Das 12. Buch der Dionysiaka des Nonnos aus Panopolis: Ein literarischer Kommentar 9783647311388, 3647311383, 9783666311383

Die Dionysiaka des Nonnos aus Panopolis (5./6. Jh. n.Chr.), ein Epos über Leben und Taten des Gottes Dionysos, zählen zu

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Das 12. Buch der Dionysiaka des Nonnos aus Panopolis: Ein literarischer Kommentar
 9783647311388, 3647311383, 9783666311383

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Simon Zuenelli

Das 12. Buch der Dionysiaka des Nonnos aus Panopolis Ein literarischer Kommentar

Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Friedemann Buddensiek, Sabine Föllinger, Hans-Joachim Gehrke, Karla Pollmann, Christiane Reitz, Christoph Riedweg, Tanja Scheer, Benedikt Strobel Band 213

Vandenhoeck & Ruprecht

Simon Zuenelli

Das 12. Buch der Dionysiaka des Nonnos aus Panopolis Ein literarischer Kommentar

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortliche Herausgeberinnen: Sabine Föllinger, Christiane Reitz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike, V&R unipress. Umschlagabbildung: Sarkophag mit dionysischen Szenen (3. Jh. n. Chr.), Museo Nazionale Romano, Inv. Nr. 124711 (Detail) © Museo Nazionale Romano Satz: Reemers Publishing Services, Krefeld Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 0085-1671 ISBN 978-3-666-31138-3

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Vorbemerkungen zum Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Nonnos aus Panopolis, der Autor der Dionysiaka . . . . . . . . . .

14

3. Die Stellung des 12. Buches innerhalb der Gesamtstruktur der Dionysiaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3.1. Überblicksskizze über Inhalt und Struktur der Dionysiaka . 17 3.2. Die Stellung des 12. Buches innerhalb des Werkganzen . . . . 21 4. Das 12. Buch als Abschluss der Ampelos-Episode . . . . . . . . . . 24 5. Der unfertige Zustand des 12. Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 6. Das 12. Buch und die literarische Tradition . . . . . . . . . . . . . . 36 7. Die dionysische Poetik der Dionysiaka . . . . . . . . . . . . . . . . 43 7.1. Dionysisches Erzählchaos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 7.2. Dionysische Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 8. Literarische Technik im 12. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 8.1. Narrative Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 8.2. Sprachlich-stilistische Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . 67 9. Überblick über die Textüberlieferung der Dionysiaka . . . . . . . .

85

10. Übersicht über das 12. Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Text und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Allgemeines Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist eine gründlich überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Wintersemester 2013/14 an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität eingereicht wurde. Dieses Buch hätte ohne die Hilfsbereitschaft vieler lieber Menschen niemals in dieser Form fertiggestellt werden können. An sie alle geht mein herzlicher Dank. Besonders erwähnen möchte ich Prof. Dr. Martin Korenjak, der meine Arbeiten zu Nonnos von Anfang an begleitet und viele hilfreiche Anregungen geliefert hat. Meinen Kolleginnen und Kollegen am »Institut für Klassische Philologie und Neulateinische Studien« danke ich für den fachlichen Austausch, vor allem aber für die angenehme Arbeitsatmosphäre. Namentlich eigens erwähnen möchte ich dabei Dr. Dominik Berrens und Simon Ellinger, die mich beim Korrekturlesen unterstützt haben. Den Herausgeberinnen und Herausgebern der Reihe »Hypomnemata« – insbesondere Prof. Dr. Christiane Reitz und Prof. Dr. Sabine Föllinger – danke ich für die Aufnahme in die Reihe und ihre hilfreichen Anmerkungen. Bedanken möchte ich mich auch für die kompetente Betreuung von Seiten des Verlages, vor allem in der Person von Kai Pätzke. Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern, auf deren Unterstützung ich mich immer verlassen konnte. Innsbruck, im September 2021

Simon Zuenelli

Abkürzungen

Die Abkürzungen griechischer und lateinischer Autoren sowie deren Werke orientieren sich an den Lexika Diccionario Griego-Español (Madrid 1980–) bzw. Thesaurus Linguae Latinae (Leipzig et al. 1900–); Nonnos’ Μεταβολὴ τοῦ κατὰ Ἰωάννην εὐαγγελίου ἁγίου und die den Dionysiaka vorgeschaltete περιοχή werden als Met. bzw. P. abgekürzt. Die Abbreviaturen für moderne Zeitschriften entsprechen denen der L’Année philologique. Weiters werden für folgende Werktitel Kurzformen verwendet: Acosta-Hughes/Cusset Bernabé Bidez/Cumont Bömer des Places DGE Diels/Kranz FGH Gow Heitsch IEG Kern Kroll Kühn Kühner/Blass Kühner/Gerth LFE LIMC

B. Acosta-Hughes/Ch. Cusset: Euphorion. Œuvre poétique et autres fragments, Paris 2012. A. Bernabé: Poetae Epici Graeci. Testimonia et Fragmenta (2 Bde.), Leipzig 1996–2005. J. Bidez/F. V. M. Cumont: Imp. Caesaris Flavii Claudii Iuliani epistulae, leges, poematia, fragmenta varia, Paris 1922. F. Bömer: P. Ovidius Naso. Metamorphosen. Kommentar (7 Bde.), Heidelberg 1969–1986. 3 E. des Places: Oracles chaldaïques, Paris 1996. F. R. Adrados u.a.: Diccionario Griego-Español (7 Bde.), Madrid 1980–. H. Diels/W. Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker (3 Bde.), 8 Berlin 1956. F. Jacoby: Die Fragmente der griechischen Historiker (15. Bde), Berlin/Leiden 1923–1958. A. S. F. Gow: Bucolici Graeci, Oxford 1952. E. Heitsch: Die griechischen Dichterfragmente der römischen Kai2 serzeit (2 Bde.), Göttingen 1963–1964. M. L. West: Iambi et elegi Graeci (2 Bde.), Oxford 1971–1972. O. Kern: Orphicorum fragmenta, Berlin 1922. W. Kroll: Procli Diadochi in Platonis rem publicam commentarii (2 Bde.), Leipzig 1899–1901. C. G. Kühn: Galeni opera omnia (20 Bde.), Leipzig 1821–1833. R. Kühner/F. Blass: Ausführliche Grammatik der griechischen Spra3 3 che. Elementar und Formenlehre (2 Bde.), Hannover 1890– 1892. R. Kühner/B. Gerth: Ausführliche Grammatik der griechischen 3 3 Sprache. Satzlehre (2 Bde.), Hannover 1898– 1904. B. Snell (begr.): Lexikon des frühgriechischen Epos (4 Bde.), ­Göttingen 1979–2010. Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (9 Bde.), Zürich/ München 1981–1999.

10 Littlewood LSJ M. Maehler 3 Mertens-Pack PCG Peek Perry Pfeiffer PGM Powell Pusey Rabe RE Rehm/Strecker Roscher SHell. Spengel TrGF van der Valk Voigt Walz West Wünsch

Abkürzungen A. R. Littlewood: The Progymnasmata of Ioannes Geometres, Amsterdam 1972. H. G. Liddell/R. Scott/H. St. Jones: A Greek-English Lexicon, 9 ­Oxford 1940 (with a revised Supplement 1996). J. P. Migne: Patrologia Graeca (162 Bde.), Paris 1857–1868. H. Maehler: Bakchylides. Lieder und Fragmente, Berlin 1968. 3 The Mertens-Pack Database Project (http://cipl93.philo.ulg.ac.be/ Cedopal/MP3/dbsearch_en.aspx). R. Kassel/C. Austin: Poetae Comici Graeci (8 Bde.), Berlin/ New York 1983–2000. W. Peek: Lexikon zu den Dionysiaka des Nonnos, Berlin/­ Hildesheim 1968–1975. B. E. Perry: Aesopica 1, Urbana 1952. R. Pfeiffer: Callimachus (2 Bde.), Oxford 1949–1953. K. Preisendanz: Papyri Graecae Magicae. Die griechischen ­Zauberpapyri (2 Bde.), Leipzig/Berlin 1928–1931. J. U. Powell: Collectanea Alexandrina, Oxford 1925. P. E. Pusey: Sancti patris nostri Cyrilli archiepiscopi Alexandrini in D. Joannis evangelium (3 Bde.), Oxford 1872. H. Rabe: Hermogenis opera, Leipzig 1913. A. F. Pauly/G. Wissowa/u.a. (Hgg.): Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (83 Bde.), Stuttgart 1893–1980. B. Rehm/G. Strecker: Die Pseudoklementinen. Rekognitionen in 2 Rufins Übersetzung, Berlin 1994. W. H. Roscher/u.a. (Hgg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie (6 Bde.), Leipzig 1886–1937. H. Lloyd-Jones/P. Parsons: Supplementum Hellenisticum, Berlin/ New York 1983. L. Spengel: Rhetores Graeci (3 Bde.), Leipzig 1853–1856. B. Snell/St. Radt/R. Kannicht: Tragicorum Graecorum Fragmenta (5 Bde.), Göttingen 1971–2004. M. van der Valk: Eustathii archiepiscopi Thessalonicensis commentarii ad Homeri Iliadem pertinentes (4 Bde.), Leiden 1971–1989. E.-M. Voigt: Sappho et Alcaeus. Fragmenta, Amsterdam 1971. Ch. Walz: Rhetores Graeci (9 Bde.), Stuttgart 1832–1836. M. L. West: Carmina Anacreontea, Leipzig 1984. R. Wünsch: Ioannis Laurentii Lydi liber de mensibus, Leipzig 1898.

Einleitung

1. Vorbemerkungen zum Kommentar Warum ein literarischer Kommentar zum 12. Buch der Dionysiaka des Nonnos? Im Zuge des wachsenden Interesses an der Literatur der griechischen Spätantike rückt auch Nonnos von Panopolis als einer der prominentesten Vertreter dieser Zeit immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Wenn Domenico Accorinti daher die Einleitung zum »Brill’s Companion to Nonnus of Panopolis« (2016) unter das Schlagwort »Becoming A Classic« setzt, charakterisiert er hiermit ebenso akkurat wie prägnant Nonnos’ aktuelle Stellung innerhalb der Gräzistik. Den besten Beweis dafür, dass der spätantike Dichter auf dem Weg ist, in den Rang eines kanonischen Autors aufzusteigen, liefert seine Aufnahme in die Reihe der »Brill’s Companions« selbst. Angesichts dieser steigenden Popularität wiegt es umso schwerer, dass eine gründliche Erschließung der Dionysiaka in Form von Einzelkommentaren bisher gerade einmal ansatzweise erfolgt ist. Der Großteil der 48 Bücher des Epos harrt nach wie vor einer fundierten Analyse.1 In letzter Zeit ist ein zunehmendes Interesse an den Dionysiaka aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu beobachten, welches besonders gut an der Publikation monographischer Studien sichtbar wird: Frangoulis (2014) und Magnolo (2020) untersuchen Nonnos’ Umgang mit literarischen Vorbildern, nämlich der Gattung des Romans bzw. den Phainomena des Arat. Geisz 2018 bietet eine breit angelegte narratologische Analyse der Dionysiaka.2 Wichtige Einblicke in Nonnos’ Erzählkunst liefert auch Verhelst 2017, die anhand mehrerer Fallstudien den Einsatz von Personenreden im Epos beleuchtet. Kröll 2016 widmet sich hingegen einer in sich geschlossenen Episode, nämlich der Erzählung von Dionysos und Ampelos in den Büchern 10 bis 12, und unternimmt deren literarische Verortung. Dennoch besteht meines Erachtens auch in Bezug auf die Analyse und interpretatorische Auswertung der literarischen Technik in den Dionysiaka großer Nachholbedarf. Dies betrifft insbesondere den Umgang mit den »problematischen« Elementen des Epos. Dieses präsentiert sich bekanntermaßen in einem 1 Bisher ist nur ein philologisch orientierter Kommentar zu den Büchern 44 bis 46 erschienen (Tissoni 1998). Für die restlichen Bücher ist man nach wie vor auf die entsprechenden Bände der Budé- und BUR-Serie angewiesen, die jedoch über teilweise recht beträchtliches Kommentarmaterial verfügen. 2 Die Dionysiaka sind auch Gegenstand narratologischer Untersuchungen in einigen Beiträgen in Bär/Maravela 2019: de Jong 2019, 29–31; Schmitz 2019; Maravela 2019, 91–93.

12

Einleitung

derart chaotischen Zustand, dass es dem Interpreten bisweilen schwerfällt, dem Text Sinn zu entnehmen. Die Verständnisprobleme reichen dabei von unklaren Ausdrücken im Kleinen bis hin zur teilweise widersprüchlichen Handlungslogik im Großen. Die aktuelle Nonnos-Forschung tendiert dazu, diese »problematischen« Aspekte der Dionysiaka eher auszublenden oder zu verharmlosen. In der Tat – so scheint mir – hat sich eine Betrachtungsweise durchgesetzt, nach welcher vom Text der Dionysiaka angesichts des poetologischen Prinzips der ποικιλία keine besondere Kohärenz oder generell Sinnhaftigkeit zu erwarten sei, weshalb auch eklatante handlungslogische Widersprüche oder Ähnliches keiner weiteren Erklärung bedürften. Im Gegensatz dazu möchte ich dafür plädieren, die Schwierigkeiten, die vom Text der Dionysiaka ausgehen, ernst zu nehmen und von Fall zu Fall nach ihrem interpretatorischen Wert zu fragen. Hierfür (aber auch generell für die interpretatorische Auswertung) sollte meines Erachtens auf ein differenziertes Erklärungsmodell zurückgegriffen werden, welches als Ursache(n) für die einzelnen »Probleme« oder Auffälligkeiten den unfertigen Zustand des Epos, die literarische Tradition (insbesondere die Lizenzen des spätantiken Stils) und den »dionysischen« Charakter der Dionysiaka gleichermaßen berücksichtigt. Wesentliches Ziel dieses Buches ist es daher, die Aufmerksamkeit auf die problematische Seite der Dionysiaka zu lenken und sie in ihrer Komplexität zu diskutieren. Für dieses Anliegen schien mir ein Kommentar zum 12. Buch ein besonders geeignetes Instrument zu sein. Erlaubt das Format des Kommentars doch sowohl eine detaillierte und kleinschrittige Analyse im Rahmen des Stellenkommentars durchzuführen, als auch eine Synthese und Kontextualisierung der Ergebnisse im Rahmen der – gleichsam monographischen – Einleitung vorzunehmen.3 Als Fallbeispiel, um die unterschiedlichen interpretatorischen Problematiken der Dionysiaka exemplarisch durchzuspielen, bot sich allen voran das 12. Buch an: Zum einen wird an diesem die für die Dionysiaka charakteristische narrative Diskontinuität insofern gut sichtbar, als es in drei separate Teile zerfällt. Zweitens zeigt dieses – zumindest im ersten Teil – starke Züge der Unfertigkeit. Drittens ist zu erwarten, dass in einem Buch, das die Entstehung des Weins und des ersten Rausches erzählt, »dionysische« Effekte besonders ausgiebig am Werk sein dürften. Auf der Grundlage des oben beschriebenen Erklärungsmodells will der Kommentar versuchen, die am Beispiel des 12. Buches sichtbar werdenden Elemente der literarischen Technik in den Dionysiaka zu beschreiben, zu kontextualisieren und interpretatorisch nutzbar zu machen.4 Der Rekonstruktion des Sinngehalts des Textes bzw. den damit verbundenen Problemen kommt dabei naheliegender Weise eine zentrale Stellung zu; daher wird ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, handlungslogische Verbindungen nachzuzeichnen, 3 Zur Diskursivität des Kommentars s. Kraus 2002, 2–3. 4 Die im Kommentar behandelten Aspekte decken sich im Wesentlichen mit der von Gibson 2002 aufgestellten Typologie.

Vorbemerkungen zum Kommentar

13

mythologische Anspielungen aufzulösen, schwer verständliche Formulierungen zu erklären und textkritische Probleme (sofern sie den Sinn einer Stelle beeinflussen) zu diskutieren. Für die Kommentierung des 12. Buches waren die Vorarbeiten, die im Rahmen der Budé- bzw. BUR-Ausgaben der Dionysiaka – insbesondere jene zum 12. Buch von Francis Vian und Daria Gigli Piccardi – geleistet wurden, von ungeheurem Wert. Viele der dort gemachten Beobachtungen sind in meinen Kommentar eingeflossen. Die Gliederung des Stellenkommentars entspricht der Übersicht zum Aufbau des 12. Buches am Ende der Einleitung. Es wurde dabei bestmöglich versucht, Einzelbeobachtungen im Lemma des jeweils übergeordneten Abschnitts zu bündeln und gegebenenfalls zu einer stimmigen Interpretation zu vereinen. Die entsprechenden übergeordneten Lemmata können (und sollen) daher als Einleitungen zu den betreffenden Passagen herangezogen werden. Dem Kommentar ist zur leichteren Benutzbarkeit der griechische Text des 12.  Buches und eine deutsche Übersetzung zur Seite gestellt. Der griechische Text folgt der Ausgabe Vian 1995a, weicht aber an einigen wenigen Stellen, die im Kommentarteil ausführlich diskutiert werden, von diesem ab. Die Verszählung richtet sich nach meiner Rekonstruktion des Textes; die herkömmliche Nummerierung ist in Petit abgedruckt. Die Unterschiede zum Text von Vian sind in folgender Tabelle zusammengefasst (nicht verzeichnet sind kleinere Eingriffe in die Interpunktion): Vian

Zuenelli

22

φθινοπωρίδα θαλλόν

†φθινοπωρίδος ὥρην†

35

οἶκον

ὅρμον

68

Φρήν

φρήν

71



133

πίτυς

Πίτυς

163

ὄγκον

ὄλβον

258–260

nicht athetiert (= 256–258 Vian)

athetiert

249

δ’ ἐνὶ κήπῳ (= 247 Vian)

δὲ καρήνῳ

234–235

nach 271 (= 269 Vian)

nach 233

285

ἄγεις

†ἄγεις†

343

βότρυος εἱλικόεντος ἀπέκλασεν

†βότρυος εἱλικόεντος† κατέκλασεν

14

Einleitung

Aus praktischen Gründen ist dem griechischen Text auch ein knapper textkritischer Apparat beigefügt. Dieser orientiert sich an der Ausgabe von Vian, diskutiert aber nur ausgewählte Stellen, die für meine Interpretation des Textes relevant sind. Die deutsche Übersetzung versteht sich vornehmlich als Lesehilfe für den griechischen Text und zielt daher weniger auf sprachliche Eleganz als auf eine möglichst getreue und nachvollziehbare Wiedergabe des griechischen Originals ab. Für deutsche Übersetzungen mit literarischem Anspruch sei auf die Übertragungen von von Scheffer 1953 und Ebener 1985 verwiesen.

2. Nonnos aus Panopolis, der Autor der Dionysiaka Über die Biographie des Nonnos ist kaum etwas bekannt:5 Er stammte wohl aus der Thebaïs – genauer aus der Stadt Panopolis,6 die auch Intellektuelle wie Triphiodor, Kyros oder Pamprepios hervorgebracht hat;7 seine ägyptische Herkunft scheint dabei zwischen den Zeilen der Dionysiaka einigermaßen sichtbar durch.8 Eine bestimmte Zeit seines Lebens könnte er in Alexandria verbracht haben; in D. 1.13–15 erwähnt der Erzähler jedenfalls, dass er sich auf der Alexandria vorgelagerten Insel Pharos befindet.9 Die communis opinio weist Nonnos das 48 Bücher umfassende Epos Διονυσιακά und eine Hexameter-Paraphrase des JohannesEvangeliums, die Μεταβολὴ τοῦ κατὰ Ἰωάννην εὐαγγελίου ἁγίου, zu.10 Die Lebensspanne des Dichters – oder zumindest dessen floruit – abzustecken, erweist sich angesichts der schlechten Quellenlage als schwierig. Einen sicheren terminus ante quem bildet die Erwähnung des Nonnos durch Agathias (ca. 532–580) in dessen Historien (4.23.5–6); bereits die dortige Charakterisierung des Dichters als νέος (im Gegensatz zu οἱ πρότερον ποιηταί) bietet jedoch Anlass zu kontroversen Schlüssen betreffend die genauere Datierung.11 Zur Er 5 Für einen ausführlicheren Überblick zur Forschungsdiskussion zur Biographie des Nonnos sei auf Accorinti 2016b verwiesen, der den aktuellen Forschungsstand zur Biographie des Nonnos mustergültig zusammenfasst. 6 Die zentralen Quellen sind: AP 9.198; Agath. 4.23.5 (= p. 152 Keydell); P.Berol. inv. 10567. 7 Zu Panopolis als kulturellem Zentrum s. van Minnen 2016; zur Thebaïs im Allgemeinen Miguélez-Cavero 2008, 6–85. 8 V.a. 26.328. Umfassend behandelt die Thematik Gigli Piccardi 1998. 9 Accorinti 2016b, 23–24. 10 Die prominenteste Gegenstimme hierzu stellt Sherry 1996 dar. Seine Argumente reichen m.E. aber nicht aus, Nonnos die Autorschaft der Metabole abzusprechen; die von Maximos Planudes referierte Kontroverse um die Zuschreibung der Metabole sowie deren metrische und prosodische Lizenzen, die sich von Nonnos’ Usancen in den Dionysiaka deutlich unterscheiden, werfen aber in der Tat Fragen auf. 11 S. Baldwin 1986.

Nonnos aus Panopolis, der Autor der Dionysiaka

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mittlung eines terminus post quem wird gerne der Kommentar zum Johannesevangelium des Kyrill von Alexandria (verfasst 425–42812) herangezogen, den Nonnos benutzt zu haben scheint.13 Es hat in der Vergangenheit nicht an Versuchen gefehlt, das floruit des Nonnos zwischen diesen beiden Eckpfeilern – mit wohlgemerkt durchaus unterschiedlichem Erfolg – genauer einzugrenzen.14 Eine gewisse Akzeptanz scheint dabei die Ansicht gewonnen zu haben, dass die metrischen und stilistischen Gemeinsamkeiten, die die Dionysiaka mit Dichtungen beginnend mit Pamprepios’ Hexameter-Enkomion auf den Patrikios Theagenes (verfasst ca. 473) teilt, als direkter Einfluss des nonnianischen Großepos auf letztere zu interpretieren sind und dass die Dionysiaka demzufolge vor diesen verfasst worden sein müssen. Diese Argumentation muss sich aber mit dem – methodisch nicht unwesentlichen – Problem konfrontiert sehen, dass besagte Gemeinsamkeiten nicht zwingend eine direkte kausale Verbindungslinie voraussetzen, sondern – und das scheint mir eher der Fall zu sein – auch einer gemeinsamen literarischen Tradition geschuldet sein können, in der diese besagten Texte, aber auch die Dionysiaka stehen. Als wenig ergiebig erwiesen sich auch Versuche, den Dichter der Metabole und der Dionysiaka mit bekannten Personen gleichen Namens zu identifizieren: Weder die vorgeschlagene Gleichsetzung des Dichters mit Nonnos, dem Bischof von Edessa († 470–471),15 noch mit dem gleichnamigen Abt,16 der – wohl im 6.  Jh. – die Homilien 4, 5, 39 und 43 des Gregor von Nazianz kommentiert hat, konnten eine breitere Akzeptanz finden. Auch über die Frage der relativen Chronologie der beiden Werke besteht kein Konsens.17 Mir scheint allerdings die Frage an sich problematisch, da sie voraussetzt, dass Nonnos zunächst das eine und dann das andere Werk verfasst habe. Bedenkt man aber, dass Nonnos an dem enormen Epos der Dionysiaka – es umfasst nicht weniger als 21.286 Verse – wohl über eine sehr lange Strecke seines Leben gearbeitet und gefeilt haben wird18 (ohne ihm wohlgemerkt eine letztgültige Form zu geben), ist auch mit der Möglichkeit eines gewissen zeit 12 Zur Datierung s. Maxwell/Elowsky 2013, xvi–xvii. 13 Whitby 2016, 215 mit Literatur. Eine ausführliche Auflistung der Parallelen bietet Golega 1930, 125–130. 14 Für einen Überblick s. Accorinti 2016b, 28–32. 15 Livrea 1987; 2003; contra Cameron 2000. 16 Accorinti 1990. 17 Sehr einflussreich in diesem Zusammenhang war der Beitrag von Francis Vian aus dem Jahr 1997, der ausgehend vom unterschiedlichen Gebrauch des Wortes μάρτυς in Metabole bzw. Dionysiaka dafür argumentiert, dass Nonnos die Paraphrase vor den Dionysiaka verfasst habe. Eine solche Schlussfolgerung ist aber nicht zwingend (s. etwa die von Simelidis 2016, 304–305 vorgebrachten gewichtigen Einwände). 18 Dies gilt wohl auch, wenn man das – für modernes Dafürhalten schnelle – Tempo berücksichtigt, mit dem so mancher antike Autor längere Dichtungen produzieren konnte (s. hierzu Döpp 1996, 101–103).

16

Einleitung

lichen Nebeneinanders zu rechnen, wie auch immer dies im Detail ausgesehen haben mag.19 In Anbetracht des unsicheren Bodens, auf dem man sich in diesem Zusammenhang bewegt, scheint es mir für die Arbeit an den Dionysiaka methodisch ratsam, sich nicht auf ein bestimmtes Szenario festzulegen. Was das 12. Buch im Speziellen betrifft, so lässt sich aber zumindest festhalten, dass sich einige Aspekte leichter erklären lassen, wenn man annimmt, dass Nonnos die Arbeit an der Metabole (und insbesondere der Lazarus-Geschichte) bereits aufgenommen hat.20 Der Abschluss der Arbeit an dem Projekt der Paraphrase des Johannesevangeliums ist aber nicht zwingend vorauszusetzen. Die Tatsache, dass Nonnos sowohl eine christliche Paraphrase als auch ein Epos paganen Inhalts verfasst hat, hat die modernen Interpreten von jeher irritiert. Für Jahrhunderte schien dabei mit der Annahme der Konversion des ursprünglichen Heiden Nonnos zum christlichen Glauben eine überzeugende Lösung gefunden. Die aktuelle Forschung tendiert hingegen dazu, in Nonnos einen Christen zu sehen und das Nebeneinander von Metabole und Dionysiaka als Produkt des synkretistischen Milieus des 5. Jh. – wie es auch für Panopolis belegt ist – zu erklären.21 Die »Glaubensproblematik«, welche die Ko-Existenz von Metabole und Dionysiaka aufwirft, wird zusätzlich noch insofern verschärft, als die Dionysiaka durch christliche und die Metabole durch – wenngleich in geringerem Umfang – pagane Elemente angereicht ist. Während in den Dionysiaka die Übernahme dezidiert christlicher Elemente – hier bietet sich die Unterscheidung in lexikalische, motivische und narrative Anleihen an22 – außer Zweifel steht, wird die Frage nach ihrer Bedeutung und Funktion kontrovers diskutiert.23 Deutungen, die davon ausgehen, dass Nonnos hiermit eine ernste Botschaft vermitteln wollte, stehe ich allerdings grundsätzlich skeptisch gegenüber, da mir der humoristische Grundtenor des Epos24 und die Uneinheitlichkeit (oder sollte man besser sagen: die proteische Vielgestaltigkeit) in der Darstellung von dessen Protagonisten, der bald als göttlicher Heilsbringer, bald als

19 S. v.a. Shorrock 2011, 51–53, der das Konzept einer »mutual intertextuality« diskutiert. 20 S. K. 117b–291. 21 Für Details s. Accorinti 2016b, 37–40. 22 Vgl. Spanoudakis 2007, 83: »A preliminary research indicates that Christian reception in the Dionysiaca realises itself in the form of (a.) ad hoc verbal loans, (b.) integration or reworking of individual motifs or scenes, and, more complexly, (c.) adoption of narrative patterns«. 23 Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Stoßrichtungen bietet Dijkstra 2016, 84–88. 24 Hier sei auf das komödienhafte – und in dieser Hinsicht wohl programmatisch zu lesende – erste Buch verwiesen (vgl. De Stefani 2011, 71–74). Diesen Aspekt plane ich in einem eigenen Beitrag ausführlich zu behandeln.

Die Stellung des 12. Buches innerhalb der Gesamtstruktur der Dionysiaka

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feiger Erotomane auftritt, gegen eine solche Botschaft zu sprechen scheinen.25 Trotzdem dürfte nicht zu leugnen sein, dass Dionysos in den Dionysiaka eine gewisse Angleichung an Christus erfährt und dass der Leser durch entsprechende Verweise aufgefordert wird, die Dionysiaka vor einer christlichen Folie zu lesen. Welche Verbindungen vom Leser aber letztlich zu ziehen sind, scheint durch den Text nicht eindeutig determiniert zu werden – sei es beabsichtig oder nicht.

3. Die Stellung des 12. Buches innerhalb der Gesamtstruktur der Dionysiaka 3.1. Überblicksskizze über Inhalt und Struktur der Dionysiaka26 Das Dionysiaka betitelte Epos bildet eine großangelegte Erzählung über den teils beschwerlichen Weg des Dionysos hin zu seiner finalen Aufnahme in den Olymp und damit seiner Anerkennung als vollwertiger Gott.27 Der Verlauf der Handlung selbst ist aber alles andere als geradlinig und zielgerichtet. Die Schilderung von Dionysos’ Weg hin zu seiner Apotheose fungiert in Wirklichkeit nur als teils mehr, teils weniger durchscheinendes Band, das die unterschiedlichen Einzelhandlungen, die in bunter Folge dahinrollen, zusammenhält. Für den Leser ist es dabei nicht immer leicht, den eigentlichen Handlungsverlauf nachzuvollziehen. Bezeichnend hierfür ist die Tatsache, dass in dem von Neil Hopkinson herausgegebenen Band »Studies in the Dionysiaca of Nonnus« (1994) – einem Pionierwerk auf dem Feld der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Nonnos’ Epos – ein eigenes Kapitel28 eingeplant werden musste, in dem der narrative Faden der Bücher 13 bis 40 herausgearbeitet wird. 25 S. Nizzola 2012, 159–196, v.a. »tuttavia torna nel Panopolitano quell’ambivalenza tra verace eroismo e buffa pusillanimità del dio eponimo della sua opera, che arricchisce la πολυμορφία che contraddistingue la natura di Bacco nelle Dionisiache« (196); weiters De Stefani 2011; Frangoulis 2011; Lasek 2017. 26 Der Inhaltsüberblick erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll hauptsächlich als Grundlage für die folgenden Ausführungen dienen. Die Schwerpunktsetzungen richten sich daher auch nach diesem Zweck und entsprechen nicht immer der tatsächlichen Bedeutung der jeweiligen Stellen für das Gesamtverständnis der Dionysiaka. Eine ausführlichere und praktische Übersicht über den Inhalt des Werkes bieten z.B. Vian 1976, XXIII– XXV; Manterola/Pinkler 1995, 19–38; Gigli Piccardi 2003, 27–30; Shorrock 2005, 375–376; Kröll 2016, 7–10; Verhelst 2016, 301–307; in den Budé-Ausgaben zu den Dionysiaka ist den einzelnen Büchern des Werkes jeweils eine ausführliche und hilfreiche tabellarische Übersicht vorangestellt. 27 Prägnant Hadjittofi 2016, 126: »If there is one thing the Dionysiaca is about, it is Dionysus and his long journey to Olympus, where he will finally be welcomed as a god […]«. 28 Vian 1994a.

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Wie im Kapitel »Literarische Technik« zu zeigen sein wird, ist der proteische Charakter der Handlung der Dionysiaka zu einem wesentlichen Teil als dionysisches Element im Rahmen der narrativen Gestaltung des Dionysos-Epos zu verstehen. Dieser chaosstiftenden Bewegung auf der Ebene der Handlung steht aber eine kohärenz- und sinnstiftende Bewegung vor allem auf struktureller Ebene gegenüber: Die Dionysiaka zu lesen, bedeutet daher nicht nur dem Handlungsverlauf zu folgen, sondern auch die mikro- wie makrostrukturelle Komposition und das hiermit verbundene Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Einheiten auf ihr Sinnpotential hin zu befragen. Die Nonnos-Forschung steht allerdings noch am Beginn, das strukturelle Beziehungsgeflecht in seinem vollen Umfang zu erkennen. Die bisherigen Analysen haben aber gezeigt, dass man wohl mit mehreren und sich teils überlagernden Strukturmustern zu rechnen hat.29 Robert Shorrocks Befund »No one matrix can be said to represent a unifying structure; rather, it is the combination and interaction of the different frames which gives the epic its ultimate coherence« ist mittlerweile Konsens innerhalb der Forschungsgemeinschaft; eine gewichtige Rolle kommt dabei dem rhetorischen Modell des βασιλικὸς λόγος zu, ohne dass dieses die Gesamtstruktur des Epos freilich vollständig determinieren würde.30 Was die Makrostruktur des Epos betrifft, ist die Gliederung in vier separate Blöcke, die Nonnos jeweils mit einem Musenanruf beginnt, die augenscheinlichste. Wider Erwarten setzt das Epos und damit der erste Block (Bücher 1–12) nicht mit der Erzählung der unmittelbar mit der Geburt des Gottes verbundenen Ereignissen ein, sondern greift weiter in die Vergangenheit zurück. Die Bücher 1 bis 6 bilden gleichsam eine dionysische ἀρχαιολογία und thematisieren unterschiedliche Ereignisse aus der »Familiengeschichte« des Gottes. Im Zentrum stehen die Taten des Zeus und des Kadmos, die teilweise jene späteren und im letzten Block erzählten Leistungen des Dionysos präfigurieren.31 Erst in Buch 7 rückt der Protagonist selbst in den Mittelpunkt: Auf die Bitten des über das traurige Los der Menschheit besorgten Aion hin verkündet Zeus seinen Plan, Dionysos zu zeugen, dessen Bestimmung es sein wird, als Gott des Weins der Menschheit Linderung von ihren Sorgen zu verschaffen. Entsprechend folgt im Anschluss die Erzählung der Ereignisse, die die Zeugung und Geburt sowie Kindheit und Jugend des Gottes betreffen. Die Handlung gipfelt schließlich in der Entstehung des Weins im Laufe des 12. Buches. Im Zentrum der nächsten beiden Blöcke steht der sieben Jahre dauernde Indienfeldzug des Dionysos, wobei der erste Block (Bücher 13–24) das erste 29 Shorrock 2001, 4; für einen Überblick über die einzelnen Ansätze s. ebenda 7–23. 30 Grundlegend hierzu Stegemann 1930, 209–230; Lasky 1978; weitere Literatur z.B. bei Kröll 2016, 155–157. 31 Vgl. Shorrock 2001, 10; Aringer 2012, 89–94.

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Kriegsjahr und der zweite Block (Bücher 25–40) das letzte Kriegsjahr behandelt. Ausgangspunkt für den Feldzug ist der Auftrag des Zeus an Dionysos, die frevelhaften Inder, die ihr Reich bis nach Kleinasien ausgedehnt haben, sowie deren König Deriades zu unterwerfen und ihnen und allen Völkern den Weinanbau und den damit verbundenen Kult zu lehren. Dieser Plan wird allerdings immer wieder durch das Eingreifen der Hera, der zentralen Gegenspielerin des Dionysos, konterkariert. Der Feldzug selbst führt Dionysos von Kleinasien (Bücher 13–17), wo er in zwei »Schlachten« (in Bithynien und in der Taurus-Region) die dort stationierten indischen Kontingente besiegt, nach Syrien (Bücher 18–19) und über Arabien (Bücher 20–21) schließlich nach Indien, wo dieser erste Block mit der Überschreitung des Hydaspes, eines Nebenflusses des Indus, endet (Bücher 22–24). Unterbrochen durch ein ausführliches Binnenproömium, in dem Dionysos’ Überlegenheit gegenüber den Heroen Perseus, Minos und Herakles hervorgehoben wird (25.1–263), setzt die Handlung erst wieder im letzten Kriegsjahr ein.32 Im Zentrum der folgenden stark an die Ilias angelehnten Bücher des dritten Blockes stehen die Kriegsgeschehnisse rund um die Belagerung der Stadt der Inder. Im Wesentlichen werden dabei zwei Tage kriegerischer Auseinandersetzung (Bücher 27–36) referiert. Auf deren Erzählung folgt dann die Schilderung der nach Ablauf einer dreimonatigen Waffenruhe (Bücher 37–38) begonnenen Seeschlacht, in der die Inder endgültig geschlagen werden (39.1–40.297). Den Abschluss dieses Blockes markiert die triumphale Rückkehr des Dionysos nach Tyros, wo er am Tisch des Herakles Astrochiton als Anerkennung seiner Leistungen zum ersten Mal Nektar und Ambrosia gereicht bekommt und damit einen weiteren wichtigen Schritt zur seiner vollwertigen Anerkennung als Gott vollzieht (40.298–580).33 Der vierte Block behandelt die weitere Rückkehr des Dionysos nach Phrygien (Bücher 41–48) und die in diesem Rahmen erfolgte Verbreitung des Weinanbaus.34 Diese Rückreise wird anhand einer Reihe von Einzelepisoden präsentiert, die zentrale Ereignisse auf diesem Weg berichten. Den Auftakt bildet die Erzählung von Dionysos’ Ankunft in der Stadt Berytos (heute Beirut) und von dessen unglücklicher Liebe zu deren eponymer Stadtnymphe Beroe (Bücher 41–43); mit dem 41. Buch ist dabei ein Städtelob auf Berytos in die Handlung zwischengeschaltet, welches die Stadt, die in der Spätantike eine der wichtigsten Rechtsschulen des Reiches beherbergte,35 als Bewahrerin des Rechts auf Erden 32 Diese Auslassung wird von Nonnos dabei auf recht raffinierte Art und Weise überbrückt (s. hierzu Zuenelli 2015). 33 Vgl. Vian 1976, XXII; XXV. 34 Die Parallele mit Kadmos, der in 4.249–284 als Kulturstifter gepriesen wird, liegt auf der Hand: Wie schon sein Großvater bringt auch Dionysos ausgehend von Tyros sein Kulturgut – in diesem Fall den Wein – nach Griechenland. 35 Literatur in Zuenelli 2017, 72. Anm. 1.

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feiert. Auf die Beroe-Episode folgen die Schilderungen der übrigen Stationen des Dionysos auf seinem Weg zurück in seine Heimat, welche ihn nach Theben (Bücher 44–46), Athen, Naxos, Argos (Buch 47) und nach Thrakien führen, wo Dionysos sich den Giganten im Kampf stellen muss, ehe er schließlich nach einem kurzen Zwischenaufenthalt auf der Halbinsel Pallene auf der Chalkidike nach Phrygien übersetzen kann, wo er dann mit der Nymphe Aura ein Kind, Dionysos Iobakchos, zeugen wird (Buch 48). Durch diese letzten beiden Taten, die wohl nicht zufällig den beiden im ersten Werkviertel berichteten Taten des Zeus (Sieg über den Giganten Typhon/Zeugung des Dionysos Zagreus) entsprechen, scheint sich Dionysos endgültig den Status eines vollwertigen Gottes erworben zu haben und so schließt das Epos nach 48 Büchern mit einer – vergleichsweise geradezu lakonischen – Erwähnung der Apotheose des Gottes. Diese inhaltliche Gliederung des Werks in vier Blöcke entspricht einem axialsymmetrischen Grundmuster, bei dem die ersten beiden Blöcke um die Achse des Binnenproömiums gleichsam gespiegelt werden.36 So besteht eine klare inhaltliche Entsprechung zwischen dem zweiten Block, der das erste Kriegsjahr behandelt, und dem dritten Block, der das letzte Kriegsjahr behandelt. Diese beiden Blöcke werden dann wiederum vom ersten und letzten Block, die aus unterschiedlichen Einzelepisoden bestehen, gerahmt. Diese Struktur ist in der Abbildung 1 schematisch dargestellt.

Abb. 1  Axialsymmetrische Struktur der Dionysiaka: Bücherblöcke – Zuenelli 2019a, 91 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019

36 Ausführlich hierzu Zuenelli 2019a.

Die Stellung des 12. Buches innerhalb der Gesamtstruktur der Dionysiaka

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3.2. Die Stellung des 12. Buches innerhalb des Werkganzen Innerhalb des Werkganzen erfüllt das 12. Buch, das – gleich anhand zweier verschiedener Versionen (!) – die Entstehung des Weinstocks und damit verbunden jene des Weins selbst feiert, sowohl auf inhaltlicher als auch auf struktureller Ebene eine zentrale Funktion. Auf inhaltlicher Ebene kommt dem Buch hauptsächlich die Rolle zu, die im 7. Buch begonnene Erzählung der Frühphase von Dionysos’ Biographie abzuschließen: Nach der Erzählung der Ereignisse rund um Geburt und Kindheit in Phrygien (7.1–9.243) und einem kurzen kontrastiven Exkurs über das Schicksal von Dionysos’ kurzzeitiger Amme Ino (9.243–10.138), widmet sich Nonnos im Folgenden der Jugendzeit des Gottes (10.139–12.397). Diese ist geprägt von der Liebe des Dionysos zum Satyrknaben Ampelos, dessen Metamorphose schließlich zur Entstehung des Rebstocks führen wird.37 Im Rahmen der Ampelos-Episode durchläuft Dionysos dabei einen ersten wichtigen Reifungsprozess auf seinem Weg hin zu einem vollwertigen Gott. Dieser wird besonders deutlich ersichtlich, wenn man die Situation zu Beginn der Episode (10.141–174) jener am Ende des 12. Buches gegenüberstellt, auf welches sich erstere in bewusst kontrastierender Weise zu beziehen scheint (12.363–393). In beiden Fällen findet man Dionysos inmitten seines Gefolges vor: Während er allerdings in der ersten Szene als noch recht kindlicher Gott beim unbekümmerten Badespiel mit den Satyrn vorgeführt wird, scheint er in letzterer deutlich gereift: Der Leser begegnet ihm nun inmitten der ausgelassen feiernden Satyrn als Gott des Weins. Die im 12. Buch behandelte Entstehung des Weins ist gleichzeig aber auch zentraler handlungslogischer Ausgangspunkt für den weiteren Verlauf der Handlung des Epos. Gleich im Anschluss an das 12. Buch wird Zeus in der Tat durch die Botin Iris Dionysos den Auftrag erteilen, nun den Wein sowie dessen Kult unter den Völkern zu verbreiten (13.6–7 καὶ ἔθνεα πάντα διδάξῃ/ὄργια νυκτιχόρευτα καὶ οἴνοπα καρπὸν ὀπώρης), womit in nuce die gesamte weitere Handlung der Dionysiaka zusammenfasst ist. Auf struktureller Ebene kommt dem 12. Buch insofern eine wichtige Funktion zu, als es dem axialsymmetrischen Grundmuster des Epos zusätzliches Profil verleiht. Wie nämlich eine ganz klare Korrespondenz zwischen dem in den Büchern 1–2 erzählten Kampf des Zeus gegen den Giganten Typhon zu Beginn der Dionysiaka und dem im 48. Buch berichteten Kampf des Dionysos gegen die 37 Als Jugendleistung wird die εὕρεσις des Weins auch im Hymnos auf Dionysos, den Pan in Nemes. Ecl. 3 singt, gepriesen (35–36 interea pueri florescit pube iuventus/flavaque maturo tumuerunt tempora cornu). Denkbar wäre aber auch gewesen, diese in die Schilderung der Kindheit des Gottes zu verlagern und Dionysos als eine Art göttliches Wunderkind den Wein erfinden zu lassen (so wahrscheinlich im Dionyskos des Sophokles [vgl. Fr. 172 Radt]). Dies verbot aber wohl die Grundausrichtung des Epos, die ja die Entwicklung des Dionysos zu einem vollwertigen Gott in den Vordergrund stellt.

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Giganten in Thrakien am Ende des Werkes besteht,38 so kann eine solche Korrespondenz auch an den Scharnierstellen zum Indienfeldzug, sprich dem 12. und dem 41. Buch, ausgemacht werden. Die intratextuellen Beziehungen betreffen dabei im Wesentlichen folgende Punkte:39 (i.) Beiden Büchern ist gemeinsam, dass sie ein für die condicio humana zentrales Ereignis glorifizieren, das der Menschheit Linderung von Leid verschafft. Im 12. Buch handelt es sich dabei um die Entdeckung des Weins und im 41. Buch um die Geburt der Nymphe Beroe, die als Garantin für Frieden und Recht gefeiert wird (v.a. 41.389–398). (ii.) Zur Glorifizierung der beiden Ereignisse greift Nonnos in beiden Fällen auf einen sonst in den Dionysiaka nicht vorkommenden Szenentyp zurück: die Konsultierung eines kosmischen Weltarchivs. In der AmpelosEpisode ist es die Herbsthore, die gemeinsam mit ihren Schwestern in den Palast des Helios aufbricht und dort aus den prophetischen Tafeln der Harmonia von der Entstehung des Weines erfährt (11.485b–12.117a); im 41. Buch wiederum macht sich Aphrodite zum Palast der Harmonia auf, wo sie ebenfalls von den dort aufgestellten Tafeln Kenntnis von der Geburt der Beroe und deren zukünftiger Rolle als Garantin des Rechts auf Erden erhält (41.263–400a). (iii.) In beiden Büchern wird der eigentlichen Handlung eine separate, thematisch aber eng verbundene Passage zur Seite gestellt: Im 12. Buch berichtet Nonnos eine abweichende Version der Entstehung der Rebe (12.292–397), im 41. Buch fügt er ein eigenständiges Städtelob auf Berytos ein (41.14–154). In beiden Fällen wird dabei die Haupterzählung mit der weiteren Passage durch den Hinweis auf eine alternative Mythenvariante verknüpft. Für die Überleitungen verwendet Nonnos dabei eine beinahe identische Formulierung, die nur an diesen beiden Stellen des Werks vorkommt: 12.294 ἄλλη πρεσβυτέρη πέλεται φάτις bzw. 41.155 ἀλλά τις ὁπλοτέρη πέλεται φάτις.40 Es ist davon auszugehen, dass die erwähnten Beobachtungen den Versuch des Nonnos reflektieren, die beiden Bücher zu parallelisieren und hiermit eine Korre 38 S. v.a. Shorrock 2001, 11–12; 198–200. Eine weitere signifikante Entsprechung zwischen Anfang und Schluss des Epos bildet die Tatsache, dass im ersten Buch Zeus nach dem Liebesabenteuer mit Europa das Sternbild des Stiers an den Himmel setzt und Dionysos – diesen scheinbar imitierend – im 48. den Kranz seiner Gattin Ariadne verstirnt (vgl. Hadjittofi 2016, 127). 39 Man könnte etwas verallgemeinernd auch von einer Korrespondenz zwischen der Ampelos- und der Beroe-Episode sprechen. Zwischen beiden Episoden bestehen in der Tat auch sonst gewisse Parallelen: Beide behandeln als einzige Episoden in den Dionysiaka eine unglückliche Liebe des Dionysos und verfügen mit ca. 3 Büchern auch über eine ungefähr gleiche Länge. 40 S. hierzu K. 292–297.

Die Stellung des 12. Buches innerhalb der Gesamtstruktur der Dionysiaka

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spondenz zwischen diesen herzustellen. Die axialsymmetrische Entsprechung der beiden äußeren Blöcke der Dionysiaka erhält dabei – wie in Abbildung 2 ersichtlich – insofern zusätzliches Profil, als das axialsymmetrische Ordnungsprinzip an den Rändern dieser beiden Blöcke auf Episodenebene fortgeführt wird.41

Abb. 2  Axialsymmetrische Struktur der Dionysiaka: Einzelepisoden – ­Zuenelli 2019a, 97 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019

Diese Rahmung des Indienfeldzugs durch die Bücher 12 bzw. 41 ist dabei für das Verständnis des Epos insofern von Bedeutung, als dadurch – in zugegeben recht assoziativer Weise – die Entwicklung der Handlung zusätzlich akzentuiert wird: Während das 12. Buch den Wein feiert, dessen Erfindung gleichsam den Ausgangspunkt des Indienfeldzugs bildet, preist das 41. Buch Beroe als Garantin des Zustands des Rechts auf Erden – genau jenes Zustands also, welcher durch den Abschluss des Indienfeldzugs gerade eben wiederhergestellt worden ist. Das Thema der Gerechtigkeit ist in der Tat ein Leitmotiv in der Erzählung des Feldzugs gegen die Inder, der von Beginn an zu einer Mission im Namen der Gerechtigkeit stilisiert worden ist (13.3 δίκης ἀδίδακτον ὑπερφιάλων γένος ᾿Ινδῶν).42 Die Parallelisierung der Bücher 12 und 41 ist auch für die Frage der Genese des Dionysiaka-Textes aufschlussreich. So scheint Nonnos nämlich die ursprüngliche »Erstfassung« des 12. Buches im Zuge seiner Arbeit am Epos stärker an das 41. Buch angeglichen zu haben, um dadurch die Verbindung dieser bei 41 Daneben finden sich weitere bewusst gestaltete Entsprechungen zwischen Episoden des ersten und des letzten Blockes, die zwar nicht als solche streng axialsymmetrisch angeordnet sind, aber dennoch die axialsymmetrische Anordnung auf Blockebene unterstreichen (vgl. Zuenelli 2019a, 97–100): die Aktaion-Episode (5.287–551) korrespondiert mit der Pen­ theus-Episode (Bücher 44–46), die Geschichte des Dionysos Zagreus (5.562–6.205) korrespondiert mit der Aura-Episode (48.241–942). 42 Vgl. 18.303 ἀδίκων … ᾿Ινδῶν; 14.295–296 ὕβριν …/ἀνδρῶν κυανέων; 40.1 [von dem kurz vor seiner Vernichtung stehenden Deriades] Οὐ δὲ Δίκην ἀλέεινε πανόψιον; s. allgemein Vian 2003, 10–11.

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den Bücher und ihre Funktion als Rahmen für den Indienfeldzug hervorzuheben. Ein Indiz hierfür ist die Tatsache, dass – wie in Kapitel 5 gezeigt werden soll – das Horen-Intermezzo, das ja die Konsultierung des kosmischen Weltarchivs im Palast des Helios beinhaltet, erst sekundär in die Handlung der AmpelosEpisode integriert wurde, was in der Tat die Vermutung nahelegt, dass Nonnos dadurch im Nachhinein eine zusätzliche Parallele zum 41. Buch schaffen wollte. Möglicherweise – das ist allerdings spekulativ – trifft dies auch für die Idee zu, die Ampelos-Episode um eine Alternativversion zur Entstehung des Weins zu erweitern. Während es sich nämlich bei der Erwähnung einer Alternativversion im 41. Buch um eine spitzfindige Form der Arat-Imitation handelt,43 ist jene im 12. Buch weniger gut motiviert und könnte möglicherweise ausgehend von jener im 41. Buch in einem zweiten Bearbeitungsschritt gestaltet worden sein, um eine zusätzliche Korrespondenz mit diesem zu schaffen.

4. Das 12. Buch als Abschluss der Ampelos-Episode Nonnos ist der einzige (bekannte) antike Autor, der der mythologischen Gestalt des Ampelos eine ausführlichere Behandlung widmet. In welchem Verhältnis er dabei zur mythologischen Tradition steht, ist aufgrund der dürftigen Quellenlage zum Ampelos-Mythos nicht eindeutig zu bestimmen.44 Den wichtigsten Beleg für diesen bildet das in Ovids Fasti berichtete Aition zum Namen des Sterns Vindemitor (3.407–414). Diesem zufolge habe Bacchus einen jungen thrakischen Satyr namens Ampelos geliebt, der jedoch während der Traubenlese tödlich gestürzt und anschließend von Bacchus als Stern Vindemitor ans Himmelsgewölbe versetzt worden sei;45 wie schon der griechische Name suggeriert, dürfte Ovids Bericht auf einer griechischen – wohl hellenistischen – Vorlage beruhen, wobei freilich der Umfang der ovidischen Bearbeitung nur schwer abzuschätzen ist.46 Als Geliebter des Dionysos findet Ampelos zudem auch im Rahmen einer Zusammenstellung von mythischen Beispielen von Treulosigkeit und Ehebruch in den pseudoklementinischen Homilien (5.15.2 Rehm/Strecker) Erwähnung. Die beiden Belege bezeugen zwar die Existenz eines Ampelos-Mythos, in dem dieser als Geliebter des Gottes fungierte, geben aber keine Auskunft auf die Frage, ob auch die für die Behandlung in den Dionysiaka zentrale Meta 43 S. Zuenelli 2017; vgl. Faulkner 2017, der die Arat-Imitation abweichend interpretiert. 44 Ausführliche Diskussion der Quellen in Kröll 2016, 39–47. 45 Ov. Fast. 3.407–414 at non effugiet Vindemitor: hoc quoque causam/unde trahat sidus parva docere mora est./Ampelon intonsum satyro nymphaque creatum/fertur in Ismariis Bacchus amasse iugis./tradidit huic vitem pendentem frondibus ulmi,/quae nunc de pueri nomine nomen habet./dum legit in ramo pictas temerarius uvas,/decidit: amissum Liber in astra tulit. 46 Vgl. Bömer 1958 ad 3.409.

Das 12. Buch als Abschluss der Ampelos-Episode

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morphose des Ampelos bereits in dem Nonnos bekannten Mythos vorgeformt war. Als Beleg für die Existenz einer solchen Mythenvariante wurden mehrere Darstellungen aus der bildenden Kunst ins Feld geführt, die Figuren zeigen, die eine Verwandlung in einen Weinstock zu durchlaufen scheinen. Die Identifikation dieser Figuren mit Ampelos kann aber nicht als gesichert gelten. Am plausibelsten ist eine solche jedenfalls für die Reliefabbildung auf einem spätantiken Sarkophag (letzte Jahrzehnte des 3. Jh. n. Chr.) aus Acqua Traversa bei Gallicano in Latium, die auch den Umschlag dieses Buches ziert.47 Dort ist eine Weinlese abgebildet, in die verschiedene Figuren involviert sind. Bei der äußersten Person auf der linken Seite handelt es sich um einen männlichen Satyrn, der sich in eine Rebe zu verwandeln scheint48 und daher durchaus mit Ampelos identifiziert werden könnte. Insgesamt reichen die spärlichen Belege aber nicht aus, um das Vorhandensein einer diesbezüglichen Mythenvariante zu belegen. Angesichts der vielen weiteren Erwähnungen von sonst kaum belegten Metamorphosen-Erzählungen in den Dionysiaka würde es aber jedenfalls nicht überraschen, wenn Nonnos, dem allem Anschein nach eine mythographische Liste von Verwandlungsgeschichten zur Verfügung stand,49 auch eine solche in Bezug auf Ampelos kannte. In welcher Form auch immer Nonnos den Ampelos-Mythos vorgefunden haben mag, er gestaltet ihn jedenfalls zu einem ausführlichen Kleinepos von über 1102 Versen50 aus (10.139–12.291). Die Grundzüge der Handlung, die nach einer Überleitung einsetzt, die Dionysos beim vergnügten Bad mit den Satyrn im Paktolos zeigt (10.139–174),51 sind dabei folgende: Auf einem Jagdausflug wird Dionysos auf den schönen Satyrknaben Ampelos aufmerksam und entbrennt in heftiger Liebe zu ihm (10.175–321). Dionysos macht Ampelos zu seinem Spielgefährten und beide verbringen viel Zeit bei gemeinsamen sportlichen Aktivitäten (Ringkampf [10.331–382], Wettlauf [10.383–11.6], Wettschwimmen [11.7–55]). Das Glück währt aber nicht lange: Ate, die Ampelos in Gestalt eines Gleichaltrigen erscheint, weckt in ihm das Bedürfnis, auf einem wilden Stier zu reiten (11.113–155), und Ampelos, der trotz der schon früher geäußerten Warnung des Dionysos (11.71–80) dieses Vorhaben in die Tat umsetzt, kommt bei diesem Ritt ums Leben (11.156–223). Der Tod des Knaben wird Dionysos 47 Matz 1969, Tafel 202. 48 Matz 1969, 327–328 Nr. 178. 49 S. hierzu Zuenelli 2018. 50 Die Zahl bezieht sich auf die tatsächlich überlieferten Verse. Nicht berücksichtigt wurde bei der Zählung, dass zwischen 10.346 und 347 sowie zwischen 11.82 und 83 Lücken von mindestens einem Vers anzunehmen sind und dass einige in den überlieferten Text eingedrungene Passagen wohl nicht für die finale Publikation bestimmt waren (s. Kap. 5). 51 Die Beschreibung des vergnügten Bads steht in deutlichem Kontrast zum gerade berichteten Ende der Ino-Episode: Ino hatte sich dort zusammen mit ihrem Sohn Melikertes ins Meer gestürzt (10.120–121).

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gemeldet und stürzt ihn in tiefe Trauer (11.224–350). Eros, der die Gestalt eines Silens angenommen hat, versucht Dionysos zu trösten (in diesem Zusammenhang erzählt er die Geschichte der unglücklichen Liebe zwischen Kalamos und Karpos [369–481]), was ihm allerdings nicht gelingt (11.351–485a). An dieser Stelle wird die Handlung unterbrochen und ohne Überleitung zur Beschreibung der vier Jahreszeitenhoren übergegangen (Beginn des Horen-Intermezzos), die sich gerade auf dem Weg zum Palast des Helios befinden (11.485b–521). Das 12. Buch nun, das die Handlung an dieser Stelle nahtlos fortführt,52 gliedert sich in drei große Abschnitte, an denen sich auch die Grobstruktur des Kommentarteils orientiert. Der erste Abschnitt stellt eine Weiterführung des Horen-Intermezzos dar (1–117a) und beginnt mit der Schilderung der abendlichen Ankunft der vier Jahreszeitenhoren im Palast des Helios (1–20), der gerade von seiner Fahrt zurückgekehrt ist. Die Herbsthore bittet Helios um Auskunft darüber, wann der Weinstock entstehen und welcher Gott ihn als Attribut zugesprochen bekommen wird. Der Sonnengott verweist sie auf vier in seinem Palast befindliche Tafeln, auf denen alle zukünftigen Ereignisse verzeichnet seien und wo sie auf der dritten und vierten Tafel die gewünschten Antworten finden könne (21–40). Die Herbsthore macht sich in der Folge auf die Suche nach den angegebenen Stellen (41–89); in diesem Rahmen wird teilweise der Inhalt der vier Tafeln wiedergegeben, die eine Art Weltarchiv bilden. Schließlich findet die Herbsthore die gewünschten Informationen und erfährt, dass sich Ampelos in einen Rebstock verwandeln und Dionysos diesen als Attribut erhalten wird (90–113). Zufrieden tritt sie mit ihren Schwestern die Rückreise an (114–117a). An dieser Stelle kommt es erneut zu einer narrativen Zäsur. In deutlichem Kontrast zur ruhigen und würdevollen Atmosphäre im Palast des Helios richtet Nonnos die Aufmerksamkeit nun wieder auf die hochemotionalen Szenen im Anschluss an den Tod des Ampelos. So wird – abermals ohne Überleitung – der in 11.485a unterbrochene Handlungsstrang der Ampelos-Episode wiederaufgenommen und bis zum Ende derselben fortgeführt (117b–291). Der Übergang ist allerdings insofern nicht nahtlos, als die Art und Weise der Beschreibung der Trauer des Dionysos zu Beginn des Abschnitts (117b–122a) voraussetzt, dass während der Unterbrechung der Handlungslinie durch die Erzählung des Horen-Intermezzos eine gewisse Zeitspanne verstrichen ist.53 Aus Mitleid mit Dionysos stimmt auch die Natur in die Trauer mit ein (122b–137). Mit dem plötzlichen Auftritt der Atropos und ihrer beiden Schwestern, die Dionysos die Verwandlung des Ampelos in einen Weinstock verkünden (138–172), kommt 52 Dass Buchgrenzen nicht mit inhaltlichen Einschnitten zusammenfallen, ist für die Dionysiaka nicht ungewöhnlich (s. vor allem die Fälle von »Buchenjambement« zu Beginn der Bücher 10, 11, 15, 21 und 40; vgl. hierzu Vian 1976, XXVI). Zur Bucheinteilung im Epos allgemein s. Bitto 2019, v.a. 145–148 zu den ebenfalls fließenden Buchübergängen in Ovids Metamorphosen. 53 S. K. 117b–291.

Das 12. Buch als Abschluss der Ampelos-Episode

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es zur Peripetie: Der tote Ampelos beginnt sich zu verwandeln und nimmt die Gestalt einer Rebe an, die sich gleich zu einem imposanten Weinberg ausbreitet; recht überraschend und den Handlungsverlauf störend wird an dieser Stelle auch die Metamorphose des Kissos in den Efeu berichtet (173–192). Dionysos kostet anschließend von der neuartigen Frucht des Weinstocks und verleiht seiner Freude in Form einer ausführlichen Rede Ausdruck (193–291). Nach Abschluss der Ampelos-Episode unterbricht Nonnos die narrative Fiktion und verweist darauf, dass neben der eben erzählten Metamorphose des Ampelos noch eine alternative Version zur Genese des Weinstocks existiere. Die Erzählung dieser Alternativversion bildet schließlich den dritten und letzten Abschnitt des Buches. Er beginnt mit der Beschreibung der Entstehung der ersten Rebe aus dem Blut des Uranos und deren Ausbreitung zu einem wilden Weinberg (294b–318). An diese schließt sich die Erzählung der εὕρεσις des Weinstocks an: Auf einem seiner Streifzüge in der Wildnis bemerkt Dionysos eine Schlange, die vom Saft der Trauben dieses Weinstocks trinkt, was ihm nicht näher definierte Prophezeiungen seiner Ziehmutter Rhea in Erinnerung ruft. Er beginnt daraufhin eine Kelter auszuheben, die Trauben zu lesen und sie mit den Füßen zu pressen, wobei er von einer ihn begleitenden Horde Satyrn unterstützt wird, die seinem Vorbild folgen (319–359). Die Satyrn beginnen nun, vom neuartigen Getränk aus der Frucht der Rebe zu kosten, und werden von diesem berauscht (360–381). Betrunken und liebestoll schwärmen sie anschließend in einem ausgelassenen nächtlichen Umzug aus (382–393). Nach dessen Ende kehrt Dionysos zur Höhle der Rhea zurück und lehrt auf seinem Weg die Menschen seine neuen εὑρήματα: den Anbau von Wein sowie das Abhalten von nächtlichen dionysischen Feiern (394–397). Mit der Metamorphose des Ampelos ist das τέλος, auf welches die AmpelosEpisode hin komponiert ist, erreicht. Der folgende Abschnitt 292–397 bildet daher gleichsam einen narrativen Annex, im Rahmen von welchem ausgesparte Aspekte nachgeholt werden.54 Dieser Nachtrag wird in Form einer Alternativversion dargeboten, die dabei naturgemäß in einem gewissen inhaltlichen Widerspruch zur Haupthandlung steht. Sie kann aber insofern als komplementär angesehen werden, als der Fokus nun auf der εὕρεσις des Weins und der damit verbunden Kulturtechniken liegt.55 Überraschenderweise wählt Nonnos diese Alternativversion als Ausgangspunkt für die weitere Handlung des Epos.56 Er kehrt nämlich zu Beginn des 13. Buches, das die Erzählung des Indienfeldzugs des Dionysos eröffnet, nicht zum Handlungsstrang der Ampelos-Episode zu 54 In diesem Sinne ist die Struktur vergleichbar mit anderen Fällen, wo das τέλος und der formale Abschluss der Erzählung nicht zusammenfallen, sondern wo nach Erzählung des τέλος auch noch der weitere Verlauf der Geschichte referiert wird (s. Krafft 1975, 102 mit Beispielen). 55 Vgl. Vian 1995a, 88. 56 S. K. 292–397.

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Einleitung

rück, sondern scheint jenen der Alternativversion weiterzuführen und damit seine eigene Narration ad absurdum zu führen. Für die epische Ausarbeitung des Ampelos-Mythos hat Nonnos auf unterschiedliche mythologische Modelle, insbesondere den Hyakinthos-Mythos, zurückgegriffen. Ob Nonnos dabei eine bestimmte literarische Ausgestaltung des Mythos – der beste Kandidat wäre wohl Euphorions Hyakinthos – als Vorlage verwendet hat, kann aufgrund der schlechten Überlieferungslage nicht beantwortet werden. Belegbar ist jedenfalls die Übernahme unterschiedlicher Motive und Handlungselemente aus der hellenistischen – insbesondere der bukolischen – Dichtung.57 Das 12. Buch ist abgesehen vom reinen Handlungsverlauf, der es mit dem restlichen Teil der Ampelos-Episode verknüpft, auch durch ein dichtes Netz von Motiven und Querverweisen verbunden.58 Sie stiften Kohärenz und dienen dazu, die sich auf der Handlungsebene abspielende Peripetie von Trauer in Glück zu unterstreichen. Nirgends wird dies deutlicher als an der Rede des Dionysos (205b–291), in der in verdichteter Form Motive der ersten Klagerede wiederaufgenommen und ins Positive gewendet werden, sodass die Rede als ein kontrastierendes Gegenstück zu ersterer angesehen werden kann. Aber auch sonst werden im 12. Buch motivische Leitlinien der beiden vorherigen Bücher weitergeführt und entsprechend der neuen Handlungssituation umgedeutet. Dies betrifft insbesondere zwei Aspekte, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Zum einen ist das φάρμακον-Motiv zu nennen,59 das die Erzählung der Ampelos-Episode nach dem Tod des Ampelos gleichsam wie ein roter Faden durchzieht: Zum ersten Mal taucht dieses in der ersten Klagerede des Dionysos auf, in der Dionysos Apollo glücklich preist, dass letzterer im Gegensatz zu ihm selbst anstelle des verstorbenen Hyakinthos zumindest eine Pflanze sein Eigen nennen kann, in die sich der ehemalige Geliebte verwandelt hat (11.259– 260 Θεραπναίου δὲ καὶ αὐτοῦ/φάρμακον ἡβητῆρος ἐπώνυμον ἄνθος ἀείρει). In abgewandelter Form kehrt das Motiv »Trost durch eine Pflanze« am Beginn der Rede des Eros wieder, in der dieser – seinem Wesen entsprechend – Dionysos rät, in einer neuen Liebe den Trost für den Verlust des verstorbenen Geliebten zu suchen (11.359 φάρμακόν ἐστιν ἔρωτος ἔρως νέος· οὐ γὰρ ὀλέσσαι) und dies anhand eines Vergleichs aus der Gartenarbeit exemplifiziert. So würde nämlich auch ein Gärtner, der eine im Staub daliegende Blume sieht, eine neue pflanzen und sich so über den Verlust der ersten hinwegtrösten (11.366–368 ἐν δαπέδῳ γάρ/κείμενον ἀθρήσας κεκονιμένον ἄνθος ἀροτρεύς/φάρμακον ὀλλυμένοιο 57 Zu den möglichen hellenistischen Modellen s. Kap. 6. 58 S. im Einzelnen hierzu den Stellenkommentar; vgl. Nizzola 2012, 59–74; Kröll 2016, 25–29. 59 Vgl. Bio Fr. 1 Gow, wo Apoll nach dem Tod des Hyakinthos ebenfalls versucht, ein φάρμακον gegen den Verlustschmerz zu finden (2 δίζετο φάρμακα πάντα); zum Motiv selbst Reed 1997 ad loc.

Das 12. Buch als Abschluss der Ampelos-Episode

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νεώτερον ἄλλο φυτεύει). Gleich bei der Wiederaufnahme der Handlung der Ampelos-Episode im 12. Buch wird dann abermals auf das φάρμακον-Motiv rekurriert und konstatiert: 12.117b–118 οὐδὲ Λυαίῳ/φάρμακον ἦν ἑτάροιο δεδουπότος. In deutlichem Kontrast hierzu steht schließlich die Fortführung des Gedankens am Schluss der Episode nach der durch die Metamorphose des Ampelos eingeleiteten Peripetie: Dionysos besitzt mit der Rebe nun einen Ersatz für den verstorbenen Ampelos und findet darin Trost für seinen Verlust (12.290–291 προτέρας δ’ ἔρριψε μερίμνας/φάρμακον ἡβητῆρος ἔχων εὔοδμον ὀπώρην).60 Zum anderen wird aber auch das im Rahmen der bisherigen Erzählung der Ampelos-Episode konstruierte Beziehungsgeflecht zwischen Dionysos und dem etablierten Götterpantheon neu reinterpretiert. In der Tat wurde nämlich Ampelos im Laufe der Handlung in auffälliger Weise durch unterschiedliche literarische Mittel den geliebten Knaben anderer Götter gegenübergestellt. Die Konstruktion dieses mythologischen Beziehungsgeflechts setzt dabei gleichzeitig auch seinen ἐραστής Dionysos in Beziehungen zu den jeweiligen Göttergestalten und ist damit Teil eines größeren werkumspannenden Bezugskomplexes, in dessen Rahmen die einzelnen Stationen von Dionysos’ Lebensweg bis zur finalen Aufnahme in den Olymp (und damit der Aufnahme in die Göttergemeinschaft) mit den Schicksalen anderer Göttergestalten abgeglichen werden.61 Es ist dabei deutlich ersichtlich, wie dieses im Rahmen der Ampelos-Episode konstruierte Bezugsnetz im 12. Buch dazu verwendet wird, die dort behandelte Peripetie auf anderer Ebene kontrastiv zu untermalen. Dies betrifft insbesondere die beiden Reden des Buches, in denen Dionysos im Hinblick auf sein neues Attribut abermals unterschiedlichen Gottheiten gegenübergestellt wird, nun aber seine Überlegenheit gegenüber diesen in diesem Punkt hervorgehoben wird. Dem Vergleich zwischen Ampelos und Apolls Knaben Hyakinthos kommt dabei eine besonders prominente Stellung zu.62

60 Während der φάρμακον-Charakter der Rebe für Dionysos darin besteht, dass er in der Pflanze einen Ersatz für den verstorbenen Jüngling besitzt, zeigt sich dieser bei den Menschen in der sorgenlösenden Wirkung des Weins (vgl. z.B. 7.55–56 ἀνίης/φάρμακον; 46.303 φάρμακόν … ἀνίης). 61 Hierzu Fayant 2012; Kröll 2016, 65–96; Carvounis 2018, 37–50. 62 12.156–166 (Hyakinthos); 207–210 (Apoll, Demeter); 217 (Atymnios); 224–225 (Hyakinthos); 247–271 (Apoll, Ares, Demeter, Athene); vgl. 104–107 (Ganymed); 110–113 (Apoll, Aphrodite, Athene, Demeter).

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5. Der unfertige Zustand des 12. Buches Der 1880 von August Scheindler publizierte Artikel »Zu Nonnos von Panopolis« markiert den Auftakt zur Nonnos-Analyse, die vor allem durch die Arbeiten von Rudolf Keydell63 und Paul Collart64 prägend für die philologische Beschäftigung mit den Dionysiaka in der ersten Hälfte des 20. Jh. werden sollte. Vergleichbar mit der schon früher einsetzenden Homer-Analyse verfolgte diese das Ziel, die Komposition der Dionysiaka anhand der Rekonstruktion des Entstehungsprozesses des Werkes und – damit verbunden – des Herausarbeitens von unterschiedlichen Umarbeitungsstufen zu erklären. Diesen Versuchen liegt die Prämisse zugrunde, dass Nonnos eine ursprüngliche, kürzere Fassung des Werkes sukzessive erweitert und umgestaltet, den so entstandenen Text aber keiner finalen Redaktion mehr unterzogen habe, weshalb der überlieferte Text nun zahlreiche Bruchstellen und Widersprüche aufweise. Die Ergebnisse dieser Analysen können allerdings auf weiten Strecken nicht wirklich überzeugen und werden heute im Großen und Ganzen als überzogen angesehen. Vielmehr ist die Nonnos-Forschung der letzten Jahrzehnte dazu übergegangen, die für den modernen (und an klassischen Texten geschulten) Leser als erzähltechnische Unebenheiten wahrgenommenen Elemente auf der Basis eines veränderten Verständnisses narrativer Kohärenz in der Spätantike zu verstehen und zu erklären. Trotzdem kann aber nach wie vor nicht geleugnet werden, dass die Dionysiaka Züge der Unfertigkeit aufweisen und wohl als noch nicht final redigiertes Arbeitsmanuskript von einem späteren Herausgeber in Umlauf gebracht wurden.65 Generell hat man dabei den Eindruck, dass der Zustand des Manuskripts dem spätantiken Herausgeber – zumindest streckenweise – Schwierigkeiten bereitete, den korrekten Textverlauf zu rekonstruieren. Besonders deutlich wird dies anhand der Integration von offensichtlich nicht für die finale Publikation gedachten Textblöcken.66 Allem Anschein nach wies das Manuskript nämlich neben dem für die Publikation intendierten Text auch

63 Keydell 1927; 1932. 64 Collart 1930. 65 Prominent z.B. De Stefani 2016, 672: »Since the poem did not receive the last hand – as it seems quite clear from some structural inconsistencies – it is possible that the poet died while still writing it«; Accorinti 2013, 1116: »Dennoch ist es unbestreitbar, dass dieses Epos Spuren der Nichtvollendung zeigt«. Dass Nonnos die dem Werk vorgeschaltete hexametrische Perioche noch nicht fertig überarbeitet hat, konnte ich in Zuenelli 2016, 585–588 zeigen. 66 Als Vergleichsobjekt bieten sich Ovids Metamorphosen an, die der Nachwelt ebenfalls in einer nicht endgültig überarbeiteten Form hinterlassen wurden. Auch hier wird die Möglichkeit diskutiert, dass marginale Fassungen von Ovids Arbeitsmanuskript in den überlieferten Text eingedrungen sind (s. Bömer I, 168–171; Blänsdorf 1980; Richmond 2002, 472–474).

Der unfertige Zustand des 12. Buches

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nicht weiter ausgearbeitete Textentwürfe und Alternativversionen auf, die vom Herausgeber fälschlicherweise in den Text integriert wurden.67 Auch das 12. Buch zeigt deutliche Merkmale, dass es von Nonnos nicht einer finalen Revision unterzogen worden ist. Dasselbe gilt für die Ampelos-Episode als Ganzes, an der Nonnos, wie es aussieht, noch gearbeitet zu haben scheint.68 In der Tat gibt es Grund zur Annahme, dass er sich noch nicht ganz schlüssig war, wie er die Partie zwischen dem Wettschwimmen und dem Auftritt der Göttin Ate, die Ampelos dazu bringt, auf einem wilden Stier zu reiten, gestalten sollte. Die Partie wirkt nämlich wie eine Ansammlung von unverbundenen – teilweise wohl alternativen – Einzelentwürfen: In 11.71–81 warnt Dionysos seinen Knaben, der gerne allein mit wilden Tieren in den Wäldern spielt (11.58–70), dass er sich vor Stieren hüten solle (Dionysos scheint demzufolge um Ampelos’ künftigen Tod durch einen Stier zu wissen, man fragt sich allerdings, woher). Auf eine Lücke im Text, die aufgrund der Syntax anzunehmen ist, folgt der Bericht eines Wunderzeichens (ein Rehkitz wird von einer gehörnten Schlange auf einem Altar aufgespießt), aus welchem Dionysos schließt, dass Ampelos durch einen Stier umkommen, aber gleichzeitig Ausgangspunkt für die Entstehung des Weins sein wird (11.83–98); das Stück ist problematisch, (i.) da Dionysos eigentlich schon weiß, dass Ampelos durch einen Stier ums Leben kommen wird und (ii.) da das Wissen des Dionysos um die Entstehung des Weins in Widerspruch zu der weiteren Handlung steht, deren Spannung ja gerade darin liegt, dass Dionysos nicht weiß, dass Ampelos sich in eine Rebe verwandeln wird. Der an den Bericht anschließende Abschnitt beschreibt nun, wie Dionysos nicht von der Seite des jungen Satyrn weicht und auch all seine Schwächen als liebenswert erachtet (11.99–112). Die Verse stehen zwar nicht in Widerspruch zu Teilen der Handlung, passen aber auch nicht wirklich an diese Stelle. Da der Abschnitt dasselbe Thema wie in 10.267–273 behandelt, scheint das Textstück – wie schon von Rudolf Keydell erkannt69 – in jenen Kontext zu gehören und fälschlicherweise an der überlieferten Stelle integriert worden zu sein.70 Auf dieses folgt dann der Auftritt der Ate, die Ampelos allerdings wieder allein (!) und in der Wildnis (!) vorfindet. 67 Eindeutige Beispiele hierfür bilden: 15.60–63; 20.314–315; 21.116–117; 28.1–6; 35.1–5; 41.50; vgl. z.B. Vian 1976, XXXIX–XLI; Gerlaud 1994 ad 15.60–63; Hopkinson/Vian 1994 ad 21.116–117; Agosti 2004 ad 28.1–6. Etwas suspekt ist auch 31.236–237. 68 Vgl. Collart 1930, 101–107; Keydell 1932, 179–182; D’Ippolito 1964, 137–139; contra Vian 1995a, 14–16, der bezüglich der Widersprüche und Probleme – meines Erachtens zu pauschalisierend – auf eine allgemeine Gleichgültigkeit des Nonnos in Hinblick auf Handlungsstringenz verweist. 69 Keydell 1932, 180 Anm. 10. 70 Contra Gigli Piccardi 2003 ad 99–112; vgl. Vian 1995a, 6–7, der in dem Punk unentschlossen ist.

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Innerhalb dieses Problemkomplexes könnten auch die Schwierigkeiten, die die zweite Klagerede des Dionysos verursacht,71 zu verorten sein (sonderbar ist hier schon allein die Tatsache, dass Dionysos zwei unmittelbar aufeinander folgende Klagereden hält). Das Hauptproblem besteht allerdings darin, dass in dieser Dionysos abermals nicht zu wissen scheint, durch welches Tier Ampelos umgekommen ist (11.337–350), während er es in der ersten Rede sehr wohl wusste (11.264–270; 288).72 Es ist zwar sehr kühn zu vermuten, aber möglicherweise war auch diese zweite Klagerede nicht für die finale Publikation gedacht, sondern nur ein Überbleibsel einer älteren Fassung der Ampelos-Episode, in der Dionysos nicht bekannt war, durch welches Tier Ampelos getötet wurde. Was nun das 12. Buch im Speziellen betrifft, so zeigt sich dessen unfertiger Zustand in erster Linie am Horen-Intermezzo, welches meiner Meinung nach erst nachträglich von Nonnos in die Ampelos-Episode integriert und auch noch nicht gänzlich von ihm ausgearbeitet wurde. Anlass zu diesem Schluss geben folgende Beobachtungen:73 (i.) Formale Überleitung: Dass Nonnos durch das Horen-Intermezzo einen Handlungsstrang plötzlich unterbricht und ihn erst später wieder aufnimmt, ist an sich nicht ungewöhnlich, sondern entspricht der Kompositionstechnik in den Dionysiaka.74 Ungewöhnlich ist allerdings die Art der Anbindung. Während Nonnos nämlich in solchen Fällen üblicherweise – wenn auch meist sparsame – Überleitungen verwendet,75 beginnt hier mitten im Vers eine gänzlich neue Episode ohne jede Überleitung. Als syntaktische Anbindung fungiert einzig die Partikel δέ (11.485), die leichteste Form der Satzverknüpfung im Griechischen.76 Gleiches gilt auch für die Wiederaufnahme des Handlungsstrangs der Ampelos-Episode, die ebenfalls ohne explizite Überleitung mitten im Vers durch οὐδέ (12.117) erfolgt. 71 S. Keydell 1932, 180. 72 Gigli Piccardi 2003 ad 337–350 versucht, den Widerspruch mit Verweis auf Dionysos’ mentale Verwirrung zu erklären, was meines Erachtens wenig überzeugend ist. 73 Die Beobachtungen überschneiden sich zu einem geringen Teil mit den schon von Scheindler 1880, 34–37 vorgebrachten Überlegungen für eine sekundäre Integration des Horen-Intermezzos. Seine Argumente sind aber größtenteils nicht überzeugend und wurden zu Recht kritisiert (zustimmend Collart 1930, 107; Keydell 1932, 180; D’Ippolito 1964, 137; Diggle 1970, 184–185; contra String 1966, 58–60; Krafft 1975, 135–137). Die heutige communis opinio scheint zu sein, dass das Horen-Intermezzo eine unproblematische Partie darstellt (vgl. Duc 1990, 186–187; Vian 1995a, 3–4; Gigli Piccardi 2003, 739; Kröll 2016, 180). 74 Vgl. Geisz 2016, 181–182. 75 Vgl. z.B. 1.321–323; 10.139–141; 21.200–202. 76 Am Ende des 11. Buches finden sich zwei Verse, die an dieser Stelle etwas sonderbar wirken: Ἀλλὰ τότε χρόνος ἦλθε μεμορμένος, οὗ χάριν αὐταὶ/εἰς δόμον Ἠελίοιο συνήλυδες ἔδραμον Ὧραι (520–521). Sie würden sich jedoch sehr gut als Einleitung zum Horen-Intermezzo eignen (vgl. die Überleitung 36.422–423 Καὶ τότε, τετραπόροιο χρόνου στροφάλιγγα κυλίνδων, … Αἰών). Handelt es sich hierbei möglicherweise um einen hierfür bestimmten Entwurf, der fälschlich an diese Stelle des Textes gelangt ist?

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Für eine solche Form der direkten Überleitung habe ich in den Dionysiaka nur einen weiteren Beleg gefunden.77 Hierbei handelt es sich um die Einbettung der Götterversammlung im 27. Buch, die die Haupthandlung ebenso abrupt und nur durch καί verknüpft mitten im Vers unterbricht: …/μαρναμένων. — Καὶ πάντες, ὅσοι ναετῆρες ᾿Ολύμπου,/ Ζηνὶ παρεδριόωντες ἔσω θεοδέγμονος αὐλῆς/πασσυδὸν ἠγορόωντο πολυχρύσων ἐπὶ θώκων (27.241–243). Allerdings liegt auch hier die Vermutung nahe, dass die fehlende Überleitung damit zu begründen ist, dass die Integrierung erst sekundär erfolgte und die Art und Weise der Verknüpfung wohl noch eher provisorischer Art ist.78 Ein starkes Indiz dafür, dass die gesamte Partie – und damit auch die Anbindung der Götterversammlung – work in progress waren, bildet die Tatsache, dass die Wiederaufnahme der Haupthandlung nach der bis ans Ende von Buch 27 reichenden Erzählung der Götterversammlung, in der Tat äußerst problematisch ist. An diese schließt nämlich ein Textstück (28.1–6) an, welches nicht an diese Stelle gehört und mit großer Sicherheit einen früheren Entwurf einer Kampfszene bildet, der fälschlich an diese Stelle gesetzt wurde. Aber auch das folgende mit 28.7 beginnende Stück eignet sich nur bedingt als Fortführung des Textes im Anschluss an die Götterversammlung.79 (ii.) Handlungslogische Anbindung: Abgesehen von den fehlenden formalen Überleitungen dürfte auch die mangelhafte handlungslogische Anbindung ein Indiz für die Unfertigkeit der Episode sein. Im Gegensatz zu vergleichbaren Szenen wird der Besuch der vier Jahreszeitenhoren auf der Handlungsebene nämlich nur sehr dürftig motiviert. So bleibt völlig offen, warum die Herbsthore ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt Informationen bezüglich der Entstehung des Weinstockes bedarf und warum sie hierfür ausgerechnet Helios aufsucht (der de facto dann die Antworten ja auch gar nicht kennt).80 Die Leerstellen erwecken den Eindruck, dass sich Nonnos über die Eingliederung des Horen-Intermezzos in den übergeordneten Handlungsverlaufs des Werks noch nicht ganz im Klaren war. Einen Extremfall dieser mangelhaften Verknüpfung bildet der logische 77 Auf die Parallele hat schon Vian 1995a, 25 hingewiesen. Sehr hart sind die Übergänge ebenso im Fall der Nikaia-Episode, wenngleich die Lage hier eine etwas andere ist. Aber auch hier besteht der berechtigte Verdacht, dass sie in einem letzten Augenblick noch innerhalb des Werkes verschoben wurde (s. hierzu Zuenelli 2016, 586–588), weshalb anzunehmen ist, dass die mangelnden Überleitungen einer fehlenden finalen Verknüpfung mit der Handlung an neuer Stelle geschuldet sind. 78 Vgl. Keydell 1927, 413–415. 79 Streicht man die Verse 28.1–6, würde Buch 28 mit Καὶ στρατιὴ κεκόρυστο πολύτροπος εἰς μόθον ᾿Ινδῶν/σπερχομένων ἀγεληδόν beginnen, was einen etwas seltsamen Buchbeginn abgeben würde; zudem verwendet Nonnos ansonsten nie καί, um ein Buch einzuleiten (s. zur gesamten Diskussion s. Agosti 2004 ad 28.1–6 und zusätzlich Keydell 1927, 412–415). 80 S. K. 1–117a.

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Widerspruch, der sich durch die Integration des Horen-Intermezzos zur Handlung der Ampelos-Episode ergibt: So wird die Metamorphose des Ampelos auf der Handlungsebene durch die heftigen Klagen des Dionysos motiviert, dem es schließlich gelingt, sogar die Moiren zu erweichen.81 Dies steht allerdings in deutlichem Widerspruch zu der Tatsache, dass die Verwandlung im Horen-Intermezzo als ein von Anbeginn der Zeit vorherbestimmtes Ereignis gefeiert wird. Dieser recht offensichtliche Widerspruch in der Handlungsmotivierung weckt den Verdacht, dass Nonnos nicht von Anfang an plante, die Handlung der Ampelos-Episode durch das Horen-Intermezzo zu erweitern und dass der Widerspruch letztlich eine unbedachte Folge dieser nachträglichen Integration darstellt. (iii.) Ausarbeitung: Neben der mangelhaften Verknüpfung mit der Haupthandlung spricht auch die Ausgestaltung des Horen-Intermezzos selbst für dessen unfertigen Zustand. Dies betrifft zum einen – und besonders deutlich – die beiden Reden, zum anderen das Fehlen der ansonsten für Nonnos so typischen ekphrastischen Ausgestaltung. Was die Reden anbelangt, so fällt auf, dass sie zu den kürzesten des ganzen Epos zählen und sehr skizzenhafte Züge tragen (die Rede des Helios besteht eigentlich fast nur aus Stichworten). Es liegt daher die Vermutung nahe, dass es sich hierbei tatsächlich nur um erste Entwürfe handelt, die Nonnos noch weiter auszuformen plante.82 In dieselbe Richtung weist auch, dass Nonnos die Möglichkeiten zur ekphrastischen Ausgestaltung, die ihm der Palast des Helios sowie die κύρβεις der Harmonia geboten hätten, nicht ausgenutzt hat. Noch stutziger als das Ausbleiben der erwarteten beschreibenden Ausschmückung macht allerdings die Tatsache, dass Nonnos einen so spärlichen Gebrauch von Angaben zu Palast und κύρβεις macht, dass dadurch das Verständnis nicht weniger Zusammenhänge beeinträchtigt wird.83 (iv.) Kleinere Ungereimtheiten: Schließlich sind noch zwei kleinere Ungereimtheiten zu nennen, die Nonnos wohl bei einer finalen Revision beseitigt hätte. Die erste betrifft das Anführen einer falschen Genealogie der Herbsthore (hier dürfte eine Verwechslung mit den zuvor genannten Monatshoren vorliegen – ein einfacher Flüchtigkeitsfehler),84 die zweite die beiden redundanten Verse zu Beginn des Buches. Diese Redundanz ließe sich wie folgt erklären: Wenn man davon ausgeht, dass Nonnos das Horen-Intermezzo in einem Stück geschrieben und dann an die jetzige Stelle im Text gesetzt hat, so ist anzunehmen, dass in der Folge die ursprüngliche Buchgrenze verschoben wurde. Nonnos scheint sich dafür 81 S. K. 138–172. 82 S. K. 21–40 sowie 21–28 und 36–40. 83 S. K. 1–117a, wo die Problematik ausführlich diskutiert wird. 84 S. K. 96.

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entschieden zu haben, das 12. Buch nun mit der Ankunft der vier Jahreszeitenhoren beginnen zu lassen. Um den neuen Buchanfang auch als solchen in epischer Manier zu markieren, dürfte er dann zusätzlich die Verse 1–2 verfasst (12.1 ῝Ως αἱ μὲν …), sich aber noch keine Gedanken darüber gemacht haben, wie die dadurch entstandene Redundanz mit den vorherigen Versen 11.520–521 gelöst werden kann.85 Diese Beobachtungen lassen es plausibel erscheinen, dass das Horen-Intermezzo ein nachträglich erfolgter und noch nicht gänzlich ausgearbeiteter Einschub in die Ampelos-Episode bildet.86 Ein denkbares – aber zugegebenermaßen spekulatives – Szenario hierfür stellt die Annahme dar, dass sich Nonnos bei einer späteren Überarbeitung des Werks dazu entschlossen hat, die Korrespondenz der Bücher 12 und 41 um ein weiteres Element zu erweitern.87 Die Integration der Szene an dieser Stelle dürfte aber nicht von derart provisorischer Natur sein, wie von Scheindler vermutet wurde, wonach Nonnos das Horen-Intermezzo einfach in den bestehenden Textverlauf eingesetzt und dabei das ursprüngliche Satzgefüge auseinandergerissen habe.88 Laut Scheindler sei dies daran ersichtlich, dass man bei einer Streichung des Horen-Intermezzos wieder einen sinnvollen und metrisch korrekten Text erhalte: Καὶ κινυρῇ πολὺ μᾶλλον ἱμάσσετο θυμὸν ἀνίῃ/ἠιθέου διὰ πότμον ἀώριον· (11.484–485a) οὐδὲ Λυαίῳ/φάρμακον ἦν ἑτάροιο δεδουπότος, οὐδὲ χορείης/μνῆστις ἔην (117b– 119a). Gegen diese Ansicht spricht – abgesehen vom holprigen Satzbau des rekonstruierten Textes –, dass in 12.177b ff. eine andere Situation vorliegt als noch im 11. Buch bei Verlassen des Handlungsstranges. Während Dionysos nämlich zuvor im 11. Buch noch vom akuten Schmerz wegen des Verlustes des Knaben gebeutelt wurde, scheinen die Verse 117b–123 nun die mittelbaren Folgen von Ampelos’ Tod auf den seelischen Zustand des Gottes zu beschreiben, was freilich impliziert, dass inzwischen – narrativ durch die Erzählung des HorenIntermezzos überbrückt – eine gewisse Zeitspanne vergangen ist.89 Daraus ist zu schließen, dass im Zuge der Eingliederung des Horen-Intermezzos der Abschnitt 12.117b–137 neu- (oder zumindest um-) gestaltet wurde. Dies zeigt, dass Nonnos allem Anschein nach durchaus bereits erste Versuche unternommen hat, die Erzählung der Ampelos-Episode den neuen Bedingungen, die die Integration des Horen-Intermezzos mit sich brachte, anzupassen; noch ein Relikt der ursprünglichen Fassung scheint jedoch die Überleitung zum Auftritt der Moiren in Vers 138 zu sein. 85 S. K. 1–2. 86 Ein weiteres – wenngleich schwaches Indiz – könnte sein, dass das Horen-Intermezzo keinen Niederschlag in den entsprechenden Stellen der Perioche gefunden hat. 87 S. Kap. 3.2. 88 Scheindler 1880, 36. 89 S. K. 117b–291.

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Sieht man vom Horen-Intermezzo ab, so ist davon auszugehen, dass das 12.  Buch ansonsten im Großen und Ganzen fertig ausgearbeitet worden ist. Trotzdem finden sich aber auch hier Indizien, die es fraglich erscheinen lassen, ob der überlieferte Text an allen Stellen dem von Nonnos intendierten entspricht: Im Falle der Rede des Dionysos sieht es so aus, als habe der Herausgeber der Dionysiaka Schwierigkeiten gehabt, den von Nonnos intendierten Textverlauf zu rekonstruieren, und Textstücke (258–260; 234–235) falsch integriert.90 In der Erzählung von der Alternativversion zur Entstehung der Rebe mehren sich gegen Mitte der Partie problematische Stellen, die möglicherweise ebenfalls mit einer nicht erfolgten finalen Revision des Textes in Zusammenhang gebracht werden können, aber nicht notwendigerweise müssen.91

6. Das 12. Buch und die literarische Tradition Bereits mit der namentlichen Nennung Homers im Proömium der Dionysiaka (1.37) gibt Nonnos klar zu erkennen, dass Ilias und Odyssee die Folie bilden, vor deren Hintergrund sein eigenes Epos zu lesen ist. Gegenüber Homer zeigt er dabei eine durchaus selbstbewusste Haltung, ja es scheint, als ob er sich selbst zu einem zweiten Homer stilisieren wolle.92 Abgesehen von seiner Parallelisierung mit Homer in den beiden Proömien zeigt sich diese Haltung schon ganz augenscheinlich darin, dass er als Umfang für sein Dionysos-Epos 48 Bücher wählt, und damit genau so viele, wie die beiden mythologischen Epen Homers insgesamt umfassen. In dieselbe Richtung weisen auch zwei Texte, die möglicherweise bereits von Nonnos in der Funktion von Paratexten verfasst wurden, also als Texte, die gleichsam an den »Schwellen« zum Basistext stehen und dessen Rezeption steuern.93 Wie ich nämlich anderorts zu zeigen versucht habe, hat Nonnos dem Epos eine metrische Inhaltangabe (die sog. Perioche)94 und – vielleicht – ein Buchepigramm95 vorgeschaltet. Beide dienen jedenfalls dazu, die Rezeption des Lesers dahingehend zu steuern, dass sie die Dionysiaka als einen literarischen Klassiker, wie es Homers Epen sind, präsentieren. Die Homer-aemulatio reicht von der Nachahmung der sprachlichen Diktion bis hin zu jener von bestimmten epischen Bauformen; unter letzterem Begriff 90 S. K. 205b–291. 91 S. K. 292–397. 92 Der locus classicus für Nonnos’ Verhältnis zu Homer ist Hopkinson 1994b (s. Bannert/ Kröll 2016 für neuere Literatur). 93 Zum Konzept »Paratext« s. v.a. Genette 1987; zur Paratext-Forschung innerhalb der Klassischen Philologie s. z.B. Jansen 2014a, v.a. 2014b, 3–9 (mit Literatur). 94 Zuenelli 2016. 95 Zuenelli 2022.

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lassen sich Szenentypen und allgemein inhaltliche Konstituenten subsumieren, die für die Gattung des Epos charakteristisch sind.96 Dabei ist allerdings auffällig, dass eine intensive Auseinandersetzung mit spezifisch homerischen (insbesondere iliadischen) Passagen erst mit dem 13. Buch – und genauer mit dem Truppenkatalog des dionysischen Heeres – einsetzt, die dann aber für die Behandlung des Indienfeldzugs (Bücher 13–40) bestimmend wird; diese intensivere Anlehnung an Homer scheint Nonnos in 13.49–52 bereits implizit anzukündigen, indem er für die Aufzählung der Truppen des Dionysos (und anzunehmender Weise auch für die Erzählung der folgenden kriegerischen Bücher97) um den Beistand Homers bittet: Ὅμηρον ἀοσσητῆρα καλέσσω (13.50). Dem erotisch-sentimentalen Inhalt des 12. Buchs entsprechend spielt Homer – von der rein sprachlich-formalen Seite einmal abgesehen – dort eine eher untergeordnete Rolle (ähnliches gilt für die Ampelos-Episode als Ganzes98): Das Horen-Intermezzo kann zwar mit bestimmten Szenen auf der Ebene des Götterapparats in Zusammenhang gebracht werden, dessen direkte literarische Wurzeln liegen aber anderswo. Der einzige Fall einer bedeutsamen Homer-Imitation im 12. Buch bildet die Ekphrasis des wilden Weinbergs in 302–313, die die Schilderung des Gartens des Alkinoos im 7. Buch der Odyssee (v.a. 112–126) auf Schritt und Tritt zitiert. Die Adaption durch Nonnos besteht im Wesentlichen darin, dass er den Garten des Alkinoos in einen Weinberg und die fünf verschiedenen Obstbäume des Gartens in fünf unterschiedliche Traubensorten umwandelt.99 Nonnos verwandelt also den Garten des Alkinoos in einen Weinberg und überführt das homerische Modell so in die dionysische Welt seines Epos. Dem Leser wird dabei – wie kürzlich von mir erörtert100 – suggeriert, die Transformation des homerischen Textes als Akt einer literarischen Metamorphose zu begreifen. Angesichts der Tatsache, dass sich Nonnos – beginnend mit Buch 13 – daranmachen wird, der Reihe nach berühmte homerische Passagen in ein dionysisches Gewand zu kleiden, kann meines Erachtens das Bild der Verwandlung in einen Weinberg als programmatisch, ja emblematisch für die Homer-Imitation in den anschließenden Büchern der Indias (13–40) gelesen werden. Nonnos’ Form der Homer-Imitation entspricht damit dem Wesen des Protagonisten des Epos, dem Gott der Verwandlung. Kaum zufällig dürfte sein, dass er diese be-

96 Zur Definition s. Reitz/Finkmann 2019b, v.a. 2. 97 Vgl. 25.264–270, wo sich Nonnos als literarischer Krieger mit homerischen Waffen imaginiert (v.a. 265 ἔμπνοον ἔγχος … καὶ ἀσπίδα πατρὸς Ὁμήρου). 98 Die Schilderungen der drei Wettkämpfe, an denen Ampelos teilnimmt, sind freilich bis zu einem gewissen Grad von den Leichenspielen in Ilias 23 inspiriert (s. insgesamt Kröll 2016, 101–120). 99 Für eine detaillierte Analyse der Parallelen s. K. 298–318. 100 Zuenelli 2021.

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vorstehende literarische Metamorphose Homers in einem Buch ankündigt, in dessen Zentrum das Thema der Verwandlung steht. Während Homer als Referenzpunkt für die Gestaltung der Ampelos-Episode eine untergeordnete Rolle spielt, ist eine enge literarische Verwandtschaft zwischen dieser und der hellenistischen Dichtung auszumachen.101 Berührungspunkte ganz allgemeiner Natur bilden das bukolisierende Setting sowie ein gewisser Hang zur Gelehrsamkeit. Mit Ausnahme des Horen-Intermezzos, das als bewusste Kontrastfolie dienen soll, ist die Ampelos-Episode in einem – so könnte man sagen – pastoral mode verfasst, der sich durch ein rurales Setting sowie die prominente Rolle von Liebe und Liebesleid auszeichnet; die Alternativversion zur Entstehung des Rebstocks führt hingegen in die Einsamkeit der – dionysischen – Wildnis. Das explizite Anführung dieser mythologischen Variante ist gleichzeitig das auffälligste Element, durch welches sich Nonnos im 12. Buch als poeta doctus zu erkennen gibt (wenngleich er – wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird – auch dieses gelehrte Element dionysisch verkehrt). Sichtbar wird seine Gelehrsamkeit aber auch durch die ätiologische Dimension,102 in die er immer wieder Einblick gewährt:103 In der Ampelos-Episode und der anschließenden Alternativversion kreisen die entsprechenden ätiologischen Verweise – die beiden Haupt-Aitien um die Entstehung der Rebe selbst einmal ausgenommen – inhaltsbedingt hauptsächlich um die εὕρεσις des Weins. Explizite ätiologische Erklärungen werden für den angenehmen Duft der Trauben (11.241–243), für die Bezeichnung κεραννύμενος οἶνος (12.360–362) sowie – in weniger direkter 101 S. hierzu Mazza 2012, 99–175; Kröll 2016, 120–133. 102 Zur Ätiologie als epischer Bauform s. Walter 2019. 103 Die ausgeprägte ätiologische Dimension der Dionysiaka erklärt sich dabei zum Teil aus der Tatsache, dass das Epos in einer mythologischen Vorzeit lokalisiert ist, in der die bekannte Welt erst im Werden begriffen ist. So hebt Nonnos von Beginn seines Epos immer wieder den Aition-Charakter von berichteten Ereignissen hervor; Zeugnis hiervon geben u.a. die zahlreichen Katasterismen oder Metamorphosen im Verlauf der Handlung (zu Katasterismos und Metamorphose als zentralen Themen der Dionysiaka s. Hadjittofi 2016, 130–134). Daneben finden sich freilich auch zahlreiche ätiologische Verweise, die nicht in direktem Zusammenhang mit der Handlung stehen. Besonders häufig sind Erklärungen von topographischen Eigennamen. S. z.B. die expliziten etymologischen Erklärungen 3.275–278 Νεῖλος < νέα ἰλύς; 5.69–71 Ὀγκαίη [Tor in Theben] < ὀγκηθμός; 10.76–77 Λευκοθέη < Λευκοῦ πεδίοιο; 13.68–69 [Ἅρμα] < ἅρμα Ἀμφιαράου; 77–78 Μυκαλησσός < [μυκηθμός]; 124–126 Ὑάμπολις < ὗς; 435–436 Κύπρος < Κύπρις; 468–470 Κέρασσαι < κέρασσε; 48.854–855 Δίνδυμον ὄρος < δίδυμοι. Es liegt die Vermutung nahe, dass Nonnos in vielen Fällen auf Kompendien zurückgegriffen hat (s. Zuenelli 2018, 85). Die Erklärung von topographischen Bezeichnungen lässt sich dabei innerhalb der allgemeinen Tendenz verorten, Eigennamen etymologisch zu erklären (z.B. 3.284–286 Ἔπαφος < ἐπαφήσατο; 5.555 Πενθεύς < πένθος; 8.9–12 [κίσσα] < κισσός (s. hierzu Gigli Piccardi 2003 ad loc.); 18.75 λυχνίς < λύχνος; 24.70 Δηριάδης < δῆρις; Accorinti 1995–1996, 128–129; vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Wortspiel im Unterkapitel 8.2.4).

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Form – für den Einsatz der Kelter und der Winzersichel zur Weinerzeugung bzw. Weinlese (12.331–336) gegeben; als implizites Aition für die Verwendung von Bäumen zur Rebenunterstützung und für die Verwendung von Wein im Rahmen des Tieropfers können die Stellen 12.185–187 bzw. 12.229–231 gelesen werden. In 11.161–166 wird auf die künftige Praxis verwiesen, Weinstöcke mithilfe von Wasserrädern zu bewässern, die von Stieren betrieben werden (164  ἐσσομένων ἅτε μάντις); die gedankliche Verbindung ist hier aber nicht streng ätiologischer Natur. Für die epische Ausgestaltung des Ampelos-Stoffes haben mythologische Modelle, die durch die hellenistische Literatur vorgeprägt waren, Pate gestanden. Dies gilt insbesondere für den Hyakinthos-Mythos, der gleichsam den Grundriss für die Struktur der Ampelos-Handlung geboten hat.104 Dass der Hyakinthos-Mythos als Muster für diese diente, wird dem Leser durch zahlreiche Verweise, die die Ampelos-Episode leitmotivisch durchziehen,105 stets vor Augen gehalten. Es liegt daher die Vermutung nahe, dass der Ampelos-Episode eine ganz bestimmte literarische Ausgestaltung des Hyakinthos-Mythos zugrunde liegt, die dem Leser als Folie für die Lektüre der Ampelos-Episode dienen soll. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass Nonnos einen hellenistischen Text auf diese Weise in die dionysische Welt seines Epos überführt.106 Auch mangelt es nicht an potentiellen Kandidaten: So scheinen Euphorion107 sowie möglicherweise auch Bion108 und Nikander109 den Hyakinthos-Mythos literarisch bearbeitet zu haben. Die spärlichen Zeugnisse, die diese Texte hinterlassen haben, erlauben jedoch keine weitergehenden Schlüsse. Es gibt aber zumindest einen Fall, wo ein direkter Bezug zu einem dieser Texte nachweisbar scheint. Dieser betrifft die Parallele zwischen 11.241–243 und dem Bion-Fragment 1 Gow. Belegbar ist jedenfalls die Übernahme unterschiedlicher Motive und Handlungselemente aus der hellenistischen (insbesondere bukolischen) Dichtung.110 104 Weitere wichtige Modelle sind der Adonis- und Hylas-Mythos (s. Mazza 2012, 99–126; für Berührungspunkte mit weiteren mythologischen Mustern Kröll 2016, 67–96). 105 10.252–255; 11.259–261; 330; 365; 435–438; 12.156–166; 209; 224–225; 247–251. 106 S. z.B. die Inkorporation des dritten Buches der Argonautika im Rahmen der KadmosHandlung des 3. Buches (hierzu ausführlich Mazza 2012, 311–325), der Hekale des Kallimachos im Rahmen der Brongos-Episode im 17. Buch (hierzu ausführlich Mazza 2012, 385–398) sowie möglicherweise der Erigone des Eratosthenes im Rahmen der Ikarios-Episode des 47. Buches (zur Diskussion der Imitation der Erigone des Eratosthenes durch Nonnos s. Accorinti 2004, 494–496). 107 Euph. Fr. 72–77 Acosta-Hughes/Cusset. Magnelli 2003, 119–120 vermutet direkte Bezüge zwischen Euphorions Hyakinthos und der Ampelos-Episode. 108 Bio Fr. 1 Gow mit Reed 1997, 28–29. 109 Sch. Nic. Th. 585 nennt jedenfalls ein Werk Ὑάκινθος. Denkbar wäre, dass der Autor den Mythos auch in seinen Heteroioumena behandelt hat. 110 S. Kröll 2016, 120–133.

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Was dabei die Gestaltung der Ampelos-Episode im 12. Buch im Speziellen betrifft, so ist eine Verortung innerhalb der literarischen Tradition allerdings aufgrund des Verlustes der hellenistischen Metamorphosen-Literatur schwierig und fast ausschließlich über den Umweg der Metamorphosen des Ovid, die in derselben Tradition stehen, möglich;111 die Nähe der Junktur ἑὴν ἠλλάξατο μορφήν (12.175) zu dem möglicherweise aus den Heteroioumena stammenden Nikander-Fragment 62.3 ἣν ἠλλάξατο μορφήν kann die Verwurzelung innerhalb der griechischen Tradition nur erahnen lassen. Gut sichtbar hingegen ist der Rückgriff auf hellenistische Modelle am Beispiel des bukolischen Topos der trauernden Natur in 12.124–137. Trotz der Nähe der Ampelos-Episode zu hellenistischen Modellen stellt diese in erster Linie aber ein Produkt der kaiserzeitlichen Epik dar. Sowohl Nonnos’ epische Sprache als auch sein Erzählstil sind daher nur in Zusammenhang mit Entwicklungen innerhalb der Hexameterdichtung der Kaiserzeit zu verstehen. Die epische Sprache der Dionysiaka und ihre Bezüge zur kaiserzeitlichen Epik werden im Kapitel 8.2. ausführlich diskutiert werden. Hierzu zählen etwa Phänomene wie die Verwendung eines ausgeprägten Nominalstils, das Kre­ ieren neuer bzw. Verwenden seltener Adjektiv-Komposita oder die Benutzung innovativer Formel- und Klauselsysteme. Auch was den Erzählstil betrifft, steht Nonnos in einer Tradition, die sich im Laufe der Kaiserzeit herausgebildet und die zeitgenössische Epik maßgeblich beeinflusst hat. Zwei Aspekte, die im Folgenden eingehender diskutiert werden sollen, scheinen mir für die literarische Verortung des 12. Buches insbesondere von Bedeutung zu sein. Es handelt sich zum einen um das Auflösen einer sich organisch entwickelnden Handlung und zum anderen um die zentrale Rolle, die kosmische Entitäten und Allegorien abstrakter Mächte für die Konstruktion der Handlung spielen. Als Vergleichspunkt soll das epische Œuvre des Claudian dienen, das griechische und lateinische Traditionen gleichermaßen bündelt. In Bezug auf die Dionysiaka fällt es schwer, von Handlung zu sprechen, jedenfalls im Sinne einer sich organisch entwickelnden Handlung. Die Erzählung »zerfällt« nämlich in zahlreiche mehr oder weniger eigenständige Einzelbestandteile. Betrachtet man das 12. Buch, so fällt sofort die Dominanz von ekphrastischen Tableaus und ethopoietischen Reden (mit starkem Hang zur σύγκρισις) auf, die die eigentliche Handlung in den Hintergrund drängen. Diese zunehmende Rhetorisierung ist ein charakteristischer Trend der kaiserzeitlichen Epik.112 In Claudians Epen zum Beispiel tritt das narrative Moment – wie schon von Cameron 1970, 262–268 hervorgehoben – deutlich zugunsten von Beschreibungen und Reden zurück. Claudians Erzählweise in De raptu Proser 111 Zur Frage des Einflusses von Ovids Metamorphosen auf die Dionysiaka s.u. 112 S. Zuenelli 2019b. Vgl. Miguélez-Cavero 2008, 268 »The presence of narrative in late antique epic is very restricted, due to its progressive slide towards description«.

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pinae fasst er dabei wie folgt zusammen: »Rapt. too is constructed on the same pattern of speeches and descriptions, linked by passages of seldom more than a dozen or so lines of narrative.«113 In den Dionysiaka kommt kosmischen Entitäten und Allegorien abstrakter Mächte eine prominente Stellung zu. Gestalten wie Aion, Astraios, Phanes, Harmonia oder Nemesis spielen tragende Rollen innerhalb der Handlung und übernehmen in gewisser Weise die Aufgabe des traditionellen Götterapparats.114 Für das 12. Buch sei in diesem Zusammenhang insbesondere auf das HorenIntermezzo verwiesen, in dem die Personifikationen der vier Jahreszeiten sowie Helios als handelnde Personen (und Phosphoros und die Personifikationen der zwölf Monate gleichsam als Statisten) auftreten; der Diegese zugrunde liegen zudem die kosmischen Gottheiten Phanes, Aion und Harmonia. Bezeichnend ist weiters, dass Dionysos nicht etwa von einem göttlichen Boten des Zeus, sondern von den Moiren selbst mit Atropos als deren Sprecherin über die künftige Metamorphose des Ampelos informiert wird. Diese zentrale Rolle von Personifikationen für das Handlungsgeschehen kann als ein weiterer charakteristischer Zug der kaiserzeitlichen bzw. spätantiken Epik gewertet werden.115 Am offensichtlichsten manifestiert sich dieser wohl in Prudentius’ Psychomachia, wo die Personifikationen der Tugenden und Laster die Handlung gänzlich bestimmen. Aber auch Claudian weist Personifikationen und Allegorien häufig tragende Handlungsrollen zu.116 In De bello Gildonico etwa treten im Rahmen einer Götterversammlung Roma und Africa auf und bringen Klagen vor (28–127 bzw. 134–200). Im Panegyricus dictus Mallio Theodoro consuli wiederum fliegt Iustitia vom Himmel herab und bittet Theodorus, das Amt des Konsuls zu übernehmen (113–197). Dem Horen-Intermezzo besonders nah kommt die Beschreibung der spelunca aevi am Ende des zweiten Buches von De consulatu Stilichonis (421–476). Diese ist nämlich von einer sich in den eigenen Schwanz beißenden Schlange, der Personifikation der ewigen Zeit, umgeben und wird von Natura bewacht; in deren Innerem schreibt ein Greis die zukünftigen Geschicke des Kosmos nieder.117 Obwohl Nonnos – wie gesehen – charakteristischen Trends der kaiserzeitlichen Hexameterdichtung folgt, scheinen die epischen »Klassiker« dieser Epoche als Intertexte für die Dionysiaka jedoch nur eine untergeordnete Rolle zu spielen.118 In Zusammenhang hiermit steht auch die vexata quaestio, inwiefern die

113 Cameron 1970, 264. 114 Ausführlich Miguélez-Cavero 2013a, 352–363; vgl. Verhelst 2016, 163–166. 115 S. Pollmann 2001, 95. 116 Eine Liste der Personifikationen in Claudians Œuvre bietet Marsili 1946; vgl. Cameron 1970, 276–278. 117 S. hierzu K. 1–117a. 118 Zur Problematik s. Maciver 2016, 530–533.

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Dionysiaka von der lateinischen Literatur beeinflusst sind.119 Die Problematik stellt sich mutatis mutandis auch für andere griechische Epiker der Kaiserzeit, insbesondere für Quintus von Smyrna und Triphiodor. Was diese beiden betrifft, so scheint die jüngere Forschung der Möglichkeit einer direkten Abhängigkeit von Vergils Aeneis durchaus aufgeschlossen gegenüberzustehen.120 Zur Frage des Einflusses der lateinischen Literatur auf die Dionysiaka besteht in der Nonnos-Forschung nach wie vor kein Konsens. Diese Frage stellt sich insbesondere im Zusammenhang mit Ovids Metamorphosen, die den Dionysiaka inhaltlich wie formal nahestehen.121 Soweit ich die diesbezügliche Forschung überblicke, scheinen überzeugende Belege für eine direkte Abhängigkeit der Dionysiaka von Ovids Epos jedoch bisher nicht erbracht worden zu sein. Im Gegenteil – und das scheint mir bezeichnend zu sein – betonen die Arbeiten von Paschalis 2014, Herter 1981 und Knox 1988, die gerade Episoden untersuchen, die aufgrund ihrer besonderen inhaltlichen Nähe zu den Metamorphosen eine Auseinandersetzung am ehesten erwarten lassen würden (Metamorphose des Aktaion, Flutschilderung bzw. Sturz des Phaethon), die Eigenständigkeit des spätantiken Dichters. Was das 12. Buch im Speziellen betrifft, das eine Metamorphose behandelt und damit eine besondere Affinität zu Ovids Epos besitzt, konnte ich keine Hinweise entdecken, die die Annahme einer direkten Abhängigkeit notwendig erscheinen ließen. Vermeintliche direkte Abhängigkeiten entpuppen sich – bei genauerem Hinsehen – vielmehr als Ergebnis des gemeinsamen literarischen und vor allem rhetorischen Backgrounds der beiden Autoren. Ähnliches gilt für den behaupteten Einfluss von Achilleus Tatios122 bzw. Nemesian123 im Zusammenhang mit zwei weiteren Stellen des 12. Buches, wo sich die Parallelen plausibler aus dem gemeinsamen rhetorischen Kontext erklären lassen. Mit Homer, der hellenistischen Dichtung und der kaiserzeitlichen Epik scheinen mir die wesentlichen Eckpfeiler für die literarhistorische Verortung der Ampelos-Episode und mit ihr des 12. Buches genannt zu sein. Sie bilden aber gleichsam nur den Rahmen, in dem sich Nonnos als Epiker bewegt, das bunte Wimmelbild der Dionysiaka ist damit noch nicht gemalt.

119 Zur Debatte s. Accorinti 2013, 1120 (mit Literatur). 120 Zu Quintus s. Carvounis 2019, lvii–lxv; zu Triphiodor Miguélez-Cavero 2013b, 64–70. 121 Zur Diskussion s. v.a. Braune 1935; Haidacher 1949, 55–63; D’Ippolito 1964; Diggle 1970, 180–200; Herter 1981; Schulze 1985; Knox 1988; D’Ippolito 2007; Paschalis 2014; Agosti 2016. 122 Frangoulis 2014, 118–121; vgl. Miguélez-Cavero 2016, 549–573. 123 Ausführliche Diskussion in K. 292–397.

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7. Die dionysische Poetik der Dionysiaka Wie im Proömium des ersten Buches anhand des Bildes der Verwandlungen des Proteus eindrücklich vorgeführt (1.11–33), steht das Prinzip der ποικιλία im Zentrum des poetologischen Selbstverständnisses der Dionysiaka.124 Dieses bestimmt die Gestaltung des Epos auf allen Ebenen: So manifestiert sich dasselbe Spannungsverhältnis von Regularität und Variation im Großen in der Komposition des Werkganzen wie in der Wortwahl im Kleinen.125 Abwechslung fungiert in den Dionysiaka daher nicht nur als ein Qualitätskriterium für literarische Produktion, das dem taedium des Lesers entgegenwirkt.126 Um auf diese allgemein akzeptierte Funktion hinzuweisen, hätte Nonnos nicht 23 Verse seines Proömiums verwenden müssen. Abwechslung ist vielmehr die bestimmende poetische Leitmaxime, in der das gesamte Epos in all seinen Ausformungen wurzelt. Der Forschung der letzten Jahrzehnte ist es gelungen, diese poetologische Grundkonstante in verschiedensten Fallstudien nachzuweisen und damit zugleich unterschiedliche Ausformungen der nonnianischen ποικιλία kenntlich werden zu lassen.127 Die Wahl des Prinzips der ποικιλία als poetologische Leitmaxime der Dionysiaka erklärt sich als Umsetzung der polymorphen Natur ihres Protagonisten Dionysos.128 Dass die Polymorphie der bestimmende Wesenszug des Dionysos in den Dionysiaka ist, wird spätestens in dem Kulminationspunkt des Zweikampfes des Dionysos gegen Deriades in 36.292–333 deutlich.129 Der Kampfstil des Dionysos besteht nämlich in dem ständigen Wechsel seiner Form, durch die er sich den Angriffen seines Gegners entzieht: er ist bald Feuer, bald Wasser, bald

124 Die Figur des Proteus scheint als Chiffre für stilistische variatio im rhetorisch-theoretischen Diskurs verbreitet gewesen zu sein (vgl. D. H. Dem. 8; Him. 68, 63–70; weiters Vian 1976, 9 Anm. 4). 125 Vgl. z.B. Lasek 2016, 402–403: »That penchant for variety […] is expressed both in his style (such as in the wealth of synonyms, […] or in the way the author aims to diversify his depictions of characters, situations and objects alike […]) and in the structure of the poem.« 126 Zu dieser Funktion s. Lausberg 1973, 142 § 257.2b. 127 Ausführliche Einzelstudien sind z.B. Faber 2004 und Lasek 2009. 128 S. v.a. h. Bacch. 44 ὁ δ’ ἄρα σφι λέων γένετ’ (vgl. 46 ἄρκτον ἐποίησεν λασιαύχενα σήματα φαίνων); E. Ba. 1017–1019 φάνηθι ταῦρος ἢ πολύκρανος ἰδεῖν/δράκων ἢ πυριφλέγων/ ὁρᾶσθαι λέων; Ant. Lib 10.2 ὁ Διόνυσος ἀντὶ κόρης ἐγένετο ταῦρος καὶ λέων καὶ πάρδαλις; Plu. Mor. 388f–389a ἀκούομεν οὖν τῶν θεολόγων […], ὡς […] ὁ θεὸς [scil. Dionysos] […] μεταβολαῖς ἑαυτοῦ χρώμενος ἄλλοτε μὲν εἰς πῦρ ἀνῆψε τὴν φύσιν πάντα ὁμοιώσας πᾶσιν, ἄλλοτε δὲ παντοδαπὸς ἔν τε μορφαῖς καὶ ἐν πάθεσι καὶ δυνάμεσι διαφόροις γιγνόμενος; weiters die Epiklesen Orph. H. 50.5 αἰολόμορφος und AP 9.524.13 μυριόμορφος. Eine allgemeine Diskussion des Wesenszuges der Polymorphie des Dionysos findet sich bei Forbes Irving 1990, 191–194. 129 Vgl. hierzu Nizzola 2012, 135–158, der den Punkt ausführlicher behandelt.

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Löwe, bald Baum, bald Panther, bald Blitz, bald Wildschwein.130 Die Parallele zu den Verwandlungen des Proteus in 1.16–33, die – wie eingangs erwähnt – als poetologische Chiffre für die ποικιλία der Dionysiaka stehen, ist unübersehbar: die proteische Form der Dionysiaka ist die formale Umsetzung der Polymorphie von dessen Protagonisten Dionysos. Angesichts dieser aus der Lektüre des Proömiums gewonnenen programmatischen Verbindung von Inhalt und Form qua dionysischer Polymorphie drängt sich die Frage auf, ob nicht auch andere konstitutive Formelemente der Dionysiaka letztlich der dionysischen Stilisierung des Epos dienen. Der wohl prominenteste (wenngleich durchaus problematische) Versuch einer solchen »dionysischen« Deutung des Epos stammt dabei von Wolfgang Fauth.131 In Anbetracht der Tatsache, dass die Deutung des Prinzips der ποικιλία als poetologische Entsprechung der πολυμορφία des Dionysos breite Akzeptanz gefunden hat,132 überrascht es jedoch einigermaßen, wie wenig von den Interpreten auf das Wesen des Gottes Dionysos als Erklärungsmodell für andere Charakteristika der Dionysiaka rekurriert wird.133 Symptomatisch hierfür scheint mir zu sein, dass weder im Abschnitt »Poetik« des RAC-Artikels zu Nonnos aus dem Jahr 2013 (Accorinti 2013, 1116) noch in dem Überblicksbeitrag zur Poetik der Dionysiaka im 2016 erschienen »Companion« (Gigli Piccardi 2016) dionysische Charakteristika des Epos abseits der ποικιλία ernsthaft diskutiert werden. Dem Versuch der Identifikation dionysischer Elemente ist freilich aufgrund der Vagheit des Begriffs »dionysisch« ein hohes Potential an Überinterpretation inhärent: nicht alle (vom modernen Leser) als dionysisch deutbaren Elemente sind im Text als intendierte literarische Stilisierungen zu deuten. Für die Gefahren, die eine diesbezüglich zu wenig reflektierte Herangehensweise bergen kann, bildet die Studie von Wolfgang Fauth das beste Beispiel,134 die aufgrund ihres grundsätzlich ahistorischen Zugangs mit Ausblendung des literarhistorischen 130 Die Anbindung des Abschnitts, der die Verwandlung in ein Wildschwein beschreibt, ist problematisch; die Passage steht möglicherweise an falscher Stelle im Text (zur Diskussion s. Agosti 2004 ad 36.616–617). Vgl. 40.40–56. 131 Fauth 1981, der zur Konklusion gelangt: »[…] die gesamte Ereignisabfolge des Epos selbst [sei] aber nichts anderes als eine Art Spiegel dieser an der Gestalt und dem Wesen des Gottes ansichtig werdenden Instabilität, Polymorphie und tranceähnlichen Konfluenz der ‚Einbildungen‘« (190). 132 Vgl. z.B. Vian 1976, 9: »La ποικιλία est d’autant plus à sa place dans les Dionysiaques que Dionysos est lui-même un dieu aux aspects et aux contrastes multiples«; Nizzola 2012, 146–147: »la poesia di Nonno è permeata di ποικιλία […] dato che l’essenza del suo protagonista, Dioniso, coincide in ultima analisi con lo stile ποικίλος«; Gigli Piccardi 2016, 441–442: »the character of Dionysus is the omnipresent impulse to the ποικιλία in its several tonalities, of literary genre, of style, of lexis and subject matters«. 133 Für erfreuliche Ausnahmen (v.a. aus dem anglophonen Raum) s. jedoch z.B. Hopkinson 1994b oder Shorrock 2001 passim. 134 Ähnliches gilt für Braden 1974.

