Der panoptische Blick: Macht und Ohnmacht in der forensischen Psychiatrie. Künstlerische Forschung in einer anderen Welt [1. Aufl.] 9783839429846

How are power and powerlessness constituted in psychiatrics? An artistic research project on the free outside, where sur

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Der panoptische Blick: Macht und Ohnmacht in der forensischen Psychiatrie. Künstlerische Forschung in einer anderen Welt [1. Aufl.]
 9783839429846

Table of contents :
Inhalt
I. WEG INS PANOPTICON
1. Einleitung
2. Zur Methode
3. Definitorische Abgrenzung: Die Terminologie Macht und Gewalt
3.1 Macht
3.2 Gewalt
4. Macht und Gewalt von Frauen
5. Analyse der Feldforschung
5.1 Thematische Einführung
5.2 Zum historischen Hintergrund
5.3 Der Paragraf 63 des Strafgesetzbuches - zum zeitgenössischen Kontext
II. IM PANOPTICON
6. Das ›Dispositiv‹ von Zeit und Raum
6.1 Macht durch Zeit (Zeit und Strafe)
6.2 Das Prinzip der »Förder- und Lockerungsstufen«
6.3 Macht durch Raum
7. Feldforschung:Produktion des 79-minütigen Films ANDERE WELT
7.1 Mikro-»Heterotopie« – Die Frauenstation
7.2 Fotoserie für das »Süddeutsche Zeitung Magazin«
7.3 Blickfokussierung auf das Personal
7.4 Die Untersuchung von Macht in Institutionen
8. »Dispositiv« des Baus: Das »Panopticon«
8.1 Der ›Fehler‹ im »Panopticon« und seine Folgen
8.2 Die Verlagerung der Blickfokussierung
8.3 ›Innere Sicherheit‹
9. Der technische »Disziplinarblick« – der panoptische Videoüberwachungs-Blick
9.1 »Das Auge Gottes«
9.2 Der erweiterte panoptische Videoüberwachungsblick
9.3 Die ›Gestaltung‹ des panoptischen Videoüberwachungsblicks
9.4 Der panoptische Dokumentationsblick
9.5 Der extensivierte panoptische Dokumentationsblick
10. »Delinquenz«
11. Frau D. und die »Systemwächter«
III. DAS FILMISCHE PANOPTICON
12. Der panoptische Blick der Kamera
12.1 Exkurs: Der institutionelle Einfluss auf die Macht des Mediums
12.1.1 Die »Türhüterlegende«
12.2 Exkurs: Die Macht des Voyeurismus-Vorwurfs
12.2.1 »Nähe und Distanz«
13. Zum filmischen Konzept
13.1 Beobachten
13.2 Eingreifen
13.2.1 Gesprächsführung
13.2.2 Erfahrung versus Sachkenntnis
13.2.3 »Du« und »Sie«
13.3 Dekonstruieren
14. Der Blick der ›Fliegen‹
14.1 Der Gitter-Blick
14.1.1 Exkurs: Die Macht des Filmstills
14.2 Die ›Macht der Schärfentiefe‹
IV. GEWALTTATEN
15. Die Gewalttaten der Patientinnen: Analyse ihrer filmischen Darstellung
15.1 Kasuistik: Die Gewalt der Frau D.
15.2 Kasuistik: Die Gewalt der Frau B.
15.3 Kasuistik: Die Gewalt der Frau W.
15.3.1 ›Der Wurf eines Kaffeebechers‹ und seine Folgen
15.4 Die »Krise«: »Technologie der Wahrheit«
16. Biografische Prägung und Gewaltdarstellung
16.1 Die Bedeutung der psychischen Erkrankung für das Personal
V. MACHTVERHÄLTNISSE
17. Die Macht des Personals
17.1 Das Hierarchie-Gefälle innerhalb des Personals
17.2 Der ›Familienrahmen‹
17.3 Die ›(Un)-Schuld‹ der Pflegerinnen
17.4 Gemeinsamkeiten
17.5 Unterschiede
17.6 Macht innerhalb der ›Grundversorgung‹
17.6.1 Rauchen
17.6.2 Essen
17.7 »Die instrumentellen Modalitäten« der Macht
17.8 Zwangsmaßnahmen: Anwendung »instrumenteller Modalitäten« zur körperlichen Fixierung
17.8.1 Fixierung in Form von Medikation
17.9 ›Entliehene‹ Macht
18. Macht im Rahmen des Gesetzes
19. Die Macht der Patientinnen
19.1 »Machtminus«
19.1.1 Die Realität von ›Feldarbeit‹ abseits des Normdiskurses
19.2 Das »Machtplus« der Patientinnen
19.2.1 Wider des ›panoptischen Blicks‹: Aneignung des Raums
19.2.2 Das »Machtplus« der Patientinnen: Macht durch Ohnmacht
19.2.3 Macht durch Krankheit
19.3 Alles nur ein Spiel?
20. Die Machtentwicklung im Drehverlauf: Von ›Personal-Position‹ zu ›Patientinnen-Position‹
VI. ERKENNTNIS
21. Fazit der Gewalt- und Machtdarstellung
22. Zu den »diskursiven Formationen« psychischer Erkrankung und der Ausweitung der »Normalisierungsmacht«
22.1 Die Ausweitung der ›Norm‹ durch die Ausweitung des ›Abnormen‹
22.2 Die ›Norm‹ im Rechtswesen
VII. WEG AUS DEM PANOPTICON
23. Die panoptische »Kontrollgesellschaft«
23.1 Das »Auge der Vorhersehung«
23.2 ›Unfreiwillige‹ Kontrolle
23.3 ›Freiwillige‹ Kontrolle
24. Fazit
VIII. DANK UND VERZEICHNIS
Dank
Literaturverzeichnis
Internet-Quellen
Filmverzeichnis
Abbildungsverzeichnis

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Christa Pfafferott Der panoptische Blick

Film

2015-01-07 13-22-45 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03e5387038517824|(S.

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4) TIT2984.p 387038517832

Christa Pfafferott hat 2014 ihre künstlerisch-wissenschaftliche Promotion an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (HFBK) abgeschlossen. Zuvor hat sie Regie (Diplom) an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und die Henri-Nannen-Schule/Hamburger Journalistenschule absolviert. Sie arbeitet als Autorin und Regisseurin.

2015-01-07 13-22-45 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03e5387038517824|(S.

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4) TIT2984.p 387038517832

Christa Pfafferott

Der panoptische Blick Macht und Ohnmacht in der forensischen Psychiatrie. Künstlerische Forschung in einer anderen Welt

2015-01-07 13-22-45 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03e5387038517824|(S.

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4) TIT2984.p 387038517832

Diese Arbeit entstand im Rahmen einer künstlerisch-wissenschaftlichen Promotion zur Erlangung des Doktorgrads Dr. phil. in art. an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (HFBK). Der Film »Andere Welt«, auf den sich diese Untersuchung bezieht, ist mit dem Marlies-Hesse-Preis des Journalistinnenbundes ausgezeichnet worden. Er wurde auf verschiedenen Festivals gezeigt und am 26.11.2014 im SWR erstausgestrahlt. Der Film ist bestellbar über die Produktionsfirma des Films av medien penrose GmbH, www.av-penrose.com. Weitere Informationen zum Film sind abrufbar auf der Website der Autorin Christa Pfafferott, www.christa-pfafferott.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2984-2 PDF-ISBN 978-3-8394-2984-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2015-01-07 13-22-45 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03e5387038517824|(S.

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4) TIT2984.p 387038517832

Meinen lieben Eltern

Inhalt

I. WEG INS PANOPTICON 1. Einleitung | 13 2. Zur Methode | 19 3. Definitorische Abgrenzung: Die Terminologie Macht und Gewalt | 23

3.1 Macht | 25 3.2 Gewalt | 28 4. Macht und Gewalt von Frauen | 31 5. Analyse der Feldforschung | 39

5.1 Thematische Einführung | 39 5.2 Zum historischen Hintergrund | 44 5.3 Der Paragraf 63 des Strafgesetzbuches – zum zeitgenössischen Kontext | 49

II. IM PANOPTICON 6. Das ›Dispositiv‹ von Zeit und Raum | 57

6.1 Macht durch Zeit (Zeit und Strafe) | 58 6.2 Das Prinzip der »Förder- und Lockerungsstufen« | 64 6.3 Macht durch Raum | 68 7. Feldforschung: Produktion des 79-minütigen Films ANDERE W ELT | 73

7.1 Mikro-»Heterotopie« – Die Frauenstation | 73 7.2 Fotoserie für das »Süddeutsche Zeitung Magazin« | 78 7.3 Blickfokussierung auf das Personal | 79 7.4 Die Untersuchung von Macht in Institutionen | 81 8. »Dispositiv« des Baus: Das »Panopticon« | 83

8.1 Der ›Fehler‹ im »Panopticon« und seine Folgen | 89 8.2 Die Verlagerung der Blickfokussierung | 90 8.3 ›Innere Sicherheit‹ | 92

9. Der technische »Disziplinarblick« – der panoptische Videoüberwachungs-Blick | 101

9.1 »Das Auge Gottes« | 104 9.2 Der erweiterte panoptische Videoüberwachungsblick | 109 9.3 Die ›Gestaltung‹ des panoptischen Videoüberwachungsblicks | 111 9.4 Der panoptische Dokumentationsblick | 116 9.5 Der extensivierte panoptische Dokumentationsblick | 123 10. »Delinquenz« | 125 11. Frau D. und die »Systemwächter« | 131

III. DAS FILMISCHE PANOPTICON 12. Der panoptische Blick der Kamera | 145

12.1 Exkurs: Der institutionelle Einfluss auf die Macht des Mediums | 149 12.1.1 Die »Türhüterlegende« | 151 12.2 Exkurs: Die Macht des Voyeurismus-Vorwurfs | 154 12.2.1 »Nähe und Distanz« | 159 13. Zum filmischen Konzept | 161

13.1 Beobachten | 163 13.2 Eingreifen | 171 13.2.1 Gesprächsführung | 173 13.2.2 Erfahrung versus Sachkenntnis | 176 13.2.3 »Du« und »Sie« | 179 13.3 Dekonstruieren | 180 14. Der Blick der ›Fliegen‹ | 185

14.1 Der Gitter-Blick | 186 14.1.1 Exkurs: Die Macht des Filmstills | 192 14.2 Die ›Macht der Schärfentiefe‹ | 193

IV. GEWALTTATEN 15. Die Gewalttaten der Patientinnen: Analyse ihrer filmischen Darstellung | 199

15.1 Kasuistik: Die Gewalt der Frau D. | 203 15.2 Kasuistik: Die Gewalt der Frau B. | 214 15.3 Kasuistik: Die Gewalt der Frau W. | 219

15.3.1 ›Der Wurf eines Kaffeebechers‹ und seine Folgen | 225 15.4 Die »Krise«: »Technologie der Wahrheit« | 228 16. Biografische Prägung und Gewaltdarstellung | 231

16.1 Die Bedeutung der psychischen Erkrankung für das Personal | 232

V. MACHTVERHÄLTNISSE 17. Die Macht des Personals | 237

17.1 Das Hierarchie-Gefälle innerhalb des Personals | 242 17.2 Der ›Familienrahmen‹ | 243 17.3 Die ›(Un)-Schuld‹ der Pflegerinnen | 245 17.4 Gemeinsamkeiten | 250 17.5 Unterschiede | 250 17.6 Macht innerhalb der ›Grundversorgung‹ | 252 17.6.1 Rauchen | 253 17.6.2 Essen | 256 17.7 »Die instrumentellen Modalitäten« der Macht | 258 17.8 Zwangsmaßnahmen: Anwendung »instrumenteller Modalitäten« zur körperlichen Fixierung | 259 17.8.1 Fixierung in Form von Medikation | 263 17.9 ›Entliehene‹ Macht | 265 18. Macht im Rahmen des Gesetzes | 267 19. Die Macht der Patientinnen | 275

19.1 »Machtminus« | 275 19.1.1 Die Realität von ›Feldarbeit‹ abseits des Normdiskurses | 279 19.2 Das »Machtplus« der Patientinnen | 281 19.2.1 Wider des ›panoptischen Blicks‹: Aneignung des Raums | 282 19.2.2 Das »Machtplus« der Patientinnen: Macht durch Ohnmacht | 287 19.2.3 Macht durch Krankheit | 290 19.3 Alles nur ein Spiel? | 294 20. Die Machtentwicklung im Drehverlauf: Von ›Personal-Position‹ zu ›Patientinnen-Position‹ | 297

VI. ERKENNTNIS 21. Fazit der Gewalt- und Machtdarstellung | 301 22. Zu den »diskursiven Formationen« psychischer Erkrankung und der Ausweitung der »Normalisierungsmacht« | 307

22.1 Die Ausweitung der ›Norm‹ durch die Ausweitung des ›Abnormen‹ | 312 22.2 Die ›Norm‹ im Rechtswesen | 314

VII. WEG AUS DEM PANOPTICON 23. Die panoptische »Kontrollgesellschaft« | 321

23.1 Das »Auge der Vorhersehung« | 327 23.2 ›Unfreiwillige‹ Kontrolle | 330 23.3 ›Freiwillige‹ Kontrolle | 335 24. Fazit | 339

VIII. DANK UND VERZEICHNIS Dank | 345 Literaturverzeichnis | 347

Internet-Quellen | 356 Filmverzeichnis | 363 Abbildungsverzeichnis | 364

I. Weg ins Panopticon

1. Einleitung

Wer Gewalt untersucht, merkt bald, dass es um Macht geht. Wer Macht untersucht, merkt bald, dass es um Leben geht, um Selbstbehauptung, Selbstkontrolle, Selbsterhalt, viel mehr als um die Kontrolle der Anderen, die Ohnmacht der Anderen. Diese Untersuchung begann mit einer Recherche-Hospitanz zur Analyse von Gewalt von Frauen auf der Frauenstation einer Klinik für Forensische Psychiatrie, wo psychisch erkrankte StraftäterInnen untergebracht sind. Was nur als ein kurzer Einblick gedacht war, sollte zu einer Erfahrung werden, aus der ich »verändert«1 hervorging. Ich setzte mich in der folgenden Zeit auf intensive künstlerische Weise mit diesem Ort auseinander, produzierte in der Klinik eine Fotoserie für das Magazin der Süddeutschen Zeitung2 und daraus hervorgehend den Film ANDERE WELT. Dieser wurde in seiner Entstehung maßgeblich durch die Lektüre Michel Foucaults Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses3 aus dem Jahr 1975 beeinflusst. Dabei stand zu Beginn der Arbeit die Fragestellung: Wie gehen die, die Macht haben, mit ihrer Macht um? Ich beabsichtigte, einen Film über die Pflegerinnen

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Vgl. Foucault, Michel, in: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt am Main 1996, S. 24: »Ich denke niemals völlig das gleiche, weil meine Bücher für mich Erfahrungen sind, Erfahrungen im vollsten Sinne […]. Eine Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht.«

2 Pfafferott, Christa: Bretter, die die Welt bedeuten, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, 12.5.2012, S. 30-37.

3 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994 (Übersetzt aus dem Französischen von Walter Seitter nach dem Original: Foucault, Michel: Surveiller et punir. La Naissance de la prison, Paris 1975 (Originalausgabe wird im Zitatverlauf nicht mehr genannt).

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zu drehen, die unter anderem – mit Schlüsselgewalt ausgestattet – sehr viel Macht besitzen. Im Laufe der Untersuchung verschob sich jedoch dieser Blickwinkel auf die Analyse der Macht-Mechanismen, die beispielhaft verdichtet im Feld der Klinik entstehen sowie wirken und dabei durch direkte und erweiterte hegemoniale Blickverhältnisse beeinflusst werden. Dabei wurde mit Fertigstellung des Films ebenso deutlich, dass Macht und Gewalt zwar unter anderem als geschlechtsspezifische Phänomene betrachtet werden können; die untersuchten Machtverhältnisse hingegen von viel umfassenderen Wirkungen gesteuert wurden. Das Frau-Sein prägte anteilig, jedoch nicht maßgeblich die Machtsituation der Akteurinnen. Viel stärker wirkte die Macht des institutionellen Kontextes, in dem sie ›gefangen‹ waren. Die Arbeit analysiert, wie diese reziproken Machtverflechtungen, die innerhalb der Feldforschung durch Personal, Patientinnen, disziplinare Strukturen und auch durch uns als Medium gebildet wurden, auf- und ineinander wirken. Dabei erfolgt die Analyse maßgeblich anhand der Darstellung des Films ANDERE WELT im untersuchten Mikrokosmos: Eine Klinik für Forensische Psychiatrie ist durch die von den RichterInnen an das Personal delegierte Form der Bewertung der PatientInnen, sowie durch die im Folgenden ausgeführten Dispositive der ›Unbestimmten Zeit‹ und des ›Eingeschlossenen Raums‹ ein Komplex, in dem Macht in mannigfaltiger Form auf direkte und indirekte Weise existiert und praktiziert wird. An diesem Ort sind als »gefährlich für die Allgemeinheit« diagnostizierte Individuen untergebracht, deren Macht innerhalb des Gesamtsystems zunächst minimal erscheint. Andere Individuen verdienen hier ihren Lebensunterhalt damit, dass sie qua Rechtsprechung und durch instrumentelle (wie etwa Schlüssel-)Gewalt ausgestattet, relativ viel Macht im direkten und indirekten Auftrag ausüben. In einer Klinik für Forensische Psychiatrie kann aufgrund des genuin ambivalenten Rechtsauftrags der »Besserung und Sicherung«4, der ein hegemoniales Machtgefälle für die behandelnden wie zu behandelnden AkteurInnen kreiert, auf ergiebige Weise das Verhältnis von Macht und institutionell und intrapersonell ausgeführter Gewalt untersucht werden. Diesen Raum als Forschungsfeld prädestiniert umso mehr, dass er im wahrsten Sinne des Wortes ›eingrenzbar‹ ist. Nach Gilles

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Der Paragraf fällt unter die sogenannten »Maßregeln der Besserung und Sicherung«, vgl. Strafgesetzbuch (StGB) §§ 61-72: van Gemmeren, Gerhard: Sechster Teil, Maßregeln der Besserung und Sicherung, in: Joecks, Wolfgang / Miebach, Klaus (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 2, §§ 38-79 b, München 2012 (2. Auflage), S. 731 f.

1. E INLEITUNG

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Deleuze, der in die Gefängnisarbeit von Foucaults Gruppe »Le groupe d’information sur les prisons« (GIP) involviert war, ging Foucault bei seiner Arbeit mit dem Ansatz »je lokalisierter desto effektiver«5 vor. Foucault wollte etwa in Form von Fragebögen, die er an die Gefangenen austeilte und den daraus resultierenden Ergebnissen, Aufklärungsarbeit über deren Lebensverhältnisse leisten. Seine Erfahrungen, die er innerhalb der GIP machte, prägten schließlich auch sein Werk Überwachen und Strafen. Angelehnt an diese Prämisse der Effizienz von Lokalisierung, die Foucualt auch als grundlegenden Faktor für die Aufrechterhaltung von Macht sah, werden in dieser Arbeit die manifesten Begrenzungen des Felds zur Untersuchung der Machtverhältnisse genutzt. Foucaults Analysen aus Überwachen und Strafen, die sich maßgeblich mit der Disziplinierung des Subjekts befassen, lassen sich in ergiebiger Weise auf diese Arbeit anwenden. Teilweise ergaben sich während des Drehs und bei der Betrachtung des aufgenommenen Materials Situationen, bei denen es schien, als hätte sich Foucaults Überwachen und Strafen in einem konkreten Beispiel materialisiert. Ganz beispielhaft ist etwa die Bauweise der untersuchten Institution »panoptisch« konstruiert. Wie Foucault seine Überlegungen in Überwachen und Strafen maßgeblich ausgehend von Jeremy Benthams Modell des Panopticons (vgl. Kapitel 8.) auffächert, bildet auch in dieser Arbeit die Architektur der Institution einen Ausgangspunkt für die Analyse, die mit Foucaults Überlegungen theoretisch weitergeführt wird. Die Klinik für Forensische Psychiatrie soll damit im Folgenden als eigener Macht-Mikrokosmos, als »Heterotopie«6 (vgl. Kapitel 6.3) auf ihre diskursiven und aus ihr hervorgehenden Machtstrategien untersucht werden. Dabei ist die Möglichkeit des Einflusses von Macht auf die mediale Darstellbarkeit des Gewaltpotenzials der Protagonistinnen eine weitere zu berücksichtigende Dimension. Die Arbeit geht hierbei wie folgt vor: Nach Erläuterung der Methode (Kapitel 2.) und der spezifischen Faktoren, die sich aus der künstlerischen wie wissenschaftlichen Bearbeitung des Forschungskomplexes ergeben, werden die Begriffe Macht (3.1) und Gewalt (3.2) trennscharf definiert, um auf dieser Grundlage die

5 Deleuze, Gilles: Foucault und die Gefängnisse, in: Lapujade, Daniel (Hg.): Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975-1995, Frankfurt am Main 2005, S. 260-268, hier S. 263.

6 Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1991 (2. Auflage), S. 34-46, hier S. 39 ff.

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Analyse der Gewalt- und Machtkonstellationen im Untersuchungsobjekt zu vollziehen. In diesem Zusammenhang erfolgt aufgrund der Spezifik der Unterbringung ebenfalls eine Berücksichtigung der Macht und Gewalt von Frauen (4.). Nach dieser theoretischen Grundlage wird anhand einer thematischen Einführung die Unterbringung im Maßregelvollzug nach Paragraf 63 Strafgesetzbuch StGB7 erläutert. Dabei nimmt die Arbeit Bezug auf die gesetzliche Grundlage der Unterbringungsform und ihren historischen und zeitgenössischen Kontext (5.1-5.3), welcher insbesondere durch den ›Fall Gustl Mollath‹ in seiner kontroversen Anschauung an Brisanz gewonnen hat. Daraus hervorgehend erfolgt mit Kapitel 6. (Das ›Dispositiv‹ von Zeit und Raum) eine Analyse der im spannungsreichen Verhältnis stehenden Raum- und Zeit-Konstellationen des Untersuchungsfeldes, welche in dieser Arbeit einen wiederkehrenden Schwerpunkt darstellen. An diesen Kontext schließt sich eine Erläuterung des Systems der »Förder- und Lockerungsstufen« an (6.2), die die ›Aufenthalts-Freiheiten‹ der Untergebrachten bis zu ihrer Freilassung bestimmen. Schließlich wird nach Foucaults Definition der »Heterotopie« die Klinik für Forensische Psychiatrie auf ihre Innen- und Außenwirkungen als »anderer Ort« analysiert (6.3), wobei im Folgenden die Mikro-»Heterotopie« der Frauenstation, in der der Film produziert wurde, den Schwerpunkt bildet. Nach dieser umfassenden thematischen Einführung (1.-6.3) wird nun die Vorgehensweise der Feldforschung (7.1-7.5) in der Klinik und die Annäherung an den Ort und die Personen erläutert. Davon ausgehend erfolgt eine ausführliche Analyse des Raums und der daraus hervorgehenden Blickmachtverhältnisse anhand von Benthams Modell des Panopticon (8.). Das in diesem Modell begründete Sichtbarkeitsprinzip, dem spezifische Machtkonstellationen immanent sind, bildet aufgrund der panoptischen Bauweise der Frauenstation einen wesentlichen Kern der Arbeit, auf den von diesem Kapitel an im Folgenden durchgehend Bezug in konkreten und weiterreichenden Ausführungen genommen wird. Im Zusammenhang der Annäherung an den Untersuchungsort werden etwa Verlagerungen des filmischen Blickfokus durch die aus der panoptischen Struktur hervorgehenden hegemonialen Blickkonstellationen erläutert (8.2.). Dabei stellen Foucaults Überlegungen zur Disziplinargesellschaft, ausgehend vom Modell des Panopticon, stets eine theoretische Basis für die grundlegende Methode der Analyse der Machtsituationen des in der »Heterotopie« entstandenen Films ANDERE WELT dar. Ausgehend vom manifesten baulichen Panopticon erfolgt eine Analyse des ›erweiterten panoptischen Blicks‹ in Form der allgegenwärtigen Videoüberwachung im KlinikKomplex (9.2) und der Gestaltung und Wirkung dieser Bildebene als implemen-

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Im Folgenden wird nur noch die Abkürzung StGB verwendet.

1. E INLEITUNG

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tierter Bestandteil des Films. In diesem Zusammenhang der panoptischen Blickmacht-Überlegungen bezieht der Abschnitt »Das Auge Gottes« (9.1) auch die Vorstellung des »unbedingten«8 Sehen Gottes und dessen ikonische Darstellung für weiterführende Überlegungen ein. Dabei wird Bezug auf die Interpretation der »Pastoralmacht« durch Foucault zur Individualisierung des Subjekts genommen, welche auch im Verlauf der Analyse unter anderem im Beziehungsverhältnis von Individuum und Kontrolle Erwähnung findet. Von hier geht die Analyse auf die erweiterte Dimension des panoptischen Sichtbarkeitsprinzips in Form von dokumentarischer Erfassung und dessen Ausmaße in der Klinik-»Heterotopie« ein (9.4). Dies wird mit Foucaults Definition der »Delinquenz« in ihrem Wirkungsausmaß theoretisch ausgeführt (10.). Wie konkrete Filmbeispiele und Drehzusammenhänge die Arbeit kontinuierlich durchwirken, werden auch diese Überlegungen mit einer spezifischen Filmszene, in der eine der Patientinnen ihre KontrollEindrücke wiedergibt (11.), konkretisiert. In diesem Zusammenhang, wird erstmalig die binäre Logik der Wahrheitsbildung von psychischer Gesundheit und Erkrankung thematisiert und auf einen weiteren Themen-Schwerpunkt – »Der panoptische Blick der Kamera« (12.) – übergeleitet. Hierbei werden die Drehbedingungen in der Klinik-»Heterotopie« erläutert (12.1-12.3) und zum Beispiel anhand von Kafkas »Türhüterlegende« (12.1.1) herauskristallisiert, inwiefern sich die Machtkonstellationen auch durch tatsächliche oder vermeintlich geglaubte »Schwellenwächter« bildeten. Die Analyse der gestalterischen Vorgehensweise und der Machtimplikationen des Mediums geschieht anhand der schwerpunktsetzenden Aspekte ›Beobachten‹ (13.1), ›Eingreifen‹ (13.2) und ›Dekonstruieren‹ (13.3) mit Verweis auf spezifische filmhistorische Beispiele und theoretische Gesichtspunkte, welche schließlich durch konkrete Film- und Produktionsbeispiele verdeutlicht werden (14.1-14.4). Nach dieser umfangreichen Aufstellung der – das Untersuchungsfeld prägenden Macht-Indikatoren – wird nun das Macht- und Gewaltpotenzial der dichotomen Gruppen von Patientinnen und Pflegerinnen (15.-17.) analysiert, deren Darstellung einen Recherchefokus der Dreharbeiten bildete. Dabei wird anhand ausführlicher Analysen (15.1-15.3), ausgehend von den im Film dargelegten »Anlasstaten«, das Gewaltpotenzial der Patientinnen und die Möglichkeiten der filmischen Gewalt-Darstellung untersucht. Im weiteren Verlauf stehen als Hauptaspekt (17.) die Macht des Pflegepersonals im Fokus der Betrachtung sowie die Rahmen-

8 Vgl. von Cues, Nikolaus, in: Hoffmann, Ernst (Hg.): Von Gottes Sehen. De visone Dei. Schriften des Nicolaus von Cues, Leipzig 1944 (2. Auflage), S. 60: »unbedingtes Sein«; bzw. S. 65: »Du bist mein Gott, der alles sieht.«

18 | D ER PANOPTISCHE B LICK

bedingungen, die sich etwa durch Hierarchiegefälle (17.1-17.3) und durch Gebrauch von »instrumentellen Modalitäten«9 der Macht (17.7) ergeben. Dabei wird untersucht, inwiefern das Gewaltpotenzial der Pflegerinnen durch die ›Macht des Gesetzes‹ beeinflusst wird. Einen weiteren Hauptaspekt bildet schließlich die Analyse der Macht der Patientinnen-Gruppe (19.), die sich unter anderem durch spezifische (Aneignungs-)Handlungen bildet und die Verflechtungen von Macht und Ohnmacht und deren Verstärkung durch den heterotopischen Kontext herausstellt. Ein vorläufiges Fazit (21.) zum Schwerpunkt der Gewalt- und Machtanalyse fasst schließlich diesen Themenkomplex zusammen und hinterfragt die Stellung der psychischen Erkrankung im Klinik-Kontext sowie in der Filmdarstellung. Von nun an wird in dieser Arbeit, vom konkreten Beispiel der Klinik für Forensische Psychiatrie ausgehend, eine weiter umfasste Betrachtungsebene eingenommen, die sich auf das ›freie Außen‹ bezieht: Zunächst werden die »diskursiven Formationen«10 psychischer Erkrankung (22.) in ihrer kontingenten gesellschaftlichen Wirkung erläutert. Dabei werden unter anderem Foucaults Annahme der Ausweitung der »Normalisierungsmacht« und deren Einfluss ins Rechtssystem (22.3) analysiert und die Folgen des steigenden Gutachtereinflusses erörtert. Abschließend weitet sich der Blickwinkel der Arbeit unter dem Aspekt der Kontrolle und Überwachung (23.): Anhand Gilles Deleuzes Überlegungen zur »Kontrollgesellschaft« zeigt die Arbeit die Entwicklung von Kontrollstrukturen auf, bei der die panoptischen Machtkonstellationen der Klinik-»Heterotopie« als konkretisiertes Pars pro Toto von größeren gesellschaftlichen Wirkungskomplexen stehen. Abschließend stellt die Untersuchung in einer Zusammenfassung am Schluss unter anderem Überlegungen zur Weiterentwicklung der Unterbringungsform vor und macht deutlich, dass die Grenzziehungen zwischen eingeschlossenem Raum und ›Freiheit‹ weniger manifest verlaufen, als sie gezogen werden.

9

Foucault, Michel: Wie wird Macht ausgeübt?, in: Engelmann, Jan (Hg.): Foucault. Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien, Stuttgart 1999, S. 187-201, hier S. 197, Hervorhebung im Original.

10 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981, S. 48.

2. Zur Methode

Als Filmautorin hatte ich im Kontext der Machtkonstellationen, die in dieser Arbeit herausgearbeitet werden sollen, eine »gatekeeper«-Funktion1 (Gatekeeper, zu Deutsch unter anderem »Torhüter«) inne. Diese, 1943 erstmalig durch den Psychologen Kurt Lewin2 definierte, Bezeichnung, die er bei der Untersuchung von Entscheidungsprozessen in Privathaushalten anwandte und die 1950 von David Manning White auf die Kommunikationsforschung übertragen wurde, soll den Einfluss von Personen oder Institutionen bei der Informationsvermittlung kennzeichnen. Medien besitzen eine »gatekeeper«-Funktion, indem sie etwa durch Zugang oder Ausschluss von Informationen die Wahrnehmung eines Diskurses steuern können. Meine »gatekeeper«-Funktion wirkt innerhalb des gesamten Produktions-, Selektions- und Gestaltungsprozesses des Films. Das Medium der Kamera (wobei »die Kamera« hierbei stets für den Aufnahmeapparat von Bild und Ton stand) wird im Film durch Thematisierung von ProtagonistInnen, Fragen der Autorin aus dem Off oder Sichtbarmachung des Teams in den Überwachungsaufnahmen offenkundig. Die Bedeutung des Mediums ist deshalb eine offensichtliche. Um diese Komponente des Machtkomplexes möglichst transparent zu machen, beziehe ich

1 Manning White, David: The »Gate Keeper«: A Case Study In the Selection of News, in: Association for Education in Journalism and Mass Communication (Hg.): Journalism Quarterly 1950, Band 27, S. 383-390, abrufbar unter http://www.aejmc.org/home/wp-content/uploads/2012/09/Journalism-Quarterly-1950White-383-90.pdf (10.10.2014).

2 Lewin, Kurt: Forces behind food habits and methods of change, in: Bulletin of the National Research Council 1941-1943: The problem of changing food habits, Band 108, 10/ 1943, S. 35-65, hier S. 40; abrufbar unter http://www.nap.edu/openbook.php?record _id=9566&page=35 (19.10.2014).

20 | D ER PANOPTISCHE B LICK

mich in dieser Analyse in Form der 1. Person Singular/ 1. Person Plural als Bezeichnung für das am Drehort anwesende dreiköpfige Filmteam (bestehend aus Regisseurin, Kamerafrau und Tonmann) persönlich mit ein und schildere Erfahrungen, Motive, Entscheidungswege bis hin zu Gefühlen bei der Filmproduktion. Die Auswahl der Personen, Drehorte und weiterführend des Bild- und TonMaterials im Schnitt basierten teils auf im Vorhinein rational geplanten und teils auf situativ, emotional getroffenen Entscheidungen, dem sogenannten »Bauchgefühl«. Die zugrundeliegenden Handlungsmotive sind in der wissenschaftlichen Aufarbeitung von evidenter Bedeutung, da die Stellvertreterin-Position eines System-Fremdkörpers, der zumindest temporär Inklusion erfahren wollte, zwar nicht paradigmatisch sein kann, aber dennoch aussagekräftige Zusatzinformationen liefert. Hierbei ist mir die Herausforderung der Position bewusst, Autorin und gleichzeitig Analystin ein- und derselben Arbeit zu sein und innerhalb der Reflexion einen Abstand zwischen Kreation des Forschungsobjekts und dessen Betrachtung zu schaffen. Jedoch ist die theoretische Auseinandersetzung nicht nur zeitlich versetzt in Rückbetrachtung der Filmproduktion entstanden, sondern hat den Film und die Autorenrolle in dieser Hinsicht modifiziert. In dieser wechselseitigen AnalystinAutorin-Funktion besteht so auch ein diegetischer Mehrwert, da nicht nur das Filmresultat, sondern auch Absichten und Abweichungen davon, Bestandteil der Analyse sein können. Angelehnt an den von Foucault erfundenen »Funktionalismus«3 von »sehen und sagen«4 soll das in der Feldarbeit Gesehene durch den erinnernden schriftlichen Blick genauer analysiert werden, ohne dabei die Arbeit in einem spezifischen disziplinarischen Feld zu verorten: »Es geht darum, in dem, was sichtbar ist, etwas Unmerkliches zu sehen.«5 Die Nutzung von Materialien wie Interviews und Filmstills sollen als ergiebige Ergänzungen den Textkörper bereichern, so dass auch durch diesen Bestandteil der künstlerischen Feldforschung ein theoretischer Erkenntnisgewinn erzielt wird. Dabei ist mir die Macht, die bereits dieser schriftlichen Analyse inhärent ist, durchaus bewusst. Diese ist durch die selektierend auktoriale Erzählhaltung, die sich aus einer Forschungsvorgehensweise konstituiert, bei der das Ergebnis durch mich selbst geschaffen wurde, eine besonders große.

3 4 5

G. Deleuze, in: Foucault und die Gefängnisse, S. 265. Ebd. Ebd., S. 266 (Deleuze bezieht sich hier auf Foucault und die Bedeutung, die dieser jeden Aussagen und Dingen beimisst).

2. Z UR M ETHODE

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Doch meine Analyse-Funktion wäre auch ohne den exklusiven Zugang qua der erfahrenen Dreherlebnisse eine machtvolle: Indem ich Film-Szenen als exemplarisch zu analysieren erachte, Filmstills als evident in die Arbeit kopiere, Gesprochenes transkribiere und als Zitat einfüge, typografisch kursiv hervorhebe oder nur als Fußnote beanspruche, Überlegungen durch die Auswahl von bestimmten Literatur-Zitaten bekräftige, mich dabei auf einen bestimmten Diskurs beziehe, in dem ich wiederum Stimmen auslasse oder hörbar mache, präge ich den Blick, lasse ihn zu oder verhindere ihn. Die Analyse selbst ist Macht. Macht jedoch im produktiven Sinne, wie Foucault sie definiert hat, und wie im Folgenden erläutert wird. Eine ständige Meta-Analyse würde mich blockieren und gleichwohl selbst wieder eine Machttechnik darstellen – im Bewusstsein meines machtvollen Blicks beginne ich daher mit der Analyse der Machttechniken.

3. Definitorische Abgrenzung Die Terminologie Macht und Gewalt

Im Folgenden werden die Termini »Macht« und »Gewalt« trennscharf definiert, um unter Berücksichtigung dieser festgesetzten Kriterien in klarer Abgrenzung bei der Analyse der Arbeit vorgehen zu können. An dieser Stelle wird aufgrund der breiten theoretischen Vielfalt dieser Phänomene in den unterschiedlichsten Fachdisziplinen wie Psychologie, Philosophie, Kultur-, Sozial- und Rechtswissenschaften kein genereller Überblick zu den Begriffen vollzogen. Die Definitionen werden konkret zur Anwendung der Analyse festgelegt, um so eine ›Verabredung‹ einzugehen, nach welcher Grundlage diese vollzogen wird. Macht und Gewalt sind elementare Erscheinungen menschlichen Zusammenlebens, wie Heinrich Popitz meint: »Gewalt ist in der Tat […] eine Option menschlichen Handelns, die ständig präsent ist. […] Die Macht zu töten und die Ohnmacht des Opfers sind latent oder manifest Bestimmungsgründe der Struktur sozialen Zusammenlebens.«1 Wie bereits im Zitat von Popitz deutlich wird, zeigt sich in der Auseinandersetzung mit den Begriffen, wie nah diese Phänomene beieinander liegen können, sich gegenseitig bedingen und auch verwendet werden. Daraus folgt jedoch auch, dass diese teilweise überschneidend genutzt werden oder in ihrer Bedeutung fließend ineinander übergehen. Macht kann mit Gewalt und Gewalt kann mit Macht gleichgesetzt werden. Die Philosophin Hannah Arendt bemängelte in ihrem Werk »Macht und Gewalt« bereits 1969:

1 Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht, Tübingen 1992 (2. Auflage), S. 57.

24 | D ER PANOPTISCHE B LICK

»Es spricht, scheint mir, gegen den gegenwärtigen Stand der politischen Wissenschaft, 2

dass unsere Fachsprache nicht unterscheidet zwischen Schlüsselbegriffen wie Macht, Stärke, Kraft, Autorität und schließlich Gewalt […]; der Unfähigkeit, Unterschiede zu hören, entspricht die Unfähigkeit, die Wirklichkeiten zu sehen und zu erfassen, auf die die 3

Worte ursprünglich hinweisen.«

Dies mag zum einen daran liegen, dass die Phänomene meist nicht unabhängig voneinander auftreten und auch nach Arendt »nur in extremen Fällen in ihrer reinen Gestalt anzutreffen«4 sind. Gewalt und Macht entstehen oft im reziproken Verhältnis. Auch ist den Begriffen gemeinsam, dass sie insbesondere im öffentlichen Gebrauch im Allgemeinen negativ konnotiert sind. Da diese Analyse sowie die vorhergehende Praxis der filmischen Feldforschung grundlegend auf Foucaults Werk Überwachen und Strafen aufbaut, erfolgt die Untersuchung daher anhand der Machtbetrachtungen Foucaults, die sich hauptsächlich, jedoch nicht nur, aus diesem Werk ergeben. Diese werden im Verlauf dieser Arbeit in die theoretische Ausarbeitung der Erkenntnisse einbezogen. Des Weiteren werden Reflexionen aus Hannah Arendts Werk Macht und Gewalt verwendet. Die Abgrenzung, die sie zwischen Macht und Gewalt unter anderem durch die Nutzung der Werkzeuge in der Gewaltpraxis vollzieht, konnte in der Feldforschung praktisch bestätigt werden (Kapitel 17.7). Mit »instrumentellen Modalitäten«5 wird Gewalt (etwa in Form von Fixierung) ausgeführt und Macht unter anderem erhalten.

2

Zur Verbesserung der Leserlichkeit der Zitate wird die Schreibweise in den Zitaten in die neue Rechtschreibung übertragen und alte Rechtschreibung nicht durch [sic!] gekennzeichnet. Die alte Rechtschreibung in Buch-Titeln wird übernommen.

3 4 5

Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, München 1970, S. 44. H. Arendt: Macht und Gewalt, S. 48. M. Foucault: Botschaften der Macht. S. 197, Hervorhebung im Original (Der Autorin ist bewusst, dass Foucault in den Begriff der »instrumentellen Modalitäten« u.a. auch die »Wirkung des Wortes« ebd., einbezieht. In diesem Fall soll der Begriff jedoch auf die gegenständliche Praxis angewendet werden.)

3. D EFINITORISCHE A BGRENZUNG

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3.1 M ACHT Macht ist grundlegender Handlungsantrieb individueller Existenz. Für Machterhalt und Machtgewinnung (dies schließt das Streben nach Gütern mit ein, da diese letztendlich Machtgewinn bedeuten), können Individuen bereit sein, ans Äußerste ihrer moralischen Wertevorstellungen, körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu gehen und lebensbestimmende Entscheidungen nach ihnen auszurichten. »[W]eil sie von überall kommt, ist die Macht überall«6, so Foucault. »Macht existiert nur in actu, auch wenn sie sich, um sich in ein zerstreutes Möglichkeitsfeld einzuschreiben, auf permanente Strukturen stützt.« 7 Das bedeutet, dass Macht zwar strukturell begünstigt sein kann, jedoch nicht genuin dadurch bedingt ist. Macht wird durch Handlungen von Individuen vollzogen und ist nur vorhanden, wenn mindestens zwei Personen zusammentreffen. Die mächtige Person ist abhängig von einer Anderen, auf die sie ihre Macht anwenden kann: »Denn man darf sich nicht täuschen: wenn man von der Macht der Gesetze, der Institutionen oder der Ideologien spricht, dann nur soweit man unterstellt, dass ›einige‹ Macht über andere ausüben. Der Begriff Macht bezeichnet Verhältnisse zwischen ›Partnern‹«8.

Macht ohne Wirkungsmöglichkeit wäre also nicht nur nutzlos, sondern schlicht nicht vorhanden. Nach Hannah Arendt ist Macht »im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält.«9 Herrschende verlieren demnach nicht nur ihre Macht, wenn sie aktiv gestürzt werden. Es genügt, dass die Gruppe, welche den Herrschenden »ermächtigt«10, zerfällt oder »auseinandergeht«11. Dann »vergeht auch ›seine Macht‹«12. Dies ist jedoch, zumindest auf Staatengebilde bezogen, selten der Fall. In mächtigen, vom Staat mit Macht ausgestatteten, Institutionen wie dem Gefängnis oder geschlossenen Kliniken ist ein ›Zerfallen‹ der Gruppe ohne aktiven und gewaltsamen Aufstand für die Gefangenen bzw. die PatientInnen sogar schlichtweg unmöglich.

6 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt am Main 2012 (19. Auflage), S. 94.

7 8 9 10 11 12

M. Foucault: Wie wird Macht ausgeübt?, S. 191, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 188. H. Arendt: Macht und Gewalt, S. 45. Ebd. Ebd. Ebd.

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Generell vollzieht sich Macht in kontingenten Prozessen. Sie »bedarf […] der Legitimität«13. So groß der oder die Mächtige jedoch wirkt, ihre Legitimität wird nur direkt durch Personen oder von durch Personen ermächtigte Funktionen vollzogen. Macht ist produktiv Macht ist genuin nicht negativer Natur. Sie entfaltet ein produktives Möglichkeitsfeld zwischen zwei Parteien. Macht kann ausgenutzt werden und andere Personen in negativ empfundene Ohnmacht versetzen. Ohne Macht würde jedoch politisch und gesellschaftlich kaum Wirkung und Ordnung erzielt werden können. »Foucaults theoretische Innovation in Surveiller et punir bestand im Insistieren auf der produktiven Seite der Macht«14, behauptet Philipp Sarasin in seiner Einführung zu Foucault. Nach Foucault konstituieren sich »Machtverfahren« 15 unter anderem aus Mechanismen wie Prüfung16, »Abschließung, Überwachung, Belohnung und Bestrafung«17. Er ist jedoch überzeugt, dass Macht nicht nur repressive Funktion besitzt: »Man muss aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ›ausschließen‹, ›unterdrücken‹, ›verdrängen‹, ›zensieren‹, ›abstrahieren‹, ›maskieren‹, ›verschleiern‹ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: Das Individuum und seine Er18

kenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.«

Ohne Macht und ihre Wirkungsmechanismen würden in unserer bestehenden gesellschaftlichen Ordnung eines demokratischen Staates weder Verkehr, Bildung, Wissenschaft, Handel und Gesundheitswesen in ihrer gegenwärtig etablierten Form existieren und funktionieren. Dieses produktive Ergebnis von Macht produziert sich jedoch auch aus eigennützigem Handeln heraus: Wirklich legitimierte Macht ist die Übereinkunft von Individuen, ihr geregeltes Zusammenleben zu sichern. Die Gruppe einigt sich – wenn dies in legitimierender Form geschieht – Macht an eine Instanz abzugeben, die ihnen Sicherheit im Zusammenleben und somit auch die Wahrung ihrer Freiheit garantiert. So werden ›Spielregeln‹ für das

13 14 15 16 17 18

H. Arendt: Macht und Gewalt, S. 53. Sarasin, Philipp: Michel Foucault zur Einführung, Hamburg 2010 (4. Auflage), S. 149 f. M. Foucault: Wie wird Macht ausgeübt?, S. 190. Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 238 ff. M. Foucault: Wie wird Macht ausgeübt?, S. 190. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 250.

3. D EFINITORISCHE A BGRENZUNG

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Zusammenleben geschaffen, welche der oder die Machthabende befugt ist durchzuführen und Verstöße gegen diese Regeln mit Sanktionen zu versehen. Nach Thomas Hobbes, dessen staatsphilosophische Ausführungen von 1651 mit Grundlage für die weitere Entwicklung von Staatlichkeit waren, existiert ohne staatliche Macht »ein Krieg aller gegen alle«19 mit einem Mangel an Sicherheit und theoretisch unbegrenzter, faktisch aber stark eingegrenzter Freiheit. Der Kampf um das tägliche Überleben, die Angst davor, getötet oder beraubt zu werden, würde so viele Ressourcen beanspruchen, dass die Individuen sich einigen, etwas von ihrer unbegrenzten Freiheit abzugeben und auf eine Autorität zu übertragen, um damit mehr Sicherheit zu erhalten. Dadurch werden sie in ihren freiheitlichen Rechten zwar in gewisser Weise eingeschränkt, dies nehmen sie jedoch in Kauf, um so ihre Existenz ohne ständigen Überlebenskampf sichern zu können. Macht ist also für die ›Untertanen‹, die ›sich in Macht begeben‹ rationales Kalkül, das das eigene Überleben sichert und erst Freiheit sowie wirtschaftliche Betätigung effektiv ermöglicht. Jedoch ist dieses vermeintlich autarke ›Sich-in Macht-Begeben‹ nicht immer aktiv bestimmt. Die meisten Individuen werden bereits in bestehende Machtsysteme hineingeboren. Leisten sie jedoch keinen aktiven Widerstand gegen diese Verhältnisse, wird dies in demokratischen Systemen zumindest als implizite Bestätigung der grundlegend bestehenden Machtverteilung verstanden. Bei einzelnen Gruppen kann die ›Wahlfreiheit‹ der Inanspruchnahme oder Übergabe von Macht besonders eingeschränkt sein. So übergeben die Gefangenen eines Gefängnisses oder einer geschlossenen Klinik nicht freiwillig Machtbefugnisse, um ihr Zusammenleben zu regeln. Die Gesellschaft, die sicher leben will, verleiht der von ihnen übertragenen Macht die Möglichkeit, sie stark sanktionierend über Individuen auszuüben, die dem in dieser konkreten Form nicht zustimmen würden. Diese umfassend Handlungsfreiheits- und damit Grundrechte einschränkende Form der Machtausübung ist eine von der Mehrheit, wenn auch teilweise implizit, legitimierte. Macht ist Wissen, »Wissen ist Macht«20 Macht wird durch Wissen konstituiert, doch Wissen wird nicht nur zum Zwecke der Macht angewendet, ausgenutzt oder bestimmten Personen vorenthalten. Macht produziert Wissen. Dementsprechend meint Foucault, »dass Macht und

19 Vgl. Hobbes, Thomas: Leviathan, Stuttgart, 1976, S. 115. 20 Dieser verbreitete Begriff entspringt in seinem Ursprung dem Philosophen Francis Bacon (1561-1626).

28 | D ER PANOPTISCHE B LICK

Wissen einander unmittelbar einschließen; dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein bestimmtes Wissensfeld konstituiert«21. In der späteren Analyse des Films wird sich deutlich zeigen, wie durch die Akkumulation von Wissen über Individuen Macht erhalten und kreiert wird. In Rückblick auf seine zwanzig Jahre währenden Machtanalysen nennt Foucault zusammenfassend die Untersuchung »der Objektivierung, die Menschen in Subjekte verwandeln« 22 als maßgebliche Arbeitsweise. 23 Anhand welcher grundlegender Praktiken, wie Dokumentations- und Teilungspraktiken, zu diesem Zwecke Macht ausgeübt und sichergestellt wird, wird im späteren Verlauf der Arbeit an expliziten Beispielen vollzogen.

3.2 G EWALT Gewalt wird in der vorliegenden Arbeit als »enger Gewaltbegriff«24 verwendet. Als Gewalt wird physische Gewalt bezeichnet, die körperliche Verletzungen bewirkt, respektive die Androhung von körperlicher Gewalt, so dass die Macht ausgenutzt wird. In diesem Sinne definiert Heinrich Popitz: »Gewalt meint eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt, gleichgültig, ob sie für den Agierenden ihren Sinn im Vollzug selbst hat (als bloße Aktionsmacht) oder, in Drohungen umgesetzt, zu einer dauernden Unterwerfung (als bin25

dende Aktionsmacht) führen soll.«

21 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 39. 22 Vgl. M. Foucault: Warum ich die Macht untersuche. Die Frage des Subjekts, in: J. Engelmann: Botschaften der Macht, S. 161-171, hier S. 161.

23 Foucault schlussfolgerte in diesem Zusammenhang bei der Zusammenfassung seiner Arbeit: »Nicht die Macht, sondern das Subjekt ist deshalb das allgemeine Thema meiner Forschung. Aber die Analyse der Macht ist selbstverständlich unumgänglich. Denn wenn das menschliche Subjekt innerhalb von Produktions- und Sinnverhältnissen steht, dann steht es zugleich auch in sehr komplexen Machtverhältnissen.« Ebd., S. 162.

24 Vgl. Schwithal, Bastian: Weibliche Gewalt in Partnerschaften. Eine synontologische Untersuchung, Münster 2005, S. 6.

25 H. Popitz: Phänomene der Macht, S. 48.

3. D EFINITORISCHE A BGRENZUNG

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»Obwohl Macht und Gewalt ganz verschiedenartige Phänomene sind, treten sie zumeist zusammen auf«26, so Hannah Arendt. Jedoch muss zwischen ihnen unterschieden werden: »Ungeteilte und unkontrollierte Macht kann eine Meinungsuniformität erzeugen, die kaum weniger ›zwingend‹ ist als gewalttätige Unterdrückung. Aber das heißt nicht, dass Gewalt und Macht dasselbe sind.«27 Sie trifft die Feststellung: »Nackte Gewalt tritt auf, wo Macht verloren ist.«28 Es könnte also formuliert werden, dass sich dann Gewalt bildet, wenn Macht nicht ausreicht, um Meinungen oder Ziele durchzusetzen, so dass aus diesem Grund zu gewalttätigen Mitteln gegriffen wird. Hierbei muss jedoch eingeschränkt werden, dass Gewalt auch präventiv eingesetzt werden kann, um eine Unterwanderung der Macht erst zu verhindern. Somit wird gewährleistet, dass die Macht gar nicht erst gefährdet wird und »verloren« geht. Gewalt kann primitiver körperlicher Natur sein, nach Arendt ist sie jedoch vor allem »durch ihren instrumentalen Charakter gekennzeichnet […], da die Gewaltmittel, wie alle Werkzeuge, dazu dienen, menschliche Stärke bzw. die der organischen ›Werkzeuge‹ zu vervielfachen, bis das Stadium erreicht ist, wo die künstlichen Werkzeuge die natürlichen ganz und gar ersetzen.«29

Sie unterscheidet Macht und Gewalt auch am Gebrauch eben dieser Mittel: »Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstellation: Alle gegen Einen, der Extremfall der Gewalt in der Konstellation: Einer gegen Alle. Und das letztere ist ohne Werkzeuge, d.h. ohne Gewaltmittel niemals möglich.«30 Gewalt kann durch Macht legitimiert werden. Die Staatsmacht bildet nur eine Kategorie von Macht, doch lässt sich anhand dieser eine klare Abgrenzung von Gewalt und Macht aufzeigen: Demokratische Staaten besitzen ein sogenanntes »staatliches Gewaltmonopol«. Nur der Staat und seine Organe sind durch ihre demokratische Legimitation als Macht dazu befugt, Gewalt auszuüben, respektive andere dazu zu legitimieren. Mit der Gewaltenteilung von »Judikative« (»rechtssprechende Gewalt«), »Legislative« (»gesetzgebende Gewalt«) und «Exekutive« (»ausführende Gewalt«) existieren drei Bereiche, die sich gegenseitig kontrollieren, womit Machtmissbrauch

26 27 28 29 30

H. Arendt: Macht und Gewalt, S. 53. Ebd., S. 43. Ebd., S. 55. Ebd., S. 47. Ebd., S. 43, Hervorhebung im Original.

30 | D ER PANOPTISCHE B LICK

verhindert werden soll. Nur durch das Gewaltmonopol kann der Staat sicherstellen, dass er alleine und als alleinig legimitierte Instanz Gewalt anwendet. Gewaltanwendung privater Gruppen und die Errichtung paralleler Strukturen zum Staat sind illegitim. Die Macht des Staates wird verfassungsrechtlich in der Garantie des gewaltlosen Zusammenlebens der Gesellschaft begründet. Bedingung dafür ist wiederum, dass Gewalt nur in staatlicher Hand liegt. Wäre das Gewaltmonopol aufgebrochen, stünde Gewalt jedem gleichermaßen zu, bestünde die Gefahr, dass eine »Gewaltherrschaft«31 einträte, die zur »Entmachtung der Gesellschaft«32 führen würde. »Die Tyrannis erzeugt die Ohnmacht, welche dann totale Herrschaft ermöglicht«33, so Hannah Arendt. Deswegen ist der Staat befugt, Gewalt von denjenigen, die das staatliche Gewaltmonopol in Ausprägung der Gewaltenteilung zu unterwandern versuchen, zu unterbinden und zu sanktionieren. Die gewalttätigen Individuen werden etwa zur Sicherung der Bevölkerung eingesperrt, wie dies im Fall der Täterinnen in der Klinik für Forensische Psychiatrie vollzogen wurde.

31 H. Arendt: Macht und Gewalt, S. 56. 32 Ebd. 33 Ebd.

4. Macht und Gewalt von Frauen

Die frauenspezifische Thematik steht nicht im Zentrum der Betrachtung. Jedoch kann die Tatsache, dass die im Fokus des Films stehenden Akteurinnen kategoriebildend auf einer Frauenstation zusammengeführt wurden, nicht ohne Berücksichtigung bleiben. Wie in dieser Arbeit auch andere wesentliche, die Macht konstituierende Faktoren Bestandteil der Analyse sind, soll dieser Aspekt daher ebenfalls thematisiert werden. Doch es ist nicht Anspruch der vorliegenden Untersuchung, die Interaktionen und Verhältnisse der im Film dargestellten Positionen unter Gendergesichtspunkten zu analysieren. Eine Frage stellt sich jedoch: Würde ich mich in einer Untersuchung bemüßigt fühlen, das Geschlecht herauszustellen, wenn es sich bei den Akteuren im Film um Männer handeln würde? Frauen in Machtpositionen sind immer noch etwas »anderes«1 und Gewalt von Frauen ist es ebenso: Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist seit Beginn der Evolutionsgeschichte durch ein deutliches Machtgefälle geprägt. Dieses ungleiche Machtverhältnis macht sich bis heute in gesellschaftlichen und persönlichen Verhältnissen deutlich bemerkbar, wie ganz beispielhaft im Berufsleben evident wird: »Der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen lag 2013 um 22 % niedriger als der Verdienst der Männer.« 2 Der durchschnittliche »Gender Pay

1 Vgl. de Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht, Reinbek bei Hamburg 2008 (9. Auflage), S. 12 ff.

2 Statistisches Bundesamt: Gender Pay Gap, https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/QualitaetArbeit/Dimension1/1 _5_GenderPayGap.html (7.10.2014) (dies betrifft den sogenannten »unbereinigten« Gender Pay Gap).

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Gap«3 der Europäischen Union beträgt 16 Prozent.4 Der Anteil von Frauen in Führungspositionen ist gering und nimmt »mit zunehmender Größe des Unternehmens und auch mit der Höhe der Hierarchieebene im Unternehmen ab«5: Dies zeigt, dass in einer Gesellschaft, die in ihrer Wirtschaftsordnung grundlegend kapitalistisch geprägt ist, ökonomische und damit auch politische Macht strukturell verankert auf Seiten einer Bevölkerungshälfte liegt. Und dieses Ungleichgewicht wirkt in persönlichen Verhältnissen weiter nach. Frauen sind mehrheitlich auch deswegen mit der Betreuung von Familienangehörigen betraut, weil die Verdienstmöglichkeiten des Mannes größer sind. Da es für Frauen unter anderem aufgrund dieses Betreuungsaufwands schwieriger ist, Führungspositionen zu erreichen und so das Machtverhältnis auszugleichen, erhält sich die ungleiche Machtverteilung aufrecht. Gewalt, die Handlung also, die nach Hannah Arendt dort eintritt, »wo Macht verloren ist«6, wird als Phänomen meist ebenso selbstverständlich dem Mann zugesprochen. Statistisch gesehen sind Männer tatsächlich gewalttätiger als Frauen, doch auch Gewalt von Frauen ist seit jeher existent. Von den 2013 erfassten Tatverdächtigen, die «gefährliche und schwere Körperverletzung auf Straßen, Wegen oder Plätzen«7 begangen haben, waren 57.475

3

»[D]as heißt der prozentuale Unterschied im durchschnittlichen Bruttostundenverdienst von Männern und Frauen«. Statistisches Bundesamt: Verdienstunterschiede zwischen Männern und Frauen, 2006, S. V, https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/VerdiensteArbeitskosten/ Verdienstunterschiede/VerdienstunterschiedeMannFrau5621001069004.pdf?__blob= publicationFile (19.10.2014).

4

Europäische Kommission: Die Bekämpfung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles in der Europäischen Kommission, 2014, S, 12, http://ec.europa.eu/justice/genderequality/files/gender_pay_gap/140319_gpg_de.pdf (19.10.2014).

5

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Frauen in Führungspositionen, 20.12.2013, http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/gleichstellung,did=88098.html (19.10.2014).

6 7

H. Arendt: Macht und Gewalt, S. 55. Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik, Tabelle 20: Aufgliederung der Tatverdächtigen nach Alter und Geschlecht, erstellt am 24.01.2014, Berichtszeitraum 2013, abrufbar unter, http://www.bka.de/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminalstatistik/2013/2013Standar dtabellen/pks2013StandardtabellenTatverdaechtigeUebersicht.html (16.9.2014).

4. M ACHT

UND

G EWALT VON F RAUEN

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Männer und 8.032 Frauen. »Mord und Totschlag« wurde von 2.303 Männern und 314 Frauen ausgeübt.8 Nach der sogenannten »Differenztheorie« 9 wird die höhere Gewalttätigkeit des Mannes mit einem konstitutiven biologischen Unterschied zwischen Mann und Frau begründet, nachdem der Mann durch seine höhere Menge an Testosteron genuin aggressiver veranlagt sei als die Frau. Zudem werde seine Gewalttätigkeit durch seine meist stärkere Physis begünstigt. Mit der mittlerweile im Jahr 2012 verstorbenen Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich führte ich im Rahmen meiner Untersuchung ein Interview zu ihrem Werk Die friedfertige Frau aus dem Jahr 1985. 10 In diesem schrieb sie, dass die Gewaltlosigkeit der vermeintlich »friedfertigen Frau« anerzogen sei, um die Unterdrückung der Frau durch den Mann aufrecht zu erhalten und die Machtverhältnisse nicht zu gefährden: »Gewalt, Aggression und Schuldgefühle sind beim Mann wie bei der Frau vorhanden«11, sagte sie in dem Interview. Jedoch konstatierte sie fast vierzig Jahre nach der Veröffentlichung von Die friedfertige Frau ebenso: »Die Biologie ist eine Grundlage, die doch immer bleiben wird. Männer können Frauen vergewaltigen, umgekehrt geht das naturbedingt nur sehr schwer. Und deswegen werden die Männer letztlich immer die Stärkeren sein.«12 Nach der sogenannten »Lerntheorie«13 wird soziales und damit auch aggressives Verhalten anerzogen und somit eine ›kulturalistische‹ Erklärung favorisiert. Nach dem Analyseansatz des »doing gender«14 ist Geschlecht das Ergebnis performativer Handlungen, die meist tradierten Rollenzuschreibungen unterwor-

8 Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik, Tabelle 20. 9 Vgl. etwa Stiegler, Barbara: Frauen im Mainstreaming: politische Strategien und Theorien zur Geschlechterfrage, Bonn 1998, S. 6 (Seite der Druckausgabe), http://library.fes.de/fulltext/asfo/00653001.htm (6.11.2014).

10 Vgl. Mitscherlich, Margarete: Die friedfertige Frau, Frankfurt am Main 2006 (12. Auflage).

11 Mitscherlich, Margarete: Interview mit Christa Pfafferott in der Frankfurter Wohnung von M. Mitscherlich am 17.2.2010.

12 Ebd. 13 Siehe etwa B. Schwithal: Weibliche Gewalt in Partnerschaften, S. 15. 14 Vgl. West, Candace / Zimmerman, Don H.: Doing Gender, in: Gender & Society, Vol I, No 2, S. 125-151, 1987, abrufbar unter http://www.jstor.org/discover/10.2307/189945?uid=3737864&uid=2&uid=4&sid= 21104833241057 (15.10.2014).

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fen sind. Den Begriff der »Performativität« verwendet die amerikanische Philosophin Judith Butler, die – im Rekurs auf unter anderem Michel Foucault – damit die Durchsetzungskraft von Diskursen meint: Geschlechtsidentität bildet sich »[a]ls fortdauernde diskursive Praxis«15, unter anderem durch die Macht der Sprache. Sprache ist für sie ein performativer Akt, der nicht nur Benennungen vollzieht, sondern gleichermaßen Handlungsvollzüge evoziert, die soziale Zuschreibungen schaffen. »Vielmehr wird diese Identität gerade performativ durch diese ›Äußerungen‹ konstituiert, die angeblich ihr Resultat sind.«16 Sie macht dies unter anderem am Beispiel der Geburt fest. Mit dem Ausspruch der Hebamme »Es ist ein Mädchen!« wird damit ein gerade ins Leben getretener Körper sofort auf ein Geschlecht und damit auf aus dieser Kategorie hervorgehende und als wahr überlieferte Zuweisungen festgelegt. »Damit aber endet das ›Zum-Mädchen-machen‹ des Mädchens noch nicht, sondern jene begründete Anrufung wird von den verschiedensten Autoritäten und über diverse Zeitabschnitte hinweg immer wieder aufs neue wiederholt«17. Nach diesem Ansatz wären Frauen nicht genuin gewaltloser, sondern sie sind es, weil ihnen gesagt wird, dass sie Frauen sind: Und diese werden aufgrund »ihres körperlichen Erscheinungsbilds und kulturell tradierten Vorstellungen meist mit einem Ideal von Sanftheit, Fürsorge und einem Status der Opferrolle in Verbindung gebracht.«18 Sie werden als lebenserhaltend, da unter anderem Leben gebärend und nicht als lebensvernichtend angesehen. Nach der französischen Philosophin Elisabeth Badinter »fällt es schwer, weibliche Gewalt zu denken […] [,] weil sie das weibliche Selbstbild gefährdet.«19 Bei Frauen haben wir es, so der Therapeut Werner Kierski, »mit dem Archetypus der bedingungslosen Sorge und Güte zu tun, ein Urmuster, das Frauen und noch viel mehr Müttern zugeschrieben wird. Die gesellschaftliche Ausrichtung auf solche [sic!] einen Archetypus unterstützt uns bei der Entwicklung von Vertrauen und Glauben

15 16 17 18

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, S. 60. Ebd., S. 49. Butler, Judith: Körper von Gewicht, Berlin 1995, S. 29. Pfafferott, Christa: Zwischen den Jahren. Zur Darstellung von Mädchengewalt im zeitgenössischen Film am Beispiel des Films PRINZESSIN unter Bezugnahme auf FISH TANK, in: Herrmann, Jörg / Metelmann, Jörg / Schwandt, Hans-Gerd (Hg.): Wissen Sie, was sie tun? Zur filmischen Inszenierung jugendlicher Gewalt, Marburg 2011, S. 158-177, hier: S. 159.

19 Badinter, Elisabeth: Die Wiederentdeckung der Gleichheit. Schwache Frauen, gefährliche Männer und andere feministische Irrtümer, München 2004, S. 67f.

4. M ACHT

UND

G EWALT VON F RAUEN

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ans Leben, was ohne solche Archetypen schwer zu erreichen wäre. Unsere einseitige Bindung und Abhängigkeit von diesem Archetypus hat jedoch eine Kluft zwischen der Fähig20

keit zu sorgen und dem Phänomen von Aggression und Gewalt geschaffen.«

Wenn Frauen Gewalt anwenden, werden Rechtfertigungsmuster für ihr gewalttätiges Agieren gesucht, da gängige Vorstellungsmuster und Wahrheitsbezüge in Unordnung gebracht werden. Elisabeth Badinter kritisiert: »Alles, was die Überzeugungskraft des Begriffs männlicher Herrschaft und des Bildes vom weiblichen Opfer beeinträchtigen könnte, bleibt undenkbar und ungedacht.«21 Die Gewalt von Frauen wird »im Allgemeinen [als] Gegengewalt«22 gedacht. Mit dieser Zuschreibung entstammt Gewalt von Frauen weniger intrinsisch autarkem Agieren, sondern sie ist vielmehr Reaktion auf Zustände, in denen ihnen Leid angetan wurde, sie selbst auf soziale oder persönliche Weise Opfer waren: »In der Diskussion um misshandelte Männer wird nur allzu oft das weibliche Motiv der Selbstverteidigung hinzugezogen. Andere Motive, die zu dem gewalttätigen Verhalten von Frauen geführt haben, werden kaum berücksichtigt«23, so Bastian Schwithal, der sich in einer länderübergreifenden Studie mit der Gewalt von Frauen in Paarbeziehungen beschäftigte. Indem man gewalttätige Frauen als Reagierende, als handelnde Opfer der Umstände deklariert, geht damit eine Verantwortungsabgabe einher, die sie hinsichtlich ihrer Entscheidungskompetenz begrenzt: Wirklich autark sind sie nicht in der Lage, sich für oder gegen Gewalt zu entscheiden. Doch Individuen treffen stets eine Entscheidung, ob innnerhalb von Sekunden oder Monaten, bewusst oder unbewusst gesteuert, bevor sie in physisch gewalttätiges Agieren treten. Es wäre im wahrsten Sinne des Wortes gefährlich, Gewalt lediglich als Phänomen von Männern zu begreifen, allein schon deswegen, weil die dokumentierte Gewalt

20 Kierski, Werner: Weibliche Gewalt: Setzen wir Therapeuten uns damit wirklich auseinander? Counselling and Psychotherapy Journal CPJ, Dezember 2002, abrufbar unter http://www.vaeter-aktuell.papaserver.de/presse/Frauengewalt/Female_violence_ german.htm (19.10.2014).

21 E. Badinter: Die Wiederentdeckung der Gleichheit, S. 65. 22 Agacinski, Sylviane: Politique des sexes, Paris 1998, S. 60 und 85, zit. nach Ebd., S. 65 f.

23 B. Schwithal: Weibliche Gewalt in Partnerschaften, S. 213. Mit Verweis auf Makepeace, James M.: Life events stress and courtship violence. Family Relations, 32, 1983, S101-109; Walker, Leonore E.: The battered woman syndrome, New York 1984.

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von Frauen seit einigen Jahren steigt. So existiert bei der Gewalttätigkeit eine »gewisse Angleichung zwischen den Geschlechtern: 1988 kamen bezogen auf die Gewaltkriminalität noch neun männliche auf eine weibliche Tatverdächtige, im Jahr 2003 waren es nur noch sieben.«24 Besonders deutlich wächst die Gewaltkriminalität von Mädchen: Nach Angaben des Bundeskriminalamts belief sich im Jahr 1987 die Zahl der wegen gefährlicher und schwerer Körperverletzung25 tatverdächtigen weiblichen Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren auf 794, im Jahr 2008 auf 6.457. Nach diesen Berechnungen hat sich die Anzahl mehr als verachtfacht. So nehmen auch die so genannten »Mädchengangs« oder »Power-Mädchen«26 zu. Die erhöhte Gewalttätigkeit von jungen Frauen besteht nach verschiedenen Einschätzungen unter anderem darin, dass das Verständnis von Mann und Frau sowie das damit einhergehende Bild von Gewalt gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen sei: »Immer öfter streben Mädchen diese traditionelle Weiblichkeit nicht mehr an, sondern definieren sich als unabhängig von diesen Erwartungen – auch durch den Einsatz von gewaltförmigem Verhalten.«27 Damit entspräche Gewalt einem ›um zu‹-Handeln: um sich zu wehren, um sich zu rächen, um sich zu behaupten, um sich zu emanzipieren. In der vermeintlichen Emanzipation der »Power-Frauen« qua gewalttätigem Verhalten konkretisiert sich

24 Heiliger, Anita (u.a.), in: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Gender Datenreport, Kommentierter Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland, Kapitel 10, Gewalthandlungen und Gewaltbetroffenheit von Frauen und Männern, München 2005, S. 610, http://www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/genderreport/10-gewalthandlungen-undgewaltbetroffenheit-von-frauen-und-maennern.html (16.9.2014).

25 Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik, Tabelle 20: Aufgliederung der Tatverdächtigen -weiblich- nach Alter ab 1987, 7.2.2014, (Stand 2008, da »Hinweis: ab 2009 sind die Tatverdächtigen aufgrund der ›echten‹ Tatverdächtigenzählung nicht mit den Vorjahren vergleichbahr«) abrufbar unter: http://www.bka.de/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminalstatistik/2013/2013Zeitreih en/pks2013ZeitreihenTatverdaechtigeUebersicht.html (19.10.2014).

26 Schmauch, Ulrike: Über Mädchen und Jungen, in: Rohr, Elisabeth/ Ludger von Gisteren (Hg.): Geschlechterbedingungen: viele Orte – wenig Raum, Basel / Frankfurt am Main 1995, S. 81, zit. nach: C. Pfafferott: Zwischen den Jahren, S. 158.

27 Kavemann, Barbara: Täterinnen – Gewaltausübung von Frauen im privaten Raum im Kontext der feministischen Diskussion über Gewalt im Geschlechterverhältnis, in: Künzel, Christine/ Temme, Gaby (Hg.): Täterinnen und/ oder Opfer? Frauen in Gewaltstrukturen, Hamburg 2007, S. 161-174, hier: S. 163.

4. M ACHT

UND

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eine Quasi-Legitimität von Gewalt, die nahe einer ›Glorifizierung‹ liegt und eine neutrale Betrachtung des Phänomens kaum möglich macht. Für Machterhaltung und Machtgewinnung sind schließlich auch weitaus mehr Faktoren konstituierend, und Gewalt ist nur das Mittel, wenn »Macht verloren ist«28. Ihre verlorene Macht (obwohl nicht verloren gehen kann, was nie vorhanden war) machen Frauen nicht durch Gewalt wett. Vor allem nicht durch Gewalt, die durch die fehlende Macht der Frauen ›entschuldigt‹ wird. Letzlich weisen Opfer- und TäterInnen-Zuschreibungen auch Machtpositionen aus. Individuen in der Opferrolle sind weniger mächtig. Belässt man sie dort, kann eine mögliche Erweiterung ihres Machtspielraums präventiv zurückgehalten werden. Die Absprache des Täterinnenstatus ist bei Frauen deutlich. Jedoch ist dieses Phänomen nicht generell geschlechtsspezifisch bedingt: Gewalt ist eine grundlegend existenzielle Bedrohung für den Menschen, die von widersprüchlichen Gefühlen und unterschiedlichen Wahrnehmungen geprägt ist und stets der Versuchung unterliegt, diese so kausal wie möglich nachvollziehbar zu machen, so wie Jan Philipp Reemtsma kontastiert: »Wir halten diese Gedanken für kulturell unerträglich. Die Behauptung, autotelische Gewalt gehöre zum normalen Verhaltensrepertoire der Menschen, destabilisiert unser Vertrauen in die Haltbarkeit, das heißt in die Selbststeuerung unserer Kultur. Wir halten darum an instrumentellen Deutungen fest […]. Wo instrumentelle Deutung versagt, greifen wir zur Pathologisierung und Verrätselung, wo das nicht mehr gelingt.«29

Wenn Gewalt weniger verstehbar, vorhersehbar und dadurch zukünftig vermeidbar scheint, kreiert sie Angst und Abwehrmechanismen und irritiert das Sicherheitsempfinden. Daher auch die Gewaltabsprache der Frau, da sie konträr zu ihren kulturellen Zuschreibungen erscheint und die gängigen Ordnungsmuster von Gewalt ins Wanken bringt. Als der Norweger Anders Behring Breivik im Juli 2011 78 Personen tötete und er dabei äußerst durchdacht und mit aufwändigem Kalkül an seine Taten herangegangen war, wurde er in der medialen Darstellung und vor Gericht nach dem Geschehen rasch als Psychopath dargestellt. Die Gewalt war so extrem, dass sie nicht ›normal‹ sein konnte. Die Einsicht, dass Gewalt nicht »anders«, sondern potenzielle Verhaltensweise eines jeden Menschen ist, fällt schwer. In diesem Fall kann es schnell geschehen, »dass ein Mörder ›mad or bad‹ ist, verrückt oder böse

28 H. Arendt: Macht und Gewalt, S. 55. 29 Reemtsma, Jan Philipp: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 267, Hervorhebung im Original.

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eben; ein Irrer oder ein Verbrecher – jedenfalls vom Normalen extrem abweichend.« 30 Im Gerichtsverfahren Breiviks standen dann die Aussagen von zwei Gutachten konträr gegenüber. Schließlich wurde Breivik als psychisch zurechnungsfähig befunden und mit Gefängnishaft bestraft. Er selbst sah das als Sieg, da sein Gewaltagieren nun nicht mit psychischer Erkrankung ›bagatellisiert‹ und seine Botschaft, die mit dieser Tat einherging, nicht als eine offiziell »kranke« relativiert werden konnte. Foucault beschreibt in Überwachen und Strafen unterschiedliche historische Erklärungsmuster für die Rechtfertigung von rechtsbrechendem Verhalten. Eines davon ist die Isolierung des Verbrechens31 »als Monströsität«32, dass der Rechtsbrechende »einer ganz anderen Welt33 zugehört, ohne Beziehung zur täglichen und vertrauten Existenz.«34 Unter anderem war »[d]iese Fremdheit […] die des Wahnsinns«35. Als eine weitere, wesentliche Rechtfertigung wird die Gesellschaft für alles verantwortlich gemacht: »Der Mensch, der tötet, ist nicht frei, es nicht zu tun. Der Schuldige ist die Gesellschaft oder richtiger: die schlechte Organisation der Gesellschaft.«36 Das Phänomen der Schuldabsprache ist also kein frauenspezifisches, sondern von grundlegenderer und komplexerer Natur. Dies sei im Folgenden erläutert.

30 Bartens, Werner / Illinger, Patrick / Weber, Christian: Der Mörder in uns. Abgründe der menschlichen Psyche, 27.7.2011, http://www.sueddeutsche.de/wissen/von-monstern-und-menschen-der-moerder-inuns-1.1125038-2 (10.10.2014).

31 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 373. 32 Ebd. 33 Bezeichnend hier, dass der Film, der die Welt der das Gesetz gebrochenen Individuen zeigt, unabhängig von dieser Überlegung mit dem gleichen Begriff ANDERE WELT betitelt ist.

34 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 370 (Foucault bezieht sich hier konkret auf die Darstellung des »Delinquenten« im Kriminalroman, vgl. S. 369 f.).

35 Ebd. 36 L’Humanitaire, August 1841, zit. nach: M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 371.

5. Analyse der Feldforschung

5.1 T HEMATISCHE E INFÜHRUNG Einer der wohl essenziellsten Eingriffe in die Integrität des Menschen ist die Aberkennung seiner Schuldfähigkeit. Schuld zu tragen, sie an- und auf sich zu nehmen, sich an ihr abzuarbeiten, sie in irgendeiner Form wieder gut zu machen, an ihr zu wachsen oder sie bewusst oder unbewusst zu verdrängen, ist ständiges individuelles Erleben, prägt die psychische und moralische Konstitution eines jeden Individuums. Ist ein Mensch nach bewusstem Entscheidungswillen für seine Taten verantwortlich, ist er mündig. Wer keine Schuld für seine Tat tragen muss, ist nicht belastet, wird jedoch auch im ganz wörtlichen Sinne nicht für ›voll‹ genommen – das vorhergegangene Agieren bleibt ohne Konsequenz, die Tat ohne sanktionierende Spur. »Das Strafrecht in Deutschland ist am Schuldprinzip orientiert. Die Höhe der Strafe richtet sich nach der Schwere der Schuld«1 – Schuldmaß bedingt Strafausmaß. Kinder bis zum 14. Lebensjahr2 und Personen, die zum Zeitpunkt der Tat das Unrecht der Tat nicht einsehen und/ oder »steuerungsunfähig«3 sind,

1 Teller, Marc: Behandlungszwang im Maßregelvollzug, München 1996, S. 1. 2 Vgl. § 19 StGB: »Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist.«: Streng, Franz: § 19 Schuldunfähigkeit des Kindes, in: Joecks, Wolfgang / Miebach, Klaus (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, §§ 137, München 2011 (2. Auflage), S. 865.

3 »Es sind also immer konkrete Feststellungen über die Schwere der Beeinträchtigung, namentlich auf die Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, zu treffen und über deren Auswirkungen auf die Anlasstat« Strafrecht in der Forensik, http://www.ra-klose.com/downloads/Strafrecht-in-der-Forensik-Skript.pdf (19.10.2014).

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gelten nach Gesetz als »vermindert schuldfähig«4 oder »schuldunfähig«5. Durch die sprachliche Konstruktion der Rechtsprechung wird die Schuld von der Person weg delegiert und kontextualisiert – Schuld haben nun die Eltern, die Rauschmittel, hat die Erkrankung, das soziale Umfeld oder die aufgrund von Alter oder Geisteszustand mangelnde Erfahrung. Durch die Deklaration der Unmündigkeit, wird das Individuum, wenn auch nicht zwangsläufig von seinem subjektiven Schuldempfinden, so doch formal von seiner Schuld befreit. Auf diese Weise wird ihm jedoch ebenso sein Status als vollmündiges Individuum der Schuld und Unschuld definierenden Gemeinschaft genommen. Damit entsteht, wie Helmut Däuker, im Rahmen einer Analyse von Lars von Triers das Thema Schuld betreffenden Film DOGVILLE, schreibt: »[Ein] qualitativer Unterschied […] zwischen Menschen, die Subjekte im Sinne von verantwortlich, frei und schuldfähig sind und solchen, die der Vergebung bedürftig, von Verantwortung und Schuld zu entlastend, also unfrei, Kinder, abhängig sind und das bedeutet, ihnen den Subjektstatus abzusprechen.«6

Dem ›sekundären Krankheitsgewinn‹7 ist also Verantwortungs- und somit Wirkungs- und Machtverlust inhärent. Dies kristallisiert sich in der Wortwahl des StGB heraus, welches Unschuld spezifisch nach Paragraf 20 »Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen« wie folgt definiert: »Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer

4

»Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Straftat nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.«: Streng, Franz: § 21 Verminderte Schuldfähigkeit, in: W. Joecks, / K. Miebach (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, S. 961.

5 6

Siehe Paragraf 20 StGB, hier folgende Seite dieser Arbeit. Däuker, Helmut: Vom Unbehagen in der Identität. Anmerkungen zu Lars von Triers DOGVILLE, in: Laszig, Parfen / Schneider Gerhard (Hg.): Film und Psychoanalyse. Kinofilme als kulturelle Symptome, Gießen 2008, S. 147-163, hier S. 158.

7

Begrifflich abgeleitet von »sekundärer Krankheitsgewinn«, der unter anderem ein »auf den eigenen Vorteil orientiertes Arrangement« mit der Krankheit meint: Lackinger, Fritz: Primärer und sekundärer Krankheitsgewinn bei delinquenten Patienten, in: Kernberg, Otto F. et al. (Hg.): Persönlichkeitsstörungen. Theorie und Therapie. Sekundärgewinn, Stuttgart Bd. 1/2013, S. 33-42, hier S. 2.

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schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.«8

In der, an zeitgemäßen Maßstäben gemessen, deutlich stigmatisierenden Begrifflichkeit von psychischer Erkrankung durch die Wortwahl des »Schwachsinns« oder der »schweren anderen seelischen Abartigkeit«, wird Unschuld also in einer Form definiert, die im selben Zug eine nach Entstehung des Strafgesetzbuchs im Jahr 1871 9 implizite und heute explizite abwertende Absetzung von einer vermeintlichen ›Norm‹ darstellt.10 »Unrecht« und »Einsicht« stehen dabei in ihren Richtwerten fest. Wer das Recht missachtet, ist schuldig. Wer aufgrund geistiger Einschränkung unfähig ist, das Recht zu achten, ist unfähig zur Schuld. In diesem Sinne ist Schuld auch als eine Form von ›Leistung‹ zu verstehen – ein Status, der nach bestimmten ›Richtwerten‹ zugestanden wird. Die Patientinnen und Patienten im untersuchten Forschungsfeld, der Klinik NetteGut für Forensische Psychiatrie an der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach11 in Weißenthurm in der Nähe von Koblenz, haben für ihre Taten keine festgesetzte »Strafe« im juristischen Sinne erhalten, mit der ein Gericht ihre Taten für vergolten sieht. Dies folgt aus der Tatsache, dass sie nach Paragraf 63 StGB12 unter Einbeziehung von Paragraf 20 oder 21 StGB (»vermindert schuldfähig«) als schuldunfähig aufgrund ihrer psychischen Erkrankung und damit die Kriterien »einer

8 Streng, Franz: § 20 StGB Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen, in: W. Joecks / K. Miebach (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, S. 873 (sämtliche Paragrafen werden in dieser Arbeit zur besseren Übersichtlichkeit kursiv hervorgehoben).

9 Vgl. »Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871«, http://lexetius.com/StGB/20 (19.10.2014).

10 Siehe »Etablierte Terminologien sind institutionalisierte Machtverhältnisse. Immer gehen der realen Ausgrenzung verbale Ausgrenzungen voraus.«: Bung, Jochen / Feest, Johannes: Vor § 2 StVollzG. IV. Terminologische Konsequenzen, Rn. 22, in: Feest, Johannes / Lesting, Wolfgang (Hg.), StVollzG Kommentar zum Strafvollzugsgesetz (AK-StVollzG), Köln 2012 (6. Auflage), S. 17.

11 Im folgenden Verlauf wird die Institution Klinik Nette-Gut genannt. 12 Einige der PatientInnen sind nach § 64 StGB (»Unterbringung in einer Entziehungsanstalt«) oder § 126a StPO (Einstweilige Unterbringung) in der Klinik untergebracht. Die Patientinnen, die im Film ANDERE WELT gezeigt werden, sind nach § 63 StGB untergebracht.

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tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit«13 erfüllend gelten. § 63 StGB Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus »Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.«14

Der Paragraf 63 »ist ursprünglich […] für vier Gruppen von Tätern15 geschaffen [worden] (Rückfalltäter mit schwerer Persönlichkeitsstörung und erheblicher krimineller Praxis, Sexualstraftäter, besonders gefährliche Jungtäter und gewisse psychisch gestörte Täter)«16. Aufgrund des Paragrafen 63 StGB verurteilt, werden die PatientInnen im geschlossenen Maßregelvollzug zur »Besserung und Sicherung«17 »untergebracht« – auf »unbestimmte Zeit«18, so lange bis sie nicht mehr

13 § 20 StGB, in: W. Joecks / K. Miebach (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, S. 873.

14 van Gemmeren, Gerhard: Freiheitsentziehende Maßregeln. § 63 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in: Joecks, Wolfgang / Miebach, Klaus (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 2, §§ 38-79 b, München 2012 (2. Auflage), S. 744 .

15 Die Täter-Beschreibung im Deutschen StGB ist nicht gegendert, was Frauen als Täterinnen zwar mit einbeziehen soll, diese nach rein sprachlicher Bedeutung implizit ausschließt.

16 Tröndle, Herbert: Freiheitsentziehende Maßregeln, Vorbemerkung Rn. 1: Becksche Kurz-Kommentare. Band 10. Strafgesetzbuch und Nebengesetze, München 1997 (48. Auflage), S. 476.

17 Im Zuge der Reform des Paragrafen wurden die beiden Attribute vertauscht. Hieß es bis »zum Zweiten Strafrechtsreformgesetz« 1969 »Sicherung und Besserung«, werden die forensisch-psychiatrischen PatientInnen nun zur »Besserung und Sicherung« untergebracht. Vgl. etwa Ostendorf, Heribert: Maßregelvollzug bei Jugendlichen in Deutschland - Übersicht zu den rechtlichen Voraussetzungen, der Anordnung und den Grundlagen des Vollzugs sowie der Vollzugspraxis, in: Brünger, Michael / Weissbeck, Wolfgang: Psychisch kranke Straftäter im Jugendalter, Berlin 2008, S. 73-82, hier: S. 73.

18 Vgl. »Gänzlich unbefristet ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Für sie ist als Besonderheit die Möglichkeit der Erledigtklärung wegen Fehleinweisung,

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als »für die Allgemeinheit gefährlich« gelten – das bedeutet, dass ihre »zu befürchtenden Taten geeignet sind, den Rechtsfrieden zu stören«19. Der Maßregelvollzug ist dabei nicht mit der so genannten »Sicherungsverwahrung« zu verwechseln. Diese findet nach Vollzug einer festgesetzten Haftstrafe statt, wenn die TäterInnen weiterhin als gefährlich eingeschätzt werden. Der Maßregelvollzug tritt direkt nach Verurteilung auf »unbestimmte Zeit« ein. Diese ganz bezeichnend als »Maßregelvollzug« (Vollzug von Maßregelungen) benannte Maßnahme erfüllt eine so genannte »hoheitliche Aufgabe«20. »Das heißt: Er dient dem Schutz der Allgemeinheit und erfüllt Aufgaben, die vom Gesetzgeber vorgegeben werden.«21 Beim Urteil der RichterInnen über Eintritt und Dauer der Unterbringung ist die Einschätzung der gutachtenden ÄrztInnen, meist PsychiaterInnen, entscheidender Maßstab dafür, ob und inwiefern wieder von den »PatientInnen« (es lautet explizit nicht »StraftäterInnen«) eine Gefahr für andere in der Gesellschaft ausgehen könnte. Im forensischen Vokabular der Klinik heißt es nicht »Inhaftierung«, sondern «Unterbringung«, nicht «Bewachung«, sondern «Betreuung« durch das Personal. Damit fungiert die Forensische Psychiatrie als »verlängerter Arm der Justiz«22, weil sie die Rechtssprechung ausführt. So wird durch die Gutachten, die nach Analyse der PatientInnen gefällt werden, deutlicher Einfluss auf die Rechtssprechung und die Entscheidung über den

Heilung oder Unverhältnismäßigkeit in Abs. 6 gesetzlich geregelt«: Veh, Herbert: § 67 d Dauer der Unterbringung. I Überblick, Rn. 2, in: W. Joecks / K. Miebach (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 2, S. 1078.

19 van Gemmeren, Gerhard: Freiheitsentziehende Maßregeln. § 63 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, Rn. 60. Gefahr für die Allgemeinheit, in: W. Joecks / K. Miebach (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 2, S. 769.

20 Vgl. Hoheitliche Aufgabe: Forensik von A bis Z, http://www.zfp-web.de/1360.html (12.10.2014).

21 Ebd. 22 Patientin Frau B., in: ANDERE WELT, Regie: Christa Pfafferott, Deutschland 2013, Min. 12:05 f. Die Patientin sagt genau: »Wenn man das hier als Dienstleistungsunternehmen auffassen kann, dann nur als Dienstleistungsunternehmen der Justiz, als verlängerter Arm der Justiz und sonst garnichts.« - Beachte: Da die Namen der Personen für das Ergebnis der Untersuchung irrelevant sind, werden die Personen zum Schutz ihrer Persönlichkeit mit Initialien abgekürzt. Bei Nachnamen mit gleichem Anfangsbuchstaben wird eine weitere Zahl gesetzt, um eine Unterscheidbarkeit beim Lesen zu schaffen.

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Freiheitsentzug ausgeübt. Indem die Forensische Psychiatrie als »Gesamtdisziplin«23 jeden Lebensbereich der Inhaftierten umfasst, hat sie »eine fast totale Macht über die«24 PatientInnen inne. Wie nach Foucault »sich Macht immer an Wissen und Wissen immer an Macht anschließt«25, generiert sich das Autoritiv der ÄrztInnen, denen gesellschaftlich ein hohes Ansehen zuteil wird, aus ihrem medizinischen Wissen (»Expertenmacht«26), was sie zur gesteigerten Wissensermächtigung über die PatientInnen befähigt. Mit Einschätzung durch ein psychiatrisches Gutachten wird von dem Verhalten des Individuums in der Gegenwart proleptisch das Verhalten in der Zukunft prognostiziert: Daraus könnte man wie Foucault schlussfolgern, dass dies die Institution somit »zum Zugriff […] auf die Individuen [berechtigt] – nicht nur auf das, was die Individuen getan haben, sondern auf das, was sie sind, sein werden, sein können.«27

5.2 Z UM

HISTORISCHEN

H INTERGRUND

Der Paragraf 63 StGB hat seine Ursprünge im so genannten »Gewohnheitsverbrechergesetz«, das am 24.11.1933 erlassen wurde, welches nach § 42 b die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt anordnete. 1969 wurden die Voraussetzungen des Paragraf 63 StGB zur Anordnung der Unterbringung wesentlich verschärft: »Man wollte dem inhumanen Missbrauch des Zweckgedankens durch die Nazis ein konkret spezialpräventives, an Effektivität und Differenzierung orientiertes Behandlungsprinzip entgegensetzen, welches durch restriktive und genauere Fassung Menschenwürde und Rechtssicherheit gewährleistet«28.

23 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 301. 24 Ebd. S. 302 (Foucault bezieht sich hier auf die Institution Gefängnis). 25 Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht. Michel Foucault. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 45.

26 Vgl. u.a. Kipnis, David: The powerholders, Chicago 1976, S. 11: »Expert power is based upon the target person’s belief that the powerholder possesses superior knowledge or ability.« Im Folgenden wird der Begriff »Expertenmacht« bei der Zitierung ohne Fußnote verwendet und bezieht sich dabei stets auf diese.

27 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 28. 28 Böllinger, Lorenz / Pollähne, Helmut: § 63 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. I Entstehungsgeschichte, Rn. 2., in: Kindhäuser, Urs / Neumann, Ulfrid /

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Auch fehlte »bei Einführung der Maßregeln der Sicherung und Besserung ins StGB durch das Gesetz vom 24. 11. 1933 […] ein ausdrücklicher Hinweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. […] Durch das GG erhielt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Verfassungsrang. In die Bestimmungen zum Maßregelvollzug wurde eine allgemeine Bestimmung zum Verhältnismä29

ßigkeitsgrundsatz 1969 durch das 1. StrRG eingefügt.«

Michel Foucault behandelt in Überwachen und Strafen, in dem er eine Genealogie des Gefängnisses von der »Ablösung der [frühen körperlichen] Martern«30 des Subjekts im Mittelalter »durch die Haft«31 und »Züchtigung« der Seele in der Disziplinargesellschaft auffächert, auch den Artikel 64 des französischen Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1810, der mit dem Paragraf 63 bzw. Paragraf 64 StGB große inhaltliche Ähnlichkeit aufweist und »der feststellt, dass weder ein Verbrechen noch ein Vergehen vorliegt, wenn der Täter im Augenblick der Tat im Zustand des Wahnsinns war. Die Diagnose eines Wahnsinns schloss also die Qualifizierung einer Tat als Verbrechen aus: war der Täter wahnsinnig, so wurde dadurch nicht die Schwere des Vergehens oder die Bemessung der Strafe modifiziert – das Vergehen selber verschwand. Es war also unmöglich, jemanden gleichzeitig für schuldig und wahnsinnig zu erklären.«32

Nichtsdestotrotz ging dies jedoch nicht mit einem Freispruch für den Verurteilten einher, wie dies eine Nicht-Schuldigsprechung erwarten lassen würde, sondern die Gerichte haben »das Problem des Wahnsinns in ihre Urteilssprechung eingehen lassen«33, konstatiert Foucault. »Sie haben zugelassen, dass man zugleich schuldig und wahnsinnig sein kann: um so weniger schuldig allerdings, je mehr man wahnsinnig ist; auch als Schuldiger eher einzusperren

Paeffgen, Hans-Ullrich: Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, §§ 1-145d, BadenBaden 2010 (3. Auflage), S. 2071, Hervorhebung im Original.

29 van Gemmeren, Gerhard: Sechster Teil. Maßregeln der Besserung und Sicherung, § 62 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Rn. 2. Historie, in: W. Joecks / K. Miebach (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 2, S. 738.

30 31 32 33

Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 340. Ebd. Ebd., S. 29. Ebd., S. 30.

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und zu pflegen als zu bestrafen; ein gefährlicher Schuldiger aufgrund offenkundiger Krank34

heit…«

Die »Schuldunfähigkeit« der PatientInnen schützt sie also nicht vor Einsperrung. Auch in der Klinik für Forensische Psychiatrie sind die untergebrachten Patientinnen nicht qua ihrer psychischen Krankheit Freigesprochene und nicht nur einem »Besserungs«- sondern auch einem extensivem »Sicherungs«-Auftrag unterstellt, und damit »schuldunfähig« in Gefangenschaft gehalten. Die biografische Kontextualisierung, der Fakt, dass die Bestrafung resozialisierend sein soll, »sowie die Aufteilung des Urteilsaktes auf verschiedene Instanzen, die das Individuum messen, abschätzen, diagnostizieren, heilen, umformen sollen«35 verdeutlicht nach Foucault »das Eindringen der Disziplinarprüfung in die gerichtliche Inquisition.«36 Zugespitzt ließe sich daraus ableiten: Der Richter verliert einen Teil seiner urteilssprechenden Autorität, indem er sein Urteil zunehmend auf die Meinung von fachspezifischen Gutachtern, ›Backup‹-Gebern, stützt: »Und je mehr die Biografie des Kriminellen in der Gerichtspraxis die Analyse der Umstände ergänzt, um eine Einschätzung des Verbrechens zu ermöglichen, desto mehr verwischen sich die Grenzen zwischen dem Diskurs des Richters und dem Diskurs des Psychiaters: wo sie ineinander übergehen, bildet sich der Begriff des ›gefährlichen‹ Individuums, der es erlaubt, über die gesamte Biografie ein Kausalitätsnetz zu ziehen und ein Besserungs-Straf37

Urteil zu fällen.«

Nach Foucault ist damit »[d]er Psychiater […] nicht Experte in Sachen Verantwortlichkeit, sondern Berater in Sachen Bestrafung. Er hat zu sagen, ob das Individuum ›gefährlich‹ ist, wie man sich davor schützen kann, wie man es verändern kann, ob man es eher niederhalten oder heilen soll.«38 Im gegenwärtigen Rechtssystem wird »[e]in psychiatrischer Gutachter […] zweimal als Sachverständiger eingeschaltet […]: Im Vollstreckungsverfahren und im Erkenntnisverfahren, also im Strafprozess. Im Erkenntnis-

34 35 36 37 38

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 30. Ebd., S. 291 Ebd. Ebd., S. 324. Ebd., S. 32.

