Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht: Narrative von Männlichkeit und Gewalt 9783839432662

Masculine violence is often considered a »fact of nature«: since the antique, masculine narratives have been linked with

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Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht: Narrative von Männlichkeit und Gewalt
 9783839432662

Table of contents :
Inhalt
Geschichte(n) von Macht und OhnmachtEine Einleitung
Die andere WangeDie Thematisierung von männlicher Gewalt in antiken Maskulinitätsdiskursen am Beispiel der Bergpredigt im Matthäusevangelium
Von Tränen und BlutMännlichkeit und Gewalt in der Chanson de Roland und im Perceval
Kämpfende FreundeSymbiotische Mechanismen im Erec Hartmanns von Aue
Gewalt, Gefühl, GeschlechtMännlichkeit(en) in der iberoromanischen Narrativik der Frühen Neuzeit
Der ‚theatrale‘ Grund der AutoritätRechtsgewalt und phobische Männlichkeit bei Lope de Vega
Der Held der italienischen Barockoper als Op ferDie Männlichkeit des primo uomo in Leonardo Vincis Artaserse (1730)
„The virtue of a good whip“Henry Morton Stanley und die Unterwerfung des ‚dunklen Kontinents‘
Gewalt und RitualDuell-Szenen bei Arthur Schnitzler
Harte Väter, aufbegehrende SöhneDivergierende Männlichkeitsentwürfe und Formen der Gewalt in expressionistischer Erzählliteratur
Sehnsucht nach der Barbarei?Ambivalenzen männlicher Gewalt in der präfaschistischen Literatur über den spanisch-marokkanischen Rifkrieg (1921-1926)
Mating means dyingZur Männlichkeit der Drohnen in Entomologie und Literatur
„No duty to retreat“Waffengewalt und die Remaskulinisierung Amerikas in den 1980er Jahren
Politik der (Ohn)MachtLa Fiesta del Chivo von Mario Vargas Llosa als Kritik am lateinamerikanischen Despotismus
Täterschaft, Gewalterfahrung und Demaskulinisierung in biografischen Ich-Erzählungen zu Holocaust und Nationalsozialismus (Bernhard Schlink, Thomas Lehr, Uwe Timm)
Autoren und Autorinnen

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Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.) Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht

Lettre

Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.)

Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Collage aus »Adonis« (ringo / photocase.de) sowie »Leutnant Gustl« (Arthur Schnitzler), Kai Reinhardt Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3266-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3266-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Eine Einleitung Uta Fenske/Gregor Schuhen | 7 Die andere Wange Die Thematisierung von männlicher Gewalt in antiken Maskulinitätsdiskursen am Beispiel der Bergpredigt im Matthäusevangelium Hans-Ulrich Weidemann | 31 Von Tränen und Blut Männlichkeit und Gewalt in der Chanson de Roland und im Perceval Silke Segler-Meßner | 51 Kämpfende Freunde Symbiotische Mechanismen im Erec Hartmanns von Aue Andreas Kraß | 71 Gewalt, Gefühl, Geschlecht Männlichkeit(en) in der iberoromanischen Narrativik der Frühen Neuzeit Tobias Brandenberger | 83 Der ‚theatrale‘ Grund der Autorität Rechtsgewalt und phobische Männlichkeit bei Lope de Vega Karin Peters | 99 Der Held der italienischen Barockoper als Opfer Die Männlichkeit des primo uomo in Leonardo Vincis Artaserse (1730) Christian Grünnagel | 131 „The virtue of a good whip“ Henry Morton Stanley und die Unterwerfung des ‚dunklen Kontinents‘ Angela Schwarz | 147

Gewalt und Ritual Duellszenen bei Arthur Schnitzler Michael Ott | 171 Harte Väter, aufbegehrende Söhne Divergierende Männlichkeitsentwürfe und Formen der Gewalt in expressionistischer Erzählliteratur Sebastian Zilles | 189 Sehnsucht nach der Barbarei? Ambivalenzen männlicher Gewalt in der präfaschistischen Literatur über den spanisch-marokkanischen Rifkrieg (1921-1926) Christian von Tschilschke | 215 Mating means dying Zur Männlichkeit der Drohnen in Entomologie und Literatur Niels Werber | 237 „No duty to retreat“ Waffengewalt und die Remaskulinisierung Amerikas in den 1980er Jahren Jürgen Martschukat | 251 Politik der (Ohn)Macht La Fiesta del Chivo von Mario Vargas Llosa als Kritik am lateinamerikanischen Despotismus Rebecca Weber | 275 Täterschaft, Gewalterfahrung und Demaskulinisierung in biografischen Ich-Erzählungen zu Holocaust und Nationalsozialismus (Bernhard Schlink, Thomas Lehr, Uwe Timm) Claudia Benthien | 291

Autoren und Autorinnen | 313

Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Eine Einleitung U TA F ENSKE /G REGOR S CHUHEN

In der Silvesternacht 2015 werden hunderte Frauen am Kölner Hauptbahnhof Opfer sexueller Gewalt – die Übergriffe reichen vom Begrapschen bis zur Vergewaltigung.1 Die große Zahl der Übergriffe gekoppelt mit der Pressepolitik der Kölner Polizei und der Stadt Köln, der der Vorwurf gemacht wird, die Vorgänge jener Nacht zunächst nicht offengelegt zu haben − insbesondere die Tatsache, dass ein großer Teil der Täter aus den Maghreb-Staaten stammt −, führt in der Öffentlichkeit zu intensiven Debatten über das Asyl- und Sexualstrafrecht. Beide Debatten zielen auf eine Verschärfung der jeweiligen Gesetze: Abschiebungen sollen leichter durchgeführt werden können und das Sexualstrafrecht verschärft werden. Das Bundesjustizministerium hatte schon 2015 einen Entwurf zur Verschärfung des Sexualstrafrechts gemäß der 2011 vom Europarat beschlossenen ‚Istanbul Konvention‘ (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) vorgelegt. In Art. 36 dieser Konvention heißt es, dass alle nicht „einverständlichen sexuell bestimmten

1

Bis Ende März wurden 1527 Straftaten von 1218 Opfern zur Anzeige gebracht. Die Hälfte der Geschädigten wurden Opfer von Sexualdelikten. Vgl.: „Eine Nacht, die Spuren hinterlassen hat. 100 Tage nach den Silvester-Übergriffen in Köln“, https://www.tagesschau.de/inland/silvester-koeln-113.html (12.6.2016). Außer den Sexualstraftaten wurden auch Eigentums- und Körperverletzungsdelikte angezeigt. Auch in anderen deutschen Städten, wie z.B. in Hamburg, kam es zu Übergriffen.

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Handlungen“2 unter Strafe zu stellen sind. Der Entwurf des Bundesjustizministeriums wird jedoch zunächst vom Kanzleramt blockiert, erst die Vorfälle der Silvesternacht bringen das Thema wieder auf die politische Agenda. Im Juni 2016 einigen sich die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD dann auf eine Verschärfung des Sexualstrafrechts im obigen Sinne. Zusätzlich soll das Strafrecht um die Tatbestände „sexueller Missbrauch aus Gruppen“ und „sexuelle Belästigung“ erweitert werden, sodass auch das sogenannte Grapschen strafbar werden kann.3 Allerdings sei in diesem Zusammenhang noch die Erheblichkeitsschwelle zu diskutieren, durch die sexuelle Handlungen als solche definiert werden, „die im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind.“4 Folglich muss von den Gerichten im Einzelfall entschieden werden, welche sexuellen Handlungen strafrechtlich relevant sind.5 Ähnlich wie 1997, als das Sexualstrafrecht in Bezug auf Vergewaltigung in der Ehe reformiert wurde und diese zum ersten Mal als Straftatbestand gewertet wurde, zeigt auch diese Reform, dass das, was in einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als Gewalt angesehen wird, durch kulturelle Wertesysteme bestimmt ist und davon abhängt, wann ein Körper als ‚verletzt‘ gilt. Folglich kann eine überzeitlich gültige Definition dessen, was unter Gewalt verstanden wird, nicht gegeben werden. Stattdessen muss Gewalt immer in ihrer soziokulturellen Historizität gesehen werden. Darüber hinaus öffnen diese Beispiele auch den Blick auf die regulierende Macht des Staates, denn in beiden Fällen wird eine Idee von Gewalt einer anderen gegenüber wirksam, eine Form von Gewalt im Gegensatz zu einer anderen als legitim angesehen. Das zeigt, dass Ablehnung von oder Abneigung gegenüber Gewalt oder gewisser ihrer Formen ebenso kulturell und zeitlich gebunden ist, wie das Verständnis darüber, wo sie überhaupt beginnt. In jeder Gesellschaft gibt es Formen von Gewalt, die zugelassen, akzeptiert sind, auch wenn sie als solche verstanden werden.

2

Als PDF einsehbar unter: https://www.bmbf.gv.at/frauen/gewalt/uebereinkommen_ des_europarat_26193.pdf?4dz8a1 (12.6.2016).

3

Constanze von Bullion: „Nein soll Nein heißen. Union und SPD einigen sich auf Grundsätze eines schärferen Sexualstrafrechts – auch Grapschen wird zur Straftat“, in: Süddeutsche Zeitung, 17.6.2016, S. 5.

4

§ 184h Begriffsbestimmungen (StGB), https://dejure.org/gesetze/StGB/184h.html (17.6.2015).

5

Pia Lorenz: „Reform des Sexualstrafrechts: Heißt auch ein inneres Nein nein?“, in: Legal

Tribune

(12.6.2016).

Online,

15.1.2016,

http://www.lto.de/persistent/a_id/18159/

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Etymologisch stammt das althochdeutsche Nomen ‚giwalt‘ von ‚walten‘, was „‚Kraft haben‘, ‚über etwas verfügen‘, ‚herrschen‘ meint.“6 Schon seit dem frühen Mittelalter hat der Begriff also einen weiten Sinngehalt. Er wird teilweise synonym zu dem der Macht verwendet – germanisch ‚mathi‘, gotisch ‚magan‘, was so viel wie ‚können‘ oder ‚vermögen‘ heißt und vorrangig die Ausübung „‚rechter Gewalt‘ (potestas)“ bezeichnet. Mit dem Spätmittelalter verschiebt sich die Bedeutung von Gewalt hin zum lateinischen „‚violentia‘ mit allen Abstufungen von ‚gesteigerter Kraft‘ über ‚Eigenmacht‘ und ‚Zwang‘ bis zu ‚Gewalttat‘ und ‚Unrecht‘“.7 Ohne hier auf weitere Akzentverschiebungen in der Wortgeschichte eingehen zu können, kann doch festgestellt werden, dass der Gewaltbegriff ein ambivalenter ist, dem im heutigen Sprachgebrauch immer noch beide Bedeutungsgehalte innewohnen, die ‚violentia‘ sowie auch die ‚potestas‘. Letztere kommt in Wortverbindungen wie dem Gewaltmonopol des Staates, der Amtsgewalt oder Staatsgewalt zum Ausdruck; ihre Aufgabe besteht darin, die soziale Ordnung gegen gewaltsame Bedrohungen – durchaus auch unter Anwendung von Gewalt − zu verteidigen. So bezeichnen Heitmeier und Schröttle die „Uneindeutigkeit“ als wesentliches Merkmal des „Phänomens Gewalt“.8 Gerade weil die allgemeine Frage ‚was ist Gewalt?‘ ohne Berücksichtigung der diskursiven Ordnungen der jeweiligen Gesellschaften nicht beantwortet werden kann und weil jede Forschung von den von ihr zugrunde gelegten Theorien und ihrem jeweiligen Erkenntnisinteresse geleitet wird, sind in der gegenwärtigen Gewaltforschung eine Reihe von Konzepten produktiv, um sich dem Phänomen Gewalt anzunähern.9 Der Begriff der strukturellen Gewalt bezeichnet beispielsweise die Ungleichheit in hierarchisch strukturierten sozialen Systemen unter anderem in Bezug auf Bildungschancen, Wohlstandsgefälle oder auch Geschlechtergerechtigkeit. So zeigt der Kampf um Schutz vor sexueller Gewalt in aller Deutlichkeit, dass die Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit zu gewaltvollem Handeln offengelassen hatte. Das von Pierre Bourdieu formulierte Konzept der symboli-

6

Karl-Georg Faber: „Macht, Gewalt“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 2004, S. 817-935, hier: S. 835.

7

Ebd., S. 840.

8

Wilhelm Heitmeyer/Monika Schröttle: „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.): Gewalt. Beschreibungen, Analysen, Prävention, Bonn 2006, S. 15-22, hier: S. 15.

9

Einen Überblick bieten Michaela Christ/Christian Gudehus: „Gewalt – Begriffe und Forschungsprogramme“, in: dies. (Hrsg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, S. 1-15.

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schen Gewalt hingegen ist dadurch gekennzeichnet, „dass sie auf der symbolisch-sinnhaften Ebene des Selbstverständlichen und Alltäglichen operiert und zur Bejahung, Verinnerlichung und Verschleierung von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen führt.“10 Sie wird also über Kultur und Sprache wirkmächtig und schreibt sich als sanfte Gewalt in die Körper ein, deren Wahrnehmungsweise sie unmerklich bestimmt. Ähnlich verwendet wird der Begriff der kulturellen Gewalt, der „die Unterdrückung und Ausbeutung, soziale Marginalisierung oder das ‚Verschwindenlassen‘ von Menschen aus dem Fokus der Aufmerksamkeit – also strukturelle Gewalt – als rechtmäßig oder nicht anstößig erscheinen [lässt]“, bezeichnet.11 Im Zentrum der meisten sozialwissenschaftlichen Forschungen zu Gewalt steht jedoch physische Gewalt,12 also die absichtsvoll herbeigeführte Verletzung eines Körpers, die denen, die sie ausüben, ein Gefühl der Ermächtigung vermittelt und sie möglicherweise auch Lust erfahren lässt, und jenen, die sie ertragen müssen, Schmerz und Angst zufügt.13 Schmerz ist also für die Opfer die zentrale Form, in der sie Gewalt erfahren. Die Anthropologie hat herausgearbeitet, dass Weinen und Schreien universale Reaktionsweisen auf Schmerzen sind. Die Erfahrung des Schmerzes geht folglich nicht in Sprache auf und kann auch nicht adäquat kommuniziert werden, wie z.B. die Literaturwissenschaftlerin Elaine Scarry in ihrer stark rezipierten Studie The Body in Pain (1985) plausibel dargelegt hat.14 Um für die Außenwelt dennoch nachvollzieh- und darstellbar zu wer-

10 Stephan Moebius/Angelika Wetterer: „Symbolische Gewalt“, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 36 (2011), 36, S. 1-10, hier: S. 1. 11 Christ/Gudehus: „Gewalt“, S. 4. 12 Die Fokussierung auf den physischen Gewaltbegriff ist allerdings nicht nur in der feministischen Gewaltforschung umstritten, da sie die strukturellen Bedingungen von Gewalt sowie die Wirkungsweise symbolischer Gewalt außer Acht lässt und deswegen gewisse gesellschaftliche Gewaltphänomene nicht erfassen kann. Vgl. Birgit Sauer: „Geschlechtsspezifische Gewaltmäßigkeit rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierungen. Staatsbezogene Überlegungen einer geschlechtersensiblen politikwissenschaftlichen Perspektive“, in: Regina-Maria Dackweiler/Reinhild Schäfer (Hrsg.): Gewalt-Verhältnisse. Feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt, Frankfurt/M./New York 2002, S. 81-106. 13 Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke: „Einleitung. Physische Gewalt – eine Kontinuität der Moderne“, in: dies. (Hrsg.): Physische Gewalt – Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt/M. 1995, S. 7-38, hier: S. 7. 14 Elaine Scarry: The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World, New York/Oxford 1985.

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den, muss Schmerz „in Sprache übersetzt werden“.15 Insofern ist Schmerz, bzw. sein Ausdruck immer auch historisch und soziokulturell geprägt. Er ist also nur indirekt fassbar und man kann ihn auch nur in dieser Form darstellen und analysieren. Diese Annäherung an Gewalt, in deren Zentrum die Verletzung des Körpers steht, umfasst selbstverständlich auch die psychisch-emotionale Dimension des Menschen. So schreibt der Soziologe Heinrich Popitz: „Schmerzen, die uns ein anderer zufügt, sind niemals etwas ‚bloß Körperliches‘. Wir können uns in der Beziehung zu einer anderen Person nicht aus unserem Körper zurückziehen. Daher empfindet der körperlich Bestrafte seine Machtunterlegenheit nicht als eine partielle, sondern als vital-allgemeine Unterworfenheit“.16 Der Schwierigkeit, körperliche Gewalt von psychisch-emotionaler Gewalt analytisch zu trennen, wird in der Forschung häufig durch den Begriff der direkten interpersonalen Gewalt Rechnung getragen, der sowohl Angriffe auf den Körper als auch auf die Psyche der Menschen bezeichnet. Ein solches Verständnis schreibt auch Sprechakten, wie Beleidigungen, eine verletzende und zerstörerische Handlungsmacht zu.17 Schmerz wie auch die ihn verursachende Gewalt ist eine „Herausforderung für das Verstehen“. Dieser Herausforderung wird in der Regel damit begegnet, dass Gewalt pathologisiert oder rationalisiert wird, damit ihre Normalität nicht ständig irritiere.18 Eine dieser Rationalisierungsstrategien findet sich im Diskurs der westlichen Moderne, der besagt, dass symbolische Gewalt an die Stelle der direkten Gewalt getreten sei und dass sie, wenn sie denn auftritt, in spezifischen Formen kodiert sei.19 Folglich werde körperliche Gewalt im Prozess der Zivilisa-

15 Silvan Niedermeier: „Schmerz“, in: Gudehus/Christ (Hrsg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, S. 227-231, hier: S. 228. 16 Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik, Tübingen 1986, S. 45f. 17 Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt/M. 2006 oder Sybille Krämer/Elke Koch (Hrsg.): Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens, Paderborn 2010. 18 Jörg Baberowski: „Gewalt verstehen“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online Ausgabe, 5 (2008), H.1, http://www.zeithistorischeforschungen.de/1-2008/id%3D4400 (4.7.2014), S. 2f. 19 Vgl. dazu u.a. Lindenberger/Lüdtke: „Einleitung“. Auch Jürgen Martschukat: „‚The Duty of Society‘: Todesstrafe als Performance der Modernität in den USA um 1900“, in: ders./Steffen Patzold (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und „performative turn“: Ritual, Inszenierung, und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln 2003, S. 229-253.

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tion aus dem gesellschaftlichen Leben mehr und mehr zurückgedrängt, eine These, die auch der Psychologe Steven Pinker in dem Buch Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit (2011) vertreten hat.20 Angesichts der Shoa und den zwei Weltkriegen im 20. Jhd. muss diese jedoch kritisch gesehen werden. Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht. Narrative von Männlichkeit und Gewalt richtet den Blick auf Geschichte(n) und Narrative und betont damit zum einen die Geschichtlichkeit von Gewalt. Zum anderen deutet der Titel an, dass man auf narrative/repräsentative Vermittlung angewiesen ist. Uns geht es eben darum, gewaltsames Handeln in seiner Historizität begreifbar zu machen. Zentrale Fragen sind daher: Wie ist Gewalt codiert, auf welchen Referenzrahmen bezieht sie sich, und wie wird sie dargestellt? In welcher Form bringt sie (Geschlechts)identitäten performativ hervor oder verändert sie? Im Zentrum steht die Kategorie Männlichkeit und damit eine genderorientierte Betrachtung. Die Männlichkeitsforschung macht darauf aufmerksam, dass für eine Analyse geschlechtsspezifischer Gewalt eine multidimensionale Perspektive eingenommen werden muss, dass also sowohl ihre heterosoziale als auch ihre homosoziale Dimension zu betrachten ist.21 Denn nur so lässt sich die Geschlechtslogik von Gewalt, also die vergeschlechtlichte Bedeutung von gewalttätigem, gewaltlosem oder erleidendem Handeln, verstehen. Gefragt wird danach, welche Bedeutung und Interpretationsräume heterosozialer Gewalt von Männern gegenüber Frauen innewohnt und welche von Frauen gegenüber Männern. Betrachtet man homosoziale Gewalt unter Männern gilt es zu fragen, in welchen Kontexten und Räumen Gewalt von Männern an Männern ausgeübt wird. Handelt es sich dabei etwa um kompetitive Gewalthandlungen, die dazu dienen, den Status von verletzungsmächtiger Männlichkeit zu bestätigen – also ‚seinen Mann zu stehen‘? Womit ein positiver Bezug auf gewaltsames Handeln hergestellt wird. Oder handelt es sich um degradierende Gewalt? Diese Perspektive rückt die Funktion gewalttätigen Handelns zur Herstellung sozialer Ordnung ins Zentrum der Erkenntnisinteresses.22 Unsere Gesellschaft und die ihr inhärente binäre Konstruktion von Geschlecht ordnet Männlichkeit der Aktivität und damit dem Täter-Sein zu (Verlet-

20 Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt/M. 2011. 21 Michael Meuser: „Geschlecht“, in Gudehus/Christ (Hrsg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, S. 209-214. Ders.: „‚Doing Masculinity‘ – Zur Geschlechtslogik männlichen Gewalthandelns“, in: Dackweiler/Schäfer (Hrsg.): Gewalt-Verhältnisse, S. 53-78. 22 Meuser: „Doing Masculinity“, S. 54f.

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zungsmächtigkeit), Frauen hingegen wird eher Passivität und folglich der Opferstatus (Verletzungsoffenheit) zugesprochen. In diesem Zusammenhang möchten wir an die Folterbilder aus dem Militärgefängnis Abu Ghraib (2004) erinnern. Verkörpert wird dieser Folterskandal, in dem Gefangene systematisch sadistisch misshandelt und gefoltert wurden, durch die Gefreite Lynndie England. Ein Foto zeigt, wie sie mit einer Hand die thump-up Geste macht und mit der anderen Hand auf die Genitalien eines nackten, scheinbar masturbierenden irakischen Gefangenen zeigt. Ein anderes Bild hält fest, wie sie einen ebenfalls nackten, auf dem Boden liegenden Gefangenen an einer Hundeleine hält. Die Bilder riefen weltweit großes Entsetzen hervor, weil sie Foltergewalt zeigen, die in der Regel dem Blick der Öffentlichkeit entzogen ist, und weil es sich eben um sexuelle Foltergewalt handelte. Aber das Beunruhigende liegt darüber hinaus in der Tatsache, dass es eine junge Frau war, die auf den Bildern zu sehen ist. „Gewalt, die von Frauen ausgeht, wird immer noch als abstoßend und faszinierend zugleich empfunden“,23 was zeigt, wie stark wir immer noch der Vorstellung der gewaltlosen ‚Weiblichkeit‘ und gewalttätigen ‚Männlichkeit‘ verhaftet sind. Die Monstrosität der Tat potenziert sich also durch das Geschlecht der Täterin. Wir wissen inzwischen, dass sogenannte ‚sexuelle Taktiken‘ in US-amerikanischen Militärgefängnissen angeordnet wurden. Jasbir Puar versteht diese Militärgefängnisse als Teil dessen, was Achille Mbembe als ‚necropolitics‘ und ‚necropower‘ beschreibt. Damit bezeichnet Mbembe die Rekonfigurierung des den Souverän kennzeichnenden ‚Rechts zu töten‘, also ein System, das ‚Totenwelten‘ erschafft, die bestimmten Menschen den Status ‚lebender Toter‘ zuweisen.24 In diesem System offenbart sich, im Einklang mit kolonialen Herrschaftspraktiken, dass „[…] sexuality [reveals] itself not as a barometer of exception […] but rather as a systematic, intrinsic, and pivotal module of power relations.“25 Wird diese sexuelle Folter von Frauen ausgeführt, verschärft das ihre Wirkung. Obwohl sich dieser Band mit Männlichkeiten und Gewalt befasst, haben wir hier trotzdem ein Beispiel gewählt, in dem eine Frau Gewalt ausübt und Männer die Opfer sind, um aufzuzeigen, wie selbstverständlich und problematisch gleichzeitig Zuschreibungen sind, die Gewalttätigkeit ausschließlich Männlichkeit zuschreiben. Aber auch, weil dieses Beispiel viele Facetten trägt und wir

23 Michaela M. Hampf: „Folterin“, in: Netzwerk Körper (Hrsg.): What Can A Body Do? Figurationen/Praktiken des Körpers in Kulturwissenschaften, Frankfurt/M./New York, 2012, Figurationen, S. 74-82, hier: S. 76. 24 Achille Mbembe: „Necropolitics“, in: Public Culture 15/1 (2003), S. 11-40, hier: S. 27 und 40. 25 Zit. nach Hampf: „Folterin“, S. 80.

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genau hinschauen müssen, wenn wir herausfinden wollen, welche Aussagekraft Gewaltformationen in geschlechtsspezifischer Hinsicht haben, also welche Ordnungen und Machtverhältnisse über Sexualität und Geschlecht verhandelt werden. Das Beispiel zeigt die Medienwirksamkeit und den Skandalisierungseffekt, den Gewalt dort hat, wo sie weniger erwartet wird – also hier bei der Frau. Machtpositionen sind an Geschlechterordnungen geknüpft, aber der eingeschränkte Blick auf Machtkonstellationen kann auch dazu führen, dass Gewaltformen systematisch ausgeblendet werden können. Geschlechtsspezifische (aber auch andere spezifische) Zuschreibungen von Gewalt oder Gewaltformen können Effekte dergestalt haben, dass sie den Blick für (unvermutete) Täter-OpferKonstellationen, für Orte der Gewalt verstellen, eben weil sie dort weniger vermutet werden. *

*

*

Literatur kann, genauso wie jegliche andere Repräsentation gewalttätigen Handelns und Leidens, daraufhin untersucht werden, welche Aussagen sie über geschlechtsspezifische Gewaltformationen trifft. Seit dem Gilgamesch-Epos, d.h. den Anfängen der Literatur, erfolgt die narrative Ausgestaltung von Maskulinität unter Einbezug von Gewalt bzw. der Ausübung und Inszenierung von Männlichkeitsritualen, die sich auf der Grundlage von gewaltgenerierenden Machtstrukturen vollziehen. Keine antike Tragödie, kein Ritterepos, kein Schelmenroman kommt ohne das Zusammenspiel von Männlichkeit und Gewalt aus, und auch in der Neuzeit gehört Gewaltbereitschaft in all ihren Facetten zum festen Inventar der literarischen oder filmischen Konstruktion des klassischen Männerhelden. Männliche Gewalt gilt auch hier als legitimierte „Naturtatsache“26, was angesichts (de)konstruktivistischer Genderforschung und der deutlich markierten soziokulturellen Dimension von Gewalt doch zumindest verwundern muss. Aus dieser vorherrschenden Auffassung von männlicher Gewalt- und Dominanzlogik resultiert, so will es scheinen, die Unvereinbarkeit von Männlichkeit und Opferstatus sowohl im homosozialen Kontext als auch im Fall von Gewalt zwischen den Geschlechtern. Aktive Gewalt in all ihren unterschiedlichen Formen fungiert demnach als integraler Bestandteil des männlichen Habitus und dient häufig als performative Resouveränisierungsstrategie bedrohter oder krisenhafter Maskulinität. Insofern ließe sich erneut konstatieren, dass Gewalt eben auch dazu dient, Ordnungen herzustellen, aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, d.h. Gewalt besitzt zugleich destruktive als auch konstitutive Funktionen, die jedoch nicht

26 Carol Hagemann-White: Sozialisation weiblich – männlich?, Opladen 1984, S. 56.

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immer klar zu trennen sind.27 Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang nach dem Verhältnis von Macht, Gewalt und hegemonialer Männlichkeit. Nicht nur aus Sicht der Literaturwissenschaft muss im Zusammenhang von Geschichten um Männlichkeit und Gewalt der Begriff des Narrativs miteinbezogen werden.28 Mit Walter Erhart lässt sich nämlich Männlichkeit nicht nur als soziale Praxis, sondern auch als „narrative Struktur“29 begreifen. Erhart konkretisiert dieses Verständnis, indem er den inzwischen beinahe ubiquitären KrisenBegriff hinzunimmt: Eine ‚Krise‘ der Männlichkeit bezeichnet keinen psychischen oder epochalen Zustand, sondern läßt sich als Moment einer bestimmten narrativen Struktur fassen, mittels derer sich Männlichkeit (und vorrangig Männlichkeit!) seit jeher konstituiert. Literatur funktioniert als ‚Krisengeschichte‘, indem sie historische Figurationen dieser Krisen bereithält

27 So liest man etwa bei Popitz die Formulierung dieser aporetischen Diagnose: „Soziale Ordnung ist eine notwendige Bedingung der Eindämmung von Gewalt – Gewalt ist die notwendige Bedingung der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung“ (Phänomene der Macht, S. 69). Dieses doppelte Verständnis von Gewalt (destruktiv/produktiv) geht mindestens zurück auf Machiavelli, der schreibt: „Denn nur wer Gewalt braucht um zu zerstören und nicht, wer sie braucht um aufzubauen, verdient Tadel“ (Niccolò Machiavelli: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, Stuttgart 2007, S. 37). 28 Vgl. dazu konkret im Hinblick auf Krisen-Narrative, die in Geschichten um Männlichkeit und Gewalt zum Einsatz kommen, den Definitionsvorschlag von Walburga Hülk: „Ein Narrativ ist eine Erzählung, mündlich oder schriftlich, Alltagsbericht oder Dichtung, in der Faktum und Fiktion vielfach nicht getrennt sind. Narrative sind sinnstiftend, das heißt sie überführen Erlebtes in bekannte Kategorien, stellen vertraute Kontexte her. Elemente werden verknüpft, ausgewählt, weggelassen und auf das Narrativ hin zugespitzt. Das Narrativ erklärt und interpretiert bereits, setzt häufig Neues in Bezug mit Altem und führt zu etwas hin. Narrative sind kulturspezifische, individuelle und kollektive Denkmuster, die Wahrnehmungen und Verhalten bilden und ausdrücken. Das Narrativ ‚Krise‘ reagiert auf ein unerwartetes, unübersichtliches Geschehen, dessen Folgen noch nicht abzuschätzen sind.“ In: Walburga Hülk: „Narrative der Krise“, in: dies./Uta Fenske/Gregor Schuhen (Hrsg.): Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne, Bielefeld 2013, S. 113131, hier: S. 118. 29 Walter Erhart: „Das zweite Geschlecht: ‚Männlichkeit‘ interdisziplinär“, in: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur 30/2 (2005), S. 156-232, hier: S. 207.

16 | U TA F ENSKE /G REGOR S CHUHEN und gleichzeitig vorführt, daß sich Männlichkeit als eine Geschichte solcher Krisen und ihrer Überwindung vollzieht.30

Auch wenn der Männlichkeitskrisen-Begriff längst den akademischen Kontext verlassen hat und auch den massenmedialen Diskurs über das männliche Geschlecht immer häufiger bestimmt, d.h. er einen beinahe stereotypen Charakter bekommen hat, erscheint er doch im Zusammenhang mit dem Gewalt-Thema gleichwohl für sinnvoll und belastbar. Ansgar Nünning stellt in einem seiner zahlreichen Aufsätze zur kulturwissenschaftlichen Narratologie sehr verkürzt die Krise als zur Metapher verdichtetes „Mini-Narrativ“ dar, als typisches „Beispiel [...] für kulturell verfügbare Plots“.31 In Verbindung mit Erhart könnte man demnach festhalten, dass sich Männlichkeit auf der syntagmatischen Achse der Zeit durch eine Abfolge solcher Mini-Narrative konstituiert. Wie nun aber passt die Gewalt, die ebenfalls als Narrativ fungiert, in dieses Verständnis und wie verhält es sich zum Narrativ der Krise? Hier wären mehrere Antworten möglich, von denen die einfachste sicherlich die wäre, in der Gewalt eine paradigmatische Raum-Figur zu sehen.32 Es wäre vermutlich zu kurz gegriffen, aber zumindest zu diskutieren, in Krisen eine Struktur zu sehen, die auf der discours-Ebene von Männlichkeit zu verorten wäre, während Gewalt auf der histoire-Ebene anzusiedeln ist. Hieraus ergäbe sich ein Verhältnis von Kausalität, das entsprechend lauten würde: Gewalt-Szenarios ereignen sich häufig auf der Grundlage einer krisenhaften Konfiguration – ganz gleich, ob es sich dabei um die Kleinstebene des Individuums handelt, wie etwa im Duell, oder um die gesellschaftliche Makroebene im Rahmen von politischen Konfliktsituationen. Man könnte hier auch die von Reinhart Koselleck aufgestellte Dichotomie von Dauer und Ereignis geltend

30 Ebd., S. 223f. 31 Ansgar Nünning: „Wie Erzählungen Kulturen erzeugen: Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie“, in: Alexandra Strohmaier (Hrsg.): Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielefeld 2013, S. 15-54, hier: S. 37f. 32 Vgl. Jörg Baberowski: Räume der Gewalt, Frankfurt/M. 2015, S. 11: „Und dennoch ist die Gewalt überall, obwohl die Welt nicht nur von bösen Menschen bewohnt wird. [...] Offenbar hängt es nicht von Absichten und Überzeugungen, sondern von Möglichkeiten und Situationen ab, ob und wie Menschen Gewalt ausüben. Der Raum der Gewalt ist ein anderer Ort als der Raum des Friedens. Wer ihn betritt, durchschreitet fremdes Land, in dem er zu einem Anderen wird.“

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machen33, d.h. wenn Erhart Männlichkeit als „Geschichte von Krisen und ihrer Überwindung“ begreift, rekurriert er damit auf einen dauerhaften Prozess und sich verändernde Strukturen, während Gewalt dort ereignishaft als performative Praxis der Resouveränisierung ihren Platz einnimmt. Man darf nun nicht Gefahr laufen, Gewalt und Krise gleichzusetzen, denn sowohl Erhart als auch Koselleck weisen darauf hin, dass Krisen sich prozessual vollziehen und nicht ereignishaft – Gewalt wäre in diesem Zusammenhang das Symptom oder der Auslöser einer Krise, aber eben nicht die Krise selbst. Auf mögliche Funktionen von Gewalt in diesem eher abstrakten Verständnis wurde bereits eingegangen: Gewalt gilt innerhalb krisenhafter Entwicklungen als Resouveränisierungsstrategie und zielt häufig darauf ab, den ‚vorkrisenhaften‘ Status Quo wiederherzustellen. Darüber hinaus kann Gewaltausübung aber auch dazu dienen, den Status Quo auszuweiten (auch deshalb kann von Gewalt als „Raum-Figur“ gesprochen werden): Machterweiterung, territoriale Ausweitung, sozialer Aufstieg, Erniedrigung oder Marginalisierung anderer – Gewalt schafft neue Ordnungen, die sich auf der Achse des Raumes vollziehen und hat dabei stets transgressiven Charakter. Selbst vermeintlich zweckfreier Gewalt, etwa dem bei Dostojewski oder Gide beschriebenen acte gratuit,34 liegt doch letztlich der Wunsch nach Selbstapotheose zugrunde – der Wunsch also, sich als Täter gottgleich über seine Opfer zu erheben. Eine weitere zentrale Frage im Zusammenhang von Männlichkeit, Krisen und Gewalt ist die nach der Legitimation von Gewalt und einer damit häufig einhergehenden Ritualisierung. Eine mögliche Formel dafür wäre: Krisenhafte Entwicklungen bringen häufig Gewalt hervor, deren Ausübung wiederum durch den Status des Krisenhaften gleichsam ihre Legitimation erfährt. Teresa Koloma Beck und Klaus Schlichte stellen diese Legitimationsstrategien insbesondere im Zusammenhang des modernen Gewaltmonopols des Staats dar,35 aber auch im Kontext interpersonaler Gewalt spielen Legitimierungen derselben häufig eine Rolle, wie noch zu zeigen sein wird. Der Historiker Peter Gay schreibt in diesem Zusammenhang, „dass Aggressionen die stärkste Triebkraft geschichtlichen

33 Vgl. Reinhart Koselleck: „Krise“, in: Brunner/ders. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, S. 617-650; ders.: „Darstellung, Ereignis, Struktur“, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1989, S. 144-157. 34 Vgl. zum acte gratuit Martin Raether: Der ‚Acte gratuit‘. Revolte und Literatur (Hegel, Dostojewskij, Nietzsche, Gide, Sartre, Camus, Beckett), Heidelberg 1980. 35 Teresa Koloma Beck/Klaus Schlichte: Theorien der Gewalt zur Einführung, Hamburg 2014, S. 50-70.

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Handelns und historischer Veränderungen bilden“36 und beschreibt Legitimationsprozesse als „Alibis für den Aggressionstrieb“.37 Zu fragen wäre hier nach den autorisierenden Instanzen für ein gewaltbestimmtes Agieren, z.B. wenn ein Staat das Kriegsrecht ausruft, stehen fortan jedwede Gewaltausübungen automatisch unter dem legitimierenden Deckmantel des Schutzes des Nationalwohls. Was passiert aber, wenn z.B. der betrogene Ehemann im späten 19. Jhd. seinen Widersacher zum Duell herausfordert? Offiziell verboten, gleichwohl häufig praktiziert, stellt das Duell38 vor allem auch ein beliebtes Narrativ in der Literatur dar. In diesem Zusammenhang kommt ein Konzept ins Spiel, das Bourdieu als „symbolisches Kapital“39 beschreibt und das gerade in der Literatur bis zum 19. Jhd. im Verhältnis von Männlichkeit und Gewalt absolut zentral ist, nämlich das der Ehre bzw. der Männlichkeitsehre. Winfried Speitkamp schreibt für das 19. Jhd.: Und wenn es um Ehre ging, beschäftigte kaum ein Thema das bürgerliche und adelige Publikum so sehr wie das Duell. In Theaterstücken, namentlich im bürgerlichen Trauerspiel, wurde es auf die Bühne gebracht, in Romanen beschrieben, in zahlreichen Schriften erörtert, verteidigt und kritisiert. Das Duell verband Ehre, Liebe und Tod, es rührte, nachdem Blutrache und Fehde überholt waren, an archaische Bedürfnisse nach dem echten Zweikampf edler Recken, nach Tapferkeit und Ritterlichkeit, zumal es eben in einer rechtlichen Grauzone ablief: Hier war der Mann noch ein Mann – und kein Staat und kein Gesetz sollten ihm da reinreden.40

Das ehemals Vertretern des Adels vorbehaltene Ritual des Duells dient nichts anderem als der Wiedererlangung von Männlichkeitsehre und markiert damit im Zusammenspiel mit der Standesehre einen performativen Akt männlicher Resouveränisierung. Die enorme Verbreitung auch in Zeiten des offiziellen Verbots beweist, dass das Gebot der Männlichkeitsehre sich über den strafrechtlichen Ehrenkodex der Gesellschaft erhebt – man könnte auch sagen: Männlichkeitsehre

36 Peter Gay: Kult der Gewalt. Aggression im bürgerlichen Zeitalter, München 2000, S. 9. 37 Ebd., S. 12. 38 Vgl. dazu auch den Beitrag von Michael Ott in diesem Band. 39 Vgl. Pierre Bourdieu: „Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, symbolisches Kapital“, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183198. 40 Winfried Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre, Stuttgart 2010, S. 130.

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ist gleichsam die Legitimationsinstanz von Gewalt. Topografisch betrachtet ist es interessant, dass die Duelle meistens an Orten stattfinden, die am Rande der Gesellschaft liegen, also an der Schwelle von Zivilisation und Natur (besser könnte man diese Art von Gewalt kaum situieren) – die berühmten Duellszenen in den Ehebruchsromanen La Regenta / Die Präsidentin (1884/85) des spanischen Naturalisten Clarín sowie in Fontanes Effi Briest (1894/95) zeigen das sehr deutlich. In allen vier großen Ehebruchsromanen des 19. Jhds. – also neben den beiden bereits genannten noch Gustave Flauberts Madame Bovary (1857) und Tolstois Anna Karenina (1877/78) – findet jeweils vermittelt über ausgeführte oder verweigerte Duelle eine narrativ hergestellte Reflexion über das hegemoniale Modell bürgerlicher Männlichkeit statt. In der ersten Variante, also Flauberts Madame Bovary, wird das Duell nicht einmal erwogen. Der gehörnte Ehemann Charles Bovary trifft nach dem Suizid seiner betrügerischen Frau auf deren Geliebten Rodolphe und ergießt sich in dessen Gegenwart in Selbstmitleid. In der zweiten Variante von Tolstoi findet zumindest ein Nachdenken über die Möglichkeit eines Duells statt, wird aber vom Ehemann Karenin kurzerhand verworfen. In der dritten Variation von Clarín kommt es endlich zum Duell, das jedoch mit dem Tod des gehörnten Ehemannes Don Víctor endet. Einzig in Variation vier schließlich liefert uns Fontane eine Duellszene, wie sie wohl klassischerweise sein sollte: der betrogene Ehemann Von Innstetten erschießt seinen Widersacher Crampas. Auffällig an dieser Zusammenstellung sind zunächst zwei Aspekte: a.) keiner der betrogenen Ehemänner wird als Sympathieträger dargestellt und b.) keiner von ihnen möchte überhaupt ein Duell führen. Zunächst Charles Bovary: Er wird von der ersten Seite des Romans als Komplettversager eingeführt. Die berühmte Anfangssequenz von Madame Bovary zeigt seinen Kampf als „nouveau“41, als neuer Schüler in seiner Klasse, mit einer völlig grotesken Kopfbedeckung, die ihm seine Mutter eigens für die Einschulung aufgesetzt hatte. Die schier endlose Beschreibung dieser Mütze ist Flauberts erster maliziöser Schlag gegen seine männliche Hauptfigur: Bei der Mütze handelt es sich um […] une de ces pauvres choses dont la laideur muette a des profondeurs d’expression comme le visage d’un imbécile. Ovoïde et renflée de baleines, elle commençait par trois boudins circulaires ; puis s’alternaient, séparés par une bande rouge, des losanges de ve-

41 Gustave Flaubert: Madame Bovary. Mœurs de province, hrsg. von François Kerlouégan, Paris 2004, S. 9.

20 | U TA F ENSKE /G REGOR S CHUHEN lours et de poils de lapin ; venait ensuite une façon de sac qui se terminait par un polygone cartonné, couvert d’une broderie en soutache compliquée, et d’où pendait, au bout d’un long cordon trop mince, un petit croisillon de fils d’or, en manière de gland.42

Diese Mütze, ein typisch Flaubert’sches widerspenstiges Objekt43, fällt im Folgenden mehrfach zu Boden, was –verständlicherweise! – für grausamen Spott seitens der Mitschüler und des Lehrers sorgt. Die Neuübersetzung von Elisabeth Edl ist die erste, die diese Beschreibung aus der Feder eines angeblichen ‚Realisten‘ in ihrer gesamten Doppeldeutigkeit auch ins Deutsche übertragen hat. Man muss eigentlich kaum weiter interpretativ vorgehen, um zu erkennen, dass der künftige Ehemann und Duell-Verweigerer hier einen surrealisierten Penis auf dem Kopf trägt, der ihm zuvor von seiner Mutter aufgesetzt wurde und unter dessen Last der arme Schüler zusammenbricht, d.h. Charles ist von Anfang an nicht den Anforderungen eines erfolgreichen Männlichkeitsentwurfs gewachsen – die phallische Kopfbedeckung erweist sich in diesem Zusammenhang als Menetekel, weshalb es auch kaum erstaunen mag, dass er am Ende des Romans nicht einmal über die Möglichkeit eines Duells mit seinem Kontrahenten nachdenkt. Da der Roman nicht nur mit Charles beginnt, sondern eben auch mit ihm endet, schließt sich somit der Kreis und das nicht stattfindende Duell darf als Echo zur Männlichkeitsbürde des Anfangs gedeutet werden. Da der Spanier Clarín sich aus intertextueller Perspektive stark an Flaubert orientiert,44 kommen wir nun zunächst erst zu Variation drei. Der Ehemann Don Víctor aus La Regenta könnte, mit Bezug auf die Männlichkeit, ein Bruder im

42 Ebd., S. 10. Dt. Übers.: „[...] eines jener armseligen Dinger, deren stumme Hässlichkeit die gleiche ausdrucksvolle Tiefe besitzt wie das Gesicht eines Idioten. Eiförmig und durch Fischbeinstäbchen gewölbt, begann sie mit einem dreifachen Wurstring; dann kamen abwechselnd durch ein rotes Band getrennt, Rauten aus Samt und Kaninchenfell; hierauf folgte eine Art Sack [...] und daran baumelte, als Abschluss einer langen, allzu dünnen Kordel, ein kleines Goldfadenknäuel in Form einer Eichel.“ In: Gustave Flaubert: Madame Bovary. Sitten der Provinz, hrsg. und übers. von Elisabeth Edl, München 2012, S. 12. 43 Vgl. dazu Claude Duchet: „Roman et objets : l’exemple de Madame Bovary“, in: Travail de Flaubert, Paris 1983, S. 11-43. 44 Vgl. Ursula Link-Heer: „Leopoldo Alas (‚Clarín‘), La Regenta“, in: Volker Roloff (Hrsg.): Der spanische Roman vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1986, S. 247-269. Dies.: „Pastiche und Realismus bei Clarín“, in: Wolfgang Matzat (Hrsg.): Peripherie und Dialogizität. Untersuchungen zum realistisch-naturalistischen Roman in Spanien, Tübingen 1995, S. 157-181.

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Geiste von Charles Bovary sein. Nur zwei signifikante Unterschiede trennen die beiden: Don Víctor wird auch vom biologischen Standpunkt aus betrachtet seine Männlichkeit verwehrt, da er impotent ist.45 Dies wiederum versucht er zu kompensieren, indem er in einer theatral-eskapistischen Parallelwelt lebt, die sich aus den großen Ehrendramen Lope de Vegas und Calderóns speist. Seine Frau, also die Titelfigur Ana Ozores, spielt folglich keine allzu große Rolle in seinem Leben – wenn überhaupt wird sie infantilisiert und eher als Tochter behandelt, was auch dem erheblichen Altersunterschied geschuldet ist. Als Don Víctor vom Ehebruch seiner Frau mit dem abgeschmackten Provinz-Don Juan Álvaro de Mesía erfährt, darf er plötzlich die ersehnte Rolle seines Lebens, nämlich die des rächenden Ehrenmannes, spielen, auch wenn ihn die durchaus reale Gefahr schließlich zögern lässt. Da aber Theaterrolle und Realität eben nicht deckungsgleich sind, stirbt Don Víctor an seinem eigenen Unvermögen. Aufschlussreich ist nicht nur der Tod selbst, sondern vor allem dessen Beschreibung: Sein Widersacher schießt ihm in seine volle Blase. Die Tatsache, dass Don Víctor sein Geschlechtsteil aufgrund seiner sexuellen Impotenz ohnehin nur noch zum Ausscheiden benutzen konnte, macht die Darstellung dieses Duells besonders maliziös.46 Beide Autoren, Flaubert und Clarín, üben auf ironische Weise Kritik am Ideal bürgerlicher Männlichkeit, was nicht zuletzt auch durch die jeweilige Einstellung ihrer Figuren zum gewaltvoll durchgesetzten Ehrenkult zum Ausdruck gebracht wird. Charles weiß vermutlich gar nichts davon, und Don Víctor ist unfähig, seine stets ersehnte Rolle des Ehrenmannes auszufüllen und erliegt damit sozusagen seinem Unvermögen, Literatur und Wirklichkeit auseinanderzuhalten, was ja bekanntlich schon das Schicksal von Emma Bovary besiegelte. Diese Rolle ist ihm einfach zu groß – genauso wie die Mütze von Charles zu groß und zu schwer für ihn ist. In beiden Romanen wird daher Männlichkeit als krisenhafte Narration entlarvt, jedoch ohne die Möglichkeit auf Resouveränisierung. Die Ironisierung und Ridikülisierung verunmöglichen von vornherein ein solches Narrativ – zwei Geschichten von Ohnmacht also.

45 Vgl. Gregor Schuhen: „Heldendämmerung. Männlichkeit und Impotenz im französischen und spanischen Fin de Siècle-Roman (Huysmans/Clarín)“, in: Julia Brühne/Karin Peters (Hrsg.): In (Ge-)Schlechter Gesellschaft. Politische Konstruktionen von Männlichkeit in Texten und Filmen der Romania, Bielefeld 2015, S. 57-86. 46 Vgl. ders.: „Französische, spanische und italienische Literatur“, in: Stefan Horlacher/Bettina Jansen/Wieland Schwanebeck (Hrsg.): Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2016, S. 318-331; hier: S 325.

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Anders verhält es sich bei Tolstoi und Fontane. In beiden Texten wäre das Duell in der androzentrischen Ordnung der jeweiligen Gesellschaft unabdingbar, da der Ehebruch bereits öffentlich geworden ist, was ein Duell im Grunde unausweichlich macht. Beide Protagonisten stehen dem Ritual des Duells widerstrebend entgegen. Von Innstetten bezeichnet es als „tyrannisierendes Gesellschafts-Etwas“ und stimmt seinem Mitwisser zu, der sagt: „Unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt.“47 Trotz des Widerwillens fügt sich Von Innstetten jenem „Ehrenkultus“, der zugleich auch Männlichkeitskult ist, eher aufgrund eines „nicht hinterfragte[n] ererbten Pflichtgefühl[s].“48 Karenin aber widersetzt sich. Obwohl seine lebenslange Angst vor körperlicher Gewalt das Hauptmotiv ist, bastelt sich der Betrogene allerhand Scheingründe zusammen. Er erklärt sich selbst zum „Staatsmann, den Russland braucht“ und verwirft daher ein Duell als „unehrenhaft und verlogen“, das ihn, wenn überhaupt, lediglich mit „falschem Glanze“ schmücken würde.49 Angesichts der enormen Gesamtlänge des Romans von rund 1200 Seiten wird diese Entscheidung sehr schnell gefällt – Karenins Gedanken zum Duell umfassen eine gute Seite! Wie müssen wir diese beiden Beispiele bewerten? Entscheidend ist zunächst, dass hier – im Gegensatz zu Flaubert und Clarín – die Reflexion über das Duell bzw. dessen Ausführung mitten in der Gesamtnarration stattfinden. Die Tatsache, dass in den anderen beiden Texten der Ehrverlust mit dem Ende der Romane zusammenfällt, ist bereits aus rein narrotologischer Sicht ein Beweis dafür, dass dort nichts mehr resouveränisiert werden kann. Sowohl bei Fontane und Tolstoi wird der Ehrverlust jedoch als Wendepunkt in Szene gesetzt, was dazu führt, dass die jeweiligen Auswirkungen noch erzählt werden können: Von Innstettens Ehre mag zwar öffentlich wiederhergestellt sein, aber um den Preis seines persönlichen Lebensglücks. Auch ihm ist daher die Bürde der Männlichkeit zu schwer. Das Sich-Einfügen in die androzentrische Norm muss in diesem Fall trotz der offiziell demonstrierten Stärke als Schwäche oder Ohnmacht interpretiert werden. Karenin trotzt dieser Norm: „Welchen Sinn hätte die Tötung eines Menschen zu dem Zweck, mein Verhältnis zur frevlerischen Ehefrau zu klären?“50 denkt er und kommt zum Schluss, dass ein Duell schlicht ‚unzivilisiert‘ sei und damit nicht mehr zeitgemäß.

47 Theodor Fontane: Effi Briest, hrsg. von Helmuth Nürnberger, München 1995, S. 236f. 48 Gay: Kult der Gewalt, S. 27. 49 Lew Tolstoi: Anna Karenina, hrsg. und übers. von Rosemarie Tietze, München 2009, S. 426. 50 Ebd.

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Wenn wir die Männlichkeiten in allen vier Texten mit dem Signum der Krise beschreiben, dann vor allem auch in einem Krisen-Verständnis, dass es sich hierbei um Prozesse handelt, in deren Verlauf sich alte Denkmuster angesichts neuer Konfigurationen als nicht mehr angemessen bzw. zeitgemäß erweisen.51 Im Zuge der Verbürgerlichung der Gesellschaft ist das Duell ein solches archaisches und damit anachronistisches Relikt von erstaunlicher Persistenz, besonders dann, wenn es um die Resouveränisierung von Männlichkeit geht. Auf gewisse Weise ist damit Karenin der ‚modernste‘ der vier Protagonisten, da er sich kritisch mit diesem Anachronismus auseinandersetzt und in gewisser Weise auch der ‚männlichste‘, da er sich souverän über die antiquierten Ehrvorstellungen seiner Zeit hinwegsetzt. Bezeichnenderweise bedient er sich dabei der eigenen Überhöhung zum „unverzichtbaren Staatsmann“52, der er aber nur sein kann, weil er durch den Verzicht auf Gewalt neue Ordnungen schaffen kann. Dass diese Rechnung zumindest in den Geschichten in Anna Karenina nicht aufgeht, ist das eine, dass aber im weiteren Verlauf der Geschichte das männliche Narrativ des Duells immer mehr an Verbreitung einbüßt, zeigt, dass die narrative Struktur der Männlichkeit verstanden als ‚Krisenerzählung‘ immer auch eine Narration des Übergangs zeitigt. *

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Die vorliegenden Beiträge gehen größtenteils zurück auf das zweite Siegener Forum für Literatur und Men’s Studies, das unter dem übergeordneten Thema Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht. Männlichkeit und Gewalt im Juli 2014 an der Universität Siegen stattgefunden hat. Die Publikation von Akten eines jeden interdisziplinär ausgerichteten Kolloquiums stellen Herausgeber und Herausgeberinnen vor die schwierige Aufgabe, dem entsprechenden Band eine sinnvolle Struktur zu geben, um nicht ganz in die willkürliche Ordnung von Jorge Louis Borges’ ‚chinesischer Taxonomie der Lebewesen‘ zu verfallen, die Foucault 1966 im Vorwort zu Les mots et les choses zitiert.53 Ein Großteil der hier versammelten Aufsätze stammen aus dem erweiterten Zuständigkeitsbereich der Literatur- und Kulturwissenschaften, aber auch – entsprechend der Dopplung

51 Vgl. dazu Rudolf Vierhaus „Zum Problem historischer Krisen“, in: Karl-Georg Faber/Christian Meier (Hrsg.): Historische Prozesse, Reihe: Beiträge zur Historik, Bd. 2, München 1978, S. 313-329. 52 Tolstoi: Anna Karenina, S. 426. 53 Vgl. Michel Foucault: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966 S. 7.

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von Geschichte und Geschichten – historische und theologische Beiträge setzen sich mit dem Themenkomplex von Männlichkeit und Gewalt auseinander. Es geht demnach im weitesten Sinne um Narrative und Narrativierungen von Männlichkeit und Gewalt, die auf je exemplarische Weise die größtmögliche historische Zeitspanne umfassen, nämlich von der Antike bis zur Gegenwart. Aufgrund der vielfältigen Gegenstandsbereiche der Einzelbeiträge, die sich etwa u.a. mit ritualisierter Gewalt, Gewalt im familialen Nahbereich, mit Kolonialgewalt, mit Vigilantismus, mit De- und Remaskulinisierung auseinandersetzen, erscheint uns eine chronologische Anordnung als die einzig sinnvolle. Aus diesem Grund eröffnet die Sammlung der Beitrag von HANS-ULRICH WEIDEMANN, der sich dem Narrativ männlicher Gewalt in antiken Maskulinitätsdiskursen am Beispiel der Bergpredigt widmet. Die Ausgangsüberlegung dabei ist, dass in antiken Texten vieles von dem, was heute unter Gewalt zusammengefasst wird, in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen zum Ausdruck gelangt. Dazu gehört insbesondere das für den antiken Mittelmeerraum grundlegende Koordinatensystem von Ehre und Schande, aber auch die Unterscheidung von öffentlichem Raum (Polis/Agora/Forum) und privatem Raum (Oikos). Alle diese Kategorien sind wiederum fundamental mit den heterogenen antiken Maskulinitätsdiskursen verbunden, an denen die Schriften des frühen Christentums selbstverständlich Anteil haben. Exemplifiziert werden diese Beobachtungen an einem frühchristlichen antiken Text, der sog. Bergpredigt. Diese Quelle eignet sich für eine Untersuchung des Zusammenhangs von Männlichkeit und Gewalt insofern, als v.a. in den sog. „Antithesen“ (Matthäus 5,21-48) mehrere exemplarische mann-männliche Gewaltsituationen geschildert werden. Angesichts des hier von den männlichen Nachfolgern Jesu verlangten Verhaltens stellt sich dann die Frage, wie sowohl das abgelehnte als auch das geforderte Männlichkeitsideal im Kontext der genannten Maskulinitätsdiskurse zu verorten sind. Mit dem Beitrag von SILKE SEGLER-MESSNER zu zwei kanonischen Frühwerken der französischen Literatur – der anonymen Chanson de Roland (um 1100) und Chrétien de Troyes’ Perceval (1180) – wechseln wir von der Antike ins Mittelalter. Die Welt der Chanson de Roland ist rein männlich kodiert und inszeniert eine Gemeinschaft von Rittern, in deren Zentrum sich Karl der Große als Verkörperung des idealen Herrschers und sein Held Roland befinden, dessen Tatendrang bis zu seinem Tod ungebrochen ist. Weit davon entfernt, sich an dem aristotelischen Männlichkeitskonzept der Mäßigung zu orientieren, zeichnen sich die Protagonisten in der altfranzösischen chanson de geste durch einen Kontrollverlust aus, der ihre Idealität in Frage stellt. Wie sehr das Ideal hegemonialer Ritterlichkeit im Fortgang des französischen Mittelalters in eine Krise gerät, zeigt die Gegenüberstellung der Chanson de Roland mit Chrétien de Troyes’ hö-

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fischem Roman Perceval. An die Stelle des zwar siegreichen, aber letztlich von seiner eigenen Hybris zu Fall gebrachten Roland tritt ein neuer Heldentypus, der alle Phasen ritterlicher Ausbildung exemplarisch durchläuft, ohne zu verstehen, worauf sein Handeln zielt. Ziel des Beitrags ist es, anhand ausgewählter Passagen die Krise der Männlichkeit zu beleuchten, die sich in den mittelalterlichen Texten abzeichnet. Im zweiten Beitrag zum Mittelalter bleiben wir zwar im Bereich der Artusepik, verlassen jedoch die Romania und wenden uns mit ANDREAS KRASS den deutschsprachigen Artusromanen Hartmanns von Aue, speziell dem in den 1180ern entstandenem Erec, zu. Ausgangspunkt stellt hier die in Niklas Luhmanns diskursgeschichtlicher Studie Liebe als Passion entwickelte These dar, dass Liebe und Freundschaft als Codes der Intimität konkurrieren. Seit der Romantik habe sich die Liebe als leitender Code der Intimität gegen die Freundschaft durchgesetzt, weil sie im Unterschied zu dieser über den „symbiotischen Mechanismus“ der Sexualität verfüge. Was aber wäre dann der symbiotische Mechanismus der Freundschaft? Die Sexualität kann es aufgrund des Homosexualitätstabus nicht sein. Die von Kraß formulierte These lautet daher, dass in der ritterlichen Dichtung des Mittelalters körperliche Gewalt – die Luhmann als symbiotischen Mechanismus der Macht bzw. Politik einordnet – diese Funktion in metonymischer und metaphorischer Weise übernehmen kann, was wiederum exemplarisch anhand der Freundeskämpfe in Hartmanns von Aues Artusroman Erec illustriert wird. Mit TOBIAS BRANDENBERGERS Beitrag zur idealistischen Narrativik der älteren iberoromanischen Literaturen des 15. und 16. Jhds. (v.a. aus den Bereichen der libros de caballerías, ficción sentimental und libros de pastores), die bislang aus Sicht der Masculinity Studies kaum erforscht wurden, wird die Chronologie des Bandes in der Frühen Neuzeit weitergeführt. Es geht darum, die behandelten Texte einerseits auf die Frage hin neu zu lesen, wie dort Männlichkeit(en) unter dem Rückgriff auf Darstellung diverser Formen von praktizierter Gewalt entworfen und ausgehandelt wird (werden), und inwiefern ein ‚Gewaltmonopol‘ im Sinne einer der symbolischen Ressourcen von traditioneller, heteronormativhegemonialer Männlichkeit durch widerständige Szenarien in der Fiktion hinterfragt wird. Zweitens wird ausgehend von diesen Betrachtungen versucht, das genologische Potential einer entsprechenden Kategorienverschränkung zu erproben, die auch für andere Genres fruchtbar zu machen wäre. Mit dem Beitrag von KARIN PETERS bleiben wir in der spanischen Frühmoderne. Peters untersucht anhand ausgewählter Stücke von Lope de Vega, wie im spanischen Barock die souveräne Macht des Königs an die – ungesetzliche aber setzende – Tötung einer als phobisch inszenierten Männlichkeit geknüpft ist.

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Jacques Derrida betont in Force de loi (1994), dass die souveräne Einsetzung des Gesetzes einer ‚mystischen Fundierung‘ bedarf, die der Kluft zwischen Rechtssetzung und Widerrechtlichkeit beizukommen sucht. Insbesondere fundamental theatrale politische Systeme wie die frühneuzeitliche Monarchie bedienen sich deshalb der seriellen Zurschaustellung dieser Rechts-Gewalt. Im Barockdrama selbst hingegen sticht ins Auge, dass seine Helden sich eben gegen jenes zentralisierte Recht auflehnen. Die Konstellation aus Recht, Theater, Souveränität und Männlichkeit zeigt, dass Autorität nur performativ vorhanden und insofern immer prekär ist. Der ‚mystische Grund‘ der dabei zur Schau gestellten Macht wird erst theatral gefeiert, muss aber dann in einem phobischen Bild gebannt und bewältigt werden: im Bild einer gewaltsam ausgetriebenen feudalen Männlichkeit, die sich Recht genommen und damit das Machtmonopol des Königs in Frage gestellt hatte. CHRISTIAN GRÜNNAGEL widmet sich in seinem Beitrag Repräsentationen von Männlichkeit und Gewalt in der italienischen Barockoper des 18. Jhds. Im Zentrum steht die dramatische Konzeption der Figur des Arbace in Vincis Artaserse (1730). Die Partie des Arbace ist dabei nicht nur als Mezzosopran bemerkenswert, sondern gerade aufgrund der besonderen Art von Heldentum, die Arbace vorstellt. Er erfährt nämlich als völlig Unschuldiger psychische und physische Gewalt von Seiten seines Vaters, seiner Geliebten und seines Freundes, des persischen Großkönigs A(r)taxerxes (‚Artaserse‘), ohne die Option, sich aktiv dagegen zur Wehr setzen zu können. Zum melancholisch-stoischen Erdulden verurteilt, bezieht diese Figur gerade aus dieser konsequenten Passivität ihre heroische Größe, scheint also auf einigen Ebenen mit Stereotypen von männlicher Dominanz, Aktivität und Gewalt zu brechen, ohne dadurch an heroischer Kraft einzubüßen. Neben der werkimmanenten Analyse wird auch unter dem Aspekt ‚Gewalt gegen Männer‘ der zeithistorische Kontext dieser Kunstform miteinbezogen werden, konkret die Rolle und Konstruktion der Kastraten. Um den Themenkomplex Kolonialisierung, Männlichkeit und Gewalt geht es im folgenden Aufsatz von ANGELA SCHWARZ. Die gewaltsame Erforschung und Kartographierung des afrikanischen Kontinents durch europäische Forscher im 19. Jhd. stand im Schnittpunkt zahlreicher Entwicklungen. Das Innere (Zentral-) Afrikas bot als von der westlichen Wissenschaft in weiten Teilen noch unerforschtes Gebiet jenen ein willkommenes Betätigungsfeld, die sich in dem einen oder anderen Bereich einen Namen machen wollten. Zu ihnen gehörte der britische Journalist Henry Morton Stanley, der auf der Suche nach dem verschollenen Forscher und Missionar David Livingstone nach Afrika reiste und sich in seinen Artikeln und anschließenden Reiseberichten als Mann der Tat präsentierte. Dabei stilisierte er sich nicht nur als erfolgreicher Afrikaforscher, der die An-

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erkennung durch die wissenschaftlichen Institutionen verdiente. Vielmehr schuf er mit fortschreitendem Publikumserfolg eine spezifische Form einer ‚militanten Geographie‘, in der Wissenschaft, ihre Popularisierung und eine bestimmte Vorstellung aggressiver Männlichkeit als wesentliches Element des Forschungsprozesses eine Einheit eingingen. Um das gewaltvolle Ritual des Duells im Werk von Arthur Schnitzler geht es im Beitrag von MICHAEL OTT an der Schnittstelle von offiziellem Verbot und inoffiziell geforderter Rekonstruktion männlicher Ehre. Mit Blick auf ritualtheoretische Ansätze werden die „Gewalt-Kultivierung“ (Peter Gay) im Duell und dessen Dimensionen von Ehre, gender, In- und Exklusion, Performativität und Gewalt dargestellt; vor allem aber wird in den Texten Arthur Schnitzlers die narrative und theatrale Reinszenierung von Duellen analysiert. Im Zentrum steht dabei die zwischen Freiwild (1896) und Das weite Land (1911) ebenso wie die zwischen Lieutenant Gustl (1900) und Casanovas Heimfahrt (1918) veränderte Perspektive und Form der literarischen Bezüge auf das Duell in Schnitzlers Texten. SEBASTIAN ZILLES untersucht in seinem Artikel deutschsprachige expressionistische Werke erzählender Literatur vor dem Hintergrund eines wachsenden Interesses an Johann Jakob Bachofens Hauptwerk Das Mutterrecht (1861) in den Geisteswissenschaften einerseits und auf der Folie des aufkommenden Männerbund-Diskurses um 1900 andererseits. Der Altertumsforscher Bachofen etabliert einen Konnex zwischen Männlichkeit und Gewalt und postuliert, dass physische Gewalt ein wesentlicher Faktor für den geschichtlichen Fortschritt sei. Der Ethnologe Heinrich Schurtz, der den Männerbund-Begriff in die deutsche Kulturdebatte einführt, weist die Erfahrung physischer Gewalt als eine Grunderfahrung im Leben primitiver Völker nach. Demnach werden aus den Jungen erst dann ‚echte‘ Männer, wenn sie schmerzhafte Initiationsriten überstanden haben. Franz Werfels Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig (1919) und Gerhart Hauptmanns Die Insel der Großen Mutter (1924) greifen diese Diskurse auf. Beide Werke weisen einen von Gewalt bestimmten Vater-Sohn-Konflikt auf, der durch unterschiedliche Männerbünde gelöst werden soll. CHRISTIAN VON TSCHILSCHKE untersucht in seinem Beitrag mit Fokus auf den spanisch-marokkanischen Rifkrieg literarische Konstruktionen eines präfaschistischen Männlichkeitsideals, das der Wiederherstellung einer starken spanischen Nation dienen soll und das in hohem Maße auf einer positiven Einstellung zur Gewalt beruht. Untersucht werden daraufhin das betont sachliche Kriegstagebuch Francisco Francos, der 15 Jahre im Kolonialkrieg eingesetzt war, Diario de una bandera (1922), und Luys G. Santa Marinas in halluzinatorischen rassistischen Gewaltexzessen schwelgende avantgardistische Sammlung kurzer Prosa-

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und Verstexte Tras el águila del César. Elegía del Tercio 1921-1922 (1923). In beiden Texten erfährt die Identifikation von Männlichkeit und Gewalt jedoch ganz unterschiedliche Ausprägungen: als ordnungsstiftender Akt der Zivilisationsgründung oder als vitalistische Feier der Barbarei. Anhand dieser beiden auf den ersten Blick konträren Texte wird den Fragen nachgegangen, inwiefern sich in ihnen das Konzept eines neuen faschistischen Mannes abzeichnet, wie es zum Beispiel Klaus Theweleit (1977) und George L. Mosse (1996) beschrieben haben, welchen Einfluss der spezifische, kulturell geprägte spanischmarokkanische Kontakt auf die Profilierung, aber auch die latente Bedrohung dieses Männlichkeitsbildes besitzt, und ob nicht gerade im Verhältnis zu Gewalt und Tod die untergründige Gemeinsamkeit dieser beiden repräsentativen Texte zu finden ist. Um die Figur der männlichen Drohne sowohl aus Sicht der Insektenforschung als auch der Kriegstechnologie geht es im Beitrag von NIELS WERBER. In der Entomologie gelten männliche Hautflügler als eine Art fliegende Waffe, die ihre Ladung unbekümmert um die eigene Existenz ans Ziel (nämlich eine Nymphe auf ihrem Hochzeitsflug) trägt. Im Bereich der Literatur hatte bereits Maurice Maeterlinck den sog. Hochzeitsflug der Bienen als Verfolgung zur Luft beschrieben. Die Königin flieht vor den Drohnen, sie lässt alle ‚Truppen‘ hinter sich zurück, um letztlich von der schnellsten und aggressivsten eingeholt zu werden. Die Drohne schlägt ein, und sie vereinen sich. Diese ‚feindliche‘ Vereinigung wird die Drohne nicht lange überleben. Mating means dying. Vor dem Hintergrund der vielfachen Übertragungen zwischen sozialen Insekten und menschlichen Gesellschaften wird erkundet, was dies im Besonderen für die literarische Konstruktion von Männlichkeit bedeutet. Im Zentrum steht neben Maeterlinck der Text Ameisen (1925) von Hanns Heinz Ewers, ein Hybrid aus Roman und Sachbuch. Im Mittelpunkt des Aufsatzes von REBECCA WEBER steht der Diktatorenroman La fiesta del Chivo (2000) von Mario Vargas Llosa. Vor dem Hintergrund politischer Repression wird untersucht, welche Formen der Verdichtung von Macht und Gewalt innerhalb des Romans in Erscheinung treten und inwiefern diese über (den) Körper repräsentiert werden. Es stellt sich die Frage, ob der Diktator bei Vargas Llosa als Repräsentant von Macht verstanden werden kann, anknüpfend an ein Verständnis des Begriffs, der Macht als Folge von ‚Ermächtigung‘ versteht. Der Vorstellung von Literatur als kulturkritischem Medium folgend dient die Analyse des Körpers im Roman dazu, Erkenntnisse über Erfahrungen und Verarbeitungen politischer Repression zu erhalten und zu zeigen, inwiefern Männlichkeit, Gewalt und Macht in autoritären Regimen miteinander in Beziehung stehen.

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Der Beitrag von JÜRGEN MARTSCHUKAT setzt Waffengewalt, Männlichkeit und Konzepte von Selbstverteidigung in den USA zueinander in Bezug. Die Ausführungen beschäftigen sich mit dem Fall Bernhard H. Goetz, der am 22. Dezember 1984 in der New Yorker U-Bahn vier afroamerikanische Jugendliche niederschoss, nachdem sie von ihm fünf Dollar gefordert hatten. Goetz berief sich vor Gericht auf sein Recht zur Selbstverteidigung, wurde letztlich nur wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer halbjährigen Haftstrafe verurteilt und öffentlich als ‚Subway Vigilante‘ gefeiert. Der Fall Goetz wird zunächst aus einer Weitwinkelperspektive betrachtet, wobei auch die Geschichte des Verhältnisses von Männlichkeit und Gewalt in den USA seit dem 19. Jhd. eingebunden wird. Vor allem aber wird der Fall Goetz dann in einer Nahaufnahme in den Kontext der US-amerikanischen Geschlechterdynamiken der 1970er und 80er Jahre gesetzt, wobei der Hauptfokus dabei auf den Verschränkungen von gender und race, von Männlichkeit und Weißsein liegt. CLAUDIA BENTHIEN behandelt im letzten Beitrag des Bandes anhand von drei neueren deutschsprachigen Prosatexten zur Shoah-Thematik – Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser (1995), Thomas Lehrs Novelle Frühling (2001) und Uwe Timms autobiografischem Bericht Am Beispiel meines Bruders (2003) – Gewalterfahrungen männlicher Ich-Erzähler. Diese hängen jeweils, wenngleich auf ganz unterschiedliche Art und Weise, mit der libidinösen Identifikation der Erzähler mit Täterfiguren zusammen und haben starke Auswirkungen auf das (maskuline) Selbstbild. Es wird in diesem Kontext untersucht, inwiefern die von den Autoren gewählte subjektiv-kindliche Position einer retrospektiv berichtenden Erzählinstanz zwar der Einfühlung in die individuellen, traumatischen Gewalterlebnisse dienlich ist, aber auch zu Situationen überhöhten Selbstmitleids führt, in der andere Leiderfahrungen, insbesondere die der nationalsozialistischen Opfer, marginalisiert werden. Unser ausdrücklicher Dank gilt zuallererst den Beiträgern und Beiträgerinnen des vorliegenden Bandes. Darüber hinaus sei Lars Henk, Mona Schmitz und Kathrin Wagner für gründliches Korrekturlesen und diverse Formatierungshilfen ganz herzlich gedankt.

Die andere Wange Die Thematisierung von männlicher Gewalt in antiken Maskulinitätsdiskursen am Beispiel der Bergpredigt im Matthäusevangelium H ANS -U LRICH W EIDEMANN

Will man antike Texte zum Thema „Männlichkeit und Gewalt“ befragen, so führt diese doppelte Fragestellung zu einem doppelten Problem: Einmal erweisen sich die antiken Männlichkeitsdiskurse als ebenso heterogen wie die zeitgenössischen – was zu erwarten war. Ungleich komplexer stellt sich die Problematik einer Definition des Terminus „Gewalt“ dar, sobald man diesen zur Beschreibung antiker Quellen anwenden möchte. Es ist nämlich erst noch zu erweisen, ob der Bezeichnung bestimmter Handlungen mit dem deutschen Wort „Gewalt“ (oder mit entsprechenden Begriffssystemen in anderen modernen Sprachen) eine analoge Klassifizierung vergleichbarer Handlungen in einem antiken Text entspricht. Dies bezieht sich nicht nur auf die Terminologie, sondern auch auf die damit – direkt oder indirekt – verbundenen Bewertungen; denn die Qualifizierung einer bestimmten Handlung als Gewalt ist auch in aktuellen Wissenschaftsdiskursen in der Regel mit negativen Konnotationen verbunden. Aus diesem Grund ist zunächst zu klären, wie in konkreten antiken Texten das verhandelt wird, was gegenwärtig unter dem Begriff „Gewalt“ zusammengefasst wird (unter 1.). In der vorliegenden Studie soll es allerdings nicht darum gehen, an biblischen und altkirchlichen Quellen das vielverhandelte Verhältnis von Religion und Gewalt erneut zu thematisieren.1 Stattdessen sollen die ge-

1

Vgl. dazu z.B. Harold A. Drake (Hrsg.): Violence in Late Antiquity. Perceptions and Practices, Aldershot/Burlington 2006; Dereck Daschke/Andrew Kille (Hrsg.): A Cry

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schlechtlichen Konnotationen gewaltsamen Handelns, soll also der Zusammenhang zwischen antiken Maskulinitätsdiskursen und jenen Handlungen, die wir mit dem deutschen Begriff „Gewalt“ bezeichnen, exemplarisch an einem frühchristlichen Text beleuchtet werden, nämlich an zwei einschlägigen Passagen der sogenannten Bergpredigt (unter 2.). Martin Meuser bemerkt im Hinblick auf die Geschlechtslogik der Gewalt: „Gewalt erfährt ihren geschlechtlichen Sinn aus der geschlechtsdifferenten Zuschreibung und geschlechtstypisch unterschiedlichen Aneignung von Verletzungsmacht und -offenheit“.2 Weiterführend für die oben skizzierte Fragestellung ist seine Unterscheidung von zwischengeschlechtlichen (= heterosozialen) und binnengeschlechtlichen (= homosozialen) Gewaltinteraktionen. Im Hinblick auf die Bergpredigt konzentrieren wir uns auf homosoziale Formen von Männergewalt; diese sind laut Meuser unter den Vorzeichen feministischer Gewaltforschung lange Zeit vernachlässigt worden und entsprechend „untererforscht“3, was umso mehr für antike Texte gilt. Meuser betont, dass auch homosoziale Gewaltverhältnisse geschlechtlich konnotiert sind, eine Einsicht, die entscheidend durch das Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“ (Connell) befördert wurde: „Demzufolge ist Männergewalt durch ein doppeltes Distinktions- und Dominanzverhältnis bestimmt – gegenüber Frauen und gegenüber anderen Männern – und sind auch binnengeschlechtliche Dominanzverhältnisse als Geschlechterverhältnisse zu verstehen.“4 Meuser weist in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Aspekt hin: „Reziproke homosoziale Gewalt lässt sich als

Instead of Justice. The Bible and Cultures of Violence in Psychological Perspective (Library of Hebrew Bible/Old Testament Studies 499), New York/London 2010; Pieter G.R. de Villiers/Jan Willem van Henten (Hrsg.): Coping with Violence in the New Testament (Studies in Theology and Religion 16), Leiden/Boston 2012; Albert C. Geljon/Riemer Roukema (Hrsg.): Violence in Early Christianity. Victims and Perpetrators (Supplements to Vigiliae Christianae 125), Leiden/Boston 2014. 2

Martin Meuser: „Geschlecht“, in: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hrsg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, S. 209-214, hier: S. 213; die Begriffe „Verletzungsmacht“ und „Verletzungsoffenheit“ stammen von Heinrich Popitz (ebd., S. 211).

3

Ebd., S. 212. Meuser unterscheidet die reziproke von der einseitigen homosozialen Gewalt.

4

Ebd.; vgl. auch ders.: „‚Doing Masculinity‘ – Zur Geschlechtslogik männlichen Gewalthandelns“, in: Regina-Maria Dackweiler/Reinhild Schäfer (Hrsg.): Gewaltverhältnisse. Feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt, Frankfurt/M./New York 2002, S. 53-78.

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ein Moment der ernsten, unter Männern ausgetragenen Spiele des Wettbewerbs betrachten, in denen Bourdieu zufolge der männliche Habitus geformt wird“.5 Meuser spricht angesichts der wechselseitigen Herausforderungen der Männlichkeit von der „Wettbewerbs-Konstruktionslogik von Männlichkeit“ oder von ihrer „kompetitiven Logik“, die auch das homosoziale Gewalthandeln prägt.6 Die ist ein m.E. auch für viele antike Texte zentraler Gedanke.

A SPEKTE

DES

G EWALTBEGRIFFS

a.) Zur aktuellen Diskussion um den Gewaltbegriff Wenden wir uns unter diesen Vorzeichen zunächst einer operationalisierbaren Definition des Begriffs „Gewalt“ zu. Konsultiert man das im Jahre 2013 von Christian Gudehus und Michaela Christ herausgegebene interdisziplinäre Handbuch Gewalt, so ist festzustellen, dass der Aspekt physischer Gewalt, also das Erleiden und Zufügen von Schmerz, im Zentrum der wichtigsten aktuellen Begriffsdefinitionen steht.7 Dies hat auch damit zu tun, dass in der neueren Gewaltforschung dem Körper ein zentraler analytischer Platz eingeräumt wird.8 Im Gegenzug wird die im Kontext der Debatte um die sog. strukturelle Gewalt erfolgte Ausweitung des Gewaltbegriffs und seine Entkopplung von körperlicher Verletzung zunehmend verabschiedet. Folglich rückt die Körperlichkeit von Gewalthandlungen und damit eine Definition von Gewalt als körperliche Verletzung von Menschen ins Zentrum: „Gewalttätiges Handeln ist körperliches Handeln“.9 Der Gewaltbegriff wird auf interpersonale Gewalt fokussiert, auf Gewalthandeln zwischen konkreten Personen in ihrer Körperlichkeit.10 Allerdings ist ein rein auf das Physische bezogener Gewaltbegriff ebenfalls zu begrenzt. So betont Katharina Inhetveen im Anschluss an Heinrich Popitz, dass Gewalt nicht nur die anatomische Körperlichkeit des Menschen betrifft,

5

Meuser: „Geschlecht“, S. 212.

6

Ebd.

7

Zum Folgenden die von den beiden Herausgebern verfasste Einleitung „Gewalt – Begriffe und Forschungsprogramme“, in: dies. (Hrsg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2013, S. 1-15, v.a. S. 2-4.

8

Dazu Katharina Inhetveen: „Körper“, in Gudehus/Christ (Hrsg.): Gewalt, S. 203-208.

9

Ebd., S. 204.

10 Vgl. Meuser: „Geschlecht“, S. 209.

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„denn die Integrität des Körpers ist mit der der Person verbunden“.11 Dies zeigen in dem genannten Sammelband insbesondere zwei Beiträge zu bestimmten Praktiken der Gewalt, nämlich zur Beleidigung und zur Ohrfeige. Deren Autoren, Steffen K. Herrmann und Winfried Speitkamp, arbeiten dabei den Aspekt der symbolischen Gewalt, genauer: der Ehrverletzung instruktiv heraus. Dieser ist m.E. für antikes Verständnis grundlegend. Im Falle der Beleidigung wie der Ohrfeige stößt eine primär auf physische Gewalt, also auf körperliche Verletzung und Zufügen von Schmerz fokussierte Gewaltdefinition ebenso an ihre Grenzen wie die diversen Konzeptionen von struktureller Gewalt. Herrmann stellt die Frage, warum wir Menschen Wesen sind, die durch eine verbale Beleidigung verletzt werden können12 und definiert die Beleidigung als eine sprachliche oder körperliche Handlung, durch die einem Subjekt eine symbolische Verletzung zugefügt wird. Mehr noch, die durch die Beleidigung ausgeübte Gewalt und die damit zugefügte Verletzung sind sogar wesentlich symbolischer Natur. Das Medium der Gewaltausübung ist im Falle der Verbalinjurie die Sprache. Sprachliche Beleidigung lässt sich nach Herrmann als Absetzungsakt verstehen, als Herabsetzung, Erniedrigung, Abwertung oder gar Entfernung der adressierten Person aus ihrem sozialen Raum. Es geht also um soziale Entwertung.13 Neben anderen Faktoren ist dabei insbesondere die Instanz des Publikums eine wichtige Kraftquelle für das Gelingen einer Beleidigung. Herrmann spricht daher treffend vom „theatralen Charakter“ vieler Beleidigungen.14 Herrmann bemerkt in diesem Zusammenhang, „dass physische Gewalt in vielen Fällen ein Mittel zur Ausübung von symbolischer Gewalt ist. Die symbolische Dimension des Gewaltgeschehens bleibt jedoch aufgrund der körperlichen Verletzungen, die sich die Beteiligten in physischen Auseinandersetzungen zufügen, oftmals unberücksichtigt“.15 Das zeigt Herrmann u.a. am Beispiel der

11 Inhetveen: „Körper“, S. 205. Ebd. S. 206: „Die Betroffenheit des Körpers durch Gewalt hat also neben der anatomisch-körperlichen auch eine leiblich-gespürte Dimension“, hinzu komme eine „psychisch-emotionale Dimension“. 12 Steffen K. Herrmann: „Beleidigung“, in: Gudehus/Christ (Hrsg.): Gewalt, S. 110-115, hier: S. 111. 13 Ebd., S. 112. Herrmann beschreibt den Effekt der Beleidigung als Bewegung, durch die ein adressiertes Subjekt aus der Mitte der Gesellschaft verstoßen und stattdessen an einen randständigen, marginalisierten oder peripheren Platz versetzt wird. 14 Ebd., S. 113. 15 Ebd., S. 111.

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Ohrfeige als „Schwellenphänomen“ zwischen physischer und „symbolischer“ Gewalt.16 b.) Gewalt in antiken Texten Wendet man sich mit diesen Einsichten den antiken Kontexten zu, dann ist zunächst mit Winfried Speitkamp für vormoderne Gesellschaften generell festzuhalten: „Gewalt, große wie kleine, bedeutete Erniedrigung, Entehrung, und die beständige Gewalt demonstrierte vor allem Statushierarchien.“17 Dabei ist es kein Zufall, dass diese Einsicht im Kontext der Darlegungen Speitkamps zum besonderen Symbolgehalt der Ohrfeige erfolgen: „Schon in der Vormoderne war die Ohrfeige vor allem Demonstration von Statusdifferenz, nicht zuletzt von Geschlechter- und Generationendifferenz […] Die Ohrfeige war Ausdruck der Hierarchie zwischen den Ständen sowie innerhalb der Stände und der Familie“. Dieser besondere Symbolgehalt der Ohrfeige bestand in der öffentlichen Demütigung und blieb bis heute erhalten: „Immer ging es dabei auch um die Ehre, dies freilich im je zeitspezifischen Gewand“.18 Man kann sagen, dass die Ohrfeige bis heute die Erinnerung an einen für die Vormoderne grundlegenden Sachverhalt bewahrt, dass sich nämlich Gewalt nicht auf den Aspekt der physischen Beschädigung reduzieren lässt. Anhand antiker Hinrichtungen hat Dirk Rohmann den von ihm so genannten „demonstrativen Charakter“19 der antiken Gewalt instruktiv dargestellt, zugleich aber betont, dass dieser keineswegs auf Hinrichtungen beschränkt war. Rohmann spricht vom „Öffentlichkeitscharakter antiker Gewalt“20, von ihrem „Publikumscharakter“21 und von „demonstrativer Funktionalisierung“ der Gewalttätigkeiten.22 Analog hat Moisés Mayordomo gerade für die biblischen Texte die doppelte Komponente bei Gewaltanwendung betont, geht es doch in diesen antiken Texten in der Regel nicht nur um den physischen Zwang, der Schmerz zufügt,

16 Ebd. 17 Winfried Speitkamp: „Ohrfeige“, in: Gudehus/Christ (Hrsg.): Gewalt, S. 147-152, hier: S. 147f. 18 Ebd., S. 148. 19 Dirk Rohmann: Gewalt und politischer Wandel im 1. Jahrhundert n. Chr. (Münchner Studien zur Antiken Welt 1), München 2006, S. 69. 20 Ebd. 21 Ebd., 204f. Arenaspiele sind laut Rohmann daher „eine Institutionalisierung eines Konsens“. 22 Ebd., S. 69, 71.

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sondern auch um den psychischen, der Demütigung bedeutet. Letztere Komponente der Erniedrigung dominiert bei manchen Arten der Gewaltanwendung sogar.23 Martin Zimmermann zufolge war gerade auch im römischen Reich die Gewalt „im öffentlichen Raum außerordentlich präsent, ja sie war eine wichtige Grundlage der staatlichen Existenz“24. Dies galt für die demonstrative Darstellung und Vorführung äußerer Feinde in bildender Kunst, im Amphitheater und beim Triumphzug, aber auch schon im Hinblick auf die Stadtgründungsmythen. Das deutsche Wort „Gewalt“ umfasst bekanntlich ein breiteres lexikalisches Feld als entsprechende Vokabeln in vielen anderen modernen, v.a. aber den antiken Sprachen, nämlich sowohl den Aspekt physischer und psychischer Gewalttätigkeit (lat. violentia, vis; engl. violence) als auch den Aspekt staatlicher Gewalt (lat. auctoritas, potestas; engl. authority, power). Nun zeigen zwar die Wortfelduntersuchungen25 zu den griechischen Derivaten von βιά und ὕβρις26 sowie zu den lateinischen von violentia und vis, dass „ein Konzept der Gewalt existierte, das mit modernen Normen kompatibel zu sein scheint“.27 Dirk Rohmann hat aber überzeugend herausgearbeitet, dass sich die antike Gewaltterminologie nicht an allgemein-menschenrechtlichen, an naturrechtlichen oder an universalen moralischen Kategorien ausrichtete. Antike Legitimation oder Verurteilung von

23 Moisés Mayordomo: „Wie wird Gewalt in Sprache gefasst? Einführung mit Lesehilfe“, in: Bibel und Kirche 3 (2011), S. 126-128. Vgl. außerdem Walter Dittrich/Moisés Mayordomo: Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005. In dieselbe Richtung einer Differenzierung von „physical and non-physical violence“ gerade im Hinblick auf antike Texte geht Jan Willem van Henten: „Religion, Bible, and Violence“, in: Pieter G.R. de Villiers/Jan Willem van Henten (Hrsg.): Coping with Violence in the New Testament (Studies in Theology and Religion 16), Leiden/Boston 2012, S. 3-21, v.a. S. 5-8. 24 Martin Zimmermann: „Zur Deutung von Gewaltdarstellungen“, in: ders. (Hrsg.): Extreme Formen von Gewalt in Bild und Text des Altertums (Münchner Studien zur Antiken Welt 5), München 2009, S. 7-45, hier: S. 15. Diese „martialische Feier physischer Gewalt“ unterscheidet laut Zimmermann die römische von der griechischen Bilderwelt. 25 Instruktiv dazu Rohmann: Gewalt und politischer Wandel, S. 22-31. 26 Vgl. dazu David Cohen: Law Violence, and Community in Classical Athens (Key Themes in Ancient History), Cambridge 1995. Dieser hat anhand von athenischen Rechtsquellen sowie anhand von Aristoteles nachgewiesen, dass ὕβρις auch Formen sexueller Gewalt einschließen konnte (ebd., S. 143-162). 27 Rohmann: Gewalt und politischer Wandel, S. 23.

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Gewalt war von deren Verhältnismäßigkeit und Schwere relativ unabhängig; vielmehr war sie eine Frage des Standorts. Rohmann betont daher mit Recht, „dass Bewertungen von Gewalt an soziale Grenzen gebunden waren“28. Daraus folgt: „Nicht welche Art von Gewalt eine bestimmte Person ausübte, war demnach entscheidend, sondern wer sie ausübte“. Und das bedeutet wiederum: „Der Vorwurf der Grausamkeit war nicht moralisch, sondern vornehmlich politisch oder sozial motiviert“29. Das dokumentiert beispielsweise die Darstellung von „Barbaren“ in griechisch-römischen Quellen als besonders grausam.30 Grundlegend ist also der Zusammenhang zwischen Gewalt und sozialem Status.31 Da die Bewertung von Gewalt an soziale Grenzen gebunden war,32 hing die Legitimität von Gewalt „in ausgesprochener Weise von einer Statusgleichheit in der Täter-Opfer-Beziehung ab. Der Angriff durch einen Rangniederen hatte stets etwas Entehrendes an sich, während eine eindeutige physische Überlegenheit Zurückhaltung gebot.“33

G EWALT

ZWISCHEN

M ÄNNERN

IN DER

B ERGPREDIGT

Die voranstehende Skizze hat eine Reihe von Hinweisen ergeben, was zu erwarten ist, wenn antike Texte nach dem befragt werden, was in gegenwärtigen Diskursen mit dem Begriff „Gewalt“ bezeichnet wird. Wenn es nun im Folgenden darum geht, dies auf die Gender-Aspekte von Gewalt zu fokussieren, dann bietet sich hierfür die exemplarische – und natürlich notwendig fragmentarische – Auseinandersetzung mit einem konkreten antiken Text an. Dass die Wahl hier

28 Ebd.,S. 88. 29 Ebd., S. 26f. Es geht darum, wie der Beurteilende seinen Standort gegenüber dem Täter schon im Vorhinein festgelegt hatte: „Die Moral war auf Seiten des Siegers“ (ebd.), die Opferperspektive spielte nur implizit eine Rolle. 30 Dazu Walter Pohl: „Perceptions of Barbarian Violence“, sowie Ralph W. Mathiesen: „Violent Behavior and the Construction of Barbarian Identity in Late Antiquity“, beide in: Harold A. Drake (Hrsg.): Violence in Late Antiquity. Perceptions and Practices, Aldershot/Burlington 2006, S. 15-26 und S. 27-36. 31 Dazu auch Dirk Rohmann: „Tyrannen und Märtyrer. Seneca und das Gewaltkonzept in der Literatur des ersten Jahrhunderts n. Chr.“, in: Martin Zimmermann (Hrsg.): Extreme Formen von Gewalt in Bild und Text des Altertums (Münchner Studien zur Antiken Welt 5), München 2009, S. 275-294, hier: S. 279. 32 Vgl. Rohmann: Gewalt und politischer Wandel, S. 88. 33 Ebd., S. 84.

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auf zwei Passagen der sog. Bergpredigt fällt, liegt aus mehreren Gründen nahe. Zum einen ist die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte dieses nicht zuletzt für die Gewaltproblematik zentralen Textes gar nicht zu überschätzen. Zum anderen hat gerade die jüngere Debatte den androzentrischen Charakter dieses Textes aufgewiesen,34 der sich dezidiert an Männer richtet, in dem ein ganz bestimmtes Maskulinitätsideal formuliert wird, und in dem es Martin Leutzsch zufolge „in erster Linie um Regulation von Männlichkeit“ geht.35 Als „Bergpredigt“ wird – etwas unglücklich – ein Text bezeichnet, der sich im Matthäusevangelium findet und der dort die Kapitel 5 bis 7 umfasst.36 In ihrer vorliegenden Fassung stellt die Bergpredigt zweifellos die Kompilation bzw. Komposition eines frühchristlichen Autors dar, den die kirchliche Tradition als Matthäus bezeichnet und mit dem in Mt 10,3 genannten Mitglied des Zwölferkreises identifiziert hat. Ihre endgültige literarische Form dürfte die Bergpredigt um die erste Jahrhundertwende erreicht haben. Es besteht aber Übereinstimmung darin, dass große Teile des Textes auf Jesus von Nazareth und damit auf die späten 20er bzw. frühen 30er Jahre des 1. Jhds. zurückgehen. Ihren Namen hat die Komposition dadurch erhalten, dass Jesus in den Einleitungsversen 5,1-2 als öffentlicher Redner inszeniert wird: Angesichts der zu ihm strömenden Volksmassen besteigt er den Berg und setzt sich, nimmt also die in antiken Texten breit belegte Position des Lehrers ein. Seine Jünger (i.S.v. Schüler) treten zu ihm, bilden also einen engeren Hörerkreis um ihn. Feierlich fährt der Text fort, dass Jesus „seinen Mund öffnet und sie, d.h. seine Jünger, lehrt“ (Mt 5,2). Die nun folgende Rede ist somit als eine an seine männlichen Nachfolger gerichtete Unterweisung inszeniert, die unter freiem Himmel und vor Publikum stattfindet – also in der Öffentlichkeit und damit in einem für die grie-

34 Dazu ausführlich Verf.: „‚Vergeltet nicht dem bösen Mann!‘ Versuch einer konsequent androzentrischen Lektüre der Bergpredigt“, in: ders. (Hrsg.), „Er stieg auf den Berg … und lehrte sie“ (Mt 5,1f.). Exegetische und rezeptionsgeschichtliche Studien zur Bergpredigt (Stuttgarter Bibelstudien 226), Stuttgart 2012, S. 25-70. 35 Martin Leutzsch: „Konstruktionen von Männlichkeit im Urchristentum“, in: Frank Crüsemann u.a. (Hrsg.): Dem Tod nicht glauben. Sozialgeschichte der Bibel (FS L. Schottroff), Gütersloh 2004, S. 600-618, hier: S. 614. 36 Zur Bergpredigt insgesamt vgl. Hans-Dieter Betz: The Sermon on the Mount. A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 1995; Franz Zeilinger: Zwischen Himmel und Erde. Ein Kommentar zur „Bergpredigt“ Matthäus 5-7, Stuttgart 2002; Klaus Wengst: Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010.

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chisch-römische Antike klar als männlich konnotierten Bereich, als Bereich mann-männlicher Interaktion. Zur Illustration dieser Aufteilung der Lebenswelten anhand der Geschlechter sei eine zum Matthäusevangelium ungefähr zeitgenössische Stimme angeführt: Der ebenfalls im 1. Jhd. n. Chr. lebende jüdische Religionsphilosoph Philo von Alexandrien betont,37 dass Marktplätze (agorai), Ratsversammlungen, Gerichtshöfe, Kultvereine, Versammlungen großer Menschenmengen und überhaupt das unter freiem Himmel sich abspielende Leben, das sich durch Wort und Tat in Krieg und Frieden vollzieht, nur für Männer geeignet ist – für die Frauen dagegen das Hüten des Hauses und das Bleiben im Inneren. Philo begründet dies unter anderem mit Bezug auf die Natur (physis), die für beide Teile „unserer Gattung“ unterschiedliche Satzungen aufgestellt habe. Philo unterscheidet wie andere antike Autoren auch zwischen polis und oikos: Männer haben die Leitung der Stadtverwaltung (politeia), die Frauen versehen die Haushaltung (oikonomia), sie sollen sich auf das Leben im Inneren beschränken und sich nicht draußen auf den Straßen den Blicken anderer Männer aussetzen. Denn draußen ist der Bereich des männlichen Blicks, vor allem aber ein Bereich von Wortwechseln, Handgreiflichkeiten und Schlägereien unter Männern, von Schimpfworten und Schmähreden. Philo zeigt damit, dass der öffentliche Raum als männlicher Raum ein Raum agonalen Verhaltens ist. Ein grundlegender Begriff hierfür ist Ehre, die durch Zuschreibung oder durch Herausforderung erlangt wird bzw. die ein Mann öffentlich zu verteidigen hat. Der in Mt 5,1-2 erfolgten szenischen Inszenierung der „Bergpredigt“ entsprechen zentrale Partien ihres Inhalts. Denn die Zuhörer erfahren – insbesondere in den sog. Antithesen (5,21-48) – woran sie die Jesusnachfolger in der Öffentlichkeit erkennen können. In der Formulierung des Bergpredigers sollen die Jünger Jesu ihr „Licht leuchten lassen vor den Menschen, damit diese eure guten Werke sehen und den Vater im Himmel lobpreisen“ (5,16). Es geht also um die öffentliche Performanz der Anhänger Jesu, womit natürlich insbesondere die Performanz ihrer Maskulinität gemeint ist.

37 Philo: De specialibus legibus III 170-176. Alle folgenden Zitate stammen aus der genannten Passage.

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a.) Der Zorn auf den Bruder (Erste Antithese: Mt 5,21-24) 21

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23

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a b c d a b c d e f g h i a b c a b c d

Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten! Wer aber tötet, wird dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, wird dem Gericht verfallen sein. Wer aber zu seinem Bruder sagt: Dummkopf!, der wird dem Hohen Rat verfallen sein. Wer aber sagt: Narr!, wird der Feuerhölle verfallen sein. Wenn du nun deine Gabe darbringst zu dem Altar und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder; dann komm und bring deine Gabe dar.

Die erste vom matthäischen Jesus evozierte Situation ist die Beschimpfung des „Bruders“ als „Dummkopf“ und „Narr“. Diese verbale Beleidigung erfolgt laut durch einen Mann, der seinem Bruder zürnt.38 Die Situation selbst wird in keiner Weise eingeschränkt; ob die Beleidigung öffentlich erfolgt, bleibt offen, dürfte aber aufgrund von 5,16 in erster Linie gemeint sein. Mit dem Stichwort „Zorn“ (orgē) schließt Jesus hier an eines der zentralen, aber auch kontrovers diskutierten Themen antiker Tugend- und Maskulinitätsdiskurse an.39 Laut Aristoteles entsteht Zorn, wenn Verstand oder Vorstellung

38 Überzeugend Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus I (Evangelisch-katholischer Kommentar I/1), Zürich u.a. 52002, S. 337: Vers 22a („Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen“) ist allgemeiner Obersatz, Vers 22b und c sind zuspitzende Konkretionen. Ähnlich Betz: Sermon, S. 220: „two illustrative examples […] climactically arranged and parodistic in nature“. 39 Vgl. dazu William V. Harris: Restraining Rage. The Ideology of Anger Control in Classical Antiquity, Cambridge/Mass. 2001, sowie Petra von Gemünden: „Umgang mit Zorn und Aggression in der Antike und der Bergpredigt“, in: dies.: Affekt und Glaube. Studien zur Historischen Psychologie des Frühjudentums und Urchristentums (Novum Testamentum et Orbis Antiquus 73), Göttingen 2009, S. 163-189. Zu Jak 1,20 außerdem Petra von Gemünden: „Die Wertung des Zorns im Jakobusbrief auf

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eine Beleidigung (hybris) oder eine Geringschätzung registrieren.40 Keineswegs lehnt Aristoteles den Zorn rundheraus ab, im Gegenteil ist er „als Hilfsmittel zur Kardinaltugend der andreia [Mannhaftigkeit bzw. Tapferkeit] sogar unentbehrlich“41 und damit Teil des Maskulinitätsideals. Lobenswert sei der Mann, der zürnt, worüber er soll und wem er soll und ferner wie, wann und wie lang er soll.42 Lobenswert gerade beim Zorn ist also eine Haltung der Mitte.43 Zornlosigkeit (aorgēsia) ist nach Aristoteles dagegen zu tadeln, denn Männer, die nicht zürnen, gelten als Dummköpfe. Ein Mann, der nicht zürnt, ist nämlich nicht zur Verteidigung geeignet, daher sei es Zeichen von Sklavenmentalität, wenn man sich Beschimpfungen gefallen lässt und es auch bei den Seinigen duldet.44 Aus diesen Ausführungen erkennt man, dass Zorn in den allermeisten Fällen eine Reaktion darstellt, keine grundlose Antipathie.45 „The implication is clear that while orgē is an emotion, it is only orgē, if it leads to action or comes close to leading to action“.46 Der zürnende Mann von Mt 5,22 ist demnach ein Mann, der provoziert wurde.47 Der Zorn eines Mannes hat, das zeigt schon das klassische Beispiel des Achilles, in der Regel eine Vorgeschichte, und er hängt aufs Engste mit dem Ehre-Schande-Kodex des antiken Mittelmeerraumes zusammen:

dem Hintergrund des antiken Kontextes und seine Einordnung“, in: dies. u.a. (Hrsg.): Der Jakobusbrief. Beiträge zur Rehabilitierung der „strohernen Epistel“ (Beiträge zum Verstehen der Bibel 3), Münster 2003, S. 97-119; zu 1Tim 2,8 ferner Verf.: „Selbstbeherrschte Hausherren. Beobachtungen zur rhetorischen Funktion des Maskulinitätsideals in den Pastoralbriefen“, in: Rudolf Hoppe/Michael Reichardt (Hrsg.): Lukas – Paulus – Pastoralbriefe (FS A. Weiser) (Stuttgarter Bibelstudien 230), Stuttgart 2014, S. 271-301, S. 278-281. 40 Aristoteles: Nikomachische Ethik VII,7 (1149a30ff.). 41 Gemünden: „Wertung“, S. 98, unter Verweis auf Aristoteles: Nikomachische Ethik III,11 (1116b.1111a) sowie kritisch dazu Plutarch: Moralia 501B, und Seneca: De ira I 7,1ff. 42 Aristoteles: Nikomachische Ethik IV,11 (1125b30ff.). 43 Ebd., (1126b5ff.). 44 Ebd., (1126a1ff.). 45 Dazu von Gemünden: „Umgang“, S. 164, laut der der Zorn bei Aristoteles zwei Aspekte umfasst, das Verletztwerden einerseits und das eigene Zornigsein andererseits. 46 Harris: Restraining Rage, S. 57. 47 Dazu auch Jerome Neyrey: Honor and Shame in the Gospel of Matthew, Louisville 1998, S. 192: „But in 5:22, the man who is angered (ὀργιζόµενος) has been challenged or provoked by another“. Nicht überzeugend von Gemünden: „Umgang“, S. 174, laut der in Mt 5,21f. der Aggressor angeredet werde.

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Zorn entsteht aufgrund von vorenthaltener, herausgeforderter oder verletzter Ehre, also durch Geringschätzung und Missachtung.48 Man kann also mit Recht von orgē als „active anger“49 sprechen. Zu beachten ist jedoch, dass der antike Zornes-Diskurs in erster Linie ein Diskurs der männlichen städtischen Oberschicht ist.50 Angesprochen ist in Mt 5,22 also faktisch das Opfer einer vorangegangenen männlichen Ehrverletzung, das im Begriffe steht, verbal zurückzuschlagen. Umso schockierender ist Jesu Gleichsetzung des Zürnens (ὀργίζειν) mit Mord51 und sein Urteil, dass jeder Mann, der seinem Bruder zürnt, der Verurteilung verfallen sei. Die Frage nach dem Grund des Zorns wird überhaupt nicht thematisiert. Vielmehr wird hier der Zorn als Reaktion auf eine erfolgte Beleidigung unter Strafe gestellt, und zwar insofern Zorn sofort zu einer Erwiderung – in diesem Fall zu einer Verbalinjurie – führt. Nun stellt sich aber von den genannten Passagen bei Aristoteles her sofort die Frage, ob Jesus hier seinen Nachfolgern eine nach antikem Empfinden unmännliche Performanz vorschreibt, sollen sie doch auf Provokationen eben nicht zornig reagieren. Die zeitgenössische Auseinandersetzung mit Aristoteles zeigt aber, dass Jesus mit seinem strikten Verbot des Zornes keineswegs alleine steht. Denn eine ganze Reihe von Autoren, pagane wie jüdische, werten wie Jesus den Zorn negativ. Paradebeispiele hierfür sind v.a. Plutarch für den hellenistischen und Seneca für den römischen Bereich.52 Beide werten den Zorn als Kontrollver-

48 Ausführlich Aristoteles: Rhetorik II,2 (1379a30–1380a5). Zur Verbindung von Zorn und Ehre in griechischen Quellen Harris: Restraining Rage, S. 60. 49 Ebd., S. 401. 50 Dazu auch von Gemünden: „Umgang“, S. 169 und 171: Bei Seneca und bei Plutarch sei jeweils das männliche Oberschichtsmitglied im Blick, bei Seneca vor allem im Hinblick auf seine ökonomischen, Karriere- und Herrschaftsinteressen im Staat, bei Plutarch im Hinblick auf sein Verhalten im oikos. 51 Jüdische Parallelen sind Legion, vgl. Wengst: Regierungsprogramm, S. 84-91, und Luz: Das Evangelium nach Matthäus I, S. 338ff., mit dem Fazit: „Inhaltlich ist also die erste Antithese keineswegs originell.“ 52 Für den paganen Bereich mit Mt 5,21f. zu vergleichen sind v.a. Plutarch: De cohibenda ira (= Moralia 452F-464D) und Seneca: De ira. Letzterer hält den Zorn für „das größte Übel“ (II 12,6: maximum malum), das vollständig beseitigt werden müsse (II 13,3). Dabei weist er die Vorstellung zurück, ein „vir bonus“ müsse zürnen (De ira I 12 u.ö.); der Zorn sei gerade keine Unterstützung von Mannhaftigkeit (in adiutorium virtutis), sondern deren Ersatz (sed in vicem) (13,4f.). Ausführlich von Gemünden: „Umgang“, S. 164-171.