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Diskurses und aufgrund der Verwendung recht abstrakter Untersuchungskategorien (wie z.B. des Prinzips der Metamorphose als Ausdruck des Dionysischen) zu überzogenen Ergebnissen gelangt.135 Im Folgenden sollen dennoch einige Formelemente vorgestellt werden, von denen man meiner Meinung nach mit einer gewissen Sicherheit behaupten kann, dass sie Teil der literarischen Strategie sind, für die Dionysiaka eine passende dionysische Erzähl- und Sprachform zu schaffen, die über das Prinzip der ποικιλία hinausgeht. Als Ausgangspunkt hierfür sollen die Verse 1.16–33 des Dionysiaka-Proömiums fungieren, in denen der Erzähler ausgehend von den Verwandlungen des Proteus den »Inhalt« des Epos wiedergibt und damit gleichsam ein DionysiakaEpos im Kleinstformat kreiert. Angesichts des selbstreferenziellen Charakters der Textpassage, die gleichsam ein Epos im Epos bildet, bieten sich diese Dionysiaka en miniature an, um nach charakteristischen dionysischen Elementen für das Epos als Ganzes zu fragen. Unternimmt man diesen Versuch, so lassen sich meines Erachtens überzeugende dionysische Elemente sowohl in Hinblick auf die Art der Erzählung als auch in Hinblick auf die stilistische Gestaltung herausarbeiten. Zu besseren Orientierung sei an dieser Stelle der Text der Verse 1.16–33 mit Übersetzung abgedruckt: Εἰ γὰρ ἐφερπύσσειε δράκων κυκλούμενος ὁλκῷ, μέλψω θεῖον ἄεθλον, ὅπῃ κισσώδεϊ θύρσῳ φρικτὰ δρακοντοκόμων ἐδαΐζετο φῦλα Γιγάντων· εἰ δὲ λέων φρίξειεν ἐπαυχενίην τρίχα σείων, Βάκχον ἀνευάξω βλοσυρῆς ἐπὶ πήχεϊ Ῥείης μαζὸν ὑποκλέπτοντα λεοντοβότοιο θεαίνης· εἰ δὲ θυελλήεντι μετάρσιος ἅλματι ταρσῶν πόρδαλις ἀίξῃ πολυδαίδαλον εἶδος ἀμείβων, ὑμνήσω Διὸς υἷα, πόθεν γένος ἔκτανεν Ἰνδῶν πορδαλίων ὀχέεσσι καθιππεύσας ἐλεφάντων· εἰ δέμας ἰσάζοιτο τύπῳ συός, υἷα Θυώνης ἀείσω ποθέοντα συοκτόνον εὔγαμον Αὔρην, ὀψιγόνου τριτάτοιο Κυβηλίδα μητέρα Βάκχου· εἰ δὲ πέλοι μιμηλὸν ὕδωρ, Διόνυσον ἀείσω κόλπον ἁλὸς δύνοντα κορυσσομένοιο Λυκούργου· εἰ φυτὸν αἰθύσσοιτο νόθον ψιθύρισμα τιταίνων, μνήσομαι Ἰκαρίοιο, πόθεν παρὰ θυάδι ληνῷ βότρυς ἁμιλλητῆρι ποδῶν ἐθλίβετο ταρσῷ.

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135 Die methodischen Defizite wurden von Gigli Piccardi 1984 präzise erkannt: »Se questo aspetto della ricerca [scil. den literarhistorischen Diskurs] fosse stato tenuto più presente dall’A., ciò avrebbe in molti casi spezzato, o per lo meno ridimensionato l’illusione di un linguaggio che scaturisce direttamente, in un rapporto esclusivo, dalle strutture e avrebbe evitato alcune forzature« (56); »il voler arrivare alla definizione dell’essenza caratterizzante una divinità […] con l’instituire opposizioni e analogie, per mezzo di un procedimento di astrazione, non può che giungere a concetti talmente generali, da potersi ritenere poco distintivi« (59).

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»Wenn er [scil. Proteus] nämlich als sich windende Schlange herankriecht, dann werde ich den Götterkampf besingen, wie [Dionysos] mit seinem efeugeschmückten Thyrsos die schrecklichen Scharen der schlangenhaarigen Giganten vernichtete; wenn er als Löwe seine Rückenmähne schüttelt und sträubt, werde ich Bakchos bejubeln, wie er im Arm der furchtbaren Rhea, der Göttin, die Löwen nährt, heimlich die Brust suchte; wenn er, in eine gesprenkelte Gestalt sich verwandelnd, als Leopard emporspringt im wirbelnden Sprung der Tatzen, werde ich den Sohn des Zeus preisen, wie er das Geschlecht der Inder auslöschte, indem er mit seinem Leopardengespann die Elefanten niedertrampelte; wenn er sein Aussehen der Gestalt eines Wildschweins gleichmacht, besinge ich den Sohn der Thyone, der sich mit Aura zu vereinigen begehrte, der Wildschweinjägerin, der kybelischen Mutter des spätgeborenen dritten Bakchos; wenn er zu unechtem Wasser wird, werde ich Dionysos besingen, wie er vor dem bewaffneten Lykurg in den Schoß des Meers tauchte; wenn er als Baum seine Krone schüttelt und ein vorgetäuschtes Rauschen erklingen lässt, werde ich Ikarios in Erinnerung rufen, wie er in der berauschten Kelter durch die wetteifernden Sohlen der Füße die Traube presste.«

7.1. Dionysisches Erzählchaos Was die Wiedergabe der »Handlung« in diesen Dionysiaka en miniature betrifft, so fällt sofort auf, dass die Ereignisse nicht nach dem Kriterium der Handlungslogik präsentiert werden, sondern assoziativ aneinandergereiht werden. Die Sprunghaftigkeit, mit der dabei von einer Episode zur nächsten gewechselt wird, vermittelt den Eindruck einer gewissen Ekstase, die auch für die Erzählung der Dionysiaka als Ganzes kennzeichnend ist. Zur Charakterisierung dieses Phänomens möchte ich den Begriff der narrativen μανία verwenden. Dieser setzt sich dabei insofern von jenem der ποικιλία (Buntheit) ab, als er ein chaotisches oder ekstatisches Moment impliziert, welches letzterer nicht besitzt: Buntheit und Abwechslung müssen ja nicht notgedrungen mit Chaos einhergehen. In der Forschungsdiskussion scheinen mir diese beiden Punkt leider nicht immer mit der gebotenen Schärfe auseinandergehalten zu werden. Die chaotisch wirkende Handlungsführung hat die Nonnos-Forschung von Anbeginn an beschäftigt und unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen:136 Die ältere Forschung des 19. und der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts tendierte dazu, diese mit Verweis auf die mangelhaften Fähigkeiten eines späten Dichterlings oder (etwas versöhnlicher) auf den postulierten unfertigen Zustand des Epos zu erklären.137 Im Gegensatz dazu sind die Interpreten beginnend mit den 50er 136 Einen längeren Forschungsüberblick zur Frage der Kompositionstechnik in den Dionysiaka geben z.B. Nizzola 2012, 13–23 und Kröll 2016, 10–15. 137 Vgl. Krafft 1975, 91: »Die Nonnos-Analyse (Scheindler, Keydell, Collart, Schulze, D’Ippolito) sieht hierin Folgen nachträglicher und unfertig gebliebener Ein- und Umarbeitungen, der Unitarier String Symptome für die von vorne herein geringe Begabung des Dichters«.

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Jahren zu Recht verstärkt dazu übergegangen, den chaotischen Charakter des Werks als Ausdruck eines individuellen Erzählstils zu sehen, der sich nicht an der klassischen Forderung nach Einheit und Harmonie der Teile orientiert; die Forschung der letzten Jahre betont dabei insbesondere diesbezügliche Parallelen zu anderen spätantiken Werken der Literatur (aber auch der bildenden Kunst).138 Hier kann und sollte, so glaube ich, aber noch ein Schritt weitergegangen werden: Meines Erachtens ist der Erzählstil, den Nonnos in den Dionysiaka verwendet, keine neutrale Entscheidung von rein ästhetischem Wert, sondern Teil derselben literarischen Strategie, die sich in der Ausrichtung des Epos nach den Prinzipien der ποικιλία manifestiert – in gewissem Sinne könnte man die chaotische Handlungsführung sogar als konsequente Weiterführung der dionysischen Polymorphie sehen. Mag der Erzählstil des Nonnos nämlich durchaus zu einem gewissen Teil einer übergreifenden spätantiken Poetik entspringen (was hier auch keinesfalls geleugnet werden soll), so scheint mir der Grad an Chaos in den Dionysiaka doch die diesbezüglichen spätantiken Lizenzen zu übersteigen.139 In der Tat kann man sich bei der Lektüre der Dionysiaka kaum des Verdachts erwehren, dass das Verständnis der im Grunde genommen eher simplen Haupthandlung durch Auslassungen, Digressionen und handlungslogische Brüche (oder gar Widersprüche) bewusst erschwert wird. So formuliert Laura Miguélez-Cavero: »We easily discern the plot in the Sack of Troy, but the Dionysiaca presents a completely different prospect, due to its length and because the ποικιλία is its main stylistic motto. Plot development is important, but somehow hidden in the narrative magma […]«.140 Es ist naheliegend, diese intendierte Verwirrung, die beim Leser hervorgerufen wird, als literarische Strategie zu deuten, die dionysische μανία formal umzusetzen und den Leser dabei gleichsam selbst in einen bakchantisch Taumel zu versetzen. Deutlich exemplifiziert wird diese narrative μανία an dem – wohl ebenfalls programmatisch zu deutenden – Handlungschaos des ersten Buches, das den eklatantesten Fall des digressiven und handlungslogisch widersprüchlichen Erzählstils in den Dionysiaka aufweist: Die drei berichteten Erzählstränge (Raub der Europa, Suche des Kadmos, Diebstahl der Blitze des Zeus durch Typhon) sind in einer Weise verknüpft, die weder zeitlich noch räumlich möglich ist.141 Die 138 Einflussreich waren hier die Arbeiten von Gianfranco Agosti (v.a. 1995; 2003; 2006). 139 S. hierzu Kap. 8.1. 140 Miguélez-Cavero 2008, 269. 141 Vgl. die Einschätzung von Riemschneider 1957, 69: »Es ist unmöglich, den Raub der Europa, den Typhaonkampf und die Wanderung des Kadmos und seiner Brüder räumlichzeitlich zueinander zu ordnen«; Braden 1974, 861: »The passage [scil. die narrative Anknüpfung des Handlungsstrangs der Typhonomachie] is almost a showcase of Nonnos’ narrative chaos«; Kuhlmann 1999, 397 Anm. 13: »Diese Handlungsführung kann man nur als grotesk bezeichnen«. Eine Aufzählung der Widersprüche bei Vian 1976, 11–12.

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Einleitung

Unmöglichkeit der Handlung ist dabei so augenscheinlich, dass sie vom Leser nicht übersehen werden kann und diesen in gänzlicher Verwirrung zurücklässt.

7.2. Dionysische Sprache Unterzieht man das in das Proömium eingebettete Epos en miniature zudem einer sprachlich-stilistischen Analyse, so stößt man auf wiederkehrende (und damit bedeutsame) Elemente, die für die Dionysiaka im Allgemeinen charakteristisch sind142 und die ich mit Wolfgang Fauth143 als dionysische Elemente lesen möchte. Abgesehen vom bereits behandelten Prinzip der ποικιλία, das sich ebenso auf der Ebene der sprachlich-stilistischen Gestaltung (und hier vor allem in Form der lexikalischen Variation) manifestiert (v.a. 1.23 πολυδαίδαλον εἶδος ἀμείβων) sind dies im Wesentlichen folgende: (i.) Rauschhafte Dynamik: An der sprachlichen Gestaltung der MiniaturDionysiaka fällt auf, dass der Beschreibung von Bewegung (und insbesondere Kreisbewegungen) eine gewichtige Rolle zukommt, die den Eindruck einer beinahe rauschhaften Dynamik entstehen lässt (1.16 δράκων κυκλούμενος ὁλκῷ; 19 ἐπαυχενίην τρίχα σείων; 22 θυελλήεντι … ἅλματι ταρσῶν; 33 ἁμιλλητῆρι ποδῶν … ταρσῷ). Es scheint mir naheliegend zu sein, dieses Stilprinzip als formalen Ausdruck der bereits erwähnten dionysischen μανία zu interpretieren. (ii.) Paradox/Antithese: Auch der Hang zur paradoxen bzw. antithetischen Beschreibung in den Versen144 lässt sich naheliegenderweise als dionysisches Element lesen. Auf die zentrale Bedeutung der paradoxen Natur des Gottes für die Dionysiaka verweist Nonnos bereits in den ersten Versen des Proömiums. Es ist nämlich ausgerechnet die bizarre Doppel-Geburt des Dionysos, die zu berichten der Erzähler des Epos die Muse auffordert (die wohlgemerkt weder das erste noch das zentralste Ereignis des Epos darstellt). Die paradoxe Natur des Ereignisses wird dabei auch sprachlich durch die entsprechend paradoxen Formulierungen τὸν ἐκ πυρὸς ὑγρόν (1.4), ἄρσενι γαστρὶ λόχευσε sowie πατὴρ καὶ πότνια μήτηρ (1.7) hervorgehoben. (iii.) Scheinbildcharakter: Schließlich wird man auch die starke Betonung des Scheinbildcharakters von Dingen oder Vorgängen (1.26 δέμας ἰσάζοιτο τύπῳ συός; 29 μιμηλὸν ὕδωρ; 31 νόθον ψιθύρισμα) in Bezug zum Wesen des Gottes der wahnhaften Vorstellung und der Maske setzen dürfen. 142 S. hierzu Kap. 8.2.3. 143 Fauth 1981, 37–38. 144 Die furchterregende Rhea (βλοσυρῆς … Ῥείης) stillt den kleinen Dionysos (1.20–21); Dionysos trampelt mit seinen Leoparden die großen Elefanten der Inder nieder (1.24–25).

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Es erscheint mir daher methodisch durchaus zulässig, die erwähnten Elemente als Teil einer literarischen Strategie zu werten, einen passenden Signifikanten für ein Dionysos-Epos zu kreieren, der die zentralen Elemente des Wesens des Gottes in stilisierter Form abbildet. Eine solche Interpretation sieht sich aber mit der Problematik konfrontiert, dass einige der diskutierten Elemente auch für die Paraphrase belegbar sind. In der Tat kann zwischen beiden Werken eine gewisse sprachlich-stilistische Kontinuität ausgemacht werden, die sich bis hin zur wörtlichen oder beinahe wörtlichen Übereinstimmung ganzer Verse oder Versteile erstreckt.145 Hier sind aber zwei Punkte zu beachten: Zum einen schließt die Verwendung derselben (durchaus begrenzten) sprachlich-stilistischen Mittel nicht aus, dass hiermit unterschiedliche Ziele oder Effekte erzielt werden. Ein sehr schönes Beispiel bildet Musaios’ Kurzepos Hero und Leander: Die Sprache des Werkes ist durch und durch nonnianisch,146 atmosphärisch ist es dennoch weit vom bakchantischen Lärmen der Dionysiaka entfernt. Ähnliches gilt auch für die Paraphrase, deren Tonfall sich von dem der Dionysiaka deutlich unterscheidet. Mag die in beiden Werken verwendete Sprache auch sehr ähnlich sein, so werden hiermit dennoch gänzlich entgegensetzte Stimmungen kreiert.147 Nonnos scheint also die Möglichkeiten seines Individual-Stils in beiden Werken in unterschiedliche Richtungen auszuschöpfen.148 Zum anderen hat die Forschung der letzten Jahre gezeigt, dass Nonnos die Paraphrase bewusst um dionysische Elemente (aber auch die Dionysiaka um dezidiert christliche) angereichert hat.149 Augenfälliges 145 Die meines Wissens ausführlichste Diskussion sprachlich-stilistischer Gemeinsamkeiten findet sich bei Golega 1930, 28–62, der behauptet: »man darf die Paraphrase beinahe als einen Cento aus Dionysiakaversteilen und Evangelientext bezeichnen« (29). 146 Vgl. Kost 1971, 44: »[…] weil er die nonnianische Dichtung wie ein Instrument bis in letzte Feinheiten der Prosodie und Metrik beherrscht, und nur aufgrund vollkommener Aneignung ist es möglich, daß er sich so frei bewegt und sein Material so gewandt zu nutzen wußte«. 147 Vgl. z.B. Whitby 2016, 215: »[…] the Paraphrase differs fundamentally from the Dionysiaca in tone. Whereas the mythological poem is humorous, mocking, self-referential, metatextual, the Paraphrase uses the same verbal range in a sensitive, subtle and sympathetic elaboration of the mysteries and miracles set out in simple style in the biblical text.« 148 Dies wird meines Erachtens schön ersichtlich, wenn man z.B. den Abschnitt der Verwandlung des Ampelos in 12.117–291 mit der Schilderung der Auferweckung des Lazarus in Met. 11.60–185 vergleicht, die eine ähnliche Handlungsstruktur und eine vergleichbare Länge aufweist. Trotz stilistischer Überlappungen wird eine ganz unterschiedliche Atmosphäre geschaffen (vgl. Paradox: Met. 11.85–86 εἰ νέκυς ἄπνοος εἴη,/αὖτις ἀναζήσειε; 96 πένθεϊ λυομένη καὶ χάρματι; 101 φοιτάδι σιγῇ; 124 ὄμμασιν ἀκλαύτοισιν ἀήθεα δάκρυα λείβων; 155  νεκρὸν ἀελλήεντα; 160 ἔτρεχε νεκρὸς ὁδίτης; 166 νεκρὸν ἀλήτην; 169 αὐδήεις νέκυς; 182–183 πίστευον ἐσαθρήσαντες ὀπωπαῖς/… ἔργον ἄπιστον; Abbildcharakter: Met. 11.135 [von Lazarus’ Grabstein] φέρων μίμημα θυρέτρου; Drehbewegung: Met. 11.156 ἰλλόμενον δεσμοῖσι; 161 ὁμοπλέκτῳ … ταρσῷ; 170 σφιγγόμενον πλεκτῇσιν … κερείαις; 172 καλύμματι κυκλάδα). 149 Der locus classicus hierfür ist Shorrock 2011, 49–78.

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Beispiel hierfür ist die starke Verwendung von Begriffen mit einer dezidiert dionysischen Konnotation.150 Es sollte daher a priori nicht verwundern, wenn sich auch dionysisch konnotierende Stilelemente in der Paraphrase finden.151 Aus der Diskussion dürfte recht eindeutig hervorgegangen sein, dass der Text der Dionysiaka grundsätzlich offen ist für eine Rezeption, die dessen formale Gestaltung in Bezug zum Wesen des Protagonisten des Werkes setzt. Im Einzelfall wird man sicher darüber streiten können, ob bestimmte Charakteristika als dionysische Elemente intendiert waren oder nicht. Die entsprechende Interpretation zumindest der oben angeführten Elemente scheint mir aber methodisch abgesichert zu sein. Die Bezeichnung des angekündigten Epos als ὕμνος (1.15), die die ErzählerPersona im Rahmen des Proömiums liefert, kann dabei durchaus als Einladung zu einer solchen Rezeption verstanden werden. Angesichts des im Proömium evozierten Settings kann man den Begriff ὕμνος nämlich durchaus in der Bedeutung sensu stricto verstehen. So wird in den Eingangsversen des Epos das Bild von der Performance eines Hymnos suggeriert, an dem die Erzähler-Persona und mit ihr der Chor der Musen teilhaben.152 Aus dieser Perspektive betrachtet bilden die folgenden 48 Bücher gleichsam einen Dithyrambos. Der Gattung des Dithyrambos wurde nun seit der Archaik ein frenetischer Charakter zugesprochen, welcher in Zusammenhang mit der Natur des dort gepriesenen Gottes gestellt wurde.153 Das ausführlichste Testimonium hierzu bildet meines Wissens die Gegenüberstellung der beiden Kultlieder Paian bzw. Dithyrambos in Plutarchs Schrift De E apud Delphos:154 καὶ ᾄδουσι τῷ μὲν διθυραμβικὰ μέλη παθῶν μεστὰ καὶ μεταβολῆς πλάνην τινὰ καὶ διαφόρησιν ἐχούσης· ‚μιξοβόαν‘ γὰρ Αἰσχύλος [A. Fr. 355 TrGF] φησί ‚πρέπει

150 Z.B. ἰάχω (26x), θυιάς (4x), κῶμον ἑορτῆς (4x), βακχεύεται (7.182), ὄργια μυστιπόλευε (4.107), θιασώδεες … ὧραι (4.205), ἐκώμασεν (18.131), εὐάζων (2.112). S. allgemein Doroszewski 2014, v.a. 301: »Dionysiac vocabulary in the Par. […] must be seen as integral to Nonnus’ paraphrastic technique.« 151 Vgl. Whitby 2016, 215: »by his use of overlapping language, Nonnus sets out to highlight the similarity between many of the Dionysiac and biblical stories.« 152 Z.B. Hopkinson 1994b, 9–10; Geisz 2018, 248. 153 Vgl. Zimmermann 2008. 154 Plu. Mor. 389a–b. S. weiters Archil. Fr. 120 West ὡς Διωνύσου ἄνακτος καλὸν ἐξάρξαι μέλος/οἶδα διθύραμβον οἴνωι συγκεραυνωθεὶς φρένας; Epich. Fr. 132 Kaibel οὐκ ἔστι διθύραμβος, ὅκχ’ ὕδωρ πίῃς; Philoch. FGH 328 Fr. 172 (= Ath. 628a) ὡς οἱ παλαιοὶ οὐκ αἰεὶ διθυραμβοῦσιν, ἀλλ’ ὅταν σπένδωσι, τὸν μὲν Διόνυσον ἐν οἴνῳ καὶ μέθῃ, τὸν δ’ Ἀπόλλωνα μεθ’ ἡσυχίας καὶ τάξεως μέλποντες; Procl. Chr. (= Phot. Bibl. 320b 12–29) Ἔστι δὲ ὁ μὲν διθύραμβος κεκινημένος καὶ πολὺ τὸ ἐνθουσιῶδες μετὰ χορείας ἐμφαίνων, εἰς πάθη κατασκευαζόμενος τὰ μάλιστα οἰκεῖα τῷ θεῷ καὶ σεσόβηται μὲν καὶ τοῖς ῥυθμοῖς καὶ ἁπλουστέρως κέχρηται ταῖς λέξεσιν; allgemein Petrovic 2013, 207–208.

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διθύραμβον ὁμαρτεῖν σύγκωμον Διονύσῳ‘, τῷ δὲ παιᾶνα, τεταγμένην καὶ σώφρονα μοῦσαν. »Diesem Gott [scil. Dionysos] singen sie dithyrambische Lieder, die geprägt sind von Leidenschaftlichkeit und von einer Form der Abwechslung, die ein gewisses Maß an Digression und Abschweifung miteinschließt. Aischylos sagt nämlich: »es ist passend, dass der mit Geschrei gemischte Dithyrambos Dionysos als Trinkgenosse begleitet.« Jenem aber [scil. Apoll] singen sie Päane, einen geordneten und nüchternen Gesang.«155

Die im Proömium evozierte generische Verbindung der Dionysiaka mit der Gattung des Dithyrambos fordert daher dazu auf, formale Elemente des Werks, die dionysischen Prinzipien wie πάθος oder μεταβολή (aber auch darüber hinaus) entsprechen, in Verbindung mit dem Ethos des Dionysos zu setzen.

8. Literarische Technik im 12. Buch Die folgenden Ausführungen können und wollen keine umfassende Darstellung der literarischen Technik der Dionysiaka sein. Sie verstehen sich vielmehr als Versuch, die verstreuten Beobachtungen des Stellenkommentars zum Text des 12. Buches systematisch zusammenzufassen und innerhalb der allgemeinen literarischen Wesenszüge des Werks zu verorten. Ein starkes Augenmerk liegt auf der Frage, inwiefern diese Beobachtungen als Folge des unfertigen Zustands der Dionysiaka, als Teil der literarischen Tradition oder als bewusstes Mittel der dionysischen Stilisierung zu werten sind. Die Diskussion dient dabei als Ausgangspunkt, um den interpretatorischen Wert der einzelnen Elemente (sofern möglich) zu bestimmen. Das Kapitel gliedert sich in zwei große Unterabschnitte, die jeweils die narrative Technik bzw. die sprachlich-stilistische Gestaltung im 12. Buch behandeln. Die Ausführungen im Abschnitt zur narrativen Technik konzentrieren sich – der Zielsetzung entsprechend – auf die Ebene der Gestaltung von Einzelepisoden; angesichts der prominenten Stellung von ekphrastischen Tableaus und direkten Reden im 12. Buch (und den Dionysiaka insgesamt) werden diese Aspekte in zwei separaten Unterkapiteln behandelt. Im Abschnitt zur sprachlich-stilistischen Gestaltung wird – nach einer kurzen allgemeinen Einleitung – die epische Handschrift des Nonnos ausgehend von fünf für die stilistische Verortung des 12. Buches zentralen Bereichen skizziert, nämlich Formelsprache, Lexik, stilistische Leitprinzipien, Klangwirkung und metrische Gestaltung.

155 Meine Übersetzung.

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8.1. Narrative Technik Wiewohl Nonnos sich mit den Dionysiaka in die Tradition der homerischen Epik stellt, so unterscheidet sich seine Art des epischen Erzählens doch sehr stark von der seines Vorbildes. Das augenscheinlichste Merkmal ist dabei die Auflösung einer sich organisch entwickelnden Handlung. Das für den Erzählstil des Nonnos typische Desinteresse an einer logischen Handlungsentwicklung lässt sich hauptsächlich an drei unterschiedlichen Beobachtungen ablesen, die jedoch bis zu einem gewissen Grad miteinander verbunden sind: (i.) Die narrative Handlungslinie wird von Nonnos kontinuierlich durch digressive Elemente unterbrochen.156 Der digressive Charakter der Dionysiaka kann bis zu einem gewissen Grad gattungstheoretisch und literarhistorisch erklärt werden. So ist eine gewisse digressive Erzählweise für die Gattung des Epos durchaus typisch; diese Verbindung wird besonders an jenen Fällen deutlich, bei denen die Integration von Exkursen in den Dionysiaka der Homer-Imitation geschuldet ist.157 Auf der anderen Seite ist der spätantiken Ästhetik, für die die Dominanz der Einzelteile gegenüber eines harmonischen Gesamtgefüges charakteristisch ist, ein gewisses digressives Moment inhärent.158 Diese Erklärungsansätze reichen aber meines Erachtens nicht aus, das kontinuierliche narrative Abdriften des Erzählers in den Dionysiaka zu fassen. So ist etwa in Quintus’ Posthomerica oder in Claudians De raptu Proserpinae kein vergleichbar starkes digressives Moment zu beobachten. Wie in Kapitel 7.1. erörtert, glaube ich vielmehr, dass das außergewöhnlich hohe Maß an Digression159 in den Dionysiaka als ein spezifisch dionysisches Element zu werten ist. (ii.) Der Anteil an erzählerischen Passagen sensu stricto (Erzählbericht) nimmt verglichen mit traditionellen Epen nur einen geringen Teil des Gesamtumfanges des Werkes ein, das durch eigenständige ekphrastische Tableaus oder direkte Figurenreden dominiert wird. Nonnos bedient sich hier – wie in Kapitel 6 erörtert – einer Erzähltechnik, die in der Spätantike – zumindest für die innovative Epik – zum Standard geworden ist. Alan 156 S. v.a. Agosti 1995; Geisz 2016. 157 Prominente Beispiele hierfür sind etwa die Schildbeschreibung im 24. oder die Schilderung der Leichenspiele für Opheltes im 37. Buch. 158 S. etwa Geisz 2016, 192: »The multiplicity of digressions in the Dionysiaca […] is characteristic of the ‘jeweled style’ of the period«; für einschlägige Sekundärliteratur s. Roberts 1989, 56–57 und Agosti 1995, 143–145; zur spätantiken Poetik in der lateinischen Literatur allgemein Elsner/Hernández Lobato 2017. 159 Vgl. Agosti 1995, 142: »le Dionisiache sono dominate dalle interruzioni del racconto. L’autore e del tutto indifferente alle preoccupazioni di unita proprie dell’epica classica: digressioni di ogni genere, descrizioni, inserzioni inniche sono presenti in tutto il poema in una misura assolutamente eccezionale […]«.

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Camerons Befund – nicht aber sein Urteil – bezüglich des Erzählstils Claudians kann daher uneingeschränkt auf Nonnos übertragen werden: »To put it bluntly, Claudian is almost incapable of writing true narrative. It is hardly an exaggeration to say that all Claudian’s major poems, epics no less than panegyrics and invectives, consist of little but a succession of speeches and descriptions.«160 (iii.) Hiermit verbunden ist auch ein gewisses Desinteresse an einer stringenten Motivierung des Handlungsverlaufs161 und eine gewisse Nonchalance gegenüber Widersprüchen,162 wobei die Grenzen zwischen beiden Phänomenen freilich fließend sind. Die klassizistischen Normen verhaftete ältere Forschung fühlte derartige handlungslogische Inkonsequenzen naturgemäß besonders stark und versuchte, diese »Kompositionsmängel« als Folgen des unfertigen Zustands der Dionysiaka zu erklären. In diesem Versuch ist sie dabei weit über das Ziel hinausgeschossen und die jüngere Forschung tendiert zu Recht dazu, die vermeintlichen Mängel als Ausdruck des individuellen Erzählstils des Nonnos zu werten, der in diesem Punkt bis zu einem gewissen Grad spätantiken Trends folge;163 dementsprechend messen jüngere Arbeiten dem Aspekt der handlungslogischen Stringenz in ihren Analysen der Dionysiaka von vornherein relativ wenig Bedeutung bei. Ich bin allerdings der Meinung, dass die handlungslogischen Ungereimtheiten in den Dionysiaka in ihrer Gesamtheit nicht monokausal erklärt werden können. Meines Erachtens würde es sich dabei anbieten, zwischen »kleineren« und »eklatanten« Widersprüchen zu unterscheiden, wenngleich mir bewusst ist, dass hier eine scharfe Grenzziehung nicht immer möglich ist. Von eklatanten Widersprüche wird man jedenfalls dann sprechen dürfen, wenn sie vom Leser deutlich als solche wahrgenommen werden, etwa wenn sie den unmittelbaren Kern der Handlung betreffen. Aus meiner Sicht kann der Großteil der kleineren Widersprüche plausibel mit den Lizenzen der spätantiken Epik erklärt werden: Für Nonnos zählt die effektvolle Gestaltung des Einzelnen mehr als die Harmonie des Ganzen. Folglich sieht er bei Fällen von pointierter Zuspitzung, lexikalischer Variation164 oder Homerimitation165 mit – für den modernen Leser teil 160 Cameron 1970, 262–263. 161 S. hierzu die Fallstudie zum ersten Teil der Nikaia-Episode (15.169–422) in String 1966, 9–17. 162 Für Beispiele von Widersprüchen s. z.B. Bogner 1931, 182–184; String 1966, 42–50; Vian 1976, XXXIV–XXXV. 163 Symptomatisch für diese Trendwende sind die Arbeiten von Riemschneider 1957 (v.a. 68–70), String 1966 und Krafft 1975. 164 S. Kap. 8.2.2. 165 Für Beispiele s. v.a. Bogner 1931, 182–183.

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weise erstaunlicher – Großzügigkeit über sich ergebende Widersprüche hinweg. Was jedoch die eklatanten Widersprüche betrifft, so scheint mir der in der Forschung üblich gewordene Rekurs auf Nonnos’ angebliche Gleichgültigkeit gegenüber der handlungslogischen Stringenz der Komplexität der Problematik nicht gerecht zu werden. Hier ist nach alternativen Erklärungen zu fragen. Man kann zusammenfassend behaupten, dass der Erzählstil des Nonnos zwar bis zu einem gewissen Grad den Trends der spätantiken Epik folgt, gleichzeitig aber eine deutliche Eigenständigkeit aufweist. In der Tat hat man den Eindruck, dass Nonnos zwar einen klaren Handlungsverlauf vor Augen hat, er aber durch Auslassungen, das Überlagern mit Digressionen, das Verwischen von handlungslogischen Verbindungslinien und nicht selten auch durch das bewusste Konstruieren von Widersprüchen seinen Leser absichtlich zu verwirren versucht. Wie im vorherigen Kapitel erörtert, dürfte es dem spätantiken Leser dabei nicht schwergefallen sein, dieses sich ihm stellenweise darbietende Handlungschaos als literarisch-artifiziellen Ausdruck dionysischer μανία zu erkennen. Die eingangs konstatierte Auflösung einer sich organisch entwickelnden Handlung, die dazu führt, dass die Erzählung – im Großen wie im Kleinen – in eine Reihe von nur durch einen schwachen narrativen Faden miteinander verbundene Einzelteile zerfällt, ist aber nur die eine Seite der Medaille. Denn dem (wenn man so will) chaosstiftenden Impuls auf der Handlungsebene steht ein sinnstiftender Impuls auf anderer Ebene gegenüber. In dem Maße nämlich, wie die Handlungslogik als Organisationsprinzip zurücktritt, gewinnt das Verhältnis der einzelnen separaten Teile zueinander an Bedeutung: Sie korrespondieren auf assoziative Weise miteinander und können durch diese Korrespondenz zusätzliches Sinnpotential transportieren.166 Diese Möglichkeit wird vom Autor Nonnos dabei durchaus genutzt, um seinem Epos eine – der literarischen μανία seines Erzählers entgegenlaufende – sinnstiftende Organisation zu verleihen. Dies bedeutet, dass der Leser der Dionysiaka hinter der sich ihm aufdrängenden chaotischen Oberfläche nach den die darunterliegende Bedeutung generierenden Strukturen suchen kann. Er ist daher aufgefordert, die einzelnen separaten Textelemente in Beziehung zueinander zu setzen und über diesen Prozess ein zusätzliches inhärentes Bedeutungspotential abzurufen – eine Lektüreform,

166 Vgl. z.B. Riemschneider 1957, 69: »Wie auf einer Perlenschnur reiht der Dichter Bild an Bild, das Verbindungsglied zwischen den einzelnen Erzählungen ist kein logisches, es ist rein assoziativ«; zu den alternativen narrativen Konnektoren abseits der reinen Handlungslogik s. Duc 1990.

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an die ein spätantiker Rezipient durchaus gewöhnt war.167 Die Gestaltung der bereits erwähnten Miniatur-Dionysiaka im Rahmen des Proömiums (1.16–33) kann durchaus als implizite Einladung zu einer solchen Rezeptionshaltung gelesen werden: Vergleichbar mit dem Epos selbst, wird – wie bereits erwähnt – dort der Inhalt der Dionysiaka in wildem Durcheinander zitiert. Dem augenscheinlichen Durcheinander auf der »Handlungsebene« wird aber durch eine kunstvolle und sinnstiftende Organisation auf der Darstellungsebene entgegengewirkt. Zum einen liegt der chaotischen Aufzählung das dem gebildeten Leser aus der Odyssee bekannte Schema der Verwandlungen des Proteus zugrunde, das die Aufzählung koordiniert. Zum anderen ist das besagte Epos im Epos, im Rahmen von welchem kriegerische Inhalte mit nicht-kriegerischen Inhalten alternieren, durch das Prinzip der Antithese bzw. der Kontrastierung determiniert, das auch für die Dionysiaka als Ganzes bestimmend ist.168 Der Leser wird daher gleich zu Beginn des Werkes dafür sensibilisiert, dass das Epos trotz der chaotisch wirkenden Handlung durch sinnstiftende Ordnungsprinzipien zusammengehalten wird. Was das 12. Buch im Speziellen betrifft, so manifestieren sich darin die skizzierten Charakteristika des nonnianischen Erzählstils in besonders markanter Weise: (i.) Digressiver Charakter: Neben dem 12. Buch findet sich – sieht man vom ersten einmal ab – wohl kein weiteres Buch in den Dionysiaka, das derart starke digressive Züge aufweist: In der Tat wird der Leser durch die Eingliederung des Horen-Intermezzos, der Metamorphose des Kissos und der Alternativ-Version zur Weinentstehung vom Verlauf der an sich simplen Handlung der Ampelos-Episode gleichsam auf Schritt und Tritt »abgelenkt«.169 Es liegt nahe, diesen Befund mit der narrativen μανία, die in den Dionysiaka am Werk ist, in Verbindung zu bringen. Dass sich diese narrative μανία ausgerechnet im 12. Buch so prominent manifestiert, lässt sich damit erklären, dass genau in diesem Buch die εὕρεσις des Weins und damit auch der dionysischen μανία selbst geschildert wird. Die Schilde 167 Vgl. z.B. Agosti 2015 145: »L’atteggiamento analitico induce senz’altro una frammentazione nel testo poetico, una tendenza alla miniaturizzazione. […] Ma ciò non implica affatto una assoluta mancanza di connessioni strutturali. Da una parte il racconto continua ad avere una sua funzione primaria (la poesia epica tardoantica è comunque narrativa, non meramente associativa); dall’altra l’unità delle singole parti viene solitamente cercata a un livello superiore, quello della significazione.« 168 Vian 1976, 9: »Le poète prend soin d’intervertir les deux premières métamorphoses, ce qui lui permet de faire alterner les épisodes guerriers (Géants, Indiens, Lycurgue) et les épisodes pacifiques […]. Il affirme ainsi d’emblée sa préférence pour l’antithèse formelle au détriment de la succession chronologique. « 169 Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch Eros’ Erzählung des Schicksals von Kalamos und Karpos (11.369–481) beinahe unmittelbar vor Beginn des 12. Buches, die ebenfalls ein stark digressives Element darstellt.

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rung des Rausches scheint dabei auch am Erzähler nicht spurlos vorübergegangen zu sein, der am Ende des Buches (wie unter Punkt iii.c. gezeigt wird) dann auch gänzlich die Kontrolle über seine Erzählung verliert. (ii.) Dominanz des ekphrastischen Elements und der direkten Figurenrede: Der Abschnitt, der das Ende der Ampelos-Episode zum Inhalt hat (117b–292), besteht im Wesentlichen aus der Beschreibung der Trauer des Dionysos samt mitfühlender Natur (117b–137), jener der Verwandlung des Ampelos (173–192) sowie der Rede der Atropos (142–171) bzw. des Dionysos (207– 289). Die Alternativversion zur Entstehung des Weinstocks bildet wiederum mehr oder weniger eine Abfolge von verschiedenen ekphrastischen Tableaus (Weinberg in der Wildnis [298–318], Weinlese der Satyrn [337–344], Trunkenheit der Satyrn [363–379] sowie nächtlicher Komos [382–393]). In beiden Fällen beschränkt sich der Erzählbericht auf wenige Verse und scheint gleichsam nur als narrative Aufhängung für die genannten Einzelpartien zu dienen. In deutlichem Kontrast zu den beiden besprochenen Abschnitten steht der Sonderfall des unfertigen Horen-Intermezzos, das nicht diese typische Dominanz von Figurenrede und deskriptivem Moment aufweist, was wohl dem unfertigen Charakter des Abschnitts geschuldet sein dürfte;170 die als separate Einheiten gestalteten Inhaltswiedergaben der vier κύρβεις (12.41–55a; 55b–63; 70–89; 97–102) können aber in gewisser Weise mit der sequenziellen Anordnung von ekphrastischen Tableaus parallelisiert werden. Durch ihren Charakter als eigenständige, von der Handlung abgekoppelte Einheiten ziehen die ekphrastischen Tableaus und direkten Reden vermehrt die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich und laden dazu ein, Querverbindungen zu anderen Passagen zu ziehen, mit denen sie korrespondieren. Wie in den beiden folgenden separaten Unterabschnitten zu den Ekphrasen und direkten Rede zu zeigen sein wird, bergen diese Querverbindungen im 12. Buch nicht selten zusätzliches Bedeutungspotential und sind interpretatorisch relevant. In den meisten Fällen werden durch diese Korrespondenzen der Handlung inhärente Kontrastverhältnisse freigelegt oder stärker konturiert. Einen Spezialfall bilden in diesem Zusammenhang die vier Inhaltsangaben der κύρβεις der Harmonia: Während die κύρβεις auf der Handlungsebene als ein Weltarchiv charakterisiert sind, sind die einzelnen Inhaltsangaben so gestaltet, dass der gelehrte Leser zwischen ihnen eine zusätzliche Verbindunglinie erkennen kann, die es ihm ermöglicht, die κύρβεις den einzelnen Jahreszeiten zuzuordnen.171

170 S. hierzu die näheren Ausführungen in den folgenden beiden Unterabschnitten. 171 S. K. 1–117a.

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(iii.) Eklatante handlungslogische Probleme: Zu erwähnen sind schließlich einige eklatante Widersprüche, für deren Erklärung die Laissez-faire-Haltung des Nonnos in Bezug auf die Handlungslogik – zumindest meiner Meinung nach – nicht ausreicht: (a.) Am deutlichsten zeigt sich dies im Fall der mit dem Horen-Intermezzo verbundenen Probleme: Meines Erachtens sollte man vorsichtig sein, die handlungslogisch problematische Anbindung des HorenIntermezzos einfach mit Rekurs auf die nonnianische Nonchalance gegenüber einer stringenten Handlungsführung vom Tisch zu wischen.172 Ähnliches gilt für die falsche Genealogie der Herbsthore in Vers 96, die man nicht vorschnell mit Verweis auf eine typische nonnianische »Elastizität« erklären sollte.173 Wie in Kapitel 5 ausgeführt, dürften beide handlungslogischen Widersprüche nämlich – zumindest partiell – dem unfertigen Zustand des Epos geschuldet sein. Hier sei jedoch betont, dass ich sehr wohl glaube, dass die sekundäre Eingliederung des Horen-Intermezzos an sich als digressives Moment von Nonnos intendiert war, nur dürfte er nicht mehr dazu gekommen sein, das neue Textstück mit dem Rest der Handlung zu harmonisieren. (b.) Aus handlungslogischer Sicht problematisch ist auch die Integration der Metamorphose des Kissos. Die Vehemenz, mit der die Ampelos-Handlung – just im Moment der Entstehung des Weinstocks – durch die Kissos-Metamorphose unterminiert wird, lässt dabei vermuten, dass Nonnos die Kissos-Passage nicht nur als rein digressives, sondern durchaus verstörendes Element integriert hat, das wohl der mehrfach zitierten literarischen μανία dienen soll. (c.) Einen starken Bruch mit der narrativen Logik bedeutet es auch, wenn Nonnos nach dem Exkurs über eine alternative Erklärung der εὕρεσις der Rebe nicht mehr zum ursprünglichen Handlungsstrang zurückkehrt, sondern den Handlungsfaden der Alternativversion weiterführt, als ob er vergessen hätte, dass es sich hier um einen Exkurs handelt. Dieses Faktum verlangt meines Erachtens nach einer Er-

172 Die Kommentatoren des 12. Buches messen der Problematik nur wenig Bedeutung zu: Gigli Piccardi 2003, 742 scheint sich nicht an dieser zu stören und Vian 1995a, 67 versucht, den Widerspruch durch eine mir recht konstruiert erscheinende Argumentation zu glätten. 173 So Gigli Piccardi 2003 ad loc.: »più che a un lapsus di Nonno, si dovrà pensare a una certa elasticità nel ricondurre i fenomeni temporali a una genealogia«.

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klärung.174 Die plausibelste Antwort scheint mir zu sein, dass Nonnos hier – wie auch in anderen vergleichbaren Fällen, wo er mit verschiedenen Erzählsträngen spielt175 – seine Erzählung bewusst ad absurdum führen will: Dass der Erzähler ausgerechnet nach der Beschreibung der εὕρεσις des Rausches die Kontrolle über seine Erzählung verliert, dürfte ja wohl kaum Zufall sein. Der handlungslogische Bruch entpuppt sich also abermals als ein bewusst gewähltes literarisches Instrument.

8.1.1. Ekphrastische Tableaus176 Für den Stil der Dionysiaka ist es charakteristisch, dass narrativer Bericht und deskriptive Ausmalung diffundieren. Man kann daher zu Recht von einem deskriptiven Modus der Erzählung sprechen.177 Vor dem Hintergrund dieses allgemeinen Hangs zum Deskriptiven heben sich jedoch punktuell Passagen ab, die als eigenständige ekphrastische Tableaus den narrativen Bericht erweitern (wobei die Übergänge zwischen beiden Kategorien fließend sind). Im 12. Buch sind es im Wesentlichen folgende Passagen, die sich als deutlich erkennbare ekphrastische Einheiten von der Erzählung abgrenzen: die Beschreibungen der Trauer des Dionysos und der sympathetischen Natur um den toten Ampelos (117–137), der Metamorphose desselben (173–184), des Weinbergs in der Wildnis (298–318), der Weinlese der Satyrn (337–344), der Alkoholisierungserscheinungen derselben (363–379) und des nächtlichen Komos (382–393). Es handelt sich hierbei also hauptsächlich um Ekphrasen von Handlungen (πράγματα).178 Die ungleichmäßige Verteilung der Beispiele, die sich auf die beiden letzten Drittel des Buches konzentrieren, ist durch das Fehlen von vergleichbaren

174 Gilgi Piccardi 2003 ad loc. kommentiert diesen Punkt nicht (vgl. auch Gonnelli 2003, 55, der sich hieran nicht zu stören scheint: »All’inizio del c. 13 giunge appunto all’antro di Rea, dove Dionisio si era recato alla fine del canto precedente«); Vian 1995a ad 294 (und ihm folgend Geisz 2018, 80–81) konstatiert zwar diese Auffälligkeit, misst ihr aber meines Erachtens nicht die nötige Tragweite bei: »La raison de cette anomalie est contenue dans l’expression πρεσβυτέρη … φάτις (v. 294): Nonnos apprend par là à son lecteur que le second récit est le plus ancien et le plus autorisé (203)«. 175 S. K. 292–397. 176 Zum Phänomen der Ekphrasis in den Dionysiaka allgemein s. v.a. Faber 2016 (mit Literatur) und Miguélez-Cavero 2017. Spezielle Untersuchungen zu Ekphraseis im Rahmen der Ampelos-Episode bieten Kröll 2013; 2016, 176–197 und Nizzola 2012, 202–210. 177 S. Faber 2016, 447–449, der den Abschnitt »The Descriptive Mode of the Narrative« betitelt. 178 Beispiele für das ansonsten breite Spektrum an unterschiedlichen Arten von Ekphrasen in den Dionysiaka bietet Faber 2016, 450–452.

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ekphrastischen Tableaus im Rahmen des Horen-Intermezzos bedingt.179 Hier übernehmen die bald indirekt referierten, bald wörtlich wiedergegebenen Inschriften zwar teilweise deren Rolle, die nicht erfolgte übliche ekphrastische Ausgestaltung verwundert aber dennoch; ich neige dazu, diese Tatsache mit dem embryonalen Zustand des Horen-Intermezzos in kausalen Zusammenhang zu bringen.180 Um das angestrebte Ziel der ἐνάργεια zu erreichen, bedient sich Nonnos bei der Gestaltung seiner Beschreibungen der mittlerweile auch für die poetische Produktion zum Standard gewordenen ekphrastischen Technik der Aufsplittung des zu behandelnden Themas in dessen Details,181 die meist mithilfe des Stilmittels des μερισμός (distributio)182 realisiert wird.183 Die dem Verfahren inhärente Gefahr der monotonen Auflistung wird dabei durch den Einsatz von ποικιλία vermieden.184 Als Folge sind die nonnianischen Ekphrasen durch jenes kunstvolle Spannungsverhältnis von Regularität und Variation geprägt, welches – wie von Michael Roberts gezeigt – für Beschreibungen der spätantiken Poesie so charakteristisch ist.185 Diese Vorgehensweise manifestiert sich in besonders augenscheinlicher Form in der Beschreibung des wilden Weinbergs in 12.302–313, anhand derer stellvertretend für die weiteren nach demselben Muster gestalteten ekphrastischen Tableaus des 12. Buches das erwähnte Spannungsverhältnis von Regularität und Variation exemplifiziert werden soll:186

179 Die Entscheidung von Kröll 2016, 187–197, die Tafeln der Harmonia als charakteristisches Beispiel ekphrastischer Technik aufzunehmen, überrascht daher ein wenig: Im Horen-Intermezzo werden die κύρβεις nicht beschrieben, sondern deren Wortlaut referiert bzw. zitiert (wobei natürlich punktuell auch deskriptive Elemente vorzufinden sind); Aussagen zu den dort befindlichen Illustrationen konzentrieren sich ebenfalls auf das Essentiellste. Die Behandlung der κύρβεις – so wie sie sich im überlieferten Text findet – ist meines Erachtens daher innerhalb der Kategorien des allgemeinen deskriptiven Modus der Dionysiaka zu verstehen, wobei die Einbeziehung des Mediums der Schrift sie sicher zu einem Spezialfall macht (so auch Faber 2016, 448–449). 180 S. Kap. 5. 181 Quint. Inst. 9.20.40 nec universa, sed per partis; 8.3.66 Interim ex pluribus efficitur illa quam conamur exprimere facies; Nicol. Prog. 68.19–20 ἣ δὲ [scil. Ekphrasis] τὰ κατὰ μέρος ἐξετάζει. 182 S. Lausberg 1973, 340–341 § 675. 183 Vgl. Wifstrand 1933, 151–154; Miguélez-Cavero 2008, 287. 184 Vgl. Miguélez-Cavero 2008, 286–287. 185 S. Roberts 1989 passim, v.a. 12: »It is just this combination of regularity of outline, and brilliance and variation in detail, that the period most prized. A poet won admiration for skill in handling such restricted virtuoso passages and consequently sought to incorporate such passages into his work.« 186 Die Ausführungen bilden teilweise eine Synthese der im Stellenkommentar gewonnenen Resultate, auf den für eine eingehendere Diskussion verwiesen wird.

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Καὶ πολὺς ὄρχατος ἦεν, ὅπῃ, στοιχηδὸν ἀνέρπων, σείετο φοινίσσων ἐπὶ βότρυϊ βότρυς ἀλήτης. Ὧν ὁ μὲν ἡμιτέλεστος ἑὰς ὠδῖνας ἀέξων, αἰόλα πορφύρων, ἑτερόχροϊ φαίνετο καρπῷ· ὃς δὲ φαληριόων ἐπεπαίνετο σύγχροος ἀφρῷ· καὶ πολὺς ὤθεεν ἄλλος ὁμόζυγα γείτονα γείτων ξανθοφυής· ἕτερος δὲ φυὴν ἰνδάλλετο πίσσῃ περκάζων ὅλον ἄνθος, ἀπ’ οἰνοτόκων δὲ πετήλων σύμφυτον ἀγλαόκαρπον ὅλην ἐμέθυσσεν ἐλαίην· ἄλλου δ’ ἀρτιχάρακτος ἐπέτρεχεν ὄμφακι καρπῷ βότρυος ἀργυρέοιο μέλας αὐτόσσυτος ἀήρ, ὄγκῳ βοτρυόεντι φέρων σφριγόωσαν ὀπώρην.

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Vorab sei bemerkt, dass es bereits bezeichnend ist, dass sich Nonnos bei der ekphrastischen Ausgestaltung gerade auf die unterschiedlich gefärbten Traubenarten konzentriert. Diese Entscheidung bot ihm nicht nur die Möglichkeit zur bevorzugten enumerativen Behandlung des Sujets, sondern kam wohl auch seiner allgemeinen Vorliebe für Polychromie entgegen. Die ekphrastische Vignette selbst beginnt mit der Angabe des Themas in den Versen 301–303: Nicht nur stellt diese den wildwachsenden Rebenwald durch die Bezeichnung als πολὺς ὄρχατος (kultivierter Garten) in ein gesuchtes paradoxes Spannungsverhältnis zur bisherigen Schilderung, sondern verweist auch auf den homerischen μέγας ὄρχατος des Alkinoos, der als Folie und leitmotivische Klammer für die folgende Beschreibung dient. Auf die Themenangabe folgt eine in Form eines μερισμός gestaltete Aufzählung von fünf verschiedenfarbigen Traubenarten (wohl in Anlehnung an die fünf verschiedenen Obstbäume im Garten des Alkinoos), die ein regelmäßiges Grundschema erzeugt, welches wiederum formal durch die Wiederholung anaphorischer Demonstrativa zusätzlich konturiert wird. Diese Regemäßigkeit des Musters (die in gewisser Weise das eingangs erwähnte στοιχηδὸν ἀνέρπων auch sprachlich-formal umsetzt) bildet die nötige Grundlage für das Inkrafttreten der Dynamiken der Variation: Auf inhaltlicher Ebene wird das starre Anordnungskriterium der Farbigkeit durch die Einbeziehung der zusätzlichen Aspekte des Reifegrads (304 ἡμιτέλεστος; 306 ἐπεπαίνετο; 309 περκάζων; 311 ἀρτιχάρακτος; ὄμφακι) bzw. der Buntheit aufgebrochen (305 ἑτερόχροϊ; 312 ἀργυρέοιο, μέλας). Der Aspekt der Buntheit, der die erste sowie letzte Traube betrifft, erzeugt zusätzlich eine Rahmung, die das Tableau als eine in sich geschlossene Einheit von dessen umgebendem Kontext abgrenzt. Die stark ausgeprägte Variation auf inhaltlicher Ebene findet eine Entsprechung in jener auf formaler Ebene: Recht augenscheinlich zeigt sich dies an den strukturierenden Demonstrativa, die sich in Hinblick auf die Wahl des Pronomens und auch in Hinblick auf den Kasus unterscheiden (304 ὁ μέν, 306 ὃς δέ, 307 ἄλλος, 308 ἕτερος δέ, 311 ἄλλου δ’); auch die stets wechselnde syntaktische

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Struktur sowie Verslänge (2: 1: 1 : 3 : 3)187 der einzelnen Abschnitte lockern die der Aufzählung inhärente Starrheit auf. Die alternierende Form und Intensität, mit der die homerische Vorlage durch Nonnos zitiert wird, könnte ebenfalls als Mittel der formalen Variation angeführt werden (302 πολὺς ὄρχατος; 303 ἐπὶ βότρυϊ βότρυς; 309 περκάζων ἄνθος; 310 ἀγλαόκαρπον ... ἐλαίην; 311 ὄμφακι). Das hier skizzierte Spannungsverhältnis von Regularität und Variation ist auch für die übrigen ekphrastischen Tableaus des 12. Buchs charakteristisch, wobei freilich jeweils unterschiedliche Aspekte und Formen als verbindende Klammern dienen können: Als solche fungiert bei der Ekphrasis der Trauer über den Tod des Ampelos die Darstellungsform des ἀδύνατον, bei jener der Metamorphose des Ampelos der Aspekt der Kontinuität in der Verwandlung und bei jener des nächtlichen Komos die antithetische Opposition der Lüsternheit der Satyrn auf der einen und der Keuschheit der Bakchantinnen auf der anderen Seite.188 Das kontinuierliche Alternieren von erzählerischen und deskriptiven Abschnitten189 dient nicht nur dazu, der narrativen Monotonie durch das Prinzip der ποικιλία entgegenzuwirken, sondern erfüllt auch eine strukturierende Funktion.190 Zwei der Tableaus erweisen sich zusätzlich als interpretatorisch ergiebig: Bei dem einen handelt es sich um die Beschreibung der sympathetischen Trauer der Pflanzen um den verstorbenen Ampelos. Diese steht in recht eindeutiger Relation zu dem von Dionysos am Ende seiner Rede imaginierten Bild der Natur, die die Rebe wie eine Königin verehrt, und unterstreicht auf kontrastierende Weise die in der Zwischenzeit erfolgte Peripetie von Leid zu Freude.191 Das andere Beispiel bildet die Ekphrasis des Komos am Ende des 12. Buches. Als letzte Ekphrasis des 12. Buches kommt ihr naturgemäß eine besondere Stellung zu. Dabei wird ein starker Kontrasteffekt deutlich, wenn man sie mit Blick auf die erste Ekphrasis der Ampelos-Episode (10.141–174) liest, die den noch recht kindlich agierenden Dionysos beim vergnügten Bad mit den Satyrn zeigt. In deutlicher Diskrepanz zu letzterer präsentiert die Ekphrasis des Komos Dionysos – im Verlauf der drei Bücher deutlich gereift – als frischgebackenen Gott des Weines inmitten seines Gefolges. 187 Dies gilt insbesondere für das Enjambement in 308, welchem durch die Zeichen »+« bzw. »–« versucht wird, Rechnung zu tragen. 188 Auch wenn sie einer Form sui generis angehören, sei in diesem Zusammenhang auf die im Wortlaut wiedergegebenen Inschriften der dritten und vierten κύρβις verweisen (12.70–89 bzw. 97–102), die durch dasselbe Spannungsverhältnis von Regularität und Variation geprägt sind. 189 Besonders deutlich im Abschnitt 292–397; vgl. in diesem Zusammenhang die Strukturanalyse des 18. Buches durch Miguélez-Cavero 2008, 293–294. 190 Vgl. hierzu allgemein die proleptische Funktion, die Ekphrasen von Kunstwerken im Epos haben können (s. jetzt Harrison 2019 mit Literatur). Ein entsprechendes Beispiel aus den Dionysiaka diskutiert Miguélez-Cavero 2017, v.a. 188–197. 191 S. K. 117b–291.

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8.1.2. Direkte Rede192 Für die direkten Reden der Dionysiaka gilt mutatis mutandis, was bereits als charakteristisches Merkmal für die ekphrastischen Tableaus hervorgehoben wurde: Sie erwachsen nicht organisch dem narrativen Erzählbericht, sondern wurden von Nonnos bewusst als separate Einheiten mit hohem Grad an Eigenständigkeit gestaltet. Dieser Eindruck lässt sich auch statistisch nachweisen: In ihrer für die Reden der Dionysiaka zentralen Untersuchung konstatiert Berenice Verhelst193 auf der Grundlage eines statistischen Vergleichs des Epos des Nonnos mit jenen seiner griechischen Vorgänger Homer, Apollonios und Quintus, (i.) dass die Frequenz an Reden in den Dionysiaka deutlich geringer,194 deren Länge dafür aber deutlich höher ist195 und (ii.) dass an die Stelle von Gesprächen bei Nonnos vermehrt Monologe treten196 (die häufig ohne Reaktion des Adressaten bleiben oder überhaupt in Abwesenheit eines solchen gesprochen werden). Diese statistischen Ausschläge in den Kategorien »Länge«, »Frequenz« und »Verhältnis Monolog/Gespräch« können ganz klar auf die narrative Abkoppelung und die damit einhergehende Eigenständigkeit der direkten Reden in den Dionysiaka zurückgeführt werden. Die Beobachtungen erwecken den Eindruck, als ob die nonnianischen Reden besonders innovativ seien. Diesbezüglich gilt es aber, die spezielle Überlieferungslage für die griechische Epik zu berücksichtigen, die es nicht erlaubt, die Entwicklung der Gattung schrittweise nachzuverfolgen. Die lateinische Epik der Kaiserzeit kann hier jedoch als Korrektiv dienen, da sich dort, was die zunehmende Eigenständigkeit der epischen Reden betrifft, ein gewisser Trend abzeichnet. Wie auch für mehrere andere Bereiche feststellbar, sind daher die nonnianischen Besonderheiten im Fall der Gestaltung der epischen Reden als Teil einer allgemeinen Entwicklung innerhalb der kaiserzeitlichen Epik anzusehen,

192 S. allgemein Verhelst 2016. 193 Verhelst 2016, 24–31 (mit ausführlicher Diskussion der statistischen Daten); vgl. Wif­ strand 1933, 141–145. 194 Teilt man die Gesamtlänge des jeweiligen Epos durch die Gesamtanzahl an Reden, ergeben sich folgende gerundeten Werte: Hom. Il. 23, Od. 22, A. R. 41, Q. S. 50, Nonn. D. 70. 195 Die gerundeten Werte für die durchschnittliche Länge einer direkten Rede sind: Hom. Il. 10 Verse, Od. 15 Verse, A. R. 12 Verse, Q. S. 12 Verse, Nonn. D. 25 Verse; rechnet man die ausführlichen in direkter Rede wiedergegebenen Erzählungen in Odyssee und Dionysiaka nicht mit, ergeben sich als Werte 10 bzw. 23 Verse (gerundet). 196 78% der Reden der Dionysiaka sind Monologe (vgl. Il. 32%, Od. 14%, A. R. 24%, Q. S. 43%).

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wenngleich zu konzedieren ist, dass sich diese Entwicklung bei Nonnos in sehr ausgeprägter Form manifestiert.197 Abgesehen von einem kurzen Wortwechsel zwischen der Herbsthore und Helios (12.23–28 bzw. 37–40), der aus mehreren Gründen einen Sonderfall darstellt und daher nicht an dieser Stelle diskutiert werden soll,198 finden sich im 12. Buch nur zwei Reden, nämlich die Rede der Atropos an Dionysos (142–171 [= 30 Verse]) und der Monolog des Dionysos im Anschluss an die Verkostung der Trauben (207–289 [= 83 Verse]); das Fehlen von Fällen direkter Rede im Abschnitt zur Alternativversion zur Entstehung des Weinstocks lässt sich wohl mit dessen Charakter als narrativem Annex erklären. Die Rede der Atropos zeigt Überschneidungen mit dem Monolog des Dionysos und kann in gewisser Weise als dessen inhaltliche wie atmosphärische Exposition gesehen werden, da sie sowohl den preisenden Grundton als auch zentrale Themen vorgibt, die dann von Dionysos variiert werden.199 Mit 83 Versen zählt der Monolog des Dionysos zu den längsten Reden der Dionysiaka; die Datenbank von Verhelst 2018 zählt nur zehn noch längere Personenreden (darunter nicht wenige Reden, die Erzählungen beinhalten). Als Scharnier zwischen narrativem Bericht und den beiden direkten Reden fungieren, wie für die Gattung der Epik charakteristisch, Einleitungs- bzw. Schlussformeln,200 wobei in ersteren die Grundintention der jeweiligen Rede (140 παραιφαμένη; 206 ἀγηνορέοντος) vorweggenommen und dem Leser somit ein gewisser frame für die Verortung der Rede gegeben wird.201 Wie bereits für die Reden in den Dionysiaka allgemein festgestellt wurde, entwickeln sich die beiden Reden im Gegensatz zum traditionellen Epos nicht organisch aus der Handlung heraus. Dies gilt insbesondere für den Monolog des Dionysos, dem keine eigentliche narrative Funktion zukommt. Die Rede der Atropos ist hingegen dadurch, dass ihr die narrative Aufgabe zukommt, Dionysos über die bevorstehende Metamorphose des Ampelos und deren Hintergründe zu informieren, mit dieser zumindest teilweise verzahnt. Diese Verzahnung ist aber nur partieller Natur und lässt die Rede dann doch als ein von der narrativen Linie separates Element erscheinen: Zum einen deckt sich der eigentliche illokutionäre 197 Zur sukzessiven Rhetorisierung des Epos s. jetzt Reitz 2019 (mit Literatur) und insbesondere 130 »[…] the later Greek epics, Quintus of Smyrna’s Posthomerica (3rd century AD) and Nonnus’ Dionysica (5th century), have closer ties to the imperial Latin epics than to the works of Homer due to the quantity, quality, and contextualisation of the speeches in later Greek epic.« 198 Die Verse dürften den Status einer ersten Rohfassung haben (s. K. 21–40 sowie 21–28 und 36–40). 199 V.a. Tod des Ampelos: 142–146 ≈ 212–221; Gegenüberstellung Apoll und Dionysos: 156–157 ≈ 247–252. 200 Sie sind Teil des individuellen Formelsystems, das Nonnos für sein Epos kreiert (s. Kap. 8.2.1.). 201 Vgl. Verhelst 2016, 35–36 mit Verweis auf Sch. HPQ zu Od. 6.148.

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Akt der Informationsweitergabe nur mit einem Teil der Rede, die über diesen hinaus ein deutliches Eigenleben entwickelt. Zum anderen werden die Reaktionen, die Atropos’ Worte bei ihrem Adressaten hervorrufen, ausgeblendet, sodass der Eindruck entsteht, die Rede werde von Dionysos gar nicht wahrgenommen. Zudem trägt die recht unvermittelte Erwähnung des Auftritts und des Abgangs der Moiren das Ihrige dazu bei, die Rede als einen von der narrativen Linie abgekoppelten Teil erscheinen zu lassen. In der Tat zeigt die Rede der Atropos hierin gewisse Ähnlichkeiten mit einem für die Dionysiaka charakteristischen Rede-Typ; für diesen ist kennzeichnend, dass die jeweilige Rede von einer aus dem Nichts auftauchenden Personen gehalten wird, die nach Beendigung derselben auch ebenso schnell wieder von der Handlungsbühne abtritt.202 Diese Eigenständigkeit der direkten Reden im Rahmen der Handlungsentwicklung rücken diese in die Nähe der schulischen Textsorte sowie poetischen Kleingattung der Ethopoiie, die die potentiellen Worte einer bestimmten Person in einer vorgegebenen Situation wiedergibt und dabei den Charakter (ἦθος) oder die Emotion der besagten Person (πάθος) – oder beides – verdeutlicht (Τίνας ἂν λόγους εἴποι-Rede).203 Diese Textform hat starken Einfluss auf die Dionysiaka (und die späte Epik allgemein) ausgeübt. Die Wesensverwandtschaft zeigt sich im Fall des Monologs des Dionysos nicht zuletzt dadurch, dass in der Tat Ethopoiien sensu stricto mit vergleichbarer Themenstellung belegt sind.204 Im Gegensatz zu Beispielen aber, die deutlich in der Tradition der Ethopoiie stehen,205 bildet dieses Genre im Fall der beiden Reden des 12. Buches gleichsam nur den äußeren Rahmen für die spezifische Ausgestaltung der Figurenäußerungen. Die vordergründige rhetorische Funktion der Rede der Atropos besteht in der Tröstung des Dionysos, während dessen Monolog die Aufgabe zukommt, sein πάθος (freudiger Stolz) darzustellen. Es ist dabei allerdings nicht Nonnos’ Ziel, eine feine psychologische Zeichnung der Sprechenden zu geben,206 vielmehr wird die Themenstellung in recht steriler, rhetorisch-artifizieller Weise ausge-

202 S. Verhelst 2016, v.a. 225–235. 203 S. v.a. Agosti 2005 und Miguélez-Cavero 2008, 316–340. 204 S. K. 205b–291. 205 S. z.B. die bei Agosti 2005, 45–50 und Verhelst 2016, 74–79 diskutierten Beispiele, bei denen neben stilistischen Gemeinsamkeiten teilweise auch frappierende inhaltliche Überlappungen mit überlieferten Ethopoiien festzustellen sind. 206 Das Desinteresse für psychologische Introspektion unterscheidet Nonnos zwar deutlich von seinen hellenistischen Vorbildern (vgl. Whitby 1994, 101; Schmiel 1998b, 399–400), reflektiert aber den Zeitgeschmack. So kann man das Urteil von Gruzelier 1993 bezüglich der rhetorischen tour de force, die Claudian in der Gestaltung der Reden in De raptu Proserpinae unternimmt, uneingeschränkt auch auf die Reden in den Dionysiaka übertragen: »a pleasure to read as long as one is not looking for depth of characterization or profound sentiments« (vgl. Cameron 1970, 268).

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führt:207 Die Äußerungen der Atropos und des Dionysos sind durch eine klar strukturierte Argumentation geprägt;208 Apostrophen dienen häufig als strukturierendes Mittel.209 Bei beiden Reden ist zudem der Versuch einer gewissen Rahmung festzustellen. Die einzelnen klar voneinander getrennten Gedanken oder Argumente sind meist entweder in ein Paradox oder eine Antithese gekleidet. Die für viele Reden in den Dionysiaka typischen pathetischen Höhenflüge bleiben jedoch fast gänzlich aus. Ein klares Beispiel für eine leidenschaftliche Steigerung des Tonfalls bildet jedoch der Abschnitt 12.211–221, in dem Dionysos seine Freude über das Weiterleben des Ampelos in Rebengestalt zum Ausdruck bringt. Das Pathos des Abschnitts, der durch kommatischen Satzbau und eine hohe Frequenz von Anaphern geprägt ist, erklärt sich daraus, dass dieser Aspekt Dionysos wohl am meisten persönlich berührt haben dürfte. Wohl ebenfalls der Pathoszeichnung dient 12.229–231, wo die Erwähnung des rötlichen Teints des Ampelos in Dionysos plötzlich die Erinnerung an dessen Ermordung durch einen Stier wachruft und ihn veranlasst, eine Drohung gegen den Mörder auszustoßen. Der vordergründigen Funktion der Reden eher entgegenlaufend ist dabei ihre auffallend preisende Tendenz, die sich eindrücklich in der Verwendung enkomiastischer Topoi manifestiert.210 Das ungewöhnlich starke enkomiastische Element erklärt sich aus der zentralen Funktion der beiden Reden. Wie bei zahlreichen anderen Reden in den Dionysiaka auch211 besteht diese nämlich nicht nur in der Charakterisierung der einzelnen Sprecher, sondern auch in jener der vorliegenden Situation, deren Wesen durch die Reden verdeutlicht wird: Es ist das Moment des Außergewöhnlichen und Grandiosen, auf welches die beiden Reden des 12. Buches das Augenmerk richten. Sie transzedieren daher in gewisser Weise ihre Rolle innerhalb der Diegese und interpretieren für den Leser die Handlung, indem sie ihm das Grandiose des Ereignisses plastisch vor Augen führen. Sie dienen damit wie das Horen-Intermezzo letztlich der Erhöhung des Ampelos sowie des Dionysos und sind zu jener Serie von enkomiastischen Elementen zu rechnen, die die Dionysiaka auf so prägende Weise durchziehen.212 Besondere Bedeutung kommt dabei den συγκρίσεις in den beiden Reden zu, in denen Dionysos (teilweise via Ampelos) den verschiedenen olympischen 207 Vgl. die Beobachtungen von Schmiel 1998b, 398–399 bezüglich der sorgfältigen Komposition der Rede des anonymen griechischen Seemanns in 1.93–124. 208 Eine Ausnahme bilden die Verse 12.229–231, die der Versinnbildlichung von Dionysos’ Pathos dienen (s.u.). 209 Rede der Atropos: 142 Διόνυσε; 167 ῎Αμπελε; Monolog des Dionysos: 207 ῎Αμπελε; 212 ῎Αμπελε; 234 ῎Αμπελε. 210 Vgl. die Analyse enkomiastischer Elemente in den beiden Reden bei Kröll 2016, 167– 174. 211 Diese Funktion übernehmen üblicherweise Reden, die von eigens hierfür eingeführten Kommentator-Figuren gehalten werden (s. Krafft 1975, 109–131; Verhelst 2016, 221–273). 212 S. hierfür z.B. Miguélez-Cavero 2008, 355–366 (mit Literatur).

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Göttern gegenübergestellt und seine Überlegenheit hervorgehoben wird.213 Die Reden der Atropos und des Dionysos nehmen dadurch an der gleichsam leitmotivisch das Epos durchziehenden Diskussion um Dionysos’ Stellung innerhalb des Götterpantheon214 teil, die in den verschiedenen Reden des Epos aus der Perspektive unterschiedlicher Personen teils affirmativ, teils negierend215 verhandelt wird. Dadurch, dass die beiden Reden von der narrativen Linie klar abgegrenzte Bauelemente bilden, ist ihnen ein gewisser strukturierender Effekt inhärent.216 Darüber hinaus sind sie aber durch ein dichtes Netz an Querverbindungen, die häufig durch die schon als zentral erwähnten συγκρίσεις erreicht werden, mit anderen Teilen des Epos verknüpft. Neben einer allgemeinen kohärenzstiftenden Bündelung von Leitthemen erfüllen diese dabei auch klar strukturierende Funktion. Besonders deutlich zeigt sich dies anhand des Monologs des Dionysos: Zum einen konturiert dieser als kontrastierendes Gegenstück zur ersten Klagerede des Dionysos (11.255–312) die dem Abschnitt 12.117b–291 zugrundeliegende Peripetie von Leid zu Trauer;217 dieselbe Funktion erfüllt auch die positive Umwertung der Beschreibung der Trauer der Natur (124–137) in dem am Ende der Rede imaginierten Bild von der Rebe als Königin des Pflanzenreiches. Zum anderen spannt die Rede des Dionysos am Ende der Ampelos-Episode aber auch einen strukturellen Bogen zu den beiden Triumphreden der Semele, die ebenfalls jeweils den Abschnitt zu Dionysos’ Geburt (9.208–242) bzw. jenen der InoEpisode (10.129–136) beschließen.218 In diesen Reden kommentiert Semele vom Olymp aus das Geschehen auf Erden und streicht ihre Überlegenheit dank ihres Sohnes Dionysos gegenüber Hera bzw. Ino anhand ausführlicher συγκρίσεις hervor. In derselben Manier (wenngleich im Gegensatz zu Semele ins Handlungsgeschehen involviert) kommentiert auch Dionysos in seinem Monolog die Metamorphose des Ampelos und nimmt sie als Anlass, seine Überlegenheit gegenüber anderen Göttern hervorzuheben (v.a. 247–271).219 Die Entscheidung des Nonnos, dieses Mal Dionysos selbst die Kommentator-Funktion übernehmen zu lassen, könnte dabei durchaus als bewusster und interpretatorisch relevanter 213 12.156–166 (Hyakinthos/Apoll); 207–210 (Apoll, Demeter); 217 (Atymnios/Apoll); 224–225 (Hyakinthos/Apoll); 247–271 (Apoll, Ares, Demeter, Athene); vgl. 110–113 (Apoll, Aphrodite, Athene, Demeter). 214 S. hierzu das Ende von Kap. 4. 215 Zu den Psogoi von Dionysos’ Gegnern, die ihm vor allem seine göttliche Abstammung absprechen, s. Miguélez-Cavero 2010, 31–35. 216 Zur strukturierenden Funktion der Reden vgl. Miguélez-Cavero 2008, 339. 217 Ansätze zu einer solchen Kontrastierung finden sich aber schon in der Rede der Atropos (s. K. 140–171). Zu kontrastierenden Rede-Paaren s. Vian 1976, 86–87; Schmiel 1992, 372–373; Verhelst 2017, 90–92. 218 S. K. 247–271. 219 Abgesehen von den strukturellen und inhaltlichen Überlappungen suggerieren auch sprachliche Signale, die Passagen aufeinander zu beziehen (s. K. 247–271).

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Versuch der Kontrastierung intendiert sein: War es bisher die Mutter des noch unmündigen Gottes, die das Geschehen kommentiert hat, so kann der im Rahmen der Ampelos-Episode zum erwachsenen Gott gereifte Dionysos nun selbst diese Funktion übernehmen.

8.2. Sprachlich-stilistische Gestaltung In der sprachlich-stilistischen Gestaltung seines Epos stellt sich Nonnos klar in die durch Homer geprägte epische Tradition. Seine individuelle epische Handschrift hebt sich aber andererseits auch deutlich von dieser Tradition ab.220 Die Unterschiede erklären sich zu großen Teilen aus bereits etablierten stilistischen Trends der Epik der Kaiserzeit, an denen der Dichter der Dionysiaka partizipiert.221 Trotzdem verfügen die Dionysiaka über einen eigenen unverwechselbaren epischen Stil, der sich hauptsächlich aus der Intensivierung und individuellen Schwerpunktsetzung ergibt und – zumindest partiell – in kausaler Verbindung mit dem übergeordneten poetologischen Ziel stehen dürfte, durch sprachliche Stilisierung dem Epos zusätzliches dionysisches Kolorit zu verleihen. Nicht wenige stilistische Charakteristika, die Nonnos mit anderen Epikern der Kaiserzeit teilt, stehen in einem gewissen Grad in Zusammenhang mit Entwicklungen im Bereich der metrischen Gestaltung. So erweisen sich z.B. folgende sprachlich-stilistischen Phänomene letztlich als Konsequenzen metrischer Regeln und Gewohnheiten:222 (i.) Die Abneigung gegen zu häufige Zäsuren und stärkere Einschnitte in oder nach dem 2. biceps begünstigt einen ausgedehnteren Gebrauch von langen Adjektiv- und Verbkomposita. (ii.) Die Praxis, spondeische Wörter fast ausschließlich an den Versanfang oder -schluss zu setzen, führt dazu, dass Substantive und Adjektive, die in den casus obliqui spondeisch sind (dasselbe gilt entsprechend für maskuline Präsens- und Aorist-Partizipien im Nominativ Singular), hauptsächlich an diesen beiden Stellen des Verses zum Einsatz kommen. (iii.) Die Reglementierung des Wortakzents am Verschluss hat zur Folge, dass die meisten finiten Verben in historischen Tempora von ihrem traditionell angestammten Platz am Ende des Verses vor die Mittelzäsur gerückt werden. (iv.) Die eingeschränkte Verwendung von Spondeen begünstigt natür-

220 Treffend Hopkinson 1994b, 14: »In relation to Homer the diction and metre of Nonnus manifest the same technique of emulation and rivalry, the same pursuit of difference and similarity, as do his pronouncements on the practice of poetry. […] much of the vocabulary, some of the phraseology, and not a few lines and half-lines, are Homeric, but in overall effect the poem is quite unlike any other.« 221 Eine Analyse des nonnianischen Stils auf Basis von übergreifenden Entwicklungen in der griechischen Epik der Spätzeit bietet Whitby 1994. 222 S. Wifstrand 1933, 79.

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lich daktylische Wortformen.223 (v.) Das Vermeiden von Elision sowie von zu vielen Zäsuren wirkt dem Gebrauch kurzer Partikeln entgegen. Ebenfalls in Zusammenhang mit den Veränderungen im metrischen Geschmack dürfte die zunehmende Ausbildung eines ausgeprägten Nominalstils sein, der zahlreiche Epen der Kaiserzeit kennzeichnet.224 Wie auch im Fall anderer stilistischer und metrischer Eigenheiten lässt sich diese Entwicklung in den Dionysiaka besonders deutlich beobachten.225 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang vor allem die hohe Frequenz an Epitheta: Diese geben häufig einen Verbalvorgang wieder (v.a. in Gestalt von Präsenspartizipien) und ersetzen dadurch entsprechende finite Verbformen.226 Daneben sind für den Stil des Nonnos die häufige Verwendung von nominalen Wendungen (typisch ist die häufige Verwendung des dativus sociativus mit Attribut227) und Präpositionalausdrücken228 charakteristisch; die Entwertung des finiten Verbs offenbart sich zudem auch an typischen Verb-Objekt-Junkturen, bei denen der semantische Schwerpunkt auf dem regierten Objekt liegt.229 Dieser ausgeprägte Nominalstil trägt maßgeblich zur Dunkelheit der nonnianischen Sprache bei, welche durch die für die Epik der Kaiserzeit typischen poetischen Lizenzen – wie zum Beispiel die Enallage des Adjektivs230 oder die Verwendung des »Genitivs statt des Adjektivs«231 – zusätzlich gesteigert wird.

223 Ludwich 1873, 99–110 bietet eine Fülle von Beispielen für Nonnos’ Vorliebe für Wörter mit daktylischem Rhythmus. 224 S. z.B. Miguélez-Cavero 2008, 375; vgl. für Triphiodor Miguélez-Cavero 2013b, 81. Die genauen Zusammenhänge zwischen dem zunehmenden Nominalstil und Veränderungen in der metrischen Gestaltung wurden meines Wissens bisher nicht ausführlich untersucht. 225 String 1966, 90–114 thematisiert einige Aspekte des nonnianischen Nominalstils. 226 Wifstrand 1933, 79–82, v.a. 81: »Überall wird die Aufmerksamkeit so auf die Epitheta gelenkt. Das Nominale gewinnt die Oberhand.« 227 Diese Dative, die in gewisser Weise entsprechende Adverbien ersetzen, stehen zumeist am Versschluss (oder nehmen gar das gesamte zweite Hemistichion ein). Ihre hohe Frequenz dürfte daher bis zu einem gewissen Grad metrischer Bequemlichkeit geschuldet sein. S. z.B. für den Abschnitt 12.117–130: 120 ἀκηδέστῳ δὲ σιωπῇ; 122 Ἀμειδήτῳ δὲ προσώπῳ; 125 ἀνεμώδεϊ παλμῷ; 126 βαθυκτεάνῳ δὲ ῥεέθρῳ. 228 Ein besonderes Stilmerkmal des Nonnos sind in diesem Zusammenhang Präpositionalausdrücke mit μετά zum Ausdruck einer zeitlichen Folge (s. hierzu K. 12.72 μετὰ λέκτρον). 229 S. z.B. 12.83 οἶστρον ἔχων ἀθέμιστον; 128 ἔχων μίμημα; 156 ζῆλον ἄγων; 270 πένθος ἔχων; 285 †ἄγεις† … ἀπειλήν; 313 φέρων σφριγόωσαν ὀπώρην; 384 ἔχων νέον οἶστρον; allgemein String 1966, 112. 230 Vgl. die im Stellenkommentar gesondert diskutierten Beispiele 12.34 μαντιπόλος χείρ; 57 δενδραίην γονόεσσαν … λοχείην; 67 σοφῇ … μίλτῳ; 74 πτερόεσσαν … πορείην; 351 θυιάδα χαίτην; 363 363 φρενοθελγέος ἰκμάδα Βάκχου; allgemein Giangrande 1970, 80. 231 S. Keydell 1959, 57*; Giangrande 1970, 78–79.

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8.2.1. Formelsprache Das wohl charakteristischste Merkmal des epischen Stils ist der hohe Grad an Formelhaftigkeit. Wie vor allem durch die Arbeiten von Milman Parry und Albert Lord gezeigt wurde, ist die Verwendung von Formeln aufs Engste mit dem Prinzip der Oralität verbunden. Formeln bleiben aber auch in Zeiten der schriftlichen Ausarbeitung ein genrekonstituierendes Element.232 Besonders eindrücklich zeigt sich dieses Fortbestehen in den Posthomerica, für die Quintus ein individuelles »homerisches« Formelsystem entwickelte. Quintus imitiert dabei Homer, ohne ihn zu kopieren.233 Auch Nonnos kreiert für sein DionysosEpos eine passende Formelsprache, zeigt darin aber im Vergleich zu Quintus und anderen griechischen Epikern deutlich mehr Eigenständigkeit.234 Die Tendenz zu Uniformität und Wiederholung betrifft vor allem das Vers­ ende. Besonders charakteristisch für die kaiserzeitliche Epik sind dabei for­ melhafte Klauseln, die aus einem Substantiv und einem davon abhängigen Genitiv bestehen.235 Was Nonnos im Speziellen betrifft, übernimmt er teilweise derartige Klauseln, kreiert aber weit häufiger seine eigenen.236 Geradezu ein Leitmerkmal für seinen Stil sind formelhafte Klauseln bestehend aus einem Adjektiv und einem darauffolgenden Substantiv im Dativ, das die metrische Form eines Spondeus besitzt; die Substantive beschränken sich dabei auf eine kleine Gruppe von immer wiederkehrenden Begriffen. Im 12. Buch sind es v.a. Verbin-

232 Zum Konzept der Formel im Spannungsverhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit s. Bakker 2019. 233 Bakker 2019, 94: »[…] Quintus creates his own formulaic diction, modifying or extending the Homeric prototype in various ways. His treatment of Homeric diction is in fact reminiscent of the way in which Homeric diction itself has been seen as an elaboration of earlier and simpler formulaic phraseology«. 234 Hopkinson 1994b, 14: »Following the lead of earlier poets of the Empire, in practice far more boldly innovative than they, Nonnus fabricates his own formular style in accordance with his declared principle of ποικιλία.« Vgl. D’Ippolito 2016, 373. 235 Whitby 1994, 107: »In other words Dionysius tends towards a formulaic style, creating non-Homeric formulas which do not depend on epithets, but are often composed of a noun with a dependent genitive […], elsewhere of noun plus participle, finite verb and noun, or a prepositional phrase. These formulas frequently occur at line-end, giving a strong conclusion […]«; vgl. 109 für Opp. H. und 119 für Triph. 236 Einige Beispiele bietet Giangrande 1970, 81–83 (vgl. String 1966, 96). Im 12. Buch finden sich folgende Fälle: 86 ἄνθος ᾿Ερώτων; 95 ἄνθος ὀπώρης; 200 ὄγκον ὀπώρης; 271 ὄγκον ἀνίης; 301 ὄγκον ἐέρσης; 354 μέλος ἠχοῦς; 384 πομπὸν Ἐρώτων; 393 ἄντυγα μαζοῦ.

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dungen mit ταρσός und παλμός.237 Das häufige Auftreten dieser Begriffe prägt sich dem Leser ein und verleiht der Schilderung eine zusätzliche Dynamik.238 Neben diese Klauseln treten eine Reihe weiterer formelhafter Junkturen, die die epische Sprache der Dionysiaka prägen.239 Die Art und Weise, wie Nonnos dabei eine individuelle Formelsprache kreiert, kann besonders gut im Fall der von ihm gewählten Ausdrücke zur Einleitung oder zum Abschluss einer Personenrede beobachtet werden, die traditionell einen starken Formelcharakter aufweisen.240 Basierend auf homerischen Vorlagen hat Nonnos nämlich ein komplexes System an eigenständigen Formeln geschaffen. Dies betrifft vor allem die einleitenden Formeln mit metrischer sedes im zweiten Teil des Hexameters:241 Sie bestehen zumeist aus einem nicht-traditionellen Verb des »Sprechens« – wie zum Beispiel ἀναβλύω, (ἀν)ερεύγω, ἰάχω, ῥήγνυμι oder χέω – und einem Nomen, das sich auf die Stimme des Sprechers oder die Rede selbst bezieht (meist φωνή, ἔπος oder μῦθος) und dem für gewöhnlich ein Adjektiv beigefügt ist, das den Tonfall oder die Absicht der Rede näher charakterisiert; häufig wird zudem ein Partizip ergänzt, das die Intention des Sprechers benennt (z.B. παρηγορέων/ παρηγορέουσα als Teil von Formeln, die eine tröstende Rede einleiten). Verglichen mit dem von Nonnos entwickelten Formelsystem zur Einleitung direkter Reden ist jenes für deren Abschluss weit weniger elaboriert.242 Dieses neu kreierte Formelsystem basiert im Wesentlichen auf Intensiva, die das Epos gleichsam ‚lärmend‘ machen. Man ist versucht, diese »Lautstärke« mit dem lärmenden Protagonisten (Βρόμιος) des Epos zusammenzubringen und das beschriebene Formelsystem als weiteres dionysisches Element der Sprache der Dionysiaka zu werten. Zu dieser Form der Rezeption regt jedenfalls die erste diesbezügliche Formel des Epos an, die die Rede eines erstaunten griechischen Seefahrers einleitet (1.92 τοῖον ἔπος περίφοιτος Ἀχαιικὸς ἴαχε ναύτης (1.92) und

237 ταρσός: 64 εὔποδι ταρσῷ; 374 γαμψώνυχι ταρσῷ; 382 φιλοπαίγμονι ταρσῷ; παλμός: 125 ἀνεμώδεϊ παλμῷ; 147 βητάρμονι παλμῷ; 278 ἑλικώδεϊ παλμῷ; 350 βητάρμονι παλμῷ; 364 ἑλικώδεϊ παλμῷ. 238 Für weitere nonnianische Klauseln im 12. Buch s. 47 νῶτα … θαλάσσης; 119 δεδονημένος οἴστρῳ (367; 386); 156 χειρὶ τιταίνει; 188 κοῦρος ἀθύρων; 222 υἷα γεραίρων; 344 ὄμμα τιταίνων; 392 δάκτυλα βάλλων; 396 χειρὶ τιταίνων; vgl. die Verwendung von ­Epitheton + ὑμεναίων/῾Υμεναίων (72; 83; 87) sowie μάρτυρι + zweisilbiges Substantiv (173) am Versschluss. 239 Z.B. 7 ἴχνος ἔκαμψαν; 20 αὐχένα … ἔκαμψαν; 83 οἶστρον ἔχων; 96 πόδας εὔνασε. 240 Ausführlich D’Ippolito 2003, 505–513 und 2016, 375–384; vgl. Hopkinson 1994b, 15; Verhelst 2016, 35–36; für eine diachrone Betrachtung Miguélez-Cavero 2008, 158–161. 241 Vgl. 12.141 ἀνήρυγεν ἔνθεον ὀμφήν; 206 μῦθον ἀγηνορέοντος ἀνήρυγεν ἀνθερεῶνος; vgl. 21 ἀνηΰτησεν ἔπος; 36 τινα μῦθον ἔειπε (jeweils erster Halbvers). 242 Vgl. 12.29 Ἔννεπεν; 41 Τοῖα θεοῦ φαμένοιο; 172 Ὥς φαμένη; 290 Ἔννεπε κυδιόων.

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gleichsam auf den Namen Ἴακχος verweist.243 Hier ist allerdings insofern ein caveat anzubringen, als die Verwendung von Intensiva zum Ausdruck normalen Sprechens bis zu einem gewissen Grad bereits in der epischen Sprache der Kaiserzeit üblich geworden zu sein scheint.244 Am deutlichsten wird die Reinterpretation der traditionellen Formelsprache durch Nonnos am Beispiel der Epitheta sichtbar:245 Zum einen fällt die hohe Frequenz an Epitheta auf, welche jene in den Werken Homers und den hellenistischen Epen deutlich übersteigt (an manchen Stellen der Dionysiaka ist die Frequenz an Epitheta bis zu dreimal höher als bei Apollonios) und welche selbst bei rein oberflächlicher Betrachtung des Epos sofort ins Auge sticht. Diese Vielzahl an traditionellen und – häufiger – solchen nachgebildeten Epitheta246 evoziert den Eindruck von epischer Formelhaftigkeit. Nonnos reinterpretiert diese aber insofern, als er fixe Substantiv-Epitheton-Verbindungen – ein nach wie vor zentrales Merkmal der epischen Sprache der Kaiserzeit – nur in geringem Maße verwendet.247 Vielmehr legt Nonnos bei der Wahl der Epitheta großen Wert auf Abwechslung (ποικιλία) und variiert diese entsprechend.248 Im Großteil der Fälle stehen sie in einem inhaltlichen Zusammenhang mit der jeweils geschilderten Situation und liefern zusätzliche Informationen; der semantische Mehrwert ist aber bisweilen von eher geringer Natur.249 Der 243 S. Braden 1974, 858–859: »His speech [scil. des griechischen Seefahrers], for example, is introduced not with eipe, but with iache, a curiously vehement verb due to acquire, much later on (Book XLVIII, in fact), transvalued significance.« Vgl. aber den identischen Gebrauch in der Metabole (vgl. z.B. für Met. 11.109–140: 115 μῦθον ἐρευγομένη; 121 ἴαχε φωνήν; 125 ἀνίαχον; 127 ἀντιάχησαν; 139 ἴαχε φωνήν; 149 ἰάχησε). 244 S. z.B. Colluth. 146 ἀνηΰτησεν Ἀθήνη; Musae. 267 [von Hero] νυμφίον ἀμφιχυθεῖσα φιλήτορας ἴαχε μύθους. 245 Zu den Epitheta in den Dionysiaka s. v.a. Wifstrand 1933, 79–84. 246 Zur lexikalischen Dimension der Epitheta s. Unterkapitel 8.2.2. 247 D’Ippolito 2016, 375. Homerische Epitheta für Götter werden von Nonnos hingegen recht gerne übernommen (Hopkinson 1994b, 36 Anm.  50). Ein schönes Beispiel für eine formelhaft gebrauchte Substantiv-Epitheton-Verbindung nonnianischer Prägung ist 12.171 Βάκχος ἄναξ. 248 Hopkinson 1994b, 14: »Large numbers of noun-adjective phrases produce an effect akin to that of the Homeric standard epithets and formulaic half-lines; but consultation of Peek’s Lexikon reveals the extant of Nonnus’ concern to vary these combinations.« Die Zahl an unterschiedlichen epitheta ornantia, mit denen Nonnos die Herbsthore im kurzen Abschnitt des Horen-Intermezzos charakterisiert, liefert ein besonders eindrückliches Beispiel für die beschriebene Tendenz (21 σταφυληκόμος; 31 κυκλάδι κούρῃ; 41 φιλάμπελος … κούρη; 54 ἀελλόπος …῞Ωρη; 65 ἕλιξ … κούρη; 90 ἄστατος ῞Ωρη; 92 ἀνεμώδεϊ … κούρῃ; 103 θαλυσιάς … κούρη; 108 θεὰ φιλόβοτρυς; 114 φιλεύιος … κούρη). 249 Diesen Punkt betont String 1966, 105–108. In einigen Fällen kann man sie durchaus als redundant bezeichnen (vgl. z.B. 12.58 ἄσπορον αὐτοτέλεστον; 143–144 ἀκαμπέα … ἀτρέπτου … νήματα Μοίρης; 297 αὐτοφυὴς ἀκόμιστος … καρπὸς ὀπώρης; 364 καμπύλον ἴχνος ἔκαμψε; 365 δεξιὸν ἐκ λαιοῖο μετήλυδα ταρσὸν ἀμείβων; 387 παρθενικῆς ἀγάμοιο … μίτρης).

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Anteil an für die epische Sprache typischen rein schmückenden Beiwörtern ist dementsprechend – relativ gesehen – eher gering: Teils übernimmt Nonnos hier Standard-Epitheta aus der epischen Tradition,250 teils kreiert er ein eigenes Set an wiederkehrenden Epitheta.251 Er verwendet diese schmückenden Beiwörter mit Vorliebe dann, wenn sich hiermit eine Pointe verbinden lässt:252 Besonders beliebt ist ihr Einsatz zur paradoxen Kontrastierung253 oder im Rahmen einer situationsbezogenen Umdeutung; mit letzterer ist gemeint, dass traditionell rein schmückende Beiwörter so gewählt werden, dass sie gleichzeitig Informationen zur aktuell geschilderten Situation geben und damit narrative Funktion übernehmen.254

8.2.2. Lexik Im Bereich der Lexik tritt die innovative Kraft der kaiserzeitlichen Epik vor allem durch die Neuschöpfung von Adjektivkomposita in Erscheinung – ein Phänomen, das, wie oben erwähnt, ein Resultat des sich wandelnden metrischen Systems darstellen dürfte.255 Auf der einen Seite entnimmt Nonnos sein Wortmaterial nach wie vor dem traditionellen epischen Sprachfundus. Gerne führt der Dichter der Dionysiaka seine intime Kenntnis Homers durch die Verwendung von homerischen hapax legomena vor;256 im Gegensatz zu seinen alexandrinischen Kollegen reflektiert er aber nur sehr selten die häufig in Bezug auf diese Begriffe geführten philologischen Forschungskontroversen.257 Auf der anderen Seite greift Nonnos aber auch auf Wortmaterial zurück, das erst spät Teil der epischen Koine geworden ist oder anderen literarischen Traditionen 250 Z.B. 12.165 κελάδων (Fluss); 189/373 ὑψιπέτηλος (Baum); εὔτυκτος (handwerkliches Produkt). 251 Z.B. 12.24 οἰνοτόκος (Rebe und deren Bestandteile); 76 αἰολόδειρος (Vögel); 93 σελασφόρος (Sternbilder); 108 φιλόβοτρυς (Personen aus Dionysos’ Gefolge); 114 φιλεύιος (Personen mit Bezug zu Dionysos); 194 φιλάκρητος (Weinlaub); 148 διδυμόθροος (Doppelaulos); 157 φιλόκλαυτος (Hyazinthe); 168 μελιρραθάμιγξ (Wein); 299 ἀγριάς (Wald); 331 πεδοσκαφής (Pickel/Hacke); 369 ἀκεσσιπόνοιο … οἴνου (Wein/Dionysos); 382 εὐκέραος (Satyrn); 336 γαμψῶνυξ (Sichel); 391 νυκτιχόρευτος (Fackel). 252 Wifstrand 1933, 81: »wenn sie [scil. Epitheta] stabile Eigenschaften bezeichnen, werden sie am liebsten gebraucht, wenn sie ganz besonders gut oder schlecht passen.« 253 Z.B. 12.12 μυδαλέων ἱδρῶτι πυριτρεφέων δέμας ἵππων; 65 ἕλιξ στηρίζετο κούρη; 134–135 [vom Lorbeerbaum, der die Blätter verliert] ἀκερσικόμου … Φοίβου δένδρον; 138 στενάχοντος ἀδακρύτου Διονύσου; 167 πένθος ὄπασσας ἀπενθήτῳ Διονύσῳ. 254 Z.B. 12.17 κυκλάδες ῟Ωραι; 31 κυκλάδι κούρῃ; 90 ἄστατος ῞Ωρη; 114 φιλεύιος … κούρη; 126 βαθυκτεάνῳ … ῥεέθρῳ; 201 οἰνοχύτου Διονύσου; 324 θεὸς οὐρεσίφοιτος. 255 Vgl. für D. P. Lightfoot 2014a, 49–51; Opp. H. James 1970, 8–195; 257–266 [beschränkt sich auf proton eiremena]; für Triph. Monaco 2007, 149–172; übergreifend zum Epitheta-Gebrauch bei spätantiken Dichtern Miguélez-Cavero 2008, 114–121. 256 Z.B. 12.161 μαχήμονα; 306 φαληριόων; 335 νεοθηλέας. 257 Hopkinson 1994b, 15–16.

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entstammt. Nicht selten dürfte er auch selbst neues geschaffen haben: Alan James gibt die Menge an neuen Adjektivkomposita in den Dionysiaka mit ca. 500 an.258 Angesichts der Tatsache, dass nur ein Bruchteil der antiken Epik erhalten ist, sind derartige Angaben aber freilich mit Vorsicht zu genießen: Ob ein proton eiremenon in den Dionysiaka von Nonnos neu kreiert oder aus einem nun verschollenen Epos übernommen wurde, kann nicht mit Sicherheit geklärt werden. Die Unterscheidung ist aber insofern zweitrangig, als aus beiden Szenarien für das Epitheton ein annähernd gleicher Stilwert resultiert. Man wird aber dennoch vermuten dürfen, dass ein Großteil der proton eiremena der Dionysiaka Neuschöpfungen darstellen. Im Stellenkommentar werden für den Stil des Nonnos besonders charakteristische Beispiele separat diskutiert.259 Sie zeugen von Nonnos’ Bemühen, auf Basis homerischer Kompositionsmuster seinen eigenen epischen Wortschatz zu kreieren. Es lässt sich dabei die Tendenz feststellen, bei der Gestaltung seiner eigenen Prägungen die für die homerischen Epen gängigen (und wohl als abgedroschen empfundenen) Kompositionsmuster eher zu meiden und auf weniger übliche auszuweichen;260 in nicht wenigen Fällen teilt er seine Vorliebe für bestimmte Bildungstypen mit anderen Epikern der Kaiserzeit – es liegt die Vermutung nahe, dass metrische Gründe hier eine Rolle gespielt haben. Worin sich Nonnos allerdings von seinen kaiserzeitlichen Vorgängern deutlich abhebt, ist sein – poetologisch begründetes – Streben nach lexikalischer Variation, das sich am deutlichsten in der außerordentlichen Häufung von Synonymen innerhalb einer Schilderung manifestiert;261 im 12. Buch ist – inhaltlich bedingt – insbesondere das breite Spektrum an unterschiedlichen Begriffen aus dem Bereich der Pflanzenwelt auffallend. Es ist denkbar, dass Nonnos bei der Synonymensuche – wie etwa auch im Bereich der Mythologie – auf entsprechende Handbücher zurückgegriffen hat.262 Die hohe Zahl an Synonymen erklärt sich zum Teil dadurch, dass Nonnos anstelle von Demonstrativ- oder Personalpronomina verschiedene sinnverwandte Begriffe (bei Göttern häufig auch verschiedene Epiklesen) verwendet. Der Dichter scheut sich dabei nicht, die natürliche Grenze der Wortbedeutung zu überschreiten und bedeutungsmäßig einander nahestehende Worte synonym zu verwenden.263 Die Begriffe büßen dadurch notgedrungen einen 258 James 1970, 258. Was Substantiv- und Verbkomposita betrifft, zeigt sich Nonnos dagegen weit weniger innovativ: James zählt hier 12 bzw. 85 Neologismen. 259 6 φερεζώοιο; 21 σταφυληκόμος; 24 οἰνοτόκον; 47 θυγατρογόνοιο; 73 θυγατρογάμῳ; 139 παλίλλυτα; 148 διδυμόθροος; 157 φιλοκλαύτων; 279 ἀγχιφύτων; 314 ἀγχικέλευθον. 260 Vgl. Hopkinson 1994b, 15; für einen Überblick über die von Nonnos am häufigsten verwendeten Prä- und Suffixe s. Ludwich 1873, 99–105 (für die Präfixe φιλ[ο]- und ὑψ[ι] im Speziellen 117–120 bzw. 121–123); Miguélez-Cavero 2008, 118–119 Anm. 91. 261 Vgl. z.B. die bei Accorinti 1997, 357– 358 Anm. 42 angeführten Beispiele. 262 S. hierzu Zuenelli 2018, v.a. 84–85. 263 String 1966, 36–38; 42–43.

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Einleitung

Teil ihrer eigentlichen Wortbedeutung ein. Margarete Riemschneider hat in diesem Zusammenhang treffend von der für Nonnos typischen »Entwurzelung der Wortbedeutung« gesprochen.264 In nicht wenigen Fällen wird das Bedeutungsspektrum der benutzten Synonyme dabei deutlich überstrapaziert, was soweit führen kann, dass das Verständnis der betreffenden Textstellen erheblich erschwert wird;265 für das 12. Buch besonders relevant ist die leicht verwirrende synonyme Verwendung der geographischen Bezeichnungen für Phrygien, Lydien und Mäonien.266 Ich bin geneigt, dieses semantische Diffundieren der Begrifflichkeit in den Dionysiaka als eine besondere Ausprägung der dionysischen ποικιλία zu sehen: In der Sprache der Dionysiaka haben nicht einmal die überlieferten Worte der griechischen Sprache einen fixen Gehalt: Durch ihren steten Wandel sind sie letztlich sprachliche Scheingebilde, die – wie auch Proteus – kaum zu fassen sind.

264 Riemschneider 1957, 48. 265 Unterbegriffe eines gemeinsamen Oberbegriffs werden von Nonnos manchmal mit einer für den modernen Leser erstaunlichen Nonchalance als Synonyme gebraucht, auch wenn es sich ganz klar um unterschiedliche Begriffskonzepte handelt. Diesem für das Textverständnis problematischen Phänomen der approximativen Begriffsverwendung scheint mir bisher nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt worden zu sein. Ich möchte daher hierfür einige krasse Beispiele aus drei unterschiedlichen Bereichen anführen: (i.) Musik: Nonnos verwendet Begriffe, die unterschiedliche Instrumente bezeichnen, häufig als Synonyme, solange sie derselben Kategorie (Blasinstrument/Saiteninstrument) angehören. Dies betrifft vor allem die Termini αὐλός und σῦριγξ (vgl. z.B. 1.466–467) sowie φόρμιγξ, κιθάρη und λύρα (vgl. z.B. 1.488–490; 8.230–232; 19.69–71 [vgl. 19.81 mit 97]; 25.424–427; Fayant 2001, 79); s. auch 147–153 mit K. (ii.) Metalle: Dasselbe Becken wird in 33.73 als silbern, in 33.98 aber als golden bezeichnet. Wenn es sich hier nicht um ein schlichtes Versehen handelt (lexikalische variatio wäre hier aufgrund der Distanz der Begriffe im Text nicht zwingend nötig gewesen), scheint es so, als ob es Nonnos beim Gebrauch der Termini rein um die Konnotation »Edelmetall« angekommen ist; der Eindruck wird durch die synonyme Verwendung der Begriffe σίδηρος und χαλκός jedenfalls verstärkt (s. 12.161 χαλκόν/164 σιδήρῳ mit K. 161). (iii.) Tierwelt: Obwohl πάρδαλις und λέων zwei unterschiedliche Raubkatzen bezeichnet, scheut sich Nonnos nicht, die Begriffe als Synonyme zu verwenden (vgl. z.B. 48.910–912 und die problematische Stelle 40.43–44 mit String 1966, 43). 266 Wie aus der Beschreibung des Truppenkatalogs hervorgeht, kennt Nonnos Lydien (Mäonien) und Phrygien (Mygdonien) als zwei unterschiedliche und distinkte geographische Gebiete (13.464–510 [lydisches Kontingent]; 511–545 [phrygisches Kontingent]). Trotzdem werden die Bezeichnungen für die beiden Regionen ansonsten meist unterschiedslos verwendet (z.B. 25.372 εἰς Φρυγίην/376 εἰσόκε Μαιονίης … χθονός; 33.252 εἰς Φρυγίην/254 Μαιονίη/256 Λυδός; s. allgemein Chuvin 1991, 99–101); in der Tat scheint Nonnos generell dazu zu neigen, den Osten Kleinasiens als eine große geographische Einheit aufzufassen (s. Chuvin 1991, 131). Dementsprechend wird auch der Handlungsschauplatz der Ampelos-Episode durch unterschiedliche Landschaftsnamen bezeichnet, nämlich Phrygien (9.188 [vgl. 10.292; 11.117], Lydien (10.139) sowie Mäonien (10.307; 12.397).

Literarische Technik im 12. Buch

75

Der lexikalischen ποικιλία diametral entgegengesetzt steht das Phänomen der gesuchten Wortwiederholung, die meist auf sprachliche oder inhaltliche Effekte abzielt.267

8.2.3. Stilistische Leitprinzipien Margarete Riemschneider hat in ihrer treffenden Analyse zum Stil des Nonnos einige Leitprinzipien identifiziert, die für die Gestaltung der Dionysiaka charakteristisch sind: Es handelt sich hierbei um das Prinzip der Linie, der Bewegung, des Scheinbildes und des Paradoxen.268 Diese stilistischen Leitmerkmale der Dionysiaka wurden auch von Robert Schmiel im Rahmen einer Fallstudie zur ersten Episode des Epos, dem Raub der Europa (1.45–136), nachgewiesen und verifiziert.269 Wie im Kapitel zur dionysischen Poetik der Dionysiaka diskutiert, kann man diese Prinzipien als Ausdruck eines dionysischen Stils werten, der das Wesen des Gottes auch formal einzufangen versucht. Sie dominieren auch die Gestaltung des 12. Buches, wobei für dessen stilistische Ausformung wohl das Prinzip des Paradoxen als das bedeutsamste angesehen werden darf. Die paradoxe Zuspitzung trägt im 12. Buch – abgesehen von ihrem rein stilistischen Wert – nämlich zu einem wesentlichen Teil der Konturierung des Inhalts bei.270 So hebt die Form des adynaton, in die die Trauer des Dionysos und mit ihm der gesamten sympathetischen Natur gekleidet ist, die Außergewöhnlichkeit des Ereignisses hervor. Das Spiel mit einander widersprechenden Gegensatzpaaren entwickelt zudem in zwei Fällen geradezu leitmotivischen Charakter. Es handelt sich dabei um die paradoxe Opposition von Leben und Tod271 sowie von Trauer und deren Negierung272. In abgeschwächter Form manifestiert sich dieser Hang zur Gegenüberstellung von Oppositionspaaren in der hohen Frequenz von kontrastierenden Antithesen.273 267 Ausführlich Keydell 1953; Schmiel 1998a. Für das 12. Buch s. v.a. 235–236 κεράσσω/ … κρητῆρι κεράσσω. Einige nur schwer erklärbare Fälle von Wortwiederholung gegen Ende des 12. Buches könnten hingegen ein Indiz dafür sein, dass dieser Abschnitt noch nicht gänzlich überarbeitet worden ist (s. K. 292–397). 268 Riemschneider 1957. 269 Schmiel 1998b, 393–397. 270 Daneben finden sich freilich auch paradoxe Pointen, die vornehmlich dem stilistischen Raffinement dienen: z.B. 12.47 σπείρων ἄσπορα (zu diesem Typ s. Schmiel 1998b, 332); 63 πλόον ἠερόφοιτον; 77 μαρτυρίην βοόωσα λιπογλώσσοιο σιωπῆς; 80 δάκρυσι λαϊνέοισιν. 271 145 Ἄμπελος οὐ τέθνηκε, καὶ εἰ θάνεν; 217 Οὐ θάνες, ὡς τέθνηκεν; 219 Ζώεις δ’ ˂εἰσ˃έτι, κοῦρε, καὶ εἰ θάνες; für das vergleichbare das Spiel mit dem paradoxen Motiv des lebenden Toten in der Lazarus-Episode in der Paraphrase s. Spanoudakis 2014b, 73. 272 138 στενάχοντος ἀδακρύτου Διονύσου; 167 πένθος ὄπασσας ἀπενθήτῳ Διονύσῳ; 171 Βάκχος ἄναξ δάκρυσε, βροτῶν ἵνα δάκρυα λύσῃ; 248 πενθαλέῳ … ἀπενθέα βόστρυχα δεσμῷ. 273 Dies gilt insbesondere für Farbgegensätze (202 λευκὰ … ἐρυθαίνετο δάκτυλα; 312  ἀργυρέοιο μέλας; 359 λευκὸν ἐρευθαλέης … ἀφρὸν ἐέρσης; 370 κυανέην ῥοδόεντι); weiters z.B. 12 μυδαλέων ἱδρῶτι πυριτρεφέων; 99 ὄρθιος … κυρτούμενος.

76

Einleitung

Die Sprache des 12. Buches ist – wie die der Dionysiaka generell – durch eine enorme Dynamik charakterisiert, die sich vor allem im Bild der gekrümmten Linie, sprich der Kurve und des Kreises, manifestiert: Zum einen beeinflusst das Prinzip den sprachlichen Ausdruck selbst. Dies kann man eindrücklich an mehreren von Nonnos neu eingeführten formelhaften Wendungen ablesen – im 12. Buch finden sich zum Beispiel die formelhaften Junkturen ἴχνος ἔκαμψαν (12.7) und αὐχένα … ἔκαμψαν (20), die für »gehen« bzw. »dienen« stehen, sowie die typisch nonnianische formelhafte Bezeichnung von Brüsten als ἄντυγα μαζοῦ (393). Zum anderen tangiert diese Dynamik insofern auch die inhaltliche Ebene, als in der Beschreibung von Dingen und Vorgängen, denen der Aspekt der Rundung in irgendeiner Weise inhärent ist, dieser auch herausgestrichen wird: Wo immer sich Nonnos die Gelegenheit bot, auf etwas Gekrümmtes oder Sich-Drehendes hinzuweisen, hat er sie – so gewinnt man den Eindruck – auch ergriffen.274 Möglichkeit hierzu gaben ihm im 12. Buch naheliegenderweise hauptsächlich die Beschreibungen von Weinreben275 (und Efeu276); weitere markante Beispiele bilden die Beschreibung der sich vor der Rebe verneigenden Bäume277 und einer sich ringelnden Schlange.278 Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Dynamik trägt auch das Bild des Tanzes bei, das als Leitmetapher das Epos durchzieht.279 Ähnlich zentral für den Stil der Dionysiaka ist der Gedanke des Scheinbildes. Margarete Riemschneider bemerkt hierzu treffend: »Nirgends ist der Synonymenaufwand bei Nonnos so groß wie in dieser Welt des falschen Seins, der erborgten Gestalt. Kein anderes Wort spielt bei ihm eine solche Rolle wie τύπος, das Abbild.«280 Dieser stilistischen Grundtendenz des Werkes entsprechend wird auch der Leser des 12. Buches auf Schritt und Tritt auf die Artifizialität,281

274 Riemschneider 1957, 53–54, v.a. 53: »Es gibt nichts Rundes, das er nicht verzeichnet, keine Biegung, kein Bücken, das er versäumt zu verzeichnen«; vgl. Schmiel 1998b, 394. 275 182 καμπύλος ὄρπηξ; 184 κυρτὰ κόρυμβα; 186 χλοεροὺς ὄρπηκας ἑλίσσων; 187 οἴνοπι … νέῳ μιτρώσατο καρπῷ; 278 τιταινομένων πετάλων ἑλικώδεϊ παλμῷ; 299 πολυγνάμπτοισιν. 276 98 κισσὸς ἕλιξ; 191 ἀγκύλον ἔρνος; 192 σκολιῷ μιτρώσατο δεσμῷ. 277 272 Ἀμφὶ δὲ δένδρεα πάντα κάτω νεύοντα καρήνῳ; 273 κυρτούμενον αὐχένα κάμπτει; 274 γέρων ἐκλίνατο φοῖνιξ. 278 319 σκολιῇσι δράκων δινωτὸς ἀκάνθαις; 326 μετάτροπον ὁλκὸν ἑλίξας; für weitere Fälle s. z.B. 7 ἴχνος ἔκαμψαν; 20 αὐχένα … ἔκαμψαν; 203 ἀγκύλον … κέρας; 344 ὀκλάζων ἐπίκυρτον; 364 καμπύλον ἴχνος ἔκαμψε ποδῶν ἑλικώδεϊ παλμῷ; 393 ἄντυγα μαζοῦ. 279 12.147 εὐτροχάλου παλάμης βητάρμονι παλμῷ; 350 καὶ σταφυλὴν ἐπάτησε ποδῶν βητάρμονι παλμῷ; vgl. hierzu die Verwendung von χορεύω zur Beschreibung einer gewöhnlichen Bewegung zu einem Ort (Vian 1987, 14). 280 Riemschneider 1957, 58. S. weiters ebenda 57–61 und Schmiel 1998b, 394–395, v.a. 394:  »In Nonnos nothing is real, everything is a copy – if not false, feigned or fake«. 281 Z.B. 12.105 ποιητῷ κεχάρακτο τύπῳ; 284 ποιητὸν ἀήτην.

Literarische Technik im 12. Buch

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den Schein-,282 Nachahmungs- oder Abbildcharakter283 von Dingen und Vorgängen hingewiesen.284 Vergleichbar mit der Tendenz, auf den Scheinbildcharakter hinzuweisen, und für den Stil des Epos nicht minder bedeutsam scheint mir das Streben zu sein, die Buntheit von Dingen – wo immer möglich – zu thematisieren285 oder näher auszuführen; für letzteres bietet der Traubenkatalog in 12.304–313 ein besonders eindrückliches Beispiel. Neben diesen »dionysischen« Stilmerkmalen finden sich im 12. Buch noch weitere stilistische Elemente, die für die Dionysiaka charakteristisch sind. Hier sei insbesondere auf die zentrale Rolle des Automaton-Motivs286 und auf die Tendenz zur anthropomorphisierenden Beschreibung hingewiesen. Letztere Beobachtung betrifft hauptsächlich die Bereiche Vegetation, Landschaft und Tierwelt.287 Das 12. Buch bietet für die Kategorien »Landschaft« und »Pflanzenwelt« hierbei einige markante Beispiele;288 v.a. bei Beschreibungen im Kontext von Metamorphosen oszilliert die Schilderung dabei geradezu zwischen Personifikation und konkretem Gegenstand.289 Die stark personifizierende Beschreibung von Landschaften scheint in der Spätantike ein geläufiges poetisches Verfahren gewesen zu sein, wie etwa Claudians Ekphrasis der Topographie Siziliens zeigt (Rapt. Pros. 1.142–159).290

282 Z.B. 12.49 Ζηνὸς ψευδομένοιο νόθον δέμας εἰλαπινάζων; 94 νόθῃ ποικίλλετο μορφῇ. 283 Z.B. 128 ἀνδρὸς ἔχων μίμημα κατηφέος; 334 τύπον ποιήσατο ληνοῦ; 336 τύπον γαμψώνυχος ἅρπης; 352 ἰσοφυὲς μίμημα … Διονύσου. 284 Verwiesen sei etwa auf die Tendenz spätantiker poetischer Kunstbeschreibungen, auf den Abbildcharakter der jeweiligen Objekte hinzuweisen (s. K. 93b–95 und 105). 285 S. z.B. 35 καὶ γραφίδων ποίκιλλεν … ὅρμον; 180 πολυδαίδαλον ἄνθος ὀπώρης; 280 ἑτερόχροα φύλλα; 326 στικταῖς φολίδεσσι; 328 ὄφις αἰόλος; vgl. 66 πολύτροπα θέσφατα κόσμου; 69 ποικιλόμυθος … ἀρχέγονος φρήν. 286 58 ἄσπορον αὐτοτέλεστον … υἱέα; 175 ῎Αμπελος αὐτοτέλεστος ἑὴν ἠλλάξατο μορφήν; 185 αὐτοτελής; 297 αὐτοφυὴς ἀκόμιστος ἀέξετο καρπὸς ὀπώρης; 312 αὐτόσσυτος ἀήρ; vgl. 197 αὐτοδίδακτος; zu den Adjektivkomposita auf αὐτο- bei den Oppianen s. James 1970, 57–59. 287 S. ausführlich Piccardi 1985, 187–207; zur für Nonnos typischen »anatomischen« Landschaftsbeschreibung im Speziellen vgl. 5.404 ῥάχιν ὕλης; 6.374 σκοπέλοιο μεσόμφαλον ἄκρον; 11.382 αὐχένα γαίης; 12.47 νῶτα … θαλάσσης; 79 Σιπύλοιο παρὰ σφυρὰ πέτρος; 14.385 ὄνυξ … κολώνης; 41.46 Λίβυς … ἀγκών; 42.446 οὔρεος ἄκρα κάρηνα; 47.16 ἀπὸ χθονίοιο … κόλπου; 48.579 πίδακος ἄκρα μέτωπα; Piccardi 1985, 195–202. 288 Für den Bereich Vegetation s. v.a. 133–137 (Pinie und Ölbaum); 296–318 (wilder Weinberg); für jenen der Landschaft 331–350 (Felsspalte); vgl. 1 παρ’ ὀφρύσιν ᾿Ωκεανοῖο; 79 Σιπύλοιο παρὰ σφυρὰ πέτρος; 327 βαθύκολπον … χειήν. 289 97–98 (Kissos); 188–190 (Kissos); 272–284 (Königliche Verehrung der Rebe); 314–318 (Pitys). Dieses Oszillieren ist ein Leitmerkmal des nonnianischen Stils (vgl. allgemein Piccardi 1985, 196–197). 290 Vgl. insbesondere die anatomischen Termini 1.148 caput; 151 bracchia; 155 terga; 156 vulnus; 157 cervice; allgemein zu topographischen Schilderungen Elliger 1975, 420–421.

78

Einleitung

8.2.4. Klangwirkung: Alliteration, Assonanz, figura etymologica und Paronomasie Nonnos legt großen Wert auf die Klangwirkung seiner Verse.291 Charakteristisch ist in dieser Hinsicht die starke Verwendung von Alliteration und Assonanz;292 besonders häufig ist die Wiederholung von Guttural- (häufig in Kombination mit ρ- oder τ-Assonanzen)293 sowie Labiallauten.294 In einigen Fällen erfüllt die Lautwiederholung onomatopoetische Funktion295 oder versinnbildlicht auf andere Weise die inhaltliche Aussage.296 Euphonische Wirkung wird auch durch den häufigen Einsatz der figura etymologica und verwandter Erscheinungen erzielt;297 es ist allerdings bei der Wiederholung von ähnlich klingenden Wörtern bisweilen schwer zu entscheiden, ob für ihre Gegenüberstellung ihre – angenommene – sprachliche Verwandtschaft oder rein klangliche Wirkung ausschlaggebend war.298 Die phonetische Nähe von Begriffen wird von Nonnos, wie auch schon von seinen epischen Vorgängern,299 für Wortspiele genutzt. Diese stehen meist in Zusammenhang mit der etymologischen Herkunft von (sprechenden) Eigennamen, auf die der Dichter der Dionysiaka auch sonst gerne in unterschiedlicher Weise anspielt.300 Einen Sonderfall bilden die Wortspiele 12.177–178 ἄκρα χειρῶν/ἀκρεμόνες und 179 βόστρυχα/βότρυες im Rahmen der Schilderung der Metamorphose des Ampelos, wo durch die Paronomasie die Kontinuität in der 291 Zur Alliteration bei Nonnos s. Opelt 1958. 292 Vgl. z.B. Accorinti 1996, 57–58; De Stefani 2002, 31–32; Spanoudakis 2014, 71–72. 293 Z.B. 12.23; 46; 72–75; 177–178; 193; 343. 294 Z.B. 12.147; 167; 350; 355; 358. 295 12.46; 147; 343; 350; 355; 358; vgl. Schmiel 1998b, 398. 296 In 177–178 und 183–184 wird durch die Assonanz-Ketten die Kontinuität in der Verwandlung des Ampelos unterstrichen (s. hierzu unten). 297 Z.B. 47 σπείρων ἄσπορα; 234 εὐφραίνεις φρένα; 236 κρητῆρι κεράσσω; 364 καμπύλον ἴχνος ἔκαμψε sowie 12.46 ἄροτρα/ἤροσεν; 102 ῎Αμπελος/ἀμπελόεντι; 167 πένθος/ἀπενθήτῳ; 288 θερμαίνει/θερειγενέος. Die ausgeprägte Verwendung der figura etymologica ist für die epische Sprache typisch (vgl. z.B. Tsitsibakou-Vasalos 2007, 35–36). 298 Dies betrifft v.a. die Fälle 12.193 κατάσκιον ἔσκεπε; 206 ἀγηνορέοντος/ἀνήρυγεν; 342–343 ἀκρεμόνεσσι/ἄκρα; 343–344 κατέκλασεν/ὀκλάζων; 347–348 θέτο/θημῶνας; zur Problematik allgemein s. Schmiel 1998a, 331. 299 Zu etymologischen Wortspielen in der griechischen Epik s. z.B. O’Hara 2017, 7–13; 21–42; für Triphiodor im Speziellen Miguélez-Cavero 2008, 143–145. 300 12.70–71 Αργος/˂ἀργῶν˃; 102 ῎Αμπελος/ἀμπελόεντι; für weitere Beispiele s. z.B. 13.50–51 ῞Ομηρον/ὅρμον; 31.79–80 Μέγαιρα/ἐμέγηρε; 20.251–252 ῏Ιρις/ἴρηκος; 26.144 Ἕσπερος/ἑσπομένης … ὄρφνης; 28.276 Δαμνεύς/δαμάζων; 27.91–92 Βρόντης/βρονταίοις; 265 Νόμιος/νομίων; 28.172 Κύκλωπες ἐκυκλώσαντο; 252 Πρυμνεύς/πρυμναῖος; 29.186–187 Ἀγρεύς/ἀγρεύσας; 270 Μυρτοῦς/μύρτῳ; 48.894 Αὔρης/αὖραι; allgemein Ludwich 1873, 83; Gigli Piccardi 1985, 140–144; Schmiel 1998a, 331. Vgl. die Ausführungen zum Thema Aitien in Kap. 6.

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Verwandlung auf stilistischer Ebene abgebildet wird.301 Die Gegenüberstellung der lautverwandten Begriffe λειήνας und ληνοῦ in 333–334 bildet wiederum eine implizite ätiologische Erklärung zur sprachlichen Herkunft der antiken Bezeichnung für die Kelter. Daneben finden sich auch Fälle von etymologischen Wortspielen, die nicht auf phonetischer, sondern semantischer Ebene basieren.302

8.2.5. Metrik303 In krassem Kontrast zur beschriebenen Ausrichtung des Epos auf das Prinzip der ποικιλία steht die strikte metrische Gestaltung der Dionysiaka. Das metrische Korsett, in das Nonnos seine Inhalte zwängte, wurde von der modernen Forschung durch ein komplexes »Regelwerk« präzise beschrieben.304 Weitaus schwieriger aber als die Beschreibung des nonnianischen Hexameters erweist sich für den modernen Interpreten nachzuvollziehen, welche Auswirkungen für die Wahrnehmung des Verses beim zeitgenössischen Leser/Hörer hiermit einhergegangen sind. Was sich dem modernen Betrachter als ein monströses Dickicht aus Regeln darstellt, dürfte dabei letztendlich im Wesentlichen ein Bemühen beschreiben, den traditionellen Epos-Vers (mit den im Laufe seiner Geschichte erfolgten Verfeinerungen) für ein Publikum zu adaptieren, dessen Hörgewohnheiten sich im Zuge sprachgeschichtlicher Entwicklungen, namentlich des Wandels von einem tonalen zu einem dynamischen Wortakzent und des in der Folge einsetzenden Quantitätenkollapses, deutlich gewandelt haben. Besonders augenscheinlich ist die deutliche Reduktion der verwendeten Hexameter-Muster durch Nonnos. Sie ist dem Bemühen um eine verstärkt daktylische Realisierung des Hexameters geschuldet, einem Phänomen, das bereits im Hellenismus einsetzt und in der Kaiserzeit fortgesetzt wird. Dieser goût du dactyle305 findet bei Nonnos eine besonders intensive Ausprägung: Von den 32 von Homer verwendeten Kombinationen aus Daktylen und Spondeen in den ersten fünf Versfüßen verwendet Nonnos nur noch neun (ein zehntes Muster ist nur zwei Mal in den Dionysiaka belegt) – zum Vergleich: bei Apollonios 301 S. K. 173–184. 302 12.141 ῎Ατροπος ἐμπεδόμυθος; 219–220 Λήθης/κρύψεν; 381 λυσσαλέης ἀμέθυστον ἀλεξήτειραν ἀνάγκης. 303 Dieses Kapitel zielt nicht auf eine umfassende Analyse der metrischen Gestaltung des 12. Buches ab, sondern möchte zum einen dem mit den Dionysiaka weniger vertrauten Leser einen Überblick über deren zentrale metrische Eigentümlichkeiten geben und zum anderen die Indienstnahme der Metrik für die literarische Gestaltung des 12. Buches diskutieren. Als Grundlage für diesen Abriss zur Metrik in den Dionysiaka diente – wo nicht anders erwähnt – der Überblicksbeitrag aus der Feder von Enrico Magnelli, einem der besten Kenner der Materie (Magnelli 2016). 304 Referenzpunkt für die Regeln des nonnianischen Hexameters bildet nach wie vor Keydell 1959, 35*–42*. 305 Vian 1961, 28.

