jahrhunderte, also etwa das 16. und 17. Jh., gibt es nicht. Gemeindediakonie des 16. und 17. Jh. ist, sofern es um Diakonie geht, selten im Blick. Was den deutschen Raum betrifft, so ist es vor allem den Arbeiten von Herbert Krimm zu verdanken, dass Diakonie als historischer Untersuchungsgegenstand auch über die Institutionen des 19. und 20 Jh. hinaus Beachtung fand – z. B. gerade auch auf das Zeitalter der Reformation bezogen (vgl. ders., Das diakonische Amt der Kirche, 2. Aufl. Stuttgart 1965; ders. Quellen zur Geschichte der Diakonie, Bd. 2, Stuttgart 1962).

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logischen und kirchengeschichtlichen Forschung bislang eine nur geringfügige oder sehr marginale Rolle spielte.4 Viertens, weil die franz.-prot. (Kirchen-) Geschichtsschreibung selbst diesen Bereich in der Auseinandersetzung mit und wissenschaftlichen Aufarbeitung der eigenen Geschichte des 16. bis 17. Jahrhunderts weitestgehend außer Acht ließ, da die Forschungsschwerpunkte in jener Epoche bislang im Bereich der politischen und religiösen bzw. konfessionellen Konflikte lagen.5 4 Die wenigen wesentlichen Beiträge seien hier erwähnt: In jüngster Zeit haben vor allem Judith Becker und Irene Dingel aus diesen Fachbereichen zum franz. Protestantismus gearbeitet (vgl. Judith Becker, Consistory, Church Order and Congregation in the French Church of London, 1560 – 1600: a History of Interaction, in: International Huguenot Conference 3, 2002, Stellenbosch; dies., La constitution eccl¦siastique de Jean a Lasco pour l’Êglise n¦erlandaise de Londres et son influence en France, in: Yves Krumenacker unter Mitarb. v. Olivier Christin (Hg.), Entre Calvinistes et Catholiques. Les relations religieuses entre la France et les Pays-Bas du Nord (XVIe – XVIIIe siÀcle), Lyon 2010, 59 – 75.; dies., La valeur th¦ologique de l’assistance sociale dans les Êglises d’¦trangers d’Europe occidentale, in: C¦line Borello/Raymond A. Mentzer, Le Protestantisme et les oeuvres en Europe: Institutions et pratiques charitables (XVIe – XIXe siÀcles), Rennes 2013, 25 – 42 (im Druck); Von Irene Dingel vgl. verschiedene Artikel im RGG und anderen Lexika zu Personen und Ereignissen des franz. Protestantismus sowie: dies., Entstehung der Evangelischen Franzöisch-reformierten Gemeinde Frankfurt: theologische und ekklesiologische Aspekte, in: Georg Altrock / Hermann Düringer / Matthias von Kriegsstein / Karin Weintz (Hg.): Migration und Modernisierung, Frankfurt am Main, 2006, S. 53 – 72.) Zu den wenigen älteren Beiträgen zählen: Joseph Chambon, Der Französische Protestantismus. Sein Weg bis zur Französischen Revolution, München (4. Aufl.)1939; Hannelore Jahr : Studien zur Überlieferungsgeschichte der Confession de foi von 1559 (Beiträge zur Geschichte und Lehre der Reformierten Kirche, XVI) Neukirchen-Vluyn 1964; Hans Scholl, Glaube und Spiritualität der Hugenotten, Sickte 1986; AIasdair C. Heron, Der Geist des französischen Protestantismus, in: Moderamen der Evangelisch-Reformierten Kirche in Bayern (Hg.), Gedanken zur Aufnahme der Hugenotten in Franken vor 300 Jahren, Nürnberg 1986, S. 34 – 44 und schließlich die Arbeiten von Hartmut Kretzer, der obwohl der der philosophischen Fakultät zuzuordnen ist, sich theologisch und kirchengeschichtlich mit dem franz. Protestantismus auseinandergesetzt hat (vgl. der., Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, Berlin 1975; ders., Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 59 – 71, in: ders., Calvinismus versus Demokratie respektive »Geist des Kapitalismus«? Studien zur politischen Theorie und zur Sozialphilosophie des französischen Protestantismus im 17. Jahrhundert, Oldenburg 1988). Ähnlich gilt das auch für den Historiker Rudolf von Thadden mit seinem Beitrag: Vom Glaubensflüchtling zum preußischen Patrioten, in: Thadden, Rudolf von / Magdelaine, Michelle (Hg.): Die Hugenotten 1685 – 1985, München 1985, S. 186 – 197. 5 Zu diesen traditionell dominierenden Themenbereichen und Aspekten vgl. als eines der jüngeren Beispiele, das 16. Jh. betreffend: Denis Crouzet, La genÀse de la R¦forme franÅaise 1520 – 1562, Paris 1996. Auch Im Beitrag von Marianne Carbonnier-Burkard über den franz. Protestantismus des 16. Jh. stehen diese Aspekte im Vordergrund, wenn auch vergleichsweise wesentlich weniger (vgl. dies.: Le XVIe siÀcle, in: Dubief, Henri/Poujol, Jaques (Hg.): La France Protestante. Histoire et Lieux de m¦moire, Montpellier 1992, S. 19 – 52). Zum 17. Jh. vgl. zu der Literatur bis 1985 die Überblicksdarstellung von Jean Baub¦rot, Le tricentenaire de la r¦vocation de l’¦dit de Nantes. Historiographie et comm¦moration, in: Archives de Sciences Sociales des Religions 1986 (62/2), S. 179 – 202. Zu früheren Arbeiten über den Protestantismus des 16. Jh. und 17. Jh. vgl. z. B. die Literaturangaben mit den genannten klassischen

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Das zu Beginn der Einleitung stehende Zitat »…une ¦glise qui a toujours ¦t¦ la mÀre nourriciÀre des pauvres.«6 , das aus der Feder des Pfarrers Palmi¦ der Berliner Hugenottengemeinde stammt und der (eigenen) Kirche die Rolle »als Mutter der Armen« zuschreibt, ist nicht etwa nur eine zufällige subjektive Meinungskundgebung, sondern kennzeichnet in einem Satz das diakonische und ekklesiologische franz.-ref. Selbstverständnis, das sich wie ein roter Faden durch die hier dargestellte Geschichte vom Ursprung der französischen Reformation bis zur Aufhebung des Edikts von Nantes durch das Edikt von Fontainebleau im Jahr 1685 hindurchzieht und darüber hinaus auch im Refuge, so jedenfalls beispielsweise in Berlin,7 in Geltung blieb. So konstant wie dieses Zitat in jeweils nur leicht abgewandelter Form im Verlauf von drei Jahrhunderten immer wieder begegnet8 und damit ein Selbstverständnis spiegelt, das das Verhältnis zwischen Kirche und Armen auf diese Weise definiert9 und dabei das Modell einer an die Gemeinde angebundenen Armenfürsorge repräsentiert und favorisiert, so impliziert diese symbolische Aussage doch auch gleichzeitig, ohne ursprünglich in ihrem Entstehungszusammenhang bzw. von seinem Autor so beabsichtigt, die ganze Ambivalenz dieser Verhältnisbestimmung. Denn mit dem Anspruch der Fürsorge verbindet sich mitunter auch der Anspruch der Herrschaft, wie im Verlauf der Darstellung an dem ein oder anderen Punkt deutlich werden wird und auch im Untertitel schon anklingt: »Diakonie zwischen Ohnmacht, Macht und Bemächtigung.«

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Themen bei: Otto-Erich Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, in: Moeller, Bernd (Hg.): Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 3, Göttingen 1975, S. 135 – 191. In der neueren von Antony McKenna herausgegebenen Reihe vie des huguenots (»Leben der Hugenotten«), die sich bewusst einem breiteren Themensprektrum widmen will und damit neue Forschungsperspektiven aufgreift, finden wir neben alltagsgeschichtlichen, geistesgeschichtlichen und institutionsgeschichtlichen Themen des franz. Protestantismus des 16. und 17. Jh. unter anderem auch wieder traditionelle Themen vor, wenn gleich anders aufgearbeitet, z. B.: Emile Kappler, Les conf¦rences th¦ologiques entre catholiques et protestants en France au XIIe siÀcle, (Vie des huguenots 59) Paris 2011 und Nicolas Piqu¦, De la tradition — l’histoire – El¦ments pour une g¦n¦alogie du concept d’histoire — partir des controverses religieuses en France 1669 – 1704, (Vie des huguenots 59) Paris 2009. »…eine Kirche, die immer die Nährmutter/Ziehmutter/Pflegemutter/Ernährerin der Armen gewesen ist.« – J. Palmi¦, in: Commission, Discours pour la pose de la pierre fondamentale de la nouvelle infirmerie, Berlin 1805, S. 6. Fast identisch vom Wortlaut her drückt sich beispielsweise bereits der Berliner Pfarrer und Philosoph J. H. S. Formey in einer Predigt von 1747 anlässlich der dortigen Einweihung der Êcole de Charit¦ (»Schule der Nächstenliebe« / »Armenschule«) aus (vgl. in Kürze veröffentlicht: G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin). Vgl. die Angaben unter der vorangehenden Fußnote und den Text auf S. 84 f. und S. 277 f. Die Definition der Kirche als »Mutter der Armen« drückt erstens eine Beziehungsdimension aus und entspricht der face-to-face-Dimension der von den Hugenotten praktizierten Armenfürsorge bzw. Gemeindediakonie und zweitens spiegelt sich darin ein starkes Verantwortungsbewusstsein, gemäß dem Nächstenliebe nicht delegiert werden kann, was sich auch in der Predigt Calvins entsprechend durch die Formulierung »Dein Armer« artikulierte, wie wir noch weiter unten sehen werden unter Kap. 3.1.3.

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Die Problemanzeige in diesem Untertitel will auf die Frage der Macht bezogen aber vor allem auf einen Fokus hinweisen, dem in der vorliegenden Analyse besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, nämlich der Frage nach den jeweiligen realen Machtverhältnissen und Rahmenbedingungen franz.-ref. diakonischer Existenz, die anders aussahen als wie z. B. im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen. Hier spielen gerade auch die Dimension der Diaspora-Existenz10 sowie Aspekte der Minoritäten- und Migrationsgeschichte11 eine entscheidende Rolle in der Prägung des jeweiligen diakonischen Gesichtes. Im Blick auf »Das diakonische Engagement der Hugenotten in Frankreich – von der Reformation bis 1685« galt es besonders herauszuarbeiten: Welche historischen Erfahrungen, Traditionen und Überlieferungen im Bereich von diakonischer Praxis und Theorie bzw. Theologie haben sich im französischen Protestantismus im Verlauf des 16. und 17. Jh. herausgebildet? Von welchen Faktoren und jeweiligen Machtverhältnissen war das abhängig? Lassen sich dabei vielleicht auch bestimmte Perioden unterscheiden? Welches Gewicht kommt den ersten in Straßburg und Genf oder auch andernorts befindlichen Exilgemeinden und der Minoritäten- bzw. Untergrundsituation für die Herausbildung und die Art und Weise des diakonischen Engagements und der entsprechenden Theologie zu? Ob und inwieweit die spezifisch franz.-ref. Tradition einer vornehmlich offenen Gemeindearmen- und Krankenfürsorge sowie eines in der Gemeindeleitung verankerten Diakonenamtes und die besondere historische Erfahrung, selbst zu einer verfolgten Minderheit gehört zu haben, nicht nur in Frankreich selbst ihre Wirkung entfaltet haben, sondern darüber hinaus auch im Refuge einen besonderen Einfluss auf das diakonische Engagement und seine Gestalt ausgeübt haben und sich dadurch auch abgehoben haben mögen von der Armen- und Krankenfürsorgepraxis jener Epoche und welche Funktion die franz.-ref. Theologie hierbei eingenommen hat, findet sich an anderer Stelle am

10 Die Kategorie der Diaspora-Existenz findet im Kontext der von E. Birnstiel vorangetriebenen Geschichtsforschung der Hugenotten gerade auch auf das Refuge bezogen ihre Anwendung als Deutungskategorie (vgl. ders. / Chrystal Bernat, La diaspora des huguenots, Paris 2001). Der Begriff meint die Existenzbedingungen einer christlichen Minderheit. Ob der Begriff wirklich glücklich gewählt ist, da ihm doch etwas von konfessionalistischer Perspektive anhaften könnte, mag dahingestellt sein. 11 Es lässt sich ein Perspektivwechsel in der Hugenottenforschung beobachten, der sich vor allem seit etwa 1985 wegbewegt von traditioneller Legendenbildung und heilsgeschichtlichen Mythen, sowie konfessionalistischer Verengung, hin zu einer politisch, religionssoziologisch und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Minderheits- und Migrationsgeschichte (vgl. hierzu bes. U. Niggemann, Hugenotten, S. 7 f. u. Manuela Böhm / Jens Häseler / Robert Violet, Hugenotten zwischen Migration und Integration. Neuere Forschungen zum Refuge in Berlin und Brandenburg, dortige Einleitung, S. 9 – 19).

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Beispiel des Refuge von Berlin dargelegt.12 Im Blick auf das Refuge im Heiligen Römischen Reich deutscher Nationen gab es in der Vergangenheit auch einzelne auf andere Städte oder Regionen bezogene Beiträge, jedoch genügen sie nicht unbedingt wissenschaftlichen Ansprüchen und sind meist sehr unsystematisch aufgebaut.13 Auch im englischen Refuge knüpfte man in London und andernorts offenbar an die im Heimatland Frankeich zugrunde gelegten Traditionen und Praktiken sowie an das dort herausgebildete eigene diakonische Selbstverständnis an14 und leistete dadurch, wie jüngst von R. Vigne herausgearbeitet, ähnlich wie in Berlin, einen eigenen Beitrag zur Entwicklung des Armenwesens in England.15 Die vorliegende Darstellung liefert also einen Längsschnitt franz.-ref. Diakoniegeschichte vom 16. bis zum 17. Jh. und füllt dadurch eine bislang existierende Forschungslücke. Auch wenn M. Dinges und R. A. Mentzer neuerlich wichtige Beiträge zur franz.-ref. Armenfürsorgepraxis des 16. bzw. 17. Jh. geliefert haben16 und noch in diesem Jahr auch ein aus einer Tagung hervorgegangener Sammelband erscheinen soll, der neben anderen Studien auch verschiedene Beiträge zur Armenfürsorge des franz. Protestantismus unterschiedlicher Epochen vereinigt,17 so fehlt es bisher an einer systematischen und auf breiterer Basis fußenden Darstellung, die für sich eine gewisse Repräsenta12 Vgl. in Kürze veröffentlicht: G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 13 Vgl. H. Tollin, Zur hugenottischen Armenpflege, insbesondere in Magdeburg, in: Die Französische Kolonie, 1893, Nr. 9, S. 157 – 163; 1894, Nr. 1, S. 1 – 4; 1894, Nr. 2, S. 21 – 27; S. 88 – 94 u. 100 – 106; Th. Barrelet, Das Liebewesen der Diakonie in der französisch-reformierten Gemeinde zu Hamburg; J. Desel, Die Anfänge der Armenfürsorge in den Französisch-Reformierten Gemeinden Hofgeismar. 14 Vgl. z. B. Charles F.A Marmoy,L’entraide des r¦fugi¦s franÅais en Angleterre, in: Bull SHPF (115) 1969, S. 591 – 604; ders., The Case Book of ›La Maison De Charit¦ de Spittlefields‹ 1739 – 41, London 1981; ders., The ›Pest House‹, 1681 – 1717: predecessor of the French Hospital, in: Proceedings oft he Huguenot Society XXV (4) 1992, S. 385 – 399; Scouloudi, IrÀne: L’aide apport¦e aux r¦fugi¦s protestants franÅais par l’Êglise de Threadneedle Street, l’Êglise de Londres, 1681 – 1687, Bull SHPF (115) 1969, S. 429 – 444. 15 Vgl. Randolph Vigne, Dominus Providebit. Huguenot Commitment to Poor Relief in England, in: Anne Dunan-Page (Hg.): The religious culture of the huguenots, 1660 – 1750, Wiltshire 2006; S. 69 – 86. 16 Vgl. Martin Dinges, Huguenot poor relief and health care in the sixteenth and seventeenth centuries, in: Raymond A. Mentzer (Hg.): Society and Culture in the Huguenot world (1559 – 1685), Cambridge (2002) 2. Aufl. 2007, S. 157 – 174; Mentzer, Raymond A., Organizational endeavour and charitable impulse in sixteenth-century France: The care of protestant N„mes, in: French History (5, 1) 1991, 1 – 29; Raymond A. Mentzer, L’organisation de la charit¦ protestante dans la France du XVIe siÀcle: le cas de N„mes, in: Raymond A. Mentzer : La Construction de l’identit¦ r¦form¦e aux XVIe et XVIIe siÀcles : le rúle des consistoires , (Vie des huguenots 37), Paris 2006, S. 153 – 191. 17 C¦line Borello / Raymond A. Mentzer, Le Protestantisme et les oeuvres en Europe: Institutions et pratiques charitables (XVIe – XIXe siÀcles), Rennes 2013 (im Druck).

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tivität beanspruchen darf. Erst sie bietet auch eine Gewähr dafür, dass künftige etwaige Vergleiche und Rückbezüge des diakonischen Engagements der Hugenotten im europäischen Refuge, wie etwa in England oder Berlin, in Relation zum Ursprungsland Frankreich nicht ins Leere gehen, spekulativ, nebulös oder inkorrekt erscheinen, weil sie vielleicht von falschen Voraussetzungen ausgehen würden. Damit die vorliegende Darstellung diakonischer Praxis der Hugenotten auf möglichst breiter Basis fußt und tatsächlich eine gewisse Repräsentativität beanspruchen kann, sind die Erkenntnisse eines umfangreichen Studiums der Literatur (insbesondere vieler Lokal- und Spezialstudien) ergänzt worden durch eigene Archivrecherchen, unterschiedliche Regionen betreffend.18 Die hier in einem zweiten Teil anschließend vorgestellten diakonischen und sozialethischen Aussagen Calvins und anderer französischer Reformatoren des 16. Jh., wie auch die aus franz.-prot. Hochschulliteratur und aus Predigten des 17. Jh. werden in die zeitgeschichtliche politische, soziale und wirtschaftliche Situation eingeordnet. Die Theorie wird also nach bereits erfolgter Darlegung des praktischen diakonischen Engagements der Hugenotten historisch kontextualisiert und schließlich auch gegenseitig verschränkt (vgl. Kapitel 3 und 4). Die Darstellung insgesamt versteht sich dabei als Studie, die unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen tangiert, so wie unterschiedliche Forschungsperspektiven vereinigt und auch gleichzeitig mehrere Gegenstände historischer und theologischer Forschung berührt. Sie leistet zum einen eine wichtige Ergänzung zur Armuts- und Armenfürsorgegeschichte Europas, insbesondere was die private bzw. kirchliche Armenfürsorge betrifft. Das geschieht unter Berücksichtigung des Minderheiten- bzw. Diasporastatus, der in neuerer Zeit aktualitätsbedingt stärkere Beachtung in der Geschichtsschreibung auf diesem Feld gefunden hat.19 Hierbei spielt die Verhältnisbestimmung des diakonischen Engagements zu dem, was die Geschichtswissenschaft »Sozialdisziplinierung« (G. Oestreich) nennt,20 ebenso eine Rolle wie die Einordnung oder Zuordnung zu 18 Hier sind neben anderen Archiven insbesondere zu nennen: Archives Nationales (Paris) (A.N.); Archives d¦partementales du Gard (N„mes) (A.D.G); Archives de L’Êglise R¦form¦e de N„mes (A.E.R.N.) und Archives d¦partementales de l’H¦rault (Montpellier) (A.D.H). 19 U. Niggemann, Hugenotten, S. 7 f. und Fußnote 11. 20 Vgl.Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55, 1969, S. 329 – 347, Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff »Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit«, Zeitschrift für historische Forschung Bd. 14, 1987, S. 264 – 301, bes. S. 279 f. Zur »Sozialdisziplinierung« und ihre Relevanz für die Armenfürsorge vgl. besonders: Robert Jütte, Disziplinierungsmechanismen in der städtischen Armenfürsorge der Frühneuzeit, in: Christoph Sachße / Florian Tennstedt (Hg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt/Main 1986, S. 101 – 118. Umfassend: Christoph Sachße / Florian Tennstedt (Hg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt/Main 1986. Kritisch: Dinges, Martin: Frühneuzeit-

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dem, was unter dem Stichwort »Konfessionalisierung« (H. Schilling, W. Reinhard) diskutiert wird.21 Darüber hinaus ist die Untersuchung ein Beitrag zur Erforschung der Hugenottengeschichte, der es oftmals an theologischen und diakonischen Perspektiven und Fragerichtungen fehlt (s. o.) und die dadurch bislang zwangsläufig unvollständig geblieben ist. In theologischer und religionssoziologischer Perspektive nimmt die Darstellung deshalb unter anderem auch mehrfach Bezug auf die sogenannte MaxWeber-These, sowohl im Blick auf die Korrektur von Klischees22, als auch im Blick auf Verifikation und Falsifikation der These auf die jeweils konkrete historische Situation und Theologie des franz. Protestantismus bezogen. Auch das Verständnis der Sozialethik und der theologischen Begründung des Diakonenamtes bei Calvin selbst – so viel sei vorweg gesagt – erfährt dahingehend eine Korrektur, als dass deutlich werden wird, dass es ihrerseits bereits Produkt der Minderheitssituation und damit verbundenen diakonischen Praxis ist bzw. Antwort darauf und weniger umgekehrt. Hier wird offenbar, dass Kirchengeschichte immer nur auf dem Boden weltlicher Geschichte vollständig verstanden werden kann, ihr nicht entfliehen kann und sich nicht selten sogar unmittelbar von ihr ableitet.23 Gerade in dem entsprechenden Kapitel über den Ursprung des franz.-ref. Diakonenamtes, in dem auch Calvins Rolle diskutiert wird, wird erkennbar, wie absurd ihre Abkoppelung von den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen und eine Reduzierung auf die rein geistlichtheologische Innovationskraft Calvins wäre. Am Beispiel der Entwicklung des Diakonenamtes bei den Hugenotten wird deutlich, wie sehr das Sein das Bewusstsein prägte und dort auch die Geburtsstunde des Diakonenamtes selbst eingeläutet hatte. Damit verbindet sich liche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung: Probleme mit einem Konzept. In: Geschichte und Gesellschaft 17, 1991, S. 5 – 29; Schmidt, Heinrich Richard: Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), S. 639 – 682. Zum Thema »Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung« vgl. den als Beiheft der Zeitschrift für historische Forschung herausgegebenen Band von Heinz Schilling (ders., Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung) und zur Frage der Abgrenzung und des Zusammenspiels dort besonders: H. Schilling, Die Kirchenzucht im frühneuzeitlichen Europa, S. 16 f. und Martin Brecht, Protestantische Kirchenzucht, S. 41 – 48. 21 Vgl. Heinz Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung, Gütersloh 1981; Wolfgang Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Zeitschrift für Historische Forschung 10, 1983, S. 257 – 277. 22 Sowohl, was den (franz.) Calvinismus als auch was die These von Max Weber selbst betrifft, haben die Debatten und Adaptionen der These manchmal eher zur unlauteren Simplifizierung und Verwirrung beigetragen als zu einem tieferen Verstehen. 23 In dieser Weise recht verstanden ist Kirchengeschichte Weltliche Kirchengeschichte (vgl. Rudolf von Thadden, Weltliche Kirchengeschichte: ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1989, bes. S. 11 – 49).

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schließlich auch die These, dass die äußere Situation der Konfessionszugehörigen des franz. Protestantismus bzw. Calvinismus, nämlich zu einer verfolgten Minderheit zu gehören, ein anderes diakonisches Engagement im Bereich der Armen- und Krankenfürsorge herbeigeführt hat als wie wir es vielleicht von den deutschen lutherischen Gemeinden und Städten kennen. Dem Diaspora- bzw. Minoritätsstatus wird also hier voll und ganz Rechnung getragen. Das französische Zitat zu Beginn der Einleitung deutet auch darauf hin, dass in der Darstellung eine Brücke zwischen zwei Sprachen bzw. Kulturen geschlagen wird – alle französischen Texte und Zitate aus Originalen und Handschriften sind ebenso eigens übersetzt wie Beiträge aus der Sekundärliteratur und verstehen sich als Hilfestellung für den Leser/die Leserin. Die Übersetzung dient dem wissenschaftlichen Dialog bzw. Transfer gerade in deutsch-französischer und europäischer Perspektive. So fließen z. B. auch die historiographischen Ansätze und Methoden der französischen Êcole des Annales ein, wo etwa die Ergebnisse der von W. J. Pugh statistisch ausgewerteten Testamente der katholischen und protestantischen Konfessionen in Lyon und N„mes24 für die vorliegende Darstellung transparent und fruchtbar gemacht werden. Auch hier vollzieht sich also ein Wissenschaftstransfer (hier auf die Methoden bezogen), der auch die deutsche Kirchen- und Diakoniegeschichtsschreibung hoffentlich weiter anregen wird. Hieran wird wiederum deutlich, dass sich die vorliegende Darstellung der Diakoniegeschichte des franz. Protestantismus mithin als ein Stück Alltagsgeschichte versteht, die zwar in den letzten drei Jahrzehnten grundsätzlich an Bedeutung in der Geschichtswissenschaft gewonnen hat,25 aber nach wie vor ein unerschöpfliches Desiderat darstellt und insbesondere im Bereich der Kirchengeschichte bislang vergleichsweise wenig Aufnahme gefunden hat, wenngleich es hierfür neuerlich gerade aus dem Bereich der Diakoniegeschichte des 19. Jh. und 20 Jh. einige sehr positive, richtungsweisende Beispiele gibt.26 Auf methodischer Ebene stellt sich damit auch die Frage, wie verlässliche 24 Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth -Century Lyon and N„mes, S. 479 – 504; dies., Social Welfare and the Edict of Nantes, S. 349 – 376. 25 Zur Alltagsgeschichte als historiographische Forschungsperspektive vgl.: G. G. Iggers., Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, S. 73 – 87, besonders 75 u. 78. 26 Vgl. Ute Gause u. Cordula Lissner (Hg.): Kosmos Diakonissenmutterhaus. Geschichte und Gedächtnis einer protestantischen Frauengemeinschaft, Leipzig 2005 (Historisch-theologische Genderforschung Bd.1), 2. Aufl. Leipzig 2005; Ute Gause, Friederike Fliedner und die Feminisierung des Religiösen im 19. Jahrhundert, in: Martin Friedrich, Norbert Friedrich u. a. (Hg.): Sozialer Protestantismus im Vormärz, Münster 2001, S. 123 – 132; dies., »Frauen entdecken ihren Auftrag« Neue Erträge diakonischer Frauenforschung, in: Cornelia CoenenMarx (Hg.), Ökonomie der Hoffnung. Impulse zum 200. Geburtstag von Theodor und Friederike Fliedner, Düsseldorf 2001, S. 75 – 92. Dies., Gemeindeschwester Olga G. – eine Fallstudie aus dem 19. Jahrhundert, in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des Neueren Protestantismus, Band 36; S. 251 – 262.

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Aussagen über das Gepräge diakonischer Praxis und Theorie sowie über die damit korrespondierende Sozialethik und Theologie der Diakonie innerhalb des franz. Protestantismus des 16. und 17. Jh. gemacht werden können, die sowohl über eklektisch gesammelte Aussagen der durch wenige exponierte Vertreter grundgelegten geistlichen Basis rein ideengeschichtlicher bzw. geistesgeschichtlicher Art hinausgehen als auch über eine Institutionsbeschreibung, die lediglich auf der Grundlage der Beschreibung überlieferter Reglements vorgenommen wird, wie traditionell oftmals geschehen.27 Für ein wirklichkeitsnahes und an der Alltagsgeschichte orientiertes Bild werden sowohl Schriftwechsel von Institutionen mit den staatlichen Autoritäten, als auch Analysen von Testamenten und Predigten wie auch Protokollbücher von Kirchengemeinden und Synoden, Akten von in den achtziger Jahren des 17. Jh. durch die staatlichen Behörden vorgenommenen Konfiszierungen protestantischer Besitztümer, Gesetzestexte und weitere Akten, die von der Praxis der Institutionen und ihrer weiteren Entwicklung zeugen, herangezogen. Dabei wird vieles in der Sekundärliteratur zerstreut Vorfindliches zusammengetragen, so z. B. besonders, was die franz.-prot. Armenschulen betraf oder die Versorgung von Kranken, so dass sich ein Gesamtbild ergibt, das als vorläufige Synthese gelten kann. Eng mit der Alltagsgeschichte verknüpft ist der Ansatz der sogenannten »microstoria« (Mikrogeschichte), die die Historie aus dem Blickwinkel eines Mikrokosmos beschreibt, Auswirkungen bzw. Wechselwirkungen der Geschichte von Makrokosmos und Mikrokosmos versucht zu erfassen28 und eigentlich noch mal abzusetzen ist von dem allgemeinen Begriff der Alltagsgeschichte bzw. eines solchen Forschungsansatzes.29 Beide geschichtswissenschaftlichen Perspektiven fließen hier auf die jeweilige Situation in Frankreich bezogen punktuell bereits ein, die letztere aber vor allem in dem Teil, der sich an anderer Stelle auf den Bereich des Berliner Refuge konzentriert und in Kürze als 27 Vgl. z. B. William J Wright: A Closer Look at House Poor Relief through the Common Chest andIndigence in Sixteenth Century Hesse, in: Archiv für Reformationsgeschichte, Jg. 70, 1979, S. 225 – 238; Marc Lechner, Le christianisme social de Jean Calvin, Genf 1954. 28 Zu klassischen Beispielen der Mikrogeschichte oder Mikrohistorie vgl.: Carlo Ginzburg,Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Frankfurt 1979; Emmanuel Le Roy Ladurie: Montaillou: Ein Dorf vor dem Inquisitor. Frankfurt 1980; Natalie Zemon Davis, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, Frankfurt 1989. 29 Mit der Alltagsgeschichte eng verbunden ist die sogenannte Mikrohistorie, die G. G. Iggers gleichsetzt mit Alltagsgeschichte (siehe ebd.), aber eigentlich davon noch mal abzuheben und zu differenzieren ist (vgl. C. Ginzburg und C. Poni, Was ist Mikrohistorie? S. 48 – 52; Medick. Entlegene Geschichte?, S. 360 bis 369 (bes. S. 364 f.) und G. Levi, On Microhistory, S. 114 – 139. Zur weiteren Diskussion siehe auch: Alf Lüdtke: Alltagsgeschichte, MikroHistorie, historische Anthropologie. In: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs. Reinbek 1998, S. 565 – 567; Hans Medick: Mikro-Historie. In: Winfried Schulze (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion. Göttingen 1994, S. 40 – 53.

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Dissertation veröffentlicht wird.30 Dieser Teil wird im Übrigen nicht nur eine an Protokollbüchern und Briefwechseln orientierte Institutionsbeschreibung enthalten, sondern auch eine statistische Analyse von Diaconat-Protokollen und eine inhaltlich-statistische Analyse von 217 in Berlin gehaltenen hugenottischen Predigten, so dass hier beide methodischen Ansätze voll zum Zuge kommen.31 »Die Hungrigen schreiben selten Geschichte, und Historiker sind selten hungrig« – so versuchen S. Millman und R. W. Kates zu erklären, weshalb die »Geschichte des Hungers, elementares Kernstück jeder Armutsgeschichte« bislang zum größten Teil noch ungeschrieben sei.32 Die vorliegende Darstellung beansprucht nicht, aus dem Blickwinkel der Betroffenen zu schreiben oder als ihr Sprachrohr zu dienen. Dazu fehlen in der Tat die Zeugnisse der Betroffenen selbst. Aber es wäre viel gewonnen, wenn sie auch innerhalb der theologischen Zunft dafür sorgt, dass nicht nur der Blick für die Gegenwartsnöte der Armen und Hungernden in der Einen Welt geschärft wird, sondern ihre Wirklichkeit und die Haltung ihnen gegenüber auch für die Kirchengeschichte des 16. bis 17. Jh. kritisch in den Blick genommen wird, ohne allerdings in reiner political correctness bzw. Gesinnungsmoral aufzugehen, die niemandem dienlich ist. Wenn die Begrifflichkeit des Diakons, sowie des Diakonats und der Diakonie auch für die Zeit des 16. und 17. Jh., die den Untersuchungszeitraum darstellt, Anwendung findet, obwohl sie primär mit der verfassten Kirche und Diakonie des 19. und 20. Jh. verbunden wird, dann nur deshalb, weil die Quellen selbst das so nahelegen. Es handelt sich hierbei also nicht um einen Anachronismus. Im diakonischen Engagement des franz. Protestantismus des 16. und 17. Jh. begegnet uns vor allem ein spannungsreiches Modell von dem, was man wohl am ehesten als Gemeindediakonie bezeichnen würde, auch wenn sich keineswegs das gesamte diakonische Engagement der Hugenotten ausschließlich darunter subsummieren lässt, wie in der Darstellung deutlich werden wird. Das im Vergleich zu deutschen Gemeinden historisch anders bedingte und spezifisch ausgeprägte Modell hugenottischer Gemeindediakonie, als deren Charakteristika die Face-to-Face Begegnung und die diakonische Eigenverantwortung gelten können, das hier im Schatten der Mainstream-Geschichtsschreibung und deutsch-zentrierten Kirchengeschichtsschreibung wie aus dem Staube ersteht, ist als Modell für heute gewiss nicht eins zu eins übertragbar, aber wird doch auch zur Anfrage an heutige diakonische Existenz, deren Eigendynamiken und gesellschaftliches Eingebunden Sein dazu geführt haben, dass auf der einen Seite eine Delegation an das Spezialistentum existiert und dominiert und auf der 30 Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 31 Siehe ebd. 32 Zitiert nach W. Hippel, Armut, Unterschichten und Randgruppen in der frühen Neuzeit, S. 59.

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Einleitung – blinde Flecken und historiographische Einordnung

anderen Seite viele Menschen heute die Glaubwürdigkeit und Relevanz kirchengemeindlicher Existenz für ihr persönliches Leben einklagen, weil sie die soziale Dimension vermissen wie zugleich nach der spezifischen Spiritualität derselben fragen. Sicherlich kann die Lösung nicht der »Rückzug ins Stammesleben« (Richard Sennet) bedeuten, aber diakonische Gestaltung und sozialethische Verantwortung in der Gemeinde wie auch außerhalb derselben wird gefragt sein, bei ihren jeweiligen Optionen die Face-To-Face-Beziehung so wie Würde und Persönlichkeit der Betroffenen nicht aus den Augen zu verlieren. Wer für die Notleidenden und Armen sprechen und handeln will, muss sie kennen. Wer Ausschließung gesellschaftlich verhindern will, der muss sich der Konfrontation und Begegnung mit Betroffenen vor Ort stellen.

2.

Diakonische Praxis im französischen Protestantismus von der Reformation bis 1685

2.1

Methodische Vorüberlegungen und Phaseneinteilung

Keine Geschichte fängt bei null an oder fällt vom Himmel. Das gilt auch für die Geschichte des diakonischen Engagements innerhalb des franz. Protestantismus. Diakonie als Christuszeugnis verstanden, trägt zwar per definitionem immer einen transzendenten Impetus in sich und mag gelegentlich sogar einen die unmittelbare Wirklichkeit transzendierenden Impuls von sich geben. Aber gerade wenn Diakonie nicht zu einer Ideologie – gleich welcher Art – verkommen möchte und ebensowenig in erstarrter Gegenwart verharren will, ist es ratsam, einen Blick in ihre geschichtliche Wirklichkeit zu werfen. Das ermöglicht nicht nur, ihren strukturell und zeitgeschichtlich bedingten Rahmen offen zu legen und eingedenk dessen dadurch Gegenwart vielleicht konstruktiv mitzugestalten, sondern auch, in den Spiegel dessen zu schauen, was F. Braudel als die »longue dur¦e«33 der geschichtlichen Zeit bezeichnet hat, wo der Mensch sich in längerfristigen Bedingtheiten und seinem Herkommen wahrnehmen kann. Erstaunen, Erschrecken, Entdecken oder einfach Verstehen mag sich dann als Folge dieses geschichtlichen Blicks einstellen. Es geht um die Frage nach dem diakonischen Selbstverständnis der Hugenotten in Frankreich, nach ihrem Verhalten und Denken im diakonischen Bereich und nach dessen gesellschaftspolitischen Bedingungen. Das Jahr 1685 ist nicht nur für den franz. Protestantismus als solchem, sondern auch auf dessen diakonisches Engagement bezogen, historisch sehr bedeutsam, da durch die Rücknahme des Ediktes von Nantes der Protestantismus in Frankreich für nicht existent erklärt und endgültig die massenweise Flucht der franz. Protestanten bewirkt wurde34 und durch das Edikt von Potsdam desselben 33 Siehe z. B. in: F. Braudel, La M¦diterran¦e; vgl. dazu auch die Erläuterungen bei G. G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, S. 41 – 50, bes. S. 46. 34 Franz.-prot. Flüchtlinge gab es bereits ab dem 16. Jh. in europäischen und deutschen Städten. Eine besondere Bedeutung unter diesen frühen Exilgemeinden hatte die Frankfurter Ge-

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Jahres ein Teil der dann ca. 150.000 bis 200.000 insgesamt geflüchteten franz. Protestanten auch in Brandenburg-Preußen Aufnahme gefunden hatte. Die Geschichte für den Bereich der Diakonie vor 1685 zu erheben und darzustellen, wirft einige Probleme auf. Wie bereits erwähnt, gibt es für den gesamten Zeitraum von der Entstehung des franz. Protestantismus bis zum Jahr 1685 bislang keine geschlossene Darstellung über seine Diakoniegeschichte. In größeren- oder Gesamtdarstellungen dieser Periode wird franz.– prot. Diakonie und Armenfürsorge sowohl von katholischen als auch von protestantischen Autoren entweder in wenigen Zeilen oder auf wenigen Seiten abgehandelt35 oder sogar völlig ignoriert36. Das wird von manchen Forschern gelegentlich auch beklagt, aber nicht weiter ergründet.37 meinde erhalten. An dieser Stelle sei nur verwiesen auf M. Magdelaine (dies., Drehscheibe des Refuge, S. 26 – 37). Ausführlicher werden diese Gemeinden in Kapitel 5 der Arbeit behandelt. Der massenweise Auswanderungsstrom setzte in den achtziger Jahren – spätestens 1685 – bereits vor dem Rücknahmeedikt vom 8. Oktober 1685 und dem Potsdamer Aufnahmeedikt vom 29. Oktober ein. Das lässt sich z. B. der Arbeit von C. Holtz über die franz.prot. Armenunterstützungen in Genf (1684 – 1686) entnehmen (vgl. dies., La Bourse franÅaise de GenÀve, S. 448 f.) 35 Vgl. z. B. S. Mours, Le Protestantisme en France au XVI siÀcle, Bd. 1, S. 30 – 31; J. EstÀbe (identisch mit J. Garrisson-EstÀbe bzw. J. Garrisson), Vers une autre religion, S. 105 – 107; E. Labrousse, Calvinism in France, 1598 – 1685, S. 290/291; J. Garrisson-EstÀbe, L’Homme protestant, S. 185 – 188; dies., protestants du midi, S. 255 – 262. In dem 246 Seiten umfassenden Buch von M.-E. Richard, mit dem beansprucht wird, den Alltag der französischen Protestanten in der Zeit von 1598 bis 1789 zu beschreiben, sind dem Thema Armenfürsorge bzw. Diakonie nur 1 12 Seiten gewidmet (vgl. ders., La vie des protestants franÅais, S. 22 f.). Die Erstauflage von 1966 war noch unter dem Titel »La vie quotidienne des protestants franÅais« (»das Alltagsleben der Protestanten…« erschienen (vgl. ders, La vie quotidienne des protestants franÅais) und wurde bezeichnenderweise später abgeändert. Die Titelveränderung in: »Das Leben der französischen Protestanten…« scheint vom Unbehagen zu zeugen, das der Autor oder Herausgeber wohl selbst gespürt haben muss, als er die Diskrepanz zwischen Inhalt und Buchtitel wahrnahm. 36 So z. B. bei D. Ligou, Le protestantisme en France de 1598 — 1715. In einem Beitrag von M. Prestwich über den Einfluss Calvins auf den franz. Protestantismus und die Kirchenordnung bzw. Einführung der Consistoires in Frankreich, ist kein Wort über die Diacres oder deren Aufgabenfelder zu finden, obwohl sie neben den Ältesten und den Pastoren Mitglieder der Consistoires waren (vgl. dies., Calvinism in France, 1555 – 1629, S. 71 – 107). Wie soll man aber die Entwicklung hin zu einer Verbreitung der Consistoires in Frankreich verstehen, wenn gar nicht klar ist oder zumindest nicht erläutert wird, was sie inhaltlich, abgesehen von einer äußeren Durchsetzung der Akzeptanz, Macht und Einflussnahme des Calvinismus, eigentlich bedeuteten? Als Erklärung, warum sich gerade diese Kirchengestalt durchgesetzt hat, reicht m. E. jedenfalls der alleinige Verweis auf die Bedeutung der städtisch-bürgerlichen Trägerschaft bzw. Elite (vgl. dies., a.a.O., S. 80) nicht aus. In der aus katholischer Perspektive geschriebenen »Geschichte kirchlicher Armenpflege« von G. Ratzinger aus dem Jahre 1884 werden im Kapitel über Frankreich Protestanten mit keinem Wort erwähnt (vgl. ebd., S. 486 – 496), als ob der Protestantismus in Frankreich und seine »Armenpflege« niemals existiert hätten. Das Beispiel steht für die stark konfessionalistisch geprägte Kirchengeschichtsschreibung des 19. Jh., die sehr von gegenseitigen unterschwelligen oder offenen Attacken und Ignoranz geprägt war. Aber auch in zeitgenössischer Literatur lassen sich noch

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Dieses Manko ist m. E. zum einen durch die schwierige Quellenlage38 und zum Spuren von solcher Ignoranz oder Nichtbeachtung finden: Zwar ist im Rahmen des Gedenkjahres 1985, in dem an vielen Orten und bei vielen Gelegenheiten die Rücknahme des Ediktes von Nantes (1685) und das damit verbundene Leid und die Flucht der Hugenotten erinnert wurde, eine stattliche Anzahl historischer Literatur erschienen, die von Ökumeneund Toleranzbewusstsein zeugt (vgl. J. Baub¦rot, Le tricentenaire de la r¦vocation, S. 178 – 202). Jedoch verfasste der katholische Historiker Jean Qu¦niart, der 1985 mit seinem Beitrag »La r¦vocation de L’Êdit de Nantes« diese Grundoptionen vertritt (vgl. dazu auch J. Baub¦rot, a.a.O., S. 187 f.), erst wenige Jahre zuvor eine Monographie mit dem Titel: »Les hommes, l’Êglise et dieu dans la France du XVIIIe siÀcle«, in dem alle Aussagen über die kirchliche Lehre und Existenz im Zusammenhang mit dem Thema »Reichtum und Armut« nur auf die katholische Kirche bezogen werden und der Begriff »Kirche« allein für die damalige katholische Kirche okkupiert wird (vgl. ebd., S. 162 – 167). Vielleicht hat das Jahr 1985 Anlass zu einer Wende im historischen Bewusstsein gegeben. Grundsätzlich trifft die Beobachtung von M. Christstadler die Situation, wenn sie bemerkt: »Teils als Folge des Modernisierungsschubs der französischen Gesellschaft, teils als Ausdruck der Suche nach den Wurzeln der nationalen Identität, macht sich in den letzten Jahren in Frankreich ein wachsendes Interesse für Wesen und Geschichte des Protestantismus bemerkbar.« (dies., Zwischen Anpassung und Abgrenzung. Der französische Protestantismus, S. 571). Leider wird der Begriff »Kirche« aber auch in neuerer französischer »Profangeschichtsschreibung« nach wie vor oft allein auf die katholische Kirche bezogen, so z. B. in Albert Sobouls Werk über »Die Große Französische Revolution« (vgl. ebd., S. 15 – 19, bes. 19). Man wird diesen Umstand nicht darauf zurückführen können, dass der franz. Protestantismus im 18. Jh. offiziell nicht existierte. Es kann als unbestritten gelten, dass sich zahlreiche Protestanten aktiv am Revolutionsgeschehen beteiligten und in der Nationalversammlung engagierten, auch wenn der Protestantismus in seiner Gesamtheit betrachtet politisch gespalten war und weder die Avantgarde dieser Bewegung gebildet hatte noch durchweg aus revolutionstreuen Opportunisten bestand (vgl. hierzu folgende Literatur : A. Encrev¦, La r¦volution FranÅasie, S. 9 – 11; B. C. Poland; French Protestantism and the French Revolution; Les Protestants et la R¦volution FranÅasie, BSHPF 135, (Themenheft) 1989). So ist A. Sobouls Außerachtlassung des Protestantismus vielmehr darauf zurückzuführen, dass auch im 20. Jh. der Protestantismus bzw. die Reformierte Kirche im Bewusstsein der Bevölkerung in Frankreich – offensichtlich auch unter einigen Historikern – nicht als »Kirche« wahrgenommen wird, sondern immer noch als »Sekte«. 37 Vgl. z. B. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit der protestantischen Kirchen in Frankreich, S. 63 und J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 173. 38 Darauf machte 1906 bereits E. Brunet aufmerksam, indem er auf die Zerstörung zahlreicher Akten im Zuge der Rücknahme des Ediktes von Nantes verwies (vgl. ders., La charit¦ paroissiale — Paris, S. 16). Hierbei ist aber nicht so sehr an die Vernichtung durch Kirchenzerstörungen zu denken, sondern an die Beschlagnahmung von protestantischen Kirchenakten durch die Behörden und die Nichtherausgabe oder gar Zerstörung bestimmter Akten seitens der Protestanten, um eine Güterbeschlagnahmung oder Bemächtigung dieser Akten, die alle möglichen Informationen über das protestantische Kirchenleben und den Familienstand geboten hatten, zu verhindern. Mit der Herausgabe, die bereits vor der eigentlichen Rücknahme des Ediktes von Nantes befohlen und eingefordert wurde, wären jedenfalls nicht nur die Güter verloren gewesen, sondern auch die Anonymität der betroffenen Menschen preisgegeben worden. Es wäre ein Leichtes gewesen, die namentlich aufgeführten Protestanten aufzuspüren und zur Abschwörung ihres Glaubens zu zwingen, sie zu »rekatholisieren«, gegebenfalls des Ungehorsams gegenüber dem Gesetz zu bezichtigen oder sie zu schikanieren. Eine Nicht-Herausgabe bedeutete Schutz für sie, wenn sie auch zukünftig selbst bei offiziellem Verbot des Protestantismus im Untergrund weiter existieren

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andern durch den Charakter und die prägenden Umstände des diakonischen Engagements dieser Zeit selbst zu erklären. Es spielte sich oftmals im Untergrund oder in einem sehr beschränkten legalen Raum ab.39 Hinzu kommt, dass die politischen Auseinandersetzungen und Machtkonflikte zwischen den drei Größen »Staat« bzw. Königtum, Protestantismus und Katholizismus das 16. und 17. Jh. in Frankreich besonders prägten und bis heute folglich auch in der französischen Kirchengeschichtsschreibung über diese Epoche thematisch im Vordergrund gestanden haben.40 Es verwundert deshalb nicht, dass eine Reihe wollten. Dass diese Zusammenhänge und Befürchtungen tatsächlich existiert haben müssen, zeigt sich daran, dass Fälle der Verweigerung solcher Aktenherausgabe durchaus vorgekommen sind. So wurde z. B. im Oktober 1684 die protestantische Kirche von Mazamet (Südfrankreich) auf Anweisung des Intendanten geschlossen, weil das Consistoire ihm angeblich keine exakten Armenrechnungsbücher geliefert habe (vgl. Quellentext in: Bull SHPF (28) 1879, S. 541). Ein weiteres Beispiel: Als der Intendant von Rouen im Dezember 1684 die Akten über Legate und alle Akten und Listen diakonischer Institutionen, incl. Armenrechnungen etc., vom Consistoire dieser Stadt einfordert, wird ihm gegenüber behauptet, man würde die Kranken und Armen allein mit dem Geld der Kollekte unterstützen (vgl. vgl. Quellentext in: Bull SHPF (28) 1879, S. 541/542) Aus einer anderen Quelle geht jedoch hervor, dass auch andere Finanzierungs- und Versorgungswege in dieser Gemeinde existiert haben müssen. So gab es z. B. eine Schenkung für die Armen der franz.-reformierten Gemeinde in der Höhe von 2000 livres, die bei einem Pfarrer der Gemeinde aufbewahrt wurde und später schließlich von den Behörden entdeckt wurde (vgl. den Quellentext in: Bull SHPF (72) 1923, S. 25). Da es um die Konfiszierung sämtlichen Kirchenbesitzes ging, waren Armenrechnungen, Einnahmen von Geldern für die Armen durch Legate, Schenkungen und Kollekten etc. und etwaige Akten von Hospitaldirektionen etc., aber auch Protokollbücher der Consistoires hiervon besonders betroffen – also gerade die für das Thema bedeutsamen Akten. So muss S. Mours z. B. für die Stadt Mont¦limar (Drúme) mit Bedauern feststellen, dass kein einziges Armenrechnungsbuch der dortigen protestantischen Kirche aus der Zeit vor 1685 überliefert ist (vgl. S. Mours, L’Êglise R¦form¦e — Mont¦limar, S. 83). Ein anderes Problem bezüglich der Quellenlage ist, dass der in den »Archives Nationales« (AN) von Paris zentral gelagerte, oft erwähnte oder zitierte, den Protestantismus betreffende Quellenbestand bei weitem nicht so ertragreich und vollständig ist, wie man sich wünschen würde, auch wenn seine Ergiebigkeit oft gerühmt wird. Sie scheint aber ganz vom zu bearbeitenden Thema abzuhängen. Dort gelagerte Archivmaterialien erwiesen sich nur bedingt als nützlich oder aussagekräftig, was das diakonische Engagement der franz. Protestanten anbelangt. In jedem Fall ist man auf Ergänzung durch andere lokale, staatliche oder kirchliche Archive und Bibliotheken angewiesen, will man nicht voreiligen Aussagen verfallen und will man überhaupt zu irgendwelchen Aussagen gelangen. Nicht umsonst zog E. Brunet es vor, eine Arbeit über die katholische gemeindliche Caritas zu schreiben, statt über die protestantische, da das Quellenstudium zu zeitaufwendig gewesen wäre, wie er selbst eingestand (ders., a.a.O., S. 16). 39 So erfasste bereits E. Brunet das Problem ganz richtig, wenn er als Begründung für die Schwierigkeit der Erforschung des Themas anmerkte: »Il faut noter que les Huguenots se sont cach¦s eux-mÞmes le plus possible pour ¦chapper aux d¦nonciations gr–ce auxquelles leurs oeuvres ¦taient d¦truites.« (»Es ist festzuhalten, dass die Hugenotten sich selbst soweit wie möglich versteckt hielten, um sich vor Denuntiationen zu schützen, durch welche ihre (Liebes-)Werke zerstört wurden.« ; ders., a.a.O., S. 17). 40 Vgl. J. Baub¦rot, Le tricentenaire de la r¦vocation, S. 179 – 202. In diesem Beitrag handelt es sich um eine Art historiographische Synopsis der im Jahr 1985 (300. Gedenkjahr der Hu-

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wichtiger Beiträge zur Diakonie der franz. Protestanten dieser Zeit nicht aus Frankreich selbst stammt, sondern im Ausland erschienen ist.41 Wir sind also auf die wenigen Spezial- und Lokalstudien und auf teils spärliche, teils verstreute Archivmaterialien42, die für die Bearbeitung des Themas in Frage kommen, angewiesen. Das Bild, das sich daraus ergibt, kann trotz einiger deutlicher Tendenzen nur ein provisorisches sein. Mit dieser Aufgabe und diesem Anspruch, das diakonische Engagement der Hugenotten in Frankreich von der Reformation bis 1685 darzustellen, verbinden sich methodische Probleme. Sie betreffen zunächst den geographischen Raum. Theoretisch müsste das gesamte Frankreich des Ancien R¦gime hier in Betracht kommen. Denn hugenottische Gemeinden gab es in ganz Frankreich, wenn sie auch in den einen Regionen stärker vertreten waren als in anderen. Auch die Herkunftsorte der später geflüchteten und im Refuge ansässig gewordenen Hugenotten weisen darauf, dass sie aus allen Landesteilen Frankreichs kamen. Nach E. Birnstiel / A. Reinke ergibt eine Analyse der Berliner Kolonieliste43 von 1700, dass auf ganz Brandenburg bezogen die Herkunftsgebiete der mittleren und nördlichen gegenüber den südlichen Landesteilen Frankreichs zunächst überwogen hatten, bevor es dann in den Jahren von 1701 bis 1704 im Zuge weiterer Auswanderungswellen zu einem in etwa ausgeglichenen Verhältnis kam.44 Für Berlin selbst lässt sich einer Tabelle, die J. Wilke auf Grundlage derselben erwähnten Kolonieliste erstellt hat, entnehmen, dass das Ungleichgewicht dort bereits 1700 nicht so stark ausgeprägt war wie in Gesamtbrandenburg.45 Erwähnenswert ist, dass

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genottenverfolgung) erschienenen geschichtlichen Beiträge zur Rücknahme des Ediktes von Nantes. Unter anderen sind hier folgende Beiträge zu nennen: H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit der protestantischen Kirche in Frankreich, S. 61 – 99 bzw. 70; W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten; ders., Von der Reformierten Diakonie, S. 202. ff., W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 479 – 504; dies., Social Welfare and the Edict of Nantes, S. 349 – 376; M. Dinges, Huguenot poor relief and health care in the sixteenth and seventeenth centuries, S. 157 – 174. Außer den »Archives Nationales« in Paris, wurden hauptsächlich folgende Archive konsultiert: »Archives d¦partementales de l’H¦rault« (Montpellier); »Archives d¦partementales du Gard« (N„mes); BibliothÀque et archives de l’Êglise R¦form¦e de N„mes; Archives du Mus¦e du D¦sert (Anduze in den Cevennen) Archives d¦partementales de Strasbourg ; BibliothÀque de la Soci¦t¦ de l’Histoire du Protestantisme Franc ¸ais (Paris). Die Listen dienten einer genauen Übersicht des Staates über den Bestand der in Brandenburg-Preußen von franz. Protestanten gegründeten bzw. bewohnten Kolonien auf dem Lande und in den Städten. Inhaltlich werden diese Listen, die sich heute – mit einigen Lücken – im Geheimen Staatsarchiv Berlin befinden (GSTA: II. HA Rep. 122, 45 – 49) von E. Birnstiel / A. Reinke, wie folgt beschrieben: »Jeweils gegen Ende des Kalenderjahres wurden Namenslisten aller in Hugenottenkolonien lebenden R¦fugi¦s angefertigt, in denen jeder einzelne Hausstand mit Angaben des Herkunftsortes und des Berufes des Familienvorstandes notiert ist.« (dies., a.a.O., S. 142, Anm. 32). Vgl. E. Birnstiel / A. Reinke, Hugenotten in Berlin, S. 52 f. Vgl. J. Wilke, Die Französische Kolonie, S. 364.

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sich die Gruppe der Metzer Flüchtlinge, die insgesamt ca. 1600 ausmachten46, zu mehr als drei Vierteln in Berlin ansiedelte und diese Kolonie bzw. Gemeinde entsprechend dominierte47. Es liegt vor diesem Hintergrund nahe, unter anderem auch die Stadt Metz in Augenschein zu nehmen. Ansonsten werden einzelne Städte oder Gebiete in der Darstellung berücksichtigt werden, in denen die Protestanten wie in Metz numerisch besonders stark vertreten waren (z. B. auch das Languedoc, Dauphin¦ oder Sedan)48 oder in Frankreich besonders bekannt waren für ihre Aktivitäten im Bereich von Diakonie und Armenfürsorge (z. B. Paris und N„mes). Darüber hinaus wird auch die unterschiedliche Situation der Hugenotten in den Städten berücksichtigt, in denen sie entweder eine Mehrheit oder eine Minderheit bildeten. So lieferte der äußere Rahmen einer relativ autonomen und von Hugenotten majorisierten Stadt wie N„mes oder La Rochelle andere Bedingungen für protestantisch-diakonische Arbeit als der einer Stadt wie Lyon oder Paris, in denen die Hugenotten eine Minderheit darstellten. Überhaupt werden Lyon und N„mes bei der Darstellung im Mittelpunkt stehen, nicht nur, weil sie auf unser Thema bezogen am besten erforscht sind, sondern auch weil es sich bei beiden Städten um aufstrebende Großstädte handelte, die vor allem durch die Textilindustrie – speziell die Seidenindustrie geprägt49 und von damit verbundenen Krisen gezeichnet waren50. Diese Produktionszweige sollten später auch in Berlin einen Aufschwung erleben und begegnen uns auch dort im Zusammenhang mit der Armutsfrage und dem diakonischen Engagement der franz. Protestanten. In bestimmten Städten, wo die Machtverhältnisse in etwa ausgeglichen waren, gab es vorübergehend hier und dort auch eine fruchtbare Kooperation zwischen protestantischer und katholischer Konfession,51 die auch das Gebiet der Armenversorgung tangierte, z. B. zeitweise in Vitr¦ (Bretagne) und Lyon (siehe Kapitel 2.3.7). Auch wenn diese Beispiele (zumeist städtischer Armenversorgung) die Ausnahme bildeten und nicht die typische Form franz.-prot. Diakonie darstellten, müssen sie berücksichtigt werden, um eingleisige Darstellungen zu vermeiden. Wir sehen, dass neben der nationalen die lokale Ebene eine ernstzunehmende Rolle spielt.

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Vgl. E. Birnstiel / A. Reinke, a.a.O., S. 53. Nach der Zählung J. Wilkes sind es genau 1241 (ebd.). Vgl. dazu die Tabelle bei. J. Wilke (ebd.). Vgl. W. C. Scoville, Persecution of Huguenots, bes. S. 210 – 219 u. 434 – 447; Vgl. W. J. Pugh, Social Welfare and the Edict of Nantes, S. 347. Vgl. hierzu neuerdings O. Christin, La coexistence confessionelle, S. 483 – 504.

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Damit ist nun etwas zur Differenzierung und Auswahl der geographischen Orte gesagt, die zu Aussagen über Charakteristika und Tendenzen herangezogen werden können, soweit es das Quellen- und Literaturstudium52 erlaubt. Die vorliegende Darstellung fängt nicht bei Luther an, sondern bei der Gründung der franz.-prot. Kirche, genauer den Êglises R¦form¦es de France (»Reformierten Kirchen Frankreichs«)53 und ihren Vorläufern. Die Formen der diakonischen Intervention von der Zeit der Mitte des 16. Jh. bis 1685 sind im franz. Protestantismus relativ konstant geblieben,54 wie überhaupt die gesellschaftliche Wahrnehmung und Wertung von Armut in Europa (spätestens) vom 16. Jh. an bis in die Zeit des 17. und 18. Jh. hinein ähnliche Züge trug55. Mit der Geburtsstunde des franz. Protestantismus selbst sind die diakonischen Rahmenbedingungen gesteckt worden, die für lange Zeit konstitutiv und prägend sein sollten. Das gilt in doppelter Hinsicht, und zwar einmal nach innen durch die explizite Festlegung eines kirchlichen Laienamtes, nämlich dem der

52 Über die Frage der zur Verfügung stehenden Archivmaterialien und der methodischen Vorgehensweise bei ihrer Auswertung finden sich Hinweise im weiteren Text bzw. in den jeweiligen Fußnoten. 53 So die Selbstbezeichnung der protestantischen Kirche Frankreichs. Mit Recht weist die Historikerin E. Labrousse darauf hin, dass die Verwendung des Plurals signifikant ist (vgl. E. Labrousse, Calvinism in France, 1598 – 1685, S. 285, Anm. 2). Es macht das föderative Element deutlich, wobei die franz.-ref. Kirchen nicht als kongregationalistische Kirchen einzuordnen sind, sondern spätestens ab der Festlegung der »Discipline eccl¦siastique« (franz.ref. Kirchenordnung) von 1559 über eine presbyterial-synodale Ordnung in Reinkultur verfügen und danach verfahren. 54 Vgl. die vorliegende Darstellung der diakonischen Praxis des franz. Protestantismus von der Reformation bis 1685. 55 Vgl. hierzu: W. Fischer, Armut in der Geschichte, bes. S. 34; J.– P. Gutton, La soci¦t¦ et les pauvres, S. 158 f.; V. Hunnecke, Überlegungen zur Geschichte der Armut, S. 496. Zu dieser Wahrnehmung und Wertung von Armut gehörte vor allem die Distinktion von »würdigen« und »unwürdigen« Armen. Die Armut der »unwürdigen« arbeitsfähigen, aber dennoch bettelnden oder hilfesuchenden, Armen wurde moralisch erklärt und bewertet. Gesellschaftliche oder wirtschaftliche Bedingungen waren kaum im Bewusstsein. Nach V. Hunnecke wurde die »arbeitende Armut« erst im 18. Jh. entdeckt (vgl. ders., a.a.O., S. 509 f.). Für die Hospitäler gilt auf unseren Untersuchungszeitraum bezogen: Die allgemeine Entwicklung der Hospitäler in Frankreich in der Zeit von 1500 – 1789 – d. h. Veränderung ihrer Struktur, Funktion etc. – ging sehr langsam vonstatten. In den einzelnen Bereichen des Hospitalwesens verliefen Einbrüche, Fort- und Rückentwicklungen zudem nicht streng synchron, so dass der international bekannte Institutionsgeschichtler J. Imbert sich gezwungen sieht, bei der Darstellung des Hospitalwesens vor 1789 themen- bzw. bereichsorientiert vorzugehen, statt in fest abgeschlossene Phasen zu unterteilen und die Unterthemen entsprechend diesen Phasen zu behandeln (vgl. J. Imbert, Le droit hospitalier de l’Ancien R¦gime, S. 6). Zur komplexen Geschichte der Hospitalentwicklung jener Epoche sowie ihrer politischen Optionen (Sozialdisziplinierung, »Kirchenzucht« etc.) vgl. auch: Hickey, Daniel: Local Hospitals in Ancien R¦gime France: Rationalization, Resistance, Renewal 1530 – 1789 (McGill / Queen’s Hannah Institute studies in the history of medicine, health and society 5), Quebec 1997.

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Diacres (»Diakone«) im franz.-ref. Glaubensbekenntnis (Confession de foi56) (Art. 29)57 und in der Kirchenordnung (Discipline eccl¦siastique, dort Kap. III, Art. 1 – 10)58, die neben den Anciens (»Älteste«) bzw. Surveillans (»Aufseher«)59 und Ministres (»Diener«) bzw. pasteurs (»Pastoren«)60 die Gemeindeleitung inne hatten61, was in die Praxis umgesetzt auch als ziemlich einzigartig in der Tradition der Reformierten Kirchen dasteht62. Des Weiteren wird aber mit dieser 56 Einen allgemeinen Überblick über die »Confession de foi«, das franz.-ref. Glaubensbekenntnis, bietet P. Jacobs (vgl. ders., Das Hugenottische Bekenntnis, S. 203 – 208); ausführlicher : H. Jahr, Überlieferungsgeschichte der Confession de foi; R. Mehl, Explication de la confession de foi; J. Pannier, Les origines de la confession de foi. 57 In Artikel 29 heißt es: »Quant est de la vraie Êglise, nous croyons qu’elle doit Þtre gouvern¦e selon la police que notre Seigneur J¦sus a ¦tablie…, c’est qu’il y ait des pasteurs, des Surveillans et Diacres, afin que la puret¦ de doctrine ait son cours, que les vices soient corrig¦s et r¦prim¦s, et que les pauvres et tous autres afflig¦s soient secourus en leurs n¦cessit¦s, et que les assembl¦es se fassent au nom de Dieu, Àsquelles grands et petits soient ¦difi¦s.« (»Was die wahre Kirche anbelangt, so glauben wir, dass sie nach der Ordnung regiert werden müsse, die unser Herr Jesus festgesetzt hat…[An dieser Stelle folgen Bibelstellen] ,das heißt dass es Pastoren, Älteste und Diakone geben soll, damit die Reinheit der Lehre seinen Fortgang hat, damit die Laster korrigiert und eingeschränkt/unterdrückt werden und damit den Armen und all den anderen Angefochtenen in ihren Nöten geholfen wird und damit die Versammlungen im Namen Gottes gehalten werden zur Erbauung der Großen und Kleinen«; Confession de foi, Art. 29, zitiert nach O. Fatio (Hg.): Confessions et cat¦chismes, S. 124). 58 Zum Textinhalt vgl. E. Mengin, Das Recht der französisch-reformierten Kirche. 59 Die Anciens werden gelegentlich auch »Surveillans« genannt, was ihre Aufsichts- und Kirchenzuchtfunktion betont. Zum Zwecke der Aufsicht und Disziplinierung stand jeder, der in dieses Amt gewählt wurde, einem bestimmten quartier (»Viertel«) vor, für das er Verantwortung trug und in dem er Besuche durchführte. 60 Die beiden Begriffe werden in der Discipline eccl¦siastique und andernorts wechselweise gebraucht. 61 Im Blick auf Rolle und Bedeutung der Diakone in der Reformierten Kirche stellt W. Bernoulli fest: »Vollen Anteil an der Leitung der Gemeinde und an der Übung der Kirchenzucht haben die Diakone nur bei den Hugenotten« (ders., Von der Reformierten Diakonie, S. 239). 62 Diese Tatsache ist immer noch kaum bekannt, was nicht zuletzt ein schlechtes Licht auf den Stand ökumenischer Forschung wirft. Leider unterlässt es auch der in der Ökumene stark engagierte und in der Schweiz lehrende Kirchenhistoriker G. Hammann in seinem erst 1993 erschienenen Buch, das ausschließlich über das Amt der Diakone handelt, über den Tellerrand der protestantisch majorisierten Länder hinauszuschauen. Negativ resümiert er, dass es auch der protestantischen Reformation nicht gelungen sei, das Amt des Diakons im Sinne eines kirchlichen Amtes wieder einzuführen (ders., L’amour retrouv¦, S. 269). Die von Calvin selbst inspirierte Kirchenordnung der franz. Protestanten von 1559 und ihre praktische Umsetzung sprechen gegen ein solch verallgemeinerndes Resümee. Hier rächt sich, dass der Blick G. Hammanns stark auf die großen Gestalten wie Luther, Zwingli, Bucer und Calvin und ihre Ideen fixiert ist (vgl. ebd., S. 173 – 269) und – ebenso wie andere Geschichtsschreibung auch – prot. Existenz in Frankreich geflissentlich ignoriert. Lediglich als Flüchtlingsgemeinden im Ausland geraten die franz.-ref. Kirchen in sein Blickfeld und werden von ihm in Bezug auf das Diakonenamt in nur zwei Zeilen positiv gewürdigt (vgl. a.a.O., S. 266 u. 268). Von G. Hammann sicherlich so nicht beabsichtigt, ergibt sich dadurch eine frappierende Übereinstimmung mit manchen französischen Autoren katholischer Provenienz in der Ignoranz dieses franz.-prot. Phänomens in der Geschichte der Armen-

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Geburtsstunde nach außen betrachtet zugleich die feste Etablierung einer Kirche im Untergrund inauguriert, die auch in späteren Zeiten und unterschiedlichen Räumen in Frankreich wie ein »Staat im Staate«63 funktionierte. Die Struktur eines Mikrokosmos, in dem der franz. Protestantismus sich bewegt hatte, setzte sich auch im Refuge, wie etwa in Berlin-Brandenburg – freilich unter anderen Bedingungen – fort. Die Hugenotten fungierten dort nun nicht mehr als »›negative‹ Minderheit« wie noch in Frankreich, sondern als »›positive‹ Minderheit«64 und genossen die damit verbundenen Vorteile und Privilegien. Diese spezifische Konstante oder auch Determinante des diakonischen Engagements der franz. Protestanten, die in der neuesten, besonders von E. Birnstiel vorangetriebenen Geschichtsforschung auch gerne unter neutralem Vorzeichen mit dem Begriff der »Diaspora« in Verbindung gebracht wird,65 kann fürsorge und des Diakonenamtes. Als Beispiel für Letztere sei hier verwiesen auf: P. Christophe, Les pauvres et la pauvret¦ (Bd. 2). Dieses Buch neueren Datums (1987), das in einer pädagogisch-historischen Reihe erschienen ist (BibliothÀque d’Histoire du Christianisme), die eine starke Verbreitung hat und als ökumenisch und sozial aufgeschlossen eingeordnet werden kann, stellt eine an Quellentexten orientierte Darstellung der Geschichte der Armut und christlich-sozialer Tätigkeit und Utopie vornehmlich in Frankreich dar. Da das ganze Werk stark bestimmt ist von einer plakativ anmutenden, kulturromantischen Gegenüberstellung von Kapitalismus auf der einen Seite und christlich-sozialer Tätigkeit und Ideen auf der anderen Seite, taucht dort franz. Protestantismus bzw. Calvinismus lediglich im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kapitalismus auf. Hier wird jedoch im Rekurs auf die Arbeiten von A. Bi¦ler und J. Delumeau die »kapitalistisch-kritische« Note des Calvinismus betont (vgl. ebd., S. 22 – 25). Das Interesse ist letztlich eine Gegnerschaft oder Feindschaft zum (franz.) Protestantismus zu überwinden und sich im Kampf gegen kapitalistische Tendenzen auf derselben Seite zu wissen. Diese verengte Perspektive, die den (franz.) Protestanten im gesamten Buch ohnehin nur vier Seiten einräumt, klammert jedoch das gesamte gemeindediakonische Wirken der franz. Protestanten aus. Gleichzeitig wird aber die Favorisierung der offenen Gemeindearmenpflege unter dem Einfluss des Katholiken Vincent de Paul in Absetzung von der Politik der grand renfermement (»großen Einschließung«) der Armen in den Húpitaux G¦n¦raux des 17. Jh. (zu den Húpitaux G¦n¦raux siehe Kap. 2.4.7 der vorliegenden Arbeit) betont (ebd., S. 51 ff.). Diese Darstellung ergibt zwangsläufig ein verzerrtes Bild der Armenfürsorgegeschichte in Frankreich. Unter anderem durch diese Nichtbeachtung der franz.-prot. Gemeindearmenpflege bedingt, erscheint Vincent de Paul wie der Retter der christlichen Nächstenliebe gegenüber einer rigiden Umgangsweise von Staat und wenigen katholischen Fanatikern, die die Einsperrungspraxis propagierten (vgl. ebd., S. 51). Dieses Bild stellt aber die Dinge geradezu auf den Kopf, wie wir in der folgenden Darstellung noch sehen werden. Zumindest sind die Zusammenhänge wesentlich komplizierter als wie hier dargestellt. Auf diese Weise wird jedenfalls auch auf diesem Gebiet die historische Nicht-Anerkennung und die (versuchte) Streichung protestantischer Existenz von der Landkarte Frankreichs in der Zeit des 16. bis zum 18. Jh. historiographisch im 20. Jh. nur noch einmal wiederholt. 63 Vgl. E. Labrousse, a.a.O., S. 285. 64 Diese Terminologie findet bei S. Jersch-Wenzel Anwendung (vgl. dies., Hugenotten, Juden und Böhmen, S. 113). Sie soll keine Qualifizierung der Minderheitengruppe selbst darstellen, sondern das ihr gegenüber praktizierte Verhalten kennzeichnen (vgl. ebd.). 65 Vgl. hierzu besonders E. Birnstiel (Hg.), La Diaspora des Huguenots. Er ist zugleich Initiator

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und muss, ohne dadurch in Polemik oder konfessionalistischen Revanchismus zu verfallen, deutlich nachgezeichnet werden, da sie in ihrer Eigenart und in ihrer langfristig prägenden Wirkung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Dies ist m. E. besonders deshalb hervorzuheben, weil bislang in internationalen und interkonfessionellen armen- oder diakoniegeschichtlichen Vergleichen katholisch oder protestantisch majorisierte Länder immer noch stark als konfessionelle Einheiten betrachtet werden. Zwar widmet man neuerdings der unterschiedlichen politischen, sozialen und historischen Gesamtsituation die gebührende Aufmerksamkeit, aber der jeweilige Minderheits- bzw. Mehrheitsstatus der verschiedenen Konfessionen wird zu wenig berücksichtigt und damit als prägender Faktor ignoriert.66 der an der Universität von Toulouse angebundenen vergleichenden Diasporaforschung und Herausgeber der interdisziplinär orientierten Schriftenreihe »Diaspora«. 66 So etwa bei B. Pullan, Catholics and the Poor, S. 15 – 34. Zwar erwähnt er auf S. 20 die besondere Situation der französischen Protestanten und ihrer Armenfürsorge, aber geht dann anschließend nicht weiter darauf ein. Sein Anliegen ist es, Vergleiche zwischen dem katholischen Frankreich und dem protestantischen England vorzunehmen. Er arbeitet zunächst überzeugend heraus, dass sich die Unterschiede weitestgehend zu nivellieren scheinen, aber kommt nicht auf den Gedanken englischen und französischen Protestantismus gegenüberzustellen oder die diakonische Praxis franz. Protestanten und franz. Katholiken miteinander zu vergleichen. Bei seinem Versuch, dennoch etwas »spezifisch Katholisches« im Bereich der Armenfürsorge in Frankreich ausfindig zu machen, kommt er zu Ergebnissen, die er verallgemeinernd auf den europäischen Katholizismus bezieht, indem er am Schluss seiner Arbeit fragt, ob man die von ihm herausgearbeiteten Typisierungen auch im protestantischen Europa vorfinden könne (ebd. S. 34). Ohne es vielleicht zu wollen – immerhin äußert er auf S. 33 noch, dass die von ihm herausgearbeiteten Züge nicht zwangsläufig für jede katholische Gesellschaft jedweder Epoche Gültigkeitsanspruch hätten – und obwohl B. Pullan die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Forschung durchaus für nötig zu halten scheint, weil sie konfessionalistisch geprägte falsche Alternativen, Bilder und Zuweisungen abgebaut hat (vgl. z. B. ebd. S. 32), unterlässt er hier jegliche soziologischen, politischen oder wie auch immer gearteten Differenzierungen und führt auf diese Art und Weise das alte Schema fort, statt seine Ergebnisse und dessen Schlussfolgerungen zunächst einfach auf die Situation des Katholizismus in Frankreich beschränkt sein zu lassen, für den sie aussagekräftig genug sind. Der Versuch, das »eigentlich Katholische« ausfindig machen zu wollen, ist legitim so lang er historisch an- und eingebunden bleibt, d. h. an Raum und Zeit gebunden. Eine Abstraktion von dem jeweils spezifisch historischen Umfeld, zu dem insbesondere auch der Mehrheits- bzw. Minderheitsstatus zu zählen ist, riskiert hingegen ein ebenso kühnes Unterfangen zu werden wie, wenn man Charakteristika und Verhaltensweisen der franz.-ref. Kirchen im Bereich der Diakonie allgemein auf die Reformierten Kirchen Europas jener Zeit beziehen wollte. Ein solcher Versuch zeugt eher von übermäßiger Identifikation, Rechtfertigungsdrang oder einem bestimmten ideologischen Interesse als von historischer Genauigkeit, die Bescheidenheit lehrt und die Frage nach unterschiedlichen menschlichen, gesellschaftlichen und kirchlichen Existenzbedingungen umso deutlicher stellt. Auch die in der historischen Fachwelt bislang überwiegend positiv bewertete Arbeit »Assistance, humanisme et h¦r¦sie: le cas de Lyon« (ursprünglich englisch erschienen: »Poor Relief, Humanism and Heresy : The Case of Lyon«) von N. Z. Davies weist bezüglich der Nicht-Berücksichtigung des Minderheitsstatus der Konfessionen ein Manko auf. Zu Beginn ihrer Untersuchung über die Stadt Lyon verweist sie darauf, dass vergleichende Studien der

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Die Jahre von Anbeginn der Reformation in Frankreich bis 1685 lassen sich Unterstützungsinstitutionen in katholischen und protestantischen Ländern auffallende Ähnlichkeiten zu Tage gefördert hätten (vgl. dies., a.a.O., S. 763). Das kann in der Tat kaum bestritten werden. Aber auch in dieser Mitteilung werden Nationen mit Konfessionen identifiziert, ohne die jeweiligen Situationen zu differenzieren. Die summarische Betrachtungsweise rührt gewiss daher, dass N. Z. Davies’ Blick ausschließlich auf städtische und staatliche Armeninstitutionen gerichtet ist und ist insofern nachvollziehbar. Jedoch lässt sich fragen, ob hier nicht eine verengte Perspektive einer institutionsgeschichtlichen Betrachtung vorliegt, bedenkt man mit W. Fischer und anderen, dass die »private« Caritas (kirchliche eingeschlossen) des Mittelalters in der Neuzeit nicht bedeutungslos geworden ist, sondern lange Zeit in Form von Geldsammlungen und Armeninstitutionen neben der staatlichen und städtischen weiter existierte bzw. je nach nationalen und lokalen Gegebenheiten auch im protestantischen Nordwesteuropa sogar tragend war (vgl. W. Fischer, Armut in der Geschichte, S. 43 f; W. K. Jordan, Philanthropy in England 1480 – 1660, S. 140, 240 f. u. 346). Es ist zwar verständlich, dass bei N. Z. Davies aufgrund einer methodischen Grundentscheidung »kirchliche« Einrichtungen mehr oder minder außer Acht bleiben. Es leuchtet auch ein, dass sich auf einer allgemein-vergleichenden Ebene, was die städtischen und staatlichen Einrichtungen verschiedener Länder angeht, die gleichen Charakteristika feststellen lassen. Aber die zuvor angesprochene mangelnde Situationsdifferenzierung der Konfessionen in den einzelnen Ländern offenbart sich auch als Problem in ihrer eigenen Untersuchung über die Armenfürsorge in Lyon. Auf S. 812 f. setzt sie insgeheim voraus, dass die Protestanten gleichberechtigt und offen in Lyon agieren konnten (vgl. dies., ebd.). Sie erklärt die Zurückhaltung der Protestanten, eine führende Rolle im »Aumúne-G¦n¦rale« (städtische Armeneinrichtung in Lyon) zu übernehmen, damit, dass sie andere Prioritäten gesetzt hätten. Dies war ihrer Meinung nach der »Aufbau eines neuen Jerusalems« – also die Umorganisation und der Aufbau der eigenen Kirche, dem auch die Predigten überwiegend gedient hätten (vgl. ebd.). Nur die gemäßigtere Gruppe der Protestanten hätte sich um Verbesserungen und Mitarbeit in dieser (städtischen) Institution bemüht. Diese Erklärung setzt aber voraus, dass Protestanten bei Wahrung oder offenem Bekennen ihrer eigenen Konfession im Aumúne-G¦n¦rale überhaupt eine führende Rolle hätten übernehmen können, wenn sie nur gewollt hätten. Mit anderen Worten, N. Z. Davies setzt für die erste Hälfte des 16. Jh. eine Situation ungefährdeter und offener Existenz von Protestanten in Frankreich und Lyon voraus. Diese hatte so aber gar nicht existiert. In derselben Zeit, in der in Lyon die Reformideen des Armenwesens in die Praxis umgesetzt wurden, setzte im Zuge der »Plakataffäre« auf nationaler Ebene ab 1534 eine »r¦pression syst¦matique« (J. EstÀbe, Vers une autre religion, S. 52) gegen die Protestanten ein. In Lyon selbst wurde 1534 der Prediger Alexandre Canu verhaftet und nach Paris überstellt (vgl. H. Dubief / Poujol, Jacques (Hg.)), La France Protestante, S. 287). Auch für die Zeit nach dem eigentlichen Gründungsjahr der protestantischen Gemeinde in Lyon (1546) sind Verfolgung und Todesstrafen bekannt, z. B. 1551 und 1552 (vgl. ebd.). Zur selben Zeit, nämlich ab 1550, rufen die teils geflüchteten protestantischen Pastoren von Lyon verstärkt dazu auf, die Armenversorgung ihrer Gemeindemitglieder geheim und eigenständig zu organisieren (hierzu siehe: J. Crespin, Histoire des marthyrs, fol. 205; vgl. auch N. Z. Davies, a. a. O, S. 813). Der eigentliche Grund dafür, dass einige Protestanten bei den Reformen des Aumúne-Generale zwar mitarbeiteten, aber nicht die führende Rolle übernahmen, dürfte darum nicht in den von N. Z. Davies genannten vorgeblichen Prioritäten der Protestanten zu suchen sein, sondern in den realen Machtverhältnissen der Stadt Lyon in dieser Zeitspanne, die trotz eines gewissen aufgeschlossenen und »humanistischen« Klimas keine Stadt der Protestanten war. Allenfalls könnte man sagen, dass es gerade diese realen Machtverhältnisse waren, die die Protestanten zu diesen Prioritäten zwangen und damit auch zum Aufbau einer »geheimen«, autonomen Armenversorgung und diakonischen Organisation.

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auf die diakonische Aktivität der Protestanten bezogen in mehrere unterschiedliche Phasen einteilen. Die 1960 von H. Ochsenbein gewählte Einteilung67 erweist sich dabei aber als wenig brauchbar – nicht nur, weil sich sein Beitrag auf einen längeren Untersuchungszeitraum (bis hin zur Gegenwart) bezieht, sondern vor allem, weil seine Festlegung einer ersten Phase auf den Zeitraum von 1539 bis 1685 nicht der Komplexität und Realität der protestantischen Geschichte in Frankreich gerecht wird und damit auch nicht der Entwicklung auf diakonischem Gebiet. Diese Zeitspanne lässt sich eben nicht einfach einheitlich und durchgehend als »Verfolgungsgeschichte« erfassen, wie es bei H. Ochsenbein den Anschein hat.68 Das 16. und 17. Jh. protestantisch-diakonischer Existenz in Frankreich ist von vielen politischen, religiösen und sozialen Veränderungen bestimmt und die Träger des diakonischen Engagements haben nicht immer nur aus der Defensive heraus oder im Untergrund gehandelt. Von solch einem summarischen, verklärenden Geschichtsbild haben sich franz.-prot. Forscher bereits vor 1960 selbstkritisch verabschiedet.69 Unbefriedigend im Blick auf die Periodisierung ist auch die Darstellung der gemeindlichen franz.-ref. Armenfürsorge im 16. u. 17 Jh., wie sie der Historiker und Armutsforscher Martin Dinges in einem Essay aus dem Jahr 200270 liefert, weil auch er ähnlich wie H. Ochsenbein die Zeit bis 1685 offenbar als eine homogene Einheit begreift.71 Auch wenn der Beitrag sich vielleicht nur als ex-

67 Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit der Protestantischen Kirchen in Frankreich, S. 62. Die dort von ihm vorgenommene Einteilung sieht wie folgt aus: 1. Von 1539 (Calvin in Straßburg) bis 1685; 2. 1685 bis 1787 (»Toleranzedikt«) ; 3. 1802 (»Konkordat«) bis 1905 (Trennung von Staat und Kirche) 4. Jetztzeit 68 Vgl. dazu ebd., S. 61/62. 69 Vgl. dazu besonders die Arbeiten von E. G. L¦onard, Histoire g¦n¦rale du Protestantisme, Bd. 2, bes. S. 331; ders., Le protestantisme franÅais au XVIIe siÀcle, S. 161 ff., bes. S. 173. Wenn auch heute sehr umstritten und so nicht mehr aufrecht zu erhalten (siehe weiter unten in der Arbeit), machte er innere Schwächen des franz. Protestantismus selbst mitverantwortlich für die Entwicklung, die 1685 zur Rücknahme des Edikts von Nantes geführt hatte. Es handelte sich um einen Versuch einer Geschichtsschreibung, in der die Auto-Fixierung und Reduktion auf die Opferperspektive überwunden werden sollte. 70 M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 157 – 174. 71 Vgl. M. Dinges, ebd. Für diese unzulängliche Perspektive bzw. Darstellungsweise sei nur auf folgendes Beispiel verwiesen: Von Fallbeschreibungen in N„mes im Jahr 1560 und Aubenas im Jahr 1570 ausgehend, wo in der franz.-ref. Armenfürsorge Unterschiede bei der Unterstützung im Blick auf die jeweilige Konfessionszugehörigkeit gemacht wurden, führt M. Dinges unmittelbar weiter aus: »This relationship between social welfare and confessional propaganda was still evident in the 1660s at Bordeaux« (ebd., S. 160). M. Dinges suggeriert hier eine Kontinuität, wo die Situationen und Machtverhältnisse jedoch völlig verschiedene waren und nicht zu vergleichen sind (vgl. laufender Text der vorliegenden Arbeit). Der Kontext, wo die machtlose protestantische Minderheit in Bordeaux vielleicht daran interessiert war, ihre Kranken- und Armenfürsorge als Instrument zur konfessionellen Abgrenzung und Identitätssicherung einzusetzen, ist ein gänzlich anderer als in N„mes oder

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emplarisch versteht,72 wirkt er durch die mangelnde Differenzierung bei den Zeitbezügen, ihren jeweiligen (religions)politischen Hintergründen73 und konkreten Handlungsrahmen sowie die in Relation dazu nur sehr dünne Quellengrundlage74 teils verallgemeinernd und sprunghaft.75 Darüber hinaus präsentiert M. Dinges der Forschung bereits zuvor bekannte Zusammenhänge als Erkenntnisse bzw. Ergebnis seiner Untersuchung, nämlich die Tatsache, dass gemeindliche bzw. konfessionelle Kranken- und Armenfürsorge als Instrument zur Konfessionalisierung (Reinhard, Schilling) bzw. Aufrechterhaltung der Konfessionsidentität fungierte76 Dieser von ihm immer und immer wieder be-

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Aubenas, wo sie teils eine Mehrheit darstellten. Die Formulierung »was still evident« ist daher irreführend. Es bleibt offen, wieweit M. Dinges mit seinem Beitrag tatsächlich einen Anspruch auf Repräsentativität erhebt. Im Blick auf die von ihm als Basis angeführten wenigen Quellen und Sekundärliteraturverweise (vgl. ebd., S. 160, Anm. 11 und 12) äußert er jedenfalls: »These sources and secondary literature allow a thorough inquiry into Huguenot charity.« Demnach geht er offenbar von einer Repräsentativität des Materials und seiner entsprechenden Schlussfolgerungen aus. Von ihnen erfahren wir so gut wie nichts in seinem Beitrag. Die durch politische Konflikte, Kriege oder Edikte gesteckten Rahmenbedingungen scheinen hier kaum eine Rolle zu spielen (vgl. ebd.). Lediglich im Blick auf Hospitalgründungen erwähnt M. Dinges, dass sie von der Zustimmung des Königs oder Bischofs abhängig waren und zur Gründung von »crypto-hospitals« (ebd., S. 167) geführt hätten. Außer an dieser Stelle streift M. Dinges nur im letzten Absatz seines Beitrages die (erneuten) politischen Veränderungen, die es seit 1660 gegeben hatte, mit dem Verweis auf die Berufsverbote für Protestanten im Gesundheitswesen und die Schließung ihrer Hospitäler durch die Königsherrschaft und den damit verbundenen Niedergang ihres Hilfesystems (ebd. s. 172). Die Akten der Consistoires, auf die sich M. Dinges bezieht, betreffen überwiegend nur wenige Jahre und liegen recht weit auseinander (Le Mans: 1561 – 1562; Bordeaux 1660 – 1670). Vgl. Fußnote 73 und die jeweiligen Ausführungen im laufenden Text. Auf Frankreich selbst bezogen vgl.: Jones, Colin: The charitable imperative: hospitals and nursing in Ancien r¦gime and revolutionary France, London – New York 1989; Martin, Odile: La conversion protestante a` Lyon (1659 – 1687), Gene`ve 1986. Zum Zusammenhang Konfessionalisierung und Armenfürsorge der Neuzeit siehe insbesondere die neuesten Beitrage von Sebastian Schmidt: ders.: »Gott wohlgefällig und den Menschen nützlich« Zu Gemeinsamkeiten und konfessionsspezifischen Unterschieden frühneuzeitlicher Armenfürsorge, in: Schmidt, Sebastian / Jens Aspelmeier (Hg.): Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit, (VSWG Beiheft 189), Stuttgart 2006, S. 61 – 90; ders.: Die Abschaffung der Armut – das frühneuzeitliche Inklusionsprogramm und seine Exklusionen am Beispiel der Geistlichen Kurfürstentümer Trier, Köln und Mainz. In: Raphael, Lutz / Uerlings, Herbert (Hg.): Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike. Frankfurt a.M. [u.a.] 2008, S. 241 – 274; ders.: Pleasing to God and beneficial to man’. On the confessional similarities and differences of early modern poor relief. In: Gestrich, Andreas/ Raphael, Lutz/ Uerlings, Herbert (Hg.): Strangers and Poor People. Changing Patterns of Inclusion and Exclusion in Europe and the Mediterranean World from Classical Antiquity to the Present Day (Inklusion/ Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, 13). Frankfurt/Main 2009, S. 315 – 342; ders.: Religious dimensions of poor relief from the Middle Ages up into the twentieth century. In: Gestrich, Andreas/ Raphael, Lutz/ Uerlings, Herbert (Hg.): Strangers and Poor People. Changing Patterns of Inclusion and

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Diakonische Praxis im französischen Protestantismus

leuchtete Aspekt der Armenfürsorge im konfessionellen Zeitalter ist mittlerweile sehr bekannt.77 Da M. Dinges aber seinen Blickwinkel hierauf beschränkt bzw. die Motivation franz.-ref. Gemeindediakonie auf diesen Aspekt reduziert hat (ebd. S. 161 o., S. 165 o., S. 169 o., S. 170 u. 173), muss man den Eindruck gwinnen, dass es ihm mehr darum ging, die Gültigkeit dieses Schemas bzw. Erklärungsmodells (Konfessionalisierung als Identitätsbildung) auf die franz.prot. Gemeindearmenfürsorge bezogen unter Beweis zu stellen als um das Verstehen dieses spezifischen Modells von Kirche und der damit verbundenen Art und Weise der Armenfürsorge. Auch wenn es M. Dinges gelingt, wichtige Charakteristika und das konkrete Handeln franz.-ref. Diakonie zur Sprache zu bringen, wird man ihm, wie sich im Verlauf der vorliegenden Darstellung noch zeigen wird, weder in dieser reduzierten, weil undifferenzierten, Deutung folgen können, noch kann die mangelnde Periodisierung und Kontextualisierung eine gute Basis sein. Dennoch hat er in seiner Darstellung wertvolle Details eruiert. Auf die Diakonie bezogen möchte ich für die Zeit des 16. u. 17. Jahrhunderts – trotz der Gefahr einer eventuell immer noch unzureichenden Einteilung78 – von drei Phasen sprechen: einer Phase der überwiegend klandestinen Etablierung und Konsolidierung (bis 1593 bzw. 1598), einer Phase der Blüte (von 1598 bis ca. 1660) und schließlich einer Phase der Defensive und des Rückzugs, wo die Diakonie wieder ganz in den klandestinen Raum eingeht, d. h. dort hineingedrängt wird, beginnend ab ca. 1660 mit der Hochphase in den achtziger Jahren und dem Höhepunkt des Ediktes von Fontainebleau im Jahr 1685 (Rücknahme des sogenannten »Toleranzediktes« von Nantes).

2.2

Diakonische Praxis in der Phase der klandestinen Etablierung und Konsolidierung (bis ca. 1593 bzw. 1598)

Das Jahr 1593 markiert die (vorläufige) Beendigung der Bürgerkriege und die Krönung des hugenottischen Favoriten Heinrich IV. zum König sowie seinen Übertritt zur katholischen Konfession aus politischen Motiven heraus79. 1598 schließlich kam es unter seiner Regierung zum Erlass des Ediktes von Nantes – Exclusion in Europe and the Mediterranean World from Classical Antiquity to the Present Day (Inklusion/ Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, 13). Frankfurt/ Main 2009, S. 279 – 288. 77 Literatur siehe vorangehende Fußnote. 78 Die lokalen Unterschiede und Besonderheiten erschweren eine strikte Phaseneinteilung. Zukünftige genauere Untersuchungen könnten vielleicht ein noch differenzierteres Bild ergeben. Die im Folgenden aufgezeigten Tendenzen und ihre historischen Bedingtheiten sind jedoch eindeutig. 79 Vgl. O. E. Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, S. 149; J. Chambon, Der Französische Protestantismus, S. 87; H. Dubief, Hugenotten, S. 619.

Diakonische Praxis in der Phase der klandestinen Etablierung

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dem »Toleranzedikt«, das den Hugenotten für ein paar Jahrzehnte eine gewisse – wenn auch eingeschränkte – Religionsausübung ermöglichte. Die Zeit aber bis zum Regierungsantritt Heinrich IV. bzw. dem »Toleranzedikt« war gekennzeichnet durch die acht Religionskriege (1562 – 1593) und die sich vielerorts im Untergrund vollziehende Etablierung der franz.-prot. Gemeinden. Armenfürsorge und Hospitäler erlebten in der Zeit der Religionskriege eine sehr wechselvolle und zum Teil mit Zerstörungen verbundene Geschichte, da die konfessionelle Besatzung und Regierung bestimmter Regionen und Städte mehrfach wechselte.80 Die protestantische scheint der katholischen Militärmacht, was die Zerstörung von Hospitälern betrifft, nicht unbedingt nachgestanden zu haben.81 In manchen Städten – so vor allem im Süden Frankreichs (Cevennen und Languedoc) – setzte sich im Zuge der Kriege eine protestantische Vorherrschaft durch, die sich so deutlich und konstant aufrecht hielt, dass die franz. Protestanten innerhalb dieser weitab von der Zentralgewalt gelegenen Städte bald keine Minderheit mehr darstellten, sondern sogar die Mehrheit bildeten und auch die politische Macht an sich brachten – wie etwa im 1561 protestantisch majorisierten und 1569 bzw. 1570 eroberten N„mes82. Sie konnten dort auf diese Weise auch auf diakonischem Gebiet offener und anders agieren als in Städten, in denen sie weiterhin zur Minderheit gehörten. Die Jahre 1560 – 1562 bildeten in Frankreich einen ersten Einschnitt insofern, als dass den Protestanten nach einer Zeit der Untergrundexistenz zum ersten Mal eine öffentliche Duldung begegnete. Hierunter sind sowohl das Religionsgespräch von Poissy (1561) als auch das Edikt von St. Germain (1562), das ein friedliches Nebeneinander beider Konfessionen ermöglichen sollte, einzuordnen.83 Auch wenn in dieser Zeit der Protestantismus in Frankreich den höchsten Stand der Verbreitung erreicht haben soll, den er je gehabt hat, nämlich ca. 10 % der Gesamtbevölkerung84, war diese Phase nur von sehr kurzer Dauer, da sich 80 Vgl. C. Jones, The charitable imperative, S. 33. 81 Dazu ist z. B. auf die Zerstörung des Hospitals »Saint Juste« in Lyon im Mai 1562 durch das protestantische Militär zu verweisen (vgl. J.-P. Gutton, L’example de la g¦n¦ralit¦ de Lyon, S. 264). 82 Vgl. hierzu auch einen Beschwerdebrief der Katholiken der Stadt N„mes von 1652, in dem sie beklagen, dass die Protestanten ihre diakonischen Interessen im Schutze von Gewaltübergriffen – Bemächtigung katholischer Einrichtungen – durchgesetzt hätten: A.N.: TT 260, fol. 209. Im Jahr 1570 hatten die Protestanten endgültig den Sieg errungen und besaßen die vollständige Kontrolle über die Stadtregierung und -verwaltung (vgl. A. H. Guggenheim, Calvinism and the Political Elite, S. 234, 262, 270). 83 Vgl. H. Dubief, Hugenotten, S. 619; ausführlicher zu dieser Periode der »Toleranz«: V. Roeser, Politik und religiöse Toleranz, S. 68 ff. 84 Die von H. Dubief (ebd., S. 619) für 1562 angegebene Zahl von einem Drittel ist umstritten und sehr wahrscheinlich übertrieben. Sie basiert offenbar auf Schätzungen, die auf Zahlenangaben des protestantischen Admiral de Coligny zurückgehen, deren Objektivität aber

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Diakonische Praxis im französischen Protestantismus

bereits im März 1562, ausgelöst durch das Massaker von Vassy (Haute-Marne)85, der erste sogenannte Hugenottenkrieg entfachte. Sieben weitere »Hugenottenkriege« schlossen sich im Abstand weniger Jahre an. De facto war erst ab ungefähr 1594 eine äußere politische Konstellation gegeben, die der franz.-prot. Kirche eine geduldete und friedvolle Existenz in relativer Sicherheit zu versprechen schien und 1598 durch das Edikt von Nantes auch ermöglichte. Gewiss gab es zeitweilig Phasen der Waffenruhe und des Friedens. Sie waren aber nicht von längerem Bestand und nährten auf diese Weise die Erfahrung der Protestanten, dass eine dauerhafte friedliche Existenz, eine freie Religionsausübung in Frankreich vorerst nicht möglich sein würde, zumal sich die militärischen Erfolge der Hugenotten bis 1585 eher bescheiden ausnahmen86. Außerdem gab es zwischenzeitig immer wieder spontane, durch Fanatiker angeheizte, Volkstumulte, die sich gegen sie richteten und ihnen das Leben schwer machten, besonders in Paris, aber z. B. auch in Rouen, Dieppe und Orange.87 Erst die politisch-militärische Stärke des franz. Protestantismus bot den äußeren Rahmen für eine relativ unbehelligte, friedliche Koexistenz mit der katholischen Konfession innerhalb desselben Landes bzw. schuf die Rahmenbedingungen des von 159488 bzw. 1596 bis 1598 mühsam ausgehandelten Toleranzediktes89, das diese

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durchaus in Zweifel gezogen werden kann (vgl. M. Prestwich, France 1555 – 1629, S. 73). Nach J. EstÀbe waren es nur 10 % der französischen Bevölkerung zu dieser Zeit ( dies., Vers une autre religion, S. 55). Diesem am 1. März unter protestantischen Gottesdienstbesuchern angerichteten Blutbad folgten weitere an anderen Orten. Die Eskalation führte schließlich zum Krieg (vgl. O. E. Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, S. 147). Vgl. H. Dubief, a.a.O. 620. Vgl. J. EstÀbe, Vers une autre Religion, S. 90 f. Nach der Darstellung H. Dubiefs begannen die Verhandlungen über das Edikt bereits 1594 (vgl. ders., a.a.O., S. 621). Nach J. Garrisson-EstÀbe scheinen zumindest die eigentlichen Verhandlungen erst 1596 zu beginnen (vgl. dies., L’Homme protestant, S. 32 u. J. EstÀbe, Vers une autre Religion, S. 99). Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass Heinrich IV. von sich aus das Toleranzedikt von 1598 kreiert und damit die Toleranz in das konfessionalistisch gespaltene Frankreich eingepflanzt hätte. So suggeriert es z. B. die Darstellung bei K. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, S. 339. Zweifellos war der kurz zuvor auf Anraten einflussreicher Protestanten aus politischen Motiven erneut vom evangelischen zum katholischen Glauben übergetretene König der protestantischen Minderheit grundsätzlich positiv und tolerant gesonnen. Aber der gerade zum König avancierte Heinrich IV. stand vor der schwierigen Aufgabe, auch die katholischen Kräfte im Staat zufriedenzustellen oder zumindest nicht über Gebühr zu reizen. Wollte er innenpolitische Stabilität erreichen und auch außenpolitisch gegen die Angriffe der Spanier gewappnet sein, war er gezwungen, auf beide politischen Parteien Rücksicht zu nehmen. So machte er in den langwierigen Verhandlungen gegenüber den Protestanten mehr Zugeständnisse als ursprünglich gewollt (vgl. zum Vorangegangenen E. G. L¦onard, Le protestantisme franÅais au XVIIe siÀcle, S. 154; H. Dubief, a.a.O., S. 621; J. EstÀbe, Vers une autre religion, S. 99; D. Ligou, la R¦vocation de l’Êdit de Nantes, S. 32). Die Protestanten nutzten die Angewiesenheit des Königs auf ihre militärische Unterstützung gegen die Spa-

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Koexistenz erst ermöglichen und garantieren sollte. Bereits seit 1594 befand sich der franz. Protestantismus in einer sehr vorteilhaften Situation. König Heinrich IV. war auf seine militärische Unterstützung im Kampf gegen die Spanier angewiesen und zugleich verstärkten bzw. erweiterten die Protestanten ihr politisches Repräsentativsystem der »Provinces-Unies du Midi«90, indem sie diese politische Selbstorganisation nun nicht mehr nur auf Südfrankreich beschränkten, sondern auf das gesamte Königreich anwendeten. Sicher war die Situation in den oben erwähnten wenigen protestantisch majorisierten Städten wie N„mes, Montauban oder La Rochelle im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts eine andere als wie in der Mehrzahl der Städte des franz. Königreiches, aber selbst für die ersteren gab es keine völligen Garantien einer auf Dauer ungestörten Kultusausübung, auch wenn in den Friedensabschlüssen oder den ihnen unmittelbar nachfolgenden Edikten gerade diesen Städten am meisten »Privilegien« bzw. Möglichkeiten der Religionsausübung etc. eingeräumt wurden91. Die Angst, die Stadt könnte in die Hände »der Feinde« fallen, wodurch dann auch wieder die eigene Existenz gefährdet gewesen wäre, war auch in ruhigeren Perioden in diesen Städten lebendig und verbreitet92 und führte teils zu überzogenen Schutzmaßnahmen, z. B. der Art, dass man in N„mes gelegentlich »suspekt erscheinende Katholiken« aus der Stadt ausweisen ließ93. Auf den Punkt bringt es die Kirchenhistorikerin Marianne Carbonnier-Burkard. Sie spricht gar von einer »phase de repliement« (»Phase des (Wieder) abbaus«) auf die Zeit von 1570 – 1598 bezogen und fasst dies in Zahlen: 30 % der Gemeinden verschwinden in dieser Periode. Am Ende des 16. Jh. sind die Reformierten nur noch 1,2 Millionen, hingegen sie 1562 noch ca. 2 Millionen

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nier und erreichten ein respektables Verhandlungsergebnis (zum Edikt siehe unter Kap. 2.3.1). »Vereinigte Provinzen von Südfrankreich« – die Bezeichnung stammt von J. Delumeau. Diese föderativ-republikanische, politisch-militärische Organisationsform entstand 1573 als Reaktion auf den Schock der Bartholomäusnacht (August 1572) und des sich anschließenden Krieges (vgl. J. Garrisson-EstÀbe, L’Homme Protestant, S. 26 ff.; O. E. Strasser-Bertrand, a.a.O., S. 148). Zum Ereignis und den Umständen der Bartholomäusnacht siehe: J. Garrisson, La Sainte-Barth¦lemy. So z. B. in dem ohnehin mit weiten Zugeständnissen verbundenen Friedensschluss von St. Germain (1570), in dem Edikt von La Rochelle (1573), in dem nur wenigen Städten die Kultusfreiheit gewährt wurde und schließlich in den Friedensverträgen von Beaulieu (1576), Poitiers (1577), N¦rac (1579) und Fleix (1580) (vgl. hierzu: O. E. Strasser-Bertrand, a.a.O., S. 148 f.; J. Garrisson, L’Êdit de Nantes, S. 15 – 17). Das zeigt sich besonders deutlich an den Aktivitäten und Empfehlungen der Anciens des Consistoire von N„mes. 1590 forderten sie zur Befestigungsverstärkung der Stadt auf. 1591 und 1594 waren sie z. B. damit beschäftigt, die Nachtwachen der Stadt mit zu organisieren und 1615 versuchten sie vorsorglich, eine Art Bürgerwehr aufzubauen. Zu diesen Beispielen, die von der ständigen Angst vor einer Bedrohung und gelegentlichen phobischen Überreaktionen zeugen, vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 683 f. Vgl. Ph., Chareyre, a.a.O., S. 687 f.

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waren. Die Gründe dafür sieht M. Carbonnier-Burkard nicht nur in den genannten Kriegen, Massakern, Unruhen und damit verbundenen Emigrationen, sondern auch in der psychologischen Wirkung dessen, was die »Bartholomäusnacht« politisch bedeutete. Bis dahin glaubten die Protestanten sich im Gegenüber zu einer politischen Partei (die Guisen etc.) und ihrer Unterstützung durch die katholische Kirche. Nun aber erlebten sie die Frontstellung des Königshauses. In dieser Perspektive gab es keine greifbare Aussicht auf Sicherheit oder Zukunft. Abschwörung und Übertritt zum Katholizismus waren hingegen äußerst attraktiv. Das diakonische Engagement dieser Phase ist also geprägt von einer Existenz des franz. Protestantismus im Untergrund und/oder zwischen den Kriegen. Auch wenn O. Christin neuerdings darauf aufmerksam gemacht hat, dass in einigen Städten in der Zeit zwischen 1563 und 1567 Erfahrungen mit paritätischen interkonfessionellen Führungen existierten und es zu einer friedlichen Koexistenz und solidarischen Kooperation auf der Ebene der Stadtregierung und – verwaltung kam,94 bleibt dies dennoch die Ausnahme. Hier und dort hat sich in solchen Städten sogar eine gewisse Kooperation im Bereich der städtischen Armenversorgung ergeben.95 Die typische Form franz.-prot. Diakonie in dieser Zeit war aber die offene Gemeindediakonie, mit der offiziell die »Diacres« (»Diakone«) betraut wurden. Über die Diakone heißt es in der ersten Fassung der Discipline eccl¦siastique: »Quant aux Diacres, leur charge sera de recueillir & distribuer, par l’avis du Consistoire, les deniers des pauvres, prisonniers & malades: de les visiter, & d’aller par les maisons catechiser…«96 Diese Form der Diakonie – die offene (=ambu-

94 Vgl. O. Christin, La coexistence confessionelle, S. 483 – 504. Positive Erfahrungen mit einer paritätischen Stadtleitung gab es vor allem in Nyons (vgl. ebd., S. 489 – 491). Das von O. Christin angeführte Beispiel von Lyon hingegen ist eher ein Beispiel, das zeigt, dass die (vom König geforderte) paritätische Leitung der Stadt nur von kurzer Dauer war und in diesem Fall von katholischer Seite dazu benutzt wurde, um wieder die Vorherrschaft in der Stadt zu erlangen. Das gesteht O. Christin sogar selbst ein (vgl. ebd. S. 492 f.). Dennoch legen die von O. Christin vorgebrachten und erläuterten Beispiele einiger Städte mit einer paritätischen bzw. interkonfessionellen Stadtleitung Zeugnis davon ab, dass hier und dort auch eine gemeinsame interkonfessionelle Koexistenz und Alltagsbewältigung auf der Stadtebene möglich war und vor allem dort gelingen konnte, wo die Interessen der Stadt als ganzer auf dem Spiel standen (vgl. ebd.). Für Lyon machte sich das auch im Bereich der Armenversorgung bemerkbar, insofern als dass die einmal reformierte Armenversorgung von beiden Seiten konsequent aufrecht erhalten wurde (vgl. N. Z. Davies, Assistance, humanisme et h¦r¦sie: le cas de Lyon, S. 811 ff.). 95 Vgl. vorherige Fußnote. 96 »Was die Diakone anbelangt, so ist es ihre Aufgabe, auf Anweisung des Consistoire die Gelder der Armen, Gefangenen und Kranken einzusammeln und auszuteilen und sie zu besuchen und in die Häuser zu gehen, um zu katechisieren…« – zitiert nach J. Aymon, Actes eccl¦siastiques et civils, (Art. 25) S. 4. Das Consistoire bestand aus den Diakonen, Ältesten und

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lante) Armen-, Kranken- und Waisenunterstützung durch die Kirchengemeinde – wurde durch die äußeren Umstände eher gefördert als destabilisiert oder ließ sich zumindest leichter praktizieren als eine sogenannte Anstaltsdiakonie. Wann auch immer man den genauen Beginn der franz. Reformation festlegen will97 und welche theologischen Traditionen oder Gestalten den franz. ProtesPastoren und war das Leitungsgremium (Presbyterium) der Gemeinde (vgl. Art. 24 ebd., S. 4). 97 Eine genaue zeitliche Bestimmung des Ausbruchs der Reformation in Frankreich scheint schwierig. Mittlerweile hat sich in der Forschung ein weitgehender Konsens darüber herausgebildet, dass sich der eigentliche Beginn der Reformation in Frankreich Mitte der dreißiger Jahre des 16. Jh. abspielte (vgl. O. E. Strasser-Bertrand, a.a.O., S. 140 f; H. Dubief, Hugenotten, S. 619; R. Mandrou, Pourquoi se r¦former? S. 41 f; J. EstÀbe, Vers une autre religion, S. 45 ff.). Dafür sprechen nicht zuletzt auch die Gemeindekonstituierungen in Poitiers, Meaux und Angers in jener Zeit (zu diesen Gemeinden vgl. H. Dubief, La France protestante, S. 384 – 386 u. 395). Zwar hat der franz. Protestantismus neben lutherischen, bucerischen und besonders calvinischen Einflüssen auch andere unmittelbarere und eigenständigere Wurzeln vorzuweisen. Um nicht einer germanozentrisch dominierten europäischen Kirchengeschichtsschreibung zu verfallen, ist es wichtig, diese Wurzeln nicht zu ignorieren. Gleichwohl fällt der lange Zeit in Wuppertal lehrende Schweizer Kirchenhistoriker H. Scholl hinter den Erkenntnisstand der neueren französischsprachigen Forschung über die Geschichte des franz. Protestantismus zurück, wenn er den Beginn der Reformation mit dem sogenannten Bibelfrühling von Meaux bei Paris (1516 – 1522) ansetzt (vgl. ders., Glaube und Spiritualität der Hugenotten, S. 1 u. S. 3). Diese Darstellung entspricht nämlich der Sichtweise der franz.-reformierten nationalistischen Kirchengeschichtsschreibung, wie sie im 19. Jh. betrieben wurde. Sie war noch ganz daran interessiert, ihre Eigenständigkeit gegenüber dem »deutschen Luthertum« hervorzukehren (vgl. R. Mandrou, Pourquoi se r¦former? S. 29). Den Hintergrund für solche »patriotistisch« geprägten Darstellungen, wie z. B. von E. Doumergue betrieben, bildeten die politischen Konflikte zwischen Frankreich und Deutschland und die Annexion von Elsass-Lothringen (vgl. H. Bost/ A. Encrev¦, Aufsatz: »Histoire«, in: EDP, S.685). Inzwischen ist aber nicht nur ans Tageslicht befördert worden, dass die Verbreitung lutherischer Schriften in Frankreich sehr groß und ein wichtiges Vehikel zur Vorbereitung und Ausbreitung der Reformation in Frankreich gewesen ist (vgl. hierzu z. B.: C. Hohl, Naissance et d¦veloppement de la R¦forme, S. 13 – 26; M. Prestwich, Calvinism in France 1555 – 1629, S. 74 u. 77) und dass LefÀvre d’Êtaples schwerlich als Initiator der (franz.) Reformation betrachtet werden kann (vgl. R. Stauffer, LefÀvre d’Êtaples, S. 405 – 423). Auch hat das Problem, dass sich die »bibliens« von Meaux nicht so exakt als Humanisten oder aber Protestanten einordnen ließen, dazu geführt, dass die Forschung nach eindeutigeren Einschnitten suchte, an der sich die Infragestellung der »alten« Kirche und die Entstehung einer »neuen« (protestantischen) Kirche eher festmachen ließ. In weitestgehender Übereinstimmung werden die »bibliens« von Meaux heute deshalb als »Vorläufer der Reformation« angesehen – als eine reformistische Bewegung, nicht aber als reformatorische Bewegung, die erst später einsetzte, mit der traditionellen Kirche brach und eigene Strukturen aufbaute (vgl. O. E. Strasser-Bertrand, a.a.O., S. 138; R. Mandrou, a.a.O., S. 34 ff.; J. EstÀbe, Vers une autre religion, S. 52). In der jüngst erschienen Synthese der französischen Reformationsgeschichte aus der Feder von D. Crouzet wird die franz. Reformation als ein komplexes Geschehen begriffen, das sich stufenweise weiterentwickelte und bei dem erst das Zusammenspiel der verschiedenen Einflüsse bzw. die jeweilige neue Akzentuierung der franz. Reformation ihr spezifisches Gepräge verlieh (vgl. ders., La genÀse de la R¦forme franÅasie). Dennoch sieht auch D. Crouzet einen deutlichen Einschnitt Mitte der dreißiger Jahre durch die Affäre der Placards (vgl. ebd. S. 224 – 234, bes. S. 232) und bald

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tantismus auch besonders geprägt haben mögen98 ; es kann kein Zweifel daran sein, dass die Armenfürsorge bereits vor der offiziellen Festlegung der kirchlichen Ordnung der franz.-ref. Kirchen durch die von Calvin beeinflusste Discipline eccl¦siastique im Jahr 155999 sowohl im Norden als auch im Süden Frankreichs intensiv praktiziert worden war100. Ebenso deutlich ist, dass das oben erwähnte Amt der Diakone keine Erfindung J. Calvins war, sondern bereits von M. Bucer in Straßburg eingeführt worden war101 und von der Straßburger franz.-prot. Flüchtlingsgemeinde unter

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darauf im Jahre 1536 durch die erste Abfassung von J. Calvins »Institutio« (vgl. ebd. S. 253 – 258). Hier artikulierte sich deutlich eine Frontstellung gegen die herkömmliche kirchliche Lehre und Gestalt, was wiederum seine Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der reformatorischen Bewegung in Frankreich haben sollte (vgl. ebd.). Vgl. dazu auch weiter unten in der Arbeit unter Kapitel 2.2 bzw. 2.2.1 und 3.1. Zur Synode von 1559 und der offiziellen Festlegung der kirchlichen Ordnung vgl. M. Reulos, L’organisation des Êglises r¦form¦es, S. 9 – 24. Für den baldigen Aufbau einer gemeindlichen Organisation der Diakonie und dessen Existenz bereits vor 1559 ist für den Norden z. B. auf die franz.-prot. Gemeinde der Stadt Lille zu verweisen, für welche dies sicher für das Jahr 1556 bezeugt ist (vgl. M. Naert, Huguenots du Calaisis, S. 440). Als Beispiel für den Süden kann die Gemeinde von Lyon genannt werden, die spätestens seit 1550 die Armenversorgung mehr oder weniger klandestin auf kirchengemeindlicher Ebene anging, wobei protestantische Einzelpersonen zuvor bereits an der städtischen Einrichtung der Aumúne g¦n¦rale (»allgemeinen Almosenkasse«) beteiligt waren bzw. dort mitarbeiteten und auch versuchten, ihren Einfluss zum Vorteil der »eigenen« Armen geltend zu machen (vgl. N. Z. Davies, Assistance, humanisme et h¦r¦sie, S. 813). Vgl. R. Stauffer, Calvin, S. 21 u. 23. Auch wenn J. Calvin bereits in seiner »Institutio« von 1536 das Amt der Diakone erwähnte (vgl. CO 1,191) und einige Gedanken zur Errichtung und zur Gestalt eines solchen Amtes vielleicht bereits vor der Begegnung mit M. Bucer in Straßburg entwickelte – wie einige Forscher feststellen glauben zu müssen bzw. mutmaßen, so waren es erst die späteren Erfahrungen in Straßburg und Genf und die dortige vorfindliche Praxis, die von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung einer Konzeption des Diakonenamtes durch J. Calvin wurden. Außer dem Hinweis auf diese eine Stelle in der Institutio können die entsprechenden Forscher nichts Wesentliches vorweisen, was auf eine wirklich eigenständige Reflexion und konkrete Pläne für die Praxis eines solchen Amtes bei J. Calvin in der Frühzeit hinweisen würde. Beispielhaft seien nur genannt: Henderson, B¦nevolence, S. 423 – 424; W. Bernoulli, Calvin und das Amt der Diakone, S. 63; Bohatec, Calvins Lehre, S. 446; A. Ganoczy, Calvin: th¦ologien, S. 183 – 184, M. Lechner, Calvinisme social, S. 3 ff. und neuerdings ähnlich, wenn auch vorsichtiger : E. A. McKee, John Calvin on the diaconate, S. 137). Das Diakonenamt im Sinne eines kirchlichen sozialen Amtes war bereits vor Calvin zumindest in der Theorie bei M. Bucer so grundgelegt, aber die kirchliche Beauftragung konnte sich in der Praxis in Straßburg schließlich nicht durchsetzen. Es blieben städtische Beamte, die die Armenfürsorge organisierten (vgl. Ph. Denis, Les Êglises d’etrangers, Bd. 2, S. 401). J. Calvin hat sich erst durch die Erfahrungen in Straßburg und später in Genf verstärkt um die Frage der Diakonie und des Diakonenamtes bemüht. Dass die bereits vorfindliche und mitgestaltete Praxis ihre eigene Wirkung auf J. Calvins Theoriebildung hatte, muss auch E. A. McKee bei noch so deutlicher Betonung des biblischoriginären Denkens und Handelns J. Calvins eingestehen (vgl. dies., a.a.O., S. 137). Das Diakonenamt, wie es bei J. Calvin und später im franz. Protestantismus begegnet, kann also nicht als ein reines Gedankenkonstrukt oder Programmelement eines Mannes – in diesem

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der Leitung Calvins übernommen wurde102. Vom Beispiel der Straßburger Flüchtlingsgemeinde wissen wir, dass es sehr bald in den neu gegründeten protestantischen Gemeinden Frankreichs – wie etwa in Meaux in den frühen vierziger Jahren – nachgeahmt wurde103. Erst später gab dann die teils von der Genfer Kirchenordnung bzw. Calvin beeinflusste franz.-reformierte Discipline eccl¦siatique von 1559 den Gemeinden ihre letztgültig tragende Gestalt und dauerhafte Funktionsfähigkeit, in der auch der Rolle der Diakone eine herausragende Bedeutung zukam. Entstehungsgeschichte und -zusammenhänge dieses franz.-ref. Diakonenamtes sollen hier zunächst genauer erfasst und beschrieben werden, da gerade diese Institution von entscheidender Bedeutung für das diakonische Engagement und Selbstverständnis der franz.-reformierten Kirchen bleiben sollte und in ihrer speziellen Ausprägung eine Besonderheit im Bereich der Reformierten Kirchen darstellte. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass man Abschied nehmen muss von einer Überbewertung der Person J. Calvins sowie der Vorbildfunktion der Genfer Kirchenordnung auf diesem Gebiet. Vielmehr prägte das Sein das Bewusstsein: Bedeutsamere Wirkung hatten die spezifischen Lebensumstände des franz. Protestantismus. Hierbei ist vor allem an seine sehr frühen Exilgemeinden in Straßburg und Genf zu denken.

2.2.1 Exkurs: Ursprung des franz.-reformierten Diakonenamtes und der diakonischen Organisationsform Die noch 1991 von W. Holtmann aufgestellte Behauptung, dass Calvins Stellung zur Diakonie weniger bekannt sei als sein übriges theologisches Wirken,104 beruht eher auf mangelnder Kenntnis internationaler Literatur als auf Tatsachen. Es kann im Gegenteil als hinlänglich bekannt und unbestritten gelten, dass J. Calvin entscheidende Impulse zur Neudefinition des Diakonenamtes gegeben hat,105 indem er die damalige Praxis und Funktion des seinerzeit vorfindlichen Diakonenamts als eines Priester-Hilfsdienstes verwarf und umgekehrt aber die

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Fall J. Calvins – gesehen werden, auf den all dies zurückzuführen wäre, sondern war vielmehr Teil einer »Praxis pietatis« im Alltag der Neuordnung von Kirchen- und Stadtleben, die biblisch und theologisch neu zu verstehen und zu ergründen war. Es war praktische Antwort auf die Herausforderung durch die Fratze der Armut – eine Herausforderung, der sich M. Bucer und J. Calvin je auf ihre Weise auch theologisch und kirchlich zu stellen versuchten. Vgl. R. Stauffer, ebd. Vgl. H. Heller, The Conquest, S. 116. W. Holtmann, Calvins Bedeutung für das Diakonenamt, S. 61. Vgl. auch E. Doumergue, Jean Calvin, Bd. 2, S. 287; G. Hammann, L’amour retrouv¦, S. 239 ff; W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie, S. 230 – 238; besonders ausführlich: E. A. McKee, John Calvin on the diaconate, S. 115 ff.

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am Genfer Hospital wirkenden procureurs und hospitaliers biblisch und kirchlich als eigentliche Diakone auswies und legitimierte. In ihnen sah er das, was seiner Ansicht nach biblisch mit dem Diakonenamt ursprünglich beabsichtigt gewesen sei – ein sozialer und materieller (Laien-)dienst mit kirchlichem bzw. gemeindlichem Auftrag. Gleichwohl betont R. M. Kingdon zu Recht, dass es sich bei der von J. Calvin vorgenommenen Beschreibung des Diakonenamtes und seiner Zweigliederung in procureurs und hospitaliers, wie sie auch in der Genfer Kirchenordnung festgelegt wurde, um nachträgliche Interpretation handelte und darin ein leitendes Interesse Calvins zum Vorschein käme, nämlich eine Art »kirchliche Weihe« bzw. »Resakralisierung« dieser beiden im Zuge der städtischen Armenreform etablierten weltlichen Ämter .106 Es ist eine unumstößliche Tatsache, 106 Dass J. Calvin nicht der Schöpfer der Ämter procureur und hospitalier war, sondern nur versuchte, eine bereits bestehende Institution theologisch zu interpretieren und nach vorhergehender Säkularisierung der Armenfürsorge bestrebt war, diese Ämter theologisch zu würdigen und erneut an die Kirche anzubinden bzw. dort einzuordnen, ist mittlerweile namentlich durch die Arbeiten von R. M. Kingdon überzeugend dargelegt worden (vgl. die drei Aufsätze von R. M. Kingdon : ders. , The Deacons, S. 81 – 90; ders., Calvin’s Ideas about the Diaconate, S. 167 – 180, ders., Social Welfare in Calvins Geneva, S. 50 – 69, bes. S. 60/61). Dieser Sachverhalt und das Anliegen von R. M. Kingdon werden von G. Hammann nicht richtig erkannt, wenn er darauf verweist, dass es R. M. Kingdon lediglich um die Beantwortung der Frage gegangen sei, wo die historischen Ursprünge von hospitalier und procureur zu suchen seien (vgl. G. Hammann, L’amour retrouv¦, S. 246). In Wirklichkeit liegen bei R. M. Kingdon und G. Hammann unterschiedliche theologische und historiographische Präferenzen vor. Auf der Suche nach Leitbildern für Diakonie heute geht es G. Hammann gewissermaßen um das geistige bzw. geistliche Erbe des Reformatoren J. Calvin und dessen Anstöße, von denen Kirche heute noch profitieren könnte. Seine Perspektive ist dabei stark innerkirchlich. So ist es nur konsequent, dass dasselbe Anliegen Calvins, das bei R. M. Kingdon noch mit einem kritischen Fragezeichen versehen wurde und restaurativ und ideologieverdächtig erscheinen konnte, nun von G. Hammann ausschließlich positiv beschrieben und gedeutet wird. Mit Blick auf die Genfer Kirchenordnung schreibt er : »la nouveaut¦ genevoise r¦side dans la mention et la reconnaissance officielle du diaconat comme ministÀre dans la r¦alit¦ sociologique, institutionelle de l’Êglise« (»Die Genfer Neuheit gründet/besteht in der Erwähnung der offiziellen Anerkennung des Diakonats als eines Amtes in der soziologischen, bzw. institutionellen Realität der Kirche«) (ders., a.a.O., S. 255). Der Ansatz und das Geschichtsverständnis G. Hammanns an diesem Punkt offenbaren sich gänzlich in folgendem Satz: »Ce ne sont pas les id¦es th¦ologiques seules, mais leur r¦alisation pratique dans la cit¦ qui font histoire; le projet diaconal de Calvin ne devient r¦alit¦ publique que par les d¦cisions sociales et politiques…« (»Es sind nicht die theologischen Ideen selbst, sondern ihre praktische Umsetzung in der Stadt, die Geschichte machen; das diakonische Vorhaben Calvins wird nur durch soziale und politische Entscheidungen zu einer Realität im öffentlichen Leben…«) (ders., a.a.O., S. 253). Zwar hält G. Hammann fest, dass Geschichte nicht nur von Ideen gemacht wird, aber die Ideen J. Calvins bleiben bei ihm dennoch das Primäre, von dem her sich alles andere wie ein Substrat oder ein »unumgänglicher« Kompromiss ableitet. Sie erscheinen unabhängig und übergeordnet. Indem er nicht nach den historischen Bedingtheiten der Ideen J. Calvins fragt, sondern sie erst bei dessen Verwirklichung in Erwägung zieht, vermag er auch nicht zu erkennen, dass

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dass die procureurs und hospitaliers lange vor Calvins Diakonendefinition bzw. seiner Rückkehr nach Genf als Bestandteil des städtischen »Hospital G¦n¦ral«107 existierten108 und ebenso, dass das Hospital in der Zeit vor Calvins erstem Aufenthalt in Genf bis zu seiner Rückkehr (1535 – 1541) eine von ihm ganz unabhängige Entwicklung durchgemacht hatte109. Ab 1541 waren diese Ämter dann als diakonische (kirchlich angebundene) Ämter zunächst in der Theorie eingeführt worden.110 Für die Genfer Praxis sind sie als regelmäßig Gewählte im Sinne einer konsequenten Umsetzung der Genfer Kirchenordnung erst ab 1548 sicher belegt.111 So kann R. M. Kingdon entgegen anderslautenden – , aber wenig überzeugenden – Beteuerungen bezüglich dieses Punktes112 mit gutem Recht

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Calvin nicht nur versucht, zu definieren, was Aufgabe der Kirche sei, sondern zugleich bereits auf einen Säkularisationsprozess reagiert. Dies zu ignorieren, dürfte – egal, welche Position man heute vertreten will – auch kaum hilfreich sein, um in der heutigen säkularisierten Welt Wege diakonischer Verantwortung zu erkennen oder zu beschreiten, wie es G. Hammann ja selbst letztendlich am Herzen liegt. Das Hospital G¦n¦ral war das Ergebnis der Neuordnung des Genfer Armenwesens im Jahre 1535. Zu dieser Institution vgl. R. M. Kingdon, Social Welfare in Calvins Geneva, S. 52 – 56; ausführlich: L. Gautier/ E. Joutet, L’Húpital-G¦n¦ral. Das gesteht selbst G. Hammann zu (ders., a.a.O., S. 254). Mit R. M. Kingdon, Deacons, S. 82 gegen E. A. McKee, Calvin on the diaconate, S. 107, die dort in einem sehr allgemein formulierten Satz und ohne weitere Verweise behauptet, Calvin sei ebenso wie G. Farel von Anfang an mit den Angelegenheiten des Hospitals in Genf beschäftigt gewesen. Vgl. Art. 56 der Genfer Kirchenordnung von 1541, abgedruckt in: Die Ordonnances Eccl¦siastiques (1541) 1561, in: Eberhard Busch (Hg.): Calvin-Studienausgabe. Bd. 2: Gestalt und Ordnung der Kirche; Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1997. Vgl. R. M. Kingdon, Deacons, S. 84. E. A. McKee, auf deren Schlussfolgerungen im Wesentlichen auch G. Hammanns Arbeit fußt, versucht darzulegen, dass J. Calvins Neudefinition des diakonischen Amtes sich im Wesentlichen von biblischen bzw. exegetischen Einsichten herleite und nichts mit einem Resakralisierungsversuch der Wohltätigkeit zu tun habe (vgl. dies., Calvin on the diaconate, S. 127). Unter anderem versucht sie aufzuzeigen, dass unabhängig von J. Calvin auch andere vor und nach ihm eine zweifache Funktion des Diakonenamtes (Verwaltung der Gelder und Fürsorge) aus Röm. 12, 8 abgeleitet hätten und will damit gewissermaßen einen Gegenbeweis zur These von R. M. Kingdon liefern, wonach die vorfindliche Genfer Praxis der beiden Ämter hospitalier und procureur bei Calvins Interpretation von Röm. 12, 8 und seiner Diakonendefinition Pate gestanden hätten. E. A. McKee’s apologetisch anmutender Versuch, die Originalität von J. Calvins Schriftauslegung und ihre Unabhängigkeit von den sozialen Realitäten nachzuweisen, hat jedoch keine historische Überzeugungskraft. Erstens ist die Abhängigkeit oder zumindest der Zusammenhang zwischen beidem offenkundig, da J. Calvin selbst auf das Vorbild der Ämter des Genfer Húpital g¦n¦ral verweist (vgl. »Projet d’ordonnances eccl¦siastiques, septembre et octobre 1541«, C.O., 10b, 15 – 16 und 23; vgl. auch. G. Hammann, a.a.O., S. 254). Zweitens ist der Versuch, die sozialgeschichtliche Perspektive durch eine theologische zu ergänzen, zwar sehr löblich. Aber die Art und Weise, wie das bei E. A. McKee geleistet wird, zeugt von methodischer Aporie. Die Aussage nämlich, dass die theologische Perspektive vorgeblich »ein ganz anderes (konträres) Bild« ergibt als die sozialgeschichtliche (ebd. S. 127), suggeriert ein dualistisches Gegenüber beider Wissenschaftsbereiche bzw. Perspektiven. Bei E. A McKee scheinen die Sphären von Sozialgeschichte und Theologie sich nicht gegenseitig ergänzen und durchdringen zu

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resümieren: »In fact it might well be argued that in this domain Geneva influenced Calvin more than Calvin influenced Geneva«113. Ohne damit die besondere Bedeutung J. Calvins für den franz. Protestantismus in Frage stellen zu wollen, muss davon ausgegangen werden, dass auch seine Vorbildfunktion bzw. die der Genfer Kirchenordnung für das Diakonenamt der franz.-prot. Kirchen oft überschätzt oder falsch gewichtet wird. Denn es gibt zwei markante Unterschiede, die in der Literatur bislang kaum bzw. gar nicht Beachtung gefunden haben und es verdienen, hier hervorgehoben zu werden. Der eine bezieht sich auf unterschiedliche Terminologien. In der Discipline eccl¦siastique der franz.-ref. Kirchen von 1559 werden nie die Begriffe hospitalier oder procureur gebraucht wie sie in der Genfer Kirchenordnung von 1541 und 1561 als Unterbezeichnungen für die Sammelbezeichnung Diacre (»Diakon«) üblich sind.114 Es wird lediglich allgemein von den »Diacres« gesprochen. Weitere Unterteilungen finden nicht statt. Damit verbunden ist außerdem, dass als ein Aufgabenfeld der Diakone in der Discipline eccl¦siastique ausdrücklich die Besuche bestimmt werden.115 Hingegen fehlt dies als Aufgabenbeschreibung in können. Sie können sich entweder nur decken oder gegenseitig auflösen bzw. ausschließen (vgl. ebd. S. 127). Es darf bezweifelt werden, ob dies eine evidente Forschungsperspektive sein kann. Schließlich ist drittens auf den Wortlaut der Genfer Kirchenordnung zu verweisen – wie auch in der Arbeit weiter unten ausgeführt -, wo Besuche von Armen oder Kranken überhaupt nicht als Aufgaben der Diakone erwähnt werden und somit bei der Bestimmung der Aufgaben der Diakone in der Genfer Kirchenordnung von 1541 einzig und allein das Húpital g¦n¦ral im Hintergrund steht, nicht aber eine ambulante mit Besuchen verbundene Gemeindeaktivität der Diakone. Das gilt auch für die von E. A. McKee angeführten exegetischen Texte J. Calvin. Man erfährt in ihnen entweder allgemein über den Sinn und Zweck von Diakonat oder aber über die grobe Unterscheidung zwischen Armengeldverwaltung und Pflege der Kranken und Armen. Hier wird aber die Armen- und Krankenfürsorge eines zentralen Hospitals und nicht die offene gemeindliche Armenunterstützung, die mit von Diakonen geleisteten Gemeindebesuchen verbunden war, vorausgesetzt. Dieses Spezifikum wurde bei E. A. McKee und anderen bislang nicht wahrgenommen und spricht gegen die These einer rein biblischen Erkenntnis und Herleitung des Diakonenamtes bei J. Calvin. Vielmehr war die Empirie hier erkenntnisleitend. Was R. M. Kingdon betrifft, ignoriert er nicht die wichtige Rolle J. Calvins auf diakonischem Gebiet, sondern relativiert sie lediglich, indem er die sozialen und institutionellen Realitäten nicht ignoriert, in die sein Wirken eingebettet war und nicht alles an seiner Person festmacht. E. A. McKee fällt aufgrund ihres zu großen Vertrauens auf ungefärbte, exegetische und theologische (Eigen-) Leistungen Calvins hinter diese historiographische Öffnung zurück. 113 R. M. Kingdon, Deacons, S. 87. 114 Vgl. die entsprechenden vollständig zitierten Artikel der beiden unterschiedlichen Fassungen von 1541 und 1561 in: M. Lechner, Le calvinisme social, S. 8 – 12. Die Fassung von 1541 wurde erst 1543 vom Rat angenommen (vgl. ebd., S. 9). Zu den vergleichbaren Artikeln in der französischen Discipline eccl¦siastique vgl. für das Jahr 1559 J. Aymon, Actes eccl¦siastiques et civils, Art. 24 – 27, S. 4 und für die späteren Fassungen: E. Mengin, Das Recht, Kapitel 3, Art. 1 bis Kapitel 4, Art. 4, S. 92 – 98. 115 Vgl. Kapitel 3, Art. 4.