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lust und damit sogar als Zeichen von Effemination.53 Aber auch in der jüdischhellenistischen Weisheitsliteratur wurde für junge Juden das Ideal des verständigen und langmütigen Mannes formuliert, dem oft der jähzornige Mann als negatives Kontrastbild gegenübergestellt wird.54 Diese Bewertung des Zornes als unmännlich hängt mit der zentralen Funktion der Selbstbeherrschung für das Männlichkeitsideal zusammen. In der jüngeren Diskussion um antike Konstruktionen von Männlichkeit wird der zentrale Wert der Selbstkontrolle herausgestellt.55 Überhaupt wird Kontrolle als grundlegendes Konstruktionsprinzip der antiken Männlichkeitsdiskurse identifiziert und anderen Bausteinen wie z.B. der aktiv/passiv-Binarität vorgeordnet.56 Im Unterschied zu den genannten Autoren aus den städtischen Eliten ist das Verbot des Zornes im Falle Jesu allerdings nicht Teil einer tugendgeleiteten Selbsttechnik

53 Für Seneca ist der Zorn ein Zeichen von Weichlichkeit und Wehleidigkeit, daher schlussfolgert er in De Ira I 20,3: „So ist der Zorn in erster Linie ein weibisches und kindisches Laster (ita ira muliebre maxime ac puerile uitium est)“. Ebd. 13,5 bemerkt er, „Kinder, Greise und Kranke“ seien am meisten zum Zorn veranlagt. Zorn sei Resultat „weichlicher und verzärtelter Erziehung“ (II 21,6: educatio mollis et blanda). Auch für Plutarch ist der Zorn weder adelig noch männlich, sondern Zeichen von Kleinheit und Schwäche – weswegen Frauen mehr zum Zorn neigten als Männer (De cohibenda ira 8). Laut Plutarch stammt der Zorn sogar ursprünglich aus Frauengemächern (ebd. 9). Bemerkenswert sind auch Plutarchs abschreckende Beschreibungen unbeherrschter zorniger Männer, nicht zuletzt von deren schriller Stimme (ebd. 6f.). Vgl. dazu Colleen M. Conway: Behold the Man. Jesus and Greco-Roman Masculinity, Oxford 2008, S. 26-29. 54 Dazu auch von Gemünden: „Wertung“, S. 100-102. Vgl. z.B. Spr (LXX) 14,17; 15,1; 15,18; 16,32; 22,24f.; 29,11 u.ö. Josephus preist in Bellum Judaicum II 135 die Essener als „gerechte Beherrscher des Zorns und Bezwinger der Wut“, bevor er ihre Verweigerung von Eiden erwähnt (analog Jesus in Mt 5,21-22 und 5,33-37). 55 Dazu Craig A. Williams: Roman Homosexuality, Oxford 22010, S. 151-156 („Masculinity and Self-Control“); Conway: Behold the Man, S. 21-29; Harris: Restraining Rage, S. 80-87. 56 Vgl. dazu Conway: Behold the Man, S. 24f. Sie verweist darauf, „that by the first century and beyond, self-control appears to trump the active/passive binary when it came to defining ideal masculinity“. Zur „tremendous importance placed on the notion of control in Roman ideologies of masculinity or of its absence“ vgl. auch Williams: Roman Homosexuality, S. 156. Dass ein zorniger Mann „impotens sui est“ bemerkt Seneca bereits zu Beginn seiner Schrift über den Zorn (De ira I 1,2)! Dessen Überwindung bezeichnet er als „Kampf mit sich selbst“ (III 13,1: pugna tecum ipse).

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zur Qualifikation für Leitungsfunktionen in polis und oikos, sondern wird mit prophetischem Habitus als eigentlicher Wille Gottes und unter Androhung ewiger Verdammnis vorgetragen. Im zweiten Fall (Mt 5,23f.) wird ein Mann angesprochen, dem bei der Vorbereitung des Opfers im Jerusalemer Tempel einfällt, „dass dein Bruder etwas gegen dich hat“. Der Text ist ganz allgemein formuliert, Anlass und Motiv spielen keine Rolle, zu erschließen ist allerdings, dass nun – im Unterschied zum vorigen Fall – der Täter angesprochen wird,57 der seinen Bruder in irgendeiner Form beleidigt hat. Von ihm fordert Jesus in bewusst überzeichnet-pointierter Form die absolute Initiative zur Versöhnung. Diese ist sogar dem Vollzug des kultischen Opfers vorzuziehen. Dem Verbot des Zorns auf Seiten des Beleidigten entspricht also die Forderung zur Versöhnung auf Seiten des Beleidigers. Die Aktivität, die im Falle der Reaktion auf Beleidigung unterbunden wird, wird im Falle der Versöhnung radikal gefordert. b.) Die andere Wange (Fünfte Antithese: Mt 5,38-41) 38

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a b c a b c d a b c a b

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Aug um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem bösen Mann keinen Widerstand! sondern wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dem halte auch die andere hin. Und dem, der mit dir vor Gericht gehen und dein Untergewand nehmen will, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand zwingen will, eine Meile zu gehen mit dem geh zwei.

Vom Kontext her ist deutlich, dass mit dem in 39b „böse“ (ponēros) genannten ein aggressiv-gewalttätiger Mann gemeint ist, der einen anderen durch eine körperliche Geste, durch Rechtsmittel oder durch das Recht der Besatzungsmacht herausfordert. Die Wortwahl ist bemerkenswert: Obwohl es im Folgenden um das geht, was durchaus mit dem deutschen Begriff „Gewalt“ zu bezeichnen wäre, fehlen die entsprechenden griechischen Begriffsfelder (wie bia oder hybris).58

57 Anders von Gemünden: „Umgang“, S. 177. 58 Zu diesen Rohmann: Gewalt und politischer Wandel, S. 24 (bia) sowie 25f. (hybris). bia wird – analog zu lat. vis – durchaus auch neutral und positiv gebraucht („Spiegel-

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Das könnte damit zusammenhängen, dass keine Situationen entfesselter, brutaler Gewalt geschildert werden. Im Unterschied zu 5,21–24 ist vielmehr die asymmetrische Grundkonstellation charakteristisch: „Das Gegenüber ist jeweils in der Position des Stärkeren und braucht das Recht nicht zu fürchten, ja darf es auf seiner Seite wissen“.59 Die Wortwahl zeigt, dass der Verfasser ein Verhalten, wie es in den folgenden drei exemplarischen Situationen geschildert wird, in religiösen Kategorien eindeutig negativ – eben böse – bewertet.60 Die negative Formulierung „nicht Widerstand leisten“ wird in den folgenden exemplarischen Situationen nun aber durch positive Aufforderungen inhaltlich gefüllt.61 Die in 39cd vorausgesetzte erste Situation ist offensichtlich: Der angesprochene Jesusnachfolger hat einen Schlag ins Gesicht erhalten, angesprochen wird also erneut das Opfer. Weder der Anlass noch die Situation werden thematisiert. Vorauszusetzen ist, dass dies in aller Öffentlichkeit geschah und dass Opfer und Täter Männer sind. Mit Recht bemerkt Winfried Speitkamp, dass häufig nicht unter Gleichrangigen, also unter in Status und Ehre Ebenbürtigen, geohrfeigt wird, „sondern von oben nach unten“.62 Damit dominiert der Aspekt der Beleidigung bzw. der Entehrung und nicht der des Schmerzes, vor allem, wenn die Ohrfeige öffentlich geschieht. Matthäus steigert diesen Aspekt noch, da Jesus hier – im Unterschied zu Lk 6,29! – explizit von der rechten Wange spricht, die den Schlag empfängt. Wenn der Täter nicht gerade Linkshänder ist, hat er den Schlag also mit dem Handrücken ausgeführt, was den Aspekt der Entehrung noch weiter steigert, wie eine ganze Reihe antiker Texte belegt.63

bild einer Gesellschaft, in der Machtdenken, männliche Ideale und Statusdenken einen hohen, von moralischen Bedenken weitgehend ungetrübten Stellenwert besaßen“), hybris bezeichnet die auch strafrechtlich relevante illegitime Gewalt ohne ein festes Motiv zur Entehrung des Opfers, vgl. dazu Aristoteles: Rhetorik II 2,5-6 (1378b23225). 59 Wengst: „Regierungsprogramm“, S. 121. 60 Vgl. dazu vor allem die letzte Bitte des Vaterunsers (Mt 6,13). 61 Vgl. Luz: Das Evangelium nach Matthäus I, S. 391. 62 Speitkamp: „Ohrfeige“, S. 147. 63 So auch Bruce J. Malina/Richard L. Rohrbaugh: Social Science Commentary on the Synoptic Gospels, Minneapolis 1992, S. 46: „being struck on the right cheek by a backhand slap is an insult, as humiliating as being successfully sued in court or being forced to carry military gear for a mile“; ebenso Luz: Das Evangelium nach Matthäus I, S. 385: „im Vordergrund steht der Schimpf und nicht der Schmerz“ (unter Hinweis

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Welche Optionen bleiben dem Mann, der mit dem Handrücken einen Schlag ins Gesicht erhält? Eines ist klar, Zurückschlagen kommt für einen Nachfolger Jesu nicht in Frage (vgl. Mt 5,5 und 5,9), der Zorn, also die gewalttätige Reaktion auf die Herausforderung bleibt verboten (s.o.). Flucht ist natürlich auch keine Option. Bemerkenswert ist aber, dass Jesus gerade nicht verlangt, die Demütigung „still zu erdulden“64 oder sie – im Sinne stoischen Gleichmuts – zu ignorieren: „Während Cato den Schlag, den er erhalten hat, (nach Seneca) in vorbildlicher Weise nicht wahrnimmt, fordert Jesus (nach der Bergpredigt) seine Nachfolger dazu auf, auch die andere Wange hinzuhalten“.65 Da Passivität weiblich konnotiert ist, würde ein rein passives Erdulden – noch dazu in der ländlichen Lebenswelt Jesu und seiner Nachfolger – das Opfer öffentlich zum effeminatus machen. Damit hätte der Aggressor das Ziel seiner Herausforderung vollumfänglich erreicht. Stattdessen soll das Opfer aktiv re-agieren, indem er dem Täter die linke Wange präsentiert. Damit fordert der Empfänger der Ohrfeige den Aggressor wiederum heraus. Welche Optionen hat nun der Aggressor? Natürlich kann er nochmals zuschlagen. Dieses Risiko haftet grundsätzlich allen provokant-gewaltfreien Aktionen Jesu an. Allerdings wird man sagen müssen, dass eine solche Performanz des Aggressors gerade nicht zur Steigerung seiner maskulinen Reputation beitragen würde, würde er doch damit den Mangel an einer für antike Maskulinitätsdiskurse essentiellen Tugend demonstrieren: der Selbstbeherrschung. Also trifft Betz den Punkt, wenn er zu 5,39 bemerkt, die von Jesus vorgeschriebene Reaktion auf den Schlag ins Gesicht sei eine „provocative invitation to receive a second strike“, die aber gerade kein Zeichen von Schwäche, sondern von moralischer Stärke sei: „The gesture exposes the act of the offender as what it is: morally repulsive and improper. In addition it doubles the renunciation of violence by the person insulted; and finally, it challenges the striker to react with comparable generosity“66. Noch deutlicher wird der Sinn der von Jesus vorgeschriebenen Geste im Lichte einer in anderem Kontext gemachten Bemerkung Dirk Rohmanns: „Für eine deutlich überlegene Partei galt es als unrühm-

auf Jes 50,6 und Klgl 3,30) sowie Wengst: Regierungsprogramm, S. 118f. (mit rabbinischen Parallelen). 64 Gegen Speitkamp: „Ohrfeige“, S. 147. 65 Von Gemünden: „Umgang“, S. 187 unter Verweis auf Seneca: De ira II 32,2. Von Gemünden weiter: „Ziel ist also nicht, die erfahrene Aggression nicht innerlich an sich heranzulassen oder sich von keinem Geschoss durchdringen zu lassen wie in der Stoa, sondern ein aktives, unerwartetes Verhalten“. 66 Betz: Sermon, S. 209. So auch Wengst: Regierungsprogramm, S. 122.

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lich, den unterlegenen Gegner physisch zu vernichten.“67 Da die Legitimität von Gewalt in ausgesprochener Weise von einer Statusgleichheit in der Täter-OpferBeziehung abhing, gebot die eindeutige physische Überlegenheit Zurückhaltung. In jedem Fall befindet sich der Aggressor in einer Zwickmühle, das dürfte die Hauptabsicht von Jesu Anweisung sein. Die zweite Szene 40a-c setzt die Situation eines Pfändungsprozesses voraus. Der mit „du“ angeredete Mann hat offenbar Schulden, sein Gläubiger bringt ihn deswegen vor Gericht, obwohl er bis auf sein Hemd kein pfändbares Eigentum mehr besitzt. Auch hier fordert Jesus von seinen männlichen Nachfolgern keineswegs die passive Hinnahme des Urteils. Stattdessen soll der Schuldner seinem Gläubiger neben dem Hemd „auch den Mantel“ überlassen. Vermutlich ist impliziert, dass sich der Angeklagte vor Gericht nackt auszieht, um seine vollständige Ausplünderung offensichtlich zu machen und den Gläubiger als habund geldgierig zu denunzieren. Vor allem aber stellt der Gepfändete durch die Übergabe des Mantels seinen Gläubiger symbolisch als Übertreter der Tora, des Gesetzes Gottes dar, denn der Mantel gilt laut Ex 22,26f. und Dtn 24,12f. als göttlich sanktioniertes Existenzminimum des Armen und muss spätestens abends wieder zurückgegeben werden.68 Im dritten Fall 41ab ist auf die Begegnung eines Provinzialen (peregrinus) mit einem römischen Soldaten oder Beamten angespielt. Dieser zwingt den Angeredeten zum Frondienst,69 vermutlich um ihm eine Meile das Gepäck oder die Rüstung zu tragen – was ein Recht der Besatzungsmacht war. Insbesondere in diesem letzten Fall handelt es sich um ein einseitiges homosoziales Gewaltverhält-

67 Rohmann: Gewalt und politischer Wandel, S. 83, unter Bezugnahme auf die HasenEpigramme des Martial, in denen von einem Löwen erzählt wird, der dazu abgerichtet wurde, nicht zuzubeißen, wenn er einen Hasen im Maul trug. 68 Ex 22,26f. lautet nach der Elberfelder Übersetzung: „Falls du wirklich den Mantel deines Nächsten zum Pfand nimmst, sollst du ihm diesen zurückgeben, ehe die Sonne untergeht; denn er ist seine einzige Decke, seine Umhüllung für seine Haut. Worin soll er sonst liegen? Wenn er dann zu mir schreit, wird es geschehen, dass ich ihn erhören werde, denn ich bin gnädig.“ 69 Zum Terminus aggareusei vgl. Luz: Das Evangelium nach Matthäus I, S. 386 (von der Armee oder von Beamten zwangsweise geforderte Leistungen, Transportmittel, Weggeleit z.B. zum Lastentransport oder auch Verproviantung). Der Begriff erscheint auch in Mt 27,32: Im Kontext des Kreuzweges Jesu zwingen die Soldaten Simon von Kyrene dazu, Jesus das Kreuz zu tragen.

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nis, da sowohl das Recht als auch seine gewaltsame Durchsetzung klar auf Seiten der römischen Besatzungsmacht waren.70 In aller Öffentlichkeit einem der Besatzer das Gepäck hinterherzutragen, ist natürlich ebenfalls eine massive Form der Demütigung, die weit schwerer wiegt als der Aspekt der physischen Gewalt. Indem er jedoch freiwillig eine zweite Meile mitgeht, bestimmt der vermeintlich Gezwungene selbst, wie lange und wie weit er mitgeht, er behält also das Heft des Handelns in der Hand. Hinzu kommt, dass er zugleich öffentlich in Szene setzt, er halte den Soldaten für zu schwach für den Fußmarsch. Fazit: Offensichtlich ist es keine Option, auf die genannten Provokationen hin rein passiv zu bleiben, würde dies doch den Verlust von Mannhaftigkeit (andreia bzw. virtus) und von Ehre mit sich bringen, wie z.B. Aristoteles belegt.71 Anders als z.B. stoische Autoren wie Seneca fordert Jesus daher von seinen Nachfolgern, auf die Herausforderung nicht passiv (und also weiblich), aber eben auch nicht gewalttätig-eskalierend (also zornig) zu reagieren. Dies bedeutet kein passives Verstummen angesichts der in diesem Kontext eindeutig als böse qualifizierten Gewalt: „rather it means an aggressive move to overcome evil“72.

A USBLICK Welchen Beitrag kann die Analyse antiker Texte für die Diskussion um Genderaspekte von Gewalt leisten? Zunächst ist deutlich, dass zur Beschreibung der in den antiken Texten geführten Diskurse um das, was wir gegenwärtig mit dem Begriff „Gewalt“ bezeichnen, eine auf physische Gewalt fokussierte Definition viel zu eng ist. Wie im Falle der öffentlichen Exekutionen73 steht in den von uns rekonstruierbaren Diskursen (die natürlich von Männern geführt werden)

70 Dazu Meuser: „Geschlecht“, S. 212. Laut Speitkamp: „Ohrfeige“, S. 147, steht die Ohrfeige als „kleine Gewalt“ dagegen auch den Schwachen und physisch Unterlegenen zur Verfügung. 71 Vgl. programmatisch Aristoteles: Rhetorik II,6 (1384a19f.): Von Unmännlichkeit oder von Feigheit nämlich kommen das Ausharren und der Verzicht auf Widerstand (ἀπὸ ἀνανδρίας γὰρ ἢ δειλίας ἡ ὑποµονὴ καὶ τὸ µὴ ἀµύνεσθαι). 72 Betz: Sermon, S. 284, und weiter: „The Golden Rule […] requires that one takes positive action to interrupt a viscous cycle of revenge“. 73 Dazu Jürgen Martschukat: Hinrichtung, in: Gudehus/Christ: Gewalt, S. 128-133, außerdem Jens-Uwe Krause: Staatliche Gewalt in der Spätantike: Hinrichtungen, in: Zimmermann (Hrsg.): Extreme Formen von Gewalt, S. 321-350.

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weniger der Aspekt des Schmerzes und der körperlichen Verletzung im Fokus als vielmehr die in den Gewaltsituationen erfolgte Herausforderung von Ehre und sozialem Status. „Gewalt“ wird also im Kontext agonaler Prozesse und hierarchischer Strukturen zum Thema. Im Anschluss an Meuser kann man sagen, dass die geschlechtliche Konnotation für die antiken homosozialen Gewaltverhältnisse entscheidend ist. In den in der Bergpredigt genannten Situationen homosozialer Gewalt steht daher jeweils auch die Maskulinität der Jesusnachfolger auf dem Spiel, nicht zuletzt deswegen, weil für sie die Anwendung physischer Gewalt aufgrund der Verpflichtung auf die Botschaft Jesu keine Option ist. Vor allem aber verpflichtet der matthäische Jesus seine Nachfolger darauf, in den exemplarisch genannten Situationen als (maskuline) Repräsentanten seiner Botschaft öffentlich identifizierbar zu sein. Umgekehrt zeigt die Analyse der Bergpredigt, dass ein in der Umwelt als „unmännlich“ qualifiziertes Verhalten für Jesu Anhänger ebenfalls keine Option ist. In der antiken Literatur ist der Effeminatus immer eindeutig negativ konnotiert, er wird als passiv und weichlich, aber auch als unbeherrscht und seinen Gefühlen und Begierden ausgeliefert konstruiert.74 Wie die antiken Parallelen zeigen, sind aber weder Jesu Verbote des Zornes (Mt 5,21-26), des begehrlichen Blicks auf eine Frau (5,27-30), der Ehescheidung (5,31-32) und des Eides (5,3337) noch seine Forderung nach initiativer Versöhnung und nach gewaltfreiem, aber dennoch aktivem Widerstand (5,38-42) Zeichen von Effemination, im Gegenteil. Indem sie öffentlich so auftreten wie von Jesus gefordert, leisten seine Nachfolger zwar Widerstand gegen ein bestimmtes Maskulinitätsideal, wie es z.B. von den in Mt 5,38-41 aufgebotenen Männern repräsentiert wird. Dieses ist auf die Dominanz anderer Männer ausgerichtet. Das von Jesus demgegenüber propagierte Maskulinitätsideal beruht radikal auf Selbst-Beherrschung und auf der Verpflichtung zu Initiative und aktivem Handeln. Die genaue Analyse des Textes zeigt, dass die Jünger nach antiken Maßstäben gerade nicht effeminiert werden, obwohl sie nicht gewalttätig („zornig“) auf Provokationen reagieren sollen. So kann man das hier vorausgesetzte Maskulinitätsideal als „anomale Maskulinität“75 bezeichnen, wobei bemerkenswert ist, dass die genannten Parameter

74 Ausführlich dazu Williams: Roman Homosexuality, S. 137-176 („Effeminacy and Masculinity“). 75 Janice Capel Anderson/Stephen D. Moore: „Matthew and Masculinity“, in: dies. (Hrsg.): New Testament Masculinities (Society of Biblical Literature Semeia Studies 45), Atlanta/Leiden 2003, S. 67-92, hier: S. 76: „The gender identity narratively con-

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agonalen und kompetitiven Verhaltens zwar kreativ transformiert, keineswegs aber grundsätzlich in Frage gestellt werden.

structed for male disciples in Matthew amounts to an anomalous masculinity when measured by traditional Graeco-Roman standards“.

Von Tränen und Blut Männlichkeit und Gewalt in der Chanson de Roland und im Perceval S ILKE S EGLER -M ESSNER

M ITTELALTER , M ÄNNLICHKEIT

UND

G EWALT

Zwei bis heute zirkulierende Annahmen prägen die Auseinandersetzung mit dem europäischen Mittelalter: Zum einen gehört die Vorstellung einer exzessiven, entfesselten Gewaltbereitschaft zu den populären Gemeinplätzen, die mit dem Mittelalter assoziiert werden.1 Blutige Fehden, abgeschlagene Köpfe, ausgestochene Augen und qualvolle Foltermethoden, kurzum: eine unkontrollierte Disposition zur gewalttätigen Lösung aller zwischenmenschlichen privaten und öffentlichen Konflikte prägt die allgemeine Sicht auf die Anfänge der europäischen Geschichte. In der teleologischen Weltsicht Norbert Elias’ ist die Menschheit erst mit der Entwicklung der höfischen Kultur in der Lage, den dunklen Tötungstrieb zu bändigen und sich zu zivilisieren, d.h. zu einer mündigen Bürgerschaft zu werden, eine Position, die angesichts der sich bis heute wiederholenden Exzesse von Gewalt in Frage zu stellen ist.2

1

Vgl. dazu Manuel Braun/Cornelia Herberichs: „Gewalt im Mittelalter: Überlegungen zu ihrer Erforschung“, in: dies. (Hrsg.): Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen, München 2005, S. 7-37, hier: S. 7.

2

Vgl. Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt/M. 1997. Zur kritischen Rezeption der Position Elias’ vgl. Jonathan Fetcher: Violence and Civilization. An Introduction to the Works of Norbert Elias, Cambridge 1997.

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Zum anderen scheint die als natürlich gesetzte Aggression gegen den Anderen die männliche Identität zu dominieren und im Zentrum ritterlicher Existenz zu stehen, sodass es so aussieht, als ob sich das männliche Subjekt nur durch die körperliche Verletzung seines Gegenübers begründen kann. Der Ritter, der stets auf der Suche nach aventure ist und sogleich die Lanze zückt, wenn seine Ehre durch die Not einer demoisele oder durch die Konfrontation mit einem anderen Ritter herausgefordert ist, wird häufig als rastloses Wesen repräsentiert, dessen Selbstwert sich durch die Rückbesinnung auf Ehre, Mut, Tapferkeit und physische Stärke konstituiert. Dieses Stereotyp eines latent gewaltbereiten und triebgelenkten männlichen Wesens korrespondiert weder mit den Heldenfiguren in den Texten noch einer Weltordnung, die zwar heteronormativ kodiert, aber weit davon entfernt ist, sich in einem eindeutigen System von Oppositionen zu erschöpfen.3 Die Gleichsetzung von Mittelalter mit Gewalt und von Gewalt mit Männlichkeit wird im Folgenden durch eine Relektüre aufgebrochen, deren Ziel darin besteht, die „Paradoxien und Repressionen, die der Heteronormativität als solcher zu eigen“4 sind, aufzuzeigen. Während in der chanson de geste die „gesta“, d.h. die konkret physischen Handlungen bzw. Taten im Mittelpunkt stehen, die den Blick auf die Handlungsträger innerhalb des Kollektivs lenken, vollzieht sich im roman courtois und insbesondere im Perceval (1182-1191) eine Substitution der demoisele als Tauschobjekt männlichen Begehrens durch den polyvalenten Gegenstand des Grals, der zu einer grundlegenden Verschiebung der Figurenkonstellationen und Geschlechteridentitäten führt:

3

Stefan Horlacher akzentuiert in seinem Forschungsüberblick, dass Männlichkeit ebenso wie Weiblichkeit keine biologische Gegebenheit ist, sondern auf einen Prozess referiert, der kulturell abhängig ist. Vgl. Stefan Horlacher: „Überlegungen zur theoretischen Konzeption männlicher Identität aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Ein Forschungsüberblick mit exemplarischer Vertiefung“, in: Martina Läubli/Sabrina Sahli (Hrsg.): Männlichkeiten denken. Aktuelle Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Masculinity Studies, Bielefeld 2004, S. 19-82, hier: S. 32.

4

Andreas Kraß: „Queer Studies in Deutschland“, in: ders. (Hrsg.): Queer Studies in Deutschland. Interdisziplinäre Beiträge zur kritischen Heteronormativitätsforschung, Berlin 2009, S. 17f.

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Mit der Identität des Gralssuchers geraten sowohl das traditionelle Bild von Männlichkeit als auch ritterliche Geschlechterverhältnisse, die auf Kampf- und Liebesgewinn basieren, ins Wanken. Daher kommt die Dynamik des homosozialen Begehrens an die Oberfläche.5

Chanson de geste und roman courtois modellieren kein geschlossenes Modell hegemonialer Männlichkeit, sondern entwerfen einen homosozialen Raum, in dem sich die Figuren in hierarchisch strukturierten Machtverhältnissen situieren.6 Das mittelalterliche Feudalsystem basiert auf Lehnsherrschaft und Vasallentum, die primär den übergeordneten Werten der Loyalität und Ehre verpflichtet sind. Darüber hinaus spielt die Implementierung des Christentums als Staatsreligion für die Gründung der späteren Nationalstaaten eine zentrale Rolle, was in letzter Konsequenz zu einer Dopplung von himmlischer und irdischer Herrschaft führt. In dem Maße, in dem die Vasallen ihrem Dienstherrn verpflichtet sind, ist dessen Handeln der Autorität Gottes unterstellt. In der Chanson de Roland (~ 1100) werden am Beispiel des Kampfes der Franken gegen die Mauren unterschiedliche Modelle vormoderner Männlichkeit präsentiert, die miteinander konkurrieren und sich in der Figur Karls vereinen, ohne ein einheitliches, verbindliches männliches Rollenmodell zu entwickeln. Im unvollendet gebliebenen Perceval deutet sich schließlich insbesondere in der Episode mit den drei Blutstropfen im Schnee das Auftauchen eines männlichen Subjekts an, das sich seiner selbst bewusst wird, indem es sich sogleich wieder vergisst, d.h. Perceval verfügt retrospektiv über keine Erinnerung an die Episode. In beiden Texten sind Verwandtschaft und Freundschaft von zentraler Bedeutung für die Begründung von Gemeinschaft und für das männliche Selbstverhältnis, das, wie Foucault unter Rückgriff auf die griechisch-römische Antike ausführt, auf Handlungsstrategien und Lebensgestaltungsmöglichkeiten basiert.7 Dabei zeichnen sich die Figurenkonstellationen durch markante Dopplungen und trianguläre Konstellationen aus, in denen Begehren, Identität und Macht unauf-

5

Annabelle Hornung: Queere Ritter. Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen des Mittelalters, Bielefeld 2012, S. 304.

6

Zur kritischen Diskussion des Connell’schen Konzepts hegemonialer Männlichkeit vgl. Martin Dinges: „‚Hegemoniale Männlichkeit‘ – Ein Konzept auf dem Prüfstand“, in: ders. (Hrsg.): Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt/M./New York 2005, S. 7-33, hier: S. 16.

7

Vgl. Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Bd. 2, Frankfurt/M. 31993, S. 18.

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lösbar miteinander verstrickt sind.8 In der Chanson de Roland befinden sich Roland und Olivier in einer engen freundschaftlichen Relation, deren Unaufhebbarkeit durch die ‚Liebesgabe‘ Audes, der Schwester Oliviers, an Roland akzentuiert wird und die in der Horn-Szene zu zerbrechen droht, wie ich zeigen werde. Im Perceval konstituiert Gauvain als Prototyp des vollkommenen Ritters das Alter Ego Percevals, der sich nach der Blutstropfen-Episode von seinem Seelenverwandten an den Hof Artus’ führen lässt. Beide Freundespaare agieren in einem homosozialen Setting, in dem sie nicht primär um ein Liebesobjekt, sondern um die Anerkennung der Herrscherfigur und der männlichen Kampfgemeinschaft rivalisieren. Bei näherer Betrachtung geht es in der Chanson de Roland und im Perceval jedoch auch um die Problematisierung der engen Verbindung von Waffendienst bzw. Gewalt und Männlichkeit. Der ritualisierten Gewaltdarstellung entspricht der Fetischcharakter der Schwerter und Lanzen, die aus psychoanalytischer Perspektive auf ödipale Begehrensstrukturen und die damit verbundene Kastrationsdrohung verweisen. Gleichzeitig wird die ungestüme, unreflektierte Gewaltbereitschaft als Signum männlicher Tapferkeit sanktioniert und durch die Rückbindung an die christliche Weltordnung gebändigt. In diesem Zusammenhang referieren die Tränen der Protagonisten, seien es die Karls, Rolands oder Percevals, auf ein uns heute fremdes Konzept von Maskulinität, das den Ausdruck von Schmerz weniger als Schwäche, denn als Stärke definiert.9 Innerhalb der narrativen Ökonomie der beiden Texte zeigt sich eine markante Verschiebung der Begehrens- und Machtstrukturen. Wird Roland erst durch den Tod seines Freundes Olivier zu einem reumütigen Christen, der seine Sünden bekennt und sich damit als vollkommener Held des christlichen Heeres erweist, so kann sich Karl erst durch das Scheitern seines Neffen als männliche Führungsfigur etablieren, die über die Handlungsmacht Gottes verfügt und die Sarazenen endgültig besiegt. Im Perceval hingegen befindet sich Artus als idealer Herrscher der höfischen Gesellschaft in einer Krise, da er niedergeschlagen ist und bis zum Ende handlungsunfähig bleibt. An seiner Stelle agieren Perceval und Gauvain, die sich jedoch beide in unterschiedlicher Weise mit ihrer Vergangenheit aussöhnen müssen: Gelingt es Perceval durch die Begegnung mit dem Eremiten seine Schuld zu erkennen und das Stadium einer vor-bewussten Existenz zugunsten christlicher Läuterung zu überwinden, so sieht sich Gauvain mit dem Vorwurf der ungerechtfertigten Tötung des Vaters Guigambresils konfron-

8

Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosexual Desire, New York 1985, S. 24.

9

Zur Ähnlichkeit und Fremdheit des Mittelalters vgl. Valentin Groebner: Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter, München 2003. S. 25.

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tiert und kehrt am Ende seiner Reise in den ‚mütterlichen Schoß‘, das Château des Merveilles, zurück. Im Folgenden werde ich die Verhandlung von Männlichkeit und Gewalt zum einen im Hinblick auf das Verhältnis von Herrscherfigur und Protagonist und zum anderen in Bezug auf das männliche Selbstverhältnis beleuchten, das sich in Abgrenzung zu dem Anderen als Figuration des Verdrängten bzw. des Mangels bestimmt. Das sich selbst bewusste männliche Subjekt, wie es sich in der Frühen Neuzeit herausbildet, existiert in den mittelalterlichen Texten nicht, so die Ausgangsthese meiner Ausführungen. Stattdessen werden idealtypische Bestandteile von Männlichkeit entworfen, die sich in Karl vereinigen und in der Figur Percevals problematisiert werden. Der fast ausschließlich männlich kodierte Handlungsraum lässt den Romanisten Simon Gaunt von einem dominant monologischen Männlichkeitsmodell in der Chanson de Roland sprechen, was insofern zu kurz greift, als die Wahrnehmung von Alterität nicht primär als Differenz zum anderen Geschlecht präsentiert wird, sondern als Glaubens- und Loyalitätsfrage, die sich weniger dem Individuum als dem Kollektiv stellt.10

K ARL – R OLAND – G ANELON „Carles li reis, nostre emper[er]e magnes, / Set ans tuz pleins ad estet en Espaigne: / Tresqu’en la mer cunquist la tere altaigne.“11 Diese ersten drei Verse der Chanson de Roland führen Karl als König und zugleich als Herrscher ein und setzen ihn gleichsam als „christlichen Dschihadisten“12 in Szene, der glorreich die Heere der Ungläubigen in die Flucht geschlagen und nun Saragossa vor sich liegen hat, wo sich König Marsilius gegen den drohenden Angriff wappnet. Zwischen dieser Glorifizierung der christlichen Herrschaftsinstanz und den Schlussversen des Epos, in denen Gott durch seinen Sprecher, den Erzengel Gabriel, das kriegs- und konfliktmüde Oberhaupt der Franken und Langobarden

10 Simon Gaunt: Gender and Genre in Medieval French Literature, Cambridge 1995, S. 22. 11 La chanson de Roland, Texte présenté, traduit et commenté par Jean Dufournet, Paris 2004, VV1-3, S. 58, dt.: „König Karl, unser großer Kaiser, / War sieben ganze Jahre in Spanien / bis hin zum Meer eroberte er das hochmütige Land“ (Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig, übersetzt u. kommentiert v. Wolf Steinsieck, Stuttgart 1999, S. 7). 12 Johan Schloemann: „Gewalt und Erneuerung“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 140, 21./22. Juni 2014, S. 15.

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erneut in den Kampf schickt, liegen der Verrat des Frankenheeres durch Ganelon, die von Roland geführte und verlorene Schlacht gegen die Sarazenen bei Roncevaux, die siegreiche Rückkehr Karls auf das Schlachtfeld und schließlich die Verurteilung und Tötung Ganelons in Aachen. Die Dopplung der Handlungsstruktur, die die Unterwerfung und Missionierung der Ungläubigen als übergeordnetes Narrativ entfaltet, um als weitaus größere Gefahr die Spaltung der christlichen Gemeinschaft durch den Verrat in den eigenen Reihen zu beschwören, spiegelt sich auch in der besonderen Stellung Karls als Gottgesandter und irdischer Herrscher, als Lehnsherr und König, als Onkel und Kriegsherr. Bereits seine äußere Erscheinung kennzeichnet ihn als unangefochten heroische wie mythische Gestalt: Sein weißer Vollbart verweist auf Stärke, Männlichkeit und majestätische Aura, sein Alter wird von den Sarazenen auf zweihundert Jahre geschätzt, was auf seine stabilisierende Funktion anspielt, sein Körper ist trotz vorangeschrittenem Alter wohlgestaltet und dem seiner besten Krieger an Kraft ebenbürtig. Marsilius bezeichnet ihn in der zweiten Laisse als „Li emper[er]es Carles de France dulce“13, was ebenso ambivalent und vieldeutig ist wie die „reale“ und „ideologische“ Bedeutung des Begriffs „emperere“, der synonym mit „reis“ gebraucht wird.14 „France dulce“ oder „dulce France“ erweist sich gleichermaßen doppelt kodiert als Herrschaftsraum Karls und des kapetingischen Königs.15 In Opposition zu dieser einleitenden Idealisierung des virilen Kriegsherrn befindet sich seine auffallende Passivität, die trotz wiederkehrender Vorahnungen, die sich in stets wiederkehrenden Momenten der Zerknirschung und in Tränen artikulieren, bis zur Niederlage in Roncevaux andauert. Im Anschluss an die erste Laisse wird deutlich, dass sich die Überlegenheit der Christen einer neuen Gefahr ausgesetzt sieht: dem Verrat, den der Sarazenenkönig Marsilius gemeinsam mit Blancandrin plant und der schließlich von Ganelon ins Werk gesetzt wird. An keiner Stelle wird die Geschlossenheit der christlichen Streitmacht in Frage gestellt, wodurch sie Vorbildcharakter erhält. Die achte Laisse evoziert die vollkommene Einheit des Herrschers und seines Heeres als effektivste Waffe seines

13 La chanson de Roland, V 16, S. 58; dt.: „Kaiser Karl [...] aus dem lieblichen Reich der Franken“ (S. 7). 14 Zur politischen Doppelkodierung der Figur Karls vgl. Peter Haidu: The Subject of Violence. The Song of Roland and the Birth of the State, Bloomington/Indianapolis 1993, S. 101-119. 15 Zum Mythos vom Kaiser Karl vgl. Bea Lundt: „Der Mythos vom Kaiser Karl. Die narrative Konstruktion europäischer Männlichkeit im Spätmittelalter am Beispiel von Karl dem Großen“, in: Dinges (Hrsg.): Männer – Macht – Körper, S. 37-51.

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Erfolges, die durch die Ankunft der sarazenischen Boten als schon vergangen ausgewiesen wird, da die Intrige bereits ihren Lauf nimmt. Li empereres se fait e balz e liez: Cordres ad prise e les murs peceiez, Od ses cadables les turs en abatied. Mult grant eschech en unt si chevaler, D’or e d’argent e de guarnemenz chers. En la citet nen ad remés paien Ne seit ocis ú devient chrestien. Li empereres es en un grant verger : Ensembl’ od lui Rollant e Oliver, Sansun li dux e Anseïs li fiers, Gefreid d’Anjou, le rei gunfanuner, E si i furent e Gerin e Gerers: La ú cist furent, des altres i out bien: De dulce France i ad quinze milliers. Sur palies blancs siedent cil cevaler, As tables juent pur els esbaneier, E as eschecs li plus saive e li veill, E escremissent cil bacheler leger. Desuz un pin, delez un eglenter, Un faldestoed i unt, fait tut d’or mer: La siet li reis ki dulce France tient. Blanche ad la barbe et tut fleurit le chef, Gent ad le cors e le cuntenant fiert : S’est kil demandet, ne l’estoet enseigner. E li message descendirent a pied, Sil saluerent par amur e par bien.16

16 La Chanson de Roland, VV 96-121, S. 66; dt.: „Der Kaiser zeigt sich heiter und frohgemut. / Er hat Cortes eingenommen und die Mauern völlig zertrümmert, / Mit seinen Wurfmaschinen hat er die Türme zerschmettert, / Seine Ritter haben dabei eine sehr große Beute gemacht / An Gold und Silber und wertvoller Ausrüstung. / In der Stadt hat er keinen Heiden zurückgelassen, / Der nicht getötet oder Christ geworden wäre. / Der Kaiser ist in einem großen Garten, / Bei ihm sind Roland und Olivier, / Der Herzog Sanson und Anseïs der Stolze, / Geoffroi von Anjou, der Fahnenträger des Königs, / Und auch Gérin und Gérier waren dort, / Da wo diese waren, waren auch viele von den anderen. / Aus dem lieblichen Frankreich waren dort 15000. / Die Ritter sit-

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Das Glück des Kaisers wird mit der siegreichen Eroberung und Vernichtung der Heiden verbunden und kommt in einem arkadischen Setting zum Ausdruck: Karl findet sich in einem Garten umringt von seinen Getreuen, allen voran Roland und Olivier. Alle Vasallen sitzen auf weißen Tüchern, die das Weiß des Hauptes und des Bartes ihres Herrschers aufnehmen, der in Analogie zum Schachspiel als das verwundbare Zentrum in Szene gesetzt wird, das es zu verteidigen gilt. Auch wenn Karl in den ersten Versen mit der Eroberung Cordobas und der gewaltvollen Unterwerfung der Heiden verbunden wird, erscheint er in der zweiten Strophenhälfte als leuchtende Mitte der Rittergemeinschaft, die keine Verwundungen oder gar Verluste zu beklagen hat. Im Gegenteil, die destruktive Potenz der Gewalt wird zu Beginn metonymisch mit den zerstörten Mauern evoziert und hat die Stabilisierung der kollektiven Identität des Frankenheeres zur Folge. Die Macht Karls, so wird deutlich, gründet sich auf seinem integrativen Wirken. Als Statthalter Gottes auf Erden legitimiert er nicht nur die Gewalt – Gewalt hier verstanden als „vorsätzliche, körperliche Versehrung eines Menschen durch einen anderen“17 – gegen die Ungläubigen, sondern lässt die heterogenen Bestandteile seines Heeres zu einer geschlossenen christlichen Streitmacht werden. Gleichzeitig bedarf er der politischen und militärischen Unterstützung seiner Pairs und allen voran Roland und Oliviers, die sich die heroische Funktion mit ihm teilen, insofern sie seinen hegemonialen Führungsanspruch realisieren und ihn zugleich vor den Angriffen der Feinde schützen.18 In der sich anschließenden Auseinandersetzung über die Frage, wie auf das vermeintliche Friedensangebot der Sarazenen zu reagieren sei, ruft Karl die

zen auf weißen Seidendecken, / Und spielen Brettspiele, um sich zu vergnügen, / Die Klügsten und Ältesten spielen Schach / Und die gewandten jungen Männer fechten. / Unter der Fichte, neben einem Wildrosenstrauch / Hatte man einen Thronsessel ganz aus reinem Gold aufgestellt, / Dort sitzt der König, der das liebliche Frankreich beherrscht: / Weiß ist sein Bart und schneeweiß sein Haupt, / Wohlgestaltet ist sein Körper und seine Haltung stolz: / Wenn jemand nach ihm fragt, braucht man nicht auf ihn zu zeigen. / Nun stiegen die Boten ab / Und grüßten ihn in Freundschaft und geziemend.“ (S. 13f). 17 Manuel Braun/Cornelia Herberichs: „Gewalt im Mittelalter: Überlegungen zu ihrer Erforschung“, in: dies. (Hrsg.): Gewalt im Mittelalter, S. 7-37, hier: S. 15. Auch Jan Philipp Reemtsma definiert Gewalt als „Übergriff auf den Körper eines anderen ohne dessen Zustimmung“ (Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine Konstellation der Moderne, München 2009, S. 104). 18 Vgl. Patricia Harris Stablein: „The Structure of the Hero in the Chanson de Roland: Heroic Being and Becoming“, in: Olifant 5/2 (1977), S. 105-118, hier: S.105.

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Runde seiner Gefolgsleute zusammen, ist aber nicht in der Lage eine Entscheidung zu treffen, sondern lässt Naimes zum Wortführer werden, der zwischen Ganelon und Roland vermittelt, die sogleich miteinander in Streit geraten. In dieser Ratsszene kommen zwei Aspekte zum Vorschein, die das zuvor beschriebene arkadische Setting als fragil und bedroht ausweisen: Einerseits erweist sich die Homogenität des christlichen Heeres als Illusion, insofern es innerhalb der Gemeinschaft deutliche Abstufungen und Hierarchien gibt, die sich durch die Nähe bzw. Distanz zum Kaiser bestimmen lassen. Karls Weigerung, einen seiner zwölf Pairs als Gesandten in das Lager der Feinde zu senden, ist, wie schon Köhler dargelegt hat, machtpolitisch begründet.19 Die Wahl Ganelons auf Vorschlag Rolands referiert insofern auf seine größere Distanz zum Machtzentrum. Karls Zustimmung wird in diesem Zusammenhang von Ganelon als Zeichen seiner Herabsetzung gegenüber den anderen Auserwählten gedeutet und schürt das Bedürfnis nach Wiederherstellung seiner öffentlich verletzten männlichen Ehre. Andererseits begünstigt die Ambivalenz Karls die Zuspitzung des Konflikts zwischen Ganelon und Roland. Mit dem Einsatz Ganelons, der den von Karl übergebenen Handschuh fallen lässt, was vom Kollektiv als negatives Vorzeichen seiner Gesandtschaft gedeutet wird, korrespondiert die Ernennung Rolands als Anführer der Nachhut, die den Herrscher so in Sorge versetzt, dass er zu weinen beginnt. „Thus, Ganelon’s nomination is a precisely proportioned response to Roland’s earlier nomination of Ganelon on a number of semantic axes: formal, structural, legal and ethical.“20 Anders als Karl nimmt Roland diese Herausforderung als Auszeichnung seiner Person an und lobt seinen Stiefvater für die Entscheidung, was dem ritterlichen Verhaltenscode entspricht. In den folgenden beiden Laisses tritt jedoch sein unbändiges Verlangen nach Domination und Selbstbestätigung zutage, wenn er sich als loyalerer und stärkerer Vasall, sowohl an Ganelon als auch an Karl gewandt, präsentiert. Seine moralische Überlegenheit spielt er offen gegenüber seinem Stiefvater Ganelon aus: „Ahi! culvert, malvais hom de put aire, / Quïas le guant me caïst en la place, / Cume fist a tei le bastun devant Carle?“21 Roland scheut sich auch nicht, seine gesellschaftlich akzeptierte Höherwertigkeit gegenüber Karl als Ausweis seiner Singu-

19 Vgl. Erich Köhler: „‚Conseil des barons‘ und ‚Jugement des barons‘. Epische Fatalität und Feudalrecht im altfranzösischen Rolandslied“, in: Henning Krauß (Hrsg.): Altfranzösische Epik, Darmstadt 1978, S. 368-412, hier: S. 385-386. 20 Haidu: The Subject of Violence, S. 73. 21 La chanson de Roland, VV 763-765, S. 122; dt.: „Ha, Schurke, schlechter Mensch gemeiner Herkunft, / Hast du geglaubt, der Handschuh fiele mir zu Boden / So wie dir der Stab von Karl?“ (S. 63).

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larität ins Feld zu führen, womit er den Ehrverlust Ganelons vor den Anderen bestätigt. Das Begehren Rolands, seinen Stiefvater zu demütigen und damit symbolisch zu töten, verdeutlicht exemplarisch, dass Differenzerfahrung und Gewalt im Rahmen der performativen Behauptung als ‚Held‘ notwendigerweise zusammengehören. Karl wirkt hier nur vordergründig passiv, steuert er doch durch seine Fragen und Reaktionen indirekt das Geschehen. Insbesondere seine anfängliche Parteinahme für die Pairs verstärkt die Abspaltung Ganelons aus der Gemeinschaft. Karl und Roland ergänzen sich komplementär und bilden in ihrem Zusammenwirken die unschlagbare (männliche) Einheit, ein Aspekt, der den Sarazenen in ihrer Fixierung auf die Vollkommenheit des „emperere“ und „reis“ bislang entgangen ist. Die Kraft Karls des Großen erscheint in ihrer Perspektive so ungebrochen, dass Marsilius Ganelon dreimal danach fragt, wann er des Kriegführens überdrüssig sein wird. Nachdem er diese Frage zunächst negativ beantwortet, indem er auf die herausragende Tapferkeit Karls verweist, lenkt er bei seiner zweiten Antwort den Blick der Feinde auf Roland und Olivier und weist sie als die Vasallen aus, die Karl besonders nahe stehen, womit er seine eigene marginalisierte Stellung in der Gefolgschaft des Kaisers bestätigt. Quant ert il mais recreanz d’osteoer? » – « Ço n’iert, » dist Guenes, « tant cum vivet sis niés : N’at tel vassal suz la cape del ciel. Mult par est proz sis cumpainz Oliver; Les .XII. pers, que Carles ad tant chers, Funt les enguardes a .XX. milie chevalers. Soüs est Carles, que nuls home ne crent. » AOI.22

Der Ohnmachtserfahrung der Sarazenen, die bislang keine Möglichkeit gefunden haben, die Macht Karls zu brechen, stellt Ganelon die Dechiffrierung der hierarchisch organisierten Aufstellung der christlichen Kriegsmacht entgegen. Karls Stärke, so zeigt er, basiert auf dem Schutz durch die Pairs, an deren Spitze Roland steht, dicht gefolgt von seinem Freund Olivier. Die rein zahlenmäßige

22 Ebd., VV 543-549, S. 102; dt.: „‚Wann wird er jemals des Kriegführens überdrüssig sein?‘ / ‚Er wird es so lange nicht sein‘, sagte Ganelon, ‚wie sein Neffe lebt: / Einen solchen Vasallen gibt es nicht noch einmal unter dem Himmelsgewölbe. / Äußerst tapfer ist auch sein Waffengefährte Olivier. / Die zwölf Pairs, die Karl so sehr liebt, / Bilden die Vorhut mit 20000 Rittern. / Karl ist sicher, so daß er niemanden fürchtet.‘ AOI“ (S. 47).

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Überlegenheit der ungläubigen Anderen, die Marsilius ins Feld führt, ist in Ganelons Perspektive keine wirksame Strategie. Als verborgenes Zentrum der christlichen Kampfkraft und damit als einzig verwundbare Stelle des Herrschaftskörpers benennt er Roland, dessen herausragende Stellung er damit anerkennt. — « Chi purreit faire que Rollant i fust mort, Dunc perdreit Carles le destre braz del cors, Si reimeindreient les merveilluses óz; N’asemblereit jamais Carles si grant esforz ; Tere Major remeindreit en repos. » Quan l’ot Marsilie, si l’ad baiset el col, Puis si cumencet a venir ses tresors. AOI23

Roland als rechter Arm des kaiserlichen Körpers versinnbildlicht nicht nur die verwandtschaftliche Bindung als Basis der Gemeinschaft, sondern auch das aktive, tatendurstige Rittertum, das seine Aufgabe nicht allein im passiven Dienen, sondern in den Taten und dem damit verbundenen Ruhm sieht. Karl ist nur so stark wie sein rechter Arm, meint Ganelon, ein Trugschluss, wie sich im weiteren Verlauf der Handlung zeigen wird. Ganelons Marginalisierung, so wird in dieser Szene deutlich, beruht auf seiner eingeschränkten Sicht und seinem getrübten Urteilsvermögen. Er lässt sich in seiner Typologisierung als Verräter von seinen ungezügelten Trieben leiten und ist ausschließlich auf sich selbst und den eigenen Vorteil fixiert, so dass ihm das übergeordnete Wohl der Anderen aus dem Blick gerät. Auch ohne rechten Arm bleibt Karl unschlagbar, ja gerade der Verlust des geliebten Anderen lässt ihn trotz Schmerz und Leid umso stärker werden, da er herausgefordert ist, seine hegemoniale Position öffentlich zu demonstrieren. In Analogie zur Dopplung als Prinzip narrativer Ausgestaltung bleibt auch die Figur Karls zutiefst gespalten. Bis zur Niederlage in Roncevaux zeigen seine Reaktionen und sein Verhalten in der Annahme des Leidens deutlich christusähnliche Züge, die in der zweiten Hälfte der Chanson de Roland zu-

23 Ebd., VV 596-602, S. 106; dt.: „‚Wenn es jemandem gelänge, Roland dort zu töten, / Dann verlöre Karl den rechten Arm seines Körpers, / Und so verlören die gewaltigen Heere ihre Bedeutung. Nie wieder würde Karl eine so große Heeresmacht versammeln können; / Das Land der Ahnen würde in Frieden leben.‘ / Als Marsilie dies hört, hat er ihn auf den Hals geküßt, / Dann läßt er seine Schätze kommen. AOI“ (S. 51).

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gunsten seiner Präsentation als unangefochtener Heerführer zurücktreten.24 Nur der Leser bzw. die Leserin weiß um die göttlichen Interventionen, die für die anderen Figuren unsichtbar bleiben.

K ARL – R OLAND – O LIVIER Befinden sich Karl und Roland in einer Relation physischer Nähe, die jedoch nicht die soziale Hierarchie aufhebt, insofern Roland als rechter Arm von seinem Oberhaupt gesteuert wird, so übernimmt Olivier insbesondere in Abwesenheit des Kaisers die Aufgabe, den Protagonisten in seiner moralischen Entschlossenheit zu festigen und gleichzeitig zu bändigen. Innerhalb der triangulären Konstellation Karl, Roland und Olivier bilden die beiden Freunde trotz aller Verschiedenheit eine Einheit, in der sie Rollen und Funktionen tauschen, wie insbesondere in den beiden Horn-Szenen deutlich wird. Rolands bester Freund und Doppelgänger Olivier, der meist an zweiter Stelle genannt wird – „Rollant est proz e Oliver est sage“ / „Roland ist tapfer und Olivier ist klug“ (V 1093) –, verkörpert den vernunftgesteuerten, gemäßigten Vasallen, der Gewalt um ihrer selbst willen ablehnt und bei dem Anblick der heranrückenden Armee der Sarazenen Roland dazu bewegen will, den Olifanten zu blasen, um Karl zurückzurufen und damit den aussichtslosen Kampf zu verhindern. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass die Auseinandersetzung zwischen den beiden Freunden einem Beiseite-Sprechen entspricht unter Ausschluss der anderen Pairs und der Truppen, womit auf die besondere Vertrautheit hingewiesen wird und zugleich auf den Ausnahmecharakter der Unterredung, die Grundwerte des Vasallentums wie unbedingte Loyalität und Gefolgschaft problematisiert. Drei Mal nötigt Olivier Roland innezuhalten, drei Mal weist Roland einen möglichen Rückzug als männlichen Ehrverlust für Vaterland und Familie zurück und beruft sich im Gegenzug auf sein Schwert Durendal, dessen Klinge er bis zum Schaft in den Gegner treiben wird. „Sempres ferrai de Durendal granz colps ; / Sanglant en ert li branz entresqu’a l’or.“25 Die Rationali-

24 Vgl. Evamaria Heisler: „Christusähnlicher Karl. Die Darstellung von Zorn und Trauer in der Chanson de Roland und im Rolandslied“, in: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 14/1 (2009): Furor, zorn, irance. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen, hrsg. von Bele Freudenberg, S. 67-79, hier: S. 72. 25 La chanson de Roland, V1055-1056, S. 146; dt.: „Ich werde gleich mit Durendal gewaltig zuschlagen, / Blutrot wird die Klinge sein, bis hin zum goldenen Stichblatt.“ (S. 85).

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tät Oliviers, der zu Beginn des Schlagabtauschs auf die rein zahlenmäßige Überlegenheit der Feinde verweist, erscheint durch die Konfrontation mit Rolands physischer Stärke, die die Verbindung mit seinem Schwert für die Potenzierung seiner Männlichkeit nutzt, als Distanzierung gegenüber Waffenkult und heroischer Selbstbehauptung. Für Roland ist die Bewährung im Kampf ein Modus der Steigerung des kollektiven und individuellen Ansehens im Dienste des Kaisers, der sie für ihre Taten umso mehr lieben wird. „Pur ben ferir l’emperere plus nos aimet“26, beschließt er das Rededuell mit Olivier. Diese erste Konfrontation der Freunde entfaltet sich in acht Strophen, wobei Roland in den letzten Versen den Konflikt für sich entscheidet, indem er Oliviers Zögern als Form der Verzagtheit und damit einer feminin konnotierten Verweichlichung negativiert: „Ne dites tel ultrage ! / Mal seit del coer ki el piz se cuardet!“27 Er verbietet ihm sogar das Wort – „Sire cumpainz, amis, nel dire ja !“28, – und verweist auf die Pflicht des Vasallen, sein Leben für den Lehnsherren zu opfern. Erst in der darauffolgenden Strophe führt er die Verteidigung des Christentums als Legitimation seines Handelns an. Damit konstituiert sich Roland in dieser Situation als Anführer des fränkischen Heeres, der stellvertretend für Karl und im Auftrag Gottes agiert. Sein Führungsanspruch wird vom Erzbischof und von dem Frankenheer bestätigt, das nicht zögert ihm in die Schlacht zu folgen. Anders verhält es sich mit Olivier, der zwar die Entscheidung Rolands akzeptiert – „N’ai cure de parler“29 äußert Olivier zu Schlachtbeginn an seinen Freund gewendet – und an der Seite Rolands in den Kampf zieht, sich angesichts der offensichtlichen Niederlage jedoch in seiner anfänglichen Position bestätigt sieht und kategorisch ablehnt, Roland den Olifanten blasen zu lassen, da es einem Tabubruch der feudalen Ordnung gleichkommt, den Herrscher in diese vermeidbar gewesene Situation des Scheiterns einzubinden. Aus seiner Sicht ist allein Rolands Raserei für die ausweglose Situation verantwortlich, insofern dessen Wunsch nach Selbstvergrößerung sich über das Wohl der Anderen und insbesondere über das Wohl seines Lehnsherrn hinwegsetzte. Die Einheit der Freunde, die von Textbeginn an durch den Erzähler als unaufhebbar dargestellt

26 Ebd., V 1092, S. 148; dt.: „Wenn wir gut zuschlagen, liebt uns der Kaiser umso mehr.“ (S. 89). 27 Ebd., VV 1106-1107, S. 148; dt.: „Roland antwortet: ‚Redet nicht solchen Unsinn.“ (S. 89). 28 Ebd., V 1113, S. 150; dt.: „‚Herr‚ mein Waffengefährte, mein Freund, redet nie mehr so!“ (S. 89). 29 Ebd., V 1170, S. 154; dt.: „Olivier sagte: ‚Mir ist nicht nach Reden zumute.“ (S. 95).

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wird, indem beide stets in einem Atemzug genannt werden, sieht sich nun ernsthaft in Frage gestellt, da Olivier seinem Freund den sinnlosen Tod der Franken zum Vorwurf macht. Kurz bevor er seine Position erläutert, widerruft er die Verbindung zwischen Roland und seiner Schwester und zeigt offen einen Zorn, den Roland sich nicht erklären kann. Ço dist Rollant: „Por quei me portez ire ?“ E il respont: „Cumpainz, vos le feïstes, Kar vasselage par sens nen est folie; Mielz valt mesure que ne fait estultie. Franceis sunt morz par vostre legerie. Jamais Karlon de nus n’avrat servise. Sem(e) creïsez, venuz i fust mi sire ; Ceste bataille oüsum faite u pries ; U pris ú mort i fust li reis Marsilie. Vostre proecce, Rollant, mar la ve[ï]mes!30

Damit stehen sich zwei Vorstellungen von „vasselage“, d.h. von Vasallen- bzw. Rittertum gegenüber: Auf der einen Seite verkörpert Roland als „prozdom“ die „proecce“ (= Tapferkeit, Großtat), die gleichzeitig mit „folie“ (Torheit, Wahn) konnotiert wird. Insofern repräsentiert er ein Männlichkeitsmodell, das sich primär durch physische Kraft und Stärke legitimiert. Der ungestüme Narzissmus, der sich in seinem Drang nach gewaltvoller Selbstbehauptung artikuliert, wird allein durch die christliche Rahmung der Gewalt gegen die Ungläubigen gebändigt. Seine spätere Stilisierung zum christlichen Märtyrer befindet sich in Widerspruch zu seiner anfänglichen Charakterisierung als wild gewordener Löwe oder Leopard. Als rechter Arm Karls steht er für Aktivität und Entschlossenheit und komplettiert das Bild des vollkommenen Herrschers. Gleichzeitig kommt er erst durch die erfahrene Niederlage und insbesondere durch den Verlust seines besten Freundes zu sich und sieht sich gezwungen, die Grenzen seiner Macht zu er-

30 Ebd., VV 1722-1731, S. 196; dt.: „Da sagte Roland: ‚Warum zürnt Ihr mir?‘ / Und Olivier antwortete: ‚Daran seid Ihr schuld, / Denn vernunftgemäßes Rittertum ist nicht gleich Torheit. / Rechtes Maß ist mehr wert als Tollkühnheit. / Die Franken sind tot wegen Eurer Leichtfertigkeit. / Nie wieder werden wir Karl dienen. / Hättet Ihr mir geglaubt, wäre mein Lehnsherr hierher gekommen, / Und diese Schlacht hätten wir siegreich beendet. / König Marsilie wäre gefangengenommen oder getötet worden. / Eure Tapferkeit, Roland, hat uns Unheil gebracht.‘“ (S. 136f).

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kennen. Mit dem Hornblasen gesteht er seine Fehleinschätzung der Situation ein und bestätigt damit retrospektiv die anfängliche Einschätzung seines Freundes. Olivier hingegen personifiziert den „sens“ und die Mäßigung. Als rational kontrollierter Vasall handelt er im Einklang mit den Regeln der feudalen Ordnung, auf die er sich beruft, und stellt in seiner Zurückhaltung eine Verbindung zu Karls Passivität her, was jedoch nicht heißt, dass er Roland die Gefolgschaft im Kampf versagt. Anders als sein Freund ist Olivier in der Lage, den Einsatz der Gewalt kritisch zu reflektieren und die Konsequenzen in den Blick zu nehmen. Erst sein Tod wird Roland zu Tränen rühren und mit einem bis dahin für ihn unvorstellbaren Schmerz erfüllen, wie der Text hervorhebt. „Rollant li ber le pluret, sil duluset ; / Jamais en tere n’orrez plus dolent hume !“31 Die Schlacht bei Roncevaux, die in einem Massaker des Frankenheeres endet, konstituiert den Wendepunkt in der Chanson de Roland. Steht zu Beginn des Epos zunächst Karl im Zentrum der Fokalisierung als zu schützende Mitte der männlichen Waffengemeinschaft, so tritt die Herrscherfigur mit Beginn der Schlacht in den Hintergrund und wird durch Roland und Olivier ersetzt. Der Tod seiner besten Vasallen bereitet die Rückkehr Karls aufs Schlachtfeld vor und gibt ihm die Möglichkeit, sich als souveräner Herrscher zu präsentieren. Seine bis dahin häufig vergossenen Tränen, die auf sein Mitgefühl verweisen und immer wieder Analogien zum Leiden Christi herstellen, versiegen, als er in Roncevaux ankommt. Nun weinen seine edlen Ritter, während Karl sie schon in der nächsten Strophe entschlossen zur Verfolgung der Feinde antreibt.32 Mit dem Erzengel Gabriel an seiner Seite gelingt es ihm, seine Handlungsunfähigkeit zu überwinden und sich im Kampf gegen Baligant als Held zu erweisen. Siegreich kehrt er zurück nach Aachen, bestraft Ganelon und seine Sippschaft und muss schließlich erneut in den Kampf ziehen.

A RTUS – P ERCEVAL – G AUVAIN Chrétien de Troyes’ Perceval entsteht über 50 Jahre nach der Chanson de Roland und gilt als sein letztes, unvollendet gebliebenes Werk. Zu den Allgemeinplätzen mittelalterlicher Forschung gehört, dass die Entstehung der höfischen Li-

31 Ebd., VV 2022-2023, S. 218; dt.: „Der edle Roland beweint und betrauert ihn. / Nie auf Erden werdet ihr einen leidvolleren Menschen hören.“ (S. 159). 32 Zu den unterschiedlichen Funktionen öffentlichen Weinens in mittelalterlichen Texten vgl. Peter Dinzelbacher: Warum weint der König? Eine Kritik des mediävistischen Panritualismus, Badenweiler 2009, S. 16-17.

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teratur mit der Entdeckung des Individuums, der Frau und der fin amor in Verbindung gebracht wird, was als Fortschritt der westlichen Zivilisation gefeiert wird. Doch gerade im Perceval setzt Chrétien de Troyes die Entwicklung eines männlichen Subjekts in Szene, das in exemplarischer Weise die Tugenden Rolands, Oliviers und letztlich auch Karls in sich vereint. An die Stelle des Heeres als Kollektiv tritt hier die Tafelrunde König Artus’, die jedoch als in sich gespaltenes Machtzentrum erscheint. Der zu Beginn der chanson de geste ruhmreiche Roland wird hier zunächst durch einen namenlosen Protagonisten ersetzt, der erst lernen muss, was es heißt, ein Ritter zu sein, bevor er sich auf die Suche nach seinen Ursprüngen begibt, ein Aspekt, der in der Chanson de Roland keine Rolle spielt. Nicht der Anblick einer schönen Frau löst in dem jungen Mann das Begehren aus, seine Mutter zu verlassen und in die Welt zu ziehen, sondern das Zusammentreffen mit Rittern, die er zunächst für Engel hält. Konstitutive Bestandteile seiner männlichen Subjektwerdung sind Selbstkontrolle und Gewaltverzicht, die mit einer sukzessiven Bewusstwerdung seiner selbst, der Entdeckung seines Namens und der damit verbundenen Einschreibung seiner Geschichte in eine Genealogie einhergehen. Die Aufnahme in den Kreis der Artus-Ritter spielt in diesem Zusammenhang nur eine sekundäre Rolle. Sie liefert den notwendigen Handlungsrahmen und stellt gleichzeitig die narrative Kohärenz her. Im Gegensatz zur Chanson de Roland verbleibt hier die Herrscherfigur jedoch in einem passiv-depressiven Zustand und verliert ihre Zentralität als Bezugspunkt idealisierter courtoisie. Innerhalb der triadischen Konstellation Artus-Perceval-Gauvain scheint sich im Vergleich zur Chanson de Roland das Machtgefüge zugunsten einer Problematisierung höfischer Männlichkeit verschoben zu haben. König Artus ist nicht nur außerstande, vermittelnd in die Konflikte an seinem Hofe einzugreifen, sondern wird von Perceval anfänglich noch nicht einmal als Herrscher erkannt. Im Gegenzug sehen sich Perceval und sein Doppelgänger Gauvain mit der Aufgabe konfrontiert, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und ihre Schuld zu sühnen: Perceval hat willentlich den Tod seiner Mutter in Kauf genommen, um Ritter zu werden; Gauvain hat vollkommen unmotiviert den Herrn von Guigambresil getötet. Beide müssen lernen zurückzublicken und sich selbst zu erkennen, was für Perceval mit der Entdeckung des christlichen Seinsbezugs verbunden ist, für Gauvain mit der Frage seiner Herkunft. Die berühmte Blutstropfen-Szene schildert nicht nur das erste Zusammentreffen der beiden Ritter, sondern veranschaulicht gleichzeitig exemp-

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larisch die Verschiebungen, die sich für die Männlichkeitsvorstellungen im roman courtois ergeben.33 Die Blutstropfen-Episode markiert einen Wendepunkt innerhalb der narrativen Struktur des höfischen Romans und in Bezug auf die Modellierung männlicher Identität. Auf der einen Seite treffen die beiden Protagonisten Perceval und Gauvain in dieser Szene erstmalig aufeinander, auf der anderen Seite erscheint Perceval hier ausgestattet mit einer Memoria, die durch den Anblick der Blutstropfen im Schnee aktiviert wird. Nachdem er die wichtigsten Etappen der Ritterwerdung durchlaufen und auf der Gralsburg geschwiegen hat, hält er in seiner täglichen Suche nach Abenteuern inne, als er beobachtet, wie ein Falke eine Wildgans jagt. Er reitet zu der Stelle, an der die Gans niedergegangen ist, doch als er ankommt, ist die Gans bereits fort. Im Schnee finden sich jedoch drei Blutstropfen, die das Antlitz Blancheflors evozieren. Gebannt hält Perceval inne und verfällt in eine Art Trance, die im Neufranzösischen mehrfach mit „rêverie“ bezeichnet wird, im Altfranzösischen jedoch mit „penser“, das etymologisch sowohl nachdenken als auch „imaginer“ heißt. Qant Percevaus vit defolee La noif sor coi la gante jut, Et lo sanc qui entor parut, Si s’apoia desus sa lance Por esgarder cele senblance ; Et li sanz et la nois ensanble La fresche color li resanble Qui est en la face s’amie, Et panse tant que toz s’oblie, […]34

33 Vgl. Suzanne Verderber: The Medieval Fold: Power, Repression, and the Emergence of the Individual, New York 2013, S. 117 ff. 34 Chrétien de Troyes: Le Conte du Graal ou le roman de Perceval, VV 4128-4136, in: ders.: Romans, Paris 1994, S. 937-1211, hier: S. 1065, dt.: „Als dieser nun den Schnee, auf dem die Gans gelegen hatte, niedergedrückt fand und das Blut ringsumher erblickte, da stützte er sich auf seine Lanze in der Absicht, dies Sinnbild zu betrachten, riefen doch Blut und Schnee in ihrer Verbindung bei ihm den strahlenden Teint seiner Geliebten wach; so verliert er sich in den Gedanken, [...]“ (Chrétien de Troyes: Perceval. Altfranzösisch/Deutsch, übers. und hrsg. von Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991, S. 237).

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Interessant ist der Vergleich zur Chanson de Roland, dort taucht das Verb „penser“ gleich zu Beginn in Verbindung mit der Herrscherfigur auf und verweist auf das innere Zwiegespräch mit Gott: „Li empereres tent (…) ses mains vers Deu, / Baisset sun chef, si cumencet a penser.“35 Das Haupt zu senken ist Ausdruck einer schmerzerfüllten Seele und wird hier mit der Einkehr in sich selbst verbunden. Auch Artus findet sich zu Beginn des Romans in Gedanken, „Li rois pansa, qu’il ne dit mot, / Et cil autre foiz l’araisone. / Li rois pansa et mot ne sone.“36 Denken und Schweigen gehören in der Beschreibung Karls und Artus zusammen. Im Falle Percevals kommt ein Sich-Vergessen hinzu, das auf die Artikulation eines bislang unbewussten Begehrens verweist: „Et panse tant que toz s’oblie“37. Als Sagremor, den Artus zu ihm schickt, ihn zum Zweikampf herausfordert, heißt es: „Si a tot son panser laissié, / Et il revient vers lui encontre.“38 Dieses ‚In-Gedanken-Sein‘ verweist auf einen Zustand der Entrückung, der im Rückgriff auf die Ovid’sche Liebespathologie eine Positivierung in der Troubadourlyrik erfährt. Darüber hinaus lässt sich in der Blutstropfen-Episode die Genese eines männlichen Subjekts beobachten, das sich anders als in der Chanson de Roland nicht im Zweigespräch mit Gott, sondern mit sich selbst befindet, ein Phänomen, auf das auch Gauvain im Gespräch mit Artus hinweist. Gauvain als Alter Ego Percevals scheint der einzige zu sein, der in dem über der Lanze gebückten Ritter weder einen Schlafenden noch einen Angreifer sieht, sondern sich selbst gleichsam im Spiegel. Er ist es, der Sagremor und Keu für ihre Aggression tadelt und Empathie für den Unbekannten empfindet, der seiner Meinung nach einen tiefen Schmerz oder Verlust erlitten haben muss, um so selbstvergessen zu sein. Innerhalb des Textes wird der Protagonist in dieser Passage erstmalig von den anderen Figuren als „chevalier“ bezeichnet, während er sonst abfällig als „valet“ ausgewiesen wurde. Gleichzeitig wird auch hier deutlich, dass Gauvain und Perceval ebenso zusammengehören wie Roland und Olivier. Beide verbindet eine Art Seelenverwandtschaft, beide treffen sich an einem Wendepunkt in ihrem Leben und ergänzen sich komplementär. Gauvain verkörpert jenen vollkommenen „chevalier“, der Perceval sich als Junge zu werden er-

35 La chanson de Roland, VV 137-138, S. 68; dt.: „Der Kaiser erhebt seine Hände zum Himmel, / Senkt sein Haupt und beginnt nachzudenken.“ (S. 17). 36 Chrétien de Troyes: Le Conte du Graal, VV 882-884, S. 969; dt.: „(Doch) der König war in Gedanken versunken und gab keine Antwort; der König bleibt (aber) tief in Gedanken versunken und gibt keinen Laut von sich.“ (S. 55). 37 Chrétien de Troyes: Le Conte du Graal, V 4136, S. 1065. 38 Ebd., VV 4196-4197, S. 1066; dt.: „Da hört er auf zu träumen und prescht dem Angreifer seinerseits entgegen.“ (S. 239).

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hofft. Doch gleichzeitig ist auch er nicht ohne Schuld, sondern muss sich für sein ungerechtfertigtes Töten verantworten. Gewalt, so zeigt sich im Perceval, konstituiert zwar einen notwendigen Bestandteil männlicher Subjektwerdung, muss aber gebändigt und gezügelt werden. Zugleich erscheint mit dem Motiv der Schuld und der Sühne ein genuin christlicher Rahmen der Mannwerdung, der insbesondere die Figuren Percevals und Rolands miteinander verbindet. Rolands Niederlage erfährt durch seine nachträgliche Stilisierung zum christlichen Märtyrer eine positive Umdeutung; zwei Mal weint er, zunächst angesichts des Verlusts seines besten Freundes Olivier, dann kurz vor seinem Tod, als sein Leben in seiner Erinnerung Revue passiert und er seine Sünden vor Gott bekennt. Auch Perceval bricht nach seiner fünfjährigen Odyssee in Tränen aus, als ihm die Pilger von der Beichte beim Eremiten berichten. Er kann gar nicht mehr aufhören zu weinen, bis ihn der Eremit erlöst. Die Tränen der Reue als Zeichen der Gottesfurcht weisen die beiden Protagonisten als christlich aus und unterstreichen die Notwendigkeit der seelischen Läuterung als Prämisse des christlich sanktionierten Männlichkeitsmodells im Mittelalter.39 Die Liebe zu einer Frau spielt hier nur sekundär eine Rolle, viel wichtiger scheint die Abgrenzung gegenüber anderen Männlichkeitsmodellen oder Weltsichten, ob es die Ungläubigen sind oder die Ritter auf der Suche nach Abenteuern. Das gewaltvolle Unterwerfen des Anderen reicht nicht mehr aus, um Tapferkeit zu begründen. Es bedarf auch der Empathie und der Fähigkeit des „penser“, um sich als Mann zu bewähren.

39 Vgl. Dinzelbacher: Warum weint der König?, S. 71.

Kämpfende Freunde Symbiotische Mechanismen im Erec Hartmanns von Aue1 A NDREAS K RASS

Wie verhalten sich in mittelalterlicher Literatur Freundschaft und Gewalt zwischen Männern zueinander? Die nächstliegende Antwort auf diese Frage lautet, dass männliche Freundschaft und männliche Gewalt im Ideal der ritterlichen Waffenbrüderschaft konvergieren. Waffenbrüder kämpfen Seite an Seite, stehen füreinander ein, sind zum gegenseitigen Opfer bereit. Literarische Beispiele für diese Konstellation von Männlichkeit, Freundschaft und Gewalt bieten die mittelalterlichen Bearbeitungen der antiken Epen, die sogenannten Antikenromane. Prominente Waffenbrüder sind Achill und Patroklos in Homers Ilias und den mittelalterlichen Trojaromanen sowie Aeneas und Pallas in Vergils Aeneis und den mittelalterlichen Eneasromanen.2 Wie aber stellt sich die fragliche Konstellation in der Gattung des Artusromans dar? Dieser Frage möchte ich am Beispiel des Erec Hartmanns von Aue (1180er), des ersten Artusromans deutscher Sprache, nachgehen.3 Um die zentralen Begriffe, derer ich mich hier bediene

1

Herzlich danke ich den Veranstalter/innen und Teilnehmer/innen der Siegener Tagung

2

Zu Achill und Patroklos vgl. Verf.: „Achill und Patroclus. Freundschaft und Tod in den Trojaromanen Benoîts de Sainte-Maure, Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 114 (1999), S. 6698; zu Aeneas und Pallas vgl. ders.: „ein unsâlich vingerlîn. Tragik und Minne im Eneasroman Heinrichs von Veldeke“, in: Regina Toepfer/Gyburg Radke-Uhlmann (Hrsg.): Tragik und Minne, Heidelberg (im Druck).

3

Hartmann von Aue: Erec, hrsg., übersetzt und kommentiert von Volker Mertens, Stuttgart 2010 (im Folgenden mit der entsprechenden Versangabe im Lauftext zitiert); vgl. auch Dorothea Klein: „Geschlecht und Gewalt. Zur Konstruktion von Männlich-

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(‚Freundschaft‘ und ‚Gewalt‘), nicht alltagssprachlich zu gebrauchen, sondern methodisch und terminologisch hinreichend zu schärfen, wähle ich den Zugang über die Systemtheorie Niklas Luhmanns.

S YMBIOTISCHE M ECHANISMEN Niklas Luhmann vertritt bekanntlich die These, dass moderne Gesellschaften – Gesellschaften im Zeitalter der „funktionalen Differenzierung“ – aus Teilsystemen bestehen, die selbständig nebeneinander existieren.4 Dazu zählen Politik, Wirtschaft, Kunst und Religion, aber auch die Intimität. Hinsichtlich der Fragestellung dieses Beitrags liegt es nahe, die Systeme der Politik und Intimität aufeinander zu beziehen, denn die Stichwörter ‚Gewalt‘ und ‚Freundschaft‘ verweisen jeweils auf verschiedene Ebenen dieser Systeme. Während Gewalt als „symbiotischer Mechanismus“ der Politik zu verstehen ist, handelt es sich bei der Freundschaft um ein „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ der Intimität, nämlich um männlich-homosoziale Nahbeziehungen – im Unterschied zur Liebe als ihr heterosoziales, auf die Nahbeziehung von Mann und Frau bezogenes Pendant.5 Diese Begriffe bedürfen der Erläuterung. Als „symbiotisch“ versteht Luhmann solche Mechanismen, die das jeweilige System mit dem menschlichen Körper verknüpfen.6 Die Anwendung physischer Gewalt ist nach Luhmann der symbiotische Mechanismus der Politik. Was die Gewalt für die Politik, ist die Sexualität für die Intimität. Sexualität stellt den symbiotischen Mechanismus dar, der die Körper derer, die ein Liebesverhältnis miteinander unterhalten, mit dem System der Intimität verschränkt. Als „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ versteht Luhmann in einem allgemeinen Sinn den

keit im ‚Erec‘ Hartmanns von Aue“, in: Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.): Literarische Leben. Fs. Volker Mertens, Tübingen 2002, S. 433-463. 4

Vgl. Claudio Baraldi/Giancarlo Corsi/Elena Esposito: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/M. 1997, hier: S. 65-71 („Gesellschaftsdifferenzierung“).

5

Vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982. Die traditionelle, heteronormativ geprägte Opposition von (homosozialer) Freundschaft und (heterosozialer) Liebe ist aus heutiger Perspektive freilich zu hinterfragen.

6

Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1987, S. 337-339.

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Code des jeweiligen Systems.7 Dies ist im Falle der Politik die Macht, im Falle der Intimität entweder die Liebe (bei heterosozialen Paarbeziehungen) oder die Freundschaft (bei homosozialen Paarbeziehungen). Um das Verhältnis zwischen Politik und Intimität zu verdeutlichen, hilft ein Blick auf die Funktionen, die Luhmann ihnen zuschreibt: die Funktion der Politik ist die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen, die Funktion der Intimität die Herstellung verbindlicher Paarbeziehungen. Dieser Ausflug in die Systemtheorie war erforderlich, um der Gefahr zu entgehen Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Gewalt und Freundschaft liegen auf unterschiedlichen kategorialen Ebenen. Die Gewalt ist der Mechanismus der Politik, die sich im Code der Macht zum Ausdruck bringt; die Sexualität ist der Mechanismus der Intimität, die sich im Code der Liebe bzw. der Freundschaft zum Ausdruck bringt: Gesellschaftliches Teilsystem:

Politik

Intimität

Symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium:

Macht

Liebe/Freundschaft

Symbiotischer Mechanismus:

Gewalt

Sexualität

Die Frage, wie sich in der Gattung des Artusromans Gewalt und Freundschaft zwischen Männern zueinander verhalten, lässt sich also nicht beantworten, wenn man nicht auch die Begriffe der Politik und Macht einerseits und die Begriffe der Intimität und Sexualität andererseits einbezieht. Der Punkt, auf den es mir besonders ankommt, geht von Luhmanns Beobachtung aus, dass der symbiotische Mechanismus der Sexualität wohl dem heterosozialen Code der Intimität (also der Liebe zwischen Mann und Frau), nicht aber – jedenfalls nicht in gleicher Weise – dem homosozialen Code der Intimität (also der Freundschaft zwischen Männern) zur Verfügung steht. Diese Spaltung wird in heteronormativen Diskursen durch das Tabu der Homosexualität abgesichert, das die Vorstellung einer homosozialen Liebe blockiert und somit die Opposition von Liebe und Freundschaft aufrechterhält. Während der symbiotische Mechanismus der Liebe (als Medium der heterosozialen Intimität) in der Sexualität besteht, bleibt diese Systemstelle im Falle der Freundschaft (als Medium der homosozialen Intimität) unbesetzt. Der symbiotische Mechanismus der Freundschaft wäre demnach geradezu der Ausschluss der Sexualität, die in diesem Zusammenhang als „Störquelle“ wahrgenommen wird.8 Kann diese Leerstelle jedoch auch positiv gefüllt werden? Meine These lautet, dass die symbiotischen Mechanismen der Männer-

7

Vgl. Baraldi u.a.: GLU, S. 189-195.

8

Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 337.

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freundschaft nur in sehr begrenztem Rahmen physische Gesten der Zuneigung sein können, dann aber, aufgrund des Homosexualitätstabus, gewissermaßen das System wechseln. An die Stelle der Intimität tritt die Politik, an die Stelle der Sexualität die Gewalt. Dieser Systemwechsel hat mit den heteronormativen Geschlechterverhältnissen zu tun. Während die Sexualität als genuin heterosoziales Phänomen gilt, gilt die politisch motivierte Anwendung von Gewalt als genuin männlich-homosoziales Phänomen. Die Sexualität gehört zur Intimität von Mann und Frau, der Kampf hingegen zur Aushandlung politischer Verhältnisse zwischen Männern. Dies gilt jedenfalls für die Epoche, mit der ich mich im Folgenden näher beschäftigen möchte, nämlich die höfisch-ritterliche Gesellschaft des Hochmittelalters. Weitet man den Blick, so stellen sich neue Fragen: Lässt sich Freundschaft auf Männerfreundschaft reduzieren? Wie verhält es sich mit der Freundschaft zwischen Frauen und mit der Freundschaft zwischen Mann und Frau? Jacques Derrida hat die patriarchalische Verkürzung der Freundschaft auf die Männerfreundschaft treffend als „doppelten Ausschluss der Frau“ bezeichnet.9 Ebenso stellt sich die Frage, in welchen Kulturen und Epochen auch männlichhomosoziale Liebe eine denk- und praktizierbare Form der Intimität darstellt. Diese Fragen – so wichtig sie sind – sollen einstweilen zurückgestellt und das Augenmerk auf einen hochmittelalterlichen Artusroman gelenkt werden, in dem die heteronormativen Gesetze des Patriarchats noch weitgehend ihre Gültigkeit bewahrt haben.

Z WEIKÄMPFE

IM

E REC H ARTMANNS

VON

A UE

Erec schließt im Laufe des Romans zweimal Freundschaften mit Rittern, mit denen er zuvor einen Zweikampf ausgefochten hat.10 Der erste Gegner ist Guivreiz, König von Irland, der zweite Mabonagrin, Neffe des Königs von Brandigan. Die Figuren sind kontrastiv aufeinander bezogen: Guivreiz ist klein wie ein Zwerg (4284: vil nâch getwerges genôz), Mabonagrin hingegen groß wie ein Riese

9

Jacques Derrida: Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2002; vgl. Verf.: „Im Namen des Bruders. Fraternalität in Freundschaftsdiskursen der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 4/3 (2011), S. 4-22.

10 Zur Freundschaft im Artusroman vgl. zuletzt Caroline Krüger: Freundschaft in der höfischen Epik um 1200. Diskurse von Nahbeziehungen, Berlin/New York 2011; vgl. auch Xenja von Ertzdorff: „Höfische Freundschaft“, in: Deutschunterricht 14 (1962), S. 35-51.

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(9013: vil nâch risen genôz). Erec begegnet Guivreiz zweimal, und zwar jeweils am Ende der beiden Abenteuerfahrten im zweiten Teil des Romans. Auf Mabonagrin trifft er nur einmal, und zwar im Schlussabenteuer am Ende des gesamten Romans. Die drei Szenen sind einander paradigmatisch zugeordnet. Der zweite Guivreiz-Kampf bezieht sich auf den ersten zurück, der Mabonagrin-Kampf wiederum auf beide Guivreiz-Kämpfe. a.) Erec und Guivreiz Der erste Kampf, den Erec mit dem Zwergenkönig Guivreiz (4268-4629) ausficht, hat keine andere Ursache als die Rivalität zweier ebenbürtiger Ritter, deren Wege sich kreuzen. Die Ritter fassen ihre Begegnung als Konfrontation auf, das Rangverhältnis muss durch einen Zweikampf geklärt werden. Dass man einander ausweicht, scheint keine Handlungsoption zu sein. Guivreiz provoziert Erec, und dieser nimmt die Herausforderung an. Der Zweikampf verläuft in zwei Phasen: zunächst der Kampf mit der Lanze zu Pferd, sodann der Kampf mit dem Schwert zu Fuß. Im Lanzenkampf erweist sich die physische Ebenbürtigkeit der Gegner: diu sper si ûf stâchen / daz si gar zebrâchen (4388f: „Die Speere trafen so stark auf, daß sie zersplitterten“). Im nachfolgenden Schwertkampf fügt Guivreiz Erec eine schlimme Wunde zu, doch Erec zahlt mit gleicher Münze zurück. Erec könnte Guivreiz töten, verzichtet aber darauf. Guivreiz unterwirft sich und bietet Erec an, sein Vasall zu werden. Dieser lehnt jedoch ab und trägt ihm mit einer fürsorglichen Geste die Freundschaft an: Êrec eine binden brach abe sînem wâpenrocke sâ. nû wâ möhte er anderswâ ein vriuntlîcher binden zuo den zîten vinden? Guivreiz le pitîz eine alsam von sînem wâpenrocke nam. ein ander si verbunden ir ietweder die wunden die er mit sîner hant sluoc. diz was vriuntlîch genuoc. hie was vrouwe Ênîte mite vil güetlîchen nâch ir site. ze handen viengen si sich dô, ir ietweder was des andern vrô,

76 | A NDREAS K RASS und sâzen ensamet ûf daz gras, wan in ruowe nôt was. (4481-4497) Erec riß einen Streifen von seinem Oberkleid ab. Wo hätte er sonst eine freundschaftlichere Binde im Augenblick finden können? Guivreiz le petit riß ebenso einen Streifen von seinem Oberkleid. Sie verbanden einander die Wunden, die sie selbst geschlagen hatten. Das war sehr freundschaftlich. Die Herrin Enite war dabei, ganz liebevoll, wie immer. Sie faßten sich an den Händen, jeder hatte Freude an dem anderen, und setzten sich zusammen auf das Gras, denn sie mußten dringend ausruhen.

Rainer Warning hat das Schema des ritterlichen Abenteuers einmal als Dreischritt von Konfrontation, Domination und Attribution beschrieben.11 Im Falle der kämpfenden Freunde Erec und Guivreiz liegt eine modifizierte Variante dieses Musters vor. Zwar beginnt das Abenteuer mit einer Konfrontation und dem Versuch der Domination, doch wird das Schema dann in der Weise umgelenkt, dass es zu einer wechselseitigen Attribution als Freunde kommt, die vom Sieger ausgeht. Der Sieger hat die Möglichkeit, auf die Domination zu verzichten und stattdessen ein egalitäres Verhältnis herzustellen. Dieses erzielt er durch eine Dienstleistung, mit der er sich des Verlierers annimmt. Das gegenseitige Versorgen der Wunden mit Binden, die aus dem eigenen Gewand gerissen werden, ist zugleich eine symbolische Handlung, die auf die Herstellung einer intimen Beziehung, nämlich einer Freundschaft zielt.12 Die Attribution präsentiert sich also nicht als einseitige Aneignung eines Objekts, sondern als gegenseitige Annahme als Partner. Hinzukommen die Freundschaftsgesten des gemeinsamen Lagers und des Händehaltens. Erecs Gattin Enite assistiert den Männern, ist aber selbst nicht in den Freundschaftsschluss einbezogen. Der zweite Kampf gegen Guivreiz verläuft ähnlich wie der erste (68147787). Wieder treffen die Ritter auf einem Weg aufeinander, wieder stehen sie sich als Rivalen gegenüber und lösen die Konfrontation durch einen Zweikampf. Eine Ironie liegt darin, dass Guivreiz zwar ausgeritten ist, um Erec zu helfen, ihn

11 Rainer Warning: „Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman“, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hrsg.): Identität, München 1979, S. 553-589. 12 Diese Geste findet sich bereits in der antiken Malerei. Auf einer um das Jahr 500 entstandenen Schale (Berliner Antikensammlung, F2278) ist Achill zu sehen, der seinem Freund und Waffenbruder Patroklos die Wunden verbindet; vgl. Verf.: „Over His Dead Body. Male Friendship in Homer’s Iliad and Wolfgang Petersen’s Troy (2004)“, in: Almut-Barbara Renger/Jon Solomon (Hrsg.): Ancient Worlds in Film and Television. Gender and Politics, Leiden/Boston 2012, S. 153-173, hier: S. 163f.

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aber bei der zufälligen Begegnung nicht erkennt, wie er auch seinerseits von Erec nicht erkannt wird. Diesmal unterliegt Erec, der noch von jener Wunde geschwächt ist, die Guivreiz ihm im ersten Kampf schlug.13 Strukturell gesehen ist der zweite Kampf erforderlich, denn erst wenn beide Freunde einmal Sieger und einmal Verlierer gewesen sind, ist ihre Ranggleichheit bestätigt. Wieder beginnt der Kampf in der Weise, dass die Gegner mit eingelegter Lanze aufeinander zureiten (6910: diu sper begunden si neigen / und ouch ir kraft erzeigen), doch diesmal kommt es nicht zum Schwertkampf, da Erec vom Pferd gestoßen wird. Wenn der Erzähler bemerkt, dass sie mit den eingelegten Lanzen ir kraft erzeigen wollen, so wird deutlich, dass es sich um eine Potenzgeste handelt. Diese Ritter, die zugleich Könige sind, müssen ihre Kräfte messen; ritterliche Freundschaft lässt sich für sie nur auf dem Weg der Rivalität, der Konkurrenz, des Wettbewerbs herstellen. Der geschwächte Erec wird durch das Eingreifen Enites gerettet, die sich zwischen die Ritter wirft und um das Leben ihres Mannes bittet. Guivreiz erkennt sie an ihrer Stimme, und ihm wird klar, dass er gegen Erec gekämpft hat. Als er sich nach dessen Wohlergehen erkundigt, erklärt Erec, dass er unversehrt sei bis auf jene Wunde, die er im ersten Kampf davontrug. Die Ritter erweisen ihre Freundschaft, indem sie aufeinander zueilen und sich küssen: von vreuden dise zwêne man liefen ein ander an und kusten sich mit triuwen. (7000-7002) Vor Freude liefen beide aufeinander zu und küßten sich freundschaftlich.

Diese Geste verschiebt den Zweikampf ins Register der Freundschaft. Nun rennen sie nicht als Gegner, sondern als Freunde aufeinander zu, und auch nicht, damit sich ihre Lanzen, sondern ihre Münder küssen. Der Kuss überbietet noch die Geste des Händehaltens, mit der die Ritter nach dem ersten Kampf Freundschaft geschlossen hatten. b.) Erec und Mabonagrin Nun zum zweiten Freundespaar. Erecs Schlussabenteuer besteht im Zweikampf mit einem Ritter namens Mabonagrin. Dieser befindet sich in wörtlich zu verste-

13 Zu diesem Motiv vgl. Burkhard Hasebrink: „Erecs Wunde. Zur Performativität der Freundschaft im Höfischen Roman“, in: Oxford German Studies 38 (2009), S. 1-12.

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hender Minnegefangenschaft, denn seine Minnedame verlangt von ihm immer wieder aufs Neue, dass er gegen andere Ritter zum Zweikampf antritt, um sich als geeigneter Minneritter zu beweisen. Auf jeden Sieg folgt die Forderung einer neuen Bewährungsprobe. Der Zusammenhang von Liebe und Kampf ist hier zu einem Automatismus entartet, der nur durch eine ritterliche Niederlage zum Stillstand gebracht werden kann. Erst wenn Mabonagrin im Kampf unterliegt, ist der Bann gebrochen. Die Auseinandersetzung zwischen den Rittern hat wiederum mehrere Phasen. Zunächst kommt es zum Wortgefecht. Mabonagrin fordert Erec zum Kampf, doch dieser lässt sich nicht beirren, denn er weiß gute Freunde (guote vriunt) an seiner Seite: mîn herze und mîn selbes muot (9035f). Damit ist das Freundschaftsthema eröffnet. Erec ist mit sich selbst befreundet, sein Selbstverhältnis ist intakt. Auf das Wortgefecht folgt die Kampfhandlung, die mehrere Runden umfasst. In der ersten Runde reiten die Ritter mit eingelegter Lanze aufeinander zu: die eschînen schefte / wurden dô geneiget (9087f). Trotz des heftigen Aufpralls bleiben die Schäfte ganz: die starken schefte ganz beliben, / swie sêre si würden dar getriben (9096f). Von „männlicher Begierde“ (9099: manlîcher ger) angeheizt, ziehen die Ritter die Lanzen aus dem Schild des Gegners heraus, trennen sich und reiten erneut aufeinander zu. Als sie ein zweites Mal mit eingelegter Lanze aufeinander zu reiten, wird ihr Kampf als Liebesakt beschrieben: hie huop sich herzeminne nâch starkem gewinne. si minneten sunder bette: diu minne stuont ze wette, sweder nider gelæge, dem wart der tôt wæge. mit den scheften si sich kusten durch die schilte zuo den brusten mit selher minnekrefte daz die eschînen schefte kleine unz an die hant zekluben. und daz die spiltern ûfe stuben. (9106-9117) Da entbrannte innige Begierde nach reichem Lohn. Es war Liebe ohne Bett: Bei dieser Liebe ging es darum, wer zuerst unten lag, der war des Todes. Mit den Speeren küßten sie sich durch die Schilde auf die Brust mit solchem Liebesverlangen, daß die Eschenschäfte bis auf die Hand zersplitterten und die Späne hoch aufstoben.

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Die Kampfbegierde, die zuvor als manlîche ger bezeichnet wurde, heißt nun herzeminne und minnekrefte. Die Verbindung zwischen Liebes- und Kampfesakt, zwischen Sexualität und Gewalt, wird durch das Motiv der Penetration und Subordination evoziert. Der Ritter will mit seiner Lanze den Schild des Gegners durchbohren und ihn vom Pferd stoßen, sodass dieser unter ihm zu liegen kommt. Die kämpferische Unterwerfung wird als sexuelle Überwindung inszeniert. Der Mann, der sich von der Lanze penetrieren lässt und dabei unten liegt, gleicht der Frau, die im Geschlechtsverkehr mit einem Mann die rezeptive Rolle einnimmt. Kampf wird als Minne und der Penetrationsakt als Kuss umschrieben, obwohl die Lanze eher phallische als orale Assoziationen weckt: mit scheften si sich kusten. Dieses Motiv erinnert an Erec und Guivreiz, die nach ihrem zweiten Kampf tatsächliche Küsse austauschen. Während der Kampfschilderung bezieht Hartmann sein Publikum in die Freundschaftsthematik mit ein. Ein imaginärer Leser fragt seinen „Freund Hartmann“, wie die Ritter den schweren Kampf aushielten: geselle Hartman, nû sage / wie erwerte inz der lîp? (9169f). Die Antwort lautet, dass die Damen ihnen Kraft geschenkt hätten. Auf diese Weise wird die Szene heteronormativ eingeordnet. Wenn sich der Zweikampf auch wie ein Liebesakt zwischen Männern ausnimmt, handeln die kämpfenden Ritter doch im Namen ihrer Minnedamen. Die beiden Formen des Begehrens – der Männer zueinander, der Männer zu ihren Frauen – ist, jedenfalls aus Mabonagrins Perspektive, durch ein erotisches Dreieck im Sinne von Eve Kosofsky Sedgwick vermittelt.14 Die Frau wird als Medium eines homosozialen Begehrens instrumentalisiert, das die männlichen Rivalen verbindet. Als Erec schließlich obsiegt, zeigt er Erbarmen mit dem Verlierer und lässt ihm das Leben. Statt zu einer Siegesgeste kommt es zu einer Freundschaftshandlung, die an Erecs ersten Kampf gegen Guivreiz erinnert. Erec hilft dem unterlegenen Gegner auf; sie lösen einander die Rüstungsriemen, nehmen die Helme ab und setzen sich gemeinsam ins Gras: Êrec erbarmte sich, alsô daz er in leben lie. als er die sicherheite emphie, nû half er im ûf bî der hant. ir ietweder enbant des andern wâfenriemen,

14 Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire, New York 1985.

80 | A NDREAS K RASS wan in half ander niemen, und entwâfenten ir houbet. hie wurden si beroubet hazlîches muotes: êren unde guotes gunden sie ein ander wol, als ein geselleschaft sol. si sâzen zesamene ûf das gras, wan ir ietweder was viel müede von dem strîte. (9385-9400) Erec gewährte Erbarmen und ließ ihn am Leben. Als er das Gelöbnis erhalten hatte, half er ihm mit der Hand auf. Jeder löste die Waffenriemen des anderen, denn niemand sonst half ihnen, und sie nahmen die Helme ab. Dabei schwand ihnen die Feindschaft. Ruhm und Glück wünschten sie einander, wie es sich für Freunde gehört. Sie setzten sich zusammen auf das Gras, denn beide waren todmüde vom Kampf.

Der Zweikampf erweist sich letztlich als Freundschaftsdienst. Erec löst den Bann, der auf Mabonagrin liegt. Die Liebesthematik, die eigentlich dem Minneritter und seiner Minnedame gilt, drängt sich in die Freundschaftsthematik hinein und erfasst die Sprache, mit der Hartmann den Kampf zwischen den Rittern beschreibt. Gewalt wird als Liebe metaphorisiert, die wechselseitige Penetration mit den aufgerichteten Lanzen evoziert die Vorstellung eines sexuellen Liebesakts zwischen den kämpfenden Rittern. Nach dem Kampf schließen die Paare Freundschaft: Erec mit Mabonagrin und Enite mit dessen Dame, die, wie sich herausstellt, ihre Cousine ist. Die symbolische Inszenierung des Kampfes als homosexueller Liebesakt wird durch die Bildung dieses Figurenquartetts in die heteronormative Ordnung zurückgeholt.

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S YMBOLISCHE I NTERPENETRATION Luhmann hat den Begriff der Interpenetration geprägt, um strukturelle Koppelungen zwischen den Teilsystemen zu bezeichnen.15 Diesen Terminus aufgreifend, könnte man im Falle des hier besprochenen Artusromans, einer fiktionalen Dichtung, von symbolischen Interpenetrationen zwischen Intimität und Politik, Sexualität und Gewalt sprechen. Diese erfolgen in zwei verschiedenen Modi, die ich als metonymisch und metaphorisch bezeichnen möchte. Eine metonymische Interpenetration liegt dann vor, wenn eine erzählte Handlung vorübergehend von einem System in ein anderes verschoben wird. Dies ist bei den Zweikämpfen Erecs mit Guivreiz der Fall. Zwar gibt es physische Gesten der freundschaftlichen Zuneigung (Handhalten, gegenseitiges Verbinden der Wunden, Küsse), die als symbiotische Mechanismen der Freundschaft figurieren, doch sind sie Folgen eines Zweikampfs, der die zentrale Form der körperlichen Begegnung darstellt. Die Gegner werden also nicht Freunde, obwohl sondern weil sie miteinander gekämpft haben. Der Zweikampf erweist sich im Nachhinein als verschobener Modus der Freundschaft; er ist, erzähltheoretisch gesprochen, final motiviert. Eine metaphorische Interpenetration liegt hingegen dann vor, wenn der symbiotische Mechanismus des einen Systems denjenigen des anderen überlagert, wenn es also zu einer Verdichtung der betreffenden Codes kommt. Dies ist beim Zweikampf zwischen Erec und Mabonagrin der Fall. Der Kampfesakt wird als Liebesakt erzählt. Dabei ist aber stets klar, dass es sich tatsächlich um einen Kampfesakt und nur bildlich um einen Liebesakt handelt. Gleichwohl wird durch die metaphorische Verschränkung eine Affinität zwischen Sexualität und Gewalt angezeigt, die für männlich-homosoziale Beziehungen signifikant zu sein scheint. Die Analyse eines Artusromans aus dem 12. Jhd. bestätigt, was in patriarchalischen Kulturen auch sonst weithin gilt. Dem männlich-homosozialen Code der Intimität, den Luhmann als Freundschaft bezeichnet, steht der symbiotische Mechanismus der Sexualität nicht in gleicher Weise zur Verfügung wie dem konkurrierenden heterosozialen Code der Intimität, den Luhmann Liebe nennt. Im Falle der Liebe wird Sexualität als Regelfall, im Falle der Freundschaft hingegen als Störfaktor konzipiert.16 Die Freundschaft verfügt über die körperlichen Ges-

15 Vgl. Baraldi u.a.: GLU, S. 85-88. 16 Vgl. Anm. 8.

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ten des Handhaltens, der Umarmung und des Kusses; sexuelle Handlungen bleiben ausgeschlossen. Gleichwohl sind letztere als Leerstelle präsent, die auf metonymische und metaphorische Weise gefüllt werden kann. Luhmann spricht bei seiner Definition des symbiotischen Mechanismus in Anspielung auf Paul Claudels Theaterstück Der seidene Schuh (1929) sehr schön vom „Schattenkuss“ als reduzierter Form eines tatsächlichen Kusses.17 Mit diesem Motiv illustriert Luhmann sublimierte Formen des symbiotischen Mechanismus, wie sie in den eher abstrakten Systemen der Wirtschaft, des Rechts oder der Wissenschaft anzutreffen sind. Das Motiv passt ebenso gut auf das System der Intimität, dem es ja auch entliehen ist. Wo man einander nicht küssen darf, deutet man den Kuss schattenhaft an. Und wo Sexualität ein Tabu ist, erzählt man den verbotenen Beischlaf als Schattengeschichte.18 Der Artusroman Hartmanns von Aue bietet hierfür ein treffendes Beispiel. Er schaltet die Systeme der Politik und Intimität gleich, indem Könige (und der Neffe eines Königs), die sich zunächst bekämpfen, miteinander Freundschaft schließen. Da Sexualität als symbiotischer Mechanismus der männlich-homosozialen Intimität tabuisiert ist und somit nur als Irritationsquelle zur Verfügung steht, wird sie durch den analogen symbiotischen Mechanismus der Politik substituiert. Gewalt erscheint hier, so könnte man zugespitzt formulieren, als homosozialer Sex des heterosexuellen Mannes.

17 Luhmann: Soziale Systeme, S. 337f. 18 Zum Begriff der Schattengeschichte (shadow story) vgl. Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance, Berkeley/Los Angeles 1989, S. 66f.

Gewalt, Gefühl, Geschlecht Männlichkeit(en) in der iberoromanischen Narrativik der Frühen Neuzeit T OBIAS B RANDENBERGER

In História de menina e moça von Bernardim Ribeiro,1 einem eigenartigen und viel diskutierten portugiesischen Werk aus dem zweiten Viertel des 16. Jhds., wird in einer Schlüsselszene von einem namenlosen Ritter berichtet, der seit drei Jahren vor einer Brücke ausharrt und jedem den Durchgang verwehrt, der nicht bereit ist zuzugestehen, dass niemand eine Dame so liebe wie er selbst die von ihm verehrte. Ihm begegnet einer der Protagonisten der Erzählung, zufällig in der Gegend unterwegs, und fordert ihn zum Kampf: Beim vierten Lanzenstoß stürzt der cavaleiro da ponte vom Pferd und stirbt nach einem kurzen Gespräch und einem letzten Blick zu einem Schloss auf einem nahegelegenen Hügel an inneren Verletzungen. Was die Lesenden an dieser Szene erschüttern muss, ist weniger die fast beiläufig, ja oberflächlich vermittelte physische Konfrontation, sondern vor allem die Insistenz, mit der in der Folge die Konsequenzen und die Sinnlosigkeit des Duells hervorgehoben werden. Die betroffenen Fremden erfahren alsbald vom Knappen und der Schwester des Toten, dass die auf dem Schloss lebende Dame, um derentwillen der Ritter die Brücke bewacht hatte, nicht im Geringsten an diesem interessiert war, sondern ganz einfach ihre Ruhe haben wollte und ihn deswegen drei Jahre lang mit einer Aufgabe betraute, die ihn schließlich das Leben kostete. Übrig bleiben nach dem Zweikampf Trauer und Vernichtung – Gewalt-

1

Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von Teresa Amado: Bernardim Ribeiro: Menina e moça, Lissabon 22002.