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verfahren äußert er sich zur Schuldfähigkeit des Angeklagten und gegebenenfalls zur Legalprognose, im Vollstreckungsverfahren zu Lockerungen oder zu den Entlassungsvoraussetzungen.«39

Die PatientInnen der Klinik müssen sich das Ziel, ihre »Beurlaubung«, durch den Aufstieg in einem neunstufigen Lockerungssystem, den sogenannten »Förder- und Lockerungsstufen« (siehe Kapitel 6.2.), erarbeiten, das ihre Freiheit innerhalb der Klinik und im reglementierten Ausgang nach jeweiliger Verantwortbarkeit sukzessive erweitert. Die Anwendung dieses Instruments der »Lockerungsstufen« beruht auf der beobachtenden Interaktion mit dem Individuum. Indem die PatientInnen von den Regeln, Gesetzen und Normen der Gesellschaft durch Delikt und psychische Konstituierung abgewichen sind, sind sie nun in ein Regelwerk eingeschlossen, in dem eine ganz eigene Struktur von Verboten und Normen herrscht. Wenn eine Anpassung an diese Welt mit ihren spezifischen Codes erfolgreich verläuft – dabei gilt jedoch, dass sie nicht mehr als »für die Allgemeinheit gefährlich« gelten – werden sie in die Außen-Welt entlassen. Die PatientInnen werden in der Höhe ›gelockert‹, in der davon auszugehen ist, dass sich die PatientInnen als »absprachefähig« an die Bestimmungen der jeweiligen Lockerung halten. Zu hinterfragen ist jedoch, inwiefern das Verhalten der PatientInnen innerhalb einer geschlossenen Institution tatsächlich auf das Verhalten in der Außenwelt hindeutet, da sie ihre erlernten Handlungsweisen an die geforderten Codes im anderen, sozialen Mileu anpassen müssen. In der Klinik Nette-Gut sind manche PatientInnen bereits »seit 25 Jahren«40 untergebracht. Etwa »380 Menschen leben hier – 20 Frauen und 360 Männer«41. Viele von ihnen sind »Sexualstraftäter, Mörder, Pädophile, Gewaltverbrecher«42. Viele von ihnen haben anderen Personen sehr viel körperlichen und seelischen Schaden zugefügt. Die oft durch Wut und Angst gesteuerten Debatten in Zeitungen, Talkshows und Kneipen über den Umgang mit diesen TäterInnen enden häufig populistisch. Viele sähen die PatientInnen gern für immer weggesperrt. 43 Für manche von

39 Erkenntnisverfahren: Forensik von A bis Z: http://www.zfp-web.de/1360.html (12.10.2014).

40 41 42 43

C. Pfafferott: Bretter, die die Welt bedeuten, S. 37. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.

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ihnen, die als ›unheilbar‹ gelten, mag es keine andere Lösung geben – dass TäterInnen in einem demokratischen Rechtsstaat stets ein Anrecht auf Resozialisierung haben, wird bei diesen Debatten jedoch oft verdrängt. Die Ablehnung der PatientInnen, die nicht nur als StraftäterInnen aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind, ist umso größer, da sie innerhalb der diskursiven ›Grenzziehung‹ zwischen psychischer Erkrankung und Gesundheit dem Feld des »Schwachsinns«, der »schweren anderen seelischen Abartigkeit«44 , zugeordnet sind und damit eine unkalkulierbare, noch immer mit Skepsis betrachtete, ›Dysfunktion‹ aufweisen, die sie einer weiteren ›Ausschließung‹ unterwirft. Die »Allgemeingefährlichen« laufen so in doppelter Hinsicht der gesellschaftlichen Normgebung zuwider, da sie zum einen gegen das Gesetz verstoßen haben und zudem als psychisch krank Bezeichnete gelten. So doppelt stigmatisiert, als »›kriminelle Irre‹«45, sind sie gleichermaßen in den ›Dispositiven‹ von Krankheit und Rechtsbrechung verhaftet. »[E]ine endgültige Wahrheit zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit zu finden«46 ist kompliziert. »[W]ann ist ein Mensch psychisch gestört? Wann ist er allgemeingefährlich und wann geheilt? Das wurde […] in letzter Zeit immer wieder diskutiert, seitdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Praktiken der Sicherungsverwahrung in Deutschland kritisierte, bei der Menschen nach der Haftstrafe weiter auf unbestimmte Zeit eingesperrt werden können«47

Das Dilemma, das sich zwischen allen Ansprüchen und Ängsten bildet: Lässt man die PatientInnen »zu früh frei, ist die allgemeine Sicherheit bedroht. Hält man sie zu lange fest, verletzt man ihr Menschenrecht auf Freiheit.«48 »Wir haben uns vom Schuldstrafrecht hin zu einem Präventionsstrafrecht bewegt«49, kritisierte Norbert Nedopil, Leiter der Abteilung für Forensische Psychiatrie am Klinikum Innenstadt der Universität München, in der »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«. Als

44 § 20 StGB. 45 Volckart, Bernd / Grünebaum, Rolf: Maßregelvollzug. Das Recht des Vollzuges der Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt, Neuwied u.a. 2003 (6. Auflage), S. 51.

46 47 48 49

C. Pfafferott: Bretter, die die Welt bedeuten, S. 37. Ebd. Ebd. Nedopil, Norbert, zit. nach: Heier, Magnus: Zwischen Wahrheit und Kaffeesatz, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 2.1.2011, S. 51.

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»[p]roblematisch sind auch die sogenannten Prognosegutachten«50 zu sehen. »Bei der Schuld entscheide man im Zweifel immer noch für den Angeklagten, bei der Prognose sei es mittlerweile genau umgekehrt.«51 Tatsächlich begibt man sich, beschäftigt man sich mit dem Paragraf 63 StGB, in ein Feld der Angst. Alle haben Angst – die PatientInnen, die befürchten, dass sie den geschlossenen Maßregelvollzug nicht mehr verlassen werden, die Bevölkerung, die sich vor den »für die Allgemeinheit Gefährlichen« fürchtet, das behandelnde Personal, das Angst hat eine falsche Prognose zu stellen, und die Gerichte, die die Verantwortung fürchten, einen Menschen zu früh oder zu spät als nicht mehr »für die Allgemeinheit gefährlich« befunden in die Freiheit zu entlassen.

5.3 D ER P ARAGRAF 63

DES S TRAFGESETZBUCHES ZUM ZEITGENÖSSISCHEN K ONTEXT



Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) ist in Deutschland »[i]nfolge der gesellschaftlichen Forderung nach mehr Sicherheit […] die Verweildauer in der Forensik stark gestiegen. Bundesweit werden gegenwärtig rund 10.000 Patienten stationär im psychiatrischen Krankenhaus auf Grundlage des Strafgesetzbuches behandelt. Hinzu kommen mehrere tausend ambulant betreute Patienten in der forensischen Nachsorge.«52

Das Bundesjustizministerium bezieht sich mit seinen Angaben auf die alten Bundesländer: Die Zahl der nach Paragraf 63 StGB Untergebrachten hat sich dort binnen 16 Jahren »von knapp 3.000 im Jahr 1996 auf 6.750 im Jahr 2012«53 mehr als verdoppelt. Dafür nennt das Ministerium verschiedene Ursachen, unter anderem:

50 M. Heier: Zwischen Wahrheit und Kaffeesatz. 51 Norbert Nedopil, zit. in indirekter Rede nach: Ebd. 52 DGPPN: Der Fall Mollath verdeutlicht Reformbedarf des Maßregelrechts: DGPPN ruft die Initiative Maßregelreform ins Leben, 08.8.2013 http://www.dgppn.de/presse/ pressemitteilungen/detailansicht/article/307/der-fall-mol.html (14.10.2014).

53 Bundesjustizministerium: Reformüberlegungen zur Unterbringung nach Paragraf 63 StGB.

http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/20130715_Eckpunkte_

Reformvorschlaege_Unterbringungsrecht.pdf?__blob=publicationFile (14.10.2014).

50 | D ER PANOPTISCHE B LICK • »Patientenstrukturwandel (schwerst persönlichkeitsgestörte Straftäter mit Sexu-

aldelinquenz), • weniger Entlassungsempfehlungen seitens der Sachverständigen, • stärkeres Sicherheitsdenken, punitive Grundstimmung in der Kriminalpolitik, • Lücken in der medizinischen Versorgung psychisch Kranker wird [sic!] ver-

stärkt mit Mittel [sic!] der strafrechtlichen Unterbringung ausgeglichen.«54 Der letzte Punkt wird womöglich durch eine »deutliche Verkürzung in den klinischen Behandlungszeiten (oftmals aufgrund von Sparzwängen)«55 verstärkt. Rund 75 Prozent der Untergebrachten im Maßregelvollzug »haben Voraufenthalte in der Allgemeinpsychiatrie.«56 »Vor ihrer Einweisung in den Maßregelvollzug waren 19% freiwillig in psychiatrischer Behandlung, 51% aufgrund einer Zwangseinweisung.«57 »Die Psychiatrie-Enquête der Bundesregierung58 aus dem Jahre 1975 stellte in ihrem Bericht über die Psychiatrie in der Bundesrepublik für den Bereich der forensischen Psychiatrie eine absolute ›Schlusslichtposition‹ fest.« 59 Kathleen Haack konstatiert in ihrer Untersuchung zur Forensischen Psychiatrie, dass diese »[i]nnerhalb der medizin- und psychiatriehistorischen Forschung« 60 ein »Forschungsdesiderat«61 darstellt. Der Journalist Heribert Prantl schrieb bereits im November 2012 vor der allgemeinen Berichterstattung im Zuge des ›Fall Gustl Mollath‹ über »die grausamen Schwächen des Paragrafen 63«: »Kaum ein anderer Paragraf hat so massive Auswirkungen wie dieser, aber kaum ein anderer Paragraf genießt so wenig Beachtung. Der ›63er‹ ist der Paragraf, der einen Straftäter

54 Bundesjustizministerium: Reformüberlegungen zur Unterbringung nach Paragraf 63 StGB. (Spiegelstriche selbst gesetzt).

55 56 57 58

Ebd. Ebd. Ebd. Psychiatrie-Enquête - Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland - BT Drucksache, 7//4200, S. 281, zit. nach: Melzer, Katja: Psychisch kranke Straftäterinnen. Frauen im Maßregelvollzug, Frankfurt am Main 2001, S. 18 (in Fußnote).

59 K. Melzer: Psychisch kranke Straftäterinnen, S. 18. 60 Haack, Kathleen: Der Fall Sefeloge. Zur Geschichte, Entstehung und Etablierung der forensischen Psychiatrie, Würzburg 2011, S. 12.

61 Ebd.

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flugs in die Psychiatrie bringt, aus der er dann gar nicht mehr flugs herauskommt […] Rechtsanwälte sagen, dass es keinen zweiten Bereich in der Justiz gibt, in dem dermaßen viel im Argen liegt.«62

Seit Gustl Mollath im August 2013 auf Bestimmung des Oberlandesgerichts Nürnberg aus dem Bezirkskrankenhaus Bayreuth entlassen wurde, und er im Wiederaufnahmeverfahren des Falls im August 2014 zwar für schuldig befunden, aber dennoch frei gesprochen wurde63, hat sich »eine rechtspolitische Debatte«64 um die Angemessenheit der Unterbringung im Maßregelvollzug entfacht. Gustl Mollath war mehr als siebeneinhalb Jahre65 nach Paragraf 63 StGB untergebracht gewesen, ihm wurden »u.a. gefährliche Körperverletzung«66 an seiner Frau und »Freiheitsberaubung mit Körperverletzung und Sachbeschädigungen zur Last«67 gelegt. Mollath beschuldigte wiederum seine Frau im Zuge ihrer Anstellung bei der »Hypo-Vereinsbank« in Schwarzgeldgeschäfte verwickelt zu sein.68 Im Strafprozess, der im Jahr 2006 stattfand, wurde er als schuldunfähig »aufgrund einer paranoiden Wahnsymptomatik« 69 gesprochen und seine Unterbrin-

62 Prantl, Heribert: Fall Mollath. Die Psychiatrie, der dunkle Ort des Rechts, Süddeutsche Zeitung, 27.11.2012, http://www.sueddeutsche.de/bayern/fall-mollath-die-psychiatrieder-dunkle-ort-des-rechts-1.1533816 (16.9.2014).

63 Vgl. Fuchs, Ingrid: Gericht sieht Vorwurf der Körperverletzung bestätigt, 14.8.2014, http://www.sueddeutsche.de/bayern/trotz-freispruch-im-wiederaufnahmeverfahrengericht-haelt-mollath-fuer-teilweise-schuldig-1.2089097 (27.11.2014). Mollath hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Vor Drucksetzung dieser Arbeit stand der Ausgang dazu noch nicht fest.

64 Schäffer, Albert: Die juristische Lupe zur Seite gefegt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.8.2013, S. 2.

65 Vgl. Halser, Marlene: Eine Wahnsinnsohrfeige, die tageszeitung, 7.8.2013, S. 3 66 Oberlandesgericht Nürnberg: Pressemitteilung 12/13 korrigierte Version, 6.8.2013. http://www.justiz.bayern.de/gericht/olg/n/presse/archiv/2013/04049/ (10.11.2014).

67 Ebd. 68 Vgl. auch Ritzer, Uwe / Przybilla, Olaf: Die Affäre Mollath. Der Mann, der zu viel wusste, München 2013, z.B. S. 37.

69 Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 56/2013, 5.9.2013, Beschluss vom 26.8.2013, https://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg13-056 (24.10.2014).

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gung im Maßregelvollzug »aufgrund der Erwartung weiterer erheblicher rechtswidriger Taten«70 angeordnet. Mollath hatte sich geweigert mit GutachterInnen zu sprechen. Diagnosen zu seinem psychischen Zustand wurden meist durch sogenannte »Fernbegutachtung« erstellt. Während seiner forensisch-psychiatrischen Unterbringung bestand Mollath stets auf eine Anerkennung seiner geistigen Gesundheit und verweigerte die Behandlung. In einem internen Revisionsbericht der Hypo-Vereinsbank 71 wurden seine Vorwürfe zu den Schwarzgeldgeschäften schließlich als zutreffend bestätigt. Das Oberlandesgericht Nürnberg hatte, nachdem das Landgericht Regensburg ein Wiederaufnahmeverfahren abgelehnt hatte, in weniger als zwei Wochen72 seine Freilassung mit »unverzüglicher Wirkung« angeordnet, »[d]enn die bayerische Justiz musste fürchten, dass ihr das Verfahren durch das Bundesverfassungsgericht, das Mollath angerufen hat, aus der Hand genommen wird« 73 , so Albert Schäffer in der »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. Das Gericht veranlasste Mollaths Freilassung schließlich auf Feststellung eines unzulänglichen ärztlichen Attests.74 Dieses hatte bescheinigt, dass die Verletzungen von Mollaths Frau, angeblich durch ihn zugefügt worden waren. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die Verfassungsbeschwerde Mollaths und stellte zu den Beschlüssen der Fortdauer seiner Unterbringung fest: »Die Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person […] in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz«75. In der Beachtung des Falls in der allgemeinen Berichterstattung liegt eine Chance zur Aufklärung der Unterbringungsform, es zeigt jedoch auch, wie im allgemeinen Medienkanon einem Freigelassenen auf einmal Aufmerksamkeit geschenkt wurde, der zuvor mehr als siebeneinhalb Jahre nach Paragraf 63 StGB als »für die Allgemeinheit gefährlich« eingesperrt war.

70 Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 56/2013. 71 Der Bericht ist im Internet abrufbar unter http://www.swr.de/report/-/id=10583092/property=download/nid=233454/1t395cp/ index.pdf (10.11.2014).

72 Vgl. A. Schäffer: Die juristische Lupe zur Seite gefegt. 73 Ebd. 74 Vgl. u.a. Oberlandesgericht Nürnberg: Pressemitteilung 12/13 korrigierte Version, 6.8.2013.

75 Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung Nr. 56/2013 vom 5. September 2013, Beschluss vom 26. August 2013, http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg13-056 (14.10.2014).

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In der Berichterstattung wurden die Mutmaßungen, dass möglicherweise jemand weggesperrt werden sollte, der eine unbequeme Wahrheit aussprach, und die »Urangst«76, einmal als ›geisteskrank‹ befunden, nicht mehr vom Gegenteil überzeugen zu können, auch dankbar als Thema aufgenommen.77 Der Fall verdeutlicht jedoch zugleich, welche Brisanz sich mit der Unterbringungsform nach Paragraf 63 StGB verbindet. Die Debatten zeigen, dass – ausgehend vom Paragraf 63 StGB – vor allem die rechtliche Bestimmung und Auslegung sowie eine mangelhafte gutachterliche Praxis für Mollaths unverhältnismäßigen Aufenthalt verantwortlich gemacht werden. Ausgehend von Mollaths Fall schrieb Heribert Prantl nach dessen Freilassung: »Die forensische Psychiatrie ist und bleibt vorerst die Dunkelkammer des Rechts; und der Paragraf 63 Strafgesetzbuch, mittels dessen die Verurteilten dorthin verbracht werden, bleibt ein Paragraf, der in Theorie und Praxis rechtsstaatlichen Ansprüchen nicht genügt.«78

Das Bundesjustizministerium kündigte infolge der Vorwürfe bezüglich des Maßregelvollzugs eine Reform des Unterbringungsrechts und des gutachterlichen Einflusses an.79 Die vorliegende Arbeit, die auf mehreren Recherchen in einer Klinik für Forensische Psychiatrie mit Unterbringung nach Paragraf 63 StGB seit Oktober 2010 basiert, bestätigt zusammen mit dem Film diesen Reformbedarf. Im Folgenden werden nun der Ort und die Bedingungen, nach denen die PatientInnen untergebracht sind, auf ihre Macht-Verhältnisse untersucht.

76 Vgl. »Der Fall Gustl Mollath berührt die Urängste vieler Menschen.« U. Ritzer, Uwe / O. Przybilla: Die Affäre Mollath, S. 14.

77 »Warum weckt die Geschichte von Gustl Mollath so viele tiefsitzende Ängste bei den Menschen? Könnte auch sowas uns wiederfahren«, fragte etwa Reinhold Beckmann in seiner Sendung, in der Gustl Mollath eine Woche nach seiner Entlassung zusammen mit seinem Anwalt auftrat. »beckmann« am 15.8.2013, http://www.youtube.com/watch?v=lzq0vaqynO8 (12.10.2014).

78 Prantl, Heribert: Die im Dunkeln sieht man nicht, Süddeutsche Zeitung, 7.8.2013, Nr. 181, S. 4.

79 Vgl. Bundesjustizministerium: Reformüberlegungen zur Unterbringung nach Paragraf 63 StGB.

II. Im Panopticon

6. Das ›Dispositiv‹ von Zeit und Raum

Die PatientInnen sind durch die Einschließung im gesicherten Maßregelvollzug1 auf einen durch Zäune und Türen exakt abgesteckten geografischen Raum determiniert. Damit werden sie zu genau Lokalisierten.2 Diese Begrenzung wirkt taktil auf sie ein, beschränkt ihre Mobilität im extremen Maße. Diametral entgegengesetzt steht die Unbestimmtheit der Unterbringungs-Zeit in dieser räumlichen Beengung. Damit stehen die Determinanten eingeschlossener Raum (Raum-Bestimmtheit) versus unbestimmte Unterbringungszeit (Zeit-Unbestimmtheit) im asymptotischen Verhältnis. Dies evoziert bei vielen PatientInnen ein starkes Ohnmachtserleben, da sie keine konkrete Perspektive hinsichtlich ihrer Entlassung haben. Da Freiheitsstrafe immer dem »Hauptziel der Resozialisierung«3 und daneben »auch der Sicherung der Allgemeinheit« 4 dient 5 , muss sie endlich sein. Nach Foucault wäre »[e]ine Strafe ohne Begrenzung«6 zudem widersprüchlich, da ihr

1 2 3 4 5

Betreffend den § 63 StGB. Vgl. G. Deleuze: Foucault und die Gefängnisse, S. 263. http://www.krimlex.de/artikel.php?BUCHSTABE=&KL_ID=69 (5.11.2014). Ebd. Vgl. § 2 StVollzG, I Vollzugsziel, Rn. 9: »Der Gefangene hat aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG einen grundrechtlichen Anspruch auf Resozialisierung« (Hervorhebung im Original): Bung, Jochen / Feest, Johannes: Grundsätze. Aufgaben des Vollzuges, in: J. Feest / W. Lesting (Hg.): StVollzG Kommentar zum Strafvollzugsgesetz (AK-StVollzG), S. 21; erst unter § 2 StVollzG, II Sekundäre Vollzugsaufgaben, Rn. 14 steht: »Der Vollzug der Freiheitsstrafe soll auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten dienen«, in: Ebd., S. 23 (Hervorhebung im Original).

6 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 137.

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Sinn sich so schließlich nicht mehr bei Erreichen zu Nutzen entwickeln kann.7 Die zur »Umformung gemachten Anstrengungen« 8 wären für die Verurteilten und auch für die Gesellschaft, die für ihn aufkommt, umsonst.9 Eine Gefangenschaft ohne Begrenzung läuft also Gefahr, dass ihr Sinn, und damit die Motivation sie zu gestalten und zu beenden, infrage gestellt wird.

6.1 M ACHT

DURCH

Z EIT (Z EIT

UND

S TRAFE )

Foucault unterscheidet, wie dargelegt, dass die Strafe zwar vom Gericht verhängt, jedoch maßgeblich durch den ›Vollzug‹, also die unterbringende Institution, ›vollzogen‹ wird: Demnach gehören »ihre Eigenschaften, ihre Strenge […] zu einem autonomen Mechanismus, der die Wirkungen der Bestrafung innerhalb des sie produzierenden Apparates kontrolliert.«10 Das Gesetz spricht »›eine Art Vorurteil‹«11 aus, dieses muss »auf dem Prüfstand ermessen werden. Der Richter bedarf darum einer notwendigen und korrigierenden Kontrolle seiner Schätzungen; diese Kontrolle hat das Straf- und Besserungsgefängnis zu liefern.«12 Im Gefängnis, im »Straf-Vollzug«, dem so ein Teil der »Strafsouveranität«13 immanent ist, kann ein Häftling bei guter Führung vorzeitig entlassen werden, somit kann die Institution auf die Dauer und Vollstreckung der Strafe Einfluss nehmen. Der Häftling hat eine genaue ›Straf-Zeit‹ und weiß, dass er diese gegebenenfalls bei bestimmtem Verhalten unter Umständen verkürzen kann, er besitzt also die Möglichkeit einer gewissen Zeit-Kontrolle. Darauf übertragen ist mit Unterbringung nach Paragraf 63 StGB, durch den unbestimmten Zeit-Faktor der Unterbringung, die gesamte Zeit-Kontrolle der PatientInnen von der prognostischen Einschätzung abhängig. Das Urteil des Gerichts ist demnach umso mehr ein ›Vorurteil‹, die Beurteilung der Institution umso schwerwiegender. Damit wird auf den Maßregelvollzug, die ›Exekutive‹, ein erhöhtes Maß an Befugnissen von Seiten der »Judikative« delegiert. Das Personal im untersuchten Feld besitzt so ein noch größeres Machtvolumen als Angestellte im Strafvollzug,

7 8 9 10 11 12 13

Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 137. Ebd. Vgl. ebd., S. 137 f. Ebd., S. 315. Ebd., S. 317. Lucas, Charles: De la réforme des prisons, II, 1838, S. 418-422, zit. nach: ebd. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 317.

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die PatientInnen sind zu großen Teilen von ihrer Einschätzung abhängig, wie lange die Zeit ihres Unterbringungsverhältnisses andauert. Mit einer Verurteilung nach Paragraf 63 StGB ist noch lange nicht das letzte Wort gesprochen.14 Während der Dreharbeiten des Films ANDERE WELT in der Klinik für Forensische Psychiatrie machten wir die Erfahrung: Unabhängig davon, wie schwer erkrankt die Patientinnen der untersuchten Ž‹‹waren oder in den therapeutischen Möglichkeiten der Unterbringung eine Chance auf Linderung ihres Leidensdrucks erkannten, war ihnen zu jedem Moment ihre eingeschlossene Situation bewusst. Die mangelnde Freiheit war nach Eindruck des Drehs als Problematik weit signifikanter als die der Krankheit. In ihrer Selbstwahrnehmung sahen sie sich demnach, auch bedingt durch die Form der »machtdemonstrativen Unterbringung«15

14 Dabei gilt nach § 67 e StGB: (1) Das Gericht kann jederzeit prüfen, ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen oder für erledigt zu erklären ist. Es muß dies vor Ablauf bestimmter Fristen prüfen. (2) Die Fristen betragen bei der Unterbringung […] in einem psychiatrischen Krankenhaus ein Jahr. (3) 1 Das Gericht kann die Fristen kürzen. 2 Es kann im Rahmen der gesetzlichen Prüfungsfristen auch Fristen festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag auf Prüfung unzulässig ist. Veh, Herbert / Groß, Karl-Heinz: § 67 e Überprüfung, in: W. Joecks / K. Miebach (Hg.) Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 2, S. 1095. Zum Zeitpunkt dieser Untersuchung findet die gesetzlich festgelegte zusätzliche Einholung eines externen Sachverständigengutachten alle fünf Jahre statt, vgl. § 463 Abs. 4 StPO, »1 Im Rahmen der Überprüfungen nach § 67 e des Strafgesetzbuches soll das Gericht nach jeweils fünf Jahren vollzogener Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§63) das Gutachten eines Sachverständigen einholen. 2 Der Sachverständige darf weder im Rahmen des Vollzugs der Unterbringung mit der Behandlung der untergebrachten Person befasst gewesen sein noch in dem psychiatrischen Krankenhaus arbeiten, in dem sich die untergebrachte Person befindet.« Schmitt, Bertram: § 463 Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung, in: Meyer-Goßner, Lutz (Hg.): Strafprozessordnung, München 2012 (55. Auflage), S. 1669. Dies soll nun nach Überlegungen des Bundesjustizministeriums u.a. refomiert und zeitlich enger getaktet werden soll. Vgl. Reformüberlegungen zur Unterbringung nach Paragraf 63 StGB. http://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/20130715_Eckpunkte_ Reformvorschlaege_Unterbringungsrecht.pdf?__blob=publicationFile (5.11.2014).

15 Vgl. K. Melzer: Psychisch kranke Straftäterinnen, S. 88.

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durch die Hochsicherheitsvorkehrungen, eher primär als Gefangene denn als Kranke. Im Strafgesetz ist die Länge des Freiheitsentzugs eine je nach Schwere des Delikts verhängte Variable. »[I]n der Strafe wird die Wirklichkeit des Verbrechens endgültig erwiesen«16, so Foucault. Ein schweres Delikt verlangt eine lange Zeitdauer, doch mit dieser kann die Schuld schließlich als ›abgesessen‹, als vergolten gelten. Da die Zeit der für nicht (bzw. vermindert) schuldfähig anerkannten PatientInnen im Maßregelvollzug unbestimmt ist, ist die Dauer ihres PatientInnenseins nicht abzusehen, und es kann möglich sein, dass diese vielleicht sogar das Ausmaß einer Freiheitsstrafe überschreitet, die die Patientinnen für das gleiche Vergehen als »Schuldfähige« erhalten hätten. In diesem Sinne sind sie durch ihre Krankheit nicht ›ent-schuldigt‹, sondern höher bestraft, insofern annehmbar ist, dass ihr Freiheitsanspruch nicht durch die Krankheit reduziert ist. Die Patientin Frau B., eine der drei Protagonistinnen des Films, war nach ihrer Aussage im Film wegen »Bedrohungsdelikte[n] im schwerst intoxikierten Zustand«17 im Maßregelvollzug untergebracht worden. In der Klinik lebte sie, so wurde dies von ihr und einer Pflegerin18 im Film benannt, nun schon elf Jahre – immer wieder fiel sie im System der Lockerungsstufen zurück. Bedrohung als Straftat ohne den Faktor der Schuldunfähigkeit wird nach Paragraf 241 StGB19 mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder Geldstrafe sanktioniert. Wird eine Person nach Paragraf 63 StGB untergebracht, muss die Unterbringung nach Paragraf 62 StGB »verhältnismäßig« sein. Die Verhältnismäßigkeit ihrer Unterbringung prangert Frau B. bereits früh im Film an. § 62 StGB Grundsatz der Verhältnismäßigkeit »Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht.«20

16 17 18 19

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 73. Vgl. ANDERE WELT, Regie: Christa Pfafferott, Deutschland 2013, Min 12:50. Frau W., in: ebd., Min. 51:22. Sinn, Arndt: Achtzehnter Abschnitt. Straftaten gegen die persönliche Freiheit. § 241 Bedrohung, in: Joecks, Wolfgang / Miebach, Klaus (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 4, §§ 185-262, München 2012 (2. Auflage), S. 1022.

20 G. van Gemmeren: Sechster Titel. Maßregeln der Besserung und Sicherung. § 62 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: W. Joecks / K. Miebach (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 2, S. 737.

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Die »Verhältnismäßigkeit« ist deswegen ein so wichtiges Kriterium, da bei PatientInnen im Maßregelvollzug die Beurteilung »für die Allgemeinheit gefährlich« und der Sicherheitsanspruch der Bevölkerung als weitgehend diffuser Gradmesser mit dem Freiheitsanspruch korreliert. Die Legitimation des durch die gesetzlich angeordnete Unterbringung »massiven Grundrechtseingriffs«21 der Individuen ergibt sich aus der »Gefahr für die Allgemeinheit«, die die nach Paragraf 63 StGB Verurteilten darstellen. Die psychische Erkrankung verleiht der Gefährlichkeit der PatientInnen einen unkalkulierbaren Faktor. Sie sind für die Allgemeinheit und somit generell, als ›allgemein‹-gefährlich diagnostiziert. Dem diffusen Ausdruck ist ein Unabwägbarkeitsfaktor inhärent, denn die Gefahr klingt ohne konkretisiertes Ziel-Objekt insbesondere brisant. Die Angriffsfläche scheint somit »allgemein« vergrößert. ǽ•›…Š‹•…Š””ƒ–‡Ǽ•‹†Œ‡†‘…Š‹…Š–‡–‰‡‰‡‰¡‰‹‰‡”‘”—”–‹Ž‡‰‡Ǧ —‹ ‰‡™ƒŽ––¡–‹‰‡” ƒŽ• ǽ’•›…Š‹•…Š ‡•—†‡ǼǤ Einer schwedischen Studie zufolge haben 95 Prozent der Gewalt-TäterInnen keine schwere psychische Erkrankungǣ22»Overall, the population-attributable risk fraction of patients was 5%, suggesting that patients with severe mental illness commit one in 20 violent crimes.«23 ‹ƒŽƒŽ•ǽˆò”†‹‡ŽŽ‰‡‡‹Š‡‹–‰‡ˆ¡Š”Ž‹…ŠǼ†‹ƒ‰‘•–‹œ‹‡”–ǡ„‡†ƒ”ˆ‡•Œ‡†‘…Š •–”‡‰—‰—†‡‹–ǡ—™‹‡†‡”ƒŽ•—‰‡ˆ¡Š”Ž‹…Š˜‘•‹…Šò„‡”œ‡—‰‡†ƒǦ …Š‡œ—Ú‡Ǥ Damit sind die PatientInnen innerhalb der Unterbringung im Maßregelvollzug einem enormen Leistungsdruck ausgesetzt. Sie bleiben so lange eingeschlossen bis sie zu einem »gebesserten«, ungefährlichen Individuum geworden sind. Sie mäandern in einer »Unbestimmtheitszone«,24 der sie nur durch Assimilation an das System entgehen können. Die Figur des Bartleby in Herman Melvilles gleichnamiger Erzählung entzieht sich zunächst einer konkreten Bitte seines Arbeitgebers

21 K. Melzer: Psychisch kranke Straftäterinnen, S. 24. 22 Vgl. Mayer, Karl C.: Vorurteile und Wirkungen in der Medizin, http://www.neuro24.de/vorurt.htm (14.8.2014).

23 Fazel, Seena / Grann, Martin: The Population Impact of Severe Mental Illness on Violent Crime, The American Journal of Psychatry, 2006, Band 163, S. 1397-1403, hier: Abstract, http://ajp.psychiatryonline.org/article.aspx?articleID=96905 (14.10.2014).

24 Deleuze, Gilles: Bartleby oder die Formel, Berlin 1994, S. 20.

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und dann allen sozialen Gesetzmäßigkeiten. Ließe sich diese Freiheit eines »agrammatischen«25 »I would prefer not to«26 auf den Alltag im Maßregel-System übertragen, würde diese Uneindeutigkeit womöglich als mangelnde »Compliance«27 bewertet werden. Die Unterbringung wird zum »Kreisen in einem Aufschub«,28 einer Probe aufs Exempel. Nach Ermessen der Dreherfahrungen besteht die Gefahr, dass diese Unbestimmtheit die Rekonvaleszenz der Patientinnen beeinträchtigt; sich aus ihr ein Unruhefeld von Angst, Aggression und Ambivalenzen entwickelt. Dabei stehen innerhalb der Unterbringung nicht nur die Variablen ›unbestimmte Zeit versus abgeschlossener Raum‹ in unausgewogenem Verhältnis. Die unbestimmte Unterbringungs-Zeit der PatientInnen ist partitioniert durch die »›künstliche‹ Ordnung«29 des Regelwerks der Klinik, das den Tagesablauf in explizite temporäre Taktungen unterteilt. Nach Foucault wurde das Prinzip der »Zeitplanung«30 von der Tradition der Klöster »von den Disziplinen übernommen und modifiziert. […] Man beginnt in Viertelstunden, Minuten, Sekunden zu rechnen.«31 So tritt »[d]ie Macht […] der Zeit sehr nahe und sichert sich ihre Kontrolle und ihre Ausnutzung.«32 Mit der starren Zeiteinteilung soll den PatientInnen Struktur geboten werden, die sie zuvor in ihrem Leben oftmals nicht besaßen. Die Ordnung hält den Tagesablauf aufrecht, schafft ihnen gesicherte Anlaufpunkte, ermöglicht auf der anderen Seite Kontrolle, teilt die Arbeitskraft des Personals ein, wodurch der Alltag in der Institution effizienter geregelt werden kann. Damit ist die unbestimmte Zeit der Unterbringung durch kleine Zeiten der Bestimmtheit, eine »Mikrophysik der Macht«33, geprägt – ärztliche Visiten, Essen-,

25 Vgl. G. Deleuze: Bartleby oder die Formel, S. 21. 26 Melville, Hermann: Bartleby, Elbenhausen bei München 1966, S. 30. 27 Darunter versteht man u.a. die Zuverlässigkeit von PatientInnen, sich auf eine Therapie einzulassen. Vgl. Compliance: Forensik von A-Z, http://www.zfp-web.de/1385.html (5.11.2014).

28 29 30 31 32 33

D. Gilles: Bartleby oder die Formel, S. 15. Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 231. Ebd. S. 192., Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd., S. 206. Ebd., S. 207.

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Geld- oder Medikamenten-Ausgabe, Therapie, Nachtruhe, teilweise Hofgang, Zigarettenpausen – sämtliche Bedürfnisse und Begebenheiten sind zeitlich reglementiert. Diese »Mikro-Justiz der Zeit«34, wie Foucault die zeitliche Festlegung ebenfalls nennt, wird etwa in der Filmszene im Hof deutlich, wenn Pflegerin und Patientin gerade fröhlich zusammen Kniffel gespielt haben und durch ein plötzliches »Sie haben noch fünf Minuten«35, das intrapersonelle Machtverhältnis eruptiv zutage tritt. Konstitutiv ist auch die Filmszene, in der die Patientin Frau B. im Rahmen einer bestimmten Zeit ihr Zimmer aufräumen sollte.36 Foucault geht bei seinen teils diagnostischen Beschreibungen psychischer Erkrankungen in »Psychologie und Geisteskrankheit« darauf ein, dass bei psychisch Erkrankten »die Raum-Zeit-Kohärenz, die sich um das Hier und Jetzt ordnet, […] zusammengebrochen«37 sei. »[Ü]brig bleibt nur ein Chaos sukzessiver Hier und isolierter Augenblicke.«38 Weiter meint Foucault: »Die Raum-Zeit-Synthesen, die intersubjektiven Verhaltensweisen, die Willensintentionalität werden unablässig zum Wanken gebracht«39. Diese Behauptung, die dieses ›dysfunktionale‹ zeitliche Erleben der Patientinnen in noch signifikanterem Kontrast zum Prinzip der reglementierten Zeittaktung setzen würde, wird hier nicht weitergeführt. Der ›Außenblick‹, der in dieser Arbeit versucht wird einzuhalten, würde mit der antizipierten Innenwelt der Patientinnen im inkonsequenten Verhältnis stehen. Auch wurde während der Feldforschung der Eindruck gewonnen, dass das Zeitempfinden der PatientInnen wie bei allen Individuen von Situation und Tagesform abhängig, stets individuell war, so dass ein Zeitbegriff nur sehr vorsichtig verallgemeinert werden kann.

Abb.1: Kodifizierende Macht der kleinen Zeit-Taktung versus unbestimmte Zeit der Unterbringung40

34 35 36 37 38 39 40

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 230. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 24:38. Ebd., Min. 10:51. Foucault, Michel: Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt am Main 1968, S. 33. Ebd. Ebd. Eigene Darstellung.

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6.2 D AS P RINZIP DER »F ÖRDER L OCKERUNGSSTUFEN «

UND

Die ›kleinen Zeiten der Bestimmtheit‹, ‹†‡‡•‹…Š†‹‡ƒ–‹‡– ‡„‡™‡‰‡, werden allesamt durch die Variable der ‡— —‡”‹•…Š „‡ƒ–‡ »Förderund Lockerungsstufen« modifiziert, mit denen die Patientinnen ein bestimmtes Maß an Freiheiten innerhalb des ›Disziplinarsystems‹ der Klinik erlangen: Die »Förder- und Lockerungsstufen« (umgangssprachlich nur Lockerungsstufen) sind dabei zum allgemeingültigen und alles bestimmenden Dispositiv geworden. Nach ihnen sind die Freiheiten des Aufenthalts der PatientInnen und ihre Option, wieder die Freiheit des Außen zu erlangen, geordnet. Die Lockerungsstufen stellen ein Prinzip von ›Belohnung‹ dar, welches nach Foucault eines der wichtigsten Kriterien »von Machtverfahren«41 ist. Der Belohnung ist der produktive Charakter von Macht inhärent, welcher eingangs erläutert wurde. Die Nummer der Lockerungsstufe wird zur Losung42 der Freiheit der PatientInnen. Im konkreten Falle einer »Beurlaubung« bedeutet dies, dass sie zunächst in einer betreuten Wohneinrichtung unter weiterer Kontrolle der Klinik untergebracht werden. Sie werden nur »bedingt entlassen«43, so lautet es nach § 67d Abs. 2 StGB: »[S]o setzt das Gericht die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Mit der Aussetzung tritt Führungsaufsicht ein.«44

41 M. Foucault: Wie wird Macht ausgeübt?, S. 190. 42 Vgl. »Die Chiffre ist eine Losung«: Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: Unterhandlungen, Frankfurt am Main 1993, S. 254-260, hier S. 258, Hervorhebung im Original.

43 Entlassung: Forensik von A bis Z, http://www.zfp-web.de/1360.html (12.10.2014). 44 Veh, Herbert: Dauer der Unterbringung, § 67d Abs. 2 Satz 1,2, in: W. Joecks / K. Miebach (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 2, S. 1076; bzw. nach § 67d Abs. 6, Satz 3, StGB lautet es: »Das Gericht ordnet den Nichteintritt der Führungsaufsicht an, wenn zu erwarten ist, dass der Betroffene auch ohne sie keine Straftaten mehr begehen wird.« Ebd, S. 1077.

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Man könnte interpretieren, dass dies keine gänzliche Entlassung impliziert, die PatientInnen sind »beurlaubt«; gemäß Wortsinn drückt sich darin auch eine mögliche Wiederkehr aus.45 Darin ließe sich Foucaults Überlegung wiedererkennen: »[D]ie Disziplinen […] verteilen die Individuen entlang einer Skala, ordnen sie um eine Norm herum an, hierarchisieren sie untereinander, und am Ende disqualifizieren sie sie zu Invaliden.«46 Die neun Förder-/ Vollzugslockerungsstufen der Klinik: 1 Patient(in) darf nur mit Personal aufs Gelände 2 Geländeausgang in Begleitung von zuverlässigen BesucherInnen und oder MitpatientInnen 3 Patient(in) darf allein auf das Gelände 4 Ausführung mit Personal 5 Ausgang mit anderen PatientInnen, Angehörigen oder BesucherInnen 6 Einzelausgang 7 Erweiterter Einzelausgang 8 Urlaub mit Übernachtungen 9 Beurlaubung Diese numerische Stufung, an Schulnoten oder an Aufstiegs-Stufen in gewinnorientierten Unternehmen erinnernd, ist nicht unbedingt konstant belohnend, also aufsteigend – bei vielen PatientInnen oszilliert sie, kann bei rückfälligem Verhalten auch wieder zurückgesetzt werden. So wird das Individuum innerhalb dieses Belohnungs- und Bestrafungssystems zugehöriges Mitglied einer Gruppe der Klinik-Gemeinschaft, etwa zu der PatientInnenschaft, die – im Klinik-Jargon ausgedrückt – »die 3 haben« und allein auf das Klinik-Gelände dürfen. Ähnlich wie sich

45 Hierbei ist zu beachten: Für Gefangene im Strafvollzug gilt gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 StGB: »Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn 1. Zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind«. Somit werden sie unter Erfüllung bestimmter Bedingungen (vgl. ebd. Abschnitt 2,3, ff) auf Bewährung entlassen und können sich unter Erfüllung von Bewährungsauflagen in Freiheit aufhalten. Groß, Karl-Heinz: § 57 Aussetzung des Strafrestes bei zeitiger Freiheitsstrafe, in: Joecks, W. / Miebach, K.: Münchener Kommentar zum Strafgesetezbuch, Band 2. Die »Beurlaubung« der MaßregelvollzugspatientInnen ist demnach ebenso als Chance zur Resozialisierung zu verstehen, die eben an bestimmte Auflagen gebunden ist. 46 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 286.

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andere Personen außerhalb des Zauns adhärierend zu ihrem Namen mit ihrer Berufsfunktion vorstellen, der sie in die gesellschaftliche Ordnung eingliedert, enspricht das Selbstverständnis der PatienInnen ihrer Lockerungsstufe. Die Nummer macht ihre Kompetenz aus, »ich hab die 2«, »die 3«, »die 4«, sagen die PatientInnen über sich, die Zahl wird zu ihrer temporär »fixierte[n] Individualität«.47 Es entsteht der Eindruck: Die Summe aller individuellen Eigenschaften verdichtet sich in einer Nummer. Nach Gilles Deleuze, der in seiner Abhandlung Postskriptum über die Kontrollgesellschaften Bezug auf Foucaults Disziplinargesellschaft nimmt und die Entwicklungen zur von ihm bezeichneten »Kontrollgesellschaft« (Kapitel 23.) ausführt, sind Institutionen im Gegensatz zu Kontrollformen getrennt voneinander arbeitende Systeme, bei denen das Individuum »jedesmal wieder bei Null anfangen muss«.48 Interessant ist hier die Analogie zur Klinik, in der die PatientInnen im wahrsten Sinne des Wortes mit der Lockerungsstufe 0 bei »null anfangen«. Die 0 macht den Startpunkt in der Klinik damit zum Startpunkt des Werdens des Individuums selbst. Nur wenn das Individuum etwas anderes wird, als das, was es gegenwärtig ist, wird es wieder frei sein. Das Instrument der Lockerungsstufen steigert die Macht des Personals. Passend könnte man in diesem Zusammenhang mit Foucaults Worten sprechen – es ‡”ŠÚŠ– †‹‡ǽȏ™Ȑ‹••‡†‡Souveränität des Wächters«.49 Somit kann sich durch das System der Lockerungsstufen, insbesondere innerhalb der Besserungs-Institution, ein eigenes »Subsystem des Rechts«50 manifestieren. Die Disziplin der reglementierten Lockerungsverfahren, der Auf- und Abstufung, kann wie erläutert als eine konkrete »verkleinerte Nachahmung der Gerichtsverfahren« 51 verstanden werden. Dabei ergibt sich nach Äußerung von Patientin Frau B. die Frage, ob unangepasstes oder angemessenes Verhalten durch Lockerungs-Auf- oder -Abstufung (also Freiheits-Begrenzung oder -Erweiterung), unmittelbar und für einen längeren Zeitraum sanktioniert oder belohnt wird.

47 48 49 50 51 52

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 377. Ebd., S. 256. Ebd., S. 317. Ebd., S. 285. Ebd., S. 231. Film-Zitate sind nach mündlichem Sprechfluss transkribiert. Zur Erleichterung der Übersichtlichkeit werden längere filmische Dialoge typografisch abgesetzt. Filmzitate ohne Dialogform werden in Anführungszeichen gesetzt.

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Das größte Machtinstrument, dem die PatientInnen ausgesetzt sind, ist also die andauernde, einer Bewertung unterstellte, Betrachtung. Ihr Handeln ist meist gut oder schlecht54, »zwischen einem positiven und einem negativen Pol«55 aufgeteilt und mit einer Konsequenz verbunden. Während der Dreharbeiten entstand der Eindruck: Das Verhalten der Patientinnen wird (auch nach jeweiliger Diagnose) im Klinik-Kontext oft deutlich bewertend betrachtet, zu ihrer Diagnose in Bezug gesetzt und durch Dokumentation festgeschrieben. Was im Außenleben »persönlichkeitsauffällig« ist, kann in medizinischen Kontexten bisweilen als »persönlichkeitsgestört« psychiatrisiert werden. Innerhalb dieser ǹ•›…Š‘’ƒ–Š‘Ž‘‰‹‡†‡• Ž‹‹Ž‡„‡•Ǹkann die Gefahr bestehen, dass arbiträre Entscheidungen getroffen werden, etwa dadurch, dass die GutachterInnen als Teil des Systems und qua mangelnder emotionaler Abgrenzung ihre Distanz verlieren oder sich allzu negative oder positive ǽo„‡”–”ƒ‰—‰•‡…Šƒ‹•‡Ǽentwickeln. Dies soll beispielsweise durch ständige Teambesprechungen oder regelmäßige »Supervision«, einem externen Blick56, verhindert werden.

53 54 55 56

ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 68:55 f. Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 233. Ebd. Vgl. etwa Supervision: Forensik von A bis Z, http://www.zfp-web.de/1360.html (24.10.2014).

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6.3 M ACHT

DURCH

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Das Untersuchungsfeld: Eine »Heterotopie« Foucault schuf den Terminus »Heterotopie« (gr. hetero [anders] und topos [Ort]) als Bezeichnung für einen »anderen Ort« der Gesellschaft, der als manifest gewordener Gegenentwurf zu einer Utopie (gr. Utopia = Nirgendort) verstanden werden, jedoch im erweiterten Sinne auch eine Gedanken- oder Fantasiewelt darstellen kann und bisweilen kompensatorischen Charakter besitzt. In der Medizin hat der Begriff interessanterweise die Bedeutung von »Entstehung von Geweben am falschen Ort«57. In seinem Aufsatz Andere Räume58 zerlegt Foucault die »Heterotopie« in verschiedene Untergruppierungen, zu denen unter anderem die »Abweichungsheterotopien«59 gehören: »In sie steckt man die Individuen, deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm. Das sind die Erholungsheime, die psychiatrischen Kliniken; das sind wohlgemerkt auch die Gefängnisse«60. Der Charakter der »Abweichungsheterotopie« wird im untersuchten Feld ganz signifikant durch Schilder auf dem Gelände markiert: Đ6LHEHWUHWHQGDV*HOlQGHGHU.OLQLN1HWWH*XWIU)RUHQVLVFKH3V\FKLDWULH 'DV*HOlQGHZLUGEHUZDFKW'LH$QZHLVXQJHQGHV3HUVRQDOVVLQG]XEHIRO JHQ'DV'LUHNWRULXPď61

Das Schild, das gleichwohl die ausschlaggebenden Bedingungs-Faktoren von Überwachung und Regel-Befolgung zum Betreten der »Heterotopie« thematisiert, stellt wie der doppelte Zaun, der den Raum determiniert, eine materialisierte Grenze zum »anderen Ort« dar. Die Klinik ist allein schon wegen ihrer topografischen Anordnung charakteristisch für eine »Heterotopie«: Prägende Bauwerke in der Umgebung sind ein Atomkraftwerk, das wegen der ständigen Erdbebengefahr in der Gegend stillgelegt wurde, eine Fabrik zur Blech-Erzeugung und eben die Klinik für Forensische Psychiatrie.

57 58 59 60 61

Heterotopie, in: Duden: Das Fremdwörterbuch, Mannheim u.a. 2001 (7. Auflage). M. Foucault: Andere Räume, S. 34-46. Ebd. S. 40. Ebd. S. 40 f. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 1:10.

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Innerhalb dieser Umgebung liegt die Klinik lose angesiedelt an ein kleines Örtchen, das keinen richtigen Stadtkern und eine unregelmäßige Zuganbindung besitzt. Unmittelbar neben der Klinik steht eine Freikirche, aus der nach den Gottesdiensten missionarische Christen strömen. An einer Mauer in Blickrichtung der Klinik war während der Dreharbeiten, wie als ostentative Mahnung und Versprechen auf wirklichen Schuldfreispruch zumindest im Jenseits, ein riesiges Plakat mit Bibel-Botschaft angebracht: »Wer mein Wort hört und glaubt, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht.«62 Des Weiteren ist die Klinik umgeben von Getreidefeldern, die im Takt der Ernte-Zeiten besät und bepflügt werden, einer Schnellstraße und einer Zuglinie, welche, wie im Film hörbar, eine kontinuierliche Lärmkulisse schaffen: In der Nacht fahren Güterzüge, am Tag Autos – das Leben rauscht an der Klinik vorbei. Gleichzeitig sind die PatientInnen permanent den Geräuschen der industriellen Welt, die die »Heterotopie« umgeben, ausgesetzt. Die Klinik ist damit isoliert, situiert an einen »anderen«, unattraktiven Standortfaktor, für den BesucherInnen umständliche Anfahrtswege in Kauf nehmen müssen. Foucault beschreibt in Wahnsinn und Gesellschaft die erstmalig in der Renaissance aufkommende »literarische Schöpfung« 63 der »Narrenschiffe«, welche »wirklich existiert[en]«64 und mit ihren von allen ungewollten PassagierInnen unter anderem auf dem Rhein fuhren und »ihre geisteskranke Fracht von einer Stadt zur anderen brachten«65. Das Schiff wird damit zur mobilen Heterotopie, weniger zum »Anderen« als vielmehr zum »Nicht-Ort«, zum Utopia. Die Klinik immerhin hat ihren Festplatz nahe des Rheins gefunden, ihr mit zwei positiv konnotierten Adjektiven versehener Name »Nette-Gut« (konstituierend aus dem nahe gelegenen Bach Nette und einem angrenzenden früheren Gut) wirkt wie eine ironischeuphemistische Etikettierung, die den eigenwirklichen heterotopischen Charakter verstärkt. Die Klinik für Forensische Psychiatrie mit der Unterbringung auf »unbestimmte Zeit« versus der vorgegebenen Zeittaktung kann als »Heterotopie« bezeichnet werden, wie Foucault in seiner Definition ausführt: »Die Hererotopien sind häufig an Zeitschnitte gebunden, d.h. an etwas, was man symmetrischerweise Heterochronien nennen könnte. Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren,

62 63 64 65

ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 17:03. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1996, S. 25. Ebd. Ebd.

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wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen.«66 Das geschieht in der Klinik auf deutliche Weise, in dem sämtliche Zeiten vorgegeben sind. Auch Foucaults topografische Definition der »Heterotopie« entspricht der Charakteristik des Ortes: »Die Heteroropien setzen immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht. Im Allgemeinen ist ein heterotopischer Plan nicht ohne weiteres zugänglich. Entweder wird man zum Eintritt gezwungen, das ist der Fall der Kaserne, der Fall des Gefängnisses, oder man muss sich Riten und Reinigungen unterziehen. Man kann nur mit einer gewissen Erlaubnis und mit der Vollziehung gewisser Gesten eintreten.«67

Dieses Prinzip der Riten, Öffnungen und Schließungen gilt für die Patientinnen wie für das Personal der Klinik, das, wie der Film zeigt, jeden Morgen bei Betreten der Klinik eine ›Eintrittsprüfung‹ bestehen muss. Wie auch andere fremde BesucherInnen waren auch wir als Filmteam diesen Ein- und Ausschlussmechanismen unterworfen und mussten für den Zutritt in die »Heterotopie« Anpassung an deren spezifische Codes und Regeln leisten, etwa in der Form wie wir uns über das Gelände bewegen durften (vgl. Kapitel 12.1). Der »Heterotopie«-Charakter des Untersuchungsfeldes, der bestimmte Machtproduktionen genuin sicherte, bezog sich jedoch nicht nur auf die manifeste Form. So schufen wir als Filmteam-Fremdkörper eine mobile »Heterotopie« innerhalb des Klinik-Raums. Das Endresultat des Films transportiert die Inhalte der Klinik-Heterotopie als Medium (Mittler) in die Außenwelt. Auch der Film an sich konstituiert einen visuellen Gedankenraum: Eine »Heterotopie«. »So stellt nicht nur das filmische Dispositiv, sondern auch das Filmbild an sich, also der konstituierte Bildraum, eine Heterotopie dar.«68 Die Klinik für Forensische Psychiatrie ist nie ein gänzlich abgeschlossener Raum. Vom öffentlichen Raum entbunden und abgegrenzt, steht sie wiederrum mitten in der Öffentlichkeit 69 , in Diskussionen,

66 M. Foucault: Andere Räume, S. 43. 67 Ebd., S. 44 (diese Charakteristik bezeichnet Foucault als sogenannten »Fünfte[n] Grundsatz« einer »Heterotopie«.)

68 Reinisch, Bettina: Raum bei Foucault, 23.7.2008, http://www.filmraum.uni-jena.de/ index.php/Raum_bei_Michel_Foucault (10.10.2014).

69 Vgl. dazu auch: Michaela Ott, in: Weidinger, Liz: Was eine Leinwand mit Politik zu tun hat. Mit der Philosophin Michaela Ott auf der Suche nach dem Politischen in der Kunst, 7.5.2012, http://www.fluter.de/de/111/thema/10373/ (10.10.2014).

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Ängsten, Vorstellungen, in Mechanismen, die einen dynamischen Stimmungsraum, eine »Heterotopie« erschaffen, die den manifesten Raum und die Individuen, die sich in ihm bewegen, durchdringen und formen. Die immaterielle »Heterotopie«, die aus der Klinik heraus und auf die Klinik wirkt sowie ihr machtvoller Wirkungsmechanismus werden ebenfalls im Blick der Analyse sein. Ihren Ausgang nehmen alle Macht-Auswirkungen in einer manifesten ›Mikro-Heterotopie‹, die Nukleus dieser Betrachtung ist – die Frauenstation der Klinik.

7. Feldforschung: Produktion des 79-minütigen Films ANDERE WELT

7.1 M IKRO -»H ETEROTOPIE « – D IE F RAUENSTATION Mein erster Kontakt mit der Frauenstation der Klinik entstand bereits im Oktober 2010 im Rahmen meiner damaligen Hospitanz. Die Frauenstation wird auf der Internetseite der Klinik folgendermaßen beschrieben: »Zu der Abteilung gehört auch die forensische Frauenstation. Der prozentuale Anteil an Patientinnen in der Forensik ist sehr gering, er liegt bundesweit bei drei bis fünf Prozent. Die Delikte psychisch kranker Straftäterinnen unterscheiden sich in der Regel von denen psychisch kranker Straftäter: Sexualdelikte wie z.B. Kindesmissbrauch kommen bei ihnen nicht vor. In den meisten Fällen handelt es sich um Beziehungstaten. Meist haben die Patientinnen in der Kindheit selbst Gewalt erfahren oder sind sexuell missbraucht worden.«1

Die Definition der meisten Taten als »Beziehungstaten«, der informative Zusatz der Gewalterfahrung bzw. des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit verknüpfen hier bereits in der verknappenden Beschreibung die Taten der Frauen mit ihren biografischen Hintergründen. Der Beschreibung folgend, wirken die Frauen, da sie Gewalt meist in Beziehungen ausführen, in ihrem Gefahrenpotenzial eingrenzbar und lokalisierbar. Dies stellt sprachlich gesehen einen Widerspruch zu ihrer Verurteilung als »für die Allgemeinheit gefährlich« nach Paragraf 63 StGB dar sie sind nicht allgemein, sondern in privaten Beziehungen gefährlich. Doch die

1 Klinik Nette-Gut für Forensische Psychiatrie: Frauen in der forensischen Psychiatrie: http://www.klinik-nette-gut.de/leistungsspektrum/fachabteilungen/ psychomedizinische-abteilung/frauen-in-der-forensischen-psychiatrie.html (14.10.2014).

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Eigenschaft »für die Allgemeinheit gefährlich« definiert sich rein rechtlich auch aus einer einzigen Gewalttat im näheren Umfeld: »Eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, wenn die zu befürchtenden Taten geeignet sind, den Rechtsfrieden zu stören. Dazu muss nicht eine unbestimmte Vielzahl von Personen gefährdet sein. Ein Täter ist auch dann für die Allgemeinheit gefährlich, wenn von ihm nur gegen eine bestimmte Einzelperson erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind.«2

Durch die Erwähnung der Kindheit der Frauen, in der diese selbst Gewalt erfahren haben, werden die Personen und ihre Tat in einen unschuldig konnotierten Bezug gesetzt. Damit wird eine implizite Form von Delikt-Relativierung geschaffen. Sie haben ihre Taten aufgrund einer Erfahrung ausgeübt, bei der sie selbst Opfer waren. Darüber hinaus werden die Patientinnen unmittelbar von dem – gesellschaftlich mit am heftigsten sanktionierten Delikt – dem Kindesmissbrauch, abgegrenzt, obwohl dieser auch, wenngleich in weitaus geringerer Form, bei Frauen 3 vorkommt. Im Folgenden wird aufgezeigt, inwiefern diese – bereits eingangs erläuterte – Form von Gewalt-Kontextualisierung und -Relativierung ebenfalls im Klinik-Alltag und bei der Filmherstellung bzw. im endgültigen Filmergebnis eine Rolle gespielt haben könnte. Die Frauenstation (im Klinik-System durch die Unterbringung im GebäudeSektor G1, abkürzend als Station G1 bezeichnet) ist in drei Flügeln eines strahlenförmig konstruierten Neubaus auf dem hinteren Teil des weit ausgebauten Klinikgeländes untergebracht. Im Durchschnitt leben innerhalb des Prozesses von Entlassungen und Neuaufnahmen nach Information zum Zeitpunkt der Dreharbeiten zwischen 15 und 20 Frauen auf der Station. Somit macht die Frauenstation mit etwa fünf Prozent der Gesamtpatientenzahl einen sehr kleinen Teil der Klinik aus,

2

G. van Gemmeren: § 63 Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, Rn. 60. Gefahr für die Allgemeinheit, S. 769.

3

Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik, Tabelle 20: Aufgliederung der Tatverdächtigen nach Alter und Geschlecht, erstellt am 24.1.2014, Berichtszeitraum 2013. Sexuellen Missbrauch von Kindern (§§ 176, 176a, 176b StGB darunter:) begangen 8.819 tatverdächtige Männer und 413 tatverdächtige Frauen.

7. F ELDFORSCHUNG : P RODUKTION DES 79- MINÜTIGEN F ILMS A NDERE W ELT

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was etwa der von der Klinik angegeben Gesamtanzahl von Frauen im Maßregelvollzug entspricht.4 Denn Frauen bilden in der Strafverfolgung seit jeher einen sehr viel geringeren Anteil.5 Die männlichen Patienten in der Klinik sind nach Behandlungsschwerpunkten auf verschiedene Stationen aufgeteilt, die sich aus Diagnose, Paragraf (63 oder 64 StGB) und Entwicklungsstand ergeben. Dabei sollen möglichst homogene Gruppen gebildet werden, um zu ihrer Entwicklung förderliche Gemeinschaften zu schaffen und darüber hinaus Behandlungserleichterung sowie größtmögliche Ordnung und Kontrolle zu gewährleisten. Die Minorität der Frauen macht eine weitere Aufteilung als die der Klassifikation durch Geschlecht ineffizient. Eine Kategorisierung auf dieser Station durch Delikt, Diagnose oder Prognose findet nicht statt. Das Geschlecht allein ist distinguierendes Merkmal. In der disziplinarischen Ordnung der Klinik herrscht so gesehen durch die Akkumulation unterschiedlicher ›Störungen‹ eine Art Unordnung: Die Frauen bilden eine Form von »Residualkategorie« – bestimmte klassifizierende Zuordnungsmerkmale, die auf anderen Stationen Patienten zusammenführen, bleiben aus. Dieser Egalisierung, die vordergründig weniger zusammenführende Zuschreibungen setzt, ist auch ein freiheitlicher Charakter inhärent. Da die Frauen nicht nach Delikt oder Diagnose ›aufgeteilt‹ sind, treten diese Kriterien zugunsten des Geschlechts generell zurück. Die Frauen bilden schlicht die »Frauenstation«. Die geringe Anzahl der Frauen verleiht ihnen innerhalb der Klinik einen Minderheitenstatus, als ›Mikro-Heterotopie‹ von den Männern abgeschirmt, sind sie »das andere Geschlecht« schlechthin. Durch die geschlechtliche Kategorisierung, die unterschiedliche, durch Erkrankung und Delikt definierte Dysfunktionen in einem abgeschlossenen Raum

4 Vgl. Klinik Nette-Gut für Forensische Psychiatrie: Frauen in der forensischen Psychiatrie, siehe vorherige Seite.

5 Im Jahr 2012 waren insgesamt 58.073 Strafgefangene und Sicherheitsverwahrte in Deutschland registriert, davon waren 54.765 Männer und 3.308 Frauen. Statistisches Bundesamt: Rechtspflege, Fachserie 10, Reihe 4.1., zum Stichtag 31.3.2012, Wiesbaden 20.12.2012, S. 14, abrufbar unter https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Rechtspflege/Strafverfolgung Vollzug/Strafvollzug2100410127004.pdf?__blob=publicationFile (17.9.2013). Im Maßregelvollzug nach Paragraf 63 StGb waren zum gleichen Stichtag von bundesweit insgesamt 6.750 untergebrachten Personen 511 Frauen, ebd., S. 32. Damit ist der Anteil der Frauen im Maßregel- leicht höher als im Strafvollzug.

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zusammenführt, leben so Frauen verschiedenen Alters und differierender Persönlichkeiten in Koexistenz – eine heterogene Gemeinschaft, die auch Konfliktpotenzial birgt: Frauen mit geringeren Verhaltensauffälligkeiten sollen sich zusammen mit Personen »bessern«, die etwa durch eine akute Psychose unter starkem Leidensdruck stehen, teilweise lautstark agieren, in einer anderen Vorstellungswelt leben, durch Medikamente sediert oder durch die jahrelange Unterbringung hospitalisiert sind. Auch existiert in der unfreiwillig zusammengeführten ›Bedarfsgemeinschaft‹, dem ›Gruppenzwang‹, ein teilweise gewalttätiges Verhalten von Patientinnen gegen andere oder das Personal. So ist etwa die Patientin Frau D., eine der drei Patientinnen, die im Film näher portraitiert werden, nach ihrer eigenen Aussage wegen Gewalt gegen eine Mitpatientin im sogenannten »Kriseninterventionsraum« untergebracht. Bei den Delikten der Patientinnen handelt es sich nach Dreh-Recherchen in den häufigsten Fällen um Bedrohung, Körperverletzung und Brandstiftung. Medizinisch diagnostiziert sind den Patientinnen Persönlichkeitsstörungen, wie die »Borderline-Persönlichkeitsstörung«6, häufig verbunden mit Selbstverletzungen, Suizidversuchen, sowie auch psychische Erkrankungen wie Psychosen unter anderem der »paranoiden Schizophrenie«.7 Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten lebten vier der Patientinnen im »Kriseninterventionsraum« (abgekürzt zum ›Code‹ gewordenen Ausdruck »KIR«8), bezeichnend ist hier die aktive Interventions-Bezeichnung, die die Maßnahme zur KrisenBewältigung in den Vordergrund stellt, der ebenfalls absondernde Charakter der

6

Vgl. Weltgesundheitsorganisation: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch diagnostische Leitlinien, Bern 2014 (9. Auflage), S. 280, F60.31 Borderline-Typ: »Einige Kennzeichen emotionaler Instabilität sind vorhanden, zusätzlich sind oft das eigene Selbstbild, Ziele und ›innere Präferenzen‹ (einschließlich der sexuellen) unklar und gestört. Meist besteht ein chronisches Gefühl innerer Leere. Die Neigung zu intensiven, aber unbeständigen Beziehungen kann zu wiederholten emotionalen Krisen führen mit übermäßigen Anstrengungen, nicht verlassen zu werden, und mit Suiziddrohungen oder selbstschädigenden Handlungen (diese können auch ohne deutliche Auslöser vorkommen).«

7

Vgl. ebd., S. 131, F20.0 paranoide Schizophrenie: »Hierbei handelt es sich um die in den meisten Teilen der Welt häufigste Schizophrenieform. Das klinische Bild wird von ziemlich dauerhaften, oft paranoiden, Wahnvorstellungen beherrscht, meist begleitet von in der Regel akustischen Halluzinationen, und anderen Wahrnehmungsstörungen.«

8

Aus Vereinfachungsgründen werden die Begriffe Kriseninterventionsraum und KIR fortan ohne Anführungszeichen geschrieben.

7. F ELDFORSCHUNG : P RODUKTION DES 79- MINÜTIGEN F ILMS A NDERE W ELT

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Unterbringung ist der Bezeichnung hingegen nicht immanent. Der Kriseninterventionsraum ist sozusagen eine weitere ›Mikro-Heterotopie‹ innerhalb der Station, da diesem als gesonderten Ort eine besondere Aufmerksamkeit unter anderem qua Überwachungsblick zuteil wird. Die Patientinnen sind nach genau festgelegten Bestimmungen und zeitlich engmaschig überprüft im KIR untergebracht, wenn sie nach Einschätzung des Personals und durch entsprechende Anordnung bestätigt, gefährlich gegen sich oder andere agieren werden. Zwei von ihnen wollten gefilmt werden und machen schließlich, trotz oder gerade wegen ihres geringen Bewegungsradius und ihrer Gitter-Verschließung, zwei der drei Haupt-Protagonistinnen im Film aus. Der Kriseninterventionsraum ist reizarm gehalten, die Wände sind kahl, ein Bett, ein Sitzwürfel, und eine in die Wand eingebrachte gusseiserne Toilette sind im meisten Fall die einzigen Möbel; Gegenstände wie ein Musikgerät dürfen nur mit Erlaubnis des Personals zu vorher festgelegten Zeiten im KIR benutzt werden. Der Raum ist durch zwei Türen versperrt: Eine Gittertür und eine davor liegende, weitere blickdichte Tür, die die Sicht zum Gang versperrt. Foucault würde im Kriseninterventionsraum wohl das »Prinzip […] der Parzellierung«9 des Disziplinarsystems erkennen. Der Raum ist 24 Stunden videoüberwacht, zwei installierte Videokameras übertragen das Geschehen auf Überwachungsmonitore ins Teamzimmer, wo sie von einem Sicherheitsmitarbeiter genau beobachtet werden, um etwaiges, gewalttätiges Verhalten frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Während der Hospitanz gelang mir kein naher ›Zugang‹ zu den KIRPatientinnen, wobei ich zum damaligen Zeitpunkt auch keinen Film über die Einrichtung in Betracht zog. Die Hospitanz inspirierte mich jedoch zu einer Fotoserie, die kurz erwähnt werden soll, da ihre Produktion zu der späteren Filmproduktion führte.

9 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 183, Hervorhebung im Original.

78 | D ER PANOPTISCHE B LICK

7.2 F OTOSERIE FÜR M AGAZIN «

DAS

»S ÜDDEUTSCHE Z EITUNG

Über den Betten der PatientInnen hingen jeweils die gleichen Regale, bestehend aus zwei Brettern, welche ganz unterschiedlich gefüllt waren. Ich fotografierte die Regale von den Patientinnen und Patienten auf der Frauenstation wie auch auf unterschiedlichen Männerstationen, die nach einer klinikweiten Befragung ihre Einwilligung gegeben hatten. Aus den Fotografien produzierte ich eine Serie für das »Süddeutsche Zeitung Magazin«. Die explizite Kategorisierung der PatientInnen, die ihrer Unterbringung immanent ist, machte ich mir für das serielle Format zu Nutze. Die Serienbauweise bot die Möglichkeit einer sich wiederholenden ›Vergleichbarkeit‹. So schrieb ich zu den Regal-Bildern jeweils das Delikt, die Diagnose, die Unterbringungsdauer, die Lockerungsstufe sowie eine Regal-bezogene ›Aussage‹ der PatientInnen.10 Durch die ordnende Setzung der klinischen Zuschreibungen und unterschiedlichen Devotionalien, die den PatientInnen als Besitz und Ausdruck ihrer Persönlichkeit bleiben, in einen ›homogenen Rahmen‹, versuchte ich so einen Zugang für die Öffentlichkeit zu schaffen, ohne die Identität der PatientInnen offenlegen zu müssen.

Abb. 2: Regal aus der Fotoserie11 Während der Produktion der Fotoserie fielen mir immer wieder die Pflegerinnen auf, die mich zu den Zimmern der PatientInnen führten, mir den räumlichen Zugang und durch ihr Vertrauensverhältnis oft auch einen persönlichen Zugang zu 10 Siehe: C. Pfafferott: Bretter, die die Welt bedeuten, S. 30-37. 11 Ebd., S. 32.

7. F ELDFORSCHUNG : P RODUKTION DES 79- MINÜTIGEN F ILMS A NDERE W ELT

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den PatientInnen ›erschlossen‹. Ich begann mich für die Frauen zu interessieren, die jeden Tag zusammen mit den PatientInnen für die Dauer einer achtstündigen Schicht eingesperrt sind und diese über viele Jahre hinweg begleiten.

7.3 B LICKFOKUSSIERUNG

AUF DAS

P ERSONAL

Die Perspektive der Pflegerinnen in den Fokus eines Films zu nehmen, schien mir innovativ. Dabei sollte vor allem die Fragestellung im Vordergrund stehen, wie sie mit der Machtbefugnis umgehen, die sie qua Schlüsselgewalt besitzen. In dem Film wollte ich die möglichen Spannungsfelder sichtbar machen, die zwischen den Lösungsstrategien entstehen, die sich die Frauen suchen, um die vielfältigen Anforderungen zu bewältigen, die an sie und ihre Berufe gestellt werden. Personen, die in Justiz-, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen arbeiten, haben Berufe inne, die für die Gesellschaft besonders relevant sind. Insbesondere an Angestellte im Maßregelvollzug werden wichtige Aufgaben delegiert, denn sie sind dafür zuständig, die PatientInnen zu betreuen und die Bevölkerung zu schützen. Die Pflegerinnen sind als Ausführende der Rechtssprechung, die die PatientInnen als psychisch krank und als »für die Allgemeinheit gefährlich« zu verwahren befindet, diejenigen, die eine ›geliehene Macht‹ innehaben. Jedoch sind sie zugleich in diesem sensiblen sozialen, gesundheitlichen und rechtlichen Arbeitsfeld in ihrer Autorität limitiert: Auch sie selbst sind einem komplexen Machtprinzip ausgesetzt, der institutionellen Macht, der Macht eines Hierarchie-Komplexes und im Fall der Klinik etwa auch der Blick-Macht durch (Video-)Überwachung. Das Pflegepersonal macht die größte Berufsgruppe in der Klinik12 aus und erlebt die PatientInnen im dreigestaffelten achtstündigen und über Tag- und Nachtzeiten verteilten Schichtsystem. Sie haben einen Doppelauftrag zwischen gesellschaftlich delegierter Kontrolle und Fürsorge – die Verpflichtung, die PatientInnen Restriktionen auszusetzen und zu sichern und sie dabei nach der Maßgabe der »Besserung« auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten. Gleichzeitig besitzt auch das Pflegepersonal menschliche Eigenschaften. Sie bauen eine persönliche Verbindung zu den PatientInnen auf, sie empfinden Empathie, Mitleid und sind auf der

12 »Pflegepersonen stellen die größte Berufsgruppe der in der forensischen Psychiatrie tätigen Heilberufe dar.« Kammeier, Heinz: Das ungenutzte Potential der forensischen Pflege, in: Haynert, Harald / Kammeier, Heinz (Hg.): Wegschließen für immer? Ethische, rechtliche und soziale Konzepte im Umgang mit gefährlichen Menschen auf dem gesellschaftlichen Prüfstand, Lengerich 2012, S. 105-119, hier S. 115.

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anderern Seite auch mit allen negativen Verhaltensweisen der Patientinnen konfrontiert. In diesem Kontext ergeben sich immer wieder Handlungsparadoxien für die Personen, insbesondere, da sie in vergleichsweise niedriger beruflicher Hierarchiestellung viel Verantwortung tragen und in einem komplexen Gewalt- und Machtzusammenhang stehen. Dieser lässt sich wie folgt beschreiben: Ausgang ist der direkte Gewaltakt des Täters oder der Täterin, diesem ging oft eine besondere Konstellation in einem intrapersonellen oder strukturellen Machtverhältnis voraus. Der Gewaltakt entfacht ein gesellschaftliches Aggressionspotenzial gegen den Täter, die Täterin. Diese(r) wird auf Grundlage der GesetzesGewalt, die sich aus der »Judikative« ergibt, verurteilt. Im Falle der Patientinnen werden sie »schuldunfähig«, bzw. »vermindert schuldfähig«, gesprochen, es findet eine Macht-Delegation an die Institution statt. Daraus ergibt sich eine besondere Situation des Besserungs- und Sicherungsauftrags für das Personal der Klinik, was mögliche Ambiguitäten birgt. Das Personal fungiert als ›Exekutive‹ der Rechtssprechung. Das Personal kann deswegen in einem erweiterten Sinne als ›Exekutive‹ (innerhalb der gedrittelten Gewaltenteilung des Staates die »vollstreckende Gewalt«) bezeichnet werden, da es vom Staat, dem Träger des Gewaltmonopols, dazu delegiert ist, Macht und teilweise direkte Gewalt in dem gesetzlich bestimmten Rahmen auszuüben, wenn diese innerhalb der Machtkonstellationen von Seiten der PatientInnen nötig wird. In dieser Ausübung untersteht das Personal jedoch den Bestimmungen der Justiz. Dem Mikrokosmos der Klinik selbst ist eine besondere Machtkonstellation zueigen – zwischen Personal und PatientInnen, aber auch zwischen den einzelnen Hierarchiepositionen und -befugnissen des Personals. In dieses Machtgefüge mischt sich nun im Untersuchungsrahmen eine neue Variable, mit dem sich die Pflegerinnen auseinandersetzen müssen: das Kamerateam, ein externer ›Fremdkörper‹, Vertreter der »vierten Gewalt«, der Medien und Öffentlichkeit, wodurch sich neue Macht-Konstellationen ergeben, die nach innen und außen wirken. Die Akteurinnen müssen überlegen, wieviel Macht sie an diesen ›externen ›Fremdkörper‹ delegieren und wieviel sie zurückhalten. »Neben den form- und inhaltsbezogenen Regeln für Kommunikationsprozesse in institutionellen Feldern spielen Ressourcenverteilungen eine zentrale Rolle für die Teilnahme am kommunikativen Austausch und für die formulierbaren Inhalte. Das lässt sich in zwei Sätzen formulieren: – Wer darf legitimer Weise wo sprechen? – Was darf/kann wie gesagt werden?«13

13 Keller, Reiner: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Wiesbaden 2011 (4. Auflage), S. 66 f, Hervorhebung im Original.

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Die kommunikativen Diskurse, Gesprächsformen, -zeiten und -anordnungen, die in dieser Klinik die Macht konstituieren, kennzeichnen reziproke Gewalt- und Machtmechanismen. Innerhalb dieser stellen die Gewalttaten der Patientinnen und die Darstellung dieser als Moment, das das ganze komplexe Machtgefüge in Gang gesetzt hat, die Argumentationsgrundlage für die Form der Unterbringung, die Erbauung der Klinik, die Anstellung des Personals, und nicht zuletzt für die Erstellung dieses Films dar. Dies ist im Fokus der Betrachtung: Gewalt als dominante, perpetuierende Bewegung, von der schließlich alle Macht ausgeht.

7.4 D IE U NTERSUCHUNG

VON

M ACHT

IN I NSTITUTIONEN

Nach Foucault geben Institutionen »eine vorzügliche Beobachtungsstätte ab, um [Macht] diversifiziert, konzentriert, geordnet und zu höchster Wirksamkeit gesteigert zu erfassen«.14 Trotz der dargestellten Prädestinierung dieser »Heterotopie« als Forschungsfeld, muss bei der Untersuchung von Machtkonstitutionen in einem geschlossenen institutionellen System jedoch auf eine damit einhergehende Problematik eingegangen werden, auf die Foucault in seinen Analysen ebenfalls Bezug nimmt: »[D]ie Analyse der Machtverhältnisse in geschlossenen institutionellen Räumen wirft gewisse Probleme auf. Die Tatsache, dass ein wichtiger Teil der Mechanismen, die von einer Institution in Gang gesetzt werden, dazu bestimmt sind, ihre Selbsterhaltung zu sichern, bringt das Risiko mit sich, vor allem bei den ›intra-institutionellen‹ Machtverhältnissen, hauptsächlich reproduktive Funktionen aufzuspüren. Zweitens bringt man sich, wenn man Machtverhältnisse ausgehend von Institutionen untersucht, in die Gefahr, in diesen die Erklärung und den Ursprung jener suchen zu wollen, was schließlich hieße, Macht durch Macht zu erklären.«15

Die Untersuchung in dieser Arbeit bleibt unter anderem deswegen nicht im »intrainstitutionellen« Machtverhältnis verhaftet, weil sie schließlich einen Bezug zur ›Außenwelt‹ aufbaut und zudem ein Fremdkörper in dieses geschlossene Gefüge integriert wird, der in der Analyse den Bezug zum ›extra-institutionellen‹ Machtverhältnis darstellt: Es ist das Filmteam, als Vertreter der Außenwelt, der »vierten

14 M. Foucault: Wie wird Macht ausgeübt?, S. 195. 15 Ebd.

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Gewalt«, der Medien, Vertreter von Personen mit Ängsten, Hoffnungen, Gestaltungsabsichten, die das Machtgefüge öffnen, vom Klinikkörper kurzzeitig inkludiert und dann wieder ausgeworfen werden. Insofern wird das geschlossene Machtverhältnis durch diese extra-institutionelle Ebene verändert: 1. weil so während der 25-tägigen Drehzeit das Machtgefüge selbst geprägt wurde 2. weil wir mit unserem Film die Machtverhältnisse konservierten, sie außerhalb des Mikrokosmos sichtbar machten und damit schließlich neue Macht konstituierten. In der zuvor erörterten Annahme Foucaults (siehe 3.1), dass »Machtverhältnisse« neben ihren restriktiven Eigenschaften als produktiver Faktor »in der Gesamtheit des gesellschaftlichen Netzes«16 wirken, werden die in dieser Filmproduktion dargestellten Machtgefüge und ihre »›polymorphen Techniken‹«17 daraufhin analysiert. Denn Macht- und Gewalt-Komplexe entstanden auch in unserem Untersuchungsfeld längst nicht nur aus repressiven Methoden, sondern ergaben sich aus topografischen, hierarchischen, juristischen, wirtschaftlichen und kommunikativen Prozessen zu einem konstituierend wachsendem, auch produktiven, Geflecht, dessen ›rhizomorphe‹18 Verästelungen sich auch in diesen institutionell bedingten, hierarchischen Strukturen stets aufeinander bezogen. Dabei wurde konstitutiv: Das Macht-Verhältnis ist durch eine vertikale Hierarchiestruktur geprägt, die Regeln und Verhalten vorgibt und prüft. Gleichzeitig wirkt das Machtgefüge reziprok verzweigt und horizontal. Der panoptische Gebäudegrundriss der Heterotopie des Frauentrakts bildet dabei als manifestes Macht-Dispositiv einer bekannt geworden architektonischen Einschließungsform den Ausgangspunkt der Analyse.

16 M. Foucault: Wie wird Macht ausgeübt?, S. 198. 17 M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 19. 18 Begrifflich angelehnt an »Rhizom«, die biologische Bezeichnung eines Pflanzengewächses, das anders als etwa ein Baum nicht von unten nach oben, sondern in horizontaler Ausbreitung von den Spitzen her in »Verästelung und Ausbreitung nach allen Richtungen« wächst und für Gilles Deleuze und Félix Guattari zu einem essenziellen Begriff ihrer Arbeiten wurde: Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Rhizom, Berlin 1977, S. 11.

8. »Dispositiv«1 des Baus: Das »Panopticon«

Knapp 140 Jahre nach Erscheinen von Thomas Hobbes’ Staatsmodell entwickelte Jeremy Bentham um 1790 in England das Modell des »Panopticon« (griechisch: »pãn optikós – alles sehen«). Das Panopticon, das Michel Foucault in Überwachen und Strafen als exemplarisches Modell der Disziplinierung des Subjekts in institutionellen Systemen analysiert, hat bei den auf der Frauenstation wirkenden Machtmechanismen eine Schlüsselfunktion inne. »Das Panopticon ist in den Jahren 1830-1840 zum architektonischen Programm der meisten Gefängnisprojekte geworden.«2 Bis heute werden viele Gefängnisse nach diesem Modell »in seiner strengen Form, der Halbkreis, der kreuzförmige Plan oder die sternförmige Anordnung«3 gebaut. Die Justizvollzugsanstalten im Hamburger Stadtzentrum oder in Berlin-Moabit sind beispielsweise panoptisch aufgebaut. Auch das neu gebaute Gebäude der Frauenstation, in der fast der gesamte Film gedreht wurde, ist sternförmig zentralistisch und in verwandter panoptischer Form konstruiert. Jeremy Bentham schrieb auf das Deckblatt seines Werks Panoptikum oder Das Kontrollhaus:

1 »Mit dem Begriff des Dispositivs bezeichnet Foucault nunmehr das Maßnahmenbündel, das einen Diskurs trägt und in weltliche Konsequenzen umsetzt. […] Dazu zählen Gesetze, architektonische Manifestationen wie der Gefängnisbau (Benthams Panoptikum), Redepraktiken wie die Beichte«. R. Keller: Diskursforschung, S. 52, Hervorhebung im Original.

2 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 320. 3 Ebd.

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»[D]ie Idee eines neuen Konstruktionsprinzips beinhaltend, anwendbar auf jedwede Einrichtung, in der Personen jeder Art unterzubringen oder zu kontrollieren sind; was im Besonderen gilt für Besserungsanstalten [,] Gefängnisse, Armenhäuser, Lazarette, Fabriken, Manufakturen, Hospitäler, Arbeitshäuser, Irrenhäuser und Schulen.«4

Dass ein Trakt einer Klinik für Forensische Psychiatrie panoptisch aufgebaut ist, würde Benthams Vorstellungen also ganz konkret entsprechen. Das Modell des Panopticons ist ein Gebäude, das ohne Gitter und Türen allein durch den Blick des Wächters funktionieren soll. Dieser befindet sich in der Mitte des zentrischen Gebäudes auf einem Turm und kontrolliert alle Gefangenen in ihren Zellen, die sternförmig um ihn herum positioniert sind. Die erhöhte Turm-Sicht bedingt die überlegene Position: So gelingt es einem einzigen Individuum, über viele andere zu wachen. »Seit den Anfängen der Geschichte sehnen sich die Krieger danach, zu wissen, ›was auf der anderen Seite des Hügels liegt‹. Diesem Wunsch ist der Wachturm geschuldet«5, so Paul Virilio. Er führt aus, dass dieser Turm der Vorläufer des Fernrohrs und schließlich des Fernsehens war – das Fern-Sehen in Form von Videoüberwachung macht ebenfalls eine Form der Kontrolle aus, wie im Folgenden erläutert wird. Die »andere Seite«, die Paul Virilio hier nennt, wurde im Vokabular der Klinik oft verwendet – von den Patientinnen, die sich die »andere Seite« außerhalb des Zauns teilweise nicht mehr vorstellen konnten: »Ich weiß gar nicht mehr, wie draußen die Welt aussieht«, weint die Patientin Frau W. in einer Szene.6 Unter anderem versuchten sich die Patientinnen die Welt durch Medien, die Zeitung, das ›Fernsehen‹, nahe zu bringen – wir hörten auch, dass das Personal die Bezeichnung für die Klinik nutzte, wenn sie sie nach Schichtende wieder verließen und »auf die andere Seite« wechselten. Das »Andere«, das eine Kontrastsetzung suggeriert, ist in Wirklichkeit jedoch nicht nur durch die Grenze des Zauns zu trennen. Die immaterielle »Heterotopie«, die Gedankenräume, die um die »anderen Orte« kreisen, wird umso stärker, je unerreichbarer diese Orte sind. Zwischen Personal und Patientinnen besteht der entscheidende Unterschied der beiden »anderen Seiten« darin, dass die Pflegerinnen die überlegene Position innehaben, da sie im übertragenen Sinne auf der Turm-Position sitzen.

4

Bentham, Jeremy: Panoptikum oder Das Kontrollhaus, in: Welzbacher, Christian (Hg.): Jeremy Bentham. Panoptikum oder Das Kontrollhaus, Berlin 2013, S. 7-109, hier S. 7.

5 6

Virilio, Paul: Panische Stadt, Wien 2007, S. 28 f. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 20:17 f.

8. »D ISPOSITIV «

DES

B AUS : D AS »P ANOPTICON«

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Das Panopticon funktioniert durch das »Prinzip der Allgegenwart«7, wie Bentham selbst meinte. Der Wächter sieht alles und ist selbst uneinsichtig. Der Häftling sollte stets den »Turm vor Augen«8 haben, um die Augen des Wächters, wissen, er sollte »niemals wissen […], ob er gerade überwacht wird; aber er muss sicher sein, dass er jederzeit überwacht werden kann«9, so Foucault. Durch die Einführung dieses »zwingenden Blicks«10 kann so Disziplinierung auf effektive Art und Weise umgesetzt werden. »[J]eder Blick ist ein Element im Gesamtgetriebe der Macht.«11 Die panoptische Formation des Frauentrakts wird im Film anhand einer Luftaufnahme deutlich, um so, selbst für ZuschauerInnen ohne Kenntnis des Panopticons, die architektonische Konstruktion, die das Leben der AkteurInnen bestimmt, herauszustellen. Gleichzeitig sollte so durch den topografischen »Top-Shot« räumliche Orientierung und ein ›Überblick‹ geboten werden: »Um seine Ziele zu erreichen, hat der Wachtmann alle nur erdenklichen Mittel genutzt, von der Instrumentierung der Berggipfel […] zu den Fesselballons und dem Flugwesen – als Kontrollmittel in der Höhe«12. Als Filmteam, als das wir ebenfalls ein »Blickregime« 13 praktizierten und eine Wächter-Funktion innehatten, bestiegen wir als »Kontrollmittel der Höhe« einen Hubschrauber, da die technischen Mittel am Boden nicht ausreichten, um den Macht-Komplex filmisch ›augenscheinlich‹ zu machen. Durch Kleinwerdung des Ortes, in dem die Individuen leben, wird jedoch eine räumliche Distanz geschaffen zwischen BetrachterIn und Objekt, eine Perspektive, der ein übermächtiger Blick immanent ist. Von vorneherein wird dadurch eine Hilflosigkeit des Subjekts vor dem institutionellen panoptischen System sowie vor dem Blick der Film-HerstellerInnen und ZuschauerInnen evoziert. Dies steht im Kontrast zu der vorangestellten »Steadycam«-Fahrt zu Film-Beginn, durch die mit einem 90-Grad-Schwenk vom Entlanggleiten eines Zauns auf das Gelände die Subjektive eines hereintretenden Besuchers imaginiert wird. Die hier scheinbar suggerierte autarke Erschließung wird durch den didaktischen Höhenblick konterkariert. Bezeichnend ist, dass auf dem Panopticon der Name der Autorin ein- und ausgeblendet wird – der panoptische Blick der Erzählhaltung.

7 8 9 10 11 12 13

J. Bentham: Panoptikum oder Das Kontrollhaus, S. 89, Hervorhebung im Original. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 259. Ebd. Ebd., S. 221. Ebd. P. Virilio: Panische Stadt, S. 29. Vgl. Silverman, Kaja: Dem Blickregime begegnen, in: Kravagna, Christian (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 41-64.

86 | D ER PANOPTISCHE B LICK

Abb. 3: Französisches Gefängnis »Petite Roquette«, gegründet um 183614

Abb. 4: Justizvollzugsanstalt Moabit, Berlin15

Abb. 5: Gebäude mit Frauenstation der Klinik Nette-Gut16 14 Abb. 24, in: Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des SuhrkampVerlags.

15 Screenshot Satellitenaufnahme Justizvollzugsanstalt Moabit, Berlin mit https://maps.google.de. (7.9.2013).

16 Filmstill Luftaufnahme, aus: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 2:06.

8. »D ISPOSITIV «

DES

B AUS : D AS »P ANOPTICON«

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Aus der zentralistischen Architektur, dem fast symmetrischen, »panoptischen Stern«17 und dem daraus hervorgehenden »Disziplinarblick«18 ergibt sich in der Frauenstation, wie bei Benthams Modell, eine bestimmte Form der Machtverteilung: Zentraler Punkt des Gebäudes, als »Angelpunkt des ganzen Systems«19, ist ein ›Glaskasten‹, ein Team- und Besprechungszimmer, in dem das Pflegeteam sitzt, Besprechungen durchführt, Berichte anfertigt, Diagnosen stellt, über die Behandlung der Patientinnen unter anderem in den so genannten »Übergaben« entscheidet. Auf den ›Glaskasten‹ laufen drei Gänge der Frauenstation zu, in denen die Patientinnen leben (die KIR-Patientinnen sind alle im rechten Flur-Flügel untergebracht) und die MitarbeiterInnen arbeiten. Außerdem einsehbar ist der Ein-und Ausgangsbereich.

Abb. 6: Einsehbar – Teamzimmer von außen20 Das Personal (die ÄrztInnen, PflegerInnen, SicherheitsmitarbeiterInnen und TherapeutInnen) hat aus dem Teamzimmer Einblick nach außen, in die Flur-Flügel, in denen die Patientinnen untergebracht sind sowie in den ›Personal‹-Flur. Sie sehen die Patientinnen und andere MitarbeiterInnen, wenn sie über die Flure oder in den Hof gehen, wenn sie die Station verlassen oder nach einem Gelände-Ausgang wieder betreten. Die Patientinnen müssen ins Teamzimmer treten, wenn sie für etwas um Erlaubnis bitten, wie beispielsweise ihre dort aufbewahrten Zigaretten, 17 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 350 (Foucault bezieht sich hier auf spezifische Beispiele von Gefängnissen).

18 Ebd., S. 225. 19 Ebd., S. 321. 20 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min 27:53.

88 | D ER PANOPTISCHE B LICK

dabei dient ein Ablage-Regal als Grenzlinie für den Bereich, bis zu dem sie eintreten dürfen, wie sich im Film zeigt.21 Der ›Glaskasten‹ fabriziert und vermittelt Transparenz. Bei Besprechungen über die Patientinnen ist der Raum jedoch verschlossen, die Patientinnen sehen, können jedoch nicht hören, wie über sie gesprochen wird, was eine geheimnisvolle Wirkung hervorruft. Der Raum konstruiert eine hegemoniale Ordnung der Blicke, durch die die stets existierenden Machtstrukturen der Einrichtung deutlich werden. Die Außenansicht des ›Glaskastens‹ kommt an drei Stellen im Film vor. Dabei wurde das grüne Notausgang-Zeichen bewusst in die Kadrage einbezogen und in der Farbkorrektur herausstilisiert, um dies in Kontrast mit der tatsächlich fehlenden Ausflucht zu konterkarieren. Außerhalb des Krisenfalls erscheint das illuminierte Zeichen an diesem Ort als zynisches Ikon, als ostentatives Paradoxon. Die Architektur des Frauentrakts mit ihren Gangstrukturen, dem Hof als Außenbereich und dem ›Glaskasten‹ als Teamzimmer sowie den Verbindungswegen zwischen diesen singulären Orten vermittelt sich im Film erst sukzessive (und anhand der Videoüberwachung, siehe Kapitel 9.2). Das Bild des Innenbereichs bleibt so trotz des vorangestellten »Top-Shots« durch die Flugaufnahme ein nicht kohärentes. Die einzelnen Schauplätze und auch die Zellen bleiben für sich isolierte. So wird beispielsweise nicht transparent, wie weit entfernt etwa die KIRs von der Patientin Frau W. und von Frau D. auseinander liegen. Ähnlich sukzessive wie die Raum-»Auflösung« erfolgt auch die Erklärung zum rechtlichen Hintergrund der Institution. Der Paragraf 63 StGB wird erst in Minute 15 von der Patientin Frau B. aus dem Strafgesetzbuch vorgelesen und so die rechtliche Bestimmung, die ihren Einschluss erzwingt, genau erläutert. Die »gatekeeper«-Position der FilmherstellerInnen, die die Ordnung und Positionierung von Informationen zulässt, wird hier ersichtlich.

21 Vgl. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 10:32 f.

8. »D ISPOSITIV «

8.1 D ER ›F EHLER ‹

IM

DES

B AUS : D AS »P ANOPTICON«

»P ANOPTICON «

UND SEINE

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F OLGEN

Obwohl die panoptische Architektur eine große Kontrolle durch Einblick in die Gänge ermöglicht, werden zwei Kriterien des Panopticons nicht eingelöst: Damit stellt auch die Architektur des Panopticons heraus, dass Macht nie nur auf einer Seite liegt. Das Panopticon besaß nämlich einen Fehler: Die Patientinnen können ihrerseits von außen ins Innen blicken und die Handlungen des Personals einsehen. Damit ist auch das Personal den Blicken ausgesetzt – dieser Fakt läuft der panoptischen Bauweise zuwider, wonach der Wächter uneinsehbar sein muss. Damit ist die hegemoniale Blickordnung gestört. Das Pflegepersonal selbst hat kaum einen anderen Rückzugsort als das verglaste Teamzimmer, auch während es Pausen macht, isst, persönliche Gespräche führt, kann es durch die gläserne Gestaltung des Raums observiert werden. Der ›Fehler‹ des Panopticons versetzt das Personal in ihrer Machtposition somit auch in eine Ohnmachts-Position. Rückhaltlos den Blicken, Bitten und Bedürfnissen der Patientinnen und ihrer Vorgesetzten ausgesetzt, sind sie ›durchschaubar‹ Gewordene, was sie in ihrer Autorität angreifbarer macht. Foucault analysiert in Überwachen und Strafen Benthams Vorstellung, wie sich das Panopticon für jede Form der Disziplinierung eignen würde. Der panoptische Bau könnte perfekt auf sämtliche disziplinarische gesellschaftliche Funktion übertragen werden: Krankenhäuser, Schulen, Militär – weiterführend Altenheime, Kindergärten, betriebliche Unternehmen, Behörden, Universitäten. Viele Hörsäle und auch der Deutsche Bundestag sind wiederum in ihrer Rundform so aufgebaut, dass dabei viele Augen auf einen ›Wächter‹ gehen (›umgekehrtes Panopticon‹). Der Sinn liegt nun darin, dass derjenige in der Mitte gesehen werden soll, dieser kann die vielen Blicke kaum noch dezidiert wahrnehmen und ausmachen. Er befindet sich wie auf einer Theaterbühne (auch die antiken griechischen Theater sind umgekehrt panoptisch aufgebaut)22. In dieser Form bewirkt das Kollektiv die ›Selbstdisziplin‹ (zumindest bisweilen) des- oder derjenigen, der oder die im übertragenen Sinne auf der Turmposition steht. Das Panopticon führt somit ›klassisch‹ wie ›umgekehrt‹ zu höchstmöglichster Disziplin – bei denjenigen, die je nachdem, im Zentrum oder im ring- oder strahlenförmigen Außen den Überblick haben.

22 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 278.

90 | D ER PANOPTISCHE B LICK

Aus der panoptischen wie umgekehrt-panoptischen Architektur der Frauenstation ergab sich damit eine Modifikation des Themas: Denn die Patientinnen machten sich ihren ›Gegenblick‹ zunutze, eroberten sich Raum und drangen in den Filmraum ein.

8.2 D IE V ERLAGERUNG

DER

B LICKFOKUSSIERUNG

Die verglaste ›Wachturm‹-Position hatte zur Folge, dass wir im hektischen Klinikalltag kaum eine Gelegenheit erhielten, mit den Pflegerinnen in intensive Kommunikation zu treten. Genauso wie die Patientinnen und das Personal waren wir, das Filmteam, mit Betreten des Frauentrakts Teil der transparenten panoptischen Architektur und des umgekehrten panoptischen Rückkopplung-Blicks. Wenn wir im Teamzimmer drehten, wusste jeder Bescheid. Wir befanden uns stets im Durchgangsort – Gespräche und Beobachtungen wurden fast immer durch hereintretende Patientinnen, Klingeln aus den Kriseninterventionsräumen, das die Schaltstelle im Teamzimmer erreichte23, und von Personal beeinträchtigt, das von den Pflegerinnen Arbeitseinsatz erwartete oder den persönlichen Gesprächen, die ich aufzubauen versuchte, zuhörte. Bilder, wie das der Pflegerin, die sich vor dem Ventilator erholt24, waren selten. Im Filmschnitt nimmt dieser Moment genau die Länge der Aufnahme ein, bevor die Pflegerin wieder unterbrochen wird. Ein wirkliches Panopticon, ein Aufenthalt beim Wächter im uneinsehbaren »Turm«, hätte wahrscheinlich die Möglichkeit geboten, die Pflegerinnen eingehend zu porträtieren. Die architektonische Bauweise wäre dem Vorhaben zugute gekommen. Durch den ›Fehler‹ im Panopticon ergab sich jedoch kaum eine Möglichkeit, diesen Fokus durchzusetzen. Mit unseren Bildvorstellungen waren wir gegenüber dem durchgetakteten »Betriebs«-System meist machtlos. Und dies hatte vielleicht auch sein Gutes. Wir mussten uns auf die Situation einlassen, so begrenzt wie sie war – wir mussten unsere Kontrolle abgeben. Und so entstand eine Dynamik, der wir uns nur ergeben konnten – unser Film-Fokus streute sich nach kürzester Zeit und verlagerte sich auf eine Beobachtung des Agierens zwischen den dichotomen Gruppen von Pflegerinnen und – nun gleichberechtigt und sogar stärker – den Patientinnen.

23 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 43:18. 24 Vgl. ebd., Min. 50:19 f.