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der Genfer Kirchenordnung.116 In ihr ist nur die Rede von der Versorgung Kranker und Armer durch die Diakone. Besuche als solche sind in der Ordnung nur als Aufgabe des Arztes und des Chirurgen vorgesehen und zwar ausschließlich für kranke Stadtarme.117 Dieser Unterschied ist auffällig. Der Hintergrund dafür ist, dass in Genf das Armenwesen 1535 nicht nur radikal zentralisiert und säkularisiert worden war, sondern dass ebenso die gesamte materielle Versorgung der Stadtarmen, die nicht im Hospital untergebracht waren, durch eine Ausgabe an einem zentralen Punkt des Húpital G¦n¦ral geregelt wurde, an dem sich die Notdürftigen einzufinden hatten.118 Die Tatsache, dass in der franz.-reformierten Kirchenordnung, der Discipline eccl¦siastique, nur der Begriff Diacre – und zudem mit einem abgeänderten bzw. erweiterten Aufgabenfeld – in Erscheinung tritt, lässt fragen, ob der Diacre der franz.-reformierten Kirche wirklich auf den der Genfer Kirchenordnung rekurrierte, der dort eng an die Einrichtung des Hospitals gekoppelt war. Lassen sich vielleicht sogar andere viel wahrscheinlichere (unmittelbarere) Vorbilder ausfindig machen? Bevor wir diese Frage beantworten, sei auf den zweiten Unterschied zwischen der franz.-reformierten und der Genfer Diakonendefinition hingewiesen. Er bezieht sich auf eine wichtige Kompetenzerweiterung. Den franz.-ref. Diakonen wurde im Gegensatz zu den Genfer Diakonen zumindest zeitweilig gestattet, zu katechisieren bzw. zu verkündigen119. Wie G. Hammann ausführlich darlegt, wollte J. Calvin bei seiner Neudefinition des Diakonenamtes diese Kompetenz gerade nicht den Diakonen zugesprochen sein wissen.120 Er befürwortete vielmehr eine scharfe Trennung des Pastoren- und Diakonenamtes gemäß ihren jeweiligen spezifischen Funktionen.121 Auf die innerhalb der franz.-reformierten 116 Vgl. zur deutschen Übersetzung des Kapitels über die Diakone (Art. 56 – 68) der Genfer Kirchenordnung: P. Jacobs, Reformierte Bekenntnisschriften, S. 82 – 84. 117 Vgl. Art. 65 der Genfer Kirchenordnung, in deutscher Übersetzung abgedruckt bei: P. Jacobs, a.a.O., S. 83/84. 118 »the loaves of bread granted weekly to the deserving poor who remained in their homes were doled out from its doors.« (R. M. Kingdon, Social Welfare in Calvins Geneva, S. 55). 119 So heißt es in Art. 25 der am 25. Mai 1559 durch die Synode von Paris bestätigten Discipline eccl¦siastique, dass zu den Aufgaben der Diakone auch gehören würde: »…d’aller par les maisons catechiser ; & au cas qu’il s’en trouve quelqu’un propre, & qui promette de se dedier & consacrer perpetuellement au service de Dieu & au MinistÀre, alors il pourra Þtre ¦l˜ par le Consistoire pour catechiser en public…« ( »..in die Häuser zu gehen, um zu katechisieren und für den Fall, dass sich ein geeigneter findet, der verspricht, sich beständig/fortdauernd/ lebenslänglich [alle drei Begriffe sind möglich] dem Gottesdienst und dem Amt zu widmen, so kann er vom Consistoire gewählt werden, um öffentlich zu katechisieren…«, zitiert nach: J. Aymon, Actes eccl¦siatiques et civils, Bd. 1, S. 4) 120 Vgl. G. Hammann, L’amour retrouv¦, S. 241 f. 121 So äußert sich J. Calvin auch in seiner Predigt über 1 Tim. 3, 8 – 10 klar und präzise: »Un homme qui sera propre — l’office de pasteur, ne pourra pas estre Diacre, et ne sera pas idoine pour distribuer les aumosnes. Et aussi — l’opposite, il y en a beaucoup qui pourront avoir le soin des povres, lesquels ne seront point pour enseigner. Il faut donc cognoistre ce que Dieu a

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Kirchen praktizierte Ausstattung der Diakone mit größeren Befugnissen und einer stärkeren Verantwortung bezüglich der Gemeindeleitung im Vergleich zu den Diakonen der Genfer Kirchenordnung haben schon W. Bernoulli und R. M. Kingdon unabhängig voneinander an anderer Stelle aufmerksam gemacht.122 Während G. Hammann in der Kompetenzerweiterung lediglich eine Diffusion sieht, bzw. einen (späteren) Abfall von den fünf Kriterien, die J. Calvin ursprünglich für die Neudefinition des Diakonenamtes aufgestellt hätte, sich aber nicht weiter bemüht, den Gründen für diese Andersartigkeit nachzugehen,123 versuchte R. M. Kingdon eine überzeugende Erklärung zu finden. In der Tat erscheinen seine Bemerkungen, wonach dies auf die Alltagssituation der franz.prot. Kirche zurückzuführen ist, sehr plausibel.124 Die gemeindliche Existenz in der Illegalität und im Untergrund habe eine starke Wirkung auf die Ausformung der kirchlichen Ämter gehabt – so auch auf die des Diacre.125 Pastoren waren durch feindliche Übergriffe besonders gefährdet und so zwangsläufig ständig unterwegs und oft nur kurze Zeit in einer Gemeinde präsent gewesen, so dass ihre Aufgaben – unter anderem auch die Unterweisung – von anderen kirchlichen Laienämtern teils mitausgeführt werden mussten.126 So resümiert R. M. Kingdon: »In these and other ways, deacons often rose to positions of real leadership in France, and this constituted quite a departure from practice in Geneva.«127 Die Lektüre der Beschlüsse der franz.-reformierten Nationalsynoden128 spricht für diese Erklärung. Die Konkurrenz zwischen Diakonen und Pastoren führte gelegentlich zu heftigen Kompetenz- und Machtstreitigkeiten129, so dass es auch Versuche gab, den Einfluss der Diakone und ihre Befugnisse zurückzudrängen oder zu beschränken. Auffällig ist, dass die beiden uns überlieferten Versuche, über Beschlüsse der Nationalsynode die Bedeutung der Diakone einzuschränken, unternommen wurden, nachdem jeweils eine relativ »lange« Friedens- bzw. Toleranzphase vorangegangen war. So beschloss man nach der oben bereits erwähnten Ruhe-Periode, die von ca. 1560 bis ins Jahr 1562 dauerte,

122 123 124 125 126 127 128 129

donn¦ — chacun.« (»Ein Mann der zum Pastorenamt geeignet ist, kann nicht Diakon sein und ist ungeeignet, um Almosen zu verteilen. Und auch das Gegenteil [gilt]: es gibt viele, die Arme pflegen können, die aber nicht dazu bestimmt sind, zu unterrichten.«) – C.O. 53, 303. W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten, 1. Teil, bes. S. 18; R. M. Kingdon , Geneva and the Consolidation, S. 41. Vgl. hierzu: G. Hammann, a.a.O., S. 266. Vgl. ders., Geneva and the Consolidation, S. 41. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ihr Textkorpus ist in gedruckter Form überliefert durch J. Aymon, Actes eccl¦siastiques et civiles. So z. B. auf der Provinzial-Synode von N„mes vom 1.–14. Februar 1562. Vgl. dazu: W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten, 2. Teil, S. 14.

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noch einmal darüber zu beraten, ob es wirklich weiterhin zu den Aufgaben der Diakone gehören solle, dass sie öffentlich katechisieren.130 Im August 1571 beschloss die Nationalsynode, dass die Diakone nur noch an der Gemeindeleitung, also dem Consistoire, partizipieren sollen, wenn es »das Consistoire für gut hält«.131 Auch hier ging seit dem Friedensedikt von Saint-Germain im Jahr 1570 eine »längere« Zeit voran, die den Protestanten relative Sicherheit gewährte.132 Der Beschluss wurde allerdings im darauffolgenden Jahr revidiert.133 Dass bei diesen (einzigen) beiden Versuchen, die Einflußmöglichkeiten der Diakone einzudämmen, jeweils eine gewisse Zeit äußerer Ruhe vorausgegangen war, kann kein Zufall sein. Denn in dieser Zeit war man wahrscheinlich auf die Aushilfsund Untergrundfunktion der Diakone weniger angewiesen als sonst üblich und die eigentlichen Pastoren konnten offener und stetiger agieren, so dass bald Konflikte dort eintreten mussten, wo bislang Diakone sozusagen den Platz besetzt hielten. Dem Erklärungsmodell von R. M. Kingdon folgend, lässt sich also sehr wohl deutlich machen, wie sehr der franz. Protestantismus von seiner Alltagssituation her bestimmt gewesen ist und wie unabhängig seine reale Geschichte von einst entworfenen Ideen oder »Dogmen« verlaufen konnte. Mögen J. Calvin und seine Genfer Kirchenordnung ab 1555 auch eine gewisse Initialwirkung gehabt haben oder zumindest die Konstituierung von Gemeinden in Frankreich ab dieser Zeit verstärkt beeinflusst haben,134 so gingen Th. 130 Beschluss der Nationalsynode von Orl¦ans (25. April 1562), siehe J. Aymon, Actes eccl¦siastiques et civiles, S. 27. 131 Beschluss der Nationalsynode von La Rochelle (2. August 1571), siehe J. Aymon, a.a.O., S. 104. 132 Zum ersten Mal bekamen die Protestanten neben Religions- und Kultusfreiheit (außer in Paris) auch vier Städte als Sicherheitsplätze für die folgenden zwei Jahre zugestanden (vgl. M. Carbonnier-Burkard, Le XVIe siÀcle, S. 38/39; H. Dubief, Hugenotten, S. 620). 133 Vgl. W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten, 3. Teil, S. 1. 134 Die Einflussnahme J. Calvins auf die Geschicke der franz.-prot. Kirchen und die Vorbildfunktion der Genfer Kirche setzte verstärkt ab 1555 ein. Von Genf aus wurden 88 ordinierte Personen nach Frankreich gesandt, die in den Jahren zwischen 1555 und 1562 für den Aufbau einer ordentlichen kirchlichen Struktur nach Genfer Vorbild in den franz. Gemeinden Sorge tragen sollten (vgl. M. Carbonnier-Burkard, Le XVIe siÀcle, S. 28 ; J. EstÀbe, Vers une autre religion, S. 51 f.; M. Prestwich, Calvinism in France 1555 – 1629, S. 84). Nach M. Prestwich beruhte diese Entsendung nicht auf einer Initiative J. Calvins oder seiner Freunde in Genf, sondern war lediglich Antwort auf eine Anfrage aus Frankreich, wie überhaupt die Ausbreitung des Calvinismus in Frankreich und die Schaffung entsprechender kirchlicher Strukturen nicht von Genf ausgegangen und gesteuert worden sei wie etwa R. M. Kingdon betont (ders., Geneva and the Coming of the Wars, S. 110 u. 128), sondern auf Organisationsbedürfnisse und die Verbreitung begünstigende Umstände in Frankreich selbst zurückgehe (vgl. M. Prestwhich, a.a.O., S. 85 f.). Eine große Rolle habe dabei die erfolgreich durchgeführte und mit einem Consistoire ausgestattete Gründung der Gemeinde von Paris im Jahre 1555 gespielt, die als solche eine ausschlaggebendere Bedeutung für weitere Gemeindekonstituierungen innerhalb Frankreichs hatte als die zuvor gegründete Gemeinde Genfs (vgl., ebd., S. 84 u. 85).

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Beza und andere J. Calvin treu verbundene Gestalten des franz. Protestantismus de facto doch oft an franz.-prot. Realität vorbei, wenn sie unbeirrt auf das große Vorbild Genfs oder J. Calvins verwiesen und die Praxis nach Genfer orthodoxer Rezeptur – das Diakonenamt eingeschlossen – ändern wollten.135 Aber bildete die von J. Calvin vorgenommene Distinktion und Propagierung der Ämter hospitalier und procureur bzw. die Genfer Kirchenordnung überhaupt das direkte Vorbild für die franz. Kirchenordnung von 1559, was Aufgaben und Bedeutung der Diakone angeht? Diese Frage stellte sich ähnlich bereits W. Bernoulli und bei der Suche nach anderen Vorbildern für die Regelungen in der Discipline eccl¦siastique stieß er auf die Kirchenordnung von Poitiers (Westfrankreich) – die »Articles Polytiques pour l’¦glise r¦form¦e selon le S. Evangile« von 1557.136 Die Regelungen und Funktionsbestimmungen für Diakone in der Discipline eccl¦siastique haben mehr Ähnlichkeiten mit dieser Kirchenordnung von Poitiers als mit der von Genf. Das bezieht sich vor allem auf die Aufgabe des Katechismusunterrichtes und die Beteiligung an der Gemeindeleitung, die dort gegeben ist, in Genf jedoch nicht.137 Was W. Bernoulli zwar nicht erwähnt, aber dennoch auffällt, ist, dass zudem auch in der Kirchenordnung von Poitiers keine Unterteilung in hospitaliers und procureurs oder anderer Art stattfindet.138 Zugleich werden hier Besuche als Aufgabenfeld der Diakone explizit erwähnt, ebenso wie zwei Jahre später in der Discipline eccl¦siastique im Unterschied zur Genfer Kirchenordnung.139 W. Bernoulli vermutet, dass die von ihm beobachtete »Bevorzugung der Diakone mit Einflüssen zusammenhängt, die von der französischen Flüchtlingsgemeinde ausgegangen sind, die Calvin in Straßburg organisiert hat«140. Das würde auch damit zusammenpassen, dass H. Dubief ebenso den presbyterial-synodalen Charakter der Discipline eccl¦siastique zumindest indirekt auf Einflüsse M. Bucers zurückführt.141 Entscheidend ist, dass die franz.-reformierte Kirche bei dieser Interpretation der Dinge das Amt des Diakons – als eines kirchlichen, eigenständigen, gleichwertigen und an der Gemeindeleitung beteiligten Laienamtes – der eigenen Straßburger Exilgemeinde zu verdanken hätte, also der dort in der Not geborenen und in Eigenverantwortung praktizierten Armen- und Krankenversorgung. Das würde auch für die These von J. 135 Zu solchen Versuchen von Th. Beza und anderen, das Genfer Modell durchzusetzen vgl. R. M. Kingdon, Geneva and the consolidation, S. 41. 136 W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten, 1. Teil, S. 14 – 18. 137 Vgl. ebd. S. 15 u. 18. 138 Zum Wortlaut des Textes siehe W. Bernoulli, a.a.O., S. 14 – 17. 139 Siehe dazu den Textauszug bei W. Bernoulli, a.a.O., S. 15. W. Bernoulli geht auf diesen Tatbestand bzw. Textunterschied nicht ein. 140 Ebd., S. 18. 141 H. Dubief, Hugenotten, S. 619.

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Pannier sprechen, nämlich dass die Straßburger franz. Gemeinde der Prototyp der Reformierten Kirchen Frankreichs im 16. Jh. gewesen sei.142 Inwieweit der direkte oder indirekte Einfluss auf die franz.-ref. Kirchengestalt, der von Johannes A Lasco und der niederländischen Migrantengemeinde in London ausging, wie ihn neuerdings J. Becker dargelegt hat bzw. geltend macht,143 auch im Blick auf die Entwicklung des Diakonenamtes in den franz.ref. Kirchengemeinden eine Rolle gespielt haben könnte, müssten weitere Studien erst noch erweisen. Aber auf diesen Punkt der Kirchenordnung bezogen scheint das eher unwahrscheinlich oder, wenn dann nur minimal. Der Einfluss der weitaus näher gelegenen Flüchtlingsgemeinden in Straßburg und Genf ist da viel offenkundiger. Dass das Amt des Diakons gerade in der Straßburger Flüchtlingsgemeinde einen wichtigen Stellenwert hatte, ist besonders durch die Arbeit von Ph. Denis ausgewiesen worden.144 Unsicher bleibt, ob dieses Amt schon in den dreißiger Jahren dieselbe Ausprägung hatte wie später in den fünfziger Jahren.145 Die eigenverantwortliche Versorgung der Armen und Kranken erwies sich vor allem deshalb als notwendig, weil die Straßburger Almosenordnung von 1523 Fremde in der Versorgung ausgeschlossen hatte146 und der Rat aufgrund des großen Bevölkerungszustroms ab 1530 Fremden den Aufenthalt in der Stadt gänzlich untersagte147. Ihre Existenz und Versorgung mit Almosen wurde zeitweilig allenfalls außerhalb der Stadtmauern geduldet.148 Sie waren auf das Wohlwollen von Privatpersonen angewiesen. Zwar hatte der für die städtische Armenfürsorge zuständige Lukas Hackfurt die Bürger der Stadt noch 1529 zur Unterstützung der Flüchtlinge aufgerufen, aber ihre Hilfsbereitschaft war sehr gering.149 Durch die neue protestantische Lehre einer sozialen Verantwortung, die 142 Vgl. J. Pannier, Calvin — Strasbourg, bes. S. 115 – 134. Ob man allerdings so weit gehen kann, zu sagen, dass nicht in Genf, sondern im Straßburg der Jahre 1538 bis 1541 der wahre Calvinismus zu Tage getreten sei, wie L. Febvre resümiert (vgl. ders., Crayon de Jean Calvin, S. 261), dürfte fraglich sein. Denn es scheint je nach Forscherperspektive subjektiv sehr verschieden zu sein, was unter »wahrem Calvinismus« zu verstehen ist. Wird der Person Calvins als Urmaßstab auch in solch einer Forschungsperspektive nicht viel zu viel Bedeutung beigemessen? 143 Judith Becker, La constitution eccl¦siastique de Jean a Lasco pour l’Êglise n¦erlandaise de Londres et son influence en France, in: Yves Krumenacker unter Mitarb. v. Olivier Christin (Hg.), Entre Calvinistes et Catholiques. Les relations religieuses entre la France et les PaysBas du Nord (XVIe – XVIIIe siÀcle), Lyon 2010, 59 – 75. 144 Vgl. Ph. Denis, Les Êglises d’¦trangers, Bd. 2, S. 400 – 405 u. 409/410. 145 Vgl. ebd., S. 400 – 405, bes. 403. 146 Dazu vgl. Ph. Denis, a.a.O., S. 403. 147 Vgl. M. Chrisman, Urban poor, S. 62; vgl. dazu auch die Empfehlungen des für die städtische Armenfürsorge zuständigen Leiter Lukas Hackfurt, abgedruckt in: O. Winckelmann, Fürsorgewesen der Stadt Straßburg, Bd. 2, 1530, Nr. 94, S. 134 – 135. 148 Vgl. M. Chrisman, Urban poor, S. 62. 149 Vgl. M. Chrisman, Strasbourg and the Reform, S. 281/282.

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losgelöst vom meritorischen Gedanken war, erfuhr die Übernahme und Zentralisierung der Armenversorgung durch die Stadt zwar eine gewisse ideologische Rechtfertigung und zugleich wurde der Bettel entheiligt.150 Aber, was soziale Verantwortung darüber hinaus konkret heißen sollte, war noch nicht ausreichend und überzeugend entwickelt und vermittelt worden.151 So wurde im Bewusstsein der Bürgerschaft auch kaum die Notwendigkeit gesehen, Flüchtlinge oder Stadtfremde zu unterstützen. Damit war die Selbsthilfe und -organsisation der Flüchtlinge gefragt. Ph. Denis bringt den Sachverhalt auf den Punkt, wenn er feststellt: «…ni — Strasbourg, ni — GenÀve n’a pu se mettre en place une v¦ritable diaconie, c’est-—dire un service des pauvres propre — l’Êglise. Ce furent les communaut¦s du refuge, dont le statut ¦tait diff¦rent, mÞme si toutes, ou presque, ¦taient reconnues par le pouvoir civil, qui r¦alisÀrent les id¦aux de Bucer et de Calvin en cette matiÀre.»152

Das, woran Bucer und Calvin auf großer Ebene in Straßburg und Genf mehr oder weniger gescheitert waren, wurde demnach hier im Alltag des franz.-prot. Mikrokosmos zu einer Realität. Damit wird keine Aussage darüber getroffen, dass der Minderheitsstatus oder die Existenz in einem Mikrokosmos an sich positiv und wünschenswert gewesen wären oder dass von einem idealistisch-romantischen Verständnis ausgehend erst diese die Durchsetzung bestimmter Ideale ermöglicht hätten. Aber es wird deutlich, wie eng die konkrete Existenz und Gestalt des gemeindlichen Diakonenamtes von Anfang an mit spezifisch franz.prot. Existenzbedingungen verbunden gewesen ist. Es war der Versuch einer konstruktiven Antwort auf das Armutsproblem einer Flüchtlingsgemeinde und gekennzeichnet vom Prinzip der Selbsthilfe. Die Ansätze Bucers und Calvins fielen so auf fruchtbaren Boden einer Exilgemeinschaft, die auf der Suche nach ihrer Kirche war und zugleich den Alltag in der Fremde, der von Armut geprägt war, bewältigen musste. So müsste die von H. Oberman als »Reformation der Refugi¦s« qualifizierte »dritte Reformation« neben den von ihm aufgeführten drei Charakteristika (Identifikation mit dem jüdischen Volk, Widerstandslehre und Akzentuierung des Prädestinationsverständnisses)153 eigentlich um ein weiteres typisches Charakteristikum – die Herausbildung eines solchen kirchlichen »Diakonenamtes«, wie hier beschrieben – ergänzt werden. 150 Vgl. M. Chrisman, Strasbourg and the Reform, S. 283. 151 Mit M. Chrisman, Srasbourg and the Reform, S. 283. 152 «…weder in Straßburg noch in Genf konnte sich eine wirkliche Diakonie etablieren, d. h. ein eigener Dienst der Kirche für die Armen. Es waren die Flüchtlingsgemeinden, deren Status anders war, selbst wenn alle oder fast alle von der zivilen/staatlichen Macht anerkannt waren, die die Ideale von Bucer und Calvin auf diesem Gebiet verwirklichten» (ebd., S. 401). 153 Vgl. H. Oberman, Die Reformation, S. 296 – 299.

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Sind damit die Prägung und der Charakter des Diakonenamtes, wie sie in der Discipline eccl¦siastique vorliegen, nun allein auf Straßburger Einflüsse und die dortige Exilgemeinde zurückzuführen? Das wäre ein Rückschluss, der sicherlich nahe läge, jedoch übereilt wäre. Wir konnten zwar weiter oben darlegen, dass ein direkter Einfluss auf das Diakonenamt der franz.-reformierten Kirchen Frankreichs durch die Genfer Kirchenordnung eher ausgeschlossen ist.154 Aber ähnlich wie in Straßburg existierte auch im damaligen Genf eine französische Flüchtlingsgemeinschaft mit einer eigenen diakonischen Institution – der Bourse franÅaise155 (»französische (Armen)kasse«). Diese inzwischen vor allem durch eine neuere Studie von J. Olson ausgiebig erforschte Einrichtung156 hat solche Nähen zur diakonischen Praxis der franz.-ref. Kirche im Heimatland, dass wir davon ausgehen müssen, dass beide Exilgemeinschaften – sowohl die Straßburger als auch die Genfer – durch ihre diakonische Praxis erheblich zur Ausprägung und Etablierung des Diakonenamtes in den Reformierten Kirchen Frankreichs beigetragen haben. Auch die Terminologie spricht sehr für diese Sicht der Dinge. Die von J. Calvin in der Genfer Kirchenordnung als Diacres (»Diakone«) titulierten hospitaliers und procureurs, werden in den Genfer Rats- und Hospitalakten nie so genannt.157 Wenn der Begriff Diacre überhaupt irgendwo in diesen Akten auftaucht, so bezieht er sich nach den Angaben von R. M. Kingdon158 immer auf die Bourse franÅaise. Nach J. Olson war im allgemeinen Sprachgebrauch des 16. Jh. in Genf die Bezeichnung Diacre ohnehin die übliche für jemanden, der für eine solche Armenkasse der Flüchtlinge zuständig war, nicht jedoch für einen Hospitalverwalter oder -mitarbeiter.159 Neben der französischen existierten auch eine italienische und eine englische Flüchtlingsgemeinschaft in Genf, die offenbar zeitweise ebenso über eine solche Armenkasse verfügten.160 So gesehen liegt es also viel näher, dort in der franz.-prot. Genfer Flüchtlingsgemeinschaft auch die Vorbilder für das franz.-ref. Diakonenamt und die damit verbundene Gemein-

154 Vgl. besonders die terminologischen Unterschiede und Hintergrundinformationen weiter oben S… 155 Im 16. Jh. nannte sich diese Einrichtung ganz exakt: »Bourse des pauvres estrangers franÅais« (»Kasse der armen französischen Fremden«), vgl. J. Olson, Calvin and Social Welfare, S. 24. In dieser vollständigen Selbstbezeichnung kommt der eigentliche Zweck – die Unterstützung der in materielle Not geratenen Fremden bzw. Geflüchteten – deutlicher zum Ausdruck. 156 J. Olson, Calvin and Social Welfare. Grundlegend war die Studie von H. Grandjean, La Bourse FranÅaise, S. 46 – 60. 157 Vgl. R. M. Kingdon, Deacons, S. 87. 158 Vgl. ebd. 159 Vgl. J. Olson, Calvin and Social Welfare, S. 32. 160 Vgl. ebd.

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dediakonie zu suchen und nicht in der Genfer Kirchenordnung bzw. dem Genfer Hospital. Das Genfer Hospital blieb eine Institution, die weitestgehend dem Stadtrat zugeordnet und untergeben war und solches galt entsprechend für die dortigen hospitaliers und procureurs und deren Selbstverständnis.161 Hingegen entwickelte sich mit der neu ins Leben gerufenen162 Bourse franÅaise der franz.-prot. Flüchtlingsgemeinschaft eine Institution, in der die dortigen Diakone tatsächlich einen kirchlichen Auftrag hatten und einer kirchlichen Gemeinschaft gegenüber rechenschaftspflichtig waren – in der sie also letztendlich ein kirchliches Amt bekleideten, wie es J. Calvin in seiner Idealvorstellung vielleicht vorschwebte, was sich aber auf der Stadtebene nicht so durchsetzen konnte.163 Für eine Vorbildfunktion dieser Institution der Genfer französischen Flüchtlingsgemeinde und den vergleichsweise geringen Einfluss der Genfer Kirchenordnung auf das franz.-ref. Diakonenamt spricht auch die Erwähnung der Besuche als Aufgabenfeld der Diakone in der Ordnung der Bourse franÅaise.164 Hier wie auch in der oben erwähnten Ordnung von Poitiers und der Discipline eccl¦siastique werden sie ausdrücklich genannt, nur eben nicht in den Versionen der Genfer Kirchenordnung (s. o.). Diese Besuche wurden auch mit großer Ernsthaftigkeit praktiziert. Es handelte sich nicht um eine Nebensächlichkeit dieser Institution, sondern um ein Spezifikum. Unsicher scheint zu sein, ob nur kranke Arme (regelmäßig) besucht worden sind oder auch sonstige Arme. Zu Recht bemerkt J. Olson mit Bezug auf die Diakone jedoch : »That they actually visited the homes of the sick was alone a great accomplishment that set this fund apart from many other sixteenth-century welfare institutions.«165 Denn das bedeutete nicht nur Bereitschaft zur Begegnung mit den Armen an ihrem Ort, sondern zugleich auch Bereitschaft, sich dem Risiko der Ansteckung durch 161 Vgl. ebd., S. 30 – 32. 162 Die Gründung dieser Einrichtung fand wahrscheinlich im Jahr 1545 statt, um die Versorgung franz. Flüchtlinge zu gewährleisten. Ganz gewiss ist dieser Zeitpunkt nicht. Sicher ist aber, dass die Einrichtung spätestens ab dem Sommer 1549 existent, funktionsfähig und auch mit Diakonen ausgestattet war (dazu vgl. J. Olson, a.a.O., S. 33 – 36). Bereits vor der Institutionalisierung der Bourse franÅaise versorgten offenbar franz. Protestanten ihre Schicksalsgenossen, die von der Versorgung des Genfer Hospitals mehr oder weniger ausgeschlossen waren, da es in erster Linie nur für die Versorgung Stadtarmer gedacht war. Aber die Notwendigkeit einer effektiven Hilfe, erforderte eine entsprechend große und überlebensfähige Organisation, als welche sich die Bourse franÅaise erweisen sollte (vgl. ebd., S. 33). 163 Vgl. ebd., S. 32. 164 Dabei ist es unerheblich, dass diese Ordnung selbst erst 1581 fixiert worden war. Sie spiegelt eine lang gehegte Praxis wider. Zum Entstehungsdatum der Ordnung vgl. J. Olson, a.a.O., S. 33 u. S. 34, dort Anm. 14. Die Besuche als Aufgabenfeld werden von J. Olson nur erwähnt, ohne diese Tatsache weiter zu kommentieren (vgl. ebd., S. 33). 165 J. Olson, a.a.O., S. 77.

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Krankheiten auszusetzen166. In dieser Hinsicht hob sich die Einrichtung in ihrem Anspruch und ihrer Praxis von einer im 16. Jh. sich zunehmend entwickelnden Isolation und Marginalisierung der Armen167, zu der vor allem die Gruppe der sogenannten unwürdigen Armen gehörte168, wohltuend ab. Auf der anderen Seite 166 Vgl. ebd. 167 Zur Isolation und Marginalisierung der Armen ist auf folgende Literatur zu verweisen: B. Geremek, la naissance de la marginalit¦, S. 106 – 111; ders., Geschichte der Armut, bes. S. 148, S. 196, S. 245 ff; zum besonders eindrücklichen Beispiel von Rouen im Jahr 1534 vgl. ebd., S. 192; V. Hunnecke, Überlegungen zur Geschichte der Armut, 484 u. bes. 490. Er will die Marginalisierung primär auf die sogenannten unwürdigen Armen bezogen sehen (vgl. ebd.). Nach J.-P. Gutton entwickelte sich die Idee der Trennung der Armen von der Gesellschaft am Ende des 16. Jh. (vgl. ders., La soci¦t¦ et les pauvres, S. 122). Neben den vielleicht eher positiv zu wertenden Elementen des Umbruchs in der Armenversorgung des 16. Jh., die eine effektivere Organisation gewährleisten sollten, dürfen diese Aspekte der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Armut und des Umgangs mit den von ihr betroffenen Menschen nicht übersehen werden. Äußerlich kam diese Tendenz der Marginalisierung nicht nur in der Vertreibung von Bettlern und der Bedrohung mit der Todesstrafe zum Ausdruck, sondern auch in der Stigmatisierung durch Brandmarkung von aufgegriffenen »Vaganten« (vgl. Chr. Sachße / H. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, S. 112), durch eine den unterstützungsberechtigten Armen auferlegte Kennzeichnungspflicht, z. B. durch das Tragen eines gelben Sterns auf dem Ärmel (vgl. W. Fischer, Armut in der Geschichte, S. 38; B. Geremek, Geschichte der Armut, S. 195; J.-P. Gutton, la soci¦t¦ et les pauvres, S. 108. J.-P. Gutton zählt dies als eines der Charakteristika der in vielen französischen Städten im ersten Drittel des 16. Jh. eingerichteten »bureaux des pauvres« (»Armenbüros/ämter«) auf (ebd.)) und schließlich auch durch öffentliche Bekanntmachung von Armenlisten an Kirchentüren (B. Geremek, a.a.O., S. 194/195). Gerade am letzten Beispiel wird deutlich, dass nicht immer negative Absicht damit verbunden war, denn immerhin wollte man für die unterstützungsberechtigten »würdigen Armen« tatsächlich eine Versorgung gewährleisten. Trotzdem mussten diese Maßnahmen zwangsläufig eine Diskreditierung ihrer Person und erst recht der von der Versorgung ausgeschlossenen »unwürdigen Armen« nach sich ziehen (ähnlich: J. Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat, S. 25/26). 168 V. Hunnecke unterscheidet in seinen Überlegungen zu Recht die beiden großen Gruppen der sogenannten würdigen Armen und der unwürdigen Armen. Zu ersteren zählten Arme, deren Armutsform und -gründe gesellschaftlich akzeptiert wurden , zu letzteren zählten diejenigen, die eine solche Akzeptanz nicht erfahren haben, z. B. Bettler und »Vaganten«, deren Entwurzelung de facto überwiegend von chronischer Unterbezahlung und/oder Unterbeschäftigung herrührte (vgl. auch B. Geremek, Geschichte der Armut, S. 194). Zur Gruppe der »würdigen Armen« zählt V. Hunnecke: »Alte, Behinderte, Krüppel, Geisteskranke, Invalide, ledige Mütter und kinderreiche Familien« (ebd., S. 484). Grundsätzlich wird man ihm in dieser Unterscheidung beipflichten müssen, weil sie von der Gesellschaft in der Zeit bis zum Ende des Ancien R¦gime so vorgenommen wurde. So begegnete man in der Frage der Sozialpolitik diesen Gruppen entsprechend unterschiedlich. Die Grenzen zwischen beiden Gruppen waren jedoch fließend. V. Hunnecke und andere laufen m. E. Gefahr das zu übersehen, wenn sie im Grunde die begrifflichen Zuschreibungen und Definitionen der damaligen Gesellschaft reproduzieren, ohne zu berücksichtigen, dass bereits diese Einteilung selbst eine Hilfskonstruktion gewesen war, dem Problem damaliger Armut zu begegnen, Bedrohungspotentiale zu bändigen und Arme zu disziplinieren. Eine (Werte) Hierarchisierung der Armutsformen war dazu sehr dienlich. Insofern sollte V. Hunnecke es auch vermeiden, einen Begriff wie »Krüppel« nicht in Anführungszeichen zu setzen (siehe obiges Zitat). Mir scheint eine historische Differenzierung notwendig zwischen dem, was

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sind wir darüber unterrichtet, dass gegenüber der Gruppe der »unwürdigen Armen« (Bettler, »Vaganten« und andere Randgruppen) auch bei den franz. Protestanten Aversionen und Vorurteile bestanden.169 Jedoch besaßen sie aufgrund eigener Erfahrungen durchaus ein Bewusstsein von den Bedingungen, die zu Entwurzelung, Marginalisierung und Armut führen konnten. Das zeigte sich nicht zuletzt darin, dass sie zahlreiche Eingliederungsmaßnahmen für die Ortsfremden bzw. entwurzelten Flüchtlinge ergriffen.170 In diesem Spannungsbogen bewegten sich ihr diakonisches Engagement und ihre Besuchspraxis. Leider fragt J. Olson nicht nach den Gründen für diesen markanten Unterschied zu den anderen Wohlfahrtseinrichtungen vor Ort. Gewiss erlaubten solche Besuche eine soziale und religiöse Kontrolle171 und Disziplinierung. Es gab aber auch andere Gründe für diese Form der sozialen Intervention, die weiter unten benannt werden (siehe Kap. 2.2.2.1). Hier genügt es, anzumerken, dass das Element der Besuche von eminent wichtiger Bedeutung für das diakonische Engagement der franz. Protestanten war. Es wird uns deshalb auch an anderen Stellen innerhalb der Darstellung noch mehrmals begegnen und beschäftigen.172

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tatsächlich gewesen ist und dem wie wahrgenommen wurde oder gegenwärtig noch wird. Deshalb ist auch Vorsicht geboten bei der Verwendung von Begrifflichkeiten oder unreflektierter Übernahme von Attributen. Bei allem Verständnis für die methodische Notwendigkeit einer Trennung dieser beiden Gruppen, kann doch nicht übersehen werden, dass gerade eine mangelnde medizinische Versorgung ein Kennzeichen damaliger Armut war und »Krüppel« und »Invaliden« zum Teil erst produzierte. Umgekehrt entwickelte sich das »Vaganten-« und »Bettlertum« oft aus zerbrochenen ehemals intakten Familienverhältnissen aufgrund von Krankheit, Arbeitsausfall, dauerhafter Unterbezahlung, Überlastung durch Kinder etc. Das lässt sich z. B. auch den schon erwähnten Diaconat-Protokollen (beginnend 1699) der franz.-prot. Gemeinde Berlins entnehmen (vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin). Dennoch bleibt es bei der von V. Hunnecke getroffenen Feststellung, dass die Gruppe der »unwürdigen Armen« gegenüber den »würdigen Armen« oft das Nachsehen hatte. M. E. Richard hält allgemein fest: »…les r¦form¦s n’aiment pas les mendiants.« (»…die Reformierten mochten die Bettler nicht«, ders., La vie des protestants franÅais, S. 23). Das mag auf theologische Grundpositionen bezogen gewiss richtig sein. Doch damit machen die Hugenotten in der Neuzeit ebenso wenig wie die Puritaner eine Ausnahme. Die Abneigung gegen Bettel und das Bestreben, ihn zu unterbinden, war allgemein verbreitet (vgl. auch B. Geremek, Geschichte der Armut, S. 211). Vgl. J. Olson, Calvin and Social Welfare, S. 39 f. Zum Begriff »soziale Kontrolle« und der Funktionsweise im Zusammenhang mit Armenbesuchen vgl.: B. Weisbrod, »Visiting« und »Social Control«, S. 181 – 207, bes. S. 181 f. Auch wenn die von B. Weisbrod untersuchten Beispiele einer späteren Zeit und einem anderen Ort zuzurechnen sind (das viktorianische England), gelten einige der hier getroffenen Feststellungen in ähnlicher Form sicher auch für die Armenbesuche der franz. Protestanten – so z. B. das von B. Weisbrod für die Besuche der englischen Stadtmissionare festgestellte »paternalistische Credo von der gegenseitigen Abhängigkeit von Unterwerfung und Fürsorge« (ebd., S. 201). Dieses Credo begegnet auch später in der hugenottischen Berliner Exilgemeinde (vgl. G. Wenzel, a.a.O.). Insbesondere auch im Zusammenhang mit der weiblichen diakonischen Tätigkeit durch

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In Genf war zwar nicht wie in Frankreich die Situation der äußeren Anfechtung oder Bedrohung akut, die zu einer illegalen oder halblegalen Organisationsweise der Diakonie herausgefordert hätte. Aber die Exilssituation in Genf erforderte auf diakonischem Gebiet in ähnlicher Weise wie in Frankreich eine Selbstorganisation, die in sich ein abgeschlossenes funktionierendes und gleichzeitig flexibles System darstellte. Der Bau oder die Unterhaltung eigener Hospitäler in Genf dürfte allein schon aus finanziellen Gründen nicht in Frage gekommen sein. Umso größere Bedeutung mussten die (geregelten) Krankenbesuche und die ambulante medizinische Versorgung der Armen haben. Vieles spricht dafür, dass die Bourse franÅaise von Genf ähnlich wie die Flüchtlingsselbsthilfe in Straßburg in einer Zeit entstanden ist, in der die äußeren Bedingungen eine gezieltere Flüchtlingsunterstützung von der Exilgemeinde erforderten, zum einen, weil der Flüchtlingsstrom zunahm und zum anderen, weil die offizielle Politik des Stadtrats als Reaktion darauf auch hier mit der Ausschließung fremder Armer antwortete.173 Dies deckte sich zwar nicht mit der grundsätzlichen Offenheit Genfs für protestantische Flüchtlinge,174 die um ihres Glaubens willen verfolgt wurden. Aber im Bewusstsein fehlte wohl der Blick für einen Zusammenhang dieser beiden Dinge. Eine offene religionspolitische Haltung musste nicht zwangsläufig armen- oder sozialpolitisches Engagement nach sich ziehen. Oder hatte es – ähnlich wie in Straßburg (s. o.) – nur einfach seine Grenzen, als ein gewisses Maß an finanzieller Belastung erreicht war? Auch hier in Genf bahnte sich also die Notwendigkeit einer organisierten Selbsthilfe an. Dazu bedurften die franz. Protestanten des nötigen Kapitals. Spenden, regelmäßige Sammlungen, eine Art Selbstbesteuerung und Legate lieferten die finanziellen Mittel. Das Legat, das wahrscheinlich das größte Anfangskapital zur Stiftung der Bourse franÅaise beibrachte, bedachte bezeichnenderweise die Straßburger Flüchtlingsgemeinde in gleicher Weise wie die Genfer.175 Offenbar existierte oder entwickelte sich hier eine Gemeinsamkeit im Engagement für die »eigenen fremden Armen«. ambulante Krankenbesuche und zeitweise auch in Hospitälern etc. (Kap. 2.2.2.2; 2.2.2.14 und 2.3.6.4). 173 Zu diesen beiden Hintergründen vgl. die auf das Jahr 1545 bezogenen Informationen bei J. Olson, a.a.O., S. 34. 174 J. Staedtke spricht sogar von einem »Asylrecht für Glaubensflüchtlinge« im damaligen Genf (ders., Calvins Bedeutung für die moderne Welt, S. 84), was begrifflich betrachtet sicherlich problematisch ist, aber aus der Sicht vieler damaliger Glaubensflüchtlinge so als zutreffend empfunden worden sein mag, weil Deutsche, Engländer, Franzosen und Italiener dort massenweise Aufnahme fanden und unbehelligt ihrer Religionsausübung nachgehen konnten, durch die sie zuvor gezwungen gewesen waren, ihr Land zu verlassen. 175 In einem Quellentext, der sich auf den Beginn der Bourse franÅaise bezieht, heisst es: »Commencement de la Bourse franÅaise — l’occasion d’un legs de 1000 ¦cus fait par David Busanton qui en l¦gua autant, aux pauvres de Strasbourg dont plusieurs ¦trangers r¦fugi¦s

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Zu den oben erwähnten Nähen zur diakonischen Praxis der franz.-reformierten Kirche im Heimatland sei hier kurz und beispielhaft nur auf einige wenige verwiesen. Es würde den Rahmen der vorliegenden Darstellung sprengen, hier in einen ausführlichen Vergleich einzutreten. Was die Aktivitäten und Leistungen der Bourse franÅaise angeht, so kann dies bei J. Olson genauestens nachgelesen werden.176 Eine knappe Auflistung dessen, was wir in gleicher Weise in der Praxis der Gemeinden innerhalb Frankreichs bis 1598 und darüber hinaus als charakteristisch antreffen können, soll hier genügen: An erster Stelle ist einer der Hauptzwecke der Institution zu nennen, nämlich die Unterstützung Ortsfremder. Diese Tradition setzt sich samt ihrer an anderer Stelle zu erörternden Dialektik177 noch am deutlichsten in den Gemeinden des Refuge fort, sei es in denen des 16. Jh.178 oder denen des 17. und 18. Jh.179, insbesondere in Berlin.180 Allerdings muss hier angemerkt werden, dass es sich in erster Linie um Ortsfremde desselben oder eines nahestehenden Bekenntnisses handelte. Die Gruppe der Ortsfremden und die der Flüchtlinge gingen zum Teil ineinander über und sind oft gar nicht zu trennen, da Reise- und Fluchtmotive sich mischten oder gegenseitig bedingten und viele Flüchtlinge nur kurzzeitig andernorts Fuß fassten, wenngleich es auch Immigranten gab, die Genf nicht aufgrund religiöser Verfolgung aufsuchten.181 Ein besonderer Stellenwert ist den Hilfen zur Eingliederung der »Fremden« in die Gesellschaft vor Ort beizumessen. Diese Hilfen sind von einmaligen oder vorübergehenden Unterstützungen oder Reisegeldern zu unterscheiden. Sie dienten vielmehr der dauerhaften Begründung einer Existenz in der neuen

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firent un fonds et un ordre de contribution pour la continuer et ¦tablirent des Diacres et des receveurs…« (»Beginn der Bourse franÅaise anläßlich [eigentlich: bei der Gelegenheit] eines Legates von 1000 ¦cus von David Busanton, der ebenso viel den Armen Straßburgs vermachte, wovon mehrere Fremde Flüchtlinge einen Fond gründeten und eine Beitragsordnung schufen, um sie fortzuführen und Diakone und Kassierer einführten…«) – zitiert nach J. Olson, a.a.O., S. 227, Anm. 17. Vgl. J. Olson, a.a.O., bes. S. 37 – 57. Vgl. Kap. 2.2.2.7 »Drei Unterstützungsarten«, dort der Abschnitt über die »passants«. Zur Auswertung der Unterstützungen in den Diaconat-Protokollen in Berlin, die aufweisen, wie sehr die mehrfach gezahlten Reiseunterstützungen im Vergleich zu einmaligen Existenzgründungshilfen die Entwurzelung eher befördert haben als dass sie zu einer Stabilisierung beigetragen hätten vgl. auch G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. Hier sind vor allem Genf, Straßburg und Frankfurt a. M. zu nennen. Zu dem Beispiel von Frankfurt a. Main als Drehscheibe des Flüchtlingsstroms vgl. M. Magdelaine, Drehscheibe des Refuge, S. 26 – 37. Hier waren die Schweizer Kantone besonders stark betroffen wie auch Frankfurt a. M. (vgl. M. Magdelaine, Drehscheibe des Refuge, S. 26 – 37) und zahlreiche andere Orte des deutschen und internationalen Refuge. Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. Vgl. J. Olson, a.a.O., S.

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Heimat. Neben der Unterkunftsvermittlung zählten dazu vor allem die Maßnahmen, die sich auf den Beruf bezogen hatten, also Lehrstellenvermittlung, »Umschulungen«, Arbeitsstellenvermittlung, Ausstattung mit Werkzeugen, Arbeitsgeräten182, Rohmaterialien etc. Gelegentlich wurde auch Geld für Geschäftsgründungen oder deren Aufrechterhaltung geliehen, z. B. zur Abdeckung von Mietkosten.183 Über Erfolg oder Misserfolg dieser Maßnahmen lässt sich nach J. Olson nichts Genaues sagen, weil die Wirkung in den Protokollbüchern nicht unbedingt festgehalten ist.184 Dennoch dürfte das Bestreben, das Übel hier bei der Wurzel anzupacken und über eine reine regelmäßige Brot- oder Geldzuweisung hinauszugehen, die Eigenständigkeit der Hilfsbedürftigen eher gestärkt und hier und dort zum Erfolg geführt haben. Auch verraten diese Hilfsmaßnahmen, dass Armut nicht als ein unabwendbares Schicksal gesehen wurde, dem man sich zu fügen gehabt hätte. Hier eröffnete die neue protestantische Arbeitsideologie, vor allem aber die Praxis dieser Flüchtlingsgemeinde zur Überwindung sozialer Not, neue Perspektiven. Zweifellos galten all diese Maßnahmen nicht nur der Gruppe der Flüchtlinge und Neuzugezogenen, sondern auch dem üblichen Klientel damaliger Wohltätigkeitsorganisationen, d. h. den Armen, Kranken, Witwen und Waisen, die schon länger zur Gemeinde gehörten. Die Grenzen zwischen ortsansässig und ortsfremd waren im Fall der französischen Protestanten den äußeren Umständen entsprechend sehr fließend. Die bereits zuvor erwähnte Lehrstellenvermittlung war oft begleitet von Lehrvertragsabschlüssen und Zahlung von Lehrgeld etc. durch die Diakone. Sie wurde nicht nur für Waisen, sondern auch für andere alleinstehende und nicht alleinstehende (arme) Jugendliche praktiziert. Diese Ausbildungsförderung sollte als präventive Maßnahme, armen oder armutsgefährdeten Jugendlichen ermöglichen, einen Platz innerhalb der Gesellschaft einzunehmen, der ihnen zumindest ihren Lebensunterhalt sichern sollte.185 In der Waisenfürsorge unterschied sich die Bourse franÅaise dadurch von dem Genfer Hospital, dass sie keine zentrale Unterbringung der Waisen in einem Waisenhaus oder einer vergleichbaren Einrichtung vornahm, sondern die ein182 Dazu zählten z. B. Gerätschaften für die Textilverarbeitung wie Wollkratzen. Auch diese spezifische Form der Intervention finden wir in N„mes (vgl. besonders Kap. 2.3.3), aber auch in besonders ausgeprägter Form in der Berliner Flüchtlingsgemeinde wieder. Da der Textilbereich für Berlin große Bedeutung erlangte und sich die brandenburgisch-preußische Herrschaft gerade durch die Aufnahme von Hugenotten einen Aufstieg in dieser Branche erhoffte, war es konsequent und naheliegend, solche Hilfen zu einer dauerhaften Existenzsicherung anzubieten (vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin). 183 Zu all dem vgl. J. Olson, a.a.O., S. 39 – 40. 184 Vgl. ebd., S. 40. 185 Vgl. auch J. Olson, a.a.O., S. 43.

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zelnen Waisen in Familien bzw. bei Witwen unterbrachte und letztere dafür entsprechend materiell unterstützte.186 Je nach Alter wurden sie anschließend oder gleichzeitig – wie oben bereits erwähnt – in eine Lehre vermittelt. Diese Form einer ambulanten Waisenfürsorge erwies sich später auch als ein Spezifikum des franz. Protestantismus im Heimatland.187 Zur Aufgabe der Armenfürsorge durch die Diakone gehörte offenbar auch die Förderung des Schulunterrichts und weiterbildender Maßnahmen für arme Kinder – Jungen und Mädchen! – durch Schulgeldzahlung etc.188 Auch hierauf legte man in den reformierten Gemeinden Frankreichs sehr viel Wert, wie wir noch sehen werden.189 Es bildeten sich schon sehr früh zwei grundsätzlich zu unterscheidende Unterstützungstypen heraus, die wir sowohl in Frankreich als auch im Berliner Refuge190 wiederfinden können, nämlich die dauerhafte, regelmäßige Unterstützung und die einmalige oder kurzzeitige Unterstützung. Auch wenn aus den Arbeiten H. Grandjeans und J. Olsons nicht hervorgeht, ob man diese beiden Unterstützungsformen gleichfalls begrifflich in ordinaire (»gewöhnlich«) und extraordinaire (»außerordentlich«) oder etatmäßig unterschieden hatte wie in Frankreich und im Berliner Refuge191, so ist doch sicher, dass sie bereits hier existierten.192 Dabei glichen die Dauerversorgung und ihr Klientel am ehesten der Praxis der zeitgenössischen Wohltätigkeitseinrichtungen wie dem Genfer Hospital , d. h. regelmäßige Unterstützung alter, kranker oder behinderter Menschen, die nicht in der Lage waren, sich selbst zu versorgen.193 Diese meistens für die Dauer einer Woche gewährte Unterstützung bestand außer in der Zeit der großen Fluchtwellen ab den achtziger Jahren des 17. Jh. immer in Geld, nie in Brot, das im 16. Jh. hingegen ein übliches Armenversorgungsmittel des Genfer Hospitals darstellte.194 Die vorwiegend pekuniäre Hilfe blieb auch in Frankreich die dominierende. Diese Ausführungen sollen genügen, um die Nähen zwischen Diakonenaufgaben und diakonischer Praxis der Genfer französischen Flüchlingsgemeinschaft und der franz.-reformierten Gemeinden Frankreichs aufzuzeigen und nicht zuletzt dadurch noch einmal darzulegen, wie gering der Einfluss der 186 187 188 189 190 191

Vgl. ebd., S. 43. Siehe hierzu S… der Arbeit. Vgl. J. Olson, a.a.O., S. 43. Vgl. Kap. 2.2.2.8; 2.3.5 und 2.4.8. Vgl.: G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. In der Berliner Gemeinde unterschied man den Etat der regelmäßigen gewöhnlichen Unterstützungen (¦tat ordinaire) und den der außergewöhnlichen Zuwendungen (¦tat extraordinaire) – vgl. G. Wenzel, a.a.O. 192 Vgl. J. Olson, a.a.O., S. 44 und vorhergehende Seiten. 193 Vgl. ebd., S. 44 f. 194 Vgl. ebd., S. 45.

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Genfer Kirchenordnung und wie groß hingegen der der Bourse franÅaise gewesen ist. Zugleich relativiert sich damit die Rolle und Bedeutung der Person J. Calvins. Es ist zwar sicher, dass er persönlich an den Aktivitäten der Bourse franÅaise teilgenommen hat und auch, dass er grundsätzliche Theoriearbeit zur Armenversorgungsfrage und zum Diakonenamt der Kirche geleistet hat. Aber mit Blick auf die oft überschätzte Bedeutung seiner Person, stellt J. Olson bezüglich der Entstehung und Praxis der Bourse franÅaise sehr ernüchternd fest: »…the Bourse franÅaise was the work of a group of people and not the creation of just one man.«195 Schließlich benennt sie auch den entscheidenden Entstehungshintergrund und die diese Institution in ihrer Wirklichkeit und konkreten Gestalt prägenden Motive: »It sprang not only from the working out of an idea…but also from the needs of a minority church to survive in an alien society«196. Damit führt sie diese spezielle diakonische Struktur nicht auf den Einfallsreichtum eines Mannes zurück, dessen Gedanken nur richtig umgesetzt werden mussten, sondern auf die Antwort einer ganzen Gruppe – einer Glaubensgemeinschaft – auf die sozialen Nöte und Herausforderungen ihrer Zeit. Dass J. Olson dabei dem Minderheitenstatus ein großes Gewicht beimisst, ist mehr als angemessen197 und erklärt, weshalb sich viele Parallelen zur Struktur 195 Ebd., S. 36. 196 Ebd. 197 W. Hartung beklagt in seinem Aufsatz »Gesellschaftliche Randgruppen im Spätmittelalter«, S. 113, Anm. 387: »M. E. ist der Begriff ›Minderheit‹ in Sprachgebrauch und wissenschaftlicher Literatur (auch) durch sozialromantische Einstellungen und die Mode der ›Betroffenheit‹ korrumpiert.« Nach seiner Auffassung stellen Machteliten auch Minderheiten dar (vgl. ebd.). Darüber ließe sich gewisslich streiten. Jedenfalls ist das in der soziologischen Minderheitenforschung umstritten (vgl. Art. »Minderheit« von L. Vaskovics, in: G. Endruweit / G. Trommsdorff, Wörterbuch der Soziologie; S. 444 f.) Positiv zu werten ist, dass Hartung sich um Kriterien einer Definition des Begriffs »Randgruppe« bemüht, ohne sich dazu des Begriffs ›Minderheit‹ zu bedienen, da dieser letztlich zu »schwammig« erscheint (zur Problematik des Begriffs »Minderheit« bzw. »minority group« siehe auch Art. »minority group« in: G. Marshall (Hg.), Oxford Dictionary of Sociology, S. 334). Die Begriffe »Randgruppe« und »Minderheit« etc. werden für sich genommen in der Soziologie weder einheitlich definiert, noch existiert ein Konsens über ihre eindeutige Abgrenzung zueinander (vgl. hierzu die Lexika-Artikel: »Minderheit« von L. Vaskovics, in: G. Endruweit / G. Trommsdorff, Wörterbuch der Soziologie; S. 444 f.; »minority group«, in: G. Marshall (Hg.), Oxford Dictionary of Sociology, S. 334; »Minderheiten« von R. Peukert / J. Wegmann, in: B. Schäfers (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie; »Minorität« von R. Klima, in: R. Lautmann (Hg.), Lexikon zur Soziologie, S. 441. Konsequent betrachtet könnte z. B. eine »Randgruppe« auch eine Mehrheit darstellen, wenn man als Kriterium für die Randexistenz nicht den zahlenmäßigen Umfang der Gruppe zugrunde legt, sondern die Ausgrenzung bzw. Nicht-Partizipation an der Macht. Auf der anderen Seite führen viele Gruppen nur deshalb eine Randgruppenexistenz, weil sie als einer Minderheit Zugehörige über zu wenig Machteinfluss verfügen. Mir scheint, dass man ganz ohne den Begriff »Minderheit« nicht auskommen kann. Zudem gehen in W. Hartungs Randgruppendefinition zahlreiche Kri-

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und Organisation der Diakonie in Frankreich vorfinden lassen. Denn auch auf die franz.-reformierten Gemeinden Frankreichs bezogen erwies sich diese Konstante bzw. Determinante als äußerst prägend, vor allem was das diakonische Wirken innerhalb der ersten Phase anging (s. u.). Schließlich soll an dieser Stelle auch bereits ein kurzer Blick auf die Frankfurter Exilgemeinde erfolgen. Dort war die Armen- und Krankenfürsorge der Gemeinde nämlich schon sehr früh in ähnlicher Weise wie in der Straßburgerund Genfer Exilgemeinde etabliert und zwar, ohne dass ein unmittelbarer Einfluss J. Calvins vorhanden gewesen wäre. Spätestens seit 1554 – also noch ein Jahr vor der oben bereits erwähnten, am Genfer Modell orientierten Kampagne des kirchenorganisatorischen Ausbaus in Frankreich – existierte das Diakonenamt in dieser Gemeinde in derselben Gestalt wie in der Straßburger- und Genfer Fremdlingsgemeinde.198 Eine maßgebliche Wirkung ist in der Frühzeit der Gemeinde sicherlich von ihrem ersten offiziellen Pastor, dem aus Lille (heutiges Nordfrankreich) stammenden Val¦rand Poullain (1543 – 1547)199, ausgegangen. Über ihn ist nicht nur bekannt, dass er bezeichnenderweise zwischenzeitig als Pastor der Straßburger Fremdengemeinde tätig gewesen ist,200 sondern auch, dass er die dort vorgefundene Praxis und Kirchenordnung der »ecclesiola gallicana« in seiner Schrift »Liturgia sacra«201 als Vorbild favorisiert hatte.202 Jedenfalls hatten auch hier die Diakone eine markante, herausragende Rolle. Sie nahmen in der Frankfurter Gemeinde nicht nur Leitungsfunktionen innerhalb des Consistoire wahr203 und verfügten – im Gegensatz zu den ersten Diakonen der Straßburger Gemeinde204 – über die alleinige Schlüsselgewalt der

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terien ein, die traditionell auch für die Minderheitendefinition in Anspruch genommen wurden – wie z. B. Normabweichung, negative Etikettierung oder Stigmatisierung seitens der Gesellschaft, die Bildung von Subkulturen (vgl. ebd., S. 111 f.; vgl. dazu die genannten Lexika-Artikel). Es erstaunt daher kaum, dass die Hugenotten bzw. französischen Protestanten alle diese Kriterien erfüllen würden und also ebenso als »Randgruppe« beschrieben werden könnten. Beide Begriffe erhellen letzten Endes erst durch ihre Kontextualisierung. Das Plädoyer W. Hartungs für eine ideologiekritische Distanz und begriffliche Genauigkeit hebt jedenfalls die Notwendigkeit wissenschaftlicher Erforschung und Berücksichtigung des Minderheits- oder Randgruppenstatus, da wo er bislang oft außerachtgelassen wurde, nicht auf. Für die Zeit ab 1554 existieren Rechnungsbücher der Diakone (vgl. Ph. Denis, Les Êglises d’¦trangers, S. 405). Vgl. M. Magdelaine, Drehscheibe des Refuge, S. 26. Vgl. A. Duke, The Ambivalent Face of Calvinism, S. 122. Er nennt das Jahr 1544. Vgl. V. Pollanus, Liturgia sacra. In der Ausgabe der Liturgia sacra von 1554 und 1555 befinden sich auch einige Ergänzungen und Veränderungen zum Gebrauch dieser Ordnung in der Frankfurter Exilgemeinde. Vgl. A. Duke, a.a.O., S. 122. Vgl. Ph. Denis, a.a.O., S. 415. In der Straßburger Exilgemeinde scheinen die Diakone zumindest anfänglich, d. h. 1540, nicht über die Schlüssel verfügt zu haben. Ph. Denis interpretiert das so, dass sie damit auch nicht eigenverantwortlich agiert hätten (vgl. ders., a.a.O., S. 402).

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Armenkasse205, sondern unterschieden sich auch hier durch ihre Besuchspraxis von den Diakonen der Genfer Kirchenordnung. Die materielle Versorgung verband sich mit wöchentlichen oder zweiwöchentlichen regelmäßigen Besuchen,206 die, auf diese Weise festgelegt, einen wesentlichen Bestandteil ihres Aufgabenfeldes darstellten. Auch bei der Frankfurter Gemeinde wird deutlich, dass ihre Diakonie nicht einfach das Produkt der Umsetzung von J. Calvins Idealvorstellungen gewesen war, sondern auch hier die Selbstorganisation im Kontext sozialer Herausforderungen der entscheidende Beweggrund war und dazu an konkrete Vorbilder angeknüpft wurde. Wie sonst wäre es zu erklären, dass ein Kernstück der Gedanken J. Calvins zur Reform des Diakonenamtes, nämlich die Wahrnehmung liturgischer Aufgaben während der Eucharistie durch Diakone,207 dort keine Beachtung fand,208 während auf der anderen Seite die Gemeindeleitungsfunktion, die entgegen der Behauptung P. Philippis209 kein ausgesprochenes Anliegen J. Calvins war und in seinem Reformprogramm des Diakonenamtes nicht vorkam,210 hier zu den zentralen Funktionen der Diakone 205 Das geht aus einem Abschnitt der aus dem Jahre 1585 überlieferten Diakonieordnung hervor. Dieser Teil befindet sich als Manuskript abgedruckt in: F. Wolff u. a., Hugenotten in Hessen, S. 21. Unter Punkt 1 dieser Ordnung heißt es in eigener Übersetzung: »Erstens: Derjenige, der nicht zur Morgenversammlung der Diakone – sonntags unmittelbar nach der Morgenpredigt – kommt und sich nicht vor Gebetsende einfindet und keine ernstzunehmende Entschuldigung hat, soll zur Strafe einen Taler bezahlen und wenn er den Schlüssel besitzt die doppelte Summe.« Es existierte nur ein Schlüssel. Das geht aus dem dritten Punkt der Ordnung hervor (vgl. ebd.). 206 Zu den Besuchen vgl. Ph. Denis, a.a.O., S. 406. 207 Hierzu vgl. G. Hammann, L’amour retrouv¦, S. 247 – 251. 208 Die Diakone der Frankfurter Exilgemeinde bereiteten lediglich den Abendmahlstisch als solchen vor (vgl. Ph. Denis, a.a.O., S. 406). 209 P. Philippi schreibt: »Wohl ist auch Calvins Diakon in der Gefahr, der bürgerlichen Säkularisation zu erliegen, aber von seinem Konzept her soll er bei der Kelch-Austeilung des Abendmahls beteiligt sein (Institutio IV, 5), wodurch er folgerichtig zur Gemeindeleitung gerechnet wird.« (ders., Art. »Diakonie (II), in: TRE, S. 633). Hier geht P. Philippi nicht nur von einem problematischen Säkularisationsbegriff und von einer falschen Gegenüberstellung bzw. Alternative aus (siehe weiter unten im laufenden Text). Auch seine Schlussfolgerung, dass der Diakon wegen seiner Mitarbeit beim Abendmahl folgerichtig zur Gemeindeleitung gerechnet werden müsse, ist weder zwingend – solche Aufgaben wurden und werden oft Diakonen übertragen, ohne dass diese an der Gemeindeleitung beteiligt wären -, noch hat es Anhalt in den Äußerungen J. Calvins selbst. Die Gemeindeleitungsaufgabe fehlt sowohl in Genf als auch in den Überlegungen J. Calvins. Bei den Kriterien und Aufgaben, die J. Calvin für die Diakone vorsieht, ist nirgend die Gemeindeleitungsaufgabe genannt (vgl. hierzu die folgende Anmerkung). Das Konzept, dass die Diakone zur »wahren Kirche« gehören sollen, muss keineswegs zwangsläufig bedeuten, dass ihnen Gemeindeleitungsaufgaben übertragen werden sollen. 210 Zwar trat J. Calvin für das Diakonenamt als spezielles Amt neben dem des Pastors ein. Über die Wahrnehmung von Gemeindeleitungsaufgaben war damit jedoch nichts ausgesagt. Siehe dazu J. Calvins Äußerungen zum Diakonenamt, ausführlich dargestellt bei: G. Hammann, a.a.O., S. 240 – 253, E. A. McKee, John Calvin on the diaconate. Bezeichnend ist,

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gehörte!? Bezeichnend ist, dass sich gerade diese letztgenannte Kompetenz der Diakone auch erweisen musste und de facto in Frankfurt auch erwiesen hatte, als 1561 kurzzeitig die Schließung der franz. Kirche vom Magistrat beschlossen wurde.211 Offenbar war die Aufrechterhaltung des sozialen Verbundes im Exil von unschätzbarem Wert, so dass den Diakonen selbst in Zeiten, wo die Kirche auch dort offiziell nicht existieren konnte, eine zentrale Funktion zukam. Somit zeigt sich auch am Beispiel der Frankfurter Flüchtlingsgemeinde, wie sehr die spezielle Ausrichtung des Diakonenamtes und die Notwendigkeit diakonischen Engagements von der spezifischen Exils- bzw. Minderheitssituation geprägt gewesen sind. Es mutet kurios an, dass das kirchliche Amt des Diakons ausgerechnet in den französischen Flüchtlings- oder Minderheitsgemeinden verwirklicht wurde, hingegen das, was M. Bucer und J. Calvin in Teilen in der Theorie vorschwebte, in Ländern, wo sich die Reformierten Kirchen im Schutze staatlicher Gewalt etabliert haben, kaum zur Realität geworden war.212 So wurden beispielsweise die Diakone in Genf letztendlich vom Rat der Stadt gewählt und nicht vom Consistoire oder einem vergleichbaren kirchlichen Leitungsgremium.213 Der Machtkonflikt und der Kompetenzstreit in diesen neuen reformierten Gebieten zwischen Stadt bzw. Staat auf der einen Seite und Kirche auf der anderen Seite verhinderte dort weitgehend eine solche Entwicklung. Somit war die konkrete Gestalt des Diakonats der franz.-prot. Kirchen von 1559 weniger J. Calvin selbst zu verdanken als vielmehr der Situation, dem Wirken und der Wirkung der eigenen Exilgemeinden und -städte. Weniger die biblische Rückbesinnung einer herausragenden Persönlichkeit wie J. Calvin, sondern vielmehr die sozialen Probleme und Herausforderungen in den großen Städten sowie die Alltagsnöte und das Selbstverständnis der dortigen Exilgemeinden als spiritueller und gleichzeitig sozialer, d. h. solidarischer Gemeinschaften bzw. Gemeinden, führten dort zur Entstehung eines Diakonenamtes, wie es sich schließlich auch in Frankreich durchsetzte. Ohne Zweifel war und blieb J. Calvin auf sozialem Gebiet von prägender Bedeutung auch für den franz. Protestantismus. Jedoch sind seine Überlegungen dass die Diakone der Genfer Kirchenordnung entsprechender Weise kaum Einfluss auf die Gemeindeleitung hatten, wie oben im laufenden Text erwähnt). 211 Die Diakone führten die Abrechnung und Versorgung mit Armengeldern trotz Aufhebung der Kirche im Jahr 1561 standhaft weiter. Siehe hierzu: Ph. Denis, Les Êglises d’¦trangers, S. 406. 212 Bereits G. Uhlhorn machte darauf aufmerksam, dass das kirchliche Amt des Diakons der Reformierten Kirche erst in den Fremdlingsgemeinden zur vollen Entfaltung gekommen sei und wies diesbezüglich auf die Bedeutung des Polen a Lasco hin (vgl. ders., Die christliche Liebestätigkeit, S. 599), auf den an anderer Stelle noch einmal zurückzukommen ist (vgl. Kap.5 (Ausblick und Schluss)). 213 Vgl. M. Lechner, Le calvinisme social, S. 43.

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zum Diakonat ohnehin nicht das Herzstück seiner Botschaft zum Thema Armut und Reichtum.214 Wie sich aus der vorangegangenen Darstellung ergibt, wäre es vor allem aber falsch, die konkrete Gestalt gemeindeeigener sozialer Tätigkeit im franz. Protestantismus allein auf seine Person oder das sogenannte Genfer Modell zurückzuführen,215 wie bislang immer wieder geschehen, sei es durch allgemeine Verweise auf sein Straßburger und Genfer Wirken, sei es durch Bezug auf die von ihm verfasste Genfer Kirchenordnung.216 Auch die neuerlich von 214 Vgl. H. Scholl, Die Kirche und die Armen, S. 68. Er bezieht sich in seinen Ausführungen zwar vorwiegend auf die Analyse einer einzigen Predigt von J. Calvin. Jedoch lassen sich diese Grundgedanken und Optionen in anderen Schriften ebenso nachweisen. Dazu vgl die ausführliche Analyse bei A. Bi¦ler, La pens¦e ¦conomique et sociale, bes. S. 223 – 256 u. S. 306 – 338. 215 Auch H. Scholl spricht in seinem Aufsatz über »Die Kirche und die Armen in der reformierten Tradition« trotz seiner von ihm vorgenommenen Konzentration auf die sozialen und diakonischen Überlegungen und Aktivitäten Calvins die Warnung aus: »Man darf sich allerdings den Modellcharakter Genfs in der Frage der Armenfürsorge, des Diakonates und der sozialen Gestaltung in der reformierten Welt des 16. Jahrhunderts auch nicht zu einseitig und zu direkt vorstellen. Calvin kann ja selber bereits auf frühere reformatorische Versuche in der Bewältigung der Armutsfrage zurückgreifen…« (ders., Die Kirche und die Armen, S. 70). Hier spielt H. Scholl vor allem auf das Wirken M. Bucers und anderer – z.B. auch Katharina Zells – in Straßburg an (vgl. auch ebd., S. 66 u. 71). Des Weiteren verweist er außerdem darauf, dass die oben schon erwähnte Gemeindeordnung von Poitiers mit ihrem Einfluss auf die Discipline eccl¦siastique letzterer ein eigenes Gepräge verliehen habe, ohne dass er dies jedoch näher ausführt (vgl. ebd., S. 70). Dass dem tatsächlich so ist und welches die Spezifika sind, wurde oben im laufenden Text erläutert. 216 Leider zeigt auch der Beitrag von H. Ochsenbein trotz seiner Sensibilität für die spezifische Situation des franz. Protestantismus diese Tendenz. Unter Punkt »a)« seiner grundlegenden Feststellungen zur Diakonie im prot. Frankreich heißt es: »Die offene diakonische Tätigkeit…erhält ihre Grundlinien und Gestaltung durch die von Johannes Calvin selbst entwickelte und in Genf verwirklichte Auffassung des Diakonats der Kirche, die insbesondere in den 1541 herausgegebenen ›Ordonnances eccl¦siastiques de GenÀve‹ festgelegt ist.« (ders., Die diakonische Tätigkeit, S. 63). Mit Blick auf die oben herausgearbeitete andersgeartete Gestalt und Gewichtung des Diakonenamtes und die Wahl der Diakone durch den Genfer Rat etc. wird man das nicht mehr sagen können und in Zukunft bezüglich des franz. Protestantismus ebenso wenig allgemein formulieren können: »Nunmehr konstituierten sich, nach dem Muster von Genf, evangelische Gemeinden« (so bei K. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, S. 320). Ein Muster für die Organisation der Diakonie lieferte – wenn überhaupt – die dortige Bourse franÅaise der franz. Exilgemeinde. Auch J. Rotts These von einer direkten Beeinflussung der calvinistischen Kirchen durch das Straßburger Modell auf der einen Seite und einer indirekten durch die Genfer Kirchenordnung auf der anderen Seite (vgl. ders., L’Êglise des r¦fugi¦s de langue FranÅaise — Strasbourg, S. 530) ist zumindest, was das Diakonenamt in den franz.-reformierten Kirchen belangt, nicht zutreffend. Ein diesbezüglicher indirekter Einfluss der Genfer Kirchenordnung müsste, was die konkrete kirchliche Gestalt angeht, erst einmal nachgewiesen werden. Eindeutig sind die Parallelen und Berührungspunkte hingegen bei der Bourse franÅaise gegeben. Für den franz. Protestantismus dürften eher die Impulse von Calvins übrigen Schriften und Briefen zu dieser Frage von Bedeutung gewesen sein als die Genfer Kirchenordnung selbst. Der vorausgesetzte Hintergrund der Genfer Kirchenordnung, nämlich eine positive Grundhaltung der Obrigkeit zur Reformation, deckt sich auch kaum mit der Situation der prot.

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Judith Becker vorgenommene Zuordnung bzw. Kennzeichnung der Discipline ¦cclesiastique der franz.-ref. Kirchen und der Liturgia sacra von Paul Vallerand als calvinistische Kirchenordnungen ist zum einen durchaus hinterfragbar und zum Anderen – das ist hier viel entscheidender – gerade auf den diakonischen Bereich der Ordnungen bezogen nicht zutreffend.217 Zudem ist zu berücksichtigen, dass J. Calvin keineswegs der erste Geistliche war, der in der dortigen franz.-ref. Flüchtlingsgemeinde aktiv war. Vor ihm waren bereits G. Farel und Fr. Lambert dort (s. u.). Es ist von daher auch sehr gut möglich, dass Calvin bereits von ihm in der Gemeinde Vorgefundenes aufgenommen hat, als er eine Ordnung für die Straßbuger franz.-prot. Flüchtlingsgemeinde schuf.218 Dass die Existenz und Gestalt des Diakonenamtes im franz. Protestantismus nicht so sehr der Person J. Calvins zu verdanken ist, als vielmehr den Anstrengungen zur Bewältigung des Alltags der im Untergrund bzw. im Exil befindlichen Minorität, lässt sich schließlich auch am Beispiel des FranÅois Lambert von Avignon festmachen. Gemeinden im damaligen Frankreich. Dort sind in der Anfangsphase bis 1559 bürgerlicheund Christengemeinde kaum ineinander übergegangen wie in Genf. 217 Vgl. J. Becker, Reformierter »Gemeindeaufbau« in Westeuropa. Zur Verbreitung calvinischer Ekklesiologie, S. 263 – 280. J. Becker versucht dort den gemeinsamen calvinischen Charakter der Kirchenordnungen verschiedener reformierter Exil- bzw. Diasporagemeinden nachzuweisen. Was aber genau das »Calvinische« ist, was sie jeweils ausmachen zu können glaubt, ist nicht immer deutlich genug, ja mitunter willkürlich, weil sie die dafür definierte komparativistische Grundlage selbst im Verlauf des Beitrags abändert (ebd., S. 276). Bei der Zuordnung der Discipline eccl¦siastique der franz.-ref. Kirchen und der Liturgia sacra von Vall¦rand Poullain als calvinistische Kirchenordnungen ist bei ihr zu lesen: »Interessant ist, dass sich in der Discipline eccl¦siastique bei all ihrer Kürze eine so genaue Umsetzung calvinischer Ekklesiologie, insbesondere der Ämterlehre, findet, wie kaum in einer anderen Ordnung, weder in den Genfer ›Ordonnances eccl¦siastiques‹ noch in der Forma politiae eccclesiasticae« von des Galles (dies. a.a.O., S. 278). Abgesehen davon, dass das erst noch erwiesen werden müsste, dass die franz.-ref. Kirchenordnung tatsächlich »calvinischer« ist als die Genfer Kirchenordnung, muss hier eingewendet werden, dass die franz.-ref. Kirchenordnung gerade im Blick auf die Ämterlehre von Calvin an einem wichtigen Punkt abweicht. Sie lässt im Unterschied zu Calvin die Diakone an der Gemeindeleitung beteiligt sein und weist ihnen außerdem die Aufgabe der Austeilung des Abendmahls zu (siehe oben im laufenden Text). Auch die Liturgia sacra des Val¦rand Poullain der franz.-prot. Flüchtlingsgemeinde in Glastonbury (England) bzw. Frankfurt a. M., kennt nicht nur das Amt der Diakone, sondern will sie im Unterschied zu Calvin selbst, auch an der Gemeindeleitung beteiligt sehen. (vgl. J. Becker, a.a.O., S. 273). Die Bewertung dessen, was calvinische Essenz und dessen, was eher unwichtige Details sind, scheint doch ganz vom jeweiligen Standpunkt des Autors abzuhängen. 218 Wenn die Ordnung denn überhaupt Calvins alleiniges Werk gewesen ist, so ist sie leider nicht überliefert. Eine solche Ordnung wird von einigen Forschern erwähnt, aber ein Textlaut derselben ist nicht bekannt (vgl. Judith Becker, a.a.O., S. 272; Christian Grosse, Les rituels de la cÀne. Le culte eucharistique r¦fom¦ — GenÀve, (XVIe / XVIIe Siecles), GenÀve 2009, S. 132). Unsicher bleibt, ob sie wirklich gedruckt worden ist oder ob ihr damaliges Erscheinen als Druck nur postuliert wird.

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Der Südfranzose, der schon sehr früh mit Schriften Luthers in Berührung kam und sich bald zu einem Vertreter Reformierter Theologie entwickelte219, war Zeit seines Lebens auf der Flucht bzw. im vorwiegend deutschsprachigen Exil. Basel, Wittenberg, Metz und Straßburg waren nur einige seiner Aufenthaltsorte.220 Er ist als Person für unseren Kontext deshalb von Bedeutung, weil er als franz.-ref. Theologe noch vor J. Calvin federführend bei dem Entwurf einer Kirchenordnung mitwirkte, und zwar keiner geringeren als der »Reformatio ecclesiarum Hessiae«221 und seine theologische Prägung vor allem seiner Zeit in der Straßburger französischen Flüchtlingsgemeinde verdankt, in der er lange vor Calvin mit Farel zusammenarbeitete und auch bereits vor ihm die Arbeit Bucers kennenlernen konnte.222 Fr. Lambert wurde 1526 von Philipp dem Großmütigen, Landgraf von Hessen, in den Dienst genommen, mit dem Entwurf von Thesen beauftragt und im selben Jahr noch zusammen mit Anderen zur Ausarbeitung obiger Kirchenordnung auf Grundlage der verfassten Thesen angewiesen.223 Eine Besonderheit an dieser Ordnung, die als solche nie umgesetzt worden war, aber eben wegen dieser Besonderheit auch in G. Uhlhorns Geschichte der christlichen Liebestätigkeit erwähnt wird, war, dass in ihr das Amt des Diakons vorgesehen war.224 Neben dem Diakon in Gestalt eines Hilfspredigers, sah die Ordnung drei von der jeweiligen Gemeinde gewählte Diakone vor, die die eigentliche Aufgabe der Armenpflege hatten. Somit taucht die kirchlich-gemeindliche Beauftragung und Anbindung der mit einem sozialen Dienst beauftragten Diakone nicht erst bei J. Calvin auf, sondern bereits zuvor. Es liegt nahe, dies nicht als einen Zufall zu betrachten, sondern diesen Tatbestand ernst zu nehmen und als Argument für die oben dargelegten Schlussfolgerungen zu erachten, dass es primär die spezifische religiös-soziale und politische Situation franz.-prot. Gemeinden war, insbesondere auch die der Straßburger Exilgemeinde, die dort die Entstehung und Gestalt des Diakonenamtes bewirkte und weniger J. Calvin selbst. Der Einwand, dass man die Person und nationale Zugehörigkeit Fr. Lamberts damit überbewerten würde, kann kaum geltend gemacht werden. Denn es geht nicht allein um das Faktum, dass ein franz.-ref. Theologe oder reformierter Theologe französischer Herkunft am Werke war. Anhand dieser Kirchenordnung lässt sich sehr wohl auch aufzeigen, dass hier starke Parallelen zu späteren franz.-ref. Ordnungen existieren und somit ein ekklesiologisches Selbstver219 Vgl. W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie, S. 202; vgl. R. Peter, Strasbourg et la R¦forme franÅasie, S. 272 f. 220 Vgl. ebd. 221 Vgl. ebd., S. 205. 222 Vgl. R. Peter, Strasbourg et la R¦forme franÅasie, S. 272 ff. 223 Vgl. ebd. 224 Vgl. G. Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, S. 600 – 601.

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ständnis durchscheint, das sich am ehesten von dem Erfahrungshintergrund Fr. Lamberts und anderer ähnlich Betroffener her erklären lässt.225 Der in Metz und Straßburg weiter gereifte Theologe gehörte zur ersten Generation der aus Frankreich geflohenen entschiedenen Befürwortern der Reformation.226 Die von ihm entworfene hessische Kirchenordnung hatte Ansätze zu einem presbyterial-synodalen Aufbau227 und war darin ähnlich der späteren franz.-ref. Discipline eccl¦siastique. Eine weitere Nähe besteht darin, dass die Diakone hier ebenso wie auch die späteren franz.-ref. Diakone teilweise für den Dienst der Verkündigung bestimmt waren228 – ganz entgegen den Vorstellungen Calvins. Zudem waren die Diakone auch hier an der Gemeindeleitung beteiligt.229 Schließlich liegt eine besonders eindrückliche Parallele zur Diakonie der franz.prot. (Flüchtlings)gemeinden (s. o.) in der gezielten Versorgung und Begleitung von Flüchtlingen vor, d. h. um des Glaubens willen Vertriebenen, denen in der Reformatio ecclesiarum Hessiae ein ganzes Kapitel gewidmet ist.230 G. Uhlhorn interpretiert bezugnehmend auf dieses Kapitel: »Schon darin zeigt sich eine von der lutherischen Reformation abweichende Stimmung. Lambert rechnet auf ein in der Regel feindliches Verhalten der weltlichen Macht gegen das Evangelium, während Luther umgekehrt darauf rechnet, dass die Obrigkeit das Evangelium fördert.«231 Mag man diese Interpretation auch für überzogen halten, so liegt doch ihr wahrer Kern darin, dass hier die Erfahrungen Fr. Lamberts und anderer Flüchtlinge ihren Niederschlag finden. Die Passagen lassen sich kaum ohne solche mit seiner und anderer Leute Biographie verbundenen Alltagserfahrungen erklären. Von hier aus lässt sich nachvollziehen, weshalb der Begriff der Gemeinde bei Fr. Lambert bzw. in der Kirchenordnung sehr eng im Sinne einer »bekennenden Gemeinde« gefasst ist und die Diakone zugleich große Bedeutung 225 Dass in dieser Kirchenordnung ein »anderer Geist« wehte als in vielen anderen deutschen, verspürte offensichtlich schon G. Uhlhorn, wenn er schrieb: »Die Homberger Reformation wurde nie durchgeführt. Sie widersprach zu sehr dem deutschen Geist« (ders., Christliche Liebestätigkeit, S. 601). Wenn auch diese Mentalitätsfixierung problematisch erscheinen muss, so wird G. Uhlhorn in Bezug auf einige seiner zuvor ausgeführten Begründungen, was die Andersartigkeit dieser Kirchenordnung ausmacht, Recht zu geben sein (vgl. dazu weiter im Text der Arbeit). 226 Vgl. R. P. Gagg, Hugenotten, S. 37. 227 Vgl. E. Sehling, Kirchenordnungen 8, S. 56 – 58. 228 So bereits oben dargelegt und mit der spezifischen Situation des franz. Protestantismus erklärt. 229 Vgl. ebd. 230 »Denn da das Kreuz die Predigt des Evangeliums beständig begleitet, kann es nicht fehlen, dass es immer eine Menge Verbannter gibt, die, weil sie Christum nicht verleugnen wollen, aus ihrem Vaterlande vertrieben werden. Man soll nun zwar vorsichtig sein und solche Brüder prüfen, aber keinen abweisen, der arbeiten will und christlich leben.« (zitiert nach G. Uhlhorn, Christliche Liebestätigkeit, S. 600). 231 Ders., a.a.O., S. 600.

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haben und ganz bestimmte Funktionen wahrnehmen sollen, wie wir sie vom franz. Protestantismus her kennen. Die Flüchtlings- bzw. Minderheitenerfahrung schlägt auch hier zumindest indirekt zu Buche. Was die Person von Fr. Lambert betrifft, so könnte man ihn auch mit gutem Recht als vorcalvinischen franz.-ref. oder zumindest reformatorischen Theologen bezeichnen. (Ende des Exkurses)

2.2.2 Die Diakonenordnung der Pariser Gemeinde von 1561 und die Charakteristika des diakonischen Engagements in der ersten Phase Nachdem nun Entstehungsgeschichte und -zusammenhänge des franz.-ref. Diakonenamtes dargelegt worden sind, wenden wir uns wieder weiter der Darstellung des diakonischen Engagements der ersten Phase in Frankreich selbst zu. Die Rahmenbedingungen dieser Phase wurden zu Beginn dieses Abschnittes bereits erläutert. Es soll nun nicht darum gehen, jedes einzelne diakonische Phänomen, sondern die Gemeinsamkeiten, Charakteristika und Entwicklungen des praktischen diakonischen Engagements dieser Zeit zu beschreiben. Eine wichtige Bedeutung kommt in diesem Rahmen der Armen- bzw. Diakonenordnung der Pariser Gemeinde von 1561232 zu, da man sie als eine Art Ausführungsbestimmung der Discipline eccl¦siastique von 1559 in dem speziellen Bereich Diakonie sehen kann und weil sie stellenweise sogar darüber hinausging und damit auch Modellcharakter für andere franz-ref. Gemeinden erworben hat.233 In ihr wird zugleich deutlich, wie eng auch die Berührungspunkte mit den oben beschriebenen Organisationen der franz.-prot. Exilgemeinden gewesen sind, was nur aufs Neue die Ausführungen bestätigt, wonach die äußere Situation die letztendlich prägende Größe war und diese Gemeinden sich eher an den französischen Exilgemeinden orientierten als an der Person J. Calvins selbst oder seiner Genfer Kirchenordnung. Die innere diakonische Struktur der franz.-prot. Gemeinden war von Anfang an entscheidend durch die äußere politische und soziale Struktur bestimmt. In dieser Weise erwies sich die »offene« (=ambulante) Gemeindediakonie als die angemessene Antwort und Überlebensstrategie. Sollten Arme, Kranke oder andere Bedürftige nicht in die Versorgungsabhängigkeit katholischer Einrichtungen geraten oder dort verbleiben, mussten ihnen alternative Hilfsmöglich232 Der vollständige Titel dieser Ordnung war: »Police et ordre gardez en la distribution des deniers aumosnez aux pauvres de l’Êglise r¦form¦e en la ville de Paris«. Die Ordnung findet sich abgedruckt in: Bull SHPF (1) 1852, S. 254 – 260. 233 So verwundert es nicht, dass auch G. Uhlhorn diese Ordnung als Beispiel für eine in seinen Worten »wohlgeordnete Gemeindearmenpflege« der französischen reformierten Kirche anführt und kurz erläutert (vgl. ders., Die christliche Liebestätigkeit, S. 607/608).

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keiten angeboten werden.234 In einer Zeit illegaler Existenz, äußerlicher Bedrohung oder Instabilität eigneten sich dazu am besten Institutionen, die keinen Anstalts- oder Hospitalcharakter hatten, sondern den Vorteil der Ortsungebundenheit und »Unsichtbarkeit«. Das erklärt auch, weshalb die Besuche ein so wichtiges Element der Diakonenaufgaben im franz. Protestantismus darstellten. Zudem war die Pflege einer personalen Beziehungsstruktur in solchen Gemeinden eine Überlebensfrage und damit bedeutender als in einer fest etablierten Kirche, da sie ganz von solchen Beziehungen getragen und aufrecht erhalten wurden. In eben dieser Hinsicht war auch die erwähnte Pariser Ordnung (1561) bedeutsam. Das Erste, was auffällt und was auch von H. Ochsenbein richtig beobachtet wurde, ist, dass auch hier die Diakone nicht in hospitaliers und procureurs unterschieden werden.235 Er führt das auf den seiner Ansicht nach möglichen Hintergrund zurück, »daß die sogenannte geschlossene diakonische Tätigkeit in der protestantischen Kirche Frankreichs vom 16. bis 18. Jahrhundert infolge der geschichtlich bedingten Notlage dieser Kirche nie richtig ausgeübt werden konnte.«236 Diese Interpretation ist nicht nur aus den bereits oben genannten Gründen überzeugend. Sie erklärt auch, weshalb diese Unterscheidung ebenso zuvor in der Ordnung von Poitiers (1557) und in der Discipline eccl¦siastique (1559) fehlte, was wir weiter oben bereits feststellten. H. Ochsenbein kann jedoch nur einschränkend zugestimmt werden, was den Zeitraum angeht. Seine Formulierung »nie richtig ausgeübt« verrät Ungenauigkeit oder Unsicherheit darüber, ob »die sogenannte geschlossene Diakonie« irgendwann in der von ihm angegebenen Zeitspanne vom 16. Jh. bis zum 18. Jh. hier oder dort vielleicht doch »richtig ausgeübt« worden sein könnte. In der Tat war dies 234 Im Wesentlichen treffen hier die nachfolgend zitierten Äußerungen von B. Pullan den Kern der Sache, auch wenn, was er für das 17. Jh. feststellen zu müssen glaubt, bereits für das 16. Jh. zutraf (und erst in der zweiten Hälfte des 17. Jh. wieder verstärkt zu Tage trat): »And where the position of the Calvinists was that of a beleaguered minority, as in seventeenthcentury France, the Reformed Church could be driven of the necessity to maintain ist own charitable arrangements independently of the public hospitals and almonries. Only by such means could it guarantee relief to its faithful and save them from attempts to convert them by the withholding of alms from non-attenders at the Mass.« (ders., Catholics and poor in early modern Europe, S. 20). Diese Kontextualisierung setzt B. Pullan zu spät an und überspringt auf diese Weise ein Jahrhundert Bedrängung und Unterdrückung, wodurch davon abgelenkt wird, dass sich eine ausgeprägte Form der Gemeindediakonie bereits mit der Geburtsstunde des französischen Protestantismus verband und somit die Beteiligung der Laien dort bereits vor Vincent de Paul und der Gegenreformation eine besondere Bedeutung eingenommen hatte. Abgesehen von diesem kritischen Einwand ist B. Pullan ansonsten zuzustimmen. 235 Vgl. die Ordnung in: Bull SHPF (1) 1852, S. 255 – 260 und H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 66, dort Anm. 7. 236 Ebd.

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der Fall, so dass seine Aussage in dieser Form in Blick auf den Zeitraum zu revidieren sein wird. Es reicht hier aus, dazu auf die spätere Darstellung der zweiten Phase (ab 1598) zu verweisen. Der Kontext dieser Diakonieorganisation – eine überwiegend mehr oder minder klandestine, illegale oder zumindest halblegale Existenz – spiegelt sich auch an anderen Stellen innerhalb der Ordnung wieder. Er zeigt sich z. B. darin, dass das »Bureau« (»Sozialbüro« oder »Armenbüro«) sich nicht etwa in der Kirche befand oder gar in einem anderen öffentlichen Gebäude, sondern dass die Mitglieder des Bureau wöchentlich alternierend in einem ihrer Privathäuser tagten.237 Zwar handelt es sich bei dem Jahr 1561 um ein Jahr relativer Toleranz und Ruhe238 und der Pariser protestantischen Gemeinde wurde immerhin zugestanden, dass sie Gottesdienste feiern konnte, jedoch nur alltags und außerhalb der Stadtmauern. Dass die Pariser Protestanten auch weiterhin mit einer äußeren Bedrohung in Form gewalttätiger Übergriffe rechneten, zeigt sich unter anderem an der Sitzordnung ihrer unter freiem Himmel veranstalteten Gottesdienste, die von einem Augenzeugen beschrieben wird: »Bei diesen Versammlungen werden die Frauen in die Mitte genommen. Rings um sie scharen sich die Männer zu Fuß, und den äußersten Ring bilden die zu Roß.«239 Auch wenn man mit V. Roeser ab 1560 eine neue Religionspolitik der Regierung am Werke sehen will und die »Verfolgung der einfachen Häresie« vorübergehend eingestellt worden war,240 war die jahrzehntelange Unterdrückung und Verfolgung, die auch in der Umgegend von Paris eine Fluchtbewegung ausgelöst hatte,241 im Bewusstsein und vor allem im Unterbewusstsein noch ganz gegenwärtig. Noch im Juni 1559 beschloss die Regierung durch das Edikt von Êcouen, den Protestantismus für ungesetzlich zu erklären – gewissermaßen als Reaktion auf die erste in Paris abgehaltene Nationalsynode der Protestanten im Mai 1559.242

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Vgl. dazu Art. V der Ordnung, abgedruckt in: Bull SHPF (1) 1852, S. 256. Siehe oben und vgl. V. Roeser, Politik und religiöse Toleranz, S.77 ff. Zitiert nach W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten, 2. Teil, S. 8. Vgl. V. Roeser, Politik und religiöse Toleranz, S.77. J. EstÀbe nennt die Ile-de-France als eines der Gebiete, die der Stadt Genf zusammen mit anderen Gebieten Frankreichs ca. 3200 Flüchtlinge allein für die Zeit von 1549 bis 1560 (vgl. dies., Vers une autre religion, S. 54). Zu der Zahl der Flüchtlinge in Genf vgl. auch. R. Mandrou, õ GenÀve, Le premier refuge Protestant, bes. S. 665. Bei ihm beläuft sich die Gesamtzahl der in dieser Zeit aus europäischen Ländern dorthin exilierten Protestanten auf 5000. Eine neuere Untersuchung setzt diese Zahl sogar ungefähr 2 1/2 mal so hoch an (vgl. W. Monter, Historical Demography and Religious History in Sixteenth Century Geneva, S. 399 – 437), was die Dramatik dieser Situation in den in Frage kommenden Ländern und in Genf nur noch einmal unterstreicht. 242 Vgl. M. Prestwich, Calvinism in France, 1555 – 1629, S. 72.

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Ebenso wenig wird die von den Guisen243 initiierte schaurig-brutale Niederschlagung der Gruppe protestantischer Wortführer vom März 1560 in Amboise vergessen gewesen sein.244 Auch die spätere Geschichte sollte erweisen, dass Skepsis und Vorsicht der Protestanten angebracht waren und dass die Zeit für offenes und freies Agieren noch lange nicht gekommen war. Dabei ist allerdings mit J. Chambon darauf hinzuweisen, dass die Bürgerkriege nicht so sehr durch das Verhalten des Königshauses provoziert worden waren – immerhin erlies es 1562 ein »Toleranzedikt« -, als vielmehr durch die Aggressionen des auf Machtgewinn ausgerichteten Adelsgeschlechtes der Guisen und dessen entsprechendes Ignorieren des königlichen »Toleranzedikts« von 1562.245 Spätes243 Name des Adelsgeschlechtes, das es sich zur Aufgabe machte, den unerbittlichen Kampf gegen die Protestanten zu führen (siehe auch weiter im Text). 244 Nach Aussage von J. EstÀbe prägte dieses schockierende Ereignis das protestantische kollektive Gedächtnis ganz besonders (vgl. dies., Vers une autre religion, S. 87). Eindringlich wird das, auch bereits zu damaliger Zeit als besonders brutal empfundene, Schauspiel von J. Chambon geschildert: »Der große runde Turm des Schlosses von Amboise ist mit abgehackten Köpfen hingerichteter Menschen geschmückt. Von den Renaissance-Erkern an den Ecken des Baus hängen Leichen an Stricken und Ketten wie Marionetten an den Drähten ihres Theaters, wenn nun die Vorstellung aus ist.« (J. Chambon, Der französische Protestantismus, S. 55). 245 Vgl. J. Chambon, a.a.O., S. 57. Zu den sehr komplexen Zusammenhängen jener Jahre und der damit im Zusammenhang stehenden »Politisierung« des franz. Protestantismus vgl. die immer noch lesenswerte Darstellung von R. Nürnberger : Die Politisierung des französischen Protestantismus. Trotz aller Problematik des Begriffs »Politisierung« (zustimmend zu: O. E. Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, S. 144) trifft der Begriff die Sache. Spätestens durch das von den Guisen begangene Massaker von Vassy (1562) sah der Protestantismus sich vor die Notwenigkeit einer militärischen und / oder politischen Auseinandersetzung und Selbstorganisation gestellt. Zur Frage der mit der »Politisierung« eng verbundenen Widerstandslehre und ihrer historischen Zusammenhänge in jener Phase vgl. C. Vautier, la r¦sistance; H. Scholl, Reformation und Politik. H. Scholl setzt in Bezug auf diese »Politisierung« den Akzent auf die Widerstandsidee. Als die prägenden Ereignisse dieser frühen Phase des politischen Protestantismus hat er weniger die von den Guisen verursachten Massaker von 1560 und 1562 und ihre Nichtrespektierung des Toleranzediktes von 1562 im Blick. Vielmehr konzentriert er sich ganz auf das Jahr 1572. Dieses Jahr steht für die Bartholomäusnacht. Erst sie bildete seiner Meinung nach den entscheidenden Erfahrungshintergrund für die Ausbildung und Entwicklung der politischen Ideen (ebd., S. 120). Zurecht macht jedoch M. Yardeni auf die Bedeutung der Veränderung der Situation im franz. Protestantismus und dessen Bedeutung für die politischen Ideen seit Ende der fünfziger Jahre des 16. Jh. aufmerksam und bemerkt, dass die calvinistische politische Theorie dieser Zeit von Loyalität und Königsgehorsam gekennzeichnet war (vgl. M. Yardeni, French Calvinist Political Thought, S. 318 – 320). Der von H. Scholl in den Vordergrund gestellte Widerstand der sogenannten Monarchomachen und anderer (vgl. ebd. S. 87 – 123) stellt nach neuester mehrheitlicher Forschungsmeinung eher die Ausnahme in der Geschichte des franz. Protestantismus bis 1685 dar, der sich dem Absolutismus gegenüber in dieser Zeitspanne überwiegend loyal oder gar ideologieunterstützend gab (vgl. H. Bost, Art. »Absolutisme«, in: Encyclop¦die du protestantisme, S. 11 – 12; H. Dubief: Art. »Hugenotten«, in: TRE, S. 625; ausführlich siehe z. B.: H. Bost/ D. Poton: Le rapport des R¦form¦s au pouvoir, S. 31 – 55; Ê. Labrousse, La doctrine politique des huguenots, S. 421 –

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tens von da an musste sich als unvermeidliche Folge die »Politisierung«246 des franz. Protestantismus ergeben, die gezeichnet war vom Gegenüber verschiedener Kräfte und vom Ringen um die Macht in Staat und Gesellschaft, um ein Minimum gesicherter Existenz zu erreichen oder gar mehr. Was sind nun die Charakteristika der genannten Pariser Ordnung außer, dass nicht – wie bereits erwähnt – zwischen procureurs und hospitaliers unterschieden wird? Welches sind die Elemente, die bezeichnend für das diakonische Engagement sind, wie wir es auch in anderen franz.-ref. Gemeinden jener Periode wiederfinden? 2.2.2.1 Besuche Ein Charakteristikum der Pariser Ordnung stellen die regelmäßig durchgeführten Besuche247 dar. Sie sind vor allem deshalb in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen, weil diejenigen, die mit diesen Besuchen betraut wurden und sie tatsächlich auch durchführten, als Zugehörige anderer (höherer) Stände bzw. Schichten248 mit den unteren und untersten Bevölkerungsständen und -schich429) Etwas anders und vielleicht differenzierter ist K. Malettkes Einschätzung der Sachlage (ders., Hugenotten und monarchischer Absolutismus, S. 297 – 319), was jedoch noch weiterer Diskussion in der Forschung bedürfen wird. Er unterscheidet stark zwischen Süd- und Nordfrankreich. Auch Ê. Labrousse nimmt in einem anderen späteren Beitrag deutlicher Bezug auf unterschiedliche Verhaltensweisen gegenüber dem absoluten Königtum, bleibt aber bei ihrer Bewertung auf dem Standpunkt, dass gerade der Kurs der Konfrontation sich nicht durchgesetzt habe, sondern in der Minderheit blieb und dass diese Doppelstrategie in ihrer Wirkung dem Protestantismus sogar eher geschadet habe (vgl. dies., Les strat¦gies huguenotes, S. 37 – 45, bes. 42). Anders urteilt J. Garrisson, L’¦dit de Nantes, S. 117 f. Sie wertet die beiden Verhaltensweisen als komplementär. Es ist sicherlich richtig und wichtig, die Widerstandstraditionen und alternativen Verhaltensweisen, politischen Gedanken und Konzepte, nicht zu ignorieren. Deshalb müssen sie zu Tage gefördert und entsprechend betont werden, damit sie nicht der Vergessenheit anheimfallen, während dem die Alternativlosigkeit der Vergangenheit und der Gegenwart ihren Triumpf feiert. Aber es muss in dieser Frage wohl auch eine klare Antwort darauf gegeben werden, was historisch wo, bei wem und wie tatsächlich vorherrschend und bewusstseinsbestimmend gewesen ist und wie die Mehrheitsverhältnisse ausgesehen haben. Es ist davon auszugehen, dass der Beitrag von K. Malettke sich nicht einfach als eine Verwirrung stiftende Relativierung verstanden wissen will, sondern als ein Schritt in diese Richtung, der es letztlich um die seriöse Beantwortung der genannten Fragen geht. 246 Zur »Politisierung« siehe vorherige Fußnote. 247 Vgl. Art. X, XII u. XV der Ordnung, abgedruckt in: Bull SHPF (1) 1852, S. 257 f. 248 Neben einer zu wählenden Gruppe dieser Einrichtung, die acht »notables Bourgois et habitants de la ville« (»ehrenwerte Bürger und Einwohner der Stadt«) umfasste, bestand sie außerdem aus Ältesten und Diakonen des Consistoire. Zur ersten Gruppe zählten Anwälte des Hofes, Ärzte und Handelsleute (vgl. auch einige Namensnennungen und Berufsbezeichnungen am Schluss der Ordnung, a.a.O., S. 259). Die beiden letzteren Gruppen bildeten mit den Pastoren das Consistoire. Ihm, bzw. diesen beiden Gruppen, gehörten im 16. Jh. häufig auch Adlige an (vgl. D. Ligou, Le protestantisme en France de 1598 — 1715, S.193), nach der überzeugenden Darstellung von H. Heller genaugenommen erst ab den späten

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ten in unmittelbaren Kontakt kamen. In diesem unmittelbaren Kontakt liegt auch begründet, weshalb man in der Ordnung ein Rotationsprinzip innerhalb des Personenkreises vorsah, der die Besuche durchführte.249 Es handelte sich um eine Vorsichtsmaßnahme, die diese Personen vor einer Ansteckungsgefahr durch Krankheiten schützen sollte.250 Dass diese Gefahr tatsächlich bestand und ein Risiko dieser »gemeindenahen« Konzeption darstellte, wird uns auch von anderen Gemeinden bestätigt.251 Die Besuche waren auch in den übrigen Gemeinden ein besonderes Kennzeichen franz.-ref. Gemeindeexistenz. Zu diesem Zwecke wurden die Gemeinden auf Grundlage der Discipline eccl¦siatique und ähnlich wie in der Pariser Ordnung in quartiers (»Viertel«) eingeteilt und die Diacres – oder aber Anciens mit diakonischem Auftrag – sammelten und verwalteten nicht nur die Armengelder, sondern besuchten und versorgten auch regelmäßig die Armen und Kranken in ihren quartiers und waren ebenso umgekehrt Ansprechpartner für sie.252 Diese Praxis, die wir im Berliner Refuge wiederfinden, brachte nicht nur eine Konfrontation mit dem Gesicht der Armut mit sich und alle möglichen Ansteckungsgefahren. Es entsprach auch dem Selbstverständnis der Verantwortung für die »eigenen Armen« und war Teil eines wichtigen Begegnungs- und Beziehungsgeflechtes, was nicht auf soziale, religiöse oder sittliche Kontrolle zu reduzieren ist, sondern eine tragende Rolle im Gemeindeaufbau und Überlebenskampf dieser ersten Phase spielte. Über soziale, sozialethische und diakonische Implikationen und Konsequenzen dieser Form, d. h. einer unmittelbaren Begegnung mit dem Gesicht der Armut, wird an anderer Stelle der Studie zu reden sein.253

2.2.2.2 Weibliche diakonische Tätigkeit in der ambulanten Gemeindearmenund Krankenfürsorge Besuche wurden jedoch nicht nur von den ausdrücklich durch die Discipline eccl¦siastique dafür vorgesehenen Diacres, respektive Anciens oder wie im Fall der Pariser Ordnung durch andere sogenannte ehrenhafte Bürger (s. u.) geleistet. Es gab bereits in sehr früher Zeit bezogen auf die Besuchs- und Versorgungspraxis Formen weiblicher ambulanter Diakonie, die sich zu Vorbildern und

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fünfziger Jahren des 16. Jh. (vgl. ders., The conquest, S. 236). Dies lässt sich gerade am Beispiel der Pariser Gemeinde gut nachweisen (vgl. D. Richet, Aspects socio-culturels des conflits religieux, S. 764 – 783). Vgl. Art. I, a.a.O., S. 256. Vgl. ebd. Das betraf z. B. die Mitarbeiter bzw. Diakone, die die Besuche der Bourse franÅaise in Genf durchführten (vgl. J. Olson, Calvin and Social Welfare, S. 77). Vgl. Kap. 3 der Discipline eccl¦siastique. Vgl. S. 190 f. u. 230, sowie unter Kap. 3.1.10 und 5 (»Ausblick und Schluss«).

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Modellen in späterer Zeit entwickelten,254 an die schließlich auch im Refuge, insbesondere in Berlin direkt oder indirekt wieder angeknüpft wurde.255 In N„mes etwa beschließt das Consistoire am 5. April 1561, zusätzlich zu den Diakonen vier Frauen damit zu beauftragen, jede Woche in jedem Viertel Gelder für die Armen zu sammeln und bewilligte Unterstützungen zu überbringen.256 Besonders sind hier aber als beispielhaft die soeurs de Sedan oder filles de Sedan oder demoiselles de Charit¦ de Sedan zu nennen, wie sie in der Literatur unterschiedlich benannt werden und seit 1573 bezeugt sind.257 Sie führten in Sedan die alltägliche Pflege der Kranken und Versorgung der Armen aus258. Vergleichbare Aufgaben übernahmen auch in der franz.-ref. Gemeinde von La Rochelle die Dames de La Rochelle.259 Das weibliche diakonische Engagement, insbesondere das von Sedan, wird an anderer Stelle weiter unten noch näher erläutert.260

2.2.2.3 Einteilung in quartiers Weiteres Merkmal der Pariser Ordnung, wie es die gängige Praxis in allen franz.ref. Gemeinden wurde, war die zum Zwecke der Versorgung und der Besuche vorgenommene Einteilung des Gemeindeeinzugsgebietes in quartiers (»Viertel«).261 Genaugenommen ist diese Einteilung schon durch die Discipline eccl¦siastique und die dort fixierte Gemeindeaufsichtsfunktion der Anciens (»Ältesten«) vorgegeben.262 Doch wird sie eben nicht nur zu diesem Zweck genutzt, sondern auch für die diakonische Arbeit. In der Pariser Ordnung sind dabei die

254 So ist die Existenz einer »assembl¦e de dames de la R.P.R. pour assister les pauvres de ladite Religion« ( »Versammlung/Gemeinschaft der Frauen der R.P.R. [sogenannten protestantischen Religion], um die Armen der genannten Religion zu unterstützen«) aus dem Jahr 1682 in Paris bezeugt, der auch die Damen d’Hervat und de Monginot angehören (vgl. Dokument in: Bull SHPF (2) 1853, S. 168). 255 Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 256 Vgl. W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten, Heft 2, S. 7. 257 Vgl. J. Peyran, Histoire de l’Ancienne principaut¦ de Sedan, Bd. 1, S. 137, J. Imbert, l’hospitalisation des protestants, S. 175; Borel, Les associations protestantes, S. 108; H. Vonhoff, Samariter der Menschheit, S. 76 ; H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 68 und W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten, Heft 3, S. 4. 258 Vgl. Ê. Borel, Les associations protestantes, S. 108; H. Vonhoff, Samariter der Menschheit, S. 76 ; H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 68 und W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten, Heft 3, S. 4. 259 Vgl. H. Vonhoff, Samariter der Menschheit, S. 76. 260 Vgl. Kap. 2.2.2.14 und 2.3.6.4. 261 Vgl. Art. X u. XII, a.a.O., S. 257 f. 262 Hierzu vgl. Kapitel 3, Artikel III (La Discipline eccl¦siastique des Êglises R¦form¦es de France, in: E. Mengin, Das Recht der französisch-reformierten Kirche, S. 92.

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Anciens bzw. Surveillans (»Aufseher«)263 die ersten Ansprechpartner derjenigen, die in dem jeweiligen Viertel wohnen und zur Zielgruppe des »Sozialbüros« gehören. In der Mehrzahl der franz.-ref. Gemeinden übernehmen jedoch die Diacres neben der Armengeldverwaltung (Einnahme und Ausgabe) die quartiersbezogenen Besuche der Armen und Kranken (s. o.), wie es auch in der Discipline eccl¦siastique vorgesehen war.

2.2.2.4 Die Empfänger der Hilfsleistungen Die Empfänger der Hilfsleistungen sind in der Pariser Ordnung die »pauvres de l’Êglise« (»Armen der Kirche«).264 Damit sind die Klientel nicht exklusiv auf Pariser Protestanten beschränkt, wenn auch den gemeindeeigenen Armen grundsätzlich die meiste Aufmerksamkeit gewidmet worden sein wird. Es sind auch Ortsfremde in dieser Gruppe miteingeschlossen – jedoch nur Ortsfremde, die »Arme der Kirche« waren, womit eindeutig die protestantische Kirche gemeint war. Auch hinsichtlich der Adressatengruppe kann die Pariser Ordnung als typisch für die franz.-ref. Gemeinden eingeordnet werden. Die primäre Sorge galt immer den gemeindeeigenen Armen und denen der eigenen Konfession – hier sahen sich die Gemeinden selbst gefragt und herausgefordert265 – es war Teil ihrer Verantwortungswahrnehmung und von dem positiven Gedanken geleitet, dass, wenn jeder für »seine Armen«266 sorgt, damit alle Armen versorgt sein würden. J. EstÀbe-Garrison macht darauf aufmerksam, dass im Midi (Bezeichnung für Südfrankreich) im 16. Jh. auch Katholiken durch protestantisch-gemeindliche Diakonie unterstützt worden seien, ohne jedoch genau zu benennen, welches Ausmaß diese Unterstützung tatsächlich gehabt hatte.267 Dass dies gelegentlich vorgekommen sein mag, ist gut möglich.268 Immerhin lässt sich noch in sehr viel 263 In dieser Ordnung werden die Anciens als Surveillans bezeichnet und sind mit diesen identisch. 264 Vgl. Art. IX, a.a.O., S. 257. 265 Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 94 u. 96; vgl. auch: J. EstÀbe, Vers une autre Religion, S. 106). 266 Vgl. hierzu auch in der vorliegenden Darstellung: Kap. 3.1.3 »Dein Armer« – Calvins soziale Botschaft am Beispiel seiner Predigt über Deuteronomium 15, 11 – 15. 267 Vgl. dies., L’Homme protestant, S. 186; dies., Protestants du Midi, S. 258 f. 268 Solche Unterstützungen von Zugehörigen anderer Konfessionen lassen sich gelegentlich auch in Diakonatsprotokollen oder Armenrechnungen späterer im Refuge ansässig gewordener franz.-prot. Gemeinden auffinden – so z. B. in Frankfurt an der Oder (vgl. H. Erbe, Hugenotten in Deutschland, S. 120 u. 235, Anm. 137), in Hamburg-Altona (vgl. Th. Barrelet, Das Liebewesen der Diakonie in der französisch-reformierten Gemeinde zu Hamburg, S. 13 u. 22) und in und um Hofgeismar (vgl. J. Desel, Die Anfänge der Armenfürsorge in den Französisch-Reformierten Gemeinden Hofgeismar, Carlsdorf, Kelze und Schöneberg S. 63/64). Sie bilden aber eindeutig die Ausnahme.

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späterer Zeit Vergleichbares auch den analysierten Protokollbüchern des Diaconat der franz.-prot. Gemeinde Berlins entnehmen.269 Die Hinweise von J. EstÀbe-Garrison sind jedoch kaum aussagekräftig, weil sowohl Zahlenangaben als auch genauere statistische Untersuchungen fehlen.270 Hierüber schweigt die Autorin sich aus und verweist leider nur auf wenige Beispiele des Archivmaterials271, so dass der Leser letztlich im Unklaren darüber bleiben muss, ob die Unterstützung katholischer Bedürftiger Normalität war oder doch eher die Ausnahme von der Regel darstellte.272Auch wird von der Autorin zu wenig berücksichtigt und erläutert, ob die Versorgung nach, während oder ohne Konfessionswechsel stattgefunden hatte.273 Es ist freilich jeweils ein Unterschied, ob sie Element einer missionarischen Absicht bzw. Initiative war, ob sie auf universal verstandene Nächstenliebe rekurrierte oder ob sie lediglich eine Versorgungsnotwendigkeit »neuer« (gerade konvertierter) armer Gemeindemitglieder darstellte. So muss hier, nicht zuletzt auch mangels vergleichbarer lokaler Analysen, sehr viel Unklarheit in dieser Frage bleiben. Aufs Ganze betrachtet, spricht jedoch mehr dafür, dass die Unterstützung von Katholiken zu den Ausnahmen zählte, zumindest derjenigen Katholiken, die durchaus nicht beabsichtigten, zu konvertieren.274 Bei J. Garrisson-EstÀbe wird eher der gegenteilige Eindruck erweckt, ohne dass dies jedoch überzeugen könnte.275 Lediglich 269 Vgl.: G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 270 Vgl. dies., Protestants du Midi, S. 258 f. 271 Es handelt sich um einzelne Protokollbucheintragungen der Gemeinde von Montauban (vgl. dies., Protestants du Midi, S. 259 und die dazugehörigen Anmerkungen 155 – 158). 272 Auch die Aussage, dass die Katholiken der Stadt Aubenas nicht systematisch von der Versorgung der Diakone ausgeschlossen worden seien (vgl. dies., Protestants du Midi, S. 258), besagt nicht viel. Denn das heißt eben nicht unbedingt, dass sie systematisch miteinbezogen worden wären. Erst das wäre ein qualitativer Unterschied zu einer zufälligen oder willkürlichen Mitversorgung Einzelner. 273 Vgl. dies., Protestants du Midi., S. 258/259. Die Beispiele von Montauban aus dem Jahre 1595 sind gerade nicht Beleg für eine Kontinuität in der bedingungslosen Versorgung katholischer Mitbewohner seitens des Diakonats, weil die zuvor genannten Beispiele von Lyon, N„mes und Aubenas zeigen, dass die Hilfe entweder gar nicht gewährt worden war oder aber mit Bedingungen oder Bekehrungsversuchen verbunden waren (vgl. ebd., S. 256 u. 258). 274 Es ist kaum vorstellbar, dass die Reformierten Kirchen in einer Phase des Untergrunds und zahlreicher gegenseitiger Zerstörungen die Versorgung der katholischen Christen zu einem expliziten Anliegen gemacht hätten. Im Gegenteil, sie waren darauf bedacht, dass ihr Versorgungssystem nicht allzu publik wurde, jedenfalls dort, wo sie eindeutig in der Minderheit waren. Nur in Städten, in denen sie bald die Mehrheit bildeten – das waren nur wenige Städte -, konnten sie offener agieren und somit auch die Versorgung von Katholiken miteinbeziehen; so z. B. in N„mes (zum Vorgehen der Diakone in N„mes vgl. J. EstÀbeGarrisson, Protestants du Midi, S. 258). Es gab in der zweiten Hälfte des 16. Jh. in Frankreich auch kaum eine ideologische Basis in Form von Dialogbereitschaft, die zur caritativen Unterstützung der vermeintlichen »Gegner« motiviert hätte. 275 So vor allem in ihrem 1980 erschienenen Werk »L’Homme Protestant«, in dem J. EstÀbe-

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in protestantisch majorisierten Städten mag die Unterstützung katholischer Mitbewohner etwas häufiger oder geläufiger gewesen sein (so etwa in N„mes). Auffällig ist auch, dass die einzigen positiven Belegbeispiele für eine solche wohlwollende, »uneigennützige« Unterstützung der Katholiken, die J. Garrisson-EstÀbe anführt, aus dem Jahr 1595 stammen, hingegen die eher negativen oder uneindeutigen Beispiele und Aussagen der früheren Zeit angehören (N„mes 1561 Lyon 1562 Aubenas 1570 etc.).276 Wie oben dargelegt, gehört das Jahr 1595 streng genommen zur zweiten Phase des diakonischen Engagements der Protestanten in Frankreich. In dieser zweiten Phase gab es bestimmte Tendenzen und Charakteristika, die so nicht für die erste feststellbar sind und deshalb unterschieden werden müssen. Eine im Vergleich zur ersten Phase relativ größere Offenheit für die Unterstützung katholischer Konfessionszugehöriger ließe sich von den Rahmenbedingungen und Geschehnissen dieser zweiten Phase her erklären.277 Nicht etwa eine bei den Protestanten besonders ausgeprägte Menschenfreundlichkeit oder eine ökumenische Aufgeschlossenheit, sondern erst die Veränderung des gesellschaftlichen und religionspolitischen Kontextes führte zu einem anderen Umgang mit Angehörigen der anderen Konfession. Die in der Zeit vor 1595 vorwiegend in protestantisch majorisierten Städten geübte Praxis, Katholiken von der Versorgung nicht auszuschließen, war offenbar oft von dem Versuch begleitet, sie zur Annahme des »wahren Bekenntnisses« zu bewegen.278 Aus der Perspektive der Betroffenen dürfte diese Gewissensbedrängung in ihrer Notsituation kaum als besonders human wahrgeGarrisson schreibt: »Les adh¦rents de la nouvelle religion sont les premiers — Þtre aid¦s; les catholiques refoivent ensuite ce qu’il reste dans la ›bourse‹…« (»Die Anhänger der neuen Religion sind die ersten, die Hilfe erhalten; die Katholiken bekommen anschließend das, was in der Kasse übrig geblieben ist…«) (ebd., S. 186). Hier gewinnt man den Eindruck, dies sei eine gängige und geregelte Praxis gewesen, die tatsächlich die Katholiken miteinbezogen hätte. Aber für solche Vorgehensweisen liefert die Autorin weder an dieser Stelle noch andernorts entsprechende Verweise oder Belege. Auch der sich unmittelbar anschließende Hinweis, dass die Katholiken bei der Gelegenheit ermahnt worden seien, vom Götzendienst abzulassen (vgl. ebd.), ist in seiner verallgemeinernden und gleichzeitig unpräzisen Art, kaum aussagekräftig bzw. verstehbar. Wurde der Konfessionswechsel zur Bedingung für den Empfang der Unterstützung gemacht oder nicht? Die ökumenische Perspektive bei historischer Forschung im Blick zu behalten ist sicher ratsam. Aber allgemeine Aussagen zu diesem Thema zu machen, ohne dies in zahlenmäßigen Relationen auszudrücken, hat letztlich eine beschönigende, verwässernde oder harmonisierende und damit die Historie verfälschende negative Wirkung und wird durch die historische Ungenauigkeit dem Gespräch zwischen den Konfessionen eher einen Bärendienst erweisen. Dies ist gewiss von J. EstÀbe-Garrisson nicht beabsichtigt, aber es kann der Effekt solcher Art von Darstellung sein. 276 Vgl. dies, Protestants du Midi, S. 256 u. 258 f. 277 Diese Rahmenbedingungen waren günstiger für eine gegenseitige Akzeptanz der Konfessionen und eine Zusammenarbeit und fruchtbare Konkurrenz im Bereich sozialer Fürsorge und Armutsbekämpfung. Ausführlicher siehe hierzu Kap. 2.3.1. 278 So z. B. in N„mes (vgl. J. Garrisson-EstÀbe, Protestants du Midi, S. 258).

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nommen worden sein – vor allem dann nicht, wenn die Hilfe nur zugesagt worden war unter der Bedingung, dass der Konfessionswechsel erfolgen würde279. Auf die franz.-ref. Gemeinde von N„mes bezogen, konstatiert Ph. Chareyre, dass es sich bei der Unterstützung von Katholiken um sehr seltene Ausnahmen handelte.280 Obwohl in der Pariser Ordnung die finanzielle Versorgung der pauvres de l’Êglise als solche im Vordergrund stand und Kranke als Hilfsempfänger nicht ausdrücklich genannt werden, ist dennoch klar, dass sie ebenso zur genannten Gruppe der pauvres de l’Êglise zählten. Die verschiedensten Formen sozialer Not und Armut lagen nahe beieinander und die Personengruppen der Witwen, Waisen, Alten und Kranken waren dem besonders ausgesetzt.281 Im Fall von Krankheit, gerieten Familien oder auch Einzelpersonen durch Arbeitsausfall oder Pflegebelastung schnell in finanzielle Notlagen, sofern sie über keine Ressourcen verfügten.

2.2.2.5 Kontrolle der Finanzen Ein typisches Merkmal der offenen franz.-ref. Armenfürsorge der ersten Phase ist schließlich auch die in der Pariser Ordnung vorfindliche dreimonatige Rechnungslegung und Kontrolle der Bücher. Auch diese Praxis wurde nicht nur in den damaligen reformierten Gemeinden in Frankreich zur Regel, sondern reicht auch bis in die Refugegemeinden des 18. Jh. hinein, woraus sich später in der Gemeinde des Berliner Refuge auch die dreimonatige Neuordnung der Armenetatlisten entwickelte.282 Hierin und in einer bis ins Einzelne gehenden mehrfachen Kontrolle dokumentiert sich der rationale Geist und der Wille, eine professionelle und effektive Hilfe zu gewährleisten, die öffentlich zu verantworten ist und nicht dem Belieben Einzelner anheimgestellt werden soll. Im französischen Protestantismus des 16. Jh. und 17. Jh. blieb die Armenfürsorge von wenigen Orten abgesehen zwar überwiegend in kirchlicher Hand, aber sie wurde darum nicht weniger rationalisiert. Maßstab für die Versorgung und Vergabe war die jeweilige Hilfsbedürftigkeit des Einzelnen (»— chacun particuliÀrement selon la necessit¦«)283 , nicht die Hilfsbereitschaft weniger 279 So war offensichtlich das Ansinnen des Consistoire von Romans, das dies sogar zur Bedingung gemacht sehen wollte für alle Armen, die durch die Stadtverwaltung versorgt wurden (vgl. ebd.). 280 Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes 1561 – 1685, Bd. 2, S 633 f. 281 Vgl. S. Altmeyer-Baumann, »Alte Armut«-»Neue Armut«, S. 13 und S. 142. 282 Vgl. Art. XIV der Ordnung, a.a.O.; zu Berlin: G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 283 (»jedem gemäß seiner [eigentl. »der«] Not/Bedürftigkeit«), Art. IX der Pariser Ordnung, a.a.O., S. 257.

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Einzelner oder ihre religiöse Motivation. Zweifellos haben die Reformatoren mit ihrer Entideologisierung der Armenfürsorge auf ihre Weise einer Rationalisierung auf diesem Feld Vorschub geleistet,284 auch wenn Impulse dazu ebenso aus 284 Dazu vgl. allgemein: C. Lindberg, Church’s vision of the poor, S. 45 – 48. Er macht auf J. Calvin bezogen zwar darauf aufmerksam, dass dieser nicht nur neue Impulse gesetzt habe, sondern teilweise durchaus noch in alten Bahnen gedacht hätte, was den Verdienstcharakter karitativer Werke anging (vgl. ebd., S. 48). Bei dem von ihm gelieferten Stellenverweis handelt es sich jedoch um eine recht eigenwillige Interpretation Calvins seinerseits. Die von ihm angegebene Verweisstelle gibt das so nicht her. Zu M. Luther vgl. besonders: H. J. Grimm, Luther’s Contributions to Sixteenth-Century Organization of Poor Relief, S. 222 – 234, bes. S. 233; zu J. Calvin und den anderen Reformatoren der Reformierten Tradition vgl. H. Scholl, Die Kirche und die Armen, S. 64 – 73; speziell zu J. Calvin vgl. besonders: R. M. Kingdon, Social Welfare in Calvins Geneva, 50 – 69. Th. Fischer arbeitete anhand einer vergleichenden Studie der Armutsfürsorge mehrerer oberrheinischer Städte den Einfluss des Reformierten Gedankengutes heraus, der unter anderem darin bestand, dass mit der traditionellen Almosenvergabe gebrochen wurde (vgl. ders., Städtische Armut, bes. S. 316/ 317). Solche unmittelbaren lokalen Zusammenhänge können kaum ignoriert werden. Es mag zutreffen, dass der Armenfürsorge im Hochmittelalter ein wichtiger Platz im kanonischen Recht eingeräumt worden war und dort schon eine geregelte Versorgung und gar eine gewisse Zentralisierung angelegt gewesen war und dass dies auch die Magistrate bei ihren Reformen im 16. Jh. beeinflusst hat (so B. Tierney, Medieval Poor Law, bes. S. 12). Aber davon bleibt die eigene Leistung und Wirkung des Protestantismus unberührt. Damit sollen die Veränderungen im Armenwesen nicht allein oder vorwiegend auf den Protestantismus zurückgeführt werden, was früher oft Gegenstand konfessionalistisch geprägter Debatten und Kirchengeschichtsschreibung gewesen ist (zu einem entsprechenden Literatur- und Forschungsüberblick siehe E. A. McKee, John Calvin on the diaconate, S. 96 ff., bes. S. 98 – 100; B. Pullan, Catholics and the Poor, S. 16 ff.). Aber der in vielen neueren Arbeiten vertretene sozialgeschichtliche Ansatz und die gewonnenen Erkenntnisse würden über das Ziel hinausschießen, wollte man den Einfluss protestantischer Theologie für belanglos erklären. Ihre Bedeutung als verändernder und gestaltender Faktor muss zwar relativiert werden, darf aber dort, wo er tatsächlich vorhanden gewesen ist und einen Effekt hatte, ebenso wenig ignoriert werden. Auch die neuere Forschung mit der Tendenz, Veränderungen in der Armenfürsorge rein sozialgeschichtlich zu erklären oder vom Humanismus beeinflusst herzuleiten (vgl. einige der Literaturangaben der beiden folgenden Fußnoten), muss sich ebenso wie seinerzeit die konfessionalistische Forschung fragen lassen, von welchen Gegenwartsinteressen sie jeweils geleitet ist. Vor allem entbindet dieser Forschungsansatz nicht von der (religionssoziologischen und theologischen) Aufgabe, genuin protestantische, katholische oder jüdische Motivationen oder Impulse zu beschreiben und zu situieren (vgl. ähnlich: S. L. Thrupp, Society and History, S. 10 – auch sie warnt vor einer Unterschätzung dieser Faktoren). Das erfordert eine Öffnung der Geschichtswissenschaft gegenüber diesen Fragestellungen. Es würde über die bloße Feststellung und Auswertung des zahlenmäßigen Anteils der innerhalb eines Armenbüros durch Personen vertretenen Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen hinausgehen (eine Methode, der sich N. Z. Davies bedient, um vor allem den humanistischen Einfluss in der Lyoner Armenfürsorge unter Beweis zu stellen, ohne allerdings eine Definition dafür zu geben, was die Zugehörigkeit zum Humanismus kennzeichnet; vgl. dies., Assistance, humanisme et h¦r¦sie, S. 777 ff.). Vielmehr könnte dazu z. B. die Analyse von vor Ort gehaltenen Predigten hilfreich sein. Sie könnte auch ein wichtiger Beitrag zur Erhebung etwaiger Zusammenhänge zwischen Seins- und Bewusstseinsebene und gegenseitiger Beeinflussung sein. Denn Lehre und Wirken der Kirchen und Religionen sowie die gesellschaftliche

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anderen Reihen stammten285 und auf bestimmte soziale und ökonomische Veränderungen zurückzuführen sind286 oder politische Hintergründe hatten287. Wirkung der Religionen lassen sich weder auf wenige Vordenker noch auf zahlenmäßige Repräsentation ihrer »Platzhalter« in Institutionen reduzieren. Ihre soziologische Dimension tritt vielmehr zuallererst in ihrer konkreten alltäglichen Verkündigung und in der gelebten und nicht gelebten Aufnahme derselben zu Tage, sowohl hinsichtlich kirchlicher als auch gesellschaftlicher Existenz. In diesem Zusammenhang sei auch die Kritik von V. Hunnecke (ders., Überlegungen zur Geschichte der Armut, S. 493, Anm. 43) an B. Pullan (ders., Catholics and the Poor, S. 15 – 34) erwähnt. Seiner Auffassung nach gehört B. Pullans Beitrag zu denjenigen, die die »A-Konfessionalität der Bewegung zu sehr unterstreichen« (ebd.). Jedoch ist diese Kritik nur bedingt berechtigt. In Wirklichkeit macht B. Pullan die Konfessionalität nämlich wieder erneut zum Thema, indem er zunächst zwar nur Parallelen in katholischen und protestantischen Ländern und Städten in ihrer Vorgehensweise gegenüber dem Armutsproblem offenlegt und als Forschungskonsens beschreibt, um dann aber anschließend das spezifisch »Katholische« – gewissermaßen als Proprium zu beschreiben, gegenüber dem alles Protestantische dann zwangsläufig zu verblassen scheint. Bronislav Geremek stellt ähnlich wie R. Jütte (R. Jütte, Obrigkeitliche Armenfürsorge, S. 356 – 367) in seiner Geschichte der Armut zunächst auch die Gleichartigkeit aller Armenreformen der frühen Neuzeit fest und arbeitet am Beispiel von Paris, Ypern und Venedig ihren von der Konfession unabhängigen Verlauf heraus (B. Geremek, Geschichte der Armut, bes. S. 145 – 244). Dann schildert er die weitere Entwicklung bis hin zur Philantropie des 19. Jh., um schließlich mit einem Plädoyer für die Kategorie des »Mitleids« zu enden, nachdem er zuvor resümiert hat: »Die Geburt der modernen Gesellschaft war begleitet von einer Verschlechterung der zwischenmenschlichen Beziehungen: nach Ansicht der Sozialund Wirtschaftshistoriker bestanden darin die sozialen Kosten der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals.« (ebd., S. 296). Nüchtern stellt B. Geremek fest, dass dieser Preis nun mal bezahlt worden sei (ebd., S.297). Damit stelle sich aber im Kontext der heutigen Armutsproblematik die Frage nach einem handlungswirksamen Mitleid umso mehr. 285 So ist z. B. der Einfluss der Humanisten nicht zu unterschätzen. Vgl. hierzu besonders: C. Jones, The Charitable Imperative, S. 2 f.; N. Zemon-Davis, Assistance, humanisme et h¦r¦sie, S. 762 – 816; H. Scherpner setzt dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die Person J. L. Vives – vgl. H. Scherpner, Studien zur Geschichte der Fürsorge, S. 129; ders., Theorie der Fürsorge, S. 66 – 109. 286 M. U. Chrisman beschreibt die sozialen und wirtschaftlichen Ursachen städtischer Armut im 16. Jh. als: »complex interaction between inflation, overpopulation, the pressure on the land, and urban immigration« (dies., Urban Poor, S. 59). Auf diese Prozesse wurden in der neueren Forschung auch die Veränderungen in der Organisation der Armenfürsorge zurückgeführt. Man entdeckte, dass zahlreiche Veränderungen in diesem Bereich in einigen Städten schon vor der Reformation vorgenommen wurden und schloss daraus, dass die genannten sozialen und wirtschaftlichen Faktoren für diese Veränderungen ursächlich gewesen sein müssen und nicht erst der Protestantismus diese Entwicklung initiiert habe. Zu dieser Darstellung vgl. auch W. Fischer, Armut in der Geschichte, S. 33. Vor allem der Beginn des 16. Jh. und die zwanziger Jahre waren von diesen sozialen Umbrüchen und Krisen gezeichnet (vgl. B. Geremek, Geschichte der Armut, S. 145 – 150); W. Fischer meint jedoch, es sei Vorsicht geboten, die soziale Not dieser Jahre nicht höher einzuschätzen als sie im Vergleich zu früheren Zeiten wirklich war, da die größere Quellendichte täuschen könnte (vgl. ders, a.a.O., S. 40). Als wesentliche Beiträge, die die veränderte Armenpolitik ökonomisch und sozial herleiten, sind hier beispielhaft zu nennen: C. de La RonciÀre, Pauvres et pauvret¦ — Florence; B. Pullan, Rich and Poor in Renaissance Venice, bes. S. 223 – 224; B. Geremek, a.a.O., S. 154 – 244; ders.: La lutte contre le vagabondage, S. 211 – 236; auf Straßburg bezogen: M. U. Chrisman, Strasbourg and the Reform, S. 275 ff.

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2.2.2.6 Rationalisierung und »laicization« Besonders die Versorgung der »Hausarmen«288 und deren Betreuung mit Hilfe eines flächendeckenden Besuchssystems, sowie die zentrale Armengeldverwaltung mit Zahlungen, die an den Bedürfnissen der Empfänger ausgerichtet waren, markierten eine Umorientierung auf dem Gebiet der Armenhilfe. Die Pariser Ordnung – wie überhaupt die Organisation franz.-ref. Diakonie in jener Phase – zeigt darin z. B. Nähe zur Armenpolitik in Form der (von M. Luther angeregten) Einführung der Armenkästen, wie sie unter Landgraf Philipp in Hessen praktiziert wurde.289 Von dieser relativ effektiven Maßnahme290 unterschied sich die Praxis im franz. Protestantismus dieser Zeit jedoch vor allem dadurch, dass Bürgergemeinde und Kirchengemeinde, bedingt durch die besondere Situation der Protestanten in Frankreich, mehr auseinandertraten als im hessischen Gebiet und somit das Consistoire bzw. die Kirchengemeinde als eigenständige Institution den Rahmen für die Organisation bildete bzw. vorgab und nicht die Obrigkeit. Vollends wird der Prozess der Rationalisierung der Armenfürsorge im französischen Protestantismus deutlich am Wandel der verwendeten Begrifflichkeiten. Die Rede ist in der Regel nicht (mehr) von den aumúnes (»Almosen«), sondern von assistance (»Unterstützung«) und den deniers des pauvres (»Geld der Armen«). Deutlich dokumentiert sich darin die Entideologisierung und Rationalisierung der Armutsfrage und -bewältigung. Eine Besonderheit der Pariser Ordnung bestand darin, dass sie die Diakonie nicht nur durch die explizite Beauftragung der Diacres (»Diakone«), wie auch in der Discipline eccl¦siastique so vorgesehen, in die gemeindliche Verantwortung 287 So vertritt vor allem I. Bog die Ansicht, dass sich die neue Armenpolitik »keiner neuen spezifischen strukturellen oder konjunkturellen Herausforderung« verdankt, sondern relativ wirtschaftsunabhängig verlief und auf die »Entwicklung der städtischen Magistrate zu ›Obrigkeiten‹« zurückzuführen ist (I. Bog, Arme und Armenfürsorge in Oberdeutschland, S. 983 f). Zu dieser Ansicht gelangt er, weil trotz vieler Unterschiede der einzelnen Städte Europas bzw. Oberdeutschlands auf wirtschaftlichem Gebiet die »gleiche Tendenz einer Straffung der Armenpolitik« (W. Fischer, a.a.O., S. 40) zu beobachten sei. 288 Die Gruppe der »Hausarmen« lässt sich wie folgt definieren: »The house poor were by definition, not completely destitute, but had some means of support, or at least a roof over their heads. They were people who were on the border line of self-sufficiency.« (W. J. Wright, A Closer Look at House Poor Relief, S. 228). 289 Zu diesem Beispiel der Armenkästen in Hessen vgl. den Beitrag von W. J. Wright, A Closer Look at House Poor Relief, S. 225 – 238. 290 Nach der vergleichenden Untersuchung von W. J. Wright muss man den Eindruck gewinnen, dass die Veränderungen im Bereich der Armenversorgung durch eine gezielte Anwendung und Förderung des Armenkastensystems (zumindest zeitweilig) von Erfolg beschieden waren und im Vergleich zu vorher einen Fortschritt zugunsten der Betroffenen – sofern jedenfalls hier die »Hausarmen« bzw. Ortsansässigen im Blick sind – bedeutet haben (vgl. ebd.).