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Einleitung

sind 26 unterschiedliche Muster nachweisbar, bei Kallimachos, Euphorion und Nikander 20. Die statistische Häufigkeit der einzelnen Vers-Patterns ist in der folgenden Tabelle aufgelistet: Sie gibt in der zweiten Spalte die Werte für die Dionysiaka insgesamt und in der dritten Spalte gesondert jene für das 12. Buch an, das aber keine erklärungsbedürftigen statistischen Ausreißer aufweist.306 Dionysiaka insgesamt

12. Buch

ddddd

38,07 %

36,34 %

dsddd

23,32 %

18,56 %

dddsd

14,45 %

19,85 %

dsdsd

8,97 %

6,96 %

sdddd

8,54 %

12,11 %

sddsd

3,56 %

2,84 %

ddsdd

2,16 %

1,80 %

sdsdd

0,50 %

0,52 %

dssdd

0,43 %

1,03 %

Die statistische Verteilung der neun Vers-Patterns ist recht unterschiedlich: Auf die ersten fünf entfallen mehr als 90 % der Verse der Dionysiaka (und des 12. Buches), so dass man behaupten kann, dass es im Wesentlichen diese fünf Kombinationsmuster sind, die Nonnos für die metrische Gestaltung heranzieht. Angesichts der oben beschriebenen Tendenz zur daktylischen Realisierung überrascht es wenig, dass die holodaktylische Form klar dominiert. Unter den Vers-Patterns finden sich zudem keine Realisierungen mit mehr als zwei Spondeen. Zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Spondeen sind nur in der – wohlgemerkt äußerst seltenen – Form dssdd anzutreffen, wo der unerwünschte rhythmische Effekt wohl durch die Mittelzäsur abgemildert wird. Angesichts dieser Versifikationspraxis könnte die Tatsache, dass sich in der Rede der Herbsthore (23–28) keine der anvisierten holodaktylischen Realisierungen und sich in der sehr kurzen Rede des Helios (37–40) gleich zwei äußerst seltene Verspatterns finden, ein Indiz für eine nachlässige metrische Gestaltung und – in der Folge – für deren provisorischen Charakter sein. Die Folge dieser Restriktionen ist ein relativ gleichförmiger – beinahe isosyllabischer – Hexameter, der als solcher naturgemäß wenig Spielraum lässt, eine 306 Die Werte für die Dionysiaka insgesamt wurden aus Magnelli 2016, 356 übernommen, die für das 12. Buch basieren auf einer eigenen, von mir selbst durchgeführten Analyse. Die Abkürzungen »d« und »s« stehen für »Daktylus« bzw. »Spondeus«.

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Interaktion mit dem jeweiligen Inhalt des Verses einzugehen. Dennoch dürften gerade Verstypen, die diesen metrischen Gleichklang stören, eine gewisse Aufmerksamkeit beim Leser/Hörer auf sich gezogen und damit eine Möglichkeit geboten haben, durch die metrische Gestaltung zusätzliche Bedeutung zu generieren. Im von mir analysierten 12. Buch ist in zwei Fällen ein solcher Versuch nachweisbar. Nonnos verwendet dort nämlich das stark gemiedene Vers-Pattern dssdd (er benutzte es insgesamt nur vier Mal im 12. Buch) dazu, den Inhalt der Verse zu unterstreichen: Die Schwere, die das Aufeinanderfolgen von fünf Längen in οἰκτίρμων ᾿Αίδης in Vers 214 bewirkt, ist dabei wohl in Bezug zum Wesen des Unterweltgottes zu setzen. In Vers 51 beschreibt Nonnos, wie Kronos die von ihm verschlungenen Kinder wieder ausspeit (φόρτον ἀκοντίζων ἐγκύμονος ἀνθερεῶνος). Die ungewöhnliche Wahl des Musters dssdd (wie auch die Verwendung des gravitätischen versus tetracolus) soll hier wohl die Schwere der herausgeschleuderten Last unterstreichen. Es kommt nicht selten vor, dass sich bestimmte Vers-Muster zu Clustern bündeln oder in nächster Nähe wiederholt werden.307 Derartige Akkumulierungen von sog. repeats und near-repeats sind angesichts der geringen Zahl an zur Verfügung stehenden Elementen statistisch vorhersehbar und müssen nicht weiter relevant sein. In der Tat ist das geläufigste Muster ddddd auch am häufigsten betroffen.308 Um zu entscheiden, inwiefern diese Häufungen auch Einfluss auf die rhythmische Wahrnehmung des Textes hatten, fehlt uns heute wohl leider das nötige Sensorium. Im Fall des 12. Buches lassen sich aber zumindest zwei Beispiele nennen, wo mir die Verbindung von derartigen Clustern mit bestimmten Effekten eindeutig nachweisbar erscheint. In den Versen 120–123 wird das Muster dddsd vier Mal wiederholt. Diese Wiederholung scheint insofern relevant zu sein, als durch sie der Parallelismus in 120–122 zusätzlich unterstrichen wird; dieser wird hauptsächlich dadurch erreicht, dass die zweite Vershälfte jeweils mit einer Junktur beginnt, die sich aus einem durch α-privativum gebildeten Epitheton und folgendem Substantiv zusammensetzt (120 ἀκηδέστῳ δὲ σιωπῇ; 121 ἀδουπήτοιο βοείης; 122 Ἀμειδήτῳ δὲ προσώπῳ). Durch die Wiederholung der metrischen Form werden die Epitheta (sie bilden den Spondeus im vierten Versfuß) nochmals hervorgehoben, sodass das negierende α-privativum wohl umso mehr zur Geltung kommt. Ein ähnlicher Fall liegt in 261–263 vor: Das Vers-Pattern sdddd wird hier drei Mal repetiert, wodurch die Verse nicht nur als inhaltliche Einheit markiert werden, sondern zusätzlich auch der Parallelismus in 262–263 unterstrichen wird. Wie im kallimacheischen Hexameter, so ist auch im nonnianischen der Umgang mit Zäsuren, Brücken und Wortgrenzen im Allgemeinen stark »reglemen 307 S. hierzu v.a. Agosti 2003, 188–190. 308 Im 12. Buch habe ich entsprechende Cluster im Umfang von bis zu fünf ddddd-repeats gezählt (200–204; 249–253).

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Einleitung

tiert«. Alle Verse der Dionysiaka weisen eine Mittelzäsur im dritten Versfuß auf: entweder Penthemimeres (männliche Zäsur) oder κατὰ τρίτον τροχαῖον (weibliche Zäsur); das bereits in der kaiserzeitlichen Dichtung selten gewordene Verschieben der Mittelzäsur in den vierten Versfuß wird von Nonnos gänzlich gemieden. Weibliche Zäsur dominiert – wie bereits in der gehobenen Hexameterdichtung der Kaiserzeit vor ihm – dabei klar. Betrachtet man die Dionysiaka insgesamt, so weisen 81,1 % der Verse eine weibliche Zäsur auf; für das 12. Buch konnte ich einen annährend identischen Wert von 83,5 % ermitteln. Auf die entsprechend seltenere männliche Mittelzäsur folgt regelmäßig Hephthemimeres oder bukolische Diärese. Da der Nominalstil der kaiserzeitlichen Epik zunehmend durch lange Partizipien und Adjektivkomposita geprägt ist, nimmt es nicht Wunder, dass die Zahl an Versen mit nur vier Wörtern (bzw. vier Elementen, die als metrische Einheit gesehen werden) steigt. Diese Entwicklung hat bei Nonnos und seiner »Schule« ihren Höhepunkt erreicht: Nach Bassetts Zählung309 ist jeder 15. Vers in den Dionysiaka ein solcher versus tetracolus. Die gravitas dieses Verstyps wird von Nonnos dabei nicht selten stilistisch effektvoll eingesetzt;310 dies betrifft insbesondere Passagen, in denen sich derartige Verse häufen. Für das 12. Buch sind dies die folgenden beiden Stellen: In 72–78 finden sich fünf Verse, die im weiteren Sinn als versus tetracoli bezeichnet werden können (72, 73; 74; 78; 77) und die im Verbund mit den Fünf-Wörter-Versen 75 und 78 eine stilistische Einheit bilden: Die Akkumulation der versus tetracoli in dieser Passage dient wohl dazu, um der inhaltlichen gravitas der geschilderten Gräueltaten – es werden die Geschichten von Harpalyke und Philomele berichtet – Rechnung zu tragen. Eine zweite Massierung von versus tetracoli ist im Teilstück 352–358 festzustellen (352; 355; 356; 357; 358), wo abermals in Verbindung mit in ihrer Wirkung vergleichbaren Fünf-Wörter-Versen (53; 54; 59) eine stilistisch kohärente Einheit geschaffen wird, die die Feierlichkeit des geschilderten Ereignisses – es ist die Entstehung des Weins – unterstreicht. In wesentlicher Übereinstimmung mit der Praxis des Kallimachos sind inhaltliche Einschnitte für gewöhnlich nur an einigen wenigen Stellen des Hexameters erlaubt: Am Ende des ersten Versfußes (sofern dieser ein Daktylus ist) sowie bei Trithemimeres, weiblicher oder männlicher Mittelzäsur und bukolischer Diärese. Hervorzuheben ist die strukturierende Funktion, die Enjambement bei katalogartigen Aufzählungen in den Dionysiaka übernehmen kann, wofür im 12. Buch der Abschnitt 70–102 ein besonders eindrückliches Beispiel

309 Bassett 1919, 230, der aber nur versus tetracoli im strengen Sinn berücksichtigt; zu den versus tetracoli in der Dichtung der Kaiserzeit s. Agosti/Gonnelli 1995, 322–324. 310 S. für die Paraphrase Caprara 2005, 69; Spanoudakis 2014b, 104; vgl. Vian 2003, 215– 219.

Literarische Technik im 12. Buch

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bildet.311 In anderen Fällen scheint Enjambement dazu zu dienen, der Gefahr von Monotonie bei längeren katalogartigen »Aufzählungen« vorzubeugen.312 In zwei Fällen des 12. Buches scheint Nonnos durch den Einsatz von Enjambement ganz spezielle Effekte zu beabsichtigen.313 Weitaus komplexer als bei seinen hellenistischen und kaiserzeitlichen Vorgängern erweisen sich die prosodischen Einschränkungen, die sich Nonnos auferlegt. Sie folgen im Wesentlichen dem Grundsatz, prosodische Veränderungen möglichst zu vermeiden: (i.) Elision wird nicht nur bei Nomina, Adjektiven und Verben, sondern auch bei Pronomina gemieden und beschränkt sich dementsprechend auf Präpositionen (bestehend aus zwei Kürzen), Konjunktionen, Negationen und Partikeln, wobei auch hier im Detail eine Reihe von Einschränkungen greifen. (ii.) Correptio Attica tritt bei Nonnos – fast ausnahmslos – nur dann in Kraft, wenn sie die einzige Möglichkeit ist, bestimmte Wörter in den Hexameter zu integrieren. Als Beispiele aus dem 12. Buch können angeführt werden: 15 Χρόνοιο; 69 προθεσπίζοντα; 171 βροτῶν; 319 δράκων. (iii.) Hiat, der in der anspruchsvollen Hexameterdichtung der Kaiserzeit zunehmend gemieden wird, findet sich auch bei Nonnos nur selten. Ausnahmen bilden hauptsächlich aus der epischen Tradition übernommene Wendungen sowie Fälle, in denen die Personalpronomina οἱ und ἑ den Hiat verursachen (vgl. z.B. 12.21 Καί οἱ ἀνηΰτησεν; 122 οὐδέ ἑ πηκτὶς ἔτερπεν). (iv.) Hiatkürzung (correptio epica) ist weniger Einschränkungen unterworfen. Der Großteil der Fälle betrifft die Kürzung der Diphthonge αι (aber nicht bei αι als Pluralendung der ersten Deklination) und οι; seltener tritt Hiatkürzung in den Dionysiaka bei den übrigen Diphthongen und bei Langvokalen auf. Dementsprechend beschränken sich die Fälle von Hiatkürzung im 12. Buch hauptsächlich auf Verbformen, die auf -αι enden, sowie die Partikel καί (vgl. aber 12.164 χρυσῷ ὅλη κομόωσα und 256 Δηώ, ἐσυλήθης). Erwähnenswert ist, dass in 12.81 gleich drei Mal Hiatkürzung eintritt (στήσεται οἰκτρὸν ἄγαλμα. Καὶ ἔσσεται αὐτόθι γείτων). Es ist verführerisch, dies als einen bewussten Effekt zu deuten: Die dadurch erzielte Betonung des Klagelauts »ai« soll wohl die geschilderte Klage der Niobe (οἰκτρὸν ἄγαλμα) onomatopoetisch unterstreichen. (v.) Was die Reglementierung der Positionslängung von Endsilben betrifft, ist Nonnos abermals rigider als seine Vorläufer. Besonders streng erweist sich diese im Fall der Längung einer kurzen Endsilbe im biceps, die fast gänzlich ausgeschlossen ist. 311 S. die Strukturanalysen im K. ad loc. 312 Z.B. 117b–137; vgl. den eindrücklichen Enjambement-Gebrauch bei Schilderung der Hochzeitsfeier des Kadmos und der Harmonia in 5.88–114. 313 S. K. 173–184 und 307–308.

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Einleitung

Die wohl wichtigste Neuerung des nonnianischen Hexameters besteht allerdings in der Regulierung des Wortakzents bei der Mittelzäsur und am Versende. Die steigende Bedeutung des Wortakzents für die metrische Gestaltung in der Kaiserzeit bezeugen bereits die choljambischen Verse der Fabeln des Babrios (2. Jh. n. Chr.), die regelmäßig mit einem Paroxytonon enden. Die Epik konnte sich dem Eindringen des Wortakzents aber noch einige Zeit entziehen. So sind etwa auch bei einem metrischen Neuerungen ansonsten durchaus aufgeschlossenen Dichter wie Triphiodor noch keine Spuren einer Regulierung des Wortakzents zu finden. Eine eindeutige Beachtung des Wortakzents ist erst in den epischen Produktionen des Nonnos und seiner »Schule« zu finden. Nonnos tendiert grundsätzlich dazu, seine Verse auf einer langen Silbe oder einem Diphthong enden zu lassen, wie es in der Tat in 90 % seiner Verse der Fall ist. Bei diesen Versschlüssen sind keine Restriktionen in Hinblick auf den Wortakzent auszumachen. Lässt er jedoch einen Vers auf einer kurzen Silbe enden, kommen gewisse Einschränkungen zum Tragen: Die entsprechenden Wörter haben fast immer einen Akzent auf der vorletzten Silbe (Paroxytonon oder Properispomenon): Proparoxytona werden dagegen ganz gemieden, unter den Oxytona sind – fast ausnahmslos – nur αὐτός/-όν, δέ, γάρ und μέν (selten) erlaubt. Ähnliche Regulationen betreffen auch die Mittelzäsur. Bei der von Nonnos bevorzugten weiblichen Mittelzäsur sind diese weniger stark ausgeprägt. Oxytona werden aber grundsätzlich gemieden. Im Fall von männlicher Mittelzäsur (Penthemimeres) muss das betreffende Wort auf der vorletzten Silbe (Paroxytonon oder sehr selten Properispomenon) betont sein, wobei auch hier nicht wenige – teils der Homerimitation geschuldete – Ausnahmen zu konstatieren sind. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Nonnos in Hinblick auf die metrische Gestaltung der Dionysiaka zum einen bestehende (kallimacheische) Trends weiterführt und intensiviert, zum anderen aber den traditionellen Hexameter gleichzeitig zu einem Vers umformt, der auch für ein Publikum funktioniert, das über ein gänzlich anderes prosodisches Sensorium verfügt als jenes Homers.

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Überblick über die Textüberlieferung der Dionysiaka

9. Überblick über die Textüberlieferung der Dionysiaka

314

Es scheint ein gewisser Grundkonsens darüber zu bestehen, dass Nonnos seine Arbeit an dem riesigen Epos der Dionysiaka nicht zu Ende geführt und ein noch nicht für die finale Publikation bestimmtes Arbeitsmanuskript zurückgelassen hat, das dann von einem »Herausgeber« posthum in Umlauf gebracht worden ist.315 Das genaue Ausmaß der Unfertigkeit wurde und wird in der Forschung allerdings unterschiedlich gewichtet. Ich habe andernorts dafür argumentiert, dass das genannte Arbeitsmanuskript bereits die sog. Perioche (P), eine aus 96 Hexametern bestehende metrische Inhaltsangabe der einzelnen 48 Bücher,316 sowie – möglicherweise – das Buchepigramm AP 9.198 als Paratexte enthielt.317 Die »Edition« des von Nonnos zurückgelassenen Textes dürfte kein leichtes Unterfangen gewesen sein. Wie bereits im Kapitel 5 am Beispiel der AmpelosEpisode und des 12. Buches diskutiert, sah sich der Herausgeber wohl mit einem Text konfrontiert, der an gewissen Stellen noch stark den Charakter einer Rohfassung aufwies: In manchen Fällen scheinen nötige Textbausteine noch ausgespart, in anderen wiederum umgekehrt zusätzliche alternative Entwürfe im Text oder am Rand vermerkt gewesen zu sein – und das alles vermutlich in einer Form, in der der intendierte Textverlauf nicht eindeutig erkennbar war. Es ist durchaus denkbar, dass auch einige der variae lectiones, die sich im Haupttextzeugen der Dionysiaka, dem Laurentianus pluteus 32.16 (L) finden, auf das besagte Arbeitsmanuskript zurückgehen,318 an dem Nonnos – so ist anzunehmen – auch alternative Formulierungen oder Korrekturen vermerkt haben wird.319 Hierfür spricht, dass in P.Berol. inv. 10567 (Π),320 einem Papyrus-Kodex der Dionysiaka, der wohl gegen Ende des 6. Jh. (und damit nur kurze Zeit nach deren »Publikation«) entstanden ist, bereits zahlreiche variae lectiones belegt sind, was – angesichts der kurzen Zeitspanne der Überlieferungsgeschichte – doch einigermaßen ungewöhnlich ist und es denkbar erscheinen lässt, dass diese al 314 Dieses Kapitel, das den Leser in groben Zügen über die Überlieferungsgeschichte der Dionysiaka informieren möchte, versteht sich als Hilfestellung zum besseren Verständnis textkritischer und überlieferungsgeschichtlicher Diskussionen im Kommentar. Die Ausführungen basieren im Wesentlichen auf der aktuellen und überaus kompetenten Überblicksdarstellung von De Stefani 2016 und erheben nicht den Anspruch einer eigenständigen und innovativen Forschungsleistung. 315 Zum unfertigen Zustand s. Kap. 5. 316 S. Zuenelli 2016. 317 S. Zuenelli 2022. 318 Vgl. De Stefani 2016, 671: »The precarious state of the text may account for some variae lectiones attested in Laurentianus plut. 32.16 «. 319 Ein anschauliches Beispiel für ein solches Arbeitsmanuskript mit entsprechenden Korrekturen und Einträgen supra lineam oder in margine bieten die Fragmente des antiken Autographs des Dioskoros aus Aphrodito (Heitsch XLII). 3 320 Mertens-Pack 1329.

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ternativen Lesarten zumindest partiell auf Varianten oder Korrekturen im noch nicht final redigierten Arbeitsmanuskript zurückgehen.321 Letzthin mehren sich Stimmen, die zusätzlich zur Verbreitung der Dionysiaka als Gesamtwerk die Möglichkeit einer Zirkulation von Teilabschnitten des Epos als separate ποιήματα ins Auge fassen.322 Angesichts der antiken »Publikationspraxis«323 ist es nur zu wahrscheinlich, dass Nonnos zum Beispiel Freunden oder Bekannten (möglicherweise auch noch unvollendete) Teilabschnitte seines Epos zur Vorab-Lektüre zur Verfügung gestellt hat, die dann als separate »Publikationen« eine eigenständige kleinflächige Überlieferungsgeschichte entwickeln konnten. Zudem dürfte die inhaltliche Geschlossenheit mancher Episoden auch allgemein eine Rezeption in Form gesonderter Auszüge nahegelegt, ja befördert haben. Der erste sicher belegbare Leser der Dionysiaka, Agathias von Myrina, scheint jedenfalls die einzelnen Bücher oder Episoden der Dionysiaka als einigermaßen autonome Gebilde innerhalb des Gesamt-Epos rezipiert zu haben, wie die vielfach zitierte Formulierung ἔν τινι τῶν οἰκείων ποιημάτων324, ἅπερ αὐτῷ Διονυσιακὰ ἐπωνόμασται (Historien 4.23.5 [= p. 152 Keydel]) nahelegt. In diesem Zusammenhang hat Emanuele Castelli in einem sehr anregenden Beitrag die Aufmerksamkeit auf die in Π zu lesende subscriptio zum 14. bzw. inscriptio des 15. Buches gelenkt, die neben der jeweiligen Buchzahl auch – und das wäre im Gegensatz zu Buchrollen bei einem Kodex ja nicht zwingend nötig – den Namen des Dichters und den Werktitel wiederholen; diese wiederholte Nennung von Autor und Titel sei laut Castelli ansonsten nur für Kodizes typisch, die Texte beinhalten, die ursprünglich in Form einzelner Buchrollen oder zumindest als »Teilpublikationen« zirkulierten.325 Der Schlussfolgerung Castellis, dass die besagten Auffälligkeiten in Π durch die Zirkulation der Dionysiaka in Form einzelner separater ποιήματα erklärbar seien, stehe ich allerdings sehr skeptisch

321 Die Beziehung zwischen den variae lectiones des Laurentianus und jenen des Papyruskodexes kann aufgrund des fragmentarischen Erhaltungszustands von letzterem nicht genau bestimmt werden: Die einzige varia lectio jedenfalls, die der Laurentianus für jenen Textabschnitt ausweist, der auch durch das Papyrusfragment abgedeckt wird, ist im Text von letzterem bezeugt (Vian 1976, LXVII). 322 De Stefani 2016, 673; Castelli 2017. 323 S. hierzu v.a. Dorandi 2007. 324 Zur Diskussion um die Bedeutung von ποιημάτων s. Vian 1976, lvii n. 3. 325 Castelli 2017, v.a. 53: »In ogni caso, i due canti avevano goduto di circolazione separata l’uno dall’altro, prima di essere «travasati« con le rispettive informazioni librario-editoriali nel pap. Berol. 10567: è questa la deduzione che si può legittimamente fare a partire dai dati esaminati.«

Überblick über die Textüberlieferung der Dionysiaka

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gegenüber.326 Mir fehlt leider die kodikologische Expertise, um zu entscheiden, wieweit die tituli von Π tatsächlich als atypisch für die spätantike Editionspraxis zu werten sind. Man könnte den Befund jedenfalls aber auch so deuten, dass die tituli von Π archaisierend sind: Es wurde eine Form gewählt, welche mit Kodizes assoziiert wurde, die ältere Texte (das dürften in den meisten Fällen Klassiker gewesen sein) enthalten haben. Diese Verbindung der tituli von Π mit dem editorialen Layout von Klassiker-Editionen lässt eine Verbindungslinie zu den meines Erachtens von Nonnos verfassten Paratexten zu den Dionysiaka entstehen, durch welche Nonnos das editoriale Layout der Dionysiaka jenen von Klassiker-Editionen annähert und sich damit selbst zu einem Klassiker stilisiert. Es wäre daher zu überlegen, ob nicht Π im Fall der tituli möglicherweise das ursprüngliche Layout der von Nonnos geplanten Edition wiedergibt und damit die tituli als Teil der übergeordneten Strategie zur Stilisierung seines Werkes als Klassiker zu erklären sind. Der wichtigste Textzeuge für die Dionysiaka – ohne allerdings Nonnos als Autor zu nennen327 – ist der Kodex Laurentianus pluteus 32.16 (L). Bei dem Manuskript handelt es sich um eine Sammelhandschrift poetischer Texte, die im Umfeld von Maximos Planudes (1260–1330) produziert und nach Auskunft der v Notiz auf fol. 8 am 1. September 1280 fertiggestellt wurde.328 Im 16. Jh. diente die Handschrift – diese war mittlerweile nach Florenz gelangt329 – als Vorlage für den Palatinus Heidelbergensis gr. 85 (P), dessen Kopist um eine möglichst 326 Gegen diese Kernthese sprechen vor allem zwei Einwände: (i.) Wie auch in anderen Fällen in den Dionysiaka bildet die Buchgrenze zwischen 14 und 15 keinen inhaltlichen Einschnitt, vielmehr spannt sich die Handlung der ersten »Schlacht« gegen die Inder von 14.228 bis 15.168. Das 14. Buch endet dabei damit, dass ein indischer Soldat seine Gefolgsmänner dazu auffordert, das köstliche Wasser des Sees – es wurde von Dionysos kurz zuvor in Wein verwandelt – zu trinken (14.417–437). Buch 15 schließt nun nahtlos an dieses an (15.1 Ὥς φαμένου) und schildert in einer breit ausgeführten Ekphrasis die Trunkenheit der Inder und deren anschließende leichte Festnahme (15.1–168). Angesichts dieser Aufteilung der Handlung über zwei Bücher kann ich mir nicht vorstellen, wie diese getrennt zirkuliert haben sollten. Hätte Nonnos eine Vorab-Leseprobe in Umlauf schicken wollen, hätte er wohl sinnvollerweise ein zusammenhängendes Stück, wie es 14.228–15.168 bildet, gewählt. (ii.) Problematisch erscheint mir auch die kausale Verbindung der editorialen Angaben in Π mit möglichen Vorabpublikationen durch Nonnos selbst (53 »è possibile che i canti 14 e 15 del papiro berlinese discendano da una tradizione di edizioni anticipate, cioè da manoscritti contenenti solo qualche parte (già matura), entrata in circolazione quando il resto era ancora imperfetto o da scrivere«). Diese Hypothese scheint mir angesichts der Tatsache, dass die Buchzahlen in subscriptio bzw. inscriptio ja bereits die Existenz oder zumindest eine recht genaue Planung eines Gesamtwerks von 48 Büchern voraussetzen, kaum haltbar. 327 Da auch das Etymologicum Magnum und Eustathios die Dionysiaka zitieren, ohne den Namen des Nonnos zu nennen, dürfte anzunehmen sein, dass – zumindest in einem Überlieferungszweig – das Epos anonym tradiert wurde. Erst Angelo Poliziano (1454–1494) konnte Nonnos als Autor des Werks identifizieren. 328 Vian 1976, LXII. 329 S. hierzu unten.

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Einleitung

getreue Wiedergabe des schwer lesbaren antigraphon bemüht war. Alle weiteren erhaltenen Handschriften – es sind 11 an der Zahl, die allesamt von humanistischen Gelehrten angefertigt wurden330 – stammen von P (und damit indirekt von L) ab. Sie bieten dementsprechend keine besseren Lesarten, fügen aber den Fehlern von L eigene hinzu. Dementsprechend bildet die Handschrift L die Grundlage für die constitutio textus der Dionysiaka (wobei für die Bücher 14–16 freilich zudem Π zu berücksichtigen ist). Der Text der Dionysiaka im Laurentianus wurde von einer einzigen Hand (L) ausgeführt, wobei eine ältere Minuskelhandschrift (in einer Notiz zu Vers 42.221 als τὸ παλαιόν bezeichnet) als Vorlage diente. Der wohl unter Zeitdruck arbeitende Kopist bediente sich dabei einer schwer leserlichen Schrift mit zahlreichen Abkürzungen. Nicht selten unterliefen ihm kleinere Verschreibungen, 1 die er in den meisten Fällen selbst berichtigte (L ). Er scheint seine Vorlage sehr getreulich abgeschrieben zu haben, wie man – mit Francis Vian331 – wohl aus Bemerkungen ableiten kann, in denen er selbständig getätigte Eingriffe in den Text deutlich kennzeichnet.332 Im Laufe des Kopierprozesses übertrug L auch die Marginalia, die er im antigraphon vorfand. Darunter befanden sich auch zahlreiche variae lectiones, die entweder supra lineam oder mit dem Verweis γρ(άφεται) in margine ergänzt wurden.333 Eine zeitlich nicht präzise bestimmbare Hand,334 die sich von L aufgrund graphischer Unterschiede sowie der Benutzung einer feineren Feder und dunk2 leren Tinte abgrenzen lässt (L ), hat mehrere Korrekturen am Text von L vorgenommen und diesen um zahlreiche Scholien ergänzt; laut Vian legen einige der 2 Korrekturen nahe, dass L ope codicis gearbeitet hat.335 Durch die Revision des 2 Textes hat L auch entscheidend zur Sanierung des Textes des 12. Buchs beigetragen.336 Einige wenige Korrekturen und Scholien stammen wiederum von einer 3 weiteren Hand, die eine rötliche und verblasste Tinte benutzte (L ).337 Da sich 3 L der lateinischen Sprache bedient (6.285) und in zwei Scholien Vergil zitiert (37.652; 729), liegt der Schluss nahe, dass seine Bearbeitung des Textes nach dem Transfer des Manuskripts nach Italien erfolgte; Francesco Filelfo (1398–1481) 330 In gewisser Weise hinzuzuzählen wäre auch eine weitere Handschrift, die Gerhard Falkenburg als Grundlage für seine editio princeps herangezogen hat (s. hierzu unten), die heute aber als verloren gilt. 331 Vian 1976, LXIII. 332 Eine in Vers 42.221 ausgeführte Korrektur der Vorlage wird explizit als solche ausgewiesen; an zwei Stellen (17.73; 48.909) wird eine durch einen versus fictus »sanierte« Lücke mit ἐμὸς στίχος kommentiert. 333 S. Keydell 1959, 14*. 2 2 334 Da P die Einträge von L übernimmt, ist L jedenfalls vor P anzusetzen. 335 Vian 1975, 202. Contra Keydell 1959, 25*. 2sl sl 2 336 Vgl. v.a. 12.10 λεπτά L > θερμά L (oder L ); 54 ἔδραμεν L > ἔδρακεν L ; 56 ἄφρω L > 2 2 2 3 ἄφνω L ; 79 σι L > σιπύλοιο L ; 266 λαβών L > βαλών L (oder L ). 337 Vian 1975, 200 Anm. 16 und 202–203.

Überblick über die Textüberlieferung der Dionysiaka

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hatte den Kodex 1423 in Konstantinopel erworben und nach Florenz gebracht, wo er sich noch heute befindet. Wenn die von Vian angeführten Ergänzungen338 3 tatsächlich von der Hand L stammen – ich wage hier kein eigenes Urteil abzuge3 ben – wäre dies ein starkes Argument, dass L ein weiterer Kodex zur Verfügung 3 stand. Für das 12. Buch wäre dies insofern relevant, als es wahrscheinlich L war, der den Text der Rede des Dionysos mit drei Zeichen versehen hat, bei denen es sich wohl um maniculae handelt, und die in auffälliger Weise mit problematischen Textstellen zusammenfallen. Im Jahr 1569 besorgte Gerhard Falkenburg (ca. 1538–1578) auf Grundlage eines heute nicht mehr erhaltenen Manuskripts die editio princeps der Dionysiaka. Die gelehrte Welt der unmittelbar folgenden Jahrhunderte zeigte – mit Ausnahme von Größen wie Petrus Cunaeus (1586–1638) und Joseph Justus Scaliger (1540–1609) nur mäßiges Interesse an der Verbesserung des Textes der Dionysiaka. Bezeichnend hierfür ist, dass zwischen 1610 und 1809 keine neuen Editionen produziert wurden. Beginnend mit dem 19. Jahrhundert kommt es dann aber zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Dionysiaka-Text und (in der Folge) zu beachtlichen Fortschritten. Zu erwähnen sind vor allem die Editionen von Christian Friedrich Gräfe (1819–1826), Hermann Köchly (1857–1858) und Arthur Ludwich (1909–1911); letzterer war dabei der erste, der die Bedeutung von L für die constitutio textus richtig erkannte.339 Auf diesen Vorarbeiten basieren die wirkmächtige Edition von Rudolf Keydell (1959) sowie die mehrbändige Budé-Ausgabe, die von Francis Vian und seinen Mitarbeitern herausgegeben wurde (1976–2006) und sich mittlerweile als Standard-Edition etabliert hat.

338 Vian 1975, 203. 339 Ludwich 1877.

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10. Übersicht über das 12. Buch Folgende Übersicht gibt den Inhalt des 12. Buches in tabellarischer Form wieder. Die Gliederung korreliert dabei im Wesentlichen mit den entsprechenden Überblickslemmata des Stellenkommentars, der so gezielter konsultiert werden kann. Passage

Inhalt

1–117a Hore n-I nt e r me z z o (For t s e t z u n g ) 1–20

Ankunft der vier Jahreszeitenhoren

1–5

Eintreffen im Palast

6–14

Landung des Helios

15–20

Begrüßung durch die zwölf Monatshoren

21–40

Gespräch zwischen der Herbsthore und Helios

21–28

Rede der Herbsthore

29–35

Die κύρβεις der Harmonia

36–40

Rede des Helios

41–113

Konsultation der κύρβεις der Harmonia durch die Herbsthore

41–53

Erste κύρβις (Winter)

54–63

Zweite κύρβις (Frühling)

64–102

Dritte κύρβις (Sommer)

103–113

Vierte κύρβις (Herbst)

114–117a

Rückkehr der Jahreszeitenhoren

Übersicht über das 12. Buch

Passage

Inhalt

117 b –291 A mp e lo s -E pi s o d e (For t s e t z u n g ) 117b–137

Trauer um Ampelos

117b–122a

Trauer des Dionysos

122b–137

Trauer der mitfühlenden Natur

138–172

Eingreifen der Moiren

138–139

Überleitung

140–171

Rede der Atropos

142–146

Ankündigung der Metamorphose des Ampelos

147–153

Weiterleben des Ampelos in Form von Gesang

154–166

Die Rebe als zukünftiges Attribut des Dionysos

167–171

Künftige Freude als Folge der Verwandlung des Ampelos

172 173–205a

Abgang der Moiren Metamorphose des Ampelos und Reaktion des Dionysos

173–184

Metamorphose des Ampelos

185–187

Entstehung des ersten Weinbergs

188–192

Metamorphose des Kissos

193–205a

Reaktion des Dionysos

205b–291

Rede des Dionysos

207–211

Verwendung der Trauben als Speise und Trank

212–233

»Tod« und Metamorphose des Ampelos

234–271

Der Wein als Attribut des Dionysos

234–238

Σύγκρισις (Fruchtbäume)

239–246

Σύγκρισις (Wiesenblumen)

247–271

Σύγκρισις (Götterattribute)

272–289

Ehrerbietung der Natur

91

92

Einleitung

Passage

Inhalt

29 2 –39 7 A lt e r n at i v ve r s ion z u r ε ὕ ρ ε σ ι ς d e r We i n re b e 292–297

Überleitung

298–318

Weinberg in der Wildnis

298–301

Wilde Rebstöcke

302–313

Traubenkatalog

314–318

Weinumrankte Pinie

319–330

Entdeckung des Weinbergs durch Dionysos

331–359

Erste Weinlese und Traubenkelterung

331–336

Εὕρεσις von Kelter und Winzersichel

337–344

Weinlese der Satyrn

345–350

Εὕρεσις der Traubenkelterung

351–359

Keltern der Trauben durch die Satyrn

360–381

Verkostung und berauschende Wirkung des Weins

382–393

Nächtlicher Komos

394–397

Dionysos’ Rückkehr zu Rhea Ende des 12. Buches

Text und Übersetzung

Liste der im textkritischen Apparat verwendeten Siglen und Abkürzungen Siglen

L Laurentianus plut. 32.16 (1280) 2 L spätere Hand P Palatinus Heidelbergensis gr. 85 (16. Jh.), Abschrift von L

Weitere Abkürzungen

anon. Villois. Marginalia eines Exemplars der Ausgabe Nonni Panopolitae Dionysiaca. Petri Cunaei animadversionum liber […], Hannover 1610, publiziert in Iohannis Baptistae Casparis d’Ansse de Villoison Ad Serenissimam Principem Annam Amaliam Epistola de quibusdam Nonni Dionysiacorum locis ope notarum nunc primum editarum emendatis, Zürich 1782 (S. 11–24). Castiglioni A. Castiglioni: Epica Nonniana, in: RIL 65, 1932, 309–337. Falkenburg* Kritische Noten im Appendix der Ausgabe Nonni Panopolitae Dionysiaca nunc primum in lucem edita ex bibliotheca Ioannis Sambuci Pannonii. Cum lectionibus et coniecturis Gerarti Falkenburgii Noviomagi et indice copioso, Antwerpen 1569. Graefe = Gräfe 1819/1826 Graefe* Kritische Noten in Gräfe 1819/1826 Hermann in Gräfe 1819/1826 erwähnte Konjekturen von G. Hermann Keydell = Keydell 1959 2 Keydell = Keydell 1953 Koechly = Köchly 1857 Ludwich = Ludwich 1909/1911 Peek = Peek 1969 Scaliger Kritische Noten von J. J. Scaliger, die als Appendix in Nonni Panopolitae Dionysiaca. Petri Cunaei animadversionum liber […], Hannover 1610 (Bd. 2 S. 203–216) veröffentlich wurden. Tiedke = Tiedke 1878 Vian = Vian 1995

94

Text und Übersetzung

῝Ως αἱ μὲν δυτικοῖο παρ’ ὀφρύσιν ᾿Ωκεανοῖο ᾿Ηελίου γονόεντος ἐναυλίζοντο μελάθροις. Τῇσι δὲ νισομένῃσι συνήντεεν ῞Εσπερος ἀστήρ θρῴσκων ἐκ μεγάροιο· διεσσυμένη δὲ καὶ αὐτή ἀρτιφανὴς ἀνέτελλε βοῶν ἐλάτειρα Σελήνη. Αἱ δὲ φερεζώοιο παρ’ ὄμμασιν ἡνιοχῆος κάρπιμον ἴχνος ἔκαμψαν. Ὁ μὲν δρόμον ἄρτι τελέσσας ἠερόθεν νόστησε· πυριγλήνου δ’ ἐλατῆρος Φωσφόρος αἰγλήεις τετράζυγος ἐγγύθι δίφρου θήκατο θερμὰ λέπαδνα καὶ ἀστερόεσσαν ἱμάσθλην, γείτονος ᾿Ωκεανοῖο παρὰ προχοῇσι καθήρας μυδαλέων ἱδρῶτι πυριτρεφέων δέμας ἵππων· πῶλοι δ’ αὐχενίας νοτερὰς δονέοντες ἐθείρας μαρμαρέοις ὀνύχεσσιν ἐπέκτυπον αἴθοπι φάτνῃ. Θυγατέρες δὲ Χρόνοιο πέριξ φλογεροῖο θοώκου ἱπτάμεναι στεφανηδὸν ἀτειρέος ἡνιοχῆος τέσσαρας ἠσπάζοντο δυώδεκα κυκλάδες ῟Ωραι, δμωίδες ᾿Ηελίοιο, συνήλυδες αἴθοπι δίφρῳ, μυστιπόλοι Λυκάβαντος ἀμοιβάδες· οὐρανίῳ γάρ αὐχένα δοῦλον ἔκαμψαν ὅλου νωμήτορι κόσμου. Καί οἱ ἀνηΰτησεν ἔπος σταφυληκόμος Ὥρη, μάρτυρον ἱκεσίης σχομένη †φθινοπωρίδος ὥρην†· »᾿Ηέλιε ζείδωρε, φυτηκόμε, κοίρανε καρπῶν, οἰνοτόκον πότε βότρυν ἀεξήσουσιν ἀλωαί; Καὶ μακάρων τίνι τοῦτο γέρας μνηστεύεται Αἰών; Ναί, λίτομαι, μὴ κρύπτε, κασιγνήτων ὅτι μούνη πασάων ἀγέραστος ἐγὼ πέλον· οὐ γὰρ ὀπώρην, οὐ στάχυν, οὐ λειμῶνα, καὶ οὐ Διὸς ὄμβρον ἀέξω.« Ἔννεπεν· ἐσσομένης δὲ τιθηνήτειραν ὀπώρης ᾿Ηέλιος θάρσυνε, καὶ ἀντιπόρῳ παρὰ τοίχῳ δάκτυλον ὀρθώσας ἐπεδείκνυε κυκλάδι κούρῃ κύρβιας ῾Αρμονίης ἑτερόζυγας, αἷς ἔνι κεῖται εἰν ἑνὶ θέσφατα πάντα, τά περ πεπρωμένα κόσμῳ πρωτογόνοιο Φάνητος ἐπέγραφε μαντιπόλος χείρ, καὶ γραφίδων ποίκιλλεν ἐφάρμενον ὅρμον ἑκάστῃ. s.l.

2 s.l.

5

10

15

20

25

30

35

10 θερμὰ L (vel L ) : λεπτὰ L 15 θυγατέρες L : θυγατέρας Graefe 16 ἱπτάμεναι L : ἱπταμένας Graefe 19 L οὐρανίω per compendium scriptum esse intellexit Vian : οὔγιω P quod in errorem induxit ceteros codices et editores 22 μάρτυρον L : 2 μάρτυρος Koechly ἱκεσίης L : ἱκεσίην L Koechly locus corruptus : φθινοπωρίδος ὥρην L : φθινοπωρίδος Ὥρης Koechly : φθινοπωρίδος ἅρπην Ludwich : φθινοπωρίδα 2 χαίτην Keydell : φθινοπωρίδα θαλλόν Vian 35 ὅρμον scripsi : οἶκον L

Text und Übersetzung

95

[1] So gingen sie [die Horen der vier Jahreszeiten] zum Palast des lebenspendenden Helios am westlichen Ufer des Okeanos. Den Ankommenden begegnete der Stern Hesperos, der gerade aus dem Inneren des Palastes eilte; rasch ging, eben erst erschienen, auch Selene auf, die einen Rinderwagen steuert. [6] Sie aber wendeten ihre fruchtbringende Spur vor die Augen des lebenschenkenden Lenkers. Er hatte seinen Lauf gerade beendet und war vom Himmel zurückgekehrt. Nahe beim vierfach gejochten Wagen des feueräugigen Lenkers legte der strahlende Phosphoros die heißen Jochriemen und die funkelnde Peitsche nieder; er hatte den mit Schweiß benetzten Körper der feuergenährten Pferde in der Strömung des benachbarten Okeanos gereinigt. Die Rosse aber schüttelten ihre nassen Rückenmähnen und stampften mit ihren schimmernden Hufen zur leuchtenden Futterkrippe. [15] Die Töchter des Chronos aber, die zwölf kreisenden Horen, die wie ein Kranz um den hellscheinenden Thron des unermüdlichen Lenkers flogen, begrüßten die vier. Sie waren Dienerinnen des Helios und begleiteten ihn als wechselnde Mysten des Jahres auf dem funkelnden Wagen. Denn sie neigten den dienenden Rücken vor Helios, der als himmlischer Lenker den gesamten Kosmos durchquert. [21] Zu diesem sprach nun die traubenpflegende Hore, wobei sie als Zeugen ihrer Bitte †. . .† vorzeigte: »Helios, Nahrungsspender, Pflanzennährer, Herr der Früchte, wann werden die Weingärten die weinerzeugende Traube wachsen lassen? Und wem von den Seligen wird Aion diese Ehrengabe zuteilen? Ich bitte dich, verbirg es nicht, weil ich als einzige von allen Schwestern ohne Ehrengeschenk bin. Nicht nämlich lasse ich die Rebe wachsen, nicht die Ähre, nicht die Wiese und nicht lasse ich den Regen des Zeus sich ergießen.« [29] So sprach sie. Helios aber machte der Amme der künftigen Rebe Mut und zeigte dem kreisenden Mädchen, indem er den Finger ausstreckte, auf der gegenüberliegenden Wand die paarweise angeordneten Tafeln der Harmonia, auf denen sich alle Prophezeiungen gesammelt befanden. Diese für den Kosmos geltenden Schicksalssprüche hatte die prophetische Hand des Phanes, des Erstgeschaffenen, aufgeschrieben und für jede hatte er eine passende bunte Kette aus Bildern gemalt.

96

Text und Übersetzung

Καί τινα μῦθον ἔειπε πυρὸς ταμίης ῾Υπερίων· »Κύρβιδι μὲν τριτάτῃ, πόθεν ἔσσεται οἰνὰς ὀπώρη, γνώσεαι, ἧχι Λέων καὶ Παρθένος· ἐν δὲ τετάρτῃ, τίς σταφυλῆς σκηπτοῦχος, ὅπῃ γλυκὺ νέκταρ ἀφύσσων γραπτῇ χειρὶ κύπελλον ἀερτάζει Γανυμήδης.« Τοῖα θεοῦ φαμένοιο, φιλάμπελος ἔτρεχε κούρη ὄμματα δινεύουσα. Καὶ ὀμφαίῳ παρὰ τοίχῳ πρώτην κύρβιν ὄπωπεν ἀτέρμονος ἥλικα κόσμου εἰν ἑνὶ πάντα φέρουσαν, ὅσα σκηπτοῦχος ᾿Οφίων ἤνυσεν, ὅσσα τέλεσσε γέρων Κρόνος, ὁππότε τέμνων ἄρσενα πατρὸς ἄροτρα λεχώιον ἤροσεν ὕδωρ, σπείρων ἄσπορα νῶτα θυγατρογόνοιο θαλάσσης· ὅς ποτε λάινον υἷα κεχηνότι δέξατο λαιμῷ Ζηνὸς ψευδομένοιο νόθον δέμας εἰλαπινάζων· καὶ λίθος ἐνδομύχων τεκέων μαιώσατο φύτλην φόρτον ἀκοντίζων ἐγκύμονος ἀνθερεῶνος. Ἀλλ’ ὅτε μαρναμένοιο Διὸς πυριλαμπέα νίκην καὶ Κρονίου νιφετοῖο χαλαζήεσσαν ἐνυώ ἀμφίπολος Φαέθοντος ἀελλόπος ἔδρακεν ῞Ωρη, γείτονα δέρκετο κύρβιν ἀμοιβαδίς. Εἶχε δὲ κείνη, πῶς βροτέην ὤδινε γονὴν πίτυς ἢ πόθεν ἄφνω δενδραίην γονόεσσαν ἀναπτύξασα λοχείην ἄσπορον αὐτοτέλεστον ἀνήρυγεν υἱέα πεύκη· καὶ πόθεν ἄστεα πάντα κατέκλυσεν ὑέτιος Ζεύς ἠλιβάτοις πελάγεσσιν ἄγων ὑψούμενον ὕδωρ, πῶς Νότος ἐκ Βορέαο καὶ ἐκ Λιβὸς Εὖρος ἱμάσσων λάρνακα Δευκαλίωνος ἀλήμονα, γείτονα μήνης, εἰς πλόον ἠερόφοιτον ἐκούφισεν ἄμμορον ὅρμου. Καὶ τριτάτην ὅτε κύρβιν ἐπέδραμεν εὔποδι ταρσῷ, μυστιπόλος Λυκάβαντος ἕλιξ στηρίζετο κούρη, μόρσιμα παπταίνουσα πολύτροπα θέσφατα κόσμου, γράμματα φοινίσσοντα, σοφῇ κεχαραγμένα μίλτῳ, ὁππόσα ποικιλόμυθος ἐπέγραφεν ἀρχέγονος φρήν, τοῖα προθεσπίζοντα. Kαὶ ἐν πινάκεσσιν ἀνέγνω·

54 ἀμφίπολος anon. Villois. : ἀμφίπορος L L : χείρ Koechly

2

ἔδρακεν L : ἔδραμεν L

40

45

50

55

60

65

68 φρήν

Text und Übersetzung

97

[36] Da sprach Hyperion, der Gebieter über das Feuer, folgende Worte: »Auf der dritten Tafel, wo sich Löwe und Jungfrau befinden, wirst du erfahren, wie die Frucht des Weinstocks entstehen wird, auf der vierten, dort, wo Ganymed, süßen Nektar schöpfend, mit gemalter Hand einen Becher hält, wer Herr sein wird über die Traube.« [41] Als der Gott solches gesprochen hatte, lief das rebenliebende Mädchen los, wobei sie die Augen umherschweifen ließ. Auf der prophetischen Wand erblickte sie die erste Tafel, die gleich alt wie das ewige Weltall war und alles gesammelt verzeichnete, was Ophion als Herrscher vollbracht und was der Greis Kronos bewirkt hat, als er den männlichen Pflug des Vaters abschnitt und mit diesem das in den Wehen liegende Wasser durchpflügte, wobei er den unfruchtbaren Rücken des tochtererzeugenden Meeres besäte, wie er einst den steinernen Sohn im klaffenden Rachen verschlang und den unechten Körper des falschen Zeus verspeiste und wie der Stein das Geschlecht der im Inneren verborgenen Kinder entband und die Last des schwangeren Mundes herausschleuderte. [52] Als aber die sturmfüßige Hore, die Dienerin des Phaeton, den wie Feuer glänzenden Sieg des kämpfenden Zeus und die hagelähnliche Kriegswut von Kronos’ Schneesturm gesehen hatte, betrachtete sie anschließend die benachbarte Tafel. Jene hatte zum Inhalt, wie eine Pinie mit einer sterblichen Nachkommenschaft in den Wehen lag, wie der Nadelbaum plötzlich eine fruchtbare Baumgeburt zur Welt brachte und einen Sohn gebar, der, ohne Samen gezeugt, von allein entstanden war; und auf welche Weise der regenbringende Zeus alle Städte überschwemmte, indem er durch Meeresfluten hochaufgetürmtes Wasser herbeiführte, wie der Südwind im Anschluss an den Nordwind und nach dem Westwind der Ostwind den irrenden Kahn des Deukalion peitschten und zu einer luftdurchsegelnden Schifffahrt in die Nähe des Mondes emporhoben, ohne Ausblick auf einen Hafen. [64] Als sie mit schnellfüßiger Sohle zur dritten Tafel lief, blieb das kreisende Mädchen, das in die Mysterien des Jahres eingeweiht war, stehen und suchte die vielfältigen vom Schicksal vorherbestimmten Weissagungen in Bezug auf das Weltall, rote Schriftzeichen, mit kundigem Rötel aufgetragen, welche der uranfängliche und verschiedene Prophezeiungen kennende Verstand aufgeschrieben hatte. Diese weissagten Folgendes. Sie las auf der Tafel:

98

Text und Übersetzung

»῞Ηρης βουκόλος ῎Αργος ἐς ὄρνεον εἶδος ἀμείψει φαιδρὸν ἔχων βλεφάρων τύπον. Ἀλλὰ καὶ αὐτή ῾Αρπαλύκη μετὰ λέκτρον ἀλιτροβίων ὑμεναίων υἱέα δαιτρεύσασα θυγατρογάμῳ γενετῆρι ἠερίην πτερόεσσαν ἐρετμώσειε πορείην ὄρνις ἀελλήεσσα. Καὶ ἱστοπόνος Φιλομήλη ἔσσεται αἰολόδειρος ὑποτρύζουσα χελιδών, μαρτυρίην βοόωσα λιπογλώσσοιο σιωπῆς, δαίδαλα φωνήεντα σοφῷ γράψασα χιτῶνι. Καὶ Νιόβη Σιπύλοιο παρὰ σφυρὰ πέτρος ἐχέφρων δάκρυσι λαϊνέοισιν ὀδυρομένη στίχα παίδων στήσεται οἰκτρὸν ἄγαλμα. Καὶ ἔσσεται αὐτόθι γείτων Πυρρὸς ἐρωμανέων Φρύγιος λίθος, εἰσέτι ῾Ρείης οἶστρον ἔχων ἀθέμιστον ἀνυμφεύτων ὑμεναίων. Θίσβη δ’ ὑγρὸν ὕδωρ καὶ Πύραμος, ἥλικες ἄμφω, ἀλλήλους ποθέοντες. Ἐυστεφάνοιο δὲ κούρης Μίλακος ἱμείρων Κρόκος ἔσσεται ἄνθος ᾿Ερώτων· Καὶ γαμίην μετὰ λύσσαν ἀελλοπόδων ῾Υμεναίων καὶ Παφίης μετὰ μῆλα λεοντείην ἔτι μορφήν ῎Αρτεμις οἰστρήσειεν ἀμειβομένην ᾿Αταλάντην.« Καὶ τὰ μὲν εἰν ἑνὶ πάντα παρέστιχεν ἄστατος ῞Ωρη, εἰσόκε χῶρον ἵκανεν, ὅπῃ πυρόεις ῾Υπερίων σύμβολα μαντοσύνης ἀνεμώδεϊ πέφραδε κούρῃ, ἧχι Λέων ἐτέτυκτο σελασφόρος, ἧχι καὶ αὐτή Παρθένος ἀστερόεσσα νόθῃ ποικίλλετο μορφῇ οἴνοπα βότρυν ἔχουσα, θερειγενὲς ἄνθος ὀπώρης. Κεῖθι Χρόνου θυγάτηρ πόδας εὔνασε, ταῦτα δ’ ἀνέγνω· »Κισσὸς ἀερσιπότης, ἐρόεις νέος, ἐς φυτὸν ἕρπων ἔσται κισσὸς ἕλιξ καὶ ἐν ἔρνεσιν. ᾿Ηιθέου δέ ὄρθιος ἐκ Καλάμοιο δόναξ κυρτούμενος αὔραις λεπτὸν ἀεξιφύτοιο φανήσεται ἔρνος ἀρούρης, ἡμερίδων στήριγμα. Καὶ εἰς φυτὸν εἶδος ἀμείψας ῎Αμπελος ἀμπελόεντι χαρίζεται οὔνομα καρπῷ.«

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71 versus lacunosus : βλεφάρων τύπον scripsi : βλεφάρων τύπον vel βλεφάρων τύπον proposuit Vian : τύπον αἰόλον Scaliger 87 λύσσαν L : νύσσαν anon. Villois.

Text und Übersetzung

99

[70] »Heras Rinderhirt Argos wird seine Gestalt in einen Vogel verwandeln, wobei er ein schimmerndes Abbild seiner Augen besitzen wird. Harpalyke wird nach dem Beilager der frevelhaften Hochzeit dem mit der Tochter verkehrenden Vater den eigenen Sohn in Stücken zum Mahl geben und dann als sturmschneller Vogel eine beflügelte Fahrt durch die Lüfte antreten. Die sich am Webstuhl mühende Philomele wird eine singende Schwalbe mit glänzendem Gefieder werden, nachdem sie das Zeugnis des zungenlosen Schweigens abgelegt und auf kundigem Gewand sprechende Zeichen geschrieben hat. Niobe wird zu einem Felsen am Fuß des Sipylos-Gebirges werden und, immer noch über Bewusstsein verfügend, als beklagenswertes Standbild die Reihen ihrer Kinder mit steinernen Tränen beweinen. Dort in der Nähe wird der vor Liebe wahnsinnige Phrygier Pyrrhos zu Stein werden, nach wie vor jedoch das frevelhafte Verlangen nach der unrechtmäßigen Hochzeit mit Rhea verspüren. Flüssiges Wasser werden die beiden sich nach einander sehnenden Gleichaltrigen Thisbe und Pyramos. Krokos wird das schönbekränzte Mädchen Milax begehren und eine Blüte der Eroten sein. Nach der hochzeitlichen Wildheit der sturmschnellen Hymenäen und nach den Äpfeln der Göttin von Paphos wird Artemis Atalante die Gestalt einer Löwin verleihen und so deren wildes Wesen bewahren«. [90] An all diesen Prophezeiungen, die dort versammelt waren, schritt die rastlose Hore vorbei, bis sie zu jener Stelle gelangte, wo sich, wie der feurige Hyperion dem windschnellen Mädchen erklärt hatte, die wahrsagenden Zeichen befanden, wo der leuchtende Löwe abgebildet, wo auch die sternenreiche Jungfrau in nachgebildeter Gestalt dargestellt war, wie sie eine weinfarbige Traube, die im Sommer erzeugte Blüte der Rebe, hielt. Dort ließ die Tochter des Chronos ihre Füße ruhen und las Folgendes: [97] »Der in die Höhe hinaufsteigende Kissos, der liebliche Knabe, wird, als er auf einen Baum klettert, Efeu werden, wobei er sich auch in Pflanzengestalt nach wie vor winden wird. Ein aufrechtstehendes Schilfrohr, das sich in den Lüften biegt, wird aus dem Jüngling Kalamos entstehen, ein zarter Zweig des pflanzennährenden Ackerlandes, eine Stütze für die Reben. Nach seiner Verwandlung in eine Pflanze wird Ampelos dem Weinstock seinen Namen geben.«

100

Text und Übersetzung

Ἀλλ’ ὅτε θέσφατα ταῦτα θαλυσιὰς ἔδρακε κούρη, δίζετο χῶρον ἐκεῖνον, ὅπῃ παρὰ γείτονι τοίχῳ ποιητῷ κεχάρακτο τύπῳ Γανυμήδεος εἰκών ἰκμάδα νεκταρέην χρυσέῳ στάζουσα κυπέλλῳ, ἧχι χαρασσομένων ἐπέων τετράζυγος ὀμφή. Κεῖθι θεὰ φιλόβοτρυς ἐκώμασεν, εὗρε δὲ νύμφη θέσφατα κισσοφόρῳ πεφυλαγμένα ταῦτα Λυαίῳ· »Φοίβῳ Ζεὺς ἐπένευσεν ἔχειν μαντώδεα δάφνην, καὶ ῥόδα φοινίσσοντα ῥοδόχροϊ Κυπρογενείῃ, γλαυκὸν ᾿Αθηναίῃ γλαυκώπιδι θαλλὸν ἐλαίης, καὶ στάχυας Δήμητρι, καὶ ἡμερίδας Διονύσῳ.« Τοῖα μὲν ἐν γραφίδεσσι φιλεύιος ἔδρακε κούρη· τερπομένη δ’ ἤιξε, κασιγνήτας δὲ λαβοῦσα εἰς ῥόον ἠῴοιο διέστιχεν ᾿Ωκεανοῖο ἱπποσύνης Φαέθοντος ὁμόδρομος. — Οὐδὲ Λυαίῳ φάρμακον ἦν ἑτάροιο δεδουπότος, οὐδὲ χορείης μνῆστις ἔην. Φιλίῳ δὲ νόον δεδονημένος οἴστρῳ αἴλινα πικρὰ λίγαινεν, ἀκηδέστῳ δὲ σιωπῇ χάλκεα νῶτα λέλοιπεν ἀδουπήτοιο βοείης· οὐδέ ἑ πηκτὶς ἔτερπεν. Ἀμειδήτῳ δὲ προσώπῳ οἰκτρὰ κινυρομένοιο φιλοστόργου Διονύσου, ἔσχετο μὲν Λυδοῖο ῥόος δονακώδεος ῞Ερμου κραιπνὰ κυλινδομένου προχοῆς ἀνεμώδεϊ παλμῷ, οὐδὲ ῥέειν μενέαινε· βαθυκτεάνῳ δὲ ῥεέθρῳ Πακτωλὸς κροκόεις ἀνεσείρασε πένθιμον ὕδωρ ἀνδρὸς ἔχων μίμημα κατηφέος· ἀμφὶ δὲ νεκρῷ πηγαίων ἀνέκοψε παλίσσυτον ὁλκὸν ἐναύλων Σαγγάριος προχέων Φρύγιον ῥόον· αἰνοτόκου δέ Τανταλίδος στοναχῇσι διάβροχος ἄπνοος εἰκών διπλόα δάκρυα χεῦεν, ὀδυρομένου Διονύσου· καὶ Πίτυς αἰάζουσα συνέμπορος ἥλικι πεύκῃ λεπταλέον ψιθύριζεν· ἀκερσικόμου δὲ καὶ αὐτή Φοίβου δένδρον ἐοῦσα κόμην ἀπεσείσατο δάφνη πενθαλέοις ἀνέμοις· λιπαρὴ δ’ ἄτμητος ἐλαίη φύλλα χαμαὶ κατέχευε, καὶ εἰ φυτὸν ἦεν ᾿Αθήνης. Τοῖα πόθῳ στενάχοντος ἀδακρύτου Διονύσου φρικτὰ μετετρέψαντο παλίλλυτα νήματα Μοῖραι· καὶ γόον ἀχνυμένοιο παραιφαμένη Διονύσου ῎Ατροπος ἐμπεδόμυθος ἀνήρυγεν ἔνθεον ὀμφήν·

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Text und Übersetzung

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[103] Als das die Thalysien feiernde Mädchen diese Prophezeiungen gelesen hatte, suchte sie jenen Ort, wo in der Nähe an der Wand eine Abbildung des Ganymed in künstlicher Gestalt gemalt war, wie er Nektar in einen goldenen Becher tröpfelte, und wo die Worte eines vierzeiligen Orakels geschrieben standen. Dorthin schritt die traubenliebende Göttin mit freudigem Schritt und das Mädchen entdeckte folgende Prophezeiungen, die für den efeubekränzten Lyaios bestimmt waren. [110] »Zeus hat bestimmt, dass Phoibos den prophetischen Lorbeer erhält, Kyprogeneia, die eine rosige Haut besitzt, die roten Rosen, Athene, die funkelnde Augen hat, den schimmernden Zweig der Olive, die Ähren Demeter und die Reben Dionysos.« [114] Solches sah das Mädchen, das den bakchischen Jubelruf liebt, auf der Tafel. Freudig stürmte sie los und schritt zusammen mit ihren Schwestern zum Strom des östlichen Okeanos, wobei sie denselben Weg wie Phaeton bei seiner Fahrt zurücklegten. – Nicht aber hatte Lyaios ein Hilfsmittel gegen die Trauer um den toten Gefährten; er dachte nicht an Tanz. Vom Liebesstachel im Herzen bewegt sang er bittere Klagelieder. Die ehernen Becken ließ er im vernachlässigenden Schweigen der verstummten Trommel zurück und nicht erfreute ihn die Panflöte. Weil der liebende Dionysos mit traurigem Gesicht bemitleidenswert klagte, hielt der Strom des schilfreichen, lydischen Hermos, der im windschnellen Schwung seines Gusses stürmisch dahinrollt, inne und begehrte nicht weiterzufließen. Der aufgrund seiner Fluten, die Reichtümer in der Tiefe bergen, golden schimmernde Paktolos riss sein trauerndes Wasser zurück, wobei er das Aussehen eines betrübten Mannes hatte. Wegen des Verstorbenen hemmte Sangarios, der einen phrygischen Strom sich ergießen lässt, den zurückeilenden Fluss seiner Quellbäche. Das durch ihr Stöhnen ganz feuchte, leblose Abbild der zum Unglück gebärenden Tochter des Tantalos vergoss dagegen zweifache Tränen, weil Dionysos klagte. Pitys, die Begleiterin der gleichaltrigen Pinie, säuselte zart wehklagend. Der Lorbeer, obwohl er ein Baum des Phoibos war, der sein Haar nicht schneidet, schüttelte sein Laub beim Wehen der traurigen Winde ab. Der Ölbaum, der ölhaltige Früchte trägt und nie kahl ist, ließ seine Blätter zu Boden fallen, obwohl er eine Pflanze der Athene war. [138] Weil Dionysos, der keine Tränen kennt, so sehr aus Liebe klagte, sponnen die Moiren die schrecklichen Fäden zurück und lösten sie wieder auf. Die Klage des trauernden Dionysos besänftigend erhob Atropos, deren Wort unabänderlich ist, ihre prophetische Stimme:

102

Text und Übersetzung

»Ζώει τοι, Διόνυσε, τεὸς νέος, οὐδὲ περήσει πικρὸν ὕδωρ ᾿Αχέροντος· ἀκαμπέα δ’ εὗρε τελέσσαι σὸς γόος ἀτρέπτου παλινάγρετα νήματα Μοίρης. ῎Αμπελος οὐ τέθνηκε, καὶ εἰ θάνεν· ἱμερόεν γάρ εἰς ποτόν, εἰς γλυκὺ νέκταρ ἐγὼ σέο κοῦρον ἀμείψω· Τὸν μὲν ἐυτροχάλου παλάμης βητάρμονι παλμῷ δόρπιον ἁρμονίην διδυμόθροος αὐλὸς ἀράσσων ὑμνήσει, Φρύγα ῥυθμὸν ἔχων ἢ Δωρίδα μολπήν· ἠέ μιν ἐν θυμέλῃσιν ἀνὴρ εὔρυθμος ἀείσει ᾿Αονίου καλάμοιο χέων ᾿Ισμήνιον ἠχώ, ἢ ναέτης Μαραθῶνος. Ἀνευάξουσι δὲ Μοῦσαι ῎Αμπελον ἱμερόεντα σὺν ἀμπελόεντι Λυαίῳ. Καὶ σκολιὴν πλοκάμοιο λιπὼν ὀφιώδεα μίτρην στέμματα βοτρυόεντα περιπλέξεις σέο χαίτῃ, Φοίβῳ ζῆλον ἄγων, ὅτι πένθιμα χειρὶ τιταίνει αἴλινα δενδρήεντα φιλοκλαύτων ὑακίνθων, καὶ σὺ ποτὸν μεθέπεις, βροτέης ἄμπαυμα γενέθλης, νέκταρος οὐρανίου χθόνιον τύπον. Ἀνθεμόεν δέ παιδὸς ᾿Αμυκλαίοιο τεὸς νέος εὖχος ἐλέγξει· εἰ δὲ πόλις κείνοιο μαχήμονα χαλκὸν ἀείρει, καὶ σέθεν ἠιθέοιο φεραυγέα πατρὶς ἀέξει ὑγρὸν ἐρευθομένης ποταμηίδος ὄλβον ἐέρσης, χρυσῷ ὅλη κομόωσα, καὶ οὐ χαίρουσα σιδήρῳ· εἰ ποταμοῦ κελάδοντος ἀγάλλεται ἀμφὶ ῥεέθρῳ, φέρτερον Εὐρώταο πέλει Πακτώλιον ὕδωρ. ῎Αμπελε, πένθος ὄπασσας ἀπενθήτῳ Διονύσῳ, ὄφρα μελιρραθάμιγγος ἀεξομένου σέθεν οἴνου τερπωλὴν ὀπάσειας ὅλῳ τετράζυγι κόσμῳ καὶ σπονδὴν μακάρεσσι καὶ εὐφροσύνην Διονύσῳ· Βάκχος ἄναξ δάκρυσε, βροτῶν ἵνα δάκρυα λύσῃ.« Ὥς φαμένη γνωτῇσι συνέμπορος ἔστιχε δαίμων. Καὶ κινυρῷ μέγα θάμβος ἐφαίνετο μάρτυρι Βάκχῳ· καὶ γὰρ ἀναΐξας ἐρόεις νέκυς ὡς ὄφις ἕρπων ῎Αμπελος αὐτοτέλεστος ἑὴν ἠλλάξατο μορφήν, καὶ πέλε νήδυμον ἄνθος. Ἀμειβομένοιο δὲ νεκροῦ γαστὴρ θάμνος ἔην περιμήκετος, ἄκρα δὲ χειρῶν ἀκρεμόνες βλάστησαν, ἐνερρίζωντο δὲ ταρσοί, βόστρυχα βότρυες ἦσαν, ἐμορφώθη δὲ καὶ αὐτή νεβρὶς ἀεξομένης πολυδαίδαλον ἄνθος ὀπώρης, ἀμπελόεις δὲ κόρυμβος ἔην δολιχόσκιος αὐχήν, 163 ὄλβον scripsi : ὄμβρον L : ὄγκον Vian

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Text und Übersetzung

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[142] »Dein Jüngling, Dionysos, lebt und wird nicht das grausame Wasser des Acheron durchschreiten. Deine Klage vermochte, dass die unveränderbaren Fäden der unerweichlichen Moira neu gesponnen wurden. Ampelos ist nicht tot, auch wenn er gestorben ist. Denn ich werde deinen Knaben in ein liebliches Getränk, in süßen Nektar verwandeln. [147] Diesen wird der doppelttönende Aulos preisen, der bei Tisch durch die tanzende Bewegung der schnelllaufenden Hand eine Weise erheben wird, wobei er einen phrygischen Rhythmus oder einen dorischen Takt haben wird; ihn wird am Opferplatz ein sich im Rhythmus bewegender Mann preisen, der ein ismenisches Lied eines aonischen Schilfrohrs spielen wird, oder ein Bewohner Athens. Die Musen werden Ampelos zusammen mit dem rebenliebenden Lyaios besingen. [154] Du wirst die aus Schlangen gewundene Kopfbinde zurücklassen und einen Kranz aus Trauben um dein Haar flechten. Du wirst damit den Neid des Phoibos hervorrufen, weil er die pflanzegewordenen seufzenden Klagen der trauerliebenden Hyazinthen in der Hand hält, du aber einen Trunk besitzt, eine Erholung für das menschliche Geschlecht, ein irdisches Abbild des himmlischen Nektars. Dein Knabe stellt den Ruhm des Jungen aus Amyklai, der auf einer Blume beruht, in den Schatten: Wenn auch die Stadt von jenem kriegerisches Erz besitzt, die Heimat deines Knaben bringt den nassen, glitzernden Reichtum des rötlichen Flusstaus hervor, die ganze prunkt mit Gold und erfreut sich nicht an Eisen. Wenn jene sich aber wegen der Strömung ihres tosenden Flusses rühmt, das Wasser des Paktolos ist besser als das des Eurotas. [167] Ampelos, du hast dem Dionysos, der kein Leid kennt, Leid bereitet, damit du nach deiner Verwandlung in den wie Honigtropfen süßen Wein dem gesamten vierfachgejochten Weltall Freude bereitest, indem du ein Trankopfer den Seligen und Frohsinn dem Dionysos hervorbringst. Bakchos, der Herrscher, vergoss Tränen, um die Tränen der Menschen zu stillen.« [172] So sprach die Gottheit und verschwand zusammen mit ihren Schwestern. Da wurde der klagende Bakchos Zeuge eines großen Wunders. Denn der reizende Leichnam begann sich wie eine kriechende Schlange zu erheben, Ampelos wechselte von allein seine Gestalt und wurde eine liebliche Pflanze: Im Zuge der Verwandlung des toten Körpers wurde der Bauch ein hoher Stamm, die Spitzen der Hände trieben als Äste aus, die Sohlen schlugen Wurzeln, die Locken wurden Trauben, das Fell des Hirschkalbs verwandelte sich in die reichverzierte Blüte des gerade entstehenden Weinstocks, der Nacken wurde zum hohen Geäst der Rebe,

104

Text und Übersetzung

ἰσοφυὴς δ’ ἀγκῶνι τιταίνετο καμπύλος ὄρπηξ οἰδαίνων σταφυλῇσιν, ἀμειβομένου δὲ καρήνου γναμπτῆς κυρτὰ κόρυμβα τύπον μιμεῖτο κεραίης. Κεῖθι φυτῶν στίχες ἦσαν ἀπείρονες· αὐτοτελὴς δέ ὄρχατος ἀμπελόεις χλοεροὺς ὄρπηκας ἑλίσσων οἴνοπι γείτονα δένδρα νέῳ μιτρώσατο καρπῷ. Καὶ νέον ἔπλετο θάμβος, ἐπεὶ τότε κοῦρος ἀθύρων, εἰς φυτὸν ὑψιπέτηλον ἑὸν πόδα λοξὸν ἑλίσσων, Κισσὸς ἀερσιπότητος ἑὴν δενδρώσατο μορφήν, καὶ πέλεν ἀγκύλον ἔρνος ἐπώνυμον· ἀρτιφυῆ δέ ὄρχατον ἡμερίδων σκολιῷ μιτρώσατο δεσμῷ. Καὶ φιλίοις πετάλοισι κατάσκιον ἔσκεπε κόρσην, καὶ πλοκάμους ἐμέθυσσε φιλακρήτων ἀπὸ φύλλων κυδιόων Διόνυσος. Ἀεξιφύτοιο δὲ κούρου ἄρτι πεπαινομένης ἐδρέψατο καρπὸν ὀπώρης. Καὶ θεὸς αὐτοδίδακτος ἄτερ ποδὸς ἔκτοθι ληνοῦ, βότρυν ἐπισφίγγων παλάμης βεβριθότι καρπῷ, χερσὶ περιπλεκέεσσι μέθης ὠδῖνα πιέζων πορφυρέης ἀνέφηνε νεόρρυτον ὄγκον ὀπώρης, καὶ γλυκερὸν ποτὸν εὗρε. Καὶ οἰνοχύτου Διονύσου λευκὰ διαινομένων ἐρυθαίνετο δάκτυλα χειρῶν. Καὶ δέπας ἀγκύλον εἶχε βοὸς κέρας· ἡδυπότου δέ χείλεσιν ἀκροτάτοισιν ἐγεύσατο Βάκχος ἐέρσης, γεύσατο καὶ καρποῖο. Καὶ ἀμφοτέροις φρένα τέρπων μῦθον ἀγηνορέοντος ἀνήρυγεν ἀνθερεῶνος· »Ἀμβροσίην καὶ νέκταρ ἐμοῦ Διός, ῎Αμπελε, τίκτεις· ἔρνεα δισσὰ φέρων πεφιλημένα καρπὸν ᾿Απόλλων οὐ φάγε δαφνήεντα καὶ οὐ πίεν ἐξ ὑακίνθου. Οὐ στάχυς ὠδίνει γλυκερὸν ποτόν· ἵλαθι, Δηώ· εἶδαρ ἐγὼ μερόπεσσι καὶ οὐ πόμα μοῦνον ὀπάσσω. ῎Αμπελε, καὶ σέο πότμος ἐπήρατος· ἦ ῥα καὶ αὐτῆς εἰς σὲ καὶ εἰς σέο κάλλος ἐθηλύνθη λίνα Μοίρης, εἰς σὲ καὶ οἰκτίρμων ᾿Αίδης πέλεν, εἰς σὲ καὶ αὐτή Περσεφόνη τρηχεῖαν ἑὴν ἤμειψε μενοινήν, καὶ σὲ νέκυν ζώγρησε κασιγνήτῳ Διονύσῳ. Οὐ θάνες, ὡς τέθνηκεν ᾿Ατύμνιος· οὐ Στυγὸς ὕδωρ, οὐ φλόγα Τισιφόνης, οὐκ ἔδρακες ὄμμα Μεγαίρης. Ζώεις δ’ έτι, κοῦρε, καὶ εἰ θάνες· οὐδέ σε Λήθης κρύψεν ὕδωρ, οὐ ξυνὸς ἔχει τάφος· ἀλλὰ καὶ αὐτή μορφὴν ὑμετέρην ᾐδέσσατο γαῖα καλύψαι. Ἀλλὰ φυτόν σε τέλεσσε πατὴρ ἐμὸς υἷα γεραίρων, σὸν δέμας εἰς γλυκὺ νέκταρ ἄναξ ἤμειψε Κρονίων.

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Text und Übersetzung

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das einen langen Schatten wirft, dem Ellbogen gleich an Gestalt wuchs eine gebogene mit Trauben beladene Ranke und als sich schließlich der Kopf zu verwandeln begann, ahmten die gekrümmten Triebe die Gestalt der krummen Hörner nach. Dort waren unzählige Reihen von Bäumen. Der von selbst entstandene Weinberg bekränzte, indem er seine grünen Ranken ausbreitete, die benachbarten Bäume mit der neuartigen, weinfarbigen Frucht. [188] Ein weiteres Wunder geschah damals, als der Knabe Kissos, während er beim Spielen auf einen Baum mit belaubter Krone kletterte, indem er seinen Fuß in gekrümmter Drehung um den Stamm legte, eine pflanzliche Gestalt annahm: Er wurde so zu dem nach ihm benannten sich rankenden Spross und umschlang den vor Kurzem erst entstandenen Weinberg mit seinen gewundenen Fesseln. [193] Stolz bedeckte Dionysos seine schattige Schläfe mit den geliebten Blättern und berauschte seine Locken durch das weinliebende Laub. Er pflückte die soeben gereifte Rebenfrucht des Knaben, der eine Pflanze hatte entstehen lassen. Indem der Gott, ohne dass er es gelernt hatte, die Traube ohne Einsatz der Füße und außerhalb der Kelter mit der Fläche seiner beschwerten Hand fest umschlang und die Frucht des Rausches mit den ineinander verschränkten Händen presste, ließ er die zum ersten Mal fließende Last der purpurfarbenen Traube in Erscheinung treten und entdeckte das süße Getränk. Die weißen Finger der sich benetzenden Hände des weinausgießenden Dionysos röteten sich. Ein gekrümmtes Horn eines Rindes diente ihm als Becher: Er kostete mit den Spitzen seiner Lippen vom angenehm zu trinkenden Tau, er kostete auch von der Frucht. An beidem sich im Gemüt erfreuend, ließ er folgende Worte aus dem stolzen Mund erschallen: [207] »Ambrosia und Nektar meines Zeus, Ampelos, bringst du hervor: Mag Apollo auch zwei geliebte Pflanzen besitzen, nicht kann er die Frucht des Lorbeers essen, nicht kann er jene der Hyazinthe trinken; nicht gebiert die Ähre ein süßes Getränk, Deo sei gnädig! Ich hingegen gebe den Sterblichen Speise und nicht nur ein Getränk. [212] Ampelos, auch dein Tod ist anmutig. In der Tat ließen sich nämlich wegen dir und wegen deiner Schönheit auch die Fäden der Moira erweichen, wegen dir wurde auch Hades von Mitleid ergriffen, wegen dir sah auch Persephone von ihrem hartherzigen Trachten ab und machte dich Toten ihrem Bruder Dionysos zuliebe wieder lebendig. Nicht starbst du, wie Atymnios gestorben ist, nicht sahst du das Wasser der Styx, nicht die Flamme der Tisiphone, nicht das Auge der Megaira. Noch immer lebst du, Knabe, auch wenn du gestorben bist. Nicht verbarg dich das Wasser der Lethe, nicht hat dich das allen bevorstehende Grab aufgenommen, sondern auch die Erde scheute sich davor, deine Gestalt zu bedecken. Nein, zu einer Pflanze machte dich mein Vater, seinen Sohn ehrend, deine Gestalt verwandelte der Herrscher, der Kronide, in süßen Nektar. Nicht schrieb

106

Text und Übersetzung

Οὐ Φύσις, ὡς γραπτοῖσι Θεραπναίοισι κορύμβοις, αἴλινον ἀκλαύτοισι τεοῖς ἐχάραξε πετήλοις. 225 Χροιὴν δ’ ὑμετέρην καὶ ἐν ἔρνεσι, κοῦρε, φυλάσσεις· σῶν μελέων ἀκτῖνα τεὴ κήρυξε τελευτή· οὔ πώ σε προλέλοιπεν ἐρευθαλέη σέο μορφή. (Ἀλλὰ τεοῦ θανάτου τιμήορος οὔ ποτε λήξω θυομένῳ τεὸν οἶνον ἐπισπένδων ὀλετῆρι 230 ἀνδροφόνῳ.) Σὺ δὲ μῶμον ῾Αμαδρυάδεσσιν ἀνάπτεις σοῖς ἐρατοῖς πετάλοισιν· ἀπ’ εὐόδμων δὲ κορύμβων ἰκμάδες ὑμετέρων με περιπνείουσιν ᾿Ερώτων. ῎Αμπελε, καὶ μετὰ πότμον ἐυφραίνεις φρένα Βάκχου· πᾶσιν ἐμοῖς μελέεσσιν ἐγὼ σέο πῶμα κεράσσω. 235 Καρπὸν ἐγὼ μήλοιο πότε κρητῆρι κεράσσω; Νεκταρέῳ πότε σῦκον ἐπιστάξαιμι κυπέλλῳ; Σῦκον ὁμοῦ καὶ μῆλον ἔχει χάριν ἄχρις ὀδόντων. Οὐ δύναται φυτὸν ἄλλο τεαῖς σταφυλῇσιν ἐρίζειν· οὐ ῥόδον, οὐ νάρκισσος ἐύχροος, οὐκ ἀνεμώνη, 240 οὐ κρίνον, οὐχ ὑάκινθος ἰσάζεται ἔρνεϊ Βάκχου, ὅττι πολυτρίπτοιο νέαις λιβάδεσσιν ὀπώρης σὸν ποτὸν ἄνθεα πάντα δεδέξεται· ἓν ποτὸν ἔσται μιγνύμενον πάντεσσι, καὶ εἰς μίαν ἵξεται ὀδμήν ἄνθεσι παντοίοις κεκερασμένον· εἰαρινὴν γάρ 245 κοσμήσει τεὸν ἄνθος ὅλην λειμωνίδα ποίην. Εἶξον ἐμοί, Κλυτότοξε, πολυθρήνων ὅτι φύλλων πενθαλέῳ μίτρωσας ἀπενθέα βόστρυχα δεσμῷ· αἴλινα σοῖς πετάλοισι χαράσσεται· εἰ δὲ καρήνῳ στέμμα φέρει Κλυτότοξος, ἐγὼ γλυκὺν οἶνον ἀφύσσω, 250 καὶ στέφος ἱμερόεν περιβάλλομαι, ἡδυπότην δέ ἔνδον ἐμῆς κραδίης ὅλον ῎Αμπελον αὐτὸν ἀείρω. Εἶξον ᾿Ερισταφύλῳ, Κορυθαιόλος· αἱματόεις γάρ σπένδει λύθρον ῎Αρηι, καὶ ἀμπελόεις Διονύσῳ βότρυος οἰνωθέντος ἐρευθιόωσαν ἐέρσην. 255 Δηώ, ἐσυλήθης μετὰ Παλλάδος· οὐ γὰρ ἐλαῖαι εὐφροσύνην τίκτουσι, καὶ οὐ στάχυς ἀνέρα θέλγει. [Ὄγχνη καρπὸν ἔχει μελιηδέα, μύρτος ἀέξει ἄνθεα κηώεντα, καὶ οὐ φρενοθελγέι καρπῷ ἀνδρομέας ἀνέμοισιν ἀκοντίζουσι μερίμνας.] 260 Ὑμείων γενόμην πολὺ φέρτερος· ἡμετέρου γάρ οἴνου μὴ παρεόντος ἀτερπέα δεῖπνα τραπέζης,

270 271 235

240

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255

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234–235 huc transposui 249 δὲ καρήνῳ scripsi : δ’ ἐνὶ κήπῳ L : δ’ ἀπὸ κήπου Peek 258–260 versus a Nonno scriptos, sed falso hic insertos esse censeo

Text und Übersetzung

107

die Natur, wie im Fall der beschrifteten Blüten aus Therapne, ein Klagelied auf deine Blätter, die keinen Jammer kennen. Deinen Teint hast du auch in Pflanzengestalt, Knabe, bewahrt: Dein Tod verkündete den Glanz deiner Glieder, nicht hast du deinen rötlichen Schimmer verloren. (Aber deinen Tod rächend werde ich nie aufhören, deinen Wein auf deinen Mörder, den männertötenden, zu gießen, wenn er geopfert wird.) Du aber bringst mit deinen lieblichen Blättern den Hamadryaden Tadel ein. Von deinen wohlriechenden Ranken umweht mich die Nässe deiner Eroten. [234] Ampelos, auch nach deinem Tod erfreust du das Gemüt des Bakchos. Ich werde deinen Trank mit all meinen Gliedern mischen. Wann aber werde ich je die Frucht des Apfels im Mischkrug mengen? Wann sollte ich je die Feige in einen Nektarbecher träufeln? Der Reiz der Feige und auch der des Apfels reichen nur bis zu den Zähnen. Nicht kann eine andere Pflanze mit deinen Trauben wetteifern: Nicht ist die Rose, nicht die schöngefärbte Narzisse, nicht die Anemone, nicht die Lilie, nicht die Hyazinthe mit dem Spross des Bakchos vergleichbar, weil dein Getränk alle Blüten im neuartigen Nass der gepressten Frucht aufnehmen wird. Ein einziges Getränk wird es sein und doch mit all diesen vermengt, und obwohl es mit allerlei Blüten gemischt ist, wird ein einziger Duft entstehen; denn deine Blüte wird eine ganze Frühlingswiese hervorbringen. [247] Weiche vor mir, Bogenberühmter! Du nämlich hast dein Haar, das keine Trauer kennt, mit einem trauernden Kranz aus vielklagenden Blumen umgeben; Klagelieder sind den Blütenblättern deiner Blume eingeschrieben. Mag der Bogenberühmte auch einen Kranz auf seinem Kopf tragen, ich schöpfe süßen Wein, setze mir einen reizenden Kranz auf und nehme Ampelos als wohlschmeckenden Trank als ganzen im Inneren meines Herzens auf. – Weiche vor dem Traubenreichen, Träger des funkelnden Helms: Blutig beschmiert opfert man nämlich Blut dem Ares, doch mit Trauben umkränzt dem Dionysos den geröteten Tau der in Wein verwandelten Traube. – Deo, du bist zusammen mit Pallas besiegt worden. Denn nicht bringen die Ölbäume Frohsinn hervor und nicht bezaubert die Ähre einen Mann. [Zwar besitzt der Birnbaum eine honigsüße Frucht und die Myrte trägt duftende Blüten, sie vertreiben aber nicht durch eine das Gemüt bezaubernde Frucht die menschlichen Sorgen.] Ich bin viel besser als ihr: Wenn es nämlich an meinem Wein mangelt, sind die Mahlzeiten bei Tisch

108

Text und Übersetzung

οἴνου μὴ παρεόντος ἀθελγέες εἰσὶ χορεῖαι. Εἰ δύνασαι, Γλαυκῶπι, τεῆς πίε καρπὸν ἐλαίης· σὸν φυτὸν ἀγλαόδωρος ἐμὴ νίκησεν ὀπώρη, 265 ὅττι τεῷ λιπόωντι δέμας χρίουσιν ἐλαίῳ ἄνδρες ἀεθλητῆρες ἀτερπέες, αἰνοπαθὴς δέ εὐνέτιν ἠὲ θύγατρα βαλὼν ξυνήονι πότμῳ, ἢ τεκέων φθιμένων ἢ μητέρος ἢ γενετῆρος ἀνὴρ πένθος ἔχων, ὅτε γεύσεται ἡδέος οἴνου, 270 στυγνὸν ἀεξομένης ἀποσείσεται ὄγκον ἀνίης. Ἀμφὶ δὲ δένδρεα πάντα κάτω νεύοντα καρήνῳ εἴκελα λισσομένῳ κυρτούμενον αὐχένα κάμπτει, ὑψιτενῆ δὲ πέτηλα γέρων ἐκλίνατο φοῖνιξ. Ἀμφὶ δὲ μηλείῃ τανύεις πόδας, ἀμφὶ δὲ συκῇ 275 χεῖρας ἐφαπλώσας ἐπερείδεαι. Ὑμετέρην δέ, δμωίδες ὣς δέσποιναν, ἐλαφρίζουσιν ὀπώρην, εὖτε τιταινομένων πετάλων ἑλικώδεϊ παλμῷ ἀμφιπόλων ὑπὲρ ὦμον ἀνέρχεαι· ἀγχιφύτων δέ ἁβρὰ πολυσπερέων ἑτερόχροα φύλλα κορύμβων 280 οἷα σέθεν κνώσσοντος ἐπαιθύσσουσι προσώπῳ αὔραις φειδομένῃσι καταψύχοντες ἀῆται, λεπταλέην ἅτε λάτρις ἐθήμονα ῥιπίδα σείει, ψυχρὸν ἑῷ βασιλῆι φέρων ποιητὸν ἀήτην. Εἰ δὲ μεσημβρίζουσαν †ἄγεις† Φαέθοντος ἀπειλήν, 285 σῆς σταφυλῆς προκέλευθος ἐτησιὰς ἔρχεται αὔρη δίψιον εὐνάζουσα πυρώδεος ἀστέρα Μαίρης, ὁππότε θερμαίνει σε θερειγενέος δρόμος ῞Ωρης θάλπων Σειριόεντι πεπαινομένην δρόσον ἀτμῷ.« Ἔννεπε κυδιόων, προτέρας δ’ ἔρριψε μερίμνας 290 φάρμακον ἡβητῆρος ἔχων εὔοδμον ὀπώρην. Καὶ τὰ μὲν ἀμπελόεντος ἀείδεται ἀμφὶ κορύμβου, πῶς πέλεν ἡβητῆρος ἐπώνυμος. Ὑμνοπόλων δέ ἄλλη πρεσβυτέρη πέλεται φάτις, ὥς ποτε γαίῃ οὐρανόθεν φερέκαρπος ᾿Ολύμπιος ἔρρεεν ἰχώρ 295 καὶ τέκε Βακχιάδος σταφυλῆς ποτόν, ἐν σκοπέλοις δέ αὐτοφυὴς ἀκόμιστος ἀέξετο καρπὸς ὀπώρης.

265

265 ἀγλαόδωρος Hermann : ἀγλαόδωρον L 285 †ἄγεις† corruptum esse censeo

Text und Übersetzung

109

freudlos; wenn es an meinem Wein mangelt, vermögen die Reigentänze nicht zu bezaubern. – Wenn du kannst, Blauäugige, trinke die Frucht deines Ölbaums. Meine herrliche Gaben spendende Rebe hat deinen Baum besiegt. Denn die Athleten reiben sich mit deinem fettigen Öl freudlos ihre Haut ein, während ein Mann, der Schreckliches erlitten hat, da er Frau und Tochter an den allen gemeinsamen Tod verlor, oder einer, der Kummer hat, da seine Kinder, seine Mutter oder sein Vater verstorben sind, die traurige Last des entstandenen Leids von sich abschütteln wird, sobald er vom süßen Wein gekostet hat. [272] Alle Bäume ringsherum beugen ihr nach unten gerichtetes Haupt und, einem Bittenden ähnlich, ihren sich neigenden Nacken; sogar die alte Palme senkt ihre sich in der Höhe ausbreitenden Wedel. Um den Apfelbaum klammerst du dich mit deinen Füßen und du lehnst dich zurück, indem du deine Hände um den Feigenbaum ausbreitest. Sie aber stemmen deine Rebe hoch, wie Dienerinnen eine Herrin, wenn du dich im gewundenen Schwung deiner ausgestreckten Ranken über die Schultern der Sklavinnen erhebst. Die kühlenden Winde fächeln, als würdest du schlafen, die zarten, verschiedenfarbigen Blätter der zahlreichen in der Nähe wachsenden Wipfel mit schonendem Hauch gegen dein Gesicht, wie ein Diener den gewohnten leichten Fächer bewegt und seinem König damit einen erfrischenden künstlichen Windhauch bereitet. Wenn du aber die mittägliche Drohung des Phaeton †herbeiführst†, kommt als Vorbote deiner Traube ein etesischer Luftzug, der den durstigen Stern der feurigen Maira besänftigt, wenn dich der Lauf der sommerlichen Hore erhitzt, indem er den reifen Tau deiner Trauben durch den Gluthauch des Sirius erwärmt.« [290] So sprach er stolz und ließ die früheren Sorgen fallen, da er nun in Form der wohlriechenden Rebe ein Heilmittel gegen den Schmerz um den Jüngling hatte. [292] So wird über die Weinranke erzählt, wie sie den Namen des Jünglings erhielt. Von den Dichtern gibt es aber eine andere, ältere Erzählung, wie einst fruchtbares olympisches Götterblut vom Himmel auf die Erde floss und das Getränk der bakchischen Rebe hervorbrachte und wie zwischen Felsen von allein die noch unkultivierte Frucht der Rebe wuchs.

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Text und Übersetzung

Οὔ πω δ’ ἡμερὶς ἦεν ἐπώνυμος· ἀλλ’ ἐνὶ λόχμαις ἀγριὰς ἡβώουσα πολυγνάμπτοισιν ἑλίνοις οἰνοτόκων βλάστησε φυτῶν εὐάμπελος ὕλη, ὑγρὸν ἀναβλύζουσα βεβυσμένον ὄγκον ἐέρσης. Καὶ πολὺς ὄρχατος ἦεν, ὅπῃ, στοιχηδὸν ἀνέρπων, σείετο φοινίσσων ἐπὶ βότρυϊ βότρυς ἀλήτης. Ὧν ὁ μὲν ἡμιτέλεστος ἑὰς ὠδῖνας ἀέξων, αἰόλα πορφύρων, ἑτερόχροϊ φαίνετο καρπῷ· ὃς δὲ φαληριόων ἐπεπαίνετο σύγχροος ἀφρῷ· καὶ πολὺς ὤθεεν ἄλλος ὁμόζυγα γείτονα γείτων ξανθοφυής· ἕτερος δὲ φυὴν ἰνδάλλετο πίσσῃ περκάζων ὅλον ἄνθος, ἀπ’ οἰνοτόκων δὲ πετήλων σύμφυτον ἀγλαόκαρπον ὅλην ἐμέθυσσεν ἐλαίην· ἄλλου δ’ ἀρτιχάρακτος ἐπέτρεχεν ὄμφακι καρπῷ βότρυος ἀργυρέοιο μέλας αὐτόσσυτος ἀήρ, ὄγκῳ βοτρυόεντι φέρων σφριγόωσαν ὀπώρην. Καὶ πίτυν ἀγχικέλευθον ἕλιξ ἔστεψεν ὀπώρης, συμφερτοῖς σκιόωσα περισκεπὲς ἔρνος ἰάμνοις· καὶ φρένα Πανὸς ἔτερπε. Τινασσομένους δὲ Βορῆι ἀκρεμόνας πελάσασα παρ’ ἀμπελόεντι κορύμβῳ αἱμοβαφὴς ἐλέλιζε κόμην εὐώδεα πεύκη. Ἀμφὶ δέ μιν σκολιῇσι δράκων δινωτὸς ἀκάνθαις λαρὸν ἐυρραθάμιγγος ἀμέλγετο νέκταρ ὀπώρης. Καὶ βλοσυραῖς γενύεσσι ποτὸν Βακχεῖον ἀμέλξας, βότρυος οἰνωθέντος ἐπιστάζων πόμα λαιμῷ, πορφυρέῃ ῥαθάμιγγι δράκων φοίνιξεν ὑπήνην. Καὶ θεὸς οὐρεσίφοιτος ὄφιν θάμβησε δοκεύων οἰνωπῇ ῥαθάμιγγι πεφυρμένον ἀνθερεῶνα· καὶ στικταῖς φολίδεσσι μετάτροπον ὁλκὸν ἑλίξας πετραίην βαθύκολπον ἐδύσατο γείτονα χειήν, Εὔιον ἀθρήσας, ὄφις αἰόλος. Εἰσορόων δέ Βάκχος ἐρευθαλέης ἐγκύμονα βότρυν ἐέρσης ὀμφαίης ἐνόησε παλαίτερα θέσφατα ῾Ρείης.

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312 ἀργυρέοιο L : ἀργυφέοιο Koechly 314 ἀγχικέλευθον Keydell : ἀντικέλευθον L

Text und Übersetzung

111

[298] Noch nicht wurde sie »Edelrebe« genannt, sondern wild spross im Dickicht ein rebenüberwucherter Wald aus weingebärenden Pflanzen, der vor vielgewundenen Ranken strotze und die nasse prallgefüllte Last des Taus hervorsprudeln ließ. Es war ein großer Weinberg, wo die rötenden Trauben dicht gedrängt und sich in Reih und Glied schlängelnd hinaufkrochen. Eine von diesen, die, noch unreif, mit ihrer Frucht erst in den Wehen lag und sich in vielfältigen Schattierungen purpurn zu färben begann, erschien mit verschiedenfarbiger Frucht. Eine andere, weißlich wie die Farbe des Meerschaums, reifte gerade heran. Eine gelbliche von großen Ausmaßen verdrängte die mit ihr verbundene Nachbarin. Eine andere wiederum glich in ihrem Aussehen dem Pech, da sie ihre ganze Blüte dunkelblau gefärbt hatte; mit ihren weingebärenden Blättern berauschte sie einen Ölbaum, der in nächster Nähe gewachsen war und glänzende Früchte trug. Die unreife Frucht einer anderen Traube, die silbrig glänzte und sich gerade erst zu färben begonnen hatte, überzog von allein ein schwärzliches Dunkel und ließ durch das Anschwellen der Traube eine zum Bersten volle Frucht entstehen. Eine Ranke der Rebe umkränzte eine nahe Pinie und spendete dem Baum, der von deren miteinander verschlungenen Trieben bedeckt war, Schatten; Pan freute es im Gemüt. Die blutige Kiefer bewegte dabei ihre von Boreas gebeutelten Äste zu den Zweigen der Rebe hin und ließ ihr wohlriechendes Haar wehen. [319] Um diese ringelte sich eine Schlange mit gewundenem Rücken und saugte den wohlschmeckenden Nektar der reichlich tropfenden Frucht. Während sie das bakchische Getränk mit ihrem furchteinflößenden Maul saugte und den Saft der in Wein verwandelten Traube in ihre Kehle rinnen ließ, rötete sich die Unterlippe der Schlange vom purpurnen Tropfen. Der das Gebirge durchstreifende Gott staunte über das Reptil, als er deren vom weinfarbigen Tropfen benetztes Kinn sah. Die durch ihre farbenreichen Schuppen bunt schillernde Schlange wendete ihren Lauf in die entgegengesetzte Richtung und verschwand in einem nahegelegenen tiefen Erdloch, sobald sie Euios bemerkt hatte. Als Bakchos aber die von rotem Tau schwangere Traube sah, verstand er die früheren Prophezeiungen der wahrsagenden Rhea.

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Text und Übersetzung

Καὶ σκοπέλους ἐλάχηνε, πεδοσκαφέος δὲ σιδήρου θηγαλέῃ γλωχῖνι μυχὸν κοιλήνατο πέτρης· λειήνας δὲ μέτωπα βαθυνομένων κενεώνων τάφρον ἐυσταφύλοιο τύπον ποιήσατο ληνοῦ, βότρυας ἀμώων νεοθηλέας ὀξέι θύρσῳ, τεύχων ὀψιγόνοιο τύπον γαμψώνυχος ἅρπης. Καὶ Σατύρων χορὸς ἦεν ὁμόστολος· ὧν ὁ μὲν αὐτῶν λοξὸς ἔην τρυγόων, ὁ δὲ βότρυας ἄγγεϊ κοίλῳ δέχνυτο τεμνομένους, ὁ δὲ σύμπλοκα φύλλα δαΐζων χλωρὰ φιλακρήτων ἀπεσείσατο λύματα καρπῶν· ἄλλος ἄτερ θύρσοιο καὶ εὐτύκτοιο σιδήρου δεξιτερὴν ἀσίδηρον ἐπ’ ἀκρεμόνεσσι τιταίνων †βότρυος εἱλικόεντος† κατέκλασεν ἄκρα κορύμβου, ὀκλάζων ἐπίκυρτον, ἐς ἄμπελον ὄμμα τιταίνων. Καὶ γλαφυρῷ κενεῶνι χυτὴν ἔστρωσεν ὀπώρην ὀγκώσας σταφυλῇσι μεσόμφαλα νῶτα χαράδρης

βότρυας εἱλικόεντας ἐπασσυτέρους θέτο κόλπῳ ἐκταδὸν ἔνθα καὶ ἔνθα· καὶ ὡς θημῶνας ἀλωῆς πλήσας κόλπον ἅπαντα συνήγαγε κοιλάδι πέτρῃ, καὶ σταφυλὴν ἐπάτησε ποδῶν βητάρμονι παλμῷ. Καὶ Σάτυροι σείοντες ἐς ἠέρα θυιάδα χαίτην, ἰσοφυὲς μίμημα διδασκόμενοι Διονύσου, στικτὰ περισφίγξαντες ἐπωμίδι δέρματα νεβρῶν, Βακχείης ἀλάλαζον ὁμογλώσσου μέλος ἠχοῦς, ποσσὶ πολυσκάρθμοισι περιθλίβοντες ὀπώρην, εὔιον ἀείδοντες. Ἐρισταφύλοιο δὲ κόλπου οἶνον ἀναβλύζοντος ἐπορφύροντο χαράδραι· στειβομένη δὲ πόδεσσιν ἀμοιβαίοισιν ὀπώρη λευκὸν ἐρευθαλέης ἀνεκήκιεν ἀφρὸν ἐέρσης. Καὶ βοέοις ἀρύοντο κεράασιν ἀντὶ κυπέλλων μή πω φαινομένων, ὅθεν ὕστερον ἐξέτι κείνου θέσκελον οὔνομα τοῦτο κεραννυμένῳ πέλεν οἴνῳ. Καί τις ἀναβλύζων φρενοθελγέος ἰκμάδα Βάκχου καμπύλον ἴχνος ἔκαμψε ποδῶν ἑλικώδεϊ παλμῷ, δεξιὸν ἐκ λαιοῖο μετήλυδα ταρσὸν ἀμείβων,

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341 εὐτύκτοιο L : εὐθήκτοιο Falkenburg* 343 †βότρυος εἱλικόεντος† corruptum esse censeo κατέκλασεν L : ἀπέκλασεν Scaliger 346 post versum lacunam statuit Graefe* 358 στειβομένη Graefe* : στεινομένη L 364 καμπύλον L : 2 ἄστατον Keydell Peek

Text und Übersetzung

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[331] Er begann den felsigen Boden auszuhöhlen und hob mit der geschärften Spitze des bodenausgrabenden Eisens eine Steingrube aus. Er glättete die Stirnpartien der freigelegten Flanken und formte den Graben zur Urform der traubenreichen Kelter, während er die frischgewachsenen Trauben mit dem spitzen Thyrsos abmähte und dadurch das Vorbild für die erst später entstehende Sichel mit krummer Klaue schuf. Eine Horde von Satyrn begleitete ihn: Einer von diesen erntete in gebückter Haltung, ein anderer gab die abgeschnittenen Trauben in ein hohles Gefäß, wieder ein anderer entfernte den grünen Unrat von den weinliebenden Früchten, indem er das mit der Traube zusammengewachsene Laub wegbrach. Ein vierter, der weder einen Thyrsos noch eine gutgearbeitete Eisensichel besaß, streckte im Geäst seine Rechte, die keine Sichel besaß, aus und bog die Spitzen der hohen Triebe †der welligen Traube† herab, wobei er in gekrümmter Haltung dahockte und die Augen auf die Rebe richtete. [345] füllte den Rücken der Felsspalte in der Mitte mit Trauben an und breitete auf diese Weise die aufgeschüttete Weinlese in der ausgehöhlten Grube aus die dichtgedrängt daliegenden welligen Trauben gab er hierhin und dorthin in den Erdschoß. Indem er den ganzen Erdschoß auffüllte, versammelte er sie so in dem ausgehöhlten Felsen, einem Getreidehaufen in einer Tenne vergleichbar, und trat die Traube im tanzenden Taumel der Füße. Die Satyrn, die dem Vorbild des Dionysos folgten, warfen ihr rasendes Haar in die Lüfte, zurrten ihre Hirschkalbfelle um die Schulter fest und sangen einstimmig ein Lied von bakchischem Ton, während sie mit den in die Höhe springenden Füßen die Traubenlese ringsherum traten und Jubelschreie ausstießen. Der traubenreiche Erdschoß ließ Wein hervorsprudeln und der Felsspalt färbte sich purpurn; aus der durch wechselnde Füße getretenen Traubenlese quoll dabei der weiße Schaum des roten Taus. [360] Da begannen sie den Wein mit Rinderhörnern (κέρατα) zu schöpfen, die sie anstelle von Bechern verwendeten, da letztere noch nicht vorhanden waren, weshalb auch das Einschenken des Weins (κεραννύναι) seitdem diese wunderbare Bezeichnung trägt: Einer, die Nässe des gemütbezaubernden Bakchos wieder ausspeiend, begann in der drehenden Bewegung seiner Füße einen gebogenen Lauf zu beschreiben, wobei er stets die rechte mit der linken Sohle

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Text und Übersetzung

καὶ λασίας ἐδίηνε γενειάδας ἰκμάδι Βάκχου. Ἄλλος ἀνεσκίρτησε, μέθης δεδονημένος οἴστρῳ, φρικτὸν ἀρασσομένης ἀίων μύκημα βοείης. Καί τις ἀκεσσιπόνοιο πιὼν ῥόον ἄσχετον οἴνου κυανέην ῥοδόεντι ποτῷ πόρφυρεν ὑπήνην. Ἄλλος ἄνω τανύων σφαλερὴν ἐπὶ δένδρον ὀπωπήν ἡμιφανῆ σκοπίαζεν ἀνάμπυκα γείτονα Νύμφην· καί νύ κεν ὑψιπέτηλον ὀρειάδος εἰς φυτὸν ὕλης εἷρπεν ὀλισθηροῖο ποδὸς γαμψώνυχι ταρσῷ, εἰ μή μιν Διόνυσος ἐρήτυεν. Ἀμφὶ δὲ πηγάς ἄλλος ἐγερσινόοιο μέθης ἑτερόφρονι παλμῷ ὑδρηλὴν ἐδίωκεν ἀνείμονα Νηίδα κούρην· καί νύ κε νηχομένην λασίῳ πήχυνεν ἀγοστῷ, εἰ μή μιν φθαμένη βυθίῳ κεκάλυπτο ῥεέθρῳ. Μούνῳ δ’ οἰνοποτῆρι Διωνύσῳ πόρε ῾Ρείη λυσσαλέης ἀμέθυστον ἀλεξήτειραν ἀνάγκης. Πολλοὶ δ’ εὐκεράων Σατύρων φιλοπαίγμονι ταρσῷ εἰς χορὸν οἰστρηθέντες ἐκώμασαν. Ὧν ὁ μὲν αὐτῶν θερμὸν ἔχων νέον οἶστρον ὑπὸ φρένα, πομπὸν Ἐρώτων, πήχεϊ λαχνήεντι μέσην ἠγκάσσατο Βάκχην. Ὃς δὲ νοοπλάγκτοιο μέθης δεδονημένος οἴστρῳ παρθενικῆς ἀγάμοιο σαόφρονος ἥψατο μίτρης, αὐερύων δ’ ἐπὶ Κύπριν ἀπειθέος εἵματα νύμφης, χειρὶ †ὀπισθοδότῳ† ῥοδέων ἐπαφήσατο μηρῶν. Kαί τις ἀναινομένην ἀνεσείρασε μύστιδα κούρην λαμπάδα νυκτιχόρευτον ἀναπτομένην Διονύσῳ· ὃς δὲ περὶ στέρνοις πεφιδημένα δάκτυλα βάλλων οἰδαλέην ἔθλιψεν ἀκαμπέος ἄντυγα μαζοῦ. Καὶ γλυκερῆς Διόνυσος ἑῆς μετὰ κῶμον ὀπώρης δύσατο κυδιόων Κυβεληίδος ἄντρα θεαίνης, κλήματα βοτρυόεντα φιλανθέι χειρὶ τιταίνων, Μαιονίην τ’ ἐδίδαξεν ἑὴν ἄγρυπνον ἑορτήν.

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366 post 370 transposuit Koechly 369 ἄσχετον L : ἄσπετον Castiglioni 388 δ᾿ L : delevit Ludwich 389 locus corruptus : ὀπισθοδότω L : δ᾿ ὀπισθοβόλῳ Ludwich : δ᾿ ὀπισθοπόρῳ Vian : ποθοβλήτῳ Tiedke

Text und Übersetzung

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abwechselte und dabei den dichtbehaarten Bart mit der Nässe des Bakchos benetzte. Ein anderer begann zu springen, bewegt vom Stachel des Rausches, als er das schreckliche Brüllen der geschlagenen Trommel hörte. Wieder ein anderer trank den unaufhaltsamen Strom des alle Mühe mildernden Weins und rötete seinen dunklen Bart mit dem rosenfarbigen Getränk. Einer richtete seinen Blick, der ihn leicht zu Fall hätte bringen können, auf einen Baum und erspähte dort eine zur Hälfte sichtbare Nymphe ohne Kopfbinde; und er wäre mit der sich festkrallenden Sohle des leicht abrutschenden Fußes auf den in der Höhe belaubten Baum des Bergwaldes geklettert, wenn Dionysos ihn nicht davon abgehalten hätte. Wieder anderes im Sinn hatte einer, der bei den Quellen bewegt von dem gemütaufstachelnden Rausch eine unbekleidete nasse Najade verfolgte; und er hätte die Schwimmende mit dem dichtbehaarten Arm umklammert, wenn sie sich nicht schon, ihm zuvorkommend, in der tiefen Strömung verborgen hätte. Allein dem weintrinkenden Dionysos gab Rhea den Amethyst als Abwehrmittel gegen den rasend machenden Zwang. [382] Viele der schön gehörnten Satyrn schwärmten nun, zum Tanz aufgestachelt, in fröhlichem Schritt aus: Der eine von diesen umarmte, innerlich getrieben von einem neuartigen heißen Stachel, dem Begleiter der Begierde, mit seinem dicht behaarten Arm eine Bakchantin in der Mitte ihres Körpers. Ein anderer, gebeutelt vom Stachel des sinnverwirrenden Rausches, ergriff den Gürtel eines jungfräulichen und sittsamen Mädchens; er hob zum Vollzug der Liebe die Kleider der jungen unnachgiebigen Frau und berührte ihre rosigen Schenkel mit seiner †nach hinten gegebenen† Hand. Wieder ein anderer zog, obwohl sie sich widersetze, eine junge Mystin heran, welche für Dionysos eine Fackel, die Begleiterin der nächtlichen Tänze, trug. Einer schlang sanft die Finger um den Oberkörper und drückte die gewölbte Rundung der prallen Brust. [394] Nach dem Fest der süßen Weinfrucht begab sich Dionysos stolz zur Höhle der kybelischen Gottheit, wobei er Schösslinge in der rebenliebenden Hand hielt, und lehrte Mäonien seine schlaflose Feier.

Kommentar

1–117a Horen-Intermezzo (Fortsetzung) Das 12. Buch führt das in 11.485b einsetzende Horen-Intermezzo fort (zum Abschnitt 11.485b–521 s. v.a. Stegemann 1930, 128–138; String 1966, 75–76; Vian 1995a, 26–27; 179–182; Gigli Piccardi 2003, 802–808; Kröll 2013; 2016, 180–187). Dieses erzählt vom Besuch der vier Jahreszeitenhoren im Palast des Helios, wo sie anhand der prophetischen κύρβεις der Harmonia von der bevorstehenden Metamorphose des Ampelos erfahren. Es sollte zwar kein Zweifel daran bestehen, dass die Integration der Szene an dieser Stelle der Autorintention entspricht. Der Abschnitt weist jedoch starke Züge der Unfertigkeit auf und scheint allem Anschein nach erst sekundär der Handlung der Ampelos-Episode eingegliedert und mit dieser nicht letztgültig harmonisiert worden zu sein (s. E. Kap. 5). Aufgrund des gleichsam embryonalen Zustands der Szene ist das Verständnis des Textes stellenweise schwierig und klare Schlussfolgerungen nicht immer möglich. Im Zentrum der Szene stehen die vier Jahreszeitenhoren. Sie gelten in den Dionysiaka als Töchter des Lykabas (7.16 θυγατέρες Λυκάβαντος; 11.486; vgl. zu Helios als Vater der Ὦραι Q. S. 10.336–342) und sind von den zwölf Monatshoren (s. K. 15–20) sowie von den gleichnamigen Zeus-Töchtern, die in mehreren verschiedenen Rollen im Epos agieren, zu unterscheiden. Wie auch im Fall anderer personifizierter Gottheiten und Allegorien (s. E. Kap. 6) scheint ihnen erst durch Nonnos eine zentrale narrative Funktion zugewiesen worden zu sein (vgl. aber Ov. Met. 2.26–30; zu den Personifikationen der vier Jahreszeiten s. allgemein Hanfmann 1951, 115–127; 142–159; 245–261). Außerhalb des Horen-Intermezzos werden die Jahreszeitenhoren hauptsächlich im Zusammenhang mit der Beschreibung des Jahresverlaufs erwähnt (25.363–364; 38.15; 236); mit Bezug zum Wein werden sie in 7.15–16 genannt, wo sie freudlos Blumenkränze flechten, da es auf Erden noch keinen Wein gibt. Der Schauplatz des Horen-Intermezzos ist der Palast des Helios. Angesichts der poetischen Möglichkeiten, die eine Beschreibung des Sonnenpalastes geboten hätte – was z.B. Ovid (Met. 2.1–30) eindrücklich beweist – überrascht es ein wenig, dass im Rahmen des Horen-Intermezzos eine entsprechende ekphrastische Amplifikation ausgeblieben ist; dies gilt umso mehr, als Nonnos gerade für Sujets, die mit Glanz und Polychromie in Verbindung zu bringen sind, eine Vorliebe zeigt (Faber 2016, 449–450). Aus dem Text lassen sich folgende Informationen zum Palast des Sonnengottes gewinnen: Dieser befindet sich am

1–117a Horen-Intermezzo (Fortsetzung)

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westlichen Rand des Okeanos (12.1 δυτικοῖο παρ’ ὀφρύσιν ᾿Ωκεανοῖο) und verfügt über vier illustrierte κύρβεις, die eine Art prophetisches Weltarchiv bilden. Erwähnt wird auch eine Krippe für Helios’ Pferde (12.14 φάτνῃ; vgl. 38.297 ἠῴης ἀπὸ φάτνης). Eine genaue Lokalisierung der Begegnung der vier Jahreszeitenhoren mit Helios ist schwierig. Die – etwas sonderbare – Formulierung παρ’ ὄμμασιν ἡνιοχῆος (s. K. 6) lässt diesbezüglich einen gewissen Spielraum. Man wird sich wohl vorstellen müssen, dass die vier Jahreszeitenhoren den Sonnengott auf seinem Thron im Inneren des Palastes antreffen (15 θοώκου). Es überrascht allerdings, dass das Betreten des Palastes im Horen-Intermezzo nur vage angedeutet wird, während Nonnos ansonsten im Rahmen der Schilderung von Ankunftsszenen sehr präzise die Umstände des Eintretens in die jeweiligen Gebäude beschreibt (vgl. 3.226–229; 6.15–30; 18.62–92; 41.288–312). Zudem steht die Lokalisierung von Helios im Inneren des Palastes in einem gewissen Widerspruch zum starken Fokus, der auf Helios’ Wagen bzw. auf Helios als Lenker desselben liegt (v.a. 6 ἡνιοχῆος; 8 ἐλατῆρος; 9 ἐγγύθι δίφρου; 16 ἡνιοχῆος; 18 δίφρῳ). Der Sonnenwagen selbst als alternativer Schauplatz der Begrüßungsszene – in diesem Fall würde sich Helios noch auf dem gerade gelandeten Wagen (7–8 ἄρτι …/ἠερόθεν νόστησε) befinden – ist jedoch aufgrund sprachlicher (s. K. 15 πέριξ φλογεροῖο θοώκου) und inhaltlicher Argumente auszuschließen. Aus inhaltlicher Sicht ist dieser dabei insofern problematisch, als dies implizieren würde, dass Helios die gesamte Zeitspanne, in der Phosporos die Pferde abgeschirrt und gewaschen hat (11), im Wagen verbracht hätte. Gegenüber vom Thron des Helios befinden sich die vier κύρβεις der Harmonia (30 ἀντιπόρῳ παρὰ τοίχῳ). Auch hierzu finden sich nur spärliche Angaben, sodass es schwerfällt, sich ein genaues und vor allem kohärentes Bild von diesen zu machen (s. hierzu die ausführliche Diskussion in K. 29–35). Das Horen-Intermezzo ist Teil eines in den Dionysiaka beliebten Szenentyps, bei dem eine außerhalb der traditionellen Göttergemeinschaft stehende Gottheit aufgesucht und zu einer bestimmten Angelegenheit befragt wird (ausführlich hierzu Vian 1993; Lightfoot 2014b, 48–52): Im 6. Buch besucht Demeter Astraios, der ihr durch die Auslegung eines Horoskops den Raub der Persephone und die Geburt des Dionysos Zagreus prophezeit (6.4–108). Im 41. Buch macht sich Aphrodite zum Palast der Harmonia auf und erfährt dort durch die Lektüre der prophetischen Tafeln des Ophion das zukünftige Schicksal der Stadt Berytos (41.263–400). Vergleichbar mit diesen Passagen ist auch die Szene vom Besuch des Aion bei Zeus und seine Klage über das traurige Schicksal der Sterblichen, woraufhin ihm Zeus die Geburt des Dionysos ankündigt (7.22–109). Diesen Szenen ist dabei gemeinsam, dass sie auf ein zentrales Geschehnis, dem sie meistens direkt vorgeschaltet sind, vorverweisen. Dieses wird als ein gleichsam von Anbeginn der Zeiten vorherbestimmtes Ereignis vorgeführt und dadurch erhöht. Das Auftreten von kosmischen oder allegorischen Gottheiten

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Kommentar

verleiht den Szenen zusätzliche Feierlichkeit. Für diesen Szenentyp, der in einer gewissen Weise die Funktion des traditionellen olympischen Götterapparats übernimmt, sind mir außerhalb der Dionysiaka keine weiteren Belege bekannt. Dem nonnianischen Kompositionsschema am nächsten kommt die Schilderung vom Besuch des Gottes Sol in der spelunca aevi am Ende von Claudians De consulatu Stilichonis 2.421–476 (vgl. Vian 1995a, 55). Aus dieser Höhle, in der sich ein Greis befindet, der die Geschicke des Kosmos bestimmt und den Lauf der Geschichte niederschreibt, holt Sol ein aureus annus, das mit dem Namen Stilichos versehen ist. Der Besuch der vier Jahreszeitenhoren im Palast des Helios dient hauptsächlich dazu, die Verwandlung des Ampelos als ein Ereignis von kosmischer Bedeutung zu charakterisieren. Verglichen mit den anderen Szenen dieses Typs – aber auch generell – wird die Szene jedoch auf der Handlungsebene nur dürftig motiviert: Im Rahmen der – sehr abrupten – Überleitung zum Horen-Intermezzo (11.485– 487) werden keine Details bezüglich des Grundes ihres Aufbruchs genannt und der Leser erfährt diesen eigentlich erst aus der Rede der Herbsthore in 12.23–28: Diese möchte von Helios wissen, wann der Wein entstehen und welcher Gottheit dieser als Attribut zugewiesen werden wird. Weshalb sie diese Informationen benötigt, geht dabei aus ihrer Rede allerdings nicht ganz klar hervor (s. K. 23–28). Kaum beantwortet wird auch die Frage, warum die vier Jahreszeitenhoren (i.) genau Helios und (ii.) warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt aufsuchen: (ad i.) Während sich die Tatsache, dass Demeter und Aphrodite die Gottheiten Astraios bzw. Harmonia aufsuchen, leicht dadurch erklären lässt, dass ersterer als kundiger Astrologe die Zukunft vorhersehen kann bzw. letztere als Personifikation der kosmischen Harmonie in einem Naheverhältnis zum Schicksal des Kosmos steht, ist die Wahl von Helios als Auskunftsperson nicht von vorneherein eindeutig ersichtlich. Helios wird zwar manchmal gleichsam hymnisch als Herr über den Lauf der Jahre bezeichnet (z.B. 27.9 ἀενάων ἐτέων … ποιμήν; 40.369 ὄρχαμε κόσμου; vgl. Vian 1995a, 52), tritt aber normalerweise nur als unermüdlicher Lenker des Sonnenwagens auf. Keinesfalls fungiert er in den Dionysiaka aber als Verantwortlicher für den Weltenlauf oder Ähnliches. Der Grund, warum die Jahreszeitenhoren ausgerechnet Helios als Auskunftsperson wählen, scheint vielmehr in seiner Rolle als Verantwortlicher für das Gedeihen der Vegetation zu suchen zu sein, auf welche die Herbsthore in ihrer Rede auch explizit anspielt (12.23 ᾿Ηέλιε ζείδωρε, φυτηκόμε, κοίρανε καρπῶν; vgl. 12.2 ᾿Ηελίου γονόεντος; 6 φερεζώοιο). Dahinter dürfte wohl der Gedanke stehen, dass von Helios als »Herr über die Früchte« zu erwarten ist, dass er sich in Belangen, die die Vegetation (und damit auch die Entstehung des Weins) betreffen, gut auskennt. Zudem steht er auch generell als Gott, der den Lauf des Jahres anführt, in einem Naheverhältnis zu den Jahreszeiten (38.236

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μέτρα χρόνου πισύρῃσι φέρων κυκλούμενος ῞Ωραις; 40.379–380 φέρεις τετράζυγι δίφρῳ/χεῖμα μετὰ φθινόπωρον, ἄγεις θέρος εἶαρ ἀμείβων). Überraschenderweise scheint er aber die von den Horen gesuchten Informationen nicht zu kennen und muss die Besucherinnen auf die κύρβεις der Harmonia in seinem Palast verweisen. Offen bleibt dabei jedoch, (a.) warum sich dieses prophetische Weltarchiv ausgerechnet in seinem Palast befindet und (b.) welche Rolle Harmonia eigentlich in Bezug auf die von Phanes verfassten Tafeln spielt. (ad ii.) Aus narrativer Perspektive ist die Integration des Horen-Intermezzos als Vorausgriff auf die Verwandlung des Ampelos durchaus nachvollziehbar. Auf der Handlungsebene jedoch wird kaum begründet, warum die Jahreszeitenhoren genau zu diesem Zeitpunkt Helios besuchen, um die gesuchten Informationen zu erhalten. Einziger Hinweis bilden die Verse 11.520–521, die vage davon sprechen, dass nun hierfür der vom Schicksal vorherbestimmte Zeitpunkt gekommen ist: Ἀλλὰ τότε χρόνος ἦλθε μεμορμένος, οὗ χάριν αὐταί/εἰς δόμον ᾿Ηελίοιο συνήλυδες ἔδραμον ῟Ωραι. Die mangelnde handlungslogische Motivierung fällt dabei umso mehr auf, als in den anderen vergleichbaren Szenen der Grund des jeweiligen Besuchs durchaus aus dem Kontext hervorgeht: Der Besuch der Demeter bei Astraios ist dadurch motiviert, dass Demeter angesichts der Avancen unterschiedlicher Götter besorgt ist und das weitere Schicksal ihrer Tochter erfahren möchte (6.55–56); Aphrodite wiederum sucht Harmonia auf (41.263; 322–328), weil sie in Erfahrung bringen möchte, welcher der ihr heiligen Städte die versprochene Ehre erhalten wird, die Hüterin des Rechts zu sein. Diese Unstimmigkeiten bzw. Leerstellen nähren den Verdacht, dass sich Nonnos über die genaue handlungslogische Anbindung der Szene noch nicht ganz im Klaren war. Im Zentrum des Horen-Intermezzos steht – wie im Fall von Aphrodites Besuchs bei Harmonia – die Konsultation eines prophetischen Weltarchivs. Die beiden Szenen scheinen dabei bewusst parallel gestaltet worden zu sein (zur Korrespondenz des 12. mit dem 41. Buch s. E. Kap. 3.2.). Besonders deutlich ersichtlich wird dies anhand folgender Übereinstimmungen (vgl. Lightfoot 2014b, 49): (i.) Die besuchte Person wird um Informationen gebeten, kann die Fragen aber nicht selbst beantworten und verweist den Gast daher auf im jeweiligen Palast aufgestellte prophetische Tafeln (in beiden Fällen von primordialen Gottheiten verfasst). (ii.) Die Besucherinnen konsultieren die Tafeln und finden die gewünschten Informationen. Sie lesen dabei nicht nur die Inschriften, die zur Beantwortung ihrer Fragen dienen, sondern auch zahlreiche weitere. (iii.) Die Tafeln sind nach einem speziellen Ordnungsmuster gestaltet: Die sieben Tafeln im Palast der Harmonia stehen in Bezug zu den sieben Planeten, die vier Tafeln im Palast des Helios zu den vier Jahreszeiten (s. hierzu unten).