8. »D ISPOSITIV «

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Die topografische Struktur produzierte unseren Kontrollverlust: Durch die Patientinnen, die am Glaskasten vorbeiliefen, unsere Gespräche und Beobachtungen einsahen und ständig unterbrachen, gaben wir unsere Position auf. Wir liefen in die ›Arme‹ des Panopticons hinein. Die Patientinnen sahen in der Kamera ihr Sprachrohr zur Welt. Eingeschlossen im Mikrokosmos für alle sichtbar, waren sie für das Außen unsichtbar. Sie wollten die Macht der Kamera nutzen. Sie wollten gesehen werden. Die Patientinnen, als die scheinbar ohnmächtigen Personen im Machtgefüge, hatten damit im Klinik-Komplex als ›Filmfiguren‹ sehr viel mehr Durchsetzungskraft als die Pflegerinnen. Voller Mut gaben sie sich der filmischen ›Fixierung‹ hin, weil sie sich der Macht der institutionellen ›Fixierung‹ entziehen wollten. Eine weitere Abweichung des Panopticons der Frauentrakt-Bauweise liegt darin, dass das Panopticon nicht, wie es Bentham vorsieht, zentralistisch aufgebaut ist und so eine Betrachtung ermöglicht, die sich bis in jedes Zimmer zu jedem der InsassInnen hinein erstreckt. Der panoptische Blick stützt sich dort, wo er durch opake Wände nicht weiterführt, jedoch aufgrund rechtlicher Bestimmungen weitergeführt werden darf, auf eine weitere Sub-Überwachungsebene: Es ist die Überwachung der Kriseninterventionsräume, deren Kamerabilder auf die Monitore im Teamzimmer übertragen werden. Sollten die parzellenhaften Räume im panoptischen Modell zu zwei gegenüberliegenden Seiten offen sein, die eine Seite zum Fenster der Gefangenen, die andere zum Blick des Wächters, ist dies im Überwachungssystem der Klinik aufgrund der Kamera-Öffnung nicht mehr vonnöten. Der Raum ist verschlossen und trotzdem geöffnet; nun gewährleisten die an den gegenüberliegenden Wandseiten angebrachten Kameras die doppelte Öffnung und Sichtbarkeit. Das panoptische System wird also hier durch das Substitut des Kameraauges fortgeführt, der immerwährende Einblick ist garantiert. Der Raum, in dem die Patientin jeden Tag 23 Stunden verbringt, wird zum ›öffentlichen‹ Raum – somit hat sie keinen Raum für sich; ebenso wenig wie die Pflegerinnen, die den öffentlichen Raum im Teamzimmer stets in ihrem ›Sicht-Raum‹ haben.

92 | D ER PANOPTISCHE B LICK

8.3 ›I NNERE S ICHERHEIT ‹

Abb. 7: Im Panopticon – überwacht durch den Blick des Türmwächters25

Abb. 8: Im Panopticon – überwacht durch den Blick der Videoüberwachungskamera26

25 N. Harou-Romain, Plan für Strafanstalt, Abb. 21, in: M. Foucault: Überwachen und Strafen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlags.

26 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 56:06.

8. »D ISPOSITIV «

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»Der Gedanke des Panopticon – zugleich Überwachung und Beobachtung, Sicherheit und Wissen, Individualisierung und Totalisierung, Isolierung und Transparenz«27 kann in diesem System seinen vollen Nutzen entfalten. Im Kriseninterventionsraum ist die Patientin isoliert, Kommunikation mit den anderen Patientinnen auf der Station findet während der Mahlzeiten und ihres Hofgangs am Tag statt. Im Überwachungsbild des ›Krisenraums‹ kristallisiert sich heraus, wie sich Foucault das Panopticon denkt: »Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar.«28 Die KIRPatientinnen leben in Räumen öffentlicher Isolation.29 Leicht absurd anmutend an dieser Video-Konstruktion ist, dass zwischen KIR und Teamzimmer nur ein paar Meter Abstand liegen30. Der eigens dafür abgestellte Wächter sitzt nicht vor der Tür der Patientinnen, sondern vor ihrem Abbild. Soll ihnen damit eine Privatheit suggeriert werden, die durch eine entpersonalisierte Form des Kamerablicks besser gelingt? Mit dem Subsitut des Videoblicks entzieht sich jedoch auch die Wirkung eines menschlichen Gesehenwerdens, das soziales Leben in Gemeinschaft ausmacht. Der panoptische Überwachungs-Blick steht damit auch für eine digitale Entfremdung. Die Blicke sind weniger direkt musternd und beschämend, jedoch auch weniger sensitiv erfahrbar, weniger wärmend, begegnend, weniger verbindend. Konstitutiv wird diese Entfremdung etwa in der Szene, in der die Patientin schreit, dass sie nicht fixiert werden will, das Pflegepersonal ihr Verhalten über die Monitore per »Telepathie« (Fernfühlen) maßregelt und sie zunächst über die Gegensprechanlage zu beruhigen versucht.31 Durch »die Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustandes«32 ergibt sich nach Foucault eine Form der Selbstdisziplin und »Präventivwirkung«.33 Da die InsassInnen um den potenziellen Wächter-Blick wissen, schränken sie deviantes Verhalten von sich aus ein.

27 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 319. 28 Ebd., S. 257. 29 Vgl. »unglaublich bevölkerte Einsamkeit«: Deleuze, Gilles, in: Drei Fragen zu six fois deux (Godard) (Original erschienen in: Cahiers du cinéma, Nr. 271, November 1976), in: Unterhandlungen, Frankfurt am Main 1993, S. 57-69, hier: S. 57.

30 Vgl. Gang der Pflegerin Frau H. zwischen KIR und Teamzimmer, ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 27:08 f.

31 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 62:13 f. 32 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 258. 33 Ebd., S. 265.

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»Jeder auf mich gerichtete Blick manifestiert sich in Verbindung mit dem Erscheinen einer sinnlichen Gestalt in unserem Wahrnehmungsfeld, aber im Gegensatz zu dem, was man glauben könnte, ist er an keine bestimmte Gestalt gebunden.«34 Jean-Paul Sartre entfächert in seinen Blick-Betrachtungen in »Das Sein und das Nichts«, dass ein Blick zwar am häufigsten durch »das Sichrichten zweier Augäpfel«35 ausgedrückt wird, er jedoch auch durch Schritte, Rascheln, die »Bewegung eines Vorhangs«36 oder die Anwesenheit eines Hauses imaginiert werden kann. In diesen Gegenständen oder Wahrnehmungen konstituiert sich der Blick »nur als wahrscheinlich«37, doch »sie repräsentiertiern […] das Auge, […] Träger des Blicks.«38 Die zwei gegenüberliegenden Kameraaugen in den Kriseninterventionsräumen der Patientinnen genügen also, um einen »Träger des Blicks« zu implizieren. Der oder die Gefangene internalisiert das Machtverhältnis, bewegt sich entsprechend der an ihn oder sie gestellten Erwartung. Der Kontrollblick modifiziert den Körper, das Bewusstsein der Gefangenen auf einer tieferen auch unterbewussten Ebene und bemächtigt sich ihres Wesens vollständig. Im Kontrollverlust über die Bestimmung ihrer Sichtbarkeit, nimmt die eigene Überprüfung der sichtbaren Handlungen zu. Der Blickzwang übersetzt sich in ›zwanghaftes‹ Verhalten. Mehr als der doppelte Zaun, der immerwährend Objekt ihres Fenster- oder Hof-Ausblicks ist, und Beweis, wie Schauspiel und Symbol für die Bevölkerung, dass die »Allgemeingefährlichen« sicher verwahrt sind, macht den PatientInnen die permanente Überwachung die Ausweglosigkeit eines Fluchtversuchs deutlich, so dass sie ihn gar nicht erst unternehmen. Sie werden »zum Prinzip [ihrer] eigenen Unterwerfung.«39 Die ›innere Sicherheit‹ ist hergestellt. Wie Macht nach Foucault nicht nur repressive Technik ist, um auszuschließen, »die Formulierung eines Diskurses zu verhindern«40 und – »wie ein Freud’sches

34 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 465.

35 36 37 38 39 40

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 466. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 260 Foucault, Michel: Die Macht arbeitet, in: Defert, Daniel / Ewald, François (Hg.): Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, Frankfurt am Main 2009, S. 355-356, hier S. 356.

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Über-Ich«41 – ein ›Über(wachungs)-Ich‹ – zu wirken, wird so deutlich, wie sich der Macht-Blick in den Gedanken und Handlungen infiltriert und von fremdbestimmten zu vermeintlich selbstbestimmten Agieren führt.42 Schwierig ist die Bewusstwerdung von Macht also deswegen, weil sie sich, selbstdisziplinierend und zu großen Teilen unbewusst tiefliegend akzeptiert, bereits in den Verhaltensweisen der Individuen verankert hat und ihrem Selbst immanent ist.43 Der panoptische Video-Blick kann ebenso das Gegenteil von Selbstdisziplinierung bewirken: In dem zuvor beschriebenen Beispiel der Kommunikation über die ›Gegen‹-Sprechanlage provoziert die Patientin, die sich überwacht weiß, durch aggressives Agieren eine Gegen-Reaktion, eine Form der Begegnung – wenig später laufen die Pflegerinnen zu ihrem Raum. Der Blick schafft somit nicht nur ›Selbst-Kontrolle‹, sondern zwingt auch zur Kontrolle der anderen. Die MachtKonstruktion produziert auch bei den Mächtigen Ohnmacht. Ob die Angestellten wollen oder nicht: Ihre Blicke im Teamzimmer sind den Monitoren und dem Geschehen im Kriseninterventionsraum ausgesetzt. Ihr Wächterblick wird dadurch rückwirkend zum Zwangsblick. Sie müssen sich dem Geschehen des Krisenortes aussetzen. Das Wissen darum stärkt wiederum das Selbst-Bild der Patientin, denn nach Jean-Paul Sartre konstituiert sich das Ich über den Blick des Anderen: »Der Blick, den die Augen manifestieren, von welcher Art sie auch sein mögen, ist reiner Verweis auf mich selbst. Was ich unmittelbar erfasse, wenn ich die Zweige hinter mir knacken höre, ist nicht, dass jemand da ist, sondern, dass ich verletzlich bin, dass ich einen Körper habe, der verwundet werden kann, dass ich einen Platz einnehme und dass ich in

41 M. Foucault: Die Macht arbeitet, S. 356. 42 Vgl. ebd.: »Die Macht bearbeitet den Körper, durchdringt das Verhalten, vermischt sich mit Begehren und Lust, und bei dieser Arbeit muss man sie überraschen, und diese schwierige Analyse gilt es durchzuführen.«

43 Interessant dazu auch die Überlegungen Judith Butlers in Bezug auf Foucaults Überwachen und Strafen. Sie bezeichnet mit »Subjektivation […] eine Art von Macht, die nicht nur einseitig beherrschend auf ein gegebenes Individuum einwirkt, sondern das Subjekt auch aktiviert oder formt. « Das Subjekt wird damit erst durch Macht selbst zum Subjekt. Dabei bedingen sich Subjekt-Repression und -Produktion reziprok: »Subjektivation […] bezeichnet eine gewisse Beschränkung in der Erzeugung, eine Restriktion, ohne die das Subjekt gar nicht hervorgebracht werden kann, eine Restriktion, durch welche diese Hervorbringung sich erst vollzieht.« Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2001, S. 82, Hervorhebung im Original.

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keinem Fall aus dem Raum entkommen kann, wo ich wehrlos bin, kurz, dass ich gesehen werde.«44

Der Blick des Anderen ist »zunächst ein Mittelglied, das von mir auf mich selbst verweist.«45 Durch diesen Blick wird die eigene Existenz wirklich. Das betrachtete Subjekt scheint in gewissen Abständen eine Vergewisserung zu benötigen, dass hinter dem toten Kamera-Auge, dem ›Augen-Gegenstand‹, der Träger-Blick nicht nur wahrscheinlich, sondern tatsächlich vorhanden ist. Die Videokamera ist damit nie bloßes Objekt, da sie als Gegenstand mit Bedeutung erfüllt ist – jedoch auch nicht Subjekt, da der oder die ›Andere‹ in ihr als ›Erkenntnisobjekt‹ nicht direkt gesehen werden kann. Die Kamera macht ›die Anderen‹, die Träger-Blick hinter dem Auge sind, je nach Stimmungslage zu einer Projektionsfläche von Freund oder Feind: Ohne ›die Anderen‹, das Personal, wären die Patientinnen an diesem abgelegenen Ort auf sich selbst zurückgeworfen, ohne ihre Blick-Vergewisserung, nichts; ohne ›die Anderen‹ wären den Patientinnen jedoch auch die Türen nicht verschlossen, ohne deren Träger-Blick wären sie nicht zur »Selbstdisziplin« gezwungen. Nicht der Ort an sich ist die Hölle – »Für mich wär das die Hölle«46, antwortet die Pflegerin auf die Frage, wie es für sie wäre, im Kriseninterventionsraum eingesperrt zu sein – »[D]ie Hölle, das sind die andern.«47

Abb. 9: Überwachungskamera im Kriseninterventionsraum48

44 45 46 47

J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 467, Hervorhebung im Original. Ebd. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 8:44. Sartre, Jean-Paul: Geschlossene Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 2012 (50. Auflage), S. 59.

48 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 3:32.

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Der panoptische Monitor-Blick, der die trotz aller Ausnahmen, dominante, hegemoniale Blickordnung durch das Personal manifestiert, wird in der Szene signifikant, in der die junge Pflegerin Frau W2 dazu befragt wird, wie sie es aushalte, diesen Beruf auszuüben und beispielsweise das zuvor erlebte Weinen der Patientin zu ertragen.49 Die Pflegerin entgegnet, dass ihr dies früher schwer fiel, dies aber jetzt nicht mehr so sei: »Ich kann mich nicht fertigmachen, nur weil die Patientin dahinten am Weinen ist.«50 Sie betont, dass diese das Alleinsein brauche, um ›runterzukommen‹. »Sie klingelt auch, wenn es ihr dann schlechter geht.«51 Die Vergewisserung folgt kurz danach, indem sie den Oberkörper etwas aufrichtet, das Kinn reckt, zu dem ihren Blickfeld gegenüberliegenden Monitor blickt und meint: »Die liest, lenkt sich ab mit ihrem Verfahrensplan».52 Ein kurzer Blick, eine kurze Veränderung der Körperhaltung genügt, um Information über die Patientin (»die liest«) zu erfassen. Die räumlich konstituierte Disparatheit zwischen der präpositionalen Verwendung »dahinten« am Weinen und dem Blick auf das Monitorbild, das die Physis der Patientin präsent werden lässt, verdeutlicht, dass die Pflegerin in der Lage ist, eine physische und emotionale Distanz zwischen sich und der Patientin herzustellen, welche ihr Freiraum für andere Aktivitäten verschafft. Sie ist jedoch durch den Monitor-Blick in der Lage, diese räumliche Distanz indirekt zu überbrücken, ohne dabei selbst gesehen zu werden und ihre emotionale Distanz aufgeben zu müssen. Der Videoblick erweitert ihren Machtspielraum. Das panoptische Auge garantiert zuverlässiges Wissen über den jeweiligen Gefühlszustand der Patientin, das elektronische Bild legt emotionale Zustände offen. Foucault beschreibt das Panopticon als »bestimmten Typ der Einpflanzung von Körpern im Raum«53. Wie festgelegt das Individuum tatsächlich ist, kristallisiert sich in diesem kurz bemühten, jederzeit anwendbaren Blick der Pflegerin heraus. Das Anschauungsobjekt ist allseits verfügbar. Ein großes Machtpotenzial liegt somit darin, dass die MitarbeiterInnen diejenigen sind, die kommen und gehen können, die den Wünschen nach Alleinsein oder Zweisamkeit der Patientinnen entsprechen oder eben nicht.

49 50 51 52 53

ANDERE WELT, R: C. Pfafferott Min. 21:06 f. Ebd., Min. 21:18. Ebd., Min. 21:54. Ebd., Min. 21:29. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 264.

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»Wir kommen auf Sie zu«54, der zum ständig repetierten Therapie-Jargon gewordene Klischee-Satz (der übrigens auch im Kundenkontakt häufig gebraucht wird) ist der ›Macht-Satz‹ in der Psychiatrie schlechthin. In diesem konstituiert sich eine sublime ›Befehlsgewalt‹: Zum einen transportiert sich darin die Bedeutung des räumlichen Annäherns, zum anderen die einer menschlichen Nähe im Sinne eines Gefallen-Erfüllens, ein unbestimmtes wie unverbindliches Versprechen in die Zukunft. Durch die festsetzende Aktiv-Passiv-Verteilung wird ein Machtgefälle kreiert, welches herausstellt: Wir sind die, die entscheiden, die auf Sie zukommen. Eine umgekehrt mögliche Annäherung von Seiten der PatientInnen an das Personal wird damit ausgeschlossen. Durch die Verwendung des Pluralis Majestatis »Wir« anstelle eines »Ich« wird die Situation zudem unbestimmt und unpersönlich. Der oder die Angestellte larviert sich stets hinter einer diffusen Gruppe. In dem Satz liegt die Unbestimmtheit eines »I would prefer not to«55, er macht einen Akt der Verzögerung, eine Leerstelle im Handeln sowie eine persönliche Abgrenzung möglich. Niemals könnten die Patientinnen entscheiden auf die PflegerInnen zuzukommen. Niemals könnte Frau B. entgegnen »Ich komme auf Sie zu«, wenn sie darum gebeten wird, Küchendienst zu machen.56 »Können Sie bitte mal zurücktreten«57, sagt der Stationsleiter, als er die Tür zu Frau D. öffnet und ihr ein Radio hineinreicht – ähnlich, so könnte man deuten – wie bei einem wilden Tier, dass man auf Sicherheitsabstand hält, sobald die Käfigtür offen ist. »Für alles fragen?«58, formuliert die Pflegerin Frau W1 entsetzt bei der Vorstellung, sie könne selbst in der Rolle der Patientinnen sein: »Ne!« Dass sie durch das Eingesperrtsein in eine ständige Position der Frage-und Bittstellerin geraten könnte, war mit der schlimmste, vorstellbare Effekt von Internierung für sie. Die verwendete Sprache entspricht der Bauweise des panoptischen Systems, in dem der Wächter sieht, der Gefangene gesehen wird – wie Foucault beschreibt: »[E]r ist Objekt einer Information, niemals Subjekt in einer Kommunikation.«59 Dabei drängt sich die Frage auf, ob wirklich reziproke Kommunikation durch die gesetzten Machtverhältnisse überhaupt möglich ist. Die teils räumliche Parzellierung der Individuen im Panopticon wendet auch die Möglichkeit von Aufständen ab. Was würde jedoch passieren, wenn sich die Patientinnen verbal verbindeten, sich zusammen zu einem »I would prefer not to«

54 55 56 57 58 59

ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 43:25. H. Melville: Bartleby, S. 30 ff. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 10:38. Ebd., Min. 26:27. Ebd., Min. 8:55. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 257.

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vereinigen würden? Für einen anarchischen Aufstand sind die Patientinnen jedoch möglicherweise auch in ihrer eigenen, auf sich selbst bezogenen, Betrachtung zu isoliert. Selten haben wir während der Dreharbeiten feststellen können, dass eine Patientin einer anderen über eine längere Zeit bewusst zugehört hat. Wenn Frau D. im Hof von ihrer Tochter erzählt, redet Frau B. parallel aus ihrem TherapieAlltag.60 Diese Beobachtung soll jedoch nicht implizieren, dass das isolierte Zusammensein krankheitsspezifisch bedingt war, ist diese Form von Gesprächs-Kultur doch auch außerhalb der »Heterotopie« auf der »anderen Seite« mannigfaltig zu betrachten.

60 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 40:40 f.

9. Der technische »Disziplinarblick«1 – der panoptische Videoüberwachungs-Blick

Der zuvor beschriebene ›Fehler‹ im Stations-Panopticon, der auf den Wächter zurückgeworfene Blick und das damit einhergehende Fehlen einer ungestörten Privatheit, war jedoch nicht der einzige Grund, warum die Pflegerinnen sich nicht »der Kamera öffneten«, wie es im Dokumentarfilm-Jargon heißt: Wir erhielten den Eindruck, dass die Pflegerinnen eine unbestimmte Angst zu haben schienen. Sie behielten bis zum Ende der Dreharbeiten eine allgemeine Skepsis vor den Kamera-Bildern und delegierten ihre Kontrolle nur zögerlich an uns. Das Personal musste auch befürchten, bei einem etwaigen Regelverstoß dargestellt zu werden oder möglicherweise etwas Falsches zu äußern, was durch die Kamera dokumentiert und schließlich von einer höheren Hierarchie-Ebene sanktioniert werden könnte. Die Patientinnen, die sehr viel weniger Kontrolle über ihr Leben besaßen, öffneten sich uns viel vorbehaltloser – was auch darin begründet liegen mag, dass sie weniger zu verlieren hatten. Sie glaubten, durch das Herstellen von Öffentlichkeit in ihrer Situation nur noch Gewinn erzielen zu können. Zudem stellten wir womöglich auch eine willkommene Abwechslung im Klinikalltag dar, sie schenkten uns Vertrauen, weil wir sie nicht direkt bewerteten. Auch wenn wir dies implizit mit unseren Darstellungen von ihnen taten, mussten sie durch uns aufgrund ihrer Aussagen und ihres Handelns keine direkten freiheitsentscheidenden Folgen fürchten. Dabei zogen wir auch in Erwägung, dass die Patientinnen möglicherweise hofften, durch die Kamera nicht nur Öffentlichkeit herzustellen, sondern durch ihre Offenheit, auch dem Personal eine gewisse »Besserung« signalisieren zu können – sie ›instrumentalisierten‹ die Kamera demnach

1 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 225.

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womöglich ebenso für ihre eigenen Zwecke. Wir waren uns dieser Situation bewusst und achteten stets darauf, den Patientinnen keine auch nur impliziten Hoffnungen zu machen. Je größer ihr Freiheitsradius jedoch wurde, desto vorsichtiger wurden auch die Patientinnen. Je mehr sie zu verlieren hatten, desto mehr fürchteten sie die Zurückstufung: »Hier darf man halt noch lang nicht alles erzählen, sonst kriegt man Ärger«, sagt Frau D. in einer Filmszene. Sie befürchtete, dass das Personal »noch strenger« zu ihr werde.2 Wirklich genau definiert sie ihre Angst jedoch nicht, sie bleibt, wie es auch unser Eindruck bei den Pflegerinnen war, eine diffus unbestimmte ›Paranoia‹. So ließe sich schlussfolgern: Insgesamt schuf die unterlegene Machtposition der Patientinnen mehr Offenheit gegenüber der Kamera, die unterlegene Machtposition der Pflegerinnen in ihrer Weisungsfunktion im Hierarchie-System der Klinik mehr Verschlossenheit. Es wurde immer deutlicher, wie schwierig es war, die Ambivalenzen eines Berufs im Berufsumfeld selbst herausstellen zu wollen. Und trotzdem wunderte ich mich über meinen gewonnenen Eindruck der Angst in dieser Institution, die in erster Linie keinem wirtschaftlichen Rating oder Wettbewerb ausgesetzt ist, sondern eine Klinik, ein Ort der Heilung ist, das dem Bundesland unterstellt ist. Es erschien mir, als würden die Pflegerinnen wie die Patientinnen unter dem Bewusstsein eines imaginären »Big Brother«-Blicks agieren. Ein Gefühl, das sich später auf uns selbst übertragen sollte (Kapitel 20.). Die manifeste panoptische Bauform der Frauenstation war selbst Bestandteil eines viel weiteren panoptischen Blicks, der sich des gesamten Klinikgeländes ermächtigte: In einer Einstellung im Film ist die Sicherheitszentrale zu sehen, in der MitarbeiterInnen dutzende Monitore überwachen, auf die Bilder einer Vielzahl von Überwachungskameras übertragen werden, die das Klinik-Gelände erfassen. So wird auch etwa der Hof der Frauenstation, der architektonisch durch die Gemeinschaftsräume rundum einsehbar war (›umgekehrtes‹ Panopticon, viele Augen schauen auf einen Punkt), von der Videoüberwachung erfasst. Wir wussten so, wenn wir im Hof drehten (ganz nach Benthamscher Vorstellung), dass, aber nie wann wir im Visier des Überwachungsblicks waren.

2

ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 60:57 f.

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Abb. 10: Überwachungskamera-Perspektive: Hof der Frauenstation3 Der erhöhte »Zentralturm«4 Benthams ist somit verwandelt zur ebenerdigen Sicherheitszentrale, die keine manifeste Aussicht mehr benötigt. Als Schaltzelle, in der alle Videoblicke zusammenlaufen, im »Auge Gottes« der Klinik, findet das Fern-Sehen nicht mehr durch vertikale Erhöhung oder Teleskopie wie von Paul Virilio beschrieben, sondern durch Television im eigentlichen Wortsinn statt. Wissen die KIR-Bewohnerinnen um ihre konkrete Beblickung durch den Sicherheitsmitarbeiter, wird in diesem erweiterten Radius die »Macht […] tendenziell unkörperlich.«5 Es ist »die Maschinerie einer sich verheimlichenden Macht.«6, die sich seit dem Tod Foucaults immer weiter potenziert hat. Diese entpersonalisierte Macht ist besonders leistungsstark. Das Kamera-Auge kann den Blickwinkel modifizieren, in Telebereiche hinein- oder in extreme Weitwinkel-Perspektiven herauszoomen und so das Individuum teilweise im 360 Grad-Radius erfassen. Damit entspricht der Kamera-Blick zunehmend Foucaults Vorstellung: »Der perfekte Disziplinarapparat wäre derjenige, der es einem einzigen Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen. […] [E]in vollkommenes Auge der Mitte, dem nichts entginge und auf das alle Blicke gerichtet wären.«7 Dieser ›panoptische Blick‹, der gleichermaßen die PatientInnen, wie die Angestellten und auch die BesucherInnen erfasst, beeinflusst die Bewegungen und Handlungen der Körper, selbst wenn die Kameraüberwachung im Alltag beim Gang über das Gelände oft vergessen wird. Es besteht kein signifikanter Unterschied mehr zwischen TäterInnen, psychisch Erkrankten, Personal oder BesucherInnen. Die »Disziplinarmacht«, die jedes Individuum tangiert, das das Klinik3 4 5 6 7

Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 36:49. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 262. Ebd., 260. Ebd., S. 261. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 224.

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System betritt, erfasst die Individuen gleich, macht sie zu ›Gleicheren‹. »In einem bestimmten Anwendungsbereich inkriminiert die Kameraaufzeichnung« 8 , so Susan Sontag. Jeder, der das System der Klinik betritt, wird ›augenscheinlich‹ erfasst. Aus Überwachungsbildern werden Bewachungsbilder.

Abb. 11: Pflegerin und Filmteam im Überwachungskamerabild9

9.1 »D AS A UGE G OTTES « Die Vorstellung eines ›alles sehenden‹ (panoptischen) Blicks scheint gleichsam eine existenzielle individuelle Befürchtung und Hoffnung zu sein. Nikolaus von Cues thematisiert in seinem um 1453 erschienenen Werk Von Gottes Sehen. De visione Dei den omnipotenten Blick Gottes, der in alle Richtungen und Dimensionen sieht und dessen Perspektive alle menschlichen Potenzen überragen. Nach Nikolaus von Cues ist beim Menschen »der Blick jeweils verschieden […] infolge der Verschiedenheit der ihn einschränkenden Bindung; denn unser Blick folgt organischer und seelischer Beeindruckung.«10 Dies steht konträr zu Gottes »freie[m] und unbedingte[m]«11 Sehen, das von derlei personellen Abhängigkeiten losgelöst ist. In seinem Sehen drückt sich eine unendliche Machtfülle aus, ein alles Bewirken-Können: »Du bist mein Gott, der alles sieht. Und Dein Sehen ist Wirken. Du wirkst also alles.«12 Nach dieser Annahme, kann Gott alle Geheimnisse durchdrin-

8 9 10 11 12

Sontag, Susan: Über Fotografie, Frankfurt am Main 2004 (16. Auflage), S. 11. Filmstill: ANDERE WELT, Regie: C. Pfafferott, Min. 5:01. N. von Cues: Von Gottes Sehen. De visone Dei, S. 58. Vgl. ebd., S. 60 (im Original »Sein« anstatt Sehen). Ebd., S. 65.

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gen. Sein Blick und sein damit verbundenes Wachen und Wirken über den Menschen hat sowohl positive (Schutz, allumfassende Liebe) wie negative Implikationen. Im Glauben an einen Wächter, der all ihre Handlungen verfolgt, richten die gläubigen Individuen in Gewahrsam dieses alles sehenden Blicks ihre Handlungen aus, der sie spätestens im »Jüngsten Gericht« mit ihrem Tun im Diesseits konfrontiert und von ihren Sünden erlösen kann. Einmal vom »Baum der Erkenntnis« gegessen, im Verlangen, sehend zu werden – »[s]obald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott« 13 – ist der Mensch mit dem Wissen von Schuld und Scham bestraft, was seinen Blick ins Diesseits begrenzt. Der allwissende Blick ist nur Gott vorbehalten. Dieses omnipotent wahrgenommene Sehen führt zu irdischer Selbstdisziplin. Ein Verfehlen kann nach christlicher Vorstellung durch ein ›Alles preisgeben‹, ein ›In Alles Einblick gewähren‹ in Form der Beichte an Gottes irdische Vertreter, die Priester, verziehen werden. Foucault bezeichnet diese Vertreter unter anderem als »Pastoralmacht«14, welche sich durch die Wirkung des Christentums verfestigt hat. Die »Pastoralmacht« charakterisiert nach Foucault, dass sie »auf das Seelenheil gerichtet«15 ist. »Sie ist selbstlos […] und individualisierend«16: So soll die Pastoralmacht als »Endziel […] individuelles Seelenheil in der anderen Welt«17 sichern. Dabei kümmert sie »sich nicht nur um die Gemeinde insgesamt, sondern um jedes einzelne Individuum«18. Doch die Pastoralmacht funktioniert nur, wenn sie weiß, »was in den Köpfen der Leute vor sich geht«19. »[S]ie ist mit einer Produktion von Wahrheit verbunden, der Wahrheit des Individuums selbst.« 20 In der modernen Gesellschaft, in der die Macht der Institution Kirche zurückgegangen ist, meint Foucault, dass »man den modernen Staat als eine Individualisierungs-Matrix oder eine neue Form der Pastoralmacht ansehen«21 kann. Das Heil der Individuen soll nun nicht mehr im Jenseits, sondern im Diesseits gesichert werden. Dabei umfassen diese weltlichen Ziele unter anderem »Gesundheit, Wohlergehen (das heißt: ausreichend Mittel, Lebensstandard), Sicherheit, Schutz gegen Unfälle.«22 Die ›neue‹

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Die Bibel, Genesis 2,23-3,21, Freiburg im Breisgau 2009, S. 7. Pastoral von lat. pastor: Hirte. M. Foucault: Warum ich Macht untersuche, S. 169. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 170. Ebd.

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»Pastoralmacht«, die die moderne Gesellschaft durchwirkt, kann »sich auf eine Menge von Institutionen stützen.«23 Diese sind unter anderem staatliche Institutionen, »Privatinititativen«24 oder Dienstleistungsunternehmen.25 Die Individualisierung verläuft in »einer Reihe von Mächten wie der Familie, der Medizin, der Psychiatrie, der Erziehung, der Arbeitgeber usw.« 26 Dabei handelt es sich um »eine zugleich individualisierende und totalisierende Form der Macht« 27 , die Foucault als so mächtig ansieht, dass er appellativ formuliert: »Wir müssen neue Formen der Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen.«28

Abb. 12 (links): Darstellung des »Auge Gottes«29 Abb. 13 (rechts): Panoptischer Grundriss-Entwurf 30 In der Ikonologie der abendländischen Kulturgeschichte existiert das Symbol der Allmacht des all-sehenden Gottes als »Auge Gottes« oder »Auge der Vorhersehung« in Form eines einzelnen Auges, das meist von einem Strahlenkranz und

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M. Foucault: Warum ich Macht untersuche, S. 171. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 168. Ebd., S. 171. Böhme, Jakob: (Bildausschnitt) 1682, Abb. 95, in: Geissmar, Christoph: Das Auge Gottes. Bilder zu Jakob Böhme, Wiesbaden 1993, S. 214, Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (im Originalbesitz), Signatur Ne 293.

30 Poyet, B.: »Plan für einen Spitalbau«, 1786, Abb. 12, in: M. Foucault: Überwachen und Strafen, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlags.

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einem Dreieck umgeben ist. Dieses Dreieck ist unter anderem Symbol für die Trinität des »allmächtigen Gottes« (Vater, Sohn, Heiliger Geist). Das »Auge Gottes«, das auch von den Freimaurern als Symbol der »ewige[n] Wachsamkeit des Baumeisters aller Welten«31 verwendet wird, ist auf vielen kirchlichen und religiösen Darstellungen zu finden. Betrachtet man den Grundriss eines Panopticons (Abb. 13), gleicht dieser in seiner runden Form ebenfalls einem Auge, in dessen Mitte der Nukleus des Wachtturms das Aussehen einer Iris einnimmt, von der Strahlen abgehen. Symbolisch könnte dies dahingehend interpretiert werden, dass Gottes »unbedingtes Sehen« sich auf irdische Funktionen übertragen lässt und hat. Dies ermöglicht eine Parzellierung und damit Individualisierung, die es der säkularen »Pastoralmacht« erleichtert, Einblick in das Leben der Individuen zu erhalten und ihnen vermeintliche ›Heilung‹ zu bringen.

Abb. 14: Symbol für Videoüberwachung der Berliner Verkehrsbetriebe32 Abgewandelt ist ein einzelnes Auge, ähnlich dem »Auge Gottes«, auch als Symbol, etwa an öffentlichen Plätzen, in U-Bahnen33, als ikonischer Hinweis für einen »alles sehenden« Überwachungsblick angebracht, der zugleich sichernd und disziplinierend wirken soll. Der immaterielle Blick Gottes, als gleichsam schützende und furchtsame Aura, wurde also im übertragenen Sinne in der säkularisierten Welt unter anderem von dem disziplinierenden Blick des Videowächters abgelöst, der die Dienstleitungsfunktion einer säkularen »Pastoralmacht« übernommen hat.

31 Das kleine Freimaurer ABC, 27.2.2012, http://www.format.at/articles/1208/525/320164_s2/das-freimaurer-abc (12.10.2014).

32 Symbol für Videoüberwachung der Berliner Verkehrsbetriebe BVG, http://www.ubahnbilder.de/fgi.php (27.10.2014).

33 Siehe Abb. 14.

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Abb. 15: »Gatekeeper«: Panoptischer Wachturm in einer amerikanischen Haftanstalt34

Abb. 16: »Gatekeeper«: Sicherheitsmann vor Überwachungsmonitoren in der Klinik35

34 Strafanstalt von Stateville (USA), 20. Jahrhundert, Abb. 26, in: M. Foucault: Überwachen und Strafen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlags.

35 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 33:19.

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9.2 D ER ERWEITERTE PANOPTISCHE V IDEOÜBERWACHUNGSBLICK Die vorangestellten Bilder veranschaulichen, wie sich die Wächterfunktion vom erhöhten Wachturm in die ebenerdige Sicherheitszentrale tradiert hat, in der nun die Überwachung via Monitore stattfindet. In ähnlicher Sitzposition und Arbeitsumgebung wie der Wachmann bearbeitete übrigens auch der Farbcolorist beim Sender die Bilder des Films. So fand eine weitere Form der ›Über-Wachung‹ durch die Macht des Mediums statt, die weitere BetrachterInnen generiert: Die RezipientInnen, die vor den Fernseh-, Computer- oder Smartphone-Monitoren den Film betrachten und bewerten. Dies macht die immer weiterführende Tradierung und Weiterentwicklung von ›Überwachung‹ in verschiedene Kontexte deutlich und zeigt: Sowohl die Angestellten der Klinik, wie wir, die Film-ErzeugnerInnen, sind dazu befähigt, Bilder zu erzeugen und zu selektieren. Bezeichnend dazu werden beide Institutionen – sowohl die psychiatrische Klinik als auch der Sender (»Sende-Anstalt«) – umgangssprachlich als »Anstalt« bezeichnet. Im Film-Schnitt wurden die Überwachungsbilder der Klinik gleichberechtigt zu den aufgenommenen Filmbildern gesetzt. Durch die visuelle Parität sollte weniger unterscheidbar werden, wer wen kontrolliert, welche Bilder mächtiger sind, um auch unsere Position als »gatekeeper« immer wieder infrage zu stellen. Dabei existiert zwischen Überwachungs- und Filmbild ein eminenter Unterschied: Dass die Überwachungsbilder überhaupt im Film für alle Blicke sichtbar geworden sind, war nur durch unseren erweiterten Kamerablick möglich. So stellten wir eine zweite Kamera in der Sicherheitszentrale auf einem Stativ vor den Monitoren auf und baten das Sicherheitspersonal zu vorher abgesprochenen Zeiten, zu denen die Protagonistinnen durch den Kameraausschnitt liefen, den AufnahmeKnopf zu betätigen. Wir instruierten sie oft über ein Funkgerät, da wir selbst an anderer Position standen, um die Person dort parallel mit unserer Kamera aufzunehmen. Wir machten die WächterInnen in der Sicherheitszentrale so zum verlängerten Arm unseres panoptischen Blicks und potenzierten unser Möglichkeitsfeld qua delegierter Supervision an sie. Wir schufen aus den Video-Einstellungen Darstellungen36, fixierten nicht nur Augenblicke, sondern abgebildete Augenblicke des Klinik-Alltags. Das »Subjekt [wurde] zum Objekt«37 einer Meta-Analyse: Indem wir durch eine exzeptionelle

36 Vgl. u.a. K. Silverman: Dem Blickregime begegnen, S. 43. 37 Barthes, Roland: Die helle Kammer, Frankfurt am Main 1989, S. 21.

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Aufnahme der Überwachungsbilder bereits bei der Abbildung auswählten und später aus der Fülle des aufgenommenen Überwachungsmaterials im Schnitt ein weiteres Mal eine Auswahl tätigten, wurden wir zu ChronistInnen und kurzzeitigen BeherrscherInnen des Überwachungsblicks. Dabei konservierten wir nicht nur das Subjekt und einen Augenblick seines Lebens zum Lebensbild, wir konservierten sogar das Abbild des Subjekts für ein gestalterisches Endprodukt. Unser Blick wirkt damit noch tiefer – und nimmt sich mehr, schafft nach Susan Sontag ein »Memento Mori«, das sogar potenziert ist: »Jede Fotografie ist eine Art memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, dass sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit.«38

Dabei ›dienten‹ uns die Überwachungsbilder teilweise auch als selbstreferenzielles Making-Off, um damit das ständige Überwacht-Werden des Filmteams als potenzielle ›Zensur‹ subtil zu implizieren. Genauso wie Personal und Patientinnen waren wir ebenso in den Überwachungsbildern zu sehen. Dieser ÜberwachungsEindruck wurde dadurch verstärkt, dass wir qua Überwachungsaufnahmen den Blickwinkel der überwachungs-charakteristischen »Vogelperspektive« bedienen konnten. Da die Überwachungskameras meist in oberen, zusammenlaufenden Wandecken installiert sind, entsteht eine Weitwinkel-Perspektive, ein Effekt von »overspatiality«39. Die Form der Vogelperspektive lässt die ProtagonistInnen umso kleiner erscheinen und verdeutlicht, dass ein höher positioniertes Auge ›über ihnen steht‹, sie werden »von der übermächtigen räumlichen Struktur«40, dem »Auge Gottes«, »gefangen gehalten«41. Gleichzeitig wurde die Ebene der Video-Überwachung als implementierter Bestandteil im Film auch zur räumlichen ›Erschließung‹ genutzt:

38 S. Sontag: Über Fotografie, S. 21, Hervorhebung im Original. 39 Mamber, Stephen: Kubrick in Space, in: Kolker, Robert Phillip (Hg.): Stanley Kubrick’s 2001: A SPACE ODYSEEY: New Essays, Oxford u.a. 2006, S. 55-68, hier S. 49, zit. nach: Kappes, Mirjam: Das Labyrinthmotiv im Film. Raum, Erfahrung und Metaphorik in THE SHINING und PAN’S LABYRINTH, in: Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung, Nr. 5, 2013, S. 86-102, hier S. 88. http://www.rabbiteye.de/2013/5/kappes_labyrinthmotiv.pdf (27.10.2014).

40 M. Kappes: Das Labyrinthmotiv im Film, S. 90. 41 Ebd.

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Der panoptische Blick der Überwachung kompensierte den Mangel, dass unser Blick nicht überall hinreichte, wie etwa bei der Totale der Rückseite42 eines Klinik-Gebäudes, die wir mit unserer Kamera aus dieser Perspektive nicht hätten aufnehmen können. Der Hof der Frauenstation wird durch Nahaufnahmen der Personen oder den repetitiven Blick zum verschlossenen Hoftor nur in selektiven Einstellungsgrößen »aufgelöst«43. Ein Orientierung gebendes Bild über den Gesamtbereich erfolgt erst durch eine weite Einstellung der Überwachungskamera (Abb. 10), die somit einen ›Einstellungsmehrwert‹ produziert. Indem den ZuschauerInnen de facto erst durch die Videoüberwachung Orientierung gegeben wird, müssen sie die Überwachungsbilder in ihr Wahrnehmungskonzept integrieren, um Orientierung über die Topografie zu erlangen. Ähnlich verhält sich dies mit den Überwachungsbildern der Kriseninterventionsräume, die erst ein kohärentes Gesamtbild des Raums ergeben. So gesehen werden die BetrachterInnen gezwungenermaßen zum Teil des Überwachungssystems. Damit wird konstitutiv, wie in unserem Fall erst durch System-Assimilation ein mediales Produkt gebildet und rezipiert werden konnte. Und auch für den Film wird ein institutionelles Produkt verwendet, das innerhalb der Bild-Nutzung im gleichen Zug implizit kritisch hinterfragt wird (Ausbeutung der Bilder).

9.3 D IE ›G ESTALTUNG ‹ DES PANOPTISCHEN V IDEOÜBERWACHUNGSBLICKS Die Überwachungsbilder ›dienten‹ ebenso zur emotionalen Affizierung44, indem mit ihnen das Eingeschlossensein auf auditiver wie visueller Ebene herauskristallisiert wurde: Visuell erfolgte dies, indem die Überwachungsbilder wie die übrigen Bilder des Films in der Farbkorrektur im Kontrast verstärkt und entsättigt wurden. Die

42 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 18:18 f. 43 »Auflösung« ist ein filmischer Begriff für die Bildzusammensetzung von einer Person, Situation, eines Ortes. Interessanterweise wird also für eine aufbauende Handlung ein Begriff mit vordergründig dekonstruierendem Sinnzusammenhang verwendet, was den Konstrukt-Charakter jedes Bildes, jeder Szene verdeutlicht.

44 Vgl. Ott, Michaela: Affizierung. Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur, München 2010.

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Nachahmung des so genannten »Bleichbadüberbrückungs-Effekts«45 verstärkt die Anpassung des ›Looks‹ von Überwachungsbild und Filmbild. Zusätzlich wurde ein so genanntes »schwarzes Rauschen«, ein digitaler Filter von schwarzem Korn über die Aufnahmen gelegt, die einen analogen anachronistischen Effekt, einer Super-8-Aufnahme gleich, implizieren sollte. Dadurch erhalten einige der Überwachungsbilder in ihrer Farbgestaltung und perforierten Konsistenz eine fast impressionistische ›Anmutung‹. Das Bild der jungen Frau in der Zelle, die ihren Blick zur Fenster-Lichtquelle richtet (vgl. Kapitel 8.3.), hat ikonische Züge – die Zelle könnte auch Gebets-Zelle sein, ein Bild, das an Foucaults Aussage erinnert: »Die Disziplin […] knüpft […] an ein altes architektonisches und religiöses Verfahren an: die Zelle der Klöster. […] [D]er Raum der Disziplinen [ist] im Grunde immer zellenförmig.«46 Das Überwachungsbild wurde also ›stilisiert‹, um emotional zu affizieren – das technische Bild wurde zum Gefühls-Transmitter. Die Informationen des Überwachungsbilds, die ohne analysierenden Blick nur mehr visuelle Pixel sind, beinhalten qua filmischer Kontext-Setzung eine Botschaft – aus Beobachtung wird eine Beobachtung von Einsamkeit, Freiheitsdrang, Melancholie, je nachdem, wie die BetrachterInnen das Bild interpretieren. Der Signifikant 47 ›Überwachung‹ wird zum Signifikat ›Überwachung einer einsamen Frau‹. Kontrastierend zu dieser Emotionalisierung steht die technische typografische Insignie auf dem Überwachungsbild, die das jeweilige Bild in der Menge der Klinik-Kameras ihrer Kamera (ihrem ›Blickursprung‹) zuordnet. Das Bild erhält durch die technische Insignierung eine Form der ›Bildüberschrift‹, die nur durch »Expertenwissen« entziffert werden kann. Absichtlich haben wir die Codes als leere Information, als Symbol eines abstrakten Zahlenwerts, eines weiteren panoptischen Blicks, dem der Datenerfassung, im Bild stehen lassen und diese etwa nicht durch eine engere Abfilmung des Monitor-Ausschnitts eliminiert. Wir wollten so auch Authentizität belegen – die Schriftzeichen als implizite Aussage: Dies ist ein ›echtes Bild‹.

45 Bleichbadüberbrückung bedeutet, dass man in der Filmentwicklung das sogenannte Bleichbad auslässt und so im Bild die Kontraste erhöht und die Farben entsättigt werden. Dies kann sowohl in der analogen Entwicklung und ähnlich (jedoch nicht mit identischem Effekt) in der digitalen Nachbearbeitung (Farbkorrektur) erzielt werden. 46 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 184. 47 Vgl. u.a. Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, Münster 2000, S. 31 ff.

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Abb. 17: Überwachungsbild mit ›Insignie‹48 Auf akkustischer Ebene verstärken die Überwachungsaufnahmen als gestalterisches Stilmittel die Dynamik des Montage-Rhythmus, indem beim Umschnitt von Filmbild auf Überwachungsbild auf auditiver Ebene meist eine eruptive Stille einsetzt. Im Sounddesign haben wir einen Begriff für diese Stille kreiert, die wir als Wiederholungston unter die meisten Überwachungsbilder gelegt haben und die im Wechsel von lauter Atmosphäre und Stille die Aufmerksamkeit erhöhen sollte. Die Tondatei nannten wir »der stille Raum« oder »der tote Raum«. Der Ton oder »die Atmo«, wie es im Film-Jargon für eine Tonfläche heißt, ist eine Art »weißes Rauschen«, es sind Schwingungen einer auf das akustische Minimum reduzierten Geräuschebene eines Maschinenraums. Eine Tonkonserve, die aus einem AudioArchiv verwendet wurde, um damit eine ›Gewalt der Stille‹ zu kreieren: Gewalt auch deswegen, weil sie den Betrachter gewaltvoll physisch affizieren sollte. »Der tote Raum« war angelehnt an den Begriff »schalltoter Raum«, der den »(schall)-reflexionsarmen« Raum meint, ein absolut stiller Raum, dessen Oberflächen so angebracht sind, dass kein Schall entsteht. Menschen halten es nicht länger als etwa 45 Minuten in diesem Raum aus, da sie sich in ihrer Bewegung akustisch orientieren. 49 Der Raum erzeugt »sensorische Deprivation«, das eigene, empfundene Blutrauschen wird unter anderem immer lauter. Ohne akustischen Anhaltspunkt »drohen nach wenigen Stunden psychotische Reaktionen (wie bei

48 Filmstill ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 5:37. 49 Vgl. kami (Kürzel): Die verstörende Wirkung des stillsten Ortes der Welt, 14.4.2012, http://www.welt.de/vermischtes/kurioses/article106185009/Die-verstoerendeWirkung-des-stillsten-Ortes-der-Welt.html (12.10.2014).

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einer Geisteskrankheit), Desorientierung und Verwirrtheit.« 50 »Im schalltoten Raum wird man selbst zum Geräusch.«51 Gewaltig still ist es um die Patientinnen im Kriseninterventionsraum. Dort gibt es drei in die Wand eingelassene Knöpfe: zwei, mit denen sie dem »stillen Raum« entfliehen können – »Musik«, »Ruf« – und einen, der diesen wiederherstellt – »Ende«. Mit der Gestaltung sollte subtil intendiert werden: In diesem Raum kann man ›verrückt werden‹. Doch die völlig stille Empfindung war nur eine imaginierte, da die Protagonistinnen etwa das Fenster ›auf Kipp‹ stellen konnten oder auch sonst mehr Laute aus dem Außen vernahmen, so dass sie sich nicht in einer »schalltoten«, sondern »schallarmen« Situation befanden, die absichtlich so reizarm für ihre geistige Gesundung gebildet worden war. Gleichzeitig hatten diese stillen Überwachungs-Bilder auch die Funktion einer Leer- und Reflexions-Stelle im Film, »jenes für das Affekt-Bild charakteristische Dazwischen. Die narrative Eröffnung eines unbestimmten Raums, die Wahrnehmung und Handeln auseinandertreten lässt, ihre Trennung und Verwiesenheit zugleich performiert und eben darin etwas Bedenkenswertes aufscheinen lässt.«52

Die Leerstellen sollten Zugang zu einem Gedankenraum, einer filmischen »Heterotopie« öffnen. Der »stille Raum« ist jedoch nicht konsequent zu den Überwachungsbildern eingesetzt. Dies konstituiert sich vor allem in den Überwachungsbildern, die mit einem wiederkehrenden musikalischen Melodie-Motiv des Films unterlegt waren, womit die Bilder auf diese Weise zu einer Bilderfolge verwebt werden. In anderen Szenen wird das Überwachungsbild als ›Schnittbild‹ genutzt, wobei der parallel zum Filmbild aufgenommene Original-Ton weiterlief. 53 Angelehnt war dies an die Tradition wie etwa in Jean-Luc Godards À BOUT DE SOUFFLE (1960), in dem er die Szene in »Jump Cuts« schneidet, den Ton aber unter den

50 Faust, Volker: Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang, http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/hoeren.html (18.10.2014).

51 Zit. nach: Orfield, Steven, in: kami (Kürzel): Die verstörende Wirkung des stillsten Ortes der Welt.

52 M. Ott: Affizierung, S. 376 (Ott bezieht sich hier konkret auf den Film »TERRE ET CENDRES / ERDE UND ASCHE

von Atiq Rahimi, Afghanistan 2004).

53 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 53:11 f.

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Schnitten homogen laufen lässt. Bild-Sprung und Ton-Lauf machen in unserem Fall die immerwährende Gleichzeitigkeit des omnipräsenten Überwachungsblicks deutlich. Beispielhaft ist dieses Stilmittel während des Gesprächs zwischen der Patientin Frau W. und der Pflegerin Frau H. gewählt worden, in dessen Verlauf plötzlich in eine Überwachungsebene geschnitten wird. Dieser Schnitt ruft eruptiv ins Gedächtnis, dass auch diese persönliche und höchst emotional aufgeladene Situation unter Beobachtung steht. Genauso war dies eine geeignete Möglichkeit, das Interview, dass im »Direct Cinema«-Stil (Kapitel 13.1) per Handkamera in einer langen Einstellung gedreht worden war, mit diesem ›Schnittbild‹ zu kürzen. Das Bild-Konzept des Films sah vor, die Begebenheiten möglichst als sogenannte »Plansequenzen« in einer einzigen Einstellung zu drehen, um den Personen die Möglichkeit zu geben, in den Szenen ihre Persönlichkeit zu entfalten ohne von den FilmherstellerInnen ›beschnitten‹ zu werden. Gleichzeitig sollte dies ein Gefühl von Authentizität vermitteln. Auch die ZuschauerInnen wurden nicht in dem ›begrenzt‹, was sie sahen. Dabei war es auch beabsichtigt, die Momente auszuhalten, in denen sich die Personen in Sinn oder Worten verheddern. Beispielhaft ist die Szene im Hof, in der Frau W. von ihrer Macht gegenüber dem Personal spricht. Sie wiederholt sich, geht ins Detail. Bei Vorführungen werden manche ZuschauerInnen in diesem Moment unruhig. Da die Szene nicht in verschiedene Einstellungsgrößen »aufgelöst« ist (wie etwa durch Naheinstellung ihrer Hände beim Zigaretten-Stopfen), bot das Konzept keine Möglichkeit, den Inhalt auf eine etwaige ›Essenz‹ zu verkürzen. Wenn eine Szene so ›ausuferte‹, dass sie den Film schier zu sprengen schien, wurde dies durch einen »Jump-Cut« oder den besagten Sprung in die Überwachungsperspektive gelöst. Insofern ›diente‹ das Überwachungsbild einer weiteren Funktion, der ›der Zeitverkürzung‹ und narrativen Raffung, der filmischen Gestaltung. Die Erlaubnis zur ›Nutzung des Überwachten‹ wurde uns jedoch nur gegeben, weil die Klinik sich vorbehielt, unseren Film ›gegenzusehen‹ (Kapitel 12.1), bevor er an die Augen der Öffentlichkeit gelangen dürfe. Unsere ›Überwachungsbilder‹ waren damit wiederum einem ›Überwachungsblick‹ ausgesetzt. Das »Blickregime« potenzierte sich auf mehreren Ebenen. An diesem Beispiel wird deutlich, wie mannigfaltig innerhalb der gesamten Filmproduktion Macht verteilt, gelebt und bewegt wurde und konkretisiert zugleich das Bild Foucaults, der Überwachung als ein »Beziehungsnetz«54 beschreibt. Dieses wirkt

54 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 228.

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»von oben nach unten und bis zu einem gewissen Grade auch von unten nach oben und nach den Seiten. Dieses Netz ›hält‹ das Ganze und durchsetzt es mit Machtwirkungen, die sich gegenseitig stützen: pausenlos überwachte Überwacher.«55

9.4 D ER

PANOPTISCHE

D OKUMENTATIONSBLICK

Foucault erschien die Architektur des Panopticons deswegen so bedeutend, »weil sie die Macht automatisiert und entindividualisiert.«56 Er schien vorauszusehen, dass sich Macht immer weiter weg von menschlichen Subjekten zu Apparaten entwickeln sollte: »Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzertierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken«57. Doch selbst Videoüberwachung kann Raum und Handlungen nicht total erfassen, es bleiben stets Schlupfwinkel von unerfasstem Blickfeld. Der panoptische Dokumentations-Blick hingegen geht weiter, denn dieser hat ein Gedächtnis, das das Individuum nicht nur im Jetzt, sondern auch in der Vergangenheit erfasst und vom gegenwärtigen Verhalten auf zukünftiges schließen lässt. Anhand dieses Gedächtnisses ist es möglich, sich Einblick in die Köpfe der Individuen zu verschaffen, denn »je anonymer und funktioneller die Macht wird, umso mehr werden die dieser Macht Unterworfenen individualisiert«58. Diese umfassende, durch technische Daten-Erfassung perfektionierte, panoptische Disziplinarform, der Zugriff des Disziplinarsystems auf das Subjekt und seinen Körper, wird gleich in der ›Eingangs‹-Szene des Films beim Eintritt der Pflegerin in die Klinik-»Heterotopie« deutlich. Bevor die Angestellten die Institution betreten dürfen, müssen sie eine (wie es Foucault als kennzeichnend für »Heterotopien« definiert) ›Eintrittsprüfung‹ durchlaufen. Die in der ›Eingangs‹Szene dargestellte ›Scannung‹ des Individuums in der ›Personal-Schleuse‹ dient dem Zweck der Sicherheit: Keine anderen Angestellten als die vom System Erfassten dürfen Ein- und Ausschleusung erfahren. So sollen Fluchtversuche der PatientInnen verhindert werden. Das System trifft jedoch auch Sicherheitsvorkehrungen, die dem Personal selbst eine etwaige Fluchtbeihilfe schwer machen.59 Der

55 56 57 58 59

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 228. Ebd., S. 259. Ebd. Ebd., S. 248. Die konkrete Maßnahme kann aus Sicherheitsvorkehrungen nicht beschrieben werden.

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Daseinsgrund des Schleusen-Apparates ist also auch Misstrauen gegenüber sämtlichen Individuen. Auf traditionelle Dramentheorien wie die »Heldenreise«60 übertragen, in der der Held oder die Heldin meist eine »Schwellenprüfung«61 bestehen muss, die sie nach erfolgreichem Bestehen in die »andere Welt« schleust, müssen auch die Angestellten eine Prüfung in Form einer Art ›Zirkeltraining‹ in dem Zwischenraum von Klinik und Außenwelt bestehen: Sie lassen ihren Fingerabdruck auf einem Feld an einer ›Wachsäule‹ scannen, dann legen sie einen elektronischen Schlüssel auf. Werden Finger und Schlüssel »erkannt«, öffnet sich die erste Schleuse.62 Im Inneren des Schleusenraums wird mit dem Einloggen ins System der Beginn ihrer Arbeitszeit vermerkt. Somit ist in den Sicherheitsvorkehrungen, dem dargestellten Prozess der Identitäts-Prüfung, auch die zeitliche Arbeitskontrolle des Personals integriert. Wie von den Patientinnen werden auf diese Weise auch von ihnen Zeitund Raumkoordinaten erhoben (zu welchem Zeitpunkt haben sie den Ort verlassen, wann betreten?). Für die Dauer einer Schicht bewegt sich das Individuum in einem fixierten Zeit-Rahmen, seine Mobilmachung, sein Arbeitsumfang wird dokumentiert, sein Dasein wird zum »Memento Mori«. So ist das Individuum im übertragenen Sinne ebenfalls ein ›Gefangenes‹ der Institution, gefangen in seinen Merkmalen, durch die es in- und exkludiert wird, gefangen in der Zeittaktung, die eine Überprüfung und eine etwaige Exklusion bei »Fehl-Zeit« möglich macht. Ebenso stattet sich das Personal im Schleusenraum, wie im Film zu sehen, auch für seine Sicherheit aus: So nehmen sich die Angestellten aus einer Halterung ein PNG, ein »Personen-Notruf-Gerät«, das unter anderem im Notfall Alarm geben würde. Sie rüsten sich für den Einsatz in der »anderen Welt« aus. Zuletzt treten sie vor den Computer-Monitor, einen manifest gewordenen »gatekeeper« (»Torwärter«), der die letzte Prüfung darstellt. Wieder legt die Pflegerin ihre elektronischen Erkennungs-Schlüssel auf und blickt auf den Monitor; ein hoher Pfeifton erklingt und eine entkörperlichte technische Frauenstimme63: spricht:

60 Vgl. u.a. Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten, Berlin 2011, S. 42 ff. 61 Ausdruck aus der Dramentheorie; innerhalb der Heldenreise muss der Held verschiedene Prüfungen absolvieren und dabei so genannte »Schwellenwächter« besiegen. Vgl. J. Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, S. 91, Campbell benutzt hier konkret den Begriff »Torhüter«.

62 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, erste Szene. 63 Vgl. etwa: »Die Tonhöhe des Grundtons der menschlichen Stimme liegt für die männliche bei etwa 125 Hz, für die weibliche bei etwa 250 Hz. Ursache der Unterschiede ist die unterschiedliche Größe des Kehlkopfs und damit der Länge der Stimmlippen.«

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Die Pflegerin verringert ihre Distanz zum Monitor, schaut dem Apparat ›tiefer‹ in das eine blaue Auge. Durch »die Rechnungsteilresultate im Gedächtnis einer Maschine«65 wird die Iris des Personals decodiert. Von den Angestellten wird eine Form der »Körperdisziplin«66 gefordert, denn der Blick und die Körperhaltung müssen einer exakten Bestimmung folgen, damit das Individuum vom technisierten Apparat »erkannt« wird und sich die zweite Schleuse ins Innen öffnet. Die Identität eines jeden Subjekts, das in der Klinik arbeitet, ist im ›großen blauen Auge‹ gespeichert; evident wird hier, dass »die Disziplinarmacht […] sich unsichtbar macht, während sie den von ihr Unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt.«67 Die Stimme wiederholt: Đ%LWWH VFKDXHQ 6LH DXI GDV EODXH /LFKW 3DXVH  6LH ZXUGHQ HUIROJUHLFK HU NDQQWď

Ein hoher Pfeifton erklingt, anstelle des blauen Lichts erscheint nun das Wort »accept« auf dem Monitor, verschriftlicht die mündliche Anerkennung in englischer Aktiv-Form. Die Schleusentür öffnet sich, die Schwelle darf überschritten werden. Absichtlich wurde von den verschiedenen Aufnahmen (die Pflegerin wurde noch weitere Male in der Schleuse beim Ein- und Austreten, aufgelöst in verschiedenen Einstellungsgrößen gefilmt) für die Anfangssequenz eine Steadycam-Fahrt ausgewählt, die den langen automatisierten Prozess in einer einzigen Einstellung zeigt und die Prozedur ohne unterbrechende Filmschnitte einsehbar werden lässt. Diese spezifische Szene exzeptionell an den Anfang des Films zu setzen, begründete sich auch darin, dass der Pflegerin hier zuerst der Eintritt verweigert wird: Denn mit der Verneinung des Apparats ereignet sich in dieser »Plansequenz« erstmalig eine Irritation, eine Verzögerung, ein kurzer Wendepunkt im Erzählverlauf. Eine Disruption, die auch die Aufmerksamkeit der BetrachterInnen

Celikkol, Meryem: Frauen- und Männerstimmen in Medien, Moderatorinnen und Moderatoren in Rundfunk und Fernsehen, 19.10.20122, S. 269, abrufbar unter http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/22955 (12.10.2014).

64 65 66 67

ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 0:40 f. M. Foucault: Andere Räume, S. 36. M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 141. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 241.

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steigert und den Blickfokus verengt. Dieser Moment macht signifikant: Die Pflegerin erhält erst dann Zutritt, als sie sich mit dem Apparat stärker assimiliert, sich vollständig einer determinierten ›Erwartungshaltung‹ unterwirft. Das Prinzip der Ein- und Ausschließung, dem sich die Pflegerinnen wie die Patientinnen im übertragenen wie konkreten Sinne unterordnen müssen, wird in dieser Szene konstitutiv und kristallisiert heraus: Nur explizit »erkannte« und von einem bestimmten Normierungsprinzip ›anerkannte‹, ›akzeptierte‹ Individuen erhalten Zugang in diese Welt und die »Erkannten« erhalten zudem keinen selbstverständlichen. Sie unterliegen diskursiven Zuschreibungen, Festlegungen, »Prozeduren der Ausschließung«68 und erfahren nur durch normiertes angepasstes Verhalten In- oder Exklusion. Eine minimale Abweichung und sie werden verkannt. Wie die Pflegerin vor den Apparat tritt und an diesem Morgen nicht »erkannt« wird, mutet dies kafkaesk an – so wie Gregor Samsa eines Morgens aufwachte und ein Käfer war.69 Was wäre, wenn der Apparat die Pflegerin einfach nicht mehr hineinließe, sie zur Ausgeschlossenen werden würde, weil ihr die ›Schwellenwächterin‹ eines Tages ihre Kündigung ausspricht: »Sie wurden leider nicht erkannt. Bitte kommen Sie nicht mehr näher« – eine minimale Umprogrammierung im Satzgefüge würde genügen. Oder viel schlimmer noch, dass sie sie nicht mehr hinausließe, müssen sich die Angestellten doch auch beim Verlassen der Schleuse vor den Monitor stellen: »Sie wurden leider nicht erkannt, bitte kommen Sie noch einmal später«. Warum vertraut das Personal anscheinend dem System so sehr, warum erwartet es apriori ein stets zuverlässiges Entscheiden und fürchtet keine der vermeintlich arbiträren Justiz-Entscheidungen, von denen die Patientinnen sprechen? Als ließe sich ausschließen, dass sie eines Tages selbst nicht mehr als gesund und rechtmäßig gelten, dass sie in einem Albtraum wie Kafkas Protagonisten gefangen bleiben: »Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.«70 In der Blickfeld-Verengung der Pflegerinnen im Film auf den blauen zentrieren Punkt kristallisiert sich die konkreteste Form des panoptischen Blicks heraus. Der Blick des Wächters konzentriert sich in einem blauen Punkt von etwa einem Zentimeter Durchmesser, der zum Nukleus der Macht mutiert. Separiert von einem unsichtbaren Körper ist es die künstliche Stimme, die das Personal in eine bestimmte Position zwingt, dessen Bewegungen steuert und indiskret eine Über-

68 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1991, S. 11, Hervorhebung im Original.

69 Vgl. Kafka, Franz: Die Verwandlung, Stuttgart 2012, S. 5. 70 Kafka, Franz: Der Proceß, Stuttgart 1995. S. 7.

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schreitung des von der Pflegerin gewählten Sicherheitsabstandes fordert. Im Gegensatz zu der Patientin Frau D., die Abstand zum Stationsleiter halten soll (»Können Sie bitte mal zurücktreten!«71), soll die Pflegerin den Sicherheitsabstand verringern. Darin liegt jedoch kein emotiver Annäherungsakt, sondern gleichwohl eine Zurückweisung: Wenn du nicht machst, was ich höflich befehle, erkenne ich dich nicht. Bei den Pflegerinnen hat ihre meist etwas kleinere Körperstatur zur Folge, dass sie ihr Gesicht zum blauen Licht, dem Monitor, diagonal aufrichten müssen. Durch die bauliche Konstruktion erhält ihr Augenaufschlag etwas genuin Devotes. Der ›Macht‹-Apparat zwingt zur physischen Unterwerfung. Die maschinelle Bewacherin, deren inhumane Stimme die erste überhaupt ist, die im im Film zu hören ist, macht die Wächterinnen zu Marionetten, an deren unsichtbaren Fäden qua technischem Gedächtnis und technisierter Stimme gezogen werden. Signifikant ist dabei auch die Sprache des Apparats: Dieser ist höflich, nutzt das Wort »Bitte« und die Höflichkeits-Anrede »Sie«. Wird das Individuum »erkannt«, vom technischen Blick als korrekt erfasst, wird dies durch das Adjektiv »erfolgreich« bewertet: »Sie wurden erfolgreich erkannt«. Die SatzKonstruktion enthält eine doppelte Bejahung, ein Hendiadyoin, da dem Verb »erkennen« das Adjektiv »erfolgreich« bereits inhärent ist – »erfolglos« wären sie einfach »unerkannt«. Die adjektivische Herausstellung stellt jedoch eine Wertschätzung dar. Das Individuum hat eines der wichtigsten Kriterien der Leistungsgesellschaft erbracht – Erfolg. Es ist (an)erkannt im Disziplinarsystem, Teil der Klinik-Gemeinschaft, Member of Community. Der Feststellung folgt durch Öffnung der Schleuse eine direkte ›Belohnung‹: Das Individuum tritt in die Welt ein – und leistet Arbeitskraft. Gegenteilig wird Nichterkennung nicht etwa durch das konträre Adjektiv »erfolglos« kommentiert; die Maschine fügt an dieser Stelle das Adverb »leider« ein (»Sie wurden leider nicht erkannt«), wodurch sich eine Form emotionalen Bedauerns äußert. Das Adverb verleiht der technisierten Wächterin demnach Charakter. Wie etwa beim Bordcomputer »MU/TH/UR« im Film ALIEN (1979), der (bzw. die72) zu den InsassInnen in der Raumschiff-Heterotopie auf scheinbar persönliche Weise spricht, wird durch das »leider« eine fast verbindliche Konnexion zwischen Betrachterin und Betrachteten hergestellt. Desweiteren suggeriert die Enttäuschung über die »Leider-nicht-Erkennung«, dass das Betreten der Klinik ein begehrenswertes Ziel sei. Das sofortige ein- oder nicht-einsetzende Erfolgs-Feed-

71 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 26:27. 72 Auch diese Stimme bewegt sich nach eigenem Ermessen etwa beim technisierten Grundton von 250 Hz. (vgl. Fußnote 63).

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back erinnert an jene Form automatisiert reagierender Tür-Öffnungen durch Bankkarten, elektronische Ausweise, Magnetkarten oder Schlüssel, die den Alltag jedes Individuums durchdringen. Die Individuen dürfen ihre Schlüsselposition erst einnehmen, wenn sie durch algorithmische Datenerfassung Registrierte sind. Direkt nach dem Austreten der Pflegerinnen aus der Schleuse wird im Film in eine Videoüberwachungs-Einstellung geschnitten, womit herausgestellt wird, dass das Personal im Auge eines ›höheren‹ Betrachters liegt. Zu beachten ist dabei, dass das Filmteam ganz zu Beginn der Szene bereits eine privilegierte Stellung einnimmt: Es filmt im Schleusenraum, während die Pflegerin noch ›außen vor‹ ist. Der Prüfungsprozess, den wir selbst durchlaufen mussten, um in die Klinik zu gelangen, wurde in den Film nicht aufgenommen. Mit dem bewussten Filmanfang und seinem Bezug auf die Pflegerin sollte ein deutlicher Fokus gesetzt werden: Um die Pflegerin geht es, sie ist diejenige, die den BetrachterInnen im wahrsten Sinne des Wortes den Zugang zur »anderen Welt« aufschließt. Damit wird auch ein filmisches Leitmotiv eingeführt. Fortan wird die Schleuse als inhaltliche Einführung für jede der drei Pflegerinnen genutzt, die im Film eine tragende Position einnehmen. Das Motiv des exklusiven Eintritts, die maschinelle Wiederholung, der sich das Personal Tag für Tag unterziehen muss, wird so herausgestellt. Dabei wirft die Eingangsszene Fragen auf: Wodurch ist die Erkennung erfolgreich? Wer entscheidet das genau? Warum ist das Licht blau? Warum nicht grün oder pink? Das Adjektiv attributiert nicht mehr wirklich das Nomen, »das blaue Licht« wird zum Eigenbegriff, zum Syntagma. Die »Macht der Gewohnheit«, das tagtägliche Ein- und Ausschleusen lässt den Vorgang bei den Angestellten zum verinnerlichten Prozess werden, der sich in das sensomotorische Gedächtnis der Angestellten prägt. Das Personal wäre vermutlich irritiert, wenn das Licht eines Morgens andersfarbig wäre, und vielleicht auch erst dann, wenn die Stimme das so benennen würde – »Bitte schauen Sie in das rote Licht« – eine Männer- oder Kinderstimme (Tonhöhe 440 Hz) oder eventuell sogar die Stimme des Klinikdirektors selbst zu ihnen sprechen würde. In dem Film MATRIX aus dem Jahr 1999 muss der Held der Geschichte, Neo, auch einem »Erkennungs«-Imperativ entsprechen, um in die ›andere Welt‹ zu gelangen. Er sucht Rat beim sogenannten »Orakel«, einer älteren Seherin, über deren Tür, einer direkten ›Schwellenprüfung‹ gleich, der Spruch 73 »Temet Nosce« – »Erkenne Dich selbst« steht (tatsächlich eines der drei »delphischen Sprüche«74

73 MATRIX, R: The Wachowski Brothers, USA 1999, Min. 71:12. 74 Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt am Main 2004, S. 18.

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des »Orakel in Delphi«). Neo schaut dieses Motiv zunächst verständnislos an, erst als er es verinnerlicht, sich selbst ›erkennt‹, erreicht er überdimensionierte Kräfte und kann seine Feinde besiegen. Im »Erkenne dich selbst«75 sieht Foucault als Ablösung der antiken »Sorge um sich selbst«, bei der »man seinen Blick von außen, den anderen, der Welt usf. weg und auf ›sich selbst‹ wenden muss«76 jedoch auch ein neuzeitliches Diktum: Im imperativ formulierten »Erkenne dich selbst« ist das Subjekt sich selbst nicht genug, das Erreichen von Erkenntnis wird in einen Zusammenhang des »Herausarbeiten seiner selbst«77 gestellt: »[S]o wie es ist, [ist es] der Wahrheit nicht fähig«78, die Wahrheit jedoch ist, »so wie sie ist, das Subjekt zu läutern und zu retten fähig«79. So gesehen befördert das »Erkenne dich selbst« in der säkularisierten Welt unter anderem als Erbe der kirchlichen Pastoralmacht Individualisierungsprozesse, die schließlich Macht konstituierend sind. Das Subjekt muss sich seine Erkenntnis erst ›verdienen‹. Und dies liegt umso mehr in seiner Verantwortung. In diesem Sinne läge im Verzicht auf Fremd- wie auf ›Selbsterkenntnis‹ auch eine Form von Befreiung. Die Pflegerin könnte sich entscheiden zu gehen, als der Apparat sie nicht erkennt, doch selbstverständlich, wie ›fremdgesteuert‹, folgt sie ihrer Bitte, tritt ihr näher, um »erkannt« zu werden und sich nun im konkreten Sinne in Gefangenschaft begeben zu dürfen.

Abb. 18: »Bitte kommen Sie etwas näher, Sie wurden leider nicht erkannt«: Pflegerin im blauen Licht80

75 76 77 78 79 80

M. Foucault: Hermeneutik des Subjekts, S. 19 ff. Ebd., S. 27. Ebd., S. 33. Ebd., S. 37. Ebd. Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 0:53.

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9.5 D ER EXTENSIVIERTE PANOPTISCHE D OKUMENTATIONSBLICK »Die panoptische Straf- und Besserungsanstalt ist […] ein lückenloses individualisierendes Dokumentationssystem« 81 , in dem Wissen angesammelt wird. 82 Da durch die »Besserung« als explizitem Gesetzesauftrag in einer Klinik für Forensische Psychiatrie die PatientInnen aufgrund der Straftat und der psychischen Erkrankung als zu Bessernde gesehen werden, erfolgt hier die Akkumulation von klinischem Wissen qua panoptischem Dokumentationsblick in extensivierter Form: Das Agieren der PatientInnen wird festgeschrieben in schriftlichen Dokumenten, die schließlich zur Akte, zum Archivmaterial werden. Durch diese »›Schriftmacht‹«83 wird das Leben der PatientInnen archiviert. Die Betrachtung des Individuums exemplifiziert sich etwa im »Ritual der Visite«84, die, so Foucault, »den Kranken in eine fast ununterbrochene Überprüfungssituation versetzt.«85 So wird etwa die Patientin Frau D. mehrmals täglich einer Gewichtsprüfung unterzogen. Variiert das Gewicht zwischen dem Morgen und Abend zu sehr, werden Rückschlüsse auf eine zu hohe Trinkzufuhr vollzogen. Die »Ein- und Ausfuhr« ihrer Flüssigkeit wird kontrolliert, damit sie die Psychopharmaka nicht durch übermäßigen Wasserkonsum wieder »ausschwemmt«.86 Die Digitalanzeige der Waage gibt einen Normbereich an, in dem sie sich ›bewegen‹ darf. Die Indikation, Einnahme und Dosierung von Medikamenten wird genau überprüft.

Abb. 19: Patientin bei der Gewichtskontrolle87

81 82 83 84 85 86 87

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 321. Vgl. ebd., S. 322. Ebd., S. 244. Ebd., S. 239. Ebd. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 27:23. Filmstill: ANDERE WELT. R: C. Pfafferott, Min. 25:35.

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Die Biografie der PatientInnen ist bereits vor Eintritt in die Klinik innerhalb des sogenannten »Erkenntnisverfahrens«90 von einem Gutachter / einer Gutachterin bewertet worden und wird während des Aufenthalts anschließend weiter diversifiziert – Essen, Schlafen, Rauchen, Sprechen, Lachen, Weinen – ihr Verhalten wird umfassend dokumentiert. Es entsteht der Eindruck: In diesem intensiven Ausmaß der Erfassung könnte man im System, zieht man eine Parallele zur Diagnostizierung der PatientInnen, Züge von »Zwang« und »Paranoia« erkennen.

88 Steht in folgenden Film-Dialogen als Kürzel für die Autorin Christa Pfafferott. 89 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 25:25 f. 90 Vgl. Fußnote 39 in Kapitel 5. Bezeichnend auch hier die sprachliche Analogie zum »Erkannt werden« der Pflegerin im Schleusenraum.

10. »Delinquenz«

Die Kontrolle der Patientinnen, die Bewertung ihrer Handlungen als abweichend oder »angemessen«, verdichtet sich unter anderem in den sogenannten »Übergaben«. Das sind Teamgespräche, in denen das in einer Arbeitsschicht im Computer dokumentierte Verhalten der PatientInnen dem ablösenden Schicht-Personal als Information mündlich »übergeben« wird, so dass sich das Personal ein Bild vom Zustand der Patientin machen kann, bevor es die Schicht antritt. Đ)UDX'>đ@'LHPHLVWH=HLWNODUUHFKWJHRUGQHWPXVVKLQXQGZLHGHUDQ NOHLQH$EVSUDFKHQHULQQHUWZHUGHQDEHUDQVRQVWHQLVWVLHDQJHPHVVHQLP .RQWDNWď

Ausdrücke aus dem Therapie-Vokabular wie »angemessen im Kontakt« objektivieren das Verhalten der PatientInnen, sie gelten als nicht »absprachefähig« oder »gut zu begrenzen«. Damit wird ihr Handeln aus einer allgemeinen Vorstellung von Verhalten abgeleitet, zu einer allgemeineren Begrifflichkeit deduziert. Die extensive Anwendung einer Fachsprache, die sich immer wieder ihrer Existenz versichert, erzeugt im medizinischen Kontext »Expertenmacht«. Im Laufe des Films fallen Vokabeln wie »SOAS Bogen«, »Verfahrensplan«, »PNG«, die nicht näher erläutert werden, sondern die Zugangsbarrieren zur »anderen Welt«, mit all ihren sprachlichen Codes, exemplifizieren. Die Therapiesprache,

1 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 43:33 f.

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die auch die PatientInnen in ihrem Vokabular verinnerlichen (›System-Assimilation‹), kreiert so eine eigene verbale Ordnung2 und Gesetzmäßigkeit, eine sprachliche »Heterotopie«, eine Art ›Gruppenslang‹, zu der sich Fremde nicht sofort Zugang verschaffen können. Durch die Dokumentation und die Möglichkeit des immerwährenden Erinnerns soll menschliche Fehlleistung weitgehend ausgeschlossen oder rückblickend nachvollzogen werden. Damit geht eine Form der Fixierung auf das vollzogene Sprechen und Agieren der PatientInnen einher. Es kam der Eindruck auf: So wie man über Patientinnen redet, so formt man Realität. Das Sprechverhalten wurde jedoch auch durch den Einfluss der Kamera geprägt. Durch uns nutzten die PflegerInnen bei den »Übergaben« Abkürzungen. Das Namenskürzel der Patientin verwendet die Pflegerin anstelle ihres vollen Namens nur, da sie proaktiv die Anonymität der Patientin im Film schützen wollte. Dadurch wirkten die Patientinnen für ZuschauerInnen jedoch noch deutlicher durch das Personal zum ›Subjekt objektiviert‹. Das Medium der Kamera prägte das ›Sprechen über die Patientinnen‹ und die Wahrnehmung davon also mit. Die PatientInnen werden, so vom Rechts- und Medizin-System erfasst, zur psychopathologisch definierten Kasuistik. »Die Prüfung macht mit Hilfe ihrer Dokumentationstechniken aus jedem Individuum einen ›Fall‹: Einen Fall, der sowohl Gegenstand für eine Erkenntnis wie auch Zielscheibe für eine Macht ist.«3 Das Sprechen produziert einen neuen Menschen, Foucault nennt ihn den »Delinquenten«: Der Begriff des Delinquenten wird in Überwachen und Strafen neu typologisiert. Foucault meint damit in erster Linie nicht das straffällige Individuum, was die Übersetzung aus dem lateinischen Ursprung ergibt und so auch in der kriminologischen Fachsprache verwendet wird. Stattdessen wird die »Delinquenz« bezeichnenderweise – betrachtet man den »Erkennungs«-Mechanismus aus dem Schleusenraum – als »Erkenntnisgegenstand«4 verstanden: Als das, was die Institution mit ihren ganz eigenen Regeln, Zugehörigkeiten und zuvor dargestellten

2

Vgl. »ein Gefüge sprachlicher Aussagen, eine Ordnung des Ausdrucks«, Lazzarato, Maurizio: Kampf Ereignis Medien, 05.2003, http://eipcp.net/transversal/1003/lazzarato /de/print (8.10.2014).

3 4

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 246, Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., S. 357.

10. »D ELINQUENZ «

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Sprach- und Verhaltenscodes zum »›Bau‹«5, zum »Gefängnis im Gefängnis«6 mit einem »›andere[n] Volk innerhalb desselben Volkes‹«7 macht: »Diese andere Person, die der Straf- und Besserungsapparat dem verurteilten Rechtsbrecher unterschiebt, ist der Delinquent. Der Delinquent unterscheidet sich vom Rechtsbrecher dadurch, dass weniger seine Tat als vielmehr sein Leben für seine Charakterisierung entscheidend ist.«8

Der Delinquent kann als ein »pathologisiertes Subjekt«9 oder vielmehr als ein ›zu pathologisierendes‹ Subjekt verstanden werden, da die »Delinquenz«-Erzeugung ein nie abgeschlossener Prozess ist, sich immer weiter produziert und dabei ein eigenes »Milieu«10 formt: Die »Delinquenz« ist zwar in »der Gesetzwidrigkeit […] verwurzelt«11, ihre Charakteristik liegt jedoch darin, dass sie »besetzt, unterteilt, isoliert, durchdrungen, organisiert, in ein bestimmtes Milieu eingeschlossen und hinsichtlich der übrigen Gesetzwidrigkeiten mit einer bestimmten Funktion ausgestattet ist.«12 Übertragen auf die Klinik für Forensische Psychiatrie, lässt sich resümieren, dass der Vorgang von RechtsbrecherInnen zu DelinquentInnen ein müheloser ist: War die Tat in Verbindung mit der psychischen Unzurechnungsfähigkeit und daraus hervorgehenden Gefahr für die Allgemeinheit ursprünglich Grund der Unterbringung, steht während dieser aufgrund der psychischen Erkrankung noch viel mehr das Agieren sowie die Biografie im Vordergrund. Die PatientInnen sind qua ihrer pathologischen, von der Norm abweichenden Konstitution durch »Schuldunfähigkeit« respektive »verminderter Schuldfähigkeit« von ihrer Tat separiert – und gleichzeitig stärker mit dieser verbunden, da das Verbrechen mit der psychischen Konstitution der PatientInnen in Zusammenhang gebracht wird, wie Foucault meint: »Die Technik der Besserungsstrafe hat es nicht mit dem Urheber

5 G. Deleuze: Foucault und die Gefängnisse, S. 262. 6 Ebd. 7 Marquet-Wasselot, J.J.: L’Ethnographie des prisons, 1841, S. 9, zit. nach: M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 325.

8 9 10 11 12

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 323, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 357. Ebd., S. 356. Ebd. Ebd., S. 357.

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einer Tat zu tun, sondern mit dem Verbrecher, der mit seinem Verbrechen verwandt ist.«13 Foucaults »Delinquenz«-Definition zufolge ließe sich übertragen: Im Strafvollzug werden die Gefangenen während des Disziplinierungskontextes zu DelinquentInnen. Im Maßregelvollzug sind die PatientInnen bereits von Beginn, und von mehreren fachlichen Seiten bezeugt, DelinquentInnen: Patient = Delinquent. Dieses Verfahren, das das Leben des Individuums in den Mittelpunkt stellt, ist jedoch nicht so persönlich, wie es den Anschein haben mag: Foucault nennt als eine der »drei Weisen der Objektivierung, die Menschen in Subjekte verwandeln«14, die »Untersuchungsverfahren, die sich den Status von Wissenschaften zu geben versuchen«15. Als unter anderem ebenfalls maßgeblich für die »Objektivierung des Subjekts«, sieht Foucault die »›Teilungspraktiken‹«16, »[d]ie Aufteilung in Verrückte und geistig Normale, in Kranke und Gesunde, in Kriminelle und ›anständige Jungs‹«17. Man könnte aufgrund der wissenschaftlichen »Untersuchungsverfahren« und (damit verbundenen) »Teilungspraktiken« (unter anderem Einteilung durch Diagnostik, Nummerierung in Lockerungsstufen) mit Foucaults Definition schlussfolgern, dass innerhalb der umfassenden »Delinquenz«-Bildung die »Objektivierung« der Patientinnen »zum Subjekt« auf perfektionierte Weise vollzogen wird. Die objektivierende Kliniksprache und die heterotopische, »isolierte«18 Unterbringung sind dabei durchaus förderlich.19 An Orten wie Gefängnissen bildet sich, wie es Foucault formuliert, eine parodistische Abzeichnung20,

13 14 15 16

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 325. M. Foucault: Warum ich die Macht untersuche, S. 161. Ebd. Diese nennt er als zusammenfassenden zweiten Arbeitsschritt seiner 20-jährigen Macht bzw. Subjekt-Analysen, vgl. ebd. Als dritten nennt er, dass er am Beispiel der Sexualität versucht habe zu untersuchen wie »ein Mensch sich selber in ein Subjekt verwandelt.«, ebd.; vgl. ebd. S. 162.

17 Ebd. (interessant ist, dass Foucault hier nur die Männer einbezieht und damit selbst eine Teilungspraktik vollzieht).

18 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 358. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. ebd., S. 325.

10. »D ELINQUENZ «

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»eine Zoologie von gesellschaftlichen Subspezies, eine Ethnologie von Übeltäter-Zivilisationen mit ihren Riten und ihrer Sprache. Dabei konstituiert sich jedoch eine neue Objektivität, in welcher der Kriminelle einer zugleich natürlichen und abweichenden Typologie zugehört.«21

Dieser sprachliche und rituelle Codex konnte tatsächlich, wie zuvor analysiert, am Untersuchungsort durch die Beispiele des sich bildenden fach-terminologischen ›Gruppenslangs‹ und der Riten, die etwa durch spezifische Zeittaktung und Einordnung der PatientInnen in »Lockerungsstufen« entstehen, herausgestellt werden. Durch die räumliche Absonderung und deviante Zusammenführung kann auf diese Weise die Untersuchung perfektioniert und eine arbiträre Gruppe besser kontrolliert werden: Nach Foucault werden so »die Delinquenten unweigerlich auf eine lokalisierte, unattraktive, politisch ungefährliche und wirtschaftlich folgenlose Kriminalität zurückgeworfen. Diese konzentrierte […] Gesetzwidrigkeit ist sogar nützlich. Sie ist es im Hinblick auf die übrigen Formen der Gesetzwidrigkeit, von denen sie isoliert ist«22.

Damit geht Machterhaltung einher. Indem man die wirtschaftlich ›unnützen‹ und sozial gefährlichen Individuen (als »für die Allgemeinheit gefährlich« verurteilt) exkludiert und den Objektivierungsmechanismen anheimgibt, wird Ordnung garantiert. Damit wird die Klinik zur »Kompensationsheterotopie«23, denn so bezeichnet Foucault einen »Raum, der so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet ist wie der unsrige ungeordnet, missraten und wirr ist.«24 Paradox ist, dass in diesem Fall die »Heterotopie« der »Subspezies«25in ihrer perfektionierten Struktur gesellschaftlichen Abschreckungs- wie Vorbild-Charakter hat. Die Schleusenszene zeigte bereits, wie dieser panoptische Mechanismus auch die Pflegerinnen erfasst. In den Kapiteln 22. und 23. wird auf die Ausmaße dieser »Delinquenz«-Bildung als »Instrument zur ständigen Überwachung der Bevölkerung«26 auf Grundlage gesetzlich und medizinisch legitimierter Dokumentation und Forschung eingegangen. Auch Statistiken und Archive sind Mittel und Resultate der »Delinquenz«, wie etwa sämtliche Statistiken, die in Kapitel 4. oder 5.3

21 22 23 24 25 26

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 325. Ebd., S. 358. M. Foucault: Andere Räume, S. 45. Ebd. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 325. Ebd., S. 363.

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als Beleg der Argumentation genutzt wurden. Auch für diese Dokumente wurden Individuen gezählt, nach Zuordnungsmerkmalen geordnet und zu Archiv-Wissen konstituiert. Dazu sei jedoch angemerkt, dass die »Delinquenz« stets einem vermeintlich ›guten Zweck‹ unterstellt ist: In der Klinik werden Anamnese, Diagnostik, Dokumentation und schlicht der ganze administrative Aufwand für die Überprüfung und Optimierung des Therapieverlaufs, zur Schlussfolgerung von Fortschritten und Rückfällen genutzt. Des Weiteren soll die Kontrolle vor Willkür schützen, zur sensiblen Wahrnehmung von Dynamiken, die sich bei »Übertragungsprozessen«27 zwischen Personal und PatientIn ergeben können. Gleichzeitig dient die »Delinquenz« auch der Sicherheit – ein Schutz für das Personal, um sich im Ernstfall bei der Begutachtung ihres Wirkens anhand protokollierter Beweisführung rechtfertigen zu können. Dies ist in einem Feld unabdingbar, in dem Subjekte selbst- und fremdgefährdend agieren, das Personal stets achtsam und in Gewahr von rechtlichen Konsequenzen agieren muss. So wurden etwa auch ›delinquente Maßnahmen‹ wie Frau D.s Gewichtskontrolle zum Schutz der Gesundheit der Patientinnen angeordnet. Bei zu hohem Wasserkonsum können nicht nur die Medikamente selbst28, sondern auch wichtige Nährstoffe aus dem Körper geschwemmt werden. Die Patientin Frau D. betrachtete die Maßnahme jedoch, wie im Film ersichtlich, stets voller Skepsis und Misstrauen, vermutete in ihr etwas Totalitäres und sogar Vernichtendes.

27 Vgl. Übertragung, Gegenübertragung: Mertens, Wolfgang: Grundlagen psychoanalytischer Psychotherapie, in: Senf, Wolfgang / Broda, Michael: Praxis der Psychotherapie, Stuttgart 2005 (3. Auflage), S. 196-242, hier S. 198 ff.

28 Vgl. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 27:14 f.

11. Frau D. und die »Systemwächter«

Frau D. sagt in einer Szene mit der Pflegerin Frau W2, dass sie »Systemspritzen« erhalte: )UDX',FKZHUGNHLQ6\VWHPZlFKWHUPHKU,KUPDFKWGDVVFKRQVHFKV-DKUH PLWPLU>đ@6FKHL‰6\VWHPVSULW]HLFKNULHJMHGHQ7DJ6\VWHPVSULW]HQ )UDX:)UDX'LFKELWWH6LHGRFK,FKNDQQ,KQHQQXUVRYLHOVDJHQ)UDX 'GDVVGDVQLFKWGLH5HDOLWlWLVWXQGGDVV6LHYRQXQVNHLQH6\VWHPVSULW]HQ EHNRPPHQXQGDXFKQLFKWVNHOHWWLHUWZHUGHQ'DVZLUGQLFKWSDVVLHUHQGD NDQQLFK6LHEHUXKLJHQ

Man könnte diese Filmszene so interpretieren, dass die Pflegerin in Frau D.s Aussagen Symptome ihrer psychischen Erkrankung erkennt. Möglicherweise zieht Frau D. mit ihrer Bezeichnung »Systemspritzen« auch eine Analogie zu den sogenannten »Depotspritzen«2, die PatientInnen mitunter in regelmäßigen Abständen indiziert werden, um eine konsequente Medikationswirkung zu garantieren. In der Vokabel »Systemspritzen« ließe sich jedoch auch die Analogie erkennen, dass das ›System‹ sich in ihren Blutkreislauf hineinspritzen und in ihr ›breitmachen‹ will, so wie die Patientin auch die Tabletten, die sie einnimmt, als etwas für sie Bedrohliches darstellt.

1 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min 29:31 f. 2 Diese werden etwa»häufig in der Langzeitbehandlung von Menschen eingesetzt, die an einer Psychose erkrankt sind und nur über eine geringe Einnahmezuverlässigkeit verfügen. In Form einer Depotspritze kann ihnen im 14-tägigen bis monatlichen Abstand ein Neuroleptikum verabreicht werden. Der Vorteil liegt zum einen darin, dass die Einnahme der Medikamente zuverlässig verläuft. Zum anderen kann so die insgesamt verabreichte Menge eines Neuroleptikums oft herabgesetzt werden.« Depotneuroleptika: Forensik von A bis Z: http://www.zfp-web.de/1360.html (12.10.2014).

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Bei der Behandlung der Erkrankung 3 von Maßregelvollzugs-PatientInnen wie Frau D. gilt, dass diese »der Einwilligung des untergebrachten Patienten«4 bedarf. Willigen PatientInnen nicht in eine Behandlung ein, ist diese »unter Anwendung von Zwang zulässig«5, wenn unter anderem die PatientInnen »aufgrund der Anlasserkrankung zur Einsicht in die Behandlungsbedürftigkeit und zu einer darauf gründenden Entscheidung über die Einwilligung in die Behandlung nicht fähig«6 sind. Dabei darf die Zwangsbehandlung stets »nur als letztes Mittel«7 eingesetzt werden, wenn zuvor angewandte Behandlungswege erfolglos geblieben sind. Im Zuge der Dreharbeiten kam jedoch die Frage auf: Antizipierten die PatientInnen, unabhängig von den gesetzlichen Bestimmungen, möglicherweise bewusst oder unbewusst, dass eine Verweigerung der ärztlichen Medikations-Empfehlung, unter Umständen auch als mangelnde Krankheitseinsicht gewertet werden könnte? Da die PatientInnen im Maßregelvollzug abhängig von der Steigerung im Lockerungsstufensystem sind, könnte dies nach Eindruck der Dreharbeiten möglicherweise implizit den Druck zur »Compliance« erhöhen. )UDX''LHJHEHQPLU]XYLHOH7DEOHWWHQ,FKELQDQIDQJVIDVWLPPHUGDYRQ DEJHNUDW]W,FKNRQQWĜPLFKJUDGQRFKVRUHWWHQ9RUGUHL:RFKHQKDEHQVLH

3

Die Maßnahmen zur Unterbringung im Maßregelvollzug sind nach den sogenannten »Psychisch-Kranken-Gesetzen« der Bundesländer geregelt. Neben den wesentlichen Bestimmungen im Vollzugsziel ist die »nähere Ausgestaltung dem Landesrecht überantwortet worden.« Rinke, Winfried: Therapeutische Zwangsmaßnahmen beim Maßregelvollzug im psychiatrischen Krankenhaus. Verfassungsrechtliche Aspekte einer gesetzlichen Regelung der ärztlichen Behandlung im Maßregelvollzug gemäß § 63 StGB, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 1988/ Heft 10, S. 10-15, hier S. 10 ff.

4

§ 6 Abs. 1 Zulässigkeit von Maßnahmen, Landesgesetz über den Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln (Maßregelvollzugsgesetz - MvollzG - ) Rheinland-Pfalz. Vom 23. September 1986, Fassung vom 27.5.2014, gültig ab 6.6.2014. http://landesrecht.rlp.de/jportal/portal/t/18u1/page/bsrlpprod.psml;jsessio nid=33CAF015305AFD699B399DC054D8AEA5.jp14?pid=Dokumentanzeige&show doccase=1&js_peid=Trefferliste&documentnumber=1&numberofresults=1&fromdoc todoc=yes&doc.id=jlr-MVollzGRPrahmen&doc.part=X&doc.price=0.0#jlr-MVollzGRPpP3 (20.11.2014). Mehr dazu siehe Kapitel 18.

5 6

Ebd. Abs. 2. Ebd. Abs. 2, Nr. 1. Weitere Bedingungen zur Zulässigkeit von Maßnahmen unter Zwang, siehe § 6 ebd.

7

Ebd.

11. F RAU D.

UND DIE

»S YSTEMWÄCHTER «

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PLUHLQ0HGLNDPHQWYHUVFKULHEHQZRYRQLFKYHUUHFNHQVROOGDVKLH‰ģ7UHQ WDOĢ'DVZDUHLQ%OXWGXUFKđ(LQ'XUFKEOXWXQJVPLWWHOGDYRQKDEHLFKHLQH 7DEOHWWHJHQRPPHQGLHZDUVRJUR‰XQGSLQNGLHNRQQWHPDQLQGHU0LWWH WHLOHQ:HUVFKOXFNWGHQQVFKRQSLQNH7DEOHWWHQVDJHQ6LHPLUGDVPDO'D NDQQMDLUJHQGZDVIDXOVHLQ )UDX+1HKPHQ6LHMHW]WELWWHđ )UDX ' 8QG GDQQ KDELFK JHGDFKW LFKZlUĜ DXI]HKQ (FVWDV\ZR LFK GLH JHQRPPHQKDEMD )UDX+)UDX'QHKPHQ6LHMHW]WELWWHPDOGLH7DEOHWWHQđ

Immer wieder gebraucht Frau D. den Begriff der »Systemwächter«: )UDX',FKKDEMDKLHUNHLQH+LOIH,FKZHL‰MDQLFKWZDVLFKPDFKHQVROO,FK ZHL‰QXUGDVVGLHYHUVXFKHQėGDVVLQGDOOHV6\VWHPZlFKWHUKLHUQH:LHVLH KLHUDOOHOLHJHQ,FKELQGHUHLQ]LJVWH0HQVFKGHUKLHUQRFKOHEWQH8QGGLH NULHJHQVHLWVHFKV-DKUHQNHLQHQ6\VWHPZlFKWHUDXVPLUJHPDFKW

Die Angestellten sind für Frau D., wörtlich analysiert, BewacherInnen des Systems, »gatekeeper«. Doch aufgrund der Aussage »wie sie hier alle liegen« könnte man schlussfolgern, dass auch die anderen ›gefügig gewordenen‹ Patientinnen in ihren Augen »Systemwächter« geworden sind. Frau D. sieht sich in ihrem Selbstverständnis als »einzigsten Menschen«, umgeben von FunktionsträgerInnen. Darin ließe sich auch eine Form der ›Ich-Aufwertung‹ erkennen. Frau D. ist allen überlegen, weil sie als einzige ›ursprünglich‹ ist. Dies verleiht ihr ein Gefühl von Macht. Die von Frau D. konkrete allegorische Benennung für die sie umgebenden panoptischen Blickmächte könnte man auch als eine Form von Verarbeitung, Realitätsflucht, als manische Größenfantasie und, wie das Personal, als Symptomatik ihrer diagnostizierten Erkrankung betrachten. Vielleicht verbirgt sich in den Hyperbeln, in der fantasievollen Metapher-Bildung von Frau D., jedoch auch eine andere Wahrheit:

8 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 6:11 f. 9 Ebd., Min. 8:00 f.