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bereitschaft wird als gefährlich, ja zerstörerisch erkannt; ein typisches Ingrediens der Ritterabenteuer als möglicherweise abwegig und sinnlos entlarvt. Wird die Episode mit einer an früherer Stelle im selben Roman auftauchenden Passage in Verbindung gebracht, so zeigt sich, dass sie genau jenen Sachverhalt exemplifiziert, der dort in Form einer programmatischen Ansage zu einem heiklen Punkt, einem eigentlichen gender gap, angesprochen worden war: […] não há tristeza nos homens, só as molheres são tristes: que as tristezas, quando viram que os homens andavam de um cabo para outro, e como as mais das cousas com as contínuas mudanças ora se espalham ora se perdem, e as muitas ocupações lhe tolhiam o mais do tempo, tornaram-se às coitadas das molheres […]. Cheos são os livros de histórias de donzelas que ficaram chorando por cavaleiros que se iam e que se lembravam ainda de dar d’esporas a seus cavalos, porque não eram tão desamorosos como eles.2

Die von einer der beiden (Rahmen)Erzählerinnen – eine junge und eine ältere Frau, die sich in unwegsamer Abgeschiedenheit begegnen und dort Geschichten von unerfüllter oder zerstörter Liebe erzählen – in dezidierter Polarisierung formulierte Diagnose einer Unvereinbarkeit weiblicher Emotionalität mit männlicher Gleichgültigkeit und Unbeständigkeit wird in der Folge verbunden mit einer narrativen Exemplifizierung und Demaskierung der Sinnlosigkeit konventioneller Gewalt qua integralem Bestandteil des männlichen Habitus. Dabei werden nicht bloß wie im Fall des tragischen Zweikampfs die konkreten Konsequenzen von Gewaltbereitschaft illustriert. Die Erzählerinnen erheben ihre Stimme generell gegen die verheerenden Implikationen einer androzentrisch-aggressiven Weltsicht und einer spezifischen erotischen wie auch heldenhaft kriegerischen oder abenteuerlichen Praxis der Ritter; sie stellen fest, dass Männer angesichts von Konflikten zu Gewalt greifen und Impulse des (Mit)Gefühls unterdrücken – was in ihrem Werben um die Frauen und den Beziehungen zu diesen zwangsweise zu einem fatalen Ende führt.

2

Ebd., S. 68-70. Übersetzung [T.B.]: „Bei den Männern gibt es keine Trauer, nur Frauen sind traurig; denn als die Trauer [im port. Text im Plural, T.B.] sah, dass die Männer von einem Ort zum anderen zogen, und da sich die meisten Dinge bei dem beständigen Wechsel zerstreuen oder verlieren und ihnen die vielen Beschäftigungen die meiste Zeit wegnahmen, da kehrte sie sich gegen die Frauen. […] Voll sind die Bücher von Geschichten junger Frauen, die zurückblieben und um Ritter weinten, welche davonzogen und sogar daran dachten, ihren Pferden die Sporen zu geben, weil diese nicht so lieblos waren wie sie selbst.“

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Das hier kurz vorgestellte Beispiel rückt genau den Problembereich in den Fokus, dessen literarischen Verarbeitungen in der Iberoromania des 15. und 16. Jhds. unsere Aufmerksamkeit gilt: genderisierte Gewalt, und zwar insbesondere Aggression als performative Etablierung und Sicherung von Männlichkeit. Der Text von Bernardim Ribeiro ist allerdings insofern ein Ausnahmefall, als er parallel männliche Verhaltensmuster wie literarische Konventionen hinterfragt und sehr prononciert die in erzählenden Texten dieser Epoche praktisch immer präsente, ja vorauszusetzende Gewalt von (aber auch an) Männern kritisiert, zu der er eine Art Gegenprogramm bietet: ein Plädoyer für Introspektion und emotionale Teilnahme anstelle des aktionistischen Übereifers, mit dem in der Fiktion männliche Figuren Affekte und seelische Belange quasi gewaltsam in Akte der Aggression umbiegen. Wenn es im Folgenden darum gehen soll, das aus der Warte der literaturwissenschaftlichen Men’s Studies noch nahezu unbeachtete Feld der frühneuzeitlichen iberoromanischen Narrativik auf die Frage hin zu untersuchen, wie hier Männlichkeit(en) unter dem Rückgriff auf Darstellung diverser Formen von praktizierter Gewalt entworfen und ausgehandelt wird bzw. werden, so wird dieser Zugriff nicht nur bei der Wahl des Textmaterials angesichts eines enorm großen möglichen Korpus gezwungenermaßen selektiv und exemplarisch erfolgen, sondern sinnvollerweise auch eine bestimmte Parzelle privilegieren. Es handelt sich hierbei um verschiedene, freilich literaturgeschichtlich und gattungstheoretisch zusammenhängende Genres, die die einschlägige Forschung als „idealistisch“ etikettiert,3 um ihre Verbindung zu mittelalterlichen und antiken Formen wie dem roman courtois und dem Epos oder die Nähe zur populären, mythischen Narrativik zu betonen; gleichzeitig wird damit signalisiert, dass in ihnen ein relativ einfaches, in seinem Norm- und Wertesystem tendenziell geschlossenes Weltbild vorherrscht, und dass das Wunderbare, Schematismen und Topizität relativ großes Gewicht erhalten.4 Sie unterscheiden sich deutlich von anderen zeitgenössischen und späteren Texten und Traditionen, in denen eine skeptische

3

So seit Antonio Rey Hazas: „Introducción a la novela del Siglo de Oro, I (Formas de narrativa idealista)“, in: Edad de Oro 1 (1982), S. 65-105.

4

Alan Deyermond („The Lost Genre of Medieval Spanish Literature“, in Hispanic Review 41 [1975], S. 231-259) identifiziert, in Anlehnung an Northrop Frye und mit Rückgriff auf die angelsächsische Terminologie, solche Typen als romance. In der spanischsprachigen Forschung hat sich diese Begrifflichkeit nicht durchsetzen können; immerhin wird in letzter Zeit vom missverständlichen Lexem novela für diese Genres Abstand genommen.

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oder kritische Revision solcher Werte stattfindet und die – semantisch vielleicht nicht ganz glücklich – in der Romanistik das Prädikat realistisch erhalten haben.5 Als primäre Handlungsträger stehen die Ritter, deren Gefühllosigkeit Bernardim Ribeiros weibliche Erzählinstanzen anklagen, charakteristischerweise im Vordergrund des erfolgreichsten narrativen Genres der frühneuzeitlichen Iberoromania, das seit dem ausgehenden 15. Jhd. einen auch weit über die Pyrenäen hinausführenden Triumphzug antritt. Die Ritterromane6 (bzw. Ritterbücher, spanisch libros de caballerías, portugiesisch livros de cavalarias) situieren den herausragenden ritterlichen Helden prominent im Zentrum ihres Figurenarsenals. Das übliche Handlungsschema sieht vor, dass in chronologisch-biographischer Struktur der Werdegang der Hauptfigur (bisweilen sind es mehrere) erzählt wird; der esfuerzo des positiv markierten Männlichkeitsentwurfs bezieht sich dabei zum einen auf amores (Liebe zu und zivilisiertes Werben um eine Dame), zum anderen auf hazañas oder proezas, also Heldentaten oder Abenteuer. In beiden Domänen findet parallel oder alternierend das performative Bezeugen ihrer Männlichkeit statt; erst nach und dank perfekter Vorstellung auf beiden Bühnen werden die Protagonisten mit der gesellschaftlich akzeptierten und stabilisierenden Beziehungsformel der Ehe belohnt, die erotische Energie in einem geregelten Rahmen kanalisiert. Liebe ist mithin Korrelat des Abenteuers: Das plötzliche und unvermeidliche Entbrennen beim Anblick der Dame und das davon ausgehende, mit dem auf den feudalen Dienst zurückverweisenden Terminus servicio bezeichnete Werben um die Gunst der Verehrten bestimmen von diesem Moment an den Weg des Helden. Dieser führt (oft mehrmals) weg vom Hof und in entfernte bis exotische Topographien, wobei unterwegs vielerlei ebenso gefährliche wie schwierige Herausforderungen bestanden sein wollen: Bedrohung durch andere Ritter – die üblicherweise zum Duell7 führt (meist mit Lanzen, teils

5

Es handelt sich konkret um die in der allgemeinen wie wissenschaftlichen Rezeption deutlich bevorzugten Typen und Werke aus dem Bereich der literatura picaresca und celestinesca.

6

Die von Don Quijotes Nachbarn verbrannten Ritterbücher haben seit einigen Jahrzehnten eine gewisse Rehabilitierung durch die Literaturwissenschaft genießen dürfen: vgl. zum Beispiel José Manuel Lucía Megías/Emilio José Sales Dasí: Libros de caballerías castellanos (siglos XVI-XVII), Madrid 2008; María Carmen Marín Pina: Páginas de sueños. Estudios sobre los libros de caballerías castellanos, Zaragoza 2011.

7

Zur literarischen Gestaltung dieser Form kompetitiv-reziproker, selbstverständlich homosozialer Gewalt vgl. José Julio Martín Romero: „‚Aquellos furibundos y terribles golpes‘: la expresión del combate singular en los textos caballerescos“, in: Revista de Filología Española 86 (2006), S. 293-314.

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mit Schwertern, entweder auf Leben und Tod oder bis zur Aufgabe eines der beiden) –, brutale Riesen oder mit magischen Kräften versehene Zwerge, schreckliche zoomorphe Ungetüme, tückische Fallen und Hinterhalte, sowie bisweilen kriegerische Einsätze, Belagerungen und Schlachten gegen fremde Heere. Es überrascht angesichts der gattungstypischen Handlungselemente und Ideologeme nicht, dass in den libros de caballerías ein gerüttelt Maß an Gewalt zu finden ist. Versucht man die Szenen, in denen von den handelnden Figuren Gewalt ausgeübt oder erlitten wird, zu ordnen und zu systematisieren, um sie unter spezieller Berücksichtigung ihrer literarischen Gestaltung auf ihre Funktion zu befragen, so ergibt sich ein interessanter Befund. Das handlungsstrukturierende Binom amores vs. hazañas erweist sich auch für die repräsentierten Räume als relevant, indem es sich mit dem rekurrent aktivierten Kontrast zwischen zwei interdependenten Handlungssphären verbindet: corte vs. andanzas. Liebe und Heldentaten stehen ebenso im Wechsel wie Hof und Streifzüge; doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich darüber hinaus eine Verflechtung in gegenseitig dynamischem Verhältnis. Einerseits werden nämlich die hazañas von amor mit ausgelöst, wenn die Dame den Ritter auf Abenteuer schickt oder diese zumindest von ihm erwartet; gleichzeitig beglaubigen die Heldentaten den Liebesdienst, indem Trophäen oder Berichte als Beweis der Verehrung zurückgesandt werden. Andererseits wird dieses doppelt sich bedingende Agieren in zwei Sphären, das Pendeln zwischen sicherem und versicherndem Hof und unsteter Reise gerade erst durch den essentiellen Gegensatz von corte und andanzas möglich. In beiden Domänen bewähren sich die Ritter, doch ist es nun gerade die Kategorie der Gewalt, an welcher der Unterschied zwischen beiden Wirkungskreisen sich veranschaulicht. Der Hof ist in der Ritternarrativik praktisch frei von spontaner und planloser Gewalt. Der ritterliche Mann beweist sich in diesem Rahmen als spezifisch höfischer Vertreter seines Geschlechts, indem er mit entsprechender sozialer und emotionaler Kompetenz der Dame seine Verehrung und der ihn umgebenden Hofgesellschaft seine Passgenauigkeit hinsichtlich der Kategorie class bezeugt. Dementsprechend wird Gewalt lediglich in reglementiert-kultivierten, also sublimierten und stilisierten Formen praktiziert: Turniere und Zweikämpfe unter dem aufmerksamen Blick der Anderen, auch und gerade der anwesenden Damen, die insofern gewaltmindernd wirken, als es kaum je zu Ausbrüchen aus den Leitplanken der Konvention kommt, sondern vielmehr die Kontrolle der möglicherweise Exzesse auslösenden Gefühle und der gepflegte Umgang zählen. Außerhalb dieses geschützten Raums hingegen, wo die aventuras auf den ritterlichen Helden warten, werden von diesem im Konfrontationsfall nicht nur die

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bereits im geordneten Rahmen vorhandenen und bewiesenen Vorzüge wie Kraft, Mut und Schnelligkeit gefordert; nötig ist dann durchaus auch die Bereitschaft zu nicht reglementierter Aggressivität, also zum Rückgriff auf schiere Gewalt. Der Ritter ist nun der Bedrohung anderer, ethisch nicht gleichermaßen vollkommener Figuren ausgesetzt, die es unter Einsatz körperlicher Energie und Handhabung diverser Waffen zu liquidieren gilt. Die Sphäre der Alterität, welche der zivilisierten des Hofes diametral entgegensteht und in der die Bezwingung des Fremden, Fernen, Gefährlichen konstitutiv für Männlichkeit wird, führt dabei immer wieder religiös distinkte oder nicht den heteronormativ-patriarchalischen Richtlinien entsprechende Opfer von Gewalt vor. Dazu gehören starke und für das männliche Selbstbewusstsein problematische Frauenfiguren wie Amazonen8 oder dezidiert erotische Erfüllung einfordernde dueñas oder doncellas, oft reifere, mit Macht ausgestattete Gestalten wie beispielsweise Zauberinnen oder verwitwete Schlossherrinnen,9 die meist in einem fremden, vom kontrollierten und sexuelle Wünsche von Frauen wirksam unterdrückenden Hof abgelegenen und schwer zugänglichen setting situiert werden. Es finden sich aber auch, nicht minder Besorgnis erregend, ein Sodomit wie König Paramón von der Isla del Sol in Fernando Bernals Floriseo;10 daneben zahlreiche als Heiden oder Mauren in ihrer Irregularität kenntlich gemachte Kriegsgegner der schließlich siegreichen christlichen Protagonisten. Angesichts solcher Widersacher erscheint – wie auch gegen die nicht menschlichen Ungeheuer – massive und oft ausführlichst in bluttriefenden Szenen geschilderte Gewalt durchaus akzeptabel, weil damit in einer speziellen und absolut gerechtfertigten Resouveränisierung die religiöse bzw. die patriarchale Ordnung wieder hergestellt werden kann. Der Fall des eben erwähnten Paramón ist symptomatisch: Der Missetäter wird zwar in einer Schlacht besiegt, weigert sich aber hartnäckig, seinen „abonimables vicios y pecados“11 abzuschwören und zum Christentum überzutreten, worauf der ritterliche Held ihn erst, weil adlig, köpfen lässt, dann freilich auch

8

Vgl. Alison Dale Taufer: From Amazon Queen to Female Knight: the Development of the Woman Warrior in the Amadis Cycle, Los Angeles 1988.

9

Vgl. José Manuel Lucía Megías/Emilio José Sales Dasí: „La otra realidad social en los libros de caballerías (II): damas y doncellas lascivas“, in: Actes del X Congrés de l’Associació Hispànica de Literatura Medieval, Alicante 2005, vol. 2, S. 1007-1022.

10 Fernando Bernal: Floriseo, Alcalá de Henares 2003. Vgl. Verf.: „Pecar y gozar. Transgresiones eróticas en los libros de caballerías“, in: ders./Henriette Partzsch (Hrsg.): Deseos, juegos, camuflaje. Los estudios de género y queer y las literaturas hispánicas (de la Edad Media a la Ilustración), Frankfurt/M. 2011, S. 33-57. 11 Bernal: Floriseo, S. 76 („abscheulichen Lastern und Sünden“).

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noch, weil Sodomit, verbrennen. Erkennbar wird eine gerade bei sexuell heterodoxem Verhalten im Ritterroman häufige Funktionalisierung in dem Sinne, dass sich die Infraktion der Norm aus der Nähe einer religiösen Verirrung ergibt: Paramón beharrt auf beidem und stellt sich in doppelter Hinsicht außerhalb einer idealen Ordnung. Im iberoromanischen Ritterroman wird also Gewaltausübung durch Männer entweder kanalisiert und geregelt (nämlich im Rahmen der Gesellschaft bei Hof), oder aber den Helden ein gewisser ideologisch begründeter Freipass jenseits dieser Domäne ausgestellt, wenn es darum geht, die Normen und Werte eben dieser Gesellschaft im unkontrollierten, speziell bedrohlichen Außenraum zu verteidigen. Die der Figur des Ritters inhärente Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt wird dabei praktisch nie hinterfragt oder gebrochen (mit Ausnahme des viel späteren und grundlegend parodistisch angelegten Quijote von Cervantes). Relevant ist des Weiteren, dass in einem auf der Basis heteronormativer Parameter androzentrisch und homosozial geprägten ritterlichen Universum die männliche Handlung und Gewalt die Geschlechtsidentität affirmiert, wobei den Frauen hierbei sehr häufig eine Art Aktivierungsfunktion zukommt, indem nämlich die Damen Empfängerinnen der Trophäen sind.12 Hinter der quasiessentialistisch mit Maskulinität korrelierten physischen Aggression, Waffenkraft und Ausübung von Gewalt steht also zuerst als Nutznießerin die Frau, der die so erlangten Zeugnisse männlicher Souveränität zugeeignet werden können; sekundär dann freilich wiederum der männliche Held, der damit in seinem Werben um die Dame Punkte macht, sowie das Kollektiv, dessen politische und reli-

12 Problematisch ist in dieser die Geschlechter trennenden Zuweisung die Figur der doncella guerrera, eine sehr beliebte Spielart von cross-dressing oder genauer crossgender-behavior. Es ist die junge Frau, die sich als Mann verkleidet und bewaffnet, um ihre Ziele zu erreichen und nebenbei durch ihren Charme und ihre Attraktivität in der verkehrt genderisierten Performativität andere Frauen entflammen lässt. Sie zeigt eine Gegenidentität auf, in der Weiblichkeit und Aktivität koexistieren. Dazu ist es freilich nötig, dass sich die (äußere) Gestalt dem maskulinen Pol angleicht, um parallel dazu der männlichen Hilfe oder des Schutzes entbehren zu können; und dazu ist es ebenfalls unabdingbar, dass ein solches Verhalten zeitlich beschränkt und nach vollbrachtem Erfolg wieder auf die traditionelle Rolle und den vorherigen Habitus zurückgeführt wird. Reizvoll (und schwierig) ist hierbei, dass sich die identifikatorische Prämisse der Identifizierbarkeit des Geschlechts aus einer genderisierten Performanz als Täuschung erweist. Vgl. zu dieser Figur María Carmen Marín Pina: „Aproximación al tema de la virgo bellatrix en los libros de caballerías españoles“, Críticon 45 (1989), S. 81-94.

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giöse Werte der Text zelebriert und das selbstverständlich in einer dynamischen Abbildbeziehung mit der Gesellschaft steht, aus der die zeitgenössischen LeserInnen stammen. Die libros de caballerías zeichnet die Darstellung oder Inszenierung fast ausschließlich eines Typus von Rollenverteilung in der Gewalt aus, nämlich diejenige Dimension aus Michael Kaufmans13 Triad of Men’s Violence, die sich mit der einfachen Formel „Gewalt gegen andere Männer“ (Violence against other men) fassen lässt, allerdings befördert auch und gerade von Frauen und der Gesellschaft in toto. Es handelt sich dabei um eine durch den Einsatz des als männlich und stark vorausgesetzten Körpers und dessen Bewaffnung praktizierte, exemplarisch den ritterlichen Helden als besonders herausragenden Mann qualifizierende Form der Gewalt. Diese wird nicht nur toleriert, sondern vielmehr gutgeheißen und über weite Strecken ritualisiert. Auch kanalisiert sie offensichtlich ein scheinbar essentialistisch vorausgesetztes aggressives Potential der Männer, im Sinne einer sozialen Praxis, wie dies Connell14 vorschlägt, die sich im Rahmen gegebener Strukturen – in casu ein literarisch ausgearbeitetes, im realhistorischen Zusammenhang der abgeschlossenen Reconquista und beginnenden Überseeexpansion zutiefst anachronistisches, gleichzeitig aber für aktuelle politische und soziale Belange funktionalisierbares Szenario – realisiert und auf diese reagiert. Gewaltbereitschaft bzw. Gewaltausübung erweisen sich als integraler Bestandteil hegemonialer Männlichkeit,15 die sich in ihrem Kontext – in der doppelten Bedeutung einerseits extraliterarischer (politischer, sozialer wie ökonomischer) Faktoren wie auch gleichzeitig auf das komplexe System koexistierender und interdependenter literarischer Textsorten bezogen – unablässig performativ neu konstituiert. Diese Konstruktion hat dann nicht bloß das Patriarchat in seinem Legitimationsbedürfnis zu stützen, sondern auch und vor allem die Vorherrschaft einer Klasse, einer Ethnie sowie ganz besonders einer bestimmten Religion diskursiv zu untermauern. Etwas anders stellt sich die Verschränkung von Gewalt und Männlichkeitskonstruktion in dem Bereich dar, der die große zeitgenössische Konkurrenz im

13 Michael Kaufman: „The Construction of Masculinity and the Triad of Men’s Violence“, in: ders.: Beyond Patriarchy: Essays by Men on Pleasure, Power, and Change, Oxford 1987, S. 1-29. 14 R. W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999, S. 92. 15 So postulieren dies Uwe Heilmann-Geideck und Hans Schmidt: Betretenes Schweigen. Über den Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Gewalt, Mainz 1996.

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Sortiment literarischer Textsorten bildet: die weniger beachtete (weil nicht durch die humoristisch-parodistische Feder eines genialen Autors wie Cervantes verewigte?) ficción sentimental.16 In diesen tragisch endenden Liebesgeschichten wirbt entweder ein junger Mann erfolglos um die Gunst einer edlen Dame; oder ein Liebespaar wird durch Verleumdung, Eltern, Rivalen oder Tod an seinem Glück gehindert. Auch hier steht hinter dem Verhaltenskodex und einem qua Normalität vorausgesetzten Männlichkeitsentwurf, der durch idealistisch übersteigerte ethische Qualität und sozial-kommunikative Vortrefflichkeit charakterisiert ist, mittelalterlich-höfisches Gedankengut mit einer stark feudalistischen Prägung – Liebe als Dienst und Unterwerfung des Manns unter die Exzellenz der Dame –; und auch in dieser Erzähltradition wird Gewalt als Handlungselement, movens und relevantes Potential für genderspezifische Rollenentwürfe genutzt. Praktisch seit dem Beginn der in der Mitte des 15. Jhds. einsetzenden Entwicklung dieser (ebenfalls sprach- und kulturraumübergreifend gleichermaßen spanischen wie portugiesischen) Gattung, taucht hier eine weitere Option aus Kaufmans Triade auf, „Gewalt gegen sich selbst“ ([men’s] violence against oneself), sowie etwas später und oft mit der vorherigen kombiniert, eine Möglichkeit, die in den Ritterromanen zwar latent vorhanden ist, nur in der ficción sentimental jedoch zu voller Blüte gelangt: die Gewalt von Frauen gegen Männer. Autodestruktive Gewalt im Sinne absichtlichen aktiven und abrupten Versehrens der eigenen physischen Integrität findet sich prominent schon in zwei frühen Texten der Tradition, in denen angesichts des ausweglosen Leidens an unerfüllbarer oder zerstörter Liebe unglückliche Männer Hand an sich legen: Ardanlier aus dem Siervo libre de amor von Juan Rodríguez del Padrón stürzt sich nach der Ermordung seiner Geliebten durch den Vater in sein Schwert – und genau zu derselben Handlung schickt sich das autodiegetische Ich am Schluss der Sátira de felice e infelice vida von D. Pedro de Portugal an, wobei erzähltechnisch geschickt die Lesenden mit einem unmittelbar bevorstehenden Suizid konfrontiert werden, welcher der Darstellung logischerweise entzogen wird.17 Möglich wird dies dadurch, dass sich die männlichen Protagonisten in der ficción sentimental durch einen Zustand der Besessenheit auszeichnen, den die

16 Siehe zu diesem Genre Antonio Cortijo Ocaña: La evolución genérica de la ficción sentimental de los siglos XV y XVI, London 2001; Verf.: La muerte de la ficción sentimental. Transformaciones de un género iberorománico, Madrid 2012. 17 Ziemlich genau hundert Jahre später bietet Juan de Segura im Processo de cartas de amores (1548) einen ähnlichen Romanschluss, der dann allerdings einen weitere fiktionalen Text kreiert.

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extreme Intensität der Gefühle der Liebe bedingt, welchen die Liebhaber quasi schutzlos ausgesetzt sind: amor ciego eliminiert die Klarsicht der – traditionell mit Männlichkeit korrelierten – razón. Hieraus folgt häufig auch physische Beeinträchtigung, körperlicher Zerfall, generell eine aus der ständigen Vergegenwärtigung der imago der Geliebten resultierende Hypersensibilität, die als eigentlich pathologisch anzusehen ist, wie Robert Folger mittels einer Projektion auf medizinische Schriften der Zeit nachgewiesen hat.18 Es kommt zu einem Erschöpfungs- oder gar Wahnsinnszustand, in dem eine Fragilität des Maskulinen sichtbar wird, die in den Ritterromanen praktisch ausgeschlossen ist. Beispielhaft illustriert diesen Sachverhalt das wohl berühmteste Werk der Gattung, Diego de San Pedros Cárcel de amor (1492), in dem der Protagonist erst von einem als Wilden Mann personifizierten Begehren (Deseo) verschleppt wird und dann im titelgebenden Gefängnis Qualen erduldet, bis schließlich nach Vernichtung aller Hoffnungen die Handlung im Raum des nun definitiv fatalen Leidens an der Liebe schließt: am Kranken- und dann Sterbebett, in das Leriano sich aus Liebeskummer mittels konsequenter Nahrungsverweigerung selbst befördert. Dort zerreißt er die wenigen (allesamt ablehnenden) Briefe, welche ihm die angebetete Laureola hat zukommen lassen, löst sie in Wasser auf und stirbt nach deren Einverleibung: Sublimierung eines Leiden-Schaffenden, keinerlei erotische Realisierung zulassenden Gefühls. Aus dieser Unerfülltheit, die sich in einer Spirale in immer stärkere Unterwürfigkeit und Abhängigkeit noch von der kleinsten Geste der Aufmerksamkeit oder des Mitleids steigert, entsteht das Bild einer neuen, ausgerechnet und ausschließlich im Leiden starken Männlichkeit, die sich in anderen Sphären durch völligen Kontrollverlust charakterisiert: der von der Unverrückbarkeit weiblichen Widerstehens gebrochene, von Leidenschaft ausgelaugte, tödlich geschwächte Mann. Das konsequente Widerstehen der Frau gegenüber männlichen Avancen kann wiederum – und diese Beobachtung führt zum zweiten Fokus – durchaus auch als eine Art von Gewalt, als grausames Verhalten gelesen werden: So apostrophieren es denn auch häufig die Figuren selbst, sogar die weiblichen. Dass es aber nicht nur die Verweigerung, auf ein Werben zu reagieren, ist, die als Gewalt verstanden werden kann (und Gewalt von Männern gegen sich selbst provoziert), zeigt ein weiteres eindrückliches Beispiel aus der ficción sentimental. In Grisel y Mirabella von Juan de Flores liebt Grisel die von ihrem eifersüchtig über sie wachenden Vater in einem Turm eingeschlossene Prinzessin Mirabella; als die Liebenden in flagranti entdeckt und eingekerkert werden, stellt

18 Vgl. Robert Folger: Escape from the Prison of Love. Caloric Identities and Writing Subjects in Fifteenth-Century Spain, Chapel Hill 2009.

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sich die Frage, wer wen zur Unkeuschheit verführt habe und deswegen zum Tode zu verurteilen sei. Die individuelle Schuld ist jedoch nicht schlüssig zu eruieren, weil sowohl Grisel als auch Mirabella sich jeweils als allein verantwortlich bekennen. So beruft der König ein Streitgespräch ein, an dem Braçayda, eine Figur aus der klassischen Antike, die Frauen verteidigen soll, und als ihr Gegner der bekannte zeitgenössische Lyriker Pere Torrellas, dessen Schmähgedicht Maldezir de mugeres auch Juan de Flores’ Lesern bestens bekannt gewesen sein dürfte, auftreten. Das Rededuell, in welchem viele Argumente und Autoritäten zitiert werden und heftig um Schuld und Unschuld gerungen wird, nimmt den weitaus größten Teil des Textes ein. Schließlich gewinnt Torrellas, und mit ihm die Position, die den Frauen die Schuld zuweist. Eine Intervention der Königin fruchtet nicht, weil der König Recht über Gefühl setzt. Doch der rhetorische Sieg von Torrellas ist ebenso umsonst wie das Todesurteil gegen die Prinzessin Mirabella: Grisel stürzt sich auf den brennenden Scheiterhaufen, um die Geliebte zu retten, wonach wiederum sie in den Löwengraben des Schlosses springt. Der Roman endet allerdings nicht mit diesem doppelten Liebestod, sondern mündet in einen blutrünstigen Showdown zwischen Braçayda und Torrellas. Der prominente Verleumder des weiblichen Geschlechts hat sich entgegen seinen Prinzipien in die Apologetin der Frauen verliebt, die nun gemeinsam mit der Königin und ihren Damen die Gelegenheit zur Rache gekommen sieht. Sie lockt den Dichter zu einem heimlichen Rendezvous, wo er von den Frauen gefangengenommen, gefoltert und schließlich zerfleischt und verbrannt wird: „Así que la gran malicia de Torrellas dio a las damas vitoria, y a él, pago de su merecido.“19 Die brutale Schlusspassage inszeniert Gewalt nicht an einem beliebigen Mann, sondern dem diskursiven Vertreter des männlichen Geschlechts an sich. Vordergründig scheint es, der Autor wolle nahelegen, dass Misogynie eine harte Bestrafung verdient. Doch die Kehrtwende zeigt eben auch, dass mit den Frauen effektiv nicht zu spaßen ist: Das schaurige Ende der Figur Torrellas beweist, dass der gute Mann seine eigenen misogynen Gemeinplätze etwas ernster hätte nehmen sollen. Die rachewütigen Frauen belegen eben gerade nicht die positiven Qualitäten des weiblichen Geschlechts, die ihre Vertreterin in der Debatte unterstrichen hatte, sondern dessen Grausamkeit nach einer als ungerecht empfundenen Niederlage – wie es die allerletzten Zeilen noch einmal offenlegen: „[F]ue determinado que las mujeres son mayor causa [sc. de los amores]; donde se si-

19 Juan de Flores: La Historia de Grisel y Mirabella, Granada 1983; hier S. 93. Übersetzung [T.B.]: „So verlieh die große Bosheit des Torrellas den Damen den Sieg und ihm selbst verdienten Lohn.“

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guió que con su indignación y malicia, por sus manos, dieron cruel muerte al triste de Torrellas.“20 Beeindruckend (und in der Widersprüchlichkeit der beiden konkurrierenden expliziten Bewertungen der Erzählinstanz erklärungsbedürftig) werden hier phallogozentrische Norm und Hierarchie ausgesetzt, die Diskursmacht der Männer über die Frauen revidiert, sowie ‚real‘ innerhalb der Fiktion die Verfügungsgewalt und Selbstbestimmung eines konkreten Mannes ausgeschaltet, indem die Frauen in rücksichtsloser Befriedigung der Rachelust – bezeichnenderweise speisen die Damen vom Hof während der Agonie des gemarterten Dichters mit viel Genuss – einen Vertreter des ‚starken Geschlechts‘ zum Opfer ihres erbarmungslosen Komplotts werden lassen. Es scheint die Fragilität einer lediglich diskursiv institutionalisierten Männlichkeit auf, die den gewalttätigen Impulsen der Frauen nur durch achtsamste Kontrolle und Unterdrückung gewachsen ist. In der ficción sentimental eröffnet sich ein Spektrum weiterer als der bisher benannten Formen und Funktionen von Gewalt, das diese Werke nebst einigen anderen Merkmalen deutlich von den Ritterbüchern unterscheidet und gleichzeitig die genologische Relevanz der Inbezugsetzung von Gewalt und Männlichkeit für Fragen der Gattungstheorie und -geschichte belegt. Verschiedene Texte, die (im Grunde von Frauen verursachte) Gewalt von Männern gegen sich selbst oder Gewalt von Frauen gegen Männer inszenieren, zeigen, dass das Verursachen oder Ausüben von Gewalt nicht mehr ein unbestrittenes Männermonopol darstellt. Sie legen andererseits nahe, dass es ein konstitutives Merkmal einer solchen (genretypisch) sentimentalen Männlichkeit sein dürfte, sich auf derartige Formen von Gewalt einzulassen – womit man versucht sein könnte, hier von einer insofern prekären Männlichkeit zu sprechen, als diese sich in einer letztendlich in der (Re)Souveränisierung selbstbeschädigenden Aktion äußert und gleichzeitig weiblicher Aggression ausgesetzt ist, der sie öfters unterliegen kann. Auf der Suche nach überzeugenden Erklärungsansätzen für derlei Szenarien und die Absichten, die damit verfolgt werden könnten, bietet es sich für den mit diesen Texten vertrauten Leser an, eine solche Literarisierung von Gewalt als charakteristisches Element innovativer, antikonventioneller, ja experimenteller Poetik (nebst anderen) zu bewerten.21 Aus einer erweiterten Perspektive ist aber vor allem bedeutsam, dass Gewalt gegen sich selbst als sekundäre Konsequenz

20 Ebd. Übersetzung [T.B.]: „Es wurde dargelegt, dass die Frauen der größere Grund [sc. für die Liebe] sind; woraus erfolgte, dass sie mit ihrer Empörung und Bosheit eigenhändig dem traurigen Torrellas einen grausamen Tod bereiteten.“ 21 Zur Experimentierfreudigkeit dieses Genres, vgl. Verf.: La muerte de la ficción sentimental, v.a. S. 163-207 und 485-493.

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widerständiger Frauenfiguren genauso wie Gewalt durch Frauen darauf verweist, dass hier durch beides ein in der Ritternarrativik unbeschädigtes Selbstbewusstsein der Protagonisten erschüttert wird. Als brüchig erweist sich in der ficción sentimental das Vertrauen auf einen ganz grundlegenden Mechanismus hegemonialer Männlichkeit: durch Kraft, Mut, Ausdauer, Unnachgiebigkeit letztlich erfolgreich sein zu können. Damit tritt im literarischen Text die Fragilität ebendieser Konstruktion ans Licht. Ab der Mitte des 16. Jhds. zeichnet sich im dritten Bereich der frühneuzeitlichen Erzählprosa in Spanien und Portugal, den libros de pastores (Hirten- bzw. Schäferbüchern), auf die hier abschließend bloß kurz eingegangen werden kann, demgegenüber eine bewusste und programmatische Abkehr von Gewaltdarstellungen ab. Dies ist insofern folgerichtig, als der locus amoenus der Hirten in den Romanen, deren Auftakt die um 1559 erschienene Diana von Jorge de Montemayor markiert, sich als Raum versteht, in dem Aggression, Brutalität und physische Konfrontation zur Konfliktlösung nichts zu suchen haben. Die handelnden Figuren gefallen sich in einem ungestört friedlichen Zusammenleben und vorwiegend schmachtend-melancholischem Lieben ohne Kontrollverlust und Gefühlsausbrüche, mithin auch ohne Gewaltpotential – einer Existenz, die durch das setting, in dem sie aufgehoben sind, adäquat gestützt wird, wenn murmelnde Bächlein, rauschende Baumwipfel und satte Wiesen sie umgeben. Anlässlich eines solchen Evasionsprogramms vor den Schwierigkeiten der Realität (das der Gefahr einer Abnutzung durch Monotonie nur schwer entgehen kann), tauchen nur ganz selten auch Handlungsverläufe auf, in denen männliche Gewalt zu einer akuten Bedrohung für die Idylle wird.22 Prägnantes Beispiel wäre eine Episode aus dem Gründungstext der iberischen Tradition, wo im Segundo libro drei sich in der Natur ergötzenden Nymphen plötzlich belästigt werden: A este tiempo las hermosas ninfas […] se iban por el verde prado adelante […]; salieron de entre unas retamas altas […] tres salvajes de extraña grandeza y fealdad. Venían armados de coseletes y celadas de cuero de tigre; eran de tan fea catadura que ponían espanto; los coseletes traían por brazales unas bocas de serpientes, por donde sacaban los brazos, que gruesos y vellosos parecían, y las celadas venían a hacer encima de la frente unas espantables cabezas de leones; lo demás traían desnudo, cubierto de espeso y largo vello. […] Y con una incomparable ligereza arremeten a ellas, diciendo:

22 Cristina Castillo behandelt die Problematik in ihrer Studie „La violencia en los libros de pastores“, in: Revista de Literatura 72 (2010), S. 55-68.

96 | T OBIAS B RANDENBERGER — A tiempo estáis, oh ingratas y desamoradas ninfas, que os obligará la fuerza a lo que el amor no os ha podido obligar […].23

Gewalt gegen Frauen erscheint motiviert durch als Liebe deklariertes Begehren, de facto ein Vergewaltigungsversuch, wird aber sogleich abgefangen durch das Eingreifen einer weiteren wehrhaften Hirtin. Gemeinsam schlagen die Frauen mit Steinschleudern die Unholde in die Flucht (wobei bei der Schlachtbeschreibung bezeichnenderweise die Waffen der Wilden nicht einfach espadas [Schwerter], sondern kulturelle Alterität konnotierende alfanjes [Krummsäbel, aus dem Arabischen stammendes Wort] sind, was Anlass böte für ideologische Rückschlüsse, gerade wenn wir die politische und religiöse Funktionalisierbarkeit der Ritterbücher im Rahmen eines entsprechenden Vereinheitlichungsprogramms der Zeit erinnern) und stellen so die bedrohte Sphäre einvernehmlichen Zusammenlebens unter dem Signum naturverbundener Empathie wieder her. Gewalt als Handlungselement ist eher atypisch für die iberoromanische Schäfernarrativik; bei ihrem seltenen Auftauchen geht sie prinzipiell von Männern aus und wird durch einen einzigen Faktor bedingt – die Liebe, freilich in ihrer unplatonischen Variante. Die drei wichtigsten Genres auf dem Feld idealistischer Erzählprosa in der Iberoromania, die das literarische Panorama des ausgehenden 15. und ganzen 16. Jhds. maßgeblich prägen, präsentieren in je unterschiedlichen Konfigurationen, Kodierungen, Ausgestaltungen und Funktionen signifikative Korrelationen von Gewalt und Männlichkeit. Allesamt belegen sie freilich, dass die Vorstellung eines rein maskulinen ‚Gewaltmonopols‘ im Sinne einer von mehreren symbolischen Ressourcen von traditioneller, heteronormativ-hegemonialer Männlichkeit nicht vorbehaltlos trägt, weil ein solches Monopol durch widerständige Szenarien in der Fiktion in Zweifel gestellt werden kann. Vielmehr ist männliche Ge-

23 „Zu dieser Zeit schritten die schönen Nymphen über die grüne Wiese voran, als aus einigen hohen Ginstersträuchern drei Wilde von merkwürdiger Größe und Hässlichkeit hervorkamen. Sie waren mit Kettenhemden und Helmvisieren aus Tigerhaut bewaffnet, und von so hässlichem Anblick, dass sie Schrecken erzeugten. Als Ärmelöffnungen trugen die Kettenhemden Schlangenmäuler, aus denen die Arme hervorkamen, die stark und behaart erschienen, und die Visiere bildeten oberhalb der Stirn schreckliche Löwenköpfe; das Weitere trugen sie nackt und mit dickem und langem Fell [auch Körperbehaarung, T.B.] bedeckt. […] Und mit unvergleichlicher Leichtigkeit dringen sie auf sie ein und sagen: ‚Jetzt ist es an der Zeit für Euch, undankbare und lieblose Nymphen, dass euch die Gewalt zu dem zwingt, wozu euch die Liebe nicht gebracht hat.‘“

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walt in ihrer ganzen Phänomenologie, in ihrer differenzierten Darstellung und hinsichtlich der Funktionen, welche ihr implizit oder explizit zugeschrieben werden, im 15. und 16. Jhd. durchaus hinterfragbar, kritikwürdig und subversionsanfällig; dies, sowie die Inszenierung von Gewalt von Frauen an Männern weist die symbolische Ordnung der Geschlechter und die ihr zugeschriebenen bzw. für sie konstitutiven Handlungsweisen als potentiell verhandelbar aus. Die unterschiedlichen Koppelungen von Maskulinität(en) und Gewalt im fiktionalen Entwurf belegen des Weiteren das Potential einer entsprechenden Kategorienverschränkung, indem sie klare gattungsspezifische Tendenzen und Unterschiede aufzeigen; eine Beobachtung, die anhand weiterer zeitgenössischer Genres noch zu verfolgen wäre, gerade etwa auf dem Feld der den ‚modernen‘ Roman einleitenden, nicht mehr ‚idealistischen‘ sondern ‚realistischen‘ Erzählprosa und deren Postulaten und Ästhetiken.

Der ‚theatrale‘ Grund der Autorität Rechtsgewalt und phobische Männlichkeit bei Lope de Vega K ARIN P ETERS

Z WISCHEN S KYLLA

UND

J USTITIA

Es ist kein Geheimnis, dass sich viele Autoren und Dramatiker des spanischen Barock an den zeitgenössischen Emblem-Sammlungen bedient haben, wenn sie auf der Suche nach Stoffen und Motiven waren.1 Zuletzt ist Sofie Kluge so weit gegangen, die im Emblem ikonisch figurierte Allegorie als das Vehikel barocker Kultur schlechthin zu bezeichnen: „An aesthetic mode, a didactic instrument, an ideological weapon, and an intellectual paradigm, allegory is the very vehicle of Baroque culture [...].“2 In den Emblemas morales des Covarrubias aus dem Jahre 1610 fallen mehrere Beispiele ins Auge, die das Thema Gesetz, Gewalt und Recht zum Thema haben. Im Emblem 215 (vgl. Abb. 1) etwa tritt eine recht konventionelle Figur der Justitia auf, die auch in der beigefügten Erläuterung als „la común pintura de la justicia“3 bezeichnet wird. Sie trägt Richtschwert und Waage, ist aber nicht blind, sondern hat den Blick auf einen stürmischen Himmel gerichtet, der sie von zwei Seiten mit Blitz und Regen bedroht. Die sub-

1

Vgl. zur visuellen Kultur des spanischen Barock José Antonio Maravall: „La literatura de emblemas en el contexto de la sociedad barroca“, in: ders.: Teatro y Literatura en la sociedad barroca, Madrid 1972, S. 147-188 und Warren T. MacCready: „Empresas in Lope de Vega’s Works“, in: Hispanic Review 25 (1957), S. 79-104.

2

Sofie Kluge: Baroque – Allegory – Comedia. The Transfiguration of Tragedy in Seventeenth-Century Spain, Kassel 2010, S. 6.

3

Alle drei Abbildungen und Text nach Sebastián de Covarrubias: Emblemas morales, hrsg. v. Carmen Bravo-Villasante, Madrid 1978, S. 215, 240, 297.

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scriptio erläutert, den „hombre de valor, entero y justo / no le acouarda el vulgo amotinado / ni la amenaza del tirano injusto“. Im beigefügten Erklärungstext wird der heitere Gesichtsausdruck einer nicht aus der Ruhe zu bringenden Justitia als die moralische Standhaftigkeit der Märtyrer gedeutet, die sich selbst durch Einschüchterungen und körperliches Versehren nicht vom Pfad der Tugend abbringen lassen. Hier steht die Allegorie der Gerechtigkeit also im Kontext eines Moraldiskurses theologischen Zuschnitts und fordert implizit zur Nachahmung auf. Dies wiederum überrascht kaum, denn auch Spanien erlebte seit der Spätscholastik eine Renaissance der thomistischen Naturrechtslehre und ihres von Aristoteles entliehenen Tugendbegriffs. Weniger wird hier allerdings ‚Gerechtigkeit‘ als Prinzip figuriert, denn vielmehr ‚der Gerechte‘ als einer, der ungerechten Tyrannen die Stirn bietet, und so letzten Endes dem göttlichkosmischen, natürlichen Gesetz der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft. Abb.1 : Justicia

Überraschend ist hingegen eine eher ungewöhnliche Allegorie der Gerechtigkeit in Emblem 241: „Alit Iusticia Canes“ (Die Gerechtigkeit ernährt Hunde, vgl. Abb. 2). Dort wird Justitia als Skylla mit einem Unterleib gefräßiger Hunde dargestellt. Aus der subscriptio geht hervor, dass es neben „muchos juezes buenos, y aprouados / sin paßion, ni malicia justicieros“ auch deren gewinn- und rachsüchtige „ministros deprauados“ gebe, „hambrientos lobos carnizeros“.

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Abb. 2: Alit Iusticia Canes

Die Schatten- oder Unterseite der Gerechtigkeit bildet die Habsucht („avaricia“) derer, die die Armen noch um ihr letztes Hemd und letzten Endes um ihre Haut bringen. Dabei steht weniger ein moraltheologisches Ideal als eine soziale Praxis im Mittelpunkt, eine ‚Realität‘ des Rechts, die Gesetz als Gewalt enttarnt. In den Händen der vom Gesetz Befugten ‚de-formiert‘ oder ‚de-figuriert‘ sich das Gesetz also zum Monstrum, das zwar auf geschriebenes Recht verweisen kann – Justitia/Skylla scheint neben ihrem Stab einen Gesetzestext in Händen zu halten – aber sich in seiner Anwendung zur lebensbedrohlichen Gewalt wandelt. Hier spricht sich eine profunde Skepsis gegenüber den Praktiken des Rechts aus, die weit über eine philosophische Reflexion über Gerechtigkeit hinausgeht. Bedenkt man außerdem, dass Spanien zu Beginn des 17. Jhds. durch eine äußerst unübersichtliche Zersplitterung der Instanzen und Agenten der Rechtsprechung geprägt war, stellt sich die Frage, inwieweit das Emblem der Skylla symptomatisch ist. In „Alit Iusticia Canes“ offenbart sich die, mit Wolfram Nitsch gesprochen, ‚zentrifugale‘4 Semantik des Emblems. Sein barockes Ingenium5 liegt darin ver-

4

Vgl. Wolfram Nitsch: Barocktheater als Spielraum. Studien zu Lope de Vega und Tirso de Molina, Tübingen 2000, S. 164 sowie Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 1968, der jedoch den „sinnaufschließenden Text des Emblems“ dem „Schleier der Wahrheit“ im reinen Symbol wie auch der Allegorie strictu sensu gegenüberstellt, weil das Emblem „als Seiendes zugleich ein Bedeutendes darstellt“ und nicht wie die Allegorie „anders bedeutet, als sie ist“; vgl. ebd., S. 31f.

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borgen, die Ununterscheidbarkeit von Gesetz und Gewalt bildhaft hervorzutreiben und diese zugleich auf die Sphäre des Sozialen und seine Praktiken zu beziehen. Ähnliches leistet auch die comedia des spanischen Barock. Deshalb möchte ich im nun Folgenden an ausgewählten Stücken von Lope de Vega zeigen, wie Figurationen von Gesetz, Gewalt und Recht einen sozialen und politischen Wandel ins Bild setzen, und wie dabei insbesondere die Figur des Königs als Richter zur Symbolfigur einer „cultural anxiety“6 gerinnt. Dabei werde ich den Fokus darauf legen, wie das weltliche Theater Bilder hegemonialer Männlichkeit einsetzt, um monarchische Autorität einerseits theatral zu feiern, diese Bilder jedoch andererseits phobisch entfesselt. Ganz im Sinne der antiken Tragödientheorie wird auch das barocke Publikum in Spanien so zu veritablem phobos verleitet, an die Seite einer unilinearen kathartischen Wirkung tritt dabei jedoch zugleich eine Störung jener politischen Propaganda, die der comedia oft nachgesagt wurde. In der Tat zeigt sich gerade an den männlichen Protagonisten Lope de Vegas, dass affektische Effekte auf der Bühne oft über die Darstellung männlicher Körperlichkeit und männlicher Gewalt erzeugt werden. Das ‚Störelement‘ phobisch wirkender Männlichkeit muss dabei entweder gezähmt und in die gesellschaftliche Ordnung integriert, oder aber besiegt und aus ihr ausgeschlossen werden, um theatrale Katharsis möglich zu machen. Ob dies immer gelingt oder die Stücke nicht doch auf der Schwelle des Konflikts verharren, auf der sich entscheiden sollte, wie die Ordnung wiederhergestellt ist oder wie nicht, ist die Frage. Für mein Thema der Rechts- und Unrechtsdarstellung ist in jedem Fall das affektische Potential der theatralen Figuration männlicher Körper und Gewalt, die sich an den Rändern der Gesellschaft, in ihrer Vergangenheit oder gar in klarer Opposition zu hegemonialen Männlichkeiten der Epoche ansiedeln, dabei besonders zentral. Denn bemerkenswerterweise sind jene allegorischen Figuren, die eine Anomie des Rechts verkörpern, oft männlich bzw. genauer gesagt Repräsentanten einer phobisch markierten Männlichkeit. Sie ergänzen innerhalb des kulturellen Imaginären die traditionell in Gestalt der Frau positiv allegorisierte Tugend der Gerechtigkeit. Der tugendhafte rey justiciero, der im Namen göttlichen Rechts und insofern moralisch agiert, ist auf der Bühne des-

5

Vgl. zur Vorliebe für das Dunkle im barocken Emblem und bei Gracián, dessen agudeza-Ideal als Poetik des Auseinanderstrebenden verstanden werden kann, Maravall: „La literatura de emblemas“, S. 182-184, der dem Emblem dennoch ein „saber constituido“, weniger eine subversive Bildnachricht zuschreibt; vgl. ebd., S. 187.

6

Terri Carney: „King Alfonso XI in Lope’s Amor, pleito y desafío: A Practical and Just Model of Kingship in a Time of Moral Ambiguity“, in: Bulletin of the Comediantes 64/1 (2012), S. 335-44, hier: S. 35.

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halb oft nicht von der Skylla des Rechts zu unterscheiden, die Autorität nur als Gewalt walten lassen kann, indem ihre richtende Hand die Bluthunde von der Leine lässt. Wenn ich in meinem Titel vom ‚theatralen‘ Grund der Autorität spreche, so beziehe ich mich auf Jacques Derridas berühmten Essay über den „mystischen Grund der Autorität“. Darin behandelt Derrida die logische und nomologische Ununterscheidbarkeit von Gesetz und Gewalt. Demzufolge geht Gesetz immer auf eine setzende Gewalt zurück, die als Autorität anerkannt und mithin als Gewalt geleugnet werden muss. So heißt es in Force de loi („Gesetzeskraft“) aus dem Jahr 1990 zum Apriori aber auch zur Anwendung des Rechts, „daß es kein Recht gibt, das nicht in sich selbst, a priori, in der analytischen Struktur seines Begriffs die Möglichkeit einschließt, ‚enforced‘, also mit oder aufgrund von Gewalt angewendet zu werden“.7 Insofern ist nicht qua Logik zu unterscheiden zwischen gerechter Gewalt (die Derrida oft in der Mehrdeutigkeit des deutschen Terminus der „Gewalten“ zitiert) und illegitimer Gewalt, bei der er nicht nur das englische to enforce sondern auch das französische violence benutzt und die man immer für ungerecht hält. Derrida dekonstruiert allerdings die Opposition von Gewalt als Gewalttätigkeit und Gewalt als legitimer Macht und Autorität.8 Dabei geht er auf Pascal zurück, der wiederum in der Pensée 293 Montaigne zitiert und die Autorität des Gesetzgebers als mystisch be- bzw. ge-gründet bezeichnet, als Recht aus Gewohnheit.9 Wir haben es also im Grunde mit einer legalen Fiktion zu tun, da die Institutionalisierung des Rechts nicht nur immer einen performativen Gewaltakt in sich birgt, sondern ohne den Glauben an diese Fiktion nicht operieren kann. In Abwandlung von Derrida möchte ich deshalb die Frage aufwerfen, inwiefern im barocken Theater eine theatrale Be-Gründung des Rechts als solche, als Akt der Repräsentation und Deutung, verhandelt wird. Dabei wird schließlich offenbar, dass es hier nicht nur zu Ununterscheidbarkeiten zwischen gerechtem Recht und illegitimer Gewalt kommt. Im quasi mythologischen Komplex des Konfliktes zwischen Königen und Vasallen über die Autorität des Rechts gerinnt vielmehr auch die Repräsentation mystisch grundierter – hegemonialer und männlicher – Autorität zum Problem.

7

Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, übers. von Alexander García Düttmann, Frankfurt/M. 1991, S. 12. (Herv. i. O.).

8

Vgl. ebd., S. 13.

9

Vgl. ebd., S. 24f.

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H ACER LEY / SER JUSTO (E L M ARQUÉS DE M ANTUA , 1596) Nicht unähnlich der Opposition von tugendhafter Justitia und beißwütigen canes bei Covarrubias steht ein performatives Rechtsverständnis allerdings im Gegensatz zur Naturrechtslehre, deren Staatsauffassung in Anschluss an Aristoteles vor allem eine den Staat ordnende Tugendlehre ist und in Spanien im 16. Jhd. eine Blüte erlebt.10 Ein performatives oder auch machiavellistisches Rechtsverständnis wäre der christlich überformten Staatslehre einer lex divina zufolge die Grundlage der Tyrannis, denn anders als der gerechte Gesetzgeber zeichnet sich der Tyrann dadurch aus, dass er seinem persönlichen Vorteil frönt – ungeachtet der Tatsache selbstverständlich, dass bei Machiavelli selbst nicht dieser persönliche Vorteil, sondern die Staatsräson Entscheidungen des Fürsten lenken soll.11 Hier wird für die spanische comedia das Konzept der persönlichen Rache, insbe-

10 „Die Ordnung des Kosmos stellt sich als Ordnung durch ‚Gesetz‘ dar, von der lex aeterna, die Gott selbst ist, über ihre Emanationen der lex divina und lex naturalis bis hin zu den leges mundanae, welche die natürliche Ordnung in der konkreten Gesellschaft ausformen. Dem entspricht das Bild vom Gesetzgeber als der zentralen Instanz, deren Vorbild Gott selbst ist, der Schöpfer der Naturgesetze.“ Dieter Schwab: „Der Staat im Naturrecht der Scholastik“, in: Diethelm Klippel (Hrsg.): Naturrecht und Staat. Politische Funktionen des europäischen Naturrechts (17.-19. Jahrhundert), München 2006, S. 1-18, hier: S. 7. Daneben hat im Zuge der spanischen Spätscholastik die Relektüre Thomas von Aquins eine große Bedeutung, die zu einer verstärkten Subjektivierung des Rechts im 16. Jhd. führen konnte; vgl. Kurt Seelmann: Theologie und Jurisprudenz an der Schwelle zur Moderne. Die Geburt des neuzeitlichen Naturrechts in der iberischen Spätscholastik, Baden-Baden 1997. Hintergrund der Debatte um das Naturrecht bildet u.a. die Kontroverse um die Neue Welt und die Rechtsfähigkeit der indígenas; vgl. Antonio-Enrique Luño: Die klassische spanische Naturrechtslehre in 5 Jahrhunderten, Berlin 1994, S. 28. 11 Siehe zur Polemik gegen Machiavelli, die für den heute abfälligen Gebrauch des Begriffes verantwortlich zeichnet und in Spanien besonders ausgeprägt war (etwa in der Kritik an den políticos als gefährlicher ‚Sekte‘), aber nicht von der Inkorporation eines ‚echten‘ Machiavellismus im spanischen Denken der Epoche zu trennen ist, Keith David Howard: The Reception of Machiavelli in Early Modern Spain, Woodbridge 2014, S. 4f. Zur Verbreitung des Principe in Spanien vgl. ebd., S. 7. Zu den Lesern des Textes gehörten u.a. Karl V. und Philipp II., und selbst die Anti-Machiavellisten wendeten nachweislich ‚machiavellistische‘ Strategien an, um ihre eigene hispanischimperial-katholische Doktrin durchzusetzen.

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sondere der Ehrenrache relevant. Sie steht gleichsam an der Schnittstelle von symbolischer Ordnung und individueller Forderung nach Recht.12 Für das Funktionieren der symbolischen Ordnung ist die Ehre Verhandlungsmasse, weil sie in der patriarchalischen frühneuzeitlichen Gesellschaft göttliche, königliche und väterliche Autorität garantiert. Für das persönliche Interesse des – wohlgemerkt aristokratischen – Einzelnen ist sie natürlich nicht minder relevant, denn dessen Ehrverletzung kann im Spanien des 16. und 17. Jhds einem sozialen Tod gleichkommen. Die Rache, die auf sie folgt, hat dabei oft anomischen Charakter. So verwundert es kaum, dass alle absoluten Fürsten, so auch Karl V. in Spanien, das Duell als feudales Individualritual und Individualrecht verboten haben, um der Krone das Gewaltmonopol zu sichern. Rache produziert notgedrungen Unordnung, ja Chaos, statt Ordnung. Die Forschung zu Lope de Vega wird nun nicht müde, bezüglich der Untergattung des Ehrendramas, der comedia de honor, zu zitieren, was Lope selbst über den Einsatz von Ehrenplots im Arte nuevo geschrieben hatte: „los casos de la honra son mejores, / porque mueven con más fuerza a toda gente.“13 Im Herzen des spanischen Populärtheaters steht also der Konflikt um die Bedeutung von Tugend, Ehre, Rache und Gerechtigkeit, die affektisch bewegen und somit aristotelischen phobos erzeugen. Lope im Besonderen hat dazu in Abwandlung immer wieder das gleiche Stück geschrieben und dabei ein vordergründig nostalgisches Bild des gerechten Königs entworfen, der nach dem Vorbild Gottes Ordnung in einer Gesellschaft rivalisierender Männer schafft oder wiederherstellt. Carney zufolge drückt sich hier ein „longing for a centre“14 aus, das unter den dominanten Habsburgern immer dringlicher wird, sobald Staatsbankrott, politisch einflussreiche Favoriten der Krone und eine zunehmende Zergliederung

12 Vgl. zum Verhältnis von Rache und Recht: „revenge is a system of social control, like law itself, rather than a sign of the absence of social control“; Richard A. Posner: Law & Literature, Cambridge/MA/London 32009, S. 78. Anders als institutionalisiertes Recht ist die Rache allerdings nicht spezifisch und beruht auf Emotionen (vgl. ebd., S. 80), woraus folgt: „A revenge system is unstable“ (ebd., S. 82). Auch im Ehrendrama begegnet die soziale Ordnung deshalb nicht im Modus des Rechts, sprich affektlos, sondern im Modus des Affekts. Demzufolge ist sie keine stabile Hegemonie. 13 Lope de Vega: Arte nuevo de hacer comedias, hrsg. v. Enrique García Santo-Tomás, Madrid 2006, S. 149 (V. 327-330). Hinzu kommt die ebenfalls affektisch ‚bewegende‘ Wirkung, die in der Epoche Exemplum und Emblem zugeschrieben werden, auf die sich Lope nachweislich immer wieder bezieht; vgl. Maravall: „La literatura de emblemas“, S. 165. 14 Carney: „King Alfonso XI in Lope’s Amor, pleito y desafío“, S. 37.

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des Rechts den Staat in seinem Zusammenhalt gefährden.15 So taucht der rey justiciero bei Lope unweigerlich auch als performativer Setzer von Recht auf, der diesem Zerfall entgegen wirkt. Allerdings handelt er sich gerade dadurch einen wiederum krisenhaften Abfall vom Pfad der Tugend ein. Denn bereits seit dem Mittelalter ist aus der Gattung des Fürstenspiegels bekannt, wie von der Tugend des Fürsten eine direkte Linie zur Gewissheit einer gerechten und friedlichen Ordnung gelegt wird. So ist bereits bei Álvaro Pelayo im Speculum regum (1341-44) ein schleichender Übergang vom Tugend- zum Rechtsdiskurs16 zu erkennen, denn Pelayo legt, wenn er sein historisches Beispiel Alfonso XI. el justiciero zitiert, vor allem Wert auf dessen vorbildliche Tugend des „juger et légiférer“.17 Spätere Texte wie Antonio de Guevaras Reloj de príncipes (1529) betonen ganz ähnlich die moralische Vorbildlichkeit des Königs, der als „Diener der Gerechtigkeit“18 auftritt und in der Figur des Richters, dem „verlängerte[n] Arm des Fürsten“19, eine Spiegelfigur erhält. Die Aufgabe des Fürsten ist es demzufolge, das Gemeinwohl zu schützen und die Integrität des politischen Gemeinwesens (des globalen corpus mysticum) zu gewährleisten, indem er die Gerechtigkeit wahrt und so Frieden garantiert. Abgeleitet wird die-

15 Vgl. Bartolomé Bennassar: La España de los Austrias (1516-1700), Barcelona 2001, insb. S. 174-176, etwa zum Aufstand der aragonesischen Vasallen von Ariza 1561 gegen ihren die „represiones señoriales“ unbotmäßig ausnutzenden señor don Juan de Palafox, der jedoch (anders etwa als in Lopes Fuente Ovejuna und noch einmal beim Wiederaufflammen des Konflikts im Jahr 1585) zur brutalen Niederschlagung führte. Andere aufständische Gemeinden, die sich Hilfe suchend an die Krone wendeten, wurden hingegen erfolgreich in den dominio real inkorporiert, oft auch, weil Philipp II. insgeheim den Einfluss allzu mächtig gewordener Barone einschränken wollte. 16 „Avec Alvaro Pelayo, la caractérisation juridique du prince atteint une prédominance décisive face au poids traditionnel de ses éléments moraux, philosophiques et théologiques.“ José Manuel Nieto Soria: „Les Miroirs des princes dans l’historiographie espagnole (couronne de Castille, XIIIe-XVe siècles): tendances de la recherche“, in: Angela De Benedictis (Hrsg.): Specula principum, Frankfurt/M. 1999, S. 193-207, hier S. 199. Vgl. Álvaro Pelayo: Speculum regum, hrsg. v. Miguel Pinto Meneses, Lissabon 1955-1963, S. 210, S. 214. 17 Nieto Soria: „Les Miroirs des princes“, S. 199. 18 Vgl. Norbert Bayrle-Sick: „Gerechtigkeit als Grundlage des Friedens. Analyse zentraler politisch-moralischer Ideen in Antonio de Guevaras Fürstenspiegel. Nach der Übersetzung des Aegidius Albertinus“, in: Angela De Benedictis (Hrsg.): Specula principum, S. 9-69, hier S. 35. 19 Ebd., S. 36.

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se Fähigkeit aus der Kardinaltugend der iustitia. Noch im 17. Jhd. wird die Sammlung von Emblemata in Andres Mendos Príncipe Perfecto (1657) darauf Bezug nehmen, u.a. wenn es um das Gebot einer Kontrolle unmäßiger Affekte zugunsten des allgemeinen Wohls geht.20 Mendo liefert im Übrigen seinerseits ein besonders eindrückliches Emblem für diese Selbstunterwerfung des Königs unter das Ideal der Gerechtigkeit, denn seine Justitia reitet im Emblem XXIII auf dem königlichen Löwen, den sie wohl zugleich anleitet als auch im Zaum hält.21 Deshalb schließe ich mich Melveena McKendrick an, die mit Nachdruck eingefordert hat, dass man Lopes Texte wieder stärker bezüglich jener Elemente befragen sollte, die im Medium der Sprache und des Theaters „drama’s potential for speaking with more than one voice“22 und damit die Grenzen der Konformität austesten, insbesondere dann, wenn Könige auf der Bühne im Mittelpunkt stehen. Alban K. Forcione hat seinerseits gezeigt, wie das Gebot zur Selbstmäßigung die königlichen Figuren auf der Bühne oft mit ihren eigenen, ungeregelten Affekten konfrontiert, ja regelrechte Doppelgängerfiguren erzeugt, die den Ausbruch der königlichen Macht aus dem Geschirr der Gerechtigkeit in der Figur des Tyrannen phantasmatisch ausagieren können.23 Dieser Grundkonflikt tritt bei

20 Vgl. Hans Otto Mühleisen: „Weisheit – Tugend – Macht. Die Spannung von traditioneller Herrschaftsordnung und humanistischer Neubegründung der Politik im Spanien des 17. Jhds., nachgezeichnet am Beispiel von Andres Mendos Fürstenspiegel Príncipe Perfecto“, in: ders./Theo Stammen (Hrsg.): Politische Tugendlehre und Regierungskunst. Studien zum Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit, Tübingen 1990, S. 141196, hier: S. 152. 21 Ebd., S. 161. 22 Melveena McKendrick: Playing the King. Lope de Vega and the Limits of Conformity, London 2000, S. 12. Allerdings möchte ich ihre Interpretation der königlichen Richter bei Lope als Stabilisatoren von Souveränität (vgl. ebd., S. 35-37, S. 184f.) etwas relativieren. 23 Alban K. Forcione: Majesty and Humanity. Kings and Their Doubles in the Political Drama of the Spanish Golden Age, New Haven/London 2009. Vgl. zur Tyrannei: „San Juan arguye que el tirano tiene en su naturaleza la posibilidad innata de errar ya que la tiranía es una perversión; sin embargo, un gobernante que abuse de su autoridad y sea arrogante debe ser despuesto, castigado, desterrado e incluso muerto, pero solamente puede hacerlo un noble, o alguna autoridad, tras una sentencia judicial previa.“ Miriam Peña Pimentel: „Sancho II y el cerco de Zamora. El rey/tirano en el Teatro del Siglo de Oro“, in: Juan Manuel Escudero/Victoriano Roncero (Hrsg.): La violencia en el mundo hispánico en el Siglo de Oro, Madrid 2010, S. 183-194, hier: S. 185. Anders

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Lope nun nicht nur zahlreiche phobische Bilder einer Dispensation der Gerechtigkeit24 los, sondern bindet diese auch an einen unkontrollierbaren, gewaltsamen und männlichen Körper, der am Ende symbolisch geopfert werden muss, ein Sündenbock, der zumeist im Zeichen feudal-heroischer Männlichkeit steht, aber mindestens genauso auf einen inneren Konflikt im politischen Gefüge der absoluten Monarchie verweist.25 In Lopes Texten begegnet der rey justiciero bereits im Frühwerk, so besonders eindrücklich in El Marqués de Mantua. Dieses Stück entstand im Jahr 1596, also noch zu einer Zeit, als Philipp II. regierte.26 Hier wird ein Grundkonflikt gezeigt, der sich danach nachgerade zum Paradigma entwickelt. Der historische Plot um Karl den Großen stellt die Forderung des titelgebenden Marqués de Mantua nach Gerechtigkeit in den Mittelpunkt: Der Marqués ist Onkel von Baldovinos und hatte diesen zu seinem Erben erklärt. Baldovinos wird allerdings von Carloto, dem Sohn Karls des Großen, ermordet, weil der seine Braut, die Maurin Sevilla, begehrt und den Rivalen aus dem Weg schaffen will. Karl erweist sich nun insofern als rey justiciero, als er über den eigenen Sohn, Thronfolger und zukünftigen König, eine Versammlung von Herzögen richten lässt, die ihn für schuldig befindet. Karl verzichtet im Namen Justitias auf einen Gnadenerlass und der Infant Carloto wird hingerichtet. Im Verlauf des Stückes interessiert dagegen vor allem, wie der junge Infant seine Tat, über deren Grausamkeit er sich keine Illusionen macht, rechtfertigt, so zum Beispiel gegenüber dem eigenen Bruder Rodulfo:

als Peña Pimentel annimmt, sind die Königsfiguren Lopes aber gerade keine vollständig idealisierten (Richter-)Figuren. 24 So die Formulierung bei Carney: „King Alfonso XI in Lope’s Amor, pleito y desafío“, S. 38. 25 Der hier theatral dekonstruierte rey justiciero kehrt im Übrigen andernorts wieder: In Gestalt des Karnevalskönig Sancho Panza, den Cervantes im zweiten Teil des Don Quijote als gobernador auftreten lässt und der durch unerwartet salomonische Urteile die admiratio seines Hofes hervorrufen kann (II.45), aber nicht minder grausam – wenn auch lachend – gestürzt werden muss. Während im komischen Roman jedoch Sancho Herrscher und Sündenbock zugleich und so auch die Antinomie eines als Kasuistik praktizierten Gesetzes repräsentiert, sind bei Lope zugunsten der theatralen Affektlenkung in der Regel die Rollen stärker verteilt. 26 Zur Datierung vgl. Américo Castro/Hugo A. Rennert: Vida de Lope de Vega (15261635), Madrid u.a. 21968, S. 523.

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CARLOTO:

¿No puede un rey hacer ley?

RODULFO:

Puede, del reino a su instancia.

CARLOTO:

Hago ley que ésta sea mía.

RODULFO:

Esa no es ley, aunque es gusto,

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sino injusto tiranía. CARLOTO:

¿Qué es ser rey?

RODULFO:

Es rey ser justo.27

Die Rechtfertigung Carlotos ist ganz offen machiavellistisch und versteht Gesetz, ley, als einen performativen Akt, den man ausführt: Recht wird gemacht, der Text sagt es ganz deutlich: hacer ley.28 Rodulfo hingegen benutzt den aus dem Naturrecht stammenden Begriff der Tyrannei und stellt jener ein essentialistisches Verständnis von Gerechtigkeit und Königtum gegenüber, denn dort ‚ist‘ Gesetz, weil Gott es so geschaffen hat, sprich: Gerechtigkeit ist und König ist, wer gerecht ist, ser justo. Die prominent gesetzten Reimwörter ley/rey und gusto/justo unterstreichen diese Gegenüberstellung von hacer ley und ser justo, verschleiern aber auch mit der Verschiebung auf den gusto, dass es an dieser Stelle eigentlich nur um die Frage nach Macht und Recht geht. Das Drama hingegen fügt dieser Problematik das Element des erotischen Begehrens, die aus der Tugendlehre bekannte zerstörerische Macht des deseo, hinzu.29 Diese Zutat verwandelt Carloto in einen Sündenbock, denn der entfesselte deseo des jungen

27 Lope de Vega: El Marqués de Mantua, in: ders.: Obras completas: Comedias, V, Madrid 1997, S. 269-360, hier: S. 277. Herv. KP, da die letzte Verszeile in der Ausgabe wiedergegeben wurde als „¿Es rey? Ser justo.“ Die hier abgeänderte Zeichensetzung jedoch scheint mir sinnfälliger zu sein, vgl. dazu ebenfalls die reproduzierte Ausgabe von BiblioBazaar, Lope de Vega: El Marqués de Mantua, Charleston 2007, S. 21. Wiederum anders erscheint der Vers als „¿El Rey? Ser justo.“ in Lope de Vega: Obras, Bd. XIII: Crónicas y leyendas dramáticas de España/Comedias novelescas, Madrid 1902, S. 296. 28 Vgl. zu „Recht durch Gewalt“, Rechtssatire und politischer Allegorie bei Calderón (El alcalde de Zalamea) Jing Xuan: Der König im Kontext. Subversion, Dialogizität und Ambivalenz im weltlichen Theater Calderón de la Barcas, Heidelberg 2004, S. 58-64 und in ähnlicher Weise zur performativen (und widerrechtlichen) Aneignung des Herrschertitels Hispaniarum Rex durch Karl V. bei den Leichenfeiern für Ferdinand el Católico in Brüssel 1516 ebd., S. 251f. 29 Vgl. dazu bspw. die einschlägige Definition des „deseo bestial“ bei Fernando de Herrera (1580); Antonio Gallego Morell: Garcilaso de la Vega y sus comentaristas, Madrid 1972, S. 329.

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Mannes wird als anomisierendes Element in den Handlungsverlauf eingeführt: Er erzeugt Unordnung im Staate30, Auflehnung der Aristokratie und deren drohende Abwendung vom Kaiser, eine genealogische Krise und ein gefährliches Autoritätsvakuum, das nur durch die Opferung eines Sündenbocks beseitigt werden kann. Ich werde später noch einmal genauer auf diesen paradigmatischen Komplex zurückkommen. Im vorliegenden Stück und im Dialog der zwei Brüder Carloto und Rodulfo ist jedoch nicht minder bemerkenswert, dass die Opposition hacer ley und ser justo auch durch die figurale Gegenüberstellung des guten und des schlechten Nachkommen unterfüttert wird. Das Stück läuft in der Tat eigentlich darauf hinaus, einen Erben gegen einen anderen auszutauschen: Karl der Große setzt ganz zuletzt mit Rodulfo als Erben auch das Tugendrecht ins Recht. Überhaupt handelt der Kaiser ganz explizit gegen das private Gesetz des Blutes (GALALÓN: „Eres su hijo, no hará; / sois una sangre los dos.“31) und im Namen einer universalen Justitia; der schlechte Ratgeber Galalón hingegen stachelt Carloto aus privaten Rachegelüsten an, weil ein Verwandter von Baldovinos ihn geohrfeigt hatte. Auf den beiden Seiten des Konflikts stehen sich somit Naturrecht und archaische Rachegerechtigkeit gegenüber. Vor allem aber räumt der Kaiser denjenigen Infanten aus dem Weg, der sich bereits jetzt als König versteht, sich auch als solcher gebärdet und noch dazu angesichts der Reize einer Fremden nicht kontrollieren kann. Selbst der Stein des Anstoßes, die Frau Sevilla, wird Rodulfo am Ende ohne größere Umstände zugesprochen. Rodulfo ist also, als Repräsentant des christlich gedeuteten Naturrechts, derjenige zukünftige Herrscher, dem symbolisch und unblutig die Unterwerfung der maurischen Länder gelingen soll, und dies vordergründig durch die Einhaltung eines christlichen Gesetzes. Dass dieser Plot auch zeitgenössische Relevanz besitzt, liegt auf der Hand, wenn man nicht nur die geopolitische Rivalität Spaniens mit dem Osmanischen Reich, sondern zugleich den offiziellen Diskurs über die nationale ‚Reinigung‘ von den Nachkommen iberischer Mauren bedenkt, der 1609-11 mit der Ausweisung der Morisken enden wird. Von ihrem Ende her ge-

30 Vgl. die erste Reaktion von Karl dem Großen: „¿Qué es esto que a mis espaldas / todos murmuran? [...] ¿Qué es esto? ¿He perdido / alguna tierra? ¿Han surgido / naves, que de África vienen, / en alguna playa mía, / en algún puerto francés, / en la Rochela o Calés?“ Lope: El Marqués de Mantua (1997), S. 332. 31 Ebd., S. 296.

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lesen ist die comedia also eine politische Legitimationsallegorie32, ja beinahe ideologisch zu nennen, eine Allegorie, in der durch die Geschichte von der Erhebung eines Sohnes über den anderen eine nationale Heilsgeschichte ins Werk gesetzt werden soll. Der Zusammenhalt im Reich und insbesondere der Zusammenhalt zwischen Monarch und Aristokratie wird dabei allerdings nur durch die Verschiebung auf das Sündenbockopfer Carloto erreicht, der am Ende als toter Körper ausgestellt werden muss, während im gleichen Moment sein Bruder und dessen opportune Männlichkeit sanktioniert werden. Als theatraler Akt wird diese Be-Gründung der Autorität unter anderem dann ausgestellt, wenn Karl alle Anwesenden und so auch die Zuschauer auf den toten Körper als Zeichen eingesetzter Justitia einschwört: „volved los ojos a Carloto muerto / (Enséñenle el cuerpo), / que quiero presentárosle, señora, / de aquella sangre que le di cubierto.“33 Das Gesetz des Blutes hat sich hier verwandelt, ist es doch nicht mehr das genealogische Recht des Blutes, sondern das Blut des gewaltsam Gerichteten, das hier offen fließt. Paradoxerweise entpuppt sich die Legitimationsallegorie des Stückes dabei auch als ihr Gegenteil, als eine, im Sinne Stephan Leopolds, „Krisenallegorie“34, die in der Symbolik des Blutes phobisch die Krise der genealogischen Herrschaftsfolge untermalt – eine Krise, die durch die ‚Opferung‘ Carlotos als Sündenbock gerade nicht gebannt, sondern sogar eigentlich erst ausgelöst wird. Deshalb ist die Struktur des Textes, was den Diskurs über das Recht angeht, vielfach komplexer. Auch hier empfiehlt es sich, den Text rückwärts vom Moment der Krise aus zu lesen. In einer Rede des Conde de Irlos, der vom Kaiser „justicia“ fordert, wird jenem der Zerfall des Reiches angedroht: „todos diciendo / que se partirán de Francia / y pasarán a otros reinos / si no les guardas justicia / conforme a ley y derecho“35. Es ist wiederum ein Adeliger, der Duque de Alansón, der dem Kaiser das Blutrecht ‚verbietet‘: „que por mantener justicia / tu sangre no perdonaras.“36 Die Granden des Reiches schwören den Kaiser also oberflächlich auf ein Ideal des Rechts ein, das den Mord an Baldovinos ungeach-

32 Vgl. zum Unterschied politischer Krisenallegorien zu ideologischen Legitimationsallegorien Stephan Leopold: Liebe im Ancien Régime. Eros und polis von Corneille bis Sade, München 2014, S. 27f. 33 Lope: El Marqués de Mantua (1997), S. 360. 34 „Krisenallegorien sind Figuren des Diskontinuierlichen: Sie bieten in phobischer Phantasmatik Bilder der Disruption und benennen Zusammenbrüche des symbolischen Registers.“ Leopold: Liebe im Ancien Régime, S. 27. 35 Lope: El Marqués de Mantua (1997), S. 337. 36 Ebd., S. 338f.

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tet seines Blutes ahnden soll, zuletzt ist es aber die Staatsräson, die Karl die Hinrichtung gebietet, denn wollte er den eigenen Sohn begnadigen, drohen ihm die Vasallen mit dem Treuebruch.37 Auch das juristische Verfahren, das in Gang gebracht wird, ist formal mehr als zweifelhaft; eindrucksvoll etwa ist die Textpassage, in der Carloto sich entkleiden muss, weil ihm von Oliveros und Montesinos vorgespielt wird, es stünde eine höfische Lustbarkeit in Form einer Ballpartie an, er aber in diesem Moment, seiner Waffen entledigt, verhaftet wird. Carloto muss also, mit Giorgio Agamben38 gesprochen, auf nacktes Leben reduziert werden, damit sich Karls souveräne Macht an ihm erweisen kann. Die spätere Reue des Infanten spricht wohlgemerkt dafür, Carloto gerade nicht als homo sacer sondern als gleichsam rituelles Opfer zu deuten. Carloto selbst identifiziert sich nämlich in einer Rede vor seiner Hinrichtung mit Christus: „Con mi deuda y tu justicia, / en darte mi sangre cumplo“39 und gesteht: „Mas no injusto, / sino padre noble y justo, / solo en esto Carlos Magno.“40 Die bittere Ironie der Textstelle kann nicht verschleiern, dass sich Karl der Große tatsächlich nur als solcher beweisen kann, wenn er den ‚kleinen‘ Karl Carloto, den eigenen phobischen Doppelgänger, der eine entregelte königliche Souveränität repräsentiert, aus dem Wege schafft. Die Absolution, die Karl dabei erteilt wird, tönt folglich hohl, auch wenn man bedenkt, dass man die hier zitierte Unschuld Christi nicht ignorieren kann. So verweist die Klagerede Roldáns, der die Hinrichtung seines Freundes als grausames, barbarisches Unrecht verurteilt, auf die semantische Abschüssigkeit dieser Rechtsprechung und setzt das Reich Karls des Großen mit dem Reich der ‚Barbaren‘ in eins, gegen die dieser im Kampf ja eigentlich antreten will: „¿En qué tierra Abarima, en qué Etiopia, / en qué Peloponeso o Trapobana, / donde comen y beben sangre propia, / se guarda ley tan bárbara y tirana?“41 Um diesen semantischen Abgrund, der im Recht das barbarische Gesetz der Gewalt entdeckt, zu deckeln, wird Roldán in der Version Lopes zur Strafe für sechs Jahre

37 Auch Lauer betont, dass bei Lope etwa in den Tyranniziden weniger die Frage nach göttlichem Recht des Monarchen verhandelt wird, als die Hintergründe für den Tyrannizid als „human affair“, und die Könige Lopes immer auch „limited by the law of the land“ bleiben, eines Rechts, das oft in Gestalt der Granden verkörpert wird; Robert Lauer: Tyrannicide and Drama, Stuttgart 1987, S. 111, S. 117. 38 Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. von Hubert Thüring, Frankfurt/M. 2002. 39 Lope: El Marqués de Mantua (1997), S. 359. 40 Ebd., S. 354. 41 Ebd., S. 354.

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aus Paris ins Exil verbannt. So schließt der Kaiser zuletzt mit den Worten: „Ya conforme a las leyes y el proceso / hice justicia y vós tenéis venganza.“42 Wiederum vordergründig scheint hier der Gerechtigkeit Genüge getan. Allerdings zeigt der Text, indem er den früher entwickelten Chiasmus von hacer ley und ser justo wieder aufgreift und in sich erneut verkreuzt, dass es so einfach nicht ist: Karl spricht von hacer justicia (statt hacer ley und ser justo) und überblendet damit die Koppelung venganza/„violence“, Staatsräson und ley/Gesetz, als deren Vertreterfigur Carloto eingesetzt worden war, mit dem Ideal der Justitia. So ist es auch möglich, dass die Granden ihre „venganza“ bekommen – Justitia jedoch hat sich hier rhetorisch um Kopf und Kragen geredet.

A MTSMISSBRAUCH UND PHOBISCHE M ÄNNLICHKEIT (F UENTE O VEJUNA , 1619; P ERIBÁÑEZ Y EL C OMENDADOR DE O CAÑA , 1614) Dabei gilt es noch zu klären, inwiefern die Opferzeichen,43 die Carloto zum Sündenbock stilisieren, als Symptome einer sozial unverträglichen Männlichkeit kodiert sind. Sie sind es zum einen, weil körperlicher deseo und jugendliche soberbia von einigen Ausnahmen abgesehen im Theater Lopes männliche Untugenden darstellen. Sie sind es aber zum anderen auch, weil all jene Texte, die nach dem Plotschema des Marqués de Mantua funktionieren, Motive und Bilder einer exzessiven homosozialen Konkurrenz aufweisen, die darauf abzielt, sowohl hegemoniale Männlichkeit als auch die Grundlage einer homosozialen Gesellschaft zu unterschwemmen. Besonders dominant ist hier die Isotopie der Jagd. Gerade in Fuente Ovejuna, einem von Lopes bekanntesten Stücken, entstanden zwischen 1612-14 und publiziert im Jahr 1619, ist dies der Fall.44 Dieser Text, der sich in eine Reihe von, wie dies Juan María Marín aufgefasst hat, „Comedias de Comendadores“45 einfügt, handelt von einem Komtur des Calat-

42 Ebd., S. 360. 43 Vgl. einschlägig René Girard: La Violence et le sacré, Paris 1972 und ders.: Le Bouc émissaire, Paris 1983. 44 Vgl. Verf.: „Der Lukrezia-Effekt. Homosoziale Gesellschaft und politische Mythologie in Lope de Vegas Fuente Ovejuna“, in: PhiN – Philologie im Netz 67 (2014), S. 69-94, hier: S. 83. 45 Juan María Marín: „Introducción“, in: Lope de Vega: Peribáñez y el Comendador de Ocaña, hrsg. v. Juan María Marín, Madrid 1995, S. 11-54, hier: S. 29.

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rava-Ordens, der im kleinen, ihm unterstellten Dorf Fuente Obejuna46 alle Frauen ‚jagt‘ wie Hasen und so im Stück einen Überschuss an homosozialer Energie erzeugt, indem er alle Männer um ihre Autorität bringen will. Wie dort wird auch im Marqués de Mantua der ungezügelte deseo und sein mörderischer Drang bereits in den Außenraum des Waldes und in den Bildraum der Jagd versetzt.47 Auch hier fällt wiederum auf, dass diese bildlich entfesselte Männlichkeit, die soziale Unordnung verursacht und rituell beseitigt werden muss, im Verbund mit Figurationen des Rechts, der Rechtsgewalt und/oder Gerechtigkeit auftritt. Fuente Ovejuna ist sicherlich die eindrücklichste comedia de Comendadores. Fernán Gómez wird hier, ebenso wie es die historischen Chroniken im Übrigen über den Fall, der sich im Jahr 1476 zugetragen hat, berichten, brutal getötet, nachdem er die Bäuerin Laurencia ihrem Angetrauten Frondoso vom Altar raubt und gewaltsam bedrängt, sein Rechtsmonopol immer wieder grausam verletzt und die Schutzpflicht seinen Vasallen gegenüber mit Verachtung straft. Auch hier wie in den meisten comedias de Comendadores wird der Ehrplot um die allem Anschein nach geschändete Frau den Ereignissen aus der Chronik hinzugefügt, ganz im Sinne des mover a la gente. Nicht allein der Auftritt der gewaltsam zugerichteten Laurencia jedoch wirkt hier phobisch. Gerade die Schilderungen des Komturs weisen ihn als einen weiteren affektischen Kern des Stückes aus. So wird er zum Beispiel als Instanz in Szene gesetzt, die Covarrubias’ canes auf die pobres zu hetzen scheint. Sein Amtsmissbrauch wird offenbar, als er den gracioso Mengo brutal auspeitschen lässt, nachdem dieser die Bäuerin Jacinta vor Übergriffen seiner Bediensteten schützen wollte. Ohne langen Prozess zu machen, ordnet der Komtur vor Ort und Stelle an, Mengo auspeitschen zu lassen, bis selbst die Peitsche zerspringe. ORTUÑO: ¿Qué mandas? COMENDADOR:

Que lo açoteis.

Llevalde, y en esse roble le atad y le desnudad, y con las riendas... MENGO:

¡Piedad!

¡Piedad, pues sois hombre noble!

46 Ich unterscheide hier und im Folgenden die Schreibweise der andalusischen Gemeinde Fuente Obejuna und die Schreibweise des Stückes Fuente Ovejuna. 47 Vgl. Lope: El Marqués de Mantua (1997), S. 314 zu den Jagdszenen, die dem Mord an Valdovinos direkt vorgeschaltet sind: „¡Que tantas bestias van tras una bestia!“

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COMENDADOR: ...açotalde hasta que salten los hierros de las correas. MENGO: ¡Cielos! ¿A hazañas tan feas queréis que castigos falten?48

Auch als er die Hinrichtung Frondosos, des Angetrauten Laurencias, anordnet, weil dieser ihn trotz seines niedrigen Standes mit einer Armbrust bedroht, geht er „sin sentencia, sin pregones“49, ohne das erforderliche Urteil und öffentliches Ausrufen vor. Dieser Amtsmissbrauch, das hacer ley Carlotos, der mit dem erotischen Missbrauch und einer bedrohlichen feudalen Männlichkeit im Bunde steht, die die Macht der spanischen Könige Ferdinand von Aragonien und Isabella von Kastilien in Frage stellen, ist am Ende doppelt gestraft: zum einen durch die kollektive Ermordung des Komturs durch seine eigenen Vasallen, und zum anderen, als die Katholischen Könige zuletzt die Bestrafung der Tat suspendieren. Robert Fiore glaubte 1966 noch daran, dass im Stück durch den Richt- und Gnadenspruch der Könige am Ende soziale Ordnung wiederhergestellt und

48 Lope de Vega: Fuente Ovejuna, hrsg. v. Juan María Marín, Madrid 2011, S. 135. Vgl. zum offiziellen Recht des señor in seinem Amtsbereich weiter unten Kap. 4 und die Formulierung bei Francisco de Montemayor y Cuenca in der Sumaria investigación del origen y privilegios de los ricos hombres, caballeros, infanzones y señores de vasallos de Aragón y del absoluto poder que en ellos tienen. Parte Primera (entstanden 1647, aber erst 1664 in México publiziert): „Pueden los Señores de Lugares en fuerza del absoluto poder, que en este reyno tienen todos, como lo advierte la observancia de el mismo Reyno; bien y maltratar a sus vasallos de signo servicio, y según su voluntad encarcelarlos, castigar y matarlos a hambre, sed, o cuchillo, sin que en ello pueda entremeterse su Magestad, con inhibiciones, o mandatos, ni Tribunal alguno.“ Zitiert nach Guillermo Redondo Veintemillas: „Teoría y práctica del ,Absoluto poder‘ en el siglo XVII aragonés“, in: Esteban Sarasa Sánchez/Eliseo Serrano Martin (Hrsg.): Señorío y feudalismo en la península ibérica (ss. XII-XIX), Bd. IV, Zaragoza 1993, S. 263-281, hier: S. 264f. Als Fallbeispiel führt Redondo Veintemillas den caso de Belchite-Híjar (1602) an, als der Herzog von Híjar Marcos Garçés öffentlich auspeitschen lässt (azotar) sowie drei Morisken und einen cristiano viejo garrotiert, „sin ser oídos, ni averles dado cargos ni hecho proceso alguno“ (ebd., S. 266). Der Consejo Supremo de Aragón bestätigte die ‚Verfahren‘ im Namen des oben genannten Rechts. 49 LAURENCIA: „A Frondoso quiere ya, / sin sentencia, sin pregones, / colgar el Comendador / del almena de una torre; / de todos hará lo mismo; / y yo me huelgo, medio hombres, / porque quede sin mujeres / esta villa honrada, y torne / aquel siglo de amazonas, / eterno espanto del orbe.“ Lope: Fuente Ovejuna, S. 157.

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Recht eingesetzt würde, der Plot zeichne demnach eine Entwicklung nach von „poetic justice resulting in harmony“.50 Demgegenüber jedoch wird man die Brutalität der Tötung des Komturs hervorzuheben haben, die sich nicht in dieses harmonische Schlusstableau einfügt. Matthew Stroud hat bereits 2008 betont, dass Fuente Ovejuna vielmehr eine Antinomie des Rechts vor Augen führt.51 Dies legitimiert zu guter Letzt eine durchaus machiavellistische Lösung52 von Seiten der Katholischen Könige Ferdinand und Isabella, denn dem Dorf wird auch deshalb verziehen, weil es sich im spanischen Erbfolgekrieg auf die Seite Isabellas gestellt hatte. Von der Seite des Gesetzes aus betrachtet, manövriert sich das Stück dagegen in eine Sackgasse, denn obwohl die Tötung des Adeligen als Mord geahndet werden muss, kann eine Strafe nicht verhängt werden. Das ganze Dorf will selbst unter Folter nicht einem Einzelnen, sondern nur dem Kollektiv die Schuld an der Tat zusprechen: „Fuenteovejuna lo hizo“, mehr erfahren Richter und Folterer nicht. Hier lohnt es, noch einmal zu Covarrubias zurückzukehren, denn im Emblem 297, das Lope als Inspiration für sein Stück gedient haben soll, ist nicht Justitia sondern ein Richter abgebildet, jener Richter, den die Könige in das Dorf entsenden, um notfalls per Folter die Wahrheit des Falles zu ermitteln.53 Covarrubias zeigt in der Bildmitte einen erhöht sitzenden Richter mit Amtsstab, mit militärisch anmutenden „ministros“ zur Linken und einfachen Leuten zur Rechten, die auf Knien um Gnade bitten. Im Bildhintergrund sieht man diverse leere Galgen als symbolische Repräsentanten eines zu vollstreckenden Urteils (vgl. Abb.

50 Robert Fiore: „Natural Law in the Central Ideological Theme of Fuenteovejuna“, in: Hispania 49/1 (1966), S. 75-80, hier S. 79. Vgl. ebenso zur (wenngleich aus einem politisch-juridischen Dilemma erwachsenen) salomonischen Entscheidung Ferdinands im Stück Victor Dixon: „Su majestad habla, en fin, como quien tanto ha acertado: La conclusión ejemplar de Fuente Ovejuna“, in: Criticón 42 (1988), S. 155-168, hier: S. 166. 51 Matthew D. Stroud: „The Play of Means and Ends: Justice in Lope’s Fuenteovejuna“, in: Neophilologus 92 (2008), S. 247-262, hier: S. 249. 52 Vgl. zu der dieser vorausgegangenen Folter im Stück Mercedes Camino: „¡Volvióse en luto la boda! Ritual, Torture, and the Technologies of Power in Lope’s Fuente Ovejuna“, in: The Modern Language Review 99/2 (2004), S. 382-393. 53 Vgl. ebenfalls Duncan W. Moir: „Lope de Vega’s Fuenteovejuna and the Emblemas morales of Sebastián de Covarrubias Horozco (with a few remarks on El villano en su rincón)“, in: A. David Kossoff/José Amor y Vázquez (Hrsg.): Homenaje a William L. Fichter. Estudios sobre el teatro antiguo hispánico y otros ensayos, Madrid 1971, S. 537-546.

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3). Die subscriptio lautet: „Grande es la confusión de un juez christiano, quando en un caso atroz, Fuenteovejuna con atrevida, y vengativa mano, sin Dios, sin Rey, sin ley, toda se aúna de hecho, a un hecho bárbaro inhumano, sin que se halle claridad ninguna. Qual sea el culpado, qual el inocente, en la comunidad de tanta gente.“ Das Motto wiederum bezieht sich auf Lukans „Quidquid multis peccatur inultum est“ aus den Farsalia V, 260, und bringt den juristischen Konflikt auf den Punkt. Der Mord am Komtur, der seinerseits dadurch begründet wird, dass dieser Gewalt mit Gesetz verwechselt habe, hat einen Zustand der Rechtlosigkeit herbeigeführt und den verantwortlichen Richter in die Handlungsunfähigkeit der „confusión“ gestürzt. Es herrscht die Anomie eines Zustandes „sin Dios, sin Rey, sin ley“, die nur durch das theatral effektive Auftreten der Reyes am Ende in wirksamen ley verwandelt werden kann. Abb. 3: Quidquid multis peccatur inultum est

Vielleicht wird man also auch den vielfach inszenierten Amtsmissbrauch des Komturs erneut als die Zuschreibung effektiver Opferzeichen zu verstehen haben.54 Sie legitimieren eine widerrechtliche Tötung und kaschieren, dass die Kö-

54 Christopher B. Weimer hat bereits eine Lektüre des Stückes vorgeschlagen, die sich an der Theorie des triangulären Begehrens und der Opferung don Fernáns als Sündenbock ausrichtet, ohne dabei jedoch auf die Rechtsverletzung als Element der Absonderung des Sündenbocks hinzuweisen: „Desire, crisis, and violence in Fuenteovejuna: A Girardian perspective“, in: Barbara Simerka (Hrsg.): El arte nuevo de estudiar comedias: Literary Theory and Spanish Golden Age Drama, Lewisburg/PA 1996, S. 162-

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nige sich nur als gerechte Könige in Szene setzen können, indem sie kasuistisch und im Sinne der Staatsräson agieren, mitnichten im Sinne eines gerechten Gesetzes. Dennoch geht der Text über diese Opferstruktur hinaus, wenn er die Brutalität der Tötung augenscheinlich macht. Darin liegt das Problem der affektischen Steuerung verborgen, derer sich Lope immer wieder bedient, wenn er bedrohliche Männlichkeit als Element benutzt, das rituell beseitigt werden muss. Denn bekanntlich funktioniert eine Opferstruktur nur dann, wenn das Opfer nicht als unschuldig erkannt wird, sondern die ihn als opferfähig markierenden Zeichen wirksam genug sind, seine Tötung als ‚gerecht‘ (fehl) zu interpretieren.55 Das Dorf geht bei der Tötung seines Feudalherrn aber über die Maßen grausam vor, sie werfen ihn aus dem Fenster, tragen ihn auf Lanzen durch die Straßen und zerstückeln ihn, bis von seinem Körper nur noch Teile übrig bleiben, von denen, wie es im Text heißt, die Ohren noch die größten gewesen seien.56 Besonderes Augenmerk verdient hier das Zerreißen der Brust des Komturs „con furia impaciente / rompen el cruzado pecho / con mil heridas crueles“, denn nicht nur zeichnet das rote Kreuz des Calatrava-Ritters den Komtur als Adeligen und als denjenigen señor aus, der Recht hatte walten lassen können, sondern das rote Kreuz des Calatrava-Ordens wird im Verlauf des Stückes immer wieder dort eingesetzt, wo der Komtur den jungen Maestre seines Ordens manipuliert: Dieser solle sich im Krieg heroisch beweisen, erst dann verdiene er auf der Brust ein martialisches, rotes Kreuz zu tragen.57 Damit fordert der Komtur nicht nur die Männlichkeit seines jungen Rivalen heraus, sondern drängt diesen auch, im Krieg die Waffen gegen Isabella zu ergreifen. Insofern zeigt die Wanderung des

186, insb. S. 181f. Zu don Fernáns tatsächlicher politischer Bedeutungslosigkeit, die zu verstärktem mimetischen Begehren am aristokratischen Habitus führt, siehe ebd., S. 167f. 55 Girard (La Violence et le sacré, S. 15ff., 99ff.) spricht von der méconnaissance. 56 FLORES: „Muerto Fernán Gómez queda / por sus súbditos aleves, / que vasallos indignados / con leve causa se atreven. / Con título de tirano, / que le acumula la plebe, / a la fuerça desta voz / el hecho fiero acometen; / y quebrantando su casa, / no atendiendo a qué se ofrece / por la fe de caballero / a que pagará a quien debe, / no sólo no le escucharon, / pero con furia impaciente / rompen el cruzado pecho / con mil heridas crueles; / y por las altas ventanas / le hazen que al suelo vuele, / adonde en picas y espadas / le recogen las mujeres. / Llévanle a una casa muerto, / a y porfía, quien más puede, / mesa su barba y cabello, / y apriessa su rostro hieren. / En efeto fue la furia / tan grande que en ellos crece, / que las mayores tajadas / las orejas a ser vienen.“ Lope: Fuente Ovejuna, S. 166. 57 Vgl. ebd. im I. Akt, V. 129-137 und Verf.: „Der Lukrezia-Effekt“, S. 74f.

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Signifikanten des roten Kreuzes im Stück, wie sich der Komtur selbst ins Grab gebracht hat, weil erst sein archaisches Verständnis feudaler, ritterlicher und autokratischer Männlichkeit zur politisch ungünstigen Auflehnung seines Ordens gegen die Katholischen Könige führt. Die bedrohliche Männlichkeit eines arroganten Comendador wird auch in vielen anderen Stücken Lopes ins Bild gesetzt, so etwa in Peribáñez y el Comendador de Ocaña, wohl entstanden zwischen 1604 und 1613, publiziert 1614. Dort stört gleich zu Beginn ein junger Stier die harmonische Hochzeitsfeier von Casilda und Peribáñez, bis er vom heroisch in Szene gesetzten Komtur, el señor de Ocaña, gezüchtigt werden soll. Dieser bringt sich beim Versuch allerdings nur selbst zu Fall und verweist insofern darauf, wie die Entfesselung des animalischen „brío español“ seinen eigenen entfesselten deseo vorwegnimmt.58 Auch er wird die bäuerliche Casilda bedrängen und deshalb zuletzt von deren Ehemann im Racheduell getötet. Im Eingangstableau sticht eine ähnlich aggressive Männlichkeit des novillo ins Auge, wenn dieser einer Stute den Bauch durchstößt und dem androgynen Tomás die Hosen auszieht.59 Der Protagonist und Gegenspieler des Señor de Ocaña Peribáñez wird, nachdem er in Gestalt seines Herrn die für die soziale Ordnung bedrohliche, feudale Männlichkeit aus dem Weg geschafft hat, von König und Königin zuletzt begnadigt. Wieder wird darin eine nur kasuistisch und machiavellistisch lösbare Anomie des Rechts vorgeführt.60 Phobische Männlichkeit (die eine sozial eingehegte eheliche Beziehung stört, durch Gewalttaten theatralen phobos erzeugt und im novillo des Peribáñez eine eindrucksvolle Symbolfigur gefunden hat) wird also im Theater Lope de Vegas gebannt, indem sie im Zuge einer Sündenbockstruktur eine gesetzliche Ordnung – gewaltsam – begründet.

58 Lope de Vega: Peribáñez y el Comendador de Ocaña, hrsg. von Juan María Marín, Madrid 1995, S. 66. Für den Hinweis auf die allegorische Bedeutung des novillo danke ich Stephan Leopold. 59 Vgl. ebd., S. 66f. 60 Vgl. zur Sanktionierung widerrechtlicher Rechtsprechung in Calderóns El alcalde de Zalamea Xuan: Der König im Kontext, S. 60: „Die staatliche Gewalt, die nicht effizient für die Gerechtigkeit eintreten kann, treibt Pedro Crespo zum Amtsmißbrauch, und eben dieser Staat kann – selbst in der Figur des Königs – nicht die Gerechtigkeit an sich wiederherstellen, sondern nur im Freispruch Crespos anerkennen, daß eine allgemeine Gerechtigkeit nicht mehr existiert.“

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P RÄSENZ – A BSENZ – A NOMIE (E L REY DON P EDRO EN M ADRID , CA . 1612; E L VILLANO EN SU RINCÓN , 1617; E L MEJOR ALCALDE , EL REY , 1620-23) An dieser Stelle ein kurzes Wort zum sozialen und politischen Hintergrund: Wie bereits erwähnt, ist der Bereich der Rechtsprechung im frühneuzeitlichen Spanien weder zentral geordnet noch homogen. Besondere Erwähnung verdienen hier die sogenannten señoríos, ein mittelalterliches Instrument des Feudalismus, das ökonomische und juridische Macht vom König an seine Vasallen abzugeben erlaubte. In seinem señorío herrschte der Aristokrat tatsächlich wie ein kleiner König, denn ihm wurde nach der offiziellen Formel die Autorität der „justicia civil y criminal, alta y baja, mero y mixto imperio“61 zugesprochen. Abgeschafft wurden die señoríos erst im Jahr 1811, ihr Ende markiert das Ende des Ancien Régime in Spanien. De facto gab es also, neben dem Santo Officium der Inquisition wohl gemerkt, in Spanien mehrere Amtsträger, die Recht sprechen konnten: Zum einen den juez, eine Art Gemeinderichter, dann den señor oder infanzón, der entweder im Zuge der Reconquista sein Territorium selbst erobert hatte oder sich sein Recht erkaufte, wenn die Krone auf der Suche nach neuen Staatsanleihen war62, sowie den Abgesandten der Krone und Repräsentanten der „autoridad regia“, den alcalde. Bereits im ausgehenden Mittelalter wirkten Abgesandte der Krone wie alcalde und corregidor als Zentralisierungsagenten: Sie wurden entsandt, „a aquellos municipios en los que se habían producido graves disturbios o que habían padecido una administración caótica“.63 Die Delegierten des Königs haben also im Verhältnis zum autokratischen señor ein zentralisiertes Recht zu vertreten und Ordnung zu schaffen. Explizit übernimmt der senõr allerdings

61 José Luis Bermejo Cabrero: Poder político y administración de justicia en la España de los Austrias, Madrid 2005, S. 259. Die volle Definition nach der Concordia entre el señor de Nuez de Ebro y los colonos, gezeichnet 22. Februar 1685, lautete: „El Exercicio de la Jurisdicción civil y criminal alta y vaja, mero y mixto imperio Suprema y absoluta potestad en todo sin recurso alguno“; zitiert nach Carlos Franco de Espés Mantecón: „Instituciones civiles y propiedad señorial en la crisis del feudalismo. Pautas para una caracterización del concepto teórico de señorío“, in: Esteban Sarasa Sánchez/Eliseo Serrano Martin (Hrsg.): Señorío y feudalismo en la península ibérica (ss. XII-XIX), Bd. I, Zaragoza 1993, S. 109-127, hier: S. 115. 62 Vgl. Antonio Domínguez Ortiz: Instituciones y sociedad en la España de los Austrias, Barcelona 1985, S. 58-75. 63 Manuel Tuñón de Lara (Hrsg.): Historia de España, Bd. IV: Feudalismo y consolidación de los pueblos hispánicos (siglos 11-15), Barcelona 1981, S. 166.

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durch die Formel der gerade zitierten transferencia alle Autoritätsbefugnisse des corregidor64 und setzt damit die Rechtsbefugnis des Königs im eigenen Territorium außer Kraft, dieser behielt sich nur das Recht des Einspruchs vor. Historisch bedeutsam ist nun, dass am Ende des 15. Jhds., als sich Spanien in einen modernen Flächenstaat verwandeln soll, auch die señoríos von der Krone in ihren Rechten eingeschränkt worden waren. Auf dem Gebiet des Rechts ist dabei die Real Pragmática von 1493 zentral, in der festgehalten wird, dass Recht nur der sprechen dürfe, der dafür ein mindestens sechsjähriges Studium absolviert habe. Rechtsprechung verwandelt sich also zunächst in ein Amt. Ende des 16. Jhds. hingegen verkauft die Krone, um die geleerten Staatskassen zu füllen, wieder das Recht auf Rechtsprechung in Form der feudalen señorío-Struktur und trägt damit insgeheim zur Schwächung der absolutistischen Herrschaft bei. Auch aus Sicht der sich emanzipierenden Städte wird deshalb Protest laut, um 1612/14 wird sogar, allerdings ohne Erfolg, eine Abschaffung der señoríos gefordert.65 Die comedia de Comendadores von Lope nun kann als ein Reflex auf diese soziopolitische Realität der spätfeudalen señoríos gedeutet werden. Dabei wird die Distanz zwischen königlichem Zentrum und feudaler Peripherie des Rechts auch als räumliche Bewegung der Figuren umgesetzt, wenn etwa in El rey don Pedro en Madrid (ca. 1616) der König Pedro I. von Kastilien, der zwischen 1350 und 1369 regierte, einen allzu hochmütigen Infanzón nach Madrid zitiert, um an ihm dort ein Exempel zu statuieren. Das Stück, das immer wieder auch Pedro Calderón de la Barca oder Tirso de Molina zugeschrieben worden ist,66 kann die Identitätsproblematik des rey justiciero zuspitzen, weil Pedro I. unter zwei Na-

64 Vgl. Frank P. Casa: „Justicia y poder en El mejor alcalde, el rey“, in: Ysla Campbell (Hrsg.): El escritor y la escena, Bd. 2, Ciudad Juárez 1994, S. 125-133, hier: S. 128. 65 Vgl. María Marín: „Introducción“, S. 31 und Charles V. Aubrun: La comedia española (1600-1680), Madrid 1981, S. 75. Siehe ebenfalls zur Figur des alcalde und der señorío-Problematik Noël Salomon: Recherches sur le thème paysan dans la „Comedia“ au temps de Lope de Vega, Bordeaux 1965, S. 97f. Der rustikal-bäuerliche alcalde ist im Theater des Siglo de Oro Salomon zufolge eine vorrangig komisch-satirische Figur, die für das Publikum über das Verlachen die affektische Funktion der Katharsis steuert. Allerdings hat Salomon dabei weniger die repräsentative Funktion des alcalde im Blick als dessen Abwertung gegenüber der Rechtsprechung von Fürsten oder städtischen Richtern. Die in den Dörfern agierenden alcaldes de aldea wurden zu Lopes Zeiten insbesondere mit Eigennutz, Rechtsmissbrauch und Korruption assoziiert. 66 Lope zugeschrieben von Carol Bingham Kirby, siehe Lope de Vega: El Rey Don Pedro en Madrid Y Infanzón de Illescas: Critical Edition and Study of the Secondary Text Version, hrsg. von Carol Bingham Kirby, Kassel 1998.