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Kommentar

Die ausführliche Schilderung der Konsultation eines kosmischen Weltarchivs ist meines Wissens singulär in der antiken Literatur und beweist den innovativen und erfindungsreichen Charakter der nonnianischen Dichtung (vgl. Lightfoot 2014b, 52 »This seems to be Nonnus’ innovation. His tablets contain a riot of detail, without parallel anywhere else«). Gleichzeitig fußt Nonnos hierbei freilich zu einem gewissen Grad auf einer literarischen Tradition (vgl. Lightfoot 2014b, 50–51). Zum einen ist das Auffinden von Prophezeiungen oder alten Schriften an einem verborgenen Ort ein bekannter antiker Topos (s. hierzu Vian 1995a, 55; Gigli Piccardi 2003, 741), zum anderen gibt es auch, was die Vorstellung eines kosmischen Weltarchivs im Speziellen betrifft, durchaus Parallelen: Nonnos’ prophetischen Tafeln am nächsten stehen dabei die Verse 15.807–842 in Ovids Metamorphosen: Jupiter informiert dort Venus über das Schicksal des Augustus, welches er selbst aus den rerum tabularia der Parzen erfahren habe. Die Vorstellung eines Weltarchivs findet sich auch in De nuptiis Philologiae et Mercurii des Martianus Capella (1.65–66), wo die Parzen als Verantwortliche für das Archiv am Olymp fungieren, in dem die Ratschlüsse der Götterversammlung abgelegt werden (librariae superum archivique custodes … magistratus in acta caelestumque consultum stilos acuunt cerasque componunt). Auch Claudian lässt Atropos den Beschluss des Jupiter in De bello Gildonico 202–203 gleichsam in das unauslöschliche Buch der Weltgeschichte eintragen (voces adamante notabat Atropos; vgl. Paneg. 2.18.4; Serv. Aen. 1.22). Das Weltarchiv im Palast des Helios besteht aus vier κύρβεις, auf denen die primordiale Gottheit Phanes die Geschicke des Kosmos verzeichnet hat. Der Inhalt der Tafeln wird teils indirekt berichtet, teils direkt in Form des Originalwortlauts widergegeben. Es ist dabei davon auszugehen, dass die erwähnten »geschichtlichen« Ereignisse nur eine Auswahl der auf den Tafeln befindlichen Prophezeiungen bilden. Hierfür spricht insbesondere, dass Helios der Herbsthore Illustrationen als Orientierungspunkte zum Auffinden der gesuchten Inschriften geben muss. Die κύρβεις lassen ein grob chronologisches Schema erkennen: Die ersten beiden Tafeln behandeln in zeitlicher Folge Ereignisse der Frühgeschichte (bis zur Deukalionischen Flut), die dritte und vierte jüngere Geschehnisse der Heroenzeit. Die präsentierte Weltgeschichte besitzt in dieser Form keine exakte mythographische Entsprechung, sondern bildet eine Mischung aus unterschiedlichen Traditionssträngen. Einige der auf den κύρβεις berichteten Ereignisse werden auch im Rahmen der Handlung der Dionysiaka thematisiert. Der Versuch, die Weltgeschichte der κύρβεις in Einklang mit der Handlung der Dionysiaka zu bringen (so v.a. Stegemann 1930, 159–172), erweist sich jedoch als wenig zielführend. So bestehen offensichtliche chronologische Widersprüche zwischen dem Inhalt der κύρβεις und dem Rest der Dionysiaka, wie folgende zwei Beispiele zeigen: Die Zuweisung des Getreides als Attribut an Demeter wird auf der vierten Tafel erwähnt, obwohl diese bereits vor der Metamorphose des Ampelos erfolgt ist (s.

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v.a. 7.82–84), die schon auf der dritten Tafel erwähnt worden ist. Im Rahmen der Beschreibung der Deukalionischen Flut (6.346–355), die auf der zweiten Tafel genannt wird, treten Pyramos und Thisbe als Flüsse auf, obwohl ihre Verwandlung erst auf der dritten Tafel erwähnt wird. Für die Schwierigkeiten, die Weltgeschichte der κύρβεις mit der Handlung der Dionysiaka in eine sinnvolle Beziehung zu setzen, muss als Erklärung nicht notgedrungen auf den unfertigen Zustand des Horen-Intermezzos rekurriert werden (auch wenn gewisse kausale Verbindungen nicht auszuschließen sind). Die Beschreibung der einzelnen κύρβεις – wie die Ekphrasen in den Dionysiaka allgemein – sind wohl vielmehr als autonome literarische Gebilde zu sehen, die ihrer eigenen literarischen Logik folgen; es ist dabei nicht ungewöhnlich, dass Nonnos in diesem Rahmen kleinere Widersprüche in Kauf nimmt (s. E. Kap. 8.1.). Fincher 2018 schlägt eine metapoetische Lektüre der κύρβεις der Harmonia vor, die allerdings über weite Strecken spekulativ bleibt. Plausibel erscheint mir hingegen eine andere »allegorische« Form der Lektüre. Im Rahmen der Gestaltung der κύρβεις setzt Nonnos nämlich offensichtlich den Ablauf der geschilderten Weltgeschichte mit dem Jahreslauf in Parallele und weist so die einzelnen κύρβεις bestimmten Jahreszeiten zu. Diese Bezüge, die sich – wohlgemerkt nur auf der Darstellungsebene – manifestieren, wurden in ihrer Vollumfänglichkeit bisher nicht erkannt (vgl. aber Stegemann 1930, 138–172; Vian 1995a, 55–60). So spielt Nonnos bei der Beschreibung der ersten Tafel, die hauptsächlich die Taten des Kronos behandelt, auf die verbreitete allegorische Deutung von Kronos als Winter an, wodurch die κύρβις als Wintertafel charakterisiert wird. Auf der zweiten Tafel wird die Entstehung eines Menschengeschlechts aus Bäumen sowie die Deukalionische Flut beschrieben, die beide in Bezug zum Frühling (Sprießen der Natur bzw. Überschwemmungen als Folge der Schneeschmelze) gesetzt werden können. Die dritte Tafel wird durch die Nennung der Abbildungen der Sternzeichen von Löwe und Jungfrau ganz offensichtlich mit dem Sommer verbunden und auch die Illustration des Ganymed auf der vierten Tafel, dessen Ikonographie nach jener der Darstellung des Monats Oktober als weineinschenkender Jüngling gestaltet ist, dürfte als Anspielung auf den Charakter der κύρβις als Tafel des Herbstes zu deuten sein. Die Parallelisierung zwischen dem Charakter der einzelnen Tafeln und den jeweiligen Inhalten findet eine Entsprechung in den nach den sieben Planetengöttern benannten πίνακες im Palast der Harmonia. So verweist Harmonia die Göttin Aphrodite auf die Frage, welche Stadt die älteste sei (41.358–359), auf die Tafel des Saturn (Kronos), was insofern naheliegend ist, als Kronos mit der Frühgeschichte der Welt assoziiert wurde (vgl. v.a. 41.67–68). Aphrodite liest dann auf der Tafel des Merkur (Hermes), dem Gott der Erfindung, mehrere Prophezeiungen, die verschiedene εὑρήματα und deren jeweiligen πρῶτος εὑρετής nennen (41.370–384). Zudem erfährt sie im Abschnitt zu den ἔργα πολήων, dass die Stadt Berytos zur Hüterin des Rechts werden wird. Die Nennung dieses

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Kommentar

Ereignisses auf der Tafel des Merkur erklärt sich daraus, dass Hermes in den Dionysiaka als Gott des Rechts fungiert (vgl. 41.344 [von der Tafel des Merkur] ᾧ ἔνι πάντα τετεύχαται ὄργια θεσμῶν; allgemein Fayant 1998, 153–155). 1–20 Ankunft der vier Jahreszeitenhoren Der Schilderungen der Ankunft der vier Jahreszeitenhoren im Palast des Helios liegt der Aufbau einer epischen Ankunftsszene zugrunde (hierzu Arend 1933, 28–34), welche typischerweise folgende Elemente umfasst: (i.) Eintreffen des Gastes, (ii.) Beschreibung der aktuellen Tätigkeit des Besuchten, (iii.) Begrüßung. Bei der vorliegenden Schilderung der Ankunft der Jahreszeitenhoren variiert Nonnos das homerische Muster insofern, als er nach der Ankunft der Jahreszeitenhoren bei Helios (12.1–5) anstelle der Beschreibung der potentiellen Tätigkeiten des Sonnengottes ein tableau gestaltet, das das Abschirren der Pferde des Sonnenwagens durch Helios’ Diener Phosphoros schildert (6–14). Auch die Begrüßung der vier Jahreszeitenhoren erfolgt nicht durch Helios selbst, sondern durch die zwölf Monatshoren, die ihn auf dem Sonnenwagen begleiten (15–20), wodurch eine etwas sonderbare Situation entsteht, da die Jahreszeitenhoren vor Helios stehen (6 παρ’ ὄμμασιν), sie aber weder ihn noch er sie begrüßt. 1–2 Bucheinleitung Der Beginn des Buches fällt mit keinem inhaltlichen Einschnitt zusammen (vgl. den Beginn der Bücher 10, 11, 15, 21 und 40 sowie Vian 1976, XXVI). Die Verse sind insofern auffällig, als sie die Aussage des vorangehenden Verses wiederholen (11.521 εἰς δόμον ᾿Ηελίοιο συνήλυδες ἔδραμον ῟Ωραι). Ähnliche Wiederholungen bei der Überleitung zu einem neuen Buch finden sich zwar auch in 10.1–2 und 30.1–2, der Grad der Redundanz ist in 12.1–2 aber deutlich höher. Dieser könnte mit der sekundären Integration des Horen-Intermezzos in Zusammenhang stehen (vgl. Keydell 1932, 182). Durch die Einfügung desselben dürfte sich ja die bisher geplante Bucheinteilung verschoben haben, wodurch eine neue Εinleitung zu Buch 12 nötig wurde. Die auffällige Redundanz könnte demnach das Resultat einer noch nicht gänzlich erfolgten Harmonisierung der neuen Bucheinleitung mit dem ursprünglichen Text des Horen-Intermezzos sein. 1 ῝Ως αἱ μὲν Das Buch beginnt in ganz homerischer Manier (vgl. Il. 9.1 ῝Ως οἳ μέν; 12.1 ῝Ως ὃ μέν; 16.1 ῝Ως οἳ μέν; 18.1 ῝Ως οἳ μέν; 20.1 ῝Ως οἳ μέν; 22.1 ῝Ως οἳ μέν; 23.1 ῝Ως οἳ μέν; Od. 6.1. ῝Ως ὁ μέν; 7.1 ῝Ως ὁ μέν); auf dieselbe Weise verfährt Nonnos auch in 2.1 ῝Ως ὁ μέν; 10.1 ῝Ως ἡ μέν; 30.1 ῝Ως ὁ μέν; 31.1 ῝Ως ὁ μέν; 37.1 und 43.1 ῝Ως ὁ μέν (vgl. die Imitation von Hom. Il. 24.1 Λῦτο δ’ ἀγών in 3.1; 11.1; 20.1; 38.1). παρ’ ὀφρύσιν ᾿Ωκεανοῖο Nonnos verwendet diese nicht ungeläufige Umschreibung für das Ufer eines Gewässers (vgl. z.B. A.  R. 1.178 ἐπ’ ὀφρύσιν Αἰγιαλοῖο) mehrfach im Epos (vgl. 25.456; 37.119; 38.94; 316; 41.131; 45.128; zur

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personifizierenden Beschreibung von Landschaftselementen s. E. Kap. 8.2.3; zu der des Okeanos im Speziellen s. Miguélez-Cavero 2013a, 364). 2᾿Ηελίου γονόεντος Das Epitheton unterstreicht die Rolle des Helios im HorenIntermezzo als Verantwortlichen für das Gedeihen der Vegetation (s. K. 1–117a). ἐναυλίζοντο Das Verb ἐναυλίζομαι kann bei Nonnos das Aufsuchen eines Ortes bezeichnen (vgl. 24.124 [von dem feiernd herumschweifenden Heer des Dionysos] καὶ σκοπέλους ἐδίωκον, ἐναυλίζοντο δὲ λόχμαις; 25.300 [von sich verschanzenden Bürgern] πύργοις δ’ ἠλιβάτοισιν ἐναυλίζοντο πολῖται; 32.287 [von sich versteckenden Najaden] ἐναυλίζοντο ῥεέθροις; Met. 20.46 [von zwei heimkehrenden Jüngern] ἐναυλίζοντο μελάθροις [für ἀπῆλθον Eu. Io. 20.10]). Diese spezielle Verwendung von ἐναυλίζομαι hatte zu Verwirrung geführt (s. Scheindler 1880, 37–38; Keydell 1932, 182). 3 Τῇσι δὲ νισομένῃσι συνήντεεν ῞Εσπερος ἀστήρ Vgl. die Beschreibung der Morgendämmerung in Q. S. 5.395–403, wo Hypnos bei seiner morgendlichen Rückkehr auf Hera trifft. Zur personifizierten Darstellung des Abendsterns s. K. 9. 5 ἀρτιφανὴς Angesicht des Kontexts, nämlich der Beschreibung des Einbruchs der Nacht, ist das Adjektiv wohl auf das erste Sichtbarwerden des Mondes in der Abenddämmerung zu beziehen (vgl. 26.189 ἀρτιφανὴς Φαέθων; 38.8 ἀρτιχάρακτον … φάος Ἠοῦς). Etwas konstruiert wirkt die Deutung, nach welcher ἀρτιφανής in Zusammenhang mit dem Verlauf des Mondzyklus zu setzen und demnach auf die Mondsichel kurz nach Neumond zu beziehen ist (vgl. Stegemann 1930, 138 Anm. 27; Vian 1995a ad loc.; Gigli Piccardi 2003 ad loc.). βοῶν ἐλάτειρα Σελήνη Während man sich bis ins zweite Jh. n. Chr. den Wagen der Mondgöttin als von Pferden gezogen dachte, etablierte sich im Anschluss die Vorstellung von Selene als der Lenkerin eines von Rindern gezogenen Wagens (vgl. Mesom. 2.21–23 Heitsch; Lib. Enc. 8.1; Claud. Rapt. Pros. 3.403; Prud. C. Symm. 1.361; LIMC 7.1, 714 s.v. Selene/Luna). Ihre Charakterisierung als βοῶν ἐλάτειρα (vgl. 1.331; 5.72; 7.247; 11.186; 23.309; 47.283; 48.668) steht hier in Kontrast zu dem im Folgevers erwähnten Lenker des von feurigen Rossen gezogenen Sonnenwagens. 6–14 Landung des Helios Beschreibungen des Auf- und Untergangs von Helios, Selene und Eos mit ihren jeweiligen Wägen sind typische Elemente des antiken Epos (vgl. James 1978; 1981), die in der späteren Epik immer ausführlichere Ausgestaltungen erfahren. Nonnos fokussiert bei seiner Beschreibung der Landung des Helios auf das Abschirren der Pferde vom Sonnenwagen durch dessen Diener Phosphoros: Dieser löst die Pferde vom Joch, wäscht sie im Okeanos und lässt sie zur Fütterung zur Krippe laufen (vgl. 25.378–379 [von der Ankunft des

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Attis]). Das Abschirren und Füttern der Pferde bilden typische Tätigkeiten am Ende einer epischen Wagenfahrt (vgl. Hom. Il. 5.368–369; 775–777; 8.433–434; 503–504; 10.566–569; 13.34–38; Od. 4.39–41; 6.88–90; Arend 1933, 86–91). Die Erwähnung des Waschens der Pferde nach einer anstrengenden Fahrt ist naheliegend (vgl. z.B. Call. Lau. Pall. 9–11 [von Athene] ὑφ’ ἅρματος αὐχένας ἵππων/ λυσαμένα παγαῖς ἔκλυσεν ᾿Ωκεανῶ/ἱδρῶ καὶ ῥαθάμιγγας), dürfte aber wohl vor allem vom Bild des Bads der Sonne im Okeanos bei deren Auf- und Untergang beeinflusst gewesen sein (vgl. 26.189 ἀρτιφανὴς Φαέθων, ὅτε λούεται ᾿Ωκεανοῖο; 40.386 [von Helios] χεύμασι δ’ ἀντολικοῖο λελουμένος ᾿Ωκεανοῖο; weiters A. Fr. 192 TrGF χρῶτ’ ἀθάνατον κάματόν θ’ ἵππων θερμαῖς ὕδατος/μαλακοῦ προχοαῖς τ’ ἀναπαύει; Verg. Georg. 3.359 [von Sol] praecipitem Oceani rubro lauit aequore currum; Sil. 17.638–639 lauare/solis equos dulci … fluminis unda; Orph. A. 512 ᾿Ωκεανοῖο ῥόον βαπτίζετο Τιτάν). Eine eindrückliche Parallele zur hier geschilderten Szene bildet die Beschreibung der Landung des Sol in Stat. Theb. 3.407–414, die von Vian 1995a, 54 diskutiert wird: soluerat Hesperii deuexo margine ponti/flagrantes Sol pronus equos rutilamque lauabat/Oceani sub fonte comam, cui turba profundi/Nereos et rapidis accurrunt passibus Horae,/frenaque et auratae textum sublime coronae/ deripiunt, laxant calidis umentia loris/pectora; pars meritos uertunt ad molle iugales/gramen et erecto currum temone supinant. 6 φερεζώοιο Helios tritt im Horen-Intermezzo hauptsächlich als Verantwortlicher für das Gedeihen der Vegetation in Erscheinung (s. K. 1–117a). Bei dem Beiwort φερέζωος, das vor Nonnos nicht belegt ist und sich nur an dieser Stelle in den Dionysiaka findet, dürfte es sich um eine nonnianische Umbildung des epischen epitheton ornans φερέσβιος handeln (vgl. z.B. h. Cer. 450 φερέσβιον οὖθαρ ἀρούρης; Hes. Th. 693 γαῖα φερέσβιος; A. R. 3.164 γαῖα φερέσβιος; als Epitheton für Helios im Speziellen Orph. Lith. 301–302 φερέσβιος …/Ἠέλιος). Komposita mit dem Präfix -φερ(ε) erfreuen sich in der kaiserzeitlichen Epik großer Beliebtheit (zur »Geschichte« der φερ(ε)- Komposita s. James 1970, 192–193). παρ’ ὄμμασιν ἡνιοχῆος Der Präpositionalausdruck παρ’ ὄμμασιν wirkt etwas sonderbar (vgl. Keydell 1959 in app.). Es wurden φερεζώου παρὰ δώμασιν (Lloyd-Jones 1961, 23) und παρ᾿ ἅρμασι (Vian 1995a ad loc.) als mögliche Konjekturen ins Spiel gebracht. Die vorgeschlagenen Eingriffe in den Text hätten den Vorteil, dass sie eine präzise Bestimmung des Schauplatzes der Begegnung zwischen Helios und den vier Jahreszeitenhoren böten. Angesicht der allgemeinen Probleme bezüglich besagter Lokalisierung (s. K. 1–117a) und der Tatsache, dass der Text auch in der überlieferten Form vertretbar ist, erscheint es vernünftiger, vor vorschnellen Eingriffen Abstand zu halten. In der Tat kann die Formulierung παρ’ ὄμμασιν als eine nonnianische Abwandlung des Ausdrucks ἐ(ι)ς ὀφθαλμούς/ὄμματα aufgefasst werden, mit dem üblicherweise beschrieben wird, dass eine Person unter die Augen einer anderen

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tritt (vgl. z.B. Hom. Il. 24.203–204 ἐλθέμεν/… ἀνδρὸς ἐς ὀφθαλμούς; S. Ant. 307 ἐκφανεῖτ’ ἐς ὀφθαλμοὺς ἐμούς; Longus 2.28.2 εἰς ὀφθαλμοὺς ἐκόμισαν; Ach. Tat. 4.7.8 εἰς ὀφθαλμοὺς ἡκέτω τοὺς ἐμούς; D. C. 63.17.4 μήτε ἐς ὀφθαλμοὺς τοῦ Νέρωνος ἀφικνούμενοι); Nonnos verwendet nämlich die Präposition παρά mit Dativ durchaus in Sinne von ἐ(ι)ς (vgl. Keydell 1959, 66*). Die Betonung der Augen des Helios (8 πυριγλήνου) könnte von der traditionellen Vorstellung beeinflusst sein, nach der der Sonnengott mit seinen Augen alles Geschehen auf Erden sieht (vgl. LIMC 4.1, 592–593 s.v. Sol; 5.1, 1006 s.v. Helios; Gigli Piccardi 1985, 178–179). 7 κάρπιμον ἴχνος ἔκαμψαν Die Junktur ἴχνος ἔκαμψεν/-αν ist Teil des nonnianischen Formelsystems: Alle der insgesamt zwölf Belege in den Dionysiaka finden sich in derselben metrischen sedes (zum nonnianischen Formelsystem s. Kap. 8.2.1.). Meist drückt ἴχνος ἔκαμψεν/-αν die Bewegung zu einem Ort hin aus (9.252; 13.154; 14.322; 18.88; 25.295; 33.60; 33.323; 40.301; 45.286). Nonnos zeigt bei der Beschreibung von Bewegungsabläufen generell eine starke Tendenz, anstelle von einfachen Verben Junkturen mit ἴχνος zu verwenden (vgl. Riemschneider 1957, 51). Auffallend ist dabei seine Vorliebe für Ausdrücke, die eine Kurvenbewegung implizieren, auch wenn der beschriebene Weg vielmehr als Gerade gedacht werden muss (vgl. z.Β. 25.31 ἴχνος ἑλίσσων; 26.307 δινεύων … ἴχνος; 42.36 κυκλώσας … ἴχνος). κάρπιμον Die Charakterisierung des Laufs der Jahreszeitenhoren als κάρπιμον ist zugegebenermaßen suspekt (vgl. Köchly 1857 ad 12.7). Es steht natürlich außer Frage, dass die vier Horen als Personifikationen der Jahreszeiten in enger Verbindung zum Gedeihen der Natur stehen. Der Hinweis auf ihre fruchtbare Natur im Zusammenhang mit ἴχνος ἔκαμψαν ist aber vor allem aus den zwei folgenden Gründen auffällig: (i.) Diese Stelle ist der einzige Beleg für die Verwendung des Begriffs κάρπιμος in den Dionysiaka. (ii.) Bei ähnlichen Formulierungen wählt Nonnos das zu ἴχνος gehörige Epitheton passend zum aktuellen Kontext (vgl. z.B 13.154 [von den in die alte Heimat zurückkehrenden Korybanten] νόστιμον ἴχνος ἔκαμψαν; 14.322 [von den fliehenden Herolden des Dionysos] φύξιμον ἴχνος ἔκαμψαν; 17.89 [von Dionysos, der zu einer Schlacht ins Gebirge aufbricht] ὀρίδρομον ἴχνος ἐπείγων; 18.151 [vom betrunkenen Pithos] μεθυσφαλὲς ἴχνος ἑλίσσων; 33.323 [von der in der Nacht aufbrechenden Chalkomede] ἔννυχον ἴχνος ἔκαμψε). Dies legt den Verdacht einer Korruptele nahe. Plausibel wäre es, an eine Verschreibung des paläographisch ähnlichen καμπύλον zu denken (Koch 1859, 454); der Fehler könnte von φερεζώοιο im vorangehenden Vers induziert sein. Die Junktur καμπύλον ἴχνος ἔκαμψαν ist in derselben metrischen sedes auch in 12.364 (καμπύλον ἴχνος ἔκαμψε) belegt; zudem finden sich in den Dionysiaka zahlreiche ähnliche Formulierungen (6.48 πάλλων καμπύλον ἴχνος; 8.21 καμπύλον ἴχνος ὑποσκαίρουσα; 18.141 καμπύλον ἴχνος ἄγων; 19.276 καμπύλον

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… ταρσὸν ἑλίξας). Sie alle stehen aber in Zusammenhang mit der Beschreibung von Tanzbewegungen. Dies und die Tatsache, dass der Text durchaus verständlich ist, wenn man κάρπιμον als eine generelle Eigenschaft des Laufs der Jahreszeitenhoren auffasst, mahnt dazu, den (wenngleich suspekten) Text nicht voreilig zu ändern. 8 πυριγλήνου Als Epitheton der Sonne findet sich dieses ansonsten kaum belegte Kompositum in Man. 3.182 πυρίγληνον Φαέθοντα. Als πυρίγληνοι werden Helios’ Pferde in Orph. L. 657 bezeichnet. Nach παρ’ ὄμμασιν ἡνιοχῆος (12.6) richtet Nonnos hier ein weiteres Mal das Augenmerk auf Helios’ Augen. 9 Φωσφόρος Die personifizierte Darstellung des Morgen- und Abendsterns ist geläufig (vgl. LIMC 2.1, 917–919 s.v. Astra; 8.1, 1181–1183 s.v. Stellae). Nonnos reizt diese aber in singulärer Weise aus, indem er Phosphoros zu einem Diener des Helios macht. Er greift dabei auf die alte Vorstellung zurück, dass Morgenund Abendstern zwei verschiedene Gestirne bilden. Da Phosphoros nur am Morgen scheint, kann er am Abend Helios am Boden Dienste leisten. Als Helios’ Diener fungiert er auch in 38.299–300, wo er am Morgen vor seinem Aufgang dessen Pferde anschirrt. 10 θερμὰ λέπαδνα Das supra lineam geschriebene θερμά dürfte eine varia lectio zu dem im Vers stehenden Epitheton λεπτά bilden (zu den variae lectiones von L s. E. Kap. 9). Eine sichere Zuschreibung zu einer bestimmten Hand ist nicht sl 2sl möglich (s. Vian 1995a in app. L [vel L ]). Aus drei Gründen scheint mir dabei θερμά der Vorzug zu geben zu sein: (i.) Als heiß werden die Jochriemen des Sonnenwagens auch in 38.186 bezeichnet, wo der vorliegende Vers fast wörtlich wiederholt wird: κούφισε θερμὰ λέπαδνα καὶ ἀστερόεσσαν ἱμάσθλην. (ii.) Das Epitheton θερμά passt besser zu dem als gleißend heiß beschriebenen Wagen des Helios (12.15 φλογεροῖο θοώκου; 18 αἴθοπι δίφρῳ). (iii.) Die Wortfolge λεπτὰ λέπαδνα lässt auf eine Dittographie schließen. 12 πυριτρεφέων … ἵππων Die Pferde des Helios werden wie ihr Lenker selbst mit Feuer assoziiert (vgl. z.B. Pi. O. 7.71 πῦρ πνεόντων … ἵππων; E. IA. 159 πῦρ τε τεθρίππων τῶν Ἀελίου; Ov. Met. 2.119 ignemque vomentes; Stat. Theb. 3.408 flagrantes … equos; Orph. L. 657–658 πυρίγληνοι … ἵπποι Ἠελίου). Die engste Parallele zur vorliegenden Stelle bildet ein Helioshymnos in einem Zauberpapyrus aus dem 4. Jh. (P.Berol. 5026), wo die Pferde des Sonnengottes ebenfalls als feuergenährt bezeichnet werden: πρὸ δέ σου Δύσις ἀντεβόλησεν/Ὠκεανῷ κατάγουσα πυριτρεφέων ζυγὰ πώλων (PGM 2.94–95). Bei diesem Hymnos handelt es sich um den einzigen weiteren Beleg für das Kompositum πυριτρεφής vor Nonnos.

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Bei der vorliegenden Schilderung weist das Epitheton πυριτρεφής auf die folgende Fütterung der Pferde voraus und bildet eine pointierte Antithese zu μυδαλέων ἱδρῶτι (vgl. z.B. 23.234 ὑδατόεις πυρόεντι κορύσσεαι; 300 ᾿Ηριδανὸν πυρόεντα). 15–20 Begrüßung durch die zwölf Monatshoren Neben den vier Horen der Jahreszeiten ist auch eine Gruppe von zwölf Horen belegt, die für gewöhnlich als Horen der Tagesstunden gedeutet werden: Sehr wahrscheinlich sind bereits die Horae in Ov. Met. 2.26 als Personifikationen der Tagesstunden aufzufassen (vgl. 2.118–121). Q. S. lässt in 2.595 die zwölf Tageshoren den Wagen der Eos begleiten (vgl. 2.658). Auf dem Gemälde, das Johannes von Gaza beschreibt, war der Wagen der Eos zu sehen, der von den Tageshoren gezogen wurde (Io. Gaz. 1.314–360). In Hyg. Fab. 183 ist sogar eine Liste überliefert, die die Namen von neun oder zehn Horen anführt, die die einzelnen Abschnitte des Tages symbolisieren. Möglicherweise sind auch die Horen, die im Kontext des Sonnenaufgangs bzw. Sonnenuntergangs in Val. Fl. 4.92; Stat. Theb. 3.410 und Luc. DDeor. 10.1 erwähnt werden, als Tageshoren aufzufassen. In den Dionysiaka gelten die zwölf Horen als Töchter der Zeit (12.15 θυγατέρες Χρόνοιο; vgl. Hymnus in omnes deos Heitsch Suppl. 3.8 Χρόνου παίδων Ὡρᾶν) und Dienerinnen des Helios. Sie holen dessen Pferde von der Krippe (38.297– 298) und begleiten ihn bei seiner Fahrt (12.15–20; 38.290; 415). Dem Helios dienende Horen werden auch in 2.176–177; 270 und 48.578 erwähnt, wo sie allerdings in ihren traditionellen Rollen als Türwächterinnen des Olymps bzw. Fruchtbarkeitsgöttinnen auftreten (zu den verschiedenen Horen-Typen in den Dionysiaka s. K. 1–117a). Es wäre auf den ersten Blick nahliegend, die zwölf Horen mit den oben erwähnten Tageshoren zu identifizieren (vgl. Met. 11.33 ἤματος … δυώδεκα κυκλάδες ὧραι). Allerdings scheint es, dass Nonnos ihre Zwölfzahl nicht mit den Stunden des Tages, sondern vielmehr mit den zwölf Monaten des Jahres verbindet: (i.) Die Charakterisierung als μυστιπόλοι Λυκάβαντος ἀμοιβάδες (12.19) lässt eher an die zwölf Monate des Jahres als an die zwölf Stunden des Tages denken. (ii.) Nonnos assoziiert die Fahrt des Helios auf dem Sonnenwagen hauptsächlich mit dessen Fahrt durch die zwölf Abschnitte des Zodiakus. Helios’ täglicher Fahrt von Ost nach West schenkt Nonnos hingegen nur geringe Bedeutung. Dies zeigt sich besonders eindrücklich in der Rede des Helios an seinen Sohn Phaeton (38.222–290), in der er diesen über den Lauf der Sonne informiert, aber ausschließlich seinen jährlichen Lauf durch die zwölf Tierkreiszeichen erwähnt. Am Ende seiner Rede erwähnt Helios explizit, dass zwölf Horen Phaeton bei dem beschriebenen Lauf durch den Zodiakus abwechselnd begleiten werden (38.290 σὸν δρόμον ἰθύνουσι δυώδεκα κυκλάδες Ὧραι).

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(iii.) Die Zahl Zwölf wird in den Dionysiaka fast ausschließlich mit dem Zodiakus und dem Lauf des Jahres in Zusammenhang gebracht (vgl. 6.243; 16.163; 38.114; 222; 261; 40.372). Es ist daher plausibler, dass die zwölf Horen mit den zwölf Monaten gleichzusetzen sind, die Helios benötigt, um die zwölf Zeichen des Zodiakus zu durchqueren. Nonnos scheint dabei einen im 5. und 6. Jh. sehr beliebten Bildtypus narrativ umzusetzen. Dieser zeigt Helios als Lenker des Sonnenwagens im Zentrum eines Kreises, der durch die zwölf Zeichen des Zodiakus ausgefüllt war; neben oder anstelle der Zeichen des Zodiakus konnten auch die Abbildungen der zwölf Monate treten (vgl. Hanfmann 1951, 247–248). Ein schönes Beispiel hierfür bildet ein Mosaik aus Bet Sche’an in Israel aus der Mitte des 6. Jh. (= LIMC 6.1, 486 s.v. Menses Nr. 22), wo Helios und Selene von einem Kreis mit den zwölf Monaten umgeben sind. Dass die zwölf Monatshoren die vier Jahreszeitenhoren begrüßen, ergibt eine für Nonnos typische Pointe (zum Spiel mit der Gleichnamigkeit von Personen vgl. 42.407 ἄλλῃ ᾿Αμυμώνῃ; 5.86 Αἰγυπτίης … ὁμώνυμον ἄστεϊ Θήβης; 48.29– 30 πρεσβυτέρους Τιτῆνας ἐπὶ προτέρῳ Διονύσῳ,/ὁπλοτέρους δὲ Γίγαντας ἐπ’ ὀψιγόνῳ Διονύσῳ; 77 νέος … Τυφωεύς). 15 πέριξ φλογεροῖο θοώκου Im Gegensatz zu ihrer Rolle als Begleiterinnen des Helios auf dem Sonnenwagen (18 συνήλυδες αἴθοπι δίφρῳ) scheinen die zwölf Monatshoren jetzt gerade den Thron des Gottes zu umkreisen (vgl. Ov. Met. 2.25 a dextra laevaque Dies et Mensis et Annus). Im Griechischen gibt es zwar eine gewisse begriffliche Überlappung zwischen den semantischen Konzepten »Wagen« und »Sitz« (vgl. LSJ s.v. δίφρος; Hdt. 9.94 [vom Wagen der Okeaniden] κραιπνόσυτος θᾶκος), in den Dionysiaka ist θόωκος bzw. θῶκος jedoch ausschließlich in der Verwendung »Sitz, Thron« belegbar (zur Problematik von Helios’ genauer Lokalisierung s. K. 1–117a). 16 ἀτειρέος ἡνιοχῆος Mit dem Epitheton ἀτειρής (vgl. Q. S. 2.2; 7.230 ἀτειρέος ἠελίοιο) variiert Nonnos die traditionelle Beschreibung der Sonne als ἀκάμας (vgl. z.B. Hom. Il. 18.239; 484; Hes. Th. 956; Q. S. 2.503). 17 κυκλάδες Als Personifikationen wiederkehrender Zeiteinheiten werden die Horen traditionell als kreisend charakterisiert (vgl. Orph. H. 43.5 Ὧραι … περικυκλάδες; 53.7 ἐνὶ κυκλάσιν ὥραις, Q. S. 2.599 κυλινδομένου περὶ κύκλον). Dementsprechend verwendet auch Nonnos das Epitheton zur Beschreibung der Jahreszeitenhoren (12.31), der Monatshoren (38.290) und der Stunden des Tages (Met. 2.22; 11.33). An dieser Stelle ist das Epitheton insofern pointiert gesetzt, als κυκλάδες nicht nur als fortwährende Eigenschaft der Monatshoren gedeutet, sondern auch auf die aktuell geschilderte Situation bezogen werden kann: In der

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Tat fliegen die Horen gerade in kreisförmiger Anordnung (στεφανηδὸν) um den Sitz des Helios (vgl. 12.31 κυκλάδι κούρῃ; 90 ἄστατος ῞Ωρη; zum pointierten Epitheta-Gebrauch allgemein s. E. Kap. 8.2.2.). 19 μυστιπόλοι Λυκάβαντος Die personifizierende Darstellung des Jahres ist geläufig (vgl. LIMC 1.1, 799–800 s.v. Annus). Nonnos wählt als dessen Name anstelle der üblichen Bezeichnung ἐνιαυτός die epische Form λυκάβας (zu λυκάβας s. Koller 1973). In den Dionysiaka ist Lykabas der Sohn des Chronos (40.372) und der Vater der vier Jahreszeitenhoren (s. K. 1–117a). Als Personifikation des Jahres steht er aber natürlich auch in einem Naheverhältnis zu den zwölf Monaten (vgl. 38.114 λυκάβαντα δυωδεκάμηνον; 40.372). Die Charakterisierung der Monatshoren als μυστιπόλοι Λυκάβαντος ist etwas eigenwillig, sie entspricht aber der allgemeinen Beobachtung, dass in den Dionysiaka die Terminologie aus dem Mysterienwesen auf fremde Kontexte übertragen wird (s. Vian 1988a, 406–409; 1994b, 217–218). Nonnos scheint hiermit das Bild evozieren zu wollen, dass zu Beginn eines jedes Monats die jeweilige Monatshore gleichsam eine Initiation durchläuft (vgl. 12.65 [von der Herbsthore] μυστιπόλος Λυκάβαντος; weiters Met. 12.6 [im Kontext des Paschafestes] μύστιδες ὧραι). οὐρανίῳ Der Text am Schluss von Vers 19 ist in L nur schwer lesbar: Die Ligatur am Ende ist zwar klar als γάρ zu lesen, das Wort, das diesem vorangeht, ist aber kaum entzifferbar und wurde in der Handschrift P als οὐγϊω transliteriert. Spätere Editoren haben dieses unter cruces gesetzt oder versucht, durch Konjektur den Sinn der Stelle wiederherzustellen. Vian 1975, 196–197 identifizierte den fraglichen Textlaut schließlich als Abkürzung für οὐρανίῳ. 20 αὐχένα … ἔκαμψαν Die Junktur ist geradezu ein Leitmerkmal der nonnianischen Sprache (insgesamt 19 Belege in den Dionysiaka und 3 in der Metabole) und weist einen hohen Grad an Formelhaftigkeit auf (s. D’Ippolito 2016, 396 und allgemein E. Kap. 8.2.1.). Im Gegensatz zu anderen formelhaft verwendeten Wortverbindung dürfte Nonnos diese der dichterischen Tradition entnommen haben (Orac. Sib. Fr. 3.36 κάμψεις αὐχένα; Gr. Naz. Carmina de se ipso 37 p. 1277.10 M. αὐχέν’ ἔκαμψα). In den Dionysiaka wird hiermit vor allem die Untertänigkeit oder Dienerschaft einer Person ausgedrückt (vgl. 5.617; 7.198; 17.346; 22.73; 24.59; 35; 181; 36.432; 40; 567; 43.136; 47.397). ὅλου νωμήτορι κόσμου Das Verständnis der Stelle bereitet Schwierigkeiten. Als Substantiv verwendet Nonnos νωμήτωρ nur ein weiteres Mal, nämlich in 9.1, wo es wahrscheinlich mit »Bewohner« zu übersetzen ist (Ableitung νομάω = νέμομαι; vgl. Peek s.v.; Gigli Piccardi 2003 ad 9.1–4). Adjektivisch gebraucht wird νωμήτωρ in den Dionysiaka fast ausschließlich im Rahmen der Klauseln νωμήτορι καρπῷ (2.66; 464; 37.682) und νωμήτορι παλμῷ (21.97; 26.314; 48.165), wo dieses eine nicht näher definierte Bewegung im Sinne von »lenkend, bewe-

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gend« charakterisiert. Eine Interpretation von ὅλου νωμήτορι κόσμου im Sinne von »Herrscher über den Kosmos – wofür Gigli Piccardi 2003 ad loc. argumentiert – erscheint mir insofern wenig überzeugend, als Helios – zumindest in den Dionysiaka – nicht wirklich als solcher fungiert, sondern als unermüdlicher Lenker des Sonnenwagens (s. K. 1–117b). Am plausibelsten – wenngleich nicht gänzlich zufriedenstellend – scheint mir eine Deutung im Sinne von »Bewohner« (»jemand, der sich aufhält«) zu sein. Der Sinn der Verse 19b–20, die ja eine Erklärung (γάρ) bieten, warum Helios zwölf Horen als Dienerinnen begleiten, die sich im Laufe des Jahres abwechseln, wäre demnach: Sie tun dies, weil sie Helios dienen, der sich im gesamten Kosmos (ὅλου … κόσμου) aufhält, sprich alle zwölf Zeichen des Zodiakus nacheinander durchfährt. Es liegt allerdings der Verdacht nahe, dass die Bezeichnung des Helios als νωμήτορι κόσμου in Verbindung zur Charakterisierung des Zodiakus als νωμήτορι κύκλῳ in 1.226 steht – inwiefern genau hat sich mir bisher leider nicht erschlossen (s. hierzu Vian 1976). Ist ὅλου νωμήτορι κόσμου möglicherweise in ὅλῳ νωμήτορι κύκλῳ zu ändern? 21–40 Gespräch zwischen der Herbsthore und Helios Auf die Begrüßung folgt eine kurze Szene, die ein Gespräch zwischen der Herbsthore und Helios beinhaltet: Diese tritt an Helios heran und richtet zwei Fragen an ihn (23–28). Helios scheint die Antworten aber nicht zu kennen (vgl. 41.358 οὐκ ἐδάην). Jedenfalls verweist er sie auf die in seinem Palast befindlichen κύρβεις der Harmonia, die in diesem Zusammenhang kurz vorgestellt werden (29–35), und gibt an, wo auf den Tafeln sie die gesuchten Antworten finden könne (37–40). Die Szene weist zahlreiche Parallelen mit dem Gespräch zwischen Aphrodite und Harmonia in 41.314–359 auf. Vergleicht man den Dialog in 12.21–40 mit letzterem fällt umso deutlicher der skizzenhafte Charakter der Ausgestaltung der vorliegenden Szene auf. In der Tat wirken die beiden Reden wie erste Entwürfe, die nur die für die Handlungslogik nötigsten Informationen beinhalten, aber noch nicht in eine adäquate Form gekleidet wurden (s. K. 21–28 und 36–40). Dieser Verdacht wird durch statistische Beobachtungen noch erhärtet. Nimmt man die Datenbank von Verhelst 2017 als Grundlage, so bildet das Gespräch zwischen der Herbsthore und Helios mit insgesamt zehn Versen den kürzesten Dialog in den Dionysiaka. Der nächstkürzere – sieht man vom rein imaginierten Dialog in 5.459–466 einmal ab – stellt das Gespräch zwischen Aphrodite und Pasithea dar (33.28–40; 42–47), das mit 19 Versen aber immerhin fast doppelt so viele Verse umfasst. 21–28 Rede der Herbsthore Die Rede gliedert sich in zwei gleich lange Hälften zu je drei Versen: (i.) Im ersten Teil (12.23–25) richtet die Hore nach einer hymnenartigen Anrede an Helios einigermaßen unvermittelt zwei Fragen an diesen: Sie möchte erstens wissen, wann (πότε) die Rebe entstehen und zweitens

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welchem Gott (μακάρων τίνι) sie als γέρας zugeteilt wird. (ii.) Im zweiten Teil der Rede (12.26–28) versucht die Herbsthore ihre Fragen zu rechtfertigen. Ihre Argumentation ist gedanklich allerdings etwas holprig: So würde der Hinweis, dass sie ἀγέραστος sei, zwar eine schlüssige Begründung liefern, wenn sie von Helios selbst ein γέρας einfordern würde. Das ist aber nicht der Fall. Denn sie bittet lediglich um Informationen. Mit dem Hinweis, dass sie – im Gegensatz zu ihren Schwestern – kein eigenes jahreszeitliches Attribut (ἀγέραστος) besitzt, scheint sie daher auf recht umständliche Weise betonen zu wollen, dass sie, die die Rebe als Attribut erhalten wird (wie sie in Vers 27 en passant zu erwähnen scheint), ein berechtigtes Interesse daran hat, Informationen über Entwicklungen einzuholen, die die Rebe betreffen. Die Rede ist durch eine seltsame Mischung von Wissen und Nicht-Wissen geprägt, die die Fragen der Hore recht konstruiert wirken lässt: So scheint sie auf der einen Seite darüber informiert zu sein, dass der Weinstock in ihren Zuständigkeitsbereich als Herbsthore fällt, auf der anderen aber nicht zu wissen, wann dieser entstehen und welcher Gott diesen als γέρας erhalten wird. Wenn man davon ausgeht, dass der recht auffällige Spondeen-Reichtum der Verse – es findet sich kein einziges Mal das von Nonnos so geschätzte Verspattern ddddd – nicht dem Zufall, sondern einer gewissen Nachlässigkeit geschuldet ist, dann würde zu dem recht provisorisch wirkenden Gedankengang eine ebenfalls recht behelfsmäßig wirkende metrische Ausgestaltung hinzutreten. 21 ἀνηΰτησεν ἔπος Aus dem Kontext ist klar, dass die Herbsthore Helios nicht »anschreit«. Die Junktur, die sich in derselben metrischen sedes auch in 10.288 (κρυπτὸν ἀνηΰτησεν ἔπος; vgl. 11.185 ἠύτησεν ἔπος) findet, ist vielmehr Teil des nonnianischen Formelsystems, welches im Fall von Formeln zur Einleitung einer Personenrede dadurch gekennzeichnet ist, dass anstelle von gewöhnlichen Verben des Sprechens Intensiva verwendet werden (s. E. 8.2.1.). σταφυληκόμος Ὥρη Das Epitheton bezieht sich auf die Rolle der Herbsthore als (künftige) Schutzherrin der Rebe (vgl. 29 ἐσσομένης δὲ τιθηνήτειραν ὀπώρης). Das Kompositum ist nur bei Nonnos belegt (9.29; 13.468; 14.188; 29.113; in 18.326 wohl σταφυλήκομος) und könnte möglicherweise seine Erfindung sein. Komposita auf -κόμος sind für seinen Stil jedenfalls typisch (s. z.B. die weiteren proton eiremena ὀϊστοκόμος, πατροκόμος; σταχυηκόμος); das Kompositionsmuster selbst ist homerisch (vgl. Il. 3.387 εἰροκόμος). 22 †φθινοπωρίδος ὥρην† Der überlieferte Text der Verse 21–22 lautet Καί οἱ ἀνηΰτησεν ἔπος σταφυληκόμος Ὥρη/μάρτυρον ἱκεσίης σχομένη φθινοπωρίδος ὥρην. Die Gegenüberstellung von Ὥρη und ὥρην jeweils am Verschluss lässt auf den ersten Blick auf eine für Nonnos übliche Pointe schließen, die mit der konkreten und personifizierten Bedeutung von ὥρη spielt (s. hierzu K. 235– 236). Allerdings kann der überlieferte Wortlaut nicht sinnvoll erklärt werden

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(zur Problematik von Wortwiederholung für die Textkritik in den Dionysiaka s. Keydell 1953; zur vorliegenden Stelle im Besonderen 14). Daran ändern auch die Rettungsversuche von Stegemann 1930, 140–141 Anm. 32 und White 1987, 96 nichts, die Vers 22 – in recht konstruierter Weise – dahingehend deuten, dass die Herbsthore die Jahreszeit des Herbstes als ihre Zeugin besitzt. Für φθινοπωρίδος Ὥρης argumentiert Köchly 1857 ad loc. Er geht aber fälschlicherweise davon aus, dass eine der zwölf Monatshoren spricht und Helios die Bitte der Herbsthore überbringt, die als Zeugin (hierfür muss er allerdings μάρτυρον in μάρτυρος abändern) anwesend ist. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Wiederholung von ὥρην keine gewollte Pointe, sondern eine Dittographie darstellt. Aus dem Versbeginn μάρτυρον ἱκεσίης σχομένη lässt sich schließen, dass im Originaltext an der korrupten Stelle ein konkretes Zeichen genannt wurde, das die Bitte der Hore unterstreicht. Vorgeschlagen wurde, dass es sich bei diesem (i.) um einen Gegenstand handelt, den die Hore Helios zeigt, oder (ii.) um einen Hinweis auf ihr desolates Aussehen: (ad i.) Der Vorschlag ἅρπην (Ludwich 1909 in app.) ist wenig wahrscheinlich, weil die Sichel in 11.503 explizit als Attribut der Sommerhore erwähnt wird. Auch die Konjektur φθινοπωρίδα θαλλόν (Vian 1995a ad 22) ist – vor allem aus sprachlichen Gründen – auszuschließen. Das Darreichen eines Ölzweigs ist zwar für Bittszenen in den Dionysiaka charakteristisch (16.29–34; 17.386; 18.16; 22.71–72) und die Herbsthore trägt in der Tat einen Kranz aus solchen (11.510 θαλλὸν ἐλαιήεντα λιπότριχι δήσατο κόρσῃ). Fraglich bleibt jedoch, ob der Leser die Umschreibung eines Ölzweigs als »herbstlichen Zweig« an dieser Stelle ohne Weiteres verstanden hätte. Gegen die Konjektur spricht aber vor allem, dass es sich bei φθινοπωρίς um eine feminine Form handelt (vgl. LSJ s.v. und Nonn. D. 3.251; 11.513; 17.55; 34.110; 38.276; 42.285; allgemein zu den femininen Adjektiven auf -ις, -ιδος s. Kühner/Blass I § 150.X) und sie sich demnach nicht auf θαλλόν beziehen kann. (ad ii.) Plausibler ist hingegen Keydells Vorschlag φθινοπωρίδα χαίτην (1953, 14 Anm. 1; in 1959 nicht übernommen), da Nonnos im Rahmen der Beschreibung der Herbsthore den Fokus in der Tat auf ihr schütteres Haar legt (vgl. v.a. 11.513–514 ἐπεὶ φθινοπωρὶς ἐοῦσα/φυλλοχόοις ἀνέμοις ἀπεκείρατο δενδράδα χαίτην). Als Grund hierfür wird neben dem herbstlichen Blattfall – die Haare der Hore sind das Laub der Bäume – das Fehlen des Rebenlaubs genannt (515–518). Der Hinweis auf ihr desolates Aussehen wäre daher für die Herbsthore eine gute Möglichkeit, die Dringlichkeit ihres Anliegens vor Helios zu unterstreichen. Von den vorgeschlagenen Eingriffen kann derjenige von Keydell am ehesten überzeugen. Da aufgrund der Dittographie die graphische Nähe der Konjektur

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zum überlieferten Text als Kriterium für die Argumentation wegfällt, muss aber auch sie letztlich spekulativ bleiben und wurde von mir nicht in den Text aufgenommen. 23 ᾿Ηέλιε ζείδωρε, φυτηκόμε, κοίρανε καρπῶν Die Hore spricht Helios in seiner Funktion als Verantwortlicher für das Gedeihen der Pflanzen an (s. K.  1–117a). Die Anrede wirkt durch die Aufzählung verschiedener Epiklesen geradezu wie der Beginn eines Hymnos oder eines Gebets. Solche hymnenartigen Anreden sind im Rahmen der Begrüßung von Personifikationen abstrakter Mächte in den Dionysiaka durchaus geläufig (vgl. z.B. 7.73; 41.315–317; 41.408; 48.416; zu hymnenartigen Passagen allgemein vgl. Braun 1915). ζείδωρε Das Adjektiv ist vor allem als Teil der homerischen Formel ζείδωρος ἄρουρα bekannt (vgl. z.B. Hom. Il. 2.548; 8.486; 20.226; Od. 3.3; 4.229; 5.463), wo es die Bedeutung »Nahrung spendend, fruchtbar« besitzt. Daneben ist das Adjektiv allerdings auch als »Leben spendend« belegt (s. LSJ s.v. ζείδωρος II.). Klar in letztere Bedeutung verwendet Nonnos das Wort in 25.541. In den übrigen Fällen sind grundsätzlich beide Übersetzungen möglich (26.185; 22.276). Der Kontext (κοίρανε καρπῶν) weist im vorliegenden Fall in Richtung »Nahrung spendend«. κοίρανε καρπῶν Die Junktur bildet eine Variation des homerischen κοίρανε λαῶν (Hom. Il. 7.234; 8.281; 9.644; 11.465). Der durch die κ- und ρ-Assonanzen bewirkte lautliche Effekt dürfte intendiert sein (vgl. 37.320 κοίρανε Κεκροπίης). 24 οἰνοτόκον … βότρυν Das proton eiremenon οἰνοτόκος ist ein nonnianisches epitheton ornans für die Rebe oder deren einzelne Teile (v.a. 17.86 βότρυος οἰνοτόκοι; 47.54–55 οἰνοτόκοι δέ/βότρυες; weiters 7.89; 12.300; 309; vgl. 41.3). Für den Stil des Nonnos’ sind Kompositabildungen auf -τοκος charakteristisch (vgl. die folgenden proton eiremena ἀφροτόκος; δισστόκος bzw. δισσότοκος; ἑπτάτοκος; ἡδυτόκος; θαλασσότοκος; θυελλοτόκος; ἱπποτόκος; μυθοτόκος; ὀνειροτόκος; ὑγροτόκος). 25 Καὶ μακάρων τίνι τοῦτο γέρας μνηστεύεται Αἰών; Ganz ähnliche Worte richtet Aphrodite an Harmonia: Τίνι πτολίων βασιληίδος ὄργανα φωνῆς/ λυσιπόνων ἀτίνακτα φυλάσσεται ἡνία θεσμῶν; (41.320–321). μνηστεύεται Das Verb ist hier wohl am besten mit »zuteilen« zu übersetzen (vgl. 26.3 μνηστεύετο νίκην; 37.608 μνηστεύετο νίκην). Αἰών Aion fungiert in den Dionysiaka vor allem als Verantwortlicher für den Fortbestand des Lebens (7.23 ἔχων κληῖδα γενέθλης; 7.28 ἀενάου βιότοιο γέρων ... ποιμήν; 24.267 ἡνίοχος βιότοιο), der immer dann auftritt, wenn diesem Gefahr droht (6.371–372; 7.9–10; 22–66; 24.265–267). Eine zentrale narrative Funktion kommt ihm in 7.7–109 zu: Dort bittet er Zeus darum, das traurige Los der Menschen zu verbessern, woraufhin dieser verspricht, Dionysos zu zeugen,

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der den Menschen den Wein zur Linderung ihrer Sorgen bringen wird. Ansonsten wird Aion im Epos hauptsächlich aufgrund seines hohen Alters (25.23; 40.430–433; 41.83–84; 144; 179) oder als blass bleibende Personifikation der Zeit (13.498; 25.23; 36.422–423; 38.90) erwähnt (zu Aion in den Dionysiaka s. Chuvin 1992, 67–71; Vian 1993, 47–49). Die Formulierung μνηστεύεται Αἰών impliziert keine aktive Beteiligung des Aion an der Zuteilung des erwähnten γέρας. Aion steht hier vielmehr stellvertretend für den Lauf der Zeit im Allgemeinen (vgl. 13.498 τὰ μὲν … ἤγαγεν Αἰών; 38.90 τηλίκον οὔ ποτε θαῦμα … ἤγαγεν Αἰών), während die eigentliche Zuteilung – wie ja aus der vierten Tafel klar hervorgeht (12.110) – durch Zeus selbst erfolgt. 27b–28 οὐ γὰρ ὀπώρην,/οὐ στάχυν, οὐ λειμῶνα, καὶ οὐ Διὸς ὄμβρον ἀέξω Der verkürzte Gedankengang erschwert das Verständnis der Aussage: Die Hore zählt die Attribute, die ihre Schwestern im Gegensatz zu ihr besitzen, der Reihe nach auf. Diese entsprechen der Charakterisierung der vier Jahreszeitenhoren in 11.488–508: Der Winter wird mit Regen, das Frühjahr mit Blumen und der Sommer mit der Getreideernte assoziiert. Die Nennung von ὀπώρη fällt allerdings etwas aus der Reihe und fügt sich nicht einwandfrei in den logischen Gedankengang. Dieser müsste lauten: »Ich habe als einzige der Schwestern kein eigenes Attribut: Diese haben nämlich den Regen, die Blumen und die Ähre als Attribute, mir fehlt aber das mir zugewiesene Attribut der Rebe.« Die anaphorische Wiederholung der Negation οὐ verleiht der Bitte der Herbsthore zusätzliche Emphase. 27 ὀπώρην Gemeint ist das der Herbsthore fehlende Attribut der Rebe. Der Begriff ὀπώρη benennt sowohl die Zeit des Spätsommers bzw. Herbsts als auch die in dieser Zeit reifenden Früchte selbst (vgl. LSJ s.v.). In den Dionysiaka bezeichnet ὀπώρη häufig die Frucht des Weinstocks im Speziellen (vgl. Peek s.v.). Darüber hinaus kennzeichnet Nonnos mit diesem Begriff aber auch die Rebe selbst, wenngleich in vielen Fällen die einzelnen Bedeutungsvarianten sich gegenseitig nicht ausschließen. Jedenfalls eindeutig eine Rebe bezeichnet ὀπώρη in P. 24 ῎Αμπελος εἶδος ἀνῆκεν ἐς ἀμπελόεσσαν ὀπώρην; 12.314–315 ἕλιξ … ὀπώρης … ἔρνος; 24.12 εὔβοτρυς ἀνεβλάστησεν ὀπώρη; 27.171–172 χλοερὴ … φυλλὰς ὀπώρη; 47.197 γείτονα καλλιφύτοιο νέους ὄρπηκας ὀπώρης. 29 Ἔννεπεν Nonnos verwendet die traditionellen homerischen Formeln Ὥς φάτο, Ὥς εἰπών und Εἶπε(ν) nur sehr selten und ersetzt sie durch seine eigene daktylische Variante Ἔννεπεν, die er 39 Mal in den Dionysiaka (und fünf Mal in der Metabole) gebraucht (vgl. z.B. 1.507; 21.17; 32.46; 34.247; D’Ippolito 2016, 353; zum Formelsystem in den Dionysiaka allgemein s. E. Kap. 8.2.1.).

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29–35 Die κύρβεις der Harmonia Den Terminus κύρβεις verwendet Nonnos nur für die Schriftträger im Palast des Helios (12.43; 55; 64). In der Antike wurde der Begriff allgemein zur Bezeichnung für Stelen oder Tafeln verwendet, die Inschriften oder Ähnliches trugen (vgl. v.a. A. R. 4.279 κύρβιας οἷς ἔνι πᾶσαι ὁδοὶ καὶ πείρατ’ ἔασιν; weiters Pl. Plt. 298e; Porph. Abst. 2.21; Agath. 2.10.8; AP 4.4.1 [Agath.]). Die bekanntesten κύρβεις waren die in Athen aufgestellten pyramidenförmigen Stelen, auf denen die Gesetze des Drakon und des Solon verzeichnet waren (s. hierzu Stroud 1979). Die κύρβεις im Palast des Helios muss man sich als Tafeln vorstellen (12.69 ἐν πινάκεσσιν; vgl. 41.340–341; 363; 369; 387). Es fällt allerdings äußerst schwer, sich ein präzises Bild von ihnen zu machen. Aus dem Text des Horen-Intermezzos – so wie er überliefert ist – lassen sich jedenfalls nur folgende Informationen gewinnen: (i.) Im Palast befinden sich mindestens vier κύρβεις, die ἑτερόζυγες sind (12.32). (ii.) Neben Text verfügen die κύρβεις auch über Illustrationen (12.35 καὶ γραφίδων ποίκιλλεν ἐφάρμενον οἶκον [L] ἑκάστῃ). (iii.) Auf der dritten Tafel befindet sich eine Abbildung der Sternzeichen von Löwe und Jungfrau. (iv.) Auf der vierten Tafel ist eine Abbildung zu finden, die Ganymed beim Einschenken von Nektar zeigt. Es wurden bisher zwei Versuche unternommen, diese Informationen zu einem stimmigen Bild zu verbinden. Der erste stammt von Stegemann 1930, 159–172 und der zweite von Maas 1930, 1892, der die Ausführungen Stegemanns aufgreift. Stegemann geht davon aus, dass die κύρβεις die Form von Diptychen haben (ἑτερόζυγας) und aus jeweils zwei Tafeln (γραφίδες) bestehen. Für seine weitere Rekonstruktion stützt er sich hauptsächlich auf Vers 35 und den überlieferten Text οἶκον, welchen er als Bezeichnung für »Tierkreiszeichen« interpretiert. Er schließt daraus, dass auf allen κύρβεις Illustrationen der Tierkreiszeichen abgebildet sind und rekonstruiert diese ausgehend von der Präsenz der Abbildung der Sternzeichen von Löwe und Jungfrau auf der dritten Tafel folgendermaßen: Widder und Stier (1. Tafel), Zwillinge und Krebs (2. Tafel), Löwe und Jungfrau (3. Tafel), Waage und Skorpion (4. Tafel), Schütze und Steinbock (5. Tafel [im Text nicht erwähnt]), Wassermann und Fische (6. Tafel [im Text nicht erwähnt]).

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Angesichts der Tatsache, dass neben der Illustration der Sternzeichen von Löwe und Jungfrau auch eine Abbildung des Ganymed erwähnt wird, nimmt Stegemann eine weitere Kategorie von Illustrationen an: Während sich laut ihm die Abbildungen der Tierkreiszeichen in der Mitte der jeweiligen γραφίδες befinden, seien die weiteren Illustrationen, zu denen auch jene des Ganymed gehört, in Form von Kolonnen neben dem Text der jeweiligen Inschriften angeordnet. Man müsste sich die Tafeln demnach ungefähr nach Art der folgenden Skizze vorstellen, die meinen Versuch zeigt, die dritte Tafel anhand der Angaben von Stegemann zu rekonstruieren. Bild Bild Bild Bild Bild Bild Bild Bild Bild Bild Bild Bild Bild

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In seiner Rezension zu Stegemanns Buch schlägt Paul Maas eine etwas abweichende Interpretation vor, die sich in einem zentralen Punkt von jener Stegemanns unterscheidet (Maas 1930, 1892): Anstelle sechs κύρβεις anzunehmen, die jeweils zwei Tierkreiszeichen aufweisen, legt er seiner Rekonstruktion nur die vier tatsächlich im Text erwähnten Tafeln zugrunde und weist ihnen je drei Tierkreiszeichen zu. Der Anschaulichkeit halber habe ich die von Maas erstellte Graphik nachgebildet.

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Tafel I Winter ♑



Tafel II Frühling ♓







Ophion, Uranos, Kronos, Zeus

Erschaffung der Menschen, Deukalionische Flut

Tafel III Sommer

Tafel IV Herbst

♋ Verschiedene Verwandlungen



♍ Verwandlung von Kissos, Kalamos, Ampelos







Dionyos, Herr der Rebe

Der Vorschlag von Maas hat gegenüber dem von Stegmann den Vorteil, dass keine weiteren Tafeln postuliert werden müssen, die nicht im Text genannt werden, und dass die vier Tafeln eine Parallele zu den vier Jahreszeitenhoren, die Helios besuchen, bilden. Sein Rekonstruktionsversuch wird heute allgemein akzeptiert (z.B. Vian 1995a, 59–60; Manterola/Pinkler 1995, 329 Anm. 8; Gigli Piccardi 2003, 740; Chuvin/Fayant 2006, 27). Mag dieser auf den ersten Blick auch sehr attraktiv wirken, kann nicht geleugnet werden, dass diese Rekonstruktion eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich bringt. Diese ergeben sich hauptsächlich aus dem problematischen Begriff οἶκον in 12.35, der – als Umschreibung für »Tierkreiszeichen« gedeutet – die Grundlage für die gesamte Rekonstruktion bildet (12.35 »und er verzierte für jede γραφίς ein passendes Haus [= Tierkreiszeichen]«). Diese Interpretation ist jedoch aufgrund (i.) inhaltlicher und (ii.) sprachlicher Gründe auszuschließen: (ad i.) Die Deutung von οἶκον als Tierkreiszeichen erscheint aus inhaltlicher Sicht insofern als problematisch, als die Tafeln neben Abbildungen von Tierkreiszeichen auch über weitere Illustrationen verfügen, wie die Erwähnung der Ganymed-Abbildung auf der vierten Tafel unmissverständlich zeigt. Man muss daher entweder davon ausgehen, dass Nonnos in 12.35 eine inakkurate Beschreibung der Tafeln liefert, bei der er nur auf die Tierkreiszeichen hinweist und die übrigen Illustrationen übergeht, oder aber dass die Deutung von οἶκον als Tierkreiszeichen falsch ist, was mir plausibler erscheint. (ad ii.) In der Tat ist die Interpretation von οἶκος als astrologischer terminus technicus aus sprachlicher Sicht nicht haltbar: Entsprechend den astrologischen Vorstellungen zur Zeit des Nonnos besitzt jeder Planet ein bestimmtes Haus in einem der zwölf Tierkreiszeichen – dieses ist dabei nicht mit den zwölf Orten (τόποι) des Horoskops zu verwechseln. Da es nur sieben Planten, aber zwölf Tierkreiszeichen gibt, besitzen die Plane-

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Kommentar

ten (außer Sonne und Mond) sowohl ein Tag- als auch ein Nachthaus. Der Begriff οἶκος bildet dabei einen terminus technicus zur Bezeichnung dieses Domizils eines bestimmten Planeten (vgl. Boll/Bezold/Gundel 1926, 58–59; RE 20.2, 2123–2124 s.v. Planeten). Nonnos verwendet den Begriff in den Dionysiaka genau in dieser präzisen Bedeutung, und zwar bei der Beschreibung der Planetenkonstellation zur Zeit der Deukalionischen Flut (6.235; vgl. δόμος [6.239; 249]; μέλαθρον [6.232]) und in der Rede des Helios an Phaeton, wo der Sonnengott seinem Sohn den Lauf der Sonne und der »anderen Planeten« erklärt (38.222; 226; 237; 251; 273; vgl. δόμος [38.262]). Nonnos bezeichnet also mit dem Begriff οἶκος zwar Tierkreiszeichen, aber eben nur insofern, als sie als Aufenthaltsort eines Planeten fungieren. Als Bezeichnung für Tierkreiszeichen an sich – was terminologisch auch inakkurat wäre – verwendet Nonnos den Begriff hingegen nicht. Für eine einfache Gleichsetzung des Begriffs οἶκος mit »Tierkreiszeichen« fehlt damit jede Grundlage. Stegemann 1930, 29 hatte jedoch aus 38.222 geschlossen, dass Nonnos οἶκος als generelle Bezeichnung für »Tierkreiszeichen« verwendet. Dort werden die Sternbilder des Zodiakus aber nur deshalb als οἶκοι bezeichnet, weil sie als Aufenthaltsorte der im folgenden aufgezählten Planeten Saturn, Jupiter, Mars, Sonne (38.224–238) aufgefasst werden. Gegen die Deutung von οἶκον als Tierkreiszeichen in 12.35 spricht zudem auch, dass Nonnos den Begriff οἶκος (sowie dessen Synonyme) als terminus technicus nur in Kontexten verwendet, aus denen diese Sonderbedeutung auch klar erschließbar ist, was in 12.35 mit Sicherheit nicht der Fall ist. Ohne die Interpretation von οἶκον im Sinne von »Tierkreiszeichen« gibt es keinen expliziten Hinweis darauf, dass alle κύρβεις mit Abbildungen der Zeichen des Zodiakus geschmückt waren. Damit bleibt als einziges Indiz die Nennung der beiden Sternbilder von Löwe und Jungfrau auf der dritten Tafel übrig. Aber auch die Erwähnung dieser beiden Illustrationen scheint der These eher zu widersprechen, als sie zu stützen. So wäre doch zu erwarten, dass entweder alle drei Tierkreiszeichen der dritten Tafel genannt werden oder aber nur jenes, in dessen Nähe sich die gesuchte Inschrift tatsächlich befindet. Man darf daher wohl schließen, dass unter den Abbildungen der κύρβεις den Zeichen des Zodiakus keine Sonderrolle zukommt: Vielmehr handelt es sich bei der Darstellung der Sternbilder von Löwe und Jungfrau und der des Ganymed um ein und dieselbe Art von Illustrationen (γραφίδες). Es ist daher davon auszugehen, dass es sich bei der Interpretation von οἶκον in 12.35 um eine Fehldeutung handelt. Will man den überlieferten Text, den schon Köchly 1857 ad loc. als suspectum charakterisiert hatte, halten, muss man γραφίδων ... οἶκον wohl mit Keydell 1931, 115 als »buntes Haus aus Bildern« auffassen (vgl. Peek s.v. οἶκος), was das Bedeutungsspektrum des Begriffs οἶκος

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meines Erachtens jedoch deutlich überstrapaziert. Angesichts der Tatsache, dass der überlieferte Text nicht in befriedigender Weise erklärt werden kann, erscheint es mir wahrscheinlich, dass eine Textverderbnis vorliegt. Bei dem ursprünglichen Wortlaut muss es sich wohl um einen eher neutralen Begriff gehandelt haben, der die unterschiedlichen Illustrationen (Sternzeichen, Ganymed) inhaltlich miteinschließt. Als möglicher Kandidat würde sich etwa ὅρμον anbieten, welches ich im Sinne einer diagnostischen Konjektur in den Text aufgenommen habe (s. hierzu K. 35 οἶκον). Man kann daher zusammenfassen, dass aus der Beschreibung der κύρβεις in Vers 35 nur hervorgeht, dass die Tafeln neben Text auch über verschiedene bildliche Darstellungen verfügen, von denen im weiteren Verlauf der Handlung eine Abbildung der Sternbilder von Löwe und Jungfrau sowie eine des Ganymed explizit erwähnt werden. Diese Darstellungen müssen dabei so beschaffen sein, dass die Herbsthore mit ihrer Hilfe die gesuchten Inschriften auch leicht finden kann. Es wäre naheliegend, hier an eine Art Bildstreifen zu denken, der die einzelnen Inschriften illustriert. Die Charakterisierung dieser Bilderkette als ἐφάρμενον scheint dabei anzudeuten, dass die Illustrationen in einer passenden inhaltlichen Beziehung zu den jeweiligen Inschriften stehen (vgl. 7.133 ἵνα στέφος ἅρμενον εἴη). In der Tat ist bei den beiden im Laufe der Szene genannten Abbildungen ein inhaltlicher Bezug zu den neben ihnen befindlichen Inschriften festzustellen (s. K. 93b–95; 104b–106). Man muss sich die Tafeln der Harmonia also wohl als eine Art bebildertes Weltarchiv vorstellen. Hierzu könnten Nonnos illustrierte Weltchroniken in Buchform inspiriert haben, die sich in der Antike einer großen Popularität erfreuten (vgl. Bauer/Strzygowski 1905, 16) und die den κύρβεις in Bezug auf ihre Kombination von Text und Bild durchaus nahestehen. Vier Überreste illustrierter Chroniken haben sich erhalten und ermöglichen es uns, einen Eindruck von dieser populären Textform zu gewinnen (s. Salzman 1990, 37 Anm. 32). Es handelt sich dabei um: (i.) einige in das frühe 5. Jh. zu datierende Papyrusfragmente einer alexandrinischen Weltchronik (Bauer/Strzygowski 1905), deren Text durch Abbildungen illustriert ist, die sich teils als Bildstreifen an den beiden Rändern des Textfeldes befinden, teils in dieses hinreichen; (ii.) ein Blatt eines Pergamentkodexes (P.Berol. inv. 13296; um 400), das Teile einer Weltchronik (Jahre 251–338) überliefert und Illustrationen aufweist, die mit jenen des vorherigen Papyrus vergleichbar sind (Burgess/Dijkstra 2012); (iii.) die untere Hälfte eines in drei Spalten angeordneten ­illustrierten KodexBlattes aus dem 11. Jh., das die Annalen von Ravenna der Jahre 411–423, 427–437, 440–443 und 452–454 beinhaltet und dessen Illustrationen, die sich jeweils mitten im Textfeld befinden, auf jene der spätantiken Vorlage zurückgehen (Bischoff/Köhler 1952);

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(iv.) die sog. Excerpta Barbari des Parisinus Latinus 4884 (um 700 n. Chr.), die eine lateinische Übersetzung einer ursprünglich in Griechisch verfassten spätantiken alexandrinischen Weltchronik enthält und zwar keine Illustrationen, aber die jeweiligen Leerräume, die für die Bemalung bestimmt wurden, aufweist (Schöne 1875, 177–239 [Leerräume markiert]; Frick 1892, 183–371). 29 τιθηνήτειραν ὀπώρης Die metaphorische Verwendung von τιθήνη ist seit Pindar (Pi. P. 1.20) belegt. Zur Herbsthore als Amme des Weins vgl. Ath. 2.38c [von den Horen] τὸν τῆς ἀμπέλου καρπὸν ἐκτρέφουσι. Zur Bedeutung von ὀπώρη s. K. 27. 30 ἀντιπόρῳ παρὰ τοίχῳ Die Tafeln der Harmonia sind an der Wand angebracht (vgl. 42 ὀμφαίῳ παρὰ τοίχῳ; 104 γείτονι τοίχῳ; weiters 41.360 θέσφατα τοίχου; 370 παρὰ γείτονι τοίχῳ). 31 δάκτυλον ὀρθώσας ἐπεδείκνυε Auch Peitho zeigt Kadmos den Palast der Elektra, indem sie mit dem Finger darauf verweist (3.126–127 τανυσσαμένη …/δάκτυλον; vgl. zur Geste des Zeigens Miguélez-Cavero 2009, 259–260). Die Junktur δάκτυλον ὀρθόω ist vor Nonnos nicht belegt (vgl. Philostr. VA 4.28 [von den ausgestreckten Fingern einer Statue] ὀρθοὶ τῆς χειρὸς ἐκείνης οἱ δάκτυλοι). κυκλάδι κούρῃ Das Epitheton kann sowohl als fortwährende Eigenschaft der Herbsthore gedeutet als auch auf die aktuell beschriebene Situation bezogen werden (s. K. 17): Um die Tafeln auf der Helios gegenüberliegenden Wand (ἀντιπόρῳ παρὰ τοίχῳ) zu betrachten, muss sich die Herbsthore umdrehen (und damit eine Art Halbkreisbewegung vollführen). 32 κύρβιας … ἑτερόζυγας Nonnos verbindet mit den Adjektiven ἑτερόζυξ und ἑτερόζυγος meist eine gewisse Paarigkeit (vgl. z.B. 5.148 μελέων ἑτερόζυγι παλμῷ; 10.348 ἑτερόζυγον ἅμμα; 18.259 πτερύγων ἑτερόζυγι παλμῷ; 33.193 πτερύγων ἑτερόζυγι σύνδρομος ὁλκῷ; 37.562 ἑτερόζυγι παλμῷ; 46.121 ἑτερόζυγι χαλκῷ). Man muss sich die κύρβεις daher wohl als paarweise angeordnet vorstellen – möglicherweise in Form zweier Diptychen (vgl. Vian 1995a, 59). Hierfür spricht, dass Nonnos die Nähe der ersten zur zweiten (55 γείτονα … κύρβιν) bzw. der dritten zur vierten (104 παρὰ γείτονι τοίχῳ) Tafel hervorhebt, während er erwähnt, dass die Herbsthore eine gewisse Strecke zurücklegen muss (64 καὶ τριτάτην ὅτε κύρβιν ἐπέδραμεν), um von der zweiten zur dritten Tafel zu gelangen. Zu dieser Zweiteilung würde auch passen, dass die ersten beiden κύρβεις Ereignisse der Frühzeit und die letzten beiden Tafeln die Ereignisse der »jüngeren Geschichte« berichten. ῾Αρμονίης Die Gottheit ist von der gleichnamigen Gemahlin des Kadmos zu trennen (zu Harmonia in den Dionysiaka s. Vian 1993, 41–54). In ihrem Palast

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befinden sich prophetische Tafeln (πίνακες), die von Ophion verfasst wurden (41.340–352). In welcher Beziehung Harmonia zu den κύρβεις im Palast des Helios steht, wird nicht näher ausgeführt. 34 πρωτογόνοιο Φάνητος Phanes ist das orphische Wesen par excellence. Nach der in der Spätantike verbreitetsten Version der orphischen Theogonie, den Rhapsodien (s. hierzu West 1983, 68–75; 227–258), ist Phanes aus einem strahlenden Ei (Fr. 60 Kern = 96 Bernabé) entstanden, welches Chronos hervorgebracht hatte (Fr. 70 Kern = 114 Bernabé). Er herrschte als der erste König des Kosmos (Fr. 108 Kern = 167 Bernabé) und brachte zusammen mit Nyx, die er selbst gezeugt hatte (Fr. 98 Kern = 148 Bernabé), Uranos und Ge hervor (Fr. 109 Kern = 149 Bernabé). Nonnos war mit dem Inhalt der orphischen Theogonie durchaus vertraut und übernimmt einzelne Elemente aus dieser (s. K. 48–51; allgemein Bernabé/García-Gasco 2016). Am augenscheinlichsten ist dieser Rekurs im Fall der Geschichte von Dionysos Zagreus (5.568–6.205; s. hierzu Hernández de la Fuente 2002). Im Rahmen der Dionysiaka kommt Phanes die Rolle des ersten Herrschers des Kosmos zu (vgl. 9.141 πρωτογόνου … Φάνητος; 142 πρωτόσπορον … πρωτόσπορον; 19.207 Φάνητα παλαίτερον; Vian 1993, 40–45; Bernabé/García-Gasco 2016, 101–102), vor dem sogar die olympischen Götter erschaudern (vgl. 9.141–143); sein Epitheton πρωτογόνοιο entspricht der alternativen Bezeichnung des Phanes als Πρωτόγονος in den Orphischen Rhapsodien (Fr. 73.86 Kern = 125.123 Bernabé). μαντιπόλος χείρ Da Phanes seiner Tochter Nyx die Fähigkeit zur Prophetie verleiht (Fr. 103 Kern = 113 Bernabé), ist davon auszugehen, dass auch er selbst über diese verfügt (vgl. West 1983, 257). Zur Enallage vgl. 2.410 τερπομένη χείρ; 434 μαινομένη χείρ; 19.226 σιγαλέη χείρ; 24.308 αἰδομένη χείρ; allgemein Kap. 8.2. 35 γραφίδων Mit dem Begriff werden von Nonnos sowohl Texte (12.114; Met. 5.156 [von der Heiligen Schrift] ἐν γραφίδεσσι; 174) als auch Bilder (25.433 ἐν γραφίδεσσι) bezeichnet. An dieser Stelle dürften die später beschriebenen Illustrationen der κύρβεις gemeint sein (s. meine Rekonstruktion in K. 29–35). ὅρμον Der überlieferte Text οἶκον ist allem Anschein nach korrupt (s. K. 29– 35). Der ursprüngliche Wortlaut muss erklärt haben, dass jede κύρβις mit unterschiedlichen Bildern (γραφίδων) verziert war. Als Konjektur böte sich meines Erachtens ὅρμον an: »für jede (scil. κύρβις) malte er eine passende bunte Kette aus Bildern«. Für diese Textänderung sprechen folgende Punkte: (i.) Die Umschreibung der Illustrationen als eine Kette von Bildern wäre insofern passend, als man sich die Verzierungen der κύρβεις in der Tat als eine Reihe von unterschiedlichen aufeinanderfolgenden Bildern vorstellen muss, die gleichsam wie Steine auf einem dünnen Band aufgefädelt

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sind (vgl. die Beschreibung von bunten Halsketten als 2.595 ποικίλον … ὅρμον; 5.144 ποικίλον ὅρμον, 5.151 ποικίλος ὅρμος; 5.580 ποικίλον ὅρμον; weiters 5.136–137). (ii.) Die Beschreibung der Bilderstreifen als eine Kette von Abbildungen würde zur bildhaften Sprache passen, die Nonnos zur Beschreibung von Kunstwerken oder Gebäuden verwendet (vgl. z.B. 3.138–137 [von einer Kuppel] λόφος ὀμφαλόεντι διεσφαίρωτο καρήνῳ/μεσσοφανὴς ὀρόφοιο; 18.81 [von einer Säulenreihe] κιονέῃ … φάλαγγι; 82 [von einer goldverzierten Dachdecke] χρύσεα δουρατέης … νῶτα καλύπτρης; 25.395 [vom Äther auf dem Schild des Dionysos] μιτρώσας στεφανηδὸν ἕλιξ ποικίλλεται αἰθήρ). (iii.) Nonnos verwendet die Form ὅρμον in dieser metrischen sedes mehrere Male (13.185; 457; 15.86; 30.86). (iv.) Die Verschreibung von ὅρμον in οἶκον ließe sich paläographisch relativ leicht erklären. So stehen sich die Minuskelbuchstaben »ρ« und »ι« sowie »μ« und »κ« generell, aber besonders in der Schreibweise des 9. und 10.  Jh. graphisch recht nahe (vgl. die Schriftproben bei Gardthausen 1913 Taf. 5 und 6). Möglicherweise steht dabei das vorangehende ποίκιλλεν ἐφάρμενον (οἶκον ἑκάστῃ) in einer kausalen Verbindung zur Verschreibung. Die Annahme einer Verschreibung von ὅρμον in οἶκον besitzt eine gewisse Plausibilität, wenngleich sie nicht zwingend ist. Im Sinne einer diagnostischen Konjektur wurde ὅρμον von mir aber dennoch in den Text aufgenommen. 36–40 Rede des Helios Bezugnehmend auf die beiden Fragen der Herbsthore verweist Helios diese auf die dritte und vierte Tafel, wobei er als Orientierungshilfe die Illustrationen angibt, in deren Nähe sich die gesuchten Inschriften befinden. Die Gestaltung der Rede des Helios ist allerdings aufgrund folgender Punkte auffällig: (i.) Mit vier Versen bildet die Rede des Helios eine der kürzesten Reden der Dionysiaka überhaupt. Sieht man von kurzen Ausrufen, die keine Reden im eigentlichen Sinn darstellen, ab, so finden sich im gesamten Epos nur sechs Personenreden, die vier oder weniger Verse umfassen: 18.316–319 (= 4 Verse); 30.41–42 (= 2 Verse); 32.5–8 (= 4 Verse); 32.42–45 (= 4 Verse); 34.196–197 (2 Verse); 48.616 (= 1 Vers). Die an sich auffällige Kürze der Antwort des Helios sticht umso mehr ins Auge, wenn man sie mit den Worten der Harmonia vergleicht, die diese in einer beinahe identischen Situation an Aphrodite richtet (41.339–359). (ii.) Der Antwort des Helios fehlt eine Anrede an die Herbsthore. Eine solche wäre allerdings aus der Handlungslogik heraus zu erwarten gewesen, da Helios mit der Herbsthore bisher noch nicht geredet und diese auch noch

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nicht begrüßt hat. Das Fehlen einer zumindest kurzen Anrede ist dabei insofern signifikant, als Nonnos ansonsten so gut wie nie auf eine solche verzichtet: Verhelst 2017 zählt 42 an einen bestimmten Adressaten gerichtete Reden in den ersten 12 Büchern. Neben der Heliosrede finden sich darunter aber nur drei weitere Fälle, die über keine explizite Anrede verfügen: 1.486–506; 5.462–466; 11.356–481. Im Gegensatz zu der Rede des Helios, lassen sich die fehlenden Anreden in diesen drei Fällen jedoch aus der jeweiligen Situation heraus leicht erklären und sind nicht weiters auffällig. (iii.) Ungewöhnlich ist auch die gehäufte Präsenz von Ellipsen (ἧχι Λέων καὶ Παρθένος [ἐστίν]· ἐν δὲ τετάρτῃ [γνώσεαι], τίς σταφυλῆς σκηπτοῦχος [ἔσσεται]), die den Eindruck einer gewissen Stichwortartigkeit vermitteln. (iv.) Unter den vier Versen der Rede finden sich gleich zwei von Nonnos stark gemiedene Verspatterns (38 ddsdd; 40 sddsd). Untypisch ist auch die hohe Zahl an Versen mit männlicher Zäsur (37; 38). Aus metrischer Sicht wirken die Verse daher für nonnianische Standards als recht provisorisch. Im Gegensatz etwa zur Kürze des Liedes des Oiagros, die zu dessen spartanischem Inhalt passt (19.104–105), scheint die brevitas der Rede des Sonnengottes keine bestimmte Funktion zu erfüllen. Helios’ Wortkargheit wirkt vielmehr verstörend. So vermittelt seine lakonische Antwort ein starkes Desinteresse an seiner Gesprächspartnerin, das wohl kaum intendiert sein dürfte: In vergleichbaren Kontexten richten Astraios und Aphrodite sehr höfliche und freundliche Worte an ihre Gäste. 36 Καί τινα μῦθον ἔειπε Es handelt sich um eine der gängigsten nonnianischen Formeln zur Einleitung einer direkten Rede (vgl. 4.181; 9.148; 14.308; 15.297; 16.74; 19.22; 28.143; 33.300; 34.7; 91; 35.163; 38.77; 40.166; D’Ippolito 2016, 383; allgemein zum nonnianischen Formelsystem E. Kap. 8.2.1.). πυρὸς ταμίης Vgl. 23.240 πυρὸς ταμίης; 38.116; allgemein Orac. Chald. Fr. 60 des Places ταμίαν πυρός; Men. Rh. p. 438.12–13 Spengel φωτὸς ταμίας; Procl. H. 1.2 φάους ταμία; Vian 1995a ad 12.36–40). 41–53 Erste κύρβις (Winter) Die erste Tafel erwähnt die Ereignisse der Frühphase der Geschichte der Welt und behandelt die Mythen um Ophion, Uranos, Kronos und Zeus. Die geschilderte Theogonie entspricht größtenteils der auf Hesiod basierenden mythologischen Vulgata, wird aber teilweise durch entlegene Mythenelemente bereichert. Im Zentrum stehen die Taten des Titanen Kronos, der in der Antike mit dem Winter assoziiert wurde. Die Auswahl der behandelten Ereignisse und die spezifische Form ihrer Beschreibung laden dazu ein, die mythischen Ereignisse gleichzeitig auf einer allegorischen Ebene zu lesen und sie mit der Jahreszeit des Winters in Bezug zu setzen.

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Das Einbeziehen allegorischer Deutungen ist für die Dionysiaka durchaus charakteristisch (vgl. z.B. Chuvin 1992 ad 150–154; Gigli Piccardi 2001, 171 Anm. 13; Zuenelli 2015, 227–228). Das deutlichste Beispiel hierfür ist die Gestaltung der Theomachie (36.1–133), im Rahmen von welcher Nonnos nicht nur das homerische Vorbild imitiert, sondern gleichzeitig die allegorischen Interpretationen zum homerischen Ausgangstext verarbeitet: So werden Hera, Apollon und Poseidon deutlich als Verkörperungen der Elemente Luft, Feuer und Wasser beschrieben (s. hierzu Vian 1988b, 282–285). 41 Τοῖα θεοῦ φαμένοιο Die Formel Ὥς φάμενος/-μένη findet sich bei Homer nur gelegentlich, wird aber von Nonnos sehr häufig eingesetzt (Ὥς φάμενος 7  Mal; Ὥς φαμένη 39 Mal in den Dionysiaka), wobei der Dichter hier einem zeitgenössischen Trend zu folgen scheint (vgl. Triph. 152; 463; 497). Die homerische Formel wird von Nonnos aber insofern weiterentwickelt, als er häufig das Partizip in einen Akkusativ (7 Mal in den Dionysiaka), in einen Dativ (zwei Mal) oder – am weitaus häufigsten – in einen genitivus absolutus verwandelt (48 Mal). In letzterem Fall ist die Formel manchmal – wie auch hier – um die Angabe der Identität des Sprechers erweitert (vgl. v.a. den formelhaften Ausdruck ὣς φαμένου Βρομίοιο [19.69; 29.45; 37.494; 675; 758; 45.1; 252]; D’Ippolito 2016, 383–384; zum nonnianischen Formelsystem allgemein s. E. Kap. 8.2.1.). φιλάμπελος … κούρη Komposita mit dem Präfix φιλ(ο)- sind für den Stil des Nonnos äußerst charakteristisch (s. Ludwich 1873, 117–120). Das Adjektiv φιλάμπελος ist bereits vor Nonnos belegt (Ar. Pax. 308 [vom Frieden] τὴν θεῶν πασῶν μεγίστην καὶ φιλαμπελωτάτην; und D. H. 1.37). 42 ὄμματα δινεύουσα Die Junktur beschreibt die Bewegung der Augen, um nach etwas Ausschau zu halten (vgl. Hom. Il. 17.679–680 ὄσσε φαεινώ/πάντοσε δινείσθην; E. Or. 1458 δίνευον ὄμμα). Sie ist bei Nonnos sehr beliebt (vgl. 3.181; 14.169; 16.258; 34.277; 42.454). 43 ἀτέρμονος ἥλικα κόσμου Die Erwähnung der Gleichaltrigkeit mit dem Kosmos ist in den Dionysiaka ein beliebtes Mittel, um auf ein hohes Alter hinzuweisen (vgl. z.B. 23.384 [von Tethis] σύγχρονε κόσμου; 33.109 [von Eros] σύγχρονε κόσμου; 40.431 [von den Bewohnern von Tyros] ἀενάου κόσμοιο συνήλικας; 41. 144 [von der Stadt Berytos] σύγχρονε κόσμου; 319 [von Harmonia] σύγχρονος ἥλικι κόσμῳ; 364 [von der Stadt Berytos] σύγχρονος ἥλικι κόσμῳ). 44–45a Ophion Einer von der hesiodeischen Götterfolge abweichenden mythologischen Tradition zufolge herrschte Ophion mit seiner Gemahlin Eurynome als erstes Götterpaar vor Kronos und Rhea (vgl. A. R. 1.503–506; Lyc. 1191 und Sch. ad loc.; Luc. Trag. 101; Sch. A. Pr. 988; Sch. Ar. Nu. 247; Sch. S. Arat. 16; weiters Call. Fr. 177.7–8 Pfeiffer).

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Die schlechte Quellenlage erlaubt es allerdings nicht, ein klares Bild dieser Theogonie zu zeichnen. Dies betrifft vor allem die Frage, welche Rolle Uranos innerhalb dieser Version gespielt hat, der in der hesiodeischen Tradition die Position des Ophion einnimmt. Es scheint allerdings, dass versucht wurde, beide Versionen insofern zu harmonisieren, als Ophion als Herrscher noch vor Uranos interpretiert wurde: So setzt Mythogr. 1.204 Ophion als Vater des Caelus an den Beginn der dort beschriebenen Theogonie: Ophion et secundum philosophos Oceanus … genuit Caelum. Ein Reflex dieser speziellen Götterfolge scheint auch die Erklärung des Scholions zu Arat. 16 zu bilden, das die Auffassung referiert, dass es sich bei der in den Phainomena erwähnten προτέρη γενεή um τοὺς περὶ ᾿Οφίωνα καὶ Εὐρυνόμην καὶ Οὐρανὸν Κρόνον handelt. Eingang in die griechische Mythologie dürfte der seinem Namen nach wohl als schlangengestaltig gedachte Ophion durch Pherekydes von Syros erhalten haben, der in seiner Theogonie vom Sieg des Chronos (sic) über Ophioneus und dessen Sturz in den Okeanos berichtet (vgl. West 1963, 161–164). Mit dem Okeanos wurde Ophion auch später stark assoziiert: Laut Mythogr. 1.204 wurde er von den Philosophen mit diesem identifiziert. In einem Fragment aus Dionysios’ r Bassarika oder Gigantias (Fr. 18 .9 Heitsch) wird im Rahmen der Schilderung eines Seesturms das Zischen des Ophion erwähnt (σίζεν Ὀφίων). Seine Gemahlin Eurynome ist bei Hesiod eine Tochter des Okeanos (Hes. Th. 358). Nonnos spielt in den Dionysiaka weitere Male auf den Mythos von Ophion an (s. hierzu Vian 1993, 43–44): Eine prominente Rolle kommt ihm als Verfasser der πίνακες im Palast der Harmonia zu (41.351–352; 362; 399). Ansonsten wird er nur beiläufig im Rahmen einer Aufzählung von aus dem Olymp verbannten Titanen (2.573) sowie zusammen mit anderen Bewohnern am Rande des Okeanos (8.161) erwähnt. 45b–53 Kronos Der Gott Kronos wurde in der Antike mit der Jahreszeit des Winters assoziiert (vgl. Theopomp. FGH 115 Fr. 335 (= Plu. Mor. 378e) τοὺς δὲ πρὸς ἑσπέραν οἰκοῦντας ἱστορεῖ Θεόπομπος ἡγεῖσθαι καὶ καλεῖν τὸν μὲν χειμῶνα Κρόνον; Athenag. Leg. 22.6 [von Kronos] εἴτε σκότος ἢ πάγος ἢ οὐσία ὑγρά; Sch. D. Hom. Il. 15.18 Κρύπτεσθαι δὲ τὸν Δία, διὰ τὸ τοῦ ζῇν ἐπικρατεῖν τῷ τῷ χειμῶνι τοὺς καρποὺς ἀφανίζεσθαι πλεοναζόντων τῶν ὑγρῶν; Lyd. Mens. 4.154 p. 172 Wünsch [bezüglich eines Opfer an Kronos] ὑπὲρ τοῦ ἐσομένου χειμῶνος; Serv. Georg. 1.12 quod Saturnus umoris totius et frigoris deus sit; zu den antiken etymologischen Erklärungen seines Namens, die ihn mit Nässe und Regen assoziieren, s. Roscher 2, 1473–1474). In den Dionysiaka ist eine deutliche Verbindung des Gottes Kronos mit Nässe und Kälte auszumachen (6.178 Κρόνος ὄμβρον ἰάλλων; 18.225 Κρόνος ὑγρός; 230 ἔγχεα παχνήεντα; 231 ψυχρὸν … διερὸν βέλος; 232 χαλαζήεντες ὀιστοί; 234 πετρούμενον ὕδωρ; 24.236 χείματος ὑδρηλοῖσι … ὅπλοις); besonders auffallend

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ist diese in den Schilderungen von Kronos’ Kampf gegen Zeus in 18.225–234 und 24.232–236 (s. K. 52–53). 45 γέρων Ausgehend von der Tatsache, dass Kronos einer älteren Göttergeneration als die olympischen Götter angehörte, stellte man sich ihn gerne als Greis vor (vgl. 1.383; 2.565 γέρων Κρόνος, weiters z.B. senex Saturnus Verg. A. 7.177; Ov. Am. 3.8.35. Dasselbe gilt für den ihm zugewiesenen Planeten Saturn, den man sich ebenfalls als langsam dahinziehenden Greis vorstellte (vgl. 6.178 γέρων βαρύγουνος; 38.227 ἑρπύζων βαρύγουνος; weiters Man. 5.249 πρέσβυς; Pl. Epin. 987c βραδυτῆτι διαφέρων αὐτῶν [den anderen Planeten] … Κρόνου δ’ αὐτόν τινες ἐπωνυμίαν φθέγγονται); Firm. Math. 1.2 senex Saturnus; BouchéLeclercq 1979, 93–94). 45b–47 Kastration des Uranos/Zeugung der Aphrodite Nonnos folgt hier der hesiodeischen Mythentradition (Th. 176–192), welche Aphrodites Geburt mit der Entmannung des Uranos in Verbindung bringt (vgl. 1.88; 7.226–229; 13.439–443; 18.227–228; 21.256; 41.99–102). Die Schilderung des Ereignisses erfolgt dabei in Form eines agrarischen Bildes, das Kronos als Bauer präsentiert, der den Acker pflügt und die Saat ausbringt (s. hierzu K. 48–51). Die Wahl des Bildes von Kronos als Sämann passt dabei insofern zum Charakter der ersten κύρβις als Tafel des Winters, als diese Arbeiten mit dem Einsetzen der kalten Jahreszeit im Spätherbst/Frühwinter getätigt wurden (vgl. z.B. Hes. Op. 450– 451; Arat. 264–267; weiters Theophr. HP 8.1.2; Verg. Georg. 1.219–224; Gratt. 59; Plin. Nat. 18.201; 223). 46 ἄρσενα πατρὸς ἄροτρα λεχώιον ἤροσεν ὕδωρ Im Hintergrund steht das traditionelle Bild vom Pflügen als Metapher für sexuelle Aktivitäten (s. Gigli Piccardi 1985, 28–29). Die ρ-Assonanzen ἄρσενα πατρὸς ἄροτρα λεχώιον ἤροσεν ὕδωρ (vgl. 47 σπείρων ἄσπορα) sollen möglicherweise den Laut des Pflügens lautbildnerisch nachahmen (vgl. 4.424–425 ἄροτρον ἀπ’ ὀργάδος εἰς χθόνα σύρων/καὶ χαροπῆς ἀρόσας πολεμητόκον αὔλακα γαίης; 41.101 ἀρόσας ῥόον ἄρσενι λύθρῳ); zur klanglichen Gestaltung der Dionysiaka allgemein s. E. Kap. 8.2.4. ἄροτρα Nonnos verwendet ἄροτρα als Bezeichnung des männlichen Glieds (18.228; 21.256; 25.315). 47 σπείρων ἄσπορα νῶτα θυγατρογόνοιο θαλάσσης Durch die figura etymologica (σπείρων ἄσπορα) wird das Paradox, dass das traditionell als unfruchtbar geltende Meer (vgl. z.B. Hom. Il. 1.316 ἁλὸς ἀτρυγέτοιο; 14.62 ἀτρυγέτοιο θαλάσσης; Od. 2.370 πόντον ἐπ’ ἀτρύγετον) plötzlich fruchtbar wird (θυγατρογόνοιο), zusätzlich zugespitzt.

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νῶτα θυγατρογόνοιο θαλάσσης Auf Basis der epischen Formel ἐπ’ εὐρέα νῶτα θαλάσσης kreiert Nonnos die Klausel νῶτα θαλάσσης, die er insgesamt acht Mal in den Dionysiaka verwendet (1.105; 3.34; 6.221; 38.319; 39.227; 297; 383; 40.466). Hier ist sie durch das Epitheton θυγατργόνος – möglicherweise eine nonnianische Neuschöpfung (vgl. 5.193; 7.212; 41.102) – erweitert; zu Nonnos’ großer Vorliebe für Komposita mit -γονος vgl. die proton eiremena bzw. seltenen Komposita αὐτόγονος, θαλασσόγονος, ἰχθυγόνος, τελεσσίγονος, ὑγρόγονος, ὑψίγονος). 48–51 Verschlingen und Ausspeien der Kinder Das Verschlingen der eigenen Kinder ist ein zentrales Element des von Hes. Th. 459–497 geprägten Mythos um Kronos (vgl. Nonn. D. 2.337; 21.254–255; 25.553–562; 28.321–323; 27.52; 41.65–75). Während jedoch in der hesiodeischen Version Kronos von Zeus gezwungen wird, seine Kinder wieder auszuspeien (Th. 495–496), fungiert in den entsprechenden Schilderungen des Mythos in den Dionysiaka der von Kronos verschluckte Stein als eine Art Emetikum, das zum Ausspeien der Kinder führt (vgl. 25.556 λαϊνέην ὠδῖνα δολοπλόκος ὤρεγε ῾Ρείη; 560–561 καὶ λίθον ἐν λαγόνεσσι μογοστόκον ἔνδον ἀείρων/θλιβομένην πολύτεκνον ἀνηκόντιζε γενέθλην; 41.70–71 καὶ λίθον Εἰλείθυιαν ἔχων βεβριθότι φόρτῳ,/θλιβομένης πολύπαιδος ἀκοντιστῆρα γενέθλης). Dieses Detail dürfte Nonnos nicht selbst erfunden (so Gigli Piccardi 2003 ad 48–51), sondern den Orphischen Rhapsodien entnommen haben (zu Nonnos’ Kenntnis der Rhapsodien s. K. 34). Deren Verfasser hatte das narrative Element, dass Metis Kronos ein Emetikum verabreicht, welches sich in früheren orphischen Kosmologien fand, dahingehend vereinfacht, dass ihn der Stein selbst zum Erbrechen bringt (vgl. die auf den orphischen Rhapsodien basierenden Ausführungen in Clem. Recogn. 10.19.2 Rehm/Strecker (= Orph. Fr. 108 Kern) et lapis devoratus eos quos primo absorbuerat filios trusit et coegit exire; West 1983, 72 und 236). Im Rahmen allegorischer Interpretationen wurde das Verschlingen und Ausspeien der Kinder durch Kronos auf den Winter bezogen, der die ausgeworfene Saat verschlingt, sie aber im Frühjahr wieder hervorbringen muss: Procl. in R. 2 p. 61 Kroll διὸ καί φασι τῶν ὡρῶν τὴν μὲν χειμερινὴν εἶναι Κρονίαν, κρύπτουσαν ὑπὸ γῆς τὰ σπέρματα καθάπερ ἐκεῖνος τὰ ἑαυτοῦ γεννήματα; Varro apud Aug. civ. 7.19 Saturnum dixerunt quae nata ex eo essent devorare quod eo semina unde nascerentur redirent (vgl. die allegorische Deutung, nach welcher die Gefangenschaft des Kronos im Tartaros auf das Ausbringen der Saat bezogen wird: Lyd. Mens. 4.158 p. 174 Wünsch αἰνίττονται δὲ τὸν σῖτον ἀπὸ τοῦ ἐν τῇ γῇ σπαρῆναι καὶ τὸ λοιπὸν μὴ φαινομένου). Das Ausspeien der Kinder wird als Geburtsvorgang beschrieben (50 μαιώσατο; 51 ἐγκύμονος; vgl. 25.560–562; 41.70–76), wodurch auf metaphorischer Ebene das Thema »Zeugung und Geburt« in den vorangegangenen Versen weitergeführt

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wird. Das große Gewicht des φόρτος scheint durch die metrische Gestaltung des Verses reflektiert zu werden (s. hierzu allgemein E. Kap. 8.2.5.). 52–53 Sieg des Zeus über Kronos Die Verse gehören syntaktisch zum folgenden Abschnitt, sachlich aber zur vorangegangenen Schilderung des Inhalts der ersten κύρβις (zu dieser Form des syntaktischen Enjambements s. 12.122b–123). Die Wahl von ἔδρακεν lässt auf den ersten Blick daran denken, dass es sich bei der erwähnten Titanomachie um ein Bild handelt. Nonnos verwendet δέρκομαι aber durchaus auch zur Charakterisierung des Leseprozesses (12.103 θέσφατα … ἔδρακε κούρη; 114 τοῖα ἐν γραφίδεσσι … ἔδρακε κούρη; vgl. 41.361–362 μόγις ἔδρακε χῶρον, ὅπῃ …/θέσφατον ὀψιτέλεστον ᾿Οφιονίη γράφε τέχνη). Die Präferenz von δέρκομαι im Gegensatz zu anderen Verben der Wahrnehmung (vgl. 41.368 τοῖον ἔπος δεδάηκε; 388 τοῖον ἔπος σοφὸν εὗρε; 399 ὁππότε πᾶσαν ᾿Οφιονίην μάθεν ὀμφήν), dürfte dabei weniger inhaltlichen, als vielmehr metrischen Gründen geschuldet sein. In der Tat verwendet Nonnos ἔδρακε(ν) als Ausdruck für Lesen immer nur in der vorliegenden metrischen sedes. Die Titanomachie ist ein wesentlicher Bestandteil der hesiodeischen Theogonie (Hes. Th. 617–731) und Nonnos spielt im Laufe seines Epos mehrmals auf sie an (2.337–339; 18.225–268; 24.232–236; 27.53; 31.235; 266–267; 33.360; 36.113; 39.287). An dieser Stelle wird die Schilderung des Kampfes der beiden Götter auf die Antithese Wasser/Kälte (νιφετοῖο; χαλαζήεσσαν) – Feuer/Hitze (πυριλαμπέα) zugespitzt (vgl. 18.229–234; 24.232–236 mit Keydell 1961, 111–112 und Zuenelli 2015, 223–224). Nonnos suggeriert dadurch, den Sieg des Zeus über Kronos, der als letztes Ereignis auf der Winter-Tafel erwähnt wird, gleichzeitig allegorisch als Sieg der Wärme des Frühlings über die Kälte des Winters zu lesen (vgl. Keydell 1961, 107–109; weiters Stegemann 1930, 148 Anm. 63). Eine Parallele hierzu bildet die Schilderung des Kampfs des Zeus gegen den ebenfalls als Winter stilisierten Typhon in den Büchern 1–2 (vgl. Keydell 1961, 110–111; Vian 1976, 275–292), auf welchen eine Schilderung des Frühlings folgt (3.1–18; v.a. 3.1 Λῦτο δ’ ἀγών, ὅτε χεῖμα παρήλυθεν). Es gibt aus der Antike keinen expliziten Beleg, dass der Sieg des Zeus über Kronos auf allegorischer Ebene als Sieg der Sonne über den Winter interpretiert wurde. Es sind jedoch durchaus vergleichbare Deutungen bezeugt: So teilt Lyd. Mens. 4.3 p. 67 Wünsch mit, dass am ersten Jänner der Konsul dem Zeus, der laut Pherekydes Helios sei, ein Pferd opfert, und erwähnt dabei τοῦτο δὲ εἰς τιμὴν τοῦ Διὸς ὡσεὶ καταγωνισθέντων ἐκείνῳ τῶν Γιγάντων, ἀντὶ τοῦ νικηθέντος τοῦ χείματος ὑπὸ τοῦ ἡλίου. Dass hier der Sieg der Sonne über den Winter mit Zeus’ Kampf gegen die Giganten, nicht aber – wie in den Dionysiaka – mit dem gegen die Titanen in Bezug gesetzt wird, könnte möglicherweise mit der in der Spätantike häufig vorzufindenden Vermischung von Giganten und Titanen erklärt werden (vgl. Vian 1952, 27). Hingewiesen werden soll auch auf die von Lydus im Anschluss an das obige Zitat erwähnte allegorische Deutung des Kampfes des

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Briareos gegen Zeus als Kampf des Winters gegen die Wärme des Frühlings. Eine ähnliche allegorische Deutung der Titanomachie überliefert Eust. in Hom. Il. 14.279 (3 p. 640.10–15 van der Valk). 54–63 Zweite κύρβις (Frühling) Im Anschluss an die Göttergeschichte, die mit dem endgültigen Sieg des Zeus über seine Gegner endet, behandelt die zweite Tafel die Urgeschichte der Menschheit von deren Entstehung bis zur Deukalionischen Flut, die nach antiker Vorstellung den Übergang zum Zeitalter der Heroen markiert. Der Abschnitt zeigt einen recht symmetrischen Aufbau: Er gliedert sich in zwei Teile und schildert zunächst eine erste Anthropogonie des Menschengeschlechts aus einer Pinie (55b–58) und im Anschluss die Deukalionische Flut (59–63), die ihrerseits eine erneute Anthropogonie impliziert. Beide Teile beschreiben dabei das entsprechende Thema anhand zwei variierender Gedanken, die jeweils mit πῶς und πόθεν eingeleitet werden. Nachdem die erste Tafel, die die Jahreszeit des Winters symbolisiert, mit einer allegorisierenden Anspielung des Sieges der Sonne über den Winter geendet hat, behandelt die zweite Tafel Ereignisse, die mit der Jahreszeit des Frühlings in Verbindung gebracht werden können: So evoziert die Schilderung des »Sprießens« der ersten Menschen aus Bäumen die Vorstellung vom Wiedererwachen der Natur im Frühjahr. Aber auch die Erwähnung der Deukalionischen Flut verweist auf diese Jahreszeit: Auf einer allgemeineren Ebene kann sie zum fruchtbaren Frühlingsregen (vgl. z.B. Verg. Georg. 2.325 fecundis imbribus; Colum. 10.206 violento depluit imbre) oder zu den in dieser Jahreszeit aufgrund der Schneeschmelze häufig eintretenden Überflutungen in Beziehung gesetzt werden (vgl. z.B. zu den Tiber-Fluten Aldrete 2007, 66–71). Auch von der Deukalionischen Flut glaubte man, dass sie sich im Frühjahr ereignet habe (s. K. 59–63). 54 Der Text der Handschrift L lautet: ἀμφίπορος Φαέθοντος ἀελλόπος ἔδραμεν ῞Ωρη und beschreibt eine kreisförmige Bewegung der Hore: »die herumgehende sturmfüßige Hore des Helios ging«. Der Text ist jedoch aus grammatischen und 2 inhaltlichen Gründen eindeutig abzulehnen. Schon L , der den Kodex L mit dessen Vorlage abgeglichen, aber auch durch eigene Konjekturen korrigiert zu haben scheint (vgl. Vian 1976, LXIII), hat ἔδραμεν richtigerweise zu ἔδρακεν ausgebessert (zu ἔδρακεν s. K. 52–53). Die Wortwiederholung im Folgevers (δέρκετο) braucht nicht zu irritieren, da Nonnos trotz seiner starken Tendenz zur lexikalischen Variation manchmal bewusst Wortwiederholung sucht (zu Fällen, wo ein Wort am Ende eines Teilsatzes zu Beginn des nächsten übernommen wird, vgl. z.B. 5.484 λούετο μὲν καθαροῖσιν ἐν ὕδασι, λουομένης δέ; 24.303 ῎Αρεϊ πέπλον ὕφαινε· νεοκλώστῳ δ’ ἐνὶ πέπλῳ; 41.295 κερκίδι πέπλον ὕφαινεν· ὑφαινομένου δὲ χιτῶνος; 44.62–63 δένδρον ἀπειλητῆρι μετοχλίζοντες ὀδόντι/ τρηχαλέαις γενύεσσι· τινασσομένοιο δὲ δένδρου; Keydell 1953, 14).

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Kommentar

Korrupt überliefert ist mit Sicherheit auch die Form ἀμφίπορος: Das innerhalb der griechischen Literatur nicht bezeugte Adjektiv könnte zwar eine singuläre Neubildung von Nonnos sein (vgl. die ebenfalls erst bei Nonnos belegten Komposita ὀπισθοπόρος und αὐτοπόρος), ergibt im Kontext aber wenig Sinn. Zudem müsste Φαέθοντος auf ῞Ωρη bezogen werden, was eine äußerst enge Verbindung der Jahreszeitenhoren zu Helios implizieren würden, die ansonsten nicht nachweisbar ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit liegt eine Verschreibung von ἀμφίπολος vor. Für die Konjektur (anon. Villois. p. 18) spricht, dass die Wendung ἀμφίπολοι Φαέθοντος in derselben metrischen sedes zwei Mal in den Dionysiaka belegt ist (2.175; 38.415). In beiden Fällen dürften hiermit allerdings die Monatshoren gemeint sein, die im Epos als Dienerinnen des Helios fungieren (s. K. 15–20). Da die vier Jahreszeitenhoren nicht als solche in Erscheinung treten, ist die Charakterisierung der Herbsthore als ἀμφίπολος Φαέθοντος etwas merkwürdig: Nonnos scheint ungewollt ein Charakteristikum der Monatshoren auf die Jahreszeitenhoren übertragen zu haben (für weitere Fälle solcher fälschlichen Charaktersierungen s. K. 96). ἀελλόπος Die Horen gelten als schnell (vgl. 38.131 εὔποδες ῟Ωραι; 331; Q. S. 4.135 θοαὶ …῟Ωραι; Ov. Met. 2.118 velocibus … Horis; Stat. Theb. 3.410 rapidis accurrunt passibus Horae; von ihrem Vater Lykabas Nonn. D. 11.486 ἀελλοπόδοιο τοκῆος). Dementsprechend wird auch bei der Beschreibung der Herbsthore deren Schnelligkeit betont (12.41 ἔτρεχε κούρη; 64 ἐπέδραμεν εὔποδι ταρσῷ; 92 ἀνεμώδεϊ … κούρῃ). 55b–58 Dendrogonie Die Entstehung der ersten Menschen wurde in der Antike durch unterschiedliche Mythen und Theorien erklärt. Neben universellen Erklärungen zur Entstehung des Menschengeschlechts als Ganzes finden sich dabei auch eine Vielzahl unterschiedlicher lokaler Mythen, die von der Entstehung der jeweiligen autochthonen Bevölkerung berichten. Die hier erwähnte Anthropogonie aus Pinienbäumen entspricht der antiken Vorstellung von der Geburt der ersten Menschen aus Bäumen (vgl. Hom. Od. 19.162–163 ἀλλὰ καὶ ὧς μοι εἰπὲ τεὸν γένος, ὁππόθεν ἐσσί·/οὐ γὰρ ἀπὸ δρυός ἐσσι παλαιφάτου οὐδ’ ἀπὸ πέτρης mit Sch. ad loc. οἱ γὰρ παλαιοὶ ὑπελάμβανον τοὺς πρὸ ἑαυτῶν ἐκ δρυῶν καὶ πετρῶν γεγενῆσθαι [vgl. hierzu Vadé 1977]; Hes. Th. 35 [vom ehernen Geschlecht] ἐκ μελιᾶν; Palaeph. 35 τὸ πρῶτον γένος ἀνθρώπων ἐκ μελιῶν γενέσθαι; AP 9.312.6 (Zon.) ἁμῖν ὡς πρότεραι ματέρες ἐντὶ δρύες; Iuv. 6.12–13 [von den Menschen unter Saturn] uiuebant homines, qui rupto robore nati/compositiue luto nullos habuere parentes; vgl. Luginbühl 1992, 204–208; Gigli Piccardi 2003 ad 55–58; zum Volk der Arkader im Speziellen Lyc. 480 ἐγγόνων δρυός; Verg. Aen. 8.315 gensque uirum truncis et duro robore nata; Stat. Theb. 4.276–278 nemorum quos stirpe rigenti/fama satos … tellus/admirata tulit).

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Die Wahl genau dieses Topos zur Entstehung des Menschengeschlechtes dürfte damit zu erklären sein, dass das »Sprießen« der ersten Menschen aus Bäumen besonders gut zur Tafel des Frühlings passt, der Jahreszeit, in der sich die Vegetation wieder zu regen beginnt. Als Baumart bot sich dabei die Pinie, die dem Dionysos heilig ist, besonders an (vgl. Plu. Mor. 675e Ποσειδῶνι καὶ Διονύσῳ τὴν πίτυν οἱ παλαιοὶ καθωσίωσαν; zu dem mit einem Pinienzapfen gekrönten Thyrsos als Standardattribut des Dionysos von Papen 1905, 26; zu weiteren Beziehungen der Pinie zu Dionysos Gigli Piccardi 2003 ad 12.55–58). Nonnos’ Idee von einem aus Pinienbäumen entstanden Menschengeschlecht, das durch die Deukalionische Flut ausgelöscht wurde, könnte dabei durch den Mythos von dem aus Eschen entstandenen ehernen Menschengeschlecht beeinflusst sein, dessen Untergang man ebenfalls mit der Deukalionischen Flut in Zusammenhang brachte (vgl. Apollod. 1.7.2 ἐπεὶ δὲ ἀφανίσαι Ζεὺς τὸ χαλκοῦν ἠθέλησε γένος … πολὺν ὑετὸν ἀπ’ οὐρανοῦ χέας τὰ πλεῖστα μέρη τῆς ῾Ελλάδος κατέκλυσεν). Die beschriebene Dendrogonie wird nur an dieser Stelle erwähnt. Ausführlich geschildert wird hingegen die Entstehung jenes Menschengeschlechts, das Teil der Handlung der Dionysiaka ist: Im Anschluss an die als Rückblende erzählte Katastrophe der Deukalionischen Flut beschreibt Nonnos zu Beginn des 7. Buches die Entstehung eines neuen Menschengeschlechts aus der Verbindung der vier Elemente (7.1–6). Neben dieser Schilderung eines neuen Menschengeschlechts werden im Laufe des Epos noch zwei weitere lokal beschränkte Anthropogonien für die Bevölkerung von Tyros (40.430–433; s. hierzu Schmidt 1978) und Berytos (41.51–58) erwähnt. 55 ἀμοιβαδίς Abweichend von der ansonsten belegten Bedeutung »abwechselnd« (vgl. LSJ und DGE s.v.) bezeichnet das Adverb bei Nonnos manchmal ein einfaches zeitliches Nacheinander (vgl. 37.155 [von den zu ihren Wagen laufenden Lenkern] δίφρα περιτροχάοντες ἀμοιβαδίς; 40.455–456 [vom Befestigen der Taue] ἐφάψατε …/συμπλεκέας τε κάλωας ἀμοιβαδίς; 44.20 [von den eine Tür nach der anderen schließenden Soldaten des Pentheus] οἱ μὲν ἐπεκλήισαν ἀμοιβαδίς; Peek s.v.). 56–58 πίτυς … πεύκη In der Antike wurden die einzelnen Arten von zapfentragenden Nadelbäumen begrifflich nicht immer scharf voneinander getrennt (vgl. Murr 1890, 110–111; Hehn 1963, 301–302). Dies gilt auch für die Begriffe πίτυς und πεύκη. So muss Theophrast, der die beiden Bezeichnungen zur Unterscheidung zweier verschiedener Baumarten verwendet, dennoch konstatieren, dass die von ihm als πεύκη bezeichnete Baumart von den Arkadern πίτυς genannt werde (Thphr. HP 3.9.4). Die Bäume, die man entweder als πίτυς oder als πεύκη bezeichnete, dürften jedenfalls miteinander nahe verwandte Pinienarten gewesen sein (vgl. Plu. Mor. 676a [von der πίτυς] ἀδελφὰ δένδρα, πεῦκαι καὶ

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Kommentar

στρόβιλοι; Hsch. s.v. πίτυς: δένδρον, ἐμφερὲς πεύκῃ). In den Dionysiaka werden πίτυς und πεύκη als Bezeichnungen für teils unterschiedliche (vgl. 17.338–339; 21.103–104; 22.176–177; 4.140–141; 37.15–17; 41.132–133), teils ein und dieselbe Baumart verwendet (vgl. 12.133 mit K.; 12.314–318). Es ist anzunehmen, dass an dieser Stelle ein und derselbe Baum gemeint ist. Denn hätte Nonnos betonen wollen, dass die Menschen aus unterschiedlichen Bäumen entstanden sind, hätte er wohl nicht zwei, sondern – wie etwa Statius in Theb. 4.279–281 – gleich mehrere Bäume erwähnt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Verse 56b–58 eine nähere Ausführung zu πῶς βροτέην ὤδινε γονὴν πίτυς bilden (zu ἢ in epexegetischer Funktion s. Kühner/Gerth II § 538.3). Parallelen hierzu bieten 38.99–112 und 40.12–13, wo – koordiniert durch πῶς … ἢ πόθεν … – zunächst eine allgemeinere Aussage getätigt wird, die dann anhand eines Details näher ausgeführt wird. Ähnlich verfährt Nonnos auch in den folgenden Versen 59–63: Zunächst wird im πόθεν-Satz (59–60) eine allgemeine Schilderung der Flut geboten, ehe im πῶς-Satz (61–63) diese anhand eines Details (Schicksal des Deukalion) näher ausgeführt wird. 57 ἀναπτύξασα λοχείην Die Junktur beschreibt einen Geburtsvorgang (vgl. die »Geburtsschilderungen« 5.199 ἐννεάμηνον ἀναπτύξασα λοχείην; 16.270 κηώεσσαν ἀναπτύξασα λοχείην; 32.84; weiters 41.136 πύλας ὤιξε λοχείης; 163 ὠδῖνος ἀναπτύξασα καλύπτρην; Gigli Piccardi 1985, 80). γονόεσσαν Auf die Nachkommenschaft der πεύκη bezogen, kann γονόεσσαν so verstanden werden, dass das aus der Pinie entstandene Menschengeschlecht seinerseits reproduktionsfähig ist. Logisch plausibler wäre es allerdings, das Adjektiv nicht auf die Nachkommen der Pinie, sondern auf den Baum selbst (πεύκη) zu beziehen, der ja eine Geburt vollbringt, weshalb γονόεσσαν wohl als Enallage zu deuten ist (vgl. 12.74–75 πτερόεσσαν … πορείην/ὄρνις, wo πτερόεσσαν sich logisch auf den Vogel und nicht auf den Flug bezieht; Met. 11.7 [von Maria Magdalena, die Jesus die Füße mit ihren Haaren trocknet] ἀκροφανὴς ἐδίηνε διάβροχον ἰκμάδι χαίτην, wo ἀκροφανής wohl kaum auf die am Boden kniende Maria Magdalena, sondern auf deren Haare zu beziehen ist; 20.115 [von den versteckten Jüngern] πάντες ἔσαν στοιχηδὸν ἔσω κρυφίοιο μελάθρου, wo κρύφιος nicht auf das Haus, sondern auf die Jünger zu beziehen ist; zum Stilmittel der Enallage allgemein s. E. Kap. 8.2.). 58 ἄσπορον αὐτοτέλεστον Für den Stil des Nonnos ist die Betonung des spontanen Charakters von Vorgängen besonders kennzeichnend (vgl. insbesondere 12.175 [von der Verwandlung des Ampelos in eine Rebe] ῎Αμπελος αὐτοτέλεστος ἑὴν ἠλλάξατο μορφήν; 185–186 [idem] αὐτοτελὴς δέ/ὄρχατος ἀμπελόεις; 297 [von der Entstehung der Rebe aus dem Blut des Uranos] αὐτοφυὴς ἀκόμιστος ἀέξετο καρπὸς ὀπώρης; 14.26 [von der Geburt der Kureten] ἐκ χθονὸς αὐτοτέλεστον ἀνεβλάστησε γενέθλην; 29.261–262 [von der Geburt des Silen] ὃς δίχα λέκτρων/

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ἄσπορος αὐτολόχευτος ἀνέδραμε μητρὸς ἀρούρης; 40.433 [von der Geburt der Bewohner von Tyros] αὐτομάτην ὤδινεν ἀνήροτος ἄσπορος ἰλύς; 41.56 [von der Geburt der Bewohner von Berytos] μορφώσασα σοφὸν τόκον ἄσπορος ὠδίς; s. zu diesem Stilmerkmal allgemein E. Kap. 8.2.3.) 59–63 Deukalionische Flut In 6.229–388 liefert Nonnos im Rahmen einer Rückblende eine ausführliche Beschreibung der (Deukalionischen) Flut, setzt sie aber durch deren kausale Verbindung mit dem orphischen Mythos von der Ermordung des Dionysos Zagreus in einen neuen Kontext: Nachdem Zeus einen Weltenbrand in Gang gesetzt hat, um seinen von den Titanen getöteten Sohn zu rächen, löscht er diesen mit einer Flut, in deren Anschluss ein neues Menschengeschlecht – gebildet aus den vier Elementen – entsteht (s. hierzu Herter 1981; Caduff 1986, 73–132; Chuvin 1992, 34–43; Gigli Piccardi 2003, 459–461; West 2003). Deukalion selbst wird dabei nur en passant genannt (6.367–370) und seine Erwähnung steht in keinem kausalen Verhältnis zum Ablauf der Handlung. Sie scheint vielmehr nur zur Identifikation der beschriebenen Flut mit jener nach ihm benannten Naturkatastrophe zu dienen. In der Tat werden in den Dionysiaka auch noch andere Fluten erwähnt (3.204–219; 13.522–538), die aber nicht in direktem Zusammenhang zur Handlung stehen. Die Erwähnung der Deukalionischen Flut auf der κύρβις des Frühlings ist dabei insofern sehr passend, als diese in der Tat mit dem Frühling assoziiert wurde. So wurden in Athen am 13. Tag des Frühlingsmonats Anthesterion als Teil der Anthesteria die Chytren gefeiert, eine Gedenkfeier für die Toten, bei der für den chtonischen Hermes Töpfe (χύτροι) mit Brei aufgestellt wurden (vgl. Deubner 1966, 112–113; Caduff 1986, 110–111). Als Aition für dieses Ritual wird dabei angeführt, dass die Überlebenden der Deukalionischen Flut derartige Speisen in Töpfen gekocht und dem Hermes geopfert hätten. Diese Feierlichkeiten zu Ehren der Flutopfer im Frühjahr wurden damit erklärt, dass die Deukalionische Flut selbst in dieser Jahreszeit stattgefunden habe: ῾Ελεῖν δὲ τὰς ᾿Αθήνας αὐτός [Sulla] φησιν ἐν τοῖς ὑπομνήμασι Μαρτίαις καλάνδαις, ἥτις ἡμέρα μάλιστα συμπίπτει τῇ νουμηνίᾳ τοῦ ᾿Ανθεστηριῶνος μηνός, ἐν ᾧ κατὰ τύχην ὑπομνήματα πολλὰ τοῦ διὰ τὴν ἐπομβρίαν ὀλέθρου καὶ τῆς φθορᾶς ἐκείνης δρῶσιν, ὡς τότε καὶ περὶ τὸν χρόνον ἐκεῖνον μάλιστα τοῦ κατακλυσμοῦ συμπεσόντος (Plu. Sull. 14.10). Die vorliegende Schilderung der Deukalionischen Flut legt den Fokus vor allem auf Deukalions paradoxe Schifffahrt durch die Lüfte (60 ἠλιβάτοις πελάγεσσιν; ὑψούμενον ὕδωρ; 62 γείτονα Μήνης; 63 πλόον ἠερόφοιτον). Dieses Motiv verwendet Nonnos bei fast allen seinen Flutschilderungen (vgl. z.B. 6.205 δι’ ὕδατος αἰθέρα τέμνων; 214 ἠέρος ὑδατόεντος … ναύτης; 13.527 ῥόον ἠερόφοιτον; 43.194 ἠέρα μαστίζοντες ἐβόμβεον ὕδατος ὁλκοί; zum Stilmittel des Paradoxes allgemein s. E. Kap. 8.2.3.).