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stellte, sondern darüber hinaus in dem sozialen Dienst auch Älteste, hier Surveillans (»Wachende/ Beaufsichtigende«) genannt, und vor allem »ehrenhafte Bürger« einbezog, die nicht Mitglieder des Consistoire waren. Durch diese Einbeziehung weiterer Laien wurde die gemeindliche Mitverantwortung für Diakonie auf eine noch breitere Basis gestellt und indirekt erhielten die acht »ehrenhaften Bürger« damit eine kirchliche Beauftragung, da das Bureau (»Sozialbüro oder -amt«) letztlich im Auftrage des Consistoire handelte291 und ihm bzw. der von ihm vertretenen Gemeinde Rechenschaft schuldig war292. So konnte man auf diese Weise von den Fähigkeiten und Kompetenzen der ins Amt gewählten »Bürger« profitieren, was Finanzverwaltung und gesundheitliche Versorgung anging. Im Jahr 1561 handelte es sich z. B. primär um Ärzte, Rechtsanwälte und Handelsleute.293 Diese Besonderheit der Ordnung gilt es hier nicht nur deshalb herauszustellen, weil dieselbe Tendenz einer erweiterten Einbeziehung von kompetenten Laien der Gemeinde auch in der späteren Berliner Exilgemeinde vorzufinden ist,294 sondern auch, weil sie einen Kernpunkt der damaligen Veränderung im Armenwesen betrifft – die sogenannte »laicization« (engl.)295. Diese ebenso wenig wie der franz. Begriff »laicit¦«296 ins Deutsche übersetzbare Bezeichnung 291 Dass es sich hierbei nicht um eine städtische Initiative bzw. Organisation handeln konnte, war allein schon durch die Umstände bedingt, dass dem Protestantismus in bzw. um Paris herum nur eine bedingte Religionsausübung gestattet war. Diese oben schon erwähnte Situation der Ungewissheit bedeutete, dass das Consistoire somit zwangsläufig als Träger dieser Einrichtung fungieren musste. Ob die Organisationsstruktur genauso ausgesehen hätte, wenn Paris in protestantischer Hand gewesen wäre, bleibt der Spekulation überlassen. Zur Trägerschaft des Consistoire vgl. Einführung zur Ordnung, a.a.O., S. 254 und Eingangsworte der Ordnung selbst, a.a.O., S. 255. Alle Mitglieder des Sozialbüros werden auch vom Consistoire gewählt. 292 Die vom Consistoire gewählten Mitglieder des Sozialbüros sollten den Gemeindegliedern im Gottesdienst vorgestellt werden, »— celle fin, qu’en toute libert¦ chacun du peuple puisse ou approuver l’election faite, ou rejetter ceux, qui luy sembleront indignes d’un tel lieu…« (»zu dem Zwecke, dass jeder vom Volk in aller Freiheit der gemachten Wahl zustimmen kann oder die ablehnen kann, die ihm einer solchen Stelle unwürdig erscheinen…«, Art. II der Ordnung, a.a.O., S. 256). 293 Vgl. die genannten Mitglieder und ihre Berufsbezeichnungen am Schluss der Ordnung, a.a.O., S. 259. 294 Das gilt zwar nicht für das Diaconat der Berliner Gemeinde, das noch am ehesten mit dem bureau von Paris vergleichbar wäre, jedoch für die meisten anderen diakonischen Einrichtungen bzw. Kommissionen der dortigen Flüchtlingsgemeinde (vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten). 295 »laicization« und »rationalisation« wurden als Charakteristika der Armenversorgung des 16. Jh. von R. M. Kingdon herausgearbeitet (vgl. ders., Social welfare in Calvins Geneva, S. 50 – 69). Der Begriff »laicization« wird neben anderen Autoren auch von E. A. McKee verwendet (vgl. dies., Calvin on the diaconate, S. 120/121) und ausführlich erläutert (ebd., S. 120 ff). 296 Ausführlich zum Bedeutungsfeld des franz. Begriff »laicit¦« und zur Unmöglichkeit seiner deutschen Übersetzung vgl. G. Delteil, Pr¦sentation, S. 7 – 10.

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lässt sich nur umschreiben. Die Begriffe »Säkularisation« oder »Verweltlichung« treffen den gemeinten Sachverhalt nicht, weil sie ganz verschiedene mannigfache Bedeutungen mit sich tragen und insofern missverständlich wirken können.297 Es ist auch zu fragen, ob ihre Anwendung auf das 16. Jh. nicht ein Anachronismus wäre.298 Mit Rücksicht darauf will C. Lindberg deshalb lieber den Begriff »de-ecclesiasticizing«299 verwenden. Schließlich ist aber mit der Bezeichnung »laicization« auch das besser getroffen, was konkret im Zusammenhang mit der Armenversorgung ausgedrückt werden soll, nämlich die Übernahme von Verantwortung in diesem Bereich seitens der »Laien«. Gelegentlich begegnet man in der Literatur auch der Eindeutschung »Laizisierung«300, die zwar angemessen ist, sich aber im allgemeinen Sprachgebrauch bislang noch nicht durchgesetzt hat301. Im Rahmen dessen, was als »laicization« bezeichnet wird, konnten verschiedene Konzeptionen greifen. Bei aller Ähnlichkeit im Bereich der Neuordnung des Armenwesens auf städtischer und staatlicher Ebene302 können je nach konfessioneller Situation und Perspektive in Theorie und Praxis unterschiedliche Konzeptionen ausgemacht werden, was die Frage der Art und Weise der »laicization« angeht. E. A. McKee hat sie in knapper Form dargelegt.303 Die spezifisch franz.-reformierte Variante dieser vor allem im west- und mitteleuropäischen Raum jener Zeit anzutreffenden »laicization« im Bereich des Armenwesens stellte eine Besonderheit dar, die so andernorts kaum vorzufinden war.304 Es handelte sich um eine von Laien getragene, »rein kirchliche Diako297 Gemeint ist eben nicht einfach der materielle Aspekt der Übernahme von Kirchengütern durch weltliche Autoritäten, für den diese Begriffe ebenso stehen oder eine Abschaffung alles Religiösen – eine nonreligiöse Entwicklung. Vgl. zu den Begriffsabgrenzungen und Verstehensmöglichkeiten E. A. McKee, a .a. O., S. 116 – 120. 298 Jedenfalls sofern dies als Gegensatz zu »religiös« oder als ein Prozess ganz ohne religiöse Bindung verstanden wird. Es wäre wohl ein fragwürdiges Unterfangen gewesen, hätte man seinerzeit versucht, die Lebenswelten des 16. Jh. von ihrer religiösen Einbindung abzukoppeln. Das war auch nicht die Zielrichtung des Protestantismus (mit E. A. McKee, a.a.O., S. 120 u. S. 117). 299 C. Lindberg, Origins of Protestant Poor Relief, S. 327. 300 So z. B. in der deutschen Übersetzung des Buches von B. Geremek: Geschichte der Armut, S. 173 und bei V. Hunnecke, Überlegungen zur Geschichte der Armut, S. 492. 301 Der Begriff ist weder in der neuesten Ausgabe des Dudens zur Rechtschreibung zu finden, noch im Fremdwörterbuch des Dudens, noch im Grimm’schen Wörterbuch auffindbar. 302 Vgl. dazu : J.-P. Gutton, La soci¦t¦ et les pauvres, S. 108 – 110 u. V. Hunnecke, a.a.O., S. 492/ 493 303 Vgl. E. A. McKee, a.a.O., S. 117 – 121. 304 Außer bei den Französisch-Reformierten Gemeinden existierte die Besonderheit einer von der Kirchengemeinde aus ihren Reihen gewählten Gruppe von Laien, die als Diakone beauftragt wurden, offenbar nur noch in Flüchtlingsgemeinden wie z. B. bei a Lasco (vgl. H. Vonhoff / H. J. Hofmann, Samaritaner der Menschheit, S. 75 f.; E. Beyreuther, Geschichte der Diakonie, S. 28; ausführlicher : W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie, S. 216 –

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nie«305. Das entsprach zwar durchaus der Theorie reformierter Theologie bzw. Ekklesiologie,306 wurde aber außer im franz. Protestantismus, nur in wenigen anderen reformierten Kirchen zur gängigen Praxis, bezeichnenderweise waren auch das überwiegend Flüchtlingsgemeinden wie etwa die von A Lasco in London bzw. Emden.307 Es handelte sich insofern um eine spezielle Variante der »laicization«, als dass die Verantwortung für die Armen auf eine breitere Basis gestellt wurde und die ganze Gemeinde – darunter gerade auch die (mit Ämtern beauftragten) Nicht-Geistlichen – durch effektive Maßnahmen wie zentralisierte und rationalisierte Organisation zugunsten der von Armut Betroffenen gefragt und beteiligt war, jedoch die Verantwortung nicht an städtische oder staatliche Stellen delegiert wurde. Man kann Säkularisierung bzw. »laicization« der Wohlfahrt bzw. Armenpflege verstehen als einen Prozess, bei dem es lediglich darum geht, dass Staat bzw. Stadt an die Stelle der Kirche als Verantwortungsträger treten. Neben der Alternative der Verantwortungsübernahme durch städtische oder staatliche Autoritäten auf der einen Seite und der traditionellen kirchlichen Almosenvergabe auf der anderen Seite, entwickelte sich hier aber das Modell einer von Laien praktizierten, zur Kirchengestalt und -gestaltung genuin dazugehörigen Armenfürsorge, die sich in einem konstruktiven und solidarisch-kritischen Zusammenspiel mit staatlichen Einrichtungen verstehen konnte. Der Schwerpunkt und Schnittpunkt zugleich liegt dabei auf der Wahrnehmung der Eigenverantwortung für die von Armut Betroffenen (»Dein Armer«308) und der Entsakralisierung und Überwindung von Bettel und Armut.309 Wenn man so will, handelt es sich hier um ein drittes Modell, auch wenn es sich selbst eher ergänzend als exklusiv versteht, was weiter unten in der Frage der Zusammenarbeit mit städtischer Armenfürsorge deutlich wird.

2.2.2.7 Drei Unterstützungsarten bzw. –kategorien Weitere Charakteristika der franz.-ref. diakonischen Praxis in Paris wie auch in Ordnungen und Akten anderer franz.-ref. Gemeinden auffindbar, die sich da-

305

306 307 308 309

230) oder in den Reformierten Gemeinden Hollands – dort allerdings erst zu Beginn des 17. Jh. im Anschluss an die Dordrechter Synode von 1619 (vgl. E. Beyreuther, a.a.O., S. 28). Mag dieser Begriff von E. Beyreuther (vgl. ebd.) auch noch so problematisch sein, weil kirchliche und weltliche Sphäre jener Zeit kaum zu trennen waren und das Miteinander, Ineinander und Gegenüber von Staat bzw. Stadt und Kirche in den europäischen Ländern sich je verschieden ausnahm. Er trifft doch die realen Existenzbedingungen der genannten Kirchen bzw. Gemeinden. Vgl. E.A. McKee, John Calvin. On the diaconate, S. 123 bzw. 152 ff. Vgl. S….der Darstellung. Siehe Erläuterungen unter Kapitel 3.1.3 Siehe Erläuterungen unter Kapitel 3.1.1 bis 3.1.5.

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mals herausgebildet haben und auch im 17. Jh., sowie auch im (Berliner) Exil ihre Fortsetzung fanden,310 waren die drei folgenden Unterstützungsarten bzw. -kategorien: »Passants« (»Durchreisende«) erhielten in der Regel nach Vorlage der sogenannten attestations oder temoignages (»Bescheinigungen/Zeugnisse«) eine entsprechende Unterstützung.311 Die Hilfe betraf Reisende wie auch Flüchtlinge. Dieser Unterstützungskategorie kam im Zuge der durch Verfolgung bedingten Entwurzelung protestantischer Flüchtlinge je nach geographischer Lage der Gemeinde sehr bald großes Gewicht zu.312 Wurden die mit einem Überbrückungsgeld versehenen passants bzw. Entwurzelten auch vielfach an ihre Heimatorte und deren Zuständigkeit zurückverwiesen oder aber entsprechend ermahnt, das Reiseziel auch wirklich einzuhalten und nicht mehr erneut um Unterstützung zu bitten, so wurden kranke passants offensichtlich selbst bei fehlenden attestations aufgrund der größeren Notlage grundsätzlich stärker unterstützt. So jedenfalls zeigt es etwa das Beispiel von Lyon.313 Die attestations, die Name, Familienstand, Wohnort, Vertrauenswürdigkeit, guten Lebenswandel und Bekenntniszugehörigkeit der Betroffenen ausweisen sollten, sollten der kontrollierten Vergabe der Unterstützungsgelder dienen.314 Viele von Armut Betroffene ihrerseits nutzten dieses System, indem sie von Ort zu Ort wanderten – ob nun in betrügerischer Absicht oder aber als Überlebensstrategie (was hier und da deckungsgleich wurde) – und Unterstützung erbaten.315 Das wiederum förderte die Entwurzelung mehr als dass es ihr, wie damit ursprünglich beabsichtigt, Einhalt geboten hätte.316 Dieser Effekt der attestations und der Geldvergabe an passants sollte sich später auch in Berlin als Problem herausstellen.317 Auf diese erste hier in Frankreich angesprochene Pe310 Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 311 Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 67; zu anderen Orten: vgl. allgemein J. Garrisson-EstÀbe, L’Homme protestant, S. 187; vgl. zu Lyon und N„mes W. J. Pugh, Social Welfare, S. 361. Nach Ph. Chareyre überließ das »Consistoire« (»Presbyterium«) von N„mes im 16 Jh. die Versorgung der Durchreisenden vorwiegend dem Stadtrat (ders., Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 631 f.). Dies scheint durch die Zahlen, die C. NÀgre benennt, bestätigt. Danach reduzierte sich der Anteil unterstützter armer Durchreisender von 8,5 Prozent im Jahr 1561 auf 4 Prozent im Jahr 1590 (vgl. dies., Les oeuvres n„moises, S. 26). In Mont¦limar muss die Versorgung (ähnlich wie in Lyon) der »pauvres passants« hingegen schon im 16 Jh. eine große Rolle gespielt haben (vgl. S. Mours, L’Êglise r¦form¦e — Mont¦limar, S. 83). 312 Vgl. vorhergehende Anmerkung zu den Orten Mont¦limar und Lyon. 313 Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 96. 314 Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 67; W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten, II., S. 21; J. Garrisson-EstÀbe, Protestants du midi, S. 257 f. 315 Vgl. die Stellenverweise der vorhergehenden Anmerkung. 316 Vgl. J. Garrisson-EstÀbe, L’Homme protestant, S. 187. 317 Das zeigen die dortigen analysierten Diakonat-Protokollbücher (vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin).

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riode (bis 1594 bzw.1598) bezogen, in der franz.-prot. Gemeinden bereits recht früh mit einer beachtlichen Zahl entwurzelter Verarmter konfrontiert waren, reflektieren die Beschlüsse der Nationalsynoden die große Not und den Versuch, ihr durch eine rigidere Handhabung der Unterstützungspraxis Herr zu werden, was sich jedoch als aussichtslos herausstellen musste. Davon zeugt, dass die passants (»Durchreisenden«) und die ihnen ausgestellten attestations (»Zeugnisse«) trotz Perfektionierung des Systems immer wieder Thema auf den Nationalsynoden sind.318 Die mit Fluchtbewegungen verbundenen Verfolgungen und Religionskriege in Frankreich waren eine der Ursachen bzw. trugen ihrerseits zur Verschärfung des Problems bei.319 Die sich infolge von Armut und Flucht ergebenden Entwurzelungen brachten ein solches Ausmaß an Bettelei und »Vagantentum« mit sich, dass die Herausforderung kaum bzw. nicht zu bewältigen war.320 Auf der Nationalsynode von Paris am 25. Dezember 1565 wird das oben beschriebene Verhalten einer großen Zahl Betroffener entsprechend stark getadelt sowie ein einheitliches Verfahren vereinbart, das sich auch auf die Inhalte der auszustellenden attestations bezieht.321 Angestrebt wurde dabei eine Praxis, die die Unterstützung bis zur Erreichung eines bestimmten Reisezieles sicherstellen sollte und daran ausgerichtet war, so dass die jeweiligen Unterstützungen der Zwischenstationen eingetragen werden sollten (vergleichbar den Stempeln in einem Reisepass), um dadurch eine Wegkontrolle zu gewährleisten und ein »zielloses Betteln« und »Vagantentum« auszuschließen.322 Das Nicht-Mit-Sich-Führen einer attestation bedeutete, wie oben bereits erwähnt, aber auch keineswegs die automatische Ablehnung der Unterstützung. Neben Krankheit (s. o.) konnten auch andere Gründe für die Gewährung der Unterstützung trotz fehlender attestation ausschlaggebend sein, wie etwa ein hohes Alter, Schwangerschaft, die Rückkehr aus spanischer oder türkischer Kriegsgefangenschaft, materielle Not soldloser Soldaten und Arbeitslosigkeit

318 Vgl. J. Garrisson-EstÀbe, protestants du midi, S. 257 f. 319 Die Zahl der Flüchtlinge war schon im 16. Jh. nicht unerheblich. Die Höhepunkte der Fluchtbewegungen in Frankreich lagen in den Jahren 1562, 1569 – 70, 1572, 1577 und 1585 (vgl. F.A. Norwood, The Reformation Refugees, S. 15). Infolge der Massaker der sogenannten Bartholomäusnacht bzw. Bluthochzeit im August 1582, in welcher in Paris und in übrigen Provinzen Frankreichs während mehrerer Tage ca. 30.000 Hugenotten den Tod gefunden haben sollen, wanderten nach dem 24. August Tausende aus ins Elsass, nach England und in die Schweiz und ins evangelische Deutschland (vgl. W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten, Teil 3, S. 2 f. 320 Vgl. J.-P. Gutton, La soci¦t¦ et les pauvres, S. 115 – 120 ; J. Garrisson-EstÀbe, Protestants du midi, S. 262; E. Le Roy Ladurie, Montaillou, S. 568 f. 321 Vgl. J. Aymon, Actes eccl¦siastiques, S.N. Paris 1565, art. XV, Mat. G¦n¦rales, S. 63. 322 Siehe ebd., S. 63.

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von Lehrern.323 Damit relativierte sich zumindest in solchen Fällen die Notwendigkeit und Bedeutung einer attestation. Auf der Nationalsynode von Sainte Foy wird 1578 beschlossen, attestations, die nicht den formalen Vorgaben (Vor- und Zuname, Angabe des Ursprungsortes, des Zieles etc.) entsprechen, für ungültig zu erklären.324 1581 wird auf der Synode von La Rochelle beschlossen, ungültige Bescheinigungen, die nicht den formalen Kriterien entsprechen, wo sie vorgebracht werden, kurzerhand aus dem Verkehr zu ziehen und die ausstellenden Pfarrer entsprechend zu rügen.325 Die Maßnahmenverschärfung zeigt, wie die franz.-prot. Institutionen sich zum Einen um eine klare, durchschaubare, gerechte Verfahrensweise bemühten, zum Anderen aber auch Mühe hatten, der Misere effektiv zu begegnen. Auch über die erste Phase hinaus, nämlich z. B. auf den Nationalsynoden von 1598 und 1607 sind die attestations immer wieder Thema, sei es, dass es um die genaue Eintragung und Nachzeichnung der Wege und/oder nicht mehr aktuell gültige attestations geht,326 sei es, dass eine bereits beschlossene Praxis erneut eingeklagt bzw. erinnert wird, um die Wege der Armen (weiterhin) kontrollieren zu können.327 Letzteres Beispiel zeigt nur einmal mehr, dass die Maßnahmen nicht gegriffen haben, jedenfalls nicht in dem Maße, wie es sich die Leitungsgremien der Gemeinden gewünscht hätten. Anlässlich der Unzufriedenheit über die Unterstützungspraxis gegenüber den mit attestations ausgestatteten passants wird auch an das diakonische Selbstverständnis der franz.-ref. Gemeinden erinnert und daran appelliert, dass »chaque ¦glise fera devoir de nourrir les siens«328. Dieses Lokalprinzip war Teil einer rationalisierten kirchlichen Armenfürsorge, die das individuelle Almosengeben aufhob, Gelder und Verteilung zentralisierte und zur Vermeidung des Bettels beitragen wollte, indem sie die ortsansässigen hilfsbedürftigen oder arbeitsunfähigen Armen bedarfsorientiert unterstützte.329 Zugleich war hiermit entsprechend dem theologisch-ekklesiologischen und theologisch-diakonischem Selbstverständnis das Verantwortungsprinzip angesprochen, wonach die Kirche Verantwortung tragen soll für »ihre Armen«330. Die Begrifflichkeit

323 324 325 326 327 328

Vgl. J. Garrisson-EstÀbe, Protestants du midi, S. 261. Vgl. J. Aymon, Actes eccl¦siastiques, S.N. Sainte Foy 1578, art. X, Mat. G¦n¦rales, S. 128. Vgl. J. Aymon, Actes eccl¦siastiques, S.N. La Rochelle 1581, art. XV, Mat. G¦n¦rales, S. 145. Vgl. J. Aymon, Actes eccl¦siastiques, S.N. Montpellier 1598, art. IV, Mat. G¦n¦rales, S. 216. Vgl. J. Aymon, Actes eccl¦siastiques, S.N. La Rochelle 1607, art. XII, Mat. G¦n¦rales, S. 305. »jede Kirche die Ihrigen ernähren muss« / »jede Kirche ihre Aufgabe wahrnehmen muss, indem sie die Ihrigen ernährt« ( J. Aymon, Actes eccl¦siastiques, S.N. Montpellier 1598, art. IX, Mat. G¦n¦rales, S. 216). 329 Es entsprach ganz der weiter oben angesprochenen »laicization« und »rationalisation«. 330 Vgl. H. Scholl, Die Kirche und die Armen, S. 67 – 70, bes. unter 3.2, S. 67; vgl. auch Kap. 3.1.3 im laufenden Text der vorliegenden Studie.

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»nourrir les siens« (»die Ihrigen ernähren«)331 deutet darauf hin, dass die Kirche in diesem Kontext als »Nährmutter« der Armen gesehen wird, wie es uns auch in franz.-prot. Predigten des 17 Jh. begegnen wird und ebenso später in Berlin mit all der damit in der Praxis verbundenen Dialektik.332 Sollten Reisende, Flüchtende und Entwurzelte nicht ausgeschlossen sein, sondern dabei inbegriffen bleiben, so erforderte das eine gute Organisation. Aber auch die noch so genaue formale Beachtung bei der Ausfertigung der attestations und der Versorgung der passants konnte das eigentliche Übel nicht beseitigen, nämlich dass die Zahl der zu Versorgenden durch Hungersnöte, Teuerungskrisen und Bevölkerungszuwachs wie auch durch Landflucht und religiös bedingte Flucht immens groß gewesen ist333 und insbesondere die Gruppe der sogenannten »unwürdigen« Armen eine große Zahl ausmachte.334 Dem Versuch der Armen, durch Ortswechsel ihre eigene Situation ändern zu wollen oder aber zumindest in den Genuss etwaiger Unterstützungen gelangen zu wollen, wurde allein schon dadurch Vorschub geleistet, dass sie keinen oder kaum Hausrat besaßen, durch den sie sich gebunden gefühlt hätten oder der ihnen das Reisen erschwert hätte. Der Hausrat der Armen war in Frankreich im 18. Jh. und insbesondere zuvor kaum erwähnenswert, legt man allein die von Fr.

331 Vgl. hier im Text: J. Aymon, Actes ecclesiastiques, S.N. Montpellier 1598, art. IX, Mat. G¦n¦rales, S. 216.) mit »mÀre nourrissiÀre des pauvres« (»Nährmutter der Armen« – S. 16 der vorliegenden Studie). 332 Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 333 W. Abel hat gerade für das 16. Jh. enorme Teuerungskrisen und damit verbundene Massenarmut in Europa herausgearbeitet (vgl. ders., Massenarmut, S. 17 – 118). Vgl. außerdem Th. Fischer, Städtische Armut, S. 24 ff., R. Jütte, Poor Relief, S. 25, ders., Poverty and Deviance, S. 56 ff.; ders., Obrigkeitliche Armenfürsorge, S. 347; Br. Geremek, Geschichte der Armut, bes. S. 148; R. Gascon, Economie et pauvret¦, S. 759 f., in: M. Mollat, l’histoire de la pauvret¦. Nach V. Hunnecke sehen die Zahlenverhältnisse der Bevölkerung in vorindustrieller Zeit im Blick auf die Armut folgendermaßen aus: »Über Umfang. Städtischer Armut stimmen die Befunde aus den verschiedensten Ecken Europas auffällig überein: die Anzahl der ›Bedürftigen‹ oder um die Guttonsche Terminologie zu gebrauchen, der ›strukturellen Armen‹ betrug ziemlich konstant zwischen 4 – 8 % und diejenige der ›konjunkturellen Armen‹ etwa 20 %. Armut in einem weitesten Sinn, verstanden als ›Mangel an für ein standesgemäßes Leben notwendig erachteten Gütern‹ umfasste, gleichgültig ob man England, Deutschland oder Italien betrachtet, die Hälfte bis drei Viertel städtischer Bevölkerungen.« (ders., Geschichte der Armut, S. 489). Gleichwohl ist mit W. Fischer Vorsicht geboten im Blick auf die Bewertung des Zahlenmaterials (eine größere Dichte von Quellen muss nicht bedeuten, dass die »Soziale Frage« sich in dieser Zeit verschärft haben muss) und die grundsätzliche Relativität durch den allgemeinen Bevölkerungsanstieg (vgl. W. Fischer, Armut in der Geschichte, S. 38 ff.). Dennoch weisen die genannten Arbeiten eindeutig darauf hin, dass das Armutsproblem als ein Massenphänomen nur schwer zu bewältigen war und nicht erst im 19. Jh. als ein solches in Erscheinung trat. 334 Vgl.

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Braudel angeführte damals übliche Wohnraumausstattung von Handwerkern und Kleinbauern zugrunde.335 Des Weiteren gab es neben der Versorgung der passants die sogenannte assistance ordinaire (»regelmäßige/gewöhnliche Unterstützung«) und den dazugehörigen ¦tat ordinaire (»Etat für die gewöhnliche Unterstützung«) für die Ortsansässigen. Diese zweite Unterstützungskategorie entsprach voll und ganz dem Anspruch, die »eigenen Armen« versorgen zu wollen. Durch Beschluss des bureau (so z. B. in der Pariser Gemeinde, s. o.) bzw. des Consistoire (so in anderen Gemeinden) wurden Betroffene auf eine solche Liste gesetzt.336 Zu diesem Klientel zählten sogenannte »würdige« (vorwiegend arbeitsunfähige oder aber arbeitsfähige, aber »unverschuldet« in Not geratene) Arme, d. h. Gemeindeglieder, die bedingt durch chronische Krankheit, Witwenstand, Alter, Behinderung, dauernde Arbeitslosigkeit oder durch zu geringfügiges Einkommen Unterstützungsbedarf hatten.337 E. Le Roy Ladurie analysiert und beschreibt die Pauperisierung des 16. Jahrhunderts im Languedoc bzw. in den Cevennen durch die Flursplitterung bei gleichzeitiger Lohnreduzierung als »doppelten Schrumpfungsprozess« mit krisenhafter Wende ab den dreißiger Jahren, wobei er festhält, dass es sich bei den Arbeitnehmern und den Kleinbauern nicht selten um identische Personen oder zumindest identische Familien handelte.338 Er kommt im Blick auf N„mes und Montpellier (also zwei zumindest zeitweiligen Hochburgen des Protestantismus) zu folgendem Ergebnis: »Die größten ›Städte‹ des mediterranen Languedoc, N„mes und Montpellier, haben um 1550 je zweitausend Häuser oder zehntausend Einwohner, ein Viertel davon Landwirte und Landarbeiter. Sie bleiben dürftig und kleben an der Scholle.«339 Dem entspricht, 335 Vgl. F. Braudel, Sozialgeschichte, S. 302: »In Burgund etwa entspricht, sieht man von den wenigen reichen Bauern einmal ab, der Hausrat der Handwerker und Kleinbauern noch im 18. Jahrhundert in seiner Armseligkeit ganz der Armut der Besitzer : ›Ein Kesselhaken, ein Kessel auf dem Herd, Tiegel und Pfannen, ein Backtrog…., eine verschließbare Truhe, eine Bettstadt mit vier Pfosten, mit Federkissen, Deckbett, Kopfpolster und zuweilen Überbett; eine Kniehose aus grobem Wollstoff, Weste und Gamaschen; ein paar Gerätschaften [Schaufel, Hacken]‹…Doch vor dem 18. Jahrhundert beschränken sich diese Bestandslisten auf einige abgetragene Kleidungsstücke, einen Schemel, einen Tisch, eine Bank, eine Pritsche und Strohsäcke….Burgundische Protokolle des 16.–18. Jahrhunderts verweisen immer wieder auf ›Leute, die ohne Hausrat, von den Schweinen nur durch Flechtwand getrennt, auf Stroh schlafen.‹…« 336 Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 68. Zu N„mes: R. A. Mentzer, Ecclesiastical Discipline, S. 169. Hier wurde der Etat zumindest zeitweise offensichtlich so aufgestellt, dass es jeweils einen Unterstützer/Paten für einen vorwiegend mit Brot täglich zu Versorgenden gab (vgl. ebd., S. 169). Zu Loudun: P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd.2, S. 104. 337 Vgl. J. Garrisson-EstÀbe, Protestants du midi, S. 259, zu N„mes : C. NÀgre, œuvres n„moises, S. 38 ; Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. II, S. 659. 338 Vgl. E. Le Roy Ladurie, Die Bauern des Languedoc, S. 150 – S. 164, bes. S. 150 u. 160. 339 E. Le Roy Ladurie, Die Bauern des Languedoc, S. 164.

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dass die Armutsthematik bzw. Armenunterstützung im Schnitt ca. 25 % im 16. Jh., auf den Gesamtzeitraum bis 1685 bezogen sogar fast 50 % der im Consistoire von N„mes verhandelten Themen ausmachte.340 Wir sehen daran nicht nur, welches Ausmaß die Armut in diesem »Ballungszentrum« hatte, sondern auch, welchen Stellenwert die Armenfürsorge, insbesondere auch die Versorgung der eigenen verarmten Gemeindeglieder in der franz.-ref. Gemeinde von N„mes besaß, und zwar gerade, was die assistance ordinaire betraf. Die dritte Unterstützungsart bzw. -kategorie war die der assistance extraordinaire (»außerordentliche Unterstützung«), die oft – aber keineswegs nur – die sogenannten pauvres honteux (»verschämten Armen«) betraf341 und grundsätzlich den ortsansässigen Armen bei vorübergehenden Krankheiten, Existenzgründungen und anderen außerordentlichen Notsituationen zugutekam.342 Zu diesem Typus der assistance extraordinaire zählten vor allem Existenzgründungshilfen oder Hilfen zur Selbsthilfe durch Arbeit bzw. entsprechende Werkzeuge, Material und Ausstattungen.343 Sie kam oft den einfachen Handwerkern zugute, die immer an der Grenze zur Armut lebten und war in N„mes offensichtlich besonders verbreitet.344 Damit hatte diese Hilfe teils präventiven Charakter, wodurch verhindert wurde, dass die Verelendung überhaupt einsetzte, sich fortsetzte oder aber dramatisierte. Dazu sei hier verwiesen auf die folgenden von Ph. Chareyre angeführten Beispiele und Protokollbucheintragungen der Akten des Consistoire von N„mes: 1587 empfängt der Arbeiter Jean Serres 20 sous, um sein Arbeitsgerät wiederzuerlangen, das er während seiner Krankheit verpfändet hat.345 1590 erhält der mittellose Kürschner Philibert fünf livres, um sich ein paar Felle zu kaufen, damit er Handschuhe produzieren kann.346 Klassisch ist der Protokollbucheintrag vom 18. 02. 1587: «Mr Mazel a propoz¦ que Anthoine Palieyre tisserand de cadis est en grand pouvret¦ charg¦ de troys enfans ayant est¦ malade quatre moys pendant lequel temps auroyt engag¦ pour se subvenir et — sa famille deux mestiers desquels il trevaloyt et gagnoyt la norriture de sa famille, ce qu’il ne peult — present estant priv¦ desdicts utils demandant assistance de quatre livres pour les recouvrer.»347 340 Vgl. hierzu die Zahlenangaben der statistischen Auswertung der Protokolle des Consistoire von N„mes bei Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. I, S. 60, Bd. II, S. 630. 341 Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 68. 342 Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 67 f. 343 Vgl. Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. II, S. 653 344 Vgl. Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. II, S. 653 u. W. J. Pugh, Social welfare, S. 353. 345 Vgl. Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. II, S. 653. 346 Vgl. Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. II, S. 653. 347 «Herr Mazel hat vorgebracht, dass der Schneider Anthoine Palieyre, der sich, mit drei Kindern belastet, in großer Armut befindet, da er vier Monate krank gewesen ist und während dieser Zeit, um sich und seine Familie zu unterhalten, zwei Webstühle verpfändet

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Ein Beispiel, das den Interventionen des Berliner Diaconat (»Diakonat/ Diakoniebüro / Diakonieausschuss«) so sehr gleicht, dass man den Eindruck gewinnen muss, als wäre die Zeit stehen geblieben.348 Es macht zum Einen deutlich, dass diese Form der Intervention in der franz.-ref. Diakonie eine lange Tradition besitzt und zum Anderen aber auch, dass die äußeren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Umstände des diakonischen Engagements der beiden unterschiedlichen Perioden gewisse Parallelen aufweisen. Zu den »unveränderten« gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gehörten die Pauperisierung der Handwerker und die Notwendigkeit, durch Existenzgründungs- oder Existenzsicherungsmaßnahmen der Verelendung der durch Armut und Flucht Entwurzelten präventiv zu begegnen. Zu den vergleichbaren spezifischen Umständen des diakonischen Engagements als solchem gehörte, dass sich die genannte präventive soziale Intervention sowohl im 16. Jh. in Frankreich als auch im 18. Jh. in Berlin im Kontext eines Mikrokosmos bewegte – dem der hugenottischen Minderheit, wenn auch in Berlin freilich mit anderem Vorzeichen verbunden. 2.2.2.8 Unterstützung des Schulbesuchs und Armenschulen Zur Praxis des diakonischen Handelns der franz.-ref. Gemeinden zählte von Anfang an die Unterstützung des Schulbesuchs verarmter Kinder als präventive Maßnahme, wie überhaupt die Schulbildung ein zentrales Anliegen des franz. Protestantismus darstellte349 , so z. B. besonders von Guillaume Farel propagiert350 und insbesondere 1559 in der Discipline eccl¦siastique Kap. II, Abschn. 1 so festgelegt: »Die Kirchen sollen allen Fleiß anwenden, Schulen aufzurichten und Anstalt zu machen, dass die Jugend unterrichtet werde.«351 Die Bildung war zweifelsohne eine der Säulen innerhalb der Ekklesiologie bzw. Ämterlehre von J. Calvin.352

348 349 350

351 352

hat, an denen er (sonst) arbeitete und den Lebensunterhalt verdiente, was er gegenwärtig nicht kann, da ihm die genannten Arbeitswerkzeuge fehlen und er Unterstützung in Höhe von vier livres erbittet, um sie wiederzuerlangen.» (A.D.G.: 42 J 28, 18. 02. 1587). So auch zitiert bei Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. II, S. 653. In Berlin gab es sehr ähnliche Beispiele der Intervention (vgl. G. Wenzel. Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin). Vgl. E. K. Hudson, The protestant struggle, S. 271 – 295; O. E. Strasser-Bertrand, Die Evangelische Kirche in Frankreich, S. 156, K. Steiner, Das Schulwesen, S. 206 f. »Et si les pÀres ne les peuvent entretenir, qu’ils soyent entretenus et instruits en toutes bonnes lettres…— l’honneur de Dieu et au profit du prochain« (»Und wenn die Väter sie nicht unterhalten/ernähren können, sollen sie unterhalten /ernährt werden und in allen guten Sprachen / Schriften unterrichtet werden…zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten«). – Guillaume Farel zit. nach Sommaire, ch. XI , De l’instruction des enfants, Genf 1552. Zitiert nach E. Mengin, Das Recht der französisch-reformierten Kirche, S.88. Vgl. H. Fagerberg, Artikel »Amt / Ämter / Amtsverständnis VI.«, in: TRE, Band 2 (1978), Seite 552 – 574.

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Davon, wie sehr sich die franz.-ref. Kirchen und J. Calvin im Blick auf die Bildungsnotwendigkeit von Kindern aus armen Verhältnissen offenbar gegenseitig beeinflussten, zeugt dass der zweiten Genfer Kirchenordnung von 1561 durch J. Calvin ein Passus eingefügt wurde, den es so in der von ihm selbst entworfenen bzw. vom Genfer Rat beschlossenen ersten Genfer Kirchenordnung von 1541 noch nicht gegeben hatte353 : «Et pource qu’en nostre hospital sont retirez non seulement vieux et malades, mais aussi des ieunes enfans — cause de leur povret¦: nous avons ordonn¦ qu’il y ait tousiours un maistre pour les instruire en bonne moeurs, et ¦s elemens des lettres et de la doctrine Chrestienne: principalement il catechisera, enseignant les domestiques dudit hospital, et conduira lesdits enfans au college.»354

Dass die Unterstützung verarmter Schulkinder in Frankreich einen Schwerpunkt beim Aufbau und der Gestaltung der Reformierten Gemeinden bildete, dokumentiert sich auch im Beschluss der Nationalsynode von Figeac im Jahr 1579: «Pour le regard de ceux de la Religion, qui de leur propre autorit¦ jouissent des Dixmes, que les Êglises avoient co˜tume de lever, il leur sera denonc¦ qu’ils aient — les emploier entierement — de bons usages, comme — l’entretien du Ministere, & pour la subvention, les necessit¦s & l’instruction des Ecoliers qui sont la Pepiniere de l’Êglise, & non pas — leur profit particulier, sur peine d’Þtre censur¦s & mÞme suspendus de la Cene, s’ils ne veulent pas suivre cet avis, qui est saint, juste & raisonable»355

353 Zu den Unterschieden zwischen diesen beiden Genfer Kirchenordnungen im Blick auf das Genfer Hospital und den erwähnten eingefügten Passus vgl. J. M. Lechner, Le calvinisme social, S. 10 – 13, besonders S. 13. 354 «Und damit in unserem Hospital nicht nur die Alten und Kranken aufgenommen werden, sondern auch junge Kinder wegen ihrer Armut, haben wir angeordnet, dass es immer einen Schulmeister geben soll, der sie unterrichtet in den guten Sitten/ Verhalten, in den Bereichen der Sprache [im Schreiben und Lesen] und der christlichen Lehre. Vornehmlich soll er katechesieren, indem er die Hospitalinsassen unterweist und die Kinder auf die weiterführende Schule vorbereitet.» (Genfer Kirchenordnung von 1561, zitiert nach J. M. Lechner, Le calvinisme social, S. 13 aus: C.O. 10, 102 f.). 355 «Im Blick auf die Personen, die zur Religion gehören [=Reformierte Kirche] und qua ihres Amtes in den Genuss des Kirchenzehnts kommen, dessen Erhebung zum Brauch der Kirchen geworden ist, wird ihnen unter Strafandrohung, dass sie gerügt oder gar vom Abendmahl ausgeschlossen würden, wenn sie sich nicht an diesen Beschluss halten wollen, der fromm, gerecht und vernünftig ist, angezeigt, dass sie diese gänzlich für gute [= gemeinnützige] Zwecke verwenden sollen, wie etwa zum Unterhalt/zur Bezahlung der Pfarrer und zur Unterstützung, Versorgung mit dem Notwendigen und Unterweisung der Schüler, die die Zuchtstätte / Brutstätte der Kirche sind und nicht etwa zu ihrem persönlichen Vorteil.» (Beschluss der 10. Nationalsynode in Figeac am 02. 08. 1579, ebd. unter «MatiÀres g¦n¦rales XXIII», in: Aymon, Actes eccl¦siastiques et civils, Bd. 1.) Vergleiche hierzu auch die Aufnahme der Begrifflichkeit «p¦piniÀre» bei Fr¦d¦ric Dietsch (siehe Fußnote 365).

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Der Elementarschulunterricht in den franz.– ref. Gemeinden umfasste den üblichen »Fächerkanon«, keinesfalls nur das Lesen der Bibel, auch wenn das unbestritten zentraler Bestandteil war.356 Die Lehrer waren oft gleichzeitig Lektor oder Kantor der Kirchengemeinde.357 Die Schulunterstützung nahm bereits in der Zeit vor dem Edikt von Nantes (1598) je nach Situation und Gemeindegröße verschiedene Formen an. In der Regel bestand die Hilfe der Consistoires in Zahlung des Schulgeldes für die Kinder armer Familien, wie z. B. in Sainte-Foy358 oder Aubenas359 oder darin, arme Studenten zu unterstützen, wie in Loudun.360 Dabei wurden Jungen und Mädchen gleich behandelt.361 Oder aber das Consistoire stellte extra einen Armenschullehrer an. Diese Praxis war sehr verbreitet unter den franz.-ref. Gemeinden, wie etwa in Montauban362 oder zeitweise in N„mes363 . Oder man gründete gar Armenschulen, wie in Calais und Guines, wo offenbar ab 1566 gleich mehrere eröffnet wurden364 oder wie in Metz bereits ab 1560 bzw. 1562.365 Hierunter sind auch die collÀges (Mittlere Schulen), zu subsumieren, sofern sie sich als Freischulen verstanden, also kein Schulgeld gezahlt werden musste. Als Beispiel sei hier verwiesen auf das 1576 gegründete collÀge in Castres, einer protestantischen Hochburg.366 Ein eben solches collÀge existierte in N„mes, das dort 1559 gegründet wurde und sich im Schutze des protestantischen Stadtrates entwickeln konnte.367 Außer durch Geld wurden die Schüler dort auch mit Kleidung unterstützt.368 Auch in Saint-Lú (Normandie) existierte offenbar bereits 1563 ein solches collÀge.369 An letzterem Beispiel wird deutlich, dass das Vorhandensein solcher Freischulen sich nicht lediglich veränderter Macht- oder Mehrheitsverhältnisse verdankte, sondern auf das grundsätzliche franz.– prot. 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365

366 367 368 369

Vgl. E. K. Hudson, The protestant struggle, S. 271 – 295 O. E. Strasser-Bertrand, Die Evangelische Kirche in Frankreich, S. 156. Vgl. J. Garrisson-EstÀbe, Protestants du midi, S. 260. Vgl. P. De F¦lice, Les Protestants d’autrefois, Bd. 2, 112. Vgl. P. De F¦lice, ebd., S. 117. Vgl. J. Garrisson-EstÀbe, ebd. Vgl. J. Garrisson-EstÀbe, L’Homme Protestant, S. 187. So geschehen am 20. 09. 1561 (vgl. C. NÀgre, oeuvres n„moises, S. 41). Vgl. M. Naert, Calais oder »Assistance aux pauvres de Guines«, in : Bull. B.S.H.P.F. (63) 1914/15, S. 437. Ab 1560 änderte sich in Metz die Situation des Schulwesens durch die Einführung des Calvinismus. Den ca. 10.000 Reformierten war an einer Verbesserung des Schulwesens gelegen. Die Schulen waren aus ihrer Sicht nicht zuletzt die »p¦piniÀre de l’esprit de Reformation« (»Zuchtstätte des Geistes der Reformation«) – so deutet es Fr¦d¦ric Dietsch (ders., Die Evangelische Kirche von Metz, S. 116). Um 1562 gab es dann bereits vier von den Protestanten gegründete Schulen (vgl. J.-F. Michel, ¦coles protestantes — Metz, S. 214). Vgl. E. K. Hudson, The protestant struggle, S. 273 f. Vgl. C. NÀgre, oeuvres n„moises, S. 41. Vgl. C. NÀgre, oeuvres n„moises, S. 41. Vgl. E. K. Hudson, ebd., S.274

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Selbstverständnis zurückführen lässt, wonach Schulbildung ausdrücklich allen, eben auch den Ärmeren, zugutekommen sollte. Solchen Armenschulen oder collÀges war teils eine nur kurzzeitige oder unstete Existenz beschieden, da entweder Kriege oder die politische Machtübernahme am Ort durch eine katholische Führung oder aber die Edikte des Königs sie gefährdeten oder verhinderten. Am 4. Oktober 1570 ließ Karl IX. durch ein Edikt verfügen: »Il est d¦fend — toutes personnes de tenir des ¦coles et collÀges, s’ils ne sont connus et approuv¦s catholiques, tenant la religion catholique romaine.«370 Freilich konnte das, was irgendwo in der Provinz geschah, nicht immer von der Zentralmacht in Paris kontrolliert werden. Dennoch gilt, dass vor diesem Hintergrund auch auf dem Feld der Schulen bzw. Armenschulen geschlossene Institutionen gerade in der ersten Phase aufgrund der äußeren Rahmenbedingungen vor dem Edikt von Nantes nur bedingt möglich waren. Die Akademie von BÀarn, die sich im Schutze der dortigen politischen protestantischen Machthaber etablieren konnte, bestach durch ihre besondere Fürsorge, die sie armen Schülern bzw. Studenten durch geregelte Vergabe von Kleidungsstücken und Schuhen sowie Ausstattung mit Büchern und Lernmitteln und medizinische Versorgung zugutekommen ließ, ohne dass deren Eltern einen Beitrag dazu leisten mussten.371 Die Kapitalgrundlage dafür bildeten unter anderem konfiszierte Kirchengüter der röm.-kath. Kirche.372 Die politischen Verhältnisse der im Bereich der Pyrenäen gelegenen Provinz B¦arn sorgten für einen relativ stabilen Rahmen. B¦arn war politisch gesehen über lange Zeit die protestantische Hochburg schlechthin.373 Hier war also der Rahmen für einen effektiven Auf- und Ausbau der Chancengleichheit durch Förderung von Schulkindern und Studenten aus armen Verhältnissen von vornherein und langfristig gewährleistet. Da es in der Forschung kaum bekannt sein dürfte, ist an dieser Stelle besonders hervorzuheben, dass die Schulgeldbefreiung bzw. Unterstützung nicht nur durch die jeweiligen reformierten Kirchengemeinden geleistet wurde, sondern in Montpellier beispielsweise der protestantisch majorisierte Rat der Stadt die Schulbildung und universitäre Ausbildung so sehr zu seiner Sache machte, dass er sich im 16. Jh. sehr bald daran begab, eine grundsätzliche Schulgeldbefreiung einzuführen, zumindest an den von ihm gegründeten oder in seiner Trägerschaft befindlichen »öffentlichen« Schulen. Dazu stellte er entsprechend

370 (»Schulen oder collÀges zu halten, ist allen Personen verboten, die als katholisch nicht bekannt sind und denen nicht bescheinigt wird, dass sie sich zur römisch-katholischen Religion halten.«) Zitiert nach Franck Puaux, Les ¦coles protestantes, S. 2. 371 Vgl. J. Garrisson-EstÀbe, L’Homme Protestant, S. 187 f. 372 Vgl. J. Garrisson-EstÀbe, L’Homme Protestant, S. 187. 373 Vgl. Cadier, Alfred, Le protestantisme en B¦arn et au pays basque.

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Lehrer mit einem ausreichenden Festgehalt an.374 In Millau scheint es, ebenso durch den dortigen protestantischen Stadtrat eingeführt, eine solche allgemeine Schulgeldbefreiung von Anfang an gegeben zu haben. Jedenfalls wird das durch den Abt Rouquette bezeugt. In seinem Resümee lässt Frank Delteil, der in seiner Darstellung über das collÀge in Millau auch über die allgemeine Bildungssituation in Millau im Zuge der Reformation berichtet, das Zeugnis des Abtes einfließen: »Pas de grands changements, semble-t-il, dans les ¦coles, mais le souci trÀs net de d¦velopper et de favoriser l’enseignement: les gages des ma„tres ont ¦t¦ augment¦s, sinon doubl¦s (100 l. pour Gely en aúut 1571). De plus, comme le note l’abb¦ Rouquette, pour tous les enfants de la ville, l’instruction devient gratuite.«375 Die Maßnahmen zur Umsetzung des Zieles sind also ähnlich wie in Montpellier die Kostenübernahme und erhebliche Gehaltserhöhung der angestellten Lehrer durch die Stadt zugunsten des freien Schulbesuchs. In Montpellier und Millau ging der diakonische Impuls franz-ref. Kirchenpraxis also über in lokales sozialpolitisches Handeln, ohne dass dabei etwa theokratische Strukturen vorhanden oder vonnöten gewesen wären. Bezeichnend für den hohen Stellenwert der Bildung als Teil präventiver Armenfürsorge im franz. Protestantismus ist auch, dass die Lyoner Protestanten unmittelbar nach ihrer Machtübernahme in der Stadt im Jahr 1562 100 Bücher für die weiblichen Waisenkinder kauften, die der Aumúne G¦n¦rale (»allgemeinen Almosenkasse«), also der städtischen Armenunterstützung anvertraut waren. Sie sollten auf diese Weise in der Religion und gleichzeitig im Lesen unterrichtet werden. Im Blick auf die weiblichen Waisenkinder war das im Vergleich zu den zurückliegenden Zeiten dieser Institution offenbar ein 374 »Les protestants de Montpellier…¦tablirent de bonne heure la gratuit¦ de l’enseignement. Les consuls de cette ville, tous calvinistes, installÀrent trois r¦gents — l’Êcole Mage, auxquels ils affectÀrent des traitements fixes. Ces ma„tres s’engagoient — professer pendant un an — partir de la Sainte-Luc, et s’interdisaient de recevoir aucune r¦stribution des ¦lÀves de la ville ou du diocÀse.« (»Die Protestanten von Montpellier führten bereits sehr früh den kostenlosen Unterricht ein. Die Räte der Stadt, allesamt Calvinisten, stellten drei Lehrer an der Höheren Schule [Êcole mage = Êcole maje = Êcole majeure] an, denen sie ein Fixgehalt boten. Diese Schulmeister verpflichteten sich während eines Jahres, beginnend ab St. Lukas und erklärten sich dazu bereit, auf irgendwelche [weiteren] Beiträge von Schülern der Stadt oder der Diözese zu verzichten.«) – Ph. CorbiÀre, L’Êglise R¦form¦e de Montpellier, S. 120. Ph. CorbiÀre bezieht sich in seinem von 1864 stammenden umfassenden Werk über die Geschichte der Reformierten Kirche von Montpellier unter anderem auf einen seinerzeit ihm vorgelegenen Beitrag von M. Faucillon über die »Facult¦ des arts«. 375 »Es scheint keine großen Veränderungen in den Schulen gegeben zu haben bis auf das deutliche Bemühen, die Bildung weiterzuentwickeln und zu favorisieren: die Gehälter der Schulmeister sind erhöht worden, wenn nicht gar verdoppelt (100 Livres gab es für [den Schulmeister] Gely im August 1571). Noch dazu, wie es der Abt Rouquette schriftlich festhält, wird der Unterricht für alle Kinder der Stadt kostenfrei.« (F. Delteil, Le collÀge protestant de Millau, S. 24).

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Novum.376 So positiv sich hier das Engagement der Protestanten zugunsten der benachteiligten Waisenmädchen im Blick auf deren Bildung niederschlug, so negativ konnten sich offensichtlich aber auch gewisse theokratisch-konfessionalistische Ansätze oder Elemente der Kirchenzucht bei der zwischenzeitigen Machtübernahme in Lyon auf die Konzeption der Aumúne G¦n¦rale (»allgemeinen Almosenkasse« – städtische Armenkasse) auswirken. Die Unterstützungsvergabe dieser städtischen Einrichtung der Armenhilfe wollte die neue protestantische Führung von Bekenntnisstand, Gottesdienstbesuch und sittsamem Lebensstil abhängig machen.377 Neben der kirchlichen Armenfürsorge war also auch die städtisch-öffentliche Armenfürsorge, wie sich an dem Beispiel von Lyon zeigt, ein Bereich der konfessionellen Auseinandersetzung und Einflussnahme in der frühen Neuzeit (16.–18. Jh.). Das wird auch in einer Reihe von Einzelfallstudien über städtische Armenfürsorge in Frankreich und in deutschen Landen beleuchtet, ist aber noch keineswegs ausreichend erforscht oder gar zu einer syntheseartigen Gesamtdarstellung gelangt.378 376 Vgl. N. Z. Davies, Assistance, humanisme et h¦r¦sie, S. 812, siehe dort Anm. 166. 377 So nach Alfred Aeschimann: »La remarquable institution lyonnaise de ›Aumúne G¦n¦rale‹ r¦serva d¦sormais ses subsides — ceux qui ›certifioient qu’ils fr¦quentoient les presches et n’estoient ni gourmands, ni ivrognes, paresseux, papistes et s¦ditieux‹« (»Die bemerkenswerte Lyonaiser Einrichtung der ›Aumúne G¦n¦rale‹ behielt von da an die Unterstützung für den Lebensunterhalt denen vor, die ›nachweisen konnten, dass sie regelmäßig am Gottesdienst teilnehmen und weder prassen noch Trunkenbolde sind, noch faul, noch Papisten [=Schimpfwort für Katholiken] noch rebellisch sind‹.«) – ders., Les origines, S. 109/ 110; Zitat innerhalb des Zitats den Fußnotenangaben entsprechend entnommen aus: »Registre de l’Aumúne g¦n¦rale, archives de l’húpital de la Charit¦, cit¦ dans: M. Rondot, Les Temples et les CimetiÀres des Protestants — Lyon«. 378 Die städtische Armenfürsorge im Kontext der Konfessionalisierung wurde zumindest anfangs im deutschen Raum vorwiegend als eine »städtisch konfessionelle Einheit« begriffen, und weniger als Ort der Auseinandersetzung der unmittelbar miteinander konkurrierenden Konfessionen und ihrer Einflussnahme innerhalb der städtischen ArmenfürsorgeGremien selbst (vgl. z. B. Robert Jütte, Obrigkeitliche Armenfürsorge, Köln 1984; Thomas Fischer, Städtische Armut, Göttingen 1979). Das liegt freilich auch an den unterschiedlichen Bedingungen innerhalb Deutschlands und Frankreichs, was die konfessionelle Landschaft und ihre politischen Gegebenheiten betraf, weshalb die Anwendbarkeit bzw. Übertragbarkeit des »Erklärungsmodells« des »Konfessionalisierung« für Frankreich in der Geschichtswissenschaft auch entsprechend in Frage gestellt wurde (vgl. Philip Benedict: Confessionalization in France? Critical Reflections and New Evidence, in: ders.: The Faith and Fortunes of France’s Huguenots, 1559 – 1685, Aldershot 2001, S. 309 – 325; Mack P. Holt: Confessionalization beyond the Germanies: The Case of France, in: John M. Headley / Hand J. Hillerbrand / Anthony J. Papalas (Hg.): Confessionalization in Europe, 1555 – 1700. Essays in Honor and Memory of Bodo Nischan, Aldershot 2004, S. 257 – 272). Meines Erachtens vertritt auf Frankreich bezogen am ehesten noch Thierry Wanegffelen einen Ansatz, der sich mit der Deutungskategorie »Konfessionalisierung« verbindet (vgl. ders., La France et les FranÅais. XVIe-milieu XVIIe siÀcle. La vie religieuse, Paris 1994). Auch sei verwiesen auf die vergleichende Studie von Leclerc-Lafage, Val¦rie: Montpellier au temps

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Ausdrücklich sei im Blick auf die Förderung und Unterstützung bei der allgemeinen Schulbildung hier schließlich auf die Metzer Gemeinde verwiesen, die über ein stetig ausgebautes Schulsystem verfügte und ihre Armenschüler entsprechend versorgte – 1562 besaßen die Protestanten vier, im Jahr 1580 acht und im Jahr 1594 zehn Schulen.379 Dem katholischen Bischof Lescossois hat es wohl Kopfzerbrechen bereitet, als er schließlich 1662 in der späteren Phase, genauer gegen Ende der Blütezeit des diakonischen Engagements der franz. Protestanten und am Ende der Hochzeit der Gegenreformation, eine Untersuchung darüber veranlasste, wie viele Schulen die Protestanten besäßen und sich dabei herausstellte, dass sie mittlerweile über ganze 19 Schulen in der Stadt verfügten.380 Das bestärkte die Kräfte der Gegenreformation, vor Ort nur umso mehr auch auf diesem Gebiet mit dem so ausgeprägten Engagement zu wetteifern, um (auch) hier wieder das Ruder übernehmen zu können.381 Die ausgesprochen starke Gewichtung der Erziehung und Bildung als präventive Maßnahme zur Bekämpfung der Armut, wie wir sie später in Berlin, wo der Anteil von Flüchtlingen aus Metz stark dominierte,382 vorfinden,383 dürfte neben anderen Gründen nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass Metz dabei wahrscheinlich als vorbildliches Modell Pate gestanden hat – wenn auch nicht für die einzelnen später in Berlin gegründeten Institutionen, so doch durch die lange Tradition, den reichen Erfahrungshintergrund und den festen Willen,

379 380 381 382 383

des troubles de Religion. Pratiques testamentaires et confessionnalisation (1554 – 1622), (Vie des huguenots, 52), Paris 2010. Inzwischen hat sich, unter anderem gerade angeregt durch mikrohistorische Studien (vgl. auch F. Fätkenheuer, Lebenswelt und Religion. Mikrohistorische Untersuchungen an Beispielen aus Franken um 1600, Göttingen 2004; B. Dietz, S. Ehrenpreis (Hg.): Drei Konfessionen in einer Region Köln 1999.) die Konzeption der Konfessionalisierung so wie auch ihre Debatte weitgehend ausdifferenziert. Zu Beispielen siehe: Harm Klueting, »Zweite Reformation« – Konfessionsbildung – Konfessionalisierung. Zwanzig Jahre Kontroversen und Ergebnisse nach zwanzig Jahren, in: Historische Zeitschrift 277, 2003, S. 309 – 341; Kaspar von Greyerz / Manfred Jakubowski-Tiessen / Thomas Kaufmann, / Hartmut Lehmann (Hg.): Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 201), Gütersloh 2003; Brockmann, Thomas / Weiß, Dieter J. (Hg.): Das Konfessionalisierungsparadigma – Leistungen, Probleme, Grenzen (Bayreuther Historische Kolloquien 18), Münster 2013. Nicht immer hat die Debatte, wie gerade die letztgenannten Beispiele zeigen, zur Klarheit beigetragen. Vielmehr muss man den Eindruck gewinnen, dass es zahlreiche unterschiedliche Konzepte gibt, die sich mit dem Paradigma »Konfessionalisierung« verbinden. Es müsste also jeweils definiert werden, in welchem Sinne gerade über Konfessionalisierung gesprochen wird, wenn sie als Kategorie ins Feld geführt wird. Vgl. J.-F. Michel, a.a.O., S. 214. Vgl. J.-F. Michel, a.a.O., S. 214 f. Siehe dazu weiter unten im laufenden Text die Darstellung zur zweiten Phase des diakonischen Engagements. Siehe oben unter Kap. 2.1. Hier ist besonders die Êcole de Charit¦ (»Schule der Mildtätigkeit« – Armenschule) hervorzuheben (vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin).

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ein effektives Erziehung- und Bildungssystem zu etablieren, das auch Angehörigen der unteren Bevölkerungsschichten verhalf, beruflich und gesellschaftlich zu reüssieren. Dass dabei auch immer Gedanken der Abgrenzung und Sicherung der konfessionellen und soziokulturellen Identität der hugenottischen Minderheit – hier zunächst innerhalb Frankreichs und später auch außerhalb Frankreichs im Refuge – eine Rolle gespielt haben, wie immer wieder zu lesen ist, gelegentlich aber auch über Gebühr betont wird,384 steht außer Frage und ist so selbstverständlich wie in seiner Aussage auch schon fast wieder banal. Sehr zu bestreiten ist allerdings die Ausschließlichkeit dieses Motivs.385 Denn das hieße, die diakonische Dimension/Tradition, die letztlich auch in Theologie und Kirchenverständnis der französisch Reformierten begründet lag, als Motiv und Leitbild völlig zu ignorieren. P. Chaunu bringt mit wenigen Begriffen die Option des franz. Protestantismus, wie er sich im 16 Jh. entfaltet und gewirkt hat, auf den Punkt: Die (franz.) Reformation bedeutete ein »investisement sur l’¦ducation«, also »l’alphab¦tition du petit peuple« weil sie eine Religion des Buches, der Bibel war.386 Das war allerdings nicht nur bewusste Option protestantisch-städtischer Armenfürsorge (s. o.) oder die der jeweiligen Leitungsgremien der Kirchengemeinden (Consistoires, gemeindliche bureaux des pauvres oder Zusammenkünfte der Diacres) – also der Verantwortungsträger, die in ihren Funktionen alle für die Förderung einer Schulausbildung der Armen zuständig waren oder sich dafür einsetzten. Sondern diese diakonische Option war auch im Bewusstsein franz.-prot. Gemeindemitglieder fest verankert. Das spiegelt sich jedenfalls in testamentarischen Verfügungen, den sogenannten legs (»Legate« / »Testamen384 Auf die offene Gemeindearmenfürsorge in Frankreich bezogen sei dafür als Beispiel verwiesen auf M. Dinges, Huguenot poor relief, besonders. S. 161 o., S. 165 o., S. 169 o., S. 170 u. 173. Auf das hugenottische Engagement in Erziehungs- und Bildungsfragen in Berlin bezogen vgl. Franziska Heusch, die zwar zu Beginn z. B. eine Bildungstradition bei den Hugenotten feststellt, aber später das oben genannte Motiv der Minderheitenidentität als Erklärungszusammenhang sehr strapaziert (vgl. dies., Das elementare Schulwesen der Berliner Hugenotten im 18. Jahrhundert, S. 115 – 134. 385 In diese Gefahr scheint sich meines Erachtens M. Dinges zu begeben, wenn er bezugnehmend auf die franz.-ref. Gemeindearmenfürsorge an anderer Stelle formuliert: »Im Gegensatz zur katholischen Mehrheit hatten die Protestanten ein vitales Interesse an einer gut funktionierenden Fürsorge, um ihre konfessionelle Identität wahren zu können.« (ders., Stadtarmut in Bordeaux, S. 445. Ist hier womöglich ein idealisiertes Bild der Minderheitenidentität leitend? Oder ist gemeint und deshalb deutlicher und angemessener formuliert, dass die franz. Protestanten mangels anderer Möglichkeiten ein vitales Interesse an einer gut funktionierenden Gemeindefürsorge hatten, um ihre Identität zu bewahren? Auch in diesem Fall würde aber allerdings eine monokausale Herleitung der Gemeindediakonie von diesem Motiv her nicht ausreichen (s. o. im Text). 386 (»Investition in die Erziehung«, also »in die Alphabetisierung des einfachen Volkes / der unteren Schichten«) P. Chaunu, Niveaux de Culture et R¦forme, 301 – 326.

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te«), in denen Protestanten bestimmten, dass ein Teil ihres Erbes oder das ganze Erbe karitativen oder anderen Zwecken der Gemeinde zugutekommen sollte. Solche Legate sind Gradmesser von mentalen Einstellungen und sozioökonomischen Entwicklungen und erfreuen sich großer Beliebtheit als Quelle oder Gegenstand historisch-wissenschaftlicher Forschung, vor allem im Bereich der Mentalitätsgeschichte.387 Aus der ersten Phase, also bis zu Beginn der neunziger Jahre des 16. Jh., sind zwar einige solcher franz.-prot. Legate bezeugt, jedoch die meisten von ihnen nicht mehr zugänglich, das heißt in Archiven nicht mehr auffindbar. Anders sieht das, was Anzahl und Auffindbarkeit betrifft, aus noch zu erläuternden Gründen hingegen für das Ende des 16. Jh. und das 17. Jh. aus, wie wir an Beispielen weiter unten noch sehen werden. Dennoch sind die wenigen noch existenten auffindbaren Legate der ersten Phase Hinweis genug auf die oben genannte diakonische Option. Eigene Archivrecherchen und Hinweise aus der Sekundärliteratur belegen das. Unter den von J. Garrisson erwähnten, aber von ihr persönlich offensichtlich nicht genauer konsultierten, Legaten der Reformierten Kirchengemeinde von Aubenas, beginnend ab 1562388 befinden sich nicht nur einige mit der Bestimmung »pour les ›vraiment pauvres‹« ( »für die ›wirklich Armen‹«) oder »les pauvres de Notre Seigneur J¦sus Christ« (»die Armen unseres Herrn Jesus Christus«) , wie von Samuel Mours gesichtet und bezeugt,389 sondern , wie man bei genauerer Lektüre feststellen kann, auch einige mit der konkreteren Vorgabe zur Verwendung für die »pauvres ¦scoliers« (»armen Schüler«).390 Hierbei handelt es sich nicht um Zufall. Auch von anderen Gemeinden sind Legate mit dieser Zweckbestimmung der Bildung oder Ausbildung von Armenkindern für die erste Phase bezeugt, so z. B. von der franz.-ref. Kirchengemeinde in Montpellier. Ironischerweise haben wir es der Akribie der Auflistungen über konfiszierte Güter der enteigneten reformierten Kirchengemeinde von Montpellier aus dem Jahr 1684 zu verdanken, dass wir etwas über das soziale 387 Siehe z. B.: Michel Vovelle, Pi¦t¦ baroque et d¦christianisation en Provence au XVIIIe siÀcle, Paris 1973; Philippe AriÀs, Geschichte des Todes, 12. Aufl. 2009; Pierre Chaunu, La Mort — Paris, 1978; Birgit Noodt, Religion und Familie in der Hansestadt Lübeck anhand der Bürgertestamente des 14. Jahrhunderts, Lübeck 2000. Auf unser Thema bezogen sei besonders verwiesen auf W. J. Pugh. Sie hat solche Legate für N„mes und Lyon für die Zeit des 17. Jh. analysiert (dies.,Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 479 – 504 – die Ergebnisse werden weiter unten in Kap. 2.3.2 noch ausführlicher vorgestellt. Eine auf Montpellier bezogene konfessionsvergleichende Studie von Testamenten ist 2010 erschienen: Leclerc-Lafage, Val¦rie: Montpellier au temps des troubles de Religion. Pratiques testamentaires et confessionnalisation (1554 – 1622). 388 Vgl. J. Garrisson, protestants du midi, S. 261. 389 Vgl. S. Mours, le protestantisme au XVIiÀme siÀcle, S. 143 390 Vgl A.N.: TT 232 dossier XV, Aubenas: »administration de la caisse des pauvres d’Aubenas«, 1583.

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Bewusstsein der franz.-ref. Gemeindeglieder erfahren, das sich in einem der Legate niederschlug, die damals zu der Zeit offiziell eigentlich gar nicht anerkannt waren: «Louis Rigaud Mar.t de Montpellier donna et legua auses (sic.) pauures de la R.P.R., deux sienes jardins…pour les Rentes estre Employ¦es a marier de pauures filles, et Mestier d’apprentissage a de pauures garcons et a leur Escole suivant song testament du 27e Xbre. 1586. » 391

2.2.2.9 Unterstützungen bei Krankheit In der offenen Gemeindearmenfürsorge der französischen Protestanten nahm die Unterstützung in Krankheitsfällen schon bzw. gerade in der ersten Phase einen großen Raum ein392. Das hatte neben der in der »Discipline eccl¦siastique« und den übrigen vergleichbaren Ordnungen (siehe oben) grundsätzlich festgelegten Beauftragung der Diakone mit dem Besuch und der Fürsorge der Kranken zuallererst seinen Grund in der gemeindlichen Selbstverpflichtung, die tatsächlichen »invalides« bzw. die tatsächlich der Hilfe Bedürftigen auch wirklich entsprechend zu versorgen,393 wo man in den reformierten Städten und Kirchengemeinden gleichzeitig dazu übergetreten war, das Betteln in der Stadt und an den Kirchentüren zu untersagen – so z. B. sehr bald im calvinistisch geprägten Genf394 und ebenso 1582 im protestantisch majorisierten N„mes.395 Hier und da geschah das auch unter Androhung von Unterstützungsentzug.396 Wer nicht betteln durfte, aber kaum über andere Einkunftsmöglichkeiten verfügte, war somit ganz auf ein System angewiesen, das ihn auch im Fall von vorübergehender oder fortdauernder Krankheit unterstützten konnte. Hier musste also ähnlich, wie es für andere Felder der gemeindlichen franz.-ref. Armenversorgung galt, eine Form von Krankenunterstützung greifen, die dem Rechnung tragen konnte. 391 «Louis Rigaud, Kaufmann von Montpellier schenkt und vermacht an die Armen der R.P.R. (=Religion Pr¦tendue R¦form¦e) zwei seiner Gärten …damit die Erträge/Pacht gemäß seinem Testament vom 27. Dezember 1586 für die Aussteuer armer Mädchen, die Berufsausbildung armer Jungen und ihre Schulbildung verwendet werden / verwendet wird.» – A.N.: Serie TT 256/B, Montpellier, fol. 1123 – 1128 – «Consistoire de Montpellier : Estat des Biens que les pauures de l’hospital general de Montpellier Jouissant» (1684), fol. 1124. 392 Vgl. P. De F¦lice, Les Protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 109 f.; C. NÀgre, Les oeuvres n„moises, S. 40; J. Garrisson-EstÀbe, L’Homme Protestant, S.185 f.; J. Garrisson-EstÀbe, Protestants du midi, S.258 f..; Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 633; J. Imbert, 393 Zu der entsprechend starken Gewichtung und Ernsthaftigkeit dieses Anliegens vgl auch M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 160 u. R. A. Mentzer, Organizational Endeavour, S. 7, 12 u. 18. 394 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 179. 395 Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 622. 396 Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 622.

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Mit anderen Worten: Für die franz.-ref. Kirchengemeinden galt nicht minder das, was W. Hippel im Blick auf die Nürnberger Armenordnung von 1522 so auf den Punkt gebracht hat: »Die Gemeinde sollte im Geist wahrer, vom Glauben getragener Nächstenliebe ihre ›bedürftigen hausarmen und notleidenden‹ Mitbürger so versorgen, dass sie auf entwürdigenden Bettel nicht mehr angewiesen waren.«397 So, wie in Nürnberg die weltliche Gemeinde gefordert war, war hier die kirchliche Gemeinde gefordert. Das spiegelt noch mal die besondere Situation des franz. Protestantismus und sein theologisch- und situationsbedingt anderes Verständnis von Diakonie und sozialer Verantwortung (s. o.) in einer Welt, wo weltliche und kirchliche Gemeinden oft nicht deckungsgleich waren oder so eng miteinander kooperierten wie in deutschen Landen. Neben diesem von der Forschung oft außer Acht gelassenen ganz pragmatischen selbstverständlichen Grund für das starke Engagement im Blick auf die (armen) Kranken und kranken Armen, ist der andere Grund – insbesondere für die nicht geschlossene, also ambulante Versorgung der eigenen Kranken – das starke Interesse der franz.-ref. Minderheit an ihrer Identitätsbewahrung.398 Mit J. Imbert ist zu konstatieren, dass sich die städtischen und königlichen Armenhäuser und Hospitäler dieser Zeit in Frankreich de facto überwiegend in den Händen der katholischen Stadtführung oder gar des Klerus selbst befanden.399 Es liegt daher nahe, dass die Protestanten Bekehrungsversuche befürchteten. Diese Angst war, wie sich vor allem im darauffolgenden 17. Jh. zeigen sollte, durchaus berechtigt (siehe weiter unten). Wollte man verhindern, dass protestantische Klienten auf diese Weise zum Konvertieren bewegt oder gedrängt werden konnten, musste man also eine Alternative bieten.400 So musste und konnte sich ein ambulantes Versorgungssystem etablieren und bewähren, das unabhängig von den bereits institutionalisierten Hospitälern war. Zur franz.-ref. gemeindlichen ambulanten Krankenunterstützung dieser ersten Phase gehörten neben den Besuchen, der medikamentösen und ärztlichen Versorgung, den Kostenübernahmen bei Kuren,401 notgedrungenen Kranken397 W. Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen, S. 48. 398 Zu dem identitätsbewahrenden Aspekt vgl. ähnlich und grundsätzlicher, weil auf die gesamte ambulante Armenunterstützung der Hugenotten und auf das 16. wie 17 Jh. in Frankreich gleichermaßen bezogen, auch M. Dinges, Huguenot poor relief, besonders. S. 161 o., S. 165 o., S. 169 o., S. 170 u. 173. Bezeichnend im Blick auf diesen Aspekt ist folgender resümierender Kommentar : »These interactions reinforced the coherence of the church and strengthened the inner bonds between families and individuals, between the poor and the better off, and even between the churches in different regions of the kingdom as well as abroad« (ebd., S. 173). 399 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 174. 400 Mit J. Imbert, vgl. ders., L’hospitalisation des protestants, S. 174; vgl. auch M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 166. 401 In N„mes hatte die Kostenübernahme bei Heilkuren für arme Kranke ein großes Gewicht (vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 655 ff.).

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transporten und Unterbringungen in Haushalten bzw. Familien der Gemeinde402 oder Hospitälern je nach Situation auch regelmäßige oder zeitlich begrenzte, außerordentliche Geldzuweisungen, um den Einkommensverlust aufzufangen, also zur Versorgung der einzelnen Person oder aber zur Unterstützung der übrigen betroffenen Familie beizutragen, um damit einen weiteren Abstieg in die Armut zu verhindern oder zumindest abzuschwächen.403 Die durchzuführenden Besuche hatten außer dem Zweck, dass die Situation erkundet, Medikamente verabreicht oder andere »pflegerische Dienste« verrichtet und Nahrungsmittel oder finanzielle Unterstützungen überbracht werden sollten,404 noch am ehesten eine seelsorgerliche Dimension. Dazu konnte der Trost ebenso gehören, wie die Kontrolle und Zensur des Lebenswandels im Sinne orientierender Ermahnung, die Gabe des Abendmahls405 und das Bestärken und Behaften im Bekenntnis. Deshalb wurden für diese Dienste nicht nur die Diakone oder Ältesten eingeteilt und dazu angehalten, wie es die Discipline eccl¦siastique und andere Ordnungen vorsahen (s. o.), sondern auch immer wieder die Ministres (»Diener (am Wort)«/»Pastoren«) aufgefordert, die Kranken der Gemeinde zu besuchen, so z. B. in N„mes, wo ihnen aufgetragen wurde, mit oder bei den Kranken Gebete zu sprechen und sich um das Heil von Körper und Seele zu bemühen406 oder in dem mehr lutherisch geprägten Montb¦liard, wo die Seelsorge der Pastoren vom Abendmahl begleitet sein sollte407. Die Seelsorge diente letztlich der Stärkung von Glaube und Bekenntnis. Ein Beispiel aus N„mes zeigt das sehr deutlich: 1590 wurde Isaac Servent, der erkrankt war, wegen seines schlechten Zustandes eine vergleichsweise großzügige Unterstützung bewilligt, aber nicht ohne die Empfehlung bzw. spirituelle Botschaft des Consistoire mit auf den Weg zu geben, nämlich, »de panser — son –me e de se dispozer — tout ce que Dieu vouldra fere de luy, attendu qu’il se voit si ext¦nu¦ et tant malade comme il est et le prier soir et matin et avoyr aultant de soin de son salut comme de provoir ›son corps‹.«408 Hierin unterschied sich katholische und protestantische Theorie und Praxis der damaligen Krankenseel402 Vgl. zum Beispiel auf N„mes bezogen: Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 657. 403 Siehe hierzu weiter im laufenden Text. 404 Zu diesen Aspekten der Krankenbesuche vgl.: W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten, Heft 1 – 3; J. Garrisson-EstÀbe, Protestants du midi, S. 256 ff. 405 Vgl. F. Lovsky, L’Êglise et les malades, S. 65. 406 Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 631. 407 Zu dieser Aufforderung an die Pastoren, die sich letztlich von der »Ordonnance eccl¦siastique du pays Montb¦liard« von 1559 ableitet (1560 in Latein, 1568 in Französisch erschienen; vgl. John Vi¦not, Histoire de la R¦forme, Bd. 2, S. 325), vgl. F. Lovsky, L’Êglise et les malades, S. 65. 408 »an seine Seele zu denken und sich ganz Gott hinzugeben, auf dass er das aus ihm macht, was er will, in anbetracht dessen wie ausgemergelt und krank er ist und ihn morgens und abends zu bitten, dass er seinem Seelenheil ebenso viel Fürsorge zukommen lassen möge wie seinem Körper,« (zitiert nach Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 631.

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sorge kaum voneinander.409 Es ist von daher nicht verwunderlich, dass dieses seelsorgerlich motivierte und gleichzeitig die Gruppenidentität bewahrende Besuchsinteresse schließlich auch seinen Niederschlag im Toleranzedikt von Nantes 1598 fand, nämlich in der Weise, dass die Zuständigkeit und die Besuche protestantischer Pastoren bei Klienten ihres Bekenntnisses in den angesprochenen existierenden oder noch zu gründenden Hospitälern durch das Edikt künftig garantiert werden sollten (siehe weiter unten). Die medikamentöse und ärztliche Versorgung war neben der Seelsorge elementarer Bestandteil der ambulanten Armenversorgung in der ersten Phase. Das geht nicht nur als Desiderat aus einem anonymen Aufsatz eines Lyoner Autors aus dem Jahr 1561 hervor, in dem er empfiehlt: «Que les Diacres ayent medecin barbier apothicaire — gagner si la facult¦ de la bourse la porte afin que les pauvres soyent promptement secourus et quand la maladie ou la plaie sera dangereuse qu’autres m¦decins soient appell¦s et chirurgiens pour une bonne fois cela viendra au soulagement de la bourse.»410

Es entsprach auch da, wo finanziell umsetzbar, weiten Teils franz.-ref. diakonischer Praxis. Das gilt einmal für Lyon selbst, wo die gemeindliche protestantische offene Armen- und Krankenversorgung zu der 1534 ins Leben gerufenen vorbildlichen städtischen Aumúne G¦n¦rale (»Allgemeine Almosenkasse«),411 die letztlich dieselben Funktionen wahrnahm,412 parallel weitergeführt wurde. Vor allem in den Zeiten, wo die Protestanten in Lyon nicht die politische Macht besaßen,413 Diskriminierung ihrer Klientel befürchten mussten und eine Versorgung der409 Abgesehen von der Frage der »Krankensalbung« (vgl. zu diesen Aussagen: F. Lovsky, L’Êglise et les malades, S. 70 u. 87). 410 «Die Diakone mögen einen extra dafür bezahlten/angestellten Arzt, Barbier [gemeint ist einer mit chirurgischen Fähigkeiten], Apotheker an der Hand haben, sofern es die Armenkasse verkraften kann, damit den Armen umgehend geholfen werden kann und in den Fällen, wo die Krankheit oder Plage gefährlich werden sollte, schließlich andere Ärzte oder Chirurgen zur Heilung durch die Armenkasse bestellt werden sollen.» – zitiert nach J. Garrisson-EstÀbe, protestants du midi, S. 256 f. 411 Zur Aumúne G¦n¦rale vgl. N.Z. Davies, Assistance, humanisme et h¦r¦sie, S. 761 – 833 und J.-P. Gutton, La soci¦t¦ et les pauvres. 412 Die 1534 gegründete Aumúne G¦n¦rale war das Produkt einer städtischen Armenreform, bei der Protestanten führend beteiligt waren, auch wenn sie als solche schwer zu identifizieren waren (vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen unter Kapitel 2.2.2.15, speziell S. 122 f.). Im Vordergrund stand dabei, die offene Armenunterstützung zu regeln und effektiv zu gestalten. Dazu gehörte die geregelte Verteilung von Armengeldern ebenso wie die ärztliche Versorgung und die Vermittlung von Waisen in Lehrstellen etc. bei gleichzeitigem Verbot des Bettels und der Erhebung einer »Armensteuer« (vgl. N.Z. Davies, Assistance, humanisme et h¦r¦sie, S. 761 ff., zur »Armensteuer« vgl. J.-P. Gutton, La soci¦t¦ et les pauvres, S. 276). 413 Die politische Macht der Protestanten in Lyon weilte nur kurze Zeit, keine zwei Jahre, nämlich von 1562 bis 1563 (vgl. N.Z. Davies, Assistance, humanisme et h¦r¦sie, S. 813).

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selben aus ihrer Sicht nicht unbedingt garantiert war, war die Parallelstruktur notwendig.414 Ungeachtet dessen wurde die Aumúne G¦n¦rale über lange Zeit auch von Protestanten finanziell stark gefördert, da der Kerngedanke derselbe war – die Verantwortung des Gemeinwesens für ihre Armen: in dem einen Fall die der weltlichen und in dem anderen Fall die der kirchlichen Gemeinde (s. o.). N. Z. Davies führt eine Reihe von Beispielen an, wo Lyoner Protestanten, gleichzeitig sowohl die genannte offene städtische als auch die kirchliche Gemeindearmenfürsorge unterstützt haben und darin offenbar keinen Widerspruch sahen.415 Als weitere Beispiele für die Praxis der Festanstellung von Ärzten oder aber der Kostenübernahme etc. durch die Armenkasse der Kirchengemeinde sei verwiesen auf Villeneuve de Berc, Aubenas, Montauban416 und N„mes417. In N„mes sah dabei die Praxis im Jahr 1561 offenbar so aus, dass der für die Armenkasse zuständige receveur der Kirchengemeinde (»Einnehmer« bzw. Verwalter der Armenkasse, in diesem Fall ein Diakon) den zuständigen Arzt trimesterweise bezahlte, damit er sich der Armen annahm und sie zu Hause behandelte.418 Die Schilderung der besonderen Verhältnisse in N„mes zur Zeit der Pest im Jahr 1578, lässt den Charakter, die Funktionsweise und die einzelnen Elemente der franz.-ref. ambulanten gemeindlichen Armen- und Krankenversorgung sehr deutlich werden.419 Im Juli 1578 bricht die Pest in N„mes aus. Die (protestantischen) Stadträte scheinen mit dieser Situation überfordert.420 In diesem Kontext bringen zwei Anciens (»Älteste«) der Kirchengemeinde eine erkrankte Frau zum städtischen Hospital mit der Bitte, sie dort aufzunehmen.421 Einer der zuständigen Stadträte lässt die Frau in dem Hospital zwar aufnehmen, aber dort nicht ernähren, weil er nicht ausdrücklich darum gebeten wurde bzw. keine ausdrückliche Bereitschaft zur Kostenübernahme dafür erhalten hatte.422 Das nimmt der damalige Pastor Saint Ferr¦ol zum Anlass, die Stadträte in einer 414 Vgl. N.Z. Davies, Assistance, humanisme et h¦r¦sie, S. 813. 415 Vgl. N.Z. Davies, Assistance, humanisme et h¦r¦sie, S. 813, siehe besonders Anm. 171. 416 Vgl. A.N.: TT 276 A »Recepte et d¦penses pour les pauvres de Villenueve de Berc«, A.N.: TT 232, dossier XV, Aubenas, 12. Mai 1571; Consistoire de Montauban, 22 Mai 1596; vgl. dazu auch J. Garrisson-EstÀbe, protestants du midi, S. 259. 417 So bereits 1561 (vgl. P. De F¦lice, Les Protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 110). 418 C. NÀgre, Les oeuvres n„moises, S. 40. 419 Vgl. zur folgenden Schilderung Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 692 f. und C. NÀgre, Les oeuvres n„moises, S. 40, die jedoch das weiter unten erwähnte Predigtzitat fälschlicherweise nicht dem Pastor Saint F¦rreol, sondern dem Consistoire zuordnet. In der Quellenanalyse ist der Darstellung und Deutung Ph. Chareyres zu folgen. Das zeigen die entsprechenden Stellenverweise. 420 Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 692 – 694. 421 Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 692 f. 422 Vgl. ebd.

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Predigt zu kritisieren und gleichzeitig an die Solidarität »aller« zu appellieren: »C’est une grande honte a toue les habitantz endurer que les pouvres allent tremblants de fievre parmy les rues, malades, en danger de mort. Nous en sommes toutz coulpables et mesmes ceux qui en ont charge comme messieurs les consuls«423 Das provoziert den Zorn des zuvor erwähnten Stadtrates, der dies für eine Anmaßung des Pastors hält und vom Consistoire fordert, grundsätzlich im Vorfeld informiert zu werden, wenn es um seine Person ginge.424 Deutlich tritt hier die Konkurrenz der Institutionen Stadtrat und Consistoire zutage. Der weitere Gang der Ereignisse zeigt, dass bei der Botschaft »Nous en sommes toutz coupables« (»Wir alle tragen daran die Schuld«) nicht die Culpabilisierung des Stadtrates im Vordergrund steht, sondern vielmehr der Appell an die Verantwortung aller, genauer an die Eigenverantwortung. Diese Eigenverantwortung nimmt die Gemeinde im Folgenden wahr, indem sie nicht nur Ärzte zur Heilung der Pestkranken einbestellt, sondern auch versucht, die Not durch von Frauen in den Stadtvierteln durchgeführte Sammlungen für die Betroffenen und Brotausteilungen an dieselben zu lindern.425 Am 7. April 1579 arbeiten schließlich allein vier Ärzte im Auftrag des Consistoire.426 Die hier erwähnte Unterstützung durch Brotausteilung stellte eine Ausnahme in der franz.-ref. offenen Gemeindearmenfürsorge dar. Die normale Form der regelmäßigen oder auch einmaligen Unterstützung in Notsituationen und Krankheitsfällen war die pekuniäre wöchentliche Unterstützung.427 Dazu wurden die Betroffenen von den Diacres nach Befragung und Beratung über ihre Situation auf einen entsprechenden Etat gesetzt.428 Leider sind solche Listen und Rechnungslegungen mit den entsprechenden Daten für das 16. Jh. bisher nicht statistisch erfasst und ausgewertet worden, so dass sich für das 16. Jh. kaum quantitative Aussagen machen lassen, und zwar weder über die Höhe oder den Stellenwert der Armenausgaben überhaupt noch speziell auf die Fälle der

423 »Es ist eine große Schande für alle Einwohner, die weiterhin anhält, dass die Armen zitternd vor Fieber in den Straßen umhergehen, krank – in der Gefahr, zu sterben. Wir alle tragen daran die Schuld und selbst diejenigen, die als Stadträte beauftragt sind.« zitiert nach Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 693. 424 Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 692. 425 Vgl. C. NÀgre, Les oeuvres n„moises, S. 40. 426 Vgl. C. NÀgre, ebd. 427 Vgl. J. Garrisson-EstÀbe, protestants du midi, S. 259; vgl. auch M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 166. Auch im Blick auf die sonstige gemeindliche Armenunterstützung in N„mes lässt sich festhalten, dass die Geldunterstützungen zumindest ebenso häufig vorzufinden waren, was aus manchen Formulierungen in den Etatlisten hervorgeht, auf die R. A. Mentzer aufmerksam macht, z. B. »›demy livre pain ou six d¦niers par jour‹, suggesting a fixed monetary payment rather than an assessment in grain or bread« (vgl. R. A. Mentzer, Ecclesiastical Discipline, S. 169). 428 Vgl. J. Garrisson-EstÀbe, ebd.

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Krankenunterstützungen bezogen. Der Grund dafür dürfte vor allem der sein, dass von diesen Listen kaum noch welche existieren.429 Immer scheint bei der vorwiegend ambulanten Intervention in Krankheitsfällen von Seiten des Consistoire bzw. der Diacres die ganze soziale Einheit der Familie im Blick zu sein. Mit Blick auf die Familiensituation der armen Bevölkerung der frühen Neuzeit spricht W. Hippel, einen Begriff von Kappl aufnehmend von einer »Zeitfamilie« und auf R. Jütte verweisend, von »Teilfamilie«, um den instabilen Charakter solcher Familien zu beschreiben, die nicht nur durch den frühen Weggang der Kinder gekennzeichnet waren, sondern auch durch die überwiegend ökonomisch oder soziologisch bedingte häufige Abwesenheit eines Elternteils geprägt waren.430 Es ging also auch und gerade im Krankheitsfall um die Stützung ganzer sensibler Systeme bzw. da, wo sie (vorübergehend) außer Kraft gesetzt waren, um entsprechenden Ersatz. Das wurde in franz.-ref. Gemeinden nicht nur durch Unterbringung der Kinder kranker Eltern in Ersatzfamilien und entsprechende finanzielle Unterstützung erreicht,431 sondern gegebenenfalls auch durch weitergehende Maßnahmen, wo es die Anzahl der auf diese und ähnliche Weise in Not geratenen Kinder erforderte, wie der Fall der Anstellung einer für mehrere Kinder zuständigen »hospitaliÀre« (in diesem Fall:

429 M. Dinges führt das auf die Tatsache zurück, dass solche Listen wohl von vornherein nur für kurze Dauer angelegt wurden: »Hauptsächlich tägliche Praxis, hinterläßt sie [die Gemeindefürsorge] selten Spuren in den Archiven. Die Rechnungshefte wurden nach Gebrauch meist vernichtet.«(ders., Stadtarmut in Bordeaux, S. 437). Diese Aussage steht allerdings in einem gewissen Widerspruch zu seiner eigenen Darstellung wenige Seiten später. Dort stellt er die wenigen erhaltenen Akten des Consistoire bzw. Armenrechnungen aus der Zeit von 1660 – 70, bzw. 1661 – 68 mit dem Hinweis vor: »Es handelt sich dabei um das fünfte Register dieser Art, das die Gemeinde führte, so dass von einer wesentlich weiter zurückreichenden Kontinuität der Gemeindefürsorge bei den Protestanten ausgegangen werden kann.« (vgl. ebd., S. 445). Veranschlagt man pro Register eine Zeitspanne von etwa zehn Jahren wie bei diesem fünften vorliegenden Register, dann zeigt das doch, dass solche Armenrechnungen oder die Akten des Consistoire incl. der Armenrechnungen nicht nur über lange Zeiträume hin dokumentiert wurden (ca. 10 Jahre), sondern noch viel länger aufgehoben wurden (50 Jahre und mehr). Die einzigen nach Sichtung des Nationalarchivs von Paris und anderer regionaler Archive (z. B. Herault und Gard) oder aus der Literatur mir bekannten Listen oder »rúles« aus der ersten Phase, also der Zeit vor den neunziger Jahren des 16. Jh., sind die folgenden: A.N.: TT 232 dossier XV, Aubenas, »administration de la caisse des pauvres d’Aubenas«, die erst ab 1583 beginnt (vgl. auch J. Garrisson-EstÀbe, protestants du midi, S. 287) und die Gemeinde von N„mes betreffenden wenigen in den »Archives du Gard« befindlichen Listen, die von Ph. Chareyre (ders, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 635 ff. und R. A. Mentzer (ders., Ecclesiastical Discipline, S. 168 f. u. ders., Organisational Endeavour, 1 – 29) gesichtet wurden. 430 Vgl. hierzu W. Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen, S. 114 f. 431 Vgl. P. De F¦lice, Les Protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 112 und Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 657.

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weibliche Aufsichtsperson eines Kinderhortes) durch das Consistoire von Aubenas im Jahr 1569 zeigt.432 Die finanziellen Unterstützungen verstanden sich als flankierende Maßnahmen. Sie wirkten im Verbund mit Nachbarschaftshilfen (Kinder wurden bei alleinstehenden Witwen untergebracht etc.) und von den Gemeindeleitungsgremien mobilisierten Selbsthilferessourcen (Hilfe durch die eigene Familie und Verwandte der Betroffenen etc.) und sollten auf diese Weise weitere Verarmung verhindern.433

2.2.2.10 Der subsidiäre Charakter der Armen- und Krankenunterstützung »Subsidiarität«434 im Kontext der Armenfürsorge des 16. Jh. meint nach der Definition von R. Jütte die »Maxime, dass nur dann die Gemeinschaft helfend eingreifen soll, wenn der einzelne aus eigener Kraft eine Notsituation nicht bewältigen kann…Öffentliche Fürsorge trat nur dann ein, wenn andere Hilfsmöglichkeiten nicht in Frage kamen oder nicht ausreichten.«435 In der Konsequenz bedeutete das, dass auch bei Inanspruchnahme öffentlicher Unterstützung der Hilfsbedürftige gehalten war, »im Rahmen seiner Möglichkeiten für sein Auskommen selbst zu sorgen.«436 Es lässt sich sagen, dass diese Maxime staatlich/städtisch-öffentlicher Unterstützung auch für die gemeindliche franz.-prot. Armen- und Krankenunterstützung galt. Das zeigte sich am Ende des vorangehenden Abschnitts, wird aber noch durch folgende Beispiele bestätigt. So erstellten die Anciens von N„mes Listen von in Arbeit vermittelbaren Männern und Frauen (für Zünfte und Hausdienste).437 Wo das Einkommen durch eigener Hände Arbeit nicht ausreichte, ergänzte die Armenunterstützung der Gemeinde, wie im Fall der jungen Done Luce im Jahr 1587: »ne povant s’entretenir avec la soye qu’elle fille«.438 Die Gemeinden kannten also sehr wohl und sehr früh nicht nur die »bettelnde Armut« und die 432 Vgl. P. De F¦lice, ebd. 433 Vgl. M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 166 und 170. Diese Feststellungen und Rückschlüsse, die sich im Wesentlichen auf die Analyse der Jahre 1660 – 70 beziehen, dürften nicht weniger für das 16. Jh. zugetroffen haben.. 434 »Subsidiarität« ist an dieser Stelle nicht gebraucht im Sinne des heutigen Subsidiaritätsprinzips, das Verhältnis von Staat und Wohlfahrtsverbänden betreffend bzw. ihre Priorität bei der Fürsorge betreffend. 435 R. Jütte, Obrigkeitliche Armenfürsorge, S. 331. 436 R. Jütte, Obrigkeitliche Armenfürsorge, S. 331.. 437 R. A. Mentzer, Ecclesiastical Discipline, S. 169. 438 »die mit dem Spinnen der Seide ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten kann.«(Beispiel aus den Registern des Consistoire, zitiert nach Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 654).

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»arbeitsunfähige Armut«, sondern auch die »arbeitende Armut«. Diese aus dem Bereich der krisenempfindlichen Textilmanufakturproduktion in N„mes und Lyon bekannte Realität wird in viel späterer Zeit auch wieder den Hugenotten in Berlin begegnen.439 Die familiären Ressourcen werden offenbar gerade da nachgefragt, wo sie auch tatsächlich vorhanden waren. So betraf das vor allem sogenannte pauvres honteux (»verschämte Arme«), die mitunter ursprünglich aus wohlhabenderen Familien stammten.440 Diese wurden vom Consistoire in solchen Fällen in die Pflicht genommen.441 2.2.2.11 Unterstützung bei Miete und Holzversorgung Die offene Gemeindearmenfürsorge umfasste auch Mietunterstützungen und Unterstützung bei der Versorgung mit Brennholz. Über das Ausmaß dieser Unterstützungen in dieser frühen Zeit sind wir leider nicht unterrichtet. Wir erfahren lediglich, dass diese Bereiche von Anfang an zur offenen gemeindlichen Armenunterstützung dazugehörten, um Obdachlosigkeit, Erfrieren oder weiteren sozialen Abstieg in der Zeit von Arbeits- oder Erwerbslosigkeit zu verhindern. Holzverteilungen sind z. B. für die Gemeinde von Sedan aus dem Jahr 1577 bezeugt442. Die Mietunterstützung scheint gerade den Ärmsten der ortsansässigen Armen, nämlich den Witwen, häufiger zugekommen zu sein als Anderen. Denn in der spärlichen Sekundärliteratur tauchen hauptsächlich Witwen als Empfängerinnen auf, so etwa in N„mes 1583 oder 1581 bis 1592443 oder 1594 in Bellesme.444

439 Siehe: G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 440 In N„mes erstellte das Consistoire eine ganze Liste solcher Armer, die ein betuchtes Familienumfeld hatten (vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 653). Der Hintergrund für solche Widersprüchlichkeit dürfte gewesen sein, dass die Armut keinen Halt vor den Standesgrenzen machte und dass umgekehrt die Armenunterstützung standesgemäß orientiert war. Auch ein Adliger konnte der Armut verfallen. Im Vergleich zu den übrigen Armen war er reich, gemessen an seinem eigenen Stand jedoch arm. Es betraf hier also vor allem Personen aus dem Bereich des Adels oder Bürgertums, die einen gesellschaftlichen Abstieg erlebten. 441 Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 653 442 Vgl. P. De F¦lice, Les Protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 103. 443 Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 657 und dazugehörige Anm. 121 und S. 659, wo Ph. Chareyre auf den Fall einer behinderten Witwe mit zwei Kindern verweist, deren Situation in der Zeit von 1581 bis 1592 20 mal Gegenstand der Beratungen des Consistoire bzw. der Diacres ist und unter anderem regelmäßige Mietübernahme zugesichert bekommt. 444 Vgl. P. De F¦lice, Les Protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 103. Auch wenn dieses Beispiel streng genommen nicht aus der Zeit der ersten Phase ist, bestätigt es die angesprochene Tendenz.

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Zum beginnenden Winter 1604 ersuchte der Stadtrat von N„mes das Consistoire erneut um seine Mithilfe bzw. Kooperation in der Unterstützung bei der Bekämpfung der Armut, diesmal bezogen auf die Unterbringung von Armen.445 Hintergrund war der fortdauernde Zustrom armer Bevölkerungsteile nach N„mes und die Tatsache, dass das Consistoire bereits ab dem Jahr 1591, das noch in die erste Phase fällt, über eine Reihe von Häusern verfügte, in denen es Armen durch einen Mietzuschuss eine Wohn- bzw. Unterbringungsmöglichkeit geboten hatte.446 Die volle Mietübernahme wurde bewusst vermieden, um die Betroffenen »Neuankömmlinge« zu aktivieren, für den eigenen Lebenserwerb zu sorgen oder beizutragen, statt ausschließlich von der gemeindlichen und / oder städtischen Armenunterstützung zu leben oder sich dem untersagten Betteln hinzugeben.447 Auf diesem Feld deutet sich also ähnlich wie weiter oben an, dass franz.-ref. Armenfürsorge ihre Unterstützungen vorwiegend als vorübergehende und flankierende Maßnahmen verstand, die Hilfe zur Selbsthilfe leisten und die Potentiale der Betroffenen wecken sollten, auch wo das nur in bescheidenem Maße möglich war.

2.2.2.12 Kostenübernahme von Armenbeerdigungen Die würdige Bestattung war auch zu damaligen Zeiten ein hoher Kostenfaktor und für arme Familien, für die es eine zusätzlich außerordentliche finanzielle Belastung bedeutete, praktisch unmöglich zu leisten. Sie waren daher auf jegliche Unterstützung zur, wenn auch noch so simplen, Bestattung ihrer Angehörigen angewiesen. Die Notwendigkeit der Kostenübernahme war umso mehr in Fällen gegeben, wo es keine Angehörigen mehr gab und sich niemand für eine Bestattung zuständig fühlte. In beiden genannten Fällen leisteten die Consistoires bzw. Diaconats (»Diakonate / Diakonieausschüsse / Diakoniebüros«)448 wertvolle Hilfe. Bereits ab Mai 1562 ist diese Praxis für das Diaconat von N„mes bezeugt, das die Beerdigungen von dem Geld der Armenkasse bezahlte.449 Der Tote wurde bei der schlichtesten Begräbnisform zu diesem Zwecke von einem schwarzen Totentuch umhüllt, das wieder entfernt wurde, sobald der Tote in die 445 446 447 448

Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 664. Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 665. Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 665. »Diaconat« nannte sich in N„mes die Versammlung der Diakone und kompetenten Personen (receveurs, pasteurs, Anciens) des Consistoire, die mit der Versorgung der Armen und Kranken beauftragt waren und dazu bis zu einem gewissen finanziellen Rahmen freie Entscheidungsbefugnis hatten. Sie kamen wöchentlich zusammen (vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 635 ff. 449 Vgl. C. NÀgre, oeuvres n„moises, S. 39.

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Erde eingelassen wurde und hernach vom Diaconat einem Armen zur Verfügung gestellt wurde, um sich daraus Kleidung fertigen zu können.450 2.2.2.13 Geschlossene Armenfürsorge des französischen Protestantismus in der ersten Phase – Armenhäuser, Hospitäler, Waisenhäuser Die geschlossene Form der Gemeindearmenfürsorge in Form von eigenen Hospitälern existierte in der ersten Phase praktisch nicht.451 Das ist der eindeutige Befund, der hier besonders unter Einbeziehung der Forschungsergebnisse von J. Imbert, bei allen Relativierungen,452 benannt werden kann.453 Nach den Kenntnissen von P. De F¦lice und H. Ochsenbein gab es in dieser Zeit auch kein einziges franz.-prot. Waisenhaus.454 Das erste franz.-prot. Waisenhaus ist nach P. De F¦lice erst im Schweizer Refuge in Vevey (also nach 1685) gegründet worden.455 Theoretisch könnte es vereinzelt kleine »Armenhäuser« im Besitz der franz. Protestanten gegeben haben. Fakt ist aber, dass wir an keiner Stelle etwas von der Existenz eines solchen zu dieser Zeit erfahren, hingegen uns die Archivalien und die Sekundärliteratur aber einige Hinweise auf solche Häuser im Besitz der franz.-prot. Gemeinden in der Zeit des 17. Jh. geben.456 Die Vorteile der offenen gegenüber einer geschlossenen Gemeindearmenfürsorge im Kontext jener Existenzbedingungen wurden oben bereits an verschiedener Stelle mehrfach erwähnt. Die in der Literatur gelegentlich erwähnten Hospitäler (N„mes, Loudun, Aubenas, Paris) sind alle entweder späteren Datums (erst nach 1594 bzw. 1598 entstanden bzw. bezeugt) bzw. aus dem 17. Jh.457 oder es handelt sich um wenige rein städtische Hospitäler des (zuweilen protestan-

450 Vgl. C. NÀgre, oeuvres n„moises, S. 39. 451 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 176 ff., anders M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 167. 452 J. Imbert weist darauf hin, dass die protestantisch beherrschten Städte zweifellos einen großen Einfluss auf die Hospitäler hatten, die in städtischer Hand waren und durch Machtübernahme der Stadt in die Zuständigkeit der protestantischen Stadtführung fielen (vgl. ders., L’hospitalisation des protestants, S. 178 f.), Zu diesen Hospitälern von Städten in protestantischer Hand gehörten die Hospitäler in N„mes (s. u.), La Rochelle (s. u.), Montpellier (s. u.) und zeitweise auch Lyon (s. o.). Diese sind aber zu unterscheiden von gemeindeeigenen Hospitälern. Die Situation dieser Hospitäler änderte sich erneut, als im Zuge der Befolgung des Edikts von Nantes (1598) staatliche Vorgaben zu achten und konfessionelle Neutralität zu wahren war (vgl. J. Imbert, a.a.O., S. 179 ff.). 453 Siehe J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 173 – 187. 454 Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 94; H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 68. 455 Vgl. ders., ebd. 456 Siehe dazu die Darstellung weiter unten zur zweiten und dritten Phase. 457 Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 69.

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tisch dominierten) Magistrats, die aber zudem dennoch dem Einfluss von Bischof und König nicht gänzlich entzogen waren.458 J. Imbert, der sich ausgiebig mit der Hospitalversorgung der franz. Protestanten bis zum Jahre 1685 befasst hat, sucht nach den Gründen für das NichtVorhandensein solcher Hospitäler.459 Dabei ist seine Kontextualisierung innerhalb der Entwicklung der französischen Hospitalgeschichte von Bedeutung. Seit dem 16. Jh., verstärkt im 17. Jh. kämpfen in Frankreich die Krone auf der einen Seite und die Katholische Kirche auf der anderen Seite um die Vorherrschaft in den Hospitälern.460 Die katholische Gegenreformation und deren Ausläufer entwickeln dabei ihre eigene Dynamik in Form innovativer, missionarischer, karitativer oder (teils konfessionalistisch-propagandistischer) Reform- und Frömmigkeitsbewegungen, Gemeinschaften und politischen Vereinigungen und Geheimbünden.461 Die grundsätzlichen Begehrlichkeiten und Kämpfe um Einfluss und Macht im Hospitalwesen münden Anfang des 17. Jh. vorerst in einen Modus vivendi, indem sich Krone und katholischer Klerus die Vorherrschaft über die Hospitäler teilen. Diese »gemeinsame« Vorherrschaft bildet den Rahmen, innerhalb dessen sich der Protestantismus bewegen konnte und müsste. Die bisherigen Hospitäler waren katholisch majorisiert oder dominiert und das Interesse der sich gerade etablierenden protestantischen Gemeinden, dort die eigenen Kranken unterzubringen, hielt sich entsprechend in Grenzen.462 Die Einrichtung neuer Hospitäler unterlag wiederum der Genehmigungspflicht von Krone oder katholischem Bischof.463 Das konnte nur zur Folge haben, dass entweder gar keine Hospitäler von franz.-ref. Gemeinden errichtet wurden, weil entweder gar nicht erst beantragt oder nicht genehmigt oder dass ihre Hospitäler mehr oder minder im Untergrund existierten, jedenfalls nicht legalisiert waren. M. Dinges schlägt

458 Dabei rekurrieren die Bischöfe immer wieder auf die im Edikt von Nantes festgelegten Rechte, die später im letzten Drittel des 17. Jh. durch dafür eingerichtete Kommissionen mehr und mehr zum Nachteil der Protestanten ausgelegt werden, bevor das Edikt von Nantes 1685 schließlich ganz aufgehoben wird (vgl. J. Garrisson, L’Êdit de Nantes; E. Labrousse; Une foi, une loi, un roi? La r¦vocation de l’¦dit de Nantes; zu einigen der Konflikte um die Hospitäler vor der Rücknahme des Edikts von Nantes vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 179 ff.). 459 Vgl. ders., L’hospitalisation des protestants, S. 176 ff. 460 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 176 ff., ausführlicher. Ders., Le droit hospitalier, S. 22 ff.; vgl. auch C. Jones, The Charitable Imperative, S. 1 – 20 u. S.89 ff. 461 Vgl. C. Jones, The Charitable Imperative, S. 1 – 20 u. S.89 ff.; M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 167 462 Vgl. M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 173. 463 So spätestens zu Beginn des 17. Jh., was in einem Edikt vom 30. Juni 1637 wiederholt bzw, erinnert wurde (vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 176).

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deshalb auf solche Einrichtungen bezogen zu Recht den Terminus »cryptohospitals«464 vor. Allerdings – und das ist auffällig – ist kein Beispiel eines solchen »cryptohospital« bekannt, das der ersten Phase zuzuordnen wäre, also in der Zeit vor 1594 entstanden ist.465 Das deutet darauf hin, dass die Zeit der ersten Phase dafür eben insgesamt doch noch zu instabil war bzw. erschien und von den Protestanten deshalb bewusst nur die offene gemeindliche Kranken- und Armenunterstützung in jener Phase favorisiert wurde. Das änderte sich erst mit Vorantrieb und Erlass des Edikts von Nantes 1594 – 98. Das folgende Beispiel macht diese Zusammenhänge nur all zu deutlich. Das Consistoire in N„mes erhielt zwar bereits am 13. August 1586 eine Schenkung zum Bau eines eigenen gemeindlichen Hospitals.466 Bezeichnend ist aber, dass die Umsetzung eines solchen Projektes zunächst nicht in Angriff genommen wurde. Durch die Wirren des Krieges nämlich wurde das städtische Hospital zerstört,467 das von den Stadträten geleitet, aber vom Consistoire oft solidarischkritisch beraten wurde. 1592 beschliesst das Consistoire »que les consuls seront ›poursuivis‹ de faire ›redresser‹ un húpital.«468 Der Bau eines gemeindeeigenen Hospitals wird hier also gar nicht erst in Betracht gezogen, obwohl ja gerade nun am ehesten die Notwendigkeit gegeben gewesen wäre, weil es kein Hospital mehr gab. Hintergrund dafür, dass dieser Gedanke gar nicht erst aufkam und stattdessen die Stadträte im Blick auf den Wiederaufbau des städtschen Hospitals von der Gemeindeleitung »auf Trab gehalten werden sollten«, wie es hier formuliert ist, konnte nur sein, dass die juristischen und politischen Verhältnisse zu diesem Zeitpunkt landesweit noch viel zu instabil waren. Es wäre zwar geboten gewesen, solch ein Hospital zu errichten, aber seine Zukunft wäre zu ungewiß gewesen. Das erwies sich ja gerade erst am Schicksal des städtischen Hospitals. Die Machtverhältnisse waren noch so instabil, dass sie möglicherweise oder gar erst Recht die militärische Zerstörung eines gemeindeeigenen Hospitals nach sich gezogen hätten. In dem dann wieder neu errichteten städtischen Hospital am Faubourg Saint Antoine hatte das Consistoire Dank eines Ediktes von Heinrich IV. seit dem 12. Juli 1595 die Möglichkeit, Gemeindemitglieder in einem extra abgetrennten 464 465 466 467

M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 167. Vgl. S… im laufenden Text. Vgl. C. NÀgre, oeuvres n„moises, S. 40. Vgl. S. Ingrand, La Maison de Sant¦, S. 7. Das von Ingrand erwähnte ehemalige Hospital des 16 Jh. gehörte nicht der Kirchengemeinde, sondern der Stadtgemeinde (siehe oben im laufenden Text). 468 »dass die Stadträte auf Trab gehalten werden sollten [eigentlich: »verfolgt werden«], ein Hospital wieder zu errichten«. (zitiert nach Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd, 2, S.666.

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Raum des Hospitals unterzubringen.469 Die politischen Machtverhältnisse und das neuerliche Klima einer minimalen Toleranz, die ihre praktischen Auswirkungen hatte, hatte in dem Moment vorerst die Gründung eines eigenen Hospitals überflüssig gemacht. Für die Errichtung eines »crypto-hospital« im 16. Jh. gab es in N„mes kaum Gelegenheit oder Notwendigkeit. Die Ereignisse überschlugen sich. Am Beispiel von N„mes wird deutlich, dass in den wenigen Fällen, wo Hospitäler dem protestantisch dominierten Magistrat gehörten, aber die allgemeinen politischen Machtverhältnisse in der ersten Phase franz.-prot. Existenz zu instabil waren, die solidarisch-kritische Begleitung und eine konstruktive Kooperation der kirchlichen Gemeindeleitung wichtiger zu sein schien als ein eigenes Konkurrenzprojekt zu eröffnen. Ein gemeindeeigenes Hospital wurde in N„mes erst 1652 in der Phase der Toleranz auf der Grundlage des Ediktes von Nantes von 1598 gegründet, bevor sich dann ab der zweiten Hälfte des 17. Jh. bzw. der sechziger Jahre die politischen Verhältnisse zunehmend wieder zu Ungunsten der Protestanten entwickelt hatten bis hin zur gänzlichen Aufhebung des Edikts durch das Edikt von Fontainebleau 1685. Aber damit greifen wir bereits dem nächsten Kapitel vor. Unterdessen wird an diesem Beispiel deutlich, dass die geschlossene Gemeindearmenfürsorge nicht die Priorität hatte und nur da wirklich eine Rolle spielte, wo es keine vernünftige Alternative gab bzw. wo sie selbst zu einer vernünftigeren Alternative, d. h. unverzichtbaren Ergänzung zur offenen Gemeindearmenpflege wurde. Das traf jedoch allenfalls für die zweite Phase zu. In der ersten Phase jedenfalls spielte die geschlossene Gemeindearmenfürsorge keine nennenswerte Rolle. Sie existierte nicht – und wenn, dann bestenfalls im Untergrund, kaum nachprüfbar und wesentlich peripherer als in der Folgezeit unter den Bedingungen des Edikts von Nantes. 2.2.2.14 Die Société de demoiselles de la charité von Sedan und besondere Projekte weiblichen diakonischen Engagements Ein untypischer Fall im Bereich der Geschichte des französischen Hospitalwesens, aber vielleicht dennoch folgerichtig innerhalb franz.-ref. diakonischer Diktion des 16. Jh. ist die Reformation der Armen- und Krankenfürsorge in Sedan im Jahr 1559 bzw. 1573:470 Guillaume de Myrbrich, Schlossherr und Fürst von Sedan, gründete in seinem letzten Amtsjahr 1559 ein Hútel-Dieu (kleines 469 Vgl. C. NÀgre, Les oeuvres n„moises, S. 40. 470 Zur folgenden Darstellung und den Datenangaben: H. Vonhoff, Samaritaner der Menschheit, S. 76 f.; W. Bernoulli, Das Diakonenamt der Hugenotten. Heft 3, S. 4; vgl: Borel, Les associations protestantes, S. 108; E. Haag, Le protestantisme, in: M¦langes, B.S.H.P.F: 1,1 (1852), S. 214; J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 178 f.

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Armen-Hospital) zur Versorgung der Armen/Kranken. Als die Stadt im selben Jahr durch Henri Robert de la Marck zur Reformation übergeht, löst er die Einrichtung seines Vorgängers auf. Der Erlös kommt einem »Bureau des Pauvres« (»Armenbüro«) zugute. Die »Insassen« werden nach Hause geschickt und die Kranken werden durch junge dazu befähigte Frauen, pflegerisch und medizinisch versorgt. Im November 1573 gab Henri Robert de la Marck, Herzog von Bouillon und Fürst von Sedan, seine Zustimmung zur Gründung einer Soci¦t¦ de demoiselles de la charit¦ (»Gesellschaft mildtätiger/nächstenliebender (junger) Damen«) – eine Vorform der Diakoninnen bzw. Diakonissen und spendete entsprechende Mittel zur Unterstützung.471 Sie waren institutionell an die Kirchengemeinde bzw. deren Consistoire in der Weise angebunden, dass sie einem Diacre (»Diakon«) der Gemeinde unterstanden. Der Diacre führte ein Register mit den zu versorgenden Armen und Kranken. Die »demoiselles« sammelten Gelder, bereiteten Essen zu, pflegten die Kranken und versorgten die Betroffenen mit Essen, Getreide, Geld, Kleidung, und Stoffen. Damit war die Umwandlung von einer geschlossenen Krankenpflege in eine offene Krankenpflege vollzogen, was ohne Frage die Eigenständigkeit der Betroffenen und ihr Umfeld stärkte und gleichzeitig auch die (Kirchen-)Gemeinde in ihrer Verantwortung einband und eine Anonymisierung und Apartheid der (Not)leidenden vermied. Das war ganz im Sinne der just in dieser Zeit festgelegten franz.-ref. Kirchenordnung (»Discipline eccl¦siastique« 1559 (s. o.)) und insofern folgerichtig innerhalb franz.-ref. diakonischer Diktion, auch wenn die Mehrzahl der zur Reformation übergetretenen Städte für gewöhnlich die städtischen Hospitäler übernahm, also aufrechterhielt und allenfalls nur leicht umstrukturierte.472 Die Soci¦t¦ de demoiselles de la charit¦ ist nicht nur ein exponiertes Beispiel für den Primat der ambulanten Armen- und Krankenfürsorge im franz. Protestantismus jener Phase, sondern zugleich auch für das weibliche diakonische Engagement. Auch in der protestantischen Gemeinde in N„mes finden wir, wie weiter oben bereits erwähnt, schon sehr früh, im Jahr 1561, die Einbeziehung bzw. das Engagement von Frauen im Bereich des diakonischen Netzes. Dort wurden die vier Frauen vom Consistoire aber nicht nur damit beauftragt, in den Stadtvierteln wöchentliche Sammlungen und Besuche durchzuführen, sondern darüber hinaus offensichtlich auch, im städtischen Krankenhaus Besuche bzw. Pflege-

471 Literaturverweise siehe vorhergehende Fußnote. 472 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 179.

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dienste zu leisten473 – eine Praxis, die in N„mes im 17. Jh. ihre Fortsetzung bzw. Wiederaufnahme fand.474 Schließlich sei der Vollständigkeit halber noch auf die von E. Haag und H. Ochsenbein erwähnten »Dames de la Rochelle« verwiesen, die in La Rochelle wohl eine ähnliche Funktion ausgeübt haben müssen.475 Leider konnte ich bei meinen Recherchen in Archiven oder Literatur jedoch nichts Weiteres über sie in Erfahrung bringen. Auch wenn es sich in den genannten Fällen nicht um ein weibliches Diakonenamt im Sinne der gleichberechtigten Partizipation am Consistoire, wie es den Diacres vorbehalten blieb, handelte (W. Bernoulli spricht deshalb lieber von »Subdiakonissen«476) oder zumindest seine Anerkennung im Sinne eines offiziellen Amtes wie das der Ministres, Anciens, Diacres oder Lehrer fand, gibt es hier Ansätze zum weiblichen Diakonenamt, wie es J. Calvin, seiner Zeit vorauseilend, immer wieder empfohlen bzw. gefordert hatte.477 Damit ist die Existenz des weiblichen diakonischen Engagements im Bereich der ambulanten Gemeindearmen und -krankenfürsorge des franz. Protestantismus (also einer Vorform der heutigen Diakonin) bereits für eine sehr frühe Phase ausgewiesen, wo dies auf katholischer Seite noch bis zu den Schwestern von Vincent de Paul (1642) auf sich warten ließ478 und erst im Kontext religiöser Reformbewegungen und konfessionalistischer Auseinandersetzungen seine Bedeutung gewann. Lange vor den barmherzigen Schwestern eines Vincent de Paul der Gegenreformation war im französischen Protestantismus also die Einbeziehung und Partizipation von Frauen auf diakonischem Feld eine Selbstverständlichkeit. Grund dafür war nicht zuletzt die theologische Aufwertung, die das »weibliche Diakonenamt« durch Johannes Calvin erfahren hatte.479 Dem reformatorischen Prinzip »sola scriptura« folgend stieß Calvin durch biblische Bezugnahmen zu 1 Tim 5,3 – 16 und Röm 16,1 zu der Erkenntnis vor, dass das kirchliche Amt des 473 Vgl. W. Bernoulli, Das Diakonenamt der Hugenotten, Heft 2, S. 7; Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd, 2, S.662. 474 Ph. Chareyre, ebd. 475 Vgl. E. Haag, Le protestantisme, in: M¦langes, Bull. S.H.P.F (1,1) 1852, S. 214; H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 68. 476 Vgl. W. Bernoulli, Das Diakonenamt der Hugenotten, Heft 3, S. 4. 477 Zu Calvins Lehre zum weiblichen Diakonat vgl.: E. A. McKee, Diakonie in der klassischen reformierten Tradition, S. 96 – 108; G. Hammann, L’amour retrouv¦, S. 262 – 264. 478 Vgl. E. Haag, Le protestantisme, in: M¦langes, Bull. S.H.P.F.(1,1) 1852, S. 214 f. Diese Vorläufer und Traditionen weiblicher franz.-ref. Diakonie, wie überhaupt die franz-ref. ambulante Gemeindediakonie werden von C. Jones in seinen Arbeiten zum neu erwachenden »charitable imperative« in der katholischen Kirche des 16.– 17. Jh. in Frankreich leider völlig außer Acht gelassen (vgl. C. Jones, The Charitable Imperative, S. 1 – 20 u. S.89 ff.). 479 Vgl. E.A. McKee, John Calvin. On the diaconate, S. 205 – 223 u. G. Hammann, L’amour retrouv¦, 251 – 253.

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Diakons ebenso von Frauen ausgeübt werden kann und revolutionierte damit das kirchliche Ämterverständnis, in dem die Frau bis dato keinen Platz hatte,480 wenn sich dies auch nicht auf das Predigtamt ausweitete.481 Vom 16. Jh. bis teils zum ersten Drittel des 17. Jh. scheint in weiten Teilen der katholischen Kirche weder die Beteiligung von Frauen bei der ambulanten gemeindlichen Versorgung noch die Gemeindearmenfürsorge an sich präsent bzw. intakt gewesen zu sein.482 Einzelfallstudien müssten m. E. künftig aber erst noch nachweisen, in wieweit dieses Bild wirklich zutreffend ist oder nicht. M. Dinges kann nach Sichtung der Archivmaterialien auf Bordeaux bezogen jedenfalls tatsächlich resümieren: »Es kann mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass im 16. Jh. in den Bordelaiser Gemeinden keine [katholische] Gemeindefürsorge bestand.«483

2.2.2.15 Soziale Gestaltung des Gemeinwesens: Städtische Armenreformen, die Frage der Armensteuer und andere kommunale Unterstützungssysteme Städtische Armenreformen Wenn Diakonie nicht nur kirchliche, sondern auch gesellschaftliche (Mit-)Gestaltung bedeutet/e,484 dann zählte dazu im 16. Jh. im weiten Sinne gewiss auch die Antreibung und Durchführung der städtischen Armenreformen oder auch die Beteiligung an denselben. Schließlich zeichnet die Reformatoren und den Protestantismus in Mitteleuropa aus, dass sie die Verantwortung für die Armen auf eine breitere Ebene stellen und effektiver gestalten wollten als bisher und dazu die individuelle Almosenabgabe ablösen und zugleich den Bettel ab480 Vgl. E.A. McKee, ebd. u. G. Hammann, ebd. 481 Vgl. G. Hammann, L’amour retrouv¦, S. 252. 482 Dieser Mangel war eine Ursache der dann folgenden Reformbewegungen, und ist Nebenergebnis neuerer Studien: B. Pullan, Catholics and poor in early modern Europe, S. 20 ff.; C. Jones, The Charitable Imperative, S. 1 – 20 u. S.89 ff. Das Konzil von Trient lieferte auch hier keine neuen Impulse, zumal es das Problem des Bettels völlig ignorierte (vgl. J. Imbert, Le droit hospitalier, S. 21 f.), während dem die vor allem aus dem protestantischen und humanistischen Bereich angestoßenen Reformen zur kommunalen Lösung der Armutsfrage und künftigen Rolle der Kirchengemeinden längst in vollem Gange waren und davon unabhängig oder im Gefolge auch katholische Städte erfasste. 483 M. Dinges, Stadtarmut in Bordeaux, S. 437. 484 Heinz-Dietrich Wendland hat den diakonischen Horizont durch seine Einführung des Begriffs »Gesellschaftliche Diakonie« wesentlich erweitert. Zur Debatte vgl.: Volker Herrmann, Diakonische Gemeinde und gesellschaftliche Diakonie. Die Kontroverse zwischen Herbert Krimm und Heinz-Dietrich Wendland. In: Herrmann, Volker (Hg.): Soziales Leben gestalten. Beispiele und Herausforderungen (DWI-Jahrbuch 40), Heidelberg 2009, S. 233 – 244.

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schaffen wollten durch ein rationales und zugleich rationelleres Hilfssystem, das auf der Ebene des Gemeinwesens, also kommunal organisiert sein sollte.485 Umstritten ist in der Forschung, welches Gewicht die Reformation bzw. der Protestantismus beim Anschub oder bei der Gestaltung der Armenreformen in Europa tatsächlich hatte oder inwiefern sie sogar ausschließlich oder vorwiegend auf ganz andere Faktoren und Motive zurückzuführen sind.486 Die Beantwortung dieser Frage ist an dieser Stelle weder möglich487 noch für unseren Zusammenhang nötig. Es geht in diesem Arbeitsschritt, der auf das diakonische Engagement der Protestanten in Frankreich bezogen ist, lediglich darum, die Spezifika und besonderen Prägungen desselben heraus zu arbeiten. Deshalb reichen hier die folgenden Hinweise und Feststellungen auf die Situation in Frankreich bezogen vollkommen aus. Überall da, wo die Protestanten in Frankreich in Städten oder Fürstentümern im 16. Jh. die politische Macht erlangen, führen sie sehr bald städtische Armenreformen488 kleineren oder größeren Stils durch, und zwar sowohl in be485 Zum Gedankengut der Reformation und dem ideologischen und praktischen Einfluss der Reformation auf die Reform der Armenfürsorge vgl.: C. Lindberg, Origins of protestant poor relief, S. 313 – 357; ders.: Church’s vision of the poor, S. 45 – 48, ders., La Th¦ologie et l’assistance publique. Le cas d’Ypres (1525 – 1531), S. 22 – 36; H. J. Grimm, Luther’s Contribution to Sixteenth-Century Organization of Poor Relief, S. 222 – 234; R. M. Kingdon, Social Welfare in Calvins Geneva, S. 50 – 69; ders.: Geneva and the consolidation; E. A. McKee, Diakonie in der klassischen reformierten Tradition, S. 30 – 147; P. Chaunu, L’aventure de la R¦forme. M. U Chrisman arbeitet sehr deutlich heraus, dass die Verhältnisse in Straßburg eher die Ideen der Reformatoren auf den Plan gerufen und entwickelt haben, als umgekehrt (vgl. dies., Strasbourg and the Reform; dies.: Urban Poor). Sie relativiert damit zu Recht den geistig-geistlichen Beitrag der Reformatoren. 486 . Aus der Fülle der neueren Literatur seien hier nur wenige Arbeiten herausgegriffen: Die Reformation eher bestreitend, auf andere Ursachenschwerpunkte und Erklärungsansätze bezogen (ökonomische bzw. politische Hintergründe – Herausbildung von Stadt und Staat bzw. Absolutismus): J. – P. Gutton, La soci¦t¦ et les pauvres; B. Geremek, Geschichte der Armut, S. 88 – 211, ders.: La r¦forme de l’assistance publique, S. 187 – 204; B. Pullan, Catholics and the Poor, S. 15 – 34. Ähnlich mit einer Akzentuierung auf dem Humanismus: N. Z. Davies, Assistance, humanisme et h¦r¦sie, S. 761 – 822. Ähnlich unter dem Stichwort »Sozialdisziplinierung«: C. Sachse/ F. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, 1 – 84. Neuere differenzierte Monographien mit komparativem Ansatz: Th. Fischer, Städtische Armut; Robert Jütte, Obrigkeitliche Armenfürsorge. Synthesen und gelungene Überblicksdarstellungen: W. Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen, S. 104 ff. Hunnecke, Überlegungen zur Geschichte der Armut, S. 480 ff, bes. 493; W. Fischer, Armut in der Geschichte, S. 26 – 44. Im Vergleich bzw. in Ergänzung siehe die Literaturverweise der vorhergehenden Anmerkung. 487 Die Beantwortung dieser Frage würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Grundsätzlich müssen wir von komplexen Wechselwirkungen ausgehen (ähnlich: V. Hunnecke, Überlegungen zur Geschichte der Armut, S. 493. 488 J. Garrisson-EstÀbe differenziert in ihrer Darstellung (dies., protestants du midi, S. 256) zu wenig zwischen städtischen und kirchlichen Reformen, so dass die Dinge bei ihr teils

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deutenderen oder »größeren« Städten wie Sedan (1559 bzw. 1573),489 N„mes (1569?),490 La Rochelle (1568 und 1588),491 B¦arn (1566)492 Montauban (1581 bzw. 1582)493 als auch in »kleineren« Städten wie beispielsweise Romans (1562)494 oder Saint Jean du Gard495. In Saint-Antonin kommen Reformen zwar zustande, aber verlaufen offenbar eher zögerlich.496 Sofern sie bereits zuvor eingeleitet worden sind, wie z. B. in Lyon (1534), wo die Protestanten 1562 – 1563 die politische Macht vorübergehend nur für sehr kurze Zeit übernehmen, halten sie die Reformen aufrecht bzw. führen sie fort.497 In Lyon waren die um 1534 durchgeführten Armenreformen zu einem Teil bereits unter protestantischem Einfluss und unter Beteiligung von protestantischer Mitarbeit entstanden, was leider in der Darstellung bei N. Z. Davies und ähnlich bei J.-P. Gutton ignoriert oder zumindest undeutlich bleibt und unterbewertet wird. Nach J.-P. Gutton und N. Z. Davies sind die Reformen lediglich auf humanistische und katholische

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vermengt bzw. verallgemeinert werden. So waren in N„mes keineswegs die Diacres für die städtische »bourse des pauvres« zuständig (vgl. dies., ebd.), sondern die »consuls« (»Stadträte«) bzw. von ihnen Delegierte usw.(vgl. dazu auch die Darstellung in der vorliegenden Arbeit). Diacres oder Anciens waren grundsätzlich zuständig für die kirchlichen Armengelder. Die kirchengemeindliche »bourse des pauvres« kann aber hier von J. Garrisson-EstÀbe nicht gemeint gewesen sein, denn die wiederum kannte keine »contribution obligatoire« (»Zwangsabgabe« – gemeint ist die städtische Armensteuer ; vgl. dies., ebd.). Siehe obige Darstellung unter dem vorhergehenden Unterkapitel und vgl. H. Vonhoff, Samaritaner der Menschheit, S. 76 f.; W. Bernoulli, Das Diakonenamt der Hugenotten. Heft 3, S. 4; J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 178 f.. In N„mes existierte zuvor bereits spätestens ab 1561 ein ausgesprochen gut organisiertes System der franz.-ref. offenen gemeindlichen Armen- und Krankenfürsorge (s. o. und P. De F¦lice, les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 116). Hinweise zur städtischen Armenreform bei: W. J. Pugh, Social Welfare and the edict of Nantes, S…. R. A. Mentzer, Organizational Endeavour, S… Vgl. E. Trocm¦, La Rochelle de 1560 — 1628, S. 167 ff., bes. S. 170. Vgl. J. Garrisson-EstÀbe, L’Homme Protestant, S. 187 und dies., les protestants du midi, S. 259 f. Vgl. J. Garrisson-EstÀbe, L’Homme Protestant, S. 187; dies.; protestants du midi, S. 260.. Für Romans ist die Errichtung einer Aumúne G¦n¦rale (»allgemeine Almosenkasse« – städtische Armenkasse – vgl. die Aumúne G¦n¦rale bzw. die Armenreform in Lyon – siehe oben und weiter unten im laufenden Text) unter protestantischer Führung spätestes ab 1562 bezeugt (vgl. J. Garrisson-EstÀbe, protestants du midi, S.258 und die dortige Anm. 152). Vgl. Didier Poton, Saint-Jean-De-Gardonnenque, S. 104. 1562 werden die »unwürdigen« Armen aus der Stadt gejagt (»pauvres valides« = »arbeitsfähige Arme«; gemeint sind diejenigen, die, obwohl sie arbeiten könnten, versuchen, sich durch Bettelei über Wasser zu halten). Aber erst 1582 wird eine Liste der von der Stadt tatsächlich zu unterstützenden notleidenden Armen erstellt. Erst im Jahr 1590 greift eine umfassende Reform, in der die Unterstützungsformen zentralisiert und spezifiziert sind (vgl. J. Garrisson-EstÀbe, protestants du midi, S. 259 und Anm. 151). In Lyon betreibt der protestantische Stadtrat nach der Machtübernahme 1562 beispielsweise die Konfiszierung kath. Klostergüter oder kleiner von Ordensgemeinschaften geführter Hospitäler zur Finanzierung der Aumúne G¦n¦rale (»allgemeine Almosenkasse« – städtische Armenkasse) weiter, die bereits kurz zuvor im Jahr 1561 begonnen hatte (vgl. N. Z. Davies, Poor Relief, S. 289, dort Anm. 166; J.-P- Gutton, La soci¦t¦ et les pauvres, S. 275).