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men in die Geschichte eingegangen ist: Pedro el justiciero und Pedro el cruel. Dieser Identitätskonflikt wird im Stück für eine Verschränkung der Frage von Recht, Gewalt und Männlichkeit fast schon ausgeschlachtet; wohl selten findet sich auf der Bühne derart deutlich ein inkompetenter Herrscher als Richter und männlicher gallo zugleich dargestellt.67 Dabei wird der Konflikt zwischen Krone und señores auf einen persönlichen Konflikt des Königs mit seinem Vasallen don Tello verengt. Auch dieser hat bereits zahlreiche Bäuerinnen entehrt, die ihm wie ein Chor der Racheengel am Hof entgegen treten. Hier wie in anderen Fällen, in denen der Typus des Comendador als hochmütiger Infanzón in seinem señorío gezeigt wird, legt der Text besonderes Augenmerk auf die soberbia des don Tello, um dessen Position innerhalb der Figurenkonstellation moraltheologisch zu schwächen. Allerdings wird Pedro Mittel und Wege wählen, don Tellos Hochmut zu züchtigen, die selbst von der Bevölkerung mit Empörung und als Zeichen seiner crueldad aufgefasst werden. Er lässt ihn einen erniedrigenden Parcours im Palast durchlaufen, sperrt ihn dann mit Aussicht auf die unmittelbar bevorstehende Hinrichtung in einen Turm, nur um ihn des Nachts heimlich zu befreien und vor den Toren der Stadt in einem persönlichen Duell zu fordern. Der König tritt hier als unbeherrschter und rachsüchtiger Herrscher auf, der nicht nur persönliche Rache einfordert für die Beleidigungen, die er im fernen Galizien ausstehen musste, sondern der vor allem von don Tello die Anerkennung und Bestätigung seiner Männlichkeit einfordert. Denn als rey justiciero – der er im ganzen Stück doch wirklich sein möchte – ist er dazu verdammt, sich selbst nicht mehr körperlich – in Form tatsächlicher Gewalt – beweisen zu dürfen („no puedo / por mis acciones luzir“68). Dies kompensiert er im Duell mit dem Vasallen, dessen kriegerisches Geschick überall im Land gerühmt wird und ihn zum Mann macht, der zehn Gegner wert ist. Als Pedro ihn schlägt, scheint er sich mit eben dieser kriegerischen Männlichkeit ausstatten zu wollen. DON PEDRO:

[...] Hombre soy,

[Ap.] (y he deseado sabello), hombre soy que por diez valgo,

67 Vgl. Richard A. Young: La figura del Rey y la Institución real en la comedia lopesca, Madrid 1979, S. 52-70 zur Kontamination zwischen der Tyrannei des Königs und des Gegenspielers, don Tello, welche die Institution des Königtums und seine Gerechtigkeit selbst in Frage stellt; vgl. ebd., S. 59. Young zufolge arbeitet das Stück darauf hin zu zeigen, dass Grausamkeit nur dem Menschen, nicht aber der „institución“ zugeschrieben werden darf. 68 Lope: El Rey Don Pedro en Madrid, S. 197.

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pues contigo aquí peleo, que por diez vales.69

Allerdings ist diese Strategie zum Scheitern verurteilt: Denn gerade als Pedro don Tello im Außenraum zum Duell fordert und nicht in Madrid öffentlich richtet, um seine Macht und Autorität zu begründen, erweist sich seine justicia als ohnmächtig, mit der er den von don Tello geschändeten Frauen zu ihrem Recht verhelfen wollte. Der Beweis männlicher Macht beweist so nur die Ohnmacht des Gesetzes. Anstatt also – im Sinne der Legitimationsallegorie – die Existenz der Monarchie überzeugend aus dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit abzuleiten und die Zentralisierung des Territorialstaates als gelungene Zentralisierung des Rechts vorzuführen70, wandelt sich auch hier der Text zur Krisenallegorie. In ihr figuriert don Tello einen „archaic, residual impulse in absolutism that aspires to emancipate state power from the restraining dictates of universal reason and its embodiment in law“.71 Im dunklen und stellenweise sogar sublimen Doppelgänger des Königs, der einem politischen Recht des Stärkeren (Mannes) entsprechen darf, äußert sich, so die Lektüre Forciones, ein inneres Unbehagen der spanischen Monarchie, einer Monarchie, die anders als die zeitgenössischen zentraleuropäischen Monarchien nicht auf der Sakralisierung des Königs basierte, sondern auf der Ausübung königlicher Autorität.72 Selbst Lopes Stück El mejor alcalde, el rey, das zwischen 1620 und 1623 entstand und immer wieder als blinde Verherrlichung der absolutistischen Hegemonie unter Philipp IV. gelesen worden ist, zeigt diese Ohnmacht des Gesetzes, die nur durch einen Rückfall in die Gewalt zu beheben ist. Dort muss ein weiterer don Tello gezüchtigt werden, der wieder – analog zu den comedias de Comendadores – eine Frau unrechtmäßig beansprucht und zuletzt sogar vergewaltigt. Als ihr Noch-Nicht-Ehemann Sancho zum König Alfonso nach León reist, um dessen Unterstützung zu erbitten, sendet dieser einen Brief, der don Tello zur Herausgabe der Frau auffordert. Aus dem politischen Zentrum soll

69 Ebd., S. 218. 70 Vgl. Forcione: Majesty and Humanity, S. 112. 71 Ebd., S. 121. 72 Vgl. ebd., S. 128-131. Forcione leitet dies davon ab, dass unter den Goten grundsätzlich jeder (tugendhafte) Mann geeignet war, König zu werden, wenn er sich als fiero hombre erweist und die Macht übernimmt. Diesem Ideal steht im 16. Jhd. Philipp II., der „paper king“ (ebd., S. 149) gegenüber, der von der politischen Macht der Präsenz auf die Macht des geschriebenen Rechts und der Bürokratie übergeht.

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wiederum eine ungezügelte Männlichkeit und soberbia, die sich Recht über die Maßen nimmt, in ihre Schranken gewiesen werden. So heißt es über don Tello: SANCHO:

Él pone y él quita leyes:

que éstas son las condiciones de soberbios infanzones que están lejos de los reyes.73

Jedoch reicht der Brief nicht aus, um in der Ferne – lejos de los reyes – die Autorität des Königs wirksam zu machen. SANCHO: Leyóla y no la rompió. Mas, miento, que fue rompella leella y no hacer por ella lo que su rey le mandó.74

Alfonso wird die Nichtbeachtung dieser seiner repräsentierenden Zeichen als persönliche Beleidigung auffassen und deshalb selbst verkleidet nach Galizien reisen, um als ‚bester Richter‘, el mejor alcalde, über don Tello zu richten: „Yo he de ir a Galicia, / que me importa hacer justicia.“75 Obwohl damit die comedia den König tatsächlich als fons et origo iuris in Szene setzt, wiederholen sich auch hier all jene destabilisierenden Elemente, die Recht in Rache verwandeln: „Hoy veré yo tu soberbia, / don Tello, puesta a mis pies.“76 Yvan Cañadas hat sogar von einer monströsen Karikatur des Absolutismus gesprochen.77 Immer dort, wo Lopes Könige aus ihrer Rolle fallen bzw. die Theatralität der politischen Rolle78 offenbar wird, stehen sich ein männlicher, heroischer Gewaltim-

73 Lope de Vega: El mejor alcalde, el rey, hrsg. von Frank P. Casa und Berislav Primorac, Madrid 2007, S. 118. 74 Ebd., S. 130. 75 Ebd. 76 Ebd., S. 153. 77 Yvan Cañadas: „Parable, Justice and the Disguised Ruler in Shakespeare’s Measure for Measure and Lope de Vega’s El mejor alcalde, el rey“, in: Shakespeare Yearbook 13 (2002), S. 147-158, hier: S. 155. 78 Vgl. zur Theatralität des „königlichen Spiels“ bei Lope ebenfalls Nitsch: Barocktheater als Spielraum, S. 156-173.

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puls79 und das Ideal der Gerechtigkeit gegenüber. Dies ist nicht nur Reflex auf das am Hof gebräuchliche ‚Rollenspiel‘, sondern zugleich als allegorische Figuration der Antinomie von Gesetz und Gewalt ein monströses Emblem für die Doppelnatur des Königs in der Frühen Neuzeit, seinen doppelten Körper (corpus naturale / corpus mysticum80): „The traditional doubleness of the king crystallizes as a hybridity that is truly monstrous.“81 Nicht nur monströse sondern auch theatrale Begründung von Autorität ist die Rechtsprechung des Königs im Mejor Alcalde in besonderem Maße, denn in seiner Verkleidung als alcalde de casa y corte, als der er hier auftritt, verdoppelt die Figur eine wichtige Amtsperson, die in den Theatern der Zeit tatsächlich anwesend und teils sogar direkt auf der Bühne platziert war: den alcalde, der im Theater als Abgesandter des Königs über Sitte und Moral im öffentlichen Raum wachen soll. John Varey interpretiert diese Verdoppelung als Verstärkung der Autorität des anwesenden alcalde de casa y corte.82 Man könnte hier aber ebenfalls von einer Krise der Autorität sprechen, denn im Stück kann ja gerade der Mechanismus der Repräsentation die königliche Macht im peripheren Außenraum nicht garantieren. Wie am Beispiel des Briefes deutlich wird, verstärken Stellvertreter und Verdoppelungen des Königs nicht etwa dessen Autorität, sondern offenbaren im Zuge der Stellvertretung vielmehr, wie schwach das Gesetz des Königs ist. Dieser Konflikt, der durch die Entfernung des Machtzentrums von der Peripherie hervorgerufen und als Krise der Repräsentation von Macht und Gesetz in

79 Alban K. Forcione hat u.a. mit Bezug auf Lopes El Rey Don Pedro en Madrid darauf hingewiesen, dass mit der neuen Politik des corpus mysticum der „dis-robed king“ zur paradigmatischen Figur eines Selbstverlusts im öffentlichen Raum werde und „the great historical tasks of the absolutist state“ offenbare: „the sublimation and juridification of the human being’s attachment to heroic violence and the proper direction of a vast constraining power – monopolized and concentrated in the hands of a central authority and its rule of law as never before since the Roman Empire“. Forcione: Majesty and Humanity, S. 21, 23. Vgl. zur Problematik des monarchischen Doppelkörpers und der Unterscheidung zwischen hombre cruel und rey justiciero Young: La figura del Rey. 80 Vgl. Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, übers. von Walter Theimer, Stuttgart 1992. 81 Forcione: Majesty and Humanity, S. 102. 82 Vgl. John E. Varey: „Kings and judges: Lope de Vega’s El mejor alcalde, el rey“, in: James Redmond (Hrsg.): Drama and Society, Cambridge u.a. 1979, S. 37-58, hier: S. 55.

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Szene gesetzt wird, kehrt auch in anderen Stücken Lopes immer wieder, so etwa in El villano en su rincón83 (1617). Dort ist das königliche Doppel zwar ein idealisierter pastor, Juan Labrador, aber die Tatsache, dass jener sich ebenfalls wie ein souveräner Herrscher in seinem ‚Winkel‘ verhalten kann und damit den Neid des Königs erregt84, macht schnell offenbar, inwiefern er eine Variante des unkontrollierbaren Vasallen darstellt, der in die politische Logik des Zentralismus eingeholt werden muss. Wieder geht dabei die Krise um den König, den Juan partout nicht von Angesicht zu Angesicht sehen will, mit einer Krise der Männlichkeit einher, denn im Dorf Juans wird der König ‚auf Frauenjagd‘ von einfachen Bäuerinnen frech in die Schranken gewiesen.85 Erst als der König am eigenen Hof Juan die Zeichen seiner Macht – sein Zepter, das Schwert der Gerechtigkeit und einen Spiegel – zeigt86 und ihn zwingt, für immer am Hof zu bleiben, ist das Problem, dass der König in der Peripherie des Reiches ‚nicht gesehen wird‘, zumindest oberflächlich gelöst. Um einige Dimensionen vergrößert erscheint die Frage dort wieder, wo etwa der spanische König wie in El Brasil restituido (1625) in der kolonialen Peripherie Recht sprechen oder Gnade walten lassen soll, dies aber nur in Form seines Porträts geschehen kann.87 Bei diesem Stück mit historischem Gegenwartsbezug auf die Rückeroberung Brasiliens von den Niederländern handelt es sich zwar um eine klare Legitimationsallegorie, in der sogar (wie in einem weltlichen auto sacramental) konkrete allegorische Figuren auftauchen. Dennoch sollte erkenntlich geworden sein, inwiefern die Präsenz oder Absenz des Herrschers bei Lope zum einen an Fragen einer irgendwie

83 Vgl. ansatzweise Bruce W. Wardropper: „La venganza de Maquiavelo: El villano en su rincón“, in: A. David Kossoff/José Amor y Vázquez (Hrsg.): Homenaje a William L. Fichter. Estudios sobre el teatro antiguo hispánico y otros ensayos, Madrid 1971, S. 765-772. 84 JUAN: „Yo propuse, Feliciano, / de no ver al Rey jamás, / pues de la tierra en que estás / yo tengo el cetro en la mano. [...] rey del campo que gobierno / me soléis todos llamar; [...] ¡Ay, mi divino rincón, / donde soy rey de mis pajas!“ Lope de Vega: El villano en su rincón, hrsg. v. Juan María Marín, Madrid 1999, S. 108f (Herv. K.P.). Die Tatsache, dass Juan als Herr über Andere typische Feudalriten wie den Handkuss pflegt (vgl. ebd., S. 147), weist ihn wiederum als Vertreter einer feudalistischen Gesellschaftsordnung aus. 85 „Échese su porquería.“ Ebd., S. 162. 86 Vgl. ebd., S. 199f. 87 Lope de Vega: El Brasil restituido. Together with a Study of Patriotism in his Theater, hrsg. v. Gino de Solenni, New York 1929, S. 108f. Für den Hinweis auf El Brasil restituido danke ich Tobias Brandenberger.

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zu bewältigenden Anomie des Rechts gekoppelt wird, und wie zum anderen in Figuren oder Symbolen einer überbordenden oder defizitären, immer aber latent phobischen Männlichkeit diese Krise einen imaginären Nukleus haben kann. Sie wird so zur theatralen Verhandlungsmasse in einer Zeit, in der sich die Frage nach der Macht des Hegemons im Bereich des Rechts ganz konkret immer wieder stellt.88

A FFEKTSTRUKTUR DES P OLITISCHEN HEGEMONIALER M ÄNNLICHKEIT

UND DER

M YTHOS

Nach dieser exemplarischen Lektüre einiger Werke Lope de Vegas möchte ich mit einigen theoretischen Überlegungen schließen, die diese Befunde zu beschreiben helfen können. Dies ist mir auch deshalb ein Anliegen, weil es eine lange Tradition in der Forschung gibt, die spanische Barock-comedia als ideologische „cultura dirigida“,89 als Instrument des Absolutismus oder einer hegemonialen Männlichkeit90 zu deuten. Die aktuellere Forschung hingegen betont am weltlichen Theater Lopes, Tirsos und Calderóns vielmehr die subversive Abwei-

88 Ismael Almazán Fernández zufolge handelt es sich beim frühneuzeitlichen Spanien um „un país donde el 70% de las jurisdicciones no correspondían al rey“; „Penalidad señorial y penalidad real: el diferente peso de la justicia en Cataluña durante el siglo XVI“, in: Esteban Sarasa Sánchez/Eliseo Serrano Martin (Hrsg.): Señorío y feudalismo en la península ibérica (ss. XII-XIX), Bd. IV, Zaragoza 1993, S. 177-192, hier: S. 178. Die Langlebigkeit der dezentralisierten Praxis von Gerichtsbarkeit ist nachgewiesen (vgl. ebd., S. 177) und ihre Auswirkung lässt sich z.B. daran ermessen, dass es im señorío durchaus üblich war, der ‚Gerechtigkeit‘ nachzuhelfen, indem gegen Bezahlung des señor („la remisión“, vgl. ebd., S. 178) Verfahren eingestellt wurden. 89 José Antonio Maravall: La cultura del barroco. Análisis de una estructura histórica, Barcelona 1975, S. 131ff. 90 Erstaunlich klar wird dies bei Maravall, obwohl dieser sich mit dem Begriff der ‚hegemonialen Männlichkeit‘ selbstverständlich nicht auseinander gesetzt hatte und an dieser Stelle zunächst von der universalistischen Bedeutung von „hombres“ als „Menschen“ ausgeht: „[L]a cultura del Barroco es un instrumento operativo [...] cuyo objeto es actuar sobre unos hombres de los cuales se posee una visión determinada (a la que aquélla debe acondicionarse), a fin de hacerlos comportarse, entre sí y respecto a la sociedad que forman el poder que en ella manda, de manera tal que se mantenga y potencie la capacidad de autoconservación de tales sociedades.“ Ebd., S. 132.

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chung von offizieller Ideologie.91 Meines Erachtens lässt sich aus der Nähe von Legitimations- und Krisenallegorien bei Lope ableiten, dass Ideologie und Subversion hier immer in struktureller Koppelung erscheinen. Inwiefern dies auch auf das Thema inszenierter Männlichkeit zutrifft, ließe sich folgendermaßen fassen: Im Kern des Ehrkonflikts der comedia steht die Verhandlung sozial verträglicher bzw. hegemonialer Männlichkeit. Die vielfachen Inszenierungen von Rechtsgewalt und deren Walten zeigen jedoch, dass erotisch exzessive und kriegerisch gewaltsame Männlichkeit weniger als Thema denn als Chiffre des sozialen und politischen desorden eingesetzt wird. Dies wirkt in zweierlei Richtung: Zum einen unterstützt die affektisch entregelte Semantik männlicher Gewalt Sündenbockplots, die eine Wiederherstellung der Ordnung suggerieren; zum anderen jedoch offenbart die Inszenierung von mächtiger und ohnmächtiger Männlichkeit, wie gesellschaftliche Ordnung in einen Zustand der Anomie des Rechts abrutschen kann. Der fast mythisch zu nennende Motivkomplex des gewalttätigen Komtur wird so zu einer Art spanischem Nationalmythos, der in den Bezirk des privaten Eros verschoben wird, aber zugleich auf der Bühne der Politik entschieden werden muss. Gerhard Poppenberg hat den Mythos eine „Verfassung für die Affekte“ genannt, der die „Affektstruktur des Politischen“92 bildet, denn „Mythen sind die Konfigurationen, in denen die häusliche Gewalt der Familie mit der öffentlichen Gewalt des Gemeinwesens artikuliert wird.“93 Dabei wird allerdings nicht nur der grundsätzlich antinomische, widersprüchliche Charakter des gewaltsamen Gesetzes entlarvt, sondern im besonderen Falle Spaniens durch den ZentrumPeripherie-Konflikt auch eine Anomie des Gesetzes entfesselt. Aus der Notwendigkeit zentralisierender Normalisierung und Repräsentation entwächst so zuletzt eine Struktur, die das zentrale Gesetz und dessen Anspruch auf Gültigkeit schwächt. Ähnlich ergeht es auch der ideologischen Botschaft: Mit der affektischen Entregelung, die mit Bildern phobischer Männlichkeit einhergeht, ist der theatral eingesetzte nationale Affekt, um mit Jon Beasley-Murray zu sprechen,

91 Vgl. McKendrick: Playing the King; Xuan: Der König im Kontext; Forcione: Majesty and Humanity; sowie zum 17. Jhd. und weniger kanonisierten Autoren Jodi Campbell: Monarchy, Political Culture, and Drama in Seventeenth-Century Madrid. Theatre of Negotiation, Burlington 2006. 92 Gerhard Poppenberg: Die Antinomie des Gesetzes. Der Orest-Mythos in der Antike und der Moderne, Berlin 2013, S. 8. 93 Ebd., S. 7.

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„both excessive and foundational“.94 Er begründet eine nationale Ideologie des Absolutismus aber entgleitet diesem auch, oder, wie Beasley-Murray nicht müde wird zu betonen: something always escapes. Er begründet daraus eine politische Theorie, die gesellschaftliche Ordnung nicht als rationalen Kontrakt, sondern im Sinne einer habituellen und affektischen Einübung versteht. Von dieser Warte posthegemonial gedacht – so der Titel der Abhandlung von Beasley-Murray – wäre auch erneut über den Begriff der hegemonialen Männlichkeit nachzudenken. Denn fasst man im Sinne dieser Theorie die barocke Theaterkultur nicht nur als affektische Lenkung und inkorporierte, interpellierende Staatsgewalt95 auf, die vom Hegemon ausgeht, sondern als eine affektische Kultur, die den Prozess der Konstitution von Hegemonie wiederholt, reflektiert und hinterfragt, könnte man hegemoniale Männlichkeit im spanischen Barock ebenfalls als grundsätzlich mythisch, mystisch oder – theatral – begründet aber tendenziell instabil verstehen.96 Die inhärente Theatralik des Motivkomplexes bei Lope zeigt, dass hegemoniale Männlichkeit im Bunde steht mit einer Notwendigkeit zu repräsentieren, diese Repräsentation aber nicht immer gelingt. Wird die sozial unverträgliche Männlichkeit eines Schattensouveräns wie Carloto oder der Komture bei Lope also als Anomiefigur genutzt und rituell ausge-

94 Jon Beasley-Murray: Posthegemony. Political Theory and Latin America, Minneapolis/London 2010, S. xv. 95 Vgl. Maravall: La cultura del barroco, S. 164, 167. 96 Eine Tendenz, die in der zeitgenössischen Forschung innerhalb der Soziologie oder Geschichtswissenschaft ja auch verhandelt wird, etwa, wenn hegemoniale Männlichkeit als Begriff hinterfragt wird (Vgl. R.W. Connell/James W. Messerschmidt: „Hegemonic Masculinity: Rethinking the Concept“, in: Gender and Society 19/6 [2005], S. 829-859), das Konzept als „Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats“ und im Verbund mit anderen Elementen sozialer Differenzierung konkretisiert wird (Martin Dinges: „‚Hegemoniale Männlichkeit‘ – ein Konzept auf dem Prüfstand“, in: ders. (Hrsg.): Männer, Macht, Körper: hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt/M./New York 2005, S. 7-33, hier: S. 9), bzw. insgesamt an den Habitus-Begriff von Pierre Bourdieu angenähert wird, sprich: hegemoniale Männlichkeit aufgefasst wird als „generatives Prinzip des männlichen Geschlechtshabitus, das in immer neuen ‚Strukturübungen‘ tief in kognitive Strukturen und körperliche Routinen eingeschrieben wird“ (Michael Meuser/Sylka Scholz: „Hegemoniale Männlichkeit. Versuch einer Begriffsklärung aus soziologischer Perspektive“, in: Dinges (Hrsg.): Männer, Macht, Körper, S. 211-228, hier: S. 224 und Pierre Bourdieu: La domination masculine, Paris 1998).

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trieben, so ist dabei die Macht des Hegemons nicht nur in Szene gesetzt, sondern gerät durch die Antinomie aus Recht und Gewalt ebenfalls ins Wanken. Im kulturellen Gedächtnis Spaniens war dies präsent. Man darf sich etwa erinnert fühlen an eine Szene, die den Konflikt zwischen spanischen Nobles und der Krone zu einem Zeitpunkt auf den Punkt zu bringen in der Lage war, der maßgeblich für die Zukunft des spanischen Absolutismus werden sollte: Als am 5. Juni 1465 in der sogenannten Farsa de Avila97 die Gegner von Enrique IV. und Befürworter Alfonsos bzw. Isabellas den noch herrschenden König auf einer karnevalesken Bühne als „puto“ beschimpfen („A tierra, ¡puto!“) und in Gestalt einer Puppe all seiner Insignien der Macht – insbesondere auch des Richtschwerts – entledigen,98 wird eine ähnliche affektische und phobische Koppelung von (mangelnder) Männlichkeit, Gerichtsbarkeit und Souveränität offenbar, wie sie noch bei Lope über 130 Jahre später spürbar ist. Gefährlich sind die Vasallen hier, weil sie die Souveränität des Herrschers in Frage stellen; besonders phobisch wirken sie allerdings auf der Bühne vor allem, weil sie sich anmaßen, sogar über dessen Männlichkeit richten zu dürfen. Isabella und Ferdinand werden dann nicht umsonst das unter ihnen geeinte Spanien restrukturieren, indem sie die Macht (und Gerichtsbarkeit) der aristokratischen señores für lange Zeit auf ein Minimum reduzieren, um dieser bedrohlichen Affektstruktur des Politischen Einhalt zu gebieten. Im theatralen Mythos der comedia de Comendadores hat sich der nationale Komplex aus Macht, Ohnmacht, Recht und Männlichkeit dennoch erhalten können.99

97 Enrique Soria: „Farsa de Ávila: los nobles contra el rey de Castilla“, in: Historia National Geographic 49 (2008), S. 20-23. 98 Die Szene galt der dabei anwesenden Isabella angeblich als Tiefpunkt der spanischen Monarchie; vgl. Luis Suárez Fernández: Nobleza y monarquía. Puntos de vista sobre la historia castellana del siglo XV, Valladolid 1975, S. 154f und ebd., S. 159: „La monarquía había dejado de existir.“ Suárez Fernández zufolge mussten sich u.a. deswegen Isabella und Ferdinand später immer wieder als Verteidiger von Ordnung und Disziplin inszenieren; vgl. ebd., S. 161. 99 Die Ausarbeitung und Weiterführung dieses Artikels wurde mit Unterstützung eines Stipendiums im Rahmen des Forschungsstipendien-Programms des DAAD in Kooperation mit der Maison des Sciences de l’Homme (Paris) ermöglicht.

Der Held der italienischen Barockoper als Opfer Die Männlichkeit des primo uomo in Leonardo Vincis Artaserse (1730) C HRISTIAN G RÜNNAGEL

Angesichts des Namens Leonardo Vinci hätte sich bis vor kurzem wohl so mancher zur Korrektur veranlasst gefühlt, der Mann heiße doch Leonardo da Vinci. Der Barockkomponist, der nun tatsächlich Leonardo Vinci hieß, war über fast drei Jahrhunderte in völlige Vergessenheit geraten.1 Erst die ab den 1980er Jahren wieder zunehmende Faszination für das Phänomen der (italienischen) Barockoper hat es 2012 möglich gemacht, eine Oper zu inszenieren, die 1730 in Rom ihre Uraufführung erlebte: Artaserse. Das Projekt war hoch riskant: Niemand (aus dem Kreis eines breiteren Publikums) kannte den Komponisten, niemand kannte die Oper;2 mehr noch: der Anspruch des Produzenten und Impresa-

1

Markstrom kann jedoch immerhin auf ein paar Quellen aus dem 19. Jhd. verweisen, die für ihn belegen, dass Vincis Artaserse nicht „totally forgotten during the age of Romanticism“ gewesen sei (vgl. Kurt Markstrom: The Operas of Leonardo Vinci, Napoletano/Hillsdale/New York 2007, S. 312, Fn. 76). Zugleich macht Markstrom deutlich, dass die letzte uns bekannte Inszenierung einer Vinci-Oper auf 1754 zu datieren ist, bevor seine komische Oper Li zite ‘ngalera 1979 in Florenz wieder aufgeführt wurde (vgl. ebd., S. 325). Auf Artaserse musste man auch dann noch weitere 30 Jahre warten.

2

Für Vincis Zeitgenossen galt er hingegen als „one of the most influential and innovative composers of Italian opera.“ (Kurt Markstrom: „Burney’s Assessment of Leonardo Vinci“, in: Acta Musicologica 67/2 [1995], S. 142-163, hier: S. 142).

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rios – Max Emanuel Cencic – war es, die Besetzungspraxis im Rom des Kirchenstaates nachzubilden, indem wieder alle (!) Rollen von Männern gesungen werden sollten. In diesem Kontext sei kurz am konkreten Beispiel des Artaserse die typische Besetzungspraxis der italienischen Barockoper (opera seria) sowie Cencics Lösung vorgestellt: Rolle3

Figur

Stimmlage

Besetzung 1730

Primo uomo

Arbace

Sopran

Soprankastrat

Countertenor

Prima donna

Mandane

Sopran

Soprankastrat

Countertenor

Secondo uomo

Artaserse

Sopran

Soprankastrat

Countertenor

Seconda donna

Semira

Alt

Altkastrat

Countertenor

Antagonist

Artabano

Tenor

Tenor

Tenor

Vertrauter (des

Megabise

Sopran

Soprankastrat

Countertenor

Besetzung 2012

Antagonisten)

Die musikalische Hierarchie lässt sich leicht aus den schon im 18. Jhd. gebräuchlichen Fachtermini ableiten: Der primo uomo als erster Sänger durfte mehr Arien singen als der secondo uomo; gleiches gilt für prima und seconda donna.4 Gut zu sehen ist auch die absolute Dominanz der hohen Stimmen. Nach unserem Verständnis stoßen wir im ganzen Ensemble auf eine einzige ‚natürliche‘5 Männerstimme: den Tenor (Artabano), der hier den Bösewicht, den Kö-

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Vgl. hierzu Mario Armellini: „...Meco sola è l’innocenza/ che mi porta a naufragar. Tradimento, abbandono e deriva degli affetti nell’Artaserse di Metastasio e Vinci“; in: Gaetano Pitarresi (Hrsg.): Leonardo Vinci e il suo tempo. Atti dei Convegni internazionali di studi (Reggio Calabria, 10-12 giugno 2002; 4-5 giugno 2004), Reggio Calabria 2005, S. 79-152, hier: S. 89.

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Goldoni hat dies zeitgenössisch festgehalten, wobei er neben den Kastraten und Frauen auch die kontrapunktische Relevanz des Antagonisten betont: „Il primo soprano, la prima donna e il tenore, che sono i principali attori del dramma, devono cantare cinque arie per ciascheduno [...]. Il secondo uomo e la seconda donna devono averne quattro per uno [...]“ (Carlo Goldoni: Tutte le opere, Bd. I, hrsg. v. Giuseppe Ortolani, Mailand 51973, S. 688; Herv. i. O.).

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‚Natürlich‘ ist hier nicht als biologistisches Reizwort misszuverstehen, es dient vielmehr dazu, Stimmlagen, die durch Übung performativ von Männern je nach der sich im Anschluss an den Stimmbruch etablierenden Stimmhöhe hervorgebracht werden

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nigsmörder verkörpert.6 Alle heroischen Partien verlangten hingegen nach hohen Stimmen; diese Heldenpartien wurden bis tief ins 18. Jhd. hinein und teils noch im 19. Jhd. von Kastraten gesungen.7 Wenn wir uns des Weiteren die Frage stellen, wie sich das auf der Bühne verkörperte Geschlecht zum Geschlecht des jeweiligen Sängers verhielt, stellen wir fest, dass die männlichen, ursprünglich von Kastraten verkörperten Helden Sopran (Arbace und Artaserse) sangen und mit ihren hohen Stimmen das Ideal hegemonialer Männlichkeit in der Oper repräsentierten.8 Was den besonderen

können (Bass, Bariton, Tenor und Countertenor), von der Kastratenstimme abzugrenzen, die nicht durch Übung erworben und auch nicht performativ produziert werden kann, sondern ohne operativen Eingriff vor dem Einsetzen der Pubertät ganz prinzipiell unmöglich zu generieren ist (vgl. auch Fn. 16). 6

Nach Monelle ist die Stimmlage des Tenors im italienischen Barock sonst eher mit der opera buffa assoziiert (vgl. Raymond Monelle: „Recitative and Dramaturgy in the dramma per musica“; in: John A. Rice (Hrsg.): Essays on Opera (1750-1800), Farnham/Burlington 2010, S. 19-41, hier: S. 34). Neben dem Bass ist der Tenor aber auch in der Rolle des Antagonisten in der opera seria verbreitet, man denke an die TiridatePartie in der ersten Fassung von Händels Radamisto (1720) und Grimoaldo in Händels Rodelinda (1725) – vgl. hierzu ergänzend auch Fn. 13.

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Der letzte bedeutende Gesangskastrat, für den heroische Opernpartien (u.a. von Rossini und Meyerbeer) komponiert wurden, war mit Giovanni Battista Velluti sogar ein Sänger, der seine Karriere erst um 1825 beendete (vgl. Hubert Ortkemper: Engel wider Willen. Die Welt der Kastraten, Berlin 1993, S. 337-348 und 368). Die Konvention, dass gerade die jugendlich-strahlenden Helden in einer italienischen Oper eigentlich Alt oder Sopran singen mussten, hält davon ausgehend noch geraume Zeit im 19. Jhd. an, auch wenn man dann auf Sängerinnen in Hosenrollen zurückgriff.

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Der v.a. in den Sozialwissenschaften weitverbreitete Begriff der „hegemonic masculinity“ wurde von R.W. Connell geprägt (vgl. Masculinities, Berkeley/Los Angeles 2

2005, S. 77f.). Die australische Soziologin fasst darunter das jeweils gültige Ideal von

Männlichkeit in einer patriarchalen Gesellschaft, das mit gehörigem Sozialprestige versehen und Weiblichkeit, aber auch anderen Männlichkeiten wie den von Connell benannten komplizenhaften, untergeordneten und marginalisierten Männlichkeiten hierarchisch übergeordnet ist (vgl. ebd., S. 76-81). Für das 18. Jhd. (vor der Französischen Revolution) darf man wohl annehmen, dass die damalige hegemoniale Männlichkeit in der Aristokratie verortet war und sich in den Heroen der opera seria auf der Bühne spiegelte. Dass Männlichkeiten und das damit verbundene Ideal historischen Wandlungen unterworfen sind, hat Connell postuliert, allerdings ohne intensiv auf die Frühe Neuzeit in Europa einzugehen (vgl. ebd., S. 187-199).

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Fall der päpstlichen Bühne in Rom anbelangt, ist außerdem klar, dass auch die Frauenpartien 1730 von Kastraten gesungen wurden. Diese Besetzungspraxis im Kirchenstaat der Frühen Neuzeit führte zu einem häufigen Missverständnis bezüglich der Kastraten, da diese sich als Sänger in das kollektive Gedächtnis gleichsam als prämoderne Drag Queens eingebrannt zu haben scheinen – man denke an Balzacs berühmte Novelle Sarrasine (1830), in der sich der naive Titelheld auf einer Romreise in die prima donna verliebt, also in einen Kastraten.9 Wichtig ist aber festzuhalten, dass diese Praxis, die Frauenpartien einer Oper von Kastraten singen zu lassen, einen Sonderfall darstellte und in erster Linie für den Kirchenstaat Gültigkeit hatte.10 Aufgrund eines päpstlichen Verbots durften Frauen dort prinzipiell nicht auf der Bühne agieren,11 und daher griff man auf Kastraten auch in Frauenrollen zurück. Im übrigen Italien und in weiten Teilen Europas traten aber neben Kastraten ganz selbstverständlich Frauen als Opernsängerinnen auf. Es ist also festzuhalten, dass der Kastrat in der italienischen Barockoper v.a. für eine Rolle vorgesehen war, nämlich die des strahlenden, männlichen Helden. Treffend hat man daher auch vom „Heldensopran“ in der opera seria gesprochen.12 Genau diese Besetzungspraxis ist auch in Vincis Artaserse am Werk: Die heroischen Männerrollen Arbace und Artaserse verlangen nach zwei Kastraten. Hohe Stimmen stehen für Jugend und Heldenmut, die ‚natürliche‘, dunklere Männerstimme für die ältere Generation und hier insbesondere für das Böse.13

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Vgl. zu den mit der Präsenz des Kastraten in der Novelle verbundenen hermeneutischen Problemen Verf.: „‚Une affreuse vérité avait pénétré dans son âme‘ – Von den Gefahren des Verstehens. Eine hermeneutische Lektüre“, in: Elke Richter u.a. (Hrsg.): Balzacs ‚Sarrasine‘ und die Literaturtheorie. Zwölf Modellanalysen, Stuttgart 2011, S. 132-147.

10 Für Portugal wird jedoch Entsprechendes berichtet; auch dort war es Frauen verboten, im Theater aufzutreten (vgl. Ortkemper: Engel wider Willen, S. 215). 11 Die Grundlage für dieses Verbot stellten die Worte des Apostels Paulus bereit: „mulier taceat in ecclesia“ (vgl. ebd., S. 21). 12 Der Begriff geht auf Ortkemper (ebd., S. 7) zurück: „Im Barock gab es auf der Opernbühne keine Heldentenöre, es gab Heldensoprane.“ 13 Das Böse kann in der opera seria auch durch Kastratenstimmen verkörpert werden. Ein Beispiel aus Artaserse ist die Rolle des Megabise; bei Händel denke man u.a. an Tolomeo in Giulio Cesare in Egitto oder Polinesso in Ariodante – wobei diese Partei allerdings bei der Uraufführung für eine Sängerin konzipiert war. Männerstimmen wie Tenor oder Bass erfüllten im System der italienischen Barockoper hingegen entweder die Funktion, Alter zu symbolisieren (Vater- und Königsfiguren, wie der Re di Scozia

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Erschienen Kastratenstimmen für ein bürgerliches Opernpublikum nach der Französischen Revolution zunehmend als ein ‚perverses‘ Relikt des Ancien Régime sowie als Inbegriff von Artifizialität und wurden daher bereits ab der Aufklärung – u.a. von Rousseau – als ‚unnatürlich‘ und ‚barbarisch‘ angegriffen,14 galt diese Bewertung für das 17. und noch weite Teile des 18. Jhds. in Italien allerdings nicht so ohne Weiteres. Vielmehr muss für das Publikum der opera seria davon ausgegangen werden, dass die Kastraten der italienischen Musiklandschaft zwar als außergewöhnlich, nicht aber im engeren Sinne als ‚unnatürlich‘ galten. Eine noch für das 18. Jhd. überlieferte Unterscheidung begriff die Kastraten nämlich als soprani naturali und grenzte sie von Männerstimmen ab, die über die Technik des sog. Falsetts eine vergleichbare Stimmhöhe erreichten: Diese nannte man soprani artificiali.15 Nicht ein sich ausgehend von Rousseau allmählich etablierender Naturbegriff ist für das Verständnis dieser Opposition relevant, sondern die Frage, ob ein Sänger eine bestimmte Gesangstechnik anwenden musste, um eine hohe Lage zu erreichen, oder ob ihm diese Lage ‚von Natur aus‘ zur Verfügung stand. In diesem Punkt berührten sich nach damaligem Verständnis Frauen- und Kastratenstimmen, da beide – über weite Strecken – keine reine Kopfstimme benötigten, um Sopran zu singen, wohingegen alle unkastrierten Männer nach dem Stimmbruch dies nur über den (offenbar als ‚artifiziell‘) empfundenen, technisch durchaus komplexen Einsatz der Kopfstimme

in Ariodante), den Antagonisten darzustellen (z.B. Argante in Händels Rinaldo) oder waren für Nebenrollen reserviert. 14 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Dictionnaire de musique, Paris 1768 [als PDF über www.gallica.fr zu beziehen], s.v. castrato: „Il se trouve, en Italie, des pères barbares qui, sacrifiant la Nature à la fortune, livrent leurs enfans à cette opération, pour le plaisir des gens voluptueux & cruels, qui osent rechercher le Chant de ces malheureux [...]. Faisons entendre […] la voix de la pudeur & de l’humanité qui crie & s’élève contre cet infâme usage, & que les Princes qui l’encouragent par leurs recherches, rougissent une fois de nuire, en tant de façons, à la conservation de l’espèce humaine“ (Herv. C.G.). Zugleich war Rousseau aber von der italienischen Musik fasziniert, die (zu nicht unerheblichen Teilen) für Kastraten komponiert wurde. In seiner Lettre sur la Musique Françoise (1753) nennt der Philosoph Vinci, Corelli, „Buononcini“ und Pergolesi als „les premiers qui ayent fait de la Musique“ – und nicht bloß „de l’harmonie & des sons“ (Rousseau: Lettre sur la musique françoise, S. 45, Fn.). 15 Vgl. zu dieser Unterscheidung Della Valle zit. nach Sabine Ehrmann-Herfort/Thomas Seedorf: „Stimmengattungen“ (Art.); in: MGG2, hrsg. v. Ludwig Finscher, Sachteil 8, Kassel/Stuttgart/Weimar 1998, Sp. 1775-1811 Sp. 1796.

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(näherungsweise) erreichen konnten bzw. immer noch können.16 Nachdem die Kastratenstimme ab Mitte des 19. Jhds. endgültig von der Opernbühne und mit Beginn des 20. Jhds. auch aus dem Kirchenchor verschwunden war, blieben für die Zukunft prinzipiell nur zwei Optionen, wollte man eine italienische Barockoper mit der jeweils originalen Stimmhöhe der Partien inszenieren: Entweder wurde auf (Mezzo-)Sopranistinnen in einer Hosenrolle oder auf Countertenöre zurückgegriffen. Dies beschreibt auch den Stand der Dinge 2012, als Cencic – selbst Countertenor – Vincis Artaserse nach einem Jahrhunderte währenden Dornröschenschlaf wiederbelebte. Dass zu Beginn des 21. Jhds. Countertenöre oft als die Besetzung empfunden werden, die am nächsten an die ursprünglich geforderten Kastraten heranreiche, ist bei genauerer Betrachtung aber nicht evident – jedenfalls nicht aus einer rein stimmlichen Perspektive: Als soprani artificiali wurden sie ja im 18. Jhd. klar von den Kastraten unterschieden, während

16 Es ist zwar in den postmodernen Gender Studies eine prinzipielle und oft auch berechtigte Skepsis anzutreffen, was die Verwendung von Kategorien wie ‚Natur‘ und ‚Natürlichkeit‘ betrifft, dennoch darf auch auf den evidenten Unterschied verwiesen werden, der in dem uns hier interessierenden Falle des Gesangs z.B. einen Tenor von einem Kastraten abhebt: Beide haben zwar erst durch eine intensive Gesangsausbildung ihre jeweilige Gesangsstimme ausgebildet (die also auch im Falle des Tenors nicht ‚einfach‘ von Natur aus gegeben war), zum Kastraten wird man aber nicht durch Übung und Performance, sondern durch körperliche Verstümmelung, die wiederum auch nicht durch Performance behoben werden könnte (vgl. zum Begriff der Performance in den Gender Studies v.a. Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York u.a. 1990 und kritisch zu einer auch von Butler selbst als problematisch gewerteten Entgrenzung dieses Begriffs u.a. Verf.: Von Kastraten, Hermaphroditen und anderen Grenzgängern lateinamerikanischer Männlichkeit, unveröffentlichte Habilitationsschrift). Die Kastratenstimme kann nicht ‚performt‘ werden: Man hat sie (wegen des besagten Eingriffs) oder eben nicht. Gerade die Countertenorstimme darf nicht mit der Kastratenstimme verwechselt werden, da sie nicht nur auf eine prinzipiell andere Gesangstechnik zurückgreift, sondern vor allem anderen von einem anatomisch anders gearteten – nämlich unversehrten – Körper nach dem hormonell in der Pubertät ausgelösten Stimmbruch ausgeht: Den Countertenor unterscheidet biologisch nichts von anderen Männern, seine Gesangsstimme ist davon ausgehend als genau so ‚natürlich‘ oder ‚künstlich‘ anzusehen, wie die seiner tenoralen, baritonalen, etc. Kollegen. Dass sie bereits in der Frühen Neuzeit als ‚artificiale‘ galt und bis in die Gegenwart gerne als ‚Falsett‘ (‚falsche Stimme‘) abqualifiziert wird, gründet jedoch wiederum nicht auf ‚naturgegebenen‘ Tatsachen, sondern ist soziokulturellen Diskursformationen zu Männlichkeit und Weiblichkeit geschuldet.

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man Kastraten wie Frauen als ‚natürliche‘ hohe Stimmen empfand. Das Faszinosum, das aktuell von Countertenören ausgeht, dürfte daher wohl in erster Linie damit zusammenhängen, dass ihre Bühnenpräsenz in der Tat einen ähnlichen Kitzel im Publikum auslösen kann, wie wir dies wohl auch für die Kastraten zu Vincis Zeiten annehmen dürfen, nämlich die szenische Kopräsenz eines männlichen Körpers und einer hohen Stimme. Ausgehend von der Kategorie des Heldensoprans sei konkret bezogen auf Vincis Oper eine Reihe von Fragen aufgeworfen: Was für einen Helden repräsentiert Arbace, der primo uomo? Was macht ihn zu einem Exponenten heroisch-hegemonialer Männlichkeit? Wie verhält sich dieses Männlichkeitsideal zu Gewalt bzw. inwiefern ist die Figur ‚Arbace‘ selbst Opfer von (innerfiktionaler) Gewalt? Schließlich soll dies noch mit der (extrafiktionalen) Gewalt zusammengedacht werden, deren Opfer die Gesangskastraten als Heroen der Barockoper im Knabenalter wurden. Bevor dies aber genauer entfaltet werden kann, muss zum besseren Verständnis noch ein kurzer Blick auf Poetik, Figurenkonstellation und Plot dieser opera seria geworfen werden, die auf ein Libretto des im 18. Jhd. als Opernlibrettisten gefeierten Pietro Metastasio gründet.17 Formal begriff der lange Jahre am Wiener Kaiserhof wirkende Dichter seine Werke als bewusste Nachbildung der antiken Tragödie,18 allerdings bei obligatorischem lieto fine, so dass wir im metastasischen Drama das ‚zweitbeste‘ Tragödienmodell nach Aristoteles, die Tragödie mit gutem Ausgang, erkennen, die damit schließt, dass ‚die Guten‘ triumphieren und ‚die Bösen‘ untergehen.19 Die teils der aristotelischen Poetik entnommenen, teils gefolgerten oder ergänzten ‚drei Einheiten‘ sind im Artaserse z.B. recht genau beachtet und werden für das gebildete Publikum auch offengelegt. So singt Arbace, all sein Glück habe sich an einem einzigen Tag in Unglück verkehrt und deutet damit ostentativ auf die bei Aristoteles noch recht vage, in der französischen Klassik des 17. Jhds. aber sehr rigide als 24-Stunden-

17 Selbst Voltaire war ein erklärter Bewunderer – bei all seiner Kritik am italienischen Opernmodell – der von Metastasio verfassten Libretti, die der französische Aufklärungsphilosoph als Tragödien pries (vgl. hierzu Armellini: „...Meco sola è l’innocenza“, S. 110, Fn. 38). 18 Vgl. Feldman: Opera and Sovereignty, S. 278f. 19 „Die zweitbeste Tragödie [...] ist die mit einer zwiefach zusammengefügten Fabel [...], in der die Guten und die Schlechten ein entgegengesetztes Ende finden“ (Aristoteles: Die Poetik. Griechisch/Deutsch, hrsg. und übers. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 2

1994, 1453a, S. 41). Metastasio hat sich übrigens selbst mit der aristotelischen Poetik

in seinem Estratto dell’arte poetica d’Aristotile auseinandergesetzt (vgl. hierzu Armellini: „...Meco sola è l’innocenza“, S. 84-87).

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Regel gefasste Einheit der Zeit: „No, che non ha la sorte/ Più sventure per me. Tutte in un giorno,/ Tutte, oh Dio, le provai.“20 Darüber hinaus achtet Metastasio in scharfer Abgrenzung zur italienischen Oper des 17. Jhds. auf die konsequente Vermeidung von Gattungsmischungen, also auf die Verbindung von Komik und Ernst oder auch von Göttern, Adel und drittem Stand auf der Bühne. Artaserse kennt folglich keine, von Metastasio so angelegte Komik und verzeichnet auch das peinlich genaue Einhalten der Ständeklausel. Der persische Hochadel ist jedenfalls unter sich in diesem „dynastic melodrama“21: Artaserse selbst ist kein Geringerer als der (spätere) Großkönig selbst, Mandane seine Schwester; Artabano Befehlshaber der königlichen Garde, Arbace dessen Sohn, Semira die Tochter. Noch Megabise – eine kleinere Partie – ist als Vertrauter und Mitverschwörer des Artabano als persischer General konzipiert. Da selbst diese überschaubare Rolle von einem Kastraten verkörpert wurde, belegt Artaserse, was ein italienischer Kritiker dieses Opernmodells zeitgenössisch formulierte: Noch der Geringste der Kastraten sänge zumindest einen Hauptmann des Königs oder der Königin, hinter dem erst der Komponist in gebührendem Abstand auf der Straße zu gehen habe.22 Plebs und Soldateska sind hingegen auch in Artaserse als Statisten kaum mehr als eine weitere Verzierung des Bühnenbildes, vor dessen Folie der Adel agiert. Ein Blick auf die Figurenkonstellation der Oper zeigt, dass Arbace als primo uomo in ein komplexes Beziehungsgeflecht eingebunden ist: Familiär ist er auf seinen Vater Artabano verwiesen, der den persischen Großkönig Serse (Xerxes I.) vor Einsetzen der Handlung (off-stage) ermordet und Arbace das blutige Schwert – die Mordwaffe – zur Aufbewahrung übergibt. Die weiteren Verwicklungen sind ausgehend von dieser Exposition leicht zu erahnen: Das Schwert wird bei Arbace entdeckt und er des Königsmordes angeklagt, alle wenden sich von ihm ab. Pikant ist dabei, dass der neue König – Artaserse (Artaxerxes I.), der Titelheld – eng mit Arbace befreundet ist. Zu diesem Konflikt zwischen Arbaces

20 Pietro Metastasio: „Artaserse“; in: ders.: Tutte le opere, Bd. I, hrsg. von Bruno Brunelli, Verona 21953, S. 355-414, I,15, S. 378 (Herv. C.G.). In der Folge sind alle Zitate aus dem Libretto dieser Ausgabe unter direkter Angabe von Akt, Szene und Seitenzahl im Haupttext entnommen. 21 Markstrom: The Operas of Leonardo Vinci, S. 307. 22 Vgl. Benedetto Marcello: Il Teatro alla moda [1720], hrsg. von Andrea d’Angeli, Mailand 1956, S. 19: „Camminando il compositore con virtuosi, particolarmente CASTRATI,

darà sempre loro la mano dritta, starà con cappello in mano, un passo in-

dietro, riflettando che il più inferiore di questi è nelle opere per lo meno un generale, un capitano del re, della regina, etc.“ (Herv. i. O.).

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Gehorsam zum eigenen Vater und Freundschaft zum Sohn des Ermordeten tritt die obligatorische Liebeshandlung: Arbace liebt Mandane, die ausgerechnet die Tochter des ermordeten Königs und Schwester des Artaserse ist. Dieses Paar von primo uomo und prima donna ist wie üblich gedoppelt: Artaserse (secondo uomo) liebt Semira (seconda donna), die Schwester des Arbace und damit Tochter des Königsmörders Artabano.23 Dieser hat des Weiteren einen Komplizen bei seinem Plan, nun auch noch Artaserse zu beseitigen: Megabise, der zugleich der Rivale des jungen Königs um die Gunst der Semira ist. Während Arbace von seinem königlichen Freund widerwillig in den Kerker geworfen wird, betreibt Artabano die Ermordung des neuen Großkönigs. Er lässt von Megabise den Inhalt des heiligen Kelchs vergiften, aus dem Artaserse anlässlich seiner Thronbesteigung trinken soll. Bei den Feierlichkeiten zu Artaserses Inthronisation wird dann aber zunächst Arbace auf Geheiß des jungen Königs im Sinne eines Gottesurteils aufgefordert, seine Unschuld zu bekräftigen, indem er aus dem Kelch trinkt, da die Götter jeden Lügner mit dem Tode bestraften. Um seinen Sohn zu retten, ist Artabano zum Geständnis gezwungen. Als Artaserse den Verräter zum Tode verurteilt, will Arbace den Platz des Vaters auf dem Schafott einnehmen. Artaserse schickt Artabano nolens volens ins Exil und bietet seine Hand Semira. Arbace darf Mandane heiraten. Lieto fine! Vieles wirkt auf Zeitgenossen des frühen 21. Jhds. in dieser Oper wohl paradox oder widersinnig, angefangen eventuell bereits bei der Sopranstimme, die dem männlichen Helden zugeordnet war: Arbace ist zu völliger Passivität verurteilt aufgrund eines Dilemmas, das wir als dilemme cornélien begreifen können.24 Wie sich z.B. der Cid bei Pierre Corneille zwischen der Familienehre und seiner Liebe entscheiden muss, sieht sich Arbace vor die Wahl gestellt, seinen Vater zu verraten, ihn als Mörder des Perserkönigs ans Messer zu liefern und sich damit der Freundschaft von Artaserse, seines Nachfolgers, zu vergewissern und Mandane für sich zu gewinnen. Nur kann Arbace dies nicht tun, da ihm der

23 Vgl. auch Monelle: „Recitative and Dramaturgy“, S. 27: „[T]he characters [...] are paralleled and contrasted.“ 24 Vgl. zu der bereits in der Forschung andiskutierten strukturellen Nähe des MetastasioLibrettos zu Pierre Corneilles tragi-comédie Feldman: Opera and Sovereignty, S. 248. Als Quellen und mögliche Vorlagen für die dramatische Konzeption des Artaserse werden weitere französische Vorbilder – bereits zeitgenössisch – genannt: Charles de Brosses identifiziert in seinen Lettres d’Italie (um 1744-1755) als Metastasios Inspirationsquellen die Tragödien Stilicon von Thomas Corneille und Crébillons Xerxès (vgl. Armellini: „...Meco sola è l’innocenza“, S. 80, Fn. 4).

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Gehorsam zu seinem Vater über alles geht. Es ergibt sich also eine dilemmatische Situation mit folgenden Alternativen: 1. Artabano verraten. Das moralische Prinzip „Du sollst Vater und Mutter ehren“ wäre verletzt und Arbace würde verantwortlich für die Hinrichtung des eigenen Vaters als Königsmörder; 2. Artabano decken mit den Konsequenzen Verlust der Geliebten, des Freundes und des eigenen Lebens; darüber hinaus wäre Arbace als Königsmörder gebrandmarkt. Arbace wählt die zweite Option, ist also bereit, sogar sein Leben für den verbrecherischen Vater zu opfern. Dies führt dazu, dass er sich nicht verteidigen kann, als bei ihm die Mordwaffe gefunden wird, die er auf Befehl seines Vaters versteckt hatte. Es bleibt ihm nur, seine Unschuld zu beteuern,25 obwohl alles gegen ihn spricht, und zu erleben, wie ihn sein Freund ins Gefängnis wirft, seine Geliebte ihn als Mörder ihres Vaters zu hassen versucht und sogar sein Vater – um den Schein zu wahren – ihn zum Tode verurteilt.26 Arbace könnte den Königsmord – ein für die Zeitgenossen besonders monströses Verbrechen27 – aufklären und seine eigene Unschuld beweisen, indem er den wahren Täter benennt. Diese ‚Unschuld‘ hätte ihn aber mittelbar zum Henker des eigenen Vaters bestellt und ihn strukturell in eine homologe Position zum Königsmörder selbst gerückt, da die Zeitgenossen Mord am Vater und Mord am pater patriae gerne parallel lasen. Aus Arbaces eigener Sicht und wohl auch aus Sicht des Publikums hätte er sich mit dem Verrat an Artabano ähnlich moralisch disqualifiziert, wie dieser durch den Mord an seinem König. Im Stück insinuiert dies tatsächlich Arbace in der letzten Szene der Oper, als er Artaserse um das Leben seines Vaters bittet: „Toglimi ancor la vita. Io non la voglio,/ se per esserti fido,/ se per salvarti, il genitore uccido.“ (III, scena ultima; S. 413; Herv. C.G.). Da Arbace also keine Möglichkeit sieht, sich und seinen Vater zu retten sowie die Geliebte zu gewinnen, ist er zu völliger Passivität verurteilt, die er als einzige, ihm moralisch vertretbare Handlungsoption jedoch aktiv wählt. 25 Arbace wiederholt auf alle Vorhaltungen von Seiten des Königs, aber auch aus dem Munde seiner Geliebten: „Sono innocente“ (I,11; S. 373; I,14; S. 377). 26 Vgl. hierzu auch Armellinis Einschätzung: „incolpato inguistamente, [Arbace] è abbandonato in rapida successione da coloro dai quali fino a poco prima si riteneva amato (amico, padre, sorella, amante), per restare solo in scena [...]“ („...Meco sola è l’innocenza“, S. 83). 27 Artaserse spiegelt in seinen Worten diese zeitgenössische Perspektive werkintern: „Orror del gran delitto“ (I,3; S. 364).

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Arbace ist somit in gewisser Weise bei seiner Entscheidung noch mutiger und entschlossener als der Cid, denn Arbaces choix führt nicht ‚nur‘ dazu, dass er seine Liebe zu Mandane, also die Hoffnung auf individuelles Glück, aufgeben muss; vielmehr bedeutet seine Passivität, dass er als verurteilter Königsmörder die eigene Ehre für das Leben des Vaters opfert, selbst dadurch zum Verbrecher zu werden droht, dass er einen Verbrecher deckt und auch gegen die Gebote der amicitia zu Artaserse verstößt, die als homosozialer Bund zwischen Männern im Humanismus mit besonderer Wertschätzung aufgeladen war.28 Der Cid, so könnte man sagen, bewahrt seine Ehre und verliert die Geliebte; Arbace bewahrt sich intimistisch seine Unschuld und moralische Reinheit, verliert aber nach außen Ehre, Freund, Geliebte und prospektiv auch sein Leben: „Perdo l’amico,/ M’insulta la germana,/ M’accusa il genitor, piange il mio bene“ (I,15; S. 378). Mehr Verzicht kann man wohl von einem Helden nicht verlangen.29 In der letzten Szene, nachdem Artabano als der wahre Königsmörder entlarvt werden konnte, verklärt sein Freund Artaserse den unschuldig-standhaften Arbace dann auch konsequent zur Personifikation der virtù: „Oh virtù che innamora!“ (III, scena ultima; S. 413). Virtù ist nun aber im Italienischen seit Machiavelli ein schillernder Begriff. Artabano, der tenorale Bösewicht der Oper, konnte in einem seiner rezitativischen Monologe für sich auch die virtù reklamieren, die es eben brauche, um ein wirklich großes Verbrechen zu begehen.30 In diesem Kontext meint der Begriff die von Machiavelli dem Fürsten als ‚Tugend‘ anempfohlene ‚Tüchtigkeit‘, politische Entscheidungen nicht von moralischen Prinzipien abzuleiten, sondern nach dem Gebot der Stunde im Sinne des eigenen Machterhalts oder Machtzuwachses zu handeln. In Artaserses Rede wird nun diesem Machiavellismus die ältere Semantik der Tugend als moralische Lebens-

28 Vgl. zur amicitia in der Frühen Neuzeit den kurzen Überblick bei Juan Pablo GilOsle: Amistades imperfectas. Del humanismo a la ilustración con Cervantes, Madrid/Frankfurt/M. 2013, S. 17-43. 29 Metastasio hat Arbaces schweres Leiden (pathos) in seinem Estratto dell’Arte poetica d’Aristotile (implizit) wie folgt benannt: „un innocente figliuolo sagrifica[ndo] generosamente la propria gloria e la vita per la conservazione d’un padre“ (Metastasio, Tutte le opere, II, S. 1032). Deutlich wird eine paradoxale Struktur: Aus Arbaces generosità – die ihm eigentlich zur Ehre gereichen müsste – droht gerade seine Entehrung zu folgen, Arbace ist also bereit, die eigene Ehre für das Leben seines (ehrlosen) Vaters zu opfern. 30 Artabano benennt zunächst „un vano / Stimolo di virtù“, der ihn vom Königsmord nicht habe abhalten können, und beruft sich dann auf die plural verfassten „virtù necessarie a un gran delitto“ (I,3; S. 363).

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führung entgegen gehalten. Doch wir sollten nicht übersehen, dass im Begriff der virtù, abgeleitet vom lateinischen Etymon virtus (‚Tapferkeit‘, ‚Mut‘), auch implizit ein Männlichkeitsideal mitschwingt: virtus < vir. Arbaces Passivität und Selbstaufopferung fügt sich somit zugleich in eine bestimmte, idealtypische Form heroischer Männlichkeit. Während der Schlusschor den jungen Perserkönig zur Allegorie der Clementia erhebt,31 dürfen wir auch für den primo uomo Arbace festhalten, dass er nicht ganz von dieser Welt scheint: Er ist von so blütenweißer Unschuld und so hoher, idealer Moralität, dass er auch nach Aristoteles nicht sterben dürfte, denn der Tod des Unschuldigen sei µιαρóν (‚abscheulich‘) und ungeeignet, Eleos und Phobos zu wecken.32 Die Figur des Arbace allein erzwingt also das lieto fine – das zugleich gattungskonstitutiv im Fall der opera seria war. Ist Arbaces Tugend und damit auch seine Virilität als barocke Form hegemonialer Männlichkeit so lupenrein und ideal, also der Welt entrückt, so war offenbar auch die Stimme, die ihm auf der Bühne Leben einhauchte, dem Numinosen und Übermenschlichen zugeordnet – und damit auch der alltäglichen Männlichkeit des 18. Jhds. fremd. Alles, was uns die Zeitzeugen über die Kastratenstimme der großen Sänger zu berichten wissen, unterstreicht ihre ‚Unmenschlichkeit‘: Sie sangen für die Ohrenzeugen nicht wie Menschen, sondern z.B. – um ein weitverbreitetes Cliché zu zitieren – ‚wie Engel‘. Arbaces Triumph ist folglich auch in erster Linie musikalisch zu spüren, lange bevor die Tragödienhandlung ihn am Ende dramatisch triumphieren lässt. Dieser Triumph über ein widriges Schicksal ist Leonardo Vincis Musik und Giovanni Carestini als Interpret der Arbace-Partie zu verdanken, der als einer der großen Sopranisten auch z.B. von Georg Friedrich Händel nach London engagiert wurde. Da Arbace als dramatische Figur über weite Strecken des Stücks ein Spielball der anderen und aufgrund seiner moralischen Integrität zur Passivität verurteilt ist, vermag es kaum zu überraschen, dass er in erster Linie Opfer von Gewalt und nicht selbst handelnder Täter ist. Gewalt geht bei genauer Betrachtung nur an einer Stelle von Arbace gegen andere aus und dies ist außerdem szenisch nicht realisiert, sondern wird über einen Botenbericht rezitativisch nachgetra-

31 „La clemenza assisa in trono“ (III, scena ultima; S. 414). Dies kommt etwas überraschend, da vorher Arbace vom König gerade keine „clemenza“ erbeten hatte: „Ah! non domando/ Da te clemenza: usa rigor“ (ebd., S. 413f.). 32 Vgl. Aristoteles: Poetik, 1452b, S. 38f.

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gen:33 Gegen Ende des dritten Akts – so erfahren wir von Mandane – schlägt der Held den Aufstandsversuch des Megabise nieder, indem er zunächst „la turba ribelle“ gewaltfrei (durch Diplomatie) zerstreut und den verstockten Megabise, als alles Reden nichts fruchten will, im ritterlich zu denkenden Zweikampf tötet: „Ciascun depose l’armi, e sol restava/ L’indegno Megabise;/ Ma l’assalì, ti [= Artaserse] vendicò, l’uccise.“ (III,10; S. 411) In der letzten Szene vor dem Schlusschor droht Arbace dann, Gewalt gegen sich selbst zu richten, indem er den von Megabise und Artabano für Artaserse präparierten Schierlingsbecher zu trinken bereit ist. Gewalt geht somit über weite Strecken des Stücks von den anderen (Männern wie Frauen) gegen den Wehrlosen aus, der diese Passivität aber bewusst aufgrund seiner moralischen Prinzipien für sich gewählt hat. Das in Arbace verkörperte Männlichkeitsideal gefällt sich also in der Ausstellung einer schon unmenschlich zu nennenden Moralität, verbunden mit dem stoischen Erdulden von Gewalt, die vom eigenen Vater, von der Schwester, vom königlichen Freund und nicht zuletzt von der Geliebten am primo uomo verübt wird. Zugespitzt auf die Frage nach ‚Männlichkeit und Gewalt‘ lässt sich der Titel dieses Aufsatzes nun in einem zweifachen Wortsinn verstehen: Der männliche Held der Barockoper, so wie ihn Arbace verkörpert, war nämlich gleich zweifach ein Opfer von Gewalt: zum einen innerfiktional als dramatische Figur ein Opfer seines verbrecherischen Vaters und eines widrigen Schicksals – über beides konnte er dank seiner dramatischen virtù und musikalisch konstruierten Virilität triumphieren; zum anderen aber auch soziologisch und extrafiktional gewendet, denn der Sänger, der Arbace seine Stimme lieh (Giovanni Carestini), war – zumindest aus heutiger, ab Rousseau aber auch aus einer zeitgenössischen Perspektive – ein Opfer der (patriarchalen) Gesellschaft. Schätzungen, wie viele italienische Knaben aus bettelarmen Familien bis ins 19. Jhd. hinein mit der oft nebulösen Hoffnung auf die große Gesangskarriere tatsächlich kastriert wurden, sind aufgrund der zwangsläufigen Dunkelziffer müßig – Ortkemper spricht vage, wohl aber zutreffend von „unzählige[n] Kinder[n]“, die dieses Schicksal über sich ergehen lassen mussten.34 Sie alle wurden vor dem Stimmbruch Opfer einer ‚Operation‘, die gewöhnlich von Barbieren ausgeführt wurde, und bei der man die Hoden atrophierte.35 Über die Folgen dieser Verstümmelung konnten die Sänger wohl nur temporär auf der Bühne durch ihren Gesang triumphieren, in

33 Nach Markstrom handelt es sich bei Artarsere bezeichnenderweise um Vincis einzige, für Rom komponierte Oper „without a battle scene“ (The Operas of Leonardo Vinci, S. 304). 34 Vgl. Ortkemper: Engel wider Willen, S. 7 (Herv. C.G.). 35 Vgl. ebd., S. 19-21.

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der Gesellschaft blieben sie trotz großer Reichtümer und teilweise sogar verliehener Adelsprädikate Fremdkörper. So war ihnen z.B. die Heirat (zumindest im katholischen Europa) ganz prinzipiell untersagt. Eine streng patriarchale Gesellschaft wie die europäische des 18. Jhds. verlangte also auch marginalisierten Männlichkeiten aus dem Dritten Stand erhebliche Opfer ab. Dies unterstreicht, was Connell modellhaft für westliche Gender-Konfigurationen am Beispiel Australiens gegen Ende des 20. Jhds. entworfen hat: Männlichkeit erhebt sich nicht monolithisch im Patriarchat über Weiblichkeit, sondern ist selbst ein komplexes, plural verfasstes Phänomen, das durch interne Hierarchien und Brüche geprägt ist. Bei genauer Betrachtung setzt sich das jeweils gültige Männlichkeitsideal als ‚hegemoniale Männlichkeit‘ sowohl von Weiblichkeit als auch von anderen, deklassierten ‚Projekten‘ von Männlichkeit ab, im Besonderen von dem, was Connell ‚untergeordnete Männlichkeit‘ nennt, aber auch (sozioökonomisch) marginalisierte Männlichkeiten partizipieren nicht direkt vom inszenierten Glanz der Hegemonie. ‚Untergeordnete Männlichkeit‘ ist nach Connell insofern vom Sozialprestige abgeschnitten, das eine patriarchale Gesellschaft sonst in Form einer ‚Dividende‘ an ihre männlichen Mitglieder ausschüttet, als sie ‚symbolisch‘ in die Nähe von Weiblichkeit gerückt wird. Das für Connell bedeutendste Beispiel für eine in diesem Sinne ‚untergeordnete‘ Männlichkeit repräsentieren homosexuelle Männer, aber auch andere, als ‚effeminiert‘, ‚weich‘, etc. angegriffene Männlichkeiten fallen unter diese Kategorie. ‚Marginalisierung‘ meint demgegenüber bei Connell, dass diese Männlichkeiten keinen Zugang zu den Machtmitteln einer Gesellschaft haben, insbesondere zu den Ressourcen, die wir mit Bourdieu als ökonomisches, kulturelles und symbolisches Kapital erfassen können.36 Ins Europa der opera seria rückübersetzt, lässt dieses Modell aber ein verstörendes Paradoxon erkennen: Aus der marginalisierten Männlichkeit eines kastrierten Knaben, der einer Familie von süditalienischen Tagelöhnern entstammte, konnte ein Sänger hervorgehen, der hegemoniale Männlichkeit im System der Barockoper verkörperte – und extrafiktional auch Ritter des CalatravaOrdens in Spanien (wie Farinelli) oder Herzog von San Donato im Königreich Sizilien werden konnte (wie sein Rivale Caffarelli, der 1730 in Wien die ArbacePartie sang).37 Erst Kastration, Glück, Talent und eine kompromisslose Gesangs-

36 Vgl. zu diesen Männlichkeiten Connell: Masculinities, S. 78-81. 37 Vgl. zu ersterem Patrick Barbier: Farinelli. Der Kastrat der Könige. Die Biographie, übers. von Claudia Denzler, Düsseldorf 1995, S. 226 und zu seinem langjährigen Rivalen Hubert Ortkemper: Caffarelli. Das Leben des Kastraten Gaetano Majorano, genannt Caffarelli, Frankfurt/M./Leipzig 2000, S. 226. Carestini, ‚unser‘ Arbace, wurde übrigens auch sehr reich, meiner Kenntnis nach aber nicht geadelt (vgl. zu seiner Bio-

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ausbildung ermöglichten einen sozialen Aufstieg, der v.a. ohne eines – die Kastration – in dieser Form kaum vorstellbar war.38 Wenn wir diesen Aufstieg aber aus einer allgemeinen sozioökonomischen Perspektive herauslösen und nochmals konkreter versuchen, vor der Folie von Connells ‚Männlichkeiten‘ abzubilden, wird die Struktur deutlich, die uns wohl bis heute kulturhistorisch Rätsel aufgibt: Aus einer marginalisierten Männlichkeit entwickelt sich durch die Verstümmelung der anatomischen Virilität eine Figur, die nichts geringeres als hegemoniale Männlichkeit auf der Bühne performativ ausagierte, teils gewaltige sozioökonomische Potenz gepaart mit symbolischem Kapital (z.B. im Sinne eines Adelsprädikats) erlangte und doch zugleich in zeitgenössischen Karikaturen der Lächerlichkeit preisgegeben werden konnte39 und von einer völligen Integration in das patriarchale Gesellschaftsmodell auf eine doppelte Art und Weise ausgeschlossen blieb: Biologisch – als Faktum, das keiner Performance zugänglich ist40 – war es den castrati unmöglich, zum pater familias zu werden, und soziokulturell war ihnen gerade deshalb das Sakrament der Ehe verwehrt. Die Männlichkeit des Kastraten, die bereits vielfach umkreist wurde,41 changiert also

grafie Claudia Maria Korsmeier: Der Sänger Giovanni Carestini (1700-1760) und ‚seine‘ Komponisten. Die Karriere eines Kastraten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Eisenach 2000, S. 57-152). Vgl. zu Caffarelli als Arbace in Wien Markstrom: The Operas of Leonardo Vinci, S. 320. 1731 traten Carestini und Caffarelli gemeinsam in einem Artaserse-Pasticcio auf, wobei Caffarelli diesmal die Titelpartie sang (vgl. ebd., S. 320f.). 38 Die ‚natürlichen‘ Männerstimmen (Tenor, Bariton und Bass) waren in der opera seria klar nachrangig, was sich auch im Salär niederschlug. Die Spitzenverdiener waren hingegen die Kastraten, dicht gefolgt von den Sängerinnen (vgl. z.B. Saskia Maria Woyke: Faustina Bordoni. Biographie – Vokalprofil – Rezeption, Frankfurt/M. u.a. 2010, S. 54f.). 39 Vgl. das bei Malkiewicz kommentierte Material (Michael Malkiewic: „Zur Darstellung der Figur des Kastraten“; in: Gabriele Brandstetter/Sibylle Peters (Hrsg.): De figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München 2002, S. 289-310). Bezeichnend für den prekären Status der Kastraten in der frühmodernen Gesellschaft ist auch, dass Ortkemper ein ganzes Kapitel seiner Monografie „Wanderbühnen und Schimpfwörter[n]“ widmen kann (Engel wider Willen, S. 259; Herv. C.G.). 40 Vgl. zu dieser Widerständigkeit des Körpers auch Connell: Masculinities, S. 54-59. 41 Vgl. Patrick Barbier: „Über die Männlichkeit der Kastraten“; in: Martin Dinges (Hrsg.): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1998, S. 123-152; Sibylle Unser (Der Kastrat und seine Männlichkeit. Gesangskastraten im 17. und 18. Jahrhundert, Hamburg

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auf verstörende Weise zwischen Hegemonie (inner-, wie außerfiktional: Verkörperung von Göttern und Heroen sowie z.B. Erlangung der Herzogswürde im Falle Caffarellis) und Unterordnung (in Karikaturen, aber auch in der Unterstellung homosexueller Praktiken sowie in der kirchenrechtlich erklärten Untauglichkeit zur Ehe) und bleibt in ihrer Genese auch stets auf die ursprüngliche Marginalisierung bezogen, da ohne die existenziell bedrohliche Armut vieler Familien es wohl in den allermeisten Fällen gar nicht erst zur ‚Operation‘ gekommen wäre.42 Die Kastraten als Interpreten der Barockoper repräsentierten somit bereits zeitgenössisch eine changierende Männlichkeit, die sich – so meine These – aber nicht in erster Linie als ein ‚hermaphroditischer Wunschtraum‘43, also ein Tendieren zu Weiblichkeit, sondern als ein komplexes und konfliktives Oszillieren zwischen verschiedenen, einander teils diametral entgegenstehenden ‚Projekten‘ von Männlichkeit nach Connell erweist, indem die Kastraten – sofern sie als Sänger erfolgreich waren – Hegemonie ihrer ursprünglichen Marginalisierung verdankten, diese hegemonic masculinity aber stets drohte, sich in Unterordnung zu verkehren. Die Grenze verläuft dabei aber auch nicht völlig trennscharf zwischen fiktiver Rolle auf der Bühne (Hegemonie) und ihrer Position in der Gesellschaft; vielmehr war auch letztere von den antithetischen Tendenzen Hegemonie vs. Unterordnung durchzogen. Wie sich diese Konflikte, Fissuren und internen Widersprüche für die Zeitgenossen des 18. Jhds. darstellten oder eventuell gar auflösten, ist dabei immer noch nicht hinreichend kulturwissenschaftlich untersucht und bietet für dementsprechende Arbeiten sicher noch breiten Raum.

2009) arbeitet bereits mit Connells Masculinities; Verf.: „‚L’horreur des dames et la risée des hommes‘. Wahrnehmung des musico im Frankreich der Frühen Neuzeit“; in: Maria Imhof/Anke Grutschus (Hrsg.): Von Teufeln, Tänzen und Kastraten. Die Oper als transmediales Spektakel, Bielefeld: 2015. Bahnbrechend für die musikwissenschaftliche Untersuchung hoher Männerstimmen (Kastraten und Falsettisten) und auch wegweisend für zukünftige Arbeiten zur Konstruktion von Männlichkeit auf der barocken Opernbühne ist aber Corinna Herrs umfangreiche Studie: Gesang gegen die ‚Ordnung der Natur‘? Kastraten und Falsettisten in der Musikgeschichte, Kassel u.a. 2

2013.

42 Eine Ausnahme scheint Farinelli darzustellen, dessen Familie aus dem niederen Amtsadel stammte (vgl. Barbier: Farinelli, S. 21f.). Ohne Kastration hätte aber auch er wohl kaum den Aufstieg zum Calatrava-Ritter in Spanien erlebt. 43 Vgl. Seedorf zit. nach René Jakobs (selbst Countertenor): „Es gibt keine Kastraten mehr: Was jetzt?“ [Booklet, S. 45-51], in: Vivica Genaux: Arias for Farinelli, CD, harmonia mundi 2002, S. 46.

„The virtue of a good whip“: Henry Morton Stanley und die Unterwerfung des ‚dunklen Kontinents‘ A NGELA S CHWARZ

E INLEITUNG :

EIN WEISSER

F LECK

AUF DER

K ARTE

Zahlreiche Erkundungen vor allem außereuropäischer Gebiete durch europäische Naturkundler und Geographen hatten in der ersten Hälfte des 19. Jhds. dazu geführt, weite Teile des Globus kartographisch zu erfassen und damit zugänglich zu machen. Nach der Jahrhundertmitte erschien den Gesellschaften Europas wie generell der westlichen Welt das ‚Innere‘ Afrikas, so eine damals übliche Bezeichnung, als die letzte große zusammenhängende Landmasse, die der genauen Erforschung und Inbesitznahme harrte. Wissenschaftliches Erkenntnisinteresse mischte sich mit missionarischem Eifer, beides gefördert von Institutionen in europäischen Ländern, die mit den Vorstößen Einzelner außerdem strategische und nicht selten bereits konkrete ökonomische Interessen verbanden. Im letzten Drittel des Jahrhunderts wandelte sich bekanntlich die Gangart dieser Durchdringung aus wissenschaftlichem und kolonialem Interesse, als vor den Augen einer immer größere Kreise umfassenden medial eingebundenen Öffentlichkeit der sogenannte ‚Wettlauf um Afrika‘ die Phase des Imperialismus einleitete. Von den Afrikaforschern, die sich im 19. Jhd. um die Kartographierung von Teilen des subsaharischen Afrikas verdient machten, inszenierte wohl keiner sich und seine Expeditionen so konsequent und offensiv wie der Brite Henry Morton Stanley. Keiner wusste die Gemengelage an Strömungen im Westen, die sich auf den südlichen Kontinent bezogen, so für die eigenen Zwecke zu nutzen und umzudeuten wie er. Keiner verstand es besser, den Wandel der Presselandschaft und den Übergang zu einem neuen Journalismus so geschickt einzusetzen.

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Er verband wissenschaftliche Erforschung mit Kolonialisierung, Journalismus und Reiseliteratur mit Forschungsbericht, geographische Wissenschaft mit Wissenschaftspopularisierung und schuf dabei über die Jahre hinweg unter anderem nicht nur eine charakteristische Art der (Presse-)Berichterstattung über unbekannte Gebiete, sondern vor allem ein spezifisches Bild von der Wissenschaft, wie er sie betrieb. Geographie erschien danach als männliches Unterfangen, er selbst als idealtypischer Betreiber dieser Disziplin in der Form, wie sie vorangetrieben werden sollte. Afrikaforschung hatte es natürlich lange vor Stanley gegeben, was Kartographierung ebenso einschloss wie die Verbindung mit dem, was modern als Humangeographie bezeichnet werden würde. Was sich hinter dem Begriff verbirgt, umschloss auch damals schon, wieder nach jüngeren Termini, so etwas wie Kultur- und Sozialgeographie und wies eine Nähe zur Ethnologie auf. Berichte von Forschungsreisenden nicht nur aus den Küstenregionen des Kontinents, sondern auch von Vorstößen ins Landesinnere südlich der Sahara lagen ebenso schon vor wie fiktionale Aufbereitungen in Form von Abenteuergeschichten, in denen es oft ebenfalls um die Bewährung des Protagonisten und somit um einen Diskurs über Männlichkeit ging. Dabei spielten Narrative von Gefahr und Bewährung in Verknüpfung mit dem Einsatz von Gewalt bereits eine gewisse Rolle. Dennoch, so die hier verfolgte These, resultierte aus der Art, in der Stanley Form, Medium und zeitgenössischen Kontext zusammenführte, eine eigenständige und ausstrahlungskräftige Definition von Männlichkeit sowohl im kolonialen wie im wissenschaftlichen Tätigkeitsfeld. Männlichkeitsbild und Gewaltanwendung gingen dabei eine enge, von da an zentrale und stilprägende Verbindung ein. Die Besonderheiten dieser Konstruktion, die sich anhand seiner zahlreichen Schriften untersuchen lassen, ergaben sich aus der Koppelung dieses Konstrukts an verschiedene, parallel verlaufende Prozesse: eine sich verwissenschaftlichende Geographie, eine sich ausweitende Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, einen sich parallel dazu herausbildenden Stil inmitten eines medialen Transformationsprozesses und strukturellen Wandels der Öffentlichkeit und eine daran geknüpfte neue Methodik oder eher Pluralität von Methoden, Wissensbestände, Konzepte oder Bilder massenhaft zu verbreiten.

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G EOGRAPHISCHE W ISSENSCHAFT , DIE R ÄTSEL Z ENTRALAFRIKAS UND DIE Ö FFENTLICHKEIT Die Geographie oszilliert nach einer Beschreibung des Ethnologen Claude LéviStrauss mindestens in ihrer modernen Ausprägung, also in den letzten rund zweihundert Jahren, zwischen wissenschaftlicher Erforschung und abenteuerlicher Reise. Das gilt für das sogenannte ‚lange 19. Jahrhundert‘ ganz besonders, in dem sie sich, in Analogie zu anderen Bereichen, als Einzeldisziplin aus der bislang als Einheit gesehenen Naturkunde, „natural history“ oder „histoire naturelle“ als moderne Wissenschaft herauskristallisierte. Angesichts der Tatsache, dass der Zugang zu ihren Wissensbeständen und die Akkumulation von Wissen traditionell einfacher als etwa in der Physik war, erwuchs dem Professionalisierungsprozess eine besondere Charakteristik und Intensität. Die Zugänglichkeit ihres Wissens öffnete sie für eine Vielzahl unterschiedlicher Anliegen, zu denen nicht nur im 19. Jhd. so unterschiedliche Motive wie Erkenntnisfortschritt, literarische Beschreibung, Missionierung, Ausweitung des Handels oder des Kolonialreiches und Inszenierung der Disziplin sowie ihrer Betreiber zählte. Vor der Beschränkung auf eine akademisch etablierte Geographie, ein Prozess, der sich nur allmählich und keineswegs gradlinig vollzog, war die Tätigkeit, Orte auf der Weltkarte auszukundschaften und ihre topographischen Merkmale in Darstellungen oder Karten festzuhalten, also nicht allein den anerkannten Betreibern dieser Disziplin vorbehalten.1 Hinzu kam ein weiteres Spannungsverhältnis der Geographie, in dem sich, wie in der Beschreibung von Lévi-Strauss angedeutet, Feldforschung und Forschung in der Studierstube gegenüberstanden. Für die einen ließ sich wahre Erkenntnis nur durch die Erkundung vor Ort, für die anderen nur durch das intensive Studium von Fakten und Materialien in Bibliothek und Arbeitszimmer erreichen. Welche Arbeitsweise in der Disziplin dominieren sollte, bildete Teil eines bisweilen polemisch ausgetragenen Aushandlungsprozesses, in dem sich einzelne Forscher und vor allem die Institutionen hervortaten. Viele der gelehrten Ge-

1

Vgl. Felix Driver: Geography Militant. Cultures of Exploration and Empire, Oxford 2001, S. 2f. Zu diesen Professionalisierungsprozessen gehören die Auseinandersetzungen um die angemessene Methodik der Wissenserweiterung. Diese Debatten, die eben auch H.S. Stanley befeuerte, wurden selbstverständlich schon früher ausgetragen. Vgl. etwa Lawrence Dritsas: „Expeditionary Science: Conflicts of Method in Mid-Nineteenth-Century Geographical Discovery“, in: David N. Livingstone/Charles W.J. Withers (Hrsg.): Geographies of Nineteenth-Century Science, Chicago/London 2011, S. 255-277.

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sellschaften, die sich parallel zu der von ihnen vertretenen Disziplin zu etablieren suchten, entstanden erst im 19. Jhd., nicht selten mit verschiedenen Zielsetzungen. Das trifft etwa auf die 1830 in Großbritannien gegründete Royal Geographical Society zu, die um 1870 die größte wissenschaftliche Gesellschaft in London darstellte. Sie kann als wichtige Schnittstelle von Wissenschafts- und Kolonialgeschichte ebenso wie als Versuch gedeutet werden, einen systematischeren und zentralisierten Zugang zur Sammlung von Informationen zu schaffen,2 also als Institution der Wissenschaftsetablierung und Instrumentalisierung des Wissens im Dienste des Empire gleichermaßen. Die Differenzierung zwischen Feld und ‚Labor‘ schuf somit eine Kluft, die sich vertiefte, je enger die Definition dessen gefasst wurde, was die Wissenschaftlichkeit der Disziplin garantieren sollte. Nur wenigen gelang es, diese Kluft zu überbrücken.3 Einer breiteren Öffentlichkeit wurden die Aktivitäten der „naturalistevoyageurs“,4 Forscher wie Alexander von Humboldt, Aimé Bonpland, Georges Cuvier, Charles Darwin und anderer weniger namhafter Akteure, bekannt durch verschiedene Ausstellungs- und Inszenierungspraktiken, die ihrerseits eine Weiterentwicklung und Professionalisierung durchliefen. Das Kabinett, die Sammlung, die Ausstellung, das Naturkundemuseum, der Zoo und schließlich die Völkerschauen ließen fremde Welten sichtbar und greifbar werden.5 Reiseberichte und oft mehrbändige Werke mit den (Forschungs-)Ergebnissen der Reise luden

2

Vgl. Driver: Geography Militant, S. 27, 30.

3

Ein bekanntes Beispiel, das bekannteste aus dem deutschsprachigen Kontext, liefert Alexander von Humboldt. In zeitgenössischen bildlichen Darstellungen wurde er folglich mit Elementen der Ikonographie beider Wissensräume inszeniert. Vgl. ebd., S. 15f.

4

Vgl. Dorinda Outram: „New Spaces in Natural History“, in: Nicholas Jardine/James A. Secord/Emma C. Spary (Hrsg.): Cultures of Natural History, Cambridge 1996, S. 259.

5

Vgl. u.a. Annelore Rieke-Müller/Lothar Dietrich: Der Löwe brüllt nebenan, Köln/Wien/Weimar 1998; Eric Baratay/Elisabeth Hardouin-Fugier: A History of Zoological Gardens in the West, London 2002; Carsten Kretschmann: Räume öffnen sich. Naturhistorische Museen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006; Anne Dreesbach: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870-1940, Frankfurt/M./New York 2005; Cordula Grewe (Hrsg.): Die Schau des Fremden. Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft (Transatlantische Historische Studien, Bd. 26), Stuttgart 2006; Robert E. Kohler: All Creatures. Naturalists, Collectors, and Biodiversity, 1850-1950, Princeton 2013.

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zum Nachvollzug der Expedition und der Wege zur Erkenntnis im Sessel in der behaglichen Stube daheim ein. Die Leistung derer, die sich der Strapazen der Reise unterzogen hatten, erschien umso größer, je länger das Unternehmen gedauert hatte, je ferner und unzugänglicher die Ziele gewesen und je bedeutsamer die dadurch ermittelten Erkenntnisfortschritte von den Experten eingestuft wurden. Hatten im frühen 19. Jhd. in erster Linie bürgerliche Schichten Anteil an diesen Fortschritten, so weiteten sich die Kreise der Öffentlichkeit, die Interesse an der sich herausbildenden „culture of exploration“6 zeigten, etwa nach der Jahrhundertmitte deutlich aus. Der Lebensstandard begann allmählich zu steigen, ebenso die Alphabetisierungsrate und damit das Interesse an vielfältigem Lektürestoff. Das bedienten in der zweiten Jahrhunderthälfte nun immer häufiger günstige Buchpublikationen und mehr noch Zeitungen und Zeitschriften. Mit den Zeitungen und ihrem Bedarf an spektakulären Nachrichten ebenso wie an illustrativen Beschreibungen entwickelte sich eine neue Art der Präsentation von Einzelheiten. Als ‚neuer Journalismus‘ erschien ein (Massen-)Phänomen, das in den dreißiger Jahren bereits in New York aufgekommen war und sich drei Jahrzehnte später in Frankreich, Großbritannien7 und anderen Teilen Europa auszubreiten begann. Ihm lag eine spezifische Form der Darstellung zugrunde: populär, verständlich, anschaulich, auf Sensationsmeldungen ausgerichtet, mit der Einladung an die Leserschaft, Zeugen des Berichteten und schließlich gar Teilnehmende des Geschehens zu werden.8 Das funktionierte mit Berichten über Verbrechen in der sich rasch wandelnden urbanen Lebenswelt der Leserschaft, ließ sich aber ebenso mit Erzählungen aus fernen Ländern verknüpfen, die eine andere Form des unbekannten Territoriums boten als die Abgründe, in denen die städtische Kriminalität verortet wurde. Die Motive dafür, einen Teil der Welt als fremd und

6

Vgl. Driver: Geography Militant, S. 8f.

7

Vgl. zu Großbritannien, das sich bis weit ins 19. Jhd., Berenson spricht sogar vom Ende des Jahrhunderts (S. 25), dem neuen Journalismus weitgehend verschloss, was die Rezeption von Stanley in seinem Heimatland erschwerte; Edward Berenson: Heroes of Empire. Five charismatic men and the conquest of Africa, Berkeley/Los Angeles/London 2011, S. 25f.; Joel H. Wiener (Hrsg.): Papers for the Millions. The New Journalism in Britain, 1850-1914, New York/Westport/London 1988, darin u.a. Laurel Brake: „The Old Journalism and the New: Forms of Cultural Production in London in the 1880s“, S. 1-24.

8

Vgl. Berenson: Heroes of Empire, S. 26f.

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faszinierend zu deuten, waren im 19. Jhd. selbstverständlich vielschichtig.9 Dennoch vermochte der neue Journalismus gerade deshalb im späten 19. Jhd. solche Erfolge zu erzielen, weil er, wie ein zeitgenössischer französischer Beobachter erklärte, „Leserinnen und Lesern gab, was ihnen ihr eigenes Leben nicht verschaffte: […] ein Leben (voller) Romanzen, […] unglaublicher Abenteuer und überwältigender Gefühle, (voller) Blut, Sex und Tod.“10 Im Zuge einer solchen Darbietung verwandelten sich Forscherpersönlichkeiten, die früher eher als kontemplativ und dem Alltagsleben entrückt, weil ganz der Wissenschaft zugewandt, präsentiert worden waren, in Heldenfiguren. Sie wurden geschätzt oder gar verehrt wie Heroen der Mythologie aufgrund der großen Herausforderungen, die sie, so die Darstellung in den immer zahlreicheren populären Medien, angenommen und gemeistert hatten.11 So konnten selbst Unternehmungen wie eine Reise ins Innerste Afrikas zur Klärung geographischer Spezialfragen wie der nach den Quellen des Nils zu einem Ereignis aufsteigen, das nicht nur Experten beachteten, sondern das die Gemüter schließlich von Millionen von Menschen bewegte. 1858 beantworteten die britischen Forscher John Hanning Speke und Richard Francis Burton die Frage scheinbar, als sie den Tanganjika- bzw. den Viktoriasee ‚entdeckten‘. Aus ihnen speist sich zwar der Blaue bzw. der Weiße Nil, doch sind die Seen noch nicht der eigentliche Ursprung des Nils. Ähnlich aufregend erschien vielen zwanzig Jahre später die Frage nach dem Verlauf des Kongo, der als möglicher Zugang zum Inneren

9

Vgl. zur Entdeckung der dunklen Seite der Stadt etwa Judith R. Walkowitz: City of Dreadful Delight. Narratives of Sexual Danger in Late-Victorian London, Chicago 1992; zum Umdeutungsvorgang und seiner Instrumentalisierung in der britischen Presse Verf.: „‚EastEnders‘: Zur Konstruktion des neugierigen Blicks auf die städtischen Unterschichten in der Illustrated London News“, in: Natalia Igl/Julia Menzel (Hrsg.): Illustrierte Zeitschriften um 1900: Multimodalität und Metaisierung, Bielefeld 2016, S. 299-329. Zur Deutung von Angehörigen außereuropäischer Ethnien als Ausstellungsobjekte siehe etwa Verf.: „‚… absurd to make moan over the imagined humiliation and degradation‘: Exhibiting the Colonial Other at World’s Fairs and the Institutionalization of Cruelty“, in: Trutz von Trotha/Jakob Rösel (Hrsg.): On Cruelty. Sur la Cruauté. Über Grausamkeit (Siegener Beiträge zur Soziologie, Bd. 11), Köln 2011, S. 538-556.

10 Aussage von Henri du Roure, zit. nach Berenson: Heroes of Empire, S. 27. 11 Vgl. Outram: New Spaces, S. 259; Verf.: „Inszenierung und Vermarktung: Wissenschaftlerbilder im Reklamesammelbild des 19. Jahrhunderts“, in: Stefanie Samida (Hrsg.): Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011, S. 83-102.

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Zentralafrikas die Aufmerksamkeit auf sich zog. Bemerkenswert ist der Grad, in dem Macht- und Kolonialpolitik, wissenschaftliches Interesse, Vermarktung von Entwicklungen als Sensation, Aufnahmewilligkeit einer breiten Öffentlichkeit für Sensationsmeldungen und außergewöhnliche Taten und Menschen sowie der Drang zur Selbstinszenierung einzelner ‚men on the spot‘ zusammenwirkten, um aus einer Vermessungsexpedition eine mythisch überhöhte Heldengeschichte zu machen.

J OHN R OWLANDS – H ENRY M ORTON S TANLEY : „ A SELF - INVENTED MAN “ John Bierman hat in seiner Biographie Stanley sehr treffend als „self-invented man“12 beschrieben. Da Herkunft und Kindheit dem Verständnis des späteren Journalisten und Afrikaforschers von einer erfolgreichen und schließlich öffentlichen Person nicht entsprachen, setzte der Prozess der Selbst-‚erfindung‘ bereits früh ein. Der aus einfachen Verhältnissen stammende John Rowlands, 1841 im nordwalisischen Denbigh außerehelich geboren, setzte sich mit achtzehn Jahren in die USA ab. Dort nahm er den Namen seines Gönners, Henry Morton Stanley, ebenso wie einen US-amerikanischen Hintergrund an, eine Fiktion seiner Herkunft, die er viele Jahre bis in die Zeit seiner Afrikareisen hinein aufrechterhielt. Er wechselte danach in rascher Folge sowohl Wohnort als auch Arbeitsfeld. Schließlich als reisender Journalist tätig, berichtete er unter anderem von der nordamerikanischen ‚Frontier‘, von der Öffnung des Suezkanals und von Geschehnissen in Persien und Indien (in Buchform erst 1895 beschrieben in My Early Travels and Adventures in American and Asia). Einige dieser Berichte weckten das Interesse des New Yorker Verlegers James Gordon Bennett Jr., der Stanley fest als Sonderkorrespondenten seiner Zeitung New York Herald einstellte. 1869 gab Bennett ihm den Auftrag, den angeblich in Afrika verschollenen britischen Forscher und Missionar David Livingstone zu finden. Von Anfang an wurde das im März 1871 von Sansibar aus gestartete Unternehmen, auf das der Journalist in Begleitung von rund 200 Männern und ausgestattet mit einer 8 Tonnen schweren Ausrüstung zu seiner vorgeblichen Rettungsaktion aufbrach, zu einer fast unlösbaren Aufgabe erklärt. Dabei war dem britischen Konsul in Sansibar der Aufenthaltsort des Forschers sehr wohl be-

12 John Bierman: Dark Safari. The Life behind the Legend of Henry Morton Stanley, New York 1990, S. 2ff.

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kannt. Die Information, Livingstone sei verschollen, erwies sich spätestens bei seinem Eintreffen in Sansibar auch für Stanley als eine Erfindung Bennetts, sofern beide nicht von Anfang an gemeinsam auf die Erschaffung einer Sensationsnachricht hinarbeiten wollten.13 Die Tatsache, dass der Journalist trotz der Information zur ‚Rettungsexpedition‘ aufbrach, spricht für seine Beteiligung. Nach 236 Tagen und 700 Meilen traf die von Stanley angeführte Gruppe am 10. November 1871 in Ujiji am westlichen Ufer des Tanganjika-Sees auf David Livingstone. Der in Europa eher unbekannte Journalist, der den renommierten Forscher von einer Malaria-Erkrankung genesend vorfand, stilisierte das Ereignis anschließend zu einem Treffen zweier bedeutender Männer auf Augenhöhe. In seinen Meldungen im New York Herald und kurz darauf in seinem als Buch veröffentlichten Bericht nutzte Stanley erfolgreich verschiedene Modi und Strategien der (Selbst-)Darstellung, die seine Selbstinszenierung von da an bestimmen sollten. Die Ankunft am Ort des Treffens beschrieb er mit folgenden Worten: So I did that which I thought was most dignified. I pushed back the crowds, and, passing from the rear, walked down a living avenue of people until I came in front of the semicircle of Arabs, in the front of which stood the white man with the grey beard. As I advanced slowly towards him, I noticed he was pale, looked wearied, had a grey beard, wore a bluish cap with a faded gold band round it, had on a red-sleeved waistcoat and a pair of grey tweed trousers. I would have run to him, only I was a coward in the presence of such a mob − would have embraced him, only he being an Englishman, I did not know how he would receive me; so I did what cowardice and false pride suggested was the best thing − walked deliberately to him, took off my hat, and said: ‚Dr. Livingstone, I presume?‘ ‚Yes,‘ said he, with a kind smile, lifting his cap slightly. I replace my hat on my head, and he puts on his cap, and we both grasp hands, and I then say aloud: ‚I thank God, Doctor, I have been permitted to see you.‘ He answered, ‚I feel thankful that I am here to welcome you.‘

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13 Vgl. Berenson: Heroes of Empire, S. 33. 14 Henry M. Stanley: How I found Livingstone. Travels, Adventures and Discoveries in Central Africa. Including Four Months’ Residence with Dr. Livingstone, London 1872, S. 411f. Vgl. auch: Modern History Sourcebook: Sir Henry M. Stanley: How I Found Livingstone, 1871, in: Forham University (Hrsg.): Internet Modern History Sourcebook, 16.01.2015).

URL:

http://www.fordham.edu/halsall/mod/1871stanley.asp

(Stand:

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Die Begegnung mit dem in der Öffentlichkeit der westlichen Welt als großen Mann gefeierten Livingstone geschah vor einer großen Menge, die eine gewisse Unsicherheit und damit größere Herausforderung („such a mob“) für den Protagonisten bedeutete. Weit wichtiger als dieser Faktor war im Bericht aber die bedeutsame Rolle, die sie in dieser Situation zu spielen hatte, sollte sie doch Zeugenschaft übernehmen, als „a living avenue of people“ im Grunde Spalier stehen für den heldenhaften Retter und damit einen ansonsten eher unauffälligen bzw. nicht groß registrierten Moment zu einem Ereignis aufzuwerten. Nicht zufällig beschrieb sich Stanley dabei als bescheiden und in der Frage unsicher, welche Form der Begrüßung gegenüber dem Missionar und Forscher angebracht sei. Nicht zufällig erschien Livingstone als sanfter älterer Herr, etwas geschwächt, aber nicht zu hilfsbedürftig. Mitten im afrikanischen Busch, weit weg von jeder westlichen Zivilisation, seien Stanleys erste Worte an den einzigen Weißen weit und breit – den Engländer, den er als Amerikaner, dabei seine eigene britische Herkunft bewusst verschweigend, nicht einfach zu umarmen wagte – gewesen: „Dr. Livingstone, I presume?“ Obschon viele Zeitgenossen sich über diese absurde Begrüßung lustig machten und Stanley selbst die Unbeholfenheit seiner Worte mit der Verehrung für den großen Forscher zu erläutern suchte und sich damit wiederum aufwertete, blieb genau dieser Satz haften. Der Ausdruck prägte sich ein und ging rasch über in verschiedene Medien und Formate, die die Begrüßung in unzähligen Varianten von satirischer Überspitzung bis zu ernsthaftehrfürchtiger Wiederholung einsetzten. In der engen und unmittelbaren Verknüpfung mit dem Namen eines bis dahin Unbekannten erwies sich die Formel als ein genialer Schachzug effizienter Selbstvermarktung. Neben den verbalen Mechanismen verstand es Stanley auch, schon früh die immer wichtiger werdenden visuellen Strategien der Popularisierung einzusetzen. Zahlreiche Abbildungen in seinen Büchern und einige eigens von ihm autorisierte bzw. nach Vorlagen von ihm erstellte Illustrationen über die Afrikaexpeditionen in der Presse erfüllten den gleichen Zweck wie prägnante Ausdrücke oder Beschreibungen, die mit der eigenen Person unlöslich verbunden sein sollten. So durfte eine Illustration des zum Ereignis erhobenen ersten Kontakts im einzigen von Stanley wirklich autorisierten Bericht in Buchform, wie es in einer Werbung der Times zur Abgrenzung von zahlreichen anderen und vermeintlich äußerst zweifelhaften Veröffentlichungen hieß,15 nicht fehlen (siehe Abb. 2). Die Abbildung, die, nach Stanleys eigenen Skizzen angefertigt, in dem populärsten illustrierten Magazin der Zeit, der Illustrated London News (siehe Abb. 1) abge-

15 Vgl. „How I Found Livingstone“, in: The Times, Nr. 27.495, 30.09.1872, S. 14, Sp. B.

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druckt wurde, war nicht identisch mit der Buchillustration, die einige Monate später erschien. Vielmehr waren in der großformatigen Doppelseite der Zeitschriftenabbildung einige Details anders dargestellt als in der deutlich kleineren und schlichteren Buchabbildung vom Herbst 1872. Das betraf am auffälligsten wohl die Darstellung Livingstones, der in der Version des englischen Blattes weniger geschwächt wirkte, sowie die Prominenz der US-amerikanischen Flagge, die in der Zeitschrift nicht mehr in der Bildseite Stanleys, sondern zwischen den beiden Männern genau in der Bildmitte erschien. Abb. 1: „My Meeting with Dr. Livingstone“ in der illustrierten Zeitschrift16

Abb. 2: How I found Livingstone (1872) in der Buchpublikation17

16 Henry M. Stanley: „The Engraving for which I supplied the materials, represents my meeting with Dr. Livingstone at Ujiji, Lake Tanganyika; and is as correct as if the scene had been photographed“, in: The Illustrated London News, Bd. 61, Nr. 1718, 10.08.1872, o.P. (Bilddoppelseite nach S. 127). 17 Stanley: How I found Livingstone, o.P. (Bildseite nach S. 412).

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Von der ‚Gefolgschaft‘ der beiden Weißen nahm in der Zeitschrift auch nur die Stanleys eine Position im Vordergrund links ein, während die Gruppe mit den Schwarzafrikanern hinter Livingstone im Unterschied zu den arabisch wirkenden Männern weiter im Hintergrund stand und mit dem Fehlen der Figur des mit dem Speer in der Hand heraneilenden Erwachsenen ganz rechts in der Buchillustration einen anderen Charakter aufwies. Wichtig als Authentifizierungsstrategie über die Bekräftigung in den Werbeanzeigen hinaus war offensichtlich die in der Bildbeschreibung der Illustrated London News per Unterschrift von Stanley persönlich beglaubigte, vorgeblich photographisch genaue Wiedergabe der Szene in Ujiji. Abb. 3: Übertragung einer Geste − Stanley und Lieutenant Henn bei der Rückkehr Stanleys aus Ujiji in der Küstenstadt Bagamoyo18

Noch während dieser ersten Unternehmung schien sich eine bestimmte Form, so wie sie Stanley verwendet hatte, als Standard zu etablieren. Denn in der Darstellung der Rückkehr an die ostafrikanische Küste bei Bagamoyo − aufgrund der Konkurrenz von Berichten in der illustrierten Zeitschrift The Graphic in der Illustrated London News in der Ausgabe unmittelbar vor dem Bild mit der UjijiBegegnung abgedruckt (siehe Abb. 3) −, hatte sich die Begrüßungsszene zweier Weißer, die umringt von afrikanischen Begleitern vor exotisch anmutender Kulisse einander die Hände schütteln oder den Hut ziehen, schon als professionell und effizient, typisch westlich, typisch männlich verselbstständigt.

18 „The Finding of Dr. Livingstone“, in: The Illustrated London News, Bd. 61, Nr. 1717, 03.08.1872, S. 113f, hier: S. 113.