134 | D ER PANOPTISCHE B LICK

An dieser Stelle sei Hintergrundwissen angefügt, das sich aus dem Film selbst nicht erschließt: Den Begriff »Systemwächter« entnahm Frau D. dem amerikanischen Film MATRIX, in dem die »Systemwächter«10, die Matrix, die Welt, die den Menschen als vermeintlich echte vorgegaukelt wird, bewachen: »Sie sichern alle Türen und kennen jeden Code«11, beschreibt darin die Figur Morpheus die Wächter – ein Satz, der tatsächlich auch die Arbeit des Klinik-Personals passend attributieren würde. Der Film MATRIX, den man auch als eine proleptische Zukunftsweisung von digitaler Überwachung betrachten könnte12 (welche sich gegenwärtig mit der expandierenden Überwachung öffentlichen Raums, Speicherung von Meta- und Vorratsdaten [vgl. Kapitel 24.] tatsächlich verstärkt bewahrheitet hat), beschäftigt Frau D. sehr – immer wieder bemüht sie Vergleiche: )UDX'/|VFKHQZROOHQGLHPLFKDXFKGLH6\VWHPZlFKWHUKLHU/|VFKHQZRO OHQ GLH PLFK DXFK MD +DE LFK PLU DOOHV VFKRQ DXIJHVFKULHEHQ IU PHLQHQ $QZDOW )UDX+)UDX'

Im umgangssprachlichen Jargon würde man sagen, dass Frau D. während eines psychotischen Schubs auf diesem Film »hängengeblieben« sei, also im wahrsten Sinne des Wortes einen »Film schiebt«. Das Personal ist an ihre Verlautbarungen gewöhnt: »Das ist nicht die Realität«, betont die Pflegerin Frau W2 nachdrücklich. »Das ist Ihre Wahrnehmung.«14

10 Morpheus nennt die »Agenten« in MATRIX auch interessanterweise »Gatekeeper« (deutsche Fassung: »Beschützer der Matrix«), vgl.: MATRIX, R: The Wachowski Brothers, Min. 55:40.

11 MATRIX, R: The Wachowski Brothers (Dialoge beziehen sich auf die deutschen Untertitel aus MATRIX).

12 Vgl. auch Feige, Marcel: Wie Science Fiction dem realen Cyberspace vorgreift, 3.11.2001,

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/zukunft-des-internet-wie-science-

fiction-dem-realen-cyberspace-vorgreift-138042.html (23.10.2014).

13 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 6:52 f. 14 Ebd., Min. 29:13 f.

11. F RAU D.

UND DIE

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In MATRIX erkennt der Held Neo, dass alle Menschen in Waben liegen und nur glauben, dass sie sich in der Welt bewegen. In Wirklichkeit sind sie angeschlossen an die Matrix, die eigene Wahrnehmung in der Scheinwelt ist das sogenannte »›Rest-Selbstbildnis‹. Die mentale Projektion des digitalen Selbst«15. »Was ist die Matrix? Kontrolle. Die Matrix ist eine computergenerierte Traumwelt, geschaffen, um uns unter Kontrolle zu halten. Das Ziel ist die Verwandlung des Menschen in das hier:«16 Morpheus zeigt eine Duracell-Batterie, allegorisch das technisch extremisierte Konzentrat dessen, was Foucault die »Objektivierung des Subjekts« nennt. »Die Matrix ist ein System. Es ist unser Feind.«17 Die Wahrheit ist, »dass du ein Sklave bist. Wie alle bist Du in die Sklaverei geboren, in ein Gefängnis […]. Ein Gefängnis für Deinen Verstand«18, sagt Morpheus. Frau D. nennt zu Beginn des Films die große, pinke Tablette, mit der sie sich »wie auf zehn Ecstasy« gefühlt habe. Morpheus bietet Neo in MATRIX zwei Pillen an: Nimmt er die blaue, bleibt er in der alltäglichen Scheinwelt. Alles, was er bis dahin erlebt hatte, würde nichts weiter als ein Traum bleiben. Schluckt er die rote, steigt er hinab in die »Tiefen des Kaninchenbaus«19, der Film bezieht hier eine Allegorie auf »Alice im Wunderland« und benennt damit die Untiefen der ›wahren‹ Welt. Neo schluckt die rote Pille – »Welcome to the real world«20. Angenommen, Frau D. befindet sich in der ›wahren‹ Welt – ist ihre pinke Tablette dann ein versteckter Bezug, ein Code dafür, dass sie die Wahrheit weiß? Hat sie die rote Pille genommen? Ist die pinke Tablette (möglicherweise stellvertretend für alle Psychopharmaka) eine zum Schein gefärbte blaue Pille? Đ:HUVFKOXFNWGHQQVFKRQSLQNH7DEOHWWHQVDJHQ6LHPLUGDVPDOď21Đ,FK KDEGLHQLHZLHGHUJHQRPPHQď22

15 MATRIX, R: The Wachowski Brothers, Min. 38:24 f. 16 Ebd., Min. 41:32 f. 17 Ebd., Min. 54:18 f. 18 Ebd., Min. 27:11 f. 19 Morpheus, in: Ebd., Min. 28:05 f. 20 Morpheus, in: MATRIX, R: The Wachowski Brothers, Min. 33:51. 21 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 6:36. 22 Ebd., Min. 6:47.

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Befindet sich Frau D. im Kaninchenbau, erkennt sie, dass wir alle in Waben liegen (»wie sie hier alle liegen«), sind wir »die Hasen im Käfig?«23, die fälschlicherweise Frau D. bewachen, weil sie uns als Wahrheitsverkünderin Angst macht? Warum steht sie nochmal genau hinter dem Gitter? Kann ihre Tat tatsächlich Anlass oder nicht nur ein Vorwand der »Systemwächter« sein? Wer ist tatsächlich »für die Allgemeinheit gefährlich«? Ist das ›System‹ allen gefährlich oder ist es Frau D. und ihr gedankliches ›System‹, in dem sie sich befindet? Wer von uns ist gefangen? Sind wir, was wir meinen zu sein, oder ist das das »Restbildnis unseres digitalen Selbst«24 in dieser und in der mit uns verflochtenen medialen Überwachungswelt? Frau D. zeigte in der Szene nicht auf uns, das Filmteam, als sie die »Systemwächter« nannte. Sie sah das Filmteam als Medium, als Beschützer, als Sprachrohr aus der Matrix (»Wenn das Kamerateam hier weg ist, werd ich direkt skelettiert.«)25, doch steuerte nicht eigentlich Frau D. uns und das viel mehr als wir dachten? Wie groß muss die Chance gewesen sein, die sie in uns sah, als wir eines Tages auftauchten! Doch auch die Figur Neo glaubte, nach etwas zu suchen und wurde die ganze Zeit von etwas anderem gesteuert. Waren wir ihr Mittel? Oder benutzte uns die Klinik als ostentative Scheinöffnung, um die Menschen ruhigzustellen und die Scheinwelt zu waren? Haben wir die rote oder die blaue Pille geschluckt, als wir die Klinik betraten? »Kennst du das Gefühl, wenn du nicht weißt, ob du wach bist oder träumst?«26 »Wie sie hier alle liegen.«27 Wer ist die Autorität und wer ist der Erzähler? Wonach suchen wir eigentlich? Und konnten wir uns das je aussuchen? Folge der Spur des weißen Kaninchens28. Wo ist die Antwort? »Die Antwort ist draußen. Sie ist auf der Suche nach dir. Und sie wird dich finden, wenn du es willst.«29 »Frau D., nehmen Sie jetzt bitte Ihre Tablette.«30

23 24 25 26 27 28 29 30

Vgl. Frau W., in: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 39:05. Vgl. MATRIX, R: The Wachowski Brothers, Min. 38:24. Frau D., in: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 29:07. MATRIX, R: The Wachowski Brothers, Min. 8:39. Frau D., in: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 8:08. MATRIX, R: The Wachowski Brothers, Min. 7:20. Ebd., Min. 11:15. Frau B., in: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 6:44.

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Als die Klinik den Film vor der Veröffentlichung sah, befand der weisungsbefugte Arzt in seiner verantwortungsvollen Funktion, dass wir Frau D. erst fragen müssten, ob wir die Szene mit der pinken Tablette zeigen könnten, da sie nach seinem Befinden zu diesem Zeitpunkt akut psychotisch und »geschäftsuntüchtig« gewesen sei. Als wir Frau D. um Erlaubnis baten, meinte sie, dass sie nicht ›verrückt‹ war in dieser Szene, dass alles, was sie gesagt hätte, wahr wäre. Der Arzt sah möglicherweise in dieser mangelnden Krankheitseinsicht ein Beleg für ihre Krankheit. Sie gab uns ihr schriftliches Einverständnis, dass wir sie so zeigen sollten. »Das Thema der Maschine ist nicht, dass sich der Schizophrene insgesamt als Maschine erlebt. Er erlebt sich vielmehr als von Maschinen durchdrungen, in Maschinen und Maschinen, die in ihm sind oder an Maschinen angrenzen.«31 Dies meint Gilles Deleuze, der in seinen vor allem zusammen mit Félix Guattari verfassten Werken32 in einem weiten Verständnis von Schizophrenie dachte und der doch meint, »dass sich der Schizophrene […] erlebt.«33 In allen gedachten Überlegungen zu psychischer Erkrankung und Gesundheit wird irgendwann eine Grenze des ›Anderen‹ gezogen, die mal eng nosologisch, mal in einem weiten sozialen Verständnis begründet wird. Eine Betrachtung, die irgendwo, soweit sie sich in offen philosophischen Anschauungen bewegt, wieder in psychologisch intrinsische Betrachtungen zurückfindet – in der die psychisch Erkrankten in einer »anderen Welt«34 bleiben, sich die scheinbar ›normale‹ ihnen öffnet, sie durchdringt, sie annehmen will und sie doch selten in einem ganz völligen Selbstverständnis als einfach gegeben akzeptiert. Irgendwie findet immer eine Form von vermeintlicher Befreiung statt, ob nun durch Einschließung oder Aufgeschlossenheit, die schon damit beginnt, das ›Andere‹ irgendwie verstehen zu wollen. Interessant ist, dass nach unseren Erfahrungen Frau D. und ihre Mitpatientinnen zwar häufig Vorwürfe und Anklagen gegen ihre Umwelt erhoben, etwa wenn

31 Deleuze, Gilles: Schizophrenie und Gesellschaft, in: D. Lapujade (Hg.): Schizophrenie und Gesellschaft, S. 18-29, hier S. 18.

32 Vgl. Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, 1972; Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Tausend Tableaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, 1980.

33 G. Deleuze: Schizophrenie und Gesellschaft, S. 18. 34 Daher auch der Titel des Films ANDERE WELT. Die Welt, die »Heterotopie«, ist eine andere und bleibt eine andere, genauso wie die Welt draußen für die Patientinnen zur anderen wird, wie die Patientin Frau W. meint: »Man weiß gar nicht mehr, wie draußen die Welt aussieht.« (ANDERE WELT, Min. 20:16).

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Frau D. sagt, dass um sie herum nur »Systemwächter« seien. Sie machte ihre Umwelt, damit auch zur ›anderen‹, aber sie versuchte nicht, sie zu verstehen, zu verändern, zu decodieren, zu (v)erklären. Für sie war sie so selbstverständlich, so bedrohlich wie ihre eigene, es war ebenso ihre eigene, eben, weil sie oft keine Grenze mehr zog. Und ja, man kann Frau D.s Worte auch wieder als die einer Person, die nicht mehr zwischen Film und Leben unterscheiden kann, einer Schizophrenen, entziffern. Man kann alles von diesem Ansatz her denken. In der Weise, wie wir in Frau D.s Worten Wahrheit erkennen wollen, zeichnet sich heraus, was Foucault zum Diskurs des »Wahnsinnigen« denkt: Dass seine Worte die Macht haben als etwas Prognostisches, Wahres erkannt zu werden oder wie »[d]er ganze unermessliche Diskurs des Wahnsinnigen […] wieder zu sinnlosem Geräusch« 35 zu werden: Er fächert die binäre Wahrnehmungs-Logik zum »Wahnsinn« auf, die in ihrem jeweiligen Absolutheitsanspruch die Frage aufwirft, warum uns dieser stets so affiziert: »Seit dem Mittelalter ist der Wahnsinn derjenige, dessen Diskurs nicht ebenso zirkulieren kann wie der der anderen: sein Wort gilt für null und nichtig, es hat weder Wahrheit noch Bedeutung, kann vor Gericht nichts bezeugen, kein Rechtsgeschäft und keinen Vertrag beglaubigen […]; andererseits kann es aber auch geschehen, dass man dem Wort des Wahnsinnigen im Gegensatz zu jedem andern eigenartige Kräfte zutraut: die Macht, eine verborgene Wahrheit zu sagen oder die Zukunft vorauszukündigen oder in aller Naivität das zu sehen, was die Weisheit der andern nicht wahrzunehmen vermag.«36

Halten wir uns an der Betrachtung Foucaults fest und nehmen wir Frau D.s Worte (zunächst) wieder als aussagekräftige Metaphern für die weitere Machtanalyse: Interessant ist, dass die Symptome ihrer diagnostizierten psychischen Erkrankung nicht aus Motiven des Lebens erwachsen, sondern einem Film entspringen, dass Frau D. somit ein Fantasma zu ihrer Wahrheit macht. Warum fingen wir an, ihrer Spur zu folgen, an sie zu glauben, Begriffe anzunehmen und nicht nur als Allegorie zu sehen, als sich ein Film als Bindemittel, als Methode, dazwischenschob? Während der zwei Stunden eines Films glauben wir an seine Codes und seine Geschichte, so fantastisch sie auch ist. Doch warum glauben wir so wenig den angenommenen Parallelwelten der ›Ver-rückten‹?

35 M. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 12. 36 Ebd.

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Warum wird Frau D. glaubwürdiger, wenn sie an einen Film glaubt? Weil sie damit Codes bedient, auf die wir uns auch bereits für die Zeit der Filmlänge eingelassen haben? Auch wir, die FilmemacherInnen, glauben an die Bedeutung von Film, wenn auch auf anderer Ebene. Wir meinen, damit eine ›Wahrheit‹ zeigen zu können, die in ihrer konzentrierten Form deutlicher ist als das Leben selbst, so wie Kracauer meint: »›Ich verlange vom Film, dass er mir etwas aufdeckt‹, erklärte einmal Luis Bunuel […] Und was suchen Filme aufzudecken? Dem vorhandenen Material nach zu schließen, übernehmen sie drei enthüllende Funktionen. Sie tendieren dazu, Dinge zu enthüllen, die man normalerweise nicht sieht; ferner Phänomene, die das Bewusstsein überwältigen; schließlich gewisse Aspekte der Außenwelt, die ›Sonderformen der Realität‹ genannt werden mögen.«37

Frau D. wusste, dass MATRIX ein Spielfilm ist, dass alles erfunden sei, wie sie uns sagte. Und trotzdem glaubte sie (um den umgangssprachlichen Ausdruck zu bedienen) »schizophrenerweise« gleichzeitig an seine Bedeutung, adaptierte sie auf ihr eigenes Leben. Sie könnte damit auch als eine Form eskaliertes Pars pro Toto der menschlichen Entwicklung stehen, wie sie unter anderem Vilém Flusser denkt – dass wir uns unseren eigenen Zeichen, dem Diktum der geschaffenen Bildkultur unterwerfen: »Der Mensch vergisst, dass er es war, der die Bilder erzeugte, um sich an ihnen in der Welt zu orientieren. Er kann sie nicht mehr entziffern und lebt von nun ab in Funktion seiner eigenen Bilder«38. Wir entsprechen dem Bild, das wir uns von der Welt gemacht haben. Für Frau D. wurde der Film zum Teil ihres Lebens, auch wenn sie ihn mit eigenen Vokabeln, wie etwa der »Skelettierung«, bereicherte. )UDX''LHKDEHQVLFKDEHUHEHQGDUEHUXQWHUKDOWHQđ:HQQGDV.DPHUD WHDPKLHUZHJLVWZHUGLFKGLUHNWVNHOHWWLHUW

Wir verstanden es während der Dreharbeiten so, dass Frau D. mit »Skelettierung« meinte, dass ihr Haut und Fleisch von den Knochen gezogen wird. Dies könnte auch als die Angst eines bis auf die »Knochen Entblößens« interpretiert werden –

37 Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1995, S. 77.

38 Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 2000 (9. Auflage), S. 10.

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von den Blicken der »Delinquenz« ›ausgezogen‹ zu werden. Ähnlich der Annahme, dass sie »gelöscht« wird, ist darin eine Befürchtung der existenziellen Minimierung, des organischen Verschwindens, der Ich-Auflösung enthalten, welche durch die extensivierte ›Ich-Fixierung‹ des Systems qua »Objektivierung des Subjekts« – mit ihren Worten »Skelettierung«, »Systemspritzung« – als Systeminfiltrierung stattfindet. Solange das Kamerateam, die »vierte Gewalt«, die Öffentlichkeit, anwesend ist, die Blicke auf sie gerichtet sind, kann die Entblößung nicht erfolgen. Dies entsprach einem Paradoxon, legten wir ihr Innerstes doch auch durch unseren panoptischen Blick frei, wodurch wir sie ebenfalls im übertragenen Sinne ›skelettieren‹. Doch Frau D. war davon überzeugt, dass ihre Entblößung durch das ›System‹ bei Wahrung eines kontrollierenden Außen-Blicks nicht funktionieren kann. Vielleicht fühlte Frau D. sich uns deswegen so verbunden. Ein Film hatte ihr die Augen geöffnet, ein anderer Film konnte ihr helfen ihrem Dilemma zu entkommen: Dass Frau D., vordergründig gesehen, anscheinend nicht mehr ganz aus MATRIX ausstieg, bedeutet jedoch nicht, dass in ihren Worten keine ›Wahrheit‹ liegt. Ob sie nun zitiert oder sich die Zusammenhänge selbst erschließt (der gleiche Vorgang, der in diesem Text kontinuierlich geschieht) – ist die Gewalt, die sie im ›System‹ sieht, nicht wirklich? Ist es nicht in der Tat verrückt, dass ein Rechts-System für wahr und richtig angesehen wird, das mit allen rechtlichen und fachlichen Bekräftigungen entscheidet, sie in einen nackten Raum zu sperren, sie ihre Tochter seit sechs Jahren nicht mehr treffen zu lassen (wie sie uns noch im Film erklären wird)? Sind wir alle ›verrückt‹, die wir das zulassen? Wenn die Kategorien verschwimmen, wird alles kompliziert – und gefährlich. Wo führt es uns hin, wenn wir anfangen, ›Wahrheit‹ infrage zu stellen, die Grenzen zwischen Film, Leben und Traum verwischen? In einen nackten Raum – überspitzt gefragt? Die PatientInnen und ihre Straftaten sollen nicht verklärt werden, doch es sei immer wieder in Erinnerung gerufen, warum Zuweisungen, Kriterien, Wahrheits- und Diskursbeschlüsse so wichtig sind. Weil sie Ordnung schaffen, die Dinge entwirren und verständlich machen, weil sie Macht erhalten. Als Filmteam reihten wir uns in die Produktion eines Wahrheitsdiskurses, einer »Delinquenz-Bildung« mit ein, indem wir anhand unserer Präsentationstechnik ein Dokument der PatientInnen, ihrer Vorstellungen und ihres Alltagslebens formten. So wie nach der Filmemacherin und Autorin Hito Steyerl »[d]okumentarische

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Arbeiten […] Paläste der Erinnerung [sind], die im Gegensatz zu Archiven Dokumente nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit ordnen.«39 Während wir Bilder für eine vermeintlich künstlerisch-aufklärerische Auseinandersetzung schufen, waren die Patientinnen einem urteilenden, unweigerlich selbst von Normen geprägten, Blick ausgesetzt, der Wertungen unterlief, Praktiken der Ein- und Ausschließung vollzog und Definitionen bildete: »Du musst sehen, […] viele sind angepasst, so hoffnungslos vom System abhängig, dass sie alles tun, um es zu schützen«40, sagt Morpheus in MATRIX. »Gut, wenn das gesendet wird, wird mir natürlich keiner glauben«, meint Frau D. und antizipierte damit bereits die Meinung der ZuschauerInnen. Sie war in der Lage, aus ihrer Perspektive herauszutreten und den Außenblick auf sich zu imaginieren, eine Eigenschaft, die »Wahnsinnigen« oft abgesprochen wird. Frau D. schien es bei aller Hoffnung, die sie in uns setzte, zu ahnen: Und in gewisser Weise hatte sie recht. Wir waren auch »Systemwächter«!

39 Steyerl, Hito: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien / Berlin 2010, S. 26.

40 MATRIX, R: The Wachowski Brothers, Min. 54:39 f.

III. Das filmische Panopticon

12. Der panoptische Blick der Kamera

Abb. 20: Das »Kino-Auge«1 Medien werden informell als zusätzliches Element der Gewaltenteilung von Judikative, Exekutive und Legislative oder als so genannte »vierte Gewalt« bezeichnet. Die Medien besitzen zwar keine direkte staatlich legitimierte Gewalt, sie können jedoch politische Entwicklungen durch Sichtbarmachung von Verhältnissen eminent beeinflussen. Angelehnt an »pan optikós – alles sehen« könnte man diese Gewalt auch die »Panoptikative« nennen. Dieses »Alles sehen« (Alles aufdecken) entspricht dem ambivalenten Charakter des Panopticons, da die »Panoptikative« auch ›alles kontrollieren‹ kann: Zum einen sind die Medien nicht autark in ihrem Agieren, denn sie werden offensichtlich und subversiv von Wirtschaft, Werbekunden, RezipientInnenzahlen und Politik gelenkt. Zum anderen ist damit reziprok die Fähigkeit verflochten, dass die Medien als »gatekeeper« RezipientInnen und Politik durch

1

»Das Kino-Auge«: Filmstill aus MAN WITH A MOVIE CAMERA, R: Dziga Vertov, UdSSR 1929, abgedruckt, in: Saunders, Dave: Documentary, New York 2010, S. 118.

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unbewusste und bewusste Informationskontrolle wiederrum manipulieren können. Innerhalb dieser Partizipationskontexte ist auch zu bedenken, dass MedienvertreterInnen meist einer als höher gestellt zu bezeichnenden gesellschaftlichen Gruppe angehören und Informationen für eine jeweils spezielle Gruppe herstellen, so wie Noam Chomsky meint: »Die großen Medien - vor allem die tonangebenden der Elite – sind Konzerne, die anderen Firmen ein privilegiertes Publikum ›verkaufen‹. Es kann insofern nicht überraschen, wenn das von ihnen präsentierte Bild der Welt die Sichtweisen und Interessen der an diesem Handel Beteiligten widerspiegelt.«2

In Gewahr dieser ›politischen‹ Implikationen der Medienmacht wird nun unser Macht-Einfluss als Filmteam in der Klinik-»Heterotopie« und die Macht der »instrumentellen« Gestaltungsmittel des Mediums Film erläutert: »Bilder, Zeichen und Aussagen repräsentieren nicht irgendetwas, sondern schaffen mögliche Welten«3, so Maurizio Lazzarato. Wie mächtig dieses Medium wirkt, zeigt sich nicht nur am Beispiel von Frau D., die durch einen Film, wenn auch einen fiktionalen, erheblich in ihrem Denken geprägt wurde. Die Gedankenräume, die durch »Bewegungsbilder«4 entstehen, welche sich in ihren BetrachterInnen nach Walter Benjamin in »physische[r] Chockwirkung [sic!]« 5 taktil 6 mächtig versenken, anstelle etwa der Gemälde, der Standbilder, in die sich die BetrachterInnen komplentativ vertiefen7 – diese filmischen »Heterotopien« haben die Fähigkeit, Wirklichkeit zu verändern. Unsere moderne (zumindest westliche) Welt, mit ihren Wertvorstellungen von Liebe, Gewalt, Gerechtigkeit und Kapital sähe, so wie sie sich heute darstellt, ohne den etwas mehr als 100-jährigen Einfluss von Film, und vor allem den potenten Bild-Ideen aus Hollywood, garantiert anders aus.8 Diese Bildmacht wird auch im Kommentar Vilém Flussers deutlich: »Nichts

2

Chomsky, Noam: Media Control. Wie die Medien uns manipulieren, München 2006, S. 63.

3 4

M. Lazzarato: Kampf, Ereignis, Medien. Der Ausdruck entlehnt sich hier Deleuzes »Bewegungsbild«, das hier jedoch nicht explizit im abgrenzenden Verhältnis zum »Zeit-Bild« gemeint ist.

5

Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 1969 (3. Auflage), S. 7-64, hier S. 44.

6 7 8

Vgl. ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 46. Zit. nach: Ott, Michaela: Seminar: Kunst und Leben, HFBK Hamburg, WS 2010/2011.

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kann dieser Sogkraft der technischen Bilder widerstehen – keine künstlerische, wissenschaftliche oder politische Aktivität, die nicht auf sie abzielt, keine Alltagshandlung, die nicht fotografiert, gefilmt, videotaped werden will.«9 Da das Leben durch Bilder geprägt wird, soll es durch Bilder immer wieder in sich bestätigt werden. Dziga Vertov, der mit MAN WITH A MOVIE CAMERA 1929 Kinogeschichte schrieb, führte den Begriff des »Kinoglaz«10 (russ: »Kino-Auge«) ein, womit er die Macht des alles sehenden und prägenden »Kino-Auges« meint. »I am kino-eye, I am a mechanical eye, I, a machine, show you the world as only I can see it.«11 Dziga Vertov übertrug diese Wirksamkeit vom gestaltenden Blick des »Kamera-Auges« auf das »Kino-Auge« und meinte damit die umfassende Wahrnehmungswirkung des Kinos, die sich vor allem aus der Montage, welche für ihn eine extrahierte Stellung einnahm, in einem direkten und erweiterten Sinne prägt. In seiner Wahrnehmungswirkung erinnert das »Kino Auge« hier an »das blaue Licht«, das Maschinen-Auge, aus dem Schleusenraum der Klinik (Kapitel 9.4): Als Filmemacherin bin ich in der Lage, ähnlich wie der Apparat im Schleusenraum, den Blickfokus der Betrachterinnen zu bestimmen. Ich verfüge über die Macht, die ZuschauerInnen in eine bestimmte Erwartungs- und »Erkenntnis«-Haltung zu bringen oder diese bewusst zu verweigern. Ich kann sie durch bestimmte gestalterische Mittel für den Film einnehmen oder auf Abstand halten. Dabei benutzen Filme innerhalb ihrer Wahrnehmungswirkung im übertragenen Sinne eine ähnliche Sprache: »Bitte schauen Sie auf das blaue Licht. Bitte kommen Sie etwas näher. Sie wurden erfolgreich erkannt. Das ›Maschinen-Auge‹ aus dem Schleusenraum, das seine BetrachterInnen »erkennt«, könnte man somit auch als eine Vertovsche Metapher sehen. Als das alles sehende »Kino-Auge«. Als ein Symbol für die Wahrheitsbildung von Bildern und Zeichen, von Sehkultur und Erkenntnis. Wie nach Walter Benjamin im Kino die Bilder auf die BetrachterInnen einwirken, sie in eine bestimmte Form der Körperhaltung und Reiz-Empfängnis bringen, genügt in dieser Situation anstelle eines Großfilms ein einziger blauer Punkt, gekoppelt mit einer sprachlichen Programmierung, der die Pflegerin dazu bringt, in Blick-Versenkung zu gehen.

9 V. Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, S. 18. 10 Vertov, Dziga: Kinoglaz (A Newsreel in six parts), in: Michelson, Annette: Kino-Eye. The Writings of Dziga Vertov. Berkely, Los Angeles, London 1984, S. 38-39, hier S. 38.

11 Vertov, Dziga: Kinokis: A Revolution, in: ebd., S. 11-20, hier S. 17.

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Zwischen der panoptischen Funktion des alles sehenden und selbst nicht zu erkennenden Wächterblicks besteht dabei zwischen Schleusen-Auge und Kino-Auge ein Unterschied, der jedoch zum gleichen Ergebnis führt: Das Schleusen-Auge legt die Person auf die Kriterien fest, die für sie gespeichert wurden – sie wird für das erkannt, für was sie erinnert wird. Das Kamera-Auge mortifiziert das Objekt im gegenwärtigen Moment. Es kreiert ein Abbild. Auf dieses Bild ist das Individuum zurückgeworfen. Indem es sich dem Kameraauge stellt, ist es a priori seinem fixiertem Selbst unterworfen. Wie Macht nach Foucault nur »in actu«12, durch Handeln, existiert, unterliegt dabei meine Macht wiederum verschiedenen Machtimplikationen. Zunächst wurde unser Auge durch das »Kino-Auge« jedoch in mehrfacher Hinsicht erweitert13: Zum einen auf ›sozialer‹ Ebene: So erfuhren wir durch unsere »instrumentelle Modalität«14 der Macht, unsere Kamera, ganz konkret Inklusion in die »Heterotopie«, die wir ohne diese in dieser Form nicht erhalten hätten. Die Potenz des Tonund Kamera-Equipments war ein maßgeblicher Faktor für das Bestehen der ›Eintrittsprüfung‹, verlieh uns ein attraktives und zugleich ambivalent betrachtetes Alleinstellungsmerkmal – im Grunde unsere gesamte Autorität. Wäre uns dieses Mittel im Laufe der Dreharbeiten abgenommen worden, hätten wir unser MachtInstrument und unsere Daseinsberechtigung verloren. Mit der Kamera waren wir legitimiert zu fragen, tiefer zu blicken, uns in schwierige Situationen einzufügen und an ihnen, wenn auch durch die Kamera funktionalisiert, teilzunehmen, so wie die Fotografin Diane Arbus feststellte: »Wäre ich lediglich neugierig, dann wäre es schwierig, zu jemandem zu sagen: ›Ich möchte Sie besuchen, damit Sie mit mir reden und mir Ihre Lebensgeschichte erzählen können.‹ Dann würden die Leute bestimmt sagen: ›Sie sind ja verrückt!‹ Und sie würden sich äußerst vorsichtig verhalten. Aber die Kamera ist eine Art Freibrief. Es gibt eine Menge Leute, die sich eben diese Art Aufmerksamkeit wünschen, und das ist eine Aufmerksamkeit in vernünftigen Grenzen.«15

12 M. Foucault: Wie wird Macht ausgeübt?, S. 191, Hervorhebung im Original. 13 Vgl. Henri Cartier-Bresson, zit. nach: S. Sontag: Über Fotografie, S. 175. 14 Foucault spricht im Original von »instrumentelle[n] Modalitäten«, vgl.: M. Foucault: Wie wird Macht ausgeübt?, S. 197.

15 Diane Arbus, zit. nach: S. Sontag: Über Fotografie, S. 180.

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Die Kamera setzte also unsere Neugierde in eine »vernünftige«, psychisch gesunde Begrenzung um, durch die unsere Anwesenheit als exzeptioneller Fremdkörper außerhalb der streng dualistischen Systemaufteilung von Angestellten und PatientInnen akzeptiert wurde. Entlehnt an Marshall McLuhans »The medium is the message«16, machten wir allein schon durch unsere Existenz eine Form von Effekt im Institutionskomplex aus und setzten Kommunikation in Gang. Dass »die Kamera« da war, ohne dass sie angeschaltet war oder etwas unternahm, veränderte etwas, schuf Aufregung, Irritation, Begeisterung, Missstimmung. Nur durch unser Dasein übten wir Einfluss aus, so wie Sontag ausdrückt: »Eine Aufnahme zu machen[,] ist selbst schon ein Ereignis, und zwar eines, das immer mehr gebieterische Rechte verleiht: sich einzumischen in das, was geschieht, es zu usurpieren oder aber zu ignorieren.«17 Mit unserem Eintritt in die Klinik mussten sich die Personen in irgendeiner Form zu uns verhalten.

12.1 E XKURS : D ER INSTITUTIONELLE E INFLUSS M ACHT DES M EDIUMS

AUF DIE

Zunächst ließ sich die Klinikleitung erst unter bestimmten Auflagen darauf ein, uns in ihre im direkten Wortsinne »geschlossene Institution« mit ihren genauen Regelungen und unterschiedlichsten Befindlichkeiten und Bedürfnissen hinein zu lassen. Die Regalserie für das »Süddeutsche Zeitung Magazin«, bei der die PatientInnen anonym blieben, war vergleichsweise einfach durchzuführen; im Film sollten nun offen Gesichter von Personen gezeigt werden, die aufgrund von verstärkten Exklusionsängsten, die sie durch eine mediale Veröffentlichung ihrer Unterbringung befürchteten, meist lieber unerkannt blieben. Zudem wollte ich mit einem dreiköpfigen Team und umfangreicherem Equipment für einen gesamten Monat (25 Drehtage) »Bewegungsbilder« aufnehmen, was deutlich mehr unkalkulierbare Faktoren als die Standbildaufnahme von Regalen beinhaltet. Die Klinik hat die »hoheitliche Aufgabe« ihre PatientInnen zu schützen; gleichzeitig hat sie auch das Anliegen, sich der Außenwelt zu öffnen. Die Klinik-

16 McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man, London 1968 (3. Auflage), S. 7 ff.

17 S. Sontag: Über Fotografie, S. 17.

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leitung stand in ihrer Entscheidung damit womöglich auch zwischen dem ambivalenten Auftrag von »Besserung und Sicherung«. Durch uns erhielt die abgeschirmte Klinik ›Aufmerksamkeit‹, mit uns konnte die Klinik der Außenwelt Transparenz zeigen. Es wäre naiv zu glauben, dass sich Personen und Institutionen Medien völlig selbstlos öffnen. Sie dürften darin verständlicherweise auch immer einen Zweck verfolgen. Man sollte sich deshalb immer bewusst machen: Was für eine Machterweiterung erhofft sich das Subjekt vom Medium und welche Machteinwirkungen befürchtet das Subjekt von ihm? Ich betrachte es mit Respekt, dass sich die Klinik schließlich entschied, sich unserem ›Blick‹ zu stellen und das für einen relativ langen Zeitraum. Dies ist nicht selbstverständlich. Es war nachvollziehbar, dass die Leitung Bedenken hatte, denn sie ließen sich in einem hochreglementierten und überwachten System auf eine unbestimmte Variable, einen unkalkulierbaren Fremdkörper ein. Auch war abzusehen, dass wir teilweise auf gewohnte Tagesabläufe einwirken würden und womöglich temporär und längerwirkend Machtkonstellationen irritieren würden. Jede der beiden Interessensgruppen hatte eine Expertenmacht (»Andere Macht, anderes Wissen«18) inne, die die jeweils andere interessierte. Dabei standen mein Wunsch nach Autarkie und ihr Wunsch nach Kontrolle, im Vorfeld und während der Dreharbeiten, im ambivalenten Verhältnis. Damit ein Dreh stattfinden konnte, näherten wir uns schließlich in unseren gegenseitigen Machtpositionen an: Die Klinik gab etwas von ihrer Kontrolle ab, wir gaben etwas von unserer Autarkie ab und wir einigten uns darauf, dass die Klinik den Film zwar vor Veröffentlichung sehen, ihn auf Persönlichkeitsrechte und sicherheitsrelevante Fragen prüfen konnte, jedoch dabei nicht auf meine inhaltlichkünstlerische Freiheit Einfluss nehmen durfte. Dies gestand mir zwar Freiheit zu, ich befürchtete jedoch durch den institutionellen Einblick die Gefahr von Kompromisslösungen, die dem Film seine Schärfe nehmen könnten. Zu den institutionellen Sicherheitsmaßnahmen gehörte schließlich unter anderem, dass vor Drehbeginn der Klinikleitung ein Drehplan vorgelegt werden musste, der Auskunft darüber gab, wo mit welchen Personen und zu welcher Schicht gedreht werden sollte. Durch den Plan waren wir lokalisierbar. Wir durften uns des Weiteren nur in Begleitung eines Mitglieds eines sogenannten »Steuerungskreis Öffentlichkeitsarbeit« über das Gelände zwischen den Gebäuden bewegen. Einmal eingeschlossen im institutionellen System waren wir, ähnlich wie die Patientinnen, auf die Öffnung der Türen durch die Angestellten angewiesen. Da

18 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 290.

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wir keinen Schlüssel erhielten, mussten wir »für alles fragen«19. Unser »instrumentelles« Machtmittel, die Kamera, erschien allen machtvoll genug. Das bedeutete jedoch auch Mehraufwand für das Personal. Wir waren teilweise wie ein zusätzlicher Patientinnenkörper, den es zu versorgen galt. Ich begab mich demnach als Filmemacherin, die ich mir bislang immer möglichst viele Freiheiten beim Dreh offen hielt, in ein determiniertes Feld, einen determinierten Zeitraum und in determinierte Abspracheverhältnisse: Ich war von vornherein ein »begrenztes« Individuum, mein Machtspielraum war im konkreten wie übertragenen Sinne limitiert. Ich entschied, mich auf dieses verstärkt abhängige Drehverhältnis einzulassen, da ich von der Wichtigkeit überzeugt war, überhaupt Einblick in das geschlossene System geben zu können.

12.1.1 Die »Türhüterlegende« In Kafkas »Türhüterlegende« im Proceß verflüchtigt sich das eigentliche Ziel des Mannes, der einst »zum Gesetz« wollte. Der Eingang zum Gesetz steht offen, doch obwohl der Türhüter ihm anbietet, trotz seines Verbots hineinzugehen, wächst dessen subtile Drohung zum unüberwindbaren Hindernis: »Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere.«20 Der Mann glaubt, nur mit Erlaubnis des Türhüters den für selbstverständlich gehaltenen Weg gehen zu können. Damit wird das Gesetz unerreichbar. Es wird zum selbstauferlegten Verbot. Der Mann verzichtet von selbst auf sein Recht, denn der Türhüter und seine unbestimmte Vertröstung auf die Zukunft – »›Es ist möglich, […] jetzt aber nicht‹«21 – werden so mächtig, dass das Erreichen des Gesetzes schließlich ganz durch den Türhüter ersetzt wird. Der Türhüter wird zum Gesetz. Der Mann glaubt nun an ihn anstelle des Gesetzes. Er fixiert sich auf sein Hindernis und nicht auf sein Ziel. Die eigentliche Macht erhält der Türhüter somit erst durch die Beachtung des Mannes. Als dieser schließlich kurz vor seinem Ableben die Frage stellt, warum niemand sonst außer ihm in all den Jahren zum Gesetz wollte, ist er mit der Antwort konfrontiert: »›Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‹«22

19 20 21 22

Pflegerin Frau W1, in: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 8:56. F. Kafka: Der Proceß, S. 197. Ebd. Ebd., S. 198.

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Auch mir sollte es, sowohl im konkreten (daran gewöhnt, dass mir stets die Pflegerinnen mit ihren Schlüsseln die Türen öffneten), als auch im übertragenen Sinne passieren, dass ich während der Filmproduktion vor offenen Türen stehenblieb. Doch mir war bewusst: Wenn ich mich zu sehr vom Institutionsapparat, seinen Vorstellungen und Regeln, seinen Begrenzungen, beeindrucken lasse, wenn ich zu sehr an den ›Türhüter‹ glaube, würde ich das Ziel, einen Film aus einem möglichst unabhängigen Blickwinkel zu produzieren, nicht erreichen. Ich würde mich allzu sehr vom Blick des Türhüters abhängig machen, mich zu sehr auf ihn fixieren und mir so selbst Kraft nehmen. Vielleicht würde ich vergessen, was mir ›zustand‹, weil die Türhüter in meiner Vorstellung zu mächtig wurden. Ich vergegenwärtigte mir daher, dass mein Ziel, auch in ›Gefangenschaft‹ Freiheit in der Berichterstattung zu besitzen, ein selbstverständliches war, so wie das Gesetz selbst dies festschreibt und versuchte, ohne zu sehr auf den Türhüter zu blicken, die Schwelle zu überschreiten. Art. 5 Grundgesetz Meinungs-, Pressefreiheit, Rundfunk- und Filmfreiheit; Freiheit der Kunst und der Wissenschaft • (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. • (2) […] • (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.23 Frederick Wiseman drehte 1967 in der »Heterotopie« des »Bridgewater State Hospital« in Massachusetts, einer Einrichtung für psychisch erkrankte Straftäter, den Film TITICUT FOLLIES und legte mit ihm die Zustände der Institution offen. Erst 25 Jahre später, 1992, wurde er in den USA ausgestrahlt.24 Nach der Premiere des Films wirkte die Rechtsmacht auf ihn. Es kam »zur Anklage vor dem Massachu-

23 Dreier, Horst (Hg.): Grundgesetz Kommentar, Band I, Artikel 1-19, Tübingen 2013 (3. Auflage), S. 610.

24 Vgl. Metzger, Richard: Titicut Follies: The legendary banned Film from 1967 that went inside of an insane asylum, 4.5.2012, http://dangerousminds.net/comments/titicut_ follies_the_legendary_banned_film_from_1967 (27.10.2014).

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setts Supreme Judicial Court. Wiseman würde die Intimsphäre der Insassen verletzen, indem er ihre Vergangenheit, ihr Wesen und – am allerdeutlichsten – ihre nackten Körper zu deutlich filmen würde.«25 Der Film ist nur ein Beispiel dafür, dass sich mediale VertreterInnen stets einem Risiko aussetzen, wenn sie in Hoheitsgebieten von Systemen drehen, die mit internen Strukturargumenten Verbote und Ausschlusskriterien legitimieren können. Neben der innovativen Gestaltungsweise war es jedoch auch gerade die Schonungslosigkeit Wisemans gewesen, die den Film bei aller kontroverser Diskussion zu einem wichtigen ›Zeugnis‹ psychiatrischer Internierung gemacht hatte. In ihren Überlegungen, ob »man durch ein Bild (oder eine Gruppe von Bildern) dazu gebracht werden [kann], sich aktiv gegen den Krieg einzusetzen«26, meint Sontag: »Wahrscheinlich ist eine Erzählung in dieser Beziehung wirksamer als ein Bild. Zum Teil hängt dies auch damit zusammen, wieviel Zeit man betrachtend, mitfühlend investieren muss. Kein Foto und keine Fotoserie kann sich so entfalten, kann so weiter- und immer weitergehen wie der Film«27.

Die Bedeutung des Film-Mediums ergibt sich also auch aus der festgesetzten Zeit, die die ZuschauerInnen mit der ihnen ›vorgeführten‹ Wirklichkeit verbringen.

25 Last, Björn: Titicut Follies, http://www.filmzentrale.com/rezis/titicutfolliesbl.htm (18.9.2014).

26 Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten, München / Wien 2003, S. 142 f. 27 Ebd. S. 143 (Sontag bezieht sich in diesem Zusammenhang konkret auf den Film THE ASCENT, 1977).

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12.2 E XKURS : D IE M ACHT DES V OYEURISMUS V ORWURFS Der Vorwurf des Voyeurismus und der Selbstbereicherung durch die Betrachtung »des Leids der anderen«28 schwebte ständig über dieser Filmproduktion. Vilém Flusser leitet bei seinen Gedanken zu Aufnahme-Apparaten den lateinischen Begriff »apparatus« vom Verb »apparare« = »vorbereiten«29 ab, als »eine Sache, die in Bereitschaft auf etwas lauert […]. Dieses Auf-dem-Sprung-Sein der Apparate, diese ihre Raubtierhaftigkeit ist beim etymologischen Definitionsversuch des Begriffs ›Apparat‹ festzuhalten«30, meint er. Und er hat Recht. Wenn mit dem Apparat der Moment zum »Memento Mori« gemacht wird, liegt darin eine Form der Aneignung, die häufig geplant ist. Oft, abseits des sich ereignendem Zufalls, entstehen eindringliche Momente vor der Kamera deswegen, weil man in irgendeiner Form vorher um sie durch die Beobachtung des sich wiederholenden Alltäglichen wusste oder sie subtil antizipierte. Häufig wurde hinterfragt, ob es legitim sei, dass man Personen mit psychischer Erkrankung filme, da sie die Ausmaße dessen gar nicht begreifen würden. Generell meint Voyeurismus, anders als seine ursprüngliche Wortbedeutung – »Voyeur […] (lat.-fr.): (Psychol.; Med.): jmd., der durch [heimliches] Zuschauen bei sexuellen Handlungen anderer Lust empfindet«31 – eine Form unverhältnismäßigen oder zu nahen Blickens von einer Person auf andere, dem ein unausgewogenes Machtverhältnis immanent ist. Es ist jedoch nicht nur legitim, sondern sogar notwendig, mit und über psychisch Erkrankte(n) einen Film zu drehen. Dies hat folgende Gründe: • 1 »Selbstermächtigung« 32 : Mitglieder dieser, vom Normdiskurs definierten

zugehörigen Gruppe oder geschlossenen Heterotopie erhalten so selbst die

28 29 30 31 32

Vgl. Titelgebung ebd. Vgl. V. Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, S. 20. Ebd. Duden, Das Fremdwörterbuch, Band 5, Mannheim u.a. 2001 (7. Auflage). Übersetzung des Begriffs »Empowerment«, wonach Personen mehr Bestimmung und Selbstbefähigung zum eigenen Handeln und Entscheiden erlangen sollen (vgl. Kapitel 19.1.). Die Verwendung ist als Anlehnung zu verstehen. Anzumerken ist, dass das Modell etwa im Rahmen der sozialen Arbeit auch kritisch betrachtet wird: So wird z.B. die »Nicht-Beachtung von Leidenserfahrungen und realer Ohnmacht« durch einen einseitigen »Blick auf die Stärken«, sowie die »Ideologie des ›Ellenbogen-Menschens‹« eines

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Möglichkeit, auf ihre Position aufmerksam zu machen. Die »Partizipation« von Mediennutzung (nicht nur als Rezeption) ist ihnen wie anderen Individuen eröffnet. Als Michel Foucault mit seinem Lebensgefährten Daniel Defért innerhalb der Tätigkeit der »groupe d’information sur le prisons« (GIP) Fragebögen in die Gefängnisse schmuggelte, konnten die Gefangenen so Informationen vermitteln, durch die auf ihre Lebensumstände aufmerksam gemacht werden konnte. Die Patientinnen nutzten die Kamera als Ausdrucksmittel, um sich der Welt, in die sie nicht hinauskonnten, durch dieses Medium, wie durch Fragebögen oder eine Zeitungsbotschaft, mitteilen zu können. Sie wollten für die, in ihren Augen, ungerechtfertigte Unterbringung Aufmerksamkeit schaffen. Doch abseits dieses Zwecks hatten die Patientinnen auch einfach Spaß an der Kamera: »Die Menschen selbst sind bestrebt, Bilder aus sich zu machen – Prominente mit einem ›Image‹ zu werden«33, so Sontag. Die Patientinnen nutzen die Kamera, um ein Bild (»Image«) von sich zu bilden, um ›gesehen‹ zu werden. Warum sollte ihnen das vorenthalten sein? Weil sie sich als Ungesehene umso mehr danach sehnten? Das war jedoch nicht ihr Problem, sondern das Problem von uns FilmherstellerInnen, mit diesen Wünschen stets sensibel umzugehen. • 2 Inklusion: Psychisch Erkrankte werden so nicht zusätzlich zu der sowieso

erfolgten Ausschließung von den Blicken der Öffentlichkeit ausgeschlossen. In der Annahme, dass eine filmische Darstellung per se unlauter sei, unterliegen die Subjekte durch das Merkmal ihrer Erkrankung einer weiteren Ausschließungsprozedur. Das ›Wegsehen‹, wie dieses teilweise Kindern anerzogen wird, wenn sie körperlich oder geistig beeinträchtigte Menschen auf der Straße sehen (»Man guckt nicht«) führt zu Desintegration. Das generelle Aufnahme-Verbot – in moralisch fragwürdigen Kontexten, aus »Grauzonen« »no go-areas« zu machen – kommt einer moralischen Apriori-Zensur, in jedem Fall einer deutlichen Zuweisung und einer Stigmatisierung, gleich. In der paternalistischen Fürsorge der ›Schuld- und Entscheidungsunfähigen‹ liegt Entmündigung. Bei der Konfrontation mit Voyeurismus-Vorwürfen sollte daher stets hinterfragt werden, welche Motive und Ängste dieser moralisch begründeten kategorischen Verneinung von Sichtbarmachung des ›Anderen‹ zugrunde liegen.

sozial abgegrenzten Individuums kritisiert. Herriger, Norbert: Empowerment in der sozialen Arbeit. Eine Einführung, Stuttgart 1997, S. 82 und 83.

33 S. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 126.

156 | D ER PANOPTISCHE B LICK • 3 Verantwortungsannahme: Sind die Individuen nach psychologischen oder

gesetzlichen Gutachten »geschäftstüchtig« und wollen gefilmt werden, sind sie nach Ermessen der Medien-ErstellerInnen einzubeziehen. Diese verantwortungsvolle Aufgabe, Entscheidungen zu treffen, über Möglichkeiten, Auswirkung und Grenzen der Blickmacht zu bestimmen, könnte als ›Berufsauftrag‹ verstanden werden. Genauso wie ÄrztInnen und RichterInnen Entscheidungen fällen müssen, die für andere lebensentscheidend sind, sollten auch Medien-»gatekeeper« diese verantwortungsvolle Aufgabe annehmen. Diese von vornherein durch einen ›normativen‹ Zensus beeinflusst, abzulehnen, ist häufig nichts anderes als Ängstlichkeit. • 4 Gleichbehandlung: Ähnlich den Berufsgruppen von MedizinerInnen und

LehrerInnen, die im weiteren Sinne im Dienstleistungssektor arbeiten, sollten sich Medien-VertreterInnen nicht nur die ›einfachen Fälle‹ aussuchen, bzw. schwierige PatientInnen und KundInnen abweisen. Medien sind exklusiv dazu in der Lage, durch ihr Potenzial als »vierte Gewalt« privilegierten Zugang zu »Hetereotopien« zu erhalten, und diese so ›Unpreviligierten‹ zu öffnen. Diesen Zugang ungenutzt zu lassen, bedeutet Aufklärungschancen zu verpassen. • 5 Prinzip der Sichtbarmachung: Die HerstellerInnen können die ›fragwürdi-

gen‹ Subjekte von ihren Anliegen oder von sich selbst als vertrauenswürdigen Personen überzeugen. Sie sollten jedoch nie überreden, mit Verlockungen dazu bewegen, sich der Öffentlichkeit zu stellen. Die Auswirkung, die Konsequenz der Sichtbarmachung, sollte Medienunerfahrenen ausreichend vor Augen geführt werden. Der implizite und explizite Vorwurf des Voyeurismus schuf Macht, uns von bestimmten Begebenheiten auszuschließen und uns damit den »Wind aus den Segeln« zu nehmen. Das Klischee der »bösen Medien« machte es leicht, den »armen PatientInnen« Zuschreibungen als potenzielle ›Opfer‹ und uns als potenzielle ›TäterInnen‹ zu verleihen. Die Legitimation der Aufnahme wurde dabei interessanterweise nie von unmittelbar oder nah Betroffenen, die sich entschieden hatten, an dem Film mitzuwirken, infrage gestellt. »Es ist ja auch viel einfacher, aus dem eigenen Fernsehsessel, fernab der Gefahr, die Position dessen zu beanspruchen, der sich seine Überlegenheit bewahrt. Die Bemühungen derer,

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die in Kriegsgebieten Augenzeugen sein wollen, werden inzwischen so häufig als ›Kriegstouristen‹ verspottet, dass davon auch die Diskussionen über die Kriegsfotografie als Beruf nicht unberührt geblieben sind.«34

In den Worten Sontags kristallisiert sich die Gefahr der Selbstdisziplinierung und Selbstzensur der Medien und ihrer »gatekeeper«-Funktion ob eines vermeintlich moralischen Gemein-Blicks heraus, wodurch präventiv Erfahrungen im vorgeblichen Sinne des Gemeinwohls zurückgehalten werden. Eine Studierenden-Forschungsgruppe des »Studienkollegs zu Berlin« der Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die sich mit »Wahnsinn in Europa« beschäftigte und dazu Feldforschungen in drei europäischen Ländern unternahm, hatte anfangs beabsichtigt, zu ihrem Projekt einen Film zu drehen, verwarf dies jedoch »aus Angst, der kalte Blick durchs Objektiv habe etwas Voyeuristisches, gar Anrüchiges.«35 Im Nachhinein bedauerten sie ihre Haltung: »Im Verzicht auf den Film aus Vorsicht, aus Behutsamkeit, haben wir selbst Zeugnis einer Haltung abgelegt, die uns heute falsch erscheint. Psychiatrische Gesundheit und ihre Beeinträchtigungen gehören nicht in die Peripherie unserer Wahrnehmungen, sie gehören ins Zentrum.«36

Bezeichnend ist, dass in der Argumentation für ›Nicht-Sichtbarkeitsmachung‹ der Blick durchs Objektiv ein per se »kalter« wird. Als würden die Medien den schicksalhaft geglaubten »bösen Blick« besitzen, der, sobald er Personen trifft, zu schlimmen Folgen führt und vor dem sich unter anderem muslimische Kulturen mit Amuletten schützen. Durch diese Zuschreibung des Mediums als genuin negatives wird ihm Blickmacht genommen. Und das birgt Risiken. Denn viele Themen unserer Zeit würden im Diskurs nicht existieren, wenn sie die Medien nicht zeigten, was übrigens auch durch das Mittel der Informationsfilterung stetig passiert. Jedoch: Wie bei ›psychisch gesunden‹ Personen, die medienunerfahren sind, entstehen beim Dreh Momente, die nicht mit der Kamera festgehalten werden, oder – hat man sie gefilmt – nicht einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt

34 S. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 129. 35 Brödner, Alexander et al.: Umgang mit Wahnsinn. Alltag, Institutionen, Philosophien, in: Studienkolleg zu Berlin (Hg.): Projekt Europa 2011/2012, Berlin 2012, S. 106-117, hier S. 116.

36 Ebd.

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werden müssen, einfach weil die betrachteten Personen in diesen Momenten unwissend oder nicht Frau oder Herr ihrer Lage sind. In diesen Fällen gilt es, situativ zu entscheiden, und sich der Verantwortung der beruflichen Befähigung zu stellen. Man kann dabei schließlich auch einen warmen, empathischen, oder kühlen (nicht kalten) Blick im Sinne einer ehrlich nüchternen Betrachtung wählen: Bei der Suche nach dieser ›Blickrichtung‹, für die es nie den einen richtigen Weg gibt, obliegt es den EntscheidungsträgerInnen und einem stets korrigierenden Außenblick, den gegebenen Machtspielraum zu nutzen und dabei die Balance zu halten. Ein weiterer und zu Recht gemachter Vorwurf lautet, dass man als MedienvertreterIn kurzzeitig ein Feld bereist, es dann wieder verlässt, die AkteurInnen jedoch in diesem Lebenskreis zurückbleiben und mit den – wie auch immer gearteten – Folgen der Filmwirkung weiterleben müssen. Der verbreitete Ausdruck »verbrannte Erde hinterlassen« beschreibt den Vorgang einer medialen Kolonialisierung, einer kurzzeitigen, doch nicht nachhaltigen ›Eroberung‹. Mir war die Gefahr bewusst, dass manche Patientinnen in uns auch eine Projektionsfläche für Wünsche und Rettungsfantasien sahen und sie sich uns ebenfalls aus diesen Gründen anvertrauten. DokumentarfilmerInnen sind jedoch, auch wenn sie sich manchmal auf die seelischen Tiefen anderer Personen einlassen, FilmemacherInnen und keine TherapeutInnen. Bevor die Grenzen möglicherweise so verwischen, dass der Film dem Leben der AkteurInnen ungünstig nachhängt, ist es sinnvoller, diese Grenzen höher zu ziehen. Das Nicht-Eingebundensein in Komplexe, die ›Fremdkörperschaft‹, ist meist unabdingbar, um einen kritischen Blick zu behalten. Man kann dies ganz technisch ableiten: Gehen die Augen zu lange in Nahaufnahme, schaut man Objekte ständig in einer langen Brennweite an, verschwimmen die Einzelheiten und sind nicht mehr voneinander unterscheidbar. Der Abstand dient dazu, sich wieder ein kohärentes Gesamtbild erschließen zu können. Dieser räumliche und emotionale Abstand zu Subjekt und Ort verhindert etwa zu ›embedded directors‹37 zu werden, wie Susan Sontag verteidigt: »das Abstandnehmen von der Aggressivität der Welt [gibt] uns die Freiheit […] zu beobachten und unsere Aufmerksamkeit gezielt einzusetzen.«38 Hilfreich für diesen ›freien‹ Blick und eine emotionale Distanz war der räumliche Austritt aus der Klinik nach oder vor einer ›Dreh-Schicht‹: Wir verließen das

37 Nach den sogenannten »embedded journalists«, die in Kriegseinsätzen vor Ort »embedded«, (eingebettet) in der Armee leben und arbeiten.

38 S. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 138.

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System. Manchmal helfen »erlaubte […] Tricks«39, um sich der machtvollen Aura, die Orte besitzen können, zu entziehen. 12.2.1 »Nähe und Distanz« Eine häufige Antwort, die die Pflegerinnen als entscheidende Prämisse auf die Frage nach Mechanismen der Berufsbewältigung nannten, war »Nähe und Distanz«. Dies ist eine allgemein gebräuchliche Sentenz in vielen sozial-psychologischen Fach-Bereichen, die die professionelle Lenkung eines Beziehungsgefüges umschreibt. Die so mögliche Form der Abgrenzung ist wichtig für Angestellte dieser Berufsgruppen, um ihre Tätigkeit auszuüben. Doch es sind auch Begriffe, hinter denen sie sich zurückziehen können. Der Luxus einer »Nähe und Distanz«Varianz ist den PatientInnen durch die bereits erläuterte »Wir kommen auf Sie zu«Situation nicht in dieser Form möglich. Die therapeutische Sentenz kursiert jedoch auch in medialer Arbeitspraxis. Bisweilen ist man der Kritik ausgesetzt, zum Sujet zu große Distanz gehabt zu haben. »›Diesmal bist Du aber nicht richtig rangekommen‹, heißt es«.40 Wie das Klinik-Personal »Nähe und Distanz« als entscheidende Prämisse ihrer Arbeit beschreibt, schildert der Dokumentarfilmer Thomas Schadt: »In der Tat ist die Frage von Nähe und Distanz im Dokumentarfilm eine der wichtigsten überhaupt.«41 Im Folgenden sei auf die Balance dieses Verhältnisses im Zusammenhang des panoptischen Blicks der Kamera selbst eingegangen.

39 Roth, Wilhelm: Der Dokumentarfilm seit 1960, München / Luzern 1982, S. 12. 40 Schadt, Thomas: Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms, Konstanz 2012 (3. Auflage), S. 51.

41 Ebd.

13. Zum filmischen Konzept

Fühlt man sich genötigt, unseren Film einer Gattung zuzuordnen, werden ihn die meisten als »Dokumentarfilm« bezeichnen. Eine deterministische Grenzziehung zwischen dem Dokumentarfilm, dessen Gestaltungsvielfalt weit gefasst ist, und anderen Filmgenres wie dem Spielfilm, der ebenso gestalterische Grenzen zwischen Inszenierung und Improvisation, Narration und Non-Narration mit sämtlichen Stilmitteln auslotet, ist jedoch blickverengend. Das Dokumentarische in ANDERE WELT besteht darin, dass wir uns in einem vorgegebenen Setting mit Personen bewegen, die wir in ihrem Alltag filmen, welcher maßgeblich nicht von uns kreiert wurde. Als »Dokumentarfilm« wurde er von Sender und Filmförderungsanstalt gefördert. Mit dem Gattungsbegriff »Dokumentarfilm« versehen und der gemeinhin überlieferten Annahme, dass diesem eine Realitätsbezogenheit inne ist, schien er besonders prädestiniert dafür ›Wahrheit‹ aufzudecken und zu vermitteln. Darin kann er mächtig wirken und während Drehaufnahmen auch gefürchtet werden: »Documentary has a power, if not directly to reveal the invisible, nonetheless to speak of things that orthodoxy and conservatism, power and authority, would rather we didn’t know and didn’t think about. And this is exactly why we need it.«1

Allerdings kann der Dokumentarfilm-Begriff nicht trennscharf durch Kriterien wie »Nonfiktion« und »Fiktion«2 definiert werden, entstehen in diesem Feld doch Hybrid-Formen, Grenzverschiebungen und Gestaltungsformen, die die Freiheiten der Interpretation des ›Echten‹ immer wieder neu ausloten.

1 Chanan, Michael: Filming the »Invisible«, in: Austin, Thomas / de Jong, Wilma (Hg.): Rethinking Documentary: New Perspectives, New Practices, Maidenhead 2008, S. 121132, hier: S. 132, zit. nach: Saunders, Dave: Documentary, New York 2010, S. 1.

2 Vgl. T. Schadt: Das Gefühl des Augenblicks, S. 20.

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Beim kreativen unformatierten Dokumentarfilm, der oft fälschlicherweise mit wachsenden »Doku-Formaten« wie »Dokumentation«, »Reportage« oder DokuSoap3 gleichgesetzt wird, geht es darum, Wirklichkeit zu gestalten und zu interpretieren, die ›Magie des Moments‹4 herauszustellen, die vielleicht deswegen so besonders ist, »weil sie es versteht, sich immer wieder dem fixierenden Blick des Dokumentarfilmers zu entziehen.«5 Im Dokumentarfilm liegt das Ziel in der Suche nach ›Wahrhaftigkeit‹, die hinter dem liegt, was vordergündig zu erkennen ist; anstelle des Ergebnisses einer eindeutigen Wahrheit, mehrere Wahrheiten zuzulassen, ein Lachen, einen Blick oder eine kleine Geste groß werden zu lassen. Momente, die unnachahmlich und situativ sind, flüchtig und lebendig und vielleicht gerade deswegen berühren. Filme, die Zusammenhänge auflösen und neu zusammenstellen, nach den faustischen »zwei Seelen« in einer Brust oder einer Begebenheit suchen: keine journalistische Information, sondern Bild- und Gesprächs-Eindrücke, die sich den Blicken von selbst und sukzessive er- und wieder verschließen – all dies macht Dokumentarfilm aus. »Das Kino-Auge schließt ein: alle Filmtechniken; alle sich bewegenden Bilder, alle Methoden ohne Ausnahme, die erlauben, sich der REALITÄT zu nähern und sie aufzunehmen: eine Realität in Bewegung«6. Für die Gestaltung der ›Wirklichkeit‹, für ihren Anfang und ihr Ende, gibt es keine Gesetze. Jedoch ist das eine entscheidend – dass man dem Leben der Personen vor der Kamera ›gerecht‹ wird, ihr Leben nicht manipulativ verfälscht und damit Schaden hinterlässt. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Wesen des Dokumentarfilms wäre hier nicht zielführend, da sie vom Hauptaspekt der »Macht« in dieser Arbeit abweicht. Getreu diesem zentralen Fokus sei jedoch darauf hingewiesen, welche Methodik bei der Wahrnehmungs-Kreation zumindest bewusst angewendet wurde, und welche filmischen Stilrichtungen diese als ›Vor‹-Bild (nicht im apodiktischen Wortsinne) beeinflussten.

3

Vgl. Pfafferott, Christa: Mehr Wahrhaftigkeit wagen, 26.6.2007, http://www.stern.de/ kultur/film/dokumentarfilme-mehr-wahrhaftigkeit-wagen-591852.html (29.9.2014); T. Schadt: Das Gefühl des Augenblicks, S. 21.

4 5 6

Ähnlich auch »Poesie des Augenblicks«: T. Schadt: Das Gefühl des Augenblicks, S. 90. Ebd. Dziga Vertov, zit. nach: W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 16, Hervorhebung im Original, zit. nach: Rouch, Jean, in: Freunde der Deutschen Kinemathek (Hg.): Kinemathek, Berlin, Heft 56, 1978, S. 6.

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13.1 B EOBACHTEN Vor Drehbeginn sage ich den Personen stets einführend, sie sollten »uns möglichst so behandeln, als ob wir nicht da wären«. Dies wird zu Recht meist mit einem Lachen beantwortet, bilden wir doch mit unseren Apparaten einen manifesten Corpus. Doch der Hinweis ist jedes Mal wichtig. Es ist eine Art Übereinkunft zwischen allen Beteiligten, samt Einbeziehung der ZuschauerInnen, »Personen zu beobachten, die auch ohne Anwesenheit des Filmteams so und nicht anders agiert hätten.«7 Um das – wenn überhaupt je möglich – zu erreichen, benötigt man vor allem eins: Zeit – am besten umbestimmte. Der Faktor einer langen, wenngleich für die Produktion mit jedem Tag teurer werdenden, Drehzeit zahlt sich immer aus. Oft passieren viele wichtige Situationen an den ersten Tagen eines Drehs, wenn alles noch neu ist (in diesem Film stammen knapp acht Minuten, mehr als ein Zehntel der Filmlänge, vom ersten Drehtag), und an den letzten Drehtagen, wenn sich alle Beteiligten an die Situation gewöhnt haben und Vertrauen entstanden ist. Mehr als ich das in einer geschlossenen psychiatrischen Institution erwartet hätte, in der jeder Außenreiz etwas Besonderes darstellt, nahmen uns die Personen schon sehr bald nach unserem Eindruck als selbstverständlich war. Dies kann jedoch auch mit einem geänderten »Medienbewusstsein«8 zu tun haben, wie dies der Filmwissenschaftler Wilhelm Roth schon bei den Personen in den Filmen Frederick Wisemans vermutete, »die sich mit einer Selbstverständlichkeit vor der Kamera bewegen, die man nicht für möglich hält«9. Inwiefern die Personen in unserem Film ebenfalls Kameragewöhnte durch die Video-Überwachung der Klinik waren, ist nur vermutbar. Wir selbst zumindest nahmen diese Kameras schon bald nicht mehr bewusst wahr. Viele Szenen in dem Film sind, wie zuvor erwähnt, in langen »Plansequenzen«, anhand einer »Montage in der Kamera«10, gedreht. Die »Systemwächter-Szene« von Frau D. und Frau H. ist 2:38 Minuten lang ohne eine einzige absetzende Kamera-Einstellung gefilmt.

7 Beyerle, Mo: Das Direct Cinema und das Radical Cinema, in: Beyerle, Mo / Brinckmann, N. Christine: Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre, Direct Cinema und Radical Cinema, Frankfurt am Main, New York 1991, S. 29-53, hier S. 29.

8 W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 12. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 15.

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Dieses Bild-Konzept war, wie zuvor bei der Nutzung der Videoüberwachungsaufnahmen erläutert, ein von vornherein gesetztes. Dabei wurde auch ein etwaiges Bild-Wackeln, das bei langen Einstellungen mit der Handkamera entstehen kann, akzeptiert (hier sind etwa die Dogma-Filme um Lars von Trier natürlich bereits lange radikale Vorreiter), um die Szene nicht zu unterbrechen, und um sie durch autarke Bewegungs-Entscheidungen zu prägen. Für diese verständigten die Kamerafrau und ich uns teilweise während des Drehs durch Blicke. Während ihr Fokus, zumindest der des einen Auges, durch das Objektiv ging, behielt ich vor allem das Außen am Kamerarand im Blick, um sie in etwaigen Momenten darauf aufmerksam machen zu können. Unser ›Team-Blick‹ zeigt sich zum Beispiel in der Szene, in der Frau D. von ihrer Tochter spricht und die Kamera währenddessen zum betroffenen Gesicht der Pflegerin schwenkt. Ein Schnitt wird hier durch das gegenwärtige Interesse von Kamera und Regie, ›was denkt die Pflegerin?‹, gesetzt. Durch die nur minimal verzögerte Gleichzeitigkeit von Erzählung und der Reaktion darauf, wird die Situation verdichtet. Der intuitive Blick-Schnitt, nicht der Schnitt am Schneidetisch entscheidet – die ZuschauerInnen erschließen sich das Geschehen zusammen mit der Kamera. Gleichzeitig entzogen wir uns mit dieser Vorgehensweise, dem, wie zuvor erläutert, mit diesem Filmthema direkt oder latent verbunden Vorwurf der Ausnutzung von »subalternen« 11 Individuen oder einer nachträglich vorgenommenen Bild-Manipulation. Dieses möglichst unauffällige Agieren wie das »einer Fliege an der Wand«12 entspringt der Tradition des »Direct Cinema« oder »Uncontrolled Cinema«, das unter anderem maßgeblich von Richard Leacock, Robert Drew und D.A. Pennebaker in den USA um 1960 entwickelt wurde: Konstituierend für diese Entwicklung war die teils von ihnen selbst entwickelte Technik der synchronen Tonaufnahme für ein mobiles Aufnahme-System, jedoch auch die Haltung gegen ein Kino der »Glätte«13, das »moralisch korrupt,

11 Vgl. »Können Subalterne sprechen«: Chakravorty Spivak, Gayatri: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008, S. 47, zit. nach: H. Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, S. 19 (Steyerl verweist darauf, dass die Frage im Original-Wortlaut länger ist).

12 Vgl. «a fly on the wall« Rosenthal, Alan: New challenges für Documentary, Berkely / Los Angeles / London 1988, S. 518.

13 Kotulla, Theodor (Hg.): Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente, Band 2: 1945 heute, München 1964, S. 318, zit. nach: W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 10.

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ästhetisch überlebt, thematisch oberflächlich, in seinem Temperament langweilig«14 war; eine ähnliche Haltung vertrat unter anderem in Frankreich die »Nouvelle Vague« um Francois Truffaut und Jean-Luc Godard.15 Das »Direct Cinema« will »die Wirklichkeit für den Zuschauer transparent […] machen«16, was im Idealfall die Blick-Demokratie, im Sinne einer weniger konstruierten Wahrnehmung, erweitert: »Der Filmemacher ist kein Regisseur, der Anweisungen gibt, sondern ein Beobachter […], der Ereignisse, die sich auch ohne ihn abgespielt hätten, aufzeichnet. Er lässt nichts wiederholen, er macht (in der Regel) keine Interviews.«17 Er ist wie »eine Fliege an der Wand«18. In PRIMARY, dem filmgeschichtlich prägenden Film über den Vorwahlkampf zwischen Hubert H. Humphrey und John F. Kennedy von Robert Drew, in dem Richard Leacock Kamera führte, agieren Kamera und Ton, »noch mit einem Kabel verbunden«19, erstmalig mobil. Berühmt ist der Gang, in dem John F. Kennedy »von der Straße durch einen langen Korridor bis in den Saal«20 ohne Schnitt gefilmt wird – durch die flexible Technik konnten die Filmemacher dem Geschehen ›hinterherlaufen‹. Im »Direct Cinema« wird Kritik an den Personen nicht direkt, sondern implizit ausgedrückt: »Wir sind grundsätzlich Beobachter, kritische Beobachter. Das heißt, dass wir nicht sagen, die Leute sind böse oder dumm, sondern dass wir zu allen Leuten, die wir filmen, eine Beziehung fundamentaler Gleichberechtigung herstellen.«21 Die Charaktere entlarven sich eher selbst.22 Dieses Neutralitätsstreben wurde jedoch auch als illusorisch bewertet. Auf direkter wie auf meta-ästhetischer Ebene ist zu hinterfragen, ob die Realität jemals

14 15 16 17 18 19 20 21

Thomas Kotulla, zit. nach: W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 10. Vgl. W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 10. Ebd., S. 14. Ebd., S. 11. Vgl. «a fly on the wall« A. Rosenthal: New challenges für Documentary, S. 518. W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 11. Ebd. Sämtliche Aussagen Richard Leacocks beziehen sich auf das Interview: Leacock, Richard, in: Gregor, Ulrich: Wie sie filmen. Fünfzehn Gespräche mit Regisseuren der Gegenwart, Gütersloh 1966, S. 268, zit. nach: W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 14.

22 Vgl. ebd.

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eingefangen werden kann. Dies zeigt sich etwa auch an Vilém Flussers Betrachtung zur Fotografie. Er misst dem Fotografen, »Operator« 23 , eine essenzielle Machtstellung zu: »Nicht wer eine Fotografie besitzt, hat Macht, sondern wer die auf ihr befindliche Information erzeugt hat.«24 Doch die Einflussfaktoren, die zum schlussendlichen Bild-Erzeugniss beitragen, sind weitaus komplexer: »Das Spiel mit Symbolen ist Machtspiel geworden – ein hierarchisches Machtspiel: Der Fotograf hat Macht über die Betrachter seiner Fotografien, er programmiert ihr Verhalten; und der Apparat hat Macht über den Fotografen, er programmiert seine Gesten.«25

Auch das Bild der ›Realität‹ im »Direct Cinema« wurde schließlich bereits durch die technische Neuerung der Apparat-Struktur (Ton und Bild sind ›verbunden‹) geprägt. Noch deutlicher infragegestellt wurde jedoch das unmittelbare »Grundproblem«26, inwiefern »die Anwesenheit eines auch noch so kleinen Filmteams die Ereignisse«27 verändern würde: »Spielen die Gefilmten nicht für die Kamera?«28 Zum Vorwurf der Einflussnahme ins Geschehen durch das Medium, führte Leacock aus: »Alles, was wir tun können, ist, unsere Gegenwart auf ein Minimum zu reduzieren.«29 Für dieses ›Gewöhnen und Vergessen‹ nannte Leacock hauptsächlich drei »Verfahrensweisen: • Man filmt Situationen, die so aufregend sind, dass die Beteiligten die Kamera

mit der Zeit tatsächlich vergessen […] • Man berichtet über Ereignisse, die sich ohnehin in der Öffentlichkeit abspielen […] • Man filmt Personen, die in einer Entscheidungssituation, in einer Prüfung, in einer Krise, in der sie wiederum die Kamera vergessen und sich zudem ihr wahrer Charakter enthüllen soll.«30

23 V. Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, S. 29; (den Begriff des »operator« für den Fotografen verwendet ebenso R. Barthes: Die helle Kammer, S. 17).

24 25 26 27 28 29 30

Ebd., S. 47. Ebd., S. 29. W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 11. Ebd. Ebd. Richard Leacock, zit. nach: W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 11. Ebd., S. 11 f. (Spiegelstriche selbst gesetzt).

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Auch in ANDERE WELT werden Situationen der Aufregung, der Entscheidungen, gefilmt, die dadurch bedingt waren, dass die Patientinnen durch die Form der Unterbringung einer fast permanenten Prüfungssituation ausgesetzt waren. In diesen Situationen wurde die Gegenwart des Filmteams kaum wahrgenommen. Bei einem Disput wie dem von Patientin Frau B. und Pflegerin Frau W1 im Hof, der Szene um den verschütteten Kaffeebecher von Patientin Frau W. oder wenn Frau D. erfährt, dass sie aus dem Kriseninterventionsraum ›gelockert‹ wird, sind die Personen so »mit einer Sache beschäftigt […], die sie existenziell betrifft und ihre volle Aufmerksamkeit verlangt – [dass sie] die Anwesenheit der Kamera weit weniger wahrnehmen als in anderen Situationen«.31 Sobald der Prozess der Gewöhnung eintritt, steigt somit auch die Verantwortung der BetrachterInnen. Sie haben nun mehr Macht, da sie ›näher‹ an den Personen ›dran‹ sind. Dass die Filme um das Team von Richard Leacock hauptsächlich Personen in Entscheidungssituationen zeigen, macht nach KritikerInnen wie unter anderem Godard32 den »neuralgische[n] Punkt«33 der Filme aus: »Wird nicht der Wirklichkeit, die angeblich ›unkontrolliert‹ eingefangen werden soll, eine dramatische Struktur übergestülpt? Unterdrücken diese Reportagen nicht alles das, was nicht ins Schema passt?«34 Die »›crisis-structure‹«35, die »Festlegung auf eine Krisen- oder Wettbewerbssituation«36 führt nach Mo Beyerle »zu einer Erzählstruktur, die gegen Ende unweigerlich ihre Konfliktauflösung findet und damit dem Bedürfnis der Zuschauer nach einer in sich geschlossenen Handlung entgegenkommt: Sieger und Verlierer stehen fest, die Krise ist vorbei.«37

31 M. Beyerle: Das Direct Cinema und das Radical Cinema, S. 34 f. 32 Vgl. W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 12 f, mit Verweis auf: Nettelbeck, Uwe: Richard Leacocks Vergötzung der Wirklichkeit, in: Filmkritik, Frankfurt am Main, Heft 3/1964, S. 124 ff.; Ladiges, Peter M.: Richard Leacocks Experiment mit der Wirklichkeit, in: Film, München, 1. Jahrgang, Heft 3, August / September 1963, S. 10 f.; Godard, Jean-Luc, in: Godard/ Kritiker, München 1971, S. 160.

33 34 35 36 37

W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 12. Ebd. M. Beyerle: Das Direct Cinema und das Radical Cinema, S. 35. Ebd. Ebd.

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Damit entsprechen die Filme auch den nach aristotelischen Dramenmodell nötigen Bedingungen von »Eleos« (Mitleid) und »Phobos« (Furcht)38, die eine Tragödie besitzen sollte. Empathie entwickelt sich unter anderem dann stark, wenn die Personen im Film emotional nachvollziehbaren existentiellen Ereignissen ausgesetzt sind: Angst vor dem Sterben, vor Gewalt, vor Einsamkeit. So nehmen die ZuschauerInnen deutlicher Anteil an der Handlung und ihrem Ausgang und erfahren ein größeres kathartisches Moment39 nach ›gemeinsam‹ durchstanden Prüfungen mit den HeldInnen. Auch ANDERE WELT, zwar nicht von vornherein nach einer »crisis-structure« geplant und gedreht, ist jedoch den Ereignissen vor Ort folgend und in der Montage letztlich nach einer chronologischen Krisen-Entwicklung strukturiert. Bei den Patientinnen Frau D. und Frau B. nimmt diese einen positiven, bei Frau W. konträr dazu einen negativen, Verlauf, der womöglich Mitleid evoziert. Dies kann nach Sontag auch entlastende Funktion haben: »Solange wir Mitgefühl empfinden, kommen wir uns nicht wie Komplizen dessen vor, wodurch das Leiden verursacht wurde. Unser Mitgefühl beteuert unsere Unschuld und unsere Ohnmacht.«40 Das Mitgefühl bei der Bildbetrachtung dient also eher dem eigenem Zweck der ZuschauerInnen, als dass es der betrachteten Person unmittelbar nützt, welche das Gefühl meist nicht direkt erfahren wird. Somit hat Mitgefühl kompensatorische Funktion, wir glauben uns hilflos und gleichzeitig empathisch, können uns mit diesen Empfindungen über die Ereignisse stellen, die wir auf dem Bildschirm sehen, erfahren also, indem wir »das Leiden anderer betrachten«, auch eine IchAufwertung. In diesem Zusammenhang sei jedoch erwähnt, dass die BetrachterInnen durch Mitgefühl über einen Film hinaus für die gezeigte Thematik und die ›Betroffenen‹ sensibiliert werden können. »[A]b Mitte der 1960er Jahre«41 entwickelte sich im »Direct Cinema« ein Stil, der nun von einem eher »personenorientierten«42 (wie Kennedy bei PRIMARY) zu

38 Die Untersuchung folgt hier der gängigen Übersetzung der Begriffe von Lessing (Hamburgische Dramaturgie), vgl. Fuhrmann, Manfred: Nachwort, in: Fuhrmann, Manfred (Hg.): Aristotoles: Poetik. Griechisch/ Deutsch, Stuttgart, S. 144-178, S. 177. Allerdings übersetzt Manfred Fuhrmann die Begriffe mit »Jammer« und »Schaudern«, siehe ebd., S. 161 ff.

39 40 41 42

Vgl. ebd., S. 165. S. Sontag: Das Leiden anderer betrachten, S. 119. M. Beyerle: Das Direct Cinema und das Radical Cinema, S. 38. Ebd.

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einem »themenorientierte[n]«43 Zugang steuerte. Führend war darin unter anderem Frederick Wiseman, der bei seinen Filmen gezielt 44 nicht »mit einer vorprogammierten Krisenstruktur«45 arbeitete. Wenn sich Krisenmomente in seinen Filmen ereignen, enstehen sie aus Zufall.46 Diese »themenorientierten« Filme, bei denen er vor allem »Institutionen wie Schule, Militär, Krankenhaus, Polizei«47 beobachtete, werden gestalterisch besonders durch die Montage gepägt. »[D]ie chronologische Anordnung der einzelnen Sequenzen [hat] so gut wie keine Bedeutung mehr.«48 Dies verdeutlicht auch sein bereits erwähnter und viel diskutierter Film »TITICUT FOLLIES« von 1967, der eigenen Raum-Zeit-Bestimmungen folgt: »While Wiseman’s films do have a structure, its limitations are of space and not of time. All scenes in a film are, of course, connected to the institution, but there are rarely sequential time connections.«49 Etwas abweichend von diesem inhaltlich ähnlichen Film-›Vor‹-Bild gingen auch wir bei der Beobachtung der »Heterotopie« themenorientiert vor. Wir fokussierten uns zwar auf Personen in ihrem Agieren, dies jedoch stets in Bezug auf den themenorientierten und institutionellen Kontext (Macht, Gefangenschaft). Das Konzept schloss so auch (obwohl – wie beschrieben – ein näherer Fokus auf die Pflegerinnen geplant war) von vornherein aus, die Personen in ihr Privatleben außerhalb des Zauns zu begleiten. Damit sollte auch vermieden werden, qua biografischer Kontextualisierung, vermeintlich eindeutige Deutungsangebote für ihr Agieren zu schaffen. Wir beobachteten persönliche Situationen im systemischen Kontext. Die »Krisen« und »Entscheidungen« waren in ANDERE WELT nicht zeitlich vorhersehbar wie etwa die Begebenheiten im frühen »Direct Cinema« (Wahlkampf-Termine in PRIMARY), sondern, wie das Eintreten der Fixierung der Patientin Frau W., aleatorischer Natur. Im Schnitt folgten wir den »Entscheidungen« und »Krisen« individueller Personen auch deswegen in chronologischer Dramaturgie, um damit wieder Bezug auf das institutionelle System zu nehmen und seine Wirkungsmächtigkeit auf individuelle Lebensläufe herauszustellen.

43 44 45 46 47 48 49

M. Beyerle: Das Direct Cinema und das Radical Cinema, S. 38. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 39. Ebd. Mamber, Stephen: Cinéma Verité in America. Studies in Uncontrolled Documentary, Camebridge, Mass. 1974, S. 221, zit. nach: M. Beyerle: Das Direct Cinema und das Radical Cinema, S. 39.

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Ebenso wurde, wie es üblich für »Direct Cinema«-Filme ist, auf einen Autorenkommentar im Off, also auf eine begleitende Erzählstimme auf der Tonspur, verzichtet. Mir war es von Beginn der Produktion an wichtig gewesen, keinen Erzähler einzusetzen und so ein stellenweise »unzuverlässiges Erzählen«50 zu ermöglichen, das Raum für eigene Gedanken zulässt. Die Akteurinnen werden oft als ›unmündig‹ betrachtet, im Film sollten sie die Möglichkeit haben, sich selbst zu äußern, und die ZuschauerInnen sollten die Freiheit erhalten, sich dazu selbst ein ›Bild‹ zu machen (»Selbstermächtigung«). Die Diskontinuität, die innerhalb von Leerstellen entsteht, sollte nicht Fehler, sondern Konstitutiv eines unbestimmten Narrativs sein. Dazu stellte sich wieder die Frage nach der absoluten ›Wahrheit‹: Wer entscheidet, was wahr ist, und wem kann man glauben? Woher wissen wir, dass Frau D. nicht diejenige ist, die die Wahrheit sagt? Wer wäre der »legitime Sprecher«51? Und wer sollte den ›Sprechakt‹ vollziehen? Eine Frauen-, Männer-, eine Kinderstimme? Schnell gesprochen, langsam, traurig, der Thematik entsprechend gemäßigt, leise, laut, lebendig? Ein Sprecher würde eine deutliche Aussage kreieren, wie Foucault fragt: »Kann man nicht sagen, dass eine Aussage überall dort vorliegt, wo man einen Akt der Formulierung erkennen und isolieren kann«52. Der Film formulierte Aussagen bereits implizit im beobachtenden Stil, mit dem Verzicht auf einen Kommentar sollte eine »Unbestimmtheitszone« verbleiben, die die ZuschauerInnen zu eigenen Aussagen ermächtigen sollte.

50 Abgeleitet vom »Unzuverlässigen Erzählen« in der Narratologie. Dieses meint eine Behauptung über eine erzählte Welt, die sich als ›unwahr‹ herausstellt - eine »Irreführung des Publikums«: Koebner, Thomas: Was stimmt denn jetzt? ›Unzuverlässiges Erzählen‹ im Film, in: Liptay, Fabienne / Wolf, Yvonne (Hg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München 2005, S. 19-38, hier S. 22. Interessant dazu auch: »Offenbar verbindet sich in Literatur und Film die Frage danach, was eigentlich stimmt von dem, was erzählt wird, mit der Frage nach dem, der da erzählt und dem man Vertrauen schenken soll. Wenn es ein Irrer sein sollte, der sich bald als solcher enttarnt, muss man seinem Vortrag keinen Glauben schenken.« Koebner, Thomas: Vorwort, in: ebd, S. 9-11, hier S. 10.

51 Vgl. R. Keller: Diskursforschung, S. 51. 52 M. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 120.

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13.2 E INGREIFEN Parallel zu der amerikanischen Richtung des »Direct Cinema« entstand in Frankreich, hauptsächlich geprägt durch Jean Rouch, Edgar Morin und Chris Marker, eine Tradition, die die gleiche filmische Technik benutzte – das »Cinéma Vérité«. Konstituierend dafür war unter anderem der Film CHRONIQUE D’UN ÉTÉ (1961) von Jean Rouch und Edgar Morin, dessen Untertitel den Begriff »Cinema Vérité« explizit nennt. Beim »Cinema Vérité« wurde etwa wie beim »Direct Cinema« »die Montage in der Kamera«53 angewendet, weshalb die beiden Strömungen fälschlicherweise des Öfteren gleichgesetzt werden. Zwischen diesen besteht jedoch ein eminenter Unterschied: Die Filmemacher des »Cinéma Vérité« »versuchten, die Leute, die sie filmten, durch die Konfrontation mit der Kamera zu Bewusstseinssteigerungen oder -änderungen zu veranlassen.«54 Sie intendierten also nicht sich ›unsichtbar‹ zu machen, sondern die Wirklichkeit durch ihre Gegenwart teilweise absichtlich zu beeinflussen. Die »fly on the wall« wird zur so genannten »fly in the soup«55. Bei seinem Film MOI UN NOIR aus dem Jahr 1958 bewegte sich Rouch zwischen Fiktion und Non-Fiktion: Seine Protagonisten, drei Männer aus Niger, spielen ihre Träume nach. »Der Ton wurde ein halbes Jahr nach den Dreharbeiten gemacht, Geräusche und einzelne Dialogfetzen sind nachsynchronisiert.«56 Rouch machte zwar im Film einige Anmerkungen, den meisten Kommentar sprach jedoch einer der Darsteller in improvisierter Form selbst ein. »[D]urch das bewusste Spiel der Darsteller […], durch die Einbeziehung von Träumen, durch die BildTon-Montage bekommt der Film eine irritierende Künstlichkeit, die Godard bewunderte, die ihn auch beeinflusste».57

53 W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 16. 54 Ebd., S. 9. 55 So bezeichnet von Breitrose, Henry: The Structure and Functions of Documentary Film, CILECT Review, Bd. 2, Nr. 1, 1986, S. 47, zit. nach: Winston, Brian: The Documentary Film as Scientific Inscription, in: Renov, Michael (Hg.): Theorizing Documentary, New York /London 1993, S. 37-57, hier S. 53.

56 W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 16. 57 Ebd., S. 17, mit Verweis auf Jean-Luc Godard, in: Godard/ Kritiker, München 1971, S. 127 ff.

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Die BefürworterInnen Rouchs meinten, »dass die inszenatorischen Möglichkeiten des Cinéma Vérité Wahrheiten offenbaren, die den Vertretern des ›unkontrollierten Films‹ verschlossen bleiben.«58 Rouch baute in seinen Filmen, anders als Leacock, auch Gespräche ein59: »Grundidee war […], die Personen vor der Kamera zu Äußerungen zu provozieren, die sie normalerweise unterdrücken würden.«60 Rouch wurde wegen der Darstellung der Personen in seinen Filmen, die er zu großen Teilen in Afrika drehte, wie etwa LES MAÎTRES FOUS (1955), auch kontrovers diskutiert. So bewertete der Autor und Regisseur Ousmane Sembène die Darstellung seiner Landsleute mit den Worten: »Du schaust uns an, als wären wir Insekten«61. Eine vieldeutige und stimmige Allegorie: In dem Sinne, wie ForscherInnen Insekten fixieren, unter ein Vergrößerungsglas schieben, also im direkten und übertragenen Sinne »unter die Lupe« nehmen und zum »Subjekt objektivieren«, kann auch der Blick der Kamera bisweilen interpretiert werden. ANDERE WELT entspricht nicht streng deterministisch einer Richtung, da er, wie erläutert, Methoden anwendet, die man dem »Direct Cinema« zuordnen und andere, in denen man Einflüsse des »Cinéma Vérité« entdecken könnte. Insgesamt orientiert er sich jedoch, aufgrund der Charakteristiken der »Montage in der Kamera«, dem fehlenden Off-Kommentar und dem wiederkehrenden Eingriff in das Geschehen maßgeblich an den Vorstellungen des »Cinéma Vérité«. In ANDERE WELT gibt es in repetitiv absetzender Weise ›initiierte‹ Szenen, in denen die Akteurinnen nach Absprache ganz konkrete ›Aufgaben‹ umsetzen: So wurden die Patientinnen gebeten, aus dem Strafgesetzbuch vorzulesen. Das Gesetz, das als normativer Richtwert ihren Alltag prägt, materialisiert sich somit temporär zum vergegenständlichten filmischen Erzählmittel. Die Frauen werden kurzzeitig zu auktorialen Erzählerinnen, die den ZuschauerInnen Expertenwissen überliefern, wenn sie ihnen die Paragrafen vorlesen, die ihre eigene Realität festschreiben.

58 59 60 61

W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 18. Vgl., ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Vgl. Rouch, Jean / Sembène, Ousmane: »Du schaust uns an, als wären wir Insekten« Eine historische Gegenüberstellung zwischen Jean Rouch und Ousmane Sembène im Jahr 1965, in: Gutberlet, Marie-Hélène / Metzler, Hans Peter (Hg.): Afrikanisches Kino, Unkel/Rhein; Bad Honnef, 1997, S. 29-33, hier S. 29; im Original-Laut sagt Sembène im Interview: »Ich werfe ihnen [den Filmen] vor, wie ich auch den Afrikanisten vorwerfe, uns anzuschauen, als wären wir Insekten…«, ebd. S. 30.

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Durch das Medium beauftragt, sind sie jedoch auch Funktionsträgerinnen, ins Bild ›gesetzt‹ im wahrsten Sinne des Wortes, was sich in der starren, frontal gewählten, sie zentral situierenden und von der Handkameraführung abweichenden KameraKadrage herauskristallisiert. Auch die sich wiederholende Verwendung des Schleusenmotivs, der Einsatz von Musik oder die Implementierung der Überwachungsaufnahmen weichen vom Stil des »Direct Cinema« ab.

Abb. 21: Patientin liest den Paragraf 63 StGB vor62 13.2.1 Gesprächsführung Meine Methode war es, keine abgesetzten Interviews zu führen, jedoch Fragen aus dem Geschehen heraus am jeweiligen Drehort zu stellen. Dabei ist es meine Prämisse, Gespräche zu führen, keine Interviews – angelehnt an die Anschauung der Dokumentarfilmerin Helga Reidemeister (unter anderem VON WEGEN SCHICKSAL, 1979; TEXAS-KABUL, 2004), deren Filme vor allem durch sehr persönliche Gespräche geprägt sind. Der Unterschied zu Interviews besteht darin, dass eine offene Erzählsituation eintreten und die Person, die gefilmt wird, zum Erzählen angeregt werden soll und somit eine Atmosphäre entsteht, in der sie beispielsweise auch zurückfragen könnte. Diese Fragen sind teilweise als konfrontierende Aussagen gestellt – »Ihr seid diejenigen, die erlauben oder nicht erlauben« 63 , werden etwa im ›Küchengespräch‹ Pflegerin Frau W3 und Frau W1 auf ihre direkte Machtposition angesprochen.

62 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 15:39. 63 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 47:33.

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Die Entscheidung, von vollständiger Beobachtung abweichend, ebenfalls Gespräche zu führen, erfolgte, um somit Inhalte akzentuieren zu können, die sich aus den Szenen selbst nicht offenkundig ergaben. Die prägnante Aussage zum Thema ›Macht‹, etwa direkt von der Patientin Frau W. im Hof erfragt, wäre nur sehr schwer durch Beobachtung sichtbar geworden. Dabei bleibt die Darstellung ein ›beobachtendes Gespräch‹. Dieses entsteht aus der Situation heraus: Die Patientin stopft Zigaretten. Die Frage der beobachtenden Filmemacherin ist Bestandteil der Darstellung, so ist sie als Beobachtungsobjekt der Gesprächsdynamik ebenfalls in die Aufnahme einbezogen. Die Interaktion zwischen Autorin und Patientin, nicht zwischen Pflegerin und Patientin, ist nun im Mittelpunkt des Geschehens. Doch so sehr damit ein Versuch einhergeht, ein paritätisches ›auf AugenhöheVerhältnis‹ zu schaffen, muss hinterfragt werden, ob mit diesen Fragetechniken, in denen Foucault womöglich eine Ableitung der Beichte64 erkannt haben könnte, ebenfalls ein hegemoniales Machtgefälle produziert wird: Selbst »die Gegenüberstellung von verschiedenen Zeugenaussagen und Perspektiven«65 im dokumentarischen Arbeiten können »statt Sicherheit nur Wahrscheinlichkeit schaffen«66, so Hito Steyerl. Eine »Wahrscheinlichkeit«, die gemessen an den Ansprüchen des unformatierten Dokumentarfilms, auch ein durchaus wünschenswertes Ergebnis sein kann. Die »Wahrscheinlichkeit«, ob nun durch eine »doofe« oder eine »gute Frage« (siehe nachfolgender Dialog) erzielt, kann im besten Fall einen Erfahrungszusatz darstellen. So führt Steyerl aus: »Wenn wir den Solipsismus unserer individuellen Erfahrung überwinden wollen, können wir nicht auf das Zeugnis verzichten. […] Ein Zeugnis wahrzunehmen stellt ganz allgemein den Versuch dar, sich den Erlebnissen von Anderen zu öffnen.«67 Hier ein solcher Versuch: )UDX3:LHYLHO0DFKWKDEHQ6LHHLJHQWOLFKEHUGDV3HUVRQDO" )UDX::LHYLHO0DFKWKDEHLFKEHUGDV3HUVRQDO" /DFKHQ 'DVLVW QHJXWH )UDJHDEHUQDMDđLFKP|FKWHGLH)UDJHQLFKWEHDQWZRUWHQ )UDX3:DUXPP|FKWHQ6LHGDVQLFKW" )UDX : 1D JXW LFK EHDQWZRUWH GLHđ $OVR ZHLO GDV HLJHQWOLFK QH GRRIH )UDJHLVWđ

64 65 66 67 68

Vgl. H. Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, S. 18. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd., S. 20. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 37:16 f.

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Fragenstellen bedeutet Macht. In erster Linie scheint sich der oder die Fragenstellende in einer ohnmächtigen Position zu befinden, wie die Pflegerin Frau W1 »für alles fragen?« als schlimmste Vorstellung dessen angibt, sich in der Position der Patientinnen zu befinden. Ohnmacht und Abhängigkeit ist vorhanden, wenn etwas erfragt wird, von dessen Antwort der oder die Fragestellende abhängig ist, und die andere Position die »Expertenmacht« dafür besitzt. Diese Fragen können als ›explizite Fragen‹ definiert werden, denn meistens sind sie ganz eindeutig und bezwecken eine eindeutige Antwort. Die ›expliziten Fragen‹ treten jedoch auch in Situationen auf, in denen der oder die Antwortende nicht Wissen oder Entscheidungsbefugnis qua fachlicher Kompetenz, sondern durch Hierarchie-Position oder einzigartigen Zugang, besitzt. Etwa beim Anruf in der Behörde, in dem der Sekretär (»gatekeeper«) keine Auskunft darüber erteilt, wann die Chefin wieder erreichbar ist. Das Wissen wäre einfach zu erhalten, wenn man in der gleichen Position säße, jedoch ist diese nur einer einzelnen Person vorbehalten. Die ›impliziten Fragen‹, die häufig persönliche Fragen sind, machen nicht notwendig abhängig vom Gegenüber, obwohl die Antworten beeinflussend sein können, wie etwa auf Inhalt und Ergebnis des Film-Produkts. Es ist jedoch möglich, bei diesen Fragen auch auf andere auszuweichen, der eigene Möglichkeitsradius ist hierbei erweitert. Auch bei diesen Fragen gibt der oder die Fragende an (im späteren Verlauf [17.6.1] wird eine der mächtigsten Frageformen, die Suggestivfrage erläutert) in etwas Unkenntnis zu besitzen, in dem die andere Person überlegen ist. Der oder die Antwortgebende wird jedoch – teilweise bereits durch die Wahl der Frage und die darin immanente Antizipation einer Antwort, die das Bild von ihr vervollständigt – in eine Situation gebracht, in der sie reagieren und dabei etwas preisgeben muss. Möglicherweise betrifft dies sogar etwas, dass der Person zuvor gar nicht im direkten Sinne bewusst war. Durch die Antwort formuliert sie eine konkrete ›Aussage‹ erzählt ein Stück ihrer Wahrheit, bildet Wahrnehmung von sich. Ob Patientin Frau W. nun antwortet oder nicht, sie bezieht durch ihre Reaktion Stellung. Den Patientinnen, die als Straftäterinnen und psychisch Erkrankte gleich zwei ›subalternen Bevölkerungsgruppen‹ zugeordnet werden, mit der Kamera Gehör und Gesicht zu verschaffen, sie als ›andere‹ der ›Außenwelt‹ zeigen zu wollen, geht mit der Gefahr einer paternalistischen Grundhaltung daher. In diesem Zusammenhang ist Hito Steyerls Kommentar zu einem Interview von Godard interessant, bei dem er sich zu seinem Film TOUT VA BIEN (1972) äußerte. In diesem wird eine Fabrikarbeiterin interviewt. Die Interview-Situation ist zu sehen, der Ton wird jedoch durch den inneren Monolog einer daneben stehenden Arbeiterin ersetzt:

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»Die Arbeiter selbst reden zu lassen, sie an der Produktion des Filmes partizipieren zu lassen, heißt nicht unbedingt, sie zu Wort kommen zu lassen. […] Sie werden zu Objekten eines voyeuristischen Blicks, der an ›Echtheit‹ interessiert ist, nicht aber an Veränderung. Was auch immer sie erzählen, ihre Rollen stehen von vornherein fest: Sie sind Betroffene, und als solche muss man sie nicht ernst nehmen.«69

Inwiefern diese »Rollenzuweisung« auch subtil in ANDERE WELT, der Grundlage dieser Untersuchung, existiert, wird durch die Analyse der ›Aussagen‹ der unterschiedlichen Gruppen deutlich. 13.2.2 Erfahrung versus Sachkenntnis Die meisten der gestellten Fragen in ANDERE WELT beziehen sich auf einen Erfahrungsschatz der Person. Dies ist natürlich legitim, solange die Person gewahr genug ist, zu entscheiden, was sie von dieser Erfahrung weitergeben möchte. Auch ihre psychische Erkrankung bringt die Patientinnen im konkreten Fall nicht, wie dies einige unterstellen würden, in eine unterlegene Stellung. Ihr oft abwägendes Sprechen zeigt, dass sie sich sehr bewusst dessen sind, was sie sagen, etwa dass das Zugeständnis eines Machtspiels70 möglicherweise Folgen für sie beim Personal haben könnte: Nach Hito Steyerl ist der Erfahrungs-Befragung jedoch ein generelles Machtgefälle immanent. Denn diese impliziert, »dass diese Person über nichts anders verfügt, dass diese Erlebnisse roh und unreflektiert sind und dass sie ihr selbst wie auch dem Publikum erklärt werden müssen. Der Begriff der ›konkreten Erfahrung‹ diktiert eine bestimmte Form der hierarchischen Arbeitsteilung: zwischen denen, die etwas erleben, und anderen, die dieses Erlebnis verstehen und interpretieren können. Ihre angebliche Authentizität hat unmittelbare politische Effekte: Ausgerechnet die Stimmen, die ganz ›echt‹ klingen, werden strukturell entmündigt.«71

Diese »hierarchische Arbeitsteilung« könnte man auch in ANDERE WELT entdecken. Sie kristallisiert sich etwa ganz eklatant in der Szene72 heraus, in der der Stationsleiter (in dieser Funktion wird er im Film jedoch nicht benannt, er bleibt einfach ein Mann, der ›etwas zu sagen hat‹) einen Sachverhalt einordnet, den die

69 70 71 72

H. Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, S. 17. Vgl. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 37:18 f. H. Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, S. 20. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 27:14 f.