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Einflüsse bzw. Initiatoren zurückzuführen, was aber sehr in Frage zu stellen ist.498 Einige herausragende Persönlichkeiten der Lyoner Armenreformen haben 498 Noch einmal sei hier darauf verwiesen, dass führende Köpfe der Lyoner Armenreform von 1534 Protestanten waren (Jean Broquin, Johannes Kleberger) oder ein ausgeprägtes protestantisches Umfeld besaßen (vgl. N. Z. Davies, assistance, humanisme et h¦r¦sie, S. 783 f.). So gilt für Jean Vauzelles, Priester, Jurist und Motor der Reformbewegung in Lyon, dass er sich von seinem Denken her zwischen Erasmus und Luther bewegte, wobei er Erasmus wohl näher stand (vgl. dies., ebd., S. 777 ff.). Bezeichnend ist, dass er zu den »prot¦g¦s« der protestantischen Margarethe von Navarra gehörte (vgl. dies., ebd., S. 777) und befreundet war mit Êtienne Dolet (vgl. dies., ebd. S 778), der am 25. März 1533 wegen Häresie gefangen genommen und erst wieder frei gelassen wurde, nachdem er abgeschworen hatte (vgl. J. Roman, Êglises Protestantes dans le Languedoc, S.11). Der Protestantismus breitete sich in Lyon ab 1524 zunächst innerhalb des Buchdruckgewerbes aus (vgl. J. Delumeau / Th. Wanegffelen, Naissance et affirmation de la R¦forme, S. 146). Es fragt sich tatsächlich, woran N. Z. Davies die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zur protestantischen Konfession eigentlich genau festmachen will. Sie selbst erwähnt, dass die konfessionelle Zugehörigkeit der bei der Armenreform engagierten »notables« nur schwer festzustellen ist (vgl. dies., ebd., S. 784; vgl. auch J.-P. Gutton, La Soci¦t¦ et les pauvres, S. 274). Eben das ist die methodische Schwäche bei N. Z. Davies ebenso wie bei J.-P. Gutton in dieser Frage. Beide verweisen darauf, dass die Mehrzahl der Rektoren der Aumúne G¦n¦rale (»allgemeine Almosenkasse« – städtische Armenkasse) bzw. der Reformer wohl »orthodox-catholiques« gewesen seien und es nur eine geringe Zahl gäbe, bei der sich das Bekenntnis bzw. die Religiosität nicht genau feststellen ließe. Konkrete Namen der eigentlichen Reformer, die sowohl von Davies als auch von Gutton genannt werden, sind aber allesamt zu dieser von ihnen genannten Minderheit (s. o.) zu zählen, die überwiegend protestantisch ist oder ein protestantisches Umfeld besitzt. Die Einordnung der genannten Personen als »humanistisch« (N. Z. Davies) erscheint mir vor dem Hintergrund der genannten Fakten und Beziehungen recht willkürlich, zumindest nicht ausreichend nachgewiesen. Die Personen lassen sich mindestens ebenso gut und teils mit mehr Recht dem klandestinen evangelischen Lager zurechnen (s. o.). Was z. B. Johannes (Hans) Kleberger (od. Jean Kleberger bzw. Cleberge) betrifft (in der Literatur finden sich unterschiedliche Namenschreibweisen), so war er in zweiter Ehe mit der Witwe des Lutheraners Êtienne de la Forge verheiratet, der 1535 in Paris wegen Häresie verbrannt wurde. Mag sein, dass Johannes Klebeger seine protestantische Zugehörigkeit nicht offen bekannt hat. Aber es ist vor diesem Hintergrund nur allzu verständlich und erklärt auch, weshalb er testamentarisch größere Beträge an die Spitäler in Bern und Genf vermacht hat statt das Aumúne G¦n¦rale in Lyon in seinem Testament zu bedenken oder zumindest ebenso zu berücksichtigen, wo er sich doch hier Zeit seines Lebens stark engagierte (Zu den biographischen Angaben vgl. Richard Ehrenberg, Hans Kleberg, der »gute Deutsche«. Sein Leben und sein Charakter, Nürnberg 1893). Über die angeblich »orthodox-katholische« Mehrheit der Reformträger erfahren wir leider nichts weiter und im Gegensatz zu den eben erwähnten Personen fallen diesbezüglich keinerlei Namen. So bedeutend scheint ihre Rolle also nicht gewesen zu sein, als dass sie nicht wenigstens namentlich erwähnt würden, abgesehen von dem Dominikaner Pagnini und Antoine Serrier, Schatzmeister der Charit¦ in Lyon (vgl. J.-P. Gutton, ebd., S. 271) Es muss m. E. in Betracht gezogen werden, dass das Bekenntnis zum Protestantismus in jener Phase mit Risiken behaftet war und deshalb nicht immer selbstverständlich offen bekundet werden konnte. Noch oder gerade in der Zeit der Fünfziger Jahre des 16. Jh, als der Calvinismus sich zunehmend im Languedoc verbreitete, gibt es immer wieder vom parlement von Toulouse offiziell amtlich Entsandte zur Durchführung von Häresieprozessen, die in der Regel mit Verbrennungen enden. Mehrfach fordert der König (Heinrich II.) das par-

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einen protestantischen Hintergrund oder enge Bezüge zum protestantischen Umfeld.499 Das evangelische Bekenntnis konnte nur nicht offen gelebt werden, weshalb der protestantische Beitrag zur Einrichtung und Entwicklung der Aumúne G¦n¦rale (»allgemeine Almosenkasse« – Städtische Armenkasse) in Wirklichkeit wahrscheinlich viel stärker war als bislang angenommen.500 Überall haben die Reformen in den genannten Städten ein ähnliches Gesicht, wie man es ansonsten auch weitestgehend von anderen städtischen Armenreformen unabhängig vom Konfessionsstatus im übrigen Europa des 16. Jh. erforscht hat501 und von V. Hunecke folgendermaßen zusammenfassend beschrieben wurde: »Gemeinsame Kennzeichen dieser auffällig synchronen Reformbewegung sind: die Laizisierung und Kommunalisierung der Armenpflege, die Zentralisation und eine strengere Kontrolle der Unterstützungsmittel, die Einrichtung von Armenbureaus und gelegentlich die Einführung besonderer Armensteuern; auch die Objekte der Fürsorge wurden einer systematischeren und rigoroseren Kontrolle unterworfen, Bedürftigkeit und Würdigkeit der Armen vor der Almosenvergabe genau geprüft, Arbeitspflicht für die Armen und Bettelverbot allgemein verbindlich erklärt.«502 Die mittlerweile in der Geschichtswissenschaft gängig gewordenen Leitbegriffe zur Charakterisierung dieser Reformen bzw. dieses Prozesses, nämlich »Kommunalisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung und Pädagogisierung«503 treffen gerade auch für die genannten Reformen der franz. Protestanten auf Stadtebene zu, auch wenn im Einzelnen noch genauer definiert oder beschrieben werden müsste, was mit den Begrifflichkeiten jeweils konkret gemeint ist.

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lement von Toulouse zu diesem Vorgehen auf und erbittet bei den Magistraten entsprechende Unterstützung. Die Aufzeichnungen von J. Roman, in denen er Fakten, Ereignisse, Edikte und Urteile agendarisch und akribisch festhält, lesen sich wie eine Chronologie, die ihres Gleichen sucht. In wenigen Zeilen verdichten sich die Hilflosigkeit von Klerus, Autoritäten und Krone auf der einen Seite, Gewalt und Gegengewalt, wie zugleich auf der anderen Seite die unglaublich rasante Erfolgsgeschichte der von Genf aus unterstützten calvinistischen Bewegung im Languedoc allein durch die Verbreitung der »neuen Lehre« in Form öffentlicher Predigt (vgl. J. Roman, Êglises Protestantes dans le Languedoc, S. 17 – 26). Siehe dazu die kritischen Ausführungen in der vorangehenden Fußnote. Siehe dazu die vorhergehenden Fußnoten. Vgl. z. B. Thomas Fischer, Städtische Armut, W. Fischer, Armut in der Geschichte, S. 33 ff.; B. Geremek, Geschichte der Armut, S.146 ff., bes. 172; und die Aussagen der in den vorhergehenden Anmerkungen zu den einzelnen Städten bzw. Reformen angeführten Literatur so wie das oben unmittelbar nachfolgende Zitat von V. Hunnecke (ders., Überlegungen zur Geschichte der Armut, S. 492). V. Hunnecke, Überlegungen zur Geschichte der Armut, S. 492. Vgl. W. Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen, S. 47 und R. Jütte, Obrigkeitliche Armenfürsorge, S. 356 – 367.

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In Paris (1544/45)504 und Metz (1562)505 gab es umfassende, sehr bekannt gewordene städtische Armenreformen, die beide auf das Vorbild Lyons und dortige Erfahrungen zurückgreifen konnten.506 In Metz verbreitete sich in den fünfziger Jahren zunehmend der Calvinismus mit der Folge, dass 1561 sogar ein erster temple (»evangelische Kirche«) erbaut wurde und die Protestanten bereits im Jahr 1562, wie weiter oben schon erwähnt, über vier Schulen am Ort verfügten. Inwieweit sie auch bei der Armenreform mitgewirkt haben, muss vorerst im Dunkeln bleiben.507 Möglich und im Interesse der Metzer Protestanten mag das durchaus gewesen sein, war doch eine der großen sozialen Herausforderungen, die diese Reformen sicher mit veranlasst haben, der starke Zustrom protestantischer Flüchtlinge in die Stadt anlässlich der ausbrechenden Religionskriege.508 Im Magistrat waren die Protestanten, die um 1562 wohl bereits fast ein Drittel der Stadtbevölkerung zählten, aber noch keine 10.000 ausgemacht haben dürften, zu diesem Zeitpunkt stark vertreten.509 1562 war, wie bereits oben erwähnt, auch das Jahr, in dem die Protestanten in Lyon bis 1563 vorübergehend die Macht besaßen und die Reformen dort weiterführten. Eine protestantische Prägung und Beeinflussung der Reformen in Metz, die sich an Lyon orientierten, ist also durchaus wahrscheinlich, kann aber bisher nicht nachgewiesen werden. Auch wenn die städtische Armenreform bzw. die in diesem Sinne verstandene Kommunalisierung nicht das Hauptanliegen franz.-ref. Diakonie war, da der Schwerpunkt, der sich gerade im 16. Jh. herausgebildet hatte, auf der kirchengemeindlichen Kranken- und Armenfürsorge lag, so wurde die Kommunalisierung doch konsequent befürwortet und nicht als Widerspruch zur eigenen 504 Zur Pariser Armenreform vgl. Lallemend, Histoire de la Charit¦, S. 239 ff. und B. Geremek, Geschichte der Armut, S. 150 – 158. Eine ältere Überlieferung verlegt die Entstehung der Reform und der Gründung des städtischen »Bureau des Pauvres« in das Jahr 1530 (vgl B. Geremek, ebd., S. S. 158). Das ist jedoch nicht korrekt bzw. sehr unwahrscheinlich, da die königlichen »Lettres Patentes« für diese Einrichtung vom 7. November 1544 stammen (vgl. Lallemend, Histoire de la Charit¦, S. 240). Zudem fallen just in diese Zeit die königlichen Reformen des Hospitalwesens (Edikte von 1543 und 1544, vgl. J. Imbert, Le droit hospitalier, S. 16 ff.) Im Ergebnis bedeutet das, dass die Pariser Reform von Lyon beeinflusst ist und nicht umgekehrt, wie in der Literatur gelegentlich behauptet. 505 Am 1. Januar 1562 wurde durch eine »ordonnance de la cit¦« (»Anweisung der Stadt«) das Metzer »bureau des pauvres« eingeführt (vgl. dazu: Abb¦ Pinck, Die Metzer Armenpflege, S. 144 – 148.). 506 Die Ordnungen und Vorschriften aller drei Einrichtungen in Lyon, Paris und Metz gleichen sich teilweise bis ins Detail. Alle drei setzen eine Armensteuer voraus, es gibt eine ambulante Versorgung für die »Bedürftigen«; nicht nur Bettler, sondern auch Almosen-Geber werden mit Strafandrohung konfrontiert; Arbeitsfähige werden zur (Zwangs-)Arbeit angehalten etc. etc. (vgl. die hier angegebene Literatur). Ein ausführlicher Vergleich könnte Parallelen und Abhängigkeiten erweisen. 507 Bisher ließen sich weder Hinweise dafür noch dagegen finden. 508 Betrifft vor allem Protestanten des nahegelegenen Saint-Nicolas. 509 Vgl. J.-F. Michel, Les ¦coles protestantes — Metz, S. 214.

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Lehre oder Praxis gesehen, sondern offenbar eher als Gedanke, der Verantwortungswahrnehmung auf allen Ebenen, wie es das vorangehende Beispiel der Konfrontation zwischen Consistoire und Stadträten in N„mes zur Zeit der Pest gezeigt hatte. Die anderen angesprochenen Elemente der Rationalisierung, Bürokratisierung und Pädagogisierung ziehen sich sogar bis ins Berliner Refuge des 18. Jh. durch, wie wir noch sehen werden, wobei diese Leitbilder dort teils noch einmal anders gefüllt wurden.510 Im Folgenden sei hier anhand weniger Beispiele kurz geschildert, wie in jener Zeit das Verhältnis zur städtischen Armenfürsorge in den Fällen aussah, wo die Protestanten auch die politische Macht zumindest auf kommunaler bzw. regionaler Ebene in den Händen hatten, wie sich dort also die Größen Consistoire und Magistrat in der Frage der Armen- und Krankenfürsorge zueinander verhielten. Zunächst sei hier noch einmal an das Beispiel von N„mes angeknüpft. Das Zusammenwirken von Magistrat und Consistoire war nicht immer konfliktfrei in dieser Frage, wie wir weiter oben auf die Pest bezogen sahen. Aber es steht nach den von Ph. Chareyre unternommenen mühsamen Recherchen und der detaillierten Darstellung über das Consistoire von N„mes in den Jahren 1561 – 1685511 außer Frage, dass hier weder ein in die eine noch in die andere Richtung einseitiges (Abhängigkeits-)Verhältnis existiert hatte. N„mes wurde oft als das »kleine Genf« oder das »Genf des Midi« (Midi = Südfrankreich) bezeichnet. Der Nimbus, der bei diesem Plakat mitschwingt, ist neben anderen Elementen der von Sittenstrenge und Theokratie. Für die Sittenstrenge, und entsprechende Disziplinierung gerade auch im Bereich der Armenfürsorge finden wir in N„mes tatsächlich eine Reihe von Beispielen.512 Aber theokratische Strukturen auf das Verhältnis von Consistoire bzw. Kirche und Stadtrat bezogen, lassen sich nicht bestätigen. Das fängt schon damit an, dass die Diacres oder Anciens entgegen grundsätzlich anders lautenden Aussagen von J. Garrisson-EstÀbe513 weder im Stadtrat 510 Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 511 Vgl. die schon mehrfach zitierte Dissertation: Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 1 u. 2 (im Lit.– Verz.). 512 Vgl. R. A. Mentzer, Ecclesiastical Discipline, S. 169 ff. 513 So ist bei J. Garrisson-EstÀbe zu lesen: »Dans les villes et bourgades contrúl¦es par les huguenots toute une organisation de la Charit¦ prend place. Les Diacres en sont, avec les Anciens, la cheville ouvriÀre. Ils adMinistrent une ›bourse des pauvres‹ aliment¦e par les legs pieux, les collectes dominicales et les contributions oligatoires…« (»In den von den Hugenotten kontrollierten Städten und Bürgerschaften etabliert sich eine ganze Fürsorgeorganisation. Die Diacres sind gemeinsam mit den Anciens die Scharniere. Sie verwalten eine ›Armenkasse‹, die durch fromme Legate, Kollekten, Haussammlungen und Zwangsabgaben finanziert wird…«, dies., protestants du midi, S. 258) und eine Seite weiter heißt es außerdem: »La gestion de ces ¦tablissements est d¦sormais assur¦ par un conseil d’ad-

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noch der städtischen Armen- oder Hospitalorganisation vertreten sind. Sie kommen dort als Vertreter der Kirchengemeinde oder aber in Doppelfunktion nicht vor. Es gibt dort auch keine Versuche einer »re-sacrilizing« (R. W. Henderson und R. M. Kingdon) durch kirchliche Beauftragungen oder Betitelungen der auf Stadtebene Tätigen.514 Ph. Chareyre kann auf den Stadtrat bezogen resümieren: »il n’y a pas eu — N„mes, d’exercice simultan¦ des charges de consuls et d’Anciens, comme cela a pu se produire dans des ¦glises de moindre importance et notamment Aimarques en 1605.«515 Wohl gab es zahlreiche Personen, die als jeweils dafür »Gewählte« mal die eine Funktion (Ancien, Diacre), mal die andere Funktion (Consul) wahrnahmen.516 Sie profitierten von den jeweils zuvor erworbenen Kompetenzen oder waren schon aufgrund ihrer durch Beruf etc. mitgebrachten Kenntnisse und Fertigkeiten für beide Institutionen besonders geeignet.517 Das war für das Verhältnis der beiden Ebenen, gerade auch in der Armutsfrage, offenbar von Vorteil und eine gute Voraussetzung für die »action conjointe«518 (»gemeinsam getragene(s)/ verantwortete(s) Aktion / Handeln / gemeinsam abgestimmtes Vorgehen) in diesem Bereich. Die Charakterisierung des gemeinsam miteinander abgestimmten Vorgehens trifft offenbar zu für die Zeit bis etwa 1630, wo die politische Situation auf Stadtebene sich durch einen von da an paritätisch besetzten Stadtrat (kath./ev.) änderte.519 Woran wird diese action conjointe deutlich? Zunächst einmal daran, dass es organisierte Zusammenkünfte des Consulat und des Consistoire und gegensei-

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ministration o¾ dominent les laics qui sont souvent aussi des Anciens ou des Diacres.« (»Die Leitung dieser Einrichtungen [gemeint sind städtische Hospitaleinrichtungen und dergleichen] ist von dieser Zeit an durch einen Verwaltungsrat gewährleistet, der von Laien dominiert ist, die oft zugleich Ancien oder Diacre sind.«) – dies., ebd., S. 259. Solch einen Versuch der »Resakralisierung«, wie ihn R. W. Henderson grundsätzlich und R. M. Kingdon für Genf beschreiben bzw. deuten (vgl. R. W. Henderson, Sixteenth Century Community Benevolence, S. 421; R. M. Kingdon, Social Welfare, S. 50 – 69), hat es nach Darstellung von N. Z. Davies allerdings offenbar 1562 in Lyon gegeben. Als die Protestanten kurzzeitig die politische Macht übernahmen, wechselten sie die städtischen Quartiermeister, die die Aufgabe hatten, die Leitung der Aumúne G¦n¦rale (»allgemeine Almosenkasse« – städtische Armenkasse) zu unterstützen, durch die »Surveillans« (»Aufsichtsführende«) des Consistoire aus (vgl. N. Z. Davies, assistance, humanisme et h¦r¦sie, S. 811 f. u. 815) Es waren Mitglieder des Consistoire, die nichts anderes als Anciens waren und auf Gemeindeebene dieselbe quartierbezogene Aufsichts- und Besuchsfunktion. Die Begriffe »Surveillans« und »Anciens« werden in franz.-ref. Tradition teils wechselweise verwendet. »Es hat in N„mes keine Amtsausübung von gleichzeitig als Ratsmitglied und Ältester Beauftragten gegeben, wie das in kleineren Kirchen von geringfügigerer Bedeutung vorkommen konnte, namentlich in Aimarques im Jahr 1605.« – ders., ebd., Bd. 1, S. 161. Vgl. Ph. Chareyre, ebd., Bd.. 1, S. 161 ff. Vgl. Ph. Chareyre, ebd., Bd. 1, S. 159 u. 161 f. Ph. Chareyre, ebd., Bd.. 2, S. 663. Vgl. Ph. Chareyre, ebd., Bd.. 2, S. 663 ff. und die folgende Darstellung.

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tige Besuche gab, bei denen sie sich vor allem mit drei Themenbereichen befaßten: Unterbringung der Armen, Brotausteilung und Aufgaben des Hospitals. Dann wird die action conjointe aber auch an den konkreten Interventionen deutlich. Im Interesse der öffentlichen Ordnung dürfte es aus Sicht des Consulat gut gewesen sein, dass das Consistoire seinen Armen das Betteln untersagte mit der Androhung, dass sie bei Zuwiderhandeln keine Unterstützung mehr bekommen würden.520 Im Jahr 1593, als eine Epidemie auszubrechen drohte, sicherte das Consistoire, um »mettre ordre aux pauvres«521 (»Ordnung unter den Armen zu schaffen«) die Versorgung der eigenen »würdigen« bzw. hilfsbedürftigen Armen gegenüber dem Consulat zu mit dem Ziel, zu verhindern, dass sie an den Haustüren oder Stadttoren betteln, und forderte das Consulat umgekehrt zugleich auf, die Reinigung der Straßen als unabdingbare Voraussetzung zur Eindämmung der Epidemie zu veranlassen. Auch der folgende, ebenso von Ph. Chareyre angeführte, Textauszug dokumentiert die action conjointe. Diesmal suchen die Consuls das Gespräch mit dem Consistoire: »Seroient venus au Consistoire messieurs Claude Blisson, docteur et advocat, Jacques Blanc marchant bourgeois, premier et second consuls de Nymes lesquels ont dict que le nombre des poures en ceste ville est sy grand par les rues (que) on ne voit et on n’oit que des poures. Cell— vient que tous les lieux scirconvoisins viennent se fourer de poures dans la ville et se logent en plusieurs parts sans qu’ils puissent scavoir les lieux que se logent, qu‘ est cause qu’ils n’y peuvent remedier. Et affin que se puisse establir quelque bon ordre d¦zirent que veriffication soit faicte par les surveilhans de l’esglize de tous les poures que peuvent estre dans la ville affin d’y pouvoir rem¦dier et sortir ceulx qui se [sic!] sont venus getter dans lad ville.«522

Offenbar war die kirchliche Armenversorgung besser und effizienter organisiert als die des städtischen Armenbüros, dass dieses der Mithilfe durch ihre Kompetenz und Informationen bedurfte. Die Anciens bzw. Diacres führten in N„mes alle möglichen nützlichen Listen: von zu unterstützenden Hausarmen, von Ar520 Vgl. R. A. Mentzer, Ecclesiastical Discipline, S. 169. 521 A.D.G. 42 J 30, Reg.Cons.N„mes, 12. 05. 1593. 522 »Herr Claude Blisson, Doktor und Anwalt, und Herr Jacques Blanc, Kaufmann, Bürger und zugleich erster und zweiter consul der Stadt N„mes, sind gekommen, um mitzuteilen, dass die Anzahl der Armen in den Straßen dieser Stadt ist, dass man nur noch Arme sieht und hört. Das kommt daher, dass all die benachbarten Orte im Umkreis sich ihrer Armen entledigt haben und diese an vielen Plätzen übernachten, ohne dass sie [die consuls] (die) Plätze zur Unterbringung kennen würden und das das der Grund wäre, weshalb sie dagegen nichts tun könnten. Und damit die gute Ordnung hergestellt würde, wünschen sie, dass die »surveilhans» [=Anciens] der Kirche all die Armen überprüfen, die in der Stadt von denen, die vom Stadthaus aus dazu beauftragt sind, unterstützt werden können, um Abhilfe zu leisten und die aus zu sondieren, die [nur] gekommen sind, um in der Stadt zu betteln.» (A.D.G.: 42 J 31, Reg.Cons.N„mes, 27. 11. 1602, hier zitiert nach Ph. Chareyre, a.a.O.

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menkindern, die in eine Lehre vermittelt werden sollten bis hin zu Arbeitsfähigen, die eine Arbeit oder Anstellung brauchten.523 Was hier zwischen »Kommune« und »Kommunität«, also der Kirchengemeinde stattfand, wird heute gerne als »Vernetzung« bezeichnet. Aber natürlich hatte diese Vernetzung andere Ziele und Optionen als heute. So erstellte das Consistoire beispielsweise auch eine Liste von Prostituierten, die sie an das Consulat mit der Bitte übersandte, diese aus der Stadt zu verbannen.524 Die kirchliche oder kirchlich motivierte Armenunterstützung geht hier eindeutig einher mit dem Willen zur »sozialen Disziplinierung«525, und zwar durch sittenstrenge Formung der betroffenen abhängigen Armen. Sie trifft sich darin aber mit den Interessen der politischen Ordnungsmacht der Stadt. Ähnlich wie in N„mes liegen die Verhältnisse in La Rochelle, der Stadt, die seit dem Friedensedikt von St. Germain (1570), zu einem der vier sogenannten Sicherheitsplätze der franz. Protestanten zählte.526 Nach W. J. Pugh lag La Rochelle hinter Lyon zurück, was die (städtische) Institutionalisierung der charit¦ (»Mildtätigkeit/Nächstenliebe«) betraf und erst nach der Revokation des Ediktes von Nantes, also erst nach 1685 habe ihre Armenfürsorge ihren mittelalterlichen Charakter durch Reformen verloren.527 Die Aussage lässt sich in dieser Absolutheit jedoch nicht aufrechterhalten, ja erweist sich bei genauerer Betrachtung sogar als falsch. Es hat im 16. Jh. in La Rochelle eine Welle von Gesetzen und Reformen im Bereich der städtischen Armenfürsorge gegeben, die insgesamt betrachtet vielleicht nur nicht den Erfolg gebracht haben, den sich die Akteure davon erhofft hatten.528 Das Hospital wurde kommunalisiert und entwickelte 523 Vgl. R. A. Mentzer, Ecclesiastical Discipline, S. 170. 524 Vgl. R. A. Mentzer, Ecclesiastical Discipline, S. 170. Hier bestätigt sich noch einmal mehr der starke moralisch-sittliche Formungswille des Consistoire. 525 Siehe zu dem Gedanken der »sozialen Disziplinierung« im Kontext der Armenfürsorge bzw. der Aktivitäten des Consistoire R. A. Mentzer, Ecclesiastical Discipline, S. 178 / 179. Ausführlicher zu dem Aspekt der »Sozialen Disziplinierung« im Bereich der Armenfürsorge des 16. Jh. vgl. R. Jütte: Disziplinierungsmechanismen in der städtischen Armenfürsorge der Frühneuzeit, in: Sachße, Christoph / Tennstedt, Florian Soziale (Hg.): Sicherheit und soziale Disziplinierung, Frankfurt/Main 1986, S. 101 – 118; ders., Prolegomena zu einer Sozialgeschichte der Armenfürsorge diesseits und jenseits des Fortschritts, S. 92 – 101; ders., Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit; ders. / Finzsch, Norbert (Hg.): Institutions of Confinement. Hospitals, Asylums, and Prisons in Western Europe and North America, 1500 – 1950 526 Nach dem dritten Religionskrieg und einem Wiedererstarken des politischen Protestantismus wurden ihm im Friedensedikt von St. Germain (1570) zum ersten Mal sogenannte »Sicherheitsplätze« zugestanden – vier Städte (La Rochelle, Cognac, La Charit¦-sur Loire und Montauban), wo sie allein herrschen konnten (vgl. H. Dubief, Artikel »Hugenotten«, S. 620. 527 Vgl. W. J. Pugh, Testamentay Charity, S. 479, dort Anm. 8. 528 Vgl. hierzu und zur folgenden Darstellung E. Trocm¦, La Rochelle de 1560 — 1628, S. 167 – 171, 270 – 274..

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sich im 16. Jh. auch für die offene Armenunterstützung zur zentralen Versorgungsstätte.529 In den Jahren 1554, 1583, 1594 und 1598 wurden Reglements erlassen, die helfen sollten, die Armen zu klassifizieren, den Bettel verbaten und arbeitsfähige Arme zur Arbeit anhalten sollten.530 Arbeitsunfähige (Alte, Kranke, Behinderte, Schwerbeschädigte so wie auch Waisen usw.) wurden im Hospital oder ambulant versorgt.531 Das Besondere an La Rochelle war, dass der protestantische Magistrat für den gesamten Zeitraum der ersten 20 Jahre nach der Übernahme der politischen Macht diese Aufgabe offenbar zumindest weitestgehend an die protestantische Kirche delegiert hatte532 – ein Subsidiaritätsprinzip – die Kirche agierte im Auftrag der Stadt und wendete dazu ihre gesamten Mittel auf; später wurde sie finanziell dabei auch zusätzlich von der Stadt unterstützt.533 Die Anciens bzw. Diacres waren damit auch für die Geldsammlungen und die übrige Geldverwaltung (Schenkungen, Spenden, Legate. Pensionen etc.) zuständig. Offensichtlich genügte aber dieses System nach 20 Jahren den Anforderungen nicht mehr.534 Es scheint nicht (mehr) effektiv genug gewesen zu sein, sei es im Blick auf die Höhe der eingenommenen Gelder, sei es im Blick auf die ausreichende personelle Präsenz in den Stadtvierteln. Ob die mancherorts in der Literatur und weiter oben im Text erwähnten »Dames de La Rochelle« hier eine Lücke schließen sollten, ist ungewiss. Sicher ist jedenfalls, dass der Stadtrat 1588 die Beauftragung des Consistoire bzw. der Kirchengemeinde aufhob und die Armenunterstützung erneut umgestaltete.535 Es ähnelte nun sehr dem in Paris und Metz eingeführten System: Für jede der fünf ehemaligen (katholischen) Pfarrbezirke wurden zwei recteurs des pauvres (»Armendirektoren«) ernannt. Sie wurden nicht nur vom verpflichtenden Milizdienst befreit und damit entlastet, sondern zudem auch jeweils durch einen von der Stadt angestellten receveur (»Einnehmer«) und controlleurgreffier (»Buchhalter-Schreiber/Kassenbuchführer«) unterstützt.536 Dadurch erreichte man, nicht nur, dass die Sammlungen effektiv durchgeführt werden konnten, sofern vielleicht hier und da in zurückliegender Zeit nicht geschehen, sondern auch, dass die städtischen Armendirektoren selbst ihre Zeit auch tatsächlich der Präsenz bei den Armen widmen konnten. Die kirchlichen Ämter der 529 Vgl. Gemeint ist das große »Hospital St. Barth¦l¦my«, ein anderes (auch »petit húpital« oder »húpital des ladres« wurde dem verwaltungsmäßig angeschlossen (vgl. E. Trocm¦, ebd., S. 167 – 171). 530 Vgl. E. Trocm¦, ebd., S. 169. 531 Vgl. E. Trocm¦, ebd., S. 167 – 169. 532 Vgl. E. Trocm¦, ebd., S. 170. 533 Vgl. E. Trocm¦, ebd., S. 170. 534 Vgl. E. Trocm¦, ebd., S. 170. 535 Vgl. E. Trocm¦, ebd., S. 170. 536 Vgl. E. Trocm¦, ebd., S. 170.

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Diacres und Anciens waren hingegen Ehrenämter, deren zahlreiche unterschiedliche Funktionen (wie Geldverwaltung und Besuche) neben einem festen (meist bürgerlichen) Beruf in einer dafür äußerst knapp bemessenen Zeit zu erfüllen waren. Welche gemeindlichen Funktionen die Diacres nach der Umstellung des Armenfürsorgesystems dann noch ausfüllten, ist unklar. Sicher ist nur, dass sie weiter als receveur der Armengelder, zu denen auch Legate für die Armen zählten, für die Gemeinde tätig waren.537 Ob sie auch Besuche bei Armen und Kranken durchgeführt hatten und damit eine ähnliche Doppelstruktur existierte wie in N„mes, ist von den Akten her nicht mehr zu erheben.538 So experimentierfreudig, wie sich die politische Stadtführung in La Rochelle gezeigt hat, kann also von Steckenbleiben in mittelalterlichen Strukturen oder gar Rückgang ins Mittelalter im Bereich der Armenfürsorge zu keiner Zeit protestantischer Stadtherrschaft in La Rochelle die Rede gewesen sein, jedenfalls weder in der ersten Phase noch bis einschließlich 1629.539 Wir finden alle wesentlichen Elemente der frühneuzeitlichen Armenreformen wieder (s. o.). Die Kommunalisierung wurde vollzogen und die von ihr verantwortete Delegation der Aufgabe ging nicht an irgendeine willkürlich gewählte kirchliche Institution, sondern bewusst an eine Institution, die ähnliche Strukturen, Optionen und Charakteristika aufweisen konnte, wie sie aus der Sicht der Stadt vonnöten waren: an die franz.-ref. gemeindliche Armen- und Krankenfürsorge. Im entscheidenden Moment (1588) hat die Stadt wieder ihren Teil der Verantwortung wahrgenommen und eingegriffen. Das neue System hat sich dann bis 1628 bewährt. Mag sein, dass es nach 1629 einen Rückfall gegeben haben mag, der einer neuen, endgültigen Reform bedurfte, aber der wäre dann wieder von den neuen politischen Kräften bzw. denen der Gegenreformation zu verantworten. Ein drittes Beispiel sei noch angeführt, das sich auf eine weniger bedeutende Stadt als N„mes oder La Rochelle bezieht, nämlich Romans. Dort, wo die Macht der Stadt ebenso in protestantischer Hand lag, begrüßte das Consistoire die Einrichtung einer Aumúne G¦n¦rale (»allgemeine Almosenkasse«) auf städtischer Ebene und die damit verbundenen Reformen.540 In einer Eingabe vom 23. Mai 1562 formulierte das durch neun Anciens vertretene Consistoire in 26 Artikeln, die an die assembl¦e g¦n¦rale de la ville (»Ratsversammlung bzw. Stadtparlament«) von Romans gerichtet waren, seine Vorstellungen, Anfragen und Forderungen. Im neunten Artikel heißt es auf die Verwaltung des Aumúne 537 Vgl. E. Trocm¦, ebd., S. 270 f.u. 274. 538 Eigene Nachforschungen haben diesbezüglich leider nicht mehr ergeben als das, was bei E. Trocm¦ zu lesen ist (vgl. ders., ebd., S. 270 f. u. 274). 539 Zeitraum, für den E. Trocm¦ die Effektivität des ab 1588 erneut reformierten Systems bescheinigt (vgl. ders., ebd., S. 170) 540 vgl. auch J. Garrisson – EstÀbe, protestants du midi, S. 258.

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bezogen: »Qu’ils seront tenus úter de l’Aumúne G¦n¦rale aucuns qui ne m¦ritent de l’avoir et d’y mettre d’autres plus n¦cessiteux qui veulent vivre selon l’Evangile et qu’en l’administration de ladite Aumúne seront admis aucuns de ladite Êglise, tel qu’il plaira affirmer au Consistoire.«541 Diese Eingabe offenbart den ausgesprochenen Willen zur Mitgestaltung bei der Armenfürsorge und ihrer Zielvorgaben sowie bei der bereits erwähnten sozialen Disziplinierung. Aus der Sicht des Consistoire gehören dazu offenbar eine moralisch-sittliche Lebensführung und/oder reformiertes Bekenntnis und Glaubenspraxis, denn anders mag der Relativsatz »qui ne veulent vivre selon l’Êvangile« wohl kaum zu verstehen sein. Damit wird deutlich, welche Funktion die assistance im franz. Protestantismus neben vielen anderen auch hatte oder wie sie aus der Sicht vieler Consistoires zumindest auch verstanden worden sein dürfte: Die assistance (ob städtisch oder kirchlich) wurde als verlängerter Arm der Consistoires gesehen bzw. genutzt, um konfessionelle und sittliche Identität herzustellen oder aufrechtzuerhalten. So betrachtet mag speziell dies Anliegen als ein Beitrag im Prozess der »Konfessionalisierung« (Reinhard, Schilling)542 gedeutet werden. Dabei wäre es allerdings zu kurz gegriffen, wollte man darin lediglich ein Interesse an der Einhaltung eines äußerlichen Ordnungsgefüges sehen, das Einund Unterordnung gebot. Im Vordergrund stand offenbar vielmehr die Überzeugung, dass die durch Disziplinierung gewonnene Persönlichkeitsbildung, also eine in Glaube, insbesondere in der Konfession und in sittlicher Lebensführung gefestigte Persönlichkeit, dazu verhilft, in Armut nicht unterzugehen, sondern soziale Stabilität und Erfolg zu erreichen. In Spannung dazu stand bei dieser Zugangsweise auf der anderen Seite auch die Gefahr einer unangemessenen Moralisierung und Individualisierung des Armutsproblems, das eigentlich nach gesellschaftlichen Lösungen und Gestaltungen verlangte. Zu diesen 541 »Dass sie gehalten sein mögen, denjenigen das (städtische)Almosen zu entziehen, die es nicht verdienen, es zu haben, und [anstatt dessen] es anderen zuweisen, die es nötiger haben und gemäß dem Evangelium leben wollen und dass in der Verwaltung des genannten Aumúne niemand von der genannten Kirche zugelassen werden soll, dem das Consistoire zustimmen will [nicht gefällt, zuzustimmen].« Zitiert nach U. Chevalier, Annales de la ville de Romans, S. 26, Art. 9, vgl. auch J. Garrisson – EstÀbe, protestants du midi, S. 258. 542 Zum Begriff der Konfessionalisierung und dem neuesten Stand der geschichtswissenschaftlichen Debatte sei an dieser Stelle erneut verwiesen auf: Harm Klueting, »Zweite Reformation« – Konfessionsbildung – Konfessionalisierung. Zwanzig Jahre Kontroversen und Ergebnisse nach zwanzig Jahren, in: Historische Zeitschrift 277, 2003, S. 309 – 341; Kaspar von Greyerz / Manfred Jakubowski-Tiessen / Thomas Kaufmann, / Hartmut Lehmann (Hg.): Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 201), Gütersloh 2003; Brockmann, Thomas / Weiß, Dieter J. (Hg.): Das Konfessionalisierungsparadigma – Leistungen, Probleme, Grenzen (Bayreuther Historische Kolloquien 18), Münster 2013.

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Gedanken jedoch mehr in den weiter unten folgenden Kapiteln über die Sozialethik der franz.–ref. theologischen Tradition und Predigtpraxis. Armensteuer Im Zuge der Armenreformen haben die franz. Protestanten auch Besteuerungen kennengelernt oder selbst eingeführt. Eine solche mit den Reformen verbundene Armensteuer wurde in Paris,543 Lyon,544 Metz545 und N„mes546 etabliert. Anfangs mögen diese zum Teil den Charakter einer freiwilligen Selbstbesteuerung gehabt haben. Sie haben sich dann aber zur festen Steuer entwickelt.547 Die NichtEntrichtung der Armensteuer wurde in Paris z. B. unter Strafe gestellt, das heißt mit einem Bußgeld belegt.548 In Paris wurden die eingenommenen Armensteuern anfangs offenbar für eine Arbeitsbeschaffungs- bzw. Beschäftigungsmaßnahme genutzt.549 Von dieser Armensteuer ist die freiwillige Selbstabgabe, wie sie offenbar ebenso in einigen franz.-prot. Kirchen praktiziert wurde,550 zu un-

543 Eingeführt in Paris bereits in den Anfängen der Armenreformen, und zwar am 13. Februar 1531 (vgl. L. Lallemand, Histoire de la Charit¦, S. 257 f.; B. Geremek, Geschichte der Armut, S. 156 f.). 544 Vgl. Nach J.-P. Gutton war die Abgabe in Lyon anfangs wohl freiwillig. In Krisenzeiten sollte der versprochene, aber nicht abgeführte Beitrag, jedoch mit Hilfe der staatlichen Autoritäten juristisch beigetrieben werden (vgl. ders., La soci¦t¦ et les pauvres, S. 276 f.). M. Dinges spricht im Blick auf die in Lyon und N„mes mit den städtischen Armereformen eingeführten Abgaben von »compulsory taxes« (»Zwangssteuern«) (vgl. ders., Huguenot poor relief, S. 162, vgl. auch W. J. Pugh, Social Welfare, S. 351, 364). 545 Vgl. Abb¦ Pinck, Die Metzer Armenpflege, S. 146 f 546 Die offenbar auch von den Protestanten in N„mes eingeführte Armensteuer (vgl. M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 162, vgl. auch W. J. Pugh, Social Welfare, S. 351, 364) darf nach einem Beschluss des Königs ab 1654 nur noch den protestantischen Einwohnern von N„mes von den consuls aus auferlegt werden. Das haben eigene Recherchen ergeben (vgl. die Darstellung weiter unten und: A.N.: E 1703, fol. 142, 17. 08. 1654). 547 Vgl. Abb¦ Pinck, Die Metzer Armenpflege, S. 146 f.; Vgl. L. Lallemand, Histoire de la Charit¦, S. 256 f.. Auch in Lyon, wo J.-P. Gutton den Begriff »Armensteuer« lieber vermeiden möchte, weil sie anfangs zumindest einen Freiwilligkeitscharakter hatte, war es de facto sehr bald so, dass man von einer »Armensteuer« in Lyon sprechen konnte. Das konzediert J.-P. Gutton selbst einige Zeilen weiter (vgl. ders., La soci¦t¦ et les pauvres, S. 276 f.). 548 Vgl. L. Lallemand, Histoire de la Charit¦, S. 257 / 258. 549 Die Behörden beschäftigten anfangs offenbar sowohl ortsansässige Arme mit (überwiegend handwerklicher) Berufsausbildung als auch entwurzelte Bettlerexistenzen, was Konflikte mit sich brachte, da sowohl die Arbeit als auch das Geld knapp war. Die (geringe) Entlohnung wurde aus den Geldern der eingenommenen Armensteuer vorgenommen (vgl. B. Geremek, Geschichte der Armut, S. 156 f.). 550 So z. B. zumindest zeitweise in N„mes – R. A. Mentzer spricht im Zusammenhang von Unterstützungslisten der dortigen Kirchengemeinde von einer »list of taxable members of the community«, die der Armenliste gegenübergestellt wurde (R. A. Mentzer, Ecclesiastical Discipline, S. 168).

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terscheiden. Erstere bedurfte der Zustimmung des Königs, Letztere der Zustimmung und Überzeugungskraft des Consistoire. Protestanten partizipierten demnach an der Armensteuer und praktizierten sie auch selbst, weil es ein Mittel zur gemeinsamen Verantwortung für die Armen des Gemeinwesens war. J. Calvin selbst hatte dazu offenbar eine andere Meinung – er lehnte eine solche aufgezwungene Armensteuer zumindest zeitweilig ab.551 Die Praxis in Frankreich, durchaus auch in protestantisch beherrschten Städten, war jedoch eine andere. Andere kommunale Unterstützungssysteme In Lyon gab es anstelle des indirekten anonymen Beitrags zur städtischen Armenhilfe (Armensteuer) wohl zumindest teilweise auch die Möglichkeit, ein oder zwei Arme unmittelbar auf eigene Kosten zu versorgen552 – ein Zugeständnis an das traditionelle Verständnis der Almosengabe oder ein interessantes Modell, das zur öffentlichen Verantwortung für das Gemeinwesen verpflichtet, ohne dass dies aber eine Anonymisierung der Armut nach sich zieht? In N„mes hat diese Praxis am Ende der ersten Phase des franz.-ref. diakonischen Engagements jedenfalls eine mehrere Jahre andauernde Tradition. Für die Zeit von 1587 bis 1592 existieren noch Listen, aber auch für 1596 und später ist die Fortführung dieser Praxis, allerdings mit einer anderen Zielsetzung (s. u.) bezeugt.553 Die Listen für die Jahre 1587 – 1592 weisen eine Art Patenschaftsmodell auf – ähnlich spricht R. A. Mentzer von einer »one-to-one relationship«554, was allerdings nicht in allen Fällen aufgeht: Die Wohlhabenderen, aber nicht nur diese, werden verpflichtet (oder verpflichten sich?)555, einzelne Arme oder ganze Familien wöchentlich mit Nahrung in einem bestimmten Umfang zu versorgen.556 Weniger Wohlhabende werden in Gruppen von zwei bis sechs Personen zusammengeschlossen, um gemeinsam einen Armen regelmäßig zu unterstützen. Die Armen und auch die Unterstützenden werden alle namentlich aufgeführt und einander zugeteilt. Dabei werden 551 Vgl. R. A. Mentzer, Ecclesiastical Discipline, S. 168. 552 Vgl. J.-P. Gutton, La soci¦t¦ et les pauvres, S. 276 f. 553 Vgl. zum Folgenden AMN: RR60, Deniers municipaux, Listen von 1587 – 1592. Vgl. auch W. J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 354 f. 554 R. A. Mentzer, Ecclesiastical Discipline and Communal Reorganization, S. 169. 555 Da auch die Möglichkeit besteht, dass die Gebenden verweigern können, eine bestimmte Person weiter zu versorgen (zu Beispielen siehe: R. A. Mentzer, Ecclesiastical Discipline and Communal Reorganization, S. 169) , ließe sich daraus schließen, dass es sich lediglich um eine freiwillige Selbstverpflichtung handelt. Es scheint jedoch so zu sein, dass zwar Versorgung bestimmter Personen abgelehnt werden kann, nicht jedoch die Verpflichtung als solche (vgl. Überschriften der Listen: AMN: RR60, Deniers municipaux, Listen von 1587 – 1592 und auch die spätere Praxis in Vitr¦ (siehe in der vorliegenden Studie unter Kap. 2.3.7)). 556 Vgl. AMN: RR60, Deniers municipaux, Listen von 1587 – 1592.

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die Unterstützenden entsprechend ihrem Beruf oder Gewerbe und Status eingruppiert.557 Die Listen gehören zu den informativsten »Armenlisten«, die wir aus dieser Zeit überhaupt aus dem Bereich der Armenunterstützung besitzen und wurden ausführlich dargestellt und ausgewertet von R. A. Mentzer in einem gesonderten Beitrag558. Das System sorgte für eine Face-to-Face-Konfrontation mit der Armut bzw. zwischen Bedürftigen und Begüterten. Ab dem Winter 1596 wurde es dann für die Unterbringung wohnungsloser Armer genutzt.559 Im Blick auf die Armensteuer wie auch bei dem Solidarprinzip des Face-to Face-Modells von N„mes liegen Erfahrungen vor, die in der zweiten Phase diakonischer Praxis der franz. Protestanten bzw. im 17. Jh. anhielten und mit ausschlaggebend gewesen sein mögen für die spätere Entwicklung vergleichbarer gemeinwesenorientierter Organisationen, wie auch die des »sol pour livre« in Berlin – einem Solidarmodell, das auf einem (Selbst-)Besteuerungssystem zur Finanzierung der Renten und Unterstützungen von hugenottischen ehemaligen Staatsbediensteten und ihrer Angehörigen etc. basiert.560 Gleich wie man die unterschiedlichen hier dargestellten Beispiele im Blick auf das Verhältnis von Kirche bzw. Consistoire und protestantisch-politischer Lokalmacht bzw. protestantischen städtischen Institutionen werten will; bezüglich des Engagements des franz. Protestantismus in der Armutsfrage lässt es sich so zusammenfassen, wie R. A. Mentzer es grundsätzlich für das Verhältnis franz.ref. kirchlicher und franz.-ref. politischer Institutionen in Südfrankreich festhalten kann: »The consistories in the Midi often functioned alongside, but never instead of, secular justice or municipal government…The relationship was cooperative rather than collaborative.«561 Das diakonische Engagement der franz. Protestanten bewegte sich also schon in der ersten hier dargestellten Phase keineswegs überall und ausschließlich in einem Kontext, wo sich die Gemeinde nur in einem »inselartigen« Gegenüber sah zu einer feindlich gesinnten Obrigkeit oder zu einer religiös feindlich gesinnten politischen Macht und sich in dieser Umwelt behaupten und entwickeln musste. Jedenfalls waren die lokalen und regionalen Gegebenheiten im Einzelnen recht unterschiedlich, wie allein hier deutlich wurde. Die Hugenotten, die nach Berlin oder andernorts immigrierten, haben demnach nicht schon immer 557 Vgl. AMN: RR60, Deniers municipaux, Listen von 1587 – 1592. 558 Vgl. R. A. Mentzer, L’organisation de la charit¦ protestante dans la France du XVIe siÀcle: le cas de N„mes, S. 153 – 191. 559 Vgl. A.E.R.N.: Reg.Cons., VI, 03. 01. 1596; vgl. auch W. J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 354 f. 560 Zum Sol pour livre in Berlin vgl.: G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 561 R. A. Mentzer, Ecclesiastical Discipline, S.178.

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und überall in einem Mikrokosmos gelebt, der sich in einer Abgeschiedenheit zur lokalen Umwelt bewegte oder in Frontstellung gegenüber der kommunalen Macht befand. Sie haben zeitweise engsten und konstruktiven Kontakt mit lokaler Obrigkeit und Verwaltung gepflegt oder waren selbst dort beschäftigt. Diese Feststellung ist nicht unerheblich für die Beantwortung der Frage, wie sich das hugenottische diakonische Engagement im Rahmen der städtisch-staatlichen Armenfürsorge im jeweiligen Refuge positionierte und gegenüber der staatlichen Obrigkeit agierte. Zweifellos bildete die politisch instabile Gesamtsituation der franz. Protestanten gerade in der ersten Phase dennoch die spezifischen Traditionen und Mentalitäten im diakonischen Bereich heraus (offene bzw. ambulante kirchengemeindliche Armen- und Krankenfürsorge etc.), wie sie zuvor bereits dargestellt worden sind. Man darf nicht außer Acht lassen, dass gerade als sich in den fünfziger Jahren des 16. Jh in Frankreich mehr und mehr Gemeinden nach calvinistisch-reformiertem Modell organisierten und der Calvinismus damit seinen Siegeszug erlebte, zeitgleich die »grausamsten Verfolgungen unter der Herrschaft Heinrich II. (1547 – 1559)« stattfanden.562 Politisch konnte das ganz unterschiedlich zu Buche schlagen und auch wieder auf das diakonische Selbstverständnis oder Engagement zurückwirken, wie wir weiter unten noch sehen werden und auch auf das Berliner Refuge bezogen konstatieren können.563 Unabhängig von der besonderen Situation und Traumatisierung, die im 17. Jh. durch die schleichende und dann endgültige Rücknahme des Ediktes von Nantes im Jahr 1685 ausgelöst wurde, entwickelte sich bereits im 16. Jh. im franz. Protestantismus durch dessen Politisierung im Verlauf der verschiedensten Ereignisse nicht nur eine Widerstandslehre, die bei Calvin und den Monarchomachen grundgelegt wurde, sondern auch eine obrigkeitstreue – bis hin zum Absolutismus ausgerichtete – Linie, die sich von der Hoffnung nährte, dass eines Tages nur der »wahre Herrscher« mit dem »richtigen Bekenntnis« herrschen würde und kein Anderer. Das ist ein Indikator dafür, dass eigene Ohnmachtserfahrungen nicht automatisch zur Entwicklung einer Widerstandslehre oder zu einer religiös toleranten Haltung gegenüber Anderen führen müssen, sondern historisch ebenso so verarbeitet werden können, dass sie zur Reproduktion der Ohnmacht, zur Entwicklung von Allmachtsfantasien und zur Intoleranz führen können.564 Die nun folgende Phase, die spätestens etwa ab Mitte der neunziger Jahre des 16. Jh. einsetzte, war wiederum durch ein anderes Verhältnis der franz.-ref. 562 H. Dubief, Artikel »Hugenotten«, S. 619. 563 Zur Situation im Berliner Refuge vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement in Berlin. 564 Auf die franz.-ref. Kirche bezogen vgl. zu diesen Aspekten insbesondere: H. Bost / D. Poton, Le rapport des R¦form¦es au pouvoir, S. 31 – 57.

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Kirchengemeinden und des franz. Protestantismus zu den politischen Bezugsgrößen und Mächten gekennzeichnet.

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Diakonische Praxis in der Blütephase (von ca. 1594 bzw. 1598 bis 1660)

2.3.1 Die veränderten Rahmenbedingungen Die Kennzeichnung der zweiten Phase als »Blütephase« deutet auf Stabilisierung und Ausbau der diakonischen Praxis des franz. Protestantismus im genannten Zeitraum von ca. 1594 bzw. 1598 bis etwa 1660. Die äußeren Daten markieren den politischen Rahmen, innerhalb dessen sich das diakonische Engagement bewegen und tatsächlich auch bis zu einem gewissen Grade entfalten konnte. Man kann im Blick auf die Wende durch das Edikt von Nantes m. E. sogar von einer regelrechten Aufbruchstimmung sprechen, die sich im Bereich der Diakonie und Armenfürsorge der franz. Protestanten entfaltete. Das kann M. Naert so auch für die Region Calais und ihre Synoden bestätigen: »DÀs la fin du XVIe siÀcle les synodes s’¦taient pr¦occup¦s du soulagement des pauvres.«565 Vom »Toleranzedikt« von Nantes (1598) und dessen Vorbereitungsphase ab ca. 1594 bis hin zu den dann mit der Regierungszeit Ludwig XIV. (Beginn 1661) und teils bereits zuvor (1657) wieder neu einsetzenden Maßnahmen und Gesetzen der Benachteiligung und Diskriminierung der franz. Protestanten, deren vorläufiger Höhepunkt das Verbot der protestantischen CollÀges und Akademien so wie eine radikale Reduzierung ihrer Elementarschulen im Jahr 1670 sein sollte, war die Zwischenzeit von relativer äußerer Stabilität und Sicherheit geprägt. Das zuletzt genannte Edikt von 1670 sowie eine Reihe unzähliger anderer Edikte, die bereits zuvor einsetzten und noch kommen sollten, waren nur die Vorboten oder Vorarbeiten der endgültigen Rücknahme des Ediktes von Nantes durch das Edikt von Fontainebleau im Jahre 1685. Die Zeit ab 1661 bzw. 1657 wird in der Geschichtsschreibung sehr plastisch als »¦touffement« (»langsame Erstickung«, E. Leonard)566 des franz. Protestantismus bezeichnet. Dass sich die diakonische Praxis im genannten Zwischenzeitraum relativ gut entfalten konnte, hatte mehrere Hintergründe. Gleich wie man das Edikt von Nantes werten will, ob als Edikt, das den Krieg nur in einen kalten Krieg verwandelte oder doch als »einmaliges Toleranzedikt«, in dem Sinne, dass es einen Bewusstseinswandel einleitete, in Form konkreter Regulierungen einen gewis565 »Vom Ende des 16. Jh. an beschäftigten sich die Synoden vornehmlich mit der Sorge um/ Trost für die Armen« (M. Naert, Calais, S. 438). 566 E. L¦onard, Histoire g¦n¦rale du protestantisme, Bd. 2, S. 365.

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sen Freiheitsraum ermöglichte und auf das Zusammenleben innerhalb eines Staates dem Toleranzgedanken ein erstes Gesicht gab, ist m. E. Folgendes festzuhalten: Erstens: Das Edikt von Nantes vermittelte mehr als vorangegangene Edikte durch seinen Charakter der »Unwiderrufbarkeit«567 und der an die Protestanten gemachten Zugeständnisse ein Stück Sicherheit. Zweitens: Relative Rechtssicherheit im engeren Sinne kam dadurch zustande, dass durch das Edikt das interkonfessionelle Miteinander wie auch die Ausführungen und Entscheidungswege im Konfliktfall durch paritätisch besetzte Gremien regional und Chambres de l’Êdit für ganz Frankreich geregelt waren.568 Dass sich durch spätere Entwicklungen und weitere Erlasse und Ausführungsbestimmungen hierauf bezogen das Blatt völlig wendete, war so nicht vorhersehbar und bleibt davon unberührt. Drittens: Für den Bereich der städtischen Hospitäler wie auch der städtischen Aumúnes G¦n¦rales gab es grundsätzliche Regelungen, die das Miteinander beider Konfessionen ermöglichten. Für die gemeindliche Armen- und Krankenfürsorge (vor allem, was Einnahmen durch Legate, Schenkungen etc. betrifft), gab es Regelungen, die die Existenz einer solchen erlaubten, also Spielraum für eigenes legales gemeindediakonisches Engagement boten. Das Edikt bot damit die rechtlichen Voraussetzungen für Erhaltung und Entfaltung franz.-prot. diakonischer Praxis in einer Weise, wie es die politischen Rahmenbedingungen bisher so nicht oder nur bedingt zugelassen haben, wie wir sahen. Viertens: Ein weiterer Grund für das Aufblühen franz.-ref. Diakonie in dieser zweiten Phase hing eher indirekt mit dem Edikt von Nantes zusammen. Das Edikt bewirkte eine Konzentration auf die kircheneigenen – und damit eben auch diakonischen – Belange. Diese Wirkung kann positiv und zugleich negativ gedeutet werden. Positiv betrachtet gab das Edikt durch die »Befriedung« und den rechtlichen Rahmen den Blick dafür frei und eröffnete die Möglichkeit, sich überhaupt diesen Belangen zu widmen. Negativ betrachtet, begrenzte das Edikt den Handlungsspielraum auf das rein Innerkirchliche und den Kultus. Man darf deshalb fragen, ob nicht die viel betonte »innere Schwäche« des franz. Protestantismus in der Zeit vor 1685,569 die eine der Gründe gewesen sein soll, weshalb

567 Das Edikt wurde ausdrücklich als »irrevocable« (»unwiderrufbar«) tituliert – vgl. J. Chambon, Le protestantisme franÅaise jusqu’— la R¦volution franÅaise, S. 103 ff. J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S.9 ff. 568 Vgl. J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 23 ff.; Labrousse, Êlisabeth: Une foi, une loi, un roi? La r¦vocation de l’¦dit de Nantes, S. 5. 569 Vgl. E. G. L¦onard, Le protestantisme franÅais au XVIIe siÀcle, in: Revue Historique (Jg. 72, Vol. 200) 1948, S. 153 – 179; J. Chambon, Le protestantisme franÅais jusqu’— la R¦volution

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ein Edikt wie das von Fontainebleau 1685 (Rücknahme des Edikts von Nantes) überhaupt zustande kommen konnte, eben genau von dieser durch das Edikt von Nantes bewirkten Reduzierung auf die kirchliche Binnenperspektive herrührte. Korrekt ist gewiss, dass sowohl eine nach außen gerichtete Expansion durch Gründung weiterer Gemeinden (das war durch das Edikt von Nantes ausdrücklich ausgeschlossen)570 als auch die politische Auseinandersetzung obsolet wurden – erst Recht nach der endgültigen Zerschlagung der politischen Macht des Protestantismus durch den letzten Religionskrieg und den im Anschluss daran unterzeichneten Friedensvertrag von Alais, in dem das Edikt von Nantes wohl nur aufgrund von außenpolitischen Rücksichtnahmen zunächst trotzdem noch weiterhin aufrecht erhalten bzw. erneut bestätigt wurde.571 Fünftens: Schließlich ist als Grund für das Aufblühen des franz.-prot. diakonischen Engagements noch die Auseinandersetzung – ja, der Wettlauf – mit den Kräften, Bewegungen und Gemeinschaften der franz. Gegenreformation und katholisch-fundamentalistischen Vereinigungen bis hin zur geheimen Verbindung Compagnie du Saint-Sacrement572 auf dem Gebiet der Armen- und Krankenfürsorge zu nennen. Als diese nach dem ersten Drittel und besonders in der zweiten Hälfte des 17. Jh. virulent wurde, verband sich die Armenversorgung natürlich ganz stark mit klaren Konvertierungsabsichten. Sie waren jedenfalls genuiner Bestandteil solcher katholischen Bewegungen, Gemeinschaften und politischen Vereinigungen und Verbindungen.573 Sicher darf man darin nicht lediglich eine von reinem Machtinteresse der Kirche motivierte Mitgliederwerbung oder Missionsstrategie sehen. Die treibenden Kräfte solcher Verbindungen oder auch des katholischen Klerus waren in der Tat von der Notwendigkeit der Seelenrettung der Armen überzeugt. Neben der Negativseite der Gewissensbedrängung der Armen, in der sich ihre Abhängigkeit nur einmal mehr zeigte, hatte die Konkurrenz aber ihr Gutes. Das soziale Engagement der jeweiligen Konfession hatte sich zu bewähren und

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franÅaise, S. 103 ff S, A. Gounelle, Force et faiblesse du protestantisme en 1984, in: Bull SHPF (131) 1985, S. 131 – 136. Eine Ausbreitung des Protestantismus war insofern ausgeschlossen, als dass im Edikt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Abhaltung von Gottesdiensten im Wesentlichen nur dort erlaubt war, wo er bereits 1596/97 gefeiert worden war (vgl. E. Gresch, Die Hugenotten, S. 36 f.) Am Köngshof und in Paris so wie Umgebung war er gänzlich verboten (vgl. ebd., S. 37). Zum hier Dargestellten vgl. M. Carbonnier-Burkard, Le XVIe siÀcle, S. 51 f. und O. E. Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, S. 150 f. Zur Compagnie du Saint-Sacrement vgl. A. Tallon, La Compagnie du Saint-Sacrement (1629 – 1667). Spiritualit¦ et soci¦t¦, Paris 1990. Ihre Statuten finden sich kommentiert bei Thierry Wanegffelen, La France et les FranÅais. XVIe-milieu XVIIe siÀcle. La vie religieuse, dort unter »9. Ferveur religieuse et pratiques sociales«, S. 67. Vgl. bes. E. Chill, Religion and Mendicity, S. 405 ff. und die Literaturverweise in der vorangehenden Fußnote.

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musste also effektiv sein und Betroffenen Sicherheit verleihen, sollten tatsächlich die Herzen der »armen Massen« gewonnen und damit letztlich der Bruch mit der jeweils anderen Konfessionsgemeinschaft vollzogen werden. War bisher eher die Regel, dass die Unterstützung der Bekehrung folgte, so wurde hier die Reihenfolge teils umgekehrt. Die Armen gerieten damit noch mal ganz neu und anders als bisher ins Blickfeld der öffentlichen Aufmerksamkeit. Das soziale Engagement bzw. die Armenunterstützung wird im wahrsten Sinne des Wortes zum Angelpunkt für das Seelenheil, das an der Konfessionszugehörigkeit und schließlich auch an sittlicher Ordnung festgemacht wird. Beispielsweise wird das System der Armen- bzw. Freischulen ausgebaut und Arme genießen in den franz.-ref. Gemeinden auf diese Weise weiten Teils kostenlosen Schulunterricht, während die katholischen Kräfte im Zuge der Gegenreformation zunehmend ebenso versuchen, ihre gemeindliche Armenfürsorge (teils ausgesprochen nach dem Vorbild der Protestanten) auszubauen und die ambulante Krankenpflege so wie materielle Unterstützungen vor Ort zu fördern (s. u.). Heute mag es negative Stimmen geben, die vor dem Hintergrund aktueller Probleme der Sozialpolitik, das womöglich als Wettlauf der »Verhätschelung« deuten würden. Diese Wertung würde aber an der historischen Lebenswirklichkeit betroffener Armer, die – wenn überhaupt – kaum etwas hatten als ihre Kleidung auf dem Leib, völlig vorbeigehen. Wieder andere mögen es aus der historischen Distanz heraus als einen Wettlauf sehen, der durch reine Mitgliederbestandswahrung oder -gewinnung motiviert war, die die konfessionelle Identität stabilisieren sollte. Aber, so dürfen wir fragen, kann es nicht auch ein seriöser Wettlauf gewesen sein, der dem Anspruch auf eine tatsächlich funktionierende Solidargemeinschaft, die sich von der jeweiligen Religion/Konfession/Theologie herleitet, gerecht werden und versuchen wollte, diesen Anspruch auch aufrecht zu erhalten? Betroffene haben jedenfalls durchaus selbstbewusst und anspruchsvoll reagiert und manches Mal auch gerade auf den Aspekt der Solidargemeinschaft Bezug genommen, sofern sie sich ungerecht behandelt fühlten. Davon sei hier ein Beispiel gegeben, bevor wir uns der Frage zuwenden, was die Blütezeit konkret für die Entwicklung des franz.-prot. diakonischen Engagements bedeutete. Ob kurios anmutend oder Ironie des Schicksals, der folgende Auszug aus dem Bittbrief eines Betroffenen, eines sogenannten »Nouvel Converti« (»Neubekehrten«, ehemals reformiert) der Stadt Angers aus dem Jahr 1688, der stellvertretend für eine Gruppe von acht Personen schreibt, die sich zum Katholizismus bekehrt haben, bringt diesen Anspruch entsprechend zur Geltung. Es ist eines der wenigen schriftlichen »Selbstzeugnisse«, die wir von Armen überhaupt besitzen und das ich in den Archives Nationales von Paris ausfindig machen konnte:

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«Les So˜signez habitans d’angers conuertis par la Misericorde de Dieu a la Religion Romaine supplions Votre Grandeur d’ordonner qu’on Secoure notre extreme pauuret¦ caus¦e par le grand –ge qui nous met hors d’¦tat de travailler, et que l’on nous aide des reuenus du Consistoire de Sorges desquelz jouissent a present les Administrateurs de l’Hostel-Dieu St. Jean; Ces reuenus nous nourissoient dans la Religion P.R. Nous esperons la continuation de la m¦me (sic.) aumúne dans l’Êglise Romaine, dans laquelle nous tachons de satisfaire a notre deuoir y etans entrez de bonne volont¦ comme Monseigneur notre Ev¦que et Mr. notre Cur¦ le certifient. Cette assistance nous retirant de la plus profonde misere redoublera nos prieres vers le Ciel pour la prosperit¦ de Votre Grandeur, notre Seule Esperance dans ce monde alaquelle nous adressons ces paroles»574

Zwar sind in diesem Fall die Neu-Konvertierten offenbar bisher noch gar nicht in den Genuss der katholischen Armenunterstützung gekommen, aber sie kennen ihre Ansprüche und versuchen sie durch gute Argumente einzuklagen. Sie verweisen auf die zufriedenstellende Armenunterstützung, als sie noch der reformierten Kirche angehörten und darauf, dass dem offenbar für die Armenversorgung zuständigen Hospital das konfiszierte protestantische Vermögen zugutegekommen sei, das eigentlich für die Armenunterstützung gedacht war. Sie versuchen ihr Interesse durchzusetzen, obgleich sie dabei natürlich die Konventionen und den üblichen Unterwerfungsstil wahren. Auch wenn es sich hier wahrscheinlich um sogenannte »würdige« Arme oder pauvres honteux (»verschämte Arme«) handelt, also nicht um die Ärmsten der Armen, wie gänzlich entwurzelte Umherreisende und Bettelnde, so ist dieses Zeugnis doch erhellend, was die oben genannten Aspekte betrifft. Aus dem beigefügten Zeugnis des Pastors geht hervor, dass sie schon mehrere Jahre konvertiert sind, also tatsächlich wohl durch eine Bekehrungsaktivität der filles de Charit¦ von Vincent de Paul575 oder eine andere vergleichbare Gruppierung, 574 «Die unterzeichnenden Einwohner von Angers, die durch die Barmherzigkeit Gottes zur Römischen Religion konvertiert sind, bitten [eigentlich: »anflehen«] Eure Großzügigkeit anzuordnen, dass man unserer extremen Armut, die daher rührt, dass wir aufgrund unseres fortgeschrittenen Alters, außerstande sind zu arbeiten, Abhilfe verschafft; und dass man uns von den Einnahmen des Consistoire unterstützt, von welchem gegenwärtig die Verwalter des Hostel Dieu St- Jean profitieren. Diese Einnahmen nährten uns, als wir [noch] der sogenannten Reformierten Religion [Religion P. R. = Religion Pr¦tendue R¦form¦e] angehörten. Wir hoffen, dass man uns auch weiterhin dieses Almosen in der Römischen Kirche gewährt, in welcher wir versuchen, unseren Pflichten ausreichend nachzukommen und in die wir guten Willens eingetreten sind, wie unser Herr Bischof und unser Herr Pastor bezeugen können. Diese Unterstützung wird, indem sie uns aus dem tiefsten Elend rausholt, unsere zum Himmel gerichteten Gebete für das Wohlergehen Eurer Größe, der einzigen Hoffnung in dieser Welt, an die wir uns mit diesen Worten wenden können, verdoppeln.» ( A.N.: TT 231, Angers, fol. 1121, 13. 09.1688). 575 Das Hospital St. Jean in Angers war das erste Hospital, das außerhalb von Paris ganz in die Hände der filles de Charit¦ des Vincent de Paul gelegt worden war (vgl. Jones, Colin: The charitable imperative: hospitals and nursing in Ancien R¦gime and revolutionary France,

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in der Bekehrungseifer und soziale Fürsorge eine Symbiose eingingen, wenn nicht gar im schlimmsten Falle sogar durch die brutale Gewalt der dragonnades576 zum Abschwören bewegt worden waren. Zweierlei wird hier deutlich, das sich fast paradox gegenüberstand: Das eine ist, dass die Armen durch diese Form der Konfessionalisierung der Armenfürsorge zwischen die Fronten gerieten und sich gerade wegen ihrer Abhängigkeit als Spielball erlebten.577 Das Andere ist aber, dass sie durch den »Kampf um ihre Seelen« zugleich mehr ins Blickfeld der Gesellschaft kamen und durch das jeweilige konkrete soziale Handeln der konkurrierenden Kirchen eine Verbesserung ihrer Situation erwarten konnten und teils auch tatsächlich erlebten. Im Folgenden werden nun vorwiegend die Veränderungen dargestellt, die sich in der Blütephase ergeben haben und weniger das, was in dieser Zeit im Bereich der franz.-prot. Armenfürsorge und Diakonie gleich geblieben ist und schon für die erste Phase als charakteristisch aufgeführt wurde.

2.3.2 Legate und ihre diakonische Dimension Grundsätzlich können wir von einer erheblichen Zunahme der Legate ausgehen, was die zweite Phase franz.-ref. Diakonie betrifft.578 Sowohl Anzahl als auch S. 127 f. und Susan E. Dinan, Women and Poor Relief in Seventeenth-Century France. The Early History of the Daughters of Charity, Ashgate 2006). 576 Unter dragonnades ist die anfangs nur im Poitou, später in zahlreichen Regionen Frankreichs zwangsweise Einquartierung von Soldaten in Privathaushalten von Hugenotten zu verstehen, die sie (notfalls mit Gewalt) zur Abschwörung bewegen sollten (vgl. Marianne Carbonnier-Burkard / Patrick Cabanel (Hg.), Une histoire des protestants en France, Paris 1998, S. 177). 577 Vgl. bes.: Thierry Wanegffelen, La France et les FranÅais. XVIe-milieu XVIIe siÀcle. La vie religieuse, S. 67 und grundsätzlich: Jean Delumeau et Thierry Wanegffelen, Naissance et affirmation de la R¦forme, Paris 1997. 578 Davon bleibt unberührt, dass J. Garrison-EstÀbe meint, für die letzten 20 Jahre des 16. Jh. einen allgemeinen Rückgang der Legate mit Zweckbestimmungen für die reformierte Kirche und ihre Armenunterstützung konstatieren zu können (vgl. dies., Protestants du Midi, S. 261 – 262). Erstens betrifft dies bis auf wenige Jahre nicht die Zeit des Edikts von Nantes (1598) und bestätigt somit eher die oben dargelegte These, dass wir es unter den Bedingungen des Edikts von Nantes, also in der zweiten Phase (bis 1660) mit einem grundsätzlichen Anstieg der Legate im Vergleich zur ersten Phase (vor dem Edikt von Nantes) zu tun haben. Zweitens haben Kriege und Hungersnöte jener letzten 20 Jahre des 16 Jh. natürlich auch einen Einfluss auf Inhalt u. Häufigkeit von Testamenten. Anders als J. Garrison-EstÀbe kann H. Ochsenbein zu dem Schluss kommen: »Es scheint, dass am Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts vor allen Dingen Legate und Vermächtnisse die Einkünfte der Armenkasse gespeist haben (ders., Die diakonische Tätigkeit der protestantischen Kirchen in Frankreich, S. 69)« und bezieht sich dabei vornehmlich auf: S. Mours, Le Protestantisme en Vivarrais et Velay, S. 143. Offensichtlich gibt es regionale Unterschiede, was die Gebefreudigkeit in franz.-prot. Legaten am Ende des 16. Jh. betrifft. Es scheint jedenfalls nicht so negativ um sie bestellt, wie es J. Garrisson-EstÀbe ausführt (s. o.).

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Ausmaß haben, auch wenn die Praxis der Legate bereits zuvor existierte579, unter den günstigen juristischen Voraussetzungen, die durch das Edikt von Nantes im Hinblick auf Vermächtnisse für gemeindliche oder diakonische Zwecke gegeben waren,580 zugenommen oder sind überhaupt erst vor diesem Hintergrund legal möglich geworden,581 notariell hinterlegt und ausgeführt worden. Denn das Edikt von Nantes erlaubte den Protestanten nunmehr, testamentarisch festzulegen, ob und in welcher Höhe sie ihrer Gemeinde etwas vererben mochten.582 Eine solche Willensbekundung hatte rechtsverbindlichen Charakter. Nicht nur die Instandhaltung der vielen temples (franz.-prot. Kirchen) konnte dadurch beispielsweise unterstützt werden, sondern ebenso die gemeindliche Armenfürsorge etc. Das bedeutete für die deniers des pauvres (»Groschen der Armen« / Armengelder«) eine zusätzliche Einnahmequelle und für die Praxis der Diakonie einen echten Gewinn, denn damit gab es neben Kollekten, Schenkungen, Zinserträgen angelegter Gelder, Miet- und Pachteinnahmen eine weitere wichtige Finanzierungsquelle. Was lässt sich Genaueres über diese Legate sagen? Welche Rolle haben sie gespielt und was haben sie bewirkt? In jedem Fall haben sie zur Blüte der franz.-prot. Diakonie beigetragen. Gerade durch Legate besonders Wohlhabender konnten manche Einrichtungen in verhältnismäßig kurzer Zeit errichtet werden, die es ohne diese Legate wohl nie gegeben hätte – das protestantische Hospital von N„mes (1657), das weiter unten ausführlicher vorgestellt wird, ist ein Paradebeispiel dafür. Es verdankt sich vorwiegend solcher Legate. In einer Situation, als die Sicherstellung der Hospitalversorgung franz. Protestanten in N„mes auf dem Spiel stand, konnte das Projekt auf diese Weise innerhalb kürzester Zeit umgesetzt werden und verhinderte so zumindest vorübergehend die Abhängigkeit von Bischof und katholischer Laienbewegung, die gezielt versuchten, ihren Einfluss im städtischen Hospital geltend zu machen, um eine Bekehrungspolitik am Kranken- und Sterbebett zu betreiben.583 579 Vgl. S. Mours, Le Protestantisme en Vivarrais et Velay, S. 143. Er benennt dort eine Reihe von Legaten für den Ort Aubenas in der Zeit von 1562 bis 1600. Vgl. außerdem C. NÀgre, les oeuvres n„moises, S. 55 f. Sie beschreibt dort Beispiele franz.-prot. Legate aus dem 16. Jh. in N„mes. 580 Vgl. auch W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 493 und W. J. Pugh, Social Welfare and the edict of Nantes, S. 360, Fußnote 52. Festgelegt wurde dies in den sogenannten »Geheimen Artikeln des Edikts von Nantes« (23 Artikel vom 30. April 1598, die die Details des Edikts regelten – vgl. E. Gresch, Die Hugenotten, S. 37) – hierzu siehe ausführlich: E. Benoist, Histoire de l’Edit de Nantes, Bd. 1, S. 91. 581 Siehe vorhergehende Fußnote. 582 Siehe vorhergehende Fußnote. 583 Siehe im laufenden Text weiter unten.

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Vor allem haben Legate Defizite ausgleichen können, die bei der Verteilung von Armengeldern entstanden sind, wenn die Not größer war als die zur Verfügung stehenden Mittel und die Defizite andernfalls nur durch Kreditaufnahme der Gemeindeleitung oder dergleichen hätten aufgefangen werden können.584 M. Dinges kann auf die franz.-prot. Gemeinde von Bordeaux im 17. Jh. bezogen sogar resümieren: »Die ›bourse des pauvres‹ [= (in diesem Fall: kirchengemeindliche) Gemeindearmenkasse] wurde hauptsächlich durch Legate finanziert.«585 Auf verschiedenen Ebenen und bei verschiedenen Gelegenheiten haben Pfarrer und Gemeindeleitungen auch immer wieder bewusst an diese Möglichkeit erinnert, die Existenz und Arbeit der Kirche damit zu unterstützen, insbesondere natürlich ihr Engagement für die Armen.586 Diese Legate sind Spiegel und zugleich Grundlage einer verstärkten Aktivität bzw. eines Ausbaus des diakonischen Engagements der französischen Protestanten in der hier genannten Blütephase. So konnte schon P. De F¦lice im Zuge seiner Recherchen konstatieren, dass solche Legate im ersten und zweiten Drittel des 17. Jh. ausgesprochen zahlreich sind, während sie ab den sechziger Jahren, im Zuge neuer gegen die Protestanten und ihre Kirche gerichteten Gesetze und Maßnahmen587, insbesondere durch die »D¦claration« Ludwig XIV. vom 2. April 1666 und 1. Februar 1669588, die unter anderem die königlich angeordneten

584 Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 128 u.. P. Bolle, Le Protestantisme en Dauphin¦ au XVIIe siÀcle, S. 145. 585 M. Dinges, Stadtarmut in Bordeaux, S. 446. 586 Das Consistoire von Mens beispielsweise beschließt in seiner Sitzung vom 12. Januar 1659, die zuständigen Notare zu bitten, dass sie ihre Klienten verstärkt auf die Möglichkeit und Notwendigkeit solcher Legate hinweisen. Vgl. P. Bolle, Le Protestantisme en Dauphin¦ au XVIIe siÀcle, S. 31 und Anm. 9. In Montauban beruft das Consistoire am Ende des 16 Jh. alle Notare zu einer Versammlung ein, auf der sie darum bitten, dass die Notare die Erblasser ermuntern, die Pastoren, Armen und Schüler bei der Abfassung ihres letzten Willens nicht vergessen (vgl. J. Garrison-EstÀbe, protestants du midi, S. 261 – 262). 587 Vgl. dazu besonders: J. Garrisson-EstÀbe, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 122 ff., vgl. dazu auch: E. Gresch, Die Hugenotten, S. 50 f. 588 Die »D¦claration« von 1666 umfasste wie die von 1669 gleich mehrere Einschränkungen und Maßnahmen gegen den Protestantismus (In den 49 Artikeln fanden sich u. a.: Die Beschränkung der Predigtaktivität eines Ministre auf das Kirchengebäude seiner Gemeinde (vgl. Art. I); Beschränkung der Kultusfreiheit auf die Gemeinden, die für die Zeit vor 1598 eine solche nachweisen können – andernfalls konsequente Zerstörung der Kirchen (Art. II); Aufhebung der Möglichkeit, die Anciens bzw. das Consistoire als Erben bei Legaten einzusetzen (Art XIII) usw. (vgl. Recueil de plusieurs ¦dits, S. 118 ff.). Auf der Grundlage von Art II wurden zahlreiche »temples« (protestantische Kirchen) zerstört. Die Declaration von 1669 hatte, entgegen der Einschätzung von P. De F¦lice und Ê. L¦onard einen milderen, moderateren Charakter im Vergleich zu der von 1666 (ders., Histoire g¦n¦rale du protestantisme, S. 359), ähnlich: P. Bolle, le protestantisme franÅais — la veille de la R¦vocation, S. 125 f. D. Ligou spricht sogar von einem »zweiten Edikt von Nantes« (ders., le protes-

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Zerstörungen von unzähligen »temples« (»protestantische Kirchen«) nach sich zogen589, erheblich zurückgehen und schließlich gänzlich verschwinden,590 so z. B. in Bugneing in der Nähe von B¦arn (Navarra) bereits im Jahr 1660.591 Mit dem Verweis auf das Edikt von Nantes, das den protestantischen Armen erlaubte, von den Aumúnes G¦n¦rales (»allgemeine Almosenkassen« – städtische Armenkassen) zu profitieren, wurden Legate an die Anciens bzw. Consistoires in den genannten Deklarationen von 1666 und 1669 untersagt – unter dem Vorwand, dass es unter diesen Voraussetzungen unnötig wäre, dass die reformierten Kirchen zusätzliche Institutionen überhaupt aufrechterhalten würden.592 In den ersten beiden Dritteln des 17. Jh. aber waren die Legate so zahlreich, dass dazu in den Gemeinden entsprechende Bücher mit Verzeichnissen angelegt wurden.593 Allein in Vabre-de-S¦n¦gas lag die von M. CorbiÀre darin ermittelte Zahl bei 467, was jedoch kein Einzelfall war.594 Die Erbmasse aus den Legaten konnte sowohl in Naturalien (auf dem Land verbreiteter) als auch in Geld oder Immobilien oder anderen Sachwerten bestehen.595 In den Legaten war, sofern es sich um einen großen Besitz handelte, mitunter durch die Erblasser auch festgelegt, dass der Gemeinde lediglich eine »Rente« (Auszahlung der jährlichen Rendite bzw. Zinsen) durch Anlage dieses Geldes zukam, die jedoch auch beträchtlich sein konnte.596 Die durch Legate eingenommenen Gelder wurden durch die Consistoires bzw. dazu beauftragten Diacres oder Anciens-Diacres in der Regel gewinnbringend angelegt, sofern sie nicht einem dringlichen unmittelbareren Zweck dienten.597 Die Legate mit den größeren Summen lagen nach P. De F¦lice zwischen 2000 und 4000 livres, die meisten jedoch unter 1000 livres, überwiegend zwischen 100 und 500 livres, und davon wiederum am häufigsten in der Höhe zwischen 200 und 300 livres.598 Aber selbstverständlich konnten die Summen auch wesentlich

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tantisme en France, S. 217. Wieder anders: E. Labrousse / R. Sauzet (dies., Au temps du RoiSoleil, in: Histoire de la France religieuse, Bd. 2, S. 482. Allein in den Regionen: Poitou, Basse-Guyenne und Pays de Gex wurden 21 der 23 zu jener Zeit existierenden »temples« zerstört (vgl. P. Bolle, le protestantisme franÅais — la veille de la R¦vocation, S. 126). Siehe hierzu Artikel II der »declaration« von 1666, a a. O., vgl. vorhergehende Fußnote. Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 128. Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 128. Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 128. Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 129. Vgl. M. CorbiÀre, Bull SHPF (33) 1884, S. 508 f. u. 515; vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 129. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 130 u. S. 136. Vgl. das von P. De F¦lice angeführte Beispiel eines Kapitäns mit Namen Dupuy der dem Consistoire von Faugarolles eine jährliche Rente von 1.500 livres bescherte, die auf ein Kapital von 30.000 livres zurückging (ders., Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 130). Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 141. Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 131.

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darunter liegen.599 Die Bereitschaft, die Kirche und ihre Armen zu bedenken, scheint in allen Schichten des Protestantismus verbreitet gewesen zu sein.600 Unter den für P. De F¦lice zugänglichen und von ihm untersuchten 28 Testamenten der »Êglise de Mer« in der Nähe von Orl¦ans aus der Zeit zwischen 1631 und 1669 wurden 16.000 Fr. (alte Währung) an das Pfarramt und 9.000 Fr. an die Armen der Gemeinde vererbt.601 Das ergibt etwa ein Verhältnis von 2 zu 1. Weitere Analysen bzw. Auswertungen von Legaten ergeben ähnliche Verhältnisbestimmungen oder weisen sogar ein Verhältnis von 1 zu 1 nach.602 Häufig findet sich diese Verhältnisbestimmung auch bei ein und demselben Erblasser bzw. Legat.603 Welch hohe Bedeutung den Legaten beigemessen wurde, zeigen die Beschlüsse der franz.-ref. Nationalsynode vom 1. März 1601 in La Rochelle, also nur wenige Jahre nach der Verkündigung des Edikts von Nantes (1598). In den »Reglemens touchants les legs testamentaires« hält die Synode zunächst die Freiwilligkeit und Entscheidungsfreiheit der Erblasser fest und gibt dann formale Empfehlungen (eigentlich »Reglements«) für die Personen »qui veulent faire d’exercer leur Liberalit¦ d’une maniere qui soit conforme — la Parole de Dieu, — l’Example des ChrÞtiens de la Primitive Êglise; & que les Charit¦s soient bien assur¦es, & fidelement distribu¦es selon l’intention du Donateur.«604 Die beiden Hauptverwendungszwecke sind dabei »l’entretien des Pauvres, ou du Saint Ministere de cette Êglise.«605 Wir sehen auch an dieser Stelle, dass der »Dienst an den Armen« im Bewusstsein der französischen Protestanten des 17. Jh. einen hohen Stellenwert hatte, wenn nicht sogar als das eigentliche Pendant zur Verkündigung gelten kann. Beides waren offenbar die wesentlichen Bestandteile franz.599 Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 131. 600 Dafür sprechen auch eigene in den Archives Nationales unternommene Recherchen. In der Serie TT finden sich Angaben, die weiter unten im laufenden Text erwähnt werden. 601 Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 132. 602 So die von P. De F¦lice für die Gemeinde von Sainte vorgenommene Zählung auf Grundlage der 1685 konfiszierten Güter und Kapitalien (vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 132). Vgl. auch zu andren Orten: M. Dinges, Huguenot poor relief and health care, S. 162. 603 Vgl. das Beispiel der Jehanne Segretier, die 60 livres an das Pfarramt vermacht und die gleiche Summe an die Armen der Gemeinde (siehe P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 139). 604 »die wollen, dass ihre Großzügigkeit auf eine Weise zum Zuge kommt, die übereinstimmt mit dem Wort Gottes und dem Vorbild der Christen der Urgemeinde/ersten Kirche und dass die Gaben sicher und treu gemäß der Absicht des Gebenden verwendet / ausgegeben/ verteilt werden.« (»R¦glements des legs testamentaires«, Punkt 1 – Beschlüsse der 18. Nationalsynode von La Rochelle vom 01. 03. 1601, in: J. Aymon : Actes eccl¦siastiques et civils, Bd. 1, S. 336. 605 »die Unterhaltung der Armen oder des heiligen (Verkündigungs)Dienstes dieser Kirche« (»R¦glements des legs testamentaires«, Punkt 2 – Beschlüsse der 18. Nationalsynode von La Rochelle vom 01. 03. 1601, in: J. Aymon : Actes eccl¦siastiques et civils, Bd. 1, S. 336).

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ref. Spiritualität, zumindest aber gemeindlicher Praxis.606 Eben dieses Bewusstsein spiegelt sich nicht nur in der Verlautbarung der Nationalsynode von La Rochelle, sondern auch in der Art und Weise, wie franz. Protestanten selbst ihren letzten Willen bekundet haben. Wir sahen das bereits weiter oben bezogen auf die von P. De F¦lice untersuchten Legate. M. Dinges, der franz.-prot. Legate in Bordeaux gesichtet hat, kommt dort zu einem ganz ähnlichen Ergebnis, nämlich: »Dabei wurde meist die Hälfte den Pastoren, die andere Hälfte, manchmal sogar alles, den Armen zugedacht.«607 In der Serie TT der Archives Nationales in Paris finden sich Auflistungen von Legaten, die unter den konfiszierten Gütern und Registern der franz. Protestanten aufgeführt sind. Es ist klassisch und zugleich »anrührend«, wenn dieser emotionale Begriff in einer historisch-wissenschaftlichen Forschungsarbeit überhaupt fallen darf, wie dieses Schema des Verhältnisses von 1 zu 1 (Verkündigung / Armenunterstützung) sich selbst in den einfachsten Testamenten wenig begüterter franz. Protestanten der Stadt oder vom Lande durchhält.608 Zweifellos darf man bei der Deutung der Abfassung der Legate nicht unberücksichtigt lassen, dass nach franz.-ref. Verständnis das Consistoire das zentrale Monopol über die Armenunterstützung hatte, hingegen es im Katholizismus jener Periode eine ganze Reihe unterschiedlicher sozialer Stiftungen und Vereinigungen bzw. Zwecke gab, die nicht alle einer Institution, bzw. selten der örtlichen Kirchengemeinde unterstanden. W. J. Pugh hat sich intensiver mit den katholischen und protestantischen Legaten der Städte Lyon und N„mes im 17. Jh. beschäftigt und ist auf dem Weg einer vergleichenden Analyse dabei zu interessanten Ergebnissen gekommen,609 die die obige These zur hugenottischen Spiritualität bzw. Identität und diakonischen Praxis bestätigen. Grundlage ihrer Untersuchung sind 2218 Testamente der Stadt Lyon mit einer Einwohnerzahl von ca. 100.000 und 739 Testamente der Stadt N„mes mit einer Einwohnerzahl von ca. 12.000 im 17 Jh.610 Eine erst 2010 erschienene konfessionsvergleichende Studie von Val¦rie Leclerc-Lafage, die Testamente von Montpellier betreffend, muss hier leider unberücksichtigt bleiben.611 606 Vgl. auch H. Scholl, Glaube und Spiritualität der Hugenotten, S. 18, wo er den Stellenwert der Solidarität mit den Armen in calvinischer Theologie und hugenottischer Spiritualität ganz ähnlich umschreibt: »Armenhilfe und effektive Bekämpfung der Armut, lautet die Nutzanwendung dieser Theologie und Spiritualität.« 607 M. Dinges, Stadtarmut in Bordeaux, S. 446. 608 Zu Auflistungen der angesprochenen Testamente vgl. z. B.: A.N.: TT 261, Osse en Bearn, fol. 333 – 335,15. April 1683. 609 Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 479 – 504. 610 Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 480. 611 Vgl. Val¦rie Leclerc-Lafage: Montpellier au temps des troubles de Religion. Pratiques tes-

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Von den von W. J. Pugh oben genannten untersuchten Testamenten enthalten im Schnitt nur 54 Prozent der Legate von Lyon karitative Zweckbestimmungen, hingegen 91 Prozent der Legate von N„mes diese Zweckbestimmung haben.612 Bei genauerer Betrachtung fällt dabei auf, dass von den Legaten in Lyon 87,4 Prozent der protestantischen Legate eine karitative Zweckbestimmung enthalten, hingegen nur 52 Prozent der katholischen Legate.613 Was N„mes betrifft, so differieren die Konfessionen dort nur minimal. Sie liegen beide im relativ hohen Bereich: 90 Prozent bei den protestantischen und 92 Prozent bei den katholischen Legaten für karitative Zwecke.614 Im Verlauf des 17. Jh. variiert der Anteil der karitativen Zweckbestimmungen der katholischen Legate von Lyon nach oben und unten und ist, sofern er ansteigt, hauptsächlich auf wirtschaftliche Krisen – so z. B. 1630 – und neue karitative Aktivitäten wie die des Húpital de la Charit¦ (Lyoner Vorbild der Húpitaux G¦n¦raux) oder der Compagnie du Saint-Sacrement zurückzuführen.615 Hingegen sind An- und Abstieg der protestantischen Lyoner Legate mit karitativem Zweck im Verlauf des 17. Jh. nach W. J. Pugh eher abhängig von der gegenüber den Protestanten ausgeübten Politik als von den wirtschaftlichen Krisen selbst.616 Die protestantischen Legate beziehen sich auch nicht auf eine solche Bandbreite karitativer Einrichtungen wie die katholischen Legate, sondern: »the overwhelming majority of Protestant charitable bequests went to the Reformed church for its poor«617, also für die gemeindliche Armenfürsorge. Das Edikt von Nantes erlaubte, wie oben erwähnt, solche Legate für die Armen der Reformierten Kirche. Aber der katholische Klerus und die Parlamente insistierten darauf, dass solche Legate an die öffentlichen Hospitäler gehen sollten, die für die Armen beider Konfessionen sorgten.618 1615 kämpfte der königliche Anwalt der Lyoner Aumúne G¦n¦rale (»allgemeine Almosenkasse« – städtische Armenkasse) darum, dass ein nicht unbeträchtliches Legat, das für die Armen der Reformierten Kirchengemeinde bestimmt war, der Aumúne G¦n¦rale zu-

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tamentaires et Confessionalization (1554 – 1622), (Vie des huguenots, 52), Paris 2010. Die Studie sei hier der Vollständigkeit halber erwähnt, aber muss hier leider unberücksichtigt bleiben, weil sie mir zum Zeitpunkt der Endabfassung des Manuskripts nicht zugänglich gemacht werden konnte. Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 482. Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 482 und 484. Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 482 und 484. Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 483 – 491. Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 483. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 493. Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 493.

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geschlagen würde.619 Das minimierte nicht wesentlich die Anzahl der protestantischen Legate mit karitativem Zweck, aber einige der Erblasser nahmen die Empfehlung des Consistoire von Lyon an, den Zweck besser zu benennen mit »für den allernötigsten Bedarf der Kirche«, so dass er nicht zu reklamieren war für öffentliche Einrichtungen der Hospital- und Armenpflege, aber von dem Consistoire gleichwohl für die Armen genutzt werden konnte.620 Dagegen intervenierte der katholische Klerus mit dem Argument, dass diese Legate in Wirklichkeit für die Armen gedacht seien, da die Ministres von einem anderen Posten bezahlt würden.621 Sie verkannten damit aber sowohl das Selbstverständnis franz.-ref. Spiritualität, das zwischen beidem eine Einheit sah, also Verkündigung nicht ohne soziale Tat und soziale Tat nicht losgelöst von der Verkündigung verstand (s. o.), als auch die Realität franz.-ref. Gemeinden, die manchmal nicht in der Lage waren, ihre Ministres angemessen bezahlen zu können und dann dankbar waren, wenn Legate neben den üblichen Kollekten aushelfen konnten.622 Dennoch hat 1626 der König das Recht der Protestanten bestätigt, Legate für ihre eigenen Armen zu hinterlegen. Aber 1637 (Richelieu war seit 1629 im Amt) wurde von königlicher Seite Protestanten verboten, Notare oder Prokuristen zu werden (erstes Berufsverbot), so dass die Erblasser der Willkür bzw. dem good will katholischer Notare bei der Abfassung des »letzten Willen« ausgesetzt waren.623 Die Notare gehörten zu den Berufen der drei Berufsgruppen, die besonders die Aufmerksamkeit des Königs auf sich zogen, wo es darum ging, den Protestantismus zu schwächen und später schließlich ganz zu vernichten.624 Die Loyalität der Protestanten gegenüber dem Königshaus während der Fronde (Adelsaufstand) mag zwar verschiedene königliche Verlautbarungen nach sich gezogen haben, in denen sie ihrer Rechte vergewissert wurden,625 aber es konnte Parlamente nicht davon abhalten, Legate, die eigentlich für die Armen der Reformierten Kirche gedacht waren, für die öffentlichen Hospitäler zu reklamieren und ebenso wenig die bereits erwähnten königlichen D¦clarations von 1666 und 619 Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 493. 620 Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 493. 621 Vgl. E. Benoist, Histoire de l’Edit de Nantes, Bd. 3, S. 76 u. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 493. 622 Um die Sicherstellung der Bezahlung der Pastoren und auch der Versorgung im Alter waren die Gemeinden zwar bemüht, aber sie war keineswegs immer garantiert und konnte auch schon mal aus Zahlungsunfähigkeit ausbleiben (vgl. M.-E. Richard, La vie des protestants franÅais, S. 43). 623 Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 493 f. 624 Zu diesen Berufsgruppen zählten die Berufe des Justizwesens, des Gesundheitswesens und die leitenden Berufe aus dem Handels-Produktions- oder Beamtenbereich, vgl. Ph. Joutard, Les professions de la sant¦, S. 2. 625 1643, 1649, 1650, 1652 (vgl. E. Benoist, Histoire de l’Êdit de Nantes, Bd. 3, S. 3 – 4, 37 – 38).

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1669 verhindern, die Legate an die Anciens in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Consistoire grundsätzlich untersagten.626 Auf Lyon bezogen ist der Rückgang der protestantischen Legate mit karitativer Zweckbestimmung im letzten Drittel des 17. Jh. zwar auch wahrnehmbar627, aber dennoch nicht so eklatant, wie ihn P. De F¦lice allgemein konstatieren kann, was wahrscheinlich auf verschiedene Faktoren zurückzuführen ist, die uns hier nicht weiter interessieren müssen, weil sie nicht Untersuchungsgegenstand für diese zweite Phase sind.628 Die Tatsache, dass die protestantischen Legate von Lyon teils auch die Aumúne G¦n¦rale (»allgemeine Almosenkasse« – städtische Armenkasse) mit bedacht haben,629 deutet darauf hin, dass sich Protestanten nicht grundsätzlich im Gegenüber oder in Konfrontation zu den öffentlichen Einrichtungen der Armenhilfe verstanden haben, sondern die eigene gemeindliche Armenhilfe nur deshalb vorwiegend unterstützt haben, weil eine Beeinflussung, Gewissensbedrängung und Benachteiligung ihrer Armen in den öffentlichen Einrichtungen zu befürchten war und gemäß W. J. Pugh wohl auch vorkam630. Der Anteil der protestantischen Legate, die die Aumúne G¦n¦rale bedacht haben, liegt mit 25 Prozent übrigens nur unwesentlich unter dem der katholischen Legate, die nur 28 Prozent ausmachen.631 In der Tat hatte die katholische Macht in Lyon nur bedingten Erfolg, die Verfügungen in den Legaten, die Zeichen protestantischer Mildtätigkeit waren, zu stoppen.632 Aber wesentlicher als diese Feststellung, die letztlich auf die Hartnäckigkeit und starke spirituelle Identität der franz.-prot. Minderheit verweist, erscheint mir die Tatsache, dass die gemeindliche Armenfürsorge bei den katholischen Legaten praktisch gar nicht begegnet. W. J. Pugh erwähnt sie jedenfalls mit keinem Wort.633 Das hat eine Logik, denn sie war nicht vorhanden. Sie wurde lediglich indirekt durch die Kommunitäten und Verbindungen der katholischen Reform und Gegenreformation geleistet, die entsprechend in den Legaten bedacht wurden.634 Gleichwohl ist auffallend, dass dennoch nur

626 Diesem Resümee von W. J. Pugh ist zuzustimmen (vgl. dies., Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 494). 627 Vgl. Schaubild 1, »Lyon Protestants« bei W. J. Pugh, Testamentary Charity in SeventeenthCentury Lyon and N„mes, S. 484. 628 Zu den näheren Umständen vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 494 f. 629 Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 494. 630 Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 488. 631 Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 495. 632 Mit W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 495. 633 Vgl. ebd. 634 Z. B. die Compagnie du Saint-Sacrement, die filles de la Charit¦ von Vincent de Paul« oder die Dames de la Charit¦ (vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 489 – 491).

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52 Prozent der katholischen Legate von Lyon überhaupt einen karitativen Zweck haben. Vergleicht man diese Zahl (52 Prozent) mit den katholischen Legaten in N„mes, deren Anteil mit karitativer Zweckbestimmung bei ca. 92 Prozent liegt, und stellt die protestantischen Legate von Lyon (87,4 Prozent) und N„mes (90 Prozent) dem gegenüber, so bleibt die Frage, worin die Kontinuität bzw. der etwa gleich hohe Anteil bei den protestantischen Vermächtnissen begründet liegt und warum die Zahlen der katholischen Vermächtnisse so stark voneinander abweichen. Was war also gleich in N„mes und was war anders? Es muss hier zunächst festgehalten werden, dass sowohl Lyon als auch N„mes für ihre Mildtätigkeit und Armenfürsorge bekannt waren. Entgegen dem, was W. J. Pugh meint635, die hier einen Unterschied zwischen Lyon und N„mes sehen will, hatten beide Städte diesbezüglich ein ähnlich gutes Image – Lyon durch ihr Aumúne G¦n¦rale (»allgemeine Almosenkasse« – städtische Armenkasse) und ihr Húpital de la Charit¦ (beide Einrichtungen wurden in ganz Frankreich nachgeahmt); N„mes vor allem durch seine städtische und gemeindliche ambulante Armenpflege, die der Stadt ähnlich wie in Straßburg und Genf ein völlig neues Antlitz verlieh. Im Blick auf die testamentarischen Verfügungen von N„mes lässt sich feststellen, dass die Legate mit einer karitativen Zweckbestimmung auf beiden Seiten immer mehr ansteigen während die Rivalität beider Konfessionen auf der Ebene der Stadtführung und der Armen- und Hospitalpflege immer stärker wird. Den Höhepunkt bilden die Jahre, in denen die Protestanten von 1653 bis 1667 über ein eigenes Hospital verfügten. In dieser Zeit erreichen auf beiden Seiten die Legate mit einer karitativen Zweckbestimmung einen hundertprozentigen Anteil. Die Rivalität wird weiterhin propagiert und intensiviert durch die ausgesprochen antiprotestantische Haltung des dortigen Bischofs Cohon und die Gründung seines Maison de la providence (»Haus der Vorsehung« – Einrichtung für die Bekehrung und Umerziehung protestantischer (Armen-) Kinder)636. So resümiert W. J. Pugh mit Recht: »It is evident that one factor in the high proportion of charity in N„mes wills was the rivaltry between the two faiths and the efforts of both to win over the poor by charity.« In der Tat hat eben auch diese Rivalität oder genauer konfessionelle bzw. konfessionalistische Konkurrenz das diakonische Engagement der Protestanten jener Phase erweitert bzw. belebt. Aber sie hat es hier und da auch erschwert, denn die Wirkung war in N„mes 635 Gegen W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 495. Sie setzt Lyon von N„mes als eine Stadt ab, die mit ihrer Mildtätigkeit und Armenfürsorge besonders herausstach (ebd.). 636 Vgl. R. Debant, Une oeuvre catholique d’assistance, S. 59.

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schließlich die, dass die Auseinandersetzung im Hospitalbereich immer mehr in die Isolation geführt hat bzw. zurück in die ambulante Armenpflege und die Armen in den öffentlichen Hospitälern nach wie vor schutzlos ausgeliefert sein ließ gegenüber dem Bekehrungseifer der katholischen Hardliner und Fundamentalisten.637 So gesehen waren die Testamente in N„mes sicher der Spiegel eines Machtkampfes und zugleich eines der dafür notwendigen Instrumentarien. Aber ergänzend und relativierend ist im Blick auf das obige Zitat von W. J. Pugh zu sagen, dass sich der hohe Faktor bei den hugenottischen Legaten nicht nur von dieser Konkurrenzsituation herleiten kann, denn in Lyon liegt ihr Anteil ebenso recht hoch. Es erklärt lediglich, weshalb der Anteil der katholischen Legate mit karitativer Zweckbestimmung in N„mes so groß ist. Sie reagieren auf eine protestantische Stadtmehrheit und deren Investment in die Armen- und Hospitalfürsorge. In Lyon gab es das nicht. Warum liegt der Anteil der protestantischen Legate mit karitativer Zweckbestimmung dennoch aber auch in Lyon so hoch und der der katholischen Legate im Vergleich dazu sehr viel niedriger? W. J. Pugh sucht schließlich selbst nach Erklärungen für den vergleichsweise geringen Anteil katholischer Legate mit karitativer Zweckbestimmung in Lyon. Der Hinweis von W. J. Pugh darauf, dass Lyon eine kosmopolitische, viel größere und damit anonymere Stadt als N„mes war, bei der mittelalterliches Denken längst aufgebrochen war,638 würde zwar vielleicht erklären, weshalb der Anteil der katholischen Legate mit karitativer Zweckbestimmung so niedrig ist. Demzufolge müsste der protestantische Anteil in Lyon dann aber auch wesentlich niedriger sein. Weiter führt W. J. Pugh an, dass der Erfolg der Arbeit der Aumúne G¦n¦rale (»allgemeine Almosenkasse« – städtische Armenkasse) ironischer Weise dazu geführt habe, dass die Legate mit karitativer Bestimmung abgenommen hätten und dies somit ein Grund für die niedrigere Quote im Vergleich zu N„mes sei. Aber auch das kann nur wenig überzeugen, sagt W. J. Pugh doch selbst an anderer Stelle, dass der Anteil der Legate, die das Aumúne G¦n¦rale bedacht haben, bei Protestanten und Katholiken gleichermaßen bei etwa 25 Prozent liegt (s. o.). Wenn er also in etwa gleich bei beiden Konfessionen ist, kann der von W. J. Pugh angeführte Effekt kaum eine Rolle in Lyon gespielt haben. Die von W. J. Pugh angeführten Erklärungen können kaum überzeugen. Schließlich dreht sie sich m. E. etwas im Kreis, wenn sie auf N„mes bezogen wiederholt: »Both (Catholics and Protestants) sought to control poor relief in order to win or keep the loyalty of the poor« und auf Lyon im Vergleich dazu 637 Vgl. die ausführliche Darstellung über das Húpital im laufenden Text weiter unten: Kap. 2.3.6.3. 638 Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 502.

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konstatiert: »In Lyon, on the other hand, the Protestants were never a large enough minority to seriously challenge or influence the Catholics. They could only seek to protect their own poor from the Catholic pressures associated with Catholic controlled public relief.« Das hieße doch mit anderen Worten, dass es fast nur dort hohe Raten von katholischen Legaten mit karitativer Zweckbestimmung gibt, wo es eine entsprechend starke protestantische Konkurrenz gibt. Nähme man das ernst, würde das bedeuten, dass der Stellenwert karitativer Zweckbestimmungen bei katholischen Testamenten jener Zeit sich grundsätzlich eher auf einem durchschnittlichen Level bewegte, wo entweder keine Konkurrenz existierte oder aber keine besonderen karitativen Bewegungen und Kommunitäten existierten, was sich durch andere Testamentanalysen639 zu bestätigen scheint. Das ist das eigentliche, unausgesprochene Ergebnis dieser Untersuchung, das darin begründet liegt, dass der Identifikationsgrad protestantischer Erblasser mit ihrer gemeindlichen Armenfürsorge und »ihren Armen« ein ganz anderer war als der katholischer Erblasser und nicht zuletzt darauf basierte, dass die franz.-prot. gemeindliche Armenfürsorge zu jener Zeit völlig intakt war und einen hohen Stellenwert hatte, der nachhaltige Wirkung haben sollte.640 Auch in Lyon gab es zwar ab ca. 1630 für die Katholiken durch die dort aktive »Compagnie du Saint-Sacrement« verstärkte Anreize, Legate mit karitativen Zwecken zu hinterlegen. Das begrenzte sich jedoch eher auf die oberen Schichten, denn diese Verbindung »incited especially the rich to provide physical relief to the poor for their spiritual benefit.«641 W. J. Pugh kann auf Grundlage ihrer Daten feststellen, dass die Legate mit karitativer Zweckbestimmung in den unteren Schichten der Protestanten mindestens so verbreitet sind wie in den höheren, hingegen es bei den Katholiken in Lyon so aussieht, dass der prozentuale Anteil der Legate mit karitativer Zweckbestimmung bei den wohlhabenderen Katholiken verbreiteter ist als bei den unteren Schichten.642 Besonders auffällig ist das vor dem Hintergrund, dass die traditionelle katholische Theologie, die gerade im Zusammenhang mit der karitativen katholischen (Gegenreformations-)Bewegung wieder umso mehr bedient wurde, eigentlich viel eher dazu geeignet gewesen sein muss, überhaupt das Individuum zu motivieren, durch Wohltat an den Armen doch noch die Tür zum Himmel öffnen zu können.643 Dieses unterschiedliche Verhalten innerhalb 639 Vgl. M. Vovelle, Pi¦t¦ baroque, S. 245, 357 640 Selbst noch im Bewusstsein späterer »Nouveaux convertis« (zur katholischen Konfession Neu-Konvertierte), wie M. Vovelle anschaulich aufzuzeigen weiß (vgl. ders., Pi¦t¦ baroque, S. 560 f.). 641 W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 503. 642 Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 498 f. 643 Dazu im Teil über Theorie und Predigtpraxis: Kap. 3.4.9 (Blick über den Tellerand hinaus).

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der gleichen Schichten interpretiert W. J. Pugh als ein Zeichen dafür, dass die unteren protestantischen Schichten es sehr ernst nehmen, dass es eine Verpflichtung aller ist, den Armen zu helfen.644 Das hat in der Tat mit franz.-prot. Identität zu tun, bei der die Gemeinde als Lernfeld der communio gelten kann, in der sich alle begegnen und aneinander Anteil haben – auch arm und reich – und bestätigt einmal mehr den oben benannten stärker ausgeprägten Identifikationsgrad. M. Dinges interpretiert die Untersuchungen und Ergebnisse zu den Legaten von W. J. Pugh dahingehend, »…dass die Protestanten regelmäßiger gaben, weil sie sich dazu stärker moralisch verpflichtet fühlten.«645 Diese Schlussfolgerung bleibt m. E. zu sehr an der Oberfläche. »Moralische Verpflichtung« bedarf immer einer tieferen Anbindung, wenn sie eine motivierende und lebensrelevante Rolle spielen soll. Die moralische Verpflichtung konnte in diesem Fall nur deshalb eine Rolle spielen, weil sie theologisch eingebunden, wie auch in der Spiritualität und im Denken der Hugenotten selbst stark verankert war. Immerhin handelte es sich um eine freiwillige Verfügung, die erst nach dem Tod relevant wurde. Moralische Verpflichtungen, die über den Tod hinaus reichen, bedürfen einer starken Motivation.

2.3.3 Prêts (Kredite) als Möglichkeit des Existenzaufbaus und der Existenzsicherung Die Legate trugen, wie oben beschrieben zur Kapitalbildung der franz.-ref. Gemeinden und ihrer Armeneinrichtungen bei. Das zog nach sich, dass diese und andere Einnahmequellen (sonntägliche Kollekten etc.) letztlich die Basis dafür lieferten, dass der Geldverleih, insbesondere der Geldverleih an Bedürftige und Notleidende als Form der Hilfe zur Selbsthilfe intensiviert werden konnte. Den Geldverleih unter dem Begriff der prÞts (»Leihgaben«/ »Kredite«) zu diesem Zweck gab es zwar bereits in der ersten Phase, aber solche Leihgaben konnten nun häufiger geleistet werden, weil die finanzielle Basis dafür gegeben war. Die »prÞts« als diakonische Maßnahmen begegnen uns auch wieder im Refuge in den Listen des Berliner Diaconat646. Der prÞt konnte offenbar mit Zinsen oder ohne Zinsen vergeben werden. Das hing von der Situation des Betreffenden bzw. dem Grad seiner Bedürftigkeit ab. 644 Vgl. W. J. Pugh, Testamentary Charity in Seventeenth-Century Lyon and N„mes, S. 499. 645 M. Dinges, Stadtarmut in Bordeaux, S. 446. 646 Das Diaconat war eine Einrichtung der franz.-ref. Gemeinde Berlins – ein Fachausschuss des Consistoire, der mit besonderen Kompetenzen ausgestattet war und insbesondere die gemeindliche offene Armen- und Krankenunterstützung organisieren und gewährleisten sollte (vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin).

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Das galt nicht nur für die Reformierte Gemeinde von Sainte-Marie-aux-Mines im 17 Jh647, sondern wurde grundsätzlich so auch in anderen franz.-ref. Gemeinden gehandhabt.648 Entscheidungsträger waren die Consistoires bzw. dazu autorisierte Anciens oder Diacres. Eine Entscheidung auf der Nationalsynode in Montauban vom 15. Juni 1594, also noch ganz am Beginn der Blütephase protestantischer Diakonie und gerade als sich eine hoffnungsvolle Perspektive durch das bevorstehende Edikt von Nantes ergab, lieferte dafür die Grundlage: «Quant il y aura dans une Êglise quelque somme notable de deniers pour les pauvres, que l’urgente necessit¦ n’bligera pas d’emploier pour leur subvention, les Diacres, par l’avis du Consistoire, pourront en faire quelque pret — des gens solvables, pour faire valoir cet argent — la plus grande utilit¦ des pauvres, en suivant l’ordonnance du Roi, & les regles de la Charit¦ dans ces occasions: — la charge n¦ansmoins qu’on le puisse retirer promptement, en cas de necessit¦.»649

Selbst, wenn dieser Beschluss tatsächlich rückgängig gemacht wurde, wie J. Garrisson behauptet,650 bestand die Praxis offenbar lange fort. Das bestätigt der »Estat des biens des Cy deuans Consistoires dela R.P.R. du diocese d’Uzes« (»Auflistung der (konfiszierten) Güter der vormaligen Consistoires der R.P.R. der Diözese von UzÀs«) vom 10. Juli 1684, wonach ein gewisser Raymond Riynaud als »debiteur de largent donn¦ aux pauures [sic.]« (»Schuldner von Geld, das an die Armen vergeben wird«) genannt wird.651 Auch M. Dinges, der 647 Diese Information entnehme ich einem Expos¦, das mir freundlicher Weise der damalige Archivleiter von Strasbourg zur Verfügung gestellt hatte und das sich auf einen Vortrag bezieht, den Michelle Lüdemann-Magdelaine auf Grundlage ihrer Archivrecherchen zur gleichnamigen Gemeinde unter dem Titel »L’assistance — Sainte-Marie-aux-Mines dans la paroisse r¦form¦e franÅaise au XVII e siÀcle, d’aprÀs les registres de d¦lib¦rations du Consistoire« am 19. März 1988 in den Archives d¦partementales du Haut-Rhin in Colmar gehalten hat. 648 Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit der Protestantischen Kirchen in Frankreich, S. 67 unten und S. 68 oben. 649 «Wenn die Armengelder einer Kirche / Gemeinde eine nennenswerte Höhe erreicht haben und sie nicht dringend aufgrund irgendeiner Notsituation für deren Unterhalt verwendet werden müssen, können die Diakone aufgrund der Anweisung des Consistoire, Kredite an zahlungsfähige Personen vergeben, um das Geld zum noch größeren Nutzen der Armen zu vermehren/arbeiten zu lassen, indem sie dabei den Gesetzen des Königs und dem, was die Mildtätigkeit / Nächstenliebe gebietet, Folge leisten, und zwar unter der Maßgabe, dass man sie nichtsdestoweniger trotz im Notfall schnell zurückerhält.» (J. Aymon, Actes eccl¦siastiques et civils, Bd. 1, Beschluss der 13. Synode in Montauban, 15. 06. 1594, S. 180.) Nach J. Garrisson-EstÀbe ist dieser Beschluss auf der dann folgenden Synode in Saumur am 3. Juni 1596 wieder rückgangig gemacht worden (vgl. dies., Protestants du Midi, S. 261 Die eigene Lektüre konnte das jedoch anhand der Stellenangabe von J. Garrisson-EstÀbe (S.N. Saumr, 1596, S. 200, art. 5 des MatiÀres G¦n¦rales) nicht bestätigen (vgl. J. Aymon, ebd.). 650 Siehe vorhergehende Fußnote. 651 Siehe: A.N.: TT 273, »Estat des biens des Cy deuans Consistoires dela R.P.R. du diocese d’Uzes«, fol. 764/765.

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schwerpunktmäßig zur offenen Gemeindearmenfürsorge der reformierten Gemeinde von Bordeaux gearbeitet und sich in einer Synthese hugenottischer Armenfürsorge und Gesundheitspflege des 16. und 17 Jh. versucht hat, bestätigt die Sicht, wonach der Geldverleih aus den »deniers des pauvres« bei guter Kassenlage weiterhin praktiziert wurde.652 S. Mours, ein echter Kenner der Geschichte des franz. Protestantismus, formuliert auf das soziale Engagement des franz. Protestantismus im 17. Jh. und die prÞts bezogen: »Pour ¦viter aux indigents de tomber entre les mains d’usuriers avides, le Consistoire organise un service de prÞts.«653 Damit bezieht er sich auf die Möglichkeit zinsloser (!) Darlehen für Bedürftige, die eine weitere Verschuldung und Verarmung durch die Zinsenspirale ausschließen sollten und in diesem Grundsatz auf die sozialethischen Positionen J. Calvins zur Zinsfrage zurückgehen.654 Das galt vor allem für Kleinkredite, die manchmal eher den Charakter von »Vorschüssen« hatten, aber absolut notwendig waren für die Reintegration im Arbeits- oder Erwerbsleben bzw. für die Gründung einer Firmenexistenz, eines Gewerbes oder den Erhalt des Arbeitsplatzes durch den Erwerb von Arbeitsmaterial etc., wie sich etwa für die Gemeindearmenfürsorge in Bordeaux nachweisen lässt.655 Die Beschaffung von Arbeitsmitteln und Werkzeugen spielte auch nach den Angaben von M. Naert auf die Region von Calais bezogen eine große Rolle in der dortigen franz.-prot. Gemeindearmenfürsorge.656 S. Mours benennt ein paar anschauliche Beispiele aus dem Alltag anderer Regionen franz.-prot. Gemeindearmenfürsorge, die sich, ebenso wie in Bordeaux oder in der Region Calais, auf den Bereich des Arbeitslebens beziehen. So wurde einer Näherin ein prÞt gewährt, um Stoff (Leinen) zum Nähen zu kaufen, einer anderen Bedürftigen für den Erwerb eines Spinnrads und einer weiteren Person, um einen Schubkarren zu finanzieren.657

652 »Synodal prohibitions notwithstanding, the practice of loaning money assigned for poor continued throughout the seventeenth century as there was frequently a surplus in the bourse des pauvres.« (M. Dinges, Huguenot pour relief and health care, S. 164. 653 »Um zu vermeiden, dass die Bedürftigen in die Hände von gierigen Geldverleihern fallen, organisiert das Consistoire das Angebot eines Geldverleihs.« (S. Mours, Le protestantisme en France au XVIIe siÀcle, S. 99). Das im Singular geschriebene Consistoire wird hier von S. Mours repräsentativ gebraucht. 654 Vgl. weiter unten: Kap. 3.1.6 (Calvin zu Geld, Zins und Wucher). 655 Vgl. M. Dinges, Stadtarmut in Bordeaux, S. 450. 656 Vgl. M. Naert, Calais, S. 441. 657 Vgl. S. Mours, Le protestantisme en France au XVIIe siÀcle, S. 99

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2.3.4 Lehrstellenvermittlung, Lehrlingsunterstützung und Waisenfürsorge »Arbeit statt Bettel« war ein protestantisches Grundprinzip. Aber nicht jede Arbeit bedeutete auch ein halbwegs gesichertes Einkommen. Um überhaupt dahin zu gelangen, den Mindesbedarf für den eigenen Lebensunterhalt zu decken, bedurfte es einer (guten) Ausbildung. Auch die Lehrstellenvermittlung und Lehrlingsunterstützung der Hugenotten gehörte so gesehen zu den Präventivmaßnahmen658 im Bereich der Arbeitswelt zur Überwindung bzw. Verhinderung von Armut und Hunger. Sie diente ebenso wie die oben genannten prÞts demselben Ziel: Aufhebung der Armut. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen waren Waisen, uneheliche Kinder oder entstammten armen Familien, die auf die Vermittlung und Unterstützung durch das Consistoire angewiesen waren. Die Lehrstellenvermittlung und Lehrlingsunterstützung gehörte bereits in der ersten Phase zum festen Bestandteil der franz-prot. Gemeindearmenpflege659, aber sie entwickelte sich nun in der Weise weiter, dass sie auf unterschiedlichen Ebenen bzw. von unterschiedlichen Institutionen vollzogen wurde. Neben die Gemeindearmenpflege traten nun spätestens unter den Bedingungen des Edikts von Nantes, das allen Armen gleich welcher Konfession eine unterschiedslose Aufnahme und Behandlung in den öffentlichen Armeneinrichtungen versprach, die öffentlich-städtischen Armenbüros wie die bureaux des pauvres oder Aumúnes G¦n¦rales und die Hospitäler als Träger hinzu. Überall dort waren auch Protestanten engagiert oder betroffen. Die Waisen, die zu den angesprochenen unterstützten Gruppen gehörten, standen nach S. Mours im 17. Jh. als solche im Focus franz.-prot. diakonischen Engagements, insbesondere der Gemeindearmenpflege.660 Auf die Region von Calais bezogen kommt M. Naert ebenso zu diesem Ergebnis.661 Es gab zwar auch in jener Zeit keine Waisenhausgründungen662, die auch unter den Bedingungen des Ediktes von Nantes kaum möglich gewesen wären, da es sich in solchen Fällen um ein Hospital oder eine Milde Stiftung gehandelt hätte, die der Autorisierung durch den König oder den katholischen Klerus bedurft hätte (s. o.). Auch sind uns keine Waisenhäuser überliefert, die illegal errichtet worden wären, aber die ambulante Waisenfürsorge war darum umso wichtiger : Die Unterbringungen in Familien oder bei anderen Privatpersonen und Nutzung des

658 659 660 661 662

Vgl. auch J. Garrisson-EstÀbe, Protestants du Midi, S. 260. Siehe oben S. 61 f. Vgl. S. Mours, Le protestantisme en France au XVIIe siÀcle, S. 99. M. Naert, Calais, 443. Die stationäre gemeindliche Armen- und Krankenfürsorge existierte praktisch nicht, ebenso wenig Waisenhäuser – siehe weiter oben, Kap. 2.2.2.13.

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nachbarschaftlichen Hilfsnetzes663, die kostenlose Schulausbildung und die letztendliche Vermittlung in Lehrstellen und damit verbundene weitere Unterstützungen bildeten ein Ganzes,664 bei dem Letzteres nur ein Teil einer umfassenden individuellen Fürsorge war. Je nach Größe und Möglichkeit vor Ort, wurde diese Begleitung im Laufe der Zeit mehr und mehr perfektioniert, insbesondere die Lehrstellenvermittlung selbst, die auch nach M. Dinges in Bordeaux eine große Rolle gespielt und dort mit anderen Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung oder Arbeitsplatzsicherung ca. 30 Prozent der Interventionen der Gemeindearmenpflege ausgemacht hat.665 In N„mes, das mit ca. 12.000 Einwohnern nur eine mittelgroße Stadt war, oder aber in Städten wie Lyon und Bordeaux oder andernorts waren dabei die Beziehungen der Hugenotten in Handel, Manufakturwesen, Handwerk und Verwaltung von Vorteil.666 Es ist offenkundig, weshalb diese Gruppe und insbesondere diese Intervention eine solche Relevanz im hugenottischen diakonischen Engagement des 17. Jh. hatte: Zum einen gehören die Waisen neben den Witwen seit biblischen Zeiten zu den Ärmsten der Armen. Sie sind aber zum Andern als Vertreter der jungen Generation auch gleichzeitig potentielle Hoffnungs- und Zukunftsträger. Als Minderheit mussten die franz. Protestanten sich bemühen, eine Armen- und Waisenfürsorge zu betreiben, die sowohl die Identität der betroffenen Personen als auch ihre kollektive Identität als franz. Protestanten stärkte und förderte und umgekehrt, niemanden bewegte, zu konvertieren, weil er oder sie dort eher in den Genuss von Unterstützung und angemessener Hilfe gekommen wäre.667 Hier spielte dann auch der konfessionalistische Wettlauf in den Bereich der Armenunterstützung von Kindern und Jugendlichen, insbesondere von Waisen hinein. Für die protestantischen Gemeinden bedeutete das im Konkreten, dass sie vor allem dort, wo sie, wie im Fall des Bischofs von N„mes, zurecht befürchten mussten, dass über die öffentlichen Hospitäler oder aber Armenkästen, einseitiger Einfluss, also Bekehrungsversuche ausgeübt würden,668 versuchten, die betroffenen Kinder oder Waisen dem Zugriff zu entziehen und sich bemühen mussten, eine mindestens ebenso effektive Hilfe anzubieten. Dazu war das System der Unterbringung in einem Privathaushalt, des kostenlosen Schulun663 Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 113; P. Bolle, Le Protestantisme en Dauphin¦ au XVIIe siÀcle, S. 145; vgl. M. Dinges, Huguenot poor relief and health care, S. 169, 173, 664 So auch sehr schön mit Beispielen aufgezeigt bei M. Naert, Calais, S. 443. 665 Vgl. M. Dinges, Stadtarmut in Bordeaux, S. 450. 666 Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2. S. 652; W. J. Pugh, Social Welfare and the Edict of Nantes, S. 350, 355; M. Dinges, Stadtarmut in Bordeaux, S. 450; M. Naert, Calais, S. 444. 667 Ähnlich M. Dinges: »It was a question of maintaining the community’s strength.« (ders, Huguenot poor relief and health care, S. 168). 668 Vgl. R. Debant, Une oeuvre catholique d’assistance, S. 59 – 72.

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terrichts und der Vermittlung in eine Lehre über das Netz der Kontakte der Kirchengemeinde, insbesondere des Consistoire selbst, nach wie vor dort naheliegend bzw. attraktiv oder eine gute Alternative, wo sie nicht über die Macht oder ausreichend Einfluss in den öffentlichen Hospitälern oder Armenbüros verfügten. Das war in vielen, wenn nicht in den meisten Orten der Fall, denn auch in einigen Orten, wo sie zuvor noch dominierten, schwand ihr Einfluss und änderten sich viele städtische Machtverhältnisse nach dem Frieden von Alais bzw. dem Gnadenedikt 1629. Das betraf besonders den Süden. Deshalb legten die Consistoires auch Wert auf eine Unterbringung der Armenkinder und Waisen in Familien oder bei anderen Privatpersonen und in Lehrstellen bei vertrauenswürdigen und auch religiös bzw. konfessionell gefestigten Persönlichkeiten.669 Ph. Chareyre hat bei seiner Lektüre der Protokollbücher des Consistoire von N„mes die Zahlen ermittelt, wie häufig konkrete Lehrstellenvermittlungen Thema waren. Er wollte damit lediglich darlegen, welch hohen Stellenwert grundsätzlich diese Form der sozialen Intervention in der Gemeindearmenfürsorge von N„mes gespielt hat.670 Die von ihm ermittelten Zahlen sprechen aber bei genauerer Betrachtung auch für die oben dargelegten Zusammenhänge. In Zeiten, wo das öffentliche Hospital noch in protestantischer Hand war, bewegten die Zahlen sich auf einem zunehmend niedrigeren Bereich. In Zeiten, wo mehr und mehr der Kampf um den konfessionellen Einfluss im Hospital entbrannte bis hin zur Übereignung des öffentlichen Hospitals an den katholischen Klerus im Jahr 1654 (s. u.) und zur Gründung eines eigenen protestantischen Hospitals, stiegen die Zahlen mehr und mehr an.671 Wie sah es bezüglich der Waisen und der Lehrstellenvermittlung in Hospitälern aus, in denen die Protestanten die Leitung hatten bzw. dominierten? Die Leitung des öffentlichen Hospitals Saint-Barthel¦my von La Rochelle, das 1620 in protestantischer Hand war und in dem unter anderem auch Waisen untergebracht waren,672 versuchte vordringlich, wie es das franz.-prot. Grundprinzip war, nahestehende Verwandte einzubinden, um die Kosten für die Unterbringung im Hospital mitzutragen oder gar selbst für sie zu sorgen.673 Wo das nicht gewährleistet werden konnte, übernahm sie selbst die Kosten.674 Sodann 669 Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 113. 670 Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 652. 671 Vgl. die Tabelle »Nombre de Cas de dot et d’apprentissages abord¦s au cours des d¦liberations du Consistoire« bei Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 652. 672 Es handelte sich bei den Bewohner/innen des Hospitals um unterschiedliche hilfsbedürftige Personen(gruppen), wie es in den öffentlichen Hospitälern damals oft üblich war. Die Gruppe der Waisen und ausgesetzten Kinder war nur eine unter mehreren. Vgl. E. Trocm¦, La Rochelle de 1560 — 1628, S 168. 673 Vgl. E. Trocm¦, La Rochelle de 1560 — 1628, S 167. 674 Vgl. ebd.

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erhielten sie auch Schulunterricht und eine vierjährige Ausbildung in einem Lehrberuf, zu dem sie vermittelt und zusätzlich mit Kleidung ausgestattet wurden.675 Von den fünf Kindern, die im Jahr 1620 in Lehrberufe vermittelt wurden, kamen zwei im Buchhandel, zwei bei Schneidereien und eines im Kurzwarenhandel unter.676 Diese Praxis des Hospitals unterschied sich kaum von der anderer öffentlicher Hospitäler oder auch Armenbüros von Städten, die katholisch dominiert waren oder wo ein Gleichgewicht herrschte.677 Das änderte sich erst durch andere Schwerpunktsetzungen durch die Gründung der Húpitaux G¦n¦raux (Bekämpfung und Disziplinierung der Bettler wie anderer Personengruppen, erste Gründung 1656 in Paris, Ihre Einrichtung wurde ab 1662 für ganz Frankreich beschlossen).678 Handelte es sich 1620 ausschließlich um traditionelle- oder Handwerkerberufe, sah dies 1658 in dem neu gegründeten protestantischen Hospital schon anders aus. Dort gab es ein Ausbildungsprojekt im Bereich des Seidenmanufakturwesens, das den Kindern eine Zukunft in diesem aufstrebenden Textilbereich sichern sollte.679

2.3.5 Schulbildung als protestantische Identitätsbildung und Weg aus der Armut zum gesellschaftlichen Erfolg Mit E. K. Hudson lässt sich auch für das Feld der Schulbildung, begünstigt durch die veränderten Rahmenbedingungen durch das Edikt von Nantes (1598), von einem optimistischen Aufbruch innerhalb des franz. Protestantismus sprechen.680 Von jeher war dabei die Lektüre der Bibel nicht minder identitätsbildend, wie das Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen innerhalb einer bekenntnisorientierten Gemeinschaft und damit gleichzeitig ein wichtiger Faktor innerhalb des Überlebenskampfes dieser protestantischen Minorität.681 In diakonischer und sozialethischer Perspektive war diese Schulbildung aber auch die Voraussetzung dafür, Armut zu verhindern oder zu überwinden. Sie war vor allem Grundlage für die spätere Berufswahl und den Erfolg in Beruf und Gesellschaft.682 Die Kirchengemeinde war nach franz.-ref. Verständnis so etwas 675 Vgl. ebd. 676 Vgl. ebd. 677 Vgl. J.–P. Gutton: La Soci¦t¦ et les pauvres, S. 23 f.; B. Pullan, Catholics and the Poor in early modern Europe S. 20 f., C. Jones: The charitable imperative, S. 31 ff. 678 Vgl. E. Chill, Religion and Mendicity, S. 406 ff. 679 Vgl. weiter unten zum Hospital in N„mes Kap. 2.3.6.3. 680 Vgl. E. K. Hudson, The Protestant Struggle for Survival, S. 278. 681 Vgl. E. K. Hudson, The Protestant Struggle for Survival, S. 271 – 295. 682 Vgl. M. Dinges, Huguenot poor relief and health care, S. 172.

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wie die Geburtshelferin dazu, vor allem weil sich die Menschen im Kontext der Minderheitssituation vornehmlich über sie definierten. So war dieses Programm, das sich der franz. Protestantismus des 16. Jh. von Anfang an auf die Fahnen geschrieben hatte, nun spätestens im 17. Jh. unter den Bedingungen des Edikts von Nantes schließlich zu einem Erfolgsprogramm geworden. So jedenfalls kann P. Bolle resümieren: »Chest gr–ce — cutte Action par la base, — ce lent travail d’¦ducation que l’on a pu dire qu’au XVIIe siÀcle le niveau d’instruction des r¦form¦s a ¦t¦ en g¦n¦ral plus ¦lev¦ que celui des catholiques romains…«683. Wo das hingegen nicht der Fall ist, scheint das in der Regel auf finanzielle Nöte der Reformierten Gemeinden zurückzuführen zu sein.684 Auch G. Astoul bestätigt in seiner Analyse über die protestantischen Schulen in der Region BasQuercy diese Sicht, wonach die franz. Protestanten, was ihren Bildungsgrad (Lesen, Schreiben, Rechnen) betrifft, bis zur Rücknahme des Edikts von Nantes (1685) über einen Vorsprung gegenüber den Katholiken verfügt hätten.685 Dieser Aufbruch im Bereich des Schulwesens unter den neuen Bedingungen des Edikts von Nantes geschah jedoch nicht ohne dass protestantische Gremien immer wieder die Aufrechterhaltung oder Gründung eigener Schulen bzw. Anstellung von Lehrern gegenüber den staatlichen Behörden als Recht einklagen mussten. Zur Zeit der Wende im Jahr 1597 waren ihre Beschwerden auf nationaler Ebene über Entlassung und Vertreibung eigener Lehrer sowie Schießung eigener Schulen, obwohl sie mit den »lettres patentes« des Königs ausgestattet waren (z. B. in Mont¦limar), wesentlicher Bestandteil einer umfangreichen Klageschrift, die die Reformierten Kirchen Frankreichs dem König überreichten, mit dem Ziel der grundsätzlichen Abstellung.686 Im Edikt von Nantes (1598) wurde dann zwar festgelegt, dass die franz. Protestanten dort, wo sie öffentlich Gottesdienst feiern durften, auch Elementarund höhere Schulen einrichten durften.687 Ausdrücklich wurde ihnen in den 56 sogenannten Geheimen Artikeln des Edikts von Nantes nicht nur die Errichtung dieser Schulen, sondern auch die Gründung von vier Akademien zugestanden.688 Auf dieser Grundlage richteten die Protestanten in allen großen Gemeinden obligatorische und unentgeltliche Elementarschulen für Jungen und Mädchen

683 »Es ist dieser Arbeit an der Basis, dieser mühsamen Erziehungsarbeit zu verdanken, dass man hat sagen können, dass das Bildungsniveau der Reformierten im 17 Jh. im Allgemeinen höher war als das der Römisch-Katholischen…« (P. Bolle, Le protestantisme en Dauphin¦, S. 140). 684 Vgl. D. Poton, Les protestants franÅais du XVIe au XXe siÀcle, S. 54. 685 Vgl. G. Astoul, Les protestants et leurs ¦coles, S. 185 u. a. 686 Vgl. M. Nicolas, Des Êcoles primaires et des CollÀges, S. 498 687 Vgl. E. Gresch, Die Hugenotten, S. 37 u. Art. 37 der Zusatzartikel des Edikts von Nantes – zitiert bei Y. Gueneau, Protestants du centre 1598 – 1685, S. 283. 688 Vgl. O. E. Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, S. 150.

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ein.689 Aber auch während der Gültigkeit des Edikts von Nantes gab es immer wieder Auseinandersetzungen um die Anwendung des Edikts auf diesem Gebiet und die Durchsetzung der Rechte. Die Nationalsynode von Privas im Jahr 1612 sah sich zum Beispiel gezwungen, die »d¦put¦s g¦n¦raux« (eine Art Botschafter der Reformierten Kirchen beim König – so im Edikt vorgesehen) zum König zu entsenden mit dem Auftrag, ihn zu ersuchen, »de vouloir bien accorder des petites ¦coles (¦coles primaires) par toutes les villes et lieux o¾ il y a un grand nombre de familles de la religion, et de lever, pour cet effet, les restrictions et modifications.«690 Die Aufhebung der erwähnten Einschränkungen und Abänderungen wurden von der Synode als eine Sache bezeichnet, die notwendigerweise verbunden sei mit der »libert¦ de conscience« (»Freiheit des Gewissens«)691. Um den Einfluss der errichteten und erfolgreich funktionierenden franz.-ref. CollÀges (Mittelschulen) zu mindern, »wurden häufig neben ihnen Jesuitenkollegien errichtet, die z. T. die reformierten Unterrichtsmethoden nachahmten.«692 Immer wieder versuchte die Nationalsynode für die Interessen der Reformierten Kirche, insbesondere der Schulausbildung einzustehen und diese gegenüber dem Königshaus zu reklamieren. Die Nationlsynode von AlenÅon (1637) etwa beruft sich dabei auf die Artikel 13 und 38 der »matiÀres particuliÀres« des Edikts von Nantes und darauf, dass diese Rechte durch die Ausführungsbestimmungen vom 13. Juli 1621 königlicherseits noch einmal bestätigt wurden.693 Sie bittet daher den König dort einzuschreiten, wo der Besitz oder die Abhaltung dieser Schulen streitig gemacht würde trotz früherer staatlicher bzw. königlicher Genehmigung und ein Vorgehen gegen diese Schulen zu verbieten.694 Die Klagen und Reklamationen stießen aber offenbar kaum auf Gehör am Hofe, denn es war Ludwig XIII. selbst, der erst wenige Jahre zuvor (1633) anordnete, dass die Hälfte der Schüler und Lehrer in den protestantischen CollÀges sowie auch deren Rektor katholischen Bekenntnisses sein müssten und damit die Rechte auf von ihnen selbst geführte bzw. verwaltete Schulen einschränkte.695 Besonders die Elementarschulen der franz.-ref. Kirche, die per se für Arme 689 Vgl. O. E. Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, S. 156. 690 »wohlwollend der Errichtung von Elementarschulen an allen Städten und Orten zuzustimmen, wo es eine große Anzahl reformierter Familien gibt und zu diesem Zweck die Einschränkungen und Abänderungen (wieder) aufzuheben.« (Aymon, Actes eccl¦siastiques et civils, Bd. I, S. 426). 691 Aymon, Actes eccl¦siastiques et civils, Bd. I, S. 426, vgl. auch: M. Nicolas, Des Êcoles primaires et des CollÀges, S. 498. 692 O. E. Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, S. 156. 693 Vgl. M. Nicolas, Des Êcoles primaires et des CollÀges, S. 498. 694 Vgl. M. Nicolas, ebd. 695 Vgl. O. E. Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, S. 156.