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Das Wortmaterial, das Nonnos hier zur näheren Beschreibung der Flut verwendet, lehnt sich stark an die Schilderung im 6. Buch an (6.229 κατέκλυσεν ὑέτιος Ζεύς ≈ 12.59 ἐπέκλυσεν ὑέτιος Ζεύς; 6.367 ὑψούμενον ὕδωρ = 12.60 ὑψούμενον ὕδωρ; 6.368 πλόον ἠεροφοίτην ≈ 12.63 πλόον ἠερόφοιτον; 6.370 ἄμμορος ὅρμου ≈ 12.63 ἄμμορον ὅρμου). 61 πῶς Νότος ἐκ Βορέαο καὶ ἐκ Λιβὸς Εὖρος ἱμάσσων Die Beschreibung der auf das Boot des Deukalion einwirkenden Winde (vgl. 6.286–287) dürfte der homerischen Schilderung des von Stürmen umhergeworfenen Odysseus in Od. 5.330–332 nachgebildet sein: ὣς τὴν ἂμ πέλαγος ἄνεμοι φέρον ἔνθα καὶ ἔνθα·/ ἄλλοτε μέν τε νότος βορέῃ προβάλεσκε φέρεσθαι,/ἄλλοτε δ’ αὖτ’ εὖρος ζεφύρῳ εἴξασκε διώκειν (allgemein zur Aufzählung der vier Winde bei Sturmschilderungen s. Kost 1971 ad 316–317). Nonnos verdichtet die Beschreibung dabei auf einen Vers und verleiht diesem durch die chiastische Anordnung der einzelnen Glieder eine symmetrische Struktur. ἐκ Die Präposition drückt hier das aufeinander folgende Wehen der einzelnen Winde aus (vgl. 13.269 [vom Trinken eines Bechers nach dem anderen] ἐξ ἑτέρου ποθέων ἕτερον δέπας ἡδέι θυμῷ; 46.118 [vom Heben eines Fußes nach dem anderen] ἐκ ποδὸς αἰθύσσων ἕτερον πόδα; Kühner/Gerth I § 430.2.2; Peek s.v. IV.3.). 62 γείτονα μήνης Dieses Detail findet eine Entsprechung in der Schilderung der Deukalionischen Flut im 6. Buch, wo es in 6.332–338 heißt, dass die Wogen der Flut bis an die Fixsternsphäre heranreichen und mit ihrem kalten Wasser u.a. auch Selene treffen, die bereits in die siebte – und damit entfernteste Planetenbahn – geflohen ist: ζώνῃ δ’ ἑβδομάτῃ χθαμαλῆς ὑπὲρ ἄντυγα πέζης/κύμασιν ἠλιβάτοισι σέλας ψύξασα Σελήνη/μυδαλέων ἀνέκοψε λελουμένον αὐχένα ταύρων (6.334–336). 64–102 Dritte κύρβις (Sommer) Die Herbsthore gelangt zur dritten κύρβις und beginnt die dort verzeichneten Inschriften zu lesen. Der von der Herbsthore gelesene Text wird im Wortlaut wiedergegeben und bildet einen Katalog von elf Metamorphosen (zur zentralen Rolle von Metamorphosen für die Zeit im Anschluss an die Deukalionische Flut vgl. den Gesang des Silen in Verg. Ecl. 6.61–64 und 74–81). Bei den Verwandlungsgeschichten handelt es sich – zumindest aus heutiger Sicht – teils um recht bekannte (Argos, Philomele, Niobe, Atalante), teils um entlegene Mythen bzw. Mythenversionen (Harpalyke, Pyrrhos, Pyramos/Thisbe, Krokos/Milax, Kissos, Kalamos, Ampelos). Die Reihung der einzelnen Metamorphosen lässt streckenweise ein alphabetisches Gliederungskriterium erkennen: ῾Αρπαλύκη folgt unmittelbar nach ῎Αργος und Πύραμος unmittelbar nach Πυρρός; weiters ist auch die gemeinsame Nennung von Κάλαμος und Κισσός möglicherweise signifikant. Die plausibelste Erklä-

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rung hierfür dürfte sein, dass Nonnos unbewusst das alphabetische Arrangement seiner Quelle übernommen hat (s. Zuenelli 2018). Bei der Auswahl der Verwandlungsgeschichten scheint es Nonnos dabei vorrangig darum gegangen zu sein, Beispiele aus allen wichtigen Metamorphosen-Kategorien aufzuzählen (Verwandlungen in Gestein, in Gewässer, in Vögel, in Landtiere, in Pflanzen), um so den Eindruck einer gewissen Vollständigkeit der auf der Tafel verzeichneten Metamorphosen zu erreichen. Die Anordnung der Metamorphosen ist durch eine Mischung aus starrer Schematik und überraschender Variation geprägt, wie sie auch für die Gestaltung der ekphrastischen Tableaus typisch ist (s. E. Kap. 8.1.1.). Die Abbildung 3 versucht, die Gliederung und die zentralen Verbindungslinien, die die einzelnen Metamorphosen miteinander verknüpfen, schematisch nachzuzeichnen.

Abb. 3  Gliederung Metamorphosen-Katalog

Die Verwandlungsgeschichten formen thematische Gruppen, deren inhaltliche Einheit durch die Verwendung von Enjambement auch formal unterstrichen wird (zur strukturierenden Funktion von Vers-Enjambements s. E. Kap. 8.2.5.). Eine Ausnahme bildet einzig die Metamorphose der Atalante in eine Löwin, die für sich allein zu stehen scheint. Diese Sonderstellung könnte damit zu erklären sein, dass unmittelbar nach der Schilderung ihrer Verwandlung das Sternbild des Löwen beschrieben wird, das sich in der Nähe der Inschrift befindet, welches gleichsam die Rolle des fehlenden Metamorphose-Pendants erfüllt, wodurch das ansonsten starre Schema etwas aufgebrochen wird. Hauptkriterium bei der Gruppierung der einzelnen Verwandlungen ist die Gestalt, welche die einzelnen Personen nach der Metamorphose annehmen (Vögel, Steine, Pflanzen). Im Fall der Gruppe Pyramos/Thisbe und Krokos/Milax scheint hingegen die vorder-

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gründige Gemeinsamkeit darin zu bestehen, dass in beiden Fällen Verwandlungen von Liebespaaren geschildert werden. Neben diesen vordergründigen Gemeinsamkeiten weisen die Metamorphosen innerhalb der einzelnen Gruppen zusätzlich noch eine Reihe weiterer Übereinstimmungen auf (s. hierfür K. ad loc.). Die einzigen beiden Dreiergruppen (Vögel, Pflanzen), die am Anfang bzw. am Ende des Katalogs stehen, fungieren als Rahmung der ansonsten paarweise angeordneten Metamorphosen. Deren innere Glieder (Harpalyke/Philomele, Kissos/Kalamos) bilden dabei ihrerseits Paare, wodurch die markante Stellung der äußeren Glieder (Argos, Ampelos) am Anfang bzw. Ende des Katalogs zusätzlich unterstrichen wird. Diese Gegenüberstellung von Argos (Pfau) und Ampelos (Rebe) könnte dabei insofern signifikant sein, als die Rebe gleichzeitig das Attribut des Dionysos und der Pfau das Attribut der Hera, der Hauptgegnerin des Dionysos im Epos, darstellt. Bei der Schilderung der einzelnen Verwandlungsmythen, die bisweilen in sehr elliptischer Form dargeboten werden, bemüht sich Nonnos, die Kontinuität zwischen der menschlichen und der verwandelten Form hervorzuheben, indem er hervorstreicht, dass die Emotionen (Niobe, Pyrrhos, Pyramos/Thisbe, Krokos), die physischen Eigenschaften (Argos) oder das Verhalten der jeweiligen Personen (Atalante, Kissos) auch in der verwandelten Gestalt fortbestehen (vgl. hierzu K. 173–184 und K. 188–192). Der Katalog von Metamorphosen wird durch die Beschreibung von Abbildungen der Sternbilder von Löwe und Jungfrau unterbrochen, die Nonnos auch sonst gerne paarweise anführt (2.655; 38.340; 47.247). Diese sind Teil der in Vers 35 genannten Illustrationen (γραφίδες), die dem Text der Inschriften schmückend beigestellt sind (s. K. 29–35). Bei der Erklärung für die Wahl dieser beiden Abbildungen müssen zwei Ebenen unterschieden werden: (i.) Auf der Handlungsebene fungieren die Abbildungen – wie in 12.35 (γραφίδων … ἐφάρμενον ὅρμον) erwähnt – als Illustrationen der entsprechenden Inschriften: Die Abbildung des Sternbilds des Löwen passt zu der eben erwähnten Verwandlung der Atalante in eine Löwin und die Nennung der eine Traube in der Hand haltenden Jungfrau zur Verwandlung des Ampelos in eine Rebe. (ii.) Zum anderen kann der Leser die Abbildungen aber auch in Bezug zu der Tafel selbst setzen und diese – bei den Sternbildern von Löwe und Jungfrau handelt es sich ja um sommerliche Tierkreiszeichen – als κύρβις des Sommers deuten; im Fall der Beschreibung des Sternbildes der Jungfrau wird die Beziehung zur Jahreszeit des Sommers durch die Formulierung θερειγενὲς ἄνθος ὀπώρης auch explizit genannt. 64 εὔποδι ταρσῷ Zur Schnelligkeit der Herbsthore s. K. zu 54.

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65 μυστιπόλος Λυκάβαντος Nonnos scheint abermals ein Charakteristikum der Monatshoren auf die Jahreszeitenhoren übertragen zu haben (für weitere Fälle solcher fälschlichen Charaktersierungen s. K. zu 96). ἕλιξ στηρίζετο κούρη Die Wahl des Epithetons, das sich auf die jährliche Wiederkehr der Herbsthore im Jahreskreislauf bezieht (31 κυκλάδι κούρῃ; s. K. zu 17 κυκλάδες ῟Ωραι) und damit eine fortwährende Eigenschaft charakterisiert, steht in bewussten Kontrast zur aktuell beschriebenen Situation (στηρίζετο; zu diesem paradoxen Epitheta-Gebrauch s. E. Kap. 8.2.1.). 67 γράμματα φοινίσσοντα, σοφῇ κεχαραγμένα μίλτῳ Dass die Inschriften mit roter Farbe ausgemalt sind (vgl. 15.360 χειρὶ δὲ σεῖο χάραξον ἔπος τόδε πενθάδι μίλτῳ; 41.363 κεχαραγμένον οἴνοπι μίλτῳ) entspricht antiker Praxis (vgl. Plin. Nat. 33.122 minium in voluminum quoque scriptura usurpatur clarioresque litteras vel in uro vel in marmore, etiam in sepulchris, facit; Geist 1969, 18; zu fasti im Speziellen Ov. fast. 1.11 pictos … fastos mit Bömer 1958 ad loc.; Mart. 11.4.5–6; 12.29.5 purpureis fastis). Die Erwähnung der purpurnen Farbe dürfte dabei aber auch gleichzeitig dazu dienen, die große Bedeutung der Inschriften zu betonen. σοφῇ … μίλτῳ Vgl. z.B. 7.196 σοφὸν βέλος; 15.360 πενθάδι μίλτῳ; 25.269 σοφῆς σάλπιγγος; zum Phänomen der Enallage des Adjektivs allgemein s. E. Kap. 8.2.). 68 ποικιλόμυθος Das Adjektiv ist auf die Vielzahl an unterschiedlichen Ereignissen, die Phanes auf den κύρβεις verzeichnet hat, zu beziehen (vgl. 44 εἰν ἑνὶ πάντα φέρουσαν; 66 πολύτροπα θέσφατα; weiters 41.351 [von den Tafeln des Ophion] τοῖς ἔνι ποικίλα πάντα μεμορμένα θέσφατα κόσμου; 371 ποικίλα παντοίης ἐχαράσσετο δαίδαλα τέχνης). ἀρχέγονος φρήν Die Bezeichnung lässt sich am einfachsten als Metonymie erklären (vgl. 12.34 Φάνητος ἐπέγραφε … χείρ; 41.362 Ὀφιονίη γράφε τέχνη). Einer Deutung von Φρήν im Sinne von »Weltgeist« (vgl. Emp. 31B 134.4 Diels/ Kranz φρὴν ἱερή; Didym. Trin. 2.27 [von Gott Vater] ἀρχέγονος φρήν) scheint mir die Tatsache zu widersprechen, dass das Schreiben und Illustrieren der κύρβεις eine gewisse Körperlichkeit voraussetzt (vgl. aber Gigli Piccardi 2009). 70–78 Metamorphosen in Vögel Die ersten drei Verwandlungen bilden eine thematische Gruppe aus Metamorphosen in Vögel, die durch Enjambement miteinander verbunden sind. Sie finden ein strukturelles Pendant in der Dreiergruppe von Metamorphosen in Pflanzen (97–102), die den Katalog ringkompositorisch beschließt. Innerhalb der Gruppe bilden die Geschichten von Harpalyke und Philomele sowohl aus (i.) inhaltlicher als auch (ii.) formaler Sicht ein gesondertes Paar: (ad i.) Beide Protagonistinnen werden vergewaltigt und rächen sich an ihrem

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Peiniger, indem sie dessen Kind töten und es ihm als Speise vorsetzen. (ad ii.) Die Verse zeigen eine präzise chiastische Anordnung. Im Fall der Harpalyke behandeln die Verse 72–73 (= 2 Verse) zunächst die Vorgeschichte zur eigentlichen Verwandlung, die in 74–75a (= 1,5 Verse) berichtet wird. Bei der Darstellung des Mythos der Philomele wird genau spiegelverkehrt zunächst die Verwandlung 75b–76 (= 1,5 Verse) und anschließend in den beiden Versen 77–78 (= 2 Verse) die Vorgeschichte erzählt. Die Häufung der schweren versus tetracoli (s. E. Kap. 8.2.5.), die die geschilderten Gräuel auf stilistischer Ebene reflektieren, schaffen dabei zusätzliche Kohärenz. 70–71a Argos Nonnos folgt in den Dionysiaka, in denen an mehreren Stellen Argos als unermüdlicher Wächter erwähnt wird, der mythologischen Tradition: Argos ist aus der Erde entstanden (20.84), bewacht im Auftrag der Hera die in eine Kuh verwandelte Io (3.268–272; 31.224–226) und wird schließlich von Hermes getötet (13.25–27; 20.65–66). Als sein zentrales Charakteristikum hebt Nonnos dabei seine Vielzahl von unermüdlichen Augen hervor (3.269 ἀπλανέεσσι κεκασμένον … ὀπωπαῖς; 3.272 πολυγλήνοιο νομῆος; 8.59 ἀκοιμήτοισι πολυσπερέεσσιν ὀπωπαῖς; 20.65 πολυβλεφάροιο νομῆος; 31.226 ἀγρύπνοις κεχαραγμένον ὀπωπαῖς), die seinen gesamten Körper bedecken (1.341 ὅλον δέμας ὄμμασι λάμπων; 13.26 ὄμμασιν ἀστράπτοντα ποδῶν ἄπο μέχρι κομάων). In der vorliegenden Inschrift wird seine Verwandlung in Heras Attribut, den Pfau, vorausgesagt (vgl. Sch. Ar. Au. 102 ὁ μῦθος δὲ λέγει τὸν ῎Αργον εἰς ταῶνα μεταβεβλῆσθαι; Mart. 14.85; Mythogr. 1.18; 2.7; weiters Mosch. 2.58–59 [der Pfau entsteht aus dem Blut des Argos]; Ov. Met. 1.722–723 [Juno setzt die Augen des Argus auf das Gefieder des schon existierenden Pfaus]). Der Fokus bei der Schilderung des Ereignisses liegt darauf, die Kontinuität in der Verwandlung hervorzuheben: Die ursprüngliche durch eine Vielzahl von Augen charakterisierte Gestalt des Argos findet eine Entsprechung (τύπον) in der spezifischen Musterung des Pfauengefieders (vgl. Ov. Met. 1.722–723 Excipit hos [Argos’ Augen] volucrisque suae Saturnia pennis/collocat et gemmis caudam stellantibus inplet; Mythogr. 1.18 Iuno … pennis insignibus amissa lumina exornauit). 71 Der überlieferte Text dieses Verses lautet φαιδρὸν ἔχων βλεφάρων τύπον. Ἀλλὰ καὶ αὐτή und weist – wie aus der metrischen Analyse deutlich wird – eine Lücke von der Quantität zweier Längen auf. Es ist anzunehmen, dass ein Adjektiv, das βλεφάρων näher charakterisiert hat, ausgefallen ist; in der Tat versieht Nonnos das Genitivobjekt in vergleichbaren Fällen gerne mit einem zusätzlichen Attribut (vgl. z.B. 5.180 εἶχε φαληριόωντα μελαινομένης τύπον ἅλμης; 17.236 ταυροφυῆ τύπον εἶχε Σεληναίοιο μετώπου; 18.86 λεπτοφυῆ τύπον εἶχε νεοπρίστων ἐλεφάντων).

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Es wäre grundsätzlich zu erwarten, dass in der Lücke entweder ein näherer Hinweis auf die Vielzahl von Argos’ Augen oder auf deren Glanz (φαιδρὸν … τύπον) gegeben wurde, die im Gefieder des Vogels weiterbestehen (zum Prinzip der Kontinuität in der Verwandlung in Nonnos’ Metamorphosen-Schilderungen s. K. 64–102): Als Supplemente zur näheren Charakterisierung der Vielzahl von Argos’ Augen kämen vor allem πολέων βλεφάρων τύπον oder βλεφάρων ἑκατόν τύπον in Frage (vgl. Vian 1995a, 188 Anm.  70–71). Dabei ist πολέων klar der Vorzug zu geben, da Nonnos ansonsten die Anzahl von Argos’ Augen nicht spezifiziert (3.272 πολυγλήνοιο νομῆος; 8.59 πολυσπερέεσσιν ὀπωπαῖς; 20.65 πολυβλεφάροιο νομῆος); für πολέων spricht auch, dass die Lücke leicht durch einen Augensprung des Kopisten (ἔχων πολέων βλεφάρων) erklärt werden kann. Für das dreifache Homoioteleuton (ἔχων πολέων βλεφάρων) gibt es in den Dionysiaka durchaus Parallelen (vgl. z.B. 25.416). Angesichts der Tatsache, dass durch φαιδρὸν … τύπον die Aufmerksamkeit auf das Schimmern des Gefieders gelenkt wird, erscheint es mir jedoch wahrscheinlicher, dass sich das ausgefallene Adjektiv auf den Glanz von Argos’ Augen bezog, der im Gefieder des Pfaus weiterbesteht. In diese Richtung geht Scaligers Ergänzung βλεφάρων τύπον αἰόλον (vgl. 9.187 αἰθερίων μιμηλὸν ἔχων τύπον αἰόλον ἄστρων), welche aber insofern wenig Plausibilität aufweist, als ja ein Hinweis auf den Glanz der Augen und nicht des schon als φαιδρόν bezeichneten Gefieders zu erwarten ist. Eine attraktive Ergänzung würde meines Erachtens hingegen βλεφάρων ἀργῶν bilden (die Kombination ἀργῶν βλεφάρων ist unwahrscheinlich, da Oxytona wie ἀργός bei Nonnos nur in Ausnahmefällen vor männlicher Zäsur stehen [vgl. Keydell 1959, 38* § 13]). Der Hinweis auf die hell leuchtenden Augen des ῎Αργος ergäbe nämlich zusätzlich eine etymologisierende Pointe in Bezug auf dessen Namen (s. LSJ s.v. ἀργός II). Für meine vorgeschlagene Ergänzung sprechen dabei folgende Punkte: (i.) Nonnos spielt auch an zwei weiteren Stellen mit der Etymologie von Argos’ Namen. In 1.341 charakterisiert er Argos als ὅλον δέμας ὄμμασι λάμπων und in 13.26 als ὄμμασιν ἀστράπτοντα ποδῶν ἄπο μέχρι κομάων (13.26), womit die Bedeutung seines Namens gleichsam paraphrasiert wird (s. allgemein zu Nonnos’ Vorliebe für etymologisierende Pointen E. Kap. 8.2.4.). (ii.) Das Hervorstreichen von Analogien durch die Nennung zweier fast synonymer Adjektive (ἀργῶν/φαιδρόν) entspricht dem Stil des Nonnos (vgl. z.B. 18.253 λοξὸν ἐδοχμώσαντο τύπον γαμψώνυχος ἅρπης; 20.351 αἰθερίου πατάγοιο τύπον βρονταῖον); besonders deutlich zeigt sich dies im Rahmen der Schilderung von Metamorphosen (vgl. 12.184 γναμπτῆς κυρτὰ κόρυμβα τύπον μιμεῖτο κεραίης; 48.938–939 καὶ κέρας ἔπλετο τόξον ἐυκραίρου ποταμοῖο/ταυροφυές).

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(iii.) Der Name ῎Αργος, der ungefähr die gleiche Position im Vers einnimmt wie ἀργῶν, steht im Text fast genau unter letzterem, wodurch die Verbindung der beiden Wörter dem Leser umso mehr ins Auge springt. Als Parallelen lassen sich folge Stellen anführen, bei denen etymologische Erklärungen oder Anspielungen dadurch gekennzeichnet werden, dass das etymologisch verwandte Wort in der Folgezeile in der identischen oder fast identischen metrischen sedes wiederholt wird: 3.190–191 Δάρδανος/ Δαρδανίην; 13.50–51 ῞Ομηρον/ὅρμον; 13.451–452 Κινύρειαν/Κινύραο; 14.435–436 Κύπρον/Κύπριδος; 35.142–143 Χαλκομεδείης/χαλκόν; 41.267–268 Μυκήνης/Μυκήνη. (iv.) Wie im Fall von πολέων lässt sich die Lücke leicht durch einen Augensprung des Kopisten erklären (ἔχων βλεφάρων ἀργῶν); möglicherweise hat auch die Tatsache, dass ῎Αργος in der Zeile darüber fast genau über ἀργῶν stand, bei der Entstehung der Lücke eine Rolle gespielt. 71a–75a Harpalyke Bei Harpalyke handelt sich um eine recht entlegene Gestalt der griechischen Mythologie, deren Mythos in mehreren Versionen belegt ist. Nonnos, der Harpalyke nur an dieser Stelle erwähnt, folgt dabei jenem Mythenstrang, der am ausführlichsten in den Erotika pathemata des Parthenios überliefert ist (Parth. 13): Harpalyke ist dort die Tochter des argivischen Königs Klymenos, der zusammen mit seiner Frau Epikaste noch zwei Söhne, Idas und Theragros, besitzt. Klymenos verliebt sich jedoch in seine eigene Tochter und schläft heimlich mit ihr. Als nach ihrer Hochzeit mit dem Neliden Alastor dieser seine Braut zu sich nach Hause führen will, wird er von Klymenos mitten auf dem Weg angehalten. Der Vater bringt seine Tochter wieder nach Argos zurück und verkehrt von nun an mit ihr, ohne seine Liebe vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Harpalyke tötet aus Rache ihren jüngeren Bruder und setzt ihn dem Vater bei einem öffentlichen Fest als Speise vor. Nach der grausamen Tat bittet sie die Götter, entrückt zu werden, und wird in den Vogel χαλκίς verwandelt, bei dem es sich um einen nachtaktiven Raubvogel handeln dürfte (vgl. Forbes Irving 1990, 251). Klymenos nimmt sich aber, als er die schreckliche Tat der Harpalyke bemerkt, das Leben. Nonnos’ Wiedergabe unterscheidet sich nur an ein einem wesentlich Punkt von der bei Parthenios überlieferten Version. So dürfte υἱέα δαιτρεύσασα θυγατρογάμῳ γενετῆρι (73) wohl so zu deuten sein, dass Harpalyke ihren eigenen, mit Klymenos gezeugten Sohn tötet und dem Vater vorsetzt. Nonnos scheint hier einer von jener des Parthenios leicht abweichenden Version zu folgen, von der sich noch Spuren in der Zusammenfassung des Mythos in Sch. Hom. Il. 14.291 finden, wo es von Harpalyke heißt, dass sie den gemeinsamen Sohn Presbon dem Vater zum Mahl vorgesetzt habe: [von Harpalyke] μιγεῖσα τῷ πατρὶ Κλυμένῳ κατὰ βίαν, ἑψήσασα τὸν υἱὸν Πρέσβωνα παρέθηκεν αὐτῷ (vgl. Eust. in Hom. Il. 14.291 [3 p. 643.17–19 van der Valk]). Dieses Element findet sich

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auch in der bei Hyg. fab. 206 belegten Version (cum peperisset, in epulis filium apposuit patri), die ansonsten aber von jener des Parthenios abweicht (vgl. Sch. Stat. Theb. 5.120). In der vorliegenden Wiedergabe des Mythos wird das Schicksal der Harpalyke gleichsam stichpunktartig anhand der drei zentralen Ereignisse skizziert (vgl. die ähnlich stichpunktartige Präsentation des Atalante-Mythos in 12.87–89): (i.) inzestuöser Beschlaf (12.72), (ii.) Vorsetzen des eigenen Sohnes als Speise (73), (iii.) Verwandlung (74–75). Die auffallende Häufigkeit von ρund τρ-Assonanzen (῾Αρπαλύκη μετὰ λέκτρον ἀλιτροβίων ὑμεναίων/υἱέα δαιτρεύσασα θυγατρογάμῳ γενετῆρι/ἠερίην πτερόεσσαν ἐρετμώσειε πορείην/ ὄρνις ἀελλήεσσα) verleiht der Schilderung einen düsteren Klang, der zur Grausamkeit der geschilderten Ereignisse passt (vgl. 9.41–42 [von den wahnsinnigen Töchtern des Lamos] ἐν τριόδοις δέ/ξεινοφόνῳ δαίτρευον ὁδοιπόρον ἄνδρα μαχαίρῃ; 44.268–269 [von Prokne] σιδήρῳ/παιδοβόρῳ Τηρῆι φίλην δαιτρεύσατο φορβήν; weiters die schweren versus tetracoli 73 und 74). 72 μετὰ λέκτρον Das Bett steht hier metonymisch für den darin vollzogenen Beischlaf (vgl. z.B. 42.408 μετὰ λέκτρον; 46.299 ῾Αρμονίης μετὰ λέκτρον; 23.307 Εὐρώπης μετὰ λέκτρον). Die Kombination von temporalem μετά mit der Nennung konkreter Körperteile, Gegenstände oder Örtlichkeiten ist ein charakteristisches Element von Nonnos’ Stil, um auf prägnante Weise eine zeitliche Folge anzugeben (vgl. z.B. 8.137 σιδηρορόφοιο μετὰ σφρηγῖδα μελάθρου [= nach dem Eindringen des Zeus in Danaes Gemach]; 9.111 μετὰ μαζόν [= nach dem Stillen]; 12.88 μετὰ μῆλα [= nach der List des Hippomedes beim Wettlauf gegen Atalante]; 18.162 μετὰ κρητῆρα μέθης [= nach einem Fest]; 28.146 μετὰ χεῖρας [= nach dem Verlust der Hände]; 48.696 μετὰ θεῖον ἄγαλμα καὶ αὐτοέλικτον ἱμάσθλην [= nachdem das Götterbild der Aphrodite ins Meer gestürzt und ausgepeitscht wurde]; s. allgemein Köchly 1850, LXXIII; Keydell 1959, 66*; String 1966, 100–101). ἀλιτροβίων ὑμεναίων Die Formulierung gehört zu einem für die Dionysiaka charakteristischen Klauseltyp (vgl. 12.83 ἀνυμφεύτων ὑμεναίων; 87 ἀελλοπόδων ῾Υμεναίων; weiters z.B. 3.270 βοοκραίρων ὑμεναίων; 4.33 ἀδωροδόκων ὑμεναίων; 4.323 ὀρεσσαύλων ὑμεναίων; 5.573 ἀσυλήτων ὑμεναίων; 6.167 δρακοντείων ὑμεναίων; allgemein 8.2.1.). Das Adjektiv ἀλιτρόβιος (»frevelhaft/ sündhaft lebend«) ist vor Nonnos nur bei Gr. Naz. belegt (37 p. 1288 M.). Nonnos selbst verwendet es abgesehen von der vorliegenden Stelle nur ein weiteres Mal in Met. 15.73 [vom Leben im sündhaften Kosmos] ἦθος ἀλιτροβίοιο βιοπλανὲς … κόσμου (s. allgemein Gigli Piccardi 2003 ad 12.72–75). 73 θυγατρογάμῳ γενετῆρι Die antithetische Junktur unterstreicht die Abnormität der sexuellen Verbindung. Das Epitheton θυγατρόγαμος, das Nonnos nur an dieser Stelle verwendet, entspricht seiner Vorliebe für Kompositabildungen

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auf -γαμος (vgl. ἀγχίγαμος, ἁμαρτίγαμος, ἀμερσίγαμος, ἀρτίγαμος, εὔγαμος, κλεψíγαμος; τελεσσίγαμος; allgemein James 1970, 52–53). Ansonsten ist dieses nur bei Basil. 31 p. 640.45 M. belegt (Λὼτ θυγατρόγαμος γίνεται). 74 πτερόεσσαν ἐρετμώσειε πορείην Die metaphorische Umschreibung des Flügelschlags ist in den Dionysiaka geläufig (vgl. 1.144 ἠερίῳ ξένον ἴχνος ἐρετμώσαντες ἀήτῃ; 6.388 ὀρνίθων πτερύγεσσιν ἐρετμώθη πάλιν ἀήρ; 20.252 ψευδαλέην ἴρηκος ἐρετμώσασα πορείην; 33.191–192 ἐρετμώσας δὲ πορείην/ νηχομένων πτερύγων ἑτερόζυγι σύνδρομος ὁλκῷ; 4.3; 13.8; 14.4). Sie ist bereits Teil der dichterischen Bildsprache (vgl. A. Ag. 52; E. IT 289; AP 7.202.1 (Anyt.); Luc. Tim. 40; Lucr. 6.743; Verg. Aen. 6.19; Apul. Met. 5.25; Groeneboom 1944 ad 47–54; Gigli Piccardi 1985, 205). Das Attribut πτερόεσσαν ist logisch auf ὄρνις ἀελλήεσσα zu beziehen (zur Enallage des Adjektivs s. E. Kap. 8.2.). Der Flug selbst kann aber freilich insofern als »beflügelt« gelten, als er »mit Flügeln« ausgeführt wird. Durch die Enallage des Adjektivs entsteht ein prägnantes sprachliches Bild (vgl. E. Io. 1238 φυγὰ πτερόεσσα). 75b–78 Philomele Nonnos spielt mehrmals auf den Mythos von Philomele an (s. v.a. Tissoni 1998 ad 44.266–269; Gigli Piccardi 2003 ad 4.320 sgg.): Philomeles Schwager Tereus hat sie vergewaltigt und ihre Zunge herausgeschnitten, damit sie das Verbrechen nicht berichten kann. Mithilfe eines Gewebes, in das sie eine Botschaft eingewirkt hat, gelingt es ihr, ihre Schwester Prokne über den Frevel zu unterrichten (4.320–330). Daraufhin töten Philomele und Prokne Itys, den gemeinsamen Sohn des Tereus und der Prokne, und setzen ihn dem Vater zum Mahl vor (44.265–269). Von Tereus verfolgt wird Philomele in eine Schwalbe, Prokne in eine Nachtigall verwandelt (2.133–137; 47.30–33). In den vorliegenden Versen werden zwei Punkte aus dem Mythos herausgegriffen: zum einen naheliegenderweise Philomeles Metamorphose in einen Vogel sowie zum anderen ihre Verstümmelung. Die Kombination dieser beiden Elemente verleiht der Schilderung einen leicht paradoxen Charakter, der in der Gegenüberstellung der Stummheit der Philomele (λιπογλώσσοιο σιωπῆς) auf der einen Seite und ihrer späteren Gestalt als geschwätziger Singvogel auf der anderen beruht (αἰολόδειρος ὑποτρύζουσα χελιδών). 76 αἰολόδειρος ὑποτρύζουσα χελιδών Neben ihrer Eigenschaft als das Botin des Frühlings ist die Schwalbe in der Antike vor allem wegen ihres schönen, zum Teil als leicht melancholisch empfundenen Gesangs bekannt (vgl. 2.134 φθεγγομένη λάλος ὄρνις ὑπωροφίης μέλος ἠχοῦς; 3.12–13 λιγυρὴ … κῆρυξ/ λάλος τρύζουσα χελιδών; 47.32 Ζεφύρου λάλος ὄρνις ὑπωροφίην χέε μολπήν; Thompson 1895, 186–192). Dieser wird dabei gerne mit dem onomatopoetischen Verb τρύζω wiedergegeben (vgl. Arr. An. 1.25.6 χελιδόνα … τρύζουσαν;

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AP 5.237.3 (Agath.) ἀμφιπεριτρύζουσι χελιδόνες; 10.14.5 (ders.) ἐπιτρύζει δὲ χελιδών). αἰολόδειρος Das Kompositum ist ein nonnianisches epitheton ornans für Vögel (vgl. 26.211 [von der Nachtigall] αἰολόδειρον ἀηδόνα; 47.31 αἰολόδειρος ἀνέκλαγεν … ἀηδών). Ausgangspunkt hierfür könnte Hes. Op. 203 ἀηδόνα ποικιλόδειρον gebildet haben (vgl. Ibyc. 36a αἰολόδειροι/πανέλοπες; Opp. C. 2.317 πέρδικες … αἰολόδειροι). 77 μαρτυρίην βοόωσα λιπογλώσσοιο σιωπῆς In 4.321 beschreibt Nonnos das Gewebe durch eine ähnliche paradoxe Formulierung: σιγαλέης λάλον εἷμα δυσηλακάτου Φιλομήλης (vgl. zur paradoxen Gegenüberstellung von Schweigen und Sprechen 36.380–381 [von Deriades, dem die Weinranken den Hals zuschnüren] μάρτυρι σιγῇ/μόχθον ὅλον βοόων; 19.156 [von einem Pantomimus] αὐδήεσσα σιωπή; 200 [idem] σιγὴν ποικιλόμυθον; 19.226 [idem] σύμβολα φωνήεντα κατέγραφε σιγαλέη χείρ; 48.431–432 [von Niobe] σιγήν/μῶμον ἀπαγγέλλουσαν; allgemein E. Kap. 8.2.3.). λιπογλώσσοιο Das Adjektiv könnte eine Neuprägung des Nonnos sein (vgl. 4.325 [von Philomele] λιπογλώσσοιο δὲ κούρης; 26.281 [vom Geschlecht der Fische] εἰναλίης … λιπογλώσσοιο γενέθλης). Komposita auf -λιπος sind jedenfalls für die nonnianische Sprache charakteristisch, wie folgende Epitheta zeigen, die nur bei Nonnos belegt sind: λιπόγληνος (D. 37.519), λιπόθροος (D. 4.327), λιποπτόλεμος (D. 35.389), λιπόπτολις (z.B. D. 3.296), λιπόρρινος (D. 1.44), λιποσθενής (z.B. D. 14.101), λιπόσκιος (z.B. D. 10.186), λιπόφθογγος (D. 26.288), λιπόχρooς (z.B. D. 19.67), λιποβλέφαρος (Met. 9.6). 78 δαίδαλα φωνήεντα σοφῷ γράψασα χιτῶνι Das Gewebe, das Philomele ihrer Schwester schickt, wird personifizierend beschrieben. Entsprechend der Tatsache, dass dieses eine Nachricht beinhaltet, wird es selbst als »kundig« (vgl. 3.153 [von den Blättern der Hyazinthe] σοφοῖς … φύλλοις; 19.210 [von einem Pantomimentanz] σοφῇ … σιωπῇ) und dessen Muster als »sprechend« bezeichnet (vgl. 4.260 [von Buchstaben] φωνήεντα … δῶρα; 11.263 [von den Blättern der Hyazinthe] ἄνθεα φωνήεντα; 19.226 [von den Bewegungen beim Pantomimus] σύμβολα φωνήεντα). 79–83 Metamorphosen in Felsen Die beiden Metamorphosen der Niobe und des Pyrrhos bilden eine gemeinsame Gruppe von Verwandlungen in Felsen. Die beiden Verwandlungsgeschichten zeigen aber auch eine Reihe weiterer Parallelen: Auf inhaltlicher Ebene betreffen diese folgende Punkte: (i.) Beide Metamorphosen stellen Strafen für einen begangenen Frevel gegenüber einer Gottheit dar. (ii.) Die Felsen, in die Niobe und Pyrrhos verwandelt wurden, befinden sich beide in Phrygien. (iii.) In beiden Fällen wird das Fortbestehen der früheren Emotionen betont: Niobe vergießt auch noch nach ihrer Versteinerung Tränen

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um ihre verstorbenen Kinder und Pyrrhos brennt nach wie vor Verlangen nach Rhea. Die Tatsache, dass Nonnos gerade bei der Gruppe der Verwandlungen in Felsen – diese bilden geradezu den Inbegriff für Gefühlskälte (vgl. Hom. Od. 23.103 σοὶ δ’ αἰεὶ κραδίη στερεωτέρη ἐστὶ λίθοιο; Theoc. 3.18 [von Amaryllis] τὸ πᾶν λίθος mit Kommentar von Gow 1950 ad loc.) – das Fortbestehen der früheren Emotionen hervorstreicht (δάκρυσι λαϊνέοισιν ὀδυρομένη; ἐρωμανέων; οἶστρον ἔχων … ὑμεναίων) entspricht der für die Dionysiaka charakteristischen Tendenz zur paradoxen Zuspitzung (s. E. Kap. 8.2.3.) 79–81a Niobe Der Felsen, in den Niobe verwandelt wurde, wird traditionell am Sipylos-Gebirge (heute Manisa Dağı) in Lydien lokalisiert, welches in den Dionysiaka für gewöhnlich als Teil von Phrygien gilt (vgl. 13.534–535 ἐκ Σιπύλοιο καρήνων/… Φρυγίης; zur unscharfen geographischen Terminologie s. E. 8.2.2.). Generell kann die Lokalisierung des Niobefelsens in den Dionysiaka aber als recht phantasievoll bezeichnet werden (s. hierzu Chuvin 1991, 131 mit Anm. 19; Miguélez-Cavero 2013a, 373 »Nonnus uses it [scil. Felsen der Niobe] as a mobile referent to mean ‘somewhere in Asia Minor’«). Die Vorstellung, dass Niobe auch in Gestalt eines Felsens weiterhin Tränen vergießt (80 δάκρυσι λαϊνέοισιν), ist traditionell (vgl. Bömer ad 6.146ff. [p. 51]) und ein wiederkehrendes Element in den Dionysiaka (12.130–132; 15.375; 48.428–429). Durch die Formulierung δάκρυσι λαϊνέοισιν versucht Nonnos den paradoxen Sachverhalt dabei besonders pointiert wiederzugeben (vgl. 5.357 [vom Kithairon-Gebirge] δάκρυσι πετραίοισιν; 37.68 [von einem mit Feuerstein erzeugten Feuer] λαΐνεον πῦρ). Die dreimalige epiphorische Wiederholung des Lautes »ai« – in Kombination mit ansonsten seltener Hiatkürzung – in Vers 81 (στήσεται οἰκτρὸν ἄγαλμα. Καὶ ἔσσεται αὐτόθι γείτων) macht diese Klagen – einem Gebirgsecho vergleichbar – hörbar. 79 Σιπύλοιο παρὰ σφυρὰ πέτρος Die Charakterisierung des Bergfußes durch σφυρόν entspricht der Tendenz zur anatomischen Beschreibung von Landschaftselementen in den Dionysiaka (vgl. 40.288 ὑπὸ σφυρὰ … Ταύρου und allgemein Gigli Piccardi 1985, 199–200; E. Kap. 8.2.3.) πέτρος ἐχέφρων Nachgestelltes Epitheton am Versende ist in den Dionysiaka äußert selten (s. Wifstrand 1933, 95–96) und dient hier wohl als bewusstes Mittel zur Hervorhebung (vgl. 7.227 [von Aktaion] νεβρὸς ἐχέφρων; 26.104 νεκρὸς ἐχέφρων). 81b–83 Pyrrhos Die vorliegende Stelle ist der einzige Beleg für diesen Mythos. Pausanias erwähnt jedoch, dass sich bei Klazomenai eine der Rhea heilige Höhle befindet, die die Höhle des Pyrrhos genannt wird; dort, so berichtet Pausanias weiter, erzähle man sich auch eine Geschichte vom Hirten Pyrrhos (Paus. 7.5.11; zur genauen Identifikation der Höhle s. Chuvin 1991, 137). Aus der kurzen Er-

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wähnung bei Nonnos zu schließen, scheint der Kern des Mythos darin bestanden zu haben, dass ein Phrygier namens Pyrrhos aufgrund einer frevelhaften Liebe zu Rhea in einen Stein verwandelt worden ist. Die Geschichte dürfte einem bekannten Erzählmuster angehören, bei dem der Favorit einer Göttin das besondere Verhältnis ausnutzt, um sie zu vergewaltigen (Forbes Irving 1990, 209). Die nächste Parallele bildet der Mythos von Kelmis, der ebenfalls versucht hatte, Rhea zu vergewaltigen und in Silber verwandelt wurde (vgl. S. Fr. 365 TrGF; Ov. Met. 4.282–283). 83 οἶστρον ἔχων Die Junktur wird von Nonnos geradezu formelhaft verwendet, um ein Verlangen oder eine Sehnsucht auszudrücken (vgl. 4.250; 8.3; 12.384; 13.551; 26.233; 31.185; 37.170; 41.196; 47.59; 48.94; 48.552; allgemein E. Kap. 8.2.1.; zur Bremse als geläufigem Sinnbild für Verlangen s. Gigli Piccardi 1985, 52–55). ἀνυμφεύτων ὑμεναίων Die Formulierung ist Teil eines nonnianischen Klauseltyps (s. K. 72). In den Dionysiaka findet sich ἀνύμφευτος mit einer weiten Bandbreite an Bedeutungsnuancen, die mit »keine Hochzeit vollzogen habend/ unverheiratet«, »keine Hochzeit mehr vollziehend« und »keine (wirkliche/rechtmäßige) Hochzeit bildend« zusammengefasst werden können (vgl. Peek s.v.). Die Formulierung οἶστρον ἔχων ἀθέμιστον legt nahe, dass die Verbindung zwischen Pyrrhos und Rhea insofern ἀνύμφευτος ist, als es sich hierbei um keine rechtmäßige Verbindung handelt (vgl. 16.332 [von Syrinx] Πανὸς ἔφευγεν ἀνυμφεύτους ὑμεναίους; 42.260 [von Pitys] Πανὸς ἀλυσκάζουσαν ἀνυμφεύτους ὑμεναίους). In der Tat dürfte Pyrrhos versucht haben, Rhea zu vergewaltigen (s. K. 81b–83). 84–86 Verwandlungen von Liebespaaren Im Gegensatz zu den anderen angeführten Verwandlungsgeschichten ist in diesem Fall nicht die Gestalt nach der Verwandlung für die Gruppierung ausschlaggebend, sondern die Gemeinsamkeit, dass es sich um Verwandlungen von Liebespaaren handelt. Die Schilderung der Schicksale von Pyramos und Thisbe sowie von Krokos und Milax weist mehrere inhaltliche Prallelen auf: (i.) In beiden Fällen ist die Verwandlung die Folge einer unglücklichen Liebe. (ii.) Der Schauplatz beider Metamorphosen bildet Kilikien. (iii.) In beiden Fällen wird von Nonnos das Fortbestehen der Zuneigung der Liebenden hervorgehoben. Die Parallelität auf inhaltlicher Seite wird auch formal unterstrichen, da beide Verwandlungsgeschichten je eineinhalb Verse umfassen und durch Enjambement miteinander verbunden sind. 84–85a Pyramos und Thisbe Die Verwandlung von Pyramos und Thisbe in einen Fluss bzw. eine Quelle geht auf einen kilikischen Lokalmythos zurück, der nur wenige Spuren in der antiken Literatur hinterlassen hat. Das Scholion zu 6.345 fasst diesen folgendermaßen zusammen: Pyramos und Thisbe, zwei Liebende aus Kilikien, trafen sich heimlich. Als Thisbe schwanger wurde, tötete

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sie sich aus Furcht vor ihren Eltern und Pyramos tat es ihr gleich, als er vom Tod seiner Geliebten hörte. Aus Mitleid verwandelten die Götter Pyramos in einen Fluss und Thisbe in eine Quelle, die diesen speist, wodurch beide nach wie vor durch einen gemeinsamen Wasserlauf miteinander verbunden sind. Fast identisch wird der Mythos auch von Nicol. Narr. 9 (1 p. 271 Walz) und Him. 9.122– 125 berichtet (vgl. Clem. Recogn. 10.26.3 Rehm/Strecker; Them. Or. 11.151c–d). Eine unterschiedliche Ausformung des Mythos mit Elementen der ovidischen Version liegt der Darstellung eines Mosaiks in Nea Paphos auf Zypern aus dem 2. oder 3. Jh. n. Chr. zugrunde (vgl. hierzu und zur Entwicklung des Mythos allgemein Knox 1989). In der vorliegenden Schilderung streicht Nonnos das Fortbestehen der Liebe in der verwandelten Gestalt hervor (ἀλλήλους ποθέοντες; vgl. Him. 9.123–125 [vom γάμος der beiden] τηρεῖ μέχρι ναμάτων τὸν ἔρωτα, εἰς ταὐτὸν ἄγων τῆς τε ἐρωμένης καὶ τοῦ νυμφίου τὰ ῥεύματα). Als Liebende in Flussgestalt werden Pyramos und Thisbe auch im Zuge der einzigen weiteren Erwähnung des Mythos in den Dionysiaka in 6.346–355 erwähnt, wo das Liebespaar Alpheios und Arethusa gegenübergestellt wird. 85b–86 Krokos und Milax Abgesehen von einigen wenigen Anspielungen hat der Mythos von der Metamorphose des Krokos und der Milax in die Krokusblume bzw. die Smilax (eine efeuartige Pflanze mit stark duftenden Blüten [wohl Smilax aspera L]), in der antiken Literatur keine Spuren hinterlassen, sodass eine genaue Rekonstruktion der Verwandlungsgeschichte nicht möglich ist: In Ov. Met. 4.283 wird die Metamorphose der beiden Protagonisten en passant erwähnt (Crocon in parvos versum cum Milace flores). Die Verwandlung des Krokos in die nach ihm benannte Pflanze kennt auch Servius (Georg. 4.182). In Plin. Nat. 16.154–155 wird die Pflanze Smilax als lugubris bezeichnet und damit erklärt, dass sich einst ein gleichnamiges Mädchen wegen ihrer Liebe zu dem Jüngling Krokos in diese Pflanze verwandelt habe (virgine eius nominis propter amorem iuvenis Croci mutata in hunc fruticem). Allem Anschein nach ist der Metamorphose also eine unglückliche Liebesgeschichte vorausgegangen. Möglicherweise stellt der Unfalltod des Krokos, von dem Galen zu berichten weiß, den Grund hierfür dar. Dieser überliefert, dass die Krokusblume aus dem Blut des durch den von Hermes beim Diskuswerfen tödlich verletzten Krokos entstanden sei (Gal. De compositione medicamentorum per genera 13 p. 269 Kühn). Da sowohl die Krokusblume (vgl. RE 1A.2, 1729 s.v. Safran) als auch die Smilax (Plin. Nat. 16 e Cilicia quidem primum profecta, sed in Graecia frequentior) stark mit Kilikien assoziiert wurden, dürfte die Verwandlungsgeschichte dort ihren Schauplatz gehabt haben. In der Tat nennt auch Ovid die Metamorphose im Zusammenhang mit einer Aufzählung kleinasiatischer Mythen.

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Eine explizite Erwähnung der Metamorphose des Krokos und der Milax findet sich nur an dieser Stelle der Dionysiaka; an drei weiteren Stellen, wo die beiden Pflanzen als Paar genannt werden, wird jedoch implizit auf sie verwiesen (15.352–354; 32.86–89; 42.310). Da Nonnos die Metamorphose der beiden Liebenden an dieser Stelle zusammen mit der des kilikischen Flusses Pyramos erwähnt, ist davon auszugehen, dass auch er den Mythos in Kilikien lokalisiert, welches er mit Krokuswiesen assoziiert (3.16 Κιλίκων δὲ παρὰ κροκόεντας ἐναύλους; 31.206 Κίλικα κρόκον; 32.86 κρόκος … Κίλιξ). Etwas sonderbar ist, dass die efeuartige Kletterpflanze Smilax als eine dem Krokus vergleichbare Wiesenblume beschrieben wird (v.a. 32.88 θήλεϊ … γείτονι ποίῃ). Diese leichte Realitätsverzerrung dürfte wohl der Absicht geschuldet sein, Krokos und Milax auch noch nach ihrer Verwandlung als ein möglichst passendes Liebespaar zu charakterisieren. In der Tat wird das Fortbestehen der Liebe des Krokos in 12.86 explizit erwähnt. Man sollte aber freilich ohnehin bei der außerhalb der wissenschaftlichen Literatur nur selten erwähnten Pflanze keine allzu realistischen Schilderungen erwarten (vgl. Ov. Met. 4.283 flores; Sch. Ar. Nu. 1006 εἶδος βοτάνης). 85 Ἐυστεφάνοιο … κούρης Aus dem Mädchen, das Blumenkränze trägt (εὐστεφάνοιο ... κούρης), wird eine Blume, aus der selbst Kränze geflochten werden (zur Verwendung der efeuähnlichen Smilax zur Herstellung von Kränzen vgl. E. Ba. 703; Theophr. HP 6.8.3; Ant. Lib. 10.4; Ath. 5.198e; Plin. Nat. 21.52; RE 3A.1, 719 s.v. Smilax). 86 ἄνθος ᾿Ερώτων Die Junktur – erstmals in AP 12.4.3 (Strat.) belegt – fungiert in den Dionysiaka als formelhafte Klausel (vgl. P. 23; 11.341; 397; 15.354); in P. 23, 11.341 und 397 wird diese dabei insofern pointiert verwendet, als sie dort schöne Knaben charakterisiert, die sich später in Pflanzen verwandeln werden. An dieser Stelle ist ἄνθος ᾿Ερώτων auf die Lieblichkeit der Krokosblume zu beziehen (zur Verwendung des Genitivattributs ᾿Ερώτων im Sinne von ἐρόεις vgl. z.B. 12.233 ἰκμάδες ὑμετέρων … ᾿Ερώτων; 13.95 ἄλσος ᾿Ερώτων; 41.14 ὅρμος ᾿Ερώτων). Zur Verwendung von ἄνθος in den Dionysiaka allgemein s. K. 95. 87–89 Atalante Die Antike kannte zwei verschiedene Versionen des Mythos der Atalante, die sich jedoch im Lauf der Zeit zu überlagern begannen: Einer arkadischen Version zufolge war Atalante die Tochter des Iasios, die als Kind in den arkadischen Bergen ausgesetzt und von Hirten aufgezogen wurde; als jungfräuliche Jägerin durchstreifte sie die Wälder bis sie schließlich von Melanion erobert wurde. Die böotische Version des Mythos macht sie hingegen zur Tochter des Königs Schoineus und zu einer schnellen Läuferin; sie zwang ihre Freier zu einem Wettlauf und tötete die Unterlegenen, bis sie von Hippomenes durch eine List besiegt werden konnte.

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Ihre Verwandlung in eine Löwin, die ursprünglich wohl Teil der arkadischen Version gewesen sein dürfte, ist in mehreren Quellen belegt, wenngleich deren Umstände unterschiedlich wiedergegeben werden (vgl. Forbes Irving 1990, 201–202): (i.) Laut Palaeph. 13 wurden Atalante und Melanion in Löwen verwandelt, nachdem sie während einer Jagd in einer Höhle Geschlechtsverkehr hatten. Grund hierfür dürfte der Zorn der Artemis über den Keuschheitsbruch der Atalante gewesen sein (vgl. Sch. E. Ph. 151). (ii.) In Apollod. 3.9.2, wo sich die arkadische Mythenversion recht unorganisch mit dem Mythos vom Wettlauf der Freier verschmolzen findet, besiegt Melanion Atalante beim Wettlauf und heiratet sie im Anschluss. Laut dieser Version ist die Verwandlung in Löwen eine Strafe für den Beischlaf, den sie in einem Heiligtum des Zeus vollzogen haben. (iii.) In einer weiteren Gruppe von Texten ist die Verwandlungsgeschichte mit der Person des Hippomedes verknüpft: Aphrodite, der von Hippomedes für ihre Hilfe beim Wettlauf nicht gedankt wurde, versetzte diesen in heftige Begierde zu Atalante, sodass beide im Tempel der Kybele (vgl. Ov. Met. 10.560–707; Mythogr. 1.39; 2.47; Serv. Aen. 3.113), des Zeus (vgl. Hyg. Fab. 185) oder an einem anderen nicht näher bestimmten heiligen Platz (vgl. Sch. Theoc. 3.40) miteinander schlafen und aufgrund dieses Frevels in Löwen verwandelt werden. Nonnos selbst spielt auf den Atalante-Mythos in den Dionysiaka vergleichsweise selten an: In 48.180–182 wird der Sieg des Dionysos über Pallene im Ringkampf mit dem Sieg des Hippomedes gegen Atalante verglichen und in 35.82 wird die sich ins Kampfgetümmel stürzende Inderin Protonoe als eine manngleiche Atalante beschrieben. Angesichts der elliptischen Wiedergabe des Mythos an dieser Stelle müssen die genauen Umstände der Metamorphose und vor allem die Frage, welche Rolle Artemis in der von Nonnos präsentierten Variante zukam, offenbleiben. Die naheliegende Annahme, dass der Keuschheitsbruch der Atalante den Grund für die Metamorphose durch Artemis bildet, lässt sich jedenfalls nur schwer mit der Tatsache vereinbaren, dass Atalante zur Hochzeit mit Hippomedes gleichsam gezwungen wurde. 87 Καὶ γαμίην μετὰ λύσσαν ἀελλοπόδων ῾Υμεναίων Das Verständnis des Verses bereitet Schwierigkeiten. Man hatte versucht, den überlieferten Wortlaut μετὰ λύσσαν in μετὰ νύσσαν (anon. Villois. 19) zu ändern und dadurch die Unebenheiten im Text zu glätten (z.B. Keydell 1959): μετὰ νύσσα (»nach der Rennbahn« [vgl. Peek s.v.]) wäre demnach auf den Wettlauf der Atalante und des Hippomedes zu beziehen (für die Verwendung von μετά s. K. 72). Ein Hinweis auf die λύσσα der Atalante ist aber insofern nötig, als durch ἔτι …/Ἄρτεμις οἰστρήσειεν impliziert ist, dass diese auch in Löwengestalt weiterbesteht. Vian

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1995a ad 12.87–89 argumentiert daher zu Recht für die Beibehaltung des überlieferten Wortlautes. Er deutet λύσσα dabei – mit Verweis auf Theoc. 3.41–42 – als Liebesraserei der Atalante. Diese lässt sich aber nur schwer mit dem Bild vereinen, das die Quellen normalerweise – Theokrit scheint hier eine Ausnahme zu bilden – von Atalante zeichnen, die sich als keusche Jungfrau ja gerade gegen eine Liebschaft sträubt und nur durch eine List schlussendlich hierzu gezwungen werden kann. Zudem wäre zu erwarten, dass die Liebesraserei der Atalante im Anschluss an die List des Hippomedes (Παφίης μετὰ μῆλα) im Text genannt würde. Naheliegender erscheint mir, λύσσα auf Atalantes wildes, männergleiches Wesen zu beziehen (vgl. 35.82 ἀντιάνειραν … ᾿Αταλάντην), welches sich im Rahmen des grausamen Wettlaufs insofern zeigt, als sie die Verlierer im Anschluss tötet (vgl. Stegemann 1930, 154 ad 96). Die γαμίη λύσσα ἀελλοπόδων ῾Υμεναίων ist daher meiner Meinung nach als »Wildheit« oder »Wut« zu deuten, die Atalante bei den als Voraussetzung für die Hochzeit stattfindenden Wettläufen an den Tag legt. In der Tat werden Frauen, die eine gewisse unweibliche Wildheit oder Härte aufweisen, in den Dionysiaka mit dem Begriff λύσσα assoziiert (vgl. z.B. 14.206–207 [von Bergnymphen] ἄρσενι θυμῷ/λυσσάδες; 15.299 [von der wilden Nikaia] λυσσάδα κούρην; 43.267 [von einer wild kämpfenden Bakchantin] λυσσάδι Βάκχῃ). Dementsprechend verwandelt Artemis Atalante in eine Löwin, ein Tier also, das für seine Kampfeswut (λύσσα) bekannt ist (vgl. 5.353 ἅλματι λυσσήεντι … λεόντων; 18.178 λέων λυσσώδεϊ λαιμῷ; 20.257 λέων λυσσώδεϊ λαιμῷ). Das Fortbestehen von Atalantes wildem Wesen in Löwengestalt wird durch ἔτι … ῎Αρτεμις οἰστρήσειεν hervorgehoben: Durch die Verwandlung lässt Artemis Atalante weiterhin vor Wildheit rasen (vgl. 5.328 [von den von Artemis aufgestachelten Hunden des Aktaion] οἰστρήεντι ... ἄσθματι λύσσης; 36.321 [von einem aufgebrachten Pferd] οἰστρήεις). ἀελλοπόδων ῾Υμεναίων Die Hymenäen – vielleicht ist es besser, ὑμεναίων zu drucken – sind schnell, weil es sich um einen Wettlauf handelt (zum Klauseltyp. s. K. 72). 90 ἄστατος ῞Ωρη Die Herbsthore ist insofern rastlos, als die Jahreszeiten einen immer wiederkehrenden Lauf beschreiten (vgl. z.B. 4.279 [vom Mondzyklus] ἄστατα κύκλα … παλιννόστοιο Σελήνης). Gleichzeitig kann dieses auf das allgemeine Wesen der Herbsthore zutreffende Epitheton aber auch auf die spezifisch beschriebene Situation bezogen werden, wo die Hore rastlos nach der gesuchten Inschrift sucht (vgl. z.B. 48.573 [von der eine Quelle suchenden Aura] ὀρίδρομος ἄστατος Αὔρη; zum pointierten Epitheta-Gebrauch in den Dionysiaka s. E. Kap. 8.2.1.).

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92 σύμβολα μαντοσύνης Hiermit ist die gesuchte prophetische Inschrift gemeint (vgl. 21.305 [von einer Botschaft] σύμβολα … κεχαραγμένα μάρτυρι δέλτῳ). ἀνεμώδεϊ … κούρῃ Zur Schnelligkeit der Herbsthore s. K. 54. 93 Λέων … σελασφόρος Das Sternbild des Löwen wird in den Dionysiaka sehr stark mit der Hitze des Sommers assoziiert (38.357–358 Λέων/αἰθέρα θερμαίνων λασίῳ πυρί; 361 δίψιος οὐρή; 48.308 ᾿Ηέλιος σελάγιζε λεοντείων ἐπὶ νώτων). Sein Epitheton σελασφόρος fungiert in den Dionysiaka als ein Standardattribut für Himmelskörper und insbesondre für Sternzeichen (1.253 [vom Sternbild des Drachen] αἰθερίης … σελασφόρον ὁλκὸν ἀκάνθης; 450–451 ᾿Ωλενίην/ σελασφόρον Αἶγα; 38.151 [von Selene] μαρμαρυγὴν πέμπουσα σελασφόρον; 38.426 σελασφόρον ῞Αρμα). Möglicherweise soll die Wahl des Epithetons hier gleichzeitig auf die mit diesem Tierkreiszeichen verbundene Hitze anspielen. 93b–95 Sternbild der Jungfrau Das Sternbild der Jungfrau steht traditionell für die Zeit der Weinlese im Spätsommer (vgl. z.B. 42.295–297) und steht in Relation zu der im Folgenden beschriebenen Metamorphose des Ampelos in eine Rebe. Der Bezug des Sternbildes zur Weinlese wird dadurch unterstrichen, dass Nonnos der Jungfrau anstelle der gewohnten Ähre (2.655; 6.84; 6.102; 41.228) eine Traube als Attribut zuweist (vgl. 47.248–249 mit Max. 491–496). Für die Darstellung des Sternbildes der Jungfrau, die eine Traube in der Hand hält, gibt es keine Belege in der ikonographischen oder literarischen Tradition (vgl. RE 18.4, 1942–1945 s.v. Parthenos). Möglicherweise ist die Formulierung νόθῃ … μορφῇ als expliziter Hinweis auf diesen abweichenden Bildtypus zu verstehen (vgl. z.B. 5.321; 47.671). Es scheint mir aber wahrscheinlicher zu sein, dass νόθῃ … μορφῇ – vergleichbar mit ποιητῷ … τύπῳ in 12.105 – rein auf den artifiziellen Charakter der Illustration verweisen soll (vgl. 6.72 [von der Bemalung eines Himmelsglobus] νόθος … αἰθήρ; 34.286 [von einer Abbildung auf einem Schild] νόθον … δέμας ψευδήμονι μορφῇ; 36.20 [von dem Medusenhaupt auf der Ägis der Athene] νόθης … Μεδούσης; zum Aspekt des Scheinbildes in den Dionysiaka s. E. Kap. 8.2.3.). Das Hervorheben der Artifizialität scheint in spätantiken Kunstwerkbeschreibungen recht gängig gewesen zu sein (vgl. Io. Gaz. 1.246 [vom Lauf aufgemalter Pferde] ψευδαλέον κίνημα νόθοις ποσὶν ὄρθια τείνων; Claud. Rapt. Pros. 1.256 mentitos … fluctus). 95 θερειγενὲς ἄνθος ὀπώρης Bei ἄνθος ὀπώρης handelt es sich um eine nonnianische Klausel (12.180; 46.69; vgl. 86 ἄνθος ᾿Ερώτων); sie ist bereits in AP 6.154.5 (Leon.) und Opp. C. 2.38 belegt (zu formelhaften Klauseln allgemein s. E. Kap. 8.2.1.). Der Begriff ἄνθος zählt zu den Lieblingswörtern des Nonnos und wird zur Umschreibung von einem breiten Spektrum an positiv konnotierenden Dingen

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herangezogen (vgl. z.B. 10.180 [vom ersten Bartwuchs] ἄνθος ἰούλων; 17.55 [von Oliven] ἄνθος ἐλαίης; 37.253 [von Seegras] ἄνθεϊ φυκιόεντι; 47.12 [vom Efeu] ἄνθεϊ κισσήεντι; 494 [vom Haar] ἄνθεα κόρσης). Was das semantische Feld »Rebe« im Speziellen betrifft, so kann ἄνθος die Rebe selbst (12.176 νήδυμον ἄνθος; 18.326 σταφυληκόμον ἄνθος ἀλωῆς), deren Frucht, die Traube (12.180 πολυδαίδαλον ἄνθος ὀπώρης; 309 ὅλον ἄνθος; 17.265 ἄνθεϊ βοτρυόεντι), deren Ranken (9.120 καμπύλον ἄνθος … κορύμβων) und den aus den Trauben erzeugten Wein (12.246 τεὸν ἄνθος; 46.69 μελισταγὲς ἄνθος ὀπώρης) bezeichnen. Eine eindeutige Zuordnung ist dabei nicht immer möglich. θερειγενής Das Kompositum θερειγενής ist vor Nonnos nur in Nic. Th. 601 (θερειγενέος … κυμίνου; vgl. Arist. Fr. 247.20 [von der Nilschwemme] Νεῖλος θερειγενέτης) belegt. Nonnos selbst verwendet es zur nähern Beschreibung der Nilschwemme (26.299 θερειγενέων ὑδάτων; 238 Νείλοιο θερειγενὲς οἶδμα) und der sommerlichen Jahreszeit (12.288 θερειγενέος δρόμος Ὥρης; 16.109 θερειγενέος … φλόγα διψάδος ὥρης). 96 Χρόνου θυγάτηρ Die Umschreibung der Herbsthore als Tochter des Chronos ist problematisch und hat in der Vergangenheit für einiges an Verwirrung gesorgt (vgl. Köchly 1857 ad 12.22; Gräfe 1819 ad 12.15–16; Scheindler 1880, 39). Als Töchter des Chronos gelten in den Dionysiaka nämlich nur die zwölf Monatshoren (s. K. 15–20), nicht aber die vier Jahreszeitenhoren, die hingegen Töchter des Lykabas sind (s. K. 1–117a). Es ist dabei Vorsicht geboten, die Problematik mit der allgemeinen Nonchalance des Nonnos gegenüber Widersprüchen erklären zu wollen (s. hierzu E. Kap. 8.1.). In den Dionysiaka finden sich zwar durchaus widersprüchliche genealogische Angaben: Eros gilt z.B. bald als vaterloser Sohn der Aphrodite (41.129–130), bald als Sohn des Hephaistos (29.334), bald als Sohn der Iris (31.111); Pasithea wiederum ist einmal Tochter des Dionysos (und der Koronis) (15.91) und ein anderes Mal Tochter der Hera (31.186); in 31.210 wird Aphrodite als Tochter des Zeus bezeichnet, während in 7.226–229 ihre Geburt aus dem Samen des Uranos erwähnt wird. Die widersprüchliche Genealogie der Herbsthore bildet meines Wissens jedoch in dieser Hinsicht insofern einen Sonderfall, als sich die widersprüchlichen Abgaben in nächster Nähe zueinander befinden und damit besonders ins Auge stechen. Hinzu kommt, dass hier im Gegensatz zu den anderen Fällen die Wahl einer widersprüchlichen Genealogie nicht durch den jeweiligen Kontext erklärt werden kann. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass Nonnos die Herbsthore auch sonst teilweise durch Charakteristika beschreibt, die eigentlich zum Wesen der zwölf Monatshoren passen: (i.) In Vers 54 wird die Herbsthore als ἀμφίπολος Φαέθοντος bezeichnet. Die Horen der vier Jahreszeiten stehen in den Dionysiaka allerdings in keinem direkten Verhältnis zu Helios und treten dementsprechend nicht als

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seine Dienerinnen in Erscheinung: Sie leben nicht in seinem Palast und begleiten ihn auch nicht auf seinem Sonnenwagen. Diese Aufgabe erfüllen hingegen die Monatshoren, die auch explizit als ἀμφίπολοι Φαέθοντος bezeichnet werden (38.415; vgl. 2.175). (ii.) Die Bezeichnung als μυστιπόλος Λυκάβαντος (12.65) entspricht eher der Charakterisierung der Monatshoren, die in 12.19 auch explizit als μυστιπόλοι Λυκάβαντος eingeführt wurden. Die vier Jahreszeitenhoren werden hingegen als θυγατέρες Λυκάβαντος (11.486) bezeichnet. Meines Erachtens lässt sich dieser gesamte Befund am besten dadurch erklären, dass Nonnos ungewollt Charakteristika der Monatshoren auf die Herbsthore übertragen hat und dass folglich die falsche Genealogie der Herbsthore – pace Gigli Piccardi 2003 ad loc. – einen von Nonnos begangenen lapsus darstellt, der aber wohl im Rahmen einer finalen redaktionellen Überarbeitung behoben worden wäre (zum unfertigen Zustand des Horen-Intermezzos s. E. Kap. 5). πόδας εὔνασε Die Junktur, die sich auch in 48.516 und Met. 20.9 (identische metrische sedes) findet, ist Teil von Nonnos’ variantenreicher Formelsprache (vgl. z.B. 10.82 στήσασα … πόδα; 4.356 πόδας ἐστήριξε; 13.10 ἴχνος ἔπηξεν; s. allgemein E. Kap. 8.2.1.). 97–102 Verwandlungen in Pflanzen Der Metamorphosen-Katalog, der mit drei Verwandlungen in Vögel begonnen hatte, endet gleichsam ringkompositorisch wiederum mit einer geschlossenen Dreiergruppe: dieses Mal von Metamorphosen in Pflanzen (s. K. 64–102). Abgesehen von der Tatsache, dass es sich in allen drei Fällen um Verwandlungen in Pflanzen handelt, weist die Gruppe noch folgende weitere Parallelen auf: (i) Alle drei Geschichten spielen in Phrygien/Lydien. (ii) Die Protagonisten der Metamorphosen sind schöne Knaben. (iii) Alle drei Metamorphosen werden im Rahmen der Ampelos-Episode ausführlich erzählt. Die Metamorphose von Kissos und Kalamos bilden ihrerseits ein gesondertes Paar, da beide einen engen Bezug zur Weinrebe aufweisen: Der Efeu war – wie die Rebe selbst – dem Dionysos heilig, das Schilfrohr wiederum wurde – worauf explizit hingewiesen wird – zur Rebenunterstützung verwendet. Diese Untergliederung (Kalamos/Kissos – Ampelos) bildet dabei eine spiegelbildliche Entsprechung der Struktur der ersten Dreiergruppe (Argos – Harpalyke/Philomele). Bei der Schilderung der Metamorphosen des Kalamos und des Kissos wird der Efeu als Schlingpflanze in bewusstem Kontrast zu dem aufrecht stehenden Schilfrohr gesetzt (κισσὸς ἕλιξ/ὄρθιος … δόναξ; vgl. 5.233 [von Jagdhunden] ὄρθια λοξοκέλευθον ἐπὶ δρόμον οὔατα τείνων; 10.370–371 [von einer Bewegung beim Ringkampf] ταρσὸν ἑλίξας/ὄρθιον; 19.269 [von einer Tanzbewegung] ὀρθὸς … ἑλικώδεϊ σείετο παλμῷ; 18.110 [idem] ὄρθιον … ἴχνος ἑλίσσων; 28.246 [von einem Kampf] ὄρθιον … ἆορ ἑλίσσων; 38.395 [vom Sternbild des Stiers] εἰς δρόμον ὀρθώσας πόδα καμπύλον).

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97–98a Kissos Κι(σ)σóς ist als Name für einen Satyr aus dem Gefolge des Dionysos in Vaseninschriften aus der Zeit um 430 v. Chr. bekannt. Ein eigenständiger Mythos, der um diesen kreist, ist allerdings erst spät belegt (Nicol. Narr. 5 [1 p. 270 Walz]; Gp. 11.29): Diesem zufolge war Kissos ein Jüngling des Dionysos und ein guter Tänzer. In der Folge eines Sturzes beim Tanzen wurde er von Ge in Efeu verwandelt, wobei er auch nach seiner Verwandlung sein tänzerisches Wesen insofern beibehielt, als er von nun an die Rebe – gleichsam tänzelnd – umschlang (Nicol. Narr. 5 [1 p. 270 Walz] ὁ κίσσος περιέχει τὴν ἄμπελον τὸ Διονύσου φυτὸν, ὡς ὅτε νέος ὑπάρχων ἐχόρευεν; Gp. 11.29 προϊὼν μὲν γὰρ ἐκ γῆς ἄμπελον περιπλέκεσθαι πέφυκεν, οὕτως περιπλεκόμενος, ὡς ὅτε νέος ἐχόρευεν). In den Dionysiaka ist Kissos einer der Satyrn, mit denen Dionysos seine Kindheit und Jugend in Phrygien verbringt: In 10.383–430 wird ein von Dionysos veranstalteter Wettlauf geschildert, bei dem Kissos zusammen mit Leneus und Ampelos teilnimmt. Seine Metamorphose in den Efeu wird in 12.188–192 ausführlich beschrieben. Nonnos variiert dabei den traditionellen Mythos insofern, als er Kissos sich in einen Efeu verwandeln lässt, während er einen Baum hochklettert. Das narrative Element der Verwandlung infolge eines Sturzes während einer Tanzaufführung findet sich hingegen in 19.285–301, wo Silenos nach seinem Sturz die Gestalt eines nach ihm benannten Flusses annimmt. Bei der vorliegenden Schilderung der Metamorphose des Kissos streicht Nonnos die Kontinuität in der Verwandlung hervor: Wie Kissos früher als Satyr an Bäumen emporkletterte, so tut er dies nun als Efeu (vgl. 12.188–192 mit K.). Im Rahmen der Beschreibung scheinen Satyr und Pflanze dabei sprachlich gleichsam zu verschmelzen (vgl. 188–192 mit K. und allgemein E. Kap. 8.2.3.). 97 ἀερσιπότης Der Satyr Kissos ist insofern ἀερσιπότης, als er sich in einer Baumkrone befindet (vgl. 12.190 Κισσὸς ἀερσιπότητος; 41.90 κισσὸς ἀερσιπότητος; 46.154 [von einem hohen Ast] θαλλὸν ἀερσιπότητον). In 10.401 wird der schnelle Läufer Kissos hingegen als ἀερσιπόδης bezeichnet. Komposita auf ἀερσι- sind für die Dionysiaka charakteristisch (vgl. die seltenen Bildungen ἀερσίλοφος, ἀερσίνοος, ἀερσίπορος). 97 ἐς φυτὸν ἕρπων Die Formulierung beschreibt das Hinaufklettern auf einen Baum (vgl. 12.373–374 [von einem Satyr] εἰς φυτὸν ὕλης/εἷρπεν) und gibt damit eine nähere Erklärung dafür, warum Kissos ἀερσιπότης ist. Die Wahl des Verbs ἕρπω weist gleichzeitig schon auf den Efeu hin, der an Bäumen hochkriecht (vgl. E. Fr. 88.1 TrGF ἀνεῖρπε κισσός; AP 7.22.1–2 (Simias) κισσέ,/ἑρπύζοις χλοεροὺς ἐκπροχέων πλοκάμους; Opp. H. 4.292–295 ὑγρὸς ἕλιξ κισσοῖο, τιταινόμενος δ’ ἀπὸ ῥίζης/ἑρπύζει; Philostr. Im. 1.18.1 κιττὸς ἕρπει). 98 ἕλιξ καὶ ἐν ἔρνεσιν Die Junktur betont, dass sich Kissos auch in Pflanzengestalt nach wie vor windet (vgl. 12.226 χροιὴν δ’ ὑμετέρην καὶ ἐν ἔρνεσι,

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κοῦρε, φυλάσσεις; 21.37 σὸν δέμας οὐτήσω καὶ ἐν ἔρνεσιν; 19.315 ἔσσο καὶ ἐν ποταμοῖσιν ὁμοφρονέων Διονύσῳ; 25.130 εἰσέτι δεσμὸν ἔχω καὶ ἐν ἄστρασιν; 32.89 καὶ ἐν ἄνθεσιν ἁβρὸς ἀκοίτης; 38.374 ἔτρεμεν ᾿Ωρίων καὶ ἐν ἄστρασι; 428 ποθέων καὶ ἐν ἄστρασιν ἅρμα τοκῆος). Der Knabe Kissos wird dabei insofern als ἕλιξ bezeichnet, als er sich beim Klettern (einem sich windenden Efeu ähnlich) am Stamm des Baumes klammerte (zu ἕλιξ als einer zentralen Charakteristik des Efeus vgl. z.B. 19.131 κισσὸς ἕλιξ; 36.384 ἑλικώδεα κισσόν; 45.313 ἑλισσομένῳ … ὁλκῷ). Die sich windende Bewegung des Kissos beim Klettern wird von Nonnos auch in 12.189 εἰς φυτὸν ὑψιπέτηλον ἑὸν πόδα λοξὸν ἑλίσσων betont. 98b–101a Kalamos Die Metamorphose des Kalamos hat in der antiken Literatur so gut wie keine Spuren hinterlassen. Außer Nonnos erwähnt nur Serv. Ecl. 5.48 die Geschichte von der Liebe und Metamorphose der beiden Knaben Kalamos und Karpos. In der von ihm berichteten Version verliebt sich Kalamos, der Sohn des Flussgottes Mäander, in den schönen Jüngling Karpos, der wiederum ein Sohn des Zephyr ist. Karpos erwidert zwar die Liebe des Kalamos, kommt aber ums Leben, als er in den Mäander stürzt. Kalamos macht seinem Vater Vorwürfe und bittet Zeus, ihn mit Karpos im Tod zu vereinen. Zeus hat aber Mitleid und verwandelt Kalamos in Schilfrohr und Karpos in die jährlich wiederkehrende »Frucht« (fructus rerum omnium, ut semper renasceretur). In den Dionysiaka erzählt Eros Dionysos vom Schicksal der beiden Knaben (11.369–481), um diesen über Ampelos’ Tod hinwegzutrösten. Diese Version unterscheidet sich in zwei wesentlichen Punkten von jener des Servius (vgl. D’Ippolito 1964, 148–149): (i.) Karpos wird während eines Wettschwimmens von einem eifersüchtigen Windgott getötet. (ii.) Kalamos begeht Selbstmord, indem er sich in die Fluten des Mäander stürzt. Bei der vorliegenden Schilderung der Verwandlung des Kalamos wird die zukünftige Verwendung des Schilfrohrs als Stützmaterial im Weinbau hervorgehoben (ἡμερίδων στήριγμα). In der Tat wurde vor allem im holzarmen Ägypten für die Rebenunterstützung Rohr verwendet, wofür dieses großflächig angebaut wurde (vgl. Ruffing 1999, 54–70). Der terminus technicus hierfür war καλαμουργία. Die Verse sind durch eine leichte Antithese geprägt (ὄρθιος/ κυρτούμενος; vgl. 22.376 [von einem sich ergebenden Soldaten] ὄρθιος ὀκλάζων, κυρτούμενον αὐχένα κάμπτων; weiters K. 97–102). 100 ἀεξιφύτοιο Das Epitheton (»Pflanzen gedeihen lassend«) ist in den Dionysiaka sehr geläufig (vgl. z.B. 3.155 ἀεξιφύτου … κήπου; 40.296 ἀεξιφύτοιο … λόχμης; 41.7 ἀεξιφύτοιο … λόχμης; 47.89 ἀεξιφύτων ἀπὸ κήπων). Komposita mit dem Präfix ἀεξι- sind für das nonnianische Epos insgesamt charakteristisch (vgl. z.B. die beiden proton eiremena ἀεξίκακος und ἀεξίτοκος sowie ἀεξίνοος).

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101b–102 Zum Ampelos-Mythos s. E. Kap. 4. 102 ῎Αμπελος ἀμπελόεντι … καρπῷ Die Tatsache, dass die Rebe nach Ampelos benannt ist, wird durch die auffällige figura etymologica ῎Αμπελος ἀμπελόεντι, bei der beide Elemente in unmittelbarer Nähe zueinander genannt werden, hervorgehoben (vgl. 11.480 Κάλαμος καλάμοισιν ἐπώνυμον; 18.75 λυχνὶς ἔην, λύχνοιο φερώνυμος; 14.116–117 ἀπ’ ἀρχεγόνοιο δὲ Δώρου/Δωρίδος ἐβλάστησεν ᾿Αχαιικὸν αἷμα γενέθλης; 21.88 Βρομίη Βρομίοιο φερώνυμος; zur figura etymologica allgemein s. E. Kap. 8.2.4.). Die Umschreibung der Rebe als ἀμπελόεντι … καρπῷ ist allerdings insofern seltsam, als sie zwar an die Traube (vgl. 45.146 ἀμπελόεντι κάμαξ ἐβαρύνετο καρπῷ), nicht aber an die Trauben hervorbringende Pflanze selbst denken lässt. Angesichts der allgemein unscharfen Begrifflichkeit in den Dionysiaka (s. E. Kap. 8.2.2.) sollte man sich an dem Ausdruck aber nicht allzu sehr stören. So wird auch in 12.297 eine Rebe mit der etwas eigenwilligen Formulierung καρπὸς ὀπώρης umschrieben. Möglicherweise war metrische Bequemlichkeit der Grund für die Wortwahl: Nonnos kombiniert Adjektivformen auf -εντι vor weiblicher Zäsur gerne mit καρπῷ als dazugehörigem Substantiv (vgl. 3.141 δροσόεντι … καρπῷ; 4.401 ἐχιδνήεντι … καρπῷ; 16.273 βοτρυόεντι … καρπῷ; 40.297 βοτρυόεντι … καρπῷ; 45.146 ἀμπελόεντι … καρπῷ). 103–113 Vierte κύρβις (Herbst) Die Herbsthore macht sich auf die Suche nach der Abbildung des Ganymed auf der vierten Tafel und findet die gewünschte Inschrift: Sie prophezeit, dass die Rebe dem Dionysos als Attribut zugeteilt werden wird. Die Herbsthore selbst gerät dabei immer mehr in freudige Stimmung (108 ἐκώμασεν; 114 φιλεύιος; 115 τερπομένη). Im Gegensatz zu den anderen Tafeln fehlt bei der Beschreibung der vierten Tafel ein eindeutiger Hinweis auf deren Charakter als κύρβις des Herbstes. Diese Funktion scheint allerdings die Illus­ tration des Nektar kredenzenden Ganymed zu erfüllen, die an das Verkosten des neuen Weines zu Herbstbeginn denken lässt (s. K. 104b–106). 103 θαλυσιὰς … κούρη Diese Charakterisierung der Herbsthore ist insofern sonderbar, als bereits die Hore des Sommers als θαλυσιὰς …῞Ωρη (11.501) bezeichnet wurde. Auch generell scheint Nonnos θαλύσια vor allem mit Demeter und der im Sommer stattfindenden Kornernte zu assoziieren (vgl. 2.92 [von Demeter] κῶμον ἄγουσα θαλύσιον; 19.88 θαλυσιὰς … Δηώ; 40.347; weiters Theoc. 7.31 ἁ δ’ ὁδὸς ἅδε θαλυσιάς), wenngleich er bisweilen unterschiedlichste Arten von »Erstlingsopfern« als θαλύσια bezeichnet (z.B. 3.346; 25.316). Es wurden aber auch dem Dionysos Erstlingsopfer dargebracht (vgl. Men. Rh. p. 391.18–19 Spengel ὥσπερ τῇ Δήμητρι καὶ τῷ Διονύσῳ οἱ γεωργοὶ τὰ θαλύσια). Die Wahl des Epithetons an dieser Stelle ließe sich vielleicht dadurch erklären, dass die Herbsthore gerade eben indirekt ihr Attribut, die Rebe, »geerntet« hat: Sie feiert jetzt gleichsam Erntedank.

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ἔδρακε Zur Verwendung von δέρκομαι im Sinne von »Lesen« s. K. 52–53. 104b–106 Ganymed Der Ganymed-Mythos fungiert in den Dionysiaka häufig als Folie für das Schicksal des Dionysos (s. Kröll 2016, 84–89). Am deutlichsten sichtbar wird die Parallelisierung im Rahmen der Schildbeschreibung im 25. Buch: Auf dem persönlichen Schild des Dionysos befindet sich nämlich u.a. eine Abbildung, die das Schicksal des Ganymed behandelt (25.429–450; vgl. weiters 8.94–97; 31.251–256; 39.64–70). Der Nektar, den Ganymed den Göttern kredenzt, wird dabei dem Leser als himmlisches Abbild des Weins präsentiert, den Dionysos den Sterblichen bietet (vgl. v.a. 12.159 [vom Wein] νέκταρος οὐρανίου χθόνιον τύπον mit K. ad loc.). Der inhaltliche Bezug zwischen Text und Illustration auf der vierten κύρβις ist daher in der im Epos suggerierten Parallele zwischen Ganymed (106 ἰκμάδα νεκταρέην) und Dionysos (113 ἡμερίδας Διονύσῳ) zu suchen. Die Wahl des Sujets lädt den Leser gleichzeitig dazu ein, das Bild des Nektar kredenzenden Ganymed auf das Verkosten des neuen Weins im Herbst zu beziehen und damit die vierte κύρβις mit dieser Jahreszeit zu assoziieren. Für die beschriebene Ikonographie, die Ganymed zeigt, wie er alleinstehend einen Becher anfüllt, gibt es keine Parallelen in der römischen Kaiserzeit. In der Tat verschwindet der Bildtypus bereits im frühen vierten Jh. v. Chr. In der römischen Kaiserzeit hingegen dominiert die Darstellung von Ganymed mit Adler (LIMC 4.1, 154–169 s.v. Ganymedes). Die von Nonnos gebotene Ikonographie erinnert jedoch an einen in der ausgehenden Antike offensichtlich recht beliebten Bildtypus für den Monat Oktober. Dieser wird auf zwei Kalendermosaiken aus dem 5. (LIMC 6.1, 485 s.v. Menses Nr. 18) bzw. 6. Jh. (486 Nr. 20) als Jüngling dargestellt, der Wein in ein Trinkgefäß einschenkt. Eine ähnliche Ikonographie zeigt auch ein Mosaik aus Tunis aus dem 2. Jh., auf dem die weibliche Personifikation des Herbstes beim Ausschenken von Wein abgebildet ist (= LIMC 5.1, 514 s.v. Horai/ Horae Nr. 29). 105 ποιητῷ … τύπῳ Das Hervorheben des artifiziellen oder künstlichen Charakters von Dingen ist ein typisches Merkmal des Stils des Nonnos (vgl. 6.72 [von gemalten Sternen auf einem Himmelsglobus] ἄστρασι ποιητοῖσι; 25.555 [von einer Darstellung der Rhea] πήχεσι ποιητοῖσι; 34.287 [von dem Bild der Cheirobie auf dem Schild des Morrheus] ποιητὸν … κάρηνον; 36.20 [von der Abbildung der Medusa auf Athenas Ägis] ποιητὴν πλοκαμῖδα; s. allgemein E. Kap. 8.2.3.). Der Abbildcharakter scheint in spätantiken Kunstbeschreibungen generell gerne hervorgehoben worden zu sein (vgl. AP 2.206 [Christod.] τὸν ἐν χαλκῷ νοερὸν τύπον; Io. Gaz. 2.118 ποιητῆι ῥαθάμιγγι; Paul. Sil. Soph 506 τύπος σταυροῖο μεσόμ[φα]λος ἔνδοθι κύκλου).

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107 τετράζυγος ὀμφή Hiermit ist die vier Zeilen umfassende (prophetische) Inschrift gemeint (vgl. 41.388 ἔπος σοφὸν … πολύστιχον). Die Adjektive τετράζυγος und τετράζυξ werden in den Dionysiaka bisweilen sehr frei verwendet, um eine Vierzahl auszudrücken (vgl. z.B. 5.213 [in Bezug auf die vier Hochzeiten der Töchter des Kadmos] τετράζυγι παστῷ; 25.364 [von den vier Jahreszeiten] τετράζυγες ῟Ωραι); zu τετράζυξ als epitheton ornans für den Kosmos s. 169 mit K. 108 φιλόβοτρυς Das Kompositum ist ein nonnianisches epitheton ornans für Personen aus Dionysos’ Gefolge (18.210 Στάφυλος φιλόβοτρυς; 21.89 Κισσηὶς φιλόβοτρυς; 29.238 Στησιχόρη φιλόβοτρυς; s. allgemein E. Kap. 8.2.1.). Zur starken Vorliebe des Nonnos für Komposita mit dem Präfix φιλ(ο)- s. K. 41. ἐκώμασεν Wie χορεύω (hierzu Vian 1987), dient auch κωμάζω in den Dionysiaka als »dionysisches« Verb der Fortbewegung (vgl. z.B. 40.367 [von Dionysos] εἰς δόμον Ἀστροχίτωνος ἐκώμασε; 47.266 [idem] ἐς ἀμπελόεσσαν ἐκώμασεν ἄντυγα Νάξου). Hier beschreibt ἐκώμασεν den freudigen Schritt der θεὰ φιλόβοτρυς zur Inschrift (vgl. Peek s.v. I.). Ihre Freude rührt daher, dass sie jetzt auch die zweite gesuchte Prophezeiung gefunden hat. 110–113 Inschrift (Zuteilung Götterattribute) Die im Wortlaut wiedergegebene Prophezeiung, die die Herbsthore auf der vierten Tafel liest, hat die Zuteilung der Götterattribute zum Inhalt und nennt die jeweiligen Pflanzen, die den Göttern Apoll (Lorbeer), Aphrodite (Rose), Athene (Ölbaum), Demeter (Korn) und Dionysos (Rebe) zugewiesen werden. Die vier Verse umfassende Inschrift zeigt dabei ein kunstvolles Arrangement: Die beiden mittleren Verse (111–112) sind insofern als eine Einheit gestaltet, als Nonnos in diesen beiden Fällen die Analogien zwischen der jeweiligen Göttin und ihrem Pflanzenattribut hervorstreicht (ῥόδα … ῥοδόχροϊ Κυπρογενείῃ/ γλαυκὸν ᾿Αθηναίῃ γλαυκώπιδι θαλλόν; zu dieser von Nonnos gerne verwendeten Form des Wortspiels vgl. v.a. 42.417–428 χρυσοῖο … χρυσῆς; ἄργυρον ἀργυρόπηχυς; ῥοδόεντος … ῥόδα … ῥοδώπιδές). Dieses Verspaar wird wiederum durch die Verse 110 und 113 gerahmt, bei welchen die pointierte Stellung der Götternamen Φοίβῳ und Δήμητρι auffällt: Φοίβῳ steht als erstes Wort der Inschrift der Nennung des Dionysos als dem letzten Wort (Διονύσῳ) diametral gegenüber. Δήμητρ wiederum ist insofern pointiert gesetzt, als sie in ein und demselben Vers (dem einzigen, der zwei Götter nennt) mit Dionysos genannt wird, wobei ihre Gegenüberstellung durch die parallele Satzkonstruktion zusätzlich unterstrichen wird. Diese formale Opposition der Götter Apollo und Demeter mit Dionysos ist dabei insofern von Bedeutung als Nonnos in seinem Epos Dionysos gerade mit diesen beiden Göttern besonders häufig in Bezug setzt (vgl. z.B. zur Gegenüberstellung mit Demeter 7.85–88; 12.210– 211; 254–255; 19.80–96; 27.338–341; 31.69; 47.49–55; 101–103; Vian 1988b, 279–280; zu jener mit Apoll 11.128–131; 12.154–166; 257–263; 208–209; 245–250; 15.129–130; 19.104–105; 81–84; 29.95–99; 45.71–72; allgemein E. Kap. 5 Ende).

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114–117a Rückkehr der Jahreszeitenhoren Nachdem die Herbsthore die gewünschten Informationen erhalten hat, verlassen die vier Jahreszeitenhoren den Palast in Richtung Osten; der Formulierung ἱπποσύνης Φαέθοντος ὁμόδρομος nach tun sie dies zusammen mit Helios, was impliziert, dass die Konsultierung der Tafeln die ganze Nacht in Anspruch genommen hat (vgl. 116 ἠῴοιο). Dies steht freilich in einem gewissen Widerspruch zur tatsächlichen Schilderung der Ereignisse. Im Gegensatz zur ausführlichen Beschreibung der Ankunft umfasst die Schilderung der Rückkehr der Horen nur dreieinhalb Verse. Dieses accelerando am Ende einer Beschreibung einer Besuchsszene ist ein typisches Kompositionsmittel in den Dionysiaka (vgl. 6.107–108 [Aufbruch der Demeter vom Palast des Astraios]; 7.108–109 [Rückkehr des Aion und des Zeus]; 31.197–198 [Aufbruch der Iris vom Palast des Hypnos]; 32.10 [Aufbruch der Hera vom Libanongebirge]; 41.399–400 [Aufbruch der Aphrodite vom Palast der Harmonia]; 48.449–451 [Rückkehr der Artemis vom Tauros-Gebirge]). 114 Τοῖα μὲν ἐν γραφίδεσσι φιλεύιος ἔδρακε κούρη Der Vers bezieht sich auf die Lektüre der kurz zuvor zitierten Inschrift (zu δέρκομαι in der Bedeutung »lesen« s. K. 52–53). φιλεύιος Bei dem Kompositum, das sich vom dionysischen Ausruf εὐοῖ ableitet, dürfte es sich um eine Epiklese des Weingottes handeln (vgl. AP 9.524.1; 26). In den Dionysiaka fungiert dieses als epitheton ornans für Dionysos (7.335; 19.15; 42.139; 48.204) und Personen (oder Dinge), die in Bezug zu diesem stehen (vgl. z.B. 7.92 Βασσαρίδων … φάλαγγα φιλεύιον; 15.146 φιλεύιος ἐσμὸς ἀλήτης; 43.253 θυγατέρων … φάλαγγα φιλεύιον). An dieser Stelle ist es insofern pointiert gesetzt, als φιλεύιος an den Jubelschrei εὐοῖ denken lässt, den die hocherfreute Hore ausstößt, nachdem sie endlich die gesuchten Informationen gefunden hat (vgl. 108 ἐκώμασεν; 115 τερπομένη; zum pointierten Epithetagebrauch s. E. Kap. 8.2.1.). Zu Nonnos’ Vorliebe für Komposita mit dem Präfix φιλ(ο)- s. K. 41. 117 ἱπποσύνης Φαέθοντος ὁμόδρομος Das Epitheton ὁμόδρομος hat in den Dionysiaka – wie hier – meist narrative Funktion (z.B. 16.191 κύων … ὁμόδρομός … Λυαίῳ; 29.170 [vom Schatten] ὁμόδρομος … ὁδεύει; 174 ὁμόδρομος … Βάκχῳ; 41.230 ὁμόδρομος Ἰοχεαίρῃ); auf eine fortwährende Eigenschaft scheint es sich in 1.250–251 [von den Sternbildern Schütze und Steinbock] ὁμόδρομος Αἰγοκερῆος/Τοξευτήρ zu beziehen.

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117b–291 Ampelos-Episode (Fortsetzung) Nach Abschluss des Horen-Intermezzos kehrt die Erzählung wieder zu dem in 11.485a verlassenen Handlungsstrang zurück und führt diesen zu Ende. Der narrative Anschluss erfolgt dabei allerdings nicht nahtlos. In der Tat ist die in 12.117b–137 beschriebene Situation eine andere als jene vor Beginn des HorenIntermezzos: Während dort nämlich Dionysos vom akuten Schmerz über den Tod des Ampelos gepeinigt wurde, suggeriert die Erwähnung, dass Dionysos kein Interesse mehr an Tanz und ekstatischer Musik zeige, einen Zeitsprung in der Handlung. Die Erzählung des Horen-Intermezzos scheint daher auf der Handlungsebene jene Zeitspanne zu überbrücken, während der sich der akute Schmerz des Dionysos zu allgemeiner Betrübnis gewandelt hat. Es ist naheliegend, diesen Zeitraum mit jener Zeitspanne von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang gleichzusetzen, innerhalb von welcher sich das Horen-Intermezzo erstreckt. Diese Form der Überbrückung ist in den Dionysiaka kein Einzelfall. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Exkurs der Ino-Episode (9.243–10.136), der jene Zeitspanne »abdeckt«, in der Dionysos zu einem jungen Mann heranreift. Ein weiteres (wenngleich spezielles und besonders virtuoses) Beispiel für eine solche »narrative« Substituierung bildet das Lied des Leukos, durch welches Nonnos die von ihm nicht erzählten ersten sechs Jahre des Krieges gegen die Inder »überbrückt« (s. hierzu Zuenelli 2015, 230–231). Dieser direkte Zusammenhang zwischen dem Horen-Intermezzo und der zeitversetzten Fortführung der Handlung in 12.117b–137 lässt vermuten, dass auch der Abschnitt 12.117b–137 – wie das Horen-Intermezzo selbst – erst in einer späteren Umarbeitungsphase entstanden ist, wofür aber bis auf eine Ausnahme (s. K. 138) keine Spuren mehr auszumachen sind (vgl. Keydell 1932, 180–181). Im Zentrum des Abschnitts steht die durch die Metamorphose des Ampelos bewirkte Peripetie von Trauer zu Glück: Während man Dionysos zu Beginn des Abschnitts noch in tiefer Trauer vorfindet (117b–123), in welche auch die Natur aus Mitleid miteinstimmt (124–137), bringt das Erscheinen der Moiren die plötzliche Wendung: Atropos verkündet Dionysos die bevorstehende Metamorphose des Ampelos in einen Weinstock (138–172), welche sich dann auch sogleich vollzieht (173–187) – hier ist auf recht »störende« Weise auch der Bericht der Verwandlung des Kissos eingeschoben (188–192). Anschließend kostet Dionysos von der Frucht und dem Saft der neu entstandenen Pflanze (193–205a) und verleiht in Form einer ausführlichen Rede (205b–291) seinem Stolz Ausdruck. Die Worte des Dionysos bilden den Höhepunkt und Abschluss der gesamten Ampelos-Episode. Der so geschilderte Umschwung wird formal durch die Rahmenstruktur unterstrichen: So findet die Schilderung der Trauer des Dionysos und der Natur zu Beginn des Abschnitts eine kontrastierende Entsprechung in dem von Dionysos am Ende seiner Rede imaginierten Bild der Natur, die die Rebe wie

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eine Königin verehrt. Diese kontrastive Verbindung zwischen beiden Passagen wird zusätzlich dadurch hervorgehoben, dass die letzten beiden Verse der Partie προτέρας δ’ ἔρριψε μερίμνας/φάρμακον ἡβητῆρος ἔχων εὔοδμον ὀπώρην (290– 291) auf die ersten Οὐδὲ Λυαίῳ/φάρμακον ἦν ἑτάροιο δεδουπότος (117b–118) Bezug nehmen und sie dabei umdeuten (zum Motivnetz innerhalb der Ampelos-Episode s. E. Kap. 4 Ende). Am Ende der Ampelos-Episode massieren sich – wie bereits erkannt wurde (v.a. Golega 1930, 68–69) – Formulierungen, die Parallelen zum Johannes-Evangelium bzw. zu dessen poetischer Bearbeitung durch Nonnos aufweisen (145; 171; 207–211; 219; 222). Diesem christlichen Sprachkolorit entsprechen auf der motivischen Ebene das Element der »Auferweckung« und (ganz generell) das Symbol des Weinstocks; die »Auferweckung« des toten Ampelos durch die Metamorphose in eine Rebe steht dabei motivisch insbesondere der Auferstehung des Lazarus nahe. Die Übernahme christlicher Anleihen ist für die Dionysiaka auch sonst bezeugt, wobei ihre Funktion durchaus kontrovers diskutiert wird (s. E. Kap. 2 Ende). Für die Metamorphose des Ampelos stimme ich Shorrock 2011, 98–105 (wiederholt in 2016, 590–599) insofern zu, als die Erzählung, wie sie von Nonnos präsentiert wird, für eine Lektüre auf der Folie der Auferweckung des Lazarus grundsätzlich offen ist und punktuell sogar Bestätigung erfährt (145; 171; 219; 222). Eine wirkliche Aufforderung zu einer solchen Lektürehaltung sehe ich – zusammen mit Bär 2012, 100 und Dijkstra 2016, 87 – im Text allerdings nicht angelegt. Auch was die Deutung der besagten Stellen als dezidiert »christlich« anbelangt, halte ich eine gewisse Zurückhaltung für grundsätzlich ratsam (vgl. Liebesschuetz 1995, 207; Cameron 2000, 180–181). 117b–137 Trauer um Ampelos Der Abschnitt gliedert sich in zwei Teile: Zunächst wird die Trauer des Dionysos beschrieben (117b–123), im Anschluss jene der mitfühlenden Natur (124–137). Durch die Form des adynaton wird die Heftigkeit der Trauer zusätzlich hervorgehoben: Dionysos, der Gott freudiger Musik, singt Klagelieder, die Flüsse hemmen ihren gewohnten Lauf, immergrüne Bäume lassen ihr Laub fallen. Der katalogartige Charakter der Aufzählung verschiedener Trauergesten wird durch die gehäufte Verwendung von Vers-Enjambement (118; 119; 120; 122; 126; 128; 130; 134; 136) gemildert (s. hierzu allgemein E. Kap. 8.2.5.) 117b–122a Trauer des Dionysos Während Nonnos Dionysos’ Schock über den plötzlichen Tod des Ampelos in Form von zwei Klagereden (11.255–312; 315– 350) veranschaulicht hat (vgl. Bio 1.42–61; Ov. Met. 10.196–208), thematisiert der vorliegende Abschnitt die mittelbaren Folgen von Ampelos’ Tod auf den seelischen Zustand des Gottes. Die Trauer des Dionysos äußert sich darin, dass er Klagelieder singt, was in deutlichem Kontrast zu den für den Gott des Lachens typischen Formen von

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fröhlich-ekstatischem Tanz und Musik steht (vgl. die Beschreibung von Dionysos’ Betrübnis über die zeitweise Abwesenheit des Ampelos in 10.222–225). Explizit genannt wird Dionysos’ Desinteresse für Tanz sowie für das Spiel von Becken, Trommel und Syrinx (zu den dionysischen Instrumenten im Epos vgl. Fayant 2001, 73). Im Trauerverhalten mit Dionysos vergleichbar ist auch Demeter, die in h.  Cer. 303–309 kein Getreide mehr wachsen lässt, und Apollo, der in Stat. Theb. 9.657–658 seine Orakeltätigkeit aufgrund seiner Trauer um den verstorbenen Seher Amphiaraos einstellt (lugentia cernis/antra … mutasque domos). Diese Abkehr vom Normalzustand wird durch die drei mit α-privativum gebildeten Komposita ἀκηδέστῳ, ἀδουπήτοιο und Ἀμειδήτῳ zusätzlich betont (vgl. die binnenanaphorische Wiederholung von dreimaligem καί in 17.344–346); der Parallelismus wird dabei durch die Repetition desselben Verspatterns in 120– 123 unterstrichen (s. E. Kap. 8.2.5.). Gleichzeitig machen die α-Assonanzen das Stöhnen des Dionysos gleichsam lautlich hörbar (vgl. 120 αἴλινα … λίγαινεν). 118 φάρμακον ἑτάροιο δεδουπότος Die Junktur ist elliptisch: Gemeint ist, dass Dionysos kein Heilmittel gegen den Schmerz besitzt, den der Tod des Gefährten verursacht (vgl. 11.368 φάρμακον ὀλλυμένοιο; 12.291 φάρμακον ἡβητῆρος). Zum leitmotivischen Charakter des Begriffs s. K. 117b–291. ἑτάροιο δεδουπότος Zum epischen Ausdruck vgl. Hom. Il. 23.679 δεδουπότος Οἰδιπόδαο; A.  R. 1.1304 Πελίαο δεδουπότος; Euph. Fr. 72.2 Acosta-Hughes/ Cusset δεδουπότος Αἰακίδαο; Orph. A. 1163 δεδουπότος Ἀψύρτοιο; Q. S. 1.768 Θερσίταο δεδουπότος; Triph. 399 σὺ [Priamos] ... δεδουπώς. Die Verwendung von δεδουπώς zur Charakterisierung eines Verstorbenen ist in den Dionysiaka sehr geläufig (vgl. z.B. 15.387 ἠιθέοιο δεδουπότος; 16.300 δεδουπότος … νομῆος; 36.279 ἑτάροιο δεδουπότος). Durch die Verwendung des verwandten Adjektivs ἀδουπήτοιο in nächster Nähe (12.121) scheint Nonnos eine Verbindung zwischen beiden Begriffen suggerieren zu wollen (vgl. z.B. 9.112 ἀγρύπνοισι/9.115 ἄγρυπνον). Denkbar wäre, dass ἀδουπήτοιο auf die etymologische Herkunft von δεδουπώς (»gestorben«) – nämlich von δοῦπος (»dumpfer Laut«) – verweisen soll, die sich ja angesichts der semantischen Distanz nicht unmittelbar aufdrängt (vgl. die etymologische »Erklärung« des Eigennamens ῎Ατροπος (12.141) durch 145 ἀτρέπτου … Μοίρης und allgemein zu etymologischen Anspielungen E. Kap. 8.2.4.). 118–119 οὐδὲ χορείης/μνῆστις ἔην Nonnos imitiert hier Hom. Od. 13.279–280 οὐδέ τις ἥμιν/δόρπου μνῆστις ἔην. Der Abschnitt gehört syntaktisch zu derselben Ebene wie 117b–118a, inhaltlich jedoch zu der von 117b–118a abhängigen Auflistung von Tätigkeiten des Dionysos, die dieser wegen seiner Trauer eingestellt hat.

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119 δεδονημένος οἴστρῳ Die Junktur δεδονημένος/-ον οἴστρῳ zählt zu den häufigsten Klauseln in den Dionysiaka (7.256; 10.321; 12.367; 386; 15.25; 18.109; 22.207; 28.304; 29.68; 32.52; 42.98; 47.116; vgl. Met. 6.201; 17.41; zu Klauseln allgemein s. E. Kap. 8.2.1.). Die hohe Frequenz erklärt sich wohl aus der vielseitigen Einsetzbarkeit der Klausel, die je nach Erweiterung für unterschiedliche Kontexte herangezogen werden kann (vgl. z.B. 7.256 πόθου δεδονημένος οἴστρῳ; 12.367 μέθης δεδονημένος οἴστρῳ; 22.207 μόθου δεδονημένος οἴστρῳ). 120 αἴλινα … λίγαινεν Die Junktur, die vor Nonnos nicht belegt ist (vgl. Mosch. 3.1 Αἴλινά … στοναχεῖτε; 14 μύρεσθε … αἴλινα; Call. Ap. 20 κινύρεται αἴλινα; Orac. Sib. 8.64 αἴλινα θρηνήσουσι), lässt die Klage des Dionysos durch die Wiederholung des Klagelauts αἴ/αἶ auch lautlich hörbar werden (vgl. die folgenden Epitheta ἀκηδέστῳ, ἀδουπήτοιο, Ἀμειδήτῳ). ἀκηδέστῳ δὲ σιωπῇ Das epische Adjektiv ist vor Nonnos nur in einem passiven Sinn (»keine Fürsorge erhaltend«) belegt: In Hom. Il. 6.60 charakterisiert es Personen, die keine letzten Ehren erhalten haben (ἐξαπολοίατ’ ἀκήδεστοι καὶ ἄφαντοι; vgl. AP 7.686 [Pall.]) und in A. R. 2.151 den allein zurückgelassenen Herakles (ἀκήδεστον γαίῃ ἔνι τόνδε λιπόντες). Abgesehen von dieser Stelle verwendet Nonnos ἀκήδεστος in den Dionysiaka zur Charakterisierung ungekämmten Haars (ἀκηδέστοιο καρήνου 10.272; 48.149) und mangelnder Fürsorge des Gesichtes (42.85 ἀκηδέστοιο προσώπου). Hier scheint ἀκήδεστος hingegen in einem aktiven Sinn gebraucht zu werden (»keine Sorge tragend für«, »nicht denkend an«), wofür ansonsten im Griechischen die Form ἀκηδής benutzt wird (vgl. Pl. Lg. 913c παίδων … ἀκηδής; A. R. 3.596–597 τιμῆς … ἀκηδέες). Diese Umdeutung von ἀκήδεστος dürfte wohl metrische Gründe gehabt haben. Nonnos wählt für diese metrische sedes nämlich sehr gerne Adjektiven auf -στος (vgl. z.B. die Versschlüsse 1.176 παλιννόστῳ δὲ πορείῃ; 4.275 πολυφράστῳ δὲ μενοινῇ; 30.165 ἀνηκούστῳ δὲ τοκῆι). 121 ἀδουπήτοιο βοείης Der Begriff βοείη (»Rinderhaut«) wird von Nonnos als metonymischer Ausdruck für die Bezeichnung von (mit Rinderhaut überzogenen) Trommeln verwendet (s. Peek s.v). Die syntaktische Anbindung der Junktur bereitet allerdings Schwierigkeiten. Grundsätzlich sind zwei grammatische Erklärungen möglich: (i.) Man kann ἀδουπήτοιο βοείης als Genitivattribut zu χάλκεα νῶτα deuten und die Stelle im Sinne von »Er ließ die ehernen Rücken der stillen Trommel in vernachlässigendem Schweigen zurück« lesen. In diesem Fall wäre davon auszugehen, dass in 120b–121 ein einziges Instrument, nämlich die Trommel, erwähnt wird (vgl. z.B. die Übersetzungen von von Scheffer 1953; Rouse 1940; Vian 1995a; Manterola/Pinkler 1995; Kröll 2016). Hierfür spricht, dass in der Tat in 14.214 Trommeln als τύμπανα χαλκεόνωτα bezeichnet werden und dass auch drei weitere Male im Epos Trommeln

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erwähnt werden, die über metallene Bestandteile verfügen (10.390–391 βοείη χαλκοβαρής; 15.54–55 ἀμφιπλῆγι βοείῃ/δίζυγον ἐσμαράγησε μέλος χαλκόκροτον ἠχώ; 43.73–74 καὶ διδύμοις πατάγοισι μόθου χαλκόθροον ἠχώ/τύμπανα δουπήσειεν). Die letzten drei Stellen kann man zwar damit erklären, dass sie einen antiken Trommeltyp beschreiben, der auch über metallene Schellen verfügte (vgl. RE 7A.2, 1749 s.v. Tympanum; Paquette 1984, 206). Die Charaktersierungen τύμπανα χαλκεόνωτα (14.214) und χάλκεα νῶτα … βοείης (12.121) scheinen aber zu implizieren, dass die vorgestellten Trommeln nicht mit metallenen Schellen ausgestattet sind, sondern vielmehr selbst eherne Oberflächen besitzen. In der Tat bezeichnet χαλκεόνωτος ansonsten in den Dionysiaka einen Schild (22.307 ἀσπίδα χαλκεόνωτον) und ein Becken (10.388 κύμβαλα χαλκεόνωτα; zu νῶτον als Ausdruck für die Oberfläche von Schilden und Trommeln vgl. z.B. 6.121; 14.351; 22.206; 28.260; 34.135; 37.469). Für die Existenz einer solchen »Blechtrommel« gibt es allerdings keine Belege (vgl. Wegner 1949, 64–65; Paquette 1984, 206; West 1992, 124). Ein möglicher Ausweg könnte darin bestehen, dass man im Falle von 14.214 den überlieferten Wortlaut τύμπανα χαλκεόνωτα zu κύμβαλα χαλκεόνωτα ändert (Volkmann 1856, XXII) und die vorliegende Stelle im Sinne von (ii.) deutet. (ii.) Es wäre nämlich auch möglich, ἀδουπήτοιο βοείης als Genitivattribut zu ἀκηδέστῳ … σιωπῇ aufzufassen. Der recht freie Gebrauch des dativus sociativus braucht dabei nicht zu stören (vgl. 7.67; 30.39; Keydell 1959, 60*). Der Abschnitt wäre demnach so zu verstehen, dass in 120b–121 zwei verschiedene Instrumente (Becken und Trommeln) genannt werden: »Die ehernen Rücken (= Becken) ließ er im vernachlässigenden Schweigen der verstummten Trommel zurück«. 122 πηκτὶς Mit dem Begriff πηκτίς kann im Griechischen eine Harfe, eine Leier oder eine Syrinx bezeichnet werden (zur Geschichte des Begriffs s. West 1997). Was die Verwendung von πηκτίς in den Dionysiaka betrifft, ist nicht immer eindeutig bestimmbar, welches Instrument hiermit gemeint ist. Nonnos scheint den Begriff hauptsächlich als Synonym für Syrinx zu gebrauchen (vgl. z.B 1.389 ποιμενίῃ … πηκτίδι; 11.124 πηκτίδα Πᾶνες ἔχουσι; 20.338 [von einem Hirten] ἀπεσείσατο πηκτίδα χειρῶν; 45.186 [vom Spiel des Pan] κτύπον … πηκτίδος; 47.400 [von einem Hirten] πηκτίδος οὐ πόθον ἔσχεν). 122b–137 Trauer der mitfühlenden Natur Die Vorstellung einer mitfühlenden Natur ist in der griechischen Literatur mehrfach bezeugt (vgl. Gerber 1883; Wagener 1931; Copley 1937) und findet in der Bukolik ihre stärkste Ausprägung (vgl. Buller 1981). Nonnos schöpft für seine Schilderung der trauernden Natur aus drei verschiedenen Bereichen: Flüsse (124–130a), Felsen (130b–132) und Bäume (133–137). Die Beschreibung der drei trauernden lokalen Flüsse

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als Beispiele aus dem Bereich der unbelebten Natur findet eine strukturelle Entsprechung in der Schilderung der drei trauernden Bäume, die der belebten Natur angehören. Die Nennung der weinenden Niobe fungiert dabei insofern als Scharnier, als sie zwar einst ein Mensch war, nun aber als Fels der unbelebten Natur angehört. Die gesamte Passage besticht durch ihre personifizierende Darstellungsweise, die dem Abschnitt Anschaulichkeit und Lebendigkeit verleiht (zur personifizierenden Darstellungsweise in den Dionysiaka s. E. Kap. 8.2.3.; für Flüsse im Speziellen Miguélez-Cavero 2013a, 365–372). Eine weitere ausführliche Schilderung der trauernden Natur findet sich in 15.370–419. 122b–130a Die Trauer der Flüsse Die Klage von Flüssen ist ein beliebter Topos (vgl. v.a. Bio 1.33–34 καὶ ποταμοὶ κλαίοντι τὰ πένθεα τᾶς ᾿Αφροδίτας,/καὶ παγαὶ τὸν ῎Αδωνιν ἐν ὤρεσι δακρύοντι; Mosch. 3.1–2 Αἴλινά μοι στοναχεῖτε … Δώριον ὕδωρ/καὶ ποταμοὶ κλαίοιτε τὸν ἱμερόεντα Βίωνα mit Mumprecht 1964 ad loc.). Nonnos lässt die Flüsse ihre Trauer dadurch zeigen, dass sie ihren gewohnten Lauf hemmen und damit eine ähnliche Form der Trauer an den Tag legen wie Dionysos, der ebenfalls seine gewohnten Tätigkeiten einstellt (vgl. AP 7.412.5 [Alc. Mess] [vom Fluss Asopos] ῥόον δ’ ἔστησεν). Nonnos erwähnt drei verschiedene lokale Flüsse, die mit Dionysos trauern: Hermos, Paktolos und Sangarios. Nicht genannt wird überraschenderweise der Mäander. Während sich die Trauer der Flüsse Hermos und Paktolos im Hemmen ihres gewohnten Laufs zeigt, bildet das Verhalten des Sangarios insofern eine Steigerung, als er sein Wasser zurückfließen lässt. Das Anhalten des Wasserlaufs der drei Flüsse wird variantenreich beschreiben (vgl. z.B. in Bezug auf die Lexik 124 ἔσχετο … ῥόος; 127 ἀνεσείρασε … ὕδωρ; 129 ἀνέκοψε … ὁλκόν). 124–126a Hermos Vom lydischen Fluss Hermos wird in der lateinischen Dichtung mehrmals erwähnt, dass er Goldsand mit sich führe (Verg. Georg. 2.137; Mart. 8.78.5; Sil. 1.159). Ansonsten werden dem Strom in der Antike aber keine auffallenden Eigenschaften zugeschrieben (vgl. die konventionellen Epitheta in Hom. Il. 20.392 Ἓρμῳ δινήεντι; Hes. Th. 343 Ἔρμον εὐρρείτην). Nonnos beschreibt ihn hier als einen reißenden und schilfreichen Fluss. Für diese Charakteristika müssen aber nicht notwendigerweise topographischen Erklärungen bemüht werden (Vian 1995a ad 124–126). So bildet Schilfreichtum einen Standardtopos für Flüsse in den Dionysiaka (vgl. 26.226 ἀπ’ ᾿Ινδῴου δονακῆος; 27.162 [vom Ganges] δονακῆα διαίνων; 19.294 [mit Bezug auf den Fluss, in den sich Silen verwandelt] σύριζε δόναξ; 48.940 [mit Bezug auf die Quelle, in die sich Aura verwandelt] δόνακες …ἐπερροίζησαν). Die Stilisierung als reißender Fluss dürfte wiederum dazu dienen, den plötzlichen Stillstand noch eindrucksvoller erscheinen zu lassen.

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126b–128a Paktolos Die Charakterisierung des Paktolos als κροκόεις bezieht sich auf dessen Goldreichtum (vgl. S. OC 685 χρυσαυγὴς κρόκος; AP 12.256.7 (Mel.) χρυσανθῆ … κρόκον; Triph. 348 χρυσείῳ … κρόκῳ mit Miguélez-Cavero 2013b ad loc.), für den der lydische Fluss in der Antike bekannt war (s. RE 18.2, 2439 s.v. Paktolos). Nonnos spielt – vor allem in der Ampelos-Episode, in der der Strom als wichtiger Schauplatz fungiert – häufig auf diese Charakteristik an (vgl. 10.45–147; 11.21; 24; 38–39; 312; 12.166; Kröll 2016, 21–23). Die personifizierende Darstellung des Flusses wird hier durch den expliziten Vergleich mit einem betrübten Mann besonders hervorgehoben (vgl. πένθιμον ὕδωρ). 126 βαθυκτεάνῳ … ῥεέθρῳ Das Adjektiv ist in der Bedeutung »mit großen Reichtümern« bezeugt (vgl. Eleg. Alex. Adesp. S. Hell. 958.13 Μήδοισι βαθυκτεάνοισι; AP 10.74.1 (Paul. Sil.) βαθυκτεάνοιο τύχης). Hier erfährt das Epitheton aber eine gleichsam konkrete Umdeutung im Sinne von »mit Reichtümern in der Tiefe«. Diese »wörtliche« Interpretation des traditionellen Epithetons findet eine Parallele in der Verwendung von βαθύπλουτος (vgl. 10.146–147 [vom Paktolos] βαθυπλούτων δὲ μετάλλων/ἀφνειῷ κεκύλιστο βυθῷ χρυσούμενος ἰχθύς; 11.27 [idem] βαθυπλούτῳ … ῥεέθρῳ; zu Nonnos’ pointiertem Einsatz von Epitheta s. E. Kap. 8.2.1.). 128b–130a Der Sangarios entspringt im phrygischen Hochland, welches er in einem gekrümmten Lauf durchquert, und mündet schließlich an der westlichen Nordküste Anatoliens ins Schwarze Meer. Nonnos erwähnt den Fluss mehrmals mit Bezug zu Phrygien (vgl. 13.519; 531; 14.270; 27.36). 129 ἀνέκοψε παλίσσυτον ὁλκὸν Das Adjektiv παλίσσυτον muss als proleptisch gedeutet werden: Der Sangarios hemmt nämlich natürlich nicht sein bereits zurückfließendes Wasser, sondern dieses fließt als Folge des Zurückhaltens des Stromes zurück. Diese gedrängte (und leicht verwirrende) Ausdrucksweise ist für den Stil der Dionysiaka durchaus charakteristisch (vgl. z.B. 12.138 μετετρέψαντο παλίλλυτα νήματα; 326 μετάτροπον ὁλκὸν ἑλίξας; 365 μετήλυδα ταρσὸν ἀμείβων; 13.535 παλινάγρετον ἤλασεν ὕδωρ; 24.60 ἀπορρίψας παλινάγρετον ὄγκον ἀπειλῆς; 35.101 νόστιμον … μετατρέψασα πορείην). 130b–132 Trauer der Niobe Aufgrund der traditionellen Vorstellung von der Gefühlskälte der Steine (s. K. 79–83) sind Felsen oder Gebirge besonders oft unter den Klagenden zu finden (vgl. v.a. Theoc. 7.74 χὠς ὄρος ἀμφεπονεῖτο; Bio 1.31–32 ‘τὰν Κύπριν αἰαῖ’ ὤρεα πάντα λέγοντι; Mosch. 3.1 Αἴλινά μοι στοναχεῖτε νάπαι; AP 7.328.1–2 Τίς λίθος οὐκ ἐδάκρυσε σέθεν φθιμένοιο, Κάσανδρε; τίς πέτρος, ὃς τῆς σῆς λήσεται ἀγλαΐης; 7.468.3 [Mel.] ἦ γὰρ δὴ καὶ πέτρος ἀνέστενεν; 8.249.1–2 [Gr. Naz.] Οὔρεα καὶ πρῶνες …/κλαύσατε; Verg. Ecl. 10.15 Maenalus et … fleverunt saxa Lycaei; Ov. Met. 11.45–46 te rigidi silices/… flever-

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unt). Im Gegensatz zu der meist bloß anonymen Erwähnung trauernder Felsen oder Gebirge lässt Nonnos die auf dem nahen Sipylos-Gebirge in einen Felsen verwandelte Niobe um den verstorbenen Ampelos weinen (zum Niobe-Mythos s. K. 79–81a). Er variiert hierbei das traditionelle Element, dass Niobe auch in Felsgestalt ihre Kinder beweint, dahingehend, dass er sie nun »zweifache Tränen« (διπλόα δάκρυα) vergießen lässt: zum einen wegen des Verlusts ihrer Kinder, zum anderen aus Mitgefühl mit Dionysos (vgl. 15.374–375, wo Niobe für den verstorbenen Hymnos Tränen vergießt). Das Motiv ist vor allem aus der Beschreibung trauernder Flüsse bekannt, die mit ihren Tränen das Flussbett noch weiter anschwellen lassen (vgl. Ov. Met. 1.584 Inachus … fletibus auget aquas; 10.47–48 lacrimis quoque flumina dicunt/increvisse suis; Epiced. Drusi 225–226 [vom Tiber] uberibusque oculis lacrimarum flumina misit/vix capit adiectas alveus altus aquas). Hier steht die Erwähnung der Niobe, die doppelt so heftig weint, jedoch in Kontrast zu der Beschreibung der Flüsse, die ihren Wasserlauf ja gerade hemmen. 130 αἰνοτόκου Das Kompositum αἰνοτόκος (»zum Unglück gebärend«) ist vor Nonnos kaum belegt (Opp. H. 5.526 [von einer Delphinmutter, deren Junges getötet wird] μητρὶ … αἰνοτόκῳ; Mosch. 4.27 [von Megara] αἰνοτόκεια). Er bezeichnet damit Niobe auch in 2.162 αἰνοτόκοιο … Νύμφης (vgl. 48.428 Τανταλὶς αἰνοτόκεια). Zu den für den Stil des Nonnos typischen Komposita auf -τοκος s. K. 24 οἰνοτόκον … βότρυν. 133–137 Trauer der Bäume Im Rahmen von Beschreibungen trauernder Bäume treten diese meist als nicht näher bestimmtes Kollektiv auf (vgl. z.B. Mosch. 3.3 νῦν φυτά μοι μύρεσθε καὶ ἄλσεα νῦν γοάοισθε; AP 8.129.1 [Gr. Naz] ἄλσεα καὶ λαλαγεῦντες); gerne herausgegriffen wird jedoch die Eiche, die für ihre sprichwörtliche Härte bekannt war (vgl. z.B. Theoc. 7.74 ὡς δρύες αὐτὸν ἐθρήνευν; Bio 1.32 καὶ αἱ δρύες ‘αἲ τὸν ῎Αδωνιν’). Für seine Beschreibung zählt Nonnos drei verschiedene Baumarten auf, die aus Mitleid mit Dionysos trauern: die Pinie, den Lorbeer und den Ölbaum (vgl. Verg. Ecl. 10.13–15 illum etiam lauri, etiam fleuere myricae,/pinifer … Maenalus … fleuerunt). En passant wird dabei auch die Trauer der Winde (136 πενθαλέοις ἀνέμοις) genannt. Die Beschreibung der Pinie unterscheidet sich dabei im Hinblick auf den Grad der Personifizierung insofern, als nicht die Klage des Baumes selbst, sondern die von dessen Baumnymphe im Zentrum steht. Die Reihung der einzelnen Bäume hat die Form einer Klimax, die zwei Ebenen umfasst: (i.) Die Klage der Pinie ist insofern naheliegend, als sie als Baum des Dionysos in einem Naheverhältnis zu diesem Gott steht (s. K. 56–58). Die Trauer von Lorbeer und Ölbaum, die Pflanzen des Apoll bzw. der Athene sind, ist hingegen in dieser Hinsicht außergewöhnlich.