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Patientin Frau D. zuvor als ›Erfahrung‹ mitgeteilt hat. Allerdings hatte sie die Thematik – auf die Weise, wie sie das Filmteam häufiger direkt anspricht – selbst mit einer Frage eingeleitet. In diesem Fall instrumentalisierte sie die von ihrem Gegenüber erwartete Ahnungslosigkeit, um ihre Erfahrung kundtun zu können. )UDX':LVVHQ6LHZDUXPLFKPLFKDXIGLH:DDJHVWHOOHQPXVV" )UDX3:DUXPPVVHQ6LHVLFKGHQQDXIGLH:DDJHVWHOOHQ"

Im Verlauf des Gesprächs, in dem die Patientin ihr Trinkverbot anprangert, wende ich mich dann an die Pflegerin und frage über den Kopf der Patientin hinweg. »Warum darf sie denn nicht so viel trinken?« Dies resultiert zwar aus der zuvor erhobenen Anklage der Patientin, zu der sich nun die Pflegerin äußern soll – dennoch trete ich mit einer expliziten Sachfrage an die Person heran, die in einer Berufsfunktion auftritt. Die Pflegerin nimmt jedoch nicht gleich Bezug. Sie möchte anscheinend nicht vor der Patientin reden. In diesem exkludierenden ›GeheimnisVerrat‹, den sie erst später kundtut, als sich die Patientin wieder im Kriseninterventionsraum befindet, externalisiert sich auch eine Form von Macht. In der darauf folgenden Szene ordnet dann der Mann den Sachverhalt ein, die Pflegerin spricht ihm dabei wortwörtlich nach. +HUU;'LHKDWGUHLELVYLHU/LWHUDP7DJ'DVLVWMDDXFKQRUPDO8QGZLU KDEHQ GDV GHVZHJHQ JHPDFKW >đ@ GDVV GLH 0HGLNDPHQWH QLFKW DXVJH VFKZHPPWZHUGHQ )UDX+$XVJHVFKZHPPWZHUGHQ +HUU;:LUKDEHQJHPHUNWGXUFKHLQHQ6SLHJHOGHQGHU$U]WEHVWLPPWKDW 'DKDEHQZLUEHPHUNWGDVVGLH0HGLNDPHQWHQLFKWDQNRPPHQ$OVRDQJH IOXWHWXQGGDGXUFKLVWNHLQH:LUNXQJGD8QGLQGHQ3V\FKLDWULHQLVWGDVVR GDVVGLH3DWLHQWHQGDVVFKRQVHKUVHKUJHQDXZLVVHQ8PVRPHKULFKWULQNH XPVRPHKUVFKZHPPLFKDXV'LHZLVVHQGDVJDQ]JHQDXZLHGDVJHKW8QG GDGXUFKKDEHQZLUMHW]WJHVDJW:LUPVVHQKLHU.RQWUROOHQPDFKHQGDVV GLH0HGLNDPHQWHDXFKDQNRPPHQ

Der Stationsleiter tritt als Funktionsleister auf. Als solche werden die Pflegerinnen neben kleinen Abweichungen die meiste Zeit gezeigt. Dies entspricht ihrer Position in der Klinik. Sie erhalten durch ihre Funktion Zugang zur »Heterotopie«, sie sind ›ausgewiesen‹, wie allein schon die Namenschilder an ihrer Kleidung zeigen.

73 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 25:35 f. 74 Ebd. Min. 27:14 f.

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Die Patientinnen hingegen schildern vermehrt Erfahrungen, wohingegen die Pflegerin die Erfahrung der Einsperrung nur imaginieren kann (»Für mich wär das die Hölle«). Die Patientin hat darüber hingegen tatsächliches Wissen (»Ich hab ja hier keine Hilfe, ich weiß ja nicht, was ich machen soll«). Das Sach-Erfahrungs-Gefälle wird jedoch dadurch in ein ausgewogeneres Verhältnis gesetzt, dass auch die Patientinnen Sachverhalte einordnen. Dies passiert in den Szenen, die vom »Direct Cinema«-Stil abweichen, wie etwa dann, wenn sie die Gesetzestexte vorlesen oder indem sie die Situation des Personals einordnen (»Das ist ein schwieriger Spagat auf der einen Seite der verlängerte Arm der Justiz zu sein und auf der anderen Seite den Patienten helfen zu wollen«). In dieser Expertenrolle profiliert sich jedoch besonders die Patientin, die die Klinik bald verlassen kann und somit bald aus ihrem Status heraustritt. Das Personal schildert zwar auch Erfahrungen (»Wir sind dann die Bösen«), jedoch vollziehen dies nur die Frauen; die Männer reden stets innerhalb ihrer Funktion, nicht über Erfahrungen in ihrer Funktion. Dies ist ein Relikt der Ursprungs-Fokussierung des Films auf die Pflegerinnen. Die männlichen Angestellten sollten dazu nicht kontrastierend oder ergänzend befragt werden. Daher treten die Männer in diesem Film am Rand, funktionalisiert, eben als ›Sach-Kundige‹, auf. Damit wurde unbewusst die Funktionsaufteilung innerhalb der Station (17.2) sowie überlieferter Rollen-Klischees bestätigt, wonach die Ratio eher dem Mann und die Emotion der Frau zugeordnet wird.

Abb. 22: Sach- Erfahrungsgefälle75

75 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 27:41.

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13.2.3 »Du« und »Sie« Das ständige Aufeinander-Bezogensein, das in Gruppen durch offensichtliche und larvierte Codes vollzogen wird, zeigte sich auch in der Position unseres Filmteams zu den beiden Gruppen von Personal und Patientinnen. Dieses Verhältnis wird im Film und bei den in dieser Arbeit transkribierten Dialogen durch die Formulierung der Fragen deutlich: Das Personal duzten wir, die Patientinnen siezten wir. Paradoxerweise gingen wir damit sprachlich diametral entgegengesetzt in größere Nähe zu den Personen, die wir nach ihrer Funktion befragten und in größere Distanz zu der Personengruppe, deren persönliche Erfahrung uns maßgeblich interessierte: Eine persönliche Annäherung zu dem Personal, die intendieren könnte, dass wir diesen Personen durch die sprachliche Ansprache näher stünden. In dieser Form der Höflichkeitsanrede agierten wir getreu den Pflegerinnen: Das Personal schützte sich vor etwaigen persönlichen Grenzüberschreitungen auch dadurch, dass sie trotz jahrelanger, intensiver Gemeinschaft die Patientinnen siezten. Diese Dienstvorschrift dient der Abgrenzung, um bei Überschreitung des persönlichen Nahbereichs oder etwa der Übermittlung unangenehmer Botschaften stets hinter die distanzierte Höflichkeitsanrede zurücktreten zu können. Die Möglichkeit solch einer persönlichen Abgrenzung war natürlich auch den Patientinnen geboten, die das Personal ǹœ—”ò…•‹‡œ–‡Ǹ. Insofern könnte man uns durch dieses verbale Merkmal der Nähe, die das Duzen in unserem Kulturkreis impliziert, eine Parteinahme, eine stärkere Verbindung zu den Pflegerinnen und somit eine Form personalgleicher Position attestieren. Die Anrede war zum einen ein Überbleibsel aus der Zeit, als wir mit unserer Beobachtung in der Perspektive des ›Glaskastens‹ bei den Pflegerinnen begonnen hatten. Zum anderen duzten und siezten wir nicht unbedingt aus Entscheidungsfreiheit. Die KollegInnen, die per Du miteinander waren, hatten uns dieses rasch angeboten. Wir wussten, dass das Personal ein wichtiger Entscheidungsindikator dafür war, ob wir uns durch die Drehzeit hinweg auf der Station aufhalten durften. Die Zurückweisung des Angebots hätte womöglich einen Affront bedeutet und eine Kluft zwischen dem Personal und uns geschaffen, die unserer Arbeit vielleicht geschadet hätte. Andererseits hätten sie es möglicherweise missbilligt, wenn wir durch ein Duzen eine ›unprofessionelle‹ Allianz mit den Patientinnen gebildet hätten. Wir wählten daher in diesem Fall die verbale Assimilation mit der ›stärkeren‹ Gruppe, um unsere Stellung zu sichern. Des Weiteren war auch die Höflichkeitsanrede für uns ein Schutz, um nicht, ein zu nahes Verhältnis zu den Patientinnen einzugehen, die bald wieder damit konfrontiert sein würden, dass unsere

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Drehzeit befristet war. Trotz der verbalen Nähe zur Personalgruppe hatten wir jedoch am Ende der Dreharbeiten paradoxerweise ein engeres Verhältnis zu der Gruppe, die wir siezten.

13.3 D EKONSTRUIEREN Das »Cinema Vérité« bezog sich in seiner Gestaltung auch auf die dokumentarischen Variationen des »Kino Prawda« in den 20er Jahren – das besagte von Dziga Vertov benannte »Kino-Auge«. Dziga Vertov demonstrierte mit seinem Werk MAN WITH A MOVIE CAMERA bereits 1929 die Macht des »Kino-Auges«, was bis heute mit »Film im Film«Darstellungen immer noch als innovativ bewertet und inflationär bemüht wird. Zu Beginn des Films klettert ein Kameramann eine überlebensgroße Kamera-Apparatur empor, deren exorbitante Größe die Kraft des Mediums visualisiert. Darauf folgen Einstellungen vorbereitender Handlungen einer Filmprojektion, die parallel zu einem Saal, der sich mit ZuschauerInnen füllt und zu Naheinstellungen von Orchester-Musikern montiert werden. Die sich steigernde Musik des Orchesters setzt schließlich den Auftakt zum ›Filmstart‹: Der Film zeigt nun Aufnahmen urbanen Alltags, zusammengesetzt aus verschiedenen Städten und endet in seiner wohl bekanntesten Einstellung, ein bildfüllendes Close-up der Kameralinse, in deren Glasauge sich das menschliche Auge spiegelt. In Außenbetrachtung fusionieren Kameraauge und Menschenauge zu einem Organ: »At last, we see the camera lens and the human lens as one, flawlessly melded together and capable of showing a new […] mode of truth: the truth according to the Kinokis.«76 Die Blende des Kameraobjektivs schließt sich, und damit ›verschwindet‹ auch das menschliche Auge. Ein Symbol für die Wahrheit des »Kino-Auges« – das Individuum ist im übertragenen Sinne, zumindest in dieser speziellen Wahrnehmung, nicht mehr vorhanden, sobald das Kameraauge es nicht mehr sieht, nicht »erkennt« und den eigenen Blick auf das Subjekt mit maschineller Schließung der Blende versperrt. Der Film endet, dem Blick des Publikums ist Einhalt geboten. Diese Kombination Vertovs von dokumentarisch gestaltetem Blick und die Dekonstruktion desselben, durch Thematisierung des medialen Dispositivs, ist bis heute eines der größten Beispiele freiheitlichen dokumentarischen Arbeitens: »[T]he combination of film-eye and film-truth vigorously inscribes a form of

76 D. Saunders: Documentary, S. 118.

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documentary display, which relies on showing, not telling«77 . Die »fly on the wall« wird in Vertovs Film ganz substanziell zur »fly in the soup« – der Apparat, der die Wahrnehmung kreiert, materialisiert sich – ästhetisch interpretiert – als Erkenntnisgegenstand. Auch in dem von uns erstellten Film erfolgt, sicherlich von diesem ›Vor‹-Bild unbewusst bis bewusst geprägt, auf verschiedene Weise eine Form ähnlich medialer Dekonstruktion: So wurden wir visuell wie akustisch im Film sichtbar, um herauszustellen, dass das Dispositiv der Kamera, das in Momenten der Beobachtung und Involvierung in Krisen, in Vergessenheit geriet, stets vorhanden war: Die Fliege an der Wand, fängt nach langen Phasen der regungslosen Stille immer wieder an zu ›summen‹. ›Die Frau mit der Kamera‹ ist bereits in der achten Einstellung des Films, im Überwachungsbild, als unscharf umrissener Pixel-Körper auszumachen. Dies kommt keiner ästhetisch gestalteten, sondern einer technisch zufälligen Materialisierung gleich, die dann jedoch spätestens in der Montage zum gestalterischen Mittel wird. Das Kamerateam ist als Anschauungsobjekt ebenso wie die Patientin mit im Bild vorhanden und taucht in dieser Einstellung tatsächlich wie ein Insekt, wie eine Fliege (um die Allegorie weiter zu bedienen), auf, die sich durch das Bild bewegt. Die Weitwinkel-Perspektive der Videoüberwachungskamera konstruiert ein verstärktes Kleinwerden der Personen, impliziert in diesem Fall subtil eine etwaige Ohnmacht des abgebildeten Mediums. Parallel zu dieser technisch erscheinenden Bild-Totale ertönt aus dem Off die Stimme der ebenfalls im Bild anwesenden Autorin, die divergent zum Bild, im persönlichen Tonfall nach einer Erfahrung fragt: )UDX3:LHLVWGDVIU6LHGDVV6LHLPPHUEHUZDFKWZHUGHQ" 'LH3DWLHQWLQVHXI]W  )UDX:$OVRHVKDWDOOHVDQJHIDQJHQLFKELQKLHUKLQJHNRPPHQKDEPLFK YHUVXFKWDXI]XKlQJHQXQGHVKDWDXFKIDVWJHNODSSWGDVVLFKWRWZDU-D XQGVHLWGHPLVWGLH.DPHUDEHUZDFKXQJ6WXQGHQDX‰HUZHQQLFKLQGHU /RFNHUXQJELQđ78

Zeitgleich zu diesem Statement der ›Total-Überwachung‹ wird die Patientin als Objekt der Video-Überwachung der Klinik wie der Überwachung der Film-Kamera gezeigt. Simultan dazu ist die Filmkamera Objekt der Überwachungskamera

77 Beattie, Keith: Documentary Display: Re-Viewing Nonfiction Film and Video, London 2008, S. 45, zit. nach: D. Saunders: Documentary, S. 111. 78 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 3:43 f.

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(»Film im Film«), wie das Überwachungsbild zum Objekt des Film-Bilderflusses wird. Die Patientin, das Kamerateam sowie das Überwachungsbild sind damit jeweils im Visier einer anderen, sich gegenseitig kreuzenden panoptischen Blickmacht (»pausenlos überwachte Bewacher«79). Einzig die Patientin kann mit ihrem Blick nichts konservieren. Wie es für sie ist, so »überwacht zu werden«, erklärt sie nicht explizit. Zumindest im Film verweigerte sie die Antwort, zu der nur sie »Experten«-Zugang besitzt. Sie seufzt schwer, diese Erfahrung scheint unbeschreiblich.

Abb. 23: Oben links: »fly on the wall« – »fly in the soup«80 Neben dieser direkten Dekonstruktion wurde die Kamera als »fly in the soup« ebenfalls indirekt, etwa durch die Form der Handkameraführung, verstärkt spürbar, sowie durch die akustische Wahrnehmbarkeit der Fragenstellerin außerhalb des Bildrahmens im ›Off‹. Darüber hinaus wurde das Medium vor allem durch die abgebildeten AkteurInnen thematisiert. Die Personen, von denen zuvor angegeben wurde, dass sie die Kamera schnell vergaßen, bzw. sich vor ihr losgelöst bewegten, machten immer wieder auf die »Fliege an der Wand« aufmerksam. Sie schienen uns stets im Hinterkopf zu haben, was sich kontinuierlich in plötzlichen Bemerkungen äußerte. Als wären sie Mahnerinnen, als wollten sie den Kamera-Blick auf sie immer wieder offenlegen, wie in sublimer Gegenwehr etwaiger Bildvereinnahmung. Insbesondere Frau D. war äußerst »filmbewusst«81:

79 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 228. 80 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 4:00. 81 W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 16.

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Đ:DUXPZHUGMHW]WQXULFKJHILOPW"'DPLWLFKGHQ'UHKQLFKWPHKUPLWHUOHE :HQQGDV.DPHUDWHDPKLHUZHJLVWZHUGLFKGLUHNWVNHOHWWLHUWď

Auch das Foto ihres Kindes hielt sie nicht ihrem Gesprächs-Gegenüber, sondern ostentativ frontal ins Kamera-Objektiv; sich anscheinend bewusst darüber, dass die Perspektive und die meisten Blicke von diesem Auge aus auf sie gerichtet werden würden. Das Personal erinnerte ebenso immer wieder an die Kamera-Existenz, auch mit impliziten Vorwürfen gegen die Medium-Wirkung verbunden: )UDX:XQGZLUGLVNXWLHUHQMHW]WDXFKGDQLFKWOlQJHUGUEHU:HLO6LHGD LPPHUZLHGHUDXI1HXHPPLWDQIDQJHQZHLOGLH.DPHUDGDLVW82 +HUU;,VW,KQHQGDV5HFKW" ]X)UDX']HLJWDXIGLH.DPHUD  )UDX'-D83

Diese »einander kreuzenden Beobachtungen«84 und die gegenseitige Thematisierung von Medium und Akteurinnen visualisiert, dass Macht tatsächlich »ein Ensemble von Handlungen [ist], die sich gegenseitig hervorrufen und beantworten«85. Dies sollte zumindest mit der Sichtbarmachung des Mediums erreicht werden: In der Offenlegung des stets Provisorischen, das im Grunde allen Filmarbeiten immanent ist, kann möglicherweise ein Aspekt ›wahrhaftiger‹ Darstellung erreicht werden. Diese bekennt, dass ein Absolutheitsanspruch nie eingelöst und somit eine Vollständigkeit des Raumes und der AkteurInnen nie gegeben werden kann. Die »Selbstreflexionen seiner Lebendigkeit«86 des Mediums und seiner HerstellerInnen, in Phasen von Gewöhnung und Bild-Affizierung, ist wichtig, um »die Fliegen« und ihre Blickmacht herauszustellen. Fliegen besitzen so genannte »Facettenaugen«, »Ommatiedien« (altgriech.: ommatidion = »Äugelchen«87), die sich aus zehntausenden Einzelaugen zusammensetzen. Die Gattungsart der Fliege

82 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 31:26. 83 Ebd., Min. 71:05. 84 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 279. 85 M. Foucault: Wie wird Macht ausgeübt?, S. 188. 86 Ott, Michaela: Was will die Medienwissenschaft von der Kunst?, in: Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg): Medienästhetik. Zeitschrift für Medienwissenschaft, Band 1/2013, S. 180-186, hier S. 183. 87 Vgl. Universal Lexikon, Ommatidien: http://universal_lexikon.deacademic.com/280780/Ommatidien (8.10.2014).

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wurde für die metaphorische Bezeichnung der »Direct Cinema«-AutorInnen ganz bezeichnend gewählt: Das Tier ist mobil, schnell, und schnell unterschätzt, ihr panoptischer Blick ist »super-potent«88.

88 D. Saunders: Documentary, New York 2010, S. 105.

14. Der Blick der ›Fliegen‹

So sehr die Kamera mit ihren vergrößernden, vertiefenden und fixierenden Fähigkeiten unser Auge im technischen und gestalterischen Sinne »erweiterte«1, beengte sie unseren Weitblick jedoch zugleich: So schauten wir die »Heterotopie« stets mit einem »16:9-Blick«2 an, der durch Überlegungen hinsichtlich der Wahl der filmischen Gestaltungsmittel geprägt wurde. Susan Sontag führt in Über Fotografie aus (und diese Beobachtungen können ebenso auf das Medium Film übertragen werden), dass, unabhängig der Ambition der Aufnahmen, diese »dennoch den stummen Befehlen des Geschmacks und des Gewissens ausgesetzt«3 bleiben. Die Ausführungen zuvor zeigen, welchen ›Vorstellungen‹ wir dabei unter anderem unterstellt waren. Sontag exemplifiziert dies an einer Begebenheit, bei der bekannte amerikanische Fotografen für ein Projekt so lange Portraitaufnahmen eines Kleinpächters gemacht hatten, bis »sie überzeugt waren, genau das getroffen zu haben, was sie auf dem Film festhalten wollten – jenen Gesichtsausdruck, der ihren eigenen Vorstellungen von Armut, Würde und Ausbeutung, von Licht, Struktur und geometrischem Maß entsprach. Bei der Entscheidung, wie ein Bild aussehen sollte, bei der Bevorzugung einer von mehreren Aufnahmen zwingen die Fotografen ihrem Gegenstand stets bestimmte Maßstäbe auf.«4

So wohnt nach Sontag »[j]edem Zükken [sic!] der Kamera […] Aggressivität inne.«5

1 2 3 4 5

Vgl. Henri Cartier-Bresson, zit. nach S. Sontag: Über Fotografie, S. 175. Sogenanntes Breitbild-Format: Bezeichnet Verhältnis zwischen Bildhöhe und -breite. S. Sontag: Über Fotografie, S. 12. Ebd. Ebd., S. 13.

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Das aufgenommene Objekt sieht die Kamera, weiß jedoch nicht (wenn nicht explizit mitgeteilt), wann diese eingeschaltet ist und in welcher Rahmung es erfasst wird: »Die Leute wissen, dass ich da bin und dass ich sie aufnehmen kann. Ich möchte nur nicht, dass sie wissen, in welchem Moment ich sie aufnehme«6, so Richard Leacock. Leacock beschreibt mit seiner Vorgehensweise damit exakt die Konstruktion des Panopticons: Das Objekt sieht zwar den Turm aber nicht den Wächter, es sieht die Kamera, auch das Subjekt, das sie bedient, aber nicht den unmittelbaren Blick, der ihn erfasst. Jede Einstellung bildet eine Aussage, jede Sequenz eine Machtstruktur - je nachdem, wie der Fliegen-Blick das Objekt fixiert – untersichtig, übersichtig, dunkel, hell, mit schwacher oder starker Schärfentiefe, in Nah-Einstellung oder Totale, mit analogem (wie etwa »Verlauf«-)Filter konturiert oder durch Lichtsetzung modifiziert, erhält das aufgenommene Objekt eine andere Optik und damit Wirkung. Diese panoptische Blickmacht wird nun an einer exemplarischen BlickKonstellation untersucht, welche zunächst so wirkt, als würde sie uns beschränken.

14.1 D ER G ITTER -B LICK So sehr wir auch teilweise qua unseres abstrahierenden Gestaltungs-Blicks und der dargestellten Methoden in eine panoptisch überlegene Sicht-Position traten, wurden wir innerhalb dieser Möglichkeiten durch die panoptische Architektur des Frauentrakts und die aus ihr hervorgehenden Bedingungen deutlich begrenzt. ›Einschneidend‹, im eigentlichen Wortsinn, war für den Kamerablick die von Foucault für das Panopticon charakteristisch befundene »Parzellierung«, die Bauform des Kriseninterventionsraums, die sich in eine noch enger werdende Parzellierung des Blickfelds zerlegte. Dies entsprach einer dominanten Raumteilung, die wir durch nichts nivellieren konnten: Dem Gitter. Wollten wir mit den KIR-Patientinnen Frau W. und Frau D. sprechen, zeigten wir - wenn sie nicht in ihren »Lockerungs«-Zeiten im Hof waren – stets das Bild eines pressierten Körpers, der durch ein Gitternetz von eisernen Rechtecken wie ›zerlegt‹ war. Die Körperlichkeit der Patientin wird je nach Einstellungsgröße durch die im 90 Grad-Winkel aufeinandertreffenden, sich kreuzenden vertikalen und horizontalen

6

Richard Leacock, zit. nach: W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 12.

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Eisenstränge halbiert, gevierteilt, geachtelt. Wir erhielten keinen wirklichen ›Durch-Blick‹. Der Blick war uns ›verstellt‹. Gleichzeitig war das Gesicht der Patientin je nach Perspektive durch die Gitter-Rauten wie in einen Bilderrahmen gesetzt oder durchschnitten; horizontale Stäbe etwa separierten Nase und Mund, vertikale Stäbe die Augen voneinander. Dies kreierte teils wie mutiert anmutende Verzerrungen. Das eiserne Gitter als materielles freiheitliches Sanktions-Symbol von juristischer Rechtsprechung, als das Gefängnis-Ikon schlechthin, suggeriert immer einen Anblick der Krise, schafft eine »crisis-structure« im engsten Wortsinne und assoziiert stets eine subtile Zoo-Situation. Frau W. ist die erste menschliche Protagonistin nach der mechanischen Apparat-Stimme im Schleusenraum, die für längere Zeit im Film spricht. Eingeleitet wird dies durch die als »Off-Ton« parallel montierte Frage der Autorin zu den ursprünglich stummen Überwachungsbildern. Die Szene geht nun über in ein »On« – ein Zeit-, Raum- und Bildquellen-Sprung erfolgt: Die Patientin steht, aufgenommen von der Filmkamera, hinter verschlossenem Gitter und überraschte viele ZuschauerInnen7 mit ihrer Jugendlichkeit. Diese hätten, da sie zuerst nur ihre Stimme vernahmen, diese einer etwas älteren Frau zugeordnet. Die verzögerte Sichtbarkeit ihrer Person kreiert eine Form der Schockwirkung.8 Qua der Gitterstäbe wird das Subjekt fast genuin zum Anschauungs-Objekt. Selbstverständlich davon ausgehend, dass die eingesperrten Patientinnen die Angeschauten sind, wurden wir aus ihrer gegenübergestellten Perspektive jedoch ebenso zum fast spiegelbildlichen Anschauungsobjekt, war ihr Blick auf unsere Körper doch ebenfalls ein durch Eisenrechtecke gerasterter. Dieser von ihr auf uns WächterInnen (des Kamerablicks) zurückgeworfene Blick entfachte in uns die Form von Selbstdisziplinierung, von der Foucault bei den panoptisch gefangenen Individuen spricht: Vor dem Gitter waren wir nie selbstverständlich. Zwischen uns und den Patientinnen war mit den Stäben, im direkten wie übertragenen Sinne, eine perforierte Trennwand gezogen, die sich, ob wir wollten oder nicht, auch auf unser persönliches Verhältnis übertrug. Die panotpische ›Wächterfunktion‹ der Kamera bot dabei einen gewissen Blick-Schutz. Als Regisseurin, die ich nicht wie die Kamerafrau die Kamera ganz manifest vor dem Blickfeld hatte, und zum anderen den Blick nicht selbst durch das Objektiv ›eingrenzte‹, war ich den Blicken

7 Diese Rückmeldung erfolgte nach manchen Film-Präsentationens, vgl. Vorführungen: Pfafferott, Christa: Homepage, http://www.christa-pfafferott.de/works/andere-welt/ (4.11.2014).

8 Vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 44.

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der Patientinnen, ihrem Begehren, und auch ihrer punktuellen Ablehnung direkt ausgesetzt. Sie konnten mich und meinen Blick, den Grad meiner Aufmerksamkeit, stets sehen, ›durchschauen‹ – und damit auch anders kontrollieren. Das Eingeschlossensein der Patientin fixierte uns darüberhinaus auf die Position, bei der wir jederzeit ebenso im Visier des panoptischen Blicks der Videoüberwachung waren. Im Teamzimmer konnte also unser Treiben beobachtet werden. Wer sich Frau W. näherte, wurde eingeschlossen in ihre ›Betrachtung‹, im konkreten wie übertragenen Sinne. So war es ebenfalls möglich zu analysieren: Wie verhält sich Frau W. gegenüber dem Kamerateam, und – wie verhält sich das Kamerateam gegenüber ihr? Dabei konnten wir zum einen nicht in autarker »Wir kommen auf Sie zu«Position bestimmen, wann wir zu der Patientin kamen, da uns dies jeweils für den Einzelfall erlaubt werden musste. Zum anderen schwächte unsere freiere Position das Selbstverständnis, mit dem wir den KIR-Patientinnen begegneten. Die Scham, der Wunsch eines adäquaten Umgangs, die ständige Reflektion, der abnormen Situation durch möglichst selbstverständliches Verhalten anheim zu kommen, disziplinierte uns zu überaus höflichem, zuvorkommendem Verhalten. Wenn wir gingen, stand die Patientin allein hinter dem Gitter – ein Anblick, der herausstellte, dass wir trotz ihres auf uns zurückgeworfenen Blicks stets die privilegierte Position des externen aber auch flexiblen ›Fremdkörpers‹ innehatten. Wir waren in unserer Blickperspektive also stets der Vergitterung ausgesetzt, die sich wie eine analoge Filterscheibe zwischen Objekt und Objektiv schob. Doch gerade diese ›Filterscheibe‹ machte unser Bild ohne größeres gestalterisches Zutun auch interessant, bildete die »Krise« bereits in einem einzigen Bild ohne einen chronologischen Verlauf. Zweifellos stellte bereits die Räumlichkeit eine ›Sensation‹ dar, die Interesse hervorruft. Damit konnte diese Blickperspektive auch als narratives Mittel genutzt werden: Das Bild des jungen, weichen, fast kindlichen Gesichts vor dem Eisen-Gitter, entfacht ein Kontrastbild, wirkt als Skandalon, als sich wiederholender Überraschungs- und Schreckmoment. Der amerikanische Dokumentarfilmer Nick Broomfield hat die als psychisch krank diagnostizierte Mörderin, zur Todesstrafe verurteilte und schließlich exekutierte, Aileen Wuornos, unter anderem in seinem Dokumentarfilm Aileen: LIFE AND DEATH OF A SERIAL KILLER9 (2003) porträtiert. Wuornos Leben ›diente‹ auch

9

AILEEN: LIFE AND DEATH OF A SERIAL KILLER, Regie: Nick Broomfield, USA 2003.

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als Vorlage für den Spielfilm MONSTER10 (2003), mit der dafür später mit einem Oscar prämierten Darstellerin Charlize Theron. In seinem Dokumentarfilm zeigt Nick Broomfield immer wieder die Geste, wie Aileen Wuornos ihre mit Handschellen zusammenfixierten Hände vor den Hals schob, um damit ihre Haare nach hinten über die Schultern zu legen – die Geste des ruckartigen Zurückwerfens der Haare von Wuornos, adaptiert Theron auch im Spielfilm. Das Bild von Wuornos eisernen Handschellen vor ihrem Hals, als würde sie sich selbst oder, metaphorisch gesehen, der Staat ihr die Luft abschnüren, bildet eine gewaltsame Geste, die zum Filmstill wurde und unter anderem zur Verwertung des Dokumentarfilms wie etwa beim DVD-Cover genutzt wurde. Prägnant war in diesem Zusammenhang im Jahr 2012 unter anderem die Berichterstattung über die »Pussy Riot Gang«, deren Umgang mit den ›Hinter Gitter‹-Symbolen ein offensiver war. Die jungen russischen Frauen, die wegen ihres Protests gegen die Putin-Regierung inhaftiert wurden, wurden bei ihrer Gerichtsverhandlung immer wieder mit traurigem Blick hinter Gitterstäben gezeigt.11 Die Zwangsmittel und der Zwangsort eignen sich hervorragend zur symbolischen Ausdruckskraft – dabei gilt: Je ›unschuldiger‹ das Objekt – desto wirkungsmächtiger. Wir wählten als eine der ›Hauptpersonen‹ im Film eine Frau, eine junge dazu, die explizit »schuldunfähig« untergebracht war und das hinter einer eisernen, anachronistisch wirkenden, Gittertür. Ein Bild, das unglaublich, kaum echt wirkt. Auch auf Grundlage der starken Symbolkraft der gezeigten Bilder, bezogen wir uns wiederkehrend dekonstruktivistisch in den Film mit ein, um damit vermeintliche ›Echtheit‹ zu vermitteln: ›Es ist zwar kaum zu glauben, aber es ist wahr!‹ Unsere panoptische Blick-Begrenzung schuf also auch ein dramatisches Motiv, auf das wir uns, wahrscheinlich ›begeisterter‹ als uns bewusst war, fokussierten. Manchmal versuchten wir, dem Zwang, immer das gleiche gerasterte Bild filmen zu müssen, in Form einer größeren Schärfentiefe zu entkommen. Durch diese »Weichzeichnung« kamen wir tatsächlich ›näher an die Patientin heran‹. Doch indem die Gitterstäbe unscharf, das Hauptmotiv, der Körper der Patientin, selektiv

10 MONSTER, Regie: Patty Jenkins, USA 2003. 11 Vgl. etwa Titelbild: DER SPIEGEL, Putins Russland. Auf dem Weg in die lupenreine Diktatur, 33/2012, 13.08.2012.

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scharf erscheint, wird zwar eine tiefere Räumlichkeit und eine gezieltere Konzentration auf das Objekt geschaffen; das gestaltete Bild bewegt sich jedoch zugleich nah an einer Ästhetisierung. Dieser ist keine spezifische inhaltliche Grundlage inhärent, sondern eine Form von Realitäts-Verschönerung, die »Kitsch«12, ein »Klischee« darstellt – welches das junge Individuum vor dem Gitter doch ohnehin schon war, wie Gilles Deleuze meint: »Genau das ist aber ein Klischee: ein sensomotorisches Bild von der Sache. Nach Bergson nehmen wir die Sache oder das Bild nie vollständig wahr; wir nehmen immer weniger wahr, nämlich nur das, was wir – aus wirtschaftlichen Interessen, ideologischen Glaubenshaltungen und psychologischen Bedürfnissen – wahrzunehmen bereit sind. Wir nehmen also normalerweise nur Klischees wahr.«13

Wir waren in unseren Darstellungen unseren Vorstellungen unterworfen. Die ›Unsicherheitsposition‹, die wir in diesem Beobachtungsfeld ständig innehatten, kristallisiert sich auch in einer physischen Blick-Hegemonie heraus: Wenn wir vor dem Kriseninterventionsraum standen, schaute die Patientin Frau W., die deutlich größer ist als wir, stets ein wenig auf uns herab, konkret auf mich, da sie mir bei den Antworten ins Gesicht blickte. Durch das Zusammentreffen der Blicke auf einer diagonalen Achse ergibt sich ein dominant-devotes Blickverhältnis. Da die Kamerafrau, als kleinste von uns, mit ihrer Kamera nicht auf gleicher Höhe wie mein Gesichtsfeld war, wird die Patientin nicht nur »untersichtig« aufgenommen, was ihre körperliche Größe hervorhebt und sie etwas gedrungener aussehen lässt als sie realiter ist – der Kamerafokus und der Blickfokus der Patientin driften auseinander. Die Patientin schaut schräg am Objektiv ›vorbei‹. Ich versuchte dies auszugleichen und mit meinem Gesicht auf die Höhe des Kamera-Objektivs zu kommen, damit die Blickrichtung der Patientin möglichst nah mit dem Objektiv zusammenfiel. Mit dem so direkter wahrgenommen Blick entsteht nach meinen Erfahrungen eine nähere ›Verbindung‹ zu den BetrachterInnen, als wenn die Protagonistin aus dem Bild ›herausschaut‹. Ich ›lenkte‹ den Blick der Patientin, indem ich etwas in den Beinen einknickte und mit dem Gesicht auf Höhe des Objektivs kam. Für ihren Blick machte ich mich klein, geriet in eine Position der Verkrampfung. Durch meine Krümmung läuft ihr Blick nicht ganz so deutlich aus dem Kamerablick heraus, erhält jedoch eine noch deutlichere diagonale Absenkung. Dies verleiht ihr eine Überlegenheitsposition. Der auf uns ›herabsehende‹ Blick steht

12 Vgl. H. Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, S. 17. 13 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild Kino 2, Frankfurt am Main 1997, S. 35.

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in Kontrast zu der auf sie hinabblickenden Weitwinkel-Perspektive der Überwachungskamera. Dies kommt einem Ausgleich von Kräfteverhältnissen gleich – lässt man außer Acht, dass dieser durch das Gitter, das sie stets zu Opfer oder Täterin ikonisiert, relativiert wird.

Abb. 24: Patientin im Kriseninterventionsraum: Untersicht der Filmkamera14; Abb. 25: Aufsicht der Überwachungskamera15

14 Filmstill(!) aus: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 15:31. 15 Ebd., Min. 16:19.

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14.1.1 Exkurs: Die Macht des Filmstills An dieser Stelle, an der zwei Filmstills (siehe vorherige Seite) sekundengenau justiert aus dem Filmzusammenhang genommen wurden, um ein Argument visuell zu stärken, sei ein kurzer ›Höhen-Blick‹ auf diese Analyse unternommen. Die dem Filmfluss entnommenen stillgelegten »Bewegungsbilder« bilden ein starkes Macht-Mittel: Kaja Silverman befasst sich in ihrem Aufsatz Dem Blickregime begegnen16 mit der bekannt gewordenen Arbeit Untitled Film Stills (1977-1980) der Künstlerin Cindy Sherman, deren 69 wie filmische Standfotografien anmutende Aufnahmen sie selbst als Person in wechselnden Rollen in cineastischen ›Klischee-Situationen‹ zeigen: »Bereits ihr Titel lässt vermuten, dass es bei diesen Fotos um den Stillstand von Bewegung geht, um stillgestellte oder fixierte Bewegungsabläufe«17, so Silverman. »Das Standbild erfüllt in den Untitled Film Stills eine viel weitergehende, metaphorische Funktion: Es dient dazu, jene Fixierung zu veranschaulichen, die das Wesen der Fotografie ausmacht.«18 Bei unseren Filmstills handelt es sich nicht um Standbilder, die ein Fotograf parallel zu unseren Filmbildern aufnahm, wie dies auch häufig bei Filmproduktionen der Fall ist. Auf diesen möglicherweise zusätzlichen ›aufregenden‹ Indikator hatten wir aufgrund der sensiblen Drehsituation verzichtet. Die Filmstills wurden dank der digitalen Technik aus dem Bilderfluss exportiert, wie Silverman »das Heraustrennen des Einzelbildes aus der Sequenz«19 als die »einfachste«20 Möglichkeit bezeichnet, ein Standbild zu erhalten. Beim so erhaltenen Filmstill findet, anders als beim Foto, eine zusätzliche »Fixierung« des Subjekts statt. Die erste »Fixierung« hat bereits durch die »Memento Mori«-Bildung der Filmaufnahme stattgefunden. Roland Barthes beschreibt, wie der Fotograf das Objekt »›einfangen‹ (überraschen möchte), besieht, begrenzt, einrahmt und ins Bild bringt«21 und bezeichnet die Fotografie in diesem Zusammenhang als eine »abtötende Macht«22. Analog zu dieser Vorstellung wird das ›getötete‹ Objekt nun noch einmal durch Heraustrennung eines Einzelbildes aus

16 17 18 19 20 21 22

K. Silverman: Dem Blickregime begegnen, S. 41-64. Ebd., S. 51. Ebd., Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd. R. Barthes: Die helle Kammer, S. 18. Ebd., S. 19.

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dem Film fixiert. Das »Memento Mori« des Filmstills wird (wie bei der dargestellten Praxis der Überwachungsbild-Montage) aus einem Abbild kreiert. Bei einem Foto geht das Subjekt direkt von einem »Still« aus, es ›posiert‹, so wie Roland Barthes in seinen Betrachtungen zur Fotografie schreibt: »Sobald ich nun das Objektiv auf mich gerichtet fühle, ist alles anders: ich nehme eine ›posierende‹ Haltung ein, schaffe mir auf der Stelle einen anderen Körper, verwandle mich bereits im voraus zum Bild.«23 Anders verhält sich diese Pose jedoch auch nach eigenen Dreherfahrungen beim Filmbild: Filme stellen nach Siegfried Kracauer im Gegensatz zum Foto »die Realität dar, wie sie sich in der Zeit entfaltet«24. Das Individuum weiß um die fließende Gesamtheit seiner Aufnahme, bei der es nicht so schnell »ein dummes Gesicht«25 machen kann, wie im falschen Moment auf einem Foto fixiert. Ein künstliches Lächeln kann nicht ständig andauern. Die Filmnatürlichkeit wird im besten Fall verstärkt durch die zuvor demonstrierten Methoden der Kamera-Gewöhnung des »Direct Cinema«, welche jedoch auch bei Fotoaufnahmen praktiziert werden. Herausgenommen aus dem fixierten Bewegungsablauf wird das Filmstill jedoch künstlicher als ein Foto kreiert. Das fixierte »Bewegungsbild« kann, anders als das Leben, vor- und zurückgespult werden. Das Subjekt steht zur Verfügung, seine ›Bildaussage‹ kann in Sekunden-Takt-Varianz modifiziert werden. Ein Filmstill auszuwählen, so selbstverständlich diese ›Filmstillisierung‹ vollzogen wird, ist damit stets ein multipliziert machtvoller Akt. Die weitere Bildstilllegung in dieser Analyse sei unter diesem Gesichtspunkt daher aufmerksam zu betrachten.

14.2 D IE ›M ACHT

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Zu ihrer ›Lockerungszeit‹ am Tag, wenn Frau W. im Hof war, hatten wir freie Sicht auf sie. Beim Kniffel-Spiel26 kommt die Kamera ihr tatsächlich ›nahe‹. Die Szene ist in einer beobachtenden »Plansequenz« (»Montage in der Kamera«27) in einer Naheinstellung gedreht, die Kamera wandert zwischen Pflegerin Frau W2

23 24 25 26 27

R. Barthes: Die helle Kammer, S. 18 f. S. Kracauer: Theorie des Films, S. 71. Richard Leacock, zit. nach: W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 14. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 23:36 f. W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 16.

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und Patientin Frau W. hin und her. Bis die Pflegerin an die Zeit-Restriktion erinnert, wirken die beiden eher als Freundinnen denn als Bewacherin und Bewachte. Die BetrachterInnen können der Patientin offen ins Gesicht schauen: Ihre Haare wehen im Wind, sie lacht, es geht ihr gut, endlich ist der Zugang offen, und paradoxerweise steigt nun in dieser positiven Atmosphäre durch den freigestellten Blick das Potenzial zur Anteilnahme. Auch in diesem Bild stellt sich wieder der machtvolle Einfluss der Schärfentiefe heraus: Die Patientin mit den kurzen Haaren, die im Film, aufgrund von Medikamenteneinfluss, wie es wirkt, auf Zehenspitzen in starrem Gang durch den Flur28 läuft, ist auch in diesem Bild präsent. Sie sitzt im Schärfentiefenraum der Kamera-Einstellung, hinter der Profil-Aufnahme von Frau W. auf einem Stuhl. Die wechselnde Schärfenverlagerung laviert zwischen ihr und Frau W., konturiert sie heraus oder lässt ihre Gestalt wieder in gröberen Pixeln verschwinden. Obwohl wir uns während der Dreharbeiten auch mit dieser Patientin unterhielten und viel über sie ›erfuhren‹, bildet sie letztlich jedoch vor allem einen vertiefenden Hintergrund. »Das Kino-Auge, das ist: Ich montiere, wenn ich den zu filmenden Gegenstand auswähle (von tausend möglichen Gegenständen). Ich montiere, wenn ich den Gegenstand beobachte (um die beste Wahl von tausend möglichen Beobachtungen zu treffen«29, so Dziga Vertov. Diese ›Montage der Möglichkeiten‹ kann bis ins letzte Stadium der Filmproduktion, bis hinein in die Verwertung, in jeweils »tausend« Variationen fortgesetzt werden. Die ›Aussagen‹-Filterung, die den Film konstituiert, macht diesen auch erst möglich. Denn ohne in- oder exkludierende Entscheidungen über Personen, Bilder oder ›Aussagen‹ wäre ein Endprodukt nicht möglich, würde die Macht sich nicht »produktiv« äußern. Jeder Mensch hat eine Geschichte, welche sollte abgebildet und eingebunden werden? Ich wusste um meine Entscheidungsmacht, aber gerade deswegen musste ich mich auch festlegen und meine ›Schnittmacht‹ einsetzen.

28 ANDERE WELT, C. Pfafferott, Min. 46:36 f. 29 Dziga Vertov, zit. nach: W. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 16, zit nach: J. Rouch, in: Kinemathek, S. 12.

14. D ER BLICK

DER

›F LIEGEN ‹

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Abb. 26: ›Die Macht der Schärfentiefe‹30 Doch mit dem Dreh-Fokus auf Frau W. und die anderen zwei Patientinnen steigerte sich auch unsere Abhängigkeit von unseren »Objekten«. Die Begrenzung von KIR oder Hof nahmen wir in Kauf: Denn es gab Tage, an denen uns aufgrund der starken Stimmungsschwankungen der Patientin von vornherein nicht erlaubt wurde, mit Frau W. zu sprechen, da nicht einzuschätzen war, inwiefern die Kamera sie aufregte oder sie diese als Bühne nutzte, um sich zu produzieren. Daher durften wir nur in Zeiten der Latenz mit ihr reden. Es existieren Augenblicke im Film, in denen es ihr nicht gut geht, die jedoch wichtig waren, um die Varianz der Erlebnisse und Emotionen auf dieser Station erfahrbar machen zu können. Diese Situationen sind in einer merklich größeren Distanz gedreht, sie zeigen Pflegerinnen, die parallel zum Kamera-Blick stehen und in einen Raum sprechen, dessen Inhalt im visuellen Off liegt. Korridore sowie Türen werden in Totalen und Halbtotalen gezeigt, die fehlenden Aufnahmen von direkter »On«-Handlung werden durch ein auditives Substitut gefüllt; Kamerafrau und Tonmann trennten sich in diesen Situationen. Das Bild wurde aus größerer Distanz, der Ton in dichterer Nähe aufgenomen. Dies zeigt sich beispielsweise in den Bildern, in denen der Flur in einer Totale gefilmt ist und die Patientin zu hören ist, die nach ihrer Mutter ruft. Durch die Kadrage erhält das Bild eine zurückgenommene Indirektheit. Allerdings wird dadurch eine Scham, ein Blickabwenden, deutlich – der ›allessehende‹ Blick wird ganz konkret zum Ausschnitts-Blick. Besonders deutlich stellt sich dies in der Szene dar, in der das Filmteam am Tag nach der Fixierung von Frau W. selbst abgewiesen wird und die Kamera abschwenkt.31 Dabei war es wichtig, Selbstbewusstsein im Gegenübertreten vor dem Personal und auch den Patientinnen zu bewahren und uns nicht als stimulierender Krankheits-Indikator vorverurteilen oder durch die »Macht des Voyeurismus«30 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 23:38. 31 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 70:28 f.

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Vorwurfs einschüchtern zu lassen. Trotzdem regulierte die sensible Atmosphäre des ›anderen Orts‹ mit seinen für uns teilweise ›undurchschaubaren‹ Bestimmungen und Regeln, seinen ›unvorhersehbaren‹ Ereignissen und Emotionen die Anwendung unserer panoptischen Blickmacht.

IV. Gewalttaten

15. Die Gewalttaten der Patientinnen: Analyse ihrer filmischen Darstellung

Nachdem nun die Faktoren des untersuchten Machtfelds aufgestellt und analysiert wurden, stellt sich die Frage nach dem Ursprung: Was ist mit dem Kern, aus dem sich sämtliche Anstrengungen und Machtkonstellationen formten? Wo bleibt in all den reziproken Machtmechanismen die Gewalt der Patientinnen? Das »Anlassdelikt«, das auslösendes Moment für alles war, was das Leben ihrer Opfer und ihr eigenes von Grund auf verändern sollte: ihre Festnahme, ihre Verurteilung als »für die Allgemeinheit gefährlich«, ihre Unterbringung in einer geschlossenen Institution. Die Gewalt ist Grund und Rechtfertigung für alle Macht, die sich aus ihr konstituiert. Nur die Diagnose der »Gefahr für die Allgemeinheit« legitimiert die Form der Unterbringung und den daraus resultierenden eklatanten Einschnitt der menschlichen Grundrechte. Ohne ein weiterhin bestehendes Gewaltpotenzial würde es ausreichen, die Frauen ambulant zu behandeln oder stationär in einer Psychiatrie, einer gesonderten Wohneinrichtung, zu betreuen. Die Gewalt hält die Institution aufrecht, deswegen ist sie so bedeutsam. Daher wird die Gewalt der Frauen, als indizierender Faktor, der die Kraft hat, all diese Machtkomplexe zu perpetuieren, im Folgenden genauer analysiert: In einer Untersuchung zur Situation von Frauen im Maßregelvollzug in Deutschland schlussfolgert Katja Melzer, dass aufgrund »der Parallelität der Unterbringungszahlen« 1 von Frauen im Maßregel- wie Strafvollzug mit durchschnittlich etwa je fünf Prozent2

1 K. Melzer: Psychisch kranke Straftäterinnen, S. 32. 2 Vgl. ebd., S. 30 (Melzer kommt bei Bezug auf die Berechnung des Statistischen Bundesamts von 1998 auf gleiche Anteile in Straf- und Maßregelvollzug. Heute ist der Anteil der Frauen im Maßregelvollzug gestiegen, siehe Kapitel 4.).

200 | D ER PANOPTISCHE B LICK

»jene Faktoren, die im allgemeinen bei Frauen zu Kriminalität führen, auch bei psychisch kranken Frauen vorliegen und Mechanismen, die einen Anstieg der weiblichen Kriminalität bis zur Höhe männlicher Kriminalität verhindern, trotz psychischer Krankheit in gleichem Maße wie bei gesunden Frauen vorhanden sind.«3

Für sie folgt daraus, dass »die Tat nicht nur im Lichte der Krankheit gesehen werden darf. Vielmehr ist die Unterbringungsanzahl als Ergebnis zweier nebeneinander verlaufender Entwicklungen (Krankheit und Kriminalität) zu verstehen.«4 Bei den Dreharbeiten erhielten wir den Eindruck, dass die Taten der Frauen im Stations-Alltag kaum eine direkte Rolle spielten. Um die Patientinnen entfaltete sich vor allem ein Diskurs von Krankheit, der die Gewalt ›einlullte‹. Nach unseren Drehbeobachtungen liefen Krankheit und Kriminalität nicht parallel 5 voneinander, sondern waren miteinander verflochten, das Delikt verschwand innerhalb ihrer »Delinquenz«, so schien es. Eine etwaige direkte physische Gewalt, die von den Patientinnen ausgeübt wird, zeigt dieser Film nicht. Es ereignet sich verbale Aggression, jedoch finden keine Übergriffe von Personal auf Patientinnen, von Patientinnen auf Personal oder zwischen den Patientinnen selbst statt. Die Gewalt wird zur Erzählung, zur besprochenen Leerstelle, zum abstrakten Gedankenraum, der als Latenz, als Aura, die Atmosphäre prägte, präventive und konsekutive Handlungen organisierte und dennoch etwas ›Anderes‹ blieb, das in unserer Zeit physisch nicht konkret wurde – eine »Heterotopie«. Der gewaltvollste Akt, der sich während der Drehzeit ereignete, bestand darin, dass Frau W. einen vollen Kaffeebecher im plötzlichen Affekt durch das Gitter an die gegenüberliegende Flurwand schlug. Dieser wird in Form eines Darüber-Sprechens zwischen der Patientin Frau W. und der Pflegerin Frau H. dargestellt. Der für die Kamera unsichtbare, da nicht gefilmte, sekundenlange Akt löste jedoch eine Folge von Macht-Implikationen aus: In dem darauffolgenden Gespräch mit der Pflegerin ist die Patientin aufgebracht ob der Sanktionen, die ihr Agieren zur Folge hat. Zu Beginn des Films hatte die Patientin geäußert, dass ihr bald das Wichtigste bevorstehe: »Der größte Fortschritt, den ich dann so gesehen in meinem ganzen Leben machen werde«6. Sie soll in wenigen Wochen ›gelockert‹ werden und sich eine Stunde allein auf der

3

K. Melzer: Psychisch kranke Straftäterinnen, S. 31.

4

Ebd., S. 32.

5

Vgl. Ebd., S. 32.

6

ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 4:26 f.

15. D IE G EWALTTATEN

DER

P ATIENTINNEN

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Station ohne Aufsicht bewegen dürfen. Dies ist jedoch nach Darlegung der Personen im Film an die ›Auflage‹ geknüpft, dass sie drei Monate »ohne Krise«7 im Kriseninterventionsraum bleibt. Zu Beginn des Drehs steht sie also kurz davor, diese ›Schwellenprüfung‹ zu bestehen, ihr Ziel zu erreichen. Sie hat es fast geschafft. Doch der aggressive Affekt verändert alles: Sie wird wieder ›auf Null‹ gesetzt, muss sich nun erneut drei Monate bewähren. Im Film, innerhalb des aufgebrachten Gesprächs mit der Pflegerin, spielt Frau W. den aggressiven Akt in einer angedeuteten Geste an einem Becher nach, der auf ihrem Gitter steht. Ein Schauspiel, das die Zusammenhänge verständlich machen soll, die Pflegerin jedoch dazu veranlasst, den Substitut-Becher präventiv wegzunehmen. In der Gestik der beiden Akteurinnen liegt etwas Tragisch-Ironisches, allerdings auch die proleptische Potenzialität eines »so könnte es passieren«, die Gewalt wird für einen Augenblick zum Spiel. Die Vorsichtsmaßnahme der Pflegerin, sei sie zum tatsächlichen Schutz oder als Neckerei gedacht, impliziert Gefahr. Doch sie ereignet sich nicht direkt. Direkte Gewalt entsteht meist situativ: Diesen Moment mit der Kamera zu fixieren, erfordert im Dokumentarfilm die Gelegenheit, im Moment des Geschehens zur ›richtigen‹ Zeit am ›richtigen‹ Ort als »Fliege an der Wand« anwesend zu sein. Wir waren durch den abgesprochenen Drehplan (Kapitel 12.1), nicht während sämtlicher Drehtage und Schichten vor Ort auf der Station, teilweise wurden wir, wie aufgezeigt, von bestimmten Geschehnissen durch die Anweisung des Personals abgeschirmt. Wir lagen auch nicht nach Gewalt als Motiv auf der Lauer. Wegen des latenten und direkten Vorwurfs, dass wir mit unserer Kamera eskalierend wirken könnten, zogen wir uns teilweise proaktiv aus emotionalen Momenten zurück. Gerade zu Beginn der Dreharbeiten wollten wir keinen Beleg für einen brisanten Prädikator unserer Kamera schaffen. Trotzdem hatten wir die Gewalt stets im Fokus unseres Erzählblicks. Sie war das Thema des Films. Da sie sich nicht in direkter Form ereignete, zeigten wir durch Beobachtungen und Andeutungen die indirekte Gewalt, die Macht, die es ob ihrer institutionellen Absicherung nicht ›nötig hat‹, sich in Gewalt zu äußern. Des Weiteren wurde die Gewalt verbal fokussiert: auf ein Sprechen über die Delikte, die zur Unterbringung in der Klinik für Forensische Psychiatrie geführt hatten und auf jene Gewalttaten, die während des Aufenthaltes der Patientinnen die Einsperrung im Kriseninterventionsraum zur Folge hatten. Die Gewalt wurde als auditiver Komplex umringt, durch Fragen in ›Erfahrung‹ gebracht.

7

Vgl. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 67:14 f.

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So werden alle drei Patientinnen, die im Mittelpunkt des Films stehen, Frau B., Frau W. und Frau D. in direkter Fragestellung auf ihre Delikte angesprochen:In der Klinik gilt die Regel, dass die Deliktbearbeitung den TherapeutInnen vorbehalten ist (»Expertenmacht«) und auch das Pflegepersonal nicht in Deliktbearbeitung mit den PatientInnen gehen soll. Mit den Patientinnen über ihre »Anlasstat« zu reden, wurde uns nicht explizit verboten. Nach meiner Auffassung war das Delikt ein wichtiger Teil ihrer Biografie, den Blick vor einem der prägendsten Begebenheiten ihres Lebens zu verschließen, war für mich mit meinem Auftrag als mediale Vermittlerin deshalb nicht vereinbar. Es war ihnen vorbehalten, darüber zu sprechen oder nicht. Sie sollten als entscheidungsfähige Personen und nicht primär als psychisch Erkrankte gesehen, die Variablen von Tat und Erkrankung »parallel« voneinander betrachtet werden. Durch meine Recherchen im ›Vor-Feld‹ zur Gewalt von Frauen war mir die Gefahr bewusst, sie und ihre Gewalttaten durch ihre Krankheit viktimisieren zu können. Doch ich wollte die Frauen nicht nur als Opfer darstellen. Daher fragte ich nach. Ich näherte mich der Thematik vorsichtig, wollte der Gewalt nicht durch offensive oder raffinierte Taktik auf die Spur kommen, sondern den Patientinnen durch eine möglichste offene Fragestellung, Entscheidungsfreiheit in ihren Antworten ermöglichen.

15. D IE G EWALTTATEN

15.1 K ASUISTIK 8: D IE G EWALT

DER

DER

P ATIENTINNEN

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F RAU D.

In Minute 7:33 des Films wird das erste Mal direkte physische Fremdgewalt thematisiert, indem diese von der Patientin indirekt selbst angesprochen wird. Die Pflegerin Frau H. wird als neue Figur durch die wiederkehrende ›Schleusung‹ in den Film eingeführt, die repetitive Melodie, die bei den drei Pflegerinnen leitmotivisch für ihre Einführung verwendet wird, ist verklungen. Die Pflegerin geht auf eine Tür zu und schließt diese auf. Es ist der Morgen des allerersten Drehtags. Es ist das erste Mal, dass wir Frau D. begegnen. Die Kamerafrau hat wie die ZuschauerInnen Frau D. noch nie zuvor gesehen, als sich die Tür zu ihr öffnet. Dies offenbart sich auch in der vorsichtig beobachtenden filmischen Annäherung. Die Kamera ist hinter der Pflegerin und bleibt in Sicherheitsabstand von etwa einem Meter von der Tür der Patientin entfernt stehen. Die Pflegerin begrüßt eine Person, die von der Kamera noch nicht visuell erfasst wird und stellt ein »instrumentelles« Machtmittel, einen kleinen Becher mit Medikamenten und einen großen Becher Wasser, auf ein horizontales Stück Gitter; die institutionelle Absperrung wird auf diese Weise zum Gebrauchsgegenstand adaptiert, was eine Gewöhnung an die ›abnormen‹ Umstände suggeriert. Aus dem Off erklingt eine Frauenstimme, die das Kamera-Medium thematisiert: »Warum werd jetzt nur ich gefilmt?«, »Nicht nur Sie«, relativiert die Pflegerin und schüttelt beruhigend den Kopf.9 Auf der einen Seite könnte man dies so analysieren, dass sie sich auf diese Weise dem Filmteam zur Komplizin macht, da sie nicht den Umgang der Patientin

8 Definition, dass im Idealfall von Einzelfällen auf allgemeine Erkenntnisse in einem Fachgebiet geschlossen werden kann, etwa verwendet in der Rechtswissenschaft, Medizin, Psychologie. Hier wird ein Begriff aus einem Diskurs bedient, der die Festlegung der Patientinnen zum ›Fall‹ gleichwohl reproduziert. Dies wirkt noch eklatanter dadurch, dass für die Macht-Analyse der Pflegerinnen nicht die Begrifflichkeit der »Kasuistik« gewählt wurde, obwohl dies ihre Position als ›Macht-Haberinnen‹ den Patientinnen gleichgestellt und ihre Zuschreibungs-Unterscheidung minimiert hätte. Innerhalb ›der Macht dieser Analyse‹ wird Ihr Gewalt-Agieren u.a. anhand des Aspekts der »instrumentellen Modalitäten der Macht« analysiert, einzig aus dem Grund, da dies für die Analyse ergiebiger ist. Die Benennung der Patientinnen als »Kasuistik« ist absichtlich gewählt, um die Festlegung der Patientinnen durch den Kamerablick und die daraus hervorgehende hier stattfindende Analyse herauszukristallisieren.

9 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 6:04 f.

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mit der Kamera gefährden will. Auf der anderen Seite möchte sie möglicherweise verhindern, dass die Kamera ein Indikator für Aufregung oder die Annahme einer privilegierten Stellung für die Patientin sein könnte. Obwohl die Patientin die Kamera und uns, das Kamerateam, nicht sofort sehen kann (vielleicht nahm sie aber auch die Tonangel mit dem Mikrofon wahr, die über ihrem Kopf schwebte), ist ihr die Aufnahmesituation sofort bewusst. Ihr erster nun direkt an uns gerichteter Satz beinhaltet den bereits erläuterten Vorwurf der für sie als unverhältnismäßig empfundenen Medikation. Sie nutzt das Medium von der ersten Sekunde an als Sprachrohr für sich: »Die geben mir zu viele Tabletten, ich wär anfangs fast immer davon abgekratzt…« Die Kamera nähert sich der Pflegerin, die vorsichtige Bewegung macht erneut den sozialen Annäherungsprozess des Mediums signifikant, vollzieht dann einen langsamen 90-Grad-Schwenk auf den Oberkörper der Patientin. Gleichzeitig erblicken die Kamera sowie die ZuschauerInnen Frau D. nun zum ersten Mal: Eine Frau – Anfang dreißig, glattes mittellanges Haar, schwarzes Kleid mit dünnen Trägern, welches Arme und Dekolleté freilegt – hinter einer massiven Gittertür. Sie zeigt keine physische Reaktion gegenüber dem Filmteam und dem Kamera-Apparat, obwohl sie diese noch nie zuvor gesehen hat. Sie spricht einfach weiter, klagt gegen ihre Unterbringung im Kriseninterventionsraum und die ihr verordneten Medikamente und erzählt von ihrem Gewaltagieren, das sie in den Kriseninterventionsraum brachte: )UDX''LHKDOWHQPLFKYLHO]XODQJKLHUGULQIUGHQ$QJULIIGHQLFKJHWlWLJW KDEHGLHZROOHQPLFKKLHUGULQXPEULQJHQ )UDX3:DVKDEHQ6LHGHQQJHPDFKW" )UDX',FKKDE QHU3DWLHQWLQLQV*HVLFKWJHVFKODJHQ'DIUKDOWHQGLHPLFK DFKW:RFKHQKLHUGULQ,FKKDEHLQPDOLPHUVWHQ-DKUKDELFKHLQPDOHLQHU LQV*HVLFKWJHVFKODJHQZRLFKGDVHUVWH-DKUKLHUZDULFKELQMHW]WIDVWYLHU -DKUHQKLHUGDIUZDULFKQXUYLHU:RFKHQLQGHU=HOOH0LWWOHUZHLOHELQLFK DFKW:RFKHQKLHUGULQ2EZRKOLFKPLFKJXWVFKLFNXQGDOOHVPLWPDFKXQG QRUPDOHUZHLVH LPPHU EUDY ELQ XQG VR ZHLO LFK NDQQ MD JHJHQ GLH QLFKWV DXVULFKWHQYHUVWHKHQ6LH,FKKDEMDKLHUNHLQH+LOIH,FKZHL‰MDQLFKWZDV LFKPDFKHQVROO10

10 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 7:22 f.

15. D IE G EWALTTATEN

DER

P ATIENTINNEN

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Frau D., die während der ersten Wochen der Drehzeit im Kriseninterventionsraum untergebracht war, darf diesen am Ende der Drehzeit zumindest tagsüber verlassen und sich wieder frei auf der Station bewegen. Indem die Kamera, und damit die ZuschauerInnen, sie zum ersten Mal hinter Gittern durch den Zugang der Pflegerin kennenlernen, wird sie von vornherein als ein gefährliches Individuum wahrgenommen, da durch die »crisis-structure« eine nötige Sicherheitsbarriere wie bei einem wilden Tier suggeriert wird. Das Gitter symbolisiert auch genuin Gefährlichkeit. Frau D. gibt ihren Gewaltakt gegen die andere Patientin ohne weiteres zu, schmückt diesen jedoch nicht genauer aus. Sie erzählt nicht, warum und wie genau sie der anderen Patientin ins Gesicht geschlagen hat. Es wird in dieser Situation auch nicht detaillierter nachgefragt. Die Höhe der Sanktion für ihre Tat, die aus ihrer Sicht unverhältnismäßig lange Unterbringung im Kriseninterventionsraum, wird von Frau D. angeprangert. Sie nutzt die Gewalt also paradoxerweise als Argument für die ungerechtfertigte Behandlung durch die Klinik. Sie versucht ihr Gewaltverhalten auch dadurch zu relativieren, dass sie ihre Tat in Relation mit einer vorherigen Gewalttat setzt. Doch durch diesen ›Selbstverrat‹ macht sie gleichzeitig darauf aufmerksam, dass sie nicht nur einmalig gewalttätig gewesen war. Innerhalb dieses ersten Monologs stellt sie sich selbst, die Länge des Aufenthalts in der Klinik, ihr Vergehen für ihre Unterbringung im Kriseninterventionsraum und ihre Wahrnehmung der Situation vor. Somit schafft sie auf autarke Weise eine Präsentation ihrer selbst. Darin liegt eine Haltung, die ihr trotz der Gitter, trotz der Medikamente, die sie aufgefordert wird zu nehmen, eine Form von Selbstbestimmtheit verleiht. Nach dem letzten Satz, mit dem sie sich an eine unbestimmte Zuschauerschaft wendet – »Gut, wenn das gesendet wird, wird mir wohl keiner glauben. Weil die haben das ja alles nicht mitgemacht, wie ich das hier erlebt hab.«11 – wird von der Szene in eine Überwachungskamera-Perspektive geschnitten. Durch den Überwachungsblick wird ebenso wie durch die ›Gitterhaltung‹ impliziert, dass es einen Grund für ihre Einsperrung geben muss. Gleichzeitig wird sie als Objekt, als ›Opfer‹ des panoptischen Überwachungsblicks, der sie umgebenden Machtverhältnisse identifiziert. Den ZuschauerInnen ist an dieser Stelle selbst überlassen, wem sie Glauben schenken wollen, Frau D. oder den Personen, die sie als »Systemwächter« bezeichnet.

11 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 8:22.

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Abb. 27: Pflegerin und Patientin am Gitter des Kriseninterventionsraums12 Die Gewalttätigkeit von Frau D. wird im Film nun 18 Minuten lang nicht mehr thematisiert und erst wieder in Minute 28 innerhalb einer »Übergabe« angesprochen. Dabei ist zuerst eine Totale des ›Glaskastens‹ des panoptischen Teamzimmers zu sehen. Aus dem Off erklingt eine Stimme, die sich im stichwortartigen Vorlese-Sprachduktus äußert: Đ)UDX'PXVVWHKHXW1DFKPLWWDJPDONXU]LP7RQIDOOEHJUHQ]WZHUGHQ:DU GDHLQELVVFKHQIRUGHUQGXQGVFKUlJ 8PVFKQLWWLQV7HDP]LPPHU3IOHJHULQ)UDX:VLW]WYRUGHP&RPSXWHU%LOG VFKLUPXQGWUlJWZHLWHUYRU đGHUJHKWĜVVRZHLWJDQ]JXW'LHVROODXFKEHU NXU]RGHUODQJPDODXVGHP.,5UDXV'LHVROOQlFKVWH:RFKHJODXELFKVR ODXW'U>đ@HLQH6WXQGHPHKUNULHJHQ $XV2II0lQQHUVWLPPH  'DV3UREOHPLVWGDVVVLHZLUNOLFKLQQHUKDOEGHU-DKUHGUHLPDVVLYH$QJULIIH JHJHQ0LWSDWLHQWLQQHQJHWlWLJWKDWGLHDOOHDXVLKUHPSV\FKRWLVFKHQ(UOHEHQ HQWVWDQGHQVLQG 8PVFKQLWWDXIEHKDQGHOQGHQ0LWDUEHLWHU  $OVR GLHVHV %HGURKV]HQDULR LVW QDFK ZLH YRU GD 8QG QH PHGLNDPHQW|VH 8PVWHOOXQJKDWQLFKWVWDWWJHIXQGHQ,FKILQGVFKRQGDVVZLUXQV*HGDQNHQ PDFKHQVROOHQREZLUVRUDXVORFNHUQ$EHUZLUGUIHQQLFKWYHUJHVVHQGDVV GLHMHW]WLQQHUKDOEGHUGUHL-DKUHGUHLPDVVLYH$QJULIIHJHJHQ0LWSDWLHQWLQ QHQKDWMDGXUFKJHIKUWKDWď14

12 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Minute 8:24. 13 An dieser Stelle wurde in der Ton-Bearbeitung der Name des behandelnden Arztes herausgeschnitten, da dieser aus spezifischen Gründen nicht gefilmt werden wollte.

14 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 27:53 f.

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Auch in dieser Filmszene wird offensichtlich: Der Sachverständige, der Zusammenhänge einordnet, die »Erfahrungs«-Berichte von Frau D. komplettiert, ist hier ein in der Klinikhierarchie stehender Mann. Dramaturgisch ist an dieser Stelle die »Übergabe« gesetzt, um in Erinnerung zu rufen (konkretisiert durch die Appellation »aber wir dürfen nicht vergessen«), dass Frau D., die in der Szene zuvor die Form ihrer Unterbringung und ihre Gewichtskontrolle vehement kritisiert hat, nicht ohne Grund im Kriseninterventionsraum untergebracht ist, sie nicht nur Opfer der sie umgebenden Machtverhältnisse ist, sondern veritabel gewalttätig war. Die »Übergabe«, die dem Personal Hintergrundinformationen bietet, verschafft auch gleichsam den ZuschauerInnen einen informativen Mehrwert, den Frau D. selbst nicht erbracht hat. Es waren also bereits – laut Personal-Aussage – drei Übergriffe auf Mitpatientinnen geschehen, nicht nur die zwei, von denen sie selbst erzählte. Der Nominalbegriff »Bedrohszenario« macht aus den Zeitpunkten der Angriffe eine Zeitspanne; eine unbestimmte, nicht einzugrenzende Bedrohung. Durch diese Begrifflichkeit erscheint Frau D. als ›unbestimmt‹ gefährlich und ihre Einschließung weiterhin als gerechtfertigt. Die ZuschauerInnen erhalten so im Film auch ein Vorsprungswissen vor Frau D., denn sie erfahren, nach welchen Kriterien das Personal überlegt, sie »herauszulockern«. Dies verschafft ihnen ihr gegenüber eine dominante Position. Diese Szene hat die Funktion, die Spannung zwischen Personal und Patientinnen zu verdeutlichen und damit den ›Konflikt‹ zwischen den zwei Gruppen, der sich unter anderem durch die gesetzlich und institutionell bedingten Machtverhältnisse konstituiert, herauszustellen. Die disparaten Sichtweisen auf die Gefangenschaft werden verstärkt durch den Anschluss-Schnitt auf Frau D., die hinter Gittern sitzt und ihre Zigarettenpause ›hält‹. Wieder kritisiert sie im Folgenden die Form der Unterbringung: )UDX',FKKDENHLQHPZDVJHWDQVHLWQHXQ:RFKHQ,FKKDENHLQHQEH OHLGJWLFKKDEQLFKWVJHPDFKWđ8QGZDUXPNRPPLFKQLFKWPHKUUDXV"15

Ob sie aufgrund tatsächlicher »Besserung«, eingeschränkter Gelegenheit oder Angst vor Sanktionen neun Wochen »nichts gemacht« hat, ist nicht eindeutig zu beantworten. Indem sie jedoch selbst explizit herausstellt, dass sie die neun Wochen anhaltende Gewaltfreiheit für vorbildlich hält, kristallisiert sich heraus, dass Gewalt einer Form von ›Gewohnheits-Verhalten‹ entsprechen muss.

15 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 31:12 f.

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»Haben Sie keinen beleidigt?«, fragt die Pflegerin spitz, als wollte sie anhand dieser Suggestivfrage einen Beleg für die Unterbringung erbringen. Doch Beleidigung ist kein Prädikator für körperliche Gewalt und damit auch keine Legitimation für KIR-Unterbringung. Das Gewaltdelikt von Frau D., das nach ihrer Schilderung zur Unterbringung im Maßregelvollzug geführt hat, wird im Gespräch durch direkte Fragestellung in Minute 59:30, also erst zu Beginn des letzten Film-Drittels, thematisiert. Dies ist dramaturgisch intentional so spät gesetzt: Nachdem die Gewalttaten der Patientinnen im ersten Drittel des Films bis Minute 20 benannt worden sind, werden sie im weiteren Verlauf nicht mehr angesprochen. Die Nennung des Delikts von Frau D. an dieser Position im Film hat Erinnerungs-Funktion, als die Gewalt droht, in Vergessenheit zu geraten. Somit wird die Gewalt der Frau D. gewissermaßen auch als filmischer Wendepunkt instrumentalisiert. Dieser erhält besondere Wirkung dadurch, dass die Frauen in den Minuten zuvor eine deutliche Opferrolle eingenommen hatten. So ruft die Patientin Frau W. in der vorherigen Szene verzweifelt: »Ich will zu meiner Mama!«16. Sie ist in diesem Moment an ihrem absoluten Tiefpunkt verstärkt zum Kind geworden, das keinen anderen Ausweg mehr sieht als in der größten Not nach ihrer engsten Bezugsperson zu rufen. Im darauffolgenden Bild ist Patientin Frau D. zu sehen, die zuvor erzählt hatte, dass sie ihr Kind seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hat (vgl. S. 212): Frau D. liest aus dem Gesetzbuch den Paragraf 62 StGB, »Grundsatz der Verhältnismäßigkeit«, vor. Leitmotivisch wiederholt sich nun dieses auktoriale Stilmittel nach dem Vortrag des Pragrafen 63 StGB von Frau B. im ersten Film-Drittel. In diesem Moment wird das Gesetz als mögliches Machtmittel der Patientinnen eingesetzt, gleichzeitig wird durch die Nennung des ›VerhältnismäßigkeitsParagrafen‹ auch implizit die Verhältnismäßigkeit der Unterbringung infrage gestellt. Nachdem die Patientin fertig vorgetragen hat, wird nach einem Moment der Stille, in dem sie abwechselnd zur Fragenstellerin und in die Kamera schaut, der Grund für ihre Unterbringung erfragt, um damit einen Bezug zum vorherigen Gesetzesinhalt zu schaffen: )UDX3:DVKDEHQ6LHHLJHQWOLFKJHPDFKW)UDX'" )UDX'0HLQH7DW",FKELQ0DODQJH]HLJW )UDX'EOLFNWKLQXQWHU]XP*HVHW]HVEXFKVFKOlJWHV]XOHJWHVYRUVLFKDXI

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16 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 58:34.

15. D IE G EWALTTATEN

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P ATIENTINNEN

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)UDX'$Q]HLJHQKDELFK %OLFNQDFKYRUQH :HJHQ.DXIKDXVGLHEVWDKO NOHLQHQ$XVHLQDQGHUVHW]XQJHQZDUQLFKWVHUQVWHVDEHUGLHOHW]WH7DWGLHLFK EHJDQJHQKDEGLHZDUGRFKVFKRQDXVJHEHQGGDIUGDVVLFKKLHUJHODQGHW ELQ %OLFN]X)UDX33DXVH  )UDX3:ROOHQ6LHHU]lKOHQZDVGDVZDU" )UDX'EOLFNWQDFKXQWHQVHXI]WDWPHWDXV  )UDX',FKKDE QHlOWHUH)UDXYHUP|EHOWGLHEHLPLULP+HLPJHZRKQWKDW :HLOGLHPLFKVHHOLVFKXQGJHLVWLJIHUWLJJHPDFKWKDW'DZDUHQGUHL)UDXHQ GLHZDUHQGDLQGHP+HLPGLHKDEHQYRQPRUJHQVELVDEHQGVELV]XU(U VFK|SIXQJ JHVFKULHQ .HLQHU KDW VLFK GUXP JHNPPHUW ,FK KDE QLFKW JH VFKULHQ ZHQQ LFK PDO ZDV GDJHJHQ VFKUHLHQ ZROOWH GDQQ KLH‰ HV JOHLFKĦ ģ)UDX'ZLUEULQJHQ6LHLQGLH3V\FKLDWULHĢ0LUZXUGGDVQLFKWHUODXEW %OLFN

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Zunächst wirken die aufgezählten Delikte von Frau D. aufgrund des numerischen Ausmaßes von 18 Einzeltaten eklatant. Dies divergiert damit, dass die ersten Delikte, die Frau D. nennt, nach ihrer Aussage »nichts ernstes« zu sein scheinen, wobei sie jedoch bei den »kleinen Auseinandersetzungen« nicht explizit wird. Die schwerwiegendste »letzte Tat«, die sie begangen hat, warum sie »hier gelandet« ist, drückt zum einen verbal aus, dass ihr ihr genauer Unterbringungsgrund sehr bewusst ist und sie diesen überdies freigiebig zugibt. Auf der anderen Seite kristallisiert das »gelandet sein« einen unfreiwilligen Zugriff auf sie heraus. Die Passiv-Konstruktion intendiert eine Machtübernahme des Systems, durch die sie in der Klinik wie auf einem fremden Planeten »gelandet ist«. Kurz nach dem Satz schaut sie zur Fragenstellerin, wie in impliziter Erwartung einer Reaktion, einer Nachfrage. Als sich diese nicht ereignet, fährt sie selbst fort und erläutert den Gewaltakt genauer. Beschämt schlägt sie den Blick nieder, atmet aus. Das Zögern, die Kunstpause, kann hier in einer Interpretations-Varianz von Scham bis schlechtem Gewissen gedeutet werden. Durch den sprachlich verzögerten Absatz stellt sie ihre Tat jedoch auch heraus, weckt gesteigertes Interesse. In ihrer ›Beichte‹, die sie nun ablegt, erscheint sie offen, sie attributiert die Frau, die sie geschlagen hat, als ältere Person. Dadurch macht sie ihr Opfer schwächer und stärkt ihre eigene Machtposition, was sie »schuldfähiger« macht. Doch sie

17 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 59:30 f.

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stellt die Gewalttat ebenfalls sofort in einen Zusammenhang, in dem sie sich ohnmächtig innerhalb eines institutionellen Kontextes gefühlt hat. Ihre Gewalt ist Reaktion auf für sie unzumutbares Agieren ihres Opfers, das das »Heim«, welches sie angibt, zuließ: »…weil die mich seelisch und geistig fertig gemacht hat.« Sie wollte sich wehren, doch »mir wurd das nicht erlaubt«, sagt sie. Frau D. hatte jedoch trotz ihrer ohnmächtig empfundenen Situation die Wahl, sich für Gewalt zu entscheiden oder nicht. Doch sie wird zum Opfer der sie umgebenden Umstände. Man könnte darin auch eine Form von »Schuldabwehr«18 erkennen. Wie im Film ersichtlich wird an dieser Stelle keine explizite Nachfrage gesetzt. Es erfolgt ein Umschnitt in eine Nah-Einstellung auf Frau D.s nachdenkliches Gesicht, als würde sie selbst über ihre Tat sinnieren. Möglicherweise wurde dies dadurch bedingt, dass ihrem letzten Satz, bekräftigt durch ein Kopfnicken, etwas Abschließendes inhärent war: »Das war die schlimmste Tat, die ich begangen hab.« Womöglich war ich jedoch bereits zu ›selbstdiszipliniert‹, um selbstbewusst mehr Fragen zum Delikt zu stellen, in Gewahr dessen, dass eine Deliktbearbeitung den TherapeutInnen vorbehalten war. Ich fragte nicht, an welcher Körperstelle die ältere Frau verletzt wurde, ob Frau D. dazu einen Gegenstand benutzt hat, ob das Opfer bleibende Schäden davongetragen hat, wie lange sie auf sie eingeschlagen hat, was Frau D. dabei empfunden hat, ob sie sich danach besser oder schlechter gefühlt hat. »Denken Sie manchmal an Ihre Tochter?«, fragte ich in der ›Mutterszene‹ (S. 212), »Denken Sie manchmal an ihr Opfer?«, fragte ich nicht. Die von ihr vorgetragene Information, dass das Personal, das sie damals betreute, meinte: »Frau D. wir bringen Sie in die Psychiatrie«, impliziert, dass ihr Agieren bereits vor der Gewalttat sehr wahrscheinlich in einer Weise deviant gewesen ist. Auch war sie anscheinend bereits in einer Form von Fürsorge tragender Disziplinar-Institution untergebracht, was ihre Handlung in einen Opfer-Kontext stellt. Sie war nach ihrer Aussage also schon länger ›unfrei‹, Reglementierungen und Obhut ausgesetzt, was die eingangs genannten Studien zu Voraufenthalten von Maßregelvollzugs-PatientInnen in Allgemein-Psychiatrien bestätigt (5.3).

18 Vgl. etwa Seifert-Wieczorkowsky, Sabine: Genderorientierte Gewaltberatung. 20 Jahre Täter- und Täterinnenberatung im Dunkelfeld, in Elz, Jutta (Hg.): Täterinnen, Befunde, Analysen, Perspektiven, Kriminologie und Praxis, Schriftenreihe der Kriminologischen Zentralstelle e.V., Wiesbaden 2009, S. 195-211, hier S. 205.

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Die Patientin nennt selbst das Resultat ihres gewaltvollen Agierens: »Ja, ich hab die so geschlagen, dass die genäht werden musste.« Die Konsekutivbildung »so geschlagen, dass« spart die eigentliche Verletzungsbeschreibung, wie Größe, Stelle oder sonstige Eigenschaften der Wunde aus. Erst die indirekte Konsequenz auf die Tat, die, sprachlich passiv gebildet, durch andere ausgeführt wurde – »dass sie genäht werden musste« – wird angeführt. Die Wunde ist also wieder zugenäht, verschlossen, im Heilungsprozess befindlich, bevor im übertragenen Sinne der »Finger in die Wunde gelegt werden« konnte. Die Fortführung des Konsekutivsatzes würde man in einer extremeren Konsequenz erwarten, etwa »so geschlagen, dass sie gestorben ist, dass sie ins Koma fiel, dass sie bleibende Schäden davontrug, dass alles voller Blut war«. Das jedoch anschließende »dass sie genäht werden musste« wirkt durch das Fehlen einer ergänzenden Information, wie einer Wundbeschreibung, in dieser Formulierung recht schwach angesichts der folgenden Unterbringung der Täterin im Maßregelvollzug. Durch die Schuldeinsicht der Patientin, ihre Kontextualisierung als Reaktion auf unzulängliche institutionelle Zustände und die vermeintlich fehlende Schwere der »Anlasstat«, wird ihre Form der Unterbringung in dieser Filmszene so indirekt infrage gestellt. Der Film hat an dieser Stelle bereits einiges dafür getan, dass man Frau D. schon innerlich verziehen und ›lieb gewonnen‹ hat: So erzählt sie in Minute 35 von ihrer Tochter, die sie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hat, die bei Pflegeeltern untergebracht ist, welche nicht möchten, dass sie ihr weiterhin schreibt oder Geschenke schickt. Der Film leistet hier eine Form biografischer Kausalverknüpfung, was ansonsten absichtlich vermieden wurde. Damit wird eingesetzt, was der Filmemacher Michael Haneke für seine Filme, behandeln sie auch noch so destruktive Thematiken, herausstellt: »Man muss den negativen Figuren, sofern sie für eine Geschichte notwendig sind, ein Geschenk mitgeben – Brillanz, ein Leiden, eine Virtuosität. […] Erst dann wird diese Figur für den Zuschauer interessant. Wenn ich Menschen beschreibe, muss jeder die Chance haben, wenn schon nicht geliebt, so doch akzeptiert zu werden. Nur dann geht mir dieser Mensch auch nahe. Reine Bösewichte sind das langweiligste, was es gibt. Gerade eine negative Figur muss ich aufwerten.«19

In diesem Sinne wird auch das Verhalten der psychisch erkrankten Straftäterin Frau D. durch ihre Tochter menschlich nachvollziehbar und sie als Figur zugleich

19 Michael Haneke, in: Assheuer, Thomas: Michael Haneke. Gespräche mit Thomas Assheuer, Berlin 2008, S. 104 f.

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erzählerisch ›einnehmend‹: Ein Kind, das nicht zu seiner Mutter kann, eine Mutter, die nicht zu ihrem Kind kann, weil dazwischen die Gitter der Institution stehen, so wie es der Umschnitt nach der Szene auf das große, gusseiserne grüne Hoftor offensichtlich macht. Indem sie als Mutter ohne Kind gezeigt wird, wird die Konsequenz ihrer ›Bestrafung‹ umso größer und im Verhältnis hinterfragbarer. Im selben Moment wird sie als Täterin umso schwächer. Foucault kritisiert an der »Delinquenz«-Bildung und der »Einführung des ›Biografischen‹«20, dass »sie den ›Kriminellen‹ vor dem Verbrechen und letzten Endes sogar unabhängig von dem Verbrechen schafft. Und [dass] von da aus eine psychologische Kausalität die juristische Zuweisung von Verantwortung begleitet und durcheinander bringt.«21 Auch im Film tangiert der biografische Hintergrund Verantwortlichkeiten und schafft ein vermeintliches Indiz für Schuldunfähigkeit. )UDX'$FKLFKZROOW,KQHQQRFKHLQ)RWRYRQPHLQHU7RFKWHU]HLJHQ,FK KDEHLQ.LQG:ROOHQ6LHPDOJXFNHQ" )UDX3:HQQVLHGDV]HLJHQP|FKWHQ )UDX'-DP|FKWHLFK]HLJHQ'DZDUVLHQRFKJDQ]NOHLQGLHLVWMHW]W -DKUHDOW+LHU QLPPWGDV)RWRXQGKlOWHVLQGLH.DPHUD  )UDX36FK|Q )UDX'6‰QHRGHU" )UDX'8QGGDVLVWKLHUHLQ)RWRYRQGHU7DXIHGDELQLFKQRFKGUDXI )UDX3'DVLQG6LHGUDXI )UDX''DELQLFKMD )UDX3*DQ]KHOOH+DDUH 'LH3IOHJHULQ)UDX:IUDJWREVLHGLH)RWRVVHKHQN|QQH  )UDX',FKKDEVLHEHQ-DKUHODQJGLH+DDUHEORQGLHUWJHKDEW )UDX'JLEW

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Die Pflegerin fungiert an dieser Stelle als Stellvertreterin, durch die die etwaigen Emotionen der BetrachterInnen verbalisiert werden. Damit wird die Person der Pflegerin aufgewertet, da sie empathiefähig zu sein scheint; die ZuschauerInnen können sich sowohl mit ihr, als auch mit der Patientin identifizieren.

20 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 324. 21 Ebd. 22 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 40:40 f.

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Abb. 28:Bildnachweis: »Das bin ich, ja«23 Ihre Tochter, ihre Vergangenheit als Partnerin eines Bankkaufmanns, in der sie die Haare blondiert, etwas ›aus sich gemacht hat‹, dienen Frau D. als Selbstvergewisserung: »Das bin ich, ja.« Das Bild ist ihr Leistungsnachweis, die Bestätigung, dass sie sich im bürgerlichen Leben nach einer konservativen Rollenvorstellung bereits bewährt hat, einen Mann mit sozialem Status und Nachwuchs gehabt hat. Die Fotos sind die einzige Reliquie, die ihr von ihrem Kind geblieben sind. Die Fotos sind damit mehr als ein Beweis ihrer Tochter, sie sind die Existenz ihrer Tochter. Im wahrsten Sinne ein »Memento Mori«, weil sie etwas festhalten, was für sie im übertragenen Sinne ›gestorben‹ ist. Doch Frau D. packt sie schnell wieder weg, in sichere Verwahrung ihrer Hosentasche – »das sind die einzigsten Fotos, die ich noch davon hab«. Zu diesem Zeitpunkt hat die Kamera das Bild schon konserviert, zur Bildung ihrer Mutter-Figur, zu einer ›Dramatisierung des Subjekts‹. Nach dieser Szene, die Frau D.s »Background Story« offenlegt, sind die Bedingungen, um Frau D. weiter als Täterin zu ›verurteilen‹ erschwert worden. Im weiteren Verlauf des Films tritt sie auch nicht mehr ostentativ lamentierend auf. Diese Szene stellt eine Form von Katharsis für sie dar, die Person ist nun zu einem erwachsenen (Elternrolle), ›gebesserten‹ Individuum geworden. Danach wird Frau D. im Film ›vernünftig‹. Während des Schnitts stellte sich bei Szenen wie dieser die Herausforderung, dass die »negativen Figuren«, wie Haneke es verlangt, nicht zu deutlich ›aufgewertet‹ wurden, dass es nicht ein ›zu viel des Guten‹ wurde. Zu einseitig wäre der Opferblick auf die – um ihre Jugend und ihre sozialen Kontakte betrogenen – Frauen in der Institution gewesen. Der Film lief Gefahr, die Ursprungs-Tat der Frauen ganz in Vergessenheit geraten zu lassen. 23 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 41:05.

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Es war wichtig zu erinnern: Zum Zeitpunkt ihrer Gewalttat hatten die Patientinnen für einen kurzen, vielleicht für Sekunden oder Minuten anhaltenden, Moment physische Macht über ein anderes Subjekt inne, das ebenfalls womöglich Kinder, PartnerInnen, Wünsche nach Glück, Schönheit und Anerkennung hatte, und für die diese Gewalt teils schwerwiegende Folgen verursachte.

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Nach Eindruck der Dreharbeiten war ein Grund für den mangelnden Aufstieg von Frau B. innerhalb des Systems der Lockerungsstufen unter anderem ihre mangelnde »Absprachefähigkeit«. Sie räumte ihr Zimmer nicht auf24, widersetzte sich den Regeln, fing immer wieder Streit an. Bei ihr machte es den Anschein, dass sie, einmal auf ihre Erkrankung diagnostiziert, ihre Intelligenz nicht dazu nutzte, dem System durch möglichst unauffälliges Verhalten wieder zu entkommen, sondern sich wiederholt ›unangepasst‹ verhielt. Sie schien sehr gut aufgeklärt über ihre rechtliche Situation zu sein, las täglich mehrere Zeitungen und blieb über Gesetzesänderungen stets auf dem neuesten Stand. Ihr Wissen, auch ein Zeichen von Macht, verschaffte ihr zwar Aufklärung, doch damit keinen Ausgang aus ihrer fremd- oder »selbst verschuldeten Unmündigkeit«25. Womöglich schien ihr scharfer Blick sie eher im Gefüge der Machtstrukturen zu behindern. Im Alltag konzentrierte sich ihr Reden vor allem auf die für sie unverhältnismäßige Unterbringung, die ihr so unerträglich ungerecht erschien, dass sie sie immer wieder hinausschrie. Dadurch provozierte sie auch Konflikte mit dem Personal, die möglicherweise zu ihrem Nachteil gereichten. »Machen Sie uns keine Vorwürfe immer«26, wehrte in einer Szene die Pflegerin ihre Anschuldigungen zurück. Sich zu Unrecht eingeschlossen gefühlt, agierte Frau B. nach unserem Erleben wie in automatisierter Abwehrhaltung. So wie Foucault meint:

24 Vgl. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 10:25 f. 25 Vgl. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (5.12.1783), in: Weischedel, Wilhelm (Hg.): Werke in 6 Bänden, Band 6, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1964, S. 53-61, hier: S. 53. 26 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 49:08.

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»Das Gefühl der Ungerechtigkeit, das ein Häftling empfindet, ist eine der Ursachen, die den Charakter am ehesten unzähmbar machen können. […] [E]r sieht in den Vertretern der Autorität nur mehr Henker; er glaubt nicht mehr schuldig zu sein; er klagt die Justiz selber an.«27

Übertragen auf Kafkas »Türhüterlegende« wurden nach Eindruck der Dreharbeiten auch für Frau B. die ›Türhüter‹ mächtig. Sie orientierte sich in ihrem Unrechtsempfinden anscheinend so stark an ihnen, rieb sich so sehr an deren Regeln, dass ihr eigentliches Ziel, die Freiheit, in den Hintergrund zu rücken drohte. In Filmminute 12:44, nachdem sie die Institution, in der sie untergebracht ist, als »Dienstleistungsunternehmen« mit verteilten Machtverhältnissen diagnostiziert hat und eine Allegorie-Bildung von »Königen, Königinnen« schafft, wird sie nach ihrem Delikt befragt. Damit wird das erste Mal im Film angesprochen, dass eine Straftat dieser Form der Unterbringung in der geschlossenen Klinik für Forensische Psychiatrie zugrunde liegen muss: )UDX3:DVKDEHQ6LHHLJHQWOLFKJHPDFKWDOV6WUDIWDWGDVV6LHKLHUVLQG" )UDX% %OLFN]XU6HLWH -DHKPđ %OLFNZLHGHUQDFKYRUQH  đKDOW %HGURKXQJVGHOLNWH LP LQWRđ VFKZHUVW LQWR[LNLHUWHP =XVWDQG ZR LFK QLFKWVPHKUYRQZHL‰MD %OLFN]XU6HLWHDFKW6HNXQGHQ6WLOOHVLHEHUVFKOlJW

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Die Patientin senkt den Blick, vermeidet Blickkontakt, kurz bevor sie ihre Tat angibt. Die Verwendung »halt Bedrohungsdelikte« impliziert, dass die Patientin davon ausgeht, ihr Gegenüber würde von ihrer Tat bereits wissen. Das Partikel »halt« intendiert eine Form von Selbstverständlichkeit und relativiert das Delikt. Den höchst weit gefassten Begriff »Bedrohungsdelikte« erläutert sie nicht. Im direkt nächsten Begriff findet eine Relativierung statt, noch bevor sie diesen Satz beendet. Die Begrifflichkeit des Delikts wird in einen Zusammenhang des nicht

27 Préameneu, F. Bigot: Rapport au conseil général de la société des prisons, 1819, zit. nach: M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 342 f.

28 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 12:44 f.

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zurechnungsfähigen Umstands durch die sofort angestellte Diagnose »im intoxikiertem Zustand« gesetzt. Diese wird durch das Adjektiv »schwerst« noch einmal herausgestellt. Die Patientin hat den Rechts- und Medizin-Jargon in ihren Wortschatz implementiert. Mit dieser Verwissenschaftlichung verrätselt sie jedoch ihr Vergehen (»Expertenmacht«) und schließt unwissende Laien vom Informationszugang aus. Sie erläutert ihre Tat oder ihren Zustand nicht durch persönliche Anmerkungen, Schilderungen des Tatvorgangs, wie dies etwa Frau D. vollzogen hat. Nach einer folgenden acht-sekündigen Stille, in der ihr die Möglichkeit gegeben wäre, von selbst ihr Delikt zu erläutern, verweist sie auf die von ihr empfundene Ungerechtigkeit: Die »Unverhältnismäßigkeit«. In dieser spezifischen Situation findet keine weitere Nachfrage zu ihrer Tat statt, respektive diese wird durch den an dieser Stelle gesetzten Schnitt den ZuschauerInnen nicht zugänglich gemacht. Das Delikt bleibt in einem pathologischen unverständlichen Kontext verhaftet und als »unverhältnismäßig« angeprangert. Sie hat keine Schuld, Schuld haben die EntscheiderInnen – zumindest nach Aussage der Patientin. Die Klinik-Verantwortlichen sehen das natürlich anders. Diese ›Schuldabgabe‹ entspricht einer der Gründe, die Foucault für die Sprechung der Schuldunfähigkeit von Individuen (Kapitel 4.) nennt: »Der Mensch, der tötet, ist nicht frei, es nicht zu tun. Der Schuldige ist die Gesellschaft oder richtiger: die schlechte Organisation der Gesellschaft.«29 Als nächste Einstellung auf die ›Tat-Aussage‹ der Patientin, die ›Nukleus‹ für den Macht-Diskurs dieses Films ist, folgt ein Stimmungsbild, die Aufnahme eines Stacheldrahtzauns, auf dem Vögel sitzen und mühelos über ihn hinwegfliegen. Das Bild kristallisiert die Divergenz zwischen der Patientin und ihren verhinderten Möglichkeiten, die Disparatheit von Freiheit und Isolation heraus. Dieses Bild wird abgelöst mit der Einstellung des durch Gitterstäbe gefilmten Schriftzugs »ich bin ich«, der von der Patientin Frau W. in die Wand geritzt wurde (Kapitel 19.2.1). Auch durch dieses Symbolbild wird die Ambivalenz zwischen Möglichkeit von Selbstentfaltung und institutioneller Begrenzung herausgestellt. Die Patientin Frau W. wird kurz darauf ebenfalls nach ihrer Tat gefragt, so dass hier eine ›Deliktbearbeitung‹ in Folge geschieht. Immer wieder stellt der Film die für die Unterbringung nach Paragraf 63 StGB bedingte Gefährlichkeit der Patientinnen für die Allgemeinheit subtil infrage: Dies zeigt sich etwa in der Schnittfolge, wenn die Patientin Frau B. den Paragrafen 63

29 L’Humanitaire, August 1841, zit. nach: M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 371.

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aus dem Strafgesetzbuch vorliest und auf diese Weise darüber aufklärt, welchen Zweck und welche Bedingungen sich an die Form der Unterbringung knüpfen. Auf den letzten Teilsatz des Paragrafen »dass er für die Allgemeinheit gefährlich ist« (die fehlende Genderung des deutschen Strafgesetzbuchs schließt die Patientinnen bereits rein sprachlich aus) folgt ein Schnitt auf das Überwachungsbild der Patientin Frau W., die einsam als roter Punkt im Kriseninterventionsraum am Fenster steht, dann zum Bett schreitet und sich gedankenverloren hinsetzt. Durch den Schnitt auf das junge, isolierte Individuum wird der Effekt, den dieser Paragraf auf das persönliche Leben bewirkt, konkretisiert. Des Weiteren kreiert die Gegenüberstellung des ›hilflos‹ dargestellten Individuums und der machtvollen Gesetzesworte eine subtil subversive Form der Infragestellung der »Gefahr für die Allgemeinheit«. Frau B. gelang schließlich der Zugang »zum Gesetz«. Sie erreichte ihre Entlassung aus der Klinik, jedoch nicht, weil sie sich innerhalb des Systems der »Lockerungsstufen« steigern konnte. Nach Schilderung der Pflegerin Frau W230 gelang es ihr zusammen mit ihrem Anwalt das Gericht zu überzeugen, dass ihre Tat nicht mehr im Zusammenhang mit ihrer psychischen Erkrankung, sondern mit ihrem damaligen Substanzmittel-Missbrauch zu bewerten sei. Damit war letztendlich gerechtfertigt, dass ihre Unterbringung nach Paragraf 63 demzufolge in Paragraf 64 StGB31 »umgewandelt« wurde. Man könnte daraus schlussfolgern: Der Gerichts-Entscheid beschied somit, rein rechtlich gesehen, dass sie elf Jahre ihres Lebens, ihre gesamten 30er Jahre, in der falschen Einrichtung gefangen gehalten war. So wird sie nun nach elf Jahren Unterbringung in eine Institution überwiesen, in der Substanzmittel-Abhängige behandelt werden und in der sie, gemäß Paragraf 67 d Abs. 1 StGB32 festgesetzt, bereits nach zwei Jahren Therapie die Chance auf Entlassung hat und nicht mehr auf unbestimmte Zeit untergebracht ist. Sie konnte

30 Vgl. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 51:19 f. 31 »Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihre Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.«, van Gemmeren, Gerhard: Freiheitsentziehende Maßregeln. Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, § 64 Satz 1, in: W. Joecks/ K. Miebach (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 2, S. 793. 32 Vgl. H. Veh: Dauer der Unterbringung, § 67d Abs. 1 Satz 1, S. 1076.