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kostenlos waren, müssen in den protestantischen Orten bzw. Gemeinden sehr zahlreich gewesen sein und im Verlauf der Periode des Edikts von Nantes zahlenmäßig zugenommen haben. Das lässt sich rückschließen aus einem späteren königlichen Beschluss vom 4. Dezember 1671, der den Reformierten verbot, mehr als nur eine Elementarschule an Orten zu unterhalten, wo ihnen offizielle Kultusfreiheit zugestanden worden war.696 Die einzelnen Kirchengemeinden vor Ort bzw. ihre Consistoires waren die Träger der Elementarschulen und nach franz.-ref. Kirchenrecht in der Pflicht, sie zu unterhalten.697 Das förderte die Eigenverantwortung. Diese dokumentierte sich auch darin, dass hier und da wie im Fall der reformierten Kirchengemeinde von Lourmarin (Provence) sogar Diacres mit der Erteilung des Elementarschulunterrichts beauftragt worden sind. Dort lag es für die Gemeindeleitung offenbar nahe, diejenigen, die mit der Verwaltung und Austeilung der Armengelder so wie auch Armenschulgelder betraut waren, auch als Lehrer zu engagieren.698 Es waren in der Regel die Diacres, die mit der Zahlung des Schulgeldes für verarmte Kinder beauftragt wurden, da sie deren Bedürftigkeit bzw. häusliche Situation durch Besuche etc. am besten kannten.699 Meist bekam dabei der angestellte bzw. zuständige ma„tre d’¦cole (Schulmeister / Lehrer) das Geld pro Schüler/in unmittelbar von den Diacres entrichtet, die darüber im Consistoire Rechenschaft ablegten.700 Es war keine spezielle Ausbildung des ma„tre d’¦cole erforderlich, aber bestimmte pädagogische Fähigkeiten und Kenntnisse der jeweiligen Fächer waren die Mindestvoraussetzung, wie etwa im Fall der reformierten Kirchengemeinde von Osse, wo das Consistoire wie auch in anderen Gemeinden, unter mehreren Bewerbern den ihrer Meinung nach geeignetsten Kandidaten auswählte.701 Oft waren es escoliers (in diesem Fall »Studenten«) oder proposants (Pfarramtsanwärter).702 Dabei konnte auch die Beauftragung oder Anstellung eines ma„tre d’¦cole selbst unter einem besonderen sozialen Aspekt stehen, wie im Fall der Elementarschule von Marchenoir : Ein ma„tre d’¦cole verfügte in der Regel nicht über eine angemessene Altersversorgung. Durch Zahlung einer wöchentlichen Pension / Unterstützung von 5 sols an den gealterten M. Gymet »— cause de sa

696 Vgl. M. Nicolas, Des Êcoles primaires et des CollÀges, S. 500. 697 Vgl. M. Nicolas, Des Êcoles primaires et des CollÀges, S. 500 u. . Y. Gueneau, Protestants du centre 1598 – 1685, S. 283. 698 Vgl. C. Borello, Les protestants de provence au XVIIe siÀcle, S. 208 f. 699 Zahlreiche Beispiele (Protokollbucheinträge in den Registres du Consistoire) legen für diese Praxis zu Beginn des 17. Jh. Zeugnis ab (Beispiele siehe bei: Y. Gueneau, Protestants du centre 1598 – 1685, S. 284). 700 Vgl. Y. Gueneau, Protestants du centre 1598 – 1685, S. 284. 701 Vgl. A. Cadier, Osse – Histoire de L’Êglise R¦form¦e, S. 244 702 Vgl. D. Poton, Les protestants franÅais du XVIe au XXe siÀcle, S. 54.

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vieillesse« (»aufgrund seines Alters«) blieb er im System (gegenseitiger Hilfe) der Gemeinde eingebunden.703 Auch im 17 Jh. legten die franz. Protestanten Wert darauf, dass die Alphabetisierung, religiöse Unterweisung und Bildung ein Gut sein sollte, das Jungen und Mädchen gleichermaßen zukommen sollte, was auch in jener Zeit keineswegs selbstverständlich war und als Beitrag zur Prävention weiblicher Armut hier und da auch Aufstiegschancen ermöglichte.704 Denn unter den Mädchen nehmen Töchter von Arbeitern ebenso am Schulunterricht teil wie Töchter von Adligen.705 Die Nationalsynode gewährte nur in wenigen Ausnahmesituationen Zuschüsse für Elementarschulen.706 Darüberhinaus gab es in jener Blütephase des diakonischen Engagements, die zugleich eine Blütephase der Schulen war, Schulgründungen durch franz.-ref. Fürsten etc.707 Die Rahmenbedingungen des Edikts von Nantes ermöglichten nicht nur eine Zunahme der Elementarschulen, sondern auch der CollÀges. Vorwiegend innerhalb des ersten Jahrzehnts nach dem Edikt lassen sich vermehrt Gründungen derselben konstatieren.708 Fast alle franz.-ref. CollÀges sind im Gegensatz zu den Elementarschulen nicht durch die Consistoires sondern durch die Städte gegründet worden, die zu diesem Zweck auch Steuern erheben durften.709 Die Nationalsynoden haben hier erst später zur Finanzierung mit zu beigetragen (1614, 1617, 1620, 1623, 1631, 1639).710 Auch die Provinzialsynoden nahmen hier und da Bezuschussungen der CollÀges vor.711 Eigene Nachforschungen haben ergeben, dass diese wohl besonders auf die Unterstützung armer Schüler konzentriert waren und ihre unterstützende Funktion mehr und mehr gegen Ende dieser zweiten Phase und in der dritten Phase an Bedeutung gewann, als die Institutionen des franz. Protestantismus mehr und mehr Angriffen von außen (durch die Krone und Teile des kath. Klerus etc.) ausgesetzt waren.712 703 Vgl. Y. Gueneau, Protestants du centre 1598 – 1685, S. 284. 704 Vgl. Y. Gueneau, Protestants du centre 1598 – 1685, S. 285 u. P. Bolle, Le protestantisme en Dauphin¦, S. 32. 705 Vgl. P. Bolle, Le protestantisme en Dauphin¦, S. 33 u. Anm. 41. 706 Siehe hierzu die Beispiele bei M. Nicolas, Des Êcoles primaires et des CollÀges, S. 500. 707 Vgl. M. Nicolas, Des Êcoles primaires et des CollÀges, S. 500. 708 Vgl. die Angaben bei M.-J. GaufrÀs, L’enseignement protestant sous l’Êdit de Nantes, S. 245. Vgl. auch G. Astoul, Les protestants et leurs ¦coles, S. 186. 709 Vgl. M.-J. GaufrÀs, Les CollÀges protestants, S. 417. 710 Vgl. M. Nicolas, Des Êcoles primaires et des CollÀges, S. 504. 711 Vgl. M. Nicolas, Des Êcoles primaires et des CollÀges, S. 504. 712 Beispielsweise heißt es in den Beschlüssen der Provinzialsynode »Il de France, Picardie, Champagne et Chartres« vom Mai 1667 in Clermont en Beauvaires: »Puis on travailla aux Faicts precuniaires, qui sont les contributions particulieres des Êglises, pour l’entretenement des pauures Escoliers, Et le soustien des plus faibles Êglises de la province.« (»Sodann hat man sich mit Finanzangelegenheiten befasst, welche sind die besonderen Beiträge der

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In der Regel verfügten aber die Consistoires der einzelnen Kirchengemeinden über Spenden, Legate und Fonds, die zur Unterstützung armer Schüler der CollÀges dienen sollten, insbesondere durch Begabtenförderung oder Hilfen zum Schulabschluss.713 In Saintes-Marie-aux Mines wurden im Testament der Witwe von Louis des Masures nicht nur arme Schüler bedacht, sondern auch die Heizung ihres Klassenraums.714 Zweifellos waren die Mittel durch Legate, Spenden und Fonds begrenzt und nicht an jedem Ort gleich stark verteilt.

2.3.6 Hospitalwesen 2.3.6.1 Städtische bzw. öffentliche Hospitäler Die wohl deutlichste Veränderung in der hier benannten Blütephase spielte sich im Bereich des Hospitalwesens ab. Hospitäler bekamen durch das Edikt von Nantes mehrere Auflagen, was die Konfessionsfrage betraf. Es war zwar nach wie vor schwierig, ein rein »protestantisches« bzw. von der reformierten Kirchengemeinde getragenes Hospital oder dergleichen zu gründen, da es dazu der Genehmigung des Königs bzw. des katholischen Klerus bedurft hätte (s. o.). Aber die bereits existierenden königlichen oder im Auftrage der Kommune arbeitenden Hospitäler715 bekamen vor allem zwei Auflagen, die neue Perspektiven eröffneten: Die Kranken und Armen der beiden verschiedenen Konfessionen sollten unterschiedslos aufgenommen und behandelt werden und die jeweiligen Geistlichen sollten ihre Gemeindemitglieder dort aufsuchen und seelsorgerlich begleiten dürfen (s. u.). Die Fürsorge in geschlossenen Einrichtungen war zuvor, wie wir bereits sahen, nur dort schon möglich und praktiziert, wo die Protestanten die Stadtvorherrschaft übernommen hatten716 oder schließlich über sogenannte Sicherheitsplätze verfügten. Aber auch das war nicht von Dauer gegeben, da sie später auch ihre Sicherheitsplätze verloren.717 Es gab in der ersten Phase keine genuin

713 714 715 716 717

Kirchen(gemeinden) zur Unterhaltsunterstützung der armen Schüler, und der Unterstützung der schwächsten Kirchen der Provinz.« A.N.: Serie TT 241, fol. 804). Vgl. M. Nicolas, Des Êcoles primaires et des CollÀges, S. 510. Vgl. C. Rouget, Histoire de la communaut¦ r¦form¦e de Sainte-Marie-aux-Mines, S. 308. In den Regelungen des Ediktes von Nantes sind nur die städtischen Hospitäler oder im Auftrage der Kommune arbeitenden Hospitäler im Blick (vgl. Art. 22 des Edikts von Nantes – dazu: J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 180. Siehe oben Kap. 2.2.2.13. Die Garantie der Sicherheitsplätze verlor sich in der Folge erneuter Kampfhandlungen und militärischer Niederlagen der Hugenotten und des Friedens von Alais sowie des damit verbundenen Gnadenediktes vom Juli 1629 (vgl. O. E. Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, S. 150).

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protestantischen Hospitalgründungen. Das Schwergewicht lag aus den genannten Gründen auf der offenen Armenfürsorge. Das Edikt von Nantes (1598) eröffnete nun ganz neue Perspektiven, denn damit war grundsätzlich für die Protestanten überall dort, wo sie existierten, die Möglichkeit gegeben, ihre Kranken und Armen auch in geschlossenen Institutionen auf diese Weise unter den neuen Bedingungen versorgt zu sehen. Das war ein Novum, das durch die Charakterisierung des Edikts als »irrevocable« (»unwiderrufbar«) auch hoffen ließ, dass es sich um ein verlässliches und endgültiges Regelwerk handeln sollte. Es hatte in vorausgegangenen Edikten (1570 und 1576) ähnliche Ansätze der Gleichbehandlung gegeben, die dann allerdings auch wieder sehr bald zurückgezogen worden sind und deshalb hier auch unberücksichtigt bleiben können.718 Es verwundert im Übrigen nicht, dass J. Imbert nicht bescheinigen kann, dass diese kurzlebigen Edikte überhaupt umgesetzt worden sind, war es doch von den jeweiligen Machtverhältnissen vor Ort abhängig. J. Imbert hält das nach eigenen Recherchen für sehr ungewiss.719 Bei M. Dinges, der sich, wie bereits erwähnt, in einer Synthese der franz.-prot. Armenfürsorge des 16. und 17 Jh. versucht, fehlt gerade diese im Blick auf das Hospitalwesen notwendige Differenzierung zwischen den verschiedenen Perioden und ihren juristisch-politischen Rahmenbedingungen (vor dem Edikt von Nantes, während des Ediktes und auf dem Weg zur Revokation des Ediktes) innerhalb dieses doch sehr langen Zeitraumes, wenn er sehr summarisch und pauschal äußert, dass die Hospitalleitungen grundsätzlich vom König zur Aufnahme und Versorgung der Protestanten in den Hospitälern verpflichtet wurden.720 Das war gerade nicht durchgehend so. Außerdem bleibt dabei ganz außer Acht, was das konkret bedeutete, und, dass die Einweisung von Protestanten in Hospitäler umgekehrt sogar zwangsweise vollzogen werden konnte, wie bereits vor 1685 und dann auch hernach massenweise zum Zwecke der »Umerziehung« geschehen (s. u.). In der Praxis sah auch das, was das Edikt von Nantes verkündete, freilich nicht immer so konfliktfrei aus, wie es sich in der Theorie anhörte. Von Protestanten eingereichte Klagen über die Nicht-Befolgung des Ediktes bzw. einseitige Aus718 Vgl. hierzu J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 181. 719 Dabei nimmt J. Imbert Bezug auf das Beispiel von Protestanten, die sich in Grenoble beim Stadtrat über die diskriminierende Behandlung protestantischer Armer und Kranker beschweren (vgl. ders., L’hospitalisation des protestants, S. 180). 720 Das, was M. Dinges als Regel beschreibt, nämlich, dass die Hospitäler auch dort, wo die Leitung von katholischen Laien dominiert wurde, vom König gesetzlich zur Aufnahme der Calvinisten verpflichtet worden seien, (vgl. ders., Huguenot poor relief, S. 166 unten) galt eben nur für die Zeit des Edikts von Nantes und war eine besondere Akzentsetzung dieses Ediktes, die zuvor so kaum gegeben war und auch im letzten Drittel des 17. Jh. auf dem Weg bis hin zur Aufhebung des Ediktes von Nantes zunehmend eingeschränkt wurde (vgl. die übrigen Edikte; siehe oben laufender Text).

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legung und Anwendung zu ihrem Nachteil waren keine Seltenheit.721 Dennoch lassen sich eine ganze Reihe von Beispielen anführen, wo die Institutionen und zuständigen Stadträte zu Nutzen des betroffenen Klientels lange Zeit (vor allem zur Zeit der Regierung unter Heinrich IV.) positiv zusammengearbeitet haben oder aber die zuständigen Commissaires des Edikts oder gar der Conseil du Roi entsprechend positive Vorgaben gemacht haben und auch zum Wohle der Betroffenen und im Sinne der Gerechtigkeit interveniert sind. Das Negativbeispiel, das M. Dinges im Blick auf das städtische Hospital in Bordeaux bezogen anführt, wo das Consistoire auf Distanz zu dem dortigen städtischen Hospital geht, datiert bezeichnenderweise aus dem Jahr 1667 und ist nach der hier vorliegenden Darstellung aus chronologischen und inhaltlichen Gründen der 3. Phase des diakonischen Engagements der franz. Protestanten zuzuordnen – Rückzug in die ambulante Armenunterstützung und den klandestinen Raum -, denn genau das passiert in dem von ihm beschriebenen Beispiel und ist als Reaktion auf die landesweit bereits initialisierte Gewissensbedrückung der »correligionaires« in den Hospitälern zu werten und nicht etwa als grundsätzliche (fundamentalistische) Position des französischen Protestantismus:«…the consistory clearly tried to remove Protestants from the hospital. For example, in 1667, the elders offered a man adequate assistance on condition that he brought his wife home.«722 Was M. Dinges ansonsten zur Versorgung der Protestanten im Hospitalwesen von Bordeaux und ihre Identifikation mit demselben ausführt, lässt eher darauf schließen, dass die im Edikt von Nantes festgehaltenen Grundsätze in Bordeaux zunächst gut umgesetzt wurden und damit eine Basis gegeben war, die Belange der Armenfürsorge der Stadt tatsächlich gemeinsam, also überkonfessionell anzugehen und zu tragen, wozu natürlich auch die finanzielle Beteiligung zählte.723 In Bordeaux ging sie über die durch das Edikt vorgegebene bzw. die aus ihm resultierende Beteiligung an den Hospitalkosten hinaus. Auch ein dort befindliches Arbeitshaus der katholischen Gegenreformation wurde nach M. Dinges von Protestanten finanziell unterstützt.724 Da es sich dabei um die Unterstützung einer am Ort von katholischen 721 Vgl. bes. Fr. Chevalier, Les difficult¦s d’application de l’¦dit de Nantes, S. 303 – 320; M. Venard, L’¦glise catholique b¦n¦ficaire de l’¦dit de Nantes, S. 283 – 302, R. A. Mentzer, L’¦dit de Nantes et la chambre de justice du Languedoc, S. 321 – 338. 722 M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 167. 723 Die Protestanten zahlten ihren Beitrag zur Aufnahme und Versorgung ihrer Kranken im Hospital Saint Andr¦ der Stadt Bordeaux (vgl. M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 167). Zurecht hält M. Dinges den Tatbestand, dass Protestanten in dem Hospital auch als Protestanten gestorben sind, ohne dass sie bekehrt worden wären, für ein Indiz dafür, dass sie aufgenommen worden sind und zugleich die »Religionsfreiheit« (wie im Edikt beschrieben) bewahrt worden ist (vgl. ders., a.a.O., S. 167). 724 Die finanzielle Unterstützung eines in Bordeaux gegründeten Arbeitshauses, noch dazu in Verantwortung der katholischen Gegenreformation, war so im Edikt nicht vorgesehen bzw.

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Priestern durchgeführten Kollekte handelte, ist ausgeschlossen, dass es sich lediglich um die Leistung einer städtisch vorgegebenen Abgabe zur Unterbringung und Versorgung zwangsweise eingewiesener betroffener Protestanten handelte. Das Interesse an der Einrichtung bzw. die Freiwilligkeit der Gabe spricht für einen hohen Identifikationsgrad auch mit dem System der geschlossenen städtischen Armenfürsorge seitens der Protestanten in Bordeaux und für eine gelungene Umsetzung aus der Sicht der konfessionellen Kohabitation in dieser Frage. Entscheidendes Motiv war offenbar, die Not der Armen und insbesondere kranker Armer in dieser Stadt mit allen Mitteln und Möglichkeiten zu lindern. Das wurde als ein gemeinsames Interesse des Gemeinwesens gesehen und nicht auf die Bekenntnisfrage reduziert. In Marseille (Provence) hat es nach P. Coullaut ein starkes Engagement der Protestanten im Hospitalbereich jener Zeit gegeben und die Leitungen der verschiedenen Hospitaleinrichtungen scheinen »ohne Ansehen der Person« bzw. »unparteiisch« gehandelt, sich gegenseitig ergänzt und gut zusammengearbeitet zu haben.725 Ähnlich konstruktiv verhält es sich offensichtlich in Mens en Trieves. Das örtliche Hospital soll nach P. Bolle eher den Charakter eines Armenhauses gehabt haben und war seinem Ursprung nach eine Schenkung an die Stadtkonsuln und die Bewohner der Stadt aus dem Jahr 1322.726 Eine gemeinsame Versammlung von Vertretern beider Konfessionen beriet im Jahr 1651 den Magistrat und empfahl ihm, dass es am besten sei, ein neues Hospital zu erbauen.727 Der protestantisch majorisierte Stadtrat folgte dem Votum und kaufte am 23. Juli 1651 ein Grundstück mit einem Altbau, der zu diesem Zwecke renoviert wurde.728

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vorgegeben. Wenn es sich tatsächlich so verhielt, dass die von M. Dinges erwähnte Unterstützung seitens der Protestanten für dieses Projekt (vgl. ders., a.a.O., S. 167) sich nicht auf wenige Privatpersonen beschränkte, sondern vom Consistoire ausging und geleistet wurde, dann unterstreicht das, unabhängig von der Frage der Bewertung dieses Phänomens, nur einmal mehr die enge und gelungene Zusammenarbeit im Bereich der geschlossenen Armenfürsorge in jener Periode. »Tout d’abord, l’Húpital du Saint-Esprit appel¦ depuis 1593, Hútel Dieu; en 1638, l’hospice de la Charit¦ recueille et loge les mendiants de la ville; l’hospice des Convalescents soigne ceux qui, sortis de l’Hútel Dieu, ont encore besoin de secours jusqu’— leur r¦tablissement…Tous ces malades ou ces pauvres sont soign¦s impersonellement.« (»Zuallererst sei das ›Heilig-Geist-Hospital‹ genannt, das seit 1593 ›Hútel Dieu (Gasthaus Gottes)‹ genannt wurde; 1638 nimmt das ›Hospiz der Barmherzigkeit‹ die Bettler der Stadt auf und beherbergt sie; das »Hospiz der pflegt diejenigen, die zwar aus dem ›Hútel Dieu‹ entlassen sind, aber noch der Hilfe bedürftig sind bis zur endgültigen Gesundung…All diese Kranken oder Armen werden ohne Ansehen der Person / unparteiisch gepflegt / versorgt.«) – P. Coullaut, Le service des pauvres, S. 96. Vgl. P. Bolle, Le Protestantisme en Dauphin¦ au XVIIe siÀcle, S. 20 u. Anm. 16 Vgl. P. Bolle, Le Protestantisme en Dauphin¦ au XVIIe siÀcle, S. 20. Vgl. P. Bolle, Le Protestantisme en Dauphin¦ au XVIIe siÀcle, S. 20 u. Anm. 17.

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Selbst für Montpellier, wo es in der späteren dritten Phase ganz anders aussieht, lässt sich hier für die zweite Phase trotz konfessioneller Konkurrenz im Hospitalwesen auf städtischer Ebene offensichtlich noch eine positive Zusammenarbeit konstatieren. Dort sind Katholiken wie Protestanten gleichermaßen im städtischen Hospital Saint-Eloi untergebracht.729 Da das Hospital aber zu klein ist, um auch den deutschen Migranten zu dienen, die zur Unterstützung der französischen Reformation bzw. zum Aufbau der reformierten Kirchen nach Montpellier gekommen sind, wird im Jahr 1599 von der bi-konfessionellen, je zur Hälfte mit vier Personen besetzten, Hospitalleitung das Problem so gelöst, dass man einen extra Saal für Kranke der deutschen Migranten schafft, der mit freiwilligen Abgaben aller in Montpellier lebenden deutschen protestantischen Migranten finanziell unterstützt werden sollte.730 Trotz mehrfacher politischer Machtwechsel der Stadt731 hat es in dieser Phase bis etwa 1660 offenbar keine wirklich großen Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit im Hospitalbereich gegeben und haben weder katholische noch protestantische Betroffene Benachteiligungen erlebt.732 Die mit der Durchführung und Kontrolle des Edikts von Nantes beauftragten Commissaires sind im günstigsten Fall über lange Zeit die Garanten einer friedvollen, von gegenseitiger Toleranz geprägten und effektiven Umsetzung im Bereich des Hospitalwesens: In Montauban verpflichten die Commissaires im Jahr 1606 den katholischen Klerus, sich an den Kosten der Hospitalversorgung prozentual angemessen zu beteiligen und damit die Versorgung der Armen und Kranken beider Konfessionen auch wirklich sicherzustellen.733 In Loriol (Dauphin¦) drängen die Commissaires 1599 auf die paritätische Besetzung der Hospitalleitung.734 Im Languedoc gehen die Vorgaben der Commissaires im Jahr 1600 bis in die Einzelheiten und sind sehr konkret – zum Zwecke der ungestörten Seelsorge und um »Gewissensbedrängung« zu vermeiden, sollen katholische und protestantische Klientel in jeweils unterschiedlichen, voneinander getrennten Räumen untergebracht werden.735 Mit Recht verweist J. Imbert darauf, dass der Rekurs auf die Kategorie des »Gewissens« für diese Epoche unge729 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 182. 730 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 182 u. L. Dulieu, Essai historique sur l’húpital Saint-Eloi, S. 31 – 32. 731 Mal war Montpellier in protestantischer, mal in katholischer Hand: Von 1603 bis 1623 waren die zuständigen Konsuln protestantisch, von 1623 bis 1628 gemischt konfessionell und ab 1628 katholisch. Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 182 – 183 u. L. Dulieu, Essai historique sur l’húpital Saint-Eloi, S. 31 – 32. 732 Vgl. L. Dulieu, Essai historique sur l’húpital Saint-Eloi, S. 31 – 32. 733 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 180; F. Garrisson, Essai sur les Commissions, 227 – 228. 734 Vgl. J. Imbert, a.a.O., S. 180; F. Garrisson, a.a.O., 227 – 228. 735 Vgl. J. Imbert, a.a.O., S. 180 f.; F. Garrisson, a.a.O., 227 – 228.

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wöhnlich fortschrittlich ist.736 Der Conseil du Roi beschließt 1600 im Blick auf die Hospitäler in B¦ziers (Languedoc-H¦rault), dass die Gebete von den jeweiligen Geistlichen oder anderen zuständigen Personen jeweils gesondert und entsprechend leise verrichtet werden sollen.737 2.3.6.2 Die Gründung von »crypto-hospitals« Im Zuge der diakonischen Aufbruchstimmung des französischen Protestantismus unter den neuen Bedingungen des Ediktes von Nantes kommt es nun aber auch erstmals zu gemeindeeigenen oder privaten protestantischen Hospitaloder Armenhausgründungen. Nach J. Imbert gibt es keine protestantischen Hospitäler unter dem »Ancien R¦gime« vor der Rücknahme des Ediktes von Nantes (1685).738 Fakt ist jedoch, dass sie tatsächlich existierten. Sie waren nur nicht erlaubt, denn offiziell bedurfte es dazu der Genehmigung durch die Krone oder des Einverständnisses von Seiten des katholischen Klerus.739 Deshalb wurden sie wohl meist bei Bekanntwerden verboten bzw. geschlossen, es sei denn die Sachlage war eine kompliziertere wie im Fall des protestantischen Hospitals in N„mes. Die Tatsache, dass sie offiziell nicht existieren durften, konnte offenbar nur bedingt verhindern, dass sie dennoch gegründet und betrieben wurden. J. Imbert benennt selbst das Beispiel des von Angehörigen der »R.P.R.« (Religion Pr¦tendue R¦form¦e = der angeblich Reformierten Religion) in Paris am Fauxbourg Saint-Marcel errichteten Hospitals, das auch noch nach königlichem Verbot vom 30. Juni 1637 entgegen der Anweisung wieder von Reformierten weiter betrieben wurde, aber dann durch Beschluss der staatlichen Behörden vom 11. April 1657 wohl endgültig enteignet werden sollte.740 Es ist nicht bekannt, wie viele dieser »inoffiziellen« Hospitäler existierten und an welchen Orten. Aber einige werden nachfolgend im laufenden Text benannt. Wodurch waren diese Hospitalgründungen motiviert? Einerseits wurde dies durch das dazu nötige und mittlerweile vorhandene Kapital erst ermöglicht (Vor allem Testamente und Sammlungen auf gesetzlicher Grundlage boten die nötige materielle Voraussetzung). Andererseits wurden diese Hospitalgründungen hervorgerufen durch die Konkurrenzsituation der Konfessionen, besonders an den Orten, wo das Edikt von Nantes nicht zur Zufriedenheit der Protestanten umgesetzt zu sein schien und Benachteiligungen oder Beeinflussungen religiöser Art spürbar oder zu befürchten waren, was das jeweils örtliche Hospital betraf. Diese Sorge war nicht unbegründet, denn der Bekehrungseifer derer, die 736 737 738 739 740

Vgl. J. Imbert, a.a.O., S. 181. Vgl. J. Imbert, a.a.O., S. 181; F. Garrisson, a.a.O., 227 – 228. Vgl. J. Imbert, a.a.O., S. 176. Vgl. J. Imbert, a.a.O., S. 176. Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 176 f.

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durch die Bewegungen der Gegenreformation geprägt oder in ihren Gemeinschaften oder ähnlichen Versammlungen und Vereinigungen organisiert waren, war teils doch sehr ausgeprägt, so dass sie gerade auch auf dem Feld des Sozialen innerhalb oder außerhalb geschlossener Institutionen versuchten, Einfluss zu nehmen auf das Seelenheil und die Konfessionszugehörigkeit der Betroffenen. Offensichtlich gab es aber auch Bekehrungsversuche von Seiten der Protestanten.741 Im Zuge des konfessionalistischen Wetteifers blieb das nicht aus. Die hier angesprochenen neu gegründeten protestantischen Hospitäler und Armenhäuser könnten in Aufnahme einer Terminologie von M. Dinges am ehesten noch als »crypto-hospitals« bezeichnet werden, da sie wohl über keine offiziell notwendige königliche oder bischöfliche Genehmigung verfügten742 oder diese ihnen aber zumindest bald wieder entzogen wurde. Es war verboten, die Einrichtungen, ohne eine solche Genehmigung zu betreiben. In einigen Fällen müssen diese Einrichtungen sogar (eine Weile?) von den Behörden toleriert worden sein, denn anders ist kaum zu erklären, wie einige von ihnen, nämlich die franz.-ref. (nicht öffentlich-städtischen!) Hospitäler in Loudun, Aubenas und Saintes des 17 Jh. einen solchen Bekanntheitsgrad gewinnen konnten,743 dass sie uns – von dem Sonderstatus des protestantischen Hospitals in N„mes einmal ganz abgesehen744 – bis heute überliefert sind, obgleich sie eigentlich gar nicht existieren durften. So gesehen müsste das von J. Imbert entworfene Bild korrigiert werden, wonach die franz.-ref. gemeindliche Armen- und Krankenfürsorge vor 1685 durchweg rein ambulanter Natur gewesen sein soll (s. o.). Gleichzeitig muss aber auch der Sicht M. Dinges widersprochen werden, der die Existenz solcher »crypto-hospitals« für den gesamten Zeitraum ab Bildung der franz.-ref. Gemeinden bis 1685 voraussetzt und dabei Phasen, Zeiten und äußere politische und geographische Bedingungen nicht differenziert.745 Für die Zeit vor dem Edikt von Nantes lässt sich bislang kein einziges solcher »crypto-hospital« finden.746 Für die Zeit ab dieser politischen Wende lässt sich hingegen eine ganze Reihe benennen:

741 742 743 744 745

Vgl. E. Labrousse, Conscience et conviction: Etudes sur the XVIIe Siecle, S. 96 – 112. Vgl. M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 167. Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 68 f. Siehe dazu mehr im laufenden Text weiter unten. Der summarische Aufsatz von M. Dinges versteht sich gleichermaßen repräsentativ für das 16. wie das 17. Jh. ohne die sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen zu thematisieren (vgl. ders, Huguenot poor relief, S. 157 – 174). 746 Ähnlich äußerte sich bereits H. Ochsenbein: »Erst im 17. Jahrhundert finden wir protestantische Hospitäler…« (ders., Die diakonische Tätigkeit, S. 68 /69).

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Fauxbourg Saint-Marcel (17 Jh., Verbot bzw. Schließung: 1637)747 am selben Ort (17. Jh., erneutes Verbot bzw. Schließung: 1657)748 Rue Monmartre (17. Jh., Schließung und Zerstörung: 1655)749 Faubourg Saint-Germain (17. Jh.)750 Faubourg Saint-Antoine (17. Jh.)751 Rue des Poulies (17. Jh., Leitung: Suzanne Quintin, Witwe von Noel Chanmon)752 Paris-Charenton: »Húpital de la Charit¦« (17 Jh., Ausbau erfolgte parallel zum Kirchbau)753 Rochechouart (17 Jh., Verbot oder Schließung unbekannt)754 Bordeaux: »Chambre de Sainte Croix« (17 Jh., Verbot oder Schließung unbekannt)755 Rouen: (17 Jh., als »Hospice« bezeichnet, existierte bis 1684)756 Montpellier I (17. Jh., als »Maison des pauvres« bezeichnet, spätestens 1667 konfisziert und in den Besitz des »Húpital G¦n¦ral« von Montpellier übergegangen)757

Paris: Paris: Paris: Paris: Paris: Paris:

747 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisations des protestants, S. 176; J. Pannier, L’Êglise r¦form¦e de Paris, Bd. 2, pieces justificatives, S. 65 – 68. 748 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 177; Archives de l’Assistance Publique — Paris: 23e registre des d¦liberations du Bureau de l’Hútel-Dieu, fol. 45 r (18. 08. 1655); 25e registre, fol. 52 r und fol. 55 r (April 1657). 749 Vgl. E. Brunet, La charit¦ paroissiale — Paris, S. 17; Archives de l’Assistance Publique — Paris: 23e registre des d¦liberations du Bureau de l’Hútel-Dieu, 23. 04. 1655. 750 Vgl. Lallemand, Histoire de la Charit¦ u. F¦libi¦n, Bd. 2, 1491 und ders., Bd. 4, 203 – 225. 751 Vgl. ebd. 752 Vgl. ebd. 753 Vgl. Bull SHPF (55) 1906, Recherches sur L’emplacement des temples, cimetiÀres et maisons du Consistoire — Charenton au XVIIe siÀcle, S. 294 – 301, bes. S. 297. 754 Vgl. Vgl. M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 167, Leroux u. a., »Rochechouart«, S. 68. 755 Vgl. M. Dinges, Stadtarmut in Bordeaux, S. 449; M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 167 (RCPB, fos. 222 V, 130, 153 6). 756 Vgl. Bull SHPF (28) 1879, »Extraits de la Gazette de Haarlem«, S. 541 / 542. 757 Das »Maison des Pauvres« wird eindeutig als ein Haus deklariert, das sich ursprünglich nicht im Besitz der Stadt oder des Húpital G¦n¦ral, sondern des Consistoire befand, also der protestantischen Gemeindeleitung von Montpellier. Es wird später laut einer Eintragung im Protokollbuch der Hospitalleitung des Húpital G¦n¦ral vom 24. 10. 1694 gegen einen anderen Besitz durch Vertrag eingetauscht:»acquisition faite par l’húpital du nomm¦ Mi¦j¦ville du quart d’un neuviÀme de la petite Triperie de Montpellier, en echange d’une maison des pauvres situ¦es dans le sixain Ste Croix ile de l’¦cole de mage ayant ci-devant appartenu au Consistoire de la religion pretendu r¦form¦e« (»Vom Hospital durch den genannten Herrn Mi¦jeville vorgenommener Erwerb eines Viertels des Neunten Teils der kleinen Triperie von Montpellier im Austausch für ein Armenhaus, das sich bei St. Croix nahe der Êcole de Mage befindet und vorher dem Consistoire der Angeblich Reformierten Religion gehörte.«- A.D.H.: HG E 7, Registre des deliberations 1692 – 1694, Eintragung vom 24. 10. 1694) Es wurde von den staatlichen Behörden konfisziert und befand sich spätestens seit dem 01. 04. 1667 im Besitz des Húpital G¦n¦ral (siehe ebd.).

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Montpellier II ( 17. Jh., »trois ou qautre petites maisons qui servoient a loger les Pauvres« gelegen in der Nähe des protestantischen Friedhofs, existierten bis zum Schluss)758 N„mes (konfessionell, aber nicht in der Trägerschaft der Reformierten Gemeinde, gegründet 1654, geschlossen auf Befehl des Königs am 22. Februar 1667)759 N„mes (ab 1668, »chambre des pauvres« genannt – Nachfolger des zuvor geschlossenen – ein »echtes« »crypto-hospital«, auch wenn es streng genommen nicht mehr in die zweite Phase fällt, sondern vom Gründungsdatum her in die dritte, hier dennoch der Vollständigkeit halber erwähnt)760 Loudun (17. Jh.)761 Aubenas (17. Jh.)762 Saintes (17. Jh., neben Arzt, Apotheker und zuständigem Diakon wird ein angeschlossenes weiteres Armenhaus erwähnt)763

Zwei weitere – weder von J. Imbert noch von M. Dinges berücksichtigte – Quellen bezeugen die tatsächliche Existenz solcher »Hospitäler« in nicht geringer Anzahl. In den »Reglemens des Assembl¦es politiques de Charit¦ des Paroisses« (mehrseitiges Manuskript in gedruckter Form aus dem Jahr 1681)764, die auf eine missionarische Initiative der Gegenreformation zurückgehen und durch gleichnamige Versammlungen Netze vor Ort schaffen wollten, die auf allen Ebenen der Armen- und Krankenfürsorge innerhalb und außerhalb der staatlichen (incl. Húpitaux G¦n¦raux) und katholischen Einrichtungen den dort festgehaltenen Zielen gerecht werden sollten, finden sich aufschlussreiche Aussagen. Der Text zeigt nicht nur, mit welcher Entschlossenheit diese Versammlungen ihr Ziel der Seelenrettung und Umerziehung zum »einzig wahren katholischen Glauben« und sittsamer Lebensführung vorantrieben und sich 758 »drei oder vier kleine Häuser, die dazu dienten, Arme zu beherbergen« (siehe aufgeführt unter den konfiszierten Gütern: A..D.H: C I, C 275, 1687, o.f. »Estat des biens don les pauvres delospital general de Montpellier jouisstent et qui ont appartenu aux pauvres de ceux qui faisoient cy devant profession de la R.P.R de ladite ville [= Montpellier] ou au Consistoire«). 759 Vgl. J. Perrier, La querelle des húpitaux — N„mes, S. 165. 760 Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistoire de N„mes, S. 667 u. 668. 761 Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 69; vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 110. 762 Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 69; vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 110 763 Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit, S. 69. Vgl. P. De F¦lice, Les protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 110 764 »Leitlinien der politischen Versammlungen der Gemeindecaritas« – A.N.: AD XIV 2, Fonds Rondonneau: »Húpitaux Civiles«, Heft in gedruckter Form, 1681.

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dabei als Partner der staatlichen absolutistisch motivierten Sozialdisziplinierung verstanden, sondern auch, wie groß sie die Bedrohung einschätzten, die von der protestantischen Armen- und Krankenfürsorge ausging. Diese und ähnliche andere Bewegungen innerhalb des Katholizismus gewannen immer mehr an Einfluss im französischen Hospitalwesen im Verlauf des 17. Jh. Sie waren auch die Förderer und Nutznießer der Auslegung des Ediktes von Nantes — la rigeur (»im engen Sinne« / »nach strengen Maßstäben« / »im strikten wenig toleranten Sinne« / »ohne Spielraum«) bzw. bis hin zu seiner letztendlichen Aufhebung im Jahr 1685. Im Editorial ist zu lesen, dass sich diese Versammlungen der Arbeit der Missionaires (»Missionare«) verdanken würden, »qui ont fait cesser la mendicit¦ — la campagne, comme les Hopitaux Generaux l’ont fait dans toutes les Villes, que des Missionnaires ont aussi ¦tabli.«765 Im Blick auf die Frage der Unterbringung der protestantischen Armen bzw. Kranken in den Hospitälern ist mit Bezug auf die Armenfürsorge der Hugenotten dort zu lesen: «Il est si grand parmy eux, quoy qu’on recoive leurs malades dans les Hospitaux des Catholiques, & qu’il leurs soit defendu d’en avoir de secrets, sous de grosses peines; Neansmoins, ils en ont dans Paris mesme, & s’exposent — la rigueur des Edits, pour faire assister leur malades avec plus de soin, & les mieux instruire dans leur Religion. Ils ont aussi dans toutes les Villes, o¾ ils ont le libre exercise de leur Religion, des Escoles publiques & gratuites pour tous les enfans des pauvres gens de leur secte.»766

Selbst wenn man in historisch-kritischer Abwägung bedenkt, dass die Aussage aus Propagandagründen übertrieben worden sein mag, so lässt sich immer noch daraus rückschließen, dass es wohl tatsächlich nicht wenige konfessionseigene Hospitäler der Protestanten gegeben haben muss und in Paris sogar mehrere, was unsere Nachforschungen bestätigten (s. o. Auflistung der »crypto-hospitals«). Darüber hinaus fügt sich auch die obige Aussage über die Präsenz von gemeindeeigenen öffentlichen Freischulen in jeder Stadt ganz in das Bild der Blütephase franz.-ref. Diakonie. 765 »…die der Bettelei auf dem Lande ein Ende gesetzt haben, gleichwie die Húpitaux G¦n¦raux es in allen Städten bewirkt haben, die ebenso die Missionare errichtet haben.« (»Reglemens des Assembl¦es politiques de Charit¦ des Paroisses« – A.N.: AD XIV 2, Fonds Rondonneau: »Húpitaux Civiles«, Heft in gedruckter Form, 1681, S. 1 766 «Sie [=die Armenfürsorge] ist so ausgeprägt unter ihnen, dass , obwohl man ihre Armen in den Hospitälern der Katholiken aufnimmt und es ihnen unter Androhung großer Strafen verboten ist, geheime Hospitäler zu unterhalten, sie dennoch welche in Paris selbst besitzen und sich der Strenge des Edikts aussetzen, nur um ihre Kranken mit besserer Pflege zu unterstützen und sie besser in ihrer Religion unterweisen zu können. Sie haben auch in allen Städten, in denen sie Kultus -/ Religionsfreiheit haben, öffentliche und freie Schulen für alle Armenkinder ihrer Sekte.» – A.N.: AD XIV 2, Fonds Rondonneau: Húpitaux Civiles, Heft in gedruckter Form «Reglemens des Assembl¦es politiques de Charit¦ des Paroisses», 1681, S. 4, Punkt 4.

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Wer die Errichtung von »crypto-hospitals« in jener Phase und die damit verbundene Renitenz und Hartnäckigkeit der Protestanten immer noch eher für eine Ausnahmeerscheinung halten sollte, dürfte nun vollends eines Besseren belehrt werden, wenn er die Aussagen einer weiteren Quelle zur Kenntnis nimmt. Die steht nämlich ganz und gar nicht im Verdacht, zu Übertreibungen zu neigen. Das Parlament des Dauphin¦ sieht sich genötigt, in einer Verlautbarung vom 21. März 1639 die Reformierten Gemeinden des Dauphin¦ zu erinnern, dass die Gründung und Unterhaltung von Hospitälern ohne die königliche Genehmigung nicht legal und damit verboten ist und im Falle der Zuwiderhandlung bestraft wird. Das Parlament bezieht sich dabei ausdrücklich auf die gleichlautenden königlichen Erlasse vom 20. Juni 1636 sowie 21. u. 28. April und 22. Juni 1627. Anlass war offensichtlich, dass die Reformierten «…ont entrepris d’establir des maisons de retraitte ou Hospitaux dans la Province, dans lesquels on recoit journellement des malades, mesme des estrangers & personnes inconnues, sans l’authorit¦ & permission du Roy ou de la Cour. Il a pareillement requis qu’il en soit inform¦, & que cependant defenses soient faites — toutes personnes de plus establir aucunes maisons de retraitte ou Hospitaux, sans la permission requise & necessaire pour ledit establissement.»767

Die wiederholten Verlautbarungen und Erlasse des französischen Königs wie auch des Parlaments des Dauphin¦ können nur bedeuten, dass das Zuwiderhandeln offensichtlich wiederholt vorkam. Mit anderen Worten: Es muss solche »crypto-hospitals« in größerer Anzahl gegeben haben. Trotz der Verbote müssen sie immer wieder errichtet worden sein. Anders lässt sich dieser Text nicht verstehen. Zudem geht aus ihm hervor, dass das kein spezifisches Problem des Dauphin¦ war, sondern für ganz Frankreich galt (siehe gerade auch die Wiederholung der königlichen Erlasse). Im Blick auf die Funktion dieser Hospitäler wird im Text auch deutlich, dass der Schwerpunkt auf der Pflege und medizinischen Versorgung der von Armut Betroffenen und anderer Kranker lag (Altersheime und Krankenhäuser/stationen). Die Wiederholung der Verbote, protestantische Hospitäler zu errichten oder ohne königliche Erlaubnis zu führen, findet ihre Fortsetzung in den sechziger

767 « …es unternommen haben, ohne die Erlaubnis des Königs oder des Hofes Seniorenheime und Hospitäler in der Provinz zu errichten, in denen man täglich Kranke, sogar fremde und unbekannte Personen aufnimmt. Er [der König bzw. Hof] hat ebenso gefordert, darüber informiert zu werden und dass dennoch allen Personen verboten wird, noch irgendwelche weiteren Seniorenheime oder Hospitäler ohne die geforderte und notwendige Erlaubnis für diese Einrichtung.» – A.N.: TT 243, fol. 99 – 101, Reglement fait par la Covr de Parlement de Dauphin¦, conformement — divers Arrest du Roy, & articles des Edicts de Pacification…[imprim¦], 21. 03. 1639.

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Jahren,768 die streng genommen zwar zur dritten Phase franz.-prot. Diakonie zu zählen sind, aber umso mehr das bisherige Bild bestätigen, wonach es solche Hospitäler tatsächlich in nicht geringer Zahl gegeben haben muss. Sonst hätte es kaum dieser massiven erneuten juristischen Initiative der sechziger Jahre bedurft (s. u. Kap. 2.4.3). Somit wird deutlich, dass es sich bei der widerständigen Errichtung der »crypto-hospitals« nicht um eine Ausnahme gehandelt hat, sondern eher um ein Regelverhalten, das die auferlegten Regeln durchbrach oder die Vorgaben des Ediktes von Nantes zumindest anders interpretierte.769 Knapp und bündig lässt sich resümieren: Die Versorgung der Kranken und Bedürftigen verlagert sich also in der zweiten Phase des diakonischen Engagements des Protestantismus in Frankreich hier und da von einer ambulanten Unterstützung, zu der Diakone und Ärzte beauftragt wurden oder eine Unterbringung in Familien der Nachbarschaft oder Verwandtschaft veranlasst und eine Versorgung durch Medikamente vom Apotheker gewährleistet wurde, hin zu einer stationären Unterbringung und Versorgung. Oder besser ausgedrückt: Die ambulante wird vielerorts durch die stationäre gemeindliche Armen- und Krankenpflege in dieser zweiten Phase ergänzt. Auch so gesehen lässt sich hier von einer Blütezeit sprechen, insofern nämlich, als dass sich hier das diakonische Engagement differenzierte und weiterentwickelte. Von einer Rückentwicklung kann dabei jedoch kaum eine Rede sein. Denn nach wie vor dominierte die Form der ambulanten, offenen Gemeindediakonie. Das ist schließlich auch daran erkennbar, dass sich die Anzahl und Größe dieser Hospitäler im Unterschied zu den von der Krone gegründeten Húpitaux G¦n¦raux oder anderen Hospitälern wiederum bescheiden ausnahm. Das erwähnte Pariser protestantische »crypto-hospital« auf dem Fauxbourg de Saint-Marcel beispielsweise verfügte lediglich über einen großen Raum mit sieben Betten und einen weiteren mit fünf Betten.770 Ein von M. Dinges erwähntes »Hospital« in Bordeaux hatte ebenso nur wenige Betten (durchschnittlich waren nur drei belegt) und war gedacht für Betroffene, die nur auf der Durchreise waren und außerhalb von Bordeaux lebten.771 Es gab Fälle, bei denen eine Einweisung in ein solches Hospital mit dem Ziel einer besseren Versorgung die bessere Lösung zu sein schien. Diese Hospitäler dienten ohnehin nicht demselben Zweck wie die 768 20. Juni 1660, 1663, 1664, 1666, 1669 wiederholen sich die königlichen Verlautbarungen zu dieser Thematik (vgl. H. Dubled, La R¦vocation en marche, S. 35.) 769 Zur juristischen Interpretation und Argumentation vgl. die Klageschrift der Hospitalleitung des protestantischen Hospitals von N„mes aus dem Jahr 1667, die auch weiter unten im laufenden Text erläutert wird (vgl. A.D.G.: 42 J 23, »Rapport avec les Autorit¦s civiles«, Titre B-2, »remontrance au Roi« 1667 – ohne Datum). 770 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 176. 771 Vgl. M. Dinges, Huguenot poor relief, S. 167.

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Húpitaux G¦n¦raux oder andere größere Einrichtungen, die in sich mehrere Funktionen (Armen- und Arbeitshaus, Waisenhaus, Krankenhaus etc.) vereinten, aber sie boten durch ihren Charakter betreuter Pflege- oder Krankenhäuser/ stationen, wie einzelne Beispiele auch zeigen772 andere Möglichkeiten als die rein ambulante Versorgung.

2.3.6.3 Das protestantische Hospital in Nîmes Eine besondere Geschichte verbindet sich mit dem protestantischen Hospital in N„mes. Sie ist recht wechselvoll und auch verwirrend. Leider wirkt die Darstellung in der Sekundärliteratur773 hier und da ebenso und ist mitunter irreführend oder gar fehlerhaft.774 Nach J. Perrier konfiszieren die Protestanten das Hútel-Dieu in N„mes in den erneuten Kriegswirren im Jahr 1626 – noch vor dem Frieden von Ales und dem Gnaden-Edikt von N„mes (Juli 1629) – und unterstellen es ihrer Leitung.775 Dies geschieht nachdem bereits das erste »städtische« Hospital, das die protestantischen Stadträte verwalteten, im Krieg zerstört worden war.776 Bei der Führung des nunmehr unter städtischer Leitung gestellten Hospitals, das dem Klientel beider Konfessionen dienen sollte, orientiert sich die Leitung 772 Das oben erwähnte Hospital am Fauxbourg Saint-Marcel wurde betreut von dem Krankenpfleger Pierre Belanger, der zugleich für den dortigen Friedhof zuständig war. Die meisten der Klienten kamen offensichtlich als bereits ans Bett Gebundene in die Einrichtung durch Nachbarn, Diakone oder Verwandte, die sie dorthin begleiteten (vgl. Bull SHPF (12) 1863, »CimetiÀre et Inhumations des Huguenots«, S. 372). 773 Vgl. besonders W. J. Pugh, Social Welfare and the edict of Nantes, S. 362 – 364.; J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 182, J. Perrier, La querelle des húpitaux — N„mes, S. 165 – 174, R. Debant, Une oeuvre catholique d’assistance, S. 59 – 65 774 Bei der Sichtung der Sekundärliteratur (Angaben in der vorhergehenden Fußnote) muss man den Eindruck gewinnen, dass selbst die Autoren teils den Durchblick verlieren oder sich untereinander oder selbst widersprechen. Jedenfalls ergeben sich für den unbefangenen Leser gewisse Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten: Einmal ordnet 1654 Mazarin nach J. Perrier (ders., La querelle des húpitaux — N„mes) an, dass das Hútel-Dieu (Hospital) wieder ausschließlich in katholischen Besitz übergehen solle (S. 165). Nach J. Imbert haben sich die Parteien 1654 aber bereits darauf geeinigt. Dann gibt es nach den Aussagen von J. Perrier auch einen gleichlautenden Beschluss vom Conseil d’Êtat bereits vom 6. Mai 1653 und schließlich ein Dekret von »Louis XIII«? (Es kann sich nur um »Louis XIV« gehandelt haben, da Louis XIII bereits mehrere Jahre tod war) vom 16. August 1655? (richtig ist 1954!), das besagt, dass das Hospital lediglich zur Aufnahme katholischer Armer dienen solle und eines für die RPR (=Religion Pretendue R¦form¦e) künftig gebaut würde etc. Das Hútel-Dieu ist nach J. Perrier 1626 konfisziert worden, dann aber 1635 von den Protestanten »erworben« worden und zugleich werden aber nach J. Imbert 1635 die Protestanten aus der Leitung des Hauses verbannt. Nach W. J. Pugh geschieht das eher sukzessive. 775 Vgl. J. Perrier, La querelle des húpitaux — N„mes, S. 165. 776 Siehe oben im laufenden Text, S…. und Chayreyre

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an den Vorgaben des Ediktes von Nantes, indem es Katholiken ebenso versorgte.777 Nach W. J. Pugh soll es im Haus allerdings nur protestantische Seelsorge gegeben haben und Priestern seien Besuche und Austeilung der Sakramente untersagt worden. Belege für die Aussage im zweiten Teilsatz liefert sie allerdings nicht.778 Nach J. Perrier haben die Protestanten das Haus 1635 sogar »erworben«779, nach J. Imbert780 und R. Debant781 werden sie aber bereits im selben Jahr aus der Leitung des Hauses entfernt. Gemeint ist aber (mit W. J. Pugh), dass der protestantische Einfluss auf die Leitung des Hospitals mehr und mehr zurückgedrängt wurde, zunächst durch Personalentscheidungen, bei denen sich die Katholiken durchsetzen konnten782 und dann vor allem durch die Entscheidung des Intendanten des Languedoc im Jahr 1635, dass das Leitungsgremium des Hospitals (4 Konsuln aus beiden Konfessionen) durch den Bischof und katholische Stadträte ergänzt werden müsse.783 Protestantische arme und kranke Betroffene bzw. im Hospital Aufgenommene erleben daraufhin zunehmend Diskriminierungen, Benachteiligungen und Bedrängung ihres Gewissens und ihrer Religionsfreiheit.784 Als am 6. Mai 1653 der Conseil d’¦tat (»Staatsrat«) schließlich anordnet, dass das Hospital wieder vollends in den Besitz des katholischen Bistums überführt werden soll, wird das Haus kurzerhand von den Reformierten, genauer gesagt auf Entscheidung des Consistoire hin, gewaltsam zur Hälfte in Besitz genommen.785 Im Anschluss an diese spektakuläre Aktion heißt der Conseil d’¦tat die Entscheidung bzw. den Anspruch des Consistoire zunächst gut. Wesentlich war die Reaktion des Staatsrates wohl 777 Vgl. W. J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 354; Abb¦ Goiffon, Les Húpitaux et les oeuvres charitables, S. 33. 778 Vgl. W. J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 354. Allerdings sind ihre Aussagen teils recht vage und ermangeln im Blick auf das Besuchsverbot für Priester zumindest eines Nachweises. 779 Vgl. J. Perrier, La querelle des húpitaux — N„mes, S. 166. J. Perrier spricht hier davon, dass die Protestanten das Hospital seit 1635 erworben (»avaient acquis«) hätten. 780 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 182 – »purement et simplement ¦l¦min¦s de la gestion de l’hopital« (»schlicht und einfach aus der Leitung des Hospitals entfernt«). 781 R. Debant beschreibt, dass es unter die Leitung des Armenbüros gestellt wurde, das sich ausschließlich aus Katholiken zusammensetzte und dessen Vorstand der Bischof war (vgl. ders., Une oeuvre catholique d’assistance, S. 62. 782 So wurde beispielsweisestatt des protestantischen Lehrers ein Priester eingestellt etc. (vgl. W. J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 362 und die entsprechenden Verweis in den dortigen Fußnoten). 783 Vgl. A.D.G: Archives de L’Hútel Dieu, E3, Etablissement 1635. Vgl. auch W. J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 362. 784 Vgl. die verschiedenen Klageschriften und Beschwerden unter : A.D.G.: 42 J. 23, Rapports avec l’autorit¦ civile , bes. Titre B-1. Vgl. auch J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 182 785 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 182, J. Perrier, La querelle des húpitaux — N„mes, S. 166.

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motiviert aus Dankbarkeit für die gegenüber dem Herrscherhaus erwiesene Loyalität der Hugenotten während der Zeit des Adelsaufstandes der Fronde.786 Dann aber ordnet Mazarin dennoch im Namen des jungen Ludwig XIV an, dass das Haus ausschließlich in katholischem Besitz verbleiben solle.787 Nachdem die Unruhen ihren Höhepunkt erreicht haben und zu einem Problem für die öffentliche Ordnung, die Einheit des Staates und die königliche Autorität zu werden drohen, ergeht am 16. August 1654 eine von Ludwig XIV. selbst gezeichnete Anweisung, dass das bisherige Hospital zwar ausschließlich der katholischen Konfession gehören, dass aber für die Kranken der R.P.R. (=Religion Pr¦tendue R¦form¦e) ein weiteres Hospital errichtet werden solle, für das eine extra Steuer von 11 000 livres erhoben werden solle, zu der sowohl die katholischen wie die protestantischen Einwohner der Diözese gleichermaßen zur Zahlung beitragen sollen, und dass hingegen alle Legate der Protestanten für soziale Zwecke ausschließlich ihrem eigenen künftigen Hospital zukommen sollen.788 Die hohe Summe wurde sehr bald vom zweiten Konsul (franz.-ref.) zur Verfügung gestellt, dem dazu von protestantischen Persönlichkeiten große Legate übermittelt wurden789, so dass schließlich bereits im Oktober 1655 mit dem Erwerb des Grundstückes und eines Hauses auf dem Faubourg Sainte-Antoine direkt gegenüber dem bisherigen Hospital und mit den entsprechenden Umbauarbeiten begonnen werden konnte.790 Dieses protestantische Hospital ist nicht wirklich ein »crypto-hospital«, da es mit Genehmigung oder zumindest offizieller Duldung des Hofes errichtet wurde. Es ist auch kein gemeindliches, da es nicht vom Consistoire geleitet wird, sondern von den beiden protestantischen Konsuln, aber es ist dennoch ein konfessionelles, das nur deshalb von der Krone zugestanden wurde, weil das andere ausschließlich dem katholischen Klientel dienen sollte bzw. vorbehalten war. Das protestantische Hospital bot nunmehr Platz für 25 Kranke und die Krankenpfleger.791 Die ärztliche und medikamentöse Versorgung war ebenso gewährleistet. Ein Apotheker übernahm für vier Folgejahre die für die Kranken kostenlose Lieferung von Medikamenten.792 Darüber hinaus verband sich mit

786 Vgl. A.E.R.N.: Archives du Consistoire, G 1, Reg. Cons., XV, 29. 07. 1653, fol. 17 – 20; vgl. auch J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 363. 787 Vgl. J. Perrier, La querelle des húpitaux — N„mes, S. 165. 788 Vgl. J. Perrier, La querelle des húpitaux — N„mes, S. 166/167. 789 Vgl. Allein durch die Zuwendungen aus den Legaten konnte der Konsul Jacques du Roure am 21. März 1657 6000 livres vorweisen (vgl. A.E.R.N.: 42 J 92; 21. 03. 1657). 790 Vgl. J. Perrier, La querelle des húpitaux — N„mes, S. 167 u. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 182 791 Vgl. J. Perrier, La querelle des húpitaux — N„mes, S. 167. 792 Vgl. J. Perrier, La querelle des húpitaux — N„mes, S. 167.

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dem Haus ein Ausbildungsprojekt für (uneheliche?793) Kinder. In den »Archives de L’Êgilse R¦form¦e de N„mes« – so haben eigene Nachforschungen ergeben – ist das entsprechende Vertragsexemplar aufbewahrt, das uns Auskunft über das Projekt gibt:794 Die Hospitalleitung schloss mit den Manufakturunternehmern bzw. Seidenzwirnmeistern Jacques und Pierre Poudevignes einen zunächst auf zwei Jahre begrenzten Vertrag über die Leitung einer kleinen Seidenmanufaktur zum Zwecke der Ausbildung im Gebäude, die sich auf das Zwirnen von Seide beschränkte. Die Ausbildung sollte also im Hospital selbst erfolgen. Vertraglich wurde festgelegt, dass die Hospitalleitung die dazu nötigen Gerätschaften samt der »Seidenzwirnmühle« einbauen lässt und diejenigen, die sich als Lehrlinge eignen würden, selbst aussuchen und übermitteln würde. Der Gewinn sollte zur Hälfte an den Unternehmer und zur Hälfte an die Hospitalleitung bzw. das Hospital gehen. Die Lehrlinge waren außerdem von den Unternehmern mit Mahlzeiten zu versehen. Die Einrichtung der »Seidenzwirnmühle« und Kooperation mit den Unternehmern verband sich also mit einem Ausbildungsprojekt und war keineswegs als Beschäftigungseinrichtung für alle arbeitsfähigen Hospitalinsassen gedacht oder vergleichbar den Manufakturkooperationen, die Arbeits- oder Waisenhäuser eingingen, bei denen die »Insassen« als billige Manufakturhilfskräfte innerhalb oder außerhalb des Hauses missbraucht wurden. Jungen Menschen sollte hier eine Möglichkeit geboten werden, durch eine qualifizierte Ausbildung in einem wichtigen Produktionszweig der Stadt einen Beruf zu ergreifen, der ihnen ermöglichen sollte, ihr tägliches Brot selbst zu verdienen – es handelte sich um eine Form der präventiven Armenfürsorge. Die Initiative, Gerätschaften und Oberaufsicht blieben dabei in den Händen der Hospitalleitung. Das verhinderte ebenso wie die Tatsache, dass die Ausbildung unter dem Dach des Hospitals stattfand, eine Willkür der Manufakturunternehmer. Das Projekt war offensichtlich von Erfolg gekrönt. Jedenfalls wurde es nach den besagten zwei Jahren verlängert.795 Die Einschätzung und Bewertung der Arbeit und Ausbildung in Hospitälern, Waisenhäusern und Arbeitshäusern jener Epoche ist im Einzelnen sehr zu differenzieren und wird uns im Zusammenhang des hugenottischen Waisenhauses und der Armenschule mit denen die Hugenotten im 18. Jh. (z. T. auch im Bereich des Manufakturwesens) ganz eigene, innovative Akzente in der präventiven Armenfürsorge in Berlin setzten, erneut begegnen.796 793 Dass es sich um »enfants ill¦gitimes« (»uneheliche Kinder«) handelte wird von A. Borel geäußert (vgl. ders., Histoire de L’Êglise r¦form¦e de N„mes, S. 223. 794 Zum Folgenden vgl.: A.E.R.N.: 42 J 92 , »Hospital«- »moulin de soye«, fol. 38 – 40, 04. 05. 1656. 795 Vgl. A.E.R.N.: 42 J 92, »Hospital«- »moulin de soye«, fol. 41.,12. 06. 1658. 796 Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin.

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Aufschlussreich ist die unterschiedliche Vorgehensweise beider Hospitäler bei der Verwendung der für sie jeweils zu gleichen Teilen bestimmten Armensteuer. Die Hospitalleitung des protestantischen Hospitals verwendete ihren Anteil für den Kauf der oben genannten Seidenzwirnmühle etc., um Ausbildungen im Bereich des aufstrebenden Manufakturwesens zu ermöglichen. Die Hospitalleitung des katholischen Hútel-Dieu verwendete ihren Teil hingegen, um ihre Waisen in Lehrberufe des Textilhandels zu vermitteln, eine Kapelle im Hútel-Dieu zu errichten und die Schwesternschaft von St. Joseph mit dem Hospitalmanagement zu betrauen.797 Der Schwerpunkt der katholischen Einrichtung zeigt, wie sehr es ihr insbesondere um die Verkündigung und die Rettung oder Rückeroberung der Seelen (Ansatzpunkt der mehrfach genannten Compagnie du Saint-Sacrement) ging, hingegen der Schwerpunkt der protestantischen Einrichtung eher darauf lag, die Hilfsintervention so zu gestalten, dass für die Betroffenen Sicherheit auf materieller Ebene, Überwindung der Armut und Heilung des Körpers zu erwarten war. Die getrennten Hospitäler hätten eine Lösung auf Stadtebene sein können. Schon sehr bald ab 1657, setzten aber, motiviert durch eine verstärkte Bekehrungsabsicht, Beschwerden, Denunziationen, Argumentationen und Forderungen des katholischen Bischofs Antime Denys Cohon wie auch der katholischen Stadträte bei den staatlichen bzw. königlichen Gremien gegenüber dem protestantischen Hospital ein.798 Die Klagen und Agitationen reichten von der Beschwerde über das (laute) Psalmensingen der Reformierten (ab 1659 außerhalb der Kirchen für die Protestanten grundsätzlich in ganz Frankreich verboten799), wodurch der Bischof die Andacht und Gewissensfreiheit der im gegenüber befindlichen Hospital residierenden Katholiken beeinträchtigt sah800 bis hin zum Vorwurf, dass sich durch das protestantische Hospital die Zahl der Häretiker nun um ein Vielfaches vermehren würde.801 Die neuerlichen Attacken ließen den protestantischen Konsuln und ihrem anvertrauten Klientel keine Ruhe und verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie brachten die Einrichtung in Misskredit und ließen sie als (»politischen«) Unruhefaktor erscheinen. So wurde das protestantische Hospital schließlich auf Befehl des Königs am 22. Februar 1667 geschlossen,802 als die »¦touffement — petites goul¦es« (»häppchenweise Ersti797 798 799 800

Vgl. W. J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 364/365. Vgl. J. Perrier, La querelle des húpitaux — N„mes, S. 167 u. 168. Vgl. E. Labrousse, La r¦vocation de l’¦dit de Nantes, S. 137. A.D.G.: 42 J. 23, Rapports avec l’autorit¦ civile , bes. Titre B-1, 01. 06. 1662. Vgl. auch R. Debant, Une oeuvre catholique d’assistance, S. 63 801 Vgl. R. Debant, Une oeuvre catholique d’assistance, S. 63, Vgl. M¦nard, Histoire de N„mes, Bd. 6, Nachweis XL, S. 77; vgl. auch R. Sauzet, Contre-R¦forme et r¦forme catholique, Bd. 1, S. 415 – 416 u. J. Imbert, l’hospitalisation des protestants, S. 182, Anm. 21. 802 Vgl. J. Perrier, La querelle des húpitaux — N„mes, S. 165.

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ckung«) des Protestantismus bereits im Gang war, in dem die Krone so wie der katholische Klerus und bestimmte katholische Gemeinschaften und Verbindungen in einer konzertanten Dynamik nach und nach das Ende des Protestantismus in Frankreich bereiteten.803 Zwei Dinge werden an dem Hospitalstreit von N„mes deutlich: Er ist zum Einen wohl das exponierteste Beispiel für die rivalisierende, konfessionalistische Prägung bzw. Ausrichtung der Armenfürsorge in dieser Phase und zum Andern zeigt er, wie der Freiheits- und Handlungsspielraum der Protestanten, nachdem sie einmal aus der Hospitalleitung verwiesen worden waren, immer mehr eingeschränkt wurde und die Minderheit zunehmend marginalisiert, und kriminalisiert wurde. Ihre Kranken- und Armenfürsorge wurde so nach und nach wieder ganz in den ambulanten Bereich zurückgedrängt. Das Beispiel von N„mes ist so gesehen im Grunde die Vorwegnahme dessen, was in der dritten Phase der Diakonie des französischen Protestantismus in ganz Frankreich im großen Stil, also flächendeckend geschieht – eine zunehmende Zurückdrängung der organisierten Diakonie bis hin zu ihrer gänzlichen Auslöschung. Richtig vollständig werden die Zusammenhänge aber erst erfasst, wenn wir auch die besonderen hospitalgeschichtlichen Dynamiken jener Epoche dabei in den Blick nehmen. Spätestens seit dem 16. Jh. konkurrierten Krone und katholische Kirche bzw. Bischöfe in Frankreich um die Vorherrschaft in den Hospitälern bzw. ihre Oberaufsicht.804 Das Konzil von Trient hielt fest am Anspruch der Aufsicht der Bischöfe über die Hospitäler, was unter anderem die Annahme des Konzils in Frankreich verhinderte.805 Im 17. Jh. fanden beide Seiten Kompromisse und ergänzten sich gegenseitig: Der Modus vivendi, der zu Beginn des 17. Jh. gefunden worden war, war der, dass sich König und Bischöfe die Aufsicht über die Hospitäler teilten, woher sich auch das bereits zitierte Reglement ableitete, dass keine karitative / mildtätige Einrichtung ohne die Zustimmung einer der beiden Autoritäten gegründet werden konnte.806 In dieser Gemengelage beanspruchte nun der Protestantismus als aufkommende dritte Größe nicht nur die Leitung städtischer Hospitäler, sofern ihm die Stadtführung zustand, sondern auch die Errichtung und Leitung eigener Hospitäler, ganz so wie es sie auch für Katholiken gab. J. Imbert unterschätzt in seiner Darstellung, dass es sich hier nicht um irgendeine Verfahrensfrage oder formaljuristische Angelegenheit handelte (gemeint waren die konkreten Rah803 Zum Begriff und Verlauf: J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 119 – 183. 804 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 176; ausführlicher und präziser : ders., Le droit hospitalier, S. 11 – 59, 92 – 116, 203 – 216. 805 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 176; ausführlicher und präziser : ders., Le droit hospitalier, S. 23 – 26. 806 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants, S. 176; ausführlicher und präziser : ders., Le droit hospitalier, S. 26 – 59, 92 – 116, 203 – 216.

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menbedingungen und Ausführungsbestimmungen des Edikts von Nantes), in die sich der Protestantismus nur hätte einfügen müssen und auch problemlos getan hatte, wie er behauptet807, sondern, dass es hier auch um die Frage von tatsächlichen Machtverhältnissen, Machtinteressen und Einflussmöglichkeiten ging. Der Einfluss des Protestantismus war spätestens dort beendet, wo katholischer Klerus oder Krone das Feld längst besetzt hielten. Allein vor diesem Hintergrund ist evident, dass die Herrschaftsfrage so entschieden wurde, dass sich die beiden zuerst genannten Größen (Krone und bestimmte katholische Laienbewegungen und Teile des katholischen Klerus) gegen die Konkurrenz der dritten Größe zusammenschlossen und der Protestantismus allein von diesem Kräfteverhältnis her im Hospitalwesen nicht wirklich Fuß fassen konnte, so sehr das Edikt von Nantes dazu theoretisch Wege eröffnete. Man könnte sogar umgekehrt formulieren, dass die Existenz des Protestantismus die bisherigen Kontrahenten im Hospitalwesen nun eher zusammenschloss und hier und da das gemeinsame Interesse an der Bekämpfung des vermeintlich gemeinsamen Feindes den Prozess des Miteinanders beschleunigte. So gesehen war die Konfessionalisierung des Hospitalwesens in Frankreich gleichzeitig der Abschied vom alten Streit zwischen Krone und Klerus und die Geburtsstunde einer neuen Symbiose oder trug zumindest dazu bei. Auf der anderen Seite ist bemerkenswert, welche Möglichkeiten und Modelle der »friedlichen« konfessionellen Koexistenz es auf diesem Feld des Hospitalwesens tatsächlich hätte geben können. Hätte sich das Modell getrennter konfessioneller Hospitaleinrichtungen, die jedoch städtisch bzw. staatlich angebunden sind und bleiben, durchgesetzt, wäre das vielleicht eine mögliche Lösung gewesen, die dem gesellschaftlichen Frieden in Frankreich hätte dienen können. Es scheiterte aber an den tatsächlichen Machtinteressen von Krone, katholischer Kirchenleitung und den fundamentalistischen Tendenzen einer breiten katholischen antiprotestantischen (Laien)bewegung mit ihren zahlreichen Vereinigungen und Geheimbünden. Nicht ohne Grund wurde bei der königlichen Entscheidung, dass ein protestantisches Hospital errichtet werden sollte und dieses damit geduldet würde, darauf verwiesen, dass dies jedoch die Ausnahme sei und dass damit keinesfalls ein Exempel statuiert werden dürfe, 807 J. Imbert meint: »Il ne semble pas que la propagation de la religion protestante ait pos¦ de problÀmes trop d¦licats — l’¦gard de l’administration hospitaliÀre.« (»Es scheint nicht so, dass die Ausbreitung der protestantischen Religion allzu schwierige Probleme bereitet hatte, was die Hospitalverwaltung betrifft.« ) – J. Imbert, Le droit hospitalier, S. 29. Das stimmt. Positive Beispiele, bei denen die protestantische Stadtführung die Vorgaben der Krone so wie auch die Rechte der katholischen Konfession respektiert hat, lassen sich ausreichend benennen (siehe oben im laufenden Text). Aber das kann nicht verstellen, dass grundsätzlich die Frage offen blieb, wie weit der Einfluss und die Macht der Protestanten / der protestantischen Kirchengemeinde im Ernstfall gehen durfte.

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das damit als Grundlage für die Errichtung weiterer protestantischer Hospitäler in anderen Städten hätte dienen können.808 Denn dann wäre die dritte neue Macht im Hospitalwesen und im Staat endgültig anerkannt gewesen. Damit waren die Grenzen klar markiert und zugleich wird deutlich, wie fragil diese Konstruktion nur sein konnte, die dann auch bald rückgängig gemacht wurde. Freilich wurde diese Entscheidung des Königs vom 22. Februar 1667 von hugenottischer Seite nicht einfach hingenommen. Die Entscheidung hatte die Verlegung von ca. 60 »Insassen« des protestantischen Hospitals in das gegenüber gelegene Hútel-Dieu zur Folge, die jedoch sehr bald vom Consistoire von N„mes dort wieder entfernt und – ähnlich wie in Lyon – in Privathäusern bzw. bei Privatpersonen untergebracht und versorgt wurden.809 Schon sehr bald, im darauffolgenden Jahr, wurde dann ein kleines Hospital (Chambre des Pauvres genannt) im Untergrund errichtet, ein tatsächliches »crypto-hospital« in N„mes, das aber streng genommen in die dritte Phase gehört und an anderer Stelle noch vorgestellt wird.810 Die Hospitalleitung des einstigen protestantischen Hospitals und auch das Consistoire bemühten sich auch um eine juristische Auseinandersetzung. Sie klagten und argumentierten. Das Hauptargument gegen die beschlossene Schließung und Vereinigung mit dem Hútel-Dieu war dasjenige, das in ihrer Klageschrift erst an letzter Stelle stand und zugleich als Argument für jedes »crypto-hospital« der Blütephase hätte ebenso geltend gemacht werden können: «Pour fondemant de cet Arrest lesdits Officiers des Grands-Iours, n’ont deu prendre, comme ils ont t¦moign¦ vouloir faire, l’article 22. de l’Edict de Nantes; portant, Qu’il ne sera fait differance ni distinction, pour l’egard de ladite Religion, — receuoir les malades & pauures ¦s Hopitaux , Maladeries & aumosnes publiques. Car cet article donne bien la facult¦ — ceux de la religion P. R¦form¦e, de requerir, s’ils voyent que bon soit, d’estre recueus aux Hospitaux & aumosnes publiques; mais cela n’empesche pas non plus ceux de ladite Religion, de faire traitter — leurs despens, leurs pauures & malades: se trouuant bien des loix, qui defendent aux pauures de mandier par les rues, sur tout aux valides, qui peuuent bien gagner leur vie du travail de leurs mains; mais iamais on n’a veu , qu’il ait est¦ defendu, — qui que ce soit, de nourrir des pauures malades, si bon leur semble, sous pretexte qu’ils ont permission d’aller dans les Hopitaux.»811 808 Vgl. W. J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 364. 809 Vgl. A.D.G.: 42 J 23, »Rapport avec les Autorit¦s civiles«, Titre B-2, »remontrance au Roi« 1667 – ohne Datum und auch W. J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 365. 810 Vgl. Ph. Chareyre, Le Consistiore de N„mes, S. 667 u. 668 u. unter Kap. 2.4.3 (Endgültige Schließung protestantischer Hospitäler und Armenhäuser und die Folgen) in der vorliegenden Studie. 811 «Als Basis dieses Beschlusses haben die officiers des Grands-Jours, wie sie bezeugt haben, es tun zu wollen, nicht den 22. Artikel des Edikts verwenden müssen, der beinhaltet, dass keine Unterschiede oder Benachteiligungen hinsichtlich der genannten Religion vorgenommen würden bei der Aufnahme der Kranken und Armen in den Hospitälern, Krankenhäusern und bei der öffentlichen Almosenverteilung / Armenversorgung. Denn dieser Artikel bietet

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Hier wird formal argumentiert, dass sich der Rechtsanspruch, der sich aus dem Edikt von Nantes ableitet, wonach die Kranken und Armen beider Konfessionen gleichermaßen ungehinderten Zugang zu den öffentlichen Einrichtungen haben und dabei unterschiedslos behandelt werden müssen, nicht bedeutet, dass im Umkehrschluss aus diesem Rechtsanspruch eine Rechtspflicht abgeleitet werden kann, die dazu nötigen würde, dass sich die Betroffenen diesen Einrichtungen zu unterziehen hätten bzw. nur von diesen zu behandeln wären und ihre Wohltäter damit ebenso gebunden wären und die Aktivität anderer Institutionen damit ausgeschlossen wäre. Inhaltlich lässt sich dem Passus entnehmen, dass das Klientel des protestantischen Hospitals (wie auch der crypto-hospitals) nicht Bettler oder sogenannte »unwürdige Arme« waren, sondern vornehmlich kranke oder gebrechliche Arme, die der intensivierten Behandlung bedurften oder aber wie im Fall der Lehrlinge um Arme, die zwar gesund waren, aber einer präventiven Maßnahme zur Verhinderung weiterer Verarmung bedurften. Die obige Deutung des Edikts von Nantes ist jedoch auf taube Ohren gestoßen, da ihre folgerichtige Argumentation eine Rechtfertigung aller protestantischen Hilfseinrichtungen (Einrichtungen der nicht-ambulaten Versorgung wie Armenhäuser etc. eingeschlossen) und des sich unter den Bedingungen des Edikts von Nantes entwickelten Auf- und Ausbaus eines eigenen protestantischen Hospitalwesens nach sich gezogen hätte. Für N„mes konnte zwar dabei auch geltend gemacht werden, dass dieses Hospital selbst von der Krone befürwortet wurde. Aber dem stand formal gegenüber, dass die Krone auch das Recht hatte, eine einmal gegebene Genehmigung wieder zu entziehen. Hätte die Krone auf diese Auslegung des Edikts von Nantes und die damit verbundene Argumentation hin eingelenkt, hätten alle protestantischen »crypto-hospitals« legalisiert bzw. rehabilitiert werden müssen. Das ließen jedoch die oben beschriebenen Machtverhältnisse auf keinen Fall zu.

sehr wohl denen von der RPR die Möglichkeit, darum zu bitten, wenn sie es für gut erachten, Aufnahme in den Hospitälern oder in der öffentlichen Armenversorgung zu erhalten, aber er hindert ebenso wenig diejenigen der genannten Religion, ihre Armen und Kranken auf ihre eigenen Kosten zu versorgen, da sich sehr wohl Gesetze finden lassen, die den Armen verbieten, in den Straßen zu betteln, vor allem den gesunden Armen, die sehr wohl mit ihrer Hände Arbeit ihr eigenes Brot verdienen können, aber niemals hat man je gesehen, dass es unter dem Vorwand, dass sie in die Hospitäler gehen können, wem auch immer verboten worden sei, arme Kranke zu ernähren / zu versorgen, wenn es ihm richtig erscheint.» (A.D.G.: 42 J 23, «Rapport avec les Autorit¦s civiles», Titre B-2, «remontrance au Roi» 1667 – ohne Datum).

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2.3.6.4 Die dâmes de la charité von Nîmes – Wiederaufnahme des weiblichen diakonischen Engagements Was, das diakonische Engagement der franz.-ref. Gemeinde von N„mes betrifft, so ist wohl das bekannteste und nachhaltigste des 17. Jh. das der d–mes de la charit¦ (»Damen der Nächstenliebe«) oder auch d–mes de la mis¦ricorde (»Damen der Mildtätigkeit«) genannt.812 Dieses weibliche Engagement in der Gemeindearmenfürsorge existierte bereits im 16. Jh. (erwähnt 1561), wie weiter oben für die erste Phase dargelegt.813 Im Jahr 1602 entschloss sich die Gemeindeleitung zur Wiederbelebung dieser Form der Kranken- und Armenhilfe. Man hielt es offenbar für »necessaire« (»notwendig«) diese »acoustume« (»Brauchtum« / »Tradition«) wieder einzuführen.814 Motiviert war das sicherlich sowohl durch die Aufbruchstimmung, die neuerlich durch das Edikt von Nantes gegeben war und es ermöglichte, sich nun noch gezielter um die Gemeindeaufgaben zu kümmern und diese weiter auszubauen, wie auch durch die beginnende konfessionalistische Rivalität in dem Bereich der Kranken- und Armenfürsorge und schließlich nicht zuletzt durch die große soziale Not um die Jahrhundertwende (s. u.). Die Frauen sollten wöchentlich sowohl die Armen des Hospitals als auch die außerhalb des Hospitals besuchen. Zu diesem Ziel sollten die surveillans (quartierbezogne Ancien-Diacres (»Diakonen-Älteste« der Gemeindeleitung)) eine Liste führen, auf denen die »damoiselles et autres honorables personnes« (»unverheirateten / jungen Damen und andere ehrbare Personen«) verzeichnet waren, die zu diesem Dienst in der Lage und bereit waren.815 Letztere Bezeichnungen machen deutlich, dass hier eher Frauen der höheren Stände und wohlhabenderen Schichten im Blick waren. Unter den tatsächlich für diesen Dienst im Januar 1602 benannten Frauen, die ihn dann auch ausgeführt haben, finden wir eine ganze Reihe von Persönlichkeiten mit Rang und Namen, unter anderem aus dem Adel und Ehefrauen von Präsidialräten.816 Offensichtlich war auch hier der Gedanke der communio von arm und reich817, der Konfrontation und Begegnung mit den Leidenden leitend und selbstverständlich, wo es andernorts (räumlich oder institutionell) in der Armenpolitik und Praxis des Umgangs mit dem Problem von Armut und Krankheit eher oder zunehmend um Aus- und Abgrenzung ging. Das Engagement der Frauen ermöglichte jedenfalls eine menschliche Begegnung, die über eine reine Versorgung oder Disziplinie812 813 814 815 816 817

Vgl. Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 662. Siehe unter Kap. 2.2.2.14. Vgl. Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 662. Vgl. Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 662. Vgl. Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 662. Vgl. dazu J. Calvin, vorliegende Arbeit S…

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rung hinausging und barg auch das Risiko der Ansteckungsgefahr bei Krankheiten in sich. Die Frauen und ihre Besuche begegnen ständig in den Protokollbüchern des Consistoire bis 1627, in denen die Frauen wiederholt namentlich erwähnt werden.818 Im Register der Protokollbücher haben sie sich im wahrsten Sinne des Wortes einen Namen gemacht – darunter durchaus auch die Ehefrauen eines Färbers und eines Bäckers.819 Gleichzeitig waren die Frauen aber auch so etwas wie der verlängerte Arm des Consistoire. Da sie gegenüber den Anciens-Diacres regelmäßig über den Zustand und die Situation ihrer Klientel, auch der im Krankenhaus befindlichen, berichteten, betraf das auch immer die Kenntnisnahme des sittlichen Verhaltens oder des Umfeldes. Das Consistoire, das es als seine Aufgabe sah, über die Sittsamkeit und den Lebenswandel der Menschen in Gemeinde und Stadt zu wachen, intervenierte deshalb mehrfach gegenüber dem Hospital oder an anderer Stelle, sofern es darum ging, um die aus Sicht des Consistoire vorfindlichen Missstände abzustellen oder abstellen zu lassen. 1616 bittet das Consistoire die zuständigen Konsuln, Prostituierte aus dem Hospital zu entfernen; 1617 drängt es darauf, dass man im Hospital das Tanzen und Gotteslästerungen unterlassen solle.820 Und auf die Bitte der d–mes de la charit¦ hin informiert das Consistoire die Konsuln darüber, dass Männer und Frauen im Hospital in denselben Räumen schlafen würden und moniert, dass sich daraus Probleme ergeben könnten.821 Keine Frage, dass in N„mes soziale Kontrolle und soziale Hilfe miteinander einhergingen. Nach Ph. Chayreyre dauerten die Besuche auch nach 1627 an, auch wenn die Frauen namentlich kaum noch erwähnt werden.822 Die Besuche werden aber offensichtlich 1639 unterbrochen und werden dann wieder 1654 erwähnt und regelmäßig von 1661 bis 1667, dem Jahr, in dem das protestantische Krankenhaus geschlossen und dem Hútel-Dieu übereignet wurde (s. o.).823 Die Phasen der Unterbrechungen der Besuche lassen sich, sofern sie sich auf das öffentliche Hospital, also das Hútel-Dieu, beziehen und nicht auf den ambulanten Dienst in der Kirchengemeinde, mit dem oben beschriebenen konfessionalistischen Streit 818 819 820 821 822 823

Vgl. Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 663. Vgl. Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 663. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 662 u. 663. Vgl. Ph. Chayreyre, Le Consistoire de N„mes, Bd. 2, S. 663. Anders W. J. Pugh, die die Existenz eines solchen Besuchsdienstes der Frauen erst ab 1662 ansetzt (vgl. dies., Social Welfare and the Edict of Nantes, S. 367, Anm. 83). Es ist wahrscheinlich, dass der Dienst ab dieser Zeit aufgrund der äußeren Repressionen (siehe 3. Phase) wieder an Bedeutung gewonnen haben mag und aktiviert wurde. Seien Anfänge liegen jedoch viel früher (mit Chayreyre, vgl. dort die entsprechenden Stellenverweise in den Protokollbüchern des Consistoire etc.).

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um das Hospital erklären bzw. mit den damit verbundenen Forderungen und Maßnahmen. Die Hegemonie des Bischofs und der katholischen Stadträte im Leitungsgremium boten die besten Voraussetzungen für die Abstellung solcher Besuche im Hospital. Die Besuche der Kranken oder Armen in der Gemeinde selbst werden davon kaum berührt worden sein. Vielleicht waren sie auch längst nicht mehr im Zuständigkeitsbereich der dames de la charit¦ und wurden durch das Consistoire anders gewährleistet – eben durch Besuche der Anciens-Diacres selbst, deren Aufgabe es ja auch zuvor war. Mit Errichtung des protestantischen Hospitals jedenfalls änderte sich die Sachlage wieder und die d–mes de la charit¦ leisteten hier einen wichtigen begleitenden Dienst, der auch im Blick auf die Übergangssituation von Hospital ins eigene Zuhause nicht zu unterschätzen gewesen sein dürfte, sofern jemand noch pflegebedürftig oder dergleichen gewesen ist.

2.3.7 Vitré (Brétagne) – offene Armenfürsorge auf Stadtebene. Ein Modell effektiver bi-konfessioneller Kooperation. Vitr¦ war das Zentrum des bretonischen Protestantismus, der im 16. und 17. Jh. wie im übrigen Frankreich eine Minderheit darstellte.824 Obwohl auch in Vitr¦ selbst quantitativ in der Minderheit, war er doch sehr finanzstark und stellte die Führungselite /schicht der Stadt.825 Im Übrigen war die Stadt Ende der achtziger und während der neunziger Jahre des 16. Jh. fest in protestantischer Hand und widerstand erfolgreich dem Versuch der Besatzung im Jahr 1589 durch den Grafen de Mercoeur, der Gouverneur der Bretagne war. Die königlichen Truppen Heinrich des IV., die der belagerten Stadt zur Hilfe eilten, hatten letztlich die Einnahme der Stadt durch den Grafen de Mercoeur verhindern können. Da sich der protestantische Kultus bereits zu dieser Zeit etabliert hatte, war es nach 1598 die einzige Stadt in der Bretagne, in der im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben des in jenem Jahr erlassenen Toleranzediktes von Nantes offiziell protestantische Gottesdienste abgehalten werden durften. Außerdem gehörte Vitr¦ neben einigen anderen Städten zu den zugestandenen sogenannten Sicherheitsplätzen der Protestanten im Edikt von Nantes (1598), was bedeutete, dass dort eigene Militärgarnisonen stationiert waren.826 Schon in den Jahren, die dem Edikt von 1598 unmittelbar vorausgegangen waren, hatte sich, wie weiter oben bereits dargelegt, für die Protestanten ein 824 Vgl. E. Clouard, Le protestantisme en Bretagne, S. 117 ff.; E. Rescan / Th. De la FourniÀre, Une communaut¦ protestante en Bretagne: Vitr¦ 1560 – 1685, S. 1 ff. 825 Vgl. E. Rescan / Th. De la FourniÀre, Une communaut¦ protestante en Bretagne: Vitr¦ 1560 – 1685, Kapitel 2. 826 Vgl. auch N. Vray, Protestants de L’Ouest, S. 110.

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Klima ergeben, das Grund zur Hoffnung auf eine Duldung des eigenen Kultus gab und den Boden für eine gewisse Kohabitation bereiten sollte. In Vitr¦ selbst war auch von den faktischen Machtverhältnissen her gesehen seit Jahren eine Stabilität gegeben.827 1597 konnte unter diesen Umständen ein auf Stadtebene von Protestanten und Katholiken gemeinsames Projekt im Bereich der Armenunterstützung realisiert werden: Von einem gemeinsam geführten Hospital am Ende des 16. Jh. erfahren wir zwar nichts; dafür aber umso mehr über eine außergewöhnliche, wenn vielleicht auch nur vorübergehende, Einrichtung der städtischen offenen Armenfürsorge im Jahr 1597, bei der beide Konfessionen involviert waren.828 Es ist nicht sicher, ob es sich hier um eine dauerhafte Einrichtung bzw. Praxis handelte oder sie sich lediglich den besonderen Umständen der durch eine Hungersnot bedingten Krisenjahre verdankte und nur wenige Jahre oder gar noch kurzzeitiger existierte.829 Aber den nachgedruckten Listen aus dem Jahr 1597830 ist jedenfalls zu entnehmen, wie die Stadträte bzw. die von der Stadt eingesetzten Armenkommissare protestantische und katholische Bürger(liche) gleichermaßen zur Unterstützung der von Missernten und Hungersnot gebeutelten Armen verpflichten.831 Das zu versorgende Klientel konnte grundsätzlich ebenso beiden Konfessionen angehören, aber die einzig angefügte Armenliste umfasst 118 verarmte Katholiken, jedoch keinen einzigen Protestanten.832 Das ist gewiss nicht so zu deuten, dass es in Vitr¦ überhaupt keinen einzigen protestantischen Armen gegeben hätte, sondern so, dass etwaige protestantische Arme durch das Netz der offenen Armenunterstützung der protestantischen Kirchengemeinde bereits aufgefangen und versorgt waren, das es hingegen in dieser Form in den katholischen Gemeinden ähnlich wie in Bordeaux in Vitr¦ kaum gegeben haben dürfte. Was war die Situation in Vitr¦? Missernten führten gegen Ende des 16. Jh. in ganz (West)Europa zu einem enormen Anstieg der Nahrungsmittelpreise; Unterernährung und Krankheiten bestimmten den Alltag der armen Bevölkerung.833 Für Vitr¦ wird dies anschaulich vom Gouverneur der Stadt geschildert: »le peuple ne vivoit plus que d’herbe…et y a eu un pÀre chasti¦ pour avoir tu¦ son enfant, le voyant languissant de faim.«834 827 Vgl.: J.-Y. Carluer, Protestants et bretons, S. 1 ff. 828 Vgl.: E. Rescan / Th. De la FourniÀre, Une communaut¦ protestante en Bretagne: Vitr¦ 1560 – 1685, a.a.O.; Paris Jallobert, Journal historique de Vitr¦, S. 50 ff. 829 Siehe vorangehende Fußnote. 830 Vgl. Paris Jallobert, Journal historique de Vitr¦, S. 50 ff. 831 Vgl. ebd. 832 Vgl. ebd. 833 Vgl. B. Geremek, Geschichte der Armut, S. 206; W. Abel, Massenarmut und Hungerkrisen, S. 43 – 111 u. S. 398. 834 »Die Bevölkerung hat sich nur noch vom Gras /Kräutern ernährt…e s gab einen Vater, der

Diakonische Praxis in der Blütephase (von ca. 1594 bzw. 1598 bis 1660)

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Die Maßnahme des Magistrats zur Abstellung der Not hat radikalen und allgemein verbindlichen Charakter, bei dem die Stadtbewohner nicht etwa durch Appell ans Gewissen, sondern zwangsweise durch städtische Verordnung eingebunden werden. Allein in dieser Hinsicht ist sie als exzeptionell innerhalb der Geschichte der Armenfürsorge zu werten. Die städtisch-staatliche Armenkommission in Berlin bildet sich erst ein ganzes Jahrhundert später, die in Lyon (Aumúne G¦n¦ral) freilich früher als die in Vitr¦. Aber beide hatten wohl nie solch starke Auswirkungen für die vermögenderen Bürger der Stadt wie sie die von der Armenkommission von Vitr¦ in dieser Notsituation durchgeführten Maßnahmen nach sich zogen. Die vom protestantisch beherrschten Magistrat eingesetzte Armenkommission bestand aus sechs Mitgliedern, von denen vier der katholisch und zwei der protestantischen Konfession angehörten.835 Die Stadt war protestantisch beherrscht. So zeugt das numerische Übergewicht der Katholiken in der Besetzung der Kommission von der vertrauensvollen oder zumindest selbstverständlichen Zusammenarbeit der Konfessionen in der Stadt auf diesem Arbeitsfeld. Es wäre sicher ein Leichtes und durchaus auch im Interesse der Protestanten gewesen, die Kommission anders zu besetzen. Die vermögenderen »bourgeois« der Stadt wurden 1597 auf einer von den Kommissionsmitgliedern geführten zweiteiligen Liste dazu verpflichtet, die Armenversorgung zu gewährleisten, und zwar gemäß ihrem Vermögen und ihren Möglichkeiten, wenn auch zunächst begrenzt auf die Dauer von drei Monaten bezogen, nämlich von Mai bis Juli 1597.836 Die Liste ist mit folgender Überschrift versehen: »liste des bourgeois devant nourrir des pauvres par d¦lib¦ration de la communaut¦ et par six commissaires y choisis sur tous les habitants pour l’assistance des pauvres en un temps de calamit¦ et de famine.«837 Von der Höhe des jeweiligen Vermögens machten die Kommissionsmitglieder die Anzahl der durch diese »bourgeois« jeweils zu versorgenden Armen abhängig. Dieses vermögensabhängige Solidarprinzip schien der Stadtführung das geeignete Mittel zur Bewältigung der Armutskrise innerhalb des Gemeinwesens zu sein. Es handelte sich um eine Art Patenschaftsmodell, bei dem die Verantwortung und Eigentumsbindung der Vermögenderen ein Bestandteil war bzw. eingefordert wurde. Hier äußerte sich die Intervention nicht in Form einer bestraft wurde, nachdem er sein Kind getötet hatte, weil es vor Hunger dahinsiechte.« Zitiert nach A. Croix, La Bretagne, Bd. 1, S. 280. 835 Vgl.: E. Rescan / Th. De la FourniÀre, Une communaut¦ protestante en Bretagne: Vitr¦ 1560 – 1685, S. 34 ff. 836 Vgl. die Listen bei Paris Jallobert, Journal historique, S. 50 ff. Dazu auch: E. Rescan / Th. De la FourniÀre, Une communaut¦ protestante en Bretagne: Vitr¦ 1560 – 1685, S. 34 ff. 837 »Liste der Bürger, die gemäß Beschluss der Kommune und der für alle Bewohner eingesetzten Kommissare zum Zwecke der Unterstützung der Armen in der Zeit der Mißernte und Hungersnot die Armen ernähren sollten.« (Paris Jallobert, Journal historique, S. 50).

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reinen anonymen Brotverteilung, sondern war durch Geldgaben, Mietübernahme oder andere Formen der Unterstützung für die jeweils anvertrauten Armen gekennzeichnet. Das Gesicht der Armut wurde also nicht verborgen durch Ausweisung, Abweisung oder Einweisung der Betroffenen und ebenso wenig religiös verklärt und damit ignoriert durch eine allgemeine Bettelerlaubnis, sondern hier fand eine Face-to-Face-Konfrontation statt, bei der die Wohlhabenderen in ihre Verantwortung gerufen und je nach Vermögen für die Versorgung von einem bis maximal zwölf Armen zuständig waren.838 Ein ähnliches System gab es offensichtlich zeitweise in Lyon, wie schon erwähnt.839 Es ist dort in jedem Fall bezeugt für die Notsituation im Jahr 1628, als eine Versammlung der Notabeln dafür votierte, jeden der Notabeln zu ersuchen (oder zu verpflichten?), eine bestimmte Anzahl von Armen mit drei Sous pro Tag zu versorgen.840 Nicht sicher ist, ob die Stadträte in Vitr¦, als sie dieses System des »Patenschaftsmodells« einführten, auf Erfahrungen aus N„mes zurückgriffen, wo dies schon länger praktiziert wurde, wie hier bereits unter der ersten Phase beschrieben. Auch wenn das Besondere an Vitr¦ die bi-konfessionelle Ausrichtung dieser Initiative ist, so wäre der Bezug auf das Face-to-Face-Modell von N„mes, das damals ebenso unter protestantischer Vorherrschaft war wie Vitr¦, sehr naheliegend. Diese Face-to–Face-Konfrontation liegt ganz auf der Ebene calvinischer Theologie. Für Calvin ist der communio-Gedanke in der Frage von Reichtum und Armut ein sehr wichtiger841, der letztlich auch in der franz.-ref. gemeindlichen Armenfürsorge durch die Besuche der Diakone etc. befolgt und auf weitere Weise umgesetzt wurde (s. o.). E. Rescan und Th. De la FourniÀre halten in einer Auswertung der Liste fest: »Les bourgeois catholiques, dans leur majorit¦ (57,6 %), ne nourissent qu’un pauvre , tandis que 65,2 % des r¦form¦s en ont au moins 2 — charge, ce qui confirme le niveau de richesse de ces derniers.«842 Die Protestanten scheinen also im Schnitt die Vermögenderen des Ortes zu sein, aber ihr Vermögen verpflichtet 838 Vgl.: E. Rescan / Th. De la FourniÀre, Une communaut¦ protestante en Bretagne: Vitr¦ 1560 – 1685, S. 34 ff. 839 In Lyon gab es anstelle des indirekten anonymen Beitrags zur städtischen Armenhilfe (Armensteuer) wohl zumindest teilweise auch die Möglichkeit, ein oder zwei Arme unmittelbar auf eigene Kosten zu versorgen – siehe unter Kap. 2.2.2.15 Soziale Gestaltung des Gemeinwesens – Andere kommunale Unterstützungssysteme, S. 133 f. 840 Vgl. W. J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 358. 841 Vgl. zur Koinonia bzw. dem Communio-Gedanken bei Calvin: Kap. 3.1.3 u. 3.1.7. 842 »Die katholischen Bürger ernähren mehrheitlich (57,6 %) jeweils nur einen Armen, während 65,2 % der Reformierten mindestens zwei zur Last haben, was das hohe Niveau des Vermögens der Letzteren bestätigt.« (E. Rescan / Th. De la FourniÀre, Une communaut¦ protestante en Bretagne: Vitr¦ 1560 – 1685, S. 36).

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sie wiederum zu entsprechend stärkerer sozialer Verantwortung. Das wird offenbar ganz konsequent im Sinne calvinischer Sozialethik vollzogen, wie wir noch weiter unten sehen werden.843 Nun könnte man meinen, dass sich diese Verantwortung dabei auf Zugehörige der eigenen Konfession beschränkte oder die Unterstützung von Katholiken dieselben zur Übernahme des reformierten Bekenntnisses bewegen sollte. Aber die zu Unterstützenden waren offensichtlich allesamt katholisch844 und von einer Bekehrungsabsicht oder einem tatsächlichen Bekenntniswechsel dieser Betroffenen erfahren wir auch nichts. Es wäre auch unlogisch, da die »bourgeois« katholischen Bekenntnisses ebenso zu diesem Solidaritätsbeitrag verpflichtet wurden. Dies ist nur ein Beispiel mehr, das zeigt, dass es zu kurz greift, im sozialen bzw. diakonischen Handeln der französischen Protestanten eine überwiegend konfessionalistische bzw. identitätsbewahrende Funktion zu sehen oder diakonisches Engagement der Neuzeit gleich welcher Konfession grundsätzlich darauf zu reduzieren. Das Modell von Vitr¦, wenn auch aus einer besonderen Notsituation heraus geboren, ist geradezu ein Gegenbeispiel. Es zeigt, wie die bewusste Hintanstellung des konfessionellen Aspekts/Interesses der gemeinsamen Sache der Krisenbewältigung und Armenunterstützung am Ort diente. Zweifelsfrei war dies nur in einem Klima möglich, das von einer Existenzberechtigung der jeweils anderen Konfession(szugehörigen) ausging und eine, wenn auch eingeschränkte Toleranz überhaupt erst ermöglichte, wie sie auch durch das Edikt von Nantes vorerst festgehalten wurde. Auch diesbezüglich können wir also von einer Blütephase sprechen, wo solche Kooperationen überhaupt erst gedeihen konnten.

2.4

Diakonische Praxis in der Phase erneuter Restriktion und Repression (1661 bis 1685)

2.4.1 Erneute Veränderung der Rahmenbedingungen Mit der persönlichen Regentschaft Ludwig XIV. bricht eine Epoche an, die in der Geschichtsschreibung des franz. Protestantismus, wie bereits weiter oben erwähnt, als ¦touffement (»langsame Erstickung«, E. Leonard845 / S. Mours846 / J. Garrison847) des Protestantismus bezeichnet wird. Gemeint ist der Versuch des 843 Vgl. Kap. 3.1.5 bis 3.1.7. 844 Siehe dazu die weiter oben im laufenden Text bereits erwähnte an die Geberliste angehängte Liste der 118 zu versorgenden Armen, von denen kein einziger katholisch war. 845 E, L¦onard, Histoire g¦n¦rale du protestantisme, Bd. 2, S. 365. 846 S. Mours, Essai sommaire, B.S.H.P.F CXII, 1966, S. 34 847 Vgl. (in Aufnahme nur leicht abgewandelt) J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 119.

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Hofes bzw. Ludwig XIV., über verschiedene restriktive gesetzliche Maßnahmen sowie restriktive Auslegungen und Ausführungsbestimmungen des Edikts von Nantes und weitere Gesetze mit diskriminierendem Charakter848 sowie andere Repressionen, dem damaligen Protestantismus in Frankreich den Gar aus zu machen, was schließlich in der endgültigen Rücknahme des Edikts von Nantes durch das Edikt von Fontainebleau (1685) gipfelte und eine massenweise Flucht französischer Protestanten nach sich zog. Streng genommen beginnt die Zeit der »langsamen Erstickung« mit ersten Maßnahmen zwar bereits nach dem Frieden bzw. »Gnadenedikt« von AlÀs (1629),849 das die endgültige Zerschlagung der protestantischen politischen und militärischen Gewalt bedeutete, aber unter Ludwig XIV. werden sie erheblich häufiger850, systematischer und rigider durchgeführt.851 Das sieht J. Garrisson ganz ähnlich, jedoch meint sie, den Beginn der »etouffement — petites goul¦es« auf das Jahr 1657 festlegen zu müssen, weil sich zu dem Zeitpunkt bereits die programmatische Absicht Ludwig XIV ankündigte.852 Das erscheint auf der einen Seite nicht zwingend notwendig und macht auf der anderen Seite aber auch keinen wirklich großen Unterschied, was die hier vorgenommene grundsätzliche Phaseneinteilung des diakonischen Engagement der franz. Protestanten betrifft. Fakt ist, dass sich für Frankreich das Blatt für die Außenpolitik zu dieser Zeit völlig wendete. Hatte die außenpolitische Bedrohung Frankreichs 1630 – 1657 für eine Zeit relativer innerer Ruhe aus der Sicht der Protestanten gesorgt, so bedeuteten die politischen und militärischen Erfolge Ludwig XIV. und der damit verbundene Gebiets- und Machtgewinn, die Möglichkeit, dass sich die Krone nun gezielter den innenpolitischen Fragen zuwenden konnte.853 Wirtschaftlich und sozial hatte das Land ohnehin unter den Folgen der aggressiven Machtpolitik des absolutistischen Staates gelitten.854 Damit war also längst eine Handlungsnotwendigkeit gegeben. Getreu dem Prinzip »un roi, une foi, une loi« (Ein König, ein Glaube, ein Gesetz) versuchte Ludwig XIV. die Glaubens- und Kircheneinheit nun auf dem Wege entsprechender Verordnungen etc. zu erzwingen. In der Ideologie des 17. Jh. wurde der religiöse Pluralismus nur als Übel und Schwäche gesehen. E. Labrousse ist beizupflichten, wenn sie sagt, dass die re-

848 Vgl. hierzu J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 127. 849 Vgl. E, L¦onard, Histoire g¦n¦rale du protestantisme, Bd. 2, S. 365; H. Bost, Le protestantisme franÅais au XVII siÀcle, S. 14 ff. 850 Vgl. Tabelle bei J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, im Anhang S. 279. 851 Vgl. wiederum H. Bost, Le protestantisme franÅais au XVII siÀcle, S. 24, E. Labrousse, Le XVII siÀcle, S. 61, H. Dubled, La R¦vocation en marche, S. 25 – 38. 852 J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 119 – 123. 853 Vgl. H. Dubief, Artikel »Hugenotten« in TRE, S. 623; E. Gresch, Die Hugenotten, S. 50. 854 Vgl. E. Gresch, Die Hugenotten, S. 50.

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ligiöse Einheit wie der Zement der politischen Loyalität der Bevölkerung erscheinen musste.855 Folgende Beispiele der gesetzlichen Maßnahmen zur »langsamen Erstickung« seien hier aufgeführt:856 Verbot der Nationalsynoden (bereits 1659); Gottesdienste wurden überwacht; Bestattungen mussten früh morgens oder spät abends stattfinden und ihre Teilnehmerzahl wurde zunächst auf 30 (März 1663) und später auf 10 Personen (September 1664) begrenzt; der öffentliche Psalmengesang wurde verboten (Mai 1659, März u. Dezember 1661); protestantische durften keine katholischen Bedienstete haben und umgekehrt auch nicht; Abschaffung aller temples (»protestantische Kirchen«) und Zerschlagung der Kirchengemeinden, die über keine Schriftstücke verfügten (ab 1661), die ihre Existenz für die Zeit vor dem Edikt von Nantes nachweisen konnten; Aufhebung der letzten gemischtkonfessionellen »chambres de l’¦dit« in Toulouse, Bordeaux und Grenoble, die über die Einhaltung des Edikts von Nantes wachen sollten (Juli 1679); Mischehen wurden verboten; die elterliche Gewalt sollte, was die Religionszugehörigkeit ihrer Kinder betraf, beim 7. Lebensjahr enden (Juni 1681); ein Kind galt auch dann als katholisch, wenn es nur einen katholischen Vater hatte; bei Bekehrungen der Kinder mussten die reformierten Eltern für eine katholische Erziehung aufkommen (November 1664) – später wurden die Kinder den Eltern gewaltsam entrissen und in unterschiedlichen Institutionen »umerzogen«; zunehmend vorangetriebene Entfernung der Hugenotten aus städtischen Ämtern (1680 gibt es kaum noch protestantische Stadträte etc., selbst in protestantisch majorisierten Städten nicht mehr857); Berufsverbote (betraf besonders: Ärzte, Apotheker, Advokaten, Notare, Postangestellte, Drucker, Hebammen (Februar 1680)) und Ausschluss aus den Zünften; Verbot bzw. Schließung protestantischer Schulen und Akademien, steuerliche und finanzielle Vergünstigungen wie Schuldenerlasse und Geldgeschenke aus der Konvertitenkasse für Neukonvertiten, hingegen jedoch finanzielle Lasten und fiskalische Auflagen für Unbekehrte; schließlich die sogenannten »Dragonades« (1681 – wiederholte Einquartierungen von Truppen, meist Dragonern, bei Hugenotten auf deren Kosten mit offizieller Plünderungsfreigabe und der Erlaubnis von Gewaltanwendung zum Zwecke der Bekehrung (Tod ausgenommen). 855 Vgl. E. Labrousse, Les huguenots, Archives nationales, 1985, S. 115. 856 Zu den im Folgenden aufgeführten Maßnahmen vgl.: O. E. Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, S. 161 f.; H.Dubief, Artikel »Hugenotten«, in TRE, S. 625; J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 127 ff; E. Labrousse, La R¦vocation de L’Êdit de Nantes, S. 137 ff. u. 166 ff.; E. Labrousse / R. Sauzet, Au temps du Roi-Soleil, S. 482 ff., H. Bost, Le protestantisme franÅais au XVIIe siÀcle, S. 24 ff. 857 So H. Bost, Le protestantisme franÅais au XVIIe siÀcle, S. 25.

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Die fortschreitende Aushöhlung des Edikts von Nantes bringt J. Garrisson deshalb mit folgenden Worten treffend auf den Punkt: »Dans quel ¦tat est-il quand il approche de sa mort! D¦mantibul¦, vid¦ de son contenu, de sa substance, de sa r¦alit¦, c’est un agonisant que l’on assassine en 1685.«858 Im Blick auf diese Rahmenbedingungen des diakonischen Engagements der franz. Protestanten lässt sich die Zeit ab 1661 (teils auch früher) bis 1685 am ehesten als Phase erneuter Restriktion und Repression kennzeichnen, denn sie berührten, wie im Folgenden noch deutlich wird, einschneidend und nachhaltig auch das diakonische Feld. In ihrer Untersuchung über die diakonischen Einrichtungen der Reformierten Gemeinde von N„mes resümiert C. NÀgre ganz ähnlich auf N„mes bezogen: »Les ann¦es 1660 – 1685, marquent le temps de la r¦pression«859 um dann fortzufahren: »l’obligation pour les r¦form¦s, de cesser leurs actions charitables.«860 Die letzte Aussage widerspricht allerdings ihrem eigenen Zahlenmaterial, das für die Jahre 1650 – 1680 in N„mes sogar einen Anstieg der Armenausgaben der Gemeinde verzeichnet und 1680 am höchsten liegt.861 Die franz.-ref. Gemeinde von Blois hat »in den Jahren 1666 – 1676 bei einem durchschnittlichen Jahresetat von 3 600 livres, 800 – 850 livres für die Armenkasse vermerkt, d. h. etwa ein Viertel ihres Haushalts«862 in jenen Jahren – immerhin. Hierbei ist zudem zu berücksichtigen, dass sie, wie viele andere franz.-ref. Gemeinden ebenso, kaum noch Legate für die Armenfürsorge erhalten hat, da der Zweck der Legate, durch staatliche Gesetzgebung zwangsweise vorgegeben, endlich ausschließlich den städtisch-(katholischen) Armeneinrichtungen zukommen sollte.863 Ob in kleinen Gemeinden wie Guisnes (Calais) oder großen wie in Metz und Bordeaux – überall sprechen die Zahlen der Armengelder oder aber die Existenz von entsprechenden Akten bzw. Protokollbüchern zur Armenversorgung dafür, dass die gemeindliche Armen- und Krankenfürsorge nach 1660 nicht zum Erliegen gekommen ist. Im Gegenteil – sie sind Zeugnis einer regen Aktivität.864 Vieles auf 858 »In welchem Zustand ist das Edikt, als es sich seinem Tod /seinem zeitlichen Ende nähert! Aus den Fugen gebracht, seines Inhaltes, seiner Substanz, seiner Wirklichkeit entleert / beraubt, gleicht es einem Komapatienten / Bewusstlosen, den man 1685 ermordet.«( J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 26). 859 »Die Jahre 1660 – 1685 markieren die Zeit der Repression« (C. NÀgre, les oeuvres n„moises, S. 60). 860 »Der Zwang für die Reformierten, ihre karitativen Aktivitäten zu beenden« (C. NÀgre, les oeuvres n„moises, S. 60). 861 Vgl, C. NÀgre, les oeuvres n„moises, S. 56. 862 Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit der protestantischen Kirchen in Frankreich, S. 69. 863 Nach den Angaben von H. Ochsenbein verschwinden die Vermächtnisse in vielen Gemeinden ab 1660 (vgl. ders., Die diakonische Tätigkeit der protestantischen Kirchen in Frankreich, S. 69). 864 Siehe hierzu weiter unten in diesem Kapitel unter dem Abschnitt »Endgültige Schließung

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dem diakonischen Feld ging ambulant und im klandestinen Raum weiter. Deshalb geht die obige Aussage von C. NÀgre an der Alltagswirklichkeit des franz.prot. diakonischen Engagements jener Zeit eigentlich vorbei. Das Ende der diakonischen Aktivitäten ist noch nicht einmal mit dem Edikt von Fontainebleau erreicht (1685), da die Refugegemeinden ihre eigenen diakonischen Systeme im Exil wieder aufbauen865 und diejenigen, die in Frankreich im Untergrund weiter existieren, auch sehr bald, besonders durch Antoine Court (1695 – 1760) aus dem Exil angestoßen,866 ihre diakonischen Aktivitäten wieder aufnehmen,867 sofern sie sie überhaupt je eingestellt hatten. Grundsätzlich muss man mit J. Garrisson den Fakt festhalten, dass auch die Gemeindeleitungen (Consistoires) teilweise bis 1685 intakt geblieben sind,868 bevor sie dann jedoch durch das Edikt von Fontainebleau (=endgültige Rücknahme des Edikt von Nantes) im selben Jahr verboten bzw. obsolet wurden. Dennoch ist die Aussage von C. NÀgre nicht gänzlich verkehrt, da sie ausdrückt, dass die Protestanten sich nicht ausgesucht haben, sich aus bestimmten diakonischen Aktivitäten zurückzuziehen, sondern von Seiten des absolutistischen Regimes dazu gezwungen wurden. Da der (wenn auch in mehreren Schüben und unterschiedlich dosiert verlaufende) Angriff auf den Protestantismus umfassend war und sowohl seine Institutionen wie Personen traf, war selbstverständlich auch die diakonische Existenz als Teil der Kultusausübung und Kultur des Protestantismus betroffen. Jedoch dürfte darauf bezogen durchaus auch eine Rolle gespielt haben, was einer der herausragendsten katholischen Prediger jener Zeit gegenüber Ludwig XIV. in einer Predigt mit dem Thema »Geheimnis der Trinität« herausstellte: «Vous savez, disait Bourdaloue, en parlant de ces R¦form¦s auprÀs desquels il avait ¦t¦ envoy¦ comme missionnaire dans Les C¦vennes, vous savez comment nos h¦r¦tiques sont unis ensemble, comme ils prennent les int¦rÞts les uns des autres , commes ils se

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protestantischer Hospitäler und Armenhäuser« die dort angeführten Beispiele der ambulaten Armenfürsorge und die entsprechenden Literaturverweise. Vgl. z. B. die auf England und Berlin bezogenen Literaturverweise an zahlreichen Stellen der vorliegenden Studie. Vermutlich aus dem Jahr 1725 stammt ein längerer Brief aus der Feder des in der Schweiz lebenden Exiltheologen Antoine Court, um den er von mehreren Synoden gebeten worden war und in dem er unter anderem ausführlich Stellung bezieht zur Frage der Organisationsform der Armenunterstützung bzw. des Neuaufbaus derselben in Frankreich (vgl. Documents in¦dits et originaux: La Charit¦ des Êglises du D¦sert, Lettre d’exhortation d’Antoine Court pour L’¦tablissement d’une bourse destin¦e au soulagement des pauvres, des confesseurs, et a l’entretien du saint ministÀre, Bull SHPF, (22) 1873, S. 19 – 31). Antoine Court beeinflusste maßgeblich die Geschichte der franz.-prot. Gemeinden im 18. Jh. (vgl. D. Robert, Artikel »Court, Antoine« in: Encyclop¦die du protestantisme (EDP), (Hg.: P. Gisel u. a.), S. 258. Vgl. H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit der protestantischen Kirchen in Frankreich, S. 70. Vgl. J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 194 (vgl. dazu ihre Darstellung).

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prÞtent secours dans leurs besoins, comment leurs pauvres sont, assist¦s, comment ils visitent leurs malades. Ce petit troupeau o¾ ils sont tous ramass¦s. Voil— ce qui les lie!…Voil—, pourquoi ils s’apellent frÀres et se comportent en frÀres! Quelle honte …ils s’unissent et nous nous divisions…»869

Wer, wenn nicht Ludwig XIV. selbst sollte diese Ausführungen besser verstanden haben? Dem, der so sehr auf den Einheitsgedanken bedacht war, musste sofort klar werden, dass die Zerschlagung dieses von Bourdaloue so eindrucksvoll nachgezeichneten Solidarprinzips und seiner Institutionen umgekehrt eine Schwächung des Protestantismus bedeuten und am ehesten noch zu seiner Auflösung beitragen würde, wodurch wiederum die religiöse Einheit des Staates wieder erreicht worden wäre.

2.4.2 Die caisse de conversion und das Argument materieller Absicherung Einer der Versuche der Zerschlagung dieses Solidarprinzips bzw. dieser Solidargemeinschaft war die (zumindest sehr öffentlichkeitswirksame) Einrichtung der Caisse de conversion (»Kasse / Fond zur Bekehrung / für Bekehrte«). Hierbei spielte die schon mehrfach erwähnte Geheimgesellschaft Compagnie du SaintSacrement eine wesentliche Rolle. In den größeren Städten sammelten sich in ihr einflussreiche katholische Hardliner und Scharfmacher, die sich Frömmigkeit, Nächstenliebe, Moral und Rechtgläubigkeit zum Programm gemacht haben und konsequenterweise auch die Bekehrung Reformierter.870 Diese überwiegend fanatisierte Gruppierung »führte einen unerbittlichen Krieg gegen Protestanten und die ›libertins‹«871. Man könnte sie im Vergleich zu anderen katholischen Bewegungen und Gruppierungen der Gegenreformation auch als einen Negativableger derselben bezeichnen, da sie die franz. Gesellschaft und katholische Kirche nicht nach vorne brachte, sondern zurückwarf, gerade, wenn man es vom Endergebnis der Katastrophe von 1685 und ihren Folgen her betrachtet. Man würde es sich allerdings zu einfach machen, allein bei der Compagnie du SaintSacrement die historische Verantwortung für die Geschehnisse festzumachen. 869 «‹Sie wissen‹, sagte Bourdaloue, als er von diesen Reformierten sprach, zu denen er als Missionar in die Cevennnen geschickt worden war, ›Sie wissen, wie sehr unsere Häretiker miteinander vereint sind, wie sie aneinander interessiert Anteil nehmen, wie sie Hilfe leisten in ihren Nöten, wie ihre Armen unterstützt werden und wie sie ihre Kranken besuchen. Diese kleine Herde, als die sie versammelt sind. Da sieht man, was sie verbindet!…Da sieht man, warum sie sich Brüder nennen und auch wie Brüder verhalten. Was für eine Schande!…Sie vereinen sich und wir entzweien uns.‹» (zitiert nach E. Haag, Le protestantisme en favorisant le d¦veloppement de la charit¦, Bull SHPF(1) 1852, S. 215). 870 Vgl. Ch. Bost, Histoire des Protestants de France, S. 135. 871 H. Dubief, Artikel »Hugenotten« in TRE, S. 623.

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Dennoch ist festzuhalten, dass es ihren Mitgliedern gelang, sowohl den katholischen Klerus als auch den Staatsapparat zu beeinflussen.872 Sie spielten auch bei der Etablierung und Leitung der Húpitaux G¦n¦raux eine maßgebliche Rolle, weil sich ihre Ziele zum Teil mit denen der Krone bei der Organisation des Armenwesens trafen,873 auch wenn sich Ludwig XVI. später von ihnen distanzierte und sie sogar verbot. Zunächst wurden sie jedoch im wahrsten Sinne des Wortes sehr »hofiert« und der absolutistische Staat war dankbar für ihre Unterstützung auf vielen Gebieten. Die Idee, eine Kasse oder einen Fond einzurichten, aus dem man Gelder zahlte, um Reformierte zum Übertritt zur röm.-katholischen Konfession zu bewegen, wurde ebenso von ihnen geboren und entsprechend salonfähig gemacht.874 Eine führende Rolle nahm dabei der selbst ehemals reformierte Pelisson ein, der später auch mit der Leitung dieser Einrichtung betraut wurde.875 Neben diesen Willkommensgeldern oder Unterstützungen – manche Betroffene fielen in der Tat aus einem funktionierenden sozialen Netz heraus, wodurch zumindest beim Armenklientel auch eine objektive Versorgungsnotwendigkeit gegeben war – gab es aber noch die bereits genannten anderen gesetzlichen Regelungen, die den Neukonvertierten drei Jahre Schuldenerlass boten, so wie Steuerfreiheiten und umgekehrt Reformierte fiskalisch durch besondere Abgaben und Lasten benachteiligten. In Kombination mussten beide Dinge wie eine Zange wirken. Vermögende hatten genügend Spielräume, Mehrfachbelastungen auf sich zu nehmen,876 weniger Vermögende und Arme jedoch kaum. Die caisse de conversion gab sich einen sozialen Anstrich, war aber alles andere als eine reine Unterstützungsmaßnahme für arme Neubekehrte. Es war der Kauf und Verkauf der Seele, weil für die Bekehrung gezielt mit dem in Aussicht gestellten Geld die Seelen der Einzelnen geworben wurden und zwar keineswegs nur Unterschichtzugehöre und Verarmte.877 Gerade aber auf das Klientel der Armen oder Menschen in Notsituationen und andere Bedürftige bezogen musste die Aussicht auf materielles Wohlbefinden eine besondere Anziehungskraft ausüben. Die Einrichtung blieb jedoch weit weniger erfolgreich als ursprünglich erhofft, unter anderem weil sie bei vielen wegen ihrer Primitivität bald in Misskredit geraten war.878 Wer verkauft schon gerne seine Seele? Und wer applaudiert 872 Vgl. J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 92 ff. 873 Vgl. E. Chill, Religion and Mendicity in Seventeenth-Century France, S. 400 – 425; C. Jones, The charitable Imperative, S. 1 – 47. 874 Vgl. J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 137. 875 Vgl. J. Garrisson, ebd. 876 Vgl. J. Garrisson, ebd., 136 ff. 877 Vgl. J. Garrisson, ebd., 136 ff. 878 Vgl. J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 139.

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schon gerne bei solch einem Vorgehen, das auf »käufliche Gläubige« setzt!? Aus der Sicht Anderer heiligte der gute Zweck der Ausmerzung der unheiligen Häresie und der Rückführung zum »wahren Glauben«, womit die Spaltung innerhalb der Kirche und innerhalb der Gesellschaft ein für alle Male überwunden werden sollte, fast jedes Mittel. Warum sollte da nicht mit Geld nachgeholfen werden, wenn es ohnehin eine breite Basis im Lande dafür gab, dass der Störfaktor endgültig beseitigt werden sollte?879 Wie begegneten die Protestanten dieser Herausforderung, wo sie sich doch für ihre Armen verantwortlich wussten und diese drohten, sich nur aufgrund ihrer Not, von ihnen bzw. ihrem Bekenntnis abzuwenden? Es war dem theologisch-seelsorgerlich zu begegnen durch eine Lehre der Prädestination, die die Erwählung gerade nicht im materiellen Status quo festgemacht oder aufgehen sah, sondern von Gottes freier Erwählung und Gnade sprach, die am Ende in die Seligkeit führt und durch eine Lehre von der Providenz, die in Anbetracht leidvoller Erfahrungen, materieller Not, Entbehrungen und Benachteiligungen, ihr Vertrauen ganz auf Gottes Fürsorge setzte. Hier hatte die franz.-ref. Verkündigung ihren eigentlichen Sitz im Leben. Hier musste und konnte sie sich bewähren und zur Angstüberwindung und Bestärkung im Bekenntnis beitragen. Dazu ist zu verweisen auf den in dieser Arbeit vorfindlichen Abschnitt 3.2 über »theologische- und geistesgeschichtliche Hintergründe und Entwicklungen im französischen Protestantismus vor 1685.«, insbesondere 3.2.3 »Die Lehre von der Prädestination und Providenz im 17. Jh.«. Es war dem gemeindepädagogisch zu begegnen durch die Ausbildung integrer Persönlichkeiten, die unabhängig von ihrer Schichtzugehörigkeit und ihrem materiellen Status in der Lage waren, ihre spirituelle Identität zu reflektieren und sich über diese positiv zu definieren. Hier spielte die bereits erwähnte Bildung eine erhebliche Rolle, da sie identitätsbildend und stabilisierend in der genannten Hinsicht wirkte. Nicht ohne Grund versuchten die Jesuitenschulen zunehmend in Konkurrenz dazu zu treten, wie oben beschrieben. Die protestantischen Armenfreischulen bzw. Förderungen des Schulunterrichts für arme Kinder waren so gesehen auch ein präventives Mittel, um sie ihrer spirituellen und konfessionellen Identität zu versichern. Diakonisch unmittelbar war dem jedoch nur dadurch zu begegnen, dass man die caisse de conversion und die übrigen materiellen Bevor- und Benachteilungen ignorierte und umso mehr die eigene Armenfürsorge als Zeichen funktionierender Solidarität weiter betrieb und stabilisierte. Die Effektivität der franz.879 »Den Untergang des Protestantismus in Frankreich – sei es durch friedliche Rekatholisierung, sei es durch Gewalt – hätte sowohl der Staat als auch die Mehrheit des Volkes begrüßt…« so ganz richtig die Einschätzung auf die zweite Hälfte des 17. Jh. bezogen von H. Dubief (ders., Artikel »Hugenotten« in TRE, S. 623).

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prot. Armenfürsorge scheint ein echtes Hindernis gewesen zu sein für den (nicht höher ausgefallenen) Erfolg der caisse de conversion.880 Oder aber man reagierte darauf ebenso mit Geldzuweisungen bzw. überbot sie, auch wenn das moralisch betrachtet als sehr zweifelhaft erscheinen musste. Dies geschah offensichtlich in der Tat in einigen wenigen Fällen, die uns überliefert sind, wenngleich sie zu den Ausnahmen zu zählen sind. Hier war jedoch nicht der Gedanke der Bestechung leitend, sondern mehr der der Verhinderung eines existentiellen Bankrotts aufgrund der Zugehörigkeit zum protestantischen Bekenntnis oder auch der, die Armen nicht unversorgt zu lassen und zu verhindern, dass sie notgedrungen das Bekenntnis wechseln mussten – so etwa auch durch die Witwe des berühmten Banquiers und Staatsbeamten Barth¦lemy Hervart.881

2.4.3 Endgültige Schließung protestantischer Hospitäler und Armenhäuser und die Folgen Die Exklusions- und Marginalisierungspolitik von Ludwig XIV. gegenüber den Protestanten, die gleichzeitig begleitet war von einem Prozess innerhalb der französischen Armenfürsorge- und Hospitalgeschichte hin zu einer Zentralisierung und vermehrten Errichtung der sogenannten Húpitaux G¦n¦raux als Gründungen des Königs bzw. unter der Regie des absolutistischen Staatsgebildes,882 zeigte sich besonders im demonstrativen Willen zur endgültigen Abschaffung protestantischer Hospitäler und Armenhäuser, die, wie weiter oben zur zweiten Phase erläutert, ohnehin nur mit Genehmigung des Königs errichtet werden durften und sich im illegalen Raum bewegten, sofern sie nicht über eine solche verfügten. Gehäuft und wiederholt erscheinen hier die gesetzlichen Verfügungen unmittelbar vor und zu Beginn der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Ludwig XVI.: 1660, 1663, 1664, 1666 und 1669 wird in den Edikten den Protestanten untersagt, eigene Hospitäler für ihre Kranken zu unterhalten und verordnet, dass alle von Protestanten gegründeten bzw. in deren Trägerschaft befindlichen Hospitäler und Armenhäuser in die Verfügungsgewalt der katholischen Stadträte zu übergeben seien.883 880 Vgl. P. Chaunu, Êglise, culture et soci¦t¦, S. 276 u. R. Stauffenegger, Êglise et Soci¦t¦; Vgl. J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 139. 881 (Vgl. J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 139). 882 Zu diesem Prozess der absolutistischen Hospitalpolitik, der Konkurrenz zwischen Klerus und Krone und insbesondere zu den Húpitaux G¦n¦raux vgl. J. Imbert, Le droit hospitalier, S. 35 – 42 u. 77 – 91. 883 Vgl. H. Dubled, La R¦vocation en marche, S. 35.

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Auffällig ist die Parallelität der Daten, was die Errichtung der Húpitaux G¦n¦raux betrifft. 1661/62 ergehen Edikte zur Einführung der Húpitaux G¦n¦raux an allen größeren Orten.884 Diese Edikte liegen also ebenso zu Beginn der sechziger Jahre, genauer zwischen dem ersten und zweiten Edikt (1660 und 1663), die die Auflösung und Überführung protestantischer Hospitäler anordnen. Das königliche Interesse ist ein zweifaches: Erstens will Ludwig XIV. die Armutsfrage lösen durch Ausbau und Zentralisierung des Hospitalwesens, in der Hoffnung, dass die damit verbundene »Einschließung« der Armen und anderer Gruppen eine Beherrschung der Lage und künftige Kontrolle erlaubt. Zweitens will er durch die Enteignung protestantischer Hospitäler und Armenhäuser sie ebenso dieser Kontrolle unterstellen und gleichzeitig die Solidargemeinschaft der Protestanten, die in seiner Sicht Störfaktoren bzw. Staatsfeinde waren, schwächen und zerschlagen und ihre schwächsten Glieder (Arme, Kranke etc.) zudem der unmittelbaren Kontrolle unterstellen. So ist auch die Schließung des (zunächst tolerierten) protestantischen Hospitals in N„mes im Februar 1667885 in dieser Perspektive völlig konsequent. Wie viele protestantische Hospitäler und Armenhäuser letztendlich tatsächlich geschlossen, enteignet und überführt wurden, ist unklar und ebenso, wie viele im Untergrund womöglich dennoch weiter existiert haben oder neu errichtet wurden.886 Offensichtlich war die Abschaffung dieser Einrichtungen selbst in dieser Zeit zunehmender Repressionen nicht vollständig und flächendeckend gelungen, sonst hätte wohl 1675 kaum erneut die Schließung protestantischer Hospitäler angeordnet werden müssen887. In N„mes wurden die Kranken nach der Schließung des Hospitals im Februar 1667, wie bereits erwähnt, in Privathäusern untergebracht, dort versorgt und gepflegt.888 Aber schon im Januar 1670 erging dazu ein königliches Verbot,889 weshalb sie später in extra gemieteten Räumen untergebracht waren – ebenso wie andere Arme, die in Privathäusern der Protestanten von N„mes versorgt worden waren.890

884 Vgl. J.-P. Gutton, La soci¦t¦ et les pauvres, S. 128 / 129. 885 Vgl. J. Perrier, La querelle des Húpitaux — N„mes, S. 168; C. NÀgre, Les oeuvres n„moises, S. 61. 886 Für beides müssten aufwendige Untersuchungen durchgeführt werden, bei denen zu klären wäre, wie bzw. wo diese Hospitäler überhaupt erfasst wurden. 887 Zu dieser Jahresangabe vgl. M. Dinges, Huguenot Poor Relief, S. 174 u. Brockliss / Jones, Medical world, S. 190 u. 685. 888 Vgl. W. J. Pugh, Social Welfare and the Edict of Nantes, S. 365. 889 Vgl. A. Borrel, Histoire de l’¦glise Chr¦tienne r¦form¦e de N„mes, S. 365 u. W. J. Pugh, Social Welfare and the Edict of Nantes, S. 365. 890 Vgl. W. J. Pugh, Social Welfare and the Edict of Nantes, S. 365.

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Da die Protestanten gleichzeitig auch aus den Hospitalleitungen aller öffentlichen (städtischen oder königlichen) Hospitäler ausgeschlossen wurden891 und damit ohne jeden Einfluss auf die Geschicke der dortigen Klientel waren, wiegte dieser Prozess doppelt schwer. Für das franz.-prot. diakonische Engagement bedeuteten die staatlichen Maßnahmen jedenfalls, dass es sich gezwungenermaßen umso mehr wieder auf die ambulante Versorgung der Kranken und Armen konzentrieren musste, um sie dem Zugriff katholischer Bekehrungsversuche und der Gewissensbedrängung zu entziehen und gleichzeitig die Solidargemeinschaft aufrecht zu erhalten. So beispielsweise in Calais bzw. Guisnes geschehen, wo uns ein Register überliefert ist, in dem die Einnahmen und Ausgaben für die Armen der Gemeinde festgehalten wurden, das just 1660 beginnt und 1681 endet.892 Hier scheint sich das zu dokumentieren, was M. Dinges auch für die protestantische Gemeinde von Bordeaux konstatiert: »in der Zeit zunehmender religionspolitischer Pressionen vor dem Widerruf des Ediktes von Nantes (1685) wurde die Gemeindearmenfürsorge nur noch wichtiger.«893 Mit der von M. Dinges so in den Blick genommenen »Gemeindearmenfürsorge« ist die ambulante gemeint, von der die Konsistorialregister der franz.-prot. Gemeinde von Bordeaux für die Jahre 1660/70 zeugen.894 R. Mazauric kann auf Metz bezogen berichten, dass die dortige intakte Gemeindearmenfürsorge der Reformierten Gemeinde verhinderte, dass ihre Armen ins Hospital St. Nicolas überführt wurden, als dies 1676 für alle Stadtarmen angeordnet wurde (in diesem Fall waren lediglich alle hospitalisierten Armen bzw. potentielles Hospitalklientel gemeint und nicht sogenannte »unwürdige« Arme (Bettler)).895 Das Consistoire von Orl¦ans organisiert die Krankenpflege in Form eines Nachbarschaftsmodells bzw. durch Privatunterbringungen, was die Einzelnen nur noch mal mehr in Verantwortung ruft und die Solidargemeinschaft eher bestärkt als schwächt.896 891 892 893 894 895 896

Vgl. S. Deyon, Protestants, avant et aprÀs la r¦vocation, S. 279. Vgl. W. Minet, the church at Calais and its poor fund; vgl. auch M. Naert, Calais, S. 438. M. Dinges, Stadtarmut in Bordeaux, S. 445. Vgl. M. Dinges, Stadtarmut in Bordeaux, S. 445.. Vgl. R. Mazauric, Le protestantisme en pays messin, S. 58 f. Hierzu sei verwiesen auf das von Y. Gueneau aus dem Jahr 1659 angeführte Beispiel: »Vu les tracasseries faites aux Religionnaires dans les húpitaux, le Consistoire d’Orl¦ans d¦dommage en plus ›la femme du sieur Gobille‹ pour les soins qu’elle accorde aux malades protestants: en Ao˜t 1659 elle recoit chez elle ›un jeune homme de GenÀve bless¦ aux jambes qui estoit sorty de l’Hostel Dieu pour y estre tourment¦ en sa conscience‹; un peu plus tard, elle soigne ›plusieurs journ¦es un jeune homme de Chastellerault malade‹« (»In Anbetracht der Schikanen, die den Religionszugehörigen in den Hospitälern widerfahren sind, entschädigt das Consistoire von Orl¦ans dazu ›die Frau des Herrn Gobille‹ für die Pflege, die sie hat den protestantischen Kranken zukommen lassen: im August 1659 nimmt sie bei sich auf ›einen jungen Mann aus Genf, der an den Beinen verletzt war und aus dem Hostel Dieu entschwunden ist, weil er dort in seinem Gewissen bedrängt /durcheinandergebracht

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Wir können also von einer Verlagerung der diakonischen Aktivitäten in den rein ambulanten Bereich ausgehen, der im franz. Protestantismus ohnehin seit jeher stärker ausgeprägt gewesen war. Am Ende wird auch dieser Spielraum mehr und mehr zu einem klandestinen und immer enger bzw. ganz beschnitten. R. P. Chalumeau zeichnet in seiner Darstellung über die Krankenpflege bzw. Unterstützung der Kranken in Frankreich im 17. Jh. den großen Elan nach, der in dieser Hinsicht von der katholischen Reformation und in ihrem Gefolge von den unterschiedlichen katholischen Orden und Kommunitäten und Laienbewegungen ausging, und fragt schließlich nach dem Beitrag der Protestanten diesbezüglich. Er beantwortet sich die Frage folgendermaßen: »Nous sommes assez mal inform¦s — ce sujet, mais on peut penser que la vie pr¦caire que durent mener les r¦form¦s au XVIIe siÀcle, les d¦tournait d’organiser des oeuvres consid¦rables«.897 Chalumeau wäre zu antworten, dass das weit untertrieben ist, sondern dass vor allem seit Regierungsübernahme Ludwig XVI. vergleichbare Werke und Initiativen ihrerseits schlicht verboten bzw. verunmöglicht wurden. Davon abgesehen aber hatten viele der von Chalumeau sogenannten »Werke« stationären Charakter oder aber waren mit stationären Einrichtungen stark gekoppelt, so dass die Frage nach vergleichbaren Werken auf protestantischer Seite etwas an ihrem Selbstverständnis und ihrer Wirklichkeit vorbei ging, hatten sie doch gerade ihre Stärke in der ambulanten Gemeindearmenfürsorge, die sich nicht als Extra-Werke verstanden, sondern als Bestandteil der Ekklesiologie bzw. Gemeindexistenz in Theorie und Praxis.