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(ii.) Die Klage der Pinie ist insofern normal, als Pinien auch sonst im Wind säuseln. Im Gegensatz dazu ist die Trauer der folgenden beiden intensiver, da ihr Verhalten wider ihre Natur ist: Obwohl sie immergrüne Pflanzen sind, verlieren sie ihre Blätter. 133 Πίτυς … συνέμπορος ἥλικι πεύκῃ Das Verständnis des Verses bereitet Schwierigkeiten. Es stellen sich im Wesentlichen drei Fragen: (i.) Handelt es sich bei πίτυς und πεύκη um ein und dieselbe Baumart oder um zwei verschiedene? (ii.) Warum wird betont, dass πίτυς und πεύκη gleich alt sind? (iii.) Inwiefern können πίτυς und πεύκη einander Begleiter sein? (ad i.) Wie in K. 56–58 diskutiert, können die Begriffe πίτυς und πεύκη in den Dionysiaka sowohl ein und denselben Baum, nämlich die Pinie, als auch unterschiedliche Pinienarten bezeichnen. Angesichts der paarweisen Erwähnung von πίτυς und πεύκη erscheint es mir naheliegend, dass hier – wie auch in 12.56–58 und 314–318 – von einem einzigen Baum die Rede ist. (ad ii.) Der eigentliche semantische Gehalt des Begriffs ἧλιξ (»gleichaltrig«) rückt in den Dionysiaka zwar allgemein etwas in den Hintergrund (vgl. Peek s.v.), der Hinweis auf das gleiche Alter von πίτυς und πεύκη bleibt jedoch auffällig. Im Fall von Bäumen dient der Begriff dabei fast ausnahmslos dazu, auf die Verbindung zwischen dem Baum selbst und der ihn bewohnenden Hamadryade hinzuweisen (22.117 ἥλικος ἀίσσουσα κατὰ δρυός; 48.519–520 ἥλικος αὐτομέλαθρος ὑπερκύψασα κορύμβου/ παρθένος ἀκρήδεμνος ῾Αμαδρυὰς … Νύμφη; 641 ἡμιφανὴς δ’ ἐδόνησεν ῾Αμαδρυὰς ἥλικα πεύκην; vgl. 2.94–95). Der Befund deutet also darauf hin, dass wir es in Vers 133 mit einer Hamadryade zu tun haben, die eine gleichaltrige Pinie bewohnt und um den verstorbenen Ampelos trauert (vgl. 44.12 ἡμιφανὴς ἐλίγαινεν ῾Αμαδρυὰς ὑψόθι δένδρου). Im Gegensatz zu den oben angeführten Stellen bleibt die Baumnymphe allerdings nicht anonym, sondern wird – bei Pitys handelt es sich ja um eine bekannte mythologische Figur (zum Pitys-Mythos s. K. 314–318) – namentlich genannt (vgl. 2.96 [von einer Hamadryade] ἐκ πίτυος δὲ φυγοῦσα … παρθένος). (ad iii.) Durch diese Deutung wird auch die Charakterisierung συνέμπορος besser verständlich. Anstelle eines einfachen σύν finden sich in den Dionysiaka häufig längere Komposita, darunter auch συνέμπορος. Üblicherweise bezieht sich dieses auf eine Bewegung (vgl. z.B. 172), hier allerdings auf eine statische Situation (vgl. 314 πίτυν ἀγχικέλευθον mit K. ad loc.). Die starke Betonung des Aspekts der Gemeinschaft lässt sich damit erklären, dass Pitys als Baumnymphe die ständige Gefährtin ihres Baums ist (vgl. 48.519–520 αὐτομέλαθρος … ῾Αμαδρυάς).

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134b–135 Das Bild vom Blattfall als Zeichen der Trauer von Bäumen ist geläufig (vgl. z.B. Ov. Met. 46–47 fleverunt silvae, positis te frondibus arbor/tonsa comas luxit) und beruht auf dem ebenfalls traditionellen Bild von den Blättern als den Haaren der Bäume (vgl. LSJ s.v. κόμη II). Nonnos steigert diese an sich schon paradoxe Vorstellung, indem er für seine Beschreibung immergrüne Bäume auswählt, die ihr Laub fallen lassen. Die paradoxen Züge werden durch den Gebrauch der Epitheta zusätzlich betont (ἀκερσικόμου; ἄτμητος). Auffallend ist die chiastische Struktur der Passage: Φοίβου δένδρον ἐοῦσα κόμην ἀπεσείσατο Δάφνη/… ἐλαίη/φύλλα χαμαὶ κατέχευε, καὶ εἰ φυτὸν ἦεν ᾿Αθήνης. 134 ἀκερσικόμου Ἀκερσεκόμης ist ein geläufiges Epitheton für Apoll (vgl. z.B. Hom. Il. 20.39 Φοῖβος ἀκερσεκόμης; h. Ap. Φοῖβος ἀκερσεκόμης; Pi. I. 1.7 ἀκερσεκόμαν Φοῖβον; Mesom. 2.6 Φοῖβος ἀκερσεκόμας) und bezieht sich auf dessen langes Haar als Zeichen seiner ewigen Jugend. Das Epitheton ist hier insofern pointiert verwendet, als es Apoll in Analogie zu dessen Attribut, dem Lorbeerbaum, setzt: Beide – sowohl Gott als auch Pflanze – behalten üblicherweise ihr »Haar« (zum pointierten Epitheta-Gebrauch s. E. Kap. 8.2.1.). 136 πενθαλέοις ἀνέμοις Die Trauer der Winde ist kein fester Bestandteil von Schilderungen der trauernden Natur und wird von Nonnos auch nur beiläufig erwähnt (vgl. AP 8.129.3–5 [Gr. Naz.] αὖραί … κλαύσατε). ἄτμητος ἐλαίη Als immergrüne Pflanze »schneidet« (scil. verliert) der Ölbaum sein »Haar« – zumindest für gewöhnlich – nicht (vgl. 10.205 ἄτμητον … χαίτην; weiters A. R. 2.708 ἄτμητοι ἔθειραι). 138–172 Eingreifen der Moiren Am Höhepunkt der Trauerschilderung erscheinen die Moiren und teilen Dionysos mit, dass sein Knabe in einen Weinstock verwandelt werden wird. Hatte Dionysos seine erste Klagerede mit dem Wunsch begonnen, die Moiren mögen das Schicksal des Ampelos rückgängig machen (11.255 Μοιράων πεσέτω φθονερὸν λίνον), so wird dieser nun Realität (φρικτὰ μετετρέψαντο παλίλλυτα νήματα Μοῖραι). Dionysos wird später in seiner an die Metamorphose des Ampelos anschließenden Rede ausführlich auf diese wundersame Wendung des Schicksals zu sprechen kommen (12.212–221). Das Motiv des Erweichens der Schicksals- und Unterweltsgötter ist recht geläufig und wird vor allem mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike verbunden (s. hierzu Vian 1995a, 67 Anm. 2). Das Eingreifen der Moiren im Fall des Ampelos ist aus handlungslogischer Sicht aber problematisch. So scheint Atropos durch ihre Formulierung ἀκαμπέα δ’ εὗρε τελέσσαι/σὸς γόος ἀτρέπτου παλινάγρετα νήματα Μοίρης zu implizieren, dass die Moiren aufgrund der heftigen Klagen des Dionysos aus Mitleid mit diesem das Schicksal des Ampelos rückgängig gemacht haben (vgl. Τοῖα πόθῳ στενάχοντος ἀδακρύτου Διονύσου/ φρικτὰ μετετρέψαντο παλίλλυτα νήματα Μοῖραι). Ihr Eingreifen und plötz-

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licher Auftritt im Anschluss an die Trauerschilderung wäre demnach als Reaktion auf die tiefe Trauer des Dionysos zu verstehen. Dies steht aber in eklatantem Widerspruch zur Tatsache, dass die Verwandlung des Ampelos auf den κύρβεις der Harmonia als von Anbeginn der Zeit vorherbestimmtes Ereignis dargestellt wird. Man kann freilich versuchen, diesen Verstoß gegen eine kohärente Handlungslogik mit der für die Dionysiaka charakteristischen Nonchalance gegenüber Widersprüchen zu erklären – wie es etwa beim ähnlich gelagerten Fall im Rahmen der Verse 212–216 möglich ist. Die inhaltliche Tragweite des handlungslogischen »Verstoßes« mahnt hier meines Erachtens aber zur Vorsicht. Es stellt sich nämlich die berechtigte Frage, ob Nonnos tatsächlich bereit gewesen wäre, eine an sich kohärente Handlungsmotivierung – einer paradoxen Pointe zuliebe – in so spürbarer Weise zu ruinieren. In Anbetracht der Argumente, die für eine sekundäre Integration des Horen-Intermezzos sprechen, scheint es mir plausibler zu sein, dass der Widerspruch letztlich der ausgebliebenen Harmonisierung der Ampelos-Handlung mit jener des Horen-Intermezzos geschuldet ist (so bereits Scheindler 1880, 36), wofür auch die seltsame Anbindung der Moiren-Passage mit Τοῖα … στενάχοντος (12.138) ein Indiz liefert (s. K. ad loc.). Die prominente Rolle der Atropos, die nur an dieser Stelle der Dionysiaka erwähnt wird, lässt sich durch ihren sprechenden Namen erklären, der die Unausweichlichkeit des Schicksals bezeichnet. Die Wahl von Atropos als Sprecherin der Moiren unterstreicht daher zusätzlich die paradoxe Situation, dass das unabänderliche Schicksal im Fall des Ampelos rückgängig gemacht wurde (139 μετετρέψαντο … νήματα Μοῖραι; 144–145 ἀκαμπέα … τελέσσαι/… ἀτρέπτου παλινάγρετα νήματα Μοίρης). Etwas sonderbar ist, dass Nonnos Atropos bereits das Wort ergreifen lässt, ohne die Ankunft auch der übrigen Moiren – die Anwesenheit aller drei Schwestern muss aufgrund von 172 [von Atropos] γνωτῇσι συνέμπορος ἔστιχε vorausgesetzt werden – zu erwähnen. 138 Τοῖα πόθῳ στενάχοντος ἀδακρύτου Διονύσου Der Vers ist aus zweierlei Hinsicht auffällig: Zum einen bildet er insofern einen wenig passenden Anschluss an den vorherigen Abschnitt, als das Bezugsobjekt von Τοῖα πόθῳ στενάχοντος von diesem durch nicht weniger als 14 Verse getrennt ist. In der Tat wurde Dionysos das letzte Mal in 12.123 erwähnt. Zum anderen verwendet Nonnos τοῖα fast ausschließlich als Verweis auf direkte Reden oder wörtlich wiedergegebene Inschriften (von 39 Belegen in den Dionysiaka finden sich nur folgende sieben Ausnahmen: 18.87; 19.219; 21.120; 25.413; 563; 26.245; 38.40). Der vorliegenden Stelle am nächsten kommt dabei 26.245–246, wo sich τοῖα μὲν ἑπταπόροιο φατίζεται εἵνεκα Νείλου,/᾿Ινδῴου ποταμοῖο φέρειν γένος auf die 9 Verse zurückliegende Erklärung zum Ursprung des Nils (zwischengeschaltet ist ein Exkurs über das Nilpferd) bezieht.

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Wenn man allerdings bedenkt, dass der Abschnitt 12.117b–137 im Zuge der Integration des Horen-Intermezzos neu- bzw. umgestaltet worden zu sein scheint (s. K. 117b–291), wäre es naheliegender anzunehmen, dass Τοῖα πόθῳ στενάχοντος noch ein Relikt aus einer älteren Version darstellt, in der der Auftritt der Moiren unmittelbar auf das heftige Klagen des Dionysos folgte (vgl. Keydell 1932, 180–181). ἀδακρύτου Διονύσου Das Vergießen von Tränen entspricht nicht Dionysos’ göttlichem Wesen (vgl. hierzu allgemein Agosti 2004 ad 29.99). Das Epitheton ἀδάκρυτος steht in einem paradoxen Kontrast zu στενάχοντος und bildet eine von Nonnos beliebte Pointe (vgl. 11.208 στενάχοντος ἀδακρύτου Διονύσου; 12.167 πένθος … ἀπενθήτῳ Διονύσῳ; 29.99 [von Dionysos] ὄμμασιν ἀκλαύτοισιν ἐπικλαύσας ῾Υμεναίῳ; weiters z.B. 11.279; 12.246; 30.116; 32.299). Das Motiv der Tränen des Dionysos wird am Ende der Atropos-Rede wiederaufgenommen (12.170). 139 παλίλλυτα Wie bei der Verwendung von Komposita auf παλιν- durchaus häufiger Fall (s. K. 129), wird παλίλλυτος hier proleptisch verwendet: Die παλίλλυτα νήματα sind nämlich das Produkt der durch μετατρέπειν beschriebenen Tätigkeit. Das Adjektiv ist vor Nonnos nicht belegt, die starke Verwendung von Kompositabildungen mit dem Präfix παλιν- ist für den Stil der Dionysiaka aber durchaus typisch (vgl. die seltenen Formen παλιγγενής; παλίμπνοος; παλίμπορος; παλιμφυής; παλιναυξής; παλινδίνητος; παλίννοστος; παλινόστιμος; παλίνσοος). 140–171 Rede der Atropos Atropos tröstet in ihrer Rede Dionysos (γόον ἀχνυμένοιο παραιφαμένη), indem sie ihn über die anstehende Verwandlung des Ampelos informiert und ihm die Großartigkeit seines neuen Attributs vor Augen stellt. Trotz des expliziten Verweises auf die tröstende Funktion von Atropos’ Worten finden sich in der Wahl der Topoi diesbezüglich keine klaren Anhaltspunkte zum rhetorischen Genre des ἐπιτάφιος oder παραμυθητικός λόγος – vom recht allgemeinen Hinweis auf das Weiterleben nach dem Tod einmal abgesehen (vgl. Men. Rh. p. 414.16–19 bzw. 421.14–17 Spengel; zur antiken Konsolationstopik s. Esteve-Forriol 1962, 147–153). In ihrer inhaltlichen Ausrichtung ist Atropos’ Rede vielmehr mit jenen Äußerungen des Apoll und der Venus in Ovids Metamorphosen vergleichbar, mit denen diese die Verwandlung ihrer Lieblinge in Pflanzen kommentieren. Wie auch Atropos thematisieren sie sowohl die bevorstehende Metamorphose selbst als auch die künftigen Geschehnisse, die von dieser ausgehen. Die erwähnten Ereignisse bilden in der Regel Aitien (vgl. 1.557–565 [Daphne]; 10.141–142 [Cyparissus]; 203–208 [Hyacinthus]; 724–731 [Adonis]). Während Apoll und Venus die Verwandlung selbst vornehmen und auch über den zukünftigen Lauf der Ereignisse Bescheid wissen, muss die bevorstehende Verwandlung des Ampelos

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dem Dionysos (der zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht den Status eines vollwertigen Gottes besitzt) erst von der Schicksalsgöttin Atropos mitgeteilt werden. Dionysos selbst kann in seiner Rede im Anschluss an die Metamorphose des Ampelos dann auch nur seine persönlichen Erfahrungen und Eindrücke in Bezug auf die neue Pflanze wiedergeben. Was die Worte der Atropos von den oben erwähnten Reden unterscheidet, ist freilich ihr ausgeprägter enkomiastischer Grundtenor (s. hierzu E. Kap. 8.1.2.). Die Rede der Atropos gliedert sich in vier Teile: Naheliegenderweise teilt die Schicksalsgöttin Dionysos zunächst die bevorstehende Metamorphose seines Knaben mit (142–146). Im Anschluss daran wird amplifizierend das Weiterleben des Ampelos durch Gesang (147–153) sowie als künftiges Attribut des Dionysos (154–166) gepriesen. Die Göttin schließt mit einem Ausblick auf die Freude, die sich aus der Verwandlung des Ampelos für die gesamte Welt ergibt (167–171). Der zweite und dritte Abschnitt, in denen die Rede ein starkes Eigenleben entwickelt, wird dabei in gewisser Weise vom ersten und vierten Abschnitt gerahmt, die – jeweils fünf Verse umfassend und durch Apostrophen eingeleitet – den Fokus vermehrt auf die aktuelle Situation und den Tod des Ampelos richten. Die Worte der Atropos stehen dabei in einem kontrastiven Spannungsverhältnis zur ersten Klagerede des Dionysos, auf welche sie offensichtlich antwortet (s. 152b–153 und 154–166 mit K. ad loc.). 141 ῎Ατροπος ἐμπεδόμυθος Das Epitheton ἐμπεδόμυθος (»Unabänderliches sagend«) »erklärt« gleichsam den sprechenden Namen der Atropos (vgl. 12.144 ἀτρέπτου … Μοίρης; Arist. Mu. 401b.18–19 Ἄτροπος, ἐπεὶ τὰ παρελθόντα πάντα ἄτρεπτά ἐστι; Luc. Hist. Cons. 38.34–39.1 ἀλλ’ οἶμαι τὰ μὲν πραχθέντα οὐδὲ Κλωθὼ ἂν ἔτι ἀνακλώσειεν οὐδὲ Ἄτροπος μετατρέψειε; allgemein zu etymologischen »Erklärungen« s. E. Kap. 8.2.4.). ἀνήρυγεν ἔνθεον ὀμφήν Nonnos variiert hier die von ihm entwickelte Formel ἀνήρυγεν … φωνήν (vgl. 7.225 ἀνήρυγε θαύματι φωνήν; 21.240 ἀνήρυγε λυσσάδα φωνήν; 23.225 καὶ ποταμῷ Διόνυσος ἀνήρυγε θυιάδα φωνήν; 35.36 τοίην ἱμερόεσσαν ἀνήρυγεν ἄφρονα φωνήν; 37.319 κικλήσκων ταχύμυθον ἀνήρυγεν ᾿Ατθίδα φωνήν; weiters Met. 6.142 ἀνήρυγε χείλεσι φωνήν; 7.99 ἐρεύγεται ἠθάδα φωνήν; 11.57 ἀνήρυγε πενθάδα φωνήν; D’Ippolito 2003, 508; allgemein zum nonnianischen Formelsystem E. Kap. 8.2.1.). 142–146 Ankündigung der Metamorphose des Ampelos Die Mitteilung der anstehenden Verwandlung des Ampelos (vgl. Ov. Met. 10.206 flosque novus scripto gemitus imitabere nostros; 728 at cruor in florem mutabitur) wird mit paradoxen Formulierungen angereichert: (i.) Das unabänderliche Schicksal wurde im Fall des Ampelos rückgängig gemacht (143–144; vgl. 138–139); (ii.) Ampelos lebt, obwohl er gestorben ist (145).

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145 ῎Αμπελος οὐ τέθνηκε, καὶ εἰ θάνεν Es ist sehr wahrscheinlich, dass Nonnos hier insbesondere von Eu. Io. 11.25 ὁ πιστεύων εἰς ἐμὲ κἂν ἀποθάνῃ ζήσεται (≈ Met. 11.85–86 καὶ εἰ νέκυς ἄπνοος εἴη,/αὖτις ἀναζήσειε) inspiriert wurde (vgl. 12.219 Ζώεις δ’ έτι, κοῦρε, καὶ εἰ θάνες; 19.180 ζώοντι καὶ οὐ πνείοντι; zu den christlichen Anklängen allgemein s. K. 117b–291). Vergleichbare paradoxe Ausdruckweisen für den Gedanken, dass jemand auch nach seinem Tod in einer gewissen Form weiterlebt, sind aber freilich auch in der paganen Literatur nicht ungeläufig (vgl. A. Ch. 504 οὕτω γὰρ οὐ τέθνηκας οὐδέ περ θανών mit Groeneboom 1949 ad loc.); AP 7.251.3 [Simon.] οὐδὲ τεθνᾶσι θανόντες). 147–153 Weiterleben des Ampelos in Form von Gesang Der Abschnitt behandelt den Gedanken, dass Ampelos Dionysos auch zukünftig durch dessen Verehrung in Form von Liedern nahe sein wird (vgl. Ov. Met. 10.203–205 [von Apoll gesprochen] quod quoniam fatali lege tenemur,/semper eris mecum memorique haerebis in ore./te lyra pulsa manu, te carmina nostra sonabunt), und gliedert sich, – durch die Partikeln μέν/δέ klar gekennzeichnet – in zwei Teile: (i.) Im ersten Teil thematisiert Atropos das Weiterleben des Ampelos durch Gesang im Rahmen von Dionysos’ nahen Bereichen, nämlich dem Symposion und dem Dionysos-Kult (147–152a; vgl. Ov. Met. 10. 725–727 [von Venus gesprochen] luctus monimenta manebunt/semper, Adoni, mei, repetitaque mortis imago/annua plangoris peraget simulamina nostri). Auch wenn sich Τὸν μέν (147) grammatikalisch auf den κοῦρος Ampelos bezieht, dürften die folgenden Verse 147–152a wohl nicht – pace D’Ippolito 1962, 13–14 – so zu verstehen sein, dass die mythologische Person gepriesen werden wird (s. K. 150–152a). In der Tat scheint der Ampelos-Mythos in der Antike kaum eine Rolle gespielt zu haben, weshalb man das erwähnte Lob wohl auf die durch Ampelos verkörperte Rebe und in der Folge auf den Wein beziehen muss (146 εἰς ποτόν, εἰς γλυκὺ νέκταρ). (ii.) Im zweiten Teil verweist Atropos darauf, dass Dionysos weiterhin durch den Gesang der Musen mit seinem ehemaligen Jüngling vereint sein wird. Auffallend an der Gestaltung der Passage ist der starke Hang zur lexikalischen Variation bei der Verwendung von Begriffen aus dem Bereich der Musik (vgl. ἁρμονίην, ῥυθμόν, μολπήν, ἠχώ; ὑμνήσει, ἀείσει, Ἀνευάξουσι; αὐλός, καλάμου), welcher sich aber auf Kosten der terminologischen Präzision auswirkt (ἁρμονία, ῥυθμός, Φρύγξ, Δωρίς; zur approximativen Begriffsverwendung in den Dionysiaka s. E. Kap. 8.2.2.; für den Bereich der Musiktheorie im Speziellen Fayant 2001, 79). 147–149 Wein als Bestandteil des Symposions Die Verse beziehen sich auf ein Symposion (δόρπιον ἁρμονίην), bei dem meist eine berufsmäßige weibliche Aulos-Spielerin für Unterhaltung sorgte (Neubecker 1977, 68). Die Sammlung der Anacreontea gibt ein eindrückliches Bild von den Trinkliedern, die bei derartigen Gelegenheiten gesungen wurden und in denen der Wein naturgemäß häufig Erwähnung fand (vgl. v.a. Anacreont. 38; 45; 48; 50 West).

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147 ἐυτροχάλου παλάμης βητάρμονι παλμῷ Der Fokus der Beschreibung liegt auf der Bewegung der Finger (vgl. 19.76–77 [vom Spiel der Phorminx] ἐλέλιζον ἐθήμονι δάκτυλα παλμῷ/ἐκταδίης θλίβοντες ἀμοιβαίην στίχα νευρῆς). Das Spiel des Aulos, das eigentlich zum Tanz auffordert (vgl. 3.66–67 δίκτυπος αὐλὸς … ὀρχηστῆρας ἐπείγων/σύνθροον ἐσμαράγησε μέλος βητάρμονι παλμῷ), wird hier selbst als tänzerisches Spiel der Finger beschrieben (zum Tanz als Leitmetapher in den Dionysiaka vgl. z.B. 6.148–149 [vom Spinnen] ἄτρακτος ἕλιξ βητάρμονι παλμῷ/… ἐχόρευε; 36.297 [von aufsteigendem Rauch] βητάρμονι καπνῷ; 39.337 [von einem tödlich getroffenen Delphin] ἡμιθανὴς σκίρτησε χορίτιδος ἅλματι Μοίρης; zum Tanz als Metapher für Kampf Gigli Piccardi 1985, 131–133). Die tänzerische Bewegung wird durch die π-Alliterationen (παλάμης βητάρμονι παλμῷ) auch lautlich hörbar (vgl. 18.140 [vom tanzenden Staphylos] σκίρτησε ποδῶν βητάρμονι παλμῷ; 45.275 [von einer tanzenden Bakchantin] δινηθεῖσα ποδῶν βητάρμονι παλμῷ). 148 διδυμόθροος Das Kompositum, das nur bei Nonnos bezeugt ist, fungiert in den Dionysiaka als epitheton ornans für das Instrument des Aulos (10.234; 335; 17.70; 43.345; vgl. Hom. Od. 19.277 αὐλοῖσιν διδύμοισι). Es dürfte sich hier wohl um eine Neuprägung auf Basis des homerischen ἀλλόθροος handeln; Komposita auf -θροος sind für den nonnianischen Stil allgemein typisch (vgl. δίθροος; ἑτερόθροος; ἰσόθροος; λιπόθροος; ὁμόθροος; χαλκόθροος). 149 Φρύγα ῥυθμὸν ἔχων ἢ Δωρίδα μολπήν Der genaue Sinn dieses Versteils ist nicht eindeutig bestimmbar. Es ist jedenfalls davon auszugehen, dass mit Φρύγξ und Δώρις die gleichnamigen musikalischen Modi gemeint sind (vgl. 27.227 Φρύγα ῥυθμόν; 306; 25.21 Δώριος ἠχώ; zu den Modi in der antiken Musiktheorie s. West 1992, 160–189). Der phrygische Modus, der vor allem mit dem Aulos-Spiel verbunden wurde, konnte eine Reihe von Stimmungen von Freude bis hin zu wilder Erregtheit ausdrücken, der dorische wiederum wurde als männlich und würdevoll angesehen. Angesichts der unscharfen Begrifflichkeit in den Dionysiaka, die sich gerade im Bereich der Musik besonders deutlich zeigt (s. E. Kap. 8.2.2.), ist aber nicht zu erwarten, dass die Bezeichnungen hier terminologisch sensu stricto verwendet werden. In der Tat passen weder der phrygische noch der dorische Modus zum symposialen Kontext, für welchen der lydische Modus üblich war. Daher muss man hier »phrygisch« und »dorisch« wohl allgemeiner als Überbegriffe für einen eher ekstatisch-effeminierten bzw. für einen eher männlich-würdevollen Musikstil deuten (vgl. Arist. Pol. 1290a sowie das Sprichwort ἀπὸ Δωρίου ἐπὶ Φρύγιον). Der Hinweis auf die beiden Musikstile soll daher wohl zum Ausdruck bringen, dass der Wein gleichsam in allen musikalischen Registern gepriesen werden wird (vgl. Vian 1995a ad 12.147–153; Fayant 2001, 78). Vergleichbar scheint Nonnos auch mit dem musiktheoretischen Gegensatzpaar ἄρσην/θῆλυς zu verfahren (vgl. 1.506 [von den Musen]

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θῆλυ μέλος πλέξωσιν ὁμόθροον ἄρσενι μολπῇ; 19.78–79; 40.224; Gonnelli 2003 ad 19.73–79). 150–152a Wein als Bestandteil des Dionysos-Kultes Die Bedeutung dieser Verse ist unklar. Der Grund hierfür liegt im weiten Bedeutungsspektrum von θυμέλη, das Nonnos nur an dieser Stelle verwendet. So kann der Begriff grundsätzlich für jede Art von Opferplatz stehen, er wird aber insbesondere zur Bezeichnung des Altars des Dionysos in der Theaterorchestra verwendet, weshalb er auch als Bezeichnung für die Bühne, für die Orchestra oder für die auf diesen stattfinden Vorführungen verwendet werden kann (vgl. LSJ s.v.). Keine Pro­ bleme bereiten hingegen die erwähnten Ortsbezeichnungen, die für die Städte Theben (Ἀόνιος; Ἰσμήνιος) und Athen (Μαραθών) stehen. Vian 1995a und Gigli Piccardi 2003 verweisen bei der vorliegenden Beschreibung auf Theateraufführungen und thymelische Agone. D’Ippolito 1962, 13–14 geht sogar so weit, dass er aus dem Wortlaut der Verse auf Mimen-Aufführungen des Mythos von Ampelos schließt. Die Erklärungsversuche weisen aber insofern eine Schwäche auf, als sie sich nicht wirklich mit der starken Betonung von Wein (150 μιν [scil. ποτόν bzw. γλυκὺ νέκταρ]) und Aulos-Spiel (151 καλάμοιο) im Text vereinen lassen. Es erscheint mir daher plausibler, die Wahl von Theben und Athen nicht auf deren Berühmtheit in künstlerischen Belangen zu beziehen, sondern vielmehr auf die Tatsache, dass es sich hierbei um die zwei wichtigsten Zentren des Dionysos-Kultes in Griechenland handelt (vgl. 27.304–307; 48.958–968; RE 5.1, 1014–1024 s.v. Dionysos). In diesem nimmt das Aulos-Spiel naturgemäß eine ebenso zentrale Stellung ein wie der Lobpreis des Weins, der ein wiederkehrendes Motiv der Dithyramben-Dichtung bildet (Zimmermann 2008, 126–129). 151 καλάμοιο Die Bezeichnung des Aulos als κάλαμος dürfte Nonnos’ Wille zur lexikalischen variatio geschuldet sein. In der Tat konnten Auloi – wie Nonnos selbst erwähnt (25.35 δόνακας …, ὅθεν … Μυγδόνες αὐλοί) – aus Schilfrohr gefertigt werden (s. West 1992, 86). 152b–153 ἀμπελόεντι Λυαίῳ Die Formulierung könnte einen bewussten Rekurs auf Dionysos’ Wunsch darstellen, den er in seiner zweiten Klagerede geäußert hat (sofern diese wirklich für die finale Publikation gedacht war [s. hierzu E. Kap. 5]), nämlich dass er – wie Apoll – als Trost den Namen seines verstorbenen Jünglings als Beinamen tragen könne (vgl. 11.329–330 αἴθε καὶ αὐτός/εἴην ᾿Αμπελόεις, ῾Υακίνθιος ὥς περ ᾿Απόλλων). 154–166 Die Rebe als zukünftiges Attribut des Dionysos Atropos prophezeit Dionysos, dass er künftig sein Haupt mit dem Laub der Reben bekränzen wird können; vergleichbar hiermit ist Apolls Versprechen an Daphne, sein

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Haar künftig mit dem Laub ihres Lorbeers zu schmücken (Ov. Met. 1.558–559 semper habebunt/te coma). Bisher konnte Dionysos sein Haupt nur mit Schlangen zieren (vgl. 7.102 [von Dionysos] ἔχων ὀφιώδεα μίτρην; 9.14–15 [von den Horen] εὐκεράων σκολιῇσιν ὑπὸ σπείρῃσι δρακόντων/ταυροφυῆ Διόνυσον ἐμιτρώσαντο κεράστην; 129 [von Dionysos’ Amme Mystis] ἐχιδνήεντα κατὰ χροὸς ἧψεν ἱμάντα; 11.58–59 [von Ampelos] πλοκάμους μίτρωσεν ἐχιδνήεντι κορύμβῳ/φρικτὸν ἔχων μίμημα δρακοντοκόμοιο Λυαίου; zum Schlangenkranz des Dionysos und der Mänaden allgemein E. Ba. 101–104 [von Zeus, der Dionysos bekränzt] στεφάνωσέν τε δρακόντων/στεφάνοις, ἔνθεν ἄγραν θηρότροφον μαι-/νάδες ἀμφιβάλλονται πλοκάμοις mit Kommentar von Seaford 1996 ad loc.). Diese Ankündigung wird durch eine σύγκρισις mit Apolls Hyazinthe (ὑάκινθος) amplifiziert, die dem Lobpreis der Rebe dient. Die Wahl der Hyazinthe als Vergleichspunkt ist dabei insofern von Bedeutung, als die Gegenüberstellung von Ampelos und Hyakinthos die Ampelos-Episode gleichsam leitmotivisch durchzieht (vgl. 10.250–255; 11.259–263; 11.328–330; 363–365; 12.207–209; 224–226; 247–252; Kröll 2016, 74–79). Der Abschnitt korrespondiert dabei insbesondere mit dem in Dionysos’ erster Klagerede geäußerten Wunsch, er möge wie Apoll eine nach dem Geliebten benannte Pflanze besitzen (vgl. 11.259–263 [von Apoll] Θεραπναίου δὲ καὶ αὐτοῦ/φάρμακον ἡβητῆρος ἐπώνυμον ἄνθος ἀείρει,/αἴλινον ἐν πετάλοισιν ἐπιγράψας ὑακίνθου/ποῖον ἔχω πλοκάμοις καὶ ἐγὼ στέφος, ἢ τίνα πάλλω/ἄνθεα φωνήεντα, παρήγορα παιδὸς ἀνίης). Den Worten der Schicksalsgöttin zufolge wird Dionysos aber nicht nur wie Apoll ein solches Attribut besitzen, sondern seines wird jenem des Apoll sogar überlegen sein. Die Überlegenheit wird von Atropos dabei anhand von zwei Aspekten näher ausgeführt. Diese betreffen zum einen die Überlegenheit in Hinblick auf pflanzliche Eigenschaften und zum anderen – etwas überraschend – in Hinblick auf die jeweilige Herkunft der beiden Knaben Hyakinthos und Ampelos. 156–159a Überlegenheit der Rebe gegenüber der Hyazinthe Seit dem Hellenismus ist die Vorstellung belegt, dass auf den Blütenblättern der Hyazinthe der Klagelaut AIAI zu erkennen sei (Theoc. 10.28 γραπτὰ ὑάκινθος; Mosch. 3.6–7 νῦν ὑάκινθε λάλει τὰ σὰ γράμματα καὶ πλέον αἰαῖ/λάμβανε τοῖς πετάλοισι; Nic. Th. 902 πολυθρήνου ὑακίνθου; Fr. 74.31–32 ὑακίνθῳ/αἰαστῇ; Ov. Met. 10.206 scripto gemitus imitabere mit Kommentar von Bömer ad loc.). Angesichts dieser Affinität der Hyazinthe zur Trauer – auf welche Nonnos auch sonst häufig anspielt (vgl. 3.153–154; 162–163; 11.261; 12.224–225; 247–249; 19.187–188; 33.133) – ist sie der Rebe insofern unterlegen, als der Wein der Rebe ja gerade die Trauer vertreibt (zur Gegenüberstellung der beiden Pflanzen vgl. 12.224–226; 245–247). Der Gedanke, dass der Wein die Menschen von ihren Sorgen erlöst, wird am Ende der Rede wiederholt (167–171).

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156 χειρὶ τιταίνει Die Wendung χειρὶ τιταίνει/ων bzw. χεῖρα τιταίνων ist eine sehr gängige Klausel in den Dionysiaka (z.B. 6.102; 7.27; 8.371; 10.155; 11.121; vgl. Hom Il. 13.534 χεῖρε τιτήνας; Opp. H. 5.637 χειρὶ τιταίνει). Im Fall von χειρὶ τιταίνει/ων ist der Aspekt des Ausstreckens teilweise verblasst (vgl. 8.371; 12.396; weiters 24.298; 42.252). 157 αἴλινα δενδρήεντα φιλοκλαύτων ὑακίνθων Die Klagelaute, die sich als Muster auf den Blütenblättern der Hyazinthen befinden, werden in den Dionysiaka gerne als αἴλινα bezeichnet (3.163 [von Apoll] αἴλινον … ἐπιγράψας ὑακίνθῳ; 11.261 [idem] αἴλινον ἐν πετάλοισιν ἐπιγράψας ὑακίνθου; 12.225 [von Physis] αἴλινον ἀκλαύτοισι τεοῖς ἐχάραξε πετήλοις; 247 αἴλινα … πετάλοισι χαράσσεται). Nonnos geht hier noch einen Schritt weiter und umschreibt die Pflanze selbst als αἴλινα δενδρήεντα. Derartige Junkturen, die auf der paradoxen Verbindung von Materiellem und Immateriellem basieren, sind für den Stil des Nonnos durchaus typisch (vgl. z.B. 21. 149 δενδρήεντος … κυδοιμοῦ; 39.129 πετραίης … φωνῆς; 43.288 ὑδατόεν μύκημα). Diese Periphrase steht allerdings in einem gewissen Spannungsverhältnis zu χειρὶ τιταίνει, das das Halten eines materiellen Objektes impliziert. φιλόκλαυτος Es handelt sich hierbei um ein nonnianisches epitheton ornans für die Blätter der Hyazinthe (3.154; 19.188). Zu Nonnos’ Vorliebe für Komposita mit dem Präfix φιλ(ο)- s. K. 41. 158 βροτέης ἄμπαυμα γενέθλης Der Gedanke, dass der Wein die Sorgen der Menschen zu vertreiben vermag, ist ein gängiger Topos (vgl. v.a. E. Ba. 280–283 παύει τοὺς ταλαιπώρους βροτοὺς/λύπης ὅταν πλησθῶσιν ἀμπέλου ῥοῆς/ὕπνον τε λήθην τῶν καθ’ ἡμέραν κακῶν/δίδωσιν, οὐδ’ ἔστ’ ἄλλο φάρμακον πόνων; Della Bianca/Beta 2002, 43–52) und durchzieht die Dionysiaka leitmotivisch (7.13 ἀνδρομέης ἄμπαυμα μεληδόνος; 7.76 ἄλκαρ ἀνίης; 12.271 [von einem betrübten Mann] ἀποσείσεται ὄγκον ἀνίης; 17.74 ὅλης ἄμπαυμα μερίμνης; 19.18 ἰκμάδα λυσιμέριμνον ἀλεξικάκου πόρεν οἴνου; 19.26 δάκρυον ἐπρήυνα ποτῷ παιήονος οἴνου; 25.283 λυσιπόνοιο μέθης; 369 οἴνου λυσιπόνοιο; 47.132 βροτέης ἄμπαυμα μερίμνης; 47.55 βότρυες ἀνδρομέης παιήονές εἰσιν ἀνίης; Shorrock 2001, 111–112). Auf der Handlungsebene zeigt sich die sorgenlösende Wirkung des Weins besonders im 19. Buch, wo es Dionysos gelingt, die Trauer der Methe und des Botrys über den Tod des verstorbenen Staphylos zu vertreiben (19.17–21; vgl. 46.356–360 [vom Stillen der Trauer der Autonoe und der Agaue]). 159 νέκταρος οὐρανίου χθόνιον τύπον Die Umschreibung des Weins als Nektar ist traditionell (vgl. Call. Fr. 399 Peiffer Λεσβίης … νέκταρ οἰνάνθης; Nic. Al. 44). In preisenden Kontexten wird von Nonnos auf die Parallele zwischen dem Nektar der Götter und dem Wein der Menschen gerne explizit verwiesen (vgl. 7.77–78 [von Zeus gesprochen] γλυκὺν οἶνον ἐοικότα νέκταρι δώσω/ἄλλο ποτὸν

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μερόπεσσιν ἐφάρμενον; 17.76 [vom Wein] νέκταρος οὐρανίου χθόνιον τύπον; 48.976–977 μετὰ προτέρην χύσιν οἴνου/οὐράνιον πίε νέκταρ ἀρειοτέροισι κυπέλλοις; weiters 7.134–135). 159b–166 Überlegenheit Phrygiens gegenüber Sparta Der Abschnitt bildet eine σύγκρισις zwischen Ampelos und Hyakinthos, basierend auf deren πατρίς (zu diesem enkomiastischen Topos vgl. Pernot 1993, 202–203). Atropos streicht dabei die Überlegenheit der phrygischen Heimat des Ampelos gegenüber jener des Hyakinthos hervor, dessen Kult in Amyklai bei Sparta gefeiert wurde (vgl. 160 παιδὸς ᾿Αμυκλαίοιο; weiters 4.134 Θεραπναίης ὑακίνθου; 11.363 Λάκων νέος). Als Vergleichspunkte dienen zwei Aspekte aus dem Bereich der φύσις τῆς χώρας (Men. Rh. p. 344.31 Spengel), nämlich (i.) Vorkommen an Bodenschätzen (161–164) und (ii.) Flüsse (165–166), wobei in beiden Fällen als Argument für die Überlegenheit Phrygiens der Goldreichtum des Paktolos angeführt wird (s. hierzu K. 126b–128a). Beide Abschnitte werden durch εἰ – εἰ koordiniert (vgl. v.a. 10.222–243; 11.335–349): (ad i.) Durch den Goldreichtum des Paktolos ist Phrygien der Heimat des Hyakinthos, die nur Eisen vorzuweisen hat, überlegen. Die Verbindung von Sparta mit dem Metall Eisen (χαλκόν; σιδήρῳ) dürfte sich dabei nicht nur auf den kriegerischen Ruf dieses Volkes beziehen (μαχήμονα), sondern hauptsächlich auf die Tatsache, dass Sparta weder über Gold- noch Silbervorkommen, dafür aber über bedeutende Lager an Eisenerz verfügte, das in Gruben am Taygetos-Gebirge gefördert wurde (RE Suppl. 4, 118 s.v. Bergbau). Zudem war Sparta dafür bekannt, dass dort der Privatbesitz von Gold und Silber verboten war und nur Münzen aus hauseigenem Eisen als Zahlungsmittel verwendet werden durften, eine Praxis, die sich bis ins vierte Jh. v. Chr. hielt (vgl. Busolt/Bauer/ Müller 1887, 78–79). (ad ii.) Als Fluss, der Goldsand führt, übertrifft der Paktolos auch den lakonischen Fluss Eurotas, der keine besonderen Eigenschaften besitzt und den Nonnos auch nur an dieser Stelle erwähnt (zu Gewässern als enkomiastischer Topos [des Städtelobs] vgl. Men. Rh. p. 349.25–30 Spengel). Ein ähnliches Argumentationsmuster findet sich in 27.38–39: Als Beweis für die Überlegenheit Indiens stellt Deriades dort den goldführendenden Ganges (χρυσαυγέα Γάγγην) dem »nur« silberführenden Fluss Geudis gegenüber (ἀργυρέου ποταμοῖο …χεύματα). 159–160 Ἀνθεμόεν … εὖχος Die Bedeutung von ἀνθεμόεις »blumig« oder »mit Blumen verziert« (vgl. LSJ s.v.) wird hier insofern gedehnt, als der Ruhm des Hyakinthos »auf einer Blume beruht« und damit eine kausal-logische Folge bildet (vgl. 25.531 [von der Erweckung zum Leben dank eines Zauberkrautes] ζωὴν ἀνθεμόεσσαν).

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161 μαχήμονα χαλκὸν Das Adjektiv μαχήμων ist ein homerisches hapax. In 12.247 wirft Hektor dem Polydamas vor, ein unkriegerisches Wesen zu besitzen, und richtet an ihn die Worte οὐ γάρ τοι κραδίη μενεδήϊος οὐδὲ μαχήμων. Die Bedeutung von μαχήμων »zum Krieg geeignet«/»kriegerisch« wurde in der Antike nicht kontrovers erklärt (vgl. LFE s.v.). Während Nonnos in einigen Fällen durchaus die philologischen Diskussionen um den homerischen Text und dessen Deutung reflektiert (vgl. 12.306 und allgemein Hopkinson 1994b, 15–16), scheint sich sein Interesse an μαχήμων, das er in den Dionysiaka auch 26 weitere Male verwendet, aber nur auf den Seltenheitswert dieses hapax, das ansonsten nur noch bei Christodoros (AP 2.1.214 μαχήμονος … Ἐνυοῦς) und Agathias (AP 4.3.68 [von Kolchis] μαχήμονα βῶλον) bezeugt ist, zu beziehen. Die Metallbezeichnung χαλκόν ist hier als Synonym für σίδηρος aufzufassen (vgl. 2.604 χαλκῷ σφίγξον ῎Αρηα κυβερνητῆρα σιδήρου; 16.160/162 σιδηρείῃσιν ἀλυκτοπέδῃσι/χαλκείοις κεράμοισι; zu solchen lexikalischen Ungenauigkeiten s. allgemein E. Kap. 8.2.2.). 162 φεραυγέα Mit dem Epitheton kennzeichnet Nonnos auch den Po, der aufgrund seines Bernsteinreichtums glitzert (42.420 δῶρα διαστίλβοντα φεραυγέος ᾿Ηριδανοῖο). Zu Nonnos’ Vorliebe für Komposita auf φερ(ε)- s. K. 6. 163 ὄλβον Der überlieferte Wortlaut ὄμβρον ἐέρσης ist problematisch: Nonnos verwendet die Junktur zwar drei weitere Male, zweimal vom Goldregen der Danae (16.68 ἀφνειῆς προχέων φιλοτήσιον ὄμβρον ἐέρσης; 25.115 κυδαίνων γαμίης φιλοπάρθενον ὄμβρον ἐέρσης) und einmal von einer in die Höhe sprudelnden Weinquelle (41.125–126 ὄμβρον ἐέρσης/ἀργεννὴ κελάρυζε … χύσις). Während das Bild des Regens in diesen Fällen aber als durchaus passend erscheint, wirkt es als Umschreibung eines horizontal verlaufenden Stroms einigermaßen deplatziert. Da die vorliegende Verwendung von ὄμβρος auch ansonsten dem metaphorischen Gebrauch des Begriffs – mag dieser auch bisweilen recht frei sein (vgl. z.B. 16.365 [von Tränen] πολύδακρυν ἀνέβλυσεν ὄμβρον ὀπωπῆς; 13.266 [vom intensiven Trinken des Weins] ὄμβρῳ ἐυρραθάμιγγι … ἐέρσης) – entgegenläuft, ist wohl anzunehmen, dass eine Korruptele vorliegt. Vian 1995a hat die von Keydell 1959 unter Berufung auf 15.17 προχέων ποταμηίδος ὄγκον ἐέρσης (vgl. 12.301; 19.162) vorgeschlagene Konjektur ὄγκον in seinen Text aufgenommen und damit für eine sichtliche inhaltliche Verbesserung beigetragen. Meines Erachtens ließe sich jedoch ὄλβον überzeugender als Verschreibung von ὄμβρον erklären: (i.) Diese lässt sich paläographisch leicht aufgrund der Ähnlichkeit der Buchstaben Λ und M in Majuskelschriften (für Majuskelfehlern in den Dionysiaka s. Vian 1976, LXV–LXVI) bzw. λ und μ in frühen Minuskelschriften erklären (vgl. die Schriftproben bei Gardthausen 1913 Taf. 5 und 6).

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(ii.) Verglichen mit ὄγκον erweist sich ὄλβον als inhaltlich passendere Bezeichnung für einen goldführenden Fluss und entspricht Nonnos’ Hang, den Reichtum des Paktolos bei der Beschreibung dieses Flusses auch explizit zu nennen (vgl. 22.149 φαιδρὸς ἐρευθομένης ἀμαρύσσεται ὄλβος ἐέρσης; 13.473 ξανθὸς ἀποπτύων ἀμαρύσσεται ὄλβος ἐέρσης; 34.213 Λυδῶν ἄσπετον ὄλβον, ὅσον Πακτωλὸς ἀέξει; 10.163 ὄλβον ἐυψήφιδα … ποταμοῖο; für weitere Flüsse 11.308; 42.421; 494). 165 ποταμοῦ κελάδοντος Das Partizip κελάδων ist ein traditionelles episches epitheton ornans für einen Fluss (vgl. Hom. Il. 18.576 πὰρ ποταμὸν κελάδοντα; A. R. 1.501 ποταμοὶ κελάδοντες; Q. S. 2.472 κελάδοντες … ἔναυλοι) und findet sich bei Nonnos als Beiwort von mehreren Flüssen (vgl. 13.316 [vom Hipparis]; 19.301 [vom Silenos]; 25.406 [vom Mäander]; 48.326 [vom Sangarios]). 167–171 Künftige Freude als Folge der Verwandlung des Ampelos Atropos richtet die letzten Worte ihrer Rede an den toten Ampelos selbst. Der Abschnitt bildet einen generellen Ausblick auf die Freude, die von Ampelos Tod ausgehen wird, und ist durch den paradoxen Gedanken »Freude durch Leid« geprägt, der durch die lexikalische Wiederholung von ὀπάζω noch unterstrichen wird (πένθος ὄπασσας/τερπωλὴν ὀπάσειας). Die τερπωλή für den gesamten Kosmos besteht darin, dass mit dem Wein die Götter eine weitere Opfergabe, Dionysos sein εὐφροσύνη bewirkendes Attribut, und die Menschen ein Mittel, ihre Sorgen zu lindern, erhalten. In genau gegensätzlicher Weise nimmt Ovid die Trauer des Apoll über den Verlust des Cyparissus zum Anlass, um den Gott in pointierter Weise über die zukünftige Rolle der Zypresse sprechen zu lassen (10.141–142 lugebere nobis/lugebisque alios aderisque dolentibus). 167 ῎Αμπελε, πένθος ὄπασσας ἀπενθήτῳ Διονύσῳ Der Vers ist durch eine signifikante Häufung von π-Assonanzen geprägt (῎Αμπελε, πένθος ὄπασσας ἀπενθήτῳ Διονύσῳ), durch die die Wirkung der paradoxen figura etymologica πένθος/ἀπενθήτῳ (s. hierzu K. 138) noch gesteigert wird (vgl. 11.279 [vom verstorbenen Ampelos] λίπε πένθος ἀπενθήτῳ Διονύσῳ; 30.116 [von einer Tanzaufführung, die den Tod des Phaethon zum Inhalt hat] θαμβαλέον πόρε πένθος ἀπενθήτῳ Διονύσῳ). 168 μελιρραθάμιγγος … οἴνου Das nur in den Dionysiaka belegte Kompositums μελιρραθάμιγξ scheint eine nonnianische Umformung des bereits geläufigen Epithetons μελισταγής zu sein (vgl. v.a. A. R. 2.1272 οἴνου … μελισταγέας). Es dient hauptsächlich als epitheton ornans für ὀπώρη (vgl. 16.33; 21.160; 47.184).

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169 τετράζυγι κόσμῳ Das Kompositum wird von Nonnos als ein formelhaftes epitheton ornans für den über vier Himmelsrichtungen verfügenden κόσμος verwendet (5.54; 6.99; 41.278; Met. 3.82; 20.94); zu τετράζυγξ allgemein s. K. 107. 170 σπονδὴν μακάρεσσι Erst durch die Verwandlung des Ampelos sind Weinspenden, die die Opferungen begleiteten, möglich (vgl. 12.229–231, wo ein Aition für diese Praxis geboten wird). In der Tat scheint man in der Antike die Einführung von Weinspenden als ein recht spätes Ereignis der Religionsgeschichte betrachtet zu haben (vgl. Porph. Abst. 2.20.12–21.1 τὰ μὲν ἀρχαῖα τῶν ἱερῶν νηφάλια παρὰ πολλοῖς ἦν, νηφάλια δ’ ἐστὶν τὰ ὑδρόσπονδα, τὰ δὲ μετὰ ταῦτα μελίσπονδα· […] εἶτ’ ἐλαιόσπονδα· τέλος δ’ ἐπὶ πᾶσιν τὰ ὕστερον γεγονότα οἰνόσπονδα). εὐφροσύνην Διονύσῳ Der Begriff εὐφροσύνη kann hier entweder als die Freude des Dionysos über sein neues Attribut (vgl. 39.148 [von Aiakos] χάρμα πόρεν Δήμητρι καὶ εὐφροσύνην Διονύσῳ) oder als Frohsinn, der von seinem Attribut ausgeht und Dionysos’ Aufgabenbereich darstellt, gedeutet werden (vgl. 8.90 Ζεὺς πόρε δῆριν ῎Αρηι καὶ εὐφροσύνην Διονύσῳ). Da Nonnos den Begriff hauptsächlich mit dem vom Wein ausgehenden festlichen Frohsinn verbindet (vgl. v.a. 13.270 εὐφροσύνην ἀκόρητον … θελξίφρονος οἴνου; 18.297 [von der Traube] ἄγγελον εὐφροσύνης, βροτέης ἐπίληθον ἀνίης; 47.132–134 οἶνος/… εὐφροσύνην γὰρ/ἀνδράσι πᾶσιν ὄπασσε) und die Nennung von Dionysos’ zukünftigem Tätigkeitsbereich besser in den Kontext passt, erscheint mir letztere Möglichkeit als die wahrscheinlich intendierte. 171 Βάκχος ἄναξ δάκρυσε, βροτῶν ἵνα δάκρυα λύσῃ Der Gedanke der sorgenlösenden Wirkung des Weins wird hier an prominenter Stelle am Ende der Rede noch einmal wiederholt (vgl. 158 mit K.) und in eine sehr pointierte Form gekleidet. Diese besteht hauptsächlich in der paradoxen Gegenüberstellung von δάκρυσε/δάκρυα λύσῃ und bildet eine wirkungsvolle Schlussformulierung für die Rede der Atropos (für virtuose Formulierungen am Ende von Reden vgl. z.B. 11.154 [von Europa] χερσὶ κέρας κρατέουσα καὶ οὐ χατέουσα χαλινοῦ; 18.304– 305 [von Staphylos gesprochen] ὅπως ἕνα κῶμον ἀνάψω/Γοργοφόνῳ Περσῆι καὶ ᾿Ινδοφόνῳ Διονύσῳ). Die Ausdrucksweise entspricht allgemein Nonnos’ Hang zu paradoxen Formulierungen, dürfte in diesem speziellen Fall aber wohl von der Lektüre von Kyrills Kommentar zu Eu. Io. 11.35 inspiriert sein (Cyr. Al. Io. 2 p. 281.18–282.2 Pusey δακρύει δὲ ὁ Κύριος […], ἵνα τὸ ἡμῶν περιστείλῃ δάκρυον; Golega 1930, 69; Shorrock 2011, 100–105; allgemein zu den christlichen Anklängen s. K. 117b–291). Βάκχος ἄναξ Die Formel findet sich in den Dionysiaka zehn Mal am Versbeginn und ist eines der wenigen Beispiele für eine fixe Substantiv-Epitheton-Verbindung (s. D’Ippolito 2016, 375; allgemein zum nonnianischen Formelsystem E. Kap. 8.2.1.).

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172 Ὥς φαμένη Zur Formel s. K. 41. γνωτῇσι συνέμπορος Dass Atropos nicht allein, sondern zusammen mit ihren Schwestern zu Dionysos gekommen ist, wird erst hier erwähnt (zu συνέμπορος s. K. 133). 173–205a Metamorphose des Ampelos und Reaktion des Dionysos Im Anschluss an Atropos’ Rede beginnt sich Ampelos, wie angekündigt, in eine Rebe zu verwandeln (173–184), die sich zu einem imposanten Weinberg ausbreitet (185–187). Nach Abschluss der Metamorphose bekränzt Dionysos sein Haupt mit dem Laub der Rebe und kostet von den Trauben sowie von deren in Wein verwandelten Saft (193–205a). In die Erzählung eingeschoben ist eine kurze Beschreibung der Metamorphose des Kissos (188–192). Die gesamte Passage ist durch den Charakter des Wundersamen geprägt (173  θάμβος; 188), der sich hauptsächlich in Gestalt der Automaton-Motivik manifestiert (s. die expliziten Hinweise 175 αὐτοτέλεστος; 185 αὐτοτελής; vgl. 197 αὐτοδίδακτος). 173–184 Metamorphose des Ampelos Der Prozess der Metamorphose wird detailreich und lebendig geschildert, indem Schritt für Schritt die Verwandlung der einzelnen Körperteile beschrieben wird. Diese Technik wendet Nonnos auch bei der Beschreibung der Metamorphosen des Aktaion (5.316–323), der Pheren (14.177–185), des Silen (19.287–295), des Dionysos im Kampf gegen Deriades (39.304–312), des Schiffs der Tyrrhenischen Piraten (44.240–249; vgl. 45.137– 142) und der Nymphe Aura (48.935–942) an. Die Art und Weise der Schilderung entspricht jener in Ovids Metamorphosen. Die Ähnlichkeiten zwischen beiden Autoren lassen sich wohl am besten anhand des gemeinsamen literarisch-rhetorischen Backgrounds erklären (vgl. Apul. Met. 3.24; Opp. C. 4.309–313); möglicherweise war eine solche Technik schon in der hellenistischen Metamorphosen-Literatur vorgeprägt (vgl. Hollis 1994, 57). Wie die eben aufgezählten ausführlichen Metamorphose-Schilderungen basiert auch jene des Ampelos auf dem Prinzip der Kontinuität der Form (vgl. zusätzlich 12.70–71 [von der Verwandlung des Argos]): Die einzelnen Körperteile verwandeln sich in die jeweils äußerlich ähnlichen Partien der Pflanze (vgl. die expliziten Hinweise 182 ἰσοφυής; 184 τύπον μιμεῖτο). Diese Kontinuität in der Verwandlung versucht Nonnos, auch auf stilistischer Ebene durch die Verwendung von Wortspielen (177–178 ἄκρα/ἀκρεμόνες; 178 ταρσοί; 179 βόστρυχα/βότρυες) abzubilden; möglicherweise soll die auffällige AssonanzenKette καρήνου/κυρτὰ/κόρυμβα/κεραίης (183–184) dieselbe Funktion erfüllen. Zu diesem gleichsam fließenden Übergang der einzelnen Körperteile in pflanzliche Gestalt passen die fließenden Versübergänge, die durch die auffällig hohe Frequenz von Enjambement erreicht wird.

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Die Metamorphose des Ampelos weist Gemeinsamkeiten mit Darstellungen in der bildenden Kunst auf, die ebenfalls eine Person im Prozess der Verwandlung in eine Rebe zeigen und Einblick in die Vorstellungswelt geben, vor dessen Hintergrund Nonnos seine Schilderung schuf (vgl. insbesondere LIMC 6.1, 314 s.v. Lykourgos Nr. 38 und 42 [Metamorphose der Ambrosia]). Besonders deutliche Parallelen zeigen sich beim Vergleich mit der Darstellung auf dem bereits besprochenen Sarkophagrelief im Thermenmuseum in Rom (s. E. Kap. 4). Dieses zeigt eine männliche Figur, deren Füße sowie untere Rumpfpartie sich bereits in den Stamm einer Rebe verwandelt haben (vgl. γαστὴρ θάμνος ἔην περιμήκετος/ἐνερρίζωντο δὲ ταρσοί). Anstelle des Umhangs wächst eine Traube (vgl. ἐμορφώθη … νεβρὶς … πολυδαίδαλον ἄνθος ὀπώρης) und der Daumen der in die Höhe gestreckten rechten Hand scheint bereits in eine Ranke überzugehen (vgl. ἄκρα δὲ χειρῶν/ἀκρεμόνες βλάστησαν). 173 Καὶ κινυρῷ μέγα θάμβος ἐφαίνετο μάρτυρι Βάκχῳ Die plötzliche Metamorphose des Ampelos versetzt Dionysos in Staunen (zum Motiv des Staunens im Zusammenhang mit Metamorphosen vgl. 19.346 καὶ πάντες ἐθάμβεον; Ov. Met. 2.353 dumque ea mirantur; 4.271 factum mirabile ceperat auris; 4.394 resque fide maior; 7.130 quodque magis mirum est, simul edita concutit arma; 8.611–612 factum mirabile cunctos/moverat; 9.394 factum mirabile; 11.346 miracula; 13.893 miraque res; Apul. Met. 3.22 stupore defixus). μάρτυρι Βάκχῳ Die Kombination aus μάρτυρι und einem zweisilbigen Sub­ stantiv ist eine beliebte Versklausel in den Dionysiaka (s. hierzu Vian 1997, 150–154, v.a. 152). In solchen formelhaften Wendungen verfügt μάρτυς häufig über keinen wirklichen semantischen Eigenwert. Hier charaktersiert es Dionysos aber als tatsächlichen Zeugen eines Wunders (vgl. z.B. 18.87 τοῖα … ἐδείκνυε μάρτυρι Βάκχῳ). 174 ἀναΐξας … ὡς ὄφις ἕρπων Der Vergleich bezieht sich auf die schlängelnde Bewegung, mit der sich die neu entstandene Rebe an den Bäumen emporrankt (vgl. 12.302–303 στοιχηδὸν ἀνέρπων/σείετο … ἐπὶ βότρυϊ βότρυς; Call. Fr. 101 Pfeiffer περὶ μὲν τρίχας [scil. der Hera-Statue von Samos] ἄμπελος ἕρπει; zur kriechenden Bewegung des Efeus s. K. 97). In 45.311–314 wird umgekehrt eine Schlange, die einen Baum emporkriecht, mit einer Schlingpflanze assoziiert (ἀμφὶ δὲ δένδρῳ/σπεῖραν ὄφις κύκλωσε, καὶ ἔπλετο κισσὸς ἀλήτης/πρέμνον ἑλισσομένῳ σκολιῷ μιτρούμενος ὁλκῷ,/ἀμφελελιζομένων μιμούμενος ἅμμα δρακόντων). Generell wird in den Dionysiaka »Gekrümmtes« häufig mit Schlangen verglichen (vgl. 5.145 [von einer Halskette] ὡς ὄφις ἦν ἑλικῶδες ἔχων δέμας; 15.102 [von einem schief daliegenden Betrunkenen] ὡς ὄφις ἀμφιέλικτος, ἐκέκλιτο, λοξὸς ἰαύων). Die häufige Wahl von Schlangen als Vergleichsobjekt passt dabei gut zu einem Epos auf den Gott Dionysos, der eine starke Affinität zu Schlangen aufweist.

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175 αὐτοτέλεστος Für den Stil des Nonnos ist die Betonung des spontanen Charakters von Vorgängen kennzeichnend (vgl. im Kontext von MetamorphoseBeschreibungen 12.185–186 αὐτοτελὴς δέ/ὄρχατος; 19.288 χεύμασιν αὐτομάτοισιν; 293 εἰς θρύον αὐτοτέλεστον; 294–295 δόναξ …/αὐτοφυής; 36.306 αὐτοτελής; 44.241–242 ὄρπηξ/αὐτοτελής; s. zu diesem Stilmerkmal allgemein E. Kap. 8.2.3.). ἑὴν ἠλλάξατο μορφήν Die Junktur findet sich fast identisch im NikanderFragment 62.3, welches wahrscheinlich aus dessen Heteroioumena stammt: [von Hekabe, die sich in einen Hund verwandelt] ἣν ἠλλάξατο μορφήν (s. Hollis 1994, 57). 176 νήδυμον ἄνθος Zur Umschreibung der Rebe als ἄνθος s. K. 95. Der schöne Knabe Ampelos, der von Nonnos als ἔρνος ᾿Ερώτων (10.178) und ἥβης … ἄνθος (10.181) eingeführt wurde (vgl. 11.341 ἄνθος ᾿Ερώτων; P. 23), nimmt nun tatsächlich die Gestalt einer reizenden Pflanze an (zur Schönheit der Rebe s. K. 222–233). 176b–177a Ἀμειβομένοιο δὲ νεκροῦ/γαστὴρ θάμνος ἔην περιμήκετος Explizit genannt wird die Verwandlung des Bauches auch im Rahmen der Schilderung der Metamorphosen des Silen (19.291 καὶ βυθὸς ἰχθυόεις ψαμάθῳ κοιλαίνετο γαστήρ) bzw. des Dionysos, wobei bei letzterem der vorliegende Halbvers γαστὴρ θάμνος ἔην περιμήκετος fast wörtlich wiederholt wird (36.309 γαστέρα θάμνον ἔχων περιμήκετον). Die Verse sind wohl so zu verstehen, dass sich der Bauch des Ampelos bzw. des Dionysos in den Stamm der jeweiligen Pflanze verwandelt (vgl. Ov. Met. 9.353 [von der Verwandlung der Dryope] totaque paulatim lentus premit inguina cortex; 10.495 [von der Verwandlung der Myrrha] iamque gravem crescens uterum perstrinxerat arbor; für θάμνος im Sinne von Stamm vgl. 45.201 [von Alpos, der einen Ölbaum ausreißt] αὐτόρριζον ἐκούφισε θάμνον ἐλαίης; 46.183 [von Agaue, die einen Baumstamm umfasst] περισφίγξασα … θάμνῳ). 177b–178a ἄκρα δὲ χειρῶν/ἀκρεμόνες βλάστησαν Die Vorstellung, dass sich die Finger oder Arme einer Person in die Äste des jeweiligen Baumes verwandeln, ist recht geläufig (vgl. Luc. VH 1.8 [von in Reben verwandelten Männern] αὐτοῖς κλάδοι ἐπεφύκεσαν οἱ δάκτυλοι; Ov. Met. 1.550 [von der Verwandlung der Daphne] in ramos bracchia crescunt; 10.493–494 [von der Verwandlung der Myrrha] in magnos bracchia ramos/in parvos digiti; 11.83–84 [von der Verwandlung der thrakischen Frauen] bracchia veros/esse putes ramos et non fallere putando). Nonnos lässt auch bei der Verwandlung des Dionysos in Buch 36 dessen Hände zu Ästen werden (vgl. 36.309–310 ἀκρεμόνας δέ/χεῖρας ἑὰς ποίησε). Im Fall der Schilderung der Metamorphose des Ampelos wird die physische Nähe zwischen Ausgangs- und Endprodukt der Verwandlung durch die Paronomasie ἄκρα/ἀκρεμόνες auch stilistisch abgebildet (vgl. die Assonanzen-Kette ἄκρα δὲ χειρῶν/ἀκρεμόνες). Das Wortspiel entspricht der antiken Etymologie des Be-

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griffs ἀκρέμων, der von ἄκρος (oder abweichend von κρεμάω) abgeleitet wurde (vgl. Et. Gen. s.v. ἀκρέμων: […] γὰρ παρὰ τὸ ἄκρον γίνεται ἀκρέμων, ὁ ἐπ’ ἄκρων τοῦ δένδρου ὤν). Die antike Erklärung ist aber aus sprachwissenschaftlicher Sicht unwahrscheinlich (vgl. Beekes 2010, 56). 178 ἐνερρίζωντο δὲ ταρσοί Die Wurzeln des Baumes bilden ein passendes pflanzliches Pendant zu den menschlichen Füßen (vgl. 36.311 [von der Verwandlung des Dionysos] καὶ πόδας ἐρρίζωσεν; weiters Ov. Met. 1.551 [von der Verwandlung der Daphne] pes modo tam velox pigris radicibus haeret; 9.351 [von der Verwandlung der Dryope] haeserunt radice pedes; 10.490–491 [von der Verwandlung der Myrrha] ruptosque obliqua per ungues/porrigitur radix; 11.70–72 [von Dionysos, der die Zehen der thrakischen Frauen in Wurzeln verwandelt] torta radice ligavit;/quippe pedum digitos …/traxit et in solidam detrusit acumina terram). Nonnos scheint hier mit der Polysemie von ταρσός zu spielen, das zum einen die menschliche Sohle, zum anderen aber auch das Geflecht der Wurzeln bezeichnen kann (vgl. Thphr. CP 3.7.2. [von Pflanzen mit kurzen Wurzeln] οὐκ ἐνοχλεῖ γὰρ τῷ ταρρῷ [scil. einer anderen Pflanze] διὰ τὴν βραχυρριζίαν; 3.23.3 [vom Wurzeln der Getreidesamen] ἰσχυρῶς ἐρριζωμένων … καὶ ταρρουμένων). 179 βόστρυχα βότρυες ἦσαν Angesichts des in der Antike verbreiteten Bildes vom Laub als dem Haar der Bäume dürfte die Idee, dass sich das menschliche Haar in Blattwerk verwandelt, recht geläufig gewesen sein (vgl. Ov. Met. 1.550 [von der Verwandlung der Daphne] in frondem crines … crescent; 9.355 [von der Verwandlung der Dryope] frondes caput omne tenebant; 10.138–140 [von der Verwandlung des Cyparissus] capilli,/horrida caesaries fieri sumptoque rigore/ sidereum gracili spectare cacumine caelum; weiters Luc. VH 1.8 [von Mischwesen zwischen Rebe und Frau] καὶ μὴν καὶ τὰς κεφαλὰς ἐκόμων ἕλιξί τε καὶ φύλλοις καὶ βότρυσι). In der Tat werden auch Dionysos’ Haare in 36.308 zu Laub (μιμηλοῖς πετάλοισι νόθην δενδρώσατο χαίτην). Da man in der Antike gelocktes Haar mit der Form von Trauben assoziierte (vgl. A. R. 2.676 πλοχμοὶ βοτρυόεντες; AP 5.287 [Agath.] εὐπλέκτου βότρυν … κόμης; Nonn. D. 1.528 βότρυν ἐθείρης), bot sich allerdings im Fall der Metamorphose von Ampelos’ Haaren eine Verwandlung in Trauben an. Die Kontinuität der Form wird dabei von Nonnos auch sprachlich durch das Wortspiel βόστρυχα/βότρυες hervorgehoben, das auf der antiken etymologischen Herleitung des Begriffs βό(σ)τρυχος von βότρυς beruht (vgl. Orio s.v. βόστρυχοι: […] σχήματι βότρυος ἀποκεκράμενοι; EM s.v. βόστρυχος: παρὰ τὸν βότρυν, […] ὁ βοτρυοειδής. Μετὰ σχήματος γὰρ βοτρυοειδοῦς ἀπήρτηται). Die tatsächliche Etymologie des Begriffs ist unbekannt. Das Suffix -υχ- weist aber auf einen vorgriechischen Ursprung hin (vgl. Beekes 2010, 228).

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Die Metamorphose der Locken des Ampelos in Trauben steht in Korrespondenz zu der Beschreibung der Gestalt des Satyrknaben, die Nonnos zu Beginn der Ampelos-Episode ausführlich beschreibt: Während dessen Locken dort nur metaphorisch als χαίτης/βότρυες εἱλικόεντες (10.181–182) bezeichnet wurden, so sind seine Locken nun tatsächlich zu Trauben geworden. 179b–180 ἐμορφώθη δὲ καὶ αὐτή/νεβρὶς ἀεξομένης πολυδαίδαλον ἄνθος ὀπώρης In Trauben verwandelt sich neben den Haaren des Ampelos auch das Fell, mit dem Dionysos seinen Leichnam in 11.232–233 bedeckt hat (zur Klausel ἄνθος ὀπώρης s. K. 95). Die Gemeinsamkeit zwischen νεβρίς und Trauben besteht darin, dass sie sich beide durch eine gewisse Buntheit auszeichnen: Im Fall der νεβρίς liegt die Assoziation auf der Hand, da das Fell eines Hirschkalbes über weiße Punkte oder Flecken als Zeichnung verfügt (vgl. z.B. 1.35 νεβρίδα ποικιλόνωτον; 39.61 νεβρίδι δαιδαλέῃ; weiters E. Ba. 111 στικτῶν … νεβρίδων; 249 ἐν ποικίλαισι νεβρίσι). Die Charakterisierung der Trauben als πολυδαίδαλοι dürfte hingegen so zu verstehen sein, dass sich die gefärbten Trauben vom Grün des Laubs abheben wie die Flecken auf dem Fell eines Hirschkalbes (vgl. 48.864 πολυδαίδαλα δέρματα νεβρῶν; weiters 16.96 δέρματα πορδαλίων πολυδαίδαλα). Es ist aber auch denkbar, dass sich die »Buntheit« der Trauben auf deren unterschiedliche Färbungen bezieht (vgl. 12.304–313 und weiters die Verwendung von ποικιλόβοτρυς als Epitheton der Rebe in 5.279; 27.284). Auch im Rahmen der Metamorphose des Dionysos wird das Augenmerk auf dessen Gewand gelenkt, das sich in die Rinde des entsprechenden Baumes verwandelt (36.310 καὶ ἐφλοίωσε χιτῶνας; vgl. Ov. Met. 1.236 [von der Verwandlung des Lycaon] in villos abeunt vestes; 2.582–583 [von der Verwandlung einer Krähe] reicere ex umeris vestem molibar, at illa/pluma erat; 4.395 [vom Gewand auf den Webstühlen der Minyastöchter] inque hederae faciem pendens frondescere vestis). 181 ἀμπελόεις δὲ κόρυμβος ἔην δολιχόσκιος αὐχήν Dem wunderschönen und strahlend weißen Nacken, der sich hinter den Locken des Ampelos verbirgt, wurde bereits bei der Einführung seiner Person besondere Aufmerksamkeit geschenkt (10.184–187). Nun wird dieser im Rahmen der Metamorphose des Knaben abermals hervorgehoben. Der Nacken des Ampelos wird zum Rankenwerk, das sich über dem aus dem Bauch entstandenen hölzernen Stamm erhebt (vgl. Ov. Met. 10.95–96 [von der Verwandlung der Myrrha] arbor/pectoraque obruerat collumque operire parabat; 11.82–83 [von der Verwandlung der thrakischen Frauen] pectus quoque robora fiunt,/robora sunt umeri). δολιχόσκιος Das Adjektiv (»einen langen Schatten werfend«) fungiert in den homerischen Epen als Epitheton zu ἔγχος, wird von späteren Autoren aber allgemein zur Beschreibung länglicher Gegenstände oder Körperteile verwendet (vgl. LSJ s.v.). Nonnos benützt das Adjektiv zusätzlich in der Bedeutung »weitrei-

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chend« (vgl. z.B. 11.499 ῥόδου δολιχόσκιον ὀδμήν; 37.437 δίσκου πεμπομένοιο … δολιχόσκιος ὁρμή). Die Wortstellung legt nahe, δολιχόσκιος als Attribut zu αὐχήν aufzufassen, allerdings ergibt dies keinen zufriedenstellenden Sinn. Plausibel erklären lässt sich δολιχόσκιος hingegen als Attribut zu den langen Weinranken, weshalb δολιχόσκιος wohl – entgegen der Wortstellung – gedanklich zu ἀμπελόεις κόρυμβος zu ziehen ist. Ähnliche Beispiele finden sich auch bei der Schilderung der Metamorphose der Aura: In 48.338–339 καὶ κέρας ἔπλετο τόξον ἐυκραίρου ποταμοῖο/ταυροφυές, καὶ σχοῖνος ἀμειβομένη πέλε νευρή müssen die Attribute ἐυκραίρου ποταμοῖο und ἀμειβομένη entgegen der Wortstellung auf κέρας bzw. νευρή bezogen werden. Möglicherweise soll diese »falsche« Wortstellung die Ähnlichkeit von Ausgangs- und Endpunkt der Metamorphose bzw. den fließenden Übergang formal abbilden. 182–183a ἰσοφυὴς δ’ ἀγκῶνι τιταίνετο καμπύλος ὄρπηξ οἰδαίνων σταφυλῇσιν Aufgrund der Krümmung des Ellenbogens ist es naheliegend, dass dieser auch in der verwandelten Gestalt eine gebogene Form annimmt (vgl. Ov. Met. 15.501 [von der Verwandlung des Acmon] cubitique leves sinuantur in alas). Die Ähnlichkeit wird durch ἰσοφυής explizit hervorgehoben (vgl. 12.184 τύπον μιμεῖτο). 183b–184 ἀμειβομένου δὲ καρήνου/γναμπτῆς κυρτὰ κόρυμβα τύπον μιμεῖτο κεραίης Die gebogenen Hörner des Satyrknaben verwandeln sich in sich windende Ranken. Der Verwandlung von Hörnern schenkt Nonnos allgemein große Aufmerksamkeit: So lässt er die Hörnern des Silen zu wogenden Wellen (19.289) und den hörnernen Bogen der Aura zu einen Flussarm werden (48.938–939). Der Metamorphose des Ampelos am nächsten kommt die Verwandlung der Hörner des Dionysos. Das Verständnis der Stelle ist zwar etwas problematisch (36.311–312 ἀνακρούων δὲ κεραίαις/μαρναμένου βασιλῆος [scil. Deriades, mit dem Dionysos kämpft] ἐπεψιθύριζε προσώπῳ), die Wortwahl ἐπεψιθύριζε lässt aber annehmen, dass die Hörner (κεραίαις) bereits die Gestalt von Ästen oder Laub angenommen haben. Die Ähnlichkeit zwischen Ampelos’ Hörnern und den daraus entstandenen Ranken wird durch τύπον μιμεῖτο auch explizit erwähnt (vgl. 12.182 ἰσοφυές). Auffallend an der Gestaltung der Verse ist die Reihe an κ- und ρ-Assonanzen (καρήνου/γναμπτῆς κυρτὰ κόρυμβα τύπον μιμεῖτο κεραίης). Dieses Stilmittel findet sich – wenngleich nicht in dieser ausgeprägten Weise – auch bei den drei weiteren oben genannten Beschreibungen von Metamorphosen von Hörnern (19.289 εἰς προχοὴν ἐπίκυρτον ἐκυμαίνοντο κεραῖαι; 36.311 ἀνακρούων δὲ κεραίαις; 48.938–939 καὶ κέρας ἔπλετο τόξον ἐυκραίρου ποταμοῖο/ταυροφυές; vgl. 5.320 [von den Hörnern des Aktaion] φύετο μακρὰ κόρυμβα τανυπτόρθοιο κεραίης). Möglicherweise dient die Assonanzen-Kette – ähnlich den verwendeten Wortspielen – dazu, die Kontinuität der Form bei der Verwandlung auch stilistisch abzubilden (vgl. oben 177–178 ἄκρα δὲ χειρῶν/ἀκρεμόνες; 44.241 [von

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der Verwandlung eines Schiffsmastens] ὄρθιος ἱστὸς ἄμειπτο καὶ ἀμπελόεις πέλεν ὄρπηξ; zu den Stilmitteln der Alliteration und Assonanz allgemein s. E. Kap. 8.2.4.). 185–187 Entstehung des ersten Weinbergs Der plötzliche Hinweis auf die Existenz von zahlreichen Bäumen am Schauplatz überrascht ein wenig. Die Funktion der Erwähnung der Bäume liegt aber auf der Hand, da die neu entstandene Rebe eine Stütze benötigt, an der sie sich emporranken und mit deren Hilfe sie sich zu einem imposanten Weinberg ausbreiten kann. In Hinblick auf ihr üppiges Wachstum ist die Rebe, in die sich Ampelos verwandelt hat, mit der wilden Rebe in 12.298–301 vergleichbar, die sich an Waldbäumen emporwindet und schließlich eine εὐάμπελος ὕλη bildet. Eine einzelne Rebe konnte (und kann) in der Tat sehr große Ausmaße annehmen (vgl. z.B. Plin. Nat. nulla fine crescendi, vidique iam porticus, villas et domos ambiri singularum palmitibus ac sequacibus loris; Amigues 1988, 74 Anm. 2). Bei den erwähnten φυτῶν στίχες dürfte es sich um jene Obstbäume (Dattelpalme, Apfelbaum, Feigenbaum) handeln, auf die Dionysos in seiner anschließenden Rede Bezug nimmt (12.272–284; vgl. Longus 4.2.2 [von einer großen Rebe] ἐπέκειτο ταῖς μηλέαις καὶ ταῖς ὄχναις). Die Verse bilden in einem gewissen Sinn ein Aition für die antike Praxis, Wein an Bäumen emporwachsen zu lassen (vgl. Ruffing 1999, 72 Anm. 1 [mit Literatur]; zu Aitien in der Ampelos-Episode allgemein s. E. Kap. 6). Laut Columella ergeben die Trauben der auf diese Weise angebauten Reben den besten Wein (5.6.24 at qui bonitati vini student, in summas arbores vitem promovent; vgl. Plin. Nat. 17.199). Plinius nennt als mögliche Unterstützung der vitis arbustiva eine Vielzahl an verschiedenen Baumarten (darunter auch Feigen- und Ölbaum) und betont lokale Unterschiede (17.199– 201). Für Ägypten ist die Pflanzung von Obstbäumen als Zwischenkulturen auf Weinland bezeugt (vgl. Ruffing 1999, 75–86) und es ist durchaus denkbar, dass diese auch als Rebunterstützung dienten, wenngleich eingeräumt werden muss, dass laut Auskunft der Papyri die Erziehung der Reben an Bäumen eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben dürfte (vgl. Ruffing 1999, 72–74). 185 αὐτοτελὴς Zur Betonung des spontanen Charakters der Ausbreitung der Rebe s. K. 175. 186 ὄρχατος ἀμπελόεις Die Junktur – sie findet sich schon bei Q.  S. 8.279 ὄρχατον ἀμπελόεντα (vgl. E. Fr. 896.2 ὀρχάτους ὀπωρινούς) – suggeriert, dass die Rebe den Umfang eines ganzen Weinbergs eingenommen hat (vgl. 7.345 ὄρχατος ἀμπελόεις; 12.302 πολὺς ὄρχατος; 42.278 ὄρχατον ἀμπελόεντα). Die Formulierung ist an dieser Stelle insofern naheliegend, als die Rebe, die an den in Reih und Glied gepflanzten Bäumen des Obstgartens (φυτῶν στίχες) emporwächst, ja de facto zu einem tatsächlichen Weinberg wird (vgl. Sch. Hom. Od.

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7.112 ἡ ἐπὶ στίχον καὶ ἐν τάξει τῶν ἀμπέλων φυτεία ὄρχατος λέγεται; Hsch. s.v. ὄρχατοι: αἱ ἐπὶ στίχον φυτεῖαι). 188–192 Metamorphose des Kissos Die Schilderung der Metamorphose des Kissos muss wohl als narrativer Einschub des Erzählers (Prolepse) in die Handlung gesehen werden (zum Mythos um Kissos s. K. 12.97–98a). Deutliches Indiz hierfür ist die Tatsache, dass Vers 12.193 Καὶ φιλίοις πετάλοισι κατάσκιον ἔσκεπε κόρσην (der sich auf die Blätter der Rebe und eben nicht auf jene des Efeus bezieht) direkt an 12.187 anschließt und damit die Metamorphose des Kissos als Digression markiert. Im Gegensatz zu Keydell 1932, 181 sehe ich hierin aber kein Argument dafür, dass die Metamorphose des Kissos sekundär in die Handlung der Ampelos-Episode integriert wurde, da sie durchaus mit der übergeordneten Handlung verzahnt ist. Am deutlichsten zeigt sich dies im Horen-Intermezzo: Zum einen wird dort die Kahlheit der Herbsthore damit begründet, dass bisher weder die Weinrebe (11.515–518) noch der Efeu (11.519 οὐδὲ παλινδίνητος ἀνέδραμε κισσὸς ἀλήτης) entstanden seien, mit dessen Laub sie sich hätte schmücken können. Zum anderen wird die Metamorphose des Kissos auf der dritten κύρβις der Harmonia in nächster Nähe zu jener des Ampelos prophezeit (12.97–98a). Dass der Efeu erst durch die Metamorphose des Kissos entstanden ist, steht in Widerspruch zu der Tatsache, dass die Existenz des Efeus im Rahmen des bisherigen Handlungsverlauf stellenweise vorausgesetzt wurde (vgl. 7.132 [Eros gibt Efeu um den für Zeus bestimmten Liebespfeil]; 7.327 [Zeus bekränzt sein Haar in der Liebesnacht mit Semele mit Efeu]; 341 [Zeus führt in der Liebesnacht mit Semele einen mit Efeu-Laub bekränzten Thyrsos mit sich]; 8.10 [die von Dionysos schwangere Semele bekränzt sich mit Efeu]; 9.12 [die Horen bekränzen Dionysos nach dessen Geburt mit Efeu]; 9.122 [Dionysos’ Amme Mystis wickelt Efeu um den Thyrsos]; 9.263–264 [die Frauen aus Delphi peitschen sich mit Efeuranken]). Diese Anachronismen sollte man allerdings nicht zu schwer gewichten, da sich bei der Beschreibung der Liebesnacht zwischen Zeus und Semele (7.326; 339; 345) und jener der Weihen der Mystis (9.121; vgl. Chrétien 1985 ad loc.) ähnliche leichte Anachronismen auch in Hinblick auf die Rebe finden. Problematisch erscheinen mir hingegen die Folgen zu sein, die der Bericht von Kissos’ Metamorphose für den narrativen Plan des Erzählers hat. So unterbricht die Verwandlung des Kissos die narrative Handlungslinie, die eigentlich auf die Verwandlung des Ampelos und Dionysos’ Reaktion darauf hinzielt. Zudem – und das scheint mir noch bedeutsamer zu sein – büßt Ampelos’ Metamorphose dadurch, dass gleich im Anschluss eine weitere Verwandlung erzählt wird, ihren Status als außerordentliches Ereignis ein, zu dem sie vorher stilisiert wurde. Die Kissos-Metamorphose bildet daher an dieser Stelle ein »störendes« Erzählelement, das die prominente Stellung der Metamorphose des eigentlichen Protagonisten Ampelos unterminiert – und zwar mit einer Vehemenz, die sug-

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geriert, dass man als Leser – wohlgemerkt im Augenblick der Entstehung des Weinstocks – gerade Opfer der literarischen μανία der Dionysiaka geworden ist. Die Beschreibung der Metamorphose des Kissos selbst basiert auf dem Prinzip der Kontinuität des Verhaltens: Wie Kissos als Knabe gerne hohe Bäume bestieg, tut er dies nun auch als Schlingpflanze (vgl. 12.97–98a). Die Analogie wird sprachlich dadurch unterstrichen, dass die Schilderung zwischen der Beschreibung von Person und Pflanze oszilliert (ἑὸν πόδα λοξὸν ἑλίσσων; Κισσὸς ἀερσιπότητος). 188 Καὶ νέον ἔπλετο θάμβος Die genaue zeitliche Verankerung dieser weiteren Metamorphose wird offengelassen (zur Form der Überleitung vgl. Ov. Met. 9.666–668 Fama novi centum Cretaeas forsitan urbes/implesset monstri [scil. die Verwandlung der Byblis], si non miracula nuper/Iphide mutata Crete propiora tulisset). κοῦρος ἀθύρων Es handelt sich hierbei um eine nonnianische Klausel (10.177; 11.406; 38.188; 46.16; vgl. 25.184; 33.66). Das für den Stil des Nonnos untypische nachgestellte Epitheton lässt vermuten, dass er eine bereits bestehende Formel kopiert (vgl. Opp. H. 4.451 κοῦρος ἀθύρων). 189 εἰς φυτὸν ὑψιπέτηλον ἑὸν πόδα λοξὸν ἑλίσσων Der Vers beschreibt das Hinaufklettern des Kissos auf einen Baum (vgl. 12.97 [von Kissos] ἐς φυτὸν ἕρπων mit K. ad loc.). Die Formulierung ἑὸν πόδα λοξὸν ἑλίσσων findet eine gewisse Entsprechung in 46.156–157 [von dem einen Baum besteigenden Pen­ theus] καὶ πόδας ἔνθα καὶ ἔνθα παλινδίνητος ἑλίσσων/ἄστατος ὀρχηστῆρι τύπῳ κουφίζετο Πενθεύς. Sie weist sprachlich schon auf die künftige Gestalt des Kissos voraus, der als Efeu seinen »Fuß« (vgl. AP 7.36.2 [Eryc.] κισσὸς ἄλοιτο πόδας; 9.33.1 [Phil.] σκολιὸν πόδα, κισσέ, χορεύσας mit Gow/Page 1968 ad loc.) um den Stamm von Bäumen winden wird. Zur Wiedergabe des Wachstumsverlaufs des Efeus mit Begriffen aus der Wortfamilie von ἐλίσσω s. K. 98. ὑψιπέτηλον Das Adjektiv ist Teil der homerischen Formel δένδρεον ὑψιπέτηλον (Hom. Il. 13.437; Od. 4.458; 11.588) und wird von Nonnos als epitheton ornans für verschiedene Baumarten verwendet (vgl. 12.373 ὑψιπέτηλον ὀρειάδος εἰς φυτὸν ὕλης; 37.16 ὑψιπέτηλος … δρῦς; 40.476 [von einem Ölbaum] φυτὸν ὑψιπέτηλον). 190 ἀερσιπότητος Das Epitheton bezieht sich darauf, dass Kissos einen hohen Baum bestiegen hat, beschreibt gleichzeitig aber auch eine wesentliche Charakteristik des Efeus (vgl. 41.90 κισσὸς ἀερσιπότητος und allgemein K. 97). 192 ὄρχατον ἡμερίδων σκολιῷ μιτρώσατο δεσμῷ Das Bild der beiden sich gegenseitig umschlingenden Pflanzen ist in den Dionysiaka gängig (vgl. v.a. 19.130–131 ἐπ’ ἀμπελόεντι κορύμβῳ/κισσὸς ἕλιξ; weiters 16.279–280 ἱμερόεις

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ἐμέθυσσεν ὁμόζυγος οἰνάδος ὄρπηξ/πλεκτὸν ἀεξομένης ἐπιβήτορα κισσὸν ὀπώρης; 41.7–9 ἀεξιφύτοιο δὲ λόχμης/ἡμερίδων ζωστῆρι θορὼν ἐπιβήτορι παλμῷ/κισσὸς ἀερσιπότητος ἐμιτρώθη κυπαρίσσῳ). 193–205a Reaktion des Dionysos Im Anschluss an Ampelos’ Metamorphose bekränzt Dionysos sein Haupt mit dem neu entstandenen Weinlaub und kostet von der Traube und deren Saft (zur holprigen Überleitung s. K. 188–192). Man muss sich dabei wohl vorstellen, dass sich der Most beim Ausdrücken augenblicklich in Wein verwandelt (199 μέθης ὠδῖνα; 201 οἰνοχύτου; zur Spontangärung des frischen Traubenmostes vgl. z.B. 12.356–357; Nic. Al. 30–35; Nemes. Ecl. 3.56 mit Korzeniewski 1976 ad loc.). Die εὕρεσις des Weins wird von Nonnos an dieser Stelle nur gestreift – sie wird jedoch im Zentrum der gesonderten Erzählung in 12.292–397 stehen. Hauptfunktion der vorliegenden Passage ist vielmehr die Schilderung der Verkostung der Frucht der neu entstandenen Pflanze, die den Abschluss der Verwandlung des Ampelos markiert. Die Beschreibung der sofortigen Verwendung der verwandelten Pflanze nach deren Metamorphose findet eine gewisse Parallele in Ov. Met. 1.711–712, wo Pan aus dem Rohr der Syrinx sofort eine Hirtenflöte herstellt. Das Ausdrücken der Trauben mit den Händen wird explizit von der traditionellen Keltertechnik des Austretens abgesetzt (ἄτερ ποδὸς ἔκτοθι ληνοῦ), deren Erfindung erst in 12.345–359 beschrieben wird. Die hier geschilderte improvisierte Art der Weingewinnung ohne Zuhilfenahme einer Kelter findet eine Parallele in der in Ach. Tat. 2.2.4–6 wiedergegebenen tyrischen Legende über die Entdeckung des Weines. In dieser veranschaulicht Dionysos einem Hirten den Ursprungs des Weins wie folgt: ἄγει πρὸς τὴν ἄμπελον ὁ θεὸς τὸν βουκόλον, καὶ τῶν βοτρύων λαβὼν ἅμα καὶ θλίβων καὶ δεικνὺς τὴν ἄμπελον, »Τοῦτο μέν ἐστιν,« ἔφη, »τὸ ὕδωρ [scil. Wein], τοῦτο δὲ ἡ πηγή.« 193 κατάσκιον ἔσκεπε κόρσην Die Gegenüberstellung von Begriffen aus der Wortfamilie von σκία und σκέπω findet sich auch in 12.310 σκιόωσα περισκεπὲς ἔρνος und 18.155 ὑπόσκιος ἔσκεπεν ὄρφνη. Nonnos dürfte in diesen Fällen wohl bewusst mit der antiken etymologischen Ableitung von σκέπω spielen (vgl. E. M. s.v. Σκεπάζω: ᾿Εκ τοῦ σκέπω […] παρὰ τὸ σκιὰ καὶ τὸ ἕπω). Sprachgeschichtlich sind beide Begriffe freilich auf unterschiedliche Wurzeln zurückzuführen und stehen in keinem direkten Bezug zueinander (vgl. Beekes 2010, 1347 und 1350–1351). Zu den dominanten κ-Assonanzen (κατάσκιον ἔσκεπε κόρσην) s. E. Kap. 8.2.4. 194 πλοκάμους ἐμέθυσσε φιλακρήτων ἀπὸ φύλλων Bereits die Rebe selbst verfügt über eine berauschende Wirkung (vgl. 12.309–310 ἀπ’ οἰνοτόκων δὲ πετήλων/σύμφυτον … ὅλην ἐμέθυσσεν ἐλαίην; 16.279–280 ἱμερόεις ἐμέθυσσεν

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… ὄρπηξ/ἐπιβήτορα κισσὸν ὀπώρης; 36.363–364 Δηριάδην δέ/αὐτοφυὴς ἐμέθυσσεν ἕλιξ εὐώδεϊ καρπῷ). Die Vorstellung, dass das Weinlaub die Haare des Dionysos trunken macht, wirkt etwas forciert (vgl. aber AP 6.56.3–4 [Macedon.] [von einer Statue eines betrunkenen Satyrn] τῷ δὲ καρηβαρέοντι δορήν, τρίχα, κισσόν, ὀπώρην,/πάντα λέγεις μεθύειν, πάντα συνεκλέλυται). Sie entspricht aber durchaus der generellen Vorliebe für Rausch-Metaphorik in den Dionysiaka (vgl. Gigli Piccardi 1985, 96; 147; 184–185). φιλακρήτων Das Kompositum ist vor Nonnos nur bei AP (Simon.) 7.24.5 und Opp. C. belegt, wo es ein starkes Verlangen nach Wein zum Ausdruck bringt. In den Dionysiaka weist es meist nur auf ein vages Naheverhältnis des charakterisierten Objekts zum Wein hin (vgl. z.B. 11.517 φιλακρήτῳ παρὰ ληνῷ; 14.120 φιλακρήτοισι κυπέλλοις; zu Komposita mit dem Präfix φιλ(ο)- s. K. 41.). In diesem Sinne fungiert es auch als gleichsam formelhaftes epitheton ornans für das Laub der Rebe (30.311 φιλακρήτῳ δὲ πετήλῳ; 40.264; 48.47; vgl. zu den Trauben 12.340 φιλακρήτων … καρπῶν). 195 κυδιόων Διόνυσος Der Stolz des Dionysos auf sein neues Attribut ist ein wiederkehrendes Motiv (12.206 ἀγηνορέοντος … ἀνθερεῶνος; 290 Ἔννεπε κυδιόων; 395 δύσατο κυδιόων … ἄντρα). Ἀεξιφύτοιο Zum Epitheton s. K. 100. 196 ἄρτι πεπαινομένης … καρπὸν ὀπώρης Das spontane Reifen der Trauben (vgl. 47.17–18 [bei Dionysos’ Ankunft in Athen] αὐτοφυὴς γλυκεροῖο πεπαινομένου τοκετοῖο/βότρυς … ἐφοινίχθη) fügt sich in das allgemeine Bild von der wundersamen Verwandlung des Ampelos (s. K. 173–205a). In der Antike gab es die Legende von einer wundersamen Rebe, deren Früchte angeblich an einem einzigen Tag reiften (vgl. S. Fr. 255 TrGF mit K.). 197 αὐτοδίδακτος Die Tatsache, dass sich jemand eine Fähigkeit ohne fremde Hilfe erworben hat, wird von Nonnos generell gerne hervorgehoben (vgl. z.B. 24. 321 [vom Sänger Leukos] αὐτοδίδακτος ἀνέπλεκε Λεῦκος ἀοιδήν; 40.508 εἰς πλόον αὐτοδίδακτον ἐνήχετο ναυτίλος ἰχθύς; 41.139–140 [vom frischgeborenen Eros] εἶχε δὲ φορβῆς/ἵμερον αὐτοδίδακτον). Die Betonung dieses Faktums passt zum allgemeinen Tenor der Beschreibung der Verwandlung des Ampelos, in dem der spontane Charakter der Ereignisse hervorgehoben wird (s. K. 173–205a). 198 παλάμης βεβριθότι καρπῷ Die Handwurzel (καρπός) steht metonymisch für die gesamte Hand (vgl. 2.464–465 [von Zeus, der einen Felsen abwehrt] παλάμης μεσάτῳ νωμήτορι καρπῷ/… πατάξας; 25.35–36 [von Perseus, der das Auge der Phorkis raubt] παλάμης ληίστορι καρπῷ/… λαβὼν ὀφθαλμόν).

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199 μέθης ὠδῖνα πιέζων Die Junktur ist etwas sonderbar. Beim Begriff ὡδίς handelt es sich um ein »Lieblingswort« des Nonnos, das er hauptsächlich in der übertragenden Bedeutung (»Hervorbringung«, »Kind«, »Frucht«) verwendet (vgl. Peek s.v.). In diesem Sinne kann es auch die Traube (12.304 ἡμιτέλεστος ἑὰς ὠδῖνας ἀέξων; 19.39 ποσσὶ περιθλίβοντα τεῆς ὠδῖνας ὀπώρης; 19.56 ἡμερίδων ὠδῖνα) oder den Wein bezeichnen (41.123–124 [von einer Weinquelle] πέτρη … ἔγκυος οἴνου/πορφυρέην ὠδῖνα … τέκε). Normalerweise ist dabei das von ὡδίς abhängige Genitivattribut als genitivus originis zu verstehen. Dies ist in diesem Fall allerdings nicht möglich, weil die Traube ja keine Hervorbringung des Rausches, sondern umgekehrt eine Hervorbringung der Rebe darstellt, die Rausch bewirkt (daher auch 17.82 μητέρα … μέθης εὔβοτρυν ὀπώρην). Der Genitiv μέθης drückt daher vielmehr eine Folge aus (vgl. z.B. 18.162 μετὰ κρητῆρα μέθης; 25.283 μέθης … ἐέρσην; 27.340 μέθης ποτὸν εὗρε). 200–201a πορφυρέης ἀνέφηνε νεόρρυτον ὄγκον ὀπώρης,/καὶ γλυκερὸν ποτὸν εὗρε Das gewählte Vokabular (ἀνέφηνε/εὗρε) scheint Teil einer εὕρεσιςBegrifflichkeit zu sein (vgl. v.a. E. Ba. 279 [von Dionysos] βότρυος ὑγρὸν πῶμ’ ηὗρε; weiters S. Fr. 172 TrGF [von Satyrn] πόθεν ποτ᾿ ἄλυπον ὧδε/ηὗρον ἄνθος ἀνίας; Astyd. 60 Fr. 6.2–3 [von Dionysos] θνητοῖσι τὴν ἀκεσφόρον/λύπης ἔφηνεν οἰνομήτορ’ ἄμπελον; Fr. 646a, 27 TrGF εἰς θνητοὺς ἀνέφηνα ̣ ποτὸν Διονύ ̣[σου mit K. ad loc.). 200 ὄγκον ὀπώρης Derselbe Verschluss findet sich auch in 19.20; 133; 177 (vgl. 20.131 ὄγκον ἐυρραθάμιγγος ὀπώρης) und ist Teil einer von Nonnos kreierten Serie an Klauseln, die sich aus ὄγκον und einem darauf folgenden Substantiv im Genitiv zusammensetzen (ὄγκον ἀνίης: 4.10; 12.271; 19.177; 25.382; 47.242; ὄγκον ἐέρσης: 12.301; 15.17; 19.162; ὄγκον ἀπειλῆς: 16.27; 17.318; 24.60; 32.148; 257; 35.30; 46.53; P. 88; Met. 20.166; zum nonnianischen Klauselsystem allgemein s. E. Kap. 8.2.1.). 201 οἰνοχύτου Διονύσου Das schmückende Beiwort des Dionysos (13.256; 273; 18.163; 25.290; 37.721) wurde hier mit bewusstem Bezug zur beschriebenen Situa­tion gewählt und erfüllt gleichsam eine narrative Funktion (s. zum pointierten Epitheta-Gebrauch s. E. Kap. 8.2.1.). 202 λευκὰ … ἐρυθαίνετο δάκτυλα χειρῶν Während sich das letzte Mal die Hände des Dionysos vom Blut des Ampelos rot färbten (11.223 λευκὸν ἐρευθιόωντι δέμας φοινίσσετο λύθρῳ), tun sie es nun nach dessen Verwandlung vom Wein. Die weiße Haut des Dionysos ist ein Zeichen seiner effeminierten Gestalt. Die Betonung von Farbkontrasten ist für den Stil des Nonnos typisch (vgl. vor allem 12.359 [von der Weinkelter] λευκὸν ἐρευθαλέης … ἀφρὸν ἐέρσης; 29.292 [von dem in Wein verwandelten Hydaspes] λευκὸν ὕδωρ μεθύοντι ῥόῳ φοίνιξεν ῾Υδάσπης).

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203 Καὶ δέπας ἀγκύλον εἶχε βοὸς κέρας Die Verwendung eines Horns als Trinkgefäß ist als archaisierendes Element zu werten (vgl. 12.360–361 [von den Satyrn] Καὶ βοέοις ἀρύοντο κεράασιν ἀντὶ κυπέλλων/μή πω φαινομένων mit K. ad loc.). 204–205 ἐγεύσατο Βάκχος ἐέρσης,/γεύσατο καὶ καρποῖο Die anaphorische Wiederholung dient hier der Parallelisierung von Speise und Trank, die im ersten Abschnitt der anschließenden Rede des Dionysos (12.207–211) weitergeführt werden wird. Die ausgeprägte Verwendung von Anaphern ist in den Dionysiaka durchaus geläufig (vgl. 11.386 ἔλλαχε/ἔλλαχεν; 29.240–241 ἤλασε/ ἤλασεν; 44.177 φεύγει/ἔφευγεν; Keydell 1953, 14; Schmiel 1998a, 327–330). 205b–291 Rede des Dionysos Auf die Metamorphose des Ampelos folgt eine Rede des Dionysos, in der dieser seinem Stolz (206 ἀγηνορέοντος; 290 κυδιόων) auf sein neues Attribut Ausdruck verleiht. Aus struktureller Sicht ist sie mit den Reden des Apoll und der Venus in Ovids Metamorphosen vergleichbar, die die beiden Götter im Anschluss an die Verwandlung ihrer Lieblinge halten (vgl. 1.557–565 [Daphne]; 10.141–142 [Cyparissus]; 203–208 [Hyacinthus] bzw. 10.724–731 [Adonis]). Inhaltlich folgt die Rede des Dionysos den Regeln der Gattung der Ethopoiie und entspricht in ihrer Form den für die Dionysiaka charakteristischen Τίνας ἂν λόγους εἴποι-Reden – in der Tat könnte man der Rede des Dionysos den Titel Τίνας ἂν λόγους εἴποι ὁ Διόνυσος Ἀμπέλου εἰς φύτον μεταμορφώσαντος geben. Derartige Themenstellungen scheinen durchaus beliebt gewesen zu sein, wie das Papyrusfragment P.Cairo. Cat. II 67188v (= Dioscorus 27 Heitsch) zeigt, welches die Überreste einer Ἀπόλλω[ν Ὑ]α ̣[κί]νθο[υ καὶ] Δάφ̣ ν̣ ̣[η]ς ἐπὶ τὸ αὐτὸ ε[ἰς] φ[υτὸν] γενομέ[νων] betitelten Ethopoiie aus der Hand des »Dichters« Dioskoros aus Aphrodito (6. Jh.) überliefert. Leider ist nur der leicht verstümmelte Beginn des Textes erhalten, in dem sich Apoll glücklich preist, die beiden Pflanzen in seinen Händen halten zu können (für weitere ähnliche poetische Ethopoiien vgl. die bei Agosti 2005, 55–56 angeführten Werke sowie Io. Gaz. Anacr. […] τίνας ἂν εἴποι λόγους ὁ Διόνυσος τοῦ ἔαρος ἐληλυθότος [nur Titel erhalten]). Der Intention der Veranschaulichung des freudvollen Stolzes des Dionysos entspricht der enkomiastische Inhalt der Rede. Diese gliedert sich grob in drei Teile: Die Worte des ersten Abschnitts (207–211) drücken als unmittelbare Reaktion auf die Verkostung der Trauben Dionysos’ freudige Verblüffung über die neue Frucht aus, die zugleich Speise und Trank bietet. Auf diese folgt als Mittel- und inhaltlicher Hauptteil der Rede ein Lobpreis des in einen Rebstock verwandelten Ampelos (212–271). Dessen Gestaltung rekurriert auf das Muster des Personenenkomions und behandelt – in Übereinstimmung mit der Gliederung bei Hermog. Prog. p. 16.18–17.2 Rabe – die Topoi der τελευτή und der τὰ μετὰ τὴν τελευτήν (vgl. allgemein Pernot 1993, 176–178): Die Verse 212–233 themati-

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sieren die ungewöhnlichen Umstände von Ampelos’ Tod, die Verse 234–271 die künftigen daraus resultierenden Wohltaten, nämlich die Erfindung des Weins sowie dessen Verwendung als dionysisches Attribut. Im dritten und letzten Teil der Rede (272–289) kehrt Dionysos wieder zur Ausgangssituation zurück und beschreibt das sich seinen Augen darbietende Naturschauspiel, welches er als Verehrung der Rebe durch die Natur interpretiert; der Ausblick auf die Hitze des Hochsommers am Ende der Passage leitet dabei motivisch schon zum folgenden Abschnitt (293–397) über, in dessen Zentrum die Lese und Verarbeitung der Trauben steht. Neben dem Personenenkomion, das vor allem für die Grobstruktur des Mittelteils Pate stand, ist der Gedankengang der Rede des Dionysos insbesondere durch die Gattung des Pflanzenenkomions beeinflusst, für welches Hermog. Prog. p. 17.23–18.7 Rabe die ausführlichste Definition liefert: Καὶ μὴν καὶ τὰ φυτὰ παραπλησίως ἀπὸ τοῦ τόπου, ἐν ᾧ φύεται· ἀπὸ τοῦ θεοῦ, ᾧ ἀνάκειται, ὡς ἡ ἐλαία τῇ Ἀθηνᾷ· ἀπὸ τῆς τροφῆς, οἷον πῶς τρέφεται. καὶ εἰ μὲν πολλῆς ἐπιμελείας δέοιτο, τοῦτο θαυμάσεις, ἂν δὲ ὀλίγης, καὶ τοῦτο. ἐρεῖς δὲ ὡς ἐπὶ σώματος τὴν ἀναδρομήν, τὸ κάλλος, εἰ ἀειθαλές, ὡς ἡ ἐλαία· εἶτα. τὸ χρήσιμον, ᾧ μάλιστα ἐνδιατρίψεις. τὰς δὲ συγκρίσεις πανταχοῦ παραληπτέον (vgl. hierfür allgemein Pernot 1993, 238–239). Für die Argumentation der Rede des Dionysos werden entsprechend dem Ratschlag des Hermogenes vor allem Aspekte aus dem Bereich des χρήσιμον behandelt (v.a. 207–211; 247–271) – daneben auch einige aus jenem des κάλλος (v.a. 224–233). Reichlich Gebrauch wird auch von συγκρίσεις gemacht, in denen das Schicksal des Ampelos oder die Eigenschaften der Rebe sich als inferior erweisenden Vergleichspartnern gegenübergestellt werden; wie in der Rede der Atropos bildet Apoll die zentrale Vergleichsfigur (208–209; 217; 224–225; 247–252; zum Motivnetz innerhalb der AmpelosEpisode s. E. Kap. 4 Ende). Leider ist uns aus der Antike kein Reben-Enkomion erhalten geblieben, wenngleich derartige Versuche offensichtlich unternommen wurden. So nennt Aphthonios als Beispiele für mögliche Themen für Pflanzenenkomien φυτὰ δὲ ὡς ἐλαίαν ἢ ἄμπελον (21). Immerhin ist in der einem Nikolaos zugeschriebenen, nicht präzise datierbaren Progymnasmata-Sammlung (s. hierzu Gibson 2008, xxiii Anm. 24) ein Ψόγος ἀμπέλου (1 p. 343–344 Walz) sowie eine Σύγκρισις ἐλαίας καὶ ἀμπέλου (1 p. 370–371 Walz) überliefert, bei der die Rebe allerdings dem Ölbaum unterliegt – dass die Rebe vor allem als Negativbeispiel herhalten muss, ist wohl pädagogischen Überlegungen bei der Gestaltung dieser Schultexte geschuldet (vgl. Ψόγος μέθης 1 p. 345 Walz). Was andere Pflanzen anbelangt, haben sich aber sehr wohl, Enkomien/συγκρίσεις oder in deren Tradition stehende Texte erhalten (vgl. P. Oxy. 17.2084; Lib. Enc. 9; Nicol. Enc. 4 [1 p. 334–335 Walz]; Comp. 10 [1 p. 372–373 Walz] bzw. Call. Fr. 194.28–92 Pfeiffer; Ach. Tat. 2.1; Iul. Ep. 180 390b–394a Bidez/Cumont). Der Vergleich der Rede des

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Dionysos mit diesen Texten (s. K. zu Einzelstellen) belegt dabei einmal mehr die Originalität und den bisweilen extravaganten Einfallsreichtum des Nonnos. Innerhalb der Ampelos-Episode erfüllt die Rede des Dionysos eine wichtige strukturierende Funktion, indem in ihr zahlreiche Motive oder Gedanken aus der Schilderung von Dionysos’ Trauer gebündelt und ins Positive verkehrt werden. Dadurch wird die Peripetie von Trauer zu Glück eindrücklich unterstrichen. Besonders starke Korrespondenzen bestehen dabei zur ersten Klagerede des Dionysos, auf die die vorliegende Rede gleichsam als kontrastierendes Gegenstück antwortet (212–216; 217a; 224–225; 229–231; 247–252). Eine ähnliche Funktion wie die Bezugnahmen auf die erste Klagerede des Dionysos erfüllt auch die enthusiastische Schilderung der Verehrung der Rebe durch die Natur am Ende der Rede, die einen positiven Konterpart zur Beschreibung der Trauer der Natur in 124–137 bildet. Darüber hinaus steht der Monolog des Dionysos, mit dem die Ampelos-Episode endet, in Korrespondenz zu den zwei Reden der Semele, die die beiden vorangegangenen Episoden beschließen (s. E. Kap. 8.1.2. Ende); der Abschnitt 247–271, der gleichsam einen Fokalisationspunkt entsprechender inhaltlicher und sprachlicher Querverbindungen bildet, verdeutlicht diese episodenübergreifende Verbindunglinie zusätzlich. In der zweiten Hälfte der Rede weist der tradierte Text Unstimmigkeiten auf: Das als Verse 270–271 überlieferte Teilstück ῎Αμπελε, καὶ μετὰ πότμον ἐυφραίνεις φρένα Βάκχου/πᾶσιν ἐμοῖς μελέεσσιν ἐγὼ σέο πῶμα κεράσσω gehört allem Anschein nach nicht an diese Stelle und muss hinter 233 verschoben werden. Als problematisch erweist sich auch die Partie 258–260, die den Gedankengang auf unnötige Weise stört und ein nicht für die finale Publikation bestimmter Entwurf zu sein scheint, der fälschlich in den Text gelangt ist. Die Genese dieser fehlerhaften Eingliederungen kann freilich nicht mit Sicherheit nachgezeichnet werden. Die Integration dieser Blöcke an falscher Stelle könnte aber durchaus auf Schwierigkeiten des Herausgebers der Dionysiaka hindeuten, aus dem ihm vorliegenden unfertigen und wohl auch unübersichtlichen Arbeitsmanuskript den korrekten, also von Nonnos intendierten, Textverlauf zu rekonstruieren; möglicherweise wies das Manuskript an dieser Stelle noch teilweise lose Textblöcke auf, die vom Herausgeber für die finale Edition erst in den fortlaufenden Text integriert werden mussten, was ihm aber scheinbar nicht immer fehlerfrei möglich war. Im Gegensatz dazu dürften die Probleme, die die Verse 285 Εἰ δὲ μεσημβρίζουσαν †ἄγεις† Φαέθοντος ἀπειλήν und 249 (wo das überlieferte κήπῳ wohl in καρήνῳ zu korrigieren ist) bereiten, auf Korruptelen zurückgehen, die im Zuge des Überlieferungsprozesses entstanden sind. In Bezug auf die Probleme, die die Verse 270–271 und 258–260 mit sich bringen, scheint es erwähnenswert zu sein, dass im Kodex L gegen Mitte von fol. v 51 (das entsprechende Digitalisat ist abrufbar unter: http://mss.bmlonline.it/s. aspx?Id=AWOIsjCQI1A4r7GxMK10&c=II.%20Nonni%20Panopolitae%20diony-

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siacorum%20libri%20XLVIII#/oro/118 [letzter Zugriff: 20.09.2021]) drei auffällige Zeichen in margine zu erkennen sind, die meines Wissens ansonsten an keiner weiteren Stelle des Dionysiaka-Teils der Handschrift auftauchen. Ludwich 1909 in app. (und ihm folgend Keydell 1959, 512) sieht in ihnen unterschiedliche Zahlzei2 chen und weist L als ihren Urheber aus (inter 260 et 262 im. obscurius scr. α̅ , infra 2 261 β̅ , infra 268 tertium signum illis respondens L ). Da ich die Handschrift weder im Original inspiziert habe noch ein Spezialist auf dem Gebiet der Paläographie bin, möchte ich es Berufeneren überlassen, zu den Einschätzungen von Ludwich v Stellung zu beziehen. Mir stellen sich die drei Vermerke auf fol. 51 jedenfalls als ähnliche Zeichen dar, die recht eindeutig als maniculae zu identifizieren sind. Die 3 verwendete Tinte scheint mir zudem eine Zuweisung an L nahezulegen, der eine 2 3 rötliche und verblasste Tinte benutzte (zu L und L s. E. Kap. 9). Worauf die drei maniculae die Aufmerksamkeit genau richten sollen, bleibt unklar. Die dritte manicula befindet sich jedenfalls auf der Höhe der zu verschiebenden Verse 234–235, die beiden anderen zumindest in nächster Nähe zu dem wohl fälschlich in den Text gelangten Textstück 258–260. Ob aber tatsächlich eine Verbindung zwischen den maniculae und den problematischen Partien besteht, muss offenbleiben. Es ist aber einigermaßen verführerisch, hier einen – wie auch immer gearteten – Zusammenhang zu sehen. Möglicherweise gibt der Schreiber 2 3 der maniculae – sei es nun L oder L – Vermerke wieder, die dieser in einem an3 deren Kodex vorgefunden hat (für L wäre das allerdings weniger wahrscheinlich). Wenn dem jedenfalls so wäre (das bleibt aber Spekulation), könnten die Zeichen ein Indiz für eine weit zurückreichende Diskussion um die korrekte Integration dieser problematischen Stücke in den Text der Dionysiaka sein. 206 μῦθον ἀγηνορέοντος ἀνήρυγεν ἀνθερεῶνος Der Vers ist Teil des nonnianischen Formelsystems (vgl. 27.21 μῦθον ἀπειλητῆρος ἀνήρυγεν ἀνθερεῶνος; 38.57 τοῖον ἔπος μαντῷον ἀνήρυγεν ἀνθερεῶνος; weiters 1.93–94 αὐδήν/… ὀμφήεντος ἀνήρυγεν ἀνθερεῶνος; 3.246–247 στίχα μύθων/… ἀνήρυγεν ἀνθερεῶνος; zum nonnianischen Formelsystem allgemein s. E. Kap. 8.2.1.). Die einzelnen Elemente der Wortverbindung ἀγηνορέοντος ἀνήρυγεν ἀνθερεῶνος sind durch eine ähnliche Klangstruktur geprägt, die v.a. durch α-, ν- und ρAssonanzen bewirkt wird (ἀγηνορέοντος ἀνήρυγεν ἀνθερεῶνος). Die Gegenüberstellung von ἀγηνορέοντος ἀνήρυγεν dürfte dabei wohl als ein etymologisches Wortspiel zu deuten sein. So wurde das Wort ἀγήνωρ in der Antike etymologisch aus den Bestanteilen ἄγαν und ἀνήρ hergeleitet (vgl. Et. Gen. s.v. ᾿Αγήνωρ: ἐκ τοῦ ἄγαν καὶ τοῦ ἀνήρ γίνεται). Das unmittelbar auf ἀγηνορέοντος folgende ἀνήρυγεν soll wohl auf diese Ableitung anspielen (vgl. 21.163 τις ἀγηνορέων βροτὸς ἀνὴρ; Met. 3.169–170 ἀνήρ/… ἀγηνορέων; zu Wortspielen in den Dionysiaka s. E. Kap. 8.2.4.). Ähnlich verfährt Nonnos – sofern der Text von L korrekt überliefert ist – auch in 20.265 δολοπλόκον ἔπλεκε (L) φωνήν, wo eine

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figura etymologica Teil einer nonnianischen Formel ist (zur Textproblematik s. Hopkinson/Vian 1994 ad loc.). 207–211 Verwendung der Trauben als Speise und Trank Der Abschnitt der Rede rekurriert auf die Verse 204–205 ἐγεύσατο Βάκχος ἐέρσης,/γεύσατο καὶ καρποῖο der Haupthandlung, in denen Dionysos sowohl das Fruchtfleisch der Trauben als auch von deren (zu Wein gewordenem) Saft kostet. Die doppelte Verwendung von Trauben als Speiseobst und als Ausgangsprodukt für die Weinherstellung entspricht der antiken Realität (vgl. z.B. Varro Rust. 1.54.2 uva non solum legitur ad bibendum, eligitur ad edendum; weiters AP 9.59 [Macedon.]). Im weiteren Verlauf der Handlung der Dionysiaka wird aber nur mehr letzterer Aspekt von Bedeutung sein. Es wäre zu überlegen, ob diese Betonung der doppelten Funktion der Trauben als Speise und Trank an dieser Stelle ein Reflex des gerade im 12. Buch stärker durchscheinenden christlichen Diskurses darstellt (s. K. 117b–291). Die pointierte Formulierung εἶδαρ ἐγὼ μερόπεσσι καὶ οὐ πόμα μοῦνον ὀπάσσω ließe sich jedenfalls mit Eu. Io. 6.55 ἡ γὰρ σάρξ μου ἀληθής ἐστιν βρῶσις καὶ τὸ αἶμα μου ἀληθής ἐστιν πόσις bzw. mit dessen Paraphrasierung durch Nonnos in Met. 6.164–165 ζωῆς γὰρ πέλεν εἶδαρ ἐτήτυμον ἡμετέρη σάρξ,/αἷμα δ’ ἐμὸν νημερτὲς ἔφυ ποτόν in Verbindung bringen. Der Aspekt der Nützlichkeit (χρήσιμον) ist ein Standardtopos des Pflanzenenkomions. Der große Nutzen, der von den Früchten der Rebe ausgeht, die sowohl als Nahrung als auch zur Herstellung eines Getränks verwendet werden können, wird von Dionysos durch eine σύγκρισις mit den jeweiligen Pflanzen des Apoll und der Demeter unterstrichen, die der Rebe in diesem Punkt unterlegen sind. Die σύγκρισις selbst ist in Form einer Klimax gestaltet: (i.) Apollos Pflanzen bieten weder Speise noch Trank, (ii.) Demeters Ähren bieten zwar Speise, aber keinen Trank, (iii.) Dionysos’ Rebe bietet sowohl Speise als auch Trank. Die Verwendung derartiger Argumentationsmuster scheint recht geläufig gewesen zu sein: In Call. Fr. 194.73–77 Pfeiffer führt ein Ölbaum im Streit mit einem Lorbeerbaum als Argument für seine Überlegenheit an, dass man seine Früchte im Gegensatz zu jenen des Lorbeerbaums als Speise, als Getränk und auch als Salbe verwenden kann (vgl. v.a. 73–74 τί τῆς δάφνης ὁ καρπός; ἐς τί χρήσωμαι;/μήτ’ ἔσθε μήτε πῖνε μήτ’ ἐπιχρίσῃ; Hollis 1994, 48). Ähnlich preist der Verfasser von Iul. Ep. 180 Bidez/Cumont die Überlegenheit der in Damaskus produzierten Feigen damit, dass sie im Gegensatz zu den übrigen sowohl als Frisch- als auch als Dörrobst gegessen werden können (393b Καὶ τὰ μὲν ἄλλα τῶν σύκων ἢ ὀπωρινὴν ἔχει τὴν βρῶσιν ἢ τερσαινόμενα ἐς τὸ ταμεῖον ἔρχεται, τὸ δὲ παρ᾿ ἡμὶν μόνον ἀμφοτερίζει τῇ χρείᾳ, καὶ καλὸν μέν ἐστιν ἐπιδένδριον, πολλῷ δὲ κάλλιον, εἰ ἐς τὴν τερσιὰν ἔλθοι).

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207 Ἀμβροσίην καὶ νέκταρ … τίκτεις Die Formulierung, mit der Dionysos seine Rede beginnt, findet eine recht präzise Entsprechung in einem Beispielproömium für ein Reben-Enkomion in der anonymen und aus byzantinischer Zeit stammenden rhetorischen Schrift Περὶ τῶν ὀκτὼ μερῶν τοῦ ῥητορικοῦ λόγου: ἡ μὲν [scil. ἄμπελος] νέκταρι σχεδὸν καὶ ἀμβροσίᾳ δεξιοῦται (3 p. 598.24 Walz). Bei Nonnos dürfte sich die Umschreibung der Erzeugnisse der Rebe als Am­brosia und Nektar auf die zweifache Natur der Frucht der Rebe, die Speise und Trank zugleich bietet, beziehen (zu Ambrosia und Nektar als Nahrung bzw. Trank der Götter vgl. v.a. 6.39–42 und allgemein Vian 1995a ad loc.; RE 1.1, 1811 s.v. Ambrosia). In den Dionysiaka ist die Parallelisierung von Dionysos’ Wein mit dem Nektar der Götter ein häufiges Motiv in preisenden Kontexten (s. K. 159). Eine strenge Parallelisierung der Trauben mit Ambrosia findet sich meines Wissens hingegen nur hier im Epos, Nonnos verbindet aber auch sonst zumindest den Duft der Trauben mit jenem von Ambrosia (s. K. 232b–233). 208–209 Lorbeer und ὑάκινθος Die Früchte des Lorbeers und des ὑάκινθος wurden in der Antike in der Tat nicht kulinarisch verwertet, sondern hauptsächlich für medizinische Zwecke verwendet: Aus den Früchten des Lorbeers wurde ein Öl gewonnen, das gegen verschiedene Leiden eingesetzt wurde (RE 13.2, 1438–1439 s.v. Lorbeer). Unterschiedliche medizinische Anwendung fanden auch Wurzeln und Samen des ὑάκινθος, die mit Wein vermengt getrunken wurden (RE 9.1, 7 s.v. Ὑάκινθος). 209 ἐξ ὑακίνθου Der als Attribut zu καρπόν (208) verwendete Präpositionalausdruck fungiert hier – wie bei Nonnos häufig – als Ersatz für einen einfachen Genitiv (vgl. z.B. 5.113–114 ἐκ … δαΐδων … αἴγλης /... φάος; 21.229–230 ἐκ δὲ βοείης/χαλκὸς … ἠχώ; Peek s.v. I.1.). 210–211 Οὐ στάχυς ὠδίνει γλυκερὸν ποτόν· ἵλαθι, Δηώ·/εἶδαρ ἐγὼ μερόπεσσι καὶ οὐ πόμα μοῦνον ὀπάσσω Das Argument des Dionysos, dass aus Getreide kein Getränk hergestellt werden kann, entspricht nicht der antiken Realität. Gerste bildete nämlich die Grundlage für die Herstellung sowohl von Bier (ζῦθος) als auch des κυκεών, eines nicht fermentierten Getränkes, für dessen Zubereitung Gerstenmehl mit einer Flüssigkeit (Wasser, Wein, Öl, Milch, Honig, Olivenöl) vermengt wurde (vgl. z.B. Richardson 1974, 344–348). Während ersteres im griechischen Epos nicht in Erscheinung tritt, fungiert letzterer dort als beliebtes Erfrischungsgetränk. Der κυκεών steht – abgesehen von der Tatsache, dass er aus Getreide hergestellt wird – zu Demeter insofern in einem Naheverhältnis, als dieses Getränk auch den Mysten in Eleusis verabreicht wurde. Das Ausklammern der Existenz dieses Getränks an dieser Stelle ist umso auffallender, als in 47.87–88 der κυκεών dem Wein ausdrücklich gegenübergestellt wird (οὔ μιν [scil. Wein] ἐίσκω/συμφερταῖς λιβάδεσσι μελικρήτου κυκεῶνος; vgl. 5.273; 22.77).