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also nicht durch »Besserung« ihrer Persönlichkeit aus dem System entweichen, sondern durch eine neue Gewichtung dessen, welche Beeinträchtigung und damit welcher Paragraf für ihre Tat ausschlaggebend war. Die Chance auf Entlassung aus dem »63er«-System schätzte sie als so gering ein, dass sie sich lieber in ein anderes Disziplinarsystem begab und die ›Umwandlung ihres Paragrafen‹ als großen Erfolg wertete. Einmal »in die Kreisläufe der Delinquenz eingeschlossen«33, kann es schwer sein, wieder aus ihnen heraus zu gelangen. Diesen Eindruck erweckt der Fall von Frau B. im Film. )UDX%,FKELQKDOWIURKGDVVHVKDOWLQPHLQHPSHUV|QOLFKHQ)DOOKDOWGHQ 9HUODXIJHQRPPHQKDWGHQXQHUZDUWHWHQDEHUHUIUHXOLFKHQ9HUODXIGDVVLFK KDOWKLHUGLH.OLQLNRGHUE]ZMDEHUKDXSWGLH,QVWLWXWLRQKLHUEDOGYHUODVVHQ NDQQ XQG GDVV LFK OHW]WHQGOLFK GD KDOW DQGHUH 0|JOLFKNHLWHQ KDE MDđ ,VW KDOWLFKILQGHHVIUEHLGH6HLWHQQLFKWHLQIDFKZHGHUIUGLH3DWLHQWHQQRFK IUGDV3HUVRQDOKLHU

»Im Grunde manifestiert die Existenz des Verbrechens glücklicherweise eine ›Nicht-Unterdrückbarkeit der menschlichen Natur‹«35, meint Foucault. »Anstatt einer Schwäche oder einer Krankheit ist in ihm eine Energie zu sehen, die sich aufrichtet, ein ›unüberhörbarer Protest der menschlichen Individualität‹, die ihm seine befremdende Anziehungskraft verleiht.«36 Dies soll das Verbrechen nicht ästhetisieren37, doch Foucault benennt mit dieser Aussage auch, was dem Verbrechen neben allem Schaden, aller Gewalt und allem Schmerz der Opfer ebenfalls immanent ist: Ein Nicht-Einhalten der vorgegebenen Regeln und Disziplinarstrukturen, ein Nicht-Annehmen der vorhandenen Situation, eine aktive Einflussnahme auf das Leben, auch wenn diese oft verheerende negative Folgen für das Subjekt selbst wie für andere Individuen haben kann. Auch uns konfrontierte Frau B. bisweilen mit dem Nicht-Einhalten von Verabredungen. Mehrmals vereinbarten wir Treffen, bei denen wir sie dabei filmen wollten, wie sie aus dem StGB vorliest, was sie selbst für eine gute Idee hielt. Einige

33 34 35 36 37

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 375. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 69:25 f. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 374. Ebd. Vgl. ebd., S. 375.

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Male erschien sie nicht zur vereinbarten Uhrzeit, war auf der Station nicht auffindbar, etwa, weil sie ihre Lockerungsstufe 3 für den Geländeausgang nutzte. Wir erhielten den Eindruck, dass Sie uns möglicherweise auch in diesem Sinne ihre Macht spüren ließ. So ging das, bis sie dann irgendwann wirklich Lust hatte zu lesen. Auf eine bestimmte Weise war diese Art, sich von ›Autoritäten‹ (manche nahmen diese auch im Instrument der Kamera wahr) nichts vorschreiben zu lassen, auch imponierend. Genauso konnte ich das Personal verstehen, das durch ihr Verhalten verärgert war, sich nicht ernst genommen und ohnmächtig fühlte. Sie schien nach unserem Eindruck nicht sehr »absprachefähig«, aber war sie deswegen »allgemeingefährlich«?

15.3 K ASUISTIK : D IE G EWALT

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Alternierend zu den Gitterstäben, die zu Beginn des Films eine Gefährlichkeit der Patientin Frau W. suggerieren, wird diese, inhaltlich zwar einordnend, doch dramaturgisch konfliktmindernd, fast sofort nach ihrem ersten Erscheinen relativiert. Es ergibt sich in Frau W.s primärer, sich selbst einleitender Filmaussage, »Also, es hat alles damit angefangen«, die aus ihr temporär eine ›auktoriale Erzählerin‹ macht, dass die Unterbringung im Kriseninterventionsraum nicht ob ihrer Gefährlichkeit, sondern aufgrund ihrer Selbst-Gefährdung stattfindet. Der allererste Gewalt-Akt, der im Film genannt wird, erzählt davon, dass sie »versucht hat, sich aufzuhängen«. Die deutliche Fokussierung auf suizidale Ursprünge schafft Deeskalation. Das Delikt, das sie in die Institution brachte, wird erst mehr als zehn Minuten später von ihr benannt, ihr aggressives Potenzial, womit die Institution ›das Gitter‹ des Weiteren legitimiert, wird erst in Minute 60 deutlich. In Minute 13:50, unmittelbar nach der ›Delikt-Szene‹ von Frau B, beim Umschnitt auf den Zaun und ihr »ich bin ich«-Wandbild, klingt aus dem Off die Stimme der Autorin: )UDX3:DUXPVLQGVLHHLJHQWOLFKQRFKPDOKLHU" )UDX:-DZDUXPELQLFKKLHU"$OVRėLFKKDE/DGHQGLHEVWlKOH.|USHUYHU OHW]XQJXQG%UDQGVWLIWXQJXQGHLQH6DFKHGLHP|FKWHLFKQLFKWVDJHQ$EHU LFKPXVVKDOW QH7KHUDSLHDEVFKOLH‰HQ8QGEHLGHU*HULFKWVYHUKDQGOXQJZDU KDOWVRHLQGRRIHV'LQJGDVVLFKKDOWYLHOOHLFKWDXI%HZlKUXQJUDXVJHNRQQW KlWWHXQGPLUKDWNHLQHUHUNOlUWZDVHLQģHUĢLVW8QGGDELQLFKHLJHQWOLFK LQVR QH)DOOHJHWDSSWXQGGDQQKDWGHU5LFKWHUKDOWJHVDJWģ-D6LHN|QQHQ

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Die Fragestellung »warum Sind Sie eigentlich nochmal hier?« impliziert, dass der Grund der Unterbringung in Erinnerung gerufen werden muss: »eigentlich nochmal« – die Tat wird qua dieser Partikel als etwas vermeintlich Peripheres, nicht signifikant im Mittelpunkt Stehendes, wie nebenbei hervorgeholt. Mit einem leichten Lächeln im Gesicht zählt Frau W. ihre Taten auf. Das so anzunehmende schwerste Delikt spart sie dabei aus, lässt es kurz als Leerstelle stehen, in die man alles Mögliche interpretieren kann, bevor sie dann vom Delikt abweicht und thematisch hin zu ihrer Krankheit lenkt. Umstand, Schwere ihrer Taten und Konsequenz für andere Beteiligte erklärt sie nicht. In ihrer Erläuterung entfächert sich, dass ihr mangelndes Expertenwissen und eine fehlende Rechtsberatung (zweimal nennt sie, dass sie nicht über den »63er« aufgeklärt wurde), die Patientin dazu gebracht habe, sich auf eine Art ›Coup‹ einzulassen, der zu einem für sie nachteiligen Verdikt führte. Ebenfalls ersichtlich wird in ihrer ›Aussage‹, dass sie – wie auch Frau D. – vor ihrer Internierung in einem anderen Disziplinarsystem, bereits »vorher in vielen Kliniken« untergebracht war, aus denen sie anscheinend »herausgeschmissen« worden ist. Ihr Verhalten war demnach den Institutionen nicht angemessen gewesen. Sie ist durch die Instanzen hindurch gereicht worden, bis sie als Frau »oder besser gesagt Mädchen noch«, ein Diminutiv, das sie selbst jünger und noch machtloser erscheinen lässt, auf einer Männerstation gelandet ist. Für sie, einer »subaltern« gewordenen Persönlichkeit, schien es selbst in den »Heterotopien« keinen Platz zu geben.

38 Zum Schutz der Persönlichkeit wurde der Ortsname entfernt. 39 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 13:50 f.

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Sie wurde in einen Männer-Ort gesteckt, weil für sie als »Restkategorie« der psychisch erkrankten Mädchen-Täterin, anscheinend sonst kein Ort vorhanden war. Paradoxerweise entschied sie sich dann – wie auf der Suche nach einem Zuhause – für eine Unterbringungsform, von der sie wusste, dass sie »dort nicht rausgeschmissen werden kann«, ohne zu wissen und, nach ihrer Darstellung interpretiert, anscheinend unzureichend verteidigt, ausreichend in Betracht zu ziehen, »dass man da auch nicht mehr so schnell gehen kann«: Ihre Einweisung hat sich demnach nicht aus der offenen Gesellschaft heraus ereignet, schon zuvor haftete ihr das Merkmal der psychischen Erkrankung und stationären Unterbringung an, was konstituierend für ihre Sprechung als »schuldunfähig« und die Unterbringung in einer Klinik für Forensische Psychiatrie war. Man könnte dies erneut als ein Beispiel für die Annahme Foucaults sehen, dass sich das »Delinquentenmilieu« vorzugsweise in bestimmten ›Gesellschaftsgruppen‹ formiert, dass diejenigen zu TäterInnen werden, die bereits tangiert von Paternalismus waren.40 Konstituierend ist in der dargelegten Aussage auch die Wahl der Sprache: Frau W. spricht stets von »dem 63er« in Zahlenform und nicht vom »Paragraf 63«. In der Umgangssprache zeigt sich eine Form von vertrauter Beziehung zum Paragrafen, so wie in ähnlicher Form über Personen gesprochen wird, von deren allgemeiner Kenntnis ausgegangen wird: MitarbeiterInnen nennen ihren Chef »den Maier«, man spricht über »die Merkel« oder »den Beckenbauer«. In der Sprache offenbart sich ein konzentriertes Kreisen um den Paragrafen, er wird abgekürzt, weil er, ihr zuvor unbekannt, nun zu ihrer Lebenswirklichkeit geworden ist, er einen alles entscheidenden, viel besprochenen und irreversiblen Faktor ausmacht. Die Zahl wird zur Erklärung des Lebensschicksals. Bevor sie noch den Satz beendet, mit dem sie ihre Delikte aufzählt, nennt sie in präpositionaler Verbindung mit einem abgrenzenden »aber« den Begriff »Therapie«: »Aber ich muss halt 'ne Therapie abschließen.« Das »aber« grenzt die Therapie vom Delikt ab, trennt Krankheit von Delikt-Verantwortung. Đ8QGEHLGHU*HULFKWVYHUKDQGOXQJZDUKDOWVRHLQGRRIHV'LQJXQGGDELQ LFKHLJHQWOLFKLQVRHLQH)DOOHJHWDSSWď

Mit ihrer Ausdrucksweise stellt sie die unglücklichen Umstände, die zu ihrer Unterbringung geführt haben, heraus. Der Ausdruck »in so eine Falle getappt«, als

40 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 389.

222 | D ER PANOPTISCHE B LICK

wäre diese für sie aufgestellt gewesen, suggeriert, als ob ihr jemand etwas ›Böses‹ gewollt hätte, in das sie nichtsahnend, ›nichtsblickend‹, »getappt« ist. Damit betont sie ihre Unwissenheit, Naivität und Machtlosigkeit und delegiert Verantwortung an andere, sie selbst ist »schuldunfähig«. Sie wird so zum Opfer einer nach ihrer Darlegung scheinbar arbiträren JustizEntscheidung. Paradoxerweise hat ihr vermeintliches Mitbestimmungsrecht bei der Urteilssprechung die Patientin in die Situation verminderter Mündigkeit gebracht. Fast jeder ihrer Sätze ist mit dem Partikel, dem Umgangs-Füllsel, »halt« bereichert, als gäbe es »halt« kein Entrinnen, als musste es »halt« unausweichlich so kommen, wie es kommen musste. Im späteren Verlauf des Film nennt die Pflegerin Frau W1 das Alter der Patientin – »die ist [...] 20, 20 Jahr alt!«41– und schafft auf diese Weise verstärkt Anteilnahme für deren verzweifelte Situation. Frau W. selbst sagte uns, dass es noch lange dauern würde, bis sie mit der Therapie in dieser Klinik fertig sei, als hätte sie dies selbst nicht in der Hand. Eine Form von Resignation, die ein unbehagliches Gefühl hervorrief. Möglicherweise mag eine Form von ›Mit-Leid‹ auch mit ein Grund dafür gewesen sein, dass ich nicht weiter nach ihrem Delikt fragte. Die bedeutendste Tat von ihr bleibt ein Vakuum, ein immerhin von ihr benanntes, das Neugierde weckt. Die ›eine Sache, die sie nicht sagen möchte‹ gerät jedoch dann im Verlauf des Films in Vergessenheit. Sie wischt beim Sprechen schnell darüber, gibt den Fakt einer weiteren Tat zwar an, weil es ihr möglicherweise wie bei einer ›Beichte‹ im Gespräch mit der Kamera wichtig schien, sämtliche Delikte ehrlich aufzuzählen, doch dieses Delikt erläutert sie nicht. Sie gibt sich dem Blick auf sie nicht vollends preis. Die Tat wird neutralisiert, zur »Sache«, und damit auch bagatellisiert. Es war ausgeschlossen, dass ich dieses Delikt durch forciertes Nachfragen hervorlockte, wenn sie dies nicht wollte. Es ist ein natürlicher Reflex des Menschen, Schuld von sich zu weisen, in Verantwortungsabgabe zu gehen, um sich so nicht mit der Tat und den negativen Anteilen identifizieren zu müssen, sie nicht in sein Persönlichkeitskonzept und Selbstbildnis zu integrieren. Vielleicht hilft dies, um in bestimmten Situationen überlebensfähig zu bleiben. In jedem Fall ist ihre NichtWeitergabe von Wissen über sich eine der letzten Freiheiten, die ihr bleiben.

41 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 57:04.

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Was ihr auf diese Weise erfolgreich gelang, war, dass ihre von ihr benannten, anscheinend unerheblicheren Delikte wie Ladendiebstahl, Körperverletzung und Brandstiftung ihre Außenwahrnehmung prägen. So verharrt sie stärker in einer Opfer-Position, als wenn sie sämtliche Delikte genannt, oder stärker nach diesen gefragt worden wäre. Durch diese Form der ›Viktimisierung‹ bleibt sie jedoch auch in dem Kontext der Erkrankung verhaftet, die konstituierend für ihre Unterbringung ist. Je weniger sie also Täterin ist, umso mehr ist sie Opfer, aber auch Opfer von Unfreiheit, Krankheit, Schuldunfähigkeit. Ihre Opferrolle gab ihr auch einen exquisiten Status und paradoxerweise eine Position von Macht, worauf im Folgenden näher eingegangen wird. Während der Dreharbeiten kam der Eindruck auf: Wie einem unheimlichen »Todestrieb« zufolge, einem sich daraus konstituierenden Wiederholungszwang, schien sie Erreichtes zu nivellieren, wenn damit eine Veränderung ihrer Situation eintreten sollte. Ihr Ziel, dass sie ganz zu Beginn des Films formuliert, dass sie in ein paar Wochen »allein auf Station darf.« (»Das ist dann der größte Fortschritt, den ich dann so gesehen in meinem ganzen Leben machen werde«42), findet kurz vor Eintreten nicht statt. Weil sie einen Kaffeebecher gegen die Wand geschleudert hat, wird sie weiterhin als aggressiv eingestuft. Bis sie das nächste Mal die Chance erhält, allein auf der Station zu sein, muss sie erst eine ›Prüfung‹ bestehen und nach Darstellung im Film weitere drei Monate aggressionsfrei im Kriseninterventionsraum verbringen. Man mag dieses Vorgehen, die behandelnden EntscheiderInnen für ihre Rigidität und die festgesetzten Zeitgrenzen kritisieren und doch bleibt die Frage bestehen, warum es dazu kommen muss, dass eine Kleinigkeit passiert, durch die sie zuletzt in ihre Kranken- und Opferrolle zurückfällt. Die latente Gewaltbereitschaft und das Aggressionspotenzial von Frau W. treten in einer Filmszene ab Minute 50 zutage: 3IOHJHULQ)UDX+ 2IIXQWHUhEHUZDFKXQJVELOG $OVRLFKIDQGIUKHUYRUHL QHP-DKUZlUHQ6LHLQGHU)L[LHUXQJJHODQGHW8QGMHW]WKDEHQ6LHGLH6LWX DWLRQJXWKLQJHNULHJW'DVPVVHQ6LHDXFKPDOEHGHQNHQQH )UDX:-D 8PVFKQLWWLQ2Q  )UDX+'HVZHJHQN|QQHQ6LHDXFKPDOZHQQ6LHIUXVWULHUWVLQGHLQHQ%H FKHUJHJHQGLH:DQGZHUIHQ )UDX:$EHUGDQQZLUGHLQ62$6%RJHQJHVFKULHEHQ

42 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 4:23.

224 | D ER PANOPTISCHE B LICK

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Hervorzuheben ist an dieser Stelle die Definition von Aggression44: Es findet ein latenter Versuch von »Metakommunikation« statt, ihr Verhalten definitorisch zu

43 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 53:10 f. 44 Siehe ab Frage Frau H.: »Was war drin, Kaffee?«, im vorigen Dialog.

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ordnen. Die Patientinnen bewegen sich in einer ambivalenten Situation. Sie empfinden sich selbst als gesund oder unrechtmäßig untergebracht, dies kann jedoch mitunter als »mangelnde Krankheitseinsicht« für die behandelnden Ärzte unter anderem als ein Indikator ihrer Erkrankung verstanden werden. Problematisch ist, dass sich die PatientInnen angepasst verhalten und in die Ordnung des Systems eingliedern sollen, damit Alltag innerhalb der heterogenen Gruppenstruktur möglich ist und sie auf das Leben in Freiheit vorbereitet werden können. In diesem Arbeitsfeld ist es jedoch immer wieder für das Personal wichtig, sich zu vergegenwärtigen: Angepasstheit an die Welt der Klinik und Gefährlichkeit der PatientInnen für die Welt »auf der anderen Seite« können nicht miteinander gleichgesetzt werden.

15.3.1 ›Der Wurf eines Kaffeebechers‹ und seine Folgen Die Sentenz »Frustration führt zu Aggression« der Pflegerin im vorangegenagen Dialog geht in ihren theoretischen Ursprüngen zurück auf die sogenannte »Frustrations-Aggressions-Theorie« von John S. Dollard aus dem Jahr 1939, die seitdem verschiedenfach weiterentwickelt wurde: »[D]as Auftreten von aggressivem Verhalten setzt immer die Existenz einer Frustration voraus, und umgekehrt führt die Existenz einer Frustration immer zu irgendeiner Form von Aggression.«45 Mit Anwendung der »Frustrations-Aggressions-Theorie« kann die Pflegerin durch Benennung der einen Variable eine ›Gleichung‹ aufstellen, die zur Schlussfolgerung von Aggression führt. Der Patientin ist es jedoch wichtig, dass ihr Agieren nicht als »Aggression« definiert wird, da sie um die Konsequenz des »Aggressionsereignisses« als Festschreibung im sogenannten »SOAS-Bogen«46 weiß, was für sie in diesem Fall eine längere dreimonatige Unterbringung im Kriseninterventionsraum bedeutet: »Nein, das war keine Aggression, ich war einfach wütend.« Sie stellt ihre Reaktion als etwas menschlich Nachvollziehbares dar, das nicht pathologisiert werden soll. »Es war Aggression dabei«, sagt sie, doch es war für sie keine ›echte‹ Aggression. »Ich hätte auch die Kanne nehmen können und mich damit ritzen können, das wär 'ne Aggression gewesen.« Die Aggression ist für sie ein geplanter Akt, nicht jedoch die aus einem Affekt entstandene Handlung. Sie definiert Aggression

45 Dollard, John et. al: Frustration und Aggression, Weinheim / Berlin / Basel 1970, S. 9. 46 Vgl. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 53:34 f.

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als eine objektbezogene Handlung gegen sich und andere. Die objektlose Aggression stuft sie als einen Affekt ein: »Ich war einfach wütend.« Sie intendierte also nicht, andere zu verletzen. Doch das Personal betitelt bei ihr diese Tat als »Aggression«. Inwiefern dies auch in Gewahr der Unterbringung erfolgt, der ein hohes Frust-Potenzial (»Frustration führt zu Aggression«) zugrundelegen muss, ist nur vermutbar. Was die Pflegerin einfach zu erklären versucht, ist für die Patientin von eminenter Bedeutung: Sie wird die nächsten drei Monate, ausgenommen ihre beaufsichtigten ›Lockerungszeiten‹, weiterhin im Kriseninterventionsraum verbringen, weil ihr Aggression als Folge von Frustration attestiert wurde. Nun setzt die eigentliche Frustration ein, wie sich im Film in Form ihrer suizidalen Äußerungen zeigen wird. Beide Parteien verheddern sich in ihrer Argumentation. Die Pflegerin versucht nichtssagende Begleitumstände zu erfragen, um die Tat einzuordnen »was war drin? – Kaffee«, als würde diese Tatsache den Akt aggressiver machen, obwohl dieser sich gegen die gegenüberliegende Wand richtete. Die Patientin ergeht sich in Beispielen für sie ›echter‹ Aggression, die ihr suizidales Potenzial bestärken. Am Ende steht die ärztliche Anweisung, der beide nichts entgegensetzen können. Zugespitzt gesagt – ›Der Wurf eines Kaffeebechers‹ kann pathologische Interpretation bestimmen und damit über Freiheit und Eingesperrtsein entscheiden. Im weiteren Filmverlauf ist die Patientin ob der Restriktion, der weiteren Beschneidung ihrer Freiheit, zuerst sehr deprimiert und äußert lautstark suizidale Absichten, dann wird sie aggressiv: Ein Verlauf, wie es die Theorie »Frustration führt zu Aggression«, hier ausgesprochen von der Pflegerin, bereits erwiesen hat. Die Patientin verbarrikadiert sich in ihrem Raum, schiebt das Bett als Barriere gegen die Tür, um dem Personal zu erschweren, diese zu öffnen und sie, so befürchtet sie es47, zu fixieren. Sie baut eine Art Schutzwall mit ›Requisiten‹ auf, wie sie Kinder im Spiel verwenden. Ein kläglicher Versuch sich physisch gegen eine letztlich stets stärkere Macht zu wehren. Bei einem bekannt gewordenen Experiment aus dem Jahr 194148 haben amerikanische ForscherInnen Kinder in einem Raum in zwei Gruppen aufgeteilt. Die

47 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 62:13 f. 48 Vgl. Barker, Roger / Dembo, Tamara / Lewin, Kurt: Frustration and Regression. An Experiment with Young Children, Studies in Topological and Vector Psychology II, Iowa 1941, S. 216-219, Ausschnitt abrufbar unter http://gestalttheory.net/archive/lewin41.html (12.10.2014).

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eine Gruppe erhielt sofort Spielzeug. Die andere musste warten, konnte das Spielzeug allerdings durch ein Gitternetz sehen. Die Kinder, die warten mussten, zerstörten das Spielzeug schließlich zu großen Teilen. Als einen der grundlegenden Faktoren für dieses Verhalten nannten die ForscherInnen unter anderem die Unsicherheit, die sich aus der mangelnden Zeit-Perspektive ergab: »The extension of the life space, particularly in the psychological time dimension, is one of the essential properties of development. We have seen that planning presupposes time perspective. On the average, constructiveness is higher in the long than in the short play units. Therefore a decrease in the extension of time perspective might properly be regarded as a regression.«49

Die Patientin sieht ihr Ziel, in ihrem Fall Freiheit statt eines Spielzeugs, ein »menschliches Grundrecht«50, ebenfalls durch ein Gitter. Als die Zeit-Variable wieder zu einer unbestimmt lang erscheinenden wird, wird sie aggressiv. Im Rückschluss der vorangegangenen Analyse zeigt dieses Beispiel evident, wie der machtvolle Faktor der »unbestimmten Zeit« ihre Gesundung verhindert. Die Gewalt, ihre Suizidabsichten, kann die Patientin nicht ausüben, weil sie weiß, dass qua des panoptischen Blicks der Videoüberwachung jedweder Versuch vom Personal gesehen und unterbunden werden würde, was in ihrer Akte dokumentiert und für ihre Form der Unterbringung Konsequenzen hätte. So wird sie nach zusätzlichen beruhigenden Medikamenten, den sogenannten »Bedarf«, den sie eingenommen hat, ruhiger und lässt sich schließlich freiwillig fixieren. Freiwillig begibt sie sich kurzweilig in die extremste Form der Freiheitseinschränkung. Man könnte vermuten, dass sie dies vielleicht auch deswegen vollzieht, weil sie so einsichtig erscheinen will und sich ›Belohnung‹ vom Disziplinarsystem erhofft. Doch auch die »freiwillige Fixierung« wird in ihrer Akte vermerkt, sie wird zum Indiz ihrer Instabilität. Das Ereignis offenbart den »circulus vitiosus« (lat.) der Gewalt: So könnte man die Schlussfolgerung treffen: In den Kriseninterventionsraum kam die Patientin – nach ihrer Aussage im Film – nach einem Suizidversuch. Im Kriseninterventionsraum agiert sie eigen- und fremdgefährdend, daher bleibt sie eingesperrt.

49 R. Barker / T. Dembo / K. Lewin: Frustration and Regression, S. 218. 50 Vgl. Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz: Ausgeschrieben in Kapitel 17.8.

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Die geschilderte Krisensituation vermittelte den Eindruck, dass dies unter anderem ihr suizidales Verhalten potenzierte, weswegen sie gegebenfalls länger im Kriseninterventionraum bleiben wird.

15.4 D IE »K RISE «: »T ECHNOLOGIE

DER

W AHRHEIT « 51

Der ›Kaffeebecher und seine Folgen‹ nehmen im Film eine Länge von 20 Minuten – von Anfang (Kaffeebecher-Gespräch) bis Ende (Abweisung des Filmteams an der Tür) – also ein Viertel der gesamten Filmlänge, ein. Die »Krise«, die den Film einer »crisis-structure« unterordnet, wie dies in Kapitel 15.4 erläutert unter anderem der Dramaturgie des frühen »Direct Cinema« attestiert wird, erhält damit auch in diesem Film eine eminente Bedeutung: Foucault sieht in der »Krise« einen »Moment der Wahrheit«52 und schreibt, dass die medizinische Definition der Krise »bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von großer Bedeutung«53 gewesen sei: »In dieser Fassung war die Krise nicht etwa genau der Moment, an dem die tiefliegende Natur der Krankheit an die Oberfläche steigt und sich sehen lässt, sondern vielmehr der Moment, an dem der krankhafte Prozess sich aus eigener Kraft von seinen Fesseln losmacht, sich von allem befreit, was ihn an seiner vollen Entfaltung hindern könnte, und sich gewissermaßen entscheidet, eher dies oder eher jenes zu sein, also über seinen zukünftigen (günstigen oder ungünstigen) Verlauf befindet.«54

In dieser Beschreibung ist der »Krise« auch eine positive Komponente, eine aktive Position der ›Krisen-TäterInnen‹ immanent. Das Individuum ist nicht nur Opfer der »Krise«, sondern gestaltet diese, um, ob nun destruktive Folgen oder nicht kreierend, aus der Unbestimmtheit der Situation in eine Bestimmtheit zu gehen. Foucault meint, dass die »Krise« für den Arzt als entscheidendes und aussagekräf-

51 Foucault, Michel: Technologien der Wahrheit, in: J. Engelmann: Botschaften der Macht, S. 133-139, hier S. 135.

52 Ebd. S. 134. 53 Ebd. 54 Ebd.

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tiges Moment deswegen so wichtig sei, und er im günstigsten Fall bei ihrem Entstehen anwesend sein sollte:55 »Im medizinischen Denken und in der medizinischen Praxis war die Krise zugleich schicksalhafter Augenblick, Effekt eines Rituals und strategische Gelegenheit.«56 Foucault formuliert diese Erkenntnis im historischen Kontext des 18. Jahrhunderts. Doch eine ähnliche erkenntnisbringende Bedeutung schien die »Krise« auch nach Dreh-Beobachtungen zu unserem Zeitpunkt in der Klinik zu besitzen. Die »Krise« war im klinischen Vokabular der Institution ein definierter Terminus für einen aggressiven Erregungszustand. Im Moment der Krise wird den Individuen zur Gefahrenabwehr verständlicherweise viel Aufmerksamkeit zuteil, wie dies auch der Film bei der »Krise« der Patientin Frau W. zeigt. Der Zustand der »Krise« als den »Moment der Wahrheit« brachte alle in gesonderte Alarmbereitschaft – auch uns, das Filmteam, die wir mit unserer Kamera schließlich auch auf der Suche nach dem »Moment der Wahrheit« waren.

55 Vgl. Foucault, Michel: Technologien der Wahrheit, S. 134. 56 Ebd.

16. Biografische Prägung und Gewaltdarstellung

In der Fotoserie (Kapitel 7.3) werden zu den Bildern der Regale das Delikt und die Diagnose gesetzt.1 Im Film werden die Diagnosen der Patientinnen explizit nicht genannt. Frau W. bekundet in der Szene mit der Pflegerin Frau H., dass sie unter einer »Borderline-Störung« leide. Dies ereignet sich im beobachtenden Gesprächsverlauf; des Weiteren werden die konkreten Diagnosen sowie eine weitere Biografisierung und Kontextualisierung der Erkrankungen ausgespart. Abgesehen davon, dass mir dies als ›Nicht-Therapeutin‹ gar nicht zustand, die Hintergründe zu der diagnostizierten psychischen Erkrankung der Patientinnen und etwaige dafür auslösende Faktoren erfragend zu vertiefen, stellte dies ebenso eine Präventivmaßnahme dar, um nicht noch mehr Betroffenheit auszulösen, als die Situation ohnehin schon schuf. Die filmische Darstellung der Täterinnen wurde bereits durch die institutionellen Machtverhältnisse in einen OhnmachtsKontext gesetzt. Dies sollte nicht durch eine individuelle biografische Kontextualisierung verstärkt werden: Die Frauen würden damit zum doppelten Opfer werden. Zum ›Opfer‹ ihrer Erkrankung und zum ›Opfer‹ ihrer Tat, die vornehmlich durch ihre Erkrankung begründet worden wäre, wie dies bereits qua Gerichtsurteil geschehen war. Damit wäre verstärkt worden, dass sie keine andere Wahl zum Handeln gehabt hätten und dehalb gezwungenermaßen auf die Umstände mit Gewalt reagiert hätten. Auch aus diesen Gründen sollte im Film nicht die biografische Vergangenheit angesprochen, sondern vielmehr die Effekte auf die Biografie im Ist-Zustand darge-

1 Vgl. C. Pfafferott: Bretter, die die Welt bedeuten, S. 30-37.

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stellt werden, die das einschließende System kreiert. Wie beispielsweise der bereits erwähnte Fakt, dass Frau D. aufgrund ihrer Unterbringung ihre Tochter seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hat. Die mögliche Tragweite ihrer Erkankung deutet sich bei den Patientinnen wiederum an den Spuren (Narben) der autoaggressiven Gewalt an, Folge ihres Selbstverletzungsdrucks, die sie, etwa um innere Spannungen abzubauen, an sich ausagiert haben. Die Arme von Frau W. und Frau B. weisen (nach Diagnose-Kriterium) für die sogenannte »Borderline-Persönlichkeitsstörung« spezifische Verletzungen von Schnitten und Verbrennungen an den Innen- und Außenseiten der Unterarme auf. Dies wird nicht absichtlich durch einen bewussten Einstellungsschnitt demonstriert. Auch hier wurde der Versuch unternommen, keine ostentativen ›Erklärbilder‹ zu kreieren. Die Spuren kommen ›nebenbei‹ zum Vorschein, wenn die Patientinnen in Einstellungsgrößen kadriert sind, in denen eben auch ihre Unterarme zu sehen sind, wie etwa in der Szene von Frau W. im Hof, als sie über ihre Macht über das Personal spricht.

16.1 D IE B EDEUTUNG DER FÜR DAS P ERSONAL

PSYCHISCHEN

E RKRANKUNG

Während der Dreharbeiten zeigte sich, dass die Patientinnen ihr Delikt zwar in Zusammenhang mit ihrer Erkrankung nannten, dieses jedoch nicht unbedingt mit dieser entschuldigten. Sie schienen eher von der nicht vorhandenen Schwere ihrer »Anlasstaten« überzeugt und prangerten das Unverhältnis der zeitlichen Unterbringung in Bezug auf diese an. Die Pflegerinnen waren dementgegen durch den institutionellen Kontext der Klinik für Forensische Psychiatrie, die durch ihren expliziten »Besserungs«-Auftrag, die psychische Erkrankung in den Vordergrund setzt, sehr geprägt. Foucault konstatiert bei der Analyse der »Delinquenz«, dass diese Form der »Erkenntnis […] den Wahnsinn des Indviduums zur Geltung bringt und folglich den DeliktCharakter und die Strafbarkeit der Tat zum Verschwinden bringt.«2 Im Gespräch mit mir begründeten die Pflegerinnen die Delikte der Patientinnen durch deren psychische Erkrankung zum Zeitpunkt der Tat, wie dies auch durch die Verurteilung als »schuldunfähig« oder »vermindert schuldfähig« ja bereits juristisch bekräftigt worden war. Einige meinten (dies trifft jedoch nicht auf sämtliches Personal zu), dass sie sich das Delikt der Patientinnen erst anschauen

2

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 327.

16. B IOGRAFISCHE P RÄGUNG

UND

G EWALTDARSTELLUNG

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würden, wenn sie die Patientinnen kennengelernt und sich ein eigenes Urteil über sie gebildet hätten. Man könnte demnach folgern, dass das Delikt in einem bestimmten Maße ›verdrängt‹ wurde, um den Beziehungsaufbau zu erleichtern. Die Erkrankung war jedoch auch möglicherweise für das eigene Selbstverständnis des Personals bedeutsam. Denn damit erfolgte eine Aufwertung ihrer Tätigkeit. Sie kümmerten sich auch um kranke, hilfsbedürftige Individuen. Eine ständige Herausstellung des Delikts würde die Pflegenden in einen unmittelbareren Bezug zu der Tat setzen, sie deutlicher mit einer moralischen Fragestellung konfrontieren. Auch wenn sich das aus dem Delikt resultierende Wutpotenzial der Außenwelt vor allem gegen die sexuell straffällig gewordenen Männer der Klinik richtet, überträgt es sich jedoch auch auf die gesamte Klinik-»Heterotopie«, und im erweiterten Sinne auf das Personal, das die TäterInnen betreut. Die Tat der PatientInnen geht mit einem Ansehensverlust für das Personal einher. Die psychische Erkrankung der PatientInnen ist jedoch als Argument für die berufliche Akzeptanz nicht immer hilfreich, da psychische Erkrankungen noch immer misstrauisch und angstvoll betrachtet werden. Krankenschwestern in somatischen Krankenhäusern oder Altenheimen wird meist mehr Respekt für ihre Tätigkeit entgegengebracht. Bei allen teils nützlich angewendeten ›Mechanismen‹ zum Beziehungsaufbau muss sich das Personal der Gefahr der Patientinnen zum Schutze ihrer selbst und der Bevölkerung dennoch stets bewusst sein. Eine zu große Solidarität, ein zu hohes Sich- Insicherheit-Wägen, kann sehr gefährlich werden. Denn Attacken auf das Personal und andere Patientinnen ereignen sich immer wieder. Die Gewalt ist latent stets vorhanden und bringt das Personal und die Institution in Handlungsund Daseinsberechtigung. Wie gestalteten die Pflegerinnen ihr an sie delegiertes Machtpotenzial, das sie qua der diagnostizierten »Gefahr für die Allgemeinheit« der Patientinnen besaßen? Wie verhielten sich die Personen, die zu Beginn des Filmprojekts als Protagonistinnen im Mittelpunkt des Films stehen sollten?

V. Machtverhältnisse

17. Die Macht des Personals

»Totale Institutionen (wie auch und gerade der Maßregelvollzug) […] laufen gerade dann, wenn sie – wie im Kontext der freiheitsentziehenden Maßregeln – nicht nur der Besserung, sondern vor allem der Sicherung der Allgemeinheit verpflichtet sind, Gefahr, die individuellen Rechte der Untergebrachten hintan zu stellen«1.

So analysiert der Rechtswissenschaftler Helmut Pollähne die Auswirkungen des ambivalenten Unterbringungs-Auftrags. Zu beachten sei, dass »der Maßregelvollzug – in einem gewissen Maße zwangsläufig – durch ein besonders hohes Machtgefälle zwischen den Beteiligten geprägt ist«2. Dieses eklatante »Machtplus« und »Machtminus«3 werden evident, wenn ein Individuum mit Schlüssel in der Hand vor dem Gitter steht und ein Individuum eingeschlossen, als »krank« diagnositziert, dahinter. Die bereits untersuchten Machtkonstellationen, die sich unter anderem durch die baulichen und videotechnischen panoptischen Bedingungen ergeben, haben das ungleiche HegemonieVerhältnis von Personal und Patientinnen umfassend belegt. Der Psychiater David Cooper, der die zwischen den 1960er und 1980er Jahren in Europa entstandene Bewegung der »Antipsychiatrie« maßgeblich prägte, meint:

1 Pollähne, Helmut: Verfassungsrechtliche Grundlagen und Menschenrechte, in: Kammeier, Heinz (Hg.): Maßregelvollzugsgesetz, Berlin / New York 2010 (3. Auflage), S. 23 - 68, hier: S. 23.

2 Lübbe-Wolff, Gertrude / Lindemann, Michael: Neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Vollzug von Straf- und Untersuchungshaft und zum Maßregelvollzug, München 2007, zit. nach: H. Pollähne: Verfassungsrechtliche Grundlagen und Menschenrechte, S. 23.

3 Beide Begriffe M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 41.

238 | D ER PANOPTISCHE B LICK

»Wenn man von Gewalt in der Psychiatrie reden soll, dann von der himmelschreienden, sich selbst als solche laut und vernehmlich proklamierenden Gewalt, der subtilen, sich windenden Gewalt, die andere, die ›Gesunden‹ den abgestempelt Verrückten antun.«4

In Coopers Werk Psychiatrie und Anti-Psychiatrie lautet das erste Kapitel »Gewalt und Psychiatrie«. Für ihn war vorherrschend: »Ich bin ganz sicher […], dass der Prozess, durch den jemand als Schizophrener bezeichnet wird, eine subtile psychologische, mythische, spirituelle Gewalt in sich schließt.«5 Nach der Auffassung Coopers beginnt die »Gewalt« in der Psychiatrie also bereits durch den Akt der Internierung, der Kranksprechung. Die VertreterInnen der »Antipsychiatrie« stellten die Psychiatrie als solche infrage, wie sie etwa als Kern ihrer Betrachtungen ein Verständnis von Schizophrenie hatten, das weniger als pathologisches, denn als soziales Phänomen begriffen wurde. An der Psychiatrie kritisierten die AntipsychiaterInnen vor allem die medikamentöse Behandlung, das oft deutlich hierarchische Verhältnis von Arzt/Ärztin und PatientIn und die vermeintlich apodiktische Nosologie. In Gegenkonzepten setzten sie sich für mehr Mitbestimmung der PatientInnen und eine enge gleichberechtigte Betreuung in Akutzuständen meist ohne Neuroleptika ein, deren Nebenwirkungen sie deutlich kritisierten. So wurden andere Formen der Unterbringung errichtet, die den »BewohnerInnen«6 Schutz und Raum zur Entfaltung bieten sollten, wie David Cooper die Gemeinschaft »Villa 21« in London gründete, bei der die Familienangehörigen in die Behandlung eingebunden wurden und unter anderem die »›starre Rollenstrukturierung‹« 7 zwischen PatientInnen und Personal aufgehoben werden sollten.8 Auch der Psychiater und Psychoanalytiker Félix Guattari arbeitete in der von Jean Oury gegründeten »Reformklinik«9 »Clinique de la Borde« nahe Paris mit neuen Ansätzen der Betrachtung und Behandlung von Schizophrenie. Zusammen

4 5 6

Cooper, David: Psychiatrie und Anti-Psychiatrie, Frankfurt am Main 1971, S. 27. Ebd., S. 26. So die gängige Bezeichnung innerhalb der Bewegung, vgl. u.a. Weglaufhaus »Villa Stöckle« http://www.weglaufhaus.de (12.10.2014).

7

Braun, Ute / Hergrüter, Evelyn: Antipsychiatrie und Gemeindepsychiatrie. Erfahrungen mit therapeutischen Alternativen, Frankfurt / New York 1980, S. 84.

8 9

Vgl. ebd. Vgl. u.a. Autorenporträt des Suhrkamp Verlags, in: Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main 1997 (8. Auflage) (Klappentext).

17. D IE M ACHT

DES

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mit Gilles Deleuze entwarfen sie in ihren gemeinschaftlichen Werken die sogenannte »Schizoanalyse« als Gegenentwurf zur Psychoanalyse und stellten unter anderem deren von der Basis der Ödipusthematik ausgehenden Analysegrundlage infrage. Ihrer Meinung nach findet das ödipale Stadium nicht nur im kernfamiliären Erleben, sondern innerhalb eines etablierten gesellschaftlich Begehrens nach kapitalistischen Mustern und Werten statt, das sich in individuelle Wunschproduktion überträgt und schließlich regressive und repressive Wirkung erzielt. Die Schizophrenie betrachteten sie nicht von psychiatrischen, sondern von ihren »gesellschaftlichen und politischen Bestimmungen aus, von denen allein, unter gewissen Bedingungen, ihre psychiatrische Verwendung herrührt.«10 Nach ihrer Auffassung unterscheidet sich »die Schizophrenie als Prozess von der Produktion des Schizo als klinische Entität, die für das Hospital geeignet ist«.11 So meinen sie: »Der Schizo des Hospitals ist jemand, der etwas versucht und der dran gescheitert ist, der zusammengebrochen ist. Wir sagen nicht, dass der Revolutionär Schizo ist. Wir sagen, dass es einen Schizo-Prozess der Decodierung und Deterritoralisierung gibt, und nur die revolutionäre Aktivität verhindert es, dass er in Produktion von Schizophrenie umschlägt.«12

Die Anschauungen psychischer Erkrankung als sozial bedingte sind auch romantisierenden, verklärenden Aufwertungsvorwürfen und Vorbehalten bezüglich verantwortungslosen Umgangs mit psychischen Akutzuständen ausgesetzt.13 Bei den Betrachtungen, die die Schizophrenie zum Kern ihrer neuen Anschauungslogik machen, könnte ebenso hinterfragt werden, ob so nicht auf sublime Weise eine andere Grenzziehung, möglicherweise eine Hierarchiesetzung zu Gunsten einer – nach klassisch nosologischem Ansatz als »Plus-Symptomatik«14

10 Deleuze, Gilles / Guattari, Félix, in: Über Kapitalismus und Schizophrenie. Gespräch mit Félix Guattari und Gilles Deleuze, geführt von Backès-Clément, Cathérine, erstveröffentlicht, in: L’arc, Nr. 49, 2.3.1972, abgedruckt, in: Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Rhizom, Berlin 1977, S. 49-64, hier S. 63.

11 Ebd. 12 Ebd. 13 Vgl., so fragt unter anderem nach: Backès-Clément, Cathérine, in: Über Kapitalismus und Schizophrenie, S. 62.

14 »Plus-Symptomatik« meint ein ›Mehr‹ an Symptomen, das zum Erleben der Patientinnen hinzukommt (u.a. Antriebssteigerung, Größenfantasien, Halluzinationen), vgl. u.a. Plus-Symptome: Psychotherapieforschung bei Psychosen, http://www.psychosepsychotherapieforschung.de/ppp/?q=node/53 (5.11.2014).

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bezeichneten – Auffälligkeit entsteht, die anderen psychischen ›Erkrankungen‹ weniger Beachtung schenkt. »Das Schizophrenie-Gebiet« 15 , wie Cooper selbst kritisch das soziale Feld nennt, »auf dem das Etikett ›Schizophrenie‹ von einigen Beteiligten an diesem Feld anderen Beteiligten angeheftet wird«16, nimmt jedoch dem schizophrenen Verhalten, das pathologisiert wird, das Stigma des Kranken und versucht schließlich einen entklassifizierenden freiheitlichen Weg. Heute ist zum Beispiel »Soteria« (griechisch Rettung, Heil), das als alternatives Behandlungsmodell aus der »Antipsychiatriebewegung« ein gleichberechtigtes, regelarmes, wohnähnliches Betreuungsverhältnis zwischen ÄrztInnen und PatientInnen, den Verzicht auf starke Medikalisierung und ein hohes Maß an Entscheidungsfreiheit vorsieht, auch als Behandlungsansatz in einigen, wenn auch wenigen, deutschen Psychiatrien implementiert. Die Pflegerinnen der Klinik reflektierten ihr Handeln bei den Dreharbeiten nicht unter dem Gesichtspunkt einer bereits pathologischen Definitionen immanenten ›Gewalt‹, sie waren sich der Macht- und der Ohnmachtssituation der Patientinnen jedoch deutlich bewusst; dies kristallisiert sich in einer Aussage der Pflegerin Frau W2 im Film heraus: )UDX3$XI.PDFKHQGLHVR QH6XSHUYLVLRQEDOG]XP7KHPD0DFKWXQG 0DFKWORVLJNHLWLQGHU)RUHQVLNđ )UDX:-DPPK )UDX3.DQQVW'XPLWVRZDVZDVDQIDQJHQPLWGLHVHQ:|UWHUQ" )UDX:-DNODUQDWUOLFK-DKLHUDOV3IOHJHSHUVRQDO]XDUEHLWHQGDVYHUOHLWHW QDWUOLFKDXFKLQVR QH0DFKWSRVLWLRQ]XJHKHQXQGMDGDVKDEHQZDKU VFKHLQOLFKDXFKPDQFKHGDVVLHGHQNHQMDLFKKDEGHQ6FKOVVHOLFKKDE GDV 31* LFK ELQ MHW]W DXI MHGHQ )DOO PDO GHUMHQLJH GHU MHGHP ZDV VDJHQ NDQQ8QGGDVLVWIUGLH3DWLHQWHQEHVWLPPWQLFKWVFK|QGDVPHUNHQGLH JHO'DVLVWHFKWVFKHL‰HXQGMDPDQIKOWVLFKDOV3DWLHQWLQDXFKVRRKQ PlFKWLJZDVZLOOPDQGDQRFKPDFKHQ'DVLVWHFKWXQDQJHQHKPDXFKXQG HVZLUGGDQQDXFKIUGHQ0LWDUEHLWHUGDQQLUJHQGZDQQJHIlKUOLFK:HQQHU VRHLQJHVWHOOWLVWLQGHUJDQ]HQ6LWXDWLRQXQGDXFKLQVHLQHP-REZLUGHV DXFKQLFKWPHKUVRZHLWNRPPHQ8QGHVLVWHFKWVFKDGHGDVVHVPDQFKPDO VRLVWDEHUZLHJHVDJWGHU6FKOVVHOXQGGDV31*VDJWPDQYHUOHLWHWVFKRQ

15 D. Cooper: Psychiatrie und Anti-Psychiatrie, S. 13. 16 Ebd. (bei Cooper als Fußnote gesetzt).

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Auffällig ist, dass die Pflegerin das »Machtplus« des Personals ohne Umschweife zugibt und die Situation der Patientinnen mit Adjektiven wie »echt scheiße«, »echt unangenehm« und einen Machtmissbrauch als »echt schade, dass es manchmal so ist« bewertet. Durch den Gebrauch des Präsens attestiert sie also, dass Machtmissbrauch generell vorhanden ist, sie scheint aus einer ›Erfahrung‹ zu sprechen. Gleichzeitig weist sie diese Form von Machtmissbrauch jedoch sprachlich von sich weg: »Das passiert bestimmt auch manchen«. Sie selbst vermeidet es, von persönlicher Erfahrung zu sprechen und nimmt eher eine allwissende FunktionsPosition ein. Durch ein Indefinitpronomen identifiziert sie sich vielmehr sublim mit der Position der Patientinnen: »Man fühlt sich als Patientin auch so ohnmächtig…«. Durch die Offenlegung der Machtverhältnisse, die Zuweisung des Missbrauchs an eine unbestimmte Gruppe von »manchen« und das Verständnis für die Patientinnen erreicht die Pflegerin, dass sie reflektiert und empathisch wirkt. Sie merkt auch an, dass Machtmissbrauch mit einer Gefahr für die MitarbeiterInnen einhergeht. Damit stellt sie heraus, dass Macht und das darauf folgende Empfinden von Ohnmacht Gewalt bewirken und dadurch wiederum das Personal in eine Position von Ohnmacht geraten kann. Macht und Gewalt bedingen sich also. Die Patientin Frau B. beschreibt die ambivalente Position des Personals im ersten Drittel des Films: )UDX % 'LH YHUVWHKHQ VLFK KLHU DOV 'LHQVWOHLVWXQJVXQWHUQHKPHQ $EHU LFK VDFKPLUZDVLVWKLHU'LHQVWOHLVWXQJ'LHQVWOHLVWXQJVXQWHUQHKPHQKHL‰WGHU .HUQGHU.HUQVDW].HUQHOHPHQWYRQ'LHQVWOHLVWXQJVXQWHUQHKPHQLVWKDOWGHU .XQGHLVW.|QLJ$EHUKLHULVWPDQDOOHVDQGHUHDOV.|QLJ+LHULVWGDV3HUVR QDO GHU .|QLJ GLH .|QLJH GLH .|QLJLQQHQ 8QG ZHQQ PDQ GDV KLHU DOV 'LHQVWOHLVWXQJVXQWHUQHKPHQDXIIDVVHQNDQQGDQQQXUDOV'LHQVWOHLVWXQJVXQ WHUQHKPHQGHU-XVWL]DOVYHUOlQJHUWHU$UPGHU-XVWL]8QGVRQVWJDUQLFKWV 6R VHK LFK GDV MHGHQIDOOV8QG GDV LVW HLQVFKZLHULJHU 6SDJDW QH GD GHP $XIWUDJ JHUHFKW ]X ZHUGHQ GHQ 3DWLHQWHQ ]X KHOIHQ ZREHL PDQ GD KDOW =ZHLIHOKDEHQNDQQREGDVEHUKDXSWGHUULFKWLJH$XIWUDJLVWMDRGHUKDOW DXIGHUDQGHUHQ6HLWHGLH6LFKHUXQJGD]XJHZlKUOHLVWHQ:LHGHQ6SDJDW KLQNULHJHQMD"6FKZLHULJđ.RPLVFK18

17 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 22:10 f. 18 Ebd., Min. 11:40 f.

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In ihrer Beschreibung der Pflegerinnen als »Königinnen« stellt Frau B. das hegemoniale Machtverhältnis heraus, die deutlich privilegierte Stellung des Personals, die sich durch den an sie delegierten Handlungsauftrag ergibt. Doch sie relativiert deren Macht durch zwei Einschränkungen: Zum einen beschreibt sie den »schwierigen Spagat«, den das Personal leisten muss, auf der einen Seite den »Patienten helfen« zu wollen »und auf der anderen Sicherheit zu gewährleisten«. Dabei stellt sie den »Besserungs«-Auftrag (»ob das überhaupt der richtige Auftrag ist«) generell infrage, was die Berufs-Tätigkeit des Personals abwertet. Ihre zweite MachtRelativierung ist eine aufgrund der Wortwahl indirekte: Den Vergleich der PflegerInnen als »Könige« und »Königinnen« vollzieht sie in Pluralbildung. Dies geschieht wohl, da das Personal aus mehreren Personen besteht. Eine Mehrzahl von Oberhäuptern impliziert jedoch auch, dass in der Gruppe der KönigInnen gezwungenermaßen eine Rangordnung herrschen muss.

17.1 D AS H IERARCHIE -G EFÄLLE P ERSONALS

INNERHALB DES

Die Aufteilung von Betreuenden und zu Betreuenden geht einher mit dem Hierarchiegefälle, das aufgrund der jeweiligen Berufsfunktionen innerhalb des KlinikPersonals herrscht: Wie die Patientinnen in ihren Lockerungsstufen, sind auch die Pflegerinnen, wenn auch nicht numerisch explizit, in ihrem Freiheits-Spielraum eingeteilt. Neben der direkten Überwachung findet auch eine »hierarchische Überwachung«19 statt, wie diese Foucault als der Disziplinarmacht immanent nennt. Das Hierarchie-System vergewissert sich seiner selbst durch Zuordnung und Zurechtweisung in seinen Rollenverhältnissen. Ein Klinik-System ist sehr deutlich hierarchisch strukturiert. In der vertikalen ›Befehls‹-Struktur ist sie ähnlich der Struktur des Militärs aufgebaut. So können unter anderem die Verantwortlichkeiten in einem System, in dem es oft ›um Leben und Tod‹ geht, effizient organisiert werden. Doch auch die meisten Behörden und Unternehmen sind in dieser Struktur – etwa nach BehördenleiterIn, AbteilungsleiterInnen, GruppenleiterInnen, ReferentInnen und SachbearbeiterInnen – aufgebaut. Zu tragen kommt auch auf dieser Seite der Klinikgruppen wieder Foucaults Annahme, dass »[d]ie Anordnung nach Rängen oder Stufen […] die Abstände markieren, die Qualitäten, Kompetenzen und Fähigkeiten hierarchisieren«20 und

19 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 282 f. 20 Ebd., S. 234.

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»als Bestrafung oder Belohnung«21 fungieren soll. Struktur stellt Ordnung, Ordnung stellt Struktur her und gewährleistet somit größtmögliche Effizienz. Die Pflegerin Frau W3 gibt in Filmminute 47 an, dass sie mit Ihren KollegInnen im »multiprofessionellen Team« arbeiten würde und beantwortet die Frage, ob sie als Pflegepersonal etwa bei Lockerungsentscheiden involviert seien, positiv. Doch es stellt sich die Frage, welchen Einfluss das Pflegepersonal tatsächlich auf richtungsweisende Entscheidungen hat. Die Verantwortung über die ›Lockerungs‹-Entscheidungen wird letztlich von der Klinikleitung getragen22. Deshalb ist diese Unterschrift maßgebend. Das Pflegepersonal hat innerhalb dieser Weisungsbefugnis, die von den VerantwortungsträgerInnen delegiert wird, seine Pflicht zu erfüllen. Foucault konstatiert: »In der hierarchisierten Überwachung der Disziplinen ist die Macht keine Sache, die man innehat, kein Eigentum, das man überträgt; sondern eine Maschinerie, die funktioniert.«23 Und um diese »Maschinerie« in Gang zu halten, ist die Macht des Pflegepersonals auf eine ganz konkrete Hierarchieposition beschränkt.

17.2 D ER ›F AMILIENRAHMEN ‹ Das Hierarchie-System innerhalb der Belegschaft auf der Frauenstation könnte man nach eigenen Dreh-Beobachtungen im übertragenen Sinne mit den Autoritäts-Strukturen einer patriarchalen Familie vergleichen. So ließe sich folgende Allegorie-Bildung aufstellen: Die Ärzte, Therapeuten und Stationsleiter, zum Zeitpunkt des Drehs allesamt Männer, bilden das strenge und reglementierende Oberhaupt der Familie, das Sanktionen ausspricht und richtungsweisende Entscheidungen fällt – sie haben

21 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 234. 22 Buhl, Michaela: Lockerungskonferenzen: Gemeinsam entscheiden mit System, in: Schmidt-Quernheim, Friedhelm / Hax-Schoppenhorst, Thomas: Professionelle Forensische Psychiatrie. Behandlung und Rehabilitation im Maßregelvollzug, S. 234-238, hier S. 235: »Die letztendliche Entscheidung zur Gewährung oder Ablehnung bei einem Vollzugslockerungsantrag muss von dem Leiter der Klinik getroffen werden. Die Vollstreckungsbehörde ist vor der Gewährung von Freigang oder Ausgang zu hören (s. MVolllzG RP)«.

23 Ebd., S. 228 f.

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eine Form von ›Richter-Funktion‹ inne. Das Pflegepersonal, von Frauen dominiert24 (es arbeiten auf der Station allerdings auch Pfleger, wie der Film zeigt), hat in dieser Familie die Rolle der Mutter inne. ›Sie‹ versorgt die Kinder (allesamt Töchter) mit Nahrung, Medizin, sorgt für Sauberkeit und das Einhalten der Regeln. Die PflegerInnen sind ausgleichendes Element, da sie die Entscheidung des ›Patriarchen‹ ausführen, jedoch durch Fürsorge den Kindern im besten Fall die Bestätigung geben, die diese für ihre Entwicklung benötigen. Durch den engeren, da zeitlich umfassenderen, Kontakt, den die Mutter zu den Kindern hat, teilt sie mehr Zeit mit ihnen als der Patriarch, der nur temporär (z.B. zu den »Visiten«) erscheint, und lernt die Kinder so sehr gut ›kennen‹. Dieser persönliche Wissensvorsprung verleiht der Mutter bisweilen ein »Machtplus« innerhalb der Vormachtstellung des »Königs«. Die Kinder vertrauen der Mutter gelegentlich auch persönliche Angelegenheiten an. Die Kinder dürfen sich in ihrer Mutter jedoch nicht täuschen. Sie müssen jederzeit damit rechnen, dass vertraulich gewonnene Informationen zur Weitergabe an den Patriarchen genutzt werden. Dies entspricht ihrem Handlungsauftrag innerhalb des Familiengefüges und sichert ihre Stellung und Unverzichtbarkeit. Sie wäre auch in der Lage dazu, ihre ›Macht‹, die der Patriarch an sie delegiert, zu nutzen und in diesem Handlungsspielraum die Kinder zu sanktionieren oder sie mit ›Verrat‹ an den Patriarchen zu konfrontieren. Wenn etwa auch die Erzählung von Frau D. im Hof über ihre Tochter ein persönlicher Moment zwischen ›Mutter‹ (Pflegerin) und ›Tochter‹ (Patientin) (in diesem Fall auch Filmteam) war, kann es möglich sein, dass die anteilnehmende Mutter den Vater darüber beim nächsten ›Familienrat‹ (»Übergabe«) informiert. Die Kinder wissen um das hegemoniale Machtgefälle zwischen den Eltern und ihre jeweiligen Funktionsaufträge. Dies wird etwa deutlich, wenn die Patientin Frau W. vom Machtspiel mit der Klingel in der Fixierung erzählt und offensichtlich wird, dass sie weiß, dass die ›Mutter‹ zu ihr an das Fixierbett kommen muss25. Vater und Mutter sind als entscheidend und ausführend in ihrer ›Zweck- und Zwangs-Ehe‹ aufeinander angewiesen, befinden sich selbst in einem reziproken Abhängigkeitsverhältnis und halten im Ernstfall gegen die Kinder als ostentative ›elterliche Einheit‹ zusammen. Dabei ist die Abhängigkeit der Mutter jedoch aufgrund ihrer niedrigeren Hierarchiestellung eine größere, was womöglich Unzufriedenheit auslösen kann. Ein ›Vatermord‹ wird wegen der Abhängigkeit und einer tatsächlich nicht solidarisierenden Schwesternschaft zwischen Mutter und

24 Nur »21 % der Ausbildungsanfänger in Pflegeberufen sind männlich«, Statistisches Bundesamt: Zahl der Woche vom 23.10.2012, https://www.destatis.de/DE/Presse Service/Presse/Pressemitteilungen/zdw/2012/PD12_043_p002.html (15.10.2014).

25 Vgl. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 38:00 f.

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Töchtern, aber auch zwischen den Töchtern selbst nicht vollzogen. Die Töchter werden von ihren Eltern aufgrund ihrer unterschiedlichen Talente, Krankheiten und Leistungen individuell behandelt. Dies zeigt sich auch in der räumlich beschriebenen Trennung von Kriseninterventionsraum und ›gewöhnlichem‹ Zimmer. Die KIR-Patientinnen bedürfen gesteigerter Aufmerksamkeit aufgrund ihres unangepassten Verhaltens. So wie Kinder unabhängig vom Alter in der KindRolle bei ihren Eltern verhaftet bleiben, befinden sich auch die ›Töchter‹ in einer permanenten Situation des Reifestadiums, einem chronischen Pubertätsstatus, eine schwierige Zeit, in der sie sich einerseits über die Eltern definieren, dies jedoch andererseits häufig in Form eines abgrenzenden Verhaltens vollziehen. Die Eltern haben vom Staat, gleich einem totalitären System, das verstärkt in die Erziehung eingreift, die Aufgabe erhalten, ihre Kinder zu ›besseren‹ Menschen umzuerziehen. Die Töchter werden so als erwachsene Frauen dazu ermahnt, Küchendienst zu machen oder ihr Zimmer aufzuräumen.26 Wenn sie sich, wie in pubertärer Rebellion, gegen die aufoktroyierten Vorstellungen der Eltern wehren, erhalten sie in der Klinik-»Heterotopie« zwar mehr Beachtung, können sich jedoch paradoxerweise gerade wegen ihres rebellischen Charakters erst später von eben diesen lösen. Die ›angepassten Töchter› sind höher »gelockert«, sie befinden sich so im konkreten Wortsinn näher an einer Loslösung aus den parentalen Zwängen. »Erfolgreich erkannt« und frei werden die Kinder nur, wenn sie Mutter und Vater als richtungsweisende Instanz und sich selbst umso mehr in ihrer Kindsrolle als etwas ›zu Werdendes‹ akzeptieren.

17.3 D IE ›(U N )-S CHULD ‹

DER

P FLEGERINNEN

Als bei einer »Übergabe« im Film der Oberarzt und der Stationsleiter über die Unterbringung von Frau D. im Kriseninterventionsraum sprechen, erfolgt ein Umschnitt auf die Pflegerin Frau W1, die den Stationsleiter, der die Patientin weiter »begrenzen« will, mit scheinbar skeptischem Blick anschaut: Durch den Umstand, dass in den »Übergaben« die Männer mehrheitlich sprechen, die Frauen schweigen oder Protokolliertes vorlesen, dividiert der Film sublim in die ›strengen‹ entscheidenden Männer und die ›guten‹ Frauen, die jedoch in der Machtausübung ›passiv bleibende‹ und zur Machtausführung ›verpflichtete‹ sind.

26 Vgl. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 10:38 f.

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Abb. 29: Nachdenklicher Blick der Pflegerin in der »Übergabe«27 Tatsächlich war die Entscheidungsmacht auf der Station zum Zeitpunkt des Drehs durch diese Frau-Mann-Aufteilung geprägt. Dies war nicht auf allen Klinikstationen der Fall und auch auf der Frauenstation temporär schwankend. Jedoch steht diese hierarchische Positionsaufteilung von Entscheidern und Ausführerinnen immer noch beispielhaft für die meisten Klinik-Institutionen, in denen deutschlandweit nur zehn Prozent der Frauen Führungspositionen innehaben28 und generell für die berufliche Machtverteilung in Deutschland wie eingangs bereits beschrieben. Allerdings muss erwähnt werden, dass innerhalb des Pflegepersonals selbst keine Diskriminierung zwischen Männern und Frauen auf der Station festgestellt werden konnte. Die Einteilung in Schichtpläne etwa sorgte für eine genaue zeitliche Arbeitseinteilung, bei der keine Bevorzugungen deutlich wurden. Für die Pflegerinnen bedeutet jedoch ihre ›ausführende‹ Machtstellung, dass sie die Wut der Patientinnen oft ›abbekamen‹, der ›Patriarch‹ blieb stärker in einer unnahbaren Aura, so wie die Pflegerin Frau W1 konkretisiert: »Wir müssen uns an die Regeln halten […] und für die Patienten, [die] neu sind, wir sind dann die Bösen, weil wir müssen sagen, ›Sie dürfen das, das und das nicht.‹«29

27 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 44:37. 28 Vgl. u.a. Ärztekammer Berlin: Pro Quote Medizin - Wir bewegen die Quote, 4.6.2013, http://www.aerztekammer-berlin.de/40presse/15_meldungen/00311_Pro-QuoteMedizin.htm (4.10.2014).

29 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 10:03 f.

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Beispielhaft wird dies auch in der Szene, in der sich Pflegerin und Patientin im Hof streiten: »Machen Sie uns keine Vorwürfe immer!«30 Das Pflegepersonal ist auch dasjenige, das zumeist (jedoch nicht ausschließlich) die Fixierungen ausübt, der Oberarzt bzw. der »Arzt vom Dienst« (»AvD«), der in der jeweiligen Schicht die Fixierung veranlasst, erteilt ihnen dazu den Auftrag.31 Sie wenden somit »direkte Gewalt« an und werden so gegebenenfalls auch am ehesten von den Patientinnen gewalttätig attackiert. Die ›geliehene Macht‹ des Pflegepersonals ist an seine Berufsfunktion gebunden. Da diese einer weniger hochspezialisierten Ausbildung als die der ÄrztInnen bedarf, sind sie in gewissem Maße ›austauschbarer‹ und als Einzelne daher ohnmächtiger in ihrer Machtbefugnis. Innerhalb der Weisungsbefugnis des Personals ist die unter anderem durch das Wissen gebildete Macht der ÄrztInnen gegenüber der Stellung der Pflegekräfte und der Patientinnen ungleich größer. Da ihr Machtspielraum ein konkret begrenzter ist, sind die Pflegerinnen umso mehr darauf bedacht, die Regeln zu beachten, um ihre Angestelltenposition zu erhalten. Dies wird etwa deutlich in der Szene, in der die Pflegerin schließlich entscheidet, die Fixierung durchzuführen: )UDX::LUIL[LHUHQGLHđ.RPPGLHIUDJWQDFK0VVHQZLUPDFKHQMD $XI HLQPDO JHKWĜV KHXW 1DFKW VFKLHI XQG GDQQ KHL‰W GDV ZDUXP KDEW ,KU QLFKWIL[LHUW32

Die Pflegerin antizipiert hier bereits einen sanktionierenden Blick auf ihr Handeln. Mit dem Begriff »dann heißt das« wird die Autorität anonym, sie grenzt sich von ihr im Sinne eines ›das entscheiden die anderen‹ ab. Doch der Blick der ›anderen‹, zwingt sie in Selbstdisziplin – der allgegenwärtige Blick genügt, um Macht auszuüben. Unter Gewahr dieses Machtblicks wenden die Pflegerinnen also als Konsequenz »direkte Gewalt« an der Patientin an. Die Gewalt ist in diesem Fall präventiver Funktion. Die Pflegerin rollt das Fixierbett in das Zimmer und legt der Patientin die Gurte an, die zuvor im Film in einer Szene am ›Modell‹ erklärt wurden.

30 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 49:08 f. 31 Vgl. etwa ebd., Min. 63:47 f. 32 Ebd., Min. 66:07 f.

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»Wir machen auch nicht so fest«33, tröstet sie, grenzt die Gewaltmaßnahme in ihrem kleinen, ihr zur Verfügung stehenden, individuellen Möglichkeitsspielraum ein. Dass die Pflegerin unabhängig vom System anders über die Situation der Patientin entscheiden würde, offenbart sich im Film in dem abendlichen Gespräch kurz vor Feierabend. Die Pflegerinnen unterhalten sich am Tisch im Teamzimmer über die Entscheidung des behandelnden Arztes, dass sich die Patientin Frau W., die so lange darauf hingearbeitet hatte demnächst für eine Stunde allein auf der Station ›gelockert‹ zu sein, aufgrund ihres Kaffebecher-Affekts nun wieder drei weitere Monate aggressionsfrei im Kriseninterventionsraum beweisen soll. »Das ist… sehr lang«34, kommentiert die Pflegerin Frau W1. Als Pflegerin Frau H. einwendet: »Aber es ist ja auch vielleicht auch ein Anreiz, dass sie es schaffen könnte«, schüttelt Frau W1 den Kopf. Doch sie äußert dies innerhalb ihres stellungsgleichen Hierarchie-Kreises. Der Film zeigt, wie sie abends mit ihrer Kollegin nach der Schichtübergabe die »Heterotopie« verlässt, die Patientin bleibt fixiert zurück. »›Es war meine Pflicht‹, sagte der Aufseher. ›Eine dumme Pflicht‹, sagte K. unnachgiebig. ›Mag sein‹, antwortete der Aufseher, ›aber wir wollen mit solchen Reden nicht unsere Zeit verlieren.‹«35 Wie der Aufseher in Kafkas Proceß können auch die Pflegerinnen nicht in ständiger Reflexion ihre Machtposition infrage stellen. Ihr Blick ist funktional fokussiert, ansonsten wäre die Ausführung des Berufs für sie kaum möglich, so wie Foucault reflektiert haben soll: »Wenn man etwas sieht und es sehr genau sieht, dann ist das, was man sieht, unerträglich.«36 Der Nachteil eines panoptischen, ›alles sehenden‹ Blicks ist auch der, dass man auch das sehen kann, was man lieber nicht sehen würde. )UDX 3 :DV JODXEW ,KU ZLH GDV IU (XFK ZlUH ZHQQ ,KU LQ GLHVHP 5DXPZlUW" )UDX:)UPLFKZlUGDVGLH+|OOHLFKZUGGHP3HUVRQDOGDV/HEHQ]XU +|OOHPDFKHQ,FKZlUQXUIL[LHUWJODXELFK37

33 34 35 36

ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 66:46 f. Ebd.: Min. 67:46. f. F. Kafka: Der Proceß, S. 20. So referiert Gilles Deleuze eine Reflektion Foucaults im Zusammenhang der Arbeit der GIP (Groupe d’information sur les prisons), G. Deleuze: Foucault und die Gefängnisse, S. 262.

37 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 8:41 f.

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Nichtsdestotrotz ist es der Pflegerin möglich, anderen Personen diese Hölle, von der sie spricht, im übertragenen Sinne zu bereiten. So zeigt auch der Film keine grundsätzliche Ambiguität des Personals oder eine generelle Rebellion gegen ihre Handlungs-Aufträge. Konkrete Kritik wird einzig am umfassenden Regelwerk geäußert, nach dem sich die Pflegerinnen als Effekt der »Delinquenz«, wonach alles genauen Daten und Dokumentationen unterliegt, innerhalb ihrer Schichten zu richten haben. Ähnlich wie die Patientinnen Angst vor der Rückstufung innerhalb der Lockerungsstufen hatten, befürchtete das Personal einen Fehltritt. Bei dem komplexen Regelwerk ist es jedoch schier unmöglich, keinen Fehler zu machen. )UDX:(VJLEW'LQJHGLHGUIHQZLUHUODXEHQHVJLEW'LQJHGLHGUIHQ ZLUHEHQQLFKWHUODXEHQ:LUKDEHQMDDXFKXQVHU5HJHOZHUNDQGDVZLUXQV KDOWHQPVVHQJDQ]NODU )UDX3:LHLVWGDVIU(XFKGDVVLKU(XFKDQGDV5HJHOZHUNKDOWHQPVVW" )UDX:'DVIlOOWQLFKWLPPHUOHLFKW2IWLVWGDVVHKUVFKZHUDXFKGDV5H JHOZHUNVR]XYHUWUHWHQ2IWYHUJHVVĜLFKDXFKHLQLJHV:DVZDUGDMHW]W" :HUKDWZLHZR.DIIHH]XWULQNHQ"8QGZHUKDWELVZDQQNHLQH&RODPHKU" 8QGZHUGDUIGDHVVHQZHUGDUIGDQLFKWHVVHQ"'DEOLFNWPDQDXFKLUJHQG ZDQQQLFKWPHKUGXUFKDEHU )UDX:-D$EHUZLUXQWHUVWW]HQXQV:HQQZLUVHKHQGDVV QH.ROOHJLQ RGHUMHPDQGZDVYHUJLVVWđlKPGDQQLVWDXFKJXW:HLOZLUVLQGDXFKQXU 0HQVFKHQZLUYHUJHVVHQDXFK:HQQVRYLHOH5HJHOQGDVLQG8QGGDQQKDVW 'X]ZHL7DJHIUHLXQGGDQQKDWVLFKGLH5HJHOZLHGHUJHlQGHUWMD8QGGDV LVWVFKZHU38

Es entstand der Eindruck: Der Kontrollumfang fördert eine Stimmung von Paranoia. Die Angst erhält die Macht. Die geringe Machtbefugnis nutzt den Pflegerinnen jedoch auch zum Vorteil: Auf ihre »aufoktroyierte« Macht-Delegation können sie sich berufen, »wir müssen uns an die Regeln halten«, so Frau W1, »das war bestimmt eine ärztliche Anordnung«, sagt die Pflegerin Frau H. im Disput mit der Patientin Frau W. im Film. Die Pflegerin ist zwar mit der »Aggression« der Patientin konfrontiert, ihr ist es jedoch zugleich möglich, das Gespräch mit dem Verweis auf den Arzt zu beenden, der die Entscheidung gefällt hat. Die Pflegerinnen können also hinter der Macht der Rechtsprechung und der ärztlichen Entscheidung auch Schutz finden und sich ›verstecken‹. So wurde der Eindruck gewonnen: Durch diese implizite Deklaration der Unmündigkeit wendet das Pflegepersonal

38 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 47:36 f.

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zwar Sanktionen von sich ab, festigt jedoch auch die Grenzen eigenen Machtspielraums, stärkt die Macht bestehender Strukturen und damit die eigene Ohnmacht. Im übertragenen Sinne ließe sich sagen: Die Pflegerinnen sind wie die Patientinnen ›vermindert schuldfähig‹.

17.4 G EMEINSAMKEITEN Phänotypisch unterscheiden sich Pflegerinnen und Patientinnen auf der Frauenstation nicht durch prägnante disjunktive Merkmale, denn beide Gruppen tragen Zivilkleidung. Sie sind sich äußerlich auch ähnlich, wenn sie zusammen im Hof sitzen oder eine der ubiquitären Zigaretten im Film rauchen, was von beiden Gruppen vollzogen wird. Das Rauchen stellt für die Patientinnen eine wichtige Freiheitsform dar, weil sie, zumindest außerhalb ihres Zimmers, selbst bestimmen dürfen, wieviel sie rauchen. Auch Vergewisserung und Darstellung des Selbstbildnisses in Form der Tätowierung39 hat sich bei beiden Gruppen der Frauen-Station etabliert. So tragen Patientin Frau D. und Pflegerin Frau H. etwa beide am rechten Oberarm eine Zeichnung. Diese Hauteinschreibungen treten im Film wie die Selbstverletzungsnarben der Patientinnen immer wieder beiläufig zutage. Allzu große Allianzen mit den Patientinnen widersprechen jedoch dem professionellen Auftrag der Pflegekräfte, wie dies auch durch die Höflichkeitsanrede manifestiert wird (Kapitel 13.2.3, »Du« und »Sie«).

17.5 U NTERSCHIEDE Die größte Disparatheit erstreckt sich darin, dass die Pflegerinnen durch die ständigen Kontrollen Kenntnis über physische wie psychische Eigenschaften der Patientinnen besitzen – die Patientinnen jedoch sehr wenig bis fast gar nichts vom Personal wissen. Dieses Gefälle lässt eine wirkliche persönliche Ebene nicht entstehen. Wenn Wissen Macht ist, muss die offensichtliche Umkehr-Gleichung Unwissen = Ohnmacht bedeuten.

39 Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 333 f. (Er bezieht sich hier auf die Tätowierungen von VebrecherInnen im Gefängnis).

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Ein subtileres Beispiel für die Disparatheit zwischen Patientinnen und Personal ist im Film unter anderem das von Georges Bataille benannte »singuläre Lachen«40, das es keine Verbindung zwischen den Personen schafft. Wir erlebten auch schöne Momente auf der Station, in denen Personal und Untergebrachte zusammen Spaß hatten. Am Ende des Films beim Schachspiel lachen Pflegerin Frau H. und Patientin Frau W. zusammen, was für einen kurzen Moment ihre eigentlich disparate Stellung angleicht. »[I]m gemeinschaftlichen Lachen dominiert die unmittelbar verbindende Kraft der Freude« 41 , so Bataille. Gemeinsames Lachen nivelliert Hierarchien. Witz kann subversive Kräfte freisetzen, gegenseitige Anerkennung zeigen. Die Patientin Frau W. hat ein prägnantes, laut-meckerndes Lachen, das sich stakkatoartig steigert; in Minute 3 des Films ist es zum ersten Mal hörbar. In Minute 74 am Ende des Films macht die Patientin einen makabren Witz. Als ein Krankenwagen mit lautem Martinshorn vorbeifährt, wandelt sie das »Tatü, tata, tatü, tata« in ein onomatopoetisches »Zu spät, zu spät, zu spät« um und lacht laut. Die Pflegerin Frau W1 ermahnt sie und blickt sie tadelnd an.42 Auf der »anderen Seite« hätte die Pflegerin möglicherweise den Zynismus, der viele gute Witze bedingt, goutiert. Bei der Patientin bleibt es ein »singuläre[s] Lachen«43, da die Pflegerin dieses kontextualisiert: »Ihr seid so hart drauf!« Lachen ist in seiner unverstellten echten Form ein Ausdruck von Freiheit. Die Patientinnen, mit denen wir drehten, haben das Potenzial zum Witz, zum tragischkomischen Humor. Wenn sie lachten, war in diesem Moment die Gefangenschaft weniger vorherrschend. Immer wieder brachten sie auch uns zum Lachen, wobei dann ebenso unser Machtverhältnis in diesem Moment schwand. Wird Humor dagegen auf Metaebene als ›kranker Witz‹ bewertet, wird ihm sein subversives Potenzial genommen; auch das stellt eine Form von Macht dar. Während der Dreharbeiten und im Film ist innerhalb des dargestellten »Machtplus« des Personals kein ostentativer Machtmissbrauch festzustellen. Uns begegnete keine Pflegerin, die, ähnlich etwa der Figur der Mildred Ratched (Louise

40 Georges Bataille, zit. nach: Finter, Helga: Poesie, Komödie, Tragödie oder die Masken des Unmöglichen. George Bataille und das Theater des Buches, in: Hetzel, Andreas / Wiechens, Peter (Hg.): Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, Würzburg 1999, S. 259-273, hier: S. 263.

41 Ebd. 42 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 73:55 f. 43 Georges Bataille, zit. nach: H. Finter: Poesie, Komödie, Tragödie oder die Masken des Unmöglichen, S. 263.

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Fletcher) in EINER FLOG ÜBER DAS KUCKUCKSNEST44, über die Insassen einer geschlossenen Psychiatrie herrschte und wir erlebten keine Form von übergriffigem Verhalten, wie er etwa im Zimbardo-Experiment45 passierte. Manchmal äußerte sich die Macht des Personals jedoch nach Eindruck der Drehaufnahmen in Gesten, Blicken oder kurzen Bemerkungen, die möglicherweise die Machtlosigkeit auf »der anderen Seite« verstärkten. Dies wird etwa im Film in der Abend-Szene am Gitter zwischen der Pflegerin Frau W2, die zuvor über das Machtpotenzial des Personals gesprochen hatte, und der Patientin Frau D. signifikant.

17.6 M ACHT

INNERHALB DER

›G RUNDVERSORGUNG ‹

Frau W2 ist die jüngste der drei Pflegerinnen, sie gibt kund, sich abgrenzen zu können: »Ich kann mich hier nicht fertig machen, nur weil die Patientin jetzt da hinten am Weinen ist…«46 und rechtfertigt dies unter anderem mit ihren Arbeitsbedingungen: »Wir können uns nicht den ganzen Tag um eine Patientin kümmern, wir haben immerhin ein paar mehr hier auf der Station…«47 Die Aussage steht im Kontrast zu der vorherigen Szene, in der die Pflegerin mit betroffenem Gesichtsausdruck vor dem Kriseninterventionsraum steht, in dem die Patientin weint. Doch diese Emotion zeigt sich nicht im Gespräch, in dem sie in einer distanzierten und professionellen Abgeklärtheit spricht. Genauere Beweggründe, warum sie sich so jung für diese Tätigkeit entschieden hat, werden zumindest im Film nicht erfragt. Auch bei den Pflegerinnen sollte wie bei den Patientinnen eine Form von Biografisierung vermieden werden. Die Pflegerinnen personalisieren zwar die Machtverhältnisse, das systemisch-bedingte Miteinander und gegenseitige Verhältnis steht jedoch im Vordergrund.

44 (Original-Titel) ONE FLEW OVER THE CUCKOO’S NEST, R: Miloš Forman, USA 1975. 45 Beim sogenannten »Stanford prison experiment« aus dem Jahr 1971, geleitet von Philipp G. Zimbardo, nahmen Studierende die Rollen von Gefängniswärtern und Gefangenen ein. Nach kürzester Zeit quälten die Wärter die Gefangenen psychisch und teilweise physisch, so dass das Experiment - für zwei Wochen geplant - bereits nach sechs Tagen abgebrochen wurde.

46 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, ab Min. 21:18. 47 Ebd. ab Min. 21:59.

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17.6.1 R auchen 48 In einer Abendszene49 echauffiert sich Patientin Frau D. gegenüber Pflegerin Frau W2 lautstark über ihre KIR-Unterbringung während der kostbaren Zeit ihrer fünfminütigen Zigarettenpause. In dieser ist die blickdichte, zweite Außentür vor der Gittertür der Patientin geöffnet, und sie hat durch die Stäbe Sichtzugang zum Gang. Diese Zigarettenpause, die den KIR-Patientinnen zu festgelegten Zeiten am Tag zusteht, wird stets vom Personal bewacht respektive nach Klinik-Vokabular, »betreut«. Nachdem die Pflegerin und die Patientin die Zigarette in beiderseitiger Verrenkung, die durch das Gitter bedingt ist, angezündet haben, nimmt die Pflegerin Abstand von der Patientin, erweitert ihre räumliche Distanz ganz offensichtlich (›Bitte kommen Sie nicht mehr näher‹). Während des gesamten ›Streitgesprächs‹ steht sie an die Wand gelehnt, wodurch zwischen ihr und der Patientin nun der Abstand von der Gangbreite bis hin zur Gitter-Grenze vorhanden ist. Am Ende, nachdem sich die Patientin Frau D. so wütend entrüstete und die Zigarette fast heruntergebrannt ist, sagt sie: Đ6RMHW]WKDELFKQLFKWVYRQPHLQHU=LJDUHWWHJHKDEW -D)UDX'ZDUXP"ď50

fragt Frau W2 in suggestiver Manier. In diesem Moment bewegt sich die Pflegerin zwar innerhalb der an sie delegierten Möglichkeiten ihrer Funktions-Ermächtigung, trotzdem wird durch subtile Stärkung von Sender-Empfänger-Strukturen ihre Machtposition gefestigt: Zum einen bestätigt die Pflegerin mit der direkten Frage- auf die resignierte Feststellung, dass die Wut-Extension eine ›falsche‹ war. Doch möglicherweise war diese Frust-Entladung in den fünf Minuten der Öffnung zu einem menschlichen Gegenüber ›richtiger‹ und wichtiger für die Patientin anstelle eines komplentativen Rauchens. Frau D. regt sich über vieles auf und möglicherweise gehört es dazu, sich dann am Ende darüber aufzuregen, dass sie sich aufgeregt hat. Das war ihre Wahlfreiheit. Sie entschied darüber, wie sie die Situation nach ihrem gegenwärtigen Bedürfnis nutzte. Indem die Pflegerin direkt auf die Aussage einsteigt und suggestiv den Grund erfragt, gibt sie ihr also Recht, bewertet das Verhalten

48 Das Rauchen wird hier als Bestandteil der Grundversorgung angesehen, weil es für die Patientinnen nach Eindruck der Dreharbeiten essenzieller Bestandteil ihrer Tagesstruktur und ihrer Bedürfnisse war. 49 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 28:44 f. 50 Ebd, Min. 31:44.

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der Patientin als dysfunktional. Dies impliziert, dass auch die fünf Minuten lange Freiheit der Zigarettenpause keine wirkliche ist, weil es ein ‹Richtig‹ und ein ›Falsch‹ gibt. Zum anderen ist die suggestive Frage, wie zuvor bereits die Position der Fragestellenden als meist machtvoll analysiert wurde (Kapitel 13.2.1), in der ein erzieherischer Tonfall anklingt, eine besonders dominante. Einer Suggestiv-Fragestellung ist aufgrund der bereits antizipierten Antwort stets ein Machtverhältnis zwischen zwei Parteien immanent. Der oder die Fragende weiß es entweder besser als die oder der Antwortende oder drückt aus, dass dieses Wissen eine bereits festgelegte ›Aussage‹ sei, die der oder die Gegenüber erbringen muss. Die Fragestellung ist also, trotz des Frageworts »warum«, keine offene, die den Möglichkeitsraum weitet, sondern verengt. Die Pflegerin weiß den Grund, und sie weiß, dass die Patientin diesen weiß. Sie ›nötigt‹ die Patientin, diesen selbst zu benennen. Der Ummantelung von Mitsprache ist eine Form der Maßregelung impliziert, wie nach Foucault »[u]nter Bestrafung, Züchtigung, Korrektion etc. […] alles verstanden werden [muss], was fähig ist, die Kinder die Fehler fühlen zu lassen, die sie begangen haben«51. So gesehen wird die Patientin durch die Frage subtil in ihrer Kindsrolle bestätigt. Die Antwort der Patientin ist nun überraschend: Denn sie antwortet nicht etwa »weil ich mich so aufgeregt hab, weil hier alles so schrecklich ist«, sondern einfach nur: »Weil ich gesprochen hab«52 und senkt den Blick. Die Replik der Pflegerin erfolgt durch ein spontanes Auflachen. Die Aussage der Patientin, dass ihr verbaler Akt allein der Situation schade, wirkt sehr einsichtig im Kontrast zu ihren vorherigen Verlautbarungen. Sie ist nun still, ›endlich‹ begrenzt. Die Pflegerin, die zuvor die ganze Zeit den Beschimpfungen ausgesetzt war, ist in diesem Sinne erfolgreich gewesen, eine sublime Genugtuung wäre ob ihrer vorherigen Ohnmachts-Position, in der sie den Klagen der Patientin ausgesetzt war, nachvollziehbar. Doch dieser Moment ist auch einer der traurigsten des ganzen Films. Die Patientin hat anscheinend unbewusst internalisiert, dass sie selbst diejenige ist, die sich im Wege steht, sie rekapituliert ihr Tun und kapituliert: Dies ist in gewisser Weise besorgniserregend – aus der wütenden Frau D. sprach mehr Lebenswille.

51 de la Salle, Jean-Baptiste: Conduite des Écoles chrétiennes, 1828, S. 204 f., zit. nach: M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 230 f. 52 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 31:51.

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Wie im Film EINER FLOG ÜBER DAS KUCKUCKSNEST, als McMurphy nach einer Isolationsmaßnahme wieder auf die Station kommt, den Sedierten spielt und dann endlich mit einem spitzbübischen Lachen aus der Lethargie erwacht, wünscht man sich auch in diesem Augenblick eine überraschende Form der Anarchie, auch wenn dieses persönliche Machtgefühl der Patientin langfristig nicht weiterhelfen würde. Je mehr sie ihre widerspenstigen, dysfunktional betrachteten Charakteranteile auslebt, umso geringer ist womöglich die Chance, dass sie sich innerhalb des Systems der Lockerungsstufen in aufsteigender Richtung bewegt. Daher könnte ihr einsichtiges Verhalten möglicherweise auch eine soziale Überangepasstheit darstellen, mit der sie ihr wütendes Agieren vergessen lassen und zum Ende der Pause noch einmal einen guten Eindruck hinterlassen will. Auf das Schweigen der Patientin folgt ein Umschnitt auf die Pflegerin. Diese ist nun ebenso still geworden. An die Wand gepresst, schaut sie die Patientin mit starrem Blick an oder durch sie hindurch: »Wat is?« fragt diese aus dem Off. »Ich muss hier stehen«, erwidert die Pflegerin, an ihren Sicherungs-Auftrag erinnernd. Sie ist auch örtlich festgelegt in ihrem Tun, ohnmächtig in ihrer Weisungsbefugnis. Dann wendet sie wie beschämt den Blick ab, schaut den leeren Gang hinab, als gäbe es dort etwas anderes zu sehen. »[D]er Andere ist der unentbehrliche Vermittler zwischen mir und mir selbst: ich schäme mich meiner, wie ich Anderen erscheine. Und eben durch das Erscheinen Anderer werde ich in die Lage versetzt, über mich selbst ein Urteil wie über ein Objekt zu fällen, denn als Objekt erscheine ich Anderen.«53

In dieser Szene fällen Pflegerin wie Patientin ein Selbst-Urteil durch den Blick der jeweils Anderen. Und auch die Pflegerin wird im erweiterten Sinne durch den Blick der Patientin gemaßregelt. Sie fragt nun nicht mehr nach. Sie schweigt. Es ist ein trennendes, kein verbindendes Schweigen, das zwischen den beiden den ohnehin schon durch Gitter perforierten Raum teilt. »[D]ie Scham ist ihrer Natur nach Anerkennung«54, schreibt Sartre. »Ich erkenne an, dass ich bin, wie Andere mich sehen«55 oder ›erkennen‹ bzw. ›verkennen‹. In der finalen Reflexion ihres Selbst ist bei Frau D. mehr Trauer als Scham enthalten. Und auch die Pflegerin wird durch die Patientin auf sich als Objekt zurückgeworfen, in der erhaltenen Spiegelung scheinbar im sonst festen Selbstverständnis ihrer Position irritiert. Hat die Pflegerin die besondere Machtsituation erkannt, die sie kurzzeitig innehatte?

53 J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 406, Hervorhebung im Original. 54 Ebd., Hervorhebung im Original. 55 Ebd., Hervorhebung im Original.

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Was nicht ausgesprochen wurde, wird im Film zumindest als Andeutung imaginiert. Spiegelbildlich sitzt nun in der nächsten Einstellung die Pflegerin eingeschlossen vom Zaun im Hof und raucht. Vor dem Gitter, zusammen mit der Patientin, ist sie nicht befugt zu rauchen. Nun hat sie Zigarettenpause. Es bleibt unausgesprochen, ob sie etwas oder »nichts von ihrer Zigarette gehabt« hat. Auf jeden Fall schaut ihr nur die Kamera zu. Sie selbst schweigt. Die Unterschiede zwischen Pflegerin und Patientin relativieren sich in dieser Pose.

Abb. 30: Patientin in der Zigarettenpause56

Abb. 31: Pflegerin mit Zigarette im Hof.57

17.6.2 Essen Der Tätigkeitsbereich der Pflegerinnen umfasst neben kurativer, medizinischer Pflege auch die Verteilung von Essen und Trinken, mitunter auch das Säubern der Räume der Patientinnen, wenn dies in einem unmittelbaren Betreuungszusammenhang steht. 58 In diesem Sinne wird ihre »Dienstleistungsfunktion«, die die Patientin Frau B. anspricht, deutlich. Diese kristallisiert sich etwa in der Szene

56 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 31:50. 57 Ebd., Min. 32:48. 58 Vgl. ebd., Min. 2:53 f.

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heraus, in der die Pflegerin Frau W3 das Mittagessen an die Patientinnen austeilt. Bezeichnend erfolgt dies durch eine Durchreiche-Luke von der Küche ins Esszimmer. Auch hier ist wieder eine räumliche Grenzziehung mit einer genau festgesetzten zeitlichen Öffnung vorhanden. )UDX'*LEWHVVRQVWJDUQLFKWVDX‰HU*HVFKQHW]HOWHV" )UDX:1HOHLGHUJLEWHVKLHULQGHP+RWHOVRQVWQLFKWVQHWXWPLUOHLG59

Die Aussage der Pflegerin signalisiert eine mögliche Unzufriedenheit. Diese ergibt sich womöglich aus einer Ambivalenz: Die Pflegerin fühlt sich wie als Bedienstete im Hotel, die Ansprüche der Untergebrachten scheinen unangemessen. Diese mögliche Missstimmung entspricht zumindest mancher Bevölkerungsteile, die die PatientInnen im Maßregelvollzug teilweise als zu gut behandelt meinen. In der ironischen Aussage drückt sich auch eine machtvolle Handlung aus. Indem sie die Frage der Patientin persifliert, weist sie sie in ihre Schranken zurück. Sie decodiert die Situation, die sich die Patientin nicht freiwillig ausgesucht hat, in eine Hotel-Situation, einen Ort von zumeist Erholung, Urlaub und Reisefreiheit, um. Die Patientin soll sich anscheinend mit dem zufrieden geben, was an Essen vorhanden ist, sie hat bei ihrer Nahrungszufuhr, wie bei der Menge ihrer Trinkzufuhr (›Wiege-Szene‹) wenig Wahlmöglichkeit. Ein Anspruch bzw. eine Frage dazu scheinen unangemessen. Beobachtet man, wie sehr sich Individuen auf »der anderen Seite« mit Bio- oder Fastfood-Kultur, veganer, vegetarischer, mikrobiotischer oder fleischhaltiger Essensqualität auseinandersetzen, wirkt das in der Antwort der Pflegerin larvierte »Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt« ungleich freiheitseinschneidender. Die Patientin hat ihren Körper mit dem zu ›befüllen‹ und zu erhalten, was die Institution ihr vorsetzt.60

59 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Deutschland 2013, Min. 46:27 f. 60 Die PatientInnen konnten zwischen vegetarischer und fleischhaltiger Kost wählen, auf die Bedürfnisse von MuslimInnen in der Fleischauswahl oder auf besondere gesundheitsbedingte Ernährungsweisen wurde ebenfalls eingegangen.

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17.7 D IE » INSTRUMENTELLEN M ODALITÄTEN « 61 DER M ACHT Nach Foucault können die repressiven Formen der Macht, die neben produktiv wirkenden Mechanismen wie der Belohnung existieren, durch unterschiedliche »instrumentelle Modalitäten« erwirkt werden, etwa durch »Drohung mit Waffen, durch die Wirkung des Wortes […], durch mehr oder minder komplexe Kontrollmechanismen, durch Überwachungssysteme […], nach ausgesprochenen oder unausgesprochenen, feststehenden oder veränderlichen Regeln«62. Im Folgenden sei auf die gewaltvollen Auswirkungen, die »Waffengewalt« und die »instrumentellen Modalitäten« der Macht in gegenständlicher Form eingegangen. Trotz der zuvor dargestellten, komplexen panoptischen Machtstrukturen, wie »Überwachungssysteme«63, bilden manifeste Geräte ganz substanzielle ›GewaltMittel‹ zur Aufrechterhaltung von Macht. Gewalt ist nach Hannah Arendt »durch ihren instrumentalen Charakter gekennzeichnet. Sie steht dem Phänomen der Stärke am nächsten, da die Gewaltmittel, wie alle Werkzeuge, dazu dienen, menschliche Stärke bzw. die der organischen ›Werkzeuge‹ zu vervielfachen, bis das Stadium erreicht ist, wo die künstlichen Werkzeuge die natürlichen ganz und gar ersetzen.«64

Gemäß dieser Definition werden auch die Pflegerinnen teilweise gewalttätig, wenn sie, durch ihre Macht delegiert, von einigen ihrer »instrumentellen« Machtmittel Gebrauch machen: Damit das Personal seine Macht ausüben kann, ist es mit prägnanten Devotionalien ausgestattet, die ihm augenscheinlich Stärke verleihen. 1. Die stärkste instrumentelle Machtinsignie des Personals ist der Schlüssel. Die Pflegerinnen benutzen diesen jeden Tag viele Male, er unterscheidet sie am konkretesten von den Patientinnen. Mit ihm als wichtigstem Utensil ihres Handlungsspielraums, nehmen die Pflegerinnen im wahrsten Sinne des Wortes eine »Schlüsselrolle« ein. Sie führen »Schlüsselgewalt« aus, eine indirekte Gewalt, da sie mit ihr die Patientinnen physisch in ihrer Bewegungsfreiheit eingrenzen, jedoch nicht direkt körperlich tangieren. Hätten die Patientinnen für einen Tag den Schlüssel, wären die Machtverhältnisse sofort andere: »Bekannt ist das Scherzwort, dass sich in einer psychiatrischen Klinik die Ärzte von den Patienten nur

61 62 63 64

M. Foucault: Wie wird Macht ausgeübt?, S. 197. Ebd. Ebd. H. Arendt: Macht und Gewalt, S. 47.

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dadurch unterscheiden, dass erstere einen Schlüssel haben.«65 Orientiert man sich an den zuvor dargestellten, gemeinsamen (zum Teil phänotypischen) Äußerlichkeiten von Rauchen, Tätowierung und Zivilkleidung, mag diese von Erich Fromm zitierte Feststellung sogar teilweise auf die Station zutreffen. 2. Das sogenannte »PNG«, das »Personen-Notruf-Gerät«, ist ständiges Anhängsel am Hosenbund, das im Film immer wieder wie der Schlüssel sichtbar wird. Sollten die Patientinnen sie angreifen, können die Pflegerinnen damit einen Alarm auslösen und somit Hilfe anfordern. Das PNG stellt insofern eine Form des panoptischen Blicks dar, als dass die Patientinnen durch das stets anwesende mobile Notrufsystem um den verlängerten Hilfsarm des Personals wissen und das Gerät somit selbstdisziplinierend wirken kann. Andererseits verleiht es dem Personal ein Gefühl von Sicherheit, womit anzunehmen ist, dass es damit auch Auftreten und Umgang mit den Patientinnen beeinflusst.