2.4.4 Der Versuch der Zerschlagung der franz.-prot. ambulanten Armen- und Krankenfürsorge Je stärker nun also der Druck von außen wurde und je mehr die stationäre Versorgung in eigener Regie staatlicherseits verunmöglicht wurde, desto mehr war die ambulante Gemeindearmen- und -krankenpflege gefragt. Was lag da in dieser Situation näher als auch eine Neubelebung weiblichen diakonischen Engagements vorzunehmen, wie es uns in Sedan, N„mes oder La Rochelle begegnet war?898 So sammelte sich jedenfalls in Paris um Mme Hervart (oder worden ist‹; ein klein wenig später pflegt sie ›mehrere Tage einen jungen kranken Mann aus Chastellereault.‹« – Y. Gueneau, Protestants du Centre 1598 – 1685, S. 349. 897 »Wir sind ziemlich schlecht informiert, was dieses Thema betrifft, aber man kann sich denken, dass das gefahrenvolle Leben, das die Reformierten im 17. Jh. führen mussten, sie davon abgelenkt/abgehalten hat, bemerkenswerte Werke zu errichten.« – R. P. Chalumeau, L’assistance aux malades pauvres au XVIIe siÀcle, S. 86. 898 Zu den Beispielen weiblichen diakonischen Engagements in N„mes, Sedan oder La Rochelle vgl. S… der vorliegenden Arbeit.

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d’Herwart899), Witwe des Bankiers Barthel¦my Hervart, und Mme Monginot eine Gruppe engagierter Frauen. Wie schon aus ihrem Kampf gegen die Caisse de Conversion hervorgegangen war (s. o.), muss Mme Hervart eine beeindruckende, willensstarke und aktive Frau gewesen sein, die sich besonders die diakonische Sache zu Eigen gemacht hatte. Zwar sind uns leider keine Dokumente der Pariser Gemeinde überliefert, die darüber genauere Auskunft geben könnten, aber einem Brief des Staatssekretärs Colbert (Junior) an M. La Reynie vom 23. März 1682 lässt sich Folgendes entnehmen: «Le Roy ayant est¦ inform¦ que Madame d’Hervart et Madame de Monginot font une assembl¦e de dames de la R.P.R. pour assister les pauvres de ladite Religion, Sa Majest¦ m’a ordonn¦ de vous en donner advis et de vous dire ques on intention est que vous empeschiez ces sortes d’assembl¦s qui ne doivent pas estre tol¦r¦es.»900

Es ist offensichtlich, dass es hier um einen Besuchsdienst im Bereich der Armenund Krankenpflege ging, denn, reine Geldausteilungen an die Armen vorzunehmen, war Sache der Diacres bzw. des Consistoire der franz.-ref. Gemeinde und durch diese gewährleistet. Es musste sich also um einen Dienst handeln, der darüber noch hinaus ging und die Diacres oder Anciens entlastete oder zusätzlich unterstützte. Dieser Dienst passte weder in das Konzept der Religionspolitik Ludwigs XIV. noch in das seiner Armenpolitik. Die Religionspolitik zielte auf eine Ausschaltung des Protestantismus und nicht auf die Hinnahme oder gar Förderung erweiterter Aktivitäten. Jegliche Bereiche, wo es da noch irgendwelche Autonomien geben konnte, waren da eher suspekt. Die Armenpolitik zielte auf die Kontrolle der Armen, auf Disziplinierung, »Umerziehung« und eine religiöse Sozialisation, die einzig und allein in der röm.-kath. Konfession den Garant für die Unterordnung und die Aufrechterhaltung der Ordnung sah. Zentralisierung und »Einschließung« in den Húpitaux G¦n¦raux statt Dezentralisierung oder ambulanter, offener Systeme sollten -begleitet von armenpolizeilichen Restriktionen – die Masse der Armen und Bettler kontrollierbarer und gefügiger machen und verhindern dass der Hunger und der Kampf ums Überleben umschlagen in revolutionäre Aktivitäten. 899 In der Literatur begegnet ihr Name in unterschiedlichen Schreibweisen – mit oder ohne »de« (bei J. Garrisson ohne »de« – vgl. dies., L’Êdit de Nantes et sa R¦vocation, S. 139; im nachfolgend zitierten originalen Brief von Colbert (Junior) hingegen mit »de«). 900 «Nachdem der König informiert worden ist, dass Madame d’Hervat und Madame de Monginot eine Versammlung mit (anderen) Damen der R.P.R. abhalten, um die Armen der genannten Religion zu unterstützen, hat er mir aufgetragen, Sie darüber in Kenntnis zu setzen und Ihnen zu sagen, dass es seine Absicht ist, dass Sie diese Art von Versammlungen verhindern / unterbinden, die nicht toleriert werden dürfen.» (Zitiert nach N. Weiss, Pr¦paratifs de la R¦vocation de l’Êdit de Nantes, B.S.H.P.F., Jg. II, 1853, S. 168).

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Ganz ähnlich muss in der Situation zunehmender äußerer Bedrückung in der neuen Ära der Regentschaft Ludwigs XVI. auch in N„mes selbst in den sechziger Jahren der Besuchsdienst der d–mes de la charit¦ dort wieder intensiviert worden sein.901 Fakt ist, dass sie wieder mehrfach und regelmäßiger in den Protokollen des Consistoire begegnen. Entgegen W. J. Pugh, die hierin eine Nachahmung vergleichbarer Initiativen aus dem katholischen Raum vermutet (siehe z. B. die »Schwestern der Barmherzigkeit« von Vincent de Paul), um mit diesen konkurrenzfähig zu bleiben, ist nach den Darstellungen in den vorangehenden Abschnitten deutlich, dass sie eigenen Vorbildern und Traditionen zu verdanken sind und keineswegs ein Produkt konfessionalistischen Wetteiferns im Bereich der Armenfürsorge darstellen. Allenfalls sind umgekehrt die Initiativen weiblicher karitativer Tätigkeit im katholischen Bereich des 17. Jh. als eine Reaktion und ein Produkt der Gegenreformation zu sehen. Sie rühren daher, dass der damalige Katholizismus durch das starke Engagement der Protestanten in der Basisarbeit der Gemeindearmenfürsorge gefordert war, hier eine Lücke zu füllen, um selbst konkurrenzfähig bleiben zu können. Auch speziell das Vorbild weiblicher ambulanter Armen- und Krankenpflegedienste auf Gemeindeebene lag ja auf protestantischer Seite längst vor (filles de Sedan etc.902) noch lange bevor es im katholischen Raum auf der Bildfläche erschien in Form etwa der »Schwestern der Barmherzigkeit« eines Vincent de Paul. Die protestantischen weiblichen Besuchs- und Pflegedienste gewannen nun nur erneut an Bedeutung, wo alles gefragt war, was die franz.-prot. Solidargemeinschaft irgendwie stützen konnte. Sie war Ziel der Angriffe, aber wurde doch hier und da entgegen der Absicht der Aggressoren eher bestärkt als zerstört. Der Tritt in den Ameisenhaufen führte zumindest an einigen Orten eher zu einer überhöhten Aktivität als zu Lethargie. Ende der fünfziger und im Verlauf der sechziger Jahre versuchte die Regierung durch Dekrete und Gesetze nicht nur das Hospitalsystem der Protestanten auszuschalten (s. o.), sondern auch den ambulanten diakonischen Bereich der franz.-prot. Gemeinden zu treffen und massiv zu schwächen, indem sie Vorgaben für Legate machte und dahingehend regulierte, dass, sofern es karitative Zwecke betraf, die Vermächtnisse grundsätzlich nicht mehr zugunsten der Armenkassen der Consistoires bzw. franz.-ref. Gemeinden vorgenommen werden durften.903 In N„mes allerdings widersetzten die Protestanten sich dem staatlichen Dekret, das am 11. Januar 1657 erlassen und im Jahr 1661 offensichtlich erneut verkündet werden musste – dort wurde offenbar nicht nur im Blick auf 901 Siehe W. J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 367, bes. Anm. 83 und vgl. dazu unter Kap. 2.4.7. 902 Dazu siehe Kap. 2.2.2.2; 2.2.2.14 u. 2.3.6.4. 903 vgl. W.-J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 367 f.; H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit der protestantischen Kirchen in Frankreich, S. 69.

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Legate, sondern auch auf andere Gaben bezogen bestimmt, dass sie nur zur Unterhaltung der Ministres (»Diener am Wort« = Pastoren) dienen durften, nicht aber für andere Zwecke wie der gemeindeeigenen Armenversorgung.904 Auch diese Maßnahme ist nicht ausschließlich unter religionspolitischem Aspekt zu sehen, sondern auch im Kontext der damaligen Armenpolitik: sie sollte gleichzeitig der Zentralisierung der Armenpflege und der Kontrolle ihrer Einrichtungen und des Klientels dienen und war so gesehen konsequent in der Linie der absolutistischen Politik. Karitative Zweckbestimmungen in protestantischen Legaten durften nur noch ausschließlich den städtischen Armenfonds und Hospitälern zufließen, die mittlerweile alle in katholischer Hand waren, weil Ludwig XVI. durch die Armereformen wie auch durch die Entfernung der Protestanten aus den Stadtführungen dies gesetzlich so verfügt hatte. Das Beispiel der protestantischen Legate der Gemeinde Oloron (Basse Pyren¦es) in den sechziger und siebziger Jahren zeigt auf dem Papier, wie die protestantischen Legate tatsächlich fast ausschließlich nur noch die Ministres (Pastoren) bzw. das Consistoire und die städtische Armeneinrichtung (»pauures de l’hospital public«) bedachten. Bei diesem Dokument das bei eigenen Recherchen in den Archives Nationales von Paris zu Tage gefördert und gesichtet wurde, handelt es sich um einen Bericht des zuständigen Consistoire bzw. eine Offenlegung der Diacres gegenüber den staatlichen Stellen aus dem Jahr 1683 betreffend die Zweckbestimmungen der Legate ab 1659. bzw. 1662.905 Von den dort aufgeführten acht Legaten aus der Zeit ab 1659 haben vier neben der Bestimmung für das Consistoire als soziale Zweckbestimmung das städtische Hospital im Blick.906 Lediglich in einem einzigen Fall wird auch die Armenversorgung der Gemeinde bedacht, allerdings nur zusätzlich zur Zweckbestimmung für die Hospitalarmen.907 Auf den ersten Blick scheint der Befund eindeutig zu sein, dass Erblasser und Gemeinde sich treu an die gesetzlichen Vorgaben gehalten haben. Aber allein aus den dann folgenden Erläuterungen der Diacres, die unter anderem benennen, dass ihnen von vielen Testamenten gar keine Kopien vorlägen,908 lässt sich schon entnehmen, dass es ein Unterschied ist, was von ihnen deklariert wird und was nicht und was schriftlich fixiert wurde und nachzulesen ist oder auch nicht. Die praktische Überprüfbarkeit scheint jedenfalls mit einigen Fragezeichen verbunden gewesen zu sein. Zudem finden sich offensichtlich zahlreiche Beispiele aus franz.-prot. Gemeinden, deren Erblasser sich einfach über die gesetzlichen Vorgaben hinweggesetzt und weiterhin die eigene Gemeindearmenfürsorge bedacht haben. In 904 905 906 907 908

vgl. W.-J. Pugh, Social welfare and the edict of Nantes, S. 367 und dort Anm. 82. Vgl. A.N.: TT 261, Pochette »Oloron«, fol. 10 – 14, 30. 03. 1683. Vgl. A.N.: TT 261, Pochette »Oloron«, fol. 10 – 14, 30. 03. 1683. Siehe ebd. Siehe ebd.

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N„mes macht der Anteil der Legate im Jahr 1674 immerhin 50 Prozent der Einnahmen an gemeindeeigenen Armengeldern aus.909 Wer wollte die Verstorbenen für ihr Zuwiderhandeln auch haftbar machen können? Von dem Consistoire konnten die staatlichen Behörden die Gelder nur einfordern, sofern sie ihnen überhaupt nachweisen konnten, dass sie Erbschaften zugunsten der eigenen Armenversorgung empfangen haben. Einen nur sehr bedingten Einfluss auf die Abfassung der Testamente und Kontrolle derselben gab es durch das Berufsverbot protestantischer Notare. Dass die königliche Anordnung, was die Legate betrifft, ignoriert und unterlaufen wurde, können wir auch einer Bemerkung des Bischofs von Montpellier jener Zeit entnehmen. In einer Stellungnahme zu Beschwerden der Protestanten im Blick auf Benachteiligungen ihrer Klientel im städtischen Hospital etc. warnt er sie, dass, wenn sie ihm weiter Druck machen würden, er ihnen wiederum damit Druck machen würde, ihre illegale Legatspraxis auffliegen zu lassen, der gemäß sie weiterhin, obwohl es die königlichen Verlautbarungen anders verfügen, in ihren Testamenten ihre gemeindeeigene Armenfürsorge bedenken und favorisieren würden statt, wie gesetzlich vorgesehen, die des Hospitals, von dem auch ihre Armen Nutznießer seien.910 Auch wenn sich die Vorgabe für die Legate auf das Verhalten der Erblasser und die Einnahmen der gemeindlichen Armengelder in einigen Fällen durchaus tatsächlich negativ ausgewirkt haben mag,911 so dürfte diese Maßnahme, wie oben beschrieben, aber teils auch auf manche Weise umgangen worden sein, unter anderem weil es gar nicht immer kontrollierbar war oder das Legat kurzerhand als »Don« (»Schenkung«) vor dem Ableben umgewandelt worden ist, ohne es aber genauer zu dokumentieren. In dieser Situation waren grundsätzlich umso mehr die regelmäßigen Gemeindesammlungen gefordert und damit die Gebebereitschaft bzw. Solidarität der Gemeindemitglieder. Der franz.-ref. Gemeinde von N„mes gelang es, durch die Aufrechterhaltung der Solidargemeinschaft unter diesen erschwerten Bedingungen im Bereich der ambulanten Gemeindearmenfürsorge, noch Akzente zu setzen, als sich eine Krise ganz anderer Art anbahnte: die der Seidenmanufakturen Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre. Während dem die Húpitaux G¦n¦raux – so 909 C. NÀgre, Les oeuvres n„moises, S. 58. 910 Vgl. A.N.: TT 256/B, »Memoires au sujet de differend entre les catholiques et ceux de la R.P.R.«, darin fol. 715 (ohne Datum): »Sur les demandes que font au Roy les deputes de Ceux de la Rel.P.R. du Languedoch [sic.]«, Punkt 48. 911 Neben dem zuvor erwähnten Beispiel eigener Recherchen sei auf die folgende Literatur verwiesen: W.-J. Pugh stellt für N„mes einen Rückgang der Legate mit Zweckbestimmung für die Armen bzw. Armengelder der Gemeinde fest (vgl. dies., Social welfare and the edict of Nantes, S. 367 f.; ähnlich auf Grenoble bezogen M. Dinges, Huguenot poor relief and health care, S. 163; grundsätzlich vgl. auch H. Ochsenbein, Die diakonische Tätigkeit der protestantischen Kirchen in Frankreich, S. 69.

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auch dasjenige in N„mes – noch in den neunziger Jahren für ihre Armenkinder und Waisen und übrige »Insassen« voll und ganz auf reine Hilfs- und Zulieferarbeiten in der Seiden- und Wollmanufakturbranche setzten,912 bevorzugte die hugenottische Gemeindearmenfürsorge als präventive Maßnahme zur Vermeidung von Armut die Vermittlung in echte Lehrberufe in vorwiegend anderen (Manufaktur-)Bereichen, so jedenfalls besonders in der Krisenzeit der Seidenindustrie, zwischen 1678 und 1682,913 um den Betroffenen eine Zukunft zu gewährleisten. Hierbei handelte es sich nach den Aussagen von W. J. Pugh nicht um die Vermittlung weniger Einzelner, sondern um »an unusually large number of boys«914, die erfolgreich vermittelt wurden. Im Berliner Refuge wird den Hugenotten das Erleben einer Manufakturkrise erneut begegnen. Es ist auffällig, wie auch dort von franz.-ref. Seite diakonisch durch präventive Maßnahmen eine Zementierung von Abhängigkeitsverhältnissen durch einseitige Ausrichtung auf bestimmte Produktionszweige in Form vermieden wurde und durch entsprechende Ausbildungen und Qualifizierungen anstelle von Hilfsarbeiten und reinen Beschäftigungsarbeiten ganz ähnlich auf die Krise reagiert wurde.915 Die Angriffe auf die franz.-prot. ambulante Gemeindearmenpflege rissen indessen nicht ab. Mehrere Verordnungen oder Verordnungskomplexe griffen erheblich in die Struktur ein und bedeuteten entweder eine Bemächtigung der Armen oder aber erschwerten bzw. verhinderten die alltägliche Unterstützungspraxis. Als Erstes ist der gesetzlich legitimierte bzw. verordnete Entzug bzw. die »Umerziehung« von Kindern zu nennen, so wie die den Elternteilen aufgezwungene Finanzierung der Unterbringung und »Umerziehung« ihrer Kinder. Die Kinder gemischtkonfessioneller Paare sollten gesetzlich vorgegeben (Februar 1663) automatisch katholisch erzogen werden.916 Darüber hinaus verfügte der Conseil du roi im November 1664, dass sich Mädchen ab 12 Jahren und Jungen ab 14 Jahren selbständig zur katholischen Konfession bekehren dürften und dass deren Eltern in diesen Fällen jedoch weiterhin auch außerhalb des Familienhaushalts zu deren Unterhalt verpflichtet wären.917 Das wird am 24. Oktober 1665 dahingehend präzisiert, dass die Kinder ein Recht hätten von ihren Eltern eine Pension zu fordern, was wiederum die Grundlage dafür sein sollte, dass diese den katholischen Institutionen (Kommunitäten, Hospitäler 912 913 914 915 916

Vgl. W. J. Pugh, Social welfare and the Edict of Nantes, S. 371. Vgl. W. J. Pugh, Social welfare and the Edict of Nantes, S. 368. Vgl. W. J. Pugh, Social welfare and the Edict of Nantes, S. 368. Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. Vgl. Ch. Bost, Histoire des Protestants de France, S. 142; vgl. J. Garrisson, L’¦dit de Nantes et sa R¦vocation, S. 141. 917 Vgl. J. Garrisson, LÊdit de Nantes et sa R¦vocation, S. 142.

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und Einrichtungen für Neukonvertierte) zukommen sollte.918 Hier beginnt die – später dann gänzlich zwangsweise – Unterbringung von Protestanten in Hospitälern und ähnlichen Einrichtungen zur »Umerziehung«. Mittellose Eltern oder Eltern mit geringem Einkommen werden kaum in der Lage gewesen sein, die zusätzlich anfallenden Pensionen zu zahlen. Viele dürfte das in solchen Fällen an die Armutsgrenze gebracht oder nur noch tiefer in die Armut gestürzt haben. 1681 wird dann das Alter der »Religionsmündigkeit« sogar noch herabgesetzt auf das 7. Lebensjahr.919 Uneheliche Kinder, so verfügte wiederum ein weiteres Gesetz vom 31. Januar 1682, sollten unmittelbar den Eltern entzogen und zwangsweise in der röm.-kath. Konfession erzogen werden.920 Die Auflösung und Spaltung bzw. Trennung von Familien brachte ganz neue soziale Probleme für die Gemeinden und die Betroffenen mit sich, die nicht nur angemessener diakonischer, sondern ebenso seelsorgerlicher Begleitung bedurften. Die zweite Art von Verordnungen bezog sich auf einen Bereich, durch den sie erheblich in die gemeindliche Krankenpflege der franz. Protestanten eingegriffen haben: Es ging letztlich um die Bedrängung der Gewissen am Krankenund Sterbebett. Im Mai 1663 ergeht ein Beschluss des Königs, der erlaubt, dass ein katholischer Geistlicher, begleitet von einem Richter, bei protestantischen Schwerstkranken vorstellig werden kann, um sie zur Abschwörung zu bewegen.921 1680 wird diese Verordnung zunächst wiederholt.922 Dann ergeht eine ganz ähnliche Verordnung, die sich jedoch radikaler und systematischer ausnimmt: Diesmal werden die Mitglieder der Stadträte dazu verpflichtet, von einem Geistlichen begleitet, solche Besuche gezielt vorzunehmen.923 Die protestantische Bevölkerung wird ebenso per Gesetz entsprechend dazu verpflichtet, solche Fälle Sterbenskranker anzuzeigen.924 Wieder andere Verordnungen tangieren Räumlichkeiten und Ausführende der gemeindlichen Armen- und Krankenpflege. Nachdem von Regierungsseite in den sechziger Jahren zunächst versucht worden ist, das protestantische Hospitalwesen zu zerschlagen, folgten nun weitere Maßnahmen, die im Raum der ambulanten Krankenpflege anzusiedeln sind. Auch dieser sollte beschnitten werden, um das Solidarsystem weiter zu brechen. So erging 1670 schließlich das Gesetz, dass die Krankenpflege der Armen in privaten Räumen nicht erlaubt 918 919 920 921 922 923 924

Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. H. Bost, Le protestantisme franÅais au XVII siÀcle, S. 24. Vgl. H. Bost, Le protestantisme franÅais au XVII siÀcle, S. 26. Ch. Bost, Histoire des protestants de France, S. 142. Vgl. O. E. Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, S. 162.

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sei.925 Das war ein Problem für die franz.-prot. Diakonie, die sich genau dahin gezwungenermaßen fast vollständig verlagert hatte. Auch diese gesetzlichen Vorgaben sollten aber nicht lediglich als Schikane gedeutet werden aufgrund bestimmter religionspolitischer Ziele und staatspolitischer Optionen, sondern liegen ganz auf der Linie der absolutistischen Armen- und Hospitalpolitik, die ja auf Zentralisierung und Sammlung in den Húpitaux G¦n¦raux aus war. Die Nachbarschaftshilfesysteme und die Vermittlungen Hilfsbedürftiger in die Haushalte kompetenter Personen (Ärzte, Pflegekräfte oder betuchte Persönlichkeiten) waren aber aus franz.-ref. Sicht die Basis des diakonischen Miteinanders und die Voraussetzung dafür, dass überhaupt noch medizinische, pflegerische und soziale Hilfe geleistet werden konnte. So wurde von den Consistoires das Verbot dadurch umgangen bzw. aus den Angeln gehoben, dass, wie in N„mes geschehen, von ihm extra Räume dafür angemietet wurden (s. o.). Endlich, nachdem also auch diese gesetzliche Maßnahme nicht zum gewünschten Erfolg geführt hatte, also zur Ausschaltung des Hilfesystems und zwangsweisen Integration der Hilfsbedürftigen in den katholisch-staatlichen Einrichtungen, wurde eines der letzten möglichen Mittel bemüht: das Berufsverbot.

2.4.5 Berufsverbote im medizinischen, pflegerischen und sozialen Bereich als Eingriff in den Bereich der gemeindlichen ambulanten Armen- und Krankenpflege Von Ludwig XIV. verfügte Berufsverbote für die Protestanten gab es in vielen Bereichen. Zuallererst betrafen sie städtische Beamte, dann aber auch bestimmte Handwerkszweige bzw. Zunftangehörige und besonders juristische Berufe.926 Es ist jedoch auffällig, dass sich etwa die Hälfte seiner umfangreichen Gesetze zur Erteilung von Berufsverboten auf das Gesundheitswesen bezog927 – vermutlich, weil sie durch das religionspolitische und gleichzeitige armen- und hospitalpolitische Interesse doppelt motiviert waren. Das erste Berufsverbot in diesem Bereich betraf die Hebammen und erging im Februar 1680.928 Ph. Joutard ist zuzustimmen, wenn er kommentiert, dass diese zwar in der Hierarchie des 925 Vgl. A. Borrel, Histoire de l’¦glise Chr¦tienne r¦form¦e de N„mes, S. 60 u. W. J. Pugh, Social Welfare and the Edict of Nantes, S. 365. 926 Vgl. Ph, Joutard, Les professions de la Sant¦, S. 2; L¦on Pilatte, Êdits, d¦clarations et arrests concernant la religion P. r¦form¦e, S. 1 ff. 927 Vgl. Ph, Joutard, ebd.; L¦on Pilatte, Êdits, d¦clarations et arrests concernant la religion P. r¦form¦e, S. 1 ff. 928 Vgl. Ph, Joutard, ebd.; L¦on Pilatte, Êdits, d¦clarations et arrests concernant la religion P. r¦form¦e, S. 49 – 50.

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Gesundheitswesens ganz unten standen, aber strategisch betrachtet am wichtigsten waren929 – es ermöglichte eine Art Geburtenkontrolle ganz anderer Art. Ein anderes folgenreiches Berufsverbot im Gesundheitswesen erging erst zwei Monate vor der Rücknahme des Edikts von Nantes (18. Oktober 1685), also im August 1685 und betraf die »m¦decins« (»Mediziner«) , von denen viele in diesen Bereich ausgewichen waren, nachdem ihnen bereits die juristischen Berufe untersagt worden waren.930 Wenige Wochen später folgte auch das Verbot für die »chirurgiens« (»Chirurgen«) und die »apoticaires« (»Apotheker«), das allen franz.-prot. Chirurgen und Apothekern untersagte, «d’excercer leur art, soit par eux-mÞmes, soit par personnes interpos¦es, afin d’empÞcher les mauvais effets que produit la facilit¦ que leurs professions leur donnent d’aller fr¦quemment dans toutes les maisons, sous pr¦texte de visiter les malades, et d’empÞcher par l– les autres religionnaires de se convertir — la Religion Catholique.»931

Dem Wortlaut des Gesetzes ist zu entnehmen, dass Ludwig XIV. und seine Hofjuristen und Berater sehr wohl ein Gespür dafür hatten, welch hohen Stellenwert die ambulante Krankenversorgung und Besuchspraxis in der Solidargemeinschaft der franz. Protestanten hatten – soziale und religiöse Kontrolle durchaus eingeschlossen. Der Protestantismus verfügte im 17. Jh. außerdem über ein hohes medizinisches Niveau,932 das damit von heute auf morgen mit einem Federstreich ausgelöscht war. Allerdings waren diese Berufsverbote für die franz.-prot. m¦decins, chirurgiens und apoticaires eigentlich obsolet und man fragt sich, warum sie überhaupt noch erteilt wurden, denn bereits ein Jahr zuvor erging am 4. September 1684 die Verfügung des königlichen Rates, dass arme und kranke Hugenotten (nur) von röm.-kath. Medizinern, Chirurgen und Apothekern versorgt bzw. behandelt werden sollen.933 Offensichtlich haperte es auch hier an der ausreichenden Möglichkeit zur Umsetzung und Kontrolle der Einhaltung des Gesetzes.

929 Vgl. Ph, Joutard, ebd.. 930 Vgl. Ph, Joutard, ebd. 931 «ihre Kunst auszuüben, sei es von ihnen persönlich, sei es vermittelt durch andere Personen, um die [möglichen] Negativeffekte zu verhindern, die sich von den Möglichkeiten ihres Berufes her ergeben, dass sie regelmäßig in alle Häuser gehen unter dem Vorwand, de Kranken zu besuchen, und dadurch die anderen Religionszugehörigen daran zu hindern, sich zur Katholischen Religion zu bekehren.» (Zitiert nach L¦on Pilatte, Êdits, d¦clarations et arrests concernant la religion P. r¦form¦e, S. 237 – 238, vgl. auch Ph. Joutard, Les professions de la Sant¦, S. 2). 932 Vgl. J.-P. Pittion, Protestantisme et m¦dicine sous l’Êdit de Nantes, S. 3 – 6. 933 Vgl.E. Gresch, Die Hugenotten, S. 52 und J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa R¦vocation, S. 195.

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2.4.6 Konfiszierung des Gemeindevermögens einschließlich der Armengelder Zweifellos traf die franz.-prot. Gemeindearmen- und Krankenpflege aber mindestens ebenso sehr, wenn nicht gar am meisten der folgende Gesetzeskomplex. Am 21. August und am 11. Dezember 1684 bestimmten königliche Verlautbarungen (ähnlich bereits am 15. Juni 1683934), dass das Vermögen der (für nicht mehr existent erklärten) franz.-prot. Gemeinden, d. h. der Consistoires einschließlich der Armengelder (Vermächtnisse bis auf das Jahr 1661 zurückgehend eingeschlossen) in den Besitz der örtlichen Hospitäler übergehen sollen, also verstaatlicht werden.935 Vorausgegangen war vielerorts bereits die Zerstörung der temples im Verlauf der zurückliegenden Jahrzehnte (seit den sechziger Jahren) durch die Einführung der chambres de l’Êdit und die strikte Überprüfung der Gemeinden und die Forderung nach schriftlichen Nachweisen für die Existenz der Gemeinden und Kirchengebäude vor 1598, ohne denen sie der Zerstörung preisgegeben waren.936 Allein an einem einzigen Tag, nämlich dem 5. Oktober 1663, wurden in Folge der Untersuchungen 135 Kultausübungen untersagt, was die entsprechende Zerstörung der temples (=protestantische Gotteshäuser) nach sich zog, sofern diese überhaupt noch existierten.937 Zahlreiche – auch selbst gesichtete – Listen der nunmehr in den Jahren ab 1684 konfiszierten Güter, die sich in den verschiedenen Archiven befinden, zeugen nicht nur vom intakten geistlichen Leben der Gemeinden, sondern auch von der vielerorts nicht minder intakten diakonischen Existenz (entnehmbar den aufgeführten Armengeldern, Schenkungen, Legaten, Immobilien und »Armenhäusern« etc.).938 Sie sind allerdings so disparat und auch in ihrer Syste934 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants sous l’Ancien R¦gime, Jg. 131, 1985, S. 183. 935 Vgl. z. B.: A.N.: TT 231 (Memoire des biens des Consistoires de la g¦n¦ralit¦ d’amiens). Sowohl das Hotel Dieu als auch das Húpital – beide in katholischer Hand – sollen gleichermaßen von den Geldern der Verstaatlichung profitieren vgl. ebd.). Vgl.: A.N.: TT 241 »Registres des consistoires de 1635 — 1663« bzw. »papier du Consistoire de L’Êglise r¦form¦e de Chez¦ commenc¦e le 21 Juin 1635«, (»deniers des pauvres«), fol.231 – 282. Vgl auch: vgl. auch J. Imbert, L’hospitalisation des protestants sous l’Ancien R¦gime, Jg. 131, 1985, S. 183); J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa R¦vocation, S. 194. 936 Vgl. J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa R¦vocation, S. 122 – 126.. 937 Vgl. J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa R¦vocation, S. 126. 938 Vgl. A.N.: Serie TT 231 »Memoire des biens des Consistoires de la g¦n¦ralit¦ d’amiens«; TT 241, fol.231 – 282 »Registres des consistoires de 1635 — 1663« bzw. »papier« du Consistoire de L’Êglise r¦form¦e de Chez¦ commenc¦e le 21 Juin 1635 (»deniers des pauvres«); TT 243, fol. 50 – 70: »Estat des biens des consistoires de la province de Dauphin¦«; F. 300 – 336 Memoire …de Mr. Bouchu, Intendant de Dauphin¦ (10. Januar 1692) – darin heißt es: »Le Roy par la Declaration du 27. Janvier 1683 fit don des biens des pauures de la R.P.R. aux hopitaux les plus proches des lieux de leur situation. Cette declaration a est¦ confirm¦e par une autre du 21. aoust 1684 par laquelle Sa Majest¦ –jout— aupremier don celuy des biens des consistoires Suprim¦s ou a suprimer«; TT 256/B (Montpellier) fol. 1123 – 1128 (Consistoire de Montpellier : Estat des Biens que les pauures de l’hospital g¦n¦ral de Montpellier Jou-

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matik so unterschiedlich, dass ihre Erforschung einen langen Zeitraum einnehmen würde, bevor man zu aussagekräftigen und verlässlichen Aussagen über den materiellen Wert oder gar zu daraus abzuleitenden Ergebnissen gelangen könnte. Damit nicht zu verwechseln sind die Konfiszierungen und entsprechende Listen von privaten Gütern geflüchteter Hugenotten, überwiegend erst nach der großen Fluchtwelle von 1685 erstellt.939 Kaum glaubwürdig, aber raffiniert fällt die Antwort des Consistoire von Rouen aus, als der zuständige Intendant der G¦n¦ralit¦ von Rouen Mons. De Marillac es aufforderte, die Legate und Akten herauszugeben, die Auskunft über die Vermögen geben könnten, die für die Versorgung der Armen gedacht waren und gemäß der Verordnung des Königs nunmehr dem Hospital zustehen würden. Die Mitglieder des Consistoire behaupten, sie würden zum Unterhalt ihrer Hospize und ihrer Armen nur die jeweiligen Einnahmen ihrer Kollekten verwenden.940 Das Beispiel aus dem Alltag der Gemeinden in dieser neuen Situation unmittelbar vor der Rücknahme des Edikts von Nantes zeigt: Immer noch versuchen die verschiedenen Gemeinden offenbar alle möglichen Spielräume und Überlebensstrategien zu nutzen und sei es die der Notlüge, um letztlich der Wahrheit die Ehre zu geben.941

2.4.7 Hospitalisierung der franz. Protestanten in der Zeit von 1660 bis 1685 und nachfolgend – Funktion und Bedeutung der Hôpitaux Généraux Vor dem Hintergrund der oben bis zum Schluss beschriebenen Entwicklung, kann man J. Imbert nur beipflichten: »On ne s’¦tonnera donc pas que l’¦dit de Fontainebleau du 17 octobre 1685 portant r¦vocation de l’Êdit de Nantes ne souffle mot du problÀme hospitalier, puisque la question ne se pose plus en droit issent. Et qui ont appartenu aux pauures qui faisaient cydeuant Profession de la R.P.R. de lad. Ville Eng Consequence de l’arrest du parlement de Toulouze du Xe. decembre 1681); TT 261, fol. 768: Perigueux – memoire des biens des consistoires du dioceze de Perigueux. A.D.H.: C 275 »Etat des biens ayant appartenu aux pauvres de la religion r¦form¦ et dont jouit l’Húpital-G¦n¦ral de Montpellier«, 1687 – 1690; C 276 »Etats des biens des consistoires de la religion r¦form¦e…du diocÀse d’Alais«, 1686 – 1691; C 277 »Etats des biens…et legs des consistoires suprim¦s dans les diocÀses de Causerans, Lavaur, Alby, Castres, B¦ziers« (1690); 55. E d¦pút Ganges (GG 33) »Legs aux pauvres protestants«, 1644 – 1664; 56. E d¦pút Ganges (GG 33) »Legs aux pauvres protestants«, 1670 – 1680 u. a. 939 Vgl. hierzu: Nagali Schaffer, La r¦vocation de l’¦dit de Nantes et les biens des religionnaires fugitifs en Languedoc (Cahiers de l’Economie m¦ridionale 6), Montpellier 1985; E. Jahan, La confiscation des biens des religionnaires fugitifs, Bull SHPF (108) 1959. 940 Vgl. Bull SHPF (128) 1979, S. 542. 941 Das Consistoire bzw. die franz.-ref. Gemeinde von Rouen war mit Dons und Legaten durchaus gesegnet. Das geht hervor aus einer Übersicht aus den Archives de l’Hospice g¦n¦ral de la ville de Rouen, Registre F. 183, das sich abgedruckt auch findet unter »Documents«, in: Bull SHPF (72) 1923, S. 251 ff.

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sinon en fait.«942 In dieser Situation, in der letztlich spätestens durch die Rücknahme des Edikts van Nantes Arme wie auch die sie versorgenden Gemeindeleitungen selbst gleichermaßen zu Opfern einer Marginalisierungspolitik bei gleichzeitiger Bemächtigung geworden sind, stellt sich jedoch die Frage: Was bedeutete diese Erfahrung für die Armen konkret? Und was bedeutete sie und ihre Verarbeitung für die Träger und Akteure des diakonischen Engagements? Insbesondere wird man hier nach Erklärungen suchen müssen für das Ausbleiben eines Rekurses der Berliner Hugenotten-Kolonie auf die Húpitaux G¦n¦raux als mögliche Vorbilder für die Errichtung eigener stationärer Institutionen und weshalb sie das ihr bald vom kurfürstlichen Hof übermachte Hospital zumindest anfangs nicht als eines ihrer primären oder originären diakonischen Handlungsfelder ansah,943 obgleich die stationäre Kranken- und Armenfürsorge durch die Etablierung der Húpitaux G¦n¦raux die zweite Hälfte des 18. Jh. in Frankreich sehr geprägt hatte und entsprechend dominierte944, wenn auch freilich nicht die ganze damalige französische Armenfürsorge in der »grand renfermement« (»großen Einschließung«) aufging.945 Zunächst ist festzuhalten: Protestanten waren nie Ausführende dieser Einrichtungen, wohl aber sind sie mehrfach als »Insassen« bzw. Opfer derselben in Erscheinung getreten, wie auch bereits zuvor und hernach in anderen Hospitaleinrichtungen. Dass die Protestanten unterschiedslos, ohne religiöse Bedrängung aufgenommen und versorgt würden, wie noch in den königlichen Verlautbarungen vom 21. August und 11. Dezember 1684 zumindest auf dem Papier konzediert worden war,946 war nun so nach dem Edikt von Fontainebleau (17. Oktober 1685) endgültig nicht mehr einklagbar. Die Haltung der katholischen Hospitalleitungen folgte strikt der Logik des Edikts. Die R.P.R. existierte offiziell nicht mehr, sondern allenfalls Neukonvertierte. Die religiöse Intoleranz regierte in den Hospitälern, insbesondere in den Húpitaux G¦n¦raux.947 Es würde auch ver942 »Man muss sich von daher nicht wundern, dass das Edikt von Fontainebleau vom 17. Oktober 1685, das die Rücknahme des Edikts von Nantes beinhaltete, kein einziges Wort über die Hospitalisierungsfrage verliert, denn die Frage stellte sich ja juristisch nicht mehr, wenn nicht sogar faktisch.« (J. Imbert, L’hospitalisation des protestants sous l’Ancien R¦gime, Jg. 131, 1985, S. 184). 943 Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin 1672 – 1772 (dort insbesondere in dem Kapitel über das dortige Hospital). 944 Vgl. E. Chill, Religion and Mendicity in Seventeenth-Century France, S. 400 – 425; C. Jones, The charitable Imperative, S. 1 – 47. 945 Allein schon deshalb nicht, weil die Zahlen der dort Untergebrachten nur einen kleinen Teil der von Armut Betroffenen ausmachte und der weit größere Teil ambulant oder gar nicht unterstützt wurde. 946 Vgl. J. Imbert, L’hospitalisation des protestants sous l’Ancien R¦gime, Jg. 131, 1985, S. 183. 947 Zu zahlreichen Beispielen sei verwiesen auf J. Imbert, L’hospitalisation des protestants sous l’Ancien R¦gime, Jg. 131, 1985, S. 184.

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wundern, wenn es anders gewesen wäre, denn das war bewusstes Programm in den Húpitaux G¦n¦raux auf der Grundlage ihrer Konzeptionen und Entstehungsgeschichte: Die Compagnie du Saint-Sacrement war hier ähnlich wie bei der Caisse de Conversion eine treibende Kraft.948 Ihre Interessen wie die des katholischen Klerus und des Staates ergänzten und verbanden sich optimal. Der absolutistische Staat war daran interessiert, die Armenfrage durch Einschließung, Arbeitsgewöhnung und Disziplinierung und Erziehung zu Sittsamkeit und Obrigkeitsgehorsam zu lösen und dabei vor allem die obdachlosen oder wohnungslosen, bettelnden Massen, besonders auch die Kinder von den Straßen zu holen. Dabei traf er sich in seinem Ordnungsinteresse im Blick auf politische Einheit, Unterwerfung, Obrigkeitsgehorsam und Sittsamkeit mit dem Interesse des katholischen Klerus. Die religiöse Einheit sollte diese Ordnung garantieren.949 Der starke sittliche, missionarisch-karitative und Bekehrungsimpetus der Compagnie du Saint-Sacrement so wie die ausgesprochene Dynamik dieser Bewegung bzw. Geheimgesellschaft kam dabei wie gerufen, vor allem, was die praktische Ausführung ihrer oder anderer ähnlich orientierter Vertreter betraf.950 Manche Protestanten mögen als Protestanten in die Hospitäler hineingekommen sein, aber als Neukonvertierte kamen sie heraus, zumindest auf dem Papier, wenn sie es vorher nicht ohnehin längst schon waren. Auf die weiter oben erwähnten den Familien oder Müttern entzogenen Kinder oder aber auf die renitenten erwachsenen Protestanten, egal ob sie zum Armenoder Krankenklientel zählten oder auch nicht, warteten in den Bekehrungshäusern wie dem Maison de la Providence (»Haus der Vorsehung«) in N„mes oder in den Versorgungs-, Unterstützungs- und Disziplinierungseinrichtungen wie den Húpitaux G¦n¦raux in Lyon, Paris, Montpellier, Valence und wo sie sich auch immer befanden, sämtliche Maßnahmen, die den Erfolg einer gelungenen Bekehrung versprachen. Die Spannweite reichte von liebevoller Zuwendung und Versorgung mit Speise und Kleidung oder Vermittlung von Lehrstellen über zwangsweise Katechese oder harte körperliche Zwangsarbeit, Entzug der Nahrung bzw. Reduzierung auf Wasser und Brot, bis hin zu Körperstrafen. Mag es in 948 Vgl. E. Chill, Religion and Mendicity in Seventeenth-Century France, S. 400 – 425; C. Jones, The charitable Imperative, S. 1 – 47. 949 Vgl. E. Chill, Religion and Mendicity in Seventeenth-Century France, S. 400 – 425; C. Jones, The charitable Imperative, S. 1 – 47. Die unterschiedlichen Konfessionen konnten dabei grundsätzlich recht ähnliche religiöse Funktionen im Blick auf die politische Einheit, Unterwerfung, Obrigkeitsgehorsam und Sittsamkeit wahrnehmen: Vgl. Brian Pullan; Mark R Cohen, Catholics, protestants, and the poor in early modern Europe in: The Journal of interdisciplinary history 35/3, 2005, S. 441 – 456. 950 So z. B. auf Montauban bezogen sehr konkret aufgezeigt am Beispiel des Stadtverordneten Jaques-Francois de Buisson d’Aussonne (vgl. Chr. Menges, R¦pression et pr¦ventions en matiÀre d’assistance, 349 – 362).

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jenen Jahren auch viele Verarmte gegeben haben, die nach Aussagen einiger Historiker die Aufnahme in ein Húpital G¦n¦ral aus Versorgungsgründen regelrecht begehrten und nie und nimmer unfreiwillig da waren951 – die Húpitaux G¦n¦raux waren Zentralanstalten der Armenfürsorge, die ein breites Klientel besaßen952 – die Protestanten, jedenfalls die nicht Bekehrungswilligen unter ihnen, waren nicht freiwillig dort und begehrten wohl auch kaum freiwillig Einlass. Kein einziger historischer Fall ist davon berichtet, der uns zur Kenntnis gelangt wäre. Im Gegenteil, es ist davon auszugehen, dass diejenigen, die aus dem bisherigen Versorgungsystem der Gemeindearmenfürsorge herausgefallen sind, zum Teil zwangsweise zum Betteln übergegangen sind und schließlich als (wiederholt) aufgegriffene Bettler zwangsweise im jeweiligen Húpital G¦n¦ral eingewiesen wurden. So gesehen waren sie doppelt »delinquent« – sie waren Bettler und Protestanten zugleich oder aber sie waren auf dem Papier längst Konvertierte, was ihnen jedoch nicht unbedingt ihre Bettlerexistenz nahm bzw. sie verhinderte. »Le grand renfermement« (»die große Einschließung«) Ludwigs XIV. betraf nicht nur Bettler, Vagabunden, »Arbeitsscheue« und schwer erziehbare oder verwahrloste Kinder, sondern auch widerständige Protestanten wie auch andere, die nicht der Norm der damaligen Gesellschaft entsprachen. Die Alternativen, gerade für nicht Bekehrungswillige waren damals die Unterbringung in einem Kloster, in einem Gefängnis oder die Galeerenstrafe. Für gefügige arme Neukonvertierte war das Leben zwar einfacher, aber nicht unbedingt sozial so abgesichert oder zumindest abgefedert wie für viele zu Zeiten, als die Solidargemeinschaft der Gemeinde und das Armenunterstützungssystem bzw. die Diakonie ihrer Gemeinden noch funktionierte. So ist die Unterbringung und Versorgung in den Húpitaux G¦n¦raux für die meisten Protestanten im Erleben und in der historischen Erinnerung als eine traumatische Erfahrung zu qualifizieren – gleich, ob sie zu den dort untergebrachten Armen oder Oppositionellen gehörten oder nur zu ihren Sympathisanten und Glaubensgenossen. Diese traumatische Erfahrung war in jener Zeit gekoppelt mit vielen anderen Erfahrungen der Restriktionen, Repressalien und Verfolgung, die im Detail ähnlich traumatisch gewirkt haben müssen. Alle mündeten 951 Vgl. z. B. Wolfgang Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 34), München 1995; Die Tatsache, dass es viele Arme gab, die sich eine Unterbringung im Húpital G¦n¦ral wünschten und freiwillig dort waren, erklärt sich zum Einen damit, dass es sich vom Hospitaltyp her gesehen um eine sogenannte Zentralanstalt handelte, in der ganz unterschiedliche Klientel untergebracht waren. Zum anderen zogen manche Menschen ein Dach über dem Kopf und das sichere Versorgt Sein gegenüber einem sicheren Tod durch Hunger vor, auch wenn damit Arbeitszwang etc. verbunden war. 952 Vgl. auch C. Jones, The construction of the Hospital Patient in Early Modern France, in: N. Fintzsch / R. Jütte: Institutions of Confinement, S. 61 f.

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im Schock des Edikts von Fontainebleau (1685) oder waren durch dasselbe ausgelöst, der viele endgültig so wachrüttelte, dass sie sich schließlich zur Flucht entschlossen haben. Die Húpitaux G¦n¦raux hatten derweil mit einem ganz praktischen Problem zu kämpfen. Sie platzten vor Überfüllung, wie überhaupt die städtischen Fürsorgeeinrichtungen überlaufen waren, besonders in Städten, wo die Protestanten bis dato eine starke Minderheit bildeten, wie etwa in Montpellier,953 denn die protestantischen Selbsthilfesysteme waren weitestgehend zerstört und ihre Armen mussten zusätzlich versorgt werden. Die Überfüllung und Überforderung der Armeninstitutionen hatte natürlich Konsequenzen für alle Armen, die entsprechend schlecht versorgt waren. Gerade die genannte Überfüllung war der Erweis der Stärke des franz.-prot. diakonischen Engagements bzw. seines wichtigen Beitrags im Bereich der Armenfrage.954 Die armenpolitische und religionspolitische Zentralisierung und Bemächtigung hatte ihren Bumerangeffekt erreicht. Waren es früher die Sklaven in den USA, für die sich die Hugenotten einsetzten, indem sie die an ihnen verübte Gewalt und Ausbeutung auf ihren Nationalsynoden öffentlich anprangerten und verurteilten,955 so waren sie nun als gemeindlich Engagierte wie etwa Diakone oder einfach nur bekennende widerständige Konfessionsangehörge selbst in der Gefahr im Gefängnis oder als versklavte Zwangsarbeiter auf den Galeeren zu landen. Zu den gemeindediakonischen Aufgaben zählte von da an der Freikauf aus Gefängnissen und von Galeeren.956

2.4.8 Der Angriff auf die Schulen und ihre Konsequenzen Zeitlich teilweise parallel, teilweise um nur wenige Jahre verzögert nach dem Angriff auf die protestantischen Hospitaleinrichtungen vollzog sich der Angriff auf die protestantischen Schulen. Offenbar war man sich bewusst, dass die Einrichtung der caisse de conversion nicht wirklich ein ausreichendes Mittel sein würde, um den protestantischen Geist zu brechen oder gar zu überzeugen. Aus 953 Vgl. C. Jones, The charitable Imperative, S. 136 u. 242; M. Dinges, Huguenot poor relief and health care, S. 174. 954 So mit M. Dinges, Huguenot poor relief and health care, S. 174. 955 Sie kritisierten und sprachen allen Gläubigen ins Gewissen, dass ein solcher Umgang »soit contraire aux Regles de la Charit¦ Chr¦tienne« (»den Regeln der christlichen Nächstenliebe zuwiederläuft«) – Aymon (J.): Actes eccl¦siastiques et civils de tous les synodes nationaux des Êglises reform¦es de France en II volumes. (Tous les Synodes Nationaux des Eglises Reform¦es de France: Auxquels on a joint des Mandemens Roiaux et plusieurs Lettres politiques., 2 vol., La Haye, (ed.: Charles Delo) 1710, darin: 27. Synode: Alencon 27. 5. 1637 – 9.7.1637, Chapitre XV Contenant diverses Matieres Generales, Article IV., S. 565. 956 Vgl. W. J. Pugh, a.a.O., S. 366.

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der Sicht der Staatsmacht galt es, das Übel bei der Wurzel zu packen, dort, wo die protestantische Identität quasi geboren wurde, an den (Elementar-)Schulen, in denen vor allem die Bibel selbst Unterrichtsgegenstand war, an den CollÀges darüber hinaus auch die biblischen Sprachen. Überall dort wie auch an den Akademien galt es in die protestantische Identitätsbildung einzugreifen, von der auch die Armen bislang nicht ausgeschlossen waren, sondern umgekehrt dort jeweils gezielt gefördert worden sind. Zur folgenden Darstellung vgl. die unten angeführte Literatur :957 Im Zuge der oben geschilderten Zerstörungen der temples ab den beginnenden sechziger Jahren kam es auch zu zahlreichen Schließungen der Elementaschulen und CollÀges, da bereits 1611 festgelegt wurde, dass protestantische Schulen nur dort bestehen durften, wo die Protestanten ein Recht auf öffentliche Kultusausübung hatten. Diese waren nun durch die neuerlichen Untersuchungen und radikalen Maßnahmen (Zerstörung der temples etc.) teils nicht mehr vorhanden. Das wurde insbesondere vom königlichen Rat am 4. Dezember 1671 deutlich erinnert und mit der konsequenten Schließung von Schulen (vor allem Elementarschulen) verbunden. Bereits ein Jahr zuvor, nämlich am 9. November 1670 wurde den protestantischen ma„tres d’¦coles (»Schulmeister«/»Lehrer«) und anderen Lehrkräften untersagt, irgendetwas Anderes zu unterrichten außer Rechnen, Lesen und Schreiben. Am 13. September desselben Jahres wurde bereits staatlich angeordnet, dass es nicht mehr als eine protestantische Schule am jeweiligen Ort der Kultusausübung geben dürfe und ebenso nur einen ma„tre d’¦cole pro Schule. Die Protestanten suchten nach alternativen Organisationsformen, die dennoch den Unterricht ermöglichen sollten. Vor allem war zu klären, wie die Kinder und Jugendlichen in den Genuss von Schulunterricht kommen konnten, deren Schulen infolge der Zerstörung der temples an anderen Orten bereits aufgelöst waren.958 Die Ministres (»Diener am Wort« / »Pastoren«) boten ähnlich wie auch die ma„tres d’¦cole ihr Haus zur Unterbringung von pensionnaires (Kinder oder Jugendliche mit freier Kost und Übernachtung) zwecks Schulunterricht an, aber schon 1669 untersagte ihnen ein Gesetz, mehr als maximal zwei Pensionäre aufzunehmen und drohte bei Zuwiderhandeln mit 1000 livres 957 P. De F¦lice, les Protestants d’autrefois, Bd. 2, S. 95 – 107; M.-J. GaufrÀs, L’enseignement protestant sous l’Êdit de Nantes, Bull. SHPF 47, 1898, S. 261; G. Astoul, Les protestants et leurs ¦coles, S. 183 – 191 u. 204 f.; G. Astoul, l’instruction des enfants protestants et catholiques en pays aquitain, S. 37 – 61; bes. S. 61; M. Nicolas, Des ¦coles primaires et des collÀges chez les protestants franÅais avant la R¦vocation de l’Êdit de Nantes, S. 501 u. S. 582 – 595; C. Rouget, Histoire de la Communaut¦ r¦from¦e de Sainte-Marie-aux-M„nes, S. 306 – 308; J.-F. Michel, Les ¦coles protestantes — Metz et au pays messin aux XVIe et XVIIe siÀcles, 212 – 241, bes. ab S. 220. 958 Vgl. M. Nicolas, Les ¦coles primaires et les CollÀges, S. 503.

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Strafgeld (eine erhebliche Summe) und Berufsverbot. Dasselbe Gesetz verfügte, dass die ma„tres d’¦cole überhaupt keine pensionnaires bei sich aufnehmen dürften. Damit war auch das Ganztagsmodell bzw. die Internatsschule pass¦. Hier waren entgegen der anderslautenden Darstellung von Franziska Roosen (vormals Heusch) aber nicht nur ma„tres d’¦cole betroffen, sondern auch Pfarrer bzw. Pastoren (siehe oben).959 Außerdem galt das Verbot der Aufnahme von Pensionären nicht erst 1683, wie von ihr dargelegt, sondern bereits 1669.960 Am 11. Januar 1683 wurde es lediglich wiederholt im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Vorgabe, dass die Schulen sich in unmittelbarer Nähe der temples zu befinden hätten und dass es keine Schulen an anderen Plätzen, auch keine Privatunterbringungen geben dürfe. Die staatlich angeordnete massenweise Schließung protestantischer CollÀges sowie aller Akademien war sicherlich der äußerliche Höhepunkt des Angriffs auf das protestantische Schulsystem, aber in der Breite der Bevölkerungsschichten deutlicher spürbar, weil mehr betroffen, waren die Elementarschulen, die in der Stadt und auf dem Lande für alle dieselben Grundlagen gelegt hatten. Dieser ausgeprägte Wille zur allgemeinen grundlegenden Bildung und Alphabetisierung aller Schichten ermöglichte die Partizipation aller – auch der Ärmsten – am Schulwesen und er dokumentiert sich in einer besonderen Form der Reaktion der franz. Protestanten bzw. ihrer Gemeinden auf die Versuche staatlicherseits, dieses System aus den Angeln zu heben bzw. es zu vernichten. So finden sich im franz. Protestantismus jener Phase neben manch anderen Reaktionen (Flucht, gewalttätiger Widerstand, innere Immigration und Selbstaufgabe, Konversion) auch Formen zivilen Ungehorsams oder Widerstands, sowohl was die Repressalien im Allgemeinen betraf961 wie im Speziellen die Situation im Schulwesen. Das artikulierte sich nicht selten schlicht durch Missachtung der jeweiligen Gesetze und Verordnungen. Dieser »Ungehorsam« passt zwar so ganz und gar nicht zum royalistischen bzw. absolutistischen Loyalismus und Obrigkeitsgehorsam, wie er überwiegend an den protestantischen Akademien des 17. Jh. gelehrt wurde962, aber in der protestantischen Bevölkerung selbst war er offenbar präsent. 959 Mit C. Rouget, Histoire de la Communaut¦ r¦form¦e de Sainte-Marie-Aux-Mines, S. 308 gegen Fr. Roosen, »Soutenir notre Êglise«. Hugenottische Erziehungskonzepte, S. 49. 960 Auch hier : Mit C. Rouget, Histoire de la Communaut¦ r¦form¦e de Sainte-Marie-AuxMines, S. 308 gegen Fr. Roosen, »Soutenir notre Êglise«. Hugenottische Erziehungskonzepte, S. 49. 961 Nach Pierre Bolle ist die Tatsache, dass einige der Gesetze und Erlasse ein paar mal oder gar gebetsmühlenartig wiederholt wurden, darauf zurückzuführen, dass sie nicht immer angewendet bzw. umgesetzt werden konnten, unter anderem wegen der Verweigerung mancher Protestanten bzw. ihres »Ungehorsams« (vgl. ders, Le protestantisme franÅais — la veille de la R¦vocation, in: Bull SHPF (131) 1985, S.128. 962 Vgl. die nachfolgende Darstellung zur franz.-prot. Theologie und Predigt, S…

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Auf das Schulwesen bezogen finden wir dazu einige Beispiele, so etwa diejenigen, auf die Yves Gueneau in seiner Arbeit über die »Protestants du centre 1598 – 1685« verweist: Noch unmittelbar vor der Rücknahme des Ediktes von Nantes praktiziert Daniel Martin als protestantischer ma„tre d’¦cole in Beaugency sein Amt, obwohl dort längst keine protestantische Gemeinde bzw. Kultausübung mehr vorhanden war.963 Ebenso bekennt das Consistoire von Aubusson im Jahr 1679, der Besitzer eines Hauses zu sein, das zur Abhaltung der Elementarschule dient. Anne Marin führt den Elementarschulunterricht für die Mädchen in Aulnay (bei Mer) heimlich im Untergrund sogar bis 1698 durch, bevor sie festgenommen und in Orleans gefangengesetzt wird.964 In N„mes hat das Consistoire, nachdem die Schulen geschlossen worden waren, nach Angaben von W. J. Pugh in den letzten Jahren unmittelbar vor der Rücknahme des Ediktes einen Raum für die Erteilung des Unterrichtes angemietet, und den Lehrer auch anderweitig unterstützt, der sich bereit erklärte, die Armenkinder umsonst zu unterrichten und die übrigen gegen ein gewisses Entgelt.965 Im Juni und Juli 1684 erstattet Pierre Julliot, königlicher Beamter in Rouen, darüber Bericht, dass ganze fünf Schulen trotz königlichen Verbots, im Untergrund weiter existiert haben, von denen vier von Frauen geführt wurden, die ca. 70 Kinder unterrichteten.966 Im Zuge der Untersuchungen wird auch Jacob Le Cartier ausfindig gemacht, der bereits 1662 ein Strafgeld von 50 livres zahlen musste, weil er entgegen dem Gesetz Schülern in seinem Haus Schulunterricht erteilt hatte.967 Ein besonderes Augenmerk gebührt auch hier den franz. Protestanten der Stadt Metz, die im 16. u. 17. Jh. über ein sehr gut ausgebautes Schulwesen mit gutem Ruf verfügten968 und deren Refugi¦s sich ab 1685 zu eiem großen Teil in Berlin niederließen (s. o.). Hier bestanden die Aufgaben der Diacres nicht nur darin, die Gelder zur Unterstützung der Armen zu kollektieren, sie zu besuchen und sie in der Not (vor allem materiell) zu unterstützen, sondern sie wurden auch explizit vom Consistoire damit beauftragt, sich besonders um die armen Kinder der Stadt zu kümmern und die Eltern zu verpflichten, sie zur Schule zu schicken.969 Genau hier lag also die Schnittmenge zwischen dem Diakoniewesen und dem Schulwesen. Dabei unterstützte die Gemeinde keineswegs nur den Schulbesuch in eigenen Elementarschulen oder bei eigens angestellten ma„tres 963 964 965 966 967 968

Y. Gueneau, Protestants du centre 1598 – 1685, S. 285. Y. Gueneau, Protestants du centre 1598 – 1685, S. 285. Vgl. W. J. Pugh, Social Welfare and the Edict of Nantes, S. 368. Vgl. J. Garrisson, La r¦vocation de L’Êdit de Nantes, S. 213. Vgl. J. Garrisson, La r¦vocation de L’Êdit de Nantes, S. 213. Vgl vorangehende Darstellung unter Kap. 2.3.5 und J.-F. Michel, Les ¦coles protestantes — Metz et au pays messin aux XVIe et XVIIe siÀcles, S. 212 – 241. 969 Vgl. A.D.M: D 8, »Histoire du protestantisme — Metz de 1543 — 1577«, fol. 50 u. J.-F. Michel, Les ¦coles protestantes — Metz et au pays messin aux XVIe et XVIIe siÀcles, S. 217.

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d’¦cole, sondern auch an öffentlichen (katholisch geführten) Schulen,970 was in Metz im Verlauf der letzten beiden Drittel des 17 Jh. aufgrund der äußeren Gegebenheiten und Repressalien mehr und mehr zum Normalfall werden musste971. Es war üblich, dass die Diacres bzw. die Gemeinde nicht nur das jeweilige Schulgeld der Armenkinder zahlte, sondern auch eine Ausstattung (Schreibfläche, Federhalter, Tinte, Bücher). Die Rolle der Diacres ordnet J.-F. Michel zurecht als »revolutionär« ein vor dem Hintergrund, dass es in Metz bis dahin keine Politik im Bereich des Schulwesens gab, die darauf Wert legte, dass die Armen gleichermaßen wie die Begüterten daran partizipieren können sollten. Natürlich gilt das auch für die vielen anderen Orte, wo franz.-prot. Diakonie diese Aufgabe ganz entsprechend wahrnahm. Allerdings gab es im Verlauf der Zeit des ausgehenden 16. Jh. bis gegen Ende des 17. Jh. (1679), so die Darstellung von Y. Poutet über das Armenschulwesen in Frankreich im 17. Jh., sowohl katholischerseits (besonders durch die Reformbewegungen motiviert: Vincent de Paul, Jesuiten und Compagnie du Saint-Sacrement) als auch staatlicherseits (siehe Colbert, oder auf Stadtebene die Bureaux de Pauvres) ein zunehmendes Bemühen um die Errichtung von Elementarschulen (unter unterschiedlichen Namen »p¦tites ¦coles«, »¦coles de charit¦«) und auch die Integration armer Kinder im allgemeinen Schulbetrieb.972 Jesuitenschulen, die sich bewusst als Alternative bzw. Gegenentwurf zu den protestantischen CollÀges verstanden und mit dieser Konkurrenz mithalten mussten, waren deshalb für Arme ebenso überwiegend schulgeldfrei.973 Nach J.-F. Michel verliert jedoch die Unterstützungspolitk der Protestanten im Armenschulbereich in Metz im Verlauf des 17. Jh. im Vergleich zum 16. Jh. an Bedeutung, was er daran festmacht, dass das durchschnittlich für die Unterrichtung der Armenkinder monatlich an einen ma„tre d’¦cole entrichtete Gehalt im Jahr 1562 noch bei 55 sols lag, während es ein ganzes Jahrhundert später zwischen 25 und 30 sols betrug.974 Nach J.-F. Michel verringerte sich die Zahl armer Protestanten in Metz im 17 Jh.975 Das würde für eine effektive Armen970 Vgl. J.-F. Michel, Les ¦coles protestantes — Metz et au pays messin aux XVIe et XVIIe siÀcles, S. 217. 971 Leider so von J.-F. Michel nicht bedacht im Zusammenhang seiner Darstellung und Überlegungen unter seinem Gliederungspunkt »Le rúle des corps eccl¦siastiques constitu¦s: Consistoire, Anciens, et Diacres.« (vgl. ders., Les ¦coles protestantes — Metz et au pays messin aux XVIe et XVIIe siÀcles, S. 216 – 218). 972 Vgl. Y. Poutet, L’enseignement des pauvres dans la France du XVIIe siÀcle, S. 87 – 104. 973 Vgl. Y. Poutet, L’enseignement des pauvres dans la France du XVIIe siÀcle, S. 88 u. 94. 974 Vgl. J.-F. Michel, Les ¦coles protestantes — Metz et au pays messin aux XVIe et XVIIe siÀcles, S. 217. 975 Vgl. J.-F. Michel, Les ¦coles protestantes — Metz et au pays messin aux XVIe et XVIIe siÀcles, S. 217.

Diakonische Praxis in der Phase erneuter Restriktion und Repression

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fürsorge sprechen und für eine sehr an bürgerlicher Integration und gesellschaftlichem Erfolg und Anerkennung orientierten starken Minderheit der Protestanten.976 Ob das aber wirklich der Erklärungshintergrund für die veränderten Zahlen ist, bleibt fraglich. Zum einen weil unklar ist, ob die Aussage über den Rückgang der protestantischen Armen absolut zu verstehen ist oder ob die Anzahl der Protestanten in Metz insgesamt zurückgegangen ist. Vor allem aber muss die Aussagekraft der geringeren Armenschülerentgelte vor dem Hintergrund eines zunehmend von allen Seiten attackierten protestantischen Schulwesens ungewiss bleiben. Vermehrte Aufnahmen an den öffentlichen Schulen würden jedenfalls die Zahlen des geringeren Entgelts an die eigenen ma„tres d’¦cole sehr wohl auch erklären, denn diese würden ja entsprechend wegfallen, unabhängig davon ob das Consistoire dort wiederum eine Zahlungsverpflichtung übernimmt oder nicht. Warum sollte das Consistoire zudem armen Schülern weiterhin Geld zahlen, wenn diese tatsächlich in den öffentlichen (katholisch geleiteten) Schulen aufgenommen (wozu diese gesetzlich verpflichtet waren) und womöglich dort auch ohne Zutun der Gemeinde gefördert wurden? Warum sollte ihnen umgekehrt eine solche Unterstützung verwehrt worden sein, sofern sie weiterhin notwendig war und die Kinder protestantisch blieben? Wenn das Consistoire vielleicht sogar vermehrt Unterstützungsgelder für die Armenkinder von Protestanten an öffentlichen Schulen gezahlt hat, wäre aus verringerten Beträgen der Zahlungen an die eigenen ma„tres d’¦cole im 17. Jh. also keineswegs zu schließen, dass die protestantische Unterstützungspolitik im Armenschulbereich in Metz an Bedeutung verloren hätte, wie J.-F. Michel meint, sondern allenfalls, dass sie mehrgleisig gefahren ist (halb im legalen Raum, halb im illegalen Raum) aufgrund der veränderten Umstände, dass die eigene, unmittelbare Solidargemeinschaft mehr und mehr versucht wurde zu zerschlagen.

976 So ansatzweise auf Metz bezogen: J.-F. Michel, Les ¦coles protestantes — Metz et au pays messin aux XVIe et XVIIe siÀcles, S. 217. Allgemein auf den französischen Protestantismus bezogen H. Lüthy, La Banque protestante; ders., Nochmals Clavinismus.

3.

Theologische und geistesgeschichtliche Hintergründe und Entwicklungen im französischen Protestantismus vor 1685

Die Entwicklungsgeschichte und die Tradition des diakonischen Engagements der Hugenotten in Frankreich so wie auch im späteren Refuge, wie etwa Berlin, hatte seine Anknüpfungspunkte natürlich nicht nur auf der Ebene des praktischen Handelns und der damit verbundenen institutionellen Vorbilder in Straßburg, Genf und Frankreich, sondern auch auf der geistig-geistlichen Ebene. Bestimmte Verhaltensweisen lassen sich erst richtig verstehen und zuordnen, wenn man die mentale Folie durchschauen kann. Dazu gehören universitäre Theologie ebenso wie gepredigte Theologie und Ethik, verinnerlichte (Leit-) Bilder, Ängste, Hoffnungen und religiöse Muster, die sich im Laufe der Zeit in Frankreich herausbildeten und ihre Wirkung auch über Frankreich hinaus entfalteten. Uns soll an dieser Stelle interessieren, was die franz. Protestanten bzw. Reformierten über die Frage von Armut und Reichtum und Diakonie konkret gedacht, gelehrt und gepredigt haben, um so einen Schlüssel zu ihrer damaligen diakonischen Praxis zu bekommen so wie auch umgekehrt die theologische Reflexion und das gepredigte Wort von der Praxis her erschließen und die mentalen, religiösen, theologischen und geistesgeschichtlichen Traditionen und Muster erheben zu können, die hier in Frankreich und auch im späteren Refuge, so etwa in Berlin, in der ein oder anderen Weise gewirkt haben und aufgegriffen wurden oder auch nicht. Das sollte sich in Berlin natürlich erst im Zusammenspiel von veränderter Situation und Tradition zeigen.977 Eine wichtige Rolle – nicht nur für die nun schon mehrfach erwähnte franz.ref. Kirchenordnung (Discipline eccl¦siastique) und das Glaubensbekenntnis (Confession de foi) (1559), sondern überhaupt für die theologischen und ethischen Traditionen des franz. Protestantismus – spielen die Gedanken der vorwiegend franz. Reformatoren, besonders Calvins. Es ist deshalb unerlässlich auf ihre Überlegungen und Positionen zu dem genannten Themenbereich einzugehen, bevor wir uns dann in einem weiteren Schritt der Theologe und Pre977 Vgl. G. Wenzel. Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin.

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Theologische und geistesgeschichtliche Hintergründe und Entwicklungen

digtpraxis des 17. Jh. widmen, die etwas über die franz.-prot. Identität auf diesem Feld in jener Epoche aussagt.

3.1

Von der Wirklichkeit der Armut und den Möglichkeiten des Reichtums – die soziale Botschaft von Johannes Calvin

3.1.1 Der ideologische Bruch Eines der Hauptanliegen Calvins war die Frage der Gestaltung der »sichtbaren Kirche«. Die Diakonie – und auch das konkrete Amt der Diakone – »gehört integral zur Calvinischen Ekklesiologie«978, also zu seiner Lehre über die Gestalt der Kirche. Sein ganzes Engagement in der Frage der Kirchengestalt darf man jedoch nicht losgelöst sehen von seiner Position zur Frage von Reichtum und Armut. Er setzte sich wie bereits M. Luther von der mittelalterlichen Umgangsweise mit der »sozialen Frage« ab. Der mittelalterliche kirchlich und theologisch »geheiligte« Antwortversuch war nicht die Abschaffung der Armut, sondern mehr oder minder ihre Aufrechterhaltung »durch ein ausgedehntes kirchlich-meritorisches Almosenwesen unter Anerkennung des Bettelstandes als Beruf«979, über die sich die Armenfürsorge definierte – also individuelle freiwillige Vergabe von Almosen seitens einzelner Kirchenmitglieder. Damit wurde die »soziale Frage« nicht gelöst, sondern ideologisch verklärt. Hier setzte die reformatorische Kritik ein. Zwei Gründe waren dafür ausschlaggebend. Zum einen stellt die reformatorische (Wieder-)Entdeckung der Rechtfertigungslehre prinzipiell das meritorische Element der mittelalterlichen Liebestätigkeit in Frage. Zum anderen ist es die realistische Wahrnehmung der Städte und ihrer durch Armut und Bettel bereiteten Probleme, die auch durch Intensivierung der individuellen Almosenabgabe nicht aufgehoben hätten werden können, sondern eher noch verschärft worden sind oder wären.980 Sowohl M. Luther als auch J. Calvin lehnten deshalb den Bettel entschieden ab, vor allem den religiös sanktionierten Bettel der Bettelorden. Deshalb vertreten sowohl M. Luther als auch J. Calvin die Forderung, dass die Arbeit anstelle des Bettels treten solle. J. Calvin hebt besonders den Gedanken hervor, dass mit jedem anvertrauten Gut auch eine Aufgabe, eine Arbeit verbunden ist, die sich letztlich auf das Gemeinwohl aller auswirkt: »…ein Bauer z. B., der es gewohnt ist., von seiner 978 H. Scholl, Die Kirche und die Armen in der reformierten Tradition, in: Reformierte Kirchenzeitung (RKZ), 1983, S. 68. 979 Vgl. H, Scholl, ebd., S. 64. 980 Vgl. H. Scholl, ebd., S. 64 ff.

Calvin: Von der Wirklichkeit der Armut und den Möglichkeiten des Reichtums

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Hände Arbeit zu leben und seine Kinder zu ernähren, würde sündigen, wenn er ohne zwingende Notwendigkeit seinen Grundbesitz verkaufen würde. Zu bewahren, was Gott in unsere Hand gegeben hat, wenn wir nur einfach und bescheiden uns und unsere Familien davon ernähren und einen Teil davon den Armen schenken, ist demnach eine größere Tugend als alles zu verstreuen.«981 Die von reformatorischer Seite erfolgte Empfehlung der Arbeit für Bettelnde und Arbeitslose auf der einen Seite und der Einrichtung des »gemeinen Kastens«982 (Unterstützungskasse für tatsächlich Bedürftige) auf der anderen Seite zeigt wie praxisnah und realistisch die Reformatoren in der Analyse der Armut waren. Sie setzen sich vor allem für eine städtische Versorgung derjenigen Armen ein, die zu dem Einzugsgebiet der Stadt gehören, um damit den Bettel abzustellen und verlagern damit den Schwerpunkt der sozialen Verantwortungswahrnehmung weg von einer individuellen Ausrichtung hin zu einer entsprechenden Ausgestaltung des Gemeinwesens. Hier treffen sich »die reformatorischen Gesichtspunkte mit den Tendenzen des damaligen Städtewesens, insofern die Eigenverantwortung der Gemeinde, zugleich aber ihre soziale Verpflichtung gegenüber den Armen, dabei zur Geltung kamen.«983 Gerade bei den Oberdeutschen (Straßburg etc.) und Reformierten ist dabei im Blick, dass Armut nicht ein naturgegebenes Fatum sein muss, sondern auch vom Handeln des Menschen her bedingte, »gesellschaftliche« Ursachen haben kann: »Die Häuser der Reichen sind die Metzgereien [gemeint sind Schlachthäuser] der Armen«984- so J. Calvin. In diesem Kontext entwickelt sich schließlich auch die Neuentdeckung des diakonischen Amtes im oberdeutschen Raum. Katharina Zell, Wolfgang Capito, Martin Bucer und andere betreiben aktive Armenfürsorge an den nach dem Bauernkrieg vom Lande aus zur Stadt Straßburg geflüchteten Menschen. Die Arbeit von Katharina Zell und ihrer Helferinnen wird Zeichen gebend für den Weg kirchengemeindlich verantworteter Diakonie. Der neue Impuls, der von Straßburg ausgeht, nämlich die Ablösung der klösterlichen Armenarbeit durch 981 J. Calvin zu Matth. 19, 20. Auslegung der Evangelien-Harmonie, 2. Teil, übersetzt von H. Stadtland-Neumann und G. Vogelbusch, S. 135 f. = C.O. 45, 539. 982 Vgl. besonders: Harold J Grimm, Luther’s Contribution to Sixteenth-Century Organization of Poor Relief, in: Archiv für Reformationsgeschichte (61) 1970, S. 222 – 234; Carter Lindberg, »There Should Be No Beggars Among Christians«: Karlstadt, Luther, and the Origins of Protestant Poor Relief, in: Church History (46) 1977, S. 313 – 357; William J Wright, A Closer Look at House Poor Relief through the Common Chest and Indigence in Sixteenth Century Hesse, in: Archiv für Reformationsgeschichte (Jg. 70) 1979, S. 225 – 238 983 M. Elze über die Leisniger Kastenordnung in: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Bd. 5, S. 19 984 Das Zitat ist nicht etwa zu finden in C.O. 28, 182, wie bei H. Scholl wohl versehentlich falsch angegeben (vgl. ders., a.a.O.) – dort liegt nur ein ähnlicher Gedanke vor – , sondern in C.O. 24,701.

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das reformierte Diakonenamt, hat besondere Bedeutung für die Entwicklung einer Ekklesiologie im reformierten Bereich, bei der unter anderem die »Sozialarbeit« der dafür eingesetzten Diakone zur Wesens- und Lebensäußerung der Kirche im Sinne der »wahren Kirche« erklärt wird (vgl. Art. 29 der »confession de foi« (»Glaubensbekenntnis« der französisch-reformierten Kirche Frankreichs)985 – gemeint ist: »greifbare, überzeugende Kirche«. Die Stadt bzw. Kirchengemeinde nimmt nun die Verantwortung für ihre Armen wahr. Mit moralischem und polemischem Unterton äußert sich Wolfgang Capito in einem an den Provinzialrat Treger gerichteten Schreiben: »Hier in Straßburg siehst Du brüderliche Liebe. Unsere Armen werden von den Gläubigen unterhalten und dürfen nicht mehr wie in deiner Kirche auf der Gasse verfaulen und ihre Glieder aus Mangel an Wartung schon vor dem Tode sterben lassen.«986 Sehr deutlich wird hier, dass es in den Augen Capitos Aufgabe der Kirche, ja, der örtlichen Kirchengemeinde selbst sei, Armen- und Krankenfürsorge zu leisten. Wie sich städtische und kirchengemeindliche Armenfürsorge wiederum zueinander verhalten und kooperieren, wird hier nicht weiter ausgeführt und war auch kaum im Blick, da die kommunale / weltliche und die kirchliche / geistliche Gemeinde nicht so stark separiert waren wie heutzutage, aber die Akzentsetzung auf der Verantwortungswahrnehmung der Kirche selbst ist deutlich. W. Capito sieht hierin die Umsetzung des von M. Luther Begonnenen.987

3.1.2 Calvins Prägungen im Blick auf die Frage von Reichtum und Armut, Sozialethik und Diakonie Man kann J. Calvin und seine geistig-geistlichen Reflexionen, Erkenntnisse und Schriften nicht isoliert betrachten, nicht ohne seinen Bezug zum französischen Protestantismus, denn Calvin war nicht nur Franzose, sondern hat auch entscheidende Prägungen, gerade auch theologischer Art in der Zeit seines Aufenthalts sowohl in der Straßburger wie auch in der Genfer französischen Flüchtlingsgemeinde erhalten. Das hat seine Theologie bestimmt und geerdet und erst in zweiter Linie – tatsächlich zeitlich verzögert – war der Einfluss umgekehrt. Theologie wurde und wird oftmals zu sehr außerhalb seiner realen Lebensbedingungen betrieben und die Produkte des Geistigen und Geistlichen so be985 Vgl. Art. 29 in der » Confession de foi « (O. Fatio (Hg.), Confessions et cat¦chismes, S. 124). 986 Zitiert nach G. Uhlhorn; Die christliche Liebestätigkeit, Bd. 3, S. 59. Vgl. auch H. Scholl, Die Kirche und die Armen in der reformierten Tradition, RKZ (124) 1983, S. 68. 987 Vgl. G. Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, Bd. 3, S.39.

Calvin: Von der Wirklichkeit der Armut und den Möglichkeiten des Reichtums

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trachtet als führten sie ein Eigenleben. In der kirchengeschichtlichen Forschung wird immer noch zu wenig dabei bedacht und offengelegt, dass die Gedanken von konkreten Lebenszusammenhängen und –bedingungen herrühren und manchmal auch geradezu von ihnen bestimmt und aufgezwungen sind. Der französische »Protestantismus, der durch Calvin seine soziale Richtung erhielt und auf Martin Bucers Straßburger Wirken zurückgreifen konnte«988 wie H. Vonhoff meint, hatte eine relativ eigenständige, von M. Luther und in den frühen Anfängen auch von Calvin unabhängige Entwicklung in dieser Beziehung durchgemacht. Er und seine Existenzbedingungen haben in der Anfangszeit des reformatorischen Aufbruchs Calvin mehr geprägt als umgekehrt Calvin den französischen Protestantismus. Die protestantischen Gemeinden, die sich quasi im Untergrund bildeten und nicht selten in Abgrenzung zu einer ihnen gegenüber feindlich gesinnten Umwelt, bedurften einer besonderen Gestalt, um zukünftig überleben und auch überzeugen zu können. J. Calvin gelangt von Le FÀvre d’Etaples angeregt,989 der zur französischevangelischen Aufbruchbewegung des »Bibelfrühling« in Meaux bei Paris gehörte,990 sowie durch seinen engen Kontakt mit den Straßburgern und seinen dortigen Aufenthalt in der französischen Flüchtlingsgemeinde991 wie auch seine Erfahrungen mit dem Gesicht der Armut in Paris und Genf992 schließlich zu einer intensiven Analyse der Armut (orientiert am Prinzip von sola scriptura und sola fide) und einer ihr entsprechenden Antwort in christlicher, d. h. in weltlicher und kirchlicher Verantwortung. Das soll nun entfaltet werden.

3.1.3 »Dein Armer« – Calvins soziale Botschaft am Beispiel seiner Predigt über Deuteronomium 15, 11 – 15 Die gesellschaftliche Praxis im Blick auf die Frage von Reichtum und Armut so wie auch seine ekklesiologischen Gedanken reflektiert Calvin immer wieder von der Schrift her. Er ist darin ganz reformatorischer Theologe. In einer Predigt über Deuteronomium Kap. 15, V. 11 – 15, gehalten am Mittwoch, den 30. Oktober 1555993 liegen seine Gedanken über das Verhältnis von arm und reich sowie 988 H. Vonhoff, Samaritaner der Menschheit, S. 83. Vgl. dazu auch die Darstellung weiter oben unter Kap. 2.2.1 (Exkurs: Ursprung des franz.-reformierten Diakonenamtes und der diakonischen Organisationsform). 989 W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten, Heft 1, S. 2. 990 Zum »Bibelfrühling in Meaux« vgl. auch Hans Scholl, Glaube und Spiritualität der Hugenotten, (Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins, 19,1) Sickte 1986, S. 1 – 10. 991 Vgl. H. Scholl, Die Kirche und die Armen in der reformierten Tradition, S. 66. 992 Vgl. H. Scholl, ebd., S. 66. 993 Vgl. C.O. 27, 337. Die Predigt liegt in einer deutschen Übersetzung von H. Scholl vor, nach der ich im Folgenden zitieren werde (ders., Hilfe für die Armen., RKZ 1983, S. 29 – 32). Der

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über die Frage des Umgangs mit dem Problem der Armut in äußerst konzentrierter Form vor.994 Deshalb soll hier auf sie explizit eingegangen werden. Mit der Zeile »Dein Armer – Calvins soziale Botschaft« bringt H. Scholl den Skopus der Predigt angemessen auf den Punkt.995 Die Aussage in Deuteronomium 15, 11, dass es Arme immer geben wird, versteht Calvin nicht als »beruhigende Erklärung des sozialen status quo, sondern als Hinweis auf die geheimnisvollen Wege Gottes«996. Der Armut ist damit nach Calvin aber zugleich der Kampf angesagt: »Wir bleiben immer schuldig, wenn wir die Gelegenheit zur Wohltat nicht ergreifen.«997 Dass es Arme immer geben wird, heißt in seiner Deutung nicht Fatalismus, sondern bedeutet eine Aufgabe zu haben und soll dementsprechende Aktivität nach sich ziehen. Das liegt nach ihm in einem pädagogischen Motiv begründet: »Er [=Gott] sendet uns die Armen, damit wir zu tun hätten und zeigen können, von wem wir unseren Reichtum haben und uns Mühe geben, ihn zu brauchen wie es Gott recht ist.«998 In diesem Predigtzitat wird allerdings auch deutlich, dass hierbei die Gefahr besteht, dass der Arme als Mittel zum Zweck gebraucht werden könnte. Calvin selbst wendet sich in der Predigt jedoch gegen eine religiös verklärte Rechtfertigung, also Heiligung der Armut. Er hält zwar an dem Mysterium fest, dass es Arme immer geben wird, fordert aber zugleich die Bekämpfung der aufhebbaren Armut durch Abschaffung des Bettels sowie Ausbildung und Arbeitsbeschaffung etc. So will Calvin den Bettel bekämpft sehen, weil »viele sich an den Bettel gewöhnen« und sie »keinen rechten Beruf mehr ausüben«999. Wir finden hier bestätigt, dass die mögliche Lethargie, die bei Bedürftigen eintreten kann, nicht erst ein Problem der Gegenwart ist. Durch den von Calvin benannten pädagogischen Aspekt wird das Mysterium, dass Armut überhaupt existiert, nicht aufgehoben und wegerklärt. Calvin benennt diesen pädagogischen Aspekt vielmehr in der Absicht, die Menschen bzw.

994 995 996 997 998 999

Textlaut des Bibelabschnitts Deuteronomium, Kap. 15, V. 11 – 15 lautet dort: »11 Es werden allezeit Arme sein im Lande; darum gebiete ich dir und sage, dass du deine Hand auftust deinem Bruder, der bedrängt und arm ist in deinem Lande. 12 Wenn sich dein Bruder, ein Hebräer oder eine Hebräerin, dir verkauft, so soll er dir sechs Jahre dienen; im siebenten Jahr sollst du ihn als frei entlassen. 13 Und wenn du ihn freigibst, sollst du ihn nicht mit leeren Händen von dir gehen lassen, 14 sondern du sollst ihm aufladen von deinen Schafen, von deiner Tenne, von deiner Kelter, sodass du gibst von dem, womit dich der HERR, dein Gott, gesegnet hat, 15 und sollst daran denken, dass du auch Knecht warst in Ägyptenland und der HERR, dein Gott, dich erlöst hat; darum gebiete ich dir solches heute.« Vgl. H. Scholl, Die Kirche und die Armen in der reformierten Tradition, RKZ 1983, S. 67. Vgl. ebd. H. Scholl, ebd., S. 67. Andernfalls wären andere Passagen in der Predigt Calvins auch gänzlich unerklärlich (siehe weitere Erläuterungen im Text). Zitiert nach H. Scholl, Hilfe für die Armen, RKZ (1983), S. 29 (vgl. C.O. 27. 337 ff.) Zitiert nach H. Scholl, Hilfe für die Armen, RKZ (1983), S. 29 (vgl. C.O. 27. 337 ff.) Zitiert nach H. Scholl, Hilfe für die Armen, RKZ (1983), S. 30 (vgl. C.O. 27. 337 ff.)

Calvin: Von der Wirklichkeit der Armut und den Möglichkeiten des Reichtums

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Reichen zu aktivieren. Eine religiöse Überhöhung der Armut will er gerade durch eine handfeste Solidarität mit den Armen und Veränderung ihrer Situation ersetzt sehen. Alles läuft darauf hinaus, dass die Menschen in Verantwortung für den Nächsten, für die Humanität, für den Armen gerufen werden sollen: »An Armen wird es nie fehlen…Nicht ohne Grund befiehlt Gott denen, die Güter haben, eine offene Hand zu haben für die Armen und Hungernden dieser Erde. Damit sagt er uns nämlich, dass wir ihm dienen sollen und genau, wie das zu geschehen habe. Wir sollen ihm die Ehre geben durch die Güter, die er uns reichlich schenkte. Er sendet uns die Armen gewissermaßen an seiner statt als seine Einzieher. Und obwohl unsere milde Gabe sterblicher Kreatur zugute kommt, so sieht es Gott doch so an, wie wenn wir ihm selbst in die Hand gegeben hätten, was wir einem Armen geben. …Darum heißt es auch, dass wer sein Ohr dem Schrei des Armen verschließt, von Gott auch nicht erhört werden wird, wenn er selber ins Schreien kommt. Auf der anderen Seite aber, wenn wir selbst barmherzig sind und die Not der Armen uns zur Hilfe antreibt, so wird Gott auch gegen uns Erbarmung erweisen und uns helfen in der Not.«1000

Sehr deutlich wird hier die christozentrische Ausrichtung der Sozialethik Calvins durch die biblische (wenn auch indirekte und leicht abgewandelte) Bezugnahme zu Matthäus 25 (»Was Ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt Ihr mir getan…«). Die Identifikation Gottes bzw. Christi mit dem Armen ist dabei zwar nicht neu. Sie begegnet auch in der mittelalterlichen meritorisch-orientierten Theologie. Aber Calvin heiligt den Armutszustand nicht. Er predigt kein Armutsideal, das gleichwohl bislang damit verbunden war. Auch koppelt er das Wirken der Reichen für die Armen, wie man in dem Zitat sieht, ab von einem auf das Jenseits bezogenen Verdienstgedanken, also von dem Erwerb des Seelenheils. Er spricht lediglich von Gottes kompensierender Solidarität auch »in unserer Not« – was eindeutig diesseitsbezogen ist. Schließlich und letztendlich begründet er sodann das Engagement für die Armen nach der Abkopplung vom Gedanken des Erwerbs des Seelenheils allein durch die Bezugnahme auf die Gott geschuldete Verantwortungswahrnehmung – ganz im Sinne der Feststellung Max Webers von Heilsungewissheit und damit verbundener Diesseitsorientierung: »Darum sagt Mose hier, warum Gott befiehlt, eine offene Hand zu haben gegenüber dem Armen, der unter uns wohnt: Gott gibt sie uns, damit wir keine Entschuldigung haben und nicht sagen können: Ich weiß nicht, wo ich Gutes tun könnte. Weil unser Herr uns die Mittel gibt, Gutes zu tun, kann man keine Ausflüchte finden.«1001

J. Calvin betont also auf der einen Seite die Verantwortung, die wir gegenüber den Armen haben: »Es wird immer Arme geben; dann gilt, dass die Reichen je 1000 Zitiert nach H. Scholl, Hilfe für die Armen, RKZ 1983, S. 29 (vgl. C.O. 27. 337 ff.). 1001 Zitiert nach H. Scholl, Hilfe für die Armen., RKZ (1983), S. 29 (vgl. C.O. 27, 337 ff.).

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und je Gelegenheit haben werden«1002, den Armen zu dienen und Opfer zu bringen. Aber eine willkürliche individuelle Almosenvergabe lehnt er auf der anderen Seite ab: »Demgegenüber aber, wenn man wahllos gibt und der Bettel in Gassen und Häusern erlaubt ist, so ist das Übel«1003 und plädiert damit in praktischer Konsequenz für ein Bettelverbot. Dabei ist er sich sehr wohl bewusst, dass es mit einem reinen Verbot des Bettels allein noch nicht getan ist und auch Armut damit nicht beseitigt ist. »Den Bettel verbieten und kein Almosen zu geben, das heißt doch: den Armen den Hals abschneiden«1004, resümiert Calvin realistisch. Deshalb fordert er auch in dieser Predigt eine geordnete Versorgung der (stadteigenen) Armen durch Spitäler usw. und meint das Übel des Bettels an der Wurzel anpacken zu müssen: »Wir sollten der Bettelei zuvorkommen durch Hilfe, dort, wo Mangel herrscht nach Möglichkeit und gutem Rat.«1005 Sozial orientierte Verantwortungsethik und Diakonie spitzt Calvin von der Textauslegung her nun theologisch noch weiter zu auf den Aspekt der Koinonia: Die Begründung dafür, dass »jeder, wo er gerade steht, nach seiner Einsicht zu helfen«1006 versuchen soll, sieht Calvin in der Koinonia selbst gegeben. Die durch sie gestiftete Beziehung ist Ausgangspunkt und zugleich Zielpunkt des Handelns. Das ist nach Calvin durch die Formulierung im biblischen Text selbst hervorgehoben und beabsichtigt: »Und es ist wirklich nicht ohne Grund, dass unser Herr sagt: Dein Armer, dein Bedürftiger, der im Lande weilt. Er könnte gut sagen: der Arme, der Bedürftige, aber er sagt: Dein Armer. Er sagt damit gewissermaßen: Wenn ein Mensch arm ist, verachtet man ihn. Jeder kehrt ihm den Rücken. Warum? Oh, es scheint den Reichen, die Armen dürften gar nicht in ihre Nähe kommen. Sie möchten gleichsam eine getrennte Welt haben.«1007

Nach Calvin gebietet also die biblische Botschaft die Überwindung von »Apartheitswelten« und Exklusionen der Armen. Die Diakonie wird damit von der Koinonia her begründet und jegliches hierarchisches Gefälle oder jegliche Asymmetrie wird durch sie auch wieder relativiert. Jede Marginalisierung der Armen, jede Separation zwischen Reichen und Armen ist nach Calvins Interpretation dadurch von vornherein aufgehoben, da die Armen nach seiner Aussage »unser eigenes Fleisch«1008 sind und wir zusammen in der solchermaßen von Gott gestifteten Gemeinschaft leben. J. 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008

Zitiert nach H. Scholl, Hilfe für die Armen., RKZ (1983), S. 30 (vgl. C.O. 27, 337 ff.). Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Zitiert nach H. Scholl, Hilfe für die Armen., RKZ (1983), S. 30 (vgl. C.O. 27, 337 ff.).

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Calvin versteht hier Reiche und Arme als Lerngemeinschaft vor dem weiter oben beschriebenen pädagogischen Hintergrund, die als Ziel die Ehre Gottes hat: Diese Gemeinschaft ist ganz darauf angelegt, »dass Reich und Arm gemischt wird, dass sie also einander begegnen, um miteinander zu kommunizieren…und dass beide mich (Gott) preisen.«1009. Diese Gedanken lässt J. Calvin nicht etwa auf den unmittelbar gemeindediakonischen Raum beschränkt sein. Aus der durch die Koinonia vorgegebenen Beziehungsstruktur zieht er sozialethische Konsequenzen, die die ökonomische und gesellschaftliche Ordnung betreffen. Im 2. Teil seiner Predigt setzt er sich namentlich mit der Sklaverei auseinander und ist in der Konsequenz eindeutig: »Das Beste wäre, sie würde ganz aufgehoben.«1010 Nach H. Scholl lehnt Calvin »mit der Sklaverei auch die Lohnsklaverei ab«1011. Das erscheint jedoch zu weit gegriffen, wenn damit lohnabhängige Arbeit an sich gemeint ist. Nirgendwo in der Predigt bezieht J. Calvin Position gegen lohnabhängige Arbeit, wohl aber spricht er sich gegen einen schrankenlosen (Vulgär-)Kapitalismus und für eine gerechte Entlohnung und einen Schutz des Abhängigen aus: »Dennoch muss man zusehen, dass unser Herr uns durch das Gesetz ermahnt, die, die in unserem Dienste stehen, menschlich zu behandeln. Sie sollen recht ertragen und nicht um ihren Lohn betrogen werden. Wir sollen auch nicht danach trachten, alles, was möglich ist, aus ihnen herauszupressen…Im Besonderen haben wir die natürliche Billigkeit zu beachten, dem Nächsten nur das anzutun, was wir wollten, dass auch uns getan würde.«1012

Hier finden wir die pro-moderne dialektische Haltung Calvins wieder, wie sie auch in seinen übrigen Schriften begegnet und von Calvin-Forschern hinreichend dargelegt worden ist1013 – ein Ja zu einer dynamischen Wirtschafts- und Sozialordnung, die aber um ihre soziale Verantwortlichkeit weiß und sich an biblische Grundwerte hält – hier z. B. mit Rückbezug auf die »goldene Regel«. Sieht man einmal von der Schwierigkeit des Anachronismus in der Formulierung ab, so lässt sich am Ende dann doch wieder H. Scholl zustimmen: »Nicht Kapitalismus heißt der Skopus dieser Predigt und Botschaft, sondern Humanität.«1014 Denn in dem bereits weiter oben zitierten Satz wird der Lehenscharakter des Eigentums von J. Calvin deutlich hervorgehoben: »Er [=Gott] sendet uns die Armen gewissermaßen an seiner statt, als seine Einzieher.«1015 Zitiert nach H. Scholl, Hilfe für die Armen., RKZ (1983), S. 30 (vgl. C.O. 27, 337 ff.). Zitiert nach H. Scholl, Hilfe für die Armen., RKZ (1983), S. 31 (vgl. C.O. 27, 337 ff.). H. Scholl, Die Kirche und die Armen in der reformierten Tradition, RKZ, (1983), S. 68. Zitiert nach H. Scholl, Hilfe für die Armen., RKZ (1983), S. 31 (vgl. C.O. 27, 337 ff.). Siehe die im Literaturverzeichnis angegebene Literatur unter den Namen A. Bieler, J. Staedtke, H. Lüthy u. a. 1014 H. Scholl, Die Kirche und die Armen in der reformierten Tradition, RKZ 1983, S. 68. 1015 Zitiert nach H. Scholl, Hilfe für die Armen., RKZ 1983, S. 29 (vgl. C.O. 27, 337 ff.). 1009 1010 1011 1012 1013

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Dass die Besitzenden Verantwortung für das Gemeinwohl tragen, das in der sozialen Verantwortung für »unsere« Armen kulminiert und dass der Besitz nur Lehen, also Leihgabe Gottes ist, wird schließlich besonders im letzten Teil der Predigt deutlich, wo Calvin auf die Befreiungstradition des Exodus Bezug nimmt: »Zum Schluss fügt er noch hinzu, die Juden seien Sklaven gewesen in Ägypten, und doch fordert er nun von ihnen, menschlich und barmherzig zu sein mit denen, die in ihrem Dienste stünden. Damit will er uns zeigen, dass, wenn unser Herr uns je Erfahrung der Armut hat kosten lassen, wir umso geneigter sein sollen, den Armen zu helfen. Wir sollen nicht tun wie die Hochmütigen, die, wenn es einmal Mangel in ihrem Leben gab, nicht wollen, dass man davon spricht, ja, die noch hochmütiger werden als diejenigen, die immer genug hatten. Vielmehr, wenn unser Herr es zuließ, dass wir Mangel litten und die Hilfe des Nächsten nötig hatten, dann wollen wir uns dessen wohl erinnern, und es soll uns ein Ansporn sein. Wenn wir Arme sehen, dann soll es in uns aufsteigen: Halt, wenn ich an ihrer Stelle stünde, was wünschte ich jetzt? Ich wollte doch gewiss, dass jedermann sein Herz öffnete und sein Empfinden für mich. Was, wenn ich jetzt in Not wäre? Das wird uns hier eingeprägt…Merken wir uns also dies: Gott will, dass jeder von seiner Erfahrung Gebrauch macht und sich erinnert. Wenn also einer in guter Ruhe sitzt, soll er erkennen, in welche Not man geraten kann und er wird dann geneigter sein zu helfen dem, den er in Not sieht.«1016

Unter Bezugnahme auf die biblischen Motive der Erinnerung an die Knechtschaft des Volkes Israel auf der einen Seite und der Befreiung und verheißenen Ruhe auf der anderen Seite hebt Calvin noch einmal die Identifikation mit den Armen aller Zeiten hervor. Hier begegnet uns eine Wahrnehmungsschule, die ganz anderer Art ist als wie in der bisherigen traditionellen theologischen Deutung von Armut. Denn unter Bezugnahme auf die biblische Kategorie der Erinnerung und die entsprechende Identifikation wird in Calvins Predigt der Armutszustand oder das Arm Sein an sich weder glorifiziert oder geheiligt, noch steht hier im Vordergrund die Perspektive der Helfenden und Vermögenden, für die die Armen nur Mittel zum Zweck wären. Calvins mit Bezug auf den biblischen Text propagierte Wahrnehmungsschule ist vielmehr dadurch charakterisiert, dass sie bemüht ist, aus der Perspektive der Armen selbst zu schauen. Den mit der Erinnerung verbundenen bzw. durch sie erreichten Perspektivwechsel drückt Calvin deutlich in den hier zitierten Worten aus: »Halt, wenn ich an ihrer Stelle stünde, was wünschte ich jetzt?« So gesehen ist solche heilsame Erinnerung der Beginn aktualisierter Hoffnung für die Betroffenen. Die hier angesprochene Erinnerung und der Perspektivwechsel sind bei Calvin eingebettet in sein grundsätzliches Verständnis von menschlicher Existenz, das uns wieder auf die communio bzw. Koinonia – auf die Gemeinschaft in 1016 Zitiert nach H. Scholl, Hilfe für die Armen., RKZ 1983, S. 32 (vgl. C.O. 27, 337 ff.).

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einem Leib – zurückführt. Ähnlich wie bereits weiter oben in seiner Predigt, bezieht er dies wieder auf die Leiblichkeit (Fleisch): »(Dieser leidende Mensch,) der ist mein Fleisch, meine Natur« und führt dann die Relevanz dessen weiter aus: »Es besteht kein Unterschied zwischen dem einen und dem andern, als dass Gott den einen hat bevorteilt und den andern hintangestellt. Denn wir bestehen alle aus demselben Stoff und keiner rühme sich als hätte er Reichtümer von sich aus…Demgemäß also wie uns Gott mit seinen Gütern füllt, sollen wir schauen, wie wir ihm Dankbarkeit erzeigen gegenüber unseren Nächsten, die er uns vor die Füße legt, so dass wir nicht außerhalb ihrer Armut stehen und sie nicht getrennt sind von unserem Reichtum. Vielmehr wollen wir dafür sorgen, freundliche Gemeinschaft zu halten mit denen, die mit uns verbunden sind durch ein unzerreißbares Band.«1017

Im Zitat, besonders im letzten Satz, deutet sich eine Bezugnahme zum Abendmahl an. Darin, also in seinem Abendmahlsverständnis, zeigt sich Calvins eigentlicher Ausgangspunkt zur Interpretation dieses Textes wie auch zur Deutung des Verhältnisses von Armut und Reichtum bzw. Besitzlosen und Besitzenden. Die (durch den Heiligen Geist begründete) Koinonia ist in Calvins Abendmahlsverständnis ohne Zweifel das Herzstück.1018 Wie immer man Calvins Aussage, »dass Gott den einen hat bevorteilt und den andern hintangestellt«, auch deuten will – ob als theologische Aussage im Sinne einer Schöpfungsordnung oder als Aussage über die Souveränität des göttlichen Willens, der sich menschlicher Verstehensversuche entzieht – , so bleibt nach Calvin letztendlich in Spannung dazu zugleich die in der Koinonia begründete Erinnerung und Aufforderung: »Dein Armer!«. Diese Dynamik ist in der calvinischen und calvinistischen Theologie letztendlich auch abhängig von der Doktrin der Prädestination und der Providenz, genauer von deren Zuordnung und Zusammenspiel. Die sozialethischen Aussagen über Reichtum und Armut werden bei Calvin und in der calvinistischen Tradition oft auf die Arbeitsethik im Zusammenhang mit der Prädestinationstheologie sowie auf die Zinsfrage reduziert. Damit wird man aber weder der Fülle calvinischer Theologie und Predigt, wie wir hier sahen, noch der Entwicklung des Calvinismus, speziell des französischen gerecht. Die hier vorgestellten sozialethischen Gedankengänge Calvins begegnen nicht nur in der hier analysierten Predigt, so dass man sie als peripher einordnen könnte, sondern in vielen seiner Schriften. Sie decken sich weitestgehend mit den Aussagen, wie sie von anderen Forschern in anderen Schriften Calvins 1017 Zitiert nach H. Scholl, Hilfe für die Armen., RKZ 1983, S. 32 (vgl. C.O. 27, 337 ff.). 1018 Vgl. Calvins Kleines Abendmahlstraktat »1541; Petit traicte de la saincte Cene de nostre Seigneur Iesus Christ« (Calvin Studienausgabe 1.2., bes. S. 447) u. J. Staedtke, Wirtschaftsund Sozialethik bei Calvin, S. 94.

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ausfindig gemacht und im größeren Zusammenhang interpretiert worden sind.1019 Deshalb sollen diese auf bestimmte Themenbereiche bezogenen Aussagen Calvins, gleich ob deckungsgleich oder ergänzend, in konzentrierter Form im Folgenden aufgeführt werden: Armut und Reichtum werden bei Calvin vor allem vor dem Hintergrund der Arbeits- und Berufsethik, so wie unter dem Aspekt der Koinonia und charit¦ (=Nächstenliebe) neu beleuchtet und gedeutet.

3.1.4 Calvins Arbeits- und Berufsethik Grundlegend für das Verständnis der Arbeits- und Berufsethik bei Calvin ist sein Ausgangspunkt bei den Gaben. Alle Gaben Gottes (Eigenschaften, Kompetenzen, Talente, Besitz)1020 sieht er als Aufgaben.1021 Das führt wiederum zu einem positiven Verständnis von Arbeit, die die mit den Gaben verbundenen Aufgaben wahrnimmt und ausführt.1022 Arbeit ist auf diese Weise für Calvin aber »nicht nur Auftrag, sondern auch Würde. Weil Gott auch Urheber der Arbeit ist, kann sie Calvin sogar als Gnade und als Zeichen des Reiches Gottes ansprechen.«1023 Indem Calvin der Arbeit durch diese theologische Begründung Wert und Würde verleiht,1024 haben weder eine Vergötzung der Arbeit noch eine Rechtfertigung der Faulheit bei ihm einen Platz.1025 Calvin tut sich deshalb offenbar 1019 Vgl. hierzu: F. Rachfahl, Kalvinismus und Kapitalismus; M. Lechner, Le christianisme social; ders., Le calvinisme social; H. Lüthy, Nochmals »Calvinismus und Kapitalismus«; A. Bi¦ler, La pens¦e ¦conomique et sociale de Calvin; ders.: Calvin, Prophet des industriellen Zeitalters; R. Stauffenegger, R¦forme, richesse et pauvret¦, E. Wolf, Theologie und Sozialordnung bei Calvin; J. Staedtke, Calvins Bedeutung für die moderne Welt; ders., Wirtschafts- und Sozialethik bei Calvin; Artikel »Calvin, Sozialethik bei« in: Evangelisches Soziallexikon. 1020 »…so sollen wir davon Gebrauch machen. Im anderen Falle würden wir Gottes Gaben, die uns in ihnen von selbst dargeboten werden, verachten und mit Recht für unsere Trägheit bestraft werden« (Institutio, II, 2,16), vgl. J. Staedtke, Calvins Bedeutung für die moderne Welt, S. 78. 1021 Vgl. J. Staedtke, Calvins Bedeutung für die moderne Welt, S. 86. 1022 Vgl. J. Staedtke, Calvins Bedeutung für die moderne Welt, S. 86. 1023 J. Staedtke, Calvins Bedeutung für die moderne Welt, S. 86. 1024 »Die Arbeit des Christen ist eine der wichtigsten Aspekte seiner Treue, so wenig sie personeller oder sozialer Selbstzweck oder Rechtfertigung des Daseins sein kann. Sie gewinnt ihre Würde aus dem Auftrag Gottes und seiner Vorsehung« (Artikel »Calvin, Sozialethik bei« in: Evangelisches Soziallexikon, Sp. 208). 1025 Vgl. J. Staedtke, Calvins Bedeutung für die moderne Welt, S. 86. Vgl. auch Artikel »Calvin, Sozialethik bei« in: Evangelisches Soziallexikon, Sp. 208):«Träge Untätigkeit widerspricht der Bestimmung des Menschen (Calvin zu Gen 2,15)«

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auch mit dem Gedanken schwer, Arbeit als Handelsware zu sehen.1026 Nach zwei Seiten hin hat diese theologische Begründung und Aufwertung der Arbeit ihre sozialethische Auswirkung. Einmal auf die Armut bezogen: »Umfassend hat sich im protestantischen Arbeitsethos der Bruch mit dem ganzen Welt- und Gesellschaftsbild des Mittelalters vollzogen, das den Miserabilismus und Pauperismus als ewiges gottgewolltes Übel der sündigen Welt hinnahm und gegenüber dem unausdenkbaren Massenelend der mittelalterlichen Menschheit nichts anderes kannte als die ewig resignierende Gebärde des almosenheischenden Bettlers und des almosenspendenden Reichen. Es ist ein neues, kaltes und scharfes Licht, ohne verklärenden Heiligenglanz des Betteldaseins, in dem der Calvinist sein Leben führen lernte, nicht im demütigen Hinnehmen des Elends als Lohn der Sünde, sondern in der Charakterschule der disziplinierten Arbeit.«1027 Der Charakter der Armut als ein unabwendbares, unveränderliches Fatum wird durch Calvin also durch die gestaltende Funktion der Arbeit aufgehoben. Zugleich wird damit aber auch dem Reichtum bzw. dem Erwerbs- und Besitzstreben ein Ziel und eine Grenze gesetzt. Das Erwerbs- und Besitzstreben und die damit verbundene Arbeit sind kein Selbstzweck, sondern haben gottund menschendienlichen Charakter in der Lehre Calvins: «Selon que chacun a de pouvoir et de moyens, d’autant il est tenu d’aider ses frÀres: parce que, par ce moyen le Seigneur nous donne matiÀre d’exercer charit¦ fraternelle…Selon que chacun a besoin de manger et boire, ou d’autres choses, desquelles nous sommes pourvus en abondance…»1028

Wenn Calvin an anderer Stelle formuliert: »Wir gehören nicht uns selbst, sondern Gott«1029, dann drückt sich darin das theologische Zentrum seiner Lehre aus, wonach die Königsherrschaft Christi Anspruch auf all unsere Lebensbereiche erhebt1030 und die Heiligung ebenso wie die Rechtfertigung von Gott aus an uns Menschen geschieht und zu ihrem Ziel kommen will. In diese Theologie eingebettet bleibt somit auch die dienliche Funktion des Reichtums.1031 1026 Vgl. J. Staedtke, Calvins Bedeutung für die moderne Welt, S. 86. 1027 H. Lüthy, Nochmals »Calvinismus und Kapitalismus«, S. 156. 1028 «In dem Maß wie jeder Macht und Mittel besitzt, ist er auch gehalten, seinen Brüdern zu helfen, denn durch dieses Mittel gibt der HERR uns Anlass, die brüderliche Nächstenliebe auszuüben ….in dem Maß wie jeder zu Essen oder Trinken braucht oder andere Dinge, mit denen wir im Überfluss ausgestattet sind.» Übersetzt nach dem bei A. Bi¦ler zitiertem franz. Originaltext – ders., La pens¦e ¦conomique et sociale de Calvin, S.347, (Comm. N.T., op. Cit. 1. Jean, ch. 3, V. 17). 1029 Institutio III, 7,1. 1030 Zur Königsherrschaft Christi bei Calvin siehe: J. Staedtke, Die Lehre von der Königsherrschaft Christi, S. 101 – 113; E. Wolf, Königsherrschaft Christi, in: Ulrich, H.G. (Hg.): Evangelische Ethik, S. 75 – 97. 1031 Vgl. auch A. Bi¦ler, La pens¦e ¦conomique et sociale de Calvin, S.347.

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So steht zu Beginn der Berufsethik als eines Teilbereiches der Arbeitsethik Calvins dementsprechend auch die Wahl des Berufes selbst. Diese lässt sich auf die Formel bringen: »In der Berufswahl sollte der Mensch der Berufung Gottes antworten«1032 Die im Beruf verrichtete Arbeit ist also Antwort auf Gottes Berufung. Grundsätzlich hebt Calvin hervor, dass Gottes Wille mehr auf einen dienlichen Beruf zielt als auf eine Tätigkeit des Profitgewinns.1033 Deshalb sollen die Eltern möglichst frühzeitig »zugunsten der Nächstenliebe und des Gemeinwohls«1034 auf die Berufsorientierung der Kinder und Jugendlichen einwirken. Damit lässt sich Calvin wohl kaum zum Gewährsmann für die Entwicklung eines zügellosen Kapitalismus machen, wie es durch vereinfachte Adaption der Max-Weber-These immer noch und immer wieder geschieht.1035 Das Maß für die Wertigkeit und insbesondere die Gleichwertigkeit aller Arbeit richtet sich bei Calvin nach der Frage, inwieweit sie durch ihren Fleiß menschlicher Gesellschaft bzw. ihrer humanen Gestaltung dient.1036 Obgleich Calvin vor revolutionärer Befreiung aus der Armut warnt,1037 führt seine hier dargestellte Position zu einer Aufwertung der auch noch so einfachsten Arbeiten und zugleich zu einem leidenschaftlichen Einsatz für die Rechte der (armen) Arbeitenden. So beklagt Calvin die Ausbeutung von Angestellten und Arbeitern und bedauert, dass manche mit ihren Tieren besser umgingen als mit ihren Angestellten.1038 Calvins konkrete arbeitsethisch orientierte Kritiken, Vorschläge und Forderungen erfolgen nicht vom Schreibtisch eines weltfremden Idealisten aus, sondern zeugen von genauer Kenntnis der alltäglichen Arbeitsbedingungen. Er setzt sich ein für eine gerechte Entlohnung1039 und schlägt ganz modern Arbeitsverträge und Schiedsgerichte vor.1040 Da »Gott ehrliche Arbeit segnen will, gibt es

1032 Calvin zu Matth. 20,1 – vgl. Artikel »Calvin, Sozialethik bei« in: Evangelisches Soziallexikon, Sp. 208 1033 Calvin zu Eph. 4, 26 ff. – vgl. Artikel »Calvin, Sozialethik bei« in: Evangelisches Soziallexikon, Sp. 208 1034 Vgl. Artikel »Calvin, Sozialethik bei« in: Evangelisches Soziallexikon, Sp. 208 1035 Vgl. dazu kritisch: H. Lüthy, Nochmals »Calvinismus und Kapitalismus«, S. 129 – 156; ähnlich auch M. Freudenberg, Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin, S. 5; resp. ders., Reformierter Protestantismus, S. 99. 1036 Vgl. hierzu auch Artikel »Calvin, Sozialethik bei« in: Evangelisches Soziallexikon, Sp. 208. 1037 Vgl. Institutio, IV, 3,3. Zur Stelle: M. Freudenberg, Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin, S. 7; resp. ders., Reformierter Protestantismus, S. 101; vgl. auch J. Staedtke, Wirtschafts- und Sozialethik bei Calvin, S. 95. 1038 Vgl. J. Staedtke, Wirtschafts- und Sozialethik bei Calvin, S. 95 1039 So besonders in einer Predigt über Deuteronomium 24, 14 – 18 (CO 28, 187 – 198); vgl. hierzu auch M. Freudenberg, Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin, S. 8; resp. ders., Reformierter Protestantismus, S. 102. 1040 Vgl. J. Staedtke, Wirtschafts- und Sozialethik bei Calvin, S. 94

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ein Recht auf Arbeit und auf Nichtentzug der Arbeitsmittel«1041. Die Forderung auf »ein Recht auf Arbeit« hat offenbar nichts an Aktualität eingebüßt und kann für damalige Verhältnisse als progressiv eingestuft werden. Calvin begnügt sich also nicht nur mit Aufforderungen zum karitativen »Gutmenschentum« oder mit der Einrichtung oder dem Ausbau diakonischer Institutionen wie die der Diacres oder des Hospitals in Genf zur Abhilfe von Armut. Erst der Schritt hin zu einer Kritik der ziellosen reinen Kapitalakkumulation so wie die Fürsprache für die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse und die Veränderung der die Armut bedingenden Faktoren und schließlich auch die Kritik an der Sklaverei entheben Calvin tatsächlich des Verdachts einer rein sozialkonservativen Bestätigung von ungerechten Verhältnissen durch seine religiöse Deutung einer von Gott »gewollten« Existenz von Reichtum und Armut (sowie der jeweils damit verbundenen gegenseitigen Verpflichtungen der Reichen und Armen).1042

3.1.5 Calvin zu Reichtum und Armut – Calvins Position zum Privateigentum Bei seiner Auslegung des Lobgesangs der Maria macht Calvin keinen Hehl aus der Beschreibung, wie die Schere zwischen Reichtum und Armut immer weiter auseinander klafft und wie der Reichtum der Einen auch zusammenhängt mit der Armut der Anderen: Die Reichen »mangeront les povres, ils humeront leur substance, et rongerons mÞme leurs os«1043. Er benennt frei heraus mehr oder minder im Vorgriff marxistischer Begrifflichkeit die »accumulation« (=»Anhäufung«)1044 der Reichtümer auf der 1041 Predigt zu Dt. 24,1 – 6 – vgl. Artikel »Calvin, Sozialethik bei« in: Evangelisches Soziallexikon, Sp. 209. 1042 Gegen M. Freudenberg, der den Verdacht, Calvin würde eine sozialkonservative Einstellung vertreten und bestehende ungerechte Verhältnisse durch seine Position lediglich religiös überhöhen, dadurch ausgeräumt sehen will, dass er argumentativ auf die diakonischen Optionen und Aktivitäten Calvins verweist (vgl. ders., Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin, S. 7; resp. ders., Reformierter Protestantismus, S. 101). Auch durch eine noch so diakonisch ausgerichtete Kirche ändert sich nicht zwangsläufig die gesellschaftliche und faktische Situation der Betroffenen. Diakonie muss nicht automatisch zur Kritik ungerechter Verhältnisse führen und Calvin damit des Verdachts des Sozialkonservatismus entheben. Im Gegenteil, die meisten oder bedeutendsten Vertreter des diakonischen Aufbruchs und des sozialen Protestantismus im 19. Jh. beispielsweise waren sozial-konservative Denker (vgl. dazu G. Brakelmann, Die soziale Frage; dort insbesondere die Kapitel über »Wichern« und »Stoecker«). 1043 »werden die Armen auffressen, sie werden ihr Auskommen aufsaugen und werden sogar ihre Knochen verschlingen« (C.O. 46, 139); vgl. auch M. Lechner, Le christianisme social, S. 14. 1044 C.O. 2, 659.

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einen Seite und das Elend auf der anderen Seite und zieht konsequent den Schluss daraus, dass die Reichtümer, die sich bei einem Einzelnen angesammelt haben, entsprechend vom eigentlichen »D¦tenteur lui-mÞme« (»Besitzer selbst«)1045 – gemeint ist Gott – auch wieder ausgeteilt/ gerecht verteilt werden müssten »entre tous« (»unter allen«!)1046 / allen zugänglich gemacht werden müssten.1047 Solches Gedankengut begegnet uns wieder in dem Selbstverständnis eines Sozialismus, der nicht etwa die Verteilung des Mangels, sondern die des Gewinns fordert. Unter anderem auch deshalb kann A. Bi¦ler den modernen Denker Calvin eingedenk des darin mitschwingenden Anachronismus als einen »Propheten des industriellen Zeitalters« bezeichnen.1048 Dennoch kennt Calvin den Wert und den Schutz des Privateigentums. Das Privateigentum hat bei J. Calvin1049 nur unter der Voraussetzung eine Akzeptanz und einen Wert, wie sein theologischer Ausgangspunkt bzw. das von ihm aufgestellte theologische Axiom in Geltung bleibt, nämlich: »Dieu est ma„tre de l’univers.«1050 Für Calvin ist Privateigentum Gabe Gottes und damit nicht per se negativ, sondern grundsätzlich eigentlich positiv1051 – Calvin kann die Vorzüge des Privateigentums preisen1052 und wendet sich entschieden ab von der mittelalterlichen Option des Mönchtums, nämlich, dass die selbst gewählte Besitzlosigkeit einen Vorzug bei Gott erwirke.1053 Vielmehr soll der Mensch bewahren, was Gott ihm in die Hand gegeben hat und »Gottes Gaben ohne Gewissensbedenken…gebrauchen«1054. Luxus und Verschwendung sieht Calvin

1045 1046 1047 1048 1049 1050 1051 1052 1053

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C.O. 2, 659. siehe C.O. 2, 659. Vgl. C.O. 2, 659 f. Vgl. A. Bi¦ler, Calvin, Prophet des industriellen Zeitalters; zum Problem des Anachronismus siehe ebd., »Einführung«, S. 5. Ausführlich zum Privateigentum bei Calvin neben der weiter unten angegebenen Literatur vgl auch: G. W. Locher, Der Eigentumsbegriff als Problem evangelischer Theologie, Zürich 1962. »Gott ist der Meister / Herr des Universums« (Calvins Kommentar zu 2. Kor. 8, 11) – vgl. A. Bi¦ler, La pens¦e ¦conomique et sociale de Calvin, S. 351. Vgl. M. Freudenberg, Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin9 f. S. 6; resp. ders., Reformierter Protestantismus, S. 104 f. Das Lob des Besitzes erstreckt sich bei Calvin von der Schönheit der Kleidung bis hin zur vorteilhaften Wirkung von Kosmetika (vgl. M. Freudenberg, Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin, S. 10; resp. ders., Reformierter Protestantismus, S. 104 f.). Das verdeutlicht er in seiner Auslegung der Geschichte vom reichen Jüngling (Mt. 19, 16 – 26 parr.), die in der Mönchstradition bislang die ideologische Grundlage für eine Theologie der Askese bildete (vgl. M. Freudenberg, Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin, S. 9 /10; resp. ders., Reformierter Protestantismus, S. 104). Institutio III, 19,8 – vgl. M. Freudenberg, Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin, S. 10 resp. ders., Reformierter Protestantismus, S. 104.

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zwar kritisch, aber er hält auch ausdrücklich fest, dass der Erwerb neuen Besitzes in der Bibel nicht untersagt sei.1055 So ist der Besitz zweier oder mehrerer Mäntel nach Calvin keine Sünde oder Tabu. In seiner Auslegung zu Matth., Kap. 3 und Luk., Kap. 4 vertritt Calvin die Auffassung, dass Christus durch seine Aufforderung: »Wer zwei Mäntel besitzt, der gebe einen ab!« nicht etwa »veuille faire tout commun…Il s’ensuyt donc qu’il permet — ceux qui ont de quoy, de retenir leur bien; mais il signiefie qu’un chacun selon sa facultedoit departir de son abondance pour secourir — la necessite de ses prochains…«1056 Aber zugleich zeigt Calvins Auslegung das, was J. Staedtke grundsätzlich zu Calvins Wirtschafts- und Soziallehre festhält: »Privateigentum steht für ihn immer im Dienst der Gemeinschaft.«1057

3.1.6 Calvin zu Geld, Zins und Wucher Mit A. Bi¦ler lässt sich sagen, dass wir bei Calvin Zeuge einer »r¦habilitation th¦ologique de la vie mat¦rielle«1058 (»theologischen Rehabilitation (Neubewertung, Aufwertung) des materiellen Lebens«) werden, die eben auch das Geld einschließt.1059 »Allgemein gilt wiederum, dass, wie der Besitz, wie die Arbeit, auch das Geld ein Bindeglied unter den Menschen darstellt, durch welches sich diese gegenseitig dienen können, dass auch das Geld – als eine Frucht der Arbeit – weder verachtet noch vergötzt werden darf und allen zukommt, die am Aufbau von Gottes Reich beteiligt sind.«1060 Bereits im ersten Viertel des 20. Jh. gab es in der Calvin-Forschung einen Konsens, was Calvins Verhältnis zur Zinsfrage betrifft.1061 Die teils in Auseinandersetzung mit den Thesen von Max Weber erfolgten Analysen der Aussagen Calvins kamen alle zu demselben Ergebnis, nämlich, dass Calvin Darlehen und Zins für Darlehen zwar unter bestimmten Voraussetzungen befürwortete bzw. 1055 Vgl. M. Freudenberg, Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin, S. 10; resp. ders., Reformierter Protestantismus, S. 104. 1056 »alles gleich machen will…daraus geht vielmehr hervor, dass er denen, die etwas besitzen, erlaubt, ihr Gut zu behalten, aber es bedeutet, dass jeder nach seinen Möglichkeiten von dem, was er in Überfluss hat, abgeben muss, um der Not seines Nächsten abzuhelfen.« (C.O. 46, 549 f.). 1057 J. Staedtke, Wirtschafts- und Sozialethik bei Calvin, S. 86. 1058 »theologischen Rehabilitation des materiellen Lebens« (A. Bi¦ler, La pens¦e ¦conomique et sociale de Calvin, S. 344). 1059 Vgl. A. Bi¦ler, La pens¦e ¦conomique et sociale de Calvin, S. 344. 1060 J. Staedtke, Wirtschafts- und Sozialethik bei Calvin, S. 96 (Zitat urspr. von Brüsser). 1061 Hier sind besonders zu nennen: F. Rachfahl, Kalvinismus und Kapitalismus (1909), Karl Holl; Die Frage des Zinsnehmens, (1922); H. Hauser, — propos des id¦es ¦conomiques de Calvin (1926); ähnlich auch R.-H. Tawney, Religion and the rise of capitalism, (1925 bzw. 1926), siehe dort bes. S. 105.

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legitimierte, Wucher aber durch eine Begrenzung des Zinssatzes eindeutig ablehnte.1062 Auf der einen Seite hat sich Calvin als einer der Ersten, im Gegensatz zu Luther, aber ähnlich wie zuvor bereits Heinrich Bullinger im Jahr 15311063 und zeitgleich wie der in N„mes (Frankreich) wirkende Reformator Pierre Viret1064 gegen die traditionelle in der Kirche herrschende aristotelesche Lehre von der »Unfruchtbarkeit des Geldes« gewandt1065 und biblisch-theologisch begründet, warum Darlehensvergabe und das Zinsgeschäft nicht in allen Fällen von Gott verboten seien.1066 Vor allem ist es seiner scharfsinnigen Analyse der Gegenwartsprobleme der Wirtschaft seiner Zeit so wie seiner exegetisch-dialektischen Methode1067 zu verdanken, dass er in den biblischen Texten vorwiegend einen Hilfskredit für Bedürftige anvisiert sieht, der nicht zu vergleichen sei mit dem Kredit oder Darlehen, wie sie im wirtschaftlichen Kontext des damaligen Genf begegnen und davon streng unterschieden werden müsste.1068 Anders ausgedrückt: man muss aufpassen, dass man die Bibel nicht nach Birnen befragt, wo es da um Äpfel geht. Auf der anderen Seite hat Calvin aber sehr wohl den Wucher angeprangert und die Vergabe von Darlehen sowie die Zinsnahme bei Darlehen an eine ganze Reihe von Bedingungen geknüpft.1069 Er hat einen umfassenden Kriterienkatalog 1062 Siehe vorhergehende Fußnote. 1063 Vgl. J. Staedtke, Calvins Bedeutung für die moderne Welt, S. 85 f.; ders., Wirtschafts- und Sozialethik bei Calvin, S. 97. 1064 Pierre Viret trifft im Gefolge Calvins ebenso die Unterscheidung zwischen Zinsgeschäft und Wucher. Er sieht sie darin gegeben, »dass das ›anständige‹ Zinsgeschäft sich nicht aus einer Notlage des geldaufnehmenden Teils ergibt, sondern aus dessen Wunsch, sein Vermögen durch eine aussichtsvolle Unternehmung zu steigern. In solchem Falle ist die Entschädigung durch einen Zins sittlich berechtigt« (K. Holl, Die Frage des Zinsnehmens, S. 387). 1065 Vgl. J. Staedtke, Calvins Bedeutung für die moderne Welt, S. 85 f.; ders., Wirtschafts- und Sozialethik bei Calvin, S. 97. Zu Calvins Gemeinsamkeit an diesem Punkt mit Pierre Viret vgl. K. Holl, Die Frage des Zinsnehmens, S. 387. 1066 Zu seiner biblisch-theologischen Begründung, bei der er sich vor allem mit Luk. 6, 35 (»Tut wohl und leihet, dass Ihr nichts dafür erwartet, so wird euer Lohn groß sein«), aber dann auch mit anderen biblischen Texten wie Psalmen (bes. Psalm 15, 5) und Propheten (bes. Ezechiel 18, 7 f.) auseinandersetzt, siehe ausführlich: K. Holl, Die Frage des Zinsnehmens, S. 387 – 389; A. Bi¦ler, Calvin, Prophet des industriellen Zeitalters, S. 31 – 33. 1067 Vgl. hierzu besonders: A. Bi¦ler, La pens¦e ¦conomique et sociale de Calvin, S. 517 und ders., Calvin, Prophet des industriellen Zeitalters, S. 12 f. 1068 In diesem Kontext ist auch Calvins Aussage einzuordnen: »Unsere Konjunktion – wir würden heute sagen unsere Konjunktur – ist ohne jede Ähnlichkeit« (zitiert nach A. Bi¦ler, Calvin, Prophet des industriellen Zeitalters, S. 34). Vgl. hierzu ausführlich A. Bi¦ler, Calvin, Prophet des industriellen Zeitalters, S. 34 f. 1069 Die Fülle der von ihm benannten Rahmenbedingungen erscheint ihm selbst so umfassend, dass er sogar Zweifel hegt, »ob das Zinsnehmen den Christen wirklich möglich ist« (K. Holl, Die Frage des Zinsnehmens, S. 387). Letztendlich beantwortet er diese Frage aber positiv (vgl. ebd.).

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dafür aufgestellt, wie die Vergabe sozialverträglich geschehen kann und unter dem Primat ethischer Normen,1070 die er durch die »charit¦« (»Liebe / Nächstenliebe / Caritas«) begründet sein lässt.1071 Die Option für die Armen ergibt sich zwangsläufig aus dem Primat der charit¦ in diesem Kontext. Sie bleiben bei Calvin im Blickfeld als diejenigen, die die Auswirkungen als die schwächsten Glieder am untersten Ende des Systems ertragen müssen oder aber im günstigen Fall als solche davon profitieren.1072 Calvin lehrt und praktiziert Wirtschaftsethik, wie es sich hier auf dem Handlungsfeld von Darlehen und Zins zeigt, als »flexible situationsbezogene Verantwortungsethik«1073. Er hat einerseits die Notwenigkeit von Investitionen gesehen, andererseits aber auch den notwendigen Schutz vor einer unkalkulierbaren, sich gerade für die armen und einfachen Bevölkerungsschichten negativ auswirkenden Dynamik. J. Staedtke weist zu Recht darauf hin: »Unter seinem Einfluss hat der Rat der Stadt Genf den Zinssatz für Kredite auf 6 % festgelegt, um dem Wucher zu wehren. Calvin hat den Mut gehabt, das verzinsliche 1070 Hier ist auf die folgenden acht im Evangelischen Soziallexikon (ebd., Artikel »Calvin, Sozialethik bei«, Sp. 212) aufgeführten Punkte zu verweisen: 1.Geldleihen auf Zins sollte nicht zu einem eigenen Berufsstand erhoben werden. Calvin hält den Banquier-Beruf sogar für unvereinbar mit der Würde des Presbyteramtes. 2. Darlehen für Arme und Notleidende müssen unverzinst gewährt werden. 3. Kapitalinvestitionen, die Zinsen abwerfen, dürfen nicht zum Nachteil Notleidender vorgenommen werden. 4. Für den Abschluss von Zinsverträgen ist die Goldene Regel (Matth. 7,12) maßgeblich. 5. Der Kapitalschuldner muss von dem von ihm geliehenen Betrag den größeren Gewinn machen können als der Zinsnehmer. 6. Der Maßstab für die Zinsfestsetzung vom Gewohnheitsrecht hergeleitet werden, sondern muss vom »Wort Gottes« abgeleitet werden. 7. Zinsgeschäfte unterliegen der Kontrolle durch die Öffentlichkeit bzw. Obrigkeit. 8. Über allem Zinsrecht steht göttliches Recht, das nicht außer Kraft gesetzt werden darf um der Vorteilnahme willen. 1071 Die vom Evangelium her gebotene Kategorie der charit¦ bzw. Liebe ist für Calvin Maßstab für die Darlehens- und Zinsfrage. So bemerkt K. Holl »Selbst beim erlaubten Zinsgeschäft zwischen zwei Vermögenden will Calvin die christliche Liebe nicht außer Acht gesetzt wissen. Es genügt dafür nicht, dass man den obrigkeitlich zugelassenen Zinsfuß innehält oder sich an die rechtlichen Formen bindet. Denn auch dabei kann man noch den Geldsuchenden gründlich auswuchern. Christenpflicht sei es vielmehr, dem anderen nicht nur ›auch‹ einen, sondern womöglch den ›größeren‹ Vorteil zu gönnen« (K. Holl, Die Frage des Zinsnehmens, S. 386). Diese Perspektive mag idealistisch und im heutigen Wirtschaftkontext als weltfremd erscheinen. Man kann sie aber auch als weitsichtig im Sinne der Anfrage an nötige Nachhaltigkeit und Stabilität in den wirtschaftlichen Beziehungen und Handlungen deuten. 1072 Vgl. hierzu das folgende von A. Bi¦ler angeführte Calvin-Zitat: »›Das Gesetz, Geld zu leihen, ohne Wucher zu betreiben‹, schreibt er, ›hängt, obschon es in den Bereich der Rechtssatzungen gehört, dennoch vom Gebot der Nächstenliebe ab, denn es ist kaum möglich, dass die Armen nicht durch Wucher zu Boden gedrückt werden und dass nicht gleichsam ihr Blut ausgesaugt wird‹« (Calvins Kommentar über 2. Mose 22/25, C.O. 24, franz. zitiert nach A. Bi¦ler, Calvin, Prophet des industriellen Zeitalters, S. 34). 1073 Artikel »Calvin, Sozialethik bei« in: Evangelisches Soziallexikon, Sp. 212.