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Angesichts des großen Erfolges der Berichte überrascht es nicht, dass bis 1878 weitere Expeditionen auf Kosten des New York Herald, dann in Verbindung mit dem britischen Daily Telegraph folgten. In den Jahren 1874-1877 zog Stanley mit einem Tross von rund 360 Männern zuerst bis in die Nähe des Lualaba-Flusses, den er für die Nilquelle hielt. Dann ging es rund 3.000 Kilometer den Kongo entlang durch auf keiner Karte verzeichnetes Gebiet bis zum Atlantik. 108 der 359 Expeditionsteilnehmer, die Mehrzahl afrikanische Träger, überlebten die Strapazen und Gefahren nicht. In Stanleys Darstellung unter dem wiederum einprägsamen Titel Through the Dark Continent (1878) erschienen sie als akzeptabler Preis dafür, dass es dem westlichen Akteur gelungen war, die Expedition durchzuführen, sich gegen alle Widrigkeiten zu behaupten und Hauptfragen der Europäer über die Geographie Zentralafrikas zu beantworten. In der Folge entwickelte sich Stanley zu einem entschiedenen Befürworter kolonialen Engagements im ‚dunklen Afrika‘. In Großbritannien stieß er mit seinen Plänen der Erschließung weiterer Gebiete aber in der Phase auf wenig Interesse. Dagegen vertraute der König des 1830 neu geschaffenen Staates Belgien auf die Verheißung großer Gewinne und zeigte sich bereit, Stanleys dritte Expedition zu finanzieren. Allein diese Ausgangslage sorgte dafür, dass auch sie für die breite Öffentlichkeit ausführlich aufbereitet wurde und auf ein entsprechend breites Interesse stieß: so geschehen in Stanleys zweibändiger Veröffentlichung aus dem Jahr 1885 The Congo and the Founding of its Free State. Was die Investition des belgischen Königs angeht, so erwies sich der Entschluss bekanntlich als ökonomischer Glücksgriff, erhielt der König doch letztlich dadurch den Zugriff auf eines der reichsten Kolonialgebiete in ganz Afrika − das die Europäer bekanntlich wie gewohnt konsequent und rücksichtslos zum eigenen Vorteil ausbeuteten. Stanley unternahm noch eine weitere Afrikaexpedition mit dem weithin publizierten Ziel, den Gouverneur im südlichen Ägypten, dem heutigen Sudan, aus der Gewalt aufständischer Kräfte zu befreien und im Triumphzug zurück zur Küste zu begleiten. Aber die Situation vor Ort stellte sich als weit komplexer dar, als es in der Presse beschrieben wurde, denn Gouverneur Emin Pascha, ein gebürtiger Schlesier mit bürgerlichem Namen Eduard Schnitzer, befand sich zu keinem Zeitpunkt wirklich in Gefahr und wollte die Region auch nicht mit seinem vermeintlichen Retter verlassen – vielmehr rettete er dem erkranktem Stanley durch den gewährten Geleitschutz letztlich das Leben. Diese Umstände und die hohen Verluste an Menschenleben auf der überaus strapaziösen Route in die Äquatorialregion ließen die Kritik an Stanley in bestimmten Kreisen wachsen. Sein Eigensinn, sein Drang nach Anerkennung vor allem in Wissenschaftlerkreisen etwa in der Royal Geographical Society, der ihn immer größere und gefähr-

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lichere Expeditionen planen und durchführen ließ, die Brutalität, mit der er Verstöße seiner afrikanischen Hilfsmannschaft bestrafte, wurden in Expertenkreisen überaus kritisch gesehen. Sein unablässiges Bestreben, sich selbst in einer weiteren Öffentlichkeit als Pionier, Forscher und Wohltäter zu inszenieren und die Erfolge, die er dabei erzielte, galten als prahlerisch und unwissenschaftlich. In einer breiteren Öffentlichkeit schmälerte die Kritik der Gelehrten jedoch das Ansehen des ‚self-invented man‘ nicht.

„N OT A HOLIDAY AFFAIR “: I NSZENIERUNG WESTLICHER M ÄNNLICHKEIT IN S TANLEYS B ERICHTEN VON DEN A FRIKAEXPEDITIONEN Stanleys Afrikaexpeditionen besaßen von der ersten Reise an den Charakter eines Medienevents. Die erste wurde sogar nur unternommen, um Stoff für Sensationsmeldungen zu liefern. Aufgrund seiner eigenen journalistischen Vorarbeiten ebenso wie der zeitgenössischen Literatur wusste Stanley, wie sich Zeitungsmeldung, Reisebericht, Expeditionsbeschreibung und Inszenierung miteinander verbinden ließen. Die Entsendung nach Afrika lieferte ihm die Gelegenheit, dies für ein wachsendes Publikum aus Wissenschaftsinteressierten, Exotikliebhaberinnen und -liebhabern sowie ‚armchair travellersʻ an einem Objekt weiterzuentwickeln und zu perfektionieren, das größtmögliche Aufmerksamkeit versprach. Nach dem Aufsehen, das die Expedition zu Livingstone erregte, waren Telegramme oder Berichte Stanleys von weiteren Reisen eine Sensation auf dem ‚alten Kontinent‘, die laut Aussage eines Zeitgenossen größere Aufregung erzeugte als die Drohung eines neuen Krieges in Europa.19 Inmitten des Wandlungsprozesses einer Öffentlichkeit, die immer mehr eher nach Geschichten als nach wissenschaftlicher Ausführlichkeit verlangte,20 prägte

19 Es hieß dort, „a Stanley telegram during these three years caused more excitement than the threat of a European war; the newsboys gave it preference to the winners of the last race.“ J.S. Keltie: „Mr. Stanley’s expedition: its conduct and results“, in: Fortnightly Review, Bd. 48, 1890, S. 66. 20 Ein auffälliges Gegenbeispiel liefert die Rezeptionsgeschichte der mehrere tausend Seiten umfassenden Expeditionsberichte des deutschen Afrikaforschers Heinrich Barth aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die sich in Wissenschaftsverständnis und Präsentation der Ergebnisse grundsätzlich von denen des Briten unterschieden. Vgl. Heinrich Barth: Reisen und Entdeckungen in Nord- und Central-Afrika in den Jahren

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Stanley einen Stil, der nicht zuletzt aufgrund der Verkaufszahlen enorme Ausstrahlungskraft entfaltete. Wesentlich für diesen Stil war die Inszenierung der Reise als Bewährungsprobe und Herausforderung sowie des Expeditionsleiters als Mann der Tat, als Bannerträger einer „manly science“,21 wie es Stanley selbst ausdrückte. Um dieses Bild zu vermitteln, wurden die afrikanischen Landschaften, Flora und Fauna sowie Vertreter der indigenen Völker und Kulturen als das Andere, Ungewisse oder gar Gefährliche genau beschrieben. Das lieferte die Folie für die Stilisierung des westlichen Reisenden, seiner Männlichkeit, die die Bereitschaft oder sogar Notwendigkeit zum Einsatz von Gewalt als Mittel der Bewährung und Selbstbehauptung einschloss. That it was not a holiday affair, with its diet of beans and goat-meat and sodden bananas, in the muggy atmosphere of the Congo cañon, with the fierce heat from the rocks, and the chill bleak winds blowing up the gorge and down from sered grassy plateaus, let the deaths of six Europeans and twenty-two natives, and the retirement of thirteen invalided whites, only one of whom saw the interior, speak for us. It has been a year dark with trial and unusual toil. Our little band of labourers are proud of the grand work their muscles have accomplished […].22

Es sei harte Arbeit, keine Urlaubsreise, sich bei tropischen Temperaturen und stürmischen Winden durch die Schluchten zu kämpfen, hieß es im Bericht über die dritte Expedition entlang des Kongo. Auszehrung aufgrund magerer Kost habe die Teilnehmer geschwächt, so dass bei der langen Reise 22 Einheimische und sechs Europäer gestorben seien. Es klingt nicht zufällig nach protestantischem Arbeitsethos, wenn sich die ‚kleine Gruppe von Arbeiternʻ („our little band of labourers“), zusammengeschweißt, wie das Wort „band“ suggeriert, dem „trial and […] toil“ stellt und obsiegt. In diesem Sinne war auch die Beschreibung des Unternehmens als Arbeit gemeint, nicht etwa als Gleichstellung mit der wenig geachteten Tätigkeit der „hands“, der Arbeiterschaft nordenglischer Fabrikstädte in der führenden Industrienation der Welt, sondern als bewältigte Mühen sowie Dienst und Pflichterfüllung zum Wohle aller und damit wieder als Auszeichnung derer, die sich dieser Aufgabe stellten.

1849 bis 1855. Tagebuch seiner im Auftrag der Brittischen Regierung unternommenen Reise, 5 Bde., Gotha 1857-1858. 21 Berenson: Heroes of Empire, S. 126. 22 Henry M. Stanley: The Congo and the Founding of its Free State: A Story of Work and Exploration, London 1885, Bd. 1, S. 241.

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Immer wieder betonte Stanley in seinen Schriften den hohen Grad der Herausforderung auf der Expedition, um so die Leistung noch stärker herauszustellen. Landschaft und Klima sowie eine gefährliche Tierwelt sorgten in seinen Beschreibungen immer wieder für neue Gefahren. Als ein Beispiel von vielen, das zur Illustration angeführt werden könnte, kann eine weitere Passage aus The Congo and the Founding of its Free State dienen: A more cruel or less promising task than to conquer the sternness of that austere and somber region of Vivi could scarcely be conceived. Its large bold features of solidity, ruggedness, impassiveness, the chaos of stones, worthless scrub, and tangle of grass in hollow, on slope, or summit, breathed a grim defiance that was undeniable. Yet our task was to temper this obstinacy, to make the position scaleable, even accessible; to quicken this cold lifelessness; to reduce that grim defiance to perfect submission; in a word, to infuse vigorous animation […].23

Die Landschaft sperrt sich, verweigert sich, muss geöffnet, unterworfen werden. Sie ist unberührt, passiv, wertlos, ein Chaos. Dann kommt der Europäer mit einer Aufgabe, nämlich jener, den Eigensinn und Trotz dieser Landschaft zu brechen, Leblosigkeit mit Leben zu füllen, „to infuse […] animation.“ Zeitgenössische Leserschaften hatten keine Schwierigkeiten, die zentralen Elemente des bürgerlichen Frauenbildes in dieser Beschreibung der afrikanischen Landschaft zu entdecken. Danach galt die Frau als passiv, ungeordnet bzw. verwirrt, unvollständig ohne männliche Führung, als Wesen, das erst mit der Ergänzung um seine konträren und komplementären Eigenschaften und durch seine ‚Belebung‘ vervollständigt, ein vollwertiger Mensch werden konnte.24 Dass die Handlungen des Europäers alle Züge einer bestimmten Konzeption von aggressiver bürgerlicher Männlichkeit trugen, erschloss sich für sie ebenso leicht wie das Bild von der Unterwerfung des Weiblichen durch das Männliche. Denn in der Überführung einer „grim defiance“ der Landschaft/Frau in eine „perfect submission“, eine nicht bloß vorübergehende oder partielle, sondern eine vollständige Unterwerfung lag nichts anderes als die idealtypische Version des Geschlechterverhältnisses in der bürgerlichen Ehe. Solchen Darstellungen der Landschaft fügte Stanley wiederholt den Hinweis darauf hinzu, dass für den Forscher in dieser

23 Ebd., S. 140. 24 Vgl. Verf.: „,They cannot choose but to be women.‘ Stereotypes of Femininity and Ideals of Womanliness in Late Victorian and Edwardian Britain“, in: Ulrike Jordan/Wolfram Kaiser (Hrsg.): Political Reform in Britain, 1886-1996. Themes, Ideas, Policies (Schriftenreihe des ADEF, Bd. 37), Bochum 1997, S. 134-137.

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wilden Landschaft „pure manliness“ notwendig sei,25 die „vain fancies“,26 wie sie die jungen europäischen Offiziere nach Afrika mitbrächten, nur hinderlich seien. Er ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er als derjenige, der − selbst − die Steine bricht, so die Bedeutung von seinem Beinamen in der Region „bula matari“,27 über genügend Männlichkeit verfügte, um diese Unterwerfung zu erzwingen. Eine ähnliche Bewährungs-, Eroberungs- und Aneignungsmetaphorik findet sich in Stanleys Beschreibungen der Tierwelt. Die Fauna erscheint einmal als Bedrohung und Behinderung des Expeditionserfolges, die überwunden werden müsse, dann als Objekt der Belustigung oder Vertreibung der Langeweile, etwa wenn der Europäer Schüsse auf den ‚dicken Schädel‘ von Flusspferden abgibt, „to amuse myself“.28 Die Natur ist einfach da, ganz dem biblischen Diktum entsprechend für den Europäer bzw. den Christen, um in der einen oder anderen Form angeeignet zu werden. Immer wieder spiegelt sich in den Tierbildern auch die Sehnsucht nach Unberührtheit und grenzenloser Verfügbarkeit, ein Element seiner Berichte, das bei Leserschaften in den dicht besiedelten westlichen Nationen, die im späten 19. Jhd. Zeugen eines Prozesses rasanter Urbanisierung und weitreichender Transformation der Lebenswelt waren, den Nerv traf. After following the Gombe’s course for about a mile, I came upon a scene which delighted the innermost recesses of my soul; five, six, seven, eight, ten zebras switching their beautiful striped bodies, and biting one another, within about one hundred and fifty yards. The scene was so pretty, so romantic, never did I so thoroughly realize that I was in Central Africa. I felt momentarily proud that I owned such a vast domain, inhabited with such noble beasts. Here I possessed, within reach of a leaden ball, any one I chose of the beautiful animals, the pride of the African forests! It was at my option to shoot any of them! Mine they were without money or without price [...].29

25 Henry M. Stanley: The Congo and the Founding of its Free-State: A Story of Work and Exploration, London 1885, Bd. 2, S. 270. 26 Ebd., S. 266. 27 Stanley: The Congo and the Founding of its Free-State, Bd. 1, S. 525. In der geschilderten Szene tritt „bula matari“ − Stanley spricht hier in der dritten Person von sich − auf als der selbst unter afrikanischen Völkern gefragte Berater und Experte, der sogar in höchst schwierigen Situationen, wie Konflikten zwischen lokalen Ethnien bzw. ihrer Anführer, die Lösung aufzuzeigen weiß. 28 Stanley: How I found Livingstone, S. 79. 29 Ebd., S. 338.

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Anklänge an die Romantik, die Schönheit einer Landschaft, bevölkert von „noble beasts“ – wer von der zeitgenössischen Leserschaft bei der Lektüre an die Dichtung und Malerei der Romantik und an Tiere im Paradies zu denken begann, wurde schnell in eine andere Vorstellung von Idealwelt hineingezogen. In ihr scheint alles nur darauf zu warten, in Besitz genommen zu werden. Tiere und Landschaft existieren nicht aus sich selbst, gehören nicht sich selbst, sondern warten scheinbar nur auf die Inbesitznahme durch den Vertreter der westlichen Welt, der so weit vorgedrungen ist. Doch es folgt keine bloß symbolische oder kontemplative Aneignung. Wie Stanley in dieser Passage betont, befindet sich alles in Reichweite der Kugel aus dem Gewehr, der Technik des Europäers für Eroberung und Unterwerfung. In der wiederholten Betonung, dass er, Stanley, der Besitzer all der vor ihm ausgebreiteten Fülle war, schwingt noch etwas anderes mit. Denn in der Vorstellung, in dieser zentralafrikanischen Landschaft alles verfügbar zu haben, bessere Jagdbedingungen vorzufinden als jeder Adelige auf den britischen Inseln, kommt unverhüllt die Genugtuung des sozialen Emporkömmlings zum Ausdruck. So omnipotent präsentiert sich der Jäger und Entdecker, dem selbst die edelste Natur, das stolzeste Tier unterliegen müsse. Neben Landschaft bzw. Klima und Tierwelt trat in Stanleys Berichten als dritte Herausforderung des Eroberers die indigene Bevölkerung auf. Es gab die Angehörigen von Ethnien, denen die Expeditionsgruppe unterwegs begegnete. Sie bildeten wiederholt das Objekt der Neugier, verkörperten in der Erzählung meist jedoch einen Faktor von Ungewissheit und potenzieller Gefährdung, also größerer Herausforderung, der sich die Expedition und vor allem ihr Anführer stellte. Eine besondere Rolle wies Stanley den Afrikanern zu, die er während der Expedition als Träger oder Führer beschäftigte, die sich also scheinbar bereits europäischen Gewohnheiten und Werten angepasst hatten. Sie erschienen jedoch oft als unzuverlässig, betrügerisch, gerissen, gierig und faul, als anarchischer Faktor jeder Unternehmung, der, wie er nicht müde wurde zu betonen, nur durch Strenge und beständige Disziplinierung im Zaum gehalten werden konnte. […] it requires strict personal supervision to keep them to their task. They are inclined to shirk duty, and prefer to gossip, and argue loudly with one another when my head is turned away. A mere look of surprise, however, is sufficient to recall them to a sense of duty [...].30

In dem hier geschilderten Fall genüge nur ein Blick des überlegenen Europäers, um die Arbeitswilligkeit und damit die Ordnung wiederherzustellen. Es kommt

30 Stanley: The Congo and Founding of its Free-State, Bd. 1, S. 203f.

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nicht von ungefähr, dass Schilderungen dieser Gruppe von Indigenen im Unterschied zu solchen, auf die Stanleys Tross auf Expeditionen jenseits der bekannten Routen und Orte traf, weit häufiger auftauchten und ausführlicher ausfielen. Größere Dauer und Intensität des Miteinanders mit den bezahlten Helfern allein vermögen diesen Umstand allerdings nicht hinreichend zu erklären. Vielmehr kam noch ein weiteres Element hinzu, war es doch in diesem Bereich, dass sich die Führerschaft des Weißen, die wahre Männlichkeit, erweisen konnte und musste − und dies immer wieder aufs Neue. Selbst wenn es sich um Menschen handelte, die noch gar nicht zu den angestellten Indigenen zählten und nur potenziell in dieser Rolle gesehen wurden, schien es dem Expeditionsleiter unverzichtbar, gleich zu Beginn des Kontakts Hierarchien klarzustellen. Die Beschreibung einer Begegnung mit einer Gruppe Wagogo zeugt davon, welche Art von Präventivmaßnahme, die letztlich wiederum allein der Selbstinszenierung diente, Stanley seiner Leserschaft als angemessen nahelegen wollte: Hitherto, those we had met had contented themselves with staring and shouting; but these outstepped all bounds, and my growing anger at their excessive insolence vented itself in gripping the rowdiest of them by the neck, and before he could recover from his astonishment administering a sound thrashing with my dog-whip, which he little relished. [...] Perceiving that a little manliness and show of power [Herv. A.S.] was something which the Wagogo long needed, and that in this instance it relieved me from annoyance, I had recourse to my whip, whose long lash cracked like a pistol shot, whenever they overstepped moderation.31

Als wichtigstes Instrument der Disziplinierung kam bei dieser Aktion nicht die Schusswaffe, sondern die Peitsche zum Einsatz, die er entweder wie hier als „dog-whip“ oder auch als „the Great Master’s donkey whip“32 bezeichnete. An dieser Stelle inszeniert Stanley eine Lektion, die er als Expeditionsleiter gelernt habe. Der Bericht macht hier und an anderen Stellen die Leserschaft ihrerseits zu Lernenden, die durch Einbeziehung in das Geschehen in der Kunst der richtigen Expeditionsleitung unterwiesen wird. Die Lektion dreht sich um Stanleys Erkenntnis, dass die Anwendung der Peitsche bei den Schwarzafrikanern gleich mehrere Dinge leiste: Sie oder genauer die Männlichkeit, die in der damit verbundenen Macht zum Ausdruck komme, schüchtere ein. Eine Machtdemonstration sei ohnehin das, was die Schwarzafrikaner bräuchten. Außerdem verschaffe

31 Stanley: How I found Livingstone, S. 186f. 32 Ebd., S. 108.

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es dem verärgerten Europäer Erleichterung, ab und zu seinen Unmut in einen Peitschenschwung münden zu lassen. Darauf entwickelte er schließlich einen Topos von der „virtue of a good whip“: The virtue of a good whip was well tested by me […] and I was compelled to observe that when mud and wet sapped the physical energy of the lazily-inclined, a dog-whip became their backs, restoring them to a sound – sometimes to an extravagant activity.33

Die Wortwahl an dieser Stelle ist charakteristisch: die physisch Erschöpften aus der Kategorie ‚neigen zur Faulheit‘ sind es, die die Hiebe abbekommen, die ihrem Rücken gut anstünden („became their backs“), und ihre Energie, trotz Erschöpfung, wiederherstellten, in einem soliden oder sogar überdurchschnittlichen („extravagant“) Maß. Das erhob die Züchtigung zu einem verdienten Akt und übertrug zugleich die Verantwortung auf die Geschlagenen. Dieser Topos vom ‚sinnvollen‘ Gebrauch der Peitsche war Reflex der Südstaatenmentalität in den USA gegenüber den Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern ebenso wie der Mentalität der Kolonialbeamten und Siedlerinnen und Siedlern des Britischen Empire in Afrika und andernorts. Die Peitsche bildete in beiden Kontexten das Züchtigungsmittel von Männern, denen allein der Akt der Bestrafung mit körperlicher Gewalt zukam. Neu war daran die Mischung verschiedener Legitimierungsstrategien in Verbindung mit der Erforschung Zentralafrikas. Denn es ging bei Stanley nicht nur um weiß und schwarz, Kolonialherr und Kolonisierte, Stärke und Schwäche, männliche und weibliche Attribute. Vielmehr trug Stanley eine popularisierte und daher für jeden nachvollziehbare Überlegenheits- und Gewaltphantasie (Peitsche), die dann auch als Inbegriff des Männlichen präsentiert wurde, aus dem Bereich von Herrschaft generell und hier speziell kolonialer Herrschaft in den der Wissenschaft. Sie wurde damit transferiert von einer Idee der Aneignung durch Unterwerfung (Gewalt) in eine der Aneignung durch Kenntnis (Wissen, Wissenschaft). Gewalt war danach selbst im Verständnis der sich als überlegen verstehenden weißen Bevölkerung Europas und Nordamerikas nicht all ihrer negativen Konnotationen entkleidet, aber durch den Transfer doch deutlich aufgewertet und in ihrer Legitimität zusätzlich untermauert. Das konnte gerade zu den Hochzeiten der Verwissenschaftlichung im späten 19. Jhd. Wirkung erzielen. Nicht von ungefähr bediente sich der Journalist in diesen Passagen seiner Darstellungen bekannter Muster unter anderem des Reiseberichts,

33 Ebd., S. 140.

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Abenteuerromans,34 der Feldzugsbeschreibung und des Konzepts einer ‚Wissenschaft der Tat‘, die alle mit eigenen Konstruktionslogiken von Männlichkeiten operierten. Denn so vermochte er gerade in der Phase des Übergangs zum Imperialismus, den er wesentlich mit prägte, seine Beliebtheit in weiten Teilen der Öffentlichkeit zu steigern.

A USSTRAHLUNGSKRAFT EIN KURZES R ESÜMEE

EINES

M ÄNNLICHKEITSBILDES :

Es war diese Beliebtheit Stanleys in einer breiten Öffentlichkeit überall in der westlichen Welt, die seine Vorstellungen und Selbstinszenierungen so interessant machen. Obwohl längst nicht der einzige Afrikaforscher, nicht einmal der erfolgreichste oder wissenschaftlich bedeutendste, war er dennoch derjenige, der wie kein anderer eine breite Öffentlichkeit in die Präsentation seiner Erlebnisse und damit in die Vermarktung seiner Person und seiner Idee von Afrika als dunklem Kontinent einband und beteiligte. Über Zeitungsmeldungen – nicht nur denen von Stanley selbst – und anschauliche Berichte in illustrierten Zeitschriften, einem der populärsten Medien im späten 19. Jhd., fanden die Nachrichten von den Expeditionen früh weite Verbreitung. Nach dem Ende folgten bald in Buchform gedruckte Darstellungen, zunächst von Stanley selbst und dann von anderen begeisterten oder geschäftstüchtigen Zeitgenossen, die das Vermarktungspotenzial erkannt hatten. So fanden die Reisen und die über sie transportierten Vorstellungen von Afrika weithin Verbreitung. Es dominierten Vorstellungen, die einen Kontinent als Tabula rasa zeigten für einen – im Westen so nicht mehr möglichen – Neuanfang oder als

34 Abenteuergeschichten und Forschungsberichte in der Geographie haben Gemeinsamkeiten in der Sprache und in dem Bild vom ‚männlichen‘ Unterfangen. So beschrieb der Literaturwissenschaftler Martin Green Abenteuerliteratur als „masculinist imaginative form“, „[the] adventure is reading for men, not for readers“. Martin Green: The Robinson Crusoe Story, London/University Park, PA 1990, S. 6 u. S. 5; vgl. auch seinen Überblick über das Genre in ders.: Dreams of Adventure, Deeds of Empire, London/Henley 1979. Eine ähnliche Charakterisierung findet sich bei Richard Phillips, der sich auf Green beruft: „Adventures map masculinities, not masculinity. […] Adventure stories chart masculinities contextually, in relation to particular constructions of class, race, sexuality and other forms of identity and geography“. Richard Phillips: Mapping Men and Empire. A Geography of Adventure, London/New York 1997, S. 45.

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blinden Fleck, wie Stanley es selbst darstellte,35 der erst von Europäern kartographiert und folglich unterworfen werden müsse. Von den Zeitschriften gingen die Bilder sehr schnell in andere populäre Medien und Formate über, darunter die Jugendzeitschriften, Groschenhefte, den Abenteuerroman sowie zahlreiche populäre Bildmedien wie etwa das Reklamesammelbild, das Brettspiel und etwas später in den Film.36 In einem deutschen Sammelbild aus der Reihe „Pfadfinder der Menschheit“ (siehe Abb. 4) etwa erschien der Angelsachse − dort immer noch mit US-Flagge, die sich von der ersten Darstellung in der Illustrated London News vom August 1872 an hartnäckig in der öffentlichen Vorstellung hielt − über den nationalen Kontext hinaus als Vorbild vor allem für die männliche Jugend. Mit seiner Abwehr der „Angriffe der Wilden“ agierte er in der Rolle des entschlossenen, fähigen Expeditionsleiters, der seine ganze Kraft in den Dienst der Wissenschaft und letztlich der Eroberung des vermeintlich dunklen Kontinents durch den Westen stellte. Für das nationalsozialistische Deutschland bot sich mit dem weiterentwickelten Motiv vom ‚weißen Herrenʻ (siehe Abb. 5 mit der knappen Aussage „Ich heiße Stanley! Ich bin hier der Herr!“) im Kontext der Kolonial- und Jugendliteratur die Chance, gleich mehrere zentrale Elemente der NS-Ideologie im Gewand scheinbar unpolitischer Unterhaltungsliteratur zu transportieren. Die Verwandlung des zur Not mit Waffengewalt vorgehenden

35 Mit auffälligen Anspielungen auf die biblische Schöpfungsgeschichte führte Stanley dazu aus: „I assure you […] this enormous void is about to be filled up. Never has white paper possessed such a charm for me as this has, and I have already mentally peopled it, filled it with most wonderful pictures of towns, villages, rivers, countries, and tribes − all in the imagination − and I am burning to see whether I am correct or not.“ Henry M. Stanley: Through the Dark Continent, or: The Sources of the Nile around the Great Lakes of Equatorial Africa and Down the Livingstone River to the Atlantic Ocean, London 1878, Bd. 2, S. 195. 36 Dem heutigen Geschichtsboom und seiner Vermarktung im Fernsehen entsprechend darf selbst eine sogenannte Reality-TV-Version der vermeintlichen Rettungsaktion nicht fehlen. Das Reenactment wurde 2009 für das US-Fernsehen initiiert unter dem Titel Expedition Africa: Stanley & Livingstone, angesichts der Unstimmigkeiten der Reisenden und der schwierigen Reisebedingungen nach drei Folgen − statt der geplanten acht − jedoch abgebrochen. Zum Beginn der Serie vgl. Bill Carter: „Exploring Africa to Find Riches in Ratings“, in: The New York Times, 21.05.2009, URL: http://www.nytimes.com/2009/05/24/arts/television/24cart.html?_r=0 (Stand: 16.01. 2015); zum frühzeitigen Abbruch vgl. Maxine Shen: „Out of ‚Africa‘“, in: New York Post, Rubrik: Entertainment, 14.06.2009, URL: http://nypost.com/2009/06/14/out-ofafrica-2/ (Stand: 16.01.2015).

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‚männlichen‘ Anführers in den arischen Führer, der über ‚minderwertige Rassen‘ herrscht, bildete nur das offensichtlichste Element. Abb. 4: Deutsches Reklamesammelbild aus der Zeit der Weimarer Republik37

Abb. 5: Weiterentwicklung des Motivs vom westlichen Anführer in der deutschen Jugend- und Kolonialliteratur (1941) 38

37 Stanley auf dem Kongo, Angriffe der Wilden abwehrend, in: Bernhard Jussen (Hrsg.): Atlas Historischen Bildwissens 2, Reklamesammelbilder. Bilder der Jahre 1870 bis 1970 mit historischen Themen, Berlin 2009, Serie: Pfadfinder der Menschheit, Bild 3, Urbinwerke, Serienbilder im Automatenverlag, 1920er Jahre, Atlasnummer: 02/17954. 38 Zeichnung von Erich Lüdke, in: Ludwig Bardenschmid: Aufruhr im Sudan (Aufwärts Jugend-Bücherei, Heft 32 ), Berlin 1941, S. 39.

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Henry Morton Stanley verstand es, sich rasch als Marke zu etablieren. Noch bevor er seine dritte Expedition nach Zentralafrika antrat, war sein Name in vielen Ländern der westlichen Welt bekannt. So schien es nur konsequent, wenn ein Leitartikel der britischen Morning Post im April 1890 eine Antwort auf die Frage suchte: „Why do we revere Stanley?“ Die Erklärung des Redakteurs lautete, es läge im Wesentlichen an „the best embodiment of qualities which, while they exist in every race, are, as we hope and as we believe, more distinctive of the Anglo-Saxon strain than of any other.“39 Dem Duktus der Zeit entsprechend, wurde die Selbststilisierung des Afrikareisenden gleich als Charakteristikum der ‚angelsächsischen Rasse‘ vereinnahmt. Von Auspeitschung, Hinrichtung von Trägern und anderen zuvor nicht nur in Wissenschaftlerkreisen kritisierten ‚Entgleisungen‘ Stanleys war in dem Artikel keine Rede mehr. Vielmehr hob die Post darauf ab, es sei viel aus der Geschichte des armen walisischen Jungen zu lernen, der so Bedeutsames mit so wenig geleistet habe: „Stanley’s career has a lesson in it for every British man and every British boy […]. That lesson is best expressed in two familiar phrases: ‚Dare and do!’ and ‚Suffer and be strong.ʻ“40 Die Lektion dieser Lebensgeschichte galt demnach für Mädchen und Frauen als ungeeignet, richtete sich vielmehr allein und nachdrücklich an die männliche Bevölkerung des Inselkönigreiches, die jene Träger des Empire und jene Kapitäne eines Wirtschaftswachstums sein sollten, das Großbritannien inmitten der Herausforderung durch die wachsende internationale Konkurrenz weiterhin die Führungsposition sichern würde. Millionenfach kommuniziert, als Ausdruck einer Wissenschaft der Tat oder ‚manly science‘ legitimiert, befeuerte Stanleys Darstellung aggressiver Männlichkeit die zeitgenössischen Diskurse über Rasse, Nation und Geschlecht. Urteilt man unter anderem auf der Basis der Briefe von Privatpersonen an Stanley über die Wirkung der Inszenierungen in den Reiseberichten, dann sorgten sie dafür, in der Öffentlichkeit westlicher Länder eine bestimmte Vorstellung von Männlichkeit zu bestärken. Sie signalisierte Gewissheit zu einer Zeit, in der immer mehr Gewissheiten erodierten.

39 „Why do we revere Stanley?“, in: Morning Post, 28.04.1890, o.P., zit. nach Berenson: Heroes of Empire, S. 141. 40 Ebd.

Gewalt und Ritual Duell-Szenen bei Arthur Schnitzler M ICHAEL O TT

„K RENFLEISCH “ Das letzte Wort von Arthur Schnitzlers berühmter Monolognovelle Lieutenant Gustl aus dem Jahr 1900 lautet bekanntlich: „Krenfleisch!“1 Wikipedia zufolge ist Krenfleisch ein vor allem in Österreich und Süddeutschland bekanntes „einfaches Gericht aus gekochtem Schweine- oder Rindfleisch, Wurzelgemüse und Meerrettich (Kren)“.2 Zum Schlusswort der Novelle wird es aber wohl wegen seiner derben Zubereitungsart: Mit dem Satz „Dich hau’ ich zu Krenfleisch!“ imaginiert der Titelheld einen brachialen Sieg in dem Säbelduell, das ihm am „Nachmittag um vier“ (LG 45) bevorstehen wird. Das „Krenfleisch“ ist eine der zahlreichen Anspielungen auf die Praxis des Duells und den Code der Ehre in Werken Arthur Schnitzlers. Diese Reflexe wurden in der Forschung schon häufig untersucht und als Ausdruck seines grundlegend kritischen Bezuges auf den Ehrdiskurs der Epoche gelesen.3 Die

1

Arthur Schnitzler: Lieutenant Gustl. Novelle, hrsg. von Konstanze Fliedl, Stuttgart 2009, S. 45. Im Weiteren mit der Sigle LG im Text zitiert.

2

https://de.wikipedia.org/wiki/Krenfleisch, 14.7.2015. Unter dem Stichwort „Rezeption“ zitiert der Eintrag den letzten Satz von Schnitzlers Novelle.

3

Vgl. Rolf-Peter Janz/Klaus Laermann: Arthur Schnitzler. Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle, Stuttgart 1977; Brenda Keiser: Deadly Dishonor. The Duel and the Honor Code in the Works of Arthur Schnitzler, New York u.a. 1990; A. Clive Roberts: „The Code of Honor in fin-de-siècle Austria: Arthur Schnitzler’s Rejection of the ‚Duellzwang‘“, in: Modern Austrian Literature 25 (1992), H. 3/4, S. 25-

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folgende Skizze von Duell-Szenen bei Schnitzler kann hieran anschließen, versucht aber die Perspektive etwas zu verschieben: Mit Blick auf die ritualisierte Gewalt des Duells wird es dabei darum gehen, in welchem Verhältnis sie zu Konzeptionen von Männlichkeit steht; zugleich ist zu fragen, wie die reale oder imaginierte Gewalt, der gesellschaftliche Zwang der Ehre und ihre symbolischen Dimensionen hier schon in der Form der literarischen Repräsentation reflektiert werden. Eine Analyse der komplexen Semantik solcher Duell-Szenen ist deshalb notwendig, weil der Ehrenkodex und sein zentrales Ritual des Duells in der Moderne weitgehend verschwunden sind.4 Sie wirken heute historisch fremd und als irrationaler Archaismus, und die kritische Perspektive von Schnitzlers Texten kann als Vorschein solcher modernen Ablehnung erscheinen. Jedoch können, worauf immer wieder Pierre Bourdieu hingewiesen hat, auch irrational scheinende soziale Praktiken einer spezifischen „sozialen Logik“ unterliegen; und vor allem können gerade in ihnen soziale Differenzen naturalisiert und Normen des geschlechtlichen Habitus performativ konstituiert werden.5 Die These des Folgenden besagt in diesem Sinn, dass Schnitzlers Texte Duell und Ehre nicht lediglich kritisieren oder psychologisch decouvrieren, sondern das soziale Imaginäre der Ehre und die Gewalt ihres zentralen Rituals in ihrer Repräsentationsform analytisch reflektieren. Die Wiener Belle Epoque, in der und über die Schnitzler schreibt, bietet für eine solche Analyse auch deshalb ein reiches Feld, weil Ehre und Duell bereits ihm selbst und seinen Zeitgenossen als Widerspruch zur eigenen Modernitätserfahrung erscheinen konnten. Es ist wohl kein Zufall, dass die klassischen soziologischen Konzepte von Ehre – als zentraler Norm der ständischen Gesellschaft bei Max Weber und als Integrationsmedium sozialer Sondergruppen bei Georg

40; Andrew C. Wiseley: Arthur Schnitzler and the Discourse of Honor and Dueling, New York u.a. 1996. 4

Vgl. Ludgera Vogt/Arnold Zingerle (Hrsg.): Ehre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt/M.1994, v.a. zur Differenzierung der Annahme, dass Ehre in der Moderne verschwunden sei, vgl. die Einleitung der Hrsg. S. 9ff.

5

Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M.1987; ders.: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976; zum männlichen Habitus ders.: „Die männliche Herrschaft“, in: Irene Dölling/Beate Krais (Hrsg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt/M. 1997, S. 153217.

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Simmel6 – ebenfalls in den Jahren um 1900 entstanden, als ihre selbstverständliche Geltung in bestimmten Milieus sich aufzulösen begann. Schnitzlers Texte, so ließe sich vorab formulieren, lassen sich auch als literarische Parallelaktion zu diesen Analysen verstehen; sie entwerfen einen kritisch-diagnostischen Blick auf eine Gesellschaft, in der diese traditionellen Normen noch gelten, und sie experimentieren in ihren Formen mit der Form und Symbolik dieser Normen selbst. Schon Lieutenant Gustl zeigt die Vielschichtigkeit dieser kritischen Diagnostik. Der eingangs zitierte Schlusssatz – „Dich hau’ ich zu Krenfleisch!“ – könnte zuerst so gelesen werden, dass es dem Protagonisten im Duell primär um Aggressions-Abfuhr gehe, womit er die Frustration über die eigene soziale Lage kompensieren würde. Das ist zwar plausibel, doch verweist es zugleich auf ein Problem: In der ‚offiziellen‘ Logik eines Duells zielt dieses ja keineswegs auf brachiale Vernichtung und ebenso wenig auf Rache. Dem Ehrdiskurs zufolge ist sein Sinn vielmehr der Erweis eigener Ehre in der Bereitschaft, sich zu duellieren, die Ehre höher zu stellen als das eigene Leben, und sich daher für sie zu opfern. Gewalt und Ritualität des Duells stehen, anders gesagt, in einem komplexen Spannungsverhältnis: Das Duell gibt keineswegs die Lizenz dazu, ansonsten sozial sanktionierte, unterdrückte Gewaltaffekte auszuleben; die Gewalt innerhalb des Rituals ist keine regellose – im Gegenteil gibt es kaum eine Praxis, deren Anlässe, Formen und Details strenger reguliert sind als die des Duells. Die Krenfleisch-Phantasie des Lieutenants Gustl steht also genauer besehen in entschiedenem Widerspruch zur offiziellen Legitimation des Duells im Ehrdiskurs. Dieser Widerspruch und seine Inszenierung im Text sollen im Folgenden etwas genauer hinterfragt (II) und danach einige der angedeuteten theoretischen Fragen zumindest kurz angesprochen werden (III). Ein Seitenblick gilt danach zwei Dramen Schnitzlers, in denen Duelle zentral sind (IV); der abschließende Teil konzentriert sich auf das Duell in Schnitzlers später Novelle Casanovas Heimfahrt (V).

„ EINE TOTE L EICHE “ – L IEUTENANT G USTLS

DAS IMAGINÄRE

D UELL

Gleich zu Beginn der Novelle Lieutenant Gustl erfolgt ein Hinweis auf das am Ende imaginierte Duell, als der Protagonist, der sich in einem Konzert langweilt, in seinem inneren Monolog unversehens den übernächsten Tag assoziiert:

6

Vgl. Vogt/Zingerle: Ehre, S. 19-23.

174 | M ICHAEL O TT Lang’ war ich schon nicht in der Oper. In der Oper unterhalt’ ich mich immer, auch wenn’s langweilig ist. Übermorgen könnt’ ich eigentlich wieder hineingeh’n, zur ›Traviata‹. Ja, übermorgen bin ich vielleicht schon eine tote Leiche! Ah, Unsinn, das glaub’ ich selber nicht! Warten S’ nur, Herr Doktor, Ihnen wird’s vergeh’n, solche Bemerkungen zu machen! Das Nasenspitzel hau’ ich Ihnen herunter... (LG 8)

In einer Art mentaler Miniaturszene werden hier Gustls Emotionen und ihre Dynamik lesbar – Langeweile und Erschrecken wechseln in Hochmut und Aggressivität. Zugleich werden aber im Sinn einer Exposition Informationen mitgeteilt: Es hat eine Beleidigung stattgefunden, „übermorgen“ steht ein ernsthaftes Duell bevor, und der Gegner in diesem Duell ist Akademiker. Imaginiert Gustl hier noch zaudernd, wie er diesen verletzen könnte (freilich an einer in Ehrensachen bezeichnenden Stelle7), steigert sich die Aggression bei der nächsten Anspielung deutlich. Heut’ heißt’s: früh in’s Bett, morgen Nachmittag frisch sein! Komisch, wie wenig ich daran denk’, so egal ist mir das! Das erste Mal hat’s mich doch ein bissl aufgeregt. Nicht, dass ich Angst g’habt hätt’; aber nervos [sic] bin ich gewesen in der Nacht vorher ... Freilich, der Oberlieutenant Bisanz war ein ernster Gegner. – Und doch, nichts ist mir g’scheh’n! ... [...] Und wenn mir der Bisanz nichts getan hat, der Doktor wird mir schon gewiss nichts tun! Obzwar, gerade diese ungeschulten Fechter sind manchmal die gefährlichsten. [...] Das Wichtigste ist: kaltes Blut. Nicht einmal einen rechten Zorn hab’ ich mehr in mir, und es war doch eine Frechheit – unglaublich! Sicher hätt’ er sich’s nicht getraut, wenn er nicht Champagner getrunken hätt’ vorher ... So eine Frechheit! Gewiss ein Sozialist! Die Rechtsverdreher sind doch heutzutag’ alle Sozialisten! [...] – Wie sind wir denn nur d’rauf gekommen? Wieso hab’ ich mich mit dem Sozialisten in ein Gespräch eingelassen? [...] da kommt so ein Tintenfisch daher, der sein Lebtag nichts getan hat, als hinter den Büchern gesessen, und erlaubt sich eine freche Bemerkung! ... Ah, wart’ nur, mein Lieber – bis zur Kampfunfähigkeit ... Jawohl, du sollst so kampfunfähig werden... Ja, was ist denn? Jetzt muss es doch bald aus sein? ... (LG 10ff.)

Erneut überblendet der Text in einem nur scheinbar willkürlichen, tatsächlich aber wohlkalkulierten und subtil ironischen Assoziationsstrom Informationen und Emotionen, Selbstüberredungen, Erinnerungsfetzen und Phantasien – wobei

7

Die Nase ist ein traditionell kritischer Punkt männlicher Ehrvorstellungen; vgl. etwa Goethes Novelle „Die gefährliche Wette“ aus den Wanderjahren, vgl. dazu: Verf.: Das ungeschriebene Gesetz. Ehre und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur um 1800, Freiburg i.B. 2001, S. 237ff.

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der Sieges- bzw. Gewalttraum erkennbar als Deckphantasie der eigenen Angst fungiert. Dass es im übertragenen Sinn für Gustl „bald aus sein“ könnte, liegt aber nicht an dem durch seine Gedanken spukenden, kommenden Duell, von dem in der Novelle gar nicht mehr erzählt werden wird. Vielmehr gerät der Protagonist nach dem Konzert an der Garderobe mit einem Bäckermeister aneinander, der nach einer groben Unhöflichkeit Gustls dessen Säbelgriff festhält und ihn „dummer Bub“ (LG 15) nennt.8 Der Held, der hierauf panisch und sprachlos überhaupt nicht reagieren kann und nur besorgt ist, ob es Zeugen des Vorfalls gäbe, glaubt sich, als er endlich das Konzerthaus verlassen hat, dadurch entehrt: Dummer Bub – dummer Bub ... und ich bin dagestanden –! heiliger Himmel, es ist doch ganz egal, ob ein anderer was weiß!... I c h weiß es doch, und das ist die Hauptsache! I c h spür’, daß ich jetzt wer anderer bin, als vor einer Stunde – i c h weiß, dass ich satisfaktionsunfähig bin, und darum muss ich mich totschießen... Keine ruhige Minute hätt’ ich mehr im Leben... (LG 19)

Er hat versäumt, den Bäckermeister unmittelbar danach „zusammen[zu]hauen“ (LG 16) – also das zu vollziehen, was im Ehrenkodex „Ehrennotwehr“ heißt, mit der man sich gegen Beleidigungen auch nicht-satisfaktionsfähiger Gegner zur Wehr setzen konnte.9 Eine Nacht lang läuft Gustl daraufhin durch Wien, sucht Ausflüchte und findet keine – um schließlich früh am nächsten Morgen im Kaffeehaus zufällig zu hören, dass den Bäckermeister noch am Vorabend der Schlag getroffen hat und so nie jemand von seiner, Gustls, Entehrung erfahren wird. Am Ende ‚muss‘ er sich also nicht umbringen, um seine Ehre zu restituieren, sondern kann sich in euphorischer Erregung auf das kommende Duell einstellen: „... na wart’, mein Lieber, wart’, mein Lieber! Ich bin grad gut aufgelegt ... Dich hau’ ich zu Krenfleisch!“ (LG 45) Man hat Schnitzlers Novelle zurecht als grandiose sozialdiagnostische Studie verstanden, die in der Form des inneren Monologs die psychische Struktur und den autoritären Charakter des Unteroffiziers (und damit eines ganzen Milieus) zur Darstellung bringt. Zu diesem Milieu gehörte tatsächlich die Verpflichtung auf unbedingte Wahrung der ‚Standesehre‘; Offiziere der k.u.k.-Armee verloren im Fall, dass sie sich nach einer Forderung nicht dem Duell stellten, ihr Offi-

8

Vgl. zur „Mikrosoziologie“ dieser Beleidung Klaus Laermann: „Leutnant Gustl“, in: Janz/Laermann: Arthur Schnitzler, S. 110-130, hier: S. 113ff.

9

Vgl. Konstanze Fliedl: „Nachwort“, in: LG S. 69-99, hier: S. 93; vgl. auch Laermann: „Leutnant Gustl“.

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zierspatent.10 Duellieren konnte man sich (und musste man sich im Fall einer Beleidigung) freilich nur mit satisfaktionsfähigen Männern, d.h. Militärs, Adligen, Akademikern und höheren Bürgern – und eben nur mit Männern, während Frauen von der Duellkultur ausgeschlossen, aber dafür ein häufiger Anlass männlicher Ehrenhändel waren.11 Hier in Lieutenant Gustl aber wird dieser Code auf bemerkenswerte Weise infrage gestellt, und zwar gerade, weil es nicht um ein Duell geht (ein solches wäre für Gustl ja offenbar kein Problem). Da jedoch das Duell des Leutnants mit dem Bäckermeister unmöglich und die ‚Ehrennotwehr‘ versäumt ist, müsste an deren Stelle nun ein ‚Ehrenselbstmord‘ treten; Gustl müsste sich umbringen, wenn er denn dem Kodex und dessen Maxime folgte, dass die Ehre mehr zähle als das Leben. Man könnte sagen, der Text ist eine Probe auf das, was seit dem 18. Jhd. „innere Ehre“ heißt12; für dieses „Ehrgefühl“ wäre es tatsächlich „ganz egal“, „ob ein anderer was weiß“ (LG 19). Aber die abschließende ungeheure Erleichterung nach dem Tod des Bäckermeisters dementiert genau diesen behaupteten ideellen Eigenwert und entlarvt die Vorstellung von Ehre als heteronome, soziale Gewalt. Möglich wird dies durch die Form des inneren Monologs, der das Imaginäre des Protagonisten noch „vor den zensierenden Eingriffen des Bewußtseins“13 zur Sprache bringt und damit etwas artikuliert, was normalerweise nie direkt zur Sprache kommen könnte. Genau das stellt nun nicht nur die Realität der ‚inneren Ehre‘ infrage, sondern auch die offizielle Logik des Duells: In der Psychodynamik des Protagonisten wird das Duell nicht Chance zur Beglaubigung der Ehre, sondern Gelegenheit zur Bestätigung seiner ohnedies krisenhaften sozialen und männlichen Identität (er ist in der niedrigsten Offizierscharge, hat kein Geld, Schulden, und selbst seine Geliebte hat einen reichen Liebhaber, mit dem er sie teilen muss). Die Zuspitzung dieser Krise durch die Beleidigung recodiert für Gustl das Duell-Ritual zur Möglichkeit einer ganz und gar unformalisierten Ag-

10 Vgl. Fliedl: „Nachwort“, S. 95. 11 Vgl. Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991; Christoph Fürbringer: „Metamorphosen der Ehre. Duell und Ehrenrettung im Jahrhundert des Bürgers“, in: Richard van Dülmen (Hrsg.): Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt/M. 1988, S. 186-224. 12 Vgl. Friedrich Zunkel: „Ehre, Reputation“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 1-64, hier: S. 27; vgl. ferner Verf.: Das ungeschriebene Gesetz, S. 31ff. 13 Fliedl: „Nachwort“, S. 73.

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gressionsabfuhr: Stand am Beginn der zaudernde Wunsch, den „Tintenfisch“ zu demütigen und „kampfunfähig“ zu schlagen, steht am Ende – nach der Erfahrung der Selbstbedrohung durch den Code der Ehre – die Phantasie vom „Krenfleisch“. Es ist bekannt, dass der Text selbst dadurch zum Skandal wurde – Schnitzler, der selbst einen Offiziersrang bekleidete, sollte vor einem Ehrengericht erscheinen, schlug diese Befragung aber aus und wurde daraufhin seiner Offiziersehre und seines Rangs für verlustig erklärt.14 Allerdings ist nun genauer zu fragen, warum dieser Text so offenbar ins Schwarze traf.

R ITUALITÄT

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In einer Studie mit dem Titel The Cultivation of Hatred hat Peter Gay in den 1990er Jahren die bürgerlichen Identitäts- und vor allem Männlichkeitskonzepte in der Krisenzeit der frühen Moderne untersucht.15 Der Originaltitel macht besser als der deutsche Titel („Kult der Gewalt“) die doppelte Richtung der Analyse deutlich: Sie gilt dem Kult aggressiver Männlichkeit, doch umgekehrt auch Formen der „Kultivierung“ (im Sinn der rituellen ‚Einhegung‘) insbesondere männlicher Gewalt. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Duell-Ritual, das im Folgenden im Sinn dieser Ambivalenz verstanden werden soll – als Kult und zeremonielle Begrenzung. Über Berechtigung, Anlässe und Regeln des Duells wurde um 1900 ein intensiver Diskurs geführt, eben weil es schon zeitgenössisch als Atavismus oder als sinnlose Adaptation adligen Comments durch das aufsteigende Bürgertum gesehen werden konnte, das aller Rationalität entbehrte. Das Duell wurde daher als Praxis scharf angegriffen, doch selbst prinzipielle Duellgegner gestanden um 1900 Fälle zu, in denen man sich duellieren müsse – und zwar besonders solche, in denen die Ehre als Ehemann, Vater oder Bruder einer Frau auf dem Spiel stehe.16 Dieser ambivalente duellkritische Diskurs wurde geschlechtergeschichtlich häufig untersucht und als Reaktion auf den Modernisierungsprozess verstanden; das Folgende kann sich darum auf Stichworte beschränken, die eine Brücke von

14 Ebd., S. 96ff. 15 Peter Gay: The Cultivation of Hatred. The Bourgeois Experience: Victoria to Freud, New York 1993; dt.: Kult der Gewalt. Aggression im bürgerlichen Zeitalter, übers. von Monika Noll, München 1996. 16 Vgl. Frevert: Ehrenmänner, bes. S. 264ff.

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den zeitgenössischen soziologischen Ehr-Konzepten zu Ritualität und Gewalt zu schlagen versuchen. Ehre: Die oben erwähnten, zeitgenössischen soziologischen Ehrkonzepte fokussieren vor allem zwei Aspekte: Für Max Weber ist sie die zentrale Norm der ständischen Gesellschaft; die Stände grenzen sich durch ihre Ehrvorstellungen ab, und Ehre ist Prinzip der Stilisierung des (vor allem: adligen) Lebens. Sie beginnt als Norm jedoch mit der modernen (und vor allem der kapitalistischen) Reorganisation des Sozialen zu verblassen17; mit der Dominanz der „Klassenlage“ würden Normen und Rituale der Standesehre zusehends obsolet. Weber analysiert freilich nicht weiter, ob sie vielleicht deshalb umso erbitterter verteidigt werden. Für Georg Simmel andererseits ist die Ehre – eher formal – die integrative Norm einer sozialen Sondergruppe; außer für Adel, Militär und in gewissem Maß auch für Akademiker ist daher ihre Funktion auch jenseits der ständischen Gliederung, z.B. in stark familial oder sippengeprägten Gesellschaften, im Sport, unter Kriminellen oder in der Mafia beschreibbar. Ehre steht als Norm der Gruppe für Simmel sozusagen zwischen dem Recht (als Norm der Gesamtgesellschaft) und der Sittlichkeit (als jener des Individuums), und zwar sowohl in ihrem Geltungsanspruch wie ihren Sanktionen; und sie steht potentiell eben auch in deutlichem Widerspruch zu diesen Normen, und zwar umso mehr, je rigider die Gruppe über den Ehrenkodex ihre Exklusivität und ihr Selbstverständnis definiert.18 Eine Übertragung gerade der letzteren Bestimmung von Ehre als integrativer Norm einer Sondergruppe auf die Belle Epoque, den Sonderstatus des Offizierskorps und dessen Selbstverständnis liegt nahe. Was in beiden soziologischen Bestimmungen aber wenig deutlich wird, ist die Fundierung der Ehre in Ritual und sozialer Imagination, und gerade um diese geht es – nicht nur im Blick auf das Duell – offenbar in Schnitzlers Text.

17 „Im Gegensatz zur rein ökonomisch bestimmten ‚Klassenlage‘ wollen wir als ‚ständische Lage‘ bezeichnen jede typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifische, positive oder negative, soziale Einschätzung der ‚Ehre‘ bedingt ist, die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft.“ Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Auflage, Tübingen 1976, bes. 531ff, hier S. 534. 18 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hrsg. von Otthein Rammstedt (GSG Bd. 11), Frankfurt/M. 1992, S. 485ff und v.a. S. 599ff.

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Ritualität: Besonders das Duell ist geradezu ein Prototyp eines sozialen Rituals, wie es in der Ethnologie und Soziologie vielfach beschrieben wurde. Arnold van Genneps Rites de passage – ihrerseits nur kurz nach der Jahrhundertwende erschienen – oder später Victor Turners Beschreibungen von Ritualen als „soziale Dramen“19 fokussieren dabei Aspekte wie die Liminalität, die Raumstruktur oder die protodramatischen Verlaufsformen solcher Rituale. Betrachtet man Duelle in diesem Rahmen, steht dabei zum einen die Korporalität im Zentrum; man muss die Ehre mit dem Einsatz und potentiell dem Opfer des Körpers bewahrheiten, und zwar auch dann, wenn es nur eine symbolische ‚Verletzung‘ der Ehre (z.B. durch eine Beleidigung) gegeben hat. Damit zeichnet sich ein weitreichender Zusammenhang ab: Es geht in Duellen nicht (nur) um den ‚realen‘, sondern um einen imaginären Körper, für dessen Integrität und Reinheit der reale Körper einstehen muss; ein Gewährsmann hierfür ist niemand Geringerer als Hegel, der in der Rechtsphilosophie die Ehre als „das schlechthin Verletzliche“ bezeichnete.20 Zum zweiten ist für Duelle die spezifische Theatralität des Rituals von Bedeutung – spezifisch, denn die Zuschauer sind ihrerseits auf ‚Ehrenmänner‘ (wie Sekundanten oder Ärzte) begrenzt, die wiederum Repräsentanten des Kollektivs ‚Ehrenmänner‘ sind und als Zeugen sogar Protokolle anfertigen müssen. Nicht zuletzt diese Struktur erweist Duelle im genauen Sinn als cultural performances, in denen tatsächliche Vollzüge von (potentiell tödlichen) Handlungen zugleich Bedeutungen konstituieren und geschlechtliche Identität beglaubigen. Gewalt, Macht und Ohnmacht: Das Duellritual eröffnet also gewissermaßen einen Raum für die Kultivierung von Gewalt, die in ihnen ausgeübt und zelebriert, aber zugleich limitiert wird; Duelle überführen diese Gewalt damit in die strukturelle Gewalt einer rituellen Ordnung und der buchstäblichen Geltung eines ‚Kodex‘. Durch die Exklusivität der Duell-Kultur und die Limitierung derer, die an ihnen teilnehmen können, werden andere ausgeschlossen (das gilt für Frauen, für Bäckermeister, vielleicht auch – das ist ein Streitfall, auf den zurückzukommen ist – für Juden). Durch die strukturelle Gewalt der Ehrenordnung werden aber diejenigen, welche zur Gruppe satisfaktionsfähiger ‚Ehrenmänner‘ gehören, auch auf deren unbedingte Wahrung verpflichtet. Ehre ist insofern ein Medium sozialer Macht; man kann ihren Regularien und Ritualen nicht ausweichen, oder allenfalls bei Strafe des Ehrverlusts, also des ‚sozialen Todes‘.

19 Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt/M./New York: 1986 [1909]; Victor Turner: The Ritual Process: Structure and Anti-Structure, New York 1969. 20 Vgl. dazu Verf.: Das ungeschriebene Gesetz, hier: S. 101ff.

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Gewalt und Männlichkeit: Daraus ergibt sich schließlich die Bedeutung der Duelle für den Zusammenhang von Gewalt und Männlichkeit. Die im 19. Jhd. zunehmende Fokussierung der Duellgründe auf solche ‚männlicher‘ Verteidigung weiblicher Ehre wurde von der Geschlechtergeschichte intensiv erforscht.21 Egal aus welchen Gründen aber das Duell letztlich stattfand, konnte es als performative Beglaubigung und Bestätigung von Maskulinität gelten. Entscheidend dafür ist, dass diese ‚Beweisfunktion‘ völlig unabhängig davon galt, welche der sich immer weiter ausdifferenzierenden bzw. durch die soziale Differenzierung auseinandertretenden Spielarten maskuliner Identität die Duellanten ansonsten vertraten – ob sie also Militärs waren oder eher schüchterne Akademiker (wie der „Tintenfisch“, der Duellgegner Gustls), ob Dandys oder Neurastheniker, dekadente Libertins, Zyniker oder frustrierte Familienväter. Schon das mutmaßlich berühmteste literarische Duell des 19. Jhds. – dasjenige zwischen Pierre und Dolochow in Tolstois Krieg und Frieden – spielt mit dem Gegensatz eines scheinbar schwächlichen und ängstlichen Mannes zu einem Draufgänger und erfahrenen Militär, einem Gegensatz, der sich jedoch in der Egalität der Duellgegner aufhebt.22 Es ist auch charakteristisch für weitere Texte Schnitzlers, dass sie das Duell als innermaskuline Differenzen nivellierenden und zugleich die Geschlechterdifferenz selbst naturalisierenden Fluchtpunkt krisenhaft bedrohter Männlichkeit inszenieren.

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Sie tun dies allerdings auf denkbar unterschiedliche Art, wie sich an zwei Dramen Schnitzlers zeigt, in denen Duelle zentrale Bedeutung besitzen. Das erste Beispiel23 ist ein frühes Stück von 1896, das 1898 in Berlin uraufgeführt wurde und den Titel Freiwild trägt. Es spielt in einem kleinen Badeort vor Wien; das Personal besteht zu gleichen Teilen aus dem dort Urlaub machenden Offizierskorps, aus bürgerlichen Männern und schließlich aus den Künstlern des kleinen Sommertheaters, wobei vor allem die Schauspielerinnen Gegenstand des männ-

21 Vgl. Frevert: Ehrenmänner, passim. 22 Vgl. Lew Tolstoi: Krieg und Frieden, übers. von Barbara Conrad, 2 Bde., München 2011, Bd. I, 2. Buch, Teil I, IV-V, hier: S. 544-554. 23 Bereits in Liebelei (1895), das Schnitzlers Durchbruch als Dramatiker bedeutete, spielt ein Duell eine Rolle, es wird aber nicht in vergleichbarer Weise problematisiert wie in Freiwild. Vgl. Arthur Schnitzler: Liebelei. Schauspiel in drei Akten, hrsg. von Michael Scheffel, Stuttgart 2002.

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lichen Interesses und im Sinn des Titels „Freiwild“ sind. An einer von ihnen, Anna Riedel, entzündet sich der zentrale Konflikt des Stücks: Der schneidige, verschuldete Oberleutnant Karinski begehrt sie, wird aber von ihr zurückgewiesen (was er empörend findet); zugleich wird ihr eine Affäre mit dem reichen Bürger Paul Rönning angedichtet. Der Konflikt eskaliert, als Karinski der Schauspielerin öffentlich unterstellt, sich zu prostituieren, worauf ihn Rönning ohrfeigt und „Bube“ nennt. Natürlich folgt darauf eine Duellforderung – nur eben kein Duell: Denn das Stück verhandelt den unerhörten Fall, dass sich jemand dieser Forderung und dem Duellzwang der ‚Ehrenmänner‘ einfach nicht stellt. Davon handelt der zentrale zweite Akt. Am Ende wird Rönning, der eigentlich mit Anna den Ort verlassen will, von dem tödlich in seiner Ehre gekränkten Karinski aber inmitten des Kurparks niedergeschossen und Anna bleibt ratlos zurück. Die Dialoge im zweiten Akt machen nun, gerade weil die soziale ‚Mechanik‘ der rituellen Konfliktlösung hier nicht greift, deren Logik transparent. Die Sekundanten Rönnings versuchen ihn von der sozialen Unmöglichkeit seines Verhaltens zu überzeugen: WELLNER Bitte, mein lieber Paul, überlege gefälligst, daß du absolut keine Ausrede hast. PAUL Hab ich nach einer gesucht? Ich will nicht. Punktum. WELLNER Pardon – ich meine das so: du bist durch nichts gebunden. Du hast keine Eltern mehr, du hast keine Geschwister, bist nicht verheiratet – POLDI Ja. Du stehst sozusagen ganz allein in der Welt. PAUL mit Humor Ich hab’ ja meine Freunde. POLDI Na, auf uns brauchst du gar keine Rücksicht zu nehmen. Du hast ganz freie Verfügung über dich. PAUL Die wird mir soeben abgestritten. WELLNER Du weißt ja, wie’s gemeint ist: du hast keine Verpflichtung – gegen niemand – du kannst nicht sagen, daß du dich für irgend jemand erhalten mußt. PAUL Für mich, mein Lieber, für mich! Nicht nur Verpflichtungen binden uns ans Leben, oh nein. POLDI Was reden wir denn da so herum. Das ist ja geradezu komisch. Wir sind doch Männer, um Gottes willen. Es handelt sich doch darum, daß du einen Offizier beleidigt hast. PAUL lächelnd Bitte sehr – gezüchtigt. POLDI Ich bitte dich, laß mich jetzt aus mit deinen philosophischen Unterscheidungen. Die brauchen wir nicht; wir haben ja gottlob was viel Besseres, den Kodex. PAUL fast belustigt Was ist besser?

182 | M ICHAEL O TT POLDI Na, den Duellkodex haben wir! Und nach dem hast du einen Gentleman beleidigt, durch Schlag beleidigt, also nach dritter Art, bitte! – ergo mußt du dich schlagen, wenn du ein Gentleman bist. [...] Hättest du dir’s früher überlegt. [...] WELLNER Wir leben nun einmal innerhalb eines Kreises, in dem diese Anschauungen maßgebend sind, und es ist nicht möglich, sich darüber hinwegzusetzen. Du darfst es so wenig wie ein anderer. PAUL Ich darf es nicht? [...] PAUL Das ist zu dumm. WELLNER Das ist gar nicht dumm, es hat sogar einen tiefen Sinn. Wir sind Männer, mein Lieber; und darum müssen wir mit unserem Blute einstehen für das, was wir sagen und tun. Wohin käme es denn sonst? Wenn jeder sich so benähme wie du? PAUL Tät es doch jeder – so braucht’ es bald niemand mehr zu tun! Aber die Komödie vom Mannesmut und der Verachtung des Lebens muß weitergespielt werden.24

Es ist nach den Regeln des „Kodex“ klar, dass die Sekundanten nach dieser Szene Paul ihrerseits ihre Freundschaft kündigen ‚müssen‘ – Ankündigung des ‚sozialen Todes‘, dem hier aber kurz darauf der ‚reale‘ als Schlusspunkt des Stückes folgt. Diese zentrale Szene ist aber vor allem strukturell interessant, insofern sie das (ausfallende) Duell in eine Art Rede-Duell über Duelle überführt, in dem, weil offenkundig jedes ‚Argument‘ für die Ehren-Ordnung, das sich auf die Souveränität, Unabhängigkeit oder Pflicht des Mannes stützt, ins Leere läuft, nur noch die (zweimal genannte) tautologische ‚Letztbegründung‘ übrig bleibt: „Wir sind (doch) Männer“. Als argumentativer Sieger geht jedoch Paul aus diesem Rededuell hervor, da er gerade dieses die Männlichkeit beglaubigende Ritual als theatrale „Komödie vom Mannesmut“ decouvriert. In der Erstausgabe hatte Schnitzler die evidente Duellkritik ferner dadurch zugespitzt, dass im Anschluss an diese Szene ein Freund und Sekundant Karinskis noch einmal zu Rönning kommt (was er nach den Regeln des Kodex nicht dürfte) und ihm in einer vielsagenden Andeutung ein Duell zum Schein vorschlägt (was er nach diesen Regeln noch viel weniger dürfte). Schnitzler entschärfte diese Szene, in der nun die „Komödie vom Mannesmut“ endgültig als Possenspiel entlarvt worden wäre, in späteren Ausgaben aufgrund wütender Pro-

24 Arthur Schnitzler: „Freiwild“, in: ders.: Gesammelte Werke. Das dramatische Werk, Frankfurt/M. 1962, Bd. 2, S. 7-68, hier: S. 41, 44.

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teste gegen das Stück; er fügte aber zugleich einen Hinweis auf diese Veränderung ein, so dass hier im Text selbst eine Art Wunde markiert ist.25 Schließlich: Schon dieses Stück, vier Jahre vor Lieutenant Gustl fertiggestellt, führte zu heftigen Protesten vor allem in militärischen und antisemitischen Kreisen Wiens. Doch ist es zugleich der letzte Text Schnitzlers, der so explizite Duellkritik formuliert. Und das hängt mutmaßlich damit zusammen, dass 1896 die deutschnationalen Studenten im sog. „Waidhofener Beschluss“ jüdische Kommilitonen für satisfaktionsunfähig erklärten, indem sie unter anderem feststellten, „ein Jude könne seine Ehre nicht verteidigen, weil er keine habe.“26 Der Ausschluss von Juden aus der Duellpraxis machte selbst einem Duellgegner wie Schnitzler begreiflich, warum man sich aus Protest gegen diese Diskriminierung tatsächlich duellieren wollte; und so gratulierte er seinem Freund Paul Goldmann, der sich in Paris mit einem Anti-Dreyfusard duelliert hatte, mit einem ironischen Telegramm im November 1896: „ALSO DAZU SCHREIB ICH EXTRA STÜCKE GEGENS DUELL TAUSEND GRÜSSE UND GLÜCKWÜNSCHE“.27 Während hier die Teilnahme an einem Duell als Widerstand gegen die diskriminierende Exklusion von diesem Ritual erscheint, wird es im wohl berühmtesten Drama Schnitzlers, Das weite Land (1911), zum ständig drohenden, aber nie direkt gezeigten Phantasma und Kulminationspunkt sozialer Gewalt.28 Das Stück verschiebt die Duell-Thematik in ein anderes Milieu, nämlich ein großbürgerliches; hier ist es zwar nur noch im Hintergrund einer ziemlich hedonistischen Gesellschaft präsent, kann dafür aber in dieser funktional – durch das Ausstreuen von Gerüchten über Affären von Ehefrauen, auf die deren Männer wiederum mit Duellforderungen reagieren müssen – strategisch genutzt werden.29 So wie das Stück mit dem Diskurs über einen Tod beginnt – einen Selbstmord, der freilich auch aufgrund eines ‚amerikanischen Duells‘30 stattgefunden haben könnte – endet es mit einem Toten beim Duell, das man indessen nicht zu sehen bekommt. Dass der Protagonist Friedrich Hofreiter dabei den Geliebten seiner

25 Vgl. ebd. 26 Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler, Stuttgart 2005, S. 80. 27 Zit. nach ebd., S. 81. 28 Arthur Schnitzler: Das weite Land. Tragikomödie in fünf Akten, hrsg. von Reinhard Urbach, Stuttgart 2002. 29 Vgl. die Analyse bei Klaus Laermann: „Zur Sozialgeschichte des Duells“, in: Janz/ders.: Arthur Schnitzler, S. 13-154, hier: S. 148ff. 30 Ein amerikanisches Duell ist ein durch Los bestimmter Suizid; er ähnelt dem russischen Roulette.

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Frau Genia erschießt, obwohl er ihr im ersten Akt förmlich nahegelegt hatte, sich (wie er selbst) auf eine Affäre einzulassen, ist in diesem Gesellschaftsbild letztlich nur Ausdruck der tödlichen Macht der sozialen Diskurse über jeden – selbst den Libertin Hofreiter. Die dramatische Analyse von Ehrenkodex und Duell bewegt sich hier allerdings schon weit jenseits einer expliziten Kritik an deren Unvernunft; sie erscheinen vielmehr – auch in ihrer Absurdität – als unausweichliche, auch durch moderne Praktiken wie Tennis oder Bergsteigerei nicht aufgehobene Formen sozialer Selbstbestätigung für Männer.31

„E R IST NUR JUNG , ICH ABER C ASANOVAS H EIMFAHRT

BIN

C ASANOVA !“

Als Form solcher Selbstbestätigung in der Krise fungiert schließlich auch ein Duell, das nun tatsächlich literarisch – und erneut narrativ – repräsentiert wird, das Duell in Schnitzlers Novelle Casanovas Heimfahrt von 1918.32 Im Zentrum des Textes steht dabei ein Männlichkeits-Mythos gerade der Zeit um 1900: Casanova als Inbegriff des Verführers und Hedonisten kann zugleich als Gegenbild des durch die Diskurse um 1900 geisternden nervösen, verunsicherten Mannes verstanden werden; er selbst hatte sich in seinen Schriften ja als Frauenheld und uomo universale inszeniert. Schnitzlers Novelle setzt in dem Moment ein, an dem die Autobiographie Casanovas abbricht, vor der Rückkehr des gealterten Abenteurers nach Venedig, als dieser auf einem Landgut bei Mantua binnen zweier Tage noch einmal ein Abenteuer erlebt. 33 Die Frau von dessen Besitzer Olivo war vor Jahren seine Geliebte gewesen, jetzt aber fasziniert ihn die ebenfalls anwesende Nichte Marcolina, die nicht nur

31 Es ist bezeichnend, dass am Ende Hofreiters Frau Genia das Duell noch als „lächerliche Eitelkeits- und Ehrenkomödie“ bezeichnet (ebd. S. 128), er selbst dies aber verteidigt („Es war ein ehrlicher Kampf, ich bin kein Mörder“; S. 135). 32 Gerhard Neumann hat gezeigt, dass sich Schnitzler dabei auch auf Casanovas eigene Duell-Darstellung in dessen Novelle „Il Duello“ bezieht und gerade die rituelle Bewältigung von Kontingenz dabei hervorkehrt; vgl. Gerhard Neumann: „Ritualisierte Kontingenz. Das paradoxe Argument des ‚Duells‘ im ‚Feld der Ehre‘ von Casanovas ‚Il duello‘ (1780) über Kleists ‚Zweikampf‘ (1811) bis zu Arthur Schnitzlers Novelle ‚Casanovas Heimfahrt‘ (1918)“, in: Gerhard von Graevenitz/Odo Marquardt (Hrsg.): Kontingenz, München 1998 (Poetik und Hermeneutik XVII), S. 343-372. 33 Arthur Schnitzler: Casanovas Heimfahrt. Novelle, hrsg. von Johannes Pankau, Stuttgart 2003.

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schön ist, sondern auch noch in Bologna Mathematik studiert. Diese weist ihn aber zurück, „was Casanova umso mehr erbittert, als er des Nachts den jungen Leutnant Lorenzi aus ihrem Zimmerfenster steigen sieht.“34 Als er schließlich die demütigende Nachricht aus Venedig erhält, er dürfe zwar zurückkehren, aber nur wenn er sich als Spitzel für den Rat verdingt, gerät er endgültig in eine (Männlichkeits-)Krise; er vergewaltigt Olivos dreizehnjährige Tochter; und ferner gewinnt er beim nächtlichen Kartenspiel so viel Geld, dass er Lorenzi, der ebensoviel verliert und sich aufgrund seiner Schulden umbringen müsste, eine Liebesnacht in dessen Gewand bei Marcolina förmlich ‚abkaufen‘ kann. Am Morgen freilich bemerkt diese den Betrug und sieht Casanova voller Ekel an – worauf er den Ort des Geschehens schleunigst verlässt, um jedoch vor der Gartentür auf Lorenzi zu treffen, der sich eines besseren besonnen hat und Casanova zum Duell ‚stellt‘. Er [Casanova] nahm seine stolzeste Haltung an, faßte den Degengriff unter dem hüllenden Mantel fester und sagte im liebenswürdigsten Ton: „Finden Sie nicht, Herr Leutnant Lorenzi, daß Ihnen dieser Einfall etwas verspätet kommt?“ – „Doch nicht“, erwiderte Lorenzi – und er war schöner in diesem Augenblick als irgendein Mensch, den Casanova je gesehen –, „da doch nur einer von uns den Platz lebend verlassen wird.“ – „Sie haben es eilig, Lorenzi“, sagte Casanova in einem fast weichen Ton. „Wollen wir die Sache nicht wenigstens bis Mantua aufschieben? Es wird mir eine Ehre sein, Sie in meinem Wagen mitzunehmen. Er wartet an der Straßenbiegung. Auch hätte es manches für sich, wenn die Formen gewahrt würden ... gerade in unserm Fall.“ – „Es bedarf keiner Formen. Sie, Casanova, oder ich, – und noch in dieser Stunde.“ Er zog den Degen. Casanova zuckte die Achseln. „Wie Sie wünschen, Lorenzi. Aber ich möchte Ihnen doch zu bedenken geben, daß ich leider gezwungen wäre, in einem völlig unangemessenen Kostüm anzutreten.“ Er schlug den Mantel auseinander und stand nackt da, den Degen wie spielend in der Hand. In Lorenzis Augen stieg eine Welle von Haß. „Sie sollen nicht im Nachteil mir gegenüber sein“, sagte er und begann mit großer Geschwindigkeit, sich all seiner Kleidungsstücke zu entledigen. [...] Es fiel Casanova ein, daß er nun vielleicht die letzten Minuten seines Daseins durchlebte, und er wunderte sich, daß er vollkommen ruhig war. [...] „Ich bin bereit, Herr Chevalier!“ Rasch wandte sich Casanova um. Lorenzi stand ihm gegenüber, herrlich in seiner Nacktheit wie ein junger Gott. [...] Wenn ich meinen Degen hinwürfe? dachte Casanova. Wenn ich ihn umarmte? Er ließ den Mantel von seinen Schultern gleiten und stand nun da wie Lorenzi, schlank und nackt. Lorenzi senkte den Degen zum Gruß nach den Regeln der Fechtkunst, Casanova gab den Gruß zurück; im nächsten Augenblick kreuzten sie die Klingen und silbernes Morgenlicht spielte glitzernd von Stahl zu Stahl.

34 Fliedl: Arthur Schnitzler, S. 211.

186 | M ICHAEL O TT [...] Immerhin, dachte Casanova, er war ein tüchtiger Fechter; – und auch ich habe nichts verlernt! Sein Arm war sicher, seine Hand war leicht, sein Auge blickte so scharf wie je. Eine Fabel ist Jugend und Alter, dachte er ... Bin ich nicht ein Gott? Wir beide nicht Götter? Wer uns jetzt sähe! – Es gäbe Damen, die sich’s was kosten ließen. Die Schneiden bogen sich, die Spitzen flirrten; nach jeder Berührung der Klingen sang es leise in der Morgenluft nach. Ein Kampf? Nein, ein Turnier ... Warum dieser Blick des Entsetzens, Marcolina? Sind wir nicht beide deiner Liebe wert? Er ist nur jung, ich aber bin Casanova! ... Da sank Lorenzi hin, mit einem Stich mitten ins Herz. [...] Ein kühler Schauer floß durch Casanovas Glieder. Er erhob sich und nahm seinen Mantel um. Dann trat er wieder an die Leiche und blickte auf den Jünglingsleib hinab, der in unvergleichlicher Schönheit auf dem Rasen hingestreckt lag. Ein leises Rauschen ging durch die Stille; es war der Morgenwind, der durch die Wipfel jenseits der Gartenmauer strich.35

Die geschilderte Szene und die Art ihrer Schilderung sind zu komplex, um hier allen ihren Dimensionen gerecht werden zu können. Bemerkenswert im Blick auf die oben genannten Perspektiven ist allerdings, dass dieses Duell mit Blick auf den ‚Kodex‘ vollkommen irregulär ist, schon weil es keine Sekundanten gibt, aber dass zugleich eine Art inkorporierter, habitueller Zeremonialität das Geschehen bestimmt: Lorenzi bringt Casanova nicht etwa einfach um (wozu er genug Motive hätte), sondern wahrt die Formen und ihre Norm der Egalität bis hin zum absurden Punkt der gleichen Nacktheit beider Protagonisten. Erkennbar wird damit nicht nur, dass Duelle auch Formen rituellen Tauschs sind – eines Austauschs von Gesten, Formen und Stichen. Überdeutlich wird hier zur homosozialen auch eine (latent) homoerotische Dimension hinzugefügt: Dreimal betont der Text die Schönheit Lorenzis; eine Umarmung wird phantasiert; und die Tötung und das ‚Hinsinken‘ des Körpers auf den Rasen könnten fast als Phantasie eines Geschlechtsakts gelesen werden, wäre nicht eine weitere, vom Text eröffnete Assoziation ebenso deutlich. Casanova, der nun „wie Lorenzi“ dasteht, „schlank und nackt“, ein „tüchtiger Fechter“ wie er, kämpft mit niemand anderem als mit seinem eigenen, jüngeren Selbst. Das Duell ist genau bis zu dem Punkt ein phantasmatisches „Duell im Spiegel“36, an welchem Casanova in die rituelle Egalität des Kampfes die Differenz des (eigenen) Namens einbringt: „er ist nur jung, ich aber bin Casanova“. Dass ihm gerade daraufhin der

35 Schnitzler: Casanovas Heimfahrt, S. 105-107. 36 Vgl. zu diesem Konzept – mit Blick auf Kleists Amphitryon und Hanns Heinz Ewers’ Der Student von Prag – den erhellenden Aufsatz von Gabriele Brandstetter: „Duell im Spiegel. Zum Rahmenspiel in Kleists Amphitryon“, in: Kleist-Jahrbuch 1999, S. 109127.

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tödliche Stich gelingt, treibt die Psychologie des Duells auf die Spitze, die hier – in der Repräsentation des Geschehens zwischen auktorialem Erzählen und dem inserierten inneren Monolog – ohnedies eine weitere Stufe der Komplexität erreicht hat. Der Text macht im nahezu mit jedem Satz wechselnden Abstand zum Geschehen das ‚Halbbewusste‘ des Geschehens ebenso begreiflich wie dessen soziale Logik von außen sichtbar; und der historische Abstand – es geht hier buchstäblich um ein Mantel- und Degen-Stück – erlaubt umso deutlicher die Inszenierung der Männlichkeits-Krise des kläglich gealterten Abenteurers, über die auch dieses Duell nicht mehr hinweghilft. Zusammenfassen lässt sich: Die über einen Zeitraum von über 20 Jahren entstandenen Texte Schnitzlers machen damit verschiedene Ebenen sichtbar, wie in der literarischen Inszenierung etwas vom sozialen Imaginären der Ehre zutage gebracht werden kann. Geht das frühe Drama Freiwild noch von einem tragisch endenden, grenzwertigen casus innerhalb der Ehrenordnung selbst aus – dem Fall, dass jemand eine Duellforderung einfach aus prinzipiellen Gründen ignoriert37 – , wird das Weite Land zur Analyse der sozialen Logik des ‚Gebrauchs‘ des Rituals, das auch völlig gegen seinen ‚Sinn‘, seine offizielle Logik und ihre Begründungen verwendet werden kann und selbst den Libertin in seine Gewalt zwingt. In der Narration andererseits erprobt Schnitzler Möglichkeiten, die Psychodynamik seiner männlichen Protagonisten zu analysieren, ohne allerdings die soziale Dimension aus dem Blick zu verlieren. Lieutenant Gustl steht dabei unter denen, die sich überhaupt mit Fragen der Ehre und des Duells befassen müssen, auf der tiefsten Stufe der sozialen Leiter; seine Krenfleisch-Phantasie ist erkennbar Krisen-Kompensation. Dagegen macht die – formal sogar konventioneller scheinende – Darstellung eines tatsächlichen Duells in Casanovas Heimfahrt dessen imaginäre Logik und die aporetische Bestätigung der Männlichkeit in einer anderen und noch grundsätzlicheren Krise transparent. Entscheidend für beide ist, dass so im Text der Erzählungen ein im sozialen Diskurs unhörbarer, imaginärer Subtext der Sprache der Ehre lesbar wird, ihre elementare Verbindung mit männlicher Identität.

37 Diese Bindung an einen spezifischen Casus ist, wie Harald Weinrich gezeigt hat, eine der zentralen Punkte in der Relation von Ehre und Dramatik, die damit zu einer „Kasuistik der Ehre“ wird: Vgl. Harald Weinrich: „Mythologie der Ehre“, in: Manfred Fuhrmann (Hrsg.): Terror und Spiel, München 1971 (Poetik und Hermeneutik VIII), S. 341-356.

Harte Väter, aufbegehrende Söhne Divergierende Männlichkeitsentwürfe und Formen der Gewalt in expressionistischer Erzählliteratur S EBASTIAN Z ILLES

D ESTRUKTIVE F AMILIENGESCHICHTEN – EINE E INFÜHRUNG „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche ist unglücklich auf ihre Weise.“1 Dieser häufig zitierte Satz bildet nicht nur den Auftakt zu Tolstois Ehebruchsroman Anna Karenina (1877/78), sondern beschreibt gleichsam eine literarische Programmatik: Familiengeschichten sind in der Literatur gerade dann besonders erzählenswert, wenn sie von Familiendesastern2 berichten, das traditionelle Bild von der Familie als „eine Stätte der Stabilität, ein Hort des Friedens“3 als schiere Illusion entlarven und damit auf den Konstruktcharakter des Modells Familie aufmerksam machen. Anstelle von „Musterfamilien“4 werden demnach destruktive Familien vorgestellt, deren (Fort-)Bestand sich

1

Lew Tolstoi: Anna Karenina [1877/78], übersetzt u. kommentiert v. Rosemarie Tietze, München 2009, S. 7.

2

Vgl. Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München 52007.

3

Ingeborg Weber-Kellermann: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte, Frankfurt/M. 71982, S. 7.

4

Vgl. Claudia Brinker-von der Heyde/Helmut Scheuer (Hrsg.): Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur, Frankfurt/M. u.a. 2004.

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durch Inzest, Degeneration, Kindsmord, ökonomischen Zerfall, Bruderzwiste, Ehebruch etc. als ausgesprochen fragil erweist. Neben diesen Topoi erweist sich das Konfliktpotential zwischen Vätern und ihren Nachkommen in der deutschen Literaturgeschichte als ausgesprochen prominent. Der Generationenkampf lässt sich bis in die literarische Strömung des Sturm und Drang zurückverfolgen: „Seitdem war kein Halten mehr. Jede ‚revolutionär‘ gesinnte Generation, ob nun die Jungdeutschen, Vormärzler, Naturalisten, Expressionisten oder Pop-Fanatiker, warf mit stets erregten Gebärden ihren Vätern den Fehdehandschuh ins Gesicht.“5 Die Häufigkeit des rein männlichen Generationskonflikts lässt sich einerseits sozialgeschichtlich erklären: Ingeborg Weber-Kellermann hat in ihrer Untersuchung über Die deutsche Familie gezeigt, dass sich „das Prinzip des Patriarchalismus in immer neuen Kombinationsmustern“6 als Leitmotiv in der Geschichte der Familie erweist. Vom Mittelalter ausgehend, in dem der Vater „dem ‚ganzen Haus‘ […] als Planer und Verwalter der Ökonomie, als Vertreter seines Hausrechts in der Gemeinde, als Gatte und Vater und Gestalter der häuslichen Gemeinde“7 vorsteht, über die bürgerliche Kleinfamilie im 19. Jhd. bis hin zu Familienentwürfen im Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, wird die Familie durch den Patriarchalismus „geführt und gleichzeitig gehemmt“.8 Andererseits kann eine geschlechtersensible kulturwissenschaftliche Perspektive zugrunde gelegt werden: „Es sind Kämpfe um alte und neue Konzepte von Männlichkeit, zu denen gleichzeitig auch die psychoanalytischen Beschreibungen ödipaler Konflikte gehören.“9 Mit der Aushandlung verschiedener Männlichkeitskonzepte zweier Generationen gehen aber auch die Verteilung von Machtressourcen, die Bewahrung von Hierarchien, die Sicherung der eigenen Existenz sowie das Aufrechterhalten bestehender Normen und Werte einher. Für die Vater-Sohn-Problematik im literarischen Expressionismus, um die es im Folgenden gehen soll, sind drei Aspekte entscheidend, die die Konflikte von

5

Jost Hermand: „Oedipus Lost: Oder der im Massenerleben der Zwanziger Jahre ‚aufgehobene‘ Vater-Sohn-Konflikt des Expressionismus“, in: ders./Reinhold Grimm (Hrsg.): Die sogenannten Zwanziger Jahre, Bad Homburg/Berlin/Zürich 1970, S. 203224, hier: S. 204.

6

Weber-Kellermann: Die deutsche Familie, S. 10.

7

Ebd.

8

Ebd., S. 12.

9

Thomas Anz: „Das Gesetz des Vaters. Autorität und Familie in der Literatur. Psychoanalyse und Kulturwissenschaft des 20. Jahrhunderts“ in: Brinker-von der Heyde/Scheuer (Hrsg.): Familienmuster, S. 185-200, hier: S. 191.

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den vorherigen literarischen Epochen signifikant abheben: Dazu zählt erstens die Radikalität, mit der eine Konfliktlösung herbeigeführt wird. In der Gattung des expressionistischen Dramas stellt der Vatermord die einzige Lösung des Konflikts dar, wofür paradigmatisch Der Bettler (1912) von Reinhard Sorge, Der Sohn (1914) von Walter Hasenclever sowie der Vatermord (1920) von Arnolt Bronnen stehen. Zweitens „liegt das spezifisch Neue und Andersartige“ der Vaterproblematik „in ihrer unterschwelligen Tendenz ins Psychoanalytische und Tiefenpsychologische“10 überzugehen und sich als literarische Antwort auf die Psychoanalyse Sigmund Freuds zu verstehen. Und schließlich verdichtet sich drittens im ausgehenden 19. Jhd. die Krise der Männlichkeit: „Krisensymptome im durchaus pathologischen Sinn sind Homosexualität und deren wissenschaftliche sowie mediale Diskursivierung, Effeminatio und ‚Entartung‘ […], Kriminalisierung und Verwahrlosung […] sowie Bedrohung durch neue Frauenbilder und -bewegungen.“11 Diese krisenhafte Männlichkeit wird durch eine Pluralisierung verschiedener Männlichkeitsbilder (Dandy, Neurastheniker, etc.) zusätzlich potenziert,12 die den Männlichkeitsentwürfen der Vätergeneration häufig diametral gegenüberstehen. Solche divergenten Entwürfe von Männlichkeit werden nachstehend am Beispiel von Franz Werfels Novelle Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig (1919) und Gerhart Hauptmanns Roman Die Insel der Großen Mutter oder das Wunder von Île des Dames (1924) näher konturiert. Im Gegensatz zu den oben genannten dramatischen Texten führen die gewählten Beispiele erzählender Literatur die Überwindung des Vaters nicht durch Mord herbei, was jedoch nicht bedeuten soll, dass andere Formen von Gewalt keine entscheidende Rolle in den Werken spielen. Diese Gewaltformen gilt es im Folgenden näher herauszuarbeiten und der jeweiligen Generation zuzuordnen. Für Werfels Novelle wie für Hauptmanns Roman bilden Das Mutterecht (1861) des Basler Altertumsforschers Johann Jakob Bachofen sowie die Untersuchung Altersklassen und Männerbünde (1902) des Ethnologen Heinrich Schurtz wichtige theoretische Grundlagen. Beide Forscher stellen die Dominanz des Patriarchats heraus und etablieren dabei einen Konnex von Männlichkeit und Gewalt, wie im nachstehenden Kapitel gezeigt wird.

10 Hermand: „Oedipus Lost“, S. 206. 11 Gregor Schuhen: „Crisis? What Crisis? Männlichkeiten um 1900“, in: ders. (Hrsg.): Der verfasste Mann. Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900. Bielefeld 2014, S. 7-18, hier: S. 8. 12 Vgl. ebd.

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B ACHOFEN VERSUS S CHURTZ – M ÄNNLICHKEIT UND G EWALT

ZUM

K ONNEX

VON

„Die Geschichte der Familie datiert von 1861, vom Erscheinen von Bachofens ‚Mutterrecht‘“13, rühmt Friedrich Engels in seiner 1884 erschienenen Untersuchung Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats das Hauptwerk des Basler Altertumsforschers Johann Jakob Bachofen (18151887).14 Engels’ Einschätzung steht paradigmatisch für die frühe Rezeption des Werkes, denn Das Mutterrecht15 wurde lange Zeit als Familientheorie behandelt und trug daher „zu den maßgeblichen Leitideen der historisch anthropologischen Familienforschung“16 bei. Bachofens Mutterrecht ist aber nicht nur eine Untersuchung über die „Familienzustände“ (M, 52) und eine Darstellung über die „Entwicklung des Familienrechts“ (M, 54), sondern auch und vor allem eine „Geschichte des Geschlechterverhältnisses“ (M, 47) bzw. des ständigen Geschlechterkampfes. In einer „triadische[n] Geschichtskonzeption“17 stellt Bachofen den Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat dar: Am Ursprung verortet er eine „Zeit des regellosen Hetärismus“ (M, 29), die dann in eine demetrisch geordnete Gynaikokratie, in der die Verwandtschaft der mütterlichen Linie gleichzeitig die politische Herrschaft der Mütter legitimiert, übergeht und schließlich durch das Vaterrecht abgelöst wird. Im Hinblick auf die Konzeption der Geschlechter spielt die mittlere Stufe eine signifikante Rolle: Bachofen rühmt diese Phase als eine „notwendige Erziehungsperiode der Menschheit“ (M, 27), in der die Frau den Mann erzieht, was er

13 Friedrich Engels: „Vorwort zur vierten Auflage (1891) des Ursprungs der Familie, des Privateigentums und des Staats“, in: ders./Karl Marx: Werke, Bd. 22, Berlin 3

1975, S. 211-222, hier: S. 212.

14 Zur Biographie Bachofens siehe: Casimir von Kelles-Kreuz: „Johann Jakob Bachofen“, in: Hans-Jürgen Heinrichs (Hrsg.): Materialien zu Bachofens ‚Das Mutterrecht‘, Frankfurt/M. 1975, S. 75-86. Vgl. auch Uwe Wesel: Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens Mutterrecht und die Stellung von Frauen in frühen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1980, S. 9-12. 15 Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur [1861]. Eine Auswahl, hrsg. von Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurt/M. 1975. Nachfolgend wird nach dieser Ausgabe mit der Sigle M und Seitenzahlen in Klammern direkt im Fließtext zitiert. 16 Walter Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München 2001, S. 71. 17 Ebd., S. 72.

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auf die höhere Religiosität und moralische Gesinnung der Frau zurückführt: „Zu allen Zeiten hat das Weib durch die Richtung seines Geistes auf das Übernatürliche, Göttliche, der Gesetzmäßigkeit sich Entziehende, Wunderbare den größten Einfluß auf das männliche Geschlecht, die Bildung und Gesittung der Völker ausgeübt.“ (M, 19) Bereits hier zeichnet sich als Argumentationsfigur die Einteilung in bipolare Geschlechtscharaktere18 ab, eine narrative Strategie, die Bachofen im Fortgang der Abhandlung weiter verfolgt: Der höhern physischen Kraft des Mannes setzt die Frau den mächtigen Einfluß ihrer religiösen Weihe, dem Prinzip der Gewalt das des Friedens, blutiger Feindschaft das der Versöhnung, dem Haß die Liebe entgegen, und weiß so das durch kein Gesetz gebändigte wilde Dasein der ernsten Zeit auf die Bahn jener mildern und freundlicheren Gesittung hinüberzuleiten, in deren Mittelpunkt sie nun als Trägerin des höhern Prinzips, als die Offenbarung des göttlichen Gebots herrschend thront. (M, 20)

Wie aus dieser Passage hervorgeht, imaginiert Bachofen die Phase der Gynaikokratie als eine Periode der Eintracht, Harmonie und Frömmigkeit, die allerdings durch das kriegerische Wesen des Mannes bedroht wird. Männlichkeit und Gewalt erscheinen im Mutterrecht nicht nur symbiotisch miteinander verbunden, sondern die männliche Gewalt wird gleichsam naturalisiert. Sie ist in der Argumentation Bachofens ein wesentlicher Faktor für den geschichtlichen Fortschritt: Jeder Wendepunkt in der Entwicklung des Geschlechterverhältnisses ist von blutigen Ereignissen umgeben, die allmählich friedliche Fortbildung viel seltener als der gewaltige Umsturz. Durch die Steigerung zum Extreme führt jedes Prinzip den Sieg des entgegengesetzten herbei, der Mißbrauch selbst wird zum Hebel des Fortschritts, der höchste Triumph Beginn des Unterliegens. (M, 28f.)

Die Dominanz der physischen Kräfteverhältnisse des Mannes und letztlich der Triumph des Patriarchats setzt sich mit der hellenischen Kultur endgültig durch (vgl. M, 19). Die hier skizzierte Entwicklung vom Matriarchat zum Patriarchat wird von Bachofen eindeutig als ein „Fortschritt“ (M, 47) bewertet: „[I]n der Hervorhebung der Paternität liegt die Losmachung des Geistes von den Erscheinungen der

18 Vgl. Karin Hausen: „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“, in: Werner Conze (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363-393.

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Natur, in ihrer siegreichen Durchführung eine Erhebung des menschlichen Daseins über die Gesetze des stofflichen Lebens“ (M, 48). Was Bachofen an dieser Stelle erzählt, ist nichts anderes als eine männliche Erfolgsgeschichte. Die Durchsetzung des Patriarchats wird durch Gewalt erreicht und über eine Gleichsetzung von Männlichkeit und Geist legitimiert. Die Debatte über die Entstehung von Gesellschaft und Familie spitzt sich nach Bachofen in der zweiten Hälfte des 19. Jhds. derart zu, dass sich mit seiner Promiskuitätstheorie und der Einzelehetheorie (Westermarck) zwei unterschiedliche Erklärungsmodelle gegenüberstehen.19 Kurz nach der Jahrhundertwende bringt der Ethnologe Heinrich Schurtz (1863-1903)20 mit seiner 1902 veröffentlichten Studie Altersklassen und Männerbünde21 neuen Zündstoff in die ohnehin schon kontrovers geführte Debatte. Schurtz weist beide Theorien entschieden zurück und stellt ihnen eine These entgegen, die dem Mann – und nicht der Familie – den größten Anteil „an der Arbeit des socialen Aufbaues“ (AuM, 73) zuspricht. Daher erweisen sich Männerbünde als „die eigentlichen Träger fast aller höheren gesellschaftlichen Entwicklung“ (AuM, V). Schurtz baut seine These auf der Grundlage zweier konträrer, geschlechtlich codierter Triebe auf: Während die Frau „vorherrschend unter dem Einfluss der Geschlechtsliebe und der aus ihr entspringenden Familiengefühle“ (AuM, IV) stehe, werde der Mann „mehr durch einen reinen Geselligkeitstrieb, der ihn mit seinesgleichen verbindet, in seinem Verhalten bestimmt“ (ebd.). Im Hinblick auf Bachofen schlussfolgert er: „Das sogenannte Mutterrecht ist also eine Folge der Verkümmerung des Familienlebens, die durch den Zusammenschluss der Männer notwendig erfolgen musste.“ (AuM, 78) Diese These stellt „einen massiven Einwand gegen alle bis dahin von der Familie oder der Verwandtschaft ausgehenden Kulturtheorie“22 dar. Im Gegensatz zu Bachofen erzählt Schurtz eine Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung, die von Anfang an männlich codiert ist. Allerdings kommt auch Schurtz’ Argumentation nicht ohne das Motiv der physischen Gewalt aus. Er weist bei den ‚primitiven‘ Völkern nach, dass sich die Männer erst für den Män-

19 Vgl. Ulrike Brunotte: Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne, Berlin 2004, S. 31. 20 Vgl. zur Biographie Schurtz’ Thomas Ducks: Heinrich Schurtz (1863-1903) und die deutsche Völkerkunde, Freiburg i. Br. 1996, S. 9-36. 21 Heinrich Schurtz: Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grundformen der Gesellschaft, Berlin 1902. Nachfolgend wird nach dieser Ausgabe mit der Sigle AuM und Seitenzahlen in Klammern direkt im Fließtext zitiert. 22 Brunotte: Zwischen Eros und Krieg, S. 31.

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nerbunde qualifizieren und zu einem „vollwertige[n] Mitglied [d]er gesellschaftlichen Gruppe“ (AuM, 97) gemacht werden müssen: Dazu zählt zum einen die Erfahrung eines psychischen Schmerzes, denn bei den Jünglingsweihen wird der Knabe von der weiblich codierten Familie getrennt; dazu wird zum anderen ein physisches Schmerzerlebnis gerechnet (vgl. AuM, 97), das sich u.a. in Form der Beschneidung, der Tätowierung und dem Zufügen von Narben äußert. Diese Rituale verdeutlichen, dass das anatomische Geschlecht (sex) und das soziokulturelle Geschlecht (gender) beim Manne nicht zusammenfallen, sondern erst performativ hervorgebracht werden müssen. In beiden Texten wird die hegemoniale Stellung des Mannes durch den Geschlechterkampf kontinuierlich bedroht. Daher stellen beide Forscher die Geschlechterdifferenz hypertrophisch dar und reproduzieren das zentrale kulturelle Deutungsmuster, wonach die Relation zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit in der Beziehung zwischen Kultur und Natur eine Entsprechung findet. Analog dazu führt Bachofen die Gegensätze von Geist oder Körper sowie Sonne und Erde, Schurtz die von Männerbund und Familie sowie von Öffentlichkeit und Privatheit ein, mit dem Ergebnis einer asymmetrischen Geschlechterkultur. Des Weiteren werden in beiden Untersuchungen Männlichkeit und Gewalt miteinander verknüpft. In beiden Fällen handelt es sich primär um physische Gewalt. Dieser Gewaltbegriff ist jedoch zu eng gefasst. Pierre Bourdieu hat herausgestellt, dass die männliche Herrschaft weniger auf physischer, als vielmehr auf symbolischer Gewalt beruht, die er als „jene sanfte, für ihre Opfer unmerkliche, unsichtbare Gewalt, die im wesentlichen über die rein symbolischen Wege der Kommunikation und des Erkennens, oder genauer des Verkennens, des Anerkennens oder, äußerstenfalls, des Gefühls ausgeübt wird“23, definiert. Soziale Praktiken spiegeln demnach die Herrschaftsverhältnisse wider und schreiben die Geschlechterdifferenz fort. Was sowohl bei Bourdieu als auch bei Bachofen und Schurtz eher peripher behandelt wird, sind jedoch die Machtverhältnisse zwischen Männern.24 Diese homosoziale Ebene gilt es in der folgenden Textanalyse zu berücksichtigen, da sie einerseits das Machtgefälle der Vater-SohnBeziehungen beschreibbar macht und mit ihr andererseits die männerbündischen Momente der Texte fassbar gemacht werden können.

23 Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft, übers. von Jürgen Bolder, Frankfurt/M. 2005, S. 8. 24 Vgl. Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktionen von Männlichkeiten, übers. von Christian Stahl, Opladen 22000.

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„E R

WIRD GEHASST UND GELIEBT , NICHT WEIL ER BÖSE 25

UND GUT , SONDERN WEIL ER V ATER IST “ – F RANZ W ERFELS N OVELLE N ICHT DER M ÖRDER , DER E RMORDETE IST SCHULDIG (1919) Franz Werfels Novelle, die den Titel eines albanischen Sprichwortes trägt, ist in der zweiten Hälfte des Jahres 1919 in Breitenstein entstanden.26 Es handelt sich hierbei um Werfels erstes vollendetes Werk erzählender Literatur.27 Der IchErzähler Karl Duschek, „Sohn eines Generals, Enkel eines Oberleutnants, Urenkel eines Stabsprofossen“ (W, 237) berichtet aus der Retrospektive über seine Erziehung in einer Kadettenanstalt und seine erfolglose militärische Laufbahn. Die These, dass „[ü]ber das männliche Generationenverhältnis und den männlichen Generationskonflikt […] die hegemoniale Männlichkeit weitergegeben“28 wird, erweist sich im Falle Karl Duscheks als problematisch: Karl entspricht nicht dem Bild hegemonialer Männlichkeit, sondern leidet unter ihr. Das erste Kapitel arbeitet daher die divergierenden Entwürfe von Männlichkeit zwischen Vater und Sohn heraus. Im zweiten Teil wird der Fokus verstärkt auf Formen der Gewalt gerichtet, die sich im Fortgang der Handlung der Novelle verdichten: Der Protagonist schließt sich einem Geheimbund an, der gleichsam die patriarchale Weltordnung mit Waffengewalt bekämpfen will. Karls persönlicher Generationenkonflikt wird „auf den Gesamtkomplex jeder organisierten Autorität übertragen: Gesellschaft, Familie, Staat, Militär, etc.“ 29 Der Geheimbund plant ein Attentat auf den russischen Zaren, das jedoch frühzeitig scheitert. Karl muss sich vor seinem Vater verantworten, wobei der Konflikt an dieser Stelle eskaliert.

25 Franz Werfel: Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. Eine Novelle, in: ders.: Die schwarze Messe. Erzählungen. Frankfurt/M. 1989. S. 214-335, hier S. 330. Nachfolgend wird nach dieser Ausgabe mit der Sigle W und Seitenzahlen in Klammern direkt im Fließtext zitiert. 26 Vgl. Norbert Abels: Franz Werfel. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 31998, S. 57. 27 Vgl. Gerhard P. Knapp: Die Literatur des deutschen Expressionismus. Einführung – Bestandsaufnahme – Kritik, München 1979, S. 159. 28 Lothar Böhnisch/Reinhard Winter: Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf, Weinheim/München 21994, S. 115. 29 Knapp: Die Literatur des deutschen Expressionismus, S. 159.

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a.) Rebellion gegen das väterliche Bild militärischer Männlichkeit „Nein! Ich war nicht zum Soldaten geboren!“30

Werfel eröffnet das Handlungsgeschehen mit einem Bericht über eine Kadettenanstalt, in der Karl Duschek als Zögling seine sekundäre Sozialisation erfährt. Die Schilderung dieser militärisch geprägten Einrichtung ist nicht nur ein prominenter Topos in der Literatur der Jahrhundertwende,31 sondern ist für die „Mannwerdung“32 des Ich-Erzählers entscheidend. Karl Duschek wird von der mütterlichen Welt getrennt33 und in einen homosozialen Raum überführt, der den Kadetten Tugenden wie Disziplin, Pflichterfüllung, Gehorsam und Respekt vor Autoritäten sowie Regelkonformität beibringen soll. Es handelt sich bei der Einrichtung demnach um eine Vorstufe zum Militär, das von der Historikerin Ute Frevert als die „Schule der Männlichkeit“34 beschrieben wurde. Die primäre Funktion des Militärs im ausgehenden 19. Jhd. besteht in der Produktion hegemonialer Männlichkeit, denn diejenigen, die gedient haben, gelten als „Helden, Kämpfer voller Mut, Stärke, Selbstüberwindung, Aufopferung und Disziplin“ und haben die Primärtugenden wie „Sauberkeit, Fleiß, Ordnungssinn, Pünktlichkeit [sowie] Sparsamkeit“35 verinnerlicht. Daher gilt der militärische Mann als „der Mann schlechthin“.36 Werfel bestätigt diesen historischen Befund literarisch am Beispiel von Karls Vater, der „zu den einflußreichsten Militärs des Reiches“ (W, 238) gehört: Nach einer erfolgreichen militärischen Operation wird er mit dem seltenen Adelsprädikat „Edler von Sporentritt“ (W, 219) ausgezeichnet. Der Vater legt eine militä-

30 W, 234. 31 Vgl. Matthias Luserke-Jaqui: „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß: Adolescent Sexuality, the Authoritarian Mindset, and the Limits of Language“, in: Philip Payne/Graham Batram/Galin Tohanov (Hrsg.): A Companion to the Works of Robert Musil, Rochester 2007, S. 151-173, hier: S. 155. 32 Bourdieu: Die männliche Herrschaft, S. 49. 33 Vgl. Schurtz: Altersklassen und Männerbünde, S. V; ferner: Bourdieu: Die männliche Herrschaft, S. 49. 34 Ute Frevert: „Das Militär als Schule der Männlichkeiten“, in: dies. (Hrsg.): Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2008, S. 57-73, hier: S. 57. 35 Ebd., S. 70. 36 Ebd., S. 62.