17.8 Z WANGSMAßNAHMEN : A NWENDUNG » INSTRUMENTELLER M ODALITÄTEN « ZUR KÖRPERLICHEN F IXIERUNG Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.«66

Mit Unterbringung im Maßregelvollzug und im Besonderen mit Anwendung von Zwangsmaßnahmen werden die Untergebrachten in ihrem Grundrecht auf Freiheit67 eingeschränkt. Demnach ist die Zwangsmaßnahme 68 , die im Folgenden dargestellt wird, eine erhebliche Form der Freiheitsverletzung. Gemäß

65 Fromm, Erich: Die Pathologie der Normalität. Zur Wissenschaft vom Menschen, Berlin 2012 (4. Auflage), S. 34. 66 H. Dreier (Hg.): Grundgesetz, Band 1, S. 401. 67 Vgl. auch: MVollzG Rheinland-Pfalz: Siebenter Abschnitt. Schlussbestimmung. § 24 Einschränkung von Grundrechten. 68 Vgl. Unmittelbarer Zwang, § 22 Abs. 1: »Das ärztliche, therapeutische, pflegerische und sonstige mit der Aufsicht betraute Personal der Einrichtung darf unmittelbaren

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Art. 104 Abs. 1 Grundgesetz darf in diese Freiheit nur unter gesetzlich bestimmten Bedingungen eingegriffen werden.69 Zuvor wurde bereits der Aspekt der Prüfung beleuchtet, bei der nach Foucault »jeder seine eigene Individualität als Stand zugewiesen erhält, in der er auf die ihn charakterisierenden Eigenschaften, Maße, Abstände und ›Noten‹ festgelegt wird«.70 Die Prüfung nennt er eine »rituelle und zugleich ›wissenschaftliche‹ Fixierung der individuellen Unterschiede«71. Interessant ist, dass diese Wortwahl der »Fixierung«, die Foucault hier für die Praxis der »Delinquenz«-Bildung nutzt, im Klinik-Alltag ein konkreter Gebrauchs-Begriff für eine ganz physische Form der Festlegung ist, wodurch die PatientInnen nicht nur im übertragenen, sondern in ganz konkretem Sinne fixiert werden. Die Fixierung durch Gurte, die »direkte Gewalt«, die als obligates Mittel im Falle der Gefahr für die Gesundheit oder das Leben der PatientInnen oder das anderer Personen angewendet werden darf72, kann somit als das konkrete Symbolbild von disziplinarischer Fixierung stehen. Minimiert sich bereits der Bewegungsradius in Form der »Zwangsunterbringung« auf einen Aufenthaltsort, findet eine extremere Form der »Fixierung« mit der abgesonderten Zuweisung auf eine Station statt, gesteigert durch Einsperrung

Zwang anwenden, wenn dies erforderlich ist, um die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder die Sicherheit oder Ordnung in der Einrichtung bei einer erheblichen Gefährdung aufrechtzuerhalten.«, MVollzG Rheinland-Pfalz.

69 Vgl. Art. 104 Grundgesetz (Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung) (1) 1 »Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. 2 Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden.« Dreier, Horst (Hg.): Grundgesetz Kommentar, Band III, Artikel 83-164, Tübingen 2008 (2. Auflage), S. 819.

70 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 247. 71 Ebd. 72 Vgl. Besondere Sicherungsmaßnahmen, Festnahme, § 21 Abs. 5 MVollzG RheinlandPfalz: »Bei Fluchtgefahr, Gefahr für Leib und Leben des untergebrachten Patienten oder einer anderen Person oder einer erheblichen Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung in der Einrichtung oder die öffentliche Sicherheit oder Ordnung können, soweit und solange ihr Zweck dies erfordert, besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden. Besondere Sicherungsmaßnahmen sind: […] die vorübergehende Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch Hilfsmittel der körperlichen Gewalt, insbesondere Fesseln.« Weitere Sicherungsmaßnahmen siehe § 21.

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im Kriseninterventionsraum73. Dies erreicht mit der direkten Zwangsmaßnahme, der konkreten »Fixierung«, die die PatientInnen bewegungsunfähig macht, ihren repressivsten Höhepunkt. Das stärkste Ausmaß körperlicher Lokalisierung ist damit erreicht. Die Fixierung sichert in exakter Weise den panoptischen Blick. Das Individuum ist nun auf einen Abweichungsradius von Zenti- und Millimetern festgelegt. Physisch kann es dem Blick nicht mehr entweichen. Mehr körperliche Freiheit kann ihm nicht mehr genommen werden. Diese Zwangsmaßnahme wird durch die Pflegerin Frau H. zu Beginn des Films erläutert: )UDX+$OVRHVLVWMDVFKRQHLQLQGLUHNWHU=ZDQJGDVVPDQGLH3DWLHQWHQ HLQVFKOLH‰W6LHZLVVHQGDVMDDXFKZHQQVLHKLHUXQWHUJHEUDFKWVLQGQDFK GHP 3DUDJUDI  YRP 6WUDIJHVHW]EXFK LVW HV VFKRQ DXFK QH =ZDQJVDXV EXQJ QHLQGLUHNWH'LUHNWHLVWGDQQDXFKZHQQ]XP%HLVSLHO QH)L[LHUXQJV 6LWXDWLRQ LVW GDV LVW GDQQ VFKRQ QH GLUHNWH =ZDQJVDXVEXQJ 2GHU DXFK *HZDOWGLUHNWHLQGLUHNWHđ74

Bezeichnend ist, dass die Pflegerin den Zwang zwar offen benennt, jedoch versachlicht: Sie definiert zwischen indirekter und direkter Gewalt, nutzt anstelle einer aktiven Formulierung den Nominalbegriff »Fixierungs-Situation«. Die Form der Fixierung ist nach der Gewalt-Definition in der theoretischen Einführung (3.2), und so auch von der Pflegerin wie gesetzlich75 benannt, eine direkte Form der Gewalt. Die PflegerInnen grenzen physisch die Handlungsfreiheit der PatientInnen ein, sie berühren sie (wenn notwendig teilweise auch gewaltsam) an den Gliedmaßen. Daher steht bei diesen »freiheitsentziehenden Maßnahmen« das Recht auf Selbstbestimmung und die Erhaltung des Lebens in einem diametralen, stets sensibel abzuwägenden, Verhältnis.

73 Vgl. § 21 Abs. 4 MVollzG Rheinland-Pfalz. 74 Andere Welt, Regie: C. Pfafferott, Min. 9:21 f. 75 § 21 Abs. 5 MVollzG Rheinland-Pfalz: »Besondere Sicherungsmaßnahmen sind: […] die vorübergehende Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch Hilfsmittel der körperlichen Gewalt, insbesondere Fesseln.«

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Insbesondere durch die »Psychiatriereform« seit der Veröffentlichung der sogenannten Psychiatrie-Enquête 76 im Jahr 1975 wird eine paternalistisch einnehmende Haltung in der psychiatrischen Behandlung und so auch der Einsatz der bewegungseinschränkenden Fixierung als »ultima ratio«77 kritisch hinterfragt. Im Film-Verlauf wird die Fixierung zunächst theoretisch am ›Versuchs-Modell‹ einer Pflegerin gezeigt, die sich als »Dummy« dafür auf das Fixierbett legt, es findet eine kurze Rollenübernahme statt. Die Pflegerinnen zeigen, wie sie die Gurte an den Extremitäten anlegen: »Das sitzt dann wie ein Rucksack.«78 Die Fixier-Gurte sind somit weitere ›Gewalt-Mittel‹ – »instrumentelle Modalitäten« der Macht. In einem Abstellraum der Station werden sie an Haken aufgehängt, fein säuberlich den Extremitäten zugeordnet: »Hand, Fuß, Oberschenkel, Bauch, Sonstiges«. Dabei erschließt sich nicht, für welches Körperteil die Bezeichnung »Sonstiges« steht, da die menschlichen Extremitäten bereits durch die Zuschreibung auf den Beschriftungen abgedeckt sind. In »Sonstiges« liegt eine unheimliche Option, ein zusätzliches Sichern einer unbekannten Variable. Der Gurt als Symbol der stets gewährleisteten Absicherung. Im Film wird schließlich eine »freiwillige Fixierung« durchgeführt. Dieses Oxymoron –freier Wille und Fixierung – wirkt absurd. Doch diese wird tatsächlich von Patientinnen erfragt, die unter so großem inneren oder äußeren Druck stehen, dass sie sich freiwillig in Bewegungs-Einschränkung begeben und dadurch Entlastung erhoffen. Das höchste Maß von Selbstdisziplin tritt ein.

76 »Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland. Zur psychiatrischen und psychotherapeutischen/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung (Deutscher Bundestag 1975)« Dieser befand u.a: «Die Versorgung psychisch Kranker und Behinderter in der Bundesrepublik Deutschland ist dringend verbesserungswürdig.« Siehe DGPPN: Zusammenfassung, Drucksache 7/4200, S. 6, http://www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/dokumente/enquete1975/ zusammenfassungbundestagsdrucksache7-4200.pdf (4.10.2014); vollständiger Bericht abrufbar unter: http://www.dgppn.de/schwerpunkte/versorgung/enquete.html (5.10.2014).

77 Vgl. u.a. W. Rinke: Therapeutische Zwangsmaßnahmen beim Maßregelvollzug im psychiatrischen Krankenhaus. S. 11.

78 Vgl. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 35:14 f.

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Abb. 32: Fixiergurte am Haken79

17.8.1 Fixierung in Form von Medikation Eine weitere ›Ruhigstellung‹ kann darüber hinaus in Form der ›psychischen Fixierung‹ durch Medikation erfolgen (siehe »Zulässigkeit von Maßnahmen« Kapitel 11). Die Möglichkeit der Zwangsbehandlung (und damit auch Zwangsmedikation) als »schwerwiegende[r] Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG, der in der medizinischen Behandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten gegen dessen natürlichen Willen liegt, kann auch zur Erreichung des Vollzugsziels gerechtfertigt sein.«80 Dies befand das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Verfassungsbeschwerde eines Maßregelvollzugspatienten aus RheinlandPfalz, der gegen eine Zwangsmedikation geklagt hatte. Im selben Zuge befand das Gericht, dass die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung »klarer und bestimmter gesetzlicher Regelung bedürfen«, die zu jenem Zeitpunkt der gesetzlichen Grundlage fehlten und zur Überarbeitung angeordnet wurden (siehe Kapitel 18.). Die medikamentöse Zwangsbehandlung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das menschliche Grundrecht dar81. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest: 79 Filmstill: ANDERE WELT, Regie C. Pfafferott, Min. 65:26. 80 Bundesverfassungsgericht: Verfassungsrechtliche Voraussetzungen für die Zwangsbehandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten, Beschluss vom 23. März 2011 2 Bvr 882/09, Satz 1. Abrufbar unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/ entscheidungen/rs20110323_2bvr088209.html (25.11.2014).

81 Bundesverfassungsgericht: Verfassungsrechtliche Voraussetzungen für die Zwangsbehandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten, Rn. 43.

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»Psychopharmaka sind […] auf die Veränderungen seelischer Abläufe ausgerichtet. Ihre Verabreichung gegen den natürlichen Willen des Betroffenen berührt daher, auch unabhängig davon, ob sie mit körperlichem Zwang durchgesetzt wird, in besonderem Maße den Kern der Persönlichkeit.«82

Bei bestimmten Psychopharmaka (jedoch entgegen verbreiteten Anschauungen nicht bei sämtlichen) wie Benzodiazepinen besteht die Gefahr der Abhängigkeit. Die PatientInnen entwickeln eine sogenannte »Toleranz« gegenüber dem Medikament, wodurch die Dosis zur Wirkungs-Erzielung erhöht werden muss. Die Pflegerin fordert Frau D. in einer Filmszene wiederholt zur Einnahme ihrer Medikamente auf (»Bitte nehmen Sie jetzt Ihre Tabletten«83). Im Film wird jedoch nicht deutlich, im Rahmen welcher Indikation Frau D. ihre Medikamente einnimmt. Konkret äußert Frau D., dass sie sich selbst ›gezwungen‹ sieht, die Medikamente einzunehmen, weil sie sich von ihnen als abhängig empfindet (»Ich kann ohne die Medikamente garnicht mehr leben«84). Aus ihrem vorwurfsvollen Tonfall ließe sich interpretieren, dass sie diese Anhängigkeit als keine autark selbst gewählte empfindet. Wenn Frau D. das Medikament, die pinke Trental-Tablette, die sie im Film nennt, in Aussehen und Wirkung wie mutiert beschreibt (siehe Dialog S. 132 f.), unterstreicht sie den für sie dominanten Charakter des Medikaments. Dessen Wirkung hat einen Einfluss auf ihren geistigen Zustand und ihr Verhalten, den sie nicht direkt steuern, ohne den sie jedoch auch »nicht mehr leben« kann. Darin mag sich auch ihr Ohnmachtsgefühl begründen. Die PflegerInnen händigen den Patientinnen die Medizin aus, welche ihren etwaigen Leidensdruck lindert und ihre psychische Konstitution beeinflusst, sie also machtvoll prägen kann. Der Medikamentenbecher und die Depotspritze können so im erweiterten Sinne ebenso als eine weitere »instrumentelle Modalität« der Macht verstanden werden.

82 Bundesverfassungsgericht: Verfassungsrechtliche Voraussetzungen für die Zwangsbehandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten, Rn. 44.

83 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 6:42 und 8:15. 84 Ebd., Min. 7:04.

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17.9 ›E NTLIEHENE ‹ M ACHT Doch die Pflegekräfte haben nicht nur Devotionalien ›panoptischer Wirksamkeit‹, wie im Film ersichtlich Schlüssel, PNG, Gurte und Medikation als Machtinstrumente zur Verfügung, sie können darüber hinaus weitere Mittel benutzen: Es sind die ›entliehenen‹ Gegenstände der Patientinnen, die ihre ›geliehene Macht‹ aufrechterhalten. Viele Besitztümer der Patientinnen sind (je nach »Lockerung«, dies gilt insbesondere für die KIR-Patientinnen) eingeschlossen85, sie müssen »für alles fragen«.86 In einer Szene im Film reicht der Stationsleiter der Patientin Frau D. ihr Radio in den Kriseninterventionsraum. Dieses darf sie in einem temporär limitierten Rahmen benutzen. Indem die Patientinnen so reglementiert werden, können ihre eigenen Gegenstände als Machtmittel gegen sie selbst angewendet werden. Dies wird auch in der Abendszene zwischen Frau W2 und Frau D. ersichtlich, als ihr die Pflegerin durch das Gitter ihre Zigarette anzündet, da die Patientin das Feuerzeug augenscheinlich nicht selbst benutzen darf. Die ihr zugestandene Zigarette kann sie nur durch den ›Zugang‹ zur Pflegerin konsumieren.

Abb. 33: Anzünden der Zigarette durch das Gitter87

85 Vgl. § 21 Besondere Sicherheitsmaßnahmen, Festnahme, Abs. 2 MVollzG RheinlandPfalz: »Besondere Sicherungsmaßnahmen sind: […] Der Entzug oder die Vorenthaltung von Gegenständen.«; bzw. § 15 Besitz, Aufbewahrung und Erwerb von Gegenständen, Kleidung, u.a. Abs. 3.

86 Pflegerin Frau W1, in: ANDERE WELT, Regie C. Pfafferott, Min. 8:56. 87 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min 29:40.

18. Macht im Rahmen des Gesetzes

Der Machtspielraum der Pflegerinnen und die Nutzung sämtlicher zuvor erläuterter »instrumenteller Modalitäten« der Macht, werden im unmittelbaren Maße durch die jeweils geltenden gesetzlichen Bestimmungen geprägt: Vor dem Zeitpunkt des Drehs hatte das Bundesverfassungsgericht im März 2011 die Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug durch das Landesgesetz Rheinland-Pfalz, also dem Bundesland, in dem die Patientinnen des Films untergebracht waren, für »verfassungswidrig« erklärt: Als der Maßregelvollzugspatient (wie zuvor genannt in Kapitel 17.8.1 ) aus Rheinland-Pfalz gegen seine medikamentöse Zwangsbehandlung mit Neuroleptika Einspruch erhoben hatte, befand das Bundeverfassungsgericht: »Die Beschlüsse, mit denen das Landgericht und Oberlandgericht die angekündigte Zwangsbehandlung als rechtmäßig bestätigt haben, verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.«1 Im Zuge der Überprüfung stellte das Gericht die ungenügsame gesetzliche Grundlage des durch § 61 2 geregelten Bestimmungen zur Zwangsbehandlung fest: »Die Vorschrift genügt nicht den Anforderungen, die an die Klarheit und Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage für einen besonders schweren Grundrechtseingriff [...] zu stellen sind.«2 Es ordnete an, dass »[d]ie verfassungsrechtlichen Defizite […] durch den Gesetzgeber behoben werden.«3 Zum Zeitpunkt des Drehs, im August 2012, als die gesetzliche Grundlage noch nicht einer (seit 2014 nun gültigen) Neuerung unterzogen war, waren damit die »Ermächtigungen zur Zwangsbehandlung« 4 im Maßregelvollzug in Rheinland1

Bundesverfassunsgericht: Verfassungsrechtliche Voraussetzungen für die Zwangsbe-

2

Ebd., Rn. 74.

handlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten, Rn. 37. 3

Ebd., Rn. 80.

4

Henking, Tanja / Mittag, Matthias: Die Zwangsbehandlung in der öffentlich-rechtlichen Unterbringung. Vorschlag einer Neuregelung, in: Juristische Rundschau 2013, Nr. 8, S. 341-351, hier S. 341.

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Pfalz nach Urteil des Bundeverfassungsgerichts »für verfassungswidrig und nichtig«5 anzusehen. Die Patientin Frau B., die sich sehr gut mit der jeweils gegenwärtigen Gesetzeslage im Maßregelvollzug auskannte, nutzte ihr Wissen für ihre alltägliche Argumentationskraft (»Expertenmacht«). Vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts unterlagen die Voraussetzungen zur Zwangsbehandlung einem erweiterten Handlungsspielraum. Zum Zeitpunkt des Drehs, nach dem Beschluss, hätte sich die Patientin also im etwaigen Fall mit Recht gegen eine Zwangsbehandlung wehren können – wenngleich sich Frau B. durch Erwirkung der Neubeurteilung ihres Tatbestands durch rechtlichen Beistand (Bewertung nach Paragraf 64 StGB anstelle zuvor 63 StGB, Kapitel 15.2) aus der Klinik ›befreien‹ konnte. Angestoßen durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts6 zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug stellte ebenso der Bundesgerichtshof 2012 fest, dass es auch im Betreuungsrecht7 »an einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden gesetzlichen Grundlage für eine betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung« fehlt.8 So war es BetreuerInnen zu jenem Zeitpunkt nicht möglich, »im Rahmen einer geschlossenen Unterbringung«9 eine Zwangsbehandlung für die von ihnen betreuten PatientInnen zu veranlassen. Die Bestimmungen wurden schließlich in einem Beschluss des Bundestages Anfang 2013 gesetzlich neu festgelegt und die »Grenzen« des sogenannten Rechts auf »Freiheit zur Krankheit«10 »benannt«11.

5

T. Henking / M. Mittag: Die Zwangsbehandlung in der öffentlich-rechtlichen Unter-

6

Das Bundesverfassungsgericht stellte im Weiteren auch die Überarbeitung der gesetz-

bringung. Vorschlag einer Neuregelung, S. 341. lichen Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug für die Bundesländer Baden-Württemberg und Sachsen fest. Vgl. u.a. ebd. 7

Geregelt nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).

8

Bundesgerichtshof: Zwangsbehandlung des geschlossen untergebrachten Betreuten; Neue Juristische Wochenschrift (NJW 2012, 2967), Beschluss vom 20.6.2012, - XII ZB 99/12 | BGB § 1906.

9

Ebd.

10 Vgl. Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 2270/96 vom 23.3.1998, Absatz-Nr. (1-25): dass »dem psychisch Kranken in gewissen Grenzen die ›Freiheit zur Krankheit‹ belassen bleibt (vgl. BVerfGE 58, 208 ).« http://www.bverfg.de/entscheidun gen/rk19980323_2bvr227096.html (5.10.2014). 11 Online-Lexikon Betreuungsrecht: Zwangsbehandlung. http://www.bundesanzeiger-verlag.de/betreuung/wiki/Zwangsbehandlung (25.8.2014).

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Die Beispiele der gesetzlichen Novellierungen zur Zwangsbehandlung machen deutlich, in welch hohem Maße Gesetze die Wirklichkeit und die Bedingungen von Zusammenleben bestimmen. Dies gilt sowohl für das der straffällig gewordenen als auch das der ›gesetzestreuen‹ Subjekte: So »kommt Gesetzestexten eine Macht zu, insofern sie eine Person auf eine ganz bestimmte Art repräsentieren und zuordnen, weil sie bestimmte Definitionen durchsetzen, etablieren und Realität erzeugen können.«12 Dies wird ebenso deutlich, wenn die Patientinnen aus den Gesetzestexten vorlesen, in denen etwa die Zuschreibungen »schuldunfähig« und »für die Allgemeinheit gefährlich« ihre Fremd- und Selbstwahrnehmung eminent prägen. Gleichermaßen gilt dies für das Personal. Es darf Gewalt anwenden, solange die rechtliche Bestimmung es erlaubt, respektive es sogar dazu ›zwingt‹: Wenn die Pflegerin sagt: »Nachher passiert was und die sagen, warum habt ihr nicht fixiert« und sie in dieser Weise auf eine höhere Hierarchieebene verweist, wird dieses Verhalten letztlich nicht nur durch den behandelnden Arzt, sondern darüber hinaus durch den Gesetzesrahmen festgelegt. Ist die Fixierung innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens durch einen Arzt indiziert, besitzt die Pflegerin keinen Rechtfertigungsgrund mehr, diese zu unterlassen. Sie müsste sich etwa im Fall eines etwaigen Suizids möglicherweise aufgrund »unterlassener Hilfeleistung« selbst ›vor dem Gesetz‹ verantworten. »Die Gesetze genießen ein dauerhaftes Ansehen und verfügen über einen Kredit, nicht etwa, weil sie gerecht sind, sondern weil sie Gesetze sind: das ist der mystische Grund ihrer Autorität; es gibt keinen anderen«13, so Michel de Montaigne. Dieses gesetzliche Wahrheitsdiktum hat nach dem Integrationsforscher Haci Halil Uslucan »auch eine entlastende Funktion«. Das Recht »ist eine Zentralmacht, die das Richtige definiert. Man muss nicht mehr moralisch diskutieren, sondern kann auf eine gesetzliche Grundlage verweisen.«14

12 Micus-Loos, Christiane: »Auch Frauen sind zu allem fähig«. Theorien und empirische Befunde zum Umgang der Geschlechter mit Aggressionen, in: Elz, Jutta: Täterinnen. Befunde, Analysen, Perspektiven, Kriminologische Zentralstelle e.V., Wiesbaden 2009, S. 45-72, hier: S. 62.

13 Montaigne de, Michel: Essais III, XIII (›De l’expérience‹ - Von der Erfahrung), in: Œuvres, édition de La Pléiade; texte établi et annoté par A. Thibaudet, Paris 1950, S. 1203, zit. nach: Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹, Frankfurt am Main 1991, S. 25.

14 Uslucan, Haci Halil, in: Interview mit Pfafferott, Christa: Hilft eine gesetzliche Quote?, in: DIE ZEIT Campus, 04/2011, S. 47-48, hier S. 48.

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Die PflegerInnen können somit sowohl auf die ihnen vorgesetzten Personen als auch auf diese »höhere Gewalt« verweisen. Gerade in Beziehungsverhältnissen, in denen das Machtgefälle, wie zuvor dargelegt, maßgeblich durch Funktionen konstitutiv wird, wird die Autorität der MachtinhaberInnen durch das gesetzliche Regelwerk gestärkt, im Grunde sogar erst überhaupt ermöglicht: In der Klinik wurde immer wieder an den Regeln, als ›kleinem Gesetz‹ sozusagen, evident, wie fraglos durch sie Handeln legitimiert wird. Die Regel gilt nicht unbedingt, weil sie logisch überzeugend, sondern weil sie eine Regel ist. Genauso ist die Wirkung von Gesetzen: »Menschen befolgen Gesetze selbst dann, wenn sie moralisch nicht davon überzeugt sind.«15 Als die Pflegerin in der Kniffelspiel-Szene16 im Film sagt: »Sie haben noch fünf Minuten«, folgt die Zustimmung der Patientin durch ein Nicken sofort. Sie akzeptiert die Zeit-Reglementierung ohne jedwede Widerworte. Die Pflegerin muss den Fakt nicht begründen, sie nennt einfach eine Tatsache. Kurz darauf lacht die Patientin und meint: »Ja so ist das«. »Was«, fragt die Pflegerin; »Ja alles.«; »Es ist alles so wie es ist« – solange es Gesetz ist. In seiner eminenten Machtwirkung ist das Gesetz und damit »die Gerechtigkeit als Recht«17 jedoch stets historisch kontingenten Beschlüssen unterlegen und nur innerhalb seiner Beschlussdauer absolut: Die Gesetze sind damit gleichzeitig kontingent und absolut. Dies mutet paradox an: Auf der einen Seite beweist die historische Erfahrung, dass Gesetze nicht ewig halten und stets durch politische Beschlüsse geändert werden können, auf der anderen Seite beanspruchen sie ihre Akzeptanz unumstößlich, solange sie gelten. Paragraf 1 des Strafgesetzbuchs legt fest: »Keine Strafe ohne Gesetz [:] Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.«18

Ein Verfehlen kann also nach moralischem Ermessen noch so ungerecht wirken: Solange es nicht vom Gesetz erfasst ist, wird es nicht bestraft. Daraus ergibt sich

15 16 17 18

Pfafferott, Christa: Hilft eine gesetzliche Quote?, S. 48. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min 23:36 f. J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 25 Schmitz, Roland: Allgemeiner Teil. Erster Abschnitt. Das Strafgesetz, § 1 Keine Strafe ohne Gesetz, in: W. Joecks / K. Miebach (Hg.): Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, S. 41.

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nach Foucault die »Regel der optimalen Spezifizierung«19, das heißt, jedes rechtsbrechende Verhalten muss lückenlos festgeschrieben sein: »Es darf kein Schweigen des Gesetzes geben, in das sich Hoffnung auf Straflosigkeit stürzen könnte.«20 Die historische Kontingenz von Gesetzesmacht wird etwa auch am Beispiel von Homosexualität deutlich: Diese wurde bis zur Reform des Paragrafen 175 RStGB im Jahr 1969, respektive einer zweiten Reform 1974, als »widernatürliche Unzucht«21 strafrechtlich verfolgt. Homosexuelle Männer wurden auf sogenannten »rosa Listen« der Polizei geführt: Der Paragraf setzte das Verhältnis von Männern untereinander (das von Frauen wird nicht genannt) mit dem eines Menschen mit Tieren gleich: »Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren [sic!] begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; (…).«22

Noch bis zum Jahr 1994 war der sogenannte »175er« (umgangssprachlich ähnlich ausgedrückt wie der »63er«) im deutschen Strafgesetzbuch vermerkt. Fünf Jahre später, 2001, trat in Deutschland das Gesetz zur »eingetragenen Lebenspartnerschaft« in Kraft; homosexuelle Paare können zusammen Kinder großziehen. Dass selbst »der Gesetzgeber« entschieden hat, Homosexualität nicht mehr als »widernatürlich« zu sanktionieren, sondern mit Rechten auszustatten, führt zur Stärkung der Akzeptanz vielfältiger Lebensgestaltung, da das Gesetz nicht nur den konkreten Alltag, sondern darüberhinaus das Normempfinden prägt. So kontingent Gesetzesmacht wirken kann – ein rechtlicher Grundsatz ist jedoch »absolut« und »unantastbar«. Es ist ein sogenanntes »Abwehrrecht« gegen alle öffentliche Gewalt von »Legislative«, »Judikative« und »Exekutive«23 und gilt für jedes Individuum und in jedem Umstand gleichermaßen, gleichgültig, in welche Grundrechte durch gesetzlich legitimierte Macht eingegriffen wurde: Die Menschenwürde. Sie hat in der Konstruktion des bundesrepublikanischen Grundgesetzes eines sogenannte »Ewigkeitsgarantie« und kann dem Menschen durch nichts

19 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 125, Hervorhebung im Original. 20 Ebd. 21 Vgl. Schäfer, Christian: »Widernatürliche Unzucht«. (§§ 175, 175a, 175b, 182 a.F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945, in: Vormbaum, Thomas (Hg.): Juristische Zeitgeschichte. Band 26, Berlin 2006.

22 § 175 RStGB, in: C. Schäfer: »Widernatürliche Unzucht«, S. 3. 23 Vgl. u.a. http://www.grundrechteschutz.de/gg/menschenwurde-2-255 (5.11.2014).

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genommen werden. Sie ist ihm aufgrund seiner bloßen Existenz ohne Ansehung etwa von Geschlecht, Alter, Nationalität, Religion oder Stand gegeben. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«24

Im materiellen Gehalt greift unter unter anderem die sogenannte »Objektformel« des Bundesverfassungsgerichts. Wie nach Immanuel Kants Grundsatz, nach dem der Mensch »Zweck an sich selbst« 25 ist und nicht ›Mittel zum Zweck‹ 26 sein sollte, muss der Mensch stets als Subjekt, und darf nie als Objekt betrachtet werden.27 Sein Leben darf so nicht mit dem Leben anderer an Anzahl, Dauer oder Wert gemessen werden. Es ist in jedem Moment zu achten, schlicht aus dem Grunde, dass es das Leben eines Menschen ist.

24 H. Dreier, Horst (Hg.): Grundgesetz. Kommentar, Band I, S. 154. 25 Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785: Akademie-Ausgabe, Band IV, Neudruck: Kants Werke, Berlin 1968, S. 428 ff.

26 Vgl. ebd., S. 429 f. 27 Dies wurde etwa in dem »Luftsicherheitsgesetz« aus dem Jahr 2006 noch einmal in seinem Grundsatz bestärkt. Demnach darf ein mit Passagieren besetztes Flugzeug, das gerade auf ein Hochhaus zusteuert, nicht abgeschossen werden. Zwar könnte nachvollziehbar argumentiert werden, dass die Menschen in dem Moment, in dem sie in das Gebäude fliegen, ohnehin sterben würden und dass daher mehr Menschenleben gerettet werden könnten, wenn man das Flugzeug vorher abschießen würde. Doch das Bundesverfassungsgericht entschied, dass Leben nicht mit Leben abgewogen werden darf. Auch in den Sekunden, bevor das Flugzeug ins Gebäude fliegt, sind Menschenleben in dem Flugzeug. Das Flugzeug ist also nicht Objekt, sondern Subjekt. Dabei sind »Passagiere und Besatzung typischerweise in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen.« Würden sie vom Staat veranlasst nun abgeschossen werden, wären Flugbesatzung und Passagiere »ihm wehr- und hilflos ausgeliefert mit der Folge, dass sie zusammen mit dem Luftfahrzeug gezielt abgeschossen und infolgedessen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getötet werden. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten.« Die Würde dieser Menschen ist als unumstößlich zu achten. Vgl. Bundesverfassungsgericht: Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 15. Februar 2006, 1 BvR 357/05, Rn. 123, 124 http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20060215_1bvr035705.html (18.10.2014).

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Im Rückschluss könnte formuliert werden, dass ein Mensch umso weniger gefährdet ist, in seiner Würde verletzt zu werden, je weniger er »objektiviert« wird, wie Foucault die »Objektivierung«28 des Menschen zum Subjekt, (den Subjektstatus sieht er in diesem Zusammenhang als Relativierung der menschlichen Integrität) etwa durch »Delinquenz«-Bildung, benennt. Die »Objektivierung« der Klinik-PatientInnen wird damit gerechtfertigt, dass diese vor allem zum Zwecke ihrer »Besserung« geschehe und ihnen so möglichst effektiv geholfen werden soll. Sie könnte also dahingehend interpretiert werden, dass sie dienlich sein soll, die Menschenwürde der Patientinnen erst aufrecht zu erhalten und ihr Subjektsein wieder voll herzustellen. Durch Teilungspraxis, Kategoriebildung, Diagnostik und Zuschreibungen werden Subjekte jedoch zunehmend anhand ihrer Funktion, Leistung und ihrem Agieren bewertet, wodurch die Art und Weise, wie sie behandelt werden, nach diesen Attributen ausgerichtet wird. Wenn die »Existenz« des Menschen aus bestimmten Zuschreibungen deduziert wird, bewegt sich seine Betrachtung von seiner »bloßen Existenz« weg. Dies bedeutet nicht, dass durch diese Praktiken die Würde des Menschen verletzt wird, entbehrt aber nicht einer sensiblen Beobachtung. Allein schon die Möglichkeit eines Verstoßes gegen die Unantastbarkeit der Menschenwürde rechtfertigt eine besondere Sensibilität.

28 Vgl. M. Foucault: Warum ich die Macht untersuche, S. 161.

19. Die Macht der Patientinnen

19.1 »M ACHTMINUS « 1 Wie dargelegt, sind die Patientinnen im hohen Maße vom Personal durch Freiheitsbeschränkung in räumlicher, zeitlicher, gegenständlicher, kommunikativer und auch die Grundversorgung von Essen und Trinken betreffender Form eingeschränkt. Zugang dazu wird ihnen nur durch das Personal ›erschlossen‹. Mit dieser Abhängigkeit geht in vielen Fällen ein großes Erleben von Ohnmacht einher. Jeder Mensch hat das Grundbedürfnis einen bestimmten Grad an Kontrolle über sich und sein Leben zu besitzen: Die Möglichkeit in »positive Aggression« zu treten, die Macht, eine bestimmte Form von Einfluss zu erzielen, sei dieser auch noch so geringfügig, das Gefühl, die Zukunft qua eigener Intelligenz, Physis oder finanzieller Mittel lenken und Ursache und Wirkung beeinflussen zu können, in einer sozialen Gemeinschaft und in Kommunikation integriert zu sein, emotionale Sicherheit zu besitzen. Die PatientInnen können sich in ihrem konkreten Zustand kaum über Beziehungen zu Personen, Besitz oder Handeln definieren2, zum Beispiel »hat Kind, Auto, ist im Verein«3: Diese Merkmale, wenn vorhanden, liegen außerhalb der »Heterotopie« auf der »anderen Seite«, wie das Beispiel von Frau D. zeigt, deren Kind nicht mehr für sie vorhanden war. Daher sind persönliche Besitztümer, wie

1 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 41. 2 Vgl. Oerter, Rolf: Menschliche Entwicklung und ihre Gestaltbarkeit. Beiträge der Entwicklungspsychologie, in: Sonntag, Karlheinz (Hg): Personalentwicklung in Organisationen, Göttingen 2006 (3. Auflage), S. 39-56, hier: S. 49 (er bezieht sich hier auf die Konzeption des Menschenbilds in der »Sozial- und Umwelttheorie«).

3 Vgl. ebd., S. 49.

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das Foto ihres Kindes, jedoch auch die Beziehung zum Personal und soziale Stellungszuweisungen innerhalb der Klinik, wie etwa die Lockerungsstufe, wichtig, um das jeweilige Selbstbild zu bestimmen. Die Realisierung eines Machtgefühls aufgrund von Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit ist bei eingesperrten Individuen also von Grund auf gering. Vor allem der Einschluss auf unbestimmte Zeit, die fehlende Kontrolle der Lebensplanung, kann zu Eskapismus, Resignation und »erlernter Hilflosigkeit« führen – ein Fachterminus, der verdeutlichen soll, dass die betreffende Person, insbesondere, wenn ihr Bemühen nicht mehr Wirkung zu erzielen scheint, passiv und antriebslos wird und sie auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein meint. Die sogenannte »externale Kontrollüberzeugung«4 steigt, das Individuum benötigt verstärkt Regeln, Anweisungen und Hilfestellungen von anderen für die Tages- und Lebens-Struktur, da die eigene Kompetenz als gering empfunden wird. Auch durch die oft jahrelange Einnahme von, unter anderem ruhigstellenden, Medikamenten kann es möglich sein, dass manche Patientinnen regredieren. Die extravertierte Lebendigkeit der Charaktere wechselt im schlimmsten Fall in eine stumpfe und gleichbleibende Gemütsverfassung. In gesteigerter Form kann dies zu »Hospitalismus« führen, was bei Personen in Pflege oder bei LangzeitpatientInnen in Psychiatrien der Fall ist, die sehr viel externale Kontrolle erfahren und, auch etwa durch Zeitmangel des Personals bedingt, nicht zu genügend eigener Selbstkontrolle angeregt werden. Auch manche Patientinnen im Film wirken nach eigenem Ermessen sediert, was an den ›Nebenfiguren‹ auffällt, die zu passiv waren, um sich aggressiv Filmraum zu ›ermächtigen‹, wie etwa an der Patientin, die in starrem Gang auf Zehenspitzen durch den Gang läuft.5 Während der Produktion der Fotoserie erhielt ich in Gesprächen mit den PatientInnen ebenso den Eindruck, dass einige begonnen hatten, sich in ihrer Begrenzung einzurichten, sie als nötig erachteten, in ihr sogar Geborgenheit, »die andere Seite« als bedrohlich, die Klinik als Heimat empfanden und sich mit kleinen Freiheiten zufrieden gaben. Würden sie nun mehr Freiheit erhalten, würde dies womöglich nicht ihr Machtgefühl erweitern, sondern im Gegenteil ein verstärktes Ohnmachtserleben auslösen.

4

Vgl. etwa Lexikon der Psychologie, Externale Kontrollüberzeugung: http://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/externale-kontrollueberzeugung/4593 (5.10.2014).

5

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Machtlos fühlen sich die Patientinnen teilweise auch gegenüber ihrer psychischen Erkrankung, mit der kognitive Kompetenzen schwinden können, sie ihr körperliches und sprachliches Agieren nicht mehr unter vollständiger Kontrolle haben. Sie empfinden sich als unzulänglich oder unzulänglich wahrgenommen. )UDX':DUXPELQLFKGDQQMHW]WEHKLQGHUWXQGZDUIUKHUQLFKWEHKLQGHUW" )UDX::DVPHLQHQ6LHGDPLWGDVV6LHMHW]WEHKLQGHUWVLQG" )UDX'-DLFKELQQLFKWEHKLQGHUWJHERUHQZRUGHQYHUVWHKHQ6LH )UDX::HOFKH%HKLQGHUXQJPHLQHQ6LHMHW]WJHQDX" )UDX ' ,FK ELQ GUDXI XQG GUDQ KLHU GULQ QH JHLVWLJH %HKLQGHUXQJ ]X HQWZLFNHOQ )UDX:$XIJUXQG" )UDX ' $XIJUXQG GDVV PHLQH *HKLUQ]HOOHQ VFKZLQGHQ ZHLO LFK NHLQH %H 6

VFKlIWLJXQJKLHUGULQKDEXQGHLQIDFKQXUTXDOYROOYHUHQGHQNDQQKLHUGULQ

Die Patientin Frau D. stellt durch einen subjektiven Vorher-Nachher-Vergleich fest, dass sie seit der Unterbringung an geistigen Möglichkeiten nachgelassen hat. Dahingegen stellt die Patientin Frau W. in der »Agressions-Frustrations«Szene mit Pflegerin Frau H. eine Abgrenzung gegen eine mögliche Außen-Wahrnehmung als vermindert intelligent heraus: )UDX:8QGZHQQLFKGHQ*XWDFKWHUVHOEHUEH]DKOHQPXVVLVWDXFKHJDO :LVVHQ6LHLFKVHKNHLQHQ(UIROJPHKUKLHULQGHU.OLQLN,FKELQQLFKWGRRI LFKELQQLFKWGRRI)UDX:HK)UDX+,FKKDE QH%RUGHUOLQH6W|UXQJRND\ LFKKDE QH'LDJQRVHGDVLVWDXFK]ZDU QH(UNUDQNXQJDEHULFKELQQLFKW LUJHQGZLH%DQDQHLQGHU%LUQH )UDX+'DVVDJWMDDXFKNHLQHUđ )UDX:,FKELQVRVFKODXGDVVLFKLQGHP*XWDFKWHQQLFKWDOOHVQRFKPDOVRđ )UDX+'DVVDJWMDDXFKNHLQHUGDVV6LH%DQDQHVLQG*XFNHQ6LHPDOGLH JDQ]HQ]ZHL9HUIDKUHQVđGLHVH5HJHOXQJHQGLH6LHYRUKHUKDWWHQXQGZDV 6LHMHW]WVFKRQDOOHVDQ1RUPDOLWlWZLHGHUPHKUKDEHQđ7 >đ@ )UDX:,FKNULHJDOOHVPLW)UDX+LFKELQZLHHLQ/XFKV8

6 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 30:06 f. 7 Ebd., Min. 52:18 f. 8 Ebd., Min. 55:13.

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Die Patientin gesteht eine Krankheit ein, dabei nutzt sie den verkürzten Begriff »Borderline-Störung« anstelle des Terminus »Borderline-Persönlichkeitsstörung«, und nimmt damit die Persönlichkeit aus ihrer Störung heraus. Der Bezeichnung »Persönlichkeitsstörung« ist genuin ein stigmatisierender Faktor inhärent, da von einem Defekt der Persönlichkeit ausgegangen wird. Man misst damit an einem bestimmten Normbild. Die Patientin ringt jedoch gerade darum, dass ihre Krankheit als ein Anteil und nicht als Gesamtteil, als eine komplette ›Störung‹ ihrer Persönlichkeit, anerkannt wird. Deswegen hebt sie explizit den diagnostischen Charakter hervor und beteuert gleichzeitig, dass diese Diagnose nicht die Intelligenz beträfe. Sie scheint jedoch internalisiert zu haben, dass dies nur durch einen professionellen Gutachter ›gutgeheißen‹ werden kann und akzeptiert wird, so dass sie angibt, sie würde ihn sogar »selbst bezahlen«. Signifikant ist dabei der kompetitive Charakter ihres Sprechens. Sie versucht dem Personal ihre Gleichwertigkeit oder Überlegenheit durch Wissen zu demonstrieren und bemüht einen Vergleich mit einer Tiergattung, einer freien Wildkatze, die als Raubtier mit spitzen Zähnen, exzellentem Sehvermögen und wachem Instinkt, etwas starkes und (all)mächtiges verkörpert – »Ich krieg alles mit, was Sie sagen. Ich bin wie ein Luchs«. Nach Eindruck der Dreharbeiten hatte die Patientin, wie im »Familienrahmen« aufgezeigt, jedoch dann während ihrer Klinik-Unterbringung ›Lockerungserfolg‹, wenn sie sich integrierte und sich ohne abgrenzenden Widerstand auf die Therapie-Maßnahmen einließ, anstatt dass sie ihr Bedürfnis und ihr Vermögen, ihre Macht kurzzeitig zu demonstrieren, auslebte. Foucault bemängelte, dass in der psychiatrischen Diagnostik die »Persönlichkeit das Element [wird], in dem sich die Krankheit entwickelt, und das Kriterium für deren Beurteilung [ist]; sie ist zugleich die Wirklichkeit und das Maß der Krankheit.«9 Darin liegt auch das empfundene Dilemma von Frau W.: Sie kann nicht überzeugen, dass ihr Agieren ihrem Temperament entspricht (»ich war einfach wütend«), da dieses unter einem klinischen Analyseblick bewertet wird. Der Psychiater David L. Rosenhan führte ein kontrovers diskutiertes Experiment durch, dass er 1973 im Magazin »Science« unter dem Titel »On being Sane in Insane Places«10 publizierte. In diesem entsandte er in psychiatrische Kliniken

9 M. Foucault: Psychologie und Geisteskrankheit, S. 19. 10 Vgl. Rosenhan, David L.: On Being Sane in Insane Places, in: Science, Band 179, 1973, S. 250-258. http://psychrights.org/articles/rosenham.htm (14.10.2014).

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psychisch ›gesunde‹ Personen, sogenannte »Scheinpatienten« 11 . Dort äußerten diese krankhafte Symptome wie etwa, dass sie Stimmen hören würden. Sie wurden in die Psychiatrie aufgenommen. Kurz nach der Einweisung gaben sich die Personen wieder gesund, doch jeder von ihnen wurde eine Diagnose erstellt, ihnen wurden Medikamente verabreicht und sie hielten sich durchschnittlich 19 Tage12 in den Psychiatrien auf. Rosenhan schlussfolgerte damals in seiner Untersuchung: »Die Anstalt selbst erschafft eine besondere Wirklichkeit, in der die Bedeutung von Verhaltensweisen leicht falsch verstanden wird. Die Folgen für die Patienten, die in solch einer Umgebung untergebracht sind – die Machtlosigkeit, Entpersönlichung, Abgeschiedenheit, Demütigung und Selbstabwertung – dürften ohne Zweifel therapiefeindlich sein.«13

Während der Dreharbeiten kam die Frage auf, inwiefern die Patientinnen ihre ›Dysfunktion‹ möglicherweise reproduzierten, indem sie durch das »Labeling« als »psychisch krank« in einem kranken »Heterotopie«-Kontext, mit Kranken zusammengesperrt, auch ihr Selbstbild über ihre diagnostizierte Krankheit definierten. In diesem übergroßen Krankheits-Kontext das »Rest-Selbstbildnis«14 als gesund zu erhalten, mag nach eigenem Ermessen schwierig sein. 19.1.1 Die Realität von ›Feldarbeit‹ abseits des Normdiskurses Bei den sozialphilosophischen Betrachtungen, wonach die Grenze des ›Wahnsinns‹ unter Nutzung bestimmter Codes zur Sicherung des Normalen gezogen wird, »es in unserer Kultur keine Vernunft ohne Wahnsinn geben kann«15 oder sich psychische Erkrankung möglicherweise erst durch Diagnostizierung (re-)produziert, sind im ›Feld‹ auch andere Erfahrungen aufgekommen: Die »antipsychiatrischen Diskurse«, die die Grenzziehungen der Psychiatrie und eine binäre Wahrheit von »verrückt« und »normal« als solche infrage stellen, lassen den Leidensdruck der als psychisch Erkrankt-Bezeichneten bisweilen in

11 Rosenhan, David L.: Gesund in kranker Umgebung, in: Neubacher, Frank / Walter, Michael (Hg.): Sozialpsychologische Experimente in der Kriminologie - Milgram, Zimbardo und Rosenhan kriminologisch gedeutet mit einem Seitenblick auf Dürrenmatt, Münster 2002, S. 103-125, hier: S. 104 f. (im engl. Orig. »pseudopatients«).

12 13 14 15

Ebd., S. 107. Ebd., S. 122, Hervorhebung im Original. MATRIX, R: The Wachowski Brothers, Min. 38:25. M. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 12.

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den Hintergrund treten. Dies kann jedoch auch dazu führen, dass die Betroffenen auf eine andere Weise nicht ernst genommen werden, nicht in der Ausprägung des Leids, sondern in ihrem Leid selbst. In der Gewahrwerdung und Anerkennung von seelischem Leiden als Erkrankung liegt ebenso ein gesellschaftlicher Gewinn und eine Möglichkeit, innerhalb von Behandlungskontexten gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankung anzusteuern – auch, da oft erst durch eine konkrete Diagnose für manche deutlich wird, dass Individuen soziale und nicht funktionale Wesen sind. Manche der Klinik-Patientinnen litten gerade zu Beginn ihrer Einlieferung, bevor sie durch eine medikamentöse Indikation »eingestellt« waren, oft unter hohem Selbstverletzungsdruck, schwerwiegender Suizidalität, unerträglichen Wahnvorstellungen und hörten teilweise Stimmen, die ihnen Gewalt befahlen, wie uns dies etwa eine Patientin im Gespräch erzählte. Über die eigene Drangsalierung durch solche Wahnsymptome hinaus, gefährden affektive Emotions-Ausbrüche bisweilen andere Individuen lebensgefährlich an Leib und Seele oder machen das Zusammenleben unerträglich. Die Patientinnen lebten oft in einer eigenen seelischen Vorstellung, mit der sie im Leben auf der »anderen Seite« abseits der Klinik-»Heterotopie« keinen Anschluss fanden. Viele würden ohne die Medikamente, die Tagesstruktur und Versorgung, die sie in der Klinik erhalten, noch stärker ihrem dysfunktional empfundenen Verhalten und ihrem seelischen Leid ausgesetzt sein. Die Patientinnen gefährdeten nicht mehr die Gesellschaft, die Gesellschaft ›gefährdete‹ jedoch auch nicht mehr sie. Im Alltag zeigte sich darüber hinaus auch ein großes Bestreben des Personals, den Patientinnen helfen zu wollen und ihr Leiden zu lindern. Sie setzten sich dabei, auch auf Rückfragen hin, auch deswegen selten in reflektierendem Bezug zu einem hinterfragenden Diskurs psychischer Erkrankung, weil dazu im beruflichen Alltag schlichtweg die Zeit fehlte. Eine festsetzende Diagnose hilft die Unordnung der Symptome zu klassifizieren und zu behandeln. So wie es auch der Vorteil von Disziplin ist, dass sie »Verwirrungen und kompakte Zusammenballungen in sichere Kreisläufe und kalkulierte Verteilungen«16 entwirrt und auf diese Weise teilweise effektivere Linderung erzielt werden kann. Die Überlegungen von sozialpsychiatrischen Diskursen berücksichtigen teilweise nur peripher, dass das Personal an der ›Front‹ arbeitet, dass es Krankheit, Gewalt, Leid und Aggressionen tagtäglich und über Jahre hinweg aushält und mit Personen ›zusammenlebt‹, die sonst meist überall abgeschoben werden. Das Personal hätte sich auch einen einfacheren Beruf wählen können. Ihrer Entscheidung mochten mehrere Faktoren zugrundeliegen. Abseits derer, hatte die Macht des

16 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 282.

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Personals innerhalb der Restriktionen in der Tat auch etwas »Produktives«, da sie sie dazu befähigte, Entscheidungen zu treffen, die den Patientinnen unter anderem halfen, aus ihren intrinsischen »Unbestimmtheitszonen« herauszutreten und durch externale Kontrolle wieder mehr Kontrolle über sich selbst zu erlangen. Ihnen wurde in der Klinik ein fester Platz zugewiesen, aus dem sie tatsächlich »nicht rausgeschmissen«17 wurden. »Unter Umständen kann die Maßregelunterbringung für die Patientin die letzte Rettung darstellen, um aus der ›Drehtürpsychiatrie‹ herauszukommen und eine fortdauernde und konsequente Behandlung zu erfahren«18, konstatiert Katja Melzer innerhalb ihrer Untersuchungen zur Unterbringung von Frauen im Maßregelvollzug. Abseits aller kontrovers diskutierbaren Implikationen, die diese »konsequente Behandlung« haben kann, muss dies ebenfalls erwähnt werden.

19.2 D AS »M ACHTPLUS «

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Wie dargestellt, sind viele Faktoren gegeben, die ein großes Ohnmachtserleben der Patientinnen ermöglichen. Die Patientinnen besitzen, anders als die Pflegerinnen, kein einziges »instrumentelles« Mittel, keine einzige manifeste ›Waffe‹, mit der sie Gewalt oder Macht anwenden könnten. Doch wie »die Macht […] niemals voll und ganz auf einer Seite«19 ist, haben ebenso die Patientinnen – ähnlich wie auch Kinder dazu in der Lage sind – die Macht, die Pflegerinnen in ihrem Agieren und Denken zu beeinflussen. Das Machtgefüge auf der Frauenstation wurde so auch durch diejenigen produziert, die den meisten Verboten ausgesetzt waren und in erster Linie am wenigsten Macht zu besitzen schienen.

17 Zitat von Frau W., in: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 15:00. 18 K. Melzer: Psychisch kranke Straftäterinnen, S. 113. 19 M. Foucault: Mikrophysik der Macht, S. 115.

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19.2.1 W ider des › panoptischen B licks ‹ – die Aneignung des Raums

Abb. 34: Wand im Kriseninterventionsraum mit ›Einschreibung‹20

In all den Fällen der dargestellten Ohnmacht können die Patientinnen Macht in einem gewissen Rahmen durch eine kurzweilige Form von aggressivem und gewalttätigem Auto- und Fremd-Verhalten, jedoch auch auf eine subtile Art und Weise, ausagieren. Zu Beginn der Arbeit wurde bereits erläutert, wie die Patientinnen den ›Fehler‹ im Panopticon für die positiv-aggressive Macht-Ergreifung des Filmraums nutzten. Im Folgenden soll eine weitere Raum-Aneignung innerhalb der sie eingrenzenden Topografie untersucht werden: Für einen wirklichen Blickwechsel, zur Einnahme der Perspektive der Patientin Frau W., traten wir nur ein einziges Mal hinter das Gitter in ihren Raum. Abgesprochen mit ihr, als sie ihren Hofgang nutzte, machten wir stille vom Stativ gedrehte, ohne Kamerabewegung wie Standfotografien anmutende, Bilder von ihren Wänden.

20 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 39:23.

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Nach Siegfried Kracauer evoziert der filmische Stillstand eine »Schockwirkung21 […]; es ist, als befänden wir uns in einem Vakuum.«22 Dieses Stilmittel sollte die Aufmerksamkeit erhöhen und den Blick ganz auf die Wand lenken. In diese hatte die Patientin appellative, sich selbst vergewissernde Botschaften geritzt: »Ich bin Ich«, »Stop K. Gewalt«, »Ich kan nich so weitermachen.« Wie bei der Fotoserie, die in frontaler Kadrage die individuelle Gestaltung der Wandregale durch die PatientInnen zeigt, sollte hier die räumliche Vereinnahmung der Patientin als Ausdruck ihres Selbst sichtbar gemacht werden. Die statischen Wandbilder wurden zudem mit der Ton-Datei «toter Raum« unterlegt, die auch bei den Überwachungsaufnahmen verwendet wird. Durch die parallele Ton-Setzung wird an dieser Stelle quasi das zugehörige ›Film-Positiv‹ zu den ›Überwachungs-Negativen‹, die zuvor vom Raum gezeigt wurden, »aufgelöst«. Der Raum wird den Blicken neu erschlossen. Die eruptiv einsetzende Stille erzeugt kurzzeitig eine Suggestion der ›Selbsterfahrung‹ und erhöht die »Schockwirkung«. Ein wirkliches Eingeschlossensein mit der Patientin war aus Sicherheitsgründen nicht möglich und erschien uns darüber hinaus wie eine unnachhaltige ›Kolonialisierung‹. Wir hätten ihren Raum kurzzeitig in ihrer Anwesenheit mit der Kamera erobert, sie jedoch dann wieder allein gelassen. Daher filmten wir die von ihr modifizierten Wände, die sie umgaben, als sie selbst Pause vom Raum hatte. Das Bild zeigt in der linken Hälfte das rundum im Putz ausgefranste Rechteck der Gegensprechanalage mit einem Lautsprecher und den drei roten Druck-Punkten »Musik«, »Ruf«, »Ende« – das ›Sprachrohr‹ der KIR-Patientinnen zur Außenwelt, das wie eine zynisch anmutende Mutation reduzierter Kommunikation erscheint. Das Gefühl, wie hilflos man kurzweilig ist, wenn man an fremden Haustüren steht, in die diffuse, unfokussierte Höhle des flächigen Mikrofons spricht und mit einer unsicher angehobenen Stimme um »Erkennung« und Türöffnung bittet, kann vielleicht kurzzeitig vorstellbar machen, wie sich Zeit in diesem Raum dehnen muss,

21 Kracauer verwendet hier interessanterweise die gleiche Affizierungs-Wortwahl wie Benjamin sie für die generelle Filmwirkung (»Chockwirkung«) nutzt, vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 44.

22 S. Kracauer: Theorie des Films, S. 74 (Kracauer bezieht sich hier auf das ›Anhalten‹ des Films, so dass »die Personen [...] plötzlich in der Form von Standfotos erscheinen«. Ebd., S. 75. In ANDERE WELT wird dieser Effekt durch vom Stativ gefilmte Bilder erzeugt, die in deutlichem Kontrast zur sonst angewandten HandkameraFührung stehen).

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wie es sein muss, ›chronisch abhängig‹ von der Bedienung eines Klingelknopfs zu sein. Direkt neben dem ›Kanal zur Außenwelt‹, im Zentrum der Wand, ist eine performative Einschreibung sichtbar: Die Aussage »ich bin ich«, eine fast tautologische Form der Selbstvergewisserung, eine Inskription in die Mauer, welche das ›Ich‹ einschließt. Das »ich bin ich« steht ohne jede weitere Attributierung, etwa durch Name, Alter Geschlecht. Nicht ›ich bin x‹, durch das, wie ihr die Variable füllt, für was ich bewertet, diagnostiziert, analysiert, objektiviert und gebraucht werde, für das, was ich zu sein vorgebe. Nicht ›ich bin 20‹ oder ›ich bin schön‹. Das »ich« ein Raum, unendlich weit, »ich bin ich« auch ohne oder trotz der Blicke der Anderen. Einfach das »Identitätsprinzip« 23 »ich bin ich« – sie ist mit sich selbst identisch. Ein kleines ich, da sämtliche Wörter in dieser Selbst-Aussage in Kleinbuchstaben geschrieben sind, als würde es für diesen Satz keinen Anfang und kein Ende geben. Wie die Rose in Gertrude Steins Gedicht24 könnte er immer weiter geschrieben werden – ich bin ich, bin ich, bin ich, bin ich, bin ich… Die Patientin hat diesen Satz einzig mit dem instrumentalisierten ›Werkzeug‹ ihrer Fingernägel in repetitiver Anwendung in der langen Weile ihrer Unterbringung in die Wand geritzt, da ihr aufgrund ihrer Suizidalität andere »instrumentelle« Mittel vorenthalten sind. Er kann demnach keiner spontan entstandenen Laune entsprungen, nicht mal ›ebenso hingeschmiert‹ worden sein. Für jedes »ich« hat sie Stunden gebraucht. Sie hätte etwa auch in der Mitte des Satzes umkehren, zu einer anderen Aussage finden können, doch das »ich bin ich« fand über einen längeren Zeitraum hinweg Vollendung. Mit ihrer Haut hat sie den glatten Stein berührt, sich dann tiefer eingegraben, für einen halben Zentimeter sind Körper und Wand kurzzeitig zu einem Element geworden. Als wollte sie in den Stein hinein und durch ihn hinaus. Die Vorgehensweise erinnert an die mühevolle Kleinarbeit, die der Filmausschnitt aus Robert Bressons UN CONDAMNÉ À MORT S’EST ÉCHAPPÉ (EIN ZUM TODE VERURTEILTER IST ENTFLOHEN) aus dem Jahr 1956 zeigt, in dem der Gefangene einen Löffel entwendet und zum Werkzeug adaptiert, sich sukzessive Ausgang in die Freiheit verschafft. In seinem Film GEFÄNGNISBILDER aus dem Jahr 2000 nimmt Harun Farocki den Film als Beispiel dafür, dass im Gefängnis harmlose

23 »ich bin ich« entsprechend des logischen Prinzips des Satzes der Identität A = A. Das Identitätsprinzip hat Leibniz formuliert, siehe: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, in: Cassirer, Ernst: Philosophische Werke in 4 Bänden, Band 3, Hamburg 1996, S. 46 ff.

24 Vgl. Gertrude Steins bekanntes Gedicht Sacred Emily und die darin enthaltene Zeile »Rose is a rose is a rose is a rose«.

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Gegenstände zu Werkzeugen und Waffen umgeeignet werden. Die Patientin adaptiert mangels Alternative das spitzeste, was sie besitzt – ihre Nägel. In der räumlichen Bedrängung, der Fremdbestimmung des Systems, der Autorität, die ihr Reglementierungen aufzwingt, stellt diese Handlung, wie das Zeichen eines Graffito-Künstlers im urbanen Raum (in ihrem Fall würde es im Graffiti-Jargon in abgewandelter Form am ehesten dem »Scratching« [Kratzen von Glasscheiben] entsprechen), eine Form der Annexion dar. Sie deklariert den Raum als den eigenen. Doch es bleibt eine Non-Identifikation, weil sie in ihm, dem Eigentum des Disziplinarsystems, eine emanzipierte Botschaft hinterlässt. Sie nutzt die Wand als Fläche für ihr ›Selbst-Bewusstsein‹. Ihre Inskription ist eine gewaltsame, weil sie die Wand ›verletzt‹, es nicht dabei belässt, ein Poster aufzukleben, zu »taggen«, mit einem Stift zu schreiben, der ihr zu bestimmten Zeiten erlaubt wird. Sie fügt der Wand eine Wunde zu. Ihr Akt ist ein anarchischer, eigenmächtiger Ausdruck, eine Form von Gewalt, eine Macht-Übernahme. Doch anders als der freie Künstler, der mit seiner Spur unter anderem ein »ich war hier, und ich habe Bedeutung«, ausdrückt, stellt ihre Spur ein »ich bin hier, und ich habe Bedeutung« dar. Unter Schädigung des eigenen Körpers hinterlässt sie ein Zeichen der Identität. Sie ritzt nun nicht mehr in selbstverletzender, damit auch selbstvergewissernder, sich zu spürender Absicht in die eigene Haut, wie ihre Schnittnarben an den Unterarmen diesen einstigen Akt offenbaren. Sie ritzt in die ›Innenhaut‹ des sie umgebenden Kokons. Sie verewigt sich. Sie schafft dieses Zeichen, da es nicht wie im urbanen Raum von FlaneurInnen betrachtet werden kann, auch als Form der Selbstbeschäftigung und vornehmlich für ihre eigene Betrachtung. Auch wenn ein anderes Ich in diesem Raum wohnt, wird die Schrift bleiben, solange sie nicht zugespachtelt wird. Doch sie hat weniger Botschaften für die Nachkommenden gesetzt als ein Steinzeitmensch in seiner Höhle – die Schrift ist Ego-Tat. Die bestätigende Insignie wirkt wie ein Spiegel, welchen sie in ihrem Raum nicht besitzt. »Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, dass er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet«,25 stellt Foucault in seinen »Heterotopie«-Betrachtungen heraus. Sie wirft den Blick auf sich selbst zurück, der fehlende Blick der Anderen (die Videoüberwachung wirkt nur im indirekten Sinne) und ihr eigener – fehlender – Spiegel-Blick werden durch die ausgeschriebene Ich-Versicherung substituiert. Das Graffito stellt so nicht nur eine Aneignung, sondern eine Ich-Eignung dar. Die Aussage ist Selbstmotivation, Erinnerung – und gleichzeitig in seiner Selbstversicherung ein Hilferuf.

25 M. Foucault: Andere Räume, S. 39.

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Ganz leicht unter dem »ich bin ich« ist in blasser Schrift noch eine weitere Zuschreibung gesetzt, der Zusatz, »ein Mensch«. Dieses Wort ist nur blass aufgeschrieben und – wenn überhaupt – erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennbar. Es hat sich auch erst nachträglich bei der Farbkorrektur des Films durch den Effekt der »Bleichbadüberbrückung«, der farblichen Kontrastverstärkung, aus der Wand herausmaterialisiert. Gleich dem Röntgen-Effekt bei alten Gemälden, durch die man ›Übermalungen‹, den Untergrund der Farbschichten, zu erkennen versucht, schafft auch hier erst der Röntgenblick des »Kino-Auges« eine Wahrnehmung des »Mensch«-Wortes. Doch der nachträglich angebrachte Zusatz ist längst nicht so sicher eingeschrieben wie das »ich bin ich«, möglicherweise wurde er wieder abgewaschen, vom Personal oder der Patientin selbst. Eventuell zeugen die vertikal hinuntergelaufenen Schlieren an der Wand davon, dass die Mensch-Taxonomie oder Mensch-Erinnerung in einem Zustand anderer Empfindung wieder nivelliert wurde, als der Gattungsbegriff des Homo Sapiens, der sie vom Tier unterscheidet, nicht mehr passte – als sie wieder mehr »Luchs«, »Hase im Käfig« oder vielleicht etwas ganz anderes, ein ›außer‹-irdisches Wesen war. Möglicherweise wollte sie sich jedoch auch wieder auf ihren Ursprung zurückführen, auf eine stärkere Autarkie ihres Selbst, wer oder was »subjektiviert« sie denn schon zum Menschen? Während des Drehs, in diesem Moment im Kriseninterventionsraum, hatten wir die Empfindung, als würden wir etwas wirklich »Echtes« filmen. Vielleicht entstand dies dadurch, dass wir kurzzeitig in ihrer ›Mikro-Heterotopie‹ waren, zu Höhlenforscherinnen wurden, die Enge auch körperlich wahrnahmen, eine taktile Ahnung der Raumdimension erhielten. Des Weiteren produzierten wir einen höchst persönlichen Ausdruck, einer Tagbuchaufzeichnung gleich, zum »Memento Mori«. Vielleicht begründete sich unsere Empfindung auch darin, dass wir das Bild zwar kadrieren, später mit Ton unterlegen, in der Lauf-Länge variieren, in Bezug zu anderen Bildern setzen konnten, doch die Aussage für sich stehen blieb. Die von ihr annektierte flache Wand konnte nur gering durch unseren panoptischen Kamera-Blick gestaltet werden. Andere eklatante topografische ›Aneignungen‹ dieser Art konnten während des Dreh-Aufenthalts nicht festgestellt werden. Die Patientinnen haben Poster aufgehängt, ihre Regale bestückt, wie es auch die Fotoserie zeigt, doch in den Gemeinschaftsräumen, im Raucherzimmer etwa, ist keine ewige Spur hinterlassen. Es erschien uns, als wollten sie den Raum nicht annehmen, sich nicht in ihm einrichten; als wären sie zu Gast, ›nur zu Besuch‹, im Transit-Bereich, wartend darauf, dass ihr Flug, ›auf unbestimmte Zeit verspätet‹, endlich aufgerufen wird.

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Eine Frage stellt sich: Warum war ihre Einschreibung nicht durch den panoptischen Video-Blick sanktioniert worden? Frau W. musste doch lange an der Wand in einer verdächtig langen Position verharrend, mit einer für den Videoblick nur infinitesimalen, repetitiven Bewegung der Hand lange und immer wieder geritzt haben. Wie kam es, dass dies dem Blick des Wächters entging, dass es ihm nicht suspekt erschien? Hat sie sukzessive gearbeitet, in heimlichen unverdächtigen Abweichungsmustern immer wieder wie zufällig für kurze Zeit an der Wand gestanden, um dem Blick zu entgehen? Oder hat hier der Blick des Wächters Freiheit zugelassen, hat sich ein stilles Übereinkommen, ein Bündnis, geschlossen? »An die Welt glauben, das heißt zum Beispiel, Ereignisse hervorzurufen, die der Kontrolle entgehen, auch wenn sie klein sind«26, sagte Gilles Deleuze. Vielleicht war es dieser mögliche Glaube, der uns in diesem kleinen Raum an etwas ›Echtes‹ glauben ließ. 19.2.2 Das »Machtplus« der Patientinnen: Macht durch Ohnmacht Als Frau W. an jenem Morgen außer Kontrolle den Kaffeebecher gegen die gegenüberliegende Wand schlug, konnte sie in diesem sekundenlangen Moment ihren Wirkungsradius ausweiten, sich auch auf diese Weise den abseits des Gitters unerreichbaren Raum ›aneignen‹. Dieses ›Außer sich Geraten‹ mag ihr für einen kurzen Moment das machtvolle Gefühl der Selbstbestimmt- und Überlegenheit verliehen haben, das ihr sonst nicht geboten ist. Doch das etwaige Gefühl der Macht war, wie dargestellt, temporär limitiert, es hatte eine direkte Freiheits-Entscheidung zur Folge, die Rücknahme ihrer »Lockerungs«-Option. Die KIR-Patientinnen können jedoch auch in einem gewissen Handlungsspielraum von ihrer Macht Gebrauch machen ohne dabei physische Gewalt anzuwenden: Dies beschreibt Frau W. in einer Szene im Hof ganz explizit an dem Beispiel, wenn sie in der Fixierung, physisch unbeweglich, die Klingel in übertriebenem Maße bedient. Sie weiß, dass die Pflegerinnen nicht den geringsten Anlass für den etwaigen Vorwurf geben dürfen, die besondere Ohnmachtssituation der Patientin

26 Deleuze, Gilles, in: Kontrolle und Werden (Original: Gespräch mit Toni Negri, Futur antérieur, Nr. 1, 1990), in: Deleuze, Gilles: Unterhandlungen, Frankfurt am Main 1993, S. 243-253, hier: S. 253.

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nicht adäquat behandelt oder missbraucht haben zu können. Sie müssen sich daher umso mehr nach dem Gesehenwerden-Wunsch der Patientin richten, je hilfloser die durch das Gesetz bestimmte Situation ist, in der sich die Patientinnen und damit auch die Pflegerinnen befinden. Als Reaktion auf den machtvolleren Handlungsrahmen, der zuvor durch das disziplinierende Personal gesetzt wurde, können sich die Patientinnen die panoptische Festlegung zugute machen, den bis aufs Extremste lokalisierbaren Blick auf sie nun in einen Blick-Zwang umkehren und die Pflegerinnen stärker an sich binden. Bei größerer Abhängigkeit der Patientinnen wird der psychologische Machtspielraum der Patientinnen auf die Pflegerinnen dadurch paradoxerweise größer. Der Macht-Satz »wir kommen auf Sie zu« erhält eine doppeldeutige Konnotation. Er ist nun Reaktion und Rechtfertigung einer unabwendbaren Vereinnahmung – »Bitte kommen Sie etwas näher.« )UDX3:LHYLHO0DFKWKDEHQVLHHLJHQWOLFKEHUGDV3HUVRQDO" )UDX::LHYLHO0DFKWKDELFKEHUGDV3HUVRQDO" /DFKHQ 'DVLV QHJXWH )UDJHDEHUQDMDėLFKP|FKWHGLH)UDJHQLFKWEHDQWZRUWHQ )UDX3:DUXPP|FKWHQ6LHGDVQLFKW" )UDX: =|JHUQ 1DJXWLFKEHDQWZRUWHGLH$OVRZHLOGDVHLJHQWOLFK QH GRRIH)UDJHLVW:HQQLFKMHW]WLQGHU)L[LHUXQJELQėXQGDXVIOLSSH'DQQ ZHL‰LFKZHQQLFKMHW]WZDVDQVWHOOHXQGGDV3HUVRQDOVDJWHVNRPPWQLFKW PHKUXQGLFKZHL‰ZHQQLFKMHW]WZDVPDFKHGDQQPXVVHVNRPPHQ8QG GDQQPXVVHVNRPPHQXQGGDQQVDJWHVMDMHW]WPDFKHQZLUGDVXQGGDVĢ QH8QGGDQQVDJWHVMDGDQQNRPPHQZLUHEHQMHW]WQLFKWPHKUXQGGDQQ ZHL‰LFKZHQQLFKMHW]WGDVPDFKHGDQQPVVHQVLHZLHGHUNRPPHQQH 8QG GDV JHKW GDQQ LPPHU VR ZHLWHU XQG LPPHU VR ZHLWHU ELV LFK GDQQ LUJHQGZDQQVDJHMHW]WKDELFKGLH6FKQDX]HYROOMHW]WVROOHQGLHQLFKWPHKU NRPPHQXQGGDQQMDđ $OVRPDQZHL‰VFKRQPDQKDWVRXQGVRYLHO0DFKWEHUGDV3HUVRQDO$EHU PDQKDWMDDXFKLUJHQGZLHKDWPDQGDVEHUGLH=HLWKHUDXVJHIXQGHQZHLO PDQLQGHU.,5ZLHHLQ+DVHLP.lILJLVWėZHQQQLHPDQGNRPPWGDQQLVW PDQKLOIORV27

Die Patientin äußert in spontaner Reaktion auf die Frage ein Lachen, in dieser Situation möglicherweise ein Abwehrmechanismus, und verneint draufhin die Be-

27 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, ab Min. 37 f.

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antwortung der Frage. Das von ihr gesteuerte Machtspiel, das man ohne ihre Aussage zwar vermuten, ihr jedoch nicht beweisen kann, will sie vermutlich nicht verbal und medial festlegen. An dieser Stelle war es mir jedoch wichtig, auf dieser Frage zu insistieren, ließ ich sonst auch durch meine Fragestellung eine große Offenheit zu. Ich stieg auf die kommunikative Metaebene der Patientin ein und fragte nach, warum sie nicht antworten wolle, was sie schließlich zu einer offenen Antwort bewegte. Bezeichnend ist, dass sie die zuvor noch »gute Frage« in eine »doofe Frage« umwertete, sobald sie sich auf eine Antwort einließ. Denn nun übernimmt die Patientin Verantwortung für ihr Handeln, sie gibt zu, dass sie nicht nur Opfer, sondern auch Täterin ist – ob aus Langeweile, Frust oder Lust am Machtspiel. In dieser Situation erhält die Dienstleistungsfunktion der Pflegerinnen, welche die Patientin Frau B. zu Beginn des Films nennt, erneut Gewicht. Die Patientinnen wissen um die unsichere Hierarchie-Position der Pflegerinnen und wählen sie möglicherweise genau deswegen zu Opfern, sie nutzen ihre Macht als Dienstleistungsempfängerinnen, um das Personal zu beschäftigen, zu drangsalieren und sich in den Mittelpunkt des Geschehens zu setzen. Der Begriff »Fixierung« wird in der Psychologie auch als eine Fixierung auf ein Objekt, eine Bezugsperson, definiert. Die Angestellten sind die einzigen Personen, auf die sich die Patientinnen über Jahre hinweg unmittelbar fixieren können. Doch durch etwaige Fixierungen würde das Abhängigkeits-Verhältnis der PatientInnen noch größer werden, da die Projektions-Personen für ihr Selbstbild überlebensgroß idealisiert werden. In der konkreten physischen Fixierung können sie jedoch, ob stark oder schwach auf das Personal fixiert, in engere Berührung zu ihnen kommen. Durch die Gurte, die ihnen angelegt werden, und durch psychologische Manipulation können sie ein ›Rankommen‹ erwirken. Bezeichnend für das Hin und Her des Machtspielchens, jedoch auch für eine mögliche Form von »Schuldabwehr«, ist die lavierende Sprache der Patientin; sie verheddert und wiederholt sich in ihrer Beschreibung von Aktion und Reaktion. Ihr berechnendes Agieren kann natürlich auch für die Patientinnen negative Rückkopplungseffekte haben und sie möglicherweise aufgrund ihres uneinschätzbaren Verhaltens länger unter stärkerer Kontrolle halten. Die Patientin ist also für ihre untergebrachte Lage mitverantwortlich. Zum Ende ihrer Aussage entschuldigt sie ihr Verhalten durch eben diese Unterbringung, in die sie sich mit ihrem Verhalten hineinmanövriert: Sie degradiert sich selbst zum Tier, zur Kreatur (wenn auch zu einer niedlichen) und macht die Unterbringung zum Tierraum: »...weil man in der KIR wie ein Hase im Käfig ist.« Sie beschreibt sich nicht mehr als

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freien Luchs, sondern als Hasen, im Tierreich das Beutetier der Wildkatzen, sobald es deren Blicken ausgesetzt ist. Verdeutlicht gesprochen: Sie wird zum Opfer ihrer vermeintlich geglaubten Stärke, weil sie mit den Regeln der »Systemwächter« spielt und sie damit zu ihren eigenen werden lässt.

Abb. 35: Pflegerin mit Schlüssel und PNG in vermeintlicher Machtposition vor dem Gitter28

19.2.3 Macht durch Krankheit Die Patientin Frau W. hat nicht die Macht, sich das Leben zu nehmen. Foucault beschreibt in »Der Wille zum Wissen«, wie früher nur der Souverän die Macht innehatte, über Leben und Sterben des Volkes zu entscheiden und der Suizid sanktioniert war, weil »das Recht über Leben und Tod«29 nur dem diesseitigen Souverän oder dem im Jenseits vorbehalten war.30 Der Suizid »ließ am Rande und in den Ritzen der Macht über das Leben das individuelle und private Recht zum Sterben sichtbar werden.«31 Indem der Patientin verwehrt wird zu sterben und sie durch Einschließung, Überwachung und Kontrolle am Leben erhalten wird, wird damit das elementar humane Ziel zur Erhaltung des Lebens gesichert. Im übertragenen Sinne könnte man jedoch auch feststellen: Die Institution übernimmt die Stellung des Souveräns, der über das Leben seines Volkes entscheidet. Der vermeintlich

28 29 30 31

Filmstill (Bild-Ausschnitt): ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 63:13. M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 134. Vgl. ebd. Ebd.

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freie Wille der Patientin zum Tod wird als pathologisch diagnostiziert dem medizinischen Auftrag untergeordnet. Als sich selbstgefährdende ist die Patientin zum Schutz ihres Lebens fast vollständig physisch und zu großen Teilen auch geistig (Reduktion der Reize im Kriseninterventionsraum, soziale Isolierung, wenig Kommunikation) begrenzt. Die Suizidalität der Patientin kann beim Personal ein starkes Ohnmachtserleben provozieren, womit die als psychische Erkrankung diagnostizierten Verhaltensweisen der PatientInnen auch zum Machtinstrument über die Angestellten werden kann: Durch das ständige Menetekel des Todes ist das Personal besonders aufmerksam im Umgang mit ihr. Ganz zu Beginn des Films schildert die Patientin Frau W., wie sie versucht hat sich aufzuhängen: »Und es hat auch fast geklappt, dass ich tot war« – das positiv konnotierte Verb suggeriert einen bestehenden Willen zum Suizid, fast hätte es endlich »geklappt«. »Sie verstehen das nicht, dass ich mein Leben zuende machen will, weil Sie selber noch nie in so einer Situation waren« 32 , klagt die Patientin die Pflegerin an, als sie ihr begreiflich machen möchte, dass sie sterben will. Indem sie den Tod als begehrenswertes Ziel angibt und sich selbst in diesem morbiden Wunsch über die ›Unerfahrenheit‹ des Personals stellt, degradiert sie sämtliche Versuche des Personals, ihr Leben zu bereichern und überhaupt zu erhalten, als etwas Unmögliches, Nichtiges und für sie sogar Negatives. Die PflegerInnen sind auf ihre Möglichkeiten zurückgeworfen. Würden sie zu Gunsten der Patientin gegen Regeln verstoßen, diese etwa länger rauchen lassen, um sie kurzzeitig aufzumuntern, würden sie innerhalb des Hierarchiesystems sanktioniert werden. Wie zuvor erläutert sind die PflegerInnen nicht nur »verlängerter Arm der Justiz«33, die Patientinnen besitzen auch einen verlängerten Arm in das Rechtswesen. Sie können die Macht des Gesetzesrahmens auch für sich nutzen. Mit ihren AnwältInnen können sie sich gegen von ihnen empfundene ungerechtfertigte Behandlung und Unterbringung zur Wehr setzen. Sie haben die Möglichkeit, sich ihre Rechte im gerechtfertigten Fall durch die »Expertenmacht« der AnwältInnen zu erstreiten und beeinflussen so indirekt den Alltag der Station mit diesem latent stets vorhandenen Machtmittel. Diese Macht der Patientinnen ist dem Personal durchaus präsent; sie wissen, dass die Patientinnen nicht als gänzlich isolierte in der »Heterotopie« leben.

32 ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 57:45. 33 Patientin Frau B., in: ebd., Min. 12:10.

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Genauso wie auf diese ›großen‹ Rechte können sich die Patientinnen auch auf ihre ›kleinen‹ Rechte berufen: »Mir steht eine Stunde Hofgang am Tag zu«, kontert die Patientin Frau B., als die Pflegerin im Disput äußert, dass sie auch reingehen könne. 34 Würde die Patientin in diesem Recht tatsächlich beschnitten werden, könnte sie dies gegen die Pflegerin verwenden. Das Wissen um dieses Machtmittel zwingt das Personal zu erhöhter Aufmerksamkeit – sie passen sich den institutionellen Machtbestimmungen umso mehr an, um »Unbestimmtheitszonen« zu vermeiden. Sie vergewissern sich der Korrektheit ihrer Handlungen, indem sie diese mit hoher Sorgfalt protokollieren, so dass ihnen im Ernstfall qua Dokumentation kein ›Verschulden‹ nachgewiesen werden kann. Damit schreibt das Personal nicht nur das Verhalten der PatientInnen, sondern auch sein eigenes Verhalten in Gewahr des Disziplinar-Blicks fest. Wenn das Personal der jeweiligen Patientin durch die vorgegebenen Bestimmungen mit professioneller Abgrenzung begegnet, kann dies wiederrum in der Patientin das Gefühl von Ohnmacht und »Frustration« verstärken. So könnte man etwa den Gesichtsausdruck der Patientin in der Filmszene interpretieren, als die Pflegerin, nach einem kurzen Tätscheln des Handrückens der Patientin (der einzige direkte Körperkontakt zwischen Personal und Patientinnen, den die Kamera festhält), die sich am Gitter festhält, die Tür im angemessenen Zeitrahmen verschließt.35 Bei den Dreharbeiten kam der Eindruck auf, dass es nicht nur für die Patientinnen ›Bestrafung‹ bedeutet, wenn sie um Lockerungsstufen zurückfallen, indem sie in ihrem Verhalten wiederholt negative Mechanismen bedienen. Auch die Angestellten können, wenn die Patientinnen einen Schritt vor und einen oder sogar zwei wieder zurückmachen, den Sinn ihres Tuns infrage stellen, wenn sie das Gefühl verlieren, dass ihr Handeln Wirkung oder Erfolg hat – einer der Indikatoren für das Erleben von Machtlosigkeit. Es wäre möglich, dass sie negative Erfahrungen wie diese von sich abspalten, indem sie ihre Tätigkeit nicht direkt mit ihrer persönlichen Selbstwahrnehmung in Bezug setzen und sich die fehlende Bestätigung im Außen, »auf der anderen Seite«, suchen. Wer gleichgültig ist, den trifft Misserfolg nicht so sehr. Die Kontrolle über das eigene Empfinden ist wieder gesichert. »Und ist nicht der Direktor, der inmitten dieser architektonischen Anlage eingeschlossen ist, mit ihr auf Gedeih und Verderb verbunden?«36, fragt Foucault. »Der unfähige Arzt, der die Ansteckung nicht unterbunden hat, der ungeschickte

34 Vgl. ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min.: 49:35 f. 35 Vgl. ebd., Min. 55:43 f. 36 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 262 f.

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Gefängnis- oder Fabrikdirektor – sie werden die ersten Opfer der Epidemie oder Revolte sein.«37 Auch die Angestellten der Klinik müssen mit einer stets möglichen Unruhe und Gefahr ob einer etwaigen Gewalt der PatientInnen leben. Was würde passieren, wenn die Türen offen stehen? Würden die PatientInnen wirklich alle in die Freiheit eilen oder die Situation vielleicht einfach dazu nutzen, ein paar Machtkonstellationen zu ihrem Vorteil zu modifizieren? Die Patientinnen, mit denen wir drehten, äußerten sich meist sehr reflektiert zu ihrer Situation. Zu geplantem aufständischem Verhalten wurde dieses Reflexionspotenzial jedoch nicht genutzt, zumindest wurde es nicht in gemeinschaftlicher Form auf der Station erlebt. Diese »Passung«38 ins Setting mit seinen »Erwartungen, Verhaltensvorschriften, Aufgabenstellungen und physikalischen Gegebenheiten« 39 , diese ›RollenEinnahme‹40, das es sich – trotz aller verbalen Kritik – auch irgendwann ›BequemMachen‹ im System, das Spiel mit den Ritualen und Rollen, die Anerkennung der Klinik als Lebenswirklichkeit, das eingeschlichene Einverständnis von Positionen, die Einschränkung ihres »Willen zur Macht«41 auf das, was ihnen vorgegeben war, hinterließ den Eindruck, dass Macht in der Tat nicht nur »Verbotsfunktion« hat, sondern zu lebensfüllendem Zeitvertreib, konstituierendem Lebenszweck und Integritätsbildung genutzt wird. So erhielten wir auch den Eindruck: Die Patientinnen sind »Gefangene einer Machtsituation, die sie selber stützen«42 – und das teilweise erschreckend reflektiert.

37 38 39 40

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 263. R. Oerter: Menschliche Entwicklung und ihre Gestaltbarkeit, S. 45. Ebd. Vgl. angelehnt an die «soziologische Perspektive des role-making«: R. Oerter: Menschliche Entwicklung und ihre Gestaltbarkeit, S. 45.

41 Nach Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, Stuttgart 1952.

42 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 258.

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Abb. 36: Patientin und Pflegerin beim Schachspiel43 Es wird immer deutlicher, inwieweit Macht und Ohnmacht in einem reziproken Wechselverhältnis stehen. Im Film scheint es zuweilen, als würden die dichotomen Gruppen trotz des Ernstes der Lage miteinander ›spielen‹. Dieses »Machtspiel« zwischen PflegerInnen und Patientinnen konkretisiert sich in der vorletzten Filmszene im Schachspiel, dem »königlichen Spiel« (Schach, »persisch Schah, ›König‹«44). Patientin Frau W. und Pflegerin Frau H. spielen »Giant Schach« mit großen Spielfiguren im Gelände: Die Patientin bringt der Pflegerin das Spiel bei, welches in besonderer Weise für eine Form des strategischen Machtkampfs steht, was sich auch in sprachlichen Metaphern wie »genialer Schachzug« oder jemanden »schachmatt setzen« herausstellt. Die Patientin, welche die schwarzen Figuren gewählt hat, während die Pflegerin die weißen zieht (metaphorisch ihre MachtAufstellung verdeutlichend – »Weiß« hat im Schach immer einen Zugvorteil), zeigt dieser, wie man die Figuren aufstellt, wie man die Züge richtig setzt und sich innerhalb der Spielregeln verhält. Die Patientin besitzt einen machtvollen Wissensvorsprung – »Machen Sie das, was ich mache!«

43 Fimstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 75:44. 44 Lexikon: Schach, http://www.wissen.de/lexikon/schach (14.10.2014).

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Abb. 37: Freiheit im Bild45 In einer Einstellung wechselt die Patientin die Position. Um der Pflegerin Ratschläge zu geben, geht sie auf die andere Spielhälfte – und nimmt ihr Blickfeld ein. Dieser Bild-Perspektive ist etwas Traumhaftes immanent: Sie steht im lilafarbenen Kleid mit wehenden Haaren vor Wolkenhimmel und im Wind wiegenden Farnen. In der Kadrierung ohne jedes Indiz von Zaun und Einschließung ist die Einstellung einer Dünenlandschaft gleich. Die Patientin überblickt das Spielfeld, hat die Figuren im Griff, nimmt ihrer Gegnerin immer mehr Spielfiguren, »instrumentelle« Machtmittel, ab, sie kann den Spiel-Ausgang bestimmen und setzt schließlich die »Königin«, die Gegenspielerin, schachmatt, nimmt deren König vom Spielfeld: »Gewonnen!« Der Raum hat sich nun zum Ende des Film essenziell geändert: Die Patientin ist nicht mehr im Innen, sondern, so wie dies die Bildeinstellung darstellt, im ›freien‹ Außen – das erste Mal ist der Blick wirklich befreit. Zum Ende werden die Patientinnen allesamt in Freiheit entlassen: Frau B. wird in eine andere Institution entlassen, Frau D. wird aus dem Kriseninterventionsraum ›gelockert‹, Frau W. steht selbstbewusst in naturaler Schachfeld-Umgebung. Doch sie hat nur Glück im Spiel. Wie sie auch zuvor im Film gegen die Pflegerin Frau W2 im »Kniffel« gewonnen hat und kurz danach an ihr Zeitreglement erinnert wird, ist sie auch in dieser Szenenfolge im Endeffekt Verliererin. In der darauf folgenden Einstellung, einem Videoüberwachungsbild, wird sie wieder in den Kriseninterventionsraum eingeschlossen. Die Tür schlägt laut zu: Stille, »toter Raum«, »Hase im Käfig«. Mit dem Aufeinandertreffen der größten freiheitlich anmutenden Szene und dem stärksten Bild des Eingesperrtseins sollte die Disparatheit zwischen kurzzei-

45 Filmstill: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min 75:37.

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tigem Spiel und langfristigem Ernst verstärkt werden. Der Luchs wird zum »Hasen im Käfig«. Denn die Patientin misst sich nicht nur an einer »Königin«, die kaum Macht besitzt, sie untersteht einem ganzen ›Königreich‹. In der letzten Einstellung, anschließend an die Videoüberwachung der Patientin, ist die Pflegerin, die anfangs in den Film führte, im Überwachungsblick zu sehen. Sie schaut in das »blaue Licht« und wird »erfolgreich erkannt«. Sie ist freier als die Patientin, denn sie darf die »Heterotopie« verlassen und »auf die andere Seite« treten, doch letztlich ist auch die Pflegerin wie sie nur Objekt eines übermächtigen Erkennungsblicks – »eingeschlossen in das Räderwerk der panoptischen Maschine«.46

46 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 279.

20. Die Machtentwicklung im Drehverlauf Von ›Personal-Position‹ zu ›Patientinnen-Position‹

Nach der Annahme David L. Rosenhans, dass abweichendes Verhalten auch im Kontext des Umfelds interpretiert wird, soll an dieser Stelle ein Beispiel angeführt werden, bei dem augenscheinlich wird, dass auch im Klinik-Kontext die Möglichkeit einer patientenähnlichen Maßregelung bei denen besteht, die in keiner fest zugeschriebenen Hierarchie-Position das Gelände betreten. Dies wird am Beispiel des Filmteams, des ›externen Fremdkörpers‹, stellvertretend für eine besucherähnliche Position der ›Außenwelt‹, deutlich: Wie erläutert, versuchten wir uns für die Dauer der Drehzeit möglichst unauffällig in die Klinik-»Heterotopie« zu integrieren. Als Fremdkörper, der wie ein neuer Bewohner in ein Dorf kommt, fiel uns auf, dass wir jedoch für viel Abwechslung und Gesprächsstoff sorgten. Wir fühlten uns in jeder unserer Handlungen beobachtet und auch bewertet. Wir erhielten den Eindruck: Zu Beginn der Dreharbeiten, als wir noch perspektivisch verstärkt aus dem ›Glaskasten‹ herausblickten, hatten wir nach unserem Empfinden in unserer Machtposition eine eher personalgleiche Stellung inne. Diese stellte sich, wie dargestellt, unter anderem durch das Siezen und Duzen der unterschiedlichen Gruppen heraus. Saßen wir im Teamzimmer, traten manchmal Patientinnen an die ›Tresen-Grenze‹, die uns baten, ihnen Zigaretten oder etwas zu trinken auszuhändigen. Ich entschied von vornherein, auf diese Wünsche nicht einzugehen, um nicht als eine Art ›Parallel‹-Personal mit allen positiven wie negativen Auswirkungen in die Machtverhältnisse involviert zu werden. Doch mit Betreten der Klinik wurden wir unweigerlich Teil der Macht-Implikationen. Eine neutrale Instanz zu bleiben, war manchmal schlicht unmöglich. In einem ähnlichen Verlauf, wie wir am Ende verstärkt auf die Seite der Patientinnen wechselten und diese filmten, wurden wir auch immer mehr wie Patientinnen behandelt. Dies wurde auch dadurch bedingt, dass wir ohne »instrumentelle« Machtmittel wie Schlüssel oder Notrufgerät ausgestattet waren. Wir mussten wie die Patientinnen

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»für alles fragen«. Auch wurden spezifische Regeln und Verbote für uns aufgestellt: Tagsüber durften wir etwa nur in Begleitung von MitarbeiterInnen des sogenannten »Steuerungskreises Öffentlichkeitsarbeit« über das Gelände gehen, nachts durften wir dies jedoch auch in Begleitung von Stations-MitarbeiterInnen vollziehen. Als wir dies einmal durcheinanderbrachten, wurden wir dafür umfangreich gemaßregelt und unsere ›Absprachefähigkeit‹ wurde infrage gestellt. Dazu wurden wir zu DelinquentInnen objektiviert: Die Klinik erhielt Informationen über uns. Wir waren lokalisierbar und archivierbar, erfasst in Zeiten von Ein- und Austritt, Handeln, in Fotos, Überwachungsbildern und abweichendem Verhalten. Wir waren einem permanenten Diagnoseblick ausgestellt, der sich in unser Bewusstsein übertrug. Das institutionelle System wusste, dass wir von ihm abhängig waren, jedoch nicht, weil wir wie die Patientinnen hinauswollten, sondern, weil wir auch ein Ziel verfolgten – weil wir bleiben wollten. »Merke aber: Ich bin mächtig, und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere.« Wie in Kafkas »Türhüterlegende« der Wächter für den Mann vom Lande, der zum Gesetz will, immer mächtiger wurde, erhielten die »Türhüter« während der Dreharbeiten eine zunehmend größere Stellung für mich. Die Angst, durch unangepasstes Verhalten den Film zu gefährden und der Institution verwiesen zu werden, brachte mich dazu, unter der Antizipation eines imaginären Blicks zu agieren: Es war der maßregelnde Blick, der alles wissende Blick – er wurde mein eigener Blick. Das ist Macht in ihrer effizientesten Ausprägung: Die Macht, die sich ver-Selbst-ständigt. Ich konnte verstärkt die Vorsicht der Pflegerinnen nachempfinden, um nicht wegen eines Regelverstoßes sanktioniert zu werden. Und genauso wuchs mein Verständnis für die empfundene Ohnmacht der Patientinnen, die aufgrund einer selbstempfundenen ›Kleinigkeit‹, wie den Wurf eines Kaffeebechers, mit weitreichenden Konsequenzen konfrontiert werden. Wir konnten davon ausgehen, die Klinik verlassen zu können. Wir hatten ein Datum, einen letzten Drehtag. Auf »unbestimmte Zeit« wäre ein Aufenthalt, selbst in der Stellung des »externen Fremdkörpers«, unvorstellbar gewesen.

VI. Erkenntnis

21. Fazit der Gewalt- und Machtdarstellung

Der Film stellt eine Beobachtung dessen dar, wie sich die dichotomen Gruppen von Pflegerinnen und Patientinnen im Machtgefüge des institutionellen Kontexts verhalten, wie sie in diesem Macht anwenden und teilweise durch rechtliche Bestimmungen zu Gewalt gebracht werden. Der anfangs geplante Fokus auf die Pflegerinnen wurde durch bauliche und erweiterte panoptische Strukturen, die den systemischen Einfluss evident machen, selbst aufgefächert. Durch explizite Erfragung und Beobachtung konnten verschiedene Ergebnisse in der Darstellung zu Gewalt- und Machtverhalten erzielt werden. Insgesamt ›verschwinden‹ in diesem Film die Gewalttaten der Patientinnen innerhalb des Komplexes von psychischer Erkrankung und panoptischer Machtstrukturen. Indem die Überlegenheit des institutionellen Systems in diesem Film verdeutlicht wird, stehen die Patientinnen mit ihren Gewalttaten in einem Kontext der Infragestellung ihrer institutionellen Unterbringung. Die Frauen erscheinen hilflos vor dem übergroßen machtvollen System. Deutlicher als ihre Täterinnendarstellung ist ihre Opferdarstellung: Die Personen sind ›Opfer‹ der Justiz, des Paragrafen 63 StGB, ihrer Unwissenheit, der Entscheidungen der behandelnden Ärzte. Die panoptischen Macht-Verhältnisse beeinflussten ebenso die Darstellung des Macht-Agierens der Pflegerinnen, die meist als ›entscheidungslos‹ gezeigt werden. Insofern findet bei den Akteurinnen eine Relativierung ihrer Gewalt- und Machttaten durch eine Form von ›Viktimisierung‹ statt. Genauer lässt sich sagen: Obwohl Maßnahmen ergriffen wurden, um Entschuldigungsmuster von Gewaltdarstellungen zu umgehen, wie • Ursprungs-Wahl der Blick-Fokussierung auf eine Personengruppe (die Pflege-

rinnen), die nicht apriori straffällig oder psychisch erkrankt ist; • Vermeidung konkreter Biografisierung, um keine vorschnellen Tat-Erklärun-

gen zu kreieren;

302 | D ER PANOPTISCHE B LICK • und konkrete Erfragung der »Anlasstaten« der Patientinnen vor der Kamera,

sowie der Möglichkeiten von Machtmissbrauch bei beiden Personengruppen, bleiben die Protagonistinnen in einem deutlichen Opfer-Kontext verhaftet. Dies gilt für die ›ausführende Macht‹ (die Pflegerinnen) wie für die im Machtsystem unfreiwillig Untergebrachten. Die Pflegerinnen werden deutlich als ›ausführende‹, jedoch nicht entscheidende, Macht gezeigt, denen, einem strikten Regelwerk und Hierarchie- und Überwachungssystem ›ausgeliefert‹, anscheinend nichts anderes übrig bleibt, als sich den Machtbestimmungen zu fügen. Individuelle Anteilnahme und Uneinstimmgkeit mit dem System wird zwar als teilweise vorhanden dargestellt, jedoch sind die Frauen tatsächlich »Systemwächter« in dem Sinne, als dass sie das System aufrecht erhalten und mit ihm konform gehen. Das ›freie‹ angestellte Individuum wird damit als ›unfrei‹ in den Machtverhältnissen abgebildet. Die Patientinnen werden als ›Opfer‹ der strukturellen Macht-Verflechtungen gezeigt, welche qua Institution, Gesetz und durch die Zuweisung von Krankheit und Schuldunfähigkeit Macht an ihnen ausüben. Innerhalb dieser machtvollen Begrenzungen suchen sie nach ihrer Integrität, nach der Möglichkeit, Individualität in einem System zu leben, das sie zur »Besserung« als Individuen betrachtet, aber zum Zwecke der Aufrechterhaltung des Regelwerks in eine Gemeinschaftsstruktur und Kategorisierung einführt, das wiederum auch ihre Individualität begrenzt. Unterrepräsentiert im Film sind ambivalente Aussagen, die das eigene SchuldPotenzial der Protagonistinnen beleuchten, die nicht nur die Auswirkungen der »Schuldunfähigkeit«1 infrage stellen, sondern das verschuldete Vergehen als solches, ob es nun »schuldunfähig« oder nicht begangen wurde. Den Medien werden oft eine einseitige Täter-Darstellung und ein Vergessen der Opfer vorgeworfen. Die Täterinnen erscheinen auch in diesem Film in ihrer Gewalttätigkeit schwächer, weil ihre Opfer nicht herausgestellt werden. Durch Opfer erhält Gewalt ein Gesicht, wird die Konsequenz für ein anderes Leben deutlich, die Wunde macht die Schwere des Angriffs evident. Nur einmal wird ein Opfer und die Wunde, die »genäht werden musste« in diesem Film erwähnt, als Frau D. die »ältere Frau« benennt, die sie »vermöbelt« hat. Ist Frau D.s Beschreibung aktiv erzählend, setzen die zwei anderen Patientinnen, Frau W. und Frau B., ihre Delikte in Nominalbegriffe: »Körperverletzung«, »Bedrohung«, und »eine Sache, die möchte ich nicht sagen.«

1

Bzw. der »verminderten Schuldfähigkeit«, vgl. Bestimmungen Paragraf 63 StGB.