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Produktivdarlehen theologisch zu rechtfertigen. Dadurch wurde den hugenottischen Flüchtlingen in Genf ermöglicht, neue finanzielle und industrielle Möglichkeiten zu erschließen.«1074

Nach den Angaben des Evangelischen Soziallexikons schwankte der jeweils neu festgelegte Zinssatz zwischen 5 – 6,6 %.1075 Unabhängig von der genauen Höhe erscheint es wichtig, dass die Festlegung des Zinssatzes nach Calvin obrigkeitliche Angelegenheit sein muss und nicht Privatsache sein darf, da er sich letztlich auf das Konsumverhalten aller auswirkt. Unkontrollierte Billigkredit-Geschäfte waren durch die Kontrollinstanz des Saates damit ebenso ausgeschlossen wie zu hohe Zinszahlungen. Die Notwendigkeit einer solchen Handlungsoption dürfte auch heute in der wirtschaftsethischen Diskussion nichts an Aktualität eingebüßt haben. Mit besonderer Aufmerksamkeit widmet sich Calvin der Frage des Darlehens für Arme oder notleidende Flüchtlinge, das nach ihm grundsätzlich unverzinst erfolgen soll,1076 um zu verhindern, dass ihre Notlage und Abhängigkeit ausgenutzt wird bzw. sie in noch größere Schwierigkeiten geraten. Vielmehr sollte ihnen umgekehrt damit eine Hilfe zur Selbsthilfe ermöglicht werden, um beispielsweise mit der Leihgabe in Werkzeuge oder andere Produktionsmittel investieren zu können1077 – etwas, was so in die Praxis der gemeindlichen Armenfürsorge der französischen Protestanten eingegangen ist und sowohl in Frankreich als auch im Exil umgesetzt wurde.1078 Es war zugleich ein Beitrag zur Vermeidung von Überschuldung (auf dem freien Markt). Um den Wucher zu verhindern und um den Markt letztlich auch zum Schutze der Armen zu regulieren, war eine gewisse Begrenzung des Zinssatzes in Genf von Calvin und auch seinen dortigen Nachfolgern im Verlauf des 16. Jh. immer wieder empfohlen bzw. gefordert worden, welcher der Rat der Stadt bei der Festlegung des Zinssatzes dann doch nicht selten gefolgt ist, so dass A.– E. Sayous, A. Bi¦ler und H. Lüthy in Auseinandersetzung mit den Weber-Thesen bzw. ihrer Rezeption zu dem für manch einen erstaunlich klingenden, historisch aber überzeugenden Ergebnis kommen konnten, dass der Calvinismus des 16 Jh. in Genf im Hinblick auf die Wucherei eher wie eine Bremse als wie ein Antrieb

1074 J. Staedtke, Calvins Bedeutung für die modere Welt, S. 85. 1075 Artikel »Calvin, Sozialethik bei« in: Evangelisches Soziallexikon, Sp. 212. 1076 Vgl. C.O. 10, 248; K. Holl, Zinsnehmen und Wucher in der reformierten Kirche, S. 386; Artikel »Calvin, Sozialethik bei«, in: Evangelischen Soziallexikon, Sp. 212. 1077 So auch als Starthilfe an mittellose Kleinunternehmer bzw. Handwerker der nach Genf emigrierten französischen Protestanten (Vgl. M. Freudenberg, Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin, S. 10/11; resp. ders., Reformierter Protestantismus, S. 105 und J. Staedtke, Calvins Bedeutung für die modere Welt, S. 85 f.). 1078 Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin.

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wirken musste1079, die Gutheißung eines grenzenlosen Wuchers hingegen bereits lange zuvor stattgefunden hatte, nämlich durch den »katholischen« Bischof und Stadtherrn Adh¦mar Fabri bereits anderthalb Jahrhunderte vorher.1080

3.1.7 Reiche und Arme in der Koinonia So wie »Armut und Reichtum nach Calvin in gleicher Weise Prüfsteine des Glaubens« sind,1081 so sollen nach ihm die Armen und Reichen daran auch miteinander in der (weltlichen und besonders der kirchlichen) Gemeinde bzw. Koinonia wachsen.1082 Das sei hier noch einmal durch einige Verweise hervorgehoben: Die Gemeinschaft von arm und reich ist in diesem Sinn nach Calvin soziale, materielle und spirituelle Herausforderung zugleich,1083 weshalb besonders die Kirche sichtbare Zeichen setzen muss: «C’est un ordre de l’Êglise compass¦…que quand les membres communiquent les uns avec les autres mutuellement, selon la misÀre des dons et de la n¦cessit¦, cette conf¦rence mutuelle fait une proportion convenables, et comme une belle harmonie. Bien que les uns possÀdent plus, et les autres moins, et que les dons soient disribu¦s in¦galement.»1084 1079 Vgl. A.-E. Sayous, calvinisme et capitalisme, S. 227 – 230; H. Lüthy, Nochmals »Calvinismus und Kapitalismus«, S. 154 f.; ähnlich A. Bi¦ler, La pens¦e ¦conomique et sociale de Calvin, S. 504 – 506; ders., Calvin, Prophet des industriellen Zeitalters, S. 37 – 42. Zu dem Verhalten der übrigen nachfolgenden Pastoren in Genf siehe A. Bi¦ler, ebd., S. 42 f. 1080 Hier sei verwiesen auf Lüthys Ausführung: »…weil gerade dieser Punkt immer wieder und meist in unsäglicher Verworrenheit, durch die Diskussion spukt, muss hier immerhin gesagt werden, dass die Toleranz der katholischen Kirche gegenüber dem Wucher, nicht eine stillschweigende, sondern eine offizielle und ausdrückliche Toleranz, seit Jahrhunderten grenzenlos gewesen war, und dass gerade auch in Genf nicht Calvin den Wucher erlaubt hat, sondern anderthalb Jahrhunderte vor Calvin der bischöfliche Stadtherr Adh¦mar Fabri in seinem berühmten Privileg für die Genfer Messen, in dem jedermann, der diese Messen besuchte, Mann oder Frau, Kleriker oder Laie, das Recht zu unbeschränktem Wucher (usura) und bischöflicher Schutz gegen jede diesbezügliche Klage oder Belästigung zugesichert wird. Calvin hat in Genf nicht den Wucher eingeführt, er hat den Wucher abgeschafft, indem er endlich die klare Unterscheidung zwischen dem Zins für produktiv angelegtes Kapital und dem fremde Not ausbeutenden parasitären Wucher vollzog und den ersten unter strengen Reglementen zuließ, den zweiten unter Verbot und Verfolgung stellte…« (H. Lüthy, Nochmals »Calvinismus und Kapitalismus«, S. 154 f. 1081 J. Staedtke, Calvins Bedeutung für die moderne Welt, S. 86. 1082 Freilich ist zu unterscheiden zwischen der real existierenden Gemeinde und der jeweils noch ausstehenden, noch nicht vollendeten Koinonia. 1083 Vgl. die Calvinzitate und Erläuerungen von A. Bi¦ler, La pens¦e ¦conomique et sociale de Calvin, S. 346 ff. 1084 «Das bedeutet der Auftrag / die Ordnung einer solidarischen Kirche: …dass, wenn die einen Mitglieder mit den anderen Mitgliedern kommunizieren/ Gemeinschaft miteinander teilen, gemäß der Notlage der Gaben und der Notwendigkeit, diese wechselseitige

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Das verwirklicht die Kirche nach Calvins Vorstellung nicht zuletzt durch ihre Diakonie und das zu diesem Zweck eingerichtete Amt der Diakone.1085 Die Armen und Notleidenden beschränken sich dabei allerdings nicht auf die Zugehörigen der eigenen Kirche oder Nation.1086 Trotz des aufbrechenden Konfessionalismus ist das so bei Calvin im Blick, zumal er die Koinonia nicht nur christologisch oder ekklesiologisch herleitet, sondern auch schöpfungstheologisch begründet: »Dieu nous a tous cr¦ez õ son image, tellement que chacun se mire en son prochain: nous sommes tous un chair«1087.

3.1.8 Calvins Verständnis von Charité (»Nächstenliebe / Mildtätigkeit«) Die charit¦ versteht sich nach Calvin also eindeutig grenzüberschreitend. Sie ist aber nicht einfach nur eine menschliche Tugend, sondern gewissermaßen eine Bewegung, die in Gott ihren Urheber hat und behält. Die Heiligung bleibt christozentrisch angebunden, also von Christus bzw. dem Heiligem Geist gewirkt, nicht vom Menschen.1088 Der Verdienstcharakter der charit¦ (Sicherung des jenseitigen Seelenheils etc.) ist bei Calvin somit völlig ausgeschlossen. Das äußert er unmissverständlich in einer Predigt über einen Text des Epheserbriefes: »Mais o¾ ont –ils pesch¦ ces bonnes oeuvres? C’est Dieu qui amollit nos coeurs durs et rebelles — ses instances, puis c’est lui qui les change; c’est lui qui se sert de nous et les bonnes oeuvres qui lui sont si agr¦ables, Il les fait de sa vertu.«1089 Immer wieder verneint Calvin den meritorischen Effekt der charit¦1090 und lässt sie vielmehr begründet sein in unserer gemeinsamen Zugehörigkeit zu dem einen Leib Christi: »Voici un membre du corps de J¦sus-Christ, nous sommes tous

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1090

Beratung eine gute Beziehung ausmacht und sich als eine gut Harmonie erweist. Auch wenn die einen mehr und die anderen weniger besitzen und die Gaben ungleich verteilt sein mögen.» (C.O., Comm. N.T., op.cit. II Corinthiens, ch. 8, V. 14.). Vgl. M. Lechner, Le christianisme social, S. 10 ff. und A. Bi¦ler, La pens¦e ¦conomique et sociale de Calvin, S. 351 ff. Vgl. A. Bi¦ler, La pens¦e ¦conomique et sociale de Calvin, S. 349 f. »Gott hat uns alle nach seinem Bildnis in der Weise geschaffen, dass jeder sich selbst in seinem Nächsten erkennt: wir sind alle ein Fleisch« (Predigt über Matth. 5 und Luk. 6: C.O. 46, 783 f.) ; vgl. auch M. Lechner, Le christianisme social S. 14/15. Vgl. A. Bi¦ler, Calvin, Prophet des industriellen Zeitalters, S. 15. »Aber wo haben sie wohl diese guten Werke hergefischt? Es ist Gott, der unsere Herzen erweicht, die verhärtet sind und seine dringenden Bitten verwehren, und so ist es auch er, der sie verändert; er ist es, der sich unserer bedient und die guten Werke, die ihm so genehm sind, vollbringt er aus eigener Kraft heraus / nach seinem eigenen Gutdünken« (C.O. 50, 28). Vgl. die Stellenangaben bei M. Lechner; Le christianisme social de Calvin, S. 13.

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unis ensemble«1091 Die theologische Basis des calvinischen sozialethischen Denkens ist also auch hier die Koinonia. So bleibt abschließend festzuhalten, dass zu den wesentlichen Merkmalen der Sozialethik Calvins die Ernstnahme und theologische Neubewertung von Arbeit, Armut und Reichtum so wie die Sozialverpflichtung des Reichtums zählen und weiter die Bestimmung des Armen als »Dein Armer«, die Kategorie der »Erinnerung«, der Koinonia-Gedanke so wie die Abkoppelung der charit¦ von allem Meritorischen und ihre Einbettung in die Heiligung und die Koinonia.

3.1.9 Prädestination und Providenz Nun ist es aber dennoch unerlässlich, kurz auf die Bedeutung der Prädestination und der Providenz in der Theologie Calvins einzugehen. Auch wenn diese Doktrin nicht im Vordergrund der Sozialethik Calvins stand – ja, sogar überhaupt keine Rolle in diesem Kontext spielte, wie zuvor deutlich wurde – , hatte sie im Verlauf der Geschichte des Calvinismus ihre Auswirkungen doch auch auf diesem Feld – besonders in der Variante des anglo-amerikanischen Puritanismus. Calvin selbst lehrte aber nicht, dass Prädestination bedeute, dass man den Stand der Erwähltheit am Reichtum bzw. wirtschaftlichen Erfolg ablesen könne, wie es in der verkürzten populären Rezeption der auf den Calvinismus bezogenen Weberschen Thesen oft umhergeistert. Das behauptete auch nicht Max Weber, der sich weniger mit Calvin selbst, als vielmehr mit den Epigonen Calvins und vor allem dem Calvinismus bzw. Puritanismus des 17. – 19 Jh. auseinandersetzte.1092 Hingegen ist eine der zentralen Thesen M. Webers, die von Calvin entwickelte und propagierte Prädestinationslehre habe in der Rezeptionsgeschichte des Calvinismus zu einer Heilsungewissheit geführt, die letzten Endes zwangsläufig nur durch eine »innerweltliche Askese« und Aktivität kompensiert und überwunden werden konnte.1093 Die Weberschen Thesen im Blick auf das Verhältnis von Prädestinationslehre, innerweltlicher Askese und rationalem Geist waren also komplexer. Davon ist jedoch wesentlich zu unterscheiden, was Calvin selbst lehrte. Abgesehen davon, dass die Prädestinationslehre und speziell die »doppelte Prädestinationslehre« keineswegs als Hauptlehre oder theologisches Zentrum 1091 »Ein Glied am Leib Christi – so sind wir alle miteinander vereint« (C.O. 46, 793). 1092 Literaturverweis Lehmann…S…. 1093 Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik I (hrsg. von J. Winckelmann), bes. S. 115 – 190 u. 322 – 340.

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Calvins betrachtet werden kann bzw. sollte,1094 intentionierte J. Calvin weder eine Heilsungewissheit, noch lehrte er umgekehrt die Verfügbarkeit oder Ablesbarkeit des Heils am persönlichen wirtschaftlichen Erfolg. Das Anliegen von Calvins Prädestinationslehre und auch das seiner Lehre von der Providenz war ein seelsorgerlich motiviertes und richtete sich in dieser Hinsicht gerade gegen eine Heilsungewissheit. Mit Georg Plasger lässt sich das folgendermaßen auf den Punkt bringen: »Entscheidende Intention in der Erwählungslehre Calvins ist die Vergewisserung. Nicht der menschliche Glaube verbürgt das den Menschen zugedachte Heil, sondern das dem Glauben des Menschen vorausgehende Handeln Gottes. Er erwählt zum Heil und zum Dienst – Erwählung ruft in die Verantwortung.«1095 Die Erwählung geht also als gnädiges Handeln Gottes dem Glauben voraus: »Denn«, so Calvin: »Gott, der das ganze Menschengeschlecht in Verfall und Verderben liegen sieht, reißt aus reiner Gnade diejenigen heraus, auf denen sein Wohlgefallen ruht, und beruft sie, indem er so handelt, auf seine Seite. Das nämlich ist das entscheidende Mittel. Bei dem allen aber hat die Erwählung den Vorrang. Sie muss vorangehen, während der Glaube, der Ordnung entsprechend, folgt.«1096

Von Gottes allem voraus gehender Erwählung her hat Calvin gerade diejenigen damit ansprechen, trösten und ihnen Gewissheit schenken wollen, die als Zugehörige einer anderen (nämlich protestantischen) Konfession Verfolgung etc. erlebt haben und sich verunsichert fragen mussten, ob denn ihr Weg, bei dem sie der traditionellen (römisch-katholischen) Kirche den Rücken zukehr(t)en, der richtige sein mag oder sie nach dem Tode bzw. im Endgericht womöglich damit enden würden, dass sie einst der Zorn Gottes dafür trifft. In einer Zeit der Verunsicherung und Instabilität der Gesellschaft, war dies eine orientierende seelsorgerliche, ermutigende Theologie, die die Menschen dahin führen sollte, darauf zu vertrauen, dass Gott selbst am Ende zum Heil führt, nicht etwa religiöse Werke oder Pflichterfüllungen und aber auch kein Besitzstand. Denn gerade in dieser Zeit ereignet sich nicht nur die gesellschaftliche Aufspaltung in verschiedene Konfessionen, sondern die traditionelle feudal geprägte Gesellschaft erlebt auch ihre ersten Verwandlungen durch die Entwicklung von Kapital und Handel und die Emanzipation des Bürgertums gegenüber dem Adel. Adlige verarmen, Bürgerliche streben nach oben und stürzen auch wieder ins Nichts. Es bildet sich in dieser unwahrscheinlich dynamischen Epoche eine Erscheinungsform der Armut besonders stark heraus, die wir in der Forschung als pauvres honteux bezeichnen – also als sogenannte 1094 Vgl. G. Plasger, Johannes Calvins Theologie, S. 89. 1095 G. Plasger, Johannes Calvins Theologie, S. 89. 1096 J. Calvin, Von der ewigen Erwählung Gottes, S. 103. Vgl. auch G. Plasger, Johannes Calvins Theologie, S. 90.

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verschämte Arme. Gemeint sind Arme, die von ihrem Status oder Beruf her eigentlich nicht als Arme gelten müssten, es aber de facto durch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche wurden.1097 Sie kamen praktisch zu dem ohnehin großen Bevölkerungsanteil der Armen hinzu. Oft ein Viertel bis gar ein Drittel der Bevölkerung in den Städten zählte zu den Armen. Auch diese Menschen brauchten Calvins Vergewisserung, dass sie, obwohl materiell auf der Verliererseite stehend, von Gott nicht verloren seien, wenn sie nur seiner Erwählung Vertrauen schenken würden. Wenn also später in manchen calvinistischen Kirchen gelehrt oder geglaubt wird, dass die Erwählung sich im irdischen Reichtum manifestieren müsse, ist das geradezu die Pervertierung (Umkehrung) von Calvins Seelsorge, die nicht den Reichtums- oder Erfolgsstatus Einzelner oder bestimmter Gruppen theologisch absichern wollte, sondern umgekehrt am ehesten gerade den an den Rand Gedrängten Armen und materiell Geschädigten und den durch religiöse Verfolgung Benachteiligten und Verunsicherten als Ermutigung gegolten hatte. Von der Prädestination (also von der Vorherbestimmung bzw. Erwählung) ist zu unterscheiden die Providenz, zu Deutsch: »Vorsehung«. Diese beiden Dinge werden bis in die Gegenwart hinein vermengt. Leider auch von herausragenden Theologen.1098 Zwar haben sie Bezüge zueinander, aber doch wollen sie etwas anderes sagen. Providenz ist nichts als das schöpfungsbewahrende und rettende Handeln Gottes, ja – das sogar in die Geschichte einzugreifen und die Geschicke der Geschichte verändern mag. Es ist gerade nicht ein unabwendbares so von Gott vorhergesehenes Schicksal damit gemeint. Hören wir Calvin selbst dazu: »Vorsehung bedeutet nicht, dass Gott müßig im Himmel betrachtet, was auf Erden vor sich geht, sondern im Gegenteil, dass er gewissermaßen das Ruder in die Hand nimmt…Daraus folgt, dass die Vorsehung Gottes in seinem Wirken besteht, und

1097 Diese Aspekte sind vor allem von G. Ricci studiert und ausführlich dargelegt worden (vgl. ders., Naissance du pauvre honteux, S. 158 – 177, bes.: S. 158 u. 173; ders., Povert— vergogna e povert— vergognosa, S. 305 – 337). So erwähnt J.-P. Gutton beispielsweise, daß Buchhalter im Gebiet von Lyon im 18 Jh. als pauvres honteux unterstützt wurden, hingegen sie in derselben Region im 17. Jh. noch nicht zu dieser Gruppe gezählt wurden (vgl. ders., La soci¦t¦ et les pauvres). Zum Ausmaß der Verarmung weiß O. H. Hufton zu berichten: »At Marseilles, a pauvre honteux was commenly someone obliged to sell his ship through failure in commercial speculaton.« (ders., The Poor of Eighteenth-Century France, S. 214). Zu den Abgrenzungsschwierigkeiten vgl. auch J.-P. Gutton, La soci¦t¦ et les pauvres, S. 25. J.-P. Gutton meint im Übrigen aus seinen Recherchen soviel schlußfolgern zu können, daß Menschen, die Handarbeit oder mechanische Arbeiten verrichteten, wohl nicht zu den pauvres honteux gerechnet wurden (vgl. ebd., S. 25/26). 1098 Vgl. dazu kritisch und hilfreich zur Differenzierung den Artikel »pr¦destination et providence« von Pierre Bühler in: Gisel, Pierre u. a. (Hg.): Encyclop¦die du protestantisme (EDP), Paris – GenÀve 1995, S. 1188 – 1202.

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deshalb ist es unklug, wenn einige von einem bloßen Vorherwissen Gottes schwatzen.«1099

Calvin hat also, wenn er von Providenz spricht, nicht ein unabwendbares von Gott vorhergesehenes Schicksal im Sinn, sondern eine von Gott gewollte geänderte Zielrichtung (ganz im Sinne der biblischen Josephsgeschichte (Genesis 37 – 50), wo Joseph am Ende zu seinen Brüdern sagt: »Ihr habt böse gehandelt, aber Gott hat es zum Guten gewendet.« – Genesis, 50, 20). Vom fürsorglichen Handeln Gottes – nichts anderes ist Providenz jedenfalls bei Calvin – leitet sich dann eben gerade nicht die Anhäufung von Reichtum ab, sondern logischerweise die Aufhebung von Armut. Nicht ohne Grund nannten sich manche Hospitaleinrichtungen, die damals eher so etwas wie Armenhäuser oder auch Waisenhäuser waren in den französisch-reformierten Flüchtlingsgemeinden wie in London oder Rochester : La providence – also »die Vorsehung Gottes«. Erst in Pervertierungen und Erstarrungen dieser Lehre in der späteren Entwicklung calvinistischer Kirchen und Gesellschaften finden wir das Gegenteil vor, nämlich beispielsweise, dass Gottes Vorsehung am persönlichen wirtschaftlichen Erfolg ablesbar sei oder aber, dass Gottes Vorsehung es wolle, dass in der Gesellschaft von arm und reich jedem sein Platz zugewiesen würde, den er auch nicht verlassen dürfe. Bei Calvin selbst und seinen unmittelbaren Nachfolgern war dieses Verständnis jedoch nicht vorhanden oder gar vorherrschend.

3.1.10 Die Gemeinde als diakonisches Lernfeld und das Amt der Diacres Aus Staat und Gesellschaft, sowie der Stadt vor Ort soll sich die Kirche nach Calvin nicht heraushalten, sondern gestalterisch anregend auf sie einwirken und sie in die Pflicht nehmen. Aber all das soll nicht sein, ohne dass sich die Kirche selbst in die Pflicht nimmt. Von den Armen beispielsweise kann sie nur reden, sofern sie bei ihnen ist. Die kirchliche Gemeinde ist nach Calvin so gesehen so etwas wie ein diakonisches Lernfeld. Was bedeutet das im Konkreten? Sie sorgt sich umeinander und besucht einander und sie handelt, um Not zu beheben – keine Spiritualität also ohne glaubwürdiges Handeln und Stiftung oder Verdichtung von Gemeinschaft auf der Grundlage des bereits skizzierten Gedankens der Koinonia. Die Genfer Kirchenordnung beeinflusste zwar die franz.-reformierte Kirchenordnung (Discipline eccl¦siatique) von 1559 und gab den Gemeinden ihre letztgültig tragende Gestalt und dauerhafte Funktionsfähigkeit, in der auch der 1099 Institutio, I, 16, 4.

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Rolle der Diakone eine herausragende Bedeutung zukam. Man muss jedoch Abschied nehmen von der Überbewertung der Person J. Calvins sowie der Vorbildfunktion der Genfer Kirchenordnung auf diesem Gebiet, wie wir unter Kapitel 2 der vorliegenden Studie sahen. Vielmehr prägte das Sein das Bewusstsein: Bedeutsamere Wirkung hatten die spezifischen Lebensumstände des franz. Protestantismus. Hierbei ist, wie weiter oben erarbeitet, vor allem an seine sehr frühen Exilgemeinden in Straßburg und Genf zu denken. Auch dort bildeten die Besuche, die Konfrontation mit dem Gesicht der Armut und die konkrete ambulante Gemeindearmenpflege die Eckpfeiler des auch so von Calvin unter Bezugnahme auf die Koinonia propagierten diakonischen Lernfeldes. Ohne damit die besondere Bedeutung J. Calvins für den franz. Protestantismus in Frage stellen zu wollen, muss davon ausgegangen werden, dass seine Vorbildfunktion bzw. die der Genfer Kirchenordnung für das Diakonenamt der franz. – prot. Kirchen zwar oft überschätzt oder falsch gewichtet wurde. Die vorangegangene Darstellung hat dennoch deutlich gemacht, welch besondere Bedeutung hingegen dem Denken und Wirken Calvins in der Frage von Armut und Reichtum beizumessen ist und was er tatsächlich vertreten hat und was hingegen nicht. Darauf bezogen wäre also ein Abschied von herrschenden Klischees angemessen.

3.2

Sozialethik – Armut, Reichtum und Diakonie in der Lehre des Französischen Protestantismus des 17. Jh.

Theologien werden nicht wie Inhalte von Konservendosen ins nächste Jahrhundert weitegeben. Sie unterliegen selbst dem veränderten Lauf der Geschichte und der Veränderung durch die jeweilige Überlieferungsaneignung. Dennoch kann es freilich Konstanten dabei geben. Es gilt nun für das 17. Jh. die Linien nachzuzeichnen, die im Blick auf die Sozialethik, insbesondere die Frage von Armut, Reichtum und Diakonie in der Lehre des Französischen Protestantismus als markant erscheinen. Dabei begegnen selbstverständlich viele Wiederaufnahmen von oder Anknüpfungspunkte an Gedanken von Calvin selbst, da der reformierte französische Protestantismus wesentlich von »Jean Calvin« geprägt ist. Wir werden in den franz.-prot. Predigten des 17. Jh., die viel mehr am Alltag orientiert sind als die großen theologischen Entwürfe und Debatten an den Akademien, mehr Hinweise und Aussagen zu diesen Fragestellungen finden. Denn die akademische Theologie des franz. Protestantismus war schwerpunktmäßig mit ganz anderen Fragestellungen beschäftigt, was sowohl mit der

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politischen wie auch mit der konfessionellen Situation in Frankreich und Europa des 17. Jh. zu tun hat. Die Frage des Absolutismus und des politischen Systems spielte in der franz.prot. Philosophie und Theologie eine große Rolle, vor allem vor dem Hintergrund, dass »die« calvinistischen Glaubensgenossen des mit Frankreich verfeindeten England dort den König entmachtet, ihn enthauptet und den Aufstand des Volkes durchgeführt haben.1100 Nicht minder beschäftigten auch die Debatten um die Frage der recht verstandenen Prädestination, nachdem diese Frage in den Niederlanden bereits zu einer Kirchenspaltung innerhalb des Calvinismus geführt hatte. Die Auseinandersetzung mit dem im Zuge der Gegenreformation aufblühenden Katholizismus zog besonders große Aufmerksamkeit auf sich und ließ eine Fülle an kontroverstheologischer Literatur entstehen so wie aber auch den ein oder anderen »ökumenisch« orientierten Dialog- bzw. Einigungsversuch. In der auf diese Weise präokkupierten franz.-ref. Theologie, war verständlicherweise nur bedingt Platz für sozialethische Entwürfe oder eine Beschäftigung mit der »soziale Frage«, d. h. der Herausforderung der Armut und die Frage der Verhältnisbestimmung zwischen Reichtum und Armut oder nach diakonischen Konsequenzen etc. Dennoch gab es franz.ref. Theologen des 17. Jh., die sich diesbezüglich äußerten und in calvinistischer Tradition bewegten. R. Stauffenegger resümiert in Abgrenzung zur These von Max Weber bzw. der über sie geführten Diskussion, dass man im Blick auf Calvin und den frühen Calvinismus keine Definition eines »gerechten Reichtums« ausfindig machen können wird und dass der Reichtum dort immer in Relation zu den Bedürfnissen des Anderen / Nächsten gesehen wird.1101 Die calvinische Theologie konzentriere sich vielmehr auf die Frage der Armut und nicht so sehr auf die Frage des Reichtums.1102 Die Kritik im Gefolge von Max Weber gehe deshalb letztlich auch an diesem eigentlichen Anliegen calvinischer Theologie und Ethik vorbei,1103 ganz ähnlich wie übrigens bereits von E. Troeltsch auf den Punkt gebracht, der Calvins Theologie ganz im Gegensatz zur Kapitalismustheorie eines Adam Smith sah.1104 Jedoch sei, so R. Stauffenegger, die calvinische Theologie keine Theologie der Armut, sondern definiere die Rolle der Armut neu, indem sie 1100 1101 1102 1103 1104

Siehe hierzu auch weiter unten im laufenden Text. Vgl. R. Stauffenegger, R¦forme, richesse et pauvret¦, S. 53. Vgl. R. Stauffenegger, R¦forme, richesse et pauvret¦, S. 53. Vgl. R. Stauffenegger, R¦forme, richesse et pauvret¦, S. 52 f. E. Troeltsch unterstrich, dass Calvins Betonung eines »Ausgleichs von Gesellschaft und Individuum« in der »Sozialpolitik« geradezu ein Antipode sei zur üblichen Theorie des Kapitalismus von Adam Smith. Dies würde noch heute (in der Zeit von Ernst Troeltsch) weiterleben im Bereich des Reformierten Protestantismus in der Gestalt von Theologen, die Sozialdemokraten seien (vgl. ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, S. 676, 717 u. 721).

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ihren Status hinterfrage und auf Abstellung derselben durch Arbeit etc. dränge. Das sei das eigentlich Moderne an dieser Theologie im Vergleich zur traditionellen Theologie: »Et, si le service des pauvres, social autant que religieux, d¦meure une b¦nediction, la pauvret¦, quant — elle, perd son caractÀre sanctifiant.«1105 Mit anderen Worten: Während die Aussagen über die Rolle und Funktion des Reichtums bei Calvin religiös gesehen relativ konventionell und sozial gesehen im Rahmen des mittelalterlich gedachten Gemeinwesens (Verantwortung und Fürsorgefunktion der jeweils Höherstehenden) verankert bleiben und sich die calvinistische Frömmigkeitspraxis in Genf ebenso keineswegs über die Anhäufung von Reichtümern definiert,1106 sondern über ihre angemessene Verteilung, sind Calvins Aussagen über die Armut und ihre Überwindung und die Rolle der Arbeit umso eher von modernem Geist und Umbruch getragen.1107 Sie sind Kampfansage. Das beschreibt R. Stauffenegger nicht nur als Charakteristikum der Theologie Calvins selbst, der wir nach der vorangegangenen Darstellung nur zustimmen können, sondern auch für die calvinische Nachfolge im Genf des 17. Jh.1108 Umgekehrt bestätigen die Untersuchungen von H. Lüthy1109 und neuerlich von S. Reid und R. C. Gamble1110, dass der Calvinismus in Genf mehr ein Angriff auf die Kapitalanhäufung als eine Verteidigung derselben bedeutete bzw. nach sich zog. Lassen sich also diese Grundlinien, die sich für Calvin und den frühen Calvinismus in Genf ergeben, so auch für die protestantische Theologie Frankreichs im 17. Jh. bestätigen? Wesentlich zur Beantwortung dieser Frage beigesteuert hat H. Kretzer mit seiner Arbeit über die damals führenden franz.-prot. Akademien Sedan und Saumur und ihre politische Theologie1111 so wie vor allem mit seinem Beitrag über die Soziallehre von Moyse Amyraut (Prof. in Saumur) im Zusammenhang 1105 »Und wenn der Dienst an den Armen sozial wie religiös betrachtet auch ein Segen bleiben mag, so verliert doch die Armut, was sie selbst betrifft, ihren [religiös] sanktionierenden Charakter.« (R. Stauffenegger, R¦forme, richesse et pauvret¦, S. 53). 1106 Gegen die pauschale Einordnung calvinistischer Ethik von E. Hellmuth, demgemäß sie das Gewinnstreben als gottgewollt definiere und die er dem Wirtschaftsverständnis bzw. der Wirtschaftsethik eines Christian Wolff bzw. seiner Schule entgegenstellen zu müssen meint, für den »der Gelderwerb mit dem Ziel der Kapitalakkumulation unbekannt« bleibe (vgl. E. Hellmuth, Praktische Philosophie und Wirtschaftsgesinnung, S. 143). Die WolfSchule propagiere im Gegensatz zur calvinistischen Ethik, die Temperierung des Erwerbstriebes (vgl. ders., ebd.) Hier handelt es sich um eine falsche Gegenüberstellung, denn aus der oben im laufenden Text vorangegangenen Darstellung geht zur Genüge hervor, dass dies auch immer das Anliegen Calvins und auch des Calvinismus des 17. Jh. in Genf blieb. 1107 Vgl. R. Stauffenegger, R¦forme, richesse et pauvret¦, S. 53. 1108 Vgl. R. Stauffenegger, R¦forme, richesse et pauvret¦, S. 54 – 57 1109 Vgl. H. Lüthy, La banque protestante; ders., Nochmals Calvinismus. 1110 Stephen Reid, John Calvin. Early Critic of Capitalism (I), in: Reformed Theology Review, 77 – 79; R. C. Gamble, ebd., S. 161 – 163. 1111 Vgl. H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, Berlin 1975.

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mit der Max-Weber-These.1112 Er hat damit den Blick auf die Theologie des franz. Protestantismus des 16. u. 17. Jh. erheblich erweitert und über die ansonsten starke Konzentration der Forschung auf die konfessionalistischen Debatten und konfessionellen Dialogversuche, die Prädestinationsdebatte und die politische Theologie (Absolutismus, Widerstand etc.), zu der er selbst seinen großen Beitrag geliefert hat,1113 hinausgeführt. H. Kretzer will Max Webers am englischen Puritanismus des 17. und 18. Jahrhundert entwickelte These für den französischen Protestantismus (Calvinismus) des 17. Jh. überprüfen und bezieht sich dabei vornehmlich auf die herausragende und den franz. Protestantismus bzw. seine Theologie maßgeblich prägende Persönlichkeit des Moyse Amyraut.1114 Moyse Amyraut war nicht nur der exponierteste Vertreter der Lehre von der universalit¦ de la grace (»Universalismus der Gnade«) im Zusammenhang mit der Prädestinationslehre und damit ähnlich wie die übrigen Lehrenden von Saumur in Wirklichkeit näher an der ursprünglichen Prädestinationslehre Calvins als die calvinistische Orthodoxie jener Zeit1115 (vorwiegend in Sedan zu finden), die sich letztlich in ihrer Einseitigkeit nicht wirklich durchsetzen konnte.1116 Er hat auch eine umfassende Ethik verfasst (»Morale Chrestienne«)1117, die Einblick in die calvinistische Soziallehre des franz. Protestantismus im 17. Jh. gewährt und damit für uns von wesentlicher Bedeutung zur Beantwortung unserer Frage ist. Im Blick auf die Max-Weber-These, wonach es eine Affinität zwischen Calvinismus und dem »Geist des Kapitalismus« gebe, die sich besonders an der Prädestinationslehre und ihrem Erwählungsgedanken festmacht, sei hier mit H. Kretzer auf Amyrauts Ethik und auf die Lehre der Akademie von Saumur bezogen konstatiert: »Vereinfachend lässt sich sagen, dass die Schule von Saumur eine Erkennbarkeit des Ratschlusses Gottes in der Frage der Prädestination ablehnte, damit eine Spekulation über die Dekrete Gottes verwarf und hypothetisch davon ausging, dass sich Gottes Gnadenangebot an alle Menschen

1112 Vgl. H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 59 – 71, in: ders., Calvinismus versus Demokratie respektive »Geist des Kapitalismus«? Studien zur politischen Theorie und zur Sozialphilosophie des französischen Protestantismus im 17. Jahrhundert, Oldenburg 1988. 1113 Vgl. H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, Berlin 1975. 1114 Vgl. H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 59 – 71, bes. S. 62. 1115 Vgl. H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 59 – 71, bes. S. 63 f. 1116 Vgl. Darstellung weiter unten im laufenden Text. 1117 Das 5000 Seiten fassende Werk besteht aus mehreren Bänden: Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, 4 Teile in 6 vols, Saumur 1652 – 1660.

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richtete, wenn auch nicht alle davon Gebrauch machten.«1118 Mit anderen Worten, an dem innerweltlichen Erfolg eines Christen ließ sich (gerade) nicht ablesen, ob Gott ihn zur Seligkeit berufen habe, da es uns häufig begegnen würde, dass Gott bösen Menschen geschäftlichen Erfolg und Reichtum zukommen ließ.1119 Es lässt sich mit H. Kretzer also zunächst resümieren, dass »ein guter Teil des französischen Protestantismus im 17. Jahrhundert nicht die strenge Prädestinationslehre von Dordrecht und Westminster vertrat, die ein Herzstück der These von Max Weber darstellt«1120, jedenfalls seiner grundsätzlichen Bezugnahmen. Darüber hinaus sind der Ethik Amyrauts folgende Aussagen zur Frage von Armut und Reichtum zu entnehmen: Amyraut hält fest: »Es ist die Gesetzmäßigkeit von jeder Gesellschaft und jeder Gemeinschaft, dass derjenige, der am meisten zu ihrem Erhalt beiträgt, auch umso mehr von ihr empfängt.«1121 So sei der Fernhandel beispielsweise unerlässlich für ein Land, um an bestimmte Güter zu gelangen, die es im eigenen Land nicht gibt.1122 Diejenigen Händler oder Handwerker, die ihre Arbeit besonders gut ausführen und damit der Gemeinschaft besonders dienen, hätten darum auch das Recht neben Ehre auch zu Wohlstand bzw. Reichtum zu gelangen. Das rechtfertige der größere Nutzen für die Gemeinschaft.1123 Es sei damit normal, dass sich mit jeder mühevollen Arbeit eine Hoffnung auf Ausgleich bzw. Zugewinn verbinde, allerdings sollte sich der Gewinn oder Lohn im moderaten Bereich bewegen (siehe »gain mod¦r¦« (=»moderater Gewinn«)).1124 Dem Gewinnstreben ist also schon auf dieser Ebene eine Grenze gesetzt. Bleibt diese Begrenzung aber noch auf der innerlichen oder moralich-sittlichen Ebene bzw. Ebene einer Gesinnungsethik, so bewegen sich die übrigen Äußerungen Amyrauts mehr im Bereich der Frage einer gerechten Verteilung der Güter und auf der Ebene von Verantwortungsethik und entsprechender Sozialpolitik und diakonischer Praxis. Im Blick auf die Zinsfrage bezieht Amyraut dieselbe Position, wie schon Calvin (s. o.). So ist Amyraut ähnlich wie Aristoteles zwar davon überzeugt, dass 1118 Vgl. H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 64; vgl. auch Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. II, S. 745. 1119 Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. II, S. 746/747. 1120 H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 64. 1121 Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. II, S. 515 – Übersetzung zitiert nach H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 65. 1122 Vgl. Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. II, S. 512 ff. 1123 Vgl. Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. II, S. 517. 1124 Vgl. Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. IV/2, S. 743.

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das Geld an sich unproduktiv sei, aber Geldvermögen könne in Produktionskapital umgewandelt werden (z. B. lassen sich davon Produktionsmittel kaufen, die eine Gewinnschöpfung erst ermöglichen), worin nichts Verwerfliches zu sehen sei.1125 Wenn nun jemand Geld verleihe und ein anderer damit durch den Erwerb von Produktionskapital letztlich einen Gewinnzuwachs erziele, so sei es nur recht, dass der Verleiher auch am Gewinn beteiligt wird.1126 Jedoch müsse die Beteiligung in Form des Zinses für den Geldgeber »raisonnablement« (»nach einem vernünftigen Maß«) erfolgen. Die Festsetzung dieses vernünftigen Maßes des Zinssatzes (Obergrenze) müsse gemäß Amyraut der Staat übernehmen.1127 Mit der Begrenzung des Zinssatzes und auch der Maßgabe, diese den Staat festlegen zu lassen, liegt M. Amyraut also ganz auf einer Linie mit J. Calvin. Ebenso spricht sich Amyraut eindeutig wie Calvin dafür aus, dass der Geldverleih an Bedürftige, d. h. Arme, in jedem Fall zinslos erfolgen solle, weil dies die Menschlichkeit und Nächstenliebe gebiete. Zinseszins dürfe grundsätzlich nicht statthaft sein.1128 Amyraut äußert sich auch grundsätzlich zur Frage der Funktion und Verteilung der Reichtümer. Eigentum verpflichtet – auf diesen Satz könnte man Amyrauts Botschaft zum weltlichen Erfolg, Privatbesitz und irdischem Reichtum ebenso auf den Punkt bringen wie die Calvins. Weltlicher Erfolg sei reines Gnadengeschenk Gottes und »keine Belohnung menschlicher Verdienste« und jeder herausragende Besitz verpflichte unbedingt zum Nutzen des Mitmenschen eingesetzt zu werden.1129 – so gesehen seien sie selbst nur »de simples instrumens en la main de dieu…«1130. Sodann hebt Amyraut positiv das Beispiel Hollands hervor – zwar tadelt er die seiner Meinung nach bei seinen holländischen Glaubensbrüdern vorhandene Liebe zum Geld, aber er zollt ihnen zugleich hohen Respekt: »das vom Geld der holländischen Händler und Seefahrer aufgebaute niederländische Sozial- und Armenwesen« sei »für die ganze Welt vorbildlich.«1131 Die mit Reichtum Gesegneten hätten im Wesentlichen zu diesem System beigetragen und auf der Grundlage dieses guten Armenwesens beruhe 1125 Vgl. Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. II, S. 528 ff. 1126 Vgl. H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 66 und Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. II, S. 531. 1127 Vgl. Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. II, S. 532. 1128 Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. II, S. 533, 534, 540. 1129 Vgl. Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. II/ 2, S. 770 f. und H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 67. 1130 »nur einfache Werkzeuge in der Hand Gottes…« (Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. II, 2, S. 771). 1131 Zitate von H. Kretzer selbst – vgl. ders., Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 67 u. Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. IV / 2, S. 507 f.

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»zu einem guten Teil die Stärke und innere Ordnung der niederländischen Republik.«, was Amyraut ebenso seinen begüterten franz.-prot. Glaubensgenossen ans Herz legt.1132 Nach Weber haben sich die Calvinisten im Beruf aufgeopfert und um wirtschaftlichen Erfolg bemüht.1133 Darauf bezogen würde Webers Theorie noch konform gehen mit dem, was auch Amyraut tatsächlich. Aber erstens lehnt Amyraut den erst nach Calvin in der Prädestinationslehre entwickelten Syllogismus practicus1134 ab (s. o.), der als gewissermaßen zwanghafte Antwort auf die Heilsungewissheit (ähnlich Weber selbst1135) davon ausgeht, dass die Erwählung eines Menschen an seinem persönlichen Wohlergehen ablesbar sei.1136 Zweitens geht Weber in seiner These davon aus, dass die innerweltliche Askese den Calvinisten verbat, die Früchte ihres Erfolgs zu genießen, weshalb sie ihren Gewinn zum größten Teil wieder in den Betrieb oder kapitalbildend eingebracht hätten,1137 hingegen genau das in Amyrauts Lehre nicht der Fall ist, wie schon am Beispiel der niederländischen Calvinisten verdeutlichen will. Die christliche Nächstenliebe bzw. Pflicht gebietet nach ihm nicht ein Nicht-Genießen, sondern neben dem durchaus bis zu einem gewissen Grad legitimen Genuss (s. o.) die Verteilung bzw. Verwendung der Gewinne für soziale und kulturelle Zwecke (Armenfürsorge, Schule etc.). Amyraut hat einen Blick dafür, dass die Gesellschaften seiner Zeit zu einem gewissen Reichtum gelangt sind, der überwiegend auf Übersee- und Fernhandel und Geldgeschäfte beruht, aber er differenziert dabei nach H. Kretzer nicht, ob es sich bei den genannten reformierten Glaubensgenossen um Händler, Bankiers oder Steuer- und Finanzbeamte handelt.1138 In diesem Zusammenhang ist der Hinweis von H. Kretzer über die im Finanzbereich tätigen franz. Protestanten durchaus vielsagend: »Zur Zeit der Abfassung der ›Morale‹ waren viele Reformierte unter dem Generalkontrolleur der Finanzen, Barthel¦my Hervart, als Steuerpächter und -verwalter tätig und haben ihre Funktion zur Zufriedenheit aller ausgeführt. Die Klagen und Beschwerden über die Financiers, die alsbald 1132 Zitat von H. Kretzer – vgl. ders., Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 67 u. Moyse Amyraut, La Morale Chrestinne, Vol. IV / 2, S. 507 f. 1133 Vgl. M. Weber, Die Protestantische Ethik, S… und U. H. J. Körtner, Calvinismus und Kapitalismus, S. 209. 1134 Vgl. U. H. J. Körtner, Calvinismus und Kapitalismus, S. 209. 1135 Vgl. M. Weber, Die Protestantische Ethik I, (hrsg. von Johannes Winckelmann), S. 115 ff. u. 344 ff. 1136 Vgl. U. H. J. Körtner, Calvinismus und Kapitalismus, S. 209. 1137 Vgl. M. Weber, Die Protestantische Ethik I, (hrsg. von Johannes Winckelmann) bes. S. 346, und U. H. J. Körtner, Calvinismus und Kapitalismus, S. 209. 1138 Vgl. H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 67/68.

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auch in der Literatur anzutreffen sind, entstammen alle der späteren Zeit, als die Protestanten aus der königlichen Finanzverwaltung verdrängt waren.«1139 Das versteht sich sicherlich nicht als Hinweis darauf, dass die Reformierten bessere Menschen seien, wohl aber als Hinweis darauf, dass es auch eine Reihe französischer Calvinisten gab, die sich wie ihre niederländischen oder angelsächsischen Glaubensgenossen durchaus im Zentrum des Finanzwesens bewegten, aber offensichtlich gleichzeitig über einen hohen Moralkodex verfügten, wie etwa Barthel¦my Hervart, der uns auch bereits im Zusammenhang mit dem praktisch-diakonischen Engagement der Hugenotten begegnete, genauer gesagt seine Frau und spätere Witwe1140, womit sich hier der Kreis wieder am Punkt der Menschendienlichkeit von Reichtum und Besitz schließt. Gar nicht im Blick hat Amyraut nach H. Kretzer das aufkommende Manufakturwesen, also die gewerbliche Produktion auf der Grundlage der Arbeitsteilung, was noch einmal mehr der Hinweis darauf ist, dass Amyraut mit seiner Ethik noch ganz im Ständesystem bzw. feudalen Denken verhaftet ist.1141 H. Kretzer bezeichnet sie dementsprechend als »zeitlos« und »statisch«.1142 Ob diese Charakterisierungen angemessen sind, mag der Leser der »morale chrestienne« selbst beurteilen. Aber eines ist sicher zutreffend – nämlich, dass Amyraut auf der einen Seite festhält, dass »chacun se doit tenir dans les termes de sa vocation«1143, aber in Spannung dazu ebenso postuliert: »la commodit¦ du public, qui ne peut subsister avec la ruine des particuliers«1144. Zusammen betrachtet klingt das weniger statisch als wie es H. Kretzer dem sozialethischen Denken Moyse Amyrauts bescheinigen will. Der Einzelne hat einen Auftrag in der Gesellschaft, aber die Gesellschaft muss auch das Wohl des Einzelnen im Blick behalten. Die Ethik von Moyse Amyraut zeichnet sich also aus durch eine gegenseitige Verschränkung von Allgemeinwohl und Wohl des Individuums.

1139 H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 68. Er verweist in diesem Zusammenhang auch auf O. Dowen, La r¦vocation de l’Êdit de Nantes — Paris, vol. 1, Paris, 1894, 192. 1140 Vgl. unter Kap. 2.4.4 (Der Versuch der Zerschlagung der franz.-prot. ambulanten Armenund Krankenfürsorge). 1141 Vgl. H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 68. 1142 Vgl. ebd. 1143 »Jeder muss sich an die vorgegebenen Grenzen seiner Berufung halten« oder positiver übersetzt: »Jeder muss sich im Rahmen seiner Berufung bewegen« (Moyse Amyraut, La Morale Chrestienne, Vol. II, S. 732). 1144 »Das Wohl der Öffentlichkeit [hier gemeint im Sinne von »Kollektiv« oder »Gesellschaft«], die nicht leben kann [eigentlich: »fortbestehen«, »weiterleben«] mit dem Ruin Einzelner« – besser: »Das Allgemeinwohl, das nicht fortbestehen kann, wenn sich seine Individuen im Ruin [übertragen: »in der Not«] befinden.« (Moyse Amyraut, La Morale Chrestienne, Vol. II, S. 536).

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Amyraut hält es zwar für verwerflich, dass sich jemand durch seine Geldgier zum Wucherer treiben lässt,1145 aber er distanziert sich auf der anderen Seite eindeutig von der zeitgenössischen angelsächsischen Frömmigkeitsliteratur, die ihm zu moralistisch und gesetzlich erscheint.1146 Gegen eine solche Form des Moralismus, der Selbstquälerei und Askese spricht Amyraut von der Freude des Christseins1147 und der Freiheit der »prudence Chrestienne« (»christliche Umsicht / Behutsamkeit/ Weisheit«)1148. Auch hierauf bezogen muss man also mit H. Kretzer schlussfolgern, dass die Theologie eines Moyse Amyraut keinen Ansatzpunkt für die These von Max Weber bietet – eine »innerweltliche Askese« lehnt Moyse Amyraut im Sinne einer Werkgerechtigkeit und wegen seines Zwangscharakters ab.1149 Soweit Moyse Amyraut und der andere bedeutende Vertreter des franz. Protestantismus des 17. Jh. Pierre Du Moulin (Akademie von Sedan) in der Frage der Prädestination auch auseinanderlagen – hierin waren sie sich einig. Auch der orthodoxe Gegner Amyrauts warnte vor den Extremen »regelhafter Frömmigkeit und skrupelhafter Lebensführung«1150, was H. Kretzer zu der berechtigten Schlussfolgerung veranlasst: »Wenn sich bei beiden, den französischen Protestantismus des 17. Jahrhunderts repräsentierenden Theologen keine ethischen Lehrstücke im Sinne der ›innerweltlichen Askese‹ als Movens des ›kapitalistischen Geistes‹ nachweisen lassen, so relativiert dieser Befund die Weber-These erneut.«1151 So ist nun neben Moyse Amyraut auch Pierre Du Moulin eingeführt in klarer Abgrenzung zum angelsächsischen Calvinismus des 17. u. 18. Jh. Wo keine auferlegte Askese, da keine Reinvestition bzw. weitere automatische Akkumulation des Kapitals. Zwar würde man die »El¦ments de la philosophie morale« der gleichnamigen Schrift von Pierre du Moulin1152 eher als Moralphilosophie einordnen, wie der Titel auch schon sagt, oder als Moraltheologie – und weniger als eine konkrete Sozialethik, wie sie bei Moyse Amyraut zumindest ansatzweise 1145 Vgl. H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 67. 1146 Vgl. Moyse Amyraut, La Morale Chrestienne, Vol. IV, S. 329. Vgl. zur entsprechenden Textstelle auch: H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 69, Anm. 47. 1147 Vgl. Moyse Amyraut, La Morale Chrestienne, Vol. IV, S. 334. 1148 Moyse Amyraut, La Morale Chrestienne, Vol. IV, S. 533 u. 534. 1149 H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 71. 1150 H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 71. 1151 H. Kretzer, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhunderts, S. 71. 1152 Pierre Du Moulins, Les elements de la philosophie morale. Nouvellement traduicts du Latin de M. Pierre DV Movlin, Genf 1625.

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vorliegt (s. o.). So beinhaltet die Moralphilosophie Du Moulins entsprechend vorwiegend einen einzigen Katalog von Tugenden, an dem er sich der Reihe nach abarbeitet.1153 Aber sie hat nicht etwa im Gegensatz zur Lehre von Moyse Amyraut gestanden, sondern hat ebenso nach der Verpflichtung des Reichtums und seiner Bedeutung für das Gemeinwohl gefragt. Leider findet die Schrift von Pierre Du Moulins bei H. Kretzer keine Berücksichtigung. Es erscheint mir jedoch notwendig, hier kurz auf sie einzugehen um festzustellen, ob auch der zweite herausragende Vertreter des franz. Calvinismus des 17. Jh. im Blick auf die uns interessierende Fragestellung ähnliche Positionen vertrat wie Moyse Amyraut. Taucht man tiefer in die Schrift ein, so muss man den Eindruck gewinnen, dass sie im Blick auf die Ethik des Sozialen an manchen Punkten sogar noch starrer erscheint als die Lehre Amyrauts. Das soll hier kurz ausgeführt werden: Ganz ähnlich wie bereits Calvin leitet er die Nächstenliebe und die soziale Verantwortung schöpfungstheologisch und vom Communio-Gedanken her : Zunächst grenzt er die amiti¦ (»Freundschaft/Menschenfreundlichkeit/ Verbundenheit«) als Form der liebenden Verbundenheit im Sinne der charit¦ (»Nächstenliebe, Mildtätigkeit«) von der rein erotisch-partnerschaftlichen amour (»Liebe«) ab1154 und beschreibt dann nachfolgend ihre Verankerung in der Schöpfungsordnung: «La nature mesme enseigne l’vtilit¦ & le plaisir qui est en l’amiti¦. Car nous sommes nez pour aimer, pource que nostre esprit est attir¦ par la ressemblance que nous trouuons de nous en vn autre ou au moins pour quelque vertu dont nous pourchassons la ressemblance, en telle sorte que mesme en nostre ennemi nous aimons la vertu, ou la semblance de nous: combien plustost en ceux qui nous sont familiers? Or la parole monstre que l’homme est nai pour la societ¦, de sorte que si l’homme auoit toute abondance de biens, ils ne lui seroyent point agreables sans soci¦t¦. Car — qui est ce que la vie peut estre vitale s’il ne se repose en la bien vueillance mutuelle de son ami?»1155

1153 Vgl. die Übersicht im entsprechenden Inhaltsverzeichnis: Pierre Du Moulins, Les elements de la philosophie morale, S. 145 – 147. 1154 Vgl. Pierre Du Moulins, Les elements de la philosophie morale, S. 107 – 108. 1155 «Die Natur selbst lehrt den Nutzen und den Gefallen, die in der liebenden Verbundenheit grundgelegt sind. Denn wir sind geboren, um zu lieben, weil unser Geist angezogen ist durch die Ähnlichkeit, die wir von uns in einem Anderen entdecken oder wenigstens, was irgendeine Eigenschaft betrifft, deren Ähnlichkeit wir auf die Weise weiterverfolgen, dass wir selbst in unserem Feind diese Eigenschaft lieben oder die Ähnlichkeit mit uns – wie viel umso mehr in denen, die uns vertraut sind? Das Wort Gottes zeigt also, dass der Mensch für die Gesellschaft geboren ist, dergestalt, dass wenn der Mensch auch alle Güter in Fülle/Überfluss hätte, sie ihm nicht angenehm wären ohne Gesellschaft. Denn für wen ist das Leben lebenswichtig, wenn er sich nicht auf das wechselseitige Wohlwollen/ die wechselseitige Liebenswürdigkeit seines Freundes verlassen kann?» (Pierre Du Moulins, Les elements de la philosophie morale, S. 108).

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Nach Pierre Du Moulins zeichnet den Menschen also eine schöpfungstheologische Disposition aus, die durch seine Sozialität charakterisiert ist. Darin sieht Pierre Du Moulin nicht nur die Nächstenliebe als solche begründet, sondern auch konkret die Sozialbindung des Eigentums oder Besitzes, wie aus der Argumentationskette deutlich hervorgeht. Sinn macht der Besitz nach ihm erst in seinen sozialen Bezügen bzw. wenn er seinen sozialen Charakter entfaltet. Darauf ist ihm gemäß das ganze Leben angelegt und durch das Wort Gottes begründet. Des Weiteren ist Pierre Du Moulins der Auffassung, dass die menschliche Gesellschaft durch die Tugend der Gerechtigkeit aufrechterhalten wird. Er hält fest: «Finalement par ceste vertu la societ¦ humaine est soustenue. Les regles de justice sont ou du droit de nature, ou du droit des gens, ou du droit civil.»1156 Auch Pierre Du Moulin hält aber die unterschiedliche Verteilung von Gütern und Verdiensten so wie auch Moyse Amyraut durchaus für gerechtfertigt. Führt Moyse Amyraut diese ungleiche, also unterschiedliche Verteilung von Gütern und Verdienst auf deren gesellschaftsdienliche Funktion oder ihren unterschiedlich stark ausgeprägten Grad gesellschaftlicher Verantwortung der jeweiligen Personen und Ämter zurück (s. o.), so sind die Begründungsmuster bei Pierre Du Moulin zwar ähnlich, beziehen sich jedoch stärker auf die Befähigungen und Dispositionen der Individuen selbst, also auf ihre mehr oder minder naturgegebenen Unterschiede, die auch im Blick auf ihre gesellschaftlichen Funktionen Konsequenzen in der Auswahl und Ausstattung derselben haben. Pierre Du Moulins ist an diesem Punkt ganz im feudalen Denken verhaftet, wenn er unterscheidet zwischen einer «austeilenden Gerechtigkeit» und einer «ausgleichenden Gerechtigkeit» und diese dann wie folgt, erläutert: «La justice particuliere a deux especes, la distributiue & commutatiue. Les deuoirs de la distributiue sont enseignez en l’oeconomique & politique, & ceux de la commutatiue au droit civil. La Justice distributiue est vne habitude de la volont¦, tenant la mediocrit¦ — l’endroit des recompenses & peines, & distributions d’offices, & de charges: laquelle mediocrit¦ est enseignee par la droite raison pesant la dignit¦ et la m¦rite des personnes, la grauit¦ des mesfaits, l’age de ceux qui ont failli, la necessit¦ des temps, la maladie de la nation, l’aptitude des hommes aux choses ausquelles on les employe. Car vn simple soldat ne merite pas vne telle recompense qu’vn Capitaine: Et on ne doit pas donner les charges indifferemment & — la volee, & ne faire pas donner — Ciceron lacharge de l’armee, ni — Marius la charge de haranguer au Senat.»1157 1156 «Schließlich wird durch diese Tugend die menschliche Gesellschaft (aufrecht)erhalten. Die Regeln der Gerechtigkeit berühren entweder das Naturrecht, das Völkerrecht oder das Zivilrecht.» (Pierre Du Moulins, Les elements de la philosophie morale, S. 82). 1157 «Die besondere Gerechtigkeit [im Gegensatz zur universalen] hat zwei Arten, die austeilende und die ausgleichende. Die Aufgaben der austeilenden werden aufgezeigt/gelehrt im Ökonomischen und Politischen und die der ausgleichenden im Zivilrecht. Die austeilende Gerechtigkeit ist der Habitus der sich in dem Willen ausdrückt, ein gerechtes/ab-

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Die »austeilende Gerechtigkeit« zeichnet sich nach Pierre Du Moulins also dadurch aus, dass sie bei ihrer »Austeilung« der Güter etc. besondere Rücksicht nimmt auf vor allem – wenn auch nicht ausschließlich – naturgegeben bedingte persönliche Eignungen, Fähigkeiten und Talente, wofür gerade das zuletzt angeführte Beispiel von Cicero als Paradebeispiel dienen soll. Damit werden die gesellschaftlichen Unterschiede im Blick auf die Verteilung von Besitz, Verdienst etc. als naturgegeben hypostasiert, womit sich Pierre du Moulins durchaus im damals üblichen gesellschaftlichen Denken bewegte, aber noch starrer wirken musste als Moyse Amyraut, vor allem, wenn man seine weiteren Erläuterungen dazu berücksichtigt. Die Funktion der »ausgleichenden Gerechtigkeit« definiert Pierre Du Moulins wiederum folgendermaßen: »La Justice commutatiue est vne habitude de la volont¦, tenant egalit¦ aux conuentions & accords: & est nommee commutatiue, au regard de ceux qui contractent, ou correctiue, au regard du Juge restituant ce qui a est¦ ost¦, & corrigeant l’inegalit¦.«1158 Beide Ebenen der Gerechtigkeit versucht er dann deutlicher voneinander abzugrenzen: «Ces deux iustices different grandement: car la iustice distributiue regarde ce qui est conuenable — chacun, & la commutatiue ce qui est — chacun, & met peine — ce que chacun ait ce qui est sein. La Iustice distributiue gouuerne la republique, & est vne vertu des Rois, des Seigneurs, & des Magistrats: mais le iustice commutatiue gouuerne les actions & conuentions entre vn chacun, ou particuliers, comme les venditions, achapts, locations, prests, deposts, & c. Finalement tous les pacts entre tous & chacuns. Car c’est une vertu d’vn chacun particulier. Car si vn Prince vend, ou achete & fait quelque chose de tel, il le fait non comme Prince, mais comme particulier. Pourtant la seule iustice distributiue conuient — Dieu, qui ne contracte rien avec l’homme, sinon en qualit¦ de Seigneur.»1159 gewogenes Maß in dem Bereich der Belohnungen und Mühen, sowohl der Verteilung der Ämter/Dienste als auch der (Beauftragungen)/Belastungen zu bewerkstelligen: ein gerechtes/abgewogenes Maß, welches durch die rechte Vernunft gelehrt wird, indem sie die Würde/Bedeutung/Ehre und den Vorzug/ das Talent der Personen abwägt, die Schwere von Missetaten /die Bedenklichkeit negativer Folgen, das Alter derer, die gefehlt haben/ Bankrott gegangen sind, das Leid der Nation, die Befähigung /Begabung / Tauglichkeit der Menschen für die Dinge, für die man sie gebraucht / einsetzt. Denn ein einfacher Soldat verdient nicht eine solche Belohnung wie ein Kapitän: Und man darf die Beauftragungen / Belastungen nicht unterschiedslos und maßlos vergeben und weder an Cicero eine militärische Beauftragung vergeben lassen noch an Marius die Beauftragung, im Senat, eine Rede zu halten.» (Pierre Du Moulins, Les elements de la philosophie morale, S. 84/85). 1158 »Die ausgleichende Gerechtigkeit ist ein Habitus, der sich in dem Willen ausdrückt, eine Gleichheit in den Übereinkünften und Verträgen zu erreichen / zu bewerkstelligen / festzuhalten und wird ausgleichend genannt im Blick auf die Vertragspartner oder korrigierend im Blick auf den Richter, der das wieder ersetzt, was weggenommen wurde und die Ungleichheit korrigiert.« (Pierre Du Moulins, Les elements de la philosophie morale, S. 85). 1159 «Die beiden Gerechtigkeiten unterscheiden sich sehr, denn die austeilende Gerechtigkeit behält das im Auge/erwägt das, was dem Einzelnen angemessen erscheint und die ausgleichende das, was dem Einzelnen gehört und bemüht sich, dass ein jeder das erhalte, was

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Schon aus diesem letzten Zitat geht hervor, dass die Darstellung von Pierre Du Moulins, was die Verhältnisbestimmung dieser beiden Gerechtigkeitsebenen betrifft, keineswegs darauf hinauslaufen soll, dass die »ausgleichende Gerechtigkeit« etwa die »austeilende Gerechtigkeit« kompensieren soll. Damit wäre womöglich ein sehr dynamisches Gesellschaftsverständnis bzw. Verständnis von gesellschaftlicher Gerechtigkeit verbunden gewesen. Die Beziehung dieser beiden Ebenen soll sich nach Pierre Du Moulins jedoch ganz anders gestalten: «La iustice distributiue ne donne pas choses egales, sinon aux egaux, & donne diuerses recompenses, selon le merite des personnes: Mais la commutatiue donne choses egales mesmes aux plus inegaux. Car en l’achapt, ou loage, elle ne regarde pas au merite de la personne, mais — l’¦galit¦ des choses, scauoir est que l’acheteur recoiue autant de froment qu’il a donn¦ d’argent, soit au Roi ou subiect, riche ou pauvre. Ceste egalit¦ se discerne par l’estimation des choses, non par la grosseur, ou le nombre. Si quelcun en consideration de l’amiti¦ vend — son ami — meilleur march¦ ou ayant esgard — la pauvret¦ de l’acheteur, il meste en ceste action la justice distributiue auec la commutatiue: & en l’action qui se doit gouuerner par la iustice commutatiue, il entremeste quelque chose de la distributive. Et c’est la ruine des Republiques, quand ces deux sont cofondues, ou quand on introduit en vne Republique la justice commutatiuve pour la distributiuer ce qui se faisoit par les loix Agrariennes tres-pernicieuses, par lesquelles on demandoit que les terres fussent egalement diuisees par restes entre le peuple & les nobles, & que choses egales fussent diuisees aux inegaux. Au rebours, la iustice commutatiue est peruertie, quand les ventes, achapts, & c. se font par les loix de la iustice distributiue, c’est — dire, si on donne les choses inegales aux inegaux, comme si le vendeur double le prix — celui qui est deux fois plus riche.»1160 das Seine ist. Die austeilende Gerechtigkeit regiert die Republik und ist eine Tugend der Könige, der Herrschaften/Fürsten und der Magistrate: aber die ausgleichende Gerechtigkeit regiert/leitet die Aktionen und Übereinkünfte zwischen einem Jeden oder den Privatpersonen, wie die Verkäufe, die Ankäufe, Mieten, Kredite und (Spar-)Einlagen und so weiter, letztendlich alle Verträge zwischen allen und Einzelnen. Denn es ist eine Tugend einer jeden Privatperson. Denn wenn ein Prinz etwas verkauft oder kauft, tut er es nicht als Prinz, sondern als Privatperson. Dennoch gebührt die einzige/eigentliche austeilende Gerechtigkeit Gott, der keinerlei Verträge mit den Menschen hat, es sei denn in seiner Eigenschaft als Fürst.» (Pierre Du Moulins, Les elements de la philosophie morale, S. 85/ 86). 1160 «Die austeilende Gerechtigkeit gibt nicht gleiche Dinge, es sei denn an die Gleichen (Personen) und sie gibt verschiedene Löhne gemäß den Vorzügen /Talenten der Personen. Aber die ausgleichende Gerechtigkeit gibt die gleichen Dinge, sogar an die, die noch am ehesten ungleich sind. Denn beim Kauf oder der Miete achtet sie nicht auf die Vorzüge /Talente der Person, sondern auf die Gleichheit /Ebenwertigkeit der Dinge, nämlich dass der Käufer ebenso viel an Weizen erhält, wie er an Geld gegeben hat, sei es dem König, sei es einem reichen oder armen Untertan. Diese Gleichheit unterscheidet sich durch die Wertschätzung der Dinge, nicht durch die Größe oder Anzahl. Wenn jemand in Anbetracht freundschaftlicher Verbundenheit an seinen Freund preiswerter verkauft oder Rücksicht auf die Armut des Käufers nimmt, mischt/vermengt er bei dieser Handlung die austeilende mit der ausgleichenden Gerechtigkeit und bei der Handlung , die sich von der ausgleichenden Gerechtigkeit herleiten muss, mischt er etwas von der austeilenden da-

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Hier wird Pierre Du Moulins sozialethisch endlich sehr konkret. Wir können diesem Zitat, insbesondere dem Beispiel von der radikalen Agrarreform, entnehmen, dass sich die beiden Ebenen, Sphären oder Handlungsbereiche der austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit nach Pierre Du Moulin nicht allzu sehr begegnen bzw. vermengen sollen. Er sähe darin Chaos und Untergang einer Gesellschaft vorprogrammiert. Durch die bewusste, mehr oder minder künstliche Trennung der beiden Ebenen, dominiert die erste faktisch über die Letztere. Zugleich rechtfertigt er damit den gesellschaftlichen Status quo. So betont auch Pierre du Moulins – allerdings noch weit deutlicher als es bereits Moyse Amyraut tat – die Aufrechterhaltung der einmal grundgelegten Ordnung. Sein Denkmodell musste jedoch durch die faktischen Dynamiken durch den sich bereits früh entwickelnden Kapitalismus mit seinen Anfragen der Verteilungsgerechtigkeit und der Entwicklung eines selbstbewussten Bürgertums sehr bald eingeholt werden und es lässt sich fragen, ob es nicht bereits zum Zeitpunkt seiner Verschriftlichung als relativ rückständig eingeordnet werden muss. Hinzu kommt, dass sich neben der Aufrechterhaltung der alten Ordnung eine eindeutig »kompensierende«, regulierende und abfedernde Sozialpolitik, wie sie etwa Calvin vorschwebte, bei Pierre Du Moulin nur bedingt artikuliert wird. Die Sozialbindung des Besitzes formulierte Pierre Du Moulins zwar deutlich (s. o.), aber hätte er sich ebenso wie Calvin für zinslose Kredite für Arme ausgesprochen oder für die Begrenzung der Zinssätze etc. etc., wo er in seinem hier zuletzt angeführten Beispiel gerade deutlich macht, dass die Bevorteilung Armer oder Benachteiligung Reicher alles durcheinander bringen würde? Es liegt nahe, dass das sozialethische Verständnis von Pierre Du Moulins zumindest teilweise konservativer war als das von Calvin selbst und auch als das von Moyse Amyraut und somit aber eher kontraproduktiv wirken musste in einer Zeit, wo beweglichere Modelle gefragt waren, ohne dass die soziale Verantwortung aufgegeben werden sollte. Alle drei verband jedoch die Überzeugung, dass die Begüterten gegenüber den weniger Begüterten eine besondere Verantwortung haben, dass der Erwählungsstand nicht vom materiellen Erfolg ableitbar wäre und sie nicht mehr und nicht weniger innerweltliche Askese vertreten oder provoziert haben als damals allgemein konfessionsübergreifend üblich war. runter. Und das ist der Ruin der Republiken, wenn die beiden durcheinandergeworfen/ verwechselt werden oder wenn man in einer Republik die ausgleichende Gerechtigkeit einführt, um sie zu verteilen, was sich durch schädliche / schlechte /bösartige Agrargesetze machen ließe, durch welche man forderte, dass die Länder bis zum letzten Rest gleichermaßen zwischen dem Volk/den Leuten und dem Adel verteilt werden sollten und dass gleiche Dinge an Ungleiche verteilt würden. Es ist gegen den Strich, die ausgleichende Gerechtigkeit wird pervertiert, wenn die Verkäufe, Einkäufe etc. sich durch die Gesetze der austeilenden Gerechtigkeit gestalten, das bedeutet, wenn man die ungleichen Dinge den Ungleichen gibt, so als wenn etwa der Verkäufer den Preis für denjenigen verdoppelt, der doppelt so reich ist.» (Pierre Du Moulins, Les elements de la philosophie morale, S. 86/87).

Die Lehre von der Prädestination und Providenz im 17. Jh.

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So stehen die beiden herausragenden Vertreter des franz. Calvinismus des 17. Jh., nämlich Moyse Amyraut und Pierre Du Moulins, einerseits für eine Kontinuität in der Frage der Adaption sozialethischer Positionen und Gedanken Calvins, aber andererseits gleichzeitig für die Distanz zu einem Calvinismus, der gekennzeichnet war durch Charakteristika, wie sie M. Weber vom angelsächsischen Calvinismus des 17. u. 18. Jh. vor Augen hatte. Der Vollständigkeit halber sei hier auf einen der Söhne Pierre Du Moulins verwiesen: Cyrus Du Moulin. Er promovierte und lehrte wie sein Vater auch in Sedan. Aus seiner Dissertation geht zwar eine deutliche Rechtfertigung von Privatbesitz hervor, aber zugleich eine Sozialethik, die sich an die alte Ständeordnung gebunden weiß: »Vor dem Sündenfall bestand unter den Menschen Gütergemeinschaft, die aber nach dem Sündenfall durch Gottes providentielle Rechtssetzung aufgehoben worden ist. Privatbesitz und Eigentumsunterscheidung entsprechen demnach Gottes Willen und der menschlichen Natur.«1161 Das Gesellschaftsverständnis bei Cyrus Du Moulin ist ein organisches, das von einer gottgegebenen Ordnung ausgeht, die eine entsprechende Einordnung und Dienstbereitschaft erfordert und somit eine »Dienstgemeinschaft« darstellt. Deshalb kommt er nach der Rechtfertigung des Privatbesitzes zugleich aber zu seiner sozialen Verpflichtung: »Schließlich besteht die menschliche Gesellschaft durch Ungleichheit, in der die einen der Dienstleistungen der anderen bedürfen, und so die Glieder des zivilen Körpers zusammenhalten und zusammenwachsen.«1162 Auch in dem sozialkonservativen Modell von Cyrus Du Moulin wird man also wenig Ansatzpunkte für die Entwicklung eines freien Kapitalismus oder eines »Geistes des Kapitalismus« (Max Weber) finden, hingegen viele für eine Ordnungstheologie und eine ihr entsprechende Ethik.

3.3

Die Lehre von der Prädestination und Providenz im 17. Jh.

Hier kann es nicht darum gehen, die ganze komplizierte Debatte des 17. Jh. in dieser Frage wiederzugeben, sondern lediglich ein paar grobe Tendenzen und Linien, die für unseren Zusammenhang ausreichen.

1161 Referiert bei H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 175. 1162 Zitiert nach der Übersetzung von H. Kretzer (ders., Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 175).

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Theologische und geistesgeschichtliche Hintergründe und Entwicklungen

3.3.1 Prädestination Die Lehre von der Prädestination,1163 wie sie schon bei Calvin (vgl. Institutio III, Kap. 21 – 24) begegnet, ist zuallererst begründet und motiviert durch die Lehre von der freien Gnade Gottes (sola gratia), wie sie der Reformation und damit auch Calvin besonders am Herzen lag. So lehrte bereits Calvin selbst die doppelte Prädestination, also den Ratschluss Gottes, die einen zur Erwählung zu bestimmen und die anderen zur ewigen Verdammnis (Institutio III, 21, 5). Die Erwählung der einen sei begründet durch seine Barmherzigkeit, die von keinerlei menschlicher Handlung abhängig sei, während dem die Verwerfung der Anderen in seiner Gerechtigkeit begründet liege und dabei die Sünde der Menschen berücksichtigt (ebd.). Diese doppelte Prädestination widerspreche nicht einer universellen Berufung, denn so Calvin, wenn Gott alle beruft, ihm zu gehorchen, so verhindert doch diese allgemeine Berufung nicht, dass die Gabe des Glaubens sehr selten sein kann (Institutio III, 22, 10). Die Verkündigung des Evangeliums für alle kann sich also unterschiedlich auswirken. Den einen könne sie im Glauben festigen und zu Gott führen, den anderen verhärten, verstocken und von Gott wegführen. Aber wir können nicht wissen, welche dazu gehören oder nicht (Institutio III, 23, 14). Der Gnadenstand ist also nach Calvin nicht irgendworan ablesbar, schon gar nicht am wirtschaftlichen Erfolg. Man kann nur auf ihn vertrauen. Sehr vorsichtig formuliert Calvin an einer Stelle: »Gottes Barmherzigkeit wird durch das Evangelium beiden [den Erwählten und Verworfenen] angeboten, aber der Glaube, d. h. Gottes Erleuchtung, führt eine Scheidung zwischen Frommen und Gottlosen herbei, so dass die einen die Wirksamkeit des Evangeliums spüren, die anderen aber keinerlei Nutzen daraus ziehen« (Institutio III, 24, 17). Über die Institutio hinaus finden sich Äußerungen Calvins über die Prädestination in vielen seiner Schriften, in einigen auch konzentrierter und erhellender, besonders in seinen Predigten. Christian Link hat jedenfalls erneut herausgearbeitet, dass die Prädestination als Erwählung bei Calvin christologisch verankert ist – so bezeugt es Calvin selbst: »Ich weise die Menschen durchaus nicht an Gottes geheime Erwählung, damit sie von dorther ihr Heil erwarten sollen; vielmehr heisse ich sie geradewegs zu Christus zu gehen, in dem uns das Heil vor Augen gestellt ist…Denn wer den Zugang nicht auf dem gebahnten Weg des Glaubens findet, dem wird Gottes Erwählung nur ein tödliches Labyrinth sein.«1164 1163 Vgl. zu den folgenden Bezugnahmen zur Institutio besonders: H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 1 – 65, G. Plasger, Johannes Calvins Theologie, S. 89 – 96; Chr. Link, Erwählung und Prädestination, S. 139 – 157. 1164 C.O. 8, 254 – zitiert nach: Chr. Link, Erwählung und Prädestination, S. 148/149.

Die Lehre von der Prädestination und Providenz im 17. Jh.

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So ist nach Calvin Christus »der ›geliebte‹ Sohn (97,32), in ihm hat Gott unsere menschliche Natur ›zu einer unglaublichen Würde erhoben‹ (129,3), woraufhin ›ein jeder von uns‹ erkennen soll: ›Gott hat mich erwählt‹ (129,20).«1165 Aus letzter Aussage wird zugleich deutlich, dass Calvin eine allgemeine Gnadenwahl gelehrt hat. Das Ziel der Erwählung sei nach Calvin die »Perseveranz« – die Gabe der Beharrlichkeit, des Standhaltens, die Calvin mit der Prädestination verbinde.1166 Gott hat also die Seinen dazu eingesetzt, »das Kreuz zu tragen, und die ihnen mit der Erwählung zugesagte Beharrlichkeit ist das Unterpfand dessen, dass sie in Anfechtungen und Leiden bestehen werden.«1167 Eine solchermaßen mit einer theologia cruxis verbundene Lehre von der Prädestination hinterlässt weder eine Heilsungewissheit auf der einen Seite, sondern dient in seelsorgerlicher Perspektive eindeutig zur Vergewisserung im Heil, noch bietet sie auch nur irgendeinen Anknüpfungspunkt auf der anderen Seite dafür, dass die Heilsgewissheit am beruflichen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Erfolg ablesbar wäre – im Gegenteil: Derselbe müsste eher beunruhigen, denn er hat überhaupt nichts mit Perseveranz, weder in diesseitiger noch in jenseitiger Perspektive zu tun. Calvin redet zu den um ihres Glaubens willen Verfolgten, Bedrängten, Benachteiligten und mitunter Erfolglosen, weil gesellschaftlich Ausgeschlossenen; nicht zu den um ihres Glaubens willen Erfolgreichen. Hier ist auch der Gedanke von Chr. Link absolut naheliegend, wenn er mit Blick auf die Funktion der Prädestination von Calvin aus die Brücke zum französischen Calvinismus des 17. Jh. schlägt: »Es ist die Gabe der Beharrlichkeit, des Standhaltens, die Perseveranz, die Calvin mit der Prädestination verbindet. Sie ist es, welche die Hugenotten in der Zeit ihrer politischen Entmachtung nach dem Fall ihrer letzten Bastion La Rochelle (1628) aufrechterhalten hat.«1168 Chr. Link nimmt hier Bezug auf eine Aussage von Pierre Du Moulin, dem oben bereits mehrfach erwähnten franz.-ref. Vertreter der orthodoxen Prädestinationslehre im 17. Jh. Bei ihm ist nämlich zu lesen: »Die Gewissheit, dass wir standhalten, stützt sich auf das absolute Dekret der Erwählung.«1169 Hiermit können wir direkt einen Bogen schlagen zum Sitz im Leben der Prädestinationslehre im franz. Protestantismus des 17. Jh. Die heftigen akademischen und sehr emotional geführten Debatten über diese Lehre sind nur zu verstehen vor zwei Hintergründen. Der eine ist die Angst um die Einheit der 1165 Zitat von Chr. Link, Erwählung und Prädestination, S. 150 – Originalzitate sowie Ziffern aus Calvins Predigt »Congr¦gations« in: Calvin-Studienasugabe (CStA) 4,93 – 149. 1166 Vgl. Chr. Link, Erwählung und Prädestination, S. 151 u. 152. 1167 Chr. Link, Erwählung und Prädestination, S. 151. 1168 Chr. Link, Erwählung und Prädestination, S. 151. 1169 P. Du Moulin, Enodatio, S. 332 – Übersetzung nach Chr. Link, Erwählung und Prädestination, S. 151.

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franz.-ref. Kirche. Eine drohende Kirchenspaltung wie in den Niederlanden, die die ganze Bevölkerung in Mitleidenschaft zog und polarisierte,1170 konnte man sich in Frankreich in der Situation der Diaspora – staatlicherseits nur toleriert und in dauerhafter Auseinandersetzung mit dem durch die Gegenreformation sehr erstarkten franz. Katholizismus – nicht leisten. Der andere Hintergrund ist der, dass die um Anerkennung kämpfende Minderheit eine theologische, spirituelle Vergewisserung brauchte, erst recht nach dem Frieden von Alais (1629) als die Macht des politischen Protestantismus ein für alle Male gebrochen war und ab der zweiten Hälfte des 17. Jh., als dann die äußerlichen Bedrängungen fortan wieder zunahmen. Der Erwählungsgedanke, der Gottes Prädestination auch dann am Werke sieht, wenn augenscheinlich auch noch so vieles dagegen zu sprechen scheint und damit dennoch Geduld in der Zeit der Anfechtung oder auch des persönlichen gesellschaftlichen Niedergangs (siehe spätere Berufsverbote für Protestanten etc.) verleihen konnte, konnte sich so mitunter als ein gutes theologisches »Rüstzeug«, ja Überlebenspaket erweisen. Wenn es nicht schon existiert hätte, hätte es spätestens dann geradezu erfunden werden müssen. Hier wird deutlich, dass dies selbst in der orthodoxen Variante eines Pierre Dumoulin eine ganz andere Prädestinationslehre und ein ganz anderer Zugang zu ihr ist, als wie er im 17. u. 18. Jh. des angelsächsischen Calvinismus wohl vorherrschend war und von Max Weber wohl vorwiegend in Blick genommen wurde (s. o.). Auch P. Chaunu u. H. Lüthy haben bereits auf je ihre Weise Erhellendes zum Erscheinungsbild des franz. Protestantismus und seinen Existenzbedingungen im 17. Jh. beigetragen und damit aufgezeigt, dass er sich in einer ganz anderen Situation befand und wie wichtig grundsätzlich die Berücksichtigung des Minoritätsaspektes ist, will man theologische Entwürfe und wirtschaftliches Verhalten einander richtig zuordnen.1171 Ähnlich wie im Luthertum gab es im 17. Jh. die Entwicklung zu einer scholastischen Orthodoxie. Calvin hatte im wahrsten Sinne des Wortes Schule gemacht – in Frankreich insbesondere vermittelt über Th¦odore de BÀze. Begon1170 Vgl. K. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, S. 361 u. 362. 1171 »Betrachten wir doch nur die Religionskarte von 1570, 1640, 1750. Von allen protestantischen Gruppen waren die sich eng an die calvinistische Theologie haltenden Reformierten am häufigsten Minderheiten innerhalb einer katholischen Mehrheit. Einer Minderheit anzugehören, erforderte meist einen individuellen Entschluss, so dass diese Gruppen eine Art von Elite waren. Und da Minoritäten sich – besonders in unruhigen Zeiten – gewöhnlich Schikanen gefallen lassen müssen, waren sie praktisch zum wirtschaftlichen Erfolg gezwungen, wenn sie sich halten du durchsetzen wollten. In dieser Lage befanden sich im 16. Und 17. Jahrhundert sowohl die Calvinisten wie die aus Spanien vertriebenen, in der Diaspora lebenden Sephardim, die jüdischen Spaniolen. In Europa gab es weit mehr protestantische als katholische Minderheiten.« (P. Chaunu, Barock, S. 622); vgl. auch W. Lüthy, La banque protestante.

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nen hat der Streit um das rechte Verständnis der Prädestination aber erst in den Niederlanden zu Beginn des 17. Jh. Auf der einen Seite stand der Leidener Prof. Jakob Arminius ( 1560 – 1609). Er war zwar nicht ein Gegner der Prädestinationslehre, wie von K. Heussi fälschlich dargestellt1172, wohl aber ihres absoluten Determinismus, der rein auf Gottes Gnade zurückging. Auf der anderen Seite stand sein Kollege Franz Gomarus (1565 – 1641), der ein Verfechter einer strengen Prädestinationslehre war, die die Souveränität Gottes unterstrich und der sich dabei zunehmend extrem in die entgegengesetzte Richtung entwickelte. Arminus nahm vor allem Anstoß an einem ewigen Ratschluss Gottes zur Verwerfung, die ihm unverständlich und ohne biblisches Fundament erschien, was zur »Remonstranz« (Eingabe) von 1610 führte – Thesen, die von 46 arminianischen Pastoren den Staaten bzw. politischen Entscheidungsträgern von Holland und Westfriesland vorgelegt wurden, um staatlich anerkannt zu werden. Die Eingabe wendete sich vor allem gegen bestimmte Details der doppelten Prädestination bzw. den Ratschluss zur Verwerfung.1173 Die Gomaristen antworteten mit der Contraremonstranz von 1611. Der Streit spaltete die Bevölkerung. Die Bürgerlichen unterstützten die Arminianer, die Bauern, Feudalherren und Seeleute die Gomaristen. Weiter mischte sich die Debatte dann mit der Frage der Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche bzw. Staat und Lehre der Kirche. Ein Schisma drohte. Aus politischem Kalkül heraus schlug sich Moritz von Oranien auf die Seite der strengen Calvinisten. Seine bürgerlichen Gegner ließ er beseitigen und die dann einberufene Synode von Dordrecht (1618 – 1619), an der fast alle größeren reformierten Kirchen mit Ausnahme der franz. Protestanten teilnahmen, verurteilte den Arminianismus und bestätigte die calvinische Prädestinationslehre in einer dennoch verhältnismäßig moderaten Weise (der Ratschluss der Prädestination folgt der Schöpfung, nicht umgekehrt). Die franz.-prot. Akademien waren antiarminianisch orientiert, die in Sedan sogar eindeutig gomaristisch. Obwohl den französischen Deputierten die Teilnahme an der Dordrechter Synode durch Ludwig XIII. untersagt wurde, wurden die vom König nicht ratifizierten Grundsätze der Dordrechter Synode von den franz. Nationalsynoden (AlÀs 1620, Charenton 1623) übernommen. John Cam¦ron (1580 – 1625), in Glasgow (Schottland) geboren, ist der erste Theologe der Akademie von Saumur, der zwar die calvinistische Orthodoxie verteidigt, sich aber den von ihr offen gelassenen Fragen widmet, vor allem: Wie lässt sich die Lehre von der Prädestination vereinbaren mit der biblisch be-

1172 Vgl. K. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, S. 361. 1173 Vgl. P. Bühler, Artikel »Pr¦destination et Providence«, in: Encyclop¦die du protestantisme (EDP), S. 1193 u. K. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, S. 362.

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gründeten Erlösungslehre?1174 Er versuchte beides miteinander zu vereinen durch die Lehre von einem absoluten und einem bedingten Willen Gottes.1175 Sein hier bereits ausführlich vorgestellter Schüler Moyse Amyraut (1596 – 1664) knüpfte daran an und führte die Gedanken weiter. Er unterschied zwischen universeller Gnade und universellem Heil. Der Supralapsarismus eines Gomarus war für ihn nicht calvinistisch und auf der Synode von Dordrecht auch nicht wirklich bestätigt worden. Von Andr¦ Rivet und Pierre Du Moulin wurde Moyse Amyraut des Semipelagianismus und des Arminianismus bezichtigt. Richtig ist die Aussage von H. Dubief, dass der Streit zu keinem Ergebnis führte; falsch hingegen ist seine einseitige Aussage, dass Amyraut mehrfach von den Synoden verurteilt wurde.1176 Nach der Veröffentlichung seiner eigentlichen Streitschrift: »Brief Traitt¦ de la Pr¦destination et de ses principales d¦pendances« (Saumur 1634), beschließt die Synode von Alencon (1637) ihm wie auch Paul Testard (Pastor in Blois und weiterer Schüler von Cam¦ron) Recht zu geben.1177 Auch die erneut vorgebrachte Kritik an seiner Lehre auf der Synode von Charenton im Jahr 1644 hatte nicht den gewünschten Erfolg einer grundsätzlichen Verurteilung der Lehren Amyrauts, sondern beschränkte sich auf eine sehr allgemeine Aufforderung zur Mäßigung.1178 Man wird also keinesfalls sagen können, dass »die calvinistische Orthodoxie« sich im franz. Protestantismus auf Dauer durchgesetzt hätte, zumal allein schon diese Gegenüberstellung der Sachdiskussion, um die es ging, nicht wirklich zuträglich gewesen wäre. Moyse Amyraut selbst hat sich in seiner Schrift »D¦fense de Calvin contre les arminiens« (1641) eindeutig als Befürworter der Prädestinationslehre und Gegner der Arminianer erwiesen.1179 Ein wenig anders verhielt es sich mit seinem Schüler Claude Pajon, der von 1666 bis 1668 in Saumur lehrte. Er wurde wesentlich mehr attackiert von Pierre Jurieu, Jean Claude und Jean Daill¦. Claude Pajon wurde wegen seiner Reflexionen über die Frage der Bekehrung im Zusammenhang mit der Prädestinationslehre vorgeworfen, dass er die Erbsündenlehre ablehne, des weiteren, dass er ein arminianisches Verständnis der Prädestinationslehre vertrete und Pelagianismus betreibe, weshalb seine Positionen folglich von mehreren Nationalsynoden verurteilt wurden, ohne dass allerdings sein Name dabei fiel.1180

Vgl. H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 176. Vgl. H. Kretzer, ebd. Vgl. H. Dubief, Artikel »Hugenotten« in: TRE, S. 624. Vgl. H. Bost, Le protestantisme franÅais au XVIIe siÀcle, S. 38. Man untersagte ihm, über unnütze Fragen zu debattieren, die man nur aus reiner Neugierde stellen würde und damit er die besondere Begabung seines Geistes unter Beweis stellen könne (vgl. Wortlaut abgedruckt bei: F. Laplanche, Orthodoxie et pr¦dication, S. 187; vgl. auch Fr. Chevalier, PrÞcher sous l’Êdit de Nantes, S. 178). 1179 Vgl. Moyse Amyraut, D¦fense de Calvin contre les arminiens. 1180 Vgl. H. Bost, Le protestantisme franÅais au XVIIe siÀcle, S. 46. 1174 1175 1176 1177 1178

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Unabhängig von der Frage, inwieweit dies gerechtfertigt war, wird daran deutlich, dass im franz. Protestantismus jener Phase offenbar ein Harmoniebedürfnis herrschte – Extreme sollten einerseits ausgeschlossen werden, andererseits wurden Namen auf Synoden nicht genannt. Theologen wie Jean Claude und Anderen gelang es auf diese Weise schließlich, Mittelwege zu finden und zur Einheit beizutragen,1181 die auch im Interesse der Nationalsynoden lag, denn erstens ist mit E. Labrousse grundsätzlich anzumerken: »The peculiar situation of French Protestants prohibited them from having any violent internal disputes and even so the men of Saumur were regarded as heretics by many in Geneva and in Holland, the national synods of France could not afford to condemn them.«1182 Das spricht noch einmal mehr gegen die (zumindest missverständliche) Darstellung von H. Dubief, wonach die orthodoxe Linie sich grundsätzlich und insbesondere auf den Synoden mit Verboten der Lehre von Saumur etc. durchgesetzt habe.1183 Zweitens waren letztlich alle in der Debatte um das rechte Verständnis der Prädestination so engagierten Theologen doch darin verbunden, dass sie in der Prädestinationslehre einen wichtigen Beitrag zur franz.-prot. religiösen und theologischen Identitätsstiftung im Sinne einer Vergewisserung im Glauben sahen. Das hätte wohl selbst ein Claude Pajon unterstreichen können. Sollte also die in Frankreich auf andere Art und Weise als in den Niederlanden leidenschaftlich geführte theologische Debatte samt der dazugehörigen Harmonisierungsversuche und Kompromisse unterhalb der Oberfläche vielleicht nicht doch davon zeugen, dass hier letztendlich ein Herzstück der Seelsorge Angefochtener berührt war und es keineswegs nur um rein akademische Haarspaltereien, Machtkämpfe oder Angst vor dem inneren Zerfall und Schwächung der protestantischen Einheit ging? Möglich wäre es.

3.3.2 Die Providenz Auf welche Weise die Lehre von der Prädestination in der Theologie des französischen Protestantismus im 17. Jh. zunächst ihre wichtige Funktion bewahrte und damit eher als Botschaft für Leidende und Ausgeschlossene aktuell und bedeutungsvoll blieb als für Reüssierende und Begüterte, ist in der vorangegangen Darstellung deutlich geworden. Wie verhielt es sich mit der Providenz? Welche Funktion nahm sie ein? Offensichtlich war sie kaum Gegenstand franz.ref. theologischer Debatten wie etwa die Prädestination. 1181 Vgl. H. Dubief, Artikel »Hugenotten« in: TRE, S. 624. 1182 E. Labrousse, Calvinism in France, 1598 – 1685, S. 302. 1183 Vgl. H. Dubief, Artikel »Hugenotten« in: TRE, S. 624.

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Das verwundert nicht. Schon Calvins eigenem Verständnis von der providence wäre es zuwidergelaufen, wenn er eine Theorie von ihr entwickelt hätte. Nach ihm geht es hierbei nicht um ein Prinzip, ein System im Sinne eines maschinellen Ablaufs, eine allgemeine distanzierte Vorsehung, die alles mechanisch versorgt, sondern vielmehr um eine Haltung, ein Zugewandtsein Gottes: »une attention toute sp¦ciale aux cr¦atures, pour les soutenir, les nourrir et les soigner. Fort de cette certitude, ›le coeur de l’homme chr¦tien […]ne doutera pas que la providence de Dieu ne veille pour sa conservation, et qu’elle ne permettra rien advenir, qui ne soit pour son bien et salut‹«1184 Mit anderen Worten: sie meint eine den Menschen zugewandte aktive Fürsorge, die Glauben weckt und auf Glauben setzt. Dieses Vertrauen auf die Providenz, die oft gerade außerhalb des unmittelbar Verfügbaren und Sichtbaren liegt (Institutio I, 16,9) entbehrt nach Calvin jedoch nicht der von Gott gegebenen menschlichen, persönlichen Verantwortung und Fürsorge für das anvertraute Leben (Institutio I, 17, 4). Die Fragen und Probleme, die sich mit dem Gedanken von Gottes Providenz verbinden, liegen auf der Hand: Das Risiko eines Determinismus und Fatalismus, das Problem der Theodizee und die Schwierigkeit der Verhältnisbestimmung von göttlichem Handeln (Gnade) und menschlichem Handeln.1185 Auf unseren sozialethischen und diakonischen Kontext bezogen ist es vor allem die Frage, in welchem Verhältnis Providenz, Reichtum und Armut zueinander gesehen wurden und wie das theologisch gedeutet wurde. Der Begriff der providence birgt auch noch ein grundsätzliches Problem in sich. Er diente nicht selten als Platzhalter für alle möglichen menschlichen Sehnsüchte, Wünsche und Projektionen. Woher will der Mensch auch wissen, was göttlich »vorgesehen« ist. Besonders deutlich wird das an folgendem Beispiel. Eine Hospitaleinrichtung der Hugenotten im Exil von Rochester (England), die heute eine Seniorenwohnanlage darstellt, nannte sich zu damaliger Zeit »La Providence«. Die Namensgebung mag in diesem Fall unmittelbar einleuchtend sein, weil man sie als Hinweis darauf verstehen kann, dass Gott die Leidenden, Armen und Kranken nicht vergisst, sofern man von einer grundsätzlich fürsorglichen Haltung Gottes ausgehen darf, wie sie etwa Calvin vor-

1184 »eine ganz besondere Aufmerksamkeit gegenüber den Lebewesen, um sie zu unterstützen, sie zu nähren und für sie zu sorgen/ sie zu pflegen. Im Vertrauen dieser Gewissheit ›zweifelt das Herz des Christenmenschen nicht daran, dass die Providenz Gottes seine Bewahrung wachsam verfolgt und dass sie nichts dulden wird, was nicht zu seinem Wohl und Heil geschieht.‹« P. Bühler, Artikel »Pr¦destination et Providence« in: Encyclop¦die du protestantisme (EDP), S. 1194 – Originalzitat im Zitat von Calvin, Institutio I, 17,6). 1185 P. Bühler, Artikel »Pr¦destination et Providence« in: Encyclop¦die du protestantisme (EDP), S. 1195 – 1202

Franz.-ref. Predigten des 17. Jh. als Spiegel des diakonischen Selbstverständnisses

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aussetzt (s. o.). Der Name La Providence war auch schon in früheren Zeiten (auch bereits vor Calvin) kein ungewöhnlicher Name für eine mildtätige Einrichtung. Wie sieht es dann aber mit dem anderen Beispiel aus – dem Maison de la Providence in N„mes, das der Bekehrung von Protestanten und der Versorgung der Neubekehrten bei gleichzeitigem Freiheitsentzug diente?1186 War hier tatsächlich Gottes Vorsehung am Werk? Entsprach es Gottes Güte und seiner Intention, dass einst alle Protestanten zur »wahren Konfession« zurückkehren und somit gerettet werden sollten? Die Beliebigkeit des Begriffs providence gerade vor dem Hintergrund bestimmter Ordnungsfragen und Machtinteressen ist damit offenkundig. Dient der Begriff nur zur Rechtfertigung des Bestehenden oder stellt seine Verwendung hier und da das Bestehende durch Negation bzw. Dekonstruktion auch in Frage und offenbart gar einen prophetischen Charakter? Das wird gerade im Blick auf die Predigtpraxis zu fragen sein.

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Franz.-ref. Predigten des 17. Jh. als Spiegel des diakonischen Selbstverständnisses und der Lehre von Reichtum und Armut

3.4.1 Die Quellengrundlage Es ist hier nicht möglich, auf die franz.-ref. Predigten vor 1685 bezogen eine ausführliche Predigtanalyse zu leisten, wie sie für die Zeit des Refuge in Berlin in der in Kürze veröffentlichten Dissertation begegnen wird.1187 Gleichwohl bieten die Arbeiten von Alexandre Vinet1188 und die von FranÅoise Chevalier1189 ein Bild, das, durch einige andere eigens ausfindig gemachte und analysierte Predigten bzw. Quellen ergänzt, im Blick auf die uns interessierende Thematik signifikante Aussagen für die Zeit des 17. Jh. zulassen. Man kann dabei feststellen, dass in jener Epoche in Frankreich bestimmte hugenottische bzw. französisch-calvinistische charakteristische Predigtgedanken begegnen, die teils auch im späteren Refuge in Berlin wiederkehren, während andere Aussagen, Akzentsetzungen oder Topoi der später in Berlin gehaltenen Predigten sich hingegen eher der spezifischen Situation im Berliner Refuge verdanken. Quantitative Aussagen wie sie im Blick auf die inhaltlich-statistische Analyse der Berliner Predigten vor1186 Vgl. R. Debant, Une oeuvre catholique d’assistance, S. 59 – 72. 1187 Dort bildet ein Korpus von 217 Predigten die Basis für eine inhaltlich-statistische Predigtanalyse (siehe: G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin). 1188 Alexandre Vinet, Histoire de la pr¦dication parmi les R¦form¦s de France au dix-septiÀme siÀcle, Paris 1860. 1189 FranÅoise Chevalier, La pr¦dication protestante au XVIIe siÀcle, (Diss.) Paris-Sorbonne, 1987; respektive dies., PrÞcher sous l’Êdit de Nantes. La pr¦dication r¦form¦e au XVIIe siÀcle en France, GenÀve, 1994 (überarbeitete und gekürzte Fassung der Dissertation)

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genommen werden können,1190 können hier allerdings kaum gemacht werden, da es sich im Unterschied zu der auf Berlin bezogenen Dissertation hier um eine Darstellung handelt, die sich vornehmlich an der Sekundärliteratur und den dort verwendeten Quellen orientiert und an weiteren Texten, jedoch keine eigene Predigtanalyse eines eigens dafür zusammengestellten und untersuchten Textkorpus zur Grundlage hat. Das hätte den Rahmen der vorliegenden Überblicksdarstellung, so detailliert sie auch sein mag, gesprengt. Indessen lässt sich sagen, dass hier die exponiertesten franz.-ref. Prediger jener Epoche zu Wort kommen. Die Beiträge von Ruth Whelan und Peter Bayley werden hier ganz unberücksichtigt bleiben, da sie sich zwar auf franz.-ref. Predigten des 17. Jh. beziehen, aber nur unter sprachlichen und rhetorischen Gesichtspunkten.1191 Wertungen über Predigtstil und –kunst der franz.-ref. Predigten des 17. Jh. werden außen vorgelassen, weil sie je nach Standpunkt der Autoren der Sekundärliteratur völlig variieren1192 und auch inhaltlich nicht zu Erkenntnissen beitragen. Mit W. Schütz lässt sich gleichwohl festhalten, dass die franz.-prot. Predigten in der Regel durch »Gründlichkeit der Schriftauslegung und ein kontroverstheologisches Interesse« bestimmt sind, dass es aber unter dem Druck der Verfolgung nicht um subtile Streitfragen und auch weniger um Fragen der Prädestination ging als vielmehr »um die Lage der Gemeinde in ihrer katholischen Umwelt«1193. Jean Claude und Pierre Dubosc müssen begnadete Prediger gewesen sein, die viel Aufmerksamkeit auf sich zogen, aber Jacques Saurin, der Anhänger von Descartes war und für den die Fragen der Prädestination weniger im Mittelpunkt standen,1194 muss sich ganz besonderen Zulaufs erfreut haben: »Ein Prediger mit einer hinreißenden Macht der Rede, zu dem die Hörer aus allen Ständen strömen. Oft gibt es selbst für Geld keinen Platz mehr in seiner Kirche, an den Türen und selbst auf den Leitern an den Fenstern drängen sich die Menschen.«1195 Leider ist uns von ihm keine Predigt mit Bezugspunkten zu unserer Thematik überliefert. Allein hier wird jedoch deutlich, dass es in der franz.-prot. Predigtlandschaft des 17. Jh. eine große Bandbreite gab, was die Stile, Inhalte und theologischen Grundorientierungen, also Verankerungen ihrer Prediger betraf. Paris – Char1190 Vgl G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 1191 Vgl. Ruth Whelan, »The foolishness of preaching«: rhetoric and truth in Huguenot pulpit oratory, in: M. Magdelaine, M.C. Pitassi, R. Whelan, A. McKenna (ed.), De l’humanisme aux LumiÀres, Bayle et le protestantisme, Paris – Oxford 1996, S. 289 – 300; Peter Bayley, French Pulpit Oratory 1598 – 1650, Cambridge 1980 1192 Ruth Whelan, ebd.; Peter Bayley, French Pulpit Oratory 1598 – 1650, Cambridge 1980, S. 1 – 30. 1193 W. Schütz, Geschichte der christlichen Predigt, S. 132. 1194 Vgl. W. Schütz, Geschichte der christlichen Predigt, S. 132 f. 1195 W. Schütz, Geschichte der christlichen Predigt, S. 133.

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enton war ein Ort bzw. eine Gemeinde, die überdurchschnittlich viele herausragende Prediger hatte,1196 wie z. B. auch Pierre Du Moulin, der nicht nur Theologieprofessor in Sedan war, sondern auch über 20 Jahre Pastor der Gemeinde in Charenton.1197 So konnte auch die Qualität der Verkündigung und der Grad der jeweiligen Rezeption von Ort zu Ort sehr differieren. Über den tatsächlichen Effekt, was beispielsweise die Verinnerlichung der Predigtaussagen betrifft, können kaum Aussagen gemacht werden, weil sie historisch nur schwerlich zu eruieren sind. Wohl macht das Beispiel der Predigten Jacques Saurins aber deutlich, dass Predigten einen hohen Stellenwert in der Kommunikationswelt und besonderen Ereigniswert in der damaligen medialen Wirklichkeit besaßen oder zumindest besitzen konnten. Die folgende Darstellung orientiert sich an von mir selbst festgelegten Themenbereichen und – Stichworten, wie sie vorwiegend in den von A. Vinet und Fr. Chevalier untersuchten Predigten indirekt oder direkt vorkommen, aber auch in weiteren hinzugezogenen Predigten. A. Vinet und Fr. Chevalier haben jedoch jeweils ganz andere Themenschwerpunkte1198 und differieren auch völlig in ihrer Darstellungsweise.

3.4.2 Umgang mit Besitz und Reichtum Reichtum an sich wird in keiner der mir bis dato zur Kenntnis gelangten Predigten verurteilt. Wohl unterscheidet Pierre Du Moulin beispielsweise zwischen zwei Lebensweisen, die er gegenüberstellt. Sie beschreiben unterschiedliche Umgangsweisen mit Besitz und Reichtum: «Pour example, L’homme prudent, qui cherche — colloquer son argent, t–che de le mettre en main s˜re et o¾ il y a„t du profit. L’homme craignant Dieu se servira de ce conseil, et pour s’inciter — charit¦ envers le pauvre; car il dira en soi-mÞme: Celui qui donne au pauvre prÞte — usure — Dieu.»1199 1196 Vgl. F. Chevalier, La pr¦dication protestante au XVII siÀcle, S. 97 f. 1197 Vgl. H. Bost, Artikel »Du Moulin, Pierre«, in: Encyclop¦die du protestantisme (EDP), S.438. 1198 Vgl. die entsprechenden Inhaltsverzeichnisse und Darstellungsweisen bei A. Vinet, Histoire de la pr¦dication u. F. Chevalier, La pr¦dication protestante au XVII siÀcle; respektive dies., PrÞcher sous l’Êdit de Nantes. 1199 «Der besonnene/weise/kluge Mensch, der sein Geld sammeln / anhäufen will, versucht es sicher anzulegen oder dort, wo es Profit verspricht. Der Mensch, der Gott fürchtet, wird diesen Rat befolgen/ diesem Beispiel folgen/ sich dieses zu Eigen machen, und um sich selbst zur Mildtätigkeit/Nächstenliebe gegenüber den Armen anzutreiben, wird er zu sich selbst sagen: Derjenige, der dem Armen gibt, leiht Gott auf Zinsen.» (Vgl. Pierre Du Moulin, Sermons, deuxiÀme d¦cade, 5 – zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 33/34).

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Der reinen »Akkumulation des Kapitals«1200 stellt Pierre Du Moulin hier also durchaus in calvinischer Tradition die Verteilung bzw. Hilfe für die Armen gegenüber. Hier bestätigt sich auf der Predigtebene keineswegs, dass die franz.prot. Theologen oder Prediger die neue Entwicklung des Kapitalismus mit ihrer Kapitalanhäufung etc. noch nicht im Blick gehabt hätten und sie nur in einem alten feudalen Gesellschaftsdenken verhaftet geblieben wären. Es scheint vielmehr so zu sein, dass sie sehr wohl wahrgenommen wurde, wie das Predigtbeispiel zeigt, aber dennoch der Gedanke des sozialen Bindungscharakters des Geldes / Besitzes / Gewinns / Reichtums nicht aufgegeben wurde. Hier wird aber nicht etwa Profitgier auf der einen Seite und freiwillige Armut auf der anderen Seite als Ideal gegenübergestellt, sondern die Frage der »weisen« Wertigkeit und Wertvermehrung gestellt. Dadurch dass eine Rückverteilung an die Armen erfolgt und sie auch profitieren, erfolgt eine Wertvermehrung ganz anderer Art, die die Investition viel nachhaltiger erscheinen lässt: So stellt Pierre Du Moulin unmittelbar anknüpfend die rhetorische Frage: «Pourrais-je consigner mon argent en meilleure main et o¾ il profite davantage qu’Às mains de Dieu, qui se constitue soi-mÞme d¦biteur de nos aumúnes, qui est fidÀle d¦biteur, et qui tire le bien qu’il nous fait d’un tr¦sor in¦puisable? De tout le bien que nous avons au monde, rien n’est nútre que ce que nous aurons ainsi donn¦.»1201

Auch wenn aus dem »d¦tenteur« (»Besitzer«) bei Calvin1202 hier bei Pierre Du Moulin ein »d¦biteur« (»Schuldner«) wird, so geschieht das im Blick auf Gott bei Pierre Du Moulin nur übertriebener und ironischer Weise, weil er versucht, mit diesem Bild in der Logik der Finanzwelt zu bleiben und daran anzuknüpfen, dass sich eine Investition bzw. ein Kapitalverleih auszahlen bzw. rentieren sollte und man dazu auch dem Schuldner vertrauen muss. Das Geld sollte arbeiten und einen Gewinn abwerfen. Durch die Investition in die Armengelder und die solchermaßen vorgenommene Rückbindung an Gott soll genau dies geschehen, dass ein Mehrwert entsteht, der über das bislang zunächst Vorfindliche hinausgeht. Im letzten Satz macht Pierre Du Moulin jedoch sehr wohl deutlich, dass Gott sehr wohl mehr ist als unser Schuldner und wir im Vergleich zu ihm nichts besitzen. 1200 Vgl. »colloquer son argent« mit der sehr ähnlichen Ausdrucksweise der »accumulation« von Calvin (vgl. Kap. 3.1.5 der vorliegenden Studie). 1201 «Könnte ich mein Geld besser anlegen und profitversprechender als in den Händen Gottes, der selbst als der Schuldner unserer Almosen auftritt, der ein treuer Schuldner ist, und der das Gute, das er uns zukommen lässt, aus einem unerschöpflichen Schatz schöpft? Von allem, was wir auf der Welt haben, haben wir nichts außer dem, was wir so gegeben haben werden.» (Vgl. Pierre Du Moulin, Sermons, deuxiÀme d¦cade, 5 – zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 34). 1202 Vgl. unter Kap. 3.1.5 in der vorliegenden Arbeit.

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Wenige Zeilen später nimmt Pierre Du Moulin noch einmal mal Bezug auf den Umgang mit dem Besitz und diese Weise der Investition: «Tout homme dou¦ de prudence chr¦tienne imitera cet exemple; car, reconnaissant l’incertitude des biens de ce monde, il t–chera d’acqu¦rir des biens qui ne puissent Þtre ravis par la guerre…qui ne soient sujets — confiscation, qui entrent avec nous en prison, et que nous puissions emporter Às pays ¦trangers, quand nous sommes bannis du nútre.»1203

Im Zitat wird deutlich, dass hier Besitz und Reichtum oder auch Vermehrung des Besitzes nicht einfach abgelehnt wird, aber er wird eindeutig relativiert, weil er der Unbeständigkeit bzw. Vergänglichkeit ausgesetzt bleibt. Damit wird die MaxWeber-These, wonach die rationale Weltgestaltung und die diesseits orientierte Kapitalanhäufung eine Art Kompensation der Heilsungewissheit darstellen, spätestens aber die Reinvestition in den Kapitalmarkt geboten sei, weil der Genuss des Besitzes im Calvinismus moralisch negativ besetzt bzw. verboten sei, förmlich auf den Kopf gestellt. Nach Pierre Du Moulin verbindet sich die »Ungewissheit« (»l’incertitude«) nicht mit der Teilhabe am Heil sondern mit dem Bestand bzw. Nicht-Bestand des weltlichen Besitzes, die umgekehrt allenfalls religiös und durch ethische Konsequenzen kompensiert werden kann. Die Beispiele, die Pierre Du Moulin dazu anführt, deuten auf den Sitz im Leben dieser Predigt hin. Sie verraten Bezugnahmen zum Erleben der franz. Protestanten. Zwar können sie sich kaum beziehen auf die Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen Ludwig XIV. und die damit verbundene Leidensgeschichte – Du Moulin lebte nur bis 1658 – aber er war als franz. Protestant selbst nach England geflohen, lebte und studierte dort von 1588 – 1592 und betreute in späteren Jahren von 1623 – 1625 auch die franz.-prot. Flüchtlingsgemeinde in London.1204 Neben den Fluchtbewegungen des 16. Jh. gab es auch in den Jahren 1621 – 22 eine kurze Fluchtperiode bevor sie in späteren Jahren erneut ausbrachen. Jeder der Angesprochenen wusste, wovon Pierre Du Moulin sprach und konnte sich entsprechend mit der Erfahrung identifizieren, dass das diesseitige Leben keineswegs immer materielle Sicherheit gewährleistet, sondern oft mit Entbehrung, Instabilität und Ungewissheit verbunden ist.

1203 «Jeder vernunftbegabte / mit Weisheit ausgestattete Christ wird diesem Beispiel folgen, denn indem er erkennt, dass die Güter dieser Welt nicht sicher (unvergänglich) sind, wird er versuchen Güter zu erwerben, die nicht verzehrt werden können durch den Krieg…die nicht einer Konfiszierung unterworfen sind, die mit uns ins Gefängnis gehen, und die wir ins Ausland mitnehmen können, wenn wir aus unserem Land verbannt werden.» (Vgl. Pierre Du Moulin, Sermons, deuxiÀme d¦cade, 5 – zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 34). 1204 Vgl. H. Bost, Artikel »Du Moulin, Pierre« in: Enclyclop¦die du protestantisme (EDP), S. 438.

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In einer weiteren Predigt benennt Pierre Du Moulin die Grenze allen Besitzstrebens – der Tod, der allen Besitz nichtet und relativiert – und kommt auf dasselbe Bibelzitat zurück: »Car nous sommes venus nus au monde, et en sortirons nus, et n’emporterons rien de tous nos biens que ce que nous aurons donn¦ au pauvre; car celui qui donne au pauvre prÞte — usure — Dieu (Proverbes, XVII, 19)«1205 Ganz ähnlich finden wir die Sozialbindung des Reichtums auch bei Michel Le Faucheur, der den Beitrag der Reichen zur Heiligung dieser Welt, der nach ihm ein Auftrag aller gesellschaftlichen Glieder ist,1206 klar benennt, indem er sie direkt auf ihre Rolle bzw. Funktion anspricht: »Riches, secourez l’Êglise et les pauvres!«1207 Auch Pierre du Bosc definiert die Verantwortung der Reichen im Kontext der Heiligung und sieht ihren Beitrag in »guten Werken« gegenüber den Armen als Erweis des Glaubens. Auch er spricht die Reichen unmittelbar an: «Riches, qui vivez dans l’abondance des biens de la terre, vous poss¦dez beaucoup de choses, mais une seule est n¦cessaire: c’est la foi vive et efficace, qui produit la sanctification. Sans cela votre opulence n’est que disette…Vous Þtes pauvres, si vous n’Þtes fidÀles — J¦sus-Christ…Pensez donc moins — remplir vos coffres d’or et d’argent vos coeurs de la conaissance de Dieu et de son amour…et proposez-vous surtout d’Þtre riches en bonnes oeuvres.»1208

Mag dies im ersten Moment bei Pierre Du Bosc wie ein rein moralischer Appell wirken, so wird doch beim zweiten Hören oder Lesen deutlich, dass die «Gemeinschaft der Glaubenden und der Heiligung» die Einbindung in den Rahmen bildet, die ihre Konsequenz in einer konkreten Verantwortungsübernahme hat.

1205 »Denn wir sind nackt auf die Welt gekommen und gehen nackt von ihr und nehmen nichts von all unseren Gütern mit, als das, was wir den Armen gegeben haben, denn derjenige, der dem Armen gibt, leiht auf Zinsen an Gott (Sprüche 17,19).« (Pierre Du Moulins, Livre 1, Chapitre 2 – zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 51). 1206 Vgl. den Textlaut seiner Predigt bei A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 137. 1207 « Ihr Reichen! Helft der Kirche und den Armen!« (zitiert nach: A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 137). 1208 «Ihr Reichen, die Ihr im Überfluss der Güter dieser Erde lebt. Ihr besitzt viele Dinge, aber nur eine einzige ist notwendig: das ist ein lebendiger und fruchtbringender Glaube, der die Heiligung nach sich zieht. Ohne dem ist Eure Üppigkeit nur Mangel…Ihr seid arm, wenn Ihr nicht treu gegenüber Jesus Christus seid…Denkt also weniger daran, Eure Koffer mit Gold und Silber zu füllen, als Eure Herzen mit der [Er]Kenntnis Gottes und seiner Liebe…und nehmt Euch vor allem vor, reich an guten Werken zu sein.» (Textlaut der zitierten Predigt siehe bei A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 438/439).

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3.4.3 Charité – Begründung und Aufgabe Die Charit¦ («Nächstenliebe/ Mildtätigkeit» etc.) begegnet bei Pierre Du Moulin im Zusammenhang mit der imitatio dei. Es sei nicht möglich, Gott in allem nachzuahmen, aber doch z. B. in seiner Saintet¦ (Heiligkeit) – die menschliche Charit¦ sei die Nachahmung der göttlichen Saintet¦.1209 Auch Michel Le Faucheur definiert die Charit¦ als Nachahmung Gottes, der uns selbst dafür als Vorbild dient.1210 Darüber hinaus benennt Michel Le Faucheur noch einen zweiten Begründungszusammenhang. Die Charit¦ liegt nach ihm ebenso begründet in der «communion de l’Êglise» («Gemeinschaft / Abendmahl der Kirche»)1211, also in dem, was uns schon bei Calvin als Koinonia bzw. communio begegnete. Die Charit¦ geht für Michel Le Faucheur nicht in gönnerhafter Haltung gegenüber Hilfsbedürftigen auf, sondern ist zugleich charakterisiert durch Versöhnungsbereitschaft gegenüber dem Feind, Gerechtigkeit und Eintracht.1212 Bezüglich der letzten beiden Größen nimmt er eine eindeutige Verhältnisbestimmung vor: «Sommes-nous justes du moins? Non. Et comment s’¦tonner si, la justice et la charit¦ manquant, on voit manquer la concorde?»1213 Charit¦ im Sinne der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit dienen in dieser Perspektive also der Eintracht, dem gesellschaftlichen Frieden. Die Nicht-Ausübung der charit¦ gegenüber den Armen bedeutet nach Michel Le Faucheur in der Konsequenz: «nous m¦prisons ainsi ceux qui ont, aussi bien que nous, Dieu pour leur pÀre et son Êglise pour leur mÀre…»1214 Bei Michel Le Faucheur begegnet uns also die Vorstellung von der Kirche als Mutter im Zusammenhang mit der charit¦, die gegenüber den Armen auszuüben ist. So gesehen ist bei ihm die Kirche definiert als «Mutter der Armen». Diese Verhältnisbestimmung deckt die ganze Spannung zwischen Fürsorge und Abhängigkeit, ab, wie sie uns hier und da auch in der Praxis hugenottischer Diakonie begegnet. Wenn aber der Kirche die Rolle als «Mutter der Armen» zugewiesen wird, heißt das noch lange nicht, dass diese auch von ihren Mitgliedern automatisch internalisiert wurde. Im Gegenteil – das war offensichtlich nur im Verlaufe eines 1209 1210 1211 1212 1213

Vgl. Pierre Du Moulin, Sermons, deuxiÀme d¦cade, 5, S. 113. Textlaut der zitierten Predigt siehe bei A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 127/128. Textlaut der Predigt siehe bei A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 127/128, Zitat: S. 128. Textlaut der Predigt siehe bei A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 127/128. «Sind wir wenigstens gerecht? Nein. Und wieso sollte es uns da nicht wundern, dass es an Eintracht mangelt, wenn die Gerechtigkeit und die Nächstenliebe [hier im engeren Sinne verstanden als die Unterstützung der Schwächeren – in der Predigt zuvor ausgeführt] fehlen?» (Textlaut zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 128). 1214 «wir verachten / missachten also diejenigen, die ebenso wie wir, Gott als ihren Vater haben und die Kirche als ihre Mutter.» (Textlaut zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 128).

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längeren Prozesses möglich, indem die Pastoren und die Gemeindeleitungen ihre Gemeindemitglieder immer wieder auch zur charit¦ ermunterten. Diese war die alleinige Basis für die Aufrechterhaltung der Gemeindearmen- und Krankenfürsorge, besonders unter erschwerten Bedingungen. Deshalb gibt es nicht selten Vermerke in den Akten der Consistoires, dass diese ihre Pastoren gezielt aufforderten über die charit¦ zu predigen oder die Gemeindemitglieder dazu zu drängen bzw. sie dazu zu ermuntern.1215

3.4.4 Armut und Arme Pierre du Bosc unterscheidet in seiner Predigt über die «geistlich Armen» (Bezug: Matth. Kap. 5, Vers 3) drei Arten von «pauvret¦» («Armut»), und zwar : «une pauvret¦ maudite, une pauvret¦ forc¦e et une pauvret¦ volontaire»1216, von denen er die ersten beiden unmittelbar definiert: «la premi¦re envoy¦e comme punition: la seconde qui est une dispensation de la providence de Dieu pour faire ¦clater sa sagesse, ou mÞme un effet de sa bont¦.»1217 Die dritte Art der Armut – die «freiwillige Armut» – grenzt Pierre du Bosc zunächst ab von der «philosophischen Armut», der viele Heiden nachgegangen seien, um konzentrierter philosophieren zu können (stoisch) und von der «asketischen Armut bestimmter Sekten» und der «Mönche».1218 Dann erfolgt eine recht eigenwillige Herleitung der «pauvret¦ volontaire», die zwar im Normalfall als «freiwillige Armut» zu übersetzen ist, aber in diesem Fall vielleicht doch besser als «bejahte Armut», denn in diese Richtung weisen die nachfolgenden Umschreibungen von Pierre du Bosc: «Quelle est donc cette pauvret¦ que nous entendons sous le nom de volontaire? C’est, mes frÀres, celle qui consiste — Þtre effectivement pauvres et — le vouloir bien Þtre; — porter volontairement cette condition et cet ¦tat, quand Dieu nous y assujettit; — vivre content dans la disette, sans Þtre rong¦ ni de chagrin, ni d’envie, ni d’inqui¦tude, ni 1215 Vgl. D. Poton, Saint-Jean-De-Gardonnenque, S. 109. 1216 «eine verfluchte Armut, eine aufgezwungene/auferlegte Armut und eine freiwillige Armut»( Pierre du Bosc, Sermon sur les pauvres en Esprit, in: ders.: Sermons sur divers textes de l’Êcriture sainte, Bd. 2, S. 233 – 286 – hier zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 430). 1217 «Die erste [Art von Armut] ist als Strafe gesandt; die zweite ist von der Providenz Gottes erlassen, um seiner Weisheit zum Durchbruch zu verhelfen, oder sogar ein Zeichen seiner Güte.» ( Pierre du Bosc, Sermon sur les pauvres en Esprit, in: ders.: Sermons sur divers textes de l’Êcriture sainte, Bd. 2, S. 233 – 286 – hier zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 431). 1218 Vgl. Pierre du Bosc, Sermon sur les pauvres en Esprit, in: ders.: Sermons sur divers textes de l’Êcriture sainte, Bd. 2, S. 233 – 286 – hier zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 431.

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d’impatience; — b¦nir le Seigneur sous le chaume de son petit toit, sous la bure grossiÀre de son pauvre habit, parmi les herbes et les l¦gumes de ses plus simples repas, comme si l’on ¦tait dans toute l’abondance du monde.»1219

An diesen Ausführungen mag zunächst nichts eigenwillig erscheinen, außer dass die Armut, »der wir durch Gott unterworfen sind« streng genommen eigentlich in die zweite Kategorie der Armut gehört, die Pierre du Bosc zuvor nannte. Das einzige, was man hier also als »voluntaire« (»freiwillig«) bezeichnen könnte, ist die freiwillige innere Annahme des Zustandes, auch wenn man ihn sich nicht selbst ausgesucht hat. Streng genommen unterscheidet Pierre du Bosc zuvor also nicht drei Arten von Armut, sondern, wenn man so will, drei Sicht- oder Deutungsweisen der Armut – Armut als Fluch, Armut als Zwang, Armut als bejahter Zustand. Man fragt sich, worauf PIERRE Du BOSC mit dieser zunächst quietistisch anmutenden Art der Annahme dieses Status und Standes eigentlich hinaus will? Nach Pierre du Bosc sei eben genau das mit dem »pauvre en esprit« (»Armen im Geiste«) gemeint.1220 Unter Verweis auf andere Schriftstellen (z. B. 2. Kor. Kap. 7, Vers 34) deutet Pierre du Bosc die Schriftstelle als Ausdruck des Willens (»volont¦«).1221 Es soll also bedeuten: »pauvres acquiescant int¦rieurement — leur pauvret¦ et s’y accomodant sagement, avec des –mes respectueuses et soumises.«1222 »Der Herr« (Le Seigneur) wolle nach Pierre du Bosc zwei Sorten Arme unterscheiden: «Les uns qui le sont par n¦cessit¦, et c’est l— une pauvret¦ sans louange…ils en pleurent — toute heure, souvent mÞme ils en fr¦missent de rage, comme un lion affam¦, qui rugit quand la proie lui manque, ou qui ronge les barreaux de sa cage, quand la faim le presse 1219 «Was ist also diese Armut, die wir unter der freiwilligen verstehen? Es ist, meine Brüder, diejenige, die darin besteht, in der Tat Arme zu sein und es gerne sein zu wollen, diesen Status und diesen Stand freiwillig zu tragen / auf sich zu nehmen, wenn Gott uns dem unterwirft; zufrieden im Mangel zu leben, ohne sich von Sorgen, Neid, Unruhe oder Ungeduld vergrämen zu lassen; den Herrn zu preisen unter dem Stroh seines kleinen Daches, unter dem groben Wollstoff seiner armen Kleidung, unter den Kräutern und Gemüsen seiner einfachsten Mahlzeiten, als wenn man sich im ganzen Überfluss der Welt befände.» (Pierre du Bosc, Sermon sur les pauvres en Esprit, in: ders.: Sermons sur divers textes de l’Êcriture sainte, Bd. 2, S. 233 – 286 – hier zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 431/432). 1220 Vgl. Pierre du Bosc, Sermon sur les pauvres en Esprit, in: ders.: Sermons sur divers textes de l’Êcriture sainte, Bd. 2, S. 233 – 286 – hier zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 432. 1221 Vgl. Pierre du Bosc, Sermon sur les pauvres en Esprit, in: ders.: Sermons sur divers textes de l’Êcriture sainte, Bd. 2, S. 233 – 286 – hier zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 432. 1222 »Arme, die ihre Armut innerlich anerkennen und sich besonnen/verständig/sittsam/zurückhaltend in sie zu schicken mit respektvollen und unterwürfigen / gehorsamen /folgsamen Seelen.« (Pierre du Bosc, Sermon sur les pauvres en Esprit, in: ders.: Sermons sur divers textes de l’Êcriture sainte, Bd. 2, S. 233 – 286 – hier zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 432).

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dans sa prison. Les autres sont pauvres, mais en esprit, qui embrasse volontairement l’ordre de la Providence envers eux.»1223

Spätestens hier wird klar, wie Pierre du Bosc über die Armen dachte und dass sie sich nach seinem Dafürhalten am ehesten in die von der Providenz her vorgesehene Ordnung zu fügen hatten. Zwei Verhalten stellt er hier gegenüber – das aufrührerische, klagende fordernde Verhalten der Armen und das eher passive, geduldige, bejahende, unterwürfige Hinnehmen des Status quo. Von seiner Auslegung über die Seligpreisung leitet er ab, dass dort das letztere Verhalten im Blick ist und dieser Glaubenserweis seine Erwiderung durch den Zuspruch der Seligkeit erfährt. Das ist die Spitze seiner Predigt. Sie hat ein seelsorgerliches Ziel. Aber zunächst ist einmal festzuhalten, dass Pierre du Bosc in all seinen Ausführungen Gott offenbar als Urheber der Armut sieht, und zwar in allen drei Formen: Armut als Fluch, Armut als Zwang, Armut als bejahter Zustand. Im ersten Fall ist sie Strafe Gottes (s. o.), im zweiten Fall ist sie nicht minder Gottes Fügung, denn durch sie hindurch soll sich seine Weisheit erweisen (s. o.) und schließlich ist sie auch im dritten Fall nur Annahme der von der Providenz gefügten Ordnung bzw. des von ihr zugewiesenen Standes. Eine recht starre Ordnungstheologie, wie sie für die damalige Zeit durchaus typisch war, steht also hier im Hintergrund. Gottes Kampf oder Aufbegehren gegen die Armut begegnet hier nicht. Keinerlei prophetischer Impuls. Und warum sollten sich Menschen gegen die Armut auflehnen (dürfen), wenn es Gott selbst nicht tut? Das vom Armen erwartete Verhalten bleibt genauso konsequent im Rahmen der Ordnungstheologie wie die Aussagen über die Armut selbst. Das Postulat des »Armen im Geiste«, wie Pierre du Bosc sich ihn vorgestellt haben mag, wirkt zunächst relativ vergeistigt. Nun muss man Pierre du Bosc aber nicht unterstellen, dass er keine Armen gekannt habe oder gar herzlos gewesen sei. Durch seine Gemeindepraxis und die dortige Armenfürsorge in Caen, wo er als Pastor tätig war,1224 wird er einige kennengelernt haben. Vielleicht hat sogar das Bild vom kaum zu bändigenden 1223 «Die einen sind es notgedrungen, und das ist eine Armut ohne Lobpreis; …sie [=diese Art von Armen] weinen darüber zu jeder Stunde, oft beben sie sogar vor Wut darüber, wie ein ausgehungerter Löwe, der brüllt, wenn es ihm an Beute mangelt, oder der die Gitter des Käfigs zerfrisst, wenn der Hunger ihn in seinem Gefängnis dazu drängt. Die Anderen sind Arme, aber im Geist, durch freie Zustimmung/Einwilligung ihres Geistes, der sich freiwillig zur für sie vorgesehenen Ordnung der Providenz bekennen / zu dem für sie von der Providenz vorgesehenen Stand / Rang bekennen.» (Pierre du Bosc, Sermon sur les pauvres en Esprit, in: ders.: Sermons sur divers textes de l’Êcriture sainte, Bd. 2, S. 233 – 286 – hier zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 432). 1224 Vgl. J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 171.

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brüllenden, hungernden Löwen dort seinen konkreten Erfahrungsbezug, denn die Armenversorgung verlief nicht immer so konfliktfrei, wie man sich das idealtypischer Weise vielleicht vorstellen mag. Die Gemeindearmenfürsorge war für die Armen oft die einzige Anlaufstelle bzw. Hoffnung. Gerade in Fällen, wo es zur Ablehnung eines Hilfegesuches oder aber bestimmter Vorstellungen über die Art und Weise oder Höhe des Unterstützungsbetrages kam, kam es von der Seite der Bedürftigen und Bittsteller auch zu Beleidigungen, Drohungen, Wutausbrüchen etc., wie es auch für die Gemeindearmenversorgung der franz. Protestanten in Berlin bezeugt ist.1225 So sehr Pierre du Bosc die Einordnung bzw. Unterordnung der Armen fordert, so will er sie aber keinesfalls diskreditieren, sondern erinnert im Gegenteil ebenso an das Jesuswort, dass es einfacher sei, dass ein Kamel durchs Nadelöhr ginge als ein Reicher ins Himmelreich und beschreibt nachfolgend die Gefahren und Versuchungen des Reichtums. Diese biblische Bezugnahme begegnet in franz. Predigten des 17. Jh. sowie in Predigten der Neuzeit auf inflationäre Weise1226 und geht damit eng verbunden einher mit einer entsprechenden grundsätzlichen Schelte und Diskreditierung der Reichen.1227 Spiegelt sich darin das Aufkommen einer sozialen Schere zwischen reich und arm, vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jh., als auch die Anzahl der Predigten und Abhandlungen über die Unterstützung der Armen signifikant zunimmt?1228 Deutet es auf die dynamische gesellschaftliche Entwicklung mit ihren Widersprüchen, bei der die traditionellen Rollenzuweisungen des Feudalismus nicht mehr passten bzw. greifen konnten, so dass sich nun die Reaktion darauf lediglich in Form von Moralisierung und Personifizierung entlud? Oder deutet es grundsätzlich auf die Hilflosigkeit der Gemeinden, Städte und Regierungen und bedurfte es eines Sündenbocks, da sie sich mit der Lösung der Armenfrage oft überfordert sahen? Fakt ist, dass auch Pierre du Bosc sich dieses Bildes bedient und dann im Blick auf die Verhältnisbestimmung zwischen Armen und Reichen innerhalb von Kirche und Gesellschaft postuliert:

1225 Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 1226 Vgl. J. Queniart, Les hommes, l’Êglise et dieu dans la France du XVIII siÀcle, S. 162. 1227 Ph. Sassier, Du bon usage des pauvres, S. 94 – 144, bes. 142; J. Queniart, Les hommes, l’Êglise et dieu dans la France du XVIII siÀcle, S. 162 – 165. 1228 Vgl. Ph. Sassier, Du bon usage des pauvres, S. 95. Über eine Zunahme dieser Thematiken in den franz.-prot. Predigten erfahren wir leider weder bei A. Vinet (vgl. ders., Histoire de la pr¦dication) noch bei Fr. Chevalier (vgl. dies., La pr¦dication protestante; respektive dies., PrÞcher sous l’Êdit de Nantes) etwas, was allerdings nicht bedeuten muss, dass sie nicht auch dort vorgelegen hat, sondern darauf zurückzuführen sein mag, das beide das Augenmerk bei der Auswahl der Predigten und den Fokus bei der Darstellung auf andere Themenkomplexe gelegt haben.

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«1. Ne point se scandaliser quand on voit dans l’Êglise de J¦sus-Christ des personnes pauvres, abjectes et de peu de consid¦ration dans le monde. 2. Ne pas m¦priser les pauvres. 3. Se persuader que le vrai bonheur de l’homme ne consiste pas dans les biens p¦rissables (en d’autres termes: ne point m¦priser la pauvret¦).1229

Der Tenor ist dabei einerseits für Verständnis zu werben für die von Armut Betroffenen und damit mögliche Polarisierungen in der Gemeinde und Gesellschaft zu überwinden und andererseits insbesondere die Besitzenden zu der Erkenntnis zu führen, dass jeglicher Besitz vergänglich ist und darin kein Heil zu finden ist. Wir können in der Predigt von Pierre du Bosc aber nicht nur entdecken, dass die franz.-ref. Theologie des 17. Jh. im Blick auf unsere sozialethischen Fragestellungen weitaus starrer gewesen zu sein scheint als wie es vielleicht die allgemeine Dynamik des europäischen Protestantismus im Zusammenhang der Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft suggerieren würde und bezüglich handlungsorientierter Konsequenzen nicht wesentlich über das hinausgeht, was auch sonst im 17. Jh. von der (kath.) Kirche gelehrt wurde,1230 sondern auch, was das spezifische seelsorgerliche Motiv ist, das Pierre du Bosc leitet und mit welchem Ziel es verbunden ist. Das führt nämlich sehr wohl über das bereits Gesagte noch einmal hinaus: Wir hatten im Zusammenhang der Darstellung des diakonischen Engagements der franz. Protestanten in der dritten Phase feststellen können, dass dort offenbar eine Zunahme der pauvres honteux (»verschämten Armen«) zu verzeichnen war, auf die manche Gemeinden, wie die in N„mes, mit einem verstärkten Engagement für diese Gruppe von Armen reagiert hatten. Zu den pauvres honteux zählten nicht nur die, die durch die Krise in bestimmten Wirtschaftszweigen wie der Seidenindustrie in Not geraten und verarmt waren, sondern auch diejenigen, die als Protestanten aufgrund der staatlichen Diskriminierungspolitik mit Ausgrenzung aus bestimmten Berufen und Arbeitsfeldern konfrontiert waren und somit von heute auf morgen erwerbslos bzw. ohne Einkommen oder durch steuerliche Mehrbelastungen und Enteignungen geknechtet wurden. An diese Erfahrungen knüpft Pierre du Bosc an, wenn er die Annahme der Armutssituation so sehr betont. Sie ist letztlich seelsorgerlich motiviert, was in 1229 «Daraus kann man drei Lehren ziehen: 1. Nicht Anstoß daran nehmen, wenn man in der Kirche Jesu Christi arme Personen sieht, niederträchtige/gemeine (im Sinne von gewöhnlich) und von geringer Bedeutung vor der Welt.2. die Armen nicht verachten / missachten/geringschätzen. 3. Sich davon zu überzeugen, dass das wahre Glück des Menschen nicht in den vergänglichen Gütern besteht (mit anderen Worten: die Armut nicht gering schätzen).» (ebd.). 1230 Vgl. Ph. Sassier, Du bon usage des pauvres, S. 94 – 144 u. J. Qu¦niart, Les hommes, l’¦glise et dieu dans la France du XVIII siÀcle, S. 162 – 165.