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rische Karriere par excellence hin: „Die Stufenleiter des Generalstabs, spielend war sie von ihm erstiegen worden. Als Befehlshaber einer der glänzendsten Divisionen zum Frontdienst zurückgekehrt, war er neuerdings zum Korpskommandanten der Residenz ernannt worden“ (ebd.). Vater Duschek fügt sich damit problemlos in die männliche Genealogie seiner Familie ein, die bereits in den beiden vorherigen Generationen militärisch geprägt war (vgl. W, 237). Mit seinem Sohn Karl beginnt es allerdings im Getriebe der Schule der Männlichkeit ordentlich zu knirschen. Schon die Schilderungen der Pubertät machen unmissverständlich kenntlich, dass sich Karl nur schwer der ihm vorgesehenen Laufbahn fügen kann. Er empfindet die Kadettenanstalt wie eine Verurteilung „zu schwerer Zuchthausstrafe“ (W, 215) und bezeichnet das Institut als einen „Kerker“ (W, 216). Seine Erinnerungen an die Anstalt fasst er wie folgt zusammen: Wer nicht in einem unerbittlichen Institut aufgewachsen ist, wird sein Lebtag die Bedeutung des Wortes – Sonntag – nicht ermessen. Sonntag, das ist der Tag, wo die erdrosselnde Hand der Angst um den Hals sich lockert, Sonntag, das ist ein Erwachen, ohne bangen Brechreiz, Sonntag, das ist der Tag ohne Prüfungen, Strafe, erbitternden Lehrerschrei, der Tag ohne Schande, ohne zurückgewürgte Tränen, Erniedrigungen, […], der Tag, wo jeder mit dem weißen Erlaubnisschein die Wache am Tor passiert, und in die Freiheit und Freude tritt. (W, 215)

Aus dieser Passage geht zweierlei hervor: Der Drill, die Vorschriften, der streng geregelte Tagesablauf und das Fehlen einer Rückzugsmöglichkeit (vgl. W, 218) verhindern zum einen die Ausbildung von Individualität. Schon früh entlarvt der Kadett die Einrichtung als pervertierte Maschinerie, die Männer „von jener frischen Dummheit, die in der Welt so angenehm berührt“ (W, 235), produziert. Er fasst daher auch ein vernichtendes Urteil: „Die Schule, […], in die uns unsere Väter schickten, war eine Akademie des Menschenmords!“ (W, 332) Der Sonntag ist für die jungen Kadetten zum anderen der einzige Tag, um dem homosozialen Raum zu entkommen und in die mütterliche Welt zurückzukehren. Im Falle von Karl verhält sich dieser Fall jedoch ex negativo: „[M]it entsetzlichem Herzklopfen und einer schweren Übelkeit im Magen“ (W, 216) besucht der Junge sein Elternhaus oder muss, wie er es bezeichnet, zum „Verhör über Noten und Zensuren“ (ebd.) bei seinem Vater antreten. Das Substantiv „Verhör“, das eigentlich ein juristischer Begriff ist und in Zusammenhang mit polizeilichen oder richterlichen Befragungen einer Person zu einem Sachverhalt Verwendung fin-

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det, wird hier in den Familienraum transferiert.37 Damit wird bereits die Brüchigkeit des Bildes der Familie „als ein Ort der Geborgenheit, der Harmonie, der Liebe und des Vertrauens“38 angedeutet. Dieser Eindruck wird bekräftigt, wenn Karl über den Eintritt des Vaters in die Wohnung berichtet: Er [der Vater, S.Z.] hing den Tschako und frischvernickelten Salonsäbel an den Haken, zog sein Bartbürstchen und kämmte sich zurecht, schlug in der Türe leicht die Sporen aneinander, begrüßte meine Mutter und mich […] mit einem förmlichen „Servus“, wie er es von Kameradschaftsabenden her gewohnt war, wenn er unter rangsjüngere Kameraden trat. (W, 217f.)

Hatte der Ethnologe Heinrich Schurtz noch klar zwischen der Familie und dem Männerbund unterschieden, zeigt der Vater die Durchlässigkeit dieser Grenzlinie auf. Seine militärischen Verhaltensformen bzw. „die Gewohnheiten eines Frontsoldaten“ (W, 220) werden aus dem homosozialen Bereich ins Private übertragen. In den Augen des Kindes personifiziert die Vaterfigur daher militärische Männlichkeit schlechthin: „Er war ein ausgezeichneter Offizier. Das Dienstreglement war ihm in Fleisch und Blut übergegangen“ (W, 218). Allerdings führt die militärische Männlichkeit zu zwei Problemen: Einerseits erhöht Karl seinen Vater symbolisch, wenn er ihn als den „Große[n], Bewunderte[n], Alleswissende[n], Alleskönnende[n]“ (W, 227) ansieht. Andererseits fehlt es dem Jungen an väterlicher Fürsorge: Ich sehnte mich in bitteren Nächten nach seiner Liebe, und der Schmerz aller Erniedrigungen war nichts gegen die Qual jenes oft geträumten Traums, da ich ihn in Pulverdampf gehüllt, seinem Bataillon voraussprengend in die Luft greifen und fallen sah! (W, 227f)

Die Vater-Sohn-Beziehung wird lediglich durch die kindlichen Unterlegenheitsgefühle und Angstzustände charakterisiert: „[D]as Vaterhaus, andern ein Asyl, mir war es nur die schärfere Wiederholung des Instituts und der Kaserne gewesen“ (W, 234). Dass der Vater ein Despot, ein autoritärer pater familias ist, erschließt sich auch über die Mutterfigur. Duscheks Gattin ist eine „verschüchterte, harte Die-

37 Das Verhör ist von Michael Niehaus als ein kommunikatives Gewaltverhältnis beschrieben worden. Vgl. Michael Niehaus: Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion. München 2013, S. 11. 38 Claudia Brinker-von der Heyde: „Einführung“, in: dies. (Hrsg.): Familienmuster, S. 712, hier: S. 7.

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nerin traurigen Angedenkens“ (W, 215), die vor ihrem raschen Tod von einem Waschzwang und vom Beichtfieber ergriffen wird (vgl. W, 237), um, wie Karl es erklärt, „ihr Leben nur mit etwas auszufüllen“ (ebd.). Trotz der ödipalen Dreiecksstruktur nimmt Karl seine Mutter nur ein einziges Mal „als Frau“ (W, 237) wahr. Mit geöffneten Haaren tritt sie nachts an sein Bett und beide äußern ihre Verbundenheit im gemeinsamen Weinen. Die geschlechtliche Wahrnehmung der Mutter ist nicht in erster Linie nur auf die Abwesenheit des ödipalen Rivalen zurückzuführen, sondern liegt in der Erkenntnis, dass sie – wie Karl selbst – weich ist. Werfels Novelle – wie aber auch andere Werke erzählender Literatur des ausgehenden 19. Jhds.39 – greift wiederholt eine morphologische Metaphorik auf, die zwischen den beiden Polen weich/flüssig und hart/fest oszilliert.40 Entscheidend dabei ist, dass das Weiche bzw. Flüssige weiblich codiert ist41 und dem Harten, das im Bild militärischer Männlichkeit seine radikalste Form erfährt, diametral gegenübersteht. Der Mutter, die die männlich codierte Eigenschaft des Harten zu Lebzeiten wie eine Maske trägt, kann der Protagonist erst nach Jahren verzeihen: „Heute verzeihe ich ihr, der Unerweckten, alle Härte. Sie hat gelitten, ohne zu wissen, daß sie leidet“ (W, 237). Die bisherigen Ausführungen haben veranschaulicht, dass Karl nicht dem Bild der harten hegemonialen Männlichkeit entspricht. Dadurch, dass er gegenüber seinen Kameraden „jedes Kommandieren, jedes Scheltwort, jeden scharfen Ton“ (W, 235) vermeidet – sich als weich erweist – wird er ausgeschlossen und verlacht. Hinzu kommt, dass er bis zu seinem 26. Lebensjahr nur sexuellen Misserfolg bei Frauen hat (vgl. W, 234) und auch in ökonomischer Hinsicht unvermögend ist (vgl. W, 247). Die krisenhafte Männlichkeit hat sich damit so drastisch zugespitzt, dass Karl vor zwei Entscheidungsmöglichkeiten steht: Entweder er nimmt sich selbst das Leben (vgl. W, 233f) oder er beginnt, gegen die symbolische Macht seines Vater zu rebellieren. Er entscheidet sich für die zweite Option und beschließt: „,Mit diesem Menschen bin ich fertig. Vater ist nicht mehr‘!“ (W, 253) Dass diese Trennung nicht friedvoll verläuft, wird das nächste Kapitel zeigen.

39 Vgl. die Romane Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) von Robert Musil und Der Untertan (1914/18) von Heinrich Mann. 40 Vgl. Verf.: „Die Schule der Männlichkeit – männerbündische Strukturen in Heinrich Manns Romanen Die kleine Stadt (1909) und Der Untertan (1914/18)“, in: HeinrichMann-Jahrbuch 30 (2012), S. 49-64; Sandro Holzheimer: „Hart/weich – Zur Analogie von männlichem und politischen Körper im Untertan“, in: ebd., S. 65-81. 41 Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. Bd. I: Frauen, Körper, Geschichte. Frankfurt/M. 1977, S. 358.

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b.) Vatermorde und physische Formen von Gewalt „Nie mehr wird die Gelegenheit, unseren Kampf auszutragen, so günstig sein, als heute.“42

„Ich […] stamme aus einem alten Offiziersgeschlecht und habe dennoch meinen Vater zweimal getötet, wobei es das erstemal sogar recht blutig zuging“ (W, 328). Dieses Bekenntnis zur Gewalt verfasst Karl als ein Reaktionsschreiben auf einen Bericht der Morgenpost vom 04. Juli 1914, in dem die Zeitung von einem Mordfall berichtet: Der Spielbudenbesitzer Herr Kalender ist von seinem Sohn August ermordet worden, was die Zeitung dazu veranlasst, die junge Generation der Söhne kollektiv zu verdammen und sie mit „einem Paket an Vorwürfen“43 zu konfrontieren: In den höheren Klassen der Gesellschaft verfallen die Söhne dem Spiel, dem Nichtstun, der Verschwendung, den sinnlichen Lastern und schließlich den venerischen Krankheiten. In den Niederungen aber ist der Sprung zum Mörder ein Katzensprung (W, 321).

Karl, der den Täter aus seiner Jugend kennt, schlägt sich auf die Seite des Sohnes und leitet aus diesem spezifischen Fall und seinen eigenen Erfahrungen ein „allgemeines Naturgesetz“ (W, 330) des Vaterhasses ab. Er etabliert dabei ein „mythische[s] Muster […], das er mit den Leitbegriffen der Freud’schen Psychoanalyse erläutert“44: Jeder Vater ist Laїos, Erzeuger des Ödipus, jeder Vater hat seinen Sohn in ödes Gebirge ausgesetzt, aus Angst, dieser könnte ihn um seine Herrschaft bringen, das heißt etwas anderes werden, einen anderen Beruf ergreifen als den, den er selbst ausübt, seine, des Vaters, Weltanschauung, seine Gesinnungen, Absichten, Ideen nicht fortsetzen, sondern leugnen, stürzen, entthronen und an ihre Stelle die eigene Willkür aufpflanzen. Jeder Sohn aber tötet mit Ödipus den Laїos, seinen Vater, unwissend und wissend den fremden Greis, der ihm den Weg vertritt (W, 330).

42 W 286. 43 Thomas Koebner: „‚Der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz‘. Familiendrama und Generationskonflikt in der deutschen Literatur zwischen 1890 und 1920“, in: ders./Rolf-Peter Janz/Frank Trommler (Hrsg.): „Mit uns zieht die neue Zeit“. Der Mythos Jugend, Frankfurt/M. 1985, S. 500-518, hier: S. 511. 44 Ebd., S. 512.

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Thomas Koebner hat anhand dieses Textbeispiels treffend herausgestellt, dass es einerseits zu einer „Enthistorisierung des Generationskonflikts“ kommt und andererseits „eine generelle Entlastung des Vaters und des Sohnes im Sinne einer „Physikalisierung“ des Konflikts“45 stattfindet. Seine dritte These, dass die Figur des Sohnes brutalisiert werde, muss differenzierter betrachtet werden. Sie ist zutreffend im Falle des jungen August, der physische Gewalt gegen seinen Vater anwendet. Kontrastiert wird diese Gewaltform jedoch durch imaginierte Gewalt, auf die sich Karl in seinem Reaktionsschreiben explizit bezieht: „Auf tausend Arten, in Wünschen, Träumen und selbst den Augenblicken, wo sie für das väterliche Leben zu zittern glauben“ (W, 330), tötet der Sohn seinen Vater imaginär. Der Gefahr, die Grenze von imaginierter zu tatsächlicher Gewalt zu überschreiten, ist Karl ebenfalls ausgesetzt: An seinem dreizehnten Geburtstag lädt ihn der Vater zum Jahrmarkt ein. Dabei trägt er zivil – ein Umstand, den Karl als „Verwandlung ins Armselige“ (W, 221) bezeichnet: Ohne die Uniform, die mehr als jede andere Kleidung hegemoniale Männlichkeit markiert,46 hebt sich der Vater nicht von der Besuchermasse ab und wird angreifbar. Diese „Ohnmacht“ (W, 224) des Vaters versetzt Karl in ein Gefühl „süße[r] Rache“ (ebd.). Die folgenden Ereignisse auf dem Jahrmarkt führen zum Höhepunkt und zum Umschwung in Gewalt: Während Karl den Vater zunächst bei einer Fahrattraktion darüber belehrt, dass die zu hörende Melodie aus der Oper Der Freischütz stammt und sich dadurch geistig überlegen fühlt (vgl. W, 226f), antwortet der Vater mit einer praktischen Prüfung. Karl soll an einer Wurfbude, deren Besitzer die Familie Kalender ist, unterschiedlichen Figuren den Hut abwerfen. Karls physisches Unvermögen macht den Vater zum militärischen Mann und stellt die symbolische Ordnung wieder her: Mein Vater richtete sich auf. Die Bedrückung, einer nur unter Tausenden zu sein, war von ihm gewichen. Er stemmte die Hand in die Hüfte, wie es der tut, der endlich das Übergewicht über andere gewonnen hat, wie der geblähte Leutnant es macht, der vor seine Rekruten tritt (W, 231).

45 Ebd. 46 Vgl. Jeffrey Schneider: „‚The Pleasure of the Uniform‘. Masculinity, Transvestism, and Militarism in Heinrich Mann’s Der Untertan and Magnus Hirschfeld’s Die Transvestiten“, in: The Germanistic Review 72 (1997), S. 181-201, hier: S. 186.

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Der finale Wurf des Kindes verfehlt das Ziel und trifft stattdessen den Vater im Gesicht (vgl. W, 233) – ein Akt, den Karl später als ersten Vatermord bezeichnen wird. Die zweite Episode überbietet die kindliche in ihrer Radikalität. Karl schließt sich einem anarchistischen Geheimbund47 an, der sich zum Ziel setzt, die patriarchalische Weltordnung zu bekämpfen, die durch „die Herrschaft des Vaters“ (ebd.) repräsentiert wird. Auf die Frage, was unter der Herrschaft der Väter verstanden werde, antwortet das Oberhaupt des Bundes: ‚Die Religion: denn Gott ist der Vater der Menschen. Der Staat: denn König oder Präsident ist der Vater der Bürger. Das Gericht: denn Richter und Aufseher sind die Väter von denen, welche die menschliche Gesellschaft Verbrecher zu nennen beliebt. Die Armee: denn der Offizier ist der Vater der Soldaten! Die Industrie: denn der Unternehmer ist der Vater der Arbeiter! Alle diese Väter sind aber nicht Spender und Träger von Liebe und Weisheit, sondern schwach und süchtig, wie der gemeine Mensch eben geboren ist, vergiftete Ausgeburten der Autorität, die in dem Augenblick von der Welt Besitz ergriff, als die erste gerechterweise auf die gebärende Mutter gestellte paradiesisch-unseßhafte Gesellschaft durch die Familie und Sippe verdrängt worden war‘ (W, 257).

In der Vorstellung der Gesellschaft avanciert der Vater „zur universalen Metapher sozialer Macht“48; das Patriarchat wird als „der Ursprung aller Morde, Kriege, Untaten, Verbrechen, Hasslaster und Verbrechen“ (W, 258) eingestuft. Ihm gegenüber steht das glorifizierte Mutterrecht, wodurch sich die Mitglieder des Bundes als Bachofen- bzw. Otto Gross-Leser ausweisen.49 Die Überwindung des Patriarchats soll mit Waffengewalt erreicht werden, d.h. dass Gleiches mit Gleichem vergolten wird. Karl soll ein Attentat auf den russischen Zaren verüben. Bevor es jedoch dazu kommt, fliegt der Geheimbund durch eine Razzia auf.50 Karl wird daraufhin seinem Vater gegenübergestellt. Dabei kommt es zu einem verbalen Gefecht, das in einem Akt physischer Gewalt kulminiert:

47 Vgl. hierzu auch AuM, 318-452. 48 Thomas Anz: Literatur des Expressionismus, Stuttgart/Weimar 22010, S. 82. 49 Vgl. Jennifer E. Michaels: Anarchy and Eros. Otto Gross’ Impact on German Expressionist Writers, New York u.a. 1983, S. 71-79 sowie S. 154f. 50 Heinrich Schurtz bemerkt, dass der Geheimbund unter den verschiedenen Formen von Männerbünden derjenige ist, der am leichtesten dem Verfall ausgeliefert ist. Vgl. AuM, 348.

204 | S EBASTIAN Z ILLES Plötzlich stürzte er [der Vater, S.Z.] sich auf mich. Ich sehe nicht mehr das Gesicht eines kaltsinnig beherrschten Truppenführers, ich sehe das schmerzverzerrte Gesicht eines geschlagenen Vaters, ich sehe mehr noch, jetzt … In diesem Augenblick traf mich breit über die Backe, dicht unterm Auge, der Hieb der Reitpeitsche! (W, 302)

Bei dieser Schilderung handelt es sich um die einzige, explizit geschilderte physische Gewaltanwendung des Vaters gegen seinen Sohn. Karl verlässt das Korpskommando: „All the many humiliations he has experienced at the hands of his father come back to the narrator forcefully and he later returns to his father’s house, intending to kill him.“51 Die Rückkehr des verlorenen Sohnes in die väterliche Residenz stellt dabei eine „Re-Lektüre des biblischen Gleichnisses“52 dar. Karl wartet versteckt ab, bis der Vater-Feind sich schlafen legt und tritt mit einer Hantel bewaffnet an die Schwelle des Schlafzimmers. Die Schwelle steht hier metaphorisch für das Überschreiten einer Grenze, für die Möglichkeit des Umschlags in physische Gewalt. „In ihrer erzähltechnischen Konzentration kann sie [die Szene, S.Z.] als erster wirklicher Höhepunkt in Werfels Prosa gelten.“53 Karls Pochen mit der Hantel an der Tür und der vor Schreck im Bett bewegungslos verharrende Vater, stehen Edgar Allan Poes Kurzgeschichte The Tell-Tale Heart (1843) in keiner Weise nach. Es beginnt eine Verfolgungsjagd, bei der die Dichotomie von hart und weich auf die jeweils andere Figur übertragen wird. Der Vater hat in dem nächtlichen Szenario eindeutig an Größe eingebüßt: Die Füße in schlurfenden Pantoffeln, einen langen, grauen Schlafrock umgehängt, die Gürtelschnur vorne nicht zugebunden, weiße Haare zerzaust, der Schnurrbart ungestutzt, ungefärbt, grau, hart hinabstechend, schwere Tränensäcke unter kleinen sterbenserschrockenen Augen, todgezeichnete Backenknochen, blaue Lippen, die der Zähne häßliches Gold angstklaffend nicht mehr verbargen, der also aus der Türe schwankte, der alte Mensch – war mein Vater (W, 313).

In dem Moment, in dem der Alte vor ihm niederkniet, befällt Karl so großes Mitleid, dass er von seinem Racheakt ablässt. Er führt seinen Vater ins Bett und wirft auf der Straße „die Hantel und mit ihr die Krankheit der Kindheit“ (W, 315) von sich weg. „Nun nämlich, nachdem die Schwäche des ‚realen‘ Vaters sich gezeigt hat und die Vatermacht als eine symbolische erkennt ist, kann der

51 Michaels: Anarchy and Eros, S. 155. 52 Erhart: Familienmänner, S. 381. 53 Abels: Franz Werfel, S. 57.

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Sohn die Stelle des symbolischen Vaters besetzen.“54 Diesen Schritt vollzieht Karl denn auch nach dem Abbüßen seines Garnisonsarrests in Amerika. Er lässt nicht nur Europa, wo der Erste Weltkrieg beginnt, hinter sich, sondern auch seinen Vater, dem er nie wieder begegnet. In den Vereinigten Staaten baut er sich eine neue Existenz auf, heiratet und steht kurz davor, eine Farm zu kaufen (vgl. W, 335). Wie ist nach der Analyse des Werdegangs das abschließende Resümee über das Gesetz des Vaterhasses, das eingangs zitiert wurde, zu bewerten? Erhart spricht ihm dieselbe Funktion wie Freud zu: „Mit Laїos ist eine mächtige mythische Vaterfigur geschaffen, die stellvertretend für den ‚realen‘ Vater den Kampf der Väter und Söhne aktiviert und den Sohn dadurch erst zu einem mächtigen und ebenbürtigen Gegner macht.“55 Karl demontiert die Herrschaft des Vaters; sie erweist sich als ebenso imaginiert wie das Bild des Monster-Vaters. Dieser Schritt gelingt dem jungen August nicht, der als Kontrastfigur zum Protagonisten den Vater ermordet.

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In einem Tagebucheintrag vom 23. Januar 1942 hält Gerhart Hauptmann rückblickend fest: „Ohne ihn [Johann Jakob Bachofen, S.Z.] hätte ich wohl nie Die Insel der Großen Mutter geschrieben.“57 Kein halbes Jahr später ergänzt Hauptmann in seinem Tagebuch: „Ich hätte sie wohl nie geschrieben, hätte ich nicht jahrelang auf Hiddensee die vielen schönen, oft ganz nackten Frauenkörper gesehen und das Treiben dort beobachtet.“58 Beide Aussagen ergänzen sich gegen-

54 Erhart: Familienmänner, S. 383. 55 Ebd. 56 Gerhart Hauptmann: Die Insel der Großen Mutter oder das Wunder von Île des Dames, in: ders.: Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe zum 100. Geburtstag des Dichters, 15. November 1962, hrsg. von Hans-Egon Haas, Bd. V.: Romane, Darmstadt 1962, S. 681-902, hier: S. 891. Nachfolgend wird nach dieser Ausgabe mit der Sigle CA V und Seitenzahlen in Klammern direkt im Fließtext zitiert. 57 Zit. nach Carl Friedrich Wilhelm Behl: Zwiesprache mit Gerhart Hauptmann. Tagebuchblätter, München 1949, S. 84. 58 Ebd., S. 111.

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seitig und bilden eine wichtige theoretisch-intellektuelle bzw. sinnlich-ästhetische Deutungsfolie für die utopische Robinsonade.59 Hauptmann beginnt mit der Niederschrift des Romans bereits 1916,60 studiert 1919 intensiv Bachofens Werk61 und vollendet sein Romanprojekt erst 1924, nachdem er verschiedene Ausgänge erprobt hatte. Ulrike Rotmann hat darauf hingewiesen, dass das für Bachofen so bedeutungstragende dreistufige Modell der Entwicklung der Menschheit vom Nobelpreisträger Hauptmann nicht nur „völlig umgewandelt“62, sondern geradezu „auf den Kopf gestellt“63 wird. Wie das nachstehende Kapitel zeigen wird, kommt es zu keiner friedvollen Periode der ehelichen Gynaikokratie. Hauptmann, so die erste These, demontiert das von Bachofen gezeichnete Bild und stellt ihm verschiedene Formen weiblicher Gewalt entgegen. Im Anschluss daran wird das Verhältnis zwischen Phaon und seinen Söhnen näher konturiert. Es stehen sich hier, so die zweite These, zwei unterschiedliche Entwürfe von Männlichkeit gegenüber. Die Lösung des Vater-Sohn-Konflikts kommt auch in Hauptmanns Roman nicht ohne Gewalt aus. a.) Weibliche Formen der Gewalt „Denkt euch einfach ihr seid Amazonen.“64

Hauptmanns Robinsonade startet in medias res: „[B]ei schönstem Wetter und spiegelglatter See“ (CA V, 868) erleidet der Dampfer ‚Kormoran‘ „im südlichen Teil des Stillen Weltmeeres“ (CA V, 683) Schiffbruch. Die auktoriale Erzählinstanz berichtet, dass bei dem Unglück „viele hundert Menschen“ (CA V, 702)

59 Vgl. Friedhelm Marx: Gerhart Hauptman, Stuttgart 1998, S. 314f: „Die Insel der Großen Mutter ist eine eigenwillige Mischung aus Robinsonade und Utopie“. 60 Eine Tagebuchnotiz aus dem Jahr 1906 deutet die Thematik der Robinsonade in Grundzügen bereits an. Allerdings ist das Figurenensemble in dieser Notiz bedeutend kleiner und der spätere Phaon wird hier als ein Mann von 28 Jahren genannt. Einzelne Stationen der immer wieder unterbrochenen Niederschrift des Romans beleuchtet Marx (vgl. Marx: Gerhart Hauptmann, S. 312f). Hier werden auch die unterschiedlichen Ausgänge, die Hauptmann für seine Utopie erprobt hat, aufgelistet. 61 Vgl. Peter Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses, Berlin 1982, S. 314. 62 Ulrike Rotmann: Geschlechterbeziehung im utopischen Roman. Analyse männlicher Entwürfe, Würzburg 2003, S. 138. 63 Ebd., S. 139. 64 CA V, 688.

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im Meer ertrinken.65 Während es sich bei den Toten überwiegend um männliche Figuren handelt, können sich die weiblichen mit dem zwölfjährigen Jungen Phaon retten. So betreten „mehr als hundert Paar kaum wenig durchnäßte Weiberschuhe glücklich den festen Boden“ (CA V, 683) einer paradiesischen Insel, auf der sie sogleich eine Präsidentin wählen und die „Weiberherde in Zehnschaften“ (CA V, 686) einteilen. Nach anderthalb Jahren gebärt eine der Damen überraschenderweise einen Sohn. Die Mutter des Kindes spricht von einer göttlichen Zeugung und begründet damit den so genannten Mukalinda-Mythos. Obwohl ersichtlich ist, dass Phaon der Vater ist, wird eine natürliche Zeugung geleugnet. Die Hohepriesterin Laurence Hobbema bringt die Vorteile einer übernatürlichen Zeugung auf den Punkt: „‚Halten wir an dem Wunder fest, so betrachten wir uns als Auserwählte und können uns ohne Mühe in den Gedanken einleben, wir seien die begnadeten Mütter eines zum Höchsten berufenen Volks, ja vielleicht des Erlöservolkes der ganzen Erde‘“ (CA V, 742). Das Triumvirat beschließt, „diesen furchtbaren Schwindel zu jeder Beziehung zu fördern“ (ebd.) und befestigt den Grundsatz: „‚La recherche de la paternité est interdite‘“ (CA V, 743). Die mythische Erhöhung der Mutterschaft wird durch den auktorialen Erzähler allerdings demontiert. Aus olympischer Perspektive spricht er von den weiblichen Figuren als von „werdenden Amazonen“ (CA V, 702). In der Tat werden die Figuren im Fortgang der Romanhandlung in ihren Ansichten immer radikaler, wodurch sich das Thema Gewalt verdichtet. Zunächst kommt es zu einer symbolischen Befreiung vom Mann. Mit Hilfe des Mythos können die Mütter ohne sein Zutun Mütter werden und die „Herrschaft der Welt“ (CA V, 757) antreten: Das verlassene Reich der Zivilisation war auf die im großen ganzen dort schon völlig nutzlose Überzahl von Männern zugeschnitten, es war eine Männerzivilisation! […] Das Weib wurde dabei nicht einmal genannt. Es galt als minderwärtiges Anhängsel. […] Der Mann war früher der Mensch gewesen. Mann und Mensch waren synonym.66 Heute wollte

65 Vgl. Verf.: „‚Landet das Schiff, so sind wir gerettet und verloren.‘ Wasserdarstellungen in Bachofens Mutterrecht (1861) und Hauptmanns Insel der Großen Mutter (1924), in: Marija Javor Briški/Irena Samide (Hrsg.): The Meeting of the Waters: Fluide Räume in Literatur und Kultur. München 2015, S. 181-192. 66 Diese Passage erinnert eindeutig an Georg Simmel: „Das allgemein Menschliche, von dem die geschlechtliche Spezialität ein Sonderfall sein soll, ist mit dem männlichen derart solidarisch, daß keine spezifische Differenz gegen dieses an ihm gegeben werden kann: das schlechthin Allgemeine läßt sich nicht definieren.“ In: Georg Simmel:

208 | S EBASTIAN Z ILLES man aber den sehen, der seine Augen verschließen könnte, daß Mensch und Weib dasselbe sei und es außer dem Weib einen Menschen nicht gäbe (CA V, 757).

Wie schon in Werfels Novelle wird das Patriarchat mit Macht, Unterdrückung und symbolischer Gewalt assoziiert. Die Frauen missachten durch ihren eigenen Herrschaftsanspruch jedoch „[d]en entscheidenden Imperativ Gleiches mit Gleichem nicht vergelten zu dürfen“.67 Celia Torke hat plausibel nachgezeichnet, dass dadurch das Projekt von Anfang an dazu [neigt], die zivilisatorischen, und das heißt auch: die patriarchalen Strukturen insgeheim aufrecht zu erhalten. Die matriarchale Herrschaftsverschiebung fädelt sich damit nur als vordergründige Leitthematik durch den Roman; tiefenstrukturell befindet er sich durchweg auf den Spuren des Patriarchats. Der ‚Weltwille‘ zielt weiterhin auf seine Vorherrschaft.68

Diese symbolische Herrschaft findet in der Anwendung von Gewalt dann eine konkrete Realisierung. Die physische Gewalt richtet sich zunächst gegen die Frauen selbst. Der auktoriale Erzähler offenbart, „daß die farbige Ballung des Werdens und Wachsens auf Île des Dames nicht ohne einige dunkle Flecken war“ (CA V, 811). Er berichtet von einigen Selbstmorden, die von denjenigen Frauen begangen werden, die, „was sie auch immer anstellten, von der zeugenden Macht nicht berührt wurden“ (ebd.). Bald schon konzentrieren sich die Gewaltphantasien und -ausübungen jedoch auf das männliche Geschlecht. Als Initiationserlebnis kann die sexuelle Vereinigung zwischen der Hohepriesterin Laurence Hobbema und Phaon gedeutet werden, die sich wie eine Vergewaltigungsszene liest: Laurence verfolgt, „einer Jägerin gleich, ihr menschliches Wild“ (CA V, 771) Phaon durch den Urwald. Während Phaon auf die Stufe eines Tieres gestellt wird, vergleicht der Erzähler die Priesterin mit Artemis, der Göttin des Waldes, des Mondes und der Jagd. Bei der Verfolgungsjagd wird Laurence „von einem Verlangen erfaßt, das mit dem tödlichen Durst eines verschmachtenden, müden Wanderers zu vergleichen ist“ (CA V, 772). Bei der Schilderung des Geschlechtsakts ist besonders augenfällig, dass der Sexualpartner nicht erwähnt wird und der Fokus allein auf der amazonenhaften Priesterin liegt:

„Das Relative und das Absolute im Geschlechter-Problem [1911]“, in: ders.: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. S. 200-223, hier: S. 214. 67 Celia Torke: Die Robinsonin. Repräsentationen von Weiblichkeit in deutsch- und englischsprachigen Robinsonaden des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2011, S. 127. 68 Ebd.

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Indem ein girrender, jubelnd-vogelartiger Laut ihre Kehle entfloh, sagen wir etwa ein seliges Zwitschern der Götter, wußte sie plötzlich, daß sie ein namenloses Wesen von ewiger Jugend, aber nicht diese noch jene war. Es beseligten sie ihre Arme, Brüste, Hüften, Schenkel. Sie löste ihr Haar und wurde durch seine Berührung an Schultern, Brust und Hüften entzückt. Jeder, auch der winzigste Teil ihres Leibes empfand die höchste Beseligung (CA V, 773).

Wie aus den Ausführungen hervorgeht, ist Gewalt an Sexualität gekoppelt. Dieser Konnex wird auch im Folgenden beibehalten: Durch den Zuwachs an Kindern verliert das Matriarchat seine Selbstverständlichkeit (vgl. CA V, 808), weshalb die Frauen eine Versammlung einberufen und über die Knabenfrage beraten. Ein Lager um die Ärztin Frau Doktor Egli verweist auf amazonische Völker und deren Praktik, die männlichen Nachkommen zu töten (vgl. CA V, 762). Die anderen Vorschläge, die diese Fraktion einbringt, sind nicht weniger radikal: Das Mittel Lykurgs, der kranke und irgendwie überzählige Kinder im Taygetos aussetzte, und noch ein andres, wobei der Patient am Leben blieb und nur etwas hohe, oft köstliche Singstimme sein Leben lang beibehielt, wurde von Doktorin Egli in Vorschlag gebracht. (CA V, 809)

Das Verwerfen des Plans, den männlichen Nachwuchs zu töten oder zu kastrieren, kann jedoch unter keinen Umständen als Sieg der Humanität gewertet werden, wie es Behl vorgeschlagen hat.69 Die Knaben werden im sechsten Lebensjahr von ihrer Mutter getrennt und wachsen fortan im Norden der Insel auf. Zwar ist diese praktizierte Geschlechtertrennung nicht lebensbedrohlich, wie Celia Torke etwas übertrieben formuliert,70 aber dennoch extrem. Dort wachsen sie unter „der ,patriarchalisch-gebieterischen‘ Führung“71 Phaons, ihres leiblichen Vaters, heran. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Matriarchat keinen friedvollen Idealzustand darstellt, denn sein Bestehen kommt weder „ohne ideologische Lüge“ noch „ohne Gewalt“72 aus. Die strikte Geschlechtertrennung löst das Problem jedoch nicht, sondern schiebt eine Entscheidung nur hinaus:

69 Carl Friedrich Wilhelm Behl: Wege zu Gerhart Hauptmann, Goslar 1948, S.123. 70 Vgl. Torke: Die Robinsonin, S. 126. 71 Rotmann: Geschlechterbeziehung im utopischen Roman, S. 151. 72 Sprengel: Die Wirklichkeit der Mythen, S. 320.

210 | S EBASTIAN Z ILLES Sowie die ältesten Söhne im vollen Besitz ihrer geistigen und physischen Kräfte angelangt sind, erkennen sie in einer Spiegelszene des ‚weiblichen‘ Emanzipationserwachens das ihnen widerfahrende Unrecht, begehren auf, zerstören im Schulterschluss mit den Altersgenossinnen das Zwangsmatriarchat.73

Das Aufbegehren der Söhne ist mit einer monumentalen Anklage des Vaters verbunden. Das nächste Kapitel wird diese aufgreifen, um seine symbolische Gewalt zu skizzieren. b.) Das Auflehnen der Söhnen gegen ihren Vater „Wie kann Gewalt nicht sein, wo sie ist?“74

„‚Du hast dich mit unsern Feinden verbündet. Man hat uns in Niedrigkeit und Erbärmlichkeit hinabgedrückt, und du gabst es zu‘“ (CA V, 892). Diesen Vorwurf entgegnet Bianor als Vertreter der Söhne seinem Vater Phaon. Das Auflehnen der Söhne, das sich bereits ankündigt, entzündet sich erneut am Thema der Sexualität. Aufgrund rückläufiger Geburtenzahlen planen die Frauen eine kultische Brautweihe, zu der die geschlechtsreifen Mädchen in den Tempelbezirk der Insel gebracht und nachts von zwölf männlichen ‚Lichtbringern‘ heimgesucht werden sollen. Die Teilnahme wird den anderen jungen Männern verwehrt und das, obwohl die Frauen nach einer Expedition in den Norden der Insel von der männlichen Kultur verblüfft sind: „In Wildermannland hat sich eine Kultur entwickelt, die nicht das Wunder der Geburt, sondern die ‚göttliche Hand‘ in den Mittelpunkt stellt.“75 Die Handmetaphorik erweist sich dabei als ambivalentes Symbol: Zum Zeitpunkt der Besichtigung steht sie für die prometheische Tat, denn in dem Bezirk herrschen „Fleiß, Zeiteinteilung und straffe Organisation bei der Herstellung handwerklicher Produkte und beim Studium vieler, von Phaon gelehrter Wissenschaften, die mit großem Ehrgeiz und Forscherdrang von den Jünglingen weiterentwickelt werden.“76 Die Einteilung der Jünglinge nach Altersklassen und die dementsprechende Aufgabenverteilung erinnern an die Pädagogische Provinz in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829/30). Die radikale Fraktion der Mütter nimmt die Aktivität der Jünglinge als Bedrohung wahr und fühlt sich durch das Fehlverhalten anderer Mütter darin bestätigt,

73 Torke: Die Robinsonin, S. 127. 74 CA V, 893. 75 Marx: Gerhart Hauptmann, S. 312. 76 Rotmann: Geschlechterbeziehung im utopischen Roman, S. 151.

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die Männer auszuschließen. Als die Lichtbringer bei der Brautweihe in der Festansprache dann auch noch diffamiert werden und ihrer Zeugerfunktion nicht nachkommen, eskaliert die Situation auf der Insel. Durch den ausbleibenden Nachwuchs werden die Frauen depressiv und zerstören schließlich den Tempelbezirk. In einer Spiegelungsszene beginnt dann auch der Aufstand der Söhne. In ihrer Bedeutung wandelt sich die Handsymbolik dabei zum Gewaltsymbol77 und das Denkmal wird auch schließlich zerstört. Dabei wird sinnbildlich veranschaulicht, dass die Söhne nicht länger unter der Hand ihres Vaters stehen, sondern sich aus seinen Fesseln lösen möchten. Den Nucleus der Anklage des Vaters bildet die Unterdrückung der sexuellen Triebe, die, so Bianors These, der Vater mit unterstützt habe: ‚Du hast uns gelehrt, wie wir unsere Kräfte vergeuden sollen, damit wir sie nicht anwenden. Unser ganzes Tun und Treiben war unfruchtbar. Du hast uns zum Unfruchtbaren verdammt und verbannt, damit wir nicht in dein Gehege kommen, weder in dein Gehege noch in das deiner zwölf Lichtbringer. […] Es gibt weibliche Tiere und männliche Tiere, und die männlichen sind für die weiblichen da, wie die weiblichen für die männlichen. Aber die weiblichen habt ihr zu Göttern gemacht, uns aber zu unreinen Tieren und noch unter das Tier herabgedrückt‘ (CA V, 892f.).

Phaon versucht seine Söhne zu beschwichtigen und von einem gewaltsamen Umsturz abzubringen: ‚Die Grundpfeiler unseres Staates müssen unversehrt bleiben, was immer auch von der andern Seite verfehlt worden ist. Und ich werde euch auch niemals zur Gewalt das Signal geben. Denn Gewalt, die dem Manne so nahe liegt, ist sein schlechtes Teil. Ich wünsche nicht, daß in euch das Schlechte, sondern daß euer Gutes entwickelt werde. Das Gute aber ist euer Geist. […] Gewalttat ist aber kein manneswürdiges Handeln, sage ich euch, überhaupt kein menschenwürdiges Handeln. Gewalttat ist ein tierisches Handeln. Oder es ist das tote Handeln der Natur‘ (CA V, 892).

Phaons Argument, dass es sich bei Gewaltanwendung um eine animalische Tat handle, wird von Bianor zurückgewiesen. Er entgegnet seinem Vater, dass er und seine Brüder ebenfalls unter einer Form von Gewalt gelitten haben – wenn auch keiner physischen: „‚Es ist nicht wahr, daß Gewalt des Mannes unwürdig

77 Vgl. Art. ‚Hand‘, in: Günter Butzer (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart/Weimar 2012, S. 172f.

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ist. Wo die Gewalt ist, da ist die Gewalt. Wie kann die Gewalt nicht sein, wo sie ist? Ist das Schicksal denn nicht Gewalt?‘“ (CA V, 893) Bianor kann von seinem Vater nicht zurückgehalten werden und führt seine Brüder in den weiblichen Bezirk, in dem sie von den rebellierenden Töchtern in Empfang genommen werden. Es bricht eine dionysische Orgie aus, an deren Ende ein wehendes Banner mit der Inschrift ‚Mann‘ (vgl. CA V, 896) auf die neu anbrechende Herrschaft des Patriarchats hindeutet. Phaon beobachtet das Treiben mit „Freude und Schmerz“ (CA V, 898) in seiner Brust. Doch noch mehr als von der dionysischen Orgie ist er von sich selbst erschüttert (vgl. ebd.). Er erkennt, dass er seinen Beitrag zu der Entwicklung seiner Söhne geleistet hat und muss die symbolische Trennung akzeptieren. In diesem Moment hört er ein Lachen, das er wie folgt kommentiert: „Es ist mein Lachen, dachte Phaon, das sich von meinem Lachen losgerissen hat, um ein eignes Lebens zu leben“ (ebd.). Vollzieht in Werfels Novelle der Sohn die symbolische Trennung, wird in Hauptmanns Roman die Perspektive gewechselt und dieser Schritt von der Vaterfigur vollzogen. Die letzte Szene zeigt Phaon, wie er mit seiner Geliebten, Dagmar Diodata, von der Insel mit einem Boot flieht, auf der die Herrschaft der Männer anbricht. Sie verdeutlicht aber auch und vor allem die Trennung des Vaters von seinen Söhnen. Wie schon bei Werfel wird auch hier eine räumliche Trennung etabliert, wodurch sich Vater und Sohn nicht mehr begegnen werden. In sexueller Hinsicht stehen sich am Ende des Romans zwei konträr verlaufende Entwicklungen gegenüber: Während sich Phaons Weg „von der sexuellen Unschuld über die Vielweiberei zum monogamen Liebesentschluss“78 entwickelt, verläuft der der Söhne von der sexuellen Enthaltsamkeit zu einer dionysischen Orgie.

F AZIT Die Patria potestas, die Autorität, ist eine Unnatur, das verderbliche Prinzip an sich. Sie ist der Ursprung der Morde, Kriege, Untaten, Verbrechen, Haßlaster und Verdammnisse, gleichwie das Sohntum der Ursprung aller hemmenden Sklaveninstinkte ist, das scheußliche Aas, das in den Grundstein aller historischen Staatenbildung eingemauert wurde (W, 258).

Mit dieser Wortgewalt fasst Franz Werfel in seiner Novelle die Patriarchatsproblematik zusammen. Die Sentenz legt dabei nicht nur ein allgemeingültiges Rol-

78 Ebd.

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lenmuster zwischen Schuldigem (Vaterfigur) und Opfer (Sohnfigur) fest, sondern stellt auch ein Handlungsmuster aus: Der Sohn muss sich gegen die symbolische Macht des Vaters auflehnen und sie überwinden. Somit wird ein Konnex zwischen Männlichkeit und Gewalt etabliert. Die beiden Erzählwerke des Expressionismus stellen hierbei einen dynamischen Machtbegriff in den Vordergrund, der über die Konzeptionen physischer Gewalt aus den theoretischen Texten von Johann Jakob Bachofen und Heinrich Schurtz hinausgeht. Der Konflikt zwischen den Vätern und ihren Söhnen wird in beiden literarischen Werken durch die Abwesenheit der Mutter potenziert. In Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig wird am Beispiel von Karl Duschek eine problematische Mannwerdungsgeschichte erzählt, in der der Sohn das Bild der väterlichen militärischen Männlichkeit überwinden muss. Erst in seinem 26. Lebensjahr gelingt dem Protagonisten diese Überwindung, nachdem er den Vater zweimal symbolisch getötet hat. Mit dieser Überwindung werden auch andere Anforderungen der männlichen Sozialisation gelöst. In Amerika findet der Ich-Erzähler nicht nur eine Ehefrau, sondern auch ökonomische Sicherheit. Auch die Familienplanung wird thematisiert, wodurch die Familiengenealogie der Familie Duschek fortgeschrieben wird. Gerhart Hauptmann verlagert seine Handlung zwar fernab der Zivilisation in utopisches Gebiet, zeigt aber, dass seine Insel-Mütter sich nicht von den patriarchalen Fesseln lösen können, sondern patriarchale Muster übernehmen und an ihren Nachwuchs weitergeben. Die Problematik der Erzählung verlagert sich dabei vom Kampf der Geschlechter hin zu einem Konflikt zwischen dem Vater, Phaon, und seinen Söhnen. Im Gegensatz zu Werfel fokussiert Hauptmann stärker die Perspektive des Vaters. In der Insel der Großen Mutter fördert Phaon eine allseitige Bildung seiner Söhne. Das Unterbinden der Triebe führt allerdings zur Auflehnung und schließlich zum Triumph der jüngeren Generation. In Hauptmanns Robinsonade wird daher der Konnex zwischen Männlichkeit und Gewalt um die dritte Größe der Sexualität erweitert. Floh in Werfels Novelle der Sohn vor dem Vater, so ist es in Hauptmanns Robinsonade der Vater, der seine Söhne verlässt. Auch wenn die Söhne in beiden Texten mit ihren Vätern brechen, bedeutet das nicht das Ende der Familie. Die Familiengeschichten werden in beiden Werken fortgeschrieben, wobei die Autoren offen lassen, wie das Leben der nachkommenden Generation aussehen wird. Mit Bestimmtheit lässt sich jedoch sagen, dass es zu neuen Problemen zwischen den Generationen kommen wird. Eine Familiengeschichte ohne Konflikte und Machtkämpfe ist nicht denkbar.

Sehnsucht nach der Barbarei? Ambivalenzen männlicher Gewalt in der präfaschistischen Literatur über den spanisch-marokkanischen Rifkrieg (1921-1926) C HRISTIAN VON T SCHILSCHKE

K RITIK

UND

A POLOGIE

NATIONALER

M ÄNNLICHKEIT

Die Krise, in der sich die spanische Nation nach der militärischen Niederlage gegen die USA im Jahr 1898 und dem endgültigen Verlust seines Status als Weltmacht befindet, wird in der spanienkritischen Literatur der sogenannten ‚Generation von 98‘ immer auch unter dem Gesichtspunkt einer Krise traditioneller, nicht zuletzt als spezifisch spanisch geltender Männlichkeitsvorstellungen reflektiert. In den Werken Pío Barojas, Azoríns, Miguel de Unamunos, Ramón del Valle-Incláns und anderer überwiegen tragikomische Männerfiguren, antriebsschwache, orientierungslose und grüblerische Antihelden, in deren körperlicher und geistiger Verfassung sich die tiefe Erschütterung des nationalen Selbstverständnisses durch das desastre del 98 spiegelt. Konzepte wie Ehre und Stolz, die seit jeher den Habitus des spanischen Mannes prägten, aber auch der Donjuanismus als nationaltypisches Maskulinitätsattribut erscheinen bei diesen Autoren nur noch in grotesker Verzerrung.1

1

Mit den lebensweltlichen Männlichkeitskonstruktionen im ersten Drittel des 20. Jhds. beschäftigt sich Nerea Aresti: Masculinidades en tela de juicio. Hombres y género en el primer tercio del siglo XX, Madrid 2010. Im Hinblick auf die Instabilität der Geschlechterordnung in diesem Zeitraum, die sie unter anderem mit den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs, dem Aufkommen des Feminismus und des Modells der ‚neuen

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Doch auch Vertreter der älteren Schriftstellergeneration, wie der politisch liberal eingestellte, der Erneuerungsbewegung des Regeneracionismo nahestehende Benito Pérez Galdós, reagieren in vergleichbarer Weise auf die nationale und imperiale Krise, die Spanien zu Beginn des 20. Jhds. erfährt. So propagiert Galdós etwa in seinem, den Spanisch-Marokkanischen Krieg von 1859/60 thematisierenden historischen Roman Aita Tettauen (1905) aus der vierten Serie seines monumentalen Romanzyklusʼ Episodios nacionales bewusst und provokant ein defensives, pazifistisches und selbstkritisches Männlichkeitsbild, das auch jeder Form von politischem Donjuanismus eine Absage erteilt.2 Während im übrigen Europa, vor allem in den am Ersten Weltkrieg beteiligten Ländern wie Deutschland oder Frankreich in der Folgezeit jedoch bald wieder heroische Männlichkeitsbilder Konjunktur haben, beklagt José Ortega y Gasset noch im Jahr 1921 in seinem spanienkritischen Essay España invertebrada die Abwesenheit ‚großer Männer‘ und das Fehlen einer sozialen Energie, einer enthusiastischen ‚Masse‘, die sie hervorbringen könnte: „tiene razón el tópico: ayer había ‚hombres‘ y hoy no“ („Das Klischee stimmt: Gestern gab es noch ‚Männer‘, und heute gibt es keine mehr“).3 Zur gleichen Zeit bahnt sich indessen auch in Spanien bereits die Durchsetzung einer ganz anderen, der Generation von 98 und ihren Sympathisanten ent-

Frau‘ sowie der größeren Sichtbarkeit der Homosexualität in Verbindung bringt, erscheint es Aresti legitim, von einer „Krise der Männlichkeit“ zu sprechen: „Si atendemos a las numerosas manifestaciones de inquietud y desconcierto, a los intentos denotados por restablecer el orden sexual, a las defensas fervientes de la diferencia entre hombres y mujeres, a los proyectos de regeneración y de reforma de los modelos amenazados, podemos concluir que tal crisis existió“ („Wenn wir auf die zahlreichen Bekundungen der Unruhe und Verlorenheit sehen, die Bemühungen um die Wiederherstellung der Geschlechterordnung, die leidenschaftliche Verteidigung des Unterschieds zwischen Männern und Frauen, die Projekte zur Erneuerung und Reform der bedrohten Modelle, können wir daraus schließen, dass es eine solche Krise gab“; Aresti: Masculinidades, S. 297). Vgl. auch Nerea Aresti, „The Battle to Define Spanish Manhood“, in: Aurora G. Morcillo (Hrsg.): Memory and Cultural History of the Spanish Civil War. Realms of Oblivion, Leiden/Boston 2014, S. 147-177. 2

Siehe dazu ausführlicher Christian von Tschilschke: „Kriegswahn, Hysterie, Panerotismus. Prekäre Männlichkeit in Benito Pérez Galdósʼ Roman Aita Tettauen (1905)“, in: Gregor Schuhen (Hrsg.): Der verfasste Mann. Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900, Bielefeld 2014, S. 297-314.

3

José Ortega y Gasset: España invertebrada. Bosquejo de algunos pensamientos históricos, Madrid [1921] 1972, S. 94.

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gegengesetzten und im Hinblick auf den weiteren Verlauf der spanischen Geschichte bald wesentlich erfolgreicheren Vorstellung von Männlichkeit an: das faschistische Männlichkeitsideal, das in Spanien eben nicht erst ab 1936 im Verlauf des Spanischen Bürgerkriegs, der dann in die Franco-Diktatur mündet, entsteht, sondern schon wesentlich früher, zu Beginn der 1920er Jahre, im Vorfeld der am 13. September 1923 ausgerufenen Militärdiktatur Miguel Primo de Riveras und im Zusammenhang mit dem spanisch-marokkanischen Rifkrieg (19211926). Dieser letzte spanische Kolonialkrieg hat die Unterwerfung der Rifkabylen zum Ziel, die sich in dem seit 1912 bestehenden spanischen Protektorat in Marokko unter ihrem Anführer Ab-del-Krim gegen die spanische Kolonialherrschaft erhoben hatten.4 Aus historischer Sicht gewinnt dieser Krieg deswegen besondere Bedeutung, weil er nicht nur – als Krieg – der Unterwerfung des Gegners und – als Kolonialkrieg – ausdrücklich der Zivilisierung eines unterentwickelten außereuropäischen Volks dienen sollte, sondern weil er sich in diesen beiden Funktionen auch gegen einen innerspanischen Gegner, den Gegner ‚an der Heimatfront‘ des von ‚Dekadenz‘ bedrohten Mutterlands richtete. Aus der Sicht nationalkonservativer Politiker und Militärs kam dem Rifkrieg eine doppelte Aufgabe zu: als Gegenentwurf zu einem degenerierten, demoralisierten, politisch geschwächten Spanien und zugleich als Übungsplatz, auf dem die ideellen und strukturellen Grundlagen für einen neuen autoritären Staat erprobt werden konnten. Für die Herausbildung einer autoritaristischen, elitistischen und nationalistischen Ideologie, wie sie dann für die am 29. Oktober 1933 von Primo de Riveras Sohn José Antonio mitbegründete Falange charakteristisch wurde, war der Rifkrieg daher von entscheidender Bedeutung.

4

Siehe zu den historischen Umständen Sebastian Balfour: Deadly Embrace. Morocco and The Road to The Spanish Civil War, Oxford 2002; María Rosa de Madariaga: En el barranco del lobo. Las Guerras de Marruecos, Madrid 2005; Ulrich Mücke: „Agonie einer Kolonialmacht: Spaniens Krieg in Marokko (1921-1927)“, in: Thoralf Klein/Frank Schumacher (Hrsg.): Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006, S. 248-271 und Dirk Sasse: Franzosen, Briten und Deutsche im Rifkrieg 1921-1926. Spekulanten und Sympathisanten, Deserteure und Hasardeure im Dienste Abdelkrims, München 2006. Über den ideologischen Hintergrund des spanischen Kolonialismus in Nordafrika informiert Stephanie Fleischmann: Literatur des Desasters von Annual. Das Umschreiben der kolonialen Erzählung im spanisch-marokkanischen Rifkrieg. Texte zwischen 1921 und 1932, Bielefeld 2013, S. 58-69.

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Aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlich orientierten Geschlechterund Männlichkeitsforschung ist dabei vor allem von Gewicht, dass sowohl die Kritik an der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung als auch die Vorstellungen von einer nationalen Wiedererstarkung Spaniens in hohem Maße geschlechtlich kodiert sind. Dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt: So verweisen bestimmte Geschlechterbilder immer auch auf bestimmte Vorstellungen von Staat, Nation und Gesellschaft. Im Fall des faschistischen Männlichkeitsideals, das sein Profil im Rifkrieg gewinnt und mit dem sich ein Heilsversprechen für die gesamte spanische Nation verbindet, zeigt sich das besonders deutlich. Ähnlich wie im italienischen Faschismus wird der Kolonialkrieg von einigen seiner ultrarechten spanischen Befürworter als willkommenes Remaskulinisierungsund Revitalisierungsprogramm aufgefasst. Die stete Bereitschaft zu exzessiver Gewaltausübung ist zweifellos ein fundamentaler Bestandteil dieses Männlichkeitsbildes. Vor allem am Beispiel des nationalsozialistischen Deutschlands ist das bereits vielfach dargestellt und auf seine ideologischen und psychopathologischen Gründe hin analysiert worden, unter anderem von Literaturwissenschaftlern wie Klaus Theweleit oder Historikern wie George L. Mosse.5 Deren Erkenntnisse über den neuen faschistischen, militarisierten Mann treffen grundsätzlich auch auf die Konstruktion einer neuen spanischen Männlichkeit in der ‚präfaschistischen Literatur‘ über den spanischmarokkanischen Rifkrieg zu – vielleicht mit einem Vorbehalt: Die Konfrontation mit dem marokkanischen Anderen ist – gerade auch in Bezug auf die Bestätigung oder Verunsicherung männlicher Geschlechtsidentität – stets eine Begegnung der Spanier mit ihrer eigenen ‚afrikanischen‘ Natur und Geschichte, die von der kulturellen und geographischen Nähe zum Nachbarkontinent und dem Einfluss von 900 Jahren muslimischer Herrschaft geprägt sind.6

5

Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien, 2 Bde., Frankfurt/M. 1977/1978; George L. Mosse: The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity, New York/Oxford 1996, darin: „The New Fascist Man“, S. 155-180. Siehe auch das Kapitel „Militarisierung des Mannes“ in Wolfgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450-2000), Wien/Köln/Weimar 2003, S. 195-203.

6

Siehe zum Begriff der ‚präfaschistischen Literatur‘ Dionisio Viscarri: Nacionalismo autoritario y orientalismo. La narrativa prefascista de la guerra de Marruecos (19211927), Bologna 2004, S. 9-25 und Nil Santiáñez: „Habitus, Heterotopia and Endocolonialism in Early Spanish Literary Fascism“, in: Studies in Twentieth and Twenty First Century Literature 33/2 (2009), S. 248-274, S. 249: „[…] the first Spanish fascist works were written in the 1920s à propos the Rif War, with most of them being cases of war writing.“

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Angesichts der Tatsache, dass die vergleichsweise stereotypen Komponenten des in Frage stehenden Männlichkeitsideals – körperliche Stärke, Gehorsam, Stolz, Selbstdisziplin, Tapferkeit, Härte, Vaterlandsliebe, Dienst- und Opferbereitschaft, Kameradschaftlichkeit etc. – faschistisches Gemeingut sind, soll im Folgenden ein spezifischer Aspekt herausgegriffen werden, der in der spanischen Rifkriegsliteratur präfaschistischer Provenienz besonders deutlich zutage tritt. Gemeint ist das nur scheinbar paradoxe Phänomen, dass männliche Gewalt in diesen Texten in doppelter Hinsicht bejaht wird: als apollinischer, zivilisationsstiftender Akt und als dionysisch-vitalistische Feier der Barbarei. Ich möchte nun zeigen, dass diese Aspekte, selbst wenn sie nicht parallel in ein und demselben Text vorkommen, in Wahrheit komplementär sind und dass es gattungsbedingte, diskursive und funktionale Faktoren sind, die bestimmen, welcher dieser beiden Aspekte eines im Kern ambivalenten Männlichkeitsideals jeweils hervortritt. Ich stütze mich zu diesem Zweck auf zwei eher ungewöhnliche, aus der Fülle der häufig von Augenzeugen verfassten Literatur über den Rifkrieg herausragende Texte.7 Der erste Text, Diario de una bandera, ist das authentische Kriegstagebuch, das der spätere Diktator Francisco Franco (1892-1975), der aktiv am Rifkrieg beteiligt war, im Jahr 1922 veröffentlichte.8 Dieser Text repräsentiert die Tendenz, Gewalt in den Dienst der Durchsetzung und Verteidigung zivilisatorischer Leistungen zu stellen. Der zweite Text ist eine avantgardistische Sammlung kurzer Gedichte und poetischer Prosastücke, die im Jahr 1923 unter dem Titel Tras el águila del César. Elegía del Tercio erschien.9 Es handelt sich dabei um ein Horrorkabinett sadistischer und rassistischer Gewaltexzesse, das exemplarisch für die gegenläufige Tendenz steht: die Aufkündigung zivilisatori-

7

Siehe die Überblicksdarstellungen von David López García: El blocao y el oriente. Una introducción al estudio de la narrativa del siglo XX de tema marroquí, Murcia 1994; Antonio Carrasco González: La novela colonial hispanoafricana. Las colonias africanas de España a través de la historia de la novela, Madrid 2000; Alejandro Vargas: La guerra de Marruecos en la literatura, Málaga 2001 und Juan José López Barranco: El Rif en armas: la narrativa española sobre la guerra de Marruecos (18592005), Madrid 2006. Aus einer Genderperspektive und mit einem Schwerpunkt auf Männlichkeitsbildern wird die Rifkriegsliteratur insbesondere von Susan MartinMárquez: Disorientations. Spanish Colonialism in Africa and the Performance of Identity, New Haven/London 2008, S. 161-219 und Fleischmann: Literatur, S. 151210 analysiert.

8

„Bandera“ bedeutet sowohl „Bataillon“ als auch „Fahne“.

9

Der im Titel erwähnte „Adler Cäsars“ bezieht sich auf die Feldstandarte der spanischen Fremdenlegion („Tercio de Extranjeros“).

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scher Selbstbeschränkung und die Feier der Barbarei.10 Sein Autor, der Schriftsteller, Journalist und spätere politische Funktionär Luys Santa Marina (18981980), brüstete sich dann auch damit, in der Zweiten Republik (1931-1936) für dieses skandalöse Buch zum Tode verurteilt worden zu sein.11 Die auffälligste Gemeinsamkeit zwischen dem Text Francos und dem Santa Marinas wird bereits im Titel angedeutet: Beide sind im Milieu der Spanischen Fremdenlegion angesiedelt, die erst kurz zuvor, am 28. Januar 1920 von José Millán Astray als Eliteeinheit der spanischen Armee nach dem Vorbild der Französischen Fremdenlegion gegründet worden war. Ihr gemeinsamer Gegenstand ist also die hermetische Welt der Männerbünde, die überall ähnlich ist: in der Fremdenlegion, bei den Braunhemden der SA, der „Band of Brothers“ der USArmee oder der kämpfenden Muslimgemeinschaft ISIS.12 Die Kombination von Krieg, Kolonialthematik und männerbündischer Organisation führt dazu, dass in den herangezogenen Texten gleichsam eine Übercodierung von Männlichkeit vorliegt, die an George L. Mosses Feststellung denken lässt: „Never before or since the appearance of fascism was masculinity elevated to such heights: the hopes placed upon it, the importance of manliness as a national symbol and as a living experience played a vital role in all fascist regimes.“13 Eine andere Gemeinsamkeit zwischen den beiden Texten besteht darin, dass sich ihre Verfasser – in für das Prestigedenken der Ultrarechten generell typischer Weise – dem maskulinen Renaissance-Ideal der armas y letras, dem Vorbild des Waffen- und Schreibkunst gleichermaßen beherrschenden Dichtersolda-

10 José-Carlos Mainer spricht von einem „delirio de violencia racista“ („Rausch rassistischer Gewalt“; José-Carlos Mainer: Historia de la literatura española. 6. Modernidad y nacionalismo 1900-1939, Madrid 2010, S. 132). 11 Vgl. Luys Santa Marina: Trás el águila del César. Elogia del Tercio, 1921-1922, Barcelona [1922] 1980, S. 11f. Im Folgenden zitiert mit der Sigle AC und der Seitenzahl. Über die Biographie Santa Marinas informieren José-Carlos Mainer: Falange y literatura. Antología, Barcelona 2013, S. 60-68, 199-202 und Viscarri: Nacionalismo, S. 250-255. Santa Marina blieb bis zu seinem Tod bekennender Faschist. Unter dem Franco-Regime übte er verschiedene politische Funktionen aus. Mit dem linken Republikaner Max Aub gab er die Zeitschrift Azor (1932-1934, 1942-1944, 1961-1973) heraus. Zu seinen literarischen Werken gehören der Lyrikband Primavera en Chinchilla (1939) und das Reisebuch Italia, mi ventura (Últimas guerras del Gran Capitán) (1943). 12 Vgl. Ulrike Brunotte: Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne, Berlin 2004. 13 Mosse: Image of Man, S. 155.

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ten, verpflichtet fühlten. So ist von Franco bekannt, dass er nicht nur als Feldherr, sondern auch als Schriftsteller gesehen werden wollte, und Santa Marina pflegte zeitlebens die biographische Legende, dass er selbst als Legionär im Rifkrieg dabei gewesen sei – was heute zweifelsfrei widerlegt ist.14 Beide Texte sollen nun zunächst einzeln vorgestellt und dann die Frage nach ihrer Komplementarität im Hinblick auf das Verhältnis von Männlichkeit und Gewalt aufgeworfen werden. Dass sie tatsächlich komplementär gelesen werden können, zeigt sich schon daran, dass das, wogegen sie sich jeweils abgrenzen, auch in ihnen selbst in verdrängter, marginalisierter Form vorkommt. So scheint am Rande von Francos Plädoyer für die Zivilisation die Barbarei auf, während Santa Marinas explizites Lob der Barbarei eine zivilisatorische Rahmung erfährt.

F RANCISCO F RANCO : D IARIO

DE UNA BANDERA

(1922)

Francos Kriegstagebuch ist in fünf Ausgaben jeweils an emblematischen Gelenkstellen der jüngeren spanischen Geschichte erschienen: 1922, 1939, 1956, 1976 und 1986. Jedes Mal wurde der Text durch Eingriffe oder entsprechende Vorworte geschickt an die veränderte politische Lage angepasst.15 Franco hatte sich schon im Jahr 1912, also mit zwanzig Jahren, den Afrikatruppen angeschlossen und schnell Karriere gemacht, nachdem sich sein ursprüngliches Vorhaben, Marineoffizier zu werden, aufgrund der Folgen der Katastrophe von 1898 für die spanischen Seestreitkräfte zerschlagen hatte. Ein Jahr nach Erscheinen seines Kriegstagebuchs wurde er im Juni 1923 zum bis dahin jüngsten Oberstleutnant und zum Kommandeur der Fremdenlegion ernannt.16

14 Vgl. dazu Franco Viscarri: Nacionalismo, S. 76. Franco verfasste die literarische Vorlage zu dem Bürgerkriegsfilm RAZA (1942) von José Luis Sáenz de Heredia. Der Text wurde 1942 unter dem Pseudonym „Jaime de Andrade“ mit dem Titel Raza. Anecdotario para el guión de una película veröffentlicht. Der von Albrecht Koschorke und Konstantin Kaminskij herausgegebene Band Despoten dichten. Sprachkunst und Gewalt (2011) enthält zwar Beiträge zu Benito Mussolini, Adolf Hitler und Josef Stalin, nicht aber zu Francisco Franco. Zum fiktiven Charakter von Santa Marinas Legionärsvergangenheit siehe Viscarri: Nacionalismo, S. 253f. Mit der Vortäuschung seiner Augenzeugenschaft steht er freilich nicht alleine da (vgl. Fleischmann: Literatur, S. 50). 15 Siehe dazu die Kommentare von Viscarri: Nacionalismo, S. 75-85. 16 Zum biographischen Hintergrund und zum Stellenwert des Afrikaaufenthalts für Francos politische Karriere siehe Paul Preston: Franco. A Biography, New York 1993,

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Das in der ersten Person verfasste Tagebuch erstreckt sich über den Zeitraum vom Oktober 1920 bis zum Mai 1922 und berichtet in chronologischer Form von den ruhigen ersten Monaten der kurz zuvor gegründeten Fremdenlegion in Marokko, der Verteidigung Melillas und dem anschließenden Rachefeldzug für die katastrophale Niederlage bei Annual im Juli 1921, die 12.000 spanischen Soldaten das Leben gekostet hatte. Der Text ist in einem betont sachlichen Stil verfasst und frei von persönlichen Reminiszenzen. Gleichzeitig wird jedoch deutlich, dass Franco die Fassade des Apolitischen und Unpersönlichen nur gewählt hat, um sich als persönlich bescheidene, ganz der nationalen Sache verpflichtete Führerpersönlichkeit zu präsentieren und die spanische Fremdenlegion als leuchtendes Vorbild für ein effizientes, an klaren Werten und hohen Idealen orientiertes Handeln erscheinen zu lassen.17 Ein solcher Männerbund taugt, so muss man Franco verstehen, zur Begründung der Zivilisation und zur Herstellung eines neuen Staats, und wo ließe sich das aus seiner Sicht besser demonstrieren als eben in Marokko, an der vermeintlichen Grenze von Staat und Zivilisation, von Europa und Afrika, von Christentum und Islam? Der unvermeidliche Einsatz von Gewalt ist dabei durch diesen guten Zweck immer schon legitimiert. Selten kommen die politischen Intentionen Francos jedoch offen zum Ausdruck. So spricht er einmal bedauernd von der gegenwärtigen „época de positivismo“ („Epoche des Positivismus“)18 oder erkennt in „la crisis de ideales“ („der Krise der Ideale“; DB, 173) die eigentliche Ursache für die Niederlage von Annual. In demselben Atemzug fordert er emphatisch, an den Küsten Marokkos seien „los faros de civilización“ („die Leuchttürme der Zivilisation“; DB, 173) zu errichten. An anderer Stelle beklagt er sarkastisch das barbarische Verhalten der gegnerischen marokkanischen Frauen auf dem Schlachtfeld von Annual, die es an Dankbarkeit gegenüber den Segnungen der Zivilisation hätten mangeln lassen: „En el desastre, muchas mujeres fueron especialmente crueles, remataban

S. 1-68; Juan Pablo Fusi: Franco. Autoritarismo y poder personal, Madrid 2001, S. 3356 und Paul Southern: „Franco’s Moroccan War Diary – an Analysis“, in: Francisco Franco Bahamonde: Francisco Franco’s Moroccan War Diary 1920-1922, hrsg. von Paul Southern, Bromley 2007, S. 1-44. 17 Vgl. ebd., S. 137: „Para Franco el ejército es sobre todo un instrumento necesario para destacar sus cualidades personales de mando y liderazgo.“ („Für Franco ist das Heer vor allem ein nötiges Instrument, um seine persönlichen Eigenschaften als Befehlshaber und Führer herauszustellen.“) 18 Francisco Franco Bahamonde: Papeles de la Guerra de Marruecos. Diario de una bandera. La hora de Xauen. Diario de Alhucemas, Madrid 1986, S. 174. Im Folgenden zitiert mit der Sigle DB und der Seitenzahl.

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los heridos y les despojaban de sus ropas, pagando de este modo el bienestar que la civilización les trajo“ („Bei der Katastrophe waren viele Frauen besonders grausam, sie töteten die Verwundeten und beraubten sie ihrer Kleidung; auf diese Weise vergolten sie den Wohlstand, den ihnen die Zivilisation gebracht hatte“; DB, 149). Die hohe Moral der Fremdenlegionäre zeichnet sich dagegen durch die Ritterlichkeit aus, mit der die Frauen der Feinde, die Franco durchweg als „moras“ („Maurinnen“; DB, 149, passim) bezeichnet, beispielsweise von der Erschießung verschont oder, unter Einsatz des eigenen Lebens, vor dem Ertrinken gerettet werden: „Unos días más tarde, otro legionario, Marcelino Masquivar, salva de la muerte en el río, con exposición de su vida, a dos moras enemigas que arrastraba la corriente“ („Einige Tage später rettet ein anderer Legionär, Marcelino Masquivar, unter Einsatz seines Lebens zwei feindliche Maurinnen, die die Strömung mitgerissen hatte, vor dem Ertrinken im Fluss“; DB, 73). Auch das Lob des mutigen maurischen Gegners – „El enemigo se defiende bravamente en las barrancadas y trincheras“ („Der Feind verteidigt sich tapfer in den Schluchten und Schützengräben“; DB, 123) –, in dem ein bekanntes Motiv aus den sogenannten, zumeist maurophilen romances fronterizos des ausgehenden Mittelalters anklingt, unterstreicht den soldatischen Ehrenkodex der Legionäre. Ansonsten aber ist Franco darauf bedacht, eine scharfe Grenze zwischen Spaniern und Marokkanern zu ziehen – im Einklang mit späteren Verhaltenshinweisen der spanischen Kolonialbehörden, die den spanischen Soldaten von einem going native beispielsweise durch das Tragen orientalischer Kleidung entschieden abrieten.19 So insistiert Franco geradezu obsessiv auf der Sauberkeit und Ordnung der Legionärslager: „La limpieza y policía es la característica de los campamentos legionarios“ („die Sauberkeit und Gepflegtheit ist das Kennzeichen der Legionärslager“; DB, 67). Gleichzeitig betont er die intensive Körperpflege der Legionäre, die sich damit vorteilhaft gegen, „moras sucias y desgreñadas“ („schmutzige und ungekämmte Maurinnen“; DB, 63) sowie „moritos chicos de caras sucias“ („Maurenkinder mit schmutzigen Gesichtern“; DB, 63f.) abheben. Es sind bezeichnenderweise Frauen und Kinder, die hier – als von Haus aus für minderwertig gehaltene Geschöpfe – den Hygienevorstellungen der Legionäre nicht genügen. Und wenn die „recios soldados“ („strammen Solda-

19 In seinem Vorwort zu Francos Kriegstagebuch in der Ausgabe von 1986 zitiert der Generalleutnant Galera Paniagua aus einem Rundschreiben der Kolonialbehörden z.B. folgenden Ratschlag: „Usad traje correcto, huyendo de ‚teatralerías‘ de imitación al indígena con ropas exóticas“ („Tragen Sie korrekte Kleidung und vermeiden Sie ‚Verkleidungsspiele“, bei denen sie mit exotischer Kleidung die Einheimischen nachahmen“; Galera Paniagua: „Prólogo“, in: Franco: Papeles, S. 7-23, S. 17).

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ten“; DB, 64) der Legion dann an den staunenden Marokkanern vorbeimarschierten, seien, so Franco voller Stolz, „las grandezas de la raza“ („die Großartigkeit der Rasse“; ebd.) zu spüren.20 Neben dem Merkmal der zivilisatorischen und rassischen Überlegenheit weisen die Fremdenlegionäre in Francos Darstellung aber noch eine Reihe anderer stereotyper Eigenschaften auf, die dem gemeinschaftsstiftenden Kodex der zwölf Tugenden des Legionärs entsprechen, die der Begründer der Legion Millán Astray aufgestellt hatte und die sich nicht wesentlich von anderen soldatischen Männerbünden unterscheiden.21 Gleich zu Beginn, bei der Einschiffung in Algeciras, beschwört Franco pathetisch den Mythos der Fremdenlegion als Schmelztiegel: „y pronto españoles y extranjeros saltan y ríen dando al olvido su vida anterior. Parece que vuelven a ser niños“ („und bald springen und lachen Spanier und Ausländer; sie vergessen ihr früheres Leben. Es sieht aus, als ob sie wieder zu Kindern werden“; DB, 57). Aus diesen „Kindern“ werden dann „los futuros legionarios“ („die zukünftigen Legionäre“; ebd.) geformt, die sich durch körperliche Widerstandsfähigkeit, Disziplin und Askese, enthusiastischen Kampfgeist und bedingungslose Opferbereitschaft auszeichnen sollen. Das homoerotische Potential dieser homosozialen, parafamiliären und parareligiösen Gemeinschaft deutet sich an, wenn in Anspielung auf das Legionärsideal der Bruderschaft das Verhältnis zwischen Offizieren und Soldaten folgendermaßen beschrieben wird: „nos abrazan con el cariño de hermanos, hermandad que habíamos de confirmar un día en el combate“ („sie umarmen uns mit der Zärtlichkeit von Brüdern, eine Brüderlichkeit, für die wir eines Tages im Kampf einzustehen hätten“; DB, 67). Dem am Vorbild der Spartaner geschulten Legionärsbild entspricht eine antikisierende Körperästhetik, die in einem bekannten Lied, das Franco zitiert, „La canción del legionario“ („Das Lied des Legionärs“), anklingt: „¿Quiénes son esos bravos soldados/con bustos de bronce, curtidos de sol?“ („Wer sind diese

20 Dabei fragt sich Viscarri angesichts der heterogenen Zusammensetzung der Fremdenlegion zurecht, auf welche Vorstellung von Rasse sich Franco hier bezieht: „Obviamente, lo cuestionable es a qué ‚raza‘ alude el autor/narrador“ („Das Fragliche ist hier offensichtlich, auf welche ‚Rasse‘ der Autor/Erzähler anspielt“; Viscarri: Nacionalismo, S. 91). Abgesehen davon erwähnt Franco, dass in der Fremdenlegion auch Schwarze dienen, wie etwa der Nordamerikaner William Brown, der allerdings von den Marokkanern für einen „moro“ gehalten und von Franco mit rassistischem Unterton beschrieben wird: „su abandono en el vestir es característico y nadie conoce a William más que sucio y derrotado“ („die Verwahrlosung seiner Kleidung ist typisch und niemand kennt William anders als schmutzig und abgerissen“; DB, 70). 21 Vgl. Viscarri: Nacionalismo, S. 158; Southern: War Diary, S. 7f.

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tapferen Soldaten/mit Oberkörpern aus Bronze, von der Sonne gegerbt“; DB, 143) Und selbstverständlich spielt auch der Sport – Gymnastik, Fußball, Boxen – eine entscheidende Rolle bei der Körperertüchtigung, Triebabfuhr und Bekämpfung der Langeweile. Chronisch Kranke, Erschöpfte und Schwache, „sin salud para ser legionarios“ („ohne die für Legionäre nötige Gesundheit“; DB, 59), werden gleich zu Beginn aussortiert. Interessant an Francos Kriegstagebuch ist nun aber, dass man nicht erst auf die Darstellungen von Historikern zurückgreifen muss, um das stark idealisierte Bild zurechtzurücken, das Franco von der Fremdenlegion als einer Gemeinschaft von moralischer und zivilisatorischer Überlegenheit zeichnet.22 Franco selbst greift einmal – natürlich, um ihn sofort zu entkräften – den weit verbreiteten Gegenmythos auf, dass die Fremdenlegionäre den „Ruf von Raubtieren“ („fama de fieras“; DB, 153) besäßen. Tatsächlich gibt es in seinem Text jedoch eine Reihe von Stellen, an denen hinter der euphemistischen Darstellung des Autors transgressive Verhaltensweisen sichtbar werden, die der positiven Stilisierung der Fremdenlegion widersprechen. So scheint gelegentlich das realiter weit verbreitete Problem der Alkohol-, Drogen- und Spielsucht vieler Legionäre durch (vgl. DB, 59, 69, 75). Auch das Sexualverhalten der angeblich so asketischen Legionäre, das Vorkommen von Prostitution, Vergewaltigung und Homosexualität, werden zumindest indirekt thematisiert. Franco berichtet zum Beispiel, dass sich viele Legionäre bei Einbruch der Dämmerung mit jungen Marokkanerinnen in Strandnähe treffen: „algunos decididos las cortejan y los añosos olivos del bosque sagrado han sido muchas veces mudos testigos de la galantería legionaria“ („einige Entschlossene machen ihnen den Hof, und die betagten Olivenbäume des ehrwürdigen Wäldchens waren häufig stumme Zeugen der Galanterie der

22 Vgl. das zusammenfassende Urteil des Historikers über den Alkohol- und Drogenmissbrauch der Legion und die von ihr verübten Exzesse an rassistischer und sexueller Gewalt: „The savagery of the Legion suggests that the moral restraints built into normal cultural patterning were deeply eroded among many of its soldiers“ (Balfour: Embrace, S. 211). Siehe zu den Kriegsgräueln auch Sasse: Rifkrieg, S. 57. Eine interessante symbolische Deutung der durch die Fremdenlegionäre begangenen Gewaltakte liefert Fleischmann: Literatur, S. 223-225. Sie sieht darin eine höhnische Rache am spanischen Staat und der Zivilgesellschaft, die in der Tat gleich zweifach vom ‚Opfertod‘ der Legionäre profitieren, indem sie sich auf diese Weise eines sozial schwer integrierbaren Elements entledigen und zugleich von dessen Wehrhaftigkeit und Kampfstärke profitieren.

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Legionäre“; DB, 71).23 Als Anspielung auf das Vorkommen von Vergewaltigungen und Leichenschändungen lässt sich die Bemerkung verstehen, dass die Legionäre eine gerade verstorbene, junge, hübsche Marokkanerin „con amoroso respeto“ („mit zärtlichem Respekt“; DB, 119) betrachteten, und als topischer Hinweis auf Homosexualität ist die Erwähnung der ‚schummrigen maurischen Kaffeehäuser‘ zu lesen, in denen Mauren und Legionäre zusammentreffen: „en el pequeño zoco del campamento, moros y legionarios fraternizan también bajo las pardas lonas de los lóbregos cafetines morunos“ („auf dem kleinen Platz des Feldlagers fraternisieren Mauren und Legionäre auch unter den braunen Markisen der schummrigen maurischen Kaffeehäuser“; DB, 67).24 Keine inneren Vorbehalte lässt Franco dagegen erkennen, wenn es um Fälle sadistisch-grausamer Gewaltanwendung geht.25 So berichtet er, wie er selbst seine Legionäre und Hilfstruppen am Kadaver eines wegen Verrats hingerichteten marokkanischen Soldaten vorbeidefilieren ließ (vgl. DB, 73) und dass er eine Bestrafungsaktion gegen die Dörfer von Einheimischen leitete, deren Häuser angezündet und Bewohner getötet wurden: Al mediodía consigo autorización del General para castigar los poblados de que partió la reacción y desde los que el enemigo nos hostiliza. […] Mientras una sección, rompiendo el fuego sobre las casas, protege la maniobra, se descuelga otra por un pequeño cortado y

23 Man hat die romantisierende Prüderie Francos in dieser und anderen Passagen mit einer Abwehrhaltung gegen die Promiskuität seines Vaters, aber auch mit der angeblichen Impotenz in Verbindung gebracht, die er sich durch eine Kriegsverwundung am 26. Juni 1916 zugezogen haben soll. Vgl. Viscarri: Nacionalismo, S. 74, 127-129, 154f., 162f. Damit reiht sich Franco in die Reihe der Diktatoren ein, die, wie beispielsweise Adolf Hitler, der infolge einer ebenfalls 1916 erlittenen Kriegsverletzung nur einen Hoden gehabt haben soll, zum Gegenstand populärer Sexualphantasmen geworden sind. 24 Vgl. dazu Martin-Márquez: Disorientations, S. 187-192 vor dem Hintergrund homosexueller Praktiken in der Fremdenlegion und in Bezug auf die deutschsprachige Literatur Michael Gratzke: „Mythos Afrikasöldner. Modernisierung, mann-männliches Begehren und männliche Subjektbildung in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts“, in: Robin Bauer/Josch Hoenes/Volker Woltersdorff (Hrsg.): Unbeschreiblich männlich. Heteronormativitätskritische Perspektiven, Hamburg 2007, S. 197-212. 25 Die zitierte Ausgabe von 1986 ist in dieser Hinsicht gegenüber der Erstausgabe von 1922 bereits erheblich abgemildert. Vgl. López Barranco: El Rif, S. 111, 352.

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rodeando los poblados, impone castigo a sus habitantes; las llamas se levantan de los techos de las viviendas y los legionarios persiguen a sus moradores (DB, 105). Am Mittag erhalte ich die Erlaubnis des Generals, die Dörfer zu bestrafen, von denen die Gegenaktionen ausgingen und von denen aus der Feind uns angreift. […] Während eine Abteilung die Häuser unter Feuer nimmt, um den Vorstoß zu sichern, nimmt eine andere den Weg über eine kleine Abkürzung, umrundet die Ansiedlungen und vollzieht die Bestrafung ihrer Bewohner; die Flammen schlagen aus den Dächern der Behausungen, und die Legionäre verfolgen die Einwohner.

Wenn Franco voller Sympathie die Verfolgung von Heckenschützen durch seine Soldaten als „vergnügliche Jagd“ bezeichnet – „¡es tan divertida la ‚caza‘ del paco!“ (DB, 148) – und die kaltblütige Tötung eines um sein Leben flehenden Gefangenen und dessen Verstümmelung durch Abschneiden eines Ohrs – eine im Rifkrieg unter allen Kriegsteilnehmern verbreitete Praxis – mit dem väterlichverständnisvollen Kommentar begleitet: „no es ésta la primera hazaña del joven legionario“ („das ist nicht die erste Heldentat des jungen Legionärs“)26, offenbart er aller staatstragend-zivilisatorischen Rhetorik zum Trotz, dass er derartige Gewaltakte offensichtlich als notwendige und willkommene Männlichkeitsproben betrachtet.

L UYS S ANTA M ARINA : T RAS EL ÁGUILA DEL C ÉSAR . E LEGÍA DEL T ERCIO 1921-1922 (1923) Luys Santa Marinas modernistische Sammlung kurzer Lyrik- und Prosatexte, die der Autor selbst stolz als „libro sádico, sanguinario“ („sadistisches, blutrünstiges Buch“; AC, 12) bezeichnete, verhält sich zu Francos ein Jahr zuvor erschienenem Kriegstagebuch wie das Negativ zum Positiv. Unter den Bedingungen einer als authentischer Bericht verkleideten Fiktion rückt Santa Marina den rassistischen, gewalttätigen, anarchisch-barbarischen Untergrund in den Mittelpunkt seiner nostalgischen Kriegserzählung, der bei Franco aus Gründen der politischen Korrektheit ausgeblendet, beschönigt oder umgedeutet wird und sich nur einer Lektüre erschließt, die auch zwischen den Zeilen liest und verstreute Bemerkungen historisch einzuordnen versteht. Santa Marina liefert dagegen detaillierte Beschreibungen lustvoll begangener Tötungen und Verstümmelungen, und

26 Diese Episode wurde bezeichnenderweise aus den späteren Fassungen getilgt. Hier zitiert nach Viscarri: Nacionalismo, S. 143.

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auch Prostitution und Drogenkonsum – Haschisch, Kokain, Morphium, Whisky – kommen ausführlich zur Sprache. Das nordafrikanische Schlachtfeld wird bei Santa Marina zu einem Raum, in dem männliche Potenz und Vitalität aus der rauschhaften Überschreitung zivilisatorischer Grenzen wiedergewonnen werden. Der Apotheose der verschworenen Bruderschaft der selbstlosen Fremdenlegionäre, die als Titanen dargestellt werden, die gegen gemeine Götter rebellieren und alles Materielle verachten – „Allá van, cual titanes revelados/contra mezquinos dioses. El dinero/no esclaviza sus mentes ni sus brazos“ („Dort schreiten sie, wie Titanen,/ die sich gegen gemeine Götter erheben. Das Geld/versklavt weder ihren Geist noch ihre Arme“; AC, 169) –, steht die Verhöhnung und ritualisierte Vernichtung des kulturell und geschlechtlich Anderen gegenüber, des marokkanisch-muslimischen, in vielen Fällen auch weiblichen Gegners. Das dem Buch vorangestellte Lobgedicht des Journalisten und Lyrikers José del Río Sainz, der Korrespondent in Melilla und wahrscheinlich die Hauptinformationsquelle Santa Marinas war,27 nennt den vorherrschenden Gestus der Selbstbarbarisierung schon im ersten Vers seines Gedichts beim Wort: „Estas estampas tienen un bárbaro color“ („Diese Bilder tragen eine barbarische Färbung“; AC, 15). Luys Santa Marinas Buch erschien in drei Ausgaben 1923, 1939 und 1980. Trotz des fragmentarischen, sprunghaften Aufbaus, der formal der Dynamik und Willkür der beschriebenen Gewaltakte entspricht, bilden die 113 Einzeltexte einen dramaturgischen Bogen, der von der enthusiastischen Einschiffung der aus New York anreisenden Freiwilligen über die auch bei Franco im Mittelpunkt stehenden traumatischen Kriegsereignisse der Jahre 1921 und 1922 bis hin zur melancholischen Heimkehr der „mártires de España“ („Märtyrer Spaniens“; AC, 201) reicht, auf die in der alten Heimat nur Undank und verleumderische Nachreden warten, wie die verbitterten Schlussworte durchblicken lassen: „¡Ya estamos hartos de calumnia! El Tercio no es una banda de condotieros, no es una Legión. Formóse casi exclusivamente con españoles […] que amaban a España sobre todas las cosas“ („Wir haben die Verleumdungen satt! Das Tercio ist keine Söldnerbande, es ist keine Legion. Es bildete sich nahezu ausschließlich aus Spaniern […], die Spanien über alles liebten“; AC, 201). Einen repräsentativen Eindruck von der ästhetischen und ideologischen Eigenart dieser oft nur wenige Zeilen umfassenden Textvignetten vermittelt das Prosastück „Regreso“ („Rückkehr“), in dem sich einige zentrale Merkmale verdichten:

27 Vgl. Mainer: Falange, S. 67.

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Buena sangre roja chupó la arena seca. Terminóse, al fin, la jornada de muerte y sol, y con los arreboles ígneos del crepúsculo entró la Legión en su campo, sin orden, como banda de lobos, ebria de triunfo (ojos lucientes, quijadas carniceras, pechos velludos). La escarlata bandera del César ondea con la brisa sofocante en un corro de cabezas de moros, sin narices unas, otras sin orejas, clavadas en las bayonetas. Cantaban: Abd-el-Krim subió a los cielos a pedir a Dios perdón, y le respondió San Pedro: ¡Pídesele a la Legión! (AC, 28) Gutes rotes Blut sog der trockene Sand auf. Schließlich ging der Tag aus Tod und Sonne zu Ende, und mit der feurigen Röte des Sonnenuntergangs rückte die Legion in ihr Lager ein, ungeordnet, wie eine Bande Wölfe, trunken vom Triumph (leuchtende Augen, Raubtierkiefer, behaarte Brustkasten). Die scharlachrote Fahne des Cäsar wiegt sich in der erstickenden Brise in einem Kreis von Maurenköpfen, ohne Nasen die einen, die anderen ohne Ohren, aufgespießt auf die Bayonette. Sie sangen: Abd-el-Krim stieg zum Himmel auf, um Gott um Verzeihung zu bitten, und Sankt Petrus antwortete ihm: bitte darum die Legion!“

Der kurze Text enthält einen klar erkennbaren anekdotischen Kern: die Rückkehr der euphorisierten Legionäre in ihr Feldlager und die rituelle Feier ihres Tagessiegs über die von Abd-el-Krim angeführten maurischen Gegner. Der expressive, manieristisch-ornamentale Stil, der sich im Wesentlichen in der Isotopie der Farbe Rot („roja“, „arreboles“, „ígneos“, „crepúsculo“, „escarlata“), der locker gefügten, asyndetischen Reihung adjektivischer und substantivischer Attribute („sin orden“, „ebrio de triunfo“, „ojos lucientes“ etc.) sowie der artifiziellen Strenge eines Chiasmus („sin narices unas, otras sin orejas“) manifestiert, wirft einige grelle Schlaglichter auf dieses Ereignis. Im Mittelpunkt steht der detailliert durchgeführte Vergleich der Legionäre mit einem Wolfsrudel („como banda de lobos“), in dem die regressive Bejahung der bestialisch-wölfischen, auf aggressiven Selbsterhalt und rücksichtslosen Lustgewinn ausgerichteten Natur des Menschen/Mannes zum Ausdruck kommt. Philosophisch-anthropologische Konnotationen (‚homo homini lupus‘) mischen sich in diesem Vergleich mit mythologischen Reminiszenzen an die Schauerromantik (‚Werwolf‘). Der Waffen-

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fetischismus mit seinen phallischen Konnotationen des (Ab-)Stechens und (Ab-) Schneidens und der blasphemische Ton, die Anspielung auf heidnische Menschenopfer, die höhnische Anrufung des christlichen Gottes und die infame Schmähung der Andersgläubigen, verbinden sich im Bild der auf Bajonetten aufgespießt singenden Maurenköpfe zu einer grotesk-komischen Darstellung des Grauens. Die Unbarmherzigkeit des ‚Wolfsrudels‘, des triumphal in den vorstaatlichen Naturzustand zurückgekehrten Mannes, richtet sich allerdings auch gegen die Schwachen in den eigenen Reihen. So heißt es in dem Text „Así murió un cobarde“ („So starb ein Feigling“) über einen flüchtenden Legionär, der hinterrücks von einem anonym bleibenden, „barmherzigen“ Kameraden erschossen wird: En el desordenado repliegue hacia las lomas, en los momentos de angustia, huyó, tirando fusil y correaje… (era de los que siempre están enfermos los días de operación…) Pero uno, piadoso, le metió una bala por la espalda, y no tuvo sobre su alma, ante Dios, el crimen de contagiar el pánico, causando la perdida de todos… Al otro día se le encontró entre los muertos; nadie sabía a ciencia cierta quién de ellos era, salvo el que hizo justicia, que viole cara a cara… pero calló, y yace, aunque indigno, con sus hermanos… (AC, 93) Beim ungeordneten Rückzug in Richtung des Bergrückens, in den Momenten der Angst, warf er sein Gewehr und sein Koppelzeug weg und floh … (er war einer von denen, die an den Einsatztagen immer krank sind…) Aber einer, der sich erbarmte, verpasste ihm eine Kugel in den Rücken, und so lastete auf seiner Seele, vor Gott, nicht das Verbrechen, mit Panik angesteckt zu haben, die den Untergang aller verursacht hätte… Am nächsten Tag fand man ihn unter den Toten; niemand wusste mit Gewissheit, wer von ihnen es war, außer dem, der ihn richtete, der ihn von Angesicht zu Angesicht sah… aber er schwieg und liegt, obwohl unwürdig, bei seinen Brüdern…

Indessen ist mit Mechthild Albert festzuhalten, dass nicht nur bei Luys Santa Marina, sondern auch bei einem anderen präfaschistischen spanischen Autor, Tomás Borrás (1891-1976), der sowohl am Ersten Weltkrieg als auch am Rifkrieg als Journalist teilnahm, eine solche „eigentümliche Gewaltverherrlichung“28 und eine ganz ähnliche „vitalistische Ästhetik der Grausamkeit“29 zu

28 Mechthild Albert: Avantgarde und Faschismus. Spanische Erzählprosa 1925-1940, Tübingen 1996, S. 49.

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beobachten ist. Verwandte Ausprägungen dieser stets mit einer politisch reaktionären, antidemokratischen Haltung einhergehenden „Ästhetik des Schreckens“30 finden sich selbstverständlich auch in anderen europäischen Literaturen, von Gabriele DʼAnnunzios Roman Mafarka le futuriste (1909) über Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920) bis zu Louis-Ferdinand Célines Voyage au bout de la nuit (1932) und Curzio Malapartes Kaputt (1944). Anders als bei Santa Marina ist aber in Borrásʼ Marokkokriegsroman La pared de la tela de araña (1924) immer auch eine gewisse Bewunderung, vor allem für die Berber, die in seinen Augen besonders grausam-vitalen Rifkabylen im Spiel.31 Das Moment der bei Borrás durchaus homoerotisch aufgeladenen Verführung durch den Anderen wird bei Santa Marina jedoch konsequent exorzisiert, und zwar im Rahmen einer zumindest an der Oberfläche streng heterosexuellen Konstellation, wie sie beispielsweise in dem semantisch höchst komplexen Text „La morilla burlada“ („Die verspottete Maurin“) vorliegt. Darin treffen die Legionäre in einer zerstörten Hütte auf eine junge, höchstens 16-jährige marokkanische Kämpferin mit einem noch warmen Gewehr an ihrer Seite. Die ganze Kompanie sticht nun der Reihe nach mit ihren Bajonetten in den Körper der jungen Frau – ‚und bald‘, so heißt es, ‚stoßen die Bajonette nur noch in bereits vorhandene Wunden‘, wobei im Original das Polyptoton „herían“/„heridas“ die Aussage noch intensiviert: „y a poco las bayonetas herían ya en otras heridas…“ (AC, 37). Dann schneidet man ihr die mit Ringen geschmückten Finger und Ohren ab. Dazu trägt ein mit der Dichtung vertrauter Legionär („un legionario poeta“, ebd.) eine bekannte mittelalterliche, aus der Sicht einer jungen Maurin ver-

29 Ebd., S. 91. An anderer Stelle charakterisiert Albert Borras’ Ästhetik auch als „tremendistisch“: Mechthild Albert: „El tremendismo en la novela fascista“, in: Mechthild Albert (Hrsg.): Vencer no es convencer. Literatura e ideología del fascismo español, Frankfurt/M./Madrid 1998, S. 101-118, S. 104. Santiáñez: Habitus, S. 256-258 rekurriert in seiner Interpretation des Texts auf Kants Begriff des ‚radikal Bösen‘. 30 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München 1978. 31 „[…] gracias a su barbarie, los beréberes encarnan para Borrás la variante mediterránea de la ‚bestia rubia‘, arquetipo del vitalismo nietzscheano.“ („dank ihrer Barbarei verkörpern die Berber für Borrás die mediterrane Variante der ‚blonden Bestie‘, Archetyp des nietzscheanischen Vitalismus“; Albert: Vencer, ebd.). Vgl. dazu ausführlicher Mechthild Albert: „‚El violento contraste entre dos civilizaciones‘. Ambigüedades del discurso africano en La pared de tela de araña (1924) de Tomás Borrás“, in: Christian von Tschilschke/Jan-Henrik Witthaus (Hrsg.): El otro colonialismo. España y África entre imaginación e historia, Frankfurt/M./Madrid 2016 (im Druck).

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fasste Grenzromanze vor, in der es um die Gefahr der Verführung durch einen der Täuschung verdächtigen Christen geht: Yo m’era mora Moraima, morilla de un bel catar; cristiano vino a mi puerta, cuitada, por me engañar. (Ebd.) Ich war die Maurin Moraima, Maurin, hübsch anzusehn; ein Christ kam an meine Tür, ich armes Mädchen, um mich zu betrügen.

Die Symbolik der Szene ist komplex. Der Tötungsakt wird offensichtlich als Sexualakt dargestellt, als symbolische Massenvergewaltigung beziehungsweise als kollektive Vereinigung der Soldaten mit der bräutlich geschmückten Marokkanerin. Dieser Umstand lässt das Selbstverständnis der Fremdenlegionäre als „novios de la muerte“ („Bräutigame des Todes“; AC, 169) hervortreten, wie sie nach ihrer offiziellen Hymne „El novio de la muerte“ auch genannt werden. Das Verhalten der Legionäre ist so zu interpretieren, dass es ebenso als rituelle masochistische Bannung homosexuellen Begehrens wie als sadistische Abwehr der Bedrohung durch alles Weibliche und Fremde verstanden werden kann.32 Die auf die traditionelle kulturelle Nähe zwischen Spanien und Marokko, Christen und Muslimen verweisende Grenzballade hat in diesem Kontext nur noch eine sarkastische Funktion.33 Ganz ähnlich wie im Fall von Francos Kriegstagebuch, nur genau umgekehrt, ist es in Santa Marinas Werk so, dass sich gewissermaßen unter der Hand und buchstäblich auch am Rande dieser aus der Ich- und Wir-Perspektive vorge-

32 Vgl. zum Verhältnis von Faschismus und Sadomasochismus allgemein Susan Sontag: „Fascinating Fascism“ (1974), in: Susan Sontag: Under the Sign of Saturn, London 2009, S. 71-105, und Laura Frost: „Fascism and Sadomasochism: The Origins of an Erotics“, in: Laura Frost: Sex Drives. Fantasies of Fascism in Literary Modernism, Ithaca/London 2002, S. 16-37. 33 In Bezug auf das im Vortrag der Ballade durch einen spanischen Legionär implizierte ironische Spiel mit unterschiedlichen Subjektpositionen bemerkt Martin-Márquez, Disorientations, S. 200f: „the threshold between any number of binary oppositions – Christian/Moor; Spaniard/Maroccan; man/woman; heterosexual/homosexual; betrayer/betrayed – collapses.“

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tragenen vitalistischen Feier grausamer Männlichkeit eine gegenläufige Tendenz manifestiert, die das entfesselte Kriegserlebnis und den rauschhaften Ausflug in den Naturzustand wieder in den Horizont der europäischen Zivilisation und einer jahrtausendealten Kulturgeschichte zurückholt. Mögen die abgeschnittenen Köpfe, Nasen und Ohren auch durch zahllose Augenzeugenberichte und Fotografien belegt sein, in Tras el águila del César sind sie, anders als in Francos Diario de una bandera, Teile eines Textuniversums, das seinen literarisch-artifiziellen Charakter auf Schritt und Tritt betont.34 Bewirkt wird das etwa durch ein archaisierendes Vokabular („las moriscas lides“ [„die Kriegshändel der Morisken“], AC, 18; „los manes de los asesinados“ [„die Manen der Ermordeten“], AC, 58 etc.) und häufige fremdsprachliche Einsprengsel, durch syntaktische Verfremdungen wie Inversion und Chiasmus oder durch eine Vielzahl von Paratexten, Zitaten und historisch-literarischen Bezügen, die von der Bibel und der griechisch-lateinischen Klassik über die Humanisten der Renaissance und die Barockdichter des Siglo de Oro bis hin zu den klassischen Schriften der indischen und persischen Kultur reichen. Darin kommt der kulturelle Elitismus eines poeta doctus zum Ausdruck, aus dessen Perspektive sich die aggressive soldatische Männlichkeit der Fremdenlegionäre im Rifkrieg trotz aller Realitätsbezüge als künstlerisch-intellektuelles Phantasma erweist. Das allgegenwärtige Bildungsgut erscheint geradezu als Quellgrund, der die Sehnsucht nach der Barbarei erst hervorbringt und ‚Wirklichkeit‘ nur noch als Gegenstand ästhetischer Erfahrung zulässt.

F AZIT : K OMPLEMENTÄRE S ICHTWEISEN ? Nachdem die beiden Texte von Franco und Santa Marina jeweils einzeln betrachtet wurden, soll nun abschließend gefragt werden, unter welchem Gesichtspunkt sie als komplementär im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegende Verbindung von Männlichkeit und Gewalt betrachtet werden können. Dass in jedem einzelnen dieser beiden Texte zivilisatorische Einhegung und barbarische Transgression in einer Art dialektischem Verhältnis zueinander stehen, ist bereits in den Einzelanalysen deutlich geworden. In Bezug auf die gerade zitierte Szene

34 Die stilistische Eigenart des Texts wird ausführlich von Viscarri, Nacionalismo, S. 291-300 untersucht. López Barranco spricht von einem „mundo hiperbólico, desmesurado y de absoluta raigambre literaria al que remite esta obra“ (einer „hyperbolischen, maßlosen, ausschließlich im Literarischen verwurzelten Welt, auf die dieses Werk verweist“; López Barranco: El Rif, S. 110).

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aus Santa Marinas Erzählung, in der ein weiblicher Körper unter unzähligen Messerstichen in eine amorphe, blutige Masse verwandelt wird, ist in der Forschung bereits auf vergleichbare „Urszenen“ in der von Klaus Theweleit analysierten deutschen Freikorps-Literatur der 1920er Jahre hingewiesen worden.35 In der Tat liefert Theweleits Buch Männerphantasien (1977/1978) eine Erklärung, die es ermöglicht, die Texte Francos und Santa Marinas zusammenzudenken. Folgt man Theweleits Psychogramm des unreifen, in einem präödipalen Stadium gefangenen, „nicht-zuende-geborenen“ faschistischen Mannes, so besitzen die gewaltsame Herstellung von Klarheit, Sauberkeit und Ordnung und die Ausbildung eines „Körperpanzers“ durch Selbstqual, körperliche Abhärtung und militärische Disziplin, wie sie in Francos Kriegstagebuch im Mittelpunkt stehen, ihre Kehrseite in der durch exzessive Gewalt bekämpften Furcht vor der IchAuflösung, insbesondere der Kastration und Verschlingung durch das Weibliche, die in Santa Marinas Texten dominiert. Dabei muss im Fall der Fremdenlegionärsliteratur aus dem Rifkrieg immer auch das Moment der kulturellen Fremdbegegnung mit dem marokkanischen Anderen einbezogen werden, der Haltungen provoziert, die zwischen Bewunderung, Respekt, Gleichgültigkeit, Verachtung und – wie bei Santa Marina – vernichtendem Hass schwanken. Aber nicht nur aus einer psychoanalytischen, sondern auch aus einer kulturphilosophischen Perspektive lässt sich eine enge Beziehung zwischen den beiden Texten herstellen. Aus dieser Perspektive bilden die Fähigkeit zu zivilisatorischen Gründungsakten und die Bereitschaft zu Frevel und Barbarei keinen Gegensatz mehr, sondern bedingen sich geradezu gegenseitig. In ihrer Komplementarität fügen sie sich zu „konstitutiven Ideologemen eines präfaschistischen Ideariums“36. Den geistesgeschichtlichen Hintergrund dafür bildet die nach der Jahrhundertwende allgemein populäre Gedankenwelt Friedrich Nietzsches, der dem Zeitgeist die entsprechenden Schlüsselkonzepte lieferte: „Notwendigkeit des Frevels“, „Übermensch“, „Wille zur Macht“, „Herrenmoral“ etc. In seiner kulturkritischen Streitschrift Zur Genealogie der Moral (1887) wertet Nietzsche programmatisch das Tier im Menschen auf: „Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern

35 Vgl. Martin-Márquez: Disorientations, S. 200: „Santa Marina’s shocking descriptions of sexualized violence against women share some common features with the contemporaneous memoirs and fictional works by and about German Freikorps paramilitary soldiers analyzed by Klaus Theweleit in Male Fantasies“ sowie Viscarri: Nacionalismo, S. 280f, 338 und Fleischmann: Literatur, S. 160-162. 36 So Albert: Avantgarde, S. 138 in Bezug auf Tomás Borrásʼ bereits erwähnten Roman La pared de tela de araña (1924).

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schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Tier muß wieder heraus, muß wieder in die Wildnis zurück“.37 Dass männliche Gewalt in beiden Texten eine jeweils unterschiedliche Darstellung und Legitimation erfährt, ist aber vor allem auf einen zum Beispiel von Theweleit kaum berücksichtigten Umstand zurückzuführen. Aufgrund ihres jeweiligen Status als faktualer beziehungsweise fiktionaler Text unterliegen Francos Diario de una bandera und Santa Marinas Tras el águila del César ganz unterschiedlichen Diskursregeln. Der politische Diskurs, an dem Francos Text in erster Linie partizipiert, lässt kaum eine andere Wahl zu, als auf der militärischzivilisatorischen Leistung der Spanier zu insistieren und alles auszublenden, was daran Zweifel erweckt. Santa Marinas Faszination für die Barbarei hat dagegen in einem spezifisch ästhetischen Diskurs ihren Ort, der den künstlerischen Wert eines Texts immer auch von dessen antihumanem Gehalt abhängig macht.

37 Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, Bd. 2, Darmstadt 1997, S. 786. Vgl. zur Affinität von Santa Marina und Nietzsche Viscarri: Nacionalimso, S. 301: „El personaje de Nietzsche encaja perfectamente con la actitud ético-estética de Tras el águila del César, al representar la postura elitista ante la incomprensión de las masas, la justificación antigualitaria, la promesa del superhombre, y la nostalgia del pasado ante un presente falto de significado.“ („Die Person Nietzsches passt perfekt zu der ethischästhetischen Haltung von Tras el águila del César, verkörpert sie doch die elitäre Haltung gegenüber der Verständnislosigkeit der Massen, die Rechtfertigung der Ungleichheit, die Verheißung des Übermenschen und die Sehnsucht nach der Vergangenheit angesichts einer bedeutungslosen Gegenwart“).