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Dass der Film schließlich Personen, mitsamt ihren von ihnen genannten begangenen Straftaten (ob nun veritabel oder nicht), als Opfer des Rechts-Systems und ihrer Krankheit und die Straflosen als ›Opfer‹ der Hierarchiestruktur zeigt, wirft daher die Frage auf, ob das existierende Kraft-Potenzial von Individuen innerhalb eines systemischen maßregelnden Kontextes überhaupt lebbar und darüber hinaus darstellbar ist. Aufgrund der herausgestellten manifesten und erweiterten panoptischen Machtstrukturen wurde während der Dreharbeiten deutlich, dass bestimmte Gewaltdarstellungen nicht möglich waren, zumindest nicht im Rahmen des persönlichen künstlerischen Anspruchs. Dies demonstriert zwar die Übermacht des Systems, zeigt jedoch auch, wie groß die Herausforderung ist, sich als System-Fremdkörper in intrainstitutionelle Machtfunktionen einzugliedern. Hier wird die Herausforderung und eine damit einhergehende Beeinträchtigung der »double-bind«-Funktion eines System-Fremdkörpers offensichtlich: Für diesen gilt, sich soweit in das System zu integrieren, dass er nicht ›ausgeschlossen‹ wird und gleichzeitig eine Distanz zu gewinnen, die eine Gestaltung möglich macht. Man könnte auch in Erwägung ziehen – wie dies theoretisch einführend zum Phänomen der Gewalt von Frauen erläutert wurde –, dass es möglicherweise eine Rolle spielte, dass Frauen untersucht wurden, die gewalttätig waren, und wir ihnen nach den gängigen (wie zuvor erörtert), kulturell tradierten Vorstellungen ein autarkes Gewaltpotenzial umso mehr absprachen. Möglicherweise war die Identifikation von uns – dem Filmteam, das in den Hauptpersonen aus Frauen bestand – mit den Frauen, die in der »Heterotopie« leben, die unter anderem Mütter sind oder sich nach einem Partner sehnen, eine größere. So wie hegemoniale Blickverhältnisse etwa nach Laura Mulvey unter anderem durch den das Filmgeschäft prägenden Blick des Mannes beeinflusst werden2, könnte man hinterfragen, ob der »andere Blick«, der maßgeblich durch ein von Frauen gebildetes Team entstand, eine ›andere‹ Perspektive konstituierte. Wir nahmen Anteil an Frau D., als sie von ihrer leeren Mutterrolle sprach, und auch an den Pflegerinnen, die im Hierarchiesystem ›unten angestellt‹ waren. Dies muss jedoch nicht unbedingt durch eine konkrete frauenspezifische Empathie geprägt sein. Ein verhinderter Vater hätte uns wohl auch berührt, männliche Pfleger, die an schwierige Entscheidungen weisungsgebunden sind, ebenso. Die

2 Vgl. Mulvey, Laura: Visual Pleasure and Narrative Cinema, in: Visual and other pleasures, Bloomington / Indianapolis 1989, S. 14-26.

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Einteilung der Menschheit in Mann und Frau bildet eine deutliche Teilungspraxis, die Macht konstituiert.3 Doch es bleibt letztlich eine Teilungspraxis. Maßgeblich konstituierend im Machtverhältnis dieses filmischen Entstehungsprozesses war, dass wir ein Fremdkörper waren, der in ein geschlossenes System eindrang. Es war wichtig, dass die Blicke konservierten und die Bilder, die so entstanden, aus dem Feld nach außen getragen wurden. Deswegen wollte die Institution kontrollieren. Deswegen empfanden die Akteurinnen maßgeblich Misstrauen, Achtung, Faszination. Deswegen hatten wir Macht. Möglicherweise hat auch unsere Integration in den psychiatrischen Kontext, das Urteil der »Schuldunfähigkeit«, eine möglichst autarke Gewaltdarstellung irritiert. Wie Foucault meint, dass »in der Strafe […] die Wirklichkeit des Verbrechens endgültig erwiesen«4 wird, könnte man vermuten, dass der Mangel der »offiziell« Bestraften die »Wirklichkeit des Verbrechens« relativierte. Wir meinten uns außerdem darüber bewusst zu sein, dass wir das Gefüge und die moralischen Ordnungssysteme stören würden, wenn wir die Krankheit als Ursachen-Faktor bei den Patientinnen und als Handlungs-Auftrag bei den Pflegerinnen, weniger berücksichtigt hätten. Obwohl wir die psychische Erkrankung der Patientinnen nicht konkret im Film benannten, schien sie gleichzeitig etwas Anziehendes auf uns auszuüben. Die Patientinnen treiben innerhalb ihrer persönlichen Ausbrüche die Dramaturgie voran, machen während der Filmhandlung eine Entwicklung durch. Die Pflegerinnen bleiben Funktionsträgerinnen, die Türen öffnen, durch Fragen an die Patientinnen teilweise eine mediale Stellvertreterposition übernehmen, sie bleiben in ihrer Darstellungsberechtigung jedoch auf die Patientinnen ›angewiesen‹. Zu Beginn des Films wollten wir durch die Pflegerinnen ins System kommen, zum Ende fanden wir erst durch die Patientinnen einen wirklichen Zugang. Die primär ohnmächtigeren Personen behielten damit als ›Filmfiguren‹ seit der Ergreifung des Raums durch den ›Fehler‹ im Panopticon zu Drehbeginn bis zur Fertigstellung des Films die größte Durchsetzungskraft. Auch das Charisma der Patientinnen, die mit den Tiefen des Lebens auf existenzielle Weise in Berührung gekommen waren, ihre Inkonsistenz, ihre widersprüchlichen und komplexen Charakterzüge, ihr Ringen und Hoffen, berührte unsere Aufmerksamkeit. Bei ihnen lag ein Konflikt vor, der Widersprüchlichkeiten

3

Siehe etwa J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 60: »Selbst wenn die Geschlechtsidentität in einer höchst verdinglichten Form zu erstarren scheint, erweist sich diese Erstarrung selbst als eine hartnäckige, heimtückische Praxis, die durch zahlreiche gesellschaftliche Mittel unterstützt und reguliert wird.«

4

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 73.

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und Dramaturgie im Sinne der »crisis structure« schuf. Wir wurden Verführte, die die Gewalt nicht mehr als autark externe GutachterInnen diagnostizierten. Es zeigt sich also, dass abseits eines teilweise tatsächlich vorhandenen Leidensdrucks das ›Dispositiv‹ der Krankheit, nicht nur vom System anscheinend ›dankbar‹ aufgenommen wurde, sondern auch uns als ›externen Fremdkörper‹ vereinnahmte. Doch warum war dieses ›Dispositiv‹ so machtvoll? Wie erreichte es ›die Krankheit‹ einen so dominanten Einfluss in den unterschiedlichsten Machtkomplexen zu erwirken?

22. Zu den »diskursiven Formationen«1 psychischer Erkrankung und der Ausweitung der »Normalisierungsmacht«

Die zuvor dargestellte Bedeutung, die die psychische Erkrankung und die damit einhergehende Delinquenzbildung innerhalb der Klinik-»Heterotopie« innehatte, konkretisiert in zugespitzter Form ihre generelle gesellschaftliche Tragweite. »[U]nsere Gesellschaft will in dem Kranken, den sie verjagt oder einsperrt, nicht sich selbst erkennen; sobald sie die Krankheit diagnostiziert, schließt sie den Kranken aus«2, so Foucault. Durch eine Ausschließung (bzw. im Fall der Klinik: Einschließung) in manifester Form sowie durch subtile und direkte Stigmatisierung vollzieht sich ein Akt der Nicht-Annahme, der Abwehr, der latenten oder offensiven Feindschaft. Eine Ausschließung kann mit Gewalt, in jedem Fall mit der Machtwirkung einer Gruppe verbunden sein, welche befindet, dass sie besser lebt, wenn sie einen gewissen kranken, vermeintlich fremden, nutzlosen Teil konzentriert und absondert. Dies geschieht nicht nur durch ›extreme‹ »Heterotopien« wie geschlossene Psychiatrien oder Gefängnisse; auch etwa durch Krankenhäuser und Pflegeheime wird der zu bessernde Teil einer Gesellschaft immer stärker in institutionalisierter bzw. transformierbarer unternehmerischer Form›extern‹ versorgt. Dieser ausgeschlossene Teil gerät nicht in Vergessenheit, im Gegenteil wird ihm durch den Akt der Ausschließung erst die volle Aufmerksamkeit zuteil. Die Anstrengungen, um die Abweichenden zu lokalisieren, ihre Existenzberechtigung zu sichern und sie zu »individualisieren«, sind immens. Die ausgeschlossenen »DelinquentInnen« werden etwa, wie dies exemplarisch anhand des Films aufgezeigt wurde, umso mehr von der »Schriftmacht« erfasst, wie es nach Foucault für 1 M. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 48. 2 M. Foucault: Psychologie und Geisteskrankheit, S. 97.

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ein »Disziplinarsystem« bezeichnend ist, dass »das Kind mehr individualisiert [wird] als der Erwachsene, der Kranke mehr als der Gesunde, der Wahnsinnige und der Delinquent mehr als der Normale.«3 Zugleich hinterlässt der ›abgeschobene‹ Teil im kollektiven Bewusstsein eine Spur. Durch Abgrenzung konstituiert sich die Gruppe, sie besitzt nun Richtwerte, nach denen sie ihre Grenzpfosten schlagen kann. So beschreibt Foucault in Analytik der Macht: »Die psychiatrische Internierung, die mentale Normierung der Individuen und die Strafeinrichtungen haben sicher eine ziemlich begrenzte Wichtigkeit, wenn man allein nach ihrer ökonomischen Bedeutung sucht. Umgekehrt sind sie im allgemeinen Funktionszusammenhang der Räderwerke der Macht mit Sicherheit wesentlich.«4

In ihrer Abweichung bestimmen sie die ›Norm‹, in ihrer Unbedeutendheit erhalten sie die Bedeutung des ›Normalen‹ aufrecht. Die Teilungspraxis, die durch die abweichenden Individuen gerechtfertigt wird, wirkt unter anderem in die Gesetzgebung, erhält die Legitimation von »Delinquenz«, Disziplinierung, Kontrolle. Damit ist etwa auch der Bau der »machtdemonstrativen Unterbringung«5 der Klinik mit doppeltem Sicherheitszaun nicht nur errichtet, um die PatientInnen von einem Ausbruch abzuhalten, er ist umso mehr Schauspiel und Symbol für diejenigen, die auf der »anderen Seite« stehen. Das Wissen um die »Heterotopie« fördert gleichermaßen Abschreckung und Integritätsbildung, der Zaun wird für beide Seiten zur Grenze. Foucault behauptet in Wahnsinn und Gesellschaft, dass man sich bei der Geschichte des »Wahnsinns« »auf ein Gebiet [begibt], wo es eher um die Grenzen als um die Wesenseinheit einer Kultur geht. Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben Ȃ dieser obskuren Gesten, die, sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind«6 . Diese Grenzziehungen, ob in manifester Form der Einschließung oder qua Kategoriebildung, wirken eindeutig und mächtig, doch die Beschlüsse, durch die sie sich bilden, sind – ähnlich wie die »diskursiven Formationen« der Gesetzbildung – gleichermaßen kontingenten Beschlüssen unterlegen. Nach den »Ermächtigungs- und Ausschlusskriterien«7, mit denen Diskurse gesteuert und als ›wahr‹ akzeptiert werden, besteht auch innerhalb des stets binär

3 4 5 6 7

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 248. Foucault, Michel: Analytik der Macht, Frankfurt am Main 2005, S. 90. K. Melzer: Psychisch kranke Straftäterinnen, S. 88. M. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 9. R. Keller: Diskursforschung, S. 51.

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gezogenen Diskurses zwischen »Vernunft und Wahnsinn« »keine ahistorische Wesensqualität des Wahnsinns, sondern historisch unterschiedliche Formen des Wissens und Praktiken des Umgangs, die solche Qualitäten bestimmen und sich im Zeitverlauf verändern.«8 Die Psychiatrie ist als Teildisziplin der Medizin stets mit den Vorwürfen einer Normgebung konfrontiert, deren Richtwerte auf Einschätzungen und diagnostischen Verfahren basieren, die neben allen derzeit steigenden Erfolgen der Neurologie vor allem dem zugrunde liegen, was das Individuum ausspricht oder wie es sich verhält. Doch eine Wahrheit zwischen seelischer Erkrankung und Gesundheit ist nicht einfach zu finden, das macht das Feld so faszinierend, so beängstigend und so kontrovers. So wie David L. Rosenhan meint: »Angst und Depressionen existieren. Psychisches Leiden existiert. Aber Normalität und Abnormität, geistige Gesundheit und Irresein sowie die Diagnosen, die davon abstammen, sind möglicherweise weniger eindeutig als meist geglaubt.«9

Es ist also bedeutsam, auf den Akt der Grenzziehung und nicht nur auf das Resultat der Ausschließung zu achten: Die vielfältige Kontingenz psychischer Erkrankung wird im Feld ihrer historisch unterschiedlichen medizinischen, kulturellen und auch religiösen Betrachtung an einem Beispiel evident, das herangezogen wird, da es bereits die »diskursiven Formationen« der Gesetzes-Macht aufzeigte und damit deutlich macht, durch welch unterschiedliche Disziplinen die ›Wahrheit‹ spezifischer Phänomene jeweils gebildet wird. Homosexualität war noch bis zum Jahr 1987 als psychische Erkrankung im »DSM-III-R« (The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) verzeichnet, das auch als sogenannte »Bibel der Psychiatrie«10 bezeichnet wird. Das DSM wird von der »American Psychiatric Association« (APA) herausgegeben und bestimmt weltweit die Definition psychischer Erkrankung. Im ICD-10 (Inter-

8 R. Keller: Diskursforschung, S. 44. 9 D. L. Rosenhan: Gesund in kranker Umgebung, S. 103. 10 U.a. Habekuß, Fritz: Heute noch normal, morgen schon verrückt, 7.5.2013, http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2013-05/dsm-5-bibel-der-psychatrie (18.10.2014).

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national Classification of Diseases), dem Katalog der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dessen Verschlüsselung international für Diagnosen genutzt wird, erschien Homosexualität noch bis zum Jahr 199211 als Krankheit. Da Homosexualität als psychische Erkrankung bezeichnet war, »konnten Homosexuelle auch auf unbestimmte Zeit freiheitsentziehend in einer forensischen Psychiatrie untergebracht werden.«12 Heute ist die Homosexualität eines Angeklagten als psychische Erkrankung nicht mehr Indikator für »Schuldunfähigkeit« und somit auch nicht für eine Verurteilung nach § 63 StGB vor Gericht, weil es der aktuelle rechtlich-psychiatrische Diskurs so bestimmt. Transsexualismus wird heute noch als psychische Erkrankung definiert. 13 Auch auf der Frauenstation der Klinik war eine transsexuelle Frau untergebracht, die ihr Regal für die Fotoserie des »Süddeutsche Zeitung Magazin« fotografieren ließ. Bei den Diagnosen, die ihr attestiert und im Heft publiziert wurden, ist unter anderem »Transsexualismus« vermerkt. Zur elektronischen Version der Fotoserie auf der Homepage des »Süddeutsche Zeitung Magazin« ist dazu ein erstaunter Kommentar und die einordnende Antwort eines anderen Lesers vermerkt, der diese Klassifizierung kritisiert: •



»Warum ist ›Transsexualismus‹ eine Diagnose? Und warum ist es eine psychische Störung? (Ich frage nicht um zu provozieren[,] sondern weil ich darüber verwundert bin)« »Transsexualismus wird psychologisch klassifiziert als Form der Geschlechtsidentitätsstörung. Allerdings ist das ein unwissenschaftlicher Begriff der Psychoanalyse und wird bemängelt, da er wertend ist und […] Auslöser [ist] für weltweite Transphobie, Diskriminierung und Menschenrechtsverletzung.«14

11 Vgl. Steger, Florian: Über ein Missverständnis der Psychoanalyse. Sigmund Freud und die Homosexualität, in: Steger, Florian (Hg.): Was ist krank? Stigmatisierung und Diskriminierung in Medizin und Psychotherapie, Gießen 2007, S. 135-150, hier S. 140.

12 JuraForum, Lexikon: Homosexualität, http://www.juraforum.de/lexikon/homosexualitaet (18.10.2014).

13 Vgl. Weltgesundheitsorganisation: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F), S. 294: Störungen der Geschlechtsindentität. F64.0. Transsexualismus.

14 Auszug aus Kommentaren zu Pfafferott, Christa: Bretter, die die Welt bedeuten, 19/2012, http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/37505/6 (14.10.2014).

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Mit jeder Neuauflage des »DSM« ist die Anzahl der Diagnosen seit dem Jahr 1952 gestiegen und hat sich von anfangs 106 auf 297 Diagnosen15 im DSM-IV knapp verdreifacht. Die Insuffizienz menschlichen Verhaltens ist also innerhalb der letzten 60 Jahre, zumindest nach Diagnose-Vielfältigkeit, eklatant gestiegen. Im Mai 2013 wurde das »DSM« neu aufgelegt und damit das Wesen psychischer Erkrankung neu bestimmt, geordnet16 und in seiner Diagnose-Vielfalt deutlich erweitert: Seit dem Erscheinungsstichtag des neuen DSM wird nun etwa auch die Trauer, die noch zwei Wochen nach Verlust eines Angehörigen anhält, als Depression gewertet17, das ständige Zupfen an der Haut zur sogenannten »Excoriation (Skin- Picking) Disorder«:18 »Many of the changes in DSM-5 were made to better characterize symptoms and behaviors of groups of people who are currently seeking clinical help but whose symptoms are not well defined by DSM-IV (meaning they are less likely to have access to treatment)«19,

erklärt die APA die Erneuerungen. Ihre Neuauflage entfachte bereits im Vorfeld der Veröffentlichung deutliche Kontroversen: Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) befürchtet durch das neue »DSM« die »Pathologisierung von alltäglichen Leidenszuständen sowie von natürlichen Anpassungs- und Alterungsprozessen«20 und die »Medikalisierung von Problemen unserer Gesellschaft«21. »Aus Sicht der DGPPN

15 Vgl. Blech, Jörg: Wahnsinn wird normal, Der Spiegel, Nr. 4, 21.1.2013, S. 110-119, hier S. 114.

16 Vgl. Müller, Thomas: DSM-5 im Überblick. Eine neue Landkarte für die Seele, 12.7.2013,

http://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/neuro-psychiatrische_

krankheiten/article/841448/dsm-5-ueberblick-neue-landkarte-seele.html (5.11.2014).

17 Vgl. Stellungnahme, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN): Wann wird seelisches Leiden zur Krankheit? Zur Diskussion um das angekündigte Diagnosesystem DSM-V, 15.4.2013, http://www.dgppn.de/publikationen/stellungnahmen/detailansicht/article//wann-wirdse.html (21.10.2014).

18 American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical manual of Mental Disorders. DSM-5, Arlington 2013, 5. Auflage, S. 254 ff.

19 American Psychiatric Association: DSM-5 Development, Frequently Asked Questions: http://www.dsm5.org/about/Pages/faq.aspx (21.10.2014), Hervorhebung im Original.

20 DGPPN: Wann wird seelisches Leiden zur Krankheit? 21 Ebd.

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ist festzustellen, dass einige der im DSM-5 neu eingeführten psychischen Beeinträchtigungen keinen Krankheitswert besitzen und zum ›normalen‹ Leben dazugehören.« 22 Sie sieht außerdem die Gefahr, dass durch »[d]ie Ausweitung der Grenzen psychischer Krankheit«23 und die daraus folgende »Zunahme leichter, bisher nicht als behandlungsbedürftig angesehener neuer Diagnosen […][,] für die schwer psychisch Kranken weniger Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen werden«24. MedizinerInnen, PsychologInnen und fachfremde BürgerInnen unterschrieben eine Petition25, in der (Medien-) Öffentlichkeit wurde Kritik laut. Den WissenschaftlerInnen, die die Diagnosen des DSM festschrieben, wurden parallele Tätigkeiten für Pharmakonzerne vorgehalten 26 , es hieß, dass der pharmazeutische Markt durch neue Diagnosen erweitert werden solle.27 Doch das DSM-5 wurde veröffentlicht und bestimmt nun entscheidend den zeitgenössischen Diskurs psychischer Erkrankung, prägt rechtliche Urteile, wissenschaftliche Forschung und wirtschaftliche Produktion.

22.1 D IE A USWEITUNG DER ›N ORM ‹ DURCH A USWEITUNG DES ›A BNORMEN ‹

DIE

»Man wird nicht müde zu wiederholen, dass der Wahnsinn zunimmt«28, schrieb Foucault in Betrachtung des 18. Jahrhunderts. Die heutige Zunahme psychiatrisch-psychologischer Diagnostik kreiert eine Gemeinschaft, die eine zunehmend behandlungsbedürftige ist. Das Individuum wird eher als ein krankes als ein gesundes gesehen.

22 23 24 25 26

DGPPN: Wann wird seelisches Leiden zur Krankheit? Ebd. Ebd. Open letter to the DSM-5: http://www.ipetitions.com/petition/dsm5/ (24.9.2013). »Rund 70 Prozent der aktuellen DSM-Autoren arbeiten als Berater für pharmazeutische Firmen und bekommen dafür von ihnen persönliche Honorare«, so DER SPIEGEL in der Titelgeschichte: J. Blech: Wahnsinn wird normal, S. 115.

27 Vgl. ebd. 28 M. Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 391.

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Innerhalb dieser Entwicklung wird auch Foucaults Ansicht belegt: »Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität, andererseits wirkt sie individualisierend«29. Nach seiner Anschauung der Wirkung der säkularen »Pastoralmacht« könnte man herausstellen, dass diese an Bedeutung gewinnt. Denn die zunehmende Pathologisierung rechtfertigt zunehmende »Individualisierung«. Um den Individuen umso besser »Heilung« zu bringen, muss man sie umso mehr »erkennen« (»Bitte kommen Sie etwas näher«). Je diffiziler eine Norm festgelegt ist, umso möglicher ist eine Abweichung. Durch die Stärkung des ›Abnormen‹ wird nicht das ›Abnorme‹ mächtiger, sondern das Diktum der Norm selbst. Darin liegt etwas Paradoxes. Es wird nun zunehmend ›normaler‹, psychisch krank zu sein. Doch psychische Erkrankung wird damit nicht gleichzeitig ™‹”Ž‹…Š›normaler‹. Abseits neuer ›Mode-Diagnosen‹ sind in der gesellschaftlichen Akzeptanz Diagnosen wie schizophrene Erkrankungen weiterhin deutlich stigmatisiert. Die Durchsetzung des Normprinzips kann am Beispiel der Klinik demonstriert werden: Je mehr Regeln vorhanden waren, je diffiziler ihre Herleitung war, umso leichter konnten Patientinnen, Angestellte und das Filmteam von ihnen abweichen —† —•‘ ‡Š” ™—”†‡ •‹‡ †—”…Š o„‡”™ƒ…Š—‰•Ǧ —† ‹‡”ƒ”…Š‹‡•›•–‡‡ ‘–”‘ŽŽ‹‡”–ǡ—•‘‰”Ú釔™—”†‡†‹‡‰•–‡‹‡•‡‰‡Ž˜‡”•–‘釕ǡ—•‘‰”ÚǦ 釔 †‹‡ ‡Ž„•–†‹œ‹’Ž‹ —† ’ƒ••—‰ Ȃ —† •…ŠŽ‹‡éŽ‹…Šǣ —•‘ ‰”Ú釔 †‹‡ ƒ…Š–†‡•›•–‡•Ǥ Die Mechanismen destillieren sich in extremer Form in einem abgeschlossenen System wie dem der Klinik, in dem Individuen nach meist festgesetzten »Objektivierungs«-Kategorien zu einem bestimmten ›Norm‹-Vorstellungen entsprechendem Subjekt gebessert werden sollen. Doch der disziplinarische Mikrokosmos der »anderen Welt« kann, auch aufgrund des Beispiels der fortschreitenden Pathologisierung der Gesellschaft, in seiner Immanenz als zugespitztes Beispiel, als ›Karikatur‹ des Außen stehen, das sich in »Delinquenz«-Bildung, Teilungspraktiken und Normbildung immer mehr seiner ›Karikatur‹ angleicht. Foucault beschrieb 1975, was heute verstärkt Realität ist: »Zusammen mit der Überwachung wird am Ende des klassischen Zeitalters die Normalisierung zu einem der großen Machtinstrumente.«30 »Das Normale

29 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 237. 30 Ebd.

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etabliert sich […] mit der Einführung einer standardisierten Erziehung«31, in der Durchsetzung »allgemeine[r] Gesundheitsnormen […]; es etabliert sich in der Regulierung und Reglementierung der industriellen Verfahren und Produkte.«32 Dabei dringt dieses Norm-Diktum auch in das Rechtssystem ein.

22.2 D IE ›N ORM ‹

IM

R ECHTSWESEN

Foucault sieht in diesem Prozess, wie einführend erläutert, unter anderem die Disziplin der Medizin als wesentlich, da in einer »Normgesellschaft« die Wissenschaft, die das ›Normale‹ vom Patholgischen unterscheidet, einen essenziellen Machteinfluss hat.33 Foucault stellt heraus: »Wir sind in einen Gesellschaftstyp eingetreten, in dem die Macht des Gesetzes dabei ist, zwar nicht zurückzugehen, aber sich in eine viel allgemeinere Macht zu integrieren, nämlich in die der Norm. Schauen Sie, wie schwer er [sic!] heute der Strafjustiz fällt, den Akt zu vollziehen, für den sie eigentlich geschaffen ist, nämlich ein Urteil zu fällen. Anscheinend [,] weil die Bestrafung eines Verbrechens keinen Sinn mehr hat, setzt man den Verbrecher immer mit einem Kranken gleich, und die Verurteilung möchte als eine therapeutische Vorschrift gelten.«34

Es wird nicht mehr an den Gegensätzen schuldig oder unschuldig, sondern normal oder anormal35, schuldfähig oder schuldunfähig gemessen. In dieser Evaluation

31 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 237, unter Verweis auf Canguilhem, G.: Das Normale und das Pathologische, München 1974, S. 161-177.

32 33 34 35

Ebd. Vgl. M. Foucault: Mikrophysik der Macht, S. 84. Ebd. Vgl. M. Foucualt: Überwachen und Strafen, S. 31.

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besitzt die richterliche Gewalt nicht mehr die alleinige Kompetenz,36 »[s]ie muss sich ihre Qualifikation immer wieder durch das Wissen bestätigen lassen.«37 Eingangs wurde herausgestellt, wie die Entscheidungswirkung von GutacherInnen das Urteil nach Paragraf 63 StGB beeinflusst. Foucault schrieb, dass die »psychiatrischen Sachverständigen«38 bei der Begutachtung von StraftäterInnen »auf folgende drei Fragen zu antworten [haben]: Stellt der Beschuldigte eine Gefahr dar? Kann er einer Bestrafung zugeführt werden? Kann er geheilt oder wiederangepasst werden?«39 Nach Foucault tangieren diese Fragen damit »die Administration der Strafe«40 selbst. Doch es bleibt nicht bei psychiatrischen Gutachten, das Gutachterwesen nimmt generell an Bedeutung zu: »Gutachter beurteilen die Spuren der Tat, die Verletzungen der Opfer und die Glaubwürdigkeit der Zeugen. Wann immer das Gericht nicht weiterkommt, werden neue Gutachter beauftragt«41, schreibt Magnus Heier in der »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«. Dabei besteht die Gefahr, dass das Gutachten selbst zum Urteil wird.42 Der frühere Präsident des

36 »Noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts traf der Richter zumeist ohne Konsultation eines medizinischen Experten die Entscheidung, ob ein Straftäter zurechnungsfähig war oder nicht.«: K. Haack: Der Fall Sefeloge. Zur Geschichte, Entstehung und Etablierung der forensischen Psychiatrie, S. 107 f. (Die Autorin verweist in einer Fußnote zu diesem Satz, dass »[i]nteressanterweise […] Ärzte vor kirchlichen Gerichten auch schon früher zugelassen [waren]. Hier fungierten sie vor allem als Sachverständige in Hexenprozessen, um vermeintliche Hexen von Kranken zu unterscheiden.«, Ebd. S. 107 f. »Tatsächlich verlief die Herausbildung und Etablierung der Psychiatrie während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts parallel zur Konstituierung des bürgerlichen Schuldstrafrechts. Ein Ineinandergreifen beider Entwicklungen, die, wenn auch in unterschiedlichem Maß, Konzepte zum Umgang mit deviantem Verhalten entwickelten, war beinahe folgerichtig.« Ebd., S. 112. 37 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 33. 38 Ebd., S. 31. 39 Ebd., S. 32. 40 Ebd. 41 M. Heier: Zwischen Wahrheit und Kaffeesatz, S. 51. 42 Vgl.: nach dem Rechtswissenschaftler Hans-Ullrich Paeffgen besteht die Gefahr, dass die RichterInnen »die Gutachten nicht als Beratung, sondern […] das Ergebnis zum Nennwert« nehmen: Paeffgen, Hans-Ullrich, zit. nach: M. Heier: Zwischen Wahrheit und Kaffeesatz, S. 51.

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Oberlandesgerichts Wien, Harald Krammer, meint: »Dort, wo Wissen des Richters versagt, schaut er durch Augen des Sachverständigen. Doch wie uns unsere Augen manchmal täuschen, täuschen uns die geliehenen Augen. Das ist fatal.«43 Der Blick der RichterInnen formt sich durch das, was ihnen die GutachterInnen, die »geliehenen Augen«, erzählen, weil sie die Dinge angeblich besser sehen, bewerten und diagnostizieren können. Dies ist im Grunde nicht verkehrt, da RichterInnen ihre mangelnden Expertenkenntnisse in spezifischen Fachfragen durch eingeholte Gutachten kompensieren können. Auch aus Gründen der zeitlichen Überlastung wird die Beurteilung an ExpertInnen delegiert. Problematisch ist jedoch, dass bei der Konsultation der »Expertenmacht« bisweilen unhinterfragt an die Qualität von GutachterInnen geglaubt wird.44 Des Weiteren besitzen GutachterInnen in der Form ihrer psychiatrischen Beurteilung zwischen ›hartem Kurs‹ und liberaler Einstellung einen ›politischen‹ Ruf, nach dem sie auch beauftragt werden können.45 Zum anderen wird die Beurteilung auch deswegen an ExpertInnen delegiert, da so in einer zunehmend um ihre eigene Sicherheit besorgten Gesellschaft, die Verantwortung der richterlichen Instanz, etwa bei der Freilassung von psychisch erkrankten StraftäterInnen, auf verschiedene Schultern verteilt wird. Indem die ExpertInnen jedoch zunehmend erläutern, was ›normal‹ bzw. ›unnormal‹ klingt, aussieht oder spricht und ihre Aussagen durch Messungen und »Delinquenz«-Wissen glaubwürdig machen, legen sie zunehmend die ›Norm‹ fest. So wird das Gutachten zum Gesetz. Um allegorisch mit Kafkas »Türhüterlegende« zu sprechen: Durch den Glauben an den »Türhüter« wächst seine Macht, der selbstverständlich geöffnete Zugang »zum Gesetz« scheint nur noch mit seiner Einwilligung beschritten werden zu können. Im übertragenen Sinne steht diese GutachterInnen-Tätigkeit vor Gericht beispielhaft dafür, dass die Normierung auch außerhalb des Strafsystems durch die Aufteilung auf verschiedene »Normalitätsrichter« 46 zunimmt, wie Foucault bereits 1975 in Überwachen und Strafen konstatierte: »Wir leben in der Gesellschaft des Richter-Professors, des Richter-Arztes, des Richter-Pädagogen, des RichterSozialarbeiters; sie alle arbeiten für das Reich des Normativen«47.

43 Krammer, Harald, zit. nach: Seeh, Manfred: Die Republik der Gerichtsgutachter. Experten-Allmacht. Wer berät die Richter? Und wie?, Die Presse, 12.9.2008, http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/413947/Die-Republik-der-Gerichts gutachter (20.10.2014)

44 45 46 47

Vgl. auch M. Heier: Zwischen Wahrheit und Kaffeesatz. Vgl. ebd. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 392. Ebd., S. 392 f.

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Damit sei »die Macht […] ›denaturiert‹« 48 . Das gerichtliche Selbstverständnis wird abgelöst durch den evaluierenden Blick der »Normalitätsrichter«, die ihre Entscheidungen durch »Objektivierung«, Kontrolle und Überwachung im Alltag belegen. Damit ist die Konsequenz der ›Norm‹-Etablierung die Durchsetzung von Praktiken, die konstituierend für die Erhaltung von Macht sind. Dies »setzt ein ganz anderes Überwachungs- und Kontrollsystem voraus: eine unaufhörliche Sichtbarkeit und permanente Klassifizierung, Hierarchisierung und Qualifizierung der Individuen anhand von diagnostischen Grenzwerten«49 scheinen nun unabdingbar. Das System dieser Praktiken hält sich zwar auch durch das Prinzip des Abweichenden aufrecht, in seiner selbstläufigen Form ist die ›Norm‹ samt all ihrer Bedingungs-Mechanismen jedoch so selbstverständlich, dass das Abweichende nicht mehr wesentlich ist: »Eine Disziplinargesellschaft formiert sich also in der Bewegung, die von den geschlossenen Disziplinen, einer Art gesellschaftlicher ›Quarantäne‹, zum endlos verallgemeinerungsfähigen Mechanismus des ›Panoptismus‹ führt.«50 Foucault beendet Überwachen und Strafen mit dem Bild einer imaginären »Kerkerstadt«, in deren Kern nicht mehr ein einziges »›Machtzentrum‹«51 existiert, »sondern ein komplexes Netz aus unterschiedlichen Elementen – Mauern, Raum, Institutionen, Regeln, Diskursen.«52 Die Haftanstalt ist nicht mehr isoliert, sondern »mit einer Reihe anderer ›Kerker‹-Mechanismen verbunden, die anscheinend wohl unterschieden sind (da sie trösten, heilen, pflegen sollen), tatsächlich aber ebenso eine Normalisierungsmacht ausüben.«53 Die »andere Welt« der Klinik, nach der der dieser Untersuchung zugrundliegende Film tituliert ist, war damit von Anfang an keine andere. In einer Welt, die Individuen zunehmend als zu bessernde, sichernde und vermeintlich Kranke sieht, sind die Fragen von Freiheit und Sicherheit vor den Klinikzäunen ebenso eklatant. Der manifeste Ort der Klinik für Forensische Psychiatrie und ihre janusköpfige Aufgabe des »Besserns« und »Sicherns« steht damit als ein konkretes Pars pro Toto, als eine Analogie für die Verschmelzung von Wissenschaft und Justiz, von

48 49 50 51 52 53

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 392. M. Foucault: Mikrophysik der Macht, S. 84. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 277. Ebd. S. 396. Ebd. Ebd., S. 397.

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Überwachen und Strafen, einer Gesellschaft, die die ›Norm‹, unter anderem abgeleitet aus der Abgrenzung zum ›Anormalen‹, zu ihrem Richtwert macht. Dass dieser Richtwert, obwohl historisch kontingent, durch eine »Expertenmacht« vermeintlich apodiktisch formuliert wird und doch nicht wirklich fassbar ist, macht ihn umso wirkungsmächtiger.

VII. Weg aus dem Panopticon

23. Die panoptische »Kontrollgesellschaft«

»Sie verlassen das Betriebsgelände der Klinik Nette-Gut für Forensische Psychiatrie. Sie werden weiterhin überwacht. Die Anweisungen des Personals sind fortan zu befolgen.«1

Mit dem Begriff der sogenannten »Kontrollgesellschaft« von Gilles Deleuze, der damit Foucaults Anschauungen der »Disziplinargesellschaft« weiterführt, wird nun ein abschließender Ausblick auf die Extension der Überwachung und Kontrolle im ›freien‹ Außen getroffen. In seinem Aufsatz Postskriptum über die Kontrollgesellschaften aus dem Jahr 1990 schreibt Deleuze: »›Kontrolle‹ ist der Name, den Burroughs2 vorschlägt, um das neue Monster zu bezeichnen, in dem Foucault unsere nahe Zukunft erkennt.«3 Nach Deleuze befindet sich Macht nicht mehr in institutionellem oder individuellem Besitz4. »Sie ist Teil des Systems, systemimmanent. Macht installiert sich in den modernen Gesellschaften als quasi automatischer Prozess, der […] dabei so schwierig zu sehen wie zu fassen ist.«5 Dies ergibt sich wie folgt: »Wir befinden uns in einer allgemeinen Krise aller Einschließungsmilieus, Gefängnis, Krankenhaus, Fabrik, Schule, Familie.«6 Diese von Deleuze als »anachronistisch«7 bezeichneten Institutionen sind in ständiger Reformbewegung. Die

1 Abgewandelt vom Hinweis-Schild der Klinik für Forensische Psychiatrie, ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 1:10.

2 Er bezieht sich hier auf den Schriftsteller William S. Burroughs (1914-1997). 3 G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 255. 4 Vgl. auch: Conrads, Martin: Was ist die Kontrollgesellschaft? Nie mit irgendwas fertig werden, 21.11.2008, http://www.fluter.de/de/74/lesen/7296/ (21.10.2014).

5 Ebd. 6

G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 255.

7 G. Deleuze, in: Kontrolle und Werden, S. 250.

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Kontrollgesellschaft konstituiert sich »nicht mehr durch Internierung […], sondern durch unablässige Kontrolle und unmittelbare Kommunikation.«8 Bezogen auf die Tatsache, dass ›disziplinare‹ Institutionen wie die untersuchte Klinik 24 Jahre nach dem Erscheinen seiner These immer noch bestehen, sei angemerkt, dass Deleuze zwar behauptet, dass diese nur noch die Funktion hätten »ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu beschäftigen«9 bis sie ganz von Kontrollstrukturen abgelöst werden, die Institutionen sich darüber hinaus jedoch in ihrer Struktur gewandelt hätten. Die Behandlung in Krankenhäusern wurde unter anderem durch »Tageskliniken oder häusliche Krankenpflege«10 abgelöst, was zunächst freiheitlich wirkte, jedoch »Bestandteil neuer Kontrollmechanismen« 11 wurde. Am bedeutendsten erachtet Deleuze die unternehmerische Transformation der Institutionen. Tatsächlich werden Kliniken zunehmend privatisiert, und sogar die »hoheitliche Aufgabe« des Maßregelvollzugs kann durch private Einrichtungen vollzogen werden, was auch vom Bundesverfassungsgericht 2012 noch einmal in einer Entscheidung bestätigt wurde.12 Lohn wird nun in »Metastabilität«13 (Lohn nach ›Verdienst‹) vergeben, der sich oft an Leistung knüpft. Dies erzeuge »ständig eine unhintergehbare Rivalität […] und ausgezeichnete Motivation«14.

8

So erläutert er die »Kontrollgesellschaften« in diesem Gespräch: G. Deleuze, in: Kontrolle und Werden, S. 250.

9 10 11 12

G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 255. Ebd. Ebd. Das Bundesverfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerde eines Maßregelvollzugspatienten zurück, »der sich gegen die Anordnung und Durchführung einer besonderen Sicherungsmaßnahme (Einschluss) durch Bedienstete einer privatisierten Maßregelvollzugseinrichtung wandte.« Das Bundesverfassungsgericht befand, dass, »indem […] auch Bediensteten privater Träger von Maßregelvollzugseinrichtungen Vollzugsaufgaben« übertragen werden, »nicht gegen den Grundsatz des Funktionsvorbehalts« verstoßen wird, »nach dem die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe ›in der Regel‹ Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die in einem öffentlichrechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen, d. h. Beamten, vorbehalten ist.« Bundesverfassungsgericht: Pressemitteilung Nr. 2/2012 vom 18. Januar 2012, Zur Privatisierung des Maßregelvollzugs: Regelung der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen durch private Pflegekräfte nach dem hessischen Maßregelvollzugsgesetz verfassungsgemäß http://www.bverfg.de/pressemitteilungen/bvg12-002 (5.11.2014).

13 G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 256. 14 Ebd., S. 257.

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Das Unternehmen besitzt »eine Seele«15, was Deleuze als »größte SchreckensMeldung der Welt«16 bezeichnet. Dies könnte man insofern verstehen, als dass sich Unternehmen als erweiterte »Familien-Unternehmen« mit zugehörigem Identifikations-Anschluss vermarkten. Durch tiefer wirkende Zugehörigkeitsgefühle werden subtil unterwandernde Kontrollmechanismen erzeugt, von denen das Individuum meint, sie sich freiwillig ausgesucht zu haben. Weitergeführt könnte etwa auch die Rolle des »Qualitätsmanagements«, das vermehrt in Unternehmen implementiert wird, als Kontrollmechanismus definiert werden. Sämtliche Produktion und Leistung wird im Sinne einer Optimierung (»Besserung«) bewertet und zertifiziert. Dies soll eine Transparenz, einen gewissen Norm-Standard sichern, doch teilweise wird die Zeit, die auf den Beleg der Qualität verwendet wird, von der Arbeit, die diese Qualität sichern soll, abgezogen. Der vermeintliche Freiheits-Charakter der »Kontrollgesellschaft« bildet den wichtigsten Aspekt von Deleuzes Überlegungen: Nach seiner Anschauung sind »geschlossene Institutionen« dadurch charakterisiert, dass sie, als »Gußformen«17getrennt, »analogisch«18 voneinander arbeiten und die Individuen »zwischen zwei Einsperrungen«19 (der Film zeigt, wie die Patientinnen von einer Institution in die nächste entlassen werden) in jeder Institution wieder »bei Null anfangen«20 (allegorisch konkretisiert im System der Lockerungsstufen). Die Kontrollgesellschaft hingegen beschreibt er mit ›rhizomorphen‹ Eigenschaften: »Die verschiedenen Kontrollmechanismen [sind] untrennbare Variationen, die das System einer variablen Geometrie […] bilden.«21 Bezeichnend für die Kontrollgesellschaft ist »der unbegrenzte Aufschub«22, man wird »nie mit irgend etwas fertig«23. Signifikant ist etwa auch die fortwährende »Weiterbildung«24. Es gibt immer etwas zu lernen, zu verbessern.

15 16 17 18

G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 260. Ebd. Ebd., S. 256. Ebd, Hervorhebung im Original, (der Begriff bezieht sich im Original auf die »Sprache dieser verschiedenen Milieus«).

19 20 21 22 23 24

Ebd., S. 257. Ebd., S. 256. Ebd. Ebd., S 257, Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd.

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Um die Disziplinargesellschaft zu definieren, bezieht sich Deleuze auf Foucaults Vorstellung der Pastoralmacht, die über »die gesamte Herde und jedes einzelne Tier«25 wacht. Wie Foucault beschreibt er die Disziplinarmacht als gleichzeitig »vermassend und individuierend« 26 . Seine Anschauungen werden anhand von Zahlensystemen deutlich: »Die Disziplinargesellschaften haben zwei Pole: die Signatur, die das Individuum angibt, und die Zahl oder Registrierungsnummer, die seine Position in einer Masse angibt.«27 In diesem Sinne könnte eingewandt werden, dass die disziplinarische Zuweisung als Zahl zwar objektivierend ist, in ihr aber trotzdem immerhin ein Fixum liegt. Das Individuum besitzt eine ihm unikate Zuweisung, in dem es – überspitzt ausgedrückt – eine Heimat finden kann. Eine Nummer zu werden und darin sein Selbst zu finden, das mag zynisch klingen. Doch Deleuze prognostizierte bereits 1990: »Angesichts der kommenden Formen permanenter Kontrolle im offenen Milieu könnte es sein, dass uns die härtesten Internierungen zu einer freundlichen und rosigen Vergangenheit zu gehören scheinen.«28 Er meint: »Die numerische Sprache der Kontrolle besteht aus Chiffren, die den Zugang zur Information kennzeichnen, bzw. die Abweisung. Die Individuen sind ›dividuell‹ geworden«29. Die starken Definitionsbegriffe »Chiffre« und »dividuell« erläutert er in Postskriptum über die Kontrollgesellschaften nicht dezidiert. In einem kurzen Exkurs sei daher auf ihre Bedeutung eingegangen, weil so schließlich Rückschlüsse auf das »Kontroll«-Individuum und seine Bereitschaft zur Kontrolle geschlossen werden können: Eine »Chiffre« ist eine Verschlüsselung, ein Geheimzeichen, eine Art Code, die sich durch algorithmische Bestimmung in ihren Zeichen-Anordnungen zusammenfügt. Ein Algorithmus ist vereinfacht gesprochen ein Programm, das erklärt, wie man ein Problem löst. Möchte man zum Beispiel aus der Zahl 4 eine Wurzel ziehen, würde der »Wurzelziehungs-Algorithmus«, der durch mathematische Überlegungen festgelegt wurde, lösen, dass die Wurzel von 4 eine 2 ist. Es gäbe ver-

25 26 27 28 29

G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 258. Ebd. Ebd., S. 257, Hevorhebung im Original. G. Deleuze, in: Kontrolle und Werden, S. 251. G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 258, Hervorhebung im Original.

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schiedene Möglichkeiten und Schritte, die Wurzel zu ziehen, aber diese algorithmische Variante gilt eben als entscheidend. Der Algorithmus legt durch den Input, der ihm zur Verfügung steht, einen Output fest. Er ist im übertragenen Sinne ein ›Aussagenfilter‹. Dies ist unter anderem nötig, um bei einer Masse an Wissen überhaupt auf einen konsumierbaren »Output« zu kommen. Suchmaschinen werden etwa durch spezifische Algorithmen gesteuert. Der Sinn einer Chiffre ist ihre Uneindeutigkeit. Ein ›Chiffrier-Algorithmus‹ soll also bei einer Chiffre keine eindeutige Zahl, sondern eine möglichst unzusammenhängende Zeichenfolge als Lösung ergeben. Wichtig dabei: Wie zufällig zusammengesetzt eine Chiffre auch sein mag, dahinter verbirgt sich eine Zugehörigkeit. Etwa wie bei einer Kontaktanzeige, bei der eine ganz bestimmte Person zuvor durch einen bestimmten Algorithmus diese Chiffre erhalten hat. Die Chiffre ist der »Zugang zur«30 Person. »Die Chiffre ist eine Losung«31. Essenziell ist: Die Chiffre, die durch einen Algorithmus entsteht, kann auch decodiert werden. Wenn die Chiffre etwa ist: ›Ich bin ein Mensch‹, wurde sie zuvor durch einen Algorithmus zusammengesetzt, der viel mehr Informationen hatte, bevor er sie zum Wert ›Ich bin ein Mensch‹ verschlüsselt hatte. Die Chiffre kann unterschiedlich decodiert werden, möglicherweise auf: sexuell, Verein, xx, achtundfünfzig, Kaffeeschwarz, blondiert, Karies, Abitur, Wien. Da der Algorithmus der Chiffre in seiner uneindeutigen Lösung mehr Möglichkeiten gelassen hat, ist auch die Decodierung der Chiffre variabler. Das ist der Unterschied zwischen der Kontrollgesellschaft und der Disziplinargesellschaft: Um das Disziplinar-Individuum zu decodieren, muss ein eindeutiger Begriff entschlüsselt werden. Um das Kontroll-Individuum zu decodieren, muss ein Rätsel gelöst werden. Das »Disziplinar-Individuum« ist die Lösung seiner Teile. Das »Kontroll-Individuum« ist die Lösungen seiner Teile. In der uneindeutigen Rückführbarkeit des Kontrollindividuums liegt eine unglaubliche Freiheit. Es kann ständig neue Varianten von sich als Lösung anneh-

30 G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 258. 31 Ebd., Hervorhebung im Original.

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men und demonstrieren. Der Algorithmus ist in der Disziplinargesellschaft, allegorisch gesehen, eine institutionelle »Gußform«32. Der Algorithmus der Kontrollgesellschaft ist bildlich betrachtet ein variierendes »Sieb«33, eine »sich selbst verformende[…] Gußform«34, ein »ich«, das immer weiter fortgeschrieben werden könnte: »ich bin ich bin ich bin ich bin ich…« Das Individuum ist nicht mehr auf seine Entität zurückgeworden. Es ist jedoch auch nicht mehr »mit sich selbst identisch«35. Es ist »dividuell«, kaum decodierbar, verrätselt. Das Kontroll-Individuum müsste dabei nicht unbedingt als »dividuell« bezeichnet werden. Es könnte genauso trividuell, gar xviduell sein. Seine »–heit« ist eine »Unbestimmt-«heit, im Grunde passen die Kombinationen »Chiffre« und »Dividuum« nicht zusammen. »Dividieren« = teilen, »Teilungspraxis«, ist schon ein bestimmender Prozess mit einer binären Logik. Eine Folge dieser Konstellation ist, dass dem Individuum in der »Kontrollgesellschaft« durch seine unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten die disziplinarische Verantwortung selbst zugeteilt ist (»Erkenne Dich selbst!«). Der Soziologe Ulrich Beck, der ebenfalls den Begriff des »Dividuums« als Bezeichnung für den sich in Einzelteile zergliederten Menschen nutzt, meint: »Im Zuge von Individualisierungsprozessen muss der Einzelne lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen.«36 Das Individuum wird »›zum Gestalter seines eigenen Lebens‹«37 – und damit zu seinem eigenen Wächter. Es ist selbst für Krankheiten, Irrwege, Unzulänglichkeiten verantwortlich. In diesem Sinne ist das Individuum ›erweitert schuldfähig‹. Nach Beck schlagen durch die Gestaltungsfreiheit »gesellschaftliche Problemlagen unmittelbar in psychische Dispositionen um, in persönliches Ungenügen, Schuldgefühle, Ängste, psychische Konflikte und Neurosen. Es entsteht

32 33 34 35

Vgl. G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 256. Ebd. Ebd. Vgl. Identitätsprinzip: G.W. Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, S. 44 ff.

36 Beck, Ulrich: Jenseits von Klasse und Stand? Soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 35-74, hier: S. 59.

37 Ebd. S. 58.

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– paradox genug – eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, dass gesellschaftliche Krisen als individuelle und psychische erscheinen und nicht mehr oder nur noch sehr vermittelt in ihrer Gesellschaftlichkeit wahrgenommen und bearbeitet werden können«38

Becks Überlegungen würden den erörterten Vorbehalten zum DSM-5 entsprechen, dass Verhaltensauffälligkeiten individuell pathologisiert werden, die Gründe dafür jedoch in komplexeren sozialen Strukturen liegen. Die erhöhte »Schuldfähigkeit« für Niederlagen, Erfolge, Gestaltung des persönlichen und sozialen Lebens hat schließlich erweiterte »Schuldunfähigkeit« zur Folge. Überfordert mit seiner chiffrierten Ich-Konsistenz, sucht das Individuum Unterstützung in Kontrollstrukturen, sozialen ›Anschluss‹ in virtuellen oder analogen Netzen, wo es sich in Zuordnungen begibt und sich durch moderne »Pastoralmacht«-VertreterInnen Lösungen erhofft. Diese Sehnsüchte und Ängste werden vom Kapitalmarkt dankbar aufgenommen. »Die Eroberung des Marktes geschieht durch Kontrollergreifung und nicht mehr durch Disziplinierung«39, so Deleuze: Der Mensch der Kontrollgesellschaft »ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch.«40 Dies bedingt seine freiwillige Kontrolle.

23.1 D AS »A UGE

DER

V ORHERSEHUNG «

Einführend wurde die Vorstellung eines »unbedingten« göttlichen Sehens und das ikonische Symbol des »Auge Gottes« erläutert. Dieses panoptische Auge hat ebenfalls einen performativen Ableger auf dem Symbol der neuzeitlich kapitalistischen Ökonomie schlechthin: Auf der Rückseite der amerikanischen Ein-DollarNote ist das »Auge Gottes« umgeben von einem trinitarischen Dreieck und einem Strahlenkranz in der abgesetzten Spitze einer Pyramide abgebildet.41 Unter der Pyramide steht auf einem Banner der simplifizierte lateinische Ausdruck »Novus Ordo Seclorum« ( = »Novus Ordo Saeculorum«) – zu Deutsch: »Die neue Ordnung der Zeitalter«. Das »Auge Gottes« als Symbol der immateriellsten und transzendentesten Form des Sehens, hat sich in die materiellste Form gewandelt: Abgebildet auf jedem Ein-Dollar-Schein, als merkantile Inkarnation für eine »Neue Ordnung des

38 39 40 41

Beck, Ulrich: Jenseits von Klasse und Stand?, S. 59, Hervorhebung im Original. G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 260. Ebd. Siehe Abb. im linken Kreis auf der Dollar-Note, folgende Seite.

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Zeitalters«, konstituiert es die Allmacht des Geldes. »Saeculum« bedeutet auf lateinisch sowohl »Zeitalter«, als auch »Ewigkeit«. Die neue kapitalistische Ordnung gilt für »alle Zeit«. Im ›unfreien und bedingten‹42 Sehen des Geldes erfolgt also alles Handeln – folgt man der ›Logik‹ des Geldes. Die Analogie zur Vorstellung eines metaphysisch-transzendenten Attribut Gottes, der nach christlicher Auffassung aufgrund seiner Machtfülle alles sieht und der technischen Adaption des Menschen, der sich qua seines Geldes und seiner Apparaturen ebenfalls eine Machtfülle erwerben will, entlarvt den Menschen in seiner Hybris. Er will gottgleich sein.

Abb. 38: »Auge Gottes« auf dem Geldschein43 Bei der Erforschung von Macht in der modernen Kontrollgesellschaft sah Deleuze als wesentliches Kriterium die »Kontrolle über die ›Kommunikation‹, die heute dabei ist, hegemonial zu werden.«44 Wie bei seinen Überlegungen Maschinen stets eine elementare Rolle einnehmen, drücken sich seiner Meinung nach auch »Gesellschaftsformen« 45 durch »Maschinentypen« aus46: »[D]ie Kontrollgesellschaften operieren mit Maschinen der dritten Art, Informationsmaschinen und Computern, deren passive Gefahr in der Störung besteht und deren aktive Gefahr Computer-Hacker und Viren bilden.«47 42 Abgewandelt von: »Du bist mein Gott der alles sieht. Und Dein Sehen ist Wirken. Du wirkst also alles.«, in: N. von Cues: Von Gottes Sehen. De visone Dei, S. 65.

43 44 45 46 47

Abb. einer US-amerikanischen Ein-Dollar-Note. Toni Negri im Gespräch mit G. Deleuze, in: Kontrolle und Werden, S. 250. G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 259. Ebd. S. 258. Ebd. S. 259.

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Obwohl Deleuze 1993 die Ausmaße des Internets noch nicht absehen konnte, beschreibt seine numerische Vorstellung ziemlich exakt die Identität der virtuellen Welt, in der die Individuen und ihre »Teilnehmeraktivitäten als numerische Größen«48 durch Programme mit »jeweils festgelegten Kriterien«49 und algorithmischen Erfassungsmethoden »als messbare bzw. datenanalytisch verwertbare Verhältnisse zur Geltung«50 kommen, wie dies Josef Wehner im Zusammenhang der Betrachtung von Medienrezeption und -produktion im Internet schreibt. »Man braucht keine Science-Fiction, um sich einen Kontrollmechanismus vorzustellen, der in jedem Moment die Position eines Elements in einem offenen Milieu angibt«51, meint Deleuze. Ähnlich der elektronischen Fußfessel, die Gefangenen angelegt wird (ein weiteres Beispiel für die Öffnung von Institutionen und adpatierte Einschließung von Individuen), verweist Deleuze auf die Vorstellung Félix Guattaris, bei der jeder »dank seiner elektronischen (dividuellen) Karte«52 öffentlichen und privaten Zugang erhält, »durch die diese oder jene Schranken sich öffnet; die Karte könnte auch an einem bestimmten Tag oder für bestimmte Stunden ungültig sein; was zählt ist nicht die Barriere, sondern der Computer«53. Dies wurde in der Schleusenszene des Films konstitutiv, in der eine Informationsmaschine der »Kontrollgesellschaft« den Zugang zum ›alten‹ Disziplinarsystem öffnete und blockierte – was die Verzahnung von Kontrollformen und Disziplinarinstitutionen visualisiert. Foucault wies darauf hin: »Eine wichtige Sache ist festzustellen. Bentham hat gedacht und gesagt, dass sein optisches Verfahren die große Innovation für eine gute und leichte Ausübung der Macht sei. […] Doch die in den modernen Gesellschaften ins Werk gesetzten Machtprozeduren sind sicher zahlreicher, verschiedenartiger und reichhaltiger. Es wäre falsch zu behaupten, das Sichtbarkeitsprinzip beherrsche die gesamte Technologie der Macht seit dem 18. Jahrhundert.«54

48 Wehner, Josef: ›Social Web‹ - Zu den Rezeptions- und Produktionsstrukturen im Internet, in: Jäckel, Michael / Mai, Manfred (Hg.): Medienmacht und Gesellschaft. Zum Wandel öffentlicher Kommunikation, Frankfurt am Main 2008, S. 197-218, hier: S. 216.

49 50 51 52 53 54

Ebd. Ebd. G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 261. Ebd. Ebd. Foucault, Michel, in: Barou, J.-P. / Perrot. M.: Das Auge der Macht (Gespräch), in: Defert, Daniel / Ewald, François (Hg.): Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band III

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In diesem Sinne unterschätzt Foucault womöglich die Macht des panoptischen Systems. Das Sichtbarkeitsprinzip ist die Machttechnologie der modernen Gesellschaft: Bei der ›elektronischen Fußfessel‹, die den Individuen durch unterschiedliche Modulationen der Überwachung angelegt ist, können im Wesentlichen zwei Kontrollrichtungen unterschieden werden: die ›freiwillige‹ und die ›unfreiwillige‹ Kontrolle. Beide Formen bedingen sich durch die chiffrierte Existenz des Kontroll-Individuums, wie sich auch die Kontrollmechanismen von Staatsmacht und Kapitalmarkt reziprok verflechten.

23.2 ›U NFREIWILLIGE ‹ K ONTROLLE Staatliche Kontrolle und Macht legitimiert sich, wie eingangs erörtert, durch Sicherheitsbedürfnisse, die sich nach Thomas Hobbes genuin aus der – unkontrollierten – Situation des Naturzustands, dem »Kampf aller gegen alle«, ergeben. So meint Peter Imbusch: »Kontrolle transportiert zugleich die Hoffnung auf die Kontrollierbarkeit unwägbarer gesellschaftlicher Entwicklungen, seien dies anomische Tendenzen, Kriminalität oder sonstiges abweichendes Verhalten. Das, was unter Kontrolle ist, kann nicht mehr gefährlich werden.«55

Kontrolle wird damit gerechtfertigt, dass sie der Präventivwirkung und Gefahrenabwendung, etwa von Terrormaßnahmen, diene und somit die Sicherheit erhöhe. In diesem Zusammenhang nehmen auch wieder die »allgemeingefährlichen« Abweichungs-Individuen eine zentrale Rolle ein. Sie schüren Angst, erhöhen den Wunsch nach Sicherheit und rechtfertigen so Kontrolle.

1976-1979, S. 250-271, hier S. 252 (mit Verweis auf Original: »L’ œil du pouvoir« [Gespräch mit J.-P. Barou und M. Perrot], in Bentham, J.: Le Oanoptique, Paris 1977, S. 9-31).

55 Imbusch, Peter, in: Einführung, in: Imbusch, Peter / Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Integration - Desintegration. Ein Reader zur Ordnungsproblematik moderner Gesellschaften, Wiesbaden 2008, S. 463-468, hier: S. 463.

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Als Folge eines wachsenden Sicherheitsbedürfnisses steigt seit den 1990er Jahren56 – mit Großbritannien57 als europaweiter »Vorreiter«58 – unter anderem die öffentliche Videoüberwachung. Die Kameras, die auf Plätzen, Straßen, in öffentlichen Institutionen und Verkehrsmitteln angebracht sind, potenzieren die Funktion des panoptischen Turmwächters, der selbst nicht zu sehen ist, jedoch alles sieht. Doch hinter dem Video-Auge sitzt nicht in jedem Fall der manifeste Wächter, wie in der Disziplinaranstalt. In dem Moment, in dem sich Gewalt ereignet, wird in wenig Fällen mit Hilfe des Videoblicks direkt eingeschritten. Die Videobeweise59 von Gewaltverbrechen etwa an U-Bahn-Höfen, zeigen, dass die Kameras die Gewalt nicht verhindern, sondern neben der präventiven Funktion zur nachträglichen Analyse dienen, also vor allem der »Delinquenz«Bildung nutzen. Sie beweisen, dass und wie Gewalt vorhanden ist und sichern so ihre eigene Existenzberechtigung. Damit erreicht die Debatte um das Dilemma zwischen »Freiheit« und »Sicherheit«, die sich exemplarisch um die PatientInnen der Klinik bildet, nun eine kollektive Masse. Die BürgerInnen sind dem ständigen Vorbehalt von »Allgemeingefährlichkeit« ausgesetzt. Es sind nicht mehr Einzelne allen, sondern alle potenziell jedem gefährlich, ein stetige Antizipation des »Kampfes aller gegen alle«, der doch durch die Einsetzung von Staatlichkeit beendet werden sollte, nun aber sich in Staatlichkeit zu entwickeln scheint. Sämtliche Personen stehen unter »Generalverdacht«, unterliegen einer generellen Spurensicherung. Darin liegt ein Akt der Entmündigung. Es ist so, als würde man ein Kind nie ohne elterlichen Blick loslaufen lassen, weil man ihm nicht zutraut, mit dieser

56 Vgl. Hempel, Leon / Metelmann, Jörg: Bild - Raum - Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, in: Hempel, Leon/ Metelmann, Jörg (Hg.): Bild Raum - Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt am Main 2005, S. 9-21, hier: S. 9.

57 Mit etwa 4,5 Millionen Kameras (Stand 2010), Rolff, Marten: Die toten Augen von London, 17.5.2010, http://www.sueddeutsche.de/digital/ueberwachungskameras-ingrossbritannien-die-toten-augen-von-london-1.199517 (22.11.2014). Nach Angaben von Scotland Yard »werden nur drei Prozent aller Diebstähle auf offener Straße per Video aufgeklärt«, ebd.

58 L. Hempel / J. Metelmann: Bild - Raum - Kontrolle, S. 9. 59 Vgl. Aussage des mittlerweile damit häufig zitierten Videokünstlers Lehmann, Alexander: »Jeder Videobeweis ist ein Beweis dafür, dass Überwachungskameras keine Verbrechen verhindern«, https://twitter.com/alexlehmannfilm/status/282164401556033536 (20.10.2014).

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Herausforderung umzugehen. »Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser«. Doch es ist ein Schutz, der gleichsam allgegenwärtig und anonym ist: »Das Kameraauge blickt leer. Es lässt uns allein. Selbstgenügsam und asozial offenbart es die Intentionslosigkeit der Überwacher. Jede einzelne Überwachungskamera ist eine Antithese zu Benthams ›Panoptikum‹«60, meint Christian Welzbacher, der Herausgeber von Panoptikum oder Das Kontrollhaus. Demgegenüber steht die intentionale Überwachung des klinischen Disziplinarsubjekts. Die Überwachten in den Kriseninterventionsräumen und der Anlage blicken zwar auch auf ein ›leeres‹ Objektiv, doch sie können sich eines leiblichen Wächters gewiss sein. Als ›Nummer‹ hatten sie einen konkreten Aufpasser. Dieser fällt in der »Kontrollgesellschaft« weg. In dieser liegt der Sinn von Videoüberwachung vor allem in der optischen Wissensansammlung. Wenn man Susan Sontags Annahme des »Memento Mori« folgt, nimmt die Überwachung sämtlichen Individuen einen Teil ihrer Lebendigkeit. Dabei ist der Überwachungsblick nur ein Puzzleteil einer umfassenderen objektivierenden Kontrolle. Auch die sogenannte »Vorratsdatenspeicherung«, die die Kommunikation des Individuums für den Fall eines erfüllten Tatbestands speichert, ist Bestandteil von Sicherheitsbedürfnissen. Dieser ist, ähnlich der Videoüberwachung ein Glaubensaspekt immanent. Man glaubt, dass diese helfen soll, kann aber nie sicher sein, ob sie tatsächlich helfen wird. Ähnlich der Vorstellung von Gottes »allumfassendem Blick« wird durch diese säkulare Form der Überwachung gleichzeitig Schutz gesucht und der Blick ebenso skeptisch gefürchtet. Aus dem Himmel blicken Drohnen und Satelliten auf die Erde; Geheimdienste, die im Dienst der Staatsmacht stehen, wie etwa BND (Deutschland), NSA, CIA (USA), Mossad (Israel) nutzen Kontrollmöglichkeiten, um so viel Wissen wie möglich anzusammeln, damit unter anderem Sicherheit zu gewährleisten und Macht zu erhalten. Die Enthüllungen des sogenannten »Whistleblowers« Edward Snowden 61 über die Überwachung des amerikanischen Geheimdienstes NSA (»National

60 Welzbacher, Christian: Nachwort, in: Welzbacher, Christian (Hg.): Panoptikum oder Das Kontrollhaus, Berlin 2013, S. 196-212, hier S. 212.

61 Edward Snowden behauptete, mittlerweile mannigfach zitiert, im »Guardian«:»The NSA has built an infrastructure that allows it to intercept almost everything. With this capability, the vast majority of human communications are automatically invested without targeting. If I wanted to see your emails or your wife's phone, all I have to do is use intercepts. I can get your emails, passwords, phone records, credit cards.« Snowden, Edward, im Interview mit: Greenwald, Gleen / MacAskill, Ewen, in:

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Security Agency«) und dessen Zusammenarbeit mit anderen Ländern zeigen seit Juni 2013 sukzessive, wie der Datenverkehr von Telekommunikation und Internet weltweit etwa durch die Geheimdienst-Programme »Prism«, »X-Keystore« und »Tempora« (Großbritannien) überwacht wird. Im Zuge der Geheimdienst-Enthüllungen wird immer wieder der Begriff des Panopticon bemüht. So schrieb etwa die französische Zeitschrift »Libération«: »Nichts von dem, was im Internet gezeigt, gesagt oder geschrieben wird, entkommt diesem elektronischen Panoptikum, das alles scannt, kopiert und speichert. Ob diese unvorstellbar große Datenmenge ausgewertet werden kann oder nicht, spielt eine untergeordnete Rolle, verglichen mit dem brutalen, dauerhaften und zweifelsohne nicht rückgängig zu machende [sic!] Vergehen gegen das, was Grundlage jeder Demokratie ist: der Respekt des Privatlebens.«62

Die Geheimdienste sind angeblich auch in der Lage, verschlüsselte Kommunikation zu decodieren63; das NSA-Programm »XKeyscore« wurde als »eine Art allsehendes Internet-Auge«64 bezeichnet, das sämtliche Netz-Vorgänge erfasst. Darin realisiert sich eine von Foucault düster ausgesprochene Utopie: »Der Idealfall des heutigen Strafsystems wäre die unbegrenzte Disziplin: eine Befragung ohne Ende; eine Ermittlung, die bruchlos in eine minutiöse und immer analytischer werde Beobachtung überginge; ein Urteil, mit dem ein nie abzuschließendes Dossier eröffnet würde«65.

The Guardian, 10.6.2013, http://www.theguardian.com/world/2013/jun/09/nsa-whistle blower-edward-snowden-why (20.10.2014).

62 Libération, zit. nach: Deutschlandfunk Presseschau: Nichts entkommt dem Panopticon, 2.7.2013. http://europa.deutschlandfunk.de/2013/07/02/nichts-entkommt-dem-panoptikum/ (18.10.2014).

63 Vgl. u.a. Reißmann, Ole / Horchert, Judith: Internet-Verschlüsselung: Bundesregierung redet Snowden-Enthüllungen klein, 6.9.2013, http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/reaktion-auf-snowden-enthuellungenregierung-zweifelt-an-nsa-spionage-a-920880.html (25.11.2014).

64 Lischka, Konrad / Stöcker, Christian: NSA-System XKeyscore: Die Infrastruktur der totalen Überwachung, 31.7.2013, http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/xkeyscore-wie-die-nsa-ueberwachungfunktioniert-a-914187.html (21.10.2014).

65 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 291.

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Foucaults Dossier findet sich in den Zentralen der Geheimdienste, die auch durch die Daten des Kapitalmarkts, der Internet-»Giant Player«, mit Informationen angereichert werden, wie etwa die »Washington Post« zitiert: »Equally unusual is the way the NSA extracts what it wants, according to the document: ›Collection directly from the servers of these U.S. Service Providers: Microsoft, Yahoo, Google, Facebook, PalTalk, AOL, Skype, YouTube, Apple.‹«66 Die panoptische Blickmacht ist so in der Lage, individuelles Leben in seiner Gesamtheit zu erfassen: Kinderanzahl, Geldeinnahmen, Krankheiten, Steuerabgaben, Verkehrssünden, Reisetätigkeiten, politische und religiöse Ansichten, Bildungsabschlüsse, Vorlieben, Sehnsüchte und Ängste – alles ist einsehbar. Das Individuum entscheidet dabei nur bedingt selbst über den Zugriff. Durch das Wissen um Überwachung, findet eine Form von Selbst-Disziplin statt. Kommunikation wird eingeschränkt. Wie Emails formuliert, Telefonate getätigt werden, geschieht in Anbetracht des Blicks, den man immer weniger zuordnen respektive mit einem konkreten Wächter in Verbindung bringen kann. Diese Form der Einsicht in Kommunikation, verletzt dabei im direkten Sinne das Grundrecht: Art. 10 Abs. 1 Grundgesetz »Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.«67

Deleuze problematisiert in der Betrachtung von Disziplinar- und Kontrollgesellschaft ähnlich wie Foucault zur Ausweitung der »Normalisierungsmacht« auch die Rolle des Rechts: »Und wenn unser Recht schwankend ist und sich in der Krise befindet, so liegt das daran, dass wir die eine verlassen haben und in die andere eintreten.«68 In diesem Sinne bedarf auch die Möglichkeit eines Eingriffs in die Grundrechte einer sensiblen Beobachtung.

66 Zit. nach: Gellmann, Barton / Poitras, Laura: U.S., British intelligence mining data from nine

U.S.

Internet

companies

in

broad

secret

program,

6.6.2013,

http://www.washingtonpost.com/investigations/us-intelligence-mining-data-fromnine-us-internet-companies-in-broad-secret-program/2013/06/06/3a0c0da8-cebf-11e28845-d970ccb04497_story.html?hpid=z1 (21.10.2014).

67 H. Dreier: Grundgesetz. Kommentar, Band I, S. 1150. 68 Vgl. G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, S. 257.

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23.3 ›F REIWILLIGE ‹ K ONTROLLE Sowie Macht nur »in actu«69 besteht und solange »als die Gruppe zusammenhält«70, konstituiert sich die panoptische Kontrollgesellschaft durch reziproke Mitwirkung. Trotz Angst und Kritik vor dem sogenannten »perfekten Überwachungsstaat« und unfreiwilliger Datenerfassung bedingen Individuen weltweit deren Voraussetzungen. Die Weblogs, Chroniken, Profile von sozialen Netzwerken sowie das Nutzerverhalten im Online-Versand werden auf der Suche nach Zugehörigkeit und Vernetzung von jedem Einzelnen selbst angereichert. So lange globale Internet-Unternehmen Daten sammeln können, werden sie Daten sammeln. Denn umso mehr Wissen können sie ihren Kunden bieten, umso größer wird ihr Umsatz und ihre Macht. Auf diese Daten greifen Staatsmacht und Kapitalmarkt gleichermaßen zum Zwecke ihrer jeweiligen Besserungs- und Sicherungs-Interessen zu. Die Diagnose der Jetzt-Tätigkeit des Individuums geht dabei einher mit einer Prognose über die Zukunft, einer Voraussagung durch algorithmische Datenerfassung, wie das Individuum leben, sich verhalten, sich entwickeln und kaufen wird. Die Möglichkeiten von Freiheit, Halt, sozialer Zugehörigkeit und Identitätsbildung, die das Netz bietet, und die dankbar angenommen werden, machen auch erst die Ausmaße des panoptischen Blicks von Staatsmacht und Kapitalmarkt möglich. Freiheit und Kontrolle bedingen sich also. Das Individuum will zwar nicht unbedingt, dass es gespeichert und analysiert wird, doch es nimmt die Blicke freiwillig in ›Kauf‹, weil es von bestimmten Blicken unbedingt gesehen werden will. Auf dem Weg zur Erzeugung seines Selbstbildnisses gibt es daher Auskunft über soziale Beziehungen, Zeit- und Raum-Aufenthalte, Konsumverhalten sowie Lebensgewohnheiten. Wer sich zeigt, kann nur bedingt beklagen, dass er gesehen wird. Er kann jedoch beklagen, was damit geschieht. Doch die Kontrolle geht nicht nur von ›dunklen‹ Mächten aus, sie geht von jedem einzelnen der NutzerInnen selbst aus. Die soziale Community ist auch eine kontrollierende Community. Ihre Blicke erzeugen Fremd- und Selbst-Disziplin. Darüber hinaus ist Macht auch und vor allem im Internet nie nur im Besitz einer Gruppe, wie Josef Wehner zu den »Rezeptions- und Produktionsstrukturen

69 M. Foucault: Wie wird Macht ausgeübt?, S. 191. 70 H. Arendt: Macht und Gewalt, S. 45.

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im Internet« schreibt: Einerseits liegt in den »Vermessungsmethoden der Publikumsforschung […] restriktive Bedingung«71, andererseits »werden neue Möglichkeiten der Selbst- und Fremdbeobachtung, der Vernetzung und Adressierung […] erschlossen, die ohne eine solche Beschränkung nicht verfügbar wären.«72 Die »Selbst- und Fremdbeobachtung« verleiht somit auch den Individuen neuen Machtspielraum: Auch LehrerInnen, Ärzte und Ärztinnen oder Kliniken können nun etwa auf Plattformen bewertet werden. Gefangene berichten über ihre Lebensumstände, Politik, Kultur können bewertet und mitgestaltet, »Rezipientenrolle« und »Produzentenrolle«73 stets variabel getauscht werden. Dies schafft auch bei den Mächtigen Selbstdisziplin. Die Kontrolle geht nun umgekehrt von sehr vielen aus. Das Wesen der individuellen Parzellierung und Trennung, die Foucault zu Zeiten der Pest im Mittelalter beschreibt, die in Zeiten der Krise stattfand, ist nun zu einem Normalzustand geworden. Das Individuum ist zunehmend individualisiert, räumlich sektorisiert und erfassbar. Die Parzellierung ist jedoch nun aufgrund vielfältiger Kommunikationsmöglichkeiten, die Deleuze als maßgeblich für Kontrolle beschreibt, konnexionsfähig geworden. Die Individuen können in ihren ›Parzellen‹ miteinander reden, sich austauschen, durch Räume sehen und die Plätze tauschen. Um jedes Individuum ist im übertragenen Sinne ein Netz aus Koordinatenpunkten gespannt. Ein Netz gibt gleichermaßen Schutz und hält gefangen. Das Netz, das sich um Zeit und Raum, die Persönlichkeit und Körper der Individuen spannt, wird zur gemeinschaftlichen Vergitterung, die gleichermaßen verbindet und trennt. »FREEDOM IS SLAVERY«74 lautet einer der drei Wahlsprüche der Partei in George Orwells Werk 1984. Entscheidungen selbst treffen zu müssen und nicht anderen überlassen zu können, nicht zu einer eindeutigen Lösung algorithmisiert zu werden, die leichter auf ihre Zusammensetzung zurückfindet, damit mehr in Grübeln, Zweifel, Nachdenken zu geraten, offenbart nach Orwells »Partei« innere Sklaverei. Wirkliche Freiheit bedeutet, von Entscheidungen befreit zu werden. Erst äußere Sklaverei macht innere Freiheit möglich. Beachte man die Sorgen und Bedürfnisse der freiheitlichen »Kontrollgesellschaft«, scheint es, als würde der Wahlspruch der »Partei« subtile Bestätigung finden.

71 J. Wehner: ›Social Web‹ - Zu den Rezeptions- und Produktionsstrukturen im Internet, S. 216.

72 Ebd. 73 Beide Begriffe ebd., S. 197. 74 Orwell, George: 1984, New York 1950, S. 7, Großschreibung im Original.

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Das neuzeitliche Individuum, das vor allem ein selbstdiszipliniertes ist, ist, sowohl durch andere, als auch durch seine eigenen Blicke ein gefangenes, das es in gewissem Maße auch sein will. Denn wenn Freiheit Sklaverei ist, bedeutet dann nicht im Umkehrschluss Gefangenschaft Freiheit? In dieser Untersuchung wurde es bereits als bedenklich angesehen, dass manche Patientinnen in der Klinik eine Heimat zu empfinden schienen, sich anfingen, in ihren Begrenzungen, in ihrer Schuldunfähigkeit einzurichten. Doch so schrecklich der Gedanke ist – in all den Gewichtssollwerten, den »Lockerungsstufen«, den Einträgen in Listen, Zuweisungen in Diagnosen, den fünfminütigen Zigarettenpausen, in all diesen zuverlässigen Grenzwerten, die Freiheit festlegen, liegt auch ein Angebot. Die Patientinnen sind (auch wenn sie nicht die Freiheit hatten, sich das selbst auszusuchen) von der Last der Freiheit befreit. Sie müssen sich nicht entscheiden. Sie sind auf etwas Eindeutiges festgelegt. Ihre Lösung steht fest. Wird nicht im ›Außen‹ auf subtile Weise nach ebensolchen Begrenzungen gesucht? Wenn die Ohnmacht gegenüber großen Mächten, wie der Politik oder der Wirtschaft beklagt wird, die Freiheit, die in der Kontrollgesellschaft allen selbstverständlich zugänglich erscheint, ostentativ eingefordert wird, stellt sich dies auch als hohle Phrase dar. Jemandem die Schuld zu nehmen, bedeutet, ihm Verantwortung, Macht und letztlich Freiheit zu nehmen. Doch Freiheit und Schuldfähigkeit werden oft selbstständig delegiert: Gesetze, Maßregelungen, Teilungspraktiken gelten als maßgeblich dafür, dass »Freiheit« nicht erlangt werden kann. Sie werden dabei als absolut angesehen, obwohl sie stets kontingente Prozesse durchlaufen. Kontrolle macht es schwer, Freiheit zu erlangen, doch sie wird aus Angst vor Freiheit, vor Schuldfähigkeit und Verantwortung auch gewollt. Der Begriff des »Gesetzes« aus Kafkas »Türhüterlegende« kann ebenfalls als Synonym für Freiheit stehen. Am Eingang steht meist ein Türhüter, der einen auf unbestimmte Zukunft vertröstet. Er wird als Hindernis mächtig. Er verstellt einen unabwägbaren Weg. Doch »die Freiheit« steht prinzipiell allen offen – wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise und jeweils nur durch einen individuellen Zugang betretbar, so wie Kafkas Türhüter sagt: »Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«75

75 F. Kafka: Der Proceß, S. 198.

24. Fazit

Wo stehen wir am Ende dieser Machtreise? Bei dieser Untersuchung war es beabsichtigt, im Film diejenigen, die die Macht haben, die Pflegerinnen, in den Fokus zu nehmen. Bereits schon an der Verschiebung dieses Blickwinkels auf die Patientinnen, den diese autark produzierten, wurde konstitutiv: Das Personal hat nicht die Macht. Es gibt niemanden, der die Macht hat1. Macht ereignet sich. Sie ist ein Prozess, der erst durch mächtige und ohnmächtige Positionen gebildet wird, die sie gegenseitig konstituieren und legitimieren und so ständig neue Kräfteverhältnisse produzieren. Ausgehend vom beispielhaften Blick auf die Klinik für Forensische Psychiatrie und dem reziprok wirkenden intrapersonell und institutionell bedingten Machtgefüge wird dabei schlussendlich signifikant, dass Macht und Ohnmacht sowohl im heterotopischen als auch ›freien‹ Kontext dynamische Positionen sind. Sie durchlaufen diskursive Teilungs-, Hierarchie- und Absolutheitsbeschlüsse, geschehen in aktiven Prozessen, in historischer Wandelbarkeit und können trotz vermeintlich apodiktischem Anspruch etwa in disziplinarischen Institutionen, in minimalen Freiräumen subversiv unterwandert werden. Diese unbestimmten Freiräume, manchmal nur kaum auszumachende Ritzen, Spalten und Schlupflöcher innerhalb starrer Strukturen, sind letztlich die Initialzündung für jede Machtveränderung.

1 Vgl. Foucault, Michel: Der Stil der Geschichte, in: Defert, Daniel / Ewald, François (Hg.): Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Band IV, 1980-1988, Frankfurt am Main 2005, S. 799-807, S. 805 f., Hervorhebung im Original: »Es stimmt nicht, dass es in einer Gesellschaft Leute gibt die die Macht haben, und unterhalb davon Leute, die überhaupt keine Macht haben. Die Macht ist in der Form von komplexen und beweglichen strategischen Relationen zu analysieren, in denen niemand dieselbe Position einnimmt und nicht immer dieselbe behält.«

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Auch in dem kleinen freien Spalt, in dem sich die Filmproduktion ereignete, entstanden schließlich mannigfaltige Machtprozeduren. Diese wirkten von der Entstehung bis zum Abschluss auf den Film ein und aus diesem heraus, tangierten sowohl die AkteurInnen vor der Kamera als auch die Filmschaffenden und die institutionellen EntscheidungsträgerInnen. Und aus dieser »Heterotopie« heraus, konnte nun eine andere, eine ›filmische Heterotopie‹, entstehen. Da Macht ein ständiger Prozess ist, ist auch diese neue »Heterotopie« keine abgeschlossene. Wie Walter Benjamin schreibt, dass der Film »das Publikum in eine begutachtende Haltung bringt« 2 , ist nun wiederum das Filmprodukt von Machtimplikationen abhängig. Der Film ist auf Festivals und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt worden und wird in der Presse diskutiert. Die vielgestaltete »Machtsituation«3 geht weiter. Dies ist begrüßenswert, denn so lange Macht auf ein Entstehungsprodukt wirkt, bleibt es lebendig. Die Analyse bleibt jedoch bei diesem Punkt stehen. Wie der Film ver- und bewertet wird und welche weitere ›Aussage‹ er daraus entwickelt, soll und wird nun aus anderen Blickwinkeln betrachtet werden. Neben der dargelegten panoptischen Macht und Ohnmacht konstituierenden Mechanismen, die durch den Film und die schriftliche Untersuchung signifikant wurden, kann, unabhängig von den zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Arbeit sich ereignenden Reformüberlegungen, ein »höchster Handlungsbedarf«4 bei der Unterbringung nach Paragraf 63 StGB konstatiert werden: Dies betrifft die Erkenntnis, dass Macht und Ohnmachts-Verhältnisse in Gefangenschaft vor allem durch fest implementierte »Heterotopie«-Bedingungen ungünstig verschärft werden. Diese entstehen aus der isolierten Unterbringung, die auch durch eine geringe externe Begutachtung konstituiert wird5, sowie insbesondere durch die Bildung diametraler Verhältnisse von eingeschlossenem Raum und unbestimmter Zeit. Insbesondere die Entwicklung der Patientin Frau W. und das exemplarische Beispiel ihres Kaffeebecherwurfs zeigen, wie sehr PatientInnen in einer Klinik für

2

W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 48.

3 4

M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 258. Zu diesem Schluss kommen auch fachwissenschaftliche Untersuchungen. »[N]otwendigen[n] Handlungsbedarf« für die Unterbringung von Frauen wie Männern im Maßregelvollzug stellt auch fest: K. Melzer: Psychisch kranke Straftäterinnen, S. 179.

5

Vgl. Fußnote 14, Kapitel 6.

24. F AZIT

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Forensische Psychiatrie nach dem Urteil des Richters vom ›Urteil‹ des Personals abhängig sind. Nach verurteilter »Schuldunfähigkeit« wird ihr Schicksal bisweilen nun an kleinteiliger ›Schuld‹ gemessen. Der große Zusammenhang für Schuld und Unschuld, psychische Erkrankung und tatsächliche »Allgemeingefährlichkeit« läuft dabei Gefahr verloren zu gehen. Somit wurde als Erkenntnisgewinn deutlich, dass das Dispositiv der ›Unbestimmten Zeit‹ der maßgebliche Faktor ist, der die Patientinnen in Frustration, Aggression und Resignation versetzt. Der Unsicherheits-Faktor der Zeit ist nicht gesundend, sondern im Gegenteil krankheitsförderlich, erzeugt Abhängigkeit und damit genuin eine ungleiche Machtverteilung, jedoch ebenso einen deutlichen Ohnmachts-Indikator bei Personal wie Patientinnen. Die davon ausgehende »lähmende«6 Wirkung steht einem Gesundungs- und »Besserungs«-Erfolg diametral gegenüber. Das Prinzip der ›Unbestimmten Zeit‹ besitzt eine genuine Anlage zu verminderter Aufmerksamkeit, zum Abwarten, zum In-Vergessenheit-Geraten. Damit ist primär im Zuge der Unterbringung nach Paragraf 63 StGB die unbestimmt angeordnete Unterbringungsdauer grundsätzlich zu überdenken. In diesem Zusammenhang des Umgangs mit den gesellschaftlich ausgeschlossenen, psychisch erkrankten StraftäterInnen bleibt das Menschenbild infrage zu stellen, das nicht nur exemplarisch anhand des spezifischen Untersuchungsorts, sondern insgesamt aufgezeigt werden konnte. Indem die unfreien wie ›freien‹ Individuen durch Überwachung, Kontrolle, staatliche und wirtschaftliche Einflussnahme paternalistische Einschränkungen erfahren, driftet das Verhältnis von struktureller Macht und individueller Wirkungsmöglichkeit auseinander. Die PatientInnen im Besonderen und die Individuen im Allgemeinen werden genuin als krank, allgemeingefährlich, gleichsam schuldhaft und schuldunfähig angesehen. In einer wirklichen Schuldfähigkeit wird dabei keiner ernst genommen. In einer wirklichen Unschuld ebenso wenig. Der panoptische Blick samt all seiner verklärenden Versicherungen von Sicherheit und vermeintlicher Fürsorge stellt kaum noch Schutz, sondern vor allem Unterdrückung dar. Je tiefer, allmächtiger und auch feiger die Blicke wirken, umso größer wird die Selbstdisziplin und Paranoia, umso weniger traut sich jemand aufzublicken, sich in einer panoptischen Welt eine »andere Welt« zu wünschen, sich im ›freien unbedingten‹ Sehen zu begegnen, im gegenseitigen Wirken zu bestätigen, sich in Schuld und Scham, in Liebe und Freundschaft vorbehaltlos zu öffnen und gegenüberzutreten. Die produktiven und repressiven Wirkungen

6 Vgl. Frau B., in: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min.: 16:52.

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von Macht seien daher wachsamen Blickes zu beobachten. Und dazu können sich alle, nicht nur mediale und politische VertreterInnen, befähigt fühlen. Denn »Systemwächter« sind wir alle. »Wie wir hier alle liegen.«7 Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Untersuchung ist die, dass in jeder noch so ohnmächtig empfundenen Situation und starrer Struktur, Macht einen Prozess darstellt, der letztlich individuell gestaltet wird. Dies soll kein modern-pastorales Diktum von Verantwortlichkeit darstellen, sondern vielmehr die Tatsache bekräftigen, dass Macht ein natürliches, überlebenswichtiges Bedürfnis zu sein scheint, das identitätsbildend und -erhaltend wirkt. Darin liegt auch eine Freiheit. Und eine Hoffnung: Die Möglichkeit, Macht anzunehmen, so klein der Handlungsspielraum auch sein mag. Frau W. und ihre Inskription in größtmöglicher institutioneller und individueller Bedrängnis legen Zeugnis von der positiven Schuldfähigkeit und der Machtbefähigung des Individuums ab: »ich bin ich«.

7

Abgl. von Frau D., in: ANDERE WELT, R: C. Pfafferott, Min. 8:05.

VIII. Dank und Verzeichnis

Dank

Während der Arbeit an dem Film und an diesem Buch ist mir bewusst geworden: Macht entsteht wirklich erst dann, wenn Menschen in Gemeinschaft zusammenkommen. Ich danke für die produktive Macht, die durch so viele Personen in der letzten Zeit entstanden ist, die mir Rat, Unterstützung und Inspiration gegeben haben. Ich danke dem Cusanuswerk, das mich während meiner Promotion mit einem Stipendium gefördert hat. Über die finanzielle Hilfe hinaus waren vor allem die großartigen Erfahrungen und Begegnungen im Rahmen des Förderprogramms prägend. Ich danke allen AkteurInnen vor der Kamera, für ihren Mut und ihr Vertrauen, uns an ihrem Leben und ihren Gedanken teilhaben zu lassen und dies zu einem Film gestalten zu dürfen. Vielen Dank an die Institutionen, die diese Arbeit möglich gemacht haben, allen voran der Klinik Nette-Gut für Forensische Psychiatrie, dass sie uns ihre Türen geöffnet und einen Blick auf sich zugelassen hat. Einen großen Dank an Julia Kleinhenz und das gesamte Filmteam für die gemeinsam erlebten Erfahrungen, die Zusammenarbeit und den Zusammenhalt in dieser Zeit. Vielen Dank an meine Doktormutter Prof. Dr. Michaela Ott und meinem Doktorvater Prof. Pepe Danquart für ihre Betreuung, die diese Arbeit geprägt hat. Ihnen und ebenso Prof. Dr. Hanne Loreck danke ich für inspirierende Seminare und Gespräche. Mein Dank geht ganz besonders an Martin Pfafferott für seinen sorgfältigen Blick auf die Arbeit. Dafür danke ich auch herzlich Mareike Post. Dr. Anna Schwedler danke ich für ihren rechtswissenschaftlichen Rat. Vielen Dank an Ariane Bethusy-Huc, Mirjam Kappes und Patricio Farrell für Ideenanstöße und Gespräche. Ganz besonderen Dank an Michaela Buhl und an meine Familie für ihre Begleitung und Bestärkung in dieser Zeit.

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F ILMVERZEICHNIS A BOUT DE SOUFFLE (Frankreich 1960, R: Jean-Luc Godard) ALIEN (USA 1979, R: Ridley Scott) ALIEEN: LIFE AND DEATH OF A SERIAL KILLER (USA 2003, R: Nick Broomfield) ANDERE WELT (Deutschland 2013, R: Christa Pfafferott) A STRAWINSKY PORTRAIT (USA 1966, R: Richard Leacock) CHRONIQUE D’UN ÉTÉ (Frankreich 1960, R: Edgar Morin, Jean Rouch) UN CONDAMNÉ À MORT S’ EST ÉCHAPPÉ (Frankreich 1956, R: Robert Bresson) GEFÄNGNISBILDER (Deutschland 2000, R: Harun Farocki) LES MAÎTRES FOUS (Frankreich 1955, R: Jean Rouch) MATRIX (USA 1999, R: The Wachowski Brothers) MAN WITH A MOVIE CAMERA (UdSSR 1929, R: Dziga Vertov) MOI UN NOIR (Frankeich 1958, R: Jean Rouch) MONSTER (USA 2003, R: Patty Jenkins) ONE FLEW OVER THE CUCKOO’S NEST (USA 1975, R: Miloš Forman)

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PRIMARY (USA 1960, R: Robert Drew) TITICUT FOLLIES (USA 1967, R: Frederick Wiseman)

A BBILDUNGSVERZEICHNIS • Sämtliche Filmstills (im Original farbig) aus ANDERE WELT, Regie:

Christa Pfafferott, Bildgestaltung: Eva Katharina Bühler, Deutschland 2013, © av medien penrose Ausnahmen bilden: Abb. 1: Eigene Darstellung: Kodifizierende Macht der kleinen Zeit-Taktung versus unbestimmte Zeit der Unterbringung. Abb. 2: Bild aus Fotoserie, Pfafferott, Christa: Bretter, die die Welt bedeuten, Süddeutsche Zeitung Magazin, 5.12.2012. Folgende Abbildungen entstammen Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlags: • • • •

Abb. 3: Gefängnis Petite Roquette, orig. Abb. 24. Abb. 8: N. Harou-Romain, Plan für Strafanstalt, 1840, orig. Abb. 21. Abb. 13: Poyet, B.: »Plan für einen Spitalbau«, 1786, orig. Abb. 12. Abb.16: Strafanstalt von Stateville (USA), 20. Jahrhundert, orig. Abb. 26.

Abb. 4: Satellitenaufnahme der Justizvollzugsanstalt Moabit, Berlin, mit: https://maps.google.de (7.9.2013). Abb. 12: Böhme, Jakob: (Bildausschnitt) 1682, Abb. 95, in: Geissmar, Christoph: Das Auge Gottes. Bilder zu Jakob Böhme, Wiesbaden 1993, S. 214, Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (im Originalbesitz), Signatur Ne 293. Abb. 14: Symbol für Videoüberwachung der Berliner Verkehrsbetriebe BVG, http://www.u-bahnbilder.de/fgi.php (27.10.2014). Abb. 20: »Das Kino-Auge«: Filmstill aus MAN WITH A MOVIE CAMERA, Regie: Dziga Vertov, UdSSR 1929. Saunders, Dave: Documentary, New York 2010, S. 118. Abb. 38: Abbildung einer US-amerikanischen Ein-Dollar-Note.

Film Bettina Dennerlein, Elke Frietsch (Hg.) Identitäten in Bewegung Migration im Film 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1472-5

Tobias Ebbrecht Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis Filmische Narrationen des Holocaust 2011, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1671-2

Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch Februar 2014, 458 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-1091-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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3) ANZ2984.p 386859616318

Film Daniel Kofahl, Gerrit Fröhlich, Lars Alberth (Hg.) Kulinarisches Kino Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film 2013, 280 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2217-1

Niels Penke (Hg.) Der skandinavische Horrorfilm Kultur- und ästhetikgeschichtliche Perspektiven 2012, 320 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2001-6

Daniela Schulz Wenn die Musik spielt ... Der deutsche Schlagerfilm der 1950er bis 1970er Jahre 2012, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1882-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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3) ANZ2984.p 386859616318

Film Micha Braun In Figuren erzählen Zu Geschichte und Erzählung bei Peter Greenaway 2012, 402 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2123-5

Nicole Colin, Franziska Schößler, Nike Thurn (Hg.) Prekäre Obsession Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder

Christiane Hille, Julia Stenzel (Hg.) CREMASTER ANATOMIES Beiträge zu Matthew Barneys CREMASTER Cycle aus den Wissenschaften von Kunst, Theater und Literatur September 2014, 258 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2132-7

Katharina Müller Haneke Keine Biografie

2012, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1623-1

September 2014, 432 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2838-8

Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti (Hg.) Spuren eines Dritten Kinos Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema

Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Das Undenkbare filmen Atomkrieg im Kino

2013, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2061-0

Henrike Hahn Verfilmte Gefühle Von »Fräulein Else« bis »Eyes Wide Shut«. Arthur Schnitzlers Texte auf der Leinwand April 2014, 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2481-6

Hauke Haselhorst Die ewige Nachtfahrt Mythologische Archetypen und ihre Repräsentationen im Film »Lost Highway« von David Lynch 2013, 352 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2079-5

2013, 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1995-9

Christian Pischel Die Orchestrierung der Empfindungen Affektpoetiken des amerikanischen Großfilms der 1990er Jahre 2013, 266 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2426-7

Keyvan Sarkhosh Kino der Unordnung Filmische Narration und Weltkonstitution bei Nicolas Roeg Oktober 2014, 474 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2667-4

Peter Scheinpflug Formelkino Medienwissenschaftliche Perspektiven auf die Genre-Theorie und den Giallo Februar 2014, 308 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2674-2

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3) ANZ2984.p 386859616318

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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