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Die logische Verbindung von εἶδαρ ἐγὼ μερόπεσσι καὶ οὐ πόμα μοῦνον ὀπάσσω zum vorhergehenden Vers ist nicht gänzlich einleuchtend. Es wäre zu erwarten, dass Dionysos hervorhebt, dass die Frucht der Rebe nicht nur (wie die Ähren der Demeter) Nahrung bietet, sondern dass daraus auch ein Getränk hergestellt werden kann. In der von Nonnos gewählten Formulierung wird das logische Verhältnis aber genau umgedreht: Dionysos schenkt den Menschen nicht nur ein Getränk, sondern auch Nahrung. Diese logische Inkongruenz ist am plausibelsten damit zu erklären, dass es sich hierbei um einen verkürzten Gedankengang handelt, dem die nicht explizit genannte Dichotomie Demeter (Nahrung)/Dionysos (Getränk) zugrunde liegt. Der Vers wäre demnach wie folgt zu verstehen: Dionysos kann nicht nur das Defizit der Demeter, kein Getränk zu haben, ausgleichen, sondern ihr sogar auf ihrem eigenen Gebiet (Nahrung) Paroli bieten. 212–233 »Tod« und Metamorphose des Ampelos Die Passage behandelt den enkomiastischen Topos der τελευτή und hebt die besonderen Umstände von Ampelos’ Tod hervor (vgl. Hermog. Prog. p. 16.18–23 Rabe). Zentraler Referenzpunkt der Argumentation ist die Schönheit des Ampelos (programmatisch 212 σέο πότμος ἐπήρατος). Der Gedankengang gliedert sich dabei in zwei Teile. Im ersten Teil wird Ampelos’ Tod selbst behandelt (212–221). Dionysos streicht hervor, dass Ampelos aufgrund seiner Schönheit (213 εἰς σέο κάλλος; 221 μορφὴν ὑμετέρην) dem tatsächlichen Tod entgehen konnte. Die Besonderheit von Ampelos’ Schicksal wird dabei ex negativo beschrieben, indem Dionysos auflistet, was Ampelos im Gegensatz zu den übrigen Sterblichen nicht widerfahren ist (217–220a). Der Abschnitt hebt sich durch seine Pathosgeladenheit, die sich im kommatischen und anaphernreichen Satzbau (213–214 εἰς σὲ καὶ εἰς σέο κάλλος …, εἰς σὲ …, εἰς σὲ …; 217–220 Οὐ …· οὐ …, οὐ …, οὐκ …· οὐδέ …, οὐ ...) sowie in paradoxen Zuspitzungen (217 Οὐ θάνες, ὡς τέθνηκεν ᾿Ατύμνιος; 219 Ζώεις … καὶ εἰ θάνες) manifestiert, deutlich vom Rest der Rede ab. Das starke Pathos an dieser Stelle dürfte damit zu erklären sein, dass die behandelte Thematik, nämlich Ampelos’ »Tod«, Dionysos persönlich besonders berührt. Im zweiten Teil wird die Verwandlung des Ampelos gepriesen (222–233), wobei hauptsächlich das Weiterbestehen der Schönheit des Knaben in Gestalt der Rebe thematisiert wird. Die Erwähnung des von der Rebe ausgehenden Wohlgeruchs am Ende des Abschnitts leitet dabei motivisch bereits zum folgenden Abschnitt über, in dem dieses Motiv breiter ausgeführt wird (239–246). In den beiden Partien wird der Tod bzw. die Verwandlung des Ampelos dem Schicksal eines Knaben des Apoll in Form einer σύγκρισις gegenübergestellt (217; 224–225). 212–216 Mitleid der Schicksals- und Unterweltsgötter Das Mitleid der Moiren wurde bereits im Rahmen der Rede der Atropos behandelt (138–144). Die beiden Stellen stehen jedoch in einem gewissen Widerspruch: In 144 hatte Atropos

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dem Dionysos nämlich mitgeteilt hat, dass dessen tiefe Trauer der Anlass dafür war, das Schicksal des Ampelos rückgängig zu machen (σὸς γόος ἀτρέπτου παλινάγρετα νήματα Μοίρης). Nun aber gibt er selbst die Schönheit des Ampelos als Grund hierfür an (213 εἰς σὲ καὶ εἰς σέο κάλλος ἐθηλύνθη λίνα Μοίρης). Hierbei handelt es sich jedoch um eine Inkongruenz von geringer handlungslogischer Tragweite, wie sie für den Kompositionsstil der Dionysiaka durchaus typisch ist – gerade im Kontext von Reden (s. E. Kap. 8.1.). Zu bedenken ist auch, dass die Verse Teil einer Figuren-Rede sind und damit primär den Standpunkt von deren Sprecher wiedergeben. Die Aussage kann daher auch als eine Annahme des Dionysos interpretiert werden, der mutmaßt, dass wohl auch die Schönheit des Ampelos letztlich für die Entscheidung der Moiren mitverantwortlich war. Die Erwähnung des Mitleids der Schicksals- und Unterweltsgötter (zum Motiv selbst s. K. 138–172) steht in Korrespondenz zu Dionysos’ erster Klagerede: Während dieser dort die Unabänderlichkeit des Schicksals (11.255 Μοιράων πεσέτω φθονερὸν λίνον) und die Unbestechlichkeit des Hades (v.a. 11.304– 307 ὤμοι, ὅτ’ οὐκ ᾿Αίδης πέλεν ἤπιος, οὐδ’ ἐπὶ νεκρῷ/δέχνυται ἀγλαὰ δῶρα βαθυπλούτοιο μετάλλου,/῎Αμπελον ὄφρα θανόντα πάλιν ζώοντα τελέσσω·/ ὤμοι, ὅτ’ οὐκ ᾿Αίδης ποτὲ πείθεται […]) beklagt hat, kann er nun freudig feststellen, dass Ampelos’ Schicksal sogar die hartherzigsten Götter erweichen konnte. 213 ἐθηλύνθη λίνα Μοίρης Die Macht, die der Faden der Moiren symbolisiert, ist gebrochen (vgl. 1.306 ἐθηλύνοντο κεραυνοί; 6.333 μαρμαρυγαὶ Φαέθοντος ἐθηλύνοντο; 34.75 Χαλκομέδην παρεοῦσαν, ἐμὴ θηλύνεται αἰχμή; 48.904 ἐθηλύνθησαν ὀιστοί). 214 οἰκτίρμων ᾿Αίδης Die für Nonnos untypische Akkumulation von Spondeen scheint stilistisch bewusst eingesetzt zu sein, um auf das Wesen des Unterweltsgottes zu verweisen (s. allgemein E. Kap. 8.2.5.). 216 ζώγρησε κασιγνήτῳ Διονύσῳ Abweichend von der sonst für die Diegese des Epos maßgeblichen orphischen Version, der zufolge Persephone die Geliebte des Zeus und Mutter des Dionysos Zagreus ist (vgl. 5.562–6.168; 31.44–58; 44.204– 213; 48.962; Hernández de la Fuente 2002), folgt Nonnos hier der mythologischen Vulgata, die Persephone als Tochter des Zeus kennt. Ähnliche widersprüchliche Genealogien finden sich auch an anderen Stellen des Werks (s. K. 96). 217 Οὐ θάνες, ὡς τέθνηκεν ᾿Ατύμνιος Der Heros Atymnios wurde in Gortyn verehrt (Sol. 11.9). Apollod. 3.1.2 erwähnt den Mythos vom Streit des Minos und des Sarpedon um die Gunst des Atymnios, der ein Sohn des Zeus und der Kassiopeia gewesen sei (ausführlich Chuvin 1991, 57–58). Nonnos führt den kretischen Jüngling in den Dionysiaka mehrmals als mythologisches exemplum

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an, folgt aber einer entlegenen Version des Mythos, der zufolge Atymnios ein Geliebter des Apoll war (11.130–131; 29.28). Durch den frühzeitigen Tod des Knaben in tiefe Trauer versetzt (19.183–184) habe Apoll daraufhin den Namen des Atymnios als Epitheton angenommen (11.258–259). Als Geliebter des Apoll taucht Atymnios ansonsten nur in einer Liste von ἐρώμενοι antiker Götter (darunter auch Ampelos) in Hom. Clem. 5.15.2 auf (Τυμναῖος) . Die Erwähnung des Atymnios schafft eine weitere Korrespondenz zwischen der vorliegenden Rede und der ersten Klagerede des Dionysos, in der Dionysos Apoll noch darum beneidet hat, dass dieser den Namen seines verstorbenen Knaben Atymnios als Epitheton führen kann (11.258–259 ὄλβιος ἔπλετο Φοῖβος ᾿Ατύμνιος· ἠιθέου γάρ/ἔλλαχεν οὔνομα τοῦτο). 217b–218 οὐ Στυγὸς ὕδωρ,/οὐ φλόγα Τισιφόνης, οὐκ ἔδρακες ὄμμα Μεγαίρης Ampelos muss nicht in die Unterwelt hinabsteigen. Dass dem Verstorbenen, der zu den Göttern aufsteigt oder ins Elysium gelangt, die Schrecken der Unterwelt erspart bleiben, scheint ein recht gängiger Funeraltopos gewesen zu sein: Aristid. 31.15 οὐ γὰρ Κωκυτὸς οὐδὲ ᾿Αχέρων τοῦτόν γε εἰλήφασιν, οὐδὲ θήκη κρύψει παραλαβοῦσα; Stat. Silv. 2.1.184–186 illum nec terno latrabit Cerberus ore,/nulla soror flammis, nulla adsurgentibus hydris/terrebit; Carm. Epigr. 1109.19–24 (= CIL 6 21521) non ego Tartareas penetrabo tristis ad undas,/non Acheronteis transvehar umbra vadis,/non ego caeruleam remo pulsabo carinam/nec te terribilem fronte timebo, Charon,/nec Minos mihi iura dabit grandaevus et atris/non errabo locis nec cohibebor aquis; Esteve-Forriol 1962, 147). Von den Erinnyen werden in den Dionysiaka nur Tisiphone und Megaira namentlich erwähnt (s. Chrétien 1985 ad 10.18–40). Der Ausdruck φλόγα Τισιφόνης bezieht sich auf das Feuer der Fackeln der Erinnyen, mit denen sie die Frevler quälen (vgl. z.B. Corn. ND 10 πυρὶ καὶ […] τοὺς ἀσεβεῖς διώκουσαι). Die Erwähnung des Auges der Megaira (ὄμμα Μεγαίρης) dürfte sich auf den bösen Blick derselben beziehen (31.74 βάσκανον ὄμμα φέρουσα; vgl. Orph. L. 225 κακομήτιος ὄσσε Μεγαίρης; Tz. H. 12.812–813 ἡ μεγαίρα ὁ φθόνος τέ ἐστι καὶ βασκανία/ἀπò Μεγαίρης δαίμονός τινος φθονερωτάτου; Rakoczy 1996, 92 Anm. 243; 160 Anm. 553). 219 Ζώεις δ’ έτι, κοῦρε, καὶ εἰ θάνες Zur paradoxen Formulierung s. K. 145. 219–220 οὐδέ σε Λήθης/κρύψεν ὕδωρ Das Eintauchen in den Unterweltsfluss Lethe fungiert als Bild für den Eintritt in den Hades (vgl. 7.45–46 πότμος, ὃς ἔκρυφε πολλάκι Λήθῃ/νυμφίον; 11.326 μηδ’ ἐνὶ Λήθῃ/῎Αμπελον ἱμερόεντα δεδουπότα μοῦνον ἐάσσω; 36.201; weiters AP 7.716.2 [Dionys.] εἰς Λήθης πικρὸν ἔδυς πέλαγος). Die Wahl von κρύπτω (»verbergen«) könnte eine versteckte Anspielung auf die Etymologie des Flussnamens (λήθω = »verborgen sein«) darstellen (zu etymologischen Anspielungen s. E. Kap. 8.2.4.).

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222–233 Schönheit der Rebe Der Abschnitt behandelt das Weiterbestehen von Ampelos’ Anmut in der schönen Gestalt der Rebe und variiert damit den in der ersten Klagerede des Dionysos vorgebrachten Gedanken, dass Ampelos auch als Leichnam nichts von seiner Schönheit eingebüßt hat (11.280–287). Die Argumentation des Dionysos zeigt Berührungspunkte mit der Gattung des Pflanzenenkomions, für welches der Aspekt der Schönheit (τὸ κάλλος) ein konstitutiver Bestandteil ist. Die Parallelen betreffen zum einen die Auswahl der behandelten Punkte »Farbe der Früchte«, »Schönheit des Laubs« und »angenehmer Duft« und zum anderen das Verfahren, die Eigenschaften der zu lobenden Pflanze mit einem dazugehörigen Verwandlungsmythos in Verbindung zu bringen. Was letzteren Aspekt betrifft, lassen sich folgende Vergleichsbeispiele anführen: (i.) In Nicol. Comp. 10 (1 p. 372.24–25 Walz) wird eine Analogie zwischen dem ἔρως, der die Betrachter des Lorbeerbaums ergreift, mit jenem des Apoll, als er die Nymphe Daphne erblickt habe, konstruiert (τὸ βλάστημα τοὺς θεατὰς ἕλκει πρὸς ἔρωτα, ὡς ἐκείνη πάλαι τὸν Πύθιον). (ii.) Wenig später wird die geringe Wuchshöhe des Weihrauchbaums (λίβανος) mit dem Mythos des Libanos, eines den Göttern geweihten Knaben, der nach seiner Ermordung in den nach ihm benannten Baum verwandelt worden sei, in Verbindung gebracht (vgl. Gp. 11.15): Der Baum erhebe sich nur in geringem Maße von der Erde, als ob er nach wie vor seine Verfolger fürchten würde (25–27 ὅ τε λίβανος οὐ πολὺ μὲν ἀνέχει τῆς γῆς, οὐδὲ ἐπὶ μέγα βλάστημα πρόεισιν, ὥσπερ δεδιὼς τοὺς πάλαι διώκοντας). (iii.) Johannes Geometres erwähnt in seinem ersten Enkomion auf den Apfelbaum einen ansonsten unbekannten Mythos, in dessen Zentrum ein schönes Mädchen steht, das in einen Apfelbaum verwandelt worden sei (Progymnasmata 4 [p. 17.22–18.2 Littlewood], v.a. καὶ γίνεται … φυτόν, καλὸν ὡς καλή, λευκὸν ὡς λευκή, ὡς αἰδουμένη δὲ πορφυροῦν). 222 πατὴρ ἐμὸς υἷα γεραίρων Mit der Klausel υἷα γεραίρων hebt Nonnos in den Dionysiaka das Eingreifen eines Gottes im Interesse seines Sohnes (oder Enkels) hervor (vgl. 5.274–275 Ζεὺς δὲ πατὴρ ἤκουσε καὶ υἱέος υἷα γεραίρων/ πέμψεν ἀλεξικάκων ἀνέμων ἀντίπνοον αὔρην; 37.393 ἵππιος ᾿Εννοσίγαιος ἑὸν θρασὺν υἷα γεραίρων). Möglicherweise hat Nonnos diese Klausel im Zusammenhang mit der Arbeit an der Metabole entwickelt, wo er Eu. Io. 13.32 καὶ ὁ θεὸς δοξάσει αὐτὸν ἐν αὐτῷ mit καὶ θεὸς ὑψώσειε πατὴρ υἱῆα γεραίρων (Met. 13.131) paraphrasiert (vgl. Met. 12.112–113 als Paraphrase von Eu. Io. 12.28). Einen vergleichbaren Fall diskutiert Vian 1997. Die Vorstellung, dass Dionysos durch die Verwandlung des Ampelos geehrt wird, lässt sich als Parallele zur Auferweckung des Lazarus lesen, die dem Sohn Gottes ebenfalls zur Ehre gereicht (Eu. Io. 11.4 ἵνα δοξασθῇ ὁ υἱός; zu christlichen Anklängen allgemein s. K. 117b–291).

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224–225 Οὐ Φύσις, ὡς γραπτοῖσι Θεραπναίοισι κορύμβοις,/αἴλινον ἀκλαύτοισι τεοῖς ἐχάραξε πετήλοις Nach Atymnios stellt Dionysos nun das Schicksal eines weiteren von Apoll geliebten Knaben jenem des Ampelos gegenüber. Die Erwähnung der Metamorphose des Hyakinthos schafft dabei eine weitere Verbindungslinie zur ersten Klagerede des Dionysos: Hat Dionysos Apoll dort noch dafür beneidet, dass jener mit dem ὑάκινθος eine Pflanze zum Attribut hat, die dessen Trauer durch die Zeichnung ihrer Blätter widerspiegelt (11.259–261 Θεραπναίου δὲ καὶ αὐτοῦ/φάρμακον ἡβητῆρος ἐπώνυμον ἄνθος ἀείρει,/αἴλινον ἐν πετάλοισιν ἐπιγράψας ὑακίνθου), so kann sich Dionysos jetzt darüber freuen, dass seine Rebe dem ὑάκινθος des Apoll sogar überlegen ist, da sich in ihr die ganze Schönheit des Ampelos zeigt (226–231). Der Gedanke wird in eine antithetische Form gekleidet: Während den Blättern von Apolls Blume »ein Lied der Trauer« (αἴλινον) eingeschrieben ist (s. hierzu K. 157), besteht die zentrale Charakteristik von Dionysos’ Rebe darin, genau diese Trauer zu vertreiben (ἀκλαύτοισι … πετήλοις; vgl. 156–159a mit K. ad loc.). 226–228 Farbe der Trauben Ampelos bewahrt auch nach der Verwandlung seinen ursprünglichen hellen Hautteint. Dieser wurde von Nonnos als weiß oder rötlich beschrieben (10.179–180 ἐρευθομένοιο γενείου/… χιονέης … κύκλα παρειῆς; 11.31 χροῒ φοινίσσοντι; 11.223 λευκὸν … δέμας; vgl. 11.377–378 [von Kalamos]; 389 [von Karpos]). In welchem Teil der Rebe sich der helle Hautteint genau spiegelt, wird nicht explizit erwähnt. Da Nonnos aber hauptsächlich den rötlichen Schimmer der Haut vor Augen zu haben scheint (ἐρευθαλέη …μορφή), dürften die rötlichen Trauben gemeint sein – möglicherweise ist hier bereits die Röte des aus den roten Trauben hergestellten Weins mitzudenken (vgl. 230 οἶνον). Die Beschreibung der Färbung der Früchte ist ein gängiger Topos in Enkomien auf Fruchtbäume, wobei allerdings im Gegensatz zur vorliegenden Stelle vor allem die Buntheit der unterschiedlichen Färbungen hervorgehoben wird (Lib. Enc. 9.7; Iul. Ep. 180 392d Bidez/Cumont; Nicol. Comp. 7 [1 p. 368.27–31 Walz]; vgl. Iohannes Geometres, Progymnasmata 4 [p. 17.1–16 Littlewood]). Zur Formulierung καὶ ἐν ἔρνεσι s. K. 98. 227 μελέων ἀκτῖνα Nonnos beschreibt den Schimmer eines hellen Teints gerne mithilfe der Strahlenmetaphorik (vgl. 5.485–486 αἴγλη/χιονέας ἀκτῖνας ἀκοντίζουσα; 16.115 μελέων ἀκτῖνα; 30.215 οὐ ῥοδέην ἀκτῖνα … προσώπου; weiters 18.114 πορφυρέας ἀκτῖνας ὅλῳ στίλβοντι προσώπῳ; 20.101–102 χιτῶνα/ Σιδονίης ἀκτῖνας ἀκοντίζοντα θαλάσσης). 229–231a Weinspende als künftiger Bestandteil des Tieropfers Die Verse unterbrechen den Gedankengang des Abschnitts, in dem das Weiterbestehen der Schönheit des Ampelos in Gestalt der Rebe behandelt wird, und bilden eine

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gedankliche Parenthese. In assoziativer Weise knüpfen sie an die Anspielung auf die rötliche Färbung der Trauben in 226–228 an: Die Röte der Trauben vor Augen habend, verspricht Dionysos, Opferstiere künftig mit (rotem) Wein zu besprengen und damit an diesen den Tod des Ampelos zu rächen, der ja durch einen Stier zu Tode gekommen ist. Der mit der Drohung einhergehende Bruch im Gedankengang dürfte wohl der Pathoszeichnung dienen: Durch die rötliche Farbe an die Ermordung des Ampelos erinnert und leidenschaftlich erregt, bricht Dionysos plötzlich in eine Drohung gegen den Mörder aus (vgl. 212–221). Die Rachegedanken des Dionysos erinnern an ein wirkmächtiges Fabelmotiv: Ein Rebstock, dessen Blätter von einem Ziegenbock gefressen wurden, droht dem Übertäter an, dass er den Wein hervorbringen wird, der bei der Opferung des Bockes zum Einsatz kommen wird (vgl. Aesop. 374 Perry; AP 9.75 [Euen.]; 9.99 [Leon.] mit Gow/Page 1968 ad loc.; Suet. Dom. 14). Die Aussage des Dionysos kann als ätiologische Erklärung für das Prozedere beim antiken Tieropfer gelesen werden, im Zuge dessen Wein über die Opferstücke ausgegossen wurde (vgl. Hom. Il. 1.462–463; Od. 3.459–460; A. R. 1.435–436; Rudhardt 1992, 240–245; van Straten 1995, 122), und bildet ein weiteres Wein-Aition, das mit dem Schicksal des Ampelos verknüpft ist (s. hierzu E. Kap. 6). Die geäußerten Rachegedanken stehen in bewusster Verbindung zur ersten Klagerede des Dionysos, in der dieser – ebenfalls in Form eines gedanklichen Einschubs – angekündigt hat, sich an dem Mörder seines geliebten Knaben zu rächen, indem er diesen als Opfer darbringt (11.264–270). Die inhaltliche Korrespondenz der beiden Stellen wird durch die wortidente Einleitung (11.264 Ἀλλὰ τεοῦ θανάτου τιμήορος) auch formal unterstrichen. 231b–233 Duft der Rebe Die Blätter der Rebe sind insofern gefällig (ἐρατοῖς πετάλοισιν), als sie einen angenehmen Duft verströmen (vgl. 291 εὔοδμον ὀπώρην). Die Erwähnung des angenehmen Dufts von Pflanzen ist in enkomiastischen Kontexten geläufig (vgl. Ach. Tat. 2.1 [Rose] εὐώδεσι φύλλοις κομᾷ; Ps.-Iul. Ep. 180 391c Bidez/Cumont [Feige] παντὸς λιβανωτοῦ κρεῖττον ἐς θυμιάματος σκευασίαν ἐστίν). Der Duft der Reben-Blüten wurde in der Antike sehr geschätzt (vgl. Plin. Nat. 14.8 ubicumque pubescentium [scil. Reben] odori nulla suavitas praefertur; 12.132 colligitur, cum floret, id est cum optime olet; Mart. 3.65.3). Die Betonung des Wohlgeruchs dürfte hier allerdings vor allem mit dem angenehmen Duft des Weins in Beziehung zu setzen sein, den die Trauben in ihrem Inneren bergen (ἰκμάδες). Der Gedanke wird in abgewandelter Form wenige Verse später wieder aufgenommen (239–246). Nach dem Tod des Ampelos hatte Dionysos dessen Leichnam mit duftender Ambrosia beträufelt. Im Zuge der Metamorphose ist dieser Wohlgeruch – wie in 11.241–243 explizit erwähnt – in den Rebstock übergegangen: ἀμβροσίην

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δὲ λαβὼν παρὰ μητέρι ῾Ρείῃ/ὠτειλαῖς ἐπέχευεν, ὅθεν νέος εἶδος ἀμείψας/ ἀμβροσίην εὔοδμον ἑῇ μετέθηκεν ὀπώρῃ (zum Erklärungsmuster vgl. Ov. Met. 4.250–255 [Weihrauch]; 10.731–735 [Anemone]). 231 μῶμον … ἀνάπτεις Die bei Nonnos beliebte Junktur (27.69; 37.413; 42.225) ist Hom. Od. 2.86 (ἐθέλοις δέ κε μῶμον ἀνάψαι) entnommen (vgl. Vian 1995a ad loc.). 234–271 Wein als Attribut des Dionysos Auf die Behandlung des Topos der τελευτή folgt nun jener der τὰ μετὰ τὴν τελευτήν (vgl. 234 ῎Αμπελε, καὶ μετὰ πότμον ἐυφραίνεις φρένα Βάκχου). Dionysos behandelt – naheliegenderweise – unter diesem Punkt die Erfindung des Weins, der künftig aus Ampelos’ Früchten gewonnen werden und ihm als Attribut dienen wird (vgl. Hermog. Prog. p. 16.23–17.2 Rabe, der Leichenspiele, Orakel und berühmte Nachkommen als Beispiele für den Topos anführt). Dementsprechend wechselt auch das Tempus ins Futur (bzw. gnomische Präsens). Der Abschnitt bildet dabei ein einigermaßen selbstständiges Wein-»Enkomion« (vgl. 14.419–437; 17.74–80; 19.23–41; 47.16– 105; weiters Ach. Tat. 2.2.4–5), welches sich grob in zwei Teile gliedern lässt: (i.) In einem ersten Abschnitt (234–246) gestaltet Dionysos zwei συγκρίσεις, die durch das Motiv des Mischens miteinander verbunden sind (235 κεράσσω; 236 κεράσσω; 244 μιγνύμενον; 245 κεκερασμένον) und die Vorrangstellung des Weins gegenüber anderen Pflanzen betonen: In der ersten (234–238) streicht Dionysos die Überlegenheit der Rebe gegenüber anderen Fruchtbäumen hervor, deren Früchte zwar während des Verzehrs einen guten Geschmack entfalten, jedoch im Gegensatz zum Wein nicht im ganzen Körper aufgenommen werden können. In der zweiten σύγκρισις (239–246) führt er die Überlegenheit der Rebe gegenüber den Wiesenblumen aus: Während jede Blume für sich zwar einen angenehmen Duft versprüht, vermag der Wein der Rebe all diese Düfte in sich aufzunehmen. (ii.) Die Überlegungen des zweiten Abschnitts (247–271) basieren auf dem Topos des χρήσιμον. Die Argumentation wird dabei abermals in eine σύγκρισις gekleidet. Als Vergleichspunkte dienen dabei die Attribute anderer Gottheiten, die bis auf eine Ausnahme wiederum Pflanzen sind. Durch die Nennung des ὑάκινθος des Apoll als erstes comparandum entsteht ein gleitender Übergang zur vorherigen σύγκρισις mit den Wiesenblumen. Abgesehen vom Thema des Weins ist den beiden Abschnitten gemeinsam, dass sich der Fokus von Ampelos hin zu Dionysos verlagert: Der Wein wird als Attribut des Dionysos gepriesen. Dementsprechend wechseln auch die Verbalformen in die erste Person (235 κεράσσω; 236 κεράσσω; 250 ἀφύσσω; 252 ἀείρω). Besonders deutlich wird die Fokusverlagerung in der Götter-σύγκρισις, in der

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sich Dionysos als Gott mit eigenem Attribut präsentiert und seine Überlegenheit gegenüber den anderen Göttern in dieser Hinsicht postuliert. 234–238 Σύγκρισις (Fruchtbäume) Der Abschnitt thematisiert die Überlegenheit der Rebe gegenüber den anderen Fruchtbäumen, für die Apfel- und Feigenbaum exemplarisch angeführt werden (Seite an Seite werden die beiden Bäume auch in 275–279 genannt): Die Früchte dieser Pflanzen stellen zwar eine angenehme Speise dar, ihre (rein gustatorische) Wirkung beschränkt sich dementsprechend aber auf den Mundbereich (ἄχρις ὀδόντων); im Gegensatz dazu durchdringt der Wein der Rebe den ganzen Körper (πᾶσιν … μελέεσσιν) Sowohl Feige als auch Apfel haben in der Antike hauptsächlich als Speiseobst Verwendung gefunden. Aus ihnen (und einer Reihe weiterer Obstsorten) wurden zwar insofern Getränke hergestellt, als man die Früchte in Traubenmost mazerieren ließ und diesen weiterverarbeitete. Das Ergebnis waren die sog. vina ficticia (s. v.a. Plin. Nat. 14.98–102). Wir sind über die Verwendung dieser Art von Weinen nur dürftig informiert, sie scheinen aber hauptsächlich in der Medizin Anwendung gefunden zu haben und nicht als Genussmittel verwendet worden zu sein (vgl. André 1998, 144–147; 152). Auf die Vorstellung, dass sich der Wein im ganzen Körper verteilt, rekurriert Dionysos in etwas abgewandelter Form ein weiteres Mal nur wenige Verse später (251–252). Eine recht präzise Entsprechung dieses Gedankens findet sich im Rahmen der in Ach. Tat. 2.2.4–6 gestalteten Ethopoiie eines Hirten, der zum ersten Mal Wein kostet. Er lobt diesen dabei mit den Worten: τὸ μὲν [scil. der Wein] γὰρ ἐς τὰ στέρνα καταβαίνει καὶ λεπτὴν ἔχει τὴν ἡδονήν, τοῦτο δὲ καὶ πρὸ τοῦ στόματος τὰς ῥῖνας εὐφραίνει καὶ θιγόντι μὲν ψυχρόν ἐστιν, εἰς τὴν γαστέρα δὲ καταθορὸν ἀναπνεῖ κάτωθεν ἡδονῆς πῦρ (5). Die Argumentation ist in allen drei Fällen vor dem Hintergrund der antiken Humoralpathologie zu verstehen. In der Tat erklärte man sich in der Antike die berauschende Wirkung des Weins, dem die Eigenschaft »heiß« zugeschrieben wurde, damit, dass dieser nach dem Genuss in den Körper diffundiert und die Eukrasie des Humoralsystems stört (vgl. Arist. Pr. 3 passim; Villard 1982, 195; Jouanna 1996, 414–417). Im Fall der Ethopoiie des tyrischen Hirten wird auf diesen medizinisch-naturwissenschaftlichen Background recht deutlich verwiesen (vgl. v.a. ἀναπνεῖ κάτωθεν … πῦρ). 234–235 ῎Αμπελε, καὶ μετὰ πότμον ἐυφραίνεις φρένα Βάκχου·/πᾶσιν ἐμοῖς μελέεσσιν ἐγὼ σέο πῶμα κεράσσω Im überlieferten Text stehen die Verse zwischen 271 und 272, wurden aber von mir an diese Stelle verschoben. Für diese Transposition sprechen folgende Gründe: (i.) Schon Keydell 1959 hat die überlieferte Stellung der Verse (… στυγνὸν ἀεξομένης ἀποσείσεται ὄγκον ἀνίης./῎Αμπελε, καὶ μετὰ πότμον ἐυφραίνεις φρένα Βάκχου·/πᾶσιν ἐμοῖς μελέεσσιν ἐγὼ σέο πῶμα κεράσσω./ Ἀμφὶ δὲ

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δένδρεα πάντα κάτω νεύοντι καρήνῳ …) für auffallend erachtet und sie als einen sekundären Einschub des Nonnos erklärt. In der Tat bilden die beiden Verse innerhalb des überlieferten Textverlaufs ein unverbundenes Teilstück zwischen zwei in sich geschlossenen Abschnitten: Die vorangehenden Verse (247–271 nach meiner Zählung) thematisieren die Überlegenheit des Weins gegenüber den Attributen der anderen Götter, die folgenden beschreiben die Rebe als Königin unter den Pflanzen (272–289). Während man den ersten Vers noch als eine Art Zusammenfassung des vorherigen Abschnitts auffassen könnte, steht die Aussage des zweiten, nämlich dass Dionysos den Wein in seinen ganzen Körper aufnehmen kann, in keiner logischen Verbindung zum Kontext. (ii.) Auch das in der überlieferten Form direkt an 233 ἰκμάδες ὑμετέρων με περιπνείουσιν ᾿Ερώτων anschließende Teilstück 236–238 bereitet Schwierigkeiten. Zum einen wirkt der Übergang zwischen beiden Abschnitten recht hart, zum anderen ist der Gedankengang von 236–238, in dem Dionysos betont, dass Apfel und Feige ihren Genuss nur im Mund entfalten, unvollständig. So fehlt ein expliziter Hinweis darauf, worin sich der Wein von diesen unterscheidet und worin seine Überlegenheit besteht. (iii.) Beide in (i.) und (ii.) genannten Probleme können gelöst werden, wenn die zwei eingangs erwähnten Verse verschoben und nach Vers 233 eingefügt werden: Ohne das störende Teilstück ergibt sich eine klare Struktur, bei der auf die in sich geschlossene σύγκρισις (247–271) die Beschreibung der Rebe als Königin unter den Pflanzen (272–289) unmittelbar als neues Thema folgt. An die »neue« Position nach 233 verschoben, stellen die Verse zudem eine passende Überleitung zum folgenden Abschnitt dar: Αμπελε, καὶ μετὰ πότμον ἐυφραίνεις φρένα Βάκχου fungiert dabei als Einleitung für den Abschnitt 234–271, der dem Topos der τὰ μετὰ τὴν τελευτήν (s. hierzu 234–271) gewidmet ist (vgl. die Einleitung zum Abschnitt über Ampelos’ Tod ῎Αμπελε, καὶ σέο πότμος ἐπήρατος). Auch Vers 235 πᾶσιν ἐμοῖς μελέεσσιν ἐγὼ σέο πῶμα κεράσσω hat insofern einleitende Funktion, als in ihm das Motiv des »Mischens« eingeführt wird, das sich als roter Faden durch die folgende Passage (236–246) zieht (s. K. 234–271). Durch die Verschiebung wird daher eine passende Überleitung von 233 zu den folgenden Ausführungen geschaffen und damit die aus der überlieferten Textform resultierende Bruchstelle geglättet. Vers 235 liefert gleichzeitig den fehlenden Bezugspunkt im Gedankengang der anschließenden Verse 236–238: Die in der überlieferten Textform isoliert dastehende Aussage, dass Apfel und Feige ihren Genuss nur im Mund entfalten, findet nun ein gedankliches Gegenstück in Dionysos’ Erklärung, dass der Wein sich im Gegensatz dazu im ganzen Körper ausbreiten kann, weshalb er – so ist zu folgern – ersteren überlegen ist (s. K. 234–238).

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Über den Grund, warum die Verse 234–235 an falscher Stelle überliefert sind, kann nur spekuliert werden. Man ist auf den ersten Blick geneigt, hierin einen (durchaus gängigen) Fehler im Zuge des Überlieferungsprozesses zu sehen. Als Szenario wäre etwa denkbar, dass die Verse zunächst aufgrund eines Augensprungs des Kopisten (235 κεράσσω; 236 κεράσσω) ausgelassen und dann – wohl über Zwischenschritte – an falscher Stelle in den Text integriert wurden (für genau solche Beispiele vgl. 11.443–445 [477 ὕδωρ; 479 ὕδωρ]; 31.236–237 [274 καὶ Διὸς; 275 Δὸς χάριν]; 29.211–214 [204 ἔμπυρον; 214 πυρσόν]). Berücksichtigt man allerdings, dass sich in der Handschrift L nur wenige Verse vorher ein weiteres fälschlich in den Text integriertes Teilstück findet, so ist eher an eine gemeinsame Ursache zu denken. Diese könnte ein unübersichtlich gestaltetes Arbeitsmanuskript gewesen sein, welches dem Herausgeber der Dionysiaka Probleme bereitete, den von Nonnos intendierten Textverlauf korrekt nachzuvollziehen (s. K. 205–291). 234 ἐυφραίνεις φρένα Die figura etymologica ist bei A. Supp. σὺ καὶ λέγων εὔφραινε καὶ πράσσων φρένα belegt (zur etymologischen Ableitung s. Philox. Gramm. 194b; zur figura etymologica in den Dionysiaka allgemein E. Kap. 8.2.4.). 235–236 κεράσσω/ … κρητῆρι κεράσσω Zwei aufeinanderfolgende Verse mit demselben Wort enden zu lassen, ist ein beliebtes Stilmittel bei Nonnos, das unterschiedliche Funktionen erfüllen kann (s. hierzu Keydell 1953, 14–17; Schmiel 1998a, 327). Der identische Versschluss soll bei vorliegender Stelle wohl das Spiel mit den unterschiedlichen Bedeutungen von κεράννυμι unterstreichen, welches in 235 dazu verwendet wird, das »Durchmischen« des Körpers mit Wein zu beschreiben, während es sich in 236 im herkömmlichen Sinn auf das traditionelle Verdünnen des Weins mit Wasser bezieht (vgl. 2.65–66 καρπῷ [»Frucht«],/… καρπῷ [»Handwurzel«]; 41.34–35 τραπέζη [»Tisch«]/εἰναλίῃ … τραπέζῃς [»Meeresfläche«]). Die figura etymologica κρατήρ/κεράννυμι ist recht geläufig (vgl. z.B. Hom. Il. 4.260 ἐνὶ κρητῆρι κέρωνται; A. R. 4.1128 κρητῆρα κερασσάμενοι; Pl. Criti. 120a2 κρατῆρα κεράσαντες) und findet sich in den Dionysiaka an zwei weiteren Stellen (6.28 κεράσαντες ἀπὸ κρητῆρος; 17.72 κεράσας κρητῆρι; zur figura etymologica in den Dionysiaka s. E. Kap. 8.2.4.). 239–246 Σύγκρισις (Wiesenblumen) Die Rebe ist den genannten Wiesenblumen insofern überlegen, als diese zwar einen angenehmen Geruch verströmen lassen, der Wein der Rebe aber die Düfte von all diesen Blumen in sich aufnehmen kann (zum floralen Aroma des Weins als Argument für seine Vortrefflichkeit vgl. 47.89–92, v.a. 92 εἰαρινὸν πόμα τοῦτο, ῥόδων εὔοδμον ἐέρσην; zum Duft allgemein z.B. 14.423; 17.75; 20.28; 21.284). Durch die explizite Nen-

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nung von gleich fünf unterlegenen Blumen – verstärkt durch die anaphorische Wiederholung der Negation οὐ – sowie durch die antithetischen Gegenüberstellungen ἓν ποτόν/πάντεσσι, μίαν ὀδμὴν/ἄνθεσι παντοίοις und ἄνθος/ὅλην λειμωνίδα ποίην verleiht Dionysos seiner Argumentation besondere Eindringlichkeit (zum Duft-Topos allgemein s. K. 232b–233). In der griechischen Literatur wird immer wieder die ὀσμή des Weines erwähnt (vgl. Lilja 1972, 110–119). Es ist dabei schwierig zu entscheiden, ob hiermit das originäre Bouquet des Weins oder der Duft, der durch die Beimischung von Blütenblättern entsteht, gemeint ist (zu dieser Praxis vgl. Ath. 2.38f τὰ τῶν ἀνθῶν εὐώδη; Colum. 12.28.4 si bonos odores addideris, omnem malum odorem et saporem prohibueris; nam nulla res alienum odorem celerius ad se ducit quam vinum; Apic. 1.4 [Rosen und Veilchen]; Lilja 1972, 114 Anm.  3). Diese Eigenschaft des Weines, wesensfremde Aromen absorbieren zu können, hat sogar das Interesse der antiken Naturwissenschaften geweckt. So führt Theophrast diese Fähigkeit auf die θερμότης des Weines und dessen spezifische Stofflichkeit zurück (CP 6.19.2–3; vgl. 2.18.4; Od. 10–11; Arist. Insomn. 460a 26–32). Die Formulierung des Dionysos ἄνθεα πάντα δεδέξεται suggeriert meines Erachtens recht klar, dass mit der beschriebenen ὀσμή der durch die Beimischung von Blütenblättern entstehende Duft gemeint ist (vgl. Thphr. Od. 11 ὁ γὰρ οἶνος […] δεινὸς δέξασθαι τὰς ὀσμάς). Inwieweit die von Dionysos aufgezählten Blumen, die auch sonst gerne in Blumenkatalogen in den Dionysiaka aufscheinen (hierzu Vian 1995a ad 11.175–178), tatsächlich zur Aromatisierung des Weins verwendet wurden, kann aufgrund unseres beschränkten Wissens zur antiken Weinproduktion nicht beantwortet werden. Die Assoziierung von dessen ὀσμή mit den genannten Blumenaromen dürfte aber jedenfalls nicht als unrealistisch empfunden worden sein. Man vergleiche hierzu etwa die Aufzählung von floralen Aromen des Weins in Hermipp. Fr. 77 PCG, wo Dionysos den Duft eines σαπρίας genannten Weins mit den Worten ὄζει ἴων, ὄζει δὲ ῥόδων, ὄζει δ’ ὑακίνθου/ὀσμὴ θεσπεσία, κατὰ πᾶν δ’ ἔχει ὑψερεφὲς δῶ (8–9) beschreibt, oder die Äußerungen zum Duft des Weins, die die alte Kupplerin im Rahmen ihres Lobpreises auf das Getränk in Plautus’ Curculio von sich gibt: nam omnium unguentum odor prae tuo [scil. des Weins] nautea est,/tu mihi stacta, tu cinnamum, tu rosa,/tu crocinum et casia es, tu telinum (101–103). 240 νάρκισσος ἐύχροος Die Blume fand in der Antike aufgrund ihrer ästhetischen Qualitäten Gefallen (vgl. Theoc. 1.113 ἁ δὲ καλὰ νάρκισσος). Der narcissus poeticus L besitzt cremeweiße Blüten, die eine gelb-rote Nebenkrone aufweisen (vgl. Ov. Met. 3.509–510 croceum … florem/… foliis medium cingentibus albi mit Bömer ad loc.).

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245–246 εἰαρινὴν γάρ/κοσμήσει τεὸν ἄνθος ὅλην λειμωνίδα ποίην Das Verständnis des Satzes bereitet Schwierigkeiten. Mit ἄνθος, das in den Dionysiaka zur Umschreibung unterschiedlichster positiv konnotierender Dinge verwendet wird (s. K. 95), muss der duftende Wein gemeint sein (vgl. 46.69 μελισταγὲς ἄνθος ὀπώρης). Die Wahl von ἄνθος als Umschreibung des Weins dürft dabei bewusst gewählt worden sein, um eine pointierte Verbindung zu εἰαρινὴν … λειμωνίδα ποίην zu schaffen. Problematischer hingegen ist die Frage nach der Bedeutung von κοσμήσει, welches an dieser Stelle für gewöhnlich als »schmücken« gedeutet wird. Die sich draus ergebende Interpretation der Verse »Dein Wein wird eine ganze Frühlingswiese schmücken« ergibt aber meines Erachtens kaum Sinn und lässt sich auch nicht mit dem vorausgegangenen Gedankengang in Einklang bringen. Wenn überhaupt, bildet ja der Duft der Blumen eine zusätzliche Zier für den Wein, nicht aber umgekehrt. Aus dem vorausgegangenen Gedankengang wäre hingegen vielmehr eine Aussage zu erwarten, die darauf verweist, dass der Wein – obwohl nur eine einzige »Blüte« – einer ganzen Frühlingswiese gleichkommt. Diese Interpretation lässt sich aber wiederum nur schwer mit dem Bedeutungsspektrum von κοσμέω vereinbaren. Die plausibelste – wenngleich nicht gänzlich befriedigende – Lösung scheint mir zu sein, κοσμήσει im Sinne von »(ordnend) bereiten, gestalten« zu interpretieren (vgl. vor allem E. Hipp. τόνδε πλεκτὸν στέφανον ἐξ ἀκηράτου/λειμῶνος κοσμήσας; weiters Hom. Od. 7.13 δόρπον ἐκόσμει; h. Bacch. 59 κοσμῆσαι ἀοιδήν; Hes. Op. 306 ἔργα … κοσμεῖν). In dieser Bedeutung benutzt Nonnos κοσμέω auch in 16.42 κόσμησον ἀπήνην und 18.67 Βότρυς ἐκόσμεε δαῖτα Λυαίῳ. Die Verse wären demnach als »Dein Wein wird eine ganze Frühlingswiese bereiten/ hervorbringen« zu verstehen. 247–271 Σύγκρισις (Götterattribute) Die Passage wird in Keydells Ausgabe als ein von Nonnos stammendes, aber erst sekundär in den Text integriertes Teilstück markiert. Meines Erachtens finden sich aber keine Indizien, die zu einer solchen Schlussfolgerung berechtigen. Der Abschnitt bildet zwar eine in sich geschlossene Einheit und grenzt sich als solche klar von den umliegenden Redeteilen ab, fügt sich aber trotzdem organisch in den Gedankengang der Rede: In der Tat ist die vorliegende σύγκρισις zwischen Dionysos und den anderen Göttern als Kulminationspunkt der bereits mit Vers 234 beginnenden Fokussierung auf Dionysos’ Rolle als Gott des Weins zu sehen (s. K. 234–271). Durch die Wahl von Apolls ὑάκινθος als erstem Vergleichsobjekt wird zudem eine motivische Brücke zum Thema des vorherigen Abschnitts (σύγκρισις zwischen Wein und Wiesenblumen) geschlagen. In der vorliegenden σύγκρισις wird der Wein mit den Attributen der anderen Götter in Hinblick auf den Aspekt der Nützlichkeit verglichen (zum Topos des χρήσιμον s. K. 207–211). Als comparanda wurden jeweils die Attribute von zwei

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männlichen (Apoll, Ares) bzw. zwei weiblichen Gottheiten (Demeter, Athene) ausgewählt. Diese Zweiteilung findet eine zusätzliche Entsprechung darin, dass in den beiden ersten Vergleichen der Nutzen für Dionysos, in letzteren jener für die Menschen hervorgehoben wird: Wein als Getränk (247–252); Wein als Opfergabe (253–255); euphorisierende Wirkung des Weins (256–263); sorgenlösende Wirkung des Weins (264–271). Das Herabstufen der Brauchbarkeit der anderen Götterattribute entspricht der rhetorischen Strategie, die Leistungen eines laudandus dadurch hervorzuheben, dass die der Vergleichspersonen heruntergespielt werden (vgl. MiguélezCavero 2010, 24; 35–39). Inhaltlich besonders nahe stehen dem Abschnitt dabei die beiden συγκρίσεις, die im Zentrum der beiden vorangegangenen Reden der Semele (9.208–242 bzw. 10.129–136) stehen: In der ersten hebt Semele ihre Überlegenheit gegenüber der Göttermutter Hera hervor; ihre Argumentation kreist dabei um das Argument, dass ihr Sohn Dionysos die anderen Olympier zweiter Generation (Ares, Apoll, Hermes, Hephaistos) insofern übertrifft, als er nicht nur vom Göttervater gezeugt, sondern auch von ihm zur Welt gebracht wurde. In der zweiten betont sie ihre Vorrangstellung gegenüber Ino, der Mutter des Melikertes, mit Hinweis auf die Überlegenheit ihres Sohnes bzw. (hiermit verbunden) die von dessen Vater Zeus. Der Monolog des Dionysos (und insbesondere der vorliegende Abschnitt) steht in deutlicher Korrespondenz zu Semeles Reden, die jeweils als Schlusspunkte der beiden vorausgegangenen Episoden (Geburt des Dionysos bzw. Ino-Episode) eine markierte Stellung einnehmen. Unüberhörbare sprachliche Echos bilden: 247 Εἶξον ἐμοί, Κλυτότοξε; Εἶξον ᾿Ερισταφύλῳ, Κορυθαιόλος (vgl. 9.235 εἴξατέ μοι; 10.129 εἶξον ἐμοί); 256 Δηώ, ἐσυλήθης (vgl. 9.208 Ἥρη, ἐσυλήθης). Nur schwer zu entscheiden ist meines Erachtens die Frage, ob die für den modernen Leser recht polemisch wirkenden Worte des Dionysos tatsächlich als solche intendiert sind. Im Fall der herablassenden Worte der Semele gegenüber ihrer Schwester Ino, die – mit nicht wenig Komik – deren Standesdünkel zum Ausdruck bringen, ist eine solche Lesart durch die Charakterisierung der Rede als φιλοκέρτομον … φωνήν sicherlich beabsichtigt (vgl. Verhelst 2017, 266–270). Da im Gegensatz dazu die Rede des Dionysos aber dessen Stolz veranschaulichen soll (290 κυδιόων), neige ich dazu, in dieser keine polemischen Tendenzen zu sehen. Der befremdlich wirkende Vergleich des Dionysos mit den Olympiern ist wohl vielmehr als ein (rhetorisch stark überformter) Ausdruck seines Stolzes zu verstehen. Zum Vergleich kann man die Bagatellisierung der Leistungen berühmter griechischer Heroen anführen, die Nonnos in auktorialer Rede unternimmt, um dadurch jene des Dionysos zu erhöhen (25.31–252). 247–252 Apoll (ὑάκινθος) Der Abschnitt behandelt die Überlegenheit der Rebe gegenüber dem ὑάκινθος, der Blume des Apoll. Ausgangspunkt für die Argumentation des Dionysos bildet die Eignung des ὑάκινθος zur Herstellung von

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Kränzen (zum Topos vgl. Lib. Enc. 9.8 [Dattelpalme/Apfelbaum]; Nicol. Enc. 4 [1 p. 334.25–30 Walz] [Ölbaum]; Comp. 9 [p. 371.18–19 Walz] [Ölbaum]; 10 [p. 372.29–30 Walz] [Lorbeer]; weiters Iohannes Geometres, Progymnasmata 4 [p. 18.14–18 Littlewood] [Apfelbaum]). Ausgehend davon entwickelt Dionysos einen dichten Gedankengang, im Zuge von welchem er drei Argumente für die Überlegenheit der Rebe anführt: (i.) Die Pflanze des Apoll ist zwar brauchbar, da aus ihr schöne Kränze geflochten werden können, sie weist aber insofern einen Makel auf, als sie eine Pflanze der Trauer ist (s. K. 156–159a). (ii.) Im Gegensatz zum ὑάκινθος beschränkt sich der Nutzen der Rebe nicht auf die Herstellung von Kränzen. Denn aus deren Früchten kann zudem auch ein köstliches Getränk gewonnen werden (250–251a). (iii.) Hiermit verbunden wird der Gedanke, dass Apoll seinen geliebten Knaben zwar in Gestalt des ὑάκινθος-Kranzes auf dem Kopf tragen, Dionysos Ampelos aber durch den Genuss des Weines bis in sein Innerstes aufnehmen kann (251b–252; s. zum Gedanken K. 234–238). Die Passage steht in Korrespondenz zu Dionysos’ erster Klagerede, in der er Apoll noch dafür beneidet hat, dass er sich mit der Blume des verstorbenen Hyakinthos bekränzen kann (vgl. v.a. 11.262 ποῖον ἔχω πλοκάμοις καὶ ἐγὼ στέφος). 248 πενθαλέῳ … ἀπενθέα βόστρυχα δεσμῷ Die paradoxe Situation, dass Apoll, der als Gott keine Trauer kennt, eine Pflanze der Trauer zum Attribut hat, wird durch die Gegenüberstellung πενθαλέῳ/ἀπενθέα unterstrichen (s. K. 138). 249–250 εἰ δὲ καρήνῳ/στέμμα φέρει Κλυτότοξος Der überlieferte Text εἰ δ’ ἐνὶ κήπῳ/στέμμα φέρει Κλυτότοξος ist recht suspekt: Apoll wird zwar zusammen mit dem ὑάκινθος im Rahmen von zwei Gartenbeschreibungen (2.77–84; 3.153–159) erwähnt, dennoch überrascht der explizite Verweis auf einen Garten im vorliegenden Kontext. In der Tat stellt man sich die Frage, warum Apoll den ὑάκινθος-Kranz nur im Garten tragen sollte. Meines Erachtens dürften die Verständnisschwierigkeiten die Folge einer Korruptele sein. Peek 1969, 18 hat vorgeschlagen ἐνὶ κήπῳ in ἀπὸ κήπου zu ändern (vgl. 38.174–175 ἀνθοκόμων ἀπὸ κήπων/πλέξας λεπταλέοισι λύγοις τριέλικτον ἱμάσθλην; 43.86–87 ἀρτιφύτων ἀπὸ κήπων/βόστρυχα μιτρώσασθε Παλαίμονος οἴνοπι δεσμῷ), was in der Tat zu einem sinnvolleren Text führen würde. Vian 1995a ad 12.247 verteidigte hingegen den überlieferten Text, indem er die Stelle dahingehend deutete, dass ἐνὶ κήπῳ sowohl auf einen Garten (Apoll) als auch auf einen Weinberg (Dionysos) zu beziehen sei, in denen die beiden Götter jeweils ihre Kränze flechten (»il faut imaginer les deux dieux se promenant «dans leur jardin» pour faire leur cueillette«). Die Interpretation erscheint mir allerdings wenig überzeugend.

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Meines Erachtens könnte ein sehr attraktives Ergebnis erzielt werden, wenn man etwas stärker in den überlieferten Text eingreifen und εἰ δ’ ἐνὶ κήπῳ zu εἰ δὲ καρήνῳ ändern würde (zum Gebrauch des Dativs in diesem Zusammenhang vgl. z.B. 9.186 ἐλάφοιο φέρων ὤμοισι καλύπτρην). Auf inhaltlicher Seite hätte die Änderung den Vorteil, dass dadurch ein passender antithetischer Bezugspunkt zu ἔνδον ἐμῆς κραδίης geschaffen würde und damit die Verse 251b–252, die in der überlieferten Form gleichsam einen losen gedanklichen Anhang bilden, zu einem essentiellen Teil der Argumentation würden: Während Apoll seinen ὑάκινθος-Kranz nur auf dem Kopf tragen kann, kann Dionysos den Wein – und damit Ampelos – bis in sein Innerstes aufnehmen (vgl. die Gegenüberstellung in 40.439–440 κραδίῃ δὲ φιλόπτολιν οἶστρον ἀέξων/Γηγενέων στατὸν ἴχνος ἐπῃώρησα καρήνῳ). Auf stilistischer Seite würde die Gegenüberstellung von καρήνῳ und κραδίης aufgrund von deren Assonanzen (καρήνῳ/κραδίης) einen phonetischen Effekt bewirken, der dem Stil des Nonnos in hohem Maße entspricht (vgl. v.a. 12.183–184 καρήνου/κυρτά/κόρυμβα/κεραίης und allgemein E. Kap. 8.2.4.). Als Argument zugunsten der Konjektur kann zudem angeführt werden, dass die Form καρήνῳ einen äußerst beliebten Verschluss in den Dionysiaka darstellt: Ich habe 39 Belegstellen gezählt, darunter 9 Mal in der Kombination δὲ καρήνῳ. 253–255 Ares (Blut) An zweiter Stelle folgt eine σύγκρισις zwischen Dionysos und Ares, deren Namen durch die entsprechenden Epiklesen ἐριστάφυλος (27.287; 47.2; vgl. AP 9.580.6) bzw. κορυθαιόλος (13.384; 27.10; vgl. Hom. Il. 20.38) ersetzt werden. Die Erwähnung des Ares, der weder mit einem pflanzlichen Attribut in Verbindung gebracht werden kann noch sonst in der AmpelosEpisode einen wichtigen Referenzpunkt bildet (er wird nur in 10.202 und 301 beiläufig genannt), überrascht ein wenig. Möglicherweise steht seine Nennung in Zusammenhang mit der zentralen Rolle, die ihm in der Rede der Semele am Ende des Anschnitts zu Dionysos’ Geburt zukommt (zur Korrespondenz der beiden Reden s. K. 247–271). Im Zentrum des Gedankengangs steht die Verwendung des Weins als Trankopfer (vgl. 229–231 mit K. ad loc.). Die »Tauglichkeit« von Früchten als Opfergabe diente als Argument in Pflanzenenkomien (vgl. Iul. Ep. 180 391c Bidez/Cumont [Feigenbaum]; Nicol. Comp. 10 [1 p. 372.30 Walz] [Weihrauchbaum]). Im vorliegenden Fall wird das Weintrankopfer dem »Blutopfer« an Ares gegenübergestellt, in welchem das Blut der im Krieg Gefallenen auf einer metaphorischen Ebene als ein Trankopfer für Ares gedeutet wird (vgl. 5.3 [von Kadmos, der die Sparten tötet] σπένδων λύθρον ῎Αρηι θαλύσια δηιοτῆτος; E. Ph. 1574–1576 [von den getöteten Polyneikes und Eteokles] αἵματος/ἤδη ψυχρὰν λοιβὰν φονίαν,/ἃν ἔλαχ’ Ἅιδας, ὤπασε δ’ Ἄρης). Grundlage des Vergleichs, der in antithetisch zugespitzter Form präsentiert wird (᾿Ερισταφύλῳ/Κορυθαιόλος; αἱματόεις …῎Αρηι/ ἀμπελόεις Διονύσῳ), bildet die physische Ähnlichkeit zwischen Wein und Blut,

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die sich auch in der metaphorischen Umschreibung von Wein als Blut niederschlägt (vgl. DGE s.v. αἷμα IV.). In abgewandelter Form findet sich der Gedanke auch in 17.160 und 28.302, wo das Blut der Gegner des Dionysos als ein Trankopfer für den Gott (anstelle des gewohnten Weins) interpretiert wird (λοιβὴν αἱματόεσσαν ἐπισπένδων Διονύσῳ). 255 βότρυος οἰνωθέντος Gemeint ist, dass die Traube in Wein verwandelt wurde (vgl. 11.517–518 οἰνωθεῖσα … Μαρωνίδος ἰκμὰς ἐέρσης; 17.277 ῥόον οἰνωθέντα; P. 34 ῥόον οἰνωθέντα; weiters Met. 4.254; 2.44). 256–263 Demeter (Getreide) und Athene (Ölbaum) Der Abschnitt thematisiert die euphorisierende Wirkung des Weins (zu den fälschlich in den Text gelangten Versen 258–260 s. K. ad loc.) und die damit verbundene Überlegenheit der Rebe gegenüber den Pflanzen der Demeter (Getreide) und Athene (Ölbaum). Der Gedanke, dass diese Pflanzen im Gegensatz zum Wein keine (Fest)freude und Begeisterung auszulösen vermögen, wird durch die Verwendung eindringlicher Parallelismen unterstrichen. 256 Δηώ, ἐσυλήθης Als Ausdruck der Überlegenheit findet sich der Siegesruf auch in 8.272 [Hera zu den Waffen des Zeus]) βροντή, ἐσυλήθης; 9.208 [Semele zu Hera] ῞Ηρη, ἐσυλήθης; 31.37 [Hera zu Demeter] συλήθης, φερέκαρπε; 35.164 [Aphrodite zu Ares] ῏Αρες, ἐσυλήθης; 36.260 [ein anonymer Soldat zu Ares] ῏Αρες, ἐσυλήθης (vgl. Gigli Piccardi 2003 ad 12.245–269). 258–260 Σύγκρισις Birnbaum und Myrte Der vorgebrachte Gedanke, dass die sorgenvertreibende Wirkung des Weins den Eigenschaften der Birne (angenehmer Geschmack) und der Myrte (angenehmer Duft) überlegen ist, passt aus zweierlei Gründen nicht in den Kontext: (i.) Der Bezug dieser Pflanzen zu den Gottheiten Demeter und Athene ist unklar: Die Myrte wird traditionell mit Aphrodite verbunden (vgl. Murr 1890, 84–91) und demgemäß auch in den Dionysiaka hauptsächlich in erotischen Kontexten erwähnt (42.342; 48.291; 515). Eine nur in Gp 11.6 überlieferte Verwandlungsgeschichte bringt die Pflanze zwar in Verbindung mit Athene, Nonnos scheint den entlegenen Mythos jedoch nicht zu kennen; jedenfalls finden sich keine Spuren von diesem in den Dionysiaka. Besonders überraschend ist die Erwähnung des Birnbaums, den die Antike allem Anschein nach nicht unter die Patronage einer bestimmten Gottheit gestellt hat (für ein gewisses Naheverhältnis zu Hera und Aphrodite s. Murr 1890, 63–64) und der auch allgemein innerhalb der griechischen Literatur eine eher untergeordnete Rolle unter den Obstbäumen einnimmt. In der Tat erwähnt auch Nonnos diese Pflanze ansonsten nur noch in 3.144, wo ihre Nennung der Homerimitation geschuldet ist.

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(ii.) Das Teilstück unterbricht unnötigerweise einen stimmigen und in sich geschlossenen Gedankengang. So findet die in 256–257 geäußerte Idee, dass Ölbaum und Getreide keine (Fest)freude (εὐφροσύνην) bzw. Begeisterung (θέλγει) auslösen können, eine präzise Entsprechung in den Versen 261–263, in denen die ausbleibende Festfreude (ἀτερπέα δεῖπνα τραπέζης) und Bezauberung (ἀθελγέες … χορεῖαι) als Folge des Mangels an Wein erklärt werden. Innerhalb dieser Argumentation bildet der Verweis auf die sorgenvertreibende Wirkung des Weins einen unnötigen und störenden Einschub. Die Verse wirken zudem auch insofern redundant, als die sorgenlindernde Wirkung des Weins wenig später in einem eigenen Abschnitt ausführlich behandelt wird. Dies alles lässt die Vermutung aufkommen, dass das Teilstück nicht an diese Stelle gehört (vgl. 234–235). Da sich dieses nicht an anderer Position sinnvoll in den Text integrieren lässt, ist wohl davon auszugehen, dass es sich hierbei um einen von Nonnos gedichteten Entwurf handelt, der nicht für die finale Publikation gedacht war, aber von dem Herausgeber der Dionysiaka – wohl aufgrund des unübersichtlichen Manuskriptes, das ihm vorlag – fälschlich in den Text integriert worden ist (zu solchen fälschlich in den Text geratenen Stücken s. E. Kap. 5). 259 φρενοθελγέι καρπῷ Das ansonsten nur bei Procl. H. 3.17 belegte Kompositum, ist ein für die Dionysiaka charakteristisches Epitheton (vgl. v.a. 12.363 φρενοθελγέος ἰκμάδα Βάκχου). 260 ἀνέμοισιν ἀκοντίζουσι μερίμνας Das Anvertrauen einer Sache an den Wind ist ein beliebtes antikes Sinnbild (s. hierzu Tosi 1997 Nr. 434 Ἀνέμῳ διαλέγῃ), das von Nonnos auch andernorts gerne herangezogen wird, um das Vertreiben der Sorgen in ein bildliches Gewand zu kleiden (25.382 καλλείψας ἀνέμοισι κατηφέος ὄγκον ἀνίης; 48.785 ἠερίοις ἀνέμοισιν ἑὰς μεθέηκε μερίμνας; vgl. v.a. Hor. Carm. 1.26.13 tristitiam et metus/tradam protervis in mare Creticum/portare ventis; Ov. Epist. 13.92 fac, meus in ventos hic timor omnis eat!). 262–263 οἴνου μὴ παρεόντος …/οἴνου μὴ παρεόντος … Die pointierte anaphorische Wiederholung von ganzen Halbversen ist für den Stil des Nonnos nicht ungewöhnlich (vgl. z.B. 19.6 bzw. 7 σὸν Στάφυλον, Διόνυσε; 57 bzw. 58 οὐδὲ Μέθης ἀπάνευθε(ν); weiters 11.304 bzw. 307 ὤμοι, ὅτ’ οὐκ ᾿Αίδης; 18.359 bzw. 362 γινώσκω σέο πῆμα; 19.23 bzw. 25 ἦλθες ἐμοί, φίλε Βάκχε, φίλον φάος). Die wörtliche Wiederholung führt in gewisser Weise den Parallelismus in der Satzstruktur von 256–257 fort, der durch die Wiederholung desselben Verspatterns zusätzlich gesteigert wird (s. E. Kap. 8.2.5.).

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263 ἀθελγέες εἰσὶ χορεῖαι Das Epitheton ἀθελγής ist nur bei Nonnos belegt, der es sowohl in aktiver als auch passiver Funktion verwendet (Peek s.v.). Hier ist dieses aktiv aufzufassen: Die Tänze vermögen beim nüchternen Publikum keine Begeisterung auszulösen (vgl. 257 οὐ … ἀνέρα θέλγει). Der Gedanke findet sich in etwas ausführlicherer Form bereits in 7.17–19, wo Nonnos als Beispiel für das triste Los der Menschheit vor der Erfindung des Weins anführt, dass der Reiz des pantomimischen Tanzes nur die Augen, nicht aber das Gemüt des Publikums zu erreichen vermochte (οἴνου γὰρ χρέος ἦεν· ἀβακχεύτου δὲ χορείης/ ἡμιτελὴς ἀνόνητος ἔην χάρις· ἀγρομένων γάρ/ὄμματα μοῦνον ἔθελγεν). 264–271 Athene (Ölbaum) Der Ölbaum der Athene wird erneut für einen Vergleich mit der Rebe herangezogen: Die Verwendung des Olivenöls zum Einsalben der Athleten wird der Fähigkeit des Weins gegenübergestellt, die Sorgen der Menschen vertreiben zu können (vgl. v.a. 47.53–55 [σύγκρισις zwischen Ikarios und Triptolemos] θυμοβόρους γάρ/οὐ στάχυες λύουσι μεληδόνας, οἰνοτόκοι δέ/ βότρυες ἀνδρομέης παιήονές εἰσιν ἀνίης; zum Motiv der sorgenlösenden Wirkung des Weins s. K. 158). In Nicol. Comp. 9 (1 p. 370–371 Walz) ist eine σύγκρισις zwischen Ölbaum und Weinrebe überliefert. Die Verwendungsmöglichkeit von Olivenöl zur Körperpflege der Athleten wird dort (371.17–20) allerdings genau umgekehrt als Argument zugunsten des Ölbaums herangezogen (vgl. Call. Fr. 194.76 Pfeiffer; Nicol. Enc. 4 [1 p. 334.26–30 Walz]; weiters Georgios Pachymeres, Progymnasmata 9 [1 p. 574.14–15 Walz]). 264 Εἰ δύνασαι, Γλαυκῶπι, τεῆς πίε καρπὸν ἐλαίης Die etwas lose dastehende sarkastische Aufforderung ist wohl in Zusammenhang mit der folgenden Argumentation zu verstehen: Das Öl der Athleten ist im Gegensatz zum Wein zur rein äußerlichen Anwendung gedacht (vgl. aber Hollis 1994, 48–49). 265 ἀγλαόδωρος … ὀπώρη Dieses traditionelle Epitheton der Demeter (h. Cer. 54; 192; 492) wird in den Dionysiaka auf die dionysische Sphäre (vgl. 7.85 [von Dionysos]; 19.44 [von Methe]) übertragen. Zumindest in 7.85 geschieht dies dabei in bewusst kontrastatierender Absicht (vgl. Gigli Piccardi 2003 ad loc.) 268–269 εὐνέτιν ἠὲ θύγατρα βαλὼν ξυνήονι πότμῳ,/ἢ τεκέων φθιμένων ἢ μητέρος ἢ γενετῆρος Die Aufzählung könnte von der Beschreibung der Wirkung des Weintranks der Helena in Hom. Od. 4.220–226 inspiriert sein (vgl. v.a. 224–226 οὐδ’ εἴ οἱ κατατεθναίη μήτηρ τε πατήρ τε,/οὐδ’ εἴ οἱ προπάροιθεν ἀδελφεὸν ἢ φίλον υἱόν/χαλκῷ δηϊόῳεν). Die Homerstelle wird von Nonnos auch in 46.356–360 imitiert. 271 ὄγκον ἀνίης Zur Klausel s. K. zu 200 ὄγκον ὀπώρης.

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272–289 Ehrerbietung der Natur Am Ende der Rede kehrt Dionysos wieder zur realen Ausgangssituation zurück und schildert in enthusiastischen Worten das Bild, das sich seinen Augen darbietet (die erwähnten Obstbäume dürften mit den in 185 genannten φυτῶν στίχες ident sein, an denen sich Ampelos nach seiner Verwandlung emporwindet). Dionysos deutet das Verhalten der Natur als königliche Verehrung der Rebe. Die Ehrerbietung der Natur steht in Kontrast zu deren Trauer in 124–137. Die Erwähnung dieser königlichen Ehren dürfte abermals als ein Reflex des Genres des Pflanzenenkomions zu erklären sein, in dem die Betonung der Königlichkeit einer Pflanze ein wiederkehrender Gedanke gewesen zu sein scheint (vgl. Ach. Tat. 2.1.2 Εἰ τοῖς ἄνθεσιν ἤθελεν ὁ Ζεὺς ἐπιθεῖναι βασιλέα, τὸ ῥόδον ἂν τῶν ἀνθέων ἐβασίλευε; weiters Iohannes Geometres, Progymnasmata 1 [p. 6.2–14 Littlewood] [Eiche]; 5 [p. 22.17–23.2] [Apfelbaum]). Entsprechend der Darstellungsintention oszilliert die Schilderung des Verhaltens der Natur zwischen Realität und Personifikation: Die umliegenden Bäume verneigen sich wie Bittsteller vor der Rebe (272–274), Apfel- und Feigenbaum tragen sie wie eine Herrin in einer Sänfte (275–279a) und die Winde fächeln ihr mit den Blättern der Bäume sanft kühlende Luft zu (279b–284). Letzterer Gedanke wird anschließend in 285–289 insofern variiert, als Dionysos ankündigt, dass auch bei der stärkeren Hitze des Sommers die Etesien für die nötige Kühlung sorgen werden. Die plastische Beschreibung des menschlichen Verhaltens der Natur liefert ein eindrückliches Beispiel für Nonnos’ bisweilen extravagante Züge annehmenden Einfallsreichtum. Ansätze derartiger personifizierender Darstellungen finden sich aber durchaus auch in anderen rhetorisch gestalteten Texten, wo sie als Mittel der Verlebendigung (ἐνάργεια) dienen (vgl. Longus 4.2.2 ἑτέρωθι ἄμπελον ὑψηλήν, καὶ ἐπέκειτο ταῖς μηλέαις καὶ ταῖς ὄχναις περκάζουσα, καθάπερ περὶ τοῦ καρποῦ αὐταῖς προσερίζουσα; 4 [von den durch andere Bäume umringten Fruchtbäumen] καθάπερ φρουρούμενα; Iul. Ep. 180 393d [von Feigen, die mit stachligen Ästen vor gefräßigen Tieren geschützt werden] οἱονεὶ τῶν κέντρων τῇ ἀλεξήσει δορυφορούμενα; Iohannes Geometres, Progymnasmata 3 [p. 11.29–31 Littlewood] [von den Pflanzen eines Garten, die den Besucher gleichsam begrüßen] ὡσπερεὶ χεῖρας τοὺς κλάδους προτείνων δέχεταί τε τοὺς εἰσιόντας καὶ πρὶν ἢ ἐπιβῆναι δεξιάν τε ἐμβάλλει καὶ ἀσπάζεται τοῖς καρποῖς; 34–35 [von einer Rebe] οἷα δὴ δένδρον ἁμιλλᾶται δένδροις … ὥσπερ κόρον λαμβάνουσα). 272–274 Proskynese der Bäume Die Bäume verneigen sich wie Bittsteller vor der Rebe (vgl. 22.376 ὄρθιος ὀκλάζων, κυρτούμενον αὐχένα κάμπτων; 38.215– 216 ὀκλαδὸν ἐν δαπέδῳ κυρτούμενον αὐχένα κάμπτων,/λισσόμενος). Unter diesen wird die Dattelpalme gesondert erwähnt, deren Verneigung aufgrund ihres hohen Wuchses (ὑψιτενῆ … πέτηλα) sowie ihres hohen Alters (γέρων) – und der damit verbundenen Würde – besonders eindrücklich ist. In der Tat galt die

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Palme in der Antike als eine besonders langlebige Pflanze (vgl. Arist. Long. 466a 9–10 ὅλως δὲ τὰ μακροβιώτατα ἐν τοῖς φυτοῖς ἐστιν, οἷον ὁ φοῖνιξ; Plut. Mor. 723e 3–4 ὁ δὲ φοῖνιξ μακρόβιον μέν ἐστιν ἐν τοῖς μάλιστα τῶν φυτῶν; Eus. PE 14.25.4; Lib. Enc. 9.4). In stark anthropomorphisierender Weise werden die Bewegungen der Palmen auch im Rahmen der Beschreibung des Gartens im Palast der Elektra auf Samothrake beschrieben, wo sie allerdings als Ausdruck der Liebe der männlichen bzw. weiblichen Pflanzen zueinander gedeutet werden (3.142–143 καὶ ἄρσενα φύλλα πελάσσας/θηλυτέρῳ φοίνικι πόθον πιστώσατο φοῖνιξ; vgl. 42.309). Der vorliegenden Stelle inhaltlich recht nahe steht hingegen die Erwähnung einer sich sanft neigenden Palme zu Beginn des Apollo-Hymnos des Kallimachos, wo deren Bewegung die Epiphanie des Gottes ankündigt (Call. Ap. 4 ἐπένευσεν ὁ Δήλιος ἡδύ τι φοῖνιξ). Zur Junktur αὐχένα κάμπτει s. K. 20. 275–279a Apfel- und Feigenbaum als Sänftenträger Apfel- und Feigenbaum, an denen sich die Rebe emporrankt, scheinen diese wie Dienerinnen eine Herrin in einer Sänfte zu tragen (δμωίδες ὣς δέσποιναν; ἀμφιπόλων ὑπὲρ ὦμον). Die Sänfte, die mithilfe von Trägerstangen auf den Schultern von Dienern transportiert wurde (vgl. Luc. Cyn. 10 τὰς κλίνας τοῖς τραχήλοις ἄγειν; RE 12.1, 1090–1091 s.v. Lectica; Vian 1995a ad 12.277–279), war das bevorzugte Fortbewegungsmittel hoher Würdenträger in der Antike. Das Bild der eine Herrin tragenden Dienerinnen ist durch das feminine Genus der entsprechenden Bäume bedingt, dürfte aber insofern realitätsfremd sein, als wir keine Belege dafür haben, dass diese kräfteraubende Arbeit auch von Dienerinnen ausgeführt wurden (ibid. 1095–1097). Gemeinsam genannt werden Apfel und Feige von Dionysos auch in 236–238. Die Wahl genau dieser beiden Pflanzen, zwischen denen sich die Rebe emporrankt, könnte an dieser Stelle eine spielerische Imitation der homerischen Beschreibung des Gartens des Alkinoos sein, der Nonnos auch in 3.140–168 als Vorbild diente. Denn auch in der homerischen Beschreibung befindet sich die Rebe zwischen Apfel- und Feigenbaum – allerdings nur auf syntaktischer Ebene: μῆλον δ’ ἐπὶ μήλῳ,/αὐτὰρ ἐπὶ σταφυλῇ σταφυλή, σῦκον δ’ ἐπὶ σύκῳ (Hom Il. 7.120–121). 279b–284 Winde als Fächerdiener Die Winde verschaffen der Rebe durch das sanfte Fächeln der Blätter (280 ἁβρά; 282 φειδομένῃσι) – darin Fächerdienern vergleichbar – angenehme Kühlung. Das für die Schilderung antiker loci amoeni topische Element des Säuselns der Blätter im Wind und die Metapher vom Wehen des Windes als »Fächeln« (s. LSJ s.v. ῥιπίζω II) wird hier von Nonnos zu einem plastischen und meines Wissens originellen Bild umgeformt (vgl. auch 3.148–149; 15.12–13). Dieses war dabei insofern naheliegend, als antike Fächer in

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der Tat die Form eines herzförmigen Blattes haben konnten (vgl. RE 6.2, 1960– 1961 s.v. Fächer; Hopkinson/Vian 1994 ad 21.272–273). Auf das Bild des Fächers rekurriert Nonnos – dieses Mal in ironischer Weise – auch in 21.272–273, wo sich Deriades vorstellt, wie der Satyr Pherspondeus mit seinen großen Ohren den Teilnehmern eines Gastmahles frische Luft zufächelt: ἀλλά σε μακροῖς/ οὔασι ῥιπίζοντα παρ’ εἰλαπίνῃσιν ἐάσσω. Der Hinweis οἶα σέθεν κνώσσοντος dürfte sich darauf beziehen, dass das kühlende Fächeln einen angenehmen Schlaf garantiert (vgl. 15.112–13 [von einem schlafenden Inder] ἀκροκόμου φοίνικος ἢ εὐώδινος ἐλαίης/ῥιπίζων ἀνέμοισιν ἕλιξ ἐπεσύρισεν ὄρπηξ; weiters Suet. Aug. 82 uentilante aliquo cubabat; Aristaenet. 1.3.36–37 ἡ τοῦ ζεφύρου πνοή, τὸ χαλεπὸν παραμυθουμένη τῆς ὥρας, λεπτὸν ἅμα καὶ ὑπνηλὸν ἐνηχοῦσα). 279 ἀγχιφύτων Das Epitheton (vgl. 3.151–152 οἴνοπι καρπῷ/ἀγχιφύτῳ) zählt zu den zahlreichen und für den Stil des Nonnos typischen ἀγχι-Komposita (s. hierfür Ludwich 1873, 99). Es ist wohl eine Neuprägung nach homerischem Kompositionsmuster (vgl. die homerischen Bildungen ἀγχίαλος, ἀγχιβαθής, ἀγχίθεος, ἀγχιμαχητής, ἀγχίμολον, ἀγχίνοος). 280 πολυσπερέων Das bei Homer nur zwei Mal belegte Kompositum (Il. 2.804; Od. 11.365) wird von Nonnos häufig herangezogen, um hiermit auf die Vielzahl von Personen oder Dingen hinzuweisen (vgl. Peek. s.v. und vor allem 37.18 πολυσπερέων δ’ ἀπὸ δένδρων). ἑτερόχροα Die Buntheit von Dingen wird von Nonnos allgemein gerne hervorgehoben (s. E. Kap. 8.2.3.). Hier unterstreicht es die Vielzahl an unterschiedlichen Baumarten (vgl. πολυσπερέων), die Ampelos in Rebengestalt Luft zufächeln (vgl. 5.186 χορὸς ὀρνίθων ἑτερόχροος; 10.154 νεπόδων ἑτερόχροον ἄγρην; 41.34 ἰχθυόεντα πολύχροα δεῖπνα τραπέζης). 284 ποιητὸν ἀήτην Das Hervorheben der Künstlichkeit von Dingen oder Vorgängen ist für den Stil des Nonnos charakteristisch (vgl. v.a. 38.205 ἄσθμασι μιμηλοῖσι χέων ποιητὸν ἀήτην; 43.406 ποιητοῖς ἀνέμοισιν; weiters AP 6.207.3–4 [Arch.] νόθον κεύθουσαν ἄημα/ῥιπίδα; allgemein K. 105). 285–289 Wehen der Etesien Das Aufkommen der jährlich eintretenden Etesien – kühlender Passatwinde aus Nord bis Nordost, die zur Zeit der Traubenreife Mitte Juli auftreten – wird von Dionysos als weitere Wohltat der Natur gegenüber der Rebe interpretiert, die dieser dadurch auch in der heißesten Zeit des Jahres angenehme Kühlung verschafft (vgl. 5.278–279 γαῖαν ἀναψύχουσιν ᾿Ετήσιαι ἐκ Διὸς αὖραι,/ὁππότε ποικιλόβοτρυς ἀέξεται οἰνὰς ὀπώρη) und sie damit vor der Hitze des Sirius beschützt, die durchaus schädliche Auswirkungen auf das Gedeihen der Trauben haben konnte (vgl. z.B. Plin. Nat. 18.272).

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Kommentar

Die Vorstellung, dass die Etesien die Hitze des Sirius (mit dessen Aufgang sie einsetzen) mildern, hängt mit dem Aristaios-Mythos und einem damit verbundenen – und Nonnos durchaus bekannten – Aition für den Kult des Zeus Ikmaios auf der Insel Kos zusammen: Laut diesem Mythos habe Zeus auf ein Opfer des Aristaios hin die Etesien geschickt, um den Menschen Abhilfe gegen die durch den Aufgang des Sirius bewirkte Hitze zu schaffen (vgl. 5.269–279; Call. Fr. 75.34–37 Pfeiffer mit Harder 2012 ad loc.; A. R. 2.516–527). Der Aufgang des Sirius kündigt nicht nur die heißeste Zeit des Jahres, sondern auch die Zeit der Traubenreife und -lese an (286 σῆς σταφυλῆς προκέλευθος; 289 Σειριόεντι πεπαινομένην δρόσον ἀτμῷ; vgl. 16.202–203; 43.170–171; weiters Hes. Op. 608–610). 285 μεσημβρίζουσαν †ἄγεις† Φαέθοντος ἀπειλήν Der überlieferte Wortlaut bereitet Verständnisschwierigkeiten (vgl. Vian 1995a und Gigli Piccardi 2003 ad loc.). Keydell 1959 in app. versuchte, den tradierten Text mit der Erklärung vitis calorem adducere dicitur, quoniam aetas adest, cum uvae se ostendunt zu verteidigen. Die Vorstellung, dass die Rebe den Sommer gleichsam herbeihole, erscheint mir jedoch reichlich verquer; gegen die Deutung spricht zudem, dass μεσημβρίζουσαν die Mittagszeit, nicht aber den Sommer bezeichnet (s.u. μεσημβρίζουσαν). Aus dem Kontext wäre vielmehr eine Aussage zu erwarten, dass die Rebe die mittägliche Drohung des Phaeton (= Hitze) »erleidet« oder »fürchtet«. Das Bedeutungsspektrum von ἄγω lässt eine solche Interpretation aber nicht zu: Mag Nonnos den Begriff auch – gemessen am normalen Sprachgebrauch – recht großzügig verwenden, so habe ich dennoch keinen passenden Beleg finden können, der eine solche Deutung stützen könnte. Es wurden mehrere Vorschläge gemacht, den Text zu sanieren (s. Ludwich 1909 in app.), die aber alle umfangreichere Textumstellungen sekundieren und nicht wirklich überzeugend sind. In Ermangelung einer plausiblen und eindeutigen Erklärung für die Korruptele scheint es mir ratsam zu sein, das problematische ἄγεις zwischen cruces zu setzen. μεσημβρίζουσαν Das Verb μεσημβρίζω leitet sich von μεσημβρία (»Mitte des Tages«) ab und bezieht sich in den Dionysiaka auch immer auf die Mittagszeit (vgl. Peek s.v.). Dass μεσημβρίζουσαν an dieser Stelle den Sommer (»«midi» del’année«) bezeichnet, wie Vian 1995a ad 12.285 mit Verweis auf 48.307– 308 ἡνίκα μέσσον ἔην φλογερὸν θέρος, ἡνίκα πάλλων/καρχαλέης πυρόεντα μεσημβρινὸν ἦχον ἱμάσθλης/᾿Ηέλιος σελάγιζε λεοντείων ἐπὶ νώτων argumentiert, halte ich für unwahrscheinlich: μεσημβρινός wird in 48.308 zwar in der Tat im Rahmen einer Sommerschilderung verwendet, bezieht sich aber auch dort auf die besonders heiße Mittagszeit eines Sommertages.

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287 δίψιον … ἀστέρα Μαίρης Zur Vorstellung, dass die mit der Hitze des Sommers assoziierten Sternbilder selbst Durst leiden müssen vgl. 1.237 δίψιος … Κύων; 38.360–361 Λέοντος/δίψιος οὐρή; weiters Euph. SHell. Fr. 443.5 διψαλέωι Κυνὶ κάρφεται ἡμερὶς [ὕ]λη. 288 θερμαίνει … θερειγενέος Diese Art von etymologischem Wortspiel ist für den Stil der Dionysiaka charakteristisch (s. E. Kap. 8.2.4.). Die sprachliche Verwandtschaft von θερ(μαίν)ω und θερεία/θέρος war in der Antike bekannt (vgl. Et. Gud. s.v. θέρεια: παρὰ τὸ θέρω, τὸ σημαῖνον τὸ θερίζω, θέρεια; EM s.v. θέρος: παρὰ τὸ θέρω, τὸ θερμαίνω; Θέρεια ὥρα: […] παρὰ τὸ θέρω θέρεια; zur modernen etymologischen Herleitung s. Beekes 2010, 541–543). 290–291 Ἔννεπε κυδιόων, προτέρας δ’ ἔρριψε μερίμνας/φάρμακον ἡβητῆρος ἔχων εὔοδμον ὀπώρην Die Verse rufen die Feststellung, mit der die Handlung der Ampelos-Episode im 12. Buch wieder aufgenommen wurde, in Erinnerung: Οὐδὲ Λυαίῳ/φάρμακον ἦν ἑτάροιο δεδουπότος (117–118). Die bewusst gestaltete sprachliche Korrespondenz unterstreicht einmal mehr die sich im 12. Buch vollziehende Peripetie von Trauer zu Freude (zum φάρμακον-Motiv s. K. 117b–291; zur elliptischen Junktur φάρμακον ἡβητῆρος K. 118). 290 Ἔννεπε κυδιόων Vgl. 8.389 Ἔννεπε κυδιόωσα; 30.126 Ἔννεπε κυδιόων; zur Formel Ἔννεπε allgemein s. K. 29. ἔρριψε μερίμνας Die Junktur, die Nonnos auch in 21.287 verwendet, scheint dem christlichen literarischen Diskurs zu entstammen (vgl. LXX Ps. 54.23 ἐπίρριψον ἐπὶ κύριον τὴν μέριμνάν σου; 1 Ep. Petr. 5.7 πᾶσαν τὴν μέριμναν ὑμῶν ἐπιρίψαντες ἐπ’ αὐτόν; Gr. Naz. Carmina de se ipso 37 p. 1436.10 M. Ἔῤῥιψα γὰρ μερίμνας).

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292–397 Alternativversion zur εὕρεσις der Weinrebe Nach Abschluss der Ampelos-Episode unterbricht der Erzähler die narrative Fiktion und verweist auf eine alternative Version zur Entstehung der Rebe, die er im Folgenden wiedergibt. Der explizite Verweis auf die Existenz unterschiedlicher Mythenvarianten im Rahmen der Narration ist ein seit dem Hellenismus verbreitetes Phänomen (s. K. 292–294 und allgemein E. Kap. 6). Nonnos erweist sich hier allerdings in zwei Punkten als innovativ: (i.) Er belässt es nicht bei einem einfachen Verweis auf eine alternative Variante des Mythos, sondern gestaltet beide Versionen auch narrativ aus. (ii.) Er entscheidet sich nicht für eine der beiden Versionen, sondern legt beide gleichberechtigt – und damit jeder narrativen Logik zuwiderhandelnd – der Handlung zugrunde: Der Erzähler nimmt nämlich zu Beginn des 13. Buchs nicht – wie zu erwarten – den Handlungsfaden der für die Diegese maßgeblichen Ampelos-Episode (vgl. v.a. 27.255; 29.108; Kröll 2016, 55–57) wieder auf, sondern führt den Handlungsstrang der Alternativversion weiter (s. K. 394–397), so als ob er vergessen hätte, dass es sich hier nur um die Wiedergabe einer konkurrierenden Mythenvariante handelt (zum dionysischen Erzählstil s. E. Kap. 8.1.). Dies ist jedoch nicht das einzige Mal, dass sich der auf den ersten Blick flüssige Handlungsverlauf als narratives Täuschungsmanöver entpuppt. Durchaus vergleichbar verfährt Nonnos auch im Fall der Geschichte von Dionysos Zagreus: In 5.566 unterbricht der Erzähler die Behandlung der Schicksale der Töchter des Kadmos und berichtet in Form einer sehr ausführlichen Analepse die Geschichte von Dionysos Zagreus, kehrt dann aber im 7. Buch nicht mehr zum ursprünglichen Ausgangspunkt (5.566) zurück, sondern führt – als hätte er selbst mittlerweile den Überblick verloren – den begonnen Handlungsstrang der Analepse weiter und baut die weitere Diegese auf diesen auf. Ein ähnliches Spiel mit dem Leser scheint Nonnos auch beim Erzählen der Typhonomachie in den Büchern 1 und 2 zu treiben, wo er mehrmals zwischen drei verschiedenen Handlungssträngen hin- und herspringt und dem Leser einen schlüssigen Handlungsverlauf vortäuscht – der sich bei genauerer Betrachtung jedoch als unmöglich erweist (vgl. Vian 1976, 11–12). Die Erzählung der Alternativversion selbst verfügt über einen recht kompakten narrativen Kern, dessen Ausgangspunkt der Bericht über die Entstehung der ersten Rebe aus dem Blut des Uranos und deren Ausbreitung zu einem imposanten wildwachsenden Weinberg bildet (294b–318). Die sich daran anschließende Haupthandlung gestaltet sich wie folgt: Bei einem Streifzug durch das Gebirge bemerkt Dionysos eine Schlange, die vom Saft der übervollen Trauben trinkt, was Dionysos Prophezeiungen der Rhea in Erinnerung ruft (319–330). Er beginnt nun eine Kelter auszuheben und die Trauben zu lesen (331–336); die ihn begleitenden Satyrn folgen dabei seinem Vorbild (337–344). Dionysos beginnt dann, die Trauben zur Kelter zu bringen und sie dort mit den Füßen zu pressen

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(345–350), wobei es ihm die Satyrn abermals gleichtun (351–359). Diese kosten daraufhin das neuartige Getränk und werden von ihm berauscht (360–379) – nur Dionysos ist durch ein Amulett vor der berauschenden Wirkung gefeit (380– 381). Im Anschluss an die Zecherei – mittlerweile ist die Nacht hereingebrochen – ziehen die Satyrn in einem ausgelassenen Umzug umher und versuchen, ihre aufkommenden Liebesgelüste zu befriedigen (382–393). Nach der nächtlichen Feier kehrt Dionysos zur Höhle der Rhea zurück (394–397). Der Fokus der Erzählung wechselt zwischen Dionysos und den Satyrn hin und her. Die zentrale Rolle, die die Satyrn am Ende des 12. Buches einnehmen, findet eine Entsprechung in der Beschreibung von deren Bad im Paktolos (10.148–168), mit dem Nonnos die Ampelos-Episode eröffnet hat (vgl. hierzu Kröll 2016, 26): Die beiden Ekphrasen fungieren damit als Rahmen für die Ampelos-Episode (vgl. E. Kap. 3.2.). Der Handlungsverlauf selbst wird durch mehrere vignettenartige Ekphrasen amplifiziert. Bei diesen handelt es sich um die Beschreibung des wilden Weinbergs (298–318), der Weinlese der Satyrn (337–344), der Alkoholisierungserscheinungen derselben (363–379) sowie der nächtlichen Feier (382–393). Immer wieder finden sich auch ätiologische Elemente: So charakterisiert Nonnos den Lanzenthyrsos, mit dem Dionysos die Trauben von den Ästen löst, als Vorform der Winzersichel (336 ὀψιγόνοιο τύπον γαμψώνυχος ἅρπης) und erklärt die Widerstandsfähigkeit des Dionysos gegenüber der berauschenden Wirkung des Weins als Folge der magischen Wirkung des Amethysten, den dieser bei sich trägt (380–381). Zudem liefert er eine explizite etymologische Erklärung für den Begriff κεράννυμι (361–362) sowie eine implizite für die Etymologie des Namens der Kelter (333–334 λειήνας/ληνοῦ); als ein ätiologisches Moment kann weiters auch der Traubenkatalog (302–313) angesehen werden, der indirekt eine Erklärung für die Existenz unterschiedlicher Traubensorten liefert. Zur Mitte der Erzählung hin lässt sich eine gewisse sprachliche Nachlässigkeit in Form von für die Dionysiaka eher untypischen Wortwiederholungen feststellen (341 σιδήρου/342 ἀσίδηρον; 342 τιταίνων/344 τιταίνων; 347 κόλπῳ/349 κόλπον; vgl. Collart 1930, 109), die gepaart mit einer auffälligen Lücke zwischen 346 und 347 sowie weiteren problematischen Stellen (335–336; 343 †βότρυος εἱλικόεντος†; 348 ὡς θημῶνας ἀλωῆς; 363–366) darauf hinweisen könnte, dass einige Teile der Partie von Nonnos noch nicht gänzlich überarbeitet worden sind. Die Formulierung Ὑμνοπόλων … φάτις suggeriert, dass Nonnos’ Erzählung auf einer poetischen Vorlage beruht (vgl. 25.259 [von zeitgenössischen Dichtern] ἄλλοις δ’ ὑμνοπόλοισι), auf die er in alexandrinischer Manier hinweisen wollte (s. v.a. Mazza 2012, 127–131). In der Tat wurde versucht, diese Vorlage auch zu identifizieren. Als Ausgangspunkt hierfür diente die Schilderung der ersten Weinlese in Nemesians 3. Ekloge, die zahleiche Parallelen zur Beschreibung in den Dionysiaka aufweist: Zum einen wurde Nemesian selbst als Vorlage

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Kommentar

postuliert (Magaña Orúe 1997; Salanitro 1997); die Ansicht ist aber insofern wenig überzeugend, als die Benutzung lateinischer Literatur durch Nonnos bisher nicht sicher nachgewiesen werden konnte (s. E. Kap. 6) und ein großer Teil der Parallelen sich einfacher durch die gemeinsame behandelte Thematik (vergleichbares Strukturschema z.B. auch in Anacreont. 59 West) sowie den gemeinsamen literarisch-rhetorischen Hintergrund der beiden Autoren erklären lässt. Zum anderen wurde angenommen, dass Nonnos und Nemesian in einer gemeinsamen Tradition stünden, die letztlich auf das – bis auf wenige Fragmente verlorene – Satyrspiel Dionyskos des Sophokles (Fr. 171–173 TrGF) zurückzuführen sei und die Nonnos über lokale kleinasiatische patria gekannt habe (Vian 1995a, 81–82; 1995b 205–212; vgl. Gigli Piccardi 2003, 745 Anm. 28; Mazza 2012, 136–143). In der Tat scheint es zwar eine Tradition gegeben zu haben, welche die erste Weinlese in Kleinasien lokalisierte (vgl. 13.469–470; AP 9.645.7–8 [Macedon.]), in welchem Verhältnis Nonnos zu dieser steht, kann allerdings aufgrund der mehr als dürftigen Quellenlage nicht eruiert werden. Ähnliches gilt für die Beziehung zum Dionyskos, von dem sich gerade einmal drei Fragmente erhalten haben. Aus diesen geht nur hervor, dass in Sophokles’ Satyrspiel die erste Verkostung des Weins ein Thema war (Fr. 172), wobei sich das Setting jedoch insofern von der nonnianischen Version unterscheidet, als im Stück Dionysos noch ein Kleinkind ist (Fr. 171). Man kann daher zusammenfassen, dass die Frage nach der literarischen Vorlage ebenso unbeantwortet bleiben muss wie jene nach dem Grad der Nachahmung derselben. Auffällig an der Bearbeitung des Themas durch Nonnos ist der starke Fokus auf den Aspekt der εὕρεσις. So ist das Prinzip des πρῶτος εὑρητής zwar ein zentrales Denkmuster innerhalb der antiken Mythologie, die einen Großteil der Gegenstände und Techniken des täglichen Lebens als εὑρήματα bestimmter Götter erklärt. Die Frage nach dem tatsächlichen Wie der Entdeckung scheint sich dabei angesichts der Göttlichkeit der jeweiligen Erfinder nicht oder nur selten gestellt zu haben (vgl. z.B. h.Merc. 24–54 [Lyra]; Pi. P. 12.6–22 [AulosGesang]). Es verwundert daher auch nicht, dass fast alle antiken Erzählungen, die Dionysos als πρῶτος εὑρητής feiern (für einen Überblick s. Vian 1995b, 210), nur die Verbreitung des Weinanbaus bei den Menschen, nicht aber die Frage nach der εὕρεσις selbst behandeln. Sogar im Lied des Pan in Nemesians dritter Ekloge, wo die erste Traubenlese das zentrale Thema ist, wird diese nur gestreift. Ohne weitere Erklärung wird berichtet, dass der Weinstock, als Dionysos zum jungen Mann herangewachsen war, zum ersten Mal Trauben reifen ließ und Dionysos den hierüber staunenden Satyrn den Befehl zur Ernte gab (35–41). Welche Rolle das Thema der Entdeckung des Weins im Dionyskos des Sophokles genau eingenommen hat, wissen wir zwar nicht, sehr wahrscheinlich dürfte Dionysos dort aber – wie Hermes im homerischen Hymnos – als eine Art Wunderkind agiert haben.

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Im Gegensatz dazu legt Nonnos in seiner Erzählung das Augenmerk auf die Entdeckung selbst: Aufgrund der Beobachtung einer Schlange »entdeckt« Dionysos den Weinstock, der – so wird betont – von allein gewachsen ist und sich noch im wilden Zustand befindet. Die beschriebene Art und Weise der εὕρεσις verfügt dabei über eine recht starke rationalistische Komponente. Sie erinnert in der Tat an Erklärungsmodelle, die kulturelle Errungenschaften als Folge menschlicher Beobachtung der Tierwelt erläutern (s. K. 319–330). Auch der starke Hinweis auf den natürlichen Ursprung der Rebe ist diesbezüglich aussagekräftig. Dieser wird auch im Rahmen einer rationalistischen Deutung des Dionysos-Mythos, die Diod. 3.62.4 wiedergibt, betont: Es sei ein Mensch namens Dionysos gewesen, der die von allein gewachsene Rebe entdeckt habe; dessen natürlicher Ursprung ließe sich dabei damit beweisen, dass es an vielen Orten der Welt nach wie vor Wildformen der Pflanze gäbe (φασι τὴν γῆν αὐτομάτως μετὰ τῶν ἄλλων φυτῶν ἐνεγκεῖν τὴν ἄμπελον, ἀλλ’ οὐκ ἐξ ἀρχῆς ὑπό τινος εὑρετοῦ [scil. Dionysos] φυτευθῆναι. τεκμήριον δ’ εἶναι τούτου τὸ μέχρι τοῦ νῦν ἐν πολλοῖς τόποις ἀγρίας ἀμπέλους φύεσθαι). Die Art und Weise, wie Dionysos in der Alternativversion als πρῶτος εὑρητής präsentiert wird, lässt daher eher an einen Menschen als einen Gott denken. Dem wenig göttlichen Auftreten entspricht auch, dass Dionysos seine Informationen bezüglich der εὕρεσις nur aus zweiter Hand besitzt (330 παλαίτερα θέσφατα ῾Ρείης) und dass sein Schutz vor der berauschenden Wirkung des Weins nicht seiner Göttlichkeit, sondern der magischen Wirkung eines Amulettes geschuldet ist (380–381). Diese Charakterisierung entspricht jedoch der allgemeinen Zeichnung des noch jungen Gottes im Epos, die zwischen den Extremen Mensch und Gott changiert (vgl. z.B. Frangoulis 2000; Kröll 2016, 21 Hadjittofi 2016, 135). 292–297 Überleitung Der gelehrte Erzähler der Dionysiaka verweist gerne auf die Benutzung von Quellen, denen er seine Informationen verdankt (vgl. z.B. 26.245–246 [vom Ursprung des Nils] τοῖα μὲν ἑπταπόροιο φατίζεται εἵνεκα Νείλου,/᾿Ινδῴου ποταμοῖο φέρειν γένος; 13.349–350 κεῖθι [Tritonsee] καί, ὡς ἐνέπουσι, παρὰ Τριτωνίδι λίμνῃ/῾Αρμονίῃ παρέλεκτο ῥοδώπιδι Κάδμος ἀλήτης; 17.52 οἷα Κλεωναίοιο φατίζεται ἀμφὶ Μολόρκου/κεῖνα, τά περ σπεύδοντι λεοντοφόνους ἐς ἀγῶνας/ὥπλισεν ῾Ηρακλῆι; 17.238–239 ὡς κερόεις ᾿Αχελῷος ἀείδεται, οὗ ποτε κόψας/῾Ηρακλέης κέρας εἷλε γαμοστόλος; ausführlich Geisz 2018, 65–87). Bei vorliegendem Verweis handelt es sich aber insofern um einen Sonderfall, als nicht einfach auf eine zugrundeliegende Quelle verwiesen wird, sondern zwei unterschiedliche Versionen einander gegenübergestellt werden, einem auch in der gelehrten Dichtung relativ seltenen Phänomen (vgl. Arat. 98–100; Antag. Fr. 1.1–6 Powell; Call. Iou. 1.4–7; Fr. 6 Pfeiffer mit Sch. Flor. ad Fr. 5–7; A. R. 4.611–618; 4.986–990; Euph. Fr. 72 Acosta-Hughes/Cusset; Hollis 1990 ad Fr.

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70.7–8). In den Dionysiaka gibt es hierfür nur zwei weitere Belege, wobei in beiden Fällen eine weitere Version zur Genealogie einer bestimmten Person angeführt wird (s. hierzu Geisz 2018, 78–87): In 26.354–358 wird auf eine alternative Version zur Genealogie des Deriades verwiesen (v.a. 354–355 φάτις δέ τις, ὅττι ἑ μήτηρ/Νηιὰς ᾿Ωκεανοῖο γένος τεκνώσατο Κητώ) und in 41.155–157 eine abweichende Version der Abstammung der Nymphe Beroe-Amymone berichtet (ἀλλά τις ὁπλοτέρη πέλεται φάτις, ὅττι μιν αὐτή/ἀνδρομέης Κυθέρεια κυβερνήτειρα γενέθλης/᾿Ασσυρίῳ πάνλευκον ᾿Αδώνιδι γείνατο μήτηρ; s. hierzu Zuenelli 2017). Keine neutrale Gegenüberstellung, sondern eine Mythenkorrektur findet sich in 47.246–262, wo der soeben berichtete (!) Katasterismos des Ikarios und der Erigone im Nachhinein als unwahre attische Legende entlarvt wird (47.256–257 καὶ τὰ μὲν ἔπλασε μῦθος ᾿Αχαιικὸς ἠθάδα πειθώ/ψεύδεϊ συγκεράσας). Die von Nonnos in 294 gewählte Formulierung ἄλλη πρεσβυτέρη πέλεται φάτις bildet einen bewussten intratextuellen Verweis auf die Alternativversion zur Genealogie der Nymphe Beroe-Amymone im 41. Buch (ἀλλά τις ὁπλοτέρη πέλεται φάτις) und ist Teil der Korrespondenz zwischen den beiden Büchern (s. E. Kap. 3.2.). Der Text weist zudem sprachliche Parallelen zur zweifachen Erklärung des Toponyms der Insel Drepane (Korkyra) in A. R. 4.986–990 auf. Dass Nonnos hiermit eine bestimmte Intention verfolgen würde (Duc 1990, 187), konnte allerdings nicht überzeugend nachgewiesen werden (vgl. Mazza 2012, 127–132). 294 πρεσβυτέρη … φάτις Nonnos scheint mit dem Begriff φάτις keine Implikationen zu verbinden, die den Wahrheitsgehalt der jeweiligen Informationen bzw. Erzählungen betreffen. In der Tat wird mit φάτις hier – aber auch in 41.155 – eine Mythenvariante bezeichnet, die den Ausgangspunkt für den weiteren Handlungsverlauf bildet (für φάτις in diesem neutralen Sinn vgl. z.B. A. R. 4.984; D. P. 545). Soll der rein fiktive Charakter von Erzählungen betont werden, scheint Nonnos auf den Begriff μύθος zurückzugreifen (20.207–208 ῾Ελλάδι φήμῃ/… ἔπλασε μῦθος; 47.256 τὰ μὲν ἔπλασε μῦθος ᾿Αχαιικός). Die Charakterisierung der φάτις als πρεσβυτέρη ist meines Erachtens nicht auf das hohe Alter der Erzählung selbst, sondern auf das hohe Alter der Gattung der Rebe in der Erzählung zu beziehen. Schon im nächsten Vers wird nämlich erwähnt, dass diese in grauer Vorzeit durch das zur Erde gefallene Blut des Uranos entstanden sei. In derselben Weise scheint sich auch 41.155 ὁπλοτέρη … φάτις nicht auf das Alter der Erzählung, als vielmehr auf die zugrundliegende Genealogie zu beziehen: Während nämlich der ersten Version zufolge die Eltern der Beroe-Amymone urtümliche Titanen (Okeanos und Tethys) waren, sind es der »jüngeren« nach Aphrodite und Adonis. 294b–297 Entstehung aus dem Blut des Uranos Die Entstehung von Lebewesen und Pflanzen aus dem von Göttern oder Heroen vergossenen Blut ist ein

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gängiges Erklärungsmodell innerhalb des antiken Mythos (s. z.B. West 1983, 165 Anm. 87; zum Konzept der Spontanentstehung von Pflanzen in der antiken Biologie Epstein 2019, 101–104). Die Formulierung an dieser Stelle (οὐρανόθεν; ᾿Ολύμπιος) suggeriert, dass es sich hierbei im Speziellen um das Blut des Uranos handelt, das bei dessen Kastration zur Erde gefallen ist. Das Blut des Uranos galt als Ursprung zahlreicher Hervorbringungen (s. allgemein RE 9A.1, 970–971 s.v. Uranos): der melischen Nymphen, der Erinnyen und der Giganten (Hes. Th. 183–187), der Phäaken (Acus. FGH 2 Fr. 4; Alc. Fr. 441 Voigt), des Silen (Serv. Ecl. 6.13), des Fisches πομπίλος (Ath. 7.282f) sowie des Blutsteins (Orph. L. 645–656). Es ist daher naheliegend, die Charakterisierungen οὐρανόθεν und ᾿Ολύμπιος – mit letzterem bezeichnet Nonnos gerne das Himmelsgewölbe (vgl. z.B. 1.466; 2.675; 40.313) – auf Uranos zu beziehen (vgl. Ath. 7.282f γεγονὼς ἐκ τοῦ Οὐρανίου αἵματος; Orph. L. 644 οὐρανόθεν γεγαῶτα). Von einem αἷμα/… αὐτολόχευτον ᾿Ολύμπιον (40.535–536) und θεηγενὲς αἷμα (40.573) ist auch im Fall der zu Anbeginn der Zeit aus der Erde entstandenen Einwohner von Tyros die Rede. Der Begriff αἷμα wird hier aber im Sinne von »Geschlecht« verwendet, um auf eine nicht näher thematisierte Göttlichkeit dieser Menschen zu verweisen (vgl. Simon 1999 ad 40.535–536). Die Vorstellung, dass die erste Rebe aus vergossenem Blut entstanden ist, war abgesehen davon, dass es sich hierbei allgemein um ein beliebtes mythologisches Erklärungsmuster handelte, vor allem aufgrund der physischen Ähnlichkeit des roten Traubensaftes mit Blut (s. K. 253–255) naheliegend. Die Erklärung physischer Merkmale oder Eigennamen war bei derartigen Entstehungsgeschichten in der Tat ein leitendes Prinzip (vgl. Orph. L. 645–656 [Blutstein]; Bio 1.66 αἷμα ῥόδον τίκτει mit Reed 1997 ad loc.; Ov. Met. 10.735 [Anemone] flos de sanguine concolor ortus mit Bömer ad loc.). 295 φερέκαρπος … ἰχὼρ Der Begriff ἰχώρ bezeichnet im Epos für gewöhnlich das göttliche Äquivalent zum menschlichen Blut (vgl. LFE s.v.). Nonnos verwendet den Begriff nur zwei weitere Male, und zwar in 4.388, wo er hiermit ein durch die Wirkung von Gift verflüssigtes Gehirn bezeichnet, sowie in 29.268, wo ἰχώρ – zum Zweck lexikalischer Variation – als Synonym für αἶμα herangezogen wird. φερέκαρπος Vgl. 40.388 ὄμβρον … φερέκαρπον (zu Nonnos’ Vorliebe für Komposita auf φερε- s. K. 6). 298–318 Weinberg in der Wildnis Auf den kurzen Hinweis zur Entstehung des ersten Weinstocks aus dem Blut des Uranos (294b–297) folgt eine Ekphrasis desselben, der sich mittlerweile zu einem stattlichen Weinberg ausgebreitet hat. Der im Rahmen der Beschreibung eingenommene Blickwinkel verengt sich dabei zunehmend: Zunächst wird der von den wilden Reben üppig umwucherte Wald präsentiert (298–301), im Anschluss daran wird das Augenmerk auf die

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unterschiedlichen Traubensorten gerichtet, die auf diesen wilden Reben wachsen (302–313) und schließlich wird der Blick auf eine einzelne umwucherte Pinie gelenkt (314–318). Diese gleichsam zoomartige Bewegung findet eine gewisse Parallele in der Muster-Ekphrasis eines Gartens, die sich unter den Libanios zugeschriebenen Progymnasmata erhalten hat. Auch dort wird der Blick des Lesers schrittweise von außen nach innen gelenkt (Descr. 9). Die stark anthropomorphisierende Darstellungsweise des wilden Weinbergs (v.a. 296 τέκε; 299 ἡβώουσα; 303 ἀλήτης; 304 ὠδῖνας; 307 ὤθεεν; 310 ἐμέθυσσεν; 314 ἔστεψεν; 318 ἐλέλιζε κόμην) entspricht dem Stil der Dionysiaka (s. E. Kap. 8.2.3.). In bewusstem Kontrast zur Charakterisierung der Weinstöcke als »wilder Wald an Reben« (ἀγριὰς … εὐάμπελος ὕλη) auf der Handlungsebene (298–301) werden diese in den daran anschließenden Versen durch das paradoxe Bild eines »Weingartens in der Wildnis« (ὄρχατος) präsentiert (s. hierzu K. 302). Muster für die Schilderung dieses »Gartens« bildet – wie auch schon in 3.140–168 – die Beschreibung des Gartens des Alkinoos im 7. Buch der Odyssee; die sprichwörtlich gewordenen »Gärten des Alkinoos« waren auch sonst häufig zentraler Referenzpunkt in kaiserzeitlichen Garten-Ekphrasen (vgl. Iul. Ep. 98 Bidez/Cumont 401a; Lib. Or. 11.236 mit Fatouros/Krischer 1992 ad loc.; Descr. 9; Aristaenet. 1.3.6–7). Nonnos verweist durch mehrere Verbalechos auf das homerische Vorbild (s. Vian 1995a ad 12.302–313): πολὺς ὄρχατος (302) ≈ μέγας ὄρχατος (Hom. Od. 7. 112); ἐπὶ βότρυϊ βότρυς (303) ≈ ἐπὶ σταφυλῇ σταφυλή (Hom. Od. 7.121); περκάζων ἄνθος (309; hapax bei Nonnos) ≈ ἄνθος ... ὑποπερκάζουσιν (Hom. Od. 7.126; hapax bei Homer); ἀγλαόκαρπον ... ἐλαίην (310) ≈ ἀγλαόκαρποι ... ἐλαῖαι (Hom. Od. 7.115–116); ὄμφακι (311) ≈ ὄμφακές (Hom. Od. 7.125). Inhaltlich wird das homerische Modell von ihm dabei insofern adaptiert, als im Weingarten freilich nicht eine Fülle an verschiedenen Ostbäumen, dafür aber eine Fülle an verschiedenen Traubensorten wachsen: Die fünf beschriebenen Traubensorten dürften dabei wohl die Aufzählung der fünf verschiedenen Arten von Obstbäumen im homerischen Prätext parallelisieren (Od. 7.115– 116 ὄγχναι καὶ ῥοιαὶ καὶ μηλέαι ἀγλαόκαρποι/συκέαι τε γλυκεραὶ καὶ ἐλαῖαι τηλεθόωσαι). Seinem Vorbild folgend hebt Nonnos bei der Beschreibung des wilden Weingartens nicht nur das üppige Wachstum (303 ἐπὶ βότρυϊ βότρυς; 307 γείτονα γείτων; vgl. Od. v.a. 7.121 ἐπὶ σταφυλῇ σταφυλή), sondern auch die unterschiedlichen Reifestadien der Trauben hervor, die eine ganzjährige Lese erlauben (304 ἡμιτέλεστος; 306 ἐπεπαίνετο; 309 περκάζων; 311 ἀρτιχάρακτος; ὄμφακι; vgl. Od. v.a. 7.125–126 πάροιθε δέ τ’ ὄμφακές εἰσιν/ἄνθος ἀφιεῖσαι, ἕτεραι δ’ ὑποπερκάζουσιν; weiters Philostr. Im. 2.17.8 βότρυς δὲ οἱ μὲν ὀργῶσιν, οἱ δὲ περκάζουσιν, οἱ δ’ ὄμφακες, οἱ δ’ οἰνάνθαι δοκοῦσι σεσοφισμένου τοῦ Διονύσου τὰς ὥρας τῶν ἀμπέλων ὡς ἀεὶ τρυγῴη; S. Fr. 255 TrGF; Aristaenet. 1.3.16–17). Diese Umwandlung des homerischen Gartens in einen Weinberg kann metapoetisch gelesen werden (s. E. Kap. 6).

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298–301 Wilde Rebstöcke Der Erzähler weist explizit darauf hin, dass es sich bei den Rebstöcken um von Menschen noch nicht kultivierte (vgl. bereits 296 αὐτοφυὴς ἀκόμιστος) und damit unveredelte Pflanzen (298 Οὔ πω δ’ ἡμερὶς ἦεν ἐπώνυμος) handelt. Der wilden Umgebung entsprechend (296 ἐν σκοπέλοις; ἐνὶ λόχμαις) ranken sie sich an Waldbäumen empor (vgl. Philostr. Iun. Im. 866.15– 17 Olearius αἱδὶ μὲν αἱ ἡμερίδες ἄγριαι ἀνερπύσασαι ξυμβεβλήκασι τοὺς τῶν κλημάτων κορύμβους ἄλλον ἄλλῳ συνδέουσαι τῶν δένδρων). Sie bilden dadurch gleichsam einen wilden Wald an Reben (299–300 ἀγριὰς … εὐάμπελος ὕλη; vgl. Euph. SH Fr. 443.5 ἡμερὶς [ὕ]λη); im Gegensatz dazu wird die Rebe, in die sich Ampelos verwandelt hat und die an Obstbäumen emporklettert, als ὄρχατος ἀμπελόεις (12.186) bezeichnet. Das Adjektiv ἀγριάς ist ein nonnianisches epitheton ornans für den Wald (14.09; 14.211; 15.206; 17.87; 27.180; 37.69). Die Unterscheidung zwischen wildwachsenden (ἄγριος) und durch menschliche Pflege kultivierten Pflanzenformen (ἥμερος) war eine wichtige Ordnungskategorie innerhalb der antiken Botanik (vgl. z.B. Thphr. HP 3.2). Die Kultivierung einst nur wild vorkommender Pflanzen galt dabei als wichtiger Schritt in der Kulturentwicklung (vgl. Plat. Tim. 77b πρὶν δὲ ἦν μόνα τὰ τῶν ἀγρίων γένη, πρεσβύτερα τῶν ἡμέρων ὄντα; Lucr. 5.1367–1369 inde aliam atque aliam culturam dulcis agelli/temptabant fructusque feros mansuescere terra/cernebant indulgendo blandeque colendo; weiters Verg. Georg. 2.36 fructusque feros mollite colendo). Dies bedeutet freilich, dass es sich bei der Weinrebe, die Dionysos als erster entdeckt, nur um eine Wildform handeln kann (vgl. Nic. Al. 30 [von Silenen] ὡς δ’ ὁπότ’ ἀγριόεσσαν ὑποθλίψαντες ὀπώρην; Opp. C. 4.253–254 [von Euboia] μέλλεν ἀνήμερος ἡ πρὶν ἐοῦσα/γαῖα φυτηκομέειν ὑπὸ λυσιπόνῳ Διονύσῳ; 269–270 [von Aristaios] πρῶτος ἐκεῖνος/καρποὺς ἀγριάδος λιπαρῆς ἔθλιψεν ἐλαίης; Fr. 646a.23 TrGF [von Dionysos gesprochen] καρπὸν μὲν ἐμὸ̣ ν̣ τὸ̣ ν̣ ὄ ̣ρειον). Die Charakterisierung als Wildpflanze bringt ein faktisches Problem mit sich, das Nonnos für den weiteren Verlauf der Geschichte auszublenden scheint, nämlich die Tatsache, dass Wildformen meist minderwertigere Früchte hervorbringen (vgl. Thphr. HP 3.2.3 ἅπαν δὲ τὸ ἐξαγριούμενον τοῖς τε καρποῖς χεῖρον γίνεται; vgl. Dsc. 5.2.1). Dieses Faktum scheint in der Antike weitläufig bekannt gewesen zu sein, wie etwa das abfällige Urteil über den herben Wein einer als ἄγριάς beschimpften Rebe in AP 9.561 (Phil.) zeigt. 299 ἀγριὰς ἡβώουσα Die Formulierung verweist auf die Beschreibung des Weinstocks am Eingang zu Kalypsos Höhle: ἡμερὶς ἡβώωσα, τεθήλει δὲ σταφυλῇσι (Hom. Od. 5.69). Nonnos variiert das homerische ἡμερὶς ἡβώωσα durch ἀγριὰς ἡβώουσα und betont damit zusätzlich den wilden Charakter des von ihm beschriebenen Weinstocks. Die Umwandlung des homerischen Modells wird in 302–313 weitergeführt.

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300 οἰνοτόκων … φυτῶν Zu diesem nonnianischen epitheton ornans s. K. 24 οἰνοτόκον … βότρυν. 301 ὑγρὸν ἀναβλύζουσα βεβυσμένον ὄγκον ἐέρσης Der Saft sprudelt von allein aus den prallgefüllten Trauben hervor. Die Schilderung findet eine gewisse Parallele in der Beschreibung eines Ölbaums, der bei der Ankunft des dionysischen Heeres von allein Öl herabfließen lässt (22.26–27), und des wundersamen in Indien wachsenden »Honigbaums«, von dessen Blättern Honig herabrinnt (26.186–187; zum Motiv des Überfließens s. Riemschneider 1957, 57). Das Bild übervoller Trauben, deren Saft herabtropft, scheint in der antiken bildenden Kunst recht beliebt gewesen zu sein. Ein eindrückliches Bild hiervon geben zwei apulische Amphoren des sog. Ganymed-Malers (drittes Viertel 4. Jh. v. Chr.), die darstellen, wie Wein aus den Trauben direkt in die Phialen verschiedener Personen fließt (Schmidt/Trendall/Cambitoglou 1976, 6–7; 36 Taf. 8–10; vgl. Philostr. Im. 1.18.1 νέκταρ ἐκ βοτρύων). ὄγκον ἐέρσης Zur Klausel s. K. 200 ὄγκον ὀπώρης. 302–313 Traubenkatalog Die Gestalt des Weingartens wird anhand einer katalogartigen Aufzählung der unterschiedlichen dort wachsenden Trauben veranschaulicht (vgl. Verg. Georg. 2.89–102; Plin. Nat. 14.15–43) und bietet damit implizit ein mythologisches Aition für die Existenz unterschiedlicher Traubensorten. Es werden fünf verschiedene Trauben beschrieben, die sich bezüglich Farbe und teilweise Reifegrad unterscheiden: Die erste und fünfte Traube weisen aufgrund ihres noch unreifen Zustands unterschiedlich kolorierte Beeren auf, die ins Rötliche bzw. Schwärzliche tendieren. Die Beschreibungen dieser beiden Trauben umschließen gleichsam ringkompositorisch die Aufzählung der restlichen drei schon reiferen Früchte, die eine weißgesprenkelte, gelbe bzw. schwarze Färbung besitzen und nach der jeweiligen Dunkelheit ihrer Farbe angeordnet zu sein scheinen (zum erwähnten Farbspektrum vgl. Plin. Nat. 14.15 hic purpureo lucent colore, illic fulgent roseo nitentque viridi; candicans enim nigerque vulgares). Der enumerative Charakter ist für die ekphrastische Technik des Nonnos allgemein charakteristisch. Die Auflistung der einzelnen Traubenarten in Reih und Glied verdient an dieser Stelle aber insofern besondere Beachtung, als sie hier das einleitende στοιχηδὸν ἀνέρπων auf sprachlich-formaler Ebene umsetzt (vgl. in diesem Zusammenhang 308 ξανθοφυής). Wie schon von Vian 1995a ad 12.308–309 und 312 bemerkt, scheint Nonnos bei der Beschreibung der einzelnen Trauben in subtiler Weise auf real existierende Traubensorten anzuspielen, wobei eine eindeutige Zuordnung allerdings nicht möglich (und wohl auch nicht intendiert) ist (s. K. 306; 307–308; 308–310; 310; 311–312).

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302 Καὶ πολὺς ὄρχατος ἦεν Die Bezeichnung der Reben als ὄρχατος (und die damit verbundene Vorstellung eines von Menschenhand angelegten Weinbergs) steht in einem paradoxen Verhältnis zur vorherigen Charakterisierung als Wildpflanze, die inmitten des Waldes wächst (300 εὐάμπελος ὕλη): Die Reben bilden demnach gleichsam einen »wilden Weingarten«. Der ὄρχατος-Chrakter dürfte sich dabei auf die folgenden beiden Aspekte beziehen: (i.) Die Trauben, die in Reih und Glied an den Reben emporwachsen (στοιχηδὸν ἀνέρπων), erinnern an das Bild von in Zeilen angeordneten Obstplantagen (s. K. 186). (ii.) Die im Folgenden beschriebenen Trauben bilden eine derartige Vielfalt, dass sie die Vorstellung eines ganzen Weinbergs evozieren. Auf vergleichbare Weise wird in Iul. Ep. 180 392a Bidez/Cumont ein Feigenbaum, an dem – mittels Pfropfung – verschiedene Arten von Feigen wachsen als ὁλοκλήρου κήπου […] ποικίλην τινὰ καὶ πολυειδῆ τῶν καρπῶν ἀφ᾿ ἑαυτοῦ τὴν ἀγλαΐαν ἀντιπεπομφότος beschrieben. ἀνέρπων Zu ἕρπω als Umschreibung für das »Emporkriechen« der Trauben s. K. 174. 303 σείετο … ἐπὶ βότρυϊ βότρυς ἀλήτης Das etwas seltsame Bild, dass die Trauben selbst eine Bewegung vollführen, entspricht dem Stil des Nonnos (s. Riemschneider 1957, 57). Schwieriger zu erklären ist, welche Art von Bewegung genau gemeint sein dürfte. Angesichts des vorausgehenden ἀνέρπων ist die gesamte Formulierung wohl auf das Hinaufschlängeln der Trauben zu beziehen (vgl. 36.361–363 σύμφυτον αἰθύσσων ἐπὶ βότρυϊ βότρυν ἀλήτην/…/σείετο; weiters 11.519 κισσὸς ἀλήτης). Denkbar wäre grundsätzich aber auch, dass die Bewegung der Trauben einem Windhauch geschuldet ist (vgl. 16.277 ἀνέμοισιν ἐσείετο βότρυς ἀλήτης), der für einen locus amoenus typisch ist (s. Schönbeck 1962, 38–39). Ein Windzug wird allerding erst in 316 – und in ganz anderem Kontext (s. K. 314–318) – erwähnt. ἐπὶ βότρυϊ βότρυς Zum Polyptoton, das das homerische Vorbild imitiert, s. K. 294b–318. 304–305 Ὧν ὁ μὲν ἡμιτέλεστος ἑὰς ὠδῖνας ἀέξων,/αἰόλα πορφύρων, ἑτερόχροϊ φαίνετο καρπῷ Die erstgenannte Traube ist noch unreif und weist unterschiedliche Rotschattierungen auf. Sie nimmt unter den beschriebenen Trauben dabei insofern eine Sonderstellung ein, als sie aufgrund der verschiedenen Rotkolorierungen als bunt (ἑτερόχροϊ) charakterisiert wird. Der unreife Zustand der Traube wird mittels des Bildes beschrieben, dass sie mit ihrer Frucht gleichsam noch in den Wehen liegt: ἑὰς ὠδῖνας ἀέξων (vgl. 22.99–100 [von Zeus] ῥεέθρων/ ὑγροτόκους ὠδῖνας … ἀέξει; zu ὡδίς als Bezeichnung einer Traube s. K. 199). 306 ὃς δὲ φαληριόων ἐπεπαίνετο σύγχροος ἀφρῷ Die zweite Traube hat bereits zu reifen begonnen (ἐπεπαίνετο) und besitzt eine weißgesprenkelte Färbung.