Mating means dying Zur Männlichkeit der Drohnen in Entomologie und Literatur N IELS W ERBER

Seit der Entstehung und Etablierung einer wissenschaftlichen Entomologie im 19. Jhd. wird der Hochzeitsflug der Ameisen einerseits (1) als darwinistisches Ausleseverfahren modelliert, anderseits (2) als geradezu poetische Liebesgeschichte, in der es nicht ohne Inszenierungen von Männlichkeit und Unmännlichkeit und auch nicht ohne Gewalt abgeht. (1) Die evolutionistische Darstellung lautet in Kürze so: Um die Gene einer Gattung weiterzutragen, schwärmen Dutzende geflügelte geschlechtsreife Weibchen eines Ameisennestes oder Hunderte einer Superkolonie aus, um sich in der Luft von ebenfalls flugfähigen, schwärmenden männlichen Geschlechtstieren begatten zu lassen. Ein Geschlechtstier wird nur einmal im Leben mit Spermien versorgt, dann aber mit einer großen Menge, die je nach Art von bis zu zehn Partnern stammt, deren Sperma das Weibchen in einer Hauttasche, der Spermabank oder Spermathek,1 speichert. „When several copulations had been achieved, the queen terminated the activity“, stellen Hölldober und Wilson fest. Sie hat dann genug.2 Als Gründerin einer neuen Kolonie greift die sog. Königin allein auf diesen Vorrat zurück und befruchtet alle Eier aus dieser Besamung. Aus unbefruchteten Eiern gehen dagegen männliche Tiere hervor, Drohnen, wie man seit dem Ende des 18. Jhds. weiß. An der Zeugung männlicher Ameisen ist also kein

1

Bert Hölldobler/Edward O. Wilson: Journey to the Ants. A Story of Scientific Exploration, Cambridge/Mass./London 1994, S. 30.

2

Ebd., S. 32.

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männliches Sperma beteiligt; eine Tatsache, die im 19. Jhd. großes Erstaunen und einige Irritationen hervorgerufen hat: This is a marvellous doctrine; and if it should prove correct, it introduces quite a new element into the physiology of generation. It is not the least curious part of the history, that the very same eggs, so far as can be made out, may give origin either to males or to females, the difference of sex being determined by the presence or absence of the male fecundating influence; and it tends rather to subvert the usual notions of male superiority, to find that in this case the complete performance of the generative act gives birth to females, and that the males originate in what seems like a lower form of the process.3

Dass für die männliche Drohne nur ein Ei, nicht aber Sperma benötigt wird, ‚subvertiert‘, und hier wird der Text ganz allgemein, ‚die üblichen Vorstellungen männlicher Überlegenheit‘. Schon der Zeugungsvorgang der Drohne erweist sich als Herausforderung ihrer Männlichkeit. Zurück zur Königin. Ihre in die Hunderttausende gehenden Nachkommen – eine Königin kann bis zu 20 Jahre alt werden – stammen alle von ihr und einigen Vätern ab. Alle Arbeiterinnen einer Kolonie sind also Schwestern, alle männlichen Tiere Brüder. Da eine erfolgreiche Koloniegründung, die wiederum zur Produktion von Geschlechtstieren führt, äußerst unwahrscheinlich ist, müssen es eben so unfassbar viele Geschlechtstiere sein, die von der Kolonie bereitgestellt, unterhalten und zum Paarungsflug geschickt werden. Auf eine Prinzessin kommt ein Vielfaches an Drohnen, was ihre Befruchtung wahrscheinlich macht. Die große Zahl gilt, wie immer unter darwinistischen Bedingungen, als Versicherung gegen das Risiko, dass die betreffenden Gene nicht weitergegeben werden und die eigene Art ausstirbt. Die Produktion von ansonsten völlig nutzlosen männlichen Geschlechtstieren wird von der modernen Entomologie als „investment“4 in die Zukunft der Art betrachtet. „If a typical colony releases 100 virgin queens a year, then only one in 500 has a chance“, kalkulieren Hölldobler und Wilson das Risiko eines Ameisennestes, dass eine Prinzessin einen Paarungsflug überlebt und eine neue Kolonie gründet. „The males“, fügen sie lapidar hinzu, „stand no chance at all. Every one dies within hours [...] after leaving the mother nest“.5 Kein Wunder, denn nicht nur konkurrieren die Männchen gegeneinander um das Privileg, ein Weibchen zu begatten (nicht zu befruchten, das erledigen die Köni-

3

Anonymous: Science. „Contemporary Literature“, in: The Westminster and Foreign Quaterly Review 11 (1857), S. 584-601, hier: S. 596f.

4

Hölldobler: Journey to the Ants, S. 37.

5

Ebd., S. 30.

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ginnen selbst unter Rückgriff auf die sperm bank), sondern sie sind einer nahezu durchweg feindlichen Umwelt voller Räuber ausgesetzt, die in der Luft und am Boden auf die schwärmenden Ameisen Jagd machen. Die Kontingenz dieses doppelt selektiven Wettbewerbs (sexual und natural selection) wird von den Biologen mit größter Offenheit benannt. Über die Männchen schreiben Hölldobler und Wilson: „A very small number can expect to win the lottery in a Darwinian sense, even though they die in the process, by inseminating one of the rare successful queens. But the vast majority loose both their bodies and their genes.“6 Stehen die Chancen für die Weibchen 1 zu 500, so sieht es für die Männchen weitaus schlechter aus: „For every queen that starts a colony, hundreds of thousands die in the attempt.“7 Dies alles ist schon seit langem bekannt. Hanns Heinz Ewers etwa schreibt 1925 in Ameisen, einem unterhaltsam-gelehrten Hybrid aus Roman und Sachbuch, über die Fortpflanzung: Das Männchen, hirnlos, waffenlos, giftlos, unfähig, sich zu ernähren, stirbt bald [nach der Paarung, N.W.], wenn es nicht schon vorher aufgefressen wird. Den meisten Weibchen geht es nicht viel besser: nur wenige der großen Zahl der werdenden Mütter entgehn dem Tode und bringen es soweit, ein eigenes Volk aus eigenem Leibe zu schaffen.8

Das sind, im Vergleich zu Vögeln oder Säugetieren, recht ungewöhnliche Attribute für ein Männchen: hirnlos, waffenlos, wehrlos, unfähig... Ewers hat für seinen Sachbuchroman alle Ameisenforscher von Rang rezipiert: Forel und Wasmann, Wheeler und Huber, Lubbock und McCook, Emery und auch Escherich.9 Letzterer stellt schon 1906 in seiner Monographie Die Ameise ganz unsentimental fest: Die Männchen haben mit der Befruchtung ihren Lebenszweck erfüllt. Ihre psychischen und körperlichen Fähigkeiten sind auch in der Regel derart, daß sie dem Staat in keiner Weise mehr nützen können. Sie sind ja vielfach so dumm, daß sie Freund und Feind nicht zu unterscheiden vermögen, sie entbehren ferner der Hauptwaffen, des Stachels und des Giftes, so daß sie auch zur Verteidigung, welche zur Funktion nach Analogie der Staaten höherer Tiere für die Männchen in erster Linie in Betracht käme, total unfähig sind. [...] Ganz anders die Weibchen. Bei ihnen beginnt nach der Befruchtung das Leben erst recht:

6

Ebd.

7

Ebd., S. 29.

8

Hanns Heinz Ewers: Ameisen, München 1925, S. 51.

9

Ebd., S. 9.

240 | N IELS W ERBER große und ernste Aufgaben harren ihrer jetzt. Die Erhaltung und Verbreitung der Art liegt allein in ihren Händen. [...]: [Die Gründung neuer Kolonien, N.W.].10

Männchen sind unnütz, unbewaffnet, hilflos, dumm und insgesamt „total unfähig“. Im Gegensatz dazu die Weibchen: Die Erhaltung und Verbreitung der Art liegt allein in ihren Händen. William Morton Wheeler schreibt 1910 in seinem Standardwerk Ants mit vergleichbarer Nüchternheit und darwinistischer Deutlichkeit über diese Weibchen: „very few survive to become mothers of colonies. The vast majority [...] perish. [...] I know no better example of the survival of the fittest through natural selection.“11 Die Männchen werden nur kurz erwähnt: „the males die soon after mating.“12 In einem Satz zusammengefasst, lautet die entomologische Theorie der Paarung mit Blick auf die Männchen: mating means dying. (2) Eine Geschichte von Macht und Ohnmacht und von Männlichkeit und Gewalt wird diese entomologische Theorie der Fortpflanzung und Koloniegründung dann, wenn man in den Ameisen, wie es seit Jahrtausenden üblich ist, ein zoon politikon und Vergleichsmedium sieht, in dem unsere Kultur sich selbst beobachtet. Ameisenexperimente sind immer auch Gesellschaftsexperimente, und Aussagen über soziale Insekten betreffen immer auch unsere Gesellschaft. Und auch neuere Untersuchungen zu evolutionär erfolgreichen Strategien werden von Ameisengesellschaften auf Menschengesellschaften übertragen unter der Annahme, dass beide in einer Umwelt mit knappen Ressourcen überleben müssen und diese Überlebensfrage nicht von egoistischen Individuen, sondern nur von kooperierenden Kollektiven gelöst werden kann. Zu diesen Übertragungen wird man schon von den Metaphern eingeladen, die von den Entomologen verwendet werden, wenn etwa das Paarungsverhalten als „investment strategy“ oder die Koloniegründung als „cruel lottery“ bezeichnet wird.13 Ich kann diese These zur Etablierung einer Passage der Bild- und Wissensübertragung hier nicht ausführlicher belegen und verweise auf meine Monographie Ameisengesellschaften.14 Für meine weiteren Ausführungen muss ich aber voraussetzen, dass diese Beobachtung des Menschen und seiner Gesellschaft im Spiegel der Ameisen und

10 Karl Escherich: Die Ameise, Braunschweig 1906, S. 80f. 11 William Morton Wheeler: Ants, New York 1910, S. 186. 12 Ebd., S. 184. 13 Hölldobler: Journey to the Ants, S. 33, 29. 14 Verf.: Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte, Frankfurt/M. 2013.

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ihrer Sozialordnung so gut etabliert ist, dass man sich auch dann, wenn es um Paarung geht, der Übertragung und Rückübertragung nicht enthalten wird. „Fort mit allen jenen Werken, Broschüren, Zeitschriften und Kalendern, welche die Vermenschlichung des Thierlebens zu ihrer Tendenz gemacht haben!“ Mit diesem Appell beschließt Erich Wasmann sein Seelenleben der Ameisen aus dem Jahre 1897.15 Noch jeder Entomologe hat diese Mahnung ignoriert. Die Schilderung der „Paarung der Ameisen“16 bildet da keine Ausnahme. Nehmen wir Auguste Forel: „Sind die Weibchen und Männchen im Ameisennest aus [...] ihrem Kokon geschlüpft, so führen sie vorerst ein Leben von Müßiggängern und Faulenzern. Sie lassen sich von den Arbeiterinnen reichlich Honig oder wenigstens zu Brei gekaute Insekten vorsetzen.“ Diesen Lenz pflegen sie solange, bis die „Kräfte“ zunehmen, die „Flügel“ wachsen und sich straffen; „die Liebesspiele“ können „beginnen.“17 Nun kann „das Hochzeitsfest“ gefeiert werden.18 Es ist für die ganze Kolonie ein Festtag. Karl Escherich schreibt über den „Hochzeitsflug“: Derselbe ist ein großes Ereignis im Leben der Ameisenvölker. Schon mehrere Tage vorher herrscht eine mächtige Aufregung im Nest, die sich von Tag zu Tag mit der Zunahme der auskriechenden Geschlechtstiere steigert. Man ist aufs höchste erstaunt über die Veränderung, welche während der Zeit in der ganzen Kolonie Platz greift. Nicht nur die Geschlechtstiere, die sich zum Ausfluge rüsten und auf der Oberfläche des Nestes mit zitternden Flügeln herumlaufen, bedingen die Veränderung des Bildes, sondern auch das Benehmen der Arbeiter, die doch an dem Hochzeitsflug gar nicht direkt beteiligt sind, ist ein total anderes geworden. Die Hausarbeit ruht zum großen Teil und auch das Fouragieren ist eingeschränkt; alle Einwohner sind gewissermaßen im Bann des kommenden Ereignis. Die Erregung der sich zur Hochzeit anschickenden Geschlechter überträgt sich auch auf die Geschlechtslosen und durchzittert das ganze Volk in gleicher Weise. Unstet laufen die Arbeiter [...] herum [...] Dieses tolle erregte Treiben kann tagelang währen [...]19

Dann steigen die „Männchen und Weibchen“ aller Nester und Völker auf.

15 Paul Erich Wasmann: Vergleichende Studien über das Seelenleben der Ameisen und der höheren Thiere, Freiburg im Breisgau 1897, S. 216. 16 August Forel: Die Welt der Ameisen, übers. von Heinrich Kutter, Zürich 1948, S. 145. 17 Wasmann: Vergleichende Studien, S. 216. 18 Maurice Maeterlinck: Das Leben der Termiten. Das Leben der Ameisen [1926/1930], hrsg. von dem Kreis der Nobelpreisfreunde, Zürich o.J., S. 241. 19 Escherich: Die Ameise, S. 74f.

242 | N IELS W ERBER In dem Liebenstaumel, in welchem sich alles befindet, verschwindet Rassen- und Artenhaß; und die Töchter und Söhne der Familien, die in ewiger Fehde liegen, vereinigen sich oben, im jungfräulichen unendlichen Raum, in der majestätischen Klarheit des offenen Himmels, um gemeinsam die höchsten Freuden des Lebens zu genießen. Die Luft dort oben ist erfüllt von Liebe.20

Von der kontingenten Selektivität der Paarung, vom allerbesten Beispiel für das ‚survival of the fittest through natural selection‘ ist keine Rede mehr, wenn hier die Hochzeit und der Liebesflug der Ameisenprinzen und -prinzessinnen beschrieben oder eigentlich: erzählt wird. Selbst Wheeler, von dem das darwinistische Zitat stammt, greift bei seiner Schilderung des Hochzeitsfluges auf Maurice Maeterlinck zurück, den er ausführlich zitiert, auch wenn dieser belgische Dichter und Dramatiker (im Jahre 1910) nicht den Hochzeitsflug der Ameisen beschrieben hat, sondern den der Bienen,21 aber eben poetisch, wie es der Entomologe mag: „Their evolutions“, heißt es über den Hochzeitsschwarm, resemble those of the honey-bee so vividly described by Maeterlinck: ‚She, drunk with her wings, obeying the magnificent law of the race that chooses her lover, and enacts that the strongest alone shall attain her in the solitude of the ether, she rises still; and, for the first time in her life, the blue morning air rushes into her stigmata, singing its song, like the blood of heaven, … that fill the center of her body. She rises still… she rises still…22

Dass die „jungfräuliche Königin“ der Ameisen auf ihrem „Hochzeitsflug“23 ihre Spermathek durch die Kopulation mit mehreren Partnern füllt, wird hier unterschlagen. Es klingt, als habe die gut eingerichtete Natur ihr einen einzigen „Liebhaber erwählt“,24 den richtigen „Gemahl“, mit dem sie gemeinsam, à deux, in die „Einsamkeit des Äthers“ emporschwebt, um die „Weite des Raumes [zu] trinken“25 – und nicht etwa, um sich für den sehr kurzen Moment der Insemination zu vereinigen und dann zur nächsten Kopulation zu schreiten, wie Escherich schreibt: „gewöhnlich lässt das Männchen schon nach wenigen Sekunden das Weibchen wieder los und entfernt sich von ihm, um [...] einem zweiten Männ-

20 Ebd., S. 75. 21 Maurice Maeterlinck: The Life of the Bee [1901], übers. von Alfred Sutro, New York 2004. 22 Wheeler: Ants, S. 183f. 23 Forel: Die Welt der Ameisen, S. 147. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 148.

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chen Platz zu machen. Forel beobachtete, daß ein Weibchen in weniger als drei Minuten dreimal befruchtet wurde...“26 Häufig trage das Weibchen bei ihrem Flug „zwei oder drei Männchen [...] auf seinem Rücken“, wie Escherich wiederum mit Verweis auf Forel berichtet. Er fügt hinzu, dass diese „Plätze auf dem Weibchen [...] mehrfach gewechselt“ werden können.27 Dennoch spricht auch Escherich davon, es sei eine „Hochzeit zu feiern“,28 es handele sich um einen „Hochzeitsflug“,29 um ein Fest der „Liebe“.30 Diese Bezeichnung „Hochzeitsflug“ wird erst in der zweiten Hälfte des 19. Jhd. üblich, allerdings nahm man noch bis zur Jahrhundertwende gerne – und wider besseres entomologisches, experimentell gewonnenes Fachwissen und wohl um die „subvertierte“ Vorstellung der Männlichkeit der Drohnen zu restituieren – an, die Drohnen bildeten eine Art wehrhaftes Gefolge der Prinzessin, um sie „vor eventuellen Feinden und damit den Staat vor dem größten Verlust zu schützen.“31 Die neueste Forschung ist solchen Zuschreibungen abhold, bleibt aber der Liebessemantik treu, die der „nuptial flight“ aufruft, auch wenn das Ergebnis eine „multiple inseminated queen“32 ist und es angemessener wäre, ein ganz anders Register zu ziehen. Um nicht von gang bang sprechen zu müssen, zitieren die Myrmekologen lieber Maeterlinck. Da auch Forel nicht ohne Maeterlinck auskommt und die gleiche Passage wie Wheeler anführt, statt eine Paarung mit bis zu zehn wechselnden Partnern mit ethologischer Akkuratesse zu beschreiben, fahre ich mit ihm fort: Noch hebt sie sich empor und schon wird der ungleiche Schwarm unter ihr immer kleiner. Die schwachen, ungeschickten, alten, die schlecht gewachsenen und ernährten, die trägen und lebensunfähigen Männchen geben die Verfolgung auf und verschwinden im Leeren. Nur ein Rest verbleibt in der Schwebe, nur eine kleine, unermüdliche Schar im unendlichen Opal. Sie fordert von den Flügeln eine letzte Anstrengung und nun erreicht mit unfaßbaren Kräften der Auserlesene die Königin. Er durchdringt sie und von doppelter Lei-

26 Escherich: Die Ameise, S. 76. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 77. 29 Ebd., S. 76. 30 Ebd., S. 75. 31 Deutsche Gesellschaft für Volkstümliche Naturkunde in Berlin (Hrsg.): Naturwissenschaftliche Wochenschrift, Bd. 23, Berlin 1908, S. 299. 32 Bert Hölldobler/Edward O. Wilson: The Leafcutter Ants: Civilization by Instinct, New York/Norton 2010, S. 37.

244 | N IELS W ERBER denschaft ergriffen schwirrt das Paar in [...] Liebestaumel umschlungen in erneutem Wirbel himmelwärts.33

Es bleibt dabei: Semantisch ist es die Hochzeit eines Paares. Der Mann ist der Auserlesene seiner Braut. Ergriffen von Leidenschaft und Liebe entschwinden sie so diskret in den Lüften wie ein Hochzeitspaar im Himmelbett. Es ist nun nicht so, als verschwiege Forel, dass Ameisen sich „polygamisch“ paaren34 und nach einer Insemination durch „4-6 Männchen [...] nacheinander“ das Weibchen entschwindet, um eine Kolonie zu gründen, während der Schauplatz der Paarung von männlichen „Leichen“ wie „bestreut“ erscheint. 35 Aber erzählen möchte Forel das nicht, lieber zitiert auch er Maeterlinck, der die „Hochzeitsflüge“ so „hübsch und trefflich beschrieben“ habe.36 Auch die beigefügten Abbildungen, die die Hochzeit illustrieren, zeigen immer nur zwei Tiere, das Hochzeitspaar, aufgestiegen in den Himmel, um sich zärtlich mit den Fühlern zu streicheln.37 Das sieht eher nach made in heaven aus als nach einer Gruppenpenetration. Der Schriftsteller Hanns Heinz Ewers hat diese poetisierende Verstellung ausgerechnet in seinem Ameisenroman klar benannt: Hinauf in die Luft geht der Hochzeitsflug. Es ist erstaunlich, wie bei dieser Schilderung die Ameisenforscher poetisch werden. Alle Verachtung, mit der sie auf die anthropomorphe Einstellung des lieben alten Brehm hinabsehen, ist vergessen: plötzlich fassen sie selbst alles so anthropomorph wie nur möglich. Sie denken an die eigene Hochzeit – an die liebe Frau, die damals noch ein Jungfräulein war und der sie ihr Ameisenbuch widmen zur Erinnerung an diesen schönen Tag. Wenn sie aber nie Hochzeit feierten, wie der gelehrte Pater Wasmann, dann möchten sie / doch für solch einen Tag einmal Ameise sein – da oben im Himmelblau! Ja, was möchten wir nicht alles! Denn an solchen Tagen gilt das Männchen etwas bei der Frau.38

Aber eben nur in der „poetischen“ Variante des Hochzeitsfluges, dessen Herkunft – Maeterlinks Himmelblau – Ewers andeutet. Während also die Myrmeko-

33 Forel: Die Welt der Ameisen, S. 148. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 149. 36 Ebd., S. 147. 37 Ebd., S. 150, Figur 11. 38 Ewers: Ameisen, S. 49f.

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logen eine Massenkopulation mit anschließendem Homozid (Männermassensterben) in eine Hochzeitsreise in den Himmel umdichten und so, angesichts der unzähligen Analogisierungen und Übertragungen zwischen den Sozialen Ordnungen der Ameisen und Menschen,39 die Bereiche Kontaktanbahnung und Fortpflanzung in vertrautes monogames, keusch-jungferliches, ehelich-beständiges Fahrwasser lenken, ergreift Ewers selbst in seinem Roman die Chance einer ganz anderen Rückübertragung. Statt aus der Paarung eine Hochzeit zu machen, überträgt Ewers die entomologischen Fakten auf menschliches Terrain: Ein Professor für Verhaltenswissenschaften erklärt einer Tischgesellschaft, die gerade, stereotyp genug, eine Tanzpartie mit einer „Schar buntgefederter Gänsen und Gänschen“ vergleicht, er könne eine Geschichte von einem Fall „erzählen“, in dem es „bei den Menschen“ einem „Männchen“ so ergangen sei wie einem „Ameisenmännchen“, einer Drohne also. Er wisse „ein Lied davon“ zu singen.40 Zu erwarten wäre also, wenn man über ein wenig entomologisches Wissen verfügt, von diesem „Männchen“ des „Menschengeschlecht[s]“ ein Leben für „ein paar Sekunden“, um der biologischen „Pflicht“ zu genügen, und „dann weg damit“, wie ein offenbar entsprechend vorgebildeter Kurarzt korrekt anmerkt.41 Dies ist von Gänsen und Gänschen und erst recht von Hochzeitsfest und Hochzeitsflug recht weit entfernt. Die Geschichte des Professors handelt von ihm selbst, seinem Neffen Freddy, einer seiner Studentinnen, Elsa Krüger, und deren Freundin Julia. „Um das gleich vorauszuschicken – denn es ist wichtig in dieser Geschichte – Freddy war von keiner Seite her und nach keiner Richtung hin erblich belastet.“42 Er hatte allerdings einen Stiefvater, der an „grauenhaften“, „ekelerregenden“ Geschlechtskrankheiten zugrunde ging (391), und eine Mutter, die ihm am Beispiel ihres Mannes nachhaltig eine „Scheu und Furcht vor jeder Berührung mit dem weiblichen Geschlecht einpflanzte.“ (393) Dies schütze ihn – „braun gebrannt und muskelfest, dabei schlank und hochgewachsen, blond und blauäugig, ein Prachtbissen für jedes echte Weib“ – selbst an der „Universität“ vor allen „Mädchen und Frauen“, die durchaus „hinter ihm her“ waren (394). Er rührt keine an. Doch befreundet er sich mit Elsa Krüger, die im Institut seines Onkels

39 Vgl. dazu Tanja Nusser, „Hanns Heinz Ewers Ameisen“, in: Barry Murname/Rainer Goedel (Hrsg.): Zwischen Popularisierung und Ästhetisierung. Hanns Heinz Ewers und die Moderne, Bielefeld 2014, S. 211-228 sowie allgemeiner: Verf.: Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte, Frankfurt/M. 2013. 40 Ewers: Ameisen, S. 390. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 391. Seitenzahlen in Klammern folgen dieser Ausgabe.

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arbeitet. 27 Jahre, Kind deutscher, sehr reicher Eltern, in Russland geboren, die ganze Familie von „Bolschewiken“ ausgelöscht, überlebt Elsa als „Mätresse eines Sowjet-Kommissars“ und „Tänzerin“, bis sie nach Deutschland flieht und dort die Vermögensreste erbt, also steinreich ist (395f). Sie wird so beschrieben: „ein Körper, dem man an jeder Bewegung ansah, daß er durchtrainiert war bis zum letzten Muskel. Schwarzäugig, dunkelhaarig, schlank und schmalhüftig, dabei doch von leichter Üppigkeit, die nun umso aufreizender wirkte [...] ihre ungewöhnliche Intelligenz nie sich aufdrängend“ (396). Aber auch mit ihr schien etwas nicht zu stimmen: Ihre Kollegen und Kolleginnen nannten sie homosexuell – aber Sie wissen ja, wie leicht man in Universitätskreisen damit bei der Hand ist, wenn uns eine Studentin nicht recht augenfällig vom Gegenteil überzeugt. Richtig ist, daß sie mit keinem Studenten in näherem Verkehr stand – aber auch mit keiner Studentin. (396)

Ich erinnere an den Ameisenvorspann. Die Geschichte baut der Professor ja explizit auf einer Analogie auf. Könnte Elsa eine Königin sein? Freddy eine Drohne? Immerhin, er lebt relativ müßig vor sich hin, „sang ein paar Liederchen“. „Er war nicht grade faul; stets irgendwie beschäftigt – aber alles war nur harmloseste Spielerei, aus der nie was ernstes erwachsen konnte“. Alles mit „liebenswürdiger Verträumtheit“ eines „bildhübschen Jungen“, gewiss tat er aber nichts Nützliches. Eine Drohne. Die Vermutung bestätigt sich, als Elsa Freddy in ihre Villa einlädt und über Vermittlung durch den Professor sich ärztlich den ausgezeichneten Gesundheitszustand des jungen Mannes bestätigen lässt (399). Der Arzt ersetzt die natürliche Selektion und ergänzt den guten Eindruck, den Freddy physisch macht, mit seiner Expertise. Zu den diskursiven Voraussetzungen des Textes zählt ganz offensichtlich die Eugenik. Der Professor und Onkel meint allerdings auch, wenn sie, Elsa, so umsichtig sei, „vorher eine gesundheitliche Untersuchung zu verlangen, so darf es nicht wundernehmen, wenn von der andern Seite das gleiche verlangt wird“ (401). Auch sie solle sich „vorher“ untersuchen lassen. Ganz offensichtlich wird eine Paarung vorbereitet. Elsa ist einverstanden: „Es wird geschehen, was sie wünschen, Herr Geheimrat. Der Arzt wird Ihnen sein Gutachten zusenden.“ (402) Das geschieht, die Untersuchte ist gesund und intakt (409), jungfräulich wie eine Ameisennymphe. Der Professor und sein Neffe Freddy werden nun in die Villa eingeladen. Der Onkel beobachtet vom Fenster aus eine Fechtszene, Elsa misst sich mit einem „Bub“ im „Pagenkostüm“ und „Fechtmaske“ mit dem „Stoßdegen“ – und kämpft den durchaus geübten Gegner überlegen nieder (404ff). Sie ist also durchaus gewappnet und kampffähig, wie eine stachelbewehrte Königin. Der

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Page entpuppt sich dann allerdings als „Mädchen“ (406), selbstredend sind die beiden ein Paar. Sie küssen sich und gehen nach dem Kampf „eng umschlungen [...] dem Schlosse zu“ (407). Der Professor hat die Absichten mit Freddy noch nicht ganz verstanden, denn er fragt: „Sagen Sie mir, Fräulein Krüger, wollen sie vielleicht meinen Neffen – heiraten?“ Sie antwortet: „Heiraten? Aber unter keinen Umständen!“ Was aber dann? Freddy, der ja keinerlei Interesse an Frauen zeigt, wird nun mit der Hilfe von Aphrodisiaka, die in sein Essen gemischt werden, stimuliert (412f). Sein „Liebesbegehren“ wächst sichtlich (415). Liebe ist eine Sache des Stoffwechsels, die Chemie muss stimmen. Vor allerhand zutraulichen Dienstmägden und Köchinnen wird er aber bewahrt. Der Onkel jedoch „tappte [...] ganz im Dunkeln“, denn Elsa wollte Freddy nicht heiraten, aber „mit allen Mitteln haben“, und war doch zugleich „homosexuell“ und „der hübsche Page Julia [...] ihre erklärte Freundin“. „Was wollte sie dann von Freddy?“ (422). Des „Rätsel Lösung“ liefert Freddys Bericht (423), der zurück aus dem Schloss dem Professor vorschwärmt, es gäbe auf der Welt „nichts Schöneres“, „nichts Herrlicheres“, „nichts Unvergleichbareres [...] als sie – Sie – sie – sie!“ (424) Allerdings meint er damit nicht Elsa, sondern „Julia! Julia!“ (424) Elsa hat ihm ihre Freundin zur Befruchtung zugeführt, beide sind entsprechend aphrodisisch präpariert worden (431). Es war natürlich auch Julia, die ärztlich überprüft worden ist. „Es war darnach völlig klar, daß Elsa Krüger von vorneherein die Absicht gehabt hatte für diese, nicht aber für sich selbst, meinen Neffen als Mann oder Liebhaber zu gewinnen und daß von diesem Plan [...] diese rätselhafte Julia von Anfang an Kenntnis hatte.“ (426) Als fest stand, dass Julia nach wiederholter Paarung schwanger war, wurde er nach Hause geschickt. Er sieht sie nie wieder. Ein Brief mit zwei Photographien erreicht ihn, „es waren die Bilder zweier etwa halbjähriger Babies“ (445). Die Fotos färben sich am Licht schwarz und lassen über den Moment hinaus nichts mehr erkennen. Der nach den intimen, aphrodisaischen Wochen mit Julia sehr verliebte Freddy erkennt nun, dass er „nichts, aber auch gar nichts mit diesen Kindern zu tun habe, daß ich nicht den kleinsten Teil an ihnen habe. Nur zu einem war ich gut: sie zu zeugen. Das war mein Zweck, das war meine Bestimmung – und nichts sonst!“ Und weiter: „nun habe ich meine Bestimmung in diesem Leben erfüllt. Überraschend gut erfüllt, über Erwarten gut! Gleich Zwillinge! nun kann ich abtreten vom Schauplatz.“ (447) Er klingt „verzweifelt“ und „hoffnungslos“ (446). Sein Zustand „beunruhigend“ (441). Der Professor erkennt, dass Elsa seinen „Neffen Freddy nur als ‚Werkzeug‘ betrachtete, sich selbst aber als den eigentlichen ‚Vater‘ der Kinder ihrer Geliebten“ ansieht (453). So sieht es auch Freddy: „Ich war das, wozu sie mich benutzt hat: ein brauchbares Werkzeug, um Julia zur Mutter zu machen. Ein Insektenmännchen:

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bestimmt abzusterben, nachdem es seinen Zweck erfüllt hat in der Natur. Das und nichts sonst!“ (455) Binnen einen Jahres ist Freddy auf einer Auslandsreise „nach kurzem Krankenlager [...] verstorben“ (456). Die beiden Königinnen ziehen dagegen in ihrem Schloss Zwillinge groß. Es sind ihre Kinder, „sie und Julia“ wollten sie, Freddy dagegen hatte „nicht den tausendsten Teil einer Sekunde [...] je daran gedacht“ (455). Anthropomorphisiert ergibt sich für Ewers aus der Fortpflanzung der Ameisen also kein Hochzeitsflug à la Maeterlinck, sondern die Befruchtung eines Weibchens einer gynokratischen Gemeinschaft durch ein „Männchen“, das seinen biologischen Zweck ohne jede geistige Beteiligung oder irgendeinen Vorsatz erfüllt und dann „bald stirbt“ (51). Für eine schwesterliche Republik ist nicht mehr nötig: „The ant colony is an almost exclusively female society with the males remaining in the nest only until the time of their invariably fatal nuptial flight”, schreiben Hölldobler und Wilson in ihrem entomologischen opus magnum Ants. Über die Königin: „She meets one or more males and is inseminated. The males soon die without returning home.“43 Die Königin dagegen gründet eine Kolonie. So haben es auch Freddy und Julia gehalten. Sie bekommt Zwillinge, er stirbt fern der Heimat. Mating means dying! Bei Ewers wird aber noch etwas anderes deutlich. Seine gegen die „poetische“ Anthropomorphisierung gerichtete Übertragung macht aus Freddy eine Drohne. Die bezeichnenden Eigenschaften waren: „hirnlos, waffenlos, giftlos, unfähig, sich zu ernähren, stirbt bald [nach der Paarung]“ (51). Es sind die Frauen, die sich mit dem Nachwuchs auf ein Schloss zurückziehen, durchaus fähig, sich zu ernähren, und beide kampferprobt. Diese Art der Konstruktion von Männlichkeit, auf die ja jeder Entomologe kommen muss, weil er ja Analogien gewohnt ist, bringt die entomologischen Texte dazu, aus der Paarung eine Liebesheirat zu machen. Andernfalls würden die hegemonialen Vorstellungen einer aktiven, überlegenden, zeugenden und schaffenden Männlichkeit unterlaufen. Bei dieser Umdeutung der Paarung in eine Hochzeit bleibt es aber nicht, obschon Maeterlinck immer wieder zitiert wird. Hölldobler und Wilson gehen einen anderen Weg der Übertragung, um dem Mann seine Virilität zurück zu erstatten. Die beiden bedeutendsten Ameisenforscher der Welt begeben sich zu diesem Zweck auf das noch recht junge Feld der militärischen Drohnen. Aus ihrer Sicht gelten männliche Hautflügler nicht nur als Müßiggänger, auch nicht als wehrund waffenlos, als die Forel und Ewers sie schildern, sondern als eine Art Rakete, die ihre Ladung unbekümmert um die eigene Existenz ins Ziel (nämlich eine Nymphe auf ihrem Hochzeitsflug) trägt.

43 Bert Hölldobler/Edward O. Wilson: The Ants, Berlin u.a. 1990, S. 143.

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Males are thus drones in the original Old English sense of the word: drones, parasites who live on the labor of others. They are also drones in the modern technological sense, flying sperm-bearing missiles constructed only for the instant of contact and ejaculation.44

1994, als Hölldobler und Wilson dies schreiben, hat die seitdem in asymmetrischen Kriegen berühmt gewordene militärische Drohne MQ-1 Predator soeben ihren Jungfernflug absolviert. Seitdem hat sie unzählige Male ihre Ladung abgeschossen... Als „flying sperm-bearing missiles constructed only for the instant of contact and ejaculation“ werden die Drohnen heroisiert. In diesem Kontext kann man auch wieder Maurice Maeterlinck zitieren, aber das liest sich dann anders, denn die Drohne schlägt ein und vereinigt sich mit der von ihr verfolgten Beute „for one second in the hostile madness of love“.45 Gewiss, diese „feindliche“ Vereinigung wird die Drohne nicht überleben. Mating means dying. Aber es klingt ganz anders: „The queen is pursued and captured in flight by a drone.“46 Dann explodiert die Drohne im Ziel. Die Virilität des Männchens ist gesichert, und auch die Gewalt kann ihr wieder zugeschrieben werden. Der sexuelle und soziale Experimentalraum ist wieder geschlossen und Ameisensexualität in das Normalitätsfeld der Gesellschaft zurückgeholt.

44 Hölldobler: Journey to the Ants, S. 36 (Herv. N.W.). 45 Maeterlinck: The Live of the Bee, S. 305; vgl. Wheeler: Ants, S. 183f. 46 Arnett H. Ross: American Insects: A Handbook of the Insects of America North of Mexico, Boca Raton/FL 2000, S. 532.

„No duty to retreat“ Waffengewalt und die Remaskulinisierung Amerikas in den 1980er Jahren J ÜRGEN M ARTSCHUKAT

D ER F ALL G OETZ I Am 22. Dezember 1984 verließ Bernhard Hugo Goetz kurz vor ein Uhr mittags seine Wohnung in der 14. Straße auf der Westseite Manhattans im nördlichen Greenwich Village. Goetz, der von zu Hause aus als Elektroingenieur und EDVTechniker arbeitete, machte sich auf den Weg zur zwei Block entfernten UBahn-Station an der Ecke von 14. Straße und siebter Avenue, um sich mit ein paar Leuten zu treffen und etwas Abwechslung von dem schwierigen Projekt zu bekommen, das ihn gerade beschäftigte. Er stieg in den IRT-Expresszug Nr. 2 Richtung downtown, in dem sich ungefähr 20 Personen befanden, darunter die vier jungen afroamerikanischen Männer Troy Canty, James Ramseur, Barry Allen und Darryl Cabey, alle 18 und 19 Jahre alt. Kaum hatte sich der 37-jährige weiße Goetz – offenbar zielgerichtet – auf einen Platz in deren Nähe gesetzt, sprach ihn einer der jungen Männer an. Sein „how are you doing?“ konnte einfach nur, so sollte Goetz später zu Protokoll geben, eine freundliche Begrüßung sein oder auch eine jugendliche Spielerei. Doch dann platzierten sich die jungen Männer links und rechts neben Goetz, und Troy Canty forderte fünf Dollar von ihm. „He had a smile on his face“, sollte Goetz gut eine Woche nach dem Geschehen gegenüber der Polizei aussagen, und:

252 | J ÜRGEN M ARTSCHUKAT I saw the smile on his face and and and the shine, the shine in his eyes, that he was enjoying this. I knew what they were going to do. Do you understand? Okay, do you understand now? […] For combat you have to be cold blooded and I was.1

Goetz stand auf und zog eine 38 mm Smith & Wesson Lightweight, von einer Art, wie sie auch heute noch wegen ihrer Passform und der vermeintlich optimalen Verbindung von Gewicht, Form, Größe und Kraft unter Waffenfreunden sehr beliebt ist. Die Waffe zeichne sich durch eine exzellente „Carry-ability“ aus, heißt es in dem einschlägigen Waffenforum snubnose, und bilde eine perfekte Synthese aus der Masse, die man mit sich herumtrage, und der Sicherheit und dem Selbstvertrauen, die sie gewähre.2 Mit einer solchen Waffe in der Tasche fühlte Goetz sich offenbar bereit zum Kampf und er handelte nun nach einem einstudierten Muster: Von links nach rechts schoss er auf jeden der vier jungen Männer einmal, zwei von ihnen in den Rücken. Auf Darryl Cabey schoss er dann noch ein zweites Mal, seiner eigenen Aussage nach mit den Worten: „You seem to be doing all right, here’s another.“3 Dann kam der Zug zum Halt, als er schon fast die nächste Station Chambers Street erreicht hatte. Goetz sprang aus dem

1

Der Ablauf des Geschehens ist in den Medien und den Gerichtsverfahren zig-fach beschrieben worden; siehe vor allem People v. Goetz, 68 NY2d 96, unter http://www.courts.state.ny.us/reporter/archives/p_goetz.htm (28. Dez. 2014), oder Goetz’ erste Aussage am 31. Dezember 1984, nachdem er sich der Polizei in Concord, NH, gestellt hatte. Ein Transkript hat Douglas O. Lindner von der University of Missouri-Kansas City School of Law erstellt und in seinem Projekt Famous Trials auf der Seite

„Bernhard

Goetz

Trial

(1986-87)“

veröffentlicht,

http://law2.umkc.edu/faculty/projects/ftrials/goetz/goetzconfession.html

(28.

unter Dez.

2014); lange Auszüge der Videoaufnahme seiner Aussage sind auch zu sehen in der Dokumentation: The Confessions of Bernhard Goetz. (Henri Caws/Lisa Shear; USA 1987), unter: https://www.youtube.com/watch?v=RpwRZbrs2QI (5. Jan. 2015). Siehe außerdem die ausführliche Darstellung von Fall, Verfahren und weiterem Kontext bei George P. Fletcher: Notwehr als Verbrechen. Der U-Bahn-Fall Goetz. Frankfurt/M. 1993. Einen zeitgenössischen Kommentar zum Fall hat veröffentlicht Lillian B. Rubin: Quiet Rage. Bernie Goetz and the Shootings on the New York Subway, New York 1986, sowie der Schöffe Mark Lesly: Subway Gunman. A Juror’s Account of the Bernhard Goetz Trial, Latham/NY 1988. 2

Smith & Wesson Model 642 Snubnose Revolver, in: The snubnose files, unter: http://www.snubnose.info/docs/m642.htm (28. Dez. 2014).

3

Bernhard Goetz Trial (1986-87), unter: http://law2.umkc.edu/faculty/projects/ftrials/ goetz/goetzconfession.html (28. Dez. 2014).

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Waggon und verschwand im Dunkel des U-Bahn-Tunnels. Das Ganze hat weniger als sieben Minuten gedauert. Für neun Tage blieb Goetz danach abgetaucht, bis er sich in Concord in New Hampshire der Polizei stellte. Zu diesem Zeitpunkt wurde er von der New Yorker Öffentlichkeit bereits als Held verehrt und war, wenn man einer Umfrage Glauben schenken mag, deutlich bekannter als der Gouverneur des Staates New York, Mario Cuomo.4 Die Polizei hatte Hotlines eingerichtet, um Hinweise auf Tat und Täter zu erhalten, doch was sie vor allem erhielt, waren Anrufe von New Yorkerinnen und New Yorkern, die Goetz feierten: Im Einklang mit den Medien typisierten sie ihn als unscheinbaren Clark Kent, der zu Supermann geworden sei, um die untergehende Stadt zu retten, als Woody Allen-Typ, der seine John Rambo-Qualitäten entdeckt habe, oder – am häufigsten – als fleischgewordenen Paul Kersey aus dem Film DEATH WISH von 1974, der unter dem Titel EIN MANN SIEHT ROT in den deutschen Kinos lief: Charles Bronson spielt den unscheinbaren Architekten Kersey, einen ‚Liberal‘, der nach der Ermordung seiner Frau und der Vergewaltigung seiner Tochter auf einen Rachefeldzug geht, weil Polizei und Justiz sich nicht kümmern und das staatliche Gewaltmonopol nicht mehr durchsetzen können oder wollen.5 Das Gerichtsverfahren gegen Goetz zog sich über zweieinhalb Jahre durch mehrere Instanzen, bis ihn am 18. Juni 1987 eine Jury aus acht Männern und vier Frauen, aus neun Weißen, zwei Schwarzen und einem Latino von der Anklage der Körperverletzung und des versuchten Mordes freisprach. Die Hälfte der Schöffen war selbst schon einmal zum Opfer eines Verbrechens geworden. Lediglich wegen unerlaubten Waffenbesitzes wurde Goetz zu sechs Monaten Haft verurteilt. Das lange Verfahren gab New York genügend Zeit, eine ausgiebige und aufgeregte Debatte über den so genannten Niedergang der Städte im Allgemeinen und der New Yorker U-Bahn im Besonderen zu führen, über Verbrechen und das so genannte „mugging“ (also das offene Ausrauben), über das Versagen von Staatlichkeit und die Aufgabe von immer mehr und größerem städtischen Raum, über – wie es hieß – „giving up turf“, also das Räumen des Feldes, über Waffengewalt und Männlichkeit, über Weißsein und Schwarzsein, über race und class. Goetz‘ vorauseilende Selbstjustiz wurde dabei vor allem unter den Stich-

4

Rubin: Quiet Rage, S. 78.

5

DEATH WISH (Michael Winner; USA 1974); zu den Polizei-Hotlines siehe David E. Sanger: „The Little-Known World of the Vigilante“, in: New York Times, 30. Dezember 1984. Dort auch zu den Hollywoodreferenzen, die sich in der Debatte des Goetz-Falls etablieren; vgl. etwa William Raspberry: „Stopping Us, Before We Kill Again“, in: Chicago Tribune, 27. Dezember 1985.

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worten ‚Selbstverteidung‘, ‚vigilantism‘ und ‚Kontrolle zurückgewinnen‘ verhandelt, und zwar in den öffentlichen Debatten sowie den gerichtlichen Verfahren.6 Der folgende Beitrag wird den Fall Goetz historisch verorten. Dazu werde ich zunächst in einem ersten Schritt aus dem Fall herauszoomen und eine Weitwinkelperspektive einnehmen, die von der New Yorker U-Bahn und dem Dezember 1984 weg- und bis in die Geschichte der USA im 19. Jhd. zurückführen wird. Hier werde ich vor allem US-amerikanische Vorstellungen von Selbstverteidigung skizzieren und sie ins Verhältnis zu Entwürfen von Männlichkeit und Gewalt setzen. Denn selbst wenn Gewalt in einem engen Sinne als physische Gewalt gegen Menschen definiert sowie situativ verstanden wird, erfordert deren Analyse zugleich, die historischen, kulturellen, sozialen und institutionellen Bedingungen zu skizzieren, innerhalb derer eine Gewalttat von bestimmten Menschen gegen bestimmte andere Menschen mit historisch-spezifischen Bedeutungen gespeist und somit erst möglich wurde. „There is no life and no death without a relation to some frame“, wie die Philosophin Judith Butler schreibt.7 In einem zweiten Schritt werde ich dann in einem Wechselspiel von „close-ups“ und „long shots“ die Debatten und Szenarien des städtischen Niedergangs und des „regaining turf“ ins Verhältnis zu Goetz‘ Tat und zu Entwürfen und Praktiken von Männlichkeit und race in den USA der 1980er Jahre setzen.8

6

Zum „giving up turf“ siehe etwa Ellen Goodman: „Vigilante’s Story Uncovers The Struggle With Fear And Courage In Each Of Us“, in: Chicago Tribune, 18. Januar 1985.

7

Vgl. Judith Bulter: Frames of Warfare. When Is Life Grievable? London 2009, S. 7; zur Schwierigkeit, Gewalt zu definieren, siehe Michaela Christ/Christian Gudehus: „Gewalt – Begriffe und Forschungsprogramme“, in: dies. (Hrsg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013, S. 1-15; siehe auch Verf./Silvan Niedermeier: „Violence and Visibility: Historical and Theoretical Perspectives“, in: dies. (Hrsg.): Violence and Visibility in Modern History, New York 2013, S. 1-23 und Verf.: „Gewalt: Kritische Überlegungen zur Historizität ihrer Formen, Funktionen und Legitimierungen“, in: Body Politics 1,2 (2013), S. 185-198.

8

Zur Verschränkung von Weitwinkel- und Nahaufnahmen siehe nach wie vor Gianna Pomata: „Close-ups and Long Shots: Combining Particular and General Writing in the Histories of Men and Women“, in: Hans Medick/Anne-Charlott Trepp (Hrsg.): Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderung und Perspektiven. Göttingen 1998, S. 99-124.

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S ELBSTVERTEIDIGUNG Die Genese eines offensiven US-amerikanischen Verständnisses von Selbstverteidigung lässt sich weit in der US-Geschichte zurückverfolgen. Während das englische Recht vorsah, dass man sich so weit es nur eben möglich war vor einem Angreifer zurückgezogen haben musste, um Gewalt zur Selbstverteidigung geltend machen zu dürfen, bildete sich in den USA im Laufe des 19. Jhds. ein offensiveres Konzept heraus. Die politisch wie territorial nach vorn drängende junge Nation sprach ihren Bürgern das Recht zu, nicht mehr zurückweichen zu müssen, sobald sie sich einmal bis zu einem Ort vorgekämpft hatten. Von einer Pflicht zum Rückzug, einer „duty to retreat“, wie man sie aus dem englischen Recht kannte, war immer weniger die Rede, als eine spezifisch USamerikanische Rechtslehre und Rechtspflege an Kontur gewann. Im Gegenteil, „stand your ground“ lautete die Maxime, nach der nun zunehmend entschieden wurde, ob Gewaltanwendung als plausibel und rechtmäßig gelten konnte. Über die Jahre wurde es sogar als Pflicht eines guten Amerikaners und als Ausdruck seines „American mind“ beschrieben nicht zurückzuweichen.9 „A true man, who is without fault, is not obliged to fly from an assailant, who by violence or surprise maliciously seeks to take his life, or to do him enormous bodily harm,“ hieß es in einer wegweisenden Entscheidung des Obersten Gerichtshofes des Staates Ohio im Fall Erwin v. State aus dem Jahr 1876. Diese „no duty to retreat“-Entscheidung wurde fortan zu einem Paradigma amerikanischen Rechts- und Selbstverständnisses: Sich zurückziehen, hieß es etwa ein Jahr später in Runyan v. State im Nachbarstaat Indiana, sei feige, unamerikanisch und un-männlich. Dieses Rechts- und Selbstverständnis fand in den Jahren danach Eingang in zahlreiche weitere Fälle in verschiedenen Staaten, insbesondere im amerikanischen Westen und Süden, so dass es als Ausdruck der Besonderheiten eines spezifisch männlich gedachten Mutes in einer FrontierGesellschaft gedeutet werden kann. Dabei hieß es ausdrücklich, nicht zurückzuweichen, auf seiner Position zu beharren, sei Ausdruck einer genuin amerikanischen Freiheitsliebe, stünde zugleich aber auch in Einklang „with the dictates of human nature.“10

9

Die zentrale Studie ist nach wie vor Richard M. Brown: No Duty to Retreat. Violence and Values in American History and Society, Norman 1991, insb. S. 3-37.

10 Ebd., S. 20; Erwin v. State of Ohio ist zitiert nach Beard v. United States 158 U.S. 550 (1895),

Bd.

158,

S.

561,

in:

JUSTIA



U.S.

Supreme

Court,

https://supreme.justia.com/cases/federal/us/158/550/case.html (29. Dez. 2014).

unter:

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Ab 1885 und dem Fall Bell v. State in Texas war sogar von „justifiable homicide“ die Rede. Gerechtfertigt sei das Töten eines Menschen dann, so hieß es, wenn man sich in seiner Person oder seinem Eigentum bedroht fühle. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten diffundierte diese Interpretation immer weiter und tiefer in amerikanische Perspektiven auf Recht und Gewalt hinein, bis sie 1921 vom Obersten Gerichtshof der USA im Fall Brown v. United States bestätigt wurde. Damit war die „stand your ground“-Maxime verbindlich für die Auffassungen und Rechtsordnungen sämtlicher US-Staaten. Die Urteilsbegründung betonte explizit, dass die empfundene Bedrohung und nicht die Möglichkeit des Rückzugs von entscheidender Bedeutung sei: The right of a man to stand his ground and defend himself when attacked with a deadly weapon, even to the extent of taking his assailant’s life, depends upon whether he reasonably believes that he is in immediate danger of death or grievous bodily harm from his assailant, and not upon the detached test whether a man of reasonable prudence, so situated, might not think it possible to fly with safety or to disable his assailant, rather than kill him.11

Die amerikanische Vorstellung von Selbstverteidigung ist, so der Historiker Richard Maxwell Brown, auf das Engste mit der Eroberung und Unterwerfung des Westens, also des nordamerikanischen Kontinentes und der dort lebenden Menschen, verbunden. Seit einigen Jahren haben Historikerinnen wie Amy Greenberg oder Gail Bederman deutlich gezeigt, was auch bei Richard Maxwell Brown anklingt, nämlich wie die Westbewegung und mit ihr der Glaube an die göttliche Bestimmung der Angelsachsen, den Kontinent zu erobern und auch mit Gewalt vorwärts zu marschieren, mit Vorstellungen amerikanischer Männlichkeit korrespondierte. Sie haben außerdem herausgearbeitet, wie diese Männlichkeit, die nicht zurückweichen durfte, sondern weiter nach vorn streben sollte, eine durch und durch angelsächsisch und weiß gedachte Männlichkeit war. „Giving up turf“ sollte dabei ganz und gar nicht in Frage kommen.12

11 Brown v. United States, 256 U.S. 335 (1921), in: JUSTIA – U.S. Supreme Court, unter: https://supreme.justia.com/cases/federal/us/256/335/case.html (29. Dez. 2014). 12 Gail Bederman: Manliness and Civilization. A Cultural History of Gender and Race in the United States, 1880-1917, Chicago/IL 1995, insb. S. 77-120 und S. 170-215; Amy S. Greenberg: Manifest Manhood and the Antebellum American Empire, Cambridge/UK 2005; siehe auch Reginald Horsman: Race and Manifest Destiny. The Origins of American Racial Anglo-Saxonism, Cambridge/MA 1986.

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Nun hieß es 1890, der amerikanische Kontinent sei besiedelt, die Zeit der Westwanderung und der so genannten Frontier damit vorüber. Der Glaube allerdings, das Nicht-Zurück-Weichen sei Teil einer amerikanischen und insbesondere einer weißen, männlichen amerikanischen Geisteshaltung und Wesensart geworden, wurde auch nach 1890 und nicht nur im Westen weiter genährt und gefestigt – freilich mit wechselnden historischen Konjunkturen. Der Kulturwissenschaftler Richard Slotkin hat dies in seiner Trilogie über die Westbewegung im letzten Band mit dem Titel Gunfighter Nation gezeigt. Die kulturelle Wucht der Frontier habe sogar noch zugenommen und mythische Züge angenommen, als das Going West als Handlungsoption nicht mehr wirklich existierte, betont Slotkin. Und damit ist die Frontier auch institutionell und politisch prägend geblieben, was ja auch die Tatsache zeigt, dass die „no duty to retreat“-Doktrin 1921 auf Bundesebene verankert wurde.13 Auch im New York des 20. Jhds. galt ein entsprechendes Notwehrrecht, das denjenigen, der sich angegriffen fühlte, nicht dazu verpflichtete, soweit wie möglich zurückzuweichen. Eine Gewalttat konnte in New York dann als Notwehr gelten, wenn der Angegriffene plausibel glaubte, zur Sicherung seines Raums und zur Prävention eines unmittelbar bevorstehenden körperlichen Angriffs oder Raubs Gewalt anwenden zu müssen. Diese Deutung war in zahlreichen Fallentscheidungen und Gesetzen geformt worden. Noch 1983 und somit unmittelbar vor dem Fall Goetz bestätigte mit dem „Court of Appeals“ das höchste Gericht des Staates New York, dass die subjektive Bedrohungsempfindung des Beschuldigten in der Frage des Selbstverteidigungsrechts ausschlaggebend sei. Zugleich befand das Gericht im Fall People v. Desmond, die Bedrohungsempfindung müsse aus der Perspektive des Angegriffen „reasonable“, mithin plausibel sein, damit in einem Fall auf Notwehr entschieden werden könne. Als Maßstab galt demnach die Empfindung des Beschuldigten im Moment der Tat und deren Plausibilität, wie das Gericht so deutlich wie nur möglich formulierte: „The defendant’s state of mind is the crucial fact when the defense of justification is asserted. His subjective belief as to the imminence and seriousness of danger must be reasonable.“14

13 Richard Slotkin: Gunfighter Nation. The Myth of the Frontier in Twentieth-Century America, Norman/OK 1992. 14 People v. Desmond, 93 A.D.2d 822 (N.Y. App. Div. 1983), in: Casetext, unter: https://casetext.com/case/people-v-desmond-9 (29. Dez. 2014); Fletcher: Notwehr als Verbrechen, S. 37-103, insb. S. 71.

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Subjektive Bedrohungsempfindung ist immer ein schwieriger Gradmesser für die Entscheidung über eine mögliche Angemessenheit und Rechtmäßigkeit von Gewalthandlungen. In einer Gesellschaft, die seit einigen Jahren schon den Verfall der Städte beklagte, steigende Kriminalitätsraten fürchtete, über einen Verfall von Werten lamentierte und sich auf dem Weg in eine Kultur der Angst befand (wenn sie nicht schon mittendrin war), muss dies in besonderem Maße gelten.15 So war Anfang der 1980er Jahre circa ein Viertel aller New Yorkerinnen und New Yorker schon einmal Opfer eines so genannten „muggings“ geworden, also eines offen vorgetragenen Raubüberfalls. Die Medienkommentare zum Fall Goetz betonten dies wie in einer Endlosschleife, und das nicht nur in dezidiert konservativen Magazinen wie dem American Spectator. Umfragen zeigten, dass über die Hälfte der Menschen in New York Verbrechen als das größte Problem der Stadt ansahen, das auch Selbstjustiz rechtfertige. Dass die Kriminalitätsraten in der Stadt de facto schon seit einigen Jahren deutlich zurückgegangen waren, hatte sich offenbar in der Bedrohungsempfindung der Menschen noch nicht niedergeschlagen.16 Aus der Redaktion der Bob-Grant-Show auf WABC, einer der Pioniere des Talk-Radio, hieß es, die aufgeregt erleichterte Unterstützung New Yorks für Bernhard Goetz sei ganz offensichtlich Ausdruck aufgestauter kollektiver Ängste und komme einer wahren Katharsis gleich.17 Auch Goetz selber war zuvor schon überfallen und verletzt worden, 1981 in der U-Bahn von zwei afroamerikanischen Jugendlichen. Danach hatte er damit begonnen, die Behörden mit Briefen zu bombardieren, sich in der „neighborhood watch group“ For A Better (FAB) 14th Street zu engagieren, und er hatte sich eine Waffe besorgt. Da ihm in New York die entsprechende Lizenz verweigert wurde, ging er den Umweg über Florida, wo es ihm schließlich mehr oder weniger illegal gelang, eine

15 Zum weiteren Kontext des Verhältnisses von Angst, Sicherheit und Gewalt in den USA siehe vor allem die Beiträge von Elaine Tyler May: „Security against Democracy: The Legacy of the Cold War at Home“, in: Journal of American History 97/4 (2011), S. 939-957, und Eli Jelly-Schapiro: „Security: The Long History“, in: Journal of American Studies 47/3 (2013), S. 801-826. 16 William Tucker: „The Unjust World of Bernhard Goetz“, in: The American Spectator, April 1985, S. 18-21; Robert D. McFadden: „Poll Indicates Half of New Yorkers See Crime As City’s Chief Problem“, in: New York Times, 14. Januar 1985. 17 Esther B. Fein: „Angry Citizens in Many Cities Supporting Goetz“, in: New York Times, 7. Januar 1985.

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Waffe zu kaufen. Offensichtlich empfand Goetz damals viele Momente des Lebens in der Stadt als so bedrohlich, dass sie in seinen Augen die Bereitschaft zur Anwendung von Waffengewalt nachvollziehbar machten.18 Die wesentliche Quelle der Angst war dabei ziemlich deutlich schwarz, männlich und adoleszent markiert. Man könnte und müsste weit zurückgehen in der amerikanischen Geschichte, um die Angst vor schwarzen Männern in der weißen Kultur und Gesellschaft historisch zu kontextualisieren. Schon nach dem Ende der Sklaverei wurde die neu gewonnene Beweglichkeit der ehemaligen Sklavinnen und Sklaven und insbesondere diejenige schwarzer Männer von vielen Weißen als Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit und – eng damit verbunden – ihrer gesellschaftlichen Position wahrgenommen. Die vermeintliche politische, ökonomische, vor allem aber sexuelle Übergriffigkeit schwarzer Männer war insbesondere in den Augen vieler weißer Männer ein hinreichend plausibler Grund, ‚zum Schutz‘ ihres Terrains, zu dem auch die weiße Frau gezählt wurde, Gewalt anzuwenden, die auch tödlich sein konnte und als Selbstverteidigung stilisiert wurde.19 Für den Fall Goetz war diese komplexe historische Gemengelage von großer Bedeutung, schließlich hatte ein weißer Mann auf vier schwarze junge Männer geschossen. Goetz wurde sofort überall der „subway vigilante“ genannt. Dabei schwang einerseits eine Bewunderung mit, die sich in der Tradition des amerikanischen Westens verstand und jemandem Anerkennung dafür zollte, dass er dort Recht und Ordnung etablierte, wo es keine Staatlichkeit gab; nur dass der Mangel an Staatlichkeit nicht mehr in den westlichen Grenzgebieten des 19. Jhds., sondern in den New Yorker U-Bahnzügen und -stationen der 1980er Jahre verortet wurde. Spätestens die New Western History hat seit den 1980er Jahren deutlich darauf hingewiesen, dass dies eine sehr weiße Lesart der Westwanderung war. Doch selbst dann, wenn man diese eher unkritisch sah, war auch immer die Geschichte der brutalen Lynchings schwarzer Männer durch weiße Männer präsent, wenn von „vigilantism“ die Rede war. Mehrere Tausend afroamerikanische Opfer hatte es allein von den 1880er bis zu den 1920er Jahren gegeben, die die Hochphase der Lynchings markierten, allerdings ohne dass die

18 Ed Magnuson: „Up in Arms Over Crime“, in: Time Magazine, 8. April 1985; Richard Stengel: „A Troubled and Troubling Life: Who is Bernhard Goetz, and Why Did He Do What He Did?“, in: Time Magazine, 8. April 1985; oder auch Anonym: „Crime Frustrated Goetz, Neighbors Say“, in: Los Angeles Times 7. Januar 1985. 19 Siehe aus der umfassenden Literatur zum so genannten „Rape-Lynching-Complex“ immer noch Diane Miller Sommerville: Rape & Race in the Nineteenth-Century South, Chapel Hill/NC 2004, oder Grace E. Hale: Making Whiteness: The Culture of Segregation in the South, 1890-1940, New York 1999, S. 199-239.

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rassistische Terrorgewalt durch Mobs, Polizei und Justiz damit vorüber gewesen wäre.20 Das Aufbrechen der US-amerikanischen Apartheidsgesellschaft seit den 1950er Jahren hatte unter vielen Weißen die Ängste vor schwarzer Ebenbürtigkeit weiter geschürt. Doch auch trotz des jahrzehntelangen Ringens um DeSegregation war die Trennung der amerikanischen Gesellschaft in schwarze und weiße Zonen bis zu den 1980er Jahren keineswegs aufgehoben. Im Gegenteil, durch die weiße Flucht in die Vorstädte hatten sich neuerliche harsche Trennlinien gebildet.21 Die urban studies zeichnen das Bild der „dual metropolis“, die sich im 20. Jhd. und insbesondere ab den 1950er Jahren herausgebildet habe, mit weißen Vorstädten und schwarzen Innenstädten, die möglicherweise weiße Geschäfts- und Bürodistrikte hatten. Die zumeist afroamerikanischen und hispanischen Innenstadtbewohner geronnen dabei zur stigmatisierten „underclass“, wie sie das Time Magazine 1977 beschrieb: als antriebslos, hoffnungslos, regellos, rechtlos. Und wenn die nicht-weißen Stadtbewohner nicht stigmatisiert wurden, dann wurden sie als „truly disadvantaged“ bedauert, aber jedenfalls nicht als Bürgerinnen und Bürger mit Agency anerkannt. In den frühen 1980er Jahren, als

20 Siehe für breit angelegte Studien zur Geschichte des Lynchings in den USA Christopher Waldrep: The Many Faces of Judge Lynch. Extralegal Violence and Punishment in America, New York 2002; Michael J. Pfeifer: Rough Justice. Lynching and American Society, 1874-1947, Urbana/IL 2006; Manfred Berg: Popular Justice. A History of Lynching in America, Chicago/IL 2011. Zur Polizeigewalt im Süden nach der Hochphase des Lynchings siehe Silvan Niedermeier: Rassismus und Bürgerrechte. Polizeifolter im Süden der USA, 1930-1955, Hamburg 2014; zum Verhältnis von Lynching und Todesstrafe siehe Verf.: „Little Short of Judicial Murder“. Todesstrafe und Afro-Amerikaner, 1930-1972, in: Geschichte und Gesellschaft 30/3 (2004), S. 490-526, und Verf.: „Strafgewalten und Zivilisationsentwürfe in den USA um 1900“, in: Susanne Krasmann/ders. (Hrsg.): Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bielefeld 2007, S. 239-264. 21 Als einen jüngeren der zahlreichen Beiträge zum Thema „white flight“ siehe Eric Avila/Mark H. Rose: Race, Culture, Politics, and Urban Renewal, in: Journal of Urban History 35/3 (2009), S. 335-347; siehe auch Raymond A. Mohl: „The Transformation of Urban America Since the Second World War“, in: Amerikastudien/American Studies 33 (1988), S. 53-71; neuestens arbeitet die Forschung vermehrt die Diversität der vorstädtischen Gesellschaft im Betrachtungszeitraum heraus, so etwa Matthew D. Lassiter/Christopher Niedt: „Suburban Diversity in Postwar America“, in: Journal of Urban History 39/1 (2013), S. 3-14.

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Hugo Bernhard Goetz in der New Yorker U-Bahn um sich schoss, hatte diese Entwicklung einen Kulminationspunkt erreicht.22 Die U-Bahn ist in dieser Geschichte segregierter Räume von ganz besonderer Bedeutung. In ihrer Entstehungszeit war sie dafür gefeiert worden, dass sie Vorstädte und Innenstädte und die verschiedenen Viertel zu einem Netz verknüpfte. Doch ab den 1960er Jahren erschien dies vielen New Yorkern mehr und mehr wie ein Fluch, und nicht mehr wie ein Segen. Ab Anfang der 1970er Jahre investierte die Metropolitan Transportation Authority MTA kaum mehr in das Streckennetz und das Equipment: die U-Bahn war dem Verfall preisgegeben.23 Als ultimative Zeichen dieses Verfalls galten die Graffiti auf und in den Waggons. In den 1970er und 80er Jahren waren Graffiti weit davon entfernt, als urbane Kunstform Anerkennung zu erfahren, und sie fungierten vielmehr als Indikatoren für die Struktur- und Rechtlosigkeit, die in der U-Bahn herrschte. Die Allgegenwart der Graffiti galt als Beweis dafür, dass die weiß gedachte Ordnungsmacht diesen Raum aufgegeben hatte. Graffiti waren in den 1980er Jahren noch eine spezifisch afroamerikanische Kunstform, die als visuelles Äquivalent des Rap galt. Gemeinsam lösten Graffiti und Rap wahre Angstszenarien aus und besetzten fortan immer größere Teile des öffentlichen Raumes – akustisch wie optisch. Graffiti galt mithin als sichtbarstes Zeichen für den weißen und bürgerlichen „retreat“. In den 1980er Jahren errichtete die MTA schließlich Stacheldrahtzäune und beschäftigte eine Wachtruppe mit Hunden, um das Sprayen auf und in ihren Waggons zu bekämpfen.24

22 Zur „dual metropolis“ siehe William Julius Wilson: The Truly Disadvantaged. The Inner City, the Underclass, and Public Policy, Chicago/IL 1987; Michael H. Ebner: „Prospects for the Dual Metropolis in the USA“, in: Planning History 15/3 (1993), S. 13-21; Anonym: „The Underclass“, in: Time Magazine, 29. Aug. 1977. 23 Clifton Hood: 722 Miles: The Building of the Subways and How They Transformed New York, Baltimore/MD 2004; Clifton Hood: „Changing Perceptions of Public Space on the New York Rapid Transit System“, in: Journal of Urban History 22 (1996), S. 308-331; James K. Cohen: „Capital Investment and the Decline of Mass Transit in New York City, 1945-1981“, in: Urban Affairs Review 23 (1988), S. 369388. 24 Joe Austin: Taking the Train. How Graffiti Art Became an Urban Crisis in New York City, New York 2002; Ivor Miller: „Guerilla Artists of New York City“, in: Race & Class 35 (1993), S. 27-40; als zeitgenössische Diagnosen siehe Joel S. Feiner/Stephan Marc Klein: „Graffiti Talks“, in: Social Policy 12/3 (1982), S. 47-53; und Nathan Glazer: „On Subway Graffiti in New York“, in: Public Interest 54 (1979), S. 3-11.

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Wer sich in die Metro begab, begab sich in einen engen, abgegrenzten Raum, aus dem es für mehrere Minuten – zum Beispiel siebeneinhalb mit dem Expresszug zwischen den Stationen 14th Street und Chambers Street – kein Entkommen gab. Zugleich durchschnitt dieser Raum die Stadt, verband die verschiedenen ‚Boroughs‘ und ‚neighborhoods‘ und brachte die dort lebenden verschiedenen Menschen zusammen, die ansonsten weitestgehend voneinander getrennt lebten. Der IRT Nr. 2 zum Beispiel, den Bernhard Goetz an jenem 22. Dezember 1984 nutzte, kam aus der Bronx, durchquerte Harlem und Manhattan bis ziemlich zur Südspitze und fuhr quer durch Brooklyn. Wer sich in die U-Bahn begab, verließ für eine Weile die eigenen Schutzzonen und Sicherheitsräume. Mehr als jeder andere städtische Raum verkörperte die U-Bahn Bewegung durch den Raum und über Grenzen hinweg. In der Metro zu sein, bedeutete temporäres Gefangen- und Ausgesetztsein und somit war sie auch ein Raum kondensierter urbaner Gefahr und Angst. Mit Kevin Mumford könnte man die U-Bahn als eine „Interzone“ bezeichnen, also als einen städtischen Raum, in dem Begegnungen möglich sind, die ansonsten (fast) unmöglich sind25 – z.B. zwischen Bernhard Goetz und Troy Canty, James Ramseur, Barry Allen und Darryl Cabey. Die vier jungen Männer verkörperten die Prototypen der urbanen Gefahr, und entsprechend stereotyp und konturlos blieben sie in den Medienberichten: Highschool-Abbrecher, die schon einmal auffällig geworden waren, aus Claremont Village in der South Bronx, dem Prototypen urbanen Verfalls in dieser Zeit.26 Mehr schienen die wenigsten Zeitungsleser/innen nicht wissen zu wollen. Das Ringen um urbane Räume war dabei auch als ein Ringen zwischen weißen und schwarzen Männern und Männlichkeitsentwürfen kodiert. Schon 1957 hatte Norman Mailer in seinem berühmten Essay über den „White Negro“ eine Verweichlichung des weißen Mannes angeprangert, die mit seinem Stillstand korrespondiere. Der schwarze Mann hingegen, so Mailer, der auf der Straße tagtäglich um sein Überleben kämpfe, sei zur Inkarnation amerikanischer Männlichkeit geworden, weil er in Bewegung sei, anstatt stillzustehen, und weil er – wenn auch von der Not getrieben – nach vorne dränge, anstatt es sich gemütlich eingerichtet zu haben. Männer wie der Black Panther Eldridge Cleaver haben solche maskulin-schwarzen Visionen geteilt, und Cleaver, selber ein Outlaw, huldigte 1968 in seinem Manifest Soul on Ice Norman Mailer und seiner Ode an

25 Kevin Mumford: Interzones. Black/White Sex Districts in Chicago and New York in the Early Twentieth Century, New York 1997. 26 Nathan Glazer: „The South-Bronx Story. An Extreme Case of Neighborhood Decline“, in: Policy Studies Journal 16/2 (1987), S. 269-276.

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den schwarzen Hustler. Mehr noch huldigte er der Gewalt als Männlichkeitsprobe und Männlichkeitsbeweis unter Männern, auch und insbesondere wenn sich diese Gewalt gegen Frauen und hier wieder insbesondere gegen weiße Frauen richtete.27 Mailer und Cleaver sind nur zwei prominente Stimmen in einem wuchtigen Diskurs, in den sich noch viele andere einschrieben und der auch in den 1980er Jahren noch einen großen Resonanzraum füllte, als New York und die USA über den Goetz-Fall debattierten: Schwarze Jungs, hieß es da, sähen das „mugging“, das Drangsalieren von und die Gewalt gegen Weiße als eine Art Probe ihrer Männlichkeit an, und der bevorzugte aller Räume für diese Männlichkeitsprobe sei die U-Bahn. Weiße Männer hingegen hätten gelernt, dem aus dem Weg zu gehen. Er hätte sich in der U-Bahn niemals zu den afroamerikanischen Jungs gesetzt, sagte zum Beispiel ein Nachbar von Goetz, „not unless I was looking for trouble and knew I had the means to win the fight.“28 „We learn to give up turf“, hieß es so oder ähnlich in zahlreichen Pressekommentaren, Leserbriefen und Radioanrufen. Nun aber sei Goetz aufgetaucht und eine neue Zeitrechnung habe begonnen: Er habe allen gezeigt, dass es so nicht weitergehen könne, betonte zum Beispiel ein Leserbrief in der New York Times, die an sich eines der wenigen Presseorgane war, die Goetz’ Tat konsequent zurückwiesen: „Bernhard Hugo Goetz makes me proud, P-R-O-U-D, to be a white, male American! At long last we can hold up our heads again!“29

D IE R EMASKULINISIERUNG A MERIKAS Goetz schien also der Entmännlichung weißer Männer etwas entgegengesetzt zu haben. „GOETZ RULES, NIGGERS!“ verkündete bald nach der Schießerei ausgerechnet ein Graffiti in Goetz‘ U-Bahn-Station an der Ecke von 14. Straße und

27 Norman Mailer: The White Negro. Superficial Reflections on the Hipster, San Francisco 1957; Eldridge Cleaver: Soul on Ice [1968], New York 1999, S. 33, 123-137, 137. 28 Der Nachbar ist zitiert nach Rubin: Quiet Rage, S. 74. 29 „We learn ...“ bei Goodman: „Vigilante’s Story“; der ‚stolze‘ Leserbrief wird wiedergegeben bei Sydney H. Schanberg: „The Bernhard Goetz Mailbag“, in: New York Times, 19. Januar 1985; zur neuen Zeitrechnung ‚After Goetz‘ siehe Roger Simon: „Goetz Makes It Cool To Pack Heat“, in: Chicago Tribune, 25. Februar 1985. Siehe aus der Literatur auch Lynn Segal: Slow Motion. Changing Masculinities, Changing Men, New Brunswick/NJ 1990, S. 189-90.

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7th Avenue.30 Goetz hatte schon im ersten Polizeiverhör deutlich gemacht, dass er sich bereit sah, ‚den Kampf aufzunehmen‘, und dies tat er in der öffentlichen Wahrnehmung ausdrücklich als weißer Mann. Damit setzte er der angeblichen Krisenhaftigkeit weißer Männer etwas entgegen. Insbesondere weiße Männer und deren Männlichkeit scheinen in der Geschichte der Neuzeit ja andauernd in der Krise zu sein, doch seit den 1970er Jahren waren das Krisenempfinden und das Lamento wohl virulenter denn je. Die hegemoniale Position weißer heterosexueller Männer – des WHM, wie der Philosoph Luca di Blasi jüngst etwas holzschnittartig schrieb – in der amerikanischen Gesellschaft war durch die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung, die Frauenbewegung und das LGBTMovement nachhaltig erschüttert.31 Von der US-amerikanischen Maxime, dass ein Mann seinen einmal eroberten Platz bewahren könne und müsse, wie sie sich auch im Selbstverteidigungsrecht artikulierte, konnte nicht mehr wirklich die Rede sein. Die Strukturwandlungen wurden von den WHM als „bestandskritisch“ und als Bedrohung „ihrer sozialen Identität“ erfahren, womit nach Jürgen Habermas die wesentlichen Bedingungen für eine Krisenerfahrung gegeben waren.32 Zu alledem schien das Ende amerikanisch-weiß-männlicher Hegemonie in Vietnam seine Vollendung erfahren zu haben. Der Historiker Tom Engelhardt spricht vom Ende der amerikanischen „victory culture“ und der ständigen Vorwärtsbewegung, die von Vietnam symbolisiert werde. Vietnam stand für ein Versagen amerikanischen Mannseins auf globaler Ebene, und es interagierte mit den vielen Widerständen gegen die Hegemonie weißer Hetero-Männlichkeit an der Home Front.33 Um 1980 herum nahm nun eine Bewegung an Fahrt auf, die die Kulturwissenschaftlerin Susan Jeffords als „Remasculinization of America“ beschrieben hat.34 Jeffords selber spürt nach dieser ‚Wiederermännlichung‘ vor allem in der Populärkultur, betont aber immer die Verschränkung von Populärkultur mit dem

30 Anonym: „Subway Catharsis“, in: The Nation, 19. Januar 1985, S. 35-36. 31 Siehe für eine kritische Diskussion des Topos Männlichkeitskrise Verf./Olaf Stieglitz: Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt/M. 2008, S. 64-73; Luca di Blasi: Der weiße Mann. Ein Anti-Manifest, Bielefeld 2013. 32 Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973, S. 12. 33 Tom Engelhardt: The End of Victory Culture. Cold War America and the Disillusioning of a Generation, New York 1995. 34 Susan Jeffords: The Remasculinization of America: Gender and the Vietnam War, Bloomington/IN 1989.

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Politischen und dem Sozialen. Dabei beschreibt sie vor allem zwei Faktoren dieser Remaskulinisierung als besonders bedeutend: Erstens sei die Wiedergeburt eines „hard body“ zu verzeichnen gewesen, wie man ihn vorher noch nicht gekannt hatte. Von den Joggern und Läufern der 1970er Jahre hin zu einem muskelbepackten Körper, der eine neue amerikanische Stärke auch nach außen signalisierte. Vor dieser Folie kann auch der politische Wechsel von Jimmy Carter zu Ronald Reagan gelesen werden: von einem Jimmy Carter, dessen Kollaps bei einem 8-Meilen-Lauf zu einem Zeichen amerikanischer Schwäche dieser Jahre wurde, zu Ronald Reagan, der sich Hanteln stemmend den Fotografen präsentierte und damit auch durch seinen eigenen Körper Amerikas Weg zurück zur Stärke vorführte.35 ‚Hard Bodies‘ präsentierte auch eine ganze Reihe neuartig maskuliner Actionhelden in der amerikanischen Popkultur. Auch wenn Dirty Harry, John McLaine, Paul Kersey oder John Rambo unterschiedliche Funktionen in unterschiedlichen Kontexten ausfüllen, so ist ihnen doch gemein, dass sie Männer repräsentierten, die nicht mehr zurückwichen, ihr Schicksal und das Schicksal Amerikas wieder in ihre eigenen Hände nahmen und damit solche Qualitäten verkörperten, die schon Frederick Jackson Turner 1893 in seinem legendären Aufsatz über die Frontier als genuin amerikanisch männlich beschrieben hatte.36 Der Prototyp dieses „hard body“ ist sicher John Rambo, der in seiner Bedeutung für die US-amerikanische Kultur und Gesellschaft der 1980er Jahre kaum überschätzt werden kann. Zweitens, und dies ist ebenso wichtig wie die Geburt des ‚Hard Body‘ selbst, sind alle diese Helden auch Opfer. Sie werden als Opfer des Systems, Opfer eines Staates und/oder einer Gesellschaft inszeniert, die sie allein gelassen hat und die ihre Männer und Helden nicht mehr würdige und schütze. Die Verluste, die weiße Männer in den letzten Dekaden hätten hinnehmen müssen, werden also weniger als Folge genuin männlicher Schwächen gedeutet, sondern vielmehr als ein Versagen gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung und der „Liberals“, die diese Ordnung in den Jahren zuvor geprägt hatten – eine Kritik, die auch den

35 Zur Sport- und Körperkultur der 1970er und 80er Jahre und deren Verschränkung mit dem Politischen siehe Shelly McKenzie: Getting Physical. The Rise of Fitness Culture in America, Lawrence/KS 2013; Susan Jeffords: Hard Bodies. Hollywood Masculinity in the Reagan Era, New Brunswick/NJ 1994; Ralph J. Poole/Florian Sedlmeier/Susanne Wegener (Hrsg.): Hard Bodies, Münster 2009, insb. das „Preface“ von Ralph J. Poole, S. 6-20. 36 Frederick Jackson Turner: „The Significance of the Frontier in American History (1893)“, in: ders.: The Frontier in American History, New York 1921, S. 1-38, insb. 37-38.

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Goetz-Fall prägte. Die neuen Kämpfer führten die Schwäche eines linksliberal geprägten Amerikas vor und korrigierten diese Schwäche zugleich, indem sie taten, was sie als richtig erachteten, und nicht unbedingt was Recht war – selbst wenn sie, wie John McLane, Dirty Harry oder John Rambo, Polizisten oder Soldaten sind und damit eigentlich im Sinne des Staates und des Rechts handeln sollten. Selbst als Hüter des Rechts agierten sie wie „vigilantes“, und als solche reproduzierten sie Vorstellungen einer angeblich archaischen Form USamerikanischer Männlichkeit: Weiße Männer, die nicht zurückweichen, die Boden wieder gut machen. Dabei brachen sie wieder und wieder die Regeln und stellen sich außerhalb des Systems, aber nur, um so endlich wieder Ordnung und eine lebenswerte Welt zu schaffen. „To survive in this city, people have to break rules“, äußerte sich in diesem Sinne auch Bernhard Goetz in seinem ersten Polizeiverhör in Concord.37 John Rambo kämpft in den Wäldern von Oregon, im Dschungel von Vietnam oder in Afghanistan. Aber die meisten dieser neuen Action-Heroes kämpften in amerikanischen Städten dafür, wieder Boden zu gewinnen. Sie schrieben sich damit ein in ein Dispositiv von Äußerungen, Praktiken und Politiken dieser Jahre, die darauf ausgerichtet waren, aufzurüsten und Handlungsmacht und Kontrolle über den urbanen Raum zu haben. Diese diskursiven und politischen Verschiebungen stellen einen weiteren Rahmen für den Goetz-Fall dar und sollen im Folgenden kurz skizziert werden. Hier ist erstens auf Zero Tolerance zu verweisen. Zero Tolerance wurde zwar erst 1994 zur offiziellen Politik New Yorks, als Rudy Guiliani Bürgermeister wurde, der übrigens während des Falls Goetz Bundesstaatsanwalt für den südlichen Distrikt New Yorks war. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten Öffentlichkeit und Kriminologie schon seit geraumer Zeit über Wege und Möglichkeiten diskutiert, durch Null Toleranz und mehr Polizeipräsenz Boden zurückzugewinnen. 1982 war an prominenter Stelle im Magazin Atlantic ein Artikel der Kriminologen George L. Kelling und James Q. Wilson über ihre „Broken Windows“Theorie erschienen. Dort heißt es an zentraler Stelle, „serious street crime flourishes in areas in which disorderly behavior goes unchecked.“38 Ergo bräuchten

37 Goetz in der Videoaufnahme seines ersten Verhörs, hier nach „The Confessions of Bernhard Goetz“ (USA 1987), unter: https://www.youtube.com/watch?v= RpwRZbrs2QI (5. Jan. 2015). 38 George L. Kelling/James Q. Wilson: „Broken Windows. The Police and Neighborhood

Safety“,

in:

The

Atlantic,

März

1982,

abrufbar

unter

URL:

http://www.theatlantic.com/magazine/archive/1982/03/broken-windows/304465/ (31. Dez. 2014).

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schon kleinste Überschreitungen eine harte Hand, um Stadträume als produktive Lebensräume zu bewahren, ansonsten gebe man sie dem Verfall, der „Underclass“ und dem Verbrechen preis, aber auch der Selbstjustiz. Zwar gebe es im Westen keine Frontier und keine „vigilantes“ mehr, hieß es wortwörtlich im Artikel im Atlantic, doch stattdessen bildeten sich nun in den Städten des Ostens mehr und mehr Bürgerwehren, die mit zunehmend harten Bandagen an der „urban frontier“ kämpften, so lange der Staat es nicht schaffe, den Menschen Sicherheit zu gewähren. Es vermag kaum zu überraschen, dass dieses Argument auch im Fall Goetz sehr präsent war. Die Guardian Angels, die sich seit einigen Jahren um mehr Sicherheit in der New Yorker U-Bahn bemühten und im Wesentlichen aus puerto-ricanischen und afroamerikanischen Jugendlichen bestanden, reichten nicht. Wenn sich die Situation nicht grundsätzlich bessere, hieß es etwa in der New Republic oder der New York Times, dann seien die Goetzens bald an der Tagesordnung. Und was die einen als „regaining turf“ feierten, erachteten die anderen als Alptraumszenario um sich greifender Selbstjustiz und eines sich auflösenden Staates und Gesellschaftsvertrages.39 Es ist kein Zufall, dass sich gerade in diesen Jahren nicht nur zahlreiche Gruppen wie FAB 14th Street zum Schutz ihrer Nachbarschaft gründeten, sondern sich auch die National Rifle Association auf den Weg machte, so groß zu werden, wie sie heute ist. Rund 100 Jahre lang war die NRA nicht viel mehr gewesen als eine Vereinigung von Sportschützen. Erst ab den späten 1970er Jahren begann sie zu einer der mächtigsten Lobbygruppen in den USA mit über vier Millionen Mitgliedern aufzusteigen, die ganz überwiegend weiße Männer sind. Bewaffnung zum Zwecke des Selbstschutzes und als Zeichen einer neuen Selbstverantwortung jenseits des Vertrauens in den Staat, lautete die Maxime, die in diesen Jahren breites Gehör fand. Indem sie solche „Warrior Dreams“40 nährte und die Aufrüstung im Privaten beförderte, leistete die NRA einen wesentlichen Beitrag zur Remaskulinisierung Amerikas. Natürlich meldete sich die NRA auch im Fall Goetz zu Wort. Goetz habe das Bewusstsein der Menschen verändert, erklärte ein NRA-Sprecher: „Goetz has raised the consciousness of people that self-defense is a necessity.“41

39 Siehe etwa Anonym: „Bernhard Goetz’s Gun“, in: The New Republic, 4. Februar 1985, S. 7ff. oder: Roger Starr: „Crime: How It Destroys, What Can Be Done“, in: New York Times, 27. Januar 1985. 40 James William Gibson: Warrior Dreams. Violence and Manhood in Post-Vietnam America, New York 1994; Scott Melzer: Gun Crusaders. The NRA’s Culture War, New York 2012. 41 Zitiert nach Anonym: „Bernhard Goetz’s Gun“, S. 7ff.

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Durch Bewaffnung und die Bereitschaft zur Selbstverteidigung (in dem hier skizzierten offensiven Verständnis) würden die Menschen selber dafür sorgen, dass sie nicht wieder zu Opfern würden. Überhaupt war das ‚Opfer‘ in dieser Zeit in aller Munde, in der die Anfänge einer breiten Opferrechtsbewegung liegen, wie wir sie heute in den USA kennen. Die Forderung nach der Anerkennung als Opfer war zunächst aus der feministischen Bewegung heraus formuliert worden, und sie richtete sich vor allem darauf, Frauen als Opfer sexueller Gewalt anzuerkennen. Aus einer solchen Anerkennung heraus sollten Handlungsforderungen abgeleitet und eine gesellschaftliche Veränderung auf den Weg gebracht werden. In den späten 1970er Jahren meldeten sich dann solche Gruppierungen immer lauter zu Wort, die den Opferdiskurs generalisierten und für sich nutzbar machten, indem sie ebenfalls die Anerkennung als Opfer forderten. Der Kriminologe Jonathan Simon argumentiert, dass gerade in der neoliberalen Gesellschaftsordnung die Anerkennung des Opfers und das drakonische Strafen beliebte Strategien einer ansonsten kaum existenten Staatlichkeit seien und der Staat so Fürsorge für seine Bürger dokumentiere.42 Als Goetz auf die vier jungen schwarzen Männer schoss, die von ihm in der U-Bahn fünf Dollar gefordert hatten, war in der amerikanischen Öffentlichkeit viel vom Opfer und insbesondere dem Verbrechensopfer die Rede, das vor allem weiß und tendenziell wohlhabend gedacht war. Übersehen wurde dabei leicht, dass die meisten Verbrechensopfer in Gegenden wie der South Bronx und sozialen Wohnungsbauprojekten wie dem Claremont Village wohnten. Doch diese Menschen hatte Präsident Ronald Reagan kaum im Sinn, als er die Anerkennung des Opfers zur Chefsache machte. „Crime has made vitcims of us all“, hieß es 1982 im Abschlussbericht einer „Task Force on Victims of Crime“, die Reagan unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit eingerichtet hatte. Im Abschlussbericht der Arbeitsgruppe wurde die Allgegenwart verbrecherischer Gefahr regelrecht beschworen: The specter of violent crime and the knowledge that, without warning, any person can be attacked or crippled, robbed or killed, lurks at the fringes of our consciousness. Every citizen of this country is more impoverished, less free, more fearful, and less safe, because of the everpresent threat of the criminal.43

42 Jonathan Simon: „Gewalt, Rache und Risiko. Die Todesstrafe im neoliberalen Staat“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1997), S. 279-301; siehe auch Jonathan Simon: Governing Through Crime. How the War on Crime Transformed American Democracy and Created a Culture of Fear, Oxford 2009. 43 President’s Task Force on the Victims of Crime, Final Report, Dezember 1982, S. vi, unter: http://www.ovc.gov/publications/presdntstskforcrprt/front.pdf (31. Dez. 2014).

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D ER F ALL G OETZ II Auch wenn Goetz von sich selber sagte, dass er körperlich fit und sehr gut in Form sei, nahm ihn die New Yorker Öffentlichkeit kaum als „hard body“ wahr. Sein Schwager beschrieb ihn als Prototyp des ‚Weichlings‘: „‚He has glasses. Not terribly stylish. Bernhard doesn’t project a macho image. Bernhard looks like a good victim.‘“44 Zugleich aber hatte er in der U-Bahn genau die männlichen Eigenschaften an den Tag gelegt, die einen „hard body“ ausmachten. Goetz war beides, Woody Allen und „hard body“ und mithin die personifizierte Remaskulinisierung Amerikas: der dick bebrillte Computertechniker, der zum ‚Vigilante‘-Rächer mutiert war. Goetz erschien der fleischgewordene Paul Kersey aus dem Film DEATH WISH zu sein, der vom ersten Tag als diskursiver Fluchtpunkt in der Debatte des Goetz-Falls allgegenwärtig war. John Palmer, der Anchorman der nationalen NBC-Nachrichtensendung The Today Show, sprach schon am Tag unmittelbar nach den Schüssen von einem „‚vigilante-style shooting like the popular movie DEATH WISH‘“. Vor allem eine U-Bahn-Szene in DEATH WISH, in der Paul Kersey zwei Mugger erschießt, wirkt so, als wäre sie eine Art Resonanzraum nicht nur für die öffentliche Deutung des Falles gewesen (inklusive der Behauptung unfähiger Polizei und Staatlichkeit), sondern auch für Goetz selber und seine Handlungsweise.45 Goetz wusste offenbar um die öffentlichen Vergleiche seiner Person mit den neuen Helden der Populärkultur, als er sich nach neun Tagen der Polizei stellt, und er kokettiert auf eine gewisse Art damit, weder ein Dirty Harry noch ein Paul Kersey zu sein, sondern nur ums Überleben gekämpft zu haben: People are looking for a hero or they are looking for a villain, and neither is the truth. What you have here is nothing more than a vicious rat. That’s all it is. It’s not Clint Eastwood, it’s not [...] Death Wish or whatever, it’s not taking the law into the own hands, judge, jury, and executioner, [...] – listen: I am gonna tell you what it is, and you will understand: this is survival instinct.46

44 Goetz’ Schwager ist zitiert nach Carole Agus: „Wolf Or Wimp? Myths And Realities Of Bernhard Goetz, Subway Vigilante“, in: Chicago Tribune, 14. Dezember 1986. 45 John Palmer auf NBC wird zitiert von David E. Sanger: „The Little-Known World of the Vigilante“, in: New York Times, 30. Dezember 1984; DEATH WISH (53:0756:07). 46 Goetz im Verhör in Concord/NH, 31. Dez. 1984, hier nach: The Confessions of Bernhard

Goetz.

(Henri

Caws/Lisa

Shear;

USA

1987),

https://www.youtube.com/watch?v=RpwRZbrs2QI (5. Jan. 2015).

abrufbar

unter:

270 | J ÜRGEN M ARTSCHUKAT

Die Energie, die insbesondere zwischen den Fällen Kersey und Goetz zirkulierte, ist frappierend. Goetz sah sich wie Kersey als ein Opfer des Verbrechens an der urbanen Frontier, und wie Kersey beschloss Goetz daraufhin, nicht weiter zurückweichen zu wollen. Dafür bewaffnete er sich, wie von der NRA empfohlen, und auch er besorgte sich die Pistole außerhalb New Yorks: Zwar nicht wie Kersey in Nevada an der echten Frontier, also dort, wo die Männer noch Cowboyhüte trugen und Liberals nicht das Sagen hatten, sondern in Florida. Beide suchten dann Situationen, in denen sie von der Waffe Gebrauch machen konnten, und dabei führten sie vor, wie niedrig die Toleranzschwelle mittlerweile offenbar lag. Von vier schwarzen Jungs in der New Yorker U-Bahn um fünf Dollar angehauen zu werden, war 1984 offenbar nicht nur für Bernhard Hugo Goetz, sondern auch für weite Teile der amerikanischen Öffentlichkeit so bedrohlich, dass die Anwendung von Waffengewalt innerhalb der skizzierten Frames angemessen und nachvollziehbar erschien. Selbst Goetz’ fünfter Schuss auf Darryl Cabey, der in diesem Augenblick bereits verletzt am Boden lag, durch den Schuss von der Hüfte abwärts gelähmt bleiben und von über zwei Monaten Koma eine dauerhafte Schädigung des Gehirns davontragen sollte, wurde als nachvollziehbare Reaktion und Folge seiner Angst und Bedrohungsempfindung gedeutet – von weiten Teilen der Öffentlichkeit, von einer ersten Grand Jury im Januar 1985 sowie von der Jury im Strafverfahren, die ihn letztlich im Juni 1987 quasi freisprach.47 Doch die öffentliche Zustimmung für Goetz war nicht ungeteilt. Bemerkenswert ist, dass sich befürwortende oder ablehnende Stimmen nicht klar und einfach entlang von race in zwei Gruppen teilen lassen. So erhielt Goetz Unterstützung von afroamerikanischen Zeuginnen, von Bürgerrechtsorganisationen wie dem Congress of Racial Equality CORE oder auch von den Guardian Angels, besagter Bürgerwehr aus afroamerikanischen und puerto-ricanischen Jugendlichen, die es sich seit einigen Jahren zum Ziel gesetzt hatten, die Sicherheit in der New Yorker U-Bahn zu verbessern. Die Guardian Angels sammelten in der U-Bahn Geld für Goetz und den Bernhard Goetz Legal Defense Fund, der zur finanziellen und ideellen Unterstützung seiner Verteidigung vor Gericht gegründet worden war.48

47 Siehe hierzu vor allem Fletcher: Notwehr als Verbrechen, S. 256-297. 48 Zur Unterstützung von Goetz durch Roy Innis, den Vorsitzenden der Bürgerrechtsgruppierung CORE, siehe Anonym: „N.Y. Subway ,Vigilante‘ Gets Wide Backing“, in: Human Events, 12. Januar 1985, S. 28; Marcia Chambers: „Grand Jury Votes to Indict Goetz Only on Gun Possession Charges“, in: New York Times, 26. Januar 1985; siehe auch Rubin: Quiet Rage, S. 74ff.

„N O D UTY TO R ETREAT “

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Im Laufe des Verfahrens mehrte sich allerdings die Kritik aus der Black Community, als mehr und mehr bigotte Äußerungen von Goetz an die Öffentlichkeit drangen und deutlich wurde, wie rassistisch dessen Opfer-, Rächer- und Ordnungsphantasien waren. Die gesamte öffentliche Debatte hatte ohnehin einen Grundton, der Goetz‘ Tat als Intervention in einem Ringen zwischen Schwarz und Weiß um „turf“ deutete. Während Patrick Buchanan, konservativer Radiound Fernsehkommentator, politischer Berater und ab Februar 1985 Pressesprecher von Präsident Ronald Reagan, die öffentliche Unterstützung für Goetz als ‚Zeichen der moralischen Gesundheit der amerikanischen Gesellschaft‘ bezeichnete, verwies Les Payne, der afroamerikanische Editor von Newsday, auf die Bedeutung, die Hautfarbe für diese Interpretation hatte. Hätte ein schwarzer Mann, so Payne, auf vier Weiße geschossen, so hätte er mit gänzlich anderen öffentlichen und staatlichen Reaktionen zu rechnen gehabt – aber: „In picking up the gun, Goetz, the blond hero, struck a blow for white manhood.“ Und dies war ein Schlag im Sinne einer weißen Männlichkeit, die seit zwei Jahrhunderten als genuine Verkörperung von freiheitlich-republikanischer Staatlichkeit gegolten hatte und nun mal wieder über eine Krise lamentierte.49 In diese Kritik fügten sich auch die Kommentare von Seiten der Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People NAACP, die an das historische Erbe der Lynchings schwarzer Männer durch weiße ‚vigilantes‘ erinnerte, die ebenfalls im Namen ganz spezifischer Vorstellungen von Sicherheit, Schutz und Ordnung vollzogen worden seien: „The myth as well as the reality evoke frightening historical analogies“, hieß es auch in der Zeitschrift The Nation, „our nightmares are filled with images of tribal violence rationalized as political necessity.“ Und Benjamin L. Hooks, Jr., Vorsitzender der NAACP und Richter, betonte, es sei noch nicht lange her, da habe man ein solches Vorgehen wie das von Goetz als Lynching bezeichnet: „The individuals and mobs acted as judge, jury and executioner of black people.“ Und er führte aus:

49 Buchanan und Payne sind zitiert nach Rubin: Quiet Rage, S. 15 und S. 103-104; siehe auch Segal: Slow Motion, S. 189f. Zur Verschränkung von weißer Männlichkeit und Staatlichkeit siehe Dana Nelson: National Manhood. Capitalist Citizenship and the Imagined Fraternity of White Men, Durham 1998.

272 | J ÜRGEN M ARTSCHUKAT If Goetz can do what he did and walk away, then none of our young black males, whether they be students, young professionals, honest workers, young parents raising a family or whatever, are safe.50

Dennoch: Wenn man versuchen will, eine Trennlinie in den Kommentaren zum Fall Goetz und in der Bewertung seines Vorgehens zu ziehen, dann ist wohl eher class und – damit verbunden – politische Verortung die entscheidende Kategorie. Vor allem eher als linksliberal zu charakterisierende Magazine wie die New Republic, The Nation und die New York Times beschrieben Goetz‘ Vorgehen als nicht hinnehmbar, warnten vor Selbstjustiz, drohender privater Aufrüstung und dem Ende des Gesellschaftsvertrages: Die Zeit des ‚vigilantism‘ dürfe nicht wieder beginnen. Wenn jeder das Gewaltmonopol des Staates durchbreche und sich selber zu Richter und Henker mache, sei dies eine Katastrophe für die Zivilisation. Goetz befeuerte diese Befürchtungen mit Äußerungen im Polizeiverhör, die peu à peu an die Öffentlichkeit drangen: „I know I’ve broken many laws and many rules, but I just want to tell you something“, sagte er zu den Polizisten und der Staatsanwältin, die aus New York nach New Hampshire gekommen waren: „In New York, I feel, and a lot of people feel, you have to have a gun, but they don’t let you.“ „They“ waren für Goetz die angeblich linksliberale Politik und Regierung der Stadt und des Staates ebenso wie die unverbesserlichen Linksliberalen allgemein, die davor warnten, dass tödliche Paranoia und Kontrollverluste à la Goetz um sich greifen könnten: „Almost anyone who owns a handgun is capable of losing control […] in a moment of fear or rage“, hieß es zum Beispiel in der New Republic. „Hence the results when we allow handguns to all: marital disputes, petty arguments, even minor traffic accidents turn into shootouts.“51 Lauter schrien aber eben diejenigen Stimmen, die solche kritischen Befürchtungen als verweichlicht und un-amerikanisch diskreditierten; als Befürchtungen der letzten verbliebenen Linksliberalen, die die Rechtskurve zur Remaskulinisierung Amerikas noch nicht gekriegt hatten und auch nicht kriegen wollten. Wer Goetz für einen paranoiden Wahnsinnigen halte, sei entweder unverbesserlich oder kenne die Realität in der New Yorker U-Bahn nicht, hieß es da. Nur wer sich ein Taxi leisten könne, könne sich auch eine solche Haltung leisten, die die Kriminellen zu Opfern der Gesellschaft verkläre. Menschen für das zur Verantwortung zu ziehen, was sie getan hätten, sei jedoch uramerikanisch und eine Vi-

50 Hooks ist zitiert bei Sarah Lyall: „N.A.A.C.P. Leader Seeks Federal Case on Goetz“, in: New York Times, 20. Juni 1987; Anonym: „Subway Catharsis“, in: The Nation, 19. Januar 1985, S. 35-36. 51 Anonym: „Bernhard Goetz’s Gun“, S. 7ff.

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sion, die man nicht vergessen dürfe, trommelte die konservative National Review: „It reminds people of the America they have lost. The ‚fantasy‘ is also a memory; the liberals want us to forget it, lest we hope for it again.“52 Die Re-Maskulinisierung gab sich also auch als Re-Amerikanisierung aus: Als Rückbesinnung auf etwas, das als genuin amerikanisch und deshalb als „gut“ und „echt“ beschrieben wurde. Dieses Gute und Echte war an die Vorstellung einer weißen Männlichkeit gekoppelt, die sich vorwärts bewegte und keinesfalls zurückwich, die sich nicht nur selbst bewaffnete, sondern auch schoss, um ihren Raum zu behaupten. Die private Aufrüstung vollzog sich auf einem Nährboden der Angst und des weiteren staatlichen Rückzugs in einer Zeit des Neoliberalismus. Schon im Februar 1985 orakelte der Kolumnist Roger Simon in einem seiner landesweit erscheinenden kritischen Texte ebenso düster wie treffsicher vorausschauend: „America A.G. [after Goetz] is an America in which everyone would carry a gun because everyone is afraid of everyone else.“53

52 Joseph Sobran: „The Natives Are Restless“, in: National Review, 22. Februar 1985, S. 25-29, hier: S. 29. 53 Roger Simon: „Goetz Makes It Cool To Pack Heat“, hier nach: Chicago Tribune, 25. Februar 1985; zu Roger Simon siehe Sam G. Riley (Hrsg.): Biographical Dictionary of American Newspaper Columnists, Santa Barbara/CA 1995, S. 302.

Politik der (Ohn)Macht La Fiesta del Chivo von Mario Vargas Llosa als Kritik am lateinamerikanischen Despotismus R EBECCA W EBER

Bartolomé de Las Casas Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder1 dient als historische Quelle, die Rückschlüsse zulässt über ein Verständnis von Macht, wie es in Europa seit dem Mittelalter bis ins 18. Jhd. hinein vorherrscht und mit den Konquistadoren Einzug in das frühneuzeitliche Strafsystem der lateinamerikanischen Länder findet. Macht definiert sich dabei über das Verhältnis zwischen Herrscher und Volk in Form von direkter Gewalt, die willkürlich, nicht nachvollziehbar und unanfechtbar ist. In Überwachen und Strafen von 19752 ist nach Michel Foucault die Abkehr von öffentlicher Marter kennzeichnend für den Übergang zur Modernität im Bereich des Gefängnisses und der Strafen, d.h. „des öffentlich am Körper des Delinquenten sichtbar gemachten Zeichens seiner Schuld“3 – erinnert sei hier an das Abschneiden der Zunge für Lästerer oder das Abschlagen der Hand bei Diebstahl – hin zu einer Disziplinargesellschaft, deren Fokus (im Wesentlichen) auf seelischer Bestrafung in Form von Freiheitsentzug liegt und auf die Erfor-

1

Bartolomé de Las Casas: Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder, hrsg. von Michael Sievernich, Frankfurt/M./Leipzig 2006.

2

Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 192014.

3

Sarasin: Michel Foucault, S. 133.

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schung der Motive und Triebe der Täter zielt, die durch entsprechende Therapie wieder in die Gesellschaft integriert werden sollen.4 Dem einstigen sogenannten ‚vertikalen‘ Verständnis des Machtbegriffs eines Jean Bodins zum Beispiel, wonach sich Macht ausschließlich von ‚oben‘ nach ‚unten‘ hin zum schwächsten Glied der Machtkette kanalisiert und der souveräne Herrscher keiner anderen irdischen Instanz gegenüber verantwortlich ist, setzt Foucault die Vorstellung entgegen, dass Machtmechanismen ‚horizontal‘ zu denken sind und den Gesellschaftskörper in seiner Gesamtheit durchziehen.5 Foucault versucht in seinen Ausführungen den Machtbegriff damit anders zu verstehen als es im 16. Jhd. bei Bodin und Las Casas der Fall ist. Macht kann nach Foucault zwar lokalisiert werden, zum Beispiel im Staat, in Personen oder Personengruppen und Klassen, wie der herrschenden Klasse, der die Herrschaftsunterworfenen gegenüberstehen. Foucault setzt dieser Vorstellung von Macht jedoch die relationale Konstitution von Macht gegenüber, womit er die Beziehung zwischen Personen und Personengruppen, d.h. Machtverhältnisse und Machtbeziehungen in den Vordergrund stellt.6 Macht ist folglich nicht eine Substanz oder Essenz, die von Personen, Gruppenkollektiven oder Institutionen angeeignet und damit besessen werden kann: Machthaber gibt es nicht, ebenso wenig wie Machtlose. Macht stellt demnach kein Gebiet dar, was erobert werden kann und damit einhergehend in einen Zustand der Statik verfällt.7 In seinem Werk Der Wille zum Wissen (1977) definiert Foucault ‚Macht‘ als die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; […] die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen

4

Die zahlreichen Terrorregime insbesondere der jüngsten europäischen und lateinamerikanischen Geschichte erlauben Zweifel an Foucaults Aussage, so dass sie an dieser Stelle mit gewissem Vorbehalt zu lesen ist. Festzustellen ist jedoch, dass mit dem Aufkommen der Psychiatrie eine zunehmende Abkehr von der öffentlichen Hinrichtung mit ihrem auf die Gesellschaft abschreckenden Zweck hin zur Disziplinierung des Täters in Gefängnissen stattfindet. Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen, S. 34ff. Vgl. dazu auch Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung, Hamburg 2005, S. 132f.