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den dort folgenden Textauszügen deutlich wird. Pierre du Bosc umschreibt noch einmal vier Konsequenzen, die der von ihm ans Herz gelegte Umgang mit der Armut hat: Erstens die Armut mit Geduld ertragen; zweitens lieber arm zu bleiben als sich unrechtmäßig zu bereichern; drittens, dass diejenigen, die sich damit konfrontiert sehen, dass ihre Güter aufgrund ihres Glaubens konfisziert werden, lieber ihre Güter aufgeben sollten als ihren Glauben; viertens, dass diejenigen, die überhaupt nicht darauf eingestellt waren, dass man ihnen ihre Güter entreißt, gerne freiwillig loslassen mögen wegen ihrer Liebe zur Wahrheit und ihres Eifers für ihr Heil – ganz so wie das Beispiel der ersten Apostel und der ersten Christen.1231 Es ist damit deutlich, dass Pierre du Bosc hier in eine Bekenntnissituation hineinspricht, die für manch einen sozialen Abstieg oder Verarmung mit sich brachte. Es ging also letztlich um die Frage des Festhaltens am Glauben, die Pierre du Bosc hier wichtig war und dementsprechend sind auch seine Ermutigungen zu hören: «Ce sont des pauvres non sans esprit, sans courage, sans affiction et sans volont¦; mais des pauvres en esprit, qui conservent toujours leur esprit dans leur pauvret¦, qui ne le perdent point dans la perte de tout le reste, qui en demeurent toujours en possession et en fond, et qui se servent de cette piÀce admirable pour soutenir courageusement leur misÀre. Voil— ceux que le Fils de Dieu prononce bienheureux. Bienheureux, dit-il , sont les pauvres en esprit…c’est que la disposition o¾ ils se trouvent les rend propres au royaume des cieux.»1232

Leere Durchhalteparolen und reine Vertröstung? Oder Theologie der Hoffnung aus Sicht der Betroffenen? Ob diese lammfromme Geduld zielführend war oder aber am Ende mit zu der Lethargie beigetragen hat, wie sie später im Nachhinein manche Historiker für die Konstitution des franz. Protestantismus des 17. Jh. meinten als ein Makel feststellen zu müssen,1233 kann hier zwar nicht entschieden 1231 Vgl. Pierre du Bosc, Sermon sur les pauvres en Esprit, in: ders.: Sermons sur divers textes de l’Êcriture sainte, Bd. 2, S. 233 – 286 – hier zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 433. 1232 «Das sind nicht die Armen ohne Geist, ohne Mut, ohne Hingabe und ohne Willen; sondern die Armen im Geist, die in ihrer Armut immer ihren Geist bewahren, die ihn durchaus nicht in all ihren übrigen Verlusten verlieren, die immer in seinem Besitz bleiben und auf seiner Grundlage bestehen bleiben, und die sich dieses bewundernswerten Stücks /dieses bewundernswerten Schriftstückes [gemeint wäre dann der folgende Bibelvers] bedienen, um sich in ihrem Elend mutig aufrecht zu erhalten / mutig ihr Elend zu ertragen. Das sind also diejenigen, die der Sohn Gottes als »glückselig« bezeichnet. Glückselig, sagt er, sind die Armen im Geiste…das ist so, weil die Verfassung, in der sie sich befinden, bereit / geeignet macht für das Himmelreich [=Reich Gottes].» (Vgl. Pierre du Bosc, Sermon sur les pauvres en Esprit, in: ders.: Sermons sur divers textes de l’Êcriture sainte, Bd. 2, S. 233 – 286 – hier zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 433 u. 435). 1233 Vgl. E. M. L¦onard, Le protestantisme franÅais au XVIIe siÀcle, in: Revue Historique (Jg. 72, Vol. 200) 1948, S. 153 – 179; J. Chambon, Le protestantisme franÅais jusqu’— la

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werden. Aber der von Pierre du Bosc empfohlene Umgang mit der Verarmung oder Armut hat sicherlich nicht zur Kritik und Beseitigung derselben beigetragen.

3.4.5 Verhältnisbestimmung von Providenz, Reichtum und Armut Das Beispiel der Predigt von Pierre du Bosc offenbarte eine Ordnungstheologie, in der die providence (Providenz) eine zentrale Rolle spielt. Nach Pierre du Bosc sollten sich die Armen zu der von dieser providence vorgegebenen Standesordnung bekennen und entsprechend einordnen. Armut ist also bei ihm mehr oder minder von der providence gewollt und fordert diejenigen, die am Reichtum Anteil haben, zu entsprechend traditioneller Rollenübernahme heraus. Durch die providence wird das Verhältnis zwischen Armut und Reichtum so bestimmt, dass beides sozusagen spannungsfrei nebeneinander existiert. Die Kontextualisierung der Predigt von Pierre du Bosc hat ihre eigentliches Ziel zwar in ein anderes Licht gerückt, aber deshalb nicht unbedingt des Verdachts des Determinismus enthoben, jedenfalls was ihre sozialethische Wirkung betrifft. Sie bestätigt und rechtfertigt eher die bestehende Ordnung, die Verhältnisbestimmung von Reichtum und Armut und das gebotene Wohlverhalten, als dass sie es hinterfragen würde. Eine dynamischere Funktion kommt der Providence hingegen in der Predigt von Daniel de Superville zu: «La Providence veut conserver quelque ¦galit¦ dans le genre humain. Elle a partag¦ les habitations, les possessions, les biens, pour conserver les soci¦t¦s et les entretenir. Elle ne permet pas que quelques-uns puissent tout usurper et tout envahir sur les autres, et nos passions — tous sont de bonnes gardes pour empÞcher que quelques-uns ne se rendent ma„tres de tout le tr¦sor.»1234

So sehr hier von ihrem »bewahrenden« (siehe »conserver« im Text) Charakter gesprochen wird, es kann doch nicht verstellen, dass die Frage der gleichen oder gerechten Verteilung von Besitz etc. nach Daniel de Superville offensichtlich ein R¦volution franÅaise, S. 103 ff S, A. Gounelle, Force et faiblesse du protestantisme en 1984, in: Bull SHPF (131) 1985, S. 131 – 136. 1234 «Die Providenz / Vorsehung will bei den Menschenwesen eine gewisse Gleichheit /ein gewisses Gleichgewicht bewahren. Sie hat die Wohnflächen /Behausungen, die Besitztümer, die Güter aufgeteilt, um die Gesellschaften zu bewahren und zu erhalten/unterhalten. Sie erlaubt nicht, dass einige alles usurpieren/aneignen / gewaltsam in ihren Besitz nehmen und sich dessen gegenüber den Anderen bemächtigen/ es den Anderen entreißen und unsere Leidenschaften für alles geben gut Acht darauf, zu verhindern, dass sich einige Wenige nicht zum Meister des ganzen Schatzes machen.» (Daniel de Superville, Sermons sur divers textes de l’Êcriture Sainte, Rotterdam 1714 – zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 557).

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Anliegen der providence ist und keineswegs schon erfüllt ist. Sie hat somit in gewisser Weise prophetischen Charakter und man kann in den Worten von Daniel de Superville förmlich ihre prophetische Stimme hören, wenn er klar formuliert: »Elle ne permet pas que quelques-uns puissent tout usurper et tout envahir sur les autres«1235 Vor allem bleibt die Verhältnisbestimmung von Reichtum und Armut damit viel spannungsgeladener als bei Pierre du Bosc. Diese providence eines Daniel de Superville bleibt selbst auch in Spannung zu dem Bestehenden und Vorfindlichen, jene providence eines Pierre du Bosc eher nicht. Die Armut oder einseitige Verteilung der Güter bleibt hier viel eher ein Stein des Anstoßes als in der Theologie der providence von Pierre du Bosc. Eine geduldige Hinnahme als Verhaltensmaßregel für die Armen würde auch kaum der Diktion von Daniel de Superville entsprechen, der deutlich beschreibt, dass es in der Verantwortung der Menschen liegt, zu verhindern, dass Wenigen alles gebührt (s. o.). Daniel de Superville steht mit diesem Verständnis der providence offensichtlich nicht allein, sondern durchaus auf der Linie mit einigen anderen Predigern wie Jean Mestrezat, Charles Dr¦lincourt und Raymond Gaches die die providence mit Gottes Macht verbinden und Gottes aktive, eingreifende Machtausübung als eine Notwendigkeit seines Seins hervorheben, die tatsächlich auch Not wendet und vor allem auf die Durchsetzung von Gerechtigkeit wie auch seines Gerichts oder auch seines Willens zur Erlösung bzw. Befreiung zielt.1236 Welches Verständnis der providence unter den franz.-ref. Predigern des 17. Jh. letztlich vorherrschend gewesen ist, vor allem unter den genannten sozialethischen Gesichtspunkten, lässt sich nicht sicher sagen. Dazu bedürfte es einer komplexen, umfangreichen quantitativen Untersuchung, die hierauf bezogen bislang nicht geleistet wurde. Dennoch lässt sich auf der Grundlage unserer bisherigen Kenntnis der Predigten wohl sagen, dass die ordnungs- oder schöpfungstheologische Zuordnung der providence, die in der bestehenden Gesellschaftsordnung das Produkt der durch die Providenz gewirkten Schöpfungsordnung sieht, überwogen haben wird – vor allem, weil, wie anschließend dargelegt, nicht nur die an den Universitäten gelehrte, sondern auch die in den Predigten verkündete Theologie des franz. Calvinismus des 17. Jh. überwiegend und äußerst royalistisch bzw. absolutistisch orientiert war. Hier eine durch Gottes Willen fest gefügte politische Ordnung und da eine von seinem her Willen hinterfragte soziale Ordnung würde nur bedingt zusammen passen. Warum 1235 »Sie erlaubt nicht, dass einige alles usurpieren/aneignen / gewaltsam in ihren Besitz nehmen und sich dessen gegenüber den Anderen bemächtigen/ es den Anderen entreißen« (Daniel de Superville, Sermons sur divers textes de l’Êcriture Sainte, Rotterdam 1714 – zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 557). 1236 Vgl. Fr. Chevalier, PrÞcher sous l’Êdit de Nantes, S. 89.

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sollte die stark ausgeprägte Ordnungsorientierung, wie sie für das politische Feld recht bestimmend war, ausgerechnet im sozialen Bereich weniger bestimmend gewesen sein? In beiden Bereichen (dem politischen wie dem sozialen) gab es eine große Sehnsucht nach Stabilität, bei der die Theologie leicht zum Sprachrohr werden konnte. Hier ist besonders zu bedenken: Der Absolutismus war nicht ein nur von wenigen gewolltes und politisch von außen aufgedrücktes System. »For the overwhelming majority oft the French people in the seventeenth century absolutism constituted real progress by contrast with the disorders arising from local feudal loyalties, the anarchy oft he Wars of Religion, and popular revolts.« – so die ganz richtige Einschätzung von Myriam Yardeni.1237 Nicht zu vergessen die große Armutsproblematik, von der sich Kirchen und Städte gleichermaßen hier und da schlicht überfordert fühlten, wäre hier gerade auf unseren Themenbereich bezogen sinnvoller Weise noch zu ergänzen.

3.4.6 Obrigkeitsgehorsam Sowohl an den Akademien als auch in den Predigten dominiert, was die politische Ethik betrifft, ein Politikverständnis, das nicht nur allgemeine Unterordnung unter die von Gott eingesetzte Obrigkeit gebietet, sondern dieses Verhalten insbesondere gegenüber dem König einfordert und den damaligen franz. Absolutismus selbst bei zunehmender gesetzlicher Diskriminierung und Pression staatlicherseits und auch teils noch trotz der Geschehnisse im Zusammenhang der Rücknahme des Edikts von Nantes durch das Edikt von Fontainebleau (1865) gutheißt oder gar glorifiziert oder anders ausgedrückt: »In der Forschung hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass das Verhältnis zwischen Hugenotten und der französischen Monarchie im 17. Jahrhundert, in dem sich der monarchische Absolutismus konsolidierte, nicht allein durch eine bemerkenswerte Loyalität gegenüber der Krone, sondern geradezu durch eine dezidiert proroyalistische Haltung gekennzeichnet sei.«1238 Das ist nach K. Malettke nüchtern betrachtet und direkt auf den Punkt gebracht das Ergebnis fast aller neueren Untersuchungen oder Beiträge zu diesem Thema. Deshalb können wir uns hier zunächst darauf beschränken, auf die entsprechenden Autoren wie E. L¦onard,1239 H. Kretzer,1240E. Labrousse,1241 M. 1237 1238 1239 1240 1241

M. Yardeni, French Calvinist Political Thought, 1534 – 1715, S. 328. K. Malettke, Hugenotten und Monarchischer Absolutismus in Frankreich, Francia, S. 297. E. L¦onard, Histoire g¦n¦rale du protestantisme, Bd. 2, S. 362 f. Vgl. H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, Berlin 1975. Vgl. E. Labrousse, La doctrine politique des huguenots, ETR (Jg. 47), 1972, S. 421 – 429; dies.: Les strat¦gies huguenotes face — Louis XIV (1629 – 1685), in: Le Bonheur par l’Empire. Colloque Paris 1980, Paris 1982, S. 37 – 45; dies., Une foi, une loi, un roi? La

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Yardeni,1242 A. Gounelle,1243 H. Bost / D. Poton1244 u. a.1245 zu verweisen, anders bzw. etwas differenzierter K. Malettke1246. Nach einer kurzen Bezugnahme auf die Ergebnisse bzw. Kernaussagen von E. Labrousse, H. Kretzer, M.Yardeni, K. Malettke und H. Bost / D. Poton folgen dann noch ein paar wenige markante Predigtbeispiele, die illustrativen Charakter haben. H. Kretzer hat in seiner Untersuchung über die beiden führenden franz.calvinistischen Akademien des 17. Jh. (Saumur und Sedan) herausgestellt, dass sich ihre Staatslehre »bruchlos in die zeitgenössische katholische Staatslehre« eingefügt habe.1247 Anknüpfungspunkt waren dabei sicher die Artikel 39 und 40 der franz.-ref. Confession de foi (Glaubensbekenntnis) von 1559.1248 In Artikel 40 heißt es: «Nous tenons donc qu’il faut ob¦ir — leurs lois et statuts, payer tributs, impúts et autres devoirs, et porter le joug de suj¦tion d’une bonne et franche volont¦, encore qu’ils [= les sup¦riorit¦s] fussent infidÀles, moyennant que l’empire souverain de Dieu demeure en son entier. Par ainsi nous d¦testons ceux qui voudraient rejeter les sup¦riorit¦s, mettre communaut¦ et confusions des biens, et renverser l’orde de justice.»1249

In diesem zitierten Artikel des franz.-ref. Glaubensbekenntnisses von 1559 wird deutlich, wie sehr hier in der Frage der von Gott gesetzten Ordnung und der somit gebotenen Unterwerfung das Politische und Soziale ein Ganzes bildeten

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r¦vocation de l’¦dit de Nantes, Paris – GenÀve 1985 ; dies., Calvinism in France, 1598 – 1685, in: M. Prestwich (Hg.), International Calvinism 1541 – 1715, S. 285 – 314, bes. 302 – 303. M. Yardeni, French Calvinist Political Thought, 1534 – 1715, in: M. Prestwich (Hg.), International Calvinism 1541 – 1715, S. 315 – 337, bes. S. 326 – 330. A. Gounelle, Force et faiblesse du protestantisme en 1684, Bull SHPF (131) 1985, S.135 f. H. Bost / D. Poton, Le rapport des R¦form¦es au pouvoir au XVIIe SiÀcle, in: H. Bost (Hg.), GenÀse et enjeux de la laicit¦, 1990, S. 31 – 57. Vgl. außerdem (siehe Literaturverzeichnis): J. Orcibal, Louis XIV et les protestants, S. 18; E. Haase, Einführung in die Literatur des Refuge, S. 50 ff.; D. Parker, The Making of French Absolutism, S. 111 f.; S. Deyon, Les protestants et la monarchie en France au XVIIe siÀcle, S. 43 – 55; U. Clemens, Protestantismus und französischer Absolutismus im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts, S. 73 – 78. Vgl. K. Malettke, Hugenotten und Monarchischer Absolutismus in Frankreich, Francia, Bd. 15, 1987, S. 297 – 319 Vgl. H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 422. Vgl. Wortlaut der confession de foi, abgedruckt in O. Fatio (Hg.), Confessions et cat¦chismes de la foi r¦form¦e, S. 127. «Wir halten also dafür, dass man den Gesetzen und Verordnungen gehorchen muss, Abgaben, Steuern und andere Auflagen entrichten muss und das Joch der Unterwerfung guten und freien Willens auf sich nehmen muss, auch wenn sie [=die Obrigkeiten] untreu/ ungläubig wären, vorausgesetzt das souveräne Reich Gottes bleibt im Ganzen bestehen/ unbeschadet/unberührt. Deshalb verabscheuen wir diejenigen, die die Obrigkeiten verwerfen/zurückweisen/ablehnen, Gütergemeinschaft und Verwirrung der Güter(ordnung) praktizieren und die Ordnung des Rechtes umstoßen wollen.» (Artikel 40 der confession de foi, abgedruckt in: O. Fatio (Hg.), Confessions et cat¦chismes de la foi r¦form¦e, S. 127).

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bzw. als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet wurden. »Gütergemeinschaft« und »Verwirrung der Güter« wird hier ebenso abgelehnt wie ein politischer Umsturz oder der Widerstand gegen die Vorgaben der staatlichen Obrigkeiten. Zwar fällt hier nicht der Begriff der providence, sondern die Artikel 39 und 40 werden eingeleitet durch »Nous croyons que Dieu veut…«1250, also durch seinen Willen begründet, aber erstens begegnet der Begriff providence in Artikel 8 im unmittelbaren Zusammenhang mit Gottes »Willen« und seiner Schöpfungsordnung und steten Fürsorge für seine geschaffene Welt1251 und zweitens läuft beides im Endeffekt auf dasselbe hinaus.1252 Die Abgrenzung zu denen, die Gütergemeinschaft und politischen Ungehorsam oder Umsturz der politischen Ordnung vertreten, sollte sicherlich den König wie das französische Volk insgesamt von der Loyalität der Hugenotten überzeugen und war gleichzeitig eine Distanznahme zu den Gruppierungen der Täufer etc., um eine etwaige Identifizierung mit ihnen zu vermeiden. Heinrich IV. führte Frankreich aus der Anarchie der Religionskriege in die Ruhe. Das Edikt von Nantes (1598) ermöglichte den franz. Protestanten die Etablierung. Es garantierte ihnen Lebens- und Glaubensrechte: »Zum ersten Mal hatten sie in ganz Frankreich unter dem Schutz eines starken Königs Lebensund Wirkungsmöglichkeiten«1253, wenn auch eingeschränkt. Die Akademien von Saumur und Sedan entwickelten eine extrem royalistische Lehre. Sie distanzierten sich folglich auch von den Religionskriegen der zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts, weil sie darin nur egoistisch-feudale Bestrebungen führender Adliger und einiger Städte sahen, da sie die von Gott gebotene politische Unterwerfung unter den Souverän nicht leisten wollten.1254 »Jede faktisch-politische Herrschaft wurde als souverän und nicht rechenschaftspflichtige angesehen und als von Gott etablierte mit koaktiver Machtvollkommenheit ausgestattete und nur vor Gott rechenschaftspflichtige verstanden. Der absolutistische König konnte im Bedarfsfall (über den er allein befand) über Leben und Gut der Untertanen verfügen; er wurde mit blasphemischen Worten regelrecht angebetet und dem gemein-menschlichen Maß entrückt. Er schob sich innerweltlich zwischen Gott und die Menschen und verdrängte dabei Gottes Herrschaft über die Welt…die theoretisch fixierten Grenzen zerrannen unseren Theologen bei ihrer Hypostasierung des französischen Königtums unter der Hand.«1255 1250 »Wir glauben, Gott will…« (vgl. ebd). 1251 Vgl. Artikel 8 in der confession de foi, abgedruckt in: O. Fatio (Hg.), Confessions et cat¦chismes de la foi r¦form¦e, S. 117. 1252 Vgl. H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 423/424. 1253 H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 424. 1254 Vgl. H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 425. 1255 H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 425.

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Was waren die Gründe, die zu solch einer extrem absolutistischen politischen Lehre des franz. Calvinismus und entsprechender politischen Einstellung seiner Bevölkerung führten? Erstens befand sich der franz. Calvinismus in einer Art dauerhaften Rechtfertigungssituation. Er musste sich stets vom existenzbedrohenden Vorwurf distanzieren, er führe zu Republikanismus und Anarchie1256 (siehe die Lehre der franz.-ref. Monarchomachen des 16. Jh. etc. und die zeitgenössischen Umstürze im 17. Jh. in England – die Revolution begleitet von der Hinrichtung des Königs Karls I. im Jahr 16491257). Zweitens trug die Angst vor der Bedrohung durch das Papsttum und die feindliche katholische Mehrheit der Bevölkerung wesentlich zu dieser Entwicklung bei. Die Vorstellung war, dass nur ein starkes Königtum, das eben auch einen entsprechenden Obrigkeitsgehorsam aller fordere, Schutz davor bieten konnte.1258 Die so Lehrenden und Denkenden konnten sich dabei darauf berufen, dass das Königtum im 17. Jh., abgesehen von Ludwig XIV., ihnen Rechte und eine gewisse religiöse Toleranz garantierten und hatten von daher ein objektives Interesse an der Erhaltung desselben, ja sogar an seiner jeglicher menschlicher Rechenschaftsplicht entbundenen Macht1259, denn das garantierte aus ihrer Sicht, dass dort kein »katholisches Interesse« hineinregieren konnte. Drittens: Auch die praktische Konsequenz ihres überwiegend royalistischen Wohlverhaltens durch die Bestätigung ihrer religiösen Rechte im Frieden von AlÀs (1629) seitens der Krone1260, obwohl die eigentliche politische Macht der Protestanten zerschlagen war, musste die Protestanten in ihrer grundsätzlich royalistischen Haltung von neuem bestätigen. Entsprechend wurde auch ihre royalistische Haltung während des Fronde-Aufstandes (1648 – 51) durch eine königliche Erklärung vom Mai 1652 erneut honoriert1261 und suggerierte zumindest ein gutes Verhältnis. Viertens war mit dem Edikt von AlÀs (1629) das Ende der Parti politique protestant – also des politischen Protestantismus besiegelt, wodurch die franz.ref. Kirche sich umso mehr auf die Protektion des Monarchen angewiesen sah.1262

1256 Vgl. H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 425. 1257 Vgl. E. Labrousse; Calvinism in France, 1598 – 1685, S. 302 1258 Vgl. E. Labrousse, La doctrine politique des hueguenots, S. 423; dies., »Une foi, une loi, un roi?«, S. 69 u. 91; M. Yardeni, French Calvinist Political Thought, 1534 – 1715, S. 328;.H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 425. 1259 Vgl. H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 426. 1260 Vgl. E. Labrousse, Calvinism in France, 1598 – 1685, S. 302. 1261 Vgl. E. Labrousse, Calvinism in France, 1598 – 1685, S. 303. 1262 Vgl. K. Malettke, Hugenotten und monarchischer Absolutismus in Frankreich, S. 305.

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Fünftens waren die franz. Protestanten auch deshalb so eindeutige Royalisten und Anhänger der französischen absolutistischen Monarchie, »because they were, first of all, Frenchmen and Gallicans.«1263 Die französische Monarchie bildete ein Bollwerk gerade gegenüber den römischen und spanischen Machtansprüchen. Wesentlich sollte für uns die ikonoklastische Schlussfolgerung H. Kretzers sein, dass die Theologen bei allem biblischen Argumentieren doch nur Kinder ihrer Zeit waren, die »aus einer Situation menschlicher Angst heraus gedacht und gelehrt haben und dass sie politischer Verblendung erlegen sind. Ihre …Lehre formierte nur die Untertanen, indem sie sie zu unkritischen und angepassten Befehlsempfängern machte und in jeder Hinsicht disziplinierte. Progressiven Veränderungen von Staat und Gesellschaft war diese statischkonservative Lehre abhold. Sie sah politische Veränderung durchgängig als negativ an.«1264 Genau dasselbe geht ebenso aus den damaligen Predigten hervor, auch wenn es dort viele weitere Akzentsetzungen gab. Ein paar wenige Beispiele sollen dafür hinreichende Zeugnisse sein. Zunächst ein Auszug aus einer Predigt des bereits mehrfach zitierten Pierre du Bosc: «Nous croyons que nos rois ne connaissent rien au-dessus d’eux dans le monde que Dieu; qu’ils ne tiennent leur couronne que de premier et ¦ternel Roi des rois; qu’elle ne leur peut Þtre út¦e que par Lui seul; qu’ils ne sont responsables de leurs actions — personne en la terre.»1265

Wir entdecken darin das absolutistische Glaubensbekenntnis in Reinkultur, ganz entsprechend der oben beschriebenen Doktrin von Saumur und Sedan. Wer aber meint, dass diese Predigt noch vor der Regierungszeit Ludwig XIV. entstanden sei, liegt falsch. Ernüchternd bis erschütternd sind die folgenden Zeilen aus derselben Predigt, die sich auf Ludwig XIV. beziehen, als er bereits regiert: «[Louis est] un h¦ros, mais un h¦ros de premier ordre, dans la paix, dans la guerre, dans le cabinet;…sage et judicieux dans son conseil…Peut-on s’empÞcher de porter sa pens¦e sur notre incomparable monarque, puisque le titre de Dieudonn¦ nous oblige — reconna„tre qu’une main toute-puissante est intervenue dans sa formation? La nature seule ¦tait trop faible pour un si grand et si merveilleux ouvrage. Vingt-deux ann¦es de sterilit¦, qui avaient pr¦c¦d¦ sa conception, útent ¦videmment — la nature la gloire de sa naissance. Une force, au-dessus de toutes les causes secondes, a produit un prince si 1263 M. Yardeni, French Calvinist Political Thought, 1534 – 1715, S. 329. 1264 Vgl. H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 428. 1265 «Wir glauben, dass unser Könige oberhalb ihrer selbst in der Welt nichts außer Gott kennen; dass sie ihre Krone nur vom ersten und ewigen König der Könige erhalten, die ihnen nur von ihm selbst genommen werden darf; dass sie niemandem auf der Erde zu Rechenschaft verpflichtet sind über ihre Taten.» (zitiert nach E. L¦onard, Histoire g¦n¦rale du protestantisme, Bd. 2, S. 363 – dort ohne Stellenangabe bzw. Verweis).

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extraordniaire, et les qualit¦s qu’il possÀde en sont une preuve incontestable…qui t¦moignent clairement la merveille de son origine.»1266

Am Beispiel dieser Predigt wird nun auch vollends deutlich, was H. Kretzer mit der Hypostasierung des französischen Königtums, die von den franz.-prot. Theologen vorgenommen worden sei (s. o.), konkret meint. Eine darüber noch weiter hinausgehende Verklärung der Herrschaft Ludwig XVI. ins Transzendente dürfte wohl im theologischen Schriftgut kaum zu finden sein. Erstaunen muss sie uns indessen zumindest auf Pierre du Bosc bezogen nicht wirklich, denn seine durch die Predigt vermittelte politische Ordnungstheologie deckt sich bzw. steht in Kongruenz mit seiner in anderen Predigten vorzufindenden ebenso relativ statischen sozialen Ordnungstheologie über Armut etc. (s. o.). In einer Predigt aus dem Jahr 1655, in der Jean Daill¦ Bezug nimmt auf den jungen Ludwig XIX., wird das Interesse und die Hoffnung des franz. Calvinismus besonders deutlich, das sich mit der theologischen Bejahung des Absolutismus und seine Treue zum Königshaus verbindet: «C’est sous cette ombre que nous vivons et respirons, mes FrÀres…Ces assembl¦es, cette libert¦ d’ouir la parole celeste,…tout ce grand bonheur est un b¦n¦fice de ce monarque…Soyons en reconnaissans, et, par une ob¦issance et fid¦lit¦ inviolables, donnons luy sujet de nous continuer — jamais sa protection et ses bonnes graces.»1267

Ganz offenkundig spricht aus diesen Zeilen die Vorstellung, dass die Krone der beste Garant für den Schutz der Religionsausübung im katholisch majorisierten Land ist. Der entsprechend geforderte Obrigkeitsgehorsam ist die notwendige Folge und Zeichen der Dankbarkeit. Der Zusammenhang zwischen monarchisch 1266 «[Ludwig ist] ein Held, aber ein Held ersten Ranges, im Frieden, im Krieg, im Kabinett;…weise und gerecht in seinem Rat…Kann man eigentlich umhin, seine Gedanken über unseren unvergleichlichen Monarchen zu entfalten, wo doch der Titel ›gottgegeben‹ uns [schon]dazu verpflichtet, anzuerkennen, dass eine allmächtige Hand bei seiner Bildung interveniert ist? Die Natur selbst war zu schwach für ein so großes und wunderbares Werk. 22 Jahre der Unfruchtbarkeit, die der Konzeption vorausgegangen waren, nahmen der Natur selbstverständlich/tatsächlich den Ruhm/die Ehre seiner Geburt. Eine Macht, oberhalb aller nachfolgenden Kausalitäten/ zweitrangigen Dinge, hat einen so außergewöhnlichen Prinzen hergestellt und die Qualitäten, die er besitzt, sind ein unbestreitbarer Beweis dafür…die seinen wunderbaren Ursprung eindeutig bezeugen.» (zitiert nach E. L¦onard, Histoire g¦n¦rale du protestantisme, Bd. 2, S. 363 – dort ohne Stellenangabe bzw. Verweis). 1267 «Unter diesem Schatten können wir leben und atmen, meine Brüder…Diese Versammlungen, diese Freiheit, das himmlische Wort zu hören…all dieses ganze Glück ist ein Verdienst dieses Monarchen…Seien wir dankbar dafür und geben wir ihm durch unseren Gehorsam und unsere unverbrüchliche Treue [genügend]Grund dafür, uns seinen Schutz und seine gütige Gnade auf immer weiter zu gewähren!» (zitiert nach H. Bost/D. Poton, Le rapport des R¦form¦s au pouvoir au XVIIe siÀcle, S. 39/40; vgl auch A. Galland, Les pasteurs francais, S. 44).

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orientiertem Obrigkeitsgehorsam und Dankbarkeit wird uns auch im Berliner Refuge wieder begegnen.1268 Vier Jahre später nach der Predigt von Jean Daill¦, also 1659, kurz vor dem Regierungsantritt Ludwig XVI., hören wir in derselben Kirche in Paris-Charenton einen anderen berühmten Prediger zu uns sprechen – Charles Dr¦lincourt. Dass auch er sich ganz ähnlich äußert, muss man nicht darauf zurückführen, dass die Prediger in unmittelbarer Nähe des Zentrums der Macht grundsätzlich vorsichtig gewesen wären oder vorsichtiger oder korrumpierbarer als andernorts. Der hier vorfindliche eindeutige Royalismus und die entsprechende Treuerklärung waren keine geographischen Zufallsprodukte, sondern Ausdruck einer in ganz Frankreich unter den Protestanten verbreiteten Strategie. So mahnte Charles Dr¦lincourt: «Ne laissons passer aucune occasion de servir la personne sacr¦e du roi et de contribuer au bien et — la gloire de son Empire. Par ce moyen nous obligerons sa Majest¦ — nous maintenir dans la libert¦ des Edits qui ont ¦t¦ donnez [sic] — ce Royaume comme une loi ferme et inviolable par Henry le Grand, le PÀre du Peuple et le Restaurateur de l’Êtat.»1269

Selbst im Jahr 1676, als die zahlreichen diskriminierenden Gesetze, restriktiven und repressiven Anordnungen und Erlasse Ludwig XIV. längst eingesetzt haben, äußert sich Jean Claude noch in der Absicht, seine coreligionnaires (»Glaubensgenossen«) für diesen vergleichsweise strategisch ausgerichteten Royalismus und den entsprechenden Obrigkeitsgehorsam zu gewinnen, mit folgenden Worten: »Tout seroit d¦clar¦ contre nous s’il retiroit …ces rayons sacrez de son autorit¦ qui nous couvrent. Nous ne pouvons avoir sur la Terre d’autre recours qu’— sa justice; elle seule est l’azile qui reste — notre esp¦rance.«1270 Schließlich antwortete der Pastor Elie Merlat, nachdem er selbst 1680 auf Betreiben des Bischofs von Saintes wegen angeblicher Verführung zum Ungehorsam gegenüber dem König durch die staatlichen Instanzen für immer aus 1268 Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin (in Kürze veröffentlicht). 1269 «Lasst uns keine Gelegenheit verpassen, der geheiligen Person des Königs zu dienen und zum Wohl und Ruhm seines Reiches beizutragen. Durch dieses Mittel verpflichten wir seine Majestät, für uns die Freiheit der Edikte weiter aufrecht zu erhalten, die diesem Königreich als ein festes und unverbrüchliches Gesetz durch Heinrich den Großen gegeben worden sind, den Vater des Volkes und Restaurateur des Staates.» (zitiert nach H. Bost/D. Poton, Le rapport des R¦form¦s au pouvoir au XVIIe siÀcle, S. 40; vgl auch A. Galland, Les pasteurs franÅais, S. 52). 1270 »Alles wird sich gegen uns wenden /verschwören, wenn er diese Ausstrahlung seiner geheiligten Autorität, durch die wir geschützt sind, zurückzieht. Wir können auf der Erde nur auf seine Gerechtigkeit Bezug nehmen/zurückgreifen; sie allein ist das Asyl, das unserer Hoffnung bleibt.« (zitiert nach H. Bost/D. Poton, Le rapport des R¦form¦s au pouvoir au XVIIe siÀcle, S. 40; vgl auch A. Galland, Les pasteurs franÅais, S. 57).

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dem Lande verbannt worden war und seine Bücher der Verbrennung preisgegeben worden waren, aus dem Schweizer Exil, wo er eine Professur in Lausanne erhielt, auf die Vorwürfe und jüngsten Ereignisse in Frankreich mit einer Abhandlung, die 1685 erschien, aber bereits 1682 in ihrem Hauptbestand von ihm verfasst wurde. Sie trägt den Titel: »Trait¦ du pouvoir absolu des Souverains: Pour servir de consolation et d’Apologie aux Êglises R¦form¦es de France qui sont afflig¦s«1271. Dort kann er noch 1682 bzw. 1685 schreiben – ja, will es gerade da, wie es sein Buchtitel verspricht, als Trost und Orientierung sehen: «Les Souverains, — qui Dieu a permis de parvenir au Pouvoir absolu, n’ont aucune loy qui les r¦gle — l’¦gard de leurs sujtes; eur seule volont¦ est leur loy ; et ce qui leur pla„t, leur est licite, dans cette relation — ceux sur qui ils dominent; quoy que Dieu doive un jour examiner leur compte, et les punir de leurs injustices, s’ils en commettent. De l— resulte l’impunit¦ universelle de leurs actions parmi les hommes; et l’engagement des peuples — souffrir sans rebellion, tous ce que de tels Princes peuvent leur faire souffrir ; n’y ayant que Dieu seul qui ait droit de les venger, comme il n’y a que luy qui ait p˜ donner l’autorit¦ illimit¦e.»1272.

Diese politische Lehre geht einher oder ist verankert in einer Theologie bei Elie Merlat, die einen starken Jenseitsbezug, eine ausgeprägte Hoffnung auf das Reich Gottes und ein dualistisches Weltverständnis hat: Der Christ gehört dem Reich Gottes an, das nicht von dieser Welt ist.1273 Er kann die Welt und ihre irdischen Güter nur verachten.1274 So gesehen sind die Leiden nur Prüfungen, die ihn dazu führen, sich seiner eigentlichen Berufung mehr und mehr zu vergewissern, deren Ziel der Ruhm der Konfession oder das Martyrium, das ihn wiederum mit Christus verbindet.1275 Das alles gebietet nach Elie Merlat die 1271 »Abhandlung über die absolute Macht des Souveräns: Um den Reformierten Kirchen von Frankreich, die bedrückt /angefochten sind, zum Trost und zur Verteidigung zu dienen«. (Elie Merlat, Trait¦ du pouvoir absolu des Souverains: Pour servir de consolation et d’Apologie aux Êglises R¦form¦es de France qui sont afflig¦s, — Cologne chez Jacques Cassander, Köln 1682, 336 Seiten). 1272 «Die Obrigkeiten/Staatsoberhäupter, denen Gott erlaubt hat, an die absolute Macht zu gelangen, haben kein einziges Gesetz, das sie bezüglich ihrer Untertanen regulieren würde; nur ihr Wille ist ihr Gesetz; und was ihnen gefällt, ist ihnen erlaubt in diesem Verhältnis zu denen, über die sie bestimmen, auch wenn Gott sie eines Tages zur Rechenschaft ziehen muss/ Gericht halten muss/ihr Konto untersuchen muss, und sie wegen ihres Unrechtes bestrafen muss, wenn sie welches begangen haben. Daher rührt die universale Straffreiheit ihrer Taten unter den Menschen und die Verpflichtung der Menschen ohne Rebellion/ Aufstand/Erhebung all das zu erleiden, was solche Fürsten/Prinzen ihnen an Leid auferlegen, da sie nur Gott selbst haben, der das Recht hätte, sie zu rächen, wie es auch nur ihn gibt, der die unbegrenzte Autorität verliehen hat / hätte.» (Elie Merlat, Trait¦ du pouvoir absolu, S. 59); vgl. dazu auch H. Bost/D. Poton, Le rapport des R¦form¦s au pouvoir au XVIIe siÀcle, S. 42. 1273 Vgl. H. Bost/D. Poton, Le rapport des R¦form¦s au pouvoir au XVIIe siÀcle, S. 43. 1274 Vgl. H. Bost/D. Poton, Le rapport des R¦form¦s au pouvoir au XVIIe siÀcle, S. 43. 1275 Vgl. H. Bost/D. Poton, Le rapport des R¦form¦s au pouvoir au XVIIe siÀcle, S. 43.

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providence.1276 Wir finden damit bei ihm eine politische Ordnungs-Theologie vor, die einerseits in vielem so schon bei Calvin anklingt, der durchaus auch den Gehorsam der Untertanen gepredigt hat etc., aber andererseits doch starrer ist, weil sie nun gar keinen Raum mehr lässt für Kritik, Veränderungen, Machtausgleich, Korrektur, Ungehorsam, Widerstand – Aspekte für die es in der Lehre Calvins noch Ansatzpunkte gab.1277 War die Martyriumstheologie bei Jean Crespin und anderen im 16. Jh. noch mit dem Gedanken der Wachsamkeit, Nüchternheit und einer gewissen Distanznahme gegenüber der Obrigkeit sowie Kritikmomenten verbunden, wie H. Scholl sehr schön nachzeichnet1278, so predigt Elie Merlat nun eine Martyriumstheologie der reinen Unterwerfung und des absoluten Gehorsams, die zu demselben Ziel führen soll. Die Martyriumstheologie des 16. Jh. atmete noch einen anderen Geist, so wie die politische Theologie der Hugenotten ebenso noch das Recht des Widerstands kannte (Monarchomachen), während dem sich nun unter den veränderten politischen Umständen des 17. Jh. die Martyriumstheologie ebenso gewandelt hat wie die politische Theologie ihrerseits, die die Obrigkeit nur noch absolut begreifen konnte. Auch die große Katastrophe, der Schock der Rücknahme des Edikts von Nantes durch das Edikt von Fontainebleau (1685) und die massenweise Flucht konnte nur manche zum langsamen Aufwachen bringen, obgleich sich bereits in den achtziger Jahren unmittelbar vor dem Edikt von Fontainebleau eine Trendwende in der politischen Theologie der franz. Protestanten abzuzeichnen schien, wie E. Labrousse vermerkt1279 (ähnlich S. Deyon1280) und K. Malettke neuerdings weiter exemplifiziert hat.1281 So scheint sich der franz. Protestan1276 1277 1278 1279

Vgl. H. Bost/D. Poton, Le rapport des R¦form¦s au pouvoir au XVIIe siÀcle, S. 45. Vgl. H. Bost/D. Poton, Le rapport des R¦form¦s au pouvoir au XVIIe siÀcle, S. 45. Vgl. H. Scholl, Glaube und Spiritualität der Hugenotten, bes. S. 14 – 16. Die protestantischen Autoren argumentierten so, dass der König durch einen potentiellen Widerruf des Ediktes von Nantes seinen Eid brechen würde und damit gegen Grundprinzipien des Naturrechts verstoßen würde. Sie rechtfertigten auch gewalttätigen Widerstand (vgl. E. Labrousse, La controverse en France vers 1680, S. 13 u. 14 u. K. Malettke, Hugenotten und monarchischer Absolutismus in Frankreich, S. 317). 1280 S. Deyon, Du loyalisme au refus, bes. S. 154 1281 Vgl. K. Malettke, Hugenotten und monarchischer Absolutismus in Frankreich, S. 297 – 319, bes. S. 316 – 318. Allerdings stellt K. Malettke die auch in der hier vorliegenden Studie zitierte Predigt von Pierre du Bosc (siehe oben) in ein zu schönes Licht (vgl. ders., ebd., S. 316). M. E. unterliegt er eindeutig einer Fehlinterpretation, wenn er den Satz »Et la rÀgle des Apútres est infaillible, qu’il faut plutot ob¦ir — Dieu qu’aux hommes« (»Und die Regel der Apostel ist unfehlbar, dass man Gott eher gehorchen solle als den Menschen«) aus der Predigt von Pierre du Bosc als einen versteckten Hinweis auf Ungehorsam oder gar Widerstand der Untergebenen wertet. Das mag in anderen Zusammenhängen in der Tat so gegeben sein. Im Zusammenhang dieser Predigt aber ist damit keineswegs eine latente Königskritik gemeint, wie K. Malettke den Bibelverweis glaubt deuten und in folgender Weise kommentieren zu müssen: »Angesichts der Brisanz einer solchen Feststellung im Jahre 1674 ist es verständlich, dass sie hinter einem Vorhang von Loyalitätsbezeugungen

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tismus und seine Theologie in der Krise zum Teil neu bewegt zu haben und auch alte Traditionslinien der Widerstandslehre etc. wieder aufgenommen zu haben,1282 so dass sich schließlich im Refuge bald neben der absolutistischen Hauptströmung eine zweite – eine anti-absolutistische Strömung – herausbildete.1283 Gegen K. Malettke, der meint, dass »die verbreitete These, die eindeutige Mehrheit der französischen Reformierten sei durch eine ›extrem absolutistische Lehre‹ und eine entsprechende Grundhaltung geprägt gewesen, der Vielschichtigkeit und Komplexität der Erscheinungsformen des französischen Calvinismus in jenem Jahrhundert nicht gerecht wird«1284, muss eingewendet werden, dass diese Relativierung nicht im rechten Verhältnis zum tatsächlichen Befund steht. Dass bei einer Gesamtbeurteilung geographische Differenzierungen ebenso zu berücksichtigen sind1285 wie die Konstatierung der oben genannten Trendwende, kann nicht verstellen, dass die Haupttendenz im 17. Jh. vom Schriftgut her dezidiert royalistisch-absolutistisch ausgerichtet war (s. o.) – so auch von H. Bost/D. Poton überzeugend dargelegt.1286 Dass sich die unterschiedlichen Strategien und Verhaltensweisen dabei gegenseitig blockiert haben mögen, wie E. Labrousse urteilt,1287 ist nicht auszuschließen. Dass sie sich komplementär ergänzt haben und nicht als widersprüchlich einzuordnen seien, wie hingegen J. Garrisson meint,1288 erscheint eher unwahrscheinlich. Dafür waren die Positionen und unterschiedlichen Strategien zu eindeutig. Das einzige, was sie verband, war das gemeinsame Ziel des Überlebens.

1282 1283 1284 1285 1286 1287 1288

versteckt wurde. Spätere Historiker haben das nicht erkannt, die Zuhörer von Du Bosc haben dessen Intention aber sehr wohl begriffen« (K. Malettke, ebd., S. 316). Im Gegenteil – die Anführung des Bibelverses war keine geheime Doppel-Botschaft zwischen den Zeilen, wie K. Malettke suggeriert, sondern sie war ganz auf der Linie der übrigen Loyalitätsbezeugungen. Sie sollte nämlich nicht etwa das Widerstandsrecht oder den Ungehorsam des Volkes gegenüber der Obrigkeit andeuten oder begründen, sondern lediglich, dass der König selbst, Gott mehr zu gehorchen habe als den Menscheninteressen, hinter denen sich in der konventionellen damaligen Deutung der römische Katholizismus bzw. der Klerus und seine Interessen etc. verbargen. Es war gerade das Kennzeichen absolutistischen Selbstverständnisses, so wie es auch von franz.-prot. Theologen nachgezeichnet wurde (s. o. im laufenden Text), dass sie sich nur Gott gegenüber verpflichtet fühlten und verantworten mussten. Gerade das sollte den Protestanten die vermeintliche Garantie dafür sein, dass dieser die Angriffe oder Machtansprüche des (politischen)Katholizismus abwehren würde. Vgl. K. Malettke, Opposition und Konspiration unter Ludwig XIV., S. 111 f., vgl. auch H. Bost/D. Poton, Le rapport des R¦form¦s au pouvoir au XVIIe siÀcle, S. 49 – 51. Vgl. M. Yardeni, L’apolog¦tique protestante des ann¦es 1683 – 1685, S. 216 – 227. Vgl. K. Malettke, Hugenotten und monarchischer Absolutismus in Frankreich, S. 317. Vgl. K. Malettke, Hugenotten und monarchischer Absolutismus in Frankreich, S. 317/318. H. Bost/D. Poton, Le rapport des R¦form¦s au pouvoir au XVIIe siÀcle, S. 31 – 57, zu ihrem Resümee siehe bes. S. 54. Vgl. E. Labrousse, Les strat¦gies huguenotes face — Louis XIV, S. 42 u. dies., »Une foi, une loi, un roi?«, S. 58 ff. Vgl. J. Garrisson, L’Êdit de Nantes et sa r¦vocation, S. 117 f.

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Vor dem Hintergrund der oben dargelegten eindeutigen Erkenntnisse zur politischen Theologie des franz. Protestantismus des 17. Jh. erscheint es im Übrigen nicht legitim, über den »Geist des französischen Protestantismus« oder aber »Glaube und Spiritualität der Hugenotten« zu schreiben, wie Alasdair Heron und Hans Scholl es tun, und (zudem auf teils verklärende Weise) dabei nur von ihrer politischen Lehre des 16. Jh. auszugehen und die des 17. Jh. völlig außeracht zu lassen bzw. zu überspringen,1289 um dann schließlich sogar zu fast überzeitlichen Aussagen zu gelangen wie »Es ist aber ein Kennzeichen des hugenottischen Menschen, dass er sich staatskritisch verhält«1290 oder : »Insofern ist es nicht verfehlt, die Erfahrung der Hugenotten als eine bedeutende Wurzel der neuzeitlichen Demokratie zu verstehen«1291. Wenn es dieses staatskritische Verhalten im 17. Jh. in Frankreich in ausreichendem Maße gegeben hätte, dann hätte es wohl kaum einen Exodus der Hugenotten gegeben. Und warum sollten die Erfahrungen der Hugenotten des 16. Jh. so besonders wertvoll für die Entwicklung der neuzeitlichen Demokratie gewesen sein, wo sie selbst wiederum im 17. Jh. kaum eine Gelegenheit ausgelassen haben, die englischen Erhebungen gegen das (tyrannische) Königtum zu verurteilen und ihre englischen Glaubensgenossen entsprechend zu Gehorsam und Disziplin aufzurufen?1292

3.4.7 Sozialethische Konsequenzen der Prädestination Schon an dem Beispiel der Predigt von Pierre du Moulin wurde deutlich, dass sein Prädestinationsverständnis, das vergleichsweise orthodox war, nicht etwa mit der Vorstellung verbunden war, seine Correligionaires (»Glaubensgenossen«) davon überzeugen zu müssen, dass sie durch strebsame Arbeit und beruflichen Erfolg die Bestätigung ihrer Erwählung finden oder dadurch auch nur irgendwie ihre Heilsgewissheit fördern könnten – im Gegenteil. Es war der Zuspruch erforderlich, dass ihre Heilsperspektive auch dann oder gerade dann gilt, wenn sie zu den weniger Reüssierenden und Etablierten gehören. Nach Fr. Chevalier ist die Prädestination nicht eines der größeren Themen der von ihr untersuchten zahlreichen franz.-prot. Predigten des 17. Jh., obwohl es 1289 Vgl. H. Scholl, Glaube und Spiritualität der Hugenotten; A. I. C. Heron, Der Geist des französischen Protestantismus, in: Moderamen der Evangelisch-Reformierten Kirche in Bayern (Hg.), Gedanken zur Aufnahme der Hugenotten in Franken vor 300 Jahren, S. 34 – 44. 1290 H. Scholl, Glaube und Spiritualität der Hugenotten, S. 16. 1291 A. I. C. Heron, Der Geist des französischen Protestantismus, in: Moderamen der Evangelisch-Reformierten Kirche in Bayern (Hg.), Gedanken zur Aufnahme der Hugenotten in Franken vor 300 Jahren, S. 39. 1292 H. Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, S. 189.

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die ausgeprägte theologische Debatte an den Akademien und auf einigen Synoden hätte vermuten lassen.1293 Moyse Amyraut hat in einer seiner Predigten sogar ausdrücklich zur Zurückhaltung geraten, über die Prädestination zu predigen, da sie wegen ihrer Komplexität dem einfachen Volk nur schwer verständlich gemacht werden könne.1294 Konsultiert man nun die von Fr. Chevalier zu diesem Themenkomplex untersuchten und vorgestellten Predigten, so ist der Befund negativ, was unser Thema betrifft, also dass in diesem Kontext Aussagen vorzufinden wären, die zu Reichtum, Armut oder Diakonie etc. gemacht würden. Wohl wird in den Predigten oft der Gedanke der doppelten Prädestination, also zum Heil und zur Verwerfung, hervorgehoben, um die souveräne Entscheidung Gottes zu unterstreichen und jede Mitwirksamkeit des Menschen auszuschließen – dies aber gerade, um die Heilsungewissheit auszuschließen. Gottes Souveränität, so legen es die Predigten nahe, ist gerade der Garant für die Heilsgewissheit, zu der nicht anderweitig beigetragen werden muss oder kann: »les mises en garde sont nombreuses contre ceux qui tirent arguments de la certitude de leur salut pour en faire, suivant l’expression de Pierre Dumoulin un ›oreiller de s¦curit¦ charnelle‹. La vertu n’est pas la cause de l’¦lection, mais elle en est le fruit.«1295 Die Abgrenzung gegenüber einem Prädestinationsverständnis, das im weltlichen oder wirtschaftlichen Erfolg, ob in Form der Kompensation oder aber der gradlinigen Verlängerung der Tugenden (Arbeitsfleiß und Beruf eingeschlossen), ein Zeichen der Erwählung oder der Heilsgewissheit sieht, ist damit überdeutlich. Somit ist der Befund bezüglich der Predigten, was die sozialethische Frage im Zusammenhang mit der Prädestination betrifft, doppelt negativ. Die Prädestination ist nicht das große Thema der Predigten und dort, wo sie es ist, grenzen sie sich meist deutlich ab gegenüber einem Verständnis, das eine Arbeits,– Erfolgs,– oder Reichtumsideologie gut heißen würde, wie es offenbar im Calvinismus des angelsächsischen Raumes verbunden mit der Lehre bzw. dem Postulat eines Syllogismus practicus besonders zum Ausdruck oder Ausbruch kam.1296

1293 Vgl. Fr. Chevalier, PrÞcher sous l’Êdit de Nantes, S. 179. 1294 Vgl. M. Amyraut, Six sermons de la natur estendue, n¦cessit¦, dispensation et efficace de l’Êvangile, Saumur, 1636, Sermon sur Jean 6, 45, S. 275. 1295 »Die Warnungen vor denen, die Argumente für ihre Heilsgewissheit ableiten, um gemäß dem Ausdruck von Pierre Dumoulin daraus ein ›Kopfkissen der fleischlichen / irdischen Sicherheit‹ zu machen, sind zahlreich. Die Tugend ist nicht der Grund für die Erwählung, sondern sie ist ihre Frucht.« (Fr. Chevalier, PrÞcher sous l’Êdit de Nantes, S. 190). 1296 Literatur Kretzer, ebd.

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3.4.8 Communio / Koinonia und Seelsorge – Besuche als Zeichen gelebter Solidargemeinschaft Aus dem Kupferstich »visiter les malades« (»Die Kranken besuchen« siehe auch Titelbild des Buches) von Abraham Bosse (- wahrscheinlich aus dem Jahr 1635)1297 mit dazugehörigem erläuternden Gedicht unterhalb des Bildes, so wie einer Predigt von Michel Le Faucheur1298 und einer Art Seelsorgehandbuch von Charles Dr¦lincourt, das 1699 in Lausanne posthum veröffentlicht wurde und den Titel trägt: »Les visites charitables ou consolations chr¦tiennes pour toutes sortes de personnes afflig¦es«1299 entnehmen wir, dass den Besuchen als Zeichen gelebter Solidargemeinschaft ein besonderer Wert beigemessen wurde, da sie den Gemeindemitgliedern hier, wenn sie auch nicht ausgesprochenes Thema der Predigten waren, besonders ans Herz gelegt wurden. Jedenfalls wird in diesen Dokumenten ihr Wert als Zeugnis der communio im franz. Protestantismus entsprechend stark herausgestellt. Der Kupferstich von Abraham Bosse entstammt einem Zyklus zu den sieben Werken der Barmherzigkeit (Matth. 25).1300 Auf dem Kupferstich (siehe Bild des Buchtitels) sieht man einen Krankenbesuch abgebildet. Der Kranke liegt im Bett, am Fußende des Bettes sind offenbar Familienmitglieder und Besuchende abgebildet. Am unteren Bildrand befindet sich ein erläuternder Text in Reimform: «Est-il quelque Barbare, — qui ne persuade / D’auoir pour son Prochain vne sainte amiti¦? Ce Pauure, dans son lict Languissant, et malade, / Qui les cours les plus durs peut fl¦chir de piti¦ ? // Tandis qu’apesanty des foiblesses humaines, / Jl cede — tant de maux, qu’on luy voit endurer, / Sa femme, et ses Enfans, au milieu de ses peines, / Ne cessent de gemir, de pleindre, et de pleurer. // Le Ciel inspire alors aux Ames equitables / Vn genereux desir de s’employer pour luy ; / Et fait qu’en l’assistant de leurs soins charitables, / Jls t–chent de guerir son mal et son ennuy. // Chrestien, cela t’apprend, que si d’vn franc courage / Tu secours ton Prochain, de biens abandonn¦ ; / Tu receuras le double, et cent fois dauantage, / De la main de Celuy par qui tout est donn¦.»1301 1297 Fundort: Bib.S.H.P.F.: Abraham Bosse, Visiter les malades, Kupferstich: 25,7 x 32 cm bzw: The Metropolitan Museum of Art, Purchase, The Elisha Whittelsey Collection, The Elisha Whittelsey Fund, 1951 (51.501.2213), publ. von Jean I Leblond (gest. Paris, 1666) 1298 In Auszügen abgedruckt bei: A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 125 – 137. 1299 Charles Dr¦lincourt, Les visites charitables ou consolations chr¦tiennes pour toutes sortes de personnes afflig¦es (Die mildtätigen Besuche oder christlichen Tröstungen für alle Arten von betrübten Personen), Lausanne 1699. 1300 Vgl. Archives Nationales, Les Huguenots, S. 53 u. u. Abb. 56, S.64. 1301 «Gibt es irgendeinen Unmenschen, der nicht davon überzeugt ist, eine fromme Verbundenheit mit seinem Nächsten zu haben? Dieser Arme, der in seinem Bett verblutet und Kranker, der die härtesten Herzen mit Erbarmen anrühren kann! Während er beschwert von menschlicher Schwachheit sich dem großen Übel ergibt, das man ihn erdulden sieht, seine Frau und seine Kinder, mitten in seinen Schmerzen, nicht aufhören zu seufzen, zu klagen und zu weinen, inspiriert der Himmel also die gerechten Menschen(wesen) mit

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Bezeichnend ist der Begriff der sainte amiti¦ (»heilige/fromme Verbundenheit«), der hier fällt – er spielt an auf den communio- oder Koinonia-Gedanken, wie er auch für Calvin selbst grundlegend war in der Verhältnisbestimmung von Armen und Reichen und zur Begründung für das soziale oder diakonische Engagement. Der Besuch und die konkrete Unterstützung heben die Isolation auf. Der Text will dem Betrachter des Bildes klar machen, dass hier Seelsorge und Diakonie zusammenfließen. Er nimmt damit Bezug zur ambulanten Gemeindearmen- und krankenfürsorge der franz. Protestanten und zur damit verbundenen Besuchspraxis als Zeugnis der Solidargemeinschaft. Hier waren die Nachbarschaftshilfe bei der Unterbringung sowie eine besuchende Gemeinde besonders da gefragt, wo es keine Hospitäler gab. Diese Form der besuchenden und anteilnehmenden nachbarschaftlichen Solidargemeinschaft begegnet auch in einer Predigt bei Michel Le Faucheur : »Vous tous, chr¦tiens, avec votre salut, procurez celui de vos frÀres! Que le voisin veille sur son voisin, non par curiosit¦, mais par charit¦. Qu’il ne vous arrive jamais, comme — Cain, de dire: Suis-je la garde de mon frÀre? Oui, vous l’ Þtes.«1302 Das Heil bleibt damit nicht auf der Ebene individueller Innerlichkeit. In der nachbarschaftsorientierten charit¦ erhält es einen Bezug zum Gemeinwesen. Dass hier von le voisin (»der Nachbar«) und nicht wie sonst üblich von le prochain (»der Nächste«) die Rede ist, lässt auf Absicht schließen. Vor Augen hat Michel Le Faucheur in der Tat die nachbarschaftlich orientierte Gemeindearmen- und Krankenpflege – die Solidargemeinschaft, in der alle aufeinander angewiesen sind. Deutlich klingt die Kritik mit an, dass im Vordergrund dieser gelebten Communio nicht die »Neugierde«, also (Sitten)kontrolle etc. stehen sollte, sondern der diskrete soziale Dienst. Michel Le Faucheur appeliert an die Stärke der franz-prot. Gemeinde, die den Communio-Gedanken in seiner sozialen Dimension sehr ernst nahm – gewiss, weil das immer auch zu ihrer Überlebensstrategie gehörte. Michel Le Faucheur spricht aber den Hörer nicht nur als »voisin« (»Nachbarn«), sondern zugleich als »frÀre« (»Bruder«) an. Damit wird der Communio-Gedanke nur einmal mehr im Sinne Calvins (»unser einem großzügigen Verlangen, sich für ihn zu verwenden. Und dank der Tatsache, dass sie ihn mit ihrer liebevollen Zuwendung / Pflege unterstützen, sehen sie zu, dass sie ihn von seiner Krankheit und seinem Kummer heilen. Christ, das lehrt dich, dass Du, wenn Du, der Du mit Gütern reichlich gesegnet bist, aus freien Stücken deinem Nächsten hilfst, das Doppelte und hundertfach mehr zurück erhältst aus der Hand dessen, durch den alles gegeben ist.» (siehe Kupferstich von Abraham Bosse «Visiter les malades», Fundort: siehe Fußnote 1298. 1302 »Ihr Christen alle! Verschafft mit Eurem Heil auch Heil für Eure Brüder! Der Nachbar möge über seinen Nachbarn wachen, aber nicht etwa durch Neugierde motiviert, sondern durch Nächstenliebe. Dass es Euch niemals wie Kain in den Sinn kommen möge, zu sagen: ›Bin ich [etwa] meines Bruders Hüter?‹ Ja, Ihr seid es.« (zitiert nach A. Vinet, Histoire de la pr¦dication, S. 137).

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eigenes Fleisch«)1303 unterstrichen. Wenn Michel Le Faucheur dann den biblischen Rückbezug zur Frage von Kain herstellt und diese bejaht, so erhellt damit, welch lebenswichtige Funktion diese Bejahung in den franz.-ref. Gemeinden einnehmen musste. Die franz.-prot. Armen- und Krankenunterstützung wurde zu einem Bollwerk, das nicht nur die Einzelnen, sondern die Gemeinde und Kirche an sich aufrechterhielt. Charles Dr¦lincourt verdanken wir ein besonderes Zeugnis franz.-prot. theologischer Existenz im 17. Jh. Es ist, wie bereits erwähnt, eine Art Seelsorgehandbuch, das sich vornehmlich – aber nicht nur – zum Gebrauch für Pastoren versteht.1304 Ein in der BibliothÀque de la Soci¦t¦ de l’Histoire du Protestantisme FranÅais in Paris noch heute zugängliches Exemplar aus dem Jahre 1699 fasziniert durch Aufbau und Inhalt. In zwölf Fallbeispielen geht es Besuche durch, die bei »betrübten Personen« in unterschiedlichen Leidenssituationen durchzuführen sind. Dabei beschreibt es jeweils kurz die Situation und präsentiert dann in der Regel einen (offensichtlich fiktiven) Gesprächshergang zwischen Pastor und Klienten. Die Fallbeispiele beziehen sich auf unterschiedliche Situationen von neuer Armut1305 über Gefangenschaft1306 bis hin zur Verurteilung zur Todesstrafe1307. Aber ganz deutlich ist, dass es vorwiegend Menschen gewidmet ist, die durch das Bekenntnis zu ihrem Glauben bzw. ihrer Konfession dort hineingeraten sind. Es spricht also insbesondere franz. Protestanten kurz vor und nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes (1865) an, die in Armut geraten sind, weil ihre Güter konfisziert wurden1308, die aus ihrem Beruf oder Ämtern entlassen wurden1309 oder aufgrund ihres Bekenntnisses des Landes verwiesen worden1310 oder in Gefangenschaft geraten sind1311. So wird Armut bzw. Verarmung im Zusammenhang des Bekenntnisses zum Glauben noch mal in besonderer Weise als »Prüfung« und »Opfer« definiert – das kann man dem dort abgedruckten entsprechenden Gesprächshergang zwischen Pasteur und Fidele (Gemeindemitglied) entnehmen.1312 Damit ist allerdings wohl klar, dass die Armut hier bei Charles Dr¦lincourt keinen Naturzustand darstellt. Wichtiger erscheint aber an dieser Stelle, dass Charles Dr¦lincourt die 1303 Vgl. in der vorliegenden Studie, S. 230 ff. 1304 Charles Dr¦lincourt, Les visites charitables ou consolations chr¦tiennes pour toutes sortes de personnes afflig¦es, Lausanne 1699 – Fundort: Bib.S.H.P.F. 1305 Vgl. Ch. Dr¦lincourt, Les visites charitables, S. 165 – 185. 1306 Vgl. Ch. Dr¦lincourt, Les visites charitables, S. 280 – 369. 1307 Vgl. Ch. Dr¦lincourt, Les visites charitables, S. 392 – 441. 1308 Vgl. Ch. Dr¦lincourt, Les visites charitables, S. 186 – 223. 1309 Vgl. Ch. Dr¦lincourt, Les visites charitables, S. 224 – 243. 1310 Vgl. Ch. Dr¦lincourt, Les visites charitables, S. 265 – 285. 1311 Vgl. Ch. Dr¦lincourt, Les visites charitables, S. 370 – 391. 1312 Vgl. Ch. Dr¦lincourt, Les visites charitables, bes. ab S. 186 – 223

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Dringlichkeit der Besuche vor dem Hintergrund der Diasporaexistenz in Zeiten der Not, Verfolgung und des Exils noch einmal besonders hervorhebt. Die Besuche wurden auch im Refuge der franz.-prot. Gemeinden zu einem Kennzeichen, das charakteristisch bleiben sollte für die diakonische Gestalt der Gemeinden – auf die Berliner Gemeinde bezogen war das alle Male so.1313

3.4.9 Blick über den Tellerrand hinaus Dass das 17. Jh. auch das Jahrhundert kontroverstheologischer Literatur und Predigten in Frankreich war, ist hinlänglich bekannt.1314 Diese Predigten auf katholischer und reformierter Seite hatten allerdings kaum Berührungspunkte mit unserem Thema. Trotzdem dürfte es interessant sein, hier einen kurzen Blick über den Tellerrand hinaus zu werfen und zu fragen, inwiefern sich die damaligen Aussagen in der katholischen und reformierten Predigtpraxis auf unser Thema bezogen voneinander unterschieden oder nicht. Grundsätzlich lässt sich auf unser Thema bezogen zur franz.-kath. Soziallehre und zu den franz.-kath. Predigten des 17. Jh., insbesondere der zweiten Hälfte des 17. Jh., im Vergleich zu den franz.-ref. Predigten, sagen, dass sie sich offensichtlich an vielen Punkten nicht wesentlich unterschieden haben. In vielen Aussagen, was das konservative, meist ordnungstheologisch begründete Gesellschaftsmodell, aber auch, was eine gewisse neue Idealisierung der Arbeit – gerade im Kontext der Armut – und den Appell an die Verantwortung der Begüterten betrifft, liegen sie offenbar näher beieinander, als man vermuten würde. Diesen Eindruck muss man gewinnen, wenn man die einschlägige Literatur dazu konsultiert.1315 Gleichwohl bleiben Unterschiede in der Bewertung der Heilsbedeutung der Armut so wie bezogen auf den meritorischen Gedanken und die Zweck-Mittel-Relation der Armen in der katholischen damaligen zeitgenössischen französischen Predigttheologie. Die Rede vom »bon usage des pauvres« (»guten Nutzen / Gebrauch des Armen«) gerade auch im Sinne des Heilsmittels für die Vermögenderen, als deren Schlüssel zum Himmel die Armen fungierten, war im katholischen Raum nach 1313 Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 1314 Vgl. O. E. Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, S. 151 – 160 und die dort auf S. 157 befindlichen ausführlichen Literaturangaben. 1315 Besonders gewinnbringend ist dazu die Lektüre der Revue »XVIIe SiÀcle« heranzuziehen, deren Ausgabe des Jahres 1971 (No. 90 – 91) sich ausschließlich dem Thema »Les Oeuvres de Charit¦ en France au XVIIe SiÀcle« widmet und drei Beiträge der damaligen kath. Sozialethik und Predigtlandschaft beinhaltet: P. Julien-Eymard d’Angers, Richesse et Pauvret¦ dans l’oeuvre d’Yves de Paris, S. 17 – 46; Paul Milcent, Spiritualit¦ de la Charit¦ envers les pauvres selon Saint Jean Eudes, S. 47 – 56 u. Jeanne-Lydie Gor¦, F¦nelon ou du Pur Amour — la Politique de la Charit¦. Außerdem: J. Queniart, Les hommes, l’¦glise et dieu, bes. S. S. 162 ff. u. Ph. Sassier, Du bon usage des pauvres, bes. S. 88 – 101 u. 142 ff.

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wie vor prägnant1316 und wird sich so verhältnismäßig wenig in franz.-prot. Predigten wiederfinden.1317 Eine über die reine Feststellung der hier bereits benannten Ähnlichkeiten und Unterschiede hinausgehende detailliertere, vergleichende Untersuchung, was unsere Thematik betrifft, kann hier nicht durchgeführt werden, wäre aber sicherlich ein Gewinn für die Forschung. Vorerst jedenfalls stellt sich das Bild so dar, wie hier kurz und bündig beschrieben.

1316 Vgl. Ph. Sassier, Du bon usage des pauvres, bes. S. 88 ff. 1317 So in keiner der gesichteten franz.-prot. Predigten – weder vor 1685 in Frankreich noch nach 1672 in Berlin vorgefunden.

4.

Das Verhältnis zwischen diakonischer Praxis und theologie- bzw. geistesgeschichtlichem Hintergrund

Bewusst ist die Beschreibung der diakonischen Praxis des franz. Protestantismus an den Anfang gestellt worden, also vor den theologischen Teil. Diese Vorgehensweise hat ermöglicht, dass beides unabhängig voneinander betrachtet werden konnte. Das konkrete Ergebnis zeigt – und bestätigt damit die Vorgehensweise – dass sich die Praxis nicht einfach von der Theorie her ableiten lässt und dass auch der Predigtalltag seine jeweils eigenen Zusammenhänge und Lebensbezüge hatte und weder ein Derivat der universitären Theologie darstellte noch umgekehrt die Predigten lediglich Spiegelbild diakonischer oder gesellschaftlicher Praxis waren. Die Zusammenhänge scheinen vielmehr komplex: Die diakonische Praxis und die universitäre Lehre wie die Verkündigung scheinen sich wechselseitig beeinflusst zu haben und teils aber auch disparat und unabhängig voneinander verlaufen zu sein, wie z. B. das Thema »Prädestination« gezeigt hat. Es spielte im Predigtalltag nur eine geringfügige Rolle. Ein paar konkrete Punkte des Zusammenspiels sollen hier nun abschließend benannt werden. Die hauptsächlich durch das Motiv der »Providenz« (bzw. eines bestimmten Verständnisses derselben) stark ausgeprägte Ordnungstheologie ist Spiegel feudaler Gesellschaftsstrukturen und eines politischen Absolutismus. Das wurde außerdem durch die besondere Situation des franz. Protestantismus selbst, der sich zum Ende hin gegenüber dem Herrscherhaus zunehmend in eine obrigkeitsgläubige bzw. -ergebene Defensive begab und auf die fortschreitende gesellschaftliche Isolation seinerseits mit Isolierungstendenzen reagierte bzw. reagieren musste (siehe z. B. Rückzug im diakonischen Bereich in den klandestinen Raum, der sich weitestgehend auf die ambulante Gemeindearmenfürsorge beschränkte), nur allzu verstärkt. Deshalb ging von der Providenz bzw. den mit ihr verbundenen sozialethischen Optionen gerade kein entscheidender Impuls zu einer gesellschaftsverändernden Gestaltung aus. Die Providenz heiligte die Gesellschaft und die Gesellschaft der Hugenotten heiligte die Providenz, die zum Platzhalter aller möglichen Sehnsüchte wurde, aber nur selten eine dynamische, kritische Kraft entwickelte (s .o.). Ihre wichtige Funktion lag vielmehr und hauptsächlich darin, dass sie in allem Leid in Frankreich – und

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Diakonische Praxis und theologiegeschichtlicher Hintergrund

auch nach 1685 in Frankreich und im Refuge – für die bedrängten Hugenotten und entwurzelten Flüchtlinge eine seelsorgerliche Stärkung und Zukunftshoffnung bedeutete. Wir sahen, dass auch der Zustand der Armut bzw. die Verarmung in dieser Perspektive interpretiert und damit aber zugleich in gewisser Weise sanktioniert wurde. Sicher wurde die Providenz teils auch anders verstanden und ausgelegt, aber das vorherrschende Verständnis war offensichtlich das oben beschriebene. Verbunden mit der Providenz bzw. der von ihr geschaffenen oder ermöglichten Ordnung, war allerdings auch der Gedanke einer eindeutigen sozialen Verpflichtung, insbesondere der Reichen und Vermögenden bzw. Herrschenden, wie wir bei Moyse Amyraut sahen. Der eher feudal orientierte Gedanke der sozialen Bindung von Geld und Eigentum etc. stand als eine calvinistische mentale Komponente einem sich gänzlich ungehemmt entwickelnden Kapitalismus eher entgegen. Wenn, dann hatten hier universitäre Theologie und auch Predigtpraxis eine wichtige positive, kritische, orientierende Wirkung – die Providenz heiligte so gesehen eben doch nicht alles. Der Ort, wo sich diese Dimension der sozialen Verpflichtung noch am ehesten vollzog bzw. oftmals überhaupt nur vollziehen konnte (abgesehen von den Blütezeiten franz.-prot. Diakonie und Kultur), war der der Kirchengemeinde. Der Bereich der Gemeinde war für die Hugenotten von jeher der geschützte Raum. Hier hatten auch die Besuche sowohl im Alltag als auch in der Predigt einen besonderen Stellenwert. Sie waren Zeichen gelebter Solidarität und Identität. Und je mehr die Hugenotten sich einer Umwelt ausgesetzt sahen, die sie anfeindete, ausgrenzte oder unterdrückte, desto mehr waren sie auf diesen Bereich verwiesen, um nicht zu sagen fixiert. Dabei verstand sich die Minorität wie viele Minoritäten als Solidargemeinschaft, in der die (eigenen)Armen selbstverständlich dazu gehörten und der Koinonia- bzw. Communio-Gedanke Calvins im Blick auf reich und arm ganz konkrete Bezüge hatte. Die Armut hatte ein Gesicht durch die gelebten Begegnungen (Besuche) und Hilfsinterventionen und greifbar wurde, was Calvin meinte, wenn er von »Dein Armer!« sprach. Auch die regional hier und dort entwickelte zeitweise vorfindliche diakonische Praxis der Armenpatenschaften auf städtischer Ebene wie in Vitr¦ oder N„mes hatte hier letztlich ihre Anknüpfungspunkte, auch wenn hier die kirchengemeindliche Ebene verlassen wurde. Aber das war nur den besonders günstigen Konditionen der Anfangszeit der Geltung des Edikts von Nantes zu verdanken. Hier, im Bereich des kirchengemeindlichen Alltags und weniger im gesellschaftsgestalterischen Rahmen, der vielen Hugenotten ohnehin zeitweise vorenthalten blieb, hatte deshalb auch die Predigt der Charit¦ ihren Sitz im Leben, ebenso wie die wiederholte Aufforderung und Ermahnung zur selben, die in Berlin schließlich noch ganz kuriose Wirkungen entwickeln sollte, weil die Fi-

Diakonische Praxis und theologiegeschichtlicher Hintergrund

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nanzierungsnot im Bereich der gemeindlichen Armenfürsorge, mitunter auch die Predigtinhalte bzw. Theologie bestimmte.1318 Das Prädestinationsverständnis bzw. seine seelsorgerliche Dimension und konkrete Verkündigung im franz. Protestantismus standen, wie aufgezeigt wurde, einer Deutung bzw. einer Wirkung, wie sie M. Weber auf den Calvinismus bezogen meinte konstatieren oder ableiten zu können, völlig entgegen. Sie selbst waren umgekehrt ein Reflex auf starke gesellschaftliche Umbrüche (Erstens: dynamische Gesellschaftsentwicklung mit Auf- und Abstieg gesellschaftlicher Gruppen und Schichten und Neubewertung von Arbeit und Arbeitsfleiß, bedingt durch einen voranschreitenden Kapitalismus etc.; zweitens: konkurrierende religiöse Systeme, die sich als Heilsweg anbieten) und auch konkret erlebter Benachteiligung der Hugenotten und damit nicht die Verursachung einer Heilsungewissheit, sondern in ihrer theologischen Diktion die Antwort auf eine Heilsungewissheit. Hier ging es also nicht um die religiöse Heiligung von Gewinnerfahrungen und eines guten Status, sondern die theologisch-seelsorgerliche Bewältigung von Verlusterfahrungen. Für viele franz. Protestanten war der Alltag oftmals von Verlusten und Verunsicherung begleitet, in eklatanter Weise gegen 1685 hin. Wie viele verunsicherte Menschen der damaligen Epoche haben sie sich, wie es sich zumindest in breiten Teilen der franz.-ref. Lehre und Predigt spiegelt, gerade in ihrer Situation paradoxerweise nach einer monarchischen bzw. absolutistischen Vaterfigur gesehnt, die sie in Ludwig XIV. gesucht, aber nicht gefunden haben, obwohl sie die Hoffnung nicht aufgeben wollten. So blieb die Sehnsucht nach dem Vater, der politische und gesellschaftliche Anerkennung und Beheimatung geben konnte und wollte. Absolutistisch durfte oder musste er sogar nach ihrem Verständnis sein, Hauptsache protestantisch oder zumindest ihnen zugetan wie einst Heinrich der IV.1319 In der als vaterlos imaginierten gesellschaftlichen Unbehaustheit definierten sie sich umso mehr über ihre Mutter – die Mutter Kirche (s. o.). Hier fanden sie Halt und entwickelten einen Teil ihrer spezifischen eigenen Kultur : »Die Hugenotten unterschieden sich von der Mehrheit der Franzosen durch eine distinktive Konfessionskultur. So lag bei ihnen die Lesefähigkeit über dem französischen Durchschnitt, und sie besaßen wahrscheinlich eine bessere Kenntnis der Bibel. Man geht sogar so weit zu vermuten, dass sie aufgrund der vereinheitlichenden Wirkung der französischen Bibel unabhängig von ihrer Herkunft die französische Hochsprache besser beherrscht hätten als 1318 Vgl. G. Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin. 1319 So sahen jedenfalls die Hoffnungen aus (vgl. H. Bost/ D. Poton, Le rapport des R¦form¦es au pouvoir au XVIIe siÀcle. ðlie Merlat ou la fin du monde, in: Bost, Hubert (Hg.): GenÀse et enjeux de la laicit¦. Christianismes et laicit¦ (Actes du Colloque de Montpellier, 2 – 3 mars 1990 organis¦ par la Facult¦ de th¦ologie protestante de Montpellier), GenÀve 1990, bes. S. 32, 38.

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ihre katholischen Landsleute, die stärker den lokalen Dialekten verhaftet geblieben seien. Das alles verschaffte den Hugenotten eine klare Gruppenidentität.«1320 In dieser Synthese Niggemanns, die auch noch mal obige Ergebnisse zur franz-prot. Armenschulpraxis bestätigt und freilich nicht darauf abzielt, eine konfessionelle Überlegenheit herauszustellen, sondern lediglich die Spezifika der franz.-prot. Kultur jener Epoche beschreibt und das zudem mit dem wichtigen Aspekt der »Gruppenidentität« bzw. des Minderheitenstatus verbindet, gehört das diakonische Engagement, das besonders von der offenen ambulanten gemeindlichen Armen- und Krankenunterstützung geprägt war, ebenso mit hinein wie die Selbstverwaltung der Kirchengemeinden durch ein sich von unten nach oben aufbauendes presbyterial-synodales System in Reinkultur. So sah die »Mutter Kirche« der franz. Protestanten aus, aber sie sollte nach eigenem Selbstverständnis insbesondere die »Mutter der Armen« sein (Michel le Faucheur, s. o.), wofür besonders auch die Einrichtung der Diacres in der Gemeindeleitung sorgen sollte. Es sollte letztlich dazu verhelfen, die Communio zu leben und zu erleben (Michel le Faucheur, Calvin u. a.). Der konfessionalistische Wettstreit, wie er sich sowohl in Predigten als auch in der diakonischen Praxis gespiegelt und entfaltet hatte, schien äußerlich spätestens mit dem Edikt von Fontainebleau (1685) gewonnen, aber nach innen, im Untergrund und im Refuge lebte die protestantische Kultur weiter, insbesondere die Kultur der Kirche als Mutter der Armen. Die Sehnsucht der Hugenotten nach dem Vater blieb gleichwohl bis sie ihn letztendlich im Refuge – so jedenfalls etwa im Fall der Hugenotten, die nach Brandenburg-Preußen exilierten – in Friedrich Wilhelm fanden und nach eigener Deutung zu den »Adoptivkindern Preußens«1321 wurden. Bezeichnenderweise spricht auch B. Dölemeyer im Zusammenhang der hugenottischen Geschichtsschreibung und Legendenbildung des 17. u. 18. Jh. innerhalb der deutschen Aufnahmeländer von »neuen Landeskindern«: »Sie sahen sich als neue Landeskinder, die wichtige wirtschaftliche und kulturelle Neuerungen mitgebracht hatten.« Die Verklärung der gefundenen Vaterfigur ging in dieser frühen Form der eigenen Geschichtsschreibung im preußischen Exil auf der anderen Seite also schließlich einher mit der Projektion eines Idealkindes, könnte man sagen, um im Muster der »Familienaufstellung«1322 zu bleiben. Das 1320 U. Niggemann, Hugenotten, S. 25. 1321 So der von Jean-Pierre Erman und Fr¦d¦ric Reclam selbstgewählte Begriff ihrer hugenottischen Geschichtsschreibung des Endes des 18 Jh. (vgl. Horsta Krum, Preußens Adoptivkinder. Die Hugenotten – 300 Jahre Edikt von Potsdam. Unter Verwendung von » Memoires pour servira l’histoire des refugies francois dans les etats du roi » von J. P. Erman und F. Reclam 1782 – 1799, Berlin 1985). 1322 Im Kontext von Familientherapie und anderer Therapien wird als hilfreiche Methode oft die einer »Familienaufstellung« gewählt: Personen, die stellvertretend für Vater, Mutter,

Diakonische Praxis und theologiegeschichtlicher Hintergrund

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hatte historische Relevanz: Genauso wie sich das im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung auf das gesellschaftliche Verhalten der Hugenotten in den neuen Aufnahmeländern auswirkte, so etwa in Preußen, wo sie sich »vom Glaubensflüchtling zum preußischen Patrioten«1323 entwickelt haben, hatte die jeweils neue Konstellation selbstverständlich auch ihre Auswirkungen im Bereich der Gestaltung der diakonschen Arbeit und des diakonischen Selbstverständnisses im Refuge. Franz.-prot. Exilgemeinden gab es jedoch bereits im 16. Jh. Dort finden wir wesentliche Charakteristika wieder, wie sie auch kennzeichnend sind für das diakonische Engagement und Selbstverständnis der französischen Protestanten in Frankreich im selben Zeitraum. Da es, wie wir am Beispiel von Straßburg und Genf sahen, eine (starke) Wechselwirkung zwischen Exilgemeinden und Heimatgemeinden gab, soll deshalb nun noch ein kurzer Blick auf die franz.-prot. Exilgemeinden von Frankfurt a. Main, Emden und Wesel erfolgen.

Sohn, Tochter etc. stehen werden stellvertretend für diese in bestimmten Abständen zueinander im Raum positioniert, womit dann gestalttherapeutisch gearbeitet wird, um die Beziehungen zu reflektieren und Erkenntnisse zu gewinnen. Dabei sind besonders aufschlussreich die Konstellationen, bei denen sich Lücken durch Wegbruch von Vater, Mutter etc. ergeben und die damit verbundenen (notwendigen) Ersatzfunktionen. 1323 R. von Thadden, Vom Glaubensflüchtling zum preußischen Patrioten, in: R. v. Thadden / M. Magdelaine (Hg.): Die Hugenotten 1685 – 1985, München 1985, S. 186 – 197.

5.

Streiflichter: Die ersten sogenannten (französischen) Fremdlingsgemeinden im 16. Jh. in deutschen Aufnahmeorten (Frankfurt a. M. und Emden) – Charakteristika ihrer diakonischen Praxis

Was für die Hugenotten in Frankreich galt, nämlich, dass das religionssoziologische Phänomen »Gemeinschaft«, das bei Calvin eine theologische Entsprechung in der Rede von der communio hatte – eine Grundlage für das gemeindliche Engagement und die Organisation der Diakonie bildete, traf nicht minder für die ersten Flüchtlingsgemeinden der Hugenotten des 16. Jh. in deutschen Landen zu. Es gibt konstitutive Elemente, die bei der Herausbildung und Erhaltung solcher Gemeinschaft eine Rolle spielten. »Gemeinschaft« ist in der Soziologie ein »von Tönnies eingeführter idealtypischer Begriff, um Gruppen und Vereinigungen zu kennzeichnen, deren hauptsächliche Ziele in den Beziehungen der Gruppenmitglieder selbst liegen und nicht nach außen gerichtet sind…«1324 Kennzeichnend für eine Gemeinschaft bzw. Gruppe ist die »Kooperation«1325 : »Nur integrative soziale Situationen oder solche, die mit gutem Willen so aufgefasst werden können, ermöglichen Kooperation.«1326 Unter »integrativen sozialen Situationen« versteht man Situationen, wo gemeinsame Arbeit notwendig ist, bei der Interessensgleichheit vorausgesetzt ist1327. »Man kann empirisch belegen, dass kooperatives Vorgehen in integrativen sozialen Situationen effizienter ist«1328 als in nicht-integrativen sozialen Situationen. Dies ist bei den hugenottischen Flüchtlingsgemeinden des 16. Jh. zweifellos festzustellen. Die integrative soziale Situation war ein Faktor, der sowohl den Gemeindeaufbau wie auch das diakonische Engagement entscheidend prägte. War dies in Frankreich in vielen Regionen und über lange Zeit durch einen Mikrokosmos gekennzeichnet, der sich einer tendenziell feindlich gesinnten 1324 Art. »Gemeinschaft« in. Das neue Fischer-Lexikon in Farbe, S. 128; vgl. auch H. Schoeck, Soziologisches Wörterbuch, S. 134. 1325 Zum Begriff »Kooperation« siehe E. F. Mueller und A. Thomas, Einführung in die Sozialpsychologie, S. 344 ff. 1326 E. F. Mueller und A. Thomas, Einführung in die Sozialpsychologie, S. 347. 1327 E. F. Mueller und A. Thomas, ebd. 1328 E. F. Mueller und A. Thomas, ebd.

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Streiflichter

Umwelt gegenüber sah und in einer Bekenntnissituation befand, so waren die Charakteristika des Mikrokosmos der ersten Flüchtlingsgemeinden in deutschen Landen: eine gemeinsame Erfahrung der Entwurzelung, eine andere Sprache, Kultur und teils auch andere protestantische Denomination bzw. Konfession (reformiert im Unterschied zu lutherisch). Die kollektive Erfahrung, zu einer verfolgten Kirche zu gehören, reproduzierte sich zwar nicht im Exil, aber auch dort wurde der Gruppenzusammenhalt der Hugenotten stark durch das Verhältnis zur Außenwelt bestimmt. Dieser Faktor spiele zweifelsfrei auch später im europäischen und transatlantischen Refuge der Hugenotten im 17. und 18. Jh. eine große Rolle. Die Effektivität und Funktionsweise des hugenottischen diakonischen Engagements in den ersten Flüchtlingsgemeinden in deutschen Landen lässt sich aber nicht monokausal von dieser einzigen soziologischen Kategorie herleiten. Die diakonische Gestalt der ersten Flüchtlingsgemeinden im Sinne einer ausgeprägten Gemeindediakonie ist nicht gut vorstellbar ohne die bereits ausgebildete Tradition des presbyterial-synodalen Aufbaus der Gemeinden (genossenschaftliches Prinzip) und der Diakonie bzw. des Diakonenamtes (siehe vorangehende Darstellung). Als nennenswerte französischsprachige reformierte Gemeinden, die sich in deutschen Aufnahmeorten bereits im 16. Jh. gebildet haben und gerade auch im Blick auf ihre diakonische Existenz ein besonderes Profil entwickelt haben, sind hier Emden und Frankfurt a. M. zu nennen. Die wallonisch-reformierte Gemeinde von Wesel stach zwar ebenso durch ihr diakonisches Profil hervor bzw. kannte das Amt der Diakone, aber dies vollzog sich im Vergleich zu den anderen beiden Städten offenbar zeitverzögert und kann deshalb vernachlässigt werden.

Frankfurt a. M. Auch in der französischsprachigen Flüchtlingsgemeinde Frankfurt a. M.1329 finden wir sehr früh das Beispiel eines solidarischen gemeindediakonischen Engagements mit Selbsthilfecharakter von Flüchtlingen für Flüchtlinge und das Amt der Diakone innerhalb der Gemeindeleitung. Im 16. Jahrhundert wurden in Frankfurt ähnlich wie in Emden zahlreiche Glaubensflüchtlinge aufgenommen: Engländer, Französisch-Reformierte und Niederländer gründeten Gemeinden, von denen die englische nicht lange Bestand hatte, da sich die politische Si1329 Zu den Ursprüngen und der Geschichte der Französisch-reformierten Gemeinde vgl. A. Mangon, Geschichte der Reformierten in Frankfurt 1554 – 1712, und I. Dingel, Entstehung der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde Frankfurt, in: Georg Altrock / Hermann Düringer / Matthias von Kriegstein / Karin Weintz (Hg.): Migration und Modernisierung, S. 53 – 72.

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tuation in England bald wieder zugunsten der protestantischen Glaubensflüchtlinge änderte und diese offenbar großenteils zurückkehrten.1330 Bei der französisch-reformierten Gemeinde handelte es sich in Wirklichkeit um eine wallonische, die jedoch kaum von französischen Gemeinden abzugrenzen ist1331 und schon sehr bald durch französische zuziehende Flüchtlinge durchmischt wurde1332. Eine herausragende Rolle spielte in dieser Gemeinde sehr bald der Pfarrer Val¦rand Poullain1333, der entgegen anderslautender Angabe von M. Magdelaine nicht etwa von 1543 bis 1547 dort wirkte,1334 sondern erst ab März 1554, nachdem er dort in Frankfurt mit einer größeren Gruppe wallonischer Flüchtlinge Aufnahme erbeten hatte.1335 Hierbei handelte es sich um eine Gruppe von Flüchtlingen, die zur französischsprachigen Exilgemeinde in Glastonbury in Sommerset (England) gehörten, in der Val¦rand Poullain 1552 Superintendent gewesen war und auch eine eigene Kirchenordnung erarbeitet hatte. Gebürtig war Val¦rand Poullain wohl aus der Bourgogne, zog aber später siebenjährig mit seiner Familie nach Lille, wo sein Vater die Bürgerrechte für sich und seine Familie erwarb.1336 Deshalb gab Poullain als seinen Heimatort immer die im französischsprachigen Flandern gelegene Stadt Lille an,1337 die seinerzeit zu den spanischen Niederlanden gehörte, bevor sie im 17. Jh. erneut an Frankreich fiel.1338 In Straßburg war Val¦rand Poullain als zweiter Amtsnachfolger von Calvin in der dortigen französischen Flüchtlingsgemeinde in den Jahren 1544 bis 1548 aktiv, von geringfügigen Unterbrechungen abgesehen,1339 etwa, als er 1547 die franz. Flüchtlingsgemeinde in Canterbury beim Gemeindeaufbau unterstütz1330 Vgl. M. Magdelaine, Frankfurt a. M.: Drehscheibe des Refuge, S. 26. 1331 Vgl. hierzu z. B. H. Bots, Le Refuge dans les Provinces-Unies, S. 63 f. 1332 Dies geschah bereits nach dem Massaker von Vassy (1562) und der Bartholomäusnacht (1572) – vgl. M. Magdelaine, Geschichte einer Paradoxie, S. 143. 1333 Zu Val¦rand Poullain vgl. Aart Arnout van Schelven, Zur Biographie und Theologie des Val¦rand Poullain, in: ZKG 47 (1928), 227 – 249; Karl Bauer, Val¦rand Poullain. Ein kirchengeschichtliches Zeitbild aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, Elberfeld 1927. 1334 »Die französische Kirche, deren erster Pastor von 1543 bis 1547 Val¦rand Poullain aus Lille war, vergrößerte sich noch durch wallonische Glaubensflüchtlinge und erfuhr einen gewissen Aufschwung.« – so M. Magdelaine, Frankfurt a. M.: Drehscheibe des Refuge, S. 26. 1335 Vgl. RGG, Bd.6 4. Aufl., 1523 f ., BBKL 7, 871 – 873. 1336 Zu den biographische Angaben siehe: J. Becker, Artikel über »Val¦rand Poullain«, in: »Lexikon« auf der Website »reformiert.de«, 2005. 1337 Vgl. J. Becker, Artikel über »Val¦rand Poullain«, in: »Lexikon« auf der Website »reformiert.de«, 2005. 1338 Vgl. I. Dingel, Entstehung der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde, S. 56. 1339 vgl. J. Becker, Artikel über »Val¦rand Poullain«, in: »Lexikon« auf der Website »reformiert.de«, 2005; Aart Arnout van Schelven, Zur Biographie und Theologie des Val¦rand Poullain, in: ZKG 47 (1928), 227 – 249; Karl Bauer, Val¦rand Poullain. Ein kirchengeschichtliches Zeitbild aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, Elberfeld 1927.

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Streiflichter

te,1340 bevor er 1549 schließlich mit Martin Bucer nach England emigrierte.1341 In Straßburg hatte Poullain nicht nur intensiven Kontakt mit Bucer und stand später auch im Austausch mit Guillaume Farel und Jean Calvin, sondern erlebte auch die Kirchengestalt der dortigen Flüchtlingsgemeinde,1342 die wie weiter oben dargestellt, offensichtlich Vorbildcharakter im Blick auf Aufbau und Organisation der Diakonie für die französischen Kirchengemeinden hatte (s. o.). Im Blick auf die Diakonie der franz.-ref. Flüchtlingsgemeinde in Frankfurt lässt sich Folgendes sagen: Frankfurt war freie Reichsstadt und einer der bedeutendsten europäischen Finanz- und Handelsplätze. Die französischsprachigen Flüchtlinge und deren Nachkommen, die im 16. Jh. in der Stadt ansässig wurden, trugen zum Wohlstand der Stadt bei1343 und verfügten über eine gut organisierte offene Gemeindediakonie, die weitestgehend, wie in der Flüchtlingsgemeinde in Emden, insofern selbsthilfeorientiert war, als dass sie ihre eigenen Armen wie auch die sehr bald zugewanderten weiteren Flüchtlinge aus Frankreich (um 1562 und 1572) und die später durchreisenden und zugewanderten Flüchtlinge des 17. Jh., die in erheblich größerer Anzahl ankamen, selbst versorgte. Die Flüchtlingsgemeinde betreute also nicht erst seit 1685 in Frankfurt eintreffende bzw. durchreisende Glaubensflüchtlinge, sondern sie nahm sich dieser auch schon im 16. Jh. und dann besonders seit 1661 an, also seit der restriktiven Auslegung und Anwendung des Edikts von Nantes.1344 Dabei wurden die Flüchtlinge, die den Status »vorübergehender« Armer hatten, zunächst mit den »gewöhnlichen« Gemeindearmen gleichbehandelt und auf demselben Etat geführt, bevor im Zuge des starken Zustroms im 17. Jh. anders verfahren wurde.1345 Die Flüchtlings- und Armenversorgung dieser Minderheitskirche konnte nur auf der Grundlage einer bewährten gemeindediakonischen Tradition und Organisation geschehen. Val¦rand Poullain hatte neben einer Confessio für seine Frankfurter Gemeinde auch die schon erwähnte Kirchenordnung entworfen, die mit nur leichten Abänderungen versehen im Wesentlichen auf eine von ihm bereits in England erarbeitete und dort von der Gemeinde praktizierte Ordnung 1340 Vgl. Martin Greschat, Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit (1491 bis 1551), Münster 2009, S. 252. 1341 Dies tat er auf einem gemeinsamen Reise- bzw. Fluchtweg mit Buzer und Fagius, mit denen er sich in Raon mit Matthias Negelin aus Würtemberg traf, um mit ihnen von dort aus auf etwas abenteuerlichem Wege (zwischenzeitig wurden sie verhaftet) weiter zu reisen (vgl. M. Greschat, ebd., S. 252 f.). 1342 I. Dingel, Entstehung der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde, S.56 u. 62 f. ; vgl. auch Aart Arnout van Schelven, Zur Biographie und Theologie des Val¦rand Poullain, in: ZKG 47 (1928), 227 – 249. 1343 Vgl. M. Magdelaine, Frankfurt a. M.: Drehscheibe des Refuge, S. 27. 1344 Vgl. M. Magdelaine, Frankfurt a. M.: Drehscheibe des Refuge, S. 27 ff. 1345 Vgl. M. Magdelaine, Frankfurt a. M.: Drehscheibe des Refuge, S. 27 ff.

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zurückging.1346 Die Ordnung wurde mit der Confessio zusammen bei Peter Brubach in Frankfurt 1554 in erster und 1555 in zweiter Auflage veröffentlicht unter dem Titel: »Liturgia sacra, seu ritus minsiterii in ecclesia peregrinorum Francofordiae ad Moenum. Addita est summa doctrinae sea fidei professio ejusdem ecclesiae.«1347 Nach J. Becker datiert die erste Ausgabe der Liturgia sacra von 1551.1348 Welche Datierung nun auch immer die tatsächlich zutreffende für die erste Auflage sein mag, finden wir in der für die Frankfurter Gemeinde gültigen Ausgabe von 1554, ebenso wie für die Zeit in England, die drei Ämter der Pastoren, Ältesten und Diakone vor, die zusammen die Gemeindeleitung stellten, von der die Diakone anfangs nur sehr kurzzeitig ausgeschlossen waren.1349 Auch die Länge der Amtsperioden der Gewählten differierte von Zeit zu Zeit,1350 aber grundsätzlich handelte es sich um eine Anknüpfung an die Ordnung der Straßburger französischen Flüchtlingsgemeinde und die Fortführung der Ordnung, wie sie schon in England üblich war. Die Nähe seiner Liturgia sacra zur Ordnung der Straßburger Flüchtlingsgemeinde, auf die er ausdrücklich Bezug nimmt, ist sicher durch seine oben genannte Tätigkeit in der Straßburger franz. Flüchtlingsgemeinde begründet. Diese Nähe ist vor allem daran erkennbar, dass auch die dortige Kirchenordnung neben den Ämtern der Pastoren und Ältesten das der Diakone vorsah und diesen gemeinsam die Gemeindeleitung oblag. Den Diakonen kam also auch hier eine exponierte Stellung zu und die offene gemeindliche Armenfürsorge war damit auch im englischen Exil schon gewährleistet. Die Auflösung der in Glastonbury befindlichen Gemeinde Ende 1553 und erneute Flucht aus England war bedingt durch die Thronbesteigung der altgläubigen Königin Mary und entsprechende nachfolgende Kultusverbote und Repressalien für die dort lebenden Protestanten. Die Kirchenordnung der Flüchtlingsgemeinde hatte sich in England bewährt, weshalb sie in Frankfurt erneut zur Anwendung kam, nachdem hier die Übersiedlung der Flüchtlinge erfolgt war Da die Ordnung wenig gemeinsam hat mit der Genfer Ordnung Calvins (dort sind es vier Ämter), aber dafür um so eher Nähen mit der Discipline eccl¦siastique der franz.-ref. Nationalsynode von 1559 aufweist, verleitet es I. Dingel zu der Mutmaßung, dass diese »Liturgia sacra« vielleicht sogar jene franz.-ref. Kirchenordnung von 1559 beeinflusst haben könnte.1351 Ein solcher Rückschluss 1346 Vgl. I. Dingel, Entstehung der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde, S.61 f. 1347 Vgl. I. Dingel, Entstehung der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde, S.61. 1348 Siehe J. Becker, Artikel über »Val¦rand Poullain«, in: »Lexikon« auf der Website »reformiert.de«, 2005. 1349 Vgl. I. Dingel, Entstehung der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde, S.62 f. 1350 Vgl. I. Dingel, Entstehung der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde, S.63. 1351 Vgl. I. Dingel, Entstehung der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde, S.62.

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Streiflichter

liegt gerade, was die Entstehungszeiten der Ordnungen betrifft (1554 bzw. 1555 und 1559), durchaus nahe. Die Erklärung der inhaltlichen Nähen wird aber eher darauf zurückzuführen sein, dass beide Ordnungen gleichermaßen (sowohl die Liturgia sacra als auch die Discipline eccl¦siastique) zumindest in Teilen auf das Modell der Straßburger Flüchtlingsgemeinde wie auf die strukturgleiche Genfer Flüchtlingsgemeinde mit ihrer bourse franÅaise zurückzuführen sind, also dort ihre Wurzeln haben, wo auch die »Discipline eccl¦siastique« von 1559 jedenfalls, was die Aufgaben der Diakone und die gemeindliche Armen- und Krankenfürsorge betrifft, offenbar ihre Anknüpfungspunkte fand, wie im ersten Teil der vorliegenden Studie ausführlich dargelegt.1352 In der diakonischen Praxis mögen sich diese genannten Gemeindemodelle tatsächlich gegenseitig beeinflusst haben, war doch gerade eine der Stärken der franz.-ref. Minderheit ihre transnationalen bzw. internationalen Kontakte. Davon, mit welcher Gewissenhaftigkeit – ähnlich wie in der Genfer und Straßburger franz. Flüchtlingsgemeinde – die Selbstverwaltung und Selbsthilfe auf der Ebene der Armen- und Krankenversorgung auch in der wallonischen Kirchengemeinde in Frankfurt vollzogen wurde, zeugt schließlich die nachfolgende Diakonieordnung der Gemeinde von 1585. Es handelt sich eher um ein Reglement, das einen speziellen Bereich abdeckte als um eine vollständige Diakonieordnung. Deutlich ablesbar ist an ihr aber der alltägliche Erfahrungshintergrund, vor dem sie entstanden ist. Das unbezahlte Ehrenamt der Diakone scheint (schon) damals im 16. Jh. eine zeitliche Bürde und große Herausforderung gewesen zu sein, was sich zum Teil in den nun folgenden Abschnitten der Diakonieordnung spiegelt: »Es folgen die Vorschriften und Sanktionen der …Diakone. Diese müssen vor allem von dem neuen Diakon gelesen werden, nachdem er sie im Beisein der Brüder erhalten hat und diesen gegenüber sich bereit erklärt hat, sie einzuhalten. Erstens: Derjenige, der nicht jeden Sonntag unmittelbar nach der Morgenpredigt (Morgengottesdienst) zur Morgenversammlung der Diakone kommt und sich nicht vor Gebetsende einfindet und dafür keine ernstzunehmende Entschuldigung hat, soll zur Strafe einen Taler zahlen und wenn er den (Armenkassen-)Schlüssel besitzt, die doppelte Summe. Zweitens: Derjenige, der den Wochendienst verrichten soll und bei der morgendlichen Zusammenkunft in Anwesenheit der Brüder den Namen Gottes vor und nach der Handlung nicht anruft, soll ein Strafgeld zahlen. Drittens: Derjenige, der den Schlüssel vergisst, soll ein Strafgeld zahlen. Und wenn er ihn verliert, soll er ihn auf eigene Kosten neu machen lassen und soll zwei Pfennige [eigentlich: Fenins] bezahlen für jeden Tag, bis dass er die Kasse öffnen lassen wird. 1352 Vgl. in der vorliegenden Studie bes. Kap. 2.2.1 (Ursprung des franz.-reformierten Diakonenamtes und der diakonischen Organisationsform).

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Viertens: Derjenige, der den Wochendienst hat und vergisst, den Sammelbeutel bereit zu halten, soll ein Strafgeld zahlen nach Gutdünken der Brüder, die dieses an eben diesem Tage und zu eben dieser Stunde entscheiden sollen. Fünftens: Diejenigen, die Wochendienst haben und vergessen, ihn auszuführen…sollen, wenn sie keine ernsthafte Entschuldigung haben, eine Strafe nach Gutdünken der Brüder, bezahlen, die den entstandenen Schaden zu beurteilen haben.«1353

Die hier nicht etwa gegenüber den Bedürftigen, sondern gegenüber den Helfenden bzw. Diakonen vorgenommene »Disziplinierung«1354, die aus der Rigidität der Zeilen der vorangegangenen Ordnung ersichtlich ist, offenbart die Ernstnahme einer von der Gemeinde selbst zu gewährleistenden, effektiven Durchführung der Armen- und Krankenunterstützung. Dass dieser Dienst an den Bedürftigen von Anfang an ein genuiner Bestandteil gemeindlicher Existenz war, zeigt sich letztendlich auch darin, dass einer der beiden Gottesdienstorte der wallonisch-reformierten Gemeinde ziemlich von Beginn an gleichzeitig auch als Armenhaus der Gemeinde fungierte.1355 Damit war auch hier in der Frankfurter Exilgemeinde die gemeindliche Armen- und Krankenfürsorge wesentlicher Bestandteil der Gemeindespiritualität, wie wir sie weiter oben dargelegt haben – eine Face-to-Face-Beziehung auf der theologischen Grundlage des Communio-Gedankens, der sich mit der Botschaft »Dein Armer« verband. Besonders unterstrichen wird das in der Frankfurter Gemeinde bzw. der Liturgia sacra von Val¦rand Poullain auch dadurch, dass die Diakonie bzw. ein Teil der Tätigkeit der Diakone auch liturgisch eingebunden war (die Armengeldsammlung erfolgte nach der Predigt) – im Unterschied zur Genfer Kirchenordnung, 1353 Eigene Übersetzung der im französischen Original im Stadtarchiv Frankfurt aufbewahrten »Diakonieordnung« von 1585 – franz. abgedruckt in: Wolff, Fritz u. a. (Hg.): Hugenotten in Hessen, Ausstellungskatalog der Hessischen Staatsarchive zum Hessentag 1978 in Hofgeismar, Marburg 1978, S. 28. 1354 Zurecht darf man fragen, ob die Armenfürsorge, wie sie vor allem durch die Forschungen von Robert Jütte angestoßen als Feld der Sozialdisziplinierung entdeckt wurde, nicht zu einseitig in Kategorien von »oben« und »unten« denkt. Offensichtlich war die Zielrichtung der Disziplinierung nicht immer nur der hilfsbedürftige Arme selbst, wie das obige Beispiel zeigt. Zumindest im nicht-staatlichen gemeindlichen Kontext konnte sie ebenso die bürgerlichen Helfenden treffen. Das Gemeinwesen funktionierte jedenfalls nur dann, wenn auch diese ihre Aufgabe wahrnahmen. Die Ernstnahme dieser Verpflichtung zeugt von dem Bewusstsein einer Würde der betroffenen und auf Hilfe angewiesenen Unterstützungsempfänger. 1355 »Der öffentliche Gottesdienst war schon im August 1561 vom Rat der Stadt Frankfurt untersagt worden.« (I. Dingel (Hg.): Abraham Mangon. Kurze doch wahrhaftige Beschreibung, dort S. 19, Anm. 37)). So trafen sich die Wallonen »zu Anfang in der Nähe der Weißfrauenkirche in einer scheune und in dem Haus ›zur großen Aynung‹, das man zur Unterbringung der Armen der Gemeinde von dem Heiliggeisthospital angemietet hatte« (I. Dingel, ebd., S. 19) – dortiger Verweis auf: Friedrich Clemens Ebrard, Die französischreformierte Gemeinde, S. 103.

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die eine solche Anbindung nicht kannte.1356 Auch hier war wieder zweifellos prägend, was I. Dingel an anderer Stelle mit Blick auf die Kirchenordnung (Liturgia sacra) der Wallonisch- bzw. Französisch-Reformierten Gemeinde Frankfurt festgehalten hat: »Von dieser presbyterialen Verfassung her war die Französisch-Reformierte Gemeinde also, ebenso wie die hugenottischen Gemeinden in Frankreich, ein von der politischen Obrigkeit vollkommen unabhängiges Gebilde, das sowohl unter gottesdienstlichem als auch unter organisatorisch-finanziellem Aspekt außerhalb der herrschenden Strukturen der Stadt zu stehen kam.«1357

Emden In Emden entwickelte sich zeitgleich wie in Frankfurt eine »Diakonie der Fremdlingen-Armen«, deren Entstehung Wilhelm Bernoulli bei 1553 ansetzt und meint: »Es war offenbar a Lasco, der damals die »Diakonie der FremdlingenArmen ins Leben rief«1358. Nach Gerhard Uhlhorn waren es die fremden Glaubensgenossen selbst, die 1558 zu einer »Diakonie der armen Fremdlingen binnen Emden« zusammentraten.1359 Auch Jürgen Mülder setzt den Beginn dieser diakonischen Institution offenbar wie Uhlhorn erst im Jahre 1558 an.1360 Offensichtlich hat es aber Vorformen oder dergleichen in der Zeit zwischen 1554 bis 1557 gegeben, bis sich schließlich die Einrichtung als feste Institution der gemeindeeigenen Armen- und Flüchtlingshilfe herausgebildet hatte.1361 Sicher scheint jedenfalls gerade auch nach den neueren Forschungen von Timothy Fehler, dass die Propagierung und Errichtung dieser Institution nicht das Werk eines einzigen Mannes war, sondern eine längere Entstehungsgeschichte hat, bei der mehrere Faktoren, Prägungen und Personen eine Rolle gespielt haben, bevor 1356 Vgl. dazu J. Becker, Reformierter »Gemeindeaufbau« in Westeuropa. Zur Verbreitung calvinischer Ekklesiologie, S. 272. 1357 I. Dingel, Entstehung der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde Frankfurt: theologische und ekklesiologische Aspekte, S. 63. 1358 W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie der Reformationszeit, in: Herbert Krimm (Hg.): Das diakonische Amt der Kirche, S. 226. Ähnlich konzentriert E. Beyreuther das Geschehen sehr auf die Person von Johannes a Lasco selbst. Er spricht von Flüchtlingen, »die nach 1553 aus England zusammenströmten und die unter ihrem Superintendenten a Lasco zu einer ›Diakonie der Fremdlings-Armen‹ zusammengefasst wurden« (ders., Geschichte der Diakonie, S. 28). 1359 Vgl. G. Uhlhorn, die christliche Liebestätigkeit, Bd. 3, S. 156. 1360 Vgl. J. Mülder : Die Diakonie der Fremdlingen-Armen : 1558 – 1958, Emden 1933, (Neuaufl.) 1958. 1361 Vgl. Timothy G. Fehler, Poor relief and Protestantism: the evolution of social welfare in sixteenth-century Emden, Ashgate 1999), S. 277.

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es zu der Herausbildung des Diakonenamtes kam, wie es dann in der Flüchtlingsgemeinde in Emden praktiziert wurde.1362 Zum Hintergrund der dortigen Situation muss festgehalten werden, dass Johannes a Lasco zunächst in Emden Erfahrungen mit der obrigkeitlichen Armenfürsorge gemacht hatte, bei der er als dortiger Superintendent in der Zeit von 1542 bis 1549 auch für die Einbindung der Kirchengemeinden durch Armengeldsammlungen und –austeilungen etc. zuständig war. Unklar muss bleiben, ob er auch an der Abfassung der entsprechenden Gesetze und Ordnungen beteiligt war.1363 Er hatte zu jener Zeit, genauer am 6. September 1545, Unzufriedenheit über den Stand der Dinge im Bereich der Armenfürsorge in einem Brief gegenüber Hermann Lenthius, dem Sekretär der Gräfin, geäußert und beklagt: »Ist es nicht beschämend, dass ich keine richtige Armenpflege durchsetzen kann?«1364 Daraus ist zwar zu entnehmen, dass ihm schon damals die Versorgung der Armen ein wichtiges Anliegen gewesen sein muss, aber mehr auch nicht – das Amt der Diakone (franz. Diacres), wie wir es von den franz.-ref. Kirchen Frankreichs her kennen, war zu der frühen Zeit, also seines ersten Aufenthaltes in Emden von ihm noch nicht im Blick.1365 Diese Diakone werden urkundlich das erste Mal offensichtlich erst 1557 in Emden erwähnt, wo sie im Zusammenhang mit dem Selbsthilfesystem der Fremdlings-Diakonie begegnen.1366 Nachdem sich Johannes a Lasco aufgrund der neuen religionspolitischen Lage in Ostfriesland nicht mehr halten konnte und dort 1549 aus seinem Amt 1362 Vgl. Timothy G. Fehler, Diakonenamt und Armenfürsorge bei a Lasco. Theologischer Impuls und praktische Wirklichkeit, in: Strohm, Christoph (Hg.): Johannes a Lasco (1499 – 1560). Polnischer Baron, Humanist und europäischer Reformator (Spätmittelalter und Reformation Neue Reihe 14), Tübingen 2000, S. 173 – 186; Timothy G. Fehler, Poor relief and Protestantism: the evolution of social welfare in sixteenth-century Emden, Ashgate 1999), bes. S. 277 ff. 1363 Vgl. W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie der Reformationszeit, in: Herbert Krimm (Hg.): Das diakonische Amt der Kirche, S. 217 f. 1364 Zitiert nach W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie der Reformationszeit, in: Krimm, Herbert (Hg.): Das diakonische Amt der Kirche, S. 216 (Verweis: Opera Bd. 2, S. 596). 1365 Zu den begrifflichen und inhaltlichen Unterschieden, was sich in Emden jeweils mit den »Diakonen« verband vgl. die erhellenden Differenzierungen und Ausführungen von Timothy G. Fehler, der die Armenfürsorge und Diakonie jener Epoche in Emden intensiv analysiert hat (vgl. ders., Diakonenamt und Armenfürsorge bei a Lasco. Theologischer Impuls und praktische Wirklichkeit, in: Strohm, Christoph (Hg.): Johannes a Lasco (1499 – 1560). Polnischer Baron, Humanist und europäischer Reformator (Spätmittelalter und Reformation Neue Reihe 14), Tübingen 2000, S. 173 – 186; Timothy G. Fehler, Poor relief and Protestantism: the evolution of social welfare in sixteenth-century Emden, Ashgate 1999). 1366 Vgl. W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie der Reformationszeit, in: Herbert Krimm (Hg.): Das diakonische Amt der Kirche, S. 218

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weichen musste – der Kaiser übte entsprechenden Druck auf die Regentin Anna von Oldenburg aus – , wurde er nach England eingeladen, reiste am 13. Mai ein und wurde dort von höchster Stelle als Superintendent der Londoner drei Flüchtlingsgemeinden (niederländisch-, französisch- und italienisch-protestantische Exilgemeinden) eingesetzt.1367 Während auf dem Festland das Interim Karl V. ein Stillstand bzw. Bedrohung für die Sache der Reformation bedeutete, sahen zu eben derselben Zeit die Machtverhältnisse in England nach dem Tode Heinrichs VIII. zunehmend so aus, dass es innerhalb der Kirche und des Adels einen proreformatorischen Kurs gab. Besonders einflussreich waren hier der Erzbischof Cranmar und die politische Führung des Duke of Somerset, der das Protektorat für den noch minderjährigen König Edward VI. (1549 war er erst zehn Jahre) innehatte.1368 Das zog zwei Dinge nach sich. Zum einen holten die bereits genannten Repräsentanten des englischen Staates und der Kirche überzeugende befähigte Theologen und Gelehrte nach England um »in dem Weinberg zu arbeiten«.1369 Zum anderen zog es protestantische, insbesondere reformierte Flüchtlinge nach England, die in Italien, den Niederlanden, Frankreich oder in deutschen Territorien Verfolgungen ausgesetzt waren bzw. den Kultus nicht offen leben konnten. Die franz. Flüchtlingsgemeinden (Canterbury und London) waren die ersten, die sich in England gebildet hatten. Die niederländische und die italienische folgten nach. Johannes a Lasco fand aber nicht nur bereits diese Flüchtlingsgemeinden vor, sondern ihm voraus waren dort längst auch Theologen und andere Gelehrte eingereist, die in England der Reformation den Weg bahnen sollten und die geistliche Führungselite darstellten. Sie kamen zu einem Großteil aus Straßburg oder waren stark von Straßburger Einflüssen geprägt, darunter Martin Bucer, der schon erwähnte Val¦rand Poullain, Bernardino Ochino, Petrus Martyr, Paul Fagius und Jan Utenhove.1370 Jan Utenhove fungierte für Johannes a Lasco nicht nur als Ansprechpartner für die niederländische Gemeinde in London, sondern war offensichtlich als Pfarrer zumindest zeitweise auch im Dienst der französischen Gemeinde von Canterbury tätig.1371 Das verwundert nicht, hatte er doch ursprünglich in Köln im Hause der befreundeten franzö1367 Vgl. Claire Cross, Exile in the English Reformation (1520 – 1570), in: History Review Dec. 1998, S. 19 f.; W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie der Reformationszeit, in: Herbert Krimm (Hg.): Das diakonische Amt der Kirche, S. 218. 1368 Vgl. Claire Cross, Exile in the English Reformation (1520 – 1570), in: History Review Dec. 1998, S. 19 f. 1369 Vgl. Claire Cross, Exile in the English Reformation (1520 – 1570), in: History Review Dec. 1998, S. 20. 1370 Vgl. Claire Cross, Exile in the English Reformation (1520 – 1570), in: History Review Dec. 1998, S. 19 f. 1371 Vgl. Claire Cross, Exile in the English Reformation (1520 – 1570), in: History Review Dec. 1998, S. 20.

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sischen Familie von Jacques de Bourgogne (um 1520 – 1556), Seigneur de Falais et de Bredam, gewohnt, bevor er dann im November 1545 mit der Familie de Bourgogne nach Straßburg zog und dort mit ihnen Aufnahme in der französischen Flüchtlingsgemeinde in Straßburg fand. Und so verlagerte sich gewissermaßen ein Teil des internationalen Reformiertentums von Straßburg nach London bzw. England, wobei es dort durch Val¦rand Poullain und Jan Utenhove eine durchaus starke Repräsentanz der franz. –ref. bzw. calvinisch geprägten Flüchtlingsgemeinde von Straßburg und ihrer Tradition gab. Sie standen darin zugleich Bucer sehr nahe.1372 Die französische Gemeinde in London wurde ebenso wie die niederländische Gemeinde pfarramtlich von zwei Pfarrern versorgt, nämlich Richard Vauville und Francois Perussel (auch genannt du Rivier1373).1374 Dort verfasste Johannes a Lasco also in seiner Eigenschaft als offiziell königlich bestätigter Superintendent der Exilgemeinden in London nicht nur seine wichtigste Schrift »Forma ac Ratio tota ecclesiastici Ministerii«1375 – eine Ekklesiologie bzw. Kirchenordnung mit Ausführungen und Reflexionen, wie sie bereits in den Flüchtlingsgemeinden Londons weiten teils zumindest zeitweise praktiziert worden war,1376 die aber erst 1555 veröffentlicht wurde, als er bereits wieder in Emden lebte,1377 sondern brachte von England aus auch seine Erfahrungen aus dem diakonischen Bereich mit nach Emden, als er aufgrund der mit dem Thronwechsel in England verbundenen antiprotestantischen Maßnahmen mit den Gemeindemitgliedern der genannten Exilgemeinden nach nur wenigen Jahren Aufenthalt schließlich die Flucht von London aus antreten musste und mit ihnen in Emden Fuß fasste, wo er ebenso wieder eine führende Rolle einnahm und erneut das Amt des Superintendenten bekleidete.1378 1372 Vgl. die Ausführungen zum Ursprung des Diakonenamtes in der franz.-ref. Kirche (unter Kap. 2.2.1). 1373 Vgl. W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie der Reformationszeit, in: Herbert Krimm (Hg.): Das diakonische Amt der Kirche, S. 218. 1374 Vgl. Cl. Cross, Exile in the English Reformation (1520 – 1570), in: History Review Dec. 1998, S. 20 und W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie der Reformationszeit, in: Herbert Krimm (Hg.): Das diakonische Amt der Kirche, S. 218. 1375 Vgl. W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie der Reformationszeit, in: Herbert Krimm (Hg.): Das diakonische Amt der Kirche, S. 218. 1376 Ausführlich zu a Lascos Kirchenordnung und zur Bedeutung (praktischen Rezeption) derselben für die Flüchtlingsgemeinden in London und Emden sowie den reformierten Protestantismus vgl. die genaue und sehr differenzierende Studie von Judith Becker : dies., Gemeindeordnung und Kirchenzucht. Johannes a Lascos Kirchenordnung für London (1555) und die reformierte Konfessionsbildung (Studies in medieval and reformation traditions 122), Leiden u. a. 2007. 1377 Vgl. W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie der Reformationszeit, in: Herbert Krimm (Hg.): Das diakonische Amt der Kirche, S. 218. 1378 Vgl. T. G. Fehler, Diakonenamt und Armenfürsorge bei a Lasco. Theologischer Impuls und praktische Wirklichkeit, in: Strohm, Christoph (Hg.): Johannes a Lasco (1499 – 1560),

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Streiflichter

Mit anderen Worten war Johannes a Lasco dort in England nicht so sehr Impulsgebender als vielmehr Sammelnder und Hörender. Er musste die dort bereits bekannte Tradition einer selbst organisierten Diakonie durch die Wahl und Beauftragung der Diakone so wie ihre Profilierung nicht selbst neu erfinden, sondern brauchte sie nur aufgreifen. Sie existierte bereits in den Flüchtlingsgemeinden als Erfahrungsschatz und in den Köpfen der genannten Führungspersönlichkeiten als Erfahrung wie auch als Vision. So finden sich in der von Johannes a Lasco verfassten Kirchenordnung »Forma ac Ratio tota ecclesiastici Ministerii« durch die starke reformierte Präsenz in London im Blick auf die Fragen der Diakonie und Armenfürsorge zahlreiche Ähnlichkeiten oder Anknüpfungspunkte zu Bucer, zur Praxis der Straßburger Exilgemeinde so wie der Genfer Exilgemeinde bzw. dortigen bourse franÅaise: »Durch die Einsetzung von Diakonen in der Gemeinde« (und nicht etwa in der Stadt) »soll der Not der Bedürftigen abgeholfen werden.«1379 Die Diakone werden ähnlich wie die Ältesten gewählt.1380 Sie übernehmen teils auch liturgische Funktionen.1381 Sie übernehmen Besuche bzw. Präsenz, vor allem bei Krankheitsfällen1382 und vermitteln Hilfe für den Schulunterricht von Kindern armer Familien.1383 Auffällig ist auch: »Nach Butzers Vorbild unterscheidet a Lasco nicht wie Calvin vier oder drei Ämter, sondern zwei – die Ältesten, zu denen auch die Prediger zählen und die Diakone.1384 Hier hat offenbar eine Akzentverschiebung stattgefunden, die das Amt der Diakone jedenfalls sehr in den Vordergrund stellt. Offenbar erforderte es hier bedingt durch die Flüchtlingsnot der Gemeinden in London eine besondere Profilierung des Amtes. Mehrere Jahre nach der Rückkehr Lascos nach Emden vergehen nun also, bis dort in Emden schließlich eine »Diakonie der Fremdlingenarmen« mit dem entsprechenden Diakonenamt fest etabliert ist. Hierbei handelt es sich in erster Linie um eine Flüchtlingshilfe. Emden wurde in jener Zeit zum Schmelztiegel zahlreicher Flüchtlinge (ca. 6.000) – vor allem aus den Niederlanden infolge des Krieges und dem katholischerseits betriebenen Zwang zur Abschwörung.1385 Dadurch wurde die

1379 1380 1381 1382 1383 1384 1385

S. 174 f.; J. Becker : dies., Gemeindeordnung und Kirchenzucht. Johannes a Lascos Kirchenordnung für London (1555) und die reformierte Konfessionsbildung (Studies in medieval and reformation traditions 122), Leiden u. a. 2007; W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie der Reformationszeit, in: H. Krimm (Hg.): Das dia-konische Amt der Kirche, S. 218 ff. W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie der Reformationszeit, in: Herbert Krimm (Hg.): Das diakonische Amt der Kirche, S. 219. W. Bernoulli, ebd. W. Bernoulli, ebd., S. 221 f. W. Bernoulli, ebd., S. 222 . W. Bernoulli, ebd. Vgl. W. Bernoulli, ebd. Zahlenangabe so bei W. Bernoulli, ebd., S. 226.

Emden

321

Stadt außerordentlich belastet. Und ähnlich wie in Straßburg und Genf zog das nun im Blick auf die Flüchtlingsproblematik die Selbsthilfe auch dieser Exilgemeinde nach sich. So bringt es Timothy G. Fehler auf den Punkt: »Perhaps the refugees’ most effect on emden’s social welfare was the creation of the special diaconate of the foreign poor between 1554 and 1557.«1386 Das Modell hierfür sieht Timothy G. Fehler in der Genfer bourse franÅaise. Die Zahlen, die T. G. Fehler für diese Einrichtung liefert, bestätigen, dass die im Auftrag der Exilkirche handelnden Diakone eine sehr rationalisierte und reflektierte und damit effektive Armenunterstützung vorgenommen haben.1387 So gesehen ist T. G. Fehler zuzustimmen, wenn er festhält, dass es ein typisches verbindendes Merkmal der damaligen Exilgemeinden war, dass sie wesentlich zur Entlastung des staatlichen oder städtischen Haushalts der betreffenden Orte beigetragen haben und eine starke Motivation hatten, weil sie Fremdenangst und Rauswurf befürchten mussten, wie es ja in Genf tatsächlich angedroht wurde1388 und in Straßburg auch ganz ähnlich galt.1389 Dennoch wird man nicht sagen können, dass das Hauptmotiv der Flüchtlings- und Armenfürsorge, also des diakonischen Engagements, in den ersten Flüchtlingsgemeinden ein rein pragmatisches Kalkül darstellte. Vielmehr waren die Charakteristika einer gemeindenahen und selbstverantworteten Krankenund Armenunterstützung, wie sie auch kennzeichnend waren für diese frühen Refugegemeinden des 16. Jh., eingebettet in ein Bewusstsein, das sich in Emden am Schluss eines jeden Gottesdienstes in der Aufforderung ausdrückte: »Gedenket eurer Armen und betet füreinander!«1390 und ganz ähnlich noch in den Refugegemeinden deutscher Territorien am Ende des 17. Jh. wie etwa beispielsweise in den franz.-ref. Kirchengemeinden der hessischen Orte Hofgeismar, Carlsdorf, Kelze und Schöneberg: »Gehet hin in Frieden und gedenket der Armen!«1391 als liturgische Formel in Gebrauch war. In beiden Fällen wird die Kategorie der Erinnerung an die Armen in Bezug zur Communio gebracht, in dem einen Fall durch die wechselseitige Bezogenheit der Fürbitte, in dem anderen Fall durch die wechselseitige Bezogenheit des Friedensgedankens.

1386 Timothy G. Fehler, Poor relief and Protestantism: the evolution of social welfare in sixteenth-century Emden, S. 277. 1387 Vgl. Timothy G. Fehler, Poor relief and Protestantism: the evolution of social welfare in sixteenth-century Emden, S. 277 – 279. 1388 Vgl. Timothy G. Fehler, Poor relief and Protestantism: the evolution of social welfare in sixteenth-century Emden, S. 279. 1389 Vgl. S. 53 f. u. 59 f. in der vorliegenden Studie. 1390 Zitiert nach W. Bernoulli, Von der Reformierten Diakonie der Reformationszeit, in: Herbert Krimm (Hg.): Das dia-konische Amt der Kirche, S. 221. 1391 Zitiert nach Jochen Desel, Die Anfänge der Armenfürsorge in den Französisch-Reformierten Gemeinden Hofgeismar, Carlsdorf, Kelze und Schöneberg, Hofgeismar 1986.

6.

Schluss und Ausblick

Am Beispiel der Entwicklung des Diakonenamtes bei den Hugenotten wird deutlich, wie sehr das Sein das Bewusstsein prägte. Die äußere Situation der Konfessionszugehörigen des franz. Protestantismus, nämlich zu einer verfolgten Minderheit zu gehören, bewirkte auch ein anderes diakonisches Engagement im Bereich der Armen- und Krankenfürsorge als wie wir es etwa von den deutschen lutherischen Gemeinden und Städten her kennen. Der Einfluss der Person Calvins und der Stadt Genf muss, was die diakonische Praxis betrifft, hingegen sehr differenziert und relativiert werden, wie die Darstellung gezeigt hat. Calvins größere Bedeutung für das diakonische Engagement des franz. Protestantismus lag in seinen sozialethischen, theologischen und spirituellen Anregungen, also in der Schaffung einer theologischen Basis, die auch im 17. Jh. an Bedeutung nicht verloren hatte, wenngleich neben der grundsätzlichen Kontinuitätslinie (communio-Gedanke etc.) in jener Zeit sowohl Aktualisierungen wie auch Erstarrungen seiner Lehre und eigene zeitbedingte Akzentsetzungen hinzukamen, wie wir gesehen haben, die wiederum ihre eigene Wirkung im Blick auf die Wahrnehmung und Wertung von Armut und Reichtum hatten – besonders was die seelsorgerliche und theologische Reflexion und Lebensintegration betraf (betrifft vor allem die Providenz und Prädestination). Das spezifisch ausgeprägte Modell hugenottischer Gemeindediakonie des 16. und 17. Jh., als deren Charakteristika die Face-to-Face Begegnung und die soziale Eigenverantwortung gelten können, das auch nicht minder in den französisch- und wallonisch-reformierten Exilgemeinden des 16 Jh. (Straßburg, Genf, England, Frankfurt a. M., Emden und Wesel) vorhanden war, sondern gerade dort seine Ursprünge hatte und sich dabei offensichtlich sowohl untereinander als auch auf Frankreich bezogen gegenseitig befruchtete, war und ist gewiss nicht eins zu eins übertragbar, aber wurde zu einer bleibenden Anfrage an diakonische Existenz und armenpolitische Maßnahmen. In der Geschichte der Armenfürsorge, die in der Neuzeit nicht nur einen Wandel durch die Übernahme von Stadt und Staat erlebte, sondern auch einen Prozess durchmachte, der Ausschließung und Marginalisierung vieler Armer nach sich zog,

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Schluss und Ausblick

insbesondere auch der Flüchtlinge und Entwurzelten (also Ortsfremden), stellte das Beispiel der hugenottischen Gemeindediakonie dazu eine reale Alternative dar, die Effektivität und rationalen Geist mit Humanität und Begegnung mit dem Gesicht der Betroffenen selbst sowie Wahrung ihrer Würde verband. Sie war zugleich Überlebensstrategie einer Minderheit. Sofern es sich nicht nur um die Versorgung der zur eigenen Orts- und Kirchengemeinde zugehörigen Armen und Kranken, sondern auch um Versorgung von Flüchtlingen handelte, füllte sie auch eine Lücke im System, das ortsfremde Arme in der Versorgung besonders hinten anstellte, weil sich die Städte für diese entweder nicht zuständig oder überfordert fühlten oder die Fremden grundsätzlich suspekt erschienen. Allerdings sollte die Notwendigkeit der Flüchtlingsversorgung, was das Ende des 17. Jh. betrifft, durch die Aushöhlung und endgültige Aufhebung des Edikts von Nantes und aggressive Verfolgungspolitik noch einmal ganz andere Ausmaße einnehmen als bereits im 16. Jh., und gerade für die hugenottischen Gemeinden des Refuge zur diakonischen Herausforderung werden. Die hugenottische gemeindliche Armen- und Flüchtlingshilfe wurde bereits im 16. Jh. und insbesondere im 17. Jh. zu einer wichtigen Ergänzung der staatlichen Leistungen der Aufnahmeländer und hat die betreffenden Staaten und Städte hier und da sogar wesentlich entlastet. Sie war ein elementarer Beitrag zu einer gelungenen Integration. Was das Thema der »Einschließung« bzw. »Ausschließung« im Bereich der Armenpolitik und –fürsorge betrifft, so wurden Hugenotten, wie weiter oben dargelegt, im 17. Jh. selbst Opfer der grand renfermement (»großen Einschließung«) durch die staatliche Einrichtung der Húpitaux G¦n¦raux. Im 18. Jh. erlaubten die äußeren Bedingungen in Frankreich kein franz.-ref. diakonisches Engagement in Form stationärer bzw. geschlossener oder städtischer Armenfürsorge. Wenn überhaupt, dann vollzog sich das diakonische Engagement der in Frankreich verbliebenen Protestanten im Untergrund und ambulant. Im Refuge allerdings war die Gründung stationärer Einrichtungen unter bestimmten Bedingungen in dieser Zeit möglich. Es ist deshalb nicht nur eine spannende Frage, welchen eigenständigen Beitrag die Hugenotten im Refuge des 18. Jh. zur Bewältigung der anfänglichen großen Flüchtlingsnot geleistet haben, sondern auch, wie sie sich insbesondere im stationären bzw. geschlossenen Bereich gegenüber den zu jener Zeit üblichen kirchlichen, städtischen und staatlichen Modelle der Armen- und Krankenfürsorge positioniert haben und inwieweit sie dabei eigene Akzente gesetzt haben, die ihrer spezifischen Tradition oder Situation zu verdanken gewesen sind. Gerade hier im Refuge des 18. Jh. konnte sich die Andersartigkeit ihres Ansatzes erweisen oder aber auch deutlich werden, welche Grenzen er hatte.

Schluss und Ausblick

325

Es gibt bereits existierende Beiträge zur hugenottischen Armenfürsorge in England,1392 Hessen-Kassel,1393 Magdeburg1394 und Hamburg.1395 Aber erst künftige ausführlichere Untersuchungen, wie z. B. die in Kürze fertiggestellte, auf das Berliner Refuge bezogene Studie,1396 werden darauf eine abschließende Antwort geben können.

1392 Vgl.: IrÀne Scouloudi, L’aide apport¦e aux r¦fugi¦s protestants franÅais par l’Êglise de Threadneedle, in: Le Refuge Huguenot I, Actes du Colloque organis¦ par le Centre d’Histoire de la R¦forme et du Pro-testantisme de la Facult¦ des Lettres et Sciences Humaines de l’universit¦ de Montpellier (3.– 10. Octobre 1969), Paris 1969; Charles F. A. Marmoy, L’entraide des r¦fugi¦s franÅais en Angleterre« Bull SHPF (115) 1969, S. 591 – 604; ders., The ›Pest House‹, 1681 – 1717: predecessor of the French Hospital, in: Proceedings oft he Huguenot Society XXV (4) 1992, S. 385 – 399. 1393 Desel, Jochen: Die Anfänge der Armenfürsorge in den Französisch-Reformierten Gemeinden Hof-geismar, Carlsdorf, Kelze und Schöneberg, in: ders. / Mogk, Walter (Hg.): Carlsdorf 1686 – 1986. Fest-schrift zur 300-Jahr-Feier der ältesten Hugenottensiedlung in Hessen, Hofgeismar-Carlsdorf 1986, S. 47 – 73. 1394 Tollin, Henri: Zur hugenottischen Armenpflege, insbesondere in Magdeburg, in: Die Französische Kolonie, 1893, Nr. 9, S. 157 – 163; 1894, Nr. 1, S. 1 – 4; 1894, Nr. 2, S. 21 – 27; S. 88 – 94 u. 100 – 106. 1395 Barrelet, Thomas: Das Liebewesen der Diakonie in der französisch-reformierten Gemeinde zu Hamburg 1686 – 1750, Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins (GDH), Magdeburg 1906. 1396 Vgl. Gerhard Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin.

7.

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