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φαληριόων … σύγχροος ἀφρῷ Das Verb φαλεριάω ist ein homerisches hapax legomenon (Il. 13.798–799 κύματα .../… φαληριόωντα; vgl. die Imitation der Stelle in Nonn. D. 3.33–34). Wie schon in 5.179–180 [von einem Smaragd, der mit einem weißen Kristall verbunden ist] δεξαμένη κρύσταλλον ὁμόζυγον εἴκελον ἀφρῷ/εἶχε φαληριόωντα μελαινομένης τύπον ἅλμης so liefert Nonnos auch hier durch den Verweis auf den Schaum des Meeres eine gelehrte Erklärung der Homerglosse (vgl. Sch. Hom. Il. 13.799 φαληριόωντα: λευκανθίζοντα τῷ ἀφρῷ). Die etwas überraschende Wortwahl könnte möglicherweise eine Anspielung auf den Φάλερνος, den berühmten Wein aus dem Falerner-Gebiet, darstellen. 307–308 καὶ πολὺς ὤθεεν ἄλλος ὁμόζυγα γείτονα γείτων/ξανθοφυής Die dritte beschriebene Traube ist von gelblicher Farbe und in ihrem Wachstum so fortgeschritten, dass sie bereits die neben ihr heranreifende Traube verdrängt. Dieser Vorgang wird dabei durch die benachbarte Wortstellung γείτονα γείτων (zur Homerimitation s. K. 294b–318) sowie durch die Verwendung von Enjambement – ξανθοφυής wird aus Vers 307 gleichsam hinausgedrängt – abgebildet. Ähnliche Funktion könnte die (ansonsten eher seltene) Verwendung eines Ein-Wort-Enjambement in 7.15 οὐ τότε λοιβή/ἠερίους ἐμέθυσσε πόρους εὐώδεϊ καπνῷ [L; Vian καρπῷ]/οἰνοβαφής erfüllen, wo im Rahmen der Beschreibung eines Weintrankopfers οἰνοβαφής bereits auf die nächste Zeile »getropft« ist. Vergleichbar ist auch 36.437–439 ὑπὸ λύθρῳ/ἄστεος εὐλάιγγες ἐφοινίχθησαν ἀγυιαί/κτεινομένων, wo das »Überschwappen« von κτεινομένων in die nächste Zeile das Überströmen der durch das Blut der Verstorbenen vollgelaufenen Straßen abzubilden scheint (vgl. 18.112–113, wo die zwei aufeinanderfolgenden Ein-Wort-Enjambements ein metrisches Pendant zum schwankenden Gang des betrunkenen Maron bilden, oder 23.24, wo das Verschwinden des Dionysos im Wasser durch das »Abtauchen« von δυόμεος in die nächste Zeile formal abgebildet wird). Der Begriff ὁμόζυξ (sowie dessen Ableitungen) kann sowohl eine reine Nähe oder Gemeinschaft von Personen und Dingen (z.B. 17.331 ὁμοζυγέων στίχας ᾿Ινδῶν) als auch – wörtlich – eine tatsächliche Verbindung zwischen denselben ausdrücken, wie z.B. im Fall des Doppelaulos (13.508 δίδυμοι … ὁμόζυγες … αὐλοί). Sollte hier letzteres gemeint sein, so könnte Nonnos eine Frucht bestehend aus einem Traubenpaar nach Art der gemellae (Plin. Nat. 14.22 quibus hoc nomen uvae semper geminae dedere; vgl. Colum 3.2.10) oder der bimammiae (s. André 1952, 142) vor Augen gehabt haben. 308–310 ἕτερος δὲ φυὴν ἰνδάλλετο πίσσῃ/περκάζων ὅλον ἄνθος, ἀπ’ οἰνοτόκων δὲ πετήλων/σύμφυτον ἀγλαόκαρπον ὅλην ἐμέθυσσεν ἐλαίην Die vierte Traubensorte ist schwarz wie Pech und hat bereits ihren vollen Reifegrad erreicht; ihr Saft verfügt sogar schon über eine berauschende Wirkung. Der explizite Vergleich mit der Farbe des Pechs dient in erster Linie der Veran-

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schaulichung der dunklen Farbe (so z.B. in Hom. Il. 4.277 [von einer schwarzen Wolke] μελάντερον ἠΰτε πίσσα), könnte aber gleichzeitig eine Anspielung auf eine spezifische Traubensorte sein. In der Tat kannte man in Rom eine wegen ihrer intensiv schwarzen Farbe picina (Pechtraube) bezeichnete Tafeltraube (vgl. Plin. Nat. 14.42 omnium nigerrima). Wohl ebenfalls wegen ihrer pechschwarzen Farbe wurde eine in Ägypten angebaute Traubensorte πεύκη bezeichnet (vgl. Plin. Nat. 14.75 in Aegypto hoc [scil. Wein aus Sebennytos] nascitur tribus generibus uvarum ibi nobilissimis, Thasia, aethalo, peuce; vgl. André 1952, 141 Anm. 4). 309 περκάζων ὅλον ἄνθος Mit ἄνθος ist freilich nicht die Blüte der Rebe, sondern deren Frucht, die Traube, gemeint (s. K. 95). Das Verb περκάζω, das hier das Sich-Schwarzfärben der Trauben beschreibt (vgl. Apollon. Lex. s.v. περκνόν: περκάζειν ἔτι λέγομεν τὴν σταφυλὴν τὴν ἤδη μελαινομένην; Hsch. s.v. ὑποπερκάζουσι), wird von Nonnos nur an dieser Stelle verwendet und ist der Homerimitation geschuldet (s. hierzu K. 294b–318). οἰνοτόκων Zum Epitheton s. K. 24. 310 ἀγλαόκαρπον ὅλην ἐμέθυσσεν ἐλαίην Zur Vorstellung, dass sich die berauschende Eigenschaft des Saftes der Traube auf die umliegenden Pflanzen auswirkt vgl. v.a. 16.279–280 ἱμερόεις ἐμέθυσσεν … ὄρπηξ/ἐπιβήτορα κισσὸν ὀπώρης und allgemein K. 199. Die Erwähnung einer Kulturpflanze, wie es der Ölbaum ist, überrascht an dieser Stelle allerdings insofern ein wenig, als sich der Weinberg ja in der Wildnis ausbreitet. Man muss daher annehmen, dass es sich hierbei um einen wilden Ölbaum handelt. Abgesehen von der allgemein häufigen Gegenüberstellung von Rebe und Ölbaum in den Dionysiaka (s. Vian 1995a ad loc.) scheint die Nennung des Ölbaums an dieser Stelle im Speziellen auf die Ähnlichkeit der beschriebenen Trauben mit Oliven abzuzielen, die ja ebenfalls eine dunkelblau bis schwarze Farbe aufweisen können (vgl. Gp. 9.19.2 τὰς ἐλαίας ἀρχομένας περκάζειν). Eine in Tibur angebaute Traubensorte wurde wegen der Ähnlichkeit ihrer Beeren mit Oliven sogar als oleaginea bezeichnet (Plin. Nat. 14.38 a similitudine olivae; vgl. André 1952, 143). ἀγλαόκαρπον Zu ἀγλαόκαρπος als Epitheton für den Ölbaum vgl. Hom. Od. 7.115–116 ἀγλαόκαρποι ... ἐλαῖαι; h. Cer. 23 ἀγλαόκαρποι ἐλαῖαι; Opp. H. 4.272 ἀγλαόκαρπος … ἐλαίη. Hier ist die Wortwahl Teil der Homerimitation (s. K. 294b–318). 311–313 ἄλλου δ’ ἀρτιχάρακτος ἐπέτρεχεν ὄμφακι καρπῷ/βότρυος ἀργυρέοιο μέλας αὐτόσσυτος ἀήρ,/ὄγκῳ βοτρυόεντι φέρων σφριγόωσαν ὀπώρην. Wie die erste so ist auch die letzte Traube noch unreif. Ihre noch hellen Trauben haben sich aber bereits zu färben begonnen. Der Hell-Dunkel-Kontrast wird durch die pointierte Wortstellung ἀργυρέοιο μέλας zusätzlich verstärkt (vgl. v.a. 1.150

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ἐμελαίνετο λευκὰς ἐρίπνη; 19.129–130 ἀργυρέαις ἀκτῖσι μέλας λευκαίνεται ἀγκών; weiters 14.419–420 ὡς γλάγος αἰγῶν/ἄργυφον οὐ πέλε τοῦτο, καὶ οὐ μέλαν οἷά περ ὕδωρ; 17.218–219 ἄργυφον ἄντυγα μαζοῦ/… κυανέη χείρ; Zu Nonnos’ Vorliebe für starke Farbkontraste allgemein s. E. Kap. 8.2.3.). 311 ἀρτιχάρακτος Das Bild des Einschneidens und Einzeichnens (χαράσσω) ist zentraler Bestandteil der Metaphorik innerhalb der Dionysiaka (vgl. Riemschneider 1957, 49–51). Dementsprechend wird auch hier der Verdunklungsprozess mit ἀρτιχάρακτος wiedergegeben (vgl. 5.403–404 ἰούλων/ἄνθεϊ πορφυρέῳ κεχαραγμένον ἀνθερεῶνα; 10.179–180; 32.201). 312 βότρυος ἀργυρέοιο Das Adjektiv ἀργύρεος suggeriert eine recht helle Färbung. Der strahlendhelle Glanz des Silbers dient Nonnos hauptsächlich als Vergleichsobjekt für einen hellen Haut-Teint (vgl. 33.31 μελέων … ἄργυφος αἴγλη; 34.209 ἄργυφον αὐχένα Βάκχης; 42.419 ἀργυρόπηχυς). μέλας … ἀήρ Die Bezeichnung μέλας ἀήρ ist einigermaßen sonderbar. Nonnos verwendet die Junktur für gewöhnlich, um einen durch Gewitterwolken verdunkelten Himmel zu charakterisieren (14.406 βρονταίοις πατάγοισι μέλας μυκώμενος ἀήρ; 30.74 σῷ Σικελῷ σπινθῆρι μέλας θερμαίνεται ἀήρ). An dieser Stelle muss hiermit allerdings die schwarze Farbe gemeint sein, die beginnt, die noch unreifen und daher hellen Trauben zu überziehen. Vian 1995a ad loc. verweist für den Wortgebrauch von ἀήρ auf Hero Aut. 28.3, wo Teile eines Automatentheaters, die als Himmel fungieren, als πτερύγια τῆς σανίδος †ἐπιφύεται μέλανι ἢ ἀέρι bezeichnet werden. Die Deutung der Stelle gestaltet sich aufgrund der schlechten Überlieferung als schwierig: Der Begriff ἀήρ scheint jedenfalls wie μέλαν einen dunklen Farbton (»Himmelblau«?) zu bezeichnen. Als Erklärung für die Verwendung des Begriffs ἀήρ durch Nonnos erscheint mir die Parallele bei Heron aber insofern wenig überzeugend, als Nonnos ja bereits mit μέλας den Farbton der Trauben angegeben hat. Die eigenwillige Formulierung (und die damit verbundenen Erklärungsschwierigkeiten) könnten allerdings daraus resultieren, dass Nonnos abermals auf eine bestimmte Traubenart anspielen wollte: Interpretiert man die schwarze Luft (μέλας ἀήρ) als Periphrase für »Rauch« (für μέλας ἀήρ zur Beschreibung von Gewitterwolken s.o.), könnte man eine Verbindung zur »Rauchtraube« herstellen (Plin. Nat. 14.39 capnios; vgl. André 1952, 140). Diese verdankt ihren Namen ihrer rauchähnlichen Färbung (Thphr. CP 5.3.2 τὸ χρῶμα τούτων τῶν βοτρύων οὔτε μέλαν οὔτε λευκόν ἐστιν ἀλλὰ καπνῶδες, ὅθεν καὶ τὴν προσηγορίαν ἔσχεν) und genoss in der Antike insofern eine gewisse Bekanntheit, als ein und dieselbe Rebe dieser Traubensorte zur gleichen Zeit sowohl weiße (vgl. ἀργυρέοιο) als auch schwarze Trauben (vgl. μέλας) hervorbringen konnte. Theophrast erklärt dies mit der rauchähnlichen Färbung, durch welche

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die Trauben je nach Intensität unterschiedliche Grauschattierungen annehmen könnten (Thphr. CP 5.3.2; vgl. HP 2.3.2; Arist. GA 770b 19–24). αὐτόσσυτος Der recht überflüssige Hinweis, dass sich die Trauben von allein färben, entspricht Nonnos’ Hang, den Spontancharakter von Vorgängen herauszustreichen (s. K. 58). 314–318 Weinumrankte Pinie Die Beschreibung der Weinstöcke schließt mit dem Bild einer von Weinlaub umrankten Pinie, welche gleichsam exemplarisch für die verschiedenen Waldbäume genannt wird, an denen die wilden Reben emporwachsen. Die Wahl der Pinie dürfte – wie schon in 55b–58 – vorrangig damit zusammenhängen, dass es sich hierbei um einen dem Dionysos heiligen Baum handelt (s. K. ad loc.); die Verbindung der Pinie mit Dionysos wurde u.a. damit erklärt, dass Gegenden mit starkem Pinienaufkommen als besonders geeignet für den Weinanbau galten (Plut. Mor. 676a δὲ Διονύσῳ τὴν πίτυν ἀνιέρωσαν ὡς ἐφηδύνουσαν τὸν οἶνον· τὰ γὰρ πιτυώδη χωρία λέγουσιν ἡδύοινον τὴν ἄμπελον φέρειν). Die Erwähnung der Pinie am Ende der Ekphrasis des wilden ὄρχατος könnte zudem mit der Praxis in Zusammenhang stehen, zum Schutz von Obstgärten Pinien (aber freilich auch andere Nadel- und Laubhölzer) um diese herum zu pflanzen (vgl. Longus 4.2.4 Ἔνδον ἦν τὰ καρποφόρα φυτά, καθάπερ φρουρούμενα· ἔξωθεν περιειστήκει τὰ ἄκαρπα [vorher genannt κυπάριττοι καὶ δάφναι καὶ πλάτανοι καὶ πίτυς], καθάπερ θριγγὸς χειροποίητος; Varro Rust. 1.15.1 fines praedi[i] satione … arborum tutiores fiunt … serunt alii circum pinos, … alii cupressos, … alii ulmos). Die Vorstellung, dass an diesen schützenden Baumreihen Reben emporwachsen, war dabei relativ nahliegend (vgl. Lib. Descr. 9.3 πτελέαι γοῦν αἰγείροις συμπεφύκεσαν, ἄμπελοι δ’ ἐπανεῖχον αὐταῖς τὸν οἰκεῖον καρπὸν ἐκείνων εἶναι δοκεῖν παρεχόμεναι). Durch die auffällige Wortstellung – πίτυν (314) und πεύκη (318) fungieren als Rahmung für den Abschnitt – wird der wilde ὄρχατος jedenfalls gleichsam durch Pinien umschlossen. Die Beschreibung der Pinie weist stark personifizierende Züge auf (ἀκρεμόνας; αἱμοβαφής; κόμην) und spielt dadurch auf den mit dem Baum verbundenen Verwandlungsmythos an (für Anspielungen auf einen Metamorphose-Mythos im Rahmen einer Garten-Ekphrasis vgl. Luc. Am. 12 σὺν αὐταῖς [scil. Zypressen und Platanen] αὐτόμολος Ἀφροδίτης ἡ τῆς θεοῦ πάλαι φυγὰς Δάφνη). Nonnos folgt dabei einer Variante des Mythos, der zufolge einst Pan und Boreas um die Gunst des Mädchens Pitys buhlten. Als sie Pan aber den Vorzug gab, habe Boreas sie von einem Felsen gestoßen, woraufhin Ge die zu Tode Gekommene in eine Pinie verwandelt habe (Lib. Narr. 4; 32 (= Nicol. Narr. 8); Gp. 11.10; Forbes Irving 1990, 273); an anderen Stellen in den Dionysiaka scheint Nonnos hingegen vorauszusetzen, dass sich ihre Metamorphose im Zuge ihrer Flucht vor Pan ereignet hat (v.a. 42.258–264; weiters 2.108; 117–118; 16.363).

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314 πίτυν ἀγχικέλευθον ἕλιξ ἔστεψεν ὀπώρης Das Bild scheint traditionell zu sein (vgl. Ach. Tat. 1.15 στέφανος δὲ ὁ κιττὸς τοῦ φυτοῦ [scil. einer Pinie]). Dieses verfügt hier jedoch insofern über paradoxe Züge, als normalerweise – genau umgekehrt – die Zweige der Pinie zur Herstellung von (Sieges)kränzen verwendet wurden (vgl. z.B. Blech 1982, 212). ἀγχικέλευθον Wie auch ἀγχίπορος wird ἀγχικέλευθος, das zu den häufigsten Epitheta in den Dionysiaka zählt, hauptsächlich in der Bedeutung »nahe, benachbart« verwendet, ohne dass damit eine gemeinsame Bewegung impliziert würde (vgl. z.B. 6.476 [von einem Ölbaum, der neben einem wilden Ölbaum wächst] πρέμνον ἐς ἀγχικέλευθον … ἁγνὸν ἐλαίης; allgemein Peek s.v.). Das Kompositum selbst ist vor Nonnos nicht belegt (vgl. AP 7.220.2 [Agath.] τάφον … ἀγχικέλευθον); zum Kompositionsmuster s. K. 279 ἀγχιφύτων. 316 καὶ φρένα Πανὸς ἔτερπε Pan freut sich, dass dem ihm heiligen Baum die Ehre widerfährt bekränzt zu werden (vgl. 8.9 [von Semele] στέμματι θυμὸν ἔτερπεν). 316–318 Τινασσομένους δὲ Βορῆι/ἀκρεμόνας πελάσασα παρ’ ἀμπελόεντι κορύμβῳ/αἱμοβαφὴς ἐλέλιζε κόμην εὐώδεα πεύκη Das Säuseln der Pinie im Wehen des Boreas wurde als deren Klage gedeutet (vgl. Lib. Narr. 32 (= Nicol. Narr. 8) θρηνεῖ δὲ τοῦ Βορέου προσπνεύσαντος; Gp. 11.10). Möglicherweise ist auch ἀκρεμόνας πελάσασα παρ’ ἀμπελόεντι κορύμβῳ in diesem Sinne zu deuten: Auch in Gestalt der Pinie versucht Pitys vor ihrem Mörder zu fliehen (vgl. Ov. Met. 1.556 [von Daphne] refugit tamen oscula lignum). 318 αἱμοβαφὴς … κόμην εὐώδεα πεύκη Die auf den ersten Blick etwas seltsame Charakterisierung der Pinie als αἱμοβαφής (»in Blut getaucht«, »blutig«) erklärt sich als Anspielung auf das blutige Schicksal der Pitys. Welche sichtbare Flüssigkeit an der Pinie Nonnos dabei metaphorisch mit αἷμα umschreibt, ist nicht eindeutig zu klären. Vian 1995a ad loc. (vgl. Gigli Piccardi 2003 ad 12.314–318) denkt an den roten Saft der Trauben, der durch das starke Wehen des Boreas auf die Zweige der Pinie spritzt und diese färbt; demzufolge wäre dann auch εὐώδεα auf den angenehmen Duft des Traubensafts zu beziehen (zum Duft des Weins s. K. 239–246). Es scheint mir jedoch attraktiver zu sein, αἷμα als Harz der Pinie zu deuten (zur Analogie vgl. Plin. Nat. 16.181 Umor et cori arborum est, qui sanguis earum intellegi debet; Manil. 5.212 viridis nemori sanguis decedit et herbis). Für dieses war die Pinie nämlich in der Antike hauptsächlich bekannt und geschätzt (vgl. Meiggs 1982, 467–471). Da das Pinienharz wohlriechend war (vgl. z.B. Nic. Th. 594 εὐώδεα πίσσαν; Stat. Theb. 6.104–105 odoro vulnere pinus/scinditur; Lilja 1972, 195–196), dürfte κόμην εὐώδεα wohl ebenfalls in Beziehung zu den ätherischen Düften zu setzen sein, die von der Pinie ausgehen (vgl. 20.146 [von

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Weihrauchbäumen?] εὐόδμων ἀπὸ δένδρων). Diese Deutung hätte den Vorteil, dass sie sich auch leichter mit dem Pitys-Mythos verbinden ließe, auf den die Formulierung αἱμοβαφής offensichtlich anspielt: Das Harz der Pinie entspräche dann dem Blut der Pitys, das diese bei ihrem Todessturz vergossen hat. Eine durchaus vergleichbare – wenn auch traditionelle – Analogie verwendet Nonnos in 42.264, wo das Harz der Pinie als Tränen der Pitys interpretiert wird (μυρομένης … μελιηδέα δάκρυα κούρης). 319–330 Entdeckung des Weinbergs durch Dionysos Es ist ein geläufiges Begründungsmuster der antiken Kulturgeschichte, die Entdeckung zivilisatorischer Techniken als Folge von Beobachtungen aus der Tierwelt zu erklären (vgl. Opp. H. 1.354–359 [Seefahrt]; Ach. Tat. 2.11.4–5 [Nutzung des Sekrets der Purpurschnecke als Färbemittel]; Ael. NA 2.43 [heilende Wirkung der Pflanze ἱεράκιον]; Plin. Nat. 8.96 [Aderlass]; 97 [Klistier]). Nonnos zeigt ein starkes Interesse für derartige Entdeckungsgeschichten, die er in sein Werk einbaut (vgl. 40.306–310 [Entdeckung des Sekrets der Purpurschnecke durch die Bobachtung eines Hundes]; 506–520 [Konstruktion von Schiffen basierend auf Beobachtungen des Polypen ναυτίλος sowie von Kranichen]). Auch im Fall der Entdeckung des Weins sind derartige Erklärungsmodelle belegt. So führt Serv. Georg. 1.8 eine Erzählung an, der zufolge ein Hirte namens Staphylus durch die Beobachtung einer Ziege, die von den Trauben eines Weinstock aß, die bisher unbekannte Frucht entdeckt habe: Staphylus, Oenei pastor, cum animadvertisset ex capellis unam esse pinguissimam, intellexit id pabuli ubertate fieri. secutus itaque eandem cum vidisset uvis vesci, admiratus et novitatem et dulcedinem, decerptum fructum pertulit regi. qui cum liquorem expressisset, a suo nomine appellavit οἶνον, ab inventore σταφυλήν. Möglicherweise eine ähnliche Geschichte als Hintergrund hat die Notiz bei Hyg. Fab. 274, der zufolge ein Esel den Wein entdeckt habe ( suavitatem invenisse; vgl. auch die bei Hecat. FGH 1 Fr. 15 überlieferte sonderbare Erzählung von einer Hündin, die einen Rebstock zur Welt brachte). Die Version des Nonnos folgt zu großen Teilen dem Handlungsmuster der bei Servius belegten Erzählung. Die Wahl der Schlange als jenem Tier, von dem die Entdeckung ihren Ausgangspunkt nimmt, erklärt sich aus der besonderen Nähe des Tieres zu Dionysos und entspricht der zentralen Rolle, die Schlangen in den Dionysiaka einnehmen. 319–320 Ἀμφὶ δέ μιν σκολιῇσι δράκων δινωτὸς ἀκάνθαις/λαρὸν ἐυρραθάμιγγος ἀμέλγετο νέκταρ ὀπώρης In der Antike herrschte die Vorstellung, dass Schlangen eine Vorliebe für Wein hätten (vgl. Arist. HA 7(8).4 594a 9–10 Οἱ δ’ ὄφεις καὶ πρὸς τὸν οἶνόν εἰσιν ἀκρατεῖς; Plin. Nat. 10.198 serpentes, cum occasio est, vinum praecipue adpetunt; 22.106 serpentes avidissimas vini). Man konnte sie auch zwischen den Ästen von Weinstöcken vorfinden (Gp. 7.15.7

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ἐὰν ὄφιν ἐν τρυγητῷ ἐμπεπλεγμένον τῇ ἀμπέλῳ ἴδῃς). In 26.194–197 trinkt eine Schlange vom süßen Saft des Honigbaums: ὄφις δέ τις ἀγκύλος ἕρπων,/ μιτρώσας ἑλικηδόν, ὁμόπλοκον ἡδέι δένδρῳ,/ἰκμάδα λειριόεσσαν ἀμέλγεται ἅρπαγι λαιμῷ,/χείλεσι λιχμώων γλυκερὴν ὠδῖνα κορύμβων (vgl. 40.476–477; 45.311–314). 320 ἐυρραθάμιγγος Der Saft sprudelt bereits von selbst aus den prallgefüllten Trauben hervor (s. K. 301). ἀμέλγετο νέκταρ ὀπώρης Das Bild vom »Melken der Trauben« findet sich – ebenfalls im Rahmen einer Schilderung der ersten Weinlese – auch in AP 9.645.7–8 [Macedon.]: πρώταις δ’ ἡμετέρῃσιν ἐν ὀργάσιν οἰνὰς ὀπώρη οὔθατος ἐκ βοτρύων ξανθὸν ἄμελξε γάνος (vgl. Io. Fr. 26.9 IEG νέκταρ [scil. Wein] ἀμέλγοντα). In der Tat scheint in der Antike die Assoziation von Trauben mit Eutern recht geläufig gewesen zu sein, wie etwa die Bezeichnung der Traubensorten βούμαστος (vgl. Plin. Nat. 14.15 tument vero mammarum modo bumasti) oder βουμάμμα zeigt (s. André 1952, 142). Die Metapher verwendet Nonnos auch zur Beschreibung von jenen Schlangen, die sich vom süßen Saft des indischen Honigbaums ernähren (26.196 ἰκμάδα λειριόεσσαν ἀμέλγεται [L ἀμέργεται]; vgl. Nic. Al. 506 [von Blutegeln] ἀμελγόμεναι χροὸς αἷμα). 322 βότρυος οἰνωθέντος S. K. 255. 324 θεὸς οὐρεσίφοιτος ὄφιν θάμβησε Ähnlich staunte zunächst auch der Hirte Staphylos in der Erzählung bei Serv. Georg. 1.8, als er bemerkte, wie eine Ziege von der bisher unbekannten Frucht der Rebe aß: cum vidisset uvis vesci, admiratus et novitatem et dulcedinem (vgl. Nemes. Ecl. 3.38 mirantur Satyri frondes et poma Lyaei). οὐρεσίφοιτος Wie mehrmals in den Dionysiaka übernimmt hier ein festes Epitheton (vgl. Orph. H. 52.10 οὐρεσιφοῖτα; AP 9.524.17 οὐρεσιφοίτην) narrative Funktion (s. E. Kap. 8.2.1.). 326 μετάτροπον ὁλκὸν ἑλίξας Die gleitende Bewegung von Schlangen wird von Nonnos mit Vorliebe durch Wendungen mit ὁλκός beschrieben (vgl. z.B. 22.34 δολιχῆς ἐλέλικτο περίπλοκος ὁλκὸς ἀκάνθης; 45.314 ἑλισσομένῳ σκολιῷ μιτρούμενος ὁλκῷ). Wie häufig bei Junkturen, die eine Richtungsänderungen bezeichnen, ist in den Dionysiaka das dazugehörige – oft pleonastische – Adjektiv proleptisch zu deuten (vgl. 129 [vom Fluss Sangarios] ἀνέκοψε παλίσσυτον ὁλκόν mit K. ad loc.). 327 βαθύκολπον … χειήν Das homerische Epitheton βαθύκολπος wird hier zur Bezeichnung der Tiefe des Erdspaltes verwendet, in welchen sich die Schlange verkriecht (vgl. 37.397 ῥωγμὸς ἔην βαθύκολπος; weiters Pi. P. 9.101–

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102 βαθυκόλπου/Γᾶς; zur personifizierenden Darstellungsweise allgemein s. E. Kap. 8.2.3.). Der Begriff χεία wird stark mit von Schlangen bewohnten Höhlen assoziiert (vgl. LSJ s.v.). Dem entspricht auch der Gebrauch von χειή in 25.538, dem einzigen weiteren Beleg für das Wort in den Dionysiaka: [von einer Schlange] νόστιμος ἀρχαίην ὑπεδύσατο φωλάδα χειήν. 328–330 Εἰσορόων δέ/Βάκχος ἐρευθαλέης ἐγκύμονα βότρυν ἐέρσης/ὀμφαίης ἐνόησε παλαίτερα θέσφατα ῾Ρείης Beim Anblick des roten Saftes, der aus den Trauben tritt, erinnert sich Dionysos an frühere Prophezeiungen der Rhea und beginnt mit der Traubenlese. Um was für Prophezeiungen es sich dabei genau handelt, wird weder hier noch anderswo im Werk näher ausgeführt. Solche Ad-hoc-Erklärungen stellen eine von Nonnos recht beliebte narrative Strategie zur Handlungsmotivierung dar: Z.B. spornt der Phryger Attis Dionysos zum Kampf gegen die Inder an, indem er nicht näher thematisierte Prophezeiungen der Rhea erwähnt (25.361–362 θαρσήεις πολέμιζε τὸ δεύτερον, ὅττι κυδοιμοῦ/ νίκην ὀψιτέλεστον ἐμὴ μαντεύσατο ῾Ρείη). Auch der Aufbruch der Aphrodite zum Palast der Harmonia wird durch die plötzliche Erwähnung einer νοήμων ὁμφή motiviert (vgl. 41.263; 322–328). Vergleichbar hiermit ist auch die Begründung, die Dionysos für den Befehl zum Bau einer Flotte gibt: Er verweist hier auf eine bisher nicht erwähnte Anordnung der Rhea (21.308–309 ἐπέφραδε νεύματι ῾Ρείης/πῆξαι νήια δοῦρα θαλάσσιον εἰς μόθον ᾿Ινδῶν). Als Ziehmutter des Dionysos nimmt Rhea einen wichtigen Bezugspunkt innerhalb des Lebens des jungen Dionysos ein (zur mütterlichen Rolle der Rhea s. Bernabé/García-Gasco 2016, 99–101). Dass sie Dionysos über vergangene (10.293–297) und künftige Ereignisse unterrichtet, die seine Person betreffen, ist dabei recht naheliegend (zu ihren prophetischen Fähigkeiten vgl. zusätzlich zu den bereits erwähnten Stellen 14.293–294). 331–336 Εὕρεσις von Kelter und Winzersichel Der Abschnitt präsentiert Dionysos als πρῶτος εὑρετής von Kelter und Winzersichel: Die erste Kelter schafft Dionysos, indem er mit einer Art Pickel eine Mulde in einen Felsen schlägt (331– 333). Auch Nemesian lässt in seiner Beschreibung der ersten Weinlese Dionysos eine Steinmulde (Ecl. 3.43 concava saxa) als Ort zum Auspressen der Trauben wählen; dies entspricht insofern der zivilisationsgeschichtlichen Realität, als vor der Erfindung von eigenen Keltermaschinen in der Tat ausgehobene Felsgruben zum Pressen der Trauben herangezogen wurden (vgl. Eu. Matt. 21.33 ὤρυξεν ἐν αὐτῷ [scil. Weinberg] ληνόν; LXX. Is. 5.2; zu diesen primitiven Keltern s. RE 6A.2, 1729–1730 s.v. Torcular; Schnebel 1925, 281; allgemein z.B. Ruffing 1999, 118 [mit weiterer Literatur]). Während bei Nemesian Dionysos eine schon ausgehöhlte Steinmulde vorfindet, lässt Nonnos den Weingott diese selbst ausheben. Dies gibt Nonnos zwar die Möglichkeit eine gelehrte Anspielung zur Etymologie

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von ληνός in die Darstellung zu integrieren (s. K. 333–334), geht aber auf Kosten der Handlungslogik. Woher nämlich Dionysos mitten im Gebirge plötzlich den hierfür nötigen Pickel nimmt, muss wohl unhinterfragt bleiben. Die als Kelter dienende Steingrube wird – wie landschaftliche Elemente in den Dionysiaka generell (s. E. Kap. 8.2.3.) – mithilfe anatomischer Begriffe beschrieben (333 μέτωπα; κενεώνων; vgl. 345 κενεῶνι; 346 μεσόμφαλα νῶτα; 347 κόλπῳ; 349 κόλπον). Die Trauben selbst liest Dionysos mithilfe der im Thyrsos verborgenen Lanzenspitze und erfindet damit eine Vorform der später gebräuchlichen Winzersichel (zur Gestalt des Lanzenthyrsos s. v.a. 9.122–124; allgemein hierzu von Papen 1905, 41–45; Korzeniewski 1976 ad 3.64–65). Als Stichwaffe ist der Thyrsos allerdings für das Abtrennen der Trauben nur bedingt geeignet und kommt der Form einer Sichel auch nicht wirklich nahe (τύπον γαμψώνυχος ἅρπης). In der Funktion als Sichel wird er aber auch in 14.371 [von einer Bakchantin] διέθρισεν αὐχένα [scil. eines Kamels] θύρσῳ und 46.216 [von Autonoe] αὐχένα [scil. des Pentheus] … διέθρισεν ὀξέι θύρσῳ verwendet. Die Anbindung des Abschnitts 335–336 mittels zweier Präsenspartizipien ist recht sonderbar. In der Tat kann Dionysos ja nicht gleichzeitig die Kelter ausheben und die Trauben lesen. Ich kenne keinen weiteren vergleichbaren harten Fall in den Dionysiaka, wo zwei gänzlich verschiedene und nicht zeitgleich ausführbare Handlungen mittels Präsenspartizipien syntaktisch verbunden sind. Eine Lücke wie zwischen 346 und 347 anzunehmen, wäre grundsätzlich nicht abwegig, erscheint mir aber mangels krasser inhaltlicher Inkongruenzen übertrieben. Möglicherweise handelt es sich hierbei einfach um eine Nachlässigkeit des Dichters – solche Nachlässigkeiten scheinen im Folgenden jedenfalls vermehrt aufzutreten (vgl. 292–397). 331 πεδοσκαφέος … σιδήρου Hierbei muss es sich um eine Art Pickel handeln, mit dem Dionysos den felsigen Boden bearbeitet (für πεδοσκαφής als Epitheton für hackenartige Werkzeuge vgl. 4.255 χαλκείῃσι πεδοσκαφέεσσι μακέλλαις; 47.237 γαῖαν ἐκοιλαίνοντο πεδοσκαφέεσσι μακέλλαις). 333–334 λειήνας …/… ληνοῦ Die Paronomasie basiert auf der antiken etymologischen Herleitung des Begriffs ληνός (vgl. Orio s.v. Ληνός: παρὰ τὸ λεαίνεσθαι πατουμένης τῆς σταφυλῆς). Während allerdings Orion λεαίνω auf das »Glätten« der Trauben im Zuge des Pressprozesses bezieht, setzt Nonnos dieses in Verbindung zum Glätten der Seitenflächen der Grube (zu etymologisierenden Erklärungen s. E. Kap. 8.2.4.). Die moderne Sprachwissenschaft konnte bisher keine etymologische Erklärung des Begriffes erbringen – möglicherweise handelt es sich um einen Fachbegriff aus vorgriechischem Substrat (s. Beekes 2010, 857).

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333 μέτωπα βαθυνομένων κενεώνων Die Kombination der beiden anatomischen Termini μέτωπον und κενεών ergibt ein recht kurioses Bild (vgl. die ebenfalls unstimmige Verbindung 346 μεσόμφαλα νῶτα). Welcher Teil der Kelter hier im Detail gemeint sein könnte, ist nicht eindeutig zu klären. Wahrscheinlich bezieht sich Nonnos auf deren leicht gewölbte Seitenwände (zu μέτωπον vgl. 6.380 χθονὸς μέτωπα; Pi. P. 1.30 [vom Ätna] εὐκάρποιο γαίας μέτωπον; D. P. 90 [vom Widderfelsen] κριοῦ … μέτωπον; Gigli Piccardi 1985, 195; zu κενεών Vian 1976 ad 2.37). 335 βότρυας ἀμώων νεοθηλέας Während das Bild vom »Abmähen der Trauben« in der lateinischen Literatur recht verbreitet ist (vgl. Verg. Georg. 2.410 postremus metito; Plin. Nat. 14.36 uva … metitur; 17.185 vindemiam metit; Colum. 10.426 metimus laeti tua munera, dulcis Iacche mit Boldrer 1996 ad loc.), konnte ich für die griechische keine weiteren Belege finden (am nächsten kommen Theoc. 11.73 θαλλὸν ἀμάσας; Q. S. 14.199 [vom Tugendbaum] καρπὸν ἀμῶνται). In 12.338 und 42.297 wird Nonnos zur Beschreibung der Traubenernte das hierfür gebräuchliche Verb τρυγάω verwenden. Möglicherweise ist die ungewöhnliche Ausdrucksweise βότρυας ἀμώων im Fall der vorliegenden Stelle folgendermaßen zu erklären: Da die Weinlese just in diesem Augenblick im Epos erfunden wird, »fehlt« es auch an einem entsprechenden Terminus. Nonnos »muss« daher einen Begriff aus einem verwandten Landwirtschaftsbereichs, nämlich dem ebenfalls erst kürzlich erfundenen, aber schon etablierten Ackerbau, entlehnen (zur Parallelisierung von Acker- und Weinbau in den Dionysiaka s. v.a. 7.82–88; für das griechische Denken allgemein Dodds 1960 zu E. Ba. 274–285). Ähnlich verfährt Nonnos auch in 12.348, wo er dem Leser das erstmalige Keltern des Weins durch einen Vergleich mit dem Dreschen des Korns (ὡς θημῶνας ἀλωῆς) begreiflich machen »muss« (vgl. 350 ἐπάτησε). βότρυας νεοθηλέας Das Epitheton ist ein homerisches hapax legomenon (vgl. Hom. Il. 14.347 νεοθηλέα ποίην). Nonnos verwendet dieses hier – wie auch in 42.306 (ὄμφακα … νεοθηλέα) – als Epitheton für noch junge Trauben (vgl. Nic. Th. 94 καρπὸν νεοθηλέα δαυχμοῦ). Komposita auf νεο- sind für den Stil des Nonnos typisch (für weitere Beispiele s. z.B. Ludwich 1873, 100). 336 γαμψώνυχος ἅρπης Um die Trauben nicht mit bloßer Hand lesen zu müssen und um Ernteverluste möglichst gering zu halten, wurden für die Traubenlese spezielle Winzersicheln verwendet (Colum. 12.18.2 ne vindemitor manu destringat uvas et non minima fructus portio dispersis acinis in terram dilabatur; vgl. Hes. Sc. 292 οἳ δ’ ἐτρύγων οἴνας, δρεπάνας ἐν χερσὶν ἔχοντες; Longus 2.1.2 δρεπάνη σμικρὰ ἐς βότρυος τομήν; zur falx vinitoria und der einfacheren falcula vineatica s. White 1967, 93–97 [mit Abbildungen]). Das Epitheton γαμψῶνυξ ist dabei insofern passend, als die Form der falcula vineatica tatsächlich jener einer Kralle glich; von Columella zusammen mit der falcula erwähnte (aber nicht genau iden-

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tifizierbare) Gerätschaften zur Weinlese wurden in der Tat als ungues ferrei bezeichnet (s. hierzu White 1967, 97). Die anatomische Beschreibung von technischen Geräten scheint – insbesondere in der Dichtung (ein eindrückliches Beispiel bildet die Beschreibung eines Pflugs in Verg. Georg. 1.171–175) – recht verbreitet gewesen zu sein. Was die Sichel im Speziellen betrifft, sei auf Hes. Th. 175 ἅρπην καρχαρόδοντα und Q. S. 6.218 ἅρπῃ ὑπ’ ἀγκυλόδοντι verwiesen. In diese Tradition stellt sich auch Nonnos, der γαμψῶνυξ gleichsam als formelhaftes Epitheton für Sicheln verwendet (15.35; 17.156; 18.253; 25.102; 26.30). Möglicherweise liegt hier ein Spiel auf Basis der Homonymie mit dem Raubvogel ἅρπη vor. 337–344 Weinlese der Satyrn Nachdem Dionysos das Lesen der Trauben gleichsam »erfunden« hat, folgen die ihn begleitenden Satyrn seinem Vorbild (vgl. Nemes. Ecl. 3.41 [von den Satyrn] decerpunt vitibus uvas). Nonnos beschreibt diese Weinlese, indem er das Augenmerk auf die unterschiedlichen Arbeiten von vier Satyrn lenkt: Der erste pflückt in gebückter Haltung bodennah wachsende Trauben, ein zweiter gibt sie in Körbe, ein dritter reinigt sie vom mitabgeschnittenen Laub und der letzte ist – wie der erste – mit dem Pflücken der Trauben beschäftigt (Ringkomposition); im bewussten Gegensatz zur Tätigkeit des ersten Satyrn positioniert Nonnos den letzten im Astwerk der Rebe und lässt ihn nach den höchstgelegenen Trauben greifen. Die Schilderung erinnert stark an die Darstellungen von weinlesenden Satyrn in Kunstwerken der Kaiserzeit, wo diese ein sehr beliebtes Sujet bildeten (s. hierzu Vian 1995a ad 337–344). Auch die griechische Literatur kennt ausführliche Beschreibungen von durch Menschen durchgeführte Weinlesen (Hom. Il. 18.566–572; Hes. Sc. 292–301; Longus 2.2.1–4; 2.36.1; 4.5.2; Aristaenet. 1.3.17– 21). Nonnos’ Ekphrasis bleibt größtenteils in traditionellen Bahnen, wenngleich sich auch innovative Ideen finden (v.a. 339–340). 337 Καὶ Σατύρων χορὸς ἦεν ὁμόστολος Dass Dionysos nicht allein durch das Gebirge streift, sondern von einer Gruppe Satyrn begleitet wird, erfährt der Leser erst an dieser Stelle. ὁμόστολος Das Kompositum ist in der späten Epik (Opp. H. 1.189; 5.67; 150; 670; C. 2.218) und insbesondere bei Nonnos sehr beliebt (zusammen mit der Metabole weitere 40 Belege). An dieser Stelle erfüllt es eine stark narrative Funktion (vgl. 324 οὐρεσίφοιτος mit K.). 338–339 ὁ δὲ βότρυας ἄγγεϊ κοίλῳ/δέχνυτο τεμνομένους Die abgeschnittenen Trauben wurden in Körben (τάλαροι) gesammelt, um sie anschließend weitertransportieren zu können (s. Billiard 1913, 432–433). Das Abtransportieren der Trauben in Körben ist ein häufig wiederkehrendes Element von Weinleseschilderungen (vgl. Hom. Il. 18.568 πλεκτοῖς ἐν ταλάροισι φέρον μελιηδέα καρπόν;

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Hes. Sc. 293–294 οἳ δ’ αὖτ’ ἐς ταλάρους ἐφόρευν ὑπὸ τρυγητήρων/λευκοὺς καὶ μέλανας βότρυας μεγάλων ἀπὸ ὄρχων; 296; Longus 2.1.3 Ὁ μὲν [scil. Daph­ nis] ἐβάσταζεν ἐν ἀρρίχοις βότρυς; Anacreont. 59.1–3 West Τὸν μελανόχρωτα βότρυν/ταλάροις φέροντες ἄνδρες/μετὰ παρθένων ἐπ’ ὤμων). 338 ἄγγεϊ κοίλῳ Nachgestelltes Epitheton am Versende ist in den Dionysiaka äußert selten und der Gebrauch an dieser Stelle eigentümlich (s. Wifstrand 1933, 96). 339–340 ὁ δὲ σύμπλοκα φύλλα δαΐζων/χλωρὰ φιλακρήτων ἀπεσείσατο λύματα καρπῶν Der dritte Satyr reinigt die Trauben von den mit diesen verwachsenen und daher mitgeernteten Blättern (σύμπλοκα φύλλα). Dieser Arbeitsschritt der Weinlese war nötig, da die sonst mitgepressten Blätter die Qualität des Weines gemindert hätten; die Aufgabe oblag den Arbeitern bei den Sammelkörben (vgl. Gp. 6.11.1–2 Οἱ ἐφεστῶτες τοῖς μείζοσι κοφίνοις … ἐκλεγέτωσαν τὰ φύλλα … τὰ γὰρ φύλλα συντριβόμενα ταῖς σταφυλαῖς, στυφότερον τὸν οἶνον ἀπεργάζεται καὶ εὔφθαρτον). Nonnos liefert hier eine interessante Detailbeobachtung, die meines Wissens innerhalb derartiger Weinleseschilderungen singulär ist. 340 χλωρὰ … λύματα Bei den abgeschnittenen Blättern handelt es sich um Grünabfall (vgl. [von Essensabfällen] Call. Cer. 116 λύματα δαιτός; Nic. Th. 919 ἡμίβρωτα … λύματα δαιτός). φιλακρήτων … καρπῶν S. K. 194. 341–344 ἄλλος ἄτερ θύρσοιο καὶ εὐτύκτοιο σιδήρου/δεξιτερὴν ἀσίδηρον ἐπ’ ἀκρεμόνεσσι τιταίνων/†βότρυος εἱλικόεντος† κατέκλασεν ἄκρα κορύμβου,/ ὀκλάζων ἐπίκυρτον, ἐς ἄμπελον ὄμμα τιταίνων. Ein vierter Satyr befindet sich im Geäst der Rebe (ἐπ’ ἀκρεμόνεσσι) und versucht, an die höchstgelegenen Trauben zu gelangen, indem er die Ranken zu sich herabzieht (κατέκλασεν ἄκρα κορύμβου); da die Winzersichel noch nicht erfunden ist und die Satyrn im Gegensatz zu Dionysos keinen Thyrsos besitzen, muss der Helfer die Trauben mit der Hand ernten. Die Schilderung findet ein gewisses motivisches Pendant in Aristaenet. 1.3.17–21, wo der Fokus ebenfalls auf die Anstrengungen der Erntehelfer gerichtet wird, auch noch die allerletzten Trauben zu erreichen: ἐπὶ τοίνυν τοὺς πεπανθέντας ὁ μὲν ἀνερριχᾶτο βεβηκὼς ἐπὶ τῶν κλάδων, ὁ δὲ ἀπὸ τῆς γῆς ἀρθεὶς ἱκανῶς ἄκρᾳ μὲν τῇ λαιᾷ σφοδρῶς εἴχετο τοῦ φυτοῦ, τῇ δεξιᾷ δὲ παρετρύγα· ὁ δὲ ἀπὸ τοῦ δένδρου χεῖρα ὤρεγε τῷ γεωργῷ ὡς ὑπεργεγηρακότι. Die Tätigkeit des Satyrs, der die Ranken »herabbiegt« (κατέκλασεν), wird sprachlich durch seine »gebogene« Haltung (ὀκλάζων) reflektiert; diese Verbindung dürfte in der Antike recht augenscheinlich gewesen sein, wurde doch ὀκλάζω etymologisch in Verbindung mit κλάω gebracht (vgl. Orio s.v. Ὀκλαδίαι

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καὶ ὀκλάζειν: παρὰ τὸ ἐγκλᾶν). Eine ähnliche Pointe dürfte auch in dem Hinweis stecken, dass er auf dem Geäst (ἐπ’ ἀκρεμόνεσσι) hockend nach den höchsten Ranken (ἄκρα) greift. Die Begriffe ἀκρέμων und ἄκρος klingen nämlich nicht nur ähnlich, sondern galten in der Antike als etymologisch miteinander verwandt (s. K. 177b–178a; zu Nonnos’ Vorliebe für Wortspiele allgemein s. E. Kap. 8.2.4.). 341 εὐτύκτοιο σιδήρου Keydell 1959 druckt in seiner Ausgabe anstelle des überlieferten Wortlauts εὐτύκτοιο σιδήρου die Konjektur εὐθήκτοιο σιδήρου (Falkenburg). Nonnos verwendet εὔθηκτος zwar mehrmals als Epitheton für geschärfte Gegenstände (17.121 εὐθήκτοιο σιδήρου; 295 εὐθήκτοιο μαχαίρης; 22.197 ἄορι δ’ εὐθήκτῳ), ich sehe aber keinen wirklichen Anlass dafür, den überlieferten und unanstößigen Text zu ändern (so auch Collart 1930, 109 Anm. 3 mit Verweis auf 336 τεύχων; Vian 1995a ad loc.). Das Adjektiv εὔτυκτος ist ein gutepisches Epitheton für handwerkliche Produkte und wird auch von Nonnos mehrmals in diesem Sinn verwendet (13.214 εὐτύκτῳ … βοείῃ; 25.414 ἀσπίδος εὐτύκτοιο; 40.473 φιάλην εὔτυκτον; 44.28 εὐτύκτοις … βοείαις; 45.45 εὐτύκτων … μελάθρων). 343 †βότρυος εἱλικόεντος† κατέκλασεν ἄκρα κορύμβου Der überlieferte Text βότρυος εἱλικόεντος κατέκλασεν ἄκρα κορύμβου ist mit Sicherheit korrupt, da das auf εἱλικόεντος folgende κατέκλασεν eine Positionslänge entstehen lässt, wo das Metrum eine Kürze verlangt. Dem Konjekturvorschlag von Scaliger folgend wurde der Text daher in ἀπέκλασεν abgeändert. Die Textänderung birgt allerdings Schwierigkeiten, die bisher nicht gesehen wurden. So erscheint es aus sprachlicher Sicht recht problematisch mit Vian 1995a ad loc. ἀπέκλασεν ἄκρα κορύμβου dahingehend zu deuten, dass der vierte Satyr die höchsten Zweige »herabbiegt«, um an die Trauben zu gelangen. In den Lexika lassen sich nämlich keine eindeutigen Belege finden, dass ἀποκλάω – das Nonnos nirgendwo sonst gebraucht – auch in der Bedeutung »biegen« verwendet wurde. In vergleichbaren Kontexten beschreibt ἀποκλάω vielmehr das »Abreißen« von Pflanzenteilen (vgl. z.B. Ar. Fr. 109.3 κἀποκλάσαι; Thphr. HP 2.6.12 οὐδ’ ἐάν τις ἀποκλάσῃ φυομένης εὐθὺς τὸ ἄκρον; Posidon. FGH 87 Fr. 54.9–10 κλάδου μὲν ἀποκλωμένου γάλα ῥεῖ; Plu. Nic. 3.8 ὁ δὲ φοῖνιξ ἐκεῖνος ὑπὸ τῶν πνευμάτων ἀποκλασθεὶς ἐνέπεσε τῷ Ναξίων ἀνδριάντι τῷ μεγάλῳ καὶ ἀνέτρεψε; Polyaen. Exc. 44. 3 τοὺς ὑψηλοτάτους μήκωνας ἀποκλάσας; Luc. Pisc. 27–28 μὴ καμπτόμενός σοι ὁ κάλαμος ἀποκλασθῇ; Ael. VH κλάδους δὲ πιτύων νεοδρεπεῖς ἀποκλάσαντες). Dementsprechend interpretiert Gigli Piccardi 2003 ad 12.337–344 die Stelle auch dahingehend, dass der Satyr überflüssige Weinranken abreißt. Diese Deutung ist jedoch aus inhaltlicher Sicht wenig überzeugend: Die βλαστολογία (lat. pampinatio), also das Auslichten der Reben, ist zwar ein wichtiger Arbeitsschritt

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im antiken wie modernen Weinbau (s. Ruffing 1999, 130–131 [mit Literatur]), sie wird allerdings in deutlichem zeitlichen Abstand zur Weinlese ausgeführt und hat folglich in der vorliegenden Schilderung nichts zu suchen. Da wohl davon ausgegangen werden muss, dass in Vers 343 das Herabbiegen der hohen Weinranken beschrieben wird, schlage ich vor, den überlieferten Wortlaut κατέκλασεν beizubehalten. Im Gegensatz zu ἀποκλάω ist κατακλάω nämlich sehr wohl in der Bedeutung »herabbiegen« belegt (Theoc. 25.145–146 [von einem Stier] κατὰ δ’ αὐχένα νέρθ’ ἐπὶ γαίης κλάσσε; vgl. Arist. Phgn. 808a ὄμματα κατακεκλασμένα) und kommt – zumindest ein weiteres Mal – in den Dionysiaka vor (42.201 κατεκλάσθη δὲ μενοινήν). Die anzunehmende Korruptele ist meines Erachtens vielmehr in der ersten Vershälfte zu suchen. Auch βότρυος εἱλικόεντος ist nämlich aus zweierlei Gründen suspekt: Zum einen bereitet der Wortlaut Verständnisschwierigkeiten. Denn was soll mit den »Spitzen der hohen Triebe der gewundenen Traube« gemeint sein? Zum anderen ist auffällig, dass die Wendung in fast identer Weise vier Verse später widerholt wird (347 βότρυας εἱλικόεντας), was für Nonnos sehr ungewöhnlich ist. Beide Beobachtungen wecken den Verdacht, dass βότρυος εἱλικόεντος eine Dittographie – möglicherweise die Folge eines Augensprungs des Kopisten (344 ὀκλάζων/348 ἐκταδόν)? – darstellt. Damit lässt sich freilich nicht mehr eruieren, welcher Text ursprünglich zu Beginn von Vers 343 gestanden haben mag. Daher schlage ich vor, βότρυος εἱλικόεντος zwischen cruces zu setzen. 343 κατέκλασεν ἄκρα κορύμβου Die κ- und ρ-Assonanzen sind auffällig (κατέκλασεν ἄκρα κορύμβου; vgl. 344 ὀκλάζων ἐπίκυρτον). Möglicherweise sollen sie das Knarren des Holzes beim Herabbiegen der Äste lautlich abbilden. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie rein euphonische Funktion erfüllen (vgl. 12.183–184 καρήνου/κυρτὰ κόρυμβα … κεραίης; 15.47 ἁβροκόμων ὄρπηκας … κορύμβων). 344 ἐς ἄμπελον ὄμμα τιταίνων Der Satyr muss freilich sehr genau schauen, wo sich in der Höhe noch weitere Trauben befinden könnten. Der Verschluss ὄμμα τιταίνων ist eine charakteristische nonnianische Klausel (4.248; 9.32; 22.62; 25.408; 33.199; 33.288; 34.5; 35.103; 40.353; 42.40; 45; 48.395; 501; D’Ippolito 2016, 394). Als Klausel findet sich die Junktur – in unterschiedlicher morphologischer Ausgestaltung – bereits in Triph. 371 ὄμμα τιταίνει und Gr. Naz. Carmina quae spectant ad alios 37 p. 1512.11 M. ὄμμα τιταίνω, was darauf hindeutet, dass sie Teil eines gemeinsamen kaiserzeitlichen Formelsystems war (vgl. weiters z.B. AP 2.1.60 [Christod.]; Paul. Sil. Soph. 531). 345–350 Εὕρεσις der Traubenkelterung Nach der Beschreibung der Lese der Trauben durch die Satyrn tritt nun wieder Dionysos selbst in den Vordergrund. Sein Name muss in der Lücke zwischen 346 und 347 gestanden haben. Die An-

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nahme einer solchen Lücke von mindestens einem Vers ist sowohl aus inhaltlicher wie sprachlicher Sicht mehr oder weniger zwingend (vgl. hierzu Vian 1995a ad loc.): Zum einen wäre es mehr als unpassend, wenn der letztgenannte Satyr, der sich wohlgemerkt im Geäst der Rebe befindet, die Trauben in die Kelter geben und sie dann auspressen würde, zum anderen folgen die beiden Prädikate ἔστρωσεν (345) und θέτο (347) im überlieferten Textlaut ohne koordinierende Partikel aufeinander. Im Gegenzug macht es eindeutig Sinn, wenn Dionysos als handelnde Person des Abschnitts fungiert. Wie vormals in Bezug auf die Weinlese »erfindet« er einen künftigen Arbeitsschritt des Weinbaus: Er gibt die von den Satyrn geernteten und in Körben bereitgestellten Trauben in die Kelter (345–349; vgl. Fr. 646a.26 TrGF [von Dionysos (?)] καρπὸ]ν ὀπώρας ἦρα βαθείας ἐπὶ ληνούς) und beginnt sie mit seinen Füßen auszupressen (350); die Satyrn folgen anschließend seinem Vorbild (352 ἰσοφυὲς μίμημα διδασκόμενοι Διονύσου). Das genaue Prozedere, wie Dionysos die Trauben in die Kelter gibt, geht aus dem erhaltenen Text allerdings nicht eindeutig hervor. Schuld daran dürfte zum Teil die Lücke zwischen 346 und 347 tragen, aber wohl nicht ausschließlich. Denn die Verse 345–346 bzw. 347–349 können eigentlich nur so verstanden werden, dass sie zweimal ein und denselben Arbeitsschritt beschreiben, nämlich das Hineinschütten und Ausbreiten der Trauben in der Kelter (345 ἔστρωσεν; 346 ὀγκώσας bzw. 347–348 θέτο κόλπῳ ἐκταδὸν ἔνθα καὶ ἔνθα; 349 πλήσας). Vian 1995a ad 345–346 versucht die Stelle damit zu erklären, dass Dionysos die Trauben zunächst in die Kelter schüttet und sie dann dort gleichmäßig verteilt, wodurch sich aber nach wie vor starke Redundanzen ergeben; zudem scheint ὡς θημῶνας zu suggerieren, dass die Trauben am Ende einen Haufen bilden. Aufgrund der Unsicherheiten, die die Lücke mit sich bringt, erscheint es ratsam, keine weitergehenden Spekulationen anzustellen. Einige Indizien lassen jedoch die Vermutung aufkommen, dass die Schwierigkeiten Teil eines größeren Problemkomplexes sind, der möglicherweise damit zu begründen ist, dass die Partie noch nicht gänzlich überarbeitetet wurde (s. K. 292–397). Eine der beiden Dubletten (345–346 bzw. 347–349) wäre dann wohl als eine nicht für die Endpublikation gedachte Alternativversion zu deuten (für eine nicht für die finale Publikation gedachte Dublette in nächster Nähe zu einer Lücke s. 21.116–117 mit Kommentar von Hopkinson/Vian 1994 ad loc.; zu Dubletten im Werk generell s. E. Kap. 5). 346 μεσόμφαλα νῶτα χαράδρης Nonnos scheint Gefallen an derartigen anatomisch unmöglichen Bildern gefunden zu haben (vgl. 22.206 μεσόμφαλα νῶτα βοείης; 37.469; 12.333 μέτωπα βαθυνομένων κενεώνων). 347 βότρυας εἱλικόεντας Wohl in Anlehnung an die Ähnlichkeit der Trauben mit Locken (s. K. 179) erhalten die Früchte der Rebe hier das Epitheton εἱλικόεις (vgl. 10.182 [von Locken] βότρυες εἱλικόεντες; 14.349 πλοχμοὺς εἱλικόεντας).

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347–348 θέτο … θημῶνας Den Begriff θημών verwendet Nonnos nur an dieser Stelle. Möglicherweise hatte er dabei ein etymologisches Wortspiel vor Augen (vgl. Philox. Gramm. 103*.1 s.v. θημών: παρὰ τὸν θήσω; Beekes 2010, 1482; zu Wortspielen in den Dionysiaka s. E. Kap. 8.2.4.). Die Verwendung des Begriffs θημών zum Zweck der gelehrten Anspielung könnte vielleicht Grund für die Probleme sein, die der Vergleich ὡς θημῶνας ἀλωῆς insgesamt bereitet (s. K. 348). 348 ὡς θημῶνας ἀλωῆς Die Beschreibung der neuen Kulturtechnik des Kelterns wird durch einen Vergleich mit schon etablierten Praktiken aus dem Ackerbau veranschaulicht (vgl. 335; zu Vergleichen in den Dionysiaka allgemein Geisz 2018, 210–228). Auf welchen Schritt im Rahmen des Kelterungsprozesses sich der Vergleich im Detail bezieht, ist allerdings nicht eindeutig zu klären. Naheliegend wäre es, diesen so zu verstehen, dass das Aufschütten und Austreten der Trauben in der Kelter mit dem Ausbreiten der Ährenbündel zum Dreschen auf der Tenne in Beziehung gesetzt wird (so Vian 1995a ad 345–346; Gigli Piccardi 2003 ad 345–350). Daraus ergäbe sich insofern ein stimmiges Bild, als in beiden Fällen geerntetes Material an einem bestimmten Ort versammelt und anschließend gestampft (im Fall des Dreschens allerdings nicht durch Menschen, sondern durch Tiere) würde. Diese Auslegung lässt sich allerdings nur schwer mit dem tatsächlichen Wortlaut (θημῶνας) vereinbaren. Während nämlich für gewöhnlich beim Dreschen die Ährenbündel gleichmäßig in der Tenne ausgebreitet wurden (X. Oec. 18.5), suggeriert ὡς θημῶνας hier das Aufschütten eines Haufens. Die Körner wurden aber erst im Anschluss an den Dreschvorgang (vorher musste man auch noch das Stroh entfernen) zu einem Haufen aufgetürmt, um sie anschließend worfeln zu können (vgl. Theoc. 7.155–156 ἐπὶ σωρῷ αὖτις ἐγὼ πάξαιμι μέγα πτύον mit Sch. ad loc. εἰώθεισαν γάρ, ὅτε ἐξέτριψαν τοὺς καρπούς, σωροὺς ποιήσαντες πτύον πήσσειν). In Verbindung mit der Tätigkeit des Worfelns findet sich θημών auch als Vergleichsobjekt in zwei weiteren epischen Vergleichen. So wird im Gleichnis Od. 5.368–370 (durch welches Nonnos inspiriert zu sein scheint) das Zerstieben der Balken von Odysseus’ Schiff dem Vertragen eines nach dem Worfeln aufgehäuften Spreuhaufens gegenübergestellt: ὡς δ’ ἄνεμος ζαὴς ᾔων θημῶνα τινάξῃ/καρφαλέων, τὰ μὲν ἄρ τε διεσκέδασ’ ἄλλυδις ἄλλῃ,/ ὣς τῆς δούρατα μακρὰ διεσκέδασ’. Ähnlich vergleicht auch Opp. H. 4.495–503 auf einem Strand aufgehäufte Heringe mit einem geworfelten Kornhaufen (v.a. 4.496 θημῶνας νήησαν). Dies alles legt nahe, dass mit θημών ein Kornhaufen gemeint ist und sich der Vergleich ὡς θημῶνας ἀλωῆς auf das Auftürmen der Trauben zu einem Haufen bezieht (vgl. aber 348 ἐκταδὸν ἔνθα καὶ ἔνθα). Geht man davon aus, dass Nonnos durch den Vergleich das Austreten der Trauben mit dem Dreschen des Korns in Verbindung bringen wollte, so ergeben sich zwei Folgerungen: (i.) Nonnos umschreibt mit θημῶνας in recht eigen-

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tümlicher Weise die zum Dreschen ausgebreiteten Ährenbündel (vgl. Phot. s.v. θημῶνες: οἱ σωροὶ τῶν δραγμάτων; zum approximativen Sprachgebrauch in den Dionysiaka s. E. Kap. 8.2.2.). (ii.) Nonnos hat wirklich einen gedroschenen Kornhaufen vor Augen und der Vergleich ist einfach schief. 350 καὶ σταφυλὴν ἐπάτησε ποδῶν βητάρμονι παλμῷ Das freudige Stampfen in der Kelter erinnert an einen Tanz (vgl. 355 ποσσὶ πολυσκάρθμοισι; AP 9.403.3 [Maec.] [mit Bezug zum Keltern] χορείην; Calp. Ecl. 4.124 ruptas saliat calcator in uvas; zum Tanz als Leitmetapher in den Dionysiaka s. K. 147). Die π- und β-Assonanzen geben das Patschen der Füße beim Austreten der Trauben lautmalerisch wieder (vgl. 355 ποσσὶ πολυσκάρθμοισι περιθλίβοντες ὀπώρην; 358 στειβομένη δὲ πόδεσσιν ἀμοιβαίοισιν ὀπώρη; 47.501 ποσσὶ πολυσκάρθμοισι πατεῖ Διόνυσος ὀπώρην). ἐπάτησε Die Analogie zwischen Ackerbau und Weinbau scheint weitergeführt zu werden (vgl. 335). Wie bereits Vian 1995a ad loc. richtig vermerkt, kann mit dem Verb πατέω nämlich sowohl das Dreschen des Getreides (z.B. Call. Cer. 20 ἐν βόας ἧκε πατῆσαι; Eust. Hom Il. 5.499 [2 p. 134.11–12 van der Valk] Ἀλωή … ὁ τόπος, ἐν ᾧ πατεῖται ὁ πυρός; LSJ s.v. II.1) als auch das Treten der Trauben bezeichnet werden (vgl. z.B. 47.501; D.  S. 4.5.1 τοῦ πατῆσαι τὰς σταφυλὰς ἐν ληνῷ; Longus 2.1.3 ἐπάτει ταῖς ληνοῖς; LXX La. 1.15 ληνὸν ἐπάτησεν). 351–359 Keltern der Trauben durch die Satyrn Abermals dem Vorbild des Dionysos folgend beginnen die Satyrn nun die geernteten Trauben zu pressen (vgl. Nic. Al. 30–31 ἀγριόεσσαν ὑποθλίψαντες ὀπώρην/Σιληνοὶ κεραοῖο Διωνύσοιο τιθηνοί; Nemes. Ecl. 3.44 crebro pede rumpitur uva); das laute Patschen ihrer Füße wird durch kaum überhörbare π- und β-Assonanzen auch sprachlich nachgebildet (355; 358; vgl. 350 mit K. ad loc.). Das ausgelassene Treiben der Kelterer wird – schon mit Blick auf die folgende Feier – gleichsam als bakchantischer Komos beschrieben. Die große Bedeutung des Ereignisses wird durch die Häufung von feierlichen versus tetracoli unterstrichen (zur Funktion der versus tetracoli s. E. Kap. 8.2.5.). 351 σείοντες ἐς ἠέρα θυιάδα χαίτην Das wilde Schütteln der Haare ist Teil des ekstatischen Verhaltenes im Rahmen eines bakchantischen Komos (vgl. 44.308 σείων ἠερίοις ἀνέμοις χιονώδεα χαίτην; 46 πόληος ἐς ἠέρα βόστρυχα σείων), auf welchen durch θυιάδα verwiesen wird. Die Enallage des Adjektivs in der Junktur θυιάδα χαίτην ergibt auf einer metaphorischen Ebene ein durchaus stimmiges Bild (vgl. 8.10 [von Semele] θυιάδος … ἐθείρης; zur Enallage des Adjektivs in den Dionysiaka s. E. Kap. 8.2.): Die heftige Auf- und Ab-Bewegung der Haare lässt diese in der Tat als gleichsam rasend erscheinen.

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352 ἰσοφυὲς μίμημα διδασκόμενοι Διονύσου In der Junktur μίμημα διδασκόμενοι (»das Nachgeahmte erlernend«) werden zwei unterschiedliche Gedanken auf leicht sinnwidrige Weise in Form eines hysteron proteron komprimiert: Natürlich erlernen die Satyrn zunächst durch das Vorbild des Dionysos das Austreten der Trauben und ahmen dieses anschließend nach (vgl. Met. 13.68 ἀντίτυπον … μίμημα μαθόντας; weiters D. 40.507 ἀντίτυπον μίμημα). 353 στικτὰ περισφίγξαντες ἐπωμίδι δέρματα νεβρῶν Logisch gesehen ist es recht unwahrscheinlich, dass sich die Satyrn zum Pressen der Trauben eigens ein Fell umbinden. Vielmehr dürfte der Vers so zu verstehen sein, dass sie die Verknotung ihrer Felle, die sie schon tragen, festziehen, um sie beim wilden Treten der Trauben nicht zu verlieren (zur Kleidung der Satyrn vgl. die ausführliche Beschreibung in 21.205–207 αἰγὸς ὀρεσσινόμοιο περὶ χροῒ δέρμα συνάψας,/ αὐχενίῃ κληῖδι καθειμένον ἐξ ἑνὸς ὤμου,/δεξιτεροῦ πλευροῖο κατήορον εἰς πτύχα μηροῦ; weiters die Abbildung 38 und 39 in Merkelbach 1988, 238). Alternativ könnte man auch denken, dass sie sie hochschürzen, um größere Bewegungsfreiheit beim Pressen der Trauben zu haben (vgl. AP 9.403.4 [Maec.] ὑπὲρ κούφων ζωσάμενος γονάτων). Durch die explizite Nennung der νεβρίς erfährt das wilde Herumhüpfen der Satyrn eine weitere Angleichung an eine dionysische Feier (46.160 [von Bakchantinnen] νεβρίδα δ’ ἀμφεβάλοντο). στικτὰ … δέρματα νεβρῶν Zur gesprenkelten Zeichnung des Felles von Hirschkälbern s. K. 179b–180. 354 Βακχείης ἀλάλαζον ὁμογλώσσου μέλος ἠχοῦς Es war in der Antike Brauch, dass die Kelterer zur Flötenmusik ein Kelterlied sangen (vgl. v.a. Ath. 5.199a ἐπάτουν δὲ ἑξήκοντα Σάτυροι πρὸς αὐλὸν ᾄδοντες μέλος ἐπιλήνιον; Anacreont. 59.1–3 West 7–8 μέγα τὸν θεὸν κροτοῦντες/ἐπιληνίοισιν ὕμνοις; AP 11.64.1–2 [Agath.] ῾Ημεῖς μὲν πατέοντες ἀπείρονα καρπὸν ᾿Ιάκχου/ἄμμιγα βακχευτὴν ῥυθμὸν ἀνεπλέκομεν; weiters Merkelbach 1988, 76 Anm. 19; Lambin 1992, 148). ἀλάλαζον Das Verb drückt frenetisches Geschrei aus (vgl. 47.105 [von einem Betrunkenen] ἡδυμανὴς ἀλάλαζε; E. Ba. 1133 [von den rasenden Bakchantinnen] αἱ δ’ ὠλόλυζον; allgemein DGE s.v. I.2). μέλος ἠχοῦς Die Klausel, die sich auch bei Pamprepios Fr. 3.49 Heitsch findet, wird von Nonnos formelhaft verwendet (1.300; 2.134; 22.248; 27.222; vgl. 6.120; 20.305; 43.313; allgemein zum Klauselgebrauch s. E. Kap. 8.2.1.). 356 εὔιον ἀείδοντες »Eὔιον« ist ein bakchantischer Ruf (vgl. z.B. 45.24 [von der bereits rasenden Agaue] εὔιον ἀείδουσα).

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359 λευκὸν ἐρευθαλέης Durch die Wortstellung wird der Farbkontrast zusätzlich hervorgebeoben (vgl. 202 λευκὰ … ἐρυθαίνετο δάκτυλα; allgemein hierzu E. Kap. 8.2.3.). 360–381 Verkostung und berauschende Wirkung des Weins Im Anschluss an die Verkostung des Weins (360–362) zeigt dieser bereits seine berauschende Wirkung (vgl. Nic. Al. 30–34; zum Phänomen der Spontangärung s. K. 193– 205a). Diese wird am Verhalten von fünf Satyrn exemplifiziert (vgl. 15.25–118): Die ersten beiden beginnen zu tanzen (363–366 bzw. 367–368), ein dritter kann nicht aufhören zu trinken (369–370) und zwei weitere werden von Liebesverlangen zu Nymphen gepackt (371–375a bzw. 375b–379). Einzig Dionysos kann sich aufgrund der magischen Kraft eines Amethysts der berauschenden Wirkung des Weins entziehen (380–381). 360–361 Καὶ βοέοις ἀρύοντο κεράασιν ἀντὶ κυπέλλων/μή πω φαινομένων Die Satyrn bedienen sich zum Trinken einfacher Hörner (vgl. 203 [von Dionysos] δέπας ἀγκύλον εἶχε βοὸς κέρας). Der Erzähler erklärt dies damit, dass bisher noch keine anderen Trinkgefäße erfunden worden seien (vgl. EM s.v. Κεραννύς: […] πρὸ γὰρ τοῦ εὑρεθῆναι τὴν τῶν ποτηρίων χρῆσιν ἐν τοῖς κέρασιν ἔπινον; K. 361–362). Im Gegensatz dazu kennen die Satyrn in Nemes. Ecl. 3.48 neben dem Trinkhorn auch schon den Kantharos (cantharon hic retinet, cornu bibit alter adunco). Der ausdrückliche Hinweis auf urtümliche Trinkgefäße entspricht der allgemeinen archaisierenden Tendenz der Partie. An anderen Stellen der Handlung wird neben Hörnern aber sehr wohl auch aus Bechern (δέπας, κύπελλον) getrunken. 361–362 ὅθεν ὕστερον ἐξέτι κείνου/θέσκελον οὔνομα τοῦτο κεραννυμένῳ πέλεν οἴνῳ Der gelehrte Einschub fußt auf dem antiken etymologischen Aition, demzufolge sich die Bezeichnung κεράννυμι vom primitiven Brauch der Vorzeit ableite, aus Hörnern (κέρατα) zu trinken (vgl. Ath. 11.476a–b τοὺς πρώτους λέγεται τοῖς κέρασι τῶν βοῶν πίνειν; […] ὅτι δὲ τοῖς κέρασιν ἔπινον δῆλον ἐκ τοῦ καὶ μέχρι νῦν λέγεσθαι, ὅταν συμμίσγωσι τῷ οἴνῳ τὸ ὕδωρ, κεράσαι φάσκοντες; Schl. Nic. Al. 31 οἱ ἀρχαῖοι κέρασιν ἐχρῶντο ἐν τῇ πόσει ἀντὶ ποτηρίων, ὅθεν καὶ τὸ κεράσαι εἴρηται; Sch. T Hom. Od. 5.93 κέρασσε […] ἔστιν οὖν ψιλῶς ἀντὶ τοῦ ἐνέχεεν ἀπὸ τῆς ἀρχαίας συνηθείας. εἰς κέρας γὰρ ἐγχέοντες ἔπινον; weiters Serv. Georg. 1.8 cornu […], quod graece κέρας dicitur, unde miscere poculum apud Graecos κεράσαι dicitur). Diese Herleitung entspricht freilich nicht der realen sprachlichen Entwicklung (Beekes 2010, 675) und die antiken Interpreten bleiben auch in der Tat zum Großteil eine einleuchtende Antwort auf die Frage schuldig, in welchem Verhältnis genau die Tätigkeit des Weinpantschens und des Trinkens aus Hörnern stehen, die ja eigentlich zwei grundsätzlich unterschiedliche Dinge sind.

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Nonnos scheint dabei der Tradition zu folgen, der auch das oben zitierte Homerscholion angehört. Dieses erklärt den Zusammenhang zwischen κεράννυμι und κέρας damit, dass der Wein in Trinkhörner eingeschenkt (κεράννυμι = ἐγχέω) werde (zur Verwendung von κεράννυμι im Sinne von »einschenken« s. umfassend Vian 1995a, 259–264). Nonnos’ Erklärung steht allerdings in einem gewissen Widerspruch zur geschilderten Handlung: Denn auch wenn κεραννυμένῳ hier dem nonnianischen Gebrauch folgend als »einschenken« gedeutet wird, schenken die Satyrn – strenggenommen – den Wein nicht in die Hörner ein, sondern schöpfen diesen mit den Trinkhörnern aus der Kelter (ἀρύοντο κεράασιν). Etwas unglücklich ist auch die Formulierung κεραννυμένῳ … οἴνῳ, da es dadurch so aussieht, als wolle Nonnos hier eine Erklärung für den Namen eines speziellen Typs von Wein geben, während sich die Etymologie ja rein auf κεράννυμι bezieht. Der Einschub entspricht der allgemeinen Vorliebe des Erzählers der Dionysiaka für etymologische Erklärungen (s. E. Kap. 8.2.4.). Verwandte Beispiele bilden die Erklärung des Namens der Stadt Κέρασσαι von κεράννυμι (13.469–470 ἀμπελόεις Διόνυσος ἔχων δέπας ἔμπλεον οἴνου/῾Ρείῃ πρῶτα κέρασσε, πόλιν δ’ ὀνόμηνε Κεράσσας) und eines Ortsnamens in Syrien, der nach dem Krater benannt sei, den Silen im Zuge seiner Metamorphose habe fallen lassen (vgl. v.a. 19.300 χῶρος ὅθεν κρητῆρος ἐπώνυμος). 363–368 Bedürfnis nach Tanz Tanz war ein fester Bestandteil von Weinlesefesten (vgl. Hom Il. 18.571–572 τοὶ δὲ ῥήσσοντες ἁμαρτῇ/μολπῇ τ’ ἰυγμῷ τε ποσὶ σκαίροντες ἕποντο; Anacreont. 59.11–13 West ὃν ὅταν πίνηι γεραιός,/τρομεροῖς ποσὶν χορεύει,/πολιὰς τρίχας τινάσσων; Nemes. Ecl. 3.55 chorique licentes; Merkelbach 1988, 82–86). 363–366 Καί τις ἀναβλύζων φρενοθελγέος ἰκμάδα Βάκχου/καμπύλον ἴχνος ἔκαμψε ποδῶν ἑλικώδεϊ παλμῷ,/δεξιὸν ἐκ λαιοῖο μετήλυδα ταρσὸν ἀμείβων,/ καὶ λασίας ἐδίηνε γενειάδας ἰκμάδι Βάκχου. Der erste Satyr beginnt zu tanzen, wobei er aufgrund der unkontrollierten Bewegungen den eben getrunkenen Wein wieder ausspeit und sich dabei besudelt. Auf fast identische Weise wird auch der tanzende Pithos in 18.150–153 beschrieben: χεύματος ἡδυπότοιο βεβυσμένος ἄχρις ὀδόντων/οἰνοβαρὴς ἐχόρευε, μεθυσφαλὲς ἴχνος ἑλίσσων/καὶ γλυκεραῖς λιβάδεσσιν ἐρευγομένων ἀπὸ λαιμῶν ξανθὴν ἀφριόωσαν ἑὴν λεύκαινεν ὑπήνην (vgl. 15.101 [vom Erbrechen eines Betrunkenen] οἶνον ἀναβλύζων; weiters Nemes. Ecl. 3.53–54 [von einem rücklings trinkenden Satyrn] at potus (saliens liquor ore resultat)/evomit, inque umeros et pectora defluit umor). Etwas sonderbar an der Beschreibung ist, dass der letzte Vers mehr oder weniger eine inhaltliche Wiederholung des ersten Verses darstellt; in der Tat beschreiben sie beide das Austreten des Weines aus dem Mund – mit allerdings jeweils unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Besonders auffällig ist dabei,

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dass sie beide auch einen fast identischen Versschluss aufweisen (363 ἰκμάδα Βάκχου; 366 ἰκμάδι Βάκχου). Die Wiederholung des Versschlusses könnte eine bewusste stilistische Entscheidung sein (vgl. 235 κεράσσω/236 κρητῆρι κεράσσω mit K. ad loc.), deren Sinn sich mir aber nicht wirklich erschließt, oder aber ein Hinweis, dass mit dem überlieferten Text etwas nicht stimmt (zu den weiteren problematischen Stellen im näheren Textumfeld s. K. 292–397): Köchly 1857 hat in seiner Ausgabe den Vers 366 hinter 370 verschoben und versucht, das Problem auf diese Weise zu lösen. Aufgrund der dadurch entstehenden Redundanzen ist der Vorschlag aber wenig überzeugend und keiner der späteren Herausgeber ist ihm in diesem Punkt gefolgt. Als alternative Erklärung böte sich an, dass Vers 366 eine fälschlich in den Text gelangte Dublette ist (vgl. 256–258). Hierfür könnte sprechen, dass der Gedanke, dass der Satyr seinen Bart besudelt, Hauptthema der Verse 369–370 bildet (vgl. v.a. 370 κυανέην ῥοδόεντι ποτῷ πόρφυρεν ὑπήνην). 363 φρενοθελγέος ἰκμάδα Βάκχου Das Epitheton des Dionysos ist an dieser Stelle inhaltlich wohl auf ἰκμάδα zu beziehen (zur Enallage des Adjektivs in den Dionysiaka s. E. Kap. 8.2.). Denn es ist die gemütsbezaubernde Kraft des Weines, die in diesem Augenblick auf den Satyr einwirkt (vgl. 12.259 φρενοθελγέι καρπῷ; 18.323 φρενοτερπέα καρπὸν ὀπώρης; zu φρενοθελγής allgemein s. K. 259). 364–365 καμπύλον ἴχνος ἔκαμψε ποδῶν ἑλικώδεϊ παλμῷ,/δεξιὸν ἐκ λαιοῖο μετήλυδα ταρσὸν ἀμείβων Wie für Tanzbeschreibungen in den Dionysiaka typisch, ergibt sich bei aller Ausführlichkeit und Detailliertheit für den Leser kein greifbares Bild des Beschriebenen. Feststeht, dass der Satyr eine drehende Bewegung vollführt und dabei abwechselnd die Füße hebt (für ähnliche Tanzschilderungen vgl. z.B. 6.47–48; 18.137–139; 18.141; 19.198–199; zur zentralen Rolle von Drehbewegungen in den Dionysiaka allgemein s. E. Kap. 8.2.3.). 364 καμπύλον ἴχνος ἔκαμψε Die Formulierung hat für Unmut bei einigen Interpreten gesorgt (zur Junktur selbst s. K. 7). In der Tat liegt auf den ersten Blick der Verdacht einer Dittographie nahe. Da aber sowohl ἴχνος ἔκαμψε als auch καμπύλον ἴχνος als Elemente von Tanzbeschreibungen in den Dionysiaka belegt sind (vgl. 8.27 εἰς χορὸν ἴχνος ἔκαμψε bzw. 6.48 πάλλων καμπύλον ἴχνος; 18.141 καμπύλον ἴχνος ἄγων) sehe ich mit Vian 1995a ad loc. keinen dringenden Anlass dafür, den überlieferten Text zu ändern – weder in ἄστατον (Keydell 1953, 4–5; Peek 1969, 18–19) noch in κάρπιμον (West 1962, 224). Diese Art von figura etymologica ist für die Dionysiaka durchaus charakteristisch (vgl. z.B. 4.268 χαράγματα … χαράσσων; 13.362 μέλος … ἐμελίζετο; Keydell 1953, 3–6; allgemein E. Kap. 8.2.4.).

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367–368 Ἄλλος ἀνεσκίρτησε, μέθης δεδονημένος οἴστρῳ,/φρικτὸν ἀρασσομένης ἀίων μύκημα βοείης. Berauscht beginnt auch der zweite Satyr zum Rhythmus der Trommel, die wohl ein weiterer Satyr rührt, zu tanzen (18.140 Στάφυλος σκίρτησε ποδῶν βητάρμονι παλμῷ). Auf die gleiche Weise reagiert auch ein Inder nach dem Weinkonsum: ὃς δὲ πολυτρήτοιο βοῇ δεδονημένος αὐλοῦ/ἄστατος εἱλικόεντι ποδῶν βακχεύετο παλμῷ (15.56–57). Die Charakterisierung des Klangs der aus Rinderhaut hergestellten Trommel als »Muhen« ist eine wiederkehrende Pointe in den Dionysiaka (13.510 ἐμυκήσαντο βοεῖαι; 29.224 εἰσαΐων μύκημα βαρυγδούποιο βοείης). Die Idee selbst findet sich bereits in AP 6.220.11 [Diosc.] [τυμπάνου] βαρὺ μυκήσαντος. Zur Klausel δεδονημένος οἴστρῳ s. K. 119. 369–370 Καί τις ἀκεσσιπόνοιο πιὼν ῥόον ἄσχετον οἴνου/κυανέην ῥοδόεντι ποτῷ πόρφυρεν ὑπήνην. Da der dritte Satyr in seiner Gier den Wein trinkt, ohne das Trinkhorn abzusetzen (ἄσχετον), rötet er seinen Bart mit dem überlaufenden Wein (vgl. 366 καὶ λασίας ἐδίηνε γενειάδας ἰκμάδι Βάκχου). Der Farbkontrast zwischen schwarzem Bart und rotem Wein wird durch die Wortstellung κυανέην ῥοδόεντι besonders augenscheinlich gemacht (vgl. 18.153 [vom betrunkenen Pithos] ξανθὴν ἀφριόωσαν [Weinschaum] ἑὴν λεύκαινεν ὑπήνην; 47.109 [von infolge des Weinkonsums geröteten Wangen] ἄργυφα πορφύροντο παρήια; allgemein E. Kap. 8.2.3.). 369 ἀκεσσιπόνοιο … οἴνου Das vor Nonnos nicht belegte Kompositum fungiert in den Dionysiaka hauptsächlich als epitheton ornans für Dionysos und dessen Wein (7.86 ὑγρὸν ἀκεσσιπόνοιο θυώδεα καρπὸν ὀπώρης; 29.163 ἀκεσσιπόνοιο Διωνύσοιο; 35.319–320 ἀκεσσιπόνοιο … Λυαίου). Hier ist es insofern pointiert gewählt, als es sich auf die aktuell beschriebene Situation beziehen lässt: Der Satyr trinkt so maßlos, weil der Wein ihn die Anstrengungen der Weinkelter vergessen lässt (zum pointierten Epithetagebrauch s. E. Kap. 8.2.1.). 371–379 Aufkommendes Liebesverlangen Die Verse behandeln das durch den Weinkonsum geweckte Liebesverlangen zweier Satyrn (vgl. Nemes. Ecl. 3.56– 57 raptantur amantes/concubitu Satyri fugientes iungere Nymphas; Anacreont. 59.14–26 West; Longus 2.1.1–2) und leiten damit inhaltlich zum folgenden Abschnitt über, in dem das freizügige Treiben von Satyrn und Bakchantinnen im Rahmen eines dionysischen Komos im Zentrum steht. Für die Darstellung selbst bedient sich Nonnos der epischen Form der »Beinahe«-Episode und lockert dadurch das ansonsten recht starre Aufzählungsschema auf (zu »Beinahe«-Episoden in den Dionysiaka s. Nesselrath 1992, 67–73; Geisz 2018, 197–209): Der erste Satyr wäre beinahe auf einen Baum geklettert, um zu einer Hamadryade zu gelangen, hätte Dionysos ihn nicht davon abgehalten; in der Tat wäre der durch den Weinkonsum unvorsichtig gewordene Satyr wohl vom Baum herabgestürzt

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(vgl. die ebenfalls unvorsichtig handelnden betrunkenen Silene in Nic. Al. 33–34 ὄθμασι δινήθησαν ἐπισφαλεροῖσι δὲ κώλοις/Νυσαίην ἀνὰ κλιτὺν ἐπέδραμον ἀφραίνοντες). Der zweite Satyr verfolgt eine Najade und hätte sie fast erwischt, wäre sie nicht zuvor abgetaucht. Eine vergleichbare Situation wird in 15.75–86 geschildert, wo es einem betrunkenen Inder beinahe gelungen wäre, eine Bakchantin zu vergewaltigen. 371 σφαλερὴν … ὀπωπὴν Das Adjektiv σφαλερός (»leicht zu Fall bringend«) ist insofern wörtlich zu verstehen, als der Satyr womöglich beim Versuch, den Baum hochzuklettern, abgestürzt wäre (für σφαλερός im Kontext des Hinfallens vgl. 10.422 σφαλερὴ … ὁρμή [scil. des beinahe hingefallenen Leneus]; 14.375 [von einem Kamel, das hinfällt] σφαλερῇ … χηλῇ; 19.141 ὃς δὲ πέσῃ σφαλεροῖο ποδὸς δεδονημένος ὁλκῷ; 47.114–115 καὶ σφαλεραῖς λιβάδεσσιν ἀήθεος ἔμπλεος οἴνου/… ἐπὶ χθόνα κάππεσεν ἀνήρ). 374 ὀλισθηροῖο ποδὸς γαμψώνυχι ταρσῷ Der tierische Anteil an der Gestalt der Satyrn in den Dionysiaka beschränkt sich auf Stierhörner, lange Eselsohren und Pferdeschwanz (vgl. v.a. 14.135–142; 21.203–210). Im Gegensatz zu den Panen besitzen sie aber offensichtlich keine Hufe, sondern menschliche Füße. Dass die Füße dem Satyr keinen Halt beim Erklettern des Baumes geben, dürfte seinem betrunkenen Zustand und der damit verbundenen Ungeschicklichkeit geschuldet sein (vgl. 18.131 [von der betrunkenen Methe] ὀλισθηροῖσι πεδίλοις; weiters AP 7.398.2 [Antip. Thess.] [von Wein und Reben] ὀλισθηροὶ δ’ εἰς πόδας ἀμφότεροι). Normalerweise bereitet den Satyrn das Besteigen von Bäumen keine Probleme (vgl. 341–344). γαμψώνυχι ταρσῷ Das Epitheton soll hier wohl zum Ausdruck bringen, dass der Satyr mit seinen Zehen den Stamm umklammert, um einen besseren Halt zu haben. In diesem Fall ist γαμψῶνυξ entgegen dem eigentlichen Sprachgebrauch nicht auf die gekrümmten Nägel, sondern auf die gekrümmten Zehen zu beziehen (vgl. 28.141 [von sich festkrallenden Fingern] γαμψώνυχι δεσμῷ; weiters Met. 6.38 συμπλεκέος παλάμης γαμψώνυχι παλμῷ). 372 ἡμιφανῆ … ἀνάμπυκα γείτονα Νύμφην Die Hamadryade lugt nur zur Hälfte sichtbar aus der Baumkrone hervor (22.15 ἡμιφανὴς … ὑπερκύψασα κορύμβου; 44.12 ἡμιφανὴς … ῾Αμαδρυὰς ὑψόθι δένδρου; 48.641 ἡμιφανὴς … ῾Αμαδρυάς). Dass sie ihr Haar ohne Kopfbinde – sprich offen – trägt, ist Zeichen ihres natürlichen Aussehens (42.86–88 καὶ πλόκαμοι ῥυπόωντες ἀκοσμήτοιο καρήνου/ἁβρότεροι γεγάασιν, ὅτ’ ἀπλεκέες καὶ ἀλῆται/χιονέῳ στιχόωσι παρήοροι ἀμφὶ προσώπῳ). Das von Nonnos gern verwendete Adjektiv ἀνάμπυξ ist ansonsten nur in Call. Cer. 124 belegt.

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373 ὑψιπέτηλον … εἰς φυτὸν Ὑψιπέτηλος ist ein epitheton ornans für Bäume in den Dionysiaka (s. K. 189). 376 ἐγερσινόοιο μέθης ἑτερόφρονι παλμῷ Da hier nicht die rasend machende, sondern motivierende Wirkung des Weins im Mittelpunkt steht (vgl. 47.57; 76 ἐγερσινόοιο … οἴνου), dürfte ἐτερόφρων nicht wie sonst in den Dionysiaka auf wahnsinniges Verhalten verweisen (vgl. Peek s.v.), sondern vielmehr nur zum Ausdruck bringen, dass das durch den Wein geweckte Liebesverlangen dieses Satyrs sich im Gegensatz zum vorherigen auf ein anderes Objekt richtet, nämlich eine Najade. 380–381 Μούνῳ δ’ οἰνοποτῆρι Διωνύσῳ πόρε ῾Ρείη/λυσσαλέης ἀμέθυστον ἀλεξήτειραν ἀνάγκης Im Gegensatz zu den Satyrn ist Dionysos vor der Wirkung des Weins durch einen Amethyst, den er – wohl als Amulett – trägt, geschützt (vgl. 18.77 οἰνωπὴν ἀμέθυστον). Träger eines Amethyst-Amulettes ist Dionysos auch in AP 9.748 (Pl. Iun.) ῾Α λίθος ἔστ’ ἀμέθυστος, ἐγὼ δ’ ὁ πότας Διόνυσος/ἢ νήφειν πείσει μ’ ἢ μαθέτω μεθύειν. Dem Halbedelstein wurde in der Antike die Wirkung zugesprochen, vor Trunkenheit zu schützen. In Zusammenhang hiermit steht auch die etymologische Erklärung seines Namens (vgl. Hld. 5.13.4 ἀμέθυσος τῷ φέροντι γίνεται, νηφάλιον ἐν τοῖς συμποσίοις διαφυλάττουσα; Plin. Nat. Magorum vanitas ebrietati eas [scil. die Amethyste] resistere promittit et inde appellatas; AP 9.752 [Asclep. oder Antip. Thess.]). Die Herleitung des Namens wurde aber durchaus kontrovers diskutiert. Als alternative »wissenschaftliche« Erklärung wurde die spezifische Farbe des Steins angeführt, der jener verwässerten Weins gleiche, der keine starke Berauschung bewirkt (vgl. Thphr. Lap. 5.31; Plut. Mor. 647b–c). Verweise auf Etymologie, Aussehen und spezielle Fähigkeiten von Edelsteinen sind Teil des gelehrten Spiels in den Dionysiaka (s. hierzu Frangoulis 2003, speziell zum Amethyst 435–436). Die gesuchte Anspielung auf die Etymologie des Namens des Amethysts an dieser Stelle geht allerdings etwas auf Kosten der Handlungslogik. So bleiben die genauen Hintergründe, in welchem Zusammenhang Dionysos von Rhea das Amulett erhalten hat, im Dunkeln (vgl. aber z.B. auch 47.590–593 [Dionysos verfügt plötzlich über einen Diamanten im Kampf gegen Perseus). Nicht zum ersten Mal greift der Erzähler der Dionysiaka in einer solchen narrativen »Notlage« auf eine vage Ad-hoc-Erklärung zurück (vgl. 11.241–243 [Dionysos erhält plötzlich von Rhea Ambrosia]; 12.328–330 mit K.). Die Erklärung für Dionysos’ Immunität gegen die Wirkung des Weins fügt sich in den allgemeinen ätiologischen Tenor der Partie (s. K. 292–397). Im Übrigen beschließt auch Pan seine Beschreibung der Trunkenheit der Gesellen des Dionysos in Nemes. Ecl. 3.59–62 mit einem Aition: Hier wird allerdings konträr eine Erklärung für den ständig trunkenen Zustand des Silen geliefert.

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381 λυσσαλέης … ἀνάγκης Die Berauschung ist gleichsam ein Zwang, den der Wein bewirkt (vgl. Pi. N. 9.51–52 βιατάν/ἀμπέλου παῖδ’; B. Fr. 20B.6–7 Maehler γλυκεῖ’ ἀνάγκα/κυλίκων; Vian 1995a ad loc.; weiters 21.292 [vom Wahnsinn der Hirten] νομίης θανατηφόρον οἶστρον ἀνάγκης). 382–393 Nächtlicher Komos Die Satyrn ziehen nach dem »Trinkgelage« – die Nacht ist mittlerweile hereingebrochen (391 λαμπάδα νυκτιχόρευτον; 397 ἄγρυπνον ἑορτήν) – in einem ausschweifenden Umzug (κῶμος) umher. Der Abschnitt schildert gleichsam den Prototyp einer nächtlichen dionysischen Kultfeier, deren Abhaltung Dionysos die Menschen zusammen mit dem Anbau des Weins künftig lehren wird (vgl. 397 ἄγρυπνον ἑορτήν). Im Gegensatz zu den Schilderungen dionysischer Feiern im Verlauf der weiteren Handlung scheint bei dieser das spezifisch kultische Moment nur punktuell durch (390 μύστιδα; 391 λαμπάδα νυκτιχόρευτον). Erotik war ein wesentliches Element antiker Komoi (vgl. RE 11.2, 1297 s.v. Komos) und steht auch im Zentrum der vorliegenden Schilderung. Das Liebesverlangen der Satyrn war bereits Thema der vorangegangenen Verse (371–379). Während dort die Nymphen die Übergriffe der Satyrn in letzter Sekunde vereiteln konnten, können sich die Bakchantinnen den Liebesavancen nicht so leicht entziehen: Der erste Satyr umschlingt eine Bakchantin bei den Hüften (383b–385), der zweite berührt ein junges Mädchen bei den Schenkeln (386– 389), ein dritter reißt eine Fackelträgerin zu sich (390–391) und ein vierter betastet die Brüste einer Bakchantin (392–393). Im Rahmen der Ekphrasis wird die beharrliche Keuschheit der Frauen (387 σαόφρονος; 388 ἀπειθέος; 390 ἀναινομένην) den wilden Übergriffen der Satyrn kontrastiv gegenübergestellt (385 ἠγκάσσατο; 387 ἥψατο; 389 ἐπαφήσατο; 390 ἀνεσείρασε; 392 δάκτυλα βάλλων; 393 ἔθλιψεν). Die Beschreibungen erinnern an entsprechende Darstellungen der attischen Vasenmalerei des 5. Jh. v. Chr., wo die Beziehungen zwischen lüsternen Satyrn und unwilligen Bakchantinnen eines der beliebtesten Themen bildeten (LIMC 8.1, 787 s.v. Mainades). Die unvermittelte Erwähnung von Bakchantinnen überrascht allerdings ein wenig, da sie bisher in der Handlung noch nicht in Erscheinung getreten sind. Sie sind aber grundsätzlich Teil des Gefolges des jungen Dionysos (vgl. v.a. 14.203–204 Βάκχαι,/αἱ μὲν Μῃονίης ἀπὸ ῥωγάδος; 11.127; 302). Sprachlich auffällig sind die Wortwiederholungen 383 οἰστρηθέντες, 384 οἶστρον und 386 οἴστρῳ. Will man diese nicht als stilistische Fahrlässigkeit erklären, so muss es sich hierbei um eine bewusste Entscheidung des Nonnos handeln (zum Phänomen der emphatischen Wortwiederholung bei Nonnos s. Schmiel 1998a, 331–332): Der eindringliche Verweis auf den Bremsenstachel, der die Satyrn quält, könnte dann eine Anspielung auf die partielle Stiergestalt der Satyrn sein, auf die ja an dieser Stelle explizit verwiesen wird (382 εὐκεράων).

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382 εὐκεράων Σατύρων Εὐκέραος ist ein epitheton ornans der Satyrn in den Dionysiaka (30.135; 33.305; vgl. 27.234 [von Silen]). φιλοπαίγμονι ταρσῷ Die Satyrn tanzen fröhlichen Schrittes (Hom. Od. 23.134 φιλοπαίγμονος ὀρχηθμοῖο; Hes. Fr. 123.3 [von den Kureten] φιλοπαίγμονες ὀρχηστῆρες; Nonn. D. 19.150 [von einem Pantomimenwettstreit] φιλοπαίγμονα κῶμον). 384 πομπὸν Ἐρώτων Das Liebesverlangen (οἶστρον) geht gleichsam als Führer dem Liebesvollzug voran (vgl. v.a. 5.588 ὀφθαλμὸς προκέλευθος ἐγίνετο πομπὸς Ἐρώτων). Πομπὸς/ν Ἐρώτων ist eine für die Dionysiaka charakteristische, semantisch wenig ergiebige Klausel: Sie stellt lediglich einen Zusammenhang zum Liebesakt her (vgl. 6.48; 7.297; 8.287; 16.283; 42.529; 48.233; 566; 875). 386–389 Ὃς δὲ νοοπλάγκτοιο μέθης δεδονημένος οἴστρῳ/παρθενικῆς ἀγάμοιο σαόφρονος ἥψατο μίτρης,/αὐερύων δ’ ἐπὶ Κύπριν ἀπειθέος εἵματα νύμφης,/χειρὶ ὀπισθοδότῳ ῥοδέων ἐπαφήσατο μηρῶν. Der zweite Satyr bekommt eine Bakchantin an ihrem Gürtel zu fassen und berührt ihre Schenkel, indem er das Gewand nach oben schiebt. Eine ähnliche Szene findet sich auf einem Mosaik aus Sousse (Anfang 2. Jh. n. Chr.), welches eine fliehende Bakchantin zeigt, der ein Satyr von hinten an die Schenkel greift (LIMC 8.1., 795 Nr. 142 Mainades; vgl. weiters Nr. 36 und 63). 386 νοοπλάγκτοιο μέθης δεδονημένος οἴστρῳ Das Kompositum νοόπλαγκτος hat hier aktive Bedeutung (vgl. aber 9.255 [von Ino] νοοπλάγκτοιο δὲ νύμφης) und ersetzt – wohl aus metrischen Gründen – das in den Dionysiaka geläufige Epitheton νοοπλανής (v.a. für Dionysos 33.270 νοοπλανέος Διονύσου; 42.168; 45.68). δεδονημένος οἴστρῳ Zur Klausel s. K. 119. 389 χειρὶ †ὀπισθοδότῳ† Der unzulässige Hiat (s. Keydell 1959, 39*) zeigt an, dass die Stelle mit Sicherheit korrupt überliefert ist. Suspekt ist vor allem ὀπισθόδοτος, welches abgesehen von dieser Stelle weder bei Nonnos noch sonst in der griechischen Literatur belegt ist. Es wurden mehrere Vorschläge gemacht, den Text zu sanieren. Zum einen wurde versucht, ὀπισθο- beizubehalten und den zweiten Teil des Kompositums auszutauschen: δ᾿ ὀπισθοβόλῳ (Ludwich 1909) und δ᾿ ὀπισθοπόρῳ (Vian 1995a ad loc. [nicht in den Text aufgenommen]). Diese Konjekturen erweisen sich allerdings bei genauerer Betrachtung als problematisch. Man muss sich nämlich die Szene wohl so vorstellen, dass die (explizit als zur Liebe unwillig charakterisierte) Bakchantin den sie bedrängenden Satyr flieht oder sich zumindest von ihm abwendet. Das heißt, dass sie jedenfalls mit dem Rücken zum Satyr steht. Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, wie der Satyr dann seine Hand hinter die Bakchantin geben kann.

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Inhaltlich besser passend scheint mir die Konjektur ποθοβλήτῳ (Tiedke 1878, 532; Peek 1969, 18–19) zu sein. Nonnos betont nämlich in vergleichbaren Kontexten sehr häufig die Lüsternheit der Hände eines Liebenden (3.285– 286 ἐπαφήσατο …/χερσὶν ἐρωμανέεσσι; 15.287–288 ἐδράξατο γούνων/χερσὶ γυναιμανέεσσι; 48.401 χερσὶ ποθοβλήτοισι τεῶν ἐδράξατο πέπλων). Tiedkes Eingriff lässt sich allerdings paläographisch nicht plausibel erklären. Da keine der vorgeschlagenen Sanierungsversuche eindeutig zu überzeugen vermögen, erscheint es ratsam, ὀπισθοδότῳ im Text zu belassen und zwischen cruces zu setzen. 390 μύστιδα κούρην Begriffe aus der Wortfamilie von μυέω müssen in den Dionysiaka nicht zwingend auf tatsächliche Mysterienkulte sensu stricto bezogen werden. Meist verweisen sie – wie auch hier – auf nächtliche dionysische Feiern im Allgemeinen (vgl. v.a. 46.172 μύστιδες … Βάκχαι; allgemein Vian 1988a, 406–409; Vian 1994b, 217–218). 391 λαμπάδα νυκτιχόρευτον Das Epitheton dient als nonnianisches epitheton ornans für Fackeln (vgl. 9.118 νυκτιχόρευτον … φλόγα πεύκης; 47.28 φλόγα νυκτιχόρευτον; 48.961 νυκτιχόρευτον … Ἀτθίδα πεύκην; weiters 13.7; 16.401; 27.214; 47.729; 48.961). 392 πεφιδημένα δάκτυλα βάλλων Die behutsame Annäherung dieses Satyrs steht in Kontrast zum aggressiven Verhalten der vorherigen. Die Junktur δάκτυλα βάλλων ist eine wiederkehrende nonnianische Klausel (9.196; 15.97; 17.369; vgl. Gr. Naz. Carmina de se ipso 37 p. 1272.12 M. δάκτυλα βάλλων; D’Ippolito 2016, 397–398; zu den Klauseln in den Dionysiaka allgemein s. E. Kap. 8.2.1.). 393 οἰδαλέην ἔθλιψεν ἀκαμπέος ἄντυγα μαζοῦ Der Vers ist eine Dublette zu 1.348 [von der Vereinigung von Zeus mit Europa]. Die Wendung ἄντυγα μαζοῦ/ μαζῶν dient in den Dionysiaka als gleichsam formelhafte Umschreibung für Brüste und bildet eine sehr gängige Klausel (vgl. 1.348; 2.110; 4.149; 5.378; 14.165; 17.218; 22.328; 28.99; 217; 36.209; weiters Pamprepius Fr. 3.176 Heitsch; allgemein D’Ippolito 2016, 398; E. Kap. 8.2.1.). ἀκαμπέος Im Gegensatz zu alten Frauen (vgl. AP 5.273.5 [Agath] μαζὸς ὑπεκλίνθη) verfügt das junge Mädchen über straffe Brüste (vgl. 1.348 ἀκαμπέος ἄντυγα μαζοῦ; 10.412 ἀκαμπέι … μαζῷ; 30.217 [von Brüsten] ἀκαμπέα κέντορα μίτρης; 47.189 ἀκαμπέας ἔξεσε μαζούς). 394–397 Dionysos’ Rückkehr zu Rhea Nach Beendigung des Komos kehrt Dionysos zur Höhle der Rhea zurück und lehrt auf seinem Weg die Menschen in Mäonien (Μαιονίην) seine neuen εὑρήματα: den Anbau von Wein (396) so-

292–397 Alternativversion zur εὕρεσις der Weinrebe

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wie das Abhalten von nächtlichen dionysischen Feiern (397). Nur wenige Verse (bzw. Zeit) später wird Zeus Iris in besagte Höhle schicken, um Dionysos den Auftrag zu erteilen, sein dionysisches »Zivilisationsprogramm« nun für alle Völker in die Tat umzusetzen (vgl. v.a. 13.6–7 καὶ ἔθνεα πάντα διδάξῃ/ὄργια νυκτιχόρευτα καὶ οἴνοπα καρπὸν ὀπώρης). Nonnos führt also im 13. Buch den Handlungsfaden der Alternativversion weiter und nicht jenen der Ampelos-Episode, in der ja ὄργια νυκτιχόρευτα kein Thema waren (vgl. Vian 1995a, 202–203 ad 294; Geisz 2018, 80–81). 395 δύσατο κυδιόων Κυβεληίδος ἄντρα θεαίνης Dionysos, der sich mitten im Gebirge befindet, kehrt zur Höhle der Rhea zurück. Auf seinem Weg verteilt er Rebenstecklinge an die Menschen und lehrt sie seinen Kult. Dementsprechend beschreibt δύσατο hier nicht das Hinabsteigen in die Höhle der Rhea, sondern den Rückweg zu dieser (vgl. 9.250–251 [von Ino] φοιταλέη δὲ βέβηκε δι’ οὔρεος οὔρεα νύμφη,/ἄχρι χαραδρήεσσαν ἐδύσατο Δελφίδα Πυθώ; P. 80 πῶς δὲ Τύρον Διόνυσος ἐδύσατο). 396 κλήματα βοτρυόεντα φιλανθέι χειρὶ τιταίνων Mittels dieser Stecklinge (κλήματα) verbreitet Dionysos den Weinanbau in Mäonien und im Laufe der weiteren Handlung auch in anderen Gebieten (vgl. v.a. 47.66–67 ἀγρονόμῳ δὲ γέροντι [scil. Ikarios] φυτηκόμος ὤπασε δαίμων/κλήματα βοτρυόεντα; weiters 17.84 κλήματα γυρώσαντα φυτῶν εὐαλδέι βόθρῳ; 47.69 βαλεῖν τ’ ἐνὶ κλήματα γύροις). φιλανθέι χειρὶ τιταίνων Das Epitheton φιλανθής (vgl. E. Fr. 696 Βακχείου φιλανθέος) wird von Nonnos nur an dieser Stelle verwendet und ist wohl auf die Rebenstecklinge zu beziehen, die Dionysos gerade in Händen hält (zu ἄνθος als Bezeichnung für die Rebe s. K. 95). Zur Klausel χειρὶ τιταίνων s. K. 156. 397 Μαιονίην τ’ ἐδίδαξεν ἑὴν ἄγρυπνον ἑορτήν Die genannte ἑορτή bezieht sich auf den oben beschriebenen Komos (vgl. 40.251 [von der Siegesfeier gegen die Inder] κῶμος ἑορτῆς; 40.400): Dionysos lehrt nun auch die Menschen, entsprechende nächtliche Feiern abzuhalten.

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Allgemeines Register

Das Register ist selektiv gestaltet und konzentriert sich auf Stellen, wo der entsprechende Eintrag substantiell behandelt wird. Bei Begriffen, die im Text des 12. Buches Erwähnung finden, wurde – wo als sinnvoll erachtet – auch die jeweilige Stelle im Übersetzungsteil indiziert. Achilleus Tatios  42, 210, 226 Aion  41, 95, 117, 133, 134 Allegorese  121, 143, 144, 147, 148, 149 Ambrosia  19, 105, 224, 275 Ambrosia und Trauben  218 Ampelos.  Siehe auch Atymnios, Hyakinthos in der bildenden Kunst  25 Metamorphose  191, 201, 202, 203, 204, 206 Quellen für Mythos  24 Schönheit  203, 222, 223 Tod  192, 219, 221, 224 Anthropogonie  97, 149, 150, 151 Aphrodite  97, 99, 101 Besuch bei Harmonia  22, 117, 121, 130 Geburt  146 Pflanzenattribute  177, 234 widersprüchliche Genealogie  171 Apoll  101, 103, 105, 107.  Siehe auch ­Atymnios, Hyakinthos Apoll und Dionysos  28, 51, 177, 194, 195, 214, 217, 219, 221, 223, 231, 232, 233 Apoll und Kyparissos  190, 199 Einstellen der Orakeltätigkeit  181 Pflanzenattribute  213, 217 Hyazinthe.  Siehe Hyazinthe Lorbeer  177, 188, 194, 222 Apollonios von Rhodos  62, 71, 79, 246 Ares  107, 231, 233 Argos  99, 156, 158, 159 Atalante  99, 155, 167, 168, 169 Ate  25, 31 Athen  103, 153, 194

Athene  101, 177 Athene und Dionysos  231, 234, 236 Myrte als Attribut?  234 Ätiologie  24, 38, 39, 153, 207, 224, 240, 243, 250, 259, 260, 270, 275 Atropos  26, 41, 63, 64, 65, 66, 101, 120, 188, 189, 190, 191, 199, 201, 219.   Siehe auch Moiren Atymnios  105, 220, 221 Bakchantinnen  115, 273, 274, 276, 277 Bäume  105, 109, 186, 207, 226, 237, 248, 249 Apfel(baum)  107, 109, 207, 222, 226, 232, 237, 238 Birnbaum  107, 234 Dattelpalme  109, 207, 232, 237, 238 Feige(nbaum)  107, 109, 207, 217, 224, 226, 233, 237, 238, 251 Lorbeer  101, 105, 177, 186, 188, 217, 218, 222, 232 Myrte  107, 234 Ölbaum (Olive)  101, 107, 109, 111, 177, 186, 188, 207, 214, 217, 232, 234, 236, 250, 253 Pinie  97, 101, 111, 149, 150, 151, 186, 187, 255, 256, 257 Weihrauchbaum  222, 225, 233 Beroe-Amymone  19, 22, 23, 246 Bildende Kunst  25, 47, 202, 262 Kunstwerkbeschreibung  142, 170, 176 Mosaik  128, 176, 277 Sarkophagrelief  25 Vasenmalerei  250, 276 Bion von Smyrna  39

Allgemeines  Register Blumen  28, 107, 228, 229 Anemone  107, 225, 247 Hyazinthe  103, 105, 107, 163, 195, 196, 218, 223, 225, 230, 231, 232, 233 Krokus  166, 167 Lilie  107 Narzisse  107, 229 Rose  101, 107, 177, 224, 229, 247 Blut  107, 111, 224, 247, 252, 256, 257 als Trankopfer  107, 233, 234 Blut und Wein  212, 233, 247 des Uranos  109, 247 Entstehung von Lebewesen und ­Pflanzen aus Blut  158, 166, 246, 247 Bukolik  38, 39, 40, 183 Christentum  16, 17, 49, 180, 192, 200, 217, 222, 241 Chronos  95, 99, 141, 145 Vater der Herbsthore?  171 Vater der Monatshoren  171 Vater des Lykabas  129 Claudian  40, 41, 53, 77, 112, 118, 120, 281, 284 Demeter  101, 105, 107 Attribute falsches Attribut?  234 Getreideähren  105, 107, 177, 218, 234 Besuch bei Astraios  117, 118, 119 Demeter und Dionysos  175, 177, 217, 218, 219, 231, 234, 236 Trauer der  181 Deukalionische Flut  97, 138, 149, 151, 153, 154 Dionysos Amulett des  275 Erfinder (πρῶτος εὑρετής)  210, 244, 245, 259, 260, 266, 278 Ganymed und Dionysos.  Siehe Ganymed Komos  276, 279 Kult  194 Pinie als Attribut  151, 186, 255 Polymorphie  43 Rede des  63, 64, 65, 66, 213, 214, 215, 216 Schlangenkranz  195 Stellung innerhalb Götterpantheon  17, 29, 66, 67, 191, 230, 245

291

Tränen des  190, 200 Trauer um Ampelos  180, 181 Vergleich mit anderen Göttern.   Siehe Apoll, Ares, Athene, Demeter, Zeus Wein(stock) als Attribut  177, 194, 225, 230 Dionysos Zagreus  141, 153, 220, 242 Dithyrambos  50, 51, 194 Efeu.  Siehe Kissos Ekphrasis  58, 59, 60, 61 Dominanz von ekphrastischen ­Tableaus  40, 52, 56 fehlende ekphrastische Ausge­ staltung  34, 116 Garten-Ekphrasis  248, 255 narrative Autonomie  56, 121 Regularität und Variation  59, 155 Technik des μερισμός  59, 60, 250 Enkomion  65, 213, 214.  Siehe auch Synkrisis als Strukturmuster der Dionysiaka  18 auf Pflanzen  214, 218 Topoi  65 Beschaffenheit des Ortes  197 Duft  224, 229 Ereignisse nach dem Tod  213, 225, 227 Farbe der Früchte  223 Gewässer  197 Heimat  197 königliche Natur  237 Nützlichkeit  217, 230, 232, 233 Schönheit  222 Tod  213, 219 Verweis auf Verwandlungsmythos  222 Ethopoiie  40, 64, 213, 226 Etymologie  77, 78, 79, 159, 160, 191, 204, 221, 260, 267, 270, 271, 275 Euphorion von Chalkis  28, 39, 80 Evangelium nach Johannes  14, 180, 192, 200, 217, 222 Flüsse  184, 199.  Siehe auch Pyramos, Thisbe, Silen Eurotas  103, 197 Hermos  101, 184 Mäander  174, 184 Paktolos  25, 101, 103, 185, 197, 199, 243 Sangarios  101, 185

292

Allgemeines Register

Ganymed  97, 101 Abbildung des  121, 135, 136, 137, 138, 139, 175, 176 als Folie für Dionysos  176 Giganten  20, 22, 46.  Siehe auch Titanen allegorische Deutung  148 Verwechslung mit Titanen  148 Hades  105, 220 Harmonia  41, 95, 141 Tafeln (κύρβεις) der als Weltarchiv  22, 120, 121 Bezug zu vier Jahreszeiten  56, 121 fehlende ekphrastische Ausgestaltung  34 Gestalt  135, 136, 137, 138, 139, 141 paarweise Anordnung  140 Position  117, 140 Harpalyke  99, 157, 160, 161 Helios  41, 95, 97, 99, 101, 109.  Siehe auch Phosphoros, Horen der Monate, Horen der vier Jahreszeiten als Lenker des Sonnenwagens  117, 118, 124, 127, 128, 130 als Verantwortlicher für das Gedeihen der Vegetation  118, 123, 124, 133 Augen des  124, 125, 126 Palast des  34, 116, 117 Pferde des  117, 123, 126 Rede des  34, 63, 80, 130, 142, 143 Wagen des  117, 126 Hera Hera und Dionysos  156, 231 Pfau als Attribut  158 Homer  36, 37, 38, 67, 72, 73, 122, 144, 238, 248, 249, 271 literarische Metamorphose  37 Horen der Monate  95, 127, 128, 129, 150 Horen der Tagesstunden  127, 128 Horen der vier Jahreszeiten  95, 101, 134 als Fruchtbarkeitsgöttinnen  125 Begegnung mit Helios  117, 122, 124, 178 Genealogie  116 Grund für Besuch bei Helios  118, 119 Hore des Herbstes  95, 97, 99, 101 Epitheta  131, 140, 150, 157, 169, 170, 175, 178 Gestalt  132, 208 Rede der  130, 131 Tochter des Chronos?  34, 171

Hore des Sommers  109, 132, 175 Verwechslung mit Horen der ­Monate?  150, 157, 171, 172 Humoralpathologie  226 Hyakinthos  28, 29, 39, 103, 190, 195, 197, 223, 232 Jahreszeiten Frühling  107, 121, 148, 149, 151, 153, 230 Herbst  121, 134, 175, 176 Sommer  99, 121, 134, 156, 170, 171, 175, 214, 237, 240, 241 Winter  121, 143, 145, 146, 147, 148, 149 Kalamos  26, 99, 172, 174 Kallimachos  80, 81, 82, 84, 238 Karpos.  Siehe Kalamos Kilikien  165, 166, 167 Kissos  55, 57, 99, 105, 172, 173, 174, 208, 209 Komik  16, 231 Krokos  99 Kronos  97, 121 als Greis  146 als Sämann  146 Deutung als Winter  143, 145, 146, 147, 148 in der orphischen Tradition  147 Kyrill von Alexandria  15, 200 Lazarus  16, 180, 222 Libanos  222 Lydien  74, 164, 172, 184, 185.   Siehe auch Phrygien, Mäonien Lykabas  116, 129, 150 Mäonien  74, 115, 278, 279.   Siehe auch Lydien, Phrygien Metalle  74 Eisen  103, 113, 197, 198 Gold  101, 103, 184, 185, 197 Kupfer (Bronze)  101, 151, 182 Silber  111, 165, 197, 254 Metamorphose.  Siehe Ampelos, Argos, A ­ talante, Dionysos, Harpalyke, ­Kalamos, Kissos, Krokos, Libanos, Niobe, Philomele, Pitys, Proteus, ­P yramos, Pyrrhos, Silen Imitation als literarische Metamorphose  37 Milax.  Siehe Krokos Moiren  34, 41, 64, 101, 103, 105, 189, 190, 219, 220.  Siehe auch Atropos Musik  181

Allgemeines  Register Instrumente Aulos  103, 192, 193, 194, 244, 269 Becken  101, 183 Pektis  183 Syrinx  101, 183, 210 Trommel  101, 115, 182, 183, 273 mangelnde terminologische ­Präzision  74, 192, 193 Modi  193 Mysterien  95, 97, 115, 129, 208, 218, 278 Nektar  19, 97, 101, 103, 105, 107, 111 Nektar und Wein  103, 176, 196, 218 Nemesian  42, 237, 243, 244, 259, 270, 275 Nikander von Kolophon  39, 80 Heteroioumena  40, 203 Niobe  99, 101, 163, 164, 185, 186 Nonnos Dionysiaka als ὕμνος  50, 51 Buchepigramm (AP 9.25)  36, 85 Dionysiaka en miniature  45, 48, 55 dionysische Poetik  43, 44, 45, 47, 48, 49, 50, 52, 55, 57, 58, 74, 75, 77 Herausgeber  30, 31, 36, 85, 215, 228, 235 literarische Ekstase (μανία)  46, 47, 54, 55, 57, 58, 209 Perioche  36, 85 Struktur  18, 20, 21, 28, 29, 54, 56, 61, 66, 179, 215 Metabole  15, 16, 217, 222 dionysische Elemente  49, 50, 71 Nymphen  107, 115, 186, 187, 273, 274.  Siehe auch Beroe-Amymone, Pitys Ophion  97, 144, 145 Tafeln des  119, 121, 141, 145 Orphik.  Siehe Dionysos Zagreus, Kronos, Phanes Orphische Rhapsodien  141, 147 Ovid Fasten  24 Metamorphosen  40, 42, 116, 120, 190, 195, 199, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 209, 210, 213, 225, 256 Pan  111, 210, 255, 256, 274, 275 Persephone  105, 220 Phanes  41, 95, 97, 119, 120, 141, 157 Philomele  99, 157, 158, 162, 163 Phosphoros  122, 123, 126

293

Phrygien  74, 99, 101, 163, 164, 165, 172, 173, 185, 197.  Siehe auch Lydien, Mäonien Pitys  101, 187, 255, 256, 257 Prophezeiung  95, 97, 99, 101, 111, 117, 120, 121, 170, 194, 259 Proteus  43, 44, 45, 46, 55, 74 Pseudo-Klementinen  24, 147, 221 Pyramos  99, 121, 165, 166 Pyrrhos  99, 163, 164, 165 Quintus von Smyrna  42, 62, 69 Rebe.  Siehe Weinstock Rhea  99, 111, 115 Amulett für Dionysos  275 Höhle der  243, 278, 279 Prophezeiungen der  242, 259 Rhea und Pyrrhos  164, 165 Rhetorik  40, 42, 201, 244.  Siehe auch ­Ethopoiie, Ekphrasis, Enkomion, Synkrisis Satyrn  25, 113, 115.  Siehe auch Ampelos, Kissos Bad mit Dionysos  61, 243 Gestalt  239, 276 Kleidung  269 Liebesverlangen  273, 274, 275, 276, 277, 278 Tanz  271, 272, 273 Traubenkelterung  268 Weingenuss  270, 271, 273 Weinlese  244, 262, 263, 264, 265 Schlange  103, 111, 195, 202, 242, 245, 257, 258, 259 Schrift  97, 99, 101, 105, 107, 157, 162, 163, 170, 177, 195, 223 Selene  123 Semele Reden der  66, 215, 231, 233 Silen  173, 201, 203, 206, 247, 271, 275 Sipylos-Gebirge  99, 164, 186 Sophokles Dionyskos  237, 244 Sparta  197 Stecklinge  279 Sterne und Sternbilder.  Siehe auch Zodiakus Jungfrau  97, 99, 135, 136, 138, 156, 170 Löwe  97, 99, 121, 135, 136, 138, 155, 156, 170

294

Allgemeines Register

Sirius  109, 240, 241 Vindemitor  24 Stier  25, 31, 39, 224 Symposion  192, 193 Synkrisis.  Siehe auch Enkomion Beispiele Ampelos und Atymnios  220 Ampelos und Hyakinthos  195, 197, 223 Dionysos und Apoll  231 Dionysos und Ares  233 Dionysos und Athene  234, 236 Dionysos und Demeter  234 Trauben und Getreide/Lorbeer  217 Weinstock und Fruchtbäume  226 Weinstock und Wiesenblumen  228 Funktion  65, 66 Tanz  101, 103, 107, 113, 115, 181, 236, 272 als Bestandteil von Weinlesefesten  271 als Metapher  76, 173, 193, 268 Tanz und Metamorphose  173 Textkritik  13, 14, 85, 88, 89, 124, 126, 130, 131, 133, 141, 142, 149, 150, 158, 160, 168, 169, 187, 189, 190, 198, 199, 215, 216, 226, 227, 228, 230, 232, 233, 240, 243, 264, 265, 266, 277, 278 Theben  103, 194 Thisbe.  Siehe Pyramos Titanen  143.  Siehe auch Giganten allegorische Deutung  149 Mörder des Dionysos Zagreus  153 Verwechslung mit Giganten  148 Trinkgefäß  97, 101, 105, 107, 113, 176, 213, 270 Triphiodor  42, 265 Wein Assoziation mit Nektar.  Siehe Nektar Duft  228, 229 Entdeckung (εὕρεσις)  38, 210, 212, 244, 245, 257 Etymologie  270, 271 Opfergabe  199, 200, 224, 233 Panschen  228, 270 Spontangärung  210, 270 Umschreibung  171 Wein und Dionysos-Kult  194 Wein und Symposion  192 Wirkung aphrodisierend  273, 276 berauschend  226, 270 euphorisierend  199, 200, 234

sorgenlösend  196, 199, 200, 234, 236 Weinkelterung  105, 113 Assoziation mit Tanz  268 Kelter  105, 113 anatomische Beschreibung  260 etymologische Erklärung  260 Steinmulde als  259 Kelterlied  269 ohne Kelter  210 Parallelisierung mit Dreschen von ­Getreide  267, 268 Weinlese  113 Assoziation mit Sirius  240 Assoziation mit Sternbild der Jungfrau  170 Körbe zum Sammeln der Trauben  262 Parallelisierung mit Getreideernte  261 Reinigen der Trauben von Blattwerk  263 Winzersichel  260, 261, 263 Weinstock als Attribut der Herbsthore  131, 132, 134, 176 berauschende Wirkung  210, 253 Bewässerung  39 Duft  224 Enkomion  214 Epitheta  133, 205, 211 Etymologie  175 metapoetische Deutung  37, 248 Schönheit  203, 222 Schutzpflanzungen für Weinstöcke  255 Stecklinge  279 Überlegenheit gegenüber anderen Pflanzen.  Siehe Bäume, Blumen Umschreibung  171, 175, 203 Verehrung durch die Natur  215, 237, 238, 239, 240 Weinstockunterstützung  174, 207 wilder Weinstock  245, 247, 249 Weintraube  95, 97, 99, 101, 103, 105, 107, 109, 113 als Speiseobst  217 Assoziation mit Ambrosia  218 Assoziation mit Euter  258 Assoziation mit Haar  204, 205, 266 Bewegung  251 Buntheit  60, 205, 251 Duft  38, 224

Allgemeines  Register Färbung  60, 223, 251, 252, 253 Reifegrad  60, 250, 251, 252, 253, 254, 261 Sorten  248, 250, 252, 253, 254, 258 Spontanreifung  211 Sternbild der Jungfrau mit Traube  170 Überlegenheit gegenüber Lorbeer und Hyazinthe  217 Umschreibung  134, 171, 175, 212, 253 Winde  97, 101, 109, 235, 251 als Fächerdiener  238

295

als Trauernde  186, 188 spezifische Winde Boreas  111, 255, 256 Etesien  109, 239, 240 Wunder  103, 105, 201, 202, 209, 211, 250 Zeus  95, 97, 101, 105 allegorische Deutung  148, 149 Zeus und Dionysos  20, 21, 231 Zodiakus  127, 128, 130, 138.  Siehe auch Sterne und Sternbilder Häuser der Planeten  137, 138