5

Vgl. Sarasin: Michel Foucault, S. 154f. Zur Staatstheorie von Jean Bodin vgl. ders.: Sechs Bücher über den Staat, München 1983/86.

6

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Bd. I: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 20

7

2014, S. 94-96.

Vgl. ebd.

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und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern.8

Foucaults dynamischer Machtbegriff knüpft damit an ein Verständnis des Terminus an, das in weiten Teilen bereits in den Schriften Hannah Arendts zu finden ist. Auch Arendt wendet sich ab von einer immanenten und statischen Begriffsdefinition wie sie im Absolutismus eines Ludwig XIV. ihre Versinnbildlichung par excellence gefunden hat. Auch sie denkt Macht nicht im Besitz eines Einzelnen9, sondern als kollektive Fähigkeit, die ihre Wirkung in der Gesamtheit einer Gruppe entfalten kann: „Wenn wir von jemand sagen, er ‚habe die Macht‘, heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln“.10 Macht ist bei Arendt damit eine Form der politischen Legitimation; wo diese nicht (mehr) gegeben ist, ersetzen Gewalt und Staatsterror oftmals – wie die Geschichte zeigt – als Resouveränisierungsstrategie von Herrschaft11 den kollektiven Willen. Mit Juan Linz lässt sich festhalten, daß jedes politische System, das von einer Minderheit, aber möglicherweise auch von einer Mehrheit, gegen den Willen anderer etabliert wurde, dazu geführt hat, daß die Gegner wiederum Gewalt gegen die Konsolidierung dieses Systems anwandten. Über kurz oder lang wird sich ein solches Regime in Richtung Terror bewegen, [um durch Gewalt die Herrschaft zu resouveränisieren, R.W.].12

8

Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 93.

9

Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 41981, S. 45.

10 Ebd. 11 Herrschaft ist nicht gleichbedeutend mit Macht. Arendt betont bei ihrer Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft das asymmetrische Verhältnis, das für letztere charakteristisch sei. Nach Arendt ist eine reine Gewaltherrschaft in der Theorie durchaus möglich, da allein die Anzahl der Gewaltmittel gegenüber der Meinung der Beherrschten relevant ist. Wie Arendt schreibt: „Auch die größte Macht kann durch Gewalt vernichtet werden; aus den Gewehrläufen kommt immer der wirksamste Befehl, der auf unverzüglichen, fraglosen Gehorsam rechnen kann. Was niemals aus den Gewehrläufen kommt, ist Macht“ (ebd.: 54). Im Nachfolgenden soll an diese Überlegungen anknüpfend entsprechend zwischen Macht, Gewalt und Herrschaft unterschieden werden. 12 Juan J. Linz: Totalitäre und autoritäre Regime, Potsdam 2009, S. 75.

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Gewalt und Herrschaft hängen eng miteinander zusammen bzw. bedingen sich in vielen Fällen gegenseitig und stehen damit zueinander in Beziehung. Die Frage nach dem ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ von Macht muss mit Arendt vor dem Hintergrund von Autoritarismus13, politischer Repression oder Staatsterror in Bezug auf viele Regierungen neu gestellt werden. So auch in Bezug auf die Ära Trujillo der Dominikanischen Republik, die den historischen Hintergrund von La Fiesta del Chivo bildet. Mario Vargas Llosa fasziniert an der Person Trujillo, wie er 2002 in einem Interview der The New York Times14 sagt: ,He had more or less all the common traits of a Latin American dictator, but pushed to the extreme. In cruelty, I think he went far far [sic!] away from the rest -- and in corruption, too.‘ He was, he said, a showman, and during his rule, life in the Dominican Republic ,was a kind of operatic farce, orchestrated by this man who had practically total control and could convert people into actors in a very sinister show‘.15

Wie Arendt in Macht und Gewalt zu bedenken gibt, hat es nie einen Staat gegeben, dessen Regierung ihre Herrschaft ausschließlich über Gewaltmittel gefestigt hätte. Auch in totalitären Systemen oder dem sultanistischen16 Regime Trujillos

13 Nach Linz sind autoritäre Regime durch „einen begrenzten politischen Pluralismus, die ausgeprägte Rolle der Militärs als einer hierarchisch strukturierten Institution und das Vorhandensein einer starken bürokratischen Tradition oder einer Partei [charakterisiert], die in der Tradition kommunistischer oder faschistischer Parteien die Massen mobilisiert“ (Linz: Totalitäre und autoritäre Regime, S. LVII). 14 Im Roman greift Vargas Llosa The New York Times auf, um anhand des Vorfalls zwischen dem ehemaligen Journalisten Tad Szulc, der fanatisch trujillotreuen Tageszeitung La Nación und Ex-Arbeitsminister Marrero, die Willkür und Gnadenlosigkeit des Diktators im Umgang mit (potentiellen) Verrätern zu veranschaulichen; vgl. Mario Vargas Llosa: La Fiesta del Chivo [2000], Madrid 22006, S. 88f. Zitate werden nachfolgend im Lauftext mit der Sigle FC und der entsprechenden Seitenzahl kenntlich gemacht. 15 Mel Gussow: „Lacing His Fiction With History; Vargas Llosa Keeps a Latin American Literary Boom Booming“, The New York Times, 28. März, 2002. 16 Linz grenzt den Sultanismus anknüpfend an Max Weber von anderen Formen autoritären Regierens ab: „Es wäre meines Erachtens auch nicht sehr fruchtbar, hier [er bezieht sich auf eine Klassifizierung autoritärer Regime, R.W.] bestimme Formen von Tyrannei oder Willkürherrschaft einzubeziehen, die von einem Einzelnen und seiner Klientel, gestützt auf eine Prätorianergarde, ausgeübt wird [sic!]. Diese Regime lassen jegliche Form organisierter Partizipation an institutionell strukturierter Macht vermis-

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– „in which the dictator engages every level of civilian life to meet his personal needs“17 – organisieren sich Regierungsmitglieder, Geheimpolizei und Spitzel wie die caliés – „gente vinculada al gobierno y al SIM“ (FC, 61) [Leuten, die mit der Regierung und dem SIM verbunden waren (FZ, 60)]18 – solidarisch miteinander, wodurch die politische Führung ihren Einflussbereich bis in die kleinste Einheit der Gesellschaft – den familiären Nukleus – ausweiten und durch diese Form der Omnipräsenz das Verhalten der Menschen kontrollieren und steuern kann.19 Der moralische Konflikt vieler Dominikaner unter Trujillo, zwischen politischem Gehorsam einerseits und dem Schutz der Familie vor Repressionen andererseits, wird anhand verschiedener Einzelschicksale innerhalb des Romans beschrieben und ist nicht zuletzt die narrative Rahmenhandlung von La Fiesta del Chivo: Der Roman eröffnet und schließt mit dem Erzählstrang der Protagonistin – Urania Cabral.20 Nachfolgend soll untersucht werden, welche Formen der Verdichtung von Macht innerhalb des Romans in Erscheinung treten. Genauer betrachtet werden muss in diesem Zusammenhang, wie Gewalt in ihren unterschiedlichen Artikulationsformen als Resouveränisierungsstrategie von Herrschaft in der Romanwelt

sen, sie scheren sich auch nicht im Geringsten um irgendwelche Legitimität und sie verfolgen eher private als kollektive Zwecke“ (ebd., S. 6). Siehe außerdem Jerzy Macków: Autoritarismus in Mittel- und Osteuropa, Wiesbaden 2009, S. 24. 17 Jane Marcus-Delgado: „Demonic Power and Political Discourse in Mario Vargas Llosa’s La Fiesta del Chivo“, in: Confluencia 19/2 (2004), S. 125-133, hier: S. 131. 18 Die deutschen Zitate sind der Übersetzung des Romans im Suhrkamp Verlag entnommen. Vgl. Mario Vargas Llosa: Das Fest des Ziegenbocks. Frankfurt/M. 2002. Zitate werden nachfolgend im Lauftext mit der Sigle FZ und der entsprechenden Seitenzahl kenntlich gemacht. 19 Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt, S. 51. 20 Der Roman ist in drei Erzählstränge unterteilt. Diese konzentrieren sich auf Urania Cabral, Tochter des ehemaligen Senators Agustín „Cerebrito“ Cabral, die Attentäter Trujillos und den Diktator selbst. Urania Cabral kehrt nach 35 Jahren aus New York in die Dominikanische Republik zurück, um sich dem Trauma ihrer Jugend zu stellen – der Vergewaltigung durch den ‚Jefe‘ [Trujillo]. In der fiktiven Vergangenheit des Romans wird das Geschehen von Uranias eigenem Vater geduldet, der durch die Darbietung seiner 14-jährigen und jungfräulichen Tochter an Trujillo hofft, die Gunst des Diktators zurückzugewinnen. Weitere Beispiele für ethische Zerrissenheit sind die Geschichten um Miguel Ángel Báez, Amado García Guerrero und Froilán Arala; vgl. FC, 103ff, 49ff und 75f.

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fungiert und welche Verbindung es dabei zwischen Gewalt und Männlichkeit gibt.

M ÄCHTIGE (M ÄNNER )K ÖRPER ? A RTIKULATIONSFORMEN VON G EWALT IM R OMAN Das Trujillo-Regime, an dessen Spitze der Diktator als Generalissimus21 und selbsternannter „Benefactor y Padre de la Patria Nueva“ (FC, 46) [Wohltäter und Vater des Neuen Vaterlandes (FZ, 45)] steht, ist im Roman durchzogen von einem Spionagenetz, dessen Chef Johnny Abbes García ist und das international gegen Oppositionelle sowie Feinde der Regierung vorgeht (FC, 40, 88). Eine unabhängige Rechtsprechung, wie sie charakteristisch für demokratische Regierungen ist, gibt es in der Romanwelt nicht.22 Trujillos Entscheidungen über Leben und Tod sind willkürlich. Sie werden durch Handlanger vollzogen, ohne einen vorhergehenden Prozess oder die Anhörung der Betroffenen. Trujillo wirft seine Opfer den Haien vor – „Las panzas de los tiburones eran testigos de que no se había privado de ese gusto“ (FC, 37) [Die Bäuche der Haie waren Zeugen dafür, daß er sich dieses Vergnügen nicht versagt hatte (FZ, 35)] –, um das Land von kritischen Stimmen zu befreien und gleichzeitig jegliche Überreste zu vernichten. Die Ernennung von Abbes García zum Leiter der SIM23 durch Trujillo erfolgt in der fiktiven Vergangenheit des Romans aufgrund der Kälte, die der coronel ausstrahlt – „el ser más glacial que había conocido en este país de gentes de cuerpo y alma calientes“ (FC, 80) [er war das eisigste Wesen, das er in diesem Land von Menschen mit heißen Seelen und Körpern kennengelernt hatte (FZ 80f)]. Gnadenlosigkeit und Undurchsichtigkeit, die im Roman mit körperlicher Kontrolle – „Otro mito que repetían sobre él [Trujillo] era: ‚Trujillo nunca

21 Der Generalissimus ist befugt, sowohl militärisch als auch politisch auf eigene Verantwortung zu handeln. In seiner Entscheidungsgewalt steht er über den Marschällen und Generälen und hat den Oberbefehl über sämtliche Streitkräfte seines Landes. 22 Zum Demokratieverständnis nach Linz vgl. ausführlicher ders.: Totalitäre und autoritäre Regime, S. 12f; Linz verweist bei seinem Demokratiebegriff insbesondere auch auf den freien Wettbewerb, in dem die politischen Eliten „ihre[n] Anspruch zu regieren in regelmäßigen Abständen und ohne Anwendung von Gewalt bestätig[en]“ (ebd.). 23 SIM oder Servicio de Inteligencia Militar ist die Bezeichnung für die Geheimpolizei der Dominikanischen Republik unter Truijllo.

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suda‘“ (FC, 30) [Ein weiterer Mythos, der kolportiert wurde: ‚Trujillo schwitzt nie‘ (FZ, 28)] – gleichgesetzt werden, symbolisieren im männlichen Zirkel um den Diktator (politische) Größe. In La Fiesta del Chivo tritt der Körper des Diktators als Repräsentant eines patriarchalisch hegemonialen Diskurses auf, der in der narrativen Ausgestaltung der Figur des Leonidas Trujillo zum Ausdruck kommt und in der Diegese des Romans einen repressiven Machtdiskurs perpetuiert, der in seiner Semantizität kulturell gewachsene Vorstellungen von Virilität und Herrschaft transportiert. Max Weber sagt, dass jede Herrschaft versuche, den „Glauben an ihre ‚Legitimität‘ zu erwecken und zu pflegen“24 oder der Vorstellung von „Macht als Kommunikationsmedium“ nach Luhmann folgend: Macht möchte gezeigt werden.25 In der Art und Weise von Trujillos Kleidung findet die permanente (Selbst)Prüfung und Selbstdarstellung des Körpers ihre Vollendung: […] los cabellos grises alisados con esmero y el impecable atuendo – chaqueta y chaleco azul, camisa blanca de inmaculado cuello y puños almidonados, corbata plateada sujeta con una perla […]. Sabía [Amadito] que el menor descuido indumentario provocaba al Jefe un disgusto tal que podía irrumpir en violentas recriminaciones (FC, 48f).26

Trujillo und Abbes Garcia – „El coronel puede ser un demonio“ (FC, 55) [Der Oberst mag ein Teufel sein (FZ, 54)] – stehen damit als einflussreichste Männer im Land – und durch die Titulierung chivo und el demonio als Inkarnationen des Bösen27 – gewissermaßen konträr zu der Figur (des späteren Präsidenten) Joaquín Balaguer – „el pequeño vate y jurisconsulto“ (FC, 291) [der kleine Dichter und Rechtsgelehrte (FZ, 298)] –, der, obwohl er von Trujillo als Stratege hoch geschätzt wird, aufgrund seiner Bescheidenheit lediglich als Marionette –

24 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 51980, S. 122. 25 Vgl. Andreas Anter: Theorien der Macht, S. 130f. 26 „[…] das graue, sorgfältig geglättete Haar und die tadellose Kleidung […] – blaues Jackett und blaue Weste, weißes Hemd mit makellosem Kragen und gestärkten Manschetten, silberfarbene Krawatte, von einer Perle gehalten […]. Er wußte, daß die winzigste Nachlässigkeit in der Kleidung den Chef so sehr aufbrachte, daß er die heftigsten Vorhaltungen ausstoßen konnte“ (FZ, 47f). 27 In der Charakterisierungen beider Figuren können zudem nahezu alle sieben Todsünden nachgezeichnet werden: Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn (Wut, Rachsucht), Völlerei (Maßlosigkeit, Selbstsucht), Ignoranz. Einzig mit Faulheit können beide nicht charakterisiert werden.

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„Presidente fantoche“ (FC, 286) [Marionettenpräsident (FZ, 293)] – des Diktators fungiert: A diferencia de los otros del grupo íntimo, cuyos apetitos podía leer como en un libro abierto en sus conductas, iniciativas y lisonjas, Joaquín Balaguer siempre le dio la impresión de aspirar sólo a lo que a él se le antojaba darle (FC, 290).28

Wohl wissend, dass die internationale Öffentlichkeit – „Ni Kennedy, ni la OEA, ni el negro asqueroso y afeminado de Betancourt29, ni el comunista Fidel Castro, van a hacer correr a Trujillo del país que le debe todo lo que es“ (FC, 229) [Weder Kennedy noch die OAS, noch der widerliche weibische Neger von Betancourt, noch der Kommunist Fidel Castro werden erreichen, daß Trujillo aus dem Land davonläuft, das ihm alles verdankt, was es ist (FZ, 234)] – sein politisches Handeln beobachtet, stützt sich el chivo auf seinen Geheimdienstchef – „Para que un gobierno dure treinta años, hace falta un Johnny Abbes que meta las manos en la mierda“ (FC, 55) [Damit eine Regierung dreißig Jahre dauert, ist ein Johnny Abbes nötig, der seine Hände mit Scheiße beschmutzt (FZ, 54)] – sowie auf die Kooperation der Familienmitglieder, die Ämter von politischer Schlüsselfunktion bekleiden.30 Trujillos Bruder Petán ist beispielsweise der Chef des nationalen Rundfunk- und Fernsehsenders La Voz Dominicana und kann die

28 „Im Unterschied zu den anderen Angehörigen des inneren Zirkels, deren Gelüste er wie in einem offenen Buch an ihren Verhaltensweisen, Initiativen und Schmeicheleien ablesen konnte, hatte Joaquín Balaguer immer den Eindruck auf ihn gemacht, als strebe er nur nach dem, was er ihm zu geben gewillt war“ (FZ, 297). Im Roman übernimmt Balaguer nach der Ermordung Trujillos die Regierungsgeschäfte nicht nur in dekorativer Funktion, sondern realiter (vgl. FC, 452), wobei er die Absicht erweckt, das Land in eine Demokratie führen zu wollen (vgl. FC, 470). Historisch belegt ist jedoch, dass, als 1962 ein Staatsrat einberufen wird zwecks Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung und Vorbereitung für freie Wahlen, Balaguer sich widersetzt. Vgl. Carl D. Goerdeler: „Karibischer Bocksgesang. Mario Vargas Llosa glückt erneut ein Klassiker“, in: NZZ, 07.09.2000. Zum historischen Hintergrund vgl.: http://www.cidob.org/es/documentacio/biografias _lideres_politicos/america_central_y_caribe/republica_dominicana/joaquin_balaguer_ ricardo [17.03.2016]. 29 Zu den persönlichen Diskrepanzen Trujillos mit Rómulo Betancourt vgl. auch FC, 26. 30 Diese Art der Clan-Politik findet sich in der jüngeren lateinamerikanischen Geschichte auch an anderer Stelle wieder. Erinnert sei hier beispielsweise an den Somoza-Clan in Nicaragua, den Chávez-Clan in Venezuela oder die Castro-Brüder in Kuba.

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mediale Berichterstattung in In- und Ausland dank seines Netzwerkes beeinflussen.31 Gestützt auf die Medien und deren manipulative Wirkung auf die öffentliche Wahrnehmung32, die Verbreitung von Angst und politischer Ohnmacht unter den Dominikanern und seinen Ministern, die aufgrund der Skrupellosigkeit des Diktators gezwungen sind, möchten sie ihr Leben und das der eigenen Familie schützen, dessen ethische Vergehen zu dulden oder vielmehr zu unterstützen33, perpetuiert Trujillo in La Fiesta del Chivo seine Herrschaft, wie Urania Cabral in einem inneren Monolog zusammenfasst: Hay muchas cosas de la Era que has llegado a entender; algunas, al principio, te parecían inextricables, pero, a fuerza de leer, escuchar, cotejar y pensar, has llegado comprender que tantos millones de personas, machadas por la propaganda, por la falta de información, embrutecidas por el adoctrinamiento, el aislamiento, despojadas de libre albedrío, de voluntad y hasta de curiosidad por el miedo y la práctica del servilismo y la obsecuencia, llegaran a divinizar a Trujillo. [...] Lo que nunca has llegado a entender es que los dominicanos más preparados, las cabezas del país, abogados, médicos, ingenieros, salidos a veces de muy buenas universidades de Estados Unidos o de Europa, sensibles, cultos, con experiencia, lecturas, ideas, presumiblemente un desarrollado sentido del ridículo, sentimientos, pruritos, aceptaran ser vejados de manera tan salvaje (lo fueron todos alguna vez) [...]“ (FC, 76).34

31 Vgl. FC, 257f, 233f. 32 „‚Manipuliert‘ werden können Menschen nur durch physischen Zwang, durch Furcht, Folter oder Hunger, und die Meinungsbildung kann zuverlässig nur durch organisierte, gezielte Falschinformationen gelenkt werden […]“ (Arendt: Macht und Gewalt, S. 33). 33 Hierzu bietet der Roman zahlreiche Stellen. Vgl. u.a. FC 72, 365f oder 42, wo auf den Mord an den Mirabal-Schwestern Bezug genommen wird. Insbesondere sei in diesem Zusammenhang auf den sexuellen Missbrauch an Urania Cabral verwiesen, der von Uranias Vater geduldet wird; vgl. S. 501ff. 34 „Es gibt viele Dinge in der Ära, die du schließlich verstanden hast; einige erschienen dir zu Beginn unentwirrbar, aber durch langes Lesen, Zuhören, Vergleichen und Denken hast du am Ende begriffen, warum so viele Millionen Menschen, der Propaganda, dem Mangel an Informationen, der Indoktrinierung, der Isolation ausgesetzt, des freien Willens, der Entschlußkraft, sogar der Neugier beraubt durch die Angst, durch ihre eigene Willfährigkeit und Unterwürfigkeit, Trujillo schließlich vergöttlicht haben. […] Was du jedoch nie verstanden hast, ist, daß die Dominikaner mit den besten Voraussetzungen, die Köpfe des Landes, Anwälte, Ärzte, Ingenieure, die zum Teil sehr

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Gewalt als notwendige Resouveränisierungsstrategie der Herrschaft des TrujilloRegimes äußert sich im Roman somit körperlich und psychisch. Nicht selten treten beide Formen in Kombination auf.35 Insbesondere die detaillierten Schilderungen der Folter an Trujillos Attentätern in La Cuarenta36 zeigt die Skrupellosigkeit der sultanistischen Regierung und die Ohnmacht der Dominikaner vor der Staatsgewalt. Gewalt und Männlichkeit sind in La Fiesta del Chivo gemäß dem Hinweis von Connell, dass „dem Klischee nach […] ein Gewehr nicht nur eine Waffe [ist], sondern auch ein Penissymbol“37, untrennbar miteinander verbunden. Die politische Staatsführung, d.h. im Roman die Staatsgewalt, besteht bis auf die Mutter des Diktators, Mamá Julia – „la Excelsa Matrona“ (FC, 21) [Erhabene Matrone (FZ, 19)] und „Madre y maestra“38 (FC, 21) [Mutter und Lehrerin (FZ, 19)] –, die repräsentative Funktionen einnimmt (vgl. FC, 29, 31), ausschließlich aus Männern.39 Akte der Gewalt, sowohl von psychischer als auch physischer Art, zielen im Roman zumeist direkt auf die Männlichkeit, einerseits auf den Körper als Materialität in Form von Kastration, wie es dem „jefe de las Fuerzas Armadas“ (FC, 382) [Minister der Streitkräfte (FZ, 395)], José René Román alias Pupo Román, bei seiner Folter ergeht (vgl. FC, 431), andererseits in Form von Demütigung, d.h. über die Verletzung der männlichen Ehre (vgl. FC, 75).40 Ein

gute nordamerikanische oder europäische Universitäten absolviert hatten, die sensibel waren, gebildet, Erfahrung, Ideen besaßen, gelesen hatten, vermutlich eine ausgeprägte Angst vor Lächerlichkeit, Gefühle, Ambitionen kannten, es hinnahmen, in so brutaler Weise beleidigt zu werden (es widerfuhr allen irgendwann einmal) […]“ (FZ, 76f). 35 Für Foltermethoden, die die Psyche des betroffenen Menschen angreifen, hat sich der kontrovers diskutierte Terminus der ‚weißen Folter‘ etabliert. Vgl. Rainer Mausfeld: „Foltern ohne Spuren. Psychologie im Dienste des ‚Kampfes gegen den Terrorismus‘“, in: Wissenschaft & Frieden 1 (2010): Intellektuelle und Krieg, S. 16-19. 36 La Cuarenta ist als Foltergefängnis der Trujillo-Regierung bekannt; vgl. FC, 58. 37 Raewyn Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 32006, S. 233. 38 Frauen können in La Fiesta del Chivo gemäß der binären Opposition von „Hure“ oder „Heilige“ eingeordnet werden, wobei die Mutter des Diktators als eine Art Schutzpatronin der dominikanischen Gesellschaft klassifiziert wird. 39 Zur Herstellung von Männlichkeit in der Entstehung der modernen Geschlechtsordnung vgl. Raewyn Connell: Der gemachte Mann, S. 206f. Siehe auch Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft, Frankfurt/M. 2005. 40 Zum Konzept „Ehre“ vgl. beispielsweise Friedrich Zunkel: „Ehre, Reputation“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe,

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offenes Geheimnis beispielsweise ist, dass Trujillo mit den Ehefrauen seiner Minister schläft – „Lo hacía cuando las esposas eran bellas“ (FC, 72) [Er tat es, wenn die Ehefrauen schön waren (FZ, 72)] –, um deren Loyalität zu prüfen: Llegaba a jactarse de las ‚hembras que se había tirado‘, algo que también celebraban los cortesanos, aun cuando ello los hiciera potenciales enemigos de doña María Martínez, la Prestante Dama [la esposa de Trujillo, R.W.], y aun cuando aquellas hembras fueran sus esposas, hermanas, madres o hijas (FC, 73).41

Dem Phallus als Symbol für Männlichkeit wird innerhalb der Romanhandlung eine zentrale Funktion zuteil. Sexuelle Potenz, die sich über den regelmäßigen Verkehr mit wechselnden Sexualpartnerinnen äußert, dient Trujillo (sowie seinen Söhnen42) zur Vergewisserung ihrer Herrschaft über die Inselbewohner: ¿Qué hizo que don Froilán guardase una lealtad perruna a Trujillo? Fue leal hasta lo último, como tú. No participó en la conspiración, ni tú tampoco. Siguió lamiendo la mano del Jefe después de que éste se jactara en Barahona de haberse tirado a su mujer. Al Jefe que lo tuvo dando vueltas por América del Sur, visitando gobiernos, como canciller de la República, de Buenos Aires a Caracas, de Caracas a Río o Brasilia, de Brasilia a Montevideo, de Montevideo a Caracas, sólo para seguir tirándose con toda tranquilidad a nuestra bella vecina (FC, 76f).43

hrsg. von, Bd. II, Stuttgart 1975, S. 1-64. Zur Folterung Pupo Románs vgl. FC, 431. Zum historischen Hintergrund vgl. Chichi De Jesus Reyes: „Pupo Román habría traicionado compañeros de complot contra Trujillo“, in: El Nacional, 31.05.2013. 41 „Er prahlte mit ‚den Weibern, die er gevögelt hatte‘, und auch das beklatschten die Höflinge, selbst wenn es sie zu potentiellen Feinden von Doña María Martínez [der Ehefrau Trujillos, R.W.] machte, der Vortrefflichen Dame, und selbst wenn diese Weiber ihre Ehefrauen, Schwestern, Mütter oder Töchter waren“ (FZ, 73). 42 Zur Vergewaltigung von Rosalía Perdomo durch Ramfis Trujillo vgl. FC, 136f. 43 „Warum bewahrte Don Froilán Trujillo eine hündische Treue? Er war treu bis zum Schluß, wie du. Er beteiligte sich nicht an der Verschwörung, du auch nicht. Er leckte dem Chef weiter die Hand, nachdem dieser in Barahona damit geprahlt hatte, er habe seine Frau gevögelt. Dem Chef, der ihn in Südamerika herumreisen, als Außenminister der Republik Regierungen besuchen ließ, von Buenos Aires nach Caracas, von Caracas nach Rio de Janeiro oder Brasilia, von Brasilia nach Montevideo, von Montevideo nach Caracas, nur um weiter in aller Ruhe unsere schöne Nachbarin vögeln zu können“ (FZ, 77).

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Trujillo zelebriert sein sexuelles Verlangen, was nicht zuletzt über den Titel des Romans zum Ausdruck kommt: La Fiesta del Chivo. Der dramaturgische Höhepunkt des ‚teuflischen Festes‘ oder ‚der Feier des Ziegenbocks‘, da ‚Ziegenbock‘ sowohl auf den ‚teuflischen Hufen‘ als auch auf den animalischen Sexualtrieb Trujillos verweist44, erfolgt im letzten Kapitel des Romans, in dem der Leser den Grund für das selbstgewählte Exil Urania Cabrals erfährt: im Alter von 14 Jahren ist sie von Trujillo vergewaltigt worden. Der ohnmächtige Mädchenkörper – „Ella se dejaba hacer, sin ofrecer resistencia, el cuerpo muerto“ (FC, 514) [Sie ließ es mit sich geschehen, widerstandslos, mit totem Körper (FZ, 526)] –, der die körperliche und psychische Gewalt erduldet, kann repräsentativ für die dominikanische Gesellschaft unter Trujillo verstanden werden. Ebenso wenig wie Agustín Cabral seine Rolle als Vater und damit sinnbildlichem Beschützer der Familie erfüllt (vgl. FC, 348f), scheitert der selbsternannte Padre de la Patria in dieser Funktion. Die Regentschaft Rafael Leónidas Trujillos ist durch eine uneingeschränkte Herrschaft des ‚Generalísimo‘ charakterisiert. Er enthebt beliebig Staatsdiener aus ihrem politischen Amt, wie anhand des Senators und Ministers Agustín Cabral veranschaulicht wird. Dieser muss unter dem Vorwand „habérsele comprobado una incorrecta gestión en el Ministerio de Obras Públicas“ (FC, 258, vgl. auch 337) [da man ihm unkorrekte Amtsführung im Ministerium für öffentliche Bauten nachgewiesen hat (FZ, 264)] die Regierung verlassen. Trujillo lebt einen Rassenwahn45 und unterbindet oder zerschlägt politische Gegenstimmen gewaltsam.46 Der Benefactor de la Patria wird im Roman als Despot entlarvt und kann auf politischer Ebene nicht als Machthaber im Sinne Arendts verstanden werden. Er ist ein Gewaltherrscher, der seine Souveränität durch physischen und psychi-

44 Vgl. Jane Marcus-Delgado: „Demonic Power and Political Discourse in Mario Vargas Llosa’s La Fiesta del Chivo“, S. 128. Vgl. Ignacio López-Calvo: „God and Trujillo. Literary and Cultural Representations of the Dominican Dictator“, Gainesville/USA 2005, S. 48. 45 So hat der historische Trujillo mit Puder versucht, seine haitianische Herkunft zu vertuschen; vgl. auch FC, 371. Zum Massaker an den Haitianern vgl. ebd. S. 16, S. 222ff. 46 Verwiesen sei an dieser Stelle insbesondere auf die Vorfälle des Regimes in Zusammenhang mit der katholischen Kirche. Vgl. FC, 164, 230, wo der Fall des Bischofs Reilly besprochen wird. Dieser hat die Aufmerksamkeit Trujillos auf sich gezogen, da er sich in der fiktiven Vergangenheit des Romans mit anderen Geistlichen zusammenschloss, um in einem öffentlichen Brief das Unrechtsregime anzuklagen. Zum historischen Hintergrund siehe Wolfgang Saxon: „Bishop Thomas F. Reilly, 83, dies. Resisted the Trujillo Dictatorship“, in: The New York Times, 23.07.1992.

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schen Terror, wie im Roman anhand von zahlreichen Beispielen von Regierungskritikern und Regimegegnern belegt werden kann, perpetuiert. Er belügt und betrügt die Bevölkerung indem er die Presse zensiert (vgl. FC, 76) – „El Foro Público, la sección más leída y temida de El Caribe pues estaba alimentaba desde el Palacio Nacional“ (FC, 257f) [im Öffentlichen Forum, der Rubrik von El Caribe, die am meisten gelesen und gefürchtet wurde, da sie das vom Regierungspalast gespeiste politische Barometer des Landes war (FZ, 263)] 47 – und übt Kontrolle sowie politische Repression bis in den familiären Nukleus hinein aus.48 Die Ausübung des mittelalterlichen Herrenrechts schließlich, wobei das ius primae noctis bereits im Gilgamesch-Epos aus dem 3. Jahrtausend vor Christus belegt ist, ‚katapultiert‘ die politische Führung zurück ins feudale Mittelalter mit seinem Herrschaftsverständnis, das von persönlicher Abhängigkeit und Unfreiheit der Herrschaftsunterworfenen gegenüber der Obrigkeit gekennzeichnet ist und von dem heutigen Demokratieverständnis damit nicht nur zeitlich entfernt ist (vgl. FC, 501ff, bes. 510).

D IE K ASTRATION DES Z IEGENBOCKS : (O HN )M ÄCHTIGE K ÖRPER ALS V ERSINNBILDLICHUNG EINER P OLITIK DER (O HN )M ACHT ? Trujillo, der sich über weite Teile des Romans als Gottheit inszeniert und seine Macht als durch göttliches Recht im Sinne einer absolutistischen Herrschaft legitimiert sieht, repräsentiert einen, dem modernen Demokratiebegriff folgenden, archaischen Stil politischer Führung. In Hinblick auf das Trujillo-Regime wäre es aber falsch, das Zentrum der Herrschaft einzig im Diktator zu lokalisieren. Trujillos Netzwerk, das sich über die Besetzung von Regierungsämtern durch Opportunisten, die Geheimpolizei und die mediale Berichterstattung schließlich bis in das häusliche Wohnzimmer der dominikanischen Bevölkerung zieht, bestätigt Foucaults These, dass das Überwachungssystem die panoptischen Gefängnismauern verlassen und die Gesellschaft mit einem System der absoluten Kontrolle durchzogen habe.49

47 Zur Funktion von Trujillos Bruder, dem General José Arismendi Trujillo, kurz Petán, vgl. FC, 231. 48 Zum Familienkonflikt zwischen Salvador Estrella Sadhalá und Piro Estrella vgl. FC, 439, zur Ablehnung der Ehe mit Luisa Gil auf Befehl des ‚Jefe‘ vgl. FC, 49ff. 49 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen, S. 288.

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Bereits in La ciudad y los perros / „Die Stadt und die Hunde“ (1962) hat Mario Vargas Llosa die „Mechanismen der Gewalt“50 in seinem Heimatland Peru in den Fokus der Romanhandlung gestellt. Kontrolle über den menschlichen Körper, gemäß der foucaultschen Disziplinargesellschaft, wird im Roman am Beispiel der Kadetten, der ‚Hunde‘, nachgezeichnet. Der Einflussbereich der Kadettenanstalt als Teil der Männerwelt des Militärs, die auch in diesem frühen Werk des Autors durch Gewalttätigkeit, Korruption und Janusköpfigkeit charakterisiert ist, erstreckt sich über die Mauern der Einrichtung hinaus zu einem Panorama der peruanischen Gesellschaft.51 Diese Wechselwirkung zwischen Macht, Männlichkeit und Gewalt verknüpft auch in La Fiesta del Chivo die narrativen Stränge miteinander. Trujillos politische Repressionen bedingen das Vorhaben der Untergrundbewegung „los del 14 de Junio“ (FC, 44) [Leuten vom 14. Juni (FZ, 43)], den „Ziegenbock“ zu ermorden, was damit auf Romanebene die theoretischen Überlegungen von Linz bestätigt (vgl. FC, 45). Das Scheitern der Regierungsübernahme nach dem geglückten Attentat auf Trujillo zeigt dabei eindringlich die Dynamik hinter dem Machtbegriff. Der Plan der conspiradores scheitert entsprechend, gemäß der Vorstellung des arendtschen Machtkollektivs52, aufgrund der Handlungsunfähigkeit Pupo Románs: Aus Macht wird Ohnmacht, die sich, wie Kapitel 21 veranschaulicht, in der körperlichen und psychischen Folter der Attentäter durch Ramfis Trujillo und Johnny Abbes verdichtet.53 So wie Trujillos Gewaltakte auf regimekritische Körper zielen in der Form, dass diesen Männlichkeit abgesprochen wird, erstreckt sich der Spannungsbogen des Romans über den Abbau von Trujillos Männlichkeit in Form seiner sexuellen Potenz, die den politischen Niedergang des Regimes begleitet. Trujillos (alternder) männlicher Körper, der im Verlauf der Romanhandlung über verschiedene Frauenkörper zu herrschen pflegt und dem weiblichen Körper Gewalt zufügt, findet seine Entmännlichung schließlich in der Konfrontation mit dem Körper der jugendlichen Urania. Mit der Ohnmacht des Phallus geht für Trujillo die männliche Ohnmacht im Sinne Connells einher. Der weinende und in sich gekauerte bleiche und schlaffe Männerkörper hat schließlich vom göttlichen Glanz vorhergehender Kapitel nichts behalten.

50 Thomas M. Scheerer: Mario Vargas Llosa. Leben und Werk. Eine Einführung, Frankfurt/M. 1991, S. 15. 51 Vgl. Scheerer: Mario Vargas Llosa, S. 14f. 52 Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt, S. 45. 53 Zum Verrat durch Pupo Román vgl. FC, 359ff, 395ff, 402ff, 410ff, zur Folterung der Attentäter durch Trujillisten vgl. FC, 433ff.

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De vez en cuando solloza y sus suspiros levantan su pecho. Unos vellos blanquecinos ralean entre sus tetillas y alrededor de sus oscuro ombligo. Tiene siempre los ojos ocultos bajo su brazo. ¿Se ha olvidado de ella? ¿La amargura y el sufrimiento que se adueñaron de él la han abolido? (FC, 517).54

Mit dem Abbau von Trujillos Männlichkeit schwindet seine Herrschaft. Diese kann ohne die Gewissheit seiner Manneskraft nicht resouveränisiert werden, wie Trujillo bereits an anderer Stelle im Text für sich erkennt: „Dios mío, hazme esa gracia. Necesito tirarme como es debido, esta noche, a Yolanda Esterel. Para saber que no estoy muerto. Que no estoy viejo. Que puedo seguir reemplazándote en la tarea de sacar adelante este endemoniado país de pendejos“ (FC, 376).55 La Fiesta del Chivo kann folglich als Abrechnung mit despotischen Herrschaftsformen verstanden werden, die im 20. Jhd. den Kontinent dominieren und nicht nur die Bevölkerung der Dominikanische Republik sondern auch Menschen in anderen lateinamerikanischen Ländern in einen Zustand der politischen Ohnmacht versetzen, wie an den Beispielen von Brasilien, Chile, Argentinien, Nicaragua, Kuba oder Peru, der Heimat des Autors, bestätigt werden kann.56 Von politischer Ohnmacht kann einerseits gesprochen werden, da politischer Pluralismus und Stimmendiversität durch die jeweiligen Regierungen unterdrückt sowie gewaltsam niedergeschlagen werden, was das Exil kritischer Stimmen bedingt. Andererseits kann von Ohnmacht im Sinne einer Illegitimität der Regierung nach Arendt gesprochen werden. Denn genannte Regierungen inszenieren sich als Übergangsregierungen, mit dem Ziel, das jeweilige Land politisch zu stabilisieren und Rechtsstaatlichkeit zu etablieren. Linz hält dazu fest:

54 „Ab und zu schluchzt er, und seine Seufzer heben seine Brust. Zwischen seinen Brustwarzen und um seinen dunklen Bauchnabel herum wächst spärliches weißes Haar. Noch immer verdeckt er die Augen mit seinem Arm. Hat er sie vergessen? Haben seine Bitterkeit, sein Schmerz sie ausgelöscht?“ (FZ, 529). 55 „Lieber Gott, tu mir diesen Gefallen. Ich muss heute nacht Yolanda Esterel flachlegen, nach allen Regeln der Kunst. Um zu wissen, daß ich nicht tot bin. Daß ich nicht alt bin. Daß ich dich weiterhin in der Aufgabe ersetzen kann, dieses verdammte Land von Idioten voranzubringen“ (FZ, 385). 56 Vgl. Jan-Henrik Witthaus: „Despoten im Gegenlicht. Zum biopolitischen Körper Trujillos in La Fiesta del Chivo von Mario Vargas Llosa“, in: ders./Patrick Eser (Hrsg.): Machthaber der Moderne. Zur Repräsentation politischer Herrschaft und Körperlichkeit, Bielefeld 2016, S. 293-319, hier: 303.

290 | R EBECCA W EBER Viele militärische Staatsstreiche bekommen deshalb breite Unterstützung, weil sich deren Protagonisten verpflichten, die Demokratie gegen traditionelle Herrscher bzw. gegen autokratische Regierungen einzuführen oder die durch Wahlmanipulation und Wahlverzögerung ins Straucheln gekommene Demokratie wieder zu stärken. Diese Absicht ist anfangs und bei einigen Führern durchaus ernst gemeint. Die Schwierigkeit aber ist, daß militärische Herrschaft oft gerade autoritäre Regime hervorbringt, statt den Weg zur Demokratie zu ebnen.57

Wahlmanipulationen, die Außerkraftsetzung von Freiheitsrechten, der Unschuldsvermutung sowie strafrechtlicher Verhältnismäßigkeit, verbunden mit willkürlichen Massenverhaftungen, Todesstrafen und Exekutionen – erinnert sei an das Massaker von 1937, bei dem 20.000 Haitianer durch die TrujilloRegierung ermordet werden – sind hingegen Zeugnis einer politischen Ohnmacht, bei der politische Herrschaft mit Mitteln der Gewalt sichergestellt werden muss.58 Aus antisexistischer Perspektive, wie durch das Ethos der westlichen Demokratien eingefordert59, muss darüber hinaus die Frage aufgeworfen werden, ob ein hegemonial männlicher Diskurs im Roman nicht letztlich sogar perpetuiert wird. Denn Urania Cabral schafft es nicht, das Trauma der Vergewaltigung für sich zu überwinden und verharrt in einem Zustand sexueller Ohnmacht, der ihr romantische Beziehungen unmöglich macht. Urania repräsentiert damit nicht nur die Bevölkerung in ihrem Herkunftsland, sondern Menschen verschiedener lateinamerikanischer Länder, die das Trauma der Erfahrung einer despotischen Herrschaft bis heute nicht verarbeitet haben und deren Regierungen mit der Situation konfrontiert sind, die ethischen Vergehen der Vorgängerregierungen aufzuklären. Dennoch bietet der Roman einen positiven Ausblick, da über die Generationen hinweg die einst zerstörten familiären Beziehungen wieder konsolidiert werden, wenn Urania für sich beschließt: „Si Marianita me escribe, le contestaré todas las cartas“ (FC, 526) [Wenn Marianita mir schreibt, werde ich alle ihre Briefe beantworten (FZ, 538)].

57 Linz: Totalitäre und autoritäre Regime, S. 17. 58 Zum Massaker an den Haitianern vgl. FC, 16, 222ff. 59 Für die Dominikanische Republik vgl. hierzu insbesondere die Arbeit des ‚Consejo Ministerial de la Mujer de Centroamérica y República Dominicana‘ (COMMCA).

Täterschaft, Gewalterfahrung und Demaskulinisierung in biografischen Ich-Erzählungen zu Holocaust und Nationalsozialismus (Bernhard Schlink, Thomas Lehr, Uwe Timm) C LAUDIA B ENTHIEN

Dieser Beitrag widmet sich traumatischen Gewalterfahrungen und narrativen Gewaltreflexionen dreier männlicher Ich-Erzähler der zweiten Generation nach der Shoah. Diese sind durch eine libidinöse Identifizierung mit Täterfiguren bedingt, was starke Auswirkungen auf ihre männliche Subjektivität hat. Die Problematik wird anhand von drei Prosatexten zu Holocaust und Nationalsozialismus erörtert: Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser (1995), Thomas Lehrs Novelle Frühling (2001) und Uwe Timms autobiografischem Bericht Am Beispiel meines Bruders (2003). Es handelt sich um drei inhaltlich und stilistisch sehr unterschiedliche Texte – wie schon die Gattungsbezeichnungen nahe legen –, gleichwohl finden sich in diesen biografischen Narrationen auffällige Gemeinsamkeiten, die hier herausgestellt werden sollen. Zwei zentrale Begriffe sollen eingangs kurz erläutert werden. ‚Gewalterfahrung‘ meint mit Blick auf alle drei Texte, dass die Ich-Erzähler mit grässlicher, und zwar jeweils faschistisch motivierter Massengewalt konfrontiert werden, die sie nicht selbst, am eigenen Leib, erleben, sondern die von nahen Bezugspersonen – Geliebte, Vater, Bruder – ausgeübt wurde, denen gegenüber eine starke Identifizierung und emotionale Bindung erfolgte. Mit deren Täterschaft wurden sie bereits in der Kindheit oder Adoleszenz konfrontiert. Aus psychoanalytischer Sicht handelt es sich dabei nicht um eine (ausschließlich) personale Bindung, sondern um einen „Typus von Identifizierung mit einer Geschichte, die zumin-

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dest teilweise nicht der Generation des Kindes angehörte, sondern vor seiner Lebenszeit lag“.1 Zum Teil führt die Auseinandersetzung mit der fremden Schuld zu einer (problematischen) Identifizierung und Empathie mit den Opfern und ihrem Leid, zum Teil aber auch zu (nicht minder problematischem) überhöhtem Selbstmitleid. Der zweite hier zu erläuternde Begriff der ‚Demaskulinisierung‘ soll bezeichnen, dass die Ich-Erzähler Erfahrungen und Ereignisse thematisieren, die ihre männliche Subjektivität in Frage stellen, indem ihnen entweder eine kindlich-asexuelle Identität oder aber eine „Position im Geschlechterverhältnis“2 zugewiesen wird, die ‚weiblich‘ bzw. effeminiert ist.3 Dies wird zum Teil im narrativen Schema einer ‚Krise der Männlichkeit‘ erfahren: Männliche Subjektivität ließe sich demnach als ein narratives Modell beschreiben, das Krisen – Initiationen, Bedrohungen, Niederlagen – als elementare Bestandteile und Knotenpunkte in narrativen scripts zu mehr oder weniger kohärenten männlichen stories verbindet.4

Dabei wird der Begriff der Maskulinität nicht normativ verstanden und von außen auf Handlungen und Figuren appliziert, sondern ist ausschließlich auf die Selbstzuschreibungen der Ich-Erzähler in den behandelten literarischen Texten bezogen.

1

Werner Bohleber: „Transgenerationelles Trauma, Identifizierung und Geschichtsbewußtsein“, in: Jörn Rüsen/Jürgen Straub (Hrsg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein, Frankfurt/M. 1998, S. 256274, hier: S. 262.

2

„‚Männlichkeit‘ ist […] eine Position im Geschlechterverhältnis; die Praktiken, durch die Männer und Frauen diese Position einnehmen, und die Auswirkungen dieser Praktiken auf die körperliche Erfahrung, auf Persönlichkeit und Kultur.“ Robert Connell: Der gemachte Mann. Konstruktionen und Krise von Männlichkeiten, übers. v. Christian Stahl, hrsg. von Ursula Müller, Opladen 1999 [1995], S. 91.

3

Nach Bourdieu entsteht eine Demaskulinisierung (oder Effemination) durch unterschiedliche Praktiken und gesellschaftliche Vollzüge, wie z.B. Arbeitsteilung, die Zuordnung von Räumen oder die Darstellung und Rezeption des Körpers als Ort vergeschlechtlichter Interpretations- und Einteilungsprinzipien. Vgl. Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft, übers. v. Jürgen Bolder, Frankfurt/M. 2005 [1998], S. 21f.

4

Walter Erhart: „Das zweite Geschlecht. ‚Männlichkeit‘, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 30, H. 2 (2005), S. 156-232, hier: S. 222.

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B ERNHARD S CHLINK : D ER V ORLESER Bernhard Schlinks vieldiskutierter Roman Der Vorleser, 1995 publiziert und 2008 von Stephen Daldry verfilmt, hat in der Germanistik eine Kontroverse ausgelöst. Dabei geht es insbesondere darum, ob es legitim sei, eine derart einfühlsame Darstellung einer NS-Täterin zu wählen und diese nicht nur zum Objekt der Begierde, sondern auch des Mitgefühls zu machen.5 In dem biografischen Roman erzählt ein etwa 50-jähriger Jurist und Rechtsprofessor namens Michael Berg retrospektiv die heimliche Liebesgeschichte zu Hanna Schmitz, einer wesentlich älteren Frau im Nachkriegsdeutschland der 1950er Jahre. Sie war damals 36, er 15 Jahre alt. Ihre Beziehung, die für den Protagonisten eine sexuelle Initiation darstellt, durch die er, wie er rückblickend bemerkt, „Männlichkeit“6 erwirbt, die gleichwohl aber intensive Abhängigkeitsgefühle auslöst, wird als hierarchisch und zum Teil von sadistischen Zügen durchsetzt beschrieben.7 Ein Textbeispiel: Wenn sie drohte, habe ich sofort bedingungslos kapituliert. Ich habe alles auf mich genommen. Ich habe Fehler zugegeben, die ich nicht begangen hatte, Absichten eingestanden, die ich nie gehegt hatte. Wenn sie kalt und hart wurde, bettelte ich darum, daß sie mir wieder gut ist, mir verzeiht, mich liebt. (DV, 50)

Hanna diktiert Michael, wie er sich zu verhalten habe; z.B. wirft sie ihn aus ihrer Wohnung, als sie hört, dass er ihretwegen die Schule vernachlässigt (vgl. DV, 36). Ihr Verhalten gleicht oft dem einer Erziehungsberechtigten und so ist es nur konsequent, dass sich beide auf einer heimlichen Reise als Mutter und Sohn ausgeben und die Beziehung so eine latent inzestuöse Note erhält (vgl. DV, 41 und 54). Auf dieser Reise züchtigt sie ihn auch mit ihrem Gürtel. Die Sexualität zwi-

5

Vgl. u.a. Margrit Fröhlich: „Schuldverstrickungen. Bernhard Schlinks ‚Der Vorleser‘ und das Problem der zweiten Generation im Umgang mit den NS-Tätern“, in: dies./ Ulrike Jureit/Christian Schneider (Hrsg.): Das Unbehagen an der Erinnerung – Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust, Frankfurt/M. 2012, S. 129-143, hier: S. 138.

6

Bernhard Schlink: Der Vorleser, Zürich 1995, S. 29. Dieser Text wird nachfolgend mit der Sigle DV im Haupttext zitiert.

7

Vgl. Alison Lewis: „Das Phantasma des Masochisten und die Liebe zu Hanna. Schuldige Liebe und intergenerationelle Schuld in Bernhard Schlinks ‚Der Vorleser‘“, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 52, H. 4 (2006), S. 554-573, hier: S. 559f.

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schen Michael und Hanna wird als „Herrschaftsverhältnis“8 beschrieben – das allerdings in Verkehrung der hegemonial-männlichen Position Michael den passiv-femininen Platz zuweist, Hanna hingegen die maskuline Dominanz (was sich etwa anhand der Positionen beim Sexualakt spiegelt, bei dem beständig Hanna den aktiven Part einnimmt und ihn „ritt, bis es ihr kam“; DV, 33). In der Forschungsliteratur wird überdies nahegelegt, dass es sich um ein „narzisstisches, vom seelischen Missbrauch gekennzeichnetes Abhängigkeitsverhältnis“9 handelt. Dies wird von Schlink insofern angedeutet, als Michael sich in seinem Lebensbericht als unfähig darstellt, mit einer anderen Frau eine feste Bindung einzugehen, und alle seine späteren Frauenbeziehungen in Relation zu der ihn nicht loslassenden Liebe zu Hanna stehen. Ohne sich von Michael zu verabschieden, ohne Vorankündigung oder Begründung, verschwindet Hanna, nachdem das Verhältnis mit Michael etwa ein Jahr währt, in eine andere Stadt und die Beziehung bricht unvermittelt ab. Aufgrund seiner narzisstischen Selbstzentrierung interpretiert er sich als Schuldigen und Auslöser ihrer Flucht, da er sich in einer Schlüsselszene kurz zuvor in der Öffentlichkeit nicht zu ihr bekannt hatte (vgl. DV, 72). Er begegnet ihr einige Jahre später als Student der Rechtswissenschaft wieder, als er im Rahmen eines Seminars einem „KZ-Prozeß“ (DV, 86) beiwohnt und sie in einer der fünf angeklagten Frauen erkennt, aber mit ihr keinen persönlichen Kontakt aufnimmt. Michael muss erfahren, dass Hanna Schmitz 1943 freiwillig Mitglied der SS wurde und bis Frühjahr 1944 in Auschwitz, danach in einem kleinen Arbeitslager bei Krakau als Aufseherin eingesetzt wurde (vgl. DV, 92). Die Hauptanklagepunkte des Prozesses lauten erstens, dass die Aufseherinnen im Arbeitslager regelmäßige Selektionen vornahmen und die schwächsten, nicht mehr arbeitsfähigen Frauen nach Auschwitz schickten, wenn neue Zwangsarbeiterinnen kamen; zweitens, dass sie kurz vor Kriegsende, beim Marsch der Gefangenen gen Westen, mehrere hundert Frauen in einer Dorfkirche eingesperrt hatten und diese bei einem Bombenangriff nicht befreiten, woraufhin sie bei lebendigem Leib verbrannten (vgl. DV, 102f.). Im Gerichtsprozess verhält sich Hanna Schmitz der Beobachtung des IchErzählers zufolge denkbar ungeschickt und nimmt es am Schluss gar auf sich, allein für das Verfassen des (vermeintlich falschen) Berichts über die Bombennacht verantwortlich gewesen zu sein. Erst im Verlauf seiner Prozessbegleitung

8

Bourdieu: Die männliche Herrschaft , S. 41.

9

Helmut Schmitz: „Malen nach Zahlen? Bernhard Schlinks ‚Der Vorleser‘ und die Unfähigkeit zu trauern“, in: German Life & Letters 55, H. 3 (2002), S. 296-311, hier: S. 303.

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versteht der Erzähler ihre ihm bis dahin verborgene „Lebenslüge“ (DV, 132), dass Hanna diese wie auch andere Schuldvorwürfe annimmt, um vor der Öffentlichkeit zu verbergen, dass sie Analphabetin ist.10 In der germanistischen Forschung wird Schlink vorgeworfen, dass diese Setzung zu einer „moralische[n] Amnesie“11 der Protagonistin führe, deren Schuld durch Unzulänglichkeit abgemildert würde: „Analphabetismus kann nicht als Erklärung für das Begehen von Verbrechen dienen.“12 Es vollziehe sich regelrecht eine Verkehrung der TäterOpfer-Konstellation, indem auch Hanna als Opfer dargestellt und ihre Inkompetenz „zum banalen Ersatz für die komplexe Frage nach den Ursachen für die massenhafte Unterstützung des NS-Regimes und die verbreitete Mitwirkung am nationalsozialistischen Terror“13 werde. Es ist ein besonders heikles Detail von Hannas Schuldgeschichte, dass sie in ihrer Funktion als Aufseherin im Arbeitslager immer wieder so genannte „Lieblinge“ (DV, 111f.) hatte, die sie für eine Zeit privilegiert behandelte, bis sie sie auf den Transport nach Auschwitz schickte. Es waren besonders zarte und schwache Frauen, die sie abends zu sich holte, und sie zwang, ihr vorzulesen. In Schlinks Roman Der Vorleser bleiben diese anschließend vergasten „Vorleserin[nen]“ (DV, 140) namenlos. Ihnen kommt wenig Raum zu, während der IchErzähler im gesamten Textverlauf – zumeist sentimentalisch – über sein verlore-

10 Retrospektiv erhalten für den Ich-Erzähler nun viele merkwürdige Verhaltensweisen Hannas einen Sinn (vgl. DV, 126f.). Auch die Szene, in der sie ihn mit ihrem Gürtel geschlagen hat, hing mit ihrer Inkompetenz zusammen: Weil sie den Zettel, auf dem er notiert hatte, gleich wieder da zu sein, nicht lesen konnte, glaubte sie, er habe sie verlassen. 11 Vgl. William C. Donahue: „Der Holocaust als Anlass zur Selbstbemitleidung. Geschichtsnüchternheit in Bernhard Schlinks ‚Der Vorleser‘“, in: Stephan Braese (Hrsg.): Rechenschaften. Juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen, Göttingen 2004, S. 177-197, hier: S. 178. 12 Ernestine Schlant: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust, München 2001, S. 264. 13 Kathrin Schödel: „Jenseits der ‚political correctness‘ – NS-Vergangenheit in Bernhard Schlinks ‚Der Vorleser‘ und Martin Walsers ‚Ein springender Brunnen‘“, in: Stuart Parkes/Fritz Wefelmeyer (Hrsg.): Seelenarbeit an Deutschland. Martin Walser in Perspective, Amsterdam 2004, S. 307-322, hier: S. 314. Die Darstellung der Forschungsliteratur zu diesem Text greift zurück auf: Kira Ruch: „Scham und Schuld im Kontext der NS-Verbrechen: Bernhard Schlink ‚Der Vorleser‘“. Forschungsbericht, verfasst im Rahmen des Seminars Scham und Schuld – literarische, filmische und kulturtheoretische Auseinandersetzungen, Universität Hamburg, WS 2013/14, S. 5.

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nes Glück mit Hanna Schmitz sinniert. An einer Stelle fragt er sich: „[W]er war ich für sie gewesen? Der kleine Vorleser, den sie benutzt, der kleine Beischläfer, mit dem sie ihren Spaß gehabt hatte? Hätte sie mich auch ins Gas geschickt, wenn sie mich nicht hätte verlassen können, aber loswerden wollen?“14 (DV, 153) Durch derartige Reflexionen werden andere Leiderfahrungen, insbesondere die der weiblichen Opfer im Arbeitslager, marginalisiert. Nach Hannas Verurteilung sendet Michael mit literarischen Texten besprochene Kassetten in die Haftanstalt, knüpft also an seine adoleszente Rolle als devoter Vorleser an – und gleicht sich überdies implizit den Opfern, den namenlosen Vorleserinnen, an. Auch als er nach vier Jahren erfährt, dass sie im Gefängnis Lesen und Schreiben gelernt hat, setzt er diese Praxis fort. Nach 18 Jahren Haft wird ihrem Gnadengesuch stattgegeben und sie soll frei gelassen werden. Als einzige Kontaktperson zur Außenwelt wird der Ich-Erzähler von der Gefängnisleiterin gebeten, Hanna bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu helfen, was er zögerlich tut (und sie nach 18 Jahren erstmalig auch persönlich trifft, entsetzt und abgestoßen davon ist, dass sie nun eine alte, unattraktive und überdies schlecht riechende Frau ist – wodurch sich die Geschlechterhierarchie diametral verkehrt; nunmehr ist er deutlich und für ihn stark verunsichernd in der hegemonialen Position, sie hingegen in der untergeordneten). In der Nacht vor ihrer Freilassung erhängt sich Hanna ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. In ihrer Zelle findet Michael Zeugenberichte sowie umfängliche Forschungsliteratur über die Shoah (vgl. DV, 193). Schlink stellt Michael Bergs Reaktion auf ihren Suizid und den Umstand, dass sie ihre Schuld durch Recherchen über und Befassung mit der Shoah bearbeitet hat, als Betroffenheit und Melancholie dar. Helmut Schmitz resümiert treffend unter Bezugnahme auf Margarethe und Alexander Mitscherlichs psychoanalytische Untersuchung Die Unfähigkeit zu trauern (1967):

14 An einer anderen Stelle vergleicht Michael Berg den Zustand der distanzierten Beiwohnung und emotionalen Apathie, mit der er das Prozessgeschehen verfolgt, mit jener „Betäubung“, die er dem „KZ-Häftling“ attribuiert, „der Monat um Monat überlebt und sich gewöhnt hat und das Entsetzen der neu Ankommenden gleichmütig registriert“ (DV, 98). Das von Schlinks Ich-Erzähler hier gewählte Betäubungsmotiv, das Täter, Opfer und Außenstehende auf problematische Weise gleichstellt, setzt Fragen moralischer Verantwortung außer Kraft; vgl. William S. Donahue: Holocaust Lite. Bernhard Schlinks ‚NS-Romane‘ und ihre Verfilmungen, Bielefeld 2011, S. 103; sowie Schmitz: „Malen nach Zahlen?“, S. 302.

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Schlinks Konstruktion des Verhältnisses zwischen Hanna Schmitz und Michael Berg wird anhand neuerer psychoanalytischer Forschungen zum Fortleben seelischer Konflikte aus dem Nationalsozialismus in der ‚zweiten Generation‘ als Hörigkeitsverhältnis erkennbar, aus dem der Protagonist nicht mehr herausfindet und somit die verdrängte Melancholie der Tätergeneration und auch deren mangelnde Einfühlung in die Opfer erbt.15

Die hier beschriebene Konstitution des Ich-Erzählers ist Grundvoraussetzung des Romans von Schlink, in welchem die Geschlechtsidentität und das Selbstbild des männlichen Ich-Erzählers so fundamental durch die erste, adoleszente Liebesbeziehung mit einer NS-Täterin geprägt sind, dass dies starke Auswirkungen auf sein gesamtes berichtetes Erwachsenenleben hat.

T HOMAS L EHR : F RÜHLING Thomas Lehrs Novelle Frühling von 2001 behandelt die letzten 39 Sekunden im Leben des 50-jährigen Pharmakologen Christian Rauch – zwischen dessen eigenhändiger Erschießung und dem Eintreten seines Todes. Die Novelle wird in einer radikalen Variante des Inneren Monologs erzählt, die sich dem Verfahren des stream of consciousness annähert, weil sie konkrete Wahrnehmungen sowie Erinnerungen aus verschiedenen Lebensphasen des Protagonisten unvermittelt verschränkt.16 In der Textstruktur werden diese Inhalte seziert, indem die Syntax durch falsche Satzzeichen und eine phasenweise irreguläre Orthografie zerstört wird. An einer Stelle wählt der Ich-Erzähler zur Beschreibung seines Lebens die Formulierung von „blitzlichtszenen meiner brennenden erinnerung“17, die dieses an Trauma-Flashbacks erinnernde narrative Verfahren treffend beschreibt. Die Motive des Suizids und auch das Faktum des sich während der Erzählzeit vollziehenden Sterbens der Erzählerfigur werden erst nach und nach erkennbar. Lehr wählt diese experimentelle Form einerseits, um das bekannte Phänomen abzubilden, dass sich unmittelbar vor dem Tod das ganze Leben noch einmal in kon-

15 Ebd., S. 296. 16 Zu den erzählerischen Mitteln des Textes vgl. Meike Herrmann: „Erinnerungsliteratur ohne sich erinnernde Subjekte oder Wie die Zeitgeschichte in den Roman kommt: Zu Erzähltexten von Katharina Hacker, Thomas Lehr, Tanja Dückers und Marcel Beyer“, in: Erhard Schütz/Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Keiner kommt davon. Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945, Göttingen 2008, S. 251-265, hier: S. 256f. 17 Thomas Lehr: Frühling, Berlin 2005 [2001], S. 51. Dieser Text wird nachfolgend mit der Sigle F im Haupttext zitiert.

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densierter Form vor einem abspielt, andererseits, um einen Weg zu finden, die beiden existentiellen Traumatisierungen darzustellen, die der Protagonist im Alter von 11 und 14 Jahren erleidet. In der psychoanalytischen Theorie geht man davon aus, dass ein Trauma das Subjekt derart überwältigt und in seiner Integrität in Frage stellt, dass es nicht ‚beendet‘ bzw. ‚vollendet‘ werden kann – „in trauma the greatest confrontation with reality may also occur as an absolute numbing to it, that immediacy, paradoxically enough, may take the form of belatedness.“18 Die Derealisierung, die mit dem Schock des Traumas einhergeht, hat starke Auswirkungen auf seine Darstellbarkeit. Die erste Traumatisierung des Ich-Erzählers erfolgt, als er von einem für die Novelle emblematischen sommerlichen Angelausflug („diesem einzigen Gedächtnistag, diesem Tag unserer Kindheit“; F, 38) auf dem Fahrrad mit seinem drei Jahre älteren Bruder Robert zurückkehrt und in der Hauseinfahrt die Eltern mit einem Fremden dastehen sieht. Dieser Mann, so stellt sich aus der Sicht der Lesenden heraus (während der Junge in der Situation nichts versteht, gleichwohl aber sehr verstört ist), ist ein ehemaliger KZ-Insasse, und der Vater Christians und Roberts, ein angesehener Mediziner, war im Nationalsozialismus Lagerarzt, der grausamste Menschenversuche mit Häftlingen durchgeführt hat, die an einer späteren Stelle im Text auch detailliert imaginiert werden.19 Mit den in Kapitälchen geschriebenen (und mehrfach widerhallenden) Worten „APPELL, HERR DOKTOR! APPELL!“ (F, 116) wendet sich der in die Nachkriegs-Familienidylle eindringende ungebetene Besucher an den Arzt, woraufhin er „langsam und ohne den Blick von unserem Vater zu wenden seine Kleider abzulegen beginnt, systematisch, unangreifbar, steingesichtig“, um dann „unverrückbar“ über Stunden unbeweglich und stumm auf dem Kiesweg vor dem Haus zu stehen, wie er auch damals im Lager „viele Nächte gestanden [hatte] Nackt“ (F, 116 und 118). Christian und Robert begreifen instantiell, auch an der erstarrten Nicht-Reaktion des Vaters, dass hier etwas Grässliches geschieht. Für den Ich-Erzähler stellte dieses Ereignis eine unwiderrufliche Zäsur dar, die die Unschuld der Kindheit vernichtete, wie er an den Bruder gerichtet retrospektiv bemerkt: „wie spät oder

18 Cathy Caruth: „Introduction“, in: dies. (Hrsg.): Trauma: Explorations in Memory, Baltimore 1995, S. 6. 19 Beschrieben wird ein möglicher „sommertag im krankenrevier“ in dem „Dr. X.“, der Vater des Erzählers, Menschenversuche betreibt (F, 132). Da der Ich-Erzähler allerdings fortwährend betont, die Details im Unterschied zu seinem toten Bruder nicht zu kennen, handelt es sich um eine stark imaginäre Szenerie – ähnlich wie bei Uwe Timm ist es nicht mehr als ein Versuch der Rekonstruktion der Gewalttaten.

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entsetzlich früh im menschenleben jedenfalls am ende deiner und bald auch meiner kindheit erst alles zerstört wurde durch Wahrheit“ (F, 64). Der ältere Bruder stellt in den Jahren danach heimliche Recherchen an, spricht mit KZ-Überlebenden und erkennt, ohne dies aber Christian gegenüber zu artikulieren, die Täterschaft und Schuld ihres Vaters. Hast mit den Unauslöschlichen geredet, du hast nur mir: nichts gesagt, ich war erst vierzehn. Als du dich vor den Zug warfst aber | nun wäre es an der zeit gemeinsam gehen wir über den platz betreten ihn erneut vom eingang her öffnen so leicht die tür in den angeln schwingt in augenhöhe entfernt sich die Eisenschrift | R B E I T | CHT FRE […]. (F, 131)

Bloß in der Imagination geht Christian mit seinem Bruder gemeinsam durch das Tor von Auschwitz, dessen Schriftzug nur noch fragmentarisch zu lesen ist. Denn mit 17 Jahren tötet sich Robert, wie hier erwähnt, indem er sich vor einen fahrenden Zug wirft. Der Ich-Erzähler, damals 14 Jahre alt, wird zum Unfallort gerufen und muss den mit einem Tuch bedeckten Leichnam Roberts sehen, als dessen abgetrennter Arm von der Bahre fällt (vgl. F, 80 und 124). Dies ist seine zweite Traumatisierung: „Robert, mit siebzehn Jahren zerstückelt aus freiem Entschluss“ (F, 8120). Noch im eigenen Sterben, mehr als dreißig Jahre später, wirft der Ich-Erzähler dem Bruder vor, „dass du nicht Recht hattest mich alleine zu lassen“ (F, 81). Äußerlich führte der „Tätersohn“21 gleichwohl, wie man anhand fragmenthafter Erinnerungen erkennen kann, ein normales Leben: Er ist zum Zeitpunkt der Erzählung ein erfolgreicher Pharmakologe mit Frau und erwachsenem Sohn. Seine Selbsttötung, die er zusammen mit der an Krebs erkrankten polnischen Prostituierten Gucia, deren Mutter in einem Konzentrationslager litt (vgl. F, 106 und 138), in einer Mimesis der gegenseitigen Erschießung Heinrich von Kleists und Henriette Vogels vornimmt,22 wird mittelbar als Resultat der zweifachen Traumatisierung und des mit der Täterschaft des Vaters zusammenhängenden Schuldkomplexes dargestellt. Verdeutlicht wird dies, indem der Erzähler das

20 Siehe auch die spätere Formulierung, „Robert, mein einmal. Zerstückelter. Bruder“ (F, 91). 21 Dieter Heimböckel: „Das Unerhörte der Erinnerung des Unerhörten: Zur ästhetischen Produktivität der memoria in der Nach-Wende-Novellistik“, in: Arne de Winde/Anke Gilleir (Hrsg.): Literatur im Krebsgang: Totenbeschwörung und memoria in der deutschsprachigen Literatur nach 1989, Amsterdam 2008, S. 199-214, hier: S. 212. 22 Vgl. für die Erwähnung dieses Doppelsuizids F, 114.

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Schicksal der Mutter Gucias, dem Opfer, als mit einer (imaginierten?) Begegnung mit seinem Vater, dem Täter, verschränkt: [...] stell dir den Tag vor an dem sich. Unsere Eltern begegneten, Gucia, zwei Sekunden lang. Ein fast noch junger kühler Arzt. Deine aus der Hölle ins Verderben. Entflohene Mutter es ist vielleicht ein so warmer. Tag wie heute und. Durch das Fenster vor dem Krankenrevier treffen sich. Ihre Blicke über ein. Goldfischglas hinweg in das eine Ascheflocke. Segelt, Gucia, nichts | hilft. Uns mehr. (F, S. 106)

Auffällig mit Blick auf den Zusammenhang von Gewalterfahrung und Demaskulinisierung sind in Lehrs Novelle drei Aspekte: Erstens eine Depotenzierung des Vaters, zweitens eine Identifizierung des Ich-Erzählers mit den Opfern und drittens massive Gefühle der ‚Nichtung‘ des Selbst, die schließlich im Suizid münden. Diese Sachverhalte sind dem Text aufgrund der experimentellen Erzählstruktur jedoch nur in Andeutungen zu entnehmen. Die Depotenzierung des Vaters – ein zentrales Motiv auch im Text von Uwe Timm, auf das noch eingegangen wird – findet sich in Lehrs Novelle explizit nur an einer Stelle, was darin begründet ist, dass der Erzähler sich von den Eltern nach dem Suizid des Bruders lossagt, sie symbolisch für sich ‚tötet‘ – oder, wie es im Text über sich und den Bruder heißt: „wir beide die fanatischen waisen des dr. x. die wir unsere eltern bei lebendigem leib in uns begruben damit sie uns nicht ermorden konnten aber sie schafften es doch“ (F, 128f). In dieser Formulierung fällt auf, dass er beide Eltern als Schuldige sieht – nicht nur den Vater als expliziten Täter, sondern auch die um diese Täterschaft wissende, im Text eine marginale Rolle spielende Mutter, die ihren Kummer im Anschluss an den Suizid ihres älteren Sohnes im Alkohol ertränkt und früh stirbt. Die Depotenzierung des Vaters durch den adoleszenten Sohn erfolgt bereits in der Situation mit dem vor dem Haus stehenden entblößten Fremden. Der Erzähler nimmt seinen Vater hier (retrospektiv) als schwach und machtlos wahr; er formuliert gar, dieser würde ‚verschwinden‘, weil er so tatenlos dasteht und spricht von dessen „Wut eines jämmerlich an seiner Leine zerrenden bebrillten Hündchens“ (F, 117), depotenziert und diminuiert ihn also stark. Die Vaterfigur wird als Bezugspunkt für die eigene männliche Identität negiert, ganz anders als der ältere Bruder, als dessen „kleinerer Schatten“ (F, 38) sich Christian in seiner Kindheit verstand und mit dem er auch in der Erzählzeit, also mehr als 30 Jahre nach dessen Tod, noch beständig imaginäre Dialoge führt, so etwa hier:

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Ich bin vielleicht ganz unkenntlich für dich geworden und. Es kann nicht! Die Hölle sein, Robert, das gleiche. Eismeer in dem: unser Vater schwimmt wenn. Ich zu dir könnte, Robert, wie in einen Spiegel gehen der etwas anderes. In der Vergangenheit zeigt wenn ich zu dir könnte, endlich, Robert, ich war. Mir doch nur ein Schatten- und Scham: Mensch. (F, 58f.)

Beschrieben wird in diesen durchaus rätselhaften Sätzen – die eine Lesbarkeit der historischen Ereignisse durch die fehlerhaft inserierten Satzzeichen strategisch verhindern – eine starke narzisstische Identifizierung mit Robert, den er hinter beziehungsweise in einem Spiegel sucht. Verbunden aber wird diese Bruder-Imago mit einer projektiven Identifizierung mit KZ-Häftlingen, allerdings nicht explizit mit Opfern von NS-Menschenversuchen. Zum einen handelt es sich dabei um eine Identifizierung mit jenem Überlebenden, der die Eltern heimgesucht hat, wenn es etwa über diesen und den Vater heißt: Sie standen so nah beisammen, als wollten sie tanzen, und was mich gleichermaßen erschreckte wie beruhigte, war, wie ähnlich sie sich sahen: kahlköpfige, bebrillte, hagere Männer mit harten Gesichtszügen. Sie hätten Brüder sein können, Robert, wie wir oder wie die toten Fische im Kescher auf deinem Gepäckträger. Der Fremde der jüngere wie ich. (F, 40)

Als Ausdruck seines Symptoms bildet das erzählende Ich fortwährend solche Analogien und Identifizierungen. In seinen Todesvisionen finden sich auch Vorstellungen, in denen es sich selbst als zu den KZ-Opfern gehörig imaginiert, z.B. eine surreale kollektive Entkleidungsszene auf einem im Text ausführlich beschriebenen Pharmakologie-Kongress, die mit einer Lager-Erfahrung verschränkt wird (vgl. F, 84f.). Oder auch eine suizidale Verschmelzungsphantasie mit dem Bruder „vor den Zäunen und den mit den Pyramidendächern […] gedeckten Wachtürmen“, auf dem „Rasen den weichen grünen Streifen vor dem Laufgraben auf den sie Gefangene lockten um sie erschießen zu können auf der Flucht in den Löwenzahn der hier blüht“, und in der es heißt, „ich laufe schon, Robert, ich laufe dir nach“ (F, 134). In dieser Passage imaginiert der Protagonist, gemeinsam mit seinem Bruder als Lagerhäftling zu sterben – sich vielleicht als Versuch einer Begleichung der Schuld des Vaters zu opfern. Auch seine wirkliche Begleiterin in den Tod spricht er in einer übersteigerten Mimesis als Lagerhäftling an – „Gucia, Leute wie wir hießen einmal Muselmänner“ – und adressiert sie, die Tochter einer Überlebenden, als „meine Muselfrau“ (F, 112). Abschließend nun zum Zusammenhang von Gewalterfahrung und Demaskulinisierung, zu dem, was als Gefühl der ‚Nichtung‘ des Selbst bezeichnet wurde:

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Wie schon erwähnt, sagt Christian sich nach dem Suizid des Bruders von seinen Eltern los, er verlässt noch als Minderjähriger sein Zuhause und übernimmt später nicht nur den Betrieb des Vaters seiner Ehefrau, sondern überdies dessen Nachnamen, und zwar den sprechenden Namen Rauch – „in dem ich verschwand“ (F, 61), wie es doppeldeutig über die neue Identität heißt.23 Der Wunsch des Ich-Erzählers wird artikuliert, „dass möglichst viel von mir in ihm verschwunden ist und nur noch Rauch übrig bleibt“ (F, 63), was fast überdeutlich auf eine Identifizierung mit in den Gaskammern getötete Juden und das Verbrennen ihrer Leichen anspielt. Es lässt sich also festhalten, dass der IchErzähler aufgrund der nicht einholbaren Verstrickung in die Schuld des Vaters und die Verstörung über den Suizid des Bruders bleibende Entsubjektivierungserfahrungen durchlebt, welche im Text als Fragmentierung der Syntax abgebildet werden und die schließlich zu seinem Suizidwunsch führen. „Wer sieht schon den inneren Menschen zusammengekrümmt wie einen Wurm“ (F, 108), heißt es an einer Stelle. Depotenzierung und Entsubjektivierung des Ich-Erzählers werden mittelbar als Demaskulinisierung beschrieben, weil sie konkret mit dem Verlust der zwei männlichen Bezugspersonen in der Phase der Adoleszenz – dem Vater, dem Bruder – zusammenhängen. Einige Merkmale, in denen sich dieser Zustand offenbart, sind die Namensübernahme der Frau, eine Überidentifizierung mit dem Bruder und die Unabschließbarkeit dieses Verlusts, sowie ein inneres ‚Kleinbleiben‘ und somit die Nichtverarbeitung der beiden traumatischen Erfahrungen, die als beständige Flashbacks wiederkehren. Gezeigt wird ein äußerlich erfolgreicher Mann, der innerlich noch immer das verstörte, nicht lebensfähige, libidinös abhängige Kind ist. Der Suizidwunsch wird als Überidentifizierung mit den Taten der emotional abgespaltenen Vaterfigur plausibilisiert, wie auch als Wunsch der Wiederherstellung einer Symbiose mit dem toten Bruder.

U WE T IMM : A M B EISPIEL

MEINES

B RUDERS

Uwe Timm hat 2003 den autobiografischen Bericht Am Beispiel meines Bruders veröffentlicht. Darin geht er der Frage nach, warum sich sein 16 Jahre älterer Bruder Karl-Heinz im Dezember 1942 im Alter von 18 Jahren freiwillig zur

23 Die Wiederholung des Verbs ‚verschwinden‘, mit dem er vorher den Zustand des Vaters beschrieb, verweist des Weiteren auf eine Identifizierung mit ihm.

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Waffen-SS gemeldet hat und als Panzerpionier an die Ostfront gezogen ist.24 Der Bruder wurde im Sommer 1943 im Kampfeinsatz in der Ukraine schwer verwundet und verstarb nach der Amputation beider Beine im Lazarett. Uwe Timm, damals drei Jahre alt, hat nur wenige aktive Erinnerungen an ihn. Er setzt sich mit einer Distanz von 60 Jahren mit dem durchaus verstörenden Kriegstagebuch des toten Bruders auseinander, das dieser heimlich schrieb, und zitiert es vielfach in seinem Bericht, ebenso wie dessen Feldpostbriefe an die Eltern. Es fehlen in diesen Schriftstücken jegliche persönliche Inhalte – wie der Bruder sich inmitten der erlebten und ausgeübten Gewalt fühlte –, ebenso wie diffamierende Aussagen über die Feinde, insbesondere die jüdische Bevölkerung. Eine wichtige, den Ich-Erzähler beschäftigende Frage ist es, ob die Einheit des Bruders „an der Erschießung von Zivilisten, von Juden, von Geiseln beteiligt war“; seinen Recherchen zufolge war dies „nicht der Fall“ (ABmB, 101), aber es bleiben Zweifel, die den gesamten Text durchziehen. Dieser endet mit der letzten TagebuchEintragung des Bruders auch entsprechend, die da lautet: „Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge, wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen“ (ABmB, 12425). Timm zitiert diesen performativen Satz mehrfach, sucht seinen Sinn zu ergründen, und muss schließlich erkennen, dass er nie wissen wird, was der Bruder mit ‚so grausame Dinge‘ gemeint hat. Er erörtert Ambiguitäten in dessen Aussagen, z.B. ob die Formulierung „Läusejagd“ (ABmB, 16) doch mehr als nur das Entlausen der Uniform meint: „War seine Einheit, das SS-Panzerpionier-Btl. 3 der Totenkopfdivision bei sogenannten Säuberungen eingesetzt worden? Gegen Partisanen, Zivilisten, gegen Juden?“ (ABmB, 3526) Es gibt keine Antworten auf diese brennenden Fragen. Timm konstatiert ein jahrzehntelanges ängstliches Zurückweichen vor der Geschichte des Bruders (vgl. ABmB, 9). Die Stelle, bei der der Autor regelmäßig das Notizheft geschlossen hatte, lautet: „März 21. | Donez | Brückenkopf

24 Die Totenkopfdivision, in der der Bruder kämpfte, war 1939 aus der Wachmannschaft des KZ Dachau hervorgegangen, sie galt den Recherchen Timms zufolge als Eliteeinheit. Vgl. Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders, München 72013 [2003], S. 13. Dieser Text wird nachfolgend mit der Sigle ABmB im Haupttext zitiert. 25 Dass die Formulierung des ‚Buchführens‘ mit Blick auf das eher kryptische und nicht regelmäßig geführte Tagebuch des Bruders merkwürdig anmutet und überdies eine erschreckende Korrespondenz zu dem mit dem gleichen Begriff belegten Vorgang des bürokratisierten massenhaften Tötens in den Konzentrationslagern aufweist, wird von Timm hingegen nicht reflektiert (obgleich er an anderer Stelle von den „Bürokraten des Todes“ spricht; ABmB, 60). 26 Siehe auch die längere Passage ABmB, 152.

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über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG“ (ABmB, 17). In dieser Passage berichtet der Bruder in knappen, unmissverständlichen Worten von der Tötung eines russischen Feindes, der – mittels eines rassistischen Stereotyps hier wie auch an weiteren Stellen als ‚Iwan‘ bezeichnet – sich in einer Feuerpause Zigaretten genehmigt. Timm reflektiert mehrfach über diesen ihn zutiefst verstörenden Satz: die Lakonie und Brutalität zugleich, mit der der Bruder das Töten verbalisiert. In der Forschung zu Timms Bericht wird betont, dass der Autor als Angehöriger der zweiten Generation mit ‚verspäteten‘ Geschichten konfrontiert ist, die für die Familienhistorie von großer und durchaus traumatischer Bedeutung sind, sich ihr aber fundamental entziehen – Marianne Hirsch hat hierfür die in der Forschung zur Shoah-Literatur vielfach aufgegriffene Bezeichnung des postmemory geprägt.27 Helmut Schmitz hat dieses Konzept auf aktuelle deutschsprachige Generationentexte übertragen und betont, dass es auch durch die „aktive[] Auseinandersetzung mit Dokumenten, Fotos und anderen archivarischen Quellen hergestellt wird“28, was auf Timms Text in besonderem Maße zutrifft, zumal auch die Widerstände thematisiert werden, die der Ich-Erzähler überwinden muss, um sich der Geschichte des Bruders – und mithin der seiner Eltern – zu nähern. Schmitz spricht von einem „Akt der Aneignung“, der „Vorbedingung für eine Erkenntnis der eigenen Beschädigung durch elterliche Kriegserlebnisse und deren in den Kindern sich sedimentierenden Langzeitfolgen“ ist,29 was der Text auf beeindruckende Weise dokumentiert. Nachfolgend soll mit Blick auf das Thema dieses Bandes auf zwei Aspekte kurz eingegangen werden: erstens auf den großen Bruder als problematische Identifizierungsfigur im Kontext hegemonialer30 Männlichkeitsvorstellungen des

27 Vgl. Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, Narrative & Postmemory, Cambridge/MA 1997. 28 Helmut Schmitz: „Postmemory. Erbe und Familiengedächtnis bei Hanns-Josef Ortheil, Thomas Medicus, Wibke Bruhns, Uwe Timm und Dagmar Leupold“, in: HeinzPeter Preusser/ders. (Hrsg.): Autobiografie und historische Krisenerfahrung, Heidelberg 2010, S. 259-276, hier: S. 263. 29 Ebd., S. 265. 30 „Zu jeder Zeit wird eine Form von Männlichkeit im Gegensatz zu den anderen kulturell herausgehoben. Hegemoniale Männlichkeit kann man als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet […]. Diese Hegemonie zeichnet sich weniger durch direkte Gewalt aus, sondern durch ihren erfolgreich erhobenen

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Nationalsozialismus; zweitens auf die Auseinandersetzung mit dem depotenzierten Vater in der Nachkriegszeit (Stichwort ‚Väter-Söhne-Konflikt‘). Im Unterschied zum Text von Lehr, der ja ebenfalls die Vater-Sohn- und die Brüderbeziehung thematisiert, aber stark durch Derealisierung gekennzeichnet ist, handelt es sich bei Timms Bericht um ein hochgradig reflexives und vom Realitätsprinzip geleitetes Schreiben. So heißt es gleich zu Beginn über den Bruder: Abwesend und doch anwesend hat er mich durch meine Kindheit begleitet, in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungen zwischen den Eltern. Von ihm wurde erzählt, das waren kleine, immer ähnliche Situationen, die ihn als mutig und anständig auswiesen. Auch wenn nicht von ihm die Rede war, war er doch gegenwärtig, gegenwärtiger als andere Tote, durch Erzählungen, Fotos und in den Vergleichen des Vaters, die mich, den Nachkömmling, einbezogen. (ABmB, 8)

Wenngleich er ihn kaum kannte, übt „the brother’s phantomlike existence“31 eine schattenhafte, bleibende Macht über Uwes Subjektivität aus: „BruderErinnerung und Ich-Identität erscheinen untrennbar miteinander verknüpft.“32 In den Augen des Vaters sieht der Erzähler sich gegenüber dem verstorbenen Bruder als wertloser und liebesunwürdiger an, was sich etwa daran zeigt, wie er Rede und Verhalten des Vaters wiedergibt und interpretiert: „Der Karl-Heinz, der große Junge, warum ausgerechnet der. Und dann schwieg er, und man sah ihm das an, den Verlust und die Überlegung, wen er wohl lieber an dessen Stelle vermisst hätte“ (ABmB, 19). Recht unmissverständlich wird suggeriert, der Vater hätte lieber den Tod des kleinen Uwe als den des ‚großen Jungen‘ in Kauf genommen, ein Befund, durch den „Timms Sinn für die eigene Existenz“ fundamental „entwertet“ wird.33

Anspruch auf Autorität (obwohl Autorität oft durch Gewalt gestützt und aufrechterhalten wird).“ Connell: Der gemachte Mann, S. 98. 31 Anne Fuchs: „The Tinderbox of Memory: Generation and Masculinity in Väterliteratur by Christoph Meckel, Uwe Timm, Ulla Hahn and Dagmar Leupold“, in: dies./Mary Cosgrove/Georg Grote (Hrsg.): German Memory Contests. The Quest for Identity in Literature, Film, and Discourse since 1990, Rochester/NY 2006, S. 41-66, hier: S. 49. 32 Gerhard Friedrich: „Erdachte Nähe und wirkliche Ferne. Fiktion und Dokument im neuen deutschen Familienroman“, in: Simone Costagli/Matteo Galli (Hrsg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext, München 2010, S. 169-180, hier: S. 171. 33 Schmitz: „Postmemory“, S. 268.

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Der Bruder wurde Timm zufolge von den Eltern stets als anständig, aufrichtig und tapfer beschrieben (vgl. ABmB, 14f.), was sich als Leugnung seiner kriegerischen Täterschaft lesen lässt. Weil er dem Vater nacheiferte, war er „ein richtiger Junge“, auf den dieser „stolz“ war (ABmB, 55). Timm stellt detailliert dar, was man mit Connell als „soziales Geschlecht“34 bezeichnen kann: die Genese einer genderspezifischen Identität, die sich sukzessive u.a. durch Erziehung und alltägliche Vollzüge aufbaut. So reflektiert er z.B. darüber, dass der Imperativ „mutig sein“ seine frühe Kindheit beherrscht habe und dies natürlich auch für seinen Bruder galt: „Mutig sollte er sein, aber nicht tollkühn. Karl-Heinz beteuert, im Lazarett liegend, die Beine amputiert, in dieser durch Morphium verzogenen Sprache, er sei nicht waghalsig gewesen. [S]elbst da ist er noch der tapfere, brave Junge“ (ABmB, 56). „Ein Wort“, das den Autor als kleinen Jungen begleitet hat „so, wie es auch den Bruder begleitet haben wird –: Reiß dich zusammen“ (ABmB, 136). Selbstkontrolle, Tapferkeit, männlicher Mut als Eigenschaften, für die in der Familie der abwesende ‚große Bruder‘ steht – nach dessen frühem ‚Heldentod‘ in mythischer Überhöhung. Timm selbst hingegen war, wie er formuliert, „das, was man damals ein Muttersöhnchen nannte. Ich mochte den Duft der Frauen, diesen Geruch nach Seife und Parfüm, ich mochte und suchte […] die Weichheit der Brüste und der Schenkel. Während er, der große Bruder, schon als kleiner Junge immer am Vater hing“ (ABmB, 18). Timm weist sich also, im Vergleich mit dem Bruder, deutlich eine ‚marginalisierte Männlichkeit‘ zu.35 Karl-Heinz hingegen hat viele Eigenschaften der in der Nazizeit maßgeblichen ‚hegemonialen Männlichkeit‘, die sich an den „traditionell männlichen Domänen des Militärs, des Nationalismus und des Krieges“36 orientiert. Im Faschismus etablierte sich ein „Männlichkeitskult, durch den die Ausdifferenzierungen der Geschlechterverhältnisse erneut auf ein bipolares Muster reduziert werden“.37 Dieses geschlechtsspezifische Muster zeigt sich in Timms Bericht

34 Vgl. Connell: Der gemachte Mann, S. 92. 35 Der Begriff der „Marginalisierung“ bezeichnet bei Connell „die Beziehungen zwischen Männlichkeiten dominanter und untergeordneter Klassen oder ethnischer Gruppen“; ebd., S. 102. 36 Erhart: „Das zweite Geschlecht“, S. 196. 37 Klaus-Michael Bogdal: „Männerbilder. ‚Geschlecht‘ als Kategorie der Literaturwissenschaft?“, in: Marion Heinz/Friederike Kuster (Hrsg.): Geschlechtertheorie, Geschlechterforschung. Ein interdisziplinäres Kolloquium, Bielefeld 1998, S. 189-218, hier: S. 213. Zur Differenzierung und Hinterfragung dieser These der binären Geschlechtermodelle in der NS-Zeit vgl. auch Elke Frietsch/Christina Herkommer

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exemplarisch anhand der sehr unterschiedlichen Briefe, wie sie Karl-Heinz von der Front an seine Mutter und an seinen Vater schreibt, wobei er dem Vater gegenüber eine soldatische Solidarität herausstellt, der Mutter gegenüber den treuen, auch zu Emotionen fähigen Sohn. „Gehorsam war, eine der preußischen Tugenden, die Gewalt einschloss, Gewalt gegen andere, Gewalt auch gegen sich selbst, die standen, die haben den inneren Schweinehund besiegt, der Mut zu töten, der Mut, sich töten zu lassen“ (ABmB, 146f.). Es handelt sich dabei um ein genderspezifisches Konzept, das sogar dem Tod einen höheren, Gemeinschaft stiftenden Sinn verleiht – eine Vorstellung von „Heroischer Männlichkeit als derjenigen Instanz, die ein Opfer (sacrifice) zu bringen imstande ist“ und der „das bloße Opfersein (victim) gegenüber[steht]“38. Inwiefern sowohl der ältere Sohn als auch der Vater das virile Konzept des ‚soldatischen Mannes‘39 verinnerlicht haben und ostentativ verkörpern, wie es hier in der kursiv gedruckten Rede des Vaters zum Ausdruck kommt, zeigt sich einerseits daran, dass beide (freiwillig) an der Kriegsfront waren – der Vater im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg (vgl. ABmB, 20 und 24) – und ein ähnliches, in der Familiengeschichte fortwährend tradiertes Konzept von Tapferkeit und männlicher Ehre entwickelt haben. Andererseits scheint neben der familialen Vater-Sohn-Beziehung auch eine homosoziale Bindung beider Männer auf, unterschreibt der Bruder seine Feldpostbriefe an den Vater doch regelmäßig mit „Dein Kamerad Karl-Heinz“ (ABmB, 25 und 58), sieht in diesem also einen soldatischen Bundgenossen.40 Timm überträgt dieses reziproke Ver-

(Hrsg.): Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, „Rasse“ und Sexualität im „Dritten Reich“ und nach 1945, Bielefeld 2009. 38 Insa Eschebach/Silke Wenk: „Soziales Gedächtnis und Geschlechterdifferenz. Eine Einführung“, in: dies. (Hrsg.): Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, Frankfurt/M./New York 2002, S. 1338, hier: S. 31. 39 Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. Bd. 2: Männerkörper – zur Psychoanalyse des weißen Terrors, Reinbek 1978. 40 Nach Eve Kosofsky Sedgwick zirkuliert in patriarchal organisierten Gesellschaften eine „affektive Energie“, die sie „,männlich-homosoziales Begehren‘ (male homosocial desire)“ nennt und worunter sie „ein potentielles Kontinuum affektiver Beziehungen zwischen Personen desselben Geschlechts [versteht], das verwandtschaftliche, institutionelle, freundschaftliche, rivalisierende Beziehungen etc. umfassen kann“. Andreas Kraß: „Queer lesen. Literaturgeschichte und Queer Theory“, in: Caroline Ro-

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hältnis auch auf den Vater, wenn er diesem den Gedanken in den Mund legt, wie sehr der älteste Sohn fehle, „der Junge, der nicht nur Sohn war, sondern auch Freund und Kamerad“ (ABmB, 107). In Timms Bericht erkennbar (und mittelbar auch reflektiert), finden sich Rivalität mit dem Bruder und Neid auf die Bruder-Vater-Dyade – Dispositionen, die aber, weil Karl-Heinz so viel älter war und früh verstarb, primär im Imaginären angesiedelt sind (Timm spricht von „dem Entschluss, über meinen Bruder, also auch über mich, zu schreiben“; ABmB, 17). Die Bruderbeziehung ist jedoch stark mit derjenigen zum Vater verschränkt: Über den Bruder zu schreiben, heißt auch über ihn zu schreiben, den Vater. Die Ähnlichkeit zu ihm, meine, ist zu erkennen über die Ähnlichkeit, meine, zum Bruder. Sich ihnen schreibend anzunähern ist der Versuch, das bloß Behaltene in Erinnerung aufzulösen, sich neu zu finden. (ABmB, 19)

In dieser hochreflexiven Passage verknüpft Timm die Ähnlichkeit zum Vater mit der zum Bruder, beide werden sodann in der Formel ‚sich ihnen schreibend anzunähern‘ dyadisch vereint. Es offenbart sich eine trianguläre Bindungsstruktur, in der die Bruder- und die Vaterbeziehung einander spiegeln. Anders als im klassischen Männlichkeitsnarrativ, wie es sich nach Eve Kosofsky Sedgwick vielfach in literarischen Texten findet, demzufolge zwei Männer um eine Frau rivalisieren, wodurch ein trianguläres Begehren, das ggf. auch zwischen den Männern besteht, realisiert werden kann,41 handelt es sich hier um eine mannmännliche Triade, in der alle drei Pole miteinander in enger Relation stehen. Timms kindlich-männliche Subjektivität wird durch die des Vaters wie auch des Bruders unweigerlich, wenngleich primär negativ, geprägt. Im Gegensatz zum faschistisch geprägten Männlichkeitsbild des Bruders, das aufgrund von dessen frühem Tod im Familiengedächtnis petrifiziert und idealisiert wird, depotenziert Timm den Vater in seinen Ausführungen zur Nachkriegszeit. Er kleidet dies in entsprechendes Vokabular und wählt signifikanter Weise verallgemeinerte Formeln, die das Schicksal seiner Eltern dem aller anderen angleicht: „Von einem Tag auf den anderen waren die Großen, die Erwachsenen, klein geworden“ (ABmB, 68). Er spricht auch von der bedingungslosen Kapitulation und damit einhergehenden „Degradierung der Väter“, „nicht nur

senthal/Therese Frey Steffen/Anke Väth (Hrsg.): Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik, Würzburg 2004, S. 233-248, hier: S. 239. 41 Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire, New York 1985; sowie Kraß: „Queer lesen“, S. 240.

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militärisch, sondern auch mit ihren Wertvorstellungen, ihrer Lebensform“ (ABmB, 68). Mit derartigen Formulierungen bezieht sich Timm auf das vorherrschende Männerbild der deutschen Nachkriegsliteratur, das durch den „VäterSöhne-Konflikt“ bestimmt wird und speziell in der so genannten „Väterliteratur“ der 1970er Jahre virulent wird: Die ‚Väter‘ sind in der Nachkriegsliteratur unter ihrem heroischen Männerbild zusammengebrochene ‚schwache‘ Männer, denen nur die Funktion des Versorgers bleibt, während sie, trotz Wirtschaftswunder und Wiederaufrüstung, als Erzeuger und Beschützer keine Glaubwürdigkeit mehr erlangen.42

Demgegenüber figuriert der tote Bruder (in den Augen der Eltern) als mythische Retterfigur. In eine längere Passage, in der der deutsche Wiederaufbau und die Berufstätigkeit des Vaters in der Nachkriegszeit beschrieben werden, inseriert Timm einen eigenen Absatz, der nur aus dem kurzen und kursivierten Satz besteht: „Wenn der Karl-Heinz da wäre“ (ABmB, 88). An anderer Stelle, ebenfalls kursiv, also erneut als Fremdrede der Eltern markiert: „Der Karlemann fehlte“ (ABmB, 107). Speziell durch diesen Kosenamen wird der tote Bruder performativ zum ‚Mann‘. Timm reflektiert: Eben die Abwesenheit des Bruders bewahrte dessen bewundernden Blick auf ihn, den Vater, und damit auch das Bild, das er einmal von sich selbst gehabt hatte. Es war nicht nur der Vater gescheitert, sondern mit ihm das kollektive Wertesystem. […] Die Reaktion darauf war Trotz oder Verdrängung. Dringliche Fragen wurden vom Vater damit entkräftet: Du hast keine Ahnung. Du hast das nicht mitgemacht. Aber eben das hatte er, der Bruder. Er hatte all das erlitten. Er hatte sich geopfert. (ABmB, 108)

In der biografischen Auseinandersetzung mit der problematischen Figur des Bruders, eines ‚Täters‘, leistet der Bruder und Sohn Trauerarbeit – auch anstelle der zwischenzeitlich verstorbenen Eltern, die dazu nicht fähig waren. Über den ‚unbekannten Tod‘ des Bruders wird nicht geschrieben, auch nicht spekuliert, dieser wird nur als Faktum benannt. Demgegenüber wird das Sterben aller drei anderen Familienmitglieder Timms – der Mutter, des Vaters, der 18 Jahre älteren Schwester – recht detailliert berichtet.

42 Bogdal: „Männerbilder“, S. 213f.

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R ESÜMEE : T ÄTERSCHAFT , G EWALTERFAHRUNG D EMASKULINISIERUNG

UND

Die literaturwissenschaftliche Männlichkeitsforschung bearbeitet im Wesentlichen zwei zentrale Fragen „nach der Konstituierung und der Bedeutungszuschreibung von männlichen Subjekten in literarischen Texten“.43 Auch in den hier untersuchten Werken werden sie verschränkt. Es sollen nun einige Gemeinsamkeiten zwischen den drei diskutierten biografischen Ich-Erzählungen zur Shoah und zum Faschismus benannt und somit die deskriptiv-textnahen Textlektüren abschließend auf eine abstraktere Ebene gebracht werden: • Alle drei Ich-Erzähler entstammen der ‚zweiten Generation‘: Sie sind zwi-

schen 1940 und 1950 geboren.44 Schlinks Protagonist reflektiert den Umstand, Teil der zweiten Generation zu sein, explizit und entwickelt, ähnlich wie Timm, ein differenziertes Verständnis des damit einhergehenden ‚Generationenkonflikts‘ (vgl. DV, 88, 99 und 161) sowie der damit einhergehenden transgenerationellen Probleme. • Der ‚Abgrund‘, den die Ich-Erzähler dieser biografischen Narrationen durchlebt haben, das jeweilige transgenerationelle Trauma, wird retrospektiv erzählt aus gesicherter sozialer Position heraus von etwa 50-jährigen erfolgreichen Männern: einem Juristen und Universitätsprofessor, einem Pharmakologen und Unternehmer, einem erfolgreichen und anerkannten Schriftsteller. Robert Connell nennt dies „Produktionsbeziehungen“45, die in Form von geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen etabliert werden. • Alle drei Erzähler thematisieren (hetero-)sexuelle Erfahrungen, die für ihre männliche Identitätsbildung essentiell waren; in allen drei Texten wird ferner betont, dass sie als Familienväter eigene Kinder in die Welt gesetzt haben (DV, 164; F, 61; ABmB, 158). Connell spricht diesbezüglich vom „Reproduktionsbereich“ als wichtigem Element des sozialen Geschlechts.46 Die Literaturgeschichte erweist sich demnach auch hier „als eine […] Institution, die dem Dispositiv der Heteronormativität zuarbeitet.“47

43 Ebd., S. 191f. 44 Die Geburtsjahre der drei Ich-Erzähler lassen sich aus den Texten rekonstruieren: 1940 Uwe Timm, 1941 Michael Berg, 1950 Christian Rauch. 45 Connell: Der gemachte Mann, S. 95. 46 Ebd., S. 92. 47 Kraß: „Queer lesen“, S. 233.

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• Im Unterschied zu den in den Texten thematisierten Gewalttaten und Gräuel

erleidet keiner der drei Ich-Erzähler reale physische Gewalt – mit Ausnahme des Bestraftwerdens durch einen Gürtel bei Schlink (Hanna straft Michael) und Timm (Vater straft Uwe). Diese Körperstrafen dienen möglicherweise dazu, die als viel gravierender dargestellte psychische Gewalterfahrung, fühlbar bzw. darstellbar zu machen. Allerdings findet sich eine solche Strafhandlung ausgerechnet in Lehrs Text nicht, der von den drei Erzählungen derjenige ist, dessen Protagonist das schwerste Trauma erleidet und schließlich mortale Gewalt gegen sich selbst ausübt. • Alle drei Ich-Erzähler stellen sich als schwach und zum Teil hilflos dar: Bei Lehr ist der Erzähler der kleine, den großen anhimmelnde Bruder; bei Timm ist er ein ‚Muttersöhnchen‘, bei Schlink ein Junge, der in seiner ersten Geliebten eine äußerst dominante Mutterfigur sucht. Die Autoren knüpfen mithin im weiteren Sinn an ein zwar tradiertes, aber nicht unproblematisches Muster an: das der psychoanalytischen Objektbesetzungstheorie, die Maskulinität „auf die prekäre und nie vollends geglückte Loslösung von ihrem maternalen Ursprung und ihre maternale Abhängigkeit bezieht“48. • In allen drei Texten spielen die Vaterfiguren zwar eine zentrale Rolle, sie bieten gleichwohl aber keine positive Identifizierungsmöglichkeiten (da auf die Väter bei Lehr und Timm schon eingegangen wurde, hier nur eine Bemerkung zur Vaterfigur bei Schlink: Michael Bergs Vater wird als mental und emotional abwesend beschrieben. Als Philosophieprofessor hielt er seine Sprechstunden in seinem häuslichen Arbeitszimmer ab und auch die vier Kinder mussten, wenn sie mit ihm reden wollten, einen Termin vereinbaren (vgl. DV, 134f.). Die Nichtverfügbarkeit der Väter als positive Identifikationsfiguren hängt vermutlich mit dem besonderen historischen Status der drei Ich-Erzähler zusammen, die sich generationell der ‚Söhneliteratur‘ zuordnen lassen. • Während Schlink und Timm das Erzählen beziehungsweise Berichten als heilendes, klärendes Durcharbeiten der Vergangenheit verstehen und ihre IchErzähler am Schluss eine Distanz und Ordnung des Geschehenen erkennen und ihr partielles Nichtwissen als Faktum akzeptieren können, bleiben bei Lehr existenzielle Fragen und die ‚Wunde‘ – Übersetzung des griechischen Wortes ‚Trauma‘ – des Nichtwissens als unerträgliche bestehen. Der IchErzähler nimmt sich wegen dieser Unabschließbarkeit des Grauens schließlich das Leben: „was | ich nicht wissen mochte, Robert: das ist in mir ein abgrund geworden der mich verschlungen hat in mehr als dreißig Jahren unerbittlich bei lebendigem leib“ (F, S. 137), heißt es auf einer der letzten Seiten der Novelle. 48 Erhart: „Das zweite Geschlecht“, S. 174.

Autoren und Autorinnen

Claudia Benthien ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Tobias Brandenberger ist Professor für Iberoromanische und Iberoamerikanische Literaturwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Uta Fenske ist wissenschaftliche Koordinatorin am Zentrum für Gender Studies und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar an der Universität Siegen. Christian Grünnagel ist Privatdozent am Institut für Romanistik an der JustusLiebig-Universität Gießen. Andreas Kraß ist Professor für Ältere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Literatur des hohen Mittelalters an der Humboldt-Universität zu Berlin. Jürgen Martschukat ist Professor für Nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt. Michael Ott ist Privatdozent an der Ludwig-Maximilians-Universität München und derzeit Vertretungsprofessor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Konstanz. Karin Peters ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Romanischen Seminar an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Gregor Schuhen ist Juniorprofessor für Romanische und Allgemeine Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Men’s Studies an der Universität Siegen.

314 | A UTOREN UND A UTORINNEN

Angela Schwarz ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen. Silke Segler-Meßner ist Professorin für italienische und französische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Christian von Tschilschke ist Professor für Romanische Literaturwissenschaft/Genderforschung an der Universität Siegen. Niels Werber ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Rebecca Weber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Romanischen Seminar der Universität Siegen. Hans-Ulrich Weidemann ist Professor für Neues Testament und historische Masculinity Studies an der Universität Siegen. Sebastian Zilles ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Gender Studies an der Universität Siegen.

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Gesine Lenore Schiewer, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6. Jahrgang, 2015, Heft 2

Dezember 2015, 204 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-3212-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-3212-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die ZiG - als print oder E-Journal - kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 27,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Lettre Sebastian Thede Hasard-Schicksale Der literarische Zufall und das Glücksspiel im 19. Jahrhundert Februar 2017, ca. 430 Seiten, kart., Abb., ca. 47,99 €, ISBN 978-3-8376-3521-8

Alexandra Millner, Katalin Teller (Hg.) Transdifferenz und Transkulturalität Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns Januar 2017, ca. 500 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3248-4

Svenja Frank, Julia Ilgner (Hg.) Ehrliche Erfindungen Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne Dezember 2016, ca. 440 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3319-1

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Lettre Johanna Richter Literatur in Serie Transformationen des Romans im Zeitalter der Presse, 1836-1881 Dezember 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3166-1

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Dezember 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

Stefan Hajduk Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit Juli 2016, 516 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3433-